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Veröffentlichungen
des
Wissenschaftlichen Vereins
in
Zürich.
Erster Band.
Monatsschrift. Erster Jahrgang.
ZURICH,
VERLAG von MEYER & ZELLER.
1856.
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AHraden: 164 .
WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS.
in
ZÜRICH.
Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben :
FERDINAND Hızs, EDvARD ÖSENBRÜGGEN, Heinrich Frer,
“ADOLF SCHMIDT, EDvarD BoBrıx.
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(Hauptred.: Anorr Schmp.)
BESTER JAELRLATE,
1856.
ZÜRICH,
VERLAe von MEYER & ZELLER.
1856.
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ZÜRICH.
Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben :
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(Hauptred.: Anorr Schwipr.)
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Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver-
fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet,
mit dem Zweek: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender
und anregender Form darzulegen und dergestalt,. wie eine unmittelbare Förde-
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter
sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen,
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitgetheilt werden.
Inhalt des borliegenden Heftes.
Vorwort des kedactionsausschusses € a i : { ö Re
Ausbildung der konfessionellen Verhältnisse in Zürich nach Zwinglis Tode
und Einfluss derselben auf das Staatsleben. Von J. J. Horrıseer 5
Der Centralpunkt des Verbrechens. Von En. ÖsENBRÜGGEN . . : 24
Diagnose des gegenwärtigen Zeitalters. Von Av. Seumipr. Erster Artikel. 42
Zum Evangelium der Hebräer. Von Frirzsche . ERS le ee a
Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von Hırzıe, Ferrr,
LEBERT, RaaBE, Boprık, Fritzsche, Schmipr, STÄDELER und Anderen.
Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des
Buchhandels erbeten.
2
Grgentvärtige Mitglieder des Missenschaftlichen Vereins ;
J. J. Horrıserr, Präsident. ALex. SchwEizer, Vicepräsident. DERNBURG, Sekretär.
Bosrık. Cravsıus. Escher v. d. Lının. H. Frey. Feitzsche. Herr. Hırzıe.
L£sertT. Mousson. NÄgELı. ÖSENBRÜGGEN. RaaBeE. An. Scumivr. H. SCHWEIZER.
G. SEMPER. STÄDELER. F. VıscHEr. G. v. Wiss. _ ’
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VORWORT.
In keiner Epoche sprudelten die Quellen des Wissens mit so reger
Lebendigkeit und so gewaltiger Fülle, wie in der Gegenwart. Be-
‚gleitet von der eifrigsten Theilnahme der Völker wie der Einzelnen,
genährt und gedrängt durch die immer höher ansteigende allgemeine
Geistesbildung, haben sie sich zu einem Strome von wunderbarer Mäch-
tigkeit vereinigt und einen fast unübersehbaren üppigen Aufwuchs der
wissenschaftlichen Literatur während der letzten Jahrzehnte empor-
getrieben. {
Wohl dürfte es 'auf den ersten Anblick misslich * erscheinen,
gerade in dem jetzigen Zeitpunkte einer überreichen periodischen Li-
teratur der Wissenschaften, dem Heere von Zeitschriften, Journalen,
Revuen oder wie sonst die Ritter und Reisigen heissen mögen, einen
neuen Gefährten beizugesellen. Ja, man könnte unser Unternehmen
für um so bedenklicher erachten, als es nicht ein einzelnes Fach ist,
dem wir unsere Monatsschrift widmen wollen, sondern die Gesammt-
heit der Wissenschaften, all’ jener zahlreichen, anscheinend so grund-
verschiedenen und noch fort und fort sich vermehrenden Diseiplinen,
wie sie der Entwickelungsgang des menschlichen Geistes im Laufe der
Zeiten hat entstehen und sich sondern lassen.
Und dennoch gerade in diesem allgemeinen Charakter unsers
Unternehmens liegt — wie wir glauben — seine Ragßhtfertigung.
Vergleichen wir unser gegenwärtiges wissenschaftliches Besitz-
thum mit demjenigen älterer, längst vergangener Tage — wie
überaus reich stehen wir da, wie dürftig und arm unsere Vorfahren!
h 5 Und was ist nun die Folge? Während in alter Zeit der kleine Stoff
.
mit Leichtigkeit bewältigt und übersehen werden konnte, und demnach
den Geistern vergönnt war, in dem Verständniss der harmonischen
Vereinigung aller einzelnen Disciplinen zur Gesammtwissenschaft den
höchsten und edelsten Genuss zu suchen und zu finden — wie ganz
anders, wie unerquicklich und chaotisch ist in dieser Beziehung die
Lage der Gegenwart! Umfluthet von den unendlichen Schätzen der
Wissenschaft, gleicht sie dem überreichen Besitzer, der die wuchernde
Fülle seiner Habe nicht mehr zu überschauen vermag und der daher
auf den Genuss des Ganzen verzichten muss, um sich die Freude am
Einzelnen zu bewahren. Füllt doch schon das Studium eines beson-
dern Zweiges — wer möchte es läugnen — ein ganzes Leben, und
wär es das längste und thätigste, zur Genüge aus! Indem es aber
dergestalt die ganze geistige Energie für sich allein in Anspruch
nimmt —- was ist natürlicher, als dass wir mehr und mehr dahin ge-
langen müssen, uns zwar in den einzelnen Gemächern des Gesammt-
baues immer wohnlicher einzurichten, zugleich aber auch in ungeselliger
Häuslichkeit uns immer fremdartiger, ja feindlicher von einander ab-
zuschliessen ? rw
Bekennen wir es offen: durch die Hingabe an das Einzelne ward
der Sinn für das Ganze abgestumpft. Die Einsicht in die harmo-
nische Gliederung der Gesammtwissenschaft, in das ineinandergreifende
Gefüge der Theile, in die Wechselbeziehungen der verschiedenen
Fächer, ist gegenwärtig eine geringere, als sie es in alten, oft mit-
leidig belächelten Zeiten war. Kein Wunder, wenn dieser Thatsache
gegenüber sich dann auch neuerdings mehr und mehr das Bedürfniss
fühlbar macht, den verlorenen Faden des Zusammenhanges wieder
aufzufinden, festzuhalten und möglichst fortzuspinnen! Und erklärt sieh
nicht eben aus diesem neuerwachenden Drange der ausserordent-
liche Beifall, der dahin zielenden Versuchen, von befähigter Hand
unternommen, in jüngster Vergangenheit zu Theil ward? Erklärt sich
nicht gerade hieraus namentlich jener Zauber, den das Bestreben eines
grossen gefeierten Forschers, die im Einzelnen rastlos erweiterten
" Naturkenntnisse zu einem lebendigen Gesammtbilde zu verweben,
auf den edleren Bestandtheil der Mitwelt und zumal der deutschen
Nation ausgeübt hat? Und in dieser Richtung nun auch unsererseits
zu wirken soweit es das bedingte Maass der Kräfte gestattet, EN |
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mannigfaltigen Beziehungen der verschiedenen Zweige des Wissens zu
einander und zu dem Gesammtleben der Erkenntniss aus dem Schatten
wieder an das Licht hervortreten zu lassen — das vorzüglich war der
Wunsch und die Absicht, die den Entschluss zur Herausgabe dieser
periodischen Blätter gezeitigt hat und wodurch wir glauben, ihr Er-
scheinen verantworten zu können,
Es liegt uns fern, die grossen und zahlreichen Schwierigkeiten
zu unterschätzen, die sich einem derartigen Unternehmen entgegen-
stellen. So sehr wir jedoch a gesonnen sind, nicht u
zurückzuschrecken: so zuversichtlich erwarten wir auch auf der andern
Seite, dass der Leser unserm Versuche, zumal in seinen nothwendig
schwankenden Anfängen, eine wohlwollende Nachsicht werde ange-
deihen lassen.
Allerdings erheben wir mit der obigen Därlegung unserer Ab-
sichten eine gesteigerte Anforderung an die Mitarbeiter der Monats-
schrift. Nicht mehr genügen wird es, die Ergebnisse der Forschungen
einfach mitzutheilen; auch die Form wird grosser nachhaltiger Sorg-
falt bedürfen. Nur mittelst einer durchsichtig klaren, möglichst ge-
meinfasslichen Behandlung kann es gelingen, einen gemischten wissen-
schaftlichen Leserkreis zu erwerben. Glückt es aber, die vorgesteckten
Zielpunkte annähernd zu erreichen: dann wagen wir sogar auf einen
noch ausgedehnteren Kreis zu rechnen, auf denjenigen der Gebildeten
überhaupt.
Wir berühren hiermit die Frage von der Popularisirung der
Wissenschaften. Nichts wahrlich liegt uns ferner, als jener matten und
schwächlichen Oberflächlichkeit das Wort reden zu wollen, die gegen-
wärtig unter dem lockenden Namen volksthümlicher Darstellung so
zahllose literarische Erzeugnisse aus dem Boden hervorwuchern lässt.
Dem Studium selbst bringen diese keinen Gewinn; dem Ernste der
Wissenschaft treten sie oft als Entweihungen entgegen; ihr grösstes
Verdienst dürfte darin bestehen, dass sich schom mancher gründliche
Forscher, um ihnen entgegenzuwirken, zu geschmackvollerer Behand-
lung, zu vollendeteren Formen und zur Nacheiferung dem hierin voran-
schreitenden Ausland gegenüber bewogen fand, Und nicht jene, nur
diese Art der Popularisirung ist es, die auch wir erstreben. Tief er-
gründen und das Ergründete verständlich und anregend darlegen: das
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sei unsere Losung — um dem Ernste der Wissenschaft, soweit unsere
Stimme reicht, immer ausgedehnteren Eingang und Anhang zu ver-
sehaffen.
Möge es uns dergestalt gelingen, auch für diejenigen Zweige der
Wissenschaft, welche nicht unmittelbar praktisch in die Lebensthätig-
keit der vielgeschäftigen Gegenwart eingreifen, welche nicht die ma-
teriellen Interessen unserer Zeitgenossen zu fördern geeignet sind und
darum zur Stellung von Stiefkindern herabzusinken drohen — möge
es ums gelingen, auch für sie wieder Theilnahme und Liebe zu er-
wecken! Denn jede Wissenschaft ist gross in sich selbst, und — mehr
als die Materie gilt der Geist.
ZÜRICH, den 30. Dezember 1855.
Der Redactionsausschusse
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AUSBILDUNG DER KONFESSIONELLEN VERHÄLTNISSE IN ZÜRICH
NACH
ZWINGLI’S TODE
UND
EINFLUSS DERSELBEN AUF DAS STAATSLEBEN.
Von J. J. HOTTINGER.
Katholizismus und Protestantismus in ihren Prinzipien.
Die Kirche, wie sie vor der Reformation bestand, hatte einen
eben so unabhängigen und ausgedehnten als mit der Staatswohlfahrt
eng verbundenen Wirkungskreis. Sie war ein die ganze Christenheit
umfassender, künstlich gegliederter, auch in seiner äussern Erscheinung
überschaubarer Organismus, geleitet durch eine fortwährend sich selbst
ergänzende, bevorrechtete, den Laien unverantwortliche Aristokratie,
die Priesterschaft, von der allein oder hauptsächlich die Kirchenlehre
und die Kirchenverfassung, die Volkserziehung und die Wohlthätig-
keitsanstalten ausgingen. Die einzelnen Staaten standen als Abthei-
lungen der Christenheit nicht neben dem allgemeinen Organismus, son-
dern in demselben. Allerdings blieb ihnen die Pflege der materiellen
Interessen, insoweit dieselben nicht mit denjenigen der Kirche in Kon-
flikt kamen; die Feststellung und Erhaltung der Rechtsformen, die
Sorge für innere und für äussere Sicherheit überlassen, ja die Kirche
selbst forderte ihren Schutz gegen allfällige Angriffe und bedurfte des-
selben, indem sie weder über eine Waffenmacht gebieten konnte, noch
ein Strafrecht über die Laien besass; allein sie forderte dieses nicht
als eine Leistung des freien Willens der Regierungen, sondern als
eine Pflicht derselben gegen Gott, in dessen Namen sie handle, wäh-
rend sie unstreitig zugab, dass auch die Regenten ihre Macht von
Gott erhalten hätten, aber unter Vermittlung der Kirche, welche des-
nahen die kirchliche Weihe ihnen ertheilen oder versagen, ja auch
durch Kirchenbann sie ihnen entziehen könne. Allerdings war der
Gedanke eines die ganze Christenheit umfassenden religiösen Verbandes
Frauen
ein grossartiger, und der Grund der Ausartung der Kirche lag keines-
wegs in der Idee an sich, wohl aber in der Form, unter welcher
dieselbe nach dem römischen Systeme sich darstellte, und von dieser
Form nur, nicht aber von der allgemeinen christlichen Kirche selbst
hatten Regierung und Volk des Kantons Zürich bei Annahme der
Reformation sich losgesagt. Indem sie aber damit zugleich die auf
eine bestrittene Tradition begründete Autorität der römischen Kurie
verwarfen und die einzige Grundlage christlichen Glaubens und Thuns
im Evangelium suchten, gedachten sie auch die Form, welche an die
Stelle der aufgegebenen treten sollte, zunächt in diesem zu finden.
Allein eine solche in irdischem Organismus sichtbar sich dar-
stellende Form hatte Christus selbst seiner Kirche absichtlich gar nicht
gegeben, keineswegs weil nicht auch er das Bedürfniss einer Form
für jede zu gemeinsamen Zwecken sich vereinigende Gesellschaft an-
erkannte, sondern weil diese Formen je nach der Eigenthümlichkeit
von Zeit und Ort verschieden sein müssen, während die wahre Ein-
heit im Geiste, im Wesen liegt, ja weil der Geist, in eine und die-
selbe Form gepresst, diesem Drucke erliegt, während gerade der
grössten Mannigfaltigkeit der Formen auch das reichste geistige Leben
entspriesst. Darum auch - beschränkte sich, was er in formeller Be-
ziehung verordnete$ um seine Jünger auch in sichtbarem Bruderver-
bande vereinigt zu halten, auf die einfache, aber tiefe Symbolik, wie
sie in Taufe und Abendmahl sich ausspricht und mit sichererm Erfolg,
als bei einer gerade durch ihren Organismus allem Wechsel und irdi-
schen Irrthum unterworfenen Gesellschaft, suchte er das wahre Ver-
ständniss seines innersten Wesens unmittelbar in den Individuen. Ihren
unsterblichen Geist wollte er stärken und heiligen durch die dem
Evangelium entströmende Kraft seines eignen, während er es ihnen
überliess, die auch für einen irdischen Bruderverband nöthigen Formen
je nach Bedürfniss selbst zu finden. Aus. diesem Grunde hat auch
der Protestantismus, mit Beseitigung besonderer Vorrechte einer dem
Staate unverantwortlichen Priesterklasse, den Priesterberuf jedes ein-
zelnen Christen, sobald er aus innerer Weihe zu Tage tritt, anerkannt.
So standen denn römischer Katholizismus und Protestantismus,
von verschiedenen Prinzipien ausgehend, neben einander: der Katholi-
zismus, die Kirche Christi, auf die Tradition sich stützend, in irdi-
schem Organismus, mit Einheit sowohl der Form wie des Wesens
findend; — der Protestantismus, dieselbe nur in der geistigen Einheit
und unmittelbaren Verbindung der Individuen mit dem göttlichen
Haupte suchend, mit der Berechtigung derselben zur eignen Wahl oder
Gestaltung auch manigfaltiger Formen ihres irdischen Bruderverbandes.
re,
Begründung der zürcherischen Landeskirche.
Gehen wir num nach dieser nothwendigen Feststellung des Stand-
punktes für unser Urtheil im Allgemeinen auf die konfessionellen Zu-
stände des Kantons Zürich im Besondern über. Als von diesem eine
Reformation nothwendig gefunden und beschlossen wurde, erhob die
bestehende Kirche Protestation gegen dieselbe. Hätte damals schon
in Zürich die, vorzüglich in Nordamerika zur Geltung gelangte, An-
sicht gewaltet, dass der Staat in Religions- und kirchliche Ange-
legenheiten sich nicht einzumischen habe, so würde vermuthlich ein
Theil der Bewohner des Kantons, durch die bischöflichen und später
auch päpstlichen Erlasse geschreckt, bei der römisch - katholischen
Kirche geblieben sein, ein andrer hätte sich vielleicht um Zwingli,
oder auch andere Führer gesammelt, die dann gewissermassen im
Lichte blosser Sektenstifter erschienen wären, die schlechtesten aber
wahrscheinlich von aller Religion sich losgesagt. Allein das gesammte
zürcherische Volk, welches den unabhängigen Kanton, den selbst-
ständigen Staat bildete, wollte ein christliches bleiben, an dem Grund-
gedanken der allgemeinen Kirche festhalten *) und nur von der Form,
welche das Papstthum derselben gegeben hatte, sich lossagen, und so
gestaltete es sich für gemeinsame Religionsübung aus eigener Voll-
macht, so weit diese und seine Gränzen reichten, zu einer christlichen
Landeskirche, wodurch dann seine Reformation neben derjenigen an-
derer Staaten und auch der katholisch gebliebenen Welt gegenüber
erst den nöthigen Halt und die nöthige Würde empfing. Ganz na-
türlich wurde es nun die Pflicht und Aufgabe der in seinem Auftrage
handelnden Regierung mit Unterstützung Zwingli’s und derjenigen
seiner Amtsgenossen, welche dazu die nöthige Befähigung besassen,
für diese Landeskirche auch diejenige Form zu finden, welche für
den Nationalcharakter und die religiösen Bedürfnisse des zürcherischen
Volkes die zweckmässigste war. Diese Aufgabe indessen hatte ihre
eigenthümliche, bald, und mit der Folge der Zeiten wiederholt zu
Tage tretende Schwierigkeit. Die Gefahr konnte von zwei Seiten
kommen, von Seite der einzelnen Individuen wie von der Staatsbe-
hörde selbst. Von dem Augenblicke an, wo nämlich die heiligen
Schriften als die höchste Autorität in Religionssachen anerkannt wur-
den, konnte auch dem einzelnen Laien nicht mehr, wie dieses in der
römischen Kirche geschah, die Prüfung und die eigene Deutung der-
selben entzogen bleiben. Hier aber lag in der Dunkelheit einzelner
*) Siehe hierüber die Erklärungen der sämmtlichen Gemeinden des Kantons vom Jahr
1524, bei Füssli, Beitr. 3. Kirchengeschichte III. 106 f. Sie blieben dabei auch nach dem
unglücklichen Ausgang des Kappelerkrieges. Hottinger: Gesch. d. schw. Kirchentrennung
1, 441.
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Bücher, in der nicht immer übereinstimmenden Darstellung derselben
Vorfälle- oder Aeusserungen‘ durch ihre Verfasser, in der Eigenthüm-
lichkeit der morgenländischen Schrift- und Bildersprache, im Ab-
weichenden oder Schwankenden der Uebersetzungen die Möglichkeit,
dass selbst fromme und wissenschaftlich gebildete Männer in ihrer Auf-
fassung einzelner Stellen völlig verschiedener Ansicht sein konnten,
wie hinwieder dass Andere in schwärmerischer Verblendung oder für
persönliche Zwecke aus dem Zusammenhang gerissene Schriftworte zur
Begründung gefährlicher Lehren mit dem Beifall’ einer noch ungebil-
deten und aufgereizten Menge missbrauchten.
-— Der erstere dieser Fälle trat in der Spaltung zwischen Luther
und Zwingli wegen der Abendmahlslehre, der zweite in den Aus-
schweifungen der Wiedertäufer zu Tage. Aber auch in entgegenge-
setzter Richtung, von Seite der Staatsgewalt, liess sich eine Gefähr-
dung der Reformation und der neuen Landeskirche gedenken, wenn
nämlich die Regenten, zufrieden allerdings, das drückende, ja in meh-
reren Beziehungen untergeordnete Verhältniss, in welchem sie bisher
zur römisch-katholischen Kirche gestanden hatten, gelöst zu sehen,
es vergassen, dass diese Lösung nur unter der Bedingung zu Stande
gekommen war, dass sie selbst von wahrhaft christlichem Geiste er-
füllt, den zum kirchlichen Amte berufenen Predigern des Evangeliums
jederzeit die volle Freiheit des auf dieses sich stützenden Wortes ge-
statten und dass sie nie ihre Stellung als nunmehrige Aufsichtsbehörde
der Landeskirche bei vielleicht eintretender eigner Gleichgültigkeit
gegen das Christenthum eher zur Schwächung als zur Kräftigung der
Volksreligion missbrauchen. Das sicherste Schutzmittel gegen alle
diese Gefahren lag neben der nun unentbehrlich gewordenen Verstan-
des- wie Gemüthsbildung des Volkes, bei welcher das Christenthum
erst in seinem wohlthätigen Einfluss auch auf das gesellschaftliche und
Staatsleben anerkannt werden konnte, in der Einsicht, der Wissen-
schaftlichkeit, dem Charakter und der von glaubensloser Lauheit wie
vor denkscheuer Engherzigkeit gleich feınen, fortwährend auf’s Prak-
tische gerichteten Berufsthätigkeit der Geistlichen. In diesem Sinne
hatte auch Zwingli seine Aufgabe gefasst, Bullinger von ihm dieselbe
aufgenommen. Die Geschichte muss nun zeigen, wie, bald mit glück-
licherem, bald mit weniger glücklichem Erfolg für Staat und Volk,
in Bezug auf das Bekenntniss, den Unterricht, den Kultus und die
Kirchenverfassung dieselbe auch durchzuführen versucht ward.
Das Bekenntnis.
Um dem römischen Katholizismus gegenüber einen festern Stand-
punkt und für die eigenen Religionsverhältnisse, insofern auch diese
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nach der damaligen Zeitlage bei politischen Verhandlungen in Frage
fallen mussten, staatsrechtliche Anerkennung zu gewinnen, wurde als
Hauptbedürfniss für die zürchersche Landeskirche eine öffentliche Er-
klärung über Glauben und Lehre derselben betrachtet. Es liegt in
der Natur der Sache, dass ein solehes Bekenntniss bei einsichtsvollen
Freunden der Religion um so leichtern Eingang und auch bei unbe-
fangenen Staatsmännern um so gerechtere Würdigung finden musste, je
klarer und einfacher dasselbe war, je mehr es sich auf das Wesent-
liche, ohne welches ein positives Christenthum nicht gedacht werden
kann, beschränkte, je freiern Spielraum es hingegen allem bloss For-
mellen liess, Allem, was weniger in einverstandener Handlungsweii
als nur im vieldeutigen Buchstaben seinen Ausdruck findet und daher
2 ohne Nachtheil füs das Staatswohl oder die Sittlichkeit der Gesell-
schaft ganz ruhig dem Gewissen jedes Einzelnen überlassen werden kann.
Unter allen Reformatoren hat Zwingli dieser freiern Ansicht am
nächsten gestanden; denn als im Jahr 1530 in Folge einer kaiser-
lichen Aufforderung beim Reichstage von den protestantischen deutschen
Fürsten und Reichsständen das durch Melanchthon abgefasste soge-
nannte Augsburgische Glaubensbekenntniss übergeben ward, sandte
Zwingli an den Kaiser ebenfalls eine ausführliche Darstellung seines
Glaubens und seiner Lehre ein, jedoch mit dem ausdrücklichen Bei-
fügen, dass er dieses allein und nur in seinem Namen thue, indem
er seinem Volke nicht vorgreifen wolle. Nach des Reformators Tode
wurde aber dieses Glaubensbekenntniss von seinen Amtsgenossen und
besonders von Bullinger gewissermassen als dessen Vermächtniss be-
trachtet und spätere Verhandlungen, durch welche auch ein von der
Landeskirche selbst ausgehendes Bekenntniss erzielt werden sollte, immer
um Grunde gelegt.
Dieses geschah auch, als auf Betreiben des Rathes und der Theo-
logen von Strassburg, welche ihre bisher bestandenen freundschaft-
lichen Verhältnisse zu den reformirten Schweizern aufrecht zu halten
und zugleich mit ihren lutherischen Glaubensbrüdern im Reiche im
Frieden zu leben wünschten, im Jahr 1536 der Versuch der Abfassung
eines öffentlichen Bekenntnisses der gesammten eidgenössischen refor-
mirten Stände gemacht ward, in der bestimmten Absicht, rücksichtlich
derjenigen Glaubenspunkte, die zwischen Luther und Zwingli unaus-
geglichen geblieben waren, dem erstern, so weit es ohne die eigene
Ueberzeugung preiszugeben möglich war, sich anzunähern. In einer
Versammlung der Abgeordneten der Städte Zürich, Bern, Basel,
Schaffhausen, St. Gallen, Biel und Mühlhausen zu Basel, welcher
auch diejenigen Strassburgs noch beiwohnten, wurde durch eine Kom-
ra
mission, deren Mitglieder auch Bullinger und Leo Judä waren, ein
solches Bekenntniss entworfen, angenommen und auch von den sämmt-
lichen anwesenden geistlichen und weltlichen Abgeordneten unter-
schrieben. Es ist dasselbe unter dem Namen der „ersten helvetischen
Konfession* bekannt, ward auch später in deutscher und latei-
nischer Sprache gedruckt, jedoch weder im Auftrage noch unter ofhi-
zieller Bestätigung irgend einer Regierungsbehörde. So grosse Mühe
sich aber auch die daran arbeitenden Theologen gegeben hatten, nur
beim Wesentlichen zu bleiben, kurz und einfach zu sein und schwie-
rige Streitfragen, soweit es immer anging, fern zu halten, so hatten
dennoch die Strassburgischen Gelehrten, Buzer besonders, um Luthers
Forderungen zu genügen, einige Ausdrücke einzuflechten gewusst, zu
welchen die Zürcher Theologen ihrer von Zwingli’s klarer Anschauungs-
weise abführenden Dunkelheit und Zweideutigkeit wegen, höchst un-
gern ihre Zustimmung gaben. Ausdrücklich verlangten daher Bul-
linger und Leo Judä, dass zur Beruhigung der Gewissen noch fol-
gender Zusatz aufgenommen werde: „Durch diese Artikel wollen wir
keineswegs allen Kirchen eine einzige Glaubensregel vorschreiben,
denn wir anerkennen keine andre als die heilige Schrift. Wer mit
dieser übereinstimmt, mit dem sind auch wir einverstanden, obgleich
er andre, von unserer Konfession abweichende Redensarten gebrauchte;
denn auf die Sache selbst und die Wahrheit, nicht auf die Worte
soll man sehen. Wir stellen jedem frei, sich derjenigen Redensarten
zu bedienen, welche er für seine Kirche am passendsten glaubt, und
werden uns auch selbst der nämlichen Freiheit bedienen, gegen Ver-
drehung des wahren Sinnes dieser Konfession aber uns zu verthei-
digen wissen.“
So wurde auch von Zwingli’s unmittelbaren Nachfolgern an den-
jenigen Grundsätzen festgehalten, mit welchen das tiefste religiöse
Gefühl und der frömmste Glaube sehr wohl, zugleich aber allein auch
die ächt reformatorische Thätigkeit der Vernunft und Freiheit der
Forschung bestehen kann, und dieses wiederholte sich, als Luther
auch durch die erwähnten Friedensversuche der Schweizer unbefriedigt,
sich auf’s neue zu steigernder Heftigkeit, ja zu Schmähungen verleiten
liess, die wir hier lieber unberührt lassen, noch entschiedener im
Jahr 1545 durch eine von Bullinger abgefasste Erklärung, welche
unter Billigung auch der Bernischen Gelehrten und des dortigen Rathes
erschienen ist.*) Noch ausdrücklicher als bisher wird hier die Glau-
*) Unter der Aufschrift: „Wahrhafte Bekenntniss der Diener der Kirche zu Zürich,
was sie aus Gottes Wort mit der allgemeinen christl. Kirche glauben und lehren, insbesonders
aber von dem Nachtmahl des Herrn u. s, w.*
re
beusfreiheit der Individuen geschützt und das Recht der eigenen Prü-
fung auf dem allgemeinen Glaubensgrunde der heiligen Schrift für die-
selben in Anspruch genommen: „Wir haben — heisst es in dem Eingange
— auch Zwingli und Oekolampadius nicht weiter geglaubt als wir es in
der Bibel gefunden; denn wir sie immer als Menschen erkennt haben und
noch erkennen, die fehlen und irren mögen. Wer uns aus der heil.
Schrift eines Bessern belehren kann, dem wollen wir gerne folgen.*
Während indessen Männer, die auch über Religionsverhältnisse
frei und unbefangen zu denken und zwischen Wesen und Form zu
unterscheiden vermochten, einer solchen Sprache sich freuten, sah Lu-
ther bei der Kraft und dem Starrsinn, womit er an seiner Schrift-
auslegung als der einzig richtigen festhielt, in so schwankenden Aeus-
serungen nur neuen Verrath an der Wahrheit, und auch Kalvin, der,
seit einigen Jahren mit wachsendem Einflusse in Genf wieder lehrend,
auch für die reformirte Kirche mehr in romanisch - katholischem als in
ächt protestantischem Sinne Einheit nicht bloss im Wesen, sondern
zugleich in der Form erzwingen wollte, nannte in einem Schreiben an
Melanchthon die Erklärung der Züricher mager und kindisch.
Mittlerweile war durch Kaiser Karls Sieg bei Mühlberg die prote-
stantische Macht Deutschlands gebrochen worden, Vereinigung und Ein-
tracht der reformirten Schweizerstände um so dringender. Ihr natürliches
Panier war dem römischen Glaubenszwang gegenüber die Glaubensfrei-
heit; denn dem persönlichen Papstthum, das mit allen Vortheilen einer
tausendjährigen Organisation und gestützt auf die jetzt eben sich stolz er-
hebenden Jesuiten, mit neuen Kräften auf dem Kampfplatze erschien,
konnte ein blosses Papstthum des Buchstabens doch unmöglich gewachsen
sein. Nichtsdestoweniger erblickte Kalvin fortwährend in der auch die
dunkelsten Fragen umfassenden Einheit der Lehre ein Hauptbedürfniss
der Reformirten, und um für eine solche wenigstens die schweizerischen
Landeskirchen zu gewinnen, kam er im Mai 1549, von Farel begleitet,
persönlich nach Zürich. Nach mehrtägigem Gespräche der beidersei-
tigen Theologen, dem auch Abgeordnete der zürcherischen Regierung
beiwohnten, wurde ein sogenanntes „gemeinsames Einverständniss“ ®)
rücksichtlich der Abendmahlslehre von sämmtlichen Anwesenden wnter-
zeichnet, kurz und gedrängt, aber in geschraubten und künstlichen Aus-
drücken, in denen allein die in der Hauptsache dennoch abweichenden
Ansichten sich scheinbar wenigstens soweit nähern konnten, dass beide
Theile annehmen durften, bei der Zustimmung dennoch ihrer Ueber-
zeugung getreu geblieben zu sein. Dieses theologisch - dialektische
Uebungsstück — mehr kann es für unsere Zeiten wohl kaum noch
*) Consensio mutua in re sacramentaria ministrorum Tigurin® ceclesi® et D- Joh, Calvini.
sein — wurde hier mit Beifall, dort mit heftigen Anfechtungen auf-
genommen; allein die Theologen der übrigen Schweizerstädte, mit
Ausnahme derjenigen von Schaffhausen und Biel, fanden den Versuch,
ohne übrigens eine Missbilligung desselben auszusprechen, überflüssig
und was bisher zu möglichster Vereinigung in der Bekenntnisssache
geleistet worden, für die vaterländischen Bedürfnisse genügend.
Bei dieser Lage der Dinge konnte die Fortbildung der schwei-
zerischen Landeskirchen in dogmatischer Beziehung eine freiere bleiben
als in Deutschland unter der Herrschaft der augsburgischen Konfession
und bei dem stürmischen Eifer, womit Luthers Nachfolger, noch über
ihn hinausgehend, Alle die sich ihren Formeln nicht unterwerfen
wollten, verdammten. Um so mehr drangen hingegen in Zwingli's
Geiste Bullinger und seine Amtsgenossen in Zürich auf das den wahren
Glauben erst offenbarende Thun und wiesen im sittlich thätigen Leben
die Hauptaufgabe eines christlichen Volkes nach, eine Lehrweise, vor-
züglich passend für ein republikanisches Land, wo bei dem grösseren
Spielraum, den die Verfassung der Freiheit des Willens der Indivi-
duen lässt, die eigene Leitung und Bändigung desselben durch reli-
giöse Grundsätze um so unerlässlicher wird. Geläugnet kann indessen
nicht werden, dass seit Bullinger Kalvins nähere und persönliche Be-
kanntschaft gemacht hatte, ein Einfluss desselben auf seine theologische
Anschauungsweise immer sichtbarer hervortrat, dass die Tiefe der
Spekulation desselben, der Zauber seiner Dialektik ihn gewissermassen
überwältigte, so dass er am Ende selbst auf Kosten der Milde seines
Charakters und seines früher unbefangenern und praktischern Urtheils
gegen den gewaltsam durchgreifenden Genfer in einzelnen Fällen, dem
Handel mit Servet z. B., in einer Weise sich nachgiebig erzeigte, die
mit den Begriffen unserer Zeit und wohl- auch dem wahren Geiste des
Christenthums schwer zu vereinigen ist.
Die wissenschaftliche Annäherung der Zürcher und Genfer Theo-
logen wurde vollends noch durch Peter Marlyr vermittelt, der im
Jahr 1556 als Lehrer der Theologie an des verstorbenen Pellikans
Stelle nach Zürich berufen, Bullingers treuester Freund und vielfach
sein Rathgeber ward und wie seiner gründlichen Gelehrsamkeit, so auch
seines Charakters wegen dessen volles Vertrauen verdiente. Durch
diese Verhältnisse wurde nun auch der wichtigste und entscheidende
Versuch der nothwendigen Entwerfung einer von sämmtlichen refor-
mirten Schweizerkirchen anzunehmenden Bekenntnissschrift, der gleich-
zeitig dann auch noch die bereits dem Wesen, wenn auch nicht der
Form nach bundesverwandten Genfer beipflichten konnten, angebahnt
und möglich gemacht. Das diesfällige Aktenstück, bald auch weit
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über die Schweiz hinausgreifend, kam 1566, zwei Jahre nach Kalvins
Tode, zu Stande. An seiner Entstehung hatte indessen die Politik
ebensovielen Antheil als die Bemühungen der Theologen. *)
Es hatte nämlich 1564 Maximilian il. den deutschen Kaiserthron
bestiegen, ein Fürst, von dessen vorurtheilloser und milder Gesinnung
sich vieles auch für Herstellung des Religionsfriedens hoffen liess.
In der That sollten auch bei einem 1566 nach Augsburg ausge-
schriebenen Reichstage die Religionsverhältnisse der Katholiken und
Protestanten zur Sprache kommen und über die gegenseitigen Befug-
nisse derselben, sowie über ihre Stellung im Reiche entschieden wer-
den. Aber nicht nur der begreifliche Widerstand der römischen Kurie
und der katholischen Geistlichkeit, sondern auch der blinde Hass und
Eifer Lutherischer Theologen, stellten dem wohlmeinenden Vorhaben
mannigfache Schwierigkeiten entgegen. Unter diesen Umständen strebte
der Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz, welcher damals als der
entschiedenste Anhänger des reformirten Lehrbegriffes und die kräf-
tigste Stütze desselben in Deutschland betrachtet und daher auch von
den Lutheranern vorzüglich angefochten wurde, die bereits begonnene
und fortschreitende Annäherung zwischen den Züricher und Genfer
Theologen auch zum formellen Abschlusse zu bringen, dieselbe dann
durch ein von beiden Theilen angenommenes und öffentlich bekannt
gemachtes Glaubensbekenntniss beurkunden zu lassen, indem er bei
der Masse beipflichtender Unterschriften, auf die zu rechnen war,
durch Uebergabe desselben beim Reichstage von diesem um so eher
Schutz und staatsrechtliche Anerkennung auch seiner Glaubensgenossen-
schaft erwartete. Er wandte sich mit dem Ansuchen um Abfassung
des Entwurfes einer solchen Konfession an Bullinger, mit welchem er
in vertrautem Briefwechsel stand, und dieser, der sich während der
ernsten Zeit der 1564 zu Zürich herrschenden Pestepedemie mit einer
sofehen Arbeit wirklich beschäftigt hatte, übersandte ihm dieselbe
zur Prüfung. Sie gefiel dem Kurfürsten so wohl, dass er für die
allgemeine Annahme dieser Konfession von Seite derjenigen, die sich
zum reformirten Lehrbegriffe bekannten, nun alle möglichen Schritte
that. Die Lage der Dinge war damals von der Art, dass auch die
schweizerischen reformirten Regierungen aus politischen Gründen jeder
engern formellen Vereinigung ihrer Theologen sich nur freuen konnten,
und so wurde denn, da auch Kalvins Nachfolger in Genf, Beza,
seine Zustimmung ertheilt hatte, das Bullingersche Glaubensbekennt-
*) Ausführlicher und gründlich haben diesen Gegenstand behandelt: Heinr. Escher
in Ersch und Grubers Enzyklopädie, Art. „Helvet. Konfession“, und O. F, Fritsche: „Con-
fessio helvetica posterior.“ 1839,
A:
niss im März 1566 von den Vorstehern der Kirchen zu Zürich, Bern,
Schaffhausen, St. Gallen, Graubündten, Biel, Mühlhausen unterzeichnet.
In der zürcherschen Beipflichtung war auch diejenige der reformirten
Prediger in Glarus, Appenzell, Thurgau und Rheinthal inbegriffen.
Die Geistlieben in Neuenburg hatte man aus Berücksichtigung der
Verhältnisse zu ihrem katholischen Landesherrn, dem Herzog von
Longueville, zur Unterzeichnung nicht eingeladen; dieselbe erfolgte
aber doch zwei Jahre später. Nur in Basel wurde der Tochtermanu
Bullingers, Gwalther, der die Sache persönlich zu empfehlen dahin
gereist war, wie der Ausdruck im dortigen Protokoll lautete: „abge-
fertigt*, weil man erst vor drei Jahren die Basler Konfession neu
aufgelegt und die Geistlichen diese unterschrieben hätten. Doch findet
sich einer spätern Ausgabe des Glaubensbekenntnisses vom Jahr 1644
die Zustimmung auch jener Kirche beigefügt.
Obschon nun diese zweite an die Stelle jener bereits elwähnten
ersten getretene und fortan unter diesem Namen verstandene Helvetische
Konfession schon ihrer grössern Weitläufigkeit wegen eher ein Rück-
schritt als ein Fortschritt genannt werden könnte, so ist dennoch ihre
Entstehung durch die geschilderten damaligen Zeitverhältnisse gerecht-
fertigt. Darauf deutet auch die Vorrede der gedruckten Konfession
selbst, in weleher ausdrücklich gesagt ist: „Man habe dem Beispiel
anderer Länder folgen müssen, auch dieselbe entworfen in der Absicht,
Verläumdungen zu widerlegen und die Uebereinstimmung der refor-
mirten Eidgenossen zu beweisen. Den gottseligen Alten sei es aller-
dings genug gewesen, wenn in Rücksicht der Hauptartikel der Lehre
Uebereinstimmung geherrscht habe, und auch jetzt noch sei man immer
bereit, besserer Belehrung aus dem göttlichen Worte zu weichen.“
Eine zwingende Gewalt wurde dessnahen schon damals diesem
Glaubensbekenntnisse in Zürich nicht beigelegt, wenn es auch anderswo
geschah, sowie es auch nirgends die bekräftigende Unterschrift einer
schweizerischen Regierung erhielt. Als Vereinigungspunkt aber und
gemeinsame Anleitung für die reformirten Prediger und als Akten-
stück, das mit der nämlichen Berechtigung den Tridentinischen Kon-
zilienschlüssen, wie der Augsburgischen Konfession an die Seite ge-
stellt werden konnte, auch als ein für die zweite Hälfte des Jahr-
hunderts wenigstens erprobtes Mittel noch immer vorkommenden Strei-
tigkeiten und Spaltungen zwischen den reformirten Religionslehrern
selbst abzuhelfen, erhielt diese Konfession, besonders da ihr zahlreiche
Kirchen auch in Schottland, England, Frankreich und Ungarn bei-
traten, allerdings ihren Werth und hat überdiess auch den andern
gegenüber ihre wissenschaftliche Bedeutung.
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Der Unterricht.
Der Thätigkeit für Entwerfung einer Konfession musste diejenige
für Hebung des Unterrichts zur Seite gehen. Die religöse Erziehung
hat zwar ihre Hauptwurzel im Beispiel, und für die Jugend, für das
Volk passt daher vorzüglich Erzählung, die im Thun und den Schick-
salen der Völker und ihrer geistigen Führer die Folgen des Guten
und Bösen zeigt, und kräftiger als an blosser Kanzeldogmatik rankt
sich am eigenen Beispiel gewissenhafter Lehrer und frommer Eltern
der kindliche Glaube empor. Christus selbst steht göttlich da und
wird ewig in seiner Kirche leben durch das, was er gethan hat.
Seine Lehre war einfach und in seinen Gleichnissen wies er stets auf
das Beispiel hin. Ganz richtig hatte dieses auch Zwingli erkamnt.
Seine Predigten waren reich an Beispielen, die er der biblischen Ge-
schichte, aber unbedenklich bisweilen auch der allgemeinen, vorzüg-
lich häufig aber dem täglichen Leben enthob. Dadurch erhielten die-
selben denn auch die Anschaulichkeit und Anwendbarkeit, welche die
Zuhörer aller Stände zu fesseln und seinen Religionsunterricht so frucht-
bar zu machen im Stande war. Auch Bullinger folgte ihm auf diesem
Wege, und man weiss, dass er einem vornehmen Fremden, der ihm
nicht verhehlte, dass er bei seiner. gelehrten Bildung einen mehr auf's
Wissenschaftliche eingehenden Vortrag von ihm erwartet hätte, auf
die Menge seiner auch ungelehrten Zuhörer verwies, denen er nur
durch eine aus ihrer eigenen Lebensanschauung gegriffenen Lehre ver-
ständlich werden könne. Dasselbe Verfahren hatten indessen schon
seit der Verbreitung des Christenthums auch die würdigsten und ein-
sichtsvollsten katholischen Geistlichen eingeschlagen, und insofern kann
die Aufgabe der Religionslehrer beider Konfessionen eine gemeinsame
genannt werden. Allein bei der Weise, wie die Reformation zu
Stande kam, bei der Anerkennung der heiligen Schrift als der wahren
und Hauptgrundlage alles religiösen Unterrichts, bei der Ermächtigung,
ja der Verpflichtung des-Laien, in dieser auch selbst zu forschen, ge-
staltete sich die Aufgabe, für den protestantischen Religionsunterricht
das zweckmässigste System zu finden, umfassender und schwieriger;
denn während das auf die Tradition sich stützende Wort des katho-
lischen Priesters glaubensvoll als der Ausspruch der unfehlbaren Kirche
selbst hingenommen wurde, nahm der Protestantismus weit stärker
auch die eigene Geistesthätigkeit des Hörers in Anspruch, der dem
Lehrer nur soweit zu folgen sich verpflichtet glauben durfte, als er
dessen Lehre mit den Worten der heiligen Sehrift übereinstimmend
fand. Der Unterrieht ging auf diese Weise mehr auf das Verstandes-
.
SI
gebiet hinüber, und wie daher für den Religionslehrer ein selbst-
ständiges, jede Prüfung bestehendes Wissen erforderlich wurde, wäre
es auch nur gewesen, um den Schutt allen wegzuräumen, den Eng-
herzigkeit, Unwissenheit, Pharisäismus und Priesterherrschaft seit Jahr-
hunderten im kirchlichen Leben aufgehäuft hatten, so hinwieder für
den Schüler wenigstens diejenige allgemeine Verstandesbildung, die
zwischen dem wissenschaftlich hinlänglich begründeten und klar Dar-
gestellten und seinem Gegentheil zu unterscheiden vermag.
Aus diesen Gründen wurde von Zwingli und dann auch von
seinen unmittelbaren Nachfolgern mit kräftiger Unterstützung der Re-
gierung das Wesentliche vor allem aus für die erforderliche wissen-
schaftliche Bildung der Geistlichen selbst geleistet, und zwar, da es
für sie unerlässlich war, die heil. Schrift in den Ursprachen ver-
stehen zu lernen, zunächst für die Sprachwissenschaft. In Kollin,
Pellikan, Wiesendanger wurden auch tüchtig gebildete Lehrer gefun-
den und durch diese in Verbindung mit Andern, ihren Nachfolgern,
die zürchersche Philologenschule begründet, deren Ruf sich bis auf
unsere Zeiten erhalten hat. Vor allem aus sollte diese Sprachwissen-
schaft dazu dienen, die heil. Schrift durch Uebersetzung in die Sprache
des Volkes diesem zugänglich zu machen, ein Unternehmen, das schon
von Zwingli begonnen, durch die gemeinsame Thätigkeit der erwähnten
Lehrer und den Beistand Leo Judä’s vorzüglich zu Stande kam. Es
wurde nicht ohne Grund in jenen ersten Zeiten angenommen, dass
diejenigen Stellen der heil. Schrift, des Evangeliums besonders, durch
welche die Handlungsweise des Christen bestimmt und vorgezeichnet
werde, an und für sich klar seien und desshalb die Ausmittlung ihres
riehtigen Wortsinnes genüge, während auf die Behandlung dunkler
Fragen im Volksunterricht nur mit Vorsieht und nicht ohne begrün-
dete Veranlassung einzugehen sei, ja dass dieselbe am zweckmässigsten
nur zwischen den Gelehrten und in lateinischer Sprache stattfinde.
Dahin hatte schon der Blick auf die traurigen Folgen der Spaltung
in der Abendmahlslehre geführt. Als aber, wie bei Besprechung der
Bekenntnissschriften gezeigt wurde, Kalvins Einfluss auch in Zürich
allmählig spürbar ward, und der scharfsinnig und philosophiseh ge-
bildete Pater Martyr als Lehrer der Theologie auftrat, erhielt auch
das theologische Studium statt der bisherigen exegetischen immer mehr
eine dogmatische Richtung. Die praktischen Wahrheiten traten den
spekulativen AR gegenüber in den Hintergrund. Die Wir-
kung zeigte sich bald auch im Volksunterricht, und an den schwer
begreiflichen, durch ungeschickte Geistliche zugleich oft noch in der
verworrensten Weise vorgetragenen Lehren von gänzlicher Frucht-
losigkeit der Werke, von vorherbestimmter Seligkeit oder Verdamm-
niss, von Gnadenwohl, zerarbeitete sich, wahrhaftig nicht zum Besten
des sittlichen und auch des Staatslebens, der einfache Volksverstand.
Unter solehen Umständen konnte freilich eine wenig über die Anlei-
tung zum Lesen und Schreiben hinausgehende, ja in einem bedeuten-
den Theile des Landes nicht einmal so weit führende Verstandes-
bildung auch nicht länger genügen. Glaubenssätze, die von dem ge-
sehiehtlich und philosophisch gehörig Vorbereiteten in ihrer Entstehung
und logischen Konsequenz wenigstens begriffen werden konnten, wenn
er ihnen auch nicht unbedingt beizupflichten vermochte, liessen den
Ungebildeten kalt, blieben ein todtes Wort für ihn, oder gaben schwär-
merischen Naturen Gelegenheit, die unsinnigsten Folgerungen an solche
Lehren zu knüpfen.
Allein während unstreitig für die Schulverbesserung in der Haupt-
stadt vieles gethan, das höhere und niedere Schulwesen gesondert,
das Unterrichtssystem erweitert, die Besoldungen verbessert, in Er-
manglung einheimischer auch fremde Lehrer angestellt, tüchtige Jüng-
linge durch Stipendien ermuntert, zu Reisen im Auslande oder den
Studien auf fremden Hochschulen unterstützt und in dem sogenannten,
erst in Kappel errichteten, dann nach Zürich verlegten Alumnate eine
besondere Bildungsanstalt für künftige Theologen eröffnet wurde, blieb
das Loos der Landschaft, weleher doch dasselbe Recht an die durch
die Reformation errungenen geistigen Güter zukam, ein weit weniger
günstiges, ja sie hatte durch Aufhebung der in den verschiedenen
Landesbezirken bestandenen Klöster und geistlichen Stiftungen, in
denen, so schlecht im Allgemeinen ihre Unterrichtsanstalten gewesen
waren, doch auch dem Landmann der Zugang zu einer etwas höher
reichenden wissenschafftlichen Bildung offen stand, an früher besessenen
Vortheilen eher eingebüsst. Ohne dass es ihnen freilich verwehrt ge-
wesen wäre, hinderten schon die bedeutenden Kosten die Landleute,
ihre Söhne den langen Gang durch die städtischen Unterrichtsanstal-
ten verfolgen zu lass odass denn nach und nach die Bürger der
Hauptstadt die gelehrte Bildung und den Eintritt in den geistlichen
Stand, ja auch die Theilnahme an den aus den Klostergütern gestif-
teten Staatsstipendien als ein ausschliessliches Vorrecht der Ihrigen
zu betrachten begannen, und zwar kein geringes, da nicht nur die
Pfründen im eigenen Kanton, sondern auch noch die zahlreichen im
reformirten Thurgau, Rheinthal, Toggenburg, ja = sch selbst im
Glarner- und Appenzellerlande in der Regel von Zürich aus besetzt
wurden. Dadurch bildete sich dann auch allmählig eine neue, weni-
ger durch Verdienst oder Wissen als durch Geburt zum Religions-
Wissenschaftliche Monatsschrift. 2
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unterricht privilegirte und eine zur Unterwerfung des eignen Urtheils
unter den vorgeschriebenen Katechismusglauben gezwungene Klasse, ein
Verhältniss, dass dem Geiste des Protestantismus, ja des Christen-
thums selbst, wie es von seinem Stifter ausging, entschieden zuwi-
der war. :
Ganz konnte allerdings auch auf der Landschaft schon wegen
des eingeführten Katechismus und der Pflicht ihn auswendig zu lernen,
wenigstens der. Leseunterricht nicht unberücksichtigt bleiben; allein
noch während der grössern Hälfte des Reformationsjahrhunderts wur-
den die Schullehrer wie früher lediglich von den Gemeinden, hin und
wieder auch nur von wohlhabenden Eltern angestellt und besoldet,
auch von Staatswegen für Bildung derselben durchaus nichts geleistet,
sodass dann auch ein offenes Geständniss der Regierung selbst vom
Jahr 1580 über die Folgen dieses Systemes vorliegt. „Nachdem
wir — heisst es in demselben — „sammt unsern Gelehrten die
Versehung der Landschulen in Bedenken genommen, haben wir ge-
funden, dass an etlichen Orten nicht mit bester Ordnung gehandelt
wird, indem durch die fremden unbekannten Schulmeister, so zu Zei-
ten von den biederen Gemeinden ohne fleissige Vorbetrachtung ange-
nommen worden, allerlei Unrahts unter den einfältigen Landleuten
gesäet wird, weil viele fremde Vaganten und Strölchlinge herumlau-
fen, die sich mehrentheils für Studenten, Schreiber und Schulmeister
ausgeben und ihre Dienste anerbieten, dann aber ihre Irrthümer zum
Theil mit fremden Büchlein, die sie dureh die. Kinder den Alten zu-
schleppen, zum Theil bei den Gastmahlen und den Liehtstubeten bei
den Einfältigen ausgiessen, daraus dann viel Zerrüttung, Trennung
und Aergerniss erfolget, mit denen man nachher zu thun hat“. Unter
diesen Umständen konnte allerdings, wenn man dem Uebel nicht tiefer
zur Wurzel greifen wollte, die von der Regierung angeordnete Unter-
ordnung der Schullehrer unter die wissenschaftliche Leitung der Geist-
lichen und in Rücksicht auf ihr Betragen unter die Beaufsichtigung
dieser und der Gemeindeältesten wenigstens als ein zeitweises Pallia-
tivmittel betrachtet werden. .
Der Kultus.
Noch schlagender aber als im Unterrichtswesen offenbarten sich
die Folgen der Reformation in der völligen Umgestaltung des Kultus.
Es erhielt derselbe einen dem bisher üblichen geradehin entgegenge-
setzten Charakter, und zwar in Zürich und Genf noch entschiedener
als bei den Lutheranern. Dem Iırtbum, der von ausschliesslicher
Einwirkung auf das Gefühl eine in fruchtbarem und lebendigem Glau-
u a ne .
Den
er,
ben sich befestigende Kirche erwartete, trat derjenige gegenüber, der
von ausschliesslicher Einwirkung auf das Denkvermögen dieselben Er-
wartungen nährte. Weil die katholische Kirche es nicht wagen durfte,
ihre Glaubenslehre der freien Prüfung auch der Laien hinzustellen,
war sie genöthigt, dieselbe in ein symbolisches Gewand zu verhüllen,
wobei ihr die Kunst unstreitig wesentliche Dienste leisten, und von
reinen Händen geübt, auch manche Religionswahrheit der nicht unbe-
deutenden Volksklasse näher bringen konnte, welcher zum scharfen
logischen“ Denken die ursprüngliche Anlage oder die Vorbildung, ja
meist auch die Zeit gebrach. Allein wenn auch, und namentlich in
der Periode unmittelbar vor der Reformation die religiöse Kunst sich
zu unsterblichen Meisterwerken erhoben hatte und die Symbolik der
katholischen Kirche unter der Leitung ungefälscht frommer und ver-
ständiger Priester dem Kultus eingreifende Momente darbot, so wurde
dennoch bei der allgemeinen Ausartung der Kirche und der überwie-
genden Masse unwürdiger Geistlicher ein so schamloser Missbrauch
mit dem, was heilig sein sollte, getrieben, dass die Reaktion unmög-
lich ausbleiben konnte. Es war nur der natürliche Verlauf der mensch-
lichen Dinge, wenn man nun von einem Extreme zum andern über-
ging. In Zürich, wo früher zwischen den zwei ersten geistlichen
Stiftungen eine Art - Wetteifer in Ausschmückung der Kirchen und
Veranstaltung kirchlicher Feierlichkeiten, die zahlreiche Menschen-
schaaren herbeiführten, geherrscht hatte, nahm mit dem Fortgange
der Zeiten, unter der erlahmenden Pflege der Chorherren und den
Zuthaten einfältiger Mönche dieser Kultus allmählig . einen spielenden
Charakter mit Beimischung sogar wahrhaft lästerlicher Uebungen an.
Von einem reinigenden Einschreiten eines auch hier erwachenden
Kunstsinns ist nichts bekannt. Unter solehen Umständen mussten die
Worte der Reformatoren, ja auch die heftigsten Ausdrücke, mit denen
die Häupter der Bilderstürmer unter Anrufung der Prophetendrohungen
im alten Testamente gegen den sogenannten Götzendienst donnerten,
Wiederhall in den Herzen vieler Zuhörer finden. Es bildete sich eine
öffentliche Meinung‘, die mit Misstrauen gegen alles dasjenige auf der
Hut war, das über die einfachen Worte der heiligen Schriften hinaus-
ging, und mit der Masse des wirklich Anstössigen und Schlechten
wurde auch Unschuldiges, Ja entschieden Zweckmässiges beseitigt. Vor
allem aus wurde es nun durch Entfernung der fremden Sprachen vom
Gottesdienst den Geistlichen erschwert, nach bisheriger Uebung in
gedankenloser Weise selbst Unverstandenes oder dem Volke Unver-
ständliches vorzutragen, durch Entkleidung der Kirchen von allem die
Einbildungskraft beschäftigenden oder vom Hören des Wortes ablen-
Ze
kenden Schmuck, ja selbst durch geschmacklosen Einbau in die Chöre,
oder völliges Verschliessen und Bestimmung derselben zu profanen
Zwecken die Aufmerksamkeit um so eher der Predigt und dem vor-
gesprochenen Gebete zugewendet, welche nach den Prinzipien des
Protestantismus unstreitig auch die Hauptgrundlage des Gottesdienstes
bilden mussten. Auch bei der Mittheilung der Sakramente wurde von
dem bloss Symbolischen noch weniger als bei den Lutheranern beibe-
halten, beim heiligen Abendmahl hauptsächlich dessen Bedeutung er-
klärt und an die Verpflichtungen erinnert, die an den Genuss des-
selben sich knüpfen, seine Feier aber auf die Hauptfeste beschränkt
und selbst die Altäre in einfache Tische zur Aufnahme des Brotes
und Weines verwandelt. Durch diese Veränderungen erhielt der re-
formirte Kultus einen Charakter der nüchternen Ueberlegung und Be-
sonnenheit, der zu dem Ernste und der Einfachheit des republikani-
schen Lebens nicht übel passte, der aber von dem Prediger selbst
um so gründlicheres Wissen und nebst dem Talente zur Mittheilung
und Anwendung desselben eine Begeisterung forderte, die ihrer Kraft
und Reinheit wegen auch bei der grossen Zahl der weniger gebildeten
Hörer dennoch den nöthigen Anklang fand. Aber wo diese ihrer
Natur nach ziemlich seltenen Eigenschaften und Talente gebrachen,
da gerieth der Gottesdienst in Gefahr, zur blossen mechanischen
Uebungssache auszuarten, welche das Gefühl eben so kalt liess, als
den Denker ohne Befriedigung.
Dass diese Gefahr indessen erst in späterer Zeit und allmälig
sich bemerkbar machte, war dem überwältigend reichen Stoffe zuzu-
schreiben, welcher in der aufgeregten Periode unmittelbar nach der
Reformation auch dem geistig weniger hochstehenden Prediger sich
darbot. Die Rechtfertigung der Lossagung von der Herrschaft und
den Missbräuchen des Papstthums, die nothwendige Beantwortung der
Angriffe der Katholischen, die in der Abendmahlslehre bereits auch
in’s Volksleben eingedrungene Polemik unter den Protestanten selbst,
wobei der Vortheil der Klarheit und Natürlichkeit auf Seite der Zwing-
lianer war, die mit Anrufung der heil. Schrift noch allgemein ver-
bundene Uebung der Prediger, auch Staatsangelegenheiten nach bib-
lischen Vorgängen zu würdigen und zu beurtheilen, das Interesse end-
lich, das bei einem bedeutenden Theile des Volkes für die ihm bis-
her noch so wenig bekannte biblische Geschichte selbst geweckt ward,
kamen den Rednern zu Hülfe. Ihre Kirchen füllten sich mit auf-
merksamen und das Angehörte auch später noch lebhaft besprechenden
Zuhörern, die Zahl der Predigten musste vermehrt werden und die
Abschaffung der symbolischen Zuthaten des katholischen Kultus wurde
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1 STZEIELTERANE!
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unter diesen Umständen nur wenig vermisst. Ja, als in blindem Eifer
auch die Orgeln aus den Kirchen weggebracht, hier und da sogar
zerschlagen wurden, verschwanden selbst Musik und Gesang förmlich
vom Gottesdienst. Es darf aber wohl nicht bloss als Zeichen des
Wiedererwachens einer gesundern Anschauungsweise der Dinge, son-
dern vielleicht zugleich der Ermüdung betrachtet werden, welche die
ausschliessende Appellation an das Denkvermögen herbeiführte, inso-
fern der dazu geeignete Lehrer nicht vorhanden war, wenn schon
achtundzwanzig Jahre nach Zwingli’s Tode zuerst in Winterthur und
Stein ümd vierzig Jahre später auch in Zürich der Kirchengesang ein-
geführt wurde, später dann hier und da selbst eine neue Orgel ent-
stand, auch immer allgemeiner der hohe Werth der religiösen Musik
wieder anerkannt ward, welche gerade dem tiefsten Gefühle, für dessen
Aeusserung die Buchstabensprache nicht hinreicht, ihren ergreifenden
Ausdruck leiht; überhaupt aber, in freilich gemessenen Schranken und
unter Wachsamkeit gegen jede vom Ernsten und Würdevollen ablen-
kende Ausartung, auch religiösem Kunstsinn und den Bedürfnissen
wie der Macht frommer Gefühle von der Kirche die gebührende Rech-
nung getragen ward.
Die Kirchenverfassung.
Von bedeutendem Einfluss auf das Staats- und allgemeine Wohl
war dann ferner die Kirchenverfassung. Der protestantische Begriff
von der wahren und allgemeinen Kirche steht im innigsten Zusammen-
hang mit der Lehre Christi von der Ueberwindung des Todes und der
persönlichen Fortdauer des Geistes. Ganz folgerecht- ergiebt sich aus
dieser Lehre der Unterschied zwischen dem ewigen innern Leben des
in freiem Selbstbewusstsein waltenden unsterblichen Geistes und dem
Leben und Wirken desselben nach Aussen hin, beschränkt und be-
dingt durch seine zeitweise Verbindung mit dem Körper, sowie durch
den Einfluss und die Gesetze der physischen Natur. Für jenes innere
Leben aber das geistige Auge seiner Jünger zu öffnen, war Christus
gekommen; und in diesem eben besteht auch das von ihm verkündigte
(rottesreich, welches nicht von dieser Welt ist. Was sind nun aber
diesem Gottesreiche, der einzig unfehlbaren, auf Felsen gegründeten
Kirche gegenüber irdische Organismen, eine menschliche Regierung,
materielles Besitzthum und staatlicher Schutz angesprochener Rechte ? —
Zufälligkeiten! an die Natur, die Irrthümer und die Gebrechen unsers
körperlichen Daseins geknüpft, die mit demselben entstehen, wechseln
und sterben. Ein weit stärkeres Band jener Kirche ist dasjenige,
welches die Glieder derselben mit ihrem nur dem körperlichen Auge
nicht, wohl aber dem geistigen stets sichtbaren Haupte verbindet, und
diese Verbindung, in Gott ihre Stütze nur suchend, steht hoch über
jeder wandelbaren irdischen, hoch daher auch über dem Staate, weder
seines Schutzes bedürfend, noch seiner Macht und seinen Gesetzen
erreichbar. Wenn indessen unstreitig Christus selbst seinen Jüngern
empfohlen hat, auch für die Dauer ihres irdischen Daseins in äusserer
brüderlicher Gemeinschaft zu leben, und auch hier sein Bild und seine
Worte lebendig zu erhalten, so kann allerdings auch in dieser irdi-
schen Kirchengemeinschaft von Einheit im Geiste mit ihrem göttlichen
Haupte und Meister die Rede sein; aber die Organisation, die Ver-
fassung, deren dann dieselbe, wie jede andere menschliche Anstalt,
bedarf, wird auch der bereits bezeichneten Unvollkommenheit aller
menschlichen Einrichtungen ausgesetzt bleiben, und ob der durch Chri-
stus seinen Jüngern verheissene heilige Geist in ihr ebenfalls walte,
wird nur aus den Früchten derselben erkennbar, zu den edelsten
aber dieser Früchte ein sittliches und wohlgeordnetes Staatsleben zu
zählen sein.
Von diesem Standpunkt ausgehend unterschieden denn auch Zwingli
und seine Nachfolger zwischen der rein geistigen, in Glauben und
Liebe hinreichend verbundenen und nur durch die innere Weihe ihrer
Glieder sich offenbarenden Kirche und einem zeitweisen, in seinem
materiellen Organismus überschaubaren und wie jede menschliche Ge-
meinschaft auch menschlicher Ordnung bedürfenden Kirchenverband.
Für die erstere war nichts als Freiheit des Glaubens und des an-
regenden, vom Geiste zum Geiste sich fortpflanzenden Wortes von-
nöthen; der Organismus des Letztern hingegen, den der aus eigener
Ueberzeugung zum Christenthum sich bekennende Staat selbst als Be-
dürfniss anerkannte, konnte eben desswegen auch unbedenklich von
der christlichen Staatsgewalt und nicht mehr einer nun überflüssig ge-
wordenen Kirchengewalt ausgehen. Damit war für Zürich der unnatürliche,
nur endlose Konflikte weckende Dualismus einer neben einander beste-
henden Staatsgewalt, die dieser Welt angehörte und angehören musste,
und einer Kirchengewalt, die nicht von dieser Welt sein wollte, be-
seitigt. Die geistige und allgemeine Kirche Christi, keiner irdischen
Macht bedürfend und keine fürchtend, stand über dem Staat, der
organisirte äussere Kirchenverband, die Landeskirche, stand im Staate.
Und so war es denn auch in Zürich der christliche Staat selbst
und die in seinem Namen und Auftrag handelnde Regierung, von
welcher, mit Berathung freilich und auf das Gutachten der Geist-
lichen als der dazu unterrichteten und berufenen Ausleger der heil.
Schriften, die Verfassung der Landeskirche ausging. Die Geistlichen
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selbst wurden desnahen unter der ihrem Gewissen allein überlassenen
obersten Verantwortlichkeit gegen Christus als das Haupt der allge-
meinen und ewigen Kirche, deren innere Weihe sie mitbringen sollen,
für die zeitweise Uebung auch ihres irdischen Berufes als Staatsbeamte
betrachtet, von der Regierung gewählt oder ihre nach den bestehenden
Rechtsverhältnissen durch die Gemeinden oder andere Stellen gtroffene
Wahl von derselben bestätigt. Ebenso erhielten sie ihre Besoldung
vom Staate, unter dessen Oberaufsicht und nach dessen Anleitung
auch die der Landeskirche zugehörenden Stiftungsgüter verwaltet wur-
den. $o wurde es gleichmässig Bedürfniss des Staates und desswegen
auch Pflicht der Regierung, für christlichen Religionsunterricht und
Kultus, sowie für die dazu nöthigen Hülfsmittel zu sorgen, während
es hingegen allerdings den Geistlichen überlassen bleiben musste, den-
selben Inhalt und Charakter zu geben. Ueberall begegnen wir in der
zürcherischen Kirchenverfassung einer gemeinsamen, sich gegenseitig
überwachenden und unterstützenden Wirksamkeit der Staatsbehörden
und der Geistlichkeit, und wenn in der Synode, der aus sämmtlichen
Geistlichen in Anwesenheit einer Regierungsabordnung gebildeten Ober-
behörde für Erhaltung der Einheit der Lehre und Wachsamkeit über
treue Führung des Lehramts, in den „Stillständen“, und den Armen-
pflegen der Geistlichkeit der Vortheil des freien, auf das Evangelium
sich stützenden Wortes, der kräftigen Anregung durch dasselbe, der
Abfassung und Einreichung von Gutachten, Vorschlägen, auch soge-
nannten „Bedenken“ gesichert war, so musste hingegen dem Staate
die nothwendige Prüfung, Ueberwachung, Bestätigung oder Zurück-
weisung vorbehalten bleiben. Je vollständiger und schärfer, je einver-
standener zugleich nun aber Regierung und Geistlichkeit ihre Aufgabe
zu fassen vermochten, desto erfreulichere Früchte dieser Harmonie
traten im kirchlichen und Staatsleben zu Tage. Wie dieses in ein-
zelnen Perioden besser, in andern durch Verschuldung von dieser oder
jener Seite weniger gelang, hat die Geschichte zu zeigen. Im All-
gemeinen hat sich diese Kirchenverfassung als zweckmässig erprobt
und daher auch in ihren Grundlagen bis auf unsere Zeiten erhalten.*)
*) Eine weitere Ausführung des hier behandelten Gegenstandes wird die vom Verfasser
übernommene Fortsetzung d. „Geschichte des Freistaates Zürich von Dr. Bluntschli* enthalten,
Sr
DER CENTRALPUNKT DES VERBRECHENS.
Von EDUARD OSENBRÜGGEN.
> In der Vorrede zum deutschen Wörterbuch hat Jacob Grimm einen
sehwerwiegenden Tadel über die gegenwärtige deutsche Rechtssprache
und die deutschen Rechtsgelehrten ausgesprochen. Er nennt diese
Rechtssprache „ungesund und saftlos, mit römischer Terminologie hart
überladen.“ Es will mir zwar scheinen, als ob das Deutsch Savigny's,
Puehta’s und anderer Juristen, die man Romanisten zu nennen pflegt,
mehr für das neunzehnte Jahrhundert passe, als das manierirte Ur-
deutsch einiger Grimmianer, aber es lässt sich der Tadel des Mei-
sters durchaus nicht als unbegründet abweisen. Um so erfreulicher
ist es daher, dass in dem gegenwärtigen Geschlecht deutscher Juri-
sten das Streben, ihre Wissenschaft als deutsche Rechtswissenschaft zu
behandeln und zu fördern, immer klarer und bestimmter hervortritt
und das ist nicht am wenigsten der Fall bei denen, die sich das
römische Recht zum vornehmlichen Studienfach gewählt haben. Eine
Folge dieses Strebens kann nicht sein, dass man die römische Ter-
minologie ganz verbanne, denn das wäre ohne eine Beseitigung des
römischen Rechts nicht möglich; aber eine Folge davon ist und wird
sein, dass man die deutsche Rechtssprache nicht weiter mit römischer
Terminologie überlade, dass also die Muttersprache zu ihrem Rechte
komme. Es ist bereits nicht ohne Nachfolge geblieben, dass Saviyny seine
kristallhellen Gedanken in einfacher deutscher Sprache ausgedrückt hat.
Der deutsche Criminalist ist weniger an die römische Termino-
logie gebunden als der Civilist, denn für das deutsche Strafrecht der
Gegenwart hat das römische Recht eine weit geringere Bedeutung als
für das bürgerliche Recht. Ohne daher die Thatsache der Geltung
des römischen Rechts in der Entwicklung des deutschen Strafrechts
vom Mittelalter her zu verkennen und ohne das römische Recht für
die Zukunft ignoriren zu wollen, fühlt sich der Forscher und Förderer
des deutschen Strafrechts mehr auf deutschem Boden stehend. Daraus
ergiebt sich für ihn die Pflicht, in der Behandlung seines Gegen-
standes den Geist und die Gesetze der deutschen Sprache genau zu
erkennen und demgemäss das Gewicht der Worte zu prüfen und die
Wortforschung, die keine Wortspielerei ist, nicht aus dem Auge zu
Ze "en
tu
lassen. Die Forderung ist natürlich und einfach, ihre Erfüllung stösst
freilich auf bedeutende Schwierigkeiten. Seit Jahrhunderten haben die
Juristen den Sprachgebrauch in den römischen Rechtsquellen mit grosser
Sorgfalt erforscht und eine Belehrung darüber ist aus lexikalischen und
anderen Werken in den meisten Fällen leicht zu erlangen, während eine
solehe Hülfe hinsichtlich der in lebendigem Flusse befindlichen deut-
schen Sprache sehr oft mangelt. Wenn es mit der Ermittelung des Buch-
stabensinnes gethan wäre, so würden wir unsere Sprachforscher „nicht
vergebens um Auskunft angehen, aber der Begriff vieler Rechtswörter
geht weit über den Buchstabensinn hinaus. Ich erinnere nur an Mord
und Raub. Dennoch ist zuerst der Buchstabensinn zu ermitteln und
es stellt sich dann die weitere Frage, ob im Gebrauche einem Worte
sich von Aussen neue Merkmale angesetzt haben oder sonst in dem
Verhältnisse von Begriff und Wort ein Wandel eingetreten ist. Die
grösste Schwierigkeit entsteht aber dann, wenn verwandte Ausdrücke,
von denen denn doch jeder seinen eigenen Werth hat, in der Weise
einander ablösen und substituirt werden, dass sich gar kein fester
Sprachgebrauch nachweisen lässt. So ist es mit den Ausdrücken Vor-
satz, Absicht und Zweck und der Uebelstand ist um so grösser, je
wichtiger die Begriffe, zu deren Bezeichnung diese Worte dienen
sollen, im Strafrecht sind. Wegen des Schwankens in ihrem Ge-
brauche sieht sich jeder eriminalistische Schriftsteller, der sich ihrer
bedienen muss, veranlasst, im Voraus zu erklären, in welchem Sinne
er sie auflasse und der Leser muss, um den Deductionen folgen zu
können, sich hier mit diesem, dort mit jenem individuellen Sprach-
gebrauche bekannt machen. Da die Wissenschaft nicht über dieses
“ unsichere Schwanken hinausgekommen ist, so sind es auch die Straf-
gesetzbücher nicht.
Es ist zwar behauptet worden, „die Wissenschaft habe erst die
Geltung der Worte für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu be-
stimmen.* Das ist aber nur halbwahr; jedenfalls führt diese Behaup-
tung als Norm genommen leicht zum argen Missbrauch der Sprache.
Die Fortschritte in den einzelnen Wissenschaftskreisen rufen eine Be-
reicherung der Sprache hervor, denn neue Begriffe müssen in der
Sprache einen Ausdruck finden; wenn aber jeder Forscher in der
Wissenschaft mit individueller Willkühr sich seine Sprache der Wissen-
schaft zurechtbildet, so ergibt das eine neue Auflage der Geschichte
vom babylonischen Thurmbau, bei welchem die Folge der Sprach-
willkühr Verwirrung war. Es ist daher gewiss sehr zu wünschen,
dass es den deutschen Wissenschaftsmännern gefallen möge, die Gesetze
der deutschen Sprache beim Gebrauche derselben mehr als es bei
manchen der Fall ist, zu beachten und dass sie nicht ohne Noth den
gemeinen Gebrauch der gebildeten Sprache verlassen.
Beginnen wir mit dem Zweck. Wenn auch nicht die Wurzel,
so ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes nachgewiesen *). Zweck
ist der kopflose kurze (viereckige) Nagel zum Einschlagen und dieser
Sinn ist erhalten in dem noch allgemein gebräuchlichen Schüsterzweck.
In der plattdeutschen Sprache meiner Heimath (Holstein) wird Zweck
(Zwick) sehr gewöhnlich gebraucht für einen hölzernen Nagel, der
die Mitte hält zwischen Stift und Pflock. Spezieller ist Zweck der
Nagel (elavus) in der Schiessscheibe, der als Zielpunkt sient. All-
gemein bekannt ist diese letztere Bedeutung noch gegenwärtig in der
deutschen Schweiz, indem sowohl der hölzerne Nagel in der Mitte
der belehmten Scheibe, nach welcher mit Bolzen geschossen wird, als
auch das Weisse in der Mitte der bemalten Scheibe Zweck genannt
wird. In ähnlicher Weise gebraucht Haller in seinem Gedicht „die
Alpen“, da wo er die ländlichen Spiele beschreibt,**) Zweck für das
Ziel beim Kegelschieben:
„Dort eilt ein schnelles Bley in das entfernte Weisse,
Das blitzt, und Luft und Ziel im gleichen Jetzt durchbohrt;
Hier rollt ein runder Ball in dem bestimmten Gleisse,
Nach dem erwählten Zweck mit langen Sätzen fort.“
Aus der sinnlichen und anschaulichen Bedeutung des Wortes
Zweck = Zielpunkt beim Schiessen entstand in einfacher Weise dessen
Uebertragung auf alles das, was erzielt wird, wozu dann das Correlat
Mittel ist. Mittel ist jener sinnlichen Bedeutung von Zweck gegen-
über das Schiessen; bei der Uebertragung alles dasjenige, was auf
den Zweck hin angewandt wird. Der erreichte Zweck wird oft wie-
der als Mittel zu einem weitern Zweck gebraucht und so lösen sich
beim Handeln der Menschen Mittel und Zweck ab bis zum letzten
Zwecke hin, dem Endzwecke.
Der Buchstabensinn von Vorsatz scheint leicht ermittelt werden
zu können. Vorsatz bedeutet das was vor- gesetzt ist oder wird
und zwar im Innern des Menschen; er ist eine Coneretion des Willens.
Es kann nun zwar vor zeitlich und örtlich genommen werden, allein
diese verschiedenen Beziehungen treffen bei dem Vorsatze als einem
innern Vorgange zusammen oder vielmehr die zeitliche ist wirklich, die
örtliche nur figürlich und diese fällt auf jene zurück. Wer sich eine
*) Graf, althochd. Sprachschatz V. S. 731, Diutiska III. 187; Schmeller , bayrisches
Wörterbuch IV. S. 301 und besonders Weiyand, Wörterbuch der deutschen Synonymen
Nr. 2325. vergl. Nr. 1337, 1338.
**) Die Anführung bei Weigand ist nicht genau.
a U ENG
Zi se
a a .
Handlung vorsetzt, der setzt sie in seinem Innern, bevor sie wirk-
lich ist,*) d. h. bevor der darauf gerichtete Wille geäussert ist. Diese
Bedeutung des Vorsatzes und die sich ergebende Relation von Vor-
satz und Handlung, wie sie dem Buchstaben des Wortes entspricht,
so stellt sie auch den Vorsatz an seine Stelle als einen nothwendigen
Bestandtheil in der Gliederung des Herganges, der aus dem Heran-
und Herausgehen der Subjeetivität an und in die Objectivität entsteht.
Synonym sind Entschluss und Beschluss,**) nur enthalten sie ein an-
deres Bild. Wer sich eine Handlung vorgesetzt hat, hat auch zur
Handlung sich entschlossen, d. h. er ist aus der Unbestimmtheit weg
oder heraus zu einer Bestimmtheit im Innern gekommen; er hat auch
zu handeln beschlossen, d. h. der Schluss des Erwägens und Bera-
thens ist da und damit tritt an die Stelle der Unbestimmtheit die
Bestimmtheit im Innern.
Auf den Zweck richtet der Schütze sein Augenmerk und auf ihn
hat er es abgesehen, in so fern ihn sein Bolzen oder seine Kugel
treffen soll. Das Substantiv Absicht ist erst in der zweiten Hälfte
des 17. (nach Weigand) oder in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts (nach Grimm) aufgekommen für das Infinitiv-Substantiv Ab-
sehen. Es ist „die abreichende Richtung der Augen, und daun des
Geistes, worauf“ 7)
Um den Zweck zu treffen, auf den er es abgesehen hat, muss
der Schütze schiessen, also handen. Wenn er das Gewehr anlegt,
um zu schiessen, hat er sich schon vorgesetzt zu handeln. Das Han-
deln ist das Mittel, +f) um den Zweck zu treffen (erreichen), es be-
findet sich in der Mitte zwischen der Absicht und deren Zielpunkte,
um diese beiden Punkte mit einander in Verbindung zu setzen.
Auge und Hand des Schützen sind geleitet vom Willen; die Ab-
sicht und der Vorsatz sind Coneretionen seines Willens. Der Zweck
ist ausser ihm; er setzt aber sein Inneres in Beziehung auf diesen
Punkt der Aeusserlichkeit; mit dem Auge schaut er auf diesen Punkt,
mittelst der Hand, dem Werkzeug der Werkzeuge, wie Aristoteles
sie nennt, führt er den Vorsatz aus und sind Auge und Hand sicher
und fest und ist das Gewehr, welches der Hand als Werkzeug dient,
gehörig zugerichtet, so trifft er den Zielpunkt, erreicht den Zweck.
Er findet darin eine Befriedigung, sei es, dass seine Schützenehre
*) Berner, Imputationslehre 8. 180.
**) Weigand a. a. O Nr. 586, 587.
7) Weigand a. a. O. Nr. 2325, Schmitthenner's kurzes deutsches Wörterbuch, umge-
arbeitet von Weigand (3. Aufl.) Grimm, deutsches Wörterbuch.
tr) Weigand a. a. O. Nr. 1337.
m TE Be =
in dem Meisterschusse neu hervortritt, sei es, dass ein Preis ihn be-
lohnt. Während diese Befriedigung hier das Letzte ist, der End-
zweck, existirt sie bloss vorgestellt als Erstes in dem ganzen Her-
gange, als Deweggrund oder Motiv; sie führt den Schützen zur Ab-
sicht und zum Vorsatz und Handeln.
Die Motive des Handelns concentriren sich in dem Begehren.
Wer etwas begehrt, hat nicht, was er gern hätte, er leidet einen
Mangel, es ist also in ihm ein unangenehmes Gefühl; wenn ihm ge-
worden ist, was er begehrte, ist er befriedigt. Diese Befriedigung
ist der innere Vorgang, auf den das Begehren gerichtet war. Men-
schen- und Vaterlandsliebe, Eigennutz, Hass und Rache, wie andere
Motive zum Handeln, so mannigfach sie auch sind, sie stellen den
Menschen auf den Boden des Begehrens, Das Handeln aber, welches
er wählt, um aus dem Begehren heraus zur Befriedigung zu gelangen,
welches also das Mittel zum Zweek (Endzweck) sein soll, wurzelt in
dem Willen. So gehören denn Vorsatz, Absicht und Motiv (Zweck)
verschiedenen Gebieten an, jene dem des Willens, dieses dem des
Begehrens.
Wenn wir nun die im Vorhergehenden eingeführten Begriffe be-
nutzen wollen, um uns die Genesis des Verbrechens klar zu machen,
so scheint es angemessen, zunächst noch das Bild vom Schützen, als
einen bekannten Ausgangspunkt, festzuhalten, zu welchem die Be-
griffe Zweck und Absicht direet und indireet hinführen.
Um sich zu bereichern, beabsichtigt A. den Zielpunkt in der Scheibe
zu treffen und setzt sich daher vor zu schiessen.
Um sich zu bereichern, beabsichtigt A. einen Menschen zu tödten
und setzt sich daher vor zu schiessen.
Die Vergleichung dieser beiden Fälle zeigt:
1. Das Motiv ist gleich.
2. Vorsatz und Handlung sind gleich.
3. Die Absicht ist verschieden. Sie ist in dem zweiten Fall
rechtswidrig; das ist ihr Prädicat, denn das Strafgesetz verbietet, wie
das Sittengesetz, die Tödtung eines Menschen. Die Absicht ist es
also, welche diesen zweiten Fall in den Bereich des Strafrechts bringt,
aber durch die Absicht erhalten auch die übrigen Momente des Ganzen
eine andere Färbung, der Vorsatz wie das Handeln und auch das
Motiv. Ich darf mir vorsetzen zu schiessen, ich darf schiessen, ich
darf suchen mich zu bereichern; der Vorsatz und die entsprechende
Handlung und das Motiv sind an sich dem Strafrecht gleichgil-
tig, durch die Absicht erhalten sie eine Beziehung zum Verbrechen,
nur charakterisiren sie nicht das Verbrechen im Gegensatz zu dem
PET
A ELEINLBUEDLENVERDERBET
Fr
ausser dem Strafrechtsgebiete liegenden Thun. Die Absicht ist der
accentuirte Ton in dem ganzen Iehythmus.
Sobald der Absicht das Prädicat rechtswidrig gegeben wird, be-
deutet dies immer, dass sie auf die Verletzung eines Rechts gerichtet
und dass, sobald sie verwirklicht ist, eine Rechtsverletzung vorliegt.
Der Gegenstand der Rechtsverletzung ist aber das Recht und zwar
ein bestimmtes Recht. Der Schütze hat es beim Scheibenschiessen
nicht auf eine Scheibe überhaupt, sondern auf die Scheibe abgesehen;
diese ist sein Angriffsobjeet. So hat auch jedes Verbrechen, dessen
Centralpunkt die rechtswidrige Absicht ist, ein Angrifsobject (Zweck
im alten Sinne — Zielpunkt) und dieses ist ein bestimmtes Recht.
Die Erkenntniss desselben ermöglicht eine prinzipielle Behandlung der
einzelnen Verbrechen und eine systematische Einordnung derselben.
Das Angrifisobject beim Ehebruch ist die Ehe d. h. die Ehe als ob-
jeetives Verhältniss, welches seinen Platz hat in der Sphäre des
Rechts, wie der Sittlichkeit. Dass durch den Ehebruch der Frau der
Mann gekränkt wird in seinem Recht und er also als Gegenstand der
in dem Verbrechen enthaltenen Rechtsverletzung erscheint, ist nur
seeundär und wenn bei dem römischen adulterium das Recht des
Ehemannes an sich als das Angriffsobjeect genommen wurde, so ist
das ein Beweis, dass die Römer, wie sie sich nicht erhoben hatten
zur Anerkennung der sittlichen Würde der Ehe, derselben auch in
der Rechtsphäre nieht den gebührenden Werth zugestanden. Bei der
Bigamie ist die Ehe als objectives Verhältniss gleichfalls das Angriffs-
object, aber in einer andern Beziehung. Das Angriffsobjeet bei der
Ehrverletzung ist die Ehre. Jeder einzelne Mensch, insofern er ein
Recht auf Ehre hat, kann Gegenstand des ehrenkränkenden Handelns
werden, aber in dem Träger des Rechts haben wir nur einen Reprä-
sentanten der Idee des Rechts. Wer daher den A. injuriiren will,
äber den B. injuriirt, der ist der Ehrverletzung schuldig (l. 18 $. 3
D. de injuriis).
Bei dem Ehebruch und der Ehrverletzung ist das rechtliche Ob-
jeet in dem Namen ausgedrückt, bei den meisten Verbrechen ist das
nicht der Fall und dasselbe daher oft schwerer zu erkennen. Manche
nach anderen Merkmalen unterscheidbare Verbrechen haben als ge-
meinsames rechtliches Object die publiea fides, öffentliche Treue und
Glauben (Betrug, Fälschung, Meineid ete.); bei manchen ist recht-
liches Object das Vermögensrecht (Diebstahl, Unterschlagung ete.).
Die in der Menschentödtung liegende Rechtsverletzung kann nur in
die Erscheinung treten an einem bestimmten lebenden Menschen, aber
der rechtliche Gegenstand dieses Verbrechens ist das Menschenleben
A
überhaupt, als welches unter den Schutz und Zwang des Strafrechts
gestellt ist.
Auf die folgenreiche Unterscheidung des Objects des Verbrechens
selbst und des Gegenstandes der Aeusserung des verbrecherischen
Handelns hat Köstlin wiederholt hingewiesen #); am schärfsten und be-
stimmtesten hat John es hervorgehoben, dass jedes Verbrechen den
Angriff eines bestimmten Rechts enthalte.**) Durch diese Erkenntniss
wird zugleich die Annahme von s. g. formalen Verbrechen beseitigt. f)
Die allgemeinen Lehren des Strafrechts haben die Feuerprobe zu
bestehen in der Anwendung auf die einzelnen Verbrechen. Unter-
suchen wir daher, ob die obige in den Grundzügen dargestellte Lehre
sich in dieser Weise bewähre.. An einem anderen Orte soll dieses
vollständiger geschehen, hier muss das Eingehen in einige Verbrechens-
Kreise genügen, wobei es mir zweckmässig erscheint, gerade solche
Verbrechen auszuwählen, bei denen das mit der Absicht correspon-
dirende rechtliche Object ein verschiedenes ist.
I. Bei der Kindesaussetzung ist
1. der Vorsatz: das Kind auszusetzen (wegzulegen). Das Aus-
setzen ist die Handlung, durch welche die Absicht verwirklicht wer-
den soll. An sich ist es eine dem Strafrecht gleichgültige Handlung,
wenn eine Mutter ihr Kind weglegt oder etwa in einem Korbe im
Garten aussetzt. Geschieht dies so, dass dadurch das Kind gefährdet
wird, so wird damit noch nicht das Verbrechen der Kindesaussetzung
existent, sondern es kann dieses lediglich auf Fahrlässigkeit beruhen.
Allein durch_ die Beschaffenheit des Kindes und durch die Absicht,
welche die Mutter beim Aussetzen hegt, gestaltet sich das Mittel zur
Verwirklichung der Absicht, die Handlung, in der Regel zu einer
gefährlichen und diesen gewöhnlichen Fall hat die peinliche Gerichts-
ordnung Carl V. im Art. 132 vor Augen, während neue Strafgesetze
auch eine für das Kind ungefährliche Aussetzung oder eine solche,
„dass eine Gefahr für das Leben des Ausgesetzten von dem Thäter
nicht befürchtet werden konnte“ oder „wo gar keine Gefahr zu be-
fürchten war“, sobald die sonstigen Merkmale des Verbrechens da
sind, mit Strafe, wenn auch einer geringeren, bedrohen. (Str. G. B.
für Sachsen 163 [131], Grh. Hessen 287, Braunschweig 156, Han-
nover 240.) |
2. Die Absicht ist in der P. G. O. eben so kurz als richtig be-
*) Neue Revision S. 357, 437; System des deutschen Strafrechts I. S. 547, Anm. 2;
vergl. auch Hye, das österr. Strafgesetz I. S. 666.
**) (Grolldammer’s Archiv des preuss. Strafrechts III. 504, 510, 513.
+) Höstlin, Revision $. 437 System I, S. 251. John im Archiv des Crim. 1854. 8. 85 ff.
und in Goltdammer’s Archiv III, 510.
DATE UN DE GUEDLEULMDE UBEBESER
Po
zeichnet: „umb dass sie des abkumm“ d. h. sich auf die Dauer des
Kindes zu entledigen. Diese Absicht ist rechtswidrig, weil die Mutter
die natürliche Pflicht hat, für das Kind zu sorgen. Diese Pflicht ist
das rechtliche Object bei diesem Verbrechen. Hatte die Mutter die
Absicht durch die Handlung des Aussetzens das Kind zu tödten, so
kommt dadurch ihr Verbrechen in die Kategorie der Tödtungen ; die
Handlung ist dann eine von den verschiedenen Mitteln der Tödtung,
In einigen Strafgesetzbüchern ist diess ausdrücklich hervorgehoben (Sach-
sen 163 [131]; Hannover 239, Preussen 183, Thurgau 133, 134);
dagegen Oesterreich 149: „um dasselbe der Gefahr des Todes aus-
zusetzen oder auch nur, um seine Rettung dem Zufalle zu überlassen.*
S. auch Graubünden 112.
3. Das Motiv (Endzweck) kann verschieden sein. Für den straf-
rechtlichen Begriff dieses Verbrechens kommt es unmittelbar darauf
nicht an (Oesterreich: „was immer für eine Ursache ihn dazu bewogen
habe“). Bleiben wir bei dem Rechte der P. G. O. stehen, nach
welchem nur die Mutter des Kindes das Subjeet ist, so will diese
Mutter entweder eine Sorge oder Last loswerden oder der Schande
der unehelichen Geburt entgehen, oder beide Motive treffen zusammen.
Aus demselben Grunde, aus welchem die Kindestödtung im Strafrecht
eine besondere Behandlung erhalten hat, ist auch die Aussetzung des
unehelichen neugebornen Kindes durch die Mutter in einigen Strafge-
setzbüchern besonders hervorgehoben und mit gelinderer Strafe be-
droht (Grossh. Hessen 290, Baden 265, Thurgau 134, Graubünden
112). Darin wird dem Motive eine Bedeutung beigelegt, aber den
Begriff des Verbrechens ändert das nicht.
II. Bei der Bigamie ist
1. der Vorsatz: eine (zweite, dritte etc.) Ehe einzugehen.
2. Absicht: die auf dem Prinzip der Monogamie ruhende Ehe zu
verletzen. Das geschieht durch Eingehung einer neuen Ehe, während
für den Thäter eine frühere noch rechtsgiltig besteht, unter Voraus-
setzung des Wissens von dem rechtlichen Fortbestande dieser früheren
Ehe. Das rechtliche Object dieses Verbrechens ist wie das des Ehe-
bruchs das sittliche Recht der Ehe, aber in Beziehung auf das ge-
nannte Prinzip. Wo Polygamie gestattet ist, kann natürlich nieht von
einem Verbrechen mehrfacher Ehe die Rede sein, wohl aber von Ehe-
bruch. Obgleich die Bigamie ein dem Ehebruch nahe verwandtes
Verbrechen ist, insofern beide das sittliche Recht der Ehe verletzen,
so ist es doch nicht zu billigen, wenn ihre Verschiedenheit dadurch
verwischt wird, dass man beide unter die Rubrik „Verletzungen der
ehelichen Treue* stellt (Sachsen, Thüringen, Hannover, vergleiche
— 32 0 — ,
Bayern 297, 401). Für den Ehebruch lässt sich eine solche Rubri-
eirung einigermassen rechtfertigen, da die Ehe beide Ehegatten zur
Treue verpflichtet und eben darin das sittliche Recht der Ehe hervor-
tritt, allein jene Treue ist doch nur von dem wirklichen rechtlichen
Objeet abgeleitet. Bei der Bigamie führt aber dieselbe Rubrik weiter
ab von ihrem angegebenen Object oder verschleiert dasselbe bis zur
Unkenntlichkeit. Gar nicht besser sind die Rubriken anderer Gesetz-
bücher: „von Angriffen auf die Sittlichkeit* (Würtemberg), „Ver-
brechen wider die Sitten“ (Braunschweig), „Verbrechen und Vergehen
gegen die Sittlichkeit* (Preussen, Luzern, Graubünden), denn es sind
unter diese Rubriken gestellt: die Nothzucht, Verführung zur Unzucht,
Blutschande, Doppelehe, Ehebruch, Kuppelei, widernatürliche Unzucht
und in Preussen sogar der Fall des Verkaufens unzüchtiger Schriften,
Abbildungen oder Darstellungen. Das rechtliche Object, die Sittlich-
keit, ist aber in diesem letzteren Falle, wie bei der Verführung zur
Unzucht, Kuppelei ete. sehr verschieden von dem sittlichen Recht der
Monogamie. Es bildet dort die Sittlichkeit den Gegensatz zur ge-
schlechtlichen Unzucht, daher denn auch einige Gesetzbücher (Zürich,
Thurgau), freilich eben so unrichtig, dieselben Verbrechen und Ver-
gehen insgesammt als Unzuchtsverbrechen rubrieiren.
3. In der Befriedigung der Geschlechtslust wird in der Regel
das Motiv zu finden sein, nicht selten will aber der Thäter auch an-
dere Vortheile durch die zweite Ehe erlangen.
Ill. Betrug.
1. Vorsatz: falsche Thatsachen vorzubringen, oder wahre zu ent-
stellen oder zu unterdrücken (Preussen 241). Die diesem Vorsatze
entsprechende Handlung ist noch nicht Verbrechen, denn auch der
Lügner handelt so.
2. Absicht: in Andern einen Irrthum zu erregen, Andere zu täu-
schen. Mehrere Gesetzbücher stellen ausdrücklich der Erregung eines
Irrthums den Fall gleich, wo Jemand den schon vorhandenen Irrthum
eines Andern unterhält und benutzt (Oesterreich 197, Braunschweig
224, Zürich 239, Luzern 254, Thüringen 236). Um die rechts-
widrige Absicht bei diesem Verbrechen vollständig auszudrücken,
muss aber noch hinzugefügt werden: „um demselben einen Vermö-
gensnachtheil zuzufügen* (Thüringen). Gewöhnlich wird der Thäter
nicht bloss die Absicht haben, durch die Täuschung den Andern in
einen Vermögensnachtheil zu bringen, sondern auch sich einen Ver-
mögensvortheil zu verschaffen, allein die rechtswidrige Absicht ist auch
ohne diese Richtung vorhanden (Thüringen, Sachsen). Das rechtliche
Object des Betruges ist: öffentliche Treue und Glauben. Diese ist
nun,
Zul.
eine Grundfeste des Verkehrs der Menschen, wo rechtliche Verhält-
nisse derselben unter einander bestehen oder begründet werden. Wer
einen Andern täuscht, um ihn dadurch in einen Vermögensnachtheil zu
bringen, der vernichtet seinerseits die öffentliche Treue und Glauben,
die er doch von Andern gegen sich im Verkehr gewahrt wissen will.
3. Das Motiv des Betrügers wird fast in allen Fällen Eigennutz
sein, möglich ist es jedoch, dass ihn die Lust am Schaden des An-
dern bestimmte. (Oesterreich).
IV. Diebstahl. !
1. Die Römer bezeichnen das Handeln des Diebes am häufigsten
mit eontreetare und contrectatio. Contreetare ist ein verstärktes trac-
tare und die Verstärkung, welche die Sylbe con bringt, lässt sich
wohl am besten durch „für sich mit Ausschliessung Anderer“ ange-
ben, so dass contreetatio dem deutschen „Ansichnehmen“ entspricht.
Das deutsche Wort entwenden ( = wegwenden) bedeutet dagegen un-
mittelbar das Entfernen einer Sache aus dem Vermögen eines Andern,
woran sich dann begrifflich das Sichzuwenden anschliesst. Der pleo-
nastische Diebstahl*) hat in seinem Buchstabengehalt keine Hindeutung
auf das Handeln, sondern urgirt das Heimliche.
Aus der Bezeichnung des Handelns mit contreetare und entwenden
ergiebt sich als Vorsatz: eine fremde (bewegliche) Sache an sich zu
nehmen. Darin liegt an sich noch keine Rechtswidrigkeit und jenes
Handeln macht noch Niemand zum Diebe; die contreetatio rei alien®
kann vollkommen rechtmässig sein. Aber das Handeln bekommt eine
andere Färbung durch die
2. Absicht: sich die Sache zuzueignen (animus rem sibi habendi)
mit dem Bewusstsein, dass sie eine fremde ist. Dadurch wird aber
das Verbrechen des Diebstahls noch nicht existent, denn der Contrec-
tant kann ein Recht‘ haben, mit oder ohne Einwilligung des bisher
Berechtigten sich die Sache zu eigen zu machen. Rechtswidrig ist
jene Absicht nur dann, wenn durch ihre Ausführung das Recht eines
Andern geschädigt würde (contreetatio fraudulosa). Dieses Recht (Ver-
mögensrecht) des Eigenthümers, sowie unter Umständen des Commo-
datars und anderer Besitzer der Sache .d. 14 D. de furtis) ist das
rechtliche Object oder Angriffsobject bei dem Verbrechen des Dieb-
stahle. Es wird dann nicht geschädigt, wenn der Träger des Rechts
auf dasselbe zu Gunsten des Contreetanten verzichtet. Gellii N. A.
XI., 13: „Verba sunt Sabini —: Qui alienam rem attrectavit, quum
id se invito domino facere judicare deberet, furti tenetur.* Gaius IIL,195 etc.
*j Grimm, deutsche Rechtsalterthümer 8. 635 (Ausgabe von 1828). Weigand, Synon.
Nr: 598.
Wissenschaftliche Monatsschritt. 3
Eine Vergleichung der Definitionen des furtum bei den römischen
Juristen zeigt uns aber ferner, dass einige derselben die Absicht des
Diebes glaubten erweitern zu müssen. Der kurzen Fassung "„contree-
tatio rei fraudulosa“ entspricht die Definition des Paulus S. R. I.,
31, 1: „Fur est, qui dolo malo rem alienam contrectat.“ Dagegen
ist in der aus Paulus lib. XXXIX. ad Edietum entnommenen 1. 1
S. 3 D. de furtis hinzugefügt „lueri faeiendi gratia*. Es lässt sich
vermuthen, dass dieser Zusatz, der sich weder in jener Definition
des Paulus findet, noch in der sonst buchstäblich mit der 1.1 D. eit.
übereinstimmenden Institutionenstelle, $. 1 I. de oblig. qu& ex delicto,
nicht vom Paulus herrühre; den Grund des Zusatzes erfahren wir
aber aus ]. 41-8. 1 D. ad leg. Aquil.: „Interdum evenire Pomponius
eleganter ait, ut quis tabulas delendo furti non teneatur,. sed tantum
damni injurie, utputa si non animo furti faciendi, sed tantum damni
dandi delevit, nam furti non tenebitur, cum facto enim etiam animum
furis furtum exigit.“ Achnlich sprechen sich andere Pandektenstellen
aus. Hatte also der eine fremde Sache Contreetirende nicht die Ab-
sicht gehabt, sich die Sache zuzueignen und sein Vermögen dadurch
‘zu vergrössern, sondern die Sache sogleich zu vernichten und hatte
er dieses bewerkstelligt, so dass das Contreetiren und das Verichten
zu einem Act zusammenflossen, so konnte nicht die Diebstahlsklage
gegen ihn gebraucht werden, sondern die Klage wegen widerrechtlich
zugefügten Schadens. Anders in dem Falle der 1. 2 D. de privatis
delietis: „Qui hominem surripuit et oeeidit, quia surripuit, furti, quia
oceidit, Aquilia tenetur, neque altera harum actionum alteram
consumit.“ Mit jener Entscheidung des Pomponius steht nicht in
Widerspruch, dass, wenn der eine fremde Sache Contreetirende nicht
sein Vermögen dabei vergrössern wollte, sondern die Absicht hatte,
die Sache sogleich oder bald zu verschenken und diess ausführte,
er der Diebstahlsklage verfiel, 1. 54 $.1 D. de furtis: „Speeies enim
lueri est, ex alieno largiri et benefieii debitorem sibi acquirere. Unde
et is furti tenetur, qui ideo rem amovet, ut eam alii donet.* Hier
ist der dehnbare Begriff des Jucrum möglichst weit ausgedehnt, der
tiefere juristische Grund der Entscheidung ist aber nur angedeutet.
Die für den Begriff des Diebstahls wesentliche Zueignungsabsicht wird
dadurch nicht afleirt, dass der Entwender schon bei der Entwendung
sich vorgenommen hat, die Sache später oder sogleich zu verschenken,
denn um diess zu können, muss er sich zuvor die: Sache zueignen. ®)
Wir sehen aus dem Vorhergehenden, wie die Römer dazu kamen,
nach der eausa faciendi zu fragen und einen animus lueri faciendi in
*) Sarignys System des heutigen Römischen Rechts IV. S. 4, 24.
A nn
>,
|
Er
den Begriff des furtum zu nehmen, den sie, weil er die Grenze des
furtum gegenüber den Fällen der lex Aquilia (damnum injuria datum)
markirte, auch animus furti faciendi, furandi nannten. An diese rö-
mische Auffassung haben sich von den deutschen Strafgesetzbüchern
am nächsten angeschlossen: Sachsen 272 (223), Baden 376, Thur-
gau 215, Thüringen 213, Braunschweig 213. Auch Oesterreich 171
hat „um seines Vortheiles willen.“ Dagegen haben die Absicht nur
auf die rechtswidrige Zueignung gestellt: Baiern 209, Zürich 211, Lu-
zeın 232, Graubünden 155, Württemberg 316, Hannover 279, Grh.
Hessen 354, Preussen 215. Ich halte das Letztere für richtig, aus
folgenden Gründen.
Wir sehen aus den Verhandlungen und ständischen Berathungen
über Art. 223 des sächsischen Str.-G.-B. von 1838, dass derselbe
Grund, der römische Juristen bestimmte, entscheidend war für die
Aufnahme der Worte in die Realdefinition des Diebstahls, welche den
unrechtmässigen Gewinn urgiren. Es sollte dadurch für die Praxis
das Auseinanderhalten der Art. 223 und Art. 288 „Beschädigung
fremden Eigenthums* gesichert werden. Jene Worte sollten dem Irr-
thum vorbeugen, der bei der Behandlung einzelner Fälle eintreten
kann, sie gehören aber nicht zum Begriff des Diebstahls. Der Dieb-
stahl wie die Beschädigung fremden Eigenthums haben ein und das-
selbe rechtliche Object, das Recht des Eigenthümers oder dessen, der
sonst ein selbstständiges Recht an der Sache hat, der Angriff (die Ver-
letzung) und die darauf gerichtete Absicht sind aber in den beiden
Fällen verschieden und dadurch sind sie begrifllich getrennt. In dem
einen Falle ist es die Absicht der rechtswidrigen Zueignung, in dem
andern der Zerstörung oder Beschädigung fremden Eigenthums. Das
von Morstadt zu Feuerbach $. 319 angeregte Beispiel ist instructiv.
‚Wenn Jemand den in einem fremden Wohnzimmer hängenden fremden
Spiegel ergreift und aus dem Fenster wirft, so ist er eben so wenig
Dieb, als wenn er den an der Wand hängenden Spiegel, ohne ihn
abzunehmen, zerschlägt; Dieb ist er nur dann, wenn er den fremden
Spiegel, ohne dass er ein Recht dazu hat, nicht bloss an sich nimmt,
sondern dieses thut mit der Zueignungsabsicht. Ob er nachher viel-
leicht den Spiegel: vernichtet oder verschenkt, das berührt den fer-
tigen Begriff des Diebstahls nicht.
Der Zusammenhang der s. g. gewinnsüchtigen Absicht, die richtig
gefasst in das Gebiet der Motive gehört, mit der Zueignungsabsicht
beim Diebstahl ist nicht schwer zu erkennen. Der körperliche Ge-
genstand des Stehlens wird allgemein als eine fremde bewegliche Sache
bezeichnet und der Jurist denkt sich diese Sache sogleich als ein
ee
Vermögensobjekt. Gegenstand des Vermögens ist aber nur was einen
Geldeswerth hat. Daher verlangt das englische Recht beim Dieb-
stahl, dass die Sache „of some value* sei*) und ist in dem neuen
Str.-G.-B. für Sachsen Art. 272 gesagt: „eine fremde bewegliche
Sache, die einen Schätzungswerth hat.* Dieser letztere Zusatz soll zu-
nächst die Entwendung werthloser Gegenstände, von welcher Art. 330
handelt, vom Diebstahl trennen, hat aber eine weitergehende Bedeu-
tung. Wer ein fremdes bewegliches Vermögensobjeet wider den Wil-
len des Eigenthümers oder Besitzers sich zu eigen macht, der gewinnt
dadurch am eigenen Vermögen, während der Bestohlene ärmer wird.
Auf diese Weise schliesst das rem sibi habere das luerum facere in
sich und folglich gehört die s. g. gewinnsüchtige Absicht nicht neben
der Zueignungsabsicht als gesondertes Merkmal zum Begriff des Dieb-
stahls. Das neue sächsische Str.-G.-B. hatte um so weniger nöthig,
die Hervorhebung des unrechtmässigen Gewinnes aus dem früheren
Str.-G.-B. hinüberzunehmen und neben der Zueignungsabsicht festzu-
halten, da es in der angegebenen Weise den Gegenstand des Dieb-
stahls als Vermögensobjeet genau und richtig bezeichnet.
In der Praxis kommen oft Fälle vor, in denen bei einigem
Schein dafür es dennoch sehr bestritten ist, ob ein Diebstahl vorliege.
Dahin gehört der Fall, wenn ein Knecht wider den Willen der
Dienstherrschaft aus deren Vorrath Korn, Futter u. dergl. nimmt, um
es dem ihm anvertrauten Vieh zu verfüttern. Daran reihen sich ähn-
liche Fälle, in denen das Genommene (Entwendete) zum Nutzen des
Verletzten verwendet wird. Das neue sächsische Str.-G.-B. hat im
Art. 330 eine Bestimmung für solche Fälle, aber nicht in dem Ab-
schnitte vom Diebstahl, sondern in einem ergänzenden Capitel „von
anderen Beeinträchtigungen fremden Eigenthums“ und als Strafe soll für
solche Fälle, auf Antrag des Verletzten, nur Verweis oder Geldbusse
bis zu zehn Thalern eintreten. Diese mildere Beurtheilung wird ein
Hinblick auf die auch in der neueren Praxis häufig aufgetretenen Fälle
der Art zweckmässig erscheinen lassen, der entscheidende Punkt ist
jedoch darin zu sehen, dass der Begriff des Diebstahls in solchen
Fällen nicht existent geworden ist, indem die Absicht der Zueignung
der fremden Sache fehlte. Aber auch derjenige ist nach deutschem
Recht noch nicht Dieb, welcher eine fremde Sache an sich nimmt,
wider den Willen des Eigenthümers, um sie im eigenen Nutzen zu
gebrauchen, sobald es gewiss ist, dass er nicht die Absicht hat, sich
dieselbe zuzueignen, sondern die Substanz der Sache dem Eigenthümer
zu lassen. (Sachsen 330 [287], Thüringen 280, Braunschw. 239.)
*) Mittermaier , die Strafgesetzgebung in ihrer Fortbildung. II. 34.
|
FRE WERBEZIEELHT
u N = 3
Auch die Grenzregulirung von Diebstahl und strafbarer Seldst-
hülfe ist nicht schwierig, wenn man sich an die auf der Willensseite
des Diebstahls als entscheidend hervortretende Zueignungsabsicht hält.
Wer seinem wirklichen oder vermeintlichen Schuldner ein (bewegliches)
Vermögensobjeet wider dessen Willen wegnimmt, um dieses Object
sich zu eigen und dadurch für die Schuld sich bezahlt zu machen,
der begeht einen Diebstahl und seine etwaige irrige Vorstellung hin-
sichtlich des Rechts zu einem solchen Verfahren schliesst den Begriff
des Diebstahls nicht aus, wenn sie auch bei der Strafzumessung in
Betracht kommt. Wer dagegen jene Handlung vomimmt, nicht um
die Sache sich zuzueignen, sondern sie zu seiner Sicherung bis zur
Abzahlung der Schuld zu retiniren, der ist für Selbsthülfe strafbar.
3. Das Motiv des Diebes ist immer Eigennutz.
V. Injurie oder Ehrverletzung.
1. Der Vorsatz geht auf ein Handeln oder Unterlassen sehr ver-
schiedener Art.
2. Die Absicht ist gerichtet auf die Verletzung der Ehre eines
Anden. Wenn die Römer das Wort, welches allgemein Unrecht und
Rechtsverletzung bedeutet, iniuria, speziell für die Rechtsverletzung
dieser Art gebrauchen, so ist hierin wohl eine Beziehung darauf
zu sehen, dass in der Ehrverletzung eine Verletzung der ganzen Per-
sönlichkeit des Bürgers zu liegen schien. Es findet sich aber in der
römischen Sprache zur Bezeichnung der Ehrverletzung ein anderes
sehr ausdrucksvolles Wort, contumelia, welches die römischen Juristen
richtig mit contemnere in Verbindung bringen (l. 1 pr. D. de iniurüs,
pr. J. de iniur.). Contumelia ist die geäusserte Nichtanerkennung der
existimatio oder bürgerlichen Ehre eines Andem, auf deren Aner-
*kennung er ein Recht hat. Es liegt darin ein herabsetzendes Urtheil,
eine Herabwürdigung oder Geringschätzung. Von den deutschen Wör-
tern, die zur Bezeichnung des aus der lateinischen Sprache in die
deutsche übergegangenen Wortes Injurie dienen, entspricht der con-
tumelia am meisten Ehrenschmälerung.*) Durch solche Schmälerung
und Herabsetzung entsteht in dem Herabgesetzten die schmerzliche
Empfindung in seiner Persönlichkeit nicht nach dem Rechte anerkannt
zu sein, er ist beleidigt oder, stärker ausgedrückt, gekränkt.**)
Wer die Absicht hat, die Ehre eines Andern zu verletzen oder
zu schmälern, findet leicht Handlungsformen (auch Unterlassungen)
und Worte und Zeichen, deren er sich als Mittel zum Zweck bedienen
*) Weigand, Synon. Nr. 1604 vergl. 1058. Schmeller’s bayerisches Wörterbuch II,
S. 468.
**) Weigand, Nr. 343, 1322, 2005.
== .8 m
kann. Es giebt in jedem Lande und in jedem Gesellschaftskreise eine
grosse Anzahl derselben, deren Gebrauch nach allgemeiner Vorstellung
und gegenseitiger Uebereinstimmung eine Ehrverletzung Jemandes her-
vorbringt. „Sie sind gültige Münze; braucht man dieselben, so weiss
Jeder, wofür er sie zu halten hat.**) Man nennt sie objectiv-, besser
absolut-injuriöse Handlungen. Wer also eine solche Handlung vor-
himmt gegen Jemand, von dem sagt die allgemeine Stimme, er habe
die Ehre des Andern verletzt. Es wäre aber juristisch unrichtig in
solchem Falle anzunehmen, die Handlung allein mache die Ehrver-
letzung aus, ohne die Absicht zu verletzen; auch wird nicht die Ab-
sicht präsumirt, sondern sie ist aus den Umständen oder der Sach-
lage, ex re, bewiesen und es ist weder das Geständniss der Absicht
nöthig, noch ist die Behauptung des Thäters, jene Absicht nicht ge-
habt zu haben, von Belang. Wer z. B. einen Menschen einen Schurken
nennt, gegen den liegt der Beweis solcher Absicht in der allgemeinen
Vorstellungsart, als welche der Thäter theilt. Aber bei jedem Be-
weise aus der Sachlage, ist auch den Gegenanzeigen Raum zu geben
(Baden 295) und sind diese stärker oder auch nur eben stark als die
Anzeigen für jene Absicht, so fehlt es an dem Beweise des subjec-
tiven Bestandtheiles der Ehrverletzung.
Den absolut-injuriösen Handlungen und Ausdrücken stehen gegen-
über die relativ-injuriösen oder zweideutigen. Diese können als Mittel
zum Zweck der Ehrverletzung dienen, es ist aber mit ihrem Gebrauche
nicht schon in der Regel die Absicht der Ehrverletzung bewiesen.
Wer einen Andern schlägt, will ihn möglicher Weise injuriiren, mög-
licher Weise hat er dabei eine ganz andere und nichts weniger als
rechtswidrige Absicht (l. 13 8. 4 D. loeati). Die Absicht kann durch
Geständniss constatirt werden oder aus den Umständen hervorgehen.
Wer z. B. einen Andern Schelm nennt, produeirt dadurch eine arge
Ehrverletzung oder einen Scherz, denn Schelm ist sowohl das Syno-
nimon von Schurke, Betrüger ete., als auch, wie Schalk, bezeichnet
es den, der gemüthlichen Scherz und List treibt. Wenn in solchen
Fällen der Beweis der Absicht aus den Umständen in Angriff ge-
nommen wird, so ist vor Allem das französische „e’est le ton qui
fait la musique* zu beachten und das Verhältniss der betreffenden
Personen zu einander in’s Auge zu fassen. Manche Handlungen und
Ausdrücke, die im Allgemeinen als absolut-injuriöse bezeichnet wer-
den können, werden auf Grundlage eines engern oder speziellen Ver-
hältnisses zweier Personen zu einander zu zweideutigen oder gar in-
differenten, woraus man sieht, dass solche Eintheilungen, wie sie
*) O, v. Brunnow in den Dorpater jurist, Studien (1849) S. 80.
Eu
Feuerbach und Andere machen, wenn sie auch nicht ohne Werth sind,
doch nicht streng durchgeführt werden können. Das Entscheidende
bleibt in Zweifelsfällen immer die Absicht, durch welche die Hand-
lung ihren Charakter erhält (l. 3 $. 1 D. de injuriis: „quum enim
injuria ex affeetu facientis consistat*).
Es erhebt sich hier nun auch die Frage, ob die Vornahme von
Handlungen und das Aussprechen von Worten, die in der genannten
Beziehung nicht zweideutig, sondern ganz gleichgültig sind, durch die
eingestandene Absicht der Ehrverletzung zu Injurien werden ? Diese
Frage lässt sich ohne ein Eingehen auf den s. g. Versuch mit un-
tauglichen Mitteln nicht beantworten.
Der Versuch des Verbrechens enthält ein positives und ein ne-
gatives Moment: die rechtswidrige Absicht ist objectivirt, aber nicht
realisirt. Die Objeetivirung der Absicht ist eine Bewegung des Han-
delns auf der Bahn zwischen der Absicht und ihrem Zielpunkte. Das
Handeln ist das Mittel (s. oben Seite 27), welches angewendet wird,
um das Ziel zu erreichen und damit die Absicht zu verwirklichen.
Setze ich mir nun ein Handeln vor, durch welches ich weder das Ziel,
noch irgend einen Punkt der Bahn erreichen kann, so ist das ge-
wählte Mittel untauglich, es ist kein Mittel zum Zweck und das Han-
deln ist nicht objeetivirte Absicht, folglich liegt gar kein Versuch des
Verbrechens vor. Das Handeln befindet sich hier nicht minder ausser-
halb der Bahn, auf welcher sich der Versuch zu bewegen hat oder
der Mitte zwischen Absicht und Zielpunkt, als die Vorbereitungen,
die noch hinter dem Anfangspunkte der Bahn sich gestalten.
Wenn wir hiernach die gestellte Frage beantworten wollen, so
ergiebt sich, dass keine Ehrverletzung und auch kein Versuch der-
selben vorhanden ist. Die Absicht der Ehrverletzung ist eingestanden,
also manifestirt d. h. es ist kundgegeben, dass jene Absicht existirte,
aber dieser Aufschluss über das Innere hat es nur noch mit dem
Innern zu thun und das was Ausführung der Absicht sein sollte, ist
es nicht; es fehlt der reale Zusammenhang zwischen dem Innern und
Aeussern, statt dessen sehen wir eine Entzweiung derselben.
3. Das Motiv des Injurianten redueirt sich immer auf Selbstbe-
friedigung, ihre besondere Gestalt ist hier aber mannigfach. Sehr ge-
wöhnlich sind es Bosheit, Zorn, Rache und Uebermuth, die ihn lei-
teten; vielleicht wollte er einen Nebenbuhler in dem Injuriirten
beseitigen oder einen zudringlichen und unbequemen Besucher von
seinem Hause entfernen u. s. w. Die Absicht der Ehrverletzung
gibt dem Verbrechen seinen Charakter, nicht das Motiv des Han-
delns, aber die Kenntniss des Letztern trägt, wie überhaupt, so
— 419 —
auch hier nicht wenig zur Erkenntniss der rechtswidrigen Ab-
sicht bei.
VI. Nothzueht.
1. Die Handlung, darauf der Vorsatz geht, besteht in dem Er-
zwingen des Beischlafs und davon hat das Verbrechen den Namen er-
halten. Der Zwang kann bestehen
‚ a) in körperlicher Gewalt. In der Bezeichnung dieser Gewalt
stimmen zwar die neuen Gesetzbücher nicht ganz überein, aber die
Verschiedenheiten sind nicht wesentlich. Die P. G. O. Art. 119 sagt
nur „mit Gewalt und wider ihren Willen.“ Ein ermnstliches Wider-
streben der Angegriffenen wird vorausgesetzt (Sachsen 180);
b) in Drohungen. Diese werden verschieden charakterisirt, als
„gefährliche Drohung oder Bedrohung“ (Oesterreich, Württemberg,
Braunschweig), als „Drohungen, welche mit dringender gegenwärtiger
Gefahr für Leib und Leben verbunden sind“ (Bayem, Hannover und
ganz ähnlich Sachsen [1838], Thüringen und Preussen), als „gefähr-
liche, mit der Aussicht unverzüglicher Verwirklichung verbundene
Drohungen“ (Grh. Hessen und ähnlich -Baden). Das neue sächsische
Str. G. B. 180, 181 hat der Unterscheidung von „wörtlicher oder
thatsächlicher Bedrohung mit schweren, gegen sie selbst (die Frauens-
person) oder ihre Angehörigen unverzüglich auszuübenden Misshand-
lungen* und „Drohungen anderer Art“ eine Folge gegeben, gegen
die sich wohl ein Bedenken erheben lässt.
c) Als Nothzucht nach der P. G. O. ist es schwerlich anzusehen,
wenn ein Mann mit einer Frauensperson zwar wider ihren Willen,
aber nicht nach angewendeter Gewalt den Beischlaf vollzieht, sondern
nachdem er sie durch Anwendung betäubender Mittel widerstandsun-
fähig gemacht hat und es lässt sich sogar bezweifeln, ob nicht die
P. G. O., im Anschluss an die frühere germanische Behandlung die-
ses Verbrechens, in der nur die wirkliche körperliche Gewalt als ent-
scheidend hervortritt, den Zwang, der in der Drohung liegen kann,
nach ihrem Wortlaut ausschliesse. Allein, so wie das analoge Heran-
ziehen der gefährlichen Drohung gerechtfertigt ist, so ist es auch die
Anreihung des genannten Falles der Betäubung. Das rechtliche Ob-
jeet ist in allen drei Fällen dasselbe und sie kommen auch darin
überein, dass in ihnen das Handeln als Mittel der Verwirklichung
derselben rechtswidrigen Absicht dient. Die Gesetzbücher haben
diesen dritten Fall nicht gleichmässig behandelt, aber es ist aner-
kannt, dass er jetzt eine grössere Bedeutung hat als früher, weil
er seit Entdeckung der Wirkungen des Chloroforms und ähnlicher
a
Betäubungsmittel häufiger vorkommt*) und es ist wohl gar kein Grund
diesen der Nothzucht analogen Fall gelinder zu strafen als die Noth-
zucht, wie es das neue sächsische Strafgesetzbuch 182 vorschreibt,
sobald nur mit Grund angenommen werden kann aus den Umständen,
dass die Gemissbrauchte jedenfalls ernstlichen Widerstand geleistet
haben würde, wenn sie nicht durch die Chloroformirung widerstand-
los gemacht wäre. Es darf zwar weder dafür noch dagegen präsumirt
werden, aber der Beweis aus den Umständen ist hier wohl nicht
schwieriger, als der Beweis, dass bei der in Anklage gestellten Noth-
zucht die Gewalt eine unabwendbare gewesen sei.
2. Die Absicht ist gerichtet auf Vernichtung der weiblichen Ehre.
Diese ist das rechtliche Objeet und es müssen daher die beiden Fälle,
wo die Gewalt geübt wurde gegen ein Weib, das im Besitz der
weiblichen Ehre ist und ein solches, das dieses Gut nicht mehr hat,
unterschieden und es kann nur der erstere Fall hieher gerechnet wer-
den ##). So bestimmt die P. G. OÖ. „Item so jemandt einer unver-
leumbten ehefrawen, witwen oder jungkfrawen, mit gewalt und wider
iren willen, ir jungkfrewlich oder frewlich ehr neme.* Die Straf-
gesetzbücher haben den gemeinrechtlichen Boden verlassen, indem sie
als das leidende Subject allgemein „eine Frauensperson* hinstellen
und nur einige derselben haben der alten Auffassung das Zugeständ-
niss gemacht, dass sie den gewaltsamen Missbrauch einer Hure, wenn
sie ihn zwar Nothzucht nennen, doch mit einer bedeutend gelindern
Strafe bedrohen, als die wirkliche Nothzucht (Braunschweig 172,
Thüringen 291, Baden 335). Das sächsische Str. G. B. hatte einen
historischen Grund, sich die Auffassung der P. G. O. nicht anzu-
eignen, denn der Sachsenspiegel III., 46 $. 2 (vergleiche Schwaben-
spiegel 259, Ausg. von Gengler) sagt: „An varenden wiven unde an
siner amien mach en man not dun unde sin lif vorwerken of he se
ane iren dank beleget.* Die übrigen Gesetzbücher hatten wohl nur
den Grund, dass es bequemer schien, die beiden Fälle in einem Ar-
tikel beisammen zu haben. Es lässt sich aber mit Recht bezweifeln,
ob dieser Grund genügte zum Abgehen von der tiefsittlichen Auffas-
sung der P. G. OÖ. Wer den Beischlaf erzwingt an seiner „Amie*
oder an einer Hure, die im Augenblick nicht Lust hat zum Liebes-
werk, der handelt zwar rechtswidrig, insofern eine solche Person trotz
ihrer Freigebigkeit und ihrem Feilsein doch noch ein Recht hat über
ihren Körper zu verfügen, aber unendlich verschieden ist dieses
Recht von dem rechtlichen Objeet im Art. 119 der P. G. O., der
*) Miltermaier im neuen Archiv des Crim, 1855. S. 293.
**) Wächter’'s Abhandlungen aus dem Strafrechte. I. $. 22,
weiblichen Ehre. Ein „ehrlich Weib“ wird durch einen aufgenöthigten
Beischlaf sittlich vernichtet und die deutsche Sprache bezeichnet da-
her die weibliche Ehre als das höchste Gut des Weibes.
Bei einer solchen Verschiedenheit des rechtlichen Objects in den
beiden Fällen kann die angedeutete Rücksicht auf eine kleine Be-
quemlichkeit im Gebrauch eines Strafgesetzbuches nicht in die Waag-
schale fallen. Bemerkenswerth ist auch, dass die Strafgesetzbücher,
nachdem sie abgegangen sind von der gemeinrechtlichen Grundlage,
das Verbrechen der Nothzucht sehr verschieden in ihren Systemen
eingeordnet haben, denn so schlecht auch hie und da die Anordnung
sein mag, haben doch noch alle Strafgesetzbücher eine Art System
oder etwas, das einem System ähnlich sieht, nicht für unnöthig ge-
halten, obgleich in neuerer Zeit nicht selten behauptet worden ist,
dass es ein Vorzug eines Strafgesetzbuches sei, kein System zu haben.
3. Das Motiv dieses Verbrechens ist immer Befriedigung der
Geschlechtslust.
DIAGNOSE
DES
GEGENWÄRTIGEN ZEITALTERS *).
Von ADOLF SCHMIDT.
(Erster Artikel.)
1. Aufgabe und Aufblick.
Unsere Vorfahren beschrieben die Thaten und Schicksale der
Völker in harmlosester Weise, indem sie die überlieferten Ereignisse,
wirkliche oder eingebildete, ohne Kritik kunst- und geistlos aneinander
reiheten. Es war ebenso unmöglich, bei diesen chronistischen An-
fängen der Geschichtschreibung stehen zu bleiben, wie wenn man im
Gebiet der bildenden Kunst nicht über die rohesten Anfänge der
Linienzeichnung hätte hinausgehen wollen. Denn die fortschreitende
*) Ich glaube mich davor wahren zu müssen, als handle es sich hier um einen eigen-
mächtigen und improvisirten Gedankenbau. Der gegenwärtige Aufsatz ist seinem Einzelbe-
stande nach langsam im Laufe von sechzehn Jahren aus oft sehr mikroskopischen Beobach-
tungen überlieferter und erlebter Thatsachen erwachsen und hat während dieses Zeitraumes,
je nach dem Fortgange der Untersuchung, wiederholte durchgreifende Umgestaltungen nach
Form und Inhalt erfahren. Die Geschichtsforschung in der Anwendung, wie sie hier er-
scheint, ist eine erst im Keime befindliche Diseiplin, nicht sowohl philosophischen als natur-
wissenschaftlichen Charakters, eine werdende Physiologie der Geschichte oder der Menschheit.
N
Entwicklung jedes Vermögens, in Völkern wie in Einzelnen, vermehrt
naturgemäss die Ansprüche an dessen Leistungen. So sah denn auch
die Geschichtswissenschaft mit der Zeit ihre Aufgabe sich erweitern.
Namentlich verlangte man von ihren Vertretern eine gründliche Aus-
scheidung der unbeglaubigten von den beglaubigten Thatsachen; und
wer sich dem entzog, fiel am ehesten der Vergessenheit anheim. Die-
sem Verlangen gesellten sich bald andere. Man begehrte eine künst-
lerische Gruppirung und Darstellung des Stoffes, und wo dem kein
Genüge geschah, da wandte sich die Lesewelt aus Unbehagen ab;
man beanspruchte eine charaktervolle Gesinnung, wollte an dem Fa-
den eines sittlichen Urtheils geführt sein, und wer sich aus Furcht
oder Mangel an Selbstvertrauen, aus Gunst für die Einen oder Un-
gunst fur die Andern dem versagte, der verfiel dem Misstrauen und
sogar der Verachtung. Endlich aber befriedigten selbst diese For-
derungen nicht mehr. Der kritisch beglaubigte, künstlerisch ge-
formte und sittlich bewegte Stoff sollte zugleich auch geistig durch-
dacht und gesetzmässig aufgefasst sein. Denn aus der Ueberschau-
lichkeit immer längerer Verläufe ist sich die Menschheit dessen be-
wusst geworden, dass ihre Thaten und Schicksale die fortschreitende
Entwicklung eines einigen geistigen Lebens aus dem Quell ureigener
Triebe bezeichnen, und dass ohne ein Verständniss dieser Triebe und
Kräfte, ihrer Ziele und Gesetze, jeder Pulsschlag in diesem geistigen
Leben, das wir Geschichte nennen, nur ein blindes und räthselhaftes
Ungefähr bleibt. Wer nichts Anderes in der Geschichte anerkennt,
als eine Reihe von Zufällen, der versündigt sich an dem Begriffe
Gottes und der Menschheit. Und wer unter den Forschern das Stre-
ben von sich abweist, jenes Verständniss sich selbst und Anderen zu
eröffnen: der nimmt entweder wissentlich, sei es aus Dünkel oder
Leichtsinn, an der Versündigung Theil; oder er huldigt einer bekla-
genswerthen Verkennung seines Berufes, indem er die ernstesten Pflich-
ten seiner Aufgabe, die schwierigsten und mühevollsten, diejenigen
die das äusserste Maass von Geduld im Beobachten der Dinge und
im Erlauschen ihres Sinnes erfordern, irrigerweise der Schulphilosophie
und ihren plötzlichen Eingebungen überlässt.
Von den Trieben und Gesetzen der Weltgeschichte sich Rechen-
schaft zu geben, ist aber schon deshalb für den Menschen und Bür-
ger ein lohnendes Geschäft, weil es den Geist erhebt, den Charakter
stärkt, und das Gemüth zum Ebenmaass der Empfindungen zurückführt.
Denn wohl ist es begreiflich, dass edle und unedle Regungen der
Leidenschaft und des Zornes sich der Gemüther bemächtigen, wenn
die Geschichte den Blicken jene traurigen Erscheinungen vorführt,
ee
wo durch Verträge Nationen zerrissen oder ihre Rechte vernichtet
wurden, wo man mit den freien Einrichtungen der Völker das böse
Spiel künstlicher Entziehung trieb, oder wo die Selbstständigkeit und
das Wohl der Staaten durch Feigheit, Blödsinn oder Verrath einem
lauernden Gegner geopfert ward. Wohl erklärt es sich auch, wenn
bei gleichzeitigen Ereignissen dieser Art das Gefühl der Schaam und
des Ekels den Mitlebenden erfasst, in dem Sinne wie einst Leibnitz
ihm Worte gab, als er das Bekenntniss ablegte: „So oft ich den ge-
fährlichen Zustand der Dinge um uns her, und dabei unsere Trägheit,
unsere verkehrten Rathschläge betrachte, so oft schäme ich mich un-
serer vor den Augen der Nachwelt; es macht Ekel und Ueberdruss,
an die Geschichte der gegenwärtigen Zeit nur zu denken.* Unwürdig
aber ist es, wenn beim Anblick und unter dem Eindruck geschicht-
licher Thatsachen Muthlosigkeit, Zagen oder gar Verzweiflung die
Gemüther beschleicht. Denn die Geschichte ist es ja, die, indem sie
niederbeugt, auch wieder aufrichtet, welehe die Mittel zu jeglicher
Abhülfe in sich selber trägt, und durch den Wechsel der Zeiten die
Zeiten richtet.
Doch nicht insofern erwächst hieraus Hoffnung, Trost und Er-
hebung, als man im jeglichen Rahmen des Wechsels der Personen
und der Systeme, wie aller Dinge auf Erden, gewiss sein kann. Das
wäre wenigstens kein rechter oder gar ein schlechter Trost, der alles
von Thron- und Ministerwechseln, von Sinnesänderungen und Todesfällen
oder Geburten hofft. Derjenige Wechsel der Zeiten, der Geist und
Gemüth zur Erhebung sowohl berechtigt wie befähigt, ist allein der
gesetzmässige Wandel der Geschichte, der sich nicht um Einzelne,
sondern nur um das Ganze kümmert, der mit den Tritten erhabener
Nothwendigkeit einherschreitend, fort und fort das Menschenwerk nie-
derwirft, das Marionettenspiel der Armen - Sünder -Politik wie die
Kartenhäuser selbstgefälliger und vielgeschäftiger Diplomaten, die meist
sich Giganten dünken und meist nur Pygmäen sind. Die grossen
Triebkräfte der Geschichte und die Gesetze ihrer bisherigen Offen-
barung sind die ewigen Wahrzeichen, welche gleich der Magnetnadel
unabänderlich auf die Ziele hinweisen, denen die Menschheit — der
die Mittel, aber nicht die Zwecke freigegeben sind — nicht im Ein-
zelnen, aber im Ganzen wunablässig durch alle Jahrhunderte zustrebt.
Wer sich dieser Triebe und Gesetze, wenn auch nur in annähernder
Weise bewusst ist, für den kann keine Bedrängniss der Zeiten und
der Völker, ob sie auch Zorn und Leidenschaft, Schaam und Ekel er-
zeugen möge, zu einem Anlass des Kleinmuths werden. Denn die Welt-
geschichte verzweifelt nie; sie weiss, was sie will und was sie vermag.
Er
Aber Eins ist für den, der in geschichtlichen Bedrängnissen des
Kleinmuths sich erwehren will, unerlässlich. Er darf nicht bloss als
Einzelner, nicht bloss als Glied eines Staats oder einer Nation, son-
dern er muss vor allem als Mensch fühlen und denken, d. h. als
Glied der gesammten Menschheit, die da war, ist und sein wird.
Denn die Gesetze der Geschichte sind eben die Gesetze der ganzen
Menschheit, gehen nicht in die Geschicke eines Volkes, einer Gene-
ration oder gar eines Einzelnen auf. Individuen und Geschlechter,
Staaten und Nationen können zerstäuben: die Menschheit bleibt. Die
Hoffnungen des Privatmanns oder des Bürgers, einer Generation oder
eines Volkes, können daher zu Grunde gehen ; nur wer sich als Mensch
fühlt, darf ewig hoffen.
Denn gleich wie die Natur durch gegensätzliche Strebungen an-
ziehender und abstossender Kräfte sich zur Harmonie des Weltalls
hindurchgerungen hat, das heisst, zur Zusammenstimmung des Mannig-
faltigen in der Körperwelt: also muss auch für das Menschenge-
schlecht das Ziel alles gegensätzlichen Ringens, aller geschichtlichen
Kämpfe, die Herstellung der Gerechtigkeit sein, das heisst, die Zu-
sammenstimmung des Mannigfaltigen im Bereiche des Geistes, im Le-
ben der Völker.
2. Die Triebe und Gesetze der Bewegung.
Durch alles menschliche Ringen zieht sich ein Widerstreit zweier
Grundtriebe hindurch — des Herrschtriebes und des Freiheitstriebes,
die aus einer und derselben Quelle stammen: aus dem Selbstbehaup-
tungstrieb; er ist im Menschenleben, was die Schwerkraft in der
Natur.
Alles was ist will sich behaupten; um sich aber behaupten zu
können will es herrschen: Jeder Organismus will in seinem Kreise
das Ganze werden, Alles an sich ziehen, sich universalisiren. Jeder
Einzelne und jede Partei, jeder Staat und jedes Volk, jedes Glau-
bensbekenntniss und jede Staatsgewalt, jede Richtung in Kunst und
Wissenschaft, folgt bewusst oder unbewusst diesem Universalisirungs-
oder Herrschtriebe, trachtet sich zum Mittel- oder Schwerpunkt eines
immer grösseren Kreises zu erheben, Verwandtes an sich zu raffen,
Entgegengesetztes mehr und mehr dem eigenen Einfluss oder Willen
zu unterwerfen, und sich wo möglich zur Alleingültigkeit oder zur
Alleinberechtigung emporzuschwingen. So erwächst jegliche Art von
Selbstsucht im privaten und im öffentlichen Leben: der Ehrgeiz und
die Habgier, die Anmassung und der Eigennutz, das Autoritäts- und
Centralisationsgelüste, der Unitarismus und die Herrschgier im engern
in: Are ze
Sinne — der Absolutismus oder das Trachten nach Allgewalt. Was
in der Natur die Attraetions- und Centripetalkraft, als Wirkung der
allgemeinen Schwere, das ist in der Geschichte die Herrschlust und
das Streben nach universaler Geltung oder unitarischen Bildungen.
Und wie der Sieg jener Naturkraft schliesslich das Zusammenfallen
der gesammten Materie in einen einzigen Schwerpunkt, d. h. die Ver-
nichtung des Mannigfaltigen, den Tod der Natur herbeiführen müsste:
so würde die äusserste Consequenz des Herrschtriebes zur Uniformi-
tät eines Universalstaates, eines Universaldespotismus, eines Universal-
bekenntnisses führen, und damit gleicherweise die Vernichtung des
Mannigfaltigen, den Tod des Geistes bezeichnen.
Allein zu solchem Siege kann es nie kommen. Denn wie jener
Naturkraft im Weltall sich eine andere entgegenstemmt, die Repul-
sions- und Centrifugalkraft als umgekehrte Wirkung der Gravitation:
so setzt sich auch im Leben der Menschen dem Selbstbehauptungs-
triebe als Herrschtriebe der gleiche Selbstbehauptungstrieb in umge-
kehrter Kraftäusserung als Individualisirungs- oder Freiheitstrieb ent-
gegen. Denn alles was ist, eben weil es sich behaupten will, will
wiederum wnbeherrscht, d. h. frei sein: Jegliches trachtet sein eigen
zu bleiben, das Fremde von sich abzuweisen, sich zu individualisiren.
So wird das gegenseitige Anziehen zu einem gegenseitigen Abstossen ; es
entbrennt der Kampf des Freiheitstriebes mit dem Herrschtriebe, des In-
dividualismus mit dem Unitarismus oder der Autoritätssucht. Denn jeder
Einzelne und jede Partei, jede Genossenschaft und jede Gemeinde,
jeder Staat und jede Nation, jede Richtung in Kunst und Wissen-
schaft, jeder Glaube und jede Staatsgewalt sucht, dem Andrange frem-
der Herrschlust gegenüber, sich als eigenthümliches, unabhängiges
und für sich berechtigtes Dasein geltend zu machen, will nach allen
Seiten hin sich abgrenzen, Entgegengesetztes zurückdrängen und mit
Verwandtem sich nur verbrüdern. So ersteht eine andere, an sich
edlere Art von Selbstsucht: das Ringen nach Selbstständigkeit im pri-
vaten wie im öffentlichen, im künstlerischen wie im wissenschaftlichen
Leben, der Anspruch auf Selbstbestimmung und Selbstregierung im
religiösen, politischen und socialen Bereiche, die Emaneipations- und
Decentralisationsbestrebungen, der Föderalismus und der Freiheits-
drang im engern Sinne oder das Trachten Aller — der Bürger und
der Parteien, der Religionsbekenntnisse und der Völker — nach
gleicher Berechtigung. Und wie es nun thatsächlich die Selbstbehaup-
tung der Repulsions- und Centrifugalkraft gewesen ist, die die Natur
vor der Uniformität und dem Tode bewahrt, die harmonische Gravi-
tation der Körperwelt ermöglicht hat: so kann auch nur die Selbst-
m m
ME 2.
EBERLE INNERE
— ME
behauptung des Freiheitstriebes dem Geiste der Menschheit Leben und
Mannigfaltigkeit verbürgen, und die brüderliche Vergesellschaftung
aller Kräfte, die harmonische Gravitation der Geisterwelt, die Gerech-
tigkeit und damit den Frieden im Völkerleben ermöglichen.
Und nur wiederum diese „Selbstbehauptung“, nur jene „gleiche
Berechtigung“ kann das Ziel des Freiheitstriebes sein, nicht der ab-
solute Sieg, d. h. die Vernichtung seines Gegensatzes. Denn wie in
der Natur der Alleinbestand abstossender Kräfte das gänzliche Zer-
fallen in Atome, das Chaos, also die Selbstauflösung der Natur be-
dingen müsste: so würde auch die alleinige Geltung des Individua-
lismus, die Beseitigung all’ und jeder Autorität, nur zum Kriege Aller
gegen Alle führen, d. i. zur Atomistik der Anarchie, zur chaotischen
Selbstauflösung der geistigen Welt.
Während nun aber im Bereiche der Materie Kämpfe nur Folgen
instinetiver Kräfte sind, gewinnen sie im Bereiche des Geistes dadurch
an Bedeutung und Erhabenheit, dass der Instinet zum Bewusstsein sich
steigert. Der Trieb im Menschen als blosser Naturdrang kennt zunächst
nur selbstische Interessen; durch die Rechenschaft, die sich der Geist von
ihm und seinen Wirkungen auf das Ganze giebt oder zu geben sucht,
durch das Bewusstsein, wird das Niedere zu einem Höhern, das per-
sönliche Interesse zugleich zu einem sachlichen Princip. In der Ge-
schichte tritt diese Umwandlung dadurch ein, dass die gegensätzlichen
Grundtriebe der Menschheit mit den objectiven Strebungen der Welt-
alter verwachsen. In der neuern Geschichte verschmelzen sie durch
die Vermittelung der Reflexion mit dem vorwaltenden Erkenntniss-
drange; und demgemäss erscheint in unsern Zeiten dem Herrschtriebe,
in Uebereinstimmung mit dem Eigeninteresse, das Prineip der Autori-
tät —, dem Freiheitstriebe das Prineip der Selbstbestimmung als die
einzige oder die höchste Vernunft.
Neben den beiden allgemeinen Grundtrieben ringen sich nämlich,
wie in dem Einzelnen, so in den Völkern und in der gesammten
Menschheit, je nach ihrer Entwickelungsstufe, allmählig besondere
Triebe oder gegenständliche Strebungen hervor, die dem Zeitalter den
besondern Charakter und daher jenen Grundtrieben gleichsam Stoff
und Richtung, oder dem Kampf um Herrschaft und Freiheit einen be-
stimmten Zweck und Inhalt geben. Auf der ersten Stufe, der jugend-
lichen , entwickelt sich als solcher der Bildungstrieb, vorzugsweise der
künstlerischen Gestaltung des gesammten Daseins, der Idee des Schö-
nen zugewandt; auf der zweiten, der männlichen, regt sich der For-
schungstrieb, der auf jeglichem Gebiet des Lebens, des Denkens und
Wissens, der Religion und der Politik, das absolut Wahre zu ergrün-
Ze ne
den trachtet; auf der dritten endlich, der erfahrungsreifen, wird der
Anwendungstrieb maassgebend, der vor allem der praktischen That, der
Beförderung des Wohles, der Verwirklichung des Nützlichen, des
Guten sich widmet.
Im Alterthum, als der ersten Entwickelungsstufe der Menschheit,
verflochten sich nun die beiden Grundtriebe mit dem Bildungsdrange.
Währed der Herrschtrieb im Orient, zumal in China, Indien und
Egypten, einen mechanischen Schematismus als Universaltypus der
Bildung, der Kunst, des Schönen, auf dem Wege der. Autorität her-
zustellen versuchte: bethätigte der Freiheitstrieb in Griechenland, dass
die Verwirklichung des Schönen nur in der Mannigfaltigkeit, die
höchste Bildung nur durch die Freiheit zu erreichen sei. ‚Se
Mit dem Beginn der christlich-germanischen oder der Neuzeit,
als der. zweiten Entwickelungsstufe der Gesammtgeschichte, war es da-
gegen vorzugsweise der Forschungsdrang, der die Menschheit bescelte.
Das Christenthum machte die Verwirklichung der Wahrheit, das Germa-
nenthum den Aufbau der Wissenschaft zu seiner Aufgabe. Die Ver-
schmelzung der beiden Grundtriebe mit dem Forschungs- oder Er-
kenntnissdrange konnte daher nicht ausbleiben. Wiederum wollte der
Herrschtrieb einen universalen einheitlichen Typus der Wahrheit von
Autoritätswegen für alle Geister und auf alle Zeiten hinaus feststellen ;
und wiederum trat ihm der Freiheitstrieb mit der Losung entgegen,
dass die höchste Wahrheit vielmehr nur auf dem Wege der Freiheit
erreichbar sei.
Denn was die Menschen am meisten einigt, das Vermögen der
Erkenntniss, ist auch das was sie am meisten trennt. Weil nämlich
Jedem dies Vermögen beiwohnt, und weil es jeden sittlich denkenden
Menschen zur Erkenntniss hindrängt, so glaubt Jeder auch schliess-
lich im Besitz derselben zu sein. Und so geschieht es, dass, indem
Alle von einem Gemeinsamen — der Vernunft — ausgehen, dennoch
jeder unter den Trägern philosophischer und religiöser, politischer
und socialer Dogmen zu einem verschiedenen Ergebniss gelangt, Jeder
das ausschliesslich Vernünftige, die absolute Wahrheit in etwas An-
derem zu erkennen vermeint. Die Menschheit gab sich daher mehr
und mehr der Ahnung oder der Ueberzeugung hin: dass sie es auf
keinem Gebiete bis zur Erkenntniss der unfehlbaren Wahrheit bringen
könne, sondern überall nur zu einer unbegrenzten Reihe von Erkennt-
nissformen oder von verhältnissmässigen Wahrheiten; dass das Ver-
mögen, das Rechte oder das Bessere zu finden, für Niemanden ein
Privilegium, sondern in allen Stücken Allen gemein sei; und dass
mithin die absolute Form der Wahrheit die Freiheit sei. Denn nur
a
durch sie und in ihr werde die grösstmögliche Summe von Erkennt-
nissformen, die höchste Steigerung der relativen Wahrheiten und da-
mit der menschliehen Erkenntniss überhaupt erreichbar; ohne die
Freiheit könne daher die Wahrheit nicht gedeihen; sie sei die Dy-
namis, die Voraussetzung, das Gefäss derselben; nur in ihr bestehe
die Wahrheit. Und so geschah es, dass der Freiheitstrieb in seinem
Kampfe gegen den Herrschtrieb nicht nur von dem Freiheitsbedürf-
niss getragen wurde, sondern zugleich auch mehr und mehr von der
Ueberzeugung: die höchste Freiheit sei die höchste Vernunft.
Von der ınendlichen Fülle der verschiedenartigsten Erscheinungen
umflossen, bildet dennoch die Entwiekelungslinie jenes Kampfes gleich-
sam die Pulsader des geschichtlichen Lebens.
Das Ziel des Herrschtriebes ist in Staat und Kirche, in der Ge-
sellschaft und im Völkerverkehr: dass der Freiheitstrieb aller Ele-
mente auf dem gleichen Gebiete sich nicht weiter, geltend machen
könne, als mit der Herrschaft eines einzigen sich verträgt; das Ge-
setz seiner Bewegung daher in aufsteigender Linie: dass ech-
tigung Aller zum Vorrecht immer Wenigerer, und schliesslich ‚zur
Alleinberechtigung eines Einzigen werde. +
Das Ziel des Freiheitstriebes besteht umgekehrt darin: dass der
Herrschtrieb des Einzelnen — sei dies eim Individuum oder eine
Genossenschaft, ein Staat oder ein Glaubensbekenntniss — sich nicht
weiter geltend machen könne, als mit der Freiheit aller Uebrigen —
Individuen oder Genossenschaften, Staaten oder Religionsbekenntnisse
— verträglich ist; und das Gesetz seiner Bewegung in absteigender
Linie darin: dass auf jedem Gebiete, religiösem und völkerrechtlichem,
politischem und soeialem, ‚die Berechtigung des Einen zur Berechtigung
immer Mehrerer, und schliesslich zur Gleichberechtigung Aller fortschreite.
Die Gleichberechtigung begründet aber naturgemäss nur das gleiche
Recht, nicht das Recht in allen Stücken einander gleich zu sein;
eiue Gleichheit, die in physischer und geistiger, in materieller und
moralischer Beziehung unter Völkern wie unter Einzelnen, unter Re-
ligionsgesellschaften wie unter Staatsgebilden unmöglich ist. Sie be-
zeichnet vielmehr nur, indem sie gleiches Recht und gleiche Freiheit
gewährt, die Ermächtigung und die Befähigung, einander gleich wer-
den zu können; dynamischen Charakters überlässt sie es, dem Be-
griffe der Freiheit gemäss, den Talenten und der Kraftanstrengung, der
Tüchtigkeit und Thätigkeit jedes Einzelnen — sei dies ein Individuum
oder eine Genossenschaft, ein Staat oder eine Kirche — , das Maass des
Möglichen durch die Wirklichkeit, das Recht durch Thaten zu erschöpfen.
Die Gesetzmässigkeit dieser Bewegungen der Triebe und FPrin-
eipien tritt, wie in dem kleineren Rahmen manches einzelnen normalen
Wissenschaftliche Monatsschrift. ä
— 50° —
Volkslebens, so auch in grossen Zügen in der Gesammtentwicklung
der eivilisirten Menschheit zu Tage. Blicken wir — denn die ferne
Vergangenheit, das elassische Weltalter, liegt hier ausserhalb unsers
auf den Hergang der Dinge in der Neuzeit.
Gesichtskreises
3. Die zeitliche Gliederung des Prinzipienkampfes im christlich-
germanischen Weltalter.
Das sogenannte Mittelalter, das erste Stadium der Neuzeit, be-
wegte- sich in aufsteigender Linie. Es begann mit den breitesten
Grundlagen der Freiheit und der Gleichberechtigung. Das Germanen-
thum kannte ursprünglich nur „freie* Leute mit „gleichen“ Rechten;
und die Anfänge der christlichen Kirche verkündeten die allgemeine
Brüderlichkeit der Menschen, das allgemeine Priesterthum, und er-
kannten die mannigfaltigsten Abweichungen in der Glaubenslehre als
ebenbürtig an, selbst die der Ebioniten, die den Messias „für einen
Menschen wie alle Anderen“ hielten. Allmählig aber gelang es dem
Herrschtrieb, nach allen Richtungen hin den Kreis der Berechtigungen
immer enger zu ziehen, bis schliesslich die Berechtigung zum Allein-
recht, der Kreis zu einem Punkte ward. Nach universalen oder uni-
tarischen Bildungen strebend, vermochte er durch eine Kette von
Siegen annähernd sein Ziel zu erreichen. Die christlich germanische
Welt wurde auf allen Gebieten des Lebens allgemeingültigen einheit-
lichen Autoritäten unterworfen. Der religiöse Begriff verkörperte sich
allgemach ausschliesslich im Katholieismus, in der Alleinherrschaft
Eines Cultus, in der geistlichen Hegemonie des Papstthums, nachdem
sich dem Entwickelungsgesetz der Herrschaft gemäss zunächst die
Hierarchie über die Gemeinde, dann der römische Bischof über die
Hierarchie emporgeschwungen, d. h. die Minderheit über die Gesammt-
heit, und die Einheit über die Minderheit. Der völkerrechtliche Be:
griff erstarrte ähnlicherweise in der weltlichen Suprematie des ger-
manisch-römischen Kaiserthums, in dem entscheidenden Uebergewicht
Eines Staatsgebildes; der politische in dem System der Feudalmonarchie,
nachdem sich der Adel über die Freien und der König über den
Adel erhoben; der volkswirthschaftliche endlich, oder der sociale,
verschrumpfte in dem Staats-, dem Lehns- und Zunftmonopol. Das
Mittelalter hatte dergestalt bezweckt, einen Universaleultus, einen Uni-
versalstaat, eine universale Staats- und Socialform herzustellen, und
eben damit die Unfehlbarkeit, die Verwirklichung des absolut Wahren,
oder — alleinseligmachende Normen in Religion und Völkerrecht, in
Staat und Gesellschaft angestrebt.
Ein entsprechender Prozess ging auf den Gebieten der Kunst
und der Wissenschaft vor sich. Ueberall verschlang die Autorität die
Baker nn re
in =
freien Regungen, pferchte sie in die starren Schranken einer unwan-
delbaren Norm, einer alleinseligmachenden Methode ein. So kam,
- um nur Einiges zu berühren, in der Philosophie der Scholastieismus,
in der Medizin die Lehre des Galen, in der dramatischen Poesie das
biblische Mysterienspiel, dann der Classieismus und die Autorität der
angeblichen aristotelischen Regel von der Einheit in Ort, Zeit und
Handlung, zur Alleinherrschaft. Die Schlusspunkte aller dieser Ent-
wickelungen fallen keineswegs zusammen; ja manche derselben er-
reichten ihren Höhepunkt erst in einer Zeit, als der allgemeine Prin-
eipienkampf schon die entgegengesetzte Wendung genommen hatte.
Die Reaction gegen die Bestrebungen des Mittelalters trat all-
mählig mit den neueren Jahrhunderten ein. Dem Unitarismus stellte
sich der Individualismus, dem Herrschtriebe der Freiheitstrieb sieg-
reich entgegen, und die Bewegung begann nunmehr eine abstei-
gende Linie zu beschreiben. Sichtbarlich rang sich jene Ueberzeugung
empor, dass der Mensch es bis zur absoluten Wahrheit weder ge-
bracht habe noch bringen könne, und dass daher unfehlbare allein-
seligmachende Normen weder auf irgend einem Gebiete möglich, noch
in den herrschenden Autoritäten gegeben seien. Aus diesem Bewusst-
sein heraus nahm der Geist der neueren Jahrhunderte den Kampf
gegen das Mittelalter und dessen Schöpfungen auf. Hatte dieses ge-
hofft, die Wahrheit auf dem Wege der Autorität den Geistern schen-
ken zu können, so wollten jene nunmehr sie auf dem Wege der
Freiheit erarbeiten.
Wie sich der Kampf im Bereiche des intelleetuellen Lebens ent-
wiekelte und fortspann: das zu zeigen kann nicht unsere Aufgabe
sein. Es genügt daran zu erinnern, wie sich Siege an Siege reiheten,
ein Feld nach dem andern erobert wurde; wie auf naturwissenschaft-
lichem Boden Kopermieus und Galilei, Kepler und Newton die
geheiligte Autorität des Aberglaubens, der Sterndeuterei und des
Wunderthums, der Hexerei und Zauberei erschütterten und brachen ;
wie das medieinische Papstthum des Galenus-Avicenna durch Para-
eelsus, Harvey u. A. gestürzt ward; wie die grossen Philosophen
Baco, Descartes und Spinoza die zwingherrlichen Schranken der Scho-
lastik mit Riesenkraft zersprengten oder niederrissen, und der geniale
Shakespeare — der Luther der dramatischen Poesie — die Autorität
der Mysterien, des Classieismus und der missverstandenen aristote-
lischen Poetik mit Einem Stosse spielend über den Haufen warf.
Während dergestalt dem freien Forschen, dem freien Denken und
Dichten die Bahnen geebnet wurden, gingen zugleich äuch die ersten
Akte des Kampfes auf der entscheidungsreicheren Bühne des prak-
tischen Lebens vor sich,
ne We
Zunächst trat hier der Bruch und das Ringen nach Freiheit auf
religiösem Gebiete ein. Das ist das Zeitalter der Reformation (1500
bis 1648). Die Angriffe waren gerichtet gegen die einheitliche Au-
torität des Papstthums, gegen den religiösen Monarchismus. Das
eigentliche Ziel war die allgemeine Glaubensfreiheit, die gegenseitige
Glaubensduldung und damit der Glaubensfriede. Der wirkliche Er-
folg bestand aber vorerst nur darin, dass dem Entwicklungsgesetze
der Freiheit gemäss an die Stelle der Alleinberechtigung Eines Be-
kenntnisses die Gleichberechtigung einer Mehrzahl von privilegirten
Bekenntnissen trat. Es gab nun statt Einer alleinseligmachenden
Kirche deren zwei, drei, vier und fünf. Neben dem Katholieismus
herrschten die Confessionen Luther’s, Zwingli's, Calvin’s und Hein-
rich’s VIII. Mit dem Westphälischen Frieden war im Wesentlichen
die vollständige Parität erkämpft. Der religiöse Monarchismus hatte
sich in eine Aristokratie von Bekenntnissen zersplittert. Mit diesen
Vorgängen, mit dieser Zerklüftung der Autorität, war aber die Mög-
lichkeit gegeben, dass wie das Alleinrecht, so auch das Vorrecht
durch weiteres Eindringen neuer Glaubensnormen abgeschwächt werde
und die Parität immer mehrere, endlich alle Bekenntnisse umfasse.
Von dem religiösen Gebiet sprang der Freiheitskampf alsdann
auf das internationale über. Damit begann das Zeitalter der Gleich-
gewichtspolitik (1648 bis 1789). Die Angriffe waren gerichtet gegen
die Ansprüche einer einheitlichen Autorität im Völkerrecht, gegen
universalstaatliche Gelüste, gegen das System der Hegemonie und
Präponderanz, gegen alle Eroberungs- und Vergrösserungsabsichten,
in Summa gegen die Idee des internationalen Monarchismus. Daher
zuvor schon — denn jedes Zeitalter enthält, wie die Ergebnisse der
früheren, so die Keime des folgenden — die Kämpfe gegen das
habsburgische Uebergewicht, die Kriege Franz I. von Frankreich gegen
Kaiser Karl V.; daher ferner der Andrang Gustav Adolf’s gegen das
römische Reichsregiment, gegen die Idee des universalen Staates, wie
er seit Karl dem Grossen her unter dem Banner des Kaiserthums er-
strebt wurde; daher endlich die Kriege, Bündnisse und Verträge zur
Zeit Ludwig’s XIV. von Frankreich, Karl's XII. von Schweden, Pe-
ter’s I. von Russland und Friedrich’s II. von Preussen. Die Kabi-
nette, indem sie die Alleingewalt oder die Uebermacht Eines Staates
zu verhindern trachteten, wurden freilich nur theils von Furcht und
Eifersucht, theils von Selbstsucht und eigener Herrschlust getrieben.
Der höchste Zweck des internationalen Ringens war aber durch die
Idee der allgemeinen Völkerfreiheit, der gegenseitigen Völkerduldung
und damit des Weltfriedens bezeichnet, wie sie schon von Heinrich IV.
von Frankreich, dann von Saint-Pierre, Rousseau, Bentham und Kant
gehegt und ausgesprochen wurde. Der Frfolg bestand darin, dass
dem Gesetz der absteigenden Bewegung entsprechend den universal-
staatlichen Tendenzen, dem Herrschtriebe des Einzelstaates gegenüber
das System des politischen Gleichgewichtes Anerkennung fand, d. h.
die Gleichberechtigung einer Mehrzahl von sogenannten Grossmächten.
Mit dem Schlusse des siebenjährigen Krieges gab es deren fünf. Es
wurde also nicht sowohl die allgemeine Völkerfreiheit errungen, die
Sicherung der freien Existenz und Selbstbestimmung jedes, auch des
kleinsten nationalen Daseins, die Sicherstellung der Rechte aller Völ-
ker und Staaten vor der Willkür einzelner unter ihnen; sondern
vielmehr nur eine privilegirte Fünfstaatenfreiheit. Die Idee des uni-
versalen Einheitsstaates, der völkerrechtliche Monarchismus gestaltete
sich — der Wandlung auf religiösem Boden entsprechend — zu
einer Staaten- Aristokratie, deren Glieder nun unter sich durch diplo-
matische Congresse und Conferenzen, durch Traetate uud Transaetionen
über die Schicksale, den Bestand und die Rechte aller übrigen eigen-
mächtig entschieden oder zu entscheiden beflissen waren. Dennoch
war mit dieser Thatsache der weiteren Entwickelung die Bahn vorge-
zeichnet. Es war klar, dass in den Kreis dieser Staaten - Aristokratie
durch geschickte Benutzung der Umstände, durch kühnes und erfolg-
reiches Auftreten, oder durch eine natürliche Machtentwicklung, im-
mer neue Emporkömmlinge eindringen könnten; es war die Möglich-
keit gegeben, dass das Vorrecht einiger Staaten sich nach und nach
zur Parität aller erweitere. Friedrich der Grosse, der soeben erst die
fünfte Grossmacht begründet, lag kaum im Grabe, als schon eine
sechste aus ihrer Wiege emporstieg: die Union von Nordamerika.
Inzwischen begann der Geist der Freiheit, gewaltiger denn je
zuvor, sich auf dem politischen Gebiete zu regen. Die Literatur der
Aufklärung hatte vorzugsweise den Drang nach Freiheit des innern
Staatslebens erweckt. Die neuen Kämpfe bezeichneten das Zeitalter
der französischen Revolution (1789 —1815). Sie waren zunächst ge-
richtet auf Abwerfung des Feudalstaats, des ganzen mittelaltrigen
Staatsorganismus und der aus ihm inzwischen erwachsenen unum-
schränkten Monarchie. Denn überall in Europa hatte sich im 17. und
18. Jahrhundert aus dem Feudalismus der monarchische Absolutismus
herausgebildet; nur in England war er schon in Folge zweier Revo-
lutionen im Keime gebrochen und der Herrschaft der Geburts- und
Grundaristokratie gewichen ; aber in allen fürstlich zugespitzten Staa-
ten des Continents stand er in voller Blüthe da, unangetastet, sieg-
reich, im höchsten Aufschwung begriffen. Nieht Ludwig XIV. allein
durfte, zum Zeichen des vollendeten Absolutismus, sagen: „der Staat
bin ich.“ Mit nicht minderem Fug konnte der Kurfürst von Bran-
Se
denburg, der in allen seinen Provinzen den Einfluss der Stände ver-
nichtet hatte, der Herzog Karl von Würtemberg und die meisten der
übrigen deutschen und europäischen Fürsten, sowie deren Nachfolger,
sich als vollkommene Autokraten‘ bezeichnen. Den Weg des neuen
Kampfes brauchen wir nicht zu verfolgen. Das Ziel, dem er nach-
rang, war der politische Friede, die Gleiehberechtigung aller Staats-
bürger, die Idee des freien Rechtsstaates, die im Gegensatz zur Uni-
formität der Autokratie die Fülle des manigfaltigsten Lebens eben
dadurch zu erzeugen trachtete, dass sie dem Wetteifer der Kräfte
nach allen Seiten hin gleichen Raum, gleiches Maass und gleiches
Recht verhiess.. Das schliessliche Resultat aber war, als die Revo-
lution durch die Restauration beendet wurde, dass in Frankreich
und einer Reihe anderer Staaten dem Absolutismus gegenüber das
System des constitutionellen Repräsentativstaates zur Geltung kam;
dass auf politischem Gebiete, wiederum dem Entwickelungsgesetze der
Freiheit gemäss und den stattgefundenen Wandlungen auf religiösem
und internationalem Boden entsprechend, an die Stelle der unum=
schränkten Einherrschaft die Berechtigung einer aristokratischen Mehr-
heit trat, die freilich im Verhältniss zu den durch den hohen Census
Ausgeschlossenen die ungeheure Minderheit bildete. Jedoch die Macht-
fülle der Alleinherrschaft war nun einmal hierdurch gebrochen und zer-
splittert; es musste einleuchten, dass die Geschichte auf der betre-
tenen Balın weiter treiben werde, dass zu den bevorrechtigten Klassen
von Staatsbürgern sich immer neue grössere Schichten hinzudrängen
würden, und dass jede freiwillige oder abgedrungene Verminderung
des Census den Charakter der politischen Aristokratie abschwächen,
der allgemeinen Gleichberechtigung näher führen müsse.
Auch auf socialem Gebiete hatte die Aufklärung und die Revo-
lution den Freiheitskampf eingeleitet und zu einer ähnlichen Stufe des
Erfolges geführt, der vorzugsweise in den Zeiten der Ruhe, die auf
die langen Erschütterungen der Gesellschaft und des Verkehrs folgten,
in dem Zeitalter der Restauration (1815 — 1830), sich festsetzte und
ausprägte. Noch im vorigen Jahrhundert war in England Adam Smith,
in Frankreich Turgot und die Physiokraten oder Oekonomisten, als
Vorkämpfer : aufgetreten. Der Angriff galt auf materiellem Gebiete
nicht nur im Besondern dem dureh die Colbert'sche Verwaltung be-
gründeten und seitdem weithin herrschend gewordenen Merkantilsystem,
sondern überhaupt der Alleinberücksichtigung des Staatsinteresses, dem
System der Regalien, der Monopole und der Prohibition, sowie allen
dadurch bedingten Beschränkungen des Handelsverkehrs und des Ei-
genthumserwerbes; auf geistigem war er gleicherweise gerichtet gegen
die staatliche Bevormundung durch das monarchische Interesse, gegen
ee
die Polizeiherrschaft, gegen die monopolistischen Beschränkungen des
Gedankenverkehrs durch das Prohibitivsystem der Censur oder des
Presszwanges. Die Idee, die dem Ringen zu Grunde lag, war die
Unabhängigkeit der gesellschaftlichen Betriebsamkeit von der staat-
lichen Bevormundung, also die gleiche Berechtigung aller Interessen
der Gesellschaft, die volle Emaneipation des Erwerbrechtes, die all-
gemeine freie Coneurrenz auf jeglichem Wege der Einzelthätigkeit oder
der Association, und in jeglichem Bereiche der materiellen wie der
geistigen Arbeit, in Ackerbau und Gewerbe, in Handel und Verkehr,
wie in Kunst und Wissenschaft, in der Presse und in der münd-
lichen Erörterung. Die Staatswirthschaft sollte zur Volkswirtschaft
umgestaltet, durch die vollkommene Freiheit der Arbeit und des Ver-
kehrs, des materiellen und geistigen Eigenthums, eine dauernde Wohl-
fahrt der Gesellschaft, eine gegenseitige Achtung der Interessen und
damit der sociale Friede begründet werden. Die stete Zunahme der
Bevölkerungen und die theilweise Nahrungslosigkeit, die zahlreichen
Erfindungen und die dadurch bedingten Vervollkommnungen der Pro-
duetion und der Industrie, der allseitige Andrang der Privatinteressen
und die steigenden Finanzbedürfnisse des Staatswesens selbst, die zu Ex-
perimenten und Neuerungen hindrängten, trugen nieht wenig zu den Er-
folgungen des Freiheitstriebes bei. Wirklich erlangte man auf verschie-
denen Punkten den Sturz des soeialen Absolutismus, der monopolistischen
und prohibitiven Grundsätze; die Fesseln des Staats-, Lehns- und Zunft-
zwanges wurden sammt dem Merkantilsystem gesprengt, und die Censur
strich mancher Orten ihre Willkürsegel ein. Dennoch kam es schliesslich
nicht zum Durchbruch der vollen socialen Freiheit; nicht zur Gleichstel-
lung aller, sondern nur zur Bevorzugung einiger Privatinteressen ; nicht
zur allgemeinen Coneurrenz,, sondern nur zur Proteetion einiger Klassen, zur
Begünstigung der Kapitalisten, der Grundeigenthümer und der Fabrik-
herren; nicht zum Freihandel, sondern nur zu Sehutzzöllen ; nicht zur all-
gemeinen Pressfreiheit, sondern nur zu einem System der Repression mit
geldherrischen „Cautionen“ und büreaukratischen „Concessionen“ , wo-
nach das Pressrecht von zufälligem Reichthum und willkürlicher Gunst
abhängig ward. Hin und wieder fanden Ausnahmen oder Abweichungen
statt, in einzelnen Punkten, da oder dort, früher oder später. Grundsätz-
lich aber war in den Zeiten der Restauration die Lage der soeialen Frage
dahin gediehen, dass die Staatswirthschaft, statt zur Volkswirthschaft zu
werden, vielmehr nur zur Geldwirthschaft umgewandelt erschien. Dem
Gesetze der absteigenden Linie entsprechend, war auch in dieser Rich-
tung das Alleinrecht dem Vorrecht gewichen, das Monopol dem Privile-
legium, das Prohibitiv- dem Protectionssystem, die Einheit des Interesses
einer Mehrheit von Interessen, die Alleinherrschaft des Staates einer socia-
RE
len Aristokratie: der Herrschaft der Vermögenden. Dadurch wuchs die
Kluft zwischen Reichthum und Armuth in der Empfindung wie in der
Wirkliehkeit; denn der unbeschränkte Eigenthumserwerb, bisher Allen
verkürzt, erschien nun als gehässiges Privilegium Weniger, als „Ausbeu-
tung der Schwachen durch die Starken.“ Dadurch wurden Gesellschafts-
lehren möglich, welche, in dem Drange jene Kluft auszugleichen, das
Kind mit dem Bade ausschütteten und, über das Ziel der socialen Frei-
heit hinausstrebend, das Wesen derselben verzerrten und zerstörten. Im-
merhin aber bezeichnete jener Umschwung ein nothwendiges und das
wichtigste Glied der gesellschaftlichen Entwicklung: die Einseitigkeit des
Staatsinteresses war dem Andrang des privaten erlegen, die Bahn ge-
brochen. Es kam nur daraufan, dass in den Kreis der bevorzugten Pri-
vatinteressen immer grössere Kreise Eingang fänden, um auch den socia-
len Aristokratismus abzuschwächen und schliesslich die Interessen aller
Gesellschaftsklassen und damit aller Einzelnen zu gleichmässiger Aner-
kennung zu bringen.
Zum Evangelium der Hebräer.
Das kleine Bruchstück dieses wichtigen Evangeliums in der syrischen Theo-
phanie des Euscbius von Cxsarea, s. Ewald Jahrb. d. bibl. Wiss. 6. S. 40.,
findet sich in dem neuerlich veröffentlichten griechischen Texte (Nove patrum
biblioth. T. IV. Rom. 1847. 4. p. 143) nicht, dagegen ist in diesem, p. 155,
ein Excerpt aus jenem Evangelium enthalten, das hier mitgetheilt werde. Eusebius
bespricht daselbst die Parabel von den Talenten, Matth. 25, 14. ff. und findet
schliesslich auch die Drohung Vs. 30 dem Zusammenhange angemessen. Nun
kommt ihm aber ein Bedenken: „das auf uns gelangte hebräische Evangelium
(zÜ eis nuäs rxov Eßgaizois yugaxr) go &Uw@yyeluov) richtet die Drohung
nicht gegen den der das Talent verborgen, sondern gegen den der schwelgerisch ge-
lebt hat (zara or LOWTOS EIT#0T0g, vergl. Matth. 24, 29). Denn es
nennt drei Knechte, der eine vergeudete die Habe des Herrn mit Dirnen und
Flötenspielerinnen, der andere, thätig, vervielfältigte den Ertrag, der dritte ver-
barg das Talent, worauf der eine gelobt, der andere nur getadelt, Br BaRE
aber ins Getunsufe: geworfen wurde (vgeig yag dovkovs regueiye, zoV uev
zaragayorıa cv Üraofıv vor deortörov ueıd 9 rroovWV zul auhyıgidom,
zcv de N rıv £oyaolav, ToV h}: KUTEAOUWUITE TO
rahavrov elta vov usv EernodeyIHvaı, 1ov ÖE uzup$Hvaı LOvor, ToV
de ovyRLEioH vaı ÖEOUOTTOLU). Wenn hierdurch Eusebius auf die Ver-
muthung kommt, es möchte bei Matth. die Drohung Vs. 30 nicht auf den
gehen der das Talent verbarg, sondern (zart ertavakı ‚yıw) auf den der
mit den Trunkenen ass und trank 24, 29, so ist das zwar eine der vielen exe-
getischen Abentheuerlichkeiten des Eusebius, aber wir werden sie ihm für diese
mn
Mittheilung gern hingehen lassen. —
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lung auszeichnen wird, sind in allen Buchhandlungen zu haben,
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r Studien, mit eimem Titelbild. Gr. 8. Preis 12/, Thlr. —
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Der Verfasser, welcher Russland durch vieljährigen Aufenthalt in St. Peters-
fi burg sowohl, als in den inmeren Provinzen, gründlich kennt und dasselbe seit
& langer Zeit zum Gegenstande umfassender Studien gemacht hat, giebt in dem
- obigen Werke die Resultate seiner Beobachtungen und Forschungen nach allen
Richtungen und Verhältnissen des russischen Staates und Volkes, ganz beson-
ders auch -rücksichtlich. der ländlichen Bevölkerung und ihrer agrarischen Cultur- |
zustände, worüber wir noch so wenig eingehende und gewissenhafte Schilderun-
gen besitzen. Dass er dabei sich völlig frei hält von jeder leidenschaftlichen
Auffassung und Darstellung und unparteisch auch dem mannigfachen Guten im
russischen Volke und Staate bereitwillige Gerechtigkeit widerfahren lässt, wird
dem Buche sicher nur zur Empfehlung dienen. :
NEUER VERLAG
- H. L. BRÖNNER IN FRANKFURT AM MAIN.
Kervser,. J., Geschichte der Assyrier und Iranier vom 13ten bis zum 5ten Jahr-
u: hundert vor Christus. Mit vier Tafeln und einer Karte. Gr. 8. . Geh.
Rthlr. 2. —
Boven, A., zur Kenntniss der Charakteristik Deutschlands in seinen politischen,
— —— kirehlichen, literarischen und Rechtszuständen während der letzten Jahr-
zehnte. Gr. 8. Geh. Rthlr 2.
Fröunıch, E., (Prof. in Aarau), Winfried genannt Bonifacius der Deutschen
hy Apostel. Ein Gesang zu dessen eilfhundertjähriger Todesfeier. Im Er-
trage dem Baseler Missionshause gewidmet: 12. Geh. 7!/, Ngr.
Gebunden mit Goldschnitt 15 Ngr.
Susnocx, K., die deutschen Sprichwörter. 8. Geh. Rthlr. 1. 10 Ngr.
Orren, $ 7. (Lehrer am Gymnas. in Frankfurt a. M.), Leitfaden für den
4: Unterricht in der Elementar- Mathematik an höheren Lehranstalten. Er-
ster, geometrischer Theil. 8. Geh. 24 Ngr
Teummer, C., das Verhältniss der heutigen Be etesebung zum Christenthum.
=, Geh. 27 Ner.
Abhandlungen der Senckenbergischen naturforschenden Gesellschaft. Ersten Ban-
4 des zweite Lieferung. Mit 6 Tafeln. Geh. Rthlr. 2. 10 Ngr.
Bei Meyer und Zeller in Zürich ist erschienen:
Geschichte
DES GRIECHISCHEN KRIEGSWESENS {
von der ältesten Zeit bis auf Pyrrhos. |
Nach den Quellen dargestellt s
von
MM. Büstote ;
ehemaligem preussischem Genieoffizier
und
Köchin
ordentlichem Professor der griec und römischen Litteratur und DEEEHR
an der Universität Zürich.
Mit 134 in den Text eingedruckten Holzschnitten und. 15
Uebersichtsplänen zu Schlachten und Belagerungen.
30 Bogen. gr. 8°. geh. 2 Thlr. 24 Ngr. — fl. 5. 4 kr. — Fr. 10. 75 Ct.
.
Der als gelehrter Philolog und praktischer Schulmann rühmlichst bekannte
‚. Herr Prof. Köchly hat sich mit einem vielseitig durchgebildeten Offizier ver--
“einigt, um durch "diese „Geschichte des griechischen Kriegswesens* eine bisher
‘fast ganz vernachlässigte Seite der Alterthumswissenschaft gründlich aufzuklären.
Aber nicht allein der eigentlich Gelehrte wird in derselben neue und überra-
schende Aufschlüsse finden: das Buch ist ganz besonders auch Schulmännern zu
empfehlen, welche bei der Leetion der Classiker und dem Vortrage der alten
Geschichte ein wirkliches und lebendiges Sachverständniss, und eben dadurch
Lust und Liebe zur Sache bei ihren Schülern fördern wollen. Die sorgfältig
gewählten und sauber ausgeführten Abbildungen machen es auch demjenigen,
. welcher wenig oder Nichts vom Kriegswesen versteht, möglich, sich und seine
Schüler leicht und richtig zu orientiren: Wir behaupten nicht zu viel, wenn
wir sagen: das Buch ist ein unentbehrliches Hülfsmittel zum Sachverständniss
des Herodot, Thucydides, Xenophon und Arrian, und insofern ein nothwendiges
Supplement aller Ausgaben dieser Schulschriftsteller. |
DER 5
ANGRIFF AUF DIE KRINN
der Kampf um Sebastopol. gg
Uebersichtlich. dargestellt
von
W. Rüstow.
(Vom Beginn des Feldzugs bis zum Wiener Traktat. Anfangs September bis
2. Dezember 1854. .
Preis 8 Ngr. — Fr. 1.
Der Krieg von 1805 in Deutschland und Italien. Anleitung zu
kriegshistorischen Studien. Mit 30 in den Text EZ es
Holzschnitten. Von W. Rüstow. 28 Bog. gr. 8.
Druck von E. Kiesling in Zürich.
des
| en: VEREINS
in
ZÜRICH.
Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben :
Ferpmann Hırzıc, EpuarpD OSENBRÜGGEN, HEINRICH Frey.
ApvoLr Schmivr, Epvarn Bopkrik.
(Hauptred.: Anorr Schmipr.)
BEITER JARRBSARE.
Preis für den Jahrgang 4 Thir. = 14 Fr.
Se
Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver-
fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet,
mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender
und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde-
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter
sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz 3
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, R
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitgetheilt werden.
Inhalt des borliegenden Beltes :
Neutestamentliche Kritik auf dem Grunde der Erklärung. Von F. Hırzıe 57
Diagnose des gegenwärtigen Zeitalters. Von An. Schmipr. Zweiter Artikel 68
Die Aufgabe der Zoologie. Von H. Frey alt 16 > 3 > .. 873
Gedanken über die Verbreitung der Seuchen. Von MEYER-AHRENS . : 96
Strafgesetzgebung und Christenthum. Von E. ÖsEnBRÜGGEN . - . 100°
Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von SemrEr, RAABE,
BoBRık, STÄDELER, ScHmiprt, Frıtzsch£, LEBERT, Frey und Anderen. i
Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des
Buchhandels erbeten. '
Gegentwärtige Mitglieder des Missenschaftlichen Vereins :
J.J. Hortinser, Präsident. ArLex. SchwEizer, Vicepräsident. DERNBURG, Sekretär. R
Hırzıc. Fero. Krırer. Kym. Lesert. Mever-Anrens. Mousson. MÜLLER. i
NÄGELI. OÖsSENBRÜGGEN. RAABE. SCHLOTTMANN. An. Schmivr. H. SCHWEIZER.
G. SEMPER. STÄDELER. F. ViscHEr. VoLKMAR. G. v. Wiss.
NEUTESTAMENTLICHE KRITIK
AUF DEM
GRUNDE DER ERKLÄRUNG.
Von FERDINAND HITZIG.
Von der Wortkritik als der niedern sondert gäng- und gäber
Sprachgebrauch eine höhere, welche mit dem Bestande einer Schrift
im Ganzen, mit ihrer Composition und ihrem Zwecke sich beschäftigt,
und die Fragen nach Zeitalter Heimath und Verfasser oder, bekennt
sie einen solchen, nach der Echtheit beantwortet und, sind Thatsachen
ausgesagt, sich auch um deren Glaubwürdigkeit annimmt. Die Wort-
kritik bekümmert sich lediglich um die Frage: was ist vom Schrift-
steller, sei er wer er wolle, eigenhändig oder mit fremdem Beistand
wirklich geschrieben worden. Sie sucht durch die ihr zu Gebote
stehenden Mittel Verderbnisse zu entfernen, beseitigt Fehler Klex
und unnützen Schnörkel, womit Nachlässigkeit und Unverstand der
Abschreiber oder auch Absicht im Laufe der Zeiten den Text ver
unstaltet hat: sie ist in ihrer Bethätigung wesentlich reinigendes
Handeln.
Die Verschiedenheit der Aufgabe hier ‚und dort rechtfertigt jene
Unterscheidung von zweierlei Kritik; aber die Erweiterung des Ge-
schäftskreises, die Weitschichtigkeit der Probleme, welche in Angriff
zu nehmen, führte auch eine Theilung der Arbeit herbei, so dass
in dem Gebiete des N. T. nicht leicht derselbe Forscher beiden Gat-
tungen gleichmässige Aufmerksamkeit zuwendet; sie pflegen meistentheils
an verschiedene, auch verschieden geartete Personen zu fallen. Erfolge
in der höhern Kritik bedingt umfägsender Blick und. Combinations-
abe; erheischt wird Geschick im Vereinigen der besondern Züge zum
esammtbild; und auf das Wort achtet man da weniger, als auf
den Gedanken und schliesslich auf die Sache. Die Wortkritik hin-
wiederum geht schon von ganz andern Vorkenntnissen aus, Fertigkeit
im Lesen mannichfacher Schriftcharaktere und Vertrautheit mit den
Uebersetzungssprachen; es gilt auf diesem Felde Scharfsinn im Ein-
zelnen, Treue im Kleinen, Genauigkeit und einen Fleiss, der nimmer
müdet. Philosophen sind es gewöhnlich nicht, die im Variantenwalde
ustwandeln , auch nicht Historiker im grossen Styl; aber es wird in
> Wissenschaftliche Monatsschnift. - 5
4 .
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diesem Revier mehr gründlich und unbefangen gearbeitet, man läuft
nicht so leicht die Gefahr verfehlter Hypothese, und eher mag die
Wortkritik der höhern entrathen, als umgekehrt.
Blicken wir ein wenig rückwärts auf die Geschichte der Kritik,
so trennten sich in neuerer Zeit die zwei Zweige derselben auch nach
den Perioden ihrer Blüthe, indem Wortkritik zur höhern anregte und
ihr die Wege bereitete, mit ihrem Verwelken aber seither Letztere
üppig aufschoss und den ganzen Acker des N. T. überwucherte. Her-
ein in unsere Gegenwart ragt die Wortkritik gleichwohl noch, um
von minder umfassenden und nur beiläufigen Leistungen zu schweigen,
durch einen kräftigen Nachtrieb, die griechisch-lateinische Ausgabe
Lachmann’s, neben welcher die verdienstlichen Arbeiten Tischendorf’s
allmählig die Art, wie er vordem sich in den Vordergrund drängte,
in Vergessenheit bringen. Lachmann fand jedoch anfangs wenig ge-
rechte Würdigung und Nachfolger keine; die Ausleger langten nach
ihrem alten Griesbach zurück; und an der höhern Kritik gieng das
grosse Werk fast spurlos vorüber, nachdem sie das Bewusstsein ihres
Zusammenhanges mit der Wortkritik verloren hat und sich desselben
nur noch gelegentlich im Falle des Bedürfnisses erinnert. Mittlerweile
ist aber im Vergleiche zu der lärmenden Bewegung in den zwei letzten
Jahrzehnten, nachdem noch schliesslich um die Echtheit des Evange-
liums Johannes und die Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte Streit
entbrannt war, auch in der höhern Kritik einige Stille eingetreten.
Man zieht sich auf der einen Seite unlustig zurück mit einem: Ich
habe doch Recht! und dem Wunsche, nicht weiter behelligt zu wer-
den; gegnerischer Seits weiss man auf dem eingeschlagenen Wege
keine neuen Hülfsquellen für den Krieg zu entdecken, und vermag
man den Feind doch nicht weiter zu treiben, als er zurückweichen
kaun. Dieser Augenblick verhältnissmässiger Ruhe lässt vielleicht zum
Worte kommen, und er werde darum benutzt, um ein freimüthiges
multa me dehortantur a vobis, Quirites! den Kritikern beider
Lager zuzurufen und zu begründen.
Die Wortkritik, welcher einst die gelehrtesten und auch die
frömmsten Theologen ihres Lebens beste Kraft gewidmet haben, findet
in der öffentlichen Meinung längst nicht mehr diejenige Beachtung,
welche ihr von Rechts wegen gebührt; und wird ihre Wichtigkeit
auch mit dem Munde anerkannt, so gibt man doch der Ueberzeugung,
die sich aufdringt, keine praktische Folge. Die Kritik des Wortes
verachte, wer das Wort geringschätzt! Aber warum liegt zumal Jenen, “
welche formuliren: die Bibel ist das Wort Gottes, so wenig daran,
des wirklichen Bibelwortes sich zu versichern? da ein authentischer
ee az
Ba
Text doch nicht überliefert ist, die Varianten vielmehr nach Myriaden
gezählt werden. Ja den Bemühungen, das unverfälschte Wort zu
gewinnen, begegnet auf dieser Seite sogar unverholene Abneigung,
vermuthlich weil Kritik doch immer Nachdenken voraussetzt, weil sie
Bestand, der Einem lieb geworden, gefährdet, und weil ohnehin die
niedere eine Schwester hat, die hochfahrende höhere. Allein mit dem
unechten Worte bekommst du den unechten Sinn, der vielleicht sich
mit deinem Ideenkreise verschlingt, mit deinem ganzen Denken ver-
wächst; und wenn du in vermeintlichem Bibelglauben wähnst: Gott
ist erschienen im Fleisch (1. Tim. 3, 16), so hättest du wohl auch wie
Jener Jes. 44, 20. Ursache dich zu fragen: Halte ich denn nicht Täu-
schung in meiner Hand? Doch davon wollte der Unterzeichnete
eigentlich nicht reden; und auch den Exegeten, welcher falsche Les-
arten munter wie echte auslegt und als das allein Wahre und Noth-
wendige vertheidigt, überlassen wir seiner Sorglosigkeit und seinem
ungesegneten Fleisse. Ich wünsche, die Wortkritik an sich und zu-
vörderst das gegenseitige Verhältniss zwischen ihr und der sogenannten
höhern einmal schärfer in das Auge zu fassen.
Mir scheint, die höhere Kritik blicke schon lange auf ihre geringe
mikrologische Schwester sehr mit Unrecht vornehm herab und versage
sich ihren Beistand zum eigenen grossen Schaden. Will man mit
Sicherheit urtheilen über Echtheit Verfasser Zeitalter eines Buches,
so sollte man doch das Buch erst selber haben, d. h. seinen gesicherten
Text: vor allen Dingen das Subjekt für die Prädikate, welche man
ihm beilegen will. Die meisten und die besten Beweisgründe muss
man gewöhnlich eben aus dem Buche schöpfen; und liegt nun sein
Text im Argen, so wird man oft unbrauchbare Waffen schwingen,
während man die tauglichen unbenutzt liegen lässt in Unwissenheit,
wie gut sie Einem zu statten kämen. Nur desto mehr ins Gewicht
fallen wird die Beschaffenheit des Textes, wenn über Abhängigkeit
eines Schriftstellers von einem andern die Entscheidung schwebt, wie
bei den drei ersten Evangelien, oder wo sich fragt, ob eine Schrift
mit einer zweiten denselben Verfasser habe. Vergleichung Punkt für
Punkt gibt da den Ausschlag; aber wie kann sie genau angestellt
werden, wenn auch nur in dem einen Buche entstellter Text das Antlitz
des Autors unkenntlich macht, welches man mit dem anderweit von
ihm gewonnenen Bilde zusammenhalten will? Und vollends, wenn
die Glaubwürdigkeit eines Erzählers in Zweifel gezogen wird. Da
‚gälte es doch gewiss, vor allem Andern auszumachen, was er denn
eigentlich gesagt hat.
Hier könnte nun Jemand einwenden : der Text in den neutesta-
a
mentlichen Schriften sei in der Regel ein geschlichteter; die Varianten
betreffen meist Kleinigkeiten, und tragen für das Ganze nichts aus.
Diess ist bei manchen Büchern richtig, Z. B. über das Verhältniss
des ersten Evangeliums zu dem des Lukas wird uns keine Wortkritik
aufklären; das Ergebniss, der Verfasser des 4. Evangeliums habe die
Offenbarung nicht geschrieben, stand zu erzielen selbst mit der Elze-
virischen Recepta; und am sonstigen Urtheil über die Echtheit des
Briefes an die Philipper, nach welcher Seite es auch fallen mag, werden
keine Varianten etwas ändern. Im Evangelium des Marcus dagegen
ist der Text von Anfang bis Ende bestritten; an einer bewiesenen
Gestaltung desselben gebricht es bis auf den heutigen Tag, und man
hat das Buch auch wohl, als ob es ein Auszug aus Matthäus und
Lukas wäre, verurtheilt, ohne eine Ueberzeugung zu besitzen, dass
mit dem Texte, wie er endlich sich feststellen wird, jenes Urtheil sich
aussöhnen lasse. Andere Kritiker haben ex professo die Priorität
des Marcus verfochten, aber nicht mit bewiesenen Lesarten, die sich
eigneten, erhärtet; und so konnte der berühmte Tübinger Theologe,
dessen Entwicklung zum Kritiker eben auch durch Vorannahmen, die
“man nicht alle vorab untersuchen kann, historisch bestimmt ward, bei
der Gegenansicht verharren und für sie noch Proselyten machen. In
den Paulinischen Briefen nieht minder schwankt das Textverhältniss;
und es wird z. B. mit der Behauptung der Echtheit eines solchen nichts
letztlich Triftiges gesagt, sintemal mit den vorhandenen Lesarten sich
statt eines drei und mehr fast gänzlich verschiedene Schriftwerke auf-
bauen lassen.
Fragt es sich nun: wie werden wir des ursprünglichen Textes
habhaft? so ist zum Voraus gewiss: es gibt für die Theologen keinen
besondern Pfad des Heils; sie müssen den unabänderlich vorgezeich-
neten Weg der Philologie gehn, haben zunächst die Zeugnisse aufzu-
suchen und zu sammeln, sie zu sichten und gegen einander abzuwägen.
Jedoch die diplomatische Kritik allein, wenn sie auch nach ganz rich-
tigen Grundsätzen ausgeübt wird, gibt uns den wahren Text nicht in
die Hand. Gegen diesen Satz wird kein ausdrücklicher Widerspruch
erhoben, aber mit der That oder vielmehr durch Unterlassen protestirt;
und es sei darum gestattet, Grund und Belang des Axioms gedrängt
darzulegen, um auf den Willen hauptsächlich zu wirken, nicht auf die
Erkenntniss.
Einmal vermindert sich die Vielheit der Zeugen gewaltig schon
dadurch, dass die abhängigen mit ihrer Quelle zusammen wie Einer
zählen, und wiederum solche, die eoordinirt, nach Provinzen stimmend
in höherer Allgemeinheit nur wieder ein Zeugniss einem andern, etwa
2
zer
dasjenige des Abendlandes einem morgenländischen entgegensetzen.
Bei der Zufälligkeit ferner, welche über dem Schieksal der Hand-
schriften waltete, die einen uns erhielt, andere unterschlug, kann die
rechte Lesart aus der Einzelstelle auch überall verschwunden sein;
denn die authentischen Exemplare sind alle verloren gegangen, jede
unmittelbare Abschrift gleicherweise; keine unserer Handschriften reicht
bis in das 3. Jahrhundert, keine Uebersetzung erweislich in die erste
Hälfte des zweiten. Und wenn nun auch in Untersuchung der vor-
handenen Codices das Mögliche geleistet wurde und noch wird, so
sind dagegen die mittelbaren, aber zum Theil ältern Handschriften,
d. i. die Uebersetzungen, z. B. die alte syrische, auf ihren Text und
ihren Charakter noch lange nicht scharf genug angesehn, um in jedem
Einzelfalle sichern Gebrauch zu gestatten ; geschweige, dass ihre kritische
Ausbeute für den Grundtext bereits vollständig zu Tage gefördert
wäre. Im Briefe an die Römer folgte ursprünglich C. 7, 21. unmit-
telbar hinter V. 18 und lautete: edgloxw &oa ToV vouov GvVOToLKoVVT«
Top vol uov »rA; dieser Text, welchen nur noch die Peschito bietet,
wurde verwahrlost.
Weiter kommt die diplomatische Kritik unendlich oft in den Fall,
nach Massgabe der Beweismittel, die sie in Händen hat, gar nicht
entscheiden zu können: es sprechen etwa bei zwei Lesarten gleich
gute Zeugen für jede; vielleicht sind die ägyptischen einig gegen die
Oceidentalen und diese gegen jene, oder auch jede der zwei Lesarten
hat in beiden Lagern mächtige Freunde. Und es kann sich noch
schlimmer treffen. Unter dem anerkannten Regimente des Zufalls mag
‚auch wohl eine vortreflliche, die wahrscheinlich richtige Lesart in den
wenigeren Büchern, in den sonst geringeren, in verhältnissmässig jungen,
vielleicht nur bei Einem Zeugen sich erhalten haben: die diplomatische
Kritik hat nach Lage der Akten zu erkennen und verurtheilt, wenn
auch mit schwerem Herzen, den Gerechten gesetzlich. Nur B, die
älteste Handschrift, enthält 1. Cor. 8, 6. das richtige Inooüg Xguorös,
di 0v va navre; und die gewöhnliche Lesart dv’ & hier bei Paulus hat
den Theologen viel dogmatische Noth verursacht. Röm. 1, 7. 15.
führen alle Zeugen bis auf Einen &v "Poum im Text, als wenn Poueioı
nur die Bewohner der Hauptstadt wären, nicht vielmehr diessmal über-
haupt die italischen Christen. Nur G. hat das Einschiebsel noch nicht,
sondern schreibt V. 7 den in sich geschlossenen Text rr&0ı roig Zw
&v aydrınm Fed xAmrolg ayloıg. Ebenso weist einzig 4 Mare. 10, 9.
noch 4wg1LE090 auf, die ursprüngliche Lesart, denn das Vorhergehende
verlangt den Sinn: was Gott zusammengefügt hat, der Mensch (@vIgWwrrog)
d.h. Mann und Weib soll sich nicht trennen. Und im selben Evan-
er
gelium hat C. 7, 4 das richtige »Jıßavov, Töpfe, sich zu einem
arabischen Uebersetzer geflüchtet ; während nach dem gemeinen Texte
neben Bechern und Kesseln auch Sophas oder Bettstellen (#Aımov)
abgespült werden sollen. Ja, der schlimmste Fall, dessen Möglich-
keit oben angedeutet worden, trat häufig genug in der That ein:
dass nemlich aus dem Munde sämmtlicher Zeugen die Wahrheit ge-
wichen ist. Röm. 12, 11 haben die Morgenländer : ihr sollt dem
Herrn dienen, 7% xvgiw : was dieses Ortes zu vag und allgemein;
dafür die Oceidentalen : ihr sollt der Zeit dienen, zw xaugp :
was im Zusammenhange widersprechend und eine laxe Moral, die
dem Apostel nicht zuzutrauen. Er mahnte wahrscheinlich : ihr sollt
dem Amte dienen, zo arg, sollt eures Amtes warten. Dess-
gleichen nur wenige Zeilen weiter schreiben die Einen tais xgelaus,
die Andern zaig wveiaıg, Paulus aber schrieb : rais Xrgaıs Tv
aylov noıwovovsreg: den Wittwen der Heiligen sollt ihr mit-
theilen, eigentlich: sollt mit ihnen Gemeinschaft unterhalten (Gal. 6, 6).
Die diplomatische Kritik für sich allein steht auf gleicher Linie
mit einer höhern, welche bloss nach äussern Zeugnissen urtheilen
würde, und ihre Unzulänglichkeit ist, wenn wir die vorstehenden
Beispiele richtig gewürdigt haben, über Genüge dargethan; allein es
fragt sich : worauf fussen unsere Entscheidungen ? Allemal urtheilten
wir auf Grund der Exegese; und diese innere Kritik, welche in den
Fällen ersterer Art eine Wahl traf, verwirft in den letztern Eines
wie das Andere, und wird so schliesslich Conjeeturalkritik, die den
Anspruch erhebt, sich selbst helfen und nicht nur tadeln zu können,
sondern auch besser machen. Die gelungenen reinen ÜConjecturen,
welche am Neuen Testamente bis heute gewagt worden sind, lassen
sich leicht zählen, und es ist die vermuthende Kritik noch lange
nicht genugsam in ihrer Unumgänglichkeit anerkannt, noch durchaus
nicht vollständig in ihre Rechte eingesetzt. Der Mühe lohnt es sich
schon, den Gründen davon auf die Spur zu gehn und ihnen auf
den eigenen Grund zu blicken.
Vor nunmehr dreissig Jahren konnte ein De Wette noch des
Glaubens leben : „der Fall, wo nur durch Conjeetur zu helfen wäre,
tritt gar nicht ein“, und zuletzt blieb er dabei stehen, dass derselbe
„sehr selten“ eintrete. Wir pochen nämlich auf die Thatsache, dass
bei keinem andern griechischen Autor uns so viele Hülfsmittel für
Feststellung des Textes zur Hand sind; man getröstet sich der Tau-
sende von Lesarten, wie wenn es nicht fehlen könnte, dass je grösser
ihre Zahl desto gewisser auch die richtige sich darunter befinden
müsste; wir stützen uns ordentlich auf den gegenseitigen Widerspruch
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wie auf etwas Positives. Hinzu kommt, auch ganz abgesehen von
dogmatischem Vorurtheil, dass eine oft schwächliche, nicht tiefer ein-
dringende Exegese, in alte schiefe Geleise eingefahren, die innern
Gründe nicht gehörig zur Geltung bringt. Auch mangelt es sehr
gewöhnlich an hinreichender Sprachkenntniss; die Kritiker wollen bei
dem eigenthümlichen Wesen der neutestamentlichen Diktion, welche
hebräischen Sprachgeist in griechischen Formen ausprägte, ihrer Phix
lologie nicht eben viel zutrauen. Und schliesslich heisst es : vestigia
terrent. In früherer Zeit, da der urkundlichen Beweismittel noch
nicht so viel zusammengebracht war, zeigten sich die Kritiker sehr
rüstig im Vermuthen. Willkührlich und ohne Noth griff man zur
Selbsthülfe; und von der reichen Sammlung ausgewählter Conjekturen
hinter der Knapp'schen Ausgabe, Conjekturen von Beza und Scaliger,
Cappellus und Bentley, Michaelis, Griesbach u. s. w. verdienen wirk-
lich noch keine fünf, dass man sie in den Text hereinnehme,
Darüber, dass der Conjekturalkritiker, gleichwie er behutsam
und mit Besonnenheit zu Werke gehn soll, so auch mit dem erfor-
derlichen Scharfsinn ausgerüstet sein müsse, sind keine Worte zu
verlieren; allein er habe auch den Muth seines Verstandes! Nicht
als Hemmschuh seiner Thätigkeit, sondern als Form der Bethätigung
seines Urtheils hat die Besonnenheit Werth; und wir sollen zur
wahren Kritik nur ebensoviel Tapferkeit mitbringen, wie unsere Vor-
fahren so oft zu einer falschen. Etwa zu vermuthen, das mehrfach
anstössige »araA&Aovs IEoorvyeisg Röm, 2, 30. sey ein altes Glossem
für dıaßohovs, hierin finden wir noch keine tadelnswerthe Keckheit.
Freilich würde dem Kritiker zur Bezeigung seines Muthes die Kraft
fehlen, wenn er nicht griechisch verstände. Jene Alten verwertheten
die Sprachkenntniss ihrer Zeit; auch wir dürfen hinter der tiefern und
reichern unserer Gegenwart nicht zurückbleiben : der Kritiker des
Neuen Testaments sollte billig sich des Griechischen besser bemächtigt
haben, als diess meistentheils der Fall ist. Von einer Art junger
Wittwen heisst es 1. Tim. 5, 13 : ua dE agyai uavIcvovor rregueg-
yousvaı tag oixiag —: ständen die Worte bei einem Profanschrift-
steller, man würde längst dem Partieip abgemerkt haben, dass der
Verfasser Aav$avovoı schrieb : zugleich müssig laufen sie heim-
lich in den Häusern herum. Und wäre jemals innere Kritik
eines Philologen über den Colosserbrief gekommen, so würde in der
Schilderung eines religiösen Schwindlers C. 2, 18. das vorhandene
Material zum ursprünglichen 7@ uerewg« zeveußareiov — in’s Luf-
tige leertretend wieder aufgebaut seyn. Jedoch griechische Phi-
lologie einzig reicht für Kritik und Exegese des Neuen Testaments
SL
nicht aus, sintemal hier die Sätze zwar griechisch lauten, aber mehr
und weuiger hebräisch oder, was fast auf das Gleiche herauskommt,
syrisch gedacht sind. Die Forscher im Neuen Testamente sollten der
semitischen Sprachen in einem Grade mächtig sein, wie sie es noch
niemals gewesen; eine scharfe griechische Philologie ohne Schranke
und Correetiv des Hebraismus wirkte zum öftern nur desto verderb-
licher. Man nehme z. B. die Stelle Mare, 9, 12, wo Christus auf
den Einwurf, vor der Auferstehung müsse Elias kommen, erwiedert.
Christus, weleher leiden und sterben zu müssen erwartet C. 10, 33 £.;
dessen Weissagung durch dieses Leiden ihre nothwendige Erfüllung
findet; welchem Elias schon dagewesen ist (in der Person des Täufers),
er kann unmöglich sagen : Elias wird vorher kommen und Alles in
den rechten Stand setzen; wenn es mit dem Leiden und Sterben
wirklich Ernst werden soll, so darf keine «noxaraoreoıs TravrWv
die Möglichkeit desselben vorweg abschneiden. Also steckt in drro-
x@$ıoraveı jedenfalls ein Fehler. Im Hebräischen nun wie im
Syrischen kann Subjekt mit Partieip einen Vordersatz bilden (Ps.
75, 4. Spr. 22,25. 29,9. Assem. B. Or. I, 25 b.); 'Hiiag EIIuv
mwowrov wäre: wenn Elias zuerst kommt, und hebt nun mit
»cal stwg der Nachsatz an (vgl. 4, 18): mit welchem Fug steht
dann geschrieben ff., so erhellt, dass auf zzu®rov nur ein sub-
sumirter Satztheil folgen kann, der Infinitiv errox@Jıoravaı, welchen
der Lateiner in D, der spätere Syrer und der Perser noch gelesen ha-
ben. Wenn nun der Verfasser unseres Evangeliums nach Matthäus den
Herrn sagen lässt: "Hiiag udv &oyeraı rreWTov #al ATTORETEOTNOEL
rravre, so hat er unläugbar gerade so wie die meisten Abschreiber
des Marcus dessen hebraisirenden Ausdruck missverstanden ; und diese
einzige Stelle reicht schon hin, die Originalität des Mareus und die
Abhängigkeit des Matthäus zu beweisen.
Eine gehörig ausgerüstete, gewappnete Exegese wird, wo sie am
Texte anstösst, sich nicht immer begnügen können mit Aenderung
eines Buchstabens, mit dem Strich eines einzelnen Wortes u. dgl.;
vielleicht ist ein ganzer Satz, ein Vers, ein grösserer Abschnitt un-
gefüg und kann der Unechtheit oder angemassten Platzes überführt
werden: die niedere Kritik nimmt dergestalt zuletzt solche Verhält-
nisse an, dass sie in höhere auslauft, und die Unterscheidung selbst
einer höhern und niedern wird nichtssagend. Dass dem also sey,
dass in Einem Redestück, vielleicht im Zusammenhange desselben
Satzes Worte Zweier mit einander verschmolzen sein mögen : diess zu
merken war bisweilen nahe genug gelegt. Zwar wenn Col. 2, 6. 7.
zu lesen steht: wandelt in ihm, gewurzelt und auferbaut’‘
hi
und befestigt! so mag das Urtheil, ob Einer diese Worte ge-
schrieben habe, dem Geschmacke überlassen sein. Wenn es sich aber
1 Tim. 4, 3. um Ketzer handelt, welche das Heirathen wehren und
darauf dringen, dass man’ gewisser Speisen sich enthalte : welche
Logik erlaubt den Auslegern, aus xwAvovzwv yaueziv, aus dem Be-
griffe verbieten für arreyeodaı den des Gebietens herauszunehmen ?
Es erhellt, dass der Verfasser nur von Solchen sprach, welche Speisen
verboten; es gab aber auch noch andere Sektirer, welche wie z. B.
Marcion auch der Ehe abhold waren, und so trat xWAvorzwv yausiv
an den Rand und nachgerade in den Text, der in seinem Verfolge
nur jene Erstern bestreitet. Die Wortkritik hat sich von der Exegese
losgerissen, und von Beiden die höhere Kritik sich unabhängig er-
klärt; während einmüthiges Zusammenwirken aller drei Faktoren längst
die Integrität auch des diplomatisch festgestellten Textes nicht bloss
auf Kleinigkeiten in Anspruch genommen haben würde. Von vorne
lassen sich sehr verschiedene Fälle der Verunstaltung denken, und es
ist nachzusehn, ob und in welchem Maasse einer oder der andere
wirklich eintrat. Die schwierigen Worte können z. B. echt sein, nur
diess nicht an ihrer jetzigen Stelle. Wie schön würde Röm. 2, 16
um dreizehn Verse weiter hinten, und die bekannte crux interpre-
tum Röm. 9, 5. um eben so viele weiter vorn stehn!*®) Die Worte
geriethen einst beim Abschreiben aus zweiter Columne in die erste,
beziehungsweise aus erster in die zweite. Ein ander Mal mag es sich
fragen um ein müssiges Glossem, das nicht sehr schädlich, das aber
doch die Rundung des Satzes zerstört oder den Zusammenhang sprengt.
Col. 4, 3. schrieb der Briefsteller : damit uns Gott öffne die
Thüre des Wortes, zu reden das Geheimniss Christi, wie
mir ziemt es zu reden. Was hinter Xg10700 sich eindrängt : di ö
al dedeuaı' lva pavsgu 00 @uro, unmützer und schleppender Zusatz,
lähmt auch den hübschen Rückschlag von AeAroeı. Wem das in-
zwischen nichts verschlüge, den wollen wir weiter an Col. 2, 22. 23.
adressirt haben. Drittens finden sich mitunter Paralleltexte, bei denen
die Vorannahme gilt, der eine reflektire sich im andern, und beide
zugleich seien schwerlich echt. Einem rzuoaxeAw dE wuds, adehgpoi,
Röm. 15, 30, steht C. 16, 17. ein zweites gegenüber : jene Paraklese
sich beziehend auf des Schreibers persönliche Verhältnisse, wogegen
letztere vor Spaltungen und Aergerniss in der Lehre warnt; — ist
#®) „Die er vorherbestimmt, diese hat er auch berufen, und die er berufen,
„diese hat er auch gerechtfertigt; die er aber gerechtfertigt, diese hat auch ver-
„herrlicht, der da ist über Alles gepriesener Gott in Ewigkeit.“
ne
aber diese unecht, dann desto gewisser Paulinisch die erstere. Diese
Stelle gehört gleichzeitig zu einer vierten Classe, den Fällen plan-
mässiger Glossirung und Ueberarbeitung, wenn die Lektüre das
Denken der Leser befruchtete, wenn das Bewusstsein eines Einzelnen
oder einer kirchlichen Partei mit einer Ansicht z. B. in einem Lehr-
- briefe im Widerspruche stand, oder man überhaupt darauf Bedacht
nahm, demjenigen, was man selber für recht und gut hielt, durch
Autorität der heiligen Schriftsteller Eingang zu verschaffen. Es hat
noch Niemand die Stelle Röm. 3, 7. in Betreff des Zusammenhanges
gerechtfertigt; und 1. Cor. 10, 29. 30. scheint ursprünglich am Rande
bei V. 27. gestanden zu haben als Bemerkung eines Mannes, der die
christliche Freiheit weiter ausdehnte, denn der Apostel, und Denselben
gerne missversteht. Namentlich aber werden solche Aeusserungen,
welche die Achtung der Kirchenvorsteher und Gehorsam gegen ihre
Anordnungen empfehlen, wie z. B. 1. Cor. 16, 15., oder solche, die
selbst von der Vermuthung ausgehn, es könnte an der Echtheit des
Schriftstückes gezweifelt werden (2. Thess. 3, 17 b. 1 Thess. 5, 27.),
darauf anzusehn sein, ob die darin zu Tage liegende Absichtlichkeit
sich mit den Verhältnissen der apostolischen Zeit und des Apostels
selber ausgleichen lasse.
Vor aller Kritik, nemlich der innern und höhern, muss die Exegese
ihre Schuldigkeit gethan haben: hierin stimmen wir mit Hengstenberg
überein. Der Text muss einer strengen philologischen Erörterung seiner
Aussagen, seines syntaktischen und logischen Zusammenhanges unter-
zogen werden; das Ergebniss der Prüfung darf man aber nicht zum vor-
aus wissen, und man soll auch den Muth haben, aus Vordersätzen den
Schluss zu ziehn. Der Glaube, welcher das nach menschlicher Ansicht
Unwahrscheinliche dem Wahrscheinlichen vorzieht, wird als Gerechtigkeit
angerechnet; aber die Kritik muss, was ihr als wahrscheinlich übrig bleibt,
für das Wahre selbst nehmen und vom Unwahrscheinlichen gänzlich ab-
sehn; sonst kommt sie auf keinen grünen Zweig. Weit mehr, als
gemeinhin geschieht, wird auf den Charakter der Composition zu achten
sein; und das Verständniss derselben, die Einsicht, wie alte Schrift-
steller zu schreiben pflegen, wird uns desto heller aufgehn, wenn wir
selbst uns bemühen, richtig und sachgemäss zu schreiben, wenn wir
selber halten auf Echtheit des Ausdruckes. Ein scharfes Augenmerk
auf die in jeder Schrift vorliegende conerete Allgemeinheit, auf die
Einriehtung der Theile zum Ganzen, dessen Idee sie beherrscht, und
mit welcher Harmonie sie in demselben ruhn, wird lehren, dass das
Losungswort gar manchmal nicht lauten sollte: echt oder unecht,
sondern echt und unecht neben einander. Wenn die apologetische Kritik
u ht —
gewöhnlich mit der Anerkennung des Wahren im Rückstande bleibt,
so ist dagegen die fortschreitende häufig über die Wahrheit hinausge-
gangen, sofern sie die Thatsachen des Parallelismus, des Unzusammen-
hangs und des gegenseitigen Widerspruches in einem und demselben
Schriftstück unbeachtet liess. Das Gesagte findet vorzugsweise bei
den Paulinischen Briefen seine Anwendung. Wenn in dem an die
Colosser uns so Vieles als unpaulinisch befremdet, so machen dagegen
z. B. die Personalnachrichten am Schlusse grossentheils den Eindruck
der Wahrheit und Echtheit, werden durch den an Philemon bestätigt;
und nebst diesem lassen sie sich mit denjenigen 2. Tim. 4, 10—12.
vortrefflich vereinigen und ausgleichen. Bei diesem Briefe an Ti-
motheus verhält sich die Sache ähnlich; auch er ist und in meh-
rerem Maasse zusammengestückt. Zu Grunde liegen zwei Briefchen
des Apostels, wie ein solches auch dem Briefe an Titus. Warum
an sich die Worte Tit. 3, 12. 13. nicht sollten echt sein, lässt sich
nicht ermessen. Der daselbst ausgedrückte Entschluss in Nikopolis
zu überwintern, ordnet sich in des Apostels bekannte Geschichte
genau ein; und Paulus hatte, da seine Thätigkeit weniger eine schrift-
stellerische war, als sie dem praktischen Leben angehörte, öfter Ver-
anlassung zu kleinen Billets bezüglich auf persönliche Angelegen-
heiten, als Musse zu grossen Lehrepisteln. Dass jene in ihrer Mehr-
zahl nicht erhalten sind, dass man später die vorfindlichen über-
arbeitete, um ihnen durch lehrhaften Inhalt Interesse zu verleihen,
scheint begreiflich. Schon der Umstand, dass den Colosserbrief in
demjenigen an die Epheser sein Schatten begleitet, lässt Paulinische
Wesenheit des erstern vermuthen. Ist inzwischen der an die Epheser
ganz unecht, so desshalb ersterer nicht nothwendig ganz echt; und
wiederum, ist jener aus einem Gusse, so muss das nicht durchaus bei
jedem unechten der Fall sein. Kritiker der Zukunft werden kaum
begreifen können, dass man den 1. Brief an Timotheus für Eine Masse
ansah, dass man nicht wenigstens zweierlei Stimmen darin zu unter-
scheiden wusste. Wenn wir indess auf diese Weise den Brief an die
Epheser und den 1. an Timotheus als ganz und gar unpaulinisch
zurücklegen, so stellt sich bei den Briefen an die Thessalonicher das
Verhältniss wieder anders: wir erkennen echten Grundstoff an beide
vertheilt. In dem Abschnitte vom Antichrist Thess. 2. verspürt der
Kenner des Alten Testaments den gesättigten Athem der jüdischen
Gelahrtheit, wie wir solche dem Apostel zusprechen; und sofern echt,
wird der Brief bekanntlich in die Zeit des Claudius gesetzt; da war
aber der Typus des Antichrist, nemlich der sich selbst vergötternde
Judenfeind Caligula noch in frischer Erinnerung. Im ersten Briefe
ze
seinerseits, finden wir, wer z. B. C. 5, 7. ermahnte: wir wollen
nicht schlafen, sondern wachen, kann nieht wohl derselbe schon
V. 10. „ob wir schlafen oder wachen“ auf gleiche Linie setzen, und
die gleichen Ausdrücke in ganz anderem Sinne brauchen. Vielmehr
ein echt Paulinischer Brief, der sich im Einzelnen herausfinden lässt
zieht als fester Bestandtheil sich durch beide Schreiben.
Mit der Anerkennung widersprechender Thatsachen, mit Auflö-
sung der gemachten Zusammenhänge und mit dem Wiederaufbau der
Theile zum ursprünglichen Organismus wird eine neue Periode der
Kritik anheben.
’
DIAGNOSE
DES
GEGENWÄRTIGEN ZEITALTERS.
Von ADOLF SCHMIDT.
(Zweiter Artikel.)
4. Der Charakter der Gegenwaıt.
Das also war die Lage der Dinge nach dem ersten Viertel des
19ten Jahrhunderts : auf allen Gebieten, dem religiösen und völker-
rechtlichen, dem politischen und socialen war der Absolutismus, die
einheitliche Autorität gebrochen oder gestürzt. In drei bis vier Ab-
sätzen oder Zeitschichten hatte sich seit dem 16. Jahrhundert der
Freiheitskampf dergestalt in der Geschichte abgelagert, dass jede
dieser Zeitschichten das erste Siegesstadium des Freiheitstriebes in je
einem der Hauptbereiche des menschlichen Ringens bezeichnete. Allein,
indem der Kampf fast überall es eben nur dahin brachte, dass an
die Stelle der einheitlichen Autorität die Berechtigung einer aristo-
kratischen Mehrheit trat, war die Entwicklung eine unvollendete
geblieben. Um den Sieg zu vervollständigen, erübrigte das zweite
Stadium oder die Aufgabe: die Berechtigung der Mehrheit nach allen
Seiten hin zur gleichen Berechtigung Aller zu erweitern, d. h. bis
zur Gleichstellung aller Bekenntnisse im Kirchenrecht, aller Völker
im Völkerrecht, aller Staatsbürger im Staatsrecht und aller socialen
Interessen im Gesellschaftsrecht fortzuführen.
Und diese Aufgabe zu lösen oder ihrer Lösung näher zu bringen,
schickte sich nun augenfällig das gegenwärtige Zeitalter an, das mit der
Julirevolution begonnen hat. Es nahm die Freiheitskämpfe, die unvollen-
Fe u
det gebliebenen Entwicklungen auf allen Gebieten zugleich wieder
auf, versuchte die Arbeit der vorangegangenen Jahrhunderte in Einem
Gusse fortzusetzen, griff das Werk auf der breitesten Grundlage an.
Denn durch die Reformation war nun einmal der religiöse, durch das
Gleichgewichtszeitalter der völkerrechtliche oder nationale, und durch die
französische Revolution des vorigen Jahrhunderts der politische und so-
ciale Freiheitsdrang mächtig angeregt worden. War aber erst einmal das
Innenleben der Menschheit, der Geist der Völker dergestalt nach allen
Richtungen hin in Fluss gebracht: so konnte er sich nicht mehr mit
dem Andrange gegen Ein Gebiet des Kampfes begnügen, sondern
musste gleichzeitig gegen alle Ergebnisse der äussern Geschichte zu
reagiren, oder aus der glücklichen Reaction gegen das Mittelalter die
Consequenzen zu ziehen bedacht sein; in dem klaren oder unklaren
Gefühle, dass die Freiheiten einander bedingen, und dass daher nur
die Freiheit aller Gebiete für die des einzelnen die Bürgschaft
der Dauer giebt.
Ununterbrochen währte dieser neue Kampf in den letzten fünf-
undzwanzig Jahren, die nur den Anfang des gegenwärtigen Zeitalters
bezeichnen. Bald stritt man mit friedlichen Mitteln, bald mit den
Waffen der Gewalt; bald war der Freiheitstrieb, bald der Herrschafts-
trieb der angreifende Theil; bald bezeichneten die Siege des ersteren,
bald seine Niederlagen die Wendepunkte des Kampfes. Aber keine
Niederlage konnte den Freiheitssinn ersticken; immer und immer hob
und reckte er sich wieder empor. Wohl wandelte ihn die Ahnung
an, dass über der Erreichung seines Zieles nicht Einzelne nur und
Familien , sondern Generationen, ja selbst Staaten und Völker dahin-
sterben könnten; doch schien er sich auch dessen bewusst, dass die
Gedanken der Weltgeschichte, weil sie durch Weltgesetze bedingt
werden, ein Gemeingut der Menschheit und mithin ein Erbe der
Nationen sind. Dass die Aufgabe für den Geist der europäischen
Völker nicht an sich unlösbar sei, dass die Menschheit wie über die
einheitliche Autorität so auch über das blosse Vorrecht einer Mehr-
heit hinaus könne: das hatte überdiess auf religiösem, politischem
und zum grossen Theil auch auf socialem Gebiete längst schon die
Entwicklung Nordamerika’s gezeigt; und dass auf völkerrechtlichem
die Aristokratie der Grossmächte so wenig wie der glänzendste Auf-
bau des Universalstaates unerschütterlich dastehe, dass sie so wenig
wie dieser die Völker und Staaten vor der Willkür Einzelner sicher
zu stellen oder ihnen dauerndes Heil zu gewähren vermöge : das
hatte kurz zuvor Napoleon durch ihren Sturz und durch seine Erhe-
bung erwiesen.
u. Mi
Trotz aller Uebereinstimmung in den Richtungen des Zeitgeistes
boten jedoch die Verhältnisse des Kampfes je nach der Oertlichkeit
und der Culturstufe einen höchst ungleichen und mannigfaltigen An-
blick dar. An dem einen Punkte war man vorausgeeilt, an dem
andern zurückgeblieben; hier schien das Ziel in nächster Nähe, dort
in äusserster Ferne zu liegen; an dem einen Punkte war der Kampf
so gut wie vollendet, an einem andern noch kaum oder gar nicht
eröffnet, da in dem zweiten Stadium, hier noch in dem ersten
begriffen. Auch in diesem mannigfaltigen Nebeneinander der Er-
scheinungen, in dieser geographischen Ungleichheit der geschicht-
lichen Entwicklung waltet indess ein Naturgesetz.
5. Die räumliche Entfaltung der Principien.
Gleichwie nämlich die weltgeschichtlichen Strebungen sich inner-
halb der Zeit schichtenweise nach und auf einander ablagern : also
setzen sie auch innerhalb des Raumes sich über und neben ein-
ander in Schichten ab. In dieser geographischen Entfaltung der Welt-
ideen spiegeln sich gewissermassen die Gesetze der geologischen
Processe wieder. Die Grundlage aller derartigen Erscheinungen und
der grossartigste der historischen Processe ist die Schichtung der Culturen.
Die Umdrehung der Erde von Westen nach Osten übt auf Alles
was ihr angehört, auf die festen und flüssigen, auf die elastischen
und geistigen Elemente, einen mächtigen Einfluss aus, drängt sie mit
unwiderstehlicher Gewalt in die entgegengesetzte Richtung hin.
Wie sie das Phänomen der Sonnenbewegung von Ost nach West
erzeugt, wie sie auf die Gliederung der festen Bestandtheile der Erd-
oberfläche in gleicher Richtung eingewirkt, wie sie unablässig das
flüssige Element des Meeres in der Aequatorial- oder Rotations-
strömung und das elastische der Atmosphäre in einer beständigen
Luftströmung von Osten nach Westen treibt: also drängt sie auch
das geistige Element der Geschichte im Kreislauf um die Erde hin,
erzeugt das Phänomen der Culturströmung von Osten nach
Westen.
Wir wissen nicht mit Bestimmtheit, wie viele Schiehtungen die
Cultur gebraucht hat, um durch den Lauf der Jahrtausende bis zu
ihrer gegenwärtigen Gestalt und Gliederung zu gelangen ; alle aber,
die wir kennen, nahmen im Osten ihren Ausgang. Nicht immer
wurde ein völliger Kreislauf beschrieben. Die sogenannten Störungen,
die den Lauf der Himmelskörper, den Gang der Luft- und Meeres-
strömungen mannigfach modifieiren, fanden auch in den Culturströ-
mungen ihr Wiederspiel.
ee
Die erste erkennbare, minder geschichtliche als naturgeschichtliche
Culturwelle — gleichviel ob sie physisch durch das Menschengeschlecht
fortgepflanzt wurde, oder autochthonisch und nur von dem gleich-
artigen Culturhauch getrieben sich entwickelte — ging dem Anschein
nach von Mittelasien aus,. warf sich im Skythen- und Keltenthum
über Vorderasien und Enropa, erzeugte in Afrika das Negerthum, in
Amerika die mächtigen indianischen Völker, die in Tenessee und auf
den Inseln des Nicaraguasees so merkwürdige Spuren ihres Daseins
zurückliessen, entwickelte in Mexiko und Peru, wenn auch erst im
Laufe von Jahrtausenden, jene wunderbare Culturstufe, die mit der
ostasiatischen die nächste Verwandtschaft offenbarte, und endete eben
im östlichen Asien, in China und in Indien. Die Hauptreste dieser
ersten Schichtung, der Masse und der Reinheit nach, sind im innern
Mittel- und Südafrika erhalten, weil dieses fortan ausserhalb der all-
gemeinen Strömung liegen blieb und nicht einmal, gleichwie China
und Indien, von abgesonderten Kreiseln oder Strudeln der geschicht-
lichen Bewegung ergriffen wurde.
Von China und Indien selbst her wälzte sich inzwischen die
zweite Culturwelle, die antike Bildung darstellend, über Baktrien
und Medien, Assyrien, Babylonien und Phönizien nach Südeuropa,
über Aethiopien und Egypten nach Nordafrika, breitete sich zu beiden
Seiten des Mittelmeeres aus, trieb das Griechen- und das Römerthum
empor, verdrängte die älteren skythischen und keltischen Elemente,
brach sich aber im Westen am atlantischen Ocean und verrann der-
gestalt in Europa.
Die dritte Culturwelle, bezeichnet in ihren Anfängen durch die
sogenannte Völkerwanderung, und den Zug der modernen Bildung
versinnlichend, erzeugte das Germanenthum, ergoss sich vorzugsweise
von Osten her über ganz Europa, wo sie das Römerthum erdrückte,
aber aus ihm Nahrung ziehend in zwei Strömungen — der romani-
schen und germanischen — aus einander ging, warf sich dann über
das gesammte Amerika, wo sie die Reste der ersten Welle — das
Indianerthum — verdrängte, und leckt nunmehr wieder über Cali-.
fornien hinaus nach den Inseln des stillen Oceans und nach Ostasien
hinüber, während sie in besonderen Rinnsalen von England her schon
Australien und Ostindien überzogen, und selbst China bespült hat. Im
Verhältniss zu dieser grossen germanisch-romanischen Culturströmung
in gerader Richtung von Osten nach Westen, waren die Völkerströ-
mungen der skandinavischen Normannen und der muhamedanischen
Araber nur untergeordneter Art, nur den Passatwinden vergleichbar,
die, von Nordosten und von Südosten her wehend, in den grossen
ragen
östlichen Luftstrom einmünden; das normannische Element verschmolz
mit der germanischen Cultur in befruchtender Weise vomehmlich
nördlich auf brittischem , das arabische südlich auf spanischem
Boden.
Ob von dem Slaventhum, das, von Asien herandrängend, nun
schon im Herzen Europa’s sesshaft ist, und über Deutschland hin
lüstern nach dem Westen blickt, eine neue Culturschichtung zu er-
warten sei, dürfen wir, um der Geschichte nicht vorzugreifen, füglich
dahin gestellt sein lassen. Das aber ist gewiss, dass die Geschichte
kein unsterbliches Volksthum aufzuweisen hat; dass in dem gebildeten
germanisch - romanischen Völkerbereiche sich hin und wieder dem
roheren Slaventhum gegenüber ebenso bange Ahnungen regen, wie
einst in dem gebildeten aber alternden Römerreiche gegenüber den
Germanen selbst; endlich dass auch diese, obwohl sie anfangs und
lange als Barbaren galten, dennoch schliesslich lebenskräftiger wie die
alte Welt und wider Erwarten für Neubildungen empfänglicher sich
erwiesen.
Nicht minder mag man der Zukunft die Frage anheimgeben, ob
in Amerika, wo alle Nationalitätsströmungen und Culturwellen sich
ebenso wunderbar verschlingen wie die Meeresströmungen an seinen
Küsten, wo in denselben staatlichen Gebilden alle Culturen und Völker,
Indianer und Neger, Romanen und Germanen, Slaven und Normannen,
Muhamedaner und Chinesen zusammenfliessen, der Keim zu einer
weiteren Schichtung sich angesetzt habe, die, von Amerika ausgehend,
in westlicher Richtung über Asien und Europa sich zu ergiessen
bestimmt wäre. Gewiss aber ist, dass, wie die Natur trotz der so-
genannten Störungen überall in den Bahnlinien der Phänomene die
Grundrichtung aufrecht erhält, also auch die Cultur in ihrer Gesammt-
heit trotz aller Kreuz- und Querzüge niemals eine rückläufige Bewe-
gung von Westen nach Osten mit Erfolg gemacht hat, noch mit
Erfolg zu machen im Stande ist, und dass daher der Osten schliesslich
nur von Osten her, Asien nur von Amerika aus durch eine Cultur-
welle überschüttet werden kann.
Wir lassen die Zukunft auf sich beruhen; wir berechnen den
Zeitpunkt nicht, wo man wird sagen dürfen, dass die Entwicklung
ihren Höhepunkt erreicht, dass die Culturblüthe den Erdball um-
zogen habe. Wir fassen die Lage des Schichtungsprocesses allein
unter dem Bilde auf, das er uns gegenwärtig darbietet : Hingestreckt
über die Schichten der vorgeschichtlichen und der antiken Cultur
erblicken wir noch immer die germanische, verschmolzen mit der
romanischen, versetzt mit der normannischen und der osmanischen,
BE
herrschend in Eiropa und in Amerika, hinüberzüngelnd nach dem öst-
lichen Asien, aber selbst im Osten Europa’s durch den Wellenschlag
des Slaventhums bedroht.
Auf diesem allgemeinen Hintergrunde, der als ein fester erscheint
in Wirklichkeit aber ein beweglicher und flüssiger ist, gruppiren sich,
den Vordergrund einnehmend, die besonderen Kampflinien, Lager und
Streitplätze jener Triebe und Prineipien, die herrschsüchtigen und die
freiheitlichen Strebungen der Glaubensmeinungen, der Nationalitäten,
der politischen Ueberzeugungen und der gesellschaftlichen Interessen.
Das allgemeine Gesetz kehrt aber im Besondern wieder. Auch
die Freiheitsentwicklung geht dem Liehte nach, folgt der allgemeinen
Culturströmung von Ost nach West; dergestalt, dass innerhalb einer
jeden Culturperiode die Freiheitsentwieklung durchschnittlich in eben
dem Maasse kräftiger erscheint, je weiter sie westwärts vorrückt,
und schwächer, je mehr man sieh ostwärts zurückwendet. Der Mor-
gen treibt nur die Keime, der Abend die Blüthen der Freiheit wie
der Cultur. So bilden Ost und West auch im Besonderen den grossen
Gegensatz, der die räumliche Gliederung der Prineipienkämpfe bedingt.
6. Rundschau des Kampfplatzes.
POLITISCHE SITUATION.
Nehmen wir unsern Standpunkt im Herzen Europa’s und über-
schauen wir von hier aus das geographische Bild, das der Weltkampf
in der mittleren Zeit zwischen der Juli- und der Februar-
revolution, zwischen 1830 und 1848, darbot, so erblicken wir
unsern Erdtheil wie von einer äussern Rinde umgeben. Im Westen
lagert sich das freiheitliche Prineip in seiner höchsten Entwicklung,
die gewaltige Schicht des demokratischen Amerika’s. Im Osten das
herrische Prineip in seinen rohesten Formen, die ebenso gewaltige
Schicht des despotischen Asiens. Mitten in dieser Umhülsung liegt
wie ein aufbrechender Kern das europäische Gebiet; hier ist daher
die grosse natürliche Kampfesbühne der beiderseitigen Prineipien ; die
Freiheit und der Absolutismus ringen hier auf Tod und Leben; Ame-
rika und Asien streiten gleichsam um den Besitz Europa’s.
Wiederum aber sehen wir im Bereiche dieses Welttheils selbst den
verhältnissmässig schärfsten Gegensatz der Prineipien im Westen und
im Osten hervortreten. Wir gewahren eine zweite, innere Rinde,
dem Wesen der äussern entsprechend, aber mit abgestumpften For-
mationen. Links lagert sich als westeuropäische Schicht, vertreten
dureh England, Frankreich, die pyrenäische Halbinsel, die Schweiz,
Belgien und die Niederlande, eine dem freiheitlichen Prineip, vor-
Wissenschaftliche Monatsschrift, 6
TE DE
zugsweise in der Form des paetirten Constitutionalismus, zuge-
wandte Region. Rechts als osteuropäische Schicht, vertreten durch
die Türkei und durch Russland, die absolutistische Region der ge-
glätteten Autokratie. Zwischen beiden dehnt sich als mittlere Schich-
tung von Norden nach Süden der Gürtel Skandinaviens, der deutschen
oder deutschgearteten Ländereomplexe und der Mittelmeerstaaten aus.
Hier musste sich daher der Haupttummelplatz des abgestumpften
Gegensatzes, der constitutionellen und der autokratischen Grundsätze
eröffnen; es mussten West- und Osteuropa nach dem Besitze Mittel-
europa’s trachten.
Und wirklich sehen wir in dieser innersten mitteleuropäischen
Schicht, der als solcher eine entscheidende Bedeutung beiwohnt, den
Zusammenstoss der von beiden Seiten herüberwogenden Prineipien,
wie am zähesten, so auch am buntesten sich gestalten. Die Streit-
linien haben sich gemischt, die beiderseitigen Stellungen sind auf den
Flügeln durchbrochen : das Geäder der Schiehtung kreuzt sich in den
hervorspringenden Kanten des Nordens und Südens. Denn auf der
Nordkante zeigte sich das östliche Schweden-Norwegen dem freiheit-
lichen Prineipe ergeben; das westlichere Dänemark dagegen dem
absolutistischen, dem es durch den staatsrechtlichen Vertrag des
Königsgesetzes überliefert worden. Auf der Südkante andererseits
bewegte sich das östlich gelegene Neugriechenland anfangs sogar in
republikanischen Formen, dann auf Grund eines völkerrechtlichen
Vertrages vorübergehend in rein monarchischen, bis diese wiederum
von innen heraus in eonstitutionelle umgewandelt wurden; während
das westlichere Italien nach wie vor aussichtslos dem Vollbesitz des
Absolutismus verfallen blieb.
Nur in dem Centrum der Schicht, in dem innersten Kern der
ganzen kelchartigen Entfaltung, in Deutschland, wo die eigentliche
Berührungslinie der entgegenstehenden Prineipien liegt, während auf
der andern Seite der Erde zwischen Amerika und China deren Scheide-
linie läuft, war die Regel wieder wahrnehmbar. Die Schicht der
kleineren deutschen Staaten, die sich. an die grossen Westschichten
anlehnt, zeigte sich dem Freiheitsprinzipe in der wiederum ermässig-
ten Form des octroyirten Constitutionalismus zugewandt. Oester-
reich und Preussen, an die grossen Ostschichten gränzend, hingen der
Autokratie in der entwickelteren Form des absolutistischen Rechts-
staates an. Nur dass Oesterreich im Selbstgefühl seiner geographisch
zusammenhängenden Kraftmassen und trotz der ererbten Reichstage in
Ungarn, die es noch nicht gleichwie Russland die polnischen zu ver-
nichten Anlass gefunden, diesem System mit voller Entschlossenheit
»
Fr h
und Sorglosigkeit sich hingab; während Preussen, mit seinen Rhein-
landen zugleich die freiheitliche Westschicht berührend und dureh die
kleinen eonstitutionellen Staatsorganismen in seinem Gebiete ausser
Zusammenhang und Fassung gebracht, mehr und mehr in unwillkür-
liche Schwankungen gerieth.‘ Hier schien daher der Ausgangspunkt
gegeben für einen neuen Prozess in dem Entwicklungskampfe der
Gegensätze. Denn immer wird es, wo Schwankungen stattfinden, am
ehesten auch zu Entscheidungen kommen.
Ziehen wir nun durch alle diese Schiehtungen einen Querschnitt
von Osten nach Westen : so bezeichnet derselbe eine fortgesetzte
Emaneipationslinie in regelmässigen Abstufungen von der äussersten
Knechtschaft bis zur äussersten Freiheit hin. Den rohen Absolutismus
Asiens sehen wir in Osteuropa zu einem äusserlich abgeschliffenen, in
Ostdeutschland zum rechtlich gegliederten herabgestimmt, in West-
deutschland floss er in die bescheidenste Form der Freiheit, in die
oetroyirte über, die sich in Westeuropa zur pactirten und in Amerika
zur souveränen erweiterte. Gleichmässig verliert sich auch, je weiter
man auf dieser Linie fortschreitet, der überirdische Nimbus der irdi-
schen Gewalt, die im äussersten Osten über die höchsten Wolken-
höhen emporragt, als eine unmittelbare Zeugung Gottes sich verkündet.
Aber allgemach streifte der Mensch die Gottheit, oder Gott die
Menschheit ab. Wenn in China, in dem „himmlischen Reiche“, der
Träger der höchsten Würde noch als „Sohn des Himmels“ erschien,
so sank er schon in der Türkei zum „Stellvertreter des Propheten
Gottes“ herab, und erschien in Mitteleuropa nur noch als eine „Gnade
Gottes“, bis er in Westeuropa, in Frankreich, zum blossen „Bürger-
fürsten“, und endlich in Amerika zum schlichten „Diener des Volkes“
ward. Die Zügel der Gewalt, im äussersten Osten aus dem Himmel
herabhangend, wachsen im äussersten Westen aus der Erde empor,
sind nicht mehr göttlichen, sondern menschlichen Ursprungs; und nur
eine Spanne Meeres, der stille Ocean, trennt die äussersten Gegen-
sätze, den Volksbeamten vom Himmelssohn.
Dieser Emaneipationslinie entsprechend gliederte sich die Seenerie
des politischen Kampfes. Während in Amerika die Demokratie, dem
Absolutismus nicht mehr erreichbar, ungestört die Früchte der Freiheit
genoss oder zu geniessen begann; und während in Asien die Des-
potie, vom Liberalismus noch unerreicht, ebenso ungestört im Namen
Gottes die Menschheit knechtete, erblicken wir Europa in allen seinen
Theilen auf die mannigfaltigste Weise von dem Widerstreit der beiden
Prineipien ergriffen. In der westlichen Hälfte rang der Freiheitstrieb
in der Gestalt der demokratischen Elemente gegen die herrschende
a
eonstitutionelle Aristokratie der Geburt und des Vermögens an, sowie
gegen die Reste des autokratischen Systems; in der östlichen dagegen
drang er unter der Führung der aristokratischen Elemente selbst auf
die herrschende Vollgewalt des Absolutismus ein. Dort standen ihm
reichere Mittel: die Pressfreiheit, das Vereins- und Versammlungsrecht,
zu Gebote; hier, bei dem patriarchalischen Einfluss der Censur und
der Polizei, nur äusserst dürftige : die Freiheit, zwischen den Zeilen
zu lesen, und das Recht, gemeinsam zu tafeln. Allein der Geist der
Geschichte, weil ihm Zeit und Raum unterthan sind, zog unsichtbar
durch die Sperren der Länder und durch die Schaaren der Wächter
daher; die Propaganda der Freiheit, in diesem Geiste wurzelnd, war
eine rein ideelle.
Den politischen Freiheitsbestrebungen standen nach wie vor, aber
unter ungleichen Verhältnissen, die autokratischen Herrschbestrebungen
gegenüber. In der Osthälfte Europa’s wollten sie gegen den Andrang
des aristokratischen Bürgerthums, der eonstitutionellen Grundsätze,
sich in ihrer Machtfülle erhalten; in der Westhälfte, unter der Gestalt
der „Reaction“, durch künstliche Beseitigung der Errungenschaften
des Freiheitstriebes die schon verlorene Machtstellung wiedergewinnen,
um desto sicherer allüberall den Sieg der Gleichberechtigung zu ver-
hindern. In Petersburg hatte die Propaganda des Absolutismus ihren
Sitz; sie operirte äusserst thätig und geschiekt. Unter der Firma der
„heiligen Allianz“ hatte sie die östlichen Ländereomplexe Deutsch-
lands, Oesterreich und Preussen, an das russische System festge-
schmiedet; unter der Maske der Freundschaft streckte sie ihre Arme
nach dem constitutionellen Westen aus, über die deutschen Klein-
staaten und den staatlosen Bundestag hinweg, bis in das Herz Frank-
reichs, Spaniens und Portugals hinüber, und suchte, indem sie die
politische Reaction durch Rath und That unterstützte, auf allen
Punkten die Rückkehr in den Schooss des alleinseligmachenden Ab-
solutismus durchzuführen oder anzubahnen. Ungeheuere physische und
intelleetuelle Machtmittel standen diesem zur Verfügung : unermessliche
stehende Heere von Soldaten, Beamten und Priestern. Die gangbarsten
Mittel, deren sich die Reaction bediente, waren der Scheinconstitutio-
nalismus, die Corruption und die geheime oder offene Centralisation
der Verwaltung. Beide endlich verstanden es meisterhaft, die Aus-
schweifungen des politischen Freiheitstriebes in der Lehre und in der
Wirklichkeit zu benutzen, um durch die Schreckscheuche der „Anar-
chie‘“ den Freiheitssinn zu betäuben und zu bewältigen.
ER en
ReuLıGıösE SıTuATıon.
Das war die allgemeine und zugleich die politische Situation.
Die religiöse bot einen ähnlichen und doch wieder eigenthümlichen
Anblick dar. Denn die Freiheitsentwicklung auf dem Gebiet der
Religion geht nicht nur dem Lichte, sondern auch dem Klima nach.
Die wärmeren Zonen erziehen mehr die Phantasie, die Sinnlichkeit
und Abhängkeit —, die kältern den Verstand, die Nüchternheit und
Unabhängigkeit des Geistes. Daher nimmt in jedem Culturkreise die
verhältnissmässig freiere Religionsbildung die nördlicheren Breiten-
grade, die unfreiere die südlicheren ein. Im Osten und Süden Asiens
herrschen die Autoritäten des Confutse und Laotse, des Bramaismus
und Buddhaismus, während im Westen der Islam mit seinen Mischun-
gen jüdischer und christlicher Bestandtheile, im Norden aber der griechisch-
katholische Ritus sich ausbreitet. Der Süden Afrika’s ist dem Fetischmus
unterthan, während der Norden sich dem von Osten her andrängenden
Islam ergab. In Osteuropa sitzt südwärts wieder der Muhamedanismus,
nordwärts aber erhebt sich die griechische Kirche Russlands. In Mittel-
und Westeuropa, sowie in Amerika, herrscht in den südlichen Strichen
der römisch-katholische Cultus, in den nördlichen der protestantische vor.
So nehmen wir denn einmal eine Entwieklungslinie wahr, die
dem allgemeinen Zuge entsprechend, vom äussersten Osten nach dem
äussersten Westen hinstreicht und von den Religionskreisen China’s
und Indiens her, durch die Schichten des Islam, des griechischen
und römischen Katholieismus hindurch, bis zum Protestantismus und
zu den freien Religionsformen Amerika’s sich abstuft. Zugleich aber
wird diese Linie durch eine andere gekreuzt, die vom äussersten
Süden nach dem äussersten Norden sich erstreekend, die Momente des
Fetischmus, des Islam, des Katholieismus und des Protestantismus,
bis zu seinen freien Formen in England und Schottland, schichten-
weise aneinanderreiht. Die religiöse Freiheit wird also intensiver, je
weiter man von Osten nach Westen und von Süden nach Norden
fortschreitet. Daher bringt sie im äussersten Norden und Westen,
in Grossbritannien und Nordamerika, die meisten und freiesten Formen
zur Erscheinung, und steigert sich hier in den Vereinigten Staaten bis
zum vollendeten Siege der religiösen Gleichberechtigung. Das buddhis-
tische Asien hatte im Dalai-Lama seinen Papst und das katholische
Europa im Papst seinen Dalai-Lama, während das protestantische noch
immer in den Landesherren seine weltlichen Oberpriester anerkannte;
nur in Schottland und im freiesten Theile Amerika’s bedurften Himmel
und Erde keiner sichtbaren Stellvertretung Gottes mehr und keiner
weltlichen Monopole geistlicher Gewalt.
ar
Unter solchen Umständen bildete innerhalb des germanisch-roma-
nischen Culturkreises wiederum Europa den Haupttummelplatz der
religiösen Triebe. Im protestantischen Norden war der Freiheitstrieb
auf den Sturz der Bekenntnissaristokratie, auf Gleichstellung aller Glau-
bensnormen gerichtet; im katholischen Süden noch gegen die Herr-
schaft des religiösen Monarchismus. Dieser aber raffte sich zusammen.
Im Süden trachtete er, gegen den Andrang der Aristokratie, gegen
die privilegirten ketzerischen Bekenntnisse sich in seiner Alleingewalt
aufrecht zu erhalten, und im Norden schürte er die religiöse Reaction,
suchte durch sie die Glaubensaristokratie wieder zu vernichten, die
Alleinberechtigung des Katholieismus und in ihm den Universaleultus
neuerdings herzustellen. In Rom hatte die katholische Propaganda
des religiösen Unitarismus ihren Sitz. Wie der politische Absolutismus
von Petersburg her, so streckte der Papismus von Rom her seine
Arme über Europa aus, um allüberall die Errungenschaften des reli-
giösen Freiheitstriebes rückgängig, und hierdurch desto gewisser den
Sieg der religiösen Gleichbereehtigung unmöglich zu machen. Auch
ihm standen unermessliche Mittel zu Gebote : die gewaltigen Heer-
schaaren der Priester, der Jesuiten und Ultramontanen. Durch das
Netz der Hierarchie und der Missionen suchte er die Welt zu um-
spannen, den verlorenen Boden in der Schweiz und in Frankreich, in
Belgien und den Niederlanden, in Deutschland und England wieder-
zugewinnen, und in fremden Welttheilen, selbst in den Vereinigten
Staaten Nordamerika’s, einen neuen zu erobern.
In Einem Punkte fand der religiöse Freiheitstrieb eine ihm selbst
verdächtige Stütze an dem Ultramontanismus; beide begehrten Trennung
von Kirche und Staat, aber aus entgegengesetzten Beweggründen; der
eine, weil die Kirchenfreiheit von der Religionsfreiheit, die Selbst-
regierung von der Selbstbestimmung untrennbar sei; der andere, um
durch die volle Selbstherrlichkeit seiner Kirche die Ausbreitung ihrer
Herrschaft zu erleichtern und zu beflügeln. Der Verdacht war be-
gründet. Denn auch der religiöse Herrschtrieb, gleichwie der poli-
tische, baute seine Siegeshoffnungen minder auf die eigene Anziehungs-
kraft als auf die Selbstzerreibung des Gegners; in der Atomistik des
„Atheismus“ suchte der kirchliche Unitarismus seinen mächtigsten
Bundesgenossen; durch dessen zersetzende Wirkungen, oder durch die
Furcht vor denselben — darauf rechnete mit Zuversicht die Reaction
— würden am ehesten die erschöpften Gemüther in den Schooss der
alleinseligmachenden Kirche zurückgetrieben werden, oder umherirrend in
den Netzen der Propaganda sich verfangen; in dem Extreme des reli-
giösen Freiheitstriebes würde der religiöse Freiheitstrieb selber ersterben.
ur,
Br
SOCIALE SITUATION,
Die Gliederung des socialen Kampfes entsprach zumeist der
politischen Situation, der allgemeinen Emaneipationsrichtung von Ost
nach West. Im äussersten Osten, in Japan und China, herrschte das
System absoluter Abschliessung gegen den Weltverkehr; in Russland
die Grenzsperre und die Handelsbilanz, die strengste Anwendung des
prohibitiven Merkantilsystems, das in Oesterreich zu einem milderen
sich abstumpfte, während in Deutschland, in Mittel- und Westenropa,
der Schutzzoll vorwaltete, in England aber und in Nordamerika eine
immer stärkere Hinneigung zum Freihandelssystem sich kundgab. Im
Osten regte sich daher die sociale Aristokratie der Protectionisten
gegen das Alleininteresse des Staats ; in Mittel- und Westeuropa die
sociale Demokratie der Freihändler gegen die Interessenherrschaft der
Proteetionisten; während im äusserten Nordwesten, im anglo-germani-
schen Bereich, die Handelsfreiheit schon im Uebergewicht begriffen
war und nach und nach eine Reihe glänzender Triumphe feierte.
Aehnlich erging es auf dem Gebiete des Ackerbaues und der
Gewerbe. Im Osten, wo der Monarch noch immer als oberster Eigen-
thümer des ganzen Landes galt, kolossale Domänen besass, und nicht
selten auch die Rolle des obersten Fabrikherın oder gewerblichen
Unternehmers spielte, war der Kampf gegen die absolute Knechtschaft
der agrarischen und industriellen Interessen gerichtet, gegen Leibeigen-
schaft, Lehns- und Zunftzwang; in Mittel- und Westeuropa, wo
diese Verhältnisse schon mehr oder minder gelöst worden, bekämpfte
der sociale Freiheitstrieb den Aristokratismus der patrimonialen Vor-
rechte, der Fideicommisse und Majorate, forderte unbedingte Theil-
barkeit und Veräusserlichkeit alles Grundeigenthums , sowie den
industriellen Privilegien, den Resten des Zunftwesens gegenüber un-
bedingte Gewerbefreiheit; in Amerika endlich war dieses Ziel schon
erreicht, Landbau und industrielle Coneurrenz vollkommen emaneipirt.
Auf dem Gebiete des geistigen Verkehrs wandte sich der Kampf
in der Osthälfte Europa’s gleicherweise gegen die Herrschaft des
Prohibitivsystems, gegen die monarchische Censur; in der continen-
talen Westhälfte gegen das protectionistische Repressivsystem, gegen
die plutokratische Herrschaft der Cautionen und die bureaukratische
der Coneessionen; während in England und Amerika die unbedingte
Pressfreiheit blühte. Wie also der äusserste Osten die absolute Knech-
tung der materiellen und geistigen Gesellschaftsinteressen, so stellte
der äusserste Westen den Höhepunkt der Emaneipation, das weiteste
Maass der soeialen Freiheit dar, oder die stärkste Anerkennung des
Grundsatzes : Jedermann ziehe von Natur die bessere Waare der
FE
“
schlechteren vor, sei diese materieller oder geistiger Beschaffenheit;
in der allgemeinen Coneurrenz werde daher von selbst das Bessere in
Ansehen und Absatz steigen, das Schlechtere fallen; Täuschung sei
auf die Dauer unmöglich; nicht die Gleichberechtigung also im Ver-
kehr beiderlei Art, sondern gerade umgekehrt nur das Vorrecht oder
vollends das Alleinrecht könne dem Schlechteren und selbst dem
Schlechtesten zu Schutz und Vorschub gereichen.
Diesem Grundsatz gegenüber regte sich aber im materiellen wie
geistigen Bereiche mit erneuter Anstrengung der sociale Herrschtrieb.
Mit grossem Geschick versuchte er, die Uebel, die er grossentheils
selbst verschuldet, dem Gegner aufzubürden. Die Aufhebung der
Leibeigenschaft, des Feudal- und Zunftzwanges hatte nämlich aller-
dings die freie Persönlichkeit hergestellt, aber auch nur sie;
jeder Einzelne war ausschliesslich auf sich selbst angewiesen. Kein
Wunder, wenn diese absolute Isolirung in erster Linie die Verar-
mung, den Aufwuchs eines ländlichen und industriellen Proletariats,
dem sich ein literarisches anschloss, vielfach begünstigte und in zwei-
ter Linie sogar vereinzelte Versuche gewaltsamer Selbsthülfe erzeugte.
Hievon nun entnahm der Absolutismus die Beschuldigung : freie Con-
eurrenz sei gleichbedeutend mit Anarchie, und um demnach den Sieg
der socialen Gleichberechtigung zu verhindern, hielt er nieht nur im
Osten das Staats-, Lehns- und Zunftmonopol unnachgiebig fest, son-
dern suchte auch in Mittel- und Westeuropa die socialen Fortschritte
wieder rückgängig zu machen. Während daher hier auf der einen
Seite, den bestehenden Bevorzugungen und Vorrechten gegenüber, die
social-demokratischen Grundsätze des Freihandels, der Bodentheilbar-
keit, der unbeschränkten Gewerbe - und Pressfreiheit, nach unbedingter
Anerkennung rangen : trachtete auf der andern Seite die sociale Reac-
tion vielmehr auf allen diesen Gebieten wieder neue Beschränkungen
zu ersinnen, die Schutzzölle wieder bis zu Verboten zu steigern, die
Selbstverfügung über das Grundeigenthum wieder auf alle Weise zu
erschweren, die Innungen möglichst wieder dem Zunftzwange, das
Repressivsystem der Presse dem Wesen der Censur anzunähern. Zu
diesen Zwecken wusste man sehr gewandt die Erscheinungen des
„Communismus“ auszubeuten, hoffte den socialen Freiheitstrieb
dureh die Furcht vor seinem eigenen Extreme zu entwaffnen. So
arbeitete der Absolutismus und die Reaction, bewusst oder unbewusst,
aus Leibeskräften der gesellschaftlichen Wohlfahrt entgegen.
Denn jene Missstände wurzelten doch keineswegs in einem Zuviel
der socialen Freiheit, sondern in dem Zuwenig derselben. Coneur-
renz und Anarchie, fern davon einander gleich zu sein, sind vielmehr
mit einander unverträglich; die eine stockt in dem Maasse als die
andere fliesst; nur innerhalb eines geordneten Organismus und nur
zwischen geordneten Gesellschaftskörpern findet die allgemeine freie
Bewegung der Arbeit und der Privatinteressen ihre Stelle; denn sie
vor allem bedarf des Schutzes, der innern und äussern Sicherheit,
der staatlichen wie der völkerrechtlichen Autorität. Was die sociale
Wohlfahrt heischte, war vor Allem um die schädlichen Wirkungen
der absoluten Isolirung aufzuheben, die Ergänzung der persönlichen
Freiheit durch die Assoeiationsfreiheit; allein gerade in dieser
witterte der Polizeistaat die Symptome des Communismus, und, statt
ihren Geist zu wecken, sie zu fördern, glaubte er vielmehr, sie der
Gesellschaft vorenthalten zu müssen. Ferner beanspruchte sie die
fortschreitende Befreiung der Arbeit und der Interessen, d. h. eben
die Erweiterung der Concurrenz; allein in dieser witterte nun einmal
der Staat umgekehrt die Symptome der Anarchie, und er wollte die
Seylla wie die Charybdis vermeiden. Endlich aber bedarf die sociale
Wohlfahrt auch der völkerrechtlichen Freiheit, ohne die sie sogar in
letzter Auffassung unerreichbar ist. Denn die Entwicklung jedes
Gesellschaftskörpers hängt ja von zweien Factoren ab, neben dem
innern auch von dem internationalen Verkehr. Ein wahrhaft freier
Völkerverkehr ist aber nur auf der Grundlage eines freien und glei-
chen Völkerrechts möglich. Dies führt uns zu dem letzten Gebiete
über.
VÖLKERRECHTLICHE SITUATION.
Der Absolutismus auf dem Boden des Völkerrechts, das univer-
salstaatliche Trachten, war oder schien allerdings seit Napoleons Sturz
gebrochen. Aber das System der fünf Grossmächte, die nun statt
seiner walteten und schachbrettartig die Gleichgewichtspolitik hand-
habten, lastete wie ein Alp auf den kleineren, schwächeren oder
zersplitterten Existenzen. Denn es machte die völkerrechtlichen Be-
stimmungen von der Willkür, der Verträglichkeit und den Transaec-
tionen einer aristokratischen Minderzahl von Staaten abhängig, die
gleich der politischen, religiösen und socialen Aristokratie auch ihrer-
seits nur bedacht war, ihre Herrschaft im eigenen Sonderinteresse
auszubeuten. Die gesammte Welt ihren Machtsprüchen zu unterwerfen
gelang ihr freilich nicht. Der äusserste Osten Asiens entzog sich
ihren Netzen, und der äusserste Westen, Amerika, warf dieselben
über Bord. Anders in unserm Welttheil. Wie ein regelmässiges
Sternbild lag die Pentarchie iiber Europa ausgespannt. ‘Im Nordosten
des Fünfgestims glänzte der kolossale Weltkörper Russlands, im
Nordwesten funkelte England, während Frankreich den Südwesten,
Oesterreich den Südosten überstrahlte. Mitten in dieser Gruppirung
hatte sich als fünftes Gestirm Preussen erhoben, rings von jenen vier
überlegenen Massen umgeben und daher von allen Vieren in entgegen-
gesetzter Richtung nach den Gesetzen der" Attraction angezogen. Kein
Wunder, wenn die Bewegung des Mittelkörpers, die internationale
Politik Preussens, die meisten Schwankungen offenbarte.
Gegen das Regiment dieser völkerreehtlichen Aristokratie richtete
sich nun der Freiheitstrieb der Völker und Staaten. Die Nationen
wollten sich selbst regieren, nicht bevormundet, sondern selbsständig,
unabhängig und gleichberechtigt sein; alle nationalen Existenzen an
der Leitung der Weltpolitik, an der Bestimmung des Völkerrechts
theilnehmen. Nur so hoffte man die Gefahren universalstaatlicher
Gelüste auf immer beseitigen, die allgemeine Völkerfreiheit und damit
den Weltfrieden herstellen zu können. Hieraus erwuchsen die man-
nigfaltigen nationalen Einheitsbestrebungen. Denn in der Einigung
suchte man die Stärke, und in der Stärke die Bürgschaft der Sicher-
heit und Freiheit.
‘In ihrer räumlichen Gliederung waren die Erscheinungen des
völkerrechtlichen Lebens durch die allgemeinen Cultur- und Völker-
schichtungen bedingt; die Nationalitätsbestrebungen hingen auf das
engste mit dem Racenkampf zusammen , der im Laufe der Jahrhun-
derte die Gruppirung und die gegenseitigen Verhältnisse der natio-
nalen Existenzen bestimmt hatte.
Der Kampf zwischen der romanischen und germanischen
Nationalität schien nach Westen hin, zwischen Frankreich und Deutsch-
land, seit dem Jahre 1815 im Wesentlichen ausgefochten zu sein;
im Süden aber, auf dem Boden Italiens, war er noch völlig unge-
löst geblieben. Frankreich gegenüber war das Germanenthum das
gefährdete Element gewesen; Italien gegenüber blieb es das gefähr-
dende, indem Oesterreich nicht nur die Lombardei unter seiner Herr-
schaft festhielt, sondern noch weiter hinabzugreifen dem Anschein
nach ‚Verlangen trug. Im Norden bahnte sich gleicherweise ein
neuer drohender Zwiespalt zwischen der normannischen und der
germanischen Nationalität an, weil hier umgekehrt die deutschen
Lande Schleswig-Holstein dem Naturrecht entgegen durch völkerrecht-
liehe Willkür fremder Botmässigkeit anheimgefallen waren. Aber das
normannische Element erschien dennoch Vielen als das bedrohte, weil,
wie in Italien zu naturwidrigen Ansprüchen, so hier zu naturgemässen
die physische Ueberlegenheit des Germanenthums hinzutrat. Im Osten
endlich regten sich die ersten Ahnungen und Anzeichen eines Welt-
kampfes zwischen Slaven- und Germanenthum. Im Laufe des vorigen
an:
Jahrhunderts hatten sich beide Elemente wechselseitig bedrängt ; Russ-
land hatte sich der ehemals deutschen Östseeprovinzen bemächtigt,
Deutschland später eines Theiles von Polen. Im 19. dagegen war
das germanische Element das ausschliesslich und entschieden bedrohte ;
Russland drang immer mächtiger vor, zog die Hauptmasse Polens an
sich und spann die panslavistischen Tendenzen aus.
Der Nerv dieser letzteren war freilich keine nationale, sondern
eine politische Idee: sie wurzelten nicht in der Masse des Slaven-
thums, da dieses von keiner Seite her in seiner Gesammtexistenz sich
gefährdet sah und also auch nicht das Bedürfniss nationaler Einigung
verspüren konnte; sie waren vielmehr nur das künstliche Erzeugniss
der russischen Kabinetspolitik, die sich ihrer in herrschsüchtiger Ab-
sicht und nicht ohne Erfolg bediente. Die slavischen Provinzen
Deutschlands, Posen und Galizien, schon an sich ein unsicheres
Besitzthum, wurden durch den Panslavismus angelockt und erschienen
nun vollends als die verwundbarste Stelle, als die Achillesferse am
germanischen Gliederbau. Ja selbst ältere ungermanische Bestand-
theile Oesterreichs, das Üzechenthum in Böhmen und das Magyaren-
thum in Ungarn, wurden durch jene Anregungen auch von aussen
her in Fluss und Gährung gebracht. Die Fugen des österreichischen
Ländercomplexes wurden in eben dem Maasse lockerer, als sich in
ihnen der russische Einfluss fester setzte. Während Frankreich aus
seinen deutschen Gebieten eine wesentliche Stärkung empfing, erlebte
Deutschland das Schieksal, dass es durch die Versetzung mit fremden
Elementen in seinem Wollen und Vermögen offenbar geschwächt wurde.
Auf dieser allgemeinen Grundlage kamen die Nationalitätsbestre-
bungen zur Erscheinung, indem sie überall auftauchten, wo es an
nationaler Selbsständigkeit oder Einheit gebrach ; vorzugsweise in
Deutschland, Italien, Polen und Ungarn. Sie alle wollten zu ihrer
Sicherheit und Freiheit eine Stimme im Ratle der Völker haben ,
nicht länger den fünf Stimmen der Grossmächte, ihren Collusionen
oder Convenienzen sich fügen. Insbesondere rang Deutschland nach
Einheit, um gegen den immer noch zweideutigen französischen
Romanismus und vor allem gegen den offenbaren Andrang des rus-
sischen Slavismus sich aufrecht erhalten zu können. Italien wollte
sich zusammenfassen, um des österreichischen Andranges sich
zu erwehren. Polen hatte nicht nur seine völkerrechtliche Selbst-
ständigkeit, sondern sogar sein völkerreehtliches Dasein durch die
Collusionen dreier Grossmächte eingebüsst; seine Erhebungen verfolg-
ten daher den Zweck, zunächst auf irgend einem Punkte das völker-
rechtliche Dasein wiederzugewinnen, in zweiter Linie aber durch
er
Wiedervereinigung seiner getrennten Gliedmaassen, Russland, Oester-
reich und Preussen gegenüber die völkerrechtliche Unabhängigkeit und
schliesslich die Gleiehberechtigung zu erkämpfen. Aehnlicher Natur war
das Ringen Ungarns: es raffte alle seine Kräfte zunächst auf friedlichem
Wege zusammen, um vorerst Oesterreich gegenüber sich zu einem selbst-
ständigen staatlichen Dasein zu constituiren. Anderer nationaler Regun-
gen, wie der Iren im brittischen Reich, der Basken in Spanien, wollen
wir hier nicht weiter gedenken. Auch die Schweiz, in der sich verschie-
dene Nationalitäten freiwillig zur Gemeinsamkeit verschwistert hatten,
sann auf eine festere Bundesorganisation, weil die kantonale Lockerheit
die Gesammtkraft lähmte und den spaltenden Einflüssen des Auslandes
willkommene Ritzen und Fugen bot. Das Schicksal Polens war eine
unaufhörliche Mahnung an die Völker, sich zu stählen und auf ihrer
Hut zu sein; zugleich aber auch das böse Gewissen, das die aristo-
kratische Gleichgewichtspolitik unwiderstehlich zu immer neuen inter-
nationalen Gewaltthaten hinzutreiben schien, und damit zur Untergrabung
ihrer eigenen Herrschaft, zur Anbahnung einer völkerrechtlichen Re-
volution.
Die nationalen Einiguugstriebe, weil sie von den Gliedern ein
Opfer an Befugnissen im Interesse des Ganzen heischten, erschienen
als Centralisationsbestrebungen und daher als ein Widerspruch mit
dem Freiheitstriebe, dem grundsätzlichen Förderer der Selbstregierung
auch in den kleinsten Kreisen. Allein ist gleich die Centralisation
niemals Zweck der Freiheit, so dient sie ihr doch bisweilen als
Mittel: da nämlich, wo dem Ausland gegenüber die volle Selbststän-
digkeit dem grösseren Kreise noch gebricht und nur durch Selbstbe-
schränkung der kleineren, durch Vereinigung der Kräfte gewonnen
werden kann, Zersplitterte und niedergehaltene Nationen, sowie lose
Staatenbünde, durften daher, in voller Uebereinstimmung mit dem
Begriffe der Freiheit, persönliche und politische Freiheitsopfer der
Einzelnen und der Theile begehren: denn es galt, nicht eine Herr-
schaft aufzurichten, sondern die höchste und unentbehrlichste Freiheit
zu erringen, die Unabhängigkeit des Ganzen, die völkerrechtliche
Emaneipation. Daher knüpften sich denn auch jederzeit die nationalen
Einigungsversuche der Völker am leichtesten an die politischen Frei-
heitsbestrebungen an, weil die Erfolge der einen mehr oder minder
durch die der andern bedingt sind; denn es ist ein verwandtes Streben,
wenn die Völker nach völkerrechtlicher und «die Bürger nach bürger-
licher Gleichstellung trachten.
Den Nationalitätsbestrebungen gegenüber war begreiflicherweise
die Staatenaristokratie ängstlich bedacht, sich aufrecht zu erhalten
4
at
und demnach eifrig beflissen , die Regungen des völkerrechtlichen oder
nationalen Freiheitstriebes überall zu „unterdrücken. Zugleich aber
regte sich im Stillen wiederum von Osten her eine gewissermassen
reactionäre Tendenz.
Der völkerrechtliche Absolutismus, das universalstaatliche Gelüste,
dureh Russland vertreten, war nicht nur gegen die nationalen Frei-
heitstriebe der Völker, sondern auch gegen den Bestand der Fünf-
staatenherrschaft, und auf die Herstellung eines internationalen Mo-
narchismus gerichtet. In Asien und an der Donau suchte Russland
fort und fort, wie seinen Einfluss, so auch seine Herrschaft kunst-
gerecht auszudehnen; die Regenten von Oesterreich und Preussen
betrachtete es schon als seine Satrapen, und durch ihre blinde Hin-
gebung schien ihm vorläufig im Rathe der Grossmächte, in dem nur
England die grundsätzliche Linke, Frankreich das wetterwendische
Centrum bildete, die Majorität gesichert, bis die günstigen Augen-
blicke da sein würden, um diesen Rath gewaltsam zu sprengen und
die ganze Gleichgewichtspolitik zu seinen Gunsten über den Haufen
zu werfen. Daher im Innern des russischen Reiches der Alles ver-
schlingende militärische Organismus und die maasslose Centralisation ,
die hier eben nur ein Mittel der Herrschaft sein, dem politischen wie
dem internationalen Absolutismus dienen sollte. Die äusseren Mittel
des letzteren waren : der Eroberungskrieg und die Intervention, die
diplomatische Intrigue und der panslavistische Sirenengesang.
Daneben blieb ihm , den Unahhängigkeitsbestrebungen der Völker
gegenüber, eine Reihe von Kunstmitteln mit der Staatenaristokratie
gemein; namentlich die Begnadigung schwächerer Staaten mit dem
Isolirungsrecht, mit Neutralitäts - und Integritätspatenten, mit Garan-
tien und Protectoraten. Das Alles waren nur Danaergeschenke des
universalstaatlichen Gelüstes und der aristokratischen Furcht. Denn
ein Staat, der sich isoliren lässt, ist am wenigsten frei; zwar nicht
von einem Einzigen, aber desto sicherer von einem Jeden abhängig.
Man muss aber wohl unterscheiden zwischen der activen Neutralität,
die ein staatliches Gemeinwesen als wohlerwogene Richtschnur seiner
Politik sich selbst auferlegt, und der passiven, die es aus den Hän-
den Anderer als angebliches Gut geschenkt erhält. Das Geschenk der
Integrität, dessen sich die Pforte, das der Neutralität, dessen sich
die Schweiz und Belgien scheinbar, d. h. in den Zeiten der Ruhe,
zu erfreuen hatten, ist geeignet, eben weil es Vortheile und Sicher-
heit zu bieten scheint, einerseits Theilnahmlosigkeit an den Geschicken
anderer Völker zu erziehen, andererseits einen unkriegerischen und
sorglosen Sinn ; aber es wiegt überdiess bloss in Sicherheitsträume ein,
Te
ohne wirkliche Sicherheit zu gewähren. Denn neutral sein heisst für
den schwächern Theil nur : Friede haben, so lange kein Krieg her-
einbricht; und der Integrität geniessen : ganz bleiben, bis man zer-
rissen wird. Die Kraft beider Patente erlischt mit dem Augenblicke,
wo man ihrer bedarf; und nieht besser verhält es sich mit der Garantie
und dem Proteetorate. Die Schweiz wurde, trotz ihrer Neutralität,
in die verderblichsten europäischen Kriege verwickelt. Von der Türkei
sind, trotz ihrer Integrität, auf allen Seiten grosse Stücke abgebröckelt
worden. Die Republik Krakau hatte alle fünf @rossmächte zu Ga-
ranten und drei von ihnen zu Proteetoren; und dennoch ist sie unter
den Augen der Einen und unter den Händen der Anderen spurlos
verschwunden.
So suchte auf alle Weise die universalstaatliche Herrschgier und
die aristokratische Eifersucht des Rathes der Grossmächte das Empor-
kommen eines allgemeinen Rathes der Völker zu hintertreiben, oder
die Verwirklichung der Völkersolidarität, die kein staatsrechtlicher,
sondern ein völkerrechtlicher Begriff ist. Denn es liegt nimmer in
der Pflicht eines Volkes, sich in die inneren Angelegenheiten anderer
Völker einzumischen und denen, die sich nicht selber helfen wollen,
staatsrechtliche Freiheiten zu erkämpfen; aber es liegt in dem eigen-
sten Interesse jedes Volkes, für die Sicherheit der anderen nach aussen
hin, für ihre völkerrechtliche Selbstständigkeit mit einzustehen. Wie man
übrigens durch jene wohlfeilen und trügerischen Gnadenbezeugungen
die Völker von einander zu trennen, ihre Interessen zu spalten bedacht
war: so wusste man sich auch des „Kosmopolitismus“ als einer
willkommenen Schreckscheuche zu bedienen, um den völkerrechtliehen
Freiheitstrieb vor seinem eigenen Extrem, vor der Auflösung in die
eine und untheilbare „Allerweltsrepublik“, erzittern zu machen, und
dergestalt ihn um so sicherer zu überinannen.
Das war die Gliederung des Kampfes auf den verschiedenen
Gebieten des Lebens, soweit sie dem einfachen Gegensatz des Frei-
heits- und des Herrschtriebes entspross. Aber es gab noch einen
dritten Factor, der, weil er äusserlich an jenen, innerlich an diesen
sich anschloss, thatsächlich ein Zwitter beider war. Diesem Zwitter-
triebe der geschichtlichen Bewegung wird unser Schlussartikel gewid-
met sein.
2 ELLE AAN ARE ET
Die Aufgabe der Zoologie.
Von IH. FREY.
Es ist ein eigenthümlicher Gang gewesen, welehen der Aufbau
der zoologischen Wissenschaft im Laufe der Zeiten, in der Aufein-
anderfolge der Jahrhunderte genommen hat. Bietet er auch in mancher
Hinsicht Aehnliches und Verwandtes mit demjenigen dar, welchen
die Pflanzenkunde erfuhr, so ist er wieder unter gewissen Gesichts-
punkten ein besonderer gewesen.
Die Pflanzenwelt traf unser Geschlecht in den Anfängen seiner
Cultur in voller ungelichteter Massenhaftigkeit als etwas, ich möchte
sagen, gleich bleibendes, ein für alle Mal gegebenes an. In dem
Schutze, welchen sie unsern Urahnen verlieh, kam sie fast in eine
Linie mit dem Boden, seinen Felsen, Höhlen ete. zu stehen. Aller-
dings musste sie auf der andern Seite als dasjenige, was in
wärmeren Regionen unmittelbar zur Nahrung dienen konnte, dem
menschlichen Interesse schon näher treten.
Anders war es mit dem Thierreiche, namentlich mit seinen
grössern, entwickelteren Formen, vor allen Dingen den Vögeln und
Säugern. Sie traten in ihrer beweglichen Lebhaftigkeit an den Men-
schen unmittelbar viel näher heran, und mochten auch bei niedern
Culturzuständen den Gedanken einer gewissen Verwandtschaft erwecken.
Ihr Nutzen und ihr Schaden, und wohl dieser in erster Linie, musste
die Aufmerksamkeit unserer schlecht gewaffneten Urahnen in noch
erhöhtem Grade auf sie concentriren.
So baute sich allmählig eine gewisse rohe Kenntniss der höheren
Thierformen schon in alten Tagen auf, anfänglich als Mittel, die
nützlichen zu erkennen und die schädlichen zu vermeiden. Schon in
jener ältesten rohesten Culturperiode der Jägervölker war eine Art
zoologischen Wissens, welches sich nach einzelnen Gruppen de:
Thierreichs gewandt hatte, vorhanden.
Wieder eine andere Kenntniss animaler Organismen, auf die
Bewohner der Gewässer, vor allen die Fische, gerichtet, musste bei
Fischerei treibenden Stämmen, bei den Bewohnern der Küsten und
Inseln sich entwickeln.
Abermals erweckte die Zähmung und Zucht der Hausthiere und
namentlich der grösste Fortschritt des Culturlebens, der Uebergang zum
Ackerbau, Beobachtungen in andern Richtungen.
Gewiss können wir uns diese Anfänge der Thierkenntniss, wie
ug
sie sich in den grauen Nebel der Vorwelt verlieren, nicht roh, nicht
unvollkommen genug vorstellen. Aber bei allen Mängeln hatten jene
primitiven Zustände den grossen Vorzug, das Thier unmittelbar und
vor Allem in seinen Sitten und Gewohnheiten zu beobachten, denn ja
gerade diese mussten dem Jäger und Fischer wichtiger als alles
Uebrige sein, da sie ihm die Erlegung des Thierkörpers ermöglichten.
Beobachtend und beschreibend schufen in den gebildeten goldenen
Tagen der antiken Welt griechische Naturforscher später die erste
wissenschaftliche Thierkunde. In Aristoteles, dem Lehrer des mace-
donischen Eroberers, — selbst einem der grössten Eroberer des Gei-
stigen, welchen die Welt sah, — in Aristoteles erreicht die antike
Zoologie ihre Höhe. Die römische Weltmonarchie brachte in Plinius
den fleissigen, wenn auch nicht immer kritischen, Compilator.
Es ist begreiflich, dass der einmal geweckte wissenschaftliche
Sinn bald über die nächsten Verwandten des Menschen hinausgegan-
gen war, dass er auch andere entfernter stehende Thiere in den
Kreis der Beobachtung gezogen hatte. Immer aber blieb ein grosser
Theil derselben wenig bemerkt oder unbeachtet. Viele sind ja
ohnehin von allzu kleinen Dimensionen, als dass sie das unbewaffnete
Auge zu erkennen vermöchte. Jene Myriaden der Infusorien und
verwandter Wasserbewohner, welche die Bewunderung der Gebildeten
in unserer Zeit erweckten, als Ehrenberg in eigenthümlicher Meister-
schaft ihre Gemälde entrollte, waren der alten Welt völlig unbekannt
und wurden wohl in der zweiten Hälfte des 17ten Jahrhunderts zum
ersten Male erblickt. Aber sehen wir auch von diesen Kleinsten ab,
diejenigen Geschöpfe, welche man gegenwärtig mit dem Namen wir-
belloser Thiere zusammenfasst, waren in alten Tagen Stiefkinder der
Naturkunde.
In dieser noch roheren Form und mit zahllosen Lücken der Beob-
achtung sammelte sich der zoologische Stoff — und, was wir nicht ver-
gessen dürfen, sammelte er sich von kleinem, beschränktem Areal
entnommen. Drang auch mit den Eroberungszügen Alexander’s, mit
der Weltmonarchie der Römer die Wissenschaft vielfach in neue
Ländermassen ein, so blieb immerhin die frühere Zoologie nicht viel
mehr als die Kenntniss einiger Lokalfaunen, allerdings weiter, aus-
gedehnter Landstriche. Grosse, gewaltige geographische Erwerbungen
mussten in einer späteren Periode stattfinden, um der Thierkunde es zu er-
möglichen, diesen lokalen Charakter mit dem allgemeinen zu vertauschen.
Das Heer thierischer Formen ist ein ungeheures. Wer — mochte
er sich dilettantenhaft, mochte er sich in tieferer Weise mit dem
Gegenstand beschäftigen — hätte es nicht oft mit einer gewissen
N je
Trostlosigkeit einbinden | — Wie überall, wo der Mensch solcher
Massenhaftigkeit gegenüber steht, musste von einer gewissen Periode
an wnausbleiblich das Bedürfniss einer Sichtung und Gruppirung des
Stoffes erwachen. Ist jenes ja doeh auf einen Grundzug des mensch-
lichen Geistes gegründet, der alle Handlungen unseres Geschleehtes
durchzieht : überall im Materiellen wie im Geistigen Gesetz und
Ordnung zu erkennen oder herzustellen.
Beginnt auch jenes Streben des Ordnens — wir möchten sagen,
vorgreifend dem Bedürfniss — schon in früher Zeit mit kleinem Stoffe
und in roher Form, von einer gewissen Ansammlung der Einzelheiten
an wird es unausbleiblich und erscheint in ähnlicher Weise auch in
den andern beschreibenden Naturwissenschaften; bestimmt, die Wis-
senschaft aus einer Sammlung der Einzelbeobachtungen zur Erkenntniss
öl: Ordnungen und zum Ahnen der Einheit zu führen.
em achtzehnten Jahrhundert, jener so geisteskräftigen und
humanen, freilich von ausgelebten Formen vielfach beengten Epoche
war es vorbehalten, auch für das zoologische Material die ersten
Formen der Eintheilung aufzufinden.
Indessen war die ordnende Thätigkeit in unserer Diseiplin an-
fänglich weit entfernt, das letzte, höchste Ziel der Classification vor
Augen zu haben; sie verfolgte andere, und wir dürfen es, ohne
ungerecht zu werden, geradezu aussprechen, niedere, mehr auf das
Praktische gerichtete Zwecke.
In einer gewissen Periode befanden sich — sei der Vergleich
gestattet — die Männer unseres Faches ungefähr in der Lage von
Personen, denen eine überreiche Büchersammlung zu Theil geworden.
Erstickt beinahe von der Masse der ungeordneten Haufen, mussten
sie gleich dem Bücherbesitzer vor allen Dingen daran denken, die
Schätze zu ordnen zum übersichtlichen Verzeichnisse.
Man hat eine gewisse Sorte von Systemen unserer Wissenschaft,
wie sie ihren Höhepunkt in dem grossen Naturforscher des 18. Jahr-
hunderts, in Carl von Linn& finden, gut und treffend mit solchen
Catalogen grosser Bibliotheken verglichen. Einige glücklich verstan-
dene, leicht zu erfassende Merkmale der Aussenfläche mussten zur
Gruppirung verwandt werden, ungefähr wie der Titel der Bücher, um
das Ganze zu ordnen und zu sichten. Dass man solche Systeme
künstliche nennt, indem derartige Gruppirungen oft gezwungen und
unnatürlich ausfallen, weiss gewiss ein Theil unserer Leser.
Doch solehes Ordnen sollte nur ein Mittel zum höheren Zwecke
sein, ungefähr ebenso, wie das Catalogisiren der Bibliothek erst die
eigentliche Benützung vorbereitet und ermöglicht.
Es hat allerdings eine Periode gegeben, wo man nahe daran
war, hier und da diese Wahrheit zu vergessen. In die Fussstapfen
des Meisters tretend, haben manche der Schüler und Nachfolger des
grossen schwedischen Forschers, geleitet und verlockt von der Freude
am glücklich hergestellten Cataloge, ihr ganzes Bestreben dahin ge-
richtet, neue Glieder zwischen die vorhandenen einzuschieben, gleich
dem Bücherbesitzer, welcher die Bibliothek auszubeuten verzichtet
hat, und seine ganze Thätigkeit darauf verwendet, die Reposi-
Wissenschaftliche Monatsschrift. {
u
torien auszufüllen, und in der Kolle eines Bibliophilen sich wohl
befindet.
Gewiss lässt sich gegen eine solche Thätigkeit, so nützlich und
fruchtbringend sie für den Erben immerhin sein mag, vieles einwen-
den. Eine höhere, wisssenschaftliche kann sie kaum genannt werden.
Ein Naturforscher der Gegenwart sprach, gerade sie vor Augen habend,
von „öden Registratoren der Wissenschaft“, Dieser Vorwurf hat
etwas Gegründetes, aber auch etwas Uebertriebenes.
Gewiss ist es keine Freude für die verwöhnten Kinder der
Gegenwart, in den Schriften des Fabricius und Anderer arbeiten
zu müssen; selbst — gestehen wir es aufrichtig — über die etwas
trockene Behandlung des Linn& haben wir wohl Alle im Stillen ein-
mal geseufzt, wie vielleicht der angehende Jurist über den Pandecten.
Eine gewisse Grabesluft weht uns aus diesen Schriften entgegen.
Indessen Gesetzbücher, und das Linnd’sche „Systema nature “
war ein solches, pflegen eben nicht interessant zu sein. Mögen auch
manche Naturforscher der Linn@’schen Schule in unvollständiger Erfas-
sung des Meisters unter ausgestopften Vogelbälgen, angespiessten
Inseeten und leeren Muschelschalen sammelnd und ordnend ein ödes
Stubenleben für das höchste Ziel der Naturforschung genommen haben,
abgelöst von dem goldenen Baume des Lebens, der Beobachtung, des
Lebendigen, so ging doch gerade aus der Linnd'schen Zeit eine Zahl
von Männern hervor, welche diese beobachtende Seite, diese Stärke
unserer Wissenschaft in den Tagen des Aristoteles, wohl erfassten
und, theils in frommer, kindlicher Weise der Vorfahren, theils in
jenem kühnen, revolutionären Sinne der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts, zur Beobachtung, und zu dieser vor allen Dingen, zurück-
kehrten. Sehen wir ab von den Namen so mancher Reisenden, von den
Schülern Linn@’s, z. B. einem Forskal, Thunberg und Sparrmann,
welche in fernen Ländern ein aufzehrendes, mühevolles und oft ge-
fährliches Naturforscherleben führten, wie viel Schönes an Beobachtun-
gen enthalten nicht die Werke Rösel’s, Reaumur’s auf der einen,
und Buffon’s auf der anderen Seite! Letzterer, als das Ziel weit
überschreitender Reactionär gegen Linne, kommt freilich dahin, der
Classification überhaupt den Krieg zu erklären.
Wiederum können wir, beengt von den Schranken des kleinen
Aufsatzes, nur andeuten, wie mit dem Wendepunkt des Jahrhunderts
in Georg von Cuvier, dem Aristoteles der Neuzeit, eine andere,
höhere Seite der Forschung sich anbahnte und zugleich realisirt wurde.
Ihm, weleher die Vorzüge deutscher und französischer Bildung in sich
vereinigte, welcher unter Napoleon’s angestrebter Universalmonarchie
eine Stellung fand, so grossartig wie kein Naturforscher vor ihm sie
besessen hatte; ihm war es vergönnt, der Begründer einer neuen
Aera in unserer Diseiplin zu werden.
Cuvier ist der Schöpfer des sogenannten natürlichen Systemes.
Es ist ziemlich leicht, verständlich zu machen, was man darunter
versteht.
Während Linne und seine Nachfolger den einfachen Catalog der
Thierwelt herzustellen strebten, und vor allen Dingen in den wirren
a,
Haufen Ordnung und Uebersicht brachten, ringt das natürliche System
nach einem anderen höheren Ziele. Nicht mehr die praktische Brauch-
barkeit der Eintheilung, die leichte, handliche Benützung des Cata-
loges wird als Hauptzweck angestrebt, es gilt vielmehr die Einsicht
in die Bedeutung der thierischen Formen zu gewinnen; einzusehen,
nicht mehr allein wie ein Thier äusserlich beschaffen ist, an welchen
äusserlichen Merkmalen es erkannt werden kann, sondern was esist,
welche naturgemässe Stelle es in seiner Totalität in dem Heere thie-
rischer Formen einnimmt. Denn das natürliche System geht darauf aus,
das Thier zu begreifen, indem es sich bemüht aufzufinden, welche
Idee der Schöpfung es realisirt, was es bedeutet.
Ist auch hier, wie sonst im Leben, dafür gesorgt, dass „die Bäume
nicht in den Himmel wachsen“, so hat der Baum unserer Wissenschaft
seit noch nicht zwei Menschenaltern immerhin ein kräftiges, bedeu-
tendes Wachsthum erfahren und verspricht in der Folge in langsamer,
stetiger Vergrösserung zur stattlichen, ausdauernden Eiche zu werden,
welche, wenigstens in ihren Wipfeln, hoch den Boden überragt.
Absichtlich gebrauchten wir so eben das Wort: „in langsamer
Vergrösserung“. Denn das natürliche System lässt sich eben, da es das
Thier unter den verschiedenartigsten Gesichtspunkten zu betrachten
hat, da es auf Alles Rücksicht nehmen muss, nur mühsam und schritt-
weise der künftigen Vollendung entgegenführen.
Das künstliche System dagegen, indem es die Aussenfläche in
einigen Merkmalen beobachtete, konnte rasch in den Hauptzügen von
glücklicher Hand entworfen werden.
Diese Aussenfläche sinkt vor dem Bestreben, natürliche Einthei-
lungen zu finden, zu einer gewissen Unbedeutendheit herab, sie wird
häufig sogar zu etwas Gleichgültigem. Der ganze anatomische Bau,
die innere Organisation muss die Basis der neuen Eintheilung bilden.
Nur nach einer gründlichen Kenntniss jener und von ihr auf jedem
Schritte geleitet, können diese haltbareren Theilungslinien gezogen
werden. Wir sehen desshalb, dass Cuvier, seine grosse wissenschaft-
liche That, das natürliche System vorbereitend, erst zum Gründer der
vergleichenden Anatomie wird, d.h. der Diseiplin, welche den
Bau thierischer Organismen untersucht und an demjenigen der Ver-
wandten prüft.
Aber nicht allein auf diesem Wege, wenn er auch, wie wir
gerne zugeben, der wichtigste von allen ist, baut sich das System
auf. Nicht bloss die Kenntniss des reifen, fertigen Thieres kann die
Erreichung des vorgesteckten Zieles ermöglichen. Auch jene Zustände,
in welchen es in früherer Lebenszeit sich befand, der Bau, den es
damals besass, müssen erforscht werden, denn es handelt sich ja im
natürlichen Systeme um das ganze Thier. Sind nun auch diese frü-
heren Zustände der Unreife bei den höchsten Organismen von kür-
zerer Dauer, bilden sie nur ein kleines Bruchtheil der Existenz, so
wird es bei einfachern, oder wie man nicht ganz passend sagt, bei
niederen Thieren vielfach anders; der Zustand der Unreife füllt den
grösseren Theil des Lebens aus, die Reife geht mit ihrer kurzen
Dauer dem Tode vorher.
Es ist eine bekannte Sache, dass der thierische Organismus, von
dem Momente seiner ersten Anlage bis zur Periode der Reife, viel-
fach, sowohl im Ganzen als in seinen Theilen sich ändert. Die
Natur erbaut ihn — um uns populär auszudrücken, möchten wir
beinahe sagen — nicht das erste Mal in jener Form, welche er
in der Blüthezeit besitzt, etwa nur kleiner, um ihn vielleicht durch
gleichmässige Vergrösserung aller Theile der späteren grösseren Mas-
senhaftigkeit entgegenzuführen. Im Gegentheile construirt sie ihn
anfänglich anders, baut ihn durch allmählige Einfügung neuer und
vorsichtige Wegnahme anderer Theile zu etwas Anderem um, und
ändert ihn so mehrfach bis zur vollendeten Form.
Jene Prozesse des Aufbaues und der Umwandlung des Thierkör-
pers, wie sie uns zunächst in ihren stofllichen Resultaten in dem
momentanen körperlichen Bau erscheinen, sind Gegenstände einer be-
sondern newen wissenschaftlichen Diseiplin, der Entwicklungsge-
sehichte geworden, welche spätern Ursprungs als die vergleichende
Anatomie ist. Ihr Werth für die natürliche Systematik ist ein sehr
bedeutender. Man darf es geradezu ausprechen, die Entwicklungs-
geschichte lässt uns den tiefsten Blick in die Bedeutung des thierischen
Baues werfen, wie sie vielfach auch von practischer Wichtigkeit ist.
Schon die ersten Arbeiten in dem (Grebiete jener zeigten, dass
dieses Aufbauen und Einreissen des animalen Organismus kein zu-
fälliges, regelloses ist, dass vielmehr hier bei verwandten Thieren in
ähnlicher Weise die Vorgänge ablaufen.
Diese Achnlichkeit ist gerade in den frühesten Zeiten am stärk-
sten ausgesprochen und oft zur völligen Uebereinstimmung entwickelt.
Erst in den späteren Perioden kommen zwischen verwandten Geschöpfen
grössere spezifische Differenzen vor, wird oft ein Theil oder mehrere
Organe, ja selbst die ganze Form bei den Gliedern einer grösseren
Thiergruppe verschiedener oder auch völlig anders. Die Thiere einer
Abtheilung erscheinen daher um so gleichartiger, je jünger, je unent-
wickelter sie sind, um so unähnlicher, je älter sie geworden. Doch
finden sich auch hier mancherlei Ausnahmen.
Es mag einer späteren Physiologie, vielleicht derjenigen kommen-
der Jahrhunderte, vorbehalten bleiben, nachzuweisen durch welche
einfachen Prozesse der vorhandenen und hinzutretenden Massentheile
dieses anatomische Grundgesetz, diese Architektonik des Organischen
hergestellt wird. Gewiss wird eine solche „Physiologie der Plastik“,
wie man sie schön genannt hat, erst nach langer Zeit mit einem
unendlich erweiterten Wissen möglich werden.
Vorläufig, den Prozess der Realisirung nicht kennend, nehmen
wir diese Gesetzmässigkeit des Aufbaues als etwas Gegebenes an
und bedienen uns ihrer vielfach, um thierische Formen im Ganzen,
wie im Einzelnen — in den Theilen — zu verstehen.
Zwei Beispiele mögen genügen! Wir treffen bei verwandten
Geschöpfen im Zustande der Reife an gleichen Stellen gewöhnlich
sehr ähnliche Theile an; in andern Fällen aber entstehen statt ihrer
Gebilde, völlig anders in Form und Struktur. Der Anatom mag sie
noch so sorgfältig zergliedern, ihr Gefüge noch so eifrig verfolgen,
Bar
gewiss wird er nicht selten über ihre anatomische Bedeutung im
Unklaren bleiben. Gelingt es ihm dagegen, an der Hand der Ent-
wieklungsgeschichte den räthselhaften Theil zu immer früheren Le-
benszuständen herab zu verfolgen, so wird er ihn anders und dem
Organe eines verwandten Geschöpfes immer ähnlicher werden sehen,
bis er zuletzt zur anatomischen Identität mit diesem gelangt. Das
Verständniss, was der Theil, wird hiermit erlangt sein; er ist eben nur
ein längst bekanntes Gebilde verwandter Thiere, hier durcli in eigenthüm-
licher abweichender Art verlaufende Bildungsvorgänge anders gestältet.
Man kann es darum geradezu aussprechen, an der Hand der Ent-
wicklungsgeschichte erfahren wir, dass in der Thierwelt gewisse Grund-
pläne des Aufbaues der Organismen vorkommen, in einer Unzahl
einzelner Formen auf das Mannigfachste realisirt. Alle die einzelnen
Glieder einer solchen grossen Verwandtschaftsgruppe, eines Thier-
kreises oder Thiertypus, wie die Fachmänner zu sagen pflegen,
— alle sind Variationen eines und desselben architeetonischen Thema’s.
So werden die Resultate der thierischen Anatomie, gewürdigt und
beleuchtet von der Entwicklungsgeschichte, erst in ihrer vollen wis-
senschaftlichen Bedeutung heraustreten und sich mit den Ergebnissen
letzterer Disciplin zur harmonischen Einheit verbinden. Diese so ge-
läuterte Zergliederung der Organismen ergibt eine Anatomie in zweiter
Potenz, die Gestaltenlehre oder Morphologie.
Indessen die Entwicklungsgeschichte hat neben dieser rein wissen-
schaftliehen Bedeutung noch eine andere mehr praktischer Natur für
das zoologische Studium.
Wir bemerkten schon früher, dass die embryonalen Zustände bei
den höheren Geschöpfen rasch verlaufen, indem das Thier den gröss-
ten Theil seines Lebens im Zustande der Reife zu verbringen pflegt.
Es ist darum kaum möglich, jene Anfangsperioden des Lebens zu
verkennen. Anders aber wird es bei vielen niedern animalen Orga-
nismen. Der Zustand der Unreife nimmt den grössten Theil des
Lebens in Anspruch. In diesen embryonalen niedern Perioden erfreut
sich das Thier schon einer Selbsständigkeit, oft sogar einer grössern
als in späterer Zeit. Höchst verschieden fällt in diesen einzelnen
Zeiten häufig die Lebensweise aus. So kann es anfänglich einem
Thiere vorgezeichnet sein, in freier Ortsbewegung schw immend im
Wasser, sei es dem ungesalzenen, sei es dem Meere, vorzukommen ,
während die spätere Lebenszeit uns ein Geschöpf zeigt, welches, im
Innern eines andern Thierleibes ein schmarotzendes, stumpfsinniges,
unbewegliches Leben führt. Wir begreifen, dass bei solcher Aen-
derung der Lebensweise auch am Thierkörper für diesen Zweck
Manches anders werden muss. So bedarf in der früheren Periode das
Geschöpf gewisser Schwimmapparate, welche später überflüssig werden
und zu Grunde gehen. — Frei umherschwimmende Wasserbewohner,
wenn sie anders nieht zu den einfachsten Geschöpfen gehören, haben
gewöhnlich Sehwerkzeuge. Einem in den dunkeln Höhlungen eines
fremden Thierkörpers hausenden Parasiten sind jene Werkzeuge über-
flüssig. So gehen bei dem Uebergange zur schmarotzenden Existenz
beiderlei Organe, Schwimmapparate und Augen, zu Grunde, als un-
TE >
nöthig gewordene Theile. Die von manchen Seiten in unverständiger
Weise so geschmähte teleologische Betrachtung macht uns in der
Evolutionslehre Vieles verständlich.
Während man allgemein zu glauben geneigt sein dürfte, dass
die Entwicklung immer von niederen, einfachen Formen den Organis-
mus heraufführe zu immer vollendeterer Gestaltung, haben Beobach-
tungen der neueren Periode gelehrt, dass dieses, wenn auch die
Regel bildend, doch keineswegs überall vorkommt. Neben jenem auf-
steigenden Entwicklungsgang haben wir einen absteigenden, neben der
progressiven eine regressive Metamorphose kennen gelernt.
Jene manchfachen Umänderungen des thierischen Körpers bei
einer beträchtlichen Dauer, einer gewissen Permanenz dieser früheren
Lebensperioden sind nun in unserer Wissenschaft zu Quellen zahl-
reicher Irrthümer geworden. Man nahm das Geschöpf in seiner frühe-
ren Lebenszeit für ein besonderes thierisches Wesen, eine eigene Art
im Sprachgebrauch der Zoologie, man stellte dann aus der vollendeten,
späteren Form eine zweite Species auf. Erst die Kenntniss des Ent-
wicklungsganges schaffte hier Licht. So sind nicht allein zahlreiche
Arten, welche eine frühere Zeit schuf, als Larven aus dem Systeme
verschwunden, es mussten ganze Familien und Ordnungen ausfallen,
welche unseren Vorfahren für selbsständige Wesen galten, wäh-
rend sie für uns zu Durchgangsformen anderer Geschöpfe herabge-
sunken sind. — Es gibt gewisse Gruppen des Thierreiches, so para-
doxe, wunderliche Gestalten beherbergend, dass sie den Systematiker
von jeher in die grösste Verlegenheit brachten, indem sie zu keiner
Abtheilung der Thierwelt recht passen wollten und desshalb ihre Stelle
im zoologischen Register beständig änderten. Auch hier hat die Entwick-
lungsgeschichte Licht herbeigeführt, indem sie in den frühesten Zeiten
dieser Thiere einen bekannten anatomischen Grundplan erkennen liess,
der später nur in eigenthümlicher Weise umgeändert wurde und darum
über die wahre systematische Stellung in Verlegenheit führen musste.
So hat die Entwicklungsgeschichte grosse, nachhaltige Revolutionen
in dem ordnenden Theile unserer Wissenschaft herbeigeführt, wie sie
uns — wir wiederholen es nochmals — auf der anderen Seite den
tiefsten Blick in die Bedeutung thierischer Formen vergönnte.
Haben wir so allmählich im körperlichen Gefüge das Thier von
den Anfängen seiner Existenz bis zu den letzten Tagen seines Lebens
kennen gelernt, so drängt sich endlich die physiologische Seite der
Forschung naturgemäss in den Vordergrund; das Bestreben den so
gewonnenen anatomischen Bau physiologisch zu verwerthen, zu be-
greifen, was die einzelnen Theile sollen, welehe Rolle sie in dem
Gange der thierischen Maschine erfüllen; welche Rolle die einzelnen
Thierformen in dem grossen Haushalte der Natur erfüllen.
Wir halten die Begründung und Ausführung dieser vergleichen-
den Physiologie für die Schlussaufgabe der zoologischen Wissen-
schaft. Kaum aber sind in der Gegenwart mehr als die Anfänge des
Anfangs vorhanden. Es liegen zur Zeit erst vereinzelte Bausteine zu
dem künftigen Gebäude in spärlicher Armuth vor.
Es wird sich in der Folge zunächst darum handeln, die einzelnen
ter —
Arten, oder bei ihrer Aehnlichkeit wenigstens die einzelnen Gattung
(Genera) in dem physiologischen Verhalten ihrer Theile, wie des
Ganzens zu erforschen, also beispielsweise ihre Ernährungsweise, ihren
Stoffwechsel, ihre Nerven- und Sinnesthätigkeit zu verfolgen, die Fort-
pflanzungsverhältnisse zu untersuchen.
Wie die anatomische Erkenntniss der einzelnen Formen zu ver-
gleichenden Betrachtungen führen, zum Taxiren eines Baues mit einem
verwandten anderen, wird es auch in diesen physiologischen Studien
geschehen müssen; aus den Einzeln-Physiologien wird die vergleichende
Physiologie sich hervorbilden, welche erst die wahre wissenschaftliche
Physiologie wird, zu der sich unsere jetzige eben so verhält, wie die
gewöhnliche descriptive menschliche Anatomie zur Morphologie.
Allerdings wissen wir, dass wir hiermit einen schlüpfrigen, glatten
Boden betreten. Sind doch manche tüchtige, achtbare Forscher im phy-
siologischen Gebiete zu geschworenen Feinden und Verächtern jeder
anatomischen, morphologischen Ausbildung geworden, blieken sie doch
mit mitleidigem Hohne in beschränkter Selbstgefälligkeit auf Jeden, wel-
cher die Berechtigung derartiger Studien festhält, welcher glaubt, dass
in der Folge das physiologische Studium über Frösche, Hunde und Katzen
hinaus zu gehen habe, dass es nicht das Ziel der physiologischen Wissen-
schaft sein könne, nur das Thier als Hülfsmittel der menschliehen Physio-
logie zu betrachten, um endlich den physiologisch erkannten Menschen-
leib dem Pathologen zu präsentiren.*) Weit entfernt, diese Wendung
zu nehmen, werden kommende Zeiten die physiologisch erkannten
Körper zu einer allgemeinen Physiologie des thierischen Lebens ver-
knüpfen, und sehen, wie nur ein kleiner Theil jener zahllosen Prozesse,
welche in dem füllereichen Leben der Thierwelt vorkommen, im mensch-
lichen Körper und dem der Wirbelthiere überhaupt realisirt sind.
Diese allgemeine Lebenslehre, welche in letzter Instanz Prozess
und Bau zur harmonischen Einheit verknüpfen muss, indem sie die
Physiologie durch die Morphologie und diese wieder durch jene er-
klärt, wird nun wiederum das lebende Thier unter allen möglichen
Gesichtspunkten zu untersuchen haben.
Experimentelle Arbeiten über die einzelnen Organe und Prozesse
der Spezies werden den Ausgangspunkt bilden müssen, wie die ana-
tomische Zergliederung für eine frühere Periode. Sitten, Lebensarten,
räumliche Verbreitung über die Erdoberfläche kommen gleichfalls in
Betracht. Sind auch gegenwärtig nur halb- oder unverständliche Re-
sultate in letzteren Gebieten zu erhalten, welche erst vor der Physio-
logie der Zukunft ihr Verständniss finden mögen, — immerhin sind
diese Richtungen des zoologischen Studiums von grossem Werthe,
indem auch hier, ähnlich wie in der Medizin, eine statistische Methode
ihre hohe Bedeutung hat, obgleich wir vielleicht den Louis unseres
Faches noch nicht besitzen.
Die Verfolgurg der einzelnen Thierformen über die Erdoberfläche,
*) Da es manchmal gut ist, auf Autoritäten zu verweisen, möchten wir an
den grössten Physiologen unseres Jahrhunderts, an Joh. Müller erinnern, dessen
Werk noch zu einer Zeit gekannt sein wird, wo manche Modehelden des Tages
der Vergessenheit anheim gefallen sein werden.
u. GE =
der Nachweis der klimatischen Verhältnisse, der Temperatur, der Ve-
getationen, der Höhenverbreitung ete. etec., in welcher die einzelne
Art und die Gattung zu leben vermag, bildet einen der anziehendsten
Theile unseres Faches. Lokalfaunen bilden hier die erste Unterlage.
Es ist ein bedeutungsvolles Moment, dass gerade auch hier Linne in
seiner Fauna Schwedens als leuchtendes Vorbild voranging. Ver-
gleichende faunistische Studien werden sich anschliessen. Die Ver-
breitungsbezirke der Gruppen werden sich alsdann herausstellen. Auch
jene mehr ästhetische Betrachtung der Natur, welche uns mitten in
den Spezialstudien fast verloren ging und neuerdings von Humbold
in strahlender Weise wieder in die Erinnerung der Menschen zurück-
geführt wurde, — auch sie wird gerade durch diese Richtung der
Studien wieder emporblühen ; neben dem botanischen Charakter, welcher
die Landschaft bestimmt, wird der zoologische, welcher sie belebt und
bevölkert, sich mehr und mehr herausstellen.
In gewisser Hinsicht möchten wir auch in dieser Richtung des
paläozoologischen Studiums gedenken.
Unstreitig hat die Ermittelung und Untersuchung der Thierreste,
welche als Zeugnisse vergangener Belebungsperioden unseres Planeten
in seinen neptunischen Schichten eingeschlossen sind, zunächst ein
geographisches Interesse, indem sie den thierischen Catalog vervoll-
ständigt, zahlreiche neue Glieder den gegenwärtig vorhandenen zufügt.
Andererseits wird sie tief in die Ausarbeitung einer kommenden
allgemeinen Physiologie eingreifen. Es wird sich darum handeln, die
damaligen Lebensbedingungen der thierischen Formen zu ergründen
und erschliessen, auszumitteln, unter welchen Verhältnissen die Geschöpfe
dieser Epochen existirten, warum ganze Gruppen in früheren Schö-
pfungen fehlten, warum jenes bekannte suecessive Aufsteigen von
niederen Gestalten zu höheren durch die Reihenfolge der Schöpfungen
statt fand und anderes mehr. Nicht minder auffallend und bedeutungs-
voll ist das Zugrundegehen ganzer Abtheilungen in früheren Perioden,
das Aussterbenwollen mancher Abtheilungen in der jetzigen Welt. Denn
nicht allein in der Menschheit vergehen die Individuen und Ge-
schlechter und erlöschen die Nationen; im Heere der Thierwelt finden
wir das Gleiche.
Gedanken über die Verbreitung der Seuchen.
Von Dr. MEYER-AHRENS.
Es ist eine merkwürdige Erscheinung, dass neuauftretende Seuchen oft län-
gere Zeit bedürfen, bis sie sich m einem bestimmten Landesbezirk geltend
zu machen vermögen. Es geht hier im Grossen „ wie im Kleinen beim einzelnen
Individuum. Es ist selten, dass Jemand, der sich der Ansteckung durch
irgend ein Contagium oder ein Miasma ausgesetzt hat, sogleich an der ent-
sprechenden Krankheit erkrankt; fast immer vergeht von dem Augenblick an,
wo die wirkliche Ansteckung statt fand, bis zum Augenblieke, wo die ent-
sprechende Krankheit in die Erscheinung tritt, eine Zeit, die man das Incuba-
tionsstadium nennt. Ebenso ist es im Grossen; es ist, wie wenn einzelne
Provinzen. einzelne Orte auch ein Brütungsstadium durchmachen müssten, be-
u
vor der Krankheitsstoff, sei er nun ein Contagium oder ein Miasma, die Körper
der Bewohner so vorbereitet findet, dass er die durch ihn in denselben gesetzte
Disposition zur Erkrankung zur wirklichen Krankheit zu entwickeln vermag. Würde
immer nachgewiesen werden können, dass eine solche Seuche sich längs bestimm-
ter Verkehrswege verbreite, dass sie — wenn auch während einer Reihe von
Jahren — in einer bestimmten geographischen Richtung von Ort zu Ort fort-
krieche, so wäre das Räthsel, warum einzelne Gegenden oft so lange verschont
bleiben, leichter zu erklären. Für’s Erste wäre es dann unzweifelhaft, dass die
Seuche sich durch ein an Gegenständen haftendes Contagium verbreite, und
man müsste dann annehmen, dass entweder dieses Contagium zufällig erst zu
der Zeit, wo die Seuche an einem Orte ausbrach, dahin verschleppt worden
sei, oder dass — da wenigstens heutzutage der Verkehr ein so allgemeiner und
durchgreifender ist, dass es rein unbegreiflich wäre, warum an so manche Orte
das Contagium der grossen Seuche, die uns aus Asien gesendet worden ist, noch
nicht oder erst so spät gebracht worden sein sollte — erst eine gewisse Summe oder
Dosis von Contagium an einem Orte sich anhäufen müsse, bis es stark genug sei,
die Vergiftung zu wege zu bringen. Aber die Seuchen, die ich hier zunächst im
Auge habe, Cholera asiatica und englischer Schweiss, verbreiten sich in der Regel
und wesentlich nichts weniger als auf die genannte Art, sie kriechen in der Regel
nicht von Ort zu Ort, sondern befallen häufig fast im selben Momente die von ein-
ander entferntesten Punkte, indem sie manche dazwischen liegende Punkte, die
mit den befallenen im regsten Verkehre stehen, überspringen. Manchmal mag
dieses Ueberspringen darin seinen Grund haben, dass die dazwischen liegenden
Punkte kurz vorher schon durchgeseucht worden waren und nun wenig empfängliche
Individuen mehr darbieten, oft aber sind es Punkte, die gar nie von der Seuche
befallen worden waren. Hier können wir uns den Vorgang nur so erklären, dass
wir annehmen, die Seuche verbreite sich in der Regel und wesentlich durch ein
sogenanntes Miasma, d. h. es entwickle sich entweder zu gewissen Zeiten in der
Luft ein Stoff, dessen Einwirkung zwar alle Individuen offenstehen , ausgesetzt
seien, der aber nur dann erst krankheitmachend wirken könne, wenn ein Indi-
viduum die hiezu nöthige Disposition oder wenn der Stoff die für ein Individuum
nöthige Intensität erreicht habe, und die Difierenzen in Bezug auf die Zeit des
Ausbruches an verschiedenen Orten und bei verschiedenen Individuen hängen
von der Zeit ab, zu welcher jene Empfänglichkeit und diese Intensität sich
entwickelt haben, oder aber wir müssen annehmen, es gebe uns ihrem Wesen,
d. h. ihrer Combination nach, unbekannte Complexe von kosmischen Einflüssen,
die, sobald sie in derselben Form hergestellt seien, ihrer Combination entspre-
chende Krankheitsformen hervorrufen, und der Ausbruch einer Seuche an einem
Orte hänge dann von der Zeit der Herstellung der fraglichen Complexe, die
Zeit des Ausbruches bei den einzelnen Individuen von der relativ grösseren oder
geringeren Empfänglichkeit derselben ab, oder aber endlich wir könnten auch
annehmen, dass durch gewisse Complexe kosmischer Influenzen die Bildung so-
genannter Miasmen bedingt werde, die dann erst die ihnen entsprechende Krank-
heit erzeugen. Dafür, dass bestimmte Complexe kosmischer Einflüsse die Ver-
breitung der Seuchen bedingen, sprechen die Thatsachen, dass gewisse seuchen-
artige Krankheiten, z. B. die Pocken, Masern, der Keuchhusten, die Catarrh-
formen, ihre bestimmte Jahreszeit haben, in der sie in der Regel aufzutreten
pflegen. Die Zeit der Entwicklung der in Rede stehenden Complexe kos-
mischer Influenzen an einem Orte würde natürlich wesentlich durch sein
Wissenschaftliche Monatsschrift. Le
Be
Clima im weitesten Sinne bedingt werden müssen, und das Räthsel des Ver-
breitungsprinzipes der Seuchen müsste durch Vergleichung der mittleren Climata
der Orte mit der Zeit, zu welcher eine bestimmte Seuche in denselben auf-
zutreten pflegt, gelöst werden. So sehr ich nun aber meinerseits überzeugt bin,
dass in den erwähnten kosmischen Complexen, deren Wesen freilich sehr schwer
zu erforschen ist, das ganze Geheimniss der Verbreitung der Seuchen im Grossen
liegt, so kann ich doch keineswegs leugnen, dass es Thatsachen gibt, die eine
jeweilige Verbreitung der Seuchen von Ort zu Ort, von Lokalität zu Lokalität klar
beweisen. Die Geschichte der Verbreitung der Cholera weist genug solche That-
sachen auf. Allein die eine Verbreitungsweise schliesst die andere nicht absolut
aus. Es ist nämlich sehr leicht zu begreifen, dass wenn einmal in Folge der erwähn-
ten kosmischen Einflüsse die Epidemie an einem Orte sich zu entwickeln begonnen
hat, die einzelnen von ihr ergriffenen Individuen dann ein Contagium entwickeln
können, das je nach der Art der Seuche an diese oder jene Auswurfsstoffe ge-
bunden, oder auch in der Atmosphäre auflöslich, suspendirbar, flüchtiger oder
fixer und geeignet sein kann, die Epidemie namentlich in einzelnen Lokalitäten
oder Ortschaften weiter zu verbreiten. Es ist sogar wohl möglich, dass manches
Individuum, das den kosmischen Einflüssen widerstanden haben würde, diesem
Contagium nieht mehr zu widerstehen vermag. Ich bin daher der Meinung,
dass sich beide Momente combiniren, dass letzteres jedoch dem ersteren so
untergeordnet ist, dass dieses, das kosmische Moment, das leitende, die Epidemie
im Grossen verbreitende Moment ist, und dass, wo dieses zurücktritt, d. h. wo
entweder eine Schwächung in der Intensität der Einwirkung der eigenthümlichen
kosmischen Complexe oder eine gänzliche Umwandlung in denselben eintritt, die
Epidemie allmälig erlischt, und höchstens noch durch das zweite Moment, das
Contagium, die Krankheit eine Zeit lang so weit erhalten wird, dass sie noch
in einzelnen oder vereinzelten Fällen ihr Dasein verräth:: — diese Fälle könnte
man dann sporadische nennen, wenn man gewiss wäre, dass sie eben nur dureh
Contagion erzeugte Fälle wären. Dagegen ist es meiner Ansicht nach nicht
wissenschaftlich, wenn man alle die weniger zahlreichen Fälle, welche, wenn
eine Seuche ein grosses Land, wie Europa, durchzieht, beim Beginn der Orts-
epidemien auftreten, sporadische nennt, insofern wenigstens ihre Entstehung
durch Ansteckung nicht ganz bestimmt nachgewiesen werden kann, da sie durch-
aus der ganzen grossen Epidemie angehören, nur Bruchtheile derselben sein
können und wahrscheinlich auch sind.
Man sollte nun freilich, wenn die Verbreitung der Seuchen im Grossen
durch kosmische Complexe oder durch sie erzeugte Miasmen angenommen wird,
glauben, dass Orte, die ein ähnliches Clima haben, auch zu gleicher Zeit oder
rasch nacheinander von solchen Seuchen ergriffen werden sollten. Das ist nun
aber nicht der Fall. Fünf- bis sechsundzwanzig Jahre sind es nun, seit die
Cholera in Europa eingedrungen ist; sie durchseuchte einen grossen Theil der
die Schweiz umgränzenden Länder, aber die Schweiz diesseits der Alpen
blieb bis 1854 verschont, und selbst im Jahr 1854 zeigte sie sich meines
Wissens bloss im Kanton Aargau. Erst im Jahr 1855 gelang es ihr, den Kan’
ton Genf, den Kanton Basel und die Stadt Zürich und deren Umgebungen zu
einigen Tributen zu zwingen, während in den übrigen Theilen des Kantons
Zürich, d. h. in den von der Hauptsadt entfernteren Rayons, *) meines
*) d. h. über 1 Stunde.
a
Wissens nur zwei Fälle auftraten, I in Meilen und 1 in Wald, aber auch
jetzt noch schienen in Zürich sich dem tieferen Eingreifen der Seuche Hinder-
nisse entgegen zu stellen, die für uns freilich in ein mysteriöses Dunkel gehüllt
sind. Worauf beruht nun diese Resistenzkraft so mancher Orte und Gegenden, die
man bald für eine wahre Immunität zu halten kühn genug gewesen wäre und wohl
hie und da war? Ich kann mir nicht denken, dass jene mysteriösen Influenzen,
welche die Cholera erzeugen, welcher Art sie auch sein mögen, sich durchaus
nur an denjenigen Orten, in denen die Epidemie ausbrach, entwickelt, nur dort
existirt haben; gewiss entwickelten sie sich auch an anderen Orten; allein ihrer
schädlichen Einwirkung stand ein gewisser Grad von Immunität entgegen, die
theils in der Beschaffenheit der Lokalitäten, theils der Lebensart der Einwohner
bestanden haben mag. Diese Immunität dauerte aber nur so lange, bis die
wiederholte Einwirkung der schädlichen Influenzen die Körper der Bewohner
eines solchen Ortes so vorbereitet hatte, dass auch ihre Resistenzkraft zu brechen
begann.*) Doch das sind am Ende alles Hypothesen; allein es ist doch immer
gut, sich eine bestimmte Ansicht zu bilden, die ja stets geändert werden kann,
wenn eine überwiegende Masse sorgfältig gesammelter, gesichteter und mit um-
siehtiger Kritik gewertheter Thatsachen dieselben als ganz ungegründet erweisen
wird. Es ist daher dringend nöthig, die Verbreitung der Cholera mit der grössten
Sorgfalt zu studiren. Das ist nun freilich bald gesagt, schwer aber ist die
Ausführung. Ich habe bereits eine grosse Menge von Thatsachen über die Ver-
breitung der Cholera in Europa gesammelt, und werde nicht anstehen, die Re-
sultate der auf diese Thatsachen gegründeten weiteren Untersuchungen späterhin
einem grösseren Publikum mitzutheilen, für jetzt aber wage ich es noch nicht,
aus dem gesammelten Material Schlüsse zu ziehen, da die erzählten Thatsachen
einander oft so sehr widersprechen, dass es einer sehr einlässlichen Untersuchung
bedarf, um den Grund der Widersprüche aufzufinden. So wurde im Jahr 1855 in
Terzo, im Friaul die Cholera durch die Besucher des Kirchweihfestes aus dem
nahen Cervignano sogleich eingeschleppt, während es lange Zeit bedurfte, bis
die mit dem Venetianischen in so regem Eisenbahnverkehr stehende Lombardei
endlich allmälig von der Seuche ergriffen wurde, während ferner Mailand, trotz
des Zusammenflusses von Flüchtlingen aus allen Gegenden, noch frei war, ob-
schon in der Provinz Mailand, der Provinz Mantua (Mantua selbst war auch
noch frei), den Provinzen Como, Pavia, Breseia, Lodi, Cremona und Bergamo
die Seuche bereits verbreitet war; so ferner waren an mehreren Orten die Gar-
nisonen die ersten Angriffspunkte, während in Venedig die Garnison längere
Zeit verschont blieb. Achnlich verhält es sich mit der Immunität gegen die
Cholera; auch in dieser Beziehung dürften einzelne auffallende Thatsachen noch
nicht zu Schlüssen berechtigen. Eine solche Thatsache, die wirklich merkwürdig
ist, mag hier noch eine Stelle finden. In Fiume in Dalmatien wüthete be-
kanntlich die Cholera Anfangs Juli des vorigen Jahres furchtbar. Am 7. Juli
waren 200 Häuser gänzlich geschlossen, kein Verkaufsmagazin wurde geöff-
net, kein Amt, keine Schule besucht, nur in die Kirchen strömten die Gläu-
bigen. Ueber 5000 Personen waren ausgewandert, die Schwalben und Fliegen
sogar waren seit dem Ausbruch der Epidemie gänzlich verschwunden und doch
erkrankte von 1100 Cigarrenarbeiterinnen der k. k. Tabaksfabrik keine einzige,
ja auch kein Angestellter, kein Beamter der Fabrik erkrankte, wobei freilich
*) Dass solche ganz unmerkliche Umwandlungen in den Körpern möglich sind, beweist
die Wirkung der Vaceine.
— 10 —
bemerkt werden muss, dass auch kein Geistlicher und kein Arzt in Fiume er-
griffen ward.
Strafgesetzgebung und Christenthum.
Auch den Nichtjuristen kann als eine sehr erbauliche Lectüre empfohlen
werden: „Das Verhältniss der heutigen Strafgesetzgebung zum Christenthum.
Studien von C. Trummer (1856).* Nicht bloss die Juristen und Gesetzgeber,
sondern das Staatsleben und die Wissenschaft überhaupt, — ausser der Theo-
logie — haben den Felsengrund des „wahren“ Christenthums verlassen und
werden dafür von Herrn T. mit Schlangen und Skorpionen gegeisselt. Die Ver-
nunft des natürlichen, in der Sünde befangenen Menschen, eine Philosophie,
welche nicht auf der Anerkennung des tiefen, nur durch die Wiedergeburt zur
Kindschaft Gottes zu hebenden Grundverderbens der menschlichen Natur beruht,
der Götze des Volksrechtsbewusstseins, dieses Phantom, die Chimäre, die Grille
moderner Utopisten und auf dem Gebiete des Strafrechts speziell das Verken-
nen der „christlichen Strafpflicht von Gottes Gnaden*“ —, das sind Belial,
Gog und Magog, gegen die der Vernichtungskampf zu führen ist. Vorläufig
bekämpft der Verfasser mit grosser Entrüstung mehrere deutsche Kriminalisten
der Gegenwart, als Boten jener Fürsten der Finsterniss, wobei dann eine pia
fraus unterläuft, — wie es nicht ungewöhnlich ist bei denen, die ganz demüthig
mit einem kleinen Heiligenschein ihre Hörner bedecken —, indem er aus den
Schriften der Angegriffenen Sätze aus dem Zusammenhange herausreisst und wie-
der componirt, wie es ihm eben für seinen Sermon passt. Namen nennt er nicht,
„weil man hier nichts mit den Personen zu thun hat“, aber das kleine Manöver
ist schon gestattet, dass er einen Professor, der nach üblicher Weise in einer
Universitätsstadt einen Vortrag vor einem gebildeten Publikum gehalten hat,
wiederholt einen „Volksredner* nennt. Es haben wohl mehrere der Angegriffe-
nen geglaubt, im christlichen Sinne zu leben und zu wirken, wenn sie auch
nicht das exelusive „Wir sind Christen!“ für sich in Anspruch nahmen, aber
vor Herrn T. sind alle in gleicher Verdammniss, die da glauben, die Wissen-
schaft habe nicht ihre einzige Quelle in der Bibel und sei in diesem Jahrhundert
fe hritten. — An politischen Herzensergiessungen fehlt es in dem Buche nicht;
Sal "arten steht, schwärmt der Kreuzritter für das „heilige Russland* und
alle Reg... sind ausgezogen für den Epilog, in welchem es heisst: Auf der
einen Seite beuroi en Seuchen und Fäulniss mancherlei Art, Erdbeben, Theurung,
Ueberschwemmungen, Türkenkrieg das vielfach gewarnte Menschengeschlecht in
der alten Welt, auf der andern setzt das Bündniss, welches zum Vernichtungs-
kampfe gegen die heilige Allianz aus dem sumpfigen Abgrunde von Anarchie
und Revolution, von Antichrist und Belial heraufgestiegen ist, sein unheimliches
Streben fort, die übrigen Staaten und Völker durch materiellen Köder über ihre
ewigen Interessen zu täuschen und somit die Genossen für den Vernichtungskampf
zu vermehren etc.“ Allendlich werden alle Irrlehrer heimgeschickt mit dem Fi-
nale der Strafpredigt: „Wenn der unsaubere Geist lie wirre Stätte durchwandelt,
die Ruhe nicht finden kann, die er sucht, und in sein Haus zurückkehren will:
möge er es dann mit Besamen nicht gekehret und geschmücket finden, und nicht
damit veranlasst werden, noch ärgere Geister zu sich zu nehmen, als er selbst ist.“
» E. O.
|
4
4
ir
I
x
E:
Fr. Böhringer,
die Kirche Christi und. ihre Zeugen,
oder
die Birchengefchichte in Biographien.
Den glücklichen Gedanken, eine Kirchengeschichte in Biographien
von den ältesten Zeiten an bis auf die Gegenwart zu geben, hat der Verfasser
seit 1842 in sieben bisher erschienenen Abtheilungen seines Werkes, dem in
diesem Jahre die achte — die Schlussabtheilung des Mittelalters — folgen wird,
zur Ausführung gebracht.
Die Auswahl der Lebensbilder ist eine solche, dass Männer und Frauen,
Märtyrer, Apologeten, Kirchenväter, Missionäre, Scholastiker, Kirchenfürsten,
Asceten, Mystiker, Reformatoren darin ihre Stelle finden: es ist keine wesent-
liche Richtung, keine epochemachende Zeit, keine Spezialkirche von Bedeutung,
die nicht ihr Kontingent hiezu lieferte, um so „das durch Christus geschichtlich
gewordene Leben in den verschiedensten Persönlichkeiten und hervorragenden
Trägern desselben auf's Mannigfachste und Vielseitigste bezeugt und vermittelt
zur Anschauung zu bringen.“
Die Auswahl ist zugleich eine solche, dass die stetige Entwicklung der
Kirche darin hervortritt. Es ist daher nicht eine blosse Reihenfolge von Bio-
graphien gegeben. Zu diesem Behufe „charakterisirt der Verfasser in allgemeinen
Einleitungen bündig das Leben, welches die Zeugen desselben darstellen; weiterhin
zeigt er die Momente und Epochen dieses Lebens in seinem geschichtlichen Verlaufe
auf und weist die einzelnen Träger desselben in die Stelle ein, die sie darin
einnehmen; er gibt gehörigen Orts eine allgemeine Charakteristik derjenigen Zeit,
deren Repräsentanten er vorführt, er leitet von einem Leben zum andern, von
einer Fpoche zur andern den Leser verständigend über.“ Wenn somit „dies
Werk die eigentliche Kirchengeschichte nicht ersetzen will, noch kann, so dient
_ es doch dazu, den Gehalt des kirchengeschichtlichen Lebens der unmittelbaren
Anschauung näher zu bringen, ihn so zu sagen persönlicher zu machen und
dient in sofern der eigentlichen Kirchengeschichte zur Ergänzung, während es
anderseits in das Studium derselben einzuführen vorzüglich geeignet ist.“
Der Geist, in dem der Verfasser seine Aufgabe zu lösen versucht hat, ist
ein umfassender, kein ausschliesslich konfessioneller; er erkennt „eine religiöse
Entwicklung der Menschheit“ an und sieht „in dem Reichthum der christlichen
Erscheinungen und Persönlichkeiten nur die unendliche Fülle der christlichen
Religion.“
Die Lebensbilder selbst sind „frisch aus den Quellen bearbeitet, in grosser,
zweckdienlicher Auswahl und mit möglichster Objektivität dargeboten; wo es
zu haben war, lässt der Verfasser die Zeugen selbst reden und es ist hievon
‘ ein reicher, hin und wieder überreicher, kostbarer Schatz im Werk niedergelegt.“
Die Darstellung ist lebendig, der Styl „im Ganzen sehr gut, einfach
und edel“; so dass man „bei dieser Gründlichkeit der Forschung, Unbefangen-
heit der Auffassung, Wärme und Anschaulichkeit der Darstellung, scharf und
wahr gezeichnete, in individueller Lebendigkeit ausgeprägte Bilder aus dem
Leben der Kirche gewinnt.“
Es ist so das Werk „angelegentlich, besonders Geistlichen, Kandidaten und
Studierenden der Theologie zu empfehlen; aber auch von gebildeten Laien kann
und sollte es gelesen werden.“
Dass es ein umfangreiches ist, war nicht anders möglich, wenn es
ein irgendwie erschöpfendes sein wollte. „Dieser Umfang sollte aber Niemand
zurückschrecken; denn einmal hat man dann doch auch in ihm diese ganze
Reihe christlicher Erscheinungen von Anfang bis zu Ende; sodann hat man sie
in einer bis in’s Detail eingehenden Darstellung, die doch vorzugsweise frucht-
bar zur Belehrung und Erbauung ist.“
Im Vorstehenden hat die unterzeichnete Verlagshandlung, um unparteiisch
"zu sein, meist nur die verschiedenen Stimmen der öffentlichen Kritik sprechen
lassen, die auch nicht unterlassen hat zu bemerken, dass das Werk „mit steigen-
dem Gelingen“ fortgetzt werde.
Energisch fortgeführt, wie es bisher wurde, gibt es zugleich die Hoffnung,
in nicht gar zu langer Zeit ein vollendetes Ganze zu werden, während so
manche andere Werke unvollendet stecken geblieben sind.
Die treffliche äussere Ausstattung, die wir dem Werke geben, ist überall
hervorgehoben worden.
Die bis jezt erschienenen sieben Abtheilungen enthalten:
Erster Band: Kirchengeschichte der ersten Jahrhunderte.
Inhalt. 1. Abtheilung: Ignatius, Polykarpus, Perpetua, Justinus, Clemens
von Alexandria, Origenes, Irenzus, Tertullian, Cyprian. 842.
Thlr. 1. 15 Ngr. — fl. 2. 42 kr. — Fr. 5. 80 Rp.
2. Abtheilung: Athanasius, Antonius, Basilius, Gregor von Nyssa, Gregor
von Nazianz. 843. Thlr. 1. 15 Ngr. — fl. 2. 42 kr. — Fr. 5. 80 Rp.
3. Abtheilung: Ambrosius und Augustinus. 844. Thlr. 2. 20 Ngr.
fl. 4. 48 kr. — Fr. 10. 30 Rp.
4. Abtheilung: Chrysostomus, Olympias, Leo, Gregor der Grosse.
Thlr. 2. 6 Ngr.. — fl. 3. 54 kr. — Fr. 8. 40 Rp.
Erster Band, komplet in vier Abtheilungen. Thlr. 7. 26 Ngr. — fl. 14. 6 kr.
Fr. 30. 30 Rp.
Zweiter Band: Kirchengeschichte des Mittelalters.
Inhalt. iste Abtheilung: Kolumban, St. Gall, Bonifazius, Ansgar, Anselm
von Canterbury, Bernhard von Clairvaux, Arnold von Brescia. 849.
n. Thlr. 3. 3 Ngr. — fl. 5. 24 kr. — Fr. 11. 60 Rp.
2te Abtheilung: Peter Abälard, Heloise, Innozenz III., Franziskus von
Assisi, Elisabeth von Thüringen. 853. n. Thlr. 2. 25 Ngr. — fl. 5.
Fr. 10. 75 Rp.
3te Abtheilung (unter der Presse und auch unter dem besondern Titel zu
haben): Die deutschen Mystiker des 14. und 15. Jahrhunderts:
Joh. Tauler, Heinrich Suso, Joh. Rusbrock, Gerhard Groot, Thomas
von Kempen.
Die demnächst erscheinende achte Abtheilung wird die Biographien von
Wikliffe, Huss, Wessel und Savonarola enthalten.
Es wird jede Abtheilung einzeln gegeben und neu eintretende Abnehmer
des ganzen Werkes können dasselbe durch jede Buchhandlung nach und nach
beziehen.
Zürıch, im Februar 1856.
Meyer & Zeller.
In demselben Verlage sind früher erschienen;
A. E. Fröhlich’s
E FATB RE TLEN 5
Durch seine Fabeln begründete dieser grosse Dichter seinen Ruf und enthält
dieser Band mehr als zweihundert noch nie gedruckte Fabeln Ilyrischen, ele-
gischen, didaktischen und satyrischen Inhalts, Fabelbilder von allen Seiten des
Lebens aufgefasst, Bilder des häuslichen und öffentlichen, des politischen, päda-
gogischen und kirchlichen Lebens, Bilder des Marktes und der Einsamkeit. Sie
sind alle Doppelbilder des Mikrokosmos und Makrokosmos, der Gemüthswelt
wie sie sich in der aussermenschlichen Welt spiegelt. Sie flossen aus dem Ver-
ständniss beider, aus der Selbst- und Naturbetrachtung. Unter diesen befindet
sich auch ein Fabel-Epos „Der Dachs und der Fuchs“, eine launige Dar-
stellung von manchen Verkehrtheiten in politischen und pädagogischen Dingen.
Die Fabeln sind neu und originell: es ist auch nicht eine einer ältern oder
neuern, einer äsopischen oder andern nachgebildet.
gebeftet 4 Rthir. — fl. 1. 45 kr. — Fr. 3. 60 Cits,
PRACHTAUSGABE auf ganz feinem Papier gebunden mit Goldschnitt
2 Rthir. — fl. 3. 30 kr. Er. 7. 20 Cts. Er
Druck von E. Kiesling in Zürich.
Ante e n
des
WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS
ZÜRICH.
Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben :
Monatsschrilt |
FERDINAnD Hırzıs, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, Heinrich Frey,
Avour Scnhumivot, Epwarp BoBRIK.
(Hauptred.: Aporr Schmipr.)
BRITBE JAEESGATE
° Drittes Beft.
A EN
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ZÜRICH,
VERLAG von MEYER & ZELLER.
1856.
a I
Preis für den Jahrgang 4 Thlr, = 14 Fr.
Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver-
fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet,
mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender
und anregender Form’ darzulegen und dergestalt, wie’ eine unmittelbare Förde-
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter
sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen’ Platz
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen,
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitgetheilt werden.
Inhalt des borliegenden Beltes ;
Ueber die formelle Gesetzmässigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung
als Kunstsymbol. (Vortrag vor gemischtem Publicum). Von G. Semeer 101
Ueber die Integration zweier simultan bestehenden linearen Differenzial-
gleichungen zwischen n Variabeln. Won Professor Dr. Rasse . . . 130
Ueber die in Island endemische Hydatidan-Krankheit. Von Professor Dr.
LeEsErT A EB NER ORTEN ur 139
Der: Name-Germanens. Non! E. Hirziae. Sn ee
Die drei Geheimnisse des Itufes bei Ignatius. Von G. VoLkmaRr . . . 145
Die deutschen Rechtssprüchwörter. Von E. ÖsEnBRÜGGEN.. . 2 2... 147
Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von Stäperer, Boskık,
SCHMIDT, FRITzscHe, Frey, VıscHer, NÄserı und Anderen.
Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des.
Buchhandels erbeten.
Örgenboärtige Mitglieder des Missenschaftlichen Vereins :
J.J. Horrinser, Präsident. Arzx. Schweizer, Vicepiäsident. DernuRe, Sekretär.
Bosrkık. Crausıus. Escher v. d. Livt#. H. Frey. Frıtzsche. Heer. HiıLdegranD.
Hırzıc. Ferv. Krrrer. Kym. Lesert. MEYER-OcHsner. Motvsson. MÜLLER.
NäÄgELI. ÖseEnBRüsgENn. Raabe. SCHLOTTMANN. Av. Schmivr. H. ScHwEIzER.
G. SEMPER. STÄDELER. F. VıiscHErR. VoLKMAR. G. v. Wiss.
Druck von E. Kiesling in Zürich.
Zu MP Zu u Zn
ur
ÜBER DIE FORMELLE GESETZMÄSSIGKEIT DES SCHMUCKES
UND DESSEN
BEDEUTUNG ALS KUNSTSYMBOL.
Von G. SEMPER.
Die reiche und präcise Sprache der Hellenen hat dasselbe Wort zur
Bezeichnung des Zierrathes, womit wir uns und die Gegenstände
unserer Neigung schmücken, und der höchsten Naturgesetzlichkeit und
Weltordnung.
Dieser tiefe Doppelsinn des Wortes x60040g ist gleichsam der
Schlüssel hellenischer Welt- und Kunstanschauung. Dem Hellenen
war der Schmuck in seiner kosmischen Gesetzlichkeit der Reflex der
allgemeinen Weltordnung, wie sie uns in der Erseheinungswelt den
Sinnen fasslich entgegentritt, er galt ihm als allgemein verständliches,
sich selbst erklärendes Symbol der Naturgesetzlichkeit auch in der
bildenden Kunst, das besonders in der vorzugsweise kosmischen Kunst,
der Architectur, überall als wesentliches Element der formellen Aus-
stattung erscheint. Die Aesthetik der Hellenen, so weit sie das
Gesetzliche des Formell-Schönen betrifft, fusst auf den einfachen Grund-
sätzen, die beim Schmücken des Körpers in ursprünglichster Klarheit
und Fasslichkeit hervortreten.
Indem ich den Schmuck, in dieser kosmischen Bedeutung auf-
gefasst, zum Gegenstande des heutigen Vortrags wähle, glaube ich
vor Allem mich vor dem Anscheine verwahren zu müssen, den hier
versammelten hochgeehrten Damen irgend Winke oder Anweisungen
über eine Kunst geben zu wollen, in der sie durch die Natur von
Kindheit an Meisterinnen sind, da ich vielmehr für mich als Archi-
teeten dasjenige als Norm und Gesetz erkenne, was, nach meiner
Ueberzeugung, vornehmlich durch den zarteren Sinn des schönen
Geschlechts aus dem Chaos dessen, was ein noch roher und über
sein eigenes Streben in Unklarheit begriffener Bildungstrieb erfand ,.
im Laufe der Zeiten zur Kunstform erhoben wurde und sich nach'-
Prinzipien regelte. ‚
Zugleich gebe ich den verehrten Versammelten zu bedenken, dass
ein Künstler zu Ihnen spricht, der in seiner Weise darzustellen
Wissenschaftliche Monatsschrift. 8
—- 12 —
vermag, dem aber die Darstellungskunst durch die Rede nicht eben
geläufig ist.
Wo der Mensch schmückt, hebt er nur mit mehr oder weniger
bewusstem Thun eine Naturgesetzlichkeit an dem Gegenstande, den
er ziert, deutlicher hervor.
Die ersten Versuche freilich, den natürlichen Wuchs des Men-
schen durch künstliche Zuthaten zu bereichern, zielen mehr darauf ab,
zu schrecken als das Wohlgefallen der Erscheinung zu erhöhen, doch
selbst in diesem Verleugnen des Normalen der Erscheinung liegt ein
dunkles Ahnen und Anerkennen seiner Gesetzlichkeit. Dazu mischt
sich frühzeitig eine Tendenzsymbolik, die mit der reinen Kosmetik
dem Prinzipe nach nichts gemein hat; auch gab das Bestreben, he-
roische Abhärtung gegen körperliche Schmerzen zu zeigen, die Ver-
anlassung, den Körper oder Theile des Körpers durch künstliche
Mittel mehr zu entstellen und zu verstümmeln, als zu schmücken.
So verstecken die Indianer der Prairie bei ihren wilden Kriegs-
tänzen ihr Haupt hinter furchterregenden Thiermasken, dem Alligator,
dem Bison, oder dem Bären entnommen. Aehnlichen Maskenschmuck
findet man bei den Wilden der Südseeinseln. Die Botokuden durch-
bohren ihre Unterlippen und stecken grosse hölzerne Knebel, Knochen,
Muscheln oder Aehnliches in den Einschnitt, wodurch die Lippe tief
heruntergezogen und auf schreekbare Weise verlängert wird. Die
Wilden Neuhollands schneiden sich tiefe Einschnitte in die Haut und
bedecken den Körper, die Arme und die Beine ohne Rücksicht auf
Symmetrie und sonstige Regel mit breiten Narben. Das Merkwür-
digste dabei ist, dass sich Manches von diesen ursprünglichsten und
rohesten Manifestationen des Verzierungstriebes bei den eivilisirtesten
Völkern durch alle Jahrhunderte hindurch fortgebildet und wenigstens
in symbolischer Andeutung erhalten hat.
Se treten die abscheulichen Thiermasken der indianischen Krieger
bei den Aegyptern in feinerer Ausbildung als hieratisch - mystischer
Kopfputz des den Gott repräsentirenden Priesters auf. Es wurde die
Maske ein sehr frühes Sinnbild der Verhüllung, des Geheimnissvollen
und zugleich Schreekbaren. Oft bleibt in späterer Kunstform von der
Maske nichts als das Charakteristikum des Thieres übrig; z. B. die
Stierhörner als Schmuck der Mitra der assyrischen Herrscher, die
Widderhörner als Kopfputz der ägyptischen Könige, die auch Alexan-
der, als Sohn des Zeus Ammon, für sich adoptirte. Das furchtbare
Gorgeion, das die Aegis der unnahbaren Pallas Athene schmückt,
ist eine Maske.
— 103 —
Die Gorgonenmaske, als zauberabwehrendes Amulet, erscheint
auf sehr vielen noch erhaltenen Halsketten und sonstigen Schmuck-
sachen der Alten; wobei sie zugleich auf sinnige Weise als Symbol
der Verhüllung angewendet wird, um irgend einen Uebergang, eine
technische Vermittelung,, die sonst auf künstlerisch befriedigende Weise
schwer zu lösen wäre, gleichsam durch das Maskiren des Verbindungs-
punktes zu bewerkstelligen. Die Maske war schon lange in den
bildenden Künsten ein bedeutsames Symbol, bevor die dramatische
Kunst sich desselben bemächtigte.
Noch jetzt schmückt den Hals der schönen Neapolitanerin dieses
oder ein verwandtes ebenfalls verhöhnendes, den bösen Blick ab-
schreckendes Amulet.
Dergleichen Helfer gegen den Zauber wurden auch überall und
zu allen Zeiten an Armbändern und Ringen getragen und das Alter-
thum dieser Sitte macht es zweifelhaft, ob der Schmuck die Gelegen-
heit gab, das schützende Amulet an den Körper zu befestigen, oder
ob umgekehrt die Fassung und Befestigung des Talismans erst auf
den ästhetischen Begriff des Kleinods führte.
Die durcehbohrten Lippen und schweren Knochengehänge der
Botokuden können als die ersten Rudimente jener zierlichen und in
ästhetischer Beziehung so bedeutsamen Ohrgehänge betrachtet werden,
des Lieblingsschmucks des Alterthums, der besonders bei den helle-
nischen Schönen in hohem Ansehn stand, bis auf den heutigen Tag
dieses Ansehn behielt, und nur erst ganz neuerdings wohl mit Unrecht
durch die Mode in Misskredit gerathen ist.
Die Durchbohrung der Lippen ward noch von den eivilisirten
Asteken und Tolteken Mexiko’s und Peru’s zur Zeit der spanischen
Eroberung in wahrscheinlich veredelter Auffassung geübt. Daneben
war die Durchbohrung der Nasenwand und der Ohrläppchen behufs des
Aufhängens von Ringen mit schweren halbmondförmigen Bammeln
von Gold und Silber bei ihnen allgemein.
Auch von den sonst für die edlere Form nicht unempfänglichen
Arabern und Beduinen berichten die Reisenden, dass ihre Schönen
sich mit dergleichen schwebendem Nasenschmucke behängen, sowie
denn auch der Gebrauch von gewichtigen Ohrgehängen bei ihnen all-
gemein ist.
Bei den Assyrern, Medern und Persern trugen auch die Männer
schwere und reich mit Edelsteinen besetzte Ohrringe, die uns in
grosser Mannigfaltigkeit auf den jetzt in London und Paris befindlichen
Relieftafeln von Niniveh entgegentreten.
Ebenso hat die kannibalische Sitte des Bemalens und Tettowirens
— 104 —
des Körpers, deren roheste Anfänge wir in den Hautbemalungen
und Fleischeinkerbungen der Neuholländer erkennen, nach und nach
eine civilisirtere Form angenommen und seine Ausläufer bis in die
neuesten Zeiten und bei den allerkultivirtesten Völkern fortgesetzt.
Noch bei den hocheivilisirten Aegyptern war es nicht bloss Sitte,
sich die Augenbrauen und Wimpern mit Antimonium zu schwärzen
und zu verlängern, die schönen Aegyptierinnen bemalten sich auch,
gleich den jetzigen orientalischen Damen, Handflächen, Nägel und
Fusssohlen mit zierlichen Arabesken.
Die Kelten und Britten, ein keineswegs unkultivirtes Volk, als
die Römer mit ihm in Berührung traten, waren sehr geschickte Haut-
färber. Sie bedienten sich zu ihren Malereien vorzüglich des blau-
färbenden Waids (glastum). Bei gewissen Soireen erschienen die
keltischen Jungfrauen und Frauen, nach Plinius ausdrücklicher Mel-
dung, im Negerkostüm, den ganzen Körper mit Dinte blauschwarz
bemalt. Man will in den berühmten Blaustrümpfen eine letzte Spur
und Veredlung dieser altbrittischen Mode wiedererkennen. Zugleich
waren die Kelten geübte Schönfärber und in Weiterbildung der ur-
sprünglich auf eigener Haut erprobten Kunst im Musterzeichnen, die
Erfinder der gewürfelten buntfarbigen Stoffe, die noch jetzt das schot-
tische Nationalgewebe sind. |
Das Tettowiren mag als ein Fortschritt in dieser Kunstrichtung
gelten, in welcher unter den lebenden Völkern die Neuseeländer und
Südseeinsulaner es am weitesten brachten, die ihren Körper nach Unter-
schied des Standes, des Reichthumes und der persönlichen Auszeich-
nung mit sehr zierlichen Arabesken mehr oder weniger bedecken.
Der Geschmack, den sie bei dieser Hautenkaustik entwickeln, indem
sie die Formen und Richtungen der Muskeln mit Hilfe der Schnörkel
und Ornamente verfolgen und hervorheben, soll bewundernswerth sein,
wobei eine Verwandtschaft dieser ornamentalen Formen mit denen auf
den Geräthen und Monumenten der Assyrer, Aegypter, Hetrusker und
älteren Griechen unverkennbar hervortritt, so dass es nicht zu paradox
wäre, den Ursprung gewisser überlieferter Flächen-Ornamente in der
Tettowirungskunst zu suchen.
Auch den Hellenen und den ihnen kulturverwandten Völkern
war die Sitte des Bemalens der Haut und des Tettowirens nicht ganz
fremd. Nicht zu gedenken jener vom Orient auch über die Griechen
und Römer verbreiteten Sitte, mit wohlriechenden und balsamischen
Essenzen jeden Theil des Körpers einzusalben, noch des Gebrauches
der rothen, weissen und schwarzen Schminke, sowie der Schönheits-
pflästerchen, bei den putzliebenden Griechinnen (über welche desshalb
— 105 —
die witzigsten Schriftsteller jenes Volkes ihren beissenden Spott aus-
gossen), treten Spuren dieser Sitte bei Festweihen und Aufzügen im
Bemalen des Körpers wenigstens als hieratische Ueberlieferung überall
hervor. Der römische Triumphator bestrich sich nach alt hetruskischer
Sitte den ganzen Körper mit Mennig, als Repräsentant des kapito-
linischen Jupiter, dessen thönernes Bild alljährlich auf gleiche Weise
neu bemalt wurde.
* Noch entschiedener blieben die den Hellenen stammverwandten
Thrakierinnen dem alten Herkommen treu. Die Tettowirung war bei
ihnen ein Zeichen des vornehmen Standes. Ihre Männer ritzten
ihnen lange Streifen in die Haut; eine Frau, die nicht dergleichen ein-
gebrannte Streifen tragen durfte, galt für niedrig und unedel.
Sicherlich steht die Sitte des Hautbemalens und Tettowirens mit
dem Prinzip der Polychromie in den Künsten des Alterthums und
überhaupt mit den Anfängen der Kunst im innigsten Zusammen-
hange.
Die Freude am Zierrath giebt sich auch sehr frühe an dem
Schmucke kund, womit der Mensch das Hausthier auszeichnet. Auch
hier mischt sie sich zuerst mit der Tendenzsymbolik und abergläubi-
schen Vorstellungen. Erst später tritt sie rein hervor und findet ihre
gesetzliche Basis. Ich würde diese Hindeutung auf den Thierschmuck
hier. unterlassen, wenn nicht eine gewisse Klasse von Zierrathen, die
ich alsbald näher bezeichnen werde, an dem flüchtigen Rosse und
den übrigen Last- und Zugthieren, wie sie die Hand des Menschen
mit flatterndem Bänder-, Feder- und Troddelwerk ausgestattet, in
ihrer prinzipiellen Eigenthümlichkeit ganz besonders klar hervorträte.
Ich bezweckte durch diese vorausgeschiekten Andeutungen den
Nachweis zu geben, dass das im Schmucke sich bethätigende Kunst-
gefühl zwar frühzeitig rege wird, aber lange Zeit hindurch im Un-
klaren mit sich selbst bleibt, nicht sogleich rein und ohne Nebenzweck
kervortritt, und nur seiner mehr oder weniger unbewusst dem allge-
meinen kosmischen Gesetze gehorcht, welches, wie ich glaube, die
Griechen zuerst und allein in seiner Allgemeinheit deutlich erkannten
und künstlerisch zu verwerthen wussten.
Welches ist nun aber dieses kosmische Gesetz ?
Vielleicht lässt sich demselben dadurch auf die Spur kommen,
dass wir den Schmuck in bestimmte Categorieen theilen, und dabei
die charakteristischen Unterschiede der schmückenden Elemente berück-
sichtigen.
Ihrem allgemeinsten Charakter nach lassen sich nun folgende drei
Klassen von schmückenden Gegenständen unterscheiden :
1) Der Behang.
2) Der Ring.
3) Diejenige Gattung des Schmuckes, für welche ich in Erman-
gelung einer gegebenen und selbstverständlichen Bezeichnung genöthigt
bin, einen besonderen Namen zu erfinden; ich will sie Richtungs-
schmuck nennen, mit dem Vorbehalt einer nähern Erklärung dieses
Ausdrucks.
1) Der Benanc.
Der Behang ist vorzugsweise an diejenige formelle Eigenschaft
der Erscheinung geknüpft, welche wir Symmetrie nennen, und
zugleich selbst symmetrisch; er ziert den Körper, indem er auf dessen
Beziehung zu dem Allgemeinen hinweist, an welches die Einzeln-
Erscheinung gebunden ist, und mit dieser Hinweisung den Eindruck
der ruhigen Haltung, des richtigen Verhaltens der Erscheinung zu
dem Boden worauf sie steht, hervorruft. Wegen dieser Eigenschaft
des Hinweisens auf den Bezug der Einzelnerscheinung zum Allgemeinen
auf dem sie fusst, lässt sich für diese Gattung des Schmuckes auch
der Name makrokosmischer Schmuck rechtfertigen.
Zu dem symmetrischen Schmucke gehören z. B. die Nasen- und
Ohrgehänge, von denen oben die Rede war, die als freischwebende
schwere Körper bei jeder Bewegung durch eine Reihe von Schwin-
gungen hindurch wieder auf den Moment der Ruhe und des Gleich-
gewichtes vorbereiten, welcher der Bewegung folgen wird. Zugleich
bewirkt dieser Schmuck im Augenblicke der Ruhe durch den Contrast
der durch ihn gebildeten Vertikallinie mit den Wellenlinien der orga-
nischen Formen, dass letztere in ihrer lebensvollen Anmuth wirksamer
hervortreten. So hebt das Ohrgehänge, indem es der Schwerkraft
folgend eine Verticallinie versinnlicht, die zarte, vorwärts gebogene,
von der Schwerkraft unabhängige Kurve des Nackens. Das Gleiche
erstrebt der für das Schöne empfängliche Beduine, wenn er den
stolzen Hals seiner Lieblingsstute mit dem herabhängenden Halbmond
schmückt, wenn er an das Sattelzeug freihängendes, mit bunten
Quasten und metallischem Zierrath beschwertes Riemenwerk schnallt.
Der ästhetische Werth des symmetrischen Schmuckes wird durch
die ethische Rückwirkung bedeutend erhöht, welche er auf das mit
ihm gezierte Individuum ausübt, indem er letzteres nöthigt, erstens
seine Haltung im Zustande der Ruhe darnach zu korrigiren, zweitens
in der Bewegung diejenige Mässigung und Würde zu beobachten, die
erforderlich ist, damit der Schmuck keine das feinere Gefühl ver-
letzende, etwa zu rasche oder zu unregelmässige, eckig abgebrochene
Schwingungen annehme.
— 107 —
Diese Wirkung hat der genannte Schmuck selbst auf das edle
Ross, das seinen kräftigen Hals stolzer erhebt, wenn es sein ge-
schmücktes Sattelzeug trägt.
Aus der Art und Eigenthümlichkeit der Bewegungen, die der
Öhrschmuck einer Dame durchschnittlich annimmt, lässt sich mit
einiger Sicherheit auf deren Wesen und Charakter zurückschliessen.
Vielleicht ist der Nasenschmuck gleicher Gattung in dieser Be-
ziehung noch strenger und fesselnder, insofern jede unedle Haltung,
jede zu rasche, unbedachte Bewegung des Kopfes unfehlbar die
lächerlichsten Pendelschwingungen hervorrufen und in Folge dieser
Wirkung inmitten des Gesichts das ästhetische Gefühl auf das Em-
pfindlichste beleidigen muss. Man findet daher diesen Schmuck nur
bei Völkern, welche ihre Weiber in grosser Abhängigkeit und sitt-
licher Gebundenheit erhalten.
Ein überzeugendes Beispiel von der ästhetischen Wirkung des
in Rede stehenden Prinzips ist das künstlerische Wohlgefallen, wel-
ches wohlgestaltete Wasserträgerinnen erwecken. Sie wurden das
Vorbild der architeetonisch bedeutsamen Kanephoren und Karyatiden.
Die Erwähnung dieser symmetrischen Gewandstatuen führt uns zu
dem Faltenwurfe der Gewänder als makrokosmischer Schmuck, dessen
ästhetische Bedeutung von den Alten klar erkannt wurde, sowie sie
denn noch heutiges Tages bei den Morgenländern volle Gültigkeit
behielt. Das äussere Erscheinen, ja selbst das sittliche Wesen vieler
orientalischen Stämme wird durch den makrokosmischen Zwang der
bei ihnen üblichen faltenreichen und langen Gewänder sichtbar
beeinflusst.
Wir Europäer hatten niemals sehr ausgebildetes Gefühl für diese
Art des Schmucks; ich darf nur auf die bauschigen Reifröcke, die
Crinolines und die Falbelkleider hinweisen, die offenbar nicht zum
makrokosmischen, sondern zum Ringschmuck gehören. Wohin aber
soll man unsere Fracks rechnen ? Sind sie Richtungsschmuck, oder
disloeirter Pendelschmuck, oder eine Mischgeburt von beiden ?
Bei den Hellenen und Römern war die Gewandung als makro-
kosmischer Schmuck sowie in anderer Auffassung nach allen Ab-
stufungen auf das Edelste und Feinste künstlerisch durchgebildet und
nüaneirt, von dem faltenreichen Chiton der majestätischen Hera und
dem steifgefältelten Peplos der Pallas Athena, bis zur hochgeschürzten
Artemis Agrotera,
nuda genu nodoque sinus colleeta fluentis.
Mit dem Faltenwurfe und dem übrigen in diese Klasse gehörigen
Schmucke steht der Haarputz und die Anordnung des Bartes in
— 18 —
nächster Beziehung. Das Haupthaar mit dem Bart ist ein natürlicher
Schmuck, der vermöge seiner Gefügigkeit geeignet ist, sich jeder
kosmetischen Absicht zu schmiegen.
Er zeigt sich als makrokosmischer oder symmetrischer Schmuck,
so lange das Charakteristische einer Erscheinung die Ruhe bleibt.
So bezeichnet der in vertikalen symmetrischen Ringellocken her-
abhangende assyrische Haarwuchs und Bart die Gravität des orien-
talischen Herrschers.
Nach der Strenge des ägyptischen Staatsprinzipes erschien das
Haupthaar und der Bart als ein Symbol der Unordnung und Ver-
worrenheit; beides wurde glatt abgeschoren, durch symmetrischen
Kopfaufsatz, oder im Civilstande durch äusserst conventionellen Pe-
rückenbau mit vertiealen Ringellocken ersetzt.
Die Hellenen milderten das assyrische Prinzip und bildeten dar-
raus das ambrosische Haupt des olympischen Zeus. Rhea, die Mutter
des Zeus und der Hera, erscheint aber noch auf archaistischen Reliefs
mit gerade herabhangenden Haartressen und es war hieratisches Gesetz,
das Heräum bei Argos nur mit geflochtenem Haarputz zu betreten.
Auch an- der Demeter und der Athena sind, besonders im älteren
Kunststyle, die herabhangenden Haarzöpfe und der symmetrische
Faltenwurf der Gewänder bezeichnend.
Dagegen treten Apoll und Artemis mit wallendem, vorne im
Knoten zusammengebundenem Haupthaar auf, ganz im Einklange mit
der Tendenz dieser Gottheiten.
Ares, der Kampfbereite, hat kurzgelocktes und gesträubtes Haupt-
haar. Achnlich trägt sich der rüstige Hermes. So vertraut waren die Grie-
chen mit der vielseitigen Bedeutsamkeit des natürlichen Kopfschmuckes.
Die in Rede stehende Gattung des Schmuckes wurde vorhin von
mir als vorzugsweise symmetrisch bezeichnet; dieses ist sie auch in
der That, obschon im Faltenwurfe diese Symmetrie mit fortschreitender
Kunst im freieren Sinne als Massengleichgewicht aufgefasst wird,
welches auch dadurch nothwendig wird, weil die Draperie zugleich
einer andern Kategorie des Schmuckes angehört, von der später die
Rede sein wird, also zwei Eigenschaften in sich vereinigt.
Sonst ist jeder in diese Klasse gehörige Putz streng symmetrisch
zu nehmen. Ein einzelner Ohrring oder Ohrringe von verschiedener
Länge und Schwere würden nicht statthaft sein, wogegen ein einzelnes
Armband oder eine Anhäufung von mehreren Armringen an einer
Seite, während der andere Arm ungeschmückt bleibt, oder eine schräg-
befestigte Kopfzierde, ein schiefgeschürzter Gürtel das Schönheitsgefühl
nicht unbedingt verletzen, wohl auch in Fällen angenehm berühren.
E
— Bu
Noch weniger vermisst man die Symmetrie an dem, was ich, in
Ermangelung eines bessern Ausdrucks dafür, unter Richtungsschmuck
verstehe. e
- 2) Der RıngscHmuck.
Er ist prinzipiell vom vorigen darin unterschieden, dass er in
direeter und ungetheilter Beziehung zu dem Körper oder Körpertheile
steht, den er verziert, und zwar nur, insofern er die Form und die
Farbe desselben hervorhebt oder die Beziehungen betont, in welchen
die einzelnen Theile der Erscheinung zu einander stehen.
Der Ringschmuck ist vorzugsweise proportionalisch; er dient
dazu, das Proportionale des Wuchses hervorzuheben, Mängel desselben
zu verbessern, unter Umständen durch Uebertreibungen, d. h. durch
Versündigungen gegen das Gesetz der reinen Proportionalität gewisse
charakteristische oder zweckeinheitliche Wirkungen der Erscheinung zu
unterstützen.
Es zeigt sich als Charakteristikum dieser Zierden, dass sie durch-
weg entweder peripherische oder peripherisch-radiale Anordnungen um
den geschmückten Gegenstand als Kern und Mittelpunkt der Bezie-
hungen sind.
Vornehmlich ist auch hier das Haupt, als derjenige Theil, welcher
gleichsam den ganzen Menschen sinnbildlich repräsentirt, Gegenstand
dieser Gattung des Zierraths, die ich im Gegensatz zu der früheren,
die ich die makrokosmische nannte und wegen der vorhin angedeu-
teten Eigenschaften, als mikrokosmisch bezeichnen möchte.
Der einfache Blätterkranz zeigt schon das ganze Gesetz dieser
Auschmückungsweise, eine peripherische Umzirkelung des
Hauptes; dabei giebt sich in der Aneinanderreihung der Blätter auf
eine Schnur bereits das radiale Prinzip zu erkennen, welches in natür-
licher und daher allgemein verständlicher Weise auf den Beziehungs-
mittelpunkt hinweist, um welchen es sich ordnet. Damit sich die
Beziehungseinheit klar und verständlich ausspreche, ist eine geregelte
Anordnung der Theile, eine eurhythmische Reihung derselben erfor-
derlich.
Das Gesetz der Eurhythmie tritt demnach sofort als thätiges
Element der mikrokosmischen Ausschmückung hervor.
Diess bestätigt sich in dem Gefallen, welches der einfachste
Naturmensch an dem Perlenzierrathe findet. Die eurhythmische Kranz-
reihung ist ursprünglicher als der rein peripherische Ring, der bereits
als Abstraction, wegen seiner grösseren Einheitlichkeit als goldener
Reifen in der x0gwr7 und dem eylindrischen roAog erst von den
Griechen zum Symbole höchster Gewalt und Majestät erhoben wurde.
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Eine doppelte Bedeutsamkeit erhält der hauptumzirkelnde Kranz,
wenn die Elemente, aus denen er besteht, als aufwärts gerichtet und
aufrecht stehend erscheinen, seien sie nun Baumblätter, oder Vogel-
federn, oder sonstige natürliche oder ihnen nachgebildete Kunstgegen-
stände, die durch ihre aufrechte Stellung zu erkennen geben, dass
sie das Oberste, das Endende der Gestaltung sind, dass der Theil
derselben, dem sie zunächst angehören, das Haupt ist. Dieser Art
‘sind die Federkronen der mexikanischen Kaziken und in der assyri-
schen Tiara blickt die Federkrone, als Kern derselben, über dem
Diadem, welches sie umgibt, noch sichtbar hervor.
Ein barbarischer Ungeschmack gibt sich auf dem ganzen Gebiete
der Völkerkunde in den mannigfachen Bestrebungen kund, die Au-
torität des Hauptes und der Person auf Kosten der Proportionalität
durch Aufsätze und sonstigen schweren Kopfputz zu heben. Nur die
Hellenen und ihnen kulturverwandte Völker hielten sich davon ent-
fernt. Diess allein schon berechtigte sie, sich den Barbaren als
Nichtbarbaren gegenüberzustellen.
Auch wir haben noch immer unsere Grenadiermützen und tubu-
lären Filzhüte, Formen von nie übertroffener Barbarei.
Auch der Halsschmuck (rrevıdesaıe, monile) gestaltet sich in
peripherischer und zugleich radial-eurhythmischer Anordnung. Die
ursprüngliehsten Einheiten sind hier entweder Federn, wie an dem
alt-ägyptischen breiten Halskragen, der das Vorbild der Aegis der
Pallas Athene war, oder häufiger harte, unorganische, regelmässige
Körper, wie Steine, Zähne, Knochen, Perlen und dem künstlich
Nachgebildetes, die ursprünglich einfach durehbohrt und auf Fäden
gereiht, hernach in reichen metallischen Einfassungen in eurhythmischer
Ordnung aneinandergekettet wurden.
Ausser dem auch hier thätigen Prinzipe der Hinweisung auf den
Mittelpunkt der Beziehungen vermittelst radialer Umzirkelung, wirkt
der Contrast der geometrisch regelmässigen Zusammenreihung von
leblosen, zumeist dem Mineralreiche angehörigen Gegenständen zur
Hervorhebung der schwellenden Formen des lebendigen Organismus.
Das Farbenspiel des Schmuckes, «der metallische Glanz, die
Strahlenbrechungen auf den geschliffenen Steinen, ziehen zugleich das
Auge auf den geschmückten Gegenstand. Die Wirkungen des Far-
benspieles endlich lassen sich so berechnen, dass die Vorzüge des
Inkarnates durch Farbenkontrast herausgehoben,, oder dessen Mängel
durch Farbenjuxtaposition und Assimilation korrigirt werden.
Nützliche, diesen und andere wichtige Punkte der Toilettenkunst be-
treffende Winke gibt Chevreuil in seinem Büchlein über Farbenharmonie.
— 11 —
Der den Leib umzirkelnde Gürtel, nach dem Zeugniss der
Genesis der älteste Putz des Menschengeschlechtes, entspricht der
Halszierde, indem diese den Uebergang zwischen Schultern und Haupt,
jener den Ansatz der Beine an den Leib accentuirt und zugleich
vermittelt. Beide zusammen verstärken und betonen gleichsam den
proportionalen Dreiklang der menschlichen Form.
Zugleich ist der Gürtel, mit Rückblick auf dessen dienstthuende
Bestimmung, das Sinnbild rüstiger Kampfbereitschaft und der Macht.
So war die purpurne, tief herabhangende, goldbetroddelte Cawn regoızı
nebst der Mitra das unantastbare Attribut des grossen Königes, womit
sich Alexander, als dessen Besieger und Erbe, in feierlicher Umgür-
tungsceremonie bekleidete.
Aphrodite legt den Gürtel der Chariten an, um den Zauber
ihrer Macht zu sichern. Die hellenischen Schönen erhalten von Dich-
tern durchweg die Bezeichnung der Schöngegürteten; Beweise des
hohen Ansehns, in welchem diese Zierde auch bei den Griechen stand.
Fast gleichen Ansehns genoss der Gürtel in den ritterlichen und
romantischen Zeiten des Mittelalters. Er bildet noch heutiges Tages
den wichtigsten Gegenstand der Toilette bei den Völkern des Ostens.
Es könnte hier noch der Saum des Gewandes genannt werden,
der bei den Hellenen ein wichtiger Gegenstand des Putzes war. In
gewissem Sinne ist auch er ein Ringschmuck, der Abschluss der
Gestalt nach unten, im Gegensatze zu der krönenden Zierde des
Hauptes. Der die Verhältnisse verkürzende und entstellende mehrfache
Falbelbesatz war den Alten unbekannt.
Die nächstwichtigen Ringzierden dienen zur Hervorhebung der
Verhältnisse und des Incarnates der Extremitäten der Gestalt, ein
gleichfalls uralter Zierrath, der sich bei uns nur noch im Bracelet
erhielt, während im Alterthum die noch jetzt im Oriente herrschende
Sitte bestand, ausser dem Handgelenke auch den Oberarm, den flei-
schigen Theil des Unterarms und die Fussgelenke mit Ringen zu
umgeben.
Die in ästhetischer Beziehung bedeutungsloseste, desshalb auch
von den Griechen erst mit überhandnehmender asiatischer Sitte zum
eigentlichen Schmuck erhobene Ringzierde, sind die Fingerringe. Sie
wurden bei Griechen und Römern vorher kaum anders denn in ten-
denzsymbolischem Sinne aufgefasst, als Amuletträger, als Standes-
auszeichnung, als Andenken, als Siegelringe ete.
Bei dem Ringschmucke im Allgemeinen gilt das Prinzip, das-
jenige, was stark, schwellend, umfangreich erscheinen soll, mit engem
Ringwerk zu umschliessen, damit der Zwang, den die goldene Fessel
— 112 —
auf den geschmückten Theil auszuüben scheint, zur Verstärkung dieser
Eigenschaften diene. In seiner gröbsten Auffassung tritt dieses Gesetz
in den knöchernen Armringen der Kaffern hervor, die in der Jugend
an den Oberarm gelegt werden und mit der Entwicklung der Muskeln
tief in letztere einschneiden.
Die ästhetisch gebildeten Völker des Alterthums liebten es, in
edlerer Auffassung desselben Gesetzes, den Oberarm und den fleischi-
gen Theil des Unterarms mit schlangenförmigen Spiralen zu umgeben,
ein Sinnbild, welches ohne physischen Zwang den beabsichtigten Zweck
erfüllt und zwar in gesteigerter Wirkung.
Umgekehrt verhält es sich mit dem Schmucke derjenigen Theile,
die zart, von geringem Umfang, nicht fleischig, sondern elastisch fest
erscheinen solen. An ihnen müssen die Fesseln locker, gegliedert
sein, und ein freies Spiel gewähren.
Dies Gesetz sehen wir in der That ebenfalls von den hellenischen
Schönen, sowie noch jetzt von den Hindu-Damen befolgt, die es vor-
züglich lieben, das Fesselgelenk der Füsse mit lockerem Ringwerk zu
umzirkeln.
Das genannte Prinzip hat auch für den Halsschmuck und den
Gürtel seine volle Gültigkeit.
Die Formen des Halses und der Schultern sind ihrem Ausdrucke
und Charakter nach sehr verschieden, und jedem Nacken steht ein
besonderer Styl der Halsverzierung in Form, Farbenzusammenstellung
und besonders in Rücksicht auf Weite und Befestigungsweise besser als
andere. Ein englischer schlanker Schwanenhals z. B. wird dadurch geho-
ben, wenn ihn ein enger Ring nach der Mitte seiner Länge umschliesst.
Denselben Schmuck wird eine Dame von mehr römischer Schönheit für
sich nicht wählen, wenn nicht die allmächtige Mode dazwischen tritt.
Der Gürtel muss nach diesem Gesetze stets so geordnet werden,
dass er gleichsam heruntersinkend, auf den Hüften aufstauchend und
weit erscheine. Denn so wird die Schlankheit des Wuchses am meisten
gehoben. Eine Regel, wogegen die Moden unseres Jahrhunderts fort-
während sündigten, wenn überhaupt von dieser Zierde bei uns noch
die Rede sein kann. Im Orient hat sich nach alter Tradition das
bessere Prinzip der Bekleidung auch hierin erhalten. e
Auch auf die Umzirkelung des Hauptes lässt sich dieses Gesetz
anwenden. Nicht jeder Kranz steht jeder Schönen. Vorzüglich gilt
es von dem schmiegsamen Haupthaar, das sich auch in peripherischer
Anordnung auf das manchfachste als schönster Schmuck des Hauptes
gestalten lässt, und als solcher der rein formellen Schöne, z. B. der
Aphrodite von den hellenischen Künstlern attribuirt wurde.
— 13 —
3) Der RıcHTungsschMUck.
Es bleibt noch übrig, die Gattung des Schmuckes zu besprechen,
welche die Richtung und Bewegung des Leibes hervorzuheben be-
stimmt ist; ohne Zweifel die geistigere, insofern sie die Anmuth in
der Bewegung, den Charakter und den Ausdruck der Erscheinung
näher als die vorherbesprochenen berührt.
Sie unterscheidet sich wesentlich dadurch von den früher ge-
nannten, dass sie weder nothwendig symmetrisch ist, noch in eurhyth-
mischer Anordnung einen Theil ringförmig umfasst, sondern sich durch-
weg nur auf den Gegensatz des Vorne und Hinten einer Erscheinung
bezieht, und vorzugsweise für die Profilansicht berechnet ist. Dies ist
das allgemeine Charakteristikum dieser Gattung, welche sich aber in
zwei verschiedene Unterarten theilt: nämlich die feste, unbewegliche,
und die flatternde.
Die letztere bezeichnet nicht bloss die Richtung, sie hat zugleich
die Bestimmung, die Bewegung, den Grad der Geschwindigkeit, mit
der die Erscheinung ihre Richtung verfolgt, zu accentuiren.
Zur ersten Gattung gehört z. B. jene mit Edelsteinen reich be-
setzte Zierde vorne an der Mitra, das puAagov tıcges, des persischen
Herrschers. Desgleichen die Ursusschlange über der Stirne der ägypti-
schen Gottheit. Aehnlicher Schmuck kam im 15. und 16. Jahrhundert
wieder in Aufnahme und wurde das Lieblingsobjekt der damaligen
Meister in der Goldschmiedskunst: Caradosso, Benvenuto Cellini und
anderer.
Hiezu ist auch die Agraffe, das Heftel, zu rechnen, das die
Zipfel des Gewandes vor der Brust oder auf der Schulter zusammenhält,
ein Symbol hohenpriesterlicher Würde bei den Asteken und Juden. Die
Päbste adoptirten es gleichfalls und bestimmten zur Zierde des Knopfes,
der das Scapulier zusammenfasst, die grössten und schönsten Juvelen des
vatikanischen Schatzes, mit deren Fassung sie die ersten Künstler be-
trauten. Die sogenannten Faveurs der Damen des 16. und 17. Jahrhun-
derts waren ein vorzüglich reich ausgestatteter Schmuck der genannten
Gattung. Verkümmerungen beider Zierden haben sich bei uns in den
Nationalkokarden und den Vorsteckenadeln (Brochen) erhalten.
Vor allem wirksam tritt die Richtung in den kriegerischen Kopf-
bedeckungen hervor, und zwar scheint ein natürliches Gefühl alle
Völker hierin auf die nämlichen Formen hingeführt zu haben. Der
Helmschmuck des Neuseeländers ist mit dem althellenischen fast iden-
tisch. Der Kamm des Hahnes und sonstiger kampflustiger Vögel gab
dabei das Vorbild.
Bei den Assyriern und Aegyptern war der Helmschmuck (p@40g)
— 114 —
unbeweglich starr, sowie auch der Kopfschmuck ihrer Rosse, die
phaler@; doch pflegten die Aegypter schon sich und ihre Pferde mit
einzelnen, einseitig über dem rechten Ohr befestigten Federn zu
schmücken. Der starre Helmschmuck war auch für den schwer be-
waffneten römischen Legionssoldaten bezeichnend.
Die Hellenen und Hetrusker dagegen hatten lang flatternde,
nach hinten herabwallende Helmzierden von Rossmähnen. Der flat-
ternde Helmschmuck ward bekanntlich auch im Mittelalter vornehm-
liche Zierde des Kriegers; sie hat sich bis zu uns erhalten, aber die
flatternden Helmbüsche sind zu wackelnden kurzgeschorenen Haarwür-
sten verkümmert; es fehlt durchweg jener Charakter des Vorwärts-
stürmens, der rüstigen Eile, der sich in den Helmzierden des Alter-
thums ausspricht.
Noch weniger Richtung haben unsere modernen Civilhüte, an
denen man beliebig das Ilintere für das Vordere nehmen kann.
So wie das Gewand in der Ruhe nicht mit Unrecht vorhin eine
makrokosmische Zierde genannt wurde, ebenso muss es in der Be-
wegung,, wenn in den Lüften flatternd, offenbar als Richtungszierde
gelten. Ein unerschöpfliches Mittel, die Richtung und die Bewegung
einer Gestalt anmuthig zu aceentuiren, bieten die flatternden Bänder,
Schnüre, Troddeln u. dgl. Es gilt auch von ihnen, dass sich zwei Prin-
zipe des Schmückens in ihnen bewähren, nur dass hier das bewegliche
Element das andere, das tellurische, überwiegt, und dass, wegen der
Leichtigkeit der dafür gewählten Stoffe, ihre Bewegung von der des
Individuum mehr oder weniger unabhängig ist, durch sie nicht jede
kurze zufällige Wendung, sondern nur die Körperbewegung in ihrer
allgemeinen Richtung und Gesetzlichkeit reflektirt wird.
Diese doppelte Eigenschaft ist maassgebend für die Anwendung
des genannten Schmuckes. Gar leichtes flatterndes Bänder- und Schleifen-
werk ziemt sich für jugendliche und weibliche Formen, wogegen dieser
Schmuck, wenn er die passende Stimmung erhält, den ernsten Pathos,
das Gravitätische der Gestalt hervorhebt. Diese Stimmung erreicht
man durch breites, schweres, betroddeltes Bandwerk und dem Aehnliches.
So sind die über den Schultern rückwärts herabwallenden Endungen
des Diadema (die nragayvagıdsg), die den Weihekranz zusammenhalten-
den tenie, Symbole des Herrscherthums und priesterlicher Weihe.
Die Verzierungen und Stiekereien des Bandschmuckes sind dessen
beweglichem Charakter entsprechend zu wählen, also der Bewegung
folgend, sich abrollend. Auch hierin waren die Völker des Alterthums
und sind die halbbarbarischen Hindu und sonstigen Morgenländer takt-
voller als wir.
— 115 —
Auch in diese Klasse des Schmucks gehört das allgefügige Haupt-
haar; freiflatternd oder vorne in Knoten geschürzt (das Attribut des
Appollon, der Artemis, des Eros), oder hinten genestelt, ein anmuthi-
ger Richtungsschmuck der hellenischen, hitrurischen und römischen
Damen.
Der Zopf der Chinesen und unserer Vorfahren, sammt dem Haar-
beutel, sind Carrikaturen des Richtungsschmuckes.
Die drei bezeichneten Prinzipe des Schmückens müssen nun zweck-
einheitlich an der geschmückten Erscheinung zusammenwirken, d. h. sie
müssen in ihrem Gesammteindrucke das Wesen und den Charakter
derselben vortheilhaft hervorheben und wiederspiegeln; wobei die erste
Regel ist, dass der Schmuck nicht durch Ueberladung die Aufmerk-
samkeit zerstreue und von dem geschmückten Gegenstand abziehe, oder
schlecht gewählt und geordnet, die Harmonie der Erscheinung störe.
Ein leichtes Mittel, das zweckeinheitliche Zusammengreifen des
Schmuckes zu befördern, besteht darin, dass eines von den drei Prin-
zipien die beiden anderen beherrsche.
Interessant ist die Beobachtung, wie die Charakterverschiedenheiten
der Völker sich in dem Vorherrschen des einen oder anderen Sehmuck-
prinzipes bei ihnen abspiegeln.
Das tellurisch gesetzliche Element der ägyptischen Culturform
spiegelt sich in dem Vorherrschen des symmetrischen Schmuckes; wir
erkennen analoge Tendenz in dem ägyptischen Baustyle; der Assyrier
liebte vornehmlich die Umgürtung und den Ringschmuck ; wir erkennen
darin das feudalistisch dynastische und doch centralisirende Cultur-
prinzip dieses Volkes wieder, das auch in dem Baustyl der Assyrier,
Caldäer und Perser seinen analogen. Ausdruck fand.
Der mit den Flugfedern des Streitadlers befittigte Waldindianer
Nordamerika’s hat besonderen Sinn für das unsymmetrische Prinzip des
Schmückens, welches Bewegung und Richtung hervorzuheben sich eignet,
ganz bezeichnend für das unstete Jägerleben, welches er führt.
So auch liebt das Volk der Franzosen vor allen den Feder- und
Bänderschmuck.
Bei den für das Schöne allseitig empfänglichen Hellenen finden
wir ein freiestes Zusammengreifen der drei Prinzipe, jedes in seiner
ihm angemessenen Wirkungssphäre. Nur ihnen gelang die glorreiche
Vereinigung des Gleichberechtigten in der Zusammenfassung zweck-
einheitlicher Harmonie. Das Gleiche erreichte die gesammte hellenische
Tektonik, deren Prinzip ganz identisch mit dem Prinzip der schaffen-
den Natur ist, nämlich den Begriff jedes Gebildes in seiner Form
auszusprechen. Sie lässt den leblosen Stof zu einem kunstvoll
Beat. 2, WR
gegliederten idealen Organismus zusammentreten, verleiht jedem Gliede
ein ideales Sein für sich, und lässt es zugleich sich als Organ des
Ganzen, als fungirend aussprechen. Sie umkleidet die nackte Form
mit einer erklärenden Symbolik, die eben dahin geht, wonach beim
Schmücken des Körpers gezielt wird, nämlich das gesetzliche Eben-
mass und den Character der Form nach allen Seiten zu betonen,
dessen Glieder in ihrer Individualität und in ihrer funetionellen Be-
ziehung scharf zu bezeichnen.
Das griechische Wort für Bauen bedeutet daher auch Schmücken,
in ganz ähnlichem Doppelsinne, wie der früher hervorgehobene des
Wortes »00u09. Das Gehänge, der Kranz, und jener namenlose
Schmuck, der die Richtung markirt, sind die wichtigsten der Symbole,
deren sich die hellenische Baukunst bedient, um das Angedeutete zu
erreichen. Sie haben ihre Analogieen nicht unmittelbar in der Natur,
sondern fast ausschliesslich im Schmucke , der den menschlichen Kör-
per ziert. Bei den meisten deutet schon die technische Benennung,
die man ihnen gab, darauf hin.
So sind z. B. die Tropfen am dorischen Gebälke ein Behang,
der im Contraste zu der schrägen Unterfläche der Gesimmsplatte steht,
an dem man in veredelter hellenischer Durchbildung dasselbe Prinzip
erkennen muss, welchem gemäss der grobrealistische Chinese sein
Pagodendach mit schwebenden Berlocks und Glocken behängt.
Die Korona oder Sima des Giebeldaches hat den Namen, die
Bestimmung und selbst die Ornamentation eines Kranzes oder Diadems
als Oberstes und Krönendes. Dasselbe Symbol beschliesst auch die
Einzelnglieder des Baues und erscheint, wenn belastet und gleichsam
dem Drucke elastisch widerstrebend, als Conflietsymbol (Kyma).
Die bindenden Symbole, die Spiren, Toren, Tänien, Astragalen,
sind sämmtlich Ringzierden und als solche im ÖOrnament deutlich
bezeichnet, nämlich als glatter Ring, Riemengeflecht, Blattgewinde,
Perlenschnur, oder als mit Mäander, Labyrinth, oder sonstigem dem
Webstuhl geläufigen Muster geschmücktes Bandwerk.
Wie der krönende Kranz das Haupt des Tempels schmückt, so
umgibt der gegliederte Metopenfries ihn an der Stelle, wo die Domi-
nante der Proportion abschliesst und mit dem stützenden Säulenbau
in Verbindung tritt, gleichsam das aus Gemmen eurhythmisch zusam-
mengesetzte breite Monile, die Halszierde des baulichen Organismus.
Ihm entsprechend trennt ein breites Diazoma den Unterbau vom
Mittelbau, vermittelt den Uebergang des Stützenden zur tragenden
Basis, dem Gürtel des Menschen vergleichbar und mit gürtelähnlicher
ornamentaler Charakteristik.
1)
Wer endlich verkennt in den Palmetten der Akroterien, die den
Giebel schmücken, so wie in den kammartig verzierten Firstziegeln ,
die Analogie mit der die Richtung bezeichnenden Helmzierde!
Es liesse sich auf das Vorausgeschickte eine eigene Schönheits-
theorie begründen, deren kurze und besonders deren kurzweilige
Entwicklung aber grosse Schwierigkeiten bietet. Jedoch mögen die
hochverehrten Versammelten mir gestatten, diesen Vortrag mit einigen
hierauf bezüglichen Andeutungen zu schliessen.
Wie der kosmische Trieb des Menschen sich zuerst im Schreck-
baren äussert, ebenso gefiel sich die Natur in ihren frühen Schöpfungen
in dem Erzeugen des Formlosen, des Ungegliederten, des Gewaltigen.
Erst in ihrer jüngsten Schöpfung, im Menschen, treten uns die Ei-
genschaften der formellen Schöne bei reichester Gliederung in voller
Geschiedenheit durchaus klar und verständlich entgegen. Die Gestalt
des wohlgebildeten Menschen erfüllt in hohem Grade die Grundbe-
dingung des Formell-Schönen, nämlich sich als Einheit in der Man-
nigfaltigkeit darzustellen. Sie ist zugleich diejenige, in welcher die
beiden Elemente Einheit und Mamigfaltigkeit in ihren Momenten und
gegenseitigen Beziehungen am fasslichsten hervortreten, wesshalb ich
bei dem zunächst folgenden die Menschengestalt als nächstes Object
stets im Sinne behalten werde.
Die Aesthetik des Rein-Schönen hat ihre materielle. Grundlage
in der Dynamik und Statik.
Jede in sich abgeschlossene Form haftet so zu sagen an einem
_ Körperlichen, bei dessen Gestaltung und Erhaltung Kräfte thätig sind.
Nun hat es zwar die Aesthetik nur mit der Form als solcher zu thun,
mit dem Stücke Raum, was sich zu einer Form abschliesst, und
keineswegs mit dem Körperlichen und dem Wesen der Dinge; aber
in dieser Form soll sich das Wesen desjenigen, dem die Form an-
haftet, abspiegeln, also zunächst auch dasjenige dynamische Gesetz,
was dem Wesen Existenzfähigkeit verleiht.
Daher ist der Eindruck, den die Form auf unserm Schönheits-
sinn macht, zunächst begründet auf ein unbewusstes Messen, Abwägen
und Integriren von Funktionen, die unserer Wissenschaft zu eomplieirt
sind, und deren Lösung ihm allein gelingt. Diess stimmt mit einer
bekannten Aeusserung Leibnitzens über die Musik überein. Da das
Wohlgefallen an einer Form zum Theil und zunächst auf dem Con-
fliete und dem Gleichgewichte von Kräften beruht, welche sich in
Wissenschaftliche Monatsschrift. 9
— 18 —
ihr ausdrücken, so kommt die Wirksamkeit und gegenseitige Richtung
dieser Kräfte in der Aesthetik zunächst in Betracht,
Die am allgemeinsten thätige unter diesen Kräften ist die An-
ziehungskraft der Massen, für unseren Fall, den Menschen, die Schwer-
kraft. Ihr normal entgegen wirkt eine andere Kraft, die Lebenskraft,
nämlich diejenige, die unabhängig vom Willen, das organische Wachs-
thum der Gestaltung von unten nach oben vertikal aufwärts hervor-
bringt. Beide Kräfte treten mit einander in Conflict, woraus eine
Modification in der Form hervorgehen muss, nach welcher das Be-
stehen derselben möglich wird.
Eine dritte die Bildung des Menschen bedingende Kraft geht von
dem Punkte aus, welcher der Gegenstand seiner Affeete ist, und auf
welchen er, als willenbegabtes Wesen, seine Absichten und freien
Bewegungen richtet. Dieser Punkt kann zwar in jedem Momente
seine Lage ändern, aber immer wird der wachende und fungirende
Mensch auf irgend einen Punkt hin gerichtet sein.
Dieser freilich mehr ideellen Willenskraft wirkt eine vierte Kraft
normal entgegen, so dass ein Confliet eintritt ganz ähnlich demjenigen
zwischen Schwerkraft und Wachsthumskraft.
Dieselben Massen und Theile der Gestalt nämlich, die sich als
schwer bethätigen, indem sie von der Erde angezogen werden, und
desshalb mit der Wachsthumskraft in Confliet gerathen, wirken nach
dem Gesetze der Trägheit der Willensrichtung entgegen, sei es nun,
dass diese eine Bewegung des Systemes zu beginnen oder aufzuhalten
beabsichtige. Als Beispiele von Symmetrie, als abhängig vom Träg-
heitsmomente der Massen und von der Bewegung, dienen die schönen,
von symmetrischen Gewändern umflatterten, Vietorien der alten Kunst.
Diese vier Kräfte kann ich mir als von vier Kraftcentren aus-
gehend denken, die zwei Paare bilden. Vereinige ich je zwei unter
ihnen, nämlich diejenigen, die einander normal entgegenwirken, durch
gerade Linien, so bilden diese beiden Linien zwei Gestaltungsaxen
der Erscheinung, die, beim Menschen, einander rechtwinklicht durch-
schneiden.
Die erste "Bedingung einer existenzfähigen und functionsfähigen
Gestaltung ist nun, dass in Beziehung auf diese beiden Cardinalaxen
die Massen, aus denen das System besteht, sich einander das Gleich-
gewicht halten. Wäre der Mensch, wie der Baum, ohne “Richtung,
und entwickelte er sich nur vertical aufwärts, so würde die Massen-
vertheilung sich rings um den Stamm so ordnen, dass dem Gleich-
gewichte genügt sei; die Ordnung der Glieder der Gestaltung nach
verticaler Richtung (bei dem Baume die Ansätze der Verzweigungen),
— 119 —
- würde dabei von dem Gesetze des Gleichgewichtes in so fern unab-
hängig bleiben, als es für letzteres ganz ohne Einffuss wäre, ob ein
bestimmter Ring von sich, in Bezug auf den verticalen Stamm, ein-
ander das Gleichgewicht haltenden Aesten oben oder unten am Stamme,
über oder unter anderen, gleichfalls einander die Waage haltenden
Systemen der Verzweigung hervorwüchsen.
Fiele ferner beim Menschen die Gestaltungsaxe mit der horizon-
talen Richtungsaxe zusammen, wie z. B. bei der Wasserschlange, so
müssten um diese Linie herum die Momente der Trägheit und des
Wasserwiderstandes einander so balaneiren, dass keine unfreiwillige
Abweichung von der Richtungsuniformität in Folge ungleichmässiger
Massenvertheilung in Bezug auf die Horizontalaxe eintrete ; dieses
Gesetz würde aber wieder die Ordnung der Theile nach dem Sinne
der Bewegung selbst durchaus nicht berühren, und zwar aus dem-
selben Grunde, der bereits hervorgehoben wurde.
Nun aber partieipirt der Mensch von beidem; er entwickelt sich
vertical aufwärts und ist horizontal gerichtet, also ist er in der Glie-
derung seiner Theile in dem Sinne von Oben nach Unten, so wie in
dem Sinne von Vorne nach Hinten, von dem Gesetze des strengen
Gleichgewichtes unabhängig; nur in dem Sinne von Rechts nach Links,
oder umgekehrt, zeigt sich die Symmetrie als die nach den
Gesetzen des Gleichgewichtes geordnete Gleichvertheilung der Viel-
heiten. Beim Krystallpolyeder ist die Symmetrie stereometrisch, beim
Baume ist sie planimetrisch horizontal, beim Menschen und allem ihm
hierin nachgebildeten ist sie linearisch horizontal. Die horizontale
symmetrische Axe durchschneidet die gleichfalls horizontale Richtungs-
axe, so wie die verticale Lebensaxe rechtwinklicht. Sie ist gleichsam
die unsichtbare Balaneirstange, die der Gestalt statischen Halt gibt.
So ergeben sich für den Menschen und für Gebilde der Kunst,
die hierin nach seinem Vorbilde entstanden sind, z. B. für die meisten
Monumente der Baukunst, drei Axen der Gestaltung, welche den drei
Ausdehnungen des Raumes entsprechen. Insofern sich nun, in Be-
ziehung auf diese drei Schönheitsaxen, die $Vielheit der Form ein-
heitlich zu ordnen hat, treten folgende drei räumliche Eigenschaften des
Schönen hervor:
1) Symmetrie (makrokosmische Einheit).
2) Proportionalität (mikrokosmische Einheit).
3) Richtung (Bewegungseinheit).
So wenig wie es möglich ist, sich noch eine vierte räumliche Ausdeh-
nung zu denken, eben so wenig kann man den genannten drei Eigen-
schaften der formellen Schöne noch eine homogene vierte hinzufügen.
..
— 220 —
Nichts desto weniger gibt es noch einen vierten Mittelpunkt der
Beziehungen, der aber nicht mit den früher genannten homogen ist..
Dieses einheitliche Element höherer Ordnung ist der Cardinal-
punkt der Erscheinung, er liegt in ihr selbst, er ist die Idee, der
Inbegriff derselben.
Diejenige Eigenschaft des Schönen, die aus dem sich Ordnen
aller Theile um diesen idealen Mittelpunkt der Beziehungen herum
zu einer Einheit höheren Grades hervorgeht, ist die Inhaltsangemes-
senheit, welche sich bis zum Charakter und zum Ausdrucke
steigern kann, sie lässt das Formell-Schöne zugleich als gut und
zweckentsprechend erscheinen.
Damit sich die Vielheit zu einer Einheit höherer Ordnung ver-
binde, müssen die verschiedenen Krafteentren, von denen vorhin die
Rede war, sich in der Erscheinung selbst vorher reflectiren, ihre dem
Auge wahrnehmbaren Repräsentanten innerhalb letzterer erhalten. Diese
werden gleichsam die Chorführer unter den vielheitlichen Elementen
der Gestalt, deren übrige Glieder nur mitklingen. So wird in Bezug
auf Symmetrie die Repräsentation des Gravitationsmittelpunktes durch
das Hervorheben eines bestimmten, die Gestaltungsaxe zunächst um-
gebenden Complexes von Theilen erreicht, indem sie durch Massen-
haftigkeit, Relief, Ueberhöhung, giebelförmigen Anlauf nach der Ver-
ticalaxe zu, vollere Ausstattung, oder durch das Zusammenwirken
mehrerer von diesen Mitteln so vor dem Uebrigen ausgezeichnet
werden, dass sie das Auge anziehen und einen mit einem Blicke
übersehbaren Inbegriff der symmetrischen Reihung der Theile gewähren.
Oft gelingt es in der Baukunst, durch eine geschickte Wahl
einer solchen symmetrischen Autorität, sich der strengen Symmetrie
aller Theile überheben zu dürfen. :
Bei der Proportionalität kommt es darauf an, ob sie, wie beim
Menschen, vertikal, oder, wie bei den niederen Thieren, horizontal ist.
Ist sie vertikal, so müssen sich innerhalb der Gestalt zwei
Punkte reflektiren : Das Gravitationscentrum und das ihm entgegen-
gesetzte Centrum der individuellen Entwicklung. Der Reflex des
ersteren ist die Basis, das tragende Glied, der Reflex des zweiten
ist die Dominante, das getragene Glied; beide sind verbunden durch
ein stützendes Glied, von den Eigenschaften beider partieipirend und
die Gegensätze in sich vermittelnd.
Die Basis entspricht ihrer Bedeutung durch ruhige Massen, einfache
Gliederung, dunkle Farbe, oder auch durch Multiplieität von säulenarti-
gen Stützen, durch formelle Evidenz von Tragfestigkeit und Federkraft.
Die Dominante entspricht der ihrigen durch Reichthum der Glie-
ni Sal
1 PT
— 1211 —
derung, Schmuck, glänzende und helle Färbung. Sie ist der Masse
nach das Kleinere, der Bedeutung nach das Haupt.
f Das Mittelglied zeigt in Haltung und Färbung ein mittleres
Verhältniss zwischen beiden.
Ganz andere verwickeltere Umstände treten ein, wo die pro:
portionale Axe horizontal ist, wie bei den schwimmenden, fliegenden
und horizontal auf der Erde sich fortbewegenden Thieren. Das wi-
derstehende Mittel, in welchem sie sich ‘bewegen, tritt dabei in
Wirksamkeit. Das Richtungscentrum ist mit dem Entwicklungscentrum
eins und refleetirt sich im Kopfe; das tellurische Widerstandscentrum
aber reflectirt sich in der grössten verticalen Durchschnittsebene des
Leibes, innerhalb welcher der Schwerpunkt des ganzen Systemes liegt.
“" - Wie der Fischkopf das Zusammenfallen der beiden Hauptaxen,
der Lebensaxe und Riehtungsaxe, klar und deutlich wiederspiegelt,
eben so verständlich spricht sich in dem Menschenkopfe die normale
Lage jener beiden Hauptaxen zu einander aus,
Diese verschiedenen Momente nun treten als Vielheiten höherer
Ordnung in der Zweckeinheit zusammen, die auf verschiedene Weise
durch sie refleetirt wird. Sie sind dem höheren und letzten einheit-
lichen Elemente gegenüber das höhere differirende Element.
Die einfachste Combination entsteht, wenn die Centren der Be-
ziehungen, die beim Menschen alle geschieden sind, sämmtlich in einen
Punkt zusammenfallen, wie bei denjenigen Gestaltungen, die aus der
ungestörten Molekularattraktion der Atome hervorgehen. Für sie ist Sym-
metrie, Proportion und Richtung gleichbedeutend. Ihre Richtung ist all-
seitig radial, daher sind sie richtungslos. Ihr Charakter ist vollkom-
mene Regelmässigkeit. Alle Krystallbildungen gehören hierher; bei der
Kugel wird die Regelmässigkeit zur vollkommensten Gleichförmigkeit.
Die Pflanzenwelt und die animalische Welt treten in ihren ersten
Keimen gleichfalls in Formen auf, welche der Kugel sich annähern,
nämlich als Pflanzenzelle und als Ei, somit bezeichnend, dass in
ihnen das individuelle Leben noch indifferent ist, noch in keiner
Beziehung zum Makrokosmus steht.
Aus dem indifferenten Kerne entwickelt sich die Pflanze, bei
deren Gestaltung schon ein grosser Reichthum von Beziehungen her-
vortritt, obschon ihr die Spontaneitätsaxe fehlt. Der Stamm bildet,
indem er eine Menge von Aesten aus sich heraustreibt, für letztere
ein nächstes Glied der makrokosmischen Beziehungen; dasselbe gilt
von den Aesten in Beziehung auf die Zweige, von diesen in Bezie-
hung auf die Blätter. Dabei stehen alle diese Theile in direeter
Beziehung zu dem Mittelpunkte der Erde.
— 12 —
Das Streben nach Massengleichgewicht und Symmetrie unter so
komplieirten Wechseleinflüssen treibt die formenreiche Natur zu dem
unendlichen Wechsel von Erscheinungen, welchen die Pflanzenwelt
darbietet, in welcher sich das symmetrische Gesetz im Durcheinander-
wirken mit der Proportionalität, durch welche es sich gleichsam spi-
ralisch hindurchwindet, mehr ahnen als erkennen lässt, und wodurch
ein Theil des romantischen Zaubers bedungen ist, den die vegetabi-
lischen Formen auf das Kunstgefühl üben.
Von den thierischen Formen wurde schon vorhin das Nöthigste
erwähnt; sie sind wesentlich dadurch charakterisirt, dass bei ihnen
die»Spontaneitätsaxe mit der Lebensaxe zusammenfällt. In diesem
Zusammenfallen symbolisirt sich deutlich die auf die Erhaltung der
Existenz alleinig gerichtete Willenskraft der Thiere niederer Ordnung;
Thiere höherer Organisation bilden ein sehr verwickeltes Mittelglied
zwischen diesem Schema und dem Menschen.
Unter allen Naturformen ist, wie schon bemerkt wurde, die
menschliche die einzige, an welcher alle drei Beziehungsaxen prinzi-
piell getrennt hervortreten. Es darf nicht erst hervorgehoben werden,
wie sich die vollständige Unabhängigkeit der Willenskraft von dem
Tellurischen und dem Erhaltungstriebe beim Menschen in der nor-
malen Richtung dieser drei Axen auf einander symbolisch ausspricht.
Die Baukunst weist eine ähnliche Mannigfaltigkeit von Combi-
nationen auf.
So bildet an gewissen Bauwerken das makrokosmische Moment
den Reflector der Zwecklichkeit. Beispiele: die Tumuli, die Pyrami-
den, das Grabmal Napoleons im Dome der Invaliden; sie sind all-
seitig entwickelt, ohne proportionale Gliederung und gerade dadurch
als Mäler weltbeherrschender allberühmter Heroen sehr ausdrucksvoll.
Beiandern Bauwerken ist das mikrokosmische Moment vorherrschend.
Dahin gehören die hohen quadratischen Kuppeltempel und noch
entschiedener die Thürme, bei denen Symmetrie und Richtung von
der Proportionalität gleichsam iübertönt werden. Sie sind daher als
Symbole himmelstrebender, das Irdische verachtender, religiöser Ten-
denz, die doch selbst im Himmel ihre Individualität und ihr eigenes
Ich beibehalten möchte, bedeutsam.
Gleicherweise zeigt sich an vielen Werken der technischen Künste
und der Architektur das Richtungsmoment als das überwiegende. Beispiele:
das schnellsegelnde Schiff, der befiederte Streitwagen, die Propaganda
erstrebende Römisch-Katholische Wallfahrtskirche, als Ecelesia militans.
Aber in dem griechischen Tempel tritt die Zweckeinheit analog
wie bei dem Menschen zur Erscheinung. Das krönende Giebelfeld ist
— 123 —
zugleich die Dominante der Proportionalität, der Inbegriff der Symme-
trie und der Reflector des ihm opfernd nahenden Festzuges.
Ich fürchte sehr, dass diese architektonische Theorie des Formell-
Schönen, die hier nnr in wenigen allgemeinen Zügen angedeutet wer-
den konnte, der modernen Aesthetik als Irrlehre erscheinen wird.
Letztere sucht alle Eigenschaften oder Bedingungen des Rein -Schönen
in der Form aus letzterer heraus, als nur für sich bestehend und sich
selbst erklärend, zu entwickeln, sie betrachtet die Form als ein in
sich völlig abgeschlossenes Stück Raum, und es ist ihr bei dieser
Abstraction nicht einmal gelungen, den Beweis zu führen, dass eine
völlig entwickelte Form nicht von oben nach unten, noch von vorn
nach hinten, sondern nur von rechts nach links symmetrisch sein könne.*)
Auch über das Gesetz der proportionalen Gliederung lehrt die
neueste Aesthetik Anderes als was dem Architekten daräber vorschwebt.
In der Zweitheilung, wonach ein Theil sich zum anderen verhalten
solle, wie dieser zum Ganzen, in dem sogenannten goldnen Sehnitt,
will Zeising das Geheimniss und Universalgesetz der Proportionalität
entdeckt haben, während doch diese Zweitheilung zwar den Confliet
zwischen den beiden auf der Proportionalitätsaxe einander polarisiren-
den Kräftten hervorhebt, aber für die Vermittelung beider kein ent-
sprechendes Symbol hat.
Auch scheint es mir gesucht, das Ganze zugleich als Theil des
Ganzen betrachtet wissen zu wollen. Wo die Theile unter sich har-
moniren, dort ist auch das Ganze harmonisch.
Strenge genommen liegt in der Zeisingschen Zweitheilung eine
latente Dreitheilung und die Anerkennung der allgemeinen Gültig-
keit der letzteren. f)
#) Man lese den unklaren Paragraphen 164 der Aesth. Forschungen von Zeising,
worin letzterer an das ästhetische Gefühl appellirt, die die horizontale Lage der
symmetrischen Axe verlange, dann aber hinzufügt: „Der Grund hiervon ist un-
schwer einzusehen: Was einander in der Form durchaus gleich ist, erscheint
auch als quantitativ-gleich; das Quantitativ- Gleiche erscheint aber bei völliger
Gleichheit der Form auch von gleichem Gewicht, zwei Dinge-aber die völlig
gleiches Gewicht haben, liegen bei gleichen äussern Umständen auch stets in
gleicher Höhe, haben also nothwendig eine horizontale Lage.“ Das Letztere
kann geradezu als unrichtig verneint werden, der ganze Satz aber passt durch-
aus nicht in das System des Aesthetikers, der ($. 96) eine Erscheinung von
Seiten ihrer Form nur dann als vollkommen erkennt, wenn sich die Form selbst
in sich als Indifferenzirung der Einheit und Verschiedenheit darstellt, und
($. 156) erklärt, dass es die Aesthetik nur mit der Anschauung der Dinge,
nicht mit den Dingen als solchen (also auch nicht mit ihrer Schwere) zu thun habe.
7) Wenn das Gesetz der Zweitheilung sich irgendwo in der Natur bewährt,
so ist es bei dem Fischgeschlechte der Fall, bei dem nach dem Gesetze des
— 124 —
Am meisten und entschiedensten aber trennt sich meine plastisch-
architektonische Anschauung des Rein-Schönen in dem Punkte von
der herkömmlichen, dass ich das Bild der Dinge körperlich oder viel-
Widerstandes des Medium ein entschiedener Gegensatz des Vorne und Hinten,
von der grössten vertikalen Durchschnittsebene getrennt, nothwendig wird. In-
sofern nun der Mensch als Embryo dem Fische mehr gleicht als irgend einem
andern Geschöpfe, so mag ihm im Nabel eine Reminiscenz seines unentwickelten
Daseins geblieben sein und sich auch das niedere Gesetz der Zweitheilung an der so
reichen und mannigfach gegliederten menschlichen Gestalt bewähren, wenn man,
wie Zeising will, den Nabel als den Theilungspunkt betrachtet; nichts desto
weniger gibt sich das höhere Gesetz der Dreitheilung nicht minder unzwei-
deutig an derselben menschlichen Figur kund; man darf nur den ersten un-
tersten Theil, die Basis, wie es am natürlichsten scheint, bis zur Mitte des
Hüftwirbels, die Dominante dagegen, den Kopf, vom Scheitel bis zum Schulter-
beinwirbel rechnen, so wird die Entfernung zwischen beiden Grenzen, nämlich die
Länge vom Schulterbeinwirbel bis zum Schenkelbeinwirbel ziemlich die mittlere Pro-
portionale zwischen den Dimensionen der beiden vorhergenannten Theile sein.
Dasselbe Gesetz der Dreitheilung mit mittlerer Proportionale findet sich sogar in
den Untereintheilungen des menschlichen Körpers wieder, z. B. verhält sich der
Oberarm zum Unterarm, wie dieser zur Länge der Hand, von der Handwurzel
bis zu den Fingerspitzen gerechnet. Das Gleiche an den Beinen, an den Fin-
gern, selbst am Haupte.
Die Aegypter theilten, wie eine von Belzoni entdeckte Darstellung einer in
ein Netz gezeichneten schematischen Figur zu erweisen scheint, ihre stehenden
Figuren in 19 Theile. Hiervon fielen drei Theile auf den Kopf bis zum Schlüssel-
bein, und circa 10,4 Theile auf die Beine bis zum Hüftwirbel, so dass für den
Rumpf die Länge von 5,6 Theilen bleibt; eine Eintheilung, die ziemlich genau
der proportionalen Dreitheilung entspricht.
Die Griechen liessen bei ihren plastischen Meisterwerken weder die Zwei-
theilung noch die Dreitheilung der menschlichen Figur steif und einseitig her-
vortreten, sondern sie liessen, wie es die Natur thut, beide durcheinander spielen
und sich durch gegenseitige Contraste heben und beleben.
Die Dreitheilung hat keinen goldenen Schnitt, wonach sich eine bestimmte
Länge in 3 bestimmte proportionale Theile theilen liesse, aber diese Unbe-
stimmtheit und Freiheit, die sie gestattet, macht ihr Gesetz allgemeiner gültig
und praktischer. Uebrigens wünsche ich meine mittlere Proportionalität mehr
virtuell als buchstäblich genommen zu wissen, als müsse nothwendig jede wohl
proportionirte aufrechtstehende Kunst- oder Naturgestaltung ihrer Längenaxe
nach streng mathematisch so eingetheilt werden, dass der mittlere Theil die ge-
naue mittlere Proportionale der beiden unteren und oberen Theile bilden. Es
gibt sehr viele untl sehr verschiedene Mittel, um diese Proportionalität für das
Auge befriedigend hervorzurufen; auch ist zu erwähnen, dass meine Theorie
des Rein-Schönen die plastisch-stereometrischen Erscheinungen als solche fasst,
deren Proportion nicht von Linien- noch von Flächenbeziehungen, sondern von
räumlichen Beziehungen der Glieder zu einander abhängig ist.
Eben so sind Flächenverhältnisse nicht von den Beziehungen der Höhen
der Theile, sondern vielmehr von den Beziehungen der Flächen zu einander
abhängig, die sich zu einem Ganzen gliedern. Nur die Proportionen eines regel-
— 1235 —
mehr stereometrisch fasse, während letztere sich nur auf die planime-
trischen Figuren einlässt, die mit der Anschauung der Dinge als Bild
entstehen. *)
Somit kennt sie nur zwei Schönheits - Coordinatenaxen, die
dritte, die Richtungsaxe lässt sie aus. Jenen entsprechen die beiden
digenschaften der Symmetrie und Proportionalität, und mit diesen
gruppirt sie die höhere nicht homogene, den Charakter oder Ausdruck.
Sie hat nur zwei Chariten und stellt, um die Trias voll zu machen,
die IHuldgöttin selbst als Chorführererin in den Reigen, dem es somit
an einem Mittelpunkte der Beziehungen fehlt. Ich benutze dieses Bild,
weil ich allen Ernstes glaube, dass die Chariten, aus denen OÖ. Müller auf-
fallenderweise drei Mahlzeitsgöttinnen gemacht hat, bei den bauenden
Minyern, die ihren Cult erfanden, die Symbole jener oft genannten
drei räumlichen Bedingungen des Schönen waren, der Symmetrie,
Proportionalität und Richtung; sie umkreisen im lieblichen Reigen
Aphrodite, die höchste Potenz des Schönen, und bilden in dieser Ver-
bindung den geschlossenen Ausdruck, das reitzende Symbol der voll-
ständigen hellenischen Schönheitstheorie.
Die Namen der Chariten, Thalia, Euphrosyne, Aglaia sind wohl
gewiss nieht die ursprünglichen Orchomenischen, die, wie Pausanias an-
zudeuten scheint, verschwiegen wurden, sondern spätere rein poetische.
Doch ist es bezeichnend, dass Xenophon in seiner Abhandlung über
Reitkunst die zierlich geordnete Mähne des Rosses Aglaia nennt,
welches also mit Phalara, dem gewöhnlichen Ausdrucke für den
schönen Richtungsschmuck der Pferde, der Bedeutung nach beinahe
zusammenfällt. Es ist der in der Bewegung glitzernde Putz. Aglaia
ist ausserdem die Gattin des Hefaistos. Nicht umsonst führen die
mässigen Prismas oder Cylinders, eines dergl. Oblong oder höchstens einer zwar
varüirten aber der Linie sich annähernden sehr schlanken Form bin ich berech-
tigt, nach den Verhältnissen der Höhen seiner Glieder zu beurtheilen.
*) So sagt Zeising, Aesth. Forschungen $. 156: „Da es die Aesthetik nur
mit der Anschauung der Dinge, nicht mit den Dingen selbst zu thun hat, so
hat sie sich nur auf die planimetrischen Figuren einzulassen und auf diese wird
daher im Folgenden hauptsächlich Rücksicht genommen werden.“
Wollte man auch als richtig gelten lassen, dass die Aesthetik sieh nur mit
den planimetrischen Figuren zu befassen habe, so müssen diese doch, wo sie
aus der Anschauung eines Dinges entstehen, das nicht bloss Fläche ist, sondern
auch Tiefe hat, in der Vorstellung des Beschauers das Bild eines Stereometri-
schen erwecken; man muss erkennen, ob man ein Ding von vorne oder von
der Seite sieht, und das Nichtgesehene aus dem Gesehenen ergänzen. Selbst
diese planimetrische Auffassungsweise entschuldigt somit nicht die Auslassung einer
der drei Schönheitsbedingungen, von der im Texte die Rede ist.
Wissenschaftliche Monatsschriit. 9 =
— 126 —
Chariten, ausser Kränzen von Rosen und Myrten, auch den Würfel
in den Händen. Nicht umsonst wurden sie von den Örchomenischen
Minyern in den Gestalten dreieckiger Steine verehrt. Die Chariten
waren die‘ Gottheiten, denen Pythagoras opferte, als ihm die Lösung
seines berühmten geometrischen Problems gelungen war, dessen Bezug
auf unsern Gegenstand nieht schwer nachzuweisen wäre.
Ich kann nicht umhin hier noch zuletzt auf ein allgemein gül-
tiges, höchst wichtiges Stylgesetz in den Künsten aufmerksam zu
machen, das wiederum im Schmucke in 'grösster Einfachheit und An-
schaulichkeit hervortritt.
Der Schmuck, welcher Art er sein mag (wenn wir nicht den
einfachen peripherischen Ring davon ausnehmen müssen), besteht aus
zwei prinzipiell von einander verschiedenen Elementen: erstens aus
den Einheiten, die in symmetrischer, eurhythmischer oder direktioneller
Ordnung das Wesen des Schmuckes bilden, und zweitens aus dem,
was diese Einheiten umfasst, verkettet, und an das Geschmückte befestigt.
Das erstgenannte Element ist in sich abgeschlossen, getragen, und
fungirtt nur durch seine Beziehungen zu gleichartigen, den Schmuck
bildenden Theilen, und zu dem geschmückten Gegenstande, es zeigt
sich kein Confliet von mechanisch structiven Kräften in ihm thätig.
Das zweite Element ist structiv, es fungirt mechanisch, es fasst,
verkettet, bindet, und zugleich soll es kosmetisch mitwirken.
Dieser prinzipiellen Verschiedenheit zwischen dem Kleinod und
der Fässung muss die künstlerische ornamentale Behandlung beider
nicht bloss entsprechen, sie muss sie auch nachdrücklich accentuiren.
Das erste Element hat besondern Anspruch auf Autorität, die
bei Schmucksachen durch Glanz, Farbe, Schönheit der Form, sowie
durch Reiehthum der bildlichen Ausstattung erlangt wird.
Der Boden für bildliche Ausstattung ist hier neutral; die Dar-
stellungen auf den Kleinoden, die das in Rede stehende, nicht mecha-
nisch fungirende Element bilden, könnten gewählt werden, wie si 5
wollten, wenn nicht das natürliche Verlangen, dass sich die Bedeutung
und die Beziehung dieser Kleinode, wie sie sich im Schmuck zu einem
Ganzen zusammenfügen, zu dem Geschmückten auf ihnen aussprechen
müsse, bei ihrer Wahl bestimmte Schranken stellte. Höchstens dass
noch das Stoffliche der Einheit, auf der sich die bildliche Darstellung
entwickeln soll, gewisse stylistische Bedingungen in der Behandlung
_ des letztern nöthig macht.
*
An diesen Kleinoden num ist es, wo die charakteristische Orna-
mentik, die höhere auf das Wesen und die Tendenz des Geschmück-
ten hindeutende Kunst den Boden und Rahmen ihres Wirkens findet.
Ganz anders verhält es sich mit dem zweitgenannten Elemente,
mit dem struetiv-fungirenden.
Die Ornamentik dieses Elementes soll sich der Bedeutsamkeit der
erstgenannten in jeder Weise unterordnen, sie hat unmittelbar gar
niehts mit dem Wesen und der Tendenz des Geschmückten zu schaffen,
sondern bezieht sich direet nur auf die Einheit, welche sie einfasst,
mit andern ihrer Art verkettet, und an den geschmückten Gegenstand
befestigt. Allerdings bringt diese Funktion es mit sich (da. der letzte
Bezug immer das Geschmückte bleibt), dass dieses dienende Element
des Schmuckes gleichfalls dem Wesen und der Tendenz des Ge-
schmückten entspreche, allein der erste Eindruck desselben muss
immer derjenige sein, dass es dient, einfasst, verkettet, bindet.
Der beste Ausdruck dafür sind aber gewisse der Natur sowie
‚+ der primitiven Industrie entnommene Typen, die durch unmittelbarste
Ideenverknüpfung in uns die Empfindung oder das Bewustsein er-
wecken, dass diese verknüpfenden, bindenden und zugleich einrahmen-
den, den Sehmuck schmückenden Theile ihren Funktionen in jeder
Beziehung gewachsen sind.
Soleher Typen bietet die Natur eine unendliche Fülle dar, die
in ornamental-stylistischer Uebersetzung in das Stoffliche als passende
Analoga und Symbole hier am Orte sind; Beispiele: das Netzwerk,
welches die Melone ziert, die klammernden Organe der Rebe, die
Krallen und Klauen der Thiere, der Rachen einer Bestie, die Schlange
in ihren Umschlingungen, das Astwerk der Bäume u. dgl. m.
Nicht minder aber als jene Natursymbole sind in unserem Falle
die der ursprünglichsten Technik entnommenen Typen bedeutsam.
Beispiele : die Kränze und gereiheten Blattgewinde, die Bouquets,
die Schnuren, Strieke, Ketten, Geflechte und Bänder, die früher er-
wähnten Masken.
. * Die Abhängigkeit des structiven Elementes von dem Stofllichen
ınd seine funktionelle Bestimmung zeige sich stets in der eurhythmisch
geregelten Wiederkehr solcher Formen, im eigentlichen Ornamente,
° und wo das geistig individuelle Leben innerhalb dieser ornamentalen
Theile bildlich hervortritt, sei es stets chimärisch aufgefasst. Nur in
imaginärer Auffassung kann es neben der tendenziösen höheren Kunst,
der es als Rahmen dient, ohne störend in letztere einzugreifen, sich
entwickeln; nur in dem Grotesken ist eine Vermischung und Ver-
mittelung des Ideellen mit dem funetionellen Prinzipe ausführbar.
A
Dieses erste und wichtigste stylistisch-ornamentale Prinzip sehen
wir leider in neuester Zeit nicht überall erkannt und oft missachtet.
Es tritt uns als allgemein gültig in der Keramik, in den textilen
Künsten, sowie in der Baukunst entgegen. Ja, es bleibt gültig
sogar auf dem Gebiete der Musik und der Dichtkunst. Wir sehen
dieses Gesetz in der antiken Tragödie, sowie in dem aristophanischen
Lustspiele. Shakespeare’s Genius erkannte dessen volle Bedeutung.
Sein Sturm gibt ein Muster ornamentaler Behandlung des einfassenden,
verkettenden und haltenden Beiwerkes im Gegensatze zu der histo-
rischen des dramatischen Kerns.
In grosser Klarheit offenbart sich dieses Prinzip wieder am
griechischen Tempel. Das Giebelfeld, die Metopen, die Friese, die
Diaphragmen der Säulen sind Ruheplätze der Construction und daher
der höheren Tendenzsymbolik gewidmet. Die Cella-Mauern fungirten
zwar bei den Griechen der That nach, aber nicht der Idee nach, als
stützende Glieder, und sind daher ebenfalls der hohen Kunst geöffnete
Felder; überall sonst herrscht das reine Ornament.
An der hervorgehobenen Deutlichkeit des Unterschiedes zwischen
den beiden im Schmucke zusammenwirkenden Faktoren und der dar-
aus resultirenden nothwendigen Verschiedenheit ihrer artistisch-tech-
nischen Behandlung zeigt sich beispielsweise die hohe Bedeutung, die
der Schmuck auch in jenem Theile der Kunstlehre einnimmt, die den
Styl in der Kunst betrifft.
Während nämlich die Begriffe Symmetrie, Froportionalität, Rich-
tungseinheit, Harmonie sämmtlich kolleetive Begriffe sind, indem sie
eine Vielheit als Einheit zusammenfassen, während sie zweitens rein
formelle sind, das heisst, während sie an den abstract-formellen
Eigenschaften der bereits fertigen Erscheinungen haften, dagegen aber
das Geschichtliche der Entstehung der Form, sowie selbst die stoff-
lichen Unterschiede der materiellen Theile, welche die Form bilden,
als Fremdartiges aus sich ausschliessen, hat die Styllehre das Ent-
stehen des Sehönen in der Kunst zu ihrem Gegenstande; sie
fasst das Schöne als einheitliches Resultat (zu dessen Ent-
stehung freilich die verschiedensten Factoren zusammenwirken), als
die Lösung eines artistischen Problems.
Die Zahl der zusammenwirkenden Factoren bei dem Entstehen
des Werkes ist unbestimmbar, und es mögen nur einige der wich-
tigsten darunter hier berührt werden :
Sie lassen sich in zwei abgesonderte Klassen theilen, nämlich
erstens in solche, die gewissermassen im Werke selbst enthalten und
gewissen Gesetzen natürlicher und physischer Nothwendigkeit unter-
— 129 —
° worfen sind, welche unter allen Umständen und zu allen Zeiten die-
selben bleiben, zweitens in diejenigen Momente, die von aussen her
auf das Entstehen eines Kunstgebildes einwirken.
Zu den ersteren gehört nun namentlich vor allen andern wieder
der Zweck, dessen künstlerische Behandlung als Aufgabe vorliegt,
sei er nun ein materieller, oder ein mehr ideeller, welcher letztere
sich in den meisten, wo nicht in allen Fällen, auf einen in höherem
Sinne aufgefassten reellen Zweck zurückführen lassen wird.
Zweitens gehört dahin der Stoff, welcher dem Künstler zu Ge-
bote steht, um damit den dienstthuenden Gegenstand zu realisiren
oder nach Umständen nur zur Erscheinung zu bringen.
Drittens gehören dahin die Mittel zur Bearbeitung des Stoffes,
die Processe, die bei der Behandlung des Stoflichen in Frage kom-
men und sehr entschieden auf das formelle Hervortreten des letzteren
in der zwecklich-künstlerischen Erscheinung einwirken. So z. B. lässt
sich Metall hämmern, schmieden, schneiden und giessen : in allen
‘ drei oder vier verschiedenen Behandlungen tritt es prinzipiell anders
als formenbestimmend auf.
Mannigfaltiger sind die äusseren Coeflieienten der Kunstdarstel-
Inng. Dahin sind zu rechnen alle räumlichen und persönlichen Einflüsse
und Momente der Gestaltung, als da sind: Klima, physiche Beschaf-
fenheit des Landes, nationale Bildungsrichtung, historische Erinnerungen
und Ueberlieferungen, lokale Einflüsse der Umgebung (ob z. B. ein
Haus im Thale oder auf der Höhe steht, ob es Stadt- oder Land-
haus ist), Person oder Körperschaft, welche das Werk bestellt; dann,
unter vielen anderen nicht genannten Einflüssen, besonders die Gele-
genheit und zufällige Veranlassung des Entstehens.
Endlich, als mächtiges äusseres Moment, ist noch die Hand des
Künstlers, dessen individuelle Persönlichkeit und Stimmung hervorzu-
heben.
Indem wir nun das Schöne in der Kunst als ein aus allen diesen
__ und noch vielen anderen Momenten Entstehendes, als ein Werdendes
f betrachten, fassen wir die ästhetische Frage von der rein-werkthätigen
\ Seite, eine Art der Auffassung
oO)
meisten nützt und zusagt. Er betrachtet das Werk als ein Resul-
die dem praktischen Künstler am
tirendes und verlangt, dass es Styl habe, welches Wort nichts
weiter bedeutet, als das zu künstlerischer Bedeutung er-
hobene Hervortreten des Grundthema und aller inneren
und äusseren Coeffieienten, die bei der Verkörperung
desselben in einem Kunstwerke modificirend einwirkten.
In dieser Definition des Begriffes Styl vereinigen sich die schein-
— 1230 —
bar heterogensten Unterbegriffe, die man mit diesem Worte zu ver-
knüpfen pflegt, und deren Grundverwandtschaft ein sehr richtiges
Volksgefühl herausfand.
So sagen wir gleich richtig : Gothischer Styl, Styl des Zeitalters
Ludwig XIV, Styl des Raphael, Kirchenstyl, ländlicher Styl, Holz-
styl, Metallstyl, schwerer Styl, hoher Styl, leichter Styl, u. s. w.
Uebrigens sieht man, wie die ästhetisch-formelle Anschauung
des Schönen, wenn sie sich auf allgemein gültige Naturgesetze stützt,
und die artistisch-construirende einander die Hand bieten und in
höherer Auffassung nothwendig in einer und derselben Doetrin sich
vereinigen müssen.
Ueber die Integration zweier simultan bestehenden linearen
Differenzialgleichungen zwischen n Variabeln.
Von Professor Dr. RAABE.
VORWORT.
Lagrange in seinen Lecons und nach ihm Pfaff viel allgemeiner
in den Berliner Denkschriften zeigten, wie von der Integration einer
gemeinen linearen Differenzialgleichung erster Ordnung die Integration
einer partiellen Differenzialgleichung erster Ordnung abhängig ist; so
dass, wenn jene vollbracht, diese als Speeialität unmittelbar erkannt
wird. Im dritten Bande meiner Differenzial - und Integralreehnung
ging ich einen Schritt weiter und zeigte, wie mittelst der kleinsten
Anzahl von Integralgleichungen, so einer gemeinen linearen Differen-
zialgleichung erster Ordnung mehrerer Variabeln zugehören, die eine
Integralgleichung erster Ordnung (falls eine solche existirt) einer par-
tiellen Differenzialgleichung zweiter Ordnung dreier Variabeln zu
gewinnen sel. Hat man nämlich eine partielle Differenzialgleichung
dreier Variabeln, wo z die relative und x, y die absoluten sind,
wo ferner p,q,r,s,t nach der allgemein üblichen Bezeichnungsweise
die partiellen Differenzialquotienten erster und zweiter Ordnung vor-
stellen, — hat man, sage ich, einen Zusammenhang zwischen z, x
y, P, 4, r, s, t, so gibt es Fälle (nach den vorletzten 17 Nummern
meiner Ir.), die einer einzigen partiellen Differenzialgleichung erster
Ordnung unter denselben Variabeln, als Integralgleichung, fähig sind ;
— deren Angabe aber alsdann auch ebendaselbst gelehrt worden ist.
In den Fällen der Nichtexistenz einer Integralgleichung ebenerwähnter
2
— 131 —
Art, leuchtet zwar sofort die Existenz zweier solcher Integralgleichun-
gen ein; diese werden aber nur dann herzustellen sein, wenn man
erst mit der Integration zweier simultan bestehenden gemeinen, linearen
Differenzialgleicehungen mehrerer Variabeln (Ir. Nr. 722 *]), und zwar
durch die kleinste Anzahl von Integralgleichungen, zu einem definitiven
Abschluss gekommen sein wird.
Da hierin noch nichts oder nur sehr wenig geschehen, so erachte
ich es an der Zeit, die ersten einleitenden Arbeiten in diese höchst
schwierige Materie nicht länger zurück zu halten, sondern solche
gegenwärtig mit dem bestimmten Vorsatze zu veröffentlichen, auch die
Fortsetzung, so weit ich solche fertig habe, wenn gleich noch nicht
zum erwünschten Abschluss gebracht, gleichwohl zur Benutzung meiner
mathematischen Kollegen in der nächsten Zukunft folgen zu lassen.
1. Betreffend die Integration zweier simultan bestehenden, ge-
meinen, linearen Differenzialgleichungen mehrerer Variabeln durch eine
einzige Gleiehung unter diesen Variabeln, überzeugt man sich sehr
bald, dass solches nur dann angeht, wenn jene unter einander völlig
gleichbedeutend sind, d. h. sich höchstens durch einen gemeinsamen
Faktor aller Glieder einer besagter simultanen Gleichungen von einander
unterscheiden. Die Integration einer gemeinen, linearen Differenzial-
gleichung ist aber nach dem Vorausgeschickten als ein völlig gelöstes
Problem gegenwärtig anzusehen; daher wir auch diesen Gegenstand
fallen lassen und in der nächsten Nummer sofort zu dem eigentlichen
Gegenstand der vorliegenden Abhandlung übergehen, zur Untersuchung
der Integrabilität eines Systems zweier Differenzialgleichungen der
Form:
KOROL KR LOL... .Xxm=o, |
KL KR KR... Kam — o, |
wo:
Be Er (@)
n Variabeln, und wo die Coefleienten :
(a) (2) (3) BL] (n)
ROETIEAE HE A |
(8)
(ı) + (2) =) x (4) (n)
RE ee A
#] Mit (Ir. Nr....) deute ich immer auf eine bestimmte Nummer meines
Werkes über Differenzial- und Integralrechnung hin.
-
; — 132 —
beliebige Funktionen jener Variabeln sind, durch ein System zweier
endlichen Gleichungen unter denselben Variabeln.
Unser erstes Augenmerk wird die Angabe der Bedingungsglei-
chungen dieser Integrabilität und hierauf, bei deren Statthaben, die
des Verfahrens zur Erzeugung dieser Integralgleichungen sein.
2. Ueber die Coeflieienten in (%) kann zuerst festgestellt werden,
dass wenigstens zwei derselben, die mit gleichen, oben in Paren-
thesen beigesetzten Zeigern versehen sind, von Null verschiedene
Werthe haben; wir erklären hiefür die mit den Zeigern 1 und 2 ver-
sehenen dieser Coefleienten : sonach werden wir im ganzen Verfolge
dieser Untersuchung die Coefhcienten :
ee) ee
ur I md, IR,
als von Null verschieden voraussetzen dürfen. Ferner darf festgestellt
2)
werden, dass das Verhältniss der beiden Coefleienten X” und X”
nicht dasselbe wie der homologen X” und X” zu einander sei >%
Endlich darf, drittens, vorausgesetzt werden, dass wenigstens in einer
der beiden Differenzialgleichungen (A) ausser den Coeflieienten von
dx und dx® noch ein anderer dieser Coefficienten, etwa der von
dx”, von Null verschieden ist, wo a einen der Werthe von 3 bis
n hat.
Mit Zugrundelegung dieser drei Feststellungen untersuchen wir
die Annahme : es existiren zwei endliche Gleichungen unter den in
(@) zusammengestellten Variabeln, die den linearen Differenzialglei-
chungen in (A) als Integralgleichungen genügen. Diese zwei Integral-
gleichungen werden nothwendig der Beschaffenheit sein, dass aus
denselben die Variabeln x” und x® als Funetionen der übrigen her-
vorgehen, oder mindestens als solehe gedacht werden können.
Bedienen wir uns auch hier der in (Ir, Kapitel X, $. II) ein-
geführten abkürzenden Bezeichnungsweisen, so bieten die totalen Dif-
ferenziale von x’ und x® nach den übrigen Variabeln folgende zwei
Gleichungen dar :
x
bl a al 1 aa Ze Sr: ae 2 3 20.
A)
dx) — xD IK) I xd ARD L.....x® dxm,
*) Im Falle, wo dieses gleichwohl eintrifft, wo man nämlich Ra
xp ar hat, vertausche man eine der Variabeln x@) oder x(!), etwa letztere,
mit einer der übrigen aus (@), etwa mit x(®; so kann, mit Beachtung der Mit-
theilung aus vorangehender Nummer, über k so verfügt werden, dass die er-
wähnte Gleichheit der Verhältnisse nicht mehr eintrifft. Wenn nun, nachdem
solches geschehen, x@) statt x(9, also x® statt X” und X” statt x ® gesetzt
wird, so leuchtet sofort die Richtigkeit unserer in Rede stehenden Behauptung ein.
ER
+.
k
wo man also :
dx‘! dx'?)
(2) — =
aaa ers und %@) — RRRET)
hat. Führt man diese Bestimmungen von dx® und dx® in die Glei-
chungen (A) ein, so werden diese identisch realisirt, falls die etwa
noch explieite vorkommenden Variabeln x® und x® den angenommenen
zwei Integralgleichungen gemäss ersetzt gedacht werden, so dass nun-
mehr‘ folgende zwei Gleichheiten :
x ar x u,
Be x x) 2 ig) xD —o, (2)
für alle ganze Zahlenwerthe von a—3 bis a=n Bestand haben.
Indem wir die Untersuehungen und Ergebnisse des oben eitirten
Paragraphen X. der Ir. zu Grunde legen, und gegenwärtig unser
Augenmerk vorzüglich auf die Nr. 656 richten, erkenneu wir, dass
beim Bestandhaben der erstern dieser Gleichheiten in (2) die erste
der Differenzialgleichungen in (A), wie beim Bestandhaben der zweiten
Gleichheit in (2) die zweite besagter Differenzialgleichungen durch ein
System zweier endlichen Gleichungen integrirbar sein wird. Wir er-
leichtern uns daher die vorliegende Untersuchung in hohem Grade,
wenn wir vorerst die Folgerungen einer jeden dieser Gleichheiten (2)
für sich ziehen, und erst am Schlusse solche als simultan bestehend
zur Gewinnung neuer Folgerungen feststellen.
Führt man, wie im citirten Werke in der eitirten Nummer geschah,
folgende symbolische Bezeichnungen ein :
‚(a) „(b)
bi RR 3)
@b)=l@b)X"— (a, X” Lo x"
wo (a,b) und (a,b, c) bezüglich alternirende Functionen der Grössen
a,b und a,b,c sind; so gelangt man in Folge der erstern Gleich-
heit (2), wenn ganz wie in (Ir. Nr. 656) verfahren wird, auf folgende
neue Gleichheit :
(1,8, b)-+(1,2,b) 320, (1,9% 5) a (4)
wo man 2 BER (3°)
@bo)= a,b) X" — Ha, X" %B,c) X"
Wissenschaftliche Monatsschrift, 10
— 134 —
so hat man auch folgende analoge Gleichheit zu der in (4):
A,a,b)+'4,23,b)x9 —- 1, 2,2): =», (4')
wo ebenfalls 2
BR, (&)
dx) — 1,08} [1, '3] dx® + [1,'4] dx'® + ...f,'n] dx 2
— 136 —
Erklärt man hier die Variabeln x, x®9... x'” einstweilen als
constant, so werden die unmittelbar vorher aufgestellten zwei Diffe-
renzialgleichungen, die in folgende übergehen :
di) = [2, ‘3] dx, Dee [d; ‘3] dx
[1, ‘2] [1, ‘2] j
durch zwei Gleichungen mit zwei willkürlichen Constanten integrirbar
sein, welche Constanten zwar unabhängig von x’, x", x'®, allein
die übrigen als constant behandelten Variabeln mitführen können.
Wenn nunmehr in den Differenzialgleichungen (8) neben x,
x®9, x'®” auch noch x'® als variabel angenommen wird, dabei aber
die in denselben vorkommenden zwei Variabeln x’ und x‘ den un-
mittelbar vorher gewonnenen zwei Integralgleichungen gemäss ersetzt
werden; so werden die in denselben vorkommenden Integrationscon-
stanten, die durch & und £ vorgestellt sein mögen, von vorn herein
von x” abhängig anzunehmen sein, wo man zur Bestimmung dieser
Abhängigkeit auf zwei Differenzialgleichungen folgender Formen geführt
werden wird :
ua Ada a = Bd,
in denen A und B nach dem Ausgangs vorangehender Nummer geführ-
ten Raisonnement nothwendig von x” unabhängig sein werden *). Inte-
grirt man diese Differenzialgleichungen in Beziehung auf @, # und
x, so stellen sich für & und ß bestimmte Funetionen von x'* her-
aus, die zwei neue willkürliche Constanten dieser letztern Integrationen
mitführen werden. Diese neuen Constanten, die durch «' und ß'
vorgestellt sein mögen, werden nothwendig independent von den
Variabeln x), x®, x”, x sein, können aber die noch übrigen,
bis jetzt constant behandelten Variabeln x”, x'9,...x‘" allerdings
implieiren. Führt man die so eben gewonnenen Bestimmungen für
@ und ß in die zuerst gewonnenen zwei Integralgleichungen unter den
Variabeln x", x®, x'® ein, so repräsentiren sie die vollständigen
Integralgleichungen der Differenzialgleichungen in (8), falls nur x,
2) x), 9 variabel, die übrigen x", x... x"). aber als 'Von-
stanten behandelt werden, welche letztere desswegen auch in den
neuen Integrationsconstanten &' und #’ enthalten sein können.
Aus diesen vollständigen zwei Integralgleichungen zieht man,
ähnlich wie im unmittelbar Vorausgeschickten ausführlich angedeutet
®) Dieses kann bei Unterlegung der Bedingungsgleichungen in (7), in denen
a—=3 undb—=4 zu setzen ist, wie schon in vorangehender Nummer bemerkt
ward, auch direkte nachgewiesen werden.
en u
— 137 —
worden, zwei neue vollständige Integralgleichungen derselben Diffe-
renzialgleichungen (8), falls in denselben x”), x", x9, x9, x
variabel angenommen, die übrigen aber als Constanten behandelt
werden.
Wird in dieser Weise fortgefahren, so gelangt man zuletzt zu
den zwei vollständigen Integralgleichungen der Differenzialgleichungen
2), zM,,..x® variabel sind,
in (8), wo sämmtliche Grössen x"), x
d. h. man gelangt so successive zu den endlichen zwei Gleichungen,
die zwei willkürliche Constanten mitführen, welche in Beziehung von
Genüge thuenden Integralgleichungen zu den vorgelegten Differenzial-
gleichungen in (A) stehen.
Anmerkung. Dieses Endergebniss ist dem ganz analog, wo man nur eine
lineare Differenzialgleiehung zwischen n Variabeln hat, die,
wenn durch eine einzige Gleichung integrirbar, keine will-
kürliche Function, sondern lediglich eine willkürliche Con-
stante mitführt.
5. Die Bedingungsgleichungen in (7) der vorangehenden Unter-
suchung sind noch unter andere, einfachere Formen zu bringen möglich,
deren Vorzüge bei der fortzusetzenden Diseussion des in Rede stehenden
Gegenstandes erst recht einleuchten, mit deren Mittheilung wir gegen-
wärtig schliessen wollen.
Wird der alternirende Ausdruck :
(a,b,c) [a, ‘d| — (a,b,d) [a,‘c] + (a, c,d) [a, 'b]
einstweilen durch A bezeichnet, so gelangt man, wenn jeder der
zweigliedrigen alternirenden Ausdrücke, der Form [a, ‘b], der Gleichung
(5) gemäss ersetzt wird, auf:
“u a)
A=|ab)X" - a,bHR" HM, H)A"X
Sun
RO re ea
| )
Nach der zweiten der Gleichungen in (3), die ein dreigliedriges
Symbol der Form (a, b, ce) definirt, hat man :
X — ab,HX LA, HL" He, X" —o; (9)
daher hat man auch folgende Bestimmungsgleichung :
(a) a)
A= (5,0) X" (a,b,d) X" (a, c,d) X" (b,c,d)’X es
Führen wir das neue viergliedrige Symbol [(a, b, ec), ‘d] der
folgenden Begriffsgleichung gemäss ein :
[&b,0)/]= (a,b, X" —@a hd) X "+ (a,5,d) X — (b,6,d) X”, (10)
— 133 —
wo also dieses neue Symbol eine alternirende Function der vier
Grössen a,b, ec, d ist; so ergibt sich, beachtend die unmittelbar vorher
gewonnene Bestimmung für A, folgende identische Gleichung :
Kab,e), di; X —
= (a,b, e) [a, ‘d] — (a,b, d) [a,c’] + (a, e, d) [a, 'b] (11)
Analog mit diesem Ergebnisse gelangt man sehr bald auch auf
folgendes :
Wenn
[“a,b,e),d]—'(a,b,e)X — (a,b ES "+'(a,e,d) d)X —'(b,e ‚IR® (10%)
festgestellt wird, wo also auch das viergliedrige Symbol [‘(a, b, ce), d]
eine alternirende. Function von a, b, c, d ist: so besteht folgende
identische Gleichung :
— ['a,b, c),d] X" =
= ‘a,b, e)[a, 'd| — ‘a,b, d)[a,’c]) + a,c,d)[a, 'b], (11%)
welche die angekündigte analoge zu (11) ist.
Ersetzen wir nun in (11) und (11‘):
a durch 1, b durch 2, e durch a und d durch b,
so erhalten wir:
(1,2,a)[1,'b] — (1,2,b)f1,’a] + (1,a,b)[1,'2]= [(1,2,a) ] X",
(1,2, a) [1, 6) — (1,%,b) [1,7] + 1,,b) [1,2] = — [(1,3a),b] X;
und weil der Eingangs getroffeuen Feststellung zufolge x" sowohl
wie ‘X von Null verschieden sind; — so sind die Bedingungsglei-
chungen in (7) durch folgende zu ersetzen :
2 Se, TE, 2,8), (7%)
welche die hier am Eingange angekündigten sind und, gleichwie jene
in (7), für alle Werthe von a und b, so den Ungleichheiten :
23T OR (12)
genügen, Bestand haben müssen, damit die vorgelegten Differenzial-
gleichungen in (A) durch ein System zweier Gleichungen integrirbar
seien.
Betreffend endlich die Anzahl dieser Bedingungsgleichungen, ent-
nimmt man sehr leicht aus den Ungleichheiten in (12), weil a und b nur
ganze Zahlenwerthe vorstellen, dass solche gleich (n — 2) (n — 3)
sei.
— 139 —
Ueber die in Island endemische Hydatidenkrankheit.
Von Professor Dr. Lebert.
Man hielt es früher fast für unästhetisch, in andern als streng
ärztlichen Kreisen von den verschiedenen Krankheiten zu sprechen,
welche die Eingeweidewürmer hervorzubringen im Stande sind. Und
wer nun gar das Unglück zn haben glaubte, einen Bandwurm in sich
zu beherbergen, der theilte es seinem Arzte nur unter dem Siegel
der Verschwiegenheit mit. Je mehr aber in der Neuzeit die Wissen-
schaft in’s Leben eingreift, desto vollkommener schwinden derartige
Vorurtheile.. Ja, wir können wohl sagen, dass wenige Theile der
Naturforschung ein so grosses Interesse selbst für den denkenden
Laien darzubieten im Stande sind, als die moderne Lehre von den
Eingeweidewürmern. Durch sie sind wir einem merkwürdigen Gesetz
auf die Spur gekommen, vermöge dessen ein Thier eine der Mutter
unähnliche Brut erzeugt, welche aber einer neuen Generation das
Leben giebt, die selbst, oder wieder erst in ihrer Nachkommenschaft,
zu der Gestalt und dem Baue des ersten Thieres zurückkehrt. Dieses
merkwürdige, von dem dänischen Naturforscher Steenstrup formu-
lirte Gesetz, welches unter dem Namen des Generationswechsels
bekannt ist und welches durch die trefllichen Untersuchungen von
Siebold eine ausgedehnte Anwendung gefunden hat, wird besonders
bei den Eingeweidewürmern beobachtet.
Es lässt dasselbe nicht bloss Alles weit hinter sich zurück, was
uns in der Metamorphose der Insekten seit unserer Kindheit mit Be-
wunderung erfüllt hat, sondern wir treffen auch hier auf eigenthüm-
liche Nothwendigkeiten in der Natur, die in ununterbrochener Reihen-
folge stets selbst den Tod zur Bedingung emeuten und verjüngten
Lebens machen. So dient nicht bloss eine geschlechtslose Thierform
dem später zur Geschlechtsreife sich entwickelnden Thiere als Amme,
als schützende Hülle und Wohnung, sondern der Entwicklungsgang
wird erst dadurch vervollständigt, dass der Wirth, welcher das un-
vollkommene Thier beherbergt, das Opfer des mörderischen Instinetes
eines anderen Thieres wird, in dessen Nahrungskanal nun der dadurch
freigewordene halbentwickelte Schmarotzer zum ausgebildeten, der
Fortpflanzung fähigen Thiere sich gestaltet.
Mit besonderer Vorliebe wenden sich daher auch Reisende und
in entfernten Ländern lebende Aerzte der Beobahhtung der Parasiten
des Menschen zu. Sonderber ist, dass wir gerade die interessantesten
der neuern Entdeckungen auf diesem Gebiete zweien einander ent-
— 140 7° —
gegengesetzten Klimaten verdanken. Wir erfahren nicht bloss durch
die gründlichen und schönen Untersuchungen von Griesinger und
Bilharz, dass in dem heissen Egypten und in dem den wärmsten
Erdstrichen so nahen Abyssinien die Eingeweidewürmer so häufig
sind, dass man dort keinen Sklaven verkauft, ohne ihm sein Band-
wurmmittel mit auf den Weg zu geben, sondern in einer verhältniss-
mässig kurzen Zeit haben wir auch eine Reihe interessanter, früher
unbekannter, nur im Menschen parasitisch lebender Thiere kennen
gelernt. Wäre man nun geneigt, in der südlichen Lage, in dem
Missbrauche des rohen Fleisches Gelegenheitsursachen für dieses so
häufige Vorkommen der Eingeweidewürmer zu suchen, so ergeben
gerade neuere Forschungen, dass unter ganz andern Bedingungen in
der Nähe des Nordpols die verderblichste Wurmkrankheit vorkommt,
welche das Menschengeschlecht heimsucht. Und ich weiss nicht, ob
es selbst unter den Thieren eine in dem Maasse verheerende Para-
sitenseuche gibt.
Diese Würmer, an welchen 1/; der ganzen Bevölkerung Islands
leidet, gehören zu den sogenannten Blasenwürmern, und bestehen aus
grossen, halbdurchsichtigen, mit Flüssigkeit gefüllten Blasen, welche
nahezu den Umfang einer Kirsche oder einer kleinen Wallnuss erreichen,
und in deren Innerem sich eine Menge kleiner, weisser, sandkorn-
ähnlicher Körper befinden, deren jeder einen oder eine gewisse Menge
kleiner Thierchen enthält, an denen man schr deutlich unter dem
Mikroskop einen Kopf mit einem eleganten Hakenkranze und vier
Saugnäpfen versehen und zwei Glieder mit zahlreich eingestreuten
Kalkkörperchen unterscheidet. Jede grössere Blase ist die Umwan-
delung eines wassersüchtig gewordenen Thierembryo’s, und jedes
Thier ist ein mit ein paar Gliedern versehener Bandwurmkopf, der,
wenn er in die zu seiner Entwicklung günstigen Bedingungen ver-
setzt wird und in den Darmkanal eines Thieres gelangt, sich zu
einer eigenthümlichen Bandwurmart entwickelt.
Diese Thiere, welche bei uns in Zürich sehr selten als Parasiten
des Menschen vorkommen, und die ich in Paris oft in den verschie-
densten Körpertheilen zu beobachten Gelegenheit hatte, sind in Island
so häufig, dass nach der Mittheilung von Schleissner, Thors-
tensen, Eschricht und den hierüber zusammengestellten Notizen
von Küchenmeister im Innem des Landes in jeder Familie zwei bis
drei Glieder an dieser Krankheit leiden; 1/g der daselbst vorkommen-
den Krankheitsfälle gehört diesem Uebel an, und nach Thorstensen
soll jeder siebente Mensch daran leiden. Das weibliche Geschlecht
wird viel mehr als das männliche von dieser Krankheit befallen. Mit
ee ee u A
— UI —
dem Alter nimmt die Häufigkeit zu. Bei den Männern beobachtet
man sie am häufigsten zwischen dem 30. und 40. Jahre, bei Frauen
zwischen dem 40. und 50. Jahre. Bald beobachtet man ganze Ko-
. . . Y . . .
lonieen dieser Schmarotzer in der Leber, die sie zu grosser Ausdeh-
nung auftreiben können und in welcher sie Eiterbeulen hervorrufen
können, die nach aussen aufbrechen, so wie auch diese grossen Säcke,
ohne sich zu entzünden, durch Druck auf die Bauchorgane Wasser-
sucht hervorzurufen im Stande sind, oder auch in den Darm durch-
brechen können, wo alsdann mit den Ausleerungen jene gallertartigen
Kugeln und Blasen abgehen. Auch in den Nieren entwickeln sie sich
häufig, und können mit dem Harn nach aussen gelangen. Selbst
“unter der Haut bilden sie grosse Balggeschwülste, und wenn man
bedenkt, dass das einzelne Thier kaum Yg—!/; Millimeter lang und
breit ist, dass ein jeder sandkornartige Körper 4— 6 derselben und
darüber enthalten kann, dass viele der Blasen eine grosse Menge
solcher Kernchen beherbergen und dass endlich eine jede Geschwulst
in einer Mutterblase viele Tochterblasen enthalten kann, so wird man
es kaum für Uebertreibung halten, wenn wir behaupten, dass viele
dieser Kranken oft Tausende jener lebenden Thiere beherbergen.
Was hilft es aber, eine solche Scene menschlichen Elends aus
jenen entfernten Theilen der Erde vor die Blicke unserer Leser zu
führen, wenn nicht auch hier die Naturforschung sich die schöne
Aufgabe gestellt hätte, die Uebel, deren innerstes Wesen sie zu er-
gründen sich bemüht hat, in ihren furchtbaren Folgen zu mindern
und allmählig zum Verschwinden zu bringen. So hat man denn über
die Lokalverhältnisse und die Lebensart der Isländer viele Unter-
suchungen angestellt; der Boden bietet bekanntlich sehr zahlreiche
heisse Quellen dar, welche die Menge des lauwarmen Wassers bedeu-
tend vermehren, und dieses ist für die Entwicklung aller Wurm-
keime ein geeignetes Medium; ausserdem ist der Boden sonst sehr
durehfeuchtet, Wurmkeime aber kommen in sehr grosser Menge auf
die Erdoberfläche. Einerseits gehen täglich von den Menschen sehr
viele Blasenwürmer ab, und ein einziger, unter günstigen Verhältnissen
in den Organismus gebracht, reicht hin, die’ ganze durch Sprossen-
bildung sich mehrende Kolonie zu bilden. Andererseits treiben die Islän-
der viel Viehzucht, und in wenig Ländern ist die Zahl der Hunde ver-
hältnissmässig grösser als auf Island. Die Hunde aber nehmen in
sich die sehr vielen von den Schlachtbänken kommenden Wurmkeime
auf, und aus ihrem Abgang bilden sich dann wieder sehr zahlreiche
Keime zur Fortpflanzung der Parasiten. So kommen also aus sehr
‚verschiedenen Quellen leicht Wurmkeime der verschiedensten Art in
— 142 —
den menschliehen Organismus, und die Aufgabe der Kunst wäre dem-
gemäss eine mehrfache: vor allen Dingen wo möglich die im mensch-
lichen Organismus hausenden Würmer selbst zu tödten, und hier
wären namentlich zwei Methoden zu prüfen; einerseits das kräftigste
aller Bandwurmmittel, den aus Abyssinien stammenden Kusso, lange
Zeit den an der Wurmseuche Leidenden innerlich in mässigen oder
kleinen Gaben zu verordnen, andererseits durch Einreibung mit Queck-
silbersalbe auf den dem befallenen Theil zunächst gelegenen Gegenden
der Oberfläche das Tödten der Parasiten zu versuchen, wobei man frei-
lich die Vorsicht zu beobachten hat, es nicht bis zum Speichelfluss
kommen zu lassen. Von Seiten der Gesundheitspolizei wäre dafür zu
sorgen, dass wo möglich die von Menschen abgehenden Blasenwürmer
zerstört würden, was auf mannigfache Art zu bewerkstelligen ist, und
besonders für die durch Wunden und Durchbruch nach aussen oft
massenhaft entleerten Wurmblasen leicht ist. Zu versuchen wäre
ferner, alles Trinkwasser gehörig zu filtriren, endlich noch die zahl-
reichen Hunde vom Bandwurm durch passende Kuren rein zu erhalten.
Es stammen einige dieser Vorschläge von den ausgezeichneten For-
schern v. Siebold und Küchenmeister, deren jeder — wiewohl
in verschiedener Richtung — um diesen Theil der Wissenschaft sich
hoch verdient gemacht hat. Ich habe aber denselben noch besonders
das hinzugefügt, was nicht bloss leicht ausführbar ist, sondern
auch einige Aussicht auf Erfolg darbietet. Und so soll auch diese
kurze Skizze wieder einmal zeigen, wie wichtig es ist, Wissenschaft
und Kunst in immer engern Zusammenhang zu bringen und beide so
viel als irgend möglich für das tägliche Leben zu verwerthen, hier
aber die grosse menschliche Gesellschaft als eine gleichberechtigte,
einige Familie anzusehen.
Der Name Germanen.
Von FERDINAND HITZIG.
Die Bedeutung des Namens Germanen hat Holtzmann in seinem
bekannten Buche wiederum zur Sprache gebracht und die Frage mit Strabo
dahin erledigt, Germani sei das lateinische Appellativ, und als Name den
Deutschen durch die Römer beigelegt, um sie als echte — Gallier zu bezeichnen.
Schreiber dieses, welchen die bezügliche Beweisführung nicht überzeugt hat,
findet im Rahmen einer Miscelle keinen Raum, den Gegenstand erschöpfend zu
untersuchen, und bewirbt sich desshalb zunächst dadurch, dass er seine An-
schauung der Zeugnisse an einem Beispiele darlegt, um das Recht, einen Weg
zum Ziele weisen zu dürfen, welchen bis jetzt noch Niemand eingeschlagen hat.
|
“.
— 13 —
In der Stelle Tacit. Germ. ce. 2*) scheint mir vor allen Dingen deutlich,
was auch der Sprachgebrauch mit sich bringt, dass der Name Germania, als
neu und unlängst gegeben, nicht dem Lande der Tungern gilt, indem der Satz
des Grundes nicht guoniam — tune Tungri, nunce Germani vocati sint lautet,
sondern das Verhältniss umkehrt. Die Begründung erstreckt sich bis zum Schluss
der Stelle; und Tacitus sagt, Germania, Germani, als Name des gesammten
Landes (C. 1), der Gesammtnation, sei neuern Ursprungs. Und zwar als solcher
a vietori ob metum beigelegt. Nämlich als eignend einer gens, den Tungern,
fand deren römischer Obsieger Germani vor und trug diesen Namen über — ob
metum : nicht gerade, sofern die Furcht die Maasse vergrössert, sondern indem
sie ihm zuraunte : die besiegten Germanen haben jenseits des Rheines zahlreiche
Stammverwandte. Die Furcht liess ihn davon absehn, dass die jenseitigen Völker
jedes seinen Germanen beigeordnet und anders benannt, hiemit auch andere
seien. Sie dachte nicht an die trennenden Unterschiede, sondern nur an das
Gemeinsame aller dieser Völker; und es überwog das Bewusstsein, den Theil
eines Ganzen besiegt und nunmehr das übrige Ganze gegen sich zu haben. Das
aber sagt Tacitus nicht, dass als früherer (vielleicht ältester) Name der Tun-
gern Germani durch die Römer aufgebracht sei; und der Umstand, dass er
‚dagegen die Uebertragung ausdrücklich den Römern beimisst, verleiht hier dem
Beweisgrunde vom Stillschweigen einiges Gewicht. Selbst in dem Falle jedoch,
dass als Name jener gens „Germani“ von den Römern herrühren sollte, ist das
Wort nicht nothwendig das römische, welches als Adjeetiv ohne Substantiv ganz
ungewissen Sinnes schwanken würde. Während gemeinhin Entgegensetzung der
Galli und der Germani im Bewusstsein der Schriftsteller haftet, werden weder
die Tungern noch die Deutschen überhaupt im Sprachgebrauche jemals wie Gall
germani bezeichnet; der Gallus germanus, nicht Germanus, Seneka’s (de
morte Olaudii) gehört vielmehr gen Lugdunum (vgl. Holtzmann S. 49).
Um so weniger ist diese Benennung eines nichtrömischen Volkes für das
römische Appellativ zu halten, da dasselbe Wort I‘ Eguavıoı als ein Volksname
schon beim Griechen Herodot (1, 125) vorkommt; und zwar erscheinen auch
diese Germanier als eine gens einer natio (vgl. über den begrifflichen Unterschied
Holtzm. S. 43), als ein Stamm des Perservolkes, das durch seine Sprache, also
auch nach seiner Abstammung den Deutschen verwandt ist. Mit der Thatsache
dieser I’ souavıoı allein und unmittelbar beweise ich nicht weiter, sondern
nehme von ihr, da der Name sich nunmehr, wie zuletzt im Westen des Rheines
so auch östlich vom Tigris vorfindet, erneuten Anlass, mich um seine Bedeutung
zu erkundigen. !
In der Mischna (Negaim 2, 1.) wird Germani als der Weisse und zwar
blendend Weisse dem Kuschi d. h. dem Mohren entgegengesetzt. Begreiflich
gibt ersterem Worte der Hebräer Maimonides eine hebräische Etymologie :
von gerem = Knochen bedeute es: wie ein Knochen so weiss. Allein auch
das correlate Kuschi, Name eines nicht einmal semitischen Volkes, ist kein
hebräisches Wort, und wenn beide Ausdrücke an andern Orten auf die Haut-
farbe bezogen und von weissen und dunkelfarbigen Juden ausgesagt sind, so
*) Ceterum Germaniae vocabulum recens et nuper additum, quoniam qui
primi Rhenum transgressi Gallos expulerint ae nune Tungri, tune Germani
vocati sint. ita nationis nomen, non gentis, evaluisse paulatim , ut omnes primum
a victore ob metum, mox etiam a se ipsis invento nomine Germani vocarentur.
o Me
deutet in der Stelle Jalkut fol. 44, Col. 2 : Allenthalben verkauft der Weisse
(Germani) den Schwarzen (Kusehi), die Sache genugsam an, dass wie Kuschi
‚auch Germani eigentlich Volksbezeichnung ist, jenem Gebrauche des Wortes
gemäss die weisse Race bezeichnet. Der Spruch geht offenbar auf das thatsäch-
liche Verhältniss zurück, dass überall, wie in Indien und am rothen Meere
so auch in Aegypten und Palästina, dunkelfarbige Urbevölkerung von einem
eingewanderten Volke helleren Colorits unterjocht worden und annoeh unterdrückt
wurde (S. 1 Mos. 9, 25. 5 Mos. 2, 22; Zeugnisse bei v. Bohlen, das A. Indien
I, 47 — 49, und vgl. Wellsteds Reisen in Arabien, deutsch herausgegeben von
Rödiger, I, 201 ft.).
Wenn nun seinerseits Kuschi ursprünglich der Schwarze bedeutet (s. Zeit-
schrift der D. morgenländ. Gesellschaft IX, 769), so dürfte leicht auch das
talmudische German? zunächst eine Farbe ausgesagt haben, so dass nicht erst
aus dem Sachverhältnisse, dass die Germanen weiss sind, dieser Gebrauch des
Wortes sich entwickelte. Da ist nun zuvörderst mit dem persischen germ,
sanskritischen gharma, dem deutschen warm nichts anzufangen, obgleich die
Begriffe Glanz und Gluth, in der Wirklichkeit oft vereinigt, in mehreren he-
bräischen Wörtern übereintreffen. Heiss hängt mit weiss ursprünglich so wenig
zusammen wie calor mit color, und am nächsten liegt die Ableitungssylbe man,
welche auch sonst im Sanskrit sehr gewöhnlich. Ich knüpfe unser Wort an das
sanskritische kara, eine Benennung des Civa oder Mahädewa, welcher der einzige
weisse Gott der Inder, dessen Bildsäulen folgerichtig aus weissem Steine verfertigt
werden. Indem daneben hari, Name des Gottes Wischnu, noch im Sprach-
gebrauche gelblich, fahl fi. bedeutet, gebe ich auch dem Worte hara (eig. der
hinwegnimmt u. Ss. w.) weiter den Begriff des blendend Weissen (eig. oculos
rapiens); und wie von käla, schwarz, käliman, die Schwärze, kommt, so
von hara eine Ableitung hariman, welche zunächst die Weisse bedeuten
konnte : nach Analogie von Adjektiven wie brahmanja würden die Teouerıoı
gut sanskritisch harimanjäs geheissen haben. Warum wir nicht unmittelbar
auf hari greifen, erhellt zum Theil aus dem schon Gesagten, und wird noch
weiter aus dem Folgenden klar hervorgehn. Betrefiend den Wechsel von sanskr.
h und dem g, erinnern wir an hanu, das lateinische gena; an hansa, Gans;
ha =ye u. s. w.
Wenn der Name also die Weissen bedeutet, und wenn zugleich, den An-
gaben von Tacitus und Herodot zufolge, Germanen, Germanier ein einzel-
ner Volksstamm hiess, so wird mit Beiziehung der weissen Hautfarbe, welche
an den nördlichen Völkern, z. B. den Gothen, auffiel und vielfach von Römern
und Griechen bezeugt ist, nichts ausgerichtet. Auch Hinweisung etwa auf die
Aegvr00 v90L kann nicht viel helfen; und eben so wenig trägt es uns aus, dass
der russische Edelmann seinen Bauer den Schwarzen nennt, oder dass bei den
Mongolen der Vornehme weissere Knochen hat. Nämlich der Weisse zwar im
Talmud, welcher den Mohren verkauft, besagt den Angehörigen des Herrscher-
volkes, das im selben Lande wohnt mit einem andern, und jene weissen Syrer
tragen ihren Namen zum Unterschiede von rothen oder überhaupt dunkler gefärbten:
dagegen jene Germanen, die Tungern, wie ohne Zweifel auch der persische Stamm,
wohnten für sich in einer Gegend zusammen, ohne Untermengung Dunkelfarbiger ;
und die coordinirten Stämme hatten ohne Zweifel ebenfalls eine weisse Hautfarbe.
Sollen wir eine hellere Weisse annehmen, einen graduellen Unterschied setzen ?
und wie beweisen wir ihn? Ein Volksstamm ist nicht eine „Kaste* (sanskr.
*
— 15 —
= varna, eig. — Furbe); und sollten die vornehmen Pasargaden dunklerer
. Färbung als die Germanier gewesen sein? Betreffend die Letztern, so gebricht
es an Handhaben zu einer schliesslichen Entscheidung; für diejenigen Germanen,
um welche es uns eigentlich zu thun ist, liegt die Lösung eben in dem Umstand,
dass sie zuerst, den Rhein überschreitend, mit den Galliern in Berührung kamen.
Tacitus sagt nicht, die Tungern hätten sich selber Germanen genannt. Das
" Wort Germani ist gallisch : so als die Weissen bezeichneten Gallier die fremd-
ländischen Ankömmlinge. Aber waren denn die Gallier dunkler gefärbt? Wenn
yrapeus was KVapeus, wenn [@A«ra@t wahrscheinlich dasselbe Wort ist,
wie Keirtat, so könnten die beiden Namen mit Kaluriaı zusammenhängen,
der Benennung eines indischen Volkes Herod. 3, 38. vgl. 97. Diese sind
dunkler Hautfarbe (Herod. e. 101.); und Kalariat kommt also vermuthlich,
indem die Endung tja auch im Sanskrit Adjeetive ableitet, von käla, schwarz
(vgl. das deutsche Kohle, das türkische kara). Dann aber ordnen sich auch
zu käla die Galli, Angesichts der Germani, gleichwie in dem Spruche : kälimä
kälakütasja näpaiti harasangamät (Hitop. III. 4, 20.) käla und hara
sich gegenüberstehn. Somit nun aber wären die Gallier im Vergleiche zum
blendenden Weiss der Germanen allerdings dunkler gefärbt, — nicht nothwendig
1 ‚schwarz, eher matter Färbung, farblos, blass. Käla bezeichnet auch als Sub-
stantiv den Tod, das Erblassen; gär ist im Neupersischen zugleich sehr weiss
und sehr schwarz, gültig für nie und pix; und unser blass, identisch mit black,
ist im Englischen erst schwarz geworden. Ihre Einheit haben beide Wörter im
sanskritischen valaxa, weiss, woher ] lehusyot, und weiter die candida avis,
TVEIROYOS ; zu diesem Ende aber muss auch valaxa eigentlich überhaupt das
Farblose ausgesagt haben. Dass auch die Kelten eine indo-germanische Sprache
redeten, haben wir hier nicht zu erhärten; schon ein Name wie Gyptis (Justin.
43, 3.) und dass sie das Wasser tur nannten, reicht zum Beweise hin. Den
Namen Germani nun, der sich zu ] Eguavıoı verhält wie laAaraı zu
Kebkeariaı ‚ lernten die im Lande stehenden Römer von den Galliern; und als
sie noch andere Völker gleicher Farbe, Sprache, Sitte u. s. w. kennen lernten,
gaben sie ihnen desshalb, nicht od metum, denselben Namen. Und wie steht
es mit der Benennung Tungri? Als nachgerade alle Deutschen German? hiessen,
taugte das Wort auch nicht mehr zur unterscheidenden Bezeichnung eines ein-
zelnen Stammes; derselbe legte diesen Namen ab und — nannte sich fürder Tun-
gern? Aber nicht sie sind es ja, welche sich vorher Germanen genannt haben :
welches war denn wohl ihr einheimischer, ursprünglicher Name, den sie geführt
schon vor ihrer Ueberschreitung des Rheins? Ich denke : eben Tungern. Mit
dem Absterben des fremden Germani kam jener von selbst wieder auf und auch
bei den Römern in Curs, nachdem er die Zwischenzeit über sich ebenso im
Volke selbst erhalten hatte, wie manche semitische Städtenamen, welche nach
der griechisch-römischen Periode unter der Herrschaft der Araber wiederum zur
Geltung gelangt sind. B.H.
Die drei Geheimnisse des Rufes bei Ignatius.
Von G. VOLKMAR.
Der gewöhnliche Text ad Eph. ce. 19 nennt „die Jungfrauschaft Maria’s, ihre
Geburt und den Tod des Herrn drei Geheimnisse des Rufes, die in der Stille
E23
— 146 —
b
Gottes erfolgten (T ia wworrgue x00vynS) ; dem Teufel blieben sie unbekannt,
sie seien aber offenbar geworden durch den Stern, der alle andern überstrahlte*.
Räthselhaft. Baur (Entst. des Episcop. $. 176 f.) will in jenen drei That-
sachen gleichsam „drei Worte des lauten Geheimnisses“ finden, das Gott in
aller Ruhe veranstaltete (?), der Teufel aber nicht erkannte. Dem Teufel war
jedoch der Kreuzestod gar nicht unbekannt, er hat ihn selbst herbeigeführt
(Luce. 22, 3) und er sah selbst zu (ad Trall. e. 9). Hilgenfeld (Ap. V.
S. 255 f.) denkt hinzu : der Tod Jesu Christi „als des Sohnes Gottes“; das
heisst aber interpoliren, und kann denn uVOTrgL« 20@V0yng (schreienden Rufes)
so vag gedeutet werden : „lautes“ Geheimniss? Nun sagt der syrische Text
(ed. Cureton p. 35): „dem Fürsten der Welt blieb verborgen die Jungfrauschaft
Maria’s, die Geburt des Herm und drei Geheimnisse des Rufes, welche in der
Stille Gottes vollbracht wurden von dem Stern an (&rcc ToV 078908)“. Cu-
reton (p. 286) findet das jedoch kaum verständlich, vielleicht sei an den Lob-
gesang bei der Geburt des Herrn (Luc. 2, 14) zu denken (dc&u, eiorvn,
evdoxi?), Bunsen will den Text stark ändern, Ritschl (Altk. K. 8. 577 £.)
erinnerte an die Rufe bei der Taufe und bei der Verklärung (Matth. 3, 15;
17, 7 par.) und schlägt vor zu lesen 7@& statt role. Hilgenfeld (8. 275 £.)
sieht hierin das Zugeständniss, dass dieser angeblich erste und echte Ignatius-
Text unhaltbar sei; er zeige sich hier besonders evident secundär, auf Missver-
stehen des „allerdings schwierigen“ griechischen beruhend ; unbegreiflich ist ihm
auch, wie man „seit“ dem Sterne interpretiren könne. Lipsius (Zeitschrift für
histor. Theol. v. Niedner. 1856. I.) räumt das Recht zu jenem Schluss ein,
wenn da nur mit Textänderungen zu rathen sei. Doch sei Alles in der Ord-
nung, wenn man nur ein ausserkanonisches Evangelium unterstelle,
welches nach der Erscheinung des Sternes (denn das heisst ar, wie es der
Syrer verlangt) ausser jenen beiden Rufen noch einen dritten ähnlichen enthalten
habe. „Man wisse ja so wenig von der ältern Evangelienliteratur; es könnte
also“ u. s. f£ Wie aber, wenn die ganze Schwierigkeit nur daran läge, dass
man von unserer Evangelienliteratur gewöhnlich so wenig weiss, dass einmal
seit Griessbach (oder vielmehr schon von Tertullian und Augustin an) das kür-
zeste der vorjohanneischen Evangelien für so ganz arm und abhängig erklärt,
in den Winkel gesetzt und der vulgären Theologie geistig fast abhanden ge-
kommen ist. Im Evangelium Marei stehen ja offen genug diese drei Geheim-
nisse des Rufes : 1) bei der Taufe : „Du bist mein Sohn, der Geliebte“; 2) bei
der Verklärung : „Dies ist mein Sohn, auf ihn höret*, und 3) beim Tode er-
schallt die diesen ganz parallele Stimme : „Dieser war wirklich der Sohn Gottes“.
Diese Erfüllung der beiden andern ist der Ausruf jenes Hauptmannes, der am
Kreuz (unmittelbar am Kreuze selbst, ohne jüdische Vermittlung) der Vorbote
des gläubigen Heidenthums wird, aber nur der Wiederhall von dem geheimniss-
vollen Schrei, mit welchem der Herr bei Marcus (14, 37) verscheidet und durch
welchen eben der Hauptmann zu dem Gedanken und Ausruf gebracht wird
(orı ovrw x00.S0g eSertvevoev). Die Folgenden haben den Zug nicht mehr
verstanden und daher beseitigt. Es gehören aber die drei geheimnissvollen Rufe,
„er ist der Sohn Gottes“, die beim Beginn, beim Höhepunkt und am Schlusse
der Erscheinung Christi hier erschallen, gerade zur Ausführung des Thema's,
welches dies Evangelium sich gesetzt hat (1, 1) : „Die frohe Botschaft von Jesu
Christo, dem Sohne Gottes.“ Ignatius (oder Pseudo-Ignatius, gleichviel)
will also sagen : dem Fürsten der Sinnenwelt blieb Alles verborgen, wodurch
a 147 u
die Göttlichkeit Jesu im Evangelium schon äusserlich bekundet wird : 1) dass
die Mutter eine Jungfrau ist (Lue., Matth.); 2) die Art seiner Geburt unter so
wundervollen Umständen, dem Lobgesang der Engel, der Anbetung der Hirten
(Lue.), dem Sterne, der die Weisen zur Anbetung leitete (Matth.), und 3) die
drei heiligen Rufe, welche vom Himmel wie_von der Erde her laut seine Gött-
lichkeit erklären, hier durch Christum selbst, durch seinen geheimnissvollen Ruf
(xgavyı‘) veranlasst (Marc.). Das böse Prinzip, wie die Sinnenwelt überhaupt,
ist ja auch so kurzsichtig, um Nichts von dem zu vernehmen, was in der Stille
Gottes, auf dem Gebiete des Geistes und des geistigen Glaubens wahrlich zu
sehen und zu hören ist. — Es bedarf hier keinerlei Hypothese. Am Texte des
Syrers ist nichts zu ändern; er ist hier zugleich der ursprüngliche, den man
nur später nicht mehr verstanden und darnach geändert hat. Auch fehlt bei den
ältesten Benutzern der merkwürdigen Stelle (Orig. in Luc., „Theoph.“ in Matth.,
Pseudo-Ign. ad Philipp. c. 8. Vgl. Cureton, p. 158 sq.) der „Tod“, der nun
von dem Ueberarbeiter mit hereingezogen wurde. Erst das vierte Jahrhundert
kennt den depravirten Text dieser altchristlichen Sentenz vom „dummen Teufel“.
Die deutschen Rechtssprüchwörter.
Von E. OSENBRÜGGEN.
Die Wichtigkeit der deutschen Rechtssprüchwörter für das Studium des
deutschen Rechts ist ebenso oft anerkannt worden, als die Unvollständigkeit
und Unzulänglichkeit der alten Sammlung Eisenhart's. Zwar ist vor Kurzem
(1854) ein Buch erschienen, das sich als neue Sammlung ankündigt : „Paroemia
et regule iuris Romanorum, Germanorum, Francogallorum, Britannorum; edidit
Leop. Volekmar“; allein dieses Buch ist ganz unbrauchbar; es ist ohne alles
Verständniss der Aufgabe unternommen und ohne alle Kritik gearbeitet. Sehr
passend wäre eine einleitende Vergleichung der römischen regul® iuris und der
deutschen Rechtssprüchwörter gewesen, aber dazu fühlte der Verfasser sich wohl
nicht befähigt und wir wollen ihm aus dieser Unterlassuug keinen Vorwurf
machen; was soll man aber von einem Schriftsteller denken, der unter den
römischen regul® iuris aufführt : Cogito, ergo sum; non entis nulle sunt qua-
litates; charitas ordinata ineipit a se et suis; camum non venit appellatione
vini; acetum vini appellatione non venit; non licet corrupta frumenta vendere;
episcopi eirca nepotes et consanguinei ezei dieuntur, ete.?* Dem alten Eisen-
hart nachbetend,, führt er ferner deutsche Rechtssprüchwörter auf, die nur
Sprüchwörter sind, aber mit dem Rechte in keinem direecten Zusammenhange
stehen. Wenn man nun aus diesem Opus bloss entnehmen kann, wie die Sache
nicht anzugreifen sei, so steigert es doch den Wunsch, es möchte bald die
Aufgabe von befähigter Hand gelöst werden. Es fehlt in Deutschland nicht an
Männern, die es könnten; vielleicht wäre das Gelingen erleichtert und mehr
gesichert, wenn mehrere, die von verschiedenen Seiten ihr Studium den deut-
schen Rechten widmen, sich zu solchem Zwecke vereinigten. Die grösstmögliche
Vollständigkeit würde so erreicht werden, zumal wenn die Collaboratoren in
verschiedenen Gegenden Deutschlands und der deutschen Schweiz in ihren
Kreisen auf die wirklich im Volk gangbaren Rechtssprüchwörter vigilirten. —
Eine Classifieirung der Rechtssprüchwörter wäre nöthig. Eine Art derselben
bilden die populären Rechtssprüchwörter, welche seit lange im Munde des
— 148 —
deutschen Volkes gelebt haben und ein gutes Stück seiner Nationalweisheit ent-
halten, z. B. : „was man schreibet, das bleibet“; „gezwungen Eid ist Gott
leid“; „wer will hadern um ein Schwein, der nehm’ eine Wurst und lass’ es
sein“. (Es ist besser ein magerer Vergleich als ein fetter Prozess). Diese popu-
lären Rechtssprüchwörter sind oft sehr sinnig, oft sehr derb (z. B.: „wo sich
der Esel wälzt, muss er Haare lassen“, zur Bezeichnung des Gerichtsstandes
des begangenen Verbrechens); enthalten hausbackene Prosa oder haben einen
poetischen Anstrich; geben eine schlagende Wahrheit oder haben eine gefährliche
Doppelnatur, z. B. : „Noth hat kein Gebot“; „ schweigst du still, so ist's dein
Will’“; „Nüchtig Mann, schuldig Mann“. Diese letztern, die man zweischneidi-
gen Sehwertern vergleichen karn, verdienen eine besonders sorgfältige Behand-
lung und müssen in Beziehung gesetzt werden zu der Art und Weise, wie im
Volksleben die Sprüchwörter überhaupt gebraucht werden. Wird im ‘Norden
Deutschlands, und wohl nicht bloss dort, etwas erzählt oder besprochen, so ist
man sicher, dass einer aus der Gesellschaft die Quintessenz des Ganzen oder
eine Auffassung der Sache in einem Sprüchwort wiedergibt; dabei ist es aber
ein eigener Zug, dass aus der reichen Fülle der Sprüchwörter auch die schnur-
gerade sich entgegenstehenden Dinge mit Sprüchwörtern belegt werden. „Ein
Mann, ein Wort!“ ist das schönste Sprüchwort, aber : „besser geschworen, als
verloren!“ reimt sich sehr gut. Die bedenkliche Moral in: „einmal ist kein-
mal!“ ist ebenso bequem, als der Spruch zungengerecht. — Nicht wenige Sätze,
die in Deutschland als Rechtssprüchwörter gebraucht werden, finden sich ihrer
Wahrheit wegen auch in den Rechten anderer Völker, und einige derselben sind
vielleicht erst mit dem römischen Recht in Deutschland eingebürgert, z. B.:
„zu viel Recht ist Unrecht (summum ius summa iniuria) “; „selig ist der Be-
sitzer (beatus possessor)*; „eines Mannes Red’ eine halbe (keine) Red’, man
verhör’ sie alle beed’ (audiatur et altera pars)*. Die in diesem letzteren Satze
ausgesprochene Forderung ist übrigens so natürlich, dass an eine Entlehnung
desselben aus dem Lateinischen nicht nothwendig zu denken ist. Mehrere Rath-
haussäle haben schon in sehr alter Zeit diesen Fundamentalsatz der Gerechtigkeit
zur Inschrift erhalten. — Von den Rechtssprüchwörtern im Munde des Volks
sind zu sondern die Sprüche von tiefer juristischer Bedeutung, welche nicht
Gemeingut werden konnten, sondern auf den Kreis der Juristen beschränkt
blieben oder doch nur von diesen ganz verstanden wurden, wie es auch in Rom [
mit vielen regul® iuris der Fall war. Dahin gehört z. B. : „Jahr und Tag ist
die rechte Gewähr“; „Hand muss Hand wahren“, und : „wo ich meinen Glau-
ben gelassen, da muss ich ihn wieder finden“; „ist das Bett beschritten, ist
das Recht erstritten“; das in der deutschen Schweiz gebräuchliche : „Weibergut
kann weder wachsen noch schwinen (schwinden)*; „der Todte erbet den Leben-
digen (le mort saisit le vif)“, ete. Ganz besonders für die wissenschaftliche
Behandlung dieser Klasse von Rechtssprüchwörtern würde die freilich schwierige
Aufgabe entstehen, die Zeit ihrer Entstehung zu ermitteln. Es ist z. B. der
bekannte Spruch : „Willkühr bricht Stadtrecht, Stadtrecht bricht Landrecht,
Landreeht bricht gemein Recht,“ erst in diese Form gekommen, als schon die
fremden Rechte als subsidiäres Recht aufgenommen waren; im sächsischen Weich-
bild, Art. 24, finden wir eine ganz andere kurze Form : „wente gelovede
briet allerhande recht, dar man dat getügen mag“.
Bei Meyer & Zeller in Zürich ist in Commission erschienen und durch alle
Buchhandlungen zu beziehen :
Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich.
EUR
B Erster BanD.
ei "Die keltischen Grabhügel im Burghölzli bei Zürich und die Gräber auf der Forch,
1'/, Bogen mit 1 Kupfertafel und 2 lithographirten Blättern, von Ferdinand
Keller . . k 20 N Ner. oder 1 fl. 12 kr.
2. Die römischen Gebäude bei "Kloten, 217, Bogen mit 2 Kupfertafeln und 2 litho-
graphirten Blättern, von Ferd. Keller e 20 Ngr. oder 1 fl. 12 kr.
3. Ausgrabungen auf dem Uetliberg, auf dem Lindenhof in Zürich, auf dem Enti-
büchel beim Balgrist; Graböffnungen su Russikon, beim Kloster Dänikon,
zu Würenlos, Bonstetten, Altstätten, Nänikon, Thalweil und Birmenstorf;
die ältesten Waffen von Stein und Erz, 2!/, Bogen mit 2 Kupfertafeln und
Holzschnitten, von Ferd. Keller 2 20 Ngr. oder 1 fl. 12 kr.
4. Der Grossmünster in Zürich. I. Geschichte, 1?/, Bogen Far 2 Kupfertafeln, von
} Kirchenrath Dr.. Vögelin . 0 Ngr. oder 1 fl. 12 kr.
5. Der Grossmünster in Zürich. I. Architectur, 2 Ne mit 2 Kupfertafeln und
Holzschnitten, von Ferd. Keller . & 20 Ngr. oder 1 fl. 12 kr.
_ 6. Der Kreuzgang beim Grossmünster in Zürich, 1 Bogen mit 16 Kupfertafeln,
von Kirchenrath Dr. Vögelin ® - 3 Thlr. oder 5 fl. 24 kr.
7. Die ältesten Münzen von Zürich, 31/, Bogen mit 1 Kupfertafel, von Dr. Meyer-
Ochsner 20 Ngr. oder 1 fl. 12 kr.
NS. Hadloub’s Gedichte, 7 Bogen mit 1 Kupfertafel, von Prof. Dr. Ettmüller.
25 Ngr. oder 1 fl. 21 kr.
9. Description des tombeaux de Bel-Air pres Cheseaux sur Lausanne, 21/, Bogen
mit 5 Kupfertafeln und 2 lithographirten Blättern, von Frederie Troyon.
Y 2 Thlr.. 15 Ngr. oder 4 fl. 30 kr.
- Haupttitel, Einleitung, Mitglieder- und Inhaltsverzeichniss, Zusätze und Ver--
_ — — —_ besserungen zu den eben genannten Schriften, 1%), Bogen 6 Ngr. od. 20 kr.
Zweiter BanD.
1. Die Stiftung des Klosters Kappel und das Geschlecht der Freiherren von Eschen-
} Be, 1'/, Bogen mit 1 Kupfertafel und 1 lithographirtem Blatt, von Prof.
3 . Heinrich Escher : ; 20 Ngr. oder 1A. 12 kr.
‚2. Geschichte der Inseln Ufenau und Lützelau im Zürichsee, 3 Bogen mit 1 Kupfer-
tafel und 2 lithogr. Blättern, von F. Keller 20 Ngr. oder 1 fl. 12 kr.
e B. Die beiden ältesten deutschen Chroniken von Zürich, 8'/, Bogen, herausgegeben
3 von Prof. Dr. Ettmüller . ” a & 1 Thlr. 7!/, Ner. oder 2 fl.
4. Sechs Briefe und ein Leich, nebst einigen Bemerkungen über die Frauenliebe des
er Mittelalters, 2'/, Bog. mit 1lith. Blatt, v. Dr. Ettmüller, 20 Ngr. od. fl. 1. 12.
5. Helvetie et Retie inseriptiones roman® quoquot adhuc innotuerunt collectz et
. Ülustrate ab Io. Casp. Orellio, 12'/, Bogen 1 Thlr. oder 1 fl. 48 kr.
6. Beschreibung einiger Grabhügel bei Basel, 2 Bogen mit 2 Kupfertafeln und 1
Yu Holzschnitt, von Prof. W. Vischer . & 17!/, Ngr. oder 1 Al.
#7. Althelvetische "Waffen und Geräthschaften, 11/5 Bogen mit 2 Kupfertafeln und
1 Holzschnitt, von Ferd. Keller 5 e 1717, Ngr. oder 1 fi.
. Bracelets et agrafes helvetes, 1 Bogen mit 1 Kupfertafel und 2 lithographirten
Blättern, von Fred. Troyon s . 171/, Ngr. oder 1 fl.
La bataille de Grancon, 23/, Bogen mit 3 Kupfertafeln, von Prof. Fred£ric
Du Bois : Ä 171/, Ngr. oder 1 fi.
. Die alten Panner der schweiz. Urkantone, 11%, Bogen. 1) Die Panner des Standes
Uri, mit 1 col. lith. Blatte, v. Hrn. Lusser, Dr. Med. in Altorf; 2) die Panner
des Standes Schwyz, mit 1 col. lith. Blatte, v. Hrn. Obrist Alois v. Reding
in Schwyz; 3) die Panner des Standes Unterwalden nid dem W ald, mit 1 col.
lith. Blatte, v. Hrn. Hauptm. v. Deschwanden in Stanz, 17!/, Nor. oder 1fl.
11. Eidg. Schlachtlieder mit Erläut. v. Prof. Ettmüller, 23/, B. 121% Ngr. od. 44 kr.
12. Notice historigue sur quelgues monumens de l’aneien Fvöche de Bale, 21/, Bog. mit
2 lith. Blättern, v. Mr. Quiquerez, prefet de Del&mont, 25 Ngr. od. fl. 1. 24.
. Facsimile eines von Nielaus von der Flüe im Jahr 1482 an den Stand Bern gerich-
. teten Schreiben, mit Bemerkungen von Archivar Gerold Meyer von Knonau,
1/ Bogen mit 1 lithogr. Blatte . £ 11'!/, Ngr. oder 40 kr.
4. Historische Notizen über das Stift und die Kirche zum Grossen Münster in Zürich,
9. Prof. $. Vögelin, und nachtr. Bemerkungen über die Bauart des Münsters,
2%, B. mit 4 Kpft. und 2 lith. Blät., v. F. Keller, 2 Thl. 15 Ngr. od. fl. 4. 12.
1)
1)
18
Titel: „Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich“, findet eine Prei -
ermässigung statt.
. Geschichte des Klosters Kappel im Kanton Zürich, 2!/, Bogen mit 2 Kupfertaten,. |
. Die Bracteaten der Schweiz, 11 Bogen mit 3 lithogr. Blättern, von Dr. "Heinr.
. Alberti de Bonstetten descriptio Helvetix, 2 Bog. mit Holzsch. 7 Ngr. oder 24 kr.
. Die alten Wandverzierungen in einem ehemaligen Chorherrenhause in Zürich,
. Allgemeine Bemerkungen über die Heidengräber in der Schweiz, 5!/, Bogen mit
. Benedictiones ad mensas Ekkehardi IV monachi Sangallensis; Doctordiplom des
. Ueber Ursprung und Bedeutung der Wappen mit Bezug auf eine alte Wappenrolle
. Das alte Necrologium von Reichenau, im EN herausgegeben und mit einem
. Die ng des Kantons Zürich; aus den Urkantonen Pekammelk und erläutert
. Beschreibung der Burgen Alt- und NR von Dr. F. Keller, 4 Bogen 3
. Chronik von Rapperswil vom Jahre 1000 bis zum Jahre 1388, herausgegeben von 4
. Beschreibung eines aus dem 14. Jahrhundert stammenden Brautschmuckkästchens,
. Alamanische Formeln und Briefe aus dem 9. Jahrhundert, von Prof. Dr. Fr. von
. Bilder und Schriftzüge in den irischen Manuscripten der schweiz. Bibliotheken,
. Geschichte der Abtei Zürich, von G. v. Wyss, mit Beilagen, 81/, Bogen mit 4
. — — Fortsetzung, 11 Bogen mit 1 "Kupfer 5 1 Thlr. 6 Ngr. oder 2fl.6 kr.
. — — Fortsetzung, 22 Bogen mit 1 Kupfer, 2 Thlr. 16 Ngr. oder 4 fl. 15 kr.
a
. Die Schweiz in römischer Zeit, von Th. Mommsen, 24 Ngr. oder 1 fl. 24 kr.
. Die Winkelriede von Stans bis auf Arnold Winkelried, den Helden von Sempach, ;
. Die keltischen Pfahlbauten in den Schweizetseen, von Dr. Ferd. Keller.
Dritter Banp.
von Prof. S. Vögelin . . 20 Ngr. oder 1 fl. 12 kr. °
Meyer . . 27 Ngr. oder 1 fl. 30 kr.
1 Bog. mit 2 lith. Blättern; Beschreibung der helvetischen Heidengräber und
Todtenhügel, 5%/, Bogen mit 5 lith. Bl. v. F. Keller, 1 Thlr. oder 1 fl. 44 kr.
5 lithogr. Blättern, von F. Keller . . } 27 Ngr. oder 1 fl. 32 kr.
Magister Felix Hemmerlin von Zürich; Goldschmuck und christliche Symbole,
gefunden zu Lunnern im Kanton Zürich , 41% Bogen mit 2 lithogr. Blättern,
von Ferd. Keller . 5 . - z 18 Ngr. oder 1 fl.
Ya Buito.
Gerold Edlibach’s Chronik, unter dem Titel: „Mittheilungen der antiquarischen
Gesellschaft in Zürich, Band IV.“, 38 Bogen mit 4 lithogr. Blättern, brochirt,
2 Thlr. 12 Ngr. oder 4 fl.
Fünfter Banp.
Beschreibung der Collegiatkirche und des Schlosses zu Neuchatel, von Professor
Duo... ve 3 a 7 Thlr. oder 12 fl.
0: Biko:
der zürcherischen Stadtbibliothek, von Ir Friedrich v. Wyss, 4, Bogen
nebst 3 colorirten Tafeln . . 24 Ngr. oder 1 fl. 24 kr.
Commentar versehen, von Dr. Ferd. Keller. 1. An OlnnE- 4!/, Bogen mit 13
autogr. Blättern ® E 22 Ngr. oder 1 fl. 16 kr.
von Dr. H. Meyer, 14!/, Bogen \ . 1 Thlr. 4 Ngr. oder 1 fl. 56 kr.
nebst 6 lithogr. Blättern . { 24 Ngr. oder 1 fl. 24 kr.
Prof. Dr. Ettmüller, 21), Bogen . . > : 6 Ngr. oder 20 kr.
SIEBENTER BAND.
von Prof. Dr. Ettmüller, 2 Bog. mit 5 lith..Blättern, 24 Ngr. oder 1 fl. 24 kr.
Wyss, 5!/, Bogen mit 1 lithogr. Blatt = ; 24 Ngr. oder 1 fl. 24 kr.
gesammelt und mit Bemerkungen herausgegeben von Dr. Ferd. Keller, 5
Bogen mit 13 lithogr. Blättern - . 1 Thlr. 25 Ngr. oder 3 fl. 10 kr.
Achter Baxp.
1 Doppelstablstich . £ 1 Thlr. 6 Ngr. oder 2.6 kr.
NEUSTER Bao, II. Abtheilung.
(Noch nicht vollständig erschienen.)
nach Urkunden von Dr. v. Liebenau R 20 Ngr. oder 1 fl. & kr. 7
1 Thlr. 6 Ngr. oder 2 fl. 6 kr.
ZEHNTER BanD.
Inscriptiones confoederationis Helvetie latine, edid. Theodorus Momm sen, n
5 Thlr. 12 Ngr. oder 9 fl. 24 kr.
Bei Abnahme eines ganzen Bandes, aus mehreren Heften bestehend, unter dem
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er des
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_ WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS
in
BE ZÜRICH.
Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben :
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Ferpınanp Hırzıc, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, HEINRICH FRrEy, |
Bi ApoLr Scuwmipt, Epwarp BoRrık.
B' (Hauptred.: Aporr Scuuipr.)
|
BEZLUBEBE JALZESGATE:
Diertes und fünftes Heft.
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KK, 37
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EBENS>,
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VERLAG von MEYER & ZELLER.
- 1856. \
©
Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver-
fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet,
mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender
und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde-
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter
sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen,
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitgetheilt werden.
Inhalt des borliegenden Beites :
Diagnose des gegenwärtigen Zeitalters. Von A. Schmipr (Schlussartikel) 150
Die Individualität in der Natur, mit vorzüglicher Berücksichtigung des
Pflanzenreiches. Von Carı Nierıı (Ein Vortrag) . . .. . .. 171
Ueber die Druiden bei Cäsar. Von Fervinanp Hızzıs . . . ..... 213
Beitrag zur Lehre vom Versuch des Verbrechens. Von Ev. Osensrüsgen 217
era a N Rn N ARE a Zar
Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von StÄpELER, BoBrık,
Fritzsche, Frey, VıscHER, VoLKMAR, MEYER-AuRENs und Anderen.
Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des
Buchhandels erbeten.
Gegentwärtige Mitglieder des Wissenschaftlichen Vereins :
J.J. Horrınger, Präsident. ALex. Schweizer, Vicepräsident. DERNBURG, Sekretär.
Bosrık. Crausıus. Escher v. d. LıntH. H. Frey. Frıtzsche. Heer. HiıLDEBRAND.
Hırzıc. Ferv. Keıser. Kym. LeBEeRT. MEYER-OcHsner. Movsson. MÜLLER.
NäÄgEL1. OSENBRÜGGEN. RAABE. ScHLoTTmann. An. ScHmivr. H. SCHWEIZER.
G. SEMmPER. STÄDELER. F. VıschEr. VWoLKMAR. G: v. Wyss. ;
Druck von E. Kiesling in Zürich.
DIAGNOSE
GEGENWÄRTIGEN ZEITALTERS.
‘ie Von ADOLF SCHMIDT.
wur
2 *x R (Schlussartikel.)
u
RR: Die Zwittertriebe der Bewegung.
Wir haben bisher der extremen Freiheitsbestrebungen nur als
“
Handhaben der Einschüchterung gedacht. Treten wir jetzt näher an
sie heran; denn tnzweifelhaft nehmen sie eine bedeutungsvolle Stel-
lung in dem grossen Weltkampfe ein.
Alle extremen Freiheitsbestrebungen wurzeln auf dem abstraeten
Gleiehheitsprinzipe. Ihrer aller Wirkungen tragen Einen Charakter :
indem ‚sie den Absolutismus zu treffen glauben, treffen sie die Frei-
heit; und indem sie die Freiheit zu begründen gedenken, begründen
sie den Absolutismus. Denn wie in aufsteigender Linie mit dem
Extreme der Knechtschaft der Umsehwung zur Freiheit beginnt : so
ist allemal in absteigender Entwicklung das Extrem der Freiheit,
wenn es zur Herrschaft gelangt, entweder bei rascherem Wechsel die
provisorische Rückkehr zu der alten, oder bei ebenmässigem Gefälle
der definitive Keim zu einer neuen Gewaltherrschaft. Eben desshalb
war es der Reaction jederzeit ein so willkommener Verbündeter, und
für die Freiheit ein nicht minder gefährlicher Feind als die nackte
Herrschsucht selbst; ja ein noch gefährlicherer, weil es unter dem
Banner der Freiheit und daher anscheinend für sie ficht.
Und dennoch sind allen extremen Richtungen im Lager der
Freiheit, wie die Wirkungen, so auch die hauptsächlichsten Eigen-
schaften mit dem Despotismus gemein. Wie dieser nehmen sie die
Freiheit nur für sich, oder statt der Gleichberechtigung das Allein-
_ recht in Anspruch; gleich ihm, und im schneidendsten Gegensatze
[4
zur Idee der Freiheit, trachten sie damach, die sich selbst bestim-
mende Mannigfaltigkeit ‘der Entwicklung auf dem Gebiete des Staates,
der Religion, der Gesellschaft und des Völkerlebens, ein für allemal,
freilich in ihrem Sinne, zu nivelliren und zu uniformiren, streben also
_ neuerdings nach unitarischen, d. h. absolutistischen Bildungen. So
wurde denn auch im gegenwärtigen Zeitalter der Freiheitstrieb in
_ Wissenschaftliche Monatsschrift. \ 11
— 150 —
seinen Extremen immer wiederum zum Gegensatz seiner selbst, zum
Herrschtrieb. Einer Diagnose der Geschichte ziemt es nachzuweisen,
wie diese Umwandlung schrittweise vor sich ging.
1. DER ANARCHISMUS.
Auf politischem Gebiete bildet die Anarchie das Extrem des
Freiheitstriebes. Als örtliche. und vorübergehende Erscheinung, als
Revolution, hatte sie dieselbe Berechtigung wie die vulkanische Kraft,
die im Weltall nicht nur vernichtend, sondern auch schaffend wirkt;
oder wie der Krankheitsprocess, der unter Schmerzen das Uebel
heilt, aus dem er erwuchs. Aber als System, als Selbstzweck, als
Permanenz der Revolution, gleicht sie dem Vulkanismus, der in der
Hypothese von der Weltverbrennung das Ganze zerstört; oder der
zehrenden Krankheit, die das Leben zum Tode führt. Und eben
darin lag der Wendepunkt, dass die Anarchie zum Anarchismus, die
an sich berechtigte Naturerscheinung zum alleinberechtigten Endzweck,
ihre Kennzeichen zum System mit dem Anspruch auf Alleingültigkeit
ausgebildet wurden.
Der Anarchismus verkörpert den politischen Ekel. Alle Contro-
versen über Regierungsformen und Staatsverfassungen, über Volks-
vertretung und Gesetzgebung sind ihm gleichgültig; er will nichts
hören von Monarchie und Republik, von Aristokratie und Demokratie.
Uebersättigt von den staatlichen Streitigkeiten, will er ihnen den
Boden entziehen, den Staat ganz beseitigen. Die Ideen der
Freiheit und der Herrschaft sind ihm so sehr Eins, dass er eben als
ein Zwitter beider erscheint, und bald die eine mit der andern über
Bord wirft, bald im Wollen von der einen ausgehend, im Resultate
bei der anderen anlangt. So lehrte man denn : die Bedingung der
staatlichen Freiheit sei die gänzliche Abschaffung des Staates selber.
Nieht nur diese oder jene Staatsform, sondern jegliche Staatsgewalt,
jedwede staatliche Autorität müsse auf immer aus dem bürgerlichen
Leben verbannt werden; denn die wahre „Ordnung sei die Anar-
chie“ (Tanarchie c’est lordre). Es genüge, die Führung gemein-
samer bürgerlicher Angelegenheiten, wie etwa die Polizei, auf dem
Wege einfacher Association zu betreiben, oder sie einer Aktiengesell-
schaft auf dem Wege der Coneurrenz zu übertragen; doch sei Niemand
gebunden, auch nur hiezu mitzuwirken, da Niemand einen Willen
ausser sich anzuerkennen habe. So musste selbst der Schattenriss
eines Gemeinwesens verschwinden; es konnte nur ganz lose, äusser-
liche und zufällige Verbindungen zwischen den einzelnen Individuen
geben.
WFS rn et
— 151 —
Das also war die Summe der Thatsachen : der Anarchismus
wollte um der Freiheit willen keine einzige staatliche Autorität dulden ;
aber, um dies zu können, setzte er sich selbst an die Stelle des
Staates, maasste sich selbst die Autorität an, und zwang damit der
Freiheit eben das wiederum auf, wovon er sie erlösen wollte.
Worin liegt die Erklärung dieses psychologischen Räthsels? Das
eigentliche Objeet des ganzen Ringens im christlich germanischen
Weltalter war, wie wir sahen, von Anbeginn her die Erkenntniss und
Verwirklichung der Wahrheit gewesen; wie das Mittelalter um der
Wahrheit willen, weil sie die Eine sei, nach der Einheit gestrebt
hatte : so strebten auch die neueren Jahrhunderte um ihretwillen nach
x der Freiheit, weil diese allein die Form der Wahrheit sei. Da
begegnete es denn wiederholt den Ringenden, dass sie in der Lei-
denschaft des Kampfes Form und Object, Gefäss und Inhalt ver-
wechselten. Und darin nun bestand auch das Wesen des Anarchismus,
dass er im Ringen nach der Freiheit, als der Form der Wahrheit,
unwillkürlich nach der absoluten Wahrheit selber griff. Hierdurch
und durch seine dennoch behauptete gegenfüsslerische Stellung zum
Herrschtriebe waren alle weiteren Vorgänge bedingt. Der Anarchismus
» hielt alle vorhandenen Staatsordnungen für Lüge, während sie berech-
tigte Stufen im Entwicklungsgange der Freiheit sind; und statt daher
deren Fortbildung im Sinne der letzteren, die gleiche Berechtigung
aller politischen Willensmeinungen innerhalb des Staates zu erzielen,
gab er sich dem Wahne hin, man brauche die vermeintliche Lüge
nur umzukehren, um im Besitze der Wahrheit zu sein. Er stellte
demnach die Pyramide des gegebenen Staates ohne Weiteres auf die
F Spitze. Kein Wunder, wenn sie zusammenbrach! Denn nun lastete
’ freilich nicht mehr der Druck eines Einzelnen oder einer Mehrzahl
F auf Allen, aber dagegen der Druck Aller auf den Einzelnen. Jeder
% war, nicht von einer organischen Gesammtheit, sondern von allen
Uebrigen als Einzelnen abhängig, also von dem Zufall oder von dem
guten Willen, dem Geschick und der Stärke Anderer. „Damit Alle
frei seien, solle Keiner herrschen“, hiess nichts -anderes als: es
soll Jeder herrschen, soweit er kann. Statt einer Gesellschaft von
Freien bekam man eine Gesellschaft von lauter Autokraten. Kein
- Einzelner, keine Minderheit war an die Aussprüche der Mehrheit
gebunden; denn man erkannte neben dem Einzelwillen keinen Ge-
sammtwillen und also auch keinen Ausdruck desselben in der Mehr-
zahl an. So fielen in der „Anarchie“ die gegnerischen Begriffe der
„Herrschlosigkeit“ und der „Allherrschaft“, der „Isolirung“ und des
„Krieges Aller gegen Alle“ thatsächlich zusammen. .
War demnach der Keim und Vordersatz des Anarchismus : die
Verwechselung der Freiheit mit der absoluten Wahrheit, so stellte
der Nachsatz, dass Freiheit gleichbedeutend mit Herrschlosigkeit sei,
eine weitere Irrung dar. Denn die Freiheit bestehit — wie nur in
der Gemeinschaft und nicht in der Isolirung — also auch nur mit
ihrem eigenen Gegensatze und nicht ohne ihn; aber sie will —
und das ist die äusserste Linie ihrer Bethätigung — diesen Gegen-
satz aus sich selbst heraus setzen; sie fordert, dass die Herrschaft,
die Autorität oder das Zwangsrecht, nur um der Freiheit willen, nur
durch sie und zu ihrem Schutze da sei.
Aus jenen beiden Sätzen indessen, einmal anerkannt, musste sich
mit Nothwendigkeit der Schlusssatz ergeben : dass folglich die Herrsch-
losigkeit die absolute Wahrheit auf politischem Gebiet verwirkliche.
Damit war der Trugschluss vollendet. Seine theoretische Consequenz
musste die Selbstvernichtung alles Lebens sein. Denn bedarf nun
einmal das Leben der Menschen des Sauerstoffes der Autorität eben-
sowohl wie des Stickstoffes der Freiheit, so muss es nothwendig
ersticken, sobald der eine oder der andere Bestandtheil die Lebens-
luft ausschliesslich bilden will. Wie aber in der Atmosphäre des
Erdballs niemals derartige Combinationen eintreten und also das
Menschengeschlecht nicht ersticken kann, wofern es sich nicht über
die höchsten Regionen der Wolken versteigt oder in die tiefsten
Schachten der Erde versenkt, — und wie eine gänzliche Zerstäubung
des Weltalls durch die abstossenden Kräfte der Natur unmöglich ist,
insofern ihnen fort und fort die anziehenden entgegenwirken : also
kann auch niemals jene theoretische Consequenz zu einer praktischen,
die anarchische Selbstvernichtung zur Thatsache werden, weil in der
Wirklichkeit ihr unablässig die Attractionskraft des Herrschtriebes
hindernd entgegentritt. Die praktische Consequenz des Anarchismus
ist vielmehr die, dass er weder zum Aufgange der Freiheit, noch
auch zum Untergange des Lebens führt, sondern eben nur die Kıy-
stallisation eines neuen Absolutismus oder die Reaction des alten
begünstigt.
Diese Thatsachen hatte schon die französische Revolution des
vorigen Jahrhunderts in ihrer Höhezeit offenbart. Damit Alle frei
wären, sollte Niemand über die Anderen herrschen: und die Folge
war, dass Jeder herrschte so weit er konnte, dass die Herrschlosig-
keit zur Allherrschaft wurde. Um der Tugend willen wollte man die
Sünde, im Interesse der guten Bürger die schlimmen vertilgen : und
die Folge war, dass die Allherrschaft zur Schreekensherrschaft gedieh,
deren letzte Consequenz, da Alle Sünder sind, die Vertilgung des
r
}
|
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|
4
— 153 —
ganzen Volkes, ja des gesammten Menschengeschlechts sein musste.
Dahin aber konnte es nicht kommen. Denn statt des Einen sollten
oder wollten eben Alle herrschen, und die Folge war, dass der
Stärkste an Glück und Geschick die Macht an sich riss, dass die
terroristische Allherrschaft zur terroristischen Einherrschaft wurde, dass
Robespierre so gut wie Ludwig XIV sagen durfte: „der Staat bin
ich“. Robespierre's Herrschaft konnte freilich nicht von langer Dauer
sein; denn sein Unglück war, dass er, am Ruder des Terrorismus
stehend, zwar jegliche Gewalt, aber keine Freiheit besass. Und seine
Schöpfung? die schliessliche Geburt dieser Zeit? Allerdings war sie
eine grossartige, nur hiess sie nicht „Freiheit“, sondern „Napoleon“.
Solchen Erinnerungen standen die letzten Jahrzehnte gegenüber;
die Reaction hatte nichts vergessen, der Anarchismus nichts gelemt.
Sein Wesen spiegelte sich in den extremen Freiheitsbestrebungen
der übrigen Gebiete wieder. In ihnen allen begegnen wir nur seinem
Ebenbilde.
2. Der Arheısuus.
Auf religiösem Gebiete wurde durch das Extrem des Freiheits-
triebes der sogenannte Atheismus zum alleingültigen System erhoben.
Wie der Anarchismus den politischen, so stellt der Atheismus
den religiösen Ekel dar. Alle Streitigkeiten über Bekenntnissformen
und Glaubensinhalt, über Dogmen und Symbole flössen ihm Wider-
willen ein; alle Confessionen erscheinen ihm gleich einfältig und
überflüssig; alle Debatten über Kirchenwesen und Kirchenregiment,
über Trennung von Staat und Kirche, als thöricht und müssig. Ein
Zwitter des religiösen Freiheits- und des religiösen Herrschtriebes,
sind ihm Religionsfreiheit und Religionszwang so sehr Eins, dass er
die eine bietend den anderen bringt. Denn weil ihm alle religiösen
Kämpfe zuwider sind, will er die Religion selber beseitigen,
um jenen den Boden zu entziehen. Wie daher der Anarchismus um
der staatlichen Freiheit willen die Abschaffung des Staates for-
derte, so lehrte der Atheismus : Um zur Religionsfreiheit zu ge-
langen, müsse man die Religion überhaupt abschaften.
Die erste Prämisse des Atheismus war wiederum die Identifiei-
rung der religiösen Freiheit mit der religiösen Wahrheit. Die vor-
handenen Religionen hielt er für Lüge, während sie gerade vom
Standpunkte der Freiheit aus sämmtlich als berechtigte Erkenntniss-
formen der Wahrheit gelten mussten; und statt daher nur die Gleich-
berechtigung aller Glaubensmeinungen, die Freiheit für jede Religion,
für jegliche Erkenntnissform mit Einschluss der atheistischen zu
verlangen, gab er sich dem Wahne hin, man brauche jene vermeint-
m .
>
— 154 — ‘
liche Lüge nur umzukehren, um zur absoluten Wahrheit zu gelangen.
Hiermit war die zweite Prämisse und der Schluss gegeben, wodurch
die Religionsfreiheit und die Religionswahrheit mit der Reli-
gionslosigkeit identifieirt wurden.
Als religiöse Denkweise war der Atheismus, gleich dem Pan-
theismus, wie immerhin man über ihn auch urtheilen mochte, vor
dem Forum der Freiheit, unter deren Fahnen er kämpfte, vollkommen
berechtigt; aber als System einer prätendirten absoluten Wahrheit
musste er in dasselbe freiheitswidrige Unrecht, in denselben Despo-
tismus verfallen, wie jedes Bekenntniss, das sich für das alleinselig-
machende hält: er trachtete zum Universalbekenntniss zu werden.
Wie der Anarchismus sich selbst an die Stelle des Staates, so wollte
der Atheismus sich selbst an die Stelle der Religion setzen, die re-
ligiöse Denkweise durch Verdrängung jeglichen positiven Glaubens
nivelliren und uniformiren. So erhob er die Negation auf den Thron
des Absolutismus und begründete statt der äussersten Freiheit die
äusserste Zwingherrschaft. Denn die Religion aufheben hiess : sie
verbieten; und die Religion verbieten hiess : die Religionsfreiheit
aufheben. Gewiss lag im Begriffe der letztern für den Einzelnen die
Befugniss, wofern er selber es. wolle, sich von einer bestimmten, also
auch gleichwie Spinoza von jeder Religion loszusagen; aber ebenso
auch die andere, sich einer bestimmten Religion nach eigener Wahl
anzuschliessen. Der Gesammtheit aller Einzelnen jene Lossagung
octroyiren, hiess also nur : ein neues Papstthum errichten.
Auch das hatte sich sehon im vorigen Jahrhundert unter den
Sturmschritten der französischen Revolution als thatsächliches Ergebniss
offenbart. Durch Deerete und durch Thatsachen wurde die positive
Religion, das Kirchenthum, abgeschafft, und der siegreich durch-
brechende Atheismus proelamirte die „Freiheit“, aber nicht in der
Gestalt der Gleichberechtigung, sondern in der der Religionslosigkeit.
Nicht alle Gemüther jedoch. konnten oder wollten hierin die Freiheit
erkennen : das Gewissen und das Selbstbestimmungsrecht widerstand.
Da wurde „die Stimme des Irrthums“ proseribirt; Gebete führten
selbst zur Richtstätte : die Religionslosigkeit wurde zum Terrorismus.
Denn „endlich einmal“ sollte der „Ruf der Wahrheit ertönen‘%
„Natur“, der „Vernunft“ ge-
opfert werden : der Atheismus, in der Gestalt des Vernunfteultus,
wurde zum Papstthum erhoben. Die Sinnlichkeit des positiven Cultus
liess sich aber nicht bannen, überrannte die Abstraction : die Vernunft
endlich einmal im Sinne Holbach’s der
wurde Fleisch, verkörperte sich im nackten Weibe zur sichtbaren
Gottheit, und breitete ihr lüsternes Joch über ganz Frankreich und
Ba
— 15 —
die deutschen Rheinlande aus. Nie ist die Religion unvernünftiger
gewesen, als da man die Vernunft vergötterte. Kein Wunder, wenn
dieses Zerrbild von kürzestem Bestande, nur der flüchtige Uebergang
zu einem neuen Absolutismus war! Auf Chaumette folgte Robespierre,
auf die Autorität Holbach’s die Autorität Rousseau’s : die Vernunft
trat ihr Regiment an das „höchste Wesen“ ab. Und was war das
schliessliche Ergebniss? Nieht die Religionsfreiheit, sondern der
Triumph der Reaetion. Auf Robespierre folgte Napoleon, auf die
neue Autorität Rousseau’s die alte des Papstes : das höchste Wesen
wurde im Namen Gottes und Jesu Christi confiseirt. Der Atheismus
mit seinen monarchischen alleinseligmachenden Prätensionen hatte sich
in unwillkürlichen Schöpfungen erschöpft und führte nun, anstatt die
Freiheit gefördert zu haben, mittelst dieser Erschöpfung in den Schooss
des alleinseligmachenden Katholieismus zurück. _ Dessen war er aber
in der Folgezeit minder als der Ultramontanismus eingedenk. Sein
Ziel blieb dasselbe : nicht Religionsfreiheit, sondern Religionslosigkeit.
3. DER ComauunIsamus.
Was der Anarchismus auf politischem, der Atheismus auf reli-
giösem Gebiete, das ist auf socialem der Communismus, der
Zwitter des socialen Freiheitstriebes. Mit ihm fiel der Socialismus in
seiner bisherigen Hauptrichtung, wie sie durch St. Simon, Fourier, Blane
u. A. vertreten wurde, als Abart zusammen. Es versteht sich von selbst,
dass die heute vielfach zur Mode gewordene Verwechselung des so-
eialen Freiheitstriebes mit dem Socialismus , oder socialer Ideen mit
socialistischen, wovon später die Rede sein wird, hier nicht in Be-
tracht kommen kann.
Der gemeinsame Kern der neuen Lehren lief darauf hinaus : um
die Freiheit der socialen Interessen herzustellen, müsse man die Ein-
zelinteressen selber ganz aufheben.
Wie der Atheismus innerhalb des religiösen Gebietes, so war
auch der Communismus und Socialismus innerhalb der Gesellschaft
unzweifelhaft ein berechtigtes Element; d. h. : eommunistische und
socialistische Genossenschaften konnten im Staate die gleiche Berech-
tigung wie jedwede andere Association von Interessen in Anspruch
nehmen. Allein, so wenig wie der Atheismus von Freiheits wegen
die Befugniss hatte, als absolute Heilswahrheit das ganze Religions-
gebiet für sich in Beschlag zu nehmen, die Alleinherrschaft auf
demselben sich anzumaassen, ebensowenig durfte auch der Communis-
mus und Soeialismus über jene Gleichberechtigung hinaus sich zu -
dem freiheitswidrigen Uebergrif? verleiten lassen, alle selbsständigen
E2
Einzelinteressen überhaupt verdrängen, die Gesellschaft seiner Al-
leinherrschaft unterwerfen zu wollen. Und doch ist es eben dieser
despotische Anspruch, der das Wesen der neuen Lehre eharakte-
risirte. Dr
Die erste Prämisse, die den Communismus und die Hauptrich-
tung des Socialismus zu ihrem Uebergriffe verleitete, war gleichwie
beim Anarchismus und Atheismus die Verwechselung der Freiheit mit
der absoluten Wahrheit. Im Ringen nach der ersteren streckte man
plötzlich die Hände nach der letzteren aus. „Die Wahrheit“ —
verkündeten die „Gleichheitsarbeiter“ — „ist untheilbar; sie allein
darf die Vernunft der Menschen leiten.* Und leichten Kaufes glaubte
man sie erhaschen zu können. Die vorhandenen Abhängigkeitsver-
hältnisse der socialen Interessen hielt man nämlich, weil der Freiheits-
trieb dagegen anrang, wiederum für Lüge, während es nothwendige
und daher berechtigte Momente im Entwicklungsgange des soeialen
Kampfes waren; und statt daher nur die Gleichberechtigung aller
Privatinteressen auf jeglichem Wege der Vereinzelung oder der Asso-
ciation, die allgemeine freie Concurrenz zu erstreben, gab man sich
dem Wahne hin: man brauche die vermeintliche Lüge nur umzukehren,
um die absolute Wahrheit gefunden zu haben. So stellte man wie-
derum nur die Pyramide auf die Spitze. Das Ergebniss konnte nicht
zweifelhaft sein: die Abhängigkeit Aller von Einem oder Einigen
wurde zur Abhängigkeit eines Jeden von Allen. Oder mit andern
Worten : damit alle Kategorieen von Interessen gleich frei seien, sollte
keine derselben herrschen; und damit keine die anderen beherrschen
und unterdrücken könne, sollten eben die Einzelinteressen überhaupt
ganz abgeschafft werden. Damit hatte man die zweite Prämisse und
den Schlusssatz gewonnen, wodurch das Wesen der Freiheit und die
absolute Wahrheit auf dem Gebiete der soeialen Interessen als gleich-
bedeutend mit der Interessenlosigkeit galten, d. h.: mit dem Nicht-
vorhandensein selbstständiger Einzel- oder Sonderinteressen.
Das war die innerste Genesis des Communismus und Soecialismus,
wenn dieser auch niemals von dem ursprünglichen Ideenweben, das
seinen Entstehungsgrund bildete, sich eine klare Rechenschaft gab.
Die weiteren Schlussfolgen spiegelten sich aber immer dentlicher in
seinem Bewusstsein wieder. Die nächsten mussten folgerichtig die
sein, dass die wahre Freiheit oder die absolute Wahrheit auf dem
Gebiete des Eigenthums und der coneurrirenden Interessen in der
Eigenthums- und Coneurrenzlosigkeit bestehe, also in der Auf-
hebung jeglichen Eigenthums und der Beseitigung jeglicher
Coneurrenz. Jene Forderung wurde daher die Loosung des stren-
gen Communismus, diese das Stichwort Louis Blane’s, der Kern der
socialistischen Lehre von der „Organisation der Arbeit.“
Für den Zweck gab es nur Ein Mittel. Wollte man das Eigen-
thum und die Coneurrenz „verschwinden lassen“, alle selbstständigen
Einzel- und Sonderinteressen aufheben, so mussten diese auf die
Gesammtheit, auf das sociale Gemeinwesen übertragen, oder vielmehr
von diesem verschlungen werden. Damit war das Cabet’sche Prineip
der „Unität“ oder die Forderung gegeben : das Gemeinwesen müsse
der einzige Unternehmer sein; Ackerbau und Industrie, Handel und
jeglicher Erwerbszweig zu ausschliesslichen Veranstaltungen des Staa-
tes werden; jeder Einzelne nur für diesen arbeiten und nur von ihm
seinen Lohn oder die Befriedigung ‘seiner Bedürfnisse empfangen. So
kam man bei der Gemeinschaftslehre als der „wahren und besten“
an. In dem gebieterischen „muss* lag der Keim des socialen Ter-
rorismus; jedes selbstständige Interesse verbannen, hiess die Mannig-
faltigkeit des sich selbst bestimmenden socialen Lebens bis zur todes
gleichen Einförmigkeit nivelliren. Man zog der Freiheit den Boden
unter den Füssen weg in dem Augenblick, wo man zugleich mit der
„Freiheit* die absolute „Gleichheit* und „Unität“* proclamirte. Denn
indem man die Ungleichheit für immer aufhob, erstickte man die
Freiheit, die ja die unerschöpfliche Quelle der Mannigfaltigkeit und
daher mit der absoluten Gleichheit unvereinbar ist; und indem man
an die Stelle der allgemeinen Coneurrenz, als des Zieles der soeialen
Bewegung, die wnitarische Gemeinschaft der Interessen treten liess,
kehrte man, statt die sociale Gleichberechtigung zu verwirklichen,
in der Wirkung zu dem zurück, was der Emaneipationstrieb so eifrig
zu bekämpfen und zu verhüten beflissen war, zum »socialen Absolu-
tismus, zu dem grossartigsten Verbots- oder Prohibitiv-System, zu
einem neuen allumfassenden Monopol des Gemeinwesens.
Alle socialistisch - communistischen Lehren wuchsen aus der Kluft
hervor, welche immer schroffer Reiehthum und Armuth, Kapital und
Arbeit schied; aber nicht alle trugen das gleiche freiheitswidrige
Gepräge. Zwar die eigentlich eommunistischen offenbarten sämmtlich
den Charakter des Herrschtriebes; denn individuelles Eigenthum und
individuelle Freiheit sind untrennbare Begriffe; wer das eine nicht
anerkennt, erkennt auch die andere nieht an, und umgekehrt. Die
socialistischen dagegen waren von äusserst ungleicher Tragweite, wie-
wohl sie alle den Zweck verfolgten, die „pulverisirten Elemente der
bürgerlichen Gesellschaft wieder in geschlossene Massen zu vereinigen.“
Die einen, indem sie nur, mit dem ehemaligen St. Simonisten
Chevalier, die freie Associirung der Einzelinteressen zu bestimmten
— 158 —
Zwecken, zu wechselseitiger Unterstützung verlangten, oder die des
Kapitals und der Arbeit, die freie Bildung agrarischer, gewerblicher
und commereieller Vereine zu gemeinsamem Erwerb als Heilmittel
empfahlen, huldigten dem Systeme der „Freiwilligkeit* und traten
daher nicht den Grundsätzen der Freiheit entgegen, die eben jegliche
Coneurrenz, also auch die der Associationen zulässt. Die andern aber,
die Hauptrichtung bildend, schlugen entschieden in den Herrschtrieb
um, indem sie die „Coneurrenz“, d. i. die sociale Freiheit, die freie
Bewegung der Arbeit, die einzige Gewähr des freien Eigenthums,
als ein „System der Vernichtung“ proseribirten und den Zweck ver-
folgten, sie „verschwinden zu lassen durch die Concurrenz des
Staates“, der demnach gleichwie im Communismus die Bestimmung
bekam, alle Privatarbeit zu verdrängen, sich zum alleinigen Arheit-
geber aufzuwerfen. Diese zweite Art des Socialismus, die wir als
den unitarischen bezeiehnen dürfen, war vom Communismus nur da-
durch unterschieden, dass sie die Gemeinschaft nicht auf den Güter-
besitz ausdehnte, den Staat als einzigen Unternehmer noch nicht zum
einzigen Eigenthümer erhob, also die letzte Folgerung noch nicht
zu ziehen wagte. Die absolute Gemeinschaft der Arbeit und der
Interessen war das durchgreifende Merkmal, das die Grenze zwischen
Freiheit und Despotismus bildete, oder worin der unitarische
Soeialismus von dem freiwilligen sich unterschied und mit den
Strebungen des Communismus zusammenfiel. Der unitarische Soeia-
lismus ist nur der unentwickelte Communismus, und der Communismus
ist die schliessliche Consequenz des unitarischen Socialismus: d. h. die
Entwicklung des Systems der Gemeinsamkeit nach allen Richtungen
hin, bis zur Gemeinschaft der Güter und selbst der Weiber. Auch
würde der socialistische Staat in jenem Sinne kaum eine Spanne
Zeit bestehen können, ohne in den vollkommen ecommunistischen über-
zugehen und neben der Sonderarbeit zugleich auch das Sondereigen-
thum aufzuheben.
Daher trat denn auch der rücksiehtslose Communismus mit seinen
einfachen Folgerungen nicht nur überhaupt in der Geschichte zuerst
zu Tage, schon zur Zeit des griechischen Alterthums, sondern tauchte
auch in den neuesten Zeiten cher auf als der lavirende unitarische
Soeialismus mit seinen Halbheiten. Baboeuf hatte schon im vorigen
Jahrhundert die „Gütergemeinschaft* als das einzige Mittel der „all-
gemeinen Wohlfahrt“ gefordert; es müsse „endlich der empörende
Unterschied zwischen Reichen und Armen verschwinden, es dürfe
„kein besonderes Eigenthum“ mehr geduldet werden; denn — sagte
er mit den Worten Rousseau's — „die Erde gehöre Niemanden und
e
N
— 159 —
die Früchte Allen“. Daher warf auch der Cabet'sche Communismus
den socialistischen Lehren Halbheit und Vermittelungsabsichten vor,
und beschuldigte namentlich den Fourierismus, weil dieser neben der
Arbeit noch die Faetoren des Kapitals und des Talentes bestehen
liess, eines „aristokratischen* Spaltungs- und Classificationsgelüstes.
Während der Socialismus bis auf die letzten Jahre herab in zahllose
Unbestimmtheiten zerfloss, fasste sich der Communismus zur schnei-
denden Schärfe des kategorischen Imperativs zusammen. Und wie
der Anarchismus sich schliesslich zu der schmetternden Antithese
emporgipfelte : „Anarehie ist Ordnung“, so der Communismus zu dem
donnernden Machtspruch : „Eigenthum ist Diebstahl“.
Das despotische Wesen des Communismus und des unitarischen
Socialismus offenbarte sich nach dem Bisherigen in doppelter Weise.
Einmal in dem Charakter der Zwangs gemeinschaft aller Interessen.
Denn so unzweifelhaft wie es im Begriffe der socialen Freiheit liegt,
dass jedem Einzelnen das Recht zustehen müsse, sich einer commu-
nistischen oder socialistischen Privatgemeinschaft anzuschliessen — ein
Recht, das Amerika und England stets anerkannt haben, ebenso un-
zweifelhaft ist es auch, dass dieses Recht Niemanden zur Pflicht
gemacht, der Anschluss an eine solche Gemeinschaft niemals der
Gesammtheit aller Einzelnen oder der Staatsgesellschaft als einzige
Heilswahrheit oetroyirt werden darf, wenn nicht die Freiheit eben in
Despotismus umschlagen soll. Wie daher der Anarchismus auf den
Krieg Aller gegen Alle hinauslief, so die Gemeinschaftslehre auf die
Knechtung Aller durch Alle. Sie begründete, der Richtung des
Mittelalters entsprechend, die Idee einer neuen Art von Feudalismus
und Leibeigenschaft, eines allgemeinen socialen Klosterthums. Das
Einzige was sie dem Einzelnen freigab, war die Wahl der Arbeit;
aber die Arbeit selbst sollte keine freie, keine selbstständige sein ;
die Kraft nicht dem Arbeiter gehören, sein Fleiss dem „Faulen“ zu
gute kommen; der „Starke durch den Schwachen ausgebeutet* wer-
den. Und wenn es dem Einzelnen je im Freiheitsdrange gelüsten
“möchte, diesem beengenden Verhältniss zu entfliehen, sich auf die
eigenen Füsse zu stellen : er darf und kann es nicht, und wenn er
es könnte, so würde ihn doch nur das Schicksal des Wahnsinnigen
oder des Rebellen erwarten.
So hob der Communismus und nicht minder der unitarische Soecialis-
mus in Wahrheit das Wesen der Soeialität ganz auf. Denn eine Zwangs-
gemeinschaft, eine solche, der man sich nur anschliessen, nicht entziehen
darf, stellt nicht mehr den Begriff einer Gesellschaft, einer Societät oder
Association dar, sondern im Gegentheil den Begriff der Sklaverei.
— 160 —
Das zweite Kennzeichen des Despotismus, mit dem ersten un-
trennbar verbunden , bethätigte sich in dem äussersten Grade der
Centralisation, in der Allmacht des Gemeinwesens. Allerdings
bedarf jeder Staat eommunistischer Grundlagen und Institutionen ;
aber in eben dem Grade mehr oder weniger, je näher er dem Abso-
lutismus oder der Freiheit steht. Das Wesen der Demokratie war
daher unendlich viel entfernter vom Wesen des Communismus als
die unumschränkte Monarchie. In dieser sucht das Gemeinwesen
immer mehr Bestandtheile der 'Thätigkeit sich anzueignen; in jener
so viele wie möglich der Gesellschaft, dem freien Betriebe zu über-
geben. Im Allgemeinen wies der freiheitliche Standpunkt in erster
Linie dem Staate nur die Aufgabe zu, für die äussere und innere
Sicherheit, für den Schutz der Freiheit zu sorgen; der Betrieb der
militärischen und der polizeilichen Thätigkeit musste daher dem Ge-
meinwesen anheimfallen. Erst in zweiter Linie sollte auch der Staat
berufen sein, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern, d. h. die Selbst-
anstrengungen aller Einzelnen oder der Gesellschaft für Hebung ihres
eigenen Wohls zu erleichtern ; dies konnte namentlich geschehen
durch Vertretung und Wahrmehmung ihrer Interessen anderen Staats-
gesellschaften gegenüber, durch Anknüpfung von Handelsverbindungen,
durch Eröffnung neuer Absatzwege und neuer Erwerbsquellen; dem-
nach musste auch die gesandtschaftliche und eonsularische Thätigkeit
auf gemeinsamer Veranstaltung beruhen. In dritter Linie endlich
konnte dem Staate noch das facultative Recht eingeräumt werden,
da wo die Privateoneurrenz hinter dem Bedürfniss zurückbleibe, ent-
weder jene durch die Mittel der Gesammtheit aufzumuntern, oder
dieses durch die Staatsconeurrenz zu decken; also mit anderen Worten:
dasjenige in die Hand zu nehmen, was die Privatspeeulation abweise
und doch die Gesellschaft fordere. Daher darf, doch nur unter ent-
sprechenden Umständen, die Vermehrung und der Betrieb z. B. des
Schulunterrichts oder der Communicationsmittel in grösserer oder
geringerer Ausdehnung, je nach Bedürfniss und Verlangen der Gesell-
schaft selbst, als staatliche Veranstaltung erscheinen.
Wie weit aber ging nun nicht über diese Machtlinie der Gemein-
schaft der Communismus, der unitarische Socialismus hinaus! Sem
Staat wollte oder sollte durchaus Alles sein, Alles an sich ziehen,
sämmtliche Bestandtheile der gesellschaftlichen Thätigkeit sich an-
eignen. Nicht die Gesellschaft sollte, wie in dem freien Gemein-
wesen, den Staat als ihren Beauftragten unterhalten, sondern der
Staat sollte seinerseits, als Auftraggeber der ganzen Gesellschaft, der
Gesammtheit aller Bürger Unterhalt gewähren. Nicht Ackerbau,
— liöl —
Handel und Gewerbe nur, sondern auch Kunst, Wissenschaft und
Presse, soweit man sie noch duldete, wurden zu ausschliesslichen
Staatsanstalten. Die Gesammtheit der Bürger erschien als eine unter-
schiedslose Heerde von Beamten oder Handlangern des Staats. Von
Coneurrenz, von Handels- und Gewerbefreiheit, von öffentlicher Mei-
nung und Pressfreiheit konnte nicht mehr die Rede sein. „Wir wollen
keinen Handel mehr!“ erklärte schon Couthon im vorigen Jahrhundert.
Was würde es den kampfesmuthigen Heerschaaren der Literaten
nützen, wenn sie das Recht auf Arbeit und gleichen Lohn auch für
sich erstritten ? Einquartiert in eine Kaserne oder ein Fourier'sches
Phalansterium, eingepfercht in eine amtliche Kaste, unter dem Staats-
joch einhertrabend, müssten sie sammt und sonders zu der zahmen
Demuth ofheieller Schreiber sich verdammt sehen. Und wehe ihnen,
wenn es je ihnen einfiele, ihre eommunistische Uniform dureh revolu-
tionäre oder oppositionelle Grundsätze zu schänden, wenn sie sich
nach verflogenem Rausche und getäuschter Erwartung beikommen
liessen, den Communismus öffentlich für freiheitswidrig oder gar für
Knechtschaft zu erklären! Ihre Grundsätze würde die Staatspolizei,
ihre Erklärungen die Staatscensur unterdrücken, und ilıre Personen
eben nur wieder entweder dem Staatsirrenhaus oder dem Staatsgefäng-
niss verfallen. Und sie hätten sich nicht zu beklagen; denn die ver-
meintliche absolute Wahrheit darf sich nicht selber morden, kann
nicht die vermeintliche Lüge dulden; mit ihrer Alleinherrschaft ist
die Freiheit, mit ihrem Alleinrecht die Gleiehberechtigung der Mei-
nungen nicht mehr verträglich.
So mussten denn wohl die Wege des socialen Unitarismus und
des soeialen Freiheitstriebes nothwendig auseinandergehen. Während
jener alle Privatthätigkeit durch den Staat absorbiren liess, wollte
dieser umgekehrt sie von jeder Bevormundung desselben emancipiren.
Während der eine in dem heftigen Widerstreit der soeialen Interessen
eine Folge des Ueberflusses an Freiheit erblickte, sah der andere
ihn vielmehr als eine Folge ihrer Unzulänglichkeit an. Und während
daher der erstere aller Concurrenz ein Ende machen will, ist der
letztere im Gegentheil bedacht, die Uebel der beschränkten Coneur-
renz durch die unbeschränkte verschwinden zu lassen. Das ist es,
was beide auf immerdar trennt.
Der Communismus ist seinerseits die Incarnation des socialen
Ekels. Eben weil er aller Controversen über Zünfte und Gewerbe-
freiheit, über Schutzzoll und Freihandel, über Privilegium und Con-
eurrenz überdrüssig ist, weil ihm die Kämpfe der verschiedenen
socialen Interessen und Triebe, der Wünsche und Meinungen zuwider
— 192 .—
sind, will er sie insgesammt, will er sie ein für allemal zerstampfen.
Sociale Freiheit und soeialer Zwang sind ihm Eins, so sehr, dass er
eben selbst ein Zwitter beider ist; von jener nur den Schein, von
diesem die Seele entlehnte.
Zugleich aber übertrug der Commmunismus seinen Widerwillen
auch auf die anderen Gebiete des Kampfes. Alle staatsrechtlichen
Fragen sind ihm verächtlich; er will nichts wissen vom politischen
Gezänk; die staatliche Freiheit flösst ihm keine Theilnahme ein, und
das Extrem des politischen Freiheitstriebes, sein Ebenbild, der Anar-
chismus, erfüllt ihn sogar mit Abscheu, weil das Ziel desselben dem
seinigen anscheinend diametral widerspricht. Denn in der Anarchie
haftet ja Recht und Gewalt an dem Einzelnen, und ihm gegenüber
steht die Gesammtheit ohnmächtig und rechtslos da, während im
Communismus umgekehrt die Gesellschaft allmächtig ist und ihr gegen-
über der Einzelne in ewiger Unselbstständigkeit verharrt. Dort ver-
schlingt das Individuum die Befugnisse des Staats, hier der Staat
die Befugnisse des Individuums.
So wenig aber wie mit der Anarchie, so wenig war der sociale
Unitarismus mit den Zwecken der politischen Freiheit vereinbar.
Denn was ihn allein zusammenhalten, das Widerstreben des socialen
Freiheitstriebes bändigen kann, ist die Vollgewalt der Autorität.
Daher erscheint in dem Cabet’schen Communismus der „Ausschuss“
als ein „Alles vorsehender* und mit „despotischer“ Macht bekleidet.
Daher will selbst der Blane’sche Socialismus der „Regierung“ eine
„grosse Gewalt“ eingeräumt wissen. Daher ruhten alle thatsächlichen
Experimente Owen’s und Anderer auf der Grundlage des persönlichen
Ansehns, der patriarchalischen Herrschaft. Die politische „Demokratie“
erschien dem Communismus geradezu als „Bormirtheit* oder, wie
Proudhon sich ausdrückt, als „Vernichtnng aller geistlichen und
weltlichen Gewalt“; höchstens wollte man, wie Cabet, sie als ein
Provisorium, als ein „Uebergangsregiment* von „kurzer Dauer“ gelten
lassen; auch in England wurde der politische Radicalismus von Nie-
mand heftiger angegriffen und bitterer verhöhnt als von dem Com-
munisten Owen.
Weit eher könnte sich der sociale Unitarismus mit dem politischen
Absolutismus vertragen, wofern dieser nur im Geiste des erstern thätig
wäre. Trafen doch beide in ihren Anschauungen und Bestrebungen
vielfach überein : beide verpönten die Concurrenz als Anarchie; beide
möchten das gesammte Land als Staatseigenthum, als Domäne be-
trachten; beide wollen sich der Erziehung, des Unterrichts ausschliess-
lich bemächtigen und die Privatthätigkeit in eine staatliche verwandeln;
— 15 —
selbst der Grundsatz der „Brüderlichkeit aller Menschen* war auch
von der heiligen Allianz im ersten Artikel ihres Grundvertrages pro-
elamirt worden. Daher hatte denn schon der platonische Staat, trotz
der Güter- und Weibergemeinschaft, nicht nur ein geistiges Prohibitiv-
system, sondern auch einen „König“ an seiner Spitze. Daher waren
die communistischen Utopien der neueren Jahrhunderte von Thomas
Morus an meist patriarchalisch-monarchisch gegliedert. Daher stand
selbst Cabet sinnend und zweifelnd vor der Frage : „Ist die Demo-
kratie, die Republik besser für uns als die Monarchie ?* und legte
das Bekenntniss ab: „Ich glaube nicht, dass die wahrhafte Ursache
des Unglücks der Völker die monarchische Staatsform ist.* “Daher
hielt es auch Owen weit mehr mit Kaisern und Königen, mit Fürsten
und Regierungen, als mit den Vertretern der Gleichberechtigung.
Daher galten endlich dem Bazard’schen Saint-Simonismus alle Ent-
wicklungen des Herrschtriebes wie die des Mittelalters als „organische“,
alle Entwicklungen des Freiheitstriebes wie die der neueren‘ Jahr-
hunderte als „zerstörende* Erscheinungen; er ist ein grundsätzlicher
Anhänger der „Legitimität*, der „einheitlichen“ Autorität, der Lehre
vom „Gehorsam“, und dagegen ein abgesagter Widersacher der Frei-
heit, des „Individualismus“, der ihm als die Quelle alles „Elends*
erscheint, aller „Irreligiosität*, aller „Feindschaft* gegen das „gött-
liche Staatsgebäude“, oder mit anderen Worten : als die „vollkommene
Auflösung der ganzen gesellschaftlichen,, politischen und religiösen
Ordnung“.
Wenn dennoch der Communismus und der unitarische Soeialismus
mit den bestehenden Gewalten mehr und mehr zerfielen, so kam dies
daher, weil sie erkannten, dass die heilige Allianz unter der Brüder-
lichkeit aller Menschen im Grunde doch nur die Brüderlichkeit aller
Fürsten verstehe, und dass von dem guten Willen der legitimen
Monarchen für sie ebensowenig zu hoffen sei, wie von dem Siege der
Demokratie. Von dem Augenblicke dieser Erkenntniss an entwickelte
sich der sociale Unitarismus mehr und mehr zur taktischen Speeulation.
Er warf sich seinem verhassten Gegenfüssler, dem Anarchismus, in
die Arme und schloss sich überall der politischen Opposition an;
aber nicht um irgend einer der politischen Parteien zu dauerndem
Bestande zu verhelfen, sondern nur um in rascher Stufenfolge eine
durch die andere zu verdrängen. Die „soeiale Bornirtheit“ der legi-
timen Monarchie sollte durch die Republik, die der Aristokratie durch
die Demokratie, die der Republik aber und der Demokratie durch
die Anarchie gebrochen werden. Schliesslich hoffte man dann im
Ringen mit der ebenso einfältigen Anarchie dieser Herr zu werden,
— 164 —
und auf ihren Trümmern den neuen Absolutismus des soecialistisch-
communistischen Gemeinwesens zu proclamiren.
Der unitarische Charakter der soecialistischen und eommunistischen
Bestrebungen war ferner die Ursache, warum diese nicht nur dem
Atheismus, der Religionslosigkeit, als der individualistischen Auf-
lösung des religiösen Lebens, sondern gleicherweise auch der Reli-
gionsfreiheit und der Kirchenfreiheit grundsätzlich entgegentraten.
Absolute „Unität* und Gemeinsamkeit war es auch hier, was ihnen
am meisten oder allein zusagte. Daher vertrugen sie sich von jeher
mit der Idee einer alleinherrschenden Staatskirche. Daher wollte
Cabet selbst die religiösen Fragen durch die sociale Gemeinschaft
entschieden wissen. Daher offenbarten manche Systeme der Gemein-
schaftslehre sogar den Stempel tiefer Religiosität und mystischer
Schwärmerei. Und daher endlich erschien ihnen fast durchgängig,
nicht die Begründung der Religionsfreiheit, sondern die Stiftung einer
neuen alleingültigen Kirche als eine nothwendige Aufgabe. Nur
waren freilich die verschiedenen Systeme über diese „neue Religion“
des Communismus noch nicht einig. Die neuchristliche Offenbarung
Saint-Simon’s gestaltete sich in Enfantin zur antichristlichen Theokratie,
in Cabet zum Cultus der „Natur“ und in Owen zur „Vernunftreligion“.
Dieselben Consequenzen aber, die den Communismus wider
Willen in das Lager des Anarchismus trieben, drängten ihn auch in
das atheistische hinüber. Verzweifelnd an der freiwilligen Umformung
der bestehenden Culte in eine unitarische Socialreligion, entschloss
man sich mit Owen, zunächst im Bunde mit dem Atheismus für die
„Abschaffung aller Religionen“ zu kämpfen, aber nur, um auf ihren
Trümmern, auf dem ebenen Boden der Religionslosigkeit, die Religion
der „Wahrheit* und der „Moral“, das neue Papsthum des Commu-
nismus in voller Alleinherrlichkeit aufzurichten.
So gedachte denn die Gemeinschaftslehre in der That, auf reli-
giösem sowohl wie auf soeialem und politischem Gebiete das Leben
der Menschen in absolutistischer Weise zu uniformiren. Fand sie
daher da oder dort in weiteren Kreisen der Gemüther Eingang, so
konnte dieser Anklang nur entweder auf einer Verkennung ihres frei-
heitswidrigen Wesens beruhen, oder er war ein Zeichen tiefwurzelnder
absolutistischer Gesinnung im Volke. h
Zwar hatte der Communismus seit der episodischen Herrschaft
der Wiedertäufer im 16. Jahrhundert, in der sich thatsächlich reli-
giöser, politischer und socialer Terrorismus zur Dreieinigkeit entfaltet
hatte, noch nicht wieder Gelegenheit gehabt, seinen despotischen
Charakter in der Wirklichkeit zur Anschauung zu bringen ; denn
En
we
BR
— 165 —
nirgend gelang es ihm, sich an die Stelle der Staatsgesellschaft zu
drängen, das sociale Gebiet für sich allein in Beschlag zu nehmen.
Der einzige Anlauf dazu im vorigen Jahrhundert, die Babcoeuf’sche
Verschwörung in Frankreich zur Zeit des Direetoriums, war völlig
gescheitert. Das 19. Jahrhundert sah an verschiedenen Punkten, in
England und Amerika, wo die sociale Freiheit am meisten entwickelt
ist, allerdings zahlreiche communistische Gemeinden versuchsweise
entstehen; doch nirgends vermochte das System über diese Linie
seiner wirklichen Berechtigung hinausznkommen; und überall fielen
selbst dergleichen Versuche aus Mangel an Lebensfähigkeit in sich
zusammen, oder endeten in anarchischer Auflösung, sobald die Auto-
rität, die sie geschaffen, aus ihrem Mittelpunkte verschwand oder sich
erschöpft hatte.
Dennoch erschien unter allen Zwittergeburten des Freiheits- und
Herrschtriebes der Communismus, sowie der unitarische Soeialismus,
als die am meisten entwickelte, und dürfte wegen seines positiven
Wollens noch am ehesten als sieges- und lebensfähig gelten. Immer
aber könnte die Bahnlinie, die er.in der Geschichte beschriebe, nur
ein absolutistisches Stadium bezeichnen. Und trüge er selbst so viel
Spannkraft in sich, um die erste zu wnitarischen Bildungen aufsteigende
Phase eines neuen Weltalters zu begründen, das die Verwirklichung
der socialen „Wohlfahrt“ oder, wie schon Plato sich ausdrückte, der
„Idee des Guten“ zum Zwecke hätte, so würde dieser doch sicher,
wie dem Mittelalter die Nenzeit, eine andere absteigende Entwicklung
folgen, die das Joch wiederwn zerriebe und den gesellschaftlichen
Interessen die freie Selbstbestimmung, die gleiche Berechtigung und
die allgemeine Concurrenz in desto. vollkommenerem Maasse zurück-
gäbe.
Schon ist dem Communismus und unitarischen Socialismus, nicht
in der physischen Macht der Regierungen und ihrer Armeen, sondern
in dem socialen Freiheitstriebe selbst sein mächtigster Gegner er-
wachsen. Denn der heutige Oekonomismus, mit dem er nach
der Februarrevolution die Bänke der Opposition in scheinbarer Ge-
meinschaft theilte, ist es doch zugleich, der durch die Gewalt der
Veberzeugung am eifrigsten und am erfolgreichsten ihm entgegenwirkt.
In England durch das praktische Wirken Cobden’s, in Frankreich
durch das theoretische Bastiat’s vertreten, forderte der Oekonomismus
nieht nur den Freihandel, sondern überhaupt die freie Verfügung des
Einzelnen über seine Person und über die Frucht seiner Arbeit, die
vollständige Befreiung des Erwerbes und damit des Eigenthums, Zu-
rückdrängung des Staatseinflusses aus der Bewegung der gesellschaft-
Wissenschaftliche Monatsschrift. 12
— 16 —
lichen Thätigkeit, Verbilligung der Regierung und Sicherheit der
bürgerlichen Freiheit, damit Jeder nach eigenem Ermessen sein eigenes
Bestes wahrzunehmen vermöge. Die Begriffe Freiheit und Eigenthum
sind dem Oekonomismus fast gleichbedeutend; Alleinrechte und Vor-
rechte, communistische und protectionistische Bestrebungen erscheinen
ihm gleicherweise, wie als Beeinträchtigungen der Freiheit, so auch
als Beeinträchtigungen des Eigenthums; die einen wie die anderen
als Systeme der „Ausbeutung“, der „Beraubung“. Ja, der Communis-
mus ist ihm nichts anderes, denn die folgerichtige Erweiterung des
Schutzsystems selber. In dem Oekonomismus keimt daher eine sociale
Richtung, die bestimmt zu sein scheint, einer communistischen Ent-
wicklung der Dinge entweder vorzubeugen oder nachzufolgen.
Wir können dieses wichtige Gebiet nicht verlassen, ohne schliess-
lich jener seltsamen Sprachverwirrung zu gedenken, die, aus der
Unklarheit und dem Nichtverständniss des Socialismus hervorgegangen,
in den vierziger Jahren sich entwickelt hat und noch heute, wiewohl
minder in Deutschland als in den übrigen Grenzländern Frankreichs,
ziemlich weite Kreise beherrscht. Es leuchtet ein : alle socialistischen
Theorieen sind zugleich sociale, aber nicht alle socialen sind socia-
istische. Dennoch wurden beide Ausdrücke mit einander verwechselt
und der Name Socialismus, trotz der eigenthümlichen Bedeutung die
ihm in seinem Geburtslande Frankreich anhaftete, auf alle socialen
Bestrebungen überhaupt angewandt. Jedes Begehren die Lösung der
gesellschaftlichen Fragen in den Vordergrund treten zu lassen, jeder
Versuch dem Pauperismus zu steuern oder dem Nothstande der ar-
beitenden Klassen abzuhelfen, jedes Trachten nach einer Vermittelung
zwischen Kapital und Arbeit oder nach einer besseren Organisation
des Armen- und Auswanderungswesens galt nunmehr, weil es sich
dabei um sociale Zwecke handelte, als Socialismus. Männer mit den
allerunsehuldigsten socialen Ideen wurden ohne Weiteres als Socialisten
bezeichnet, oder gaben sich selbst wohlgefällig dafür aus. Aber
noch mehr! Das Allerentgegengesetzteste wurde durch diese Sprach-
verwirrung unter Einen Hut gebracht. Denn vielfach findet man nun
auch, und namentlich in der Presse, sogar diejenigen volkswirth-
schaftlichen Lehren mit dem Namen „Socialismus“ beehrt, die das
gerade Gegentheil des Socialismus, seiner centralistischen und unita-
rischen Bestrebungen erzielen, die sich ausdrücklich als dessen Wider-
sacher bekennen, und für die eben der Name Oekonomismus schon
längst in Frankreich selbst zur Geltung gekommen ist. So hat man
denn auch Kossuth in demselben Augenblicke zum „gründlichen
Socialisten* getauft, wo er sich in England als Anhänger der ökono-
re:
— 167 —
mistischen Strebungen aussprach und ausdrücklich gegen den Soeia-
lismus und Communismus protestirte. Mit gleichem Fug würde also
diese Zwangstaufe selbst über Cobden und den zu früh verstorbenen
Bastiat ergehen können. Was kann es helfen, dass man demokrati-
scherseits, zur nothgedrungenen Unterscheidung von dem wirklichen
Soeialismus, die Grundsätze des socialen Freiheitstriebes, wie freie
Bewegung der Arbeit und freie Entwicklung ihrer Hülfsquellen, unbe-
schränkte Coneurrenz und Freihandel, zum „eigentlichen“ oder „wohl-
verstandenen Socialismus“ stempelt, da er vielmehr als ein sehr
uneigentlicher und missverständlicher sich darstellt. Denn hatten nun
einmal jene socialistischen Lehren, gleichviel ob mit Recht oder
Unrecht, den Ausdruck Soeialismus für sich in Beschlag genommen,
so durfte er am allerwenigsten auf die ihnen feindlich entgegenstehen-
den übertragen werden. ‚Die Vertreter der socialen Freiheit oder des
Oekonomismus als - „Socialisten“ bezeichnen, hiess die Bezeichnung
aus dem Gegensatze, den lucus a non lucendo ableiten. Sollte indessen
diese Sprachverwirrung, statt abzunehmen, vielmehr zu einer allge-
meinen werden, so würde freilich auch das bessere Verständniss sich
ihr anbequemen müssen, ebenso wie wir trotz des besseren Wissens
noch tagtäglich die Sonne auf- und untergehen lassen. Allem Anschein
nach wirkte übrigens bei jener, neben dem Missverständniss, auch
auf der einen Seite die Absicht mit, den soeialen Freiheitstrieb selber
durch den Titel seiner gegnerischen Zwittergeburt zu verdächtigen,
und auf der andern Seite die falsche Schaam mancher seiner eigenen
Anhänger, nicht wenigstens dem Namen nach auf der äussersten
Linie der Entwicklung stehen zu sollen. Und doclr ist nicht nur der
Socialismus selbst im Verhältniss zum Communismus eine schwäch-
liche Halbheit, sondern die Geschichte wird es auch erst zu entschei-
den haben, ob in den Kämpfen der Zukunft nicht vielmehr der Oeko-
nomismus bestimmt ist, dem Soeialismus und Communismus gegenüber
die äusserste Linke zu bilden.
4. Der KosmoroLitismus.
Am wenigsten sieges- und lebensfähig unter allen extremen
Freiheitsbestrebungen ist der Kosmopolitismus, der Zwitter des
internationalen Freiheitstriebes. Wir meinen aber nicht jenen idealen
=, A NE P : »
Kosmopolitismus, der alle Nationen mit gleicher Liebe umfasst, son-
dern denjenigen, der alle nationalen Unterschiede gleichmässig hasst.
Zum System entwickelt trug er die Lehre vor: Um die Völkerfreiheit
zu begründen, müssten die Völker selbst abgeschafft werden.
Es erging ihm wie allen extremen Freiheitsbestrebungen : er verwech-
— 168 —
selte die völkerrechtliche Freiheit, auf die es allein ankam, mit der
völkerrechtlichen Wahrheit und identificirte beide mit der Aufhebung
oder dem Entbehrlichmachen des Völkerrechts. Die bisherige Abhän-
gigkeit der Völker von einem einzigen Staate oder von einer Mehr-
heit von Staaten betrachtete man nämlich wiederum als absolute Lüge,
während es nothwendige und within berechtigte Stufen der völker-
rechtlichen Entwicklung waren; und statt daher diese fortzuführen,
die Selbstständigkeit für jegliches Volk zu erstreben, gab man sich
gleicherweise dem Glauben hin, dass man die vermeintliche Lüge nur
umzukehren brauche, um zur absoluten Wahrheit zu gelangen; dass
man überhaupt, um die Völker wahrhaft frei zu machen, das Völker-
dasein beseitigen müsse. Es sollte keine unterschiedlichen Nationen,
keine selbsständigen Völker, keine staatlichen Grenzen mehr geben,
sondern nur noch ein allgemeines Menschenthum. Die Nationalität,
das Volksthum sollte auf immer proseribirt, die Mannigfaltigkeit des
Völkerlebens zu einem uniformen Weltbürgerthum nivellirt werden.
Die Idee der Völkerfreiheit hatte im Kampfe gegen die Allemherr-
schaft Eines Staates oder Volksthums, und gegen das aristokratische
Regiment einer Mehrheit von Staaten, nach einer Conföderation aller
Völker auf der Grundlage der gleichen Berechtigung gerungen. Wie
aber alle extremen Freiheitsbestrebungen nur das Gegentheil dessen
erzeugten, was die Freiheit begehrt — der Anarchismus eine nene
Absolutie, der Atheismus ein neues Papstthum, der Communismus ein
neues Staatsmonopol — : also erzengt auch der Kosmopolitismus gerade
das, was der nationale oder internationale Freiheitstrieb vor allem
zu verhüten und zu bekämpfen bedacht ist, statt des freien Völker-
bundes einen Universalstaat. Sein Ende ist mithin nur der wumge-
kehrte Anfang.
Der Kosmopolitismus versinnlicht den nationalen oder inter-
nationalen Ekel. Er ist der Befreiungs- wie der Eroberungskriege
satt; er mag nichts hören von Vaterlandsliebe und nationalen Bestre-
bungen, so wenig wie von Gross- und Kleinmächten, vom Ueber-
gewicht oder Gleichgewicht der Staaten. Und eben weil ihm alle
Kämpfe der Völker zuwider sind, will er jene dadurch beseitigen,
dass er diese in einen wniformen Brei auflöst, oder sie zu einem
universalen Gemeinwesen unterschiedslos zusammenmengt. Die Täu-
schung liegt auf der Hand. Denn die Gesammtheit der Völker mag
es endlich wohl dahin bringen, dass sie als freie, selbstständige und
gleichberechtigte Individuen zu einem dauernden Bunde sich vereinigen
und ihre Streitigkeiten auf friedliehem Wege durch Congresse, riehter-
liche Urtheilssprüche und schlimmsten Falls durch Exeeutionen schliehten;
a
— 169 —
aber der kosmopolitische Weltstaat, auch wenn er vorübergehend
möglich wäre, müsste sofort wieder in eine Anarchie der Volksthümer
zerfallen und statt des Weltfriedens den gegenseitigen Vernichtungs-
krieg herbeiführen.
Mit dem Kosmopolitismus schliesst sich die Summe der extremen
Freiheitsbestrebungen ab. Wir betrachteten bisher nur das naturge-
setzliche Wie ihrer Entstehung. Aber auch dem Wann und Wo ihres
Ursprungs liegt eine Regel, ein Gesetz zu Grunde. Wir sehen sie
nie zu einer Zeit oder in einem Raume entstehen, wo der Herrsch-
trieb noch unangefochten waltet; daher weder zur Zeit des Mittelalters,
noch in der gegenwärtigen absolitistischen Weltschicht Asiens. Und
ebensowenig erlangen sie zu Zeiten und in Räumen Geltung, wo der
Freiheitstrieb sein höchstes Ziel erreicht hat, oder wo die Gleich-
berechtigung ein Gegebenes ist; denn wer sich im wirklichen Genusse
der Freiheit weiss, fühlt kein Bedürfniss, sich selber neue Ketten zu
schmieden; sich einem Extreme und damit das Gewisse an ein Un-
gewisses hinzugeben; wer Alles hat, kann nicht ein Mehr verlangen.
Daher kennt Nordamerika die systematischen Herrschaftsbestrebungen
des Anarchismus und des Atheismus gar nicht und bot für die aus-
wärtige Propaganda des praktischen Communismus, wie des theore-
tischen Kosmopolitismus, nur den allerungünstigsten Boden, den des
Gleichmuths dar. Wenig stärker ist der Anklang, den die Extreme
des Freiheitstriebes finden, da wo der Freiheitskampf in seinem ersten
Stadium begriffen ist, oder wo die aristokratischen Elemente mit den
monarchisch-absolutistischen, der Drang nach Vorreehten mit dem
Alleinrecht ringt, also in der Osthälfte Europa’s; denn die Freiheits-
ansprüche sind hier noch genügsam, zwar auf mehr als Nichts, aber
auf weniger als Alles gerichtet.
Dahingegen ist das zweite Stadium des Kampfes, die Zeit und
Oertlichkeit, wo die Demokratie gegen die Aristokratie, die Idee der
Rechtsgleichheit gegen das Vorrecht kämpft, nothwendig der Boden,
auf dem die extremen Ansprüche erwachsen. Denn da erwacht die
Lust nach mehr als Allem, wo man nur Etwas hat und Alles haben
will; wo man, ohne die volle Freiheit ans eigener Erfahrung zu
kennen, die Grenze finden soll, über die hinaus die Freiheit nicht
mehr zu-, sondern wiederum abnimmt. Die Wiege aller extremen
oder zwitterhaften, nicht freien, sondern freiherrischen Bestrebungen
war daher die Westschicht Europa’s; nur von hier aus leckten sie
propagandistisch, wie westwärts nach Amerika, so auch ostwärts nach
Mitteleuropa, namentlich nach Deutschland hinüber. Am compactesten
— 1770 —
entwickelten sie sich in Frankreich unter Ludwig Philipp, bei wach-
sender Reaction regellos und ungeberdig; nächstdem in England, jedoch
— bei stetigem Wachsthum der Freiheit auf dem Wege der Reform —
ohne Schaden und Gefahr zu bringen; in mehr versprengter Weise
tauchten sie auf in Belgien, in Spanien und unter den fremden Ele-
menten der Schweiz, die an sich ein ebenso ungünstiger Boden für
sie war wie Nordamerika.
Den eigentlichen Focus in der Bewegung der Zwittertriebe bil-
dete der Communismus. Denn er war es der, wie schon in der
Lehre Babaufs, so auch im Bekenntniss der „Gleichheitsarbeiter‘
die anarchischen und atheistischen, die kosmopolitischen und commu-
nistischen Bestrebungen zu einem einzigen System zusammenballte
und in Einem Athemzuge alle Regierungen und Städte, alle Kirchen
und Religionen, alle staatlichen Existenzen, alle Privatinteressen und
alles Eigenthum, oder mit anderen Worten : jegliche Autorität und
jegliche Freiheit, auf ewig in Bann that.
Wie sich der Kampf zwischen dem Freiheits- und dem Herrsch-
triebe plänkelnd bis zum Jahre 1848 fortspann, wie er dann unter
den Stürmen der Revolution gewaltig anschwoll, und wie am Ende
auf allen Feldern die Freiheitstriebe mehr und mehr geschlagen wur-
den oder ermattet in sich zusammensanken : dies zu schildern liegt
uns nicht ob. Gewiss ist, dass dem Fortschritt der Freiheit die
meisten Hemmnisse und Vereitelungen aus den Zwittertrieben der
Bewegung erwuchsen, dass sie trotzdem einzelner Erfolge in Nord-,
Mittel- und Südeuropa sich rühmen durfte, und dass überdiess auch
die entschiedensten Niederlagen keine Beweise des Unrechts oder der
Nichtberechtigung sind. Napoleon I. schlug alle Völker nieder und
dennoch siegten schliesslich die Geschlagenen.
Käme es übrigens darauf an, im Detail die Entwicklung der
Dinge, den Kämpf der prinzipiellen Mächte seit der Julirevolution
darzustellen : so würde man mit Recht Alles diesem Kampfe fern
Liegende ausscheiden dürfen. In der Spezialgeschichte hat jedes
Land und jedes Ereigniss gleiche Berechtigung; die Weltgeschichte
aber, weil sie auf den Höhen der Civilisation sich fortbewegt, hat
nur in soweit von den niederen Gegenden Auskunft zu geben, als
sich ihr von jenen Höhen aus durch Seitenthäler der Blick in die
Tiefe eröffnet. Wer wollte die Bildungskeime Australiens, der Süd-
seeinseln und Afrika’s, deren Aufbruch einer späteren Zukunft vor-
behalten ist, mit dem gleichen Maasse messen, wie Asien, Europa
— 11 —
und Amerika, die Träger der weltgeschichtlichen Bewegung, die pon-
derirenden Mächte der Gegenwart! Und wer dürfte wiederum dem
despotisch erschlafften Asien dieselbe Bedeutung beilegen oder mit
derselben Theilnahme zuschauen, wie dem unermüdlich ringenden
Europa, oder dem siegreich schaffenden Amerika !
DIE INDIVIDUALITÄT IN DER NATUR
MIT
VORZÜGLICHER BERÜCKSICHTIGUNG DES PFLANZENREICHES.
Von CARL NÄGELI.
Die gegenwärtige Zeit, bewegt von dem Streite zwischen Spiri-
tualismus und Materialismus , sucht in jeder etwas allgemeineren
Kundgebung auf naturwissenschaftlichem Gebiete, Gründe für oder
gegen die eine und andere Ansicht. Auch der nachstehende Vortrag,
im Februar 1856 vor einem gemischten Publikum gehalten, wurde
‘von diesem Standpunkte aus beurtheilt, obgleich mir eine Tendenz
ganz ferne gelegen hatte. Vielleicht gerade desswegen glaubten die
Einen darin eine Huldigung, die Andern eine Verwahrung gegen den
Materialismus zu erkennen. — Wenn nun auch beim ruhigen Lesen
ein Missverständniss nicht möglich ist, wie beim flüchtigen Anhören,
so wird es doch zum genauen und vollkommenen Verständniss bei-
tragen, wenn ich vorher meinen Standpunkt als Naturforscher bezeichne.
Um zuvörderst den Gedankengang in dem Vortrage kurz anzu-
en.
deuten, so verweise ich einleitend auf die Thatsache, dass die Ent-
wieklungsgeschichte des Menschengeschlechtes durch den Wechsel von
geistigen Individuen stattfindet, welche an der grossen Aufgabe des
Fortschrittes sich ablösen. Aus der Vergänglichkeit der Fersonen für
die Weltgeschichte folgt aber noch nichts für die Natur des Geistes
überhaupt, so wie für seine Dauer; und ich verweise ausdrücklich
andere Seiten der Frage an andere Gebiete wissenschaftlicher For-
schung (Theologie, Philosophie). Der ganze Vortrag sucht dann zu
zeigen, dass in ähnlicher Weise, wie das Menschengeschlecht durch
den Wechsel seiner Individuen der Vervollkommnung entgegenstrebt,
die materielle Natur durch individuelle Bildungen, die entstehen und
vergehen, in stetem Entwieklungsdrange und in nothwendiger Stufen-
folge sich auf den höchsten Punkt der Ausbildung erhebt.
— 12 —
Wie verhält es sich aber, frägt man so oft den Naturforscher,
mit dem Wesen der geistigen Individuen? Ist Geist und Materie
unauflöslich mit einander verkettet, oder bis auf einen gewissen Grad
von einander unabhängig? Ich glaube, dass dieses Problem von den
Naturwissenschaften nicht gelöst werden kann, weil dieselben nach
verschiedenen Seiten hin auf unübersteigliche Schranken treffen.
Wir machen die sinnliche Wahrnehmung, dass ausser uns eine
Welt von Gegenständen existirt. Aus den Eigenschaften, Veränder-
ungen, Bewegungen, die wir mit unsern Sinnen an den Körpern
bemerken, leiten wir die Gesetze ab, denen sie unterworfen sind. —
Erkennen wir aber alle ihre Eigenschaften, alle Kräfte, die in ihnen
wirken? Wir wissen es nicht, und wären dessen nur sicher, wenn
wir die Körper a priori ableiten, oder wenn wir durch Rechnung die
Nothwendigkeit ihrer Totalität sammt allen Einzelheiten nachweisen
könnten. Denken wir uns, wir hätten zwar den Gesichtssinn, aber
es mangelte uns der Farbensinn, ferner das Gehör, der Geruch, der
Geschmack, so würden uns gewiss wesentliche Eigenschaften der
Aussenwelt verborgen geblieben sein. Wir wüssten wenig von der
Brechung der Lichtstrahlen und nichts von den Schallwellen. —
Ebenso wäre es möglich, dass uns wegen der Unvollkommenheit un-
serer sinnlichen Wahrnehmung jetzt noch vielleicht Eigenschaften und
Kräfte der Körper entgehen, deren Wirksamkeit weniger auffällige
Resultate hervorbringt, als es die Schwerkraft, die Elektrizität, die
chemische Affinität thut. Die Mangelhaftigkeit des Subjektes erlaubt uns
also keineswegs eine absolute Erfassung der Aussenwelt, so dass wir
unsere Erkenntniss als abgeschlossen erklären und behaupten könnten,
es gebe nichts, was ausser oder über derselben liege.
Diese Reflexion wird unterstützt durch eine Betrachtung über
die Natur des Objektes. Die neuere Atomistik fängt an, viel tiefer
in das Wesen der Stoffe einzudringen, als es bis jetzt möglich war.
Ich gehöre selber zu denen, welche von der Atomenlehre die grössten
Aufschlüsse für das Zellenleben, für Umwandlungen und Gestaltungen
der Stoffe erwarten, und welche der Ueberzeugung leben, dass sie
sich zu einer der schönsten Diseiplinen unter den Naturwissenschaften
ausbilden wird. Die Atome sind die ersten und einfachsten Bausteine,
aus denen die Natur aufgebaut ist. Es ist möglich und wahrschein-
lich, dass die jetzigen chemischen Elemente selbst zusammengesetzt
sind, und wir können uns denken, dass die Analyse dieselben einst
in wenige Urstoffe zerlegen wird. Gelingt es in dieser Weise auf
Atome mit einfacher Anziehung und Abstossung zurückzugehen, so
müsste es, sollte man meinen, möglich werden, die Nothwendigkeit
PIE 20
— 173 —
der Entwicklungsgeschichte für unorganische und organische Körper
nachzuweisen. Allein nach zwei Seiten hin werden wir durch die
Grenzen gehemmt, in denen die Endlichkeit befangen ist.
Zeit und Raum sind relative Begriffe. Die ganze historische
Zeit ist eine Sekunde in der Bildungsgeschichte der Erde, und die
Dauer der Erde ein Augenblick in der Ewigkeit. Unser Sonnensystem
macht in dem gestirnten Himmel ein winziges Sandkorn, und der ganze
gestirnte Himmel in dem denkbaren Weltenraume einen verschwin-
denden Punkt aus. Andererseits ist das Atom, dessen Grösse einem
billionenfach getheilten Sandkorm lange nicht gleichkommt, doch un-
endlich gross; denn wir können es in Gedanken theilen, bis wir auf
einen Theil kommen, welcher zum ganzen Atom sich verhält wie das
Sandkorn zum gestirnten Himmel. Und die Schwingungen des Aether-
atoms in der Lichtwelle, für deren ungeheure Geschwindigkeit wir
nach unserer Zeit keinen Begriff haben, können wir wegen der un-
endlichen Theilbarkeit der Bahn, für Wesen mit anders organisirter
Wahrnehmung zur schleicheiiden Ewigkeit ausdehnen.
Wir können also von keinen Atomen behaupten, dass sie wirk-
lich einfach sind. Wenn wir sie in ihrer Form und in ihrer Wirkung
als einfache Körper betrachten, so heisst es nichts anders, als dass
sie durch ihre individuelle Gestaltung wie Einheiten wirksam werden.
Sie können darin den Weltkörpern gleichen, welche, obgleich selbst
unendlich zusammengesetzt, bei der Erhaltung der Ordnung im Weltall
doch nur mit zwei sehr einfachen Kräften, der Schwerkraft und dem
Beharrungsvermögen in der Bewegung, betheiligt sind. Desswegen
wirken aber doch die Weltkörper auch durch andere Kräfte auf ein-
ander ein (z. B. durch Licht und Wärme), und so wäre es ebenfalls
möglich, dass selbst die Aetheratome und die supponirten Uratome
der wägbaren Stoffe noch durch andere Kräfte als die vorausgesetzte
Anziehung und Abstossung in Verbindung mit einander ständen. Wie
wir uns die Atome ungeheuer gross denken können, so auch die
Abstände zwischen ihnen; und wir wissen ferner gleichfalls nicht, ob
diese Zwischenräume wirklich leer sind, oder vielleicht eine noch
feinere Substanz enthalten, wie der Raum zwischen den Weltkörpern
mit Aether erfüllt ist.
Es erlaubt demnach auch die Natur des Objektes nicht eine
absolute Darstellung der Naturwissenschaften, wie es früher die Natur-
philosophie versuchte, und wie es neuerdings der Materialismus an-
strebt. Wir wissen nicht, wann das Spiel der Atombewegungen
begonnen hat, innerhalb welcher Grenzen des Raumes dasselbe gebannt
ist, und ob es bloss durch die bekannten oder vielleicht auch noch
— 114 —
durch andere Naturkräfte hervorgebracht wird. Nur wenn eine ein-
zelne Naturerscheinung vollkommen in ihren ursächlichen Momenten
erklärt werden kann, so sind wir sicher, dass keine andern Kräfte
wenigstens in erheblichem Maasse dabei betheiligt sind. Diess ist in-
dess bis jetzt nur in wenigen und einfachen Fällen möglich. Wie die
Elektrizität, zwar überall vorhanden und thätig, doch nur selten unter
gewissen Bedingungen zu bemerkenswerther Intensität sich sammelt,
so könnten heute oder morgen erst sichere Spuren eines neuen Agens
wahrgenommen werden, — über dessen Existenz man sich vielleicht
lange stritte, und das zuletzt durch die Gesetze, die man für seine
Wirksamkeit feststellt, erwiesen würde.
Die Kräfte, über deren Natur und Dasein man jetzt ungleicher
Ansicht ist, sind die Lebenskraft und die geistige Kraft. Diejenige
Lehre, welche sie läugnet, bezeichnet man als Materialismus. Wir
dürfen aber beide nicht mit einander vermengen ; wir können die eine
verwerfen, die andere anerkennen.
Wenn eine besondere Lebenskraft existirt, so verursacht sie,
vereint mit den physicalischen und chemischen Kräften, in Pflanzen
und Thieren die Formbildungen und Umsetzungen. Sie wirkt, wie
die unorganischen Kräfte, mit Nothwendigkeit und nach bestimmten
(organischen) Gesetzen. Ueber das Vorhandensein einer solchen Kraft
sind verschiedene Ansichten möglich ; ich meinerseits halte deren An-
nahme nicht für hinreichend gerechtfertigt. Es ist zwar gewiss, dass wir
selbst die einfachsten organischen Gebilde oder Prozesse noch lange
nicht aus den unorganischen Agentien werden erklären können. Aber
eben so wenig kömen wir daraus die Nothwendigkeit der Krystalli-
sation herleiten. Die Entstehung eines Stärkekorns oder einer Zelle
scheinen mir aber keine andern, sondern nur complizirtere Erscheinun-
gen darzubieten, als die Bildung eines Krystalls t).
1) Diess habe ich in meiner Schrift: „Systematische Uebersicht der Er-
scheinungen im Pflanzenreich“ weiter ausgeführt, und zu zeigen gesucht, dass
die Erklärung des Gestaltungsprocesses aus den bekannten Kräften auf die
gleichen Schwierigkeiten stösst in der unorganischen und in der organischen
Natur, nur dass sie in der letztern viel weiter zurückliegt, — dass im Unor-
ganischen wie im Organischen die einzelnen Bewegungen oder Kräfte zu einer
Gesammtbewegung oder zu einer Resultirenden zusammentreten, die wir als den
innern Zusammenhang, als Qualität, Wesen, Idee, Lebenskraft bezeichnen
können, — dass aber da wie dort die wahrhaft lebendigmachende Kraft oder
der innere Grund der Dinge uns immer nnbegreiflich sein wird. — Die natur-
wissenschaftlichen Leser muss ich überdem auf eine demnächst erscheinende
Schrift verweisen, in welcher der Versuch gemacht wird, die Entwicklungs-
geschichte des Stärkekorns auf physicalische Prozesse zurückzuführen.
u
— 15 —
Die Vertheidiger der Lebenskraft wenden ein, dass wir im
Laboratorium keine Zellen, Nervenröhren , Muskelfasern machen können.
Ich will nicht darauf antworten, dass wir es einmal dahin bringen
werden; denn ich bin überzeugt, dass diess nie möglich ist. Aber
wir können auch keinen Krystall machen. Wir können ihn nur
entstehen lassen. Wir vermögen bloss Verhältnisse herbeizuführen,
welche seine Bildung veranlassen. Wie wir den Kırystall nur auf
dem Wege erhalten, den die Natur selbst geht, so werden wir auch
Muskel und Nerv nur auf dem Wege erzeugen können, auf dem sie
die Natur hervorbringt, nämlich durch den thierischen Organismus.
Es scheint mir demnach, dass die Frage nur so gestellt werden
kann: Unter welchen Bedingungen bringt die Natur organische Keime
ausserhalb des Organismus hervor? und können wir diese Bedingungen
auf künstliche Weise im Laboratorium herstellen? Dass das Letztere
bis jetzt nicht möglich war, kann nicht als Beweis für die Lebens-
kraft gelten, da wir über das Erstere noch so sehr im Unklaren sind.
Der Gegensatz liegt aber überhaupt nicht sowohl zwischen leb-
loser und belebter Natur; — denn es ist eigentlich Alles belebt;
der Kıystall hat seine eigenthümliche Bildungsgeschichte wie die
Pflanze, und beide können gleich sehr oder gleich wenig aus den
bekannten Naturkräften und den Bewegungen der Atome begriffen
werden. Der Gegensatz besteht vielmehr zwischen Materie und Geist.
In der Materie herrscht bewusstlose Nothwendigkeit, im geistigen
Gebiete Bewusstsein und Freiheit. Sollte die Lebenskraft wirklich
als ein besonderes Agens der organischen Natur nachgewiesen werden,
so würde ich sie, da sie bloss den Gestaltungsprocess bewirkt, und
im Stofflichen Bildung und Umbildung hervorbringt, mit den mate-
riellen Kräften zusammen und sammt diesen den geistigen Kräften
entgegenstellen.
Ob die geistige Kraft selbstständig oder eine Function der
Materie sei, diese Frage gehört zwar nicht in den Bereich des Pflanzen-
physiologen. Indess scheint mir nieht, dass eine sichere Entschei-
dung in dem einen oder anderen Sinne von naturwissenschaftlichem
Standpunkte gegeben sei oder gegeben werden könne. Um so mehr
spricht die Wahrscheinlichkeit gegen die materialistische Ansicht.
Denn es scheint aller Analogie zuwider, dass aus einer noch so com-
8 plizirten Combination von Erscheinungen Thatsachen entstehen, die
. ganz andern Kathegorie angehören, dass aus Anziehung und
Abstossung des Stofllichen Bewusstsein hervorgehe. Und es wider-
spricht dem in der Natur ohne Ausnahme herrschenden Prinzip der
Causalität oder dem Gesetze der Erhaltung der Kraft, dass materielle
— 1716 —
Bewegungen, statt eine Resultirende von genau bestimmter Richtung
und Intensität zu erzeugen, einen Akt des freien Willens veranlassen
sollten.
Nehmen wir aber mit dem Materialismus an, die Freiheit des
Willens sei eine Täuschung, und das Bewusstsein sei mit der Bewe-
gung aller oder gewisser Moleeüle und Atome verbunden, so stossen
wir auf einen andern nicht zu lösenden Widerspruch. Das Bewusst-
sein wäre dann gleichsam der Schatten, welcher der materiellen
Erscheinung folgen, oder das Spiegelbild, das sie begleiten würde,
Bewusstsein und materielle Erschemung müssten einander genau pro-
portional sein, sie müssten sich deeken. Wir sollten uns daher, da
der stoflliche Vorgang dem Causalitätsprinzip unterworfen ist, der
Nothwendigkeit bewusst werden, statt dass wir nun das Gefühl der
Freiheit in uns tragen.
Die Naturwissenschaften werden wohl nie im Stande sein, die
Frage über die Existenz der geistigen Kraft entscheiden zu können.
Die Möglichkeit dazu wäre nur dann, wenn auch erst für die ferne
Zukunft, gegeben, wenn wir mit Grund annehmen dürften, dass die
geistige Kraft sich wie eine materielle Kraft verhalte, dass sie sich
in materielle Kräfte umsetzen und durch Umsatz aus denselben ent-
stehen könne. Es ist aber möglich, und der ganze Gegensatz, in
welchem sich der Geist zur Materie befindet, macht es wahrscheinlich,
dass derselbe nieht dem Gesetz der Erhaltung der Kraft unterliegt.
Die naturwissenschaftliche Empirie ist also überall in engen
Grenzen festgehalten. Sie findet eine Schranke in der unvollkommenen
sinnlichen Wahrnehmung des menschlichen Organismus ; sie steht macht-
los vor der Ewigkeit des Raumes und der Zeit und vor der unend-
lichen Theilbarkeit beider, und sie vermag die Schwelle nicht zu
überschreiten, wo die geistige Welt beginnt, sei es die geistige
Begabung des Endlichen, sei es die geistige Macht des Ewigen. Was
ausserhalb der endlichen materiellen Erscheinung liegt, liegt auch
ausserhalb der Macht der Naturwissenschaften; es fällt den Geistes-
wissenschaften und dem Glauben anheim.
— 11 —
Wenn wir an dem Grabe eines grossen Mannes stehen, ergreift
uns eine gewisse Wehmuth. Welehe Summe von Erfahrung und
Erkenntniss geht hier der menschlichen Gesellschaft verloren. Ein
ganzes Leben hindurch hat der Geist Schätze gesammelt mannig-
faltiger Art, und bei seinem Hinscheiden nimmt er sie alle mit sich
fort. Der Staatsmann, der Künstler, der Gelehrte hinterlässt in seinen
Werken Beweise seines Wissens, seiner geistigen Kraft, seines Fleisses.
Aber mit ihm stirbt sein Scharfsinn, seine Phantasie, seine Energie,
seine Aufopferungsfähigkeit. Die Produkte bleiben, das Werkzeug
verschwindet.
Ist diess eine weise Einrichtung der Natur? drängt sich nur zu
leicht die Frage auf. Ist dadurch auf genügende Art für die Ent-
wicklung des Menschengeschlechtes gesorgt? Hängt so sein geistiger
Fortschritt nicht vom Zufall ab; von dem Zufall nämlich, ob die
Summe des Wissens, die Höhe und Tiefe der Erkenntniss in jedem
Zeitpunkt wieder die geeigneten Träger finde, welche die Tradition
forterhalten? Denn die ganze Geschichte der geistigen Menschheit ist
in der That wesentlich eine Tradition, eine Ueberlieferung von dem
jeweiligen Geschlecht auf das Nächstfolgende. Wird nicht der Fort-
schritt beeinträchtigt, wenn ein begabter Geist, nachdem er ein halbes
Menschenleben und mehr darauf verwendete, nicht bloss auf die Höhe
der geistigen Entwicklung zu gelangen, sondern darüber sich zu er-
heben und sie selber zu fördern, den Schauplatz seiner beginnenden
Thätigkeit verlassen muss? Stimmt diess mit der Weisheit und Zweck-
mässigkeit überein, die sonst in allen Natureinrichtungen herrscht ?
Warum hat das Leben z. B. nicht eine längere Dauer? Für
den Trägen und Langsamen ist es gewiss zu kurz. Aber für den
Thätigen und Strebsamen ist es noch viel kürzer. Jede Arbeit bringt
neue Gesichtspunkte, und jedes Resultat macht es doppelt wünschens-
werth, nach einem neuen höhern Resultate zu streben. Gerade wenn
der Geist sich am tüchtigsten zum Schaffen und Wirken fühlt, so
beginnt die Abnahme, der Vorbote der gänzlichen Wirkungslosigkeit.
Oder warum können wir auf die Kinder nieht die geistige und
moralische Kraft übertragen? Sie erben von uns die körperlichen
Anlagen, die sich ohne Mühe ausbilden. Sie erben auch die geistigen
Anlagen; aber werden diese sich selbst überlassen, so ist keine
Garantie da, dass sie wirklich ein Erbe seien. Es bedarf jahrelanger
Erziehung; es bedarf der Anstrengung und des Kampfes von wenig-
stens dem dritten Theil der Lebensdauer, um den Anlagen die Ent-
— 118 —
wicklung zu geben, deren sie fähig sind. Welch ungeheurer Gewinn
wäre es wohl nicht für den Fortschritt des Menschengeschlechtes,
wenn auf den Knaben unmittelbar das Wissen, die geistige Kraft und
Gewandtheit, die moralische Stärke des Vaters, auf das Mädchen
die Tugenden der Mutter übertragen würden.
Daher bezeichnet auch die allgemeine Ansicht den Tod als einen
Verlust, und lässt am Grabe grosser Männer und Frauen bald ganze
Nationen, bald selbst das gebildete Menschengeschlecht trauern.
Die Erkenntniss, dass die Einrichtung der Natur nicht bloss gut,
sondern die beste sei, mag auf verschiedenen Wegen erlangt werden.
Einen andern Gedankengang wird der Theolog, der Philosoph, der
Ethiker, der Historiker verfolgen. Ich beschränke mich als Natur-
forscher auf meine Sphäre.
Doch bei dem Namen Naturforscher erinnere ich mich eines Ein-
wurfes, der mir gemacht werden kann. Die heutige Naturforschung
hat es fast verpönt, von Zweckmässigkeit zu sprechen. Ein Verbot
erfolgt in der Regel nur auf einen Missbrauch. In der That malte
sich einst die Naturgeschichte die Schöpfung mit den idyllischen
Farben der Zweckmässigkeit so bunt aus, dass die Reaktion einer
mehr nüchternen Auffassung eintreten musste. Sie hatte mit allen
Reaktionen gemein, dass sie nicht bloss von der Abweichung links
zurückkam, sondern sich zu einer Abweichung rechts verleiten liess,
wie ein Pendel nicht bloss in die Gleichgewichtslage der richtigen
Mitte zurückkehrt, sondern in entgegengesetzter Richtung darüber hin-
ausgeht.
Erlauben Sie mir, dass ich, um den Gegensatz zwischen der
frühern und der jetzigen Naturforschung anschaulich zu machen, ein
etwas plumpes Beispiel wähle. Unstreitig haben die Meerenge von
Gibraltar und die Landenge von Suez auf die kulturgeschichtliche
und politische Entwieklung der Welt einen ungeheuren Einfluss aus-
geübt. Als Zweck betrachtet, konnte die alte Zeit mit Recht sagen,
die Landenge sei da, um die Continente zu vereinigen, die Meerenge,
um sie zu trennen. Die moderne Zeit der Dampfschiffseurse ist an-
derer Ansicht; die Meerenge soll vereinigen, die Landenge von Suez
hingegen ist ein unbequemes Hinderniss des Verkehrs, und daher nur
da, um durchstochen zu werden. Denken wir gar das Schiff der
Wüste, das Kameel, welches die Landenge, den beuteverfolgenden
Hai, welcher die Meerenge durchzieht, den leichtbeschwingten Zug-
vogel, der kein Hinderniss kennt, und die unbehülflicheren Land-
und Wasserbewohner, die da und dort eine Schranke ihrer Wanderung
finden, denken wir uns alle diese Wesen mit dem Lichte des Bewusst-
a 28
— 179 —
seins begabt und zum Philosophiren geboren, jedes derselben würde
von seinem Standpunkte aus einen andern Zweck von Meer- und
Landenge erkennen. Diese Naturbetrachtung nach Zweckbegriffen
heisst die teleologische. — Der Geologe der Neuzeit aber, indem er
die Ursachen der Erscheinung erforscht, meint, die Meerenge sei
vorhanden, nicht dass sie diesen oder jenen Zweck erfülle, sondern
weil an jener Stelle die Erdrinde einsank, die Landenge, weil zwi-
schen zwei Einsenkungen ein hervorstehender Kamm übrig blieb.
Wie der Zweck ein mannigfaltiger und verschieden fassbarer ist, so
sind auch Hebung und Senkung aus einem Zusammenwirken von
vielen Kräften hervorgegangen.
Jede Naturerscheinung ist die Folge von bestimmten Ursachen.
Die Aufgabe des Forschers ist es, von einer Thatsache die nächsten
Ursachen zu ergründen, und hat er sie erkannt, zu den Ursachen der
Ursachen vorzudringen. Jede Naturerscheinung wird aber selbst Ver-
anlassung zu neuen Erscheinungen ; sie hat Funetionen oder resul-
tirende Zwecke. Sie ist somit ein Centrum, auf welches nicht
bloss eonvergirend eine Vielheit von Ursachen zielte und sich da zu
einer einheitlichen That sammelte, sondern von welchem aus hinwieder
eine Mannigfaltigkeit von Wirkungen divergirend ausstrahlt, um in
engern und weitern Kreisen fruchtbringend zu wirken. Der Forscher
hat daher, wie einerseits die Gesetzmässigkeit und Nothwendigkeit,
so andererseits auch die Zweckmässigkeit in der Natur aufzuzeigen.
Er bleibt innerhalb seiner Sphäre, wenn er sich immer nur die nächste
Ursache und die nächste Folge zur Aufgabe stellt; aber er geht
rüber hinaus, wenn er den beabsichtigten Zweck zu ergründen
ähnt.
Um in die Absicht einzudringen, bedarf es der Einsicht in das
ganze Werk. An einer complizirten Maschine, die uns unbekannt ist,
können wir wohl die Ursache der Bewegung und die Wirkung für
jedes einzelne Rad, jeden Balken, jede Klappe ermitteln; der Zweck
wird uns erst offenbar, wenn wir über die Anlage und den Plan der
ganzen Maschine aufgeklärt sind. Von der ganzen grossen Natur
sind uns nur winzige Bruchstücke zugänglich, bloss so viel um zu
ahnen, dass Alles nach einem harmonischen einheitlichen Plan ange-
legt ist. Diesen Plan zu ergründen und zu einer teleologischen Er-
kenntniss zu gelangen, ist zwar das höchste und letzte, aber ewig
unerreichbare Ziel menschlicher Forschung.
Daher missglücken nothwendig alle teleologischen Versuche. Ein
in dieses Gebiet gehörendes Gesetz ist das der Sparsamkeit.
Nicht bloss die Gewaltigen dieser Erde legen den minder Gewaltigen
— 180 —
Luxusgesetze aufl). Es soll die Natur selbst mit gutem Beispiele
vorangehend sich ein solches Gesetz gegeben haben, nach welchem
sie mit Kraft und Stoff möglichst haushälterisch umgeht, und den
grössten Nutzeftekt mit dem geringsten Anfwand von Anstrengung
erreicht. Aber mit gleichem Recht liesse sich ein Gesetz der Ver-
schwendung begründen, indem in eben so vielen Fällen mit dem
grössten Aufwand von Kraft und Stoff nur ein winziges Resultat
erzeugt oder ein nahes Ziel auf einem weiten Umwege erreicht wird ?).
Das Unlogische ist hiebei, dass wir menschliche Begriffe, wie
die von Nützlichkeit und Schädlichkeit, Sparsamkeit und Verschwen-
dung, Schönheit und Hässlichkeit auf die göttliche Ordnung übertragen,
dass wir das Unendliche mit einem endlichen Maassstabe messen
wollen. So grossen Werth eine sinnige Naturbetrachtung, die sich
die Welt nach Zweckbegriffen accomodirt, in ästhetischer und päda-
gogischer Beziehung hat, so wenig ist es strenge exacte Natur-
wissenschaft.
Um zu meiner Frage zurückzukehren, kann es sich also nicht
darum handeln, ob der Tod des Individuums an und für sich zweck-
mässig sei, oder ob damit eine bestimmte Absicht erreicht werde,
sondern welche Folgen aus der beschränkten Dauer des geistigen
Individuums auf den Fortschritt des Menschengeschlechtes sich ergeben.
Ich will bloss von der Entwicklung der Naturwissenschaften sprechen.
Wie in keinem andern Gebiete kommt es hier auf die Kenntniss
einer grossen Menge von Thatsachen an. Die Beobachtungen und
Erfahrungen Anderer sind zwar in ihren Werken niedergelegt, aber
gewiss nur der kleinste Theil wurde aufgezeichnet. Und dennoch
häuft sich das überlieferte Material so gewaltig, dass man von dem-
selben erdrückt zu werden fürchtet; dass ein Menschenleben nicht
mehr ausreichen würde, um die Erfahrungen Anderer aufzunehmen
und denselben noch eigene hinzuzufügen. „In einer empirischen
1) Der diesem Vortrag vorausgehende öffentliche Vortrag des Herrn Prof.
Dernburg handelte von den „Luxusgesetzen*“.
2) Der Riesenstäubling (Lyeoperdon Bovista Lin.) ist ein kugeliger Pilz,
der in wenigen Tagen eine Grösse von zwei Fuss erreichen kann. Mit Aus-
nahme einer sehr dünnen hautartigen Rinde, ist der ganze innere Raum mit
dem Sporengeflecht erfüllt, welches fast ganz aus den winzigen, kugeligen
Samen besteht. Die letztern haben einen Durchmesser von Ygp Linie. Der Pilz
enthält, wenn der zelinte Theil der Höhlung mit Samen gefüllt ist, deren mehr
als 200 Billionen. Diess kann uns als ein wahrer Luxus erscheinen, da nur
wenige Samen keimen, und da vielleicht der Pilz überhaupt der Fortpflanzung
nicht bedarf, insofern er auch durch Urzeugung entstehen kann.
Kia.
— 1831 —
Wissenschaft sind die Thatsachen die Hauptsache“, ist ein vielfach
ausgesprochenes Axiom, aber nur so lange richtig, bis wir das Gesetz
daraus abgeleitet haben. Dann werden die T'hatsachen Nebensache ;
nicht so, dass wir sie gänzlich in die Rumpelkammer des wissen-
schaftlichen Rüstzeuges werfen. Aber sie haben als Einzelne in ihrer
Verschiedenheit keinen Werth mehr, da sie sämmtlich in dem Gesetz
enthalten sind.‘ Wir behalten daher nur eine oder wenige, welche
das Gesetz am reinsten und einfachsten wahrnehmen lassen, und über-
geben die übrigen unbetrauert der Vergessenheit.
Eine andere Betrachtung, innig mit der eben gemachten verbunden,
ist noch wichtiger. Die Natur bleibt zwar dieselbe, aber sie erscheint
uns fortwährend in einem andern Lichte. Wir machen andere sinn-
liche Wahrnehmungen , wir entnehmen der Natur andere T'hatsachen,
als unsere Vorfahren. Untersuchungen auf die der grösste Fleiss und
Scharfsinn verwendet wurden, interessiren uns nicht mehr. Streitfragen,
die die naturwissenschaftliche Welt spalteten, sind antiquirt. Mit der
Entwicklung des wissenschaftlichen Bewusstseins, mit der Entdeckung
neuer Gesichtspunkte und neuer Methoden wird auch die Aufgabe
der Beobachtung eine andere. Jede Richtung muss bis auf einen
gewissen Grad in die Breite verfolgt werden, und dann einer neuen
Richtung Platz machen. Nicht dass wir uns im Kreise drehten und
vielgeschäftig heute das, morgen etwas Neues betrieben. Der Berg-
steiger erhebt sich von Höhe zu Höhe; es eröffnen sich ihm neue
Blicke, die Rundschau wird weiter, die Luft reiner; er fühlt sich
freier und gehoben durch das Bewusstsein, dem Treiben der Menschen
ferne und nahe dem ewigen Aether zu sein. Aber um auf die Spitze
des Berges zu gelangen, muss er mühsam sich von Stufe zu Stufe
erheben. So sind die veralteten Methoden und die abgelebten Streit-
fragen als die nothwendigen Durchgangspunkte für das sich ent-
wickelnde naturwissenschaftliche Bewusstsein zu betrachten.
Um diese Entwicklung zu fördern, ist es nothwendig, dass fort-
während frische Kräfte und neue Ideen auf den Kampfplatz treten,
und dass die alten Arbeiter die Durchführung einer andern Aufgabe
neuen Forschern überlassen. Oft schon lebte eine Autorität zu lange
für den Fortschritt der Wissenschaft, indem sie dieselbe mehr als
gut war, in der eingeschlagenen Richtung gebannt hielt, und den
Uebergang zu höhern Richtungen hemmte. Es ist daher vollkommen
vereinbar mit der Dankbarkeit, die wir den verdienten Männern jeder
Zeit und jeder wissenschaftlichen Entwicklungsstufe mit voller An-
erkennung darbringen, wenn wir die Naturwissenschaften glücklich
preisen, dass ihre Autoritäten nicht das Alter Methusalems erreichen.
Wissenschaftliche Monatsschrift. 13
— 12 —
Desswegen ist es auch die weiseste Einrichtung der Natur, dass das
menschliche Wissen und die menschliche Einsicht nicht unmittelbar
geerbt werden können, sondern dass der Geist sich aus der allge-
meinsten Anlage entwickeln muss. So kann er zur grössten Freiheit
und Unabhängigkeit gelangen; er kann alles Ueberflüssige und Un-
taugliche in Form und Inhalt abstreifen, und das Gute gegen das
Bessere vertauschen. Dadurch dass der Mensch nur Anlagen erbt,
wird es ihm möglich, zur vollkommensten Individualität zu gelangen,
und die Individualität ist nothwendig der Träger alles geistigen Fort-
schrittes.
Wie in der geistigen Welt, so auch im Gebiete des Stofllichen.
Die Individuen sind die Träger alles Naturlebens. Unter Individuum
verstehen wir aber eine einheitliche Erscheinung, welche wir nicht
theilen können, ohne ihr Wesen zu vemichten; welche daher ein
abgeschlossenes Ganze mit eigenthümlicher Entwicklung und eigen-
thümlichen Beziehungen zur Aussenwelt darstellt. Dass die Welt im
Grossen nur aus Individuen besteht, darüber ist, seitdem der Nebel-
streifen der Milehstrasse durch das Fernrohr in unendlich viele Welt-
körper aufgelöst wurde, kein Zweifel mehr. Sonnen, Planeten, Monde,
Cometen, jeder mit eigenthümlicher Masse und Bewegung, erhalten
das Gleichgewicht des Himmels, oder lassen, wie sich alte Astronomen
ausdrückten,, die Harmonie der Sphären ertönen.
Trennen wir unser Auge von dem Zauber des gestirnten Himmels
und ‘werfen einen Blick auf unsere Erde, so tritt uns hier ein chao-
tisches Gemenge verschiedener Stoffe entgegen, die aus continuirlichen
Massen zu bestehen scheinen. Allein wie ein Stück Holz unter dem
Vergrösserungsglas aus lauter kleinen individuellen Zellen besteht, so
haben Chemie und Physik die unorganischen Stoffe in winzige indi-
viduelle Theilchen oder Atome zerlegt. Und wie im Weltenraume die
unendlich grossen Weltkörper durch zwei einander entgegenwirkende
Kräfte sich das Gleichgewicht halten, so schweben die unendlich
kleinen Atome in gewissen Entfernungen von eimander, festgehalten
dureh den Widerspruch ihrer Neigungen, gleichzeitig sich zu fliehen
und zu suchen. Ihre Anordnung und die Kräfte, mit denen sie auf
einander wirken, bedingen die Eigenschaften der Substanzen !).
!) Bekanntlich sind Eis, Wasser und der Wasserdampf, welcher unsichtbar
wit der Luft gemengt ihr die blaue Farbe verleiht, der gleiche Stofl. Im Eis,
halten Anziehung und Abstossung in den kleinsten Theilchen sich das Gleieh-
gewicht, aber wirken in verschiedenen Richtungen ungleich; daher widerstehen
die kleinsten Theilchen einer Verschiebung; das Eis ist fest. Im Wasser haben
die Atome gleichfalls eine ebenso grosse Neigung sich von einander zu entfernen
— 183 —
Gasförmige und flüssige Stoffe treten als Massen, nicht in indi-
vidueller Form auf, es sei denn dass die Letztern Tropfen und Nebel-
bläschen bilden können. Die festen Stoffe aber, wenn sie aus dem
flüssigen Zustande fest werden, stellen Individuen höherer Ordnungen
dar. Die kleinsten Theilchen legen sich in bestimmten Richtungen
an einander, und bringen wohl überall Krystalle hervor, wo hinläng-
licher Raum die freie Ausbildung gestattet, und wo sonst die günstigen
Bedingungen vorhanden sind. Der feste Regen fällt als zahllose
Sehneekrystalle von zierlichster Form nieder; aus Lösungen von Zucker
oder Kochsalz scheiden sich beim Verdunsten oder Abdampfen Krystalle
aus. Die letztern haben aber die Neigung, mit einander zu ver-
wachsen. Häufig zeigt uns die feste Substanz bloss ein mehr oder
weniger deutliches krystallinisches Gefüge, und wenn sie aus dem
flüssigen oder geschmolzenen Zustand fest wird, so erscheint sie oft
selbst ganz homogen, wie das Fett, das Blei. Die Neigung der
Substanz, sich zu individualisiren, ist hier durch andere Kräfte gehemmt
worden, und auf die Anfänge beschränkt geblieben. Statt einiger
grosser Krystalle haben sich eine Unzahl von ebenso regelmässigen
Atomeomplexen und Krystallanfängen gebildet, die mit einander ver-
wachsen sind.
So ist also überall im Unorganischen, auch da wo wir auf den
ersten Blick nur chaotische Unordnung und Verwirrung sehen, doch
eine wundervolle Anordnung der kleinsten Theile und ein wunder-
volles Gleichgewicht ihrer Kräfte. Mit Verachtung und Ekel berührt
unser Fuss das fünfte Element!). Mit Geringschätzung und Abscheu
spricht der einseitige und blinde Parteigänger der Lebenskraft von
„materialistischem Schlamme“. Aber in keinem Kunstwerke von Men-
schenhänden ist eine solehe Harmonie der Theile, in keinem eine
als ich zu nähern, aher keine Richtung ist bei ihnen bevorzugt; desswegen
sind sie verschiebbar, und das Wasser ist flüssig. Im luftförmigen unsichtbaren
Wasserdampf, wie auch in der Luft selbst, überwiegt die Antipathie der kleinen
Individuen gegen einander; daher fliehen sie sich und zerstreuen sich nach dem
unendlichen Weltenraum hin, bis die Liebe, mit welcher die Erde sie durch
die Schwerkraft fesselt, ihr gegenseitiges Widerstreben zu zügeln vermag und
ihnen Friede gebietet. Dennoch ist die Abneigung der Lufttheilchen gegen ein-
ander so gross, dass die Atmosphäre eine Höhe von 9—10 Meilen hat, wäh-
rend sie im flüssigen Zustande (mit der Dichtigkeit des Wassers) nur etwa 32
Fuss bedecken würde, dass also ihre Atome durchschnittlich etwa 7000 mal
weiter auseinander liegen, als es im flüssigen Zustande der Fall wäre.
!) Eine locale Bezeichnung für das, was Zürich und seine einen halben
Fuss über dem Boden immer reizenden Umgebungen mit Paris (Lutetia) leider
nicht selten gemein haben.
— 1854 —
solche Regelmässigkeit und Gleichmässigkeit, wie in der Anordnung
der Atome und Molecüle, welche die Stoffe des fünften Elements
bilden. Aber in dem sogenannten materialistischen Schlamme ist alles
individualisirt und gegliedert; die einfachern Individuen (Atome) treten
zu immer complizirteren und höhern Individuen (zu Atomgruppen oder
Moleeülen, zu Gruppen von Molecülen, zu Krystallen, zu Krystall-
drusen) zusammen, so kunstvoll und logisch, als nur irgend ein
gelehrtes Compendium seinen Stoff in Ober- und Unterabtheilungen
mit I und 1, A und a nebst Kreuzen und Sternehen anordnen kann.
Wie aus dem Flüssigen eine neue Welt von höher individuali-
sirten Individuen, die festen krystallinischen Gebilde sich ausscheiden,
so erhebt sich auf. der Grundlage des Unorganischen die Welt der
organischen Individuen, die pflanzlichen und thierischen. Ich will
davon die ersteren etwas näher betrachten.
Wenn wir eine höhere Pflanze analysiren, so zerfällt sie zunächst
in Gruppen von Organen, wie die beblätterten Zweige, die Knospen,
die Blüthenstände und Blüthen. Diese zerfallen in die einzelnen
Organe; die letztern gliedern sich oft äusserlich, und im Innern zer-
fallen sie in Gewebe und Systeme, welche zuletzt aus den Elementar-
organen oder den Zellen bestehen. Die Zelle, in der Regel dem
blossen Auge nicht sichtbar, ist ein Bläschen. Wir können sie mit
einer Seifenblase vergleichen, mit dem Unterschiede, dass die letztere
eine Haut von Wasser besitzt, und mit Luft gefüllt ist. An der Zelle
dagegen besteht die Haut aus Holz oder einer analogen Substanz,
der Inhalt aus Wasser und aus festen und löslichen organischen und
unorganischen Stoffen. Wenn Seifenblasen an einander stossen, so
bilden sie den Seifenschaum. Auf gleiche Weise stellen viele Zellen
ein Gewebe dar, welches bei grösster Regelmässigkeit auch eine voil-
kommene Achnlichkeit mit den Honigwaben eines Bienenstockes haben
kann. Die Zellen sind aber viel kleiner; gewöhnlich bedarf es deren
20 bis 50 und 100, die in einer Reihe neben einander liegen, um
den Raum einer Linie voll zu machen. In dem fadenziehenden schlei-
migen Wein fand ich sogar einen Gährungspilz, einzelne Zellen, von
denen erst 2000 und 3000 den Raum einer Linie erfüllen. In einem
Tropfen Wein (von 11/5‘ im Durchmesser) hätten 10,000 — 20,000
Millionen dieser kleinen Zellen oder Pflänzchen Platz, wenn sie so
dicht beisammen lägen, um sich zu berühren.
So klein aber auch die Zelle sein mag, so ist sie doch ‚selber
wieder ein complizirter Organismus, der aus individuellen Theilen zu-
sammengesetzt ist. Diese Theile sind bald in der Zahl von Hunderten
in einer Zelle beisammen, bald erkennen wir an ihnen, wenn sie
DT
— 15 —
grösser sind, eine complizirte Zusammensetzung. Dahin gehören die
Stärkekörner, welche in grosser Menge beisammenliegend das Mehl
bilden, und von denen einzelne aus 50 bis 100 verschiedenem Schichten
bestehen.
Alle die genannten Theile niederer und höherer Ordnung, aus
denen ein Pflanzenstock zusammengesetzt ist, sind individuelle Gebilde.
In der Wissenschaft streitet man sich zwar noch darüber, was im
Pflanzenreich als Individuum anzunehmen sei. Die ältern Botaniker
betrachteten den ganzen Baum als solches. Die neuere Schule be-
hauptete, jede Knospe und der daraus hervorgehende Trieb sei das
Individuum und der Baum ein Conglomerat soleher Individuen. Die
neueste Schule ging noch weiter; sie wollte nur der Pflanzenzelle die
wahrhafte Berechtigung auf Individualität zugestehen. Der Streit ist
ungefähr der nämliche, als wenn es sich fragen würde, ob in der
Geschichte der Menschheit der Völkerstamm, der Staat, die Gemeinde
oder die Familie als Individualität zu betrachten sei. Alle haben im
Allgemeinen den gleichen Anspruch; es kann aber der individuelle
Charakter bald in dem einen, bald in dem andern vorwiegen. Im
Pflanzenreiche ist sowohl der Baum als jeder seiner Theile individuell,
was wir schon daraus sehen, dass sowohl die Knospe, als das Organ
und die Zelle sich ablösen, selbstständig fortleben und zu einem
neuen Baume sich entwickeln können. Auf den wntersten Stufen des
Pflanzenreiches bildet die einzelne Zelle eine Pflanze. Etwas höher
treffen wir Wesen, die nur aus einem mehrzelligen Organ bestehen,
die z. B. dem Haar oder dem Blatt einer Blüthenpflanze ähnlich sind.
Je höher wir im Reiche ansteigen, desto eomplizirter wird der Bau,
desto mehr verliert die Zelle und das Organ an Selbstständigkeit,
desto mehr erstarkt die Individualität des ganzen Pflanzenstockes!).
1) Die Frage über die Individualität im Pflanzenreiche war und ist zum
Theil jetzt noch Gegenstand resultatloser Debatten; resultatlos, weil man nach
dem Pflanzenindividuum sucht, welches zwei Eigenthimlichkeiten vereinigen soll,
die nicht parallel gehen, sondern sich kreuzen. Dasselbe soll nicht bloss dem
Begriffe nach einheitlich und abgeschlossen sein, sondern auch die Fähigkeit
besitzen, selbstständig für sich bestehen zu können, wie diess mit der grossen
Mehrzahl der Thierindividuen der Fall ist. Die ganze Pflanze konnte nicht das
wissenschaftlich gesuchte Individuum sein, denn sie hat nirgends einen scharf
begrenzten Begriff. Allmälig löst sie sich (durch Ausläufer wie bei der Erd-
beere, durch Knollen wie bei der Kartoffel u. s. w.) in zwei oder mehrere
Individuen, ohne dass es möglich ist, eine feste Grenze zu ziehen; und auf
künstlichem Wege kann man die Pflanze oder ihre Theile in Stücke schneiden,
welche selbstständig fortleben und sich entwickeln.
Um dem Begriffe Halt zu geben, sollte nach der Theorie von Gallesio die
— 186 —
Ohne auf die Verschiedenheiten in der Ausbildung der ganzen
Individualität und in der Gliederung nach individuellen Theilen näher
ganze Entwicklung, welche aus einen Samen hervorgeht, das Individuum
begründen, und die durch Theilung, Ableger, Ausläufer u. s. w. daraus ent-
stehenden neuen Pflanzen sollten nur Theile desselben sein. Es wären also alle
über Europa verbreiteten falschen Akazien (Robinia Pseudacaeia) mit dormlosen
Zweigen zusammen nur ein einziges Individuum, ebenso alle Rosskastanien mit
gefüllten Blüthen; denn jene und diese sind durch Theilung aus einer einzigen
Pflanze entstanden. Diess musste indess das natürliche Gefühl allzusehr belei-
digen. Wir können uns nicht an den Gedanken gewöhnen, dass die Trauerweide,
welche Napoleon’s Grab auf St. Helena beschattet, das gleiche Individuum sei
mit dem Baum, dessen hängende Zweige sich in dem Teiche wnsers Gartens
spiegeln; — was wir annehmen müssten, da nahezu alle Trauerweiden Europa’s
durch Stecklinge aus einem einzigen Baum hervorgegangen sind, welcher im
vorigen Jahrhundert aus dem Orient nach England gebracht wurde.
Um den Begriff besser mit der Realität in Einklang zu bringen, wurde von
Darwin die Knospe und der daraus hervorgehende Trieb (Stamm, Ast, Zweig,
Blüthe) als das Pflanzenindividuum, und der Baum als ein Conglomerat von
vielen Individuen betrachtet. Dieser Ansicht sind wohl die meisten neuern
Botaniker gefolgt. Sie könnte indess durch einen Baumzüchter in die gleiche
Verlegenheit gebracht werden. Es gibt Bäume (z. B. die Tannen), deren Stamm,
so lange sie leben, an der Spitze durch die daselbst befindliche Terminalknospe
in die Länge wächst. Nun kann aber die Spitze abgeschnitten und gepflanzt
werden. Man erhält einen zweiten Baum, dem man wieder das Ende nehmen
und daraus einen dritten erziehen kann. Würde diese Manipulation wiederholt,
so ist es denkbar, dass die gleiche Terminalknospe veranlasst wird, nach und
nach eine ganze Allee von Bäumen zu erzeugen. Und alle diese Baumstämme,
jeder unabhängig vom Andern, jeder mit eigenen Wurzeln begabt, aber des
Wipfels beraubt, wären zusammen nur Ein Individuum.
Dass die Zelle das Individuum sei, wurde schon von Turpin ausgesprochen,
besonders aber von Schleiden begründet. Wenn auch die Zelle in den meisten
Fällen unselbstständig und unfähig ist, für sich zu existiren, so stellt sie doch in
der Regel ein abgeschlossenes Ganze dar. Indess treffen wir auch bei ihr auf die
nämliche Schwierigkeit, wie beim Pflanzenstock. Es gibt Zellen (die einzelligen
Pflanzen der Algengruppe Siphoneen und einige Pilze), welche von fadenförmiger
Gestalt unbegrenzt wachsen, sich verzweigen und allmälig in zwei oder mehrere
Zellen zerfallen. Hier müsste man, nach Analogie der Knospe und des beblätterten
Triebes bei den höhern Pflanzen , jeden Theil oder Ast der Zelle als ein Individuum
ansehen.
Es ist also unmöglich, die Individualität im Pflanzenreiche so zu begründen,
dass sie zugleich einen einheitlichen, scharfbegrenzten Begriff und eine unter sich
zusammenhängende, im Raume abgeschlossene und selbstständige Erscheinung dar-
stell. Wir müssen diese beiden Seiten der Individualität aus einander halten;
wir müssen, mit andern Worten, zwischen morphologischen und physiolo-
gischen Individuen unterscheiden. In morphologischer Hinsicht sind die Zellen-
äste, die Zellen, die Organe, die Knospen und beblätterten Zweige, die ganzen
Bäume individuell ; denn jede dieser Erscheinungen hat ihren einheitlichen
el
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— 1837 —
einzutreten, will ich mich nur an das allen Gemeinschaftliche halten.
Es ist der Wechsel im Individuum und der Wechsel der aufeinander-
folgenden Individuen. .
Der Wechsel im Individuum, der so characteristisch das orga-
nische Leben von dem unorganischen scheidet, tritt am einfachsten
und mit Rücksicht auf seine Ursachen am zugänglichsten bei den
allereinfachsten organischen Gebilden, bei Körnern des Zelleninhaltes
auf. Stärkemehl und Zucker haben ganz die gleiche Zusammen-
setzung. Der Zucker kıystallisirt wie ein unorganischer Körper; er
nimmt dabei ungefähr den 18ten Theil seines Gewichtes Wasser auf.
Die kleinsten Theilehen des Zuckers sind durch keine andern Sub-
stanzen von einander getrennt; sie können daher ihre vollen Mole-
eularkräfte geltend machen, und dem ganzen festen Gebilde das
scharf markirte Krystallgepräge aufdrücken. Wenn die Stärke fest
wird, so nimmt sie ungefähr eine gleiche Menge von Wasser auf.
Durch die Zwischenlagerung der Wassertheilchen wird die Energie
der Moleeularwirkung zwischen den festen Stärketheilchen gebrochen,
und das aus wässriger Lösung sich ausscheidende Stärkekorn hat eine
kugelige Gestalt, wie der Wassertropfen und das Nebelbläschen. —
Wie der Zucker verhalten sich die unorganischen Krystalle, wie das
Stärkekorn die organischen Bildungen !).
Ursprung, ihre eigenthümliche Entwieklung, und gelangt zu einem innerlich
besimmten Abschluss. Sie gehören aber verschiedenen Individualitätsgraden an,
von denen die niedrigsten (Zellen und Zellenäste) die Pflanzen der untersten Stufen
des Reiches darstellen, indess die höchsten Pflanzen alle. Individualitätsgrade in
sich vereinigen. Ich habe diesen Gedanken in der „Systematischen Uebersicht der
Erscheinungen im Pflanzenreich“ weiter entwickelt. — In physiologischer Bezie-
hung ist dasjenige als individuell zu betrachten, was selbstständig für sich leben
kann. Bei den niedrigsten Pflanzen sind die Zellen individuell. Von allen Zellen
eines Baumes dagegen können nur die Pollenkörner des Blüthenstaubes für sich
bestehen ‚ indess die übrigen Zellen, wenn sie aus dem Zusammenhang losgetrennt
werden, zu Gruude gehen. Die meisten Organe sind ebenfalls keiner selbststän-
digen Existenz fähig. Von den Knospen und beblätterten Sprossen zeigen sich
physiologisch nur diejenigen individuell, welche grüne Blätter (Laub) bilden; sie
können, abgelöst, zu neuen Pflanzen sich entwickeln. Die Knospen, aus denen
Blüthenstände oder einzelne Blüthen hervorgehen, besitzen diese Eigenschaft nicht,
!) Es giebt auch unorganische Krystalle, welche so viel Wasser als Sub-
stanz enthalten, und dennoch von scharfen Ecken und Kanten und von ebenen
Flächen begrenzt sind. Desswegen kann der ungleiche Wassergehalt im Zucker-
krystall und im Stärkekorn , verbunden mit eigenthümlicher Anordnung der
Theilehen, doch wesentlich die Ungleichheit in der Form bedingen, da Zucker
und Stärke gleiche Zusammensetzung haben. — Ferner kommen bekanntlich auch
Krystalle vor mit gewölbten kugelähnlichen Flächen, wie der Diamant, der Bitter-
kalkspath und andere. Diess thut aber jener Annahme ebenfalls keinen Eintrag,
— 18 — R
Mit dem Unterschied in der Form trifft der Unterschied in der
Funktion zusammen. Die unorganischen Krystalle sind nicht von Wasser
durchdrungen,, sie können daher keine Stoffe in sich aufnehmen. Die
Theilchen, welehe fortwährend aus der Flüssigkeit festwerden, lagern
sich schiehtweise auf der Oberfläche ab; die innerste Schicht ist die
älteste, die äusserste die jüngste. Der Krystall ist unveränderlich in
seiner Substanz.
Die Stärkekömer und alle festen organisirten Substanzen sind
von Wasser durchdrungen. Mit dem Wasser dringen auch alle Stofle
ein, welche in demselben gelöst sind. Das Wachsthum geschieht durch
Stoffaufnahme in die Substanz, die Schichtenbildung durch ungleiche
Ernährung, durch Differenzirung im Innern }).
In die organischen Substanzen treten mit dem Wasser aber nicht
bloss gleichartige Stoffe ein, welche sein Wachsthum veranlassen,
sondern auch fremdartige, welche chemische Umsetzungen und Struetur-
veränderungen hervorbringen. Die grösste solcher Umwandlungen
geschieht dann, wenn ein solides Korn aus eiweissartigen Stoffen
hohl und zur Zelle wird 2).
da bei den genannten Kıystallen die Kanten mehr oder weniger deutlich vor-
handen, und die gebogenen Flächen wahrscheinlich als eine Unzahl von kleinen
Kanten zu betrachten sind, was beim Stärkekorn nicht der Fall ist.
1) Man hat zwar bisher allgemein angenommen, dass die geschichteten orga-
nischen Substanzen, gleiehwie die Krystalle, durch Auflagerung von Schichten
entstehen. Die Beobachtungen an Stärkekörnern, welche fast das einzige für
solehe Untersuchungen taugliche Objekt liefern , haben mir auf's Entschiedenste
gezeigt, dass das Wachsthum im Innern vor sich geht. Die Stärkelösung dringt
in das solide Korn ein, und zwischen den festen Molecülen werden neue Molecüle
eingelagert. Durch ungleiche Stoffaufnahme scheidet sich die ursprünglich homo-
gene Substanz in Schichten von verschiedenem Wassergehalt. — Auch einige
geschichtete Membranen haben bestimmt diesen Ursprung. — Die Schichtung der
organischen Substanzen, wenigstens mancher, ist also das Resultat innerlicher
Prozesse, während sie beim Krystall durch einen Niederschlag von aussen hervor-
gebracht wird.
2) Wenn die Zelle, nicht durch Theilung schon vorhandener Zellen, sondern
aus noch unorganisirten Stoffen neu entsteht, so tritt sie zuerst als eine kleine
Kugel von halbflüssiger eiweissartiger Substanz (Protoplasma) auf, welche nicht
bloss wie das Stärkekorn Flüssigkeit aufnimmt und dadurch sich ernährt und
vergrössert. Sondern durch ein Uebermass von eindringender Flüssigkeit wird
die Continuität der Substanz im Innern unterbrochen; es bilden sich daselbst
hohle, mit Wasser gefüllte Räume, und zuletzt eine einzige grosse Höhlung. Die
solide Kugel ist zur Blase umgewandelt. Die Prozesse, die fortan in der Zelle
stattfinden, sind in doppelter Beziehung innerliche; sie geschehen einerseits in der
eingeschlossenen Flüssigkeit, anderseits im Innern der umschliessenden Sub-
stanzen.
— 1839 —
Die Zelle und ihre Theile sind in einer steten Veränderung, in
einem steten Stoffwechsel begriffen, so lange das aktive Leben dauert.
Die Prozesse werden alle durch das Wasser vermittelt, welches die
Höhlung der Zelle erfüllt und ihre Theile durchdringt. Alle leben-
digen Pflanzentheile enthalten eine beträchtliche Menge von Wasser;
die Kartoffeln z. B., die döch zu den relativfestern und substanz-
reichern Theilen zu zählen sind, bestehen aus 70 Prozent Wasser
und nur 30 Prozent festen Stoffen. Ohne Wasser kein Leben. Wenn
die Organismen austrocknen, so hört alle Thätigkeit auf. Dabei
tritt in der Regel der Tod ein. Manche Pflanzen und Pflanzentheile
gehen indess nur in einen scheintodten Zustand über; sie haben die
Fähigkeit, sobald sie von Wasser durehdrimgen werden, wieder ihre
Lebensfunktionen beginnen zu lassen tl. Es ist bekannt, dass Samen
im trockenen Zustande viele Jahre aufbewahrt werden können, dass
sich Getreide Jahrhunderte erhält. Im Jahr 1799 hätte Zürich, nebst
Anderm, nicht auch einen Vorrath von Waizen und Dinkel von
1000 Zentnern, die Ersparniss mehrerer Jahrhunderte verloren, wenn
derselbe nicht gut erhalten gewesen wäre. Er stammte vom Jahr
1548, und war nie gedörrt worden. Weaizenkörner, die vor 3000
Jahren den ägyptischen Mumien beigelegt worden, keimen noch in
unserer Zeit, — wenn auch nicht aller Mumienwaizen, der als solcher
verkauft wird, sich eines so ehrwürdigen Ursprungs erfreut. Moose,
"Flechten und andere niedere Gewächse, die an Felsen und Bäumen
vorkommen, trocknen bei schönem Wetter ein, und leben mit jedem
Regen wieder auf. Moose, welche hundert Jahre im Herbarium
gelegen haben, können befeuchtet wieder fortwachsen. Für ein ein-
zelliges mieroseopisches Wasserpflänzchen ?), das in Vertiefungen auf
Mauerplatten und Felsen lebt, wo der Regen einige Zeit liegen bleibt,
ist sogar ein periodisches Austrocknen Bedingung der Existenz. Kul-
tivirt man dasselbe iu einer Wasserschüssel, so verkümmern nach
1) Die meisten organischen und jedenfalls alle organisirten Substanzen haben
das Vermögen, sich mit Wasser zu durchdringen (aufzuquellen) und an der Luft
durch Verdunstung einzutrocknen. Im trockenen Zustande bleiben sie, wenigstens
was die Struetur betrifit, ziemlich unverändert. Das eindringende Wasser bewirkt
aber, wenn die Temperatur nicht allzu niedrig ist, sogleich chemische Umbil-
_ dungen. Entweder sind dieselben die nämlichen wie vor dem Eintrocknen; die
organische Substanz, die sich nur in einem Zustande des latenten Lebens oder
der Vegetationsruhe befand, lebt fort. Oder die Substanz hat beim Austrocknen
und während des Trockenliegens eine bedeutendere Veränderung erfahren, sie ist
abgestorben ; die durch das Wasser hervorgerufenen chemischen Umbildungen
leiten Gährung, Fäulniss, Verwesung ein.
2) Chlamidococeus pluvialis.
— 190 —
und nach die Generationen und gehen dann an Nahrungsüberfluss
und an Verweichlichung zu Grunde. Lässt man aber zu rechter Zeit
das Wasser austrocknen, und sucht man das Volk dieser kleinen
Zellen mit Hungersnoth und Dürre heim, so leben sie nach Wochen
oder Jahren durch Wasser wieder neugekräftigt auf. — Selbst kleine
Thiere können eintrocknen, ohne ihre Lebensfähigkeit zu verlieren.
Nach Jahren werden sie im Wasser wieder lebendig und tummeln
sich herum, als ob sie nur ein wenig geruht hätten 1).
In der Pflanze sind aber nieht nur alle lebenskräftigen Zellen
in steter Veränderung und in stetem Wechsel ihrer Theile begriffen.
Die nämlichen Zellen dienen nur eine Zeitlang, selten mehr als drei
und vier Monate, den Lebensfunetionen; dann werden sie von andern
Zellen desselben Organs abgelöst, oder an die Stelle der alten Organe
treten neue. Zwei nahe liegende Beispiele mögen diess erläutern.
Die Dahlien, welche bei mildem Herbstwetter gestern noch die Gärten
mit ihrer Blüthenpracht schmückten, sind einem Nachtfrost erlegen;
heute lassen sie lebensmüde die welken Blüthen und Blätter hängen,
welche bald an der Sonne vertrocknen und schwarz werden. Selbst
die härtern holzigen Stengel theilen das Schieksal des übrigen stolzen
Baues. Nur die in der Erde liegenden Theile bleiben lebenskräftig,
um jedes Jahr wieder neue Triebe zu entfalten, welche sich dem
Strahl der Sonne zukehren, im Winde sich wiegen und vom Thau
des Himmels gelabt werden. Aber auch die in der Dunkelheit der
Erde verborgenen Organe werden fortwährend erneuert. Während die
Theile des vorhergehenden Jahres verwesen, bilden sich an dem
unterirdischen Grunde des jeweiligen Stengels jährlich einige Knospen
und verdiekte Wurzeln; die letztern nehmen die von den Blättern
gebildeten Nahrungstoffe auf und verwenden sie im Frühjahr für die
Entwicklung «der Knospen zu blätter- und blüthenreichen Trieben.
Der Apfelbaum bildet jährlich neue Blätter, Blüthen, Früchte.
Die Blütlien welken dahin, die Früchte werden gepflückt, die Blätter
fallen im Herbst ab. Es bleibt das Stammgerüst und die Wurzeln;
aber an dem Stammgerüst entstehen jedes Jahr neue Triebe, welche
1) Die erwähnten 'Thatsachen sind Folgen einer allgemeinen Erscheinung,
der Periodizität im Leben der Gewächse. Die Pflanze und ihre Organe können
nieht ununterbrochen fortwachsen. Die Thätigkeit erleidet wenigstens jährlich
einen Unterbruch , entweder durch Temperaturerniedrigung (im Winter) oder dureh
Wasserentziehung (in der heissen Jahreszeit). Ueber den Grund, warum. diese
Vegetationsruhe nothwendig ist, wissen wir nichts; aber Thatsache ist, dass alle
Pflanzen ohne Ausnahme periodisch in den Zustand der Ruhe übergehen.
—
— 11 —
Blust!) und Belaubung tragen, und an der Wurzel neue Verlänge-
rungen und neue Seitenzasern, welche den Nahrungssaft aufsaugen.
Die zwischen den beiden Enden, den Zweigen und den Wurzel-
spitzen befindlichen Theile (Wurzeläste, Stamm und Stammäste) sind
zwar die nämlichen; aber neue Gewebe übernehmen jährlich die Lei-
tung des rohen Nahrungssaftes nach oben zu den Blättern, und die
Leitung der assimilirten Nahrung nach unten zu den Wurzeln. Jedes
Jahr bildet sich an der äussern Fläche des Holzes eine neue Jahres-
schicht; nur der Splint (der äusserste Theil des Holzes, bestehend
aus den letzten Jahrringen) und vorzüglich das ihn bedeckende Bil-
dungsgewebe hat Leben. Die ganze innere Holzmasse (das Kern-
holz) und das Mark ist abgestorben. Ebenso vegetirt von der Rinde
nur der .innerste Theil. An dem ganzen Baum ist somit nur eine
verhältnissmässig geringe Partie von Gewebe lebendig, die Spitzen
der Zweige mit Blättern und Blüthen, die Enden der Wurzeln und
in den übrigen Theilen eine dünne Schicht zwischen Holz und
Rinde. — Die Linde beim Tiefenhof hat nach der Schätzung eines
Sachverständigen 15 Klafter dreifüssiges Brennholz, — möge das-
selbe erst unsere Urenkel wärmen ?); — nach meiner darauf hin ange-
stellten Berechnung besteht sie jetzt im unbelaubten Zustande ungefähr
aus 2000 Billionen Zellen; davon sind 1980 Billionen todt und nur
20 Billionen in voller Lebenskraft. Von diesen letztern, die in fort-
währender Vermehrung begriffen sind, sterben ebenso stetig die äus-
sersten und die innersten ab; jene um die braune oder schwarze
vertrocknende Rinde (Borke) zu bilden, welche den Unbilden von
Sturm und Wetter ausgesetzt ist, denselben theilweise erliegt und
häufig in Schuppen abfällt; diese, um als innerste Splintlage sich in
reifes Holz zu verwandeln und zur Mumie zu werden, — geschützt
durch die bedeckenden Theile vor der Einwirkung der Luft. Wird
durch eine Verletzung das Holz blossgelegt, so geht es in Verwesung
über, und der Stamm wird hohl. Aber der hohl gewordene Baum
wächst eben so freudig fort; denn er hat nur todtes Holz verloren.
1) Das Blust (Bluhst) ist Colleetivum und bezeichnet im Schweizerdeutschen
den ganzen Blüthenschmuck einer Pflanze, namentlich von Bäumen und Sträu-
ehern. Es bildet den Gegensatz zu Laub.
?) Die meisten der auswärtigen Leser, welche Zürich besucht haben. kennen
wahrscheinlich die Linde bei der Post und beim Hötel Baur. Schon vor mehreren
Jahren verlor sie in Folge von Terrainveränderungen viele ihrer Wurzeln, und
musste desshalb eines grossen Theils der ungeheuern Krone beraubt werden.
Immer noch eine Zierde der Stadt. läuft sie Gefahr, nächstens durch neue Bauten
in ihrer Existenztähigkeit wieder beeinträchtigt zu werden.
— 12 —
Somit ist der Baum, wenn er auch als eine lebensvolle Masse
erscheint, eigentlich ein grosses Leichenhaus, bewacht und bewahrt
von wenigen lebendigen Wächtern; ein grosser Friedhof, über dessen
Oberfläche die lebende Generation hinschreitet, und fortwährend ihren
Tribut zu den bereits Vorangegangenen in die Erde versenkt.
Das Leben der Pflanze ist in einer steten Wanderung begriffen;
fortwährend geht es in neue Organe, und innerhalb des gleichen
Organs in neue Gewebe und Zellen über. Daher wächst die Pflanze
und bildet neue Theile, so lange sie existirt; ihre Formbildung ist
unbeschränkt. Anders verhält sieh das Thier wnd der Mensch; die
Organe des ausgewachsenen Zustandes bleiben und funetioniren, mit
wenigen Ausnahmen, zeitlebens. Aber in der Substanz derselben
findet eine wnaufhörliche Erneuerung statt, indem durch den Stoff-
wechsel Theilchen weggeführt und dafür ungefähr eben so viele neue
eingelagert werden. So wird binnen wenigen Monaten der stoffliche
Inhalt des Körpers ein anderer, in diesen Organen früher, in jenen
später. Und die Redensart : Ich hörte mit andern Ohren, und: Ich
sah das mit andern Augen, hat nicht bloss einen figürlichen Sinn.
Denn unsere Augen und Ohren sind etwa mit gleichem Rechte die-
selben, die wir vor einem Jahre hatten, wie ein Messer, an das wir
heute eine neue Klinge und morgen ein neues Heft machen lassen,
das nämliche bleibt.
Pflanze und Thier sind darin von einander verschieden, dass
jene die Substanz vermehrt, dieses sie wechselt. Die Pflanze lebt wie
ein Geizhals; sie nimmt unabänderlich mehr ein als sie ausgibt; sie
häuft, so lange sie lebt, Schätze, die sie selber und ihre Nachkommen
nicht brauchen können. Weil bei der Pflanze die Einnahmen die Aus-
gaben übersteigen, so hat sie natürlich immer zu leben, und es droht
ihr wenigstens von dieser Seite kein Ruin. Das Thier dagegen hat
ein sehr genau berechnetes, und was mehr sagen will, ein nie über-
schrittenes Budget. Bald mögen die Einnahmen, bald die Ausgaben
etwas überwiegen; eine wesentliche Störung kommt im normalen Zu-
stande nicht vor. Sobald aber der schlechte Haushalt beginnt, und
die Ausgaben die Einnahmen übersteigen, so droht der Bankerott.
Krankheit und Altersschwäche führen den Tod herbei.
Pflanze und Thier haben das mit einander gemein, dass in beiden
die Substanz sich fortwährend erneuert. Die Consequenz der Natur
scheint eine andere zu sein, als die des Geistes. .Jene besteht im
Wechsel, diese suchen wir im Beharren. Auch darin scheint eine
Verschiedenheit zu walten, dass im Stofllichen der Inhalt sich ändert,
während die Form bleibt oder in gleicher Weise reproduzirt wird; —
— 193 —
auf geistigem Gebiete erlaubt die Consequenz, die Form zu wechseln,
wenn nur der Inhalt der nämliche ist. Indess besteht dieser Wider-
spruch zwischen Natur und Geist nur so lange wir in beiden nicht
die Totalität erfassen, so lange wir im der Natur das Bleibende oder
die Idee, und im, Geistigen die Bewegung oder den nothwendigen
Fortschritt nicht mit in Anschlag bringen.
Der Wechsel im Individuum führt seinen Untergang herbei; die
Zelle, das Organ, die Pflanze haben begrenzte Dauer. Es gibt
Gewächse, die nur Stunden oder Tage leben. Indessen erreichen
andere ein sehr hohes Alter, und sind scheinbar unbegrenzt. In
Freiburg in der Schweiz wurde der unter dem Namen Murtner-Linde
bekannte Baum im Jahr 1476 an dem Tage gepflanzt, an welchem
man die Nachricht von dem Siege bei Murten erhielt. Eine andere
Linde ebendaselbst war zu jener Zeit schon wegen ihrer Dicke
und ihres Alters berühmt. Sie wurde zwar von Gerbern verstüm-
melt, welche die Verwirrung während der Schlacht benutzten, um
sie ihrer Rinde zu berauben. Allein sie ertrug den Eingriff, und
hatte im Jahr 1831, 4 Fuss über dem Boden gemessen, 36 Fuss
im Umfange. Bei Neustadt an der Kocher in Würtemberg steht indess
die merkwürdigste Linde. Sie muss schon im Jahr 1229 sehr an-
sehnlich gewesen sein; denn nach alten Urkunden wurde die Stadt,
nachdem sie 1226 zerstört worden war, neu aufgebaut „an der gros-
sen Linde“. Im 17. Jahrhundert unterschied man sie von ihren nicht
wenig zahlreichen Namensverwandten nur als „Neustadt an der grossen
Linde“. In einem alten Gedichte vom Jahr 1408 heisst es:
Vor dem Thore eine Linde staht,
Die sieben und sechzig Säulen hat,
steinerne Säulen, um die Aeste zu stützen. Die Säulen mussten
indess vermehrt werden; jetzt sind es 106, trotzdem dass der Baum
durch Sturm gelitten und Aeste verloren hat!). — Bekannt sind
ferner durch ihr hohes Alter eine riesenhafte Tanne östlich von Cour-
mayeur auf dem Berge Beque, von den Einwohnern Gemsenstall
#) Aus der Zahl der Jahrringe an gefällten Baumstänımen hat man ziemlich
genau das Verhältniss zwischen Alter und Dieke ermittelt. Von einigen Bäumen,
wie namentlich von Linden, ist auch das Alter historisch festgestellt, und daraus
wurde die jährliche Zunahme berechnet. Bei der Linde wächst der Stamm um
1%/, bis 2 Par. Linien jährlich in die Dieke. Die früher erwähnte Linde beim
Tiefenhof in Zürich ist etwa 400 Jahre alt. Die ältesten Linden erreichen bis auf
1000 Jahre. .
\
— 14 —
genannt, etwa 1200 Jahre alt, — mehrere Eibenbäume in England
von 1200 bis 3000 Jahren, der berühmteste auf dem Kirchhofe
Grasford in Nordwales, — ein ungeheurer Kastanienbaum, Castagna
dei cento eavalli, auf dem Aetna, — die Riesenceypresse zu Santa
Maria del Tule in Mexico, 124 spanische Fuss im Umfang, aus
deren Stamm in der Höhe von 25 Fuss, wo er sich in Aeste spaltet,
eine (Quelle entspringt, — der (noch lebende) Drachenbaum bei
Orotava auf Teneriffa, in dessen hohlem Stamm schon im 15. Jahrn
hundert ein kleiner Altar aufgerichtet war, an dem Messe gelese-
wurde. Selbst in der Kultur können die Pflanzen ein hohes Alter
erreichen. Ein Rosenstock beim Dom zu Hildesheim ist urkundlich
über 800 Jahre alt; und als vor einigen Jahren in der Orangerie im
Tuileriengarten zu Paris die Kübel geräumt wurden, so zeigten die
Bäume eim Alter von 300 — 700 ‚Jahren.
Die grössten und ältesten Bäume sind aber die Bertholletien in
Brasilien und die Affenbrodbäume (Baobab) in Senegambien, letztere
mit einer 170 Fuss breiten Krone, und mit Stämmen, die 80 bis
90 Fuss Umfang haben. In der Höhlung eines derselben halten
die Neger ihre Gemeindeversammlungen. Man hat ihr Alter auf
6000 Jahre und darüber geschätzt. Manche darunter mögen nach
historischer Zeitrechnung mit Adam Jahrgänger gewesen sein.
Diese vegetabilischen Riesen, die unberührt vom Zahn der Zeit
jährlich ihr Laubdach nen und weiter bauen, ebenso manche kraut-
artige Gewächse, welche jährlich und unermüdlich wie die Dahlien
einen neuen Trieb nach oben und an dessen Grund in der Erde eine
oder mehrere Knospen für das folgende Jahr anlegen, — geben
Beispiele scheinbar nieht endender Lebensdauer, und mit Rücksicht
auf dieselben hat sich in der Wissenschaft ziemlich allgemein der
Gedanke festgesetzt, dass manche Pflanzen der Zeit nach unbegrenzt
seien, und dass sie nur durch zufällige Fingriffe ein Ende finden !).
Damit steht, obgleich äusserlich verschieden, doch in innerer Bezie-
hung die Ansicht mancher neuesten Physiologen, dass das Leben des
thierischen und menschlichen Organismus unendlich dauern musste,
wenn es gelänge, durch geeignete Nahrung den täglichen Verlust voll-
1) Die Ansichten über die Dauer des Pflanzenindividuunms sind übrigens natür-
lich verschieden, je nachdem man den Begriff dieses letzten so oder anders fasst.
So sagte de Candolle, welcher die Knospe als pflanzliches Individuum betrachtete,
die Daner desselben betrage im Allgemeinen kaum ein Jahr: wozu sein Uebersetzer,
Röper, die Bemerkung macht : „Im Allgemeinen würde unsterblich die Lebens-
dauer des vegetabilischen Individuums richtiger bezeichnen, als einjährig.
— 19 —
kommen zu ersetzen. Es würde nach dieser Ansicht, um zur Un-
sterblichkeit auf Erden zu gelangen, statt der Genialität und des
Verdienstes, auch ein gutverdauender Magen ausreichen, — ein eben
so sicheres Mittel, denn das Verdienst wird oft verkannt, und gewiss
ein wohlfeileres.
Die Frage, ob das Individuum einer unbegrenzten Dauer fähig
sei, ist zu wichtig für die Erkenntniss seines Wesens, als dass ich
sie ganz übergehen könnte. Es versteht sich, dass die Lösung nicht
auf empirischem Wege gefunden werden kann. Denn wenn es auch
6000 und 8000jährige Bäume gibt, die vielleicht schon die Wiege
des Menschengeschlechtes beschattet haben, so ist doch ihr Alter nur
ein kurzer Abschnitt in der Zeitrechnung, welche die Geologie über
die Geschichte der Erdoberfläche führt. Die Frage muss theoretisch
entschieden werden. Stellen wir uns auf den mechanischen Stand-
punkt, von welchem aus die unbegrenzte Dauer vertheidigt wird, so
sind die Bedingungen für eine Bewegung ohne Ende, dass sie ent-
weder sich nicht ändert, oder periodisch in den vollkommen gleichen
Zustand zurückkehrt. Beides wäre absolutes Beharren, somit absolute
Ruhe. Jede Bewegung, die nicht kreisförmig in sich zurückkehrt,
und jede materielle Erscheinung, in der eine Veränderung eintritt,
muss früher oder später in die Unmöglichkeit der Existenz gerathen.
Wir können daher allgemein sagen, dass das Endliche im Raum auch
endlich in der Zeit sein müsse; und wir können mit Grund den
Wahrspruch wiederholen, der nirgends eine wörtlichere Anwendung
findet : Es ist dafür gesorgt, dass die Bäume nieht in den Himmel
wachsen.
Alle Organismen müssen als lebendige, da sie in einer fort-
währenden Veränderung begriffen sind, einem durch innere Ursachen
gesetzten Ende entgegengehen. In inniger Beziehung damit steht der
Wechsel der Individuen, oder die Erscheinmg, dass ein Organismus
neue gleiche Organismen hervorbringt. Der Krystall hat keine inner-
lich begrenzte Dauer; er besteht, bis äussere Ursachen seine Auf-
lösung oder seine Zersplitterung herbeiführen. Was aus seinen
Trümmern wird, das hängt gänzlich von den chemischen und physi-
kalischen Kräften ab, deren Einfluss sie anheimfallen. Es geschieht
aber selten und vollkommen zufällig, wenn ein neuer gleicher Krystall
entsteht.
In der organischen Natur ist dagegen die Fortpflanzung eine
allgemeine Erscheinung; im Gewächsreiche finden wir sie bei allen
individuellen Gebilden, es mögen ganze Pflanzen oder Theile. der-
selben sein. Die Körner des Zelleninhaltes, die Zellen, die Organe
— 1% —
und Organcomplexe pflanzen sich sehr oft fort, und das Wachsthum
eines complieirten Organismus ist nichts Anderes, als die Fortpflan-
zung und Vergrösserung der individuellen Theile, aus denen er besteht.
Die Erzeugung neuer Individuen ist der letzte und höchste Akt,
zu dem sich das Pflanzenleben erhebt. Er setzt alle andern Erschei-
nungen desselben voraus und schliesst sie ab. Die Fortpflanzung
besteht darin, dass die individuelle Lebensbewegung auf einem Punkte
anlangt, ähnlich demjenigen, von dem sie selber ausgegangen ist;
dass sie eine Anlage hervorbringt, ähnlich derjenigen, aus der sie
sich entwickelt. hat. Die Folge der Individuen oder Generationen ist
somit eine periodische oder eine Wellenbewegung, die bis zum Wellen-
berge des ausgebildeten Zustandes sich erhebt, und dann immer wieder
zurücksinkt in's Wellenthal der unentwickelten Anlage. Insofern gleichen
sich alle durch Fortpflanzung verketteten Reihen organischer Wesen.
Sie sind darin verschieden, dass in den einen die individuelle Lebens-
bewegung einfach und beschränkt sich wenig über das Wellenthal
erhebt, dass sie in andern dagegen reich und mannigfaltig sich zu
einem hohen Wellenberge aufthürmt.
Ich möchte hier ein Gesetz begründen, welches eine bestimmte
Beziehung der individuellen Ausbildung zur Erzeugung neuer Indivi-
duen ausdrückt, und das mir für die Pflanzenwelt von Bedeutung
scheint. Je höher, complizirter und mannigfaltiger der Organismus
ist, desto unabhängiger ist seine Individualität von dem erzeugenden
Individuum, desto mehr ist seine Eigenthümlichkeit eigenes Verdienst
und nicht ererbte Anlage. Den genauen Ausdruck hiefür finden wir
in der materiellen Betheiligung des Individuums bei der Fortpflanzung.
Einfache Organismen verwenden einen verhältnissmässig sehr grossen
Theil ihrer Substanz zur Anlage des neuen Organismus, welcher schon
in seiner Entstehung ziemlich entwickelt ist. In den höher und
eomplizirteren Organismen dagegen dient nur ein winziger Theil zur
Erzeugung, und bildet eine wnentwickelte Anlage. Je länger die
Lebensbewegung ist und je höher sie ansteigt, desto kleiner ist ver-
hältnissmässig der Abschnitt, welcher eine neue Bewegung einleitet,
desto weniger influenzirt ist somit die letztere von der erzeugenden
Bewegung.
Vergleichen Sie, zum Beweise, die niedrigsten und die voll-
kommensten Gewächse. Die allereinfachste Pflanze!) ist eine kleine
1) Z. B. Chroococeus, ein mieroscopisches Pflänzchen, dessen Zellen, in
grosser Menge beisammen liegend, auf Felsen und Mauern zuweilen dünne, span-
grüne oder röthlichgelbe Ueberzüge bilden.
PL
— 117 —
kugelige Zelle, welche sich in zwei Hälften theilt. Jede Hälfte, oder
jede der beiden Tochterpflanzen ist so zu sagen schon vollkommen
entwickelt, besitzt den gleichen Bau und die gleiche Funetion wie
die Mutterpflanze, und muss bloss noch sieh vergrössern, um ihr
vollkommen gleich zu sein. — In andern einzelligen mieroseopischen
Gewächsen !) besteht die Zelle durch eine tiefe Einschnürung aus zwei
Hälften oder Lappen. Bei der Vermehrung bilden sich aus der
Mutterpflanze ebenfalls zwei Tochterpflanzen. Es trennen sich diw
beiden Lappen von einander; an jedem ist ein unentwickelter befestigt,
der nach und nach zur vollständigen Form sich ausbildet. Hier erhält
also die Tochter die unveränderte Hälfte ihrer Mutter und die Anlage
zu einer neuen Hälfte ?).
In dem ersten Beispiel erbt die Tochter ganz die Eigenschaften
der Mutter; die eigene Thätigkeit ist auf eine einfache Vergrösserung
auf das doppelte Volumen beschränkt. In dem zweiten Beispiel
schafft sich die Pflanze doch eine neue Hälfte; aber die Entwicklung
geschieht unter der steten und strengen Aufsicht der mütterlichen oder
der von einer frühern Ahnin herstammenden Hälfte, und es ist dafür
gesorgt, dass der Sprössling keine allzugrossen Sprünge in der Gel-
tendmachung seiner Individualität versucht.
Ganz anders bei der Fortpflanzung eines höhern Gewächses.
Die Linde beim Tiefenhöf besteht nach der früher mitgetheilten
Schätzung im Ganzen etwa aus 2000 Billionen Zellen; darunter
befinden sich etwa 20 Billionen lebenskräftige; wenn der Baum
belaubt ist, so mögen noch etwa 10 Billionen lebender Zellen dazu
kommen. Die Anlage der neuen Pflanze ist eine einzige solche Zelle,
ein kugeliges, unsichtbar kleines Bläschen, unendliche Mal kleiner
als die ausgebildete Pflanze und ihr in keiner Hinsicht ähnlich. In
dieser Zelle liegen alle Eigenschaften des ganzen grossen Linden-
baumes als Möglichkeit; sie müssen sich aber durch eine lange Reihe
1) Cosmarium und die übrigen Desmidiaceen, in reinem süssem Wasser
lebende Pflänzchen,, die zu den zierlichsten mieroseopischen Objekten gehören.
2) Eine Pflanze theilt sich in zwei; jede derselben ist äus einer von der
Mutter ererbten und einer selbst erzeugten Hälfte zusammengesetzt. Bei einer
neuen Theilung bilden sich aus den 2 Individuen 4; in zweien stammt die alte
Hälfte von der Mutter, in zweien von der Grossmutter her. Die folgende Gene-
ration zeigt 8 Pflanzen; 2 haben die Hälfte von der Urgrossmutter, 2 von der
Grossmutter und 4 von der Mutter geerbt. Lassen wir die Theilung sich fortsetzen,
so finden sich unter der zahlreichen Nachkommenschaft immer zwei, deren eine
Hälfte von der Urahnin herstammt, und unter den übrigen sind alle Generationen
repräsentirt.
Wissenschaftliche Monatsschrift. 14
— 1% —
von Bildungsstufen allmälig entwickeln. So ist ein grosser Spiel-
raum zur freien Entfaltung der Individualität gegeben. Zwar bleibt
auch hier, eine kurze Zeit lang, die Entwicklung unter dem Einfluss
der Mutterpflanze, insofern dieselbe die Anlage ernährt, bis sie zum
Samen sich umgewandelt hat. Der Einfluss ist aber nur ein mittel-
barer, dureh Mittheilung löslicher und somit gleichsam indifferenter
Nahrungsstoffe 1).
Die höhern Gewächse können noch in anderer Weise sich fort-
pflanzen, — durch Knollen, Zwiebeln, Ausläufer auf natürlichem,
durch Stecklinge, Ableger, Pfropfreiser auf künstlichem Wege. Wenn
wir die beiden Fortpflanzungsarten?) der nämlichen Pflanze mit einander
1) Von den dem blossen Auge verschwindenden, mieroscopischen einzelligen
Pflänzchen, bis zu den grössten und am complizirtesten aufgebauten Gewächsen
giebt es eine unendliche Menge von Abstufungen. Alle stimmen darin mit einander
überein, dass die zur Erzeugung einer neuen Pflanze bestimmte Anlage eine ein-
fache Zelle ist. Die letztere muss daher einen um so kleinern Bruchtheil des
mütterlichen Organismus darstellen, je höher dieser entwickelt ist. Bei den
sogenannten Uryptogamen trennt sich die Fortpflanzungszelle selbst (als Spore)
von der Mutterpflanze los. Bei den Phanerogamen oder Blüthenpflanzen ent-
wickelt sie sich innerhalb des Organs, in welchem sie entstanden ist, zu einem
vielzelligen Embryo, wie sich das Ei der Säugethiere im Mutterleib zum Fötus
ausbildet. Man könnte daraus den Einwurf ableiten, dass bei den höhern Pflanzen
und Thieren der mütterliche Organismus einen grössern Einfluss auf den Sprössling
ausübe und materiell mehr auf denselben vererbe, als bei den niedern (sporen-
bildenden) Pflanzen und (eierlegenden) Thieren. Denn die ganze Substanz des
Samens so wie des neugeborenen Thieres stammt von der Mutter her. Allein wir
müssen zwischen Vererbung und Ernährung genau unterscheiden. Nur die erste
Zelle (die einzellige Anlage oder die Fortpflanzungszelle) wird unmittelbar durch
die feste organisirte Substanz des erzeugenden Organismus gebildet. Von da an
geschieht die Entwicklung selbstständig, gemäss der Organisation, welche die
erste Anlage geerbt hat. Die sich entwickelnde Anlage wird durch gelöste (unorga-
nisirte) Nahrungsstoffe, welche die Mutter liefert, ernährt. Sie lebt gleichsam als
Schmarotzer. Dass aber die Uebertragung von gelösten Stoffen, die den Organis-
mus während seines Wachsthums ernähren, keinen sehr wesentlichen Einfluss auf
dessen Eigenschaften ausübt, sehen wir an den wahren Schmarotzern, z. B. der
Mistel, welche während Jahrtausenden und durch viele Generationen hindurch
von dem Apfelbaum ihre Substanz empfängt, ohne demselben ähnlich zu werden,
— an den gepfropften Bäumen, wo die aus dem Edelreis hervorgehende Krone und
der von dem Wildling herrührende Stamm sammt Wurzeln im Ganzen ihre
Eigenthümlichkeiten bewahren , — selbst an dem menschlichen Säugling , welcher
der Mutter ähnlich wird, er mag von der Amme oder der Eselin aufgefüttert
werden.
?) Man unterscheidet sie zuweilen auch als Fortpflanzung und Vermehrung.
— 199 —
vergleichen, so bemerken wir recht eigentlich den verschiedenen
Einfluss, den das Individuum auf die individuelle Ausbildung der
Nachkommen hat, je nach der Art, in der es sich bei der Bildung
der Anlage betheiligt. Die Pflanzen, welche aus Samen aufgehen,
zeigen eine grosse Mannigfaltigkeit; es sind darunter grosse und
kleine Exemplare, unverzweigte und verzweigte, mit wenig und mit
vielen Blättern und Blüthen, mit ganzen und mit getheilten, behaarten
und kahlen Blättern, mit weissen und bunten, einfachen und gefüllten
Blüthen. Schneidet man aber einen Zweig ab, steckt denselben in
die Erde, lässt ihn Wurzeln schlagen, so entsteht eine Pflanze, die
vollkommen der Mutterpflanze ähnlich ist und alle ihre individuellen
Merkmale geerbt hat.
Die Verschiedenheit der beiden Fortpflanzungsarten in der Ver-
erbung der Eigenschaften ist für den Oeconomen und Gärtner von
grosser Wichtigkeit. Von ihr stammen die unzähligen Obst- und
Traubensorten, die Varietäten der Dahlien, Pens&des, Calceolarien,
Nelken, Tulpen. Von Birnen allein kennt man mehr als 1500 Sorten.
Will man nun noch dazu neue Sorten erzielen, so wählt man Samen
von einer besonders vorzüglichen Spielart, sät denselben aus und lässt
die Bäumehen heranwachsen, bis sie Frucht tragen. Unter vielen
Hunderten sind alle verschieden, und wohl keine zwei tragen ganz
die gleichen Früchte. Der berühmte Obstbaumzüchter van Mons
erhielt von den 10 Kernen einer einzigen Birne 10 verschiedene
Sorten. Aber die Früchte der meisten durch Aussaat erzogenen
Böumcehen sind klein und sauer, wenn sie auch von den besten Sorten
stammen. Vielleicht nur ein einziges unter einigen Hunderten bringt
vorzügliche Frucht, und eine Frucht, die bisher noch nicht da war.
Alle übrigen Bäumchen werden entfernt; dieses Einzige wird durch
die zweite Fortpflanzungsart (dureh Stecklinge, Ableger, Pfropfreiser)
vermehrt, und man erhält dadurch eine beliebige Zahl von Bäumen,
die alle die gleiche Frucht tragen und die zusammen eine neue Sorte
bilden, — eine Sorte, die sich so lange erhält, als die Vermehrung
bloss durch Pfropfreiser geschieht.
Ganz auf gleiche Art erzielt der Gärtner die neuen Varietäten
der Zierpflanzen. Durch Samen erhält er einzelne ausgezeichnete
Individuen, und durch Stecklinge macht er aus einem Individuum
Tausende. Durch Samen werden neue Varietäten erzeugt, durch
Stecklinge oder Ableger vermehrt. So ist z. B. die Petersilientraube
entstanden. So die falsche Akazie mit" stachellosen Zweigen; in einer
Aussaat vom Jahr 13803 fand sich ein einziges Exemplar. Dasselbe
ist der Stammvater von Millionen Exemplaren, die jetzt in den An-
— 200 —
lagen sich befinden). Die eultivirten Blutbuchen Europa’s stammen
von einem einzigen Baum in Thüringen; ausgesät gibt sie meist die
gewöhnliche grüne Buche, oder eine Mittelfarbe zwischen grün und roth.
Nicht nur die Eigenschaften eines Individuums, selbst diejenigen
eines einzelnen Theiles desselben können durch die zweite Fortpflan-
zungsart fixirt werden. Zuweilen kommt es vor, dass an einer Pflanze
ein einziger Zweig sich abnormal verhält, vielleicht krankhaft ist,
z. B. an einer stacheligen Pflanze stachellos, an einer Pflanze mit
ganzen oder einfarbigen Blättern getheiltblättrig oder buntblättrig, an
einer Pflanze mit unregelmässigen Blüthen regelmässigblüthig. Sobald
der Cultivateur eine solche Abnormität bemerkt, welehe ihm der
Erhaltung werth scheint, so schneidet er den Zweig ab, und vermehrt
ihn weiter durch Stecklinge oder Pfropfreiser. So sind die Trauer-
eschen aus einem hängenden Ast entstanden. Ein Gutsbesitzer in der
Nähe von Genf, Mr. Saladin de Bude, bemerkte an einer Ross-
kastanie einen einzigen Ast mit gefüllten Blüthen. Er vermehrte
denselben im Jahr 1824 durch Pfropfreiser, und seitdem hat sich
die gefülltblüthige Rosskastanie über ganz Europa verbreitet. Zur
Stunde bringt jener Ast immer noch gefüllte, alle übrigen Aeste des
Baumes einfache Blüthen hervor.
Die Verschiedenheit zwischen den beiden Fortpflanzungsarten der
gleichen Pflanze hat die nämliche Ursache wie die Verschiedenheit
der Erzeugung bei höhern und niedern Gewächsen. Bei der Fort-
pflanzung durch Samen durchläuft die Lebensbewegung ihre ganze
Bahn, und sondert am Ende eine geringe Menge von Substanz ab,
welche einen winzigen Bruchtheil von der ganzen Summe ihr noth-
wendig vorausgehenden Substanz ausmacht. Bei der Vermehrung durch
Stecklinge oder Pfropfreiser durchläuft die Lebensbewegung nur einen
kleinen Theil der Bahn, und überdem findet dabei eine beträcht-
lichere materielle Betheiligung statt. Wir können die höhere Pflanze
einem Gebäude vergleichen, in welchem eine Haupttreppe in den
ersten Stock führt; dort theilen sich die Wege und mehrere Treppen
führen in den zweiten, noch mehrere in den dritten Stock. Nicht
alle Treppen, die von einem Stock in den andern führen, sind gleich;
die einen sind weiter und mehr für den allgemeinen Gebrauch be-
stimmt, die andern verborgener, enger und mehr zu besondern Zwecken
hergerichtet. Durch alle diese Treppen steigt die Lebensbewegung empor;
!) Auch die Kugelakazie mit sonnenschirmartig zusammengestellten Zweigen
(l’Acacia parasol) stammt von Samen der gewöhnlichen stacheligen Robinie (fal-
schen Akazie), und wird durch Pfropfen vermehrt.
N ETELESEEMEELEEREREE 7
— 201 —
bei der Fortpflanzung durch Samen wird die oberste Stufe der ober-
sten und abgelegensten heimlichen Treppe, bei der Fortpflanzung
durch Stecklinge oder Pfropfreiser wird irgend eine Stufe einer der
Haupttreppen zum Anfange der Treppenordnung eines neuen Gebäudes.
Denken wir uns die Stufe als lebendiges Bewegungselement, so muss
die Möglichkeit zur Abweichung von der Treppenordnung des frühern
Baues, also zu individueller Ausbildung, im ersten Falle viel grösser
sein als im zweiten 1).
1) Man kennt sehr wohl die Verschiedenheit im Resultat zwischen der Fort-
pöpnzugggdurch Samen und der Vermehrung durch Stecklinge, Knollen, Brutzellen
u.s. w. Allein man fand bis jetzt keinen Ausdruck, welcher die beiden Erschei-
nungen in ihrem Wesen scharf zu unterscheiden vermochte; noch wurde der Ver-
such gemacht, die Abweichungen im Resultate zu erklären. Dass die eine Fort-
pflanzung durch Befruchtung, die andere auf geschlechtslose Art vermittelt werde,
passt nur auf die Phanerogamen. Dass die eine Fortpflanzung durch Samen, die
andere durch Knospen geschehe, ist ebenfalls in ihrer Allgemeinheit unrichtig, da
einmal die Samen selbst eine Knospe (Embryo) einschliessen, und da ferner bei
manchen niedern Pflanzen die Erzeugung durch Sporen (Samen) und Brutzellen
(nicht durch Knospen) vor sich geht.
Die von mir im Texte vorgeschlagene Begriffsbestimmung der beiden Fort-
pflanzungsarten enthält zugleich auch die Erklärung ihrer Verschiedenheit. Jede
Pflanze entsteht aus einer einfachen Zelle, aus welcher sie in regelmässiger Stufen-
folge bis zur ausgebildeten Form sich entwickelt. Die vollkommenste Pflanze
besteht aus Organcomplexen und Organen, aus Systemen von Zellgewebe und aus
Zellen; und der ganze Lebensprozess ist ein complizirtes Triebwerk , wo die
Hauptbewegung zusammengesetzt ist aus untergeordneten Bewegungen, und wo
jede dieser Letztern noch wiederholt in einfachere Prozesse sich gliedert. Bei der
Fortpflanzung durch Samen sind es die Sprossen der letzten und am meisten peri-
pherischen Ordnung (Blüthenstiele), an diesen die letzten und obersten Seiten-
organe (Staubgefässe und Fruchtblätter) und in denselben die Zellen der letzten
Generation, welche die Anlagen für die neuen Pflanzen erzeugen. Die individuelle
- Lebensbewegung wird also dem Begriffe nach durch die Fortpflanzung abgeschlos-
sen. Wenn sie nieht, wie bei den einjährigen Pflanzen, mit der Samenbildung
wirklich erlischt, sondern fortdauert und jedes Jahr neue Samen hervorbringt, so
erhebt sie sich dadurch nicht auf neue höhere Entwicklungsstufen, sondern sie
wiederholt bloss die Erscheinungen des ersten Blüthenjahres.
Bei der Fortpflanzung durch Stecklinge, Pfropfreiser, Knollen, Brutzwiebeln,
Brutzellen u. s. w. sondert die Lebensbewegung, schon ehe sie die ganze Bahn
durchlaufen hat, Keime für neue Pflanzen ab. Wenn auch diese Keime in ihrem
Ursprung aus einer einfachen Zelle sich entwickelt haben, und insofern dem
Embryo im Samen zu vergleichen sind, so bleibt doch die Verschiedenheit, dass
diese Zellen einer frühern Generation von Zellen, einer frühern und mehr centralen-
Ordnung von Organen und Sprossen angehören. Bei den höhern Pflanzen wird
— 202 —
Ueberdem kommt noch eine wichtige Erscheinung hinzu. Bei
der Fortpflanzung der höhern Gewächse aus Samen wirken zwei
Zellen zusammen, die eine von den Staubbeuteln, die andere von
den Stempeln hervorgebracht. Wenn auch die Organe, welche die
beiden Zellen liefern, meist der gleichen Blüthe angehören, so wird
doch durch die Vermischung des Inhaltes zweier individueller Ele-
mentarorgane die allzugrosse Bestimmtheit des einen und andern
gebrochen. Der Anlagezelle, welche daraus entsteht, muss viel weniger
ein charakteristischer individueller Stempel aufgedrückt werden, als
wenn ein einziges Individuum, eine einzige Zelle sie materiell begrün-
dete und ihre Bewegung einleitete. Es werden daher überall im
Gewächsreiche, wo die Fortpflanzung durch das Zusammentreten
zweier verschiedener Elemente geschieht, indifferente Anlagen erzeugt,
in denen die Möglichkeit einer mehr selbstständigen und von der
Mutterpflanze unabhängigen Entfaltung liegt.
Die Individuen, die aus einander hervorgehen, sind bis auf
einen gewissen Grad einander gleich. Sie gehören der nämlichen
Art oder Spezies an. Der Apfelbaum ist eine Art, der Birnbaum
eine andere. Die Arten verwandeln sich nicht in einander. Wenn
man Weizen aussät, so erhält man Weizen wieder, und in einem
Taubenschlag wird nie ein Habicht ausgebrütet. Diese Constanz soll
nach der Ansicht Mancher immer dauern. Aus der Trauereypresse
soll ewig kein Lebensbaum entspriessen; das Bitterkraut soll nicht
zum Süssholz werden; Helerkraut und Münze nicht zum Tausend-
guldenkraut sich häufen, und der Waldgesellet) nicht zum Waldmeister
promoviren können. Man beruft sich für diese Ansicht auf die
der Laubzweig, indem er Wurzeln schlägt, zum selbstständigen Individuum; oder
eine Knospe, die unter andern Umständen zum Ast, zum Blüthenstand oder zur
Blüthe sich entwickelt, trennt sich von der Mutterpflanze; oder es bildet sich eine
entwicklungsfähige Knospe in dem Gewebe der Wurzel, des Stammes und des
Laubblattes.
Es ist begreiflich, dass bei der Fortpflanzung auf einem der letztgenannten
Wege die Abweichung von dem Mutterindividuum geringer sein muss, als bei der
Fortpflanzung durch Samen. Denn bei der erstern wird eine Zelle mitten aus der indi-
viduellen Entwicklung heraus zur Anlage für die neue Pflanze; bei der zweiten da-
gegen ist es eine Zelle der möglichst getheilten und möglichst veränderten individuel-
len Lebensbewegung. Bei der erstern mangeln dem sich entwickelnden Keim die
frühsten Stadien der Pflanze, welche bei der zweiten durchlaufen werden müssen.
Man könnte vielleicht passend die beiden Fortpflanzungsarten als Fortpflan-
zung durch Samen und vegetative Fortpflanzung unterscheiden.
1) Galium sylvaticum, eine dem Waldmeister (Asperula odorata) verwandte
und ähnliche Pflanze,
— 203 —
Erfahrung, dass manche Pflanzen sich seit zwei und drei Jahrtausenden
nicht verändert haben. In den Beschreibungen der Griechen und
Römer erkennt man einzelne jetzt lebende Pflanzen wieder, selbst
manche Namen haben sich im Neugriechischen und im Italienischen
erhalten. Alte Abbildungen und Ueberreste von Pflanzen, die in
den ägyptischen Katakomben beigesetzt wurden, zeigen wohl für 100
Arten deutlich, dass die Flora Aegyptens während 3000 Jahren
dieselbe geblieben ist.
Was ergibt sich aber aus diesem Zeitraum? Wir haben gesehen,
dass ein Alter von 6000 Jahren nichts beweist für die unbegrenzte
Dauer des Individuums; 3000 Jahre beweisen noch weniger für die
Art, d. i. für eine Reihe von Individuen. In der T'hat gibt uns
das chronologisch geordnete fossile Herbarium, das zwischen den
Schichten der Erdrinde eingeschlossen ist, andere Kunde über die
Geschichte der Pflanzenwelt. Die Vegetation änderte sich von Epoche
zu Epoche. Die Arten dauerten einige Zeit, um dann andern Arten
Platz zu machen. Die Weise, wie sie entstanden sind, bleibt der
Vermuthung anheimgestellt. Es gibt eine Ansicht, nach der die
frühern Arten ausstarben und statt ihrer neue geschaffen wurden,
entweder als Keime oder sogar im fertigen Zustande. Wie Pallas
Athene gepanzert aus dem Haupte des Zeus entsprungen, so sollte
der Eichbaum mit Zweigen und Blättern, der Elephant mit Rüssel
und Stosszähnen unmittelbar in die Welt gesetzt worden sein. Eine
andere Ansicht lässt aus der untergehenden Art selbst die neue Art
entstehen.
Für das Letztere sprechen Gründe der Theorie und der Erfah-
rung. Wenn auch die Art in historischer Zeit die nämliche bleibt,
so ändern sich doch die Individuen, und es bilden sich eonstante Typen
aus, die wir als Racen bezeichnen. Es geschieht diess durch Vererbung.
Die Individuen vererben auf ihre Nachkommen die Neigung,
ihnen ähnlich zu werden; die Nachkommen sind aber den Eltern nicht
vollkommen gleich. Es muss also auch die Neigung zur Veränderung
vererbt werden. Es muss, wenn alle Umstände günstig sind, eine
Anlage durch eine Reihe von Generationen hindurch sich immer weiter
ausbilden können, wie ein Kapital, zu dem jährlich die Zinsen ge-
schlagen werden, sich vergrössert. Denn jede Generation erbt von
der vorhergehenden nicht bloss die Möglichkeit, das Capital zu realisiren,
sondern auch die Möglichkeit, demselben die Zinsen zuzufügen t).
1) Von allen, oft unendlich vielen Individuen, die zu einer Art gehören, sind
nicht zwei einander vollkommen gleich. Die mannigfaltigen Verschiedenheiten,
— 204 —
In der That lässt sich die Veredlung von Kulturpflanzen und Haus-
thieren nur auf diesem Wege erklären. Man wählt Samen von dem-
jenigen Pflanzenstock, welcher die schönsten Blüthen oder die grössten
und wohlschmeekendsten Früchte trägt, und sät sie aus, in der selten
getäuschten Hoffnung, dass wenigstens einige Sprösslinge der Aus-
saat die von der Mutter ererbte Anlage weiter entwickeln werden.
Es liegt daher ein richtiges Gefühl darin, wenn der Araber für sein
nach denen sie sich oft zu Varietäten und Racen gruppiren, sind aus zwei Ur-
sachen hervorgegangen, den äussern Einflüssen und der Vererbung. © Die klima-
tischen Verhältnisse geben der Pflanze ein eigenthümliches Gepräge; die gleiche
Art sieht anders aus, wenn sie im Waldesschatten oder an der Sonne, im Sumpf
oder am trockenen Abhang, in der Ebene oder auf Gebirgen wächst. Die Verer-
bung besteht darin, dass das Individuum das Bestreben hat, dem erzeugenden
Individuum gleich zu werden, ein Bestreben, das durch die äussern Einflüsse mehr
oder weniger modifizirt werden kann.
Die Vererbung wirkt aber nicht bloss von den Eltern auf die Kinder, sondern
auch auf spätere Nachkommen. Wir erkennen das aus Erscheinungen, welche oft
periodisch wiederkehren, z. B. nach der zweiten, dritten Generation, oder nach
einer unbestimmten Zahl von Generationen. Bei niedern Pflanzen ist dieser so-
genannte Generationswechsel nicht selten. Bei höhern Pflanzen gilt, wie bei den
Thieren und dem Menschen die Regel, dass die Kinder meistens den Eltern, zu-
weilen aber auch den Grosseltern, seltener den Urgrosseltern oder gar noch frühern
Ahnen gleichen. Diese Thatsache kann die Veranlassung werden, um constante
Racen zu erzeugen. Es gibt z. B. Pflanzen, die gewöhnlich rothe Blüthen tragen,
ausnahmsweise auch weisse. Wenn man die Samen einer rothen Blüthe aussät,
so wird man nur sehr wenige weissblüthige Exemplare erhalten. Die Samen dieser
letztern haben zwar das Bestreben , der Mutter zu gleichen; allein die Neigung der
Art überhaupt zur rothen Farbe, unterstützt durch diejenige, den Grosseltern
ähnlich zu werden, überwiegt, und die Mehrzahl der jungen Pflanzen blüht noch
roth. Wenn man aber durch viele Generationen hindurch immer nur die Samen
der weissblüthigen Individuen aussät, so kann man oft eine Race von grosser
Beständigkeit erhalten ; denn die Pflanzen, sie mögen sich wie die Mutter oder
wie irgend eine ihrer ‚frühern Ahnen verhalten, werden immer weiss sein.
In dem eben angeführten Beispiel verändern sich die Pflanzen nicht allmälig
in ihren äussern Merkmalen, sondern es wird wahrscheinlich die chemische Be-
schaffenheit in der Art modifizirt, dass die Neigung, weisse Blüthen hervorzu-
bringen, von Generation zu Generation grösser wird. In andern Fällen lässt sich
die Veränderung auch an den äussern Eigenschaften wahrnehmen. Die Ausbildung
von Racen innerhalb einer Art nöthigt uns zur Annahme, dass gewisse Eigenthüm-
lichkeiten durch eine Reihe von Generationen hindurch allmälig sich ausbilden °
könen, wobei das erzeugende Individuum nicht bloss seine sichtbaren Eigen-
schaften auf die Nachkommensehaft überträgt, sondern auch die Tendenz, in
einer Richtung hin sich weiter auszubilden. h
Ragenpferd einen Stammbaum führt, und auf das unvermischte Blut
seines Lieblings stolz ist, — und eine Anerkennung gegen die Er-
fahrung, wenn das practische England die reine Abstammung seiner
Rinder durch Heerdebücher documentirt.
Bei der künstlichen Veredlung kann das Ziel derselben bestimmt
werden, indem man zur Vermehrung nur diejenigen Individuen aus-
wählt, in denen die Veränderung in einer bestimmten Richtung
begonnen hat oder weiter gegangen ist. So sind aus der gleichen
wilden Kohlpflanze die Kohlrabi entstanden, in denen die Wurzel-
bildung, der Krauskohl, in welehem die Blattbildung vorherrscht, der
weisse Kopfkohl und Wirsing, an denen sich die Endknospe über-
mässig entwickelt, der Rosenkohl, an dem sich viele Seitenknospen
bilden, und der Blumenkohl, bei welchem der Blüthenstand sich
stark verzweigt und fleischig wird.
Die Ragen haben eine gewisse Constanz, welche der Constanz
der Arten oft nahe verwandt ist. Bei der Fortpflanzung werden
Individuen der nämlichen Rage hervorgebracht. Kulturpflanzen und
Hausthiere liefern viele Beispiele. Wir dürfen nur etwa einen eng-
lischen Wettrenner mit einem Londoner Steinkohlenpferd vergleichen,
und es wird uns nicht einfallen zu denken, dass ein Sprössling des
Wettrenners sehr geeignet wäre, die Bierfässer von Barklay herum-
zuschleppen, oder dass ein Sprössling des Kohlenpferdes den schmäch-
tigen Jockey mit Anstand über die Barrieren der Rennbahn in Epsom
tragen würde.
Und selbst die Geschichte des Menschengeschlechts, wie könnten
wir sie ohne den Factor der fortschreitenden Umbildung durch Ver-
erbung begreifen. Mögen die Fragen über Entstehung der Ragen so
oder anders entschieden werden, mögen Neger, Indianer, Kaukasier
schon ursprünglich vorhanden gewesen, oder im Laufe der Zeiten
erst entstanden sein, so müssen wir doch zugeben, dass die Stämme
und Nationen geschichtlich geworden sind, dass sich körperliche und
geistige Anlagen, Gesichtsbildung und Sprache, Befähigung zu Handel
und Industrie, oder zu Künsten, oder zu abstrakten Wissenschaften
sich aus gleichartigen und indifferenten Keimen nach und nach ent-
wickelt haben. Die äussern (klimatischen und Nahrungs-) Verhält-
nisse haben nicht allein die jetzt bestehenden körperlichen Verschie-
denheiten, die Tradition nieht allein die geistige Entwicklung bewirkt.
Ein wesentliches Moment ist die allmälige Veränderung, welche die
Generationen durchzieht, indem das Individuum, welches ihr Träger
ist, nothwendig eine Anlage hervorbringt, die zu einer bestimmten
Entwicklung hinneigt. Desswegen bleibt der Typus der Juden unter
— 206 —
europäischen Verhältnissen unverändert. Und selbst innerhalb des
gleichen Volkes zeigen sich diese Differenzen. Wer möchte in Ab-
rede stellen, dass die körperlichen Anlagen der in Städten geborenen
Kinder in etwas verschieden sind von denen einer Viehzucht treiben-
den Bevölkerung, dass das 19. Jahrhundert seine Kinder geistig zu
etwas anderm befähigt, als das zwölfte Jahrhundert, dass die Kultur
namentlich auf die feinere Ausbildung des Gehirns und Nervensystems
Einfluss gewinnt, zwar auch dasselbe schwächer und reizbarer macht,
und dass Guttenberg der Stammvater einer erblichen Kurzsichtigkeit
zu werden droht.
Also hat nothwendig jede Art der organischen Welt eine Ge-
schichte, im naturhistorischen Sinne. Aber die Geschichte wird um
so ärmer sein, je einfacher die Organisation der Individuen und je
weniger ausgebildet ihre Individualität ist. Die geschichtlichen Ver-
änderungen der Art bewegen sich innerhalb gewisser Grenzen, so
dass wir nach drei Jahrtausenden noch keine Abweichungen von dem
spezifischen Charakter beobachten. Wenn aber die Umwandlung, wie
wir sie bei der Ragenbildung in historischer Zeit kennen, fortdauert,
so muss sie sich endlich zum Uebergang in eine andere Art summiren,
Die Möglichkeit, dass nach einer gewissen Dauer und unter
günstigen Umständen eine Art in eine andere übergehe, liegt also
vor. Mehrere Gründe sprechen für die Wahrscheinliehkeit. Die ganze
Geschichte der Erdrinde ist das Ergebniss von nothwendig wirkenden
Naturgesetzen. Wir sind daher geneigt, auch die Veränderungen
der organischen Natur auf naturgemässe Vorgänge zurückzuführen.
Es ist aber natürlicher, dass die Pflanze aus der Pflanze, das Thier
aus dem Thier entstanden, als aus unorganischen Stoffen neugeschaffen
worden sei. Zwar scheint es, dass dadurch die Schwierigkeit nur
zurückverlegt werde, indem ja doch einmal das Organische angefangen
haben muss. Die Schwierigkeit wird aber zugleich vermindert; denn
es ist wahrscheinlicher, dass aus den wunorganischen Verbindungen
organische Substanzen entstanden sind, dass aus den letztern sich
die einfachsten einzelligen Pflanzen organisirt, und dass aus diesen
sich in allmäliger Reihenfolge die höhern Gewächse herausgebildet
haben.
Die Vegetation der Erde war ursprünglich eine ganz andere als
jetzt; sie näherte sich der jetzigen immer mehr, und die Pflanzen
der letzten vorweltlichen Periode sind den jetzt lebenden oft so
ähnlich, dass wir nicht wissen, ob es andere Arten oder bloss andere
Varietäten und Ragen der gleichen Art sind. Im Anfang, als das
organische Leben entstand , erschienen niedrige, einfach gebaute
— 207 —
Gewächse ; mit jeder folgenden Periode traten höher organisirte
Pflanzen auf. An jedem Schöpfungstage entwickelte sich das Reich
eine Stufe höher. An jedem Schöpfungstage wurden aber auch von
den niedrigsten und einfachsten Pflanzen geschaffen. In unserer Zeit
sind es die Schimmelpilze und Schwämme, welche nach meiner An-
sicht täglich neu entstehen, während alle übrigen Gewächse nur aus
Samen hervorgehen.
Im Thier- und Pflanzenreiche können wir von den untersten zu
den complizirteren und höhern Organismen Reihen von analogen
Arten unterscheiden, die wie die Stufen einer Treppe auf einander
folgen, indem jeder höhere Organismus zu den frühern Stufen noch
die nächste hinzufügt. Es kommt uns vor, als ob eine organisirende
Thätigkeit in gemessenem und überlegtem Schritte die Stufen hinauf-
gewandelt sei, auf jeder eine Zeit lang ausruhend und sich auf einen
neuen Schritt vorbereitend. Wir müssen uns also für manche Fälle
die Verwandlung der Pflanzenarten zugleich in der bestimmten Form
einer Vervollkommnung, einer höhern Organisirung derselben denken.
Eine Art, die sich in eine andere umändert, erscheint in ihr nicht
bloss mit allen ihren Attributen, sondern fügt noch ein neues Merk-
mal hinzu, und erhebt sich zu etwas Höherem. Die frühere Art
tritt also in der folgenden als vorletztes Entwicklungsstadium auf,
über das hinaus diese sich zum entwickelten Zustande erhebt. Eine Be-
stätigung von Seite der Erfahrung liegt in der Thatsache, dass manche
vorweltliche Thiere den Jungen jetzt lebender Thiere ähnlich, wie-
wohl viel grösser waren. Eine Bestätigung von Seite der Theorie,
dass die höchsten Organismen in ihrer individuellen Entwicklung die
gleichen Stufen durchlaufen, wie das ganze Reich, und dass für die
Pflanzen sogar ganz einfache und allgemeine Gesetze formulirt wer-
den können, nach denen die höhern aus den niedern entstehen !).
Wir werden also beinahe mit unwiderstehlicher Macht auf die
Annahme hingewiesen, dass nicht etwa jede Art für sich und ohne
causalen Zusammenhang mit der übrigen organischen Natur entstanden
sei, und ebenfalls spurlos und fruchtlos verschwinde; sondern dass
die Organismen, wie sie anatomisch und physiologisch verwandt sind,
auch in genetischer Beziehung zu einander stehen.
Den Uebergang von einer Art in die andere können wir uns
als einen allmäligen oder als einen sprungweisen denken. Wir finden
die beiden Formen des Uebergangs durch die ganze Natur, je nach-
!) Ich habe diese Gesetze in der „Systematischen Uebersicht der Erschei-
nungen im Pflanzenreich“ entwickelt.
— 208 —
dem die unterscheidenden Faktoren durch ein Verhältniss der Zahl
oder der Menge ausgedrückt sind. So geht Kohlenoxyd nicht all-
mälig in Kohlensäure, Eisenoxydul nicht allmälig in Eisenoxyd über,
weil die Zahlen der Atomgewichte verschieden sind. Dagegen wird
reines Wasser allmälig zu einer gesättigten Salzlösung, weil die
Quantität des Salzes nach und nach zugesetzt werden kann. Es gibt
Pflanzenarten, wo die einen Individuen 4-, die andern Sblättrige
Blumenkronen hervorbringen ; hier ist natürlich kein Uebergang möglich.
Aber auch in andern Merkmalen, die wir noch nicht auf die Zahl
zurückführen können, werden oft die Mittelformen schwer oder gar
nicht hervorgebracht. So gibt es Arten, wo die einen Stöcke intensiv
gefärbte, die andern weisse Blumen tragen; aber nie oder selten
kommen Individuen vor mit blassgefärbten oder mit panaschirten
Blüthenblättern.
Die Entwicklung des Pflanzenreiches geschah also wahrscheinlich
so, dass in den einen Fällen Generation für Generation um einen
unmerklieben Schritt sich weiter entwickelte und stetig zu einer an-
dern Art wurde; dass dagegen in andern Fällen die Generationen
lange Zeit scheinbar gleich blieben, aber doch eine innere Verän-
derung erfuhren, welche, auf einen gewissen Punkt gediehen, mit
Nothwendigkeit einen Umschlag herbeiführte. Analogieen für beides
finden wir in der Entwicklung der Art, der Pflanze und des Organs.
Es gibt Arten von kleinen einzelligen Wasserpflänzchen, welche
durch hundert Generationen hindurch gleich bleiben. Dann tritt
plötzlich eine Generation auf, welche sich von allen frühern dadurch
unterscheidet, dass ihre Individuen mit zwei Wimpern versehen sind,
und wie Infusorien im Wasser herumschwimmen. Zur Ruhe gelangt,
erzeugen sie wieder wimperlose und ruhende Generationen!).
Bei andern ebenfalls einzelligen Wasserpflänzchen werden die
Individuen von Generation zu Generation kleiner, bis sie zuletzt
winzige Zwerge geworden, die sich vorerst nicht vermehren können.
Aber diese Zwerge fangen an zu wachsen; sie werden zu Riesen ;
dann erst sind sie fortpflanzungsfähig, und bringen Nachkommen her-
vor, die wieder von Geschlecht zu Geschlecht an Grösse abnehmen ?2).
In diesen beiden Beispielen findet eine periodische Veränderung
statt, die scheinbar zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Bei der Ent-
wicklung des Pflanzenstockes wird durch eine Reihe von Zellen oder
von Organen der Uebergang zu Zellen oder Organen einer höhern
1) Z. B. Apiocystis, Mischococeus.
2) Z. B. Characium, Cystococcus. Vgl. Nägeli, Gattungen einzelliger Algen.
— 209 —
Ordnung vorbereitet, welche durch viele Generationen sich wiederholen,
um dann abermals zu einer noch höhern Ordnung fortzuschreiten. Auch
hier sinkt die Bewegung am Schlusse der ganzen Periode auf die ein-
fachste Stufe zurück. Bei der Racenbildung dagegen tritt allmälig oder
plötzlich eine Veränderung ein, und die neuerzeugte Form kann durch
eine fast unendliche Zahl von Generationen sich erhalten t).
1) Die Frage, ob die Arten aus einander entstanden sind oder nicht, ist von
der höchsten Bedeutung, sowohl in theoretischer Beziehung, als auch in prak-
tischer, nämlich mit Rücksicht auf die Geologie. — Innere Gründe sprechen
durchaus für die Bejahung, wie im Text angedeutet wurde. Die Möglichkeit
wird aber durch analoge Erscheinungen aus dem Leben des Individuums und
der Art selbst erwiesen, und zwar sowohl die Möglichkeit einer allmäligen Ver-
änderung, als auch einer sprungweisen. Beim Generationswechsel tritt entweder
plötzlich eine Generation von abweichenden Individuen auf, oder der Ueber-
gang findet nach und nach statt; aber in der Regel bleibt der Typus der Ueber-
gangsgeneration nicht erhalten, sondern bei der ersten Fortpflanzung entstehen
wieder die ursprünglichen Individuen. Bei manchen Wachsthumsprozessen aber
wird der Wechsel dauernd, indem durch eine‘ Reihe von Generationen eine Art
von Zellen oder von Organen, und dann nach plötzlichem oder allmäligem
Uebergang wieder durch viele Generationen hindurch eine andere Art von
Organen hervorgebracht wird. In beiden Fällen kehrt die Bewegung zuletzt
immer wieder dahin zürück, von wo sie ausgegangen ist. Nur bei der Racen-
bildung besteht eine vollkommene Analogie für die Umwandlung der Arten.
Wenn der genetische Zusammenhang aller Pflanzenarten angenommen wird,
so scheint zugleich die Annahme nothwendig, dass der Uebergang von der
einen in die andere meist plötzlich erfolgte, sei es durch einen Sprung, oder
durch rasch auf einander folgende Mittelformen. Man hört zwar etwa den Ein-
wurf : Wie ist es denkbar, dass eine Art lange Zeit dieselbe bleibt, und dann
plötzlich zu einer andern wird? Indess haben wir dafür eine Menge analoger
Erscheinungen. Wenn bei den Desmidiaceen durch hundert Generationen hin-
durch die äusserlich gleichen Individuen sich theilen, und dann auf einmal
Fortpflanzung durch Conjugation eintritt; wenn in andern Pflanzen die Zellen
während hundert Generationen vegetativ bleiben und dann reproduktiv werden,
wenn am Pflanzenstock dreissig auf einander folgende Sprossinternodien Nieder-
blätter, dann dreissig andere Laubblätter und endlich die letzten dreissig Hoch-
blätter hervorbringen ; — so dürfen wir desswegen nicht annehmen, dass in den
beiden ersten Fällen die Zellen, im letzten die Sprossinternodien vollkommen
gleich geblieben sind. Sie haben eine innere, äusserlich nicht wahrnehmbare
Veränderung erlitten, welche nach einer gegebenen Zeit, wenn die übrigen
Verhältnisse günstig sind, mit Nothwendigkeit eine höhere Entwicklung be-
wirken. Der Ausspruch, dass die Art während einer geologischen Periode und
in der historischen Zeit unverändert bleibt, ist daher nicht so zu verstehen,
dass sie einem absoluten Stillstand unterworfen ist, sondern bloss, dass ihre
— 210 —
So ist also die Art selbst ein Individuum, das durch fortwäh-
renden Wechsel sich entwickelt, das durch diesen Wechsel eine
Veränderungen bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Wie überhaupt keine
natürliche Erscheinung, so kann auch die Art nieht in vollkommener Ruhe
beharren. Wie die Nachkommen des ersten Individuums von demselben etwas
verschieden waren, so mussten auch die Keime, die sie erzeugten, in etwas
von denen abweichen, aus denen sie selber hervorgingen. Es musste die Ver-
änderung perennirend werden; und diese Veränderung kann nicht anders, als
zuletzt den Untergang der Art oder den Uebergang in eine andere herbeiführen.
Im Grunde ist jeder Uebergang in der Natur ein sprungweiser. Da Alles
aus individuellen Theilen besteht, so kann ein Gegenstand sich nicht ändern,
als dass er selber oder Partieen desselben Theile verlieren oder gewinnen. Wir
werden es aber einen Sprung nennen, wenn die Veränderung bei einer geringen
Zahl statt hat, wenn z. B. eine Blüthe 4 und 5zählig auftritt, einen allmäligen
Uebergang dagegen, wenn vielleicht bei 1000 eins hinzu oder hinweg kommt,
und somit der Sprung verschwindend klein wird. Es tritt aber sehr häufig die
sprung weise Veränderung ein, wo die Natur des Gegenstandes eine allmälige zu
gestatten scheint. Es ist ofienbar, dass die Pflanze oft mit Leichtigkeit Extreme
hervorbringt, während sie.nur schwer zu den Uebergängen gebracht werden kann.
Wir beobachten diese Erscheinung nicht nur mit Rücksicht auf Farbe, sondern
auch mit Rücksicht auf Behaarung, Verzweigung, Gestalt, Bau. Die Ueber-
gangsformen können zuweilen durch Kreuzung erzeugt werden, so z. B. pana-
schirte Blumen durch Kreuzung von roth- und weissblüthigen Ragen. Vielleicht
sind auf gleiche Weise die Pomeranzen mit rothen und gelben Stücken, die
roth- und weissgestreiften Weinbeeren entstanden, und Aepfel, deren Hälften
ungleichen Sorten angehören.
Dass die Arten in der Regel in höhere, nicht in eoordinirte oder selbst in nie-
dere sich umwandelten, scheint daraus zu folgen, dass das Pflanzenreich selbst sich
mit jeder Periode höher entwickelte, und dass auch im Leben des Individuums jede
Metamorphose gewöhnlich zugleich eine vollkommenere Organisation ist. Im Indi-
viduum gibt es ausnahmsweise Bildungsprozesse, die statt vorwärts zu schreiten,
stille stehen oder selbst zurückgehen. Diese Erscheinung mag auch im Leben
des ganzen Reiches vorkommen, und es mögen als Ausnahme Arten theils un-
verändert, theils als verwandte Arten in einer folgenden Periode wiederkehren,
oder selbst in tiefere Gattungen und Ordnungen übergehen.
Die Annahme, dass in jeder Epoche wieder die allereinfachsten Pflanzen ent-
standen sind, folgt nothwendig aus der fortschreitenden Entwicklung der vor-
handenen Arten und aus der Thatsache, dass jetzt noch auch die niedrigsten Ent-
wieklungsstufen repräsentirt sind. Sie wird bestätigt durch die geologische Erfah-
rung, dass die Diatomaceen, die als einzellig zu den einfachsten Gewächsen gehören,
und wegen ihres Kieselpanzers erhalten bleiben mussten, erst ziemlich spät auftreten.
Uebrigens verhalten sich wohl nicht alle Individuen einer Art gleich. Wie
an einem Buchsbaum mit gelbgesprenkelten Blättern ein einzelner grüner Zweig,
oder an einem grünen Buchsbaum ein einzelner panaschirter Zweig vorkommen
— 2ll —
Begrenzung findet und in dieser Begrenzung andere Arten erzeugt;
ein Individuum, das wie der Baum aus zahllosen entschwundenen
und kommenden Generationen von Theilindividuen besteht.
Und somit kommen wir zu dem Schlusse, dass Alles in der
Natur individuell ist, von den unendlich kleinen Atomen, bis zu den
unendlich grossen Weltkörpern und Systemen von Weltkörpern, von
den unendlich einfachen Atomen, bis zu den unendlich zusammen-
gesetzten Organismen und ganzen Reihen von Organismen, die wir
als Arten, Gattungen und endlich als Reich zusammenfassen. Das
Zusammengesetzte ist nur dadurch zusammengesetzt, dass es aus indi-
viduellen Theilen besteht, und so lange es thätig und lebendig ist,
befindet es sich in steter Bewegung und in stetem Wechsel seiner
Theile!). Das Individuum erneuert sich ohne Rast, es ist in jedem
kann, wie an andern Bäumen zuweilen ein einziger Ast gefüllte Blüthen, dorn-
lose oder hängende Zweige trägt, wie die Aussaat aus den Samen der nämlichen
Blüthe verschiedene Racen hervorbringen kann, — so können beim Uebergang
aus einer geologischen Periode in die andere von den Individuen einer Art viele
zu Grunde gehen, die andern entwicklungsfähige Keime hinterlassen; von diesen
letztern ist die Mehrzahl vielleicht identisch und entwickelt sich zu der nämlichen
Art, indess aus Andern andere Arten hervorgehen.
!) Man theilt gewöhnlich , gemäss den Ueberlieferungen der Schule, die Natur
in zwei grosse Kategorieen, in die unorganische und die organische Natur. Die
pflanzlichen und thierischen Individuen werden wegen der steten Veränderung und
Bewegung im Innern lebendig genannt, im Gegensatz zu den todten Kıy-
stallen. Absolut ohne Bewegung sind nun zwar auch die letztern nicht; denn
jeder Lichtstrahl , jede Schallwelle, jeder elektrische Strom, der den unorganischen
Krystall durehzuckt, versetzt die kleinsten Theilchen in seinem Innern in Schwin-
gungen; ebenso verändert jeder Stoss, jeder Temperaturwechsel die Lagerung der
Moleeüle. Allein wir dürfen diese Erscheinungen nicht dem organischen Leben
parallel setzen, welches ausser den gleichen noch andere ihm eigenthümliche Er-
scheinungen zeigt. Dennoch ist die Kluft zwischen den organischen belebten und
den unorganischen leblosen Wesen nicht so gross, als es den Anschein hat. —
Der Krystall verändert sich nur, so lange er sich entwickelt. Nach längerm oder
kürzerm Unterbruche kann er unter günstigen Verhältnissen wieder zu wachsen
fortfahren. Während er wächst, können wir ihn lebend nennen. Wenn auch
die ganze innere Masse in Form und Struetur unverändert bleibt, so wirkt sie
doch bestimmend auf die Anlagerung der neuen Schichten ein. Der wachsende
Kıystall zeigt Analogie mit dem Baum, welcher ebenfalls nur in einer periphe-
rischen Partie lebt und wächst, und im Innern aus todten Schichten besteht. —
Das Stärkekorn vermittelt den Uebergang zwischen Krystall und Zelle. Es ver-
ändert sich ebenfalls nur so lange, als es wächst; ist aber während dieser Zeit in
seiner ganzen Masse lebendig, weil es überall Substanz einlagert. Wenn es sich
nicht mehr vergrössert, so befindet es sich in einem leblosen, den unorganischen
_— 212 —
Augenblick ein anderes, als es noch vorhin war. Es wird in jedem
Moment theilweise, und zuletzt als Totalität vernichtet. Wenn das
geistige Individuum mit Stolz von sich sagt: „Ich bin, denn ich
denke,* so mag das materielle Individunm mit Bescheidenheit ant-
worten: „Ich bin, denn ich gehe zu Grunde.* Aber es verschwindet
nicht, ohne Keime zu hinterlassen, die fähig sind, eine gleiche oder
eine höhere Bewegung einzuleiten. So erhebt sich immer aus der
Asche ein Phönix; der Verlust wird ein Gewinn, und der Wechsel
wird zum Fortschritt.
Ueber die Trümmer der Vernichtung schreiten siegreich die
ewigen Ideen, deren Spiegelbild der Naturforscher als Gesetze fest-
zustellen sucht; sie begründen das einzig Reale: denn die materiellen
Erscheinungen sind nur die inhaltslosen Durchgangspunkte einer
Bewegung, die unaufhörlich einem bessern Ziele zustrebt. Aber ob
auch die materielle Form schwindet, die Idee bleibt,
Und ob Alles in ewigem Wechsel kreist,
Es beharrt im Wechsel em rmhiger Geist.
Körpern vollkommen analogen Zustande. — Die Zelle lebt nicht bloss während
der Zeit des Wachsthums; es dauern nachher noch die Umbildungen in ihrem
Innern fort. Aber auch sie geht während der Vegetationsruhe (im Winter) in
einen Zustand über, welcher sich nicht von dem Dasein des Krystalls und des
Stärkekorns, wenn dieselben nicht wachsen, unterscheidet, — Krystall, Stärke-
korn und Zelle sind alle drei lebendig, wenn sie sich verändern; sie haben alle
drei das Vermögen, in einen Zustand lebloser Ruhe überzugehen, und unter
günstigen Verhältnissen wieder zu neuer Thätigkeit und Veränderung zu er-
wachen. Nur ist das Leben verschieden in Mannigfaltigkeit, Ausdehnung und
Intensität. Beim Kıystall sind nur die Theilchen der sich ansetzenden Schicht
in Bewegung; beim Stärkekorn nur die eintretenden Stoffe, die sich zwischen
die schon vorhandenen einlagern; bei der Zelle können auch alle schon vor-
handenen Stoffe umgebildet, aufgelöst und weggeführt werden. Will man zwi-
schen todten und lebendigen Wesen, und nicht bloss, wie mir richtiger scheinen
würde, zwischen leblosen und belebten Zuständen unterscheiden, so muss es
zweifelhaft sein, ob man die Stärkekörner zu den einen oder andern stellen soll.
EL
UEBER DIE DRUIDEN BEI CÄSAR
(Bell. Gall. VI, 13. 14).
Von FERDINAND HITZIG.
Sehen wir für die Geschichte eines Volkes uns lediglich auf
auswärtige Berichte angewiesen, so ist umsichtige Kritik der Quellen,
ehe man sie benutzt, doppelte Pflicht, sofern der fremde Schriftsteller
die nöthige Sachkunde nicht unmittelbar zur Hand hat, und liebe-
volles Eingehn auf Dinge und Personen .sich bei ihm weniger voraus
annehmen lässt, als Partheilichkeit gegen dieselben. Ein objektiver
Standpunkt der Betrachtung kann auch schief zum Gegenstande und
in zu grosser Entfernung eingenommen sein; und dass z. B. von den
heidnischen Religionen, welche das Christenthum verdrängte, der
Kirchenschriftsteller ein richtiges und vollständiges Bild zeichne, darf
man nicht verlangen; denn wie die Eine Wahrheit gegen den viel-
gestaltigen Irrthum, verhielt die christliche Religion sich gegen das
Heidenthum feindselig und fasste natürlich dessen Schattenseiten in’s
Auge, wider welche der Angriff gerichtet war. Nun sind zwar über
die Götterverehrung bei Griechen und Römern auch einheimische
Nachrichten in Fülle auf uns gelangt; unsere Kenntniss dagegen
anderer alter Religionen müssen wir aus denselben „Klassikern“
schöpfen, oder aber aus spätern Autoren, vielleicht einheimischen,
die jedoch aufgewachsen im Christenthum. In diesem Falle kann die
geschichtliche Wahrheit durch nationales Vorurtheil für und religiöses
gegen gleich sehr beeinträchtigt werden; und auch das Zeugniss der
Klassiker, das als ein fremdes hier ohnehin weniger bedeutet, ist mit
Misstrauen aufzunehmen, weil ihre Aussagen durch christliche Abschrei-
“ ber an uns übermittelt sind, und somit vor ihrer Glaubwürdigkeit
erst noch deren Echtheit oder Unversehrtheit Prüfung fordert. Ueber
das ursprüngliche, nicht erst aufgefrischte Druidenthum, über die alte
keltische Religion besitzen wir keine Angaben ihrer Bekenner; wir
haben uns an römisch-griechische zu halten, und der hauptsächlichste
Gewährsmann ist Cäsar, — wofern nämlich die Echtheit der ihm
zugeschriebenen Aussage keinen Zweifel leidet. Diess ist es, was im
Nachstehenden untersucht werden soll.
Wenn das Christenthum, als es sich ausbreitete und um sich
auszubreiten, häufig, statt die heidnischen Formen zu zerbrechen, sich
ihnen anschmiegte, Personen der Mythologie unter neuem Namen
Wissenschaftliche Monatsschrift. 14
— 214 —
gewähren liess, vorfindlichen Gebräuchen und Festen nur eine christ-
liche Bedeutung unterlegte : so dürfte sich vielleicht zeigen, dass,
wie man praktisch die Religion Christi dem Heidenthum angepasst
hat, so etwa auch einmal letzteres jenem verähnlicht wurde. Ganz
gleichgültig scheint die Frage nicht, ob wirklich die katholische
Hierarchie in Gallien nur frühere naturwüchsige Zustände in anderer
Form wiederherstellte, oder aber das Zeugniss, woraus Solches her-
vorgienge, gefälscht ist; und wer um die Religionsverfassung eines
Culturvolkes, wie die Kelten eines waren, sich etwas annehmen mag,
wer schliesslich auf Reinheit der Texte hält, dem sollen die folgenden
Erörterungen an das Herz gelegt sein.
Wenn unsere Untersuchung des Namens der Germanen ($. 142 f.)
diese selbst und die Gallier auseinanderhielt, so hatte das nicht
die Meinung, die Gallier oder Kelten nun auch nach alter Art mit
den Gälen oder Kymren zusammenzuordnen; wir erkennen unumwun-
den an, dass die Urbevölkerung Britanniens mit den Kelten ursprünglich
nichts gemein hat; und diese Verschiedenheit hervorgehoben und
nachdrücklich betont zu haben, ist kein geringes Verdienst der be-
kannten Schrift Holtzmann’s (8. 56 — 61). Es folgt hieraus aber
nicht, dass die Britten keine Druiden, keinen druidischen Gottes-
dienst hatten; oder wenn auch, so konnte Taeitus, wie Holtzmann
selber einsieht S. 71., die brittischen Priester einmal Druiden nennen,
indem er sich ungenau ausdrückte; und so scheint mir Holtzmann
ohne Noth, wie denn auch im Verfahren gewaltsam, Taeit. ann. 14, 30.
die Druiden aus Mona weggeschafit zu haben. Ja vielleicht hat
Taeitus mit seinen Druiden vollkommen Recht. Von Cäsar bis zu
Nero hin hatte der Verkehr zwischen Gallien und Britannien Zeit
und Veranlassung gehabt, sich zu entwickeln; im Agrikola C. 11.
lässt Taeitus Gallier gelandet, lässt er indirekt sie ihre Religion
mitgebracht haben; und dass die „wilde Horde“ vom „Culturvolke
der Kelten“ (Holtzm. S. 60. vgl. S. 77.) dessen Religion annahm,
finden wir ganz in der Ordnung. Freilich widersprechen einander
Taeitus und Cäsar; denn der Stelle bell. gall. 6, 13. zufolge soll die
‘Druidenreligion in Britannien aufgekommen und von da gen Gallien
verpflanzt worden sein. Und wenn nun auch Beide darin einig gehn,
dass sie in Britannien und Gallien die gleiche Religion finden, so
bleibt der Widerspruch gleichwohl aufrecht, und zwar zu Ungunsten
Cäsars, indem bis zu Nero hin eher beiderorts einerlei Religion sein
konnte, und vom rohern Volke ein gebildeteres seine Götterverehrung
—
nn nn
— 215 —
nicht empfangen wird. Wofern nämlich in der That die Britten ein
wildes, von den Kelten grundverschiedenes Volk gewesen sind.
Gegen diesen, wie wir glauben, richtigen Satz verhält sich die Stelle
Cäsars noch weit feindseliger, als Tacitus; und so hat Holtzmann
vollen Anlass, zugleich aber auch, da sie mit einer andern desselben
Schriftstellers bell. gall. 4, 20. nieht übereinstimmt, alles Recht, nun-
mehr auch ihr kritisch zu Leibe zu gehn.
Die entscheidenden Worte dort bei Tacitus schreiben wir : —
Furiarum, quum veste ferali erinibus dejectis faces preferebant. Drui-
deque eircum etc. Die handschriftliche Lesart ist: Furiarum veste ;
der vorhergehenden Sylbe halber fiel guum aus. Da uns die Druiden
hier nicht belästigen, so verweilen wir auch nicht bei der Stelle,
sondern wenden uns zu der betreffenden bei Cäsar. Noch B. 4., C. 20.
sagte er, im Allgemeinen sei Britannien den Galliern unbekannt,
indem nicht leicht jemand Anderes hinkomme ausser Kaufleute, und
auch diese nur die Küste kännten und die Gallien zunächst gelegenen
Gegenden; er findet in Gallien Niemand, der wüsste, quibus insti-
tutis Britanni uterentur : wie kann nun derselbe Cäsar 6, 13. berich-
ten, das Druidenthum solle von Britannien her nach Gallien verbracht
sein, kann er aussagen, noch zu seiner Zeit reise von Gallien dort-
hin, wer es genauer kennen lernen wolle? (vgl. Holtzm. S. 76.) Die
Kritik Holtzmann’s kommt darauf hinaus, es werde mit Britannia
eine der Inseln des britannischen Meeres gemeint sein, und vielleicht
habe Cäsar Germania geschrieben. Allein derselbe Cäsar sagt schon
6, 21.: Die Germanen haben keine Druiden; und wenn er C. 14.
behauptet, manche Jünger der Druiden verharreten zwanzig Jahre
hindurch in der Schule, natürlich diess diejenigen, welche die Lehre
diligentius cognoscere volunt, so sollten sie doch nicht nöthig haben,
für diesen Zweck noch auf Reisen zu gehn. So die Angabe verstehn
wird Niemand wollen, als ob Cäsar die wissenschaftliche Reise in’s
Ausland bei den 20 Jahren einrechne : dann aber grenzen zwei wider-
sprechende Aussagen Ü. 13. zu Schlusse und C. 14 Eingangs hart
an einander; und dieser Anstoss wird durch Holtzmann’s Kritik
nicht aus dem Wege geräumt. Die Stelle C. 13. widerstreitet zugleich
auch jener 6, 20.; und wir sehn uns dergestalt gemüssigt, sie mit
ihrem ganzen Zusammenhang in nähere Erwägung zu ziehn.
Auf Unterricht, durch die Druiden ertheilt, kommt der Verfasser
zweimal zu sprechen : C. 14. befähigt er den Lehrling, welcher
manchmal 20 Jahre aushält, selbst Druide zu werden; C. 13. oben
muss es anders gemeint sein, nämlich dass den jungen Leuten Lesen
und etwa Schreiben beigebracht wurde, doch nicht als Vorbereitung
— 216 —
auf den geistlichen Stand. Die zwanzig Jahre bestätigt Melat); und
wenn C. 14. der Inhalt der Lehre desshalb nicht niedergeschrieben
wurde, um ihn nicht zum Gemeingute zu machen, so erhellt: das
gemeine Volk (vulgus) kann lesen; und hinter den Vielen, welche
C. 14. sich zum Druidenthum vorbereiten, schaart sich die grosse
Zahl Jünglinge C. 13., welche im Laienstande verharrt. Wir können
darüber wegsehn, dass Mela nobilissimos gentis schreibt, wo Cäsar
„Viele“ freiwillig oder auf Geheiss der Eltern und Verwandten her-
beikommen lässt; auch stört es wenig, dass C. 13. am Schlusse
früher von Solchen die Rede wird, welche die Disciplin genauer
kennen lernen wollen, als davon, dass man überhaupt dieselbe zu
erlernen bedacht sei. Allein es werden auch im Ausdrucke die bei-
den Arten Schule und Schüler nicht gehörig aus einander gehalten :
der magnus adolescentium numerus C. 13. wird C. 14. nur desshalb
durch multi ersetzt, weil magnum versuum numerum folgen sollte;
und die Bemerkung : a parentibus propinquisque mittuntur würde
passender bei jenen Knaben hinzugefügt, welche die gewöhnliche
Schule besuchen. Fliessen dergestalt die beiden discipline in ein-
ander,‘so werden sie, die neben einander stehn sollten, dagegen im
Raume getrennt; und der letzte Satz ©. 13. hebt an mit diseiplina
in Britannia reperta ff., während im Vorhergehenden nicht von Ge-
heimlehre der Druiden, sondern von ihrer Herrschaft und Gerichts-
barkeit gehandelt ist, und, wo einmal disciplina oben vorkommt, das
Wort den Schulunterricht bezeichnet, welcher den Laien, die Solches
bleiben, ertheilt wird. Das dünkt mich keine lichtvolle und geord-
nete Darstellung, ist nicht Cäsars Schreibart; und wollte man be-
haupten, beiderorts sei von derselben disciplina die Rede, so wäre
die Unordnung nur noch ärger.
Die lernbegierigen Jünglinge des 13. Cap. werden nicht dieselben
sein wie CO. 14.; denn da würde magnoque ü sunt apud eos honore
seltsam klingen, wenn demnach gesagt wäre: in hohem Ansehn
stehn bei ihnen, die das sind, was sie selber werden
wollen. Es folgt eine Begründung, jedoch kein Realgrund; denn
nicht, was nachkommt, hohe Richterwürde und Strafgewalt über die
Mitbürger bedingen das Ansehn des Lehrers bei den Schülern, son-
dern durch das erläuternde nam ete. wird die Aussage nachgewiesen
und gerechtfertigt. Von der Kategorie magnus honos wird der Inhalt
entwickelt : darin dass sie, die Druiden, Streit schlichten, lohnen
1) Lib. III, C.2.: Docent multa nobilissimos gentis clam et diu, vicenis
annis in specu aut in abditis saltibus.
u
und strafen u. s. w., kommt eben das Ansehn, welches sie beim
Volke geniessen, zur Erscheinung. Ja beim ganzen Volke; aber
nachgewiesen werden soll ihre hohe Geltung bei den Jünglingen,
auf welche allein (apud) eos zurückgehen kann. Doch hiemit ist
des Unzutreffenden noch nicht genug. Der Satz beginnt: ad hos
magnus adolescentium numerus discipline caussa concurrit — wer sind
diese ad quos? Man sollte meinen : hinter z/%, welches auf die
Druiden gieng, beziehe hos sich auf die Ritter; allein deutlich stehn
die Druiden auch hier in Rede. Es muss scheinen : Jemand, für
den dieses Ortes nur die Druiden existirten, nicht auch der Gegen-
satz der Ritter, habe die betreffenden Worte geschrieben; und da
kurz vorher jene Entgegensetzung ausgesprochen wird, und ad hos
selber heischt, dass Rede von den Druiden unmittelbar und zuletzt
vorhergehe : so nimmt auch eben hier mit ad hos das Glossem
seinen Anfang. Zunächst fragt sich nun, wie weit dasselbe sich
erstrecke.
Lesen wir uns weiter hinein, so setzt zum ersten Male die Rede
neu an mit den Worten disciplina in Britannia reperta ete.; aber
gerade dieser Satz war ja der hauptsächliche Stein des Anstosses.
In eine zweite Fuge trifft der neue Capitelanfang ; allein die Worte
Druides a bello abesse consuerunt konnten nicht unmittelbar hinter
einem Satze folgen, in welchem die Druiden selber ebenfalls Subjekt
sind. Die Fortsetzung des echten Textes muss an ihn, an die Worte
religiones interpretantur sich schlicht und einfach anschliessen; und
hiefür eignet sich zuerst wieder der Satz, neque fas esse existimant
ea litteris mandare. Und siehe da, hier würde stillschweigend (!)
das Subjekt gewechselt; und in dem Neutrum ea verräth noch eine
Spur der ursprünglichen Verhindung, dass die jetzige nur hinterher
bewerkstelligt worden. Diesem ea fehlt eine passende Rückbeziehung;
| ‚ist die Diseiplin oder die Menge von Versen gemeint, so sollte man
eam oder eos versus erwarten; dagegen hinter dem Satze: Ili rebus
divinis intersunt , sacrificia publica ac privata procurant , religiones
interpretantur, war die Wahl des Neutrums am Platze, weil das Für-
wort zumal auf res, sacrificia, religiones: Wörter verschiedenen Ge-
schlechtes zurückgeht. Das Zwischenstück rundet sachlich sich dadurch
ab, dass es zu Ende wiederum wie Eingangs vom Schulunterrichte
handelt, sprachlich in sofern, als der magnus numerus vom Anfange
her am Schlusse zurückkehrt; und alle Bedenken oder Zweifel, welche
uns beim Lesen aufgestiegen sind, berühren den Text innerhalb dieser
Grenzpunkte. Wir beanstanden in dem fraglichen Abschnitte über-
haupt Styl und Sprachgebrauch. Wenn wir ü apud eos oder zu
— 218 —
Schlusse von ©. 13. eam rem nicht eben sehr gewählt, indess zu-
lässig finden, so befremdet uns weiter eine gewisse Eintönigkeit der
Wendungen, und der Redefortschritt hat etwas Gehacktes : in Beidem
offenbart sich schriftstellerische Armuth. Die beständige Wiederkehr
von habere in den gleichartigen Verbindungen habet autoritatem,
controversias habent, habent immunitatem, wie auch C. 16. wieder
im Glossem simulacra habent hinter habent instituta, macht nieht den
Eindruck, wie wenn dem Verfasser der Reichthum der Sprache frei
zu Gebote stünde; wogegen wir z.B. C. 23. an demselben habere
in keinerlei Weise anstossen. Die Formulirung si quod est admissum
ete.; 52 qui aut privatus; si qui ex reliquis zählt im ganzen Cäsar
kaum so viele Beispiele wie hier; und dass viermal hinter einander
der Satz mit dem Demonstrativ anhebe, in folgender Weise : his autem
omnibus; hoc mortuo; hi certo anni tempore; huc ommes undique,
darnach würde man sich bei Cxsar vergebens umsehn. Unklassisch
ferner ist adlegere in sufragio Druidum adlegitur für deligere ge-
braucht, vielleicht seitdem in clerum adlegere, wie bei Hieronymus,
gewöhnlich geworden war. Und nun vollends in den Worten s gu
aut privatus aut publicus eorum decreto non stetit das Substantiv
publicust) = Magistratsperson, öffentlicher Beamter: Sprach-
gebrauch der lex Longobardorum, der leges Luithprandi!
Wenn andererseits das Stück sich auch wieder an die Ausdrucks-
weise Ozsars anschliesst, so beweist diess lediglich, dass der Fälscher
das Werk de bello gallico gelesen hat, was ohnehin gewiss ist, und
etwa noch, dass er sich es einige Mühe kosten liess, sein Machwerk
dem ächten Gute zu verähnlichen. Auch dass die gelehrte Reise sich
mit den zwanzig Unterrichtsjahren kaum vertragen will, zeugt noch
nicht für Echtheit der einen beider Stellen; sondern der Dichter
merkt eben den Widerspruch nicht, weil diesen kein wirklicher Sach-
verhalt voraus abschneidet, während die Dichtung ihre einzelnen Züge
von da und dort abschattet und zusammenzieht. Dagegen für unsere
Annahme, die ganze Stelle sei ein Einschiebsel, zeugt auch der
Umstand, dass nunmehr der Bericht über die Druiden von seinem
Umfange verliert und so sein Missverhältniss zu demjenigen über die
Ritter sich wenigstens sehr verringert. Qui discant sowohl wie in
primis hoc volunt persuadere knüpft nun an jenes letzte religiones
interpretantur an; nach Maassgabe des echten Textes, welcher so
1) Man wollte populus lesen, gegen die Autorität der Handschriften; und das
Folgende «is omnes decedunt ete. lehrt, dass es sich nur um Einzelne handelt.
Vom Banne, nicht vom „Interdikt* ist die Rede.
— 219 —
oben wie unten (juventuti transdunt) vom Lehren spricht, legte dann
der Fälscher ebenfalls Rede vom Unterricht an den Anfang wie auch
an das Ende.
Die Ueberzeugung von der Unechtheit des Zwischenstückes wird
verstärkt, wenn anderwärts bei Cxsar, wenn vielleicht gar in der
Nähe sieh noch weitere Einschiebsel entdecken lassen. ©. 16. könnten
Einem die aus Flechtwerk verfertigten Ungethüme, welche mit leben-
digen Menschen angefüllt und dann angezündet werden !), seltsam
vorkommen; allein weit mehr, als der Kern der Erzählung, befremdet
uns ihre Schale. Alü, heisst es, simulacra habent — in diesem Satze
ist jedes Wort anstössig. Wie kann der Schriftsteller sagen : sie
haben welche, als wären es ständige Götzenbilder (in der Mehr-
zahl), da man sie doch verbrennt, und zu diesem Ende wahrschein-
lich sie im jedesmaligen Falle kurz vorher anfertigte? Von der Sache
selber handelt auch Strabo (B. IV., C. 4., 8. 5.)2): man verfertigte
einen Strohkoloss, schichtete Holz in denselben und verbrannte so
Vieh, allerlei Thiere und Menschen. Von dieser Darstellung weicht
diejenige bei Cäsar wesentlich ab, kann aber doch anf ihr beruhen,
so dass die Phantasie das Mehrere hinzugefügt hätte. Der Schreiber
hier denkt sich den Koloss offenbar noch kolossaler, so dass auch
Arme und Beine desselben mit Menschen (nur Menschen) vollgestopft
worden seien; und für diesen Zweck wählt er auch ein festeres
Material, vimina statt X00T0g, welches jedoch zum Brennen nicht
gleich tauglich. So die Sache betracht:‘, ergibt sich naturgemässer
Fortschritt. Diodor, zu dessen Zeit der xreuel noch bestand, spricht
nur von zrvgai rrauueyedeıs (V, 32.). Die Römer stellten alle
Menschenopfer ab; und Strabo, von Vergangenem redend, macht die
7rvg& zum x0400008. Pseudo-Cäsar endlich weiss Genaueres von
„den Kolossen“ und dem ganzen Hergange des Opfers. Die simu-
lacra entsprechen jenem x010000%, der kein eigentliches Götzenbild,
sondern ein Strohmann war: sollen sie nun ebenfalls nicht für Götter-
bilder gelten, so würde sehr unpassend ©. 17. zu Anfang von den
Bildsäulen des Mereur dasselbe Wort gebraucht sein; trägt dagegen
der Verfasser Götzenbilder im Sinne, so hat Strabo’s Angabe die
Wahrscheinlichkeit offenbar für sich, und doch sollte Cäsar besser
1) Alii immani magnitudine simulacra habent, quorum contexta viminibus
membra vivis hominibus complent, quibus succensis eircumventi flamma exani-
mantur homines.
2) Die monstra Plin. h.n. XXX, 1,4. gehören kraft des ganzen Zusammen-
hanges nicht hieher.
— 220 —
denn Strabo Bescheid wissen. — Wer endlich sind die ali? wer zu
diesen Andern die Einen ? Doch nieht die Kranken, denn diese sind
zufällig vereinzelte, und alü kann nicht so gemeint sein, dass jeder
Einzelne sein simulacrum habe und Menschen verbrenne. Die Krieger
können diese Einen auch nicht sein, denn die Menschen, welche
verbrannt werden, ihrer zugleich eine Mehrzahl, sind wohl meist
Kriegsgefangene, und von den Kriegern heisst es oben dessgleichen :
sie opfern Menschen. Da diese hier im hohlen simulacrum verbrannt
werden, so sind sie ohne Zweifel auch Opfer, und von Menschen-
opfern ist vorher die Rede, nicht jedoch von einer besondern Art
des Verfahrens, der das Verbrennen im Weidengeflecht entgegenzu-
setzen wäre; wogegen bei Strabo allerdings verschiedene Arten des
Menschenopfers zusammengestellt sind. Wären aber unter ali andere
als die Gallier zu verstehen, obgleich von diesen auch nachher wie-
der gehandelt wird, so würde der Angabe Strabo’s vollends wider-
redet; und sein Zeugniss vermag alsdann auch den Bericht hier nicht
mehr zu beglaubigen. Es liegt am Tage: der Satz ist ein Ein-
schiebsel. Auch im Uebrigen schlecht abgefasst, indem die Beziehung
von quibus schielt und so die Aussetzung des Subjektes homines
nöthig macht, lässt er sich ohne Nachtheil aus dem Zusammenhange
herausnehmen, welcher dadurch nur straffer wird, indem düs immor-
talibus auf deorum immortalium zurückschlägt und durch gratiora
supplicia das numen desto kräftiger placatur. Der Schreiber schöpfte
aus Strabo. In dem queeren unbegreiflichen alii scheint wirklich nur
xal G@Alc Ö& von dorther nachzuklingen; und *040000g liess an eine
Götterbildsäule denken gleich der rhodischen. Sind die Worte aber
unecht, so rühren sie möglicher Weise von einem Christen her; und
solchen zumal kostete es nur noch einen Schritt, um den Götzen
Moloch sich einfallen zu lassen, in dessen Innerem Feuer brennt und
die Menschenopfer verzehrt. Der Gleiche scheint nun auch C. 17.
von Que superaverint an (lies mit Clarke quum superaverunt) alles
Folgende geschrieben zu haben. Wie C. 16. Art und Weise des
Opfers, wird hier diejenige der devotio beschrieben; und gerade die
Menschen (vgl. Taeit. ann. 13, 57.) übergeht hier der Schreiber, weil
er, was mit diesen geschehe, schon oben C. 16. gesagt hat, obgleich
das dort der Brauch war bei „Andern*! Wie C. 16. an den Moloch,
so werden wir hier an das alttestamentliche Verbannungsgelübde
erinnert. Auch die Israeliten tödteten alles Lebendige (5 Mos. 20, 16.
Jos. 6, 21.); die übrige Beute fiel dem Tempelschatze anheim (Jos.
6, 24.); und auf Verheimlichung stand gleichfalls Todesstrafe (Jos.
7,15. 24 f.) Nun weiss zwar auch Diodor (V, 27.) von vielem Golde,
— 221 —
das in den Heiligthümern der Götter niedergelegt sei, und an dem
sich aus religiöser Scheu Niemand vergreife; aber er sprieht nur von
Golde, gar nicht von Kriegsbeute, und schweigt auch von jeder
Strafandrohung : sonderbar, dass unser Text gerade da, wo er sich
von Diodor entfernt, auch in den Kreis biblisch-christlicher Anschauun-
gen eintritt! Auch Strabo erwähnt nach Posidonius der Tempel-
schätze in Tolosa (IV, 1, 13.), und die Sache verhält sich soweit
gewiss richtig (vgl. auch Sueton. Cäsar 0. 54.); dagegen sind, wie
C. 16. der Koloss sich vergrösserte, so die cumuli hier zu tumuli
aufgedunsen, in Uebereinstimmung damit, dass zum Golde hier noch
andere Dinge hinzukommen, und mit‘ locus consecratus zunächst ein
07x09" unter freiem Himmel verstanden sein soll. Uehrigens fand sich
dieser Ausdruck, der ganz theologisch klingt, schon €. 13. vor gegen
Schluss, und ist anderwärts bei Cäsar nicht zu entdecken. Ei rei,
geringe Rede und an jenes eam rem C. 13. gemahnend, mag hin-
gehn.
Je grösser an Umfang ein solches verdächtiges Schriftstück, je
belangreieher sein Inhalt, desto weniger ist auch anzunehmen, dass es
einem müssigen Spiel seine Entstehung verdanke, dass lediglich eine
Laune oder eine zufällige Ideenverbindung dasselbe an die Hand gab.
In dem Maasse wie es sich ausdehnt und in’s Gewicht fällt, wird
auch wahrscheinlich, dass desshalb den Schreiber die Mühe nicht
verdross, weil er einen Zweck verfolgte; dass er sehr wohl wusste,
was und warum er es that. Soll daher unser Argwohn gegen das
fragliche Stück C. 13. 14. zur Gewissheit werden, so wird nachzu-
weisen sein, dass das Einschiebsel Absichtlichkeit verräth; widrigen-
falls würden wir uns nie vollkommen beruhigt fühlen und würde der
Zweifel immer wiederkehren, ob nicht der Schein doch täusche, ob
nicht bloss ein unglückliches Zusammentreffen von Inziehten, von
denen einzeln keine beweist, denselben geschaffen habe. In der That
vermögen wir nicht nur einen Zweck der Fälschung anzugeben : Zu-
stände, wie sie der Verfasser gerne verwirklicht sähe, und die er
darum durch das Beispiel der Druiden empfiehlt, sondern es lässt
sich auch zeigen, aus welchem Grunde das Unkraut aufwucherte,
nämlich aus welchem thatsächlichen Anschauungskreise, der Vorstufe
des Ideals, das Schriftstück hervorgieng. Ja sogar der örtliche Boden
seines Ursprungs scheint angedeutet, und ebenso das ungefähre Zeitalter.
Mit Recht stellt man an eine Hypothese das Verlangen der
Sparsamkeit; wo wir auskommen können mit Einer Person z. B., da
sollen wir nicht mehrere in den Dienst rufen : also nehmen wir an,
das Einschiebsel C. 13. 14. theile mit jenen C. 16. und 17. denselben
—_— 22 —
Urheber. Letztere befinden sich in nächster Nähe, und einige Aehn-
lichkeit im Ausdruck wurde bereits angemerkt; somit aber würde es
auch C. 13. 14. ein Christ sein, der hier die Hand im Spiel hatte.
Durch die Untersuchung des Stückes selbst wird diess bestätigt
werden. Wenn ein Christ, war der Schreiber ein verhältnissmässig
gebildeter, vielleicht gelehrter Mann; und sollten wir in die Zeiten
heruntergehn müssen, da die lateinische Sprache ausgelebt hatte, so
wird man in ihm am füglichsten einen Kleriker sehn, da je länger
je mehr alle Gelehrsamkeit, Kenntniss der Kirchensprache und Fähig-
keit sie zu schreiben, ausschliesslich den Geistlichen anheimfiel. Für
einen Solchen am ehesten hatte auch die Analogie aus der Heiden-
welt, das Druidenthum, etwas Anziehendes; und so ist denn schliess-
lich auch die Vermuthung gestattet, dieser christliche Kleriker sei
selber gallischer Abstammung oder Gallien sein Vaterland gewesen,
Vielleicht war er dann ein Franke, höchst wahrscheinlich aber kein
Arianer, sondern katholisch.
Betrachten wir nunmehr den Bericht über die Druiden genauer,
so finden wir: In ihrer Hand liegt der Volksunterricht, sie sprechen
Recht in Civil- und Strafsachen, und schliessen von der Theilnahme
am Gottesdienst aus; sie haben ferner ein (nicht erbliches) Oberhaupt,
entrichten keine Abgaben, und sind frei vom Kriegsdienst wie auch
von allen übrigen Lasten. Dieses Bild sieht ganz so aus, als sei es
von der Stellung abgeschattet, welche die katholische Kirche im
Mittelalter theils wirklich einnahm, theils mit mehr oder weniger
Glück anstrebte!). Unter der dünnen Hülle lassen sich die Kloster-
schulen, Kirchenbann und Papst, und — das Wort selber ist ge-
braucht — die geistlichen Immunitäten deutlich erkennen. Die
Angabe C. 14., wie man um der äusseren Vortheile willen, die der
geistliche Stand bot, sich zu demselben zudrängte, lautet, als wäre
sie entlehnt aus der Kirchengeschichte seit Constantin; und von der
Schilderung, wie einen Ausgeschlossenen (cuwi sacrifieüs est inter-
dietum) Jedermann flieht, alle Berührung mit ihm meidet, um nicht
Schaden zu nehmen u. s. w., passt Zug für Zug zur kirchlichen
Excommunikation, auf welche der Satz : neque (is) honos ullus com-
municatur vielleicht anspielen will. Allerdings erscheint bei unserer
!) „Die Einrichtung des Druidenwesens hat viel Aehnlichkeit mit der römi-
schen Hierarchie“, sagt Mone (Gesch. des Heidenthums im nördl. Europa II, 391.);
und auch Mommsen (Röm. Gesch. III, 216.) spricht den Eindruck wesentlich
des Berichtes bei Cäsar mit den Worten aus: Man war nicht fern von einem
Kirchenstaat ff.
— 2233 —
Hypothese der Begriff Druiden schillernd und zweideutig, denn Schule
gehalten wird von den Klostergeistlichen, mit dem Banne belegt der
Bischof, frei von der Wehrpflicht sind, Mönche mitinbegriffen , alle
Kleriker; allein wenn in eine einfacher umrissene Vorstellung eine
mannigfach gegliederte eingezwängt wird, so muss das Bild unver-
meidlich in’s Schwanken gerathen.
Wenn diess Alles von Cäsar wirklich geschrieben wurde, so
muss im höchsten Grade auffallen, dass dergleichen speeifische Dinge
wie Bann, Öberdruide, Immunität kein anderer Schriftsteller, weder
Diodor, noch Strabo, noch Ammian u. s. w. bezeugt oder aber be-
streitet; dass Keiner von Cäsar's Aussage irgend Kenntniss zu haben
scheint. Von Unterricht, welehen die Druiden ertheilen, spricht Cäsar
selbst im echten Texte, und dass sie mit dem Richteramte in Privat-
und öffentlichen Angelegenheiten betraut waren, namentlich zu erkennen
hatten über Mord, gibt auch Strabo an; aber in demselben Satze
macht dieser sie zu Schiedsrichtern im Kriege (s. auch Diodor V, 31.),
und jene Druiden auf Mona nahmen an der Schlacht Theil. Hier-
nach wird die Behauptung, Druides a bello abesse consuerunt, min
destens zu beschränken sein. Was unmittelbar vorhergeht, das
Druidenthum sei aus Britannien gen Gallien verbracht, haben wir
wegen des Widerspruches gegen Cäsar selbst und Taeitus schon oben
beanstandet; der Völkerzug geht von Ost nach West : welche Religion
hätte denn vorher in Gallien gegolten? Die Notiz ferner von den
jährlichen Versammlungen im Mittelpunkte des Landes mag auf echter
(indess dann wie alter?) Ueberlieferung beruhn; allein es fällt schwer
zu glauben, dass „überallher Alle, die eine Streitigkeit haben, dort
zusammenkommen“, um Recht zu nehmen. Diese controversie könnten
doch wohl nur die wichtigeren Prozesse sein, oder in letzter Instanz
zu entscheidende. Und wer gewinnt, wird dem Spruche willig ge-
horchen ; also nimmt sich eorum deeretis judieüsque parent sonderbar
aus, fast wie ein Beispiel aufgestellt zur Nachahmung, als Geschichte,
die erbaulich sein will. Wie soll man es schliesslich reimen, wenn
der Verfasser nach dem Satze fere de omnibus controversüs publieis
privatisque constituunt als etwas Neues mit et ausser den Criminal-
fällen si de hereditate, si de finibus controversia est hinzufügt ?
Ordnen sich denn die Erb- und Grenzstreitigkeiten nicht unter jene
controversie private oder etwa auch die publice? Nemlich bei Strabo
folgen auf die (dıwrızai xolosız zal zoıval die pyorızal dixaı. Beides
wiederholt der Schreiber hier; weil er aber den Gedanken des Andern
nur nachschrieb und nicht selber scharf dachte, so lässt er nun, was
sich zum erklärenden Beispiel eignet, als selbstständige Kategorie
— 224 —
auftreten. Diesen Unzusammenhang verschuldet entweder eine Gedan-
kenlosigkeit, wie sie einem Cäsar nicht zuzutrauen, oder er geht eben
aus jener Zweiheit des Bewusstseins hervor: in dem einen wie im
andern Falle ist die betreffende Stelle unecht.
Um hiefür den Beweis zu Ende, nämlich einzelne Aussagen auf
ihr Substrat zurückzuführen, übrigt noch, dass soweit möglich die
Zeit genauer und die Heimath des Schriftstückes bestimmt werde.
Die Grenze, bis zu welcher hin es in den Text hereinkam, wird durch
das Zeitalter der ersten Handschrift bezeichnet, welche dasselbe
bereits enthält: man setzt sie, die erste Bongarsische, in das 9. Jahr-
hundert. Betreffend den Zeitpunkt, von wann an, so hängt sich die
Frage mit derjenigen nach dem Orte zusammen. Wir fanden bereits,
dass um des Gegenstandes willen zunächst an Gallien, einen Bewoh-
ner Galliens zu denken sei. Hier wahrscheinlich wurden ja auch die
falschen Dekretalien ausgeheckt; hieher, an Karl den Grossen, adres-
sirte sich Constantin’s angebliche Schenkungsurkunde; hier im frän-
kischen Reiche wurde Pseudodionysius Areopagita hochgehalten und
übersetzt!). Dass die Verbindung impius et sceleratus sich ganz
eigentlich in un impie, un scelerat erhalten habe, wird nicht zu
sagen und nichts darauf zu bauen sein; und wenn unter Karl dem
Grossen die Geistlichkeit durch die Bischöfe als Stand neben dem
"Adel erscheint, z. B. auf Reichsversammlungen, so möchten wir nicht
einzig desshalb bis in den Anfang des 9. Jahrhunderts heruntergehn.
Jenes Verhältniss war in Anlage und auch in der Wirklichkeit schon
seit dem 6. der Art vorhanden, dass bei den Worten de his duobus
generibus alterum est Druidum, alterum equitum die Aehnlichkeit der
Gegenwart auffallen konnte. Andererseits trifft das Einschiebsel gewiss
nicht über das 7. Jahrhundert hinauf. Eine Schule eröffnete zwar
schon Benedikt selbst, und mit dem Ausdruck unserer Stelle heisst
es: c@pere ad eum concurrere?). Das war aber auf Monte
Cassino; und von Klosterschulen, wie sie hier sich wiederspiegeln,
findet sich die erste Spur lange nach Cassiodor in der regula magistri
aus der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts 3). Ist ferner dugch den
Öberdruiden der Papst abgebildet, so führt uns die Stelle freilich
mit Nothwendigkeit nur bis auf Leo, den Grossen, herunter, und das
Gesetz Valentinians III, welches auch die gallikanischen Bischöfe der
Autorität des papa urbis eterne unterordnete4); und wenn angemerkt
SS. Giezeler, R2-G. 10,1, 162
2) Gregor. M. dial. II, 3.
3) Gieseler, K.-G. I, 2. S. 424.
*) Gieseler, K.-G. I, 2. 8. 226.
—_— 25 —
wird, es komme zwischen den Bewerbern bisweilen zum Kriege, so
muss dieser Apologie nur eben der Fall des Damasus vorgelegen
haben. Wenn aber hier zwischen den Druiden und ihrem Oberhaupte
durchaus keine Mittelstufe angedeutet wird, so darf daran erinnert
werden, dass der Metropoliten Ansehn und Einfluss, wiederum von
Fseudo-Isidor befehdet, im 6. und 7. Jahrhundert fort und fort sank;
seit der Mitte des letztern gab es bei den Franken gar keine Erz-
bischöfe mehr. Freilich übte damals, wie später, Gewalt über die
Bischöfe nicht der Papst, sondern der König; hiedurch jedoch konnte
die geschichtlich und in der Sache begründete ideale Forderung nicht
beeinträchtigt werden. Was im Weitern die weltliche Gerichtsbarkeit
der Druiden anlangt, so wird sie, ‚wie wir sahen, von Strabo
bezeugt; aber von der Sache Meldung thun wollte unser Mann dess-
halb, weil seit Chlotars constitutio generalis vom Jahr 560. die
Bischöfe alle Gerechtigkeitspflege zu überwachen hatten. Das dritte
Coneil von Toledo vom Jahr 589. ordnet sogar eine jährliche Zu-
sammenkunft am 1. November an (vgl. certo anni tempore!), in
welcher die Richter sich vor dem sacerdotale coneilium zu rechtfer-
tigen und Weisungen zu empfangen haben. Bürgerliche Nachtheile
knüpfte an die Execommunikation schon sechs Jahre nachher ein Erlass
Childeberts !); und wenn nur allmälig die Kirchengüter Abgabenfreiheit
erlangten, so kam die Immunität hiemit doch in Gang. Den kirch-
lichen Besitzthümern lag bis auf Chilperich nicht ob, Militär zu
stellen, und auch nachher waren nur die vom Könige verliehenen
hiezu verpflichtet. Die Verpflichtung erscheint aber nicht als eine
persönliche der Kleriker selbst; dass Bischöfe mit in den Krieg ziehn,
wird als Ausnahme der Merkwürdigkeit wegen berichtet?). — Haben
wir schliesslich die Aussage, das Druidenthum sei von Britannien
nach Gallien gekommen, für ungeschichtlich erklärt, so müssen wir
uns auch da nach einer Thatsache umsehn, welche in jener Behaup-
tung reflektirt erscheine. Die „disciplina“ wäre christliche Wissen-
schaft; und die Worte sind einfach darauf zu beziehn, dass von den
brittischen Inseln gelehrte Mönche herüberkamen nach Burgund und
hier wissenschaftliche Bildung verbreiteten. Columban und Gallus,
zeitgenössisch mit Gregor dem Grossen und jenem Childebert, sind
dem Verfasser also bereits dagewesen; und so gelangen wir auch auf
diesem Wege herab wenigstens in die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts.
Ob wir nun aber hierselbst stehn bleiben sollen? Das Einschiebsel
1) S. Gieseler a. a. O. 447. 48.
2) Gregor v. Tours IV, 43. vgl. Gieseler a. a. O. S. 444.
— 226 —
stellt in der Hauptsache ein Ideal auf, welches zum Theile bereits
verwirklicht ist, zum Theil es werden sollte und allmälig auch ward.
Die kirchlichen Einrichtungen befestigten sich; das Streben des Klerus,
sich vom Drucke der weltlichen Gewalt zu befreien und vielmehr
selber über den Staat zu herrschen, blieb stets das gleiche, und die
Kirche griff immer weiter um sich : je mehr nun Bestandtheile der
Schilderung als in Wirklichkeit bestehendes Verhältniss angesehen
werden, desto tiefer muss man auch heruntergehn, bis in die Nähe
des vermuthlichen Zerminus ad quem. Einem Schreiber im 9. Jahr-
hundert standen auch die Vorbilder des siebenten zur Verfügung.
Aus Britannien herüber kam, wie Columban und später Johannes
Scotus, auch Winfried; wissenschaftliche Bildung sowie den Volks-
unterricht zu heben, bemühte sich Karl der Grosse; und unter Lud-
wig dem Frommen erhielten die Pfarreien von Abgaben befreiten
Grundbesitz; auch nahm er einer Klasse von Klöstern die Lehnspflich-
der Heerfolge ab, andern ausserdem alle übrigen Leistungent). Wäht
rend die Geistlichkeit immer mehr sich dem weltlichen Gericht entzog,
erhielten viele Kirchen durch die Karolinger Gerichtsbarkeit nicht
bloss über ihre Colonen; und unter Karls schwachen Nachfolgern
„strebten die Bischöfe dahin, den Papst zu ihrem Richter zu erhalten ?).“
Die Excommunication endlich wurde bis in das 9. Jahrhundert nach
ihren bürgerlichen Wirkungen dem Bilde hier bei Cäsar stets ähn-
licher. Nullo militie secularıs uti coneilio nullamque reipubliee debent
administrare dignitatem beschloss die Synode von Pavia (v. J. 850.);
auch unterschied man jetzt allgemeiner einen höhern Grad, das Ana-
thema, welches die Getroffenen als putrida ac desperata membra vom
Kirchenleibe wegschnitt3). — Nach solcher Lage der Akten wird man
geneigt sein, das Schriftstück etwa in die erste Hälfte des 9. Jahr-
hunderts zu setzen. Wenn es aber an sich schwer halten dürfte,
eine endgültige Entscheidung zu treffen, so wird überdiess das Ur-
theil noch durch das Alter unserer Handschrift I. bedingt; und dieses
genauer zu bestimmen, bleibt Andern vorbehalten, die Gelegenheit
haben, das Buch einzusehn.
1) S. Gieseler, K.-G. U, 1, 75. 53.
2) A.a. 0.8.76 — 78.
3) A.a. 0.8. 169.
— 227 —
BEITRAG ZUR LEHRE VOM VERSUCH DES VERBRECHENS.
Von E. OSENBRÜGGEN.
I. Es kommen nicht selten Entscheidungen in Strafrechtsfällen
vor, die dem allgemeinen Rechtsgefühl anstössig sind. Wiederholen
sich solche Fälle in derselben Richtung, oder drehen sich mehrere
Fälle der Art um denselben Punkt, so darf die Wissenschaft sich der
Aufgabe nicht entziehen, zu untersuchen, welche Bewandtniss es mit
dem zur Anwendung gebrachten Gesetze oder Rechtssatze habe; denn
wenn auch das, was allgemeines Rechtsgefühl genannt wird, eine
sehr unbestimmte Grösse ist, und wenn demselben nur das Recht zu
fühlen, nieht aber zu urtheilen, zugestanden werden kann, so mag
es doch, wie überhaupt den Menschen oft das, was ihm sein Gefühl
sagt, zum weiteren Nachdenken hinführt, die Veranlassung abgeben,
das juristische Denken zu impelliren.
Einige neuere Entscheidungen höchster deutscher Gerichte, die
sich um eine schon alte Controverse aus dem Gebiete des Versuchs
der Verbrechen drehen, haben Bedenken bei Juristen und Nichtjuristen
erregt und es lohnt sich wohl, diese Controverse in der von den
anzuführenden Entscheidungen gegebenen Beziehung wieder in's Auge
zu fassen.
Um meine Leser sogleich über das Thema zu orientiren, be-
merke ich, dass in einer bekannten Abhandlung über den Versuch
eines Verbrechens von Bauer unter dem Gesichtspunkt der „an sich
tauglichen Versuchshandlungen wider einen zur Vollbringung des
beabsichtigten Verbrechens nicht geeigneten Gegenstand“ auch
der Fall aufgeführt ist, wo Jemand „zum Stehlen einstieg und den
Schrank erbrach, worin das Geld, welches er stehlen wollte, auf-
bewahrt wurde, dieses jedoch vom Eigenthümer unmittelbar vorher
ausgeliehen worden war.“ Dass solche Fälle häufig vorkommen,
wird Niemand bezweifeln; wie die neuere Praxis sich zu ihnen stellt,
zeigen folgende Beispiele :
1) In Preussen wurden einige Angeklagte wegen Diebstahls-
versuchs verurtheilt, weil sie in eine Scheune eingebrochen waren,
um Roggen zu stehlen, und an der Ausführung dieses Diebstahls
nur dadurch verhindert wurden, dass gar kein Roggen in der Scheune
war. Die Angeklagten wurden jedoch, unter Vernichtung des unter-
gerichtlichen Urtheils, durch das Urtheil des Obertribunals vom
—_— 223 —
22. Februar 1854 freigesprochen, weil ein auf einen bestimmten
Gegenstand gerichteter Diebstahl, wie hier festgestellt, bei dem Nicht-
dasein des Gegenstandes ohne besondere, hier nicht erhellende Um-
stände überhaupt keinen Anfang nehmen könne, der Versuch eines
Verbrechens aber nach $. 31. des Strafgesetzbuches nur dann straf-
bar sei, wenn derselbe durch Handlungen an den Tag gelegt sei,
welche einen Anfang der Ausführung enthalten.
2) Das Obertribunal sprach gleichfalls (Urtheil vom 29. Sept.
1854) einen Angeklagten frei, der eine verschlossene Kammer mit
Nachschlüsseln eröffnet hatte, in der Absicht, sich daraus Brod an-
zueignen und an der Ausführung der That nur durch den Umstand
gehindert war, dass in der Kammer sich kein Brod vorfand.
3) Dieselbe Theorie, der das preussische Obertribunal im Kampf
mit den Untergerichten huldigt, hat in einem früheren Falle das
Ober-Appellationsgericht zu Dresden geltend gemacht!). A. war in
ein Institutsgebäude eingeschlichen, um aus dem ihm als ehemaligem
Zöglinge des Instituts bekannten Schreibzimmer des Directors Geld
zu entwenden, hatte dieses Zimmer aufgesucht, war jedoch, nachdem
er ein Zimmer geöffnet, welches früher das Schreibzimmer gewesen,
jetzt aber als Schlafzimmer des Direetors diente, verscheucht worden.
„In diesem Schlafzimmer hat das Pult (in welchem der Director Geld
zu haben pflegte, und auch jetzt mindestens 20 Thaler sich befanden)
nicht gestanden und ebensowenig geht aus der Aussage des Directors
hervor, dass er in dem Schlafzimmer Geld aufbewahrt habe*; unter
diesen Umständen, erkannte das Ober-Appellationsgericht zu Dresden,
sei die Bestimmung des Art. 27 massgebend. Die untere Instanz
wollte den Art. 26 über Versuch des Verbrechens zur Anwendung
bringen. Der Art. 27 des Strafgesetzbuches von 1838 lautet: „Konnte
an dem Gegenstande, gegen welchen die gesetzwidrige Handlung
gerichtet war, eine Rechtsverletzung nicht begangen werden, so ist
der Thäter mit einem ‘dem Grade der an den Tag gelegten Bös-
willigkeit angemessenen Strafe bis zu vierjährigem Arbeitshause zu
belegen“.
4) Der grossherzoglich hessische Cassationshof (12. Juli 1852)
dagegen nahm in einem ähnlichen Falle Versuch eines ausgezeich-
neten Diebstahls an. Der Schuhmachergeselle G. hatte sich in die
Wohnung des Schuhmachermeisters S. in Worms, bei welchem er
früher in Arbeit gestanden, unter dem Vorwande, daselbst wieder in
Arbeit zu treten, eingeschlichen, dort einen Commodepult mittelst
1) Neue Jahrbücher für sächs. Strafrecht, VII (1852), S. 107.
— 229 —
einer Zange gewaltsam eröffnet und eine Commodeschublade auf gleiche
Weise zu eröffnen versucht, in der von ihm eingestandenen Absicht,
Geld, welches früher in dieser Commode aufbewahrt gewesen, daraus
zu entwenden; die Ausführung wurde nur durch den Umstand ver-
eitelt, dass sich zu dieser Zeit kein Geld mehr in der Commode
befand. Um nicht ganz leer auszugehen, nahm G. ein Paar Pan-
toffeln des S. aus dem Zimmer mit.
Die angeführten Fälle sind zwar in ihrem Detail nicht gleich,
die Entscheidung dreht sich jedoch in allen um denselben Hauptpunkt;
da aber diese Entscheidung bei verschiedenen so angesehenen deut-
schen Gerichten so verschieden ausfällt, so liegt darin für die Doktrin
eine starke Aufforderung, die Sache von Neuem in Angriff zu nehmen.
Die Urtheile des preussischen Obertribunals uyd des sächsischen Ober-
Appellationsgerichts haben wohl das allgemeine Rechtsgefühl gegen
sich, allein das beweist an sich solehen Gerichten gegenüber, die
juristischen Gründen zu folgen pflegen, eben so wenig etwas, als die
hie und da von Juristen gegen eine solche Auffassung gemachte Ein-
wendung, dass ja in Fällen, wie es die genannten sind, ganz klar
ein Diebstahlsversuch vorliege.e Eine Behauptung ist kein Gegen-
beweis.
In dem Worte „ver-suchen“ ist „ver“ (wie das lateinische per)
die so gewöhnliche Verstärkung (verhindern, vermeiden ete.). Wer
etwas sucht, ist thätig es zu finden, hat es also noch nicht gefunden.
In dem Worte „versuchen“ ist aber die ursprüngliche Bedeutung des
„suchen“ nicht festgehalten, sondern ein sehr verwandter, erweiterter
Sinn substituirt. Wer etwas versucht, ist thätig damit etwas werde,
zum Dasein komme; so lange der Versuch dauert, ist ‘es nicht ge-
worden, aber der Versuchende “at es schon in seiner Vorstellung,
es ist das Ziel, dem er zustrebt, und seine Absicht ist darauf ge-
richtet. Einen unabsichtlichen Versuch gibt es nicht.
Versuch des Verbrechens ist demnach das Thätigsein zur
Hervorbringung des Verbrechens, auf welches die Absicht gerichtet
ist, oder genauer, da Verbrechen einen Complex von subjeetiven und
objeetiven Momenten enthält, zur Hervorbringung der beabsichtigten
Rechtsverletzung, durch welche der Begriff des Verbrechens erfüllt
wird. Wenn wir also von der Absicht ausgehen und die Beziehung
zu ihrem rechtlichen Object festhalten, so ergibt sich für den Ver-
such des Verbrechens ein positives und ein negatives Moment : die
Absicht ist objeetivirt, aber nielt verwirklicht.
„Objeetivirt“ ist nicht gleich mit „manifestirt“. Manifestation
der Absicht ist Kundmachung der Absicht, d. h. Aufschluss über das
Wissenschaftliche Monatsschrift. 14*
— 250 —
Innere; sie kann geschehen durch das Geständniss und die eigne
Aussage dessen, der sie hegt oder hegte; diese Aussage ist aber
kein Thätigsein zur Hervorbringung der Rechtsverletzung, kein Ver-
such des Verbrechens, so wenig als die Drohung, ein solches begehen
zu wollen. Objectivirung der Absicht ist Ausführung derselben; das
Innere geht in’s äussere Dasein über. Verwirklicht ist die Absicht erst
dann, wenn ihr Aeusseres an ihre, des Innern, Stelle getreten ist!).
1. Die Absicht ist objeetivirt durch das gewählte Handeln.
Dieses ist das Mittel zum Zweck. Wer ein Verbrechen hervorbringen
will, muss sich nach einem zweckmässigen Mittel umsehen und sich
zum Handeln in Stand setzen (Vorbereitung); in das Stadium des
Versuchs tritt er erst durch das die Absicht objectivirende Handeln,
oder die Anwendung des Mittels zur Verwirklichung seiner rechts-
widrigen Absicht. Der Versuch des Verbrechens befindet sich also
zwischen den beiden in Relation stehenden, durch die Absicht und
die Rechtsverletzung fixirten Punkten.
2. Die Absicht ist nicht verwirklicht. Sie ist diess eben
so wenig bei dem beendigten Versuch, als dem nichtbeendigten; in
beiden Fällen ist ein Thätigsein, welches nach einem Ziele hinstrebte,
aber es nicht erreicht hat. Das Handeln, welches als Mittel zur
Verwirklichung der Absicht gewählt wurde, ist bei dem beendigten
Versuche nicht bloss aus dem Innern (Vorsatz) heraus in die Wirk-
lichkeit gesetzt, sondern bis zu dem Punkte geführt, der sich als
Endpunkt des Versuchs dem Anfangspunkte gegenüberstellt. Die
Objeetivirung der Absicht hat in diesen beiden Punkten ihre feste
Grenzbestimmung und ausserhalb ihrer Grenzen liegen sowohl nach
der einen Seite hin die Vorbereitungshandlungen, als nach der andern
Seite hin die wirkliche Verletzung des Rechts, auf welche die Absicht
gerichtet war. Diese Verletzung, als aus der Handlung hervorgegan-
gen, ist ihr Erfolg, aber das auf die Verwirklichung der rechts-
1) E. Herrmann nennt in seinem Aufsatze „über Absicht und Vorsatz“ (Archiv
des Criminalrechts, 1856, S. 9.) meine ersten Andeutungen über den Unterschied
von Vorsatz und Absicht und die Relationen von Vorsatz und Handlung, Absicht
und Erfolg (in meiner Monographie über die Brandstiftung S. 197.) Behauptungen,
die „sicher falsch, ja in der That unbegreiflich“ seien. Gegen seinen Ausspruch,
dass ihm etwas unbegreiflich sei, kann ich natürlich nichts einwenden, so wenig er
eine Einwendung machen kann gegen meine Erklärung, dass mir die Phrasenfülle in
seinem Aufsatze begreiflich sei. Allein unbegreiflich ist es mir, wie er aus meinen
kurzen, gar keine Phrase enthaltenden Sätzen hat herauslesen können, dass ich
glaube, „Absicht und Erfolg gehörten der objectiven Sphäre an“, während ich
dieses von dem Erfolge des Handelns, auf den die Absicht gerichtet sei, aussagte.
— 231 —
widrigen Absicht bezielte Handeln hat häufig einen andern Erfolg,
der hinter jener Verwirklichung zurücksteht und noch dem Gebiete
des Verbrechensversuchs angehört.
Fragen wir in den Fällen des Verbrechensversuchs nach dem
Grunde der Nichtverwirklichung der durch das Handeln objeectivirten
Absicht, so liegt er entweder in dem Willen des Handelnden (frei-
williges Abstehen vom Versuch) oder ausser demselben. Nur der
letztere Fall hat eine Beziehung zu unserem Thema.
Wenn dem Handelnden sich äussere Hindernisse entgegenstellen,
die er nicht überwinden kann oder mag, so liegt in dem Abstehen
kein freier Wille, sondern auch in dem Falle, wo er die äusseren
Hindernisse hätte überwinden können, aber nicht überwinden mag,
ist der Wille bestimmt durch die Hindernisse und diese sind der
Grund des Abstehens vom Versuch. Hieran reiht sich auch der Fall,
wo ein Handeln als Mittel zur Verwirklichung der Absicht gewählt
wurde, welches nicht geeignet ist, dahin zu führen, der sogenannte
Versuch mit untauglichen Mitteln (s. oben $. 39.) und ebenfalls der
sogenannte Versuch am fehlenden oder untauglichen Object.
Einen Anhalt für die Behandlung des letzteren Thema’s bietet
uns das römische Recht, denn es heisst 1. 43. $. 5. (vgl. $. 10. 11.)
D. de furtis: „Quodsi dominus id dereliquit, furtum non fit ejus,
etiamsi ego furandi animum habuero, nee enim furtum fit, nisi sit eui
fiat; in proposito autem nulli fit, quippe quum placeat Sabini et
Cassii sententia existimantium, statim nostram esse desinere rem,
quam derelinguimus“. Ferner 1. 6. D. expil. hered.: „Si rem heredi-
tariam, ignorans in ea causa esse, surripuisti, furtum te facere re-
spondit. Paulus : rei hereditarie furtum non fit, sieut nee ejus, qu&
sine domino est, et nihil mutat existimatio surripuentis“. Wir sehen
aus diesen Stellen, dass die Römer über die betreffende Frage Zweifel
hatten, dass aber für den Diebstahl die Ansicht durchdrang, dass
dem Glauben des Contrectanten gegenüber die Qualität der Sache
entscheide. Daraus folgt nun zwar noch nicht der allgemeine Satz,
dass (gemeinrechtlich) der sogenannte Versuch bei fehlendem oder
untauglichem Object straflos sei, aber es ist doch jene Entscheidung
sehr beachtenswerth.
Im Wort und Begriff „Absicht“ liegt immer die Beziehung auf
ein Ziel. Bei dem Verbrechen der Tödtung ist das Ziel die Ver-
nichtung eines Menschenlebens, also der Gegenstand des Handelns in
eonereto ein lebender Mensch. Welchen Vorsatz derjenige auch fasse
und welche Handlung er unternehme, der einen Menschen tödten will,
welcher nicht getödtet werden kann, weil er schon todt ist, so fehlt
— 232 —
das nothwendige Correlat zu der Absicht. Wer nach Utopien reist,
der schweift in der Irre, welchen Weg er auch einschlagen mag,
denn es führen alle Wege nach Rom, aber keiner nach Utopien. Das
Handeln befindet sich in jenem Falle nicht als Mittel auf der Bahn,
Me, ‘welcher sich der Versuch des Verbrechens zu bewegen hat, denn
es fehlt einer der beiden Punkte, bei deren Vorhandensein ein Mittel
allein denkbar ist. Darnach liegt hier ebensowenig ein Verbrechens-
versuch vor, als in den Fällen, wo ein als Mittel zur Realisirung
der Absicht untaugliches Handeln gewählt ist.
Bei der Behandlung der beregten Frage wird regelmässig das
Beispiel gebraucht , dass jemand einen Menschen tödten will, der
schon todt ist. Vollkommen sichere Fälle der Art sind nicht häufig.
Dagegen ist es keine Seltenheit, dass bei vermeintlicher Schwanger-
schaft Abortivmittel gebraucht oder gegeben werden; nur kommen die
meisten solcher Fälle nicht zur gerichtlichen Cognition. In beiden
Fällen fehlt es sowol an dem Gegenstande der Aeusserung des ver-
brecherischen Handelns, einem lebenden Menschen und einem leben-
digen Fötus, als auch an dem rechtlichen Object des Verbrechens,
einem Menschenleben und einem Fötusleben. Wenn wir aber die
Unterscheidung des Gegenstandes des Handelns und des rechtlichen
Objects des Verbrechens (s. oben $. 29. 30.) für den Diebstahl fest-
halten, so stellt sich die Sache anders. Das rechtliche Objeet dieses
Verbrechens ist das fremde Vermögen, der Gegenstand der Aeusserung
des rechtswidrigen Handelns ein bestimmtes, bewegliches Vermögens-
object. Traf A., welcher sich den Diebstahl vorgenommen hatte, das
erwartete Vermögensobjeet des B. nicht an, so kann das Contrectiren
an diesem Object nicht ausgeübt werden, aber damit ist nicht gesagt,
dass nicht das Vermögen des B. existirt.
Um diese Unterscheidung hier nutzbar zu machen, ist damit ein
anderes Verhältniss in Verbindung zu setzen.
Wir finden zwar in den römischen Rechtsquellen Aeusserungen
über den rechtlichen Schutz, den das Haus den Bewohnern gewährte,
namentlich in der 1.18 D. de in ius vocando : „Plerigue putaverunt,
nullum de domo sua in ius vocari licere, quia domus tutissimum
euique refugium atque receptaculum sit ete.*; allein so wie die Natur
den Germanen anwies, gegen ein rauheres Klima im Hause Schutz
und Schirm zu finden, so hat sich auch bei den germanischen Völkern
der „Heimfrieden“ zu einem Rechtsbegriff gestaltet, wie wir nichts
Aehnliches bei den Römern finden. Haus und Hof standen nach
allgemeiner germanischer Auffassung in einem höheren Frieden; in
seinem Hause und in seinen vier Pfählen genoss ein Jeder einen
— 233 —
besonderen Rechtsschutz), und der Engländer hat in seinem „my house
is my castle* einen schönen alten Rechtsbegriff gewahrt. Jene alte
Anschauung des Heimfriedens ist uns zwar nicht geblieben, aber dass
Jemand Herr ist in seinem Haus und Hof und dass er in seiner
Wohnung zunächst die Herrschaft über sein Vermögen übt, — ubi
quis larem rerumque ac fortunarum summam constituit, 1. 7. C. de
incolis — diese Auffassung ist uns sehr geläufig und dass zu den
Gebäuden, resp. bewohnten Gebäuden auch „der dazu gehörige ge-
schlossene Hofraum nebst allen darin befindlichen Baulichkeiten jeder
Art zu rechnen“ sei, ist für den durch Einsteigen, Einbruch ete.
ausgezeichneten Diebstahl auch durch die neue Strafgesetzgebung
(Sachsen 278 a. E., Baden 381 ete.) anerkannt. Sollte es nun nicht
gerechtfertigt sein, einen Schritt weiter zu gehen und in dem Ein-
gehen oder Einschleichen in Jemandes Haus und Hof oder Wohnung
von Seite dessen, der die Absicht hat, dort zu stehlen, schon einen
"Angriff auf die fremde Vermögenssphäre zu sehen? Die Frage, ob
der Mensch jene Absicht hatte, deren Beantwortung der Ermittelung
im Strafprocesse angehört, darf hier nicht auf die Frage im materiellen
Strafrecht störend einwirken.
Als eine Stütze der aufgestellten Ansicht kann benutzt werden,
dass derjenige, welcher einen heimlich in sein Besitzthum Eingedrun-
genen mit Gewalt wieder austreibt, sich in rechter Nothwehr befindet ?),
weil in dem Eingedrungensein ein Angriff liegt, den der dadurch
Angegriffene abzuwehren berechtigt ist.
Auf Grundlage meiner Ansicht ergibt sich für den ersten der
angeführten preussischen Fälle der Versuch eines ausgezeichneten
Diebstahls nach $. 218, Nr. 3, und für den zweiten nach $. 218,
Nr. 4 des Strafgesetzbuches.
Nach dem Art. 230. des sächsischen Strafgesetzbuches von 1838
(jetzt Art. 278, Nr. 4) ist es ein ausgezeichneter Diebstahl, wenn
_ derselbe „dadurch ausgeführt worden ist, dass der Dieb, um zur
Nachtzeit zu stehlen, sich in bewohnte Gebäude eingeschlichen hatte.*
A. hatte sich zwar in das Institutsgebäude eingeschlichen, aber es ist
nicht gesagt, dass er dieses gethan habe, um daselbst zur Nachtzeit
zu stehlen, also kann von dem Versuch des ausgezeichneten Dieb-
stahls nicht die Rede sein. Was er gethan haben würde, wenn er
1) Vgl. Wilda, das Strafrecht der Germanen, S. 241. 781. und in Weiske's
Rechtslexikon VI, S. 270 ff. Geib, im Archiv des Criminalrechts, 1847, S. 374 fi.
2) Köstlin, System des deutschen Strafrechts, I, $. 84; ©. Levita, das Recht
der Nothwehr, S. 181, Anm. 20.
— 234 —
nicht verjagt wäre, ob er andere Vermögensobjecte genommen haben
würde, statt des nicht gefundenen Geldes, das können wir nicht
wissen und kommt nicht in Betracht, aber gewiss ist es, dass er mit
der rechtswidrigen Absicht ein fremdes Vermögen zu verletzen, schon
in dem fremden Vermögenskreise sich bewegte und an dem recht-
lichen Objecte des Verbrechens des Diebstahls, einem bestimmten
fremden Vermögen, fehlte es hier durchaus nicht.
In dem grossherzoglich -hessischen Falle ist ausser dem einfachen
vollendeten Diebstahl, der hier nicht fraglich ist, Versuch eines durch
innern Einbruch ausgezeichneten Diebstahls nach Art. 366. 368. des
Strafgesetzbuches.
II. Mit der behandelten Controverse hängt eine andere aus dem-
selben Gebiete eng zusammen.
Die Handlung, welche als Mittel zur Realisirung der rechts-
widrigen Zueignungsabsicht dient, ist bei dem einfachen Diebstahl
das Ansichnehmen der fremden Sache, das eontrecetare. Wer in diesem
Handeln unterbrochen wird oder von diesem schon begonnenen Han-
deln aus freien Stücken wieder ablässt, bevor er die Sache wirklich
an sich genommen hat, der ist nicht über den Versuch des Diebstahls
hinausgekommen. Die zeitliche Ausdehnung dieses Handelns wird
meistens gering sein; allein unzweifelhaft steht derjenige im Stadium
des Versuchs, welcher einen Sack mit Korn zwar angefasst hat, aber
noch nicht im Stande gewesen ist, denselben in seine Gewalt, etwa
auf seine Schulter zu bringen. Wie nun aber, wenn das Ansich-
nehmen noch gar nicht begonnen hat, sondern der Mensch nur noch
eingestiegen oder eingebrochen war in ein Gebäude, um dort zu
stehlen und dann ertappt wird? Ist das Einsteigen oder Einbrechen
nur noch eine Vorbereitungshandlung oder schon Versuch des Dieb-
stahls? Eine Antwort scheint zu liegen in der l. 21, $. 7. D. de
furtis :; „Qui furti faciendi causa conelave intravit, nondum fur est,
quamvis furandi causa intravit. Quid ergo? qua actione tenebitur ?
Utique injuriarium aut de vi accusabitur, si per vim introivit.“ Vom
römischen Standpunkt bei der Behandlung des Privatdeliets furtum
ist diese Entscheidung des Ulpianus richtig, aber nicht ohne Weiteres
für das Verbrechen des deutschen Diebstahls. Die actio furti konnte
gegen jenen nicht angestellt werden, weil kein Schaden vorlag, nach
welehem der Anspruch sich bestimmen liess.
Der deutsche Diebstahl ist ein einfacher oder ausgezeichneter.
Ausgezeichnet ist der Diebstahl mit Einsteigen und Einbruch, und
zwar ist die Auszeichnung hier begründet durch ein Handeln, wel-
ches zu dem Ansichnehmen (contrectare) hinzukommt, so wie das
— 235 —
Handeln des Räubers sowohl das Vergewaltigen der Person, als das
Ansichnehmen der Sache umfasst. In dem Verlauf desjenigen Han-
delns, welches als Mittel zur Realisirung der Absicht dient, bewegt
sich der Versuch (s. oben $. 230). Darnach ist in jenem in Frage
gestellten Falle ein Versuch des Diebstahls vorhanden, sobald nur
dem Eingestiegenen oder Eingebrochenen, Einsteigenden oder Ein-
brechenden die rechtswidrige Absicht bewiesen werden kann, welche
auch das Contrectiren, das an sich rechtmässig sein kann, in den
Kreis des Verbrechens bringt. Auch derjenige, welcher „mit Waffen,
damit er Jemand, der ihm Widerstand thun wollt, verletzen möcht,
zum Stehlen eingeht“ (Peinliche Gerichtsordnung Art. 159) befindet sich
in diesem Handeln schon in dem Stadium des Versuchs, so wie nach
den Strafgesetzbüchern, welche das Einschleichen in ein bewohntes
Gebäude, um daselbst nach eingetretener Nachtruhe zu stehlen, als
einen Grund der Auszeichnung des Diebstahls hinstellen, ein solcher
Einschleichender oder Eingeschlichener. Nach dem neuen sächsischen
Strafgesetzbuch Art. 279. ist der Diebstahl sogar „für beendigt zu
achten“, wenn auch nur noch das Einsteigen, Einbrechen ete. ge-
schehen ist. Das steht in einem starken Widerspruch mit der Er-
klärung des beendigten Versuchs im Art. 40 desselben Gesetzbuchs :
„Der Versuch, ist ein beendigter, sobald der Verbrecher Alles gethan
hat, was er zu thun für nöthig hielt, um die von ihm beabsichtigte
Rechtsverletzung herbeizuführen“. Es ist daher zu vermuthen, dass
jene Wendung „für beendigt zu achten“ nur nicht gut gewählt sei,
statt „ist dem beendigten Versuche gleich zu achten*.
Zur Veranschaulichung des Unterschiedes der Vorbereitungen
zum Diebstahl und des Versuchs desselben kann ein Fall dienen, den
Weiss!) aus einem dem Königreich Sachsen benachbarten Lande
anführt. Ein zuvor schon übel berüchtigter Dieb war eines Abends,
auf verdächtige Weise sich benehmend, in der Nähe eines noch
“offenen Verkaufslocals betroffen und festgehalten worden. Man fand
in seiner Tasche einen frischen Abdruck in Wachs, von der Oeff-
nung des Schlosses zum Verkaufslocal entnommen. Es war daher
anzunehmen, der Angeschuldigte habe sich diesen Abdruck zu dem
Zwecke verschafft, sich nach demselben einen Schlüssel zu fertigen,
um später aus dem Local Waaren oder Geld zu stehlen. Obgleich
der Angeschuldigte dessen nicht geständig war, wurde er der Fer-
tigung jenes Abdrucks in diebischer Absicht für überführt erachtet
und von der ersten Instanz zu einer fünfjährigen Detention verurtheilt.
!) Criminalgesetzbuch für das Königr. Sachsen (2 Aufl.) S. 140.
— 236 — EN
“
Der Gerichtshof zweiter Instanz setzte diese auf eine zweijährige
herab und fügte als Entscheidungsgrund bei: „dass ein strafbarer
Versuch vorhanden sei, unterliege keinem Zweifel, doch sei derselbe
so entfernt, dass das Gericht die in erster Instanz erkannte Strafe
so, wie geschehen, herabzusetzen sich bewogen gefunden habe“.
Wir wissen nicht, ob nicht in dem Gesetze des betreffenden Staats
die Vorbereitungshandlungen als entfernter Versuch bezeichnet sind
oder waren, in welchem Falle das Erkenntniss des Oberrichters von
dieser Seite nicht zu tadeln wäre; aber nach der obigen Theorie und
überhaupt nach der jetzt gangbaren Lehre vom Anfange des Ver-
suchs der Verbrechen kann in dem Handeln jenes Menschen nur eine
Vorbereitung zum Stehlen gesehen werden. Seine rechtswidrige Zu-
eignungsabsicht (s. oben S. 33 ff.) konnte aus der Sachlage geschlossen
werden, aber sein Handeln war noch keine Objectivirung dieser
für den Begriff des Diebstahls entscheidenden Absicht, sondern
Objeetivirung der Absicht sich zum Stehlen in Stand zu setzen; er
befand sich auch noch ausserhalb des Kreises des bestimmten Ver-
mögens, das er künftig durch Stehlen zu verletzen die Absicht gefasst
hatte. ;
Auf die Beantwortung der Frage nach der Grenzscheide von
Versuch und Vorbereitungshandlungen beim Diebstahl darf die andere
Frage, ob und welche Vorbereitungshandlungen zu diesem Verbrechen
strafbar seien, nicht störend einwirken, sondern jede der beiden
Fragen ist für sich zu beantworten. Hier hatten wir es nur mit der
ersteren Frage zu thun.
LITERATUR.
LEHRBUCH DER PLASTISCHEN ANATOMIE von Prof, Dr. E. Harless.
Mit Illustrationen. 1ste Lieferung. Stuttgart, Verlag von Ebner
und Seubert. 1856. *) P
Die Resultate anatomischer Studien für den Künstler und dessen Darstel-
lungen nutzbar zu machen, ist der Zweck dieses Lehrbuches. Es soll für jenen,
wie der Verfasser sagt : „aus der Erkenntniss der Gesetze, nach |welehen die
Natur die Formen bildet und die Beweglichkeit der Glieder regulirt, die Fähig-
keit gewonnen werden, aus dem weiten Kreise natürlicher Möglichkeiten mit
selbstbewusster Freiheit zu wählen, unabhängig von dem Zwange stereotyper
Muster“. — Das erste bis jetzt erschienene Heft behandelt den Kopf, das zweite
den Rumpf und die Extremitäten, das dritte endlich soll sich mit der ganzen
Figur beschäftigen.
Die Darstellung ist hübsch, klar und verständig, wie überhaupt der Ver
fasser gerade in dieser Hinsicht, einer populären und doch gründlichen Dar-
stellung, ein eigenthümliches Talent beurkundet. Den eingedruckten Holzschnitten
wäre hier und da etwas mehr künstlerische Vollendung zu wünschen.
*) Vorräthig bei Meyer & Zeller. FR et REN %
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Bei Meyer & Zeller in Zürich ist erschienen :
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Maschinen, Werkzeugen und Apparaten neuerer Construction.
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Ingenieur, Professor an der Industrieschule in Zürich.
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Allen Mechanikern, Lehrern der Mathematik und Mechanik können wir dies
Werk angelegentlichst empfehlen, da es mit grosser Sachkenntniss und höchst sauber
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Professor der Geschichte an der obern Industrieschule in Zürich,
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Die Geschichte des Europäischen Staatensystems ist der wichtigste Theil der
Weltgeschichte; denn die Völker unsers Erdtheils bestimmen das übrige Menschen-
geschlecht. Jedes Glied dieses Staatenvereins wird in diesem Werke mit Liebe und
darum mit Eingehen in seine Eigenthümlichkeit behandelt; der Herr Verfasser zeigt,
wie jede Nation, jeder lebenskräftige Staat Europa’s aus innersten Trieben sich ent-
wickelt, welchen Bau, welche Ordnungen sein Staatsleben sich schuf und wie das
gegliederte, mit Vermögen begabte staatliche Geschöpf durch einzelne Menschen und
durch Gesammtheiten auf die Genossen des Lebens, auf seine Nebenstaaten einwirkte.
Wir sehen, wie die in Zeit und Raum neben einander bestehenden Gesellschaften
gemäss ihrer eigenthümlichen Entfaltung Einflüsse aufeinander ausüben, durch welche
die politischen Gedankenkreise und die Stimmungen jedes Zeitraums entstehen. Weil
alle Glieder des Europäischen Staatensystems die Aufgabe haben, die in ihnen vor-
findlichen Keime zu möglichst vollkommenem Dasein zu bringen, nehmen wir wahr,
wie sowohl Einzelne als Bünde jeweilig derjenigen Macht entgegen treten, welche
diess ihnen verkümmern könnte, auch wenn sie selbst noch nicht unmittelbar be- R
droht sind.
Die Erzählung fördert diess in strenger chronologischer Ordnung zu Tage; und
in Beziehung auf die Geschichtschreibung als Kunst, ist das Werk der erste Versuch, J
die Geschichte so mannigfaltiger Erscheinungen, wie das Europäische Staatensystem
sie darbietet, nach ihrer Aufeinanderfolge einheitlich in ununterbrochenem Zusammen-
hange darzustellen und eben dem thatsächlichen Verlaufe beim Wechsel der Europ
schen Staatsangelegenheiten die gänzliche Hingabe des Geistes zu widmen.
Monatsschrift
des
| | ZÜRICH.
Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben :
| Ferpmann Hırzıc, Epvaro ÖOSENBRÜGGEN, HEınrıcH Frey,
AnorLr Schumivt, Eopwarn BoBRrik.
(Hauptred.: Anorr Schwipr.)
BESTER ZABESARTEG:-
Sechstes Heft.
VERLAG von MEvER & ZELLER.
1856.
Preis für den Jahrgang 4 Thlr. = 14 Fr.
Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver-
fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet,
mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender
und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde-
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter
sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen,
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitgetheilt werden.
Inhalt des borliegenden Heftes:
Gedanken über die Verbreitung der Seuchen. Von Dr. MEvEr-Aurkens . 237
Ueber die römische Luxusgesetzgebung. Von Dr. DerngeuRe . . . . . 261
Ueber die Häretiker Epiphames und Adrianus. Von G. VoLkmar . . . 276
Der..Name.Helvehier. Non.F. Hırzıa=.. „2.2.00 „u Ne
Hiseyettsches. V;onB. Hiirzia. eine lealien Wert all en 15 Don ee TER a Be
Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von LesErt, BoBrık,
SCHMIDT, FRITZSCHE, FREY, VIscHER, VOLKMAR und Anderen.
Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des
Buchhandels erbeten.
Gegenboärtige Mitglieder des Wissenschaftlichen Vereins :
J.J. Horrıyeer, Präsident. Auex. SchwEızer, Vicepräsident. DERNBURG, Sekretär.
Bosrık. Crausıus. Escher v.d. Lıyta. An. Fıck. H. Frey. Frıtzsche. HRrer.
Hırpesrann. Hırzıc. Ferv. Keııer. Kru. Lesert. v. Marscnaıı. H. Meyer.
MEyER v. Knonav. MEYER-OcHsner. Mousson. MÜLLER. NÄGELI. ÖSENBRÜGGEN.
RAABE. SCHLOTTMANNn. AD. Schmivt. H. ScHWEIZER. G. SEMPER. STÄDELER.
F. VıscHer. VoLKkmar. R. Woır. G. v. Wyss.
em
nn
Druck von E. Kiesling in Zürich.
DIE VERBREITUNG DER CHOLERA
in den Jahren 1854 und 1855,
MIT AUSSCHLUSS DES ORIENTALISCHEN KRIEGSSCHAUPLATZES.
Geschildert von Dr. MEYER- AHRENS.
Die geheimnissvollen Gesetze, nach denen sich die Verbreitung
- der endemischen und epidemischen Krankheiten richtet, sind Pro-
FM
bleme, an deren Lösung sich schon die tüchtigsten Kräfte versuchten.
Aber ungeachtet die Naturwissenschaften in diesem Jahrhundert so
ungeheure Fortschritte gemacht haben, sind die Bestrebungen der
Aerzte, jene Gesetze zu erforschen, doch fruchtlos geblieben. Ich
habe in einem frühern Hefte dieser Zeitschrift meine Ansichten über
‚die Verbreitung der Seuchen im Allgemeinen ausgesprochen und dort
auf die eosmischen Influenzen hingedeutet, deren Combination wahr-
scheinlich die Verbreitung der Seuchen bedingen dürfte. Aber eben
diese Combinationen, diese wahrscheinlich auf höchst mannigfaltige
Weise sich ändernden und modifizirenden Combinationen sind es, welche
die Enträthselung der erwähnten Gesetze fast unmöglich machen.
„ Verfolgt man nur einzelne und isolirte Momente, die muthmasslich
auf die Verbreitung der Seuchen influiren dürften, so gelangt man,
davon habe ich mich durch vorläufige, sehr mühsame und zeitraubende
“Untersuchungen überzeugt, zu keinem Ziel; denn kein einzelnes sol-
ches Moment, wie z. B. die Temperatur für sich allein, influirt constant
auf die Verbreitung der Seuchen im Allgemeinen, oder auf ihren
Gang im Einzelnen, wenn es auch manchmal den Anschein hat, dass
solches geschehe, und es auch durchaus nicht zu leugnen ist, dass es
in einzelnen Fällen geschieht; freilich sind auch in diesen Fällen die
Resultate oft gerade entgegengesetzt und sich widersprechend. Ich bin
übrigens nicht abgeneigt, anzunehmen, dass die Eigenthümlichkeiten
jener Complexe cosmischer Influenzen auch die Verschiedenheiten der
epidemischen Krankheiten bedingen mögen.
Wissenschaftliche Monatsschrift. 15
— 238 —
Mir wird es nämlich immer wahrscheinlicher, dass alle seuchen-
artig auftretenden Krankheiten in einer inneren Verwandtschaft zu
einander stehen. Die ausserordentliche Aehnlichkeit mancher derselben,
z. B. der rothfleckigen Exantheme, die Combination solcher Exan-
theme mit Typhus, die ungemeine Aehnlichkeit der Miliaria, be-
sonders der in Frankreich vorkommenden Suette miliaire mit dem
englischen Schweisse des 15ten und 16ten Jahrhunderts, die häufige
Combination eines miliären Exanthemes mit Typhen und anderen
Exanthemen, das eigenthümliche Verhältniss der Suette miliaire zur
Cholera asiatica, — alles dieses lässt ahnen, dass jene sämmtlichen
Erscheinungen wohl Eine Wurzel haben möchten. Ich will jedoch ver-
meiden, mich zu weit in Hypothesen zu vertiefen. Wahrscheinlich
werden wir den letzten Grund dieser geheimnissvollen Erscheinungen
nie erkennen. Es scheint uns der Schöpfer hier ebenso das Eindrin-
gen in seine geheimste Werkstätte zu verwehren, wie noch in Bezug
auf manche andere, dem menschlichen Geiste wahrscheinlich auf ewig
verborgene Mysterien. Forschen müssen wir aber dennoch immer;
wie die Ameisen sollen wir es nicht verschmähen, Hölzehen und
Sandkörnchen zusammenzutragen, um vielleicht die Grundlage zu einem
Baue der Zukunft zu sichern.
Ein solches Sandkorn sei auch die vorliegende Arbeit. — Den
orientalischen Kriegsschauplatz habe ich davon ausgeschlossen, weil
die Zeitungsnachrichten hier gar zu unsicher sind und wissenschaftliche
Nachrichten über die Verbreitung der Cholera auf dem Kriegsschauplatz
im Orient mir nicht zu Gebote gestanden haben. Es ist leicht begreif-
lich, dass eine derartige Arbeit nicht genau zu sein vermag; aber
immerhin kann sie eine willkommene Grundlage zu einer späteren,
genaueren und detaillirteren historischen Darstellung bieten, und dürfte
jedenfalls geeignet sein, auch dem nichtärztlichen Leser einen interes-
santen Ueberblick über die Verbreitung der Seuche in den beiden
letzten Jahren zu geben.
Epidemie vom Jahre 1854 *).
Am Schlusse des Jahres 1853 finden wir die Cholera in Paris,
Portugal (St. Vigo) und auf einigen westindischen Inseln (namentlich
St. Thomas), auf welchen sie sehr verheerend geherrscht zu haben
scheint. Um das Ende des Februar aber war sie aus den nördlichen
Inseln ganz verschwunden; dagegen kamen jetzt auf Jamaika verein-
zelte Fälle vor. In Paris war die Cholera in den ersten beiden
*) Die Epidemie vom Jahre 1855, die so manche anziehende Seiten dar-
bietet, wird in einem der folgenden Hefte geschildert werden.
— 239 —
Monaten des Jahres 1854 bereits so ziemlich erloschen, als sie zu
Anfang des März von Neuem in zahlreicheren Fällen sich zu zeigen
begann.
Gleichzeitig ereigneten sich auch mehrere unzweifelhafte Cholera-
fälle in der Fabrikstadt Leeds in der englischen Grafschaft York.
Die englischen Contagionisten behaupteten nun, sie sei mittelst einer
Quantität Flachs aus Riga eingeschleppt worden. — Anfangs Mai finden
wir die Cholera in Mexiko’s Hauptstadt und anderen Städten des
mexikanischen Hochlandes, wo sie mit entschieden bösartigem Charakter
auftrat. Namentlich in der ersten Hälfte des Juni wüthete sie aufs
Heftigste; an manchen Tagen fielen ihr an 200 Menschen zum Opfer.
Am 17. Juni raffte sie die Gräfin Rossi, die ehemalige Sängerin
Sonntag, hinweg. Während sie bei ihren frühern Besuchen bloss unter
dem Proletariat ihre Opfer gesucht hatte, kehrte sie jetzt, allen Stan-
desunterschied vergessend, häufig bei Leuten ein, denen es weder
an Pflege noch an ärztlicher Hülfe fehlte. — Auf Jamaika hatte die
Cholera gegen die Mitte des Mai noch keine bedeutende Ausbreitung
erlangt, indem bis dahin bloss zwei Fälle vorgekommen waren; doch
nahm sie bis gegen die Mitte des Juni auch hier an Ausbreitung zu,
und während sie zuerst nur die farbige Bevölkerung ergriffen
hatte, war sie nın auch unter der weissen Bevölkerung ausge-
brochen. Bis gegen Ende Juni erreichte sie eine furchtbare Intensität. —
Auch auf Barbodos wüthete die Seuche mit andauernder Heftigkeit.
Sie raffte hier namentlich viele Militärpersonen hinweg. Strassen und
Werfte waren menschenleer; der Gouverneur hatte alle Gefängnisse
öffnen lassen. Am 28. Juni wurden 311 Leichen. verscharrt und
während der vorhergegangenen 14 Tage sollen 5000 Menschen an
der Cholera gestorben sein. Auch hier wüthete die Seuche vorzüglich
unter der schwarzen Bevölkerung, während unter den Weissen die Sterb-
lichkeit nur gering war. Vom 15—16 Juli starben 15,000 Menschen,
der neunte Theil der Bevölkerung. — Gegen den 11. Juni war die
Cholera nebst „anderen bösartigen Krankheiten“ auf der Insel Mau-
ritius im indischen Ocean ausgebrochen und raffte täglich 100 — 150
Menschen weg. Zwischen 5- und 6000 Einwohner hatten Port-Louis
aus Furcht vor der Ansteckung verlassen. Bis Ende Juli, wo sie ab-
nahm, tödtete sie 15,000 Menschen, grösstentheils Schwarze.
Mittlerweile (im Juni?) war die Seuche in St. Petersburg und
zu Ende des Juni in Kronstadt ausgebrochen, und hatte sich auch
auf der englischen Ostseeflotte in sehr beunruhigender Weise gezeigt.
Der Kapitän Gloss von dem englischen Kriegsdampfer Vulture erzählte
bei seiner Durchreise durch Kopenhagen, dass, als sich die englische
— 240 °—
Flotte etwa 11/5, Meilen von Kronstadt befunden habe, sich bei
einem ÖOstwinde einige Cholerafälle am Bord des Admiralschiffes
„Duke of Wellington“ gezeigt hätten; als aber die Flotte bald darauf
westwärts gesegelt sei, habe es geschienen, als wolle die Krankheit ihre
Herrschaft wieder aufgeben. Noch um die Mitte des Juli scheint sie
keineswegs erloschen gewesen zu sein, sondern his Anfang August
gedauert zu haben. Sie wüthete namentlich in den Zwischendecken ;
es gab eine Zeit, wo der Austerlitz 150 Fälle an Bord hatte. Nach
spätern Berichten soll der Verlust auf dem Austerlitz im Ganzen
75 Mann betragen haben; einige englische Schiffe sollen die Hälfte,
andere zwei Drittheile, eins ersten Ranges von seinen 1200 Mann
450 verloren haben. In Kronstadt soll nach gewissen Berichten die
Seuche grosse Verheerungen angerichtet haben, was freilich später
von St. Petersburg aus als eine schwere Verläumdung auf’s Bitterste
und Heftigste bestritten wurde. — In St. Petersburg nahm sie Ende
Juli zu.
Anfangs Juli ungefähr erschien die Cholera in Canada zu Quebec
“und Montreal und bald hernach (um den 8. Juli) zu New-York, wo
schon die ersten Fälle so grosse Bestürzung verursachten, dass beide
Opern geschlossen wurden. Heftiger trat sie um dieselbe Zeit zu
Philadelphia, Boston und St. Louis auf. In St. Louis starben in
Einer Woche 207 Menschen.
Die französische Ostseeflotte blieb auch nicht verschont. Schon um
den 11. Juli ging in Stockholm das Gerücht, dass die Seuche an Bord
der französischen Schiffe ausgebrochen sei. Merkwürdig ist es, dass
die Segelschiffe ganz verschont blieben; man schrieb es ihrer leichtern
Lüftbarkeit zu, indem man glaubte, dass die ungenügende Luft-
erneuerung in den Maschinenräumen der Dampfschiffe der Cholera
Nahrung gebe.
In St. Petersburg nahm sie um den 10. Juli noch immer zu;
es starben jetzt täglich durchschnittlich 50 Menschen daran.
Mittlerweile hatte die Seuche auch in Frankreich grosse Ver-
heerungen angerichtet, namentlich im Departement der obern Marne.
Anfangs der zweiten Woche des Juli finden wir die Krankheit auch im
südlichen Frankreich, und den 10. Juli begann ‚sie sich zu Strass-
burg zu zeigen.
Um den 12. Juli traten in Rom verdächtige Erkrankungen
ein. Man schrieb sie zum Theil den schlechten Getränken zu, welche
der gemeine Mann geniessen musste. Der Wein stieg mit jeder Woche
im Preise, während die andern Lebensmittel wohlfeiler waren. Ein
Glas unverfälschten Tischweines zu bekommen, war fast nicht mehr
— 241 —
möglich. Um den 9. Juli hatte sich die Cholera auch zu Neapel
gezeigt; die ersten Fälle waren im Hafen und in den volkreichsten
und ungesundesten Theilen der Stadt vorgekommen.
Um die Mitte des Juli trat die Cholerine zu Kopenhagen in
besorgnisserregender Weise auf; in Zeit von 8 Tagen kamen nämlich
an 400 Erkrankungen vor.
Im südlichen Frankreich war es besonders Marseille, das die
ganze Wuth der grossen Weltseuche in schrecklichem Maasse fühlen
musste. Es herrschte aber auch in der armen Seestadt ein pani-
scher Schrecken. Um den 17. und 18. Juli wurden über 1500 Pässe
ausgestellt; davon mehr als die Hälfte nach der Schweiz. Alles, was
die Mittel dazu hatte, floh, so dass noch um den 22. Juli, obgleich
die Seuche abzunehmen begonnen hatte, alle Lehranstalten geschlossen
waren. Die Behörden mussten strenge Maassregeln ergreifen, um wenig-
stens nur die Beamten auf ihren Posten festzuhalten. Auch in der
Nähe von Lyon wüthete um den 22. Juli die Seuche sehr stark.
Um dieselbe Zeit ungefähr war die Cholera zu Nizza und auf
Malta (etwa gegen den 19. Juli) ausgebrochen; ebenso hatten sich im
Militärspital zu Alessandria einige Cholerafälle gezeigt. Da nun auch
zu Genua verschiedene Fälle von Typhus und zwei choleraähnliche
Erkrankungen vorkamen, so ergriff auch diese Stadt ein um so pani-
scherer Schrecken, da die in Marseille herrschende Bestürzung auf
diese zurückwirkte.
In Rom hatte die Cholera, trotz der früher vorgekommenen ver-
dächtigen Erkrankungen, längere Zeit sich nicht entschieden manifestirt;
doch liessen die Behörden, jeden Augenblick des unheimlichen Fein-
des gewärtig, in aller Eile soviel als möglich Strassen und Cloaken
reinigen; und auch nicht umsonst, denn schon um den 23. Juli war die
Seuche wirklich ausgebrochen. Auch hier floh, wer da konnte, auf's
Land; doch herrschte kein so panischer, kein so allgemeiner Schrecken,
wie in Genua, weil der Papst und das heil. Coneilium sich nicht
ängstlich in ihren Wohnungen einschlossen und die Stadt nicht ver-
lassen zu wollen erklärten.
Gleichzeitig sollen in einigen Spitälern zu Turin verdächtige
Erkrankungen vorgekommen sein. Auch hier erliess man ein Säu-
berungs- und Reinlichkeitsreglement.
Bevor wir den Verlauf der Krankheit im südlichen Europa weiter
verfolgen, blicken wir einen Moment nach dem Nordwesten Europa’s,
nach Grossbritannien. Die Seuche scheint in England und Schottland
schon seit längerer Zeit verbreitet gewesen zu sein. So hatte sie, nament-
lich nach Berichten aus London vom 25. Juli, schon einige Zeit zu
— 242 —
- Glasgow und in der sich durch ungewöhnliche Unreinlichkeit aus-
zeichnenden Stadt New-Castle am Tyne und in deren Umgebungen
gespukt. Auch in London selbst zeigte sich die Seuche um den
25. Juli in dem östlichen Distriete Limehouse, dem es fast ganz an
Abzugskanälen fehlt. Es war daher kein Wunder, wenn auch auf
den von England abfahrenden Schiffen die Seuche ausbrach; wie
dieses auf dem am 21. Juli von London mit Truppen nach Bombay
abgegangenen Auckland der Fall war, in Folge dessen das Schiff
am 31. Juli wieder in Plymouth einlaufen musste.
Möglich, dass im Juli die Cholera auch in Tunis herrschte. Es
ist wenigstens auffallend, dass unter den tunesischen Truppen, die
um den 29. Juli bei Malta landeten, mehrere Cholerafälle vorkamen;
freilich herrschte ja auf Malta selbst die Cholera.
- Mittlerweile war in Genua die Cholera ebenfalls entschieden
ausgebrochen. Am 25. Juli hatten sich 7—8 Fälle im Hospital und
mehrere andere in der Stadt gezeigt. Die aristokratischen Familien
bereiteten sich zur Abreise.
In Turin kamen um diese Zeit leichte Cholerinefälle vor; die
Furcht vor der Seuche war gross.
In Rom erliess man nun ein eigenes Reinlichkeitsediet in Bezug
auf die Bearbeitung der Seide, die nach dem dortigen System vom
Augenblicke des Siedens der Cocons bis zum Abhaspeln eine schmutzige
Beschäftigung ist.
Um den 26. Juli zeigten sich auch in Livorno einige cholera-
artige Fälle, und um den 28. Juli sollen auch in Florenz solche
vorgekommen sein.
In Genua herrschte Ende Juli grosse Bestürzung. Die von
Doppelmaschinen geführten Eisenbahnzüge reichten kaum hin, Alle
zu befördern, die sich auf’s Land, in’s Innere, oder in’s Ausland
begeben wellten. Es waren bereits 5000—6000 Pässe verlangt wor-
den; die Theater hatte man geschlossen.
In Neapel war die Seuche um den 29. Juli ebenfalls in weiterer
Ausbreitung begriffen. Während sie sich, wie wir oben bemerkten,
Anfangs nur in den ungesundesten und volksreichsten Quartieren
gezeigt hatte, breitete sie sich in der letzten Woche des Juli auch
in den übrigen Stadttheilen aus, und raffte mehrere den höhern
Glassen angehörende Personen rasch hinweg. Einzelne Fälle zeigten
sich auch in der Umgegend, in Castelamare,, Sorrento, Caserta. Die
Bevölkerung war von einem panischen Schrecken ergriffen. Wer
immer konute, floh. Nur allen am 22. Juli wurden 2200 Pässe
ausgefertigt. Die Civil- und Militärspitäler litten noch wenig, da
— 243 —
hier alle möglichen Reinlichkeits - Vorkehrungen getroffen worden
waren.
In den östlichen Departements von Frankreich begann unsere Seuche
um den 28. Julä abzunehmen, und ebenso scheint sie auch in Marseille
gegen den 31. Juli immer mehr abgenommen zu haben. Im Elsass,
namentlich in Strassburg , in > sie in den letzten Tagen des Juli
noch fort.
Am 27. Juli kam ac erste Cholerafall in München vor.
In Westindien richtete die Seuche bis Ende Juli fortwährend furcht-
bare Verheerungen an. Auf Barbodos z. B. hat sie bis zum 27. Juli
16,817 Menschen weggerafft, und dennoch wüthete sie im Innern der
Insel mit noch fast ungeschwächter Kraft fort. Sie hatte den ganzen
westindischen Archipel durchzogen und verheert.
Im August änderte die Cholera ihren Schauplatz nicht wesentlich;
nur dass sie jetzt im Piemont und dem Ligurischen Küstenlande an Inten-
sität zunahm und ‚sich auch in Baiern mehr ausbreitete.
Auf der englischen Flotte war die Krankheit Anfangs August ziem-
lich gewichen. Welche Verheerungen sie auf derselben angerichtet haben
soll, haben wir schon gesehen.
In Strassburg herrschte sie zwar allerdings; doch war hier der
Lärm und Schrecken bei weitem grösser als die Gefahr, da die Seuche
hier nur sehr mässig auftrat und die Zahl der Genesungen verhältniss-
mässig gross war. Schon am 4. August konnte man die Krankheit fast
als erloschen betrachten. Sie scheint ihren Schauplatz vorzüglich auf
einige Gässchen concentrirt zu haben.
In Marseille war um den 5. August die Zahl der Opfer schon unter
100 pro Tag gesunken, während eine Zeitlang täglich 200 Personen gestor-
ben waren. Die Wohlhabenden standen den Armen mit enormen Geld-
opfern bei. Bis zum 7. August wurden 82,000 Franken gesteuert. Da-
gegen musste zwei Bäckern und 15 Fleischern die Gewerbsgerechtigkeit
entzogen werden, weil sie die Stadt verlassen und ihre Laden geschlos-
sen hatten. Im Ganzen war aber die Cholera um diese Zeit (gegen den
9. August) noch über einen grossen Theil von Frankreich verbreitet.
Sie herrschte in Nord-, West- und Südfrankreich, einem Theil der
Franche-Comte und Lothringen. — In den Vorstädten von Lyon
hatte sie sich nach einem Berichte vom 12. August ebenfalls gezeigt.
Um den 13. August hauste sie in Aix in hohem Maasse. Es hatten
sich so viele Einwohner auf's Land geflüchtet, dass der Erzbischof
ersucht wurde, unter freiem Himmel Messe zu lesen. Von Montpellier
mussten Aerzte nach Aix gesendet werden.
Die Schweiz diesseits der Alpen war bisher noch niemals von der
— 244 —
Cholera heimgesucht worden; aber nun sollte auch sie erfahren, dass
sie keine absolute Immunität besitze; hatte doch auch die Pest einst
die höchsten Alpenthäler betreten. Am 13. August ereignete sich
in Aarau der erste 'l'odesfall an Cholera und von da verbreitete sie
sich im Lauf von 8 Wochen über 14 andere Ortschaften des Kantons,
die aber alle so ziemlich in Einer Richtung, Einer Linie liegen, deren
äusserste Punkte Menziken und Oeschgen bilden und welche der
Meridian von Aarau in der Richtung von Südost nach Nordwest
schneidet.
Bevor wir von hier aus weiter schreiten, werfen wir noch einige
Blicke auf die Verheerungen, welche die Seuche in der ersten Hälfte
des Augustes in Italien anrichtete. In Genua gewann sie eine schreck-
liche Ausdehnung; am 1. August erkrankten 264 Personen und starben
126. Die Auswanderung war massenhaft. Man hielt Spezialcholera-
gottesdienste, Betstunden, Prozessionen, bei denen sich namentlich das
weibliche Geschlecht zahlreich betheiligte; was um so schlimmer war,
da die Theilnehmenden barfuss auf Stein und Marmor dahinschreiten
mussten, wesswegen auch die Aerzte sehr gegen diese Prozessionen
eiferten;, aber freilich vergeblich. Trotz dieser religiösen Uebungen
mangelte es aber an wahrem religiösem Sinne, an religiöser Ergebung,
und an der Ueberzeugung, dass eine höhere Hand auch den Seuchen
Gesetze vorschreibt, und so herrschte denn auch hier die ebenso
schreckliche als thörichte Vergiftungsfurcht. Manche Kranke wären
vielleicht geheilt worden, wenn sie nicht aus Furcht, von den Aerzten
vergiftet zu werden, die ärztliche Hülfe ausgeschlagen hätten. Die
Stadtbehörden thaten alles Mögliche, um die Aufregung und Bestür-
zung zu mindern. Die Armen und die Arbeiter bekamen wohlfeileres
Brot; die Fleischsteuer wurde ermässiget; man theilte sogar unent-
geltlich Eis aus. Wo die Krankheit am heftigsten auftrat, verpflanzte
man die armen Familien in bessere Wohnungen; denn die Seuche
forderte ihre meisten Opfer in den engen, zusammengedrängten, dem
Luftzuge unzugänglichen Gässchen. Aber aller Massregeln spottend,
griff die Seuche immer mehr um sich; Bestürzung, Angst und
Schreeken gewannen in immer grösseren Kreisen die Oberhand. Am
4. August hatten bereits 35,000 Personen die Stadt verlassen, von
denen 25,703 auf der Eisenbahn landeinwärts geflüchtet waren. Die
Furcht wüthete mehr als die Seuche; die Arbeiten hatten aufgehört,
Magazine und Laden waren geschlossen; in manchen Stadttheilen
konnte man sich mit dem Gelde in der Hand nicht einmal die noth-
wendigsten Lebensbedürfnisse verschaffen. Mehr als einmal mussten
die Thüren gesprengt werden, um zu den Leichen zu gelangen, die
— 245 —
von ihren Angehörigen verlassen worden waren. Ein Appellations-
rath, ein Richter erster Instanz, ein Sekretär des Handelstribunals,
ein Armenadvokat mussten abgesetzt werden, weil sie ohne Urlaub
die Stadt verlassen hatten. Der König Vietor Emanuel hingegen war
in der Nacht vom 3. auf den 4. August, von zwei Ministern und dem
Conseilspräsidenten begleitet, muthvoll nach Genua geeilt, um durch
sein Erscheinen die Furchtsamen zu ermuthigen und der verderblichen
Flucht auf diese Weise Einhalt zu thun. Auch der Erzbischof von Genua
kehrte, sowie er hörte, dass die Cholera in der Stadt ausgebrochen
sei, aus Savoyen, wohin er sich begeben hatte, in seinen Sprengel
zurück, gestattete für die Dauer der Seuche den Genuss von Fleisch
an Freitag und Sonnabend und verbot. das Läuten der Prozessions-,
Zug- und Sterbeglocken, das Herumtragen der Sacramente zu den
Sterbenden mit der Schelle Die Feier der kirchlichen Feste ferner
wurde verschoben, und der tägliche Gottesdienst auf die früheste
Morgenstunde verlegt. Auch in Genua brachten die Wohlhabenden den
Armen grosse Geldopfer, so dass in Zeit von zwei Tagen man 80,000
Franken sammelte. Merkwürdiger Weise zählte die 5000 Mann starke
Garnison bis zum 3. August erst 37 Erkrankungen und 10 Todesfälle,
während im Ganzen bis zu diesem Tage 1588 Personen erkrankt und
654 gestorben waren. Am 5. August war die Zahl der Erkrankungen
bereits auf 2000, diejenige der Todesfälle auf 900 gestiegen. Nun
aber scheint die Seuche abgenommen zu haben. Am 6. August zählte
man noch 159 Erkrankungen und 94 Todesfälle. Vietor Emanuel’s
Erscheinen zur Zeit der Seuche hatte sehr wohlthätig auf die Gemüther
gewirkt. Er hatte sich 8 Stunden in der bedrängten Stadt aufgehalten,
5 Choleraspitäler besucht und die am schwersten heimgesuchten Stadt-
theile zu Fusse durchwandert. Nun wurden die Strassen wieder
etwas belebter (um den 7. August), die Magazine öffneten sich und
man fasste den Vorsatz, wieder an seine Geschäfte zu gehen. Am
8. August erkrankten noch 133 Personen und starben 75; am 9. August
wurden 107 ergriffen und starben 69; am 13. August erkrankten 110
und starben 58 Menschen. — Das Volk in der Nähe von Genua
zeigte sich sehr abergläubisch. Als der Maire in St. Piez d’Arena
ganz nahe bei Genua zwei französischen Marktschreiern, welche Uni-
versalmittel gegen die Cholera verkauften, ihren Handel untersagte,
da er in Erfahrung gebracht, dass Tags zuvor einer ihrer Kunden
gestorben war, rottete sich der Pöbel zusammen, ergriff für die Charla-
tane Partei und schrie: „Tod den Aerzten!“ An einem andern Orte
wurden zwei Aerzte und ein Apotheker vom Volke geschlagen, weil
man glaubte, die Aerzte seien gedungen, die Armen zu vergiften;
— 246 —
die Aerzte mussten sich daher in Zukunft durch Soldaten auf ihren
Gängen begleiten lassen.
In Turin dauerte es lange, bis die Cholera förmlich zum Ausbruche
kam. Noch bis zum 1. August war mit Ausnahme des Ritters Adrian
Revel, der von Genua zurückgekehrt war, kein eigentlicher Cholera-
fall daselbst vorgekommen, obschon im buchstäblichen Sinne des
Wortes alle verfügbaren Räume von flüchtigen Genuesern jeden Alters
und Geschlechtes besetzt waren. Revel war in der Nacht vom 31. Juli
auf den 1. August gestorben. Er hatte übrigens bereits seit einigen
Tagen Unterleibsbeschwerden gefühlt, als er sich nach Genua bege-
ben hatte. Sechs und dreissig Stunden später war noch kein weiterer
Fall vorgekommen. Bis zum 3. Angust jedoch folgte ein zweiter
fulminanter Fall, der ebenfalls ein von Genua gekommenes Individuum
betraf. Am 3. August ereignete sich ein dritter Fall wieder bei einem
aus dem gleichen Orte zugereisten Individuum. Bis zum 5. August
sollen dann abermals zwei Genueser Flüchtlinge in einem Gasthofe er-
krankt, und am Morgen des 5. Angust in dem ärmsten Quartiere der
Stadt einige Fälle vorgekommen sein. Am 11. August wusste man
von 16. Erkrankungen und 9 Todesfällen, von denen die ersteren
grösstentheils Genueser Flüchtlinge betrafen. Uebrigens sind die Nach-
richten über Turin sehr widersprechend. Auch hier bestrebte man
sich nun plötzlich, alten Uebelständen abzuhelfen. Ueberall ward
gescheuert, gewaschen, gereinigt.
Mittlerweile waren in verschiedenen Orten der Riviera verein-
zelte Fälle vorgekommen, ferner in Novi, Alessandria, Valenza, Asti,
und zwar, wie es scheint, allenthalben bei flüchtigen Genuesern. In
Asti setzte sich die Bevölkerung in den Kopf, der daselbst wohnende
protestantische Geistliche habe die Seuche über sie gebracht und
wollten ihn desshalb tödten und sein Haus verbrennen. Es ist un-
glaublich, wie abergläubisch sich die Masse in der Riviera und sogar
in Genua selbst zeigte. An vielen Orten mussten die Aerzte die
Hälfte der Arzneien austrinken, als Bürgschaft, dass sie kein Gift ent-
halten; an anderen Punkten ordneten Maires nächtliche Feldpatrouillen
der Nationalgarde an, indem man fest glaubte, die Krankheit werde
in der Nacht gesäet, mittelst Raketen zugeschleudert und in der Form
eines Schlangen und Kröten abgezapften Wassers in die Häuser ge-
spritzt. Die Superklugen behaupteten einfach, man wolle sich der
Armen entledigen, habe hiezu die Aerzte gedungen und zahle den-
selben für jeden Gelieferten 20 Franken. Aber wie erstaunen wir
erst, wenn wir lesen, dass die Erzbischöfe in Genua und Turin zwar
die Aerzte von dem auf ihnen lastenden Verdachte zu befreien ver-
— 247 —
sucht, dagegen die Schuld auf die Protestanten und die Presse ge-
schoben haben!! Um den 8. August wüthete die Cholera längs der
ganzen Riviera, von Nizza bis la Spezzia und Lerici.
Nieht minder hatte die Seuche auch im Grossherzogthum Toskana
an Ausbreitung gewonnen. Noch um den 3. August war man in
Livorno über den Charakter der schon seit zwei Wochen (wie ein
späterer Bericht lautet) hier vorgekommenen verdächtigen Erkrankun-
gen im Ungewissen. Am 2. August erklärte sie der Monitore für
Cholerafälle; es sollten bis zum 2. August 41 solcher Fälle vorge-
kommen und 26 Personen an der Cholera gestorben sein, während
die von der Sanitätsbehörde den abfahrenden Schiffen übergebenen
Papiere nur auf „verdächtige Fälle“ lauteten, und die ausserordent-
liche Sanitätscommission am 3. August den Gesundheitszustand für sehr
befriedigend erklärte. Immerhin herrschte auch hier Angst und, Be-
stürzung; wer konnte, floh; das Volk meinte, die Milch sei vergiftet.
Die Behörden liessen Krankenlokale einrichten, schlechte Nahrungsmittel
eonfiseiren und die Strassen reinigen, wozu es in der That hohe Zeit
war, denn aus einem späteren Berichte ergibt sich, dass denn doch
am 2. und 3. August 9 Choleraerkrankungen vorgekommen waren.
Auch im Luccesischen, so in Viareggio und Camajore, hatte
sich die Seuche gezeigt. Um den 4. August war kein Zweifel mehr,
dass die Cholera in Livorno ausgebrochen war. Es wären meistens
den niederen Ständen angehörende Leute, die dasebst zuerst erkrank-
ten. Die Eisenbahn beförderte fortwährend eine grosse Zahl von
Flüchtlingen aus Livorno, welche meist in Pisa, Siena und Florenz
eine Zuflucht suchten, in welcher letzteren Stadt die angeblich da-
selbst früher ausgebrochene Seuche wenigstens keine weitere Verbrei-
tung erlangt zu haben scheint. Auch viele flüchtige Familien aus
Neapel und dem südlichen Frankreich befanden sich in Florenz.
In Rom forderte die Seuche Anfang August täglich einige
Opfer, und die Abendzeitung vom 2. August gestand endlich ein,
dass schon vor elf Tagen im Hospital San Spirito einige Cholerafälle
vorgekommen seien. Es war jedoch Thatsache, dass auch in der
Stadt ausser den Krankenhäusern Todesfälle sich ereignet hatten,
die nach Angabe gewissenhafter Aerzte durch die asiatische, nach
Anderen durch „eine Art Cholera“ veranlasst worden waren. Gewiss
war es jedenfalls, dass eine Krankheit herrschte, an der man nach
wenigen Stunden starb. Die Behörden ergriffen alle möglichen Maass-
regeln, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhüten; man ordnete
die nöthige Strassenreinigung an; liess, um Zusammenhäufung grös-
serer Menschenmassen zu verhüten, die kleinen Theater schliessen.
— 2148 —
Der Generalvikar rief zu öffentlichen Gebeten auf; dessenungeachtet
flohen die Römer massenhaft in’s Gebirg, der Pabst aber zeigte sich
täglich in den Messen. Die Seuche machte jedoch in Rom nur
langsame Fortschritte; dennoch hatte sich um den 7. August die
Bevölkerung der Stadt bereits wohl um ein Drittheil durch die Flucht
vermindert. Vom 26. Juli bis 7. August waren 75 Menschen erkrankt.
Nebenbei forderten die endemischen Fieber manches Opfer; im Hos-
pital San Spirito allein befanden sich am 8. August 1015 männliche
Fieberkranke, und noch weit grösser war die Zahl dieser Patienten
in den übrigen Spitälern und Privathäusern.
Auch noch späterhin, gegen die Mitte Augusts, trat die Seuche
in Rom sehr gelinde auf.
In Neapel dagegen wüthete die Cholera um so heftiger. Am
2. August starben hier 395 Menschen. Nahe an 7000 Personen
waren geflohen; am 5. August starben 377, am 6. August 334, am
7. August 316 Kranke. Um den 13. August nahm die Seuche noch
zu, und die ausserordentliche Auswanderung dauerte fort.
Aus Portugal erfahren wir wenig Sicheres; um den 8. August
war das ganze linke Guadianaufer in Cholera- Contumaz erklärt.
Während auf diese Weise der Süden Europa’s auf's Heftigste
bedrängt war, sollte auch ein Theil von Süddeutschland die Wuth
der Seuche erfahren. In München erkrankten bis zum 13. August
338 Personen und sollen etwa 150 gestorben sein. Daneben waren
Diarrh&en allgemein in der Stadt verbreitet. Am 6. August brach
die Seuche im Regierungsbezirk Schwaben aus, und zwar zu Augs-
burg und in den Amtsbezirken Günzburg, Göppingen und Roggen-
berg. Verdächtige Fälle zeigten sich zunächst in den Landgerichten
Buchlon, Burgan, Donauwörth, Füssen, Göppingen, Günzburg, Im-
menstadt, Kaisersheim, Kaufbeuren, Kempten, Lauingen, Linden,
Neuberg, Ottobeuren, Roggenburg, Schwabenmünchen, Zunnarthausen.
Um den 10. August erschien die Seuche im Regierungsbezirk Mittel-
franken, namentlich in Nürnberg und Fürth; dann in den Amtsbezir-
ken Dinkelsbühl, Erlangen, |Heidenheim, Neustadt, Schwabach und
Weissenburg. Im Regierungsbezirk Oberfranken kamen zunächst in
Bamberg, dann in der Strafanstalt Ebrach, den Amtsbezirken Bai-
reuth, Culmbach und Kranach einige Fälle von Cholera vor, die aber
lange vereinzelt blieben. Um den 11. Angust erschienen in der Pfalz
vier verdächtige Fälle im Dorfe Sondernheim (Landgericht Germers-
heim); dieser Regierungsbezirk war von mehreren Seiten von der
Cholera umgeben. Um den 12. August trat die Seuche in Ingol-
stadt auf.
— 249 —
Der Norden von Deutschland scheint noch frei gewesen zu sein;
doch sollen sich bis zum 10. August in Berlin einige Cholerafälle
ereignet haben.
In St. Petersburg hatte die Cholera mittlerweile abgenommen.
In der zweiten Hälfte des Augusts wüthete die Cholera theils in
Italien fort, theils verbreitete sie sich sowohl in diesem Lande als
in Baiern weiter.
Um die Mitte des Augusts dehnte sie sich in der Provinz Genua
immer weiter aus. Sie wüthete vornehmlich zu Spezia, Leriei, Sar-
zona, Arquate, Serravalle.. In Genua erkrankten am 14. August
noch 107 und starben 78 Personen und um den 18. August zählte
man noch immer ein halbes Hundert Sterbefälle pro Tag und darüber.
Leider begegnen wir auch jetzt wieder, wo wir auch hinsehen mögen,
elender Feigheit und unseligem Aberglauben. Aus Leriei entwichen ver-
hältnissmässig mehr Menschen als aus Genua, und vor Allen flohen
die Civilbeamten. Die sonst so belebte Gegend von Sarzona, wo die
Cholera mit ausserordentlicher Heftigkeit wüthete, war zum Kirchhof
geworden. Iu Alessandria hatten sich am Morgen des 10. August
ein Dutzend Weiber uuter lautem Geschrei und Geheul zusammen-
gerottet, weil, wie man ihnen in der Predigt gesagt hatte, Mittags
die Cholera mit furchtbarer Heftigkeit ausbrechen sollte. Sie mussten
mit Gewalt auseinandergetrieben werden.
Auch in die Alpengegenden Savoyens verbreitete sich die Seuche.
In Turin bewahrte sie immer ihren milden Charakter; denn bis
zum 18. August zählte man hier bloss 40 Todesfälle. Im Allgemei-
nen nahm die Krankheit um den 21. August im Königreich Sardinien
an Extensität immer noch zu, an Intensität aber ab. Nur in der
Armee, in der sie jetzt erst aufgetreten war, forderte sie noch viele
Opfer und wüthete jetzt in Orten und Gegenden, die zu den gesun-
desten des Landes gehörten.
Um den 17. August hatte die Seuche nordwärts auch die Schwei-
zer Grenze überschritten, indem sich um diese Zeit im Tessin einzelne
Fälle zeigten.
Um den 19. August begann die Cholera an der Westküste der
italienischen Halbinsel aufzutreten und bedrohte nun endlich auch
Sieilien.
In Neapel sah es ungemein traurig aus. Nicht die mindesten
Vorsichtsmassregeln wurden getroffen; die Behörden kümmerten sich
weder um Krankenpflege, noch Reinlichkeitspolizei, Beerdigung u. s. w.
In fatalistische Lethargie versunken, bot diese Stadt das Bild eines
durch die Pest verheerten asiatischen Ortes dar.
— 250 —
Um die dritte Woche des Augusts richtete die Cholera in Bar-
celona grosse Verheerungen an.
In Marseille war die Seuche um den 16. August im Erlöschen
begriffen; dagegen wüthete sie noch in Toulon und vielen andern
Punkten im Süden und Osten Frankreichs mit Heftigkeit.
Jenseits des Mittelmeeres hatte sich die Cholera um den 17.
August in Algier, Philippeville, Oran und Bona eingestellt.
In England dauerte die Seuche fort. — Am 21. August finden
wir sie ferner auf den Alandsinseln.
In Baiern mehrten sich die Erkrankungen in der dritten Woche
des Augusts. In München waren bis zum 22. August 1450 Menschen
erkrankt und 491 gestorben. Die grösste Zahl von Todesfällen im
Verhältniss zur Zahl der Erkrankungen war am 12. August vorge-
kommen, die geringste am 16. August (27). In Augsburg erkrankten
vom 19.— 20. August 101 und starben 42, vom 20.— 21. August
erkrankten 83 und starben 34, vom 21.— 22. August erkrankten
92 und starben 36. In Nürnberg wurden vom 8.— 22. August 93
ergriffen und starben 34. Um den 16. August brach die Cholera
in Regensburg aus; bis zum 20. August erkrankten 9 und starben
3 Personen.
In der letzten Woche des Augusts sehen wir die Cholera im
Königreich Sardinien vornehmlich in Asti, Pignerolo, Susa, Chivasso
mehr oder minder heftig wüthen. In Nizza verschwand sie um den
29. August.
Um den 23. August herrschte die Seuche rings um Lucca; so in
Viareggio, Comajore, Pietra Santa u. s. f£ In Livorno war die Zahl
der Erkrankungen auf 57 an Einem Tage gestiegen; vom 21. an
ungefähr schien sie jedoch hier abnehmen zu wollen. Bis zum 24.
August starb die Hälfte der Erkrankten, die mit ganz wenigen Aus-
nahmen den untersten Volksschichten angehörten. Auch hier ver-
weigerte Mancher aus unseligem Vergiftungswahn die ärztliche Hülfe;
doch fielen hier keine Unruhen vor.
In Neapel nahm die Cholera vom 6. August an beständig ab.
Vom 21. Juli bis 21. August starben hier 6018 Personen. In den
letzten zehn Tagen des August starben 752, während in den voran-
gegangenen zehn Tagen 1593 Menschen unterlegen waren. Auch hier
herrschte der schreckliche Vergiftungsglaube. Sogar die Schweizer
Jäger, von denen verhältnissmässig Viele der Seuche erlagen, hatten
sich in den Kopf gesetzt, durch Wein vergiftet worden zu sein und
wollten desswegen alle Tavernenbesitzer umbringen. Es bedurfte der
äussersten Anstrengungen der Offiziere, den drohenden Aufruhr zu
— 2531 —
beschwichtigen. Allerdings mussten die Soldaten, da seit drei Jahren
in Neapel die Traubenkrankheit herrschte, viel verfälschten Wein
trinken, — und die schweizerischen Soldaten in Neap@l sind eben keine
Verehrer der Mässigkeitsvereine. Die Polizei schritt wenigstens gegen
die Verbreiter der Vergiftungsidee energisch ein. Uebrigens war die
Cholera um den 24. August über das ganze Königreich Neapel und
Sieilien verbreitet. In Messina, wo die Seuche zwischen dem 25.
und 31. August ihre Höhe erreichte, herrschte ein Zustand, von dem
man sich nur schwer einen Begriff machen kann; denn hier wüthete
sie mit furchtbarer Heftigkeit. In Einer Woche sollen 5000 Per-
sonen gestorben sein. Aerzte, Geistliche, Wärter, selbst Todtengrä-
ber mussten von Neapel geholt werden. Am 31. August starben 500
Menschen. Auch in Palermo forderte die Seuche ungeheure Opfer.
In der letzten ‘Woche des Augusts soll die Cholera auch auf
der Insel Sardinien ausgebrochen sein. Doch scheint sie dieses Jahr
daselbst nur mässig aufgetreten zu sein, da uns weitere Nachrichten
fehlen.
Um die Mitte Augusts scheinen auch in Mailand drei verdächtige
Erkrankungen mit tödtlichem Ausgange vorgekommen zu sein.
In den Pariser Spitälern wurden seit dem Ausbruche der Cholera
im November 1853 bis zum 27. August 1854 5268 Fälle behandelt,
von denen 2689 mit dem Tode endigten. Man schloss aus dieser
Zahl auf 16,000 Erkrankungen und 8000 Todesfälle in der ganzen
Stadt. — In Strassburg forderte die Cholera, nachdem sie bereits fast
ganz erloschen gewesen, auf’s Neue einige Opfer; um den 23. August
war sie von Neuem verschwunden. Vom 10. Jul bis 23. August
waren 475 Cholerakranke in ihren Wohnungen behandelt worden und
194 in den Spitälern. Von jenen waren 107, von diesen zwei Dritt-
theile gestorben. Auch in Genf waren bis zum 26. August einige
bedenkliche (Cholerine-?) Fälle vorgekommen ; die Stadt war übrigens
voll von Choleraflüchtlingen aus Marseille, Genua und Neapel.
Aus den Vereinigten Staaten erhalten wir nur schr vereinzelte
Nachrichten; doch scheint sich die Krankheit in den nördlichen Thei-
len derselben weit ausgebreitet zu haben. So war sie nicht nur, wie
wir schon früher gesehen haben, in Quebee und Montreal, sondern
auch in Niagara und in Neubraunschweig aufgetreten.
In London nahm die Seuche um den 24. August zu. Vom 8.
Juli bis 19. August waren die Zahlen der wöchentlichen Todesfälle
gewesen : 5; 26; 133; 399; 644; 729. Ausserdem starben sehr
viele Leute an „Diarrhöe“ (v. 12.—19. August 192), welchen Durch-
fall die Londoner Statistik immer von der Cholera getrennt hielt. Vom
—_ 2532 —
19.—26. August starben an Cholera 847 und 214 an Diarrhöe.
Die Seuche zeigte sich um so bösartiger, je tiefer die Wohnstätten
lagen und es kamen äusserst fulminante Fälle vor, in denen die
Befallenen binnen 10 Minuten gesund und todt waren.
Im Norden erchienen um den 24. August einzelne Cholerafälle
zu Stockholm.
In München erkrankten am 23. August 205 und starben 83
Personen; am 24. August sank die Zahl der Erkrankungen auf 115,
die der Todesfälle auf 75; am 25. August stieg die Zahl der Er-
griffenen auf 203, die der Todesfälle blieb auf 75; vom 28. an
nahm die Zahl der Befallenen rasch ab, verhältnissmässig weniger
die der Todesfälle. Die ersteren fielen bis Ende Augusts auf 111,
die letzteren auf 51 —61.
In Augsburg erkrankten vom 23. auf den 24. August 73 und
starben 33 Personen. Bis zum 31. August erhielt sich die Zahl der
Erkrankungen mit Schwankungen fast auf derselben Höhe, die der
Todesfälle schwankte sehr.
In Nürnberg erkrankten am 23. August 9, am 24. August 6,
am 25. August 5, am 27. August 7, am 23. August 14, vom 30.
auf den 31. August 10 Personen. Bis zum 24. August waren hier
105 Menschen erkrankt und zwar auf der dichter bewohnten südlichen
Stadtseite 79; bis zum 31. August waren 173 ergriffen und 84 ge-
storben; daneben waren ebenso viele Cholerinefälle vorgekommen. In
der ersten Hälfte des Septembers nahm die Seuche in München be-
deutend ab; am 1. September zählte man 138 Erkrankungen, am
7. September 83, am 13. September 44; die Zahl der Todesfälle
wechselte sehr, doch nahm sie auch entschieden ab, ebenso in Augs-
burg. Von Ingolstadt hatte sich die Cholera über mehrere Gemeinden
des gleichnamigen Landgerichtsbezirkes mit grösster Heftigkeit aus-
gebreitet; namentlich wurde Geimersheim stark heimgesucht.
In Nürnberg hatte sie am 4. und 5. September ihre Höhe er-
reicht. Bis zum 4. September waren in Baiern am stärksten heim-
gesucht worden die Regierungsbezirke Oberbaiern und Schwaben ®).
In Niederbaiern hatten bis zum 4. September nur vereinzelte verdäch-
tige Fälle stattgefunden. In Unterfranken dagegen war sie in dem
Orte Gräfendorf im Landgerichte Gmünden in grösserer Verbreitung
aufgetreten. In der Pfalz waren bis zum 4. September nur 4 ver-
dächtige Todesfälle vorgekommen, nämlich in Sondernheim.
*) Der Raum ist mir so bestimmt zugemessen, dass ich mich in meinen
Angaben über Baiern nur auf das Allgemeinste beschränken muss.
Um den 10. September begann die Seuche in Wieu zu herrschen.
Auch in Darmstadt kamen (wahrscheinlich in der ersten Woche
des Septembers) vereinzelte Cholerafälle vor, ebenso in Rastatt.
Auf der französischen Östseeflotte scheint die Krankheit in der
ersten Hälfte des Septembers auch noch geherrscht zu haben; bis zum
1. September soll dieselbe 600 Mann an der Cholera verloren und
der „Milan“, eine Dampffregatte, seine Mannschaft bis auf fünf Mann
eingebüsst haben.
In London waren vom 19.— 26. August 847, vom 26. August
bis 2. September 1287, vom 2.—9. September 2050 Menschen an
der Cholera gestorben ; in der Woche vom 9.— 16: September starben
1549 Menschen an dieser Seuche. Uebrigens waren zu dieser Zeit
so ziemlich fast alle grossen Städte Englands und Schottlands von der
Cholera ergriffen, die sich jedoch, London und Glasgow in Schott-
land ausgenommen, nur in vereinzelten Fällen zeigte:
In Spanien nahm die Seuche am 10. September ab; in Barce-
lona hatte sie jedoch noch um den 4. September heftig gewüthet. In
Cadix starben um den 5. September täglich 10 Menschen:
In Westindien wüthete unsere Krankheit um den 12. September
in einigen Theilen Jamaica’s noch immer ziemlich heftig.
In Messina waren am 1. September 550 Menschen gestorben ;
beinahe 1 Prozent der durch Flucht von etwa 84,000 Seelen auf
60,000 Seelen zusammengeschmolzenen Bevölkerung. Auch hier war
natürlich Alles geflohen, was hatte fliehen können, sogar Postbeamte,
Aerzte, Apotheker. Man musste Aerzte u. s. w. von Palermo zu Hülfe
senden. Bäder, Theater, Gerichte waren geschlossen; die Strassen
beinahe leer. Um den 4. September aber scheint die Seuche nach-
gelassen zu haben; die Zahl der Todesfälle war jetzt auf 235 ge-
sunken. Bis zum 13. September waren mit Ausschluss der Garnison
12,000 Menschen in Messina an der Cholera gestorben, Von der
Besatzung soll beinahe die Hälfte umgekommen sein. — In Palermo
hatte die Seuche schon seit dem 22. August bedeutend abgenommen.
Im Ganzen waren hier vom 10. August bis 1. September 4240
Menschen unterlegen , etwa 21/, Prozent der durch die Flucht auf
160,000 Einwohner zusammengeschmolzenen Bevölkerung, und doch
waren hier von den Behörden. zweckmässige Maassregeln getroffen
worden. Die Aerzte lagen muthvoll, rastlos thätig und uneigen-
nützig ihrem schweren Amte ob; die Einwohner aller Klassen be-
nahmen sich einsichtsyvoll und vemünftig, wenn schon auch hier
Manche flohen und man sogar von Personen, die nicht immer den
untersten Schichten angehörten, das Wort „Gift“ vernahni. Unter
Wissenschaftliche Monatsschrift. 16
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der 15,000 Mann betragenden Besatzung, besonders dem über 2200
Mann starken Schweizerregiment, richtete die Seuche arge Verheerungen
an. Letzteres soll gegen 7 %/, verloren haben, was man vor Allem der
Trunksucht dieser Leute und dem Genuss vielleicht unreifer Früchte
und anderer roher Speisen zuschrieb. Uebrigens wurde in Palermo die
öffentliche Ordnung nicht einen Augenblick gestört.
In Neapel belief sich die Zahl der täglichen Todesfälle um den
4. September auf etwa 30; sie betrafen meist früher erkrankte Indi-
viduen. Die Theater waren wieder geöffnet und wurden auch ziem-
lich besucht.
In Rom behielt die Seuche Anfangs Septembers noch immer einen
milden Charakter. In nicht wenigen Fällen hatten sich die Erkrankten
durch Unmässigkeit die Krankheit so recht eigentlich „an den Hals
geworfen“; die Polizei hatte daher den Verkauf der Wassermelonen
u. s. w. untersagt; das Volk strömte nun aber nach den Weingärten
ausserhalb der Thore, um sich an den verbotenen Früchten zu laben,
wesshalb die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle unmittelbar nach
einem Festtage um das Doppelte stieg, Es mussten daher reitende
Gensdarmenpatrouillen abgesendet werden, um die Menge von den in
den Weingärten für Spottpreise feilgebotenen Cocomeri fern zu halten.
Auch jetzt noch erkrankten Viele am Fieber. Um den 11. September
aber nahm die Seuche in Rom zu. Vorher hatten sich nur die Wohl-
habenden entfernt; jetzt begannen auch die Aermeren in Menge zu fliehen
und man verschmähte selbst nicht in Malaria-Orten eine Zuflucht zu
suchen, und merkwürdigerweise waren in keiner Ortschaft, wohin seit
fünf Wochen römische Flüchtlinge geeilt waren, auch nieht innerhalb
der Malariabezirke, Cholerafälle vorgekommen. Die Osterien ausser-
halb der Thore Roms wurden nun geschlossen um den Genuss schäd-
licher Früchte und verfälschten Weines zu verhüten.
Im Grossherzogthum Toscana trat die Cholera sehr milde auf. In
Livorno war der Schrecken viel grösser gewesen, als die Gefahr und
der Schaden; die Cholera hatte hier meist nur unter den unteren Klassen
um sich gegriffen. Um den 4. September war die Seuche hier schon
beinahe erloschen. In den übrigen der Küste nahegelegenen Ortschaften
war die Abnahme noch weniger merklich; doch war sie auch in diesen
mit Ausnahme von Viareggio von Anfang an gelinde aufgetreten. In
Pisa waren am 4. September nur 10 Cholerakranke in Behandlung.
In Florenz waren bis zum 5. September 6 Erkrankungen vor-
gekommen, und zwar in den engsten, unreinlichsten Strassen der Stadt;
sie scheinen sich von da an etwas gemehrt zu haben.
Im Königreich Sardinien nahm die Cholera zu Anfang des Septembers
bedeutend ab; in Genua starben am 3, September nur noch 3 Per-
sonen; in Turin, wo sie jedoch später ausgebrochen war, als in jener
Stadt, kamen am 5. September 31 Todesfälle vor.
Im südlichen Frankreich wüthete die Seuche Anfangs Septembers
noch fort. In Paris war sie schon seit dem August in zwar langsamer,
aber stetiger Abnahme begriffen. Vom November 1853 bis 1. September
1854 waren in ganz Frankreich ungefähr 73,500 Menschen an der
Cholera gestorben; in Paris innerhalb desselben Zeitraumes 6002 Per-
sonen erkrankt und 3075 gestorben. In Strassburg dauerte die Krank-
heit auch noch an; doch forderte sie um den 11. September nur
noch sehr selten ein Opfer. Im Bürgerspitale fanden sich nur noch
höchst wenige Cholerakranke.
Wir kommen nun zur zweiten Hälfte des Septembers,
In München schwankte die Zahl der Erkrankungen vom 14.— 22,
September zwischen 37 und 24, die der Todesfälle zwischen 30 und
13; zwischen 21. und 30, dieses Monats sank die Zahl der Erkrankun-
gen auf 5, diejenige der Todesfälle auf 2 hinunter.
In Augsburg schwankte die Zahl der Erkrankungen vom 14.—30.
Septembers zwischen 48 und 19, die der Todesfälle zwischen 14. und
22. September zwischen 17 und 7; vom 22.30, September fiel die
Zahl der Todesfälle auf 5.
In Nürnberg scheint die Seuche Mitte Septembers erloschen
zu sein.
Am Bodensee sollen sich in dieser Periode Cholerafälle gezeigt haben.
Ende Septembers soll die Krankheit auch in Hamburg, Glückstadt
und Kopenhagen ausgebrochen sein.
In Stockholm, wo schon vom 24. August an einzelne Cholera-
fälle vorgekommen waren, raffte sie um den 15. September täglich
mehrere Opfer weg, besonders unter den ärmeren Klassen. Am 18.
September wurde offiziell bestätigt, dass sie in Stockholm ausgebrochen
sei, und am 2(, September nahm sie zu. — Am 22. September wusste
man von mehreren Fällen, die in der Nähe von Christiania vorge-
kommen waren.
In St. Petersburg begann die Seuche schon Mitte Septembers zu
erlöschen,
In London starben zwischen 16. und 23. September 1294 Men-
schen an der Cholera.
Im nördlichen Irland hatte sie um den 28. September nachge-
lassen und in Dublin und dessen Nachbarschaft ganz zu herrschen
aufgehört ; in Schottland dagegen scheint sie noch besonders hart-
näckig in Glasgow gewüthet zu haben.
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In den Vereinigten Staaten dauerte die Cholera fort. In Pittsburg
raffte sie einmal an Einem Tage 900 Personen weg. Sie scheint über
die ganze Union verbreitet gewesen zu sein.
In Frankreich verminderte sich die Seuche.
In Spanien trat die Cholera noch gegen Ende des Septembers
an manchen Orten mit beispielloser Wuth auf; in Madrid nahm sie ab.
In Italien liess die Seuche nach mit Ausnahme von Rom. In
Messina wurden gegen den 20. September neue Erkrankungen immer
seltener. — Im Königreich Sardinien war die Cholera um den 23.
September bis auf den Bezirk Pignerolo, wo sie namentlich in der Stadt
gleichen Namens mit grosser Heftigkeit aufgetreten war, im Erlöschen.
— In Genua war sie schon am 19. September verschwunden, während
sie zu dieser Zeit in Turin, weder ab- noch zunahm, obgleich die Opfer,
die sie forderte, im Verhältniss zur Bevölkerung kaum nennenswerth
waren. In Genua waren vom 23. Juli bis 16. September 2608 Per-
sonen an der Cholera gestorben. — In Rom dagegen machte die
Seuche trotz des schönsten‘ Wetters, ungeachtet ein erystallheller Tag
auf den andern folgte, um den 16. September immer noch Fortschritte;
auch am 18. September war die Zahl der Erkrankungen, wenn sie
auch Schwankungen machte, doch noch immer im Steigen. Nach dem
25. September aber, nachdem 2—3 Tage ein heftiger, kalter Orkan
geherrscht hatte, fiel die Zahl der Todesfälle auf etwa 15 täglich;
doch soll diese Angabe nach Privatangaben um die Hälfte zu klein
gewesen sein. Mehr als früher zeigte sich die Krankheit um den 25.
September in den Klöstern; indessen kamen verhältnissmässig die
meisten Todesfälle im französischen Lazarethe vor.
Gehen wir nun zur ersten Hälfte des Octobers über, so finden
wir, was zunächst Baiern betrifft, die Cholera zu Anfang des Monats in
München erloschen. Zu Augsburg erkrankten am 1. October noch 5
Personen und starben 3. Am 5. October löste man die letzten Besuchs-
anstalten auf. Von 3600 seit dem 6. August Erkrankten waren nahezu
1200 gestorben. In Augsburg waren die wohlhabenderen Klassen zuerst
und erst später die ärmeren Einwohner heimgesucht worden. Um den
10. October wurde in Augsburg die Cholera als erloschen erklärt.
Um den 8. October war die Seuche auch in Nürnberg im Erlöschen
begriffen. Seit dem 8. August waren 536 Personen erkrankt und 289
(meist rasch) gestorben.
In dieser Periode kamen auch in Berlin noch Cholerafälle vor.
In Wien hatte sich die Cholera um den 5. October schon ziem-
lich verbreitet; es waren bereits 290 Erkranknngen und 138 Todesfälle
vorgekommen. Bis zum 7. October hatten sich die meisten Erkrankungen
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in den Vorstädten Mariahilf, Leopoldstadt und Schottenfeld ereignet.
Vom 7.—8. October zählte man 60 Todesfälle. — Im Innthal, wo
die Krankheit bisher noch nie aufgetreten war, waren bis zum 7. October
vereinzelte Fälle vorgekommen.
In London sank die Zahl der Todesfälle auf 750 in der Woche,
In Madrid war die Seuche um den 8. October beinahe er-
loschen.
In den sardinischen Provinzen nahm sie um den 4. October fort-
während ab; nur in Turin wollte sie noch immer nicht weichen.
Selbst am 12. October hatte sie diese Stadt noch nicht verlassen.
In Livorno feierte man um den 12. October ein Dankamt für das
Aufhören der Epidemie, obgleich sie noch keineswegs ganz erloschen
war; doch hatte die Stadt wieder ihr gewohntes Aussehen angenommen.
In Rom war die Zahi der Erkrankungen um den 2. October
wieder verhältnissmässig grösser, als sie in den leztvorangegangenen
Tagen gewesen war, was die Aerzte dem Leichtsinne zuschrieben,
womit Viele, welche die Krankheit, weil sie nachlassen zu wollen
schien, als nicht mehr vorhanden betrachteten, ihrer Ess- und Trink-
begierde rücksichtslos den Zügel schiessen liessen. Um den 9. October
aber ging die Krankheit doch auch hier ihrem Erlöschen entgegen. —
Dagegen scheint sie sich in den übrigen Theilen des Kirchenstaates
in der ersten Hälfte des Octobers noch mehr ausgebreitet zn haben.
So erschien sie in der Stadt Recanati (Delegation Macerata) und
deren Umgegend, in Palestrina (Delegation Rom) und dem nahen
Zagarolo, Veroli, sowie anderen Orten der Delegation Frosinone.
In der zweiten Hälfte des Octobers finden wir in Deutschland
die Cholera fast nirgends mehr, Nur in Canstatt kamen eine Anzahl
Erkrankungen vor. Am 22, October waren hier sechs Erkrankte
in Behandlung; doch waren es nur vereinzelte Fälle, die sich fast
nur auf zwei Häuser beschränkten. — In München hielt man am 17.
“ October ein a Dankamt für das Erlöschen der Cholera. —
Dagegen brach die Seuche um den 28. October in Ulm aus.
In Wien nahm sie in dieser Periode immer mehr überhand;
besonders am 14. und 15. October fand ein starker Zuwachs von
Kranken Statt. Bis zum 15. October waren bereits 1333 Personen
ergriffen und 556 gestorben. Doch war die Seuche selbst bis zum
20. October (40 Tage nach ihrem Ausbruche) noch keinesweges in
allen Theilen der Stadt „epidemisch“ — verbreitet. Der bei weitem
grösste Theil der bisher gefallenen Opfer gehörte den westlichen und
südwestlichen Vorstädten und der inneren Stadt an; die südlich ge-
legene Vorstadt Wieden und die östliche Vorstadt Landstrasse waren
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bis jetzt fast gänzlich verschont geblieben. Selbst in den ergriffenen
Bezirken hatte sich die Seuche sprungweise auf kleinere Kreise und
einzelne Strassen ausgebreitet und gewisse Häuser der inneren Stadt,
wie das Trattner'sche am Graben, hatten durch die Menge und den
meist tödtlichen Ausgang der darin fast gleichzeitig vorgekommenen
Erkrankungen eine traurige Berühmtheit erlangt. Am 20. October stieg
die Zahl der Erkrankungen noch immer; doch war der Verlauf und
Ausbruch jetzt weniger stürmisch, die Krankheitsform in der Regel
gutartig. Am 21. October war der Zuwachs besonders beträchtlich, da
210 neue Erkrankungen vorkamen. Diese Vermehrung schien indessen
grossentheils daher zu rühren, dass die Epidemie sich in den letzten
Tagen einiger bis dahin noch nicht ergriffener Bezirke bemächtigt
hatte. Schon am folgenden Tage trat ein Nachlass ein, Vom Aus-
bruch bis zum 29. October waren 3222 Personen erkrankt und 1055
gestorben.
In London war die Zahl der Todesfälle an „Cholera“ auf 249
und 163 (in der Woche) gesunken.
In Stockholm erkrankten vom 15.— 21. October 89 Personen ;
jedoch war die Epidemie um den 21. October bereits bedeutend in
der Abnahme begriffen.
In Spanien wüthete die Seuche besonders in Corunna und zwar
in furchtbarer Weise, hauptsächlich in den höheren Ständen, in den
Gefängnissen und Casernen; die Todten blieb en in den Häusern liegen
weil Niemand da war, um sie zu begraben.
In Rom war die Cholera um den 17. October, wie man meinte,
bereits bis auf die Erinnerung verschwunden und man hatte am 22.
eben das dreitägige Dankamt für ihr Erlöschen beendigt, als sie sich
in mehreren Stadttheilen von Neuem zeigte. Dieses Wiederaufleben
schien mit dem eingetretenen Wechsel der französischen Gamison im
Zusammenhange zu stehen, denn als einige Tage zuvor zwei Bataillone
des 14. und 21. Infanterieregimentes aus Civita Vecchia eingetroffen
waren, hatten sich gleich darauf unter diesen neuen Truppen fünfzehn
Erkrankungen gezeigt, und alsbald hatte man auch von neuen Eı-
krankungen in der Stadt gehört; doch verliefen diese Fälle, die ver-
einzelt blieben, fast alle günstig.
Mit dem Schlusse des Octobers werlen die Notizen über die
Cholera immer spärlicher, und wir können schon daraus entnehmen,
dass ihre Herrschaft fast allenthalben ihrem Ende entgegenging. Nur in
einzelnen Städten, die erst später befallen worden waren, sehen wir
sie noch ihre Opfer suchen. — Wie das Feuer zuerst einen leichten
Stoff rasch verzehrt, dann allmälig die Flamme erlischt, das Feuer
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aber doch noch immer in der halbverbrannten Kohle von Stelle zu
Stelle kriecht und immerfort glimmend die letzten Restehen des Stoffes
vollends in Asche verwandelt, so ergreift die Cholera zuerst fast mit
Einem Schlage einen grossen Ländercomplex, ja einen Erdtheil an den
verschiedensten Stellen und sucht dann, nachdem sie die Gegenden
oder Orte, die ihr den empfänglichsten Brennstoff geboten, verheert
hat, immer noch weiter kriechend, gleich glimmendem Feuer, die Orte
auf, deren Bewohner mit grösserer Resistenzkraft begabt waren, bis
endlich auch dieser Brennstoff verzehrt ist.
In Baiern kamen im November in der Pfalz, Oberpfalz, Unter-
und Oberfranken keine neue Erkrankungen mehr vor; wohl aber in
Mittelfranken, in Schwaben, Nieder- und Oberbaiern (304 Erkrankungen
und 185 Todesfälle, wovon auf München 133 Erankungen und 93
Todesfälle trafen). In München ereigneten sich noch bis zum 24. De-
cember einzelne Todesfälle. Im Ganzen starben hier im, December noch
32 Personen an der Cholera. Die letzte Erkrankung hatte am 13. Januar
1855 Statt.
In Wien erkrankten am 2. November 112% und starben 30 Per-
sonen; bis zum 3. November waren 3864 Personen befallen und 1244
gestorben. Um den 11. November begann die Cholera abzunehmen.
Im Ganzen war kein namhafter Bezirk der Stadt verschont geblieben.
Die später ergriffenen Vorstädte hatten naeliträglich ein ziemlich star-
kes Contingent zu den Opfern geliefert. Uebrigens scheinen die Wiener
die Italiener in ihrer Furcht einigermassen nachgeahmt zu haben. Die
Angst war „epidemisch“, die Muthigen waren. nur „sporadische Er-
scheinungen“. Eine nicht unbedeutende Zahl den wohlhabenden Classen
angehörender Familien, die eben am Schlusse: der Sommersaison vom
Lande zurückgekehrt waren, machten sofort „Kehrt um !“, als sie die
Stadt von der Seuche ergriffen sahen, und: Andere suchten nun erst
ein Asyl auf dem Lande gegen den bösen Feind. Die Theater waren
wenig besucht, die Bierhäuser ziemlich verwaist; in den Kaffeehäusern
fand man nach 10 Uhr Abends nur noch wenige Gäste. Die Ehe-
männer und Junggesellen entwickelten auf Ein Mal einen grossen Sinn
für Häuslichkeit; Frauen und Männer, die Wochen lang nicht aus-
gingen, oder deren Nahrung zumeist aus Präservativmitteln bestand,
begegneten dem Arzte in der Praxis alltäglich.
In Ulm erlosch die Seuche um die Mitte des Novembers.
Während die Krankheit in Deutschland allenthalben aufhörte, drang
sie noch in der zweiten Hälfte des Decembers in Böhmen ein; doch
trat sie nur in vereinzelten Fällen auf. Zuerst ereigneten sich mehrere
Fälle im Budweiserkreis; dann kamen auch in Prag und dessen Um-
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gebungen solche vor; ferner brach sie unter den Arbeitern an der
neuen Kohleneisenbahn in Kralup aus.
In Westindien erreichte die Cholera im December ihr Ende.
In Marseille war die Seuche schon Ende Oectobers gänzlich
erloschen.
In Turin nahm sie um den 5. November langsam, aber doch
stetig ab.
In Savoyen scheint die Cholera noch nicht ganz verschwunden ge-
wesen zu sein, da sie in Chambery um den 5. November noch zunahm.
In Rom wurden die Erkrankungen unter der eigentlichen römi-
schen Bevölkerung um den 11. November immer seltener. Im Hospital
San Spirito lagen fast nur Landleute, die aus ihren infieirten Woh-
nungen nach Rom geeilt und hier von der Seuche befallen worden
waren; dagegen kamen in Tivoli und höher hinauf im Gebirge, nach
der neapolitanischen Grenze hin, noch vereinzelte Erkrankungen vor.
Auch in einigen Orten im Inneren von Toscana, wie in Pistoja,
dauerte die Seuche noch fort.
Auf den nach Amerika eilenden Schiffen ereigneten sich im
November noch sehr viele Fälle. — In dieser Beziehung werden
einzelne sehr interessante Thatsachen erzählt, die ich nicht gern über-
gehen möchte. Zwei Linienschiffe fuhren von Bremerhaven, wo der
Gesundheitszustand nichts zu wünschen übrig liess, in See. Unterwegs
erschien auf beiden die Cholera. Auf 8 in den letzten Octobertagen
in New-York eingelaufenen Schiffen, die aus Havre, Rotterdam und
Liverpool kamen (von welchen Städten wenigstens Rotterdam bestimmt
gesund gewesen sein soll), starben nicht weniger als 213 Passagiere
auf hoher See an der Seuche. Auf dem Schiffe „Südearolina* von
Rotterdam kamen 50 Todesfälle vor. Auf sämmtlichen Schiffen brach
die Krankheit ganz plötzlich aus, raffte eine Anzahl Menschen weg
und verschwand nachher wieder wie im Nu. — Zwei Schiffe, die
nicht nebeneinander segelten, wurden genau unter derselben Breite
und Länge von der Seuche befallen. Es wird aber hervorgehoben, dass
auch zwei Schiffe neben einander fahren können, ohne dass das gesunde
von dem angegriffenen angesteckt wird, wenn zwischen beiden ein
scharfer Wind weht. Zuweilen werden Schiffe zu ganz verschiedenen
Zeiten an derselben Oertlichkeit im Ocean von der Seuche ergriffen,
. _— —. N
nn —
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GESCHICHTE DER RÖMISCHEN LUXUS-GESETZGEBUNG.
Von H. DERNBURG.
Worin liegt das Geheimniss der Grösse Roms ? warum erlahmten
unter seinem Arm die Staaten und zerbröckelten unter seinem Tritt
die Nationalitäten zu Staub? woher stammt die Macht des römischen
Geistes, die dem Erdball ihr Gepräge aufdrückte? Nie wird eine
Antwort diese Frage völlig erschöpfen. Vollends wäre es Thorheit
zu hoffen, dass uns ein Wort, gleich einem Talisman, die Tiefe er-
schliessen könne ?
Doch einzelne mächtige Pfeiler, anf denen der Bau ruht, entdecken
sich unschwer dem Auge. Vor Allem ist es die Selbstbeherrschung,
deren der Römer fähig war, die er übte, wodurch Rom gross wurde.
Sie blieb ein Erbtheil der Ahnen bis in Zeiten der Verderbniss hinein.
Es ist nicht bloss Blasirtheit, wenn Sulla, nachdem er im Besitz der
unumschränkten Macht war, dieselbe niederlegt und ruhig als Privat-
mann vom Marktplatze nach Hause geht; es ist nicht bloss Schwäche,
wenn Pompejus, nachdem er aus dem mithridatischen Krieg zurück-
kehrt und die Herrschaft in seiner Hand liegt, ohne weiteres zu
Brundisium seine Legionen entlässt.
Daneben steht als Grundlage römischer Grösse das System der Frei-
heit, der Selbstherrlichkeit des Einzelnen, welches Recht und Verfassung
durchzieht. Mit allem Recht wird in neuester Zeit auf diesen Grundzug
der öffentlichen Einrichtungen in Rom von den geistreichen Forschern
in unsern Gebieten das grösste Gewicht gelegt. Weder im öffentlichen
Recht noch im Privatrecht findet sich ein ängstliches Bevormunden,
ein kleinliches Zuschneiden von Rechten und Gewalten, wie dies schwä-
. eheren Zeiten räthlich scheint. — Die Befugnisse des Magistrats sind
gesetzlich masslos weit: er selbst setzt sich seine Schranken nach Lage
der Dinge. Kein Hofkriegsrath schreibt dem Imperator, der im Felde
steht, seine Massregeln vor; keine Ephoren oder Nobili begleiten ihn,
um, etwa wie in Sparta oder Venedig, seine Schritte zu überwachen.
Auf seinen Schultern liegt die Verantwortung allein. Daher finden sich
so häufig gewaltige Fehler, aber auch gewaltige Thaten; es bilden sich
Charaktere und zuletzt bleibt der Sieg stets Rom. Noch entschiedener
ist das System der Selbstregierung in privatrechtlichen Dingen durch-
geführt. Der Römer verfügt unbedingt über Alles was ihm gehört, er
schaltet völlig frei über Haus und Hof, die Person seiner Sklaven,
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seiner Schuldner, seiner Kinder. Er kann sie verkaufen, ja tödten.
Er kann im Leben das Stammgut veräussern, nach seinem Tod sein
Vermögen vergeben wem er will, selbst Sohn und Enkel enterben.
Aber daneben, und es ist grade heutzutage einer gewissen Ein-
seitigkeit gegenüber nothwendig dies zu betonen, ist wieder die Re-
pression gegen Ausschreitungen, die nicht zu dulden scheinen, gewaltig,
rücksichtslos. Unbedingt steht die Sorge für die Gesammtheit erhaben
über dem Privatwohl. — Nur schwer, nur langsam entschliesst sich
die römische Gesetzgebung die persönliche Freiheit zu beschränken.
Wo aber das Recht des Bürgers dem Gemeinwesen gefährlich zu
werden droht, wo die Selbstbeherrschung des Einzelnen nicht ausreichend
befunden wird, da schreitet die Gesetzgebung auf’s energischste ein.
Jene Unbedingtheit, die das Individuum frei gewähren liess,
verwandelt sich dann in Schonungslosigkeit, welche die äusser-
sten Mittel nicht scheut. So steht neben der grössten Freiheit das
drückendste Machtgebkot.
Das zeigt sich recht bei der Gesetzgebung über den Luxus. Es
ist nicht unangemessen dieselbe grade in jetziger Zeit in ihrer Ent-
wicklung etwas genauer zu verfolgen, damit die Rechtsgeschichte nicht
über Betrachtung der einen Seite die andere ausser Augen verliere.
Auch kennen wir keine Bearbeitung, die des Gegenstandes nur einiger-
massen würdig wäre *).
Versetzen wir uns zuvörderst in die gute, alte Zeit der 12 Tafeln.
Eng sind die Gränzen des Staates, in wenig Stunden zu erreichen.
Noch hat man für das Nothwendige zu sorgen, für das Ueberflüssige
ist weder Geld noch Zeit da, noch bietet die Bauernrepublik dem
Leichtsinnigen wenig Verführung. — Doch einem notorischen Ver-
schwender tritt man bereits gegenüber und sorgt wenigstens theilweise
für seine Kinder. Der Prätor kann ihm die Veräusserung des ererbten
Vermögens untersagen und ihn von Handel und Wandel ausschliessen.
Weil du dein väterliches und ererbtes Vermögen verschwendest, lautete:
*) In früherer Zeit waren die leges sumtuarie beliebter Gegenstand juristischer:
Dissertationen. Sie bleiben noch unter dem Niveau dieses Genre von. Schriftstel-
lerei. — Ich kenne Trescherus persuasoria legum sumt. 1694. Wo möglich noch
nnbedeutender: Quintelius de leg. sumt. 1724. — Besser: Platner 2 Abh. 1752.
de leg. sumt. — van Assendelef de legibus sumtuar. 1755. — Sehr unbedeutend
auch Wolffhardt de leg. eibariis post legem Fanniam 1737. Aus neuerer Zeit
kenne ich Roscher in einer Abhandlung über den Luxus in Rau's Archiv. —
Vielleicht existirt das Eine oder Andere von philologischer Seite, was mir un-
bekannt blieb, für welchen Fall ich um Entschuldigung bitte.
a —
die Formel, und deine Kinder in Dürftigkeit stürzest, desswegen unter-
sage ich dir die Verfügung über dein Vermögen und freien Verkehr.
(Paul rec. sent. III, 4a $ 7).
Es ist merkwürdig und in den Rechtsgeschichten nicht gehörig
hervorgehoben, dass selbst den Verschwender ursprünglich Niemand
entziehen konnte, was er sich selbst erworben hatte. Der Krieger, der
den Beuteantheil erhalten hatte, durfte daher das leicht Gewonnene,
wie er wollte, wieder vergeuden. Auch in Bezug auf das, was dem
Verschwender nicht durch gesetzlichen Erbgang, sondern durch Testa-
ment zugefallen war, sollte sich der Staat ursprünglich nicht einmischen.
In einem Punkt traten aber sogar schon in jener Zeit Polizei-
bestimmungen dem Luxus sehr bestimmt und speziell entgegen. —
Je nüchterner ein Volk in gewöhnlichen Zeiten lebt, desto ausgelasse-
ner begeht es seine seltenen Feste, und dazu werden in alter Zeit
immer Leichenbegängnisse gerechnet. Es ist als wolle man sich ent-
schädigen für die lange Entbehrung und grade die Trauer über ein
schmerzliches Ereigniss durch das Extrem bekämpfen. Das erste Luxus-
gesetz, das in Deutschland nöthig schien, richtet sich daher gegen die
prassenden Gelage bei Leichenbegängnissen, „die sich mehr zu Hoch-
zeiten als zn Trauerbegängnissen eigneten* (Worms 1220). Auf den
gleichen Gegenstand bezieht sich das erste römische Verbot, das sich
in den 12 Tafeln findet und der solonischen Gesetzgebung entnommen ist.
Diese bestimmen (Cie. de leg. II, 23), die Holzscheite zum Schei-
terhaufen sollen nicht erst mit der Axt geglättet werden; nur mit drei
Kleidern und Papierstreifen, nur mit zehn Flötenbläsern soll man den
Todten hinaustragen. Die Weiber sollen sich die Wangen nicht auf-
kratzen und kein Klagegesehrei erheben. Es soll nicht — es war dies
ein sehr charakteristischer Unfug — zweimal die Leichenfeier statt-
haben. Das Salben durch Sklaven (servilis unetura?) und alles Rundtrin-
ken wird verboten. Kostbare Besprengung durch mit Myrrhen versetzten
Wein (Fest. v. murrata), lange Kronen, Weihrauchkästehen werden
untersagt. Jedoch wenn sich Jemand selbst eine Krone verdient hat
oder durch sein Besitzthum (durch seine Sklaven oder seine Pferde)
gewann, so hat er selbst, so wie auch seine Erzeuger, das Recht mit
der Krone ohne Gefährde sowohl im Haus als auch beim Leichenzug
geschmückt zu werden (Plin. hist. nat. 21 e. 5). Gold soll dem Todten
keins auf den Weg gegeben werden. Wenn aber Jemanden — eine
sehr merkwürdige Bestimmung für jene Zeit — die Zähne mit Gold
befestigt sind, so darf man ihn damit ohne Gefährde verbrennen und
begraben.
Aehnliche Bestimmungen wurden noch in weit späterer Zeit, wie
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wir gleich jetzt bemerken, in Bezug auf Bestattungen für nöthig ge-
halten. So hatten später die Aedilen ein Edikt über die Leichenbe-
gängnisse aufgestellt. Und nur in seltenen Fällen, wenn Männer von
grösstem Verdienst beerdigt wurden, beschloss der Senat, dass davon
zu dispensiren sei. Dies geschah z. B. auf den Antrag Cicero’s beim
Leichenbegängniss des Sulpieius Rufus (Cie. Phil. IX, 7).
Aufwand bei Leichenbegängnissen ist etwas echt nationelles.
Der Ehrgeiz, der in der Brust eines jeden Römers flammend lebte,
trieb ihn, trieb seine Kinder noch nach dem Tod sein Gedächtniss
wach zu halten. Daher stammte denn auch die, an und für sich nicht
unedle, Sitte Schaaren von Sklaven freizulassen, die dem Leichenzug
mit dem Hut auf dem Kopf folgten, als lebende Zeugen der liberalen
Gesinnung des Verstorbenen. Die Sache wurde zu solchem Excess
getrieben, dass unter Augustus Beschränkungen nöthig schienen und
das Furisch-Caninische Gesetz unter anderem als Maximum der testa-
mentarischen Freilassungen die Zahl hundert feststellte (Gaj. I, 42).
Nicht ganz ist bei Darstellung der alten Zeit, zu der wir zurück-
kehren, zu übergehen, dass damals Weintrinken der römischen Frau
nicht nur als Fehler, sondern als todeswürdiges Verbrechen zugerechnet
wurde. Wehe ihr, wenn sie dem Mann die Kellerschlüssel entwandt.
Sie wurde vom Hausherrn mit Zuziehung der Verwandten gerichtet
und litt unbarmherzig den Hungertod. Dies änderte sich freilich in
späterer Zeit. Da war es nicht mehr Mode, dass eine Dame von
Welt nur ätherisch am Glase nippte, sie musste an den materiellen
Genüssen Theil nehmen und sich ordentlich darauf verstehen. Aber
noch der alte Cato polterte, das Recht, das jeder Vetter zu Rom hatte,
seiner Base zur Begrüssung einen Kuss zu geben, habe keinen andern
Zweck gehabt, als zu riechen, ob sie Wein getrunken habe. Das haben
dann Philologen alter und neuer Zeit für baare Münze angenommen
und ruhig nacherzählt.
Die einfachen Verhältnisse Roms entwickelten sich schnell und
in grossartigem Maasse. Man unterwarf sich Unteritalien und die Sitze
griechischer Ueppigkeit und Verschwendung. Der Kern der Nation
blieb davon unberührt. Zu erwerben, nicht zu geniessen war noch
das Ziel. — Wer sich versucht fühlte von alter Strenge und Tüch-
tigkeit abzuweichen, dem drohte das Ehrengericht des Censors. Freilich
konnte derselbe nur Rügen und Minderungen politischer Rechte aus-
sprechen; aber bei einer so ehrgeizigen und stolzen Bevölkerung war
dies genügend, auch den Leichtsinnigsten in Schranken zu halten. —
Dabei nahm der Censor auf die intimsten Privatverhältnisse Rücksicht,
es galt als seine Aufgabe, die ganze Persönlichkeit des Bürgers zu
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schätzen. Wer daher seinen Acker verwildern liess, ihn nicht eultivirte,
pflügte und reinigte, wer sich um seine Bäume, um seine Weinstöcke
nicht kümmerte, der wurde bestraft und unter die Aerarier versetzt
(Gell. IV, 12. Plin. 18, 3). Ja im Jahr 479 stiessen die Censoren
den P. Cornelius Rufinus, der zweimal Consul und Dictator gewesen
war, aus dem Senat, angeblich weil er 10 Pfund Silber zum Tafel-
geschirr verwendet hatte (Gell. XVII, 21); — eine Geschichte, die
den spätern Römern viel Stoff zu Declamationen gegeben hat.
Doch die Zeit kam, in der die Mahnungen der Censoren nicht
mehr genügen sollten. Die Zeiten des zweiten punischen Kriegs, der
entscheidend für die äussern Geschicke der Republik war, sind wie
uns scheint, auch ein Wendepunkt gewesen für ihre innere Geschichte.
Wohl erinnern wir uns an die ruhmreiche Standhaftigkeit, das gross-
artige Vertrauen, das sich die Besten Roms in den schlimmsten Lagen
erhielten und wodurch sie das Vaterland retteten. Doch nicht auf
Alle machte das Unglück jener Tage den gleichen Eindruck. Wenn
eine schreckliehe Pest wüthet und verheerend Alles hinzuraffen droht,
emancipirt sich die Masse oft von den Schranken, in denen sie sich
bisher bewegte; so suchten auch damals Viele im Genuss des Augen-
blicks die drohenden Gefahren zu vergessen. Einzelne gelegentlich
angeführte Züge beweisen, was die patriotischen Geschichtschreiber
gern verschweigen; sie beweisen aber auch mit welcher Energie man
damals einschritt.
Ein Banquier, L. Fulvius, wurde in jenen trüben Zeiten beschul-
digt mit einem Rosenkranz auf dem Haupte, den er wohl zechend
aufsetzte, am lichten Tage aus seinem Comptoir auf das Forum hinaus-
gesehen zu haben. Er wurde nach eingeholtem Senatsbeschluss in’s
Gefängniss geworfen und darin bis zur Beendigung des Kriegs fest-
gehalten (Plin. lib. 21 e. 6).
Damals im Jahr 539 der Stadt (Q. Fabio Tit. Sempronio ess.
Liv. 34, 1) im Jahr nach der verhängnissvollen Schlacht bei Cannae,
nach dem Abfall Campaniens und Unteritaliens wurde auch das Oppische
Gesetz gegen den Luxus der Frauen erlassen. — Gern verweilen die
Historiker dabei, wie in den Tagen der Noth Senat und Ritter ihr Silber
dem Staatsschatz zuschiekten, wie die Matronen ihren Schmuck darbrach-
ten, um die erschöpfte Kasse zu füllen. Doch nicht Alle müssen den
patriotischen Aufschwung getheilt, nicht Alle den Ernst der Zeit be-
griffen haben. Sonst hätte nicht das überaus strenge Gesetz nothwendig
geschienen, welches verordnete : Dass keine Römerin mehr als eine
halbe Unze goldnen Schmuck habe (etwa ein Loth), dass keine bunt-
farbne Kleider trage, dass keine zu Stadt und Dorf und im Umkreis
— 266 —
einer römischen Meile zu Wagen fahre, ausser wegen öffentlicher
Opfer.
Zwanzig Jahre später gab dieses Gesetz Veranlassung zu heftigen
Kämpfen. Um ihre unmittelbare Veranlassung und geheimeren Trieb-
federn zu verfolgen, müssen wir einen Blick auf die Stellung der
politischen Parteien werfen, die während des zweiten punischen Kriegs
entstanden waren.
Mitten im Getümmel des Krieges bildete sich mehr und mehr
eine Partei, die sich griechischer Aufklärung und Sitte zuneigte und
von der nüchternen Sittenstrenge der Vorfahren abwich; an ihrer
Spitze stand der geniale Seipio. Die Opposition der Altgesinnten war
heftig und verbittert durch die Eifersucht auf den grossen Gegner.
Q. Fabius, der Zauderer, galt als ihr Haupt; entschieden hatte sich
an sie angeschlossen M. Poreius Cato.
Seipio war in Sieilien und bereitete die Expedition nach Carthago
vor, Cato begleitete ihn als Seckelmeister. Seipio war, nach seiner
Weise, nachsichtig und liberal gegen die Soldaten und kümmerte sich
nicht um die Vorstellungen Cato’s, dass er das Heer corrumpire. Ich
werde dem römischen Volk von meinen Thaten, nicht von meinen
Ausgaben Rechenschaft geben, meinte er (Plut. Cato maj. e. 3).
Da kehrte Cato nach Rom zurück und setzte durch seine Berichte
über die Verschwendung Seipio’s, seine Ueppigkeit, sein Herumlungern
in Ringschulen und Theatern Himmel und Hölle in Bewegung, so
dass Volkstribunen nach Sieilien zur Untersuchung geschiekt wurden.
Sie fanden indessen die Rüstungen in Ordnung, Seipio segelte nach
Afrika und erzwang Sieg und Frieden.
Sieben Jahre später (559 n. R. E.) wurde Cato zum Consul ge-
wählt. Und unmittelbar darauf beantragten die Tribunen Fundanius
und L. Valerius Abschaffung des vor 20 Jahren erlassenen Gesetzes
über den Schmuck und die Kleidung der Frauen. — Die Zeit war
nieht schieklich gewählt; man wusste, dass der Consul sich opponiren
werde. Allein offenbar war der Zweck des Antrags grade der, dem
Consul, dessen Wahl man nicht hatte hintertreiben können, malieiöser-
weise Schwierigkeiten zu schaffen. Entweder musste er seinen Grund-
sätzen untreu werden, oder er konnte der Unpopularität, der sichern
Niederlage nicht entgehen,
Die Republik gerieth in eine wunderbare Agitation ; unübertrefflich
hat hier Livius geschildert (Liv. 34 ce. 1). Einige Tribunen widersetzten
sich dem Vorbringen des Gesetzesvorschlags. Die angesehensten Männer
stritten sich vor den anwachsenden Volksmassen für oder gegen das
Gesetz. Eine erregte Menge füllte den Markt. Die Frauen liessen sich
— 267 —
nicht zurückhalten, in Masse waren sie auf die Strasse herabgestiegen
und nahmen Theil an der Discussion. Sie versperrten die Zugänge
zum Marktplatz und flehten die Männer an um Abschaffung des ver-
hassten Gesetzes. Ihr Zudrang wurde täglich grösser, sie eilten herbei
von den Dörfern, vom Land her. Schon nahten sie sich ohne Scheu
den Consuln und drängten die Liktoren sammt Ruthen und Stecken
zur Seite.
Indessen der Consul M. Porcius Cato war nicht der Mann, der
einem solchen Sturm wich. Ihn bewegte nicht die Gunst der Frauen.
Der rothhaarige, grünäugige, bissige Cato, hiess es von ihm, sei so
hässlich, dass ihn nicht einmal Proserpina in die Hölle aufnehmen
werde. Die Fehler wie die Vorzüge des ächten Römers traten in
diesem Mann, der der Träger und die Seele der Repressivmassregeln
dieses Zeitalters war, in starkem Licht hervor. Er sagte oft: Göttlich
ist der Mann, der für seine Kinder mehr hinzuerwarb, als er ererbt
hat. Für das, was nicht nothwendig sei, auch nur einen Heller zu
depensiren, war Sünde in seinen Augen. Unbefangen ertheilt er den
Rath, die Sklaven, so lange sie arbeiten könnten, ordentlich zu
halten, wenn das Alter komme, sie rasch zu verkaufen — wie jetzt
ein Kutschpferd — damit man sie nicht füttern müsse. So liess er
denn auch das Streitross, das ihn in Spanien zu Schlacht und Sieg
getragen hatte, dort zurück, damit es die Republik nicht zu ernähren
brauche. Am meisten ärgerten ihn drei Dinge: dass er einmal un-
nöthigerweise zur See statt zu Land fuhr, dass er einmal einer Frau
ein Geheimniss vertraute und dass er einmal einen Tag lang müssig
war. Er war ein guter Hausvater, brummte aber dabei, es sei viel
schwerer ein guter Ehemann zu sein, als ein grosser Staatsmann. Er
suchte eine nationalrömische Litteratur zu gründen, seine Verdienste
darum sind bekannt. Er hasste und verachtete das Griechenthum, das
die neuen windigen Moden brachte, wie etwa ein ehrsamer Patrieier
einer deutschen Reichsstadt im vorigen Jahrhundert Franzosenthum und
Franzosen hasste. Alles dies machte ihn bei den soliden Bürgern populär
und imponirte den Frivolen und Leichtfertigen. Heute aber war sein
Ansehen vergebens, vergebens rief er dem Volke zu: „Alle Menschen
regieren ihre Weiber, wir regieren alle Menschen, wir selbst aber
lassen uns durch unsere Weiber regieren.“ (Plut. Cato maj. ec. 8).
Die Frauen belagerten die Thüren der Tribunen, welche sich
dem Vorbringen des Gesetzesvorschlags widersetzten; endlich gaben
diese nach. Das Volk wurde zur Abstimmung berufen. Alle Tribus
stimmten für Abschaffung des Gesetzes. Es hatte nur zwanzig Jahre
gedauert und nie mehr wurde ein Gesetz erlassen, wodurch man direkt
— 268 —
in die Sphäre des weiblichen Putzes, in dem Schönheit und Geschmack
allein den Scepter zu führen hat, eingrif. — Ein Hauptgrund der
Abschaffung des Gesetzes war, dass es den Bewohnerinnen der be-
nachbarten latinischen Städte nicht verwehrt war in Gold und bunten
Kleidern umherzustolziren. Es verdross die Römer nicht wenig, dass
die Frauen der Herrscher der Welt den Bundesgenossinnen nach-
stehen sollten.
Cato war wüthend über diese Niederlage. Er legte sein Haupt-
quartier sofort aus der Stadt und schiffte mit Flotte und Landheer
nach Spanien, dessen aufrührerische Bevölkerung er unterwarf. Als
er siegreich zurückkehrte, begann er mit erhöhtem Nachdruck den
Kampf gegen Corruption und Verschwendung.
Indessen führten die Seipionen die römischen Legionen (564 d. St.)
in die reichen Länder Kleinasiens. Ungeheure Schätze fielen in die
Gewalt der Sieger. Mit Beute beladen, kehrten sie zurück. Sie hatten
die Genüsse einer überreifen Civilisation kennen gelernt und ergaben
sich ihnen mit Leidenschaft (Liv. 36 ce. 6). Das Werk der Eroberung
schien gethan, die eivilisirte Welt lag zu den Füssen der Römer, kein
Feind war mehr zu fürchten. Die Zeit des Genusses brach an. Wohin
das aber führte, zeigte bald der Baechanalprozess (568), der die greu-
liehsten Schandthaten eines wahnwitzigen Muckerthums enthüllte.
Mit aller Leidenschaft stemmte sich dem neuen Geist Cato ent-
gegen. Es gelang ihm für das Jahr 570 mit seinem alten Freund und
Gesinnungsgenossen L. Valerius Flaeeus Censor zu werden. Er verfuhr
mit beispielloser Heftigkeit. Dem Lucius Scipio, dem Bruder des Afri-
canus, nahm er sein Ritterpferd. Sieben Senatoren stiess er aus dem
Senat, unter anderen den Quintius Flamininus, gewesenen Consul. Der
Censor hatte die Steueransätze zu fertigen. Da bestimmte Cato, dass
Schmuck und weiblicher Putz und Wagen über den Betrag von 15,000
Assen hinaus (300 Fres.) besonders eidlich anzugeben wären; ebenso
Sklaven und Sklavinnen unter 20 Jahren, die in den letzten 5 Jahren
um 10,000 Asse oder mehr gekauft waren. Alles dies schätzte er
zehnmal höher als der wahre Werth betrug und bestimmte ausserdem,
dass von dieser verzehnfachten Summe eine dreifache Steuer entrichtet
werden solle. Die Reichen waren wüthend, aber die Bürger bejubelten
ihn und setzten ihm eine Statue im Tempel der Wohlfahrt, weil er
als Censor den Staat, der sich zur Sittenverderbniss neigte, durch
Strenge und heilsame Einrichtungen wieder geordnet habe (Liv. 39, 42,
Plut. Cato maj. ce. 18).
Wirksamer beschränkte freilich den Luxus der Frauen das Vo-
conische Gesetz, das 15 Jahre später erlassen wurde und das verbot,
— 269 —
Frauen im Testament zu Erben einzusetzen. Cato schon 65 Jahre
alt, sprach dafür mit gewaltiger Stimme. (Cie. de sen. ce. 5.) Da hei-
rathet ihr, rief er dem Volke zu, eine Frau, die euch eine grosse
Mitgift mitbringt, einen grossen Theil des Vermögens aber unter
ihrer Verwaltung behält. Ihr macht bei ihr Schulden. Wenn sie dann
einmal bös wird, lo lässt sie euch durch ihre Sklaven durchprügeln.
(Gell. 17, 6.)
Indessen gefährlicher als der Luxus der Frauen waren für die
Republik die Gelage, die Schlemmerei, die Trunksucht der Männer. —
Im dritten Jahr nach der Censur Catos (573) wurde das erste Gesetz
gegen das Tafeln (die lex Orchia) angenommen. — Dasselbe war
nach alter Weise sehr weitschweifig stilisirt, seine Bestimmungen wa-
ren noch nicht umfangreich. Es beschränkte nur die Zahl derer, die
zu einem Gelag geladen werden durften. (Maer. sat. II, 13.)
Die Genussucht war noch nicht verfeinert. In Zeiten roher Ver-
schwendung sucht man weniger durch den Inhalt der Tafel, als die
Zahl der geladenen Gäste und etwa die Menge der Schüsseln zu glänzen.
Und so haben auch die Hochzeitsordnungen des Mittelalters zunächst
die Zahl der Hochzeitsgäste beschränkt; erst später beschäftigte man
sich mit dem Speisezettel selbst.
Es ist uns nichts Spezielles darüber berichtet, wie gross die Zahl
der Gäste nach dem Gesetz sein durfte. Indessen finden wir, dass
nach spätern Gesetzen drei Gäste an gewöhnlichen Tagen, fünf an
Festtagen geladen werden durften. (Athenzus deipnosophist® lib. 6
in fine von der lex Fannia.) Es ist kaum ein Zweifel, dass diese
Zahl unserm Gesetz entnommen ist.
Ein neuerer Schriftsteller meint (Platner in der eit. diss.) das
orchische Gesetz sei wohl von Cato beantragt und müsse also eigent-
lich das poreische heissen. Das ist verkehrt. Dass aber Cato es
unterstützt hat, ist zweifellos. Jedenfalls räsonnirte er in seinen Re-
den fleissig darüber, dass fort und fort mehr Gäste als das Gesetz
erlaubte zur Tafel gezogen würden. Und als man wie es scheint
(Fest v. obsonitavere) einen Versuch machte, dasselbe zu mildern, trat
er dafür auf's heftigste in die Schranken.
Die Gourmandise der feinern Welt war durch die neue Ordnung
nicht gehindert. In Gesellschaft Weniger konnte man zechen, soviel
man wollte. Die Zeit der feinen Diners und Soupers begann.
Daher erklärt sich, dass unter dem Consulat von C. Fannius und
M. Valerius Messala (593) ein Senatusconsult nothwendig schien, in
Folge dessen die Vornehmern,, die sich an den Megalensischen Spielen
herkömmlicher Weise zu bewirthen pflegten, bei den Consuln schwören
Wissenschaftliche Monatsschrift, 17
— I. -—
mussten, dass sie für das Mahl nicht mehr ausgeben wollten als 120
Asse (etwa 6 Fres.) ausser für Gemüse, Brod und Wein, dass sie
keinen fremden sondern nur einheimischen Wein consumiren wollten,
dass sie nicht mehr als 100 Pfund Silbergeschirr aufsetzen würden.
Und bald darauf wurde dann vom Consul Fannius selbst ein Ge-
setz beantragt, welches das Maass der Ausgaben für jede Tafel und
die einzelnen Gerichte, die aufgetragen werden durften, bestimmte.
Es existirt noch ein Stück der Rede, durch welehe ein gewisser
C. Titius ziemlich derb den Vorschlag unterstützte.
Da sitzen sie, duftend von Pommade, mit ihren Dirnen und wür-
feln. Wie es gegen Abend geht, schicken sie einen Sklaven auf den
Marktplatz zu hören, was es da Neues gebe, wer für oder gegen das
Gesetz gesprochen habe, welche Tribus dafür, welche dagegen war.
Dann gehen sie selbst hin, damit sie sich nicht den Prozess, über
den sie zu urtheilen haben, anhängen. Auf dem Weg findet sieh nir-
gends ein Wirthsschild, dass sie nicht anhalten und einen Schoppen
leeren. Endlich kommen sie auf den Markt, ganz jämmerlich; der
Richter heisst die Partheien anfangen .. Diese plaidiren; er ruft die
Zeugen vor; inzwischen geht er zur Seite; wie er zurückkömmt,
sagt er, er habe schon Alles gehört. Er betrachtet sich die Be-
weisurkunden; kaum kann er noch vor Wein die Augen aufhalten.
Er zieht sich zur Berathung mit den Andern zurück. Da ist sein Re-
süme. Was liegt mir an all den Possen, weit lieber wäre mir ein
Schoppen griechischer Wein oder ein fetter Krametsvogel, ein guter
Fisch, so ein richtiger Hecht, der zwischen den Brücken gefangen ist.
Der alte Cato erlebte die Freude, dass das vorgeschlagene Ge-
setz und zwar mit grossem Enthusiasmus angenommen wurde. Es
erneuerte die Bestimmungen über die Zahl der Gäste und schrieb vor,
dass man in einem Monat höchstens dreimal Einladungen erlassen
dürfe. (Athen®us deipnosoph. lib. 6 in f.) Es bestimmt ausserdem, dass
man an gewissen Festtagen und den Saturnalien bis zu 100 Assen
(5 Fres.) depensiren dürfe, dass man je an zehn Tagen im Monat bis
zu 30, an gewöhnlichen Tagen aber höchstens 10 Asse ausgeben
könne. (Gell II, 24) Geflügel wurde verboten, höchstens sollte ein
Huhn, das nicht gemästet sei, aufgetragen werden. Eine Bestimmung,
die sich in allen folgenden Tafelgesetzen wiederholte. (Plin. 10, 71)
u. 8. f£ — Zur Ausführung solcher Vorschriften musste man freilich
bald vorschreiben, dass Jeder bei offener Thüre speisen müsse, Die
Strafe, die diese Gesetze gegen die Uebertreter vorschrieb, wird lei-
der nirgends erwähnt.
Bezeichnend für die Zeit ist, dass in denselben Tagen, in denen
— 271 —
das neue Tafelgesetz erlassen wurde, durch ein Senatusconsult alle
fremden Philosophen aus der Stadt verwiesen wurden, weil sie die
Jugend mit neuen Ideen erfüllten und ihr Verachtung gegen vater-
ländische Religion und Sitte beibrächten.
Ueberhaupt suchte die damals herrschende Parthei durch ein gan-
zes System von Gesetzen und Verordnuugen der hereinbrechenden
Auflösung einen Damm entgegenzusetzen, und einen gesunden, ein-
fachen Mittelstand zu erhalten. Man hatte durch das Cineische Ge-
setz Schenkungen ausser an Verwandte für ungültig erklärt, theils um
verschwenderische Freigebigkeit zu hemmen, theils um Bestechungen
zu verhindern; durch das gleiche Gesetz hatte man verboten, dass
die Partheienbeistände sich ihre Bemühungen bezahlen liessen. Man
hatte (durch eine lex Publicia Macrob. sat I, 7) sogar die Grösse der
Festgeschenke an den Saturnalien geregelt. Man hatte das Erbrecht
der Frauen beschränkt, man untersagte zu grosse Vermächtnisse, man
verbot Glücksspiele aller Art. — In dieser Kette von Gesetzen wa-
ren die Tafelgesetze ein natürliches Glied. Und sie sind gewiss nicht
ohne Wirkung geblieben. Denn die Gesetzgeber, die Angesehensten
im Staate glaubten an sie und befolgten sie noch selbst. Ein Mann
wie der alte Cato wirkte gleichermassen durch sein Beispiel, wie
dnrch die Gesetze, die er unterstützte.
Für die Dauer konnten sie freilich den Lauf der Dinge nicht
bestimmen, die Genusssucht nicht bändigen. Und es änderte daran
nichts als in der grossen Hungersnoth des Jahres 611, mit der eine
schreckliche Pest Hand in Hand gieng, die Strafen, die bisher nur
dem Gastgeber gedroht hatten, auf die geladenen Gäste und alle,
die bei einem gesetzwidrigen Gastmahl gegenwärtig waren, ausgedehnt
wurden, und dass das Fannische Gesetz für alle Italiker bindend
wurde. (lex. Didia, Maer. l. c. 2, 13)
Dabei blieb die Sache eine Zeitlang. Mit ganz anderen Mitteln
‚suchten die Graechen eine radikale Heilung des krankenden Staates
herbeizuführen. Ihre Bestrebungen scheiterten, sie mussten sie mit
dem Tode büssen. Die Verwilderung nahm zu, politischer Mord war
an der Tagesordnung, die Ausgelassenheit wurde immer grösser.
Die herrschende Parthei glaubte etwas thun zu müssen, man sah
ein, dass man am Rande des Abgrundes stehe. Da griff man wieder
zu den Luxusgesetzen, die während so wichtiger Ereignisse schnell
antiquirt waren. Aber es war nicht mehr die innere Ueberzeugung
von der Schlechtigkeit des Luxus, die zu den Gesetzen trieb, es wa-
ren politische Massregeln, die man adoptiren zu müssen glaubte, ohne
dass man ein rechtes Zutrauen zu ihnen hatte oder sie selbst befolgte.
— 272 —
Die Gesetzgeber, ein Sulla, ein Cäsar, ein Antonius achteten ihrer
Gesetze am wenigsten; sie selbst lebten in schamlosester Ueppigkeit.
Der Erfolg war natürlich. Alles was sie feststellen liessen, blieb ein
leerer Buchstabe.
Zunächst suchte M. Aemilius Scaurus (639) als Consul gewisse
Delicatessen von den Tafeln zu entfernen. Und so beschäftigte sich
ein Gesetz des römischen Volkes mit Spitzmäusen u. dergl. (lex Ae-
milia, Gell. II, 24. Plin. h. nat. VIII, 57). Sallust hat diesen Gesetz-
geber, den Scaurus, treffend genug gezeichnet (Jug. e. 25). Er war
ein thätiger Parteimann, Haupt des Senats, begierig nach Macht, Ehre
und Reichthum, Heuchler erster Sorte. Nur desshalh stellte er sich
gegen Jugurtha spröde, um sich hernach um einen desto höheren
Preis zu verkaufen. — Vielleicht mehr Ernst hatte Publius Lieinius
Crassus, der um 651 eine durchgreifende neue Ordnung vorschlug. Der
Satiriker Lueilius freilich (7 651), der ziemlich scharf sah, scheint
sich keiner Illusion hingegeben, sondern sich über die Sache lustig
gemacht zu haben. Der Senat aber war oder stellte sich so enthu-
siastisch dafür, dass er beschloss, den Gesetzesvorschlag schon vor
der Annahme durch das Volk zu halten, wie wenn er bereits zum
Gesetz erhoben wäre. Es wurde durch dies neue Gesetz gestattet an
Hochzeiten 200 Asse auszugeben, an Festtagen 100. — An ganz
gewöhnlichen Tagen sollten nur drei Pfund trocknes Fleisch, ein Pfund
Fische aufgetragen werden. Gemüse, Obst, Wein gingen frei aus.
Um dieselbe Zeit kaufte aber L. Lieinius Crassus 10 hymettische
Säulen, die er in der Vorhalle seines Hauses anbrachte, um hundert-
tausend Sestertien (20000 Fr). Niemand konnte etwas dagegen einwen-
den, worüber sich schon Plinius moquirt (hist. nat. 36 ce. 3). Dagegen
einen gewissen Duronius, der als Volkstribun durch Volksschluss die
Tafelgesetze ganz oder theilweise aufheben liess, stiess man desswegen
aus dem Senat (Val. Max. 2, 9, 5). Und im Jahr 665 d. St. bestimmten
‘ die Censoren P. Lieinius Crassus und L. Julius Cxsar, dass Niemand
Griechischen oder Amminäischen Wein höher verkaufen dürfe als um
8 Asse das Mässchen (Plin. 14, 16), ja dass der Verkauf wohlrie-
chender Salben überhaupt verboten sei (Plin. 13, 3).
Sulla, obgleich vollendeter Bonvivant und Gourmand, glaubte
doch, nachdem er sich zum Restaurator der alten Zeit aufgeworfen
hatte, gleichfalls wieder ein Repressivgesetz gegen das Tafeln er-
lassen zu müssen. Auch den Begräbnissluxus schränkte er ein. Er
selbst gehorchte seinen Gesetzen am wenigsten. — Ausserdem stellte
er ein Maximum für die Delicatessen - Verkäufer auf; Maerobius,
der uns davon berichtet, ist ordentlich lüstern über all’ die kost-
—_ 273 —
baren, seiner Zeit unbekannten Fische und Leckerbissen [Maer. sat.
2, 13]*).
Es scheint, dass die Kochkunst in allen diesen Gesetzen nur
einen neuen Stachel fand. Cicero jammert in einem seiner Briefe, wie
übel ihm die Luxusgesetze mitgespielt hätten. Der Augur Lentulus
wollte die Gemüse, die in den Gesetzen erlaubt waren, zu Ehren brin-
gen. Seine Köche bereiteten Schwämme und Kohl so delieiös, dass
Cicero des Guten zu viel that und bedenklich erkrankte (Cie. ad
fam. 7, 26).
Im Allgemeinen aber war die Vernachlässigung dieser Gesetze
ganz sprüchwörtlich geworden. Der reiche Verschwender zahlte etwa
auch die Strafsumme ohne weiteres an den Staat und that dann was
er wollte (Cie. ad Att. 12, 35).
Es war mehr ein Protest gegen den Zeitgeist als eine wirksame
Maassregel, als noch einmal ein patriotischer Tribun, Aulius Restio,
die alten Bestimmungen einschärfte und namentlich auch allen Beamten
verbot Einladungen zu Diners anzunehmen. — Schon hatte der alt-
gesinnte Patriot keinen Platz mehr in der modernen Welt. Restio ass
später, wie erzählt wird, niemals mehr ausser dem Hause, damit er
nicht Zeuge sei, wie man das Gesetz missachte, das er zum Wohl
des Staates beantragt hatte (Maer. sat. 1, 13).
Cäsar, in Bezug auf geschlechtliche Verhältnisse Libertin, sonst
nüchtern und enthaltsam, scheint thörichterweise geglaubt zu haben,
er könne durch Polizeimassregeln den Luxus dämmen. Vielleicht wollte
er sich auch nur in den Ruf eines strenggerechten Monarchen bringen.
Jedenfalls verfuhr er mit Energie. Er legte Zölle auf ausländische
Waaren. Er gestattete den Gebrauch von Sänften, purpurnen Kleidern,
Edelsteinen nur gewissen Personen von einem bestimmten Alter und
am bestimmten Tagen. Er exequirte die Speisegesetze mit solcher
„Strenge, dass er nicht nur auf dem Markt durch Polizeidiener dafür
sorgen liess, dass Niemand gegen das Verbot Speisen kaufe, sondern
dass er sogar nicht selten durch seine Lietoren und Soldaten verbotne
Speisen von den Tafeln selbst vor den Augen der lüsternen Herren
wegtragen liess (Sueton. Cxs. e. 43).
Es ist ganz characteristisch, dass dann auch Antonius, der be-
rühmte Schlemmer, es für angemessen hielt — ein Edikt gegen den
Luxus zu erlassen (Macr. sat. 1, 13). Auch Augustus nahm in den
*) Wenn Macrobius sat. II, 13 auch dem Consul Aemilius Lepidus 676 nach
Sulla ein Luxusgesetz zuschreibt, so beruht dies auf einer Verwechslung mit dem
639 erlassenen Gesetz. Das ist schon aus der politischen Stellung des Lepidus klar.
—_— 274 —
Codex seiner Polizeigesetze ein Luxusgesetz auf. Es scheint nicht, dass
er grossen Werth darauf legte, wenn er auch die hergebrachte Traetande
nicht ganz fallen lassen wollte. Die Ansätze waren natürlich unendlich
liberaler als früher. An gewöhnlichen Tagen mochte man 200 Sestertien,
an Festtagen 300, bei Hochzeiten und Gelagen 1000 Sestertien (etwa
200 Frces.) depensiren. Als man sich damit nicht zufrieden gab, ge-
stattete ein Edikt bis zu 2000 Sestertien auszugeben (Suet. Octav.
c. 34. Gell. II, 24). Auch die alte Tracht suchte Augustus wieder
herbeizuzaubern, aber die neuen Moden liessen sich nicht verdrängen
(Sueton. c. 40).
Ueberhaupt schien es jetzt, nachdem Rom eine Monarchie gewor-
den war, kaum mehr im Interesse der Regierung, altrepublikanische
Sittenstrenge zu fördern. Wer von Gemüse und Brod lebt, ist unab-
hängiger und darum gefährlicher als wer eine ungeheure Menge von
Bedürfnissen hat. Doppelt schwierig war jetzt die Durchführung ge-
worden. Denn die republikanische Liebe der Bürger zum Gesetz war
gewichen und nur durch feile Angeber und Gewaltmassregeln konnte
die Ausführung ermöglicht werden.
Tiberius sah dies ein. Er war zwar persönlich zu einer nüchternen
Strenge geneigt und traf darnach manche Massregeln. Er beschwerte
sich bitter, dass der Preis für Corinthische Vasen in’s Unendliche an-
schwelle und dass man für drei Barben 30000 Sesterzen zahle; er
sprach sich dahin aus, dass der Verschwendung im Hausrath ein
Maass zu setzen sei. Er selbst ging mit gutem Beispiel voran und
liess bei öffentlichen Mahlen oft vom vorigen Tag her aufgewärmte
oder bereits angeschnittene Gerichte, etwa auch einen halben Eber
auftragen, wobei er äusserte, der Eber schmecke eben so gut wenn
er halb, als wenn er ganz servirt werde. — Es war Mode geworden,
dass man sich beim Begegnen auf der Strasse küsste; Tiberius verbot
dies, um dem überhoben zu sein. Und da man ihm den ganzen Januar
hindurch Neujahrsgeschenke offerirte, die er erwiedern musste, unter-
sagte er solche Geschenke nach dem Neujahrstag zu bringen (Sueton.
Tib. c. 34).
Als aber die Aedilen klagten, Niemand achte die Luxusgesetze,
der Preis von Möbeln steige mehr und mehr über das gesetzliche
Maass, als sie strengere Massregeln verlangten und der Senat die
Meinung des Kaisers einholte, wies dieser jedes Einschreiten ab.
Es war die Zeit des berühmten Gourmand Apieius, der eine
förmliche Schule der Gourmandise errichtet hatte und wie Seneka —
der Stoiker — klagte, weit mehr Schüler fand als ein stoischer Phi-
; losoph. Dieser Apicius hatte, wie erzählt wird, hundert Million Se-
— 25 —
stertien für die Küche verwendet und da er von seinen Gläubigern
zur Zahlung gedrängt wurde, die Bilanz gezogen. Da er nun fand,
dass ihm nur zehn Million Sestertien (etwa 2 Million Fres.) restirten,
vergiftete er sich aus Desperation (Sen. cons. ad Helv. e. 10).
Solehen Zuständen, bekannte Tiberius — in einem überaus merk-
würdigen Schreiben an den Senat, dessen Hauptinhalt Taecitus wohl
getreu wiedergibt — sei die Gesetzgebung nicht gewachsen (ann. 3,
e. 53). Wo solle sie anfangen ? meinte er; solle sie die ungeheuren
Bauten und Landhäuser beschränken oder die Massen, ja Völkerschaaren
von Sklaven, oder die aufgehäuften Goldschätze, oder die Bildwerke
und Gemälde, oder die weibische Kleidung der Männer und die Männer-
kleidung der Weiber, oder den Schmuck der Frauen, welche fremder
Steine wegen massenweise italisches Gold zu feindlichen Völkern gehen
liessen? Wohl wisse der Kaiser, dass man in Soireen und bei Soupers
über dergleichen Dinge zu raisonniren pflege; aber wie gross werde
erst das Geschrei werden, wenn man ein Gesetz erlasse und strenge
Strafen einführe; da werde es erst recht heissen, der Staat werde auf
den Kopf gestellt, es sei auf Vernichtung der Reichen abgesehen und
dergleichen mehr. Die Alten seien durch Enthaltsamkeit gross gewor-
den, weil Jeder sich selbst beherrscht habe. Die Zeiten hätten sich
geändert. Und der Kaiser fühle sich nicht geneigt durch Strenge Hass
auf sich zu laden, ohne dass er doch helfen könne.
Dabei blieb es denn auch. Aber über die Ausgelassenheit und
Entfesselung aller sittlichen Bande, wie sie damals bei den Grossen
in Rom sich fand, brach alsbald, erzeugt aus ihr selbst, ein fürchter-
liches Gericht hervor. Scheusale wie Caligula, der frivolste Lotterbube,
der je auf dem Thron sass, und Nero lösten den finstern schrecklichen
Tiberius ab. Unter ihnen ward die römische Aristocratie vernichtet
oder doch ruinirt. Die Kinder büssten ihre und ihrer Väter Frevel.
. Nie ist eine Drachensaat fürchterlicher aufgegangen.
Nach Nero ergoss sich wieder reineres Blut in die römische vor-
nehme Welt. Neue Männer aus den Munieipien, Colonien und Provinzen
wurden in den Senat aufgenommen und brachten grössere Einfachheit
und Sparsamkeit aus ihrer Heimath mit. Einzelne Kaiser wie Vespasian
gingen mit dem Beispiel alterthümlicher Strenge voran. — Aber auch
das Maass der Tüchtigkeit sank mehr und mehr. Unter August und
selbst noch unter Tiberius hatte man sich immer noch mit den Män-
nern der republikanischen Zeit verglichen und beschämt den jetzigen
Zustand hinter den früherer Jahrhunderte gestellt. Das hatte nach
und nach aufgehört; man blickte nur noch mit todtem Erstaunen auf
die alten Zeiten. — Das sittliche Bewusstsein fiel von Jahrhundert
— 276 —
zu Jahrhundert. Man gewöhnte sich an die Libertinage und sah darin
nichts mehr Auffallendes. Grade darum sind eigentliche Luxusgesetze
nicht mehr erlassen worden. Denn eine ernste Bedeutung haben na-
türlich die Narrheiten des Kaisers Heliogabals nicht. Er berief einen
Senat von Frauen und diese fassten Beschlüsse darüber, welche Frauen
sich putzen durften und welche nicht (Lampr. Heliog. e. 5). — Der
Plan des Kaisers Severus, alle Beamten je nach ihrem Rang zu uni-
formiren und den Sklaven eine eigene Kleidung zu geben, gehört einem
ganz andern Kreis von Ideen an als dem, welchem die bisher erwähnten
Gesetze entstammten (Lampr. Al. Sever. c. 27).
Wie denn aber bei der immer tiefer fallenden Temperatur der
Sittlichkeit immer grössere Auflösung der Staatsbande und Anarchie
eintrat, wie Despotie folgte, und mit ihr Mangel an Vaterlandsliebe
und Aufopferungsfähigkeit mehr und mehr eintrat, wie in Folge dessen
das römische Reich eine Beute der Germanen wurde, dies zu schildern
liegt jenseits der Schranken unserer Aufgabe.
ÜBER DIE HÄRETIKER EPIPHANES UND ADRIANUS.
Von G. VOLKMAR,
Zu Same auf Kephallene feierte man bei jedem Neumond (zar«
veowunviav) die Neugeburt des männlich oder mannweiblich gedachten
Mondgottes in einem ihm geweihten Tempel mit einer Festlichkeit, bei
welcher wie bei allen Mond-Culten das wahr wurde, was die spätere
Gnosis lehrte, xoıvag elvaı tag yvvalzag. Die Mondgottheit wurde hier
wie gewöhnlich gefeiert, aber von der gewöhnlichen antiken Anschauung
abweichend männlich gefasst, als wirklicher Man (u), eig. der Sinnende),
und zwar als Mond-Jüngling, spezieller unter der Vorstellung eines
Hermaphroditus oder gleichsam Aphroditus®). Schon so früh, „im 17ten“
Jahre, sagte die Personifieation, musste er hinsterben, wie er denn auch
schon bald nach der Hälfte des Monats hinstirbt. Dieser Mondjüngling
hiess daher auch nicht NeArwog oder Lunus [Lueinus], „der Leuch-
tende“, denn er war kein Vollmond, sondern er war der Neumond, „der
Erscheinende“, der Wiedererscheinende, ’Errıgavrs. (Vgl. Clem. Strom.
III, 2. ed. Sylb. p. 183 £.)
*) Wie denn umgekehrt der Sonnengott auch im Orient schon (mann-) weiblich
gedacht worden ist. Vgl. Roem. XI, 4 7) Bacl, und Meyer (ed. D) z. d. St.
= BR —
Nun gab es aber nach Basilides ein gnostisches Buch "Ertuyavrg
zuegi dixauoovvng, welches unter Anknüpfen an griechische Philoso-
pheme (besonders Plato De Re Publ.) die Gerechtigkeit in die absolute
Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit setzte und daher auch Weiber-
Gemeinschaft lehrte (Clem. Str. a. a. O. bei Stieren ed. Iren. I, p.
904 sq.) ganz wie Carpocrates. Möglicherweise ist der Name pseudo-
nym, wenigstens wechselt er bei Clemens mit dem Sohne des Basilides,
Isidorus, ab (s. bei Stieren p. 905), dessen "Iıx& (p. 907 sq.) ähn-
liche Lehren darboten oder darzubieten schienen. Mit Sicherheit haben
wir also nur zwei verschiedene Bücher HYıx« Toıdwgov und Erugpavrg
zwegi dixauoovuvns, aber auf die geschichtliche Persönlichkeit nur des
Isidorus zu rechnen. Für Clemens aber ward dieser Epiphanes nicht
blos fragelos eine geschichtliche Person, sondern er wurde auch von
ihm, gemäss dem so ganz parallelen Isidorus, der ein Sohn des Ba-
silides war, nun gleichfalls in eine nähere Beziehung zu dem zweiten
Hauptlehrer der Weibergemeinschaft, zu Carpocrates gesetzt. Er ward
als dessen Geisteskind dessen Sohn. Zugleich aber verschmolz für
Clemens’ Anschauung der hellenische (kephallenische) Epiphanes (der
Jüngling), der Weiber-Gemeinschaft stiftete, mit diesem hellenischen
(griechisch gebildeten) Epiphanes (sregi dirauoovvng), der dieselbe ganz
„nach“ Carpocrates lehrte, zu einer Person. Wie konnte es denn auch
anders sein, als dass es ein Mensch war, den die Kephallenier so
toller Weise vergöttert hatten und wirklich echt epiphanisch feierten ?
War dies für Clemens resultirt, so stand es für die Folgezeit
als gegeben fest, so für Epiphanius (Haer. 32, $ 3 ff.), der dessen
Angaben fast wörtlich wiedergiebt, auch seine Quelle nennt ($ 6), und
für Theodoret (Haer. Fab. I, 5), der den Epiphanes kurz als „Sohn
des Carpocrates“ bezeichnet, der dessen Lehre noch erweitert habe.
Epiphanius aber hat sich dabei nicht beruhigen können. Der
Haupt-Leitfaden für seine und alle folgende Ketzerbestreitung, Irenzus,
_ musste doch sicher auch diesen so alten und nach Clemens so wohl-
bekannten Errupavrg (regl diraıoovvng) gekannt haben. Die Abhand-
lung über seine dualistische Haupt-Gnosis (die Valentin’s) sagte ja
aber auch nach Erwähnung des ersten Schülers von Valentin, der
über die Emanation der ersten Tetras schon vom Meister abwich
(l, 11, 2), nach Seeundus: &AAog de zug zei Enıyayns @v didaszalog
aurov... 77V noWenV teroade Atysı oVTwS, war da nicht deutlich
auf den Eripavns angespielt? Epiphanius säumte daher nicht, nach
Massgabe seiner Haupt-Autorität, seines eigentlichen Leitfadens, das,
was er bei Clemens Näheres vom "Erıpavns gelernt hat, auf diesen
„Nachfolger des Seceundus“ überzutragen; „der Sohn des Carpocrates,
— 78 —
der von den Kephalleniern so toll, aber echt carpoeratianisch gefeiert
war“ (cf. Clemens), ist näher (ef. Ireneus) auch ein Secundianer (Hxer.
32, 3—5). Er weiss denn auch so bestimmt anzugeben, dass dieser
Sohn des Carpocrates später zu Secundus übergegangen sei [er ist das
Ja wirklich für ihn und bei ihm durch Irenzus], mit dessen Härese
verknüpft (ovvnuusvov 7) aigeosı TE roDeıgnuEVov Zexovvdov), dass
diese Angabe sich auch bei den folgenden Kirchenhistorikern fort-
erhalten hat, selbst bis auf unsere Tage.
Noch Stieren (ed. Iren. 1853, I, 132) theilt diese Ansicht, wenig-
stens so weit, dass unter dem alius quidam, welcher bei Iren. I, 11, 3
nach Secundus eine abweichende Ansicht über die erste Tetras vor-
bringt, ein Epiphanes eingeführt werde, wie wir „ex Theodoreto et
Epiphanio diseimus“,
Dieses ist jedoch ganz unrichtig. Für Theodoret ist Epiphanes
lediglich Carpocratianer (Hxr. Fab. I, 5), und hat nichts mit Valentin
gemein, dessen Schule erst weiterhin (I, 7 sq.) abgehandelt wird. Auch
sonst steht ihm des Epiphanes Verbindung mit Carpocrates und nur
mit diesem fest. Im Procem. zum zweiten Buch seiner Epitome (ed.
Schulze, p. 327) führt er unter den ältern Ketzern schliesslich diese
Reihe auf: xai Baoıkldov zal Toıdwoov, zei Kaugroxgaroug za "Eret-
pavovg, während er von dem Valentinianismus erst später redet. Er
folgt hierbei ganz, aber auch lediglich dem Clemens Al., dem er auch
sofort noch (I, 6) eine dritte noch schamlosere Secte der Weiber-
Gemeinschaft (Prodieus und Adamiten) entlehnt unter Citiren seiner
Quelle (roUrov uegruga rov Irowuerta rrageSoueı Karusvre). Ja
sehen wir näher zu, so wird der Einfall des Epiphanius, unter dem
ahhos Tg xal Ercupavrg bei Iren. nach Secundus sei dieser Epiphanes
(des Clemens) zu verstehen, von Theodoret sogar negirt, was Stieren
ganz übersieht. Denn jene Stelle seines Haupt-Leitfadens (I, II, 11, $ 3)
giebt Theodoret (H. F. I, 8 fin.) sofort in Verbindung mit dem, was
alsbald bei Iren. folgt ($ 5) »&@Aloı Ö’ ad... rıwig... aAloı ÖE« so
wieder: xai @&AAoı wugior Evreüdev dvspunoav aigEoswg aoynyol,
Koooıavos, @eodoros, Hoaxıto, mit Ptolem&us und Marcus geht
er nämlich auf Irenzus’ eignen weitern Context (ce. 12. 13) über.
Hat er also jenem @AAog rıg al eruıparrg einen Namen substituirt,
so ist es der des Koooıavog 5}
*) Doch auch dieses wäre ein Fehlschluss. Er ergänzt nur seine Haupt-
quelle, wo sie keinen Namen weiter bot, mit den von seiner Nebenquelle, Clemens,
gebotenen Valentinianer-Namen: Jul. Cassianus (Strom. III, 19 p. 199 Sylb.),
Heracleon (IV, 9 p. 215) und Theodotus, dessen Excerpta dem Stromateus an-
— 2179 —
Theodoret negirt so factisch seines Vorgängers Auffassung von
den Irenäus-Worten &420g rıg &rripavrg. Dazu kommt, dass er den
Epiphanius zwar nirgends nennt, aber doch evident wiederholt abge-
schrieben hat, wo er ihm Entsprechendes bot (wie über die Archontici,
I, 11). In diesem Festhalten an Clemens über Epiphanes liegt also
ein factischer Protest gegen seines Vorgängers (und Gegners) Con-
jeetur, der Carpoeratianer sei auch Valentinianer, ein „Nachfolger“
des Secundus. Epiphanius steht darin allein.
Doch ruft Dodwell (Diss. IV, $ 25) den Iren&us selbst dafür
auf. Pearson habe den Text aus dem Interpr. „alius vero quidam qui
et clarus est magister ipsorum“ mit Recht so wiederhergestellt: "4AAog
de vıs 6 »al Enuyarrs dıdagzalog aurov. Hierin aber sei deutlich
auf den Namen des Mannes angespielt, und nur Missverstand sei es,
wenn der Interpres dies ’Erıyarrs, was eigentlich ’Errupavrg heisse,
durch clarus wiedergebe. Er habe den Namen durch dies clarus nur
verdunkelt, wie ja auch Tertullian (adv. Valent. ec. 37) beim Ausschrei-
ben der Stelle mit seinem „insignioris apud eos magistri“ geirrt habe.
Inzwischen will auch Stieren dies nicht mehr unterschreiben, lässt
es aber nun in der Schwebe. Und doch glaube ich, kann es darin nicht
bleiben. Der Schein einer Anspielung auf einen Namen wird nur durch
Pearson’s Conjeetur Ö xal ertupavrs geboten. Es soll mit diesem ö, wie
es scheint, des Interpres qui wiedergegeben werden. Aber es führt
qui et clarus est magister eorum lediglich auf den oben angegebenen
Text, nämlich auf ein zai errıyavns ov drdagzalog. Irenäus will so
nur sagen: Secundus lehrte über die Tetras so, ein anderer Valen-
tinianer aber, der bei ihnen sogar eine Autorität ist, lehrt
wieder anders darüber.
Ein Irrthum liegt also hier vor, warum aber nicht auf des Cypri-
schen Gelehrten Seite, der ja überall seiner Zeit gemäss auf Namen
vor Allem aus ist und ein zu natürliches Bestreben hatte, den Epi-
phanes der Nebenquelle schon beim Vater der Häresiologie zu finden ?
Seine Composition ist hier so einfach wie etwas; auch kann man nicht
mit Stieren über den Passus „alius vero quidam... magister eorum“
sagen, Graeca omisit Epiphanius. Er hat diesen Passus nicht so selt-
sam abweichend von seiner sonstigen Weise ausgelassen, nur recht
umfänglich ($ 3—5) exegesirt, indem er die Nebenquelle für einen
Ertupavng heranzog, ausschrieb, darüber seine Reflexionen machte und
dann ganz fest den Haupt-Leitfaden wiedergab ($ 6).
gehängt sind (ed. Sylb. p. 338 £.), wie es schon Theodoret scheint vorgefunden
zu haben.
— 280 —
Dass er aber mit dieser Exegese und Epexegese im Irrthum ist,
zeigt nun vollends der uns seitdem bekannt gewordene, auch ihm nicht
gewesene älteste Benutzer des Irenäus-Textes *), nämlich Irenäus’ eigner
Schüler, Hippolytus in seiner grössern Häresiologie, den Philosophu-
menis**). Ueber die Schule Valentin’s ist auch ihm Irenäus der eigent-
liche Leitfaden #**), und diesen streng einhaltend fährt er nach Secundus
(Philos. VI, 38 p. 198) so fort: "AAAog dE zıg Enıypavrg didaszakog
avıov oörwg Atysı. Abgekürzt hat er, nämlich x«i und @v weggelassen,
aber sonst ganz wörtlich sich angeschlossen, an dieser Stelle wie im
ganzen Zusammenhang. Ein 0 ’Eruıpavrg hat er also weder vorge-
funden noch daran nur gedacht f).
*) Denn „Tertull.“ adv. Valentin. ist doch allzudeutlich nur ein späterer,
mit des grossen lat. Vaters Mameu geschmückter Tractat ganz nach Irenzus,
wie schon Semler ed. Tertull. Vol. VI gezeigt hat.
#*) Gegen den von mir (Hippolytus und die römischen Zeitgenossen oder die
Philosophumena und die verwandten Schriften nach Ursprung, Quellen und
Composition untersucht. Zürich 1855. S. 72 ff.) geschärfter gegebenen Beweis
hiervon hat zwar Baur seine frühere Ansicht, dass der Zeitgenosse Caius der
Verfasser sein möge, noch nicht ausdrücklich aufgegeben. Er spricht (Theol.
Jahrb. 1856. I, 4) noch immer blos vom „Verf. d. Philosoph.“. Und Hilgenfeld,
der diese Ansichr adoptirt, hat sogar immer noch dieselbe als die wahrscheinlichere
festhalten wollen (im Liter. Centralbl. 1855. Apr. Vgl. Theol. Jahrb. 1856. I, 3).
Aber so interessant auch dieser Versuch ist, die Hippolytus-Ansicht zu bestreiten,
so löst er sich doch bei jeder nähern Betrachtung nach allen Beziehungen als
ganz unhaltbar auf. Selbst die Entstellung ist ihm beim Bemühen, hier immer
noch die von Baur adoptirte Ansicht festzuhalten, mituntergelaufen, als habe ich
auf dem Schriften-Verzeichniss der Hippolytus-Statüe die Aufführung der Philos.
selbst vermisst. Ganz im Gegentheil. Vgl. S. 79. 148.
ES) VeLtasa.K0NSY453:
7) In seiner frühern, kleinern Häresiologie, die wir latinisirt und im Auszug
in dem libellus adv. omn. her. finden, welcher der Schrift Tertullian’s de preser.
heer. (c. 45 ff.) angehängt ist (vgl. m. Hippolytus $. 84 ff. S. 148 ff. gegen Bunsen
und Döllinger) hat er auch keinen Gedanken daran gehabt, das xaL Eertiparng
sei als nom. propr. zu fassen, indem er zwar freier, aber vollständig die c. 11. 12
vortretenden Valentinianer-Namen aufführt, post hunc (Valentinum) extiterunt
Ptolemaus et Secundus; priterea kennt er nur noch über Iren®us hin den Hera-
eleon. Unglücklicher hat also wohl nichts sein können als der Versuch von Bunsen,
die Abstammung der Philosoph. von Hippolyt (ausser durch die Inschrift an der
räthselvollen Statüe) durch Photius’ Notiz über das „Bußhudaguov Hippolyt's
gegen 32 Häresen“ zu begründen. Unsere Philosophumena (die 10 Bücher) machten
ja nur einen mässigen Band aus, und es seien 2 Abhandlungen daraus weggefallen
— nämlich über den Colarbasus und (den Valentinianer) Epiphanes! Dem erstern
hat er vollkomen genug gethan, der andere existirt nicht für ihn.
— - .
— 2831 —
Sämmtliche andere Benutzer des Irenäus-Textes zeigen also den
Secundianismus des Epiphanes als einen blosen, unglücklichen Einfall
des eifrigen Ketzerrichters, der auch sonst so mannichfach ein bloser
Ketzermacher ist. So gelungen ihm seine Combination erscheinen
mochte, so kann er doch selbst nicht das ganz Verschiedene verber-
gen, welches er blos nach dem Wortklang zusammengemengt hat.
Schon Theodoret hat diese Vermengung mit allem Recht verworfen,
nur hätte dessen Kritik offener und dann auch weiter greifend sein
sollen, um vom Epiphanes des Clemens nicht blos „den Jüngling von
Kephallene* abzuthun, wie Theodoret gleichfalls im Stillen schon gethan
hat, sondern auch „den Sohn des Carpocrates“ als ein Werk gleicher
Combination in Anspruch zu nehmen.
Aber wenn Theodoret hier auch etwas kritischer gewesen ist als
sein letzter Vorgänger, der sogar drei ganz verschiedene errıpaveig
(einen Apparens-Lunus, einen Basilidianer ’Ersipavng und einen alius
quidam elarus unter den Valentinianern) in ein Ketzerhaupt vereinigt
darbietet, so ist er doch auch nicht frei von solchen Fietionen, selbst
auf noch äusserlichere Gründe hin.
Am Schlusse seiner Epitome über Simon magus sagt Theodoret,
aus dieser bittern Wurzel seien hervorgegangen KAsoßıavoi, Aoot-
$eavoi, Too9rvol, Masßogeoi, Adgravıorei (L, 1 p. 288 ed. Schulze).
Niemand anders kennt eine Häresis von Adrianisten, sie ist aber
auch nur durch den Schreibfehler eines Exemplars von Eusebius’ Kirchen-
geschichte hervorgegangen. Hegesipp bei Eusebius (11, 22) machte
nämlich fünf eig&osıg (Secten, Abtheilungen) von Samaritanern nam-
haft: Simonianer, Kleobianer, Dositheaner, Gortheaner und Masbodeer*).
Da die Simonianer dann auch eine christliehe Härese geworden waren,
Simon magus sogar als Haupt aller Ketzerei gilt, so scheint schon
Hegesippus auch die andern vier Samaritaner-Classen als solche Urketzer
zu betrachten, von denen dann die Gnostiker der Hadrianischen Zeit
ausgegangen seien: «70 Tovzwv, sagt er, Mevavdgıavıoral xai
Megxıwvıorai zal Kagroxgarievoi zal Ovakevrırıavol zal Baoıkeı-
dıavoi zei Iarogvılıavoi, Dies gab Eusebius wieder. Nun liest Nice-
phorus (H. E. IV, 7) an der Stelle drro rovzwv uEv Adgıavıoral,
und danach Cod. Med., Mazar., Fuket., Bodlej. u. Dresd. einfach 70
rovcwv Ad oıavıgrai**). So hat auch Theodoret gelesen und darin
eine sechste schon längst verschollene Urketzer-Classe gesehn.
*) Unwillkürlich denkt man dabei an die fünf Männer der Samariterin Ev.
Joh. 4, 18.
*#) Vgl. Schwegler ed. Euseb. 1852. p. 146.
— 22 —
Es ist dies aber nicht etwa blos eine falsche Lesart in seinem
Texte für Anhänger des Menander, bei welchem Scheine es Schwegler
lässt, sondern Theodoret ist noch den Schritt weiter gegangen, aus
diesen „verschollenen“ Adrianisten nun auch ein neues Ketzer-Haupt,
Adrianus hervorzubilden, sogar neben Menander. Im Procem. zum
zweiten Buche seiner Epitome (p. 327 ed. Schulze) sagt er, dass von
den alten Ketzereien zu seiner Zeit die meisten schon völlig zu Grund
gegangen seien, dies bewiesen die Orte zwv Iluwvog zul Tov Mevarv-
ögov, al Kleoßiov zul Aocı$£ov zei Togdiov al Adoıavoi, xai
Zaropvilov al Baoılidov zei Toıdwgov, »ui Kuprıorgarovg zei
"Enipavovs, wogegen nur Spuren von Mareionitismus und Valenti-
nianismus zu seiner Zeit übrig wären. Er hat hier dieselbe Stelle des
Hegesipp d. h. seines Eusebius-Exemplares im Sinne, aber nicht
mehr vor Augen. Er hat desshalb aus eigner Kunde dem Simon
sofort dessen bekanntesten Nachfolger (dafür von Iren. I, 23, 5 er-
klärt, Simonis successor fuit Menander) hinzugefügt und das Uebrige
bewahrt. Aus den „MasßwIeoı ano Tovrow 'Adgıaviorai xul....
Zaprovilıavoi“ aber hat er dem Mos®w3eos, den schon Hegesipp
darbot, neben den Leuten dieses Namens, und gleich dem Saturninus
nun auch ein Ketzerhaupt Adrianus construirt. Es ist dieser Häretiker
also nur ein sprechendes Seitenstück zu seinem und schon Früherer
Ebion (Hippol. Philos. VII, 35. Epiph. Hzr. 30. Her. Fab. II, 1)
und zu seinem Ie0vn908 (H. F. I, 21), der auch nur aus den Severis
oder &Yxgareis abstrahirt ist, wie wir umgekehrt von den Colorbasii
des Theodoret und Epiphanius gesehn haben*), dass sie nur dem Colar-
basus, diesem andern Werk einer irrenden Text-Auffassung, nämlich der
Kol-Arbas oder Tetras selbst ihr Dasein verdanken.
Der Name Helvetier.
Nachdem $. 143 ff. die Benennung Germani als keltisch auf Sanskrit zurück-
geführt worden, sehe ich meine Meinung so weit durch den Umstand bestätigt, dass
auch Helvetii, der Name eines gallischen Volkes, sich ungezwungen aus dem
Sanskrit ableitet. Dürfen wir nämlich glauben, dass auf dem weiten Wege west-
wärts ursprüngliches p in h überging, so sind die Helvetier einfach Pärvatijäs
oder Parvatijäs, was ein wirkliches Wort, d. i. Bergbewohner (von parvata —
paru, Berg), und das sind sie ja in der That gewesen, gleichwie auch die Helvier
im Gebirge, den Cevennen, sesshaft (C&sar b. Gäll. 7, 8). Es kommt nur darauf an,
jene Abwandlung nachzuweisen. Mit ihr würde der Umschlag des p in k wiein
Kaduog aus padma und %@x0g aus päpa zur Hälfte vollzogen sein; auch blieb
*) Vgl. Zeitschrift für hist. Theologie 1855. IV. über die Colarbasus-Gnosis.
> > a
—_— 283 —
ähnlich in Aumus aus bhümi vom Lippenlaute nur der Hauch übrig; und im
Armenischen, also wieder von Indien aus westlich, ist pitar oder eigentlich patar
— Vater, hajr geworden. In Wahrheit aber aufmerksam machte mich der Name
eines feuerspeienden Berges auf der Halbinsel Taman, welchen die Kleinrussen
Peklad. i. Hölle nennen*): er führte mir den Vulkan Hekla zu; und nunmehr
war auch an die Hand gegeben, dass die sylvoa Hereynia vom altpreussischen Donner-
und Regengotte Perkun den Namen trage. Bekanntlich müssen wir uns die Hereynia
als Bergwald oder Waldgebirg vorstellen; — das eine wie das andere Mal trifft
der Uebergang des p in h auf westlicher gelegenes Land; der analoge „Donners-
berg“ vollends befördert uns an das gallische Ufer.
Schon J. Grimm hat den Perkun mit dem indischen Parg’anja oder Par-
janja zusammengebracht: sanskritisches p somit ist bis zum Rheine hin h gewor-
den; in einem andern Falle bedurfte es hiezu keiner so grossen Reise. Das zendische
Zarvan, Zeit, — uns geläufig in der Verbindung zarvan akarana, vordem
zeruane akerene ausgesprochen, ist ohne Frage das griechische Xo0v0g ; aber
wie kann z in X übergehn? und von welcher Wurzel käme das Zendwort selber?
Zarvan entspricht dem sanskritischen parvan = Zeitpunkt, Augenblick u. s.
w.; Mittelglied war ein verlorenes harvan, welches aber in x00 vog wiederauf-
taucht. Wenn sich dies also verhält, so hoffen wir, auch den Zendphilologen,
IA A
welche an gr (sprich dschri) altern dachten, wie wenn nicht gerade die Zeit immer
jung bliebe, komme unsere Miscelle nicht ganz aparvani.
Exegetisches.
1
Von einem Feinde, welcher in das Land Israel eingefallen ist, heisst es Ps. 10,
9:— er lauert, um den Armen zu haschen; er hascht denArmen,
indem er sein Netz zuzieht; eigentlich: indem er zieht mit seinem Netze,
nach einem Hebraismus, wie wir etwa auch sagen: er warf mit einem Steine. Wenn
dagegen die neueste, übrigens auch schon alte Auslegungskunst übersetzt: indem
er ihn in sein Netz zieht, so scheinen die Herren von dem betreffenden Her-
gang und überhaupt von einem Vogelherd eine eigenthümliche Vorstellung zu hegen.
Was hilft denn das Netz, wenn man Einen erst hineinziehn muss? und wozu ihn
noch hineinziehn, wenn man ihn hat? Ein Schwarzwälder sah zum ersten Mal eine
Lichtscheere. Mit den Worten: Das ist doch ein nettes Häusle! klappte er dieselbe
auf, putzte das Licht mit Hülfe der Finger, legte die Schnuppe fein säuberlich
hinein und klappte zu. — Die Thorheiten der Erklärer humoristisch zu behandeln
wird wohl noch erlaubt sein. Folgt darum
2.
Nehemia erzählt, wie man die Ringmauer Jerusalems baute, während jeden
Augenblick ein feindlicher Ueberfall zu gewärtigen war. Ein Theil des Volkes
*) 8, Allgem. Zeitung v. J. 1846, N. 846, Beil.
—_— 2834 —
stand unter dem Gewehr; die Lastträger verrichteten bewaffnet ihr Geschäft; die
Bauleute hatten das Schwert umgegürtet; und das Aufgebot vom Lande übernach-
tete in der Stadt als Schutzwache. Nun sagt Nehemia am Schlusse von c. 4 angeb-
lich: (Weder ich noch meine Brüder noch meine Knappen noch die Männer der
Wache, welche mir folgten, zogen unsere Kleider aus;) einem jeglichen war
seine Waffe das Wasser. Das Wasser? Sehr wohl, wenn von Fröschen die
Rede wäre; denn die hüpfen, sobald Gefahr naht, in’s Wasser zurück, um sich da
zu bergen. Aber was thun Kriegsleute? und wie ziehn umgekehrt unsere Ausleger
sich aus der Patsche? Die Einen, z. B. Seb. Schmid nach Luther, De Wette etc.
erklären: seine Waffe diente ihm statt der Wasscr des Bades,d.h.
er blieb bewaffnet und badete nicht. Dagegen fassen mit der Vulgata Mehrere wie
z. B. Vatablus das Wert schelach in ganz anderem Sinne, als wie es V. 11 vorkam,
und deuten: jederentkleidetesichnurzum Bade. Ewald: eines Jeden
Kleidabziehn war, um (das) Wasser zulassen; aber bedurfte es dessen
hiezu? Dass der Text verdorben ist, liegt auf flacher Hand. Statt hammajim
lies hallajil, womit sich der Sinn ergibt: nicht zogen wir unsere Klei-
der aus, ein jeder seine Rüstung, des Nachts. Althebräisches L wird
häufig, wie auch im Griechischen noch geschieht, mit M verwechselt; und an der
seltenen Form lajil für lajla stiess man um so eher an, weil die innere Verbin-
dung eines zweiten Objectes mit dem Regens verkannt wurde.
3.
Spr. 25, 20 lesen wir in der deWette'schen Uebersetzung: Wer das Kleid
auszieht am Tage der Kälte, Essig auf Potasche: so wer Lieder
singt dem traurigen Herzen. Den selben Sinn d. h. Unsinn bieten uns auch
alle andern Ausleger; nur Ewald äussert sich misstrauisch und vermuthet Essig
auf eine Wunde. Das hebräische neter ist nicht Potasche, sondern viroov,
nitrum, was das selbe Wort; und wenn man Essig über Nitrum giesst, sagen die
Chemiker, so wird daraus weiter nichts. Giesst man ihn auf Potasche, so ergebe
sich essigsaures Kali und Kohlensäure; aber was thun wir mit diesem Unrath? was
soll auf mineralischem oder auf vegetabilischem Kali der Essig hier in der Ver-
gleichung? — Ein kritischer Zeuge weist für neter vielmehr jeter auf. Der ur-
sprüngliche Text parallelisirte mit einem Solchen, der bei traurigem Gemüthe Lieder
singt, Denjenigen, „welcher Schützen begegnet, deren Pfeil auf der Senne“ (vgl.
Ps. 11, 2), sofern er nemlich heiter und unbefangen blicken muss, während ihm
keineswegs wohl zu Muthe ist. — Führt man aber, wie wir in diesen drei Fällen
gethan haben, bisher nicht verstandene Aussagen der Bibel auf thatsächliche oder
psychologische Wahrheit zurück, und weist man so ihre Richtigkeit oder Tiefe
nach: da nennt diess Herr Ewald in Göttingen eine grobe und sinnliche Fassung ;
und der grosse Haufe seinerseits, am Wortsinne ermüdend, will nicht noch weiter
zur Sacherklärung mitgehn, sondern hofft dadurch zu gesunden, dass er unbegriffe-
nes Bibelwort wie eine verdünnte Mixtur gläubig hinunterschluckt. Gott besser's!
ah, Pe
Be Meyer & Zeller it ferner erfchienen :
Die Genmetrie
dargeftellt
inentwidelnder Methode,
für
höhere Zehranftalten und zum Selbftunterricht,
son
Friedrihb Mann,
Profefior an der Thurganifhen”Kantonsihule,
Erfte Abtheilung: PBlanimetrie.
Mit in den Tert gedruften Figuren.
Preis 22 Nor. oder 1 fl. 6 fr. oder 2 Fr. 40 Gt.
Waturwifenfhaftlih -pädagogifhe Briefe
von
Friedrihb Mann.
Grite Neibe.
Preis 8 Ngr. oder 28 fr. oder 1 Fr.
LEHRBUCH DER ALGEBRA
für
- INDUSTRIESCHULEN, GYMNASIEN UND HÖHERE BÜRGERSCHULEN
von
>}
% TESDILE,
Professor der Mathematik in Frauenfeld.
18 Bogen gr. 8. Preis: 1 Thir. oder 1 fl. 45 kr. oder 3 Fr. 60 Ct.
ZEICHNUNGEN
von ausgeführten,
in verschiedenen Zweigen der Industrie angewandten
Maschinen, Werkzeugen und Apparaten neuerer Construction.
Gesammelt und mit erläuterndem Texte bearbeitet
von
J. H. KRONAUER,
Ingenieur, Professor an der Industrieschule in Zürich,
llf. Band. Ate Lieferung.
Preis 1 Thlr. 5 Ngr. oder 2 fl. 6 kr. oder 4 Fr.
Die beiden ersten Bände dieses Werkes fanden eine sehr günstige Aufnahme und
_ die Nachfrage verringerte sich, obgleich diese Bände schon vor 10 und 8 Jahren er-
schienen; wir veranlassten deshalb den Herrn Verfasser, diese so vortreflliche Arbeit
fortzusetzen. — Vom III. Bande sind 4 Lieferungen erschienen, welche sich dadurch
besonders auszeichnen, dass sie eine grössere Anzahl von Originalmittheilungen
und neuen Maschinen enthalten, namentlich von solchen, welche an der Londoner
und Pariser Weltausstellung figurirten. Der vorhandene Stoff machte eine manigfaltige
Auswahl möglich, die sich indessen nur über solche Gegenstände erstreckt, welche sich
in der Praxis als gut bewährten. Mechanikern und Lehrern der Mathematik und
_ Mechanik empfehlen wir dieses vorzügliche Werk angelegentlichst.
Bei Meyer & Zeller in Zürich ist erschienen :
Geschichte
EUROPÄISCHEN STAATENSYSTENS
Zeitalter der Reformation bis zur ersten französischen
Revolution
von
D" Dans Heinrich Bögeli,
Professor der Geschichte an der obern Industrieschule in Zürich,
Privatdocent an der Universität.
Te ee ELSE er a mn A nn u ine
Erste Abtheilung.
Vom Zeitalter der Reformation bis zur Selbstherrschaft von Ludwig XIV.
(1519 — 1661.)
41 Bogen gr. 8. Geheftet. Preis 2 Thlr. oder 3 fl. 20 kr. oder 5 Fr. 60 Ct.
Die Geschichte des Europäischen Staatensystems ist der wichtigste Theil der
Weltgeschichte; denn die Völker unsers Erdtheils bestimmen das übrige Menschen-
geschlecht. Jedes Glied dieses Staatenvereins wird in diesem Werke mit Liebe und
darum mit Eingehen in seine Eigenthümlichkeit behandelt; der Herr Verfasser zeigt,
wie jede Nation, jeder lebenskräftige Staat Europa’ s aus innersten Trieben sich ent-
wickelt, welchen Bau, welche Ordnungen sein Staatsleben sich schuf und wie das
gegliederte, mit Vermögen begabte staatliche Geschöpf durch einzelne Menschen und
durch Gesammtheiten auf die Genossen des Lebens, auf seine Nebenstaaten einwirkte.
Wir sehen, wie die in Zeit und Raum neben einander bestehenden Gesellschaften
gemäss ihrer eigenthümlichen Entfaltung Einflüsse aufeinander ausüben, durch welche
die politischen Gedankenkreise und die Stimmungen jedes Zeitraums entstehen. Weil
alle Glieder des Europäischen Staatensystems die Aufgabe haben, die in ihnen vor-
findlichen Keime zu möglichst vollkommenem Dasein zu bringen, nehmen wir wahr,
wie sowohl Einzelne als Bünde jeweilig derjenigen Macht entgegen treten, welche
diess ihnen verkümmern könnte, auch wenn sie selbst noch nicht unmittelbar be-
droht sind.
Die Erzählung fördert diess in strenger chronologischer Ordnung zu Tage; und
in Beziehung auf die Geschichtschreibung als Kunst, ist das Werk der erste Versuch,
die Geschichte so mannigfaltiger Erscheinungen, wie das Europäische Staatensystem
sie darbietet, nach ihrer Aufeinanderfolge einheitlich in ununterbrochenem Zusammen-
hange darzustellen und eben dem thatsächlichen Verlaufe beim Wechsel der Europäi-
schen Staatsangelegenheiten die gänzliche Hingabe des Geistes zu widmen. 7
Leitfaden der Gepngrapbie
für
Selundarfchulen.
Bon
N. NMNievergelt,
Sefundarlehrer.
Preis 12 Nor. oder 36 fr. oder 1 Fr. 45 Gt.
&8 gibt bereits eine große Zahl geographifcher Lehrbücher, unferes Wiffens aber geinee
das den Bedürfniffen unferer Sekundarfchulen entfpräcdhe. Ein foldhes zu liefern, war bie
Abficht des DVerfaflers obigen Lehrmittels. Derfelbe fucht namentlich auch den bloßen Gevädht-
nißftoff auf das Nothwendige zu befchränfen und dagegen Stoff zum Denken und Kombiniven
zu bieten, wodurd, der geographifche Unterricht erft Leben und Intereffe gewinnt, E
Monaissehrilt
des
| WISSBNSCHAFTLICHRN VEREINS
in
ZÜRICH.
| Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben :
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Er g ..
| FERDINAnD Hırzıs, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, HEINRICH FrEy,
I:
ApoLr ScHmipr, EDUARD BoBRIR.
(Hauptred.: Anoır Scauipr.)
BRIETBER JALESGARE.
Sicbentes and uchtes Bekt.
|
En
VERLAG von MEYER & ZELLER.
1856.
eher
Preis für den Jahrgang 4 Thlr. = 14 Fr.
s
Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver-
fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet,
. mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender
und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde-
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter
sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen,
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitgetheilt werden. 3
Inhalt des borliegenden Befts :
Die Reformbestrebungen des Kaisers Galba. Von ApoLr ScHniıDT ne. 280
Theodoret und Origenes oder der letzte Freiheitsruf der orientalischen N
Kirche, _N0U2.0: SV OLEMAR 2% 3.7: „ol en 1. Er a De
Die Handwerker-Frage in unserer Zeit. Grundlinien zur Beurtheilung und
Behandlung derselben. Von Dr. Karı Knıes . . » 2 .2.0.0.0837
Ueber die Cholera in der Schweiz. Von Prof. Dr. Lesern . . ... .:.355
Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von MEYER-AHRENS, 4
H. Schweizer, Knıes, Frey, Hırzıo, Bosrık, Schmipr, FRıTzschE, VIScHER
und Anderen.
Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des
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Moussox. Mürter. Nägesı. v. ORELLI. OSENBRÜGGEN. RAABE. SCHLOTTMANN. "
Av. Scumipr. H. Schweizer. G. SEMPER. STÄDELER. F. VıscHER. VoLKMAR.
R. Woır. G.v. Wyss.
Druck von E. Kiesling in Zürich.
- DIE REFORM-BESTREBUNGEN DES KAISERS GALBA*).
Von ADOLF SCHMIDT.
Unter fünf Regierungen hatte Galba Erfahrungen gesammelt ;
seine Erinnerungen reichten bis in die Zeit hinauf, da die Freiheit
des Gemeinwesens noch in lebendigem Andenken stand. In Gesinnung
und Denkweise wie in Sitten und Gebräuchen mit den Altvordern
wetteifernd, liebte und verehrte er auch die Verfassung der alten Zeit,
und wohl mochte die Wiederherstellung des Freistaates der Inhalt
seiner Jugendträume sein. Doch als mit zunehmendem Alter auch seine
Erfahrung heranreifte, da erkannte er mit allen tiefer blickenden Zeit-
genossen, dass jener Traum nur ein Wahn und die frühere Form eben
zerbrochen sei durch die drängende Gewalt der neuen Zustände; dass
die Römer der Gegenwart ebensowenig mehr einer völligen Freiheit
wie einer völligen. Knechtschaft fähig, und der unermessliche Staats-
körper nicht ohne Einheit des Regimentes in Bestand und Gleichge-
wicht zu erhalten wäre).
Nicht die Republik also gedachte er zurückzurufen, sondern die
Monarchie von den Gebrechen zu heilen, die er selbst unter den vier
letzten Herrschern hatte keimen und zu so riesenhafter Grösse auf-
schiessen sehen, dass sie den Staat mit völliger Entsittliehung bedrohten.
Var diese Heilung sein Wunsch, so durfte er auch den Thron nicht
;
zurückweisen, in dessen Besitz ja die alleinige Möglichkeit “der Voll-
bringung lag?).
Durch Despotismus, Soldatengunst und Verschwendung der frühern
Höfe waren die wichtigsten Zweige der Verwaltung verwildert; ent-
kräftet die Justiz, verderbt das Militair, zerrüttet die Finanzen;
*) Die folgende Abhandlung, Bestandtheil einer grösseren Arbeit, wurde
schon im Jahr 1839 entworfen. Da sie wesentlich auf der aus Aegypten stammen-
‚den griechischen Inschrift des Tiberius Julius Alexander fusst und diese, meines
Wissens, noch immer nicht von historischer Seite ausgebeutet ward: so wird
auch jetzt noch ihr Erscheinen berechtigt sein. Nur die zahlreichen Anmerkungen
erläuternden, kritischen und polemischen Inhalts habe ich beseitigt, weil sie mir
hier nicht am Orte schienen.
1) Galba’s Rede b. Tac. Hist. 1, 16.
2) Plut. Galb. 29. Dio Cass. b. Xiphilin. 64. 2.
Wissenschaftliche Monatsschrift 8
in Allem für Reformen der Spielraum unermesslich, ein abschreckendes
weil gefahrdrohendes Labyrinth. Galba wagte, es zu betreten, aber er
verirrte sich, weil er die leitenden Fäden nicht fand, oder weil die
gefundenen fremde Tücke bald verwirrte, bald zerriss.
Um die Reformen zu wollen, bedurfte es der Liebe zur Gerech-
tigkeit, Strenge und Sparsamkeit. Galba besass diese Eigenschaften
und daher den Willen; allein zur Ausführung gebrachen ihm die
vermittelnden Kräfte: Scharfsinn im Erkennen, Selbstständigkeit im
Beschliessen, und Entschlossenheit im Handeln.
I. Justizverwaltung.
Verworren waren zumal, bei der Umkehrung aller natürlichen
Begriffe, die Verhältnisse des Rechts; denn als Uebelthäter
galt zu Nero’s Zeit der Unbescholtene, der Lasterhafte als loyaler
Unterthan;; jener ward verpönt und verfolgt, dieser belobt und ange-
spornt zu immer grösserer Frechheit durch Ehren und Gewinn 1). An
schwindelndem Abgrund hing der Staat, umgetrieben durch die lech-
zende Gier der Angeberei. Herein brach dieses Uebel, seit die Straf-
gesetzgebung den Geld-Interessen dienstbar ward, seitdem man in ent-
zogenen und erledigten Gütern (bona erepta, vacantia), im Caducitäts-
Princip (bona caduca), in der Einziehung des Eigenthums der Verur-
theilten (bona damnatorum) Mittel zur Bereicherung des Schatzes suchte.
Es wuchs, je mehr der Unterschied zwischen Staats-Aerar und Kron-
Fiscus sich verwischte oder zu einem bloss äusserlichen ward, je mehr
man dem letzteren zuwandte was ursprünglich dem ersteren zustand.
Es erreichte den höchsten Grad von Umfang und Tiefe durch die
Ausbildung der Majestätsgesetze, durch das Streben Hochverrath zu
entdecken und die Willfährigkeit Entdeckungen zu belohnen ?). Daher
das ekle Gewirre delatorischer Umtriebe in der bürgerlichen und eri-
minellen Gesetzgebung.
Schon zur Zeit des Tiberius war das schleichende Gift kaum
vorübergehend in vereinzelter Richtung hemmbar, das Papisch-Poppäische
Gesetz allein hinreichend, durch einträgliche Ausspürungen das Glück
und die Sicherheit jedes Hausstandes zu gefährden; und nicht in Rom
bloss, in ganz Italien, in allen Provinzen, so weit nur römisches Bür-
gerrecht galt. Jede Art von Schlechtigkeit war im Gefolge dieses
unheilbringenden Gewerbes, das bei so vielfältigem Stoffe überall
Nahrung, doch nirgend Sättigung fand, und der Majestät halber an
1) Tac. Hist. 1, 2. A
2) Plin. Panegyr. 42. Tac. Ann. £, 30.
— 2397 0 —
der Verläugnung alles menschlichen Gefühls keinen Anstoss nahm.
Nicht der Verwandte schonte des Verwandten, nicht der Freund des
Feindlosen, nicht der Sohn des greisen Vaters. Verhöhnt wurden
die geselligen Verhältnisse, zerrissen die Bande der Pietät; sorglos
entschlüpfte Worte lauernd aufgefangen. Nirgend mehr Vertrauen, nur
Schrecken und Furcht; Jeder mied den Andern; mit dem Guten hielt
es Niemand, mit dem Bösen der Bösewicht!). Während wirklich Un-
schuldige durch Verläumdung zu Grunde gingen, wurden wahrhafte
Verbrecher durch Collusionen häufig geborgen. Jene gereichte dem
Fiseus zum Vortheil, Scheinklage und Rücktritt aber zum Schaden.
Deshalb war das Remmische Gesetz der Republik, welches Strafe
gegen die Verläumder verhängte, nach und nach unter den Kaisern
aus der Uebung gekommen und zu Nero’s Zeit fast schon verschollen ;
während zu Gunsten der kaiserlichen Interessen der unterwürfige Senat
zunächst einen Strafbeschluss gegen die Tergiversatoren auf Betrieb
des Petronius Turpilianus, und hierauf auch einen zweiten gegen die
‚Prävaricatoren erliess, auf welche, wie zur Ironisirung des Begriffs,
die Strafe der Verläumder übertragen ward?). So musste augenschein-
lich, als Nero fiel, das Uebel noch strotzender wuchern, als da Tiberius
Kaiser war. Derselbe Jammer in der Provinz, wie in Rom und Italien ;
dieselben Klagelaute durch die Denkmäler Aegyptens, wie durch die
Berichte des Taeitus verewigt. Schon, heisst es dort, sei Alexandria
fast verödet, jeglicher Hausstand erschüttert durch die zahllose Menge
unermüdlicher Angeber ?).
Und diesem Uebel nun wollte Galba lindernd, hemmend, vertilgend
in den Weg treten; sicher, bei den Bessern, auch wenn sie der Gefahr
glücklich entgangen, schon allein um der Sache Willen Anklang und
Unterstützung zu finden; während alle Unterdrückte das plötzlich ent-
fesselte Rachegefühl zu höchstem Eifer antrieb. Ohne Zweifel hatte
Galba seine Absicht schon vor seiner Ankunft in Rom durch Pro-
elamationen und Edicte, sowohl den Bewohnern Italiens, wie den Pro-
vinzen kund gethan.
So kam bald nach Nero’s Tode unter Galba’s Auspieien ein
Senatsbeschluss zu Stande von rückwirkender Kraft: „Eine Unter-
suchung solle eröffnet, die einzelnen Ankläger aus der Neronischen
Zeit belangt und die der Verläumdung schuldig befundenen Delatoren,
1) Tac. Ann. 3, 25. 28. 4, 28—30. Reimar. ad Dion. Cass. 62 n. 122.
2) Tac. Ann. 14, 41. vgl. Cie. pro Rose. Amer. c. 19. Marcian. in Dig. 48, 16.
®) Edict. Tib. Jul. Alex. lin. 40. 41. Vgl. Rudorff, Rhein. Mus. Jahrg. IL
Heft 2. S. 182 £.
— 288 —
ihre Helfershelfer und Mandatare nach dem Brauche der Vorväter
bestraft werden '!).“ Dadurch mag manche Bestimmung des Remmischen
Gesetzes wieder: volle Gültigkeit erlangt haben. Aber die Sühne
Einzelner genügte nicht, gesteuert musste dem Uebel für die Zukunft
werden. Dass auch dies versucht ward, bezeugt zunächst für Aegypten
und mittelbar wohl für alle Provinzen, für den Gesammtstaat, das
Edict, welches der Statthalter Tiberius Julius Alexander am 6. Juli
68 in Alexandria ausschrieb und der Unterpräfeet der thebaischen
Oase, Julius Demetrius, unter dem 28. September veröffentlichte 2).
Danach sollte einmal dem Angeber nicht gestattet sein, eine durch
den Prokurator des Fiscus schon durch Freisprechung entschiedene,
gleichviel ob eriminelle oder rein pecuniäre Sache, nochmals zu de-
nuneiren, widrigenfalls derselbe unwiderruflich in Strafe verfallen würde;
denn kein Ende sei der Angebereien, wenn durch Freisprechung Ent-
schiedenes immer wieder und so lange vorgebracht werden dürfe, bis
endlich einmal ein verdammendes Urtheil erfolge. Ferner sollte fortan
der Angeber, welcher als abgeordneter Mandatar eines Dritten auf-
trete, diesen seinen abordnenden Mandator namhaft machen, damit
derselbe, wofern die Delation falsch sei, gleichfalls zur Strafe gezogen
werden könnte. Endlich sollte, wer im eigenen Namen dreimal denun-
eirt und keinmal seine Angabe bewiesen habe, nicht nur nie wieder
als Angeber auftreten dürfen, sondern überdies der Hälfte seines Ver-
mögens verlustig gehen; denn völlig ungerecht sei es, dass derjenige,
welcher das Vermögen und die bürgerliche Ehre so vieler Anderen
blosstelle, selbst aller Verantwortlichkeit überhoben sei).
Dennoch war die Gesammtheit dieser Maassregeln nur ein Pal-
liativ. Um eine dauernde Abhülfe, wie man sie beabsichtigte, zu be-
wirken, hätten die Heilmittel mehr negativ als positiv sein müssen;
denn der eigentliche Grund des Uebels lag in der frühern Gesetz-
gebung*). Hier musste man also revidiren, und namentlich die fiscalischen
oder Kron-Interessen, welche zur Begünstigung und Aufmunterung des
Gelichters der Angeber den schlimmen Regenten regelmässig Sporn
und Lockung waren, so viel als möglich aus dem Criminal- und Pri-
vatrechte ausmerzen — ein Weg, den späterhin Hadrian betrat, indem
er wenigstens die Güter der Verurtheilten, die Tiberius zuerst in den
Fisceus geleitet, diesem wieder entzog und dem Staats-Aerar überwies).
1) Taec. Hist. 2,10. 4, 42. Zonar. (nach Dio) p. 571 C.
2) Edict. Tib. Al. lin. 1—3.
3) Lin. 33—44. ef. Ed. Capitonis lin. 29. 30.
4) Vgl. Tac. Ann. 3, 25.
5) Historia Aug. in Adrian. 7. vgl. Tac. Ann. 16, 2.
y
'
— 289 —
Damals aber, anstatt das alte Unkraut, damit nicht die neue Saat
gleich einem verderbten Boden anheimfalle, bis auf die Wurzeln aus-
zujäten, begnügte man sich im Wesentlichen nur die äusserlich sicht-
baren Theile desselben wegzuschneiden; und auch das gelang nicht
vollkommen. Der Natur der Sache gemäss ward jener Senatsbeschluss
vielfach missbraucht und umgangen, bald auf’s Strengste gehandhabt,
bald völlig entkräftet; je nachdem der Belangte hülflos oder mächtig
war, und die Majorität des Senates, dem Verhör, Untersuchung und
Entscheidung zustand, ein grösseres Interesse dabei hatte, zu verur-
theilen oder freizusprechen. Zwar gerieth zuweilen die Bosheit so in
die Enge, dass der Schuldige durch den Schuldigen fiel; doch ent-
gingen auch der Gefahr Leute wie Aquilius Regulus, Marcellus Eprius
und Vibius Crispus, welche als Vorbilder in der Angeberzunft he-
trachtet wurden !). Dabei war die Lage des Kaisers zwiefach bedenk-
lich. Denn gerade bei den bedeutsamsten Fällen wurden die meisten
und angesehensten Personen blossgestellt. Drang er nun mit Strenge
durch, so war des Gewirres kein Ende und die Folge vielfältiger
Hass; schlug er aber die Untersuchung nieder, dann konnte er nicht
dem Vorwurf der Ungerechtigkeit von Seiten der Widerpart und der
Parteilosen entgehen. So geschah es auch, als Helvidius Priscus sich
als Rächer seines Schwiegervaters des berühmten Thrasea stellte und
den Angeber desselben, den Marcellus Eprius anklagte. Zwar begann
der Streit mit grosser Erbitterung und Beider Reden bewunderte die
Nachwelt als etwas Ausgezeichnetes. Allein da sich im Senate Partei-
lichkeit geltend machte, weil der Fall des Marcellus den vieler Andern
nach sich gezogen hätte, und da eben deshalb auch Galba in Zweifel
geriet und die Beilegung der Sache zu wünschen schien: so gab
Helvidius endlich den Vorstellungen eines grossen Theils der Sena-
toren nach und stand für den Augenblick von der Anklage ab?). Er
war so eben erst auf Galba’s Veranlassung aus der Verbannung heim-
gekehrt, durch die er unter Nero den Vorzug gebüsst, Thrasea’s Eidam
und seiner würdig zu sein.
Denn dieselbe Gesinnung, aus welcher die Verfolgung der falschen
Angeber floss, bedingte von Seiten Galba’s zwei andere mit jener eng
verschwisterte Massregeln. Einmal nämlich wurden alle der Majestät
wegen unter Nero Verwiesene amnestirt und dem Vaterlande, dem sie
meist wie Helvidius zur Zierde gereichten, wiedergeschenkt. Andrer-
seits aber wurden die Sklaven, welche bei der früheren Zerrüttung
1) Tac. Hist. 2, 10. 4, 6. 42.
2) Tac. Hist. 4, 6. Schol, ad Juven. 5, 36.
— 20 —
aller Familienbande durch Thaten oder Worte — was jede bessere
Zeit verpönte — wider ihre Herren aufgetreten waren, diesen zu
strenger Ahndung überantwortet. Doch obgleich für beifallswürdig
erachtet, gab wider Galba’s Erwartung das Erstere dennoch zu üblem
Gerede, das Letztere nicht zu vollem Danke Anlasst). Denn meist
ohne alle Habe kehrten die Edlen sammt Weib und Kindern heim,
hoffend, neben der Wiederherstellung ihres Rufs auch den Wiederbesitz
ihres frühern Eigenthums oder Entschädigung zu erlangen; allein die
ehemals eonfiseirten Güter waren grösstentheils längst verschleudert,
die gänzlich erschöpften Staatsfonds der Uebernahme so grosser Ver-
pflichtungen nicht gewachsen, und Galba daher wenigstens vor der
Hand wohl nur Wenigen zu willfahren im Stande. Was die Regu-
lirung dieser Angelegenheit verzögerte, bis endlich die drängende Fluth
der Ereignisse sie vollends unterbrach, war durchaus nicht eine ab-
sichtliche Vorenthaltung, wie böser Leumund vielleicht behaupten
mochte, sondern die unüberwindliche Menge eigenthümlicher Schwie-
rigkeiten, welche sich in der Geschichte unter ähnlichen Verhältnissen
jederzeit wiederholen. Die Sklaven aber wies Mancher ganz zurück,
es vorziehend lieber keine als schlimme Knechte zu besitzen ?).
Auch Nero’s verbrecherische Freigelassene und Günstlinge sollte
das Strafgericht ereilen. Der Volkswuth waren nicht wenige entronnen;
jetzt fielen die meisten der noch Uebrigen durch Henkershand zur
Sühne der Ordnung und Gesetzlichkeit, die sie tausendfach gehöhnt;
unter ihnen Patrobius, Polykletus, Vatinius, Elius, Petinus, Nareissus
und die Giftmischerin Locusta. Als man sie gebunden durch die
Strassen und über den Markt hin zur Richtstätte führte, jauchzte das
Volk, pries den gottgefälligen Aufzug, lobte den Rächer. Als man
jedoch unter den Verurtheilten den verhasstesten und verworfensten
der Neronianer, den Tigellinus, vermisste: da stutzte man, heischte
auch seinen Tod und schmähte den Schützer. Denn Galba glaubte
Nero’s schändlichsten Genossen schonen zu müssen, um nicht in ihm
dessen mächtigsten Verräther, den eigenen Parteigänger zu strafen.
Der Minister Vinius aber versteckte bei seinen Befürwortungen hin-
ter dem Scheine gutherziger Dankbarkeit die gemeinste Habsucht.
Dass Tigellinus ihm einst die Tochter gerettet, schützte er bei Galba
mit Ruhmredigkeit als Grund seiner Theilnahme vor; dass er aber
für diese Theilnahme im Voraus Geld empfangen und im Fall des
Gelingens noch mehr erwarte, behielt er als Geheimniss für sich. Als
1) Zonar. (nach Dio) p. 571 D. Tac. Hist. 2, 92. Plut. Oth. 1.
2) Dio Cass. in Nov. Coll. U. p. 216.
TR REES ET
—_ Mi —
nun das Volk von seiner blutigen Forderung nicht abliess, sondern
bei jeder öffentlichen Gelegenheit, in Theatern und Rennbahnen sie
stürmischer wiederholte: da erschien endlich ein Ediet des Kaisers,
worin das Benehmen der Menge als rücksichtsloser Blutdurst und
unbeugsamer Eigensinn ausgelegt ward. „Schon stehe Tigellinus am
Rande des Grabes, hinwelkend durch zehrende Krankheit; nicht möge
man trachten, des Kaisers Regierung in eine grausame Tyrannei zu
verwandeln.“
Dem betroffenen Volke zum Hohn feierte Tigellinus seine Rettung
durch Dankopfer und ein glänzendes Bankett. Hier erschien denn auch
Vinius mit seiner verwittweten Tochter Crispina. Der bewies der greise
Wüstling eine dankbare Galanterie; dass er ihr 250,000 Drachmen
zugetrunken und seine vornehmste Coneubine auf sein Geheiss ihren
Halsschmuck von 150,000 Drachmen an Werth als Geschenk derselben
umgehängt, ward ebenso allgemein geglaubt als erzählt. Tigellinus
aber war nicht der einzige Gerettete. Aehnliche Bösewichter wurden
auf ähnliche Weise geschützt, ja befördert, namentlich der berüchtigte
Verschnittene Halotus, welchem seit des Claudius Tode der Verdacht
des Kaisermordes anhaftete; jetzt erhaschte er ein ansehnliches Amt.
Auch der Freigelassene Crescens blieb unangetastet sammt seinen
Reichthümern, die ihn nachmals in den Stand setzten, durch Fütterung
des carthagischen Pöbels alle Städte der Provinz Afrika zur schnellen
Anerkennung Otho’s zu veranlassen !).
Neben dem Senate als oberstem Gerichtshof in Criminalsachen,
war unter der Leitung der Prätoren sowohl für Criminal- als Civil-
Justiz der eigentliche Richterstand wirksam. Dieser brachte bei Galba
eine Petition ein, welche uns auf die Art seiner geschichtlichen Ent-
wicklung zurück weist.
Erst mit der Bildung bleibender Geschwornengerichte, wie zu-
nächst das Calpurnische Gesetz über die Repetunden in Folge der
sich häufenden Fälle im Jahre 605 der Stadt sie anordnete, konnte
derselbe als eine eigenthümliche Corporation in's Leben treten?). An-
fangs waren nur Senatoren wahlfähig. Seit den Graechischen Gesetzen
aber wurde die Competenzfrage ein so ausgezeichnetes Objeet des
Factions-Eifers, dass wohl kaum irgend ein anderes Institut in seinem
Bildungsgange so grossen und so vielen Wechselfällen unterlag. Jedes
folgende Decennium des 7ten Jahrhunderts d. St. weist ein oder mehre
4
1) Tac. Hist. 1, 37. 47. 49. 72. 76. Ann. 14, 51. 15, 37. Suet. Galb. 20. 15.
Plut. Galb. 17. Dio Cass. b. Xiph. 64, 3. 62, 13. 63, 15. in Nov. Coll. IL: p. 215.
2) Vgl. Klenze fragm. leg. Servil. proleg. p. X.
— 292 —
Gesetze auf; welche je den Wahlmodus der frühern umstiessen oder
modifieirten. Fast alle nur möglichen Phasen wurden durchlaufen, und
bald die Ritter, bald die Senatoren allein, bald beide Stände, bald
zugleich auch der dritte, der plebejische, zur Aufnahme in das Album
berechtigt. %
Zu Ende der Bürgerkriege war der Richterstand in drei Decurien
eingetheilt, wobei die Zahl der Ritter überwog. Durch Augustus wurde
die ganze Gerichtsbarkeit neu organisirt und zur Erleichterung der
allerdings vielfältigen und mühseligen Geschäfte sowohl eine vierte
Decurie hinzugefügt, als partielle und allgemeine Ferien bewilligt.
Jede Decurie sollte abwechselnd ein Jahr und alle insgesammt während
der Monate November und December von der Ausübung ihres Amtes
suspendirt seinl). Die wachsende Menge der Prozesse bewirkte im
Verlaufe noch weitere Erleichterungen. Cajus Caligula errichtete eine
fünfte Deeurie 2), und Claudius gestattete für den Winter und den
Jahresanfang den Richtern Vacation ®). Als diese nun auch bei Galba,
gleicher Nachgiebigkeit gewärtig, die Anordnung einer neuen sechsten
Deeurie beantragten: da ward nicht nur dies Gesuch völlig abge-
schlagen, sondern ihnen auch die von Claudius bewilligte Ferienzeit
wieder entzogen®). Denn dem Kaiser dünkten diese Gerichtsferien ein
Missbrauch und jene Forderung ein Beweis von Lässigkeit und üblem
Willen. Seine unerwartete reformatorische Strenge aber musste auch
in dieser Sphäre Unzufriedenheit erregen.
II. Finanzverwaltung.
Gleichzeitig richtete Galba sein Augenmerk auf die Finanzen. In
die Verwaltung derselben hatten sich durch das ganze Reich mannig-
fache Missbräuche und Anmassungen eingeschlichen. Die Geschichte
hat uns die allgemeinen Klagen der Gesammtheit des Reichs), sowie
einzelner Theile: Galliens®), Spaniens”), Britanniens®), Aegyptens aus
der Neronischen Zeit aufbewahrt. Im Besondern aber ist es wieder
nur Aegypten, welches uns über diese drückende Lage der Provinzen
und zugleich über die Mittel Aufschluss gibt, die unter Galba’s Re-
1) Suet. Oct. 32. Plin. H. N. 33, 2.
2) Plin. H.N. 33, 2. Suet. Calig. 16.
3) Suet. Galb. 14. Claud. 23.
4) Suet. Galb. 14.
5) Tac. Ann. 13, 50.
6) Dio Cass. 63, 22.
7) Plut. Galb. 4. na
8) Zonar. p. 570 B.
— 293 —
gierung zur Abhülfe angewandt wurden. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, dass die Durchführung der Reformen von Seiten der Statt-
halter auf Grund kaiserlicher Edicte und Instructionen geschah. Ueber
die Art derselben können die Verhältnisse Aegyptens grossentheils
zum Beispiel und Maasstab dienen. Manche schwülstige Aeusserungen
in dem Edicte des Statthalters Tiberius Alexander, sowohl zu Anfang
wie am Schlusse, über Glück und Heil der neuen Gegenwart sind
freilich nur Floskeln, doch insofern nicht ohne Bedeutung und ein
Zeugniss für Galba’s kraftvolle Gesinnung, weil die Schmeichelei sich
hier nicht als Begleiterin der Schlaffheit, sondern strengen Handelns
kundgibt.
Eine der Hauptbeschwerden betraf den Zwang zu Staatspachtun-
gen. Der Natur der Sache gemäss war die Abschliessung eines Pacht-
Contravtes mit dem Staate dem freien Willen eines Jeden anheimge-
stellt). Nichts desto weniger wurden die Alexandriner und Aegypter
häufig ohne Weiteres genöthigt, die Pachtung der Zölle sowohl als
der Staatsdomainen zu übernehmen?). Diesen Zwang nun, der nicht
nur der Ordnung und dem Rechte, sondern sogar den Interessen des
Fiscus zuwiderlief, insofern dieselben auf solche Weise oft unerfahrenen
und missmuthigen Subjeeten preisgegeben wurden, hob der Statthalter
Tiberius Alexander für die Zukunft auf, betheuernd, dass er selbst
sich dieses Mittels nie bedient?).
Ein anderer Klagegrund betraf den Missbrauch des fiscalischen
Schuldrechts durch Anwendung desselben auf Forderungen der Pri-
vaten. Die römische Gesetzgebung hatte im Laufe der Zeit von ihrer
uralten Strenge gegen die Schuldner, wie sie im Zwölf-Tafelgesetz sich
ausspricht, zu mildern Grundsätzen sich bekehrt und endlich durch
das Julische Gesetz, welches später vermöge kaiserlicher Constitution
auch auf die Provinzen ausgedehnt ward, jede persönliche Haft in dem
Fall aufgehoben, dass der Schuldner sein Vermögen freiwillig den
Gläubigern zum Verkauf darbiete. In wieweit damals schon dies Pri-
vileginm den verschiedenen Provinzen zu Statten kam, ist nicht aus-
gemacht. In Aegypten wenigstens war völlig unbedingte persönliche
Freiheit des Schuldners schon seit uralten Zeiten rechtlich anerkannt,
und von Augustus, wie es scheint, durch eine Constitution für alle
N1L.88$1.u.L. 1185 de publicanis. L.3 $ 6 de jure fisci. Rudorff, a. a. O.
S. 161. -
2) Denn den Equitibus Rom. ilustr., die in andern Provinzen die Publicanen
eten, war ja der Zugang in Aegypten aus Politik verwehrt. Tac. Ann. 2, 59.
3) Ed. Tib. Al. lin. 10-14.
Privatbeziehungen ohne Einschränkung bestätigt worden. Nur dem
Fiseus stand das Recht zu, seine Forderungen mittelst persönlicher
Execution zu verfolgen, seine Schuldner in ein eigenes Schuldgefäng-
niss, das Praktorinm, einzusperren und vielleicht noch härtere, körper-
liche Zwangsmittel anzuwenden !). f
Nun nahmen es sich aber die Beamten des Fiseus nicht selten
heraus, ihre Privat-Schuldner als fisealische zu behandeln und sie in’s
Praktorium oder auch in besondere, für diesen Zweck hergerichtete
Gefängnisse einzusperren; ja sie gingen sogar so weit, sich von Andern
Schuldforderungen cediren zu lassen, um sie auf diese Weise zu ver-
folgen. Auch dieser Missbrauch ward jetzt streng verboten und von
Neuem eingeschärft, dass der Privatgläubiger sich gemäss der Verord-
nung des Augustus nur an das Vermögen, nicht an die Person des,
Schuldners halten dürfe, dass Beamte fernerhin weder auf den Namen
des Fiscus sich Anderer Privatforderungen sollten cediren lassen, um
einen Vorwand zu persönlicher Exeeution zu erlangen, noch dass sie
eigene und ursprüngliche mittelst dieses fisealischen Vorrechtes sollten
verfolgen dürfen. Das Praktorium sei nur für Schuldner des Fiseus,
aber kein Freier, mit Ausnahme des Verbrechers, irgend einer persön-
lichen Haft unterworfen ?).
Hiermit genau verbunden waren die Verordnungen gegen die
widerrechtliche Ausdehnung des fiscalischen Privilegium exigendi oder
der Protopraxie, mittelst Anmassung eines stillschweigenden
Pfandreehts und eines rückwirkenden Vorzugs gegen andere Gläu-
biger, wodurch aller Verkehr und Wandel, Credit und Recht unter-
graben wurde. Es hatten nämlich nicht selten die Beamten des Fiseus
von einem andern Gläubiger des fiscalischen Schuldners ein ihm von
diesem gesetzlich überantwortetes Pfand oder eine schon verabfolgte
Schuldzahlung zurückgefordert, sowie auch Sachen, die ein fisealischer
Schuldner verkauft, von den Käufern in Anspruch genommen). Die
schreiendsten Ungerechtigkeiten mochten auf diese Weise verübt, die
frechsten Bereicherungen bewirkt worden sein, indem man entweder
mehr noch erpresste als die Forderung selbst betrug, oder indem man
um der Erpressung willen irgend ein Schuldverhältniss fingirte und
zum Vorwand nahm.
Um nun zugleich jedem Missbrauch der Art zu steuern und die
fiscalischen Interessen doch möglichst zu schützen, wurde den Procura-
1) Ed. Tib. Al. lin. 16-18, Vgl. Dio Cass. 1, 79.
2) Lin. 15—18. a
®) Lin. 18—21.
— 29 —
toren aufgetragen: wenn ein dem Fiseus Verpflichteter in Betreff‘ der
Zahlungsfähigkeit verdächtig erscheine, entweder seinen Namen zu be-
legen d. h. durch öffentliches Ausschreiben vor Verträgen mit ihm zu
warnen, oder einen Theil seines vorhandenen Guts als Pfand öffentlich
zu deponiren. Sei keine dieser Vorkehrungen getroffen, wodurch allein
später eingegangene Obligationen, Verpfändungen und Käufe ungültig
würden : dann dürfe kein anderer Gläubiger in seinem gesetzlich er-
worbenen Pfandrecht beunruhigt, oder die Rechtmässigkeit der von
ihm empfangenen Zahlungen bestritten, kein Käufer in dem Besitz des
Erkauften gefährdet werden. Ueberdiess verstehe es sich von selbst,
dass den Bestimmungen von August's Constitution gemäss, beim Con-
curs oder der Immission die Dotalforderung der Ehefrau vor den
Ansprüchen des Fiscus den Vorzug habe, da der Werth der Mitgift
nicht zum Nettovermögen des Mannes gehöre).
Drückend war auch die mannigfache Willkür in der Besteuerung
und in der Uebertragung öffentlicher Aemter, Leistungen oder Litur-
gien. Denn keine hierauf bezügliche lossprechende Entscheidung früherer
Kaiser und Präfecten wurde geachtet. Seit langer Zeit bestanden in
Aegypten, sowohl für ganze Städte wie für einzelne Privatgrundstücke,
vielfach allgemeine oder theilweise Steuerfreiheiten in Betreff einer
jeden der Abgaben — unter denen die Grundsteuer in Geld und
Früchten obenanstand. Mochten diese Privilegien auch Manchen ge-
hässig dünken : sie durften nicht ohne Weiteres eigenmächtig und
ungesetzlich aufgehoben werden; vollends wenn ihre Aufhebung nicht
sowohl dem Staate als der Habsucht Einzelner zu Statten kam. Dennoch
hatten die Statthalter von Flaccus an, der Allen das Beispiel gab, bis
Postumus, ohne Rücksicht auf die Exemtionen das regelmässige Steuer-
quantum eingetrieben. Kaiser Claudius hatte zwar durch einen Erlass
an Postumus die Steuerfreiheiten der Verletzten bestätigt, mancher
spätere Präfeet aber nichts destoweniger das ungereehte Verfahren des
Flaccus wiederum befolgt. Nur Vestinus und Balbillus waren dem
Mandate des Claudius treu geblieben.
Neuerdings ward dasselbe, wie es scheint, durch Cxeina Tuseus
verletzt. Auf die Klagen darüber und auf das dringende Ansuchen
um Aufrechthaltung der Privilegien stellte jetzt Tiberius Alexander in
Galba's Namen das rechtliche Verhältniss wieder her, doch so, dass
die Steuern den Privilegirten zwar für die Zukunft erlassen sein, die
schon erhobenen aber nicht wieder herausgegeben werden sollten ?).
4) Lin. 21-26.
2) Lin. 26—29.
— 29% —
Insbesondere ward auch die Immunität freier Grundeigenthümer
von bäuerlichen Lasten anerkannt und hergestellt. Namentlich hatte
man noch aus der Zeit von Flaceus und Postumus her von denen,
welche damals Grundstücke für den vollen Werth dem Fiscus abge-
kauft, mithin nur zu der gewöhnlichen Grundsteuer verpflichtet waren,
gegen alles Recht noch ausserdem bäuerliche Grundzinsen eingetrieben
— als wären sie unfreie kaiserliche Colonen, oder doch blosse Pächter
ohne volles bonitarisches Eigenthum an ihren Grundstücken. Tiberius
Alexander erliess nun auch gegen diesen Missbrauch, nach dem Vor-
gange des Vestinus, ein Verbot, natürlich ebensowenig von rückwir-
kender Kraft in Betreff des schon Entrichteten !).
In Bezug auf die öffentlichen Aemter und Leistungen ward
bestimmt, dass den Privilegien der Kaiser gemäss, den eingebornen
Alexandrinern, welche ihres Geschäfts halber in Alexandria wohnten,
keine fremdartigen Aemter aufgedrungen werden sollten; namentlich
keine landschaftlichen, wohin zum Beispiel die Strategien über die.
ägyptischen Nomen gehörten. Diese sollten also nur an nicht-alexandri-
nische Provinzialen übertragen werden, und zwar, wie ausdrücklich
bestimmt ward, nur nach ermittelter Befähigung und immer nur auf
drei Jahre. So waren alexandrinische und ägyptische oder landschaft-
liche Dienstleistungen und Aemter auf’s Schärfste gesondert. Alexandria
war, wenn nicht die erste, doch die zweite Stadt der Welt, jedenfalls
der grösste Handelsmarkt der Erde, der blühendste Mittelpunkt der
Gewerbthätigkeit, die regsamste Fabrikstadt des Orients, in welcher
Niemand zum Müssiggang Zeit hatte. Daher ihre Wichtigkeit für Rom;
daher die mannigfache Bevorzugung ihrer Bewohner vor denen der
Landschaft; daher endlich für den Aegypter die alexandrinische Civität
die unumgängliche Mittelstufe zur Erlangung der römischen?).
Um nun aber in allen administrativen Angelegenheiten überhaupt
der Ungerechtigkeit jeden Schleichweg zu versperren, jede Intrigue
der Habsucht zu verhindern, und in Betracht der unheilvollen Wir-
kungen, welche schon zeither die Quälereien und Chikanen der Fi-
nanzbeamten herbeigeführt, indem viele Privatpersonen es für einen
geringern Verlust erachteten, ihrem Eigenthum ein für alle Mal zu
entsagen, als sich nie endenden Drangsalen, unablässigen Forderungen
zu unterziehen: ward der allgemeine Grundsatz aufgestellt, dass,
1) Lin. 29-32.
2) Lin. 32—35. Vgl. Diod. 1, 50. Strab. p. 798. 758. Hadriani epist. ap.
Vopisc. Saturn. c. 8. Joseph. c. Apion. 2, 3—5. Philo in Flace. p. 750. Plin.
ep. 10, 22.
— 297 0 —
wenn irgend eine Finanz- oder Steuersache schon einmal von irgend
einem Präfeeten absolutorisch entschieden sei, sie nicht wieder unter-
sucht, und wenn dieses von zweien bereits geschehen, der Finanz-
beamte, der sie zum dritten Mal vorbringe, sogar zur Strafe gezogen
werden solle. Derselbe Grundsatz ward, wie wir schon früher sahen,
nur mit noch schärferen Modificationen und unter anderen Nebenbe-
ziehungen auch gegen die Angebereien, sowohl in Bezug auf Finanz-
als Criminalsachen in Anwendung gebracht t).
Endlich richtete sich die Reform gegen diejenigen Arten von
Erpressungen, welche erst in der letzten Vergangenheit Wurzel gefasst
und denen bisher noch durch keine gesetzliche Verordnung gesteuert
worden. So hatten die geldgierigen Beamten überall, nicht nur in ent-
legenen Landschaften, wie die Thebais, und in den entfernteren Nomen
des Delta, sondern selbst unter den Augen der Präfeeten in der Um-
gebung Alexandria’s und in dem Mareotes eigenmächtig neue Auflagen
eingeführt oder den Betrag der Grundsteuern, Natural-Lieferungen und
Geldabgaben nach Gutdünken erhöht. Von allen Seiten her waren
Klagen der Landleute eingelaufen; und selbst die Interessen der Ale-
xandriner waren dabei im Spiel, insofern die Zufuhren der Hauptstadt
von der Blüthe und dem Verfall, also von den Erleichterungen und
den Bedrückungen des Ackerbaues abhängig waren. Um jenem Un-
wesen ein dauerndes Ziel zu setzen, beauftragte Tiberius Alexander
die Strategen der einzelnen Nomen: wofern etwa in ihrem Distriete
oder in Theilen desselben während der letzten fünf Jahre ordnungs-
widrige Auflagen oder Steigerungen eingeführt wären, die Eintreibung
derselben sofort abzustellen und Alles wiederum auf‘ den alten Fuss
zurückzubringen ?).
Die Willkür der Eklogisten oder Steuereinnehmer war, trotz aller
frühern Beschränkungen, immer noch eine maaslose geblieben. Allge-
mein waren namentlich die Beschwerden über ihre eigenmächtigen und
betrügerischen Aenderungen der Steuersätze, wodurch sie sich auf
Kosten der Wohlfahrt und Ruhe Aegyptens bereicherten. Desshalb
ward nunmehr von Neuem und aufs Strengste eingeschärft : bei keiner
Steuervertheilung fernerhin Aenderungen ohne Wissen der Präfeeten
vorzunehmen. Und damit die gute Absicht nicht dennoch durch Col-
lusionen zwischen ihnen und den Strategen oder Unterpräfeeten ver-
eitelt werde, wurde diesen verboten, ohne des Präfeeten Zustimmung
von Jenen irgend ein Geschenk anzunehmen. Auch die übrigen Beam-
) Lin. 35—45.
2) Lin. 57. 4548.
ten, als Controleure, Buchführer und Schreiber sollten verantwortlich
sein, und wenn sie irgend einer ähnlichen Betrügerei oder Fälschung
überwiesen würden, sowohl den dadurch benachtheiligten Privatleuten
den vollen Ersatz zahlen, als auch vom Staate zur Strafe gezogen
werden ).
Ein besonderer, schon ziemlich eingenisteter Missbrauch der vor-
besagten Art war die sogenannte synoptische Repartition. Während
nämlich rechtmässiger Weise das Quantum der jährlichen Grundsteuer
sich nach der jedesmaligen Beschaffenheit der Nilüberschwemmung
richten musste, berechneten die Steuerbeamten aus mehren ältern Ueber-
schwemmungen den mittlern Durchschnitt und veranlassten, indem sie
nach diesem unveränderlichen Maasstab die Steuern eintrieben, um so
zahlreichere Ungerechtigkeiten, je veränderlicher die Natur jener Er-
scheinung selbst war. Häufig blieben wasserlose Grundstücke reichlich
besteuert, reichlich bewässerte dagegen steuerlos. Dem letzteren Zufall
beugte man wohl beim Caleul des Vortheils wegen möglichst vor.
Der arme Landmann aber war entmuthigt, sein Eifer für den Acker-
bau erkaltet, der ihm weniger Früchte, als Sorgen und Verluste bringe.
Da schritt nun wieder die Reformgesetzgebung ein. Jene ungesetzliche
Steuervertheilung, so ward verfügt, solle fortan nie mehr stattfinden;
und wer der Uebertretung dieses Verbotes überführt werde, das Drei-
fache des fälschlich Eingeforderten in die Staatskasse als Busse zahlen.
Ein Ersatz an den Privatmann ward wohl desshalb nicht verheissen,
weil die Hoffnung auf Entschädigung für erlittene Ungerechtigkeiten
der Vorsicht gegen dieselben hinderlich sein konnte; denn eben der
That wollte man ja vorbeugen ?).
Eine andere von den Finanzbeamten beabsichtigte Willkürmaasregel
ganz neuer Art wurde, noch ehe sie zur Ausführung kam, vereitelt.
Es verlautete nämlich : das sogenannte alte Land im Alexandrinischen
und im Menelaites, welches einem uralten und anerkannten Grundsatze
gemäss bisher noch vom Messseil und also auch von Steuern verschont
geblieben, würde nunmehr vermessen, demnach katastrirt und besteuert
werden. Schon hatte dies Gerücht Viele besorgt gemacht, als Tiberius
Alexander die Aufrechterhaltung jenes rechtlichen Grundsatzes ihnen
jetzt durch die Versicherung verbürgte: dass eine Vermessung so
wenig geschehen werde, als sie bisher geschehen sei; — wodurch
denn der Habgier der Beamten wiederum eine Hoffnung abgeschnitten
ward. Auch bestimmte er, dass das jüngere dort zugeschwemmte Land
) Lin. 4855.
2) Lin, 55—59.
— we —
in seinem allmähligen Anwachs durch ein allgemeines Privilegium vor
etwa beabsichtigten Neuerungen geschützt sein und bleiben solle!).
So ward den Bedrückungen des ägyptischen Volkes, den Geld-
erpressungen der Beamten gesteuert.
Auffallend könnte es scheinen, dass hier überall nur gegen Miss-
bräuche des Steuersystems, nicht des Zollsystems angekämpft wird.
Allein die Willkür der Zollpächter muss wirklich nachgelassen haben,
seit Nero die Veröffentlichung der früher geheim gehaltenen Zolltarife
befahl. Die desfallsige Verordnung war der letzte Nachhall einer An-
wandlung von Milde, die in ihrem ersten excentrischen Rausche den
Traum einer allgemeinen Zollfreiheit zu verwirklichen verhiess ?).
Für Tiberius Alexander blieb in Aegypten gewiss noch Manches
und wohl nicht Unwesentliches zu thun übrig; allein nicht unum-
schränkt war des Präfeeten Amtsgewalt; er musste Entscheidung,
Vollmacht erst vom Kaiser einholen 3). Galba’s Geneigtheit aber durch-
greifende Maasregeln zu bestätigen oder zu empfehlen, lässt bei seiner
übrigen Weise sich ebensowenig bezweifeln, als dass auch anderen
Provinzen ähnliche Erleichterungen und auf ähnlichem Wege zu Theil
wurden.
Aber nicht nur dem ungesetzlichen Druck in der speeiellen Er-
hebung und Verwaltung der Steuern trat Galba hemmend entgegen,
Trotz seiner ökonomischen Sparsamkeit glaubte er sogar die gesetz-
lichen Lasten des Volkes verringern zu dürfen. Zwar fand er den
Staatsschatz völlig geleert; bloss an Schenkungen hatte Nero 2200
Millionen Sesterzien (110 Millionen Thaler) vergeudet, die meist nur
Komödianten, Fechtern und Leuten ähnlicher Art zu Theil geworden.
Allein Galba gedachte dadurch allmälig wieder Ordnung in die Fi-
nanzen zu bringen, dass er die Ausgaben möglichst beschränkte, ohne
das bisherige Quantum der ordentlichen Einnahmen zu erhöhen oder
es auch nur beizubehalten, wenn dessen Beschränkung den Unterthanen
Wohlthat sei. In diesem Sinne geschah es ohne Zweifel — um nicht
solcher Steuererlasse zu gedenken, wie der gallischen, welche mehr
als Belohnung gelten müssen — dass er die unter dem Namen Qua-
dragesima bekannte Abgabe aufhob. Diese war zwar schon von Nero
Anfangs abgeschafft, später aber wiederum von ihm eingeführt worden.
Sie diente in der That minder dazu den Staatsschatz als die Staats-
pächter zu bereichern; während durch ihre mit Chikanen aller Art
1) Lin. 5962.
2) Tac. Ann. 13, 50 sq.
3) Ed. Tib. Al. lin. 64. 65. ef. lin. 8-10.
— 30 —
verknüpfte Eintreibung in allen Theilen des Reichs Handel und Wandel
vielfältig behindert oder doch beunruhigt ward. Durch eine auf diesen
Steuererlass geprägte Denkmünze ward das Gedächtniss von Galba’s
Freigebigkeit und Milde der Nachwelt überliefert!). Immer dringender
stellte sich jedoch die Nothwendigkeit heraus, nicht blos für die Zu-
kunft, sondern auch für die Gegenwart zu sorgen und das ungeheure
Defieit durch eine ausserordentliche Maasregel möglichst schnell zu
decken. Der finanzielle Organismus der Staatsmaschine war in Ver-
wirrung und Stocken gerathen; die künftigen Abgaben waren im Voraus
verkauft, die jüngsten Einnahmen, Kauf- und Pachtgelder noch unter Nero
verschleudert worden, und doch die laufenden Ausgaben höchst beträchtlich.
Die damalige Zeit verstand es nicht, durch Papier- und Anleihe-Systeme
eine Finanz-Krisis zu beenden oder zu vertagen ?). Confiscationen wie
die der Einkünfte von Lugdunum konnten die Kasse nicht füllen und
waren überdies gewiss unter Galba verhältnissmässig etwas Seltenes.
Um dem Staatsbankerotte vorzubeugen, erschien dem Kaiser daher
als der gerechteste Ausweg, die Quelle des Mangels zu verfolgen und
das Geld von dorther zurückfliessen zu lassen, wohin es in maasloser
Breite abgeflossen war. Alle Schenkungen Nero’s sollten, bis auf den
zehnten Theil, wieder eingezogen werden. Wohl musste den Armen
und redlich Gesinnten, denen der tägliche Anblick jener unwürdigen
Creaturen, die bisher auf Kosten darbender Völker und geplünderter
Bürger im Ueberflusse geschwelgt, ein Stein des Anstosses war, diese
Verordnung billig erscheinen; und sie frohlockten, dass die vom
Tyrannen Beschenkten nun bald ebenso arm sein würden als die von
ihm Beraubten. Allein bei der Ausführung, welche einer Commission
von 30 römischen Rittern übertragen ward, sah man sich bald in ein
undurchdringliches Netz von Schwierigkeiten verstrickt. Man hatte es
nicht gehörig bedacht, wie gerade bei Personen solchen Gelichters, als
Komödianten, Tänzern und Possenreissern, am allerwenigsten auf eine
Stagnation zufluthender Reichthümer zu rechnen sei. An eine lockere
Lebensart gewöhnt, hatten die Meisten Alles ebenso schnell verprasst
wie gewonnen. Als man sich nun hiervon überzeugte, und auf dem
bisherigen Wege nur verhältnissmässig höchst winzige Summen zu
erlangen waren: da liess man sich endlich verleiten, das Verfahren
auch auf alle Diejenigen auszudehnen, welche irgend etwas von Jenen
1) Tac. Hist. 1, 20. Plut. Galb. 16. Suet. Galb. 15. Vgl. Reimar. ad Dion.
64 p. 72889.
2) Doch kommt später einmal, unter Vespasian, das Project einer Anleihe bei
Privatpersonen vor. Tac. Hist. 4, 47.
— 301 —
gekauft oder sonst empfangen hatten. Es scheint als ob damals aus
diesem Grunde, wegen der Vermehrung der Geschäfte, die Zahl der
untersuchenden Ritter auf 50 erhöht worden. Lästig war, sagt Taeitus,
diese neue Art von Amt durch Umtriebe und Menge. Wie Mancher
mochte seinen Besitz verleugnen, seine Güter bei sich oder Anderen
verstecken oder vergraben, wie Mancher durch Bestechung oder im
freundschaftlichen Einverständniss mit den Suchenden das Gesuchte
bergen oder zu bergen trachten! Endlos war die Verwicklung und
Verwirrung; durch Klagen, Vorladungen und Termine die ganze Stadt
in Bewegung gesetzt; überall Gewühl der Versteigerungen, der Käufer,
der Speculanten. Selbst über Rom hinaus erstreckte sich die Nachfor-
schung. Den Kampfrichtern zu Olympia wurden die 250,000 Drachmen
abgefordert, durch die Nero einst für schmeichlerische Siegeskrönung bei
missglücktem Wagenrennen sie belohnte; der Pythia die 100,000 Drach-
men abgenommen, die ein Spruch nach seinen Wünschen ihr eingebracht.
Dennoch scheiterte, wie es scheint, im Wesentlichen die Bemühung, und
das erwachsende Resultat war minder eine Füllung des Staatsschatzes als
verunglimpfendes Gerede gegen die höchste Gewalt. Zwar mehr noch
als gegen den Kaiser richtete sich der Betheiligten Erbitterung gegen
Vinius. Er hiess der Urheber solcher Dinge; er stimme den Herrscher
zu so filziger Kleinigkeitskrämerei gegen alle Anderen, während er doch
selbst in unersättlicher Habgier Alles an sich reisse und feilböte !).
Ob und wie übrigens das Verfahren juristisch gerechtfertigt werden
konnte — ob es auf den Gesetzen über die Repetunden, an deren
Grundsätze es wenigstens einen Anklang bietet, fussen durfte — und
ob endlich die niedergesetzte Commission zu den stehenden Geschwor-
nengerichten (questiones perpetue), die zwiefache Zahl der Ritter zu
den damaligen fünf Richter-Deeurien in irgend einem Verhältnisse
stehe: diese Fragen kann ich nur aufwerfen, nicht entscheiden.
III. Militärwesen.
Durch die Folgen am bedeutsamsten war die Strenge, mit welcher
Galba das Militärwesen zu reformiren trachtete. Die Kraft der Monarchie
bestand in der Treue der Heeresmacht. Wohl erkannten dies die ersten
Kaiser; allein die Mittel, die Treue zu erhalten, suchten sie nicht in
der unerbittlichen Handhabung der Subordination, wie sie der Blüthe-
zeit der Republik eigen war, sondern in der Gunsterschleichung durch
kostspielige Buhlkünste, wie sie zu üben beim Siechthume der Freiheit
1) Tae. Hist. 1, 20. Plut. Galb. 16. Suet. Galb. 15. Ner. 24. Dio (Xiph.) 63,
14. Exe. Peirese. p. 694. Zonar. p. 571 D.
Wissenschaftliche Monatsschrift, 19
dem ringenden Egoismus der Gewaltmänner als ein Gebot der Noth-
wendigkeit erschien. Galba durchschaute richtig die Gefahren, welche
die Zukunft bei so fortgesetzter Entwickelung der Dinge endlich her-
beiführen musste. Sollte die Monarchie nicht völlig vom Soldaten,
dann musste der Soldat völlig von der Monarchie abhängig werden;
und dies zu bewirken, das war sein Zweck.
Uebersehwer war die Aufgabe; der Krieger, vornehmlich der
Prätorianer, durch Verwöhnung entartet und ungebunden, seine her-
kömmlichen Pflichten durch angemaaste Rechte überflügelt und ver-
drängt; was er meist nicht zu träumen vermocht, allmälig aber als
Gnade erhalten oder erbeten: das wagte er jetzt schon zu ertrotzen;
und die Willkür selbst begann als Recht zu gelten. Kam es nun
darauf an, durch Unterdrückung der vermeinten Rechte die wahren
Pflichten, durch Bestrafung jedweder Zuchtlosigkeit den unbedingten
Gehorsam wieder zurückzuführen : so schien vor Allem nöthig, einmal
die Vergabungen und Belohnungen abzuschaffen, andrerseits die Reihen
der Krieger von allen verderblichen Bestandtheilen zu säubern.
Der Sold, den die verschiedenen Truppengattungen und Corps
empfingen, dünkte dem sparsamen Kaiser auch schon aus ökonomischen
Rücksichten mehr als hinreichend. Die Summe desselben für die Le-
gionare, die Prätorianer und die Stadteohorten belief sich allein schon
auf 864 Millionen As oder nahe an 43 Millionen Franes!). Durch
die ausserordentlichen Geschenke aber war unter den frühern Regenten
das Militär-Budget vollends zu einer so furehtbaren Höhe angeschwollen,
dass es auf ihr nieht erhalten werden konnte, ohne den Ruin des
Staates zu bedingen. So vom finanziellen und vom disciplinarischen
Gesichtspunkt zugleich geleitet, wagte er es zunächst, jene ungeheuren
Versprechungen des Nymphidius unbeachtet zu lassen, der jedem Krie-
ger der Hauptstadt 7500, jedem auswärtigen 1250 Drachmen angelobt
hatte. Dann, bei schon herabgespannten, wenn auch laut und keck
geäusserten Hoffnungen der Prätorianer und Stadtsoldaten, ging. er
weiter, erklärte jene unbefugten Versprechungen geradezu für nicht
bindend, lehnte jede Art der Vergabung entschieden ab und sprach
unverholen den Grundsatz aus: „Er erwähle den Krieger, erkaufe ihn
nicht.“ Auch die Erwartung der Legionen, welche ebenfalls auf Geld-
spenden gerechnet, blieb unerfüllt?2). Nicht die Lockungen des Ge-
!) Ich habe diesen Gegenstand näher behandelt im 9. Bde. meiner Zeitschr. f.
Geschichte S. 491 ft.
2) Tae. Hist. 1, 5. Plut. Galb. 18. 22. Suet. Galb. 16. Dio (Xiph.) 64, 3 sq.
u. in Nov. Coll. II. p. 216.
— 805 —
winnes, sondern des Kaisers Wille allein sollte, wie einst der Wille
der Commune, dem Soldaten Regel und Richtschnur sein. So trat in
schneidendem Wechsel an die Stelle der bisherigen Gefallsucht der
Fürsten ein systematischer Rigorismus, der entschlossen schien, nie
das Geringste zu gewähren, immer nur zu verweigern, ja jede Forderung
wie jeden Widerspruch als solche zu verdammen, und eher selbst
gegen die eigene Ueberzeugung zu handeln als soldatischem Trotze
sich zu beugen.
Noch zwar war, bei grösserer Thätigkeit oder geringereıo Müs-
siggange, der Legionar nicht so verderbt wie der Prätorianer und
Stadtsoldat; doch verderbt genug, um auch seinerseits vor den Reor-
ganisationsplänen Galba’s zu erschrecken. Und schon stand Allen ein
blutiges Beispiel von der Festigkeit seines Willens vor Augen:- die
Niedermetzelung jener widerspenstigen Marinesoldaten bei seinem Ein-
zuge in Rom. Seitdem freilich, scheint es, schwankte der Kaiser in der
Wahl zwischen durchgreifenden und allmäligen Reformen. Endlich
wandte er sich diesen zu, indem er nach und nach sowohl unter den
Öfhcieren jedes Ranges als unter den Gemeinen diejenigen auszumerzen
suchte, die in der Vergangenheit sich irgendwie aufsässig, vorlaut und
verdächtig gezeigt. In Betreff der Prätorianer, der Stadteohorten und
der Nachtgarden wird dies ausdrücklich gemeldet; in Rücksicht auf
die Legionen lässt es sich mit Zuversicht erwarten, und von den
germanischen wird wenigstens gesagt: dass sie einem Gerüchte zufolge
die Entlassung der kecksten Centurionen erwarteten 1).
Als bedeutsamste Aeusserungen der Energie aber musste die Auf-
lösung ganzer Truppenkörper erscheinen. Dies Schicksal widerfuhr den
aus Germanen bestehenden Leibeohorten der früheren Cäsaren ?). Mehr-
fach hatten sie ihre Anhänglichkeit an das regierende Haus bewährt.
Dicht bei den Gärten des COnejus Dolabella war ihr Standquartier.
Galba hegte überhaupt Misstrauen gegen sie und, dem besonderen
Verdacht Raum gebend, als ob sie insgeheim dem Dolabella ergeben
wären, entliess er sie bald nach seiner Ankunft in Rom ohne irgend
eine Entschädigung in ihre Heimath. Ebenso wurden späterhin in
Afrika die Makrische Legion und die Cohorten, welche Clodius Macer
ausgehoben, auf Galba’s Befehl aufgelöst und entlassen 3).
1) Suet. Galb. 16. Tac. Hist. 1, 20. 51. Vgl. 3, 57. Auch die Uebertreibungen
der Othonischen Rede (Hist. 1, 37) lassen als Wahrheit hindurchschimmern:: dass
derartige Maasregeln der Strenge sich auf alle Theile der Militärmacht bezogen.
2) Suet. Galb. 12. cf. Aug. 49. Calig. 58.
®) Tac. Hist. 2, 97.
— 304 —
Ob nun solche Maasregeln nur die Uebergänge zu durchgreifen-
deren Umwandlungen sein sollten, oder ob Galba der Gefährlichkeit
halber Weiterem entsagt hatte, lässt sich bei der Kürze der Regierung
nicht mit Gewissheit entscheiden. Jenes ward jedoch von Seiten des
Militärs allgemein befürchtet. Denn indem Einzelne und ganze Glieder
der Armee ausgestossen wurden, hielt sich keiner für sicher; allerhand
Gerüchte kamen in Umlauf: den Prätorianern insgesammt drohe Herab-
setzung im Kriegsdienst, die germanischen Legionen würden deeimirt
werden. Ging Galba wirklich mit diesen oder ähnlichen Plänen um,
wie sie seinem Charakter allerdings nicht widersprechen : so gediehen
sie doch niemals zur Reifet). Die kraftvollen Anfänge aber und jene
Gerüchte über die Art, wie ferner Galba die alte Strenge der Dis-
eiplin wieder geltend machen werde, dienten bei liebgewonnener Zucht-
losigkeit und lockerer Lebensansicht nur dazu, sowohl unter den Trup-
pen der Hauptstadt als auch in denjenigen Heeren, die sich keines
eifrigen Galbianismus bewusst waren, namentlich in den germanischen,
vermittelst des Schreckens einen mächtigen Hang zu Revolutionen zu
gebären, an dem zuletzt alle Reformen und der Reformator selbst
scheiterten.
Ueberdies lag in der Consequenz, mit der Galba für sich als den
Herrscher unbedingte Treue und Gehorsam der Soldaten in Anspruch
nahm, insofern eine Inconsequenz, als er die dem Nero bewiesene Er-
gebenheit überall als Verbrechen verfolgte und bestrafte, ungeachtet
dieselbe doch pflichtgemäss war; dessen nicht zu gedenken, dass nicht
selten bei einzelnen Anlässen der Art eine blinde Laune des Alters
ihn bestimmen mochte. Eine solche war es wohl auch hauptsächlich,
und zwar — im Gegensatz zu seiner gewohnten Weise — eine An-
wandlung überaus milder Gesinnung, welche ihn bewog, den in Rom
garnisonirenden germanischen Rotten eine ganz absonderliche Vorliebe
zu schenken. Von Nero nach Alexandria vorausgesandt, ohne Zweifel
als er in seinen Aengsten den Entschluss fasste nach Aegypten zu
entfliehen, von dort aber auf die Todesnachricht heimkehrend und auf
der langen Seefahrt erkrankt, wurden sie von Galba auf dem Vorhofe
des Freiheitstempels einquartiert und mit der grössten Sorgfalt gepflegt?).
Mochte ihre freiwillige Rückkehr ihm als Zeichen der Ergebenheit
gegolten und sein Wohlwollen bedingt haben: in dem Augenbliek der
Entscheidung beeilten sie sich nicht, dasselbe zu vergüten und sein
Vertrauen zu rechtfertigen.
!) Tac. Hist. 1, 20. 25. 51. Suet. Galb. 16.
2) Tac. Hist. 1, 31. Suet. Galb. 20.
— 305 —
Wie übrigens Galba die überkommenen Truppen nach seinen
Interessen zu reinigen unternahm, so suchte er zugleich durch eigens
geschaffene für diese Interessen eine besondere Stütze zu gewinnen.
In Spanien, heisst es, warb er neue Legionen; dieser Ausdruck ist
freilich allgemein und unbestimmt, das aber gewiss, dass er die Tte,
nach ihm die Galbianische benannt, dort eonseribirte; sie wurde unter
dem Öberbefehl des Antonius Primus nach Pannonien verlegt. Die
ihm gleichfalls zugeschriebene Errichtung der „Ersten Hülfreichen* ist
dagegen jedenfalls ein Irrthum).
Entschieden abhold war der Kaiser allen erschlaffenden Gewohn-
heiten im Militärleben. An dem Mangel der Diseiplin war nach seiner
Auffassung wesentlich die eingerissene Verweichlichung schuld. Sollte
aber der Kriegerstand seinem Berufe entsprechen und mehr als Zierrath
sein: so durfte er nicht verzärtelt werden. Grosse Märsche, Strapazen,
Entbehrungen jeglicher Art, strenge Gebote, ernste Uebungen waren
zur Seltenheit, die bequeme Transportirung der Truppen zu Schiffe,
sowohl bei kleineren wie bei grösseren Entfernungen, nach Campanien
wie nach Achaja, zur Sitte geworden. Nun sollte das Verhältniss wieder
umgestaltet, die gemächlich faule Weise wieder mit der anstrengenden
vertauscht werden. Ein entschiedenes Beispiel hatte Galba gleich nach
seiner Erhebung gegeben, da die spanische Legion mitten in der heissen
Jahreszeit zu Fusse, in beschwerlicher Waffenrüstung und unter man-
nigfaltigen Entbehrungen, den Weg zur Hauptstadt zurücklegen musste,
durch ungeheure Länderstrecken, über die steilen Höhen der Pyrenäen
und der Alpen. Auch dergleichen Neuerungen erregten natürlich
vielfaches Murren ?).
Dies sind die erheblichsten Beziehungen, nach welchen wir Galba’s
Regierung zu würdigen haben. Zwar war seine Thätigkeit auch auf
andern Feldern fühlbar; doch ist die Ueberlieferung zu fragmentarisch
um ein vollständiges Bild zu gewinnen. Wir begnügen uns daher, zur
Ergänzung des Vorstehenden, mit einigen Schlussbemerkungen.
Nicht selten standen bei Galba Handlungen und Grundsätze im
Widerspruch. Unzweifelhaft wollte und erstrebte er das allgemeine
Beste. Kein Zug charakterisirt vielleicht die herbe Rüchsichtslosigkeit
seines Wollens treffender als die Nachricht: er sei damit umgegangen,
die Dauer der dem Senatoren- und Ritterstande zustehenden Aemter
1) Tac. Hist. 2, 11. 86. 3, 22. 25. Dio 55, 24.
?) Tac. Hist. 1, 23.
— 5306 —
auf zwei Jahre festzusetzen und sie grade nur Solchen anzuvertrauen,
die sie ungern und sträubend übernähmen!). Allein in der Praxis
verwechselte Galba oft genug seinen subjeetiven Vortheil mit dem
objectiven Nutzen oder dem allgemeinen Interesse des Staats. Er hielt
sich für den alleinigen Mittelpunkt; Alles sollte von ihm ausfliessen,
und Alles auf ihn sich beziehen. Indess er überschätzte sich; er ver-
kannte seine Mängel, deren Mitthätigkeit beim Bestimmen und Handeln
auch die Ausflüsse und Bezüge nicht selten als mangelhaft erscheinen
lassen musste. So geschah es, dass seine Maasnahmen oft der allge-
meinen Wohlfahrt nur halb oder gar nicht entsprachen, ja zuweilen
selbst ihr graden Wegs zuwiderliefen.
Zumal in der Besetzung sowohl der Civil- als der Militär-Aemter
berücksichtigte Galba durchaus nur sein Interesse, förderte nur seine
wirklichen oder scheinbaren Anhänger; wenigstens waren Tauglichkeit,
Würdigkeit und uneigennützige Liebe zum Gemeinwesen wohl niemals
das oberste Kriterium seiner Wahl. Auch Selbsttäuschung kam hinzu.
So glänzten in seiner nächsten Umgebung Leute wie Vinius, Otho,
Laco und Icelus, die weit eher angethan waren den Staat zu verderben
als emporzuheben ; Männern wie Hordeonius Flaceus, denen die Mann-
heit gerade am Meisten gebrach, wurde das Commando von Heeren
übergeben, an deren Spitze ein Kraftcharakter wie Verginius gestanden.
Nicht über alle Wahlen freilich dürfen wir den gleichen Tadel aus-
sprechen. Die Verwaltung Spaniens wurde nach Galba’s Abgange
dem Cluvius Rufus anvertraut, einem Manne redlichen Sinnes, in den
Wissenschaften und allen Friedenskünsten erfahrener als im Kriege;
das Celtische oder Lugdunensische Gallien nach des Vindex Tode dem
Junius Bläsus. Der sanfte Valerius Marinus, der Unbilden eher zu
tragen als zu ahnden vermochte, ward zum Consul designirt. Calpur-
nius Asprenas erhielt die Provinzen Galatien und Pamphylien zur
Verwaltung; Lucejus Albinus, neben dem von Nero übergebenen Cä-
sarischen Mauretanien, auch noch die Provinz Tingitana; Primus
Antonius, wegen Fälschung unter Nero verurtheilt, nicht nur wiederum
den Senatorrang, sondern sogar den Oberbefehl über die 7te Galbia-
nische Legion; Comelius Fuseus, Chef einer Colonie als er Galba’s
Partei ergriff, ward mit einer Procuratur belohnt. Zu den ihres Amtes
Entsetzten gehörte auch der Stadtpräfeet Flavius Sabinus, Vespasian’s
Bruder, in dessen Stelle Decennius Geminus einrückte. Auch in diesem
Fall verleitete die Besorgniss zu einem Missgriff?).
1) Suet. Galb. 15.
2) Vgl. Tac. Hist. 1, 8. 14. 46. 59. 2,9. 58. 71. 86. Dio (Xiph.) 65, 9. Plut. Oth.5.
— 307 —
Galba war durchaus conservativer, ja reactionärer Natur. Seine
Reformbestrebungen bezweckten wesentlich die Zurückführung der alten
in jeder Beziehung strengen und maashaltenden Zeit. Daher eben war
er so karg mit Bewilligungen jeder Art. Daher beschränkte er auch
namentlich die Ertheilung des römischen Bürgerrechts, obgleich er von
diesem Grundsatz in der Praxis zuweilen auch wieder abirrte, wenn
es — wie bei seinem gallischen Anhang — darauf ankam, geleistete
Dienste zu belohnen. Daher trat er auch der eingedrungenen Fluth
bürgerlicher Vorrechte entgegen und schaffte unter Andern die Ver-
leihung des Drei-Kinder-Rechts, womit so viel Missbrauch getrieben
worden, fast gänzlich ab und selbst wo er es ausnahmsweise zugestand,
geschah es nur auf eine gewisse vorherbestimmte Zeitt). Besonders
liess er es sich angelegen sein, mit eigenem Beispiel vorangehend,
dem eingerissenen Luxus und dessen Verheerungen zu steuern. Und
wirklich datirt mit ihm eine Abnahme desselben ?).
Andrerseits ging Galba augenfällig, und mehr wie seine Vorgänger,
darauf aus, wahrhafte Bildung zu fördern, und die Ehrfurcht vor der
alten Religion wieder zu beleben. Selbst wissenschaftlich gebildet, war
er es, der den berühmten Quintilian von Spanien nach Rom führte
und dadurch dem höhern rhetorischen Unterrichte daselbst einen so
mächtigen Aufschwung gab, dass schon in kürzester Frist die Wirk-
samkeit öffentlicher besoldeter Lehrer sich als ein allgemeines Bedürf-
niss kundgab.
Nichts war in den letzten Zeiten alltäglicher geworden, als Ver-
höhnungen und Verbrechen gegen den Cultus. Nero selbst war mit
dem übelsten und gewaltthätigsten Beispiel vorangegangen. Schon durch
die grosse Feuersbrunst in Rom mochte vielfacher Tempelraub veran-
lasst worden sein. Später hatte Nero kein Bedenken getragen, die
Heiligthümer ihrer kostbarsten Weihgeschenke zu berauben. Goldene
und silberne Götterbilder, unter andern selbst die der Penaten, liess
er umschmelzen; und manche werthvolle Tempelschätze geriethen in
der Verwirrung der Zeit in fremde Hände, die sie als weltliches
Eigenthum handhabten. Galba entwickelte auch auf diesem Felde eine
ebenso grosse Energie als Pietät. Nicht nur stellte er vor Allem die
Götterbilder der Penaten wieder her; sondern er verordnete auch eine
strenge Revision der Tempelschätze. Diese übertrug er dem gewesenen
1) Suet. Galb. 14. Vgl. Tac. Hist. 1, 43.
?2) Tac. Ann. 3, 55 giebt dies zu, obwohl er, flavianisch gesinnt, fast alles Ge-
wicht auf Vespasian legt. Freilich war des Letztern Regierung wirksamer, weil
dauernder; aber das fürstliche Beispiel an sich nicht grösser.
'— 5308 —
Prätor Cn. Julius Agricola, der dann auch mit so eifriger Gewissen-
haftigkeit allen Entwendungen nachspürte, dass wenigstens keines
Anderen als Nero’s Tempelraub auf dem Staate lasten blieb 1).
Galba’s Regierung war zu kurz, um aus ihren Keimen zu ent-
nehmen, was sie bei längerem Bestande hätte werden können. Un-
zweifelhaft aber bezeichnet sie, nach langen traurigen Zeitläufen, den
Aufbruch einer Reformperiode, die — mit einer einzigen Unterbrechung
— ein Jahrhundert besserer Regenten und glücklicherer Zustände
bezeichnete.
THEODORET und ORIGENES
ODER
DER LETZTE FREIHEITSRUF DER ORIENTALISCHEN KIRCHE.
Von G. VOLKMAR.
E
Theodoret, seit 410 u. Z. Bischof von Cyrus im obern Syrien,
war einer der geisteskräftigsten, gelehrtesten und eine Zeit lang ein-
flussreichsten Häupter der orientalisch griechischen Kirche. Ausgezeich-
net war er vor Allem als Exeget des A. T.'s; mit einer philologischen
Genauigkeit, wie sie für die damalige Zeit überhaupt möglich war,
verband er den rationalen Sinn, durch den die Antiochische Schule
hervorragte.
Für uns aber ist er durch seine Fortsetzung der Kirchengeschichte
von Eusebius bis auf seine Zeit besonders wichtig geworden; es ist
eine bleibend unentbehrliche Hülfsschrift, wie seine Briefe zu den
wichtigsten Quellen für die Geschichte seiner Zeit selbst gehören. Am
unmittelbarsten hat er jedoch auf diese durch eine Reihe dogmatischer
Lehr- und Streitschriften eingewirkt, welche die grosse Frage jener
Periode, des vierten ökumenischen Coneils (431) im Besondern be-
treffen, wenn sie auch für uns wesentlich nur noch durch die zahl-
reichen Belegstellen aus ältern, uns sonst verlornen Werken von Be-
deutung sind, durch welche er die von ihm vertretene Partei-Ansicht
zu unterstützen suchte.
Die letzte Schrift aber von ihm ist die sonderbarste, auch die
noch am wenigsten verstandene, und doch für die ältere Dogmen-
!) Tac. Ann. 15, 45. Agric. 6. Suet. Ner. 32. Dio (Xiph.) 63, 11.
— 309 —
geschichte wichtigste, sein Compendium der Ketzerei (@igerix?g xa@x0-
uvHug Errıroun).
Schon die Abtheilung der ältern, vornieänischen Häresen 1) in
Leugner der Einheit Gottes, wie Gnostiker und Manichäer, 2) Leugner
der Göttlichkeit Christi, wie Ebioniten und Verwandte, und 3) solche,
die zwischen beiden liegen, sagt er, in der That zu keiner der beiden
Classen gehören sollen, hat etwas Auffallendes. Er hat hier die diverse-
sten, wie Nicolaiten, die Weibergemeinschaft lehrten, die Anhänger der
obsolet gewordenen judenchristlichen Oster-Sitte (Quartodecimaner), die
Montanisten mit blossen Neuerungen in Diseiplin und Cultus, aber auch
die fest an der Apokalypse haltenden Chiliasten des dritten Jahr-
hunderts zusammengefasst. Als wenn ‘die Nicolaiten nicht an den
Carpocratianern der ersten Kategorie ihre besten Brüder hätten.
Noch sonderbarer ist, dass er die Noötianer zu diesen diversen
Secten rechnet, die doch, nur etwas früher dasselbe versuchten als
Sabellius, die Einheit Gottes und die Göttlichkeit Christi in pantheisti-
scher Weise durchzuführen. Wie konnte er die Sabellianer unter die
zweite Kategorie bringen, die frühern Pantheisten der Art davon
trennen ? Wie kommt er überhaupt zu der corrupten dritten Classe?
Wollte man darin mehr Ungeschick, und die natürliche Folge
jedes abstracten Schematisirens in geschichtlichen Dingen erblicken,
so finden sich nun die merkwürdigsten Abweichungen bei ihm in der
Lehr-Darstellung selbst. Da soll Cerinth kein Dualist sein, sondern
nur die Göttlichkeit Christi leugnen, während alle Frühern ihn gerade
als Urgnostiker darstellen; da soll Marcion sogar vier Grundwesen
gelehrt haben, während er sonst als der reinste, schroffste Dualist gilt.
Und welche Neuigkeiten über die Schlangenbrüder, die Kains-Verehrer,
die Peraten, den Monoimos u. s. f. bringt er! Die Abweichungen aber
von dem Vater der Häresiologie selbst reichen so weit, als er ihm
folgt, d. h. so weit dessen Bericht selbst reicht. Auch über die
Häresen, welche nach Irenäus hervorgetreten sind, hat er bei aller
Annäherung an Eusebius’ kirchengeschichtlichen Bericht und die darein
gefassten bekannten Quellen so viel Eignes.
Das Ansehn hiervon wird aber um so imponirender, als der ge-
lehrte Bischof im Besitze der ältesten, uns sonst ganz oder fast spurlos
verlornen Schriften scheint. Aus Justin dem Märtyrer, sagt er schon im
Vorwort, habe er mit geschöpft. Und dessen Schrift gegen die Häresen
ist schon Eusebius nicht mehr bekannt gewesen! In den Abhandlungen
über die einzelnen Irrungen aber, am Ende so vieler Capitel, führt er
noch eine ganze Reihe von Bestreiteın der ältern Irrlehre an, Werke
welch hohen Alters, von welchem Gewicht für uns, wenn er auch
— 310 —
nur Einiges aus dem uns verlornen dogmengeschichtlichen Schatze
gerettet hätte !
Da ist Agrippa Castor gegen den neuerdings so in Frage ge-
kommenen Basilides, (I, 4), Theophilus von Antiochien gegen Mareion
und Hermogenes (I, 19, 25), ein Musanus gegen die Enkratiten (I, 21),
Caius wichtige Schrift gegen den Montanisten Proclus (III, 2), und
Theodoret sagt ganz neu, auch gegen den räthselhaften Cerinth (II, 3),
Dionysius’ von Alexandrien gleich wichtige Briefe, das viel berufene
„kleine Labyrinth“ gegen die Artemoniten, eine uns jedenfalls verlorne
Schrift Hippolyt's gegen die Nieolaiten (III, 1), Philippus von Gor-
tynä gar, den Eusebius nur durch Hörensagen kennt, sowie Modestus
(I, 25), sämmtliche Schriftsteller gegen die Montanisten, von denen
Eusebius nur Fragmente oder nur solehe Hörensagen giebt (III, 2).
Ja er weiss noch mehr als Eusebius, kennt noch mehrere Anti-Mon-
tanisten (III, 2), weiss, Apollinaris habe auch gegen die Enkratiten
geschrieben (I, 21), nach Jacobi kennte er auch eine ganze Reihe von
Schriftstellern gegen Apelles (I, 25), nach Döllinger und Baur beson-
dere Schriften gegen Menander und Saturninus (I 24), und Musanus
habe speciell gegen die Severianer, nicht gegen Tatian geschrieben
(I, 21). Welch eine bedeutungsvolle Gelehrsamkeit! Aber es bleibt
nicht bei der gewöhnlichen Bewunderung seines Fleissest). Ja wenn
Theodoret Ephrem’s des Syrers Schriften (I, 22), oder den nachnieä-
nischen Dialog gegen die Marcioniten, „Adamantius*, die Bestreiter
des Manich@ismus aus demselben Jahrhundert, auch einige von Hip-
polytus’ Schriften mehr kannte als später gewöhnlich, da sie in der
orientalischen Kirche besonderes Ansehn genossen haben, so ist das
ganz begreiflich: aber auch Schriften aus der christlichen Urzeit, dem
2. Jahrhundert, sollte er im 5. überhaupt nur noch gehabt haben?
Selbst solche, die schon im 4., selbst einem Eusebius zum Theil ent-
kommen waren?
Das Räthsel wächst aber noch, wenn man die Citate auch der
Schriftsteller beachtet, die er nicht blos reeht wohl kennen konnte,
wie Irenäus, sondern auch evident unmittelbar benutzt hat. Freilich
die gewöhnlich, wie von Jacobi und Döllinger aber auch von Baur
angenommenen Merkwürdigkeiten, Irenäus habe nach Theodoret beson-
ders gegen Menander geschrieben, oder es seien so Viele speciell ge-
gen Apelles genannt u. s. f., hören alsbald auf, wenn man ihn nur
näher betrachtet.
Die Capitel-Abtheilung rührt zwar sichtbar von ihm selbst her,
1) Vgl. Garner in den Dissertat. in Theodoret.
— 311 —
aber er fasst doch gewöhnlich mehrere Capitel zu einer Unter-Ab-
theilung in jedem seiner Bücher zusammen; und an deren Schluss
fügt er dann die Citate hinzu. So führt er scheinbar Irenäus und
Justin M. blos gegen Menander statt gegen die Simonianer überhaupt
(e. 1. 2), nur scheinbar so Viele blos gegen Apelles auf (ec. 25),
statt gegen Mareion und die Marecioniten überhaupt (c. 24. 25);
ebenso sind alle gegen die Severianer genannten auch auf Tatian, die
gegen Saturnin auch gegen Basilides, als nächste Simon-Verwandte,
gerichtet, das von den Nazarzern (II, 2) Gesagte, worin Baur ein
Falsum fand, geht auch auf die Ebioniten (II, 1), womit das Falsum
aufhört.
Aber doch wie sonderbar: den Irenäus nennt er also gegen Si-
monianer (I, 1. 2), gegen nächste Simon-Verwandte (c. 3. 4), gegen
die Valentinianer (e. 19), die Mareioniten (e. 24. 25), die Ebioniten
insgesammt (II, 1. 2), auch gegen die Nicolaiten (III, 1); warum
aber nicht weiter, nicht gegen die Enkratiten, die doch Irenäus (adv.
hzr. I, 18) ebenso bekämpft hat, warum nicht gegen Marcos, den er
hauptsächlich bestreitet? Wie geringfügig sind dagegen die Capitel
des Irenäus über die Ebioniten und Nicolaiten; nur kurz referirend;
und doch soll er ein Hauptkämpfer gerade dagegen sein ?
Justin M. aber war wohl ein Hauptstreiter gegen Marcion, auch
gegen Simon und Simonianer zu nennen, warum aber nun nicht eben
so gut gegen Valentin, und die Nächst-Simon-Verwandten nach seiner
Kategorie, Saturnin und Basilides, die der chr. Philosoph ja als gleich
dämonisch bekämpft hat (Apol. Maj. e. 26)? Wie in aller Welt aber
kommt Justin dazu (II, 2), gegen die Ebioniten beider Arten als
Gegner zu gelten, ja gegen sie als Hauptstreiter vorangestellt zu wer-
den? Er kennt sie ja notorisch selbst in seinen spätern Werken (den
Apologieen und dem Dialog) noch gar nicht als häretisch, also am
wenigsten in der frühern Schrift gegen Irrlehrer.
Den Gipfel aber erreichen alle diese Räthsel durch Theodoret’s
zahlreiche Anführungen des Origenes. Im Vorwort ist er nur neben-
bei, ohne besondere Auszeichnung genannt, in der Schrift selbst be-
gegnet uns der Name fast überall; erstens fast gegen Alle, wogegen
auch Irenäus genannt ist, mit einziger Ausnahme des Carpocrates,
dann noch gegen Hermogenes (c. 19), sämmtliche Enkratiten (ce. 21)
uud die Elcsaiten (II, 7).
Ja, der grosse Alexandriner hat in allen seinen Werken (über
die Prineipien, gegen Celsus, den Haupt-Verleumder des Christen-
thums zu seiner Zeit, in den Homilien und den Commentarien) alle
Zertheilung des göttlichen Wesens gründlich bekämpft, allen ihm vor-
— 312 —
angegangenen Dualismus der Gnosis, jeden Simonianismus t), besonders
Valentin’s und Mareion’s; ebenso alle Herabsetzung des christlichen
Wesens, wie die ebionitische Leugnung der Göttlichkeit Christi?), das
starre Judenchristenthum überhaupt, wovon er auch schon zwei Arten
unterscheidet, wie es Eusebius ihm nachthut und Theodoret noch mehr
ausführt3). Er hat ebenso entschieden jede unsittliche Doctrin verwor-
fen, wie man sie Nicolaiten nachsagte, und wodureh die Gnostiker so
berüchtigt waren, als gegen den halb ebionitisch-essäischen, halb gno-
stischen Pietismus der Enkratiten gestritten*). Auch wissen wir durch
Eusebius (H. E. VI, 38), dass er in einer seiner uns sonst verlornen
Homilien die ebionitische Secte der Elesaiten mit ihrer leichten Sün-
denvergebung durch Wiederholung der Taufe noch besonders bekämpft
hat. Aber über die Nicolaiten selbst, über Cerinth und Hermogenes
ist uns kein specielles Wort von Origenes bekannt oder erhalten
worden °), und doch eitirt ihn Theodoret auch hierbei, dagegen nicht
wider Montanisten und Noötianer, warum auch nicht wider die Sitten-
losigkeit des Carpocrates?
Die Seltsamkeit der Origenes - Citate in Theodoret’s gelehrtem
Werke ist von jeher aufgefallen. Man ist um so mehr geneigt gewesen,
eine oder die andere speciell anti-häretische Schrift von Origenes als
nur uns verloren anzunehmen, als er im Prolog des Theodoret mitten
unter solchen genannt wird, die eine solche Thätigkeit entwickelt haben.
Von Justin M. und Irenäus ist es bekannt, aber auch Eusebius hat
in der Kirchengeschichte sich diese Aufgabe, die Ketzer möglichst
vollständig zu zeichnen, besonders gestellt; Clemens’ Stromata haben
wesentlich diese Bedeutung; Adamantius und Rhodon haben speeiell
gegen Häresen und gegen mehrere geschrieben; Eusebius „der Cilieier“
d. h. der aus Emesa, hat im 4. Jahrhundert die fort sich erhaltenden
Mareioniten und die neuen Manichäer in Angriff genommen. Obendrein
hat Origenes in einem von Eusebius erhaltenen Briefe eine Andeutung
der Art gegeben, er wolle sich mit griechischer Philosophie gegen die
Häresen rüsten (H. E. VI, 19).
1) Vgl. z. B. Contra Cels. V. VI. T. II. p. 626 ff. ed de la Rue.
2) Vgl. in Joann. T.I. Vol. IV, 22. T. XX ib. p. 347. T. XXII ib. p. 247 £.
®) Contra Cels. L. II. Vol. II. p. 385 £. L. V. ib. p. 625 ft.
#) C. Cels. VI. Vol. III, p. 628. Comm. ad Rom. Lib. X. Vol. IV, p. 667.
5) Denn der Hermogenes, der in der Hom. in Num. Vol. IH, p. 345 von
ihm erwähnt wird, ist der typische Name der Gnostiker überhaupt, wie er von
den Pastoral-Briefen eingeführt ist, wo Origenes bekanntlich sehr verzeihlich )
II Tim. 1, 18 mit I Tim. 1, 20 verwechselt hat und es keiner Text-Aenderung
bedarf, wie De la Rue wollte.
— 35313 —
Hiernach und, wie es scheint, mit wegen jener gehäuften Ori-
genes-Citate in Theodoret’s Häresiologie hat man von jeher ein in
mehrern Manuscripten erhaltenes Fragment, „Philosophumena sive om-
nium hzreseon rufutatio Lib. I“ dem Origenes zugeschrieben, und als
nun endlich der Rest dieses Werkes von Lib. IV bis X aus seinem
Grab im Athos-Kloster an’s Licht gefördert wurde, hat zwar nur ein
Philologe, wie Miller, einen Augenblick diesen Gedanken behalten
können, da nach Lib. IX ein römischer Schismatiker darin zu uns
spricht, aber könnte nicht Theodoret dies Werk, das er so viel benutzt
hat, wenn auch irrend, doch so gut wie das übrige Alterthum dem
Altmeister selbst zugeschrieben und desshalb ihn so oft eitirt haben ?
Er hat die Philos. über Hermogenes und die Elesaiten z. B. speciell
ausgeschrieben, und eben da nennt er speciell den Origenes.
Baur hat diese Annahme lebhaft unterstütztt), Döllinger sie eben
so lebhaft bekämpft ?), beide mit allem Grund. Denn auf dem Verhalten
des Theodoret zu der neuentdeckten Schrift beruht am Ende die Ent-
scheidung über ihren Ursprung überhaupt. Zwar scheint der Verfasser
durch die Anführung einer Schrift über das All, welche auf der Hip-
polytus-Statüe mitgenannt ist, sofort sich als den h. Hippolytus selbst
zu erklären; aber diese Statüe selbst ist ziemlich zweifelhafter Art, und
“ umgekehrt giebt nun Photius nach Ueberlieferung einen andern römi-
schen Kirchenlehrer, der auch ein eifriger Bestreiter der Härese war,
den Caius, als Verfasser dieser Schrift über das All an, sowie eines
antihäretischen Werkes, das er zwar „Labyrinth“ nennt, das aber un-
verkennbar auf unsere Philosophumena passt. Doch ist auch dabei
nicht Alles klar genug. — Wie wichtig wird nun "Theodoret, der
jedenfalls der erste bestimmte und zweifellose Zeuge für ihr Dasein
ist! Wie schlagend gegen die Beziehung auf Hippolytus, den Theo-
doret sonst so gut kennt, wäre es, wenn auch. er das Wort nicht
‚ als eins der hippolyteischen kennte, oder wenn auch irrend doch den
Örigenes für den Verfasser hielte! Eine nähere Erforschung der für
die ganze Kirchen- und Dogmengeschichte so wichtigen Frage?) hat
daher vor Allem Theodoret's Verhalten zu den Philosoph. näher zu
bestimmen gehabt.
Hiermit aber hat Theodoret's Häresiologie selbst eıst begonnen
in ein näheres Licht zu treten. Ein guter Theil der Räthsel, die sie
sachlich darbietet, ist damit alsbald gehoben worden. Die meisten
!) Theolog. Jahrb. 1853. I, 152 ff. IV, 428 fi.
2) Hippolytus und Callistus. Regensburg 1853. S. 269 ff.
3), Hippolytus und die römischen Zeitgenossen. Zürich 1854. S. 12 ff.
— 314 —
Neuigkeiten, die Theodoret aus Wunder wie vielen und welch selbst-
ständigen Quellen zu haben scheint — über die Peraten, Monoimus,
einzelne Passus über Simonianer, Ophiten, Kainiten — hat er höchst
einfach aus dem Summarium abgeschrieben, welches der Verfasser der
Philosoph. seinen neun Büchern allgemeiner Ketzerbestreitung als ein
zehntes angefügt hat.
Auch das Räthsel löst sich nun, wie er die Noötianer von den
Sabellianern d. h. die Einheit suchenden Pantheisten von Einheit suchen-
den Pantheisten hat trennen, unter eine ganz andere Kategorie, zu den
Montanisten stellen können. Es liegt an der eigenthümlichen Stellung
des römischen Philosophumenos zu beiden Irrungen, dass er in seinem
Summarium von den ihm nahe befreundeten Montanisten zu den für
ihn feindlichsten Noötianern überging, und Theodoret hat diese Epi-
tome für die seinige so sehr zu einem zweiten Leitfaden gemacht, dass
er ihr hier sogar gedankenlos nachgeschrieben und so nur gezeigt hat,
wozu auch die Gelehrtesten, wenn es pressirt, im Stande sind.
Auch die räthselhafte Neuigkeit bei Theodoret über Mareion’s
Lehre, wie so manche Abweichung von Irenäus und den ältern (Quellen
überhaupt zeigt sich nur als das Werk ziemlich leichtfertiger Combi-
nation dieses Summariums mit jenen.
Der Credit der Theodoretischen Häresiologie ist dadurch nicht
sehr gestiegen, um so bedeutender aber ist ihr Gewicht für die Kritik
selbst geworden. Ist nun Baur’s Annahme oder Döllinger's hitziger
Streit dagegen im Rechte? Ich habe gefunden, dass das Recht dies-
mal auf keiner von beiden Seiten liegt; dass diese Bestreitung von
Confusion und Irrthum wimmelt, aber auch Baur's Annahme völlig
unhaltbar ist.
So imponirend es scheint, dass überall, wo er den Origenes nennt,
auch die Philosophumena einen Anhalt bieten, und dass er den Ale-
xandriner in jenen beiden Fällen allein oder so gut wie allein nennt,
wo er das Summarium der Philosophumena evident ausgeschrieben hat:
so fehlt doch dieser Name auffallend, auch wo er dies gethan hat (bei
den Noötianern, und, wie ich auch gefunden habe, bei den Montanisten).
Doch ist dies für sich noch hülflos, da man keine volle Consequenz
im Citiren vorauszusetzen braucht.
Entscheidend aber wird die Einsicht, dass Theodoret das Sum-
marium der Philosophumena nicht etwa blos bevorzugt, sondern über-
haupt davon allein gekannt hat. Da dies nun blos kurz über die
Häresen referirt, sie nicht (mehr) bestreitet, so wäre es schon seltsam,
wenn Theodoret den Verfasser gerade davon als einen Haupt- und
eifrigen Ketzer-Gegner oder Vertheidiger der Wahrheit aufgeführt hätte.
— 515 —
Dann lebt Theodoret zu sehr in der Lehre des grossen Alexan-
driners und weiss den Styl desselben genau zu unterscheiden. Es gab
z. B. eine anonyme Schrift gegen die ältern Verfechter einer starren
Einheit Gottes (die Artemoniten) mit dem Spotttitel „Kleines Labyrinth
(nämlich von Irrthum und exegetischer Willkür)“. Diesen Titel kennt
Theodoret noch, hatte aber davon bei seiner Arbeit nichts weiter vor
sich, als die Paar Fragmente, welche uns Eusebius aufbewahrt hat.
Auch diese antihäretische Schrift hatte man schon vor Theodoret dem
Örigenes zugeschrieben; er sagt aber sofort, das ist unrichtig, „das
ist nicht der Charakter des Origenes“. Unsere Philosophumena haben
nun wohl dem 1sten Buche nach, das über die griechischen Philosophen-
Schulen wesentlich referirend sich verhält, von ungenauern Lesern dem
gelehrten Alexandriner zugeschrieben werden können. Noch unbedacht-
samere haben dies sogar beim 9ten Buch festgehalten (wie der Ab-
schreiber des Athos-Codex und dessen blos in Lesarten vertiefter erster
Herausgeber), aber auch das kleinste Fragment des 10ten Buches mit
seinem breiten, redseligen Ton und gespreizten Styl, geschweige die
ganz eigne Doctrin am Schlusse hätte einen Kenner des Origenes wie
Theodoret sofort überzeugt: „hier mag jeder Andere aus dem 3ten
Jahrhundert verborgen sein, nur nicht Origenes*. Theodoret könne
also, schloss ich, beim wiederholt Nennen des Origenes am wenigsten
an diese seine Quelle gedacht haben. Er habe sie lediglich im Vor-
wort unter „die Andern“ gefasst, die er nicht nennen konnte oder
wollte. Das Summarium war Fragment, so aber auch anonym geworden,
und Theodoret hat auch keinen Namen dafür gerathen.
Hiermit aber gehen um so mehr die Augen darüber auf, dass
auch Photius und seinen Vorgängern von dem Werke, das in seiner
Totalität d. h. dem IXten Buche nach für die römische Kirche so ver-
letzend ist, nur Fragmente bekannt geblieben sind. Sie haben nur das
philosophisch referirende Lib. I und das ebenso kirchlich harmlose
Lib. X gehabt, das Photius nun nach den Anfangsworten z0V Aaßv-
guw30v (Tav wigeoeem dı@ggrgavreg) allein zu bezeichnen im Stand
gewesen ist. Nur nach diesen anonymen Fragmenten hat die frühere
Zeit geurtheilt, nur danach entweder auf Origenes oder Caius rathen
können und gerathen, ohne aus besondern Gründen dafür an Hippo-
lytus denken zu können. So natürlich aber diese Annahmen sowohl
über das antihäretische Büchlein als über die darin eitirte, wirklich
ursprünglich anonym ausgegangne Schrift waren, so irrelevant sind sie
für unsere vollständigere Kenntniss der Sache geworden, und nun erst
tritt das indirecte Zeugniss der Hippolytus-Statüe unangefochten ein.
Inzwischen ist diese Erörterung von mir bis dahin nicht so
— 316 —
glücklich gewesen, als frühere. Man hat jetzt in Deutschland viel
Höheres und Tieferes zu fragen und zu „besprechen“, variata oder
non variata Augustana, Lutherthum und Union, innere Mission, das
„Wesen des Protestantismus“. Dieses hat man zwar um Alles nicht
zu bethätigen, aber doch zu Vielerlei darüber zu sagen, als dass man
Zeit und Sinn hätte für kirchen- und dogmengeschichtliche Forschung.
Lieber Gott! wie kann man nur noch über die urchristliche Entwick-
lung, oder auch nur über den Hervorgang des Trinitäts-Dogma’s strei-
ten, nachdem es einmal da ist, oder über die Art der Entzweiung in
der alten römischen Kirche, nachdem sie einmal so mächtig geworden
ist! Ueberhaupt, wozu Geschichte mit aller ihrer Mühe, da es so viel
leichter ist, über die Kirche der Gegenwart zu discutiren oder über die
Zukunft zu phantasiren, ohne über den Ursprung der Kirche und aller
dieser Fragen auch im Geringsten klar zu sein! Hat denn nicht auch
schon Bunsen so anziehend es festgestellt, dass die Philosophumena
lediglich dem Helden der Hippolytus-Statüe angehören, wenn diese
auch etwas zweifelhafter Natur ist? Stimmt nicht selbst Döllinger und
alle Welt auch in England ein, ausser etwa dem Starrkopf Baur und
seinem „Anhang*t)?
Unter diesen Umständen kann ich es nur als ein Verdienst aner-
kennen, wenn meine unbefangnere Würdigung der sehr gerechten Beden-
ken Baur’s und Hilgenfeld’s gegen alle jene „Beweise“ von Bunsen und
Anti-Bunsen, diese, wenn auch noch so geistvollen und phantasiereichen,
doch blossen, sich widerstreitenden Hypothesen, respective Gewaltthaten
nicht ganz unbegreiflich erschienen ist; wenn diese, für die Gegenwart
allerdings fast zu harmlos rein historische Untersuchung wenigstens
Eine, etwas näher eingehende Prüfung gefunden hat?). Um so interes-
santer aber ist diese, als sie in dem Bestreben besteht, auch der Unter-
suchung gegenüber, die als ein wissenschaftlicher Fortschritt anerkannt
wird, ja mit Hülfe derselben die Sache gerade umzukehren. Auch die
kritisch gewonnene Ansicht vom Wesen des bis dahin halb gespenstig
1) „Blätter für literarische Unterhaltung * durften das dreist aussprechen
(wie 1855 Juni), um so geärgerter, als ja das frühere Werk schon als ab-
schliessend so gepriesen war. Wenn aber auch ein „Repertorium für deutsche
und ausländische Literatur, von Gersdorf* (1855 August) nichts anders gekonnt
hat, als — jähnen, so hat das nur die Bedeutung auf’s neue zu zeigen den
zahnlosen Mund, den die Helden der non variata so ungescheut aufzuthun pflegen.
Andere thun blos, als wenn sie die in Zürich erschienene Schrift über Hippolytus
auch gelesen hätten, es ist aber an ihrem kritiklosen Gerede über Sainte Hippo-
lyte nicht das Geringste davon zu verspüren.
2) Hilgenfeld, Literar. Centralblatt. 1855 Mai.
— 317 —
gewesenen h. Hippolytus, welche ebenso sehr das rationalistisch-, als
das papistisch-apologetische Zurechtmachen des neuen Kirchenvaters
verwehrt hat, soll zu einer blossen Hippolytus-Hypothese herabgesetzt
werden. Und wirklich beruht ihre Begründung am Ende allein auf
dem neu entdeckten Werke, beziehungsweis dessen ältester bestimmter
Bezeugung — also mit auf Theodoret und Photius!
Es wird anerkannt, dass man das Zeugniss des letztern gegen
Hippolytus’ Autorschaft an dem Räthselbuche früher nur misshandelt,
nur mit Gewaltthat und Unsinn zugleich todt zu schlagen versucht
habe, aber auch der nun tiefer angesetzte Hebel soll versagen. Es bleibe
nach Allem, was ich selbst gegen Bunsen, Döllinger und Ritschl er-
innert und mit aller Offenheit erst an’s Licht gestellt habe, das Wahr-
scheinlichere, dass Theodoret doch die Philosophumena ganz und zugleich
unter dem Namen des Origenes gekannt habe, wonach er ihn eitire;
warum sollte also auch Photius nur ein oder das andere Fragment
des Werkes gekannt, warum nicht das Ganze mit allem Bewusstsein,
nach älterer Ueberlieferung, dem andern römischen Vater jener Zeit,
dem als so gelehrt bekannten Gegner des Montanismus, Caius, zuge-
schrieben haben? Es ist auch dabei recht viel Scheinbares geltend
gemacht worden. Ich muss aber doch gestehen, mit so liebenswürdiger
Leichtigkeit, dass ich es ruhig jedem Leser meiner Schrift überlassen
kann, diese Argumente näher zu würdigen; nur ein einziges Moment ist
darin über meine eigne Erörterung hin neu erinnert worden: (xal «v-
toi) eigerırwregnı (Dgvyss) heisse „arge Ketzer“, das stimme ganz zu
dem Ketzergegner Caius, gegen den, wie ich selbst mit Recht gezeigt
hätte, halbmontanistischen Hippolytus! — Es eilt mit einer nähern
Beleuchtung dieser Apologie nicht. Hier genügt es, zuzugestehen, dass
die Grundlage meines Beweises: „Theodoret hat nur Lib. X gekannt,
nie Lib. IX und das Uebrige“, mit zwei textkritischen Conjeeturen
‚über die Beschaffenheit unseres Codex der Philosophumena und so auch
des Summariums davon zusammenhängt. Ich fand es überwiegend wahr-
scheinlich, es seien daraus zwei Notizen, die Theoderet noch darin
vorfand [über Aleibiades von Apamea als Förderer der Elesaiten und
über Theodotus von Byzanz als Haupt einer eignen Art Monarchianer]
— beide am Ende eines Capitels stehend —, ebenso“durch die spätern
Abschreiber ausgefallen, als evident eine ganze Reihe aus einem frühern
Buche der Philosophumena. (Vgl. m. S. 50 ff.)
Hierüber lässt sich natürlich noch streiten. Aber es ist falsch,
dass mein Beweis von dieser textkritischen Entscheidung abhänge,
statt umgekehrt diese von jenem unterstützt wird und das Wahrschein-
lichere in jedem Falle bleibt. Mag Theodoret seine Notiz über Aleibiades
Wissenschaftliche Monatsschrift, 20
— 318 —
her haben, woher er will — denn die über Theodotus ist von mir
auch sonst direet nachgewiesen — aus dem Lib. IX der Philosophu-
mena hat er sie so gewiss nicht, als er sonst nicht den argen Verstoss
begangen hätte, einen Callistus, der nur darin als Papst von Rom
erklärt war, harmlos als einen beliebigen Ketzer aufzuführen, um von
den sonstigen unzweifelhaften Indieien der völligen Unbekanntschaft
Theodoret’s mit Lib. IX nicht weiter zu reden, die man wohl advo-
catisch übergehen, aber nieht aus der Welt bringen kann (S. 46 ff.).
Nur die eine Notiz bei Theodoret, Hermogenes habe gelehrt, „der
Leib Christi sei in der Sonne niedergelegt“, welche Lib. VIII der
Philosophumena darbietet, das Summarium nachweisbar nie enthalten
hat, könnte den noch irren, dem eine nähere Betrachtung der speciellen
Sachlage zu beschwerlich ist. Denn diese zeigt, dass Theodoret über
den eigenthümlichen Dualismus des Hermogenes, wonach es dem reinen
Geiste gegenüber eine ewige Materie giebt, zuerst das Summarium
ausgeschrieben hat, dann aber noch eine besondere, uns nicht sonst
mehr erhaltene Quelle, möglicherweise dieselbe, die auch der Verfasser
der Philosophumena für seinen eigenthümlichen, aber sprachlich wie
sachlich abweichenden Bericht gehabt hatt). Dies ergiebt sich schon
sachlich als das Wahrscheinlichere, noch ganz abgesehn von den Ci-
taten Theedoret’s dabei, und der Apologet kann dies wieder nur um-
gehen; im Zusammenhange mit allen andern Indieien aber ist es das
allein Denkbare, dass Theodoret auch dies Lib. VIII, den Elenchns
der Philosophumena überhaupt nie, nur das Summarium ge-
kannt hat.
Könnte aber auch die Oberflächlichkeit noch durch die beiden
Notizen von Aleibiades von Apamea und von dem in der Sonne nie-
dergelegten Leib Christi, zweifelhaft werden, ob nicht Theodoret das
Summarium blos vorzugsweise benutzt, den Elenchus jedoch auch ein-
mal gehabt, aus Lib. IX jene, aus Lib. VILI diese Notiz entlehnt, also
zwar diese im Kopf behalten, aber die Hauptsache von Lib. IX, dass
der Noetianer Callistus nichts Geringeres als römischer Bischof war,
miraeulöser Weise vergessen habe: so heisst das doch den Theodoret
complet unsinnig machen, ihn, gerade ihn auch nur einen Augenblick
den Gedanken fassen zu lassen, Origenes hahe ein Werk verfasst,
dessen Urheber (im Lib. IX) sich laut als römischen Cleriker
1) Im Besondern hat Theodoret seinen weitern Zusatz, nach Hermogenes
werde der Teufel endlich in die Materie (woher er stamme) zurückgeführt wer-
den, gar nicht in den Philosophumenu finden und noch weniger selbst daraus
entwickeln können (S. 25 fi.).
er
— 319 —
erklärt. Man kann so etwas übersehen, wenn man die Sache zum
ersten Mal in die Hand nimmt, wie Baur, wenn man dabei überhaupt
mehr in Suchen von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten als von
Gewissheit sich bewegt. Aber nachdem das einmal erinnert war, dennoch
das nicht sehen, dennoch es für möglich, ja das „Wahrscheinliehere*
erklären, Theodoret habe die Philosophumena ganz, im Besondern auch
Lib. IX gekannt und sie (also Lib. IX mit) im Auge gehabt, wenn
er ÖOrigenes eitire, wie soll man das eigentlich nennen? Dergleichen
ist nicht im Stand, den gegenwärtigen Zustand der Kirchenhistorie in
Deutschland, über den sich Hilgenfeld wie angegeben noch ganz aner-
kennbar erhebt, in ein besonders günstiges Licht zu stellen. Man
hätte für dergleichen leichtbeschwingte, und ebendamit so hochfahrende
literarische Ritte früher andere Namen gehabt.
Die Philosophumena helfen schlechterdings nicht dazu, die Rätlısel
der Origenes-Citate Theodoret’s irgend zu lösen. Eine kritiklose An-
sicht früherer Zeit wird durch ein foreirtes Wieder-Aufwärmen in einer
Zeit, welche das Material vollständiger hat und auf das Einschlagende
schon aufmerksam gemacht ist, nur erst abgeschmackt. Nur im Zu-
sammenhange mit den sonstigen Seltsamkeiten, welche Theodoret’sV er-
halten im Citiren überhaupt darbietet, können auch jene Räthsel ihre
Lösung, — so diese unumgängliche Quelle der Dogmengeschiehte über-
haupt erst das Licht finden, das sie bis dahin noch völlig entbehrt.
Eine nähere Vergleichung derselben mit allen ältern Häresiologen
führt nun zu dem überraschenden Resultat, dass Theodoret’s ganze Arbeit
nur den Schein der umfassendsten und complicirtesten Forschung er-
regt, in der That, so weit es die ältern Abweichungen von der katho-
lischen Lehre, die drei ersten Bücher betrifft, eine ganz leichte und
ziemlich schnellfertige war.
Er hat Nichts gethan, als aus drei Handbüchern
oder Leitfaden der Häresiologie — nämlich Irenzus adv.
“ omn. hser. Lib. I, unserm Summarium, und seinem Handbuche der ältern
Kirchengeschichte, aus Eusebius — unter Hinzunahme einiger
weiterer Lectüre (der Stromata des Clemens und des Epiphanius,
seltener schon des Origenes selbst), einiger Erinnerungen aus
früherer Lectüre (von seinem Landesgenossen Ephrem, dem
Adamantios genannten Dialog und einer oder der andern Schrift des
Hippolyt) und etwas eigner Erfahrung (über noch in seiner
Gegend fortbestehende Ebioniten, Montanisten und Mareioniten) — einen
vierten Leitfaden herzustellen, nur mit neuer Vertheilung des
Stoffes und mit manchen leicht fertigen, aber gleich zuversichtlichen
Combinationen d. ı. Fietionen.
— 320 —
Der Ketzer-Index des Irenäus ist seine Hauptquelle und, so weit
er reicht, auch sein massgebender Leitfaden, nur dass er die drei
erwählten Hauptkategorien dabei durchzuführen suchte und gelegentlich
das einfügte, was der Stromateus, des Epiphanius und des Eusebius
Handbuch und unser Summarium „entsprechend“ Neues darbot. Wo
Irenzus ausging (bei seinem zweiten und dritten Buche), da wird dies
Summarium oder Eusebius der Leitfaden, der noch kürzer ausgezogen
und mit einigen Reminiscenzen oder blossen Vermuthungen bereichert
und so nicht gerade sehr verbessert wird ($. 22 fi.).
Aus dem Handbuch des Eusebius hat er auch alle seine so ge-
lehrt scheinenden literarhistorischen Notizen abgeschrieben;
ausser Irenäus selbst, Clemens Str., Ephremus und Hippolytus kennt er
alle von ihm eitirten oder auch wirklich excerpirten Schriftsteller des
2ten und 3ten Jahrhunderts lediglich aus Eusebius, und nur mit Ori-
genes scheint es noch eine eigne Bewandtniss bei ihm zu haben).
Es ist hier nicht am Orte, auch nach dem schon von mir Ge-
zeigten nicht nöthig, weiter in’s Detail zu gehen. Es gehört zur dog-
mengeschichtlichen Aufgabe selbst, deren Weg nun um so geebneter
und vereinfachter ist, die Paar Momente eigner Erfahrung und der
Leetüre aus uns nicht erhaltenen Schriften näher zu bestimmen, durch
welehe Theodoret, ausser seiner nicht geringen Bedeutung für Herstel-
lung des Urtextes von Irenäus, allein noch den Werth einer Autorität
für die ältere dogmengeschichtliche Entwicklung hat. Es genügt, an
seinen Citaten sein Verhalten überhaupt näher zu charakterisiren.
Welch eine Reihe von Gegnern der gefährlichst gewesenen aller
gnostischen Häresen, des Mareionitismus, weiss er (I, 25) aufzuführen!
Aber in welch sonderbarer Folge! Justin M., Theophilus, Philippus
von Gortyna, Irenäus, Modestus, Origenes, Rhodon, Adamantius, Hip-
polytus, Eusebius von Emesa. Das sieht ganz ehronologisch aus, den
ältesten voran, den aus dem vierten Jahrhundert zuletzt: aber Rhodon
ist ein Zeitgenosse Tatian’s, und der erst nach Origenes? Adaman-
tius d. h. jener Dialog de recta in deum fide ist nachnieänisch und
doch vor einem Manne des 3ten Jahrhunderts wie Hippolyt? Die
Sache ist einfach: er hat sein Handbuch der Kirchengeschichte vor
1) Für die Textes - Herstellung bei Irenäus, unserm Summarium und bei
Eusebius, wo er wirklich ziemlich gut abgeschrieben hat, ist also sein Buch
auch hinsichtlich der ältern Häresen von bleibendem Werth; dagegen hat man
sich zu hüten, den Text des Clemens selbst sofort nach ihm constituiren zu
wollen, da er mehrfach, auch wo er ihn nennt und angeblich abschreibt, doch
bequemer die Auszüge in seinem Handbuche, dem Eusebius vorgezogen hat.
— 321 —
sich und schreibt der Reihe nach die gegen Mareion speciell aufge-
führten Namen aus, und da Eusebius chronologisch verfährt, so auch
seine Reihe so weit. Wo es aber bei Eusebius eine Lücke giebt, da
pflanzt er seine eigne Kunde ein, also: Eusebius H. E. IV, 11: „Ju-
stin M.“, c. 24: „Theophilus“, e. 25: „Philippus Gortyn., Irenäus,
Modestus“ (gerade in der Reihe); nun folgt ein Zwischenraum, also
der erste der Seinigen, ÖOrigenes; bei Eus. V, 13: „Rhodon“; nun
wieder eine Lücke, also ein zweiter (späterer) Kunde von ihm, Ada-
mantius; bei Eus. VI, 21: „Hippolytus, auch adv. Mareionem“, und nun
schliesst er mit der letzten eignen Kunde dieser Art, dem Emesener.
Dies Verfahren charakterisirt seine ganze Arbeit, nicht blos sein
Citiren. So hat er denn auch die Literatur von Anti-Montanisten ledig-
lich aus demselben Handbuche (IV, 26. 27. V, 16—19), selbst die
Reihenfolge: Apollinaris, Miltiades, Apollonius. Als wenn der Zweite
hiervon nicht älter wäre als Apollonius! Eusebius kennt ihn nämlich
erst durch diesen und so kommt er natürlich erst nach ihm darauf
zu sprechen. Theodoret leichthin excerpirend, macht ihn danach zum
Nachfolger. „Die andern“ Schriftsteller aber, die er noch gegen die
Montanisten erwähnt, sind nicht „Asterius, Urbanus u. A.*, wie Schulze
(p- 342) so gemüthlich schreibt, auch nicht der eine Asterius Urbanus,
den Apollinaris (Eus. V, 16) noch erwähnt; sondern Theodoret steht
hier bei V, 19, es ist also der Serapion, aus dem Eusebius noch Eini-
ges nachholt, angemessen multiplieirt; „und Andere“ statt „und ein
Anderer“ zu sagen, war nach seinem sonstigen Verfahren nichts zu
Schweres.
Ueber Tatian und die Enkratiten hat er. allerdings seinen Stro-
mateus (I, p. 359. II, 186. III, 553. VII, 900 ed. Sylb.) unmittelbar
gekannt,: den alten Musanus aber nur aus Euseb. IV, 28, und nur
aus Versehn hat er den von Eusebius nahe vor Musanus genannten
wackern Gegner gegen alle Feinde des Kirchenthums (Heiden, Juden,
Montanisten) mit diesem auch hierher gezogen).
Auch vom „kleinen Labyrinth“ giebt er — wie bemerkt — ge-
rade so viel und Nichts mehr als das Handbuch (V, 28). Ueber und
aus Caius hat er nichts Anderes, als schon bei Eusebius (II, 2. III, 28)
zu finden war, und seine Hochschätzung des Handbuches geht so weit,
dass er eine und dieselbe Stelle darin zweimal benutzt, den Caius auch
gegen Cerinth als Streiter aufführt (II, 3), weil er im Kampf gegen
den Montanismus diesen anerkannten Ketzer und dessen angebliche
1) Die patrologische Kunde von einer Schrift des Apollinaris gegen Tatian
und Severi wird also völlig abfällig.
— 52 —
drröxehviyeig mit jenem parallelisirt!). Auch über Theophilus von
Antiochien hat er Alles aus Eusebius (IV, 24), und so oft er auch
den Dionysius von Alexandrien aufruft — gegen den Pantheismus des
Sabellius, gegen den Rigorismus der Novatianer (III, 5), gegen den
Chiliasmus des Nepos (III, 6), sowie über Cerinth (II, 3) — er weiss
nichts mehr als ihm die Fragmente des Eusebius geben. Selbst die
nähere Charakteristik einzelner Streiter, wie des Apollinaris, er sei
nicht blos in der Theologie (yrooıg zwy Feiwv), sondern auch in der
Philologie (7 &£m$ev naıdele) wohl bewandert (III, 2), hat ihm nur
Eusebiüs (IV, 26) angegeben.
Er hat so das seinige dazu beigetragen, um den Schein Wunder
welcher Gelehrsamkeit und grossen Forschung zu erregen. Denn er
deutet sein ziemlich wohlfeiles Verfahren nirgends an und erwähnt die
Haupt-Quelle für seine Citate auch im Vorwort nur so beiläufig, dass
sie als solche völlig unkenntlich wird. „Auch aus den beiden Eu-
sebius habe er geschöpft, sowohl dem Palästinenser [das ist die
Kirchen-Geschichte, sein Orakel überall], als dem Phönizier [dem
Emesener, den er doch nur einmal, über die Manichäer, vor sich hatte].“
Doch wenn er auch sein Verfahren nirgends ausspricht und einen
andern Schein factisch erregt, er thut dies auch nirgends mit Worten.
Vielmehr muss man ihn nur recht streng bei seinem Wort nehmen, um
den von ihm erregten Schein alsbald zu überwinden.
Unter den Speciäl-Citaten sind nämlich die am Schluss einer Ab-
theilung („Gegen diese schrieben vortrefllich“) gar nicht Angabe seiner
Quellen oder Autoren, sondern nur der Autoritäten für die Kir-
chenlehre gegen die Abweichungen, wo er selbst nicht weiter streiten
will. „So viel treflliche, gelehrte Männer, Vertheidiger der Wahrheit,
seien schon vor ihm gegen diese Ruchlosigkeiten aufgetreten, haben
ihm die Mühe der Widerlegung abgenommen“ (Procem. Lib. I. II.);
und nur zufällig kann es sich treffen, dass er solche wie Ire-
näus und Clemens auch unmittelbar benutzt hat. Diese Schluss-Citate
sind also wohl von denen zu unterscheiden, welche er im Contexte
selbst giebt. Dieses sind wirkliche Citate; damit, aber damit auch
allein macht er die Autoren specieller Darstellungen bemerklich 2). Er
1) Also auch diese, noch von Döllinger, Ritschl u. A. als selbstständig
unterstellte Schrift des Caius fällt ab.
2) Er ist dabei also noch viel treuer, als so manche „Kritische“ oder andere
Untersuchungen der neuern Zeit verfahren, welche den Schein umfassendster,
eigenster 'Qüuellen-Kunde erregen, indem sie sich mit einer Last von Citaten be-
decken und ausschmücken, die doch nur aus Cotelier’s Noten zu den Patr. App.,
ruft dann immer „zu Zeugen“ auf. So den Irenäus (I, 5), dass die
Schamlosigkeit der Carpocratianer von ihm nicht erdichtet sei, den
Clemens Str. (I, 6) über die noch grössere der Adamiten, eben diesen
(III, 1) über die bessere Auffassung des Nicolaus im Unterschied von
der Ruchlosigkeit der Secte seines Namens, das „kleine Labyrinth“
(II, 5) über die textkritischen und praktischen Vergehn der Theodo-
tianer (so weit dies nämlich von Eusebius geboten war), den Eusebius
selbst endlich (III, 2) darüber, dass die Ebioniten (und Nazaräer) erst
„unter Trajan* aufgetreten sein sollten. (Wie oft ist nun dies Zeug-
niss schon gegen die kritische Ansicht aufgeführt, dass die Ebioniten
mit ihrer Annahme von Jesu als blossem Menschen nichts anders als die
Urehristen selbst seien! Und doch wie irrelevant ist es, da Theodoret
nur die, schon Eusebius nothwendig gewordene Degradirung der Ebio-
niten zu einer spätern Seete dankbar annimmt, diese Annahme zu einer
sichern Angabe erhebt! Abschreiber können das Dasein, nicht die
Wahrheit einer Kunde bestätigen.)
Aber die Untreue besteht auch hierbei nur im Nicht-Mehr-
Sagen. Was Th. über seine Autoren sagt, ist richtig und so hebt sich
sofort eine weitere Anomalie als blos scheinbar, dass er den Origenes
einmal (bei den Carpocratianern) nicht erwähnt, wo doch den Irenäus.
Dies geschah nur im Context, nur weil er diesen als besondern Zeugen
der Ruchlosigkeit und so als Quelle seiner Angaben zu eitiren nöthig
fand. Am Schlusse der Abtheilungen, da, wo er nicht seine Autoren,
sondern blos Autoritäten für die Kirchenlehre nennt, da erscheint Ire-
näus nirgends allein, immer mit Origenes.
Ebenso ist es nur scheinbar eine Abweichung von seiner Regel,
wenn er über die Ebioniten neben der Trias Justinus, Irenäus, Origenes
noch den Eusebius aufführt. Er hat diesen zwar über die Ebioniten
direet ausgeschrieben (den Irenäus selbst nur mittelbar durch ihn) und
ihn mit der eignen Kunde über eine sich Nazaräer nennende Partie
dieser Judenchristen ergänzt; aber ganz consequent nennt er ihn auch
hier nicht als die Quelle seines Auszugs, sondern nur als den Autor
für jene speeielle — ihm wichtige — Angabe, dass diese Leugner
der Gottheit Christi erst so spät (im Beginn der Häresei überhaupt),
unter Trajan, aufgetreten seien; die drei andern Namen sind dagegen
für ihn die Autoritäten von der Ruchlosigkeit dieses Widerspruchs
gegen seine katholische Doctrin.
Innerhalb der Bücher gibt er also nur seine Quellen an, wo er
oder Credner’s Beiträgen oder Baur’s Pastoralbriefen u. s. £. einfachst abgeschrie-
ben sind ohne Angabe der Quelle.
Einen speeciell als Zeugen aufzuführen sich gedrungen sieht; ausserdem
nennt er seine Quellen als solche nur noch im Vorwort zur ganzen
Epitome.
So grossartig es nun klingt, wenn man hört, „auch aus Justin M.
und Rhodon“, ja „auch aus den Andern“ (was ganz so lautet als
aus allen Andern) habe er seine Weisheit, so wenig Wahrheit dies
enthielte, wenn man dabei an unmittelbare Benutzung denken
wollte, so berückend ausser dem vielen Citiren überhaupt im Besondern
auch dies Vorwort für harmlose Leser werden kann: so hat er doch
in der That dabei nichts Unwahres gesagt. Mittelbar hat er alle
zusammen, die er nennt, und selbst „die* Andern benutzt — durch
sein Handbuch Eusebius, das sie alle schon excerpirt enthielt, oder
durch Erinnerung aus früherer Lectüre, selbst den Irenäus und Clemens
mehrfach nur so mittelbar.
Es ist also nur der Schein besonderer, umfassender Quellenkunde,
den Theodoret’s Häresiologie erregt; aber eben damit erhebt sich nur
ein neues Räthsel: der Mann, der c. 380 geboren, 452 u. Z. dies Buch
geschrieben hat, war ein 72jähriger Greis. Wie kann er nun
einen solchen Schein der Grossthuerei erregt haben, und wie kommt
er überhaupt zu dieser, für einen jüngern Mann nahezu frivolen Arbeit?
Wie zu seiner euriosen, solches Zwingen und Entstellen herbeiführenden
Abtheilung? Wie zu den so unnöthigen Anführungen, die ja durch
Eusebius längst bekannt waren? Wie im Besondern zu den eigen-
thümlichen Aufführungen des Irenäus, auch wo man es am wenigsten
denken sollte, während er gerade gegen Marcos ihn nicht nennt? Wie
dazu, den Märtyrer Justin zu einem Hauptkämpfer gegen Ebioniten zu
machen, die dieser als solche noch nicht kennt, während er bei Valentin
und Basilides von ihm schweigt? Warum aber gar nennt er den
Origenes so häufig, auch wo man es nicht erwarten sollte, os doch
gegen einige nicht, wo man es erwarten durfte ?
Alles dies löst sich, sobald wir noch ein anderes, das letzte der
Räthsel hinzunehmen, die Theodoret durch das Citiren in seinem letzten
Werke uns aufgiebt. Es zeigt sich dann, dass dies, auch dies Werk
lediglich als eine Tendenz-Schrift aufgefasst sein will, und zwar
diesmal welch schmerzlicher, tragischer Art! — Die „Tendenz-Kritik“
F. Ch. Baur’s und seiner Schule wird noch so schief angesehn, wird
ja jetzt selbst von Jüngern angeklagt. Und siehe, hier, auch hier führt
sie erst zum Ziele, zur geschichtlichen Klarheit, zum menschlichen
Verständniss sonst unverständlicher Dinge.
II.
Theodoret hat seine Ketzerbestreitung im Jahre nach dem grossen
Coneil zu Chaleedon verfasst, im zweiten danach herausgegeben [453] 1).
Epiphanius aber war mit seinem Panarium, dem grossen Rüstzeug
gegen alle Härese schon über ein halbes Jahrhundert vorausgegangen
(ce. 390 u. Z.), und doch eitirt ihn Theodoret nirgends. Ja
wenn er Tertullian nicht nennt, so liegt dies einfach daran, dass er,
geborner Syrer und unter einer syrisch sprechenden Bevölkerung, des
Lateinischen so wenig mächtig war, wie er selbst gesteht ?); der latei-
nische Vater ist dem griechischen Orient überhaupt Barbar geblieben.
Dass aber Theodoret den doch auch griechisch schreibenden Vorgänger
und Nachbar (den Bischof auf Cyprus), der durch dies „schlagende“
Werk sogar heilig geworden ist, selbst im Proömium nicht nennt, hat
man mit Recht schon früher bewundert?). Garner sucht es einiger-
massen durch Theodoret's Freundschaft für Chrysostomus zu erklären,
dessen Gegner ausser andern Mönchen und Mönchshäuptern der ehr-
würdige Epiphanius auch war*). Aber Chrysostomus war ja schon so
lange seinen Leiden entrückt, und dann hat man bisher noch nicht
bemerkt, dass Theodoret des Epiphanius Buch (evident wenigstens
über die Archontiei, aber auch sonst, wie über die Colorbasii) gerade
so gut benutzt hat als den Clemens Strom., ja noch viel mehr und
unmittelbarer als die übermeisten, die er nennt. Auch war Epiphanius
nach Irenäus der bedeutendste, wenigstens eifrigste und umständlichste
Streiter gegen alle Häresen; war dieser Thatsache nicht Rechnung zu
tragen? Er hätte ihn mindestens im Proömium nicht übergehn dürfen.
Die Absichtlichkeit dieses Schweigens gerade über den Haupt-
Ketzerrichter liegt also evident vor, sie ist aber nur die Kehrseite
davon, dass er umgekehrt den Origenes nicht genug
nennen kann. Beide Räthsel lösen sich, sobald man sie zu-
“ sammenfasst. Sein so Viel-Nennen des Einen und Gar-nicht-Nennen
des Andern ist eins und dasselbe und führt uns zur Einsicht in
die innerste Seele der ganzen Theodoretischen Arbeit.
1) Dies steht durch Procem. und Briefe so fest (vgl. Garnerii Dissert. I a.
a. OÖ. und II, ed. Schulze V, 393), dass Döllinger (Hippolyt S. 274) nur aus
Versehn „gegen 440“ hat angeben können.
2) Graee. affect. cur. Disp. V. ed. Sch. IV, p. 482.
3) S. Schulze V. IV, p. 272 und Garneri Diss. II, 6, 2 ed. Sch. V, 396.
#) Vgl. über die schamlose Verfolgung auch des edelsten Mannes durch die
Verleumdungen der Frau Eudoxia und ihrer Eu-doxen Neander’s Werk „Joh.
Chrysostomus und seine Zeit“ (ed. IL.) Bd. I, S. 121 fi.
— 26 —
Theodoret war einer der bedeutendsten Vertreter der antiocheni-
schen Schule, ihr unmittelbarer Jünger und einer der Wenigen aus
ihr, welche wenigstens bei ihren Lebzeiten nicht absolut der Ver-
ketzerung anheimfielen. Diese Schule hatte von vorne an einen gewissen
Rationalismus, um so zu sagen, gegen die mystische Ueberschweng-
lichkeit Aegyptens und die lateinische Förmlichkeit Roms behauptet,
Strenge in der Exegese gegen Allegorisiren, aber auch Gedankenstrenge
im Dogmatisiren gegen jegliche Mystik und blossen Formalismus. Auf
der zweiten grossen Synode 381 u. Z. war endlich zu Konstantinopel
nach langen Kämpfen und vergeblichen Vermittlungs-Versuchen das
Nieänum sanetionirt und nur noch geschärft. Jeder Rückfall auf Aria-
nismus, in diese Art Rationalismus, oder in’s Judenthum der An-
schauung nach, war damit verwehrt. Die wirkliche substantielle Gött-
lichkeit Christi war so endlich in der langen Gährung ein fester Kern
geworden, der Anfang der schliesslichen Krystallisation des Dogma’s.
Es konnte sich nur darum noch handeln, wie dieser Gott-gleich-
wesenliche (ötoovoLog) Christus, der nicht geschaffen war gleich jedem
andern Geschöpf, sondern ein Gott, geboren aus Gott, — wie dieser
Gottmensch in sich selbst, — wie seine Menschheit zu seiner Gött-
lichkeit sich verhalte. Welche Differenzen waren dabei denkbar, und
je mehr die dogmatische Zuspitzung in die Höhe ging, um so ernster
und grimmiger konnten diese Differenzen sich einander gegenübertreten.
Es kam für das christliche Bewusstsein darauf an, sowohl die
Göttlichkeit als die echte Menschlichkeit, aber auch die persönliche
Einheit Jesu Christi, des Gottmenschen festzuhalten, — wie? das war
die Frage.
Die Aegyptier (Cyrill von Alexandrien an der Spitze) betonten
die Einheit des Gott-Menschen und waren dadurch nahe daran, die
Menschheit, die Wirklichkeit zu verlieren; die Antiochener behaupteten
den Gott-Menschen, sie wollten über die Gottheit nicht die wirk-
liche Menschheit zu Grunde gehen lassen. Es war damit eine Zweiheit
von Naturen indieirt, durch die es dahin kommen konnte, dass man
den Ausdruck „Maria Jesu Mutter ist Gottes-Mutter“ unerträglich
fand. So hatte es Nestorius kühn ausgesprochen, so dachte aber die
ganze Antiochische Schule überhaupt, deren bedeutendster Lehrer Theo-
dorus von Mopsvestia gewesen war. Die ägyptische Partei betonte
dagegen die 980T0x%08, oder die Gottheit auch des Mensch- gebornen
Christus, bot aber damit nur das Vage oder Mystische blosser, nicht
denkend eingehender oder vermittelnder Anschauung, die natürlich mit
der Einheit ebenso schnell fertig ist als überschnell. Sie war den
unterscheidenden (und sofern rationalistischen) Antiochenern oder
—_— 327 —
Orientalen unerträglich. Rom dagegen sah der Sache, dem hitzigen
Streite ruhig zu, und formalisirte dann: keiner hat Recht, sondern die
Wahrheit liegt in der Mitte d. h. diesmal zwischen Alexandrien und
Antiochien — in Rom.
Genug, Theodoret war sofort ebenso geistvoll als scharf (nur zu
scharf, und das hat ihn endlich, wenigstens nach seinem Tode noch
zum Ketzer gemacht) gegen die ägyptische Mystik des Cyrillus auf-
getreten für seinen Freund und halben Lehrer, Nestorius. Denn dieser
hatte in seiner Stellung als Metropolit das (auch wieder zu scharf)
nur ausgesprochen, was die ganze antiochische oder orientalische Schule
dachte: „keine Frau der Welt kann Mutter Gottes heissen!“
Und dennoch ist sie es, sagte Rom und verdammte den Nestorius,
so viel er auch sagen mochte, er habe das gar nicht so gemeint. Den
Menschen Jesus Christus von dem Sohne Gottes Jesus Christus irgend-
wie auseinanderhalten, wie die Rationalisten von Antiochien wollten,
ging nicht an. Nestorius wurde von Rom aus und nicht ohne alles
Recht verurtheilt [431 n. Chr.]1), aber auch nicht so begründet, dass
nicht die Antiochische Schule noch Alles hätte in Bewegung setzen
können, um dagegen zu remonstriren.
Dies ist die besondere Aufgabe Theodoret’s gewesen. Weg mit
dieser jämmerlichen alexandrinischen (eigentlich gnostischen) Mystik
von einer (— natürlich göttlichen —) Natur des Gottmenschen,
freilich auch weg mit jeder Zweiheit von Wesen (Personen)!
Es kam endlich zum Coneil von Chalcedon, wo der Bischof von
Rom zum ersten Male die erste Stellung in der kirchlichon Oikumene
einnahm, präsidirte. Man verwarf hier die ägyptische Extravaganz
(des Dioscurus und Eutyches), wonach vor lauter Betonung der Gott-
Menschlichkeit die Menschheit Christi „verschlungen“, alterirt, aufge-
hoben wurde. So weit siegte die orientalisch - antiochenische Seite,
Theodoret im Besondern, so viel Anfechtung er vorher von Dioseurus
hatte ertragen müssen. Aber man bestand auch beharrlich darauf, dass
Theodoret den Nestorius gleichfalls absolut verfluchen sollte).
Er wand sich zuerst und sagte: „ja, ich verwerfe ihn wie jeden,
der den einen Sohn Gottes in zwei Söhne auflösen will“ (das hatte
nämlich Nestorius nie gesagt). Man rief, hinaus mit ihm, dem Nesto-
rianer, dem Ketzer®?). Es hiess, den Nestorius einfach (simpliciter)
1) Wie man gegen die herkömmlichen Entschuldigungen, auch Luthers fest-
halten muss.
2) Die aperte anathema Nestorio et iis [z. B. Theodoret selbst] qui ea,
qu® eius sunt, sapiunt. (Garn. a. a. O. V, 198).
®) Iste Nestorianus est, heereticum foras mittite. Ib.
—_— 323 —
anathematisiren. Theodoret that es, überwältigt, allerdings mit eini-
gem Zusatz, aber genügend, um in Rom’s und so der Synode Augen
als orthodox, wenn auch etwas als „reuiger Sünder“ zu erscheinen.
Er ward feierlich von der Synode wieder eingesetzt, aufgenommen als
katholischer Vater. Er konnte froh sein, wenigstens beim Leben nicht
excommunieirt, nicht abgesetzt worden zu sein. Aber wie war diese
Orthodoxie erkauft? Er hatte zwar noch nicht seiner Schule, aber
doch seinem Freund und so auch ihr, wenigstens ihrer Dogmatik, auch
der des Chrysostomus und Theodorus geflucht.
Es litt ihn nicht mehr am Orte der Qual. Er eilte nach diesem
für ihn schrecklichen „anathematizo Nestorium“ von Chalcedon hinweg,
wie schon Garner bemerkt, „denn die Menschen fliehen den Ort, wo
sie reuig geworden sind“. Aber man traute der Reue dieses Haupt-
Vertreters des von Rom und Aegypten geschlagenen Antiochismus
nicht, und der Legat des Kaisers zum Coneil (Sporaeius) rieth ihm,
ein Buch zu schreiben, mit dem er jeden Schein von Ketzerei von
sich abwälzen könne. Er that es in unserer „Epitome aller häretischen
Schlechtrednerei“.
Keiner der alten Häresiologen hat ohne besondere Noth geschrie-
ben, jeder war entweder durch die Gefährlichkeit einer bestimmten
Irrlehre getrieben, sie mit aller zusammenzufassen, so Irenäus durch
die Marcosier, Hippolytus in der kleinern Häresiologie durch die
Uebermacht des (ältern) Pantheismus in Rom!), oder er wollte sich
selbst von dem Verdacht der Theilnahme an einer Irrlehre reinigen,
wie Hippolytus in der grössern Häresiologie, seitdem der (pantheisti-
sche) Monarchianismus in Callixtus ihn excommunicirt hatte?), Aber
wohl keine dieser Häresiologien ist ein solches Angst- und Noth-Kind
geworden. Sie alle sind naturgemäss gegen ihre Gegensätze grimmig
und wüthend genug, aber in keiner steckt so viel verbissener
Grimm, so viel Wuth und Weh, ohne es sagen zu dürfen, als
in diesem Speeimen orthodoxiae Chalcedonensis.
Schon die Dogmen-Geschichtsforschung der ältern Theologie, die
Patristik, hat nicht umhin gekonnt, in dieser Häresiologie, die Theodoret
nach seiner „Bekehrung“ zu Chalcedon schrieb, trotz aller objectiven
Haltung eine verkappte Tendenz zu suchen. „Durch Alles habe er versteck-
ter Weise seinen Nestorianismus, seine Zweitheilung der Person Christi
bemänteln, das Ganze seiner Darstellung doch durchsetzen wollen ?).*
1) Vgl. m. Hippolytus S. 148.
2) Vgl. daselbst S. 151.
3) Vgl. Garneri Diss. I, 12, 3. Ed. Schulze V, 199 £. u. II, 6,28. 393 ff.
— 329 —
Es ist das eine Entstellung, aber doch auch nicht so ganz grundlos,
als man es hat erklären wollen ft). Seine — wie bemerkt — so ver-
unglückte Dreitheilung der alten Häresen beruht wesentlich auf seiner
Zweitheilung „Gottes einiges Wesen und des Menschen Jesu Christi
Göttlichkeit*, wobei denn die andern ältern Secten nur die Bedeutung
von Secundärem erhielten
bleiblich war 2).
In der Darstellung der nach-nieänischen Häresen konnte er nun
seinem Grimme gegen das mönchisch -ägyptische Wesen genugthun,
indem er den Haupt-Satelliten des Dioscurus, den (beinah monophysi-
tisch gewordenen) Eutyches als ärgsten Ketzer brandmarkte ?). Aber
das musste furchtbar theuer erkauft werden: er musste nun auch den
Nestorius als argen Ketzer verurtheilen, den Freund schlecht machen,
den brandmarken, für den er zwanzig Jahre hindurch gekämpft und
gelitten hatte; den Haupt-Gegner aber, den er für Nestorius so leiden-
schaftlich bekämpft hatte, den Cyrillus, dieses Haupt der ägyptischen
Schule, musste er unangefochten stehen lassen.
Man hat es später bezweifelt, ob das Capitel gegen Nestorius von
ihm selbst herstamme. Es sei in seine Epitome erst später von einem
Freunde eingeschwärzt. Denn auf dem letzten ökumenischen Coneil
galt es, den wenn auch längst zum ewigen Frieden eingegangenen
Hauptgegner des trefllichen Aegyptiers (Cyrillus) doch noch trotz aller
„Reue“ zu Chalcedon zu verdammen. Da habe denn ein Anhänger
der orientalischen Partei wenigstens das Andenken dieses Vertreters
noch durch ein Schwarzmachen des einmal unrettbar verdammten Ne-
storius in seinem Namen zu retten versucht. Und wer möchte es nicht
aus rein menschlichen Gründen wünschen, dass es so sei? Dieses
Brandmarken eines Freundes, dieses von Grund aus Schlechtmachen
des Mannes, für den er nur zu leidenschaftlich gekämpft und so männ-
lich gelitten hatte, blos um sich jetzt zu retten, ist gar zu schmählich.
Aber es ist nicht anders: Theodoret hat das über sich gebracht’),
wenn auch mit noch so viel Grimm und Weh. Er hatte mit seinem
‚ „diverse“ wurden, auch Gewaltthat unaus-
1) Schulze ed. Theod. Vol. IV, 282.
2) Im Besondern zeigt sich nun seine Darstellung von Cerinth als eine so
willkürliche Zustutzung, damit er doch einigermassen in sein System passe.
®) Daher er die „Eutychisten“ auch gleich von vornherein als den Endpunkt
aller schändlichsten Ur- und Hauptketzer darstellte, indem er sie den Kainisten
gleichsetzte. Vgl. m. Hippolytus S. 69 £.
4) Garner. Cavl. Oudinus. Ed. Sch. IV, 368.
5) DuPin Bibl. Ant. Ecel. IV, 103. ef. ib.
— 330 —
greisen Kopf nicht blos einwilligen müssen in das Anathema gegen
das Haupt seiner Partei, er hatte es auch zu bewähren. Das mönchische
Aegypten hatte einmal durch Rom’s Macht, wenn auch selbst bluten
müssen, doch soweit die Uebermacht über sein Antiochien erhalten.
Er war dazu gezwungen, in diesen hierarchisch-mönchischen Ban-
den; aber dennoch sagte und stampfte er: e pur si muove! Ja der
Dogmatik Antiochiens hatte er mit jenem entsetzlichen Anathema
ein vale sagen müssen: die Theologie, die Schule Antiochiens
sollte oben bleiben, trotzdem anerkannt und gepriesen werden. Nur
durfte er dies „tamen vivat Antiochia!“ nicht laut sagen, aber wenn
auch verstohlen, um so lebhafter und so weit nur möglich.
Epiphanius, Bischof von Cypern, war wie geographisch so auch
theologisch ein merkwürdiges Zwischenstück zwischen Aegypten (der
Phantasterei) und Rom (der hierarchischen Form) gegenüber Antiochien
(dem verständig denkenden und forschenden Glauben).
Auch nachdem das Central-Dogma auf der zweiten grossen Synode
381 abgeschlossen war, bestand in allem Anden hier noch eine ziem-
lich freie Bewegung fort, namentlich in Gregor von Nazianz, Theodor
von Mopsvestia, Chrysostomus. Zwar war die Antiochische Schule mit
Origenes gar nicht darüber einverstanden, wie das A. T. auszulegen
sei, auch fanden seine eigenthümlichen dogmatischen Ansichten nur
vereinzelt Anklang, am wenigsten dauernden. Aber es war das geistes-
freie, das denkende, dies rationalistische (z. B. auch antichiliasti-
sche) Wesen des grossen Alexandriners, warum ihn Antiochien, trotz
dem eben Alexandrien, das Mönchsthum Aegyptens ihn verdächtigt
und verketzert hatte, auf den Schild hob, ihn um so mehr feierte, als
er verketzert wurde.
Um so eher glaubte Epiphanius, das bischöfliche Haupt dieses
Mönchthums am Ende des vierten Jahrhunderts, der freiern Theologie
das Haupt abzuschlagen, indem er die Verketzerung des Origenes
durchzuführen suchte. Diesen Kampf hatte er in seinem Panarion gegen
alle Häresen dadurch eröffnet, dass er in den index der Häresen
(Hzer. 63. 64) den ÖOrigenes und die ÖOrigenianer förmlich und feier-
lich, ja vornehmlich sie aufgenommen hatte. Es war dies sogar der
Hauptgrund und Zweck seines ganzen mönchisch gelehrten und mön-
chisch gemeinen oder beschränkten Ketzer-Werkes.
Von da an (seit e. 394 u. Z.) suchte er diese theoretische That
auch praktisch durchzuführen. Er erschien in einem Hauptsitze der
Origenianer, Palästina, persönlich und wusste genug einzuschüchtern.
War es ihm aber auch gelungen, den Hieronymus (schmählich genug)
zum Rückzug auf seinen Mönchs-Standpunkt zu bringen, so blieb doch
k — 331 —
im Orient noch so viel Anhänglichkeit an den grossen Denker, er war
so sehr das Schiboleth der rationalen Schule von Antiochien geworden,
dass erst im 6ten Jahrhundert, erst unter Justinian seine Verdammung
durchgesetzt werden konnte, dann aber auch nur gleichzeitig mit
Theodoret, dem letzten namhaften Manne dieser Schule.
Wir begreifen nun, nun erst die sonderbaren Citate des Theodoret.
Sie sind nur die Einleitung, die zahlreichen Origenes - Anpreisungen
sind gleichsam nur die Entschuldigung, oder sollen sein die Paraly-
sirung seines schauderhaftesten Arbeits-Stückes, der Verdammung seines
Nestorius.
Musste er auch den rechten Arm seiner Schule und
Partei aufgeben, auf's Schmerzlichste amputiren: so sollte doch
um so mehr das Haupt davon, ihr Schiboleth erhoben werden, Ori-
genes. Und durfte er den Groll gegen Cyrill und seine Genossen nicht
äussern, so sollte doch diese Partei so weit möglich getroffen werden.
Ihr früheres, und selbst heilig erklärtes Haupt, dieser erste Haupt-
Gegner der freiern Theologie, der Verketzerer des Origenes,
sollte als Ketzerrichter, factisch wenigstens durch die neue, voll-
ständigere Ketzerbestreitung abgesetzt werden: er wurde des Na-
mens gar nicht werth erklärt. Um so lauter pries er nun aber
den Origenes als den Schützer der rechten Kirchenlehre gegen alle
mögliche Ketzerei, ja gegen alle Haupt-Ketzerei von Anbeginn an.
Das ist der Grund warum er den Epiphanius unter allen frühern
Ketzer- Gegnern allein nicht nennt; dessen Feindschaft gegen
Chrysostomus ist also nur ein kleines, aber für sich kaum bewusstes
Moment in dieser Stimmung und Tendenz überhaupt. Es ist derselbe
Grund, warum ernun gerade den Origenes, obwohl dieser keine
eigentliche Häresiologie geschrieben hatte, nicht genug nennen d.h.
nicht genug preisen kann. Und jeder Gedanke an eine besondere
Ketzerbestreitung, die dem Origenes nicht einmal angehörte, wird nun
wohl ein völliges Ende haben. Die Origenes-Citate haben im Ganzen
nur diese allgemeine Bedeutung.
Die Tendenz dabei, in Origenes wenigstens seine Schule, so sehr
er sie auch hatte verketzern müssen, zu feiern, hat ihn aber so be-
herrscht, dass sie ihm selbst zu einer Art Terminologie für seine ersten
Bücher ausgeschlagen ist, so weit nur Origenes’ Leben reichte. Seine
ganze Composition, selbst seine Disposition hängt damit eng zu-
sammen. Er bezeichnet durch die besondere Art seiner
Origenes-Citate die Abtheilungen seines Werkes, im Lib. I bis
zu den Unterabtheilungen hin.
Seine Streiter gegen die ältere Irrlehre zerfallen nämlich in drei
— 332 —
Classen für ihn 1) in Sterne erster Grösse; dies ist ihm allein „Justi-
nus der Philosoph und Märtyrer“, wie er ihn immer wieder und in
Variationen preist, Irenäus „der Pfleger und Erleuchter Galliens, der
apostolische Mann, der Nachfolger der Apostel“, und — Origenes „der
Hochgelehrte“. Weiter darf er im unmittelbaren Preis hier nicht gehen,
braucht es aber auch nicht, da er ihn zwei apostolischen Männern zur
Seite gesetzt, ihn damit gleichgestellt hat.
2) Ketzergegner zweiten Rangs, Wohlbekannte sind für
ihn nur solehe, die er unmittelbar kennt, so Clemens Stromateus,
„der durch reiche Kenntnisse so Viele übertrifft“, dann der Adaman-
tius gegen Marcion (ef. Procem. u. I, 24), Hippolytus „der Bischof
und Märtyrer“ (III, 1, welches letztere Prädieat er nur I, 24 aus
Abhängigkeit von Eusebius nicht hervorhebt) und Ephrem der Syrer
(ravevpnuog I, 22). Dessen Name hat überall einen guten Klang,
will er sagen, wie nur leider Origenes nicht, so viel höher der steht.
3) Solche, die ihm nur durch Eusebius bekannt sind,
sonst Verschollene, Rhodon, Apollinaris, Theophilus von Antio-
chien, Dionysius Alex., Cajus, Castor, Musanus, der anonyme Verfasser
des kleinen Labyrinths u. A., wenn ihm auch darunter einige beson-
ders werth sind, wie Rhodon (ef. Procem.) und Apollinaris (cf. III, 2).
Diese führt er denn auch nur durch Eusebius veranlasst besonders auf.
Wenn er nun die drei Sterne erster Grösse zusammen nennt, so
hebt er damit die Haupt-Abtheilungen seiner Häresiologie hervor.
Er thut dies zu Anfang des ersten Buches (I, 2) gegen die Simo-
nianer, die Urketzer der dualistischen Kategorie, wie zu Anfang
des zweiten (II, 2) gegen die Hauptketzer der zweiten Kategorie,
die die Göttlichkeit Christi verwarfen vor lauter Betonung des Einen
Gottes. Gegen die Urketzer in Betreff der Sitte oder diverser Art,
die Nicolaiten (III, 1) nennt er zwar den Justin nicht mit, aber blos
desshalb nicht, weil er hierbei den Clemens Stromateus schon vorher
speciell zu eitiren („zum Zeugen aufzurufen“) und desshalb mit dem
„vorhergenannten Clemens“ das Verzeichniss der Haupt-Kämpfer zu
beginnen hatte. Er trat so an die Ehrenstelle des Justin; ersetzt aber
wurde das dadurch, dass nunmehr neben Irenäus noch ein anderer
Stern zweiter Grösse, auch ein „Märtyrer“, Hippolytus trat, dessen ab-
weichende Ansicht über Nicolaus ihm erinnerlich war. Dies Zusammen-
Nennen des ÖOrigenes aber mit den grössten, allgemein anerkannten,
gefeiertsten, geradezu heiligen Ketzer-Gegnern gegen die Ur-
ketzer jeder Kategorie, oder aller drei Bücher, hat nur die Bedeutung,
den nur als „hochgelehrt* anerkannten, sonst so verleumdeten
d. h. verketzerten Origenes als einen gleich apostolisch richtigen,
— 333 —
gleich treuen Vertheidiger der kirchlichen Wahrheit, als einen glei-
chen Stern sogar erster Grösse im Bekämpfen der Häresie
darzustellen.
An alle Haupt-Ketzereien gehörten die drei grossen Sterne, er
setzt sie auch nur an sie in dieser Reinheit; alle drei gehörten daran,
und nur an sie).
So consequent ist der alte Mann im Preise seines ÖOrigenes ge-
wesen, den nur Menschen wie ein Epiphanius und anderes Gezüchte
gleich mönchischer Art verketzern könnten, während er zu den grössten
Sternen des Lichtes gegen alle Ketzerei gehöre, den grössten bei-
zuzählen.
; Aber.diese Anschauung und Tendenz reichte noch weiter. Das
erste umfangreiche Buch von Dualisten verlangte Unter- Abtheilungen.
Wie sie Theodoret gefasst haben will, sagt er lediglich durch
eine zweite Sternen-Gruppe, gleichsam am Rande, d.h. in den
Anmerkungen zu jeder Gruppe. Die Haupt-Unterabtheilungen werden
markirt durch „Irenäus, Origenes und einige kleinere Sterne“.
Es sind, wie man auch noch nicht bemerkt hat, unter der Hauptab-
theilung: Simon und Simonianer (], 2) vier solcher Unterabtheilungen
in den 25 Capiteln des ersten Buches zu unterscheiden A) nächste
Simon-Verwandte, Saturninus, Basilides (Isidorus), e. 3. 4 nebst einem
sittenlosen Anhang, Carpocratianern und Adamiten (c. 5. 6), B) Va-
lentin und Valentinianer e. 7—19 nebst einem Anhang von Valentin-
"Verwandten (c. 20—23), C) Marcioniten, die aber in ihrem ebenso
schroffen als ganz sittlichen Dualismus von besonderer Eigenheit und
Gefährliehkeit besonders hervorzuheben waren (ce. 24--25), D) Mani-
chäer c. 26, die nun weder Irenäus noch Origenes erlebt hatte.
Bei den nächsten Simon-Verwandten also e. 4, bei den Valen-
tinianern ec. 19 und den Mareioniten e. 24 ist jene Bezeichnung zu
erwarten und vorhanden. Richtig dort (e. 4) neben einem Stern
zweiter Grösse, Clemens Al., der auch den Isidorus angegeben hatte,
!) Nur zwei scheinbare Ausnahmen giebt es dabei: er nennt die drei mit
vielen andern gegen Marcion (I, 25) und sagt bei Cerinth (I, 3), „gegen diesen
_ stritten ausser den (II, 12) vorgenannten [Dreien] auch Caius und Dionysius*
laut Eusebius]. Bei Mareion aber ist er nur durch Eusebius zum Mitnennen des
Justin geleitet worden, und bei Cerinth regt sich nur sein Bewusstsein, dass der
' mit Unrecht so bei ihm in’s zweite Glied gekommen sei, während er doch nach
Irenäus gerade ein Urketzer sei. Er bezeichnet so nur selbst die Willkür, mit
der er den Cerinth seiner von Chalcedon her ihm aufgedrungenen Theilung wegen
umgestaltet hat.
>
j Wissenschaftliche Monatsschrift, Pal
2
— 3354 —
c. 19 gleichfalls neben diesem, der auch die Antitacten gegeben hatte,
ce. 25 aber, gegen die Mareioniten, war jener noch höhere Ton an-
zuschlagen.
Weiter kommt aber diese Bezeichnung „Irenäus, Origenes und
Andere“ nicht mehr vor, weil im II. und III. Buch keine solche
Unterabtheilungen zu machen waren. Desshalb also nun Irenäus nirgends
mehr sonst, Origenes aber, dieser eine Hauptstern unter mehrern klei-
nern nur noch in dem einen jener Anhänge (gegen die Enkratiten
e. 21), wo ernstlicher zu bestreiten war, wesshalb er auch mehrere
Autoritäten aufzuführen hatte. Origenes war zwar dabei auch sonder-
lich ein Vertheidiger der kirchlichen Wahrheit gewesen, aber auch
Irenäus. Doch konnte die Signatur für Haupt-Unterabtheilungen „Ire-
näus, Origenes und Andere“ nicht auf blosse Anhänge ausgedehnt
werden. Der andere Anhang aber (zu Basilides und Saturninus), die
Carpoeratianer und nächstes noch schamloseres Zubehör (e. 5. 6) war
so toll, dass es da kein Wort der Bestreitung bedurfte, im Gegentheil
nur ein Wort der Bezeugung, dass dergleichen je als christlich habe
ausgegeben werden können. Dies hatte er hier allein zu thun, und er
hat es so gethan wie gesehn: er nennt die im Context, die er dabei
ausgeschrieben hat (ce. 5. 6).
Alle andern literarhistorischen Anmerkungen betreffen nur ver-
einzelte Häresen, die gar nicht unter die Kategorie von Abtheilungen
fallen. Da führt er nun entweder einzelne Gegner auf aus eigner
Kunde (wie Ephrem gegen Bardesanes c. 22, die genannten gegen
die Manichäer e. 25, Diodorus Cilix gegen Photinus II, 11), oder so
weit sie ernsterer Bestreitung werth schienen, nach dem, was ihm sein
Handbuch darüber bot (das kleine Labyrinth gegen die Artemoniten
II, 5, Dionysius gegen Sabellius II, 9 und gegen Nepos III, 6, die
Antimontanisten des Euseb. III, 2).
Ganz unter diese Kategorie stellen sich nun die beiden Häresen,
bei welchen Theodoret ausserdem noch Autoritäten hinzugefügt hat:
die ebionitische der Elesaiten (II, 7) und die halb-gnostische des
Hermogenes mit seiner Behauptung einer ewigen Materie (I, 19). Sie
sind nur vereinzelte Abarten, waren aber erheblich oder berückend
genug, um gegen sie speciell eine oder die andere Autorität anzu-
führen. Dort wird ÖOrigenes allein, hier Origenes und Theophilus von
Antiochien genannt.
Was können wir nun nach seinem ganzen Citir- Verhalten hier
erwarten? Er hat diese Männer hier zwar auch nicht genannt, um
‚seine Quelle damit anzugeben, aber er wird doch dabei wie in allen
jenen parallelen Special- Fällen je eine wirkliche Schrift von
— 3355 —
Origenes, bezieh. Theophilus im Auge gehabt haben, in der diese _
Häresen bestritten waren, sei es nun direct (wie bei den Anti-Mona-
chäern) oder indireet, im Gedächtniss (wie bei Ephr&em es scheint),
oder durch Eusebius (wie gewöhnlich).
Umgekehrt ist nun, freilich auch nun erst mit Bestimmtheit zu
schliessen : so gewiss die Noötianer erheblich genug waren, um auch
dagegen eine Autorität anzuführen, wenn er eine kannte, so gewiss
hat er nun das Summarium, welches er darüber ausschrieb, nicht zu
benennen gewusst, den Verfasser der Philosophumena überhaupt nir-
gends genamt.
Dies zusammen führt zu dem Resultat: nach Maasgabe seines
ganzen, so consequenten Citirens hat er den Origenes bei Hermogenes
und bei den Elesaiten nicht desshalb genannt, weil er dabei vor Allem
seinen Leitfaden, das Summarium der Philosophumena, ausgeschrieben
hat, sondern weil er eine besondere, wirkliche Schrift von Origenes
_ im Auge hatte, sei es nun durch eigne Kunde oder durch Eusebius.
Mit andern Worten, es ist schon so, noch abgesehn vom materiellen
Verhalten, allein zu erwarten, dass er die Notiz über Hermogenes,
die er mit Lib. VIII der Philosophumena gemein hat, aus einer beson-
dern Origenes-Quelle entlehnte.
Das factische Verhalten über die Elesaiten bestätigt dies voll-
kommen. Hier hat er erst das Summarium abgeschrieben und dann
das, was Eusebius aus einer Homilie des Origenes darüber angab:
desshalb nennt er hier noch besonders den grossen Meister. Ebenso
evident hat er über Hermogenes zuerst das Summarium ausgeschrieben
und daun eine eigne Schrift, wahrscheinlich eine andere uns verlorne
Homilie des Origenes, aus der er die Zusätze erfuhr. „Dieser sagte
[auch], der Leib Christi sei in der Sonne niedergelegt, der Teufel aber
werde auf die Materie zurückgeführt.* Den Eusebius nachsehlagend
fand er dann den Theophilus gegen Hermogenes aufgeführt: aus der
eignen Kunde fügte er nun hinzu: „auch Origenes“.
Was also schon aus innern Gründen der Darstellung und der
Sache als das Wahrscheinliche, aus dem Gesammt-Verhalten Theodo-
ret's zu den Fhilosophumenu als das allein Mögliche sich ergab, dass
‚er die eine Notiz über Hermogenes, bei der er neu einsetzte, irgend
woher, nur nicht aus dem Lib. VIII der Philosophumena, — dass er
überhaupt dieses wie Lib. IX nie gekannt hat, das wird nun durch die
Einsicht in die Natur aller seiner Citate so völlig bestätigt, dass ich
es jeder noch beliebigen Bestreitung der Hippolytus- Ansicht ruhig
überlassen darf, auch hier noch von blosser Conjeetur in den Tag
ı hinein zu reden d. h. sich noch weiter bloszustellen.
— 3356 —
Wenn irgend, so haben wir in den Worten Theodoret’s (I, 19)
„dieser sagte ct.“ mit aller Gewissheit ein neues Fragment von
einer Original-Schrift des Origenes erhalten.
Es ist dies aber zugleich das- einzig Neue, was Theodoret
trotz aller zahlreichen Anführungen des grossen Namens sicher nach-
weisbar über Eusebius hin von ihm aufgenommen hat, und nur
möglich bleibt es, dass die eigne (Quelle, aus der er (I, 25) den
Pithon (oder Peithon) neben Prepon als Marcioniten kennen gelernt
hat, gleichfalls eine Origenes-Schrift war. Eine weitere Bestimmung
dessen, was er über ältere Häresen Neues darbiete, das nicht blos auf
seinen Combinationen der uns auch noch vorliegenden frühern Quellen
beruhe, liegt hier aus dem Gesichtskreis. Genug, dass mit Auflösung
des letzten Scheins von Anomalie in seinem Citiren sein ganzes Werk
zu seinem Licht gekommen ist.
Aber umgekehrt hat auch erst die nicht mit blossen Wahrschein-
lichkeiten zufriedene, eine wirklich geschichtliche Forschung durch die
Seltsamkeiten hin, welche gerade in dem letzten Werke Theodoret’s
so gehäuft, im Besondern aber durch sein Namen-Nennen und Nicht-
Nennen sich aufdrängen, zur Einsicht in die bestimmte Tendenz, in
das Leben geführt, aus dem dies ganze Schmerzenskind hervorge-
gangen ist. Man hat das auch gar nicht anders finden können, denn
direet oder laut konnte sich der von allen Seiten eingeengte Mann
gar nicht mehr äussern, nur noch in dieser Form, indem er theils den
Schein von Ketzerei abwehren wollte — im Gegentheil will er sagen,
mit den ältesten und anerkanntesten Vertheidigern kirchlicher Wahrheit
stehe ich, seht nur! zusammen gegen alle Dualisten wie gegen alle
Leugner der Gottheit Christi -vorab — theils seinem Schmerz und
Grimme Luft, das Recht der freiern Theologie trotz der durch die
fürchterliche Unterschrift gebundenen Hände geltend zu machen suchte.
In dem ganzen, darum auch so flüchtig hingeworfenen Bericht, im
Besondern in der Art, wie Theodoret seine Streiter gegen die frühere
Irrlehre aufführt, haben wir wesentlich ein erstes, nur noch verstohlenes
„et tamen movetur“ trotz aller Baude, das merkwürdigste Denkmal
seines Lebens, ein merkwürdiges Denkmal dieser Zeit überhaupt, in
der eine einseitige Christologie das alleinbeherrschende, aber so
mönchisch-hierarchische Verknechtung unabwendbar wurde.
Es ist in der Geschichte des Kampfes der freiern Theologie
hiergegen, dessen Beginn unter Chrysostomus Neander so anziehend
geschildert hat, gar Manches lehrreich, im Besondern aber der Zug,
wie die Antiochische Schule mit solcher Entschiedenheit und Festigkeit
gerade diesen Mann zum Panier erhoben hat, — je mehr er verketzert
ie u Il 2.
— 5537 —
wurde, um so beharrlicher erhoben hat als ein Haupt christlich freien
Denkens und Glaubens überhaupt, während dessen specielle Speeulation
gar nicht mehr die ihrige war, dessen alexandrinische Methode (im
Besondern das Allegorisiren) der ihrigen sogar entgegenstand. Sie
haben eingesehn, dass wo Ein Glied leidet, alle leiden, oder wenn die
freie Bewegung, das Dringen auf ein geistiges Verständniss des Chri_
stenthums an einem Punete unterdrückt und mit Erfolg verketzert wird,
die Unterdrückung und Verdächtigung bald und nur zu bald viel
weiter droht und um sich greift. Daher Theodoret's beharrliches „Und
doch Origenes!*
Aber man kann aus jener Zeit noch Speeielleres lernen. Damit,
dass die Antiochische Schule unterdrückt, erdrückt wurde, ist die
orientalische Kirche immer tiefer verwest und was endlich geworden ?
Die Magd eines Knechtes!... Und was geschieht jetzt mit Antiochen
d. h. der Schule philologischer wie philosophischer Strenge und des
Schrecklichsten — historischen Ernstes? Von den Illiberalen wird sie
verketzert oder verwünscht, und von den Liberalen ?
DIE HANDWERKER-FRAGE IN UNSERER ZEIT.
GRUNDLINIEN Zur BEURTHEILUNG UND BEHANDLUNG DERSELBEN
von
Dr. KARL KNIES,
ord, Professor der Staatswirthschaft zu Freiburg i. B.
I. Arrıkeı.
Auch auf dem Gebiete der wirthschaftlichen Lebenserscheinungen
werfen sich von Zeit zu Zeit „brennende“ Fragen des Tages, und
— man könnte sagen — europäische Fragen empor. Unbeachtet
in ihrem mäligen und stetigen Heranreifen fesseln sie plötzlich auf einer
um einen Schritt weiter vorgerückten Entwicklungsstufe die Aufmerk-
samkeit Aller. Man muss denn gegenüber auch einer solchen Frage zu
einer bestimmten Antwort vordringen, muss für die Aufgabe, welche
sich die Theilnahme stellte, eine Lösung anstreben, vorab für das Ur-
theil durch die Analyse der massgebenden Bedingungen.
Auch rücksichtlich der „Handwerkerfrage“ finden wir leicht, dass
die Elemente, welche sie combiniren, weder ein ausschliessliches noch
ein sprungweise vorgebrochenes Erzeugniss der letzten paar Jahre sind.
—_— 338 —
Aber auf jene Tagesordnung der brennenden Fragen ist sie mit einem
Male in dem Jahre 1848 gestellt worden. Die Bewegungen jener Zeit
waren auch hier den Triebkräften zu vergleichen, welche die um-
schliessende Decke über der seit lange herangeschwellten Knospe spren-
gen und wie mit einem Stosse durch die gleichgiltig betrachtete grüne
Hülle brennende Farben an das Tageslicht drängen.
Es war eine unerqnickliche Blüthe, welche sich hervorhob. Zu-
stände der Noth, Aussichten der Verarmung — mit diesen
Worten schien das Loos der kleinen Gewerbsleute in Gegenwart und
Zukunft am besten bezeichnet. Das Bewusstsein des Nothzustandes,
die Besorgniss einer unabwendbaren Verarmung arbeitete längst in
vielen Kreisen der Handwerker. Beides wurde nur gefestigt durch die
Theilnahme, welche der kleine Gewerbsmann damals bei den Einzelnen
in den höheren Ständen, bei Gemeinde- und Staatsbehörden fand.
Wohlmeinende und heuchlerische Freunde regten ihn zu energischer
Kundgebung seiner Bedürfnisse und Forderungen an, die denn als
leidenschaftlichen Stimmungen entsprungen sich weit mehr das Wünseh-
bare als das Mögliche vorhielt und sicherer auf den Vortheil des
Handwerksmannes als auf den Gemeinnutzen Aller gerichtet war.
Diese Erhitzung in den Gemüthern ist verrauscht, aber der Eifer,
den Druck in den Zuständen des kleinen Gewerbsmannes zu unter-
suchen und wenn möglich eine Besserung seiner Lage und Aussichten
herbeizuführen, ist nicht erkaltet. Er wirkt ununterbrochen in vielen
Männern ausserhalb des Handwerkerstandes, sei es dass sie durch eine
Gemüthslage bestimmt werden, sei es dass sie erkennen, wie immer
das Gemeinwesen leidet, wenn ein Theil in demselben kränkelt. Aber
auch die Staatsgewalten können und wollen sich nieht einer von ihnen
beanspruchten Mitwirkung entziehen.
Die Handwerkerfrage muss man entschieden sondern von jener
Frage des „Schutzes der nationalen Arbeit“ gegen die Concurrenz des
Auslandes. Bei dieser sind alle Produetionskreise unmittelbar interessirt
und die sog. grosse Industrie strebt regelmässig — die Schweiz macht
beispielsweise eine Ausnahme — mehr nach den Gaben jenes Schutzes
wie das Kleingewerbe.
Wer immer in unserer Angelegenheit Anderen gedrängte Mit-
theilungen machen will, wird es gegenwärtig für überflüssig halten
dürfen, dass man zuvörderst noch überhaupt erst die Thatsache einer
unter dem Handwerkerstande verbreiteten Noth erweise, Diese That-
sache wird auch gar nicht durch den Nachweis erschüttert, dass in
unserer Zeit eine entschiedene Verbesserung der Lage der unteren
Stände überhaupt gegen früher eingetreten ist. Es handelt sich ja hier
— 339 —
nur um die besonderen und verhältnissmässigen Zustände
einer einzelnen Classe, deren verschlimmerte Lage durch ihren allge-
meinen Nothschrei wie durch ihre Hast im Zugreifen nach dargebote-
nen Rettungsmitteln gleichmässig bezeugt wird. Obendrein muss man
sie als ein mathematisch sicheres Ergebniss von Kräften erwarten, welche
als Grundbedingungen der Erzeugung und des Absatzes wirthschaft-
licher Güter in der neueren Zeit vor unseren Augen in Wirksamkeit
sind. Es ist übrigens nicht nur nicht nothwendig, sondern — in Folge
eben jener ursachlichen Kräfte unserer Erscheinung — nicht einmal
möglich, dass jede Art von Handelsgeschäft in gleich starker Weise
oder auch nur überhaupt geradezu bedenklich heimgesucht sei. Aber
so viel wird man immer finden, dass wenn einmal eines überhaupt
in dieser Kategorie steht, es auch regelmässig für alle Meister und
überall in derselben steht. Und dann bricht die Bedrängniss eben bald
mit einem Ruck über ganze Reihen von Handwerksgeschäften, bald
über einzelne nach und nach herein. Ein Handwerk wie z. B. die
Bäckerei wusste bis in den Anfang unseres Jahrzehnts wenig Beson-
deres zu erzählen. Im Gegentheil schienen an so vielen Orten neben
den bekümmerten Gesichtern anderer Gewerbsmeister die glänzenden
Mienen des Bäckers zu bekunden, dass es noch Handwerke mit „gol-
denem Boden“ gebe. Aber schon die Consumvereine der Jahre 1853
und 1854 konnten einige bedenkliche Schatten werfen und die Brod-
fabriken seit 1855 und 1856 werden ein tieferes Dunkel hinzufügen.
In der That ungemein wichtig und lehrreich ist die Thatsache,
dass die bedrängte und bedrohte Lage des Handwerker-
standes durchaus allgemein und überall auftritt in den
eivilisirteren Ländern unseres Erdtheiles. Sie muss ohne
Zweifel für die germanischen und die germanisirten romanischen Völ-
ker als eine europäische Frage erscheinen. Local liegt sie und etwa
weiter entwickelt, schärfer ausgeprägt vor, immer aber genau in dem
Grade mehr als der unaufhaltsame Drang in der Bewegung der mo-
dernen Güterproduction zum Durchbruch gelangt ist. Es giebt kaum
ein Land in Oesterreich, keines in Deutschland, kein Departement in
Frankreich, keine Provinz in Belgien, wie keinen Kanton in der Schweiz,
dem diese Angelegenheit eine fremde, auswärtige geblieben wäre und
in diese Lage rücken immer mehr Territorien ein. Weit entfernt, dass
uns diese Verbreitung verwirrt und bestürzt machen dürfte, ist sie
vielmehr ein sicherer Wegweiser, der von der Bahn der Thorheit und
des Wahnes im Urtheilen wie im Begehren hinwegleitet.
Diese allgemeine Verbreitung kann uns zunächst Aufschluss geben,
was davon zu halten ist, wenn wir auf die Sorgen und Klagen, welche
— 340 —
in so vielen Arbeitsstellen den Genuss des täglichen Brodes begleiten,
von „fixen“ Leuten die Antwort hören: „diese Handwerker sind an
ihrer beklagten Lage selbst schuld und allein schuld. Trägheit, Schlen-
drian, Beschränktheit, Mangel an ÖOrdnungsliebe, wohl gar noch Ge-
nusssucht führen sie ihrem Untergang zu, sie mögen nur fleissiger sein
und besser hausen, dann wird es auch wieder besser mit ihnen stehen“
u. s. w. Das sind Schläge in’s Wasser! Wenn wirklich jener Druck
und jene Aussicht auf eine trübe Zukunft ganz allgemein über den
Geschäftsbetrieb des Handwerkerstandes gekommen ist, so kann unter
verständigen und unparteiischen Menschen keine Rede mehr davon
sein, dass nur in den Untugenden von Handwerkern das Uebel liege.
Man mag immerhin auf einzelne oder viele kleine Städte oder auf
einzelne Arbeitsstellen hinweisen, um Belege hervorzustellen. Doch ist
es ein dreister Wahn von Leuten, die von dem Handwerkerstand so
viel wissen als sie sich über ihn einbilden, dass es nicht auch gerade
in unserer Zeit und wohl in jedem Orte eine Menge von Handwerks-
stätten giebt, in denen angestrengter Fleiss, Sparsamkeit, Ordnung,
Rührigkeit und der beste Wille und Muth herrscht: wenn es irgend«
wie erreichbar sei, nichts zu verabsäumen, wodurch das Geschäft und
die Zukunft von Weib und Kind auf ein solides Grundgestell gebracht
werde. Aber auch auf Meistern dieser Art lastet der Druck, wir hören
nicht nur auch von ihnen ähnliche Klagen, sondern sie sind auch hin-
länglich befähigt uns vorzurechnen, dass sie auch mit dem Gesammt-
aufgebot ihrer Kräfte nur langsamer verkommen wie Andere, die es
trotz der Nothzeichen bei dem gewöhnlichen Mass haben bewenden
lassen.
Es ist jene Thatsache der allgemeinen Verbreitung dieses Druckes
aber auch wohl geeignet, die Handwerker selbst und manche heiss-
blütige Freunde derselben zu fruchtbaren Schlussfolgerungen hinzulei-
ten. Wenn wir es abweisen müssen, eine überall sichtbare Bedrängniss
auf die doch immer nur stellenweise verbreiteten Untugenden der
Handwerker allein zurückzuführen, so darf man es auch diesen nim-
mermehr zugestehen, wenn sie ihrerseits glauben, die Ursachen ihrer
Leiden gerade auf ihren Wohnort, ihre Kunden, ihr Land, ihre Obrig-
keit u. s. w. werfen zu dürfen, und dass es den Landesregierungen
ein Leichtes sei zu helfen, „wenn man nur wolle“. Es wird immerhin
an den meisten Orten auch schon einmal Veranlassung zu besonderen
Klagen geben und solche Misstände rein localer Natur können dann
durch Speeialmassregeln ihre Erledigung finden. Aber die Hauptsache
liegt gegenwärtig nicht in ihnen, kann nicht in ihnen liegen, weil die-
selben Klagen auch da erhoben und begründet werden, wo man von
— 341 —
solchen localen Misständen nichts weiss. Und am „guten Willen“
zu helfen fehlt es in der That am wenigsten; wo vielmehr die Schwie-
rigkeit liegt, kann man für verständige Menschen mit vollkommener
Sicherheit erweisen. Das geschichtliche, praktische Leben lässt uns
keinen Augenblick darüber in- Zweifel, dass die Verhältnisse des Ge-
werbebetriebes immer mit den Verhältnissen der übrigen Erwerbszweige
in einer ganz innigen Verbindung stehen, und ebenso innig ist stets
der Gesammtkreis der wirthschaftlichen Thätigkeiten in das Gesammt-
leben eines Volkes verschlungen, an welche Aeusserungen desselben
wir auch denken mögen. Sind desshalb die Nothstände des Hand-
werkerstandes Ergebniss einer ganz allgemein verbreiteten Ur-
sache, so lässt sich mit Sicherheit erwarten, dass diese Ursache nicht
nur in das allgemeine Getriebe des gesammten Güterlebens ver-
flochten ist, sondern dass sie auch überhaupt ein Element in der
allgemeinen Entwicklung unserer Zeit sein wird. Ein
Kampf gegen sie wird also dann einen Kampf gegen die allgemeine
Lebens- und Denkweise der Gegenwart einschliessen.
Stellen wir uns nun vor, der Handwerkerstand sei aufgefordert,
alle seine anklagenden Gedanken und Vorwürfe, alle eigenen Erfahrun-
gen über den obwaltenden Druck klar auszusprechen, so wird Niemand
es bezweifeln, dass er mit dem Worte: Concurrenz antworten wird!
Ja die Concurrenz in ihren immer sich mehrenden, immer neuen For-
men. Die Concurrenz der Dorfhandwerker, die Coneurrenz anderer Landes-
städte, die Coneurrenz des Auslandes; die Concurrenz der unbefugten
Handwerksgenossen, die Concurrenz der befugten Meister, die in andere
Gewerbe hinübergreifen, die Coneurrenz zu vieler oder zu billiger
Innungsgenossen, die Concurrenz der Handelsleute, welche Handwerks-
artikel verkaufen, die Conceurrenz der Maschinenarbeit und des Gross-
betriebes- überhaupt. So kommen denn auch regelmässig die Vorschläge
der Handwerker zur Beseitigung der sie bedrängenden Misstände auf
Beschränkungen der Conceurrenz hinans. Und wie man von der früheren
Zunftverfassung der Gewerbe hauptsächlich nur diese Seite im Ge-
dächtniss bewahrt, so sind es auch Coneurrenz - Beschränkungen, an
welche der Handwerker seibst fast ausschliesslich denkt, wenn die
Rede von einer Gewerbeordnung ist, welche noch kommen soll.
Es ist prineipiell entscheidend, dass man sich vollständig klar
macht, wie von dieser Coneurrenz im Allgemeinen ganz genau das
gilt, was vorher als Merkmal einer ganz allgemein verbreiteten Ursache
der Bedrängniss des Handwerkbetriebes bemerkt worden ist. Einmal
ist sie nämlich eine Erscheinung, welche dem Handwerkerstand wirklich
iu allen eivilisirteren Ländern Europa’s sich gegenüberstellt. Freilich
ee '
nicht so, dass sie überall ganz in demselben Grad und Umfang sich
geltend machen kann, aber doch regelmässig schon so weit, dass durch
sie die Schutzmauern des früheren Gewerbebetriebes gründlich erschüt-
tert sind und jedenfalls gehen die Klagen der Masse unter den Hand.
werksmeistern ihrem Vorschreiten parallel. Sodann liegt die hochbe-
deutsame Wahrheit unbestreitbar vor, dass diese Coneurrenz, der neue
Mitbewerb von Personen, welche nach früher giltigen Monopol- und
Privilegien -Bestimmungen zu Gunsten einer kleineren Zahl von be-
stimmten Erwerbsthätigkeiten ausgeschlossen waren, nicht von ferne
und für die kleinen Gewerbsleute eingetreten ist, dass sie
vielmehr als ein allgemeines Prineip für alle wirth-
schaftlichen Thätigkeiten zur Anwendung gebracht wird. Ja
man muss den Handwerksmann schon selbst daran erinnern, dass viel-
leicht gerade er, der einzelne Klagende, nur in Folge der Beseitigung
alter Coneurrenz-Beschränkungen in das Handwerk hat eintreten kön-
nen; dass ganze Reihen von Gewerken allein desshalb den selbst-
ständigen Handwerkern zugefallen sind, weil die Staatsgewalt die
Coneurrenz der Privaten an die Stelle der eigenen Regalien setzen
wollte; dass auf demselben Grundsatz die freie Bewegung und Ent-
schliessung beruht, deren sich jetzt der Handwerker in seiner Geschäfs-
führung erfreut, während ihn früher überall Vorschriften der Regierungen
mit hohen Strafandrohungen umgaben u. s. w. Dazu halte man nun,
dass gerade so wie im Handwerksbetrieb auch im Handel und
Ackerbau und weiterhin nicht im Geringsten minder auf dem Ge-
biete der persönlichen Dienste früher die Privilegien
und Beschränkungen herrschten und in der neuern Zeit die
Grundsätze der freien Coneurrenz zur Geltung gekommen
sind! Als die Concurrenz-Beschränkungen für die Handwerkergeschäfte
noch überall an der Tagesordnung waren, bestanden nicht nur auch
Gebote und Verbote in Beziehung auf den Anbau des Bodens, sondern
man gewährte auch — wenigstens da, wo nicht geradezu die Land-
bevölkerung von der städtischen oder zu Gunsten derselben beherrscht
wurde — Kormeinfuhrverbote zu Gunsten des Landvolkes. Nun schreien
wir Städter schon genug in Theurungszeiten selbst über niedrige Fi-
nanzzölle, die auf die Korn- und Mehleinfuhr gelegt sind, wie würden
wir uns geberden, wenn es sich um beträchtliche Schutzzölle handelte
oder am Ende gar keine Frucht über die Grenze herüber kommen
dürfte, damit die Grundbesitzer des Inlandes nicht geschädigt würden.
Ebenso gab es eine Menge von Beschränkungen in dem Handelsbe-
trieb, es gab privilegirte Handelshäuser, privilegirte Handelsgesellschaf-
ten u. s. w. und die Tausende von Handwerkern, welche heutzutage
N N
— 343 —
trotz ihrer Vorwürfe gegen den Handelsstand selbst Handelsleute sind
und die von Anderen verfertigten Artikel ihres Geschäftes mit so
gutem Erfolg verkaufen, weil sie die beste technische Kenntniss des-
selben haben, sie würden ohne diese freie Concurrenz übel wegkommen.
Ueberall hat man der Coneurrenz Raum verschafft, es ist nicht von
ferne so gekommen, dass man nur den Gewerbebetrieb mit ihr hätte
„heimsuchen“ wollen. Und gilt denn nicht dieselbe Regel für die
Inhaber anderer von dem Handwerker so oft beneideter Stellungen ?
Die Coneurrenz ist auch an den Adel, an die Patrizier herangekommen,
deren Söhne nicht mehr in dem Besitz von Civil- und Militärstellen
gegen den Mitbewerb der Bürgerlichen geschützt sind, an die Nach-
kommen der Pfründenbesitzer, an die Söhne der „Studirten“ und Be-
amten, an deren Bestrebungen um Staatsstellen der Handwerker- und
Bauernsohn theilnimmt, sie ist an uns Alle herangetreten, eben weil
sie ein Grundton in den Lebensverhältnissen der Gegenwart geworden
ist. Denn wie in den Erscheinungen und Folgen so tritt auch in den
Triebkräften und Ursachen jener innige Zusammenhang zwischen den
wirthschaftlichen und allen übrigen Lebensweisen hervor. Es ist helle
Thorheit zu glauben, dass die den Klagen und Leiden der meisten
Handwerksmeister zu Grund liegende Coneurrenz nur die Folge eines
wirthschaftlichen Raisonnements sei, welches in diesem oder jenem
einzelnen Gesetz über den Gewerbebetrieb seinen Ausdruck gefunden
habe. Es erscheint uns heutzutage als ein reinmenschlicher und men-
schenwürdiger Gedanke, dass Derjenige, welcher bestimmte Arbei-
ten verrichten will, sie verrichten kann und bei denen, welche sie gelei-
stet wünschen und bezahlen müssen, willkommen ist, von dieser seiner
Ernährungsquelle nicht abgedrängt werde. Wir denken gewiss unmittel-
bar zunächst nur an die Grundsätze der Rechtsgleichheit, an poli-
tische Rechte, wenn man uns erzählt, dass der Bewohner des platten
Landes, welcher ebenso wie der Städter Steuern entrichten, Militär-
dienste leisten muss u. s. w., Handwerksproducte verfertigen dürfe,
wie umgekehrt dem Stadtbewohner der Ackerbaubetrieb nicht versagt
ist. Und wer darf sich berechtigt halten es in Abrede zu stellen, dass
in der steigenden Beseitigung internationaler Verkehrsschranken auch
eine Verwirklichung des tiefchristlichen Gedankens der Völkerliebe
und Länderverbrüderung wahrgenommen werde ? Soll gerade der warm-
religiöse Mensch es als eine Lebensfrage der Menschheit ansehen, dass
das geistige Brod der Bibel an keiner Landesgrenze eine unübersteig-
liche Barriere finde und als ganz gleichgiltig, wenn man den Hunger
eines „Auslandes“ nach dem leiblichen Brode der Komfrucht als ein
irrelevantes Phänomen behandelt?
ee
Mit Alledem soll natürlich dem streng wirthschaftlichen Raison-
nement bei Staatsbehörden wie bei den Consumenten über die Mehr-
leistung der Production unter der den Handwerker drückenden Con-
eurrenz gar kein Abbruch geschehen. Aber so wichtig auch die
Thatsache ist, dass weit mehr Güter erzeugt werden und dass insbe-
sondere der Consument inmitten der beklagten Coneurrenz die von
ihm begehrten Waaren theils billiger, theils besser, theils billiger und
besser zugleich erhält — wir brauchen doch bei ihr nicht weiter zu
verweilen, weil sie der Hauptsache nach eben unbestritten ist und
überhaupt als Voraussetzung der ganzen Beschwerdeführung dasteht.
Auch dem Handwerker selbst fällt es ja durchaus nicht ein, seine
Freude über die freie Concurrenz in der Production der Güter zu
verbergen, soweit er Consumtionsinteressen hat; ja er lässt sich auch
als Producent durch sie noch recht gern fördern, sie soll nur an der
Stelle aufhören, wo er schliesslich die Arbeitshand anlegt und als
Verkäufer auftritt.
Es ist eine unselige Folgerung aus einem richtigen Vordersatze,
dass die — förderliche — Berücksichtigung der conereten Bedingun-
gen des Einzelnfalles das Absehen von allgemeinen Prineipien, den
Verzicht auf allgemein prineipielle Stellungen in sich schliesse. In
Gegensätzen von so prineipieller Natur, wie sie‘in dem mittelalterlichen
und dem gegenwärtig ausgebildeten oder sich vordrängenden Gewerbe-
betrieb gegeben sind, muss gerade der gewissenhafte und vielentschei-
dende Staatsmann am entschiedensten zuerst über die Alternative: ob
rückwärts, ob vorwärts — eine klare zuversichtliche Anschauung ge-
winnen. Erst hernach kommt die Frage: wie am besten rückwärts
oder vorwärts, also wie mit billiger Schonung der thatsächlich ge-
gebenen Zustände zu verfahren sei, wo der Anfang liege, wie die
Weiterentwicklung zu denken, was gar nicht mehr, was zeitweilig noch
zu dulden sei u. s. w. Jene Forderung wiederholt sich auch für jede
grundsätzlich bedeutsame Einzelnmaassregel. Man muss zunächst ihren
allgemeinen Charakter, die Bedeutung derselben im Lichte einer all-
gemeinen Verbreitung, unter der Annahme einer energischen und folge-
richtigen Durchführung vor sich stellen und durch die Zusammen-
fassung ihrer Wirkungen dem Unheil begegnen, dass man mit freiem
Entschluss einen Theil in die Hand nimmt und von dem Ganzen ge-
schlagen wird, den Anfang wählt und über den Fortgang erschrickt
und jammert. Unter den Handwerkern selbst ist vielfältig mit grosser
Bitterkeit die Meinung verbreitet, die Staatsobrigkeit könne, „wenn sie
nur dem Handwerk freundlich gesinnt sei*, so leicht „wie man die
Hand herumdreht“, eine ganze Reihe von förderlichen Beschränkungen
ar
— 345 —
der Coneurrenz einführen, „weil sie ja doch früher auch einmal be-
standen hätten“. Aber nur das allgemeine Wort „Concurrenz* hält
sie zusammen, und während sie nicht beachten, wie sehr der Hand-
werksbetrieb selbst schon auf einem neuen Boden festgewurzelt ist,
denken sie bei der beklagten Coneurrenz an ganz verschiedene, häufig
sich geradezu widersprechende Wünsche. Regt man die Vorstände ver-
schiedenartiger Geschäftsbetriebe an, ihre Forderungen speciell auszu-
prägen, so wünscht wohl der Eine eine ganze Reihe von Maschinen-
arbeiten hinweg, aber bei Leibe nicht die eine oder die zwei, die
gerade er „unentbehrlich“ nöthig hat, auf die sein Geschäftsbetrieb ge-
stellt ist. Gerade diese letztern sind aber einem Anderen im Wege,
während er aus jener Reihe andere beizubehalten wünscht. Während
ein Dritter für eine Waare, an der er schon gearbeitet hat, alle mög-
lichen Ausfuhrbegünstigungen verlangt, will der Vierte, für welchen
eben diese Waare Rohmaterial ist, die Ausfuhr derselben behindert
sehen, damit sie billiger von ihm gekauft werden könne und nicht von
den Handwerkern über der Grenze verarbeitet werde u. s. w. — wie
es der Schreiber dieser Zeilen mehr als einmal an einem mit Hand-
werksmeistern besetzten Tische selbst erlebt hat. Freilich wird man
über solche Erfahrungsbeweise hinaus, sobald es sich eben auch um
eine principielle Entscheidung über die Beurtheilung der Maschinen-
arbeit, des freieren internationalen Verkehrs u. dgl. handelt, immer
noch aus dem engbegrenzten Horizonte der localen, partiellen, tem-
porären Beurtheilung auch hinaufsteigen zu der freieren Höhe, welche
das Ganze, den weiten Raum und die Bewegung durch Jahrhunderte
überschauen lässt. An einer Entdeckung wie der Buchdruckerkunst
sind die Interessen des Menschengeschlechtes und aller Zukunft be-
theiligt, sie werden deshalb erobert werden, auch wenn wir in herz-
licher Pflege in dem Orte A oder B der armen Abschreiber gedenken
wollen, die zunächst brodlos geworden sind. Die Entdeckung, das
„sinnlose Walten der rohen Kräfte“ der Elemente dem Menschen in
der Maschinenarbeit dienstbar zu machen und zu organisiren, bewegt
alle Geister als ein Triumph des Menschengeschlechtes, als ein Eck-
stein für die Betriebspläne aller Zukunft. Wo zehn über die Errungen-
schaft klagen, sinnen Tausende emsigst auf neue Eroberungen! Welche
Hoffnungen werden durch das ganze Land hin rege, wenn die uns
umgebende auswärtige Welt uns eine neue Brücke baut, auf welcher
wir ihr unsere Produkte frei zuführen können. Aber wir haben auch
schon gelernt, dass: zweimal zwei ist vier — nicht gewisser ist als
die Wahrheit, dass wir dann auch den Auswärtigen zu uns her eine
neue Brücke schlagen müssen! Das bekräftigt dann aber natürlich
— 346 —
ebenso sicher den umgekehrten Satz, dass wir eine bestehende Brücke,
die zu uns hinführt, nieht abbrechen können, ohne dass an einer an-
deren Stelle auch eine solche verödet, auf welcher wir hinauszugehen
gewohnt waren. Dass man vielleicht nur das Eine will und voraus-
sieht, hinderte das Andere am Entstehen nicht. Ja wir können die
gleichzeitige Verödung dieser zweiten uns anerkannt werthvollen Ver-
kehrsbrücke alsbald wahrnehmen, aber weil sie vielleicht an einer von
der ersten weitentfernten Stelle liegt, schweben uns ganz andere Ur-
sachen vor als die thatsächliche von uns selbst erwirkte. Aber freilich
heisst denn: sich im Sinne der Handwerker gegen die von ihnen be-
klagte Coneurrenz prineipiell entscheiden — heisst das nicht auck:
sich gegen die Folgen der in unserer Zeit eingetretenen Verkehrser-
leichterung durch Einführung der Maschinenarbeit für die Transport-
leistung mittelst der Eisenbahnen entscheiden?! Das liegt auch im
Allgemeinen vollkommen im Bewusstsein der Handwerker, wenn auch
die Einzelnen mit ihren Begründungen wieder solchen Gegensätzen und
Widersprüchen verfallen, wie wir sie vorher hinsichtlich der Maschinen-
erzeugnisse bekräftigt haben. Viele Leute sind zwar nieht einsichtig
oder unparteiisch genug, um neben d®n Segnungen, welche die Eisen-
bahnen auch dem Handwerksmann als Consumenten, dann auch als
Produzenten, sei es für seinen bisherigen Geschäftsbetrieb, sei es für
einen neuen oder veränderten bringen, das Zugeständniss zu machen,
dass gerade auch erst diese modernen Transportmittel und möglicher-
weise sie allein jene Coneurrenz ihm zugebracht haben. Es ist das
aber in der That ganz sicher nachzuweisen und die Wichtigkeit der
Sache wird es rechtfertigen, wenn wir ausnahmsweise einmal wenigstens
etwas ausführlicher begründen, als es uns sonst die Rücksicht auf den
uns hier gebotenen Raum gestattet).
Wir wollen nicht einmal davon reden, was die Fisenbahnen für
viele Handwerksleute dadurch bringen, dass sie theils im Grossen,
theils local die bestehenden Richtungen der Verkehrswege ändern und
dass diese nenen Transportmittel auf einer andern Technik beruhen
wie die früheren. Aber das muss hervorgestellt werden, dass die Ver-
sendungsfähigkeit von Sachgütern jeder Art, Industrierzeugnissen wie
Bodenproducten, abgesehen von Hindernissen der Gesetzgebung über
den Verkehr, durch ihren Verkaufspreis am Erzeugungsorte, ihren Preis
1) Siehe einiges Ausführlichere in meinem Aufsatz: „Ueber die Störungen,
welche die Eisenbahnen in dem Geschäftsbetrieb kleiner Leute hervorzurufen
pflegen“, in dem „Jahrbuch für Gewerbe, Industrie, Handel und Volkswirth-
schaft. Oestreichischer Kalender auf 1855. Brünn 1854.“
je
— 347° —
auf dem auswärtigen Markte und die Transportkosten zwischen
beiden bestimmt wird. Güter können höchstens so weit hin versendet
werden, dass der erste mit den letzten zusammen dem zweiten gleich-
kommt. Daher vermittelt jede Verminderung der Transportkosten eine
Versendungsfähigkeit der Güter auf grössere Entfernungen hin, andere
macht sie zum ersten Male versendungsfähig, nämlich alle, deren Ver-
kauf auf auswärtigen Märkten nur durch die früher bestehende Höhe
der Transportkosten verhindert war. An den einzelnen Orten werden
also jetzt Verkäufer mit ihren Waaren zum ersten Mal auftreten oder
erst jetzt mit niedrigeren Preisen die Käufer für sich gewinnen kön-
nen. Es wird eben eine Coneurrenz eintreten können, welche, wenn
sie wirksam sein soll, irgend einen Vorzug des neuen Verkäufers zur
nothwendigen Voraussetzung hat, weil der am Ort befindliche Hand-
werker immer noch den, wenn auch stark verminderten Satz der Trans-
portkosten für sich hat. Dieser Vorzug des auswärtigen Coneurrenten
kann freilich auf sehr verschiedenen Dingen beruhen. Einmal auf bes-
seren persönlichen Leistungen desselben als Geschäftsführers und Ar-
beiters. Er liefert wohl bessere Waare, weil er solider, aufmerksamer,
geschickter arbeitet; er liefert willkommnere Waare, weil er aus-
schaut nach den Wünschen der Abnehmer; er liefert billigere Waare,
weil er mit rascherem Fleiss arbeitet, den Fortschritten in der Technik
seines Gewerbes folgt, häuslicher wirthschaftet. Die mehrfache Art und
Weise, wie die Eisenbahnen den Transport erleichtern, bringt es mit
sich, dass von einer derartigen Concurrenz gar viele Gewerbe heim-
gesucht werden können. Weil jetzt der Transport viel rascher und
häufiger sich vollzieht, verliert z. B. der Bäcker und der Metzger, der
Conditor, der Gemüsegärtner den Schutz, welchen sie an der raschen
Vergänglichkeit ihrer Waare besassen. Weil jetzt der Transport für
schwere und voluminöse Gegenstände verhältnissmässig noch mehr
erleichtert ist, als der für leichtere, so sind die Schreiner, die Instru-
mentenmacher und so viele Verfertiger von Eisen-, Holz- und Stein-
waaren nicht mehr durch das grosse Gewicht ihrer Handwerksproducte
beschirmt. Weil jetzt selbst die unterste Volksklasse weit mehr und
billig reist, so kann auch der auswärtige College des Schneiders oder
Schuhmachers an Ort und Stelle Masse nehmen. — Es kann aber auch
mittelst der neuen Transporterleichterung an einem Orte zum ersten
Male eine solche von auswärts kommende Concurrenz auftreten, welche
besondere Vortheile in der Güte oder Wohlfeilheit des Rohstoffes oder
in der Niedrigkeit des Arbeitslohnes für ihren Geschäftsbetrieb voraus
hat. Es ist freilich wahr, dass unsere Transporterleichterungen auch
entschiedene Ausgleichung der Arbeitslöhne für Gesellen und Gehülfen
— 348 0 —
begünstigen nd den Bezug des besseren Rohstoffes aus der Ferne
mit weit geringeren Kosten möglich machen. Immer aber wird doch
unter den zutreffenden Bedingungen ein gewisser Vorsprung des aus-
wärtigen Verkäufers verbleiben können, und mag dieser Vorsprung
auch klein sein, die Bedingungen der concurrirenden Produetion sind
heutzutage der Art, dass kleine, aber unerreichbare Vorsprünge auf
dem Verkaufsmarkte entscheiden. Weiterhin kann auch noch die neu
auftretende Concurrenz ‚von capitalstärkeren Geschäftsunternehmungen
ausgehen, gleichviel in welchen besonderen Formen die Wirkungskraft
des grösseren Capitales von ihnen ausgebeutet wird. Natürlich ist die
Geltendmachung der Vortheile eines solchen Betriebes nicht erst eine
Folge des Auftretens der Eisenbahnen. Sie hat sich lange vor ihnen
gezeigt, aber die mit den Eisenbahnen herbeigeführte Transporterleich-
terung begünstigt sie ausnehmend, indem sie theils auswärtigen, theils
selbst einheimischen Unternehmungen den grossen Absatzmarkt ver-
schafft, dessen sie eben bedürfen. — Man sieht nun gleich, dass wir
dem Handwerker gegenüber diese Fälle nicht in dasselbe Licht stellen
können. Wo er blos zum ersten Male mit der vorzüglicheren persön-
lichen Thätigkeit des Ausheimischen eoneurriren muss, werden wir ihm
zurufen, er möge es auch so machen, er habe auf dem Wohnplatze
immer noch die geographischen Vortheile für sich und finde ja gerade
so für sich Gelegenheit, dem Ausheimischen Coneurrrenz zu machen,
Für die anderen Fälle wäre diese Rede unverständig. Nichts desto-
weniger sehen wir gleich, dass es den Consumtionsinteressen des Vol-
kes gleichgiltig sein wird, auf welcher speciellen Bedingung die Er-
leichterung und Verbesserung beruht, die so wohlthätig verspürt wird,
und wir können kaum glauben, dass in einem gemeinverständigen
Menschen der Gedanke erklungen sei, ein Volk werde Hunderte von
Millionen dazu verwenden, den Transport und Verkehr zu besehleuni-
gen und zu verwohlfeilen, um sich hinterdrein — — den Eiffeet der
Transporterleichterung wieder zu beseitigen!
Bei einem Ueberhlick der Gesammtlage der Dinge mag man also
schon bereit sein, nicht nur die Thatsache eines über die kleine Ge-
werbsarbeit in Folge der modernen wirthschaftlichen Entwicklung her-
eingebrochenen Druckes anzuerkennen, auch denselben keineswegs allein
in die verkümmerte Leistungsfähigkeit der Handwerker setzen mögen,
nichts desto weniger wird man die Ueberzeugung gewinnen, dass es
sich hier um die Ergebnisse, um die Wirkung eines auf dem Gesammt-
gebiete unseres Lebens zur Herrschaft gelangten Grundtriebes handelt,
den man durch einen Rückgriff zu den Beschränkungsmassregeln für
den gewerblichen Betrieb, welche mit einer früheren Periode standen
— 349 —
und fielen, ebenso vergeblich wie gemeinschädlich bekämpfen würde.
Sieht man von Kleinem und Einzelnem ab, sowie von oft so lebhaften
Zänkereien innerhalb der städtischen Handwerksbetriebe selbst über
striete Abgrenzung der Leistungen der Gewerke u. s. w., so gewährt
man, dass die Forderungen von Concurrenzbeschränkungen auf per-
sonalem Gebiet sich gegen den Thatbestand unserer allgemenschlichen
Ueberzeugungen und politisch rechtlichen Grundsätze erheben; dass
die von localer Art unser Volksgefühl gegen sich haben und den
Alles durchdringenden Zug nach Verkehrs- und Transporterleichterun-
gen mit seinen schon eingetretenen unabsehbaren Erfolgen bekämpfen
müssen; dass die mit dinglicheın Charakter wähnen den Triumph
der Entdeckungen des Menschengeistes über die Wirkungskräfte des
Capitales und insbesondere auch die Maschinenkräfte in den Händen
des Arbeitenden aufhalten zu können, und dass sie alle sich gegen
den wirthschaftlichen Vortheil der Consumenten erheben und das grosse
Grundgesetz für die moderne Production verletzen: den Eigenvor-
theil durch Leistungen für die Bedürfnisse der Andern,
für den Gemeinnutzen zu erzielen.
So muss denn auch insbesondere der Handwerkerstand selbst
darauf verzichten, in solehen Concurrenzbeschränkungsmassregeln eine
ausgiebige und dauernde Hilfe gegen die Gefährdung seines Erwerbes
erfassen zu wollen, die Zukunft seines Geschäftes auf sie allein zu
stellen. Es haben ja schon in der That manche dem Handwerkerstand
durchaus wohlmeinende Männer der Wissenschaft, wie auch Regierun-
gen, erschreckt durch die Verkümmerung so vieler ehrenwerthen Haus-
haltungen, grosse Anstrengungen gemacht, um dem Handwerker auf
jenem, ihm regelmässig so erwünschten Wege Hilfe zu bringen. Aber
die Erfolge sind ausnehmend gering ausgefallen. Die widerstrebenden
Kräfte brachen sich bald wieder geradeaus oder auf Umwegen freie
‚Bahn. Der Handwerker selbst blieb durchaus unbefriedigt und erhebt
nur immer wieder den Ruf: neue Beschränkungen, weiter rückwärts!
Und dieses „immer weiter rückwärts“, diese nothwendige Consequenz
einer kräftigen principiellen Entscheidung ist es eben vorzugsweise,
auf welche unsere Grundlinien zur Beurtheilung dieser Frage hin-
zuweisen haben. Bedeutsame Umbildungen wollen Zeit haben; sie
vollziehen sich oft langsam und stellenweise, intermittirend und nicht
Erfolge des reagirenden Gegenstosses — aber doch unaufhaltsam. Die
Menschen haben sich in unserer Zeit daran gewöhnt, die politischen
Ordnungen und Einrichtungen des Staates als ein grosses Ganze an-
zusehen. Man findet es naturgemäss, dass die in dem politischen Ge-
meinwesen tonangebenden Grundideen und Kräfterichtungen an jeder
Wissenschaftliche Monatsschrift. 22
— 350 —
Stelle zum Durchbruch gelangen und begreift leicht die Forderung,
dass das Einzelne und Kleine an jeder Stelle sich dem Grossen
und Ganzen unterordne, mit ihm in Uebereinstimmung setze. Man
weiss und: hat es erfahren, dass Widerstand an vereinzelter Stelle
sich aufgeben muss oder gebrochen wird. Auf dem Gebiet der wirth-
schaftlichen Erscheinungen setzt sich in jeder Zeit ein ähnlicher Zu-
sammenklang durch zwischen dem, was man die tonangebenden
Grundrichtungen und epochemachenden Thatsachen nennen kann und
allen jenen tausendfältigen Kreisen, in denen Menschen im Kleinen
und wie vereinzelt an der Gesammtaufgabe der ökonomischen Thätig-
keiten mitwirken. Dieser Zusammenhang zwischen Grossem und KRlei-
nem, zwischen dem Ganzen und allen Theilen in der wirthschaftlichen
Welt ist noch nicht Gemeingut für das Verständniss der Zeitgenossen
geworden und wir sind weit davon entfernt, eine nothwendige Ent-
wicklung zu beherrschen, indem wir uns mit Willen und Bewusstsein
in ihre Lehren stellen. Man streitet sich gewisser und länger, ob es
auch möglich sei, dass grosse Veränderungen in dem Hergebrachten
gewaltige Erscheinungen einer „allgemeinen“ Verbesserung an einzel-
nen Stellen auch Leid und Noth hervorrufen können, als man sich
beeilt, diese blos zu legen, zu analysiren und zu mildern, und hat
mehr Muth und Geduld, sich in einem Kampf gegen das Eindringen
des Neuen zu zerarbeiten als Entschlossenheit und Freude, den Segen
desselben gerade auch für die verwundeten Stellen fliessen zu machen.
Der Handwerkerstand wie wir ihn im Grossen in unserer Zeit vor
uns sehen, hält noch ziemlich unentwegt zu seinen bald weiteren bald
engeren Forderungen von Concurrenzbeschränkungen als der Haupt-
sache und dem dauernden Heil für ihn. Aufgewachsen wie er ist
ohne Kenntniss der elementaren Wahrheiten der Volkswirthschaft, ohne
Einsicht in die Macht allgemeingeschichtlicher Bewegungen, macht er
wenig Unterschied zwischen Wünschen und erreichbaren Zielpunkten,
heftet er sich an Folgen, statt an Ursachen, auf Innungen verwei-
send verbittert er sich durch den Hader mit Gewerksgenossen und
statt den Handelsstand zu benützen sieht er ihn als seinen schlimm-
sten Feind an.
Es wird das auch sicherlich nicht eher anders werden, als bis
der Handwerkerstand die vollkommene Gewissheit erlangt hat, es sei
geradezu unmöglich, dass die Gesetzgebung und Verwaltung für die
Dauer eine prinzipiell den Concurrenzbeschränkungen günstige Stel-
lung einnehme. Möge doch jeder dem Handwerkerstand wohlmeinende
Mann es zwei- und dreimal auch in seinem Gewissen überlegen, ehe
er die Hoffnung erregt oder zu erhalten sucht, es werde gegen den
— 351 —
naturgesetzlichen Trieb der Consumtionsinteressen und gegen die un-
zweideutige geschichtliche Bewegung in der — sei es gewählten, sei
es aufgenöthigten — Volkswirthschaftspolitik der eultivirteren Staaten
gelingen, die Coneurrenzbeschränkung zu einem Prineip der Hülflei-
stung für die Production des Handwerks aufrechtzuhalten. Es ist das
insbesondere auch nöthig, sobald in und ausser dem Handwerker-
stande von der Einführung einer Gewerbeordnung die Rede
ist. Mag immerhin eine solche als nöthig und wünschenswerth er-
scheinen, so ist doch zunächst nachdrücklichst zu warnen, dass man
die Wirkungskraft von Gesetzen und gesetzlichen Ordnungen verkenne
oder überschätze. Sie können das Gute was vorhanden ist, was
durch selbstlebige Triebe erwächst, stützen und vor Angriffen von
aussen her schirmen, aber die Lebenskraft für jenes können sie nicht
erwirken. So ist gerade bei der grossen Unklarheit und Disharmonie,
welche rücksichtlich der einzuführenden Gewerbeordnungen herrscht,
vor Allem nothwendig sich für sich und dem Handwerkerstand gegen-
über festzustellen, was sie nicht bieten können. Sie können nicht
Gewerbeordnungen des 14ten Jahrhunderts, sondern müssen Gewerbe-
ordnungen des 19ten Jahrhunderts sein! Sie können wohl darauf zie-
len, die schlechte, die betrügerische, die verschleuderische Concurrenz
zu hemmen, nicht aber die billige und gute Concurrenz ausrotten
wollen — also diejenige Concurrenz nicht, welche dem Handwerker
eigentlich allein Sorge zu machen geeignet ist. Man wird vielleicht
bestimmte Reihen von Handwerksmeistern und Handwerksarten zu
Innungen zusammenlegen oder in solchen zusammenhalten, aber nicht
auf dem Grunde des Zwanges, sondern durch die Sanction der freien
Verbindung und gewiss nur in der Weise und mit dem Ziele, dass
Jeder neben dem Andern so sehr wie nur möglich sein Geschäft
schwunghaft betreiben könne und jede Abgrenzung, die das hindert,
wird man wieder beseitigen. Man wird vielleicht Prüfungen zulassen,
aber bloss solche, die nur die schlechten Arbeiter fern halten und allen
tüchtigen Kräften eine Brücke bauen. Man wird mın wieder, wie in der
frühern Zeit, den schlechten Meister ebenso wie den guten und gegen
den guten schützen wollen. Man wird es vielleicht verhindern, dass
Sträflinge in Zuchthäusern die Handwerksartikel des Ortes liefern,
aber von einer Barriere zwischen Stadt und Stadt, zwischen Stadt
und Dorf wird kaum transitorisch die Rede sein. Gerade — ja viel-
leicht nur der Wahn einer Hülfleistung durch Coneurrenzbeschränkun-
gen gegen überlegene Gegner hält die Handwerksmeister davon
ab in nothwendig gewordene Stellungen zu ihrem Vortheil einzutreten.
Erst wenn er aufgegeben ist, werden vielleicht die Stadthandwerker,
—_— 32 —
wenn sie sehen, dass der Dorfhandwerker in dem Vortheil einer bil-
ligeren Wohnung, Lebensweise und Arbeitshülfe doch die gar man-
nigfachen Nutzleistungen des Aufenthaltes in der Stadt entbehrt und
regelmässig nur ganz einfache grobe Waare den Kunden annehmbar
liefern kann, an eine förderliche Arbeitstheilung statt an die Fort-
setzung nutzloser Klagen denken. Erst dann wird die unheilvolle
Binde von ihren Augen wegfallen, welche es verhindert, dass sie in
dem Handelsmanne den natürlichen Bundesgenossen ihrer Eigeninteres-
sen erkennen. Macht er sich ja doch ein eigenes Geschäft daraus,
nach allen Seiten hin die Producte für den Verkauf unter die Leute
zu bringen, über den Geschmack der Abnehmer den Producenten zu
benachrichtigen u. s. w. — Alles, damit nur der Producent recht
viel zu arbeiten, der Kaufmann recht viel zu verkaufen hat. Dass
der Handelsmann aber nicht bei dem Handwerker dieser oder jener
Stadt kauft, dass er anderwärts her bezogene Artikel verkauft, dass
ihm ein eoneurrirender Producent bessere und billigere Waare liefert —
das ist eine ganz andere Frage, und nicht Schuld des Kaufmanns.
Freilich gibt es auch „praktische“ Leute unter den Handwerkern,
welche klar einsehen, dass von der Zukunft keine dauernden Be-
schränkungen gegen eine bessere und billigere Production zu er-
hoffen sind, aber der Handelsmann ist ihnen darum erst recht ver-
hasst, weil sie selbst allein die von andern Stellen erzeugten Pro-
ducte dem Publikum verkaufen wollen. Mit andern Worten, sie
möchten die Coneurrenz des. Händlers unterdrückt sehen, damit sie
Coneurrenten des Handelsstandes werden können, eine Logik, die zu
gescheidt ist, um noch gescheidt zu bleiben.
Bis dahin haben wir, wenn von einer Coneurrenz mit den Hand-
werkern die Rede war, eine Art derselben immer nur nebenher mit
den andern genannt, welche doch für Jeden, der nur etwas unserer
Frage unter die Oberfläche zu blicken vermag, entschieden die
Hauptsache ist, und mit hesonderm Maasse gemessen werden muss:
die Coneurrenz des Grossbetriebes. Gerade weil sie auch
uns so entschieden die Hauptsache ist, dass wir jede andere Coneur-
renzklage neben ihr als Bagattellsache für die Gegenwart und Zu-
kunft des Handwerks ansehen, nehmen wir sie zum Ausgangspunkt
des positiven Theils unserer Ausführung. Sie allein kann unsere Auf-
merksamkeit als eine wirklich erst moderne Frage umfassender be-
schäftigen, während die Anklagen gegen die Dörfler, gegen aushei-
mische Stadthandwerksmeister, gegen die- Pfuscher und „Bönhasen“,
gegen die Uebergriffe der Zünfte, gegen die Händler u. s. w. so alt
sind, wie der zunftmässige Betrieb der Gewerke; ja diese hatten in
— 353 —
jener früheren Zeit und zwar unter der Herrschaft der strengen Zunft-
ordnung Sinn und Berechtigung, während wir heutzutage, nach der
‘auch für den Handwerksmeister offen vorliegenden Veränderung der
öffentlichen Verhältnisse, durch sie nur zu Zweifeln bald an dem ge-
sunden Menschenverstand, bald an der politischen Gerechtigkeit, bald
an einer menschenwürdigen Gesinnung angeregt werden. Hinsichtlich
der Coneurrenz des Grossbetriebes müssen wir anders urtheilen. Es
wirft ein helles Licht über die Gegenwart und Zukunft unserer
„Handwerkerfrage“, dass man sich klar und bestimmt die Wahrheit
vorhält, wie der Handwerker, sofern er mit seinem Geschäftsbetrieb sich
an die althergebrachten Normen und Ueberlieferungen treu und fest
anschliesst, auch mit dem Gesammtaufgebote der Tugenden des Fleis-
ses, der Sparsamkeit, der Geschäftsthätigkeit u. s. w. im Kampfe mit
dem Grossbetrieb nicht aufrecht stehen bleiben kann, nicht dem Ruin
entgeht. Wer das verkennt, wird als Gegner ungerecht gegen den
Handwerker und als Freund ein für ihn verderblicher Fürsprecher
vor dem Richterstuhl der Zeitbedürfnisse. Wer glaubt, das Kleinge-
werbe könne auf dasselbe Ziel hin mit dem Grossbetrieb eoncur-
riren, der muss Ignorant sein in Bezug auf die technischen und wirth-
schaftlichen Grundlagen für die Wirkungskraft der Maschine, der Ar-
beitstheilung und Arbeitsvereinigung.
Dieses zugestanden müsste man also die entscheidende Frage er-
heben : Soll der Noth des Handwerkerstandes durch eine gesetzliche
Beschränkung der Concurrenz des Grossbetriebes abgeholfen werden ?
Gerade die Interessen des Handwerkerstandes verlangen , dass
man darauf mit einem ganz entschiedenen: Nein, das ist un-
möglich! antworte und die Gewissheit dieses prineipiellen Standpunk-
tes nicht einen Augenblick länger verschleiere. Die wirthschaftlichen
Mehrleistungen des Grossbetriebes sind gegenüber einem auf dem-
- selben Feld concurrirenden Kleingewerbe so sicher und so bedeu-
tend, dass die Forderung, auf die mit unübersehbarer Anstrengung
eroberten Früchte der Einsicht in die Segnungen der Capitalverwen-
dungen auf dem Boden der industriellen Production zu verzichten,
nach keinem andern Maasse gemessen werden kann, wie wenn man
etwa gesetzlich bestimmen wollte, die Leute sollten zwischen zwei
Orten auf meilenweitem Umwege durch Moräste und Steintrümmer ver-
kehren, gerade nachdem man eine prächtige gerade Strasse zwischen
ihnen mit vielen Kosten erbaut hat. Man kann freilich nicht mehr
sagen, dass in unseren cultivirteren Ländern die Staatsregierungen
und Bevölkerungen es noch für möglich hielten, allgemein -grundsätz-
lich und folgerichtig der Concurrenz des Grossbetriebes auf dem Ge-
— 354 —
biete der Handwerksproducte entgegenzutreten. Allein der Hand-
werksstand selbst hält im Allgemeinen seine Hoffnung aufrecht, weil
er den Mangel einer entschiedenen Kundgebung in Bezug auf jene
Ueberzeugung zu seinen Gunsten deutet, an einzelnen, von dem
Streben nach einer wohlmeinenden Schonung ausgehenden Massregeln
einen positiven Beweis findet und weil jeder einzelne Handwerker im-
mer nur an ein paar Beschränkungsmassregeln zu seinen Gunsten
denkt, ohne die grosse Gesammtsumme derselben Forderungen absei-
ten der Uebrigen zusammenzustellen.
Wir kehren dem Gegenstand dieser Hoffnung den Rücken. In-
dem wir die vielen anderen Klagen des Handwerkerstandes theils als
nicht spezifisch ihn betreffend, theils als bedeutungslos, theils als ganz
unberechtigt bei Seite stellen, zugleich aber gewiss sind, dass die
ebenso berechtigte als gewichtige Klage gegen die Concurrenz des
Grossketriebes unmöglich mit einem Verbote derselben durch die
Staatsgewalt zur Erledigung gebracht werden kann, wird uns die
Handwerkerfrage aus einer vorwiegend äusseren zu einer vorwiegend
inneren, aus einer Frage der Gesetzgebung für das Handwerk zu ei-
ner Frage der Arbeitsleistung durch das Handwerk. Nur frischere
Lebenskräfte in der Handwerksarbeit können durch die Stützen der
äusseren Lebensordnungen gefördert werden, das alte Handwerk muss
sich aufgeben soweit es durch die Coneurrenz der Maschinen — und
überhaupt Fabrikarbeit heimgesucht worden ist. Wie an die
Landwirthschaft in alteultivirten Ländern so ist auch für das Kleinge-
werbe die Zeit gekommen, dass es mit Hülfe unserer vorgeschritte-
nen Kenntnisse und in dem Sinne wie er heutzutage für die Land-
wirthschaft gilt, einen rationellen Betrieb sich öffnen muss.
Dann erst, wenn der Handwerkerstand hierher seine ganze Aufmerk-
samkeit richtet, bewegt er sich wieder in demselben Strom, von dem
sich auch alle Anderen tragen lassen müssen, erst dann sucht er sei-
nen Eigenvortheil nur mittelst Förderung des Eigenvortheils der Ueb-
rigen. Dass aber in der That dem Kleingewerbe und dem Hand-
werker innerhalb eines bestimmten Terrains die Hülfsmittel nicht
mangeln, um sich durch rationellen Betrieb emporzuhalten, wollen wir
in einem folgenden Artikel nachzuweisen suchen.
—_— 3555 —
ÜBER DIE CHOLERA IN DER SCHWEIZ.
Von Professor Dr. Lebert.
Wenn es auch gewiss nicht ohne Schwierigkeiten ist, in einer
Gesellschaft von Gelehrten aus den verschiedensten Fächern einen
Vortrag über einen Specialgegenstand der Medizin zu halten, so hoffe
ich, dass doch gerade Alles, was auf die Cholera Bezug hat, ein
mehr allgemeines Interesse beanspruchen kann, besonders wenn eben
die Gesichtspunkte gewählt werden, an welche sich mehr diejenigen
Fragen, welche die ganze Bevölkerung eines Landes in Bezug auf
Hoffnung oder Befürchtung berühren, die ‘geographische Ausbreitung
und die verschiedene Intensität an verschiedenen Orten erörtert werden.
Lange hatte man gehofft, dass die Schweiz von jener furchtbaren,
verheerenden Krankheit verschont bleiben würde, und in der That
schien eine fast 25jährige Immunität diese Hoffnung zu begründen.
Indessen wohl kein Theil des ärztlichen Wissens ist weniger im
Stande, mit Sicherheit die Zukunft voraus zu sagen, als die Geschichte
der Epidemien. Auch hier hätte das bereits Beobachtete vorsichtig
machen können. Ist ein späterer Seuchenzug von den früheren der
gleichen Krankheit so abhängig, dass man bei ähnlichen Ausgangs-
punkten einen gleichen Verlauf vorher zu sehen berechtigt ist? Ge-
wiss nicht. Schon die Pest und der englische Schweiss zeigen uns
die Mannigfaltigkeit im Verlaufe der Epidemie, und die Cholera selbst
hat nicht minder von ihrem ursprünglichen Zuge die sonderbarsten
Abweichungen und Sprünge gezeigt. In der That können auch ausser
den atmosphärischen Verhältnissen tellurische, sowie mehr zufällige,
wie Heereszüge und andere Verschleppungen, die ursprüngliche Linie
mit den von jedem Punkte aus möglichen Ausstrahlungen sehr modifieiren.
Auch in Bezug auf die Höhenverbreitungen war die Vergangen-
heit nicht für die Zukunft beruhigend. Schon in Ostindien hatte die
Cholera in den Hochebenen von Mysore und Bangalore eine Höhe
von 3000 Fuss über der Meeresfläche erreicht. Die hohen Bergket-
ten, welche dies Land von dem übrigen Asien trennen, sind mehr-
fach überschritten worden und in Persien hat die Seuche sich in dem
über 5000 Fuss hoch gelegenen Tauris gezeigt. Die Stadt Mexico,
welche über 7000 Fuss hoch liegt, ist von der Cholera heftig heim-
gesucht worden. Um aber uns näher gelegene Länder in den Ver-
gleich hineinzuziehen, erinnern wir daran, dass im Riesengebirge, im
— 356 —
Harz, in den Vogesen die Cholera bis auf eine Höhe von 2000 bis
2500 Fuss gestiegen ist. Da nun der grösste Theil der bewohnten
Schweiz diese Höhenverhältnisse nicht übersteigt und die höchst ge-
legene Schweizerstadt St. Gallen kaum höher als 2000 Fuss über
dem Meeresniveau liegt, da hohe Bergstrassen des Caucasus, welcher
doch mit den Alpen viel Analogie darbietet, überschritten worden
sind, so konnte man, wenn man durchaus unbefangen bleiben wollte,
die Immunität der Schweiz gegen die Cholera nicht als wahrschein-
lich ansehen und habe ich mich auch in diesem Sinne stets in mei-
nen Vorträgen ausgesprochen.
Hatte daher schon vom theoretischen Standpunkte aus die Schweiz
keinen Schutz vor der Cholera zu beanspruchen, so hat uns auch die
Erfahrung der zwei letzten Jahre gelehrt, wie viel Unheil diese Krank-
heit bereits angerichtet hat und dass die Zukunft auch noch ernste
Besorgnisse zu bergen im Stande ist.
Bevor wir die einzelnen Epidemien besprechen, bemerken wir,
dass zur Zeit der Cholera die so häufigen Diarrheen und Cholerinen
durchaus unter dem Einflusse der Seuche stehen. Das hat eine dop-
pelt wichtige Anwendung. Einerseits kann man sehr oft durch rich-
tige Behandlung jener leichteren Erkrankungen der Entwicklung der
schlimmeren Cholera-Formen vorbeugen; anderseits ist auf diese Art
die wirkliche Mortalität in einer Epidemie viel weniger schlimm als
nach den gewissenhaften statistischen Angaben, in welchen gewöhnlich
nur die ausgeprägtesten und unzweifelhaftesten Choleraanfälle berück-
sichtigt werden.
Der Canton Tessin wurde schon viele Jahre vor den übrigen Theilen
der Schweiz von der Cholera heimgesucht. Dies erklärt sich leicht durch
die Lage desselben und seine freie und stete Communikation sowie Aehn-
lichkeit des Climas und der Lage mit der nahe gelegenen Lombardei und
namentlich der Provinz Como. Interessant ist auch hier das Faktum, dass
die Epidemie besonders von Como aus nach den Theilen des Cantons
sich verbreitet hat, welche jenseits des Monte Cenere liegen, während
vom Lago Maggiore aus nur wenig Verbreitung in’s Levantinerthal
stattgefunden hat.
Ich verdanke die folgenden Notizen der Gefälligkeit des Dr. Lurati
von Lugano, welcher mir auch noch über mehre andre an ihn ge-
stellten Fragen in Bezug auf Intensität, Höheverbreitung ete. der ein-
zelnen Epidemien Aufschluss gegeben hat.
Im Canton Tessin trat die Cholera zuerst im Juli 1836, von
den nahen Distrikten der Provinz Como aus eingeschleppt, in Lu-
gano und Mendrisio und deren Umgegend auf. Die Epidemie war
— 357 —
damals ziemlich ausgedehnt und verderblich, überschritt aber den
Monte Cenere, welcher den Canton in zwei Hälften theilt, nicht. Ganz
die gleichen Verhältnisse zeigten sich in dem Jahre 1849, während
in den beiden letzten Epidemien von 1854 und 1855 die jenseits des
Cenere gelegenen Orte Magadino am Lago Maggiore und Cadenazzo
ergriffen wurden. Im Jahre 1854 durchreiste ich gerade den Canton,
während die Cholera dort herrschte und fand sie auch in Mailand und
andern Orten der Lombardei, sie war jedoch im Ganzen im Tessin
unbedeutend, während die Epidemie von 1855 viel schlimmer ge-
haust hat. Dr. Lurati glaubt, dass das vorletzte Mal die Cholera
durch Leute eingeschmuggelt worden ist, welche vor der in Genua so
verderblich auftretenden Epidemie flohen. Indessen über den Simplon
und den Mont-Cenis kamen von Genua aus viele Reisende nach Genf
in's Rhone-Thal, namentlich nach Bex, und doch blieben beide Orte
in diesem Jahr (1854) verschont. Ueberhaupt bemerke ich hier gleich,
dass wenn auch in der Schweiz unläugbare Fakta für die Ansteckungs-
fähigkeit der Cholera sprechen, dieses doch von vielen Seiten sehr
überschätzt worden ist. Den Kanton Tessin abgerechnet, war die
übrige Schweiz bis zum Jahre 1854, einzelne sporadische oder ein-
geschleppte Fälle ausgenommen, verschont geblieben. Aber dieses
Jahr und das darauf folgende sollten auch den Gläubigsten in Bezug
auf Immunität ihre lezten Illusionen nehmen. Auch hier hat es sich
wieder gezeigt, wie die Wirklichkeit richig aufgefasst, dem Menschen
viel zuträglicher ist, als jenes poetische Schwärmen für Illusionen,
welches schwache Geister und reizbare Gemüther für schöner halten,
als die Wahrheit selbst. Sobald nämlich die Cholera ausgebrochen
war, wurden in den meisten Theilen der Schweiz so umsichtige und
vernünftige Massregeln getroffen, dass man mit Freuden dieses erste
Blatt in der Geschichte einer neuen Seuchenphase in der Schweiz be-
_ trachtet und wieder einmal dem gesunden Sinne dieses Volkes gerne
volle Gerechtigkeit zollt.
Die erste grössere Epidemie, welche in der eigentlichen Schweiz
im Jahre 1854 auftritt, ist die in Aarau. Wir verweisen für eine
ausführliche Beschreibung auf die treflliche Arbeit Zschocke’s !), und
entnehmen derselben nur einige, in Bezug auf den schweizerischen
Seuchenzug der Cholera wichtige Thatsachen.
Schon das erste Auftreten zeigt uns den interessanten Umstand,
dass, während zwar das Jahr 1854 ein entschiedenes Cholerajahr ist
und sich durch die mörderischen Epidemien von München und Augs-
!) Schweizerische Zeitschrift für Medizin. 4. Jahrgang. 1854. p. 359 etc.
— 353 —
burg, des Elsasses und Lothringen’s, von Genua und Marseille aus-
zeichnet, doch die Cholera zu einer Zeit in Aarau ausbricht, in welcher
die zunächst gelegenen infizirten Orte, Mühlhausen und seine Um-
gebung noch in ziemlicher Entfernung von Aarau sich befinden.
Zwischenstationen finden sich keine, Einschleppung ist doppelt unwahr-
scheinlich. Einerseits waren nach Zschocke’s Bericht nur sehr wenige
aus von der Cholera befallenen Gegenden kommende Reisende in
Aarau und war von diesen wenigen Niemand erkrankt. Anderseits
aber bricht die Seuche in der Nacht vom 12. auf den 13. August
1854 in dein Armenhause der Stadt Aarau aus, von dessen Mitglie-
dern und Bewohnern wohl nicht anzunehmen ist, dass sie die Krank-
heit von München und Augsburg; oder von Genua und Marseille ein-
geschleppt haben. Zu gleicher Zeit mit den isolirten und von allen
Choleraherden weit entfernten Erkrankungen des Aarauer Armenhauses
zeigen sich fast plötzlich zahlreiche Cholerinen und Diarrh®en. Alles
spricht für eine isolirt auftretende, idiopathische Epidemie, dessen
letzter Grund in Bezug auf Miasma, athmosphärische Ursachen ete.
uns unbekannt ist. Die Aarauer Epidemie dauert nun mit einigen
Unterbrechungen während fast drei Monaten fort, erreicht in der vierten
und fünften Woche ihren Höhepunkt, hört in dersiebenten Woche
momentan auf, erscheint in der neunten und zwölften wieder, um
dann vollkommen zu erlöschen und bisher nicht weiter zu erscheinen.
Merkwürdig ist es in der That, dass, während im Herbst 1855 Basel
und Zürich in nicht unbedeutendem Grade von der Cholera befallen
werden und aus beiden Städten mit Aarau ununterbrochene Communi-
cationen aller Art stattfinden, diese letztere Stadt vollkommen ver-
schont bleibt.
In der Stadt Aarau herrscht die Krankheit freilich in den minder
gesunden Theilen, besonders in den am niedrigsten gelegenen und in
den feuchtesten, unter dem Nordabhange des alten Hochufers der Aare
und an dem Abhange selbst, weniger in den hochgelegenen, sonnen-
reichen Stadttheilen. Während das rechte Ufer der Aare sehr stark
heimgesucht war, blieb das linke fast vollkommen verschont. In ein-
zelnen Häusern zeigten sich Lokal-Epidemien. Trotz der lokalen und
umschriebenen Verbreitung auf ein Aarufer und auf die tiefsten und
feuchtesten Stadttheile, sterben in der Stadt Aarau allein von 4652
Einwohnern 89, also 1 auf 58 oder 13/, %Y,, eins der schlimmsten
bekannten Verhältnisse, und wenn auch die ärmere Volksklasse den
stärkern Contingent lieferte, so wurde doch auch die wohlhabende
Bevölkerung keineswegs verschont.
In der Umgegend von Aarau werden mehrere Dörfer befallen ;
— 359 —
im Friekthel zeigen sich Fälle, sowie auch einzelne, mehr sporadische
in Aarburg.
Es war auffallend und in Aarau fast sprüchwörtlich geworden,
dass an den Samstagen, Sonntagen und Montagen die meisten Cholera-
fälle vorkamen. Eine einzige Woche, der Anfang der dritten, machte
hievon eine Ausnahme. Das Wetter schien keinen Einfluss zu üben.
Die Seuche entstand bei schwankender Witterung, bei'm anhaltenden
schönen Wetter erreichte sie ihren Höhepunkt und nahm wieder ab.
Auch ein Gewitter hatte weder günstige noch ungünstige Wirkung ;
hingegen schien es wiederholt, als ob bei östlichen und nordöstlichen
Winden die Erkrankungen häufiger, die Sterblichkeit grösser würde.
Alle diese Thatsachen stützt Dr. Zschocke auf genaue meteorologische
Beobachtungen, was um so wichtiger ist, als im Gegentheil, wie wir später
sehen werden, in der Basler Epidemie die Ost- und Nordostwinde
einen günstigen Einfluss zu üben schienen.
Das weibliche Geschlecht unterlag der Seuche häufiger, als das
männliche im Verhältniss von 4: 3. Sehr zu bedauern ist der Mangel
der Angaben der Erkrankungen, welche denen über Mortalität einen
grössern Werth verleihen würden. So haben wir in Zürich nicht
bloss eine grössere Sterblichkeit beim weiblichen Geschlechte im All-
gemeinen, sondern auch grösser im Verhältnisse zu der Zahl der Er-
krankungen beobachtet. Zarten Kindern und Greisen war die Cholera
besonders verderblich. Von 80 Todesfällen nach den Pfarrlisten finden
sich 19 vor dem 10ten Jahre, denen man nach Zschocke noch sieben
hinzufügen konnte. Vom 10ten bis 40sten finden sich 20, von denen
13 zwischen 20 & 30. Vom 40sten bis 70sten sind 34 angegeben,
nach dem 70sten Jahre noch 5.
Als Gelegenheitsursachen wirkte öfters Erkältung, welcher Zschocke
das verhältnissmässig häufige Erkranken der Bäcker und Bäckersfrauen
zuschreibt. Diätfehler und namentlich Berauschung zeigten mehrfach
einen unläugbaren Einfluss. In der ersten Cholerawoche missbrauchten
fünf Bewohner des Armenhauses einen Anlass und berauschten sich.
Gleich die folgenden Tage bekommen vier die Cholera und zwei
starben.
Die häufigsten Erkrankungen kamen um Mitternacht vor und
durch den Vormittag, die wenigsten Nachmittags. Aehnliches wurde
auch in München und von uns in Zürich beobachtet. Ein umgekehrtes
Verhältniss fand für die Sterbenden in Aarau statt. In Zürich haben
wir, im Spital wenigstens, hierüber nichts Regelmässiges beobachtet.
Nach dem sonst so vortrefllichen Berichte Zschocke’s scheinen
die Aarauer Aerzte zu auschliesslich die Ansteckungsfähigkeit und
— 360 —
die möglicherweise contagiöse Natur der Cholera in Zweifel zu ziehen,
während man von vielen Seiten her in das entgegengesetzte Extrem
verfallen ist.
Wir haben selbst in Zürich einige Fakta beobachtet, welche sich
auf die Contagiosität der Aarauer Epidemie beziehen. Eine Frau
aus Wädensweil kommt aus Aarau mit beginnender Cholera zurück,
welche sich nun vollkommen entwickelt und mit Heilung endet; ihr
Mann aber bekommt die Cholera und stirbt, und diese Fälle bleiben
durchaus vereinzelt in der Gegend. Ein junger Mann aus Zürich
geht nach Aarau, bekommt nach seiner Rückkehr die Cholera und
genest, aber während seiner Konvalescenz wird seine Schwester be-
fallen, welche im Spitale stirbt. Die Kranke war sonst mit keinen
Cholerakranken in Berührung gekommen und bestanden überhaupt zur
gleichen Zeit nur wenige Cholerafälle in Zürich.
Verfolgen wir die Cholera als Epidemie in der Schweiz chrono-
logisch weiter, so kommt zunächst die höchst unbedeutende Epidemie
Zürich's vom Herbst 1854. Zuerst zeigen sich eingeschleppte Fälle
im Anfang September, dann Ende October. _Zu dieser Zeit und An-
fangs November entwickelt sich eine Epidemie, welche jedoch in Zürich
nur 8 Personen mit wirklicher Cholera und 6 mit mehr oder weniger
heftiger Cholerine befällt. Von. ersteren sterben 5, hievon 4 im
Spital, die Cholerinefälle enden mit Genesung. Ausserdem werden
im Kanton Zürich, ausserhalb des Bezirks Zürich, 15 Fälle angegeben,
von denen 8 tödtlich verlaufen. In der Stadt Zürich kamen besonders
Erkrankungen im Niederdorf vor, wo zuerst ein Mann befallen wurde,
welcher später im alten Spital genas. Ein Freund, bei welchem er
erkrankte, bekam bald darauf die Cholera und starb nach 14 Stunden.
Am folgenden Tage erkrankte in einem andern Hause der gleichen
Strasse ein Mann, welcher durchaus in keiner Berührung mit den eben
erwähnten gestanden hatte, und starb im Spital. In der gleichen
Woche kamen die Schwester und die Frau des zuerst verstorbenen
in’s Spital, von denen eine genas, die andere starb. Letztere hatte
das Haus ihres Mannes seit einigen Tagen verlassen, war aber am
Morgen ihrer Erkrankung in dasselbe zurückgekehrt und hatte in dem-
selben gereinigt und gewaschen. Aus den benachbarten Häusern dieser
kleinen Lokalepidemie kamen mehrfach Cholerinen ins Spital, sowie
solche zu gleicher Zeit hier und in andern Theilen der Stadt herrschten.
Diese kleine Lokalepidemie Zürich’s im Jahr 1854 bot schon
mannigfache Zeichen einer miasmatischen Ausbreitung dar, welche sich
mehrfach zur Ansteckung steigerte. Interessant waren auch zwei Fälle
von Vergiftung, der eine durch Brechweinstein, der andere durch Ar-
— 361 —
senik, welehe unter der Diagnose Cholera in’s Spital kamen, aber bald
in ihrer wahren Natur erkannt wurden.
In den ersten Monaten des Jahres 1855 war man in Bezug auf
die Cholera in der Schweiz im Ganzen ohne Besorgniss, als man er-
fuhr, dass sie im Beginne des Sommers wieder im Elsass ausgebrochen
war. Im Juni und Juli hatte sie Thann und Mülhausen erreicht und
am 27. Juli überschritt sie wiederum in Basel die Grenzen der Schweiz
und nun beginnt für dieses Land eine neue Phase in Bezug auf die
Seuche. In Zeit von 4 Monaten herrschen ziemlich bedeutende Epi-
demien in Basel und im Kanton Basel-Land, in Zürich viel intensiver
als im vorigen Jahre, aber weniger als in Basel und endlich noch in
Tessin und in Genf, welches letztere verhältnissmässig am glimpflich-
sten davonkam, was meinem Freunde D’Espines Gelegenheit gab, wenig-
stens noch bis zu einem gewissen Punkte eine Immunität der Schweiz
anzunehmen.
Werfen wir zuerst einen Blick auf die Basler Epidemie, so können
wir auf den sehr sorgfältig abgefassten Bericht des Dr. Ludwig de
Wette verweisen, sowie wir einzelne recht interessante Notizen dem
Dr. A. Burkhardt verdanken. Ueber die Therapie hatte Dr. Jung
die Güte, mir brieflich das Wichtigste mitzutheilen. Diesen verschie-
denen , theils im Druck erschienenen, theils brieflichen Mittheilungen
entnehme ich die folgenden kurzen Notizen.
Nachdem die Cholera in einigen schnell tödtlichen Fällen in dem
zwei Stunden von Basel entfernten Dorfe Blotzheim (Elsass) am 25.
und 26. Juli aufgetreten war, erschien sie am 27. und den folgenden
Tagen in dem tief gelegenen Birsigthal, das die grosse Stadt Basel
durchzieht. Nirgends aber schlug sie ihren Sitz so intensiv auf, als
in der ebenfalls tief gelegenen kleinen Stadt, wo sie in den ersten
. Tagen August’s sich zeigte und bis Mitte September verweilte. Eine
längs dem Rhein sich hinziehende Strasse, die Rheingasse, wo die
Bevölkerung eng zusammengedrängt ist, viele Arme wohnen und das
Trinkwasser zum Theil nur aus Sodbrunnen geschöpft wird, wurde
der Hauptsitz der Krankheit, so dass so zu sagen kein Haus frei von
Kranken blieb, in manchen Wohnungen aber kein Glied von Cholerine
oder Cholera verschont blieb.
In der grossen Stadt war ebenfalls keine Strasse oder Vorstadt,
wo nicht einzelne Fälle von Cholera sich zeigten, und zwar ohne Rück-
sicht auf Hochlage oder Bevölkerungsmenge.
Im Allgemeinen kann man nur bemerken, dass die auf dem öst-
lichen Birsigufer gelegenen Tkeile früher infieirt wurden, als die west-
— 362 —
lichen. Nur einzelne Häuser wurden zugleich oder bald hinter einander
von mehreren Cholerafällen heimgesucht.
Die heftigsten und schnelltödtenden Fälle waren besonders im
Anfang der Epidemie häufig. Die Cholerine war in vielleicht mehreren
tausend Fällen über die ganze Stadt und ihre Banne verbreitet und
artete bei Vernachlässigung leicht in Cholera aus. In der Umgebung
Basel’s wurde zuerst das ebenfalls im Birsigthal gelegene, 20 Minuten
von der Stadt entfernte Dorf Birmingen ergriffen. Besonders heftig
und auf eine Bevölkerung von 2500 Bewohnern 85 Todesfälle fordernd,
also das unerhörte Verhältniss einer Sterblichkeit von 34 pro mille
zeigend, war die Cholera in dem unterhalb Grosshüningen gelegenen
Neudorf (Elsass).
In Basel hat die Cholera vom 27. Juli bis zum 30. September
epidemisch geherrscht. Ihr eigentliches Aufhören wird auf den 6.
Oktober fixirt, so dass die Krankheit ungefähr 10 Wochen geherrscht
hat. Später kam am 8. November noch ein vereinzelter Fall vor. In den
ersten drei Wochen nahm sie allmählig eine grössere Ausbreitung.
In dieser Zeit waren 73 Fälle vorgekommen, von denen 33 tödtlich
verliefen. Gegen Ende August und namentlich vom 25. an trat eine
bedeutende Verschlimmerung ein, so dass am Ende des Monats bereits
220 erkrankt waren, von denen 143 seit dem 16. August. Bis Mitte
September war die Epidemie auf ihrer Höhe, es erkrankten vom 1. bis
15. September 148, von denen 84 starben; von jetzt an nahm sie
stetig ab und kamen nur noch 32 Erkrankungen vor.
Bevor wir auf einiges Statistische über die Epidemie eingehen,
müssen wir vor Allem mit grösster Anerkennung der trefllichen Mass-
regeln erwähnen, welche in Basel getroffen wurden und eine namentlich
verdient die vollste Aufmerksamkeit von Seiten der Behörden in den
Städten, in welchen sich später die Krankheit zeigen sollte. In Basel
hatte man nämlich die grosse Kaserne Klingenthal so eingerichtet,
dass in derselben die Bewohner soleher Häuser, in welchen mehrere
Fälle von Cholera vorgekommen waren, Aufnahme fanden, so dass
auf diese Art die Herde der Lokalepidemien zerstört und die Woh-
nungen gelüftet, desinfieirt, gereinigt, geweisst werden konnten.
Im Klingenthal waren die Wohnungen beider Geschlechter ge-
trennt. Für Reinlichkeit, Ordnung und gute Lüftung jener Zimmer
wurde mit grösster Aufmerksamkeit gesorgt und der Dienst in Bezug
auf innere Polizei militärisch organisirt; ausser den Wohnzimmern
bestanden noch besondere Krankenzimmer. Vom 10. September bis
zum 1. Oktober wurden hier nicht minder als 210 Personen verpflegt,
diese bestanden aus 39 Familien mit 167 Mitgliedern und 43 Ein-
— 363 —
zelnen. Die Mehrzahl der Fälle kam aus 8 Häusern, welche ganz
gereinigt wurden ; ausserdem wurden 8 Familien, in denen Cholerafälle
sich gezeigt hatten, wegen Elend und schlechter Wohnung aufgenommen.
Die grosse Zahl der nicht besonders kontrolirten Fälle von Diarrhe
und Cholerine abgerechnet, erkrankten in Basel 399 Personen an der
Cholera, 184 Männer und 215 Weiber, von diesen starben 83 Männer
und 117 weibliche Kranke. Die Frauen waren also einerseits mehr
prädisponirt, in dem Verhältnisse von 7:6 und anderseits war die
Sterblichkeit bei ihnen grösser; während sie für das männliche Ge-
schlecht ungefähr 48 °/, betrug, überstieg sie für das weibliche 54 %/,.
Die Gesammtzahl der Todesfälle, 205 auf 399 Erkrankungen, ergiebt
das Verhältniss von ungefähr 51 %,. Etwas günstiger stellte sich
das Resultat in der Spital-Praxis als in der Stadt. Im Choleraspital
starben von 207 Kranken 92, also 45 %y,.
Im Vergleich mit der Bevölkerung ergiebt sich Folgendes: Von
399 Kranken gehören 397 dem Kanton an, Niedergelassene mit ein-
gerechnet. Nach der letzten Zählung von 1850 betrug die Bevöl-
kerung des Kantons Basel-Stadt 29,698. Das Verhältniss der 387
Cholera-Erkrankungen ist also 1,303 %,, die Todesfälle betrugen
0,68 9/9.
Von 13,857 männlichen Bewohnern erkrankten 173 oder 1,25 %,
und starben 86 „ 0,62 9%
Von 15,861 weiblichen Bewohnern erkrankten 214 „ 1,25 %,
und starben 117 „ 0,73 %,
Auch in Basel waren Kinder in den ersten Lebensjahren der Krank-
heit sehr ausgesetzt und erlagen derselben leicht. Von 83 Kindern
unter 15 Jahren befinden sich 42 unter 4, von denen 33 starben und
9 genasen; 22 von 4—10, von denen 9 starben und 13 genasen;
19 von 10—15 Jahren, von denen 7 starben und 9 genasen. Also
von 83 Kindern starben 49, genasen 34. Hievon waren 38 Knaben,
von diesen starben 21, genasen 17, und 45 Mädchen, von denen 283
starben und 17 genasen. Also auch hier treffen wir schon eine grosse
Prädisposition und Sterblichkeit für das weibliche Geschlecht.
Bei den Erwachsenen vertheilen sich 316 Fälle wie folgt:
Erkrankten, Genasen. Starben,
Im Alter von 15—19 Jahren 25 20 5
b) » »„ 20—24 ,„ 40 23 12
Ba enge 709 2 43 28 15
Be 29 13 16
a 9. 7. 31 19 12
— 364 —
Erkrankten, Genasen. Starben,
Im Alter von 40—44 Jahren 36 20 12
ill ee: 21 9 12
Er RE 22 7 15
ER 0). ; 2, 23 11 12
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Wir sehen auch hier wieder bei Greisen, besonders nach dem
60sten Jahre, die Mortalität sehr bedeutend zunehmen, während nach
der Pubertät und im mittleren Lebensalter die Verhältnisse viel gün-
stiger sind.
Von Wichtigkeit ist die Bemerkung, welche wohl auch eine all-
gemeinere Geltung finden möchte, dass gegen Ende der Epidemie die
Krankheit durchaus nicht gutartiger und milder auftrat, als im Anfang.
An gewissen Tagen waren die Erkrankungen besonders bösartig oder
gutartig. So starben von 14 Personen, die am 31. August erkrankten,
10 Personen, dagegen von 17, die am 1. September befallen wurden,
nur 7. Der Beruf übte keinen besondern Einfluss. Im Allgemeinen
wurden einzeln lebende, in Kosthäusern untergebrachte Männer mehr
befallen, als in Familien lebende. Oeffentliche Anstalten blieben verschont.
Bei erhöhter Temperatur und herrschenden Westwinden schien
die Zahl der Erkrankungen zuzunehmen und bei niedrigerer Temperatur
und herrschenden Nord- und Ostwinden sich zu minden. In Bezug
auf den Ozongehalt der Luft wurde nichts Besonderes beobachtet.
Ueberhaupt hat die Meteorologie in den schweizerischen Cholera-
Epidemien keinen befriedigenden Aufschluss gegeben.
In Bezug auf prophylaetische Massregeln haben wir bereits der
Einrichtung der Kaserne für Solche, deren Wohnungen gereinigt
wurden, erwähnt. Die Betten der Cholerakranken wurden desinfieirt
und Aermeren ganze Betten oder einzelne Bettstücke für diese Zeit
zur Verfügung gestellt. Das Stroh wurde verbrannt und in den Rhein
geworfen; schadhafte und sehr verunreinigte Bettstücke wurden ver-
nichtet. ° Die Stadt hat auf diese Reinigung allein nahe an Fr. 3000
verwendet. Zimmer, in denen Cholerakranke gestorben waren, wurden,
wo es thunlich war, während 14 Tagen nicht mehr bewohnt, dann
durch Chlordämpfe desinfieirt, gewaschen, gelüftet und mit Gyps neu
überzogen. In die Abtrittgruben wurde Eisenvitriol geworfen. Die
Leichen wurden sechs Stunden nach dem Tode auf den Kirchhof in
_ 365 —
ein Leichenhaus gebracht. Den Fabrikanten wurden für das Ueber-
wachen der Arbeiter noch besondere Instruktionen gegeben. In Bezug
auf die eigentliche Therapie hebe ich nur den Gebrauch des Calomel
in grossen Dosen neben der vorsichtigen Anwendung der Reizmittel
und des Opium hervor.
Der Kanton Basel-Landschaft wurde ebenfalls von der Seuche
stark heimgesucht und verdanke ich über dieselbe sehr interessante
Notizen dem Präsidenten der Sanitätskommission, Hrn. Jörin, sowie dem
Sekretair derselben, Herrn Dr. Kunz. Ich entnehme denselben Folgendes:
Die Cholera-Epidemie dauerte drei Monate, von Anfang August
bis Anfang November, verbreitete sich zwar während dieser Zeit über
den ganzen Kanton, jedoch in grösserem Massstabe bloss über drei Be-
zirke und in jedem derselben fast auschliesslich über drei Gemeinden.
In den übrigen Theilen des Kantons kamen nur vereinzelte Fälle vor.
Zuerst trat die Krankheit in dem tiefstgelegenen, der Stadt Basel
nächsten Bezirk Arlesheim auf. Die drei hier befallenen Gemeinden
Binningen, Oberwyl und Benken liegen an der Birsig, an deren Ufern
sich auch in Basel die Cholera zuerst gezeigt hatte. Etwa drei
Wochen später brach die Krankheit plötzlich im Bezirk Liestal und
zwar zuerst und gleichzeitig in den zwei höchstgelegenen Bergge-
meinden Ramlisberg und Seltisberg aus, welche von den infieirten
Orten des Bezirks Arlesheim etwa vier Stunden entfernt sind. Wieder
drei Wochen später, ebenso plötzlich erschien die Cholera in Liestal.
Gegen Ende September endlich stellte sich die Seuche im Bezirk
Sissach ein, zuerst in den Gemeinden Hunsken, zuletzt in Rümlingen
und Buckten, welche ebenfalls ziemlich hoch, aber in einem durch
den Hauenstein abgeschlossenen Thale liegen. Wir werden später
auf die Höhen der befallenen Orte zurückkommen.
Die Epidemie dauerte in jedem der drei Bezirke sechs Wochen,
in jeder der befallenen Gemeinden drei Wochen. Im Bezirke Arles-
heim trat die Krankheit anfangs zwar milde auf, fast unter den Symp-
tomen der Cholerine, nahm erst später und allmälig an Heftigkeit und
Bösartigkeit zu, ergriff zuerst nur die in dürftigen Verhältnissen und
schlechten Wohnungen lebende Arbeiterklasse und verschonte erst
später auch die Wohlhabenden nicht.
Im zweiten Bezirke, Liestal, trat im Gegentheil die Cholera
plötzlich mit der grössten Heftigkeit auf und zwar fast auschliesslich
bei der wohlhabenden Klasse in den höchst und bestgelegenen Woh-
nungen, nahm erst allmälig einen milderen Charakter an, und endete
unter den Aermern in den tief gelegenen Häusern.
Ausser den drei genannten Bezirken wurde auch der von Wal-
denburg, jedoch in viel geringerem Grade befallen. Laut nachstehender
Tabelle sind während der Dauer der Epidemie an der Cholera
Erkrankt Gestorben Genesen
im Bezirk Arlesheim 120 54 66
» „» Liestal 270 103 167
» » Sissach 102 44 58
= P Waldenburg 12 £ 9 3
504 210 294
Wissenschaftliche Monatsschrift, 23
— 366 —
Vom Bezirk Sissach allein habe ich Auskunft über das Ver-
hältniss beider Geschlechter. Von 102 Erkrankungen kommen 72
auf das männliche und nur 30 auf das weibliche Geschlecht. Von
Männern starben 34 und genasen 38, von 30 Frauen starben 10,
und genasen 20. Diese Verhältnisse weichen von den anderweitig
in der Schweiz beobachteten ab. Jedenfalls aber ist der kleine Kanton
Basel-Landschaft verhältnissmässig sehr stark von der Seuche heimge-
sucht worden. Im Allgemeinen sind nach der Mittheilung des Herrn Jörin
mehr Männer als Frauen und weit mehr Erwachsene als Kinder erkrankt.
Bevor wir an die letzte Zürcher Epidemie kommen, wollen wir
einen Blick auf die von Genf werfen, über welche Dr. d’Espine eine
inhaltreiche Mittheilung in der Schweizerischen Medizinischen Zeitschrift
gemacht hat.
Die Cholera trat in Genf am 23 August auf und dauerte zwei
Monate. Vorher und zu gleicher Zeit herrschte viel Cholerine. In
dem nahen französischen Orte Seyssel war die Cholera zu gleicher
Zeit. In Genf wurden im Ganzen nur 92 Fälle beobachtet, von denen
50 tödtlich verliefen ,- also 54 %/,, ein Verhältniss, das für eine Be-
völkerung von gegen 30,000 Einwohnern sehr gering ist und 14 Er-
krankungen, sowie 8 Todesfälle auf 10,000 Bewohner für den ganzen
Kanton setzt.
Auf die Stadt Genf mit ihren Vorstädten kommen 73 Fälle mit
36 Todesfällen, also 21 Erkrankte und 6 Todte auf je 10,000 Ein-
wohner, 19 kamen im ganzen übrigen Kanton vor. Von jenen 92
sind 59 Männer und 33 Frauen; zieht man aber von der Gesammt-
zahl die Lokalepidemie von Russin ab, wo die Cholera in Fabriken
hauste, in denen nur Männer arbeiten, so bleiben 44 Männer und 32
Frauen, oder das Verhältniss von 11: 8. Im Gegentheil waren in
Aarau, Basel und Zürich die Frauen sowohl in Bezug auf Erkrankung,
wie in Bezug auf Sterblichkeit schlimmer daran, als die Männer.
Kinder erkrankten in Genf beinahe gar nicht. Nur die arme Volks-
klasse litt und die wohlhabende wurde, wie in der letzten Zürcher
Epidemie, vollkommen verschont. Von jenen 92 kommen nur 4 Fälle
auf Kinder unter 15 Jahren. Im ersten Monat der Seuche befiel die
Krankheit besonders Personen zwischen 40 und 60 Jahren, im zweiten
Monat jedoch auch jüngere. Während die eigentliche Cholera beson-
ders arme, schlecht genährte, Exzessen aller Art ergebene Individuen
befiel, herrschte hingegen die Cholerine in allen Klassen der Gesell-
schaft. Die zwei ersten Fälle der Epidemie traten im Zuchthause
auf und endeten mit Genesung. Auf dem linken Rhoneufer herrschte
die Krankheit ungleich mehr, als auf dem rechten. Während der
Epidemie war das Wetter warm und mild, erst am 26. September
erhob sich ein kalter Nordwind, nach welchem die Zahl der Erkran-
kungen abnahm. In den ersten drei Wochen nahm die Epidemie
langsam zu, erreichte in der vierten 19, in der fünften 31 Erkran-
kungen, fiel in der sechsten auf 11 und erlosch allmälig in den fol-
genden, um in der Mitte der neunten Woche ganz aufzuhören.
Wir gelangen jetzt zu der Zürcher Epidemie von 1855.
Wir wollen hier nur einen schnellen Blick auf die Gesammt-
— 367 —
epidemie werfen, wobei wir die Notizen und den sehr vollständigen
Bericht unseres Kollegen, des Bezirksarztes Dr. Schrämli, welchen
derselbe in Manuscript uns mitzutheilen die Güte hatte, benutzen
werden. Die Specialien der Spitalbeobachtung werden anderweitig
bekannt gemacht werden.
Bereits am 12. und 13. August waren zwei Fremde, ein Eng-
länder und ein amerikanischer Arzt, in zwei Gasthöfen Zürich’s an
der Cholera erkrankt. Der erste starb am 13., der andere am 19.
Nun zeigen sich auch zwei Fälle in der Stadt am 17. und 19., der
eine endet mit dem Tode, der andere mit Genesung. Die beiden
ersten Fälle waren im Schwert und in der Dependance Baur, die
beiden letzteren in der grossen Brunngasse vorgekommen, also alle in
der eigentlichen Stadt. Jetzt tritt eine Pause ein, es ist von der
Cholera nicht mehr die Rede, als am 29. August auf einmal ein Fall
in der ausserhalb und oberhalb der Stadt Zürich gelegenen Gemeinde
Fluntern vorkommt, sowie fast gleichzeitig ein anderer in Unterstrass.
Am 31. August zeigt sich die Cholera in dem ebenfalls hoch und
ausser der Stadt gelegenen Pfrundhause, sodann in Bergfluntern, im
neuen und alten Spital. Nach also mehr vereinzelten, zuerst einge-
schleppten Fällen beginnt die eigentliche Epidemie am 29. August
und dauert bis zum 31. October, also während neun Wochen, bleibt
aber an Intensität weit hinter den Epidemien von Aarau, Basel und
Basel-Landschaft zurück.
Im Ganzen wurden 14 Gemeinden und Lokalitäten befallen.
Die Seuche bricht im Anfang besonders in den hochgelegenen Lokali-
täten aus und zeigt einen Zug von der Höhe nach der Tiefe, von
Osten nach Westen, jedoch mit vielen Schwankungen.
Die Zunahme der Epidemie fällt auf die ersten 18 Tage; sie
erreicht ihr Maximum am 5. September, an welchem 16 Erkrankungen
vorkommen. Die nun noch übrig bleibenden 46 Tage zeigen mit
Fluctuationen eine Abnahme. Jn der steigenden: Periode kommen
durchschnittlich 6, in der abnehmenden 2—3 zur Meldung. Fast am
Ende zeigt sich noch eine ziemlich intense, aber sehr umschriebene
Lokalepidemie in Unterstrass.
Wiewohl Diarrhoe und Cholerine um diese Zeit allgemein
herrschten, kommen doch im Ganzen nur 215 Cholera-Erkrankungen
vor und zwar 110 Männer und 105 Frauen, also eine ziemlich gleich-
mässige Vertheilung. Bedenkt man nun, dass diese Zahl in den be-
fallenen Gemeinden einer Bevölkerung von 35,000 Bewohnern ent-
spricht, so hat man nur etwas mehr als 3/, auf 100, oder 0,61 °/, und
rechnet man die ganze Bevölkerung Zürich’s und der nächsten Um-
gebung, 48,800 Bewohner, so kommt man zu dem noch günstigeren
Verhältniss von 0, 44 0°/,, offenbar eins der besten bekannten, welches
in der Schweiz nur noch durch das von Genf übertroffen wird.
In Bezug auf das Alter ergiebt sich, dass zwischen 41 und 50
Jahren die meisten Erkrankungen vorkamen, im Ganzen 44, dann
zwischen 31 und 40, 40 im Ganzen. Am meisten verschont blieb das
kindliche Alter zwischen 6 und 10 Jahren, nur 5 Fälle, bis zum
12ten Monat ebenfalls nur 4, über 80 Jahren keiner.
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Von den 215 Erkrankten genasen 101 und starben 114, also
das Verhältniss von 46,97 %, : 53,03 %/%,. Die Zahl der Todesfälle
übersteigt also die Hälfte. Die meisten Genesenen finden sich zwischen
21 und 40, die meisten Todesfälle zwischen 41 und 50 Jahren. Unter
101 Genesenen kefinden sich 57 Männer und 44 Frauen. Unter 114
Gestorbenen befinden sich 53 Männer und 61 Frauen. Wir haben
also für die Genesenen:
56,44 0/, Männer und 43,56 °/, Frauen;
für Gestorbene:
46,49 0/, Männer und 53,51 0/, Frauen.
Bei also fast gleichmässiger Erkrankung haben wir unter den Ge-
nesenen ungefähr das Verhältriss von 14 Männern zu 11 Frauen, unter
den Todesfällen hingegen etwa das von 13 Männern zu 15 Frauen.
Die Sterblichkeit in den verschiedenen Wochen entsprach den
Schwankungen der Zu- und Abnahme der Epidemie überhaupt.
Von 215 Kranken wurden 151 in Spitälern, 64 privatim behandelt.
Scheinbar ist bei ersteren das Verhältniss ungünstiger, da von 151 nur
67 genasen und 84 starben, während in der Privatpraxis von 64 nur.30
starben und 34 genasen. Indessen wird dies auf den ersten Blick
ungünstige Verhältniss durch die höchst verderbliche Epidemie des alten
Spitals, in welchem fast nur alte, decripide Individuen befallen wurden,
bedingt, während wir im Absonderungshause von 96 Kranken nur 45
verloren haben. Trotzdem, dass viele Kranke erst dann in’s Spital ge-
bracht wurden, wenn bereits die Krankheit ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Von den Behörden waren die sorgfältigsten und umsichtigsten Mass-
regeln getroffen worden, um dem Umsichgreifen der Seuche möglichst
vorzubeugen, sowie um den Erkrankten die möglichst beste Pflege
angedeihen zu lassen.
Im Allgemeinen blieb der wohlhabende Theil der Bevölkerung
insofern verschont, als nur Diarrhaen und Cholerine bei demselben
vorkamen.
In Bezug auf den Einfluss oder vielmehr das negative Resultat
des Einflusses der tellurischen Verhältnisse und der Abtritte und
Abzugskanäle auf Verbreitung der Cholera verweise ich auf den Bericht
meines Kollegen, Dr. Schrämli, welcher diesen so wichtigen Punkt
mit ganz besonderer Sorgfalt studirt hat.
Wir geben nun noch einen kurzen Ueberblick unserer verschie-
denen Lokal-Epidemien.
In Fluntern, ausserhalb und oberhalb der Stadt, in der Umgebung
des neuen Spitals, herrschte die Cholera während 27 Tagen, erreichte
aber nur in der zweiten und dritten Woche eine gewisse Höhe. Im
Ganzen erkrankten 17 (8 männliche, 9 weibliche) Individuen, 1 auf
134 Bewohner; 6 genasen (4 M., 2 Fr.), 11 starben (4 M., 7 Fr.).
Die Sterblichkeit war also hier viel bedeutender bei dem weiblichen
als männlichen Geschlechte. Die durchschnittliche mittlere Ineubations-
dauer betrug 5 Tage. Die meisten Fälle kamen in der Nähe von
Bächen vor. Von Ansteckung werden mehrere Fälle erwähnt, einmal
soll sie durch die Emanationen der Ausleerungen der prodromischen
Diarrh® stattgefunden haben,
— 369 —
In der Stadt Zürich selbst hatten sich einzelne Fälle vom 12.
bis zum 18. August gezeigt, dann trat eine lange Pause ein. Erst
am 3. September trat die Cholera in Zürich selbst epidemisch auf
und dauerte 54 Tage bis zum 27. October. In den zwei ersten Wochen
war die Zahl der Erkrankungen am grössten, 15 und 12, dann fiel
sie auf 7, 5, 4 und 3. Die grösste Höhe erreichte die Seuche am
7. September, an welchem 15 Erkrankungen vorkamen. Im Ganzen
kamen 56 gleichmässig auf beide Geschlechter vertheilte Fälle vor;
bei 4 derselben bestanden nur leichte Erscheinungen, so dass man die
Zahl auf 24 Männer und 28 Frauen bestimmen kann; von diesen
- genasen 29 (16 M., 13 Fr.) und starben 23 ( 8 M. und 15 Fr.),
also auch hier eine viel grössere Sterblichkeit unter dem weiblichen
Geschlecht. Da die Stadt Zurich 16,430 Einwohner zählt, erkrankte
also 1 auf 316. Das kindliche Alter wurde auch hier verhältniss-
mässig verschont. Die meisten Erkrankungen kamen zwischen 21
und 50, die meisten Todesfälle zwischen 31 und 50 Jahren vor. Im
Rindermarkt erkrankten in einem Hause 6 Personen, von denen 2
starben, sonst waren wohl mehrere Häuser der Sitz mehrfacher Erkran-
kungen, jedoch ohne bedeutende Proportionen zu erreichen, die Epi-
demie des alten Spitals abgerechnet, von welcher wir bald sprechen
werden. In vielen Häusern brach die Krankheit im fünften Geschoss
aus, bevor die niedrigeren erreicht wurden, zuletzt erst zeigte sie
sich im Erdgeschoss, so dass die Kloakentheorie hier kaum
Anwendung findet, sowie auch die durch die gleichen Kloaken und
Kanäle versehenen Häuser keineswegs nach einander, aber zu gleicher
Zeit befallen wurden. Auch zeigte sich die Krankheit vielfach auf
felsigem Boden, so dass die Pettenkofer’schen Theorien in Zürich
keine vollkommene Anwendung gefunden zu haben scheinen. Die
Inkubation dauerte von wenigen Stunden bis 5—9 Tage.
Die Lokalepidemie in Unterstrass befiel 32 Individuen und
herrschte in 7 Häusern. Im Anfang hatten sich einzelne Fälle ge-
zeigt, aber die eigentliche Epidemie trat erst in der letzten Zeit auf.
In einem Hause allein erkrankten 18 und 8 in einer Familie. Von
32 Personen starben 10; im Ganzen erkrankten 18 Männer und 14
Frauen, 12 Männer und 7 Frauen genasen, 6 Männer und 7 Frauen
starben, also auch hier zeigt sich die stärkere Mortalität des weib-
lichen Geschlechts. Das Verhältniss der Erkrankten zu den Ein-
wohnern war 21/, 0/,, das der Gestorbenen nahe 1 %,.
Im Absonderungshaus und im neuen Spital zeigte sich im Anfang
September eine kleine Lokalepidemie; 4 Typhuskranke und 4 des
neuen Spitals wurden ergriffen, von denen 6 starben, bald aber wurde
das Absonderungshaus für die Cholerakranken auschliesslich ein-
geräumt.
Die weitaus verderblichste Epidemie war die des alten Spitals,
in welchem 554 gebrechliche, zum Theil sehr alte Individuen sich
befanden. Die Seuche dauerte vom 31. August bis zum 29. Sept.
Die 5 Fälle in der nahen Gebäranstalt mit eingerechnet, kamen 52
Erkrankungen, also fast 1/9 vor, von denen 27 Männer und 25 Frauen.
Von diesen waren aber nur 48 deeidirte Cholerafälle, von denen 34
— 370 —
mit dem Tode endeten, also eine Sterblicheit von ungefähr ?/;, selbst
die leichteren Fälle mit eingerechnet.
Eine andere, viel weniger bedeutende Lokalepidemie war die
des Pfrundhauses, in welchem die Cholera während 9 Tagen herrschte
und wo von 79 meist sehr alten Individuen 6 erkrankten, von denen
5 starben.
Kleinere Lokalepidemien im Riesbach und in der Enge hatten
eine nur sehr geringe Ausdehnung.
Ueberblicken wir nun noch alle diese verschiedenen Cholera-
Epidemien, so sind wir von der Mannigfaltigkeit der Umstände frap-
pirt, unter welchen sie aufgetreten sind.
Nachdem der Kanton Tessin bereits mehrmals der Sitz der Seuche
gewesen war, sehen wir die Cholera im Herbst 1854 vereinzelt, aber
sehr heftig in Aarau auftreten und auch der Stadt Zürich im Herbst
eine schwarzrandige Visitenkarte schicken, aber doch blieb noch die Stadt
fast verschont. Nun zeigt sich die Cholera im Sommer und Herbst,
welche überhaupt bis jetzt für die Schweiz die schlimmeren Jahres-
zeiten in Bezug auf Cholera gewesen sind, im Jahr 1855 zuerst in
Basel, dann in Basel-Landschaft, dann in Zürich und zuletzt in Genf,
während Aarau zwischen Zürich und Basel, sowie überhaupt die
meisten den infieirten Orten nahe liegenden Gegenden verschont bleiben.
Während in Aarau Ost- und Nordwind schädlich einzuwirken
scheinen, in Basel und Genf hingegen mit Abnahme der Seuche zu-
sammenfallen, verhalten sie sich in Zürich indifferent, was mit meinen
früheren Beobachtungen aus Paris vom Jahre 1849 und meinen Er-
innerungen aus Berlin vom Jahre 1832 übereinstimmt. Freilich ist
in Bezug auf Winde und Luftströmungen ein Unterschied zwischen
Ebenen und Gebirgsländern festzuhalten, und für letztere fehlt es noch
an ausreichenden negativen Beobachtungen.
Während in Basel, Basel-Landschaft und Aarau die Cholera ver-
heerend auftritt, zeigt sie sich in den letztjährigen Epidemien in Zürich
und besonders in Genf verhältnissmässig mild. Wo sie diesen letzten
Charakter annimmt, wird mehr die ärmste Volksklasse und der wenig
wohlhabende Mittelstand von der Seuche heimgesucht. Schlechte
Wohnungen, unzureichende Nahrung, unregelmässige Lebensart, be-
günstigen ihre Entwickelung. Bei den Wohlhabenden und Reichen
hingegen zeigt sich die Krankheit als leichte, in ihrem Verlaufe ohne
Schwierigkeit zu hemmende Cholerine. Wo aber die Cholera mit
grösserer Intensität sich zeigt, wird kein Stand verschont und der
fürchterliche Gast klopft so gut an die Pforte des Reichen, als an die
Thüre des Armen und Verwahrlosten. Ueberall jedoch ist schon
desshalb die ärmere Volksklasse mehr ergriffen, weil sie einerseits
durch üble Lebensverhältnisse eine geringere Widerstandsfähigkeit
bietet und anderseits kaum zu bewegen ist, die geringen prodromischen
Erscheinungen und namentlich die prämonitorische Diarrb& gehörig
zu beobachten und für dieselbe ärztlichen Rath zu suchen.
Höchst erfreulich ist es daher, zu sehen, wie viel in allen von
der Seuche heimgesuchten Orten der Schweiz für die ärmere Bevöl-
kerung gethan worden ist, und wie es doch eine ganz andere Mild-
— 371 —
thätigkeit ist, in Zeiten der Noth für die hilflosen und verlassenen
Mitmenschen zu sorgen, als mit soeialistischem Geschwätze ihre Be-
gierden aufzuregen, ohne ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Möge aber
die Cholera nur der Anfang einer umfangreicheren, umsichtigeren, auf
alle Verhältnisse des Lebens eingehenden Hilfsleistung der Armen
und Unwissenden, durch die Wohlhabenden, einer bessern Erziehung
Theilhaftigen werden. Und sollte der hier gegebene Impuls sich
weiter zur ununterbrochenen Thätigkeit entwickeln, so würde auch hier
wieder der denkende Mensch aus den scheinbaren öffentlichen Kalami-
täten eine segensreiche Lehre gezogen haben.
Eine andere Thatsache, welche aus dem Vergleiche der Epidemien
der Schweiz hervorgeht, ist der Umstand, dass das kindliche Alter
in den schwach durchseuchten Orten viel mehr verschont blieb, als
da, wo die Cholera mit einer gewissen Intensität herrschte.
Wenn vielleicht im Ganzen die Zahl der befallenen Männer und
Frauen keine bedeutende Unterschiede darbietet, eher im Allgemeinen
das männliche Geschlecht mehr Erkrankungen zeigt, so war die Sterb-
lichkeit beim weiblichen eine grössere und nirgends hat dies Ver-
hältniss sich deutlicher gezeigt, als in Zürich, wo ich bereits seit
mehreren Jahren für den Abdominal- Typhus ähnliche Beobachtungen
gemacht habe.
Von ganz besonderem Interesse war für mich das Studium der
Verbreitung der Cholera. Es würde mich zu weit führen, wenn ich
Alles, was in dieser Hinsicht vorliegt, zusammenstellen wollte. Ich
gebe nur hier als Gesammtresultat meiner Forschungen, dass hier jede
einseitige Theorie zu verbannen ist. Im Allgemeinen scheint mir die
Ausbreitung der Cholera, wie die der meisten Epidemien, mehr einen
miasmatischen Charakter zu haben und auf einem uns durchaus unbe-
kannten, vielleicht den Fermenten ähnlichen Ageus zu beruhen, das
sich durch Luftströmungen eher als auf jedem andern Wege zu ver-
breiten scheint; wahrscheinlich kommt daher auch diese krankmachende
Potenz mit dem Athmungsprozesse in den Organismus und bewirkt
so eine Art von Vergiftung. Dass aber die Cholera kontagiös werden
kann und oft wird, davon habe ich die unläugbarsten Thatsachen
selbst beobachtet, so wie auch das Mitwirken tellurischer Schädlich-
keiten und der Emanationen der Cholera-Ausleerungen von Bedeutung
sein kann.
Der Streit zwischen Kontagionisten und Miasmatikern scheint
mir daher alle Bedeutung verloren zu haben. Die ontologische Ab-
grenzung zwischen Miasma und Contagium existirt nur in den Büchern
und nieht in der Natur. Ebensowenig scheinen mir die Emanationen
der Cholerakranken der einzige Träger der Verbreitung und die Kloaken
die Leitungslinien der Seuche zu sein. Mit einem Worte, die letzten
Ursachen der Cholera sind uns unbekannt, und so- lange nicht die
sorgfältigste Naturforschung hier bestimmt, positiv oder negativ, ent-
schieden hat, bleiben alle Theorien Vermuthungen, welchen es an
fester Basis fehlt und welche durch Scheinkenntnisse unsere Unwissen-
heit nur zu bemänteln im Stande sind.
— 3712 —
Ich habe Eile, mich aus den Niederungen der Hypothesen wieder
auf die Höhe der Beobachtung und zwar diesmal auf die Beobachtung
der Höhen zu begeben.
Die Höhenverbreitung der Cholera in der Schweiz ist gewiss,
selbst in Bezug auf einstweilige Prognose späterer Epidemien, von
grösster Wichtigkeit.
Ich entnehme die folgenden Höhenbestimmungen der Schweizer
Hypsometrie Ziegler’s (Zürich 1853).
Im Kanton Tessin hat die Cholera, so viel ich bis jetzt weiss,
zwischen einer Höhe von 615 Fuss über der Meeresfläche, Magadino
am Lago maggiore, und 1117‘ in Mendrisio geschwankt. Lugano hat
eine Höhe von 926‘. Der Monte Cenere, welcher als Cholera-Grenze
dient, ist 1720’ hoch, Cadenazzo, jenseits des Cenere, liegt nur 706’ hoch.
Aarau liegt 1127° hoch, Basel 817’, Genf 1165‘, Zürich 1258’
und in Bergfluntern bei Zürich hat die Cholera eine Höhe von fast
1400 erreicht.
Am interessantesten sind die Verhältnisse in Basel-Landschaft.
Im Bezirk Arlesheim hat die Gemeinde Birmingen eine Höhe von
865‘, Oberwyl 820° und Benken 1013'. Liestal hat eine Höhe von
962’, seine hochgelegenen Berggemeinden hingegen, in denen die Cholera
zuerst auftrat, Ramlisburg und Seltisberg, haben eine Höhe von 1533
und 1536‘; die Berggemeinden des Bezirks Sissach: Zunsken, Rüm-
lingen und Buckten, liegen auf einer Höhe von 1231, 1411 und
1496‘ ; Waldenburg liegt 1640° hoch. Die höchsten Gemeinden aber
in Basel-Landschaft, in denen die Cholera auftrat, sind Känerkinden
1776’ hoch und Läufelfingen 1884' hoch.
Wir können also bis jetzt als äusserste Höhengränze in der
Schweiz das Dorf Läufelfingen, 1884° hoch, betrachten, und wenn
wir in Rechnung bringen, dass einzelne Häuser der Gebirgsdörfer höher
liegen, als das eigentliche Dorf, so können wir bis jetzt eine Höhe von
2000 Fuss über der Meeresfläche als äusserste Höhengränze der Cholera
in der Schweiz ansehen.
Auch hier aber müssen wir uns wohl hüten, nach der Erfahrung
der Vergangenheit uns auf eine zu bestimmte Art über die Zukunft aus-
zusprechen.
Wenn es überhaupt zu bedauern ist, dass in unserer Zeit das Stu-
dium der Geschichte unserer Wissenschaft und namentlich das der grossen
Epidemien so sehr vernachlässigt wird, so ist dies um so mehr dem wah-
ren Fortschritte hinderlich, als das Forschen nach der Verbreitung und
dem Charakter der Seuchenzüge nicht bloss ein allgemeines Volksinteresse
hat und für die zu treffenden Massregeln von grösster Wichtigkeit ist,
sondern auch dem Arzte stets das bereits von dem Vater unserer Wis-
senschaft, dem ehrwürdigen Greise von Cos, aufgestellte Grundprinzip
unserer Bemühungen , das judieium difhicile, stets in’s Gedächtniss zu-
rückruft.
ER — 00: HET
%
Bei Meyer & Zeller in Zürich ist erschienen:
| Geschichte }
EUROPÄISCHEN STAATENSYSTEMS
Zeitalter der Reformation bis zur ersten französischen
Revolution
D’ Sans Geinrich Bögeli,
Professor der Geschichte an der obern Industrieschule in Zürich
Privatdocent an der Universität.
Erste Abtheilung.
Vom Zeitalter der Reformation bis zur Selbstherrschaft von Ludwig XIV.
(1519 — 1661.)
41 Bogen gr. 8. Geheftet. Preis 2 Thlr. oder 3 fl. 20 kr. oder 5 Fr. 60 Ct |
Die Geschichte des Europäischen Staatensystems ist der wichtigste Theil de
Weltgeschichte; denn die Völker unsers Erdtheils bestimmen das übrige Mensche;
geschlecht. Jedes Glied dieses Staatenvereins wird in diesem Werke mit Liebe un
darum mit Eingehen in seine Eigenthümlichkeit behandelt; der Herr Verfasser z
wie jede Nation, jeder lebenskräftige Staat Europa’s aus innersten Trieben sich em
wickelt, welchen Bau, welche Ordnungen sein Staatsleben sich schuf und wie de
gegliederte, mit Vermögen begabte staatliche Geschöpf durch einzelne Menschen un
durch Gesammtheiten auf die Genossen des Lebens, auf seine Nebenstaaten einwirkt
Wir sehen, wie die in Zeit und Raum neben einander bestehenden Gesellschafte
gemäss ihrer eigenthümlichen Entfaltung Einflüsse aufeinander ausüben, durch welch
die politischen Gedankenkreise und die Stimmungen jedes Zeitraums entstehen. We
alle Glieder des Europäischen Staatensystems die Aufgabe haben, die in ihnen vo
findlichen Keime zu möglichst vollkommenem Dasein zu bringen, nehmen wir wah
wie sowohl Einzelne als Bünde jeweilig derjenigen Macht entgegen treten, wele
diess ihnen verkümmern könnte, auch wenn sie selbst noch nicht unmittelbar b
droht sind. u
Die Erzählung fördert diess in strenger chronologischer Ordnung zu Tage; ui
in Beziehung auf die Geschichtschreibung als Kunst, ist das Werk der erste Versue
die Geschichte so mannigfaltiger Erscheinungen, wie das Europäische Staatensyste
sie darbietet, nach ihrer Aufeinanderfolge einheitlich in ununterbrochenem Zusamme
hange darzustellen und eben dem thatsächlichen Verlaufe beim Wechsel der Europ
schen Staatsangelegenheiten die gänzliche Hingabe des Geistes zu widmen.
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| ° Feropmanp Hırzic, EpvArD ÖSENBRÜGGEN, HEINRICH Frey,
1: 1
ApoLFr Schmivr, Epwarp BoBRIK.
(Hauptred.: Aporr Schaipr.)
BEITBE JTABREEATE
Heuntes und zehntes Heft.
ZÜRICH,
VERLAG von MEYER & ZELLER
1856.
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Der. Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver-
fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gew'dmet,
mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möz''chei anz'chender
und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmitislbare Du:da-
rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter
sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Plaiz
finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen,
sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitzetheilt werden.
Inhalt des borliegenden Befkes:
Die Verbreitung der Cholera in den Jahren 1854 und 1855, mit Aus-
schluss des Kriegsschauplatzes, Von Dr. Mever-Amkens.. . » . . 373
Die Handwerker-Frage in unserer Zeit. Von Dr. Karı Knıes. . . . 403
Ueber einige Verwandtschaftsverhältnisse und Verwandtschaftsnamen des
indogermanischen Stammes. Von H. Scuweizer. . » . 2 2.0. 431
Ueber die Zeitdauer der hebräischen Psalmenpoesie. Von Hırzıe. . . . 436
Kritische Miscellen zu Sallust. Von Hırzıe. . » » 2 2 2 2 20... 452
En
Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von Frey, Hırzıe,
Bosrık, Schumipt, Fritzsche, Vıscher und Anderen.
Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des
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Gegentoärtige Mitglieder des Missenschaftlichen Vereins :
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RB. Worr. G. v. Wiss.
Druck von E. Kiesling in Zürich.
DIE VERBREITUNG DER CHOLERA
in den Jahren 1854 und 1855,
MIT AUSSCHLUSS DES KRIEGSSCHAUPLATZES.
Geschildert von Dr. MEYER-AHRENS.
(Forts. des im 6. Hefte abgebrochenen Aufsatzes.)
Die Epidemie vom Jahre 1855.
Mit dem Ende des Jahres 1354 war die Cholera fast allenthalben
verschwunden, oder es zeigten sich höchstens noch vereinzelte Fälle.
So erkrankten in München vom 1. bis 15. Januar noch 4 Personen
und erst Mitte Januar war die Cholera in Baiern für einstweilen er-
loschen. — In Wien dauerte sie noch an, und erlosch erst Anfangs
Februar. In Pesth spuckte sie immer fort. — In St. Petersburg
war sie auch nie ganz gewichen; doch scheint sie im Jahre 1855
hier keine grösseren Verheerungen angerichtet zu haben; es kamen
zwar bis um den 3. Juni Choleraerkrankungen vor, aber in verhält-
nissmässig sehr geringer Zahl; wie sie sich nach dem 8. Juni ver-
halten hat, wissen wir nicht. — Auch in Madrid dauerte die Seuche
noch an. — In Italien war die Cholera Anfangs des Jahres 1855
nicht ganz verschwunden: es kamen im Januar in Turin, Toscana
‚ und Padua einzelne Fälle vor. — In Padua waren schon im August
des vorigen Jahres einzelne Erkrankungen aufgetreten und so hatte
es bis Anfangs December immer einzelne Fälle gegeben, sie waren
aber geheim gehalten worden. Anfangs December war dann eine
Pause eingetreten; am 18. Januar aber ereigneten sich nun aufs Neue
vereinzelte - Fälle; die Seuche trat jedoch bis im Mai gelinde auf.
Wir werden später auf die Paduaner-Epidemie zurück kommen.
Um den 10. Februar kamen neuerdings zwei Cholerafälle im
Militärspitale zu München vor, und von da an ereigneten sich in Mün-
chen bis zum 29. März oder 4. April immer einige Fälle, worauf
die Seuche in München endlich gänzlich erlosch.
Im Februar und März traten in Rom Erkrankungen auf, die
Wissenschaftliche Monatsschrift. 24
— 3714 —
viele Aehnlichkeit mit der Cholera hatten; ja die Sterblichkeit unter
dem ärmeren Volke überstieg an manchen Tagen weit das Maximum
der Sterblichkeit in der Cholerazeit. Die schlechten Nahrungsmittel,
die als Weinsurrogate dienenden schlechten und verfälschten Getränke
mochten an diesen Erkrankungen wesentlichen Antheil haben.
Auch in Toscana zeigten sich im Februar wieder Cholerafälle,
namentlich in einigen von der Ueberschwemmung heimgesuchten Ort-
schaften in der Nähe von Florenz, wo ausser der Ueberschwemmung
die schlechte Nahrung und der Mangel an realem Wein wie in Rom
wesentlich zur Entwicklung der Seuche beitragen mochten. Gegen
den 22. Februar begann die Cholera Florenz selbst zu beunruhigen.
Um das Ende des Mais begann die Seuche ihren Schauplatz
wieder auf weitere Kreise auszudehnen.
Am 26. Mai erschien sie zu Vieenza, am 283. Mai aufs Neue
zu Wien, zwischen dem 24. und 31. Mai zu Brünn. — Am 28.
Mai kamen in Pignerolo in der Provinz Turin einige zweifelhafte
Krankheitsfälle vor; an demselben Tage soll die Seuche in Krakau,
Venedig, Verona, Fiume, am 29. Mai zu Bologna und in Cairo, am
31. Mai im Oedenburgerverwaltungsbezirk im Königreich Ungarn aus-
gebrochen sein.
In der ersten Hälfte des Juni begann die Cholera noch immer
mehr Boden zu gewinnen. Am 1. Juni trat sie in Triest und ande-
ren Gegenden des Verwaltungsbezirkes des Küstenlandes, z. B. in
Besca nuova (Insel Veglia) auf, dann in der Gemeinde Heidenschaft
(Görzerkreis), am 6. Juni zu Sacile im Friaul, in Alexandrien (in
Egypten), um den 9. Juni zu Lemberg, zu Rzeszow und Jaroslaw
in Galizien, am 10. Juni zu Danzig.
Gegen den 13. Juni breitete sich die Krankheit von Venedig
allmälig über das ganze venetianische Festland aus, mit Ausnahme
von Udine.
In Toscana begann die Seuche in der ersten Woche des Juni
auch stärker aufzutreten und endlich brach in dieser Periode die
Cholera an mehreren Orten an den Ufern des Duero in Nordportugal auf.
In Cairo hatte dieselbe bis zum 6. Juni bereits 400 Opfer ge-
fordert, jedoch mehr nur unter den Eingeborenen ; von den Europäern
waren bis jetzt bloss etwa 10 daran gestorben.
Mit dem Beginne der zweiten Hälfte des Juni scheint die Cho-
lera mit Ausnahme von Udine über alle Städte des Gubernialbezirkes
Venedig verbreitet gewesen zu sein. Doch war die Garnison in
Venedig noch verschont.
Im Mailändischen zeigten sich jetzt ebenfalls Spuren der Seuche,
—. 375 —
‚
namentlich zu Mantua und Brescia *), und mit Ausnahme des Siene-
sischen war die Krankheit jetzt über ganz Toscana verbreitet, trat je-
doch nirgends heftig auf.
Etwa um den 21. Juni zeigte sie sich in der Umgebung von
Rom, in Ancona und dem übrigen Theil der Marken und längs der
Küsten der Romagna. In Ancona fielen ihr gleich Anfangs Personen
des höchsten Ranges zum Opfer.
Auch in Genua sollen um den 25. Juni Cholerafälle vorge-
kommen sein.
Um den 15. bis 17. Juni entwickelte sich die Krankheit in Fiume
zur „Epidemie.“ Besonders heftig wüthete sie um den 21. bis 24.
Juni und gegen das Ende des Monates breitete sie sich in ganz
Croatien aus. Noch grösser als in Fiume war die Sterblichkeit in
Buceari, ebenso auf den Quarneroinseln. Auch’ in Karlstadt starben
2 Personen an der Cholera; nicht minder zeigten sich gegen das Ende
des Juni in Brod Krankheitsfälle mit allen Erscheinungen der Cholera ;
endlich soll die Krankheit um den 21. Juni in Zara in Dalmatien
erschienen sein,
In Lemberg machte sie besonders um den 23. und 25. Juni
Fortschritte. Sie verlief rasch und die Sterblichkeit betrug 500/,.
In Pesth zählte man bis zum 30. Juni bei einer Bevölkerung
von etwa 63,000 Einw. 600 Choleratodesfälle.
In Krakau waren vom 28. Mai bis 28. Juni 636 Personen er-
krankt und 371 Pers. gestorben; im Krakauerlandesbezirk waren 1115
Pers. erkrankt und 529 Pers. gestorben.
In Wien waren vom 28. Mai bis 25. Juni 39 Pers. gestorben.
In der Vorstadt Wieden .hatte die Krankheit um den 25. Juni bereits
den „Character der Epidemie* angenommen.
Schon um den 20. Mai hatten sich in Prag „Diarrhoeen und
andere Darmkrankheiten* gezeigt, die freilich nicht geradezu für
Cholerine- oder Cholerafälle erklärt worden, aber es dennoch wahr-
scheinlich gewesen waren. Vom 20. Mai bis 10. Juni sollen 230
Pers. an solchen Krankheiten gestorben sein. Nun hiess es um die
Mitte des Juni auf Einmal, die Cholera herrsche ziemlich heftig in
Prag, und hole auch unter der bemittelten Classe rasch manches
Opfer hinweg, wodurch unsere so eben ausgesprochene Vermuthung
ohne Zweifel gerechtfertigt wird. In der Stadt soll die Krankheit
*) Nach einem anderen Berichte soll bis zum 25. Juni weder in Mantua,
noch Brescia, noch irgend einem andern Theile der Lombardei ein Cholerafall
vorgekommen sein.
— 3716 —
mit grösserer Heftigkeit aufgetreten sein, als auf dem Lande, wo
nur vereinzelte Fälle vorgekommen sein sollen.
In Deutschland finden wir die Cholera im Juni nirgends als
in Berlin, wo sie (wann sie eigentlich begonnen hat, wissen wir
nicht) in dissem Monate 43 Pers. weggerafft haben soll, und in
Elbing, wo um den 25. Juni einzelne Fälle „von Brechruhr und
Cholera“ vorgekommen sein sollen.
Weiter im Osten finden wir die Seuche um den 24. Juni in
Warschau, wo seit einigen Tagen 40 bis 50 Pers. täglich erkrankten,
von denen meistens %/3 (in den Militärspitälern noch mehr) starben.
In Frankreich sollen schon um den 19. Juni in Mühlhausen und
Strassburg *) Cholerafälle vorgekommen sein; auch in Paris kamen im
Juni immer einige Fälle vor.
Um den 19. Juni wüthete die Seuche in Lissabon, Oporto und
nach einer Pause neuerdings in Madrid, wo sie aber gegen den 30.
Juni wieder beträchtlich nachliess, und gegen das Ende des Juni
war sie über verschiedene Provinzen Spaniens verbreitet.
In Cairo erreichte die Cholera um den 15. Juni ihre Acme mit
318 Todesfällen. Bis zum 28. Juni waren im Ganzen 3970 Pers.
gestorben. In Alexandrien waren bisher bloss vereinzelte Fälle auf-
getreten.
In der ersten Hälfte des Juli herrschte die Krankheit in Toscana
fort, nur Siena war immer noch frei. Lucca soll auch verschont ge-
wesen sein.
Aus Ravenna, Macerata, Ancona hatte man um den 3. Juli be-
trübende Nachrichten; auch in Turin sollen um den 3. Juli wieder
einige Cholerafälle vorgekommen sein.
Im Mantuanischen und in Breseia dauerte die Seuche fort. Bis
zum 15. Juli waren in der Lombardei 551 Erkrankungen vorgekom-
men. Auch in Venedig, Verona, Padua und Vicenza hielt die Cho-
lera an. Im Friaul scheint die Krankheit in der Gegend von Cervignano,
wohin sie von Venedig eingeschleppt worden war, besonders heftig
aufgetreten zu sein. Fast kein Haus, fast keine Hütte blieb ver-
schont; doch wüthete sie nirgends so arg als in dem Üervignano
nahegelegenen Terzo, wohin sie wiederum von Üervignano einge-
schleppt worden war.
Auch in Triest wüthete die Cholera fort.
*) Nach einem anderen Berichte sollte seit dem Herbste in Strassburg kein
Cholerafall vorgekommen sein.
— 377 —
Vom 9. bis 10. Juli erkrankten 48 Pers. u. starben 12 Pers.
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Die Epidemie hatte sich übrigens bis zum 10. Juli, wenn auch
einstweilen nur mehr in sporadischen Fällen, doch über ganz Istrien
verbreitet.
In Finme nahm die Krankheit um den 7. Juli ab, wie auch auf
den Inseln des Fiumeschen Golfes. Sie hatte aber hier noch grossen
Schrecken verbreitet. Ueber 200 Häuser, alle Verkaufsmagazine, die
Sehulen, die Bureaux der Behörden waren geschlossen worden, über
5000 Personen waren geflohen. Seit dem Anfang der Epidemie wa-
ren Schwalben und Fliegen gänzlich verschwunden. Eine andere be-
merkenswerthe Thatsache war die, dass von den 1100 Cigarren-Ar-
beiterinnen der k. k. Tabaksfabrik weder irgend eine an Cholera
starb, noch im Mindesten erkrankte und dass auch weder ein Arzt,
noch ein Geistlicher an der Seuche erkrankten.
In Besca nuova waren vom 1. Juni bis 10. Juli 204 Pers. er-
krankt und 103 gestorben; am 10. Juli blieben 88 Pers. in Behand-
lung. Um den il. Juli brach die Krankheit in Citta Vechia auf der
Insel Lesina aus.
In Lemberg waren vom 9. Juni bis 5. Juli 751 Pers. erkrankt
und 397 Pers. gestorben.
In Wien machte die Cholera keine Fortschritte, in Prag nahm
sie ab, ebenso in Brünn.
In Danzig waren bis zum 6. Juli 208 Erkrankungen vorgekom-
men und 90 Pers. gestorben und zwar bildete hier (im Gegensatz zu
Venedig) die Garnison den vorzugsweisen Heerd der Seuche.
Zwischen dem 7. und 9. Juli brach die Cholera in Magdeburg aus.
In Warschau nahm sie Anfangs Juli ab.
In Madrid trat die Krankheit Anfangs Juli ziemlich gelinde auf,
d. h. rücksichtlich der Zahl der Fälle, die aber von der heftigsten
Art waren und sich nicht auf die ärmere Classe allein beschränkten.
Es wurden hauptsächlich Knaben von 8 bis 14 Jahren hingerafft.
In anderen Gegenden Spaniens hingegen richtete die Seuche
traurige Verheerungen an. In Granada waren vom 27. Juni bis 10.
Juli 1050 Pers., in Mira in der Provinz Cuenca, einem Flecken von
1200 Einw., waren in 8 Tagen 500 Pers. gestorben.
In Alexandrien hatten am 7. Juli 55 Erkrankungen und 50 To-
desfälle Statt. Später stieg die Zahl der Todesfälle auf 92 auf den
Tag. In Cairo hingegen hatte sie zur selben Zeit bedeutend nachgelassen.
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In der zweiten Hälfte des Juli erhielt sich die Cholera in Ve-
nedig, Verona, Vicenza, Padua fast stationär, sie nahm erst gegen
das Ende des Monates hin allmählig ab. In einigen Orten im Tre-
visanischen und Paduanischen hatte sie fürchterlich gehaust, so in
Saletto, Asolo u. a. a. Ein besonderes Interesse hat die Geschichte
der Epidemie in Padua. Im Mai stieg die Zahl der Erkrankungen
auf 10 bis 20 täglich, auf welchem Standpunkte sie bis zum 29.
Juli blieb. Witterung, Winde, Temperatur zeigten auch hier, wie
ja an so manchen andern Orten, keinen auffallenden Einfluss auf den
Verlauf der Epidemie, wenn letztere auch allerdings durch die heisse
Jahreszeit am meisten begünstigt wurde. Lange herrschte die Seuche
in der Stadt, ohne dass im Stadtbezirk ein Fall vorkam, dann brach
sie auf Einmal auch auf dem Lande aus, und nun hatte das letztere
ungleich mehr zu leiden.
Eine Frau, die ihren Mann, welcher der Krankheit erlegen war,
in Villa franea besucht hatte, kehrte nach dem eine Stunde von Padua
entfernten Abano zurück, und wurde hier krank und starb, worauf
gleich drei Personen aus demselben Hause ihr Loos theilten. Die
nächste Familie, die dieser ersten zu Hülfe gekommen war, und noch
eine dritte, die der letzteren denselben Dienst erwiesen hatte, wurden
ebenfalls ergriffen. Ein Mann und mehrere Weiber, welche die
Wäsche der Kranken gereiniget hatten, starben ebenfalls an der
Seuche. Einige Aerzte und Geistliche hatten dasselbe Loos.
Um den 18. Juli war die Cholera im Friaul allgemein verbrei-
tet; auch Udine war jetzt ergriffen.
Im Gubemialbezirk Mailand erkrankten vom 22. bis 23. Juli
300 Pers., von denen 186 Pers. auf die Provinz Brescia (34 auf die
Stadt), 55 auf die Provinz Mantua, 10 auf die Prov. Pavia, 10 auf
die Prov. Como, 11 auf die Umgebung von Mailand und die übrigen
auf die Prov. Bergamo fielen. In Brescia herrschte die Seuche sehr
intensiv; am 24. Juli hatte sie hier ihre Acme erreicht. Von nun
an nahm sie ab. Es waren am 24. Juli in Brescia 109 Pers. er-
krankt und 89 Pers. gestorben. Vom 25. Juni bis 23. Juli waren
in der Provinz Brescia mit Einschluss der Stadt 1467 Pers. erkrankt
und 635 Pers. gestorben. In Behandlung blieben 734 Pers. Es war
sehr auffallend, dass diese Stadt so stark mitgenommen wurde, da
sie doch eine gesunde Lage, gutes Wasser, breite Gassen, gesunde
Wohnungen hat und eine musterhafte Reinlichkeit in ihr gehandhabt
wird. Der Grund lag vielleicht in ihrer Lage an der grossen Eisen-
bahnstrasse.
In Mailand waren bis zum 29. Juli bloss 3 sporadische Fälle
— 3579 —
vorgekommen, ungeachtet hier aus allen Gegenden Choleraflüchtlinge
zusammenströmten, die ganze Gegend infieirt war, und das Obst zu
so wohlfeilen Preisen angeboten wurde.
In Toscana war. mit dem Beginne der ersten Hälfte des Juli
die Cholera mit Ausnahme weniger Distrikte immer noch über das
ganze Grossherzogthum verbreitet; doch war die Zahl der Erkran-
kungen verhältnissmässig gering. Um den 20. Juli soll sich die
Seuche sogar in Siena, und überhaupt in den Gebirgsgegenden, gezeigt
haben. In Florenz erkrankten um den 15. Juli etwa 30 Pers. täg-
lich. Und so blieb die Krankheit den ganzen Monat hindurch in Tos-
cana stationär, nahm jedoch im Allgemeinen mehr zu als ab, nament-
lich in der nächsten Umgebung von Florenz und in Florenz selbst,
sowie in Livorno. Seit dem 1. Mai waren in Toscana über 6000
Pers. erkrankt und davon mehr als die Hälfte gestorben.
In Pisa kamen ungeachtet der tiefen und etwas feuchten Lage
dieser Stadt immer noch bloss vereinzelte Fälle vor; dagegen wurden
mehrere auf den Hügeln gelegene kleine Orte arg mitgenommen.
Auch im Herzogthum Modena wüthete die Seuche (bis zum 29.
Juli waren hier 1100 Pers. erkrankt und 608 Pers. gestorben), ebenso
im Herzogthum Parma (bis 27. Juli 111 Erkr. und 56 Todesfälle).
In Bologna wüthete die Cholera um den 15. Juli ausserordent-
lich heftig; auch in den zwischen Florenz und Bologna auf den Apen-
ninen gelegenen kleinen Orten war die Krankheit heftig aufgetre-
ten. Noch um den 28. Juli erkrankten in Bologna täglich über 100
Pers. In Ancona liess die Seuche um diese Zeit nach; doch fielen
ihr um den 28. Juli noch viele Personen zum Opfer. Mit dem 30.
Juli jedoch neigte sich die Epidemie in Ancona und der Romagna
“er Ende zu.
In Genua war bis zum 18. Juli kein neuer Fall vorgekommen,
ebensowenig in der Riviera di Levante, trotzdem, dass sich zahlreiche
Choleraflüchtlinge aus dem Toscanischen daselbst einquartiert hatten.
Am 23. Juli aber hatte man in Genua schon wieder Cholerafälle;
bis zum 27. Juli waren schon 17 vorgekommen, am 28. Juli er-
krankten hier 8 Personen, die meisten im Previertel, zunächst der
Darsena, das vorzüglich schmutzig ist und mit fremden Schiffen und
Schiffsmannschaften am meisten in Berührung steht. Die kürzlich
von Balaklava zurückgekehrte Fregatte Authion sollte Montouren von
an der Seuche verstorbenen piemontesischen Soldaten an Bord gehabt
haben, die dann im Previertel verkauft worden sein sollten. Um den
29. Juli zählte man etwa 24 Erkrankungen auf den Tag. Auch in
der Gegend von Voghera und in Alessandria sollen in der letzten
— 380 —
Woche des Juli Cholerafälle vorgekommen sein; ebenso sollten in
Turin wieder einige Erkrankungen Statt gefunden haben.
Schon um den 18. Juli hatte sich die Epidemie in Alghero und
Oristano auf der Insel Sardinien gezeigt. Bis zum 29. Juli waren
auch in Porto Torres und Torralba einzelne Fälle vorgekommen.
Zu Ende des Juli war auch der Trientinerkreis ergriffen. Bis
zum 31. Juli waren in demselben 739 Pers. erkrankt und 358 Pers.
gestorben.
Am 14. Juli zeigte sich die Seuche in Neumarkt an der Etsch.
Im Istrianerkreis hatte die Cholera bedeutend um sich gegriffen ;
in 129 Orten waren bis zum 28. Juli 3792 Pers. erkrankt und 1175
gestorben. Im ganzen Verwaltungsbezirk des Küstenlandes waren
bis zum 283. Juli 10,071 Pers. erkrankt und 3432 gestorben. Es
blieben noch 2568 Pers. in Behandlung.
In Fiume nahm die Krankheit in der zweiten Hälfte des Juli ab;
eigentlich „epidemisch“ hatte sie hier nur vom 15. Juni bis zur
Mitte des Juli geherrscht; von da bis zum 1. August kamen nament-
lich in der Stadt nur selten Erkrankungen vor. Bis zum 25. Juli
waren 1632 Pers. erkrankt und 703 Pers. gestorben. In Behandlung
blieben 1614 Pers.
Auch in Zeng herrschte um den 25. Juli die Cholera, und um
den 26. Juli wüthete sie in Pago auf der Insel Pago heftig.
-In Lemberg dauerte sie im Anfang der zweiten Hälfte dieses
Monates fort. Bis zum 21. Juli waren 2046 Pers. erkrankt und
1035 Pers. gestorben. Als die Armee reducirt wurde, besserte sich
der Gesundheitszustand bedeutend, während freilich, in Folge dieser
Reduction die Krankheit in andere Gegenden verschleppt worden
sein soll.
Um den 19. Juli herrschte die Seuche auch in Brody, nachdem
sie bis jetzt bloss dessen Umgebung heimgesucht hatte.
In Pesth nahm die Epidemie ab.
In Wien blieb die Krankheit in der 3. Woche des Juli mit Aus-
nahme der Vorstadt Wieden auf vereinzelte Fälle beschränkt und in
letzterer machte sie Rückschritte. In den Vorstädten Leopoldstadt
und Landstrasse, wo sie in der vergangenen Woche in einer Art auf-
getreten war, die „den epidemischen Ausbruch“ hatte befürchten
lassen, war sie schon nach 24 Stunden spurlos verschwunden gewe-
sen. Sie hatte sich auch in den Vorstädten Erdberg, Jägerzeile, der
Weissgerbervorstadt gezeigt, aber auch diese gänzlich verlassen und
war dafür in Schottenfeld, Gumpendorf hie und da aufgetaucht. In
der 4. Woche des Juli machte sie keine Fortschritte und auch die
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in der Umgebung Wiens vorkommenden Fälle blieben vereinzelt, aber
_ am 28. Juli brach sie in der Vorstadt Wieden mit neuer Wuth aus.
Im übrigen Niederösterreich waren in mehr als 10 Orten heftige
Erkrankungen vorgekommen, aber mit Ausnahme von Jedenspeigen, wo
zahlreichere Erkrankungen Statt gefunden hatten, dort auch meistens
auf einzelne Häuser beschränkt geblieben.
In Norddeutschland liess die Cholera in der zweiten Hälfte des
Juli an den einen Orten nach, an anderen erhielt sie sich stationär,
an anderen wieder nahm sie zu.
In Magdeburg machte sie keine grossen Fortschritte. Am hef-
tigsten war sie in den Stunden vor und nach dem Gewitter aufge-
treten, das am 16. Juli Statt gehabt hatte.
Um den 27. Juli herrschte die Seuche auch in Graudenz, ebenso
in Thorn, wo sie jedoch schon fünf Wochen früher aufgetreten zu
sein scheint. Am 28. Juli hörte man hier schon nichts mehr von
Erkrankungen, die einen raschen Verlauf und tödtlichen Ausgang
nahmen.
In Danzig waren vom 10. Juni bis 28. Juli 354 Civil - und
143 Militärpersonen erkrankt und 173 Civil- und 65 M.-Personen
gestorben.
In Stettin zählte man bis zum 30. Juli 24 Erkrankungen und
10 Todesfälle, am 31. Juli 68 Erkrankungen und 32 Todesfälle, am
stärksten war die Vorstadt Lastadie heimgesucht.
In Warschau nahm die Seuche um den 17. Juli wieder zu.
In Frankreich rückte die Cholera dem Jura näher.
In Spanien wüthete dieselbe in der zweiten Hälfte des Juli
furchtbar und in weiter Verbreitung fort, und griff in Madrid mehr
um sich. In Barcelona war sie in der Garnison ausgebrochen.
In Portugal hatte sich die Krankheit zu Coimbra gezeigt.
Endlich sollte in diesem Monate auch die Schweiz neuerdings
heimgesucht werden.
Nachdem sie bis zum Jahre 1854 mit Ausnahme des jenseits
der Alpen gelegenen Cantons Tessin von der Cholera verschont ge
blieben war, war letztere im Jahre 1854 endlich auch in dem diesseits
der Alpen gelegenen Theile, und zwar hauptsächlich im Kanton Aargau
(um den 12. Aug. in Aarau) aufgetreten, an welche Epidemie sich dann
noch eine kleine Lokalepidemie in Zürich gereiht hatte, die jedoch so ge-
ringes Aufsehen gemacht hatte, dass mir selbst die näheren Details der Ge-
schichte derselben erst diesen Augenblick durch die Schrift des Hrn. Prof.
Lebert: „Die Cholera in der Schweiz, Frankfurt a. M. 1856“ be-
kannt geworden sind. Diese Epidemie hatte mit einigen eingeschlepp-
=. 99 =
ten Fällen im Anfang des Septembers begonnen, worauf in Zürich
8 Pers. von Cholera und 6 Pers. von Cholerine befallen worden wa-
ren. Ausserhalb des Bezirkes Zürich (im übrigen Theil des Kantons)
waren noch 15 Fälle vorgekommen.
DieSchweiz warnun vonder Seuche verschont geblieben,,bis letztere
am 27. Juli 1855, nachdem sie in dem 2 Stunden von Basel ent-
fernten elsässischen Dorfe Blotzheim aufgetreten war, in dem tief ge-
legenen Birsigthal, das die grosse Stadt Basel durchzieht, (also in
der Stadt Basel selbst) erschien. Sie herrschte nun in Basel bis zum
30. September oder eigentlich bis zum 6. October. — Merkwürdiger
Weise trat im Juli in Bern, das von der Cholera verschont worden
sein soll, die Ruhr auf. Schon gegen das Ende des Juni waren in
der Poliklinik vereinzelte Fälle vorgekommen; gegen die Mitte des
Juli nahmen dann die „sporadischen* Erkrankungen an der Ruhr in
der Stadt allmählig zu. Der eigentliche Ausbruch der Krankheit
„als Epidemie* aber erfolgte allgemein und sehr rasch innerhalb 24
Stunden, so dass gleichzeitig viele Personen in der Stadt aus allen
Ständen und von beiden Geschlechtern, und zwar meistens heftig ergriffen
wurden. Doch wurden vorzüglich die arbeitende Classe, Handwerker
und Dienstboten und auch Kinder von zarterem Alter befallen. Dieser
Ausbruch fand in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli Statt. Die
Epidemie erreichte in der Stadt rasch eine bedeutende Höhe, auf der
sie sich in der letzten Hälfte des Juli, im August und Anfangs
September mehr oder minder erhielt. Im September verlief die Krank-
heit milder; erst im Laufe des Octobers sank die Zahl der Er-
krankungen allmählig, bis die Seuche Mitte October erlosch. Die
Erkrankungen hörten ebenso abrupt von Einem Tage auf den an-
deren auf, wie sie im Anfange der Epidemie aufgetreten waren.
In Alexandrien in Aegypten wüthete die Cholera um den 23.
Juli noch stets fort. Es starben noch täglich im Durchschnitt 30 Pers.
Sie hatte sich auch zu Ramleh und Abukir gezeigt.
In der ersten Hälfte des Aug. scheint die Cholera in den mehr-
erwähnten venetianischen Städten grosse Schwankungen gemacht zu
haben. Im Friaul waren vom 6. Juni bis 1. August 3556 Pers.
erkrankt und 1548 gestorben, in der ‚Stadt Udine waren bis zum 7,
August 1180 Pers. erkrankt und 539 gestorben. Gegen die Mitte
des August gewann die Seuche im Friaul noch grössere Verbreitung.
Bis zum 14. Aug waren 8846 Pers. erkrankt und 2292 gestorben, in
der Stadt Udine waren 1502 Pers. erkrankt und 116 gestorben.
In Mailand machte die Krankheit in dieser Periode bedeutende
Schwankungen, und in Brescia stand um den 5. August die Zahl der
— 383 0 —
Erkrankungen und Todesfälle noch in einem ausserordentlichen Ver-
hältniss zu der damaligen durch die Flucht um ein Dritttheil re-
ducirten Volksmenge.
In Modena trat die Cholera Anfangs Augusts furchtbar auf, noch
heftiger aber in einigen nahe gelegenen Orten.
In Bologna herrschte die Cholera um den 4. August immer noch
in grosser Ausdehnung. Es waren bereits 5 bis 6 Proc. der ebenfalls
durch die Flucht fast um die Hälfte verminderten Volksmenge weg-
gerafft worden. Um den 9. August nahm sie ab.
In Aneona so wie dem übrigen Theil der Marken und längs der
Küsten der Romagna scheint die Seuche um den 9. August dem Er-
löschen nahe gewesen zu sein. Seit dem 25. Juni hatte sie in Stadt
und Gebiet Ancona 1200 Pers. weggerafft.
Rom soll um den 16. August von der Krankheit befreit gewesen
sein; dagegen herrschten jetzt an ihrer Statt die in dieser Jahreszeit
daselbst gewöhnlichen Wechsel- und rheumatischen Fieber.
In Florenz nahm die Cholera Anfangs August zu. Um den 6.
bis 9. August erkrankten hier täglich über 100 Pers. Auch um den
12. August war sie noch immer im Zunehmen begriffen ; der 12. August
war einer der schlimmsten Tage. Während immer noch viele Leute
aus der Stadt flohen, flohen viele andere umgekehrt, um noch grösse-
rem Uebel zu entgehen, aus den umliegenden kleineren Ortschaften in
die Stadt, da in jenen die Seuche mit noch grösserer Wuth herrschte,
als in Florenz selbst.
Auch im übrigen Toscana machte die Epidemie gegen die Mitte
des August immer grössere Fortschritte. In Pisa trat sie zwar noch
gelinde auf (um den 13. August), aber in Livorno, Pistoja, Arezzo ete.
herrschte sie in grösserem Maasse. In Livorno trat sie bedeutend
milder auf, als im vorigen Jahre, und milder, als in Florenz. Auf
dem Lande war es nicht besser, als in den Städten. Selbst mehrere
Gegenden mit vollkommen gesundem Klima in den Apenninen waren,
wie ich schon früher angedeutet habe, heimgesucht worden. Siena
aber scheint, ungeachtet ein früherer Bericht das Gegentheil sagt, doch
um den 6. August noch verschont gewesen zu sein; nicht nur flohen die
Florentiner vorzüglich nach Siena, sondern es wird von einem Bericht-
erstatter auch ausdrücklich versichert, dass Siena noch frei gewesen
sei. Ob Siena die einzige grössere noch verschonte Stadt war, wie unser
Berichterstatter sagt, müssen wir dahingestellt sein lassen; nach einem
späteren Berichte sollte man meinen, es wären auch noch andere Städte,
2. B. Grosseto und Volterra, verschont geblieben, wenn sie etwa nicht
damals (2. Hälfte des August) erst wieder frei geworden waren.
— 384 —
x
Uebrigens waren zu Siena, wie unser Berichterstatter selbst zugibt,
doch einige zweifelhafte Fälle vorgekommen, so dass der scheinbare
Widerspruch zwischen den verschiedenen Berichten verschwindet.
In Lucca herrschte die Cholera fort.
In Sassari auf der Insel Sardinien trat die Seuche in den ersten
Tagen des August mit grosser Heftigkeit auf, ja mit einer Heftigkeit,
die an ihren vorjährigen mörderischen Ueberfall in Palermo und Mes-
sina erinnerte. Am zweiten Tage starben bereits 80 Pers. Um den
6. bis 7. August hatte man nieht mehr Zeit, die Todten zu zählen,
ja nicht einmal mehr, sie alle zu beerdigen. Vom 6. bis 7. August
erkrankten 289 und starben 153 Pers. Um den 11. August starben
täglich über 100 Pers. Auch in den umliegenden Bezirken, nament-
lich Tempio, hauste die Krankheit arg. Um den 16. August hatte sie
in Sassari bereits sehr an Intensität abgenommen, aber doch kamen
noch immer täglich 60 und mehr Erkrankungen und zahlreiche Todes-
fälle vor. Auch der Typhus zeigte sich an einigen Orten.
In Genua nahm die Cholera Anfangs August heftig ab, und in
Turin machte sie auch keine Fortschritte.
Im Trienterkreise dauerte die Seuche fort und zeigte sich An-
fangs August auch in Riva am Gardasee bei den Kaiserjägern, die,
von Como kommend, durch Süd- und Nordtyrol marschirten, und in
dem an Riva grenzenden Gebiete. Vom 10. August an wüthete die
Krankheit in diesen Gegenden furchtbar, doch zeigte die Mortalität unter
dem Militär ein ungemein günstiges Verhältniss.
In Meran war um den 10. August der Gesundheitszustand noch
immer günstig, obgleich ziemlich’ viele Personen an Diarrhoeen litten,
die freilich zu dieser Jahreszeit in Meran gewöhnlich sind und in
anderen Jahren nieht beachtet werden; aber am 5. August begann die
Cholera zu Kurtatsch im Etschkreis aufzutreten.
In Triest hatte die Seuche noch am Ende des vorigen Monates
abgenommen, und bis zum 15. August nahm sie immer mehr ab.
In Rovigno scheinen die anstrengenden Erntearbeiten und das
Dreschen unter der glühenden Sonne, der grosse Nothstand der är-
meren Classe und der Mangel des gewöhnlichen Laksales der arbei-
tenden Classe, des Weines, der Grund gewesen zu sein, dass hier die
ackerbauende Classe mehr mitgenommen wurde, als alle übrigen Classen.
Bis zum 11. August waren ‚im ganzen Istrianerkreis 7781 Pers. er-
krankt und 2520 gestorben.
In 127 Orten des Görzerkreises waren bis zum 3. August 3516
Pers. erkrankt und 1212 gestorben. Am 7. August starben in Görz
6 Pers. Bis zum 10. August waren in Görz (Stadt und Gebiet) 300
— 385 —
Pers. erkrankt und 125 gestorben, und in 184 anderen Orten des
Görzerkreises waren 5740 Pers. erkrankt und 1921 gestorben. Am
10. August starben in Görz 5, am 13. August 13, am 14. August 8,
am 15. August 2, am 16. August 5 Pers.
In Fiume hatte es in den letzten Tagen des Juli — besonders
in der Stadt — nur selten Cholerafälle gegeben. Im Ganzen waren
bis zum 1. August 662 Pers. erkrankt und 282 gestorben. Um den
4. bis 5. August nahm die Seuche ab.
Um den 3. August brach die Cholera in Spalato aus; um den
8. August finden wir sie auf den Inseln Curzola und Brazza. Um
den 5. bis 7. August aber nahm sie nach einem Gewitter, das lange
gedauert hatte, längs der ganzen dalmatinischen Küste an Heftigkeit ab,
und zwar ganz besonders im Gebiete von Spalato.
Um den 4. August finden wir die Cholera auch in Laibach in
Krain; es hatten schon über 200 Erkrankungen Statt gefunden ; doch
überschritt die Krankheit nur in geringem Maasse die Mauern der Mili-
tärspitäler; von einigen Fällen, die im Civil vorgekommen waren,
hatten nur sehr wenige tödtlich geendigt, und um den 13. August
ereigneten sich in Laibach keine Cholerafälle mehr; dagegen stiftete
die Seuche auf dem Lande, und zwar in den verschiedensten und den
gesundesten Gegenden, viel Unheil. Die meisten Erkrankungen und
Sterbefälle kamen bis zum 11. August in den Amtsbezirken Planina,
Wippach, Adelsberg, Gottschee, Ratmannsdorf, Feistritz, Tschernembel
vor. Bis zum 15. August waren in Krain 5732 Pers. erkrankt, 1517
gestorben, und am 15. August blieben 2045 in Behandlung.
In Gräz in Steiermark war um den 7. August der Gesundheits-
zustand sehr gut, daher eine ungeheure Menge von Choleraflüchtigen
aus dem Süden hier eine Zuflucht suchten.
In Lemberg nahm die Cholera in der ersten Hälfte des August
. rasch ab, am 2. August erkrankten noch 228 und starben 94 Pers,,
am 11. August erkrankten 61 und starben 60 Pers. Bis zum 11.
August waren im Ganzen 4716 Pers. erkrankt und 2319 gestorben.
In Ungarn dauerte die Seuche for. Am ungünstigsten war die
Mortalität im Raaber Comitat, am günstigsten im Wessprimer Comitat;
dort waren bis zum 14. August zwei Dritttheile der Erkrankten, hier
war bloss etwa ein Siebentel derselben gestorben.
In Wien war, wie wir gesehen haben, die Cholera in der Vor-
stadt Wieden schon Ende Juli mit erneuter Wuth aufgetreten, und nun
verbreitete sie sich auch schnell in den benachbarten Vorstadtbezirken
und anderen Regionen der Stadt. Von den Vorstädten Mariahilf und
Gumpendorf hatte sich die Krankheit nach den Ortschaften Sechshaus,
— 3856 —
Rustendorf und Braunhirsch u. s. f. verbreitet, in denen eine dicht-
gedrängte, grösstentheils aus Fabrikarbeitern bestehende Bevölkerung
eng beisammen wohnt. In Sechshaus sollen am ersten Tage des
Ausbruches 50 Pers. erkrankt sein. In einem einzigen Hause starben
gleich anfangs 51 Pers. Uebrigens befanden sich nur wenige Leute
in Wien, deren Allgemeinbefinden nicht mehr oder minder gestört war.
Am 7. August erreichte die Seuche in der Vorstadt Wieden ihre Acme.
Was die übrigen Vorstädte betrifft, so war die Krankheit bisher nur in
der Leopoldstadt und Vorstadt Rossau stärker aufgetreten, ohne jedoch
auch nur annähernd den Grad zu erreichen, den sie in der Vorstadt
Wieden erlangt hatte; in den anderen Vorstädten Mariahilf, Landstrasse,
Leimgrube und der inneren Stadt waren nur vereinzelte Fälle vorge-
kommen. Der Mittelpunkt der bisherigen Verheerungen der Cholera
in Wien fiel auf die in gesundester Lage befindlichen und keineswegs
vom Proletariat bewohnten, neue und solid gebaute Häuser enthaltenden
Bezirke der Vorstadt Wieden, vielleicht die gesundesten Bezirke der
ganzen Stadt. Die Heftigkeit, mit der die Epidemie in der Vorstadt
Wieden, in Fünf- und Sechshaus und Gaudenzdorf auftrat, war ausser-
ordentlich; nicht selten tödtete sie innerhalb 2—3 Stunden. Um den
7. August schien sie in der Vorstadt Wieden und den anderen Vor-
städten abnehmen zu wollen, mit Ausnahme der Vorstadt Landstrasse,
die um den 9. August einen kleinen Zuwachs erhielt, und am 11.
August soll die innere Stadt Wien frei gewesen sein, aber gegen den
12. August nahm die Cholera wieder mehr zu, als ab, und namentlich
begann sie sich um den 14. August in der inneren Stadt mehr aus-
zubreiten.
Im übrigen Niederösterreich war um den 11. August noch keine
Abnahme bemerklich; die beiden Ufer des Wienflusses waren vorzüg-
lich der Schauplatz der Seuche.
In Brünn soll die Krankheit noch fortgedauert haben.
Auch österreichisch Schlesien war jetzt von der Cholera heim-
gesucht; sie herrschte im August in den Bezirken Bielitz, Teschen,
Freistadt, Skotschau, Oderberg, Schwarzwasser, Friedeck, Troppau,
Wiegstadtl, Königsberg u. s. f.
In Norddeutschland sehen wir die Krankheit um den 1. August in
Breslau auftreten, ebenso in Dresden.
In Stettin starben vom 3. auf den 4. August 16 Pers., am 11.,
12. und 13. August erkrankten 11 und starben 2 Pers. Bis zum
13. August waren 178 Pers. erkrankt und 80 gestorben; um den
16. August war die Seuche ihrem Erlöschen nahe.
In Danzig erkrankten vom 13. bis 14. August 63 und starben
— 3837 0 —
38 Pers.; vom 14. bis 15. August erkrankten 45 und starben 29 Pers.
Vom 10. Juni bis 15. August waren 1089 Pers. erkrankt und 588
gestorben. Um den 16. August wüthete die Krankheit in Königsberg
und Memel sehr heftig.
In Magdeburg war die Cholera um den 7. August noch in stetem
Zunehmen begriffen. Vom 12. August an aber scheint sie hier ab-
genommen zu haben. Vom 9. Juli bis 11. August waren 561 Pers.
erkrankt und 260 gestorben.
In Frankreich war die Seuche um den 6. August hart an die
Schweizergrenze gerückt. Um den 6. August trat sie in dem fran-
zösischen Theil von Seyssel an der Rhone auf, und um den 15. Aug.
zu Marseille.
In Spanien wüthete die Cholera in der ersten Hälfte des August
fort; um den 1. August nahm sie in Madrid zu, um den 12. breitete
sie sich immer mehr über Spanien aus, und überall trat sie mit un-
gewöhnlicher Heftigkeit auf.
In der Schweiz breitete sich die Epidemie auch auf den Canton
Baselland aus, um diesen Cantonstheil erst Anfangs November wieder
zu verlassen. Sie verbreitete sich zwar über den ganzen fraglichen
Landestheil, in grösserem Maassstabe jedoch nur über 3 Bezirke und
in jedem derselben fast ausschliesslich über 3 Gemeinden, und zwar
zeigte sie sich zuerst in dem am tiefsten und der Stadt zunächst ge-
legenen Bezirke Arlesheim; etwa drei Wochen später brach sie dann
plötzlich im Bezirke Liestal und gleichzeitig in den 2 höchstgelegenen
Berggemeinden Rammlisberg und Selbisberg aus, die von den infieirten
Orten des Bezirkes Arlesheim etwa 4 Stunden entfernt sind. Wieder
3 Wochen später, ebenso plötzlich, erschien die Seuche in Liestal.
Gegen das Ende des Septembers endlich stellte sie sich im Bezirke
Sissach ein, zuerst in der Gemeinde Zunsgen, zuletzt in Rümlingen
. und Buckten, Gemeinden, die ebenfalls ziemlich hoch, aber in einem
durch den Hauenstein abgeschlossenen Thale liegen. Wer sich für
den weiteren Detail dieser Epidemie, so wie überhaupt der Cholera-
epidemien in der Schweiz interessirt, lese die oben angeführte Schrift
von Lebert und die übrigen dort angeführten Abhandlungen.
In der zweiten Hälfte des August erlosch die Cholera in den
Venetianischen Städten allmälig, und auch im Friaul nahm sie ab.
Bis zum 21. August waren im Friaul 10,485 Pers. eıkrankt und
4882 gestorben.
In Mailand scheint sie mehr zu- als abgenommen zu haben; doch
machte sie hier wenig Aufsehen; immerhin aber hatten die ersten
Fälle denselben raschen Verlauf, dieselbe Büsartigkeit gezeigt,
— 38383 0 —
wie beim Beginne der Epidemieen in Lemberg, Wien, Triest ete.
In Mailand behauptete sich die Seuche mehr unter der niedrigsten
Volksklasse, die sich dem unmässigen Genusse der Melonen und des
unreifen Obstes hingab. Unter der Garnison herrschte Ende August
ein befriedigender Gesundheitszustand. Sonst war die Epidemie in der
Lombardei mit Ausnahme von Brescia und Bergamo, auf welche Städte
ein Dritttheil der Erkrankungen fiel, mild aufgetreten. In Bergamo
hatte die Krankheit schon um den 18. August bedeutend nachgelassen.
Im Grossherzogthum Toscana wüthete die Seuche allenthalben
fort. Mit Ausnahme der Städte Grosseto und Volterra soll um den
18. August dieses Land in seiner ganzen Ausdehnung ergriffen ge-
wesen sein. Um den 22. August schien die Krankheit in Florenz ab-
nehmen zu wollen, während bisher immer Schwankungen stattgefunden
hatten. Man wollte beobachtet haben, dass jedesmal nach einer grossen
Procession die Erkrankungen zugenommen haben. Ganz entschieden
aber nahm die Cholera dann in den folgenden Tagen bis zum 28.
August ab, namentlich unter den unbemittelten Leuten, die in den
Spitälern behandelt wurden; unter den wohlhabenden Classen jedoch
kam am 28. August noch eine ziemliche Zahl von Erkrankungen vor.
In Livorno nahm die Epidemie um den 24. August ab, ebenso
gleichzeitig im Herzogthum Modena.
Im Kirchenstaate war die Seuche um den 23. August theils
gänzlich abgelaufen, theils ihrem Ende nahe. In Bologna waren bis
zum 17. August 2990 Pers. gestorben.
Um den 22. August grassirte die Cholera auch durch das flache
Land von Sicilien.
Auf der Insel Sardinien griff sie um den 18. August auf dem
Lande furchtbar um sich. In Sassari erkrankten am 19. August noch
41 und starben 63 Pers., am 21. August erkrankten 30 und am 22.
starben 29 Pers. Bis zum 18. August waren in Sassari 4325 Pers.
gestorben. Auf dem festen Lande von Sardinien verlief die Seuche
in der zweiten Hälfte des August ziemlich gemessen. — In Genua
kamen um den 24. August täglich 30 Erkrankungen vor.
Wann die Krankheit im Tessin ausbrach, weiss ich nicht; jedenfalls
scheinen nach einem Nachlasse zwischen 22. und 29. August eine
ziemliche Zahl von Erkrankungen Statt gefunden zu haben, namentlich
in Ligornetto, Stabbio, auch in Lugano.
Mittlerweile hatte sich die Cholera auch im deutschen Südtyrol
weiter ausgebreitet und zwar hatte sie ausser den früher schon er-
wähnten Ortschaften Neumarkt und Kurtatsch namentlich Salurn, Kur-
tinig, Margreid, Montan, Auer, Branzoll im Etschkreis ergriffen.
— 3859 —
In Bozen hingegen wollte die Epidemie nicht Wurzel fassen, ob-
gleich sie hier eingeschleppt worden war; bis zum 24. August kamen
hier bloss 2 Fälle vor, der eingeschleppte und einer, der einen Mann
betraf, der im Spital neben dem ersteren gelegen hätte. Erst am 27.
und 30. August erkrankten wieder 2 Personen.
Im Trienterkreise nahm die Seuche um den 27. August bedeu-
tend ab; doch scheint sie in einigen Dörfern auch um den 31. August
noch grob gehaust zu haben.
Im Kreise Roveredo hatte sich die Krankheit weiter ausgebreitet
_ und dauerte noch an; an manchen Orten muss sie ziemlich stark ge-
herrscht haben. ?
' In Triest blieb sie vom 17. bis 29. August ziemlich stationär.
In Görz starben am 21. August 3, am 23. 2, am 24. 2, am
26. 3, am 27. 2 Pers.; in 217 anderen Orten des Görzerkreises waren
bis zum 18. August 7995 Pers. erkrankt und 2660 gestorben.
In Zeng erkrankten vom 14. bis 13. August 7 und starben 6
Pers. Gegen die Mitte des Augusts hatte die Seuche hier an Inten-
‚sität zugenommen.
In Zara waren bis zum 21. August 94 Pers. erkrankt und 52
gestorben; im Ganzen waren bis zum 26. nur vereinzelte Fälle vor-
gekommen.
In Ungarn dauerte die Epidemie an. In Pesth starben im August
354 Civil- und 108 Militärpersonen.
In Lemberg erkrankten am 19. August 52, am 21. 43, am 22.
4, am 23. 23, am 24. 14, am 25. 11 Pers. Bis zum 25. waren
446 Pers. erkrankt und 2731 gestorben. Im Ganzen hatte die
irankheit in Galizien überhaupt und auch in Lemberg schon um den
- August nachgelassen.
In Warschau wollte sie noch nicht weichen und hatte sich auch
‚allen übrigen Städten Polens verheerend gezeigt. Auf dem platten
ande hörte man weniger von ihr.
_ In Wien nahm die Epidemie bis zum 18. August an Ausdehnung
, nicht aber an Intensität. Die Vorstadt Wieden war noch um den
3. immer die am stärksten heimgesuchte Vorstadt, an sie reihte sich
ie Leopoldstadt und die Vorstadt Landstrasse. In den Ortschaften
a Wien hatte die Intensität, nicht aber die Extensität abgenommen.
‘den 22. nahm die Seuche in der Vorstadt Wieden entschieden
; um den 25. waren die Josefstadt und die Alservorstadt mit
snahme von Wieden die am meisten heimgesuchten Vorstädte; die
‚pidemie war jetzt im Begriffe, den Kreis der Vorstädte rings um die
here Stadt zu schliessen.
> Wissenschnftliche Monatsschrift, 25
— 390 —
Was das übrige Niederösterreich betrifft, so hatte sich die Seuche
Anfangs der zweiten Hälfte des Augusts fast über das ganze Land
verbreitet. In einigen Orten hatte sie 12 Proc. ergriffen und 8 Proe.
getödtet. Fast kein Ort in der Provinz war verschont geblieben. Um
den 25. August nahm die Seuche noch nicht ab. Laa, Zistersdorf,
Herrenbaumgarten lieferten u. Andern die auffallendsten Zahlen. Vom
Anfang der Epidemie bis 1. September waren in Niederösterreich 8520
Pers. erkrankt und 2927 gestorben. In Oberösterreich hatte sich die
Cholera in Linz, Urfahr, Ottersheim, Kleinmünchen, Ebelsberg, Traun,
Lambach u. s. f. gezeigt.
Steiermark war noch frei bis auf die Badeorte Rohitsch u. Tüffer.
In Dresden sollen bis zum 17. August nur 2 Fälle vorgekommen
sein, die 2 auf einem Elbkahne von Magdeburg gekommene und be-
reits krank von dort abgereiste Personen betroffen haben sollen.
In Magdeburg waren vom 9. Juli bis 19. August 755 Pers. er-
krankt und 357 gestorben.
In Breslau machte die Seuche vom 15. bis 28. August rapide
Fortschritte. Sie herrschte auch in Liegnitz, Glatz, Ratibor.
In Stettin erkrankten am 8. August 7 und starben 3 Pers.
In Danzig hatte die Krankheit um den 18. August einen beunruhi-
genden Character angenommen und Berichte aus Memel und Königs-
berg lauteten nicht minder düster. Um den 29. August soll die
Cholera in Bromberg ausgebrochen sein.
In Madrid soll die Seuche um den 23. August abgenommen
haben. j
In französisch Seyssel waren bis zum 24. August von 1400 Einw.
140 erkrankt und 24 gestorben, vom 10. bis 30. waren 50 erkrankt,
vom 6. bis 31. 62 gestorben. Dem Ausbruche der Epidemie war
ein Nebel vorangegangen, der etwa 20 Tage angehalten und stark
nach Kohlensäure gerochen haben soll, und unter dessen Einfluss fast
alle Schwalben aus der Umgegend verschwunden sein sollen. Die
Krankheit hatte zuerst die Eisenbahnarbeiter ergriffen. Erst um den
31. August scheint auch der savoyische Theil des Ortes befallen
worden zu sein.
In Marseille starben um den 27. August täglich 11 bis 12 Pers.
an der Cholera.
In Paris hatte man am 28. August im Militärhospitale Grand-
eaillou schon mehr als 100 Cholerafälle gehabt. Bis jetzt waren in
Paris vorzüglich die Truppen, namentlich die Keole militaire und die
Gardeeuirassiere ergriffen worden.
Am 23. August brach die Seuche in Genf aus, wo sie dann 2
Monate dauerte. Im Ganzen erkrankten hier 92 und starben 50 Pers.
Fü,
ze mM--
|
Auf die Stadt und die Vorstädte kamen 73 Erkrankungen und 36
Todesfälle. Im übrigen Theil des Kantons kamen 19 Erkrankun-
gen vor.
Endlich entwickelte sich in dieser Periode auch in Zürich und
dessen Umgebung eine kleine’ Epidemie. Bereits am 12. und 13.
August waren zwei Fremde in zwei Gasthöfen erkrankt. Am 17.
und 19. zeigten sich dann zwei Fälle in der Stadt, von denen der
eine mit dem Tode endigte. Jetzt trat eine Pause ein. Aber am 29.
kam in der oberhalb der Stadt am Zürichberge gelegenen Gemeinde
Fluntern ein Fall vor, so wie fast gleichzeitig in der nordöstlich von
der Stadt, aber ebenfalls höher als die Stadt liegenden Gemeinde
Unterstrass. Am 31. zeigte sich die Seuche in der östlich und über
der Stadt gelegenen Versorgungsanstalt für arme alte Stadtbürger, die
jedoch ungemein sauber und reinlich, fast elegant eingerichtet ist,
dann wieder in Fluntern im neuen Krankenhause, das mit der vorhin
erwähnten Versorgungsanstalt auf der gleichen Hochebene liegt, und
in dem im älteren und niedrigsten Theile der Stadt nicht hoch über
dem Limmatniveau gelegenen und zum Theil zwischen engen Gassen
eingeschlossenen alten Spital, das grösstentheils als Versorgungsanstalt
für arme unheilbare Kranke, namentlich Geisteskranke dient, und in
dem sich ausserdem die Gebäranstalt und die schlecht gelegene kleine
Irrenheilanstalt befinden. Die Epidemie dauerte bis zum 31. October.
Die Intensität war weit geringer, als sie im Jahre 1854 in Aarau
gewesen war, und auch weit geringer als in Basel-Stadt und Basel-Land.
Im Ganzen erkrankten von einer Bevölkerung von etwa.35,000 Einw.
215 und starben 114 Pers. Mit Ausnahme von ein paar Fällen, die
in entfernteren Gemeinden des Kantons vorkamen (einer etwa 1/5, ein
anderer etwa 5—6 Stunden von der Stadt), eoncentrirte sich die Epi-
demie auf Zürich und dessen nächste Umgebung, d. h. Orte, die in
Wien als Vorstädte betrachtet würden. Die höheren Stände blieben
‚von der eigentlichen Cholera, der entwiekelten Cholera, gänzlich ver-
‚schont, doch kamen bei solchen Diarrhoen und Cholerinen vor, und
bei Manchen war, wie in Wien, wenigstens das Allgemeinbefinden
gestört. Auf jene städtische Versorgungsanstalt fielen 6 Erkrankungen
und 5 Todesfälle, auf das alte Spital mit Einschluss der Gebäranstalt
(5 Fälle) 47 Erkrankungen und 34 Todesfälle. Man kann sagen,
_ dass sich unsere Epidemie im Wesentlichen in eine Anzahl Local-
_ epidemien auflösen lässt, eine in Fluntern (mit Einschluss des neuen
"Kranken- und des Absonderungshauses), eine in Unterstrass, eine im
sogenannten Niederdorf und dessen Umgegend, zu der auch das alte
\ Spital gehört, eine in der städtischen Versorgungsanstalt und zwei
‚N;
4
— 392 —
ganz beschränkte in Riesbach und Enge. Auffallend war die fast
ausschliessliche Concentration auf den östlichen Stadttheil und die
diesen einschliessenden Umgebungen, während der freilich weitläufiger
gebaute und grösstentheils von wohlhabenden, zum Theil reichen Leuten
bewohnte westliche Stadttheil fast ganz verschont blieb, um so auf-
fallender, da jene auf der östlichen Seite der Limmat gelegenen Um-
gebungen Zürichs, welche die Seuche nieht wenig heimsuchte, eine so
hohe, anscheinend wenigstens so gesunde Lage haben. *)
Nähere Details findet man in Herrn Prof. Lebert’s oben eitirter
Schrift und dem in dem Jahresberichte der Medieinaldireetion des
Cantons Zürich für 1855 enthaltenen ausgezeichneten Speeialberichte
des hiesigen Bezirksarztes, Herrn Dr. Schrämmlin. **)
In der ersten Hälfte des Septembers kamen in Padua noch einige
Todesfälle vor; sonst war jetzt die Cholera in den venetianischen
Städten grösstentheils erloschen. Im Friaul waren vom 6. Juni bis
4. September 13,156 Pers. erkrankt und 6024 gestorben; am 4. Sep-
tember blieben 1706 P. in Behandlung. Im Ganzen waren bis Mitte
September im Gubernialbezirk Venedig 23,000 Pers. erkrankt und
ungefähr die Hälfte davon gestorben.
In Mailand dagegen hatte die Seuche in den letzten Tagen des
Augusts einen beunruhigenden Character angenommen; es erkrankten
jetzt täglich zwischen 30 und 40 Pers., von denen ungefähr die Hälfte
starb. Am 10. September starben 46, am 11. 37, am 16. 22 Pers.
Blosse Passanten, die nur 4 bis 5 Stunden sich in Mailand aufhielten,
fielen jetzt der Seuche zum Opfer. Auch unter dem Militär hatte seit
der Rückkunft einiger Truppenkörper aus dem Lager von Somma die
Krankheit stark um sich gegriffen, und doch hatten die Truppen während
der dreimonatlichen Cantonirung in Somma nur 3 Erkrankungen an Cholera
gehabt. Die Cholera war übrigens in Mailand viel früher ausgebrochen,
als in Somma, wo sie unter den Einwohnern ziemlich heftig aufgetreten war.
Ueber den Verlauf der Epidemie in dem übrigen Theil der Lombardei
im September erfahren wir mit Ausnahme Pavia’s fast nichts. Bis 3.
September waren in der Lombardei 46,480 Pers. erkrankt und 22,987
gestorben. In Behandlung blieben am 3. September 36,140 Personen.
Am verheerendsten war sie in der Provinz Brescia aufgetreten. In
Pavia soll die Seuche erst um den 2. September ausgebrochen sein.
*) S. die Höhenangaben am Schlusse.
#*) Ich habe mich jedoch hier an Lebert’s Bericht halten müssen, da bei
Abfassung dieser Arbeit der Bericht von Sehrämmlin noch nicht in meinen
Händen lag.
— 39 —
In Turin waren bis Anfang September immer nur vereinzelte
Fälle vorgekommen. In Genua litten um .den 7. September noch
mehrere Soldaten von der Garnison an der Cholera. Am 16, September
erkrankten in Genua noch 14 und starben 6 Pers. Am 8. September
löste man hier die Choleracommissionen auf.
Um den 3. Sept. brach die Cholera in Nizza aus. — Im Ganzen
scheint dieselbe dieses Jahr auf dem Festlande Sardiniens verhältniss-
mässig milde aufgetreten zu sein.
In Sassari war sie um den 7. September erloschen, dagegen
wüthete sie in der Provinz fort, so namentlich in Alghero, Ozieri,
Oschiri u. s. w.
In Rom scheint die Cholera um den 1. September aufs Neue
ausgebrochen zu sein und bis zum 14. zugenommen zu haben. Sie
herrschte fast durchgängig unter den Bewohnern des armen und,
schmutzigen Stadtbezirkes Travestere.
In Florenz nahm die Seuche um den 6. September ab, aber am
7. und 8. stieg die Zahl der Erkrankungen wieder so hoch, wie sie
in der schlimmsten Zeit gestanden hatte.
In Pisa waren bis zum 15. September nur wenige vereinzelte
Fälle vorgekommen.
In Parma wüthete die Seuche um den 6. September noch arg.
Im Trienterkreise grassirte sie anfangs September furchtbar. Bis
9. Sept. waren 10,445 Pers. erkrankt und 4494 gestorben.
Im Etschkreise waren vom 26. August bis 1. Sept. 200 Pers.
erkrankt und 27 gestorben. In der Stadt Bozen waren bis zum 3.
September keine neuen Erkrankungen vorgekommen. Vom 1. bis 8.
September erkrankten im Etschkreise 217 und starben 55 Pers. Auf
dem rechten Ufer der Etsch trat die Krankheit um den 8. Sept. noch
immer verheerend auf, während sie dagegen auf dem linken merklich
'abnahm. Seit dem Beginn der Epidemie waren 650 Pers. erkrankt
und 149 gestorben. Vom 11. bis 14. Sept. erkrankten 26 und starben
7 Pers. In Kurtatsch, Margreid, Branzoll, Tramin u. s. w. war die
Seuche um den 14. Sept. im Erlöschen begriffen. Von einer Fort-
setzung der Epidemie gegen Meran oder den Brenner hin war nichts
zu bemerken.
Im Istrianerkreis waren mit Einschluss der Quameroinseln bis
1. Sept. 13,336 Pers. erkrankt und 4330 gestorben.
In Triest starben am 1. Sept. 10, am 2. 13, am 3. 15, am 4.
14, am 5. 6, am 12. 4, am 13. 4 Pers. Im Gebiet von Triest waren
bis 7. Sept. 3736 Pers. erkrankt und 1473 gestorben.
In Görz starben am 8.Sept. 1, am 9. 2 Pers. Bis zum 5. Sept.
— 39 —
waren 471 Pers. erkrankt und 216 gestorben; in anderen 264 Orten
des Görzerkreises waren bis zum 5. Sept. 6964 Pers. erkrankt und
4069 gestorben.
In Dalmatien waren Anfangs September einzelne Orte, wie Spa-
lato, wo im Ganzen bis zum 3. Sept. 241 Pers. erkrankt und 116
gestorben waren, ferner Citta Vecchia auf der Insel Lesina und andere
stark heimgesucht; im Ganzen aber hatte sich die Seuche in diesem
Kronlande nicht sehr ausgebreitet und selbst in den volkreicheren
Orten wenige Verheerungen angerichtet. Namentlich war Zara günstig
weggekommen. Um den 1. September erschien die Cholera in Ragusa.
In Krain waren bis zum 3. Sept. 12,272 Pers. erkrankt und
3402 gestorben. In Behandlung blieben 2689 P. — In Laibach
waren 306 Pers. erkrankt und 95 gestorben. Um den 4. September
‚brach die Seuche auch in Kärnthen aus. In Ferlach und den benach-
barten Orten waren in der ersten Woche des Septembers an 200 Pers.
erkrankt und 18 Proc. davon gestorben.
In einigen Orten in Ungarn wüthete die Cholera Anfangs Sept.
noch arg fort, in Komorn hatten um den 3. Sept. ihre Verheerungen
aufgehört, in Pesth erkrankten vom 6. bis 12. Sept. 62 und starben
39 Pers., und zwar von letzteren die meisten im Choleraspital.
In Lemberg erkrankten in den ersten Tagen des Sept. zwischen
3 und 12 Pers. Bis zum 8. waren 5575 Pers. erkrankt und 2825
gestorben.
In Wien erkrankten am 1. Sept. 112 und starben 49 Pers. —
Etwa um den Schluss der ersten Woche des Septembers griff die Seuche
in der Vorstadt Landstrasse und besonders in der Leopoldstadt be-
deutend um sich. Vom 1. bis 8. Sept. waren in Wien und dessen
Vorstädten 775 Pers. erkrankt und 318 gestorben, und seit dem Be-
ginne der Epidemie waren 4350 Pers. erkrankt und 1835 gestorben.
In Linz starben am 3. Sept. 15 Pers. Seit dem Beginne der
Epidemie waren hier bis zum 3. Sept. 675 Pers. erkrankt und 321
gestorben. Vom 7. bis 8. erkrankten 15 und starben 7 Pers.
In Oesterreichisch Schlesien waren bis 1. Sept. 2712 Pers. erkrankt
und 1164 gestorben.
Anfangs September spuckte die Seuche auch wieder in Prag; es
starben hier jetzt täglich 10 bis 15 Pers. an „Durchfall“; auch einige
Personen aus den besseren Ständen fielen diesem „Durchfall“ zum Opfer.
In Preussisch Schlesien dauerte die Krankheit im September fort.
Am stärksten waren die Kreise Beuthen, Kosel, Falkenberg, Lublinitz,
Neisse, Neustadt, Oppeln, Pless, Ratibor heimgesucht. — Aber am
stärksten in ganz Preussen war Anfangs Sept. Breslau heimgesucht.
— 359 —
In Berlin erkrankten vom 10. bis 11. Sept. 34 Pers. Bis zum
11. waren 896 Pers. erkrankt und 546 gestorben. In Behandlung
blieben 22 Pers. Bis 15. Sept. waren 1043 Pers. erkrankt und 643
j gestorben.
Um den 4. Sept. wurde die Seuche auch nach Köln am Rhein
_ eingeschleppt und zwar durch einen holländischen Matrosen, worauf
_ bis zum 11. Sept. 4 Einw. dieser Stadt an der Cholera starben.
In Paris schien die Cholera in der ersten Woche des September
wenig um sich zu greifen; um den 10. aber machte sie grosse Fort-
_ schritte.
Mittlerweile hatte sie auch im Öberelsass ziemlich arg gehaust,
namentlich in Sulzmatt.
In Marseille dauerte die Cholera fort. Um den 7. Sept. starben
täglich 15—20 Pers.
In Seyssel nahm die Seuche um den 16. September ab.
Dagegen herrschte sie um den 11. in Belgien, namentlich in
Lüttich bösartig.
In der zweiten Hälfte des Sept. finden wir auf venetianischem
Boden die Cholera noch in Padua, wo um den 17. Sept. täglich
10—12 Pers. erkrankten. Wenn in Venedig noch einzelne Fälle
vorkamen, so beschränkten sie sich doch fast nur auf solche Personen,
die aus der Provinz oder den Küstenstädten des Friauls gekommen
und in der Regel schon auf der Reise erkrankt waren. — Das Gebiet
von Udine war um den 17. Sept. noch in erheblicher Weise heim-
gesucht. In Udine selbst aber erkrankten nur noch 5—6 Personen
täglich.
In dem grössten Theile der Lombardei ging die Seuche Anfangs
der zweiten Hälfte des Septembers ihrem Erlöschen entgegen, doch
erkrankten in Bergamo um den 17. September noch 10 bis 12 Pers.,
in Mailand 30 bis 50 Pers. täglich. In Brescia kamen nur noch
vereinzelte Fälle vor. In der ganzen Lombardei erkrankten noch
900 bis 1000 Pers. täglich.
In Rom dauerte die Cholera fort. Um den 20. September star-
ben täglich 28 bis 35 Pers. Genesungen waren verhältnissmässig
selten. Die Erkrankungen beschränkten sich fast blos auf die niede-
ren Volksklassen, auf arme, unregelmässig lebende Psrsonen. Die
Seuche beunruhigte übrigens die Römer jetzt wenig. Ein grosses
Uebel war der hohe Preis des Weines, der auch hier der ärme-
ren Classe ein nothwendiges Bedürfniss ist, wenn die grobe Nah-
rung nicht Verdauungsstörungen erzeugen soll.
Im Trienterkreise fanden in dieser Periode (um den 17. Sept.)
— 596 —
an manchen Tagen an 500 Erkrankungen Statt. Bis zum 19. Sept.
waren 13,055 Pers. erkrankt und 5553 Pers. gestorben.
Um den 17. Sept. sollen auch in Innsbruck vereinzelte Cholera-
fälle vorgekommen sein.
In Kärnthen waren bis zum 17. September nur Ferlach und die
benachbarten Orte ergriffen worden. In Görz und Capodistria er-
krankten um den 17. Sept. 3 bis 4 Pers. täglich.
In Triest erkrankten vom 17. bis 18. Sept. mit Einschluss des
Gebietes 16 Pers. und starben 4 Pers.
In Zara erkrankten um den 17. Sept. durehschnittlich 3 bis 4
Pers. täglich, in Ragusa waren bis jetzt nur vereinzelte Fälle vor-
gekommen.
In Fiume, Zeng und den übrigen croatischen Seehäfen kamen
um den 23. Sept. noch immer Erkrankungen vor.
In Croatien breitete sich die Cholera um den 23. Sept. immer
mehr im Innern aus. Im Militairgrenzland, namentlich dem Bezirk
des Likkaner-, des Öttochanerregimentes, des Ogulinerregimentes (alle
in der Karlstädtergrenze) tödtete sie in den meisten Orten fast ein
Fünftheil der Bevölkerung. Dagegen waren in der sonst nicht zu
den gesundesten Orten gehörenden Festung Karlstadt bis zum 23.
Sept. nur wenige Todesfälle vorgekommen.
In Pesth waren bis Ende Septembers 3496 Pers. erkrankt und
1828 Pers. gestorben *). In Ofen sollen nach dem 14. Sept. keine
Erkrankungen mehr vorgekommen sein.
In Wien hatte bis zum 17. Sept. die Zahl der Erkrankungen
zugenommen. Am meisten litt jetzt die innere Stadt. In der Vor-
stadt Wieden war die Seuche in der letzten Zeit ebenfalls neu auf-
geflammt und die Alservorstadt, Josefsstadt und Schottenfeld reihten
sich den gesammten Bezirken an. Um den 23. Sept. nahm die Seuche
in der Hauptstadt in- und extensiv ab.
In der inneren Stadt kamen jetzt nur noch vereinzelte Fälle
vor, Unter den Vorstädten zählte der Wiedenerpolizeibezirk in sei-
nem oberen, der Linie nahe gelegenen Theile noch immer zu den am
stärksten ergriffenen Gegenden, Gumpendorf und die Alservorstadt
schlossen sich ihm an, obschon hier das Verhältniss günstiger war.
In der Umgebung Wiens nahm die Seuche um den 23. September
unter Schwankungen ab. Seit dem 28. Mai waren in Wien 5746
Pers. erkrankt und 2474 Pers. gestorben.
Auf dem flachen Lande Niederösterreichs breitete sich die Cholera
*) Die Epidemie hatte aber schon im October 1854 begonnen.
— 317 —
immer weiter aus, trat aber nicht mehr so verheerend auf. Einzelne
Orte hatten sehr stark gelitten.
In Linz nahm die Krankheit um den 17. Sept. entschieden ab,
ebenso in Urfahr und Kleinmünchen. Im übrigen Oberösterreich
aber, namentlich in Traun, Wels, Gmünden, war sie noch sehr ver-
breitet.
In Deutschland sehen wir um den 23. Sept. die Cholera in Er-
furt noch im bedauerlichem Grade wüthen. Auch in Berlin behaup-
tete sie sich ungeachtet nicht unbedeutender Schwankungen noch im-
_ mer. In Süddeutschland soll sieh die Seuche hie und da an der
südlichen Grenze des Grossherzogthums Baden gezeigt haben.
Um den 30. Sept. begann sie in Amsterdam, Blockzijl, Almelo
zu herrschen.
In französisch Seyssel waren vom 6. August bis 19. September
100 Personen gestorben.
In Marseille starben um den 18. Sept. täglich 30 bis 40 Pers.
In den meisten Fällen verlief die Krankheit sehr rasch. Auch im
Dept. du Var, besonders in Dragüignan hatte die Seuche geherrscht,
sie war aber hier um den 13. September im Erlöschen.
In Madrid erkrankten um den 30. Sept. 52 Pers. und starben
30 Pers. täglich, die höchsten Zahlen seit dem Beginne der Epidemie.
In Alexandrien in Egypten war die Cholera um den 21. Sept.
erloschen.
Was endlich die Schweiz betrifft, so habe ich die Verbreitung
der Cholera in dem Kanton Genf, den beiden Kantonen Basel und dem
Kanton Zürich, beziehungsweise der Stadt Zürich und ihren Umge-
bungen, schon früher im Zusammenhange geschildert. Mit Ende August
_ begann die Krankheit sich nun auch im Kanton St. Gallen zu zeigen.
Schon vor dem Jahre 1855 sollen im Kanton St. Gallen häufig
Fälle von „Cholerine“ vorgekommen sein. In welchem Verhältnisse
dieselben zur „asiatischen Cholera“ gestanden hatten, müssen wir da-
hingestellt lassen. Jedenfalls waren im Jahre 1854 Fälle vorgekom-
men, die lebhaft an asiatische Cholera erinnert hatten. So hatten sich
im Bezirke Sargans Fälle ereignet, die stürmisch aufgetreten waren,
und zuweilen hatte man auch Krämpfe in den Extremitäten beobachtet.
Im Bezirk Tablat war die „Cholerine* von Ende Juli bis in den
- October epidemisch verbreitet gewesen und hatte drei Mal den Tod
herbeigeführt. Im Bezirke Rorschach waren „Brechdurchfälle“ leich-
teren Grades vorgekommen. Im Seebezirk sollten 22 Individuen an
„Cholerine* gestorben sein. Im Obertoggenburg war sie vom Sep-
tember bis November häufig vorgekommen. In Wattwyl hatte sich
— 393 —
ein Fall ereignet, der sich kaum von eigentlicher Cholera unterschieden
und schnell mit dem Tode geendigt hatte. Auch in Untertoggenburg
waren im dritten Quartal des Jahres 1854 Fälle vorgekommen, die
nach Erscheinungen und Verlauf grosse Aehnlichkeit mit der asiatischen
Cholera gehabt hatten, aber nur bei einigen wenigen Kindern lebens-
gefährlich geworden waren, während die später ganze Familien heim-
suchende „Cholerine“ sich meist gutartig gezeigt hatte. Auch im
Bezirk Wyl waren 2 sehr verdächtige Fälle vorgekommen, und end-
lich hatten sich auch im Bezirk Gossau in den letzten Monaten des
Jahres choleraähnliche Fälle gezeigt.
Im Jahr 1855 ereignete sieh der erste verdächtige Fall Mitte
August in Frümsen; am Ende des Monats kamen 2 Fälle von ächter
asiatischer Cholera in der Stadt St. Gallen vor, die beide durch Rei-
sende eingeschleppt worden waren. Am 5. September starb in Neu-
dorf, Gemeinde Tablat, ein Steinbrecher an verdächtigen Erscheinungen ;
bei der Section zeigten sich jedoch keine Erscheinungen, die die An-
nahme von asiatischer Cholera gerechtfertigt hätten, aber am selben
Tage starb im selben Hause in Neudorf ein Knabe, am 9. September
dessen Mutter, am 10. deren achtwöchiges Kind, am 11. in einem
Hause am Bach bei Buchenthal in derselben Gemeinde ein Eisenbahn-
arbeiter, am 8. Sept. ein Mann in Oberried unter sehr verdächtigen
Umständen schnell dahin; bei dem Manne in Oberried konnte über
die Natur der Krankheit gar kein Zweifel obwalten. Am 16. starb
in dem schon erwähnten Hause in Neudorf eine Fabrikarbeiterin un-
zweifelhaft an asiatischer Cholera, ein Knabe folgte ihr am Cholera-
typbus. Am selben Tage starb in dem ebenfalls schon erwähnten
Hause in Buchenthal ein Eisenbahnarbeiter an der Cholera; am 25.
starb in Neudorf in einem dem früher erwähnten gegenüberliegenden
Hause ein Eisenbahnarbeiter am Choleratyphus, am 25. ein von Tab-
lat nach Mörschwyl Gebrachter an der Cholera. Ende September
wich die Krankheit; zwar kam noch im November im Toggenburg ein
Cholerafall vor; er blieb jedoch vereinzelt. Im Ganzen hatte die
Cholera etwa 14 Opfer gekostet.
So sind wir am Schlusse des Septembers angekommen und können
nun, da sich die Epidemie von nun auf immer engere Grenzen zu-
rückzog, füglich die 3 letzten Monate dieses Jahres, das der Ver-
breitung der Weltseuche so ausserordentlich günstig war, in der Be-
trachtung zusammenfassen. Man muss aber nieht glauben, dass diese
Periode bloss das Grab unserer Epidemie worden sei, im Gegentheil,
sie sah auch noch die Krankheit in längere Zeit verschont gebliebenen
Gegenden, Holland und Scandinavien, in ihrer Blüthe stehen, und in dieser
2
12
[Z
— 399 0 —
Beziehung erinnert uns diese Epidemie lebhaft an den englischen Schweiss,
der im Jahre 1529, wie im Jahre 1855 die Cholera, erst ganz zu-
letzt in Holland und Scandinavien ausbrach.
In Italien erlosch die Cholera in der ersten Hälfte des Octobers
allmälig. Schon um den 10. October war ihre Heftigkeit in Rom
gebrochen. An manchen Tagen soll sie verheerend gewüthet haben.
Sie verschwand aber von nun an allmälig in der heiligen Stadt und
schlich nur noch in kleineren Orten Latiums herum. Zwischen dem
7. und 10. October kam noch ein Cholerafall in Rom vor, im Hos-
pital aber waren noch aus der Campagna eingebrachte Arbeiter in
Behandlung. Um den 24. October jedoch erwachte die Seuche in
dieser Stadt aufs Neue; wie es weiter mit ihr gegangen ist, lıabe
ich nieht erfahren könuen; doch ist so viel gewiss, dass sie am 6.
November noch nicht erloschen war. Um den 15. October wüthete
sie in Tivoli unbarmherzig.
In Pisa begann die Cholera um den 5. October mit grösster
Heftigkeit zu wüthen, nachdem sie während der vielen Monate, wäh-
rend deren sie über das ganze Grossherzogthum verbreitet gewesen
war, in dieser Stadt höchstens nur in vereinzelten Fällen aufgetreten
war. Selbst die höheren Stände wurden nicht verschont. Um den
18. October war die Epidemie hier wieder erloschen.
In Florenz nahm die Epidemie Anfangs October ab. Um den
16. October kamen zu Stadt und Land noch vereinzelte Fälle vor.
Um den 1. November hielt man in Florenz den Danksagungsgottes-
dienst für das Erlöschen der Seuche. Auch in Livomo ging sie um
den 6. October ihrem Erlöschen entgegen. Doch kamen in kleineren,
früher verschont gebliebenen Orten immer noch einige Fälle vor. —
In ganz Toscana waren bis zum 1. November 50,000 bis 55,000
Pers. erkrankt und etwa 60 Proc. gestorben.
In Genua soll die Seuche um den 8. October erloschen sein;
doch kamen um den 15. October noch immer Fälle vor, besonders
hatten unter den Truppen, die aus verschiedenen Gegenden des Kö-
nigreiches zur Einschiffung nach dem Orient angekommen waren, meh-
rere Todesfälle Statt gefunden.
Auf der Insel Sardinien starben um den 27. October noch im-
mer eine Menge Menschen. Die Krankheit herrschte hier noch um den
20. December und wüthete jetzt auch auf Malta und Corsica.
In Neapel zeigte sich die Cholera Anfangs Novembers nach ei-
nigen fürchterlichen Gewitterstürmen. Sie muss hier schon früher
geherrscht haben, scheint aber dann ganz verschwunden gewesen zu
sein. Am 8. November forderte sie zwei Opfer aus den höheren
=
— 400 —
Ständen. Um den 13. October zeigte sich die Krankheit auch in Messina,
und sogleich flohen alle Wohlhabenden und natürlich nach hiesiger
Sitte auch die Beamten. Am 18. December war sie noch nicht ver-
schwunden und wüthete auch an anderen Orten Sieiliens. Fördernd
wirkte hier auf die Entwicklung der Epidemie namentlich der Genuss
der indianischen Feige, der Frucht einer Caetusart, zu welchem
die niedere Volksklasse der hohen Nahrungsmittelpreise wegen ge-
zwungen war.
In Palermo starben um den 18. December täglich etwa 100
Pers. — Die Stadt war wie ausgestorben ; die Behörden verhielten
sich unthätig, die Sanitätsaufsicht war ‚unzureichend, die nöthigen
Hülfsleistungen so gut wie gar nicht vorhanden.
Im Etschkreise war die Seuche um den 11. October erloschen.
Im Ganzen waren hier 904 Pers. erkrankt und 204 Pers. gestorben.
Dagegen brach die Cholera im October auf Corfu, Cephalonien
und den kleinen jonischen Inseln aus, dann in Akarnanien, in Misso-
lunghi, Corinth u. s. f.
In Wien nahm die Epidemie um den 3. October stetig ab. Am
30. October fanden nur noch 3 neue Erkrankungen Statt. Auch im
übrigen Niederösterreich nahm die Cholera jetzt ab. In Wien waren
bis zum 6. October 6018 Pers. erkrankt und 2585 Pers. gestor-
ben. — Eine kleine Nachepidemie entwickelte sich um den 29.
December in der Spinnfabrik Trumau, einige Stunden von Wien,
wo an Einem Tage 50 Arbeiter gestorben sein sollen; doch er-
schöpfte sie sich natürlich bald. In Pesth hatte die Seuche erloschen
geschienen, aber am 31. Oetober kamen in der Festung Ofen 3
Erkrankungen vor, und um den 4. November zeigte sich die Seuche
auch in Pesth aufs Neue, und griff um den 6. November immer mehr
um sich. Aber am 2. December hielt man in der Stadtpfarrkirche
in Pesth ein Dankfest für das Erlöschen dieser modernen Pest.
Von Böhmen ist noch die merkwürdige Thatsache nachzuholen,
dass, während die Cholera fast überall in diesem Kronlande Opfer
gefordert hatte (speeielle Nachrichten fand ich freilich keine), sie doch,
wie in früheren Jahren, die Umgebung von Franzensbad mehrere
Meilen weit gänzlich verschonte, obschon hier ein starker Zusammen-
fluss von Fremden aus Gegenden Statt hatte, wo die Seuche arg
hauste. Man suchte den Grund in den der dortigen Moorgegend
entsteigenden Gasen.
In den sämmtlichen österreichischen Kronländern waren bis zum
15. November 549,099 Pers. erkrankt und 288,861 Pers. gestorben.
Es blieben noch 36,208 in Behandlung.
— 401 —
In Dresden waren bis zum 7. October im Ganzen blos 35 Pers.
gestorben, davon 15 im Stadtkrankenhause und 5 im städtischen Ar-
menhause. Vom 7. bis 14. October trat eine Pause ein. Später
aber, namentlich um den 29. October traten häufiger Erkrankungen
auf, besonders in der Wilsdruffervorstadt und namentlich unter den
grossentheils hier wohnenden Arbeitern an der städtischen Gasanstalt.
Um den 10. December aber war die Seuche verschwunden. Die Dres-
denerepidemie war im Ganzen so unbedeutend gewesen (sie hatte in
4 Monaten nicht einmal anderthalbhundert Menschen gekostet), dass
man kaum von ihr sprach.
In Berlin waren bis zum 38. October 1761 Pers. erkrankt und
1077 Pers. gestorben.
In Breslau wüthete die Krankheit um den 8. October fort; sie
machte keinen Unterschied der Stände und suchte ihre Opfer auch in
den höheren Schichten der Gesellschaft.
Mittlerweile hatte sich die Cholera auch über Schweden und
Norwegen verbreitet. — Doch nahm sie um die Mitte des Octobers
in Stockholm stark ab; gleichwohl herrschte sie in der letzten Woche
des Decembers noch an mehreren Orten Schwedens. Sie war bis in
die nördlichsten Provinzen dieses Landes hinaufgestiegen.
Gegen die Mitte oder um die Mitte des Octobers brach die
Cholera in Leeuwarden in Holland aus; sehr stark herrschte sie dann
zu Amsterdam, Gröningen, Leiden, Zwolle, Almelo, Kampen, Smilde,
Assen, Blockzijl, Dordrecht, Rotterdam und in Zeeland, war somit über
einen sehr grossen Theil der Niederlande verbreitet; doch grassirte
sie in Amsterdam und Gröningen am stärksten.
In Frankreich forderte die Seuche im Anfang des Octobers noch
hie und da Opfer. In Marseille z. B. starben um den 3. October
noch 40 bis 50 Pers. täglich. — Im ÖOberelsass war sie um den 17.
October gänzlich verschwunden.
In Madrid erkrankten um den 3. Oetober täglich 300 Pers. und
starben täglich 90 bis 94 Pers. Sie wüthete unter den höchsten
Ständen. Um den 8. October liess sie wieder nach; num den 20.
Oetober erkrankten wieder 300 bis 400 Pers. täglich und starben
75 bis 90 Pers.; um den 25. October starben täglich gegen 100 Pers.;
vom 23. März bis 10. October waren hier 9500 Pers. an der Cho-
lera gestorben. Um den 10. November war sie in dieser Stadt im
Erlöschen. Am 15. November hielt man ein Tedeum für das Er-
löschen der Cholera.
In Portugal nahm die Cholera da, wo sie bisher geherrscht
— 4012 7° —
hatte (namentlich Algarbien), um den 5. October ab, wurde dagegen
aus Algarbien in Lissabon eingeschleppt, wo sie um den 7. November
neu aufflammte.
Um den 12. October litt Mekka an der Cholera und um den 8.
November richtete sie in Venezuela in Südamerika grosse Verhee-
rungen an.
Hiermit schliesse ich diese Darstellung, die mindestens geeignet
sein dürfte, einen Ueberbliek über die ungeheure Verbreitung der
Cholera in den letzten beiden Jahren zu geben. Ich muss aber wie-
derholen, was ich in den einleitenden ‚Worten zur ersten Abtheilung
dieses Aufsatzes gesagt habe, dass derselbe keineswegs auf eine mi-
nutiöse Genauigkeit Anspruch machen will und auch nicht kann. Eine
ganz genaue Darstellung dieser Art, wenn sie überhaupt möglich ist,
kann jedenfalls erst in späterer Zeit gegeben werden, wenn das Ma-
terial über die einzelnen Länder in wissenschaftlicher Verarbeitung
allgemein zugänglich geworden "sein wird, d. h. wenn die Epidemieen
der einzelnen Länder genau beschrieben sein werden. Eine der merk-
würdigsten Erscheinungen, welche die Geschichte der Cholera darbie-
tet, ist die, dass die Schweiz so lange verschont geblieben ist. Die
absolute Höhe konnte jedenfalls nicht der Grund davon sein, denn
München liegt z. B. 1568 Fuss über d. M., während Aarau 1127
Fuss, Basel 763, Zürich 1258 bis 1413 F. (d. h. der im Seeniveau
gelegene Theil der Stadt 1258 bis 1268 F., die Gegend der städti-
schen Versorgungsanstalt und des neuen Krankenhauses 1413 F.) ü.
d. M. liegen. Ich bin überzeugt, dass neben den räthselhaften Com-
binationen cosmischer Influenzen die rein zufällige Einschleppung der
Seuche bei ihrer ersten Entwicklung an einem Orte eine wesentliche
Rolle spielt. Ist sie einmal eingeschleppt, so wird sie unter günstigen
äusseren Verhältnissen, wie die Pocken u. s. f.,, zu gewissen Jahreszeiten
leicht wiederkehren, und sich auf diese Weise an einem Orte allmä-
lig gewissermassen einbürgern. Sind aber die äusseren Verhältnisse,
d.h. jene Combinationen cosmischer Influenzen, ihrer Entwicklung nicht
günstig, oder sind die für einstweilen für das Choleramiasma und
das Choleracontagium vorzüglich empfänglich gewesenen Individuen
durchgeseucht, so werden Pausen eintreten, wie dieses im J. 1855
in Aarau und München der Fall gewesen ist. Je verhältnissmässig
extensiver die Cholera an einem Orte aufgetreten ist, desto länger
werden vermuthlich die Pausen dauern. Ich habe im Eingange bke-
merkt, dass einzelne meteorologische Momente für sich allein auf den
Verlauf der Epidemie im Grossen keinen Einfluss zu haben scheinen;
dessenungeachtet aber scheinen denn doch plötzliche Veränderungen der
— 405 —
meteorologischen Verhältnisse auf den Gang der einzelnen Lokalepide-
mieen influiren zu können, jedoch keineswegs immer in gleichem,
sondern bald in diesem, bald in jenem Sinne.
DIE HANDWERKER-FRAGE IN UNSERER ZEIT.
GRUNDLINIEN zur BEURTHEILUNG UND BEHANDLUNG DERSELBEN
von
Dr. KARL KNIES,
ord, Professor der Staatswirthschaft zu Freiburg i. B.
II. ArrtıkErı.
Wir waren am Schlusse unseres ersten Artikels soweit gekommen,
dass wir uns vorbehielten, in diesem zweiten Abschnitt positiv dieje-
nigen Punkte zu befürworten, in denen die durch die Zeitverhältnisse
gebotene innere Reform des handwerksmässigen Geschäftsbetriebs er-
kannt werden müsse. Also hie Rhodus hie salta — wird unser
Leser denken und dabei zweifelsohne halbwegs auf ein Fiasco gefasst
sein. Grade in der Leetüre volkswirthschaftlicher Schriften wird ja
oft genug die Erfahrung gemacht, dass man uns diese und jene Miss-
lichkeiten, Schäden und „heillosen Uebel“ in den Entwieklungen der
neuesten Zeit mit vielerlei feinen Beobachtungen recht ansprechend
zusamınenstellt, ja, so lange es sich um die Kritik handelt, wohl gar
meisterhaft handthiert — macht aber dann der Kritiker dem Reformer
Platz, so überkommt uns ein Gefühl, wie wenn ein Eimer Wasser
urplötzlich über uns herstürzt, oder ein Lachreiz, der sich kaum ge-
nügend mit einem „Parturiunt montes nascetur ridieulus mus!“ ab-
schildert. Die thatsächliche Erfahrung, dass die guten Vorschläge
so viel schwieriger sind, als die gute Kritik, ist nichts weniger als
zufällig, So lange wir beobachten, mustern, vergleichen u. s. w.,
haben wir ein handgreifliches Objeet vor uns; klare Augen, sittliche
Gesundheit und ein mündiger Verstand bringen gewiss dann unschwer
etwas Ordentliches zum Vorschein. Schreiten wir aber zu den „Vor-
schlägen“ und „Verbesserungen“, so gerathen wir leicht in das Er-
finden und Phantasiren, ja in rechte Märchenträume hinein, und unser
Entschluss, nur den Entwicklungen des wirklichen Lebens nachgehen
und seine bevorstehenden Gestaltungen vorausfinden zu wollen, hält
gegen unsere Wünsche nicht Stich. So kommt es, dass so Mancher
— 404 —
Dieses und Jenes aus der „guten“ alten, ältern und ältesten Zeit,
vielleicht gar Unverstandenes oder Missverstandenes ganz ernsthaft
für die ganz veränderten „Bedürfnisse unserer Gegenwart“ wieder
hervorgezogen wissen will. Sollte der Mann wol auch einen baar-
füssigen Bettler ermahnen, er möge sich doch seine Kinderschuhe ans
der Rumpelkammer wieder hervorholen? Wie Viele vergessen sogar
mitten in ihrem humansten Wohlwollen die fundamentalen Eigenthüm-
lichkeiten der menschlichen Natur, während uns doch Vorschläge unter
Voraussetzung über- oder untermenschlicher Creaturen gar nicht in
Bewegung setzen können. — Mit den über unsere Frage erschiene-
nen Schriften und Schriftchen, wenigstens denen aus der jüngsten Zeit,
steht es glücklicherweise besser. Es ist, als ob gerade das Ueber-
maass verkehrter Forderungen, mit denen der kleine Gewerbsmann
selbst in den letzten Bewegungsjahren hervorgetreten war, zur War-
nungstafel gegen grundsätzliche Verirrungen geworden sei.
Man wird wol bei jedem Vorschlag zur Hebung des kleinen
Gewerbsmannes in unserer Zeit an folgenden Grundsätzen festhalten
müssen:
1) Die vorgeschlagenen Ziele und Mittel müssen sachlich über-
haupt möglich sein. Wir führen hier beispielsweise an, dass es,
soweit unsere jetzige Einsicht und Erfahrung reicht, als sachlich ge-
radezu unmöglich bezeichnet werden muss, die Handarbeit der kleinen
Gewerbsleute auf gleichem Terrain concurrenzfähig mit der
Maschinenarbeit des Grossbetriebs zu machen. Wer Etwas empfiehlt,
was darauf herauskommt, ist ein Ignorant oder will die Maschinen-
leistung mit Gewalt unterdrückt wissen, will also nicht Coneurrenz-
fähigkeit, sondern Zwang und Monopol zu Gunsten der Handarbeit.
2) Die vorgewiesenen Zielpunkte müssen innerhalb der Trace
liegen, welehe durch die allgemein herrschende Bewegung in der fort-
sehreitenden Volkswirthschaft bestimmt wird. Wir führen hier bei-
spielsweise an: wenn in allen anderen Productionskreisen das Streben
nach freier Entfaltung und Bewegung aller Arbeitskräfte immer sieg-
reicher und siegsgewisser vorschreitet, wenn man mit dem Aufgebot
von Milliarden die binnenländischen und internationalen Verkehrser-
leichterungen unter tausendstimmigem Freudengeschrei erobert, so muss
auch der Handwerker sich mit und in dieser Bewegung Aller zurecht-
setzen. Den Einzelnen, welcher Kehrt macht, wirft der Stoss der
vorwärtsschreitenden Massen rettungslos um.
3) Man muss aber auch zu den für die Verbesserung aufzubie-
tenden Mitteln in unsrer Zeit wirklich das Zeug haben. Vorschreiben,
was und wie die Leute produeiren sollen, befehlen, was und wo sie
— 405 —
kaufen sollen, das geht eben nicht, und es ist ganz einerlei, ob wir
eine so wichtige Wahrheit so aussprechen, oder ob wir um diese
hartknochigen Formen das gefälligste Tüchelehen und Mäntelehen
werfen. Aber die überall erprobte Kraft des Capitales und des
Credites heranziehen, die immer breiter sich entfaltende Macht der
Association auf den Boden des Handwerks verpflanzen, die gewal-
tigen Fortschritte der Wissenschaft für die Intelligenz, selbst die
zugänglicher gewordenen Früchte der Kunst für den Geschmack des
Gewerbsmanns in einem verbesserten Unterricht zu nutzen — das
geht, das wird vortrefllich gehn. Alle Welt wird Glückauf rufen, denn
alle Welt benutzt dieselben Mittel und ist auch gewiss, dass auf
diesem Wege
4) das ganz unfruchtbare Streben nach einem privativen Nutzen
für den Handwerker definitiv ausgeschlossen bleibt, vielmehr die Ver-
besserung allein auf dem Wege einer Steigerung der Leistung zu
Gunsten der Consumenten gesucht wird.
Gerade weil wir uns von diesen Grundsätzen bei der Zusammen-
stellung derjenigen Punkte leiten liessen, welche die nöthig gewordene
Einführung eines rationellen Betriebes der Kleingewerbe characterisiren,
wird es unser Geschäft sein müssen, nicht sowohl auf nagelneue Ent-
deekungen auszugehen, als vielmehr schon vorhandene lebenskräftige
Keime vorzuweisen und aus dem wohlgepflegten Boden anderer Pro-
ductionskreise Schösslinge und Senkreiser für das Territorium des
kleinen Gewerbsmannes herüberzuholen. Wir werden dabei Gelegen-
heit finden, alle Factoren zu durchmustern, auf denen der technische
und wirthschaftliche Geschäftsbetrieb des Handwerkers beruht.
I. Die Hilfsquellen des Capitales und des Credites.
Es braucht hier nieht ausgeführt zu werden, dass und warum in
der Gegenwart die Capitalverwendungen in allen Productionskreisen
eine so grosse und immer noch steigende Bedeutung haben. Nur das
bezügliche Verhältniss des Haupteoneurrenten, des Grossbetriebes, ge-
genüber dem Kleingewerbe mag im Vorübergehen etwas betont werden.
Der Grossbetrieb hat dem Handwerk gegenüber seine eigenthümliche
Stärke neben der weit einsichtsvolleren Geschäftsleitung vorab in der
ausgedehnten Anwendung der Kapitalkraft. Seine darauf beruhenden
Erfolge sind so sicher gestellt, dass die sie vermittelnden Anstren-
gungen nur immer umfassender werden. Denn in der That, wir dür-
fen dahin urtheilen, dass jetzt die sogenannten Mobiliarereditgesell-
schaften mit einem Theil ihrer Geschäftsunternehmungen den verein-
Wissenschaftliche Monatsschrift. 26
— 406 —
zelten Grossunternehmern und kleineren Capitalassoeiationen gegenüber
ganz dieselbe Stellung einnehmen, wie diese gegenüber dem Klein-
betrieb; sie wollen, wenn ich mich so ausdrücken darf, einen Grösst-
betrieb an die Stelle des seitherigen Gross betriebes setzen. Freilich
hat nun das Handwerk gegenüber dem Grossbetrieb seine eigenthüm-
liche Stärke in der Verwendung menschlicher Arbeitskraft. Allein
über diesem wirklichen Unterschied beider Geschäftsbetriebe darf na-
türlich keinen Augenblick verkannt werden, dass, wie die menschliche
Arbeitskraft im Grossbetrieb ihre grosse Bedeutung hat, so auch um-
gekehrt der Nutzen der Capitalkraft im Handwerk ausgebeutet werden
muss. Ein Blick auf das wirkliche Leben führt uns hier zu dem
ersten grossen Reformsatz: das Handwerk soll den Nutzen der Capital-
verwendung im Geschäft möglichst vielseitig und umfassend, weit
stärker als bisher, ausbeuten. Damit allein wird sehon ein grosser
Theil des auf ihm lastenden Druckes auf der Stelle beseitigt.
Freilich, man muss sieh hier vor Missverständnissen hüten. Es
führt diese Forderung durchaus nicht zu dem jetzt bei so Vielen be-
liebten Satz: also soll das Handwerk sich überhaupt in den Gross-
betrieb verwandeln, es giebt zwischen beiden keinen Unterschied mehr.
Der handwerksmässige Geschäftsbetrieb vermag als solcher niemals in
dem Umfang wie der Grossbetrieb das Kapital zu verwenden. Es
ist jenem ja eigen, dass er innerhalb eines kleineren Kreises und
unter verhältnissmässig stärkerer Verwendung menschlicher Arbeitskraft,
auch des Meisters, handthiert. Aber von der Grenze, die ihm hierdurch
für die Ausbeutung der Kapitalkraft gesteckt ist, steht er regelmässig
noch sehr weit ab. Für die kleineren Mengen von Roh- und Hilfsstoffen,
die er wirklich etwa im Zeitraume eines Jahres verarbeitet, benützt er
nicht von Ferne die Vortheile, die in der Möglichkeit liegen: baar ein-
kaufen zu können, im Grossen einkaufen zu können, an bester Stelle,
in der besten Zeit einkaufen zu können. Und wenn es sich bloss
um die Vorbedingung eines Verbrauchs grösserer Massen handelte, so
brauchte man nur — was wir hier vor der Hand noch zurückstellen —
die Verbrauchsquantitäten von 10 oder 30 Handwerksmeistern zusam-
men in Betracht zu ziehen. Der irregeleitete Handwerksmeister rai-
sonnirt bis jetzt meist so: „zu diesen Preisen, bei denen mein Con-
eurrent reich wird, kann ich nicht verkaufen; damit mir geholfen
werden kann, müssen die Preise wieder in die Höhe steigen.“ Bei
diesem Raisonnement kann er verhungern. Wer würde ausser ihm
wünschen wollen, dass eine einmal eroberte Niedrigkeit des Preises
eines Productes wieder verschwinde? Würde dagegen der Handwerker
— 407 —
Capitalkräfte in einem für sein Geschäft möglichen Spielraum zur
Verwendung bringen, so könnte er entweder billigere Preise stellen
wie bisher, oder bei denselben Preisen, über die er klagt, einen ge-
nügenden Verdienst finden. Denn die Capitalkraft bringt unter den
zutreffenden Umständen eben mehr ein, als sie kostet. Denken wir
uns beispielsweise ein Brennholz verbrauchendes Handwerk. Hier ein
Meister, der das Jahr hindurch etwa 52 Klafter nach einander einkauft
und einkaufen muss, dort ein andrer, der den ganzen Vorrath auf
einmal einzukaufen vermag. Dieser kann nicht nur das Holz in der
besten Jahreszeit, troeken, mit mehr Heizkraft, sondern wohl auch
— denn das verlohnt die Mühe des Weges auf einer Versteige-
rung im Walde zusammenkaufen, bei dem Accordiren der Spalter
etwas sparen, an dem Lohn der in eine für den Bauer passende Zeit
verlegten Fuhre sparen, während der andere Wagen für Wagen kauft,
wie sie wöchentlich das ganze Jahr hindurch von dem Bäuerlein zu
Markt gebracht werden. Wir wollen bei der oflenkundigen Differenz
der Preise bei dem einen und dem andern Kauf nur, nur einen
Unterschied von im Ganzen 208 Franken annehmen und einen Ar-
beitsverdienst des Meisters von durchschnittlich 4 Franken täglich (die
Sonn- und Feiertage mitgerechnet), so kann der Meister, welcher 52
Rlafter Holz (A 25 Franken) mit 1300 Franken, die ihm zur Dispo-
sition stehen, kauft, den Lohn für 52 Arbeitstage des andern Meisters
einstreichen, ohne auch nur die Hand zu rühren, ein Siebentel des
ganzen Jahresverdienstes vom andern. Und nehmen wir an, dass er
die 1300 Franken zu 5 0/, geborgt hat, so bleiben ihm doch 163
Franken oder der Lohn für 40%/, Arbeitstage des andern Meisters
übrig! Da lässt sich denn doch auch eine Waare schon etwas billi-
ger verkaufen.
Niemand wird zwar behaupten mögen, dass unsre Handwerker
wissen, wo und wie sie sich überall die Dienstleistungen des Capitals
nutzbar machen können. Aber diese Sache können wir hier getrost
der Entwicklung des praktischen Lebens überlassen, diese wird schon
zweckdienlich unterrichten, und manche Stellen weiss obendrein wohl
Jeder bereits. Die Hauptsache — werden mindestens neun unter zehn
Handwerkern sagen — die Hauptsache wird für uns sein, die wir
eben an eigenthümlichem Capitalbesitz wie an Credit Mangel haben,
dass man den Weg zeigt, wie wir Capital für die Verwen-
dung im Geschäft erhalten können. Das ist auch für uns hier
die Hauptsache, und sie müssen wir deshalb vornämlich besprechen.
— 408 —
Da ist nun vor Allem darauf hinzuweisen, dass der Handwerker,
so wie er heutzutage an den meisten Orten sein Geschäft betreibt,
nur durch die fatale Unsitte des langen Credites, den er seinen
Kunden geben muss, an der Verwerthung einer ihm eigenthümlich
zuständigen Capitalkraft behindert ist. Der Banquier, der Wirth, der
Advocat, der Krämer, der Bauer, der Beamte in Civil und Militär
erhält regelmässig die Vergütung für die dargebotenen Leistungen
entweder auf der Stelle oder doch nach kürzeren Terminen. Der mit
so beschränkten Mitteln arbeitende Handwerksmeister muss umgekehrt
regelmässig auf lange Termine hin, bis Neujahr — und wie oft
kommt ein zweites Neujahr heran! — seine Forderungen ausstehen
lassen. Es mögen hier die Wurzeln und Stützen dieses Credites der
Faulheit, wie er nach einer vorwiegenden Ursache genannt worden ist,
nicht weiter in Betracht gezogen werden. Gewiss ist, dass der or-
dentliche Kunde selbst darunter leidet. Dieser Credit muss die Lei-
stungen des Handwerkers unnöthig vertheuern und hat Irrthum und
Streit in Betreff‘ einzelner Posten der Rechnung zur regelmässigen
Begleitung. Für den Handwerker ist er ein wahres Unheil. Er hin-
dert ihn mindestens an einem mehrmaligen Umschlag seines ihm ei-
genthümlichen Kapitalbesitzes, er hindert ihn regelmässig an der Ver-
wirklichung der Vortheile des Baarkaufes. Man möge nur nicht glauben,
dass die Handwerker ja so nach Neujahr den ganzen Jahreserlös zu-
sammen hätten und nun sogar ihr Rohmaterial u. s. w. in grossen
Massen zusammenkaufen könnten. In allen knappen und zurückkom-
menden Wirthschaften kommt vielmehr auf diese Weise nur das „vor-
gegessene Brod* auf die Tagesordnung, die meisten Handwerker
würden jenen Zustand der Dinge gar nicht auszuhalten vermögen,
wenn sie nicht auch ihrerseits das Jahr hindurch „auf Borg“ lebten.
Wie soll man diesen schlimmen Misstand beseitigen? Wer
darauf hinarbeitet, wird: allerdings finden, dass es viele Consumenten
giebt, die sich dem armen Handwerker gegenüber in der vollen Selbst-
herrlichkeit eines Pascha fühlen und die Erwartung einer Baarzahlung
wie eine Grobheit und Injurie aufnehmen. Viele sind aus purer fauler
Bequemlichkeit jahrelang Restanten, während Andere nur bei dieser
Unsitte borgen können, ohne überhaupt zu bezahlen, und ein kleiner
Rest selbst der Zinsenwilderei auf Kosten des kleinen Gewerbsmannes
obliegt. Aber es wäre doch Unrecht, zu übersehen, dass gegenwärtig
der Handwerkerstand für alle verständigen Anstrengungen zur Besei-
tigung seiner Nothzustände auf zahlreiche wohlmeinende Verbündete
im Publikum rechnen kann. Es ist dagegen leider zu bekennen, dass
— 409 —
auch im Handwerkerstande selbst bedenkliche Hemmungskräfte vor-
handen sind. Mangel an Muth, selbst an Verständniss für diese
Sache; die mit dem Hinweis auf das einmal Gewohnte und Herge-
brachte sich deckende Trägheit; dazu der in einem von Corporations-
wünschen überfliessenden Stande doppelt widerliche Widerstand der
begüterten und besser ereditirten Meister, denen der vorhandene Zu-
stand, wie er namentlich scharf die ärmeren Genossen drückt, gar
nicht so uneben erscheint — dergleichen Dinge hindern regelmässig
abseiten der Handwerker selbst die einfachste Art einer Beseitigung
dieses Uebels. Diese besteht natürlich darin, dass der gesammte
Handwerkerstaund mit einer sachgemässen Begründung dem Publikum
öffentlich die Mittheilung macht, er sei entschlossen, von jetzt ab den
„Credit der Faulheit* nieht mehr zuzugestehen, und dass er dann an
diesem Beschluss consequent festhält. Allein ohne dass sich ein
wirthschaftlich gebildeterer Mann ausserhalb des Handwerkerstandes
der Angelegenheit herzhaft zunächst selbst vor den Handwerkern an-
nimmt, wird sie selten auch nur ins erste Stadium kommen. Ein
soleher wird denn wohl, wie der Schreiber dieser Zeilen, finden, dass
die Handwerker- „Innungen“ und „Genossenschaften“, welche
zufällig nicht jenen Credit zu gewähren brauchen, durch keinen Hin-
weis auf das Wohl des ganzen Standes der Handwerker zur Theil-
nahme zu bewegen sind, dass in anderen „Innungen“, wie schon be-
merkt, die reicheren Meister gegen die Beseitigung eines Miss-
standes arbeiten, der ihnen zu einem Vorsprung vor den ärmeren
verhilft u. s. w. Dann kann nun freilich auch jedes einzelne Gewerk
für sich zur Sache schreiten. Aber wie leicht erlahmen noch mitten
auf dem Wege der Durchführung die verbündeten Meister! Sie for-
dern ein-, zweimal, aber verklagen nicht u. s. w., und bald kehrt der
alte Uebelstand wieder, noch begleitet von dem entkräftigenden Gefühl
einer misslungenen Anstrengung. Ist es deshalb den Handwerkern
rechter Ernst, so müssen und können sie auch Zwangsbestimmungen
gegen sich selbst unter einander von vorn herein feststellen, etwa dass
der Rückfällige eine Geldbusse zahlt, dass dem Publikum sogleich
auch ein Geschäftsmann namhaft gemacht wird, welcher ein für allemal
mit der Einklagung der verfallenen Schuldposten beauftragt sei u. dgl.
Für die kürzere Zeit, bis zu welcher die Handwerker noch Credit
geben wollen, wird wohl am besten der orts- und landübliche Termin,
an welchem die Hausmiethen fällig und die Besoldungen der Civil-
und Militärbeamten ausgezahlt werden, als Anhaltpunkt genommen,
also in Norddeutschland ein Monat, in Süddeutschland und in der Schweiz
— 410 —
ein Vierteljahr. Die Innungen Freiburgs, welche ich selbst zu dem
Schritte der Aufkündigung des üblichen Jahreseredits im vorigen Jahre
bewog, nahmen den Vorschlag an: den Verkauf an Bewohner des platten
Landes für die Vereinbarung ausser Betracht zu lassen, den Verkauf der
Waaren vom Lager anders zu behandeln, wie die Forderungen für Ar-
beiten auf laufende Rechnung, letztere vierteljährlich einzuverlangen, bei
sofortiger Bezahlung der Waaren vom Lager einen Rabatt zu bewilligen
u. dgl. Einzelnheiten mehre, wie sie das Beschreiten der praktischen
Durchführung von selbst an die Hand giebt. Freilich muss der
Handwerkerstand darauf gefasst sein, dass nach Beseitigung des über-
langen Credits etwas weniger gekauft und bestellt wird. Aber das
ist kein Nachtheil. Gute Borger und schlechte Bezahler sind des
Handwerkers Ruin und eine Art honetter Diebe auf Kosten des ehr-
lichen Bezahlers obendrein.
Dies ist ein Mittel, um dem Handwerkerstand die für ihn so
erspriessliche Capitalhülfe zu verschaffen. An einem zweiten arbeitet
man glücklicherweise seit einiger Zeit in vielen Städten, an der Er-
richtung besonderer Creditinstitute für die Capital-
bedürfnisse des Handwerkerstandes. Diese „Handwerker-
banken“, „Gewerbsleihkassen“ u. s. w. gehören zu den erfreulichsten
Erscheinungen unserer Zeit, seitdem sie den Character von Wohlthä-
tigkeitsanstalten und die Merkmale der Armenpflege abgestreift haben.
Diese hatten sie, so lange man den volkswirthschaftlichen Missgriff
nicht einsah, der darin liegt, unverzinsliche Anleihen von den Be-
sitzenden zu verlangen, unverzinsliche Darlehen an den Handwerker
zu geben, also mit Geschenken zu operiren. Die in Deutschland so
rasche Verbreitung der auf ihre eigenen Füsse gestellten Handwerker-
leihbanken würde auch ein weit grösseres Aufsehen erregen, wenn
nicht gleichzeitig unsere grossen Creditinstitute aus den Kinderschuhen
mit einem Male in die Flegeljahre hinübergesprungen wären und nun
das ganze, Aufsehen erregende Ungestüm des jugendlichen Tölpels
entfalteten, dessen lange Gliedmassen aus den knappen Kleidern her-
auswachsen, und der, kräftig und unmanierlich wie er ist, in guten
und schlimmen Streichen zugleich excellirt. Die so wohlthätige Lei-
stungsfähigkeit eines besondern Creditinstitutes für Gläubiger und
Schuldner braucht hier nicht auseinandergesetzt zu werden. Wir haben
nur zu erwähnen, wie vollkommen berechtigt besondere Creditingtitute
für den Handwerkerstand, für das Kleingewerbe dadurch sind, dass
in der That dieses ganz eigenthümliche Bedürfnisse für Aufnahme
und Rückzahlung der Capitalsummen hat, welche ihm die Bankinstitute
— 41 —
für die Grundbesitzer, für die grosse Industrie, für den Handelsstand
nieht in der zweckdienlichsten Weise erfüllen können. Eigenthümlich
ist dem Handwerkerstand allein das Bedürfniss, verhältnissmässig nur
kleine Kapitalbeträge aufnehmen zu sollen, sowie zu einem guten Theil
die Art der Deckungsmittel, welche er dem Gläubiger zu bieten vermag.
Er hat sodann einerseits mit dem Handelsstande gemein, dass er diese
Summen nur für kürzere Zeit, aber öfter entlehnen sollte, weil in sei-
ner Geschäftsführung ein rascherer Umschlag des Capitals stattfindet,
und andrerseits theilt er mit dem Landbauer das Bedürfniss, die Til-
gung der Schuld auf dem Wege successiver Heimzahlung in parcellir-
ten Beträgen zu beschaffen. In der Kürze der Borgfrist und in der
Kleinheit der Schuldeapitale liegen zugleich die Bedingungen, warum
man hier mit einer Anstalt in kleinerem Zuschnitt aın besten auskom-
men wird und warum der Handwerker regelmässig daran gewöhnt ist,
einen etwas höheren Zinsfuss mit Freuden zu übernehmen; in dem
Bedürfniss suecessiver Heimzahlung aber liegt der Grund, warum der
einzelne Capitalist, Banquier minder fähig, bisweilen gar nicht zu be-
wegen ist, die dem Handwerker am besten zusagende Form des Con-
tractes einzugehen. Mit der Herstellung einer solchen Handwerkerbank
sollte man in keiner Stadt zögern. Wer den Handwerkerstand der
Gegenwart wirklich kennt, wird wissen, wie wenig die vielverbreitete
Vorstellung zutrifft, welche ihn — seiner wirthschaftlichen Lage nach
— als eine gleichartige Masse fasst. Er hat seine oberen, mittleren,
unteren Schichten. Und wie auf dem platten Lande der Abstand
zwischen dem reichen Hofgutsbauer und dem armen Häusler recht
auffällig scharf ausgeprägt ist, so giebt auch der Handwerkerstand bis
jetzt noch den Beleg für die Thatsache, dass die „Standesvorurtheile*
des Besitzes und der äusseren Stellung nach den unteren Volksschichten
hin eher zu- als abnehmen. Der wohlhabende Handwerksmeister wird
höchstens noch mit dem Meister, der „in guter Nahrung steht“, sich
vereinbaren und verständigen wollen, mit dem „Lump“ — d. h. dem
ökonomischen, nicht etwa dem moralischen Lump — wird er
sich kaum zusammenzerren lassen, und dann wird er doch noch fort-
während, auch mitten in einer Associationsverbindung, es wie unbe-
greiflich finden, dass er mit diesem auf gleicher Linie stehen soll. In
diesen Verhältnissen liegt der Grund, warum derjenige, welcher sicher
weiss, dass eine Handwerkerbank auch in minder guter Form immer
noch eine sehr wohlthätige Anstalt sein wird, zur Zeit noch den bei-
den Arten solcher Anstalten, welche sich in der Gegenwart unter-
scheiden lassen, nebeneinander Existenzberechtigung zugestehen darf.
— 42 —
Die eine ist mindestens von vorn herein mehr für die oberen und
mittleren Schichten des Handwerkerstandes berechnet, die andere von
vorn herein mehr für die unteren. Jene kommen auf dem gewölhn-
lichen Wege der Actienzeichnung u. s. w. zu Stande und verlangen
die gewöhnlichen zureichenden Deckungsmittel abseiten des Schuldners.
Es giebt noch Anstalten dieser Art, welche zwar den Handwerker das
entliehene Capital der Gesellschaft ordnungsmässig und keineswegs
niedrig verzinsen lassen, dagegen von den Capitalisten, Gemeindecassen
u. s. w. unverzinsliche Actien aufnehmen. Wir müssen auch dieses
Verfahren auf die Gefahr eines Vorwurfes unnöthiger Strenge hin vom
volkswirthschaftlichen Standpunkt aus als einen Missgriff bezeichnen.
Die zweite Art der Handwerkerbanken ist aus den Schriften des Herrn
Schulze-Delitsch bekannt, eines Mannes, der sich durch seine Thätigkeit
für die armen Handwerker eine Bürgerkrone verdient hat. Diese
Vorschusskassen u. s. w. sind darauf berechnet, den armen Gewerb-
treibenden selbst zum Actieninhaber zu machen und haben wenigstens
soweithin das Problem, persönlichen Credit heraufzuführen, gelöst, dass
sie es jeder tüchtigen Arbeitskraft möglich machen, sich in die Credit-
fähigkeit hineinzuarbeiten. Der energische Aufschwung, die rasche
Verbreitung, welche diese Anstalten zumal in Norddeutschland in so
kurzer Zeit wahrnehmen lassen, können als vollgültiger Beweis ihrer
wohlberechtigten gedeihlichen Wirksamkeit dienen. Dass sieh beide
Grundformen unserer Handwerkerbanken werden combiniren lassen,
dürfte um so weniger inFrage zu stellen sein, als erfreuliche Ansätze
hierzu neuerdings bereits an einzelnen Stellen gemacht worden sind.
Uebrigens wird jede Handwerkerbank natürlich das Streben in den
Vordergrund stellen müssen, den Creditbedürfnissen der Gewerbtrei-
benden soviel es nur geht hülfreiche Hand zu bieten. Daher ist keine
Beschränkung in der Grösse ihrer Darleihen zu rechtfertigen, ausser
der, welche in dem Umfang ihrer Mittel und durch den Grundsatz
gegeben ist, wo möglich allen Creditsuchenden und dem Begehren der
Aermeren nach kleineren Summen vorerst zu entsprechen. Man wird
immer darauf hinarbeiten müssen, dass jede mit dem gedeihlichen
Fortbestand der Anstalt verträgliche Erleichterung des Personaleredits
herbeigeführt werde. Man sollte nirgends vergessen, dass die von
dem Handwerker beschafften Waaren ein durch die Natur der Sache
gegebenes Deckungsmittel seiner Anleihen darstellen und dass die
Aufgabe, weder das Ausbieten noch den Verkauf der Waaren in der
Zeit, während welcher sie Pfandobjeete sind, zu hindern, auf die eine
oder andre Weise gelöst werden muss (wo sog. Gewerbshallen be-
— 43 —
stehen, ist gar keine Schwierigkeit mehr vorhanden). — Für die
Rückzahlung sollte stets die successive Heimzahlung gestattet sein;
dagegen ist wieder gar kein Grund vorhanden, jene auf diese Form
zu beschränken. Man muss hier eben nur die Bequemlichkeit und
Fähigkeit des Schuldners zur Grundlage nehmen. Also wie der
Handwerksmann Woche für Woche seine laufenden Einnahmen hat
und daneben stossweise grössere Summen auf einmal einzieht, so mag
er auch in der einen und andern Weise seine Schuld bei der Bank
abtragen dürfen. Je eher er sein Geld dergestalt wieder weggiebt,
um so besser für ihn und die Anstalt. Ebenso sollte man immer
darauf bedacht sein, die Wohlthat der laufenden Rechnung auch klei-
neren Beträgen zu erschliessen u. dgl.m. — Es wird übrigens immer
hauptsächlich nur darauf ankommen, den ersten guten Anfang zu
machen, dann werden sich einzelne Verbesserungen und Erweiterungen
der ersten Anlage gleichwie von selbst einstellen.
I. Die Hilfsquellen der Association.
Mit staunender Bewunderung sehen die Zeitgenossen der mäch-
tigen Entfaltung jener gewaltigen wirthschaftlichen Kräfte zu, welche
wir mit den Worten Credit und Association bezeichnen. Gleichwie
in der Landwirthschaft wichtige Neuerungen zur Verbesserung des
Betriebes regelmässig zuerst auf den Grossgütern zur Einführung ge-
langen, so hat sich auch auf dem Boden der gewerblichen Industrie
abermals der Grossbetrieb zunächst die gleichsam neu entdeckten
Kraftwirkungen des Credits und der Association zu Nutze gemacht.
In der Natur dieser Kräfte liegt aber durchaus kein Hinderniss, sie
auch für kleinere Kreise in Bewegung zu setzen. Statt dass wir also
die müssige Klage fortsetzen über das erdrückende Gewicht, mit wel-
chem der Grossbetrieb sich überall auflaste, sollten wir emsig darauf
bedacht sein, die Springfedern seiner allerdings mächtig verstärkten
Sehwungkraft überall und gerade auch für das Kleingewerbe ein-
zubürgern, soweit es nur angeht. Wir sehen eben, dass sich auch
die kleinen Leute die Segnungen des Credits erobern können. Die
„Association* aber ist ja wie ausgesonnen gerade für die Kleinen,
Schwachen. Viribus unitis! Das ist die echte Farole für Jeden, der
einzeln wenig bedeutet und wenig vermag. Wir halten uns hier
abermals nicht dabei auf, die wirthschaftlichen Vortheile der Associa-
tion überhaupt durch Darlegung der Elemente, auf denen sie beruht,
der Kräfte, welche sie in Bewegung setzt, klarzustellen, sehen das
- 44 —
vielmehr als zugestanden an, und schauen nur nach, wie die Assoeia-
tion für den kleinen Gewerbsmann nutzbar zu machen ist.
Da müssen wir freilich schon eingangsweise daran erinnern, dass
auch die Segnungen des Credits nur mittelst der Association erobert
werden, wo derselbe nach dem Vorgang der von Schulze ins Leben
gerufenen Leihbanken auf der Grundlage des Deckungsmittels solida-
rischer Bürgschaft gesucht und erhalten wird. Weiterhin bemerken
wir, dass hier natürlich alle diejenigen Früchte der Association nicht
in Betracht kommen, welehe auch der Handwerksmann gleichmässig
wie andre Leute und mit andern Leuten’ sich zu verschaffen vermag,
z.B. die Früchte der Assoeiation für den Consum der Lebensbedürf-
nisse. Wie Vieles und Wichtiges bleibt aber hiernach noch für ihn
zu erwägen! Wir beschränken uns in unseren „Grundlinien“ abermals
auf das Hauptsächlichste, und unterscheiden
1) die Association der Handwerker für den Einkauf der Roh-
materialien und der Werkzeuge.
Wir sahen schon an dem Beispiel eines Brennholz verbrauchen-
den Handwerkes, welche Vortheile derjenige erzielt, welcher den
Gesammtjahresbedarf auf einmal zu kaufen vermag. Nehmen wir an,
dass die Meister irgend eines einzelnen Gewerkes je für einen Monat
ihr Rohmaterial zu kaufen pflegen, so brauchen sich nur ihrer zwölf
für den Einkauf zu associiren, um die Vortheile eines Kaufes für den
ganzen Jahresbedarf eines Einzelnen sofort zu verwirklichen. Nun
bedenke man, dass diese Vortheile mit der Grösse der anzuschaffenden
Massen zu wachsen pflegen! Würden also auch die Dürftigeren durch
eine Leihkasse in den Stand gesetzt, sich z. B. auf dem besten Ein-
kaufsplatz einer Masse für ein ganzes Halbjahr im Voraus zu verse-
hen, so müssen auf dem Wege der Assoeiation eben jene Vortheile
zu erzielen sein, welche dem Grossbetrieb hier zufallen, und auf denen
auch der — allen Klagen der Handwerker zum Trotz — gerechte
Dank der Consumenten gegen den Grossbetrieb beruht. An einem
Beispiel wollen wir zeigen, wie sich auch noch Andres hier anschliesst.
Wenn der Lederbedarf von 30 Schuhmachern von Messe zu Messe
mit einem Kaufe beschafft wird, so springt freilich zunächst in die
Augen, dass das nach Raten zu vertheilende Gesammtquantum so
viel besser und billiger gekauft wird. Es kommt aber hinzu, dass,
wenn, wir wollen sagen die drei sachkundigsten Schuhmacher unter
den dreissig abgeschickt werden, jeder neun Zehntel des bei dem
isolirten Kauf nöthigen Aufwandes von Arbeitszeit und Geld erspart,
wenn wir denselben einmal für Alle gleich ansetzen. Dazu kommt
— 45 —
ferner der handgreifliche Vortheil wenigstens für 27 Schuhmacher,
dass die drei sachkundigsten auch für sie den Lederbedarf einkaufen.
Dass das Alles für die Rohstoffbedürfnisse anderer Gewerke sich ähn-
lich verhält und dass einzelne besondere Seiten in den verschiedenen
Gewerken die Wahrheit der Sache im Allgemeinen in keiner Weise
umstossen, bedarf keiner Ausführung. Wohl aber müssen wir hier
noch auf die Bedeutsamkeit desselben Verfahrens für die Beschaffung
guter Werkzeuge aufmerksam machen. Im Auftrag einer ganzen
Reihe von Meistern lohnt sich die Reise eines tüchtigen Genossen
auch an einen fernen Platz, der die beste Auswahl darbietet, überhaupt
umfassende Vergleiche gestattet, vortreflich; der Einzelne für sich
allein wird regelmässig der Kosten halber von ihr abstehen. Auch
pflegt gerade im Verkauf der Instrumente der Rabatt für die Ueber-
nehmer einer grösseren Zahl derselben besonders gross zu sein. Und
wie nachdrücklich muss man darauf aufmerksam machen, dass die
grosse Masse der Handwerker weit bessere Werkzeuge sich anschaffen
sollte. Leider darf nicht verschwiegen werden, dass Alledem ein
grosses Hinderniss im Wege steht, nämlich die Misgunst und der
Brodneid zwischen den Handwerksmeistern desselben Betriebes au
demselben Orte. Die vielseitigen, zum Theil rein albernen Gedanken-
verbindungen, auf welche dieser Brodneid versessen ist, erschweren
gerade diejenigen Besserungen , die für alle Geschäftsgenossen ge-
meinsam und gleichmässig erobert werden müssen. Es gehört diese
Thatsache zu den allerbetrübendsten und heillosesten Erscheinungen
im Kleingewerbe. Sie ist aber nicht von ferne neu, vielmehr eine der
schlimmsten Erbschaften aus der alten Zunftverfassung. In dieser
wucherte diese Missgunst gegen den Geschäftsbetrieb des Handwerks-
genossen um so üppiger, als sie wirklich damals, wenn ich so sagen
darf, Sinn und Verstand hatte. Denn gegen die Coneurrenz von Ar-
beitern und Verkäufern, welche ausserhalb der Zunft standen, war der
in derselben stehende Handwerker durch die öffentliche Gewalt ge-
sichert. Sein Hauptnebenbuhler für den Verdienst bei den Kunden
des Handwerks war der Mitmeister neben ihm. Was diesem zufiel,
konnte ihm entgehen, und ebendarum hielt die Mehrheit der Zunft-
meister so viel auf jene Bestimmungen, welche jedes Streben nach
einem ausgedehnteren und schwunghafteren Betrieb bei Einzelnen
darniederhielten. Dazu bedenke man, dass damals die Gelegenheit,
guten und billigen Rohstoff zu erhalten, so viel seltener und schwie-
iger war, so dass wohl der Einzelne einen guten Kauf von Rohma-
terial zu den Dingen rechnen konnte, die nicht alle Tage und Jedem
— 46 —
mit einem Geldbeutel in der Hand möglich waren. Alles dieses ist
heutzutage durchaus verändert. Die Coneurrenz der Handwerker unter
einander tritt weit in den Hintergrund gegen die Concurrenz, welche
dem Kleingewerbe überhaupt durch den Grossbetrieb erhoben wird.
Auch wer Handwerksproducte kaufen will, braucht nicht bei den
Handwerkern seines Wohnortes zu bleiben. Tausende aus den ver-
schiedenen Ständen versorgen sich mit Schuhwerk, Kleidern u. s. w.
aus den Werkstätten des Grossbetriebes, bei auswärtigen Meistern
durch Bestellungen mit der Eisenbahn. Die Gelegenheit, gut und
billig Rohmaterial zu kaufen, ist für Jeden offenkundig und verviel-
fältigt, und es sind viel einfachere Bedingungen erforderlich, um sie
zu benützen. So kann der Handwerker den Handwerker nur ruiniren
helfen, wenn er widerstrebt, seine Hand zu reichen, sobald und wo
es nöthig ist, dass die Hände Aller sich zusammenschliessen. Das
hier Bemerkte gilt natürlich nicht bloss für die eben besprochene erste
Art von Associationszwecken, wir dürfen uns aber nunmehr einer
Wiederholung bei der Besprechung der folgenden überheben. Von
ihnen betrachten wir zunächst
2) die Assoeiation für den Verkauf der Handwerkspro-
duecte.
Es kommt hier das Verkaufslocal und die Thätigkeit des
Verkäufers in Betracht. Ein besonderes Verkaufslocal wird natür-
lich nur für diejenigen Handwerker von Belang, welche nicht bloss
auf laufende Rechnung arbeiten, sondern auch „Waaren auf Lager“
verkaufen. Es ist keine Frage, ein solches Local, welches die Käufer
selbst betreten, in welchem sie besichtigen, vergleichen, auswählen
müssen, sollte eine ansprechende Räumlichkeit sein, hell, nicht unan-
genehm beschränkt im Raum, wohlgelegen für die grosse Masse der
Käufer. In der Wirklichkeit aber sind die Handwerker regelmässig
nicht im Stande, diesen Anforderungen zu genügen. Zumal die klei-
neren Meister pflegen eher in den abgelegenen Strassen und Strässchen
und nicht da zu wohnen, wo der Hauptverkehrsstrom hin- und herwogt.
Sie kommen hierdurch oft weit mehr gegen den wohlhabenderen Meister
in Nachtheil, als in Folge eines Unterschiedes in der Güte der Arbeit.
Und während nun der Käufer nur schwer sich entschliesst, in diese
düstern, niedrigen Stübchen einzutreten, empfindet der überallhin zu
Einschränkungen genöthigte Handwerker die Miethquote für dasselbe
gleichwohl drückend.. Wird aber wirklich das Verkaufslocal recht
lebhaft besucht, so kann nur der Meister dem Arbeitsstuhl, auf dem
sein rechter Platz ist, Valet sagen, fort und fort den Kaufmann spielen,
die Waaren vorlegen, anpreisen, vielleicht gar feilschen — und doch
gehn zwei unter drei Besuchern wieder hinweg, ohne gekauft zu haben!
Ein verständiger Mann muss nach ruhiger Ueberlegung zu dem Schluss
kommen: nichts ist verkehrter, als jene heftige Abneigung des Hand-
werkers gegen den Kaufmann! Statt dass er die „Concurrenz* dieses
Kaufmanns im Verkaufe von Waaren ununterbrochen befehdet, sollte
er in ihm einen Freund und Verbündeten erfassen. Wie könnte er
sich dann freuen über das grosse gezierte wohlgelegene Verkaufslocal,
das er jetzt mit heftigem Neid betrachtet, über die gewandte Suade
im Anpreisen, die er jetzt verwünscht, über die ganze Regsamkeit des
Vertriebes, gegen den er so gern die Polizei einschreiten liesse. Allein
für Meliorationen muss man die Mittel wählen, zu denen man „in
seiner Zeit das Zeug hat“. Auch eine Association zwischen Hand-
werker und Kaufmann wird schwerlich zu Stande kommen, ehe der
Handwerkerstand die Phase der Handwerkerassociationen für Errich-
tung gemeinsamer Verkaufshallen durchgemacht hat. Zweifellos
liegt in ihnen ein grosser Fortschritt gegenüber den vorhandenen Zu-
ständen. Wohl darf nicht verschwiegen werden, dass keineswegs an
allen Orten durch Gewerbshallen die erfreulichen Folgen in Erfüllung
gebracht sind, die man vor ihrer Begründung hegte. Aber man wird,
auch abgesehen davon, dass uns das Lehrgeld auch für die Durch-
führung der besten Einrichtungen nicht erspart zu werden pflegt, und
dass nicht eine Einrichtung daran schuld ist, wenn man Uebertriebenes
und Unmögliches von ihr erwartet, durchgehends finden, dass die
Ursachen des Mislingens und Mindergelingens in den Fehlgriffen der
Personen lagen, welche mit der Einrichtung der Unternehmung und
der Durchführung des Betriebes beauftragt waren. Es geht mit sol-
chen Dingen wie mit den Gesetzen. Dass sie gut sind, ist nur das
Eine, was Noth thut, das Andre hängt von den Personen ab, die sie
handhaben. Die Gewerbshalle ist übrigens zugleich als eine Art per-
manenter kleiner Industrieausstellung anzusehen, auf welcher der
Handwerker selbst die eigne Produktion mit der des Genossen ver-
gleichen kann, während. auch dem Käufer Vergleich und Auswahl
möglich gemacht wird. Sie eröffnet, wenn sie in passende Beziehung
zu einer Handwerkerbank gebracht wird, auch dem ärmeren Meister
die Möglichkeit, auf Vorrath zu arbeiten, und beseitigt jedenfalls die
Gründe der Bedenken, die man so oft gegen die Annahme von Hand-
werksprodukten als Deckungsmittel für Vorschüsse erhoben hat. —
Es ist wohl hier die beste Stelle, daran zu erinnern, dass die Hand-
werker so lange, wie ihre bisherige Stellung zum Kaufmannsstande
— 48 —
noch nicht überwunden ist, gleichfalls in der Association das Mittel
finden können, um das Exportgeschäft überhaupt und stetig auch
für ihre Produetion aufzunehmen. Es setzt das freilich eine ganz
andere Verkehrsweise der Handwerker unter einander als die bisher
übliche voraus. Allein zu dieser Aenderung drängt sie eben auch in
der That Alles hin. Ist sie einmal erreicht, so können sie auch einen
gemeinsamen Verkauf durch gemeinschaftliche Uebernahme umfassender
Bestellungen einleiten, denen die Arbeitskräfte der einzelnen Werkstätte
nimmermehr gewachsen wären.
‚Wir haben diese beiden Arten von Associationen voran- und
zusammengestellt, weil sie in keiner Weise die Fortsetzung eines ganz
selbständigen Betriebes nach seither gewohnter Art dem Einzelnen
verwehren. Dies gilt nicht mehr so allgemein für die noch zu be-
sprechenden Associationen, die im Gegentheil theilweise gerade nur
dadurch möglich werden, dass der Einzelne etwas von jener ganz
‘freien Selbstbestimmung aufgiebt und seinen Einzelwillen einem Ge-
sammtwillen unterwirft.
3) Assoeiationen für die Verfertigung der Handwerks-
producte.
Auch an dieser Stelle drängt sich zunächst die Wahrnehmung
auf, dass es gar nicht darauf ankommt, für Besserung der Lage der
Handwerker ganz neue Dinge auszusinnen. Die Handwerker müssen
vornämlich das Rüstzeug durchmustern, mit welchem der Grossbetrieb
seine wohlberechtigten Erfolge erlangt, müssen sich von ihm so vieles
als möglich anzuschaffen suchen und die ihnen eigenthümlichen Waffen
damit in Verbindung setzen. Wir glauben unterscheiden zu sollen
Association
a. für Arbeitsverrichtungen Einzelner nach einander.
Die Production der einzelnen Waaren und mehr noch die Ge-
sammtgeschäftsführung im Handwerk setzt sich aus einer bald grösse-
ven bald kleineren Reihe von einzelnen Arbeiten zusammen. Jede
dieser Arbeiten ist eben nothwendig, macht aber meist doch nur einen
Theil der Gesammtarbeiten, die den Arbeitsgehülfen, und immer nur
einen Theil derjenigen aus, die den Geschäftsvorstand selbst im Ganzen
beschäftigen. Sind nun schon die gewöhnlichen Werkzeuge doch der
Art, dass sie immer nur sehr speeielle Dienstleistungen verrichten, so
gilt das gewöhnlich noch mehr von der eigentlichen Maschine, welche
bekanntlich um so eher in Thätigkeit kommen kann, je einfacher die
erforderte Arbeitsleistung ist. In allen Fällen also, wo sich kostspie-
lige Werkzeuge und Maschinen nur dann verwerthen, wenn sie fort-
— 49 —
während oder doch den grössten Theil des Tages in Thätigkeit sind,
ist der Kleinbetrieb, nicht aber der Grossbetrieb an ihrer Verwendung
behindert. Hier kann durch die passende Association der Handwerker
auf der Stelle geholfen, die Maschine u. s. w. für ihre Production
erobert werden. Das bekannteste Beispiel liefert die sog. Schnellpresse,
welche vielleicht vier Besitzer kleiner Druckereien mit einander, nicht
aber die einzelnen für sich allein beschäftigen und verwerthen können.
b. für Arbeitsverrichtungen Einzelner neben einander.
Der Ausgangspunkt des wirthschaftlichen Raisonnements, welches
zu ihrer Empfehlung führt, liegt theils in einer Verminderung der
Productionskosten, theils in einer Verbesserung der Güter, welche zur
sog. productiven Consumtion verwendet werden. Thun sich ganze
Reihen von Handwerksgenossen zusammen, so können sie ein wohl-
gelegenes, gesundes und schönes Arbeitslocal beziehen, Heizung des
Arbeitslocales, Licht und alle jene Aufwandskosten gemeinsam haben,
die sie vereinzelt viel schlechter nach Gestalt und Materie mit einer
regelmässig beträchtlich grösseren Gesammtsumme bezahlen. Verge-
genwärtigen wir uns, wie vor unseren Augen ununterbrochen Tausende
und aber Tausende als Mitglieder von Collegien, Aemtern u. s. w.
Tag für Tag in ihre gemeinsamen Geschäftsstuben und Hallen wan-
dern, so kann wohl nicht mehr von „praktischen“ Bedenken die Rede
sein, ob es auch möglich gemacht werden könne, dass die Schuhmacher,
die Schneider, die Uhrmacher u. s. w. Frühstück, Mittags- und Abend-
brod daheim geniessen, dazwischen aber an ihre Arbeitsstellen in der
gemeinsamen hellen, gesunden und billigen Geschäftsbude ziehen. Schon
soweithin wird sich die Neuerung ohne Weiteres zumal für die är-
meren Meister empfehlen. In der Praxis hat sich aber bereits diese
Vergesellschaftungsform auch dahin erweitert, dass überhaupt die Ge-
schäftsführung der vereinigten Arbeiter eine einheitliche wurde, an
deren Erfolgen jeder Einzelne nach Maassgabe der von ihm eingelegten
Arbeitsquoten theilnahm. Auf diese Weise macht sich denn auch am
leichtesten die Uebernahme grosser Arbeitsaufträge durch die verbun-
denen Kleinbetriebler, welche bisher fast nur den Unternehmern um-
fassender Grossbetriebe zufallen konnten. Namentlich in Paris sind
solche Reunions und Societes von Arbeitern und Arbeiterinnen in den
letzten Jahren rasch emporgediehen. Es liegt auf der Hand, dass
gleichzeitig auch Arbeitstheilung eintreten kann, im Ganzen wie
unter Einzelnen, wodurch dann die speciellen Fähigkeiten der Einzel-
nen sich noch besonders verwerthen. Hierauf zunächst beruhen dann
überhaupt die Associationen
— 4120 ° —
e. für Arbeitsverrichtungen Einzelner mit oder für einander.
Allerdings hatten die ehemaligen Zunftordnungen mit ihren Ab-
scheidungen der Gewerbbetriebe auch das Ergebniss, dass sie einerseits
eine bestimmte Arbeitstheilung aufrecht erhielten und andererseits bis
zu einem gewissen Punkte hin eine Arbeitsvereinigung feststellten. Es
ist aber ohne Frage seitdem die Entwicklung dahin gediehen, dass
heutzutage jene vom Handwerker selbst oft begehrte
Arbeitstheilung viel zu wenig ins Detail herabsteigen
und jene Arbeitsvereinigung umgekehrt viel zu weit
hinter dem Nothwendigen zurückbleiben würde Und
zweifelsohne haben wir in unserer Zeit sogar die Thatsache vor uns,
dass sich gleichzeitig noch immer mehr die Entwicklung der Produe-
tion wie nach den entgegengesetzten Seiten einer Linie hin von dem
Mittelmaass der älteren Zeit entfernt. Man bedenke wohl, dass
Wachsthum der Arbeitstheilung und Wachsthum der Arbeitsvereinigung
nur in gewissem Sinne sich an und für sich gegenseitig completiren.
Der „Grossbetrieb* stellt nicht bloss dadurch eine Arbeitsvereinigung
her, dass er die Arbeiten, die früher ein Meister vollführte, durch
zwanzig Verschiedenes arbeitende Menschen ausführen lässt, sondern
auch so, dass er etwa 200 Menschen in 10 Gruppen neben einander
dasselbe Product darstellen lässt, — dass er den Schmied und den
Wagner jetzt in einer und derselben Werkstätte vereinigt u. dgl. m.
Unsere Handwerker verhalten sich bis jetzt regelmässig feindlich ge-
gen beide Entwicklungsrichtungen, sie erheben gleichzeitig ihre Klagen
gegen den Grossbetrieb, weil er besser arbeitet in Folge grösserer
Arbeitstheilung und weil er oder auch selbst ein einzelner Handwerks-
genosse in seiner Arbeitsstätte etwa Schreiner- und Tapezierer-Arbeiten
zugleich machen lässt, oder allzuviele Arbeitsaufträge allein überneh-
men kann. Damit stellt sich aber der Handwerker auf den Kopf,
und er ist es, der wieder auf die Füsse gestellt werden muss. Denn
der Fortschritt der Arbeitstheilung beruht ebenso sicher auf einem
technischen wie die Zusammenfassung von mehr Arbeit auf einem
öconomisch richtigen Raisonnement, welches in seinen festen Grund-
lagen weder durch die Klagen der einzelnen Bedrängten noch durch
die Phrasen der Träumer erschüttert wird. Auch hier kann der
Handwerker durch Assoeiation seine Interessen und Leistungen wieder
in Einklang mit den Entwicklungen der Gegenwart bringen. Dass
die Käufer, welche bereit sind, z. B. ein Canapee durch die Hand-
werker ihres Wohnortes fertigen zu lassen, erst mit dem Möbelschrei-
ner, dann mit dem Polsterer, dann mit dem Bortenmacher u. s. w.
— 421 —
verhandeln sollen, wird man nachgerade kaum noch verlangen wollen.
Können und wollen deshalb jene Handwerker weder Einem von ihnen
die Stellung des Unternehmers zugestehen, noch auch es fernerhin er-
träglich finden, dass die für dasselbe einzelne Product erforderlichen
Arbeitsleistungen in verschiedenen Werkstätten verkehrterweise aus-
einandergehalten werden, so mögen sie sich auf paritätischem Fusse
unter einander zu gemeinsamer Arbeitsverrichtung vergesellschaften.
Es werden dann ihre lächerlichen Befehdungen aufhören und doch die
zweckdienliche Arbeitstheilung verbleiben. Dies ist ein Beispiel, wo
verschiedene Gewerke zusammentreten können. Ein zweiter Fall stellt
sich darin dar, dass innerhalb desselben Gewerkes sehr häufig ver-
schiedene Leistungen verlangt werden, jeder Meister bis jetzt alle
darbietet, während doch der eine diese, der andere jene entschieden
besser ausführt. So ist es ja bekannt, dass z. B. unter den Schuh-
machern der eine besser das gröbere, der andere besser das feinere
Schuhwerk zu verfertigen pflegt. Regelmässig stellt sich auch in dem
kleinsten Städtchen das gute Renommee in Bezug auf „Damenschuhe“
und „Herrenschuhe“ für verschiedene Arbeitsstellen ein. Selten wird
demselben Schneider eine gute Verfertigung von Rock, Weste und
Beinkleid zugleich nachgerühmt u. dgl. m. Es ist bekannt, dass in
grösseren Städten die hier sich empfehlende Arbeitstheilung durch
vollständig von einander getrennte Handwerkstätten oder so vollzogen
wird, dass unter einem Geschäftsvorstand verschiedene Arbeitskräfte
stets für dieselbe Theilarbeit allein verwendet werden. Anderwärts
aber macht eben jeder Handwerker alle Kleidungsstücke trotz seiner
sehr verschieden grossen Geschicklichkeit für die einzelnen, und die
weitaus grösste Masse der Kunden ist nicht in der Lage, beziehungs-
weise nicht einmal gewillt, für die Bedürfnisse des Hauses drei
Schneider u. s. w. zugleich in Arbeit zu setzen. So bleibt denn jener
überall bekannte Zustand nicht aus: Klagen der Consumenten, dass
auch das fast nur auf Handarbeit angewiesene Handwerk in den
kleineren Städten weit hinter dem Handwerk in den grösseren zurück-
bleibe, dass es „ganz ungleich“ arbeite — schliesslich wo möglich
Bestellungen in der grossen Stadt, Kauf auf der Messe u. dgl. —
auf der andern Seite steigende Arbeitslosigkeit des Ortshandwerkers.
Und doch braucht er von dem Augenblick an nicht zurückzubleiben,
wo er zustimmend erkennt, dass es die gegenwärtige Aufgabe des
Handwerkers ist, die Arbeitstheilung soweit es irgendwie geht bei sich
einzubürgern und dass sich dieselben Arbeitskräfte auf dem Wege
Wissenschaftliche Monatsschrift, 27
freiwilliger Vereinbarung verbinden können, die sonst von dem Unter-
nehmer zusammengefasst werden.
Eine dritte Form von Assoeiationen dieser Reihe ist dort ange-
zeigt, wo innerhalb desselben Gewerks zur Herstellung des „Ganz-
fabrikates“ eine Anzahl von nacheinander auftretenden verschieden-
artigen Arbeitsleistungen erforderlich sind. Wir erinnern beispielsweise
an das Uhrmachergewerbe. Hier sind auch, wenn gewisse Arbeits-
leistungen nach wie vor der mit Maschinen arbeitenden Fabrikation
überlassen bleiben, so verschiedenartige Arbeitsverrichtungen der
menschlichen Hand erforderlich, dass die Erfolge einer passenden
Association gegenüber einer Uhrenproduction, in welcher nach der
einen Seite hin der Fabrikarbeit, nach der andern hin demselben
Handwerker zu viel Dienstleistungen überlassen bleiben, durchaus
sichergestellt sind. Man hört oft, dass der Handwerker im Gegensatz
zum Fabrikarbeiter für alle Arbeitsleistungen seines Ganzfabrikates
tüchtig sein müsse. Diese Tüchtigkeit kann er immerhin behalten,
aber man verwechsle sie nicht mit einer gleichmässigen, gleich grossen
Tüchtigkeit für alle! Auch unsere wissenschaftliche Production wird
durch Leute beschafft, die zuerst die allgemeinen und gesammten
Grundlagen ihrer Diseiplin sich gesichert haben, hernach aher befähi-
gen sie sich zu besonders werthvollen Leistungen dadurch, dass sie
sich mit besonderem Nachdruck auf Specielles werfen. Eine gewisse
Beschränkung der Fähigkeit ist die nothwendige Ergänzung zu dem
besonderen Erfolge der Arbeitstheilung. Der Handwerker muss eben
auch wie jeder Producent aus der früheren Lage: verhältnissmässig
grössere Tüchtigkeit für alle Arbeitsverrichtungen des Geschäfts neben
geringerer für einzelne — heraus in die der Gegenwart: verhältniss-
mässig geringere Tüchtigkeit für alle Arbeiten neben grösserer für
einzelne. Dies Verhältniss ist unvermeidlich, wenngleich der heu-
tige Handwerker selbst eine grössere Tüchtigkeit für alle Arbeits-
verrichtungen seines Geschäfts haben sollte, wie der Handwerker vor
achtzig Jahren.
Ehe wir hiernach zu einer weiteren grossen Hilfsquelle für den
Handwerkerstand in unserer Zeit übergehen, wird es sich der Mühe
lohnen, noch
II. Einige besondere Reformen für die Geschäfts-
führung des Handwerks
in Betracht zu ziehen.
Allerdings zielen ja alle unsere Vorschläge der Sache nach zu-
— 123 —
gleich auf solche Reformen hin. Allein andere erhalten ihre Normen
von gewissen Hauptgesichtspunkten her, die durch einzelne allgemeine
Grundtriebe in der wirthschaftlichen Bewegung unserer Tage gegeben
sind. Die üblichen Gesichtspunkte für die Geschäftsleitung des Hand-
werkes lassen aber auch an vereinzelten Stellen besondere, gewöhnlich
althergebrachte Schwächen erkennen, die das Handwerk in Nachtheil
bringen, ohne dass von einer es bedrängenden Concurrenz irgend-
wie die Rede sein kann. Wir wollen hier nur auf ein paar Punkte
dieser Art aufmerksam machen, zunächst
1. auf den Verkauf zu nicht festen Preisen. Der
Nachtheil des Verkaufes zu unfixirten Preisen ist in der That weit
grösser als man glaubt, wie diese Verkaufsweise denn auch mit lauter
bedenklichen Beweggründen zusammenhängt. Wir erwähnen nur, dass
der Handwerker jedenfalls gleichzeitig zu ungleichen Preisen dieselben
Producte verkauft. So muss er stets einen Theil der Kunden erbittern
und von jedem verständigen Menschen fortwährend als „unsolider“
Geschäftsmann angesehen werden. Wir werden hier nicht auszuführen
brauchen, warum Jedermann den Laden mit festen Preisen entschieden
vorziehen muss, Während das in der That immer mehr geschieht,
hält der Handwerker, der eben selbst gern feilscht und sobald er kann
mehr nimmt als er sollte, seine „practischen* Beweise in die Höhe,
dass diese und jene alte oder junge Frau den Laden einmal lieber
verlassen würde, wenn er nicht einen zum Schein vorgeschlagenen
Groschen wieder nachlässt. Es gehört aber mit Recht zu den ent-
schiedenen Empfehlungen des Grossbetriebes bei dem Publikum, dass
dort feste Preise aufgestellt werden, bei denen Jeder nicht nur die
Garantie hat, dass er mit allen anderen Käufern auf gleichem Fuss
behandelt wird, sondern auch sicher ist, dass der Fabrikant diesen
Preis haben muss. Und das führt uns
2. zu der Mahnung, dass auch der Handwerker seine Preise
nicht so hoch stelle, als er sie noch im einzelnen Falle erhalten kann,
sondern so hoch, beziehungsweise so niedrig, als er sie stellen muss.
Der Handwerker übersieht nur zu leicht den grossen Nachtheil jeg-
licher Ueberforderung für seine Zukunft, für die Dauer seines Geschäfts
und wie geringe Bedeutung der ein- oder zweimal in der Woche dem
‚Kunden aufgeredete unbillig hohe Preis für die Gesammtführung des
Geschäftes hat. Nicht der Grossbetrieb, wohl aber die grösste Zahl
der Handwerker begeht den Fehler, es für besser zu halten, dass in
derselben Zeit durch den Verkauf von nur 4 Stück Waaren 8 Franken,
statt an 8 Stücken 12 Franken verdient werden. Und doch kann
— 44 7 —
sich jeder Meister sagen, dass die Höhe der Preise und die Stärke
des Absatzes nicht von einander zu trennen sind, und dass wohl in
jedem Handwerk die Lage des Meisters von dem Augenbliek an
merklich gebessert wird, wo er den ersten Gesellen vollauf beschäf-
tigen kann. Freilich gehört zu alledem, dass der Handwerker sich
selbst genau vorrechnen kann, welche Produetionskosten in dem ein-
zelnen Product stecken, dass er iiberhaupt eine ordentliche Buchführung
über sein Geschäft hat. Aber in diesem Punkte sieht es in ‚den
Handwerksstätten sehr übel aus. Ich selbst habe hierüber freilich
nur in vier verschiedenen Städten mit Handwerkern genauer verkehrt,
aber ich glaube nicht, dass man an anderen Orten günstigere Erfah-
rungen sammeln würde.
Von ganz fundamentaler Bedeutung ist, dass
3. der Handwerker erkenne, wie auch für seine Geschäftsthätigkeit
eine weit grössere Beweglichkeit nothwendig geworden ist, wie er
stets darauf gefasst sein muss, zu Aenderungen zu schreiten, welche der
Umsehwung der Verhältnisse ausserhalb seiner Werkstätte aufnöthigt.
Wie der Muth zur Tollkühnheit wird, wenn keine Chance des Gelin-
gens mehr ersichtlich ist, so die Beständigkeit zum Starrsinn, wenn
das Beharren nur zum Verderben führen kann. Dass letzteres der
Fall ist, wenn
a. der Handwerker bei einer Technik bleibt, welehe dureh un-
widersprechliche Verbesserungen zu schlecht oder zu kostspielig ge-
worden ist, wird Niemand bezweifeln. Es vermag dann auch der ei-
serne Fleiss nichts Merkliches auszurichten. Genau mit denselben
Gründen ist es aber auch ganz entschieden zu verurtheilen, wenn
b. der Handwerker die Conceurrenz der Maschinenarbeit auf glei-
chem Terrain aushalten will. Die Maschine ist sein grösster Freund,
wenn er sie benützt, sein unüberwindlicher unbarmherziger Feind,
wenn er sie bekämpft. Im ungleichen Kampfe giebt der Kluge frei-
willig nach, der Schwache muss nachgeben. Nicht nur dem in der
Fabrik selbst beschäftigten Arbeiter, sondern auch dem Handwerker
draussen thut es Noth zu wissen, dass Jeder der Sache nach sein
Feind ist, der ihm von einer Bekämpfung der Maschinenarbeit etwas
verspricht. Der Handwerker ist es, der in seiner Arbeitsweise Ver-
änderungen vornehmen muss. Er hat dazu mehrere Wege. Es kann,
wie wir schon sahen,
«) auf dem Wege der Association eine Genossenschaft von Klein-
betrieblern sich in Besitz und Verwendung der Maschine setzen, die-
selbe also zum Arbeitsgehülfen machen. Oder es muss der Handwerker
— 425 —
P) sich dem Maschinenbesitzer und Grossunternehmer anschliessen.
Wir erinnern beispielsweise daran, dass ein Stellmaecher u. s. w. nicht
daran denken kann, eine Coneurrenz gegen die Unternehmer einer
Eisenbahnwaggonfabrik aufrecht zu erhalten. Aber wie viele derselben
werden reichliche Arbeit und einen guten Verdienst dadurch erhalten,
dass sie in der Fabrik Arbeit nehmen. Es geht dabei freilich die
frühere selbständige Stellung des „Geschäftsvorstandes“ verloren, mit
ihr zieht aber auch das Risico des Betriebes hinweg und die Sicher-
heit des Brodes durch stetige Arbeit ein. Für viele Gewerke eröffnet
sich der andre Weg, dass sie
y) der Maschine die betreffenden einfachen Arbeitsleistungen
überlassen und zu künstlicheren, der Maschine unzugänglichen vor-
schreiten, beziehungsweise sich auf diese beschränken. Wir erinnern
hier beispielsweise daran, wie die Nagler Schritt vor Schritt in vielen
Gegenden einzelne Arbeiten der Nagelfabrikation überlassen haben und
andere sich erobern und festhalten konnten. Ebenso weiss Jedermann,
wie viele und sehr gut bezahlte Arbeit im „Uhrmachergewerbe* ver-
dient wird, seitdem grosse Partien von Maschinenarbeit in demselben
acceptirt werden und sich ganze Reihen von „Uhrenmachern* nur
darauf beschränken, gewisse einzelne Arbeiten vorzunehmen, die ihnen
die Fabrikproduetion überlassen muss. Wir haben hier wie an an-
deren Gewerksarbeiten sogar die vollendete Thatsache vor uns, dass
die ausserordentlich vervielfältigte Consumtion und die überraschend
erleichterte Communication es den Handarbeitern möglich gemacht
haben, in irgend einem Winkel des Gebirges sich durch Ausführung
einer kleinen Parcelle von Arbeit an dem Ganzfabrikat in voller Selb-
ständigkeit der Haushaltung aufrecht zu halten.
Es ist aber auch anzuerkennen, dass
e. der Kleinbetrieb oft an dem einen Orte alle Hilfsquellen des
Fortbestandes verlieren kann, während sich ihm an einem andern ein
reichlicher Erwerb neu eröffnet, dass er also jene Beweglichkeit even-
tuell in einem Platzwechsel bekunden muss. Nicht nur die grosse
Industrie hat ihren naturgemässen Standort, d. h. findet stets nur an
bestimmter Stelle die günstigen Bedingungen ihres Bestandes, und
nieht nur sie hat sich in unserer Zeit zu wahrlich sehr starken Platz-
wechseln veranlasst gesehen. Es gilt das auch in vielen Fällen für
unsere kleinen Leute, denen dann das Ausharren ein Ausharren bis
ans Ende wird. Was könnte es jener Reihe von Gewerken für die
Bedürfnisse des Frachtfuhrwerkes helfen, wenn sie an der durch die
nahe Eisenbahn verödeten Landstrasse fortsitzen blieben? Muss doch
— 426 —
auch der Frachtfuhrmann selbst im Ausweichen vor der Maschinen-
arbeit der Locomotive auf einer andern Strasse einherziehen oder gar
sein schweres Viergespann mit leichten Läufern vor Kaleschen und
Droschken vertauschen. Gerade hier ist aber auch nicht zu übersehen,
wie es eben die Fabriken, die mit Maschinen arbeitende -Grossunter-
nehmungen sind, welche ihrerseits selbst wieder neue Kleinbetriebe ins
Leben rufen und in Flor bringen, von denen man früher gar keine
Ahnung hatte — einer der stärksten Beweise gegen die vielverbreitete
Anschauung, dass das Kleingewerbe überhaupt gegenüber den sich so
vermehrenden Grossbetriebsunternehmungen keine Zukunft mehr habe.
Alle diese Folgen der Maschinenarbeit für das Kleingewerbe sind
um so nachdrücklicher hervorzuheben, weil die Maschinenarbeit in
unserer Zeit in der That eine immer grössere Masse von Arbeitslei-
stungen übernimmt — eine Entwicklung, die weder gehemmt werden
kann noch soll. Sie findet einmal schon dadurch statt, dass die Ma-
schine in neuen Territorien oder in bisher noch nicht betretenen Ge-
werken Arbeiten übernimmt, die sie schon in derselben Art anderwärts
leistet. Sodann aber werden fortwährend nach der einen Seite hin
zusammengesetzte Arbeiten durch Zerlegung in einfachere Parcellen
gleichsam handgerecht für die Maschine gemacht, nach der andern
umgekehrt künstlichere Maschinen zur Leistung complieirterer Arbeiten
befähigt. Was wir darin auch nur in der nächsten Zukunft schon
erleben werden, ist nicht abzusehen, seitdem rasch nach einander drei
Handwerke wie das der Schneider, der Bäcker und der Schuhmacher
so unvermuthet die Maschinenarbeit in ihrem Geschäft haben möglich
machen sehen.
IV. Die Hilfsquellen der Wissenschaft und der Kunst für
das Handwerk.
Es mag diese Ueberschrift für manches Ohr zunächst etwas stolz
klingen — aber wie sehr ist sie in unserer Zeit berechtigt! Es kann
gar nicht mehr bezweifelt werden, dass die Chemie, die Physik, die
Mathematik, die Mechanik, die politische Oeeonomie für die Geschäfts-
thätigkeit der Handwerker von entscheidender Bedeutung geworden
sind. Es ist nun einmal in der Gegenwart ein ganz ausserordentlich
rascher technischer Fortschritt gerade auch in der kleinen Industrie
möglich gemacht — eben deshalb muss er von Allen, die nicht
zurückbleiben und verkümmern wollen, aufgenommen werden. Ver-
besserungen der Waaren, Minderung des Aufwandes bei der Herstel-
lung, Erleichterung der Arbeit werden oft durch überraschend einfache
— 427 —
Wahrheiten der Wissenschaft an die Hand gegeben. Es vergeht kein
Monat, ohne dass nicht einer ganzen Reihe von Gewerken diese und
jene wissenschaftliche Entdeckung zugetragen wird. Man wird sich
aber aus der Natur der Sache leicht vergewissern können, dass es für
den Hendwerker regelmässig nicht genug ist, das Recept einfach hin-
zunehmen, einigermassen wenigstens muss er auch sich über den cau-
salen Zusammenhang der Sache, über die allgemeinsten Grundlagen,
auf denen das Mittel beruht, Einsicht verschaffen können, wenn er
nicht an Kleinigkeiten bei der Durchführung scheitern, beziehungsweise
harten Lehrgeldskosten verfallen soll. Und hätte der Handwerkerstand
die allgemeinen Grundwahrheiten der politischen Oeconomie inne, er
würde, statt Träumereien nachzuhängen, deren Verwirklichung theils
unmöglich ist, theils ihm selbst höchst nachtheilig sein würde, sich
als einen kleinen Theil des Ganzen erfassen, durch dessen Bewegung
auch seine Balınen bestimmt werden. Wahrlich, gleichwie die kleinen
Leute rechnen und schreiben lernen, weil sie rechnen und schreiben
müssen im Leben, so werden sie in nicht mehr langer Frist die
Grundsätze des Güterlebens, des wirthschaftlichen Verkehrs erlernen,
weil sie mit all ihrer Thätigkeit, mit ihrem Wohl und Wehe in die-
sem Verkehr leben und weben. Es wird dahin kommen, dass die
Staaten, welche den elementaren Unterricht in der politischen Oeconomie
nicht mit einem Acte der Volkswirthschaftspflege der Volksschule
eimverleiben, es mit einem Acte der Nothwehr thun müssen gegen
die Propaganda wahnwitziger Theorien, deren Verlockungen gerade
die wirthschaftlich Kränkelnden ebenso leicht Glauben schenken, wie
der physisch Kranke in den unteren Volksschichten den unsinnigsten
Versprechungen des marktschreierischen Charlatans. Während auf
diesem Boden bei uns freilich noch die ersten — leider schweren! —
Schritte zu thun sind, wäre es höchst ungerecht; die grossen Erfolge
zu verkennen, welche im Uebrigen durch die energischen Anstrengun-
gen der Staatsregierungen auf dem: Gebiete des gewerblichen Unter-
richts bereits eingetreten sind. In der That, wir sollten bei aller
Anerkennung ausländischer Erscheinungen, wie z. B. der Mechanie
institutions in England, mit Entschiedenheit unsere freudige Zufrieden-
heit mit unseren Lehrlingsschulen, Realschulen, Bürgerschulen, Gewerbs-
schulen u. dgl. bekennen. Es gilt hier wahrlich nur, fortzufahren und
immer weiter zu bessern, nicht mehr „einzuführen“. Gerade der
„Industrielle“ hat vollauf Ursache, sich durch einen Vergleich der
Schulen in seiner Kinderzeit mit denen für seine Kinder zur Dank-
barkeit für die Gegenwart verpflichtet zu fühlen, und wenn er auch
— 4283 —
dem Raisonnement romantischer Sophisten nicht gewachsen sein sollte,
wenn sie „die goldenen Früchte“ des Bakels, der „wenigen aber so-
liden Kenntnisse“ u. s. w. auskramen, so mag er, der mit dem Leben
vertraute Geschäftsmann, sich nur die Frage vorhalten: ob er die
eignen Kinder lieber in die „alten“ ‘oder in die „neuen“ Schulen
schicken möchte. Wer selbst mit den Handwerkern unserer Tage
verkehrt hat, wird auch überall gefunden haben, dass wirklich auf
den Aeltern weitaus stärker der „Druck der Zeit“ lastet, als auf den
durch die verbesserten Schulen hindurchgegangenen Anfängern und
jungen Meistern.” Auch das sehen wir als eine höchst erfreuliche
Erscheinung unserer Unterriehtsanstalten für die Gewerbtreibenden an,
dass endlich der Unterricht im Zeichnen zu seinem Rechte gelangt.
Welche Bedeutung hat er für den Gewerbsmann zumal auch als das
grosse Bildungsmittel seines Geschmackes! Die Volkswirthschafts-
„Gelehrten“ haben beharrlich ihre Freude daran, wenn die handarbei-
tenden Classen eine etwas „grössere Zahl von Bedürfnissen“ — so-
fern diese überhaupt sittlicher Mensehen würdig sind — „angewöhnt*
— sollten wir uns in echt menschliehem Interesse nicht auch freuen,
wenn der Stand der kleinen Gewerbtreibenden geistig dadurch auf
eine etwas höhere Staffel gehoben wird, dass man auch von ihm einige
Kenntniss in den Elementen von Wissenschaften, ja ästhetischen Ge-
schmack verlangt? Mag sich auch der Bauhandwerker, der Möbel-
schreiner, der Zimmermaler, der Lakirer u. s. w. u. s. w. anfangs ärgern
und beschweren über die gesteigerten Anforderungen, welche an ihn
gestellt werden, nach einiger Zeit wird er zum Manne, der diese An-
forderungen versteht, ja ihnen neubildend zuvorkommt! Der Hand-
werker sieht sich selbst durch die Maschine, seinen „Feind“, in eben-
derselben Richtung vorwärts gedrängt. Er wird Hilfsmittel genug
finden können, wenn er der sicheren Stärke des Automaten die beweg-
liche Erfindungskraft des menschlichen Geistes, wenn er dem gleich-
förmigen Tacte des Mechanismus die individualisirenden Gestaltungen
der künstlerischen Hand entgegenzustellen fähig ist.
Für den Handwerker unserer Tage darf sich das Lernen nicht
mit der Schule abschliessen, auch nicht das schulmässige Lernen,
wenn man anders dieses Wort nicht misdeutet. Vergessen wir auch
hier nicht, dass in dem durch die Verbesserung der Transportmittel
unabsehbar erleichterten Verkehr nunmehr auch für die handarbeitende
Klasse die Bildungsschule des Reisens und Sehens auf Reisen eröffnet
worden, beziehungsweise nicht mehr auf die Zeit der freilich auch so
erleichterten Wanderschaftsjahre beschränkt ist. Von besonderer Be-
—— 429 —
deutung erscheinen sodann hier die Gewerbvereine. Sie können
auch als eine Hilfsquelle der Association angesehen werden, wie denn
auch ihre erste Entstehung vielerorts sogar als die Frucht einer Ver-
gesellschaftung zu betrachten ist, welche sich die Erreichung eines
bestimmten einzelnen Zieles, etwa einer Verständigung über eine Bitt-
schrift u. dgl. zur Aufgabe setzte. Sie müssen heutzutage vornämlich
als eine Schule für den erwachsenen Gewerbsmann angesehen werden.
Es darf sich für sie nieht allein, auch nicht hauptsächlich um gesellige
Unterhaltung handeln, obwohl wir diese friedlichen Besprechungen
eines in sich zerklüfteten und verhetzten Standes nicht gering anschla-
gen wollen. Aber Hauptsache muss die Beschaffung und Benutzung
einer zweekdienlichen kleinen Bibliothek, die regelmässige Lecture der
technischen und gewerbswirthschaftlichen Zeitschriften und wenn irgend
möglich das Lernen aus passenden Vorträgen und Besprechungen über
technisch und wirthschaftlich dem Gewerbsmann bedeutsame Gegen-
stände sein. Möchten doch gebildete Männer, welche Herz für das
arbeitende „Volk“ haben, zumal aus den Reihen der Lehrer aller
Art und der Beamten der inneren Staatsverwaltung erkennen, wie ihnen
in unseren landwirthschaftliehen ünd gewerblichen Vereinen eine treff-
liche Gelegenheit zu segensreicher Wirksamkeit gegeben ist und wie
viel grösser der Dienst ist, welchen sie dem Gewerbsmann erweisen,
wenn sie ihm monatlich einige Stunden Zeit widmen, wie wenn sie
sich bei der Almosenbüchse der unverzinslichen Capitaldarlehen und
sonstigen Geschenke an den Handwerker obenan stellen. Es bedarf
kaum der Andeutung, dass diese Gewerbvereine auch ein fortdauerndes
passendes Organ darstellen, durch welches der Handwerkerstand am
besten seine Anliegen z. B. für Gründung einer Crediteasse, einer
Gewerbshalle u. dgl. zur Durchführung anregen lassen kann. Die
Staatsregierungen aber gewinnen hier ohne allen Kostenaufwand eine
Kraft, die bereit sein wird, gutachtliche Berichte über projectirte
Maasregeln und Gesetzentwürfe, sowie Schilderungen der Zustände und
Aussichten der Gewerbe vorzulegen.
Indem wir an dieser Stelle unsere Grundlinien abschliessen wollen,
ist es vielleicht nicht unnöthig, noch einmal darau zu erinnern, wie
wir in unserem ersten Artikel die Aufgabe begründet haben, vornäm-
lich einer inneren Reform des handwerksmässigen Betriebes das Wort
reden zu wollen. Die positive Thätigkeit resp. der Aufwand, welchen
die Staatsgewalt in der Errichtung und Verbesserung der Unterrichts-
anstalten eintreten lässt, wird regelmässig von jedem verständigen
— 430 —
Manne freudig begrüsst werden — wie zweifelhaft ihm auch andere
Arten von Hilfleistungen erscheinen mögen. Im Uebrigen ergeben sich
die Aufforderungen zu entsprechender positiver Thätigkeit von selbst.
Absichtlich haben wir es unterlassen, Wort für Wort die Formen aus-
zuprägen, in denen sich die durch die vorgetragenen Ansichten em-
pfohlene helfende Thätigkeit der Staatsbehörde gestalten soll. Denn
wir sind überzeugt, dass die Staatsbehörden dieselben ohne Weiteres
von selbst zu fördern vermögen. Selbst die oft bespotteten „Protee-
tions“-Maassregeln der französischen Regierung in der Blüthezeit der
„Reglementirerei* werden eigentlich nur durch eine Verwechslung
zwischen Zweck und Mittel so streng verurtheilt. Will einmal eine
Staatsregierung den Geschäftsführer in der gewerblichen Produetion
machen, so ist es ganz natürlich und sachgemäss, dass sie die Länge
und Breite der gewebten Zeuge, den Preis bei dem Angebot der
Waaren, den Arbeitslohn u. s. w. festsetzt. Das muss eben der Ge-
schäftsführer wirklich, und der Unverstand liegt im Unternehmen, nicht
in der Wahl des Mittels,
Aus einem andern Grunde haben wir es unterlassen, bei der
Besprechung der inneren Reform des Handwerksbetriebes von Aufgaben
der sog. inneren Mission zu reden. Wir vermögen nämlich nichts zu
erkennen, was hier specifisch den Stand der „kleinen Leute“ angeht.
Die Aufgabe der Kirche — und möchte ihr und der Gemeinde statt
dem Conventikel die „innere Mission“ zufallen — baut sich heute
wie seit achtzehnhundert Jahren allen Ständen gegenüber auf. Auch
im Handwerkerstand giebt es für sie genug zu thun. Aber angesichts
unseres Gegenstandes verkenne man nicht mit dem leichtfertigen Tadler
den causalen Zusammenhang. Der Verbrecher, der Hazardspieler, der
betrügerische Fallite u. s. w. fällt vielleicht in der Mehrzahl der Fälle
durch schwere äussere Noth glücklicherweise einem Processe innerer
Selbstanklage, Reue und Busse zu. Der Handarbeiter dagegen, der
von Morgen bis Abend schafft wie ein Pferd, dagegen Kost und
Wohnung fast wie ein Hund hat und dann doch sich mit den Seinen
dem Bettel zugedrängt findet, der wird in sehr seltenen Fällen in
seinen Sünden die besondere Ursache seines Leidens und darum durch
den Aufschwung in der Reue und Busse selbst den Trost seiner Zu-
kunft finden. Er wird vielmehr erst regelmässig der verbitterten
Gleichgiltigkeit gegen die „höhere Hand“, welche das Schieksal der
Menschen leitet, und dann vielleicht noch viel Schlimmerem verfallen.
Der Theologe auf der Kanzel und auf dem Katheder — der wahre
Seelsorger wird das Leben besser aus der Nähe betrachtet haben —
— 41 —
verkennt auch hier wie an so vielen anderen Stellen die befreundete
Hand, welche gerade in dem so oft und bitter bekrittelten Aufschwung
der wirthschaftlichen Thätigkeiten und in der Grösse ihrer Erfolge in
der Gegenwart geboten wird. Grossartige Entfaltungen sind immer
mit grossen Umgestaltungen verbunden, und während das Ganze
über jene mit Recht jubelt, kann über diese an vereinzelten Stellen
wohlbegründete Klage laut werden. Es gilt dann die Nutzanwendung
von der Thatsache zu machen, dass noch immer auf dem Boden der
neugestalteten Zustände und durch die Kräfte selbst, welche die
Wunden der Uebergangskrise schlugen, nicht nur Heilmittel, sondern
auch Stärkungsmittel für die Benachtheiligten gefunden wurden. Die
Arbeitsstätten des Kleingewerbes müssen, wenn sie mit störrischem
Trotz oder mit weicher Schwäche die Geschäftsführung einer ent-
schwundenen Periode fortzusetzen suchen, ja keine Aenderung heilsam
finden mögen ausser derjenigen, welche ihnen die verlorenen Stützen
der Vergangenheit wieder zuführt, rettungslos verkümmern. Nehmen
sie mit Zuversicht die Forderungen der Gegenwart hin und erfassen
sie mit Eifer die reichen Hilfsquellen derselben, so wird eine weit
grössere Zahl tüchtiger Männer als zur vielberühmten Zeit der alten
Zunftordnungen im Handwerk einen „goldenen Boden“ finden.
Ueber einige
Verwandtschaftsverhältnisse und Verwandtschaftsnamen
des indogermanischen Stammes.
Von H, SCHWEIZER.
Die neuere weiter um sich sehende Sprachforschung hat unum-
stösslich erwiesen, dass sich aus den verschiedenen grössern oder
kleinern Sprachstämmen als einer der durch innern und äussern
Reichthum bedeutendsten oder geradezu als der bedeutendste der
von ihr sogenannte indogermanische ausscheiden lasse, dessen
"Vorzug namentlich in der reichen, doch nicht überfliessenden und nicht
grob stofflichen, von inneren Wortveränderungen angemessen begleiteten
Flexion besteht, einer Flexion, welche die feinsten Beziehungen aus-
zudrücken vermag. Dieser Sprachstamm, der also auch einen ur-
sprünglich einigen Volksstamm voraussetzt, umfasst in Asien, wo- sicher
*) Vgl. Steinthal, Classification der Sprache. 8. 91.
— 432 —
seine einstmalige Einheit sich gestaltet, die zwei Hauptfamilien der
arischen oder sanscritsprechenden Inder und die der Ira-
nier; in Europa rechnen wir zu ihm die Kelten, die Hellenen
und den grössten Theil der Italer,. einst eine Hauptfamilie der
Gräkoitaler, worüber Mommsen in seiner römischen Geschichte
am gediegensten gehandelt, die Litauer, Slaven und Germanen.
Ausserdem finden sich kleinere Mittelglieder im ‚vordern Asien. Der
Name, der dem umfassenden Stamme gegeben worden, ist nach indi-
scher Regel gebildet: man setzte die äussersten Glieder zusammen
und wollte damit auch die dazwischenliegenden Ringe der Kette be-
zeichnen; erst nach der Festsetzung dieses Namens wurde das Kel-
tische als ebenfalls indogermanisch erwiesen. Ist auch diese Be-
zeichnung nicht mehr ganz treffend, so haben wir doch gute Gründe,
sie nicht mit irgend einer andern unter den bisher vorgeschlagenen
zu vertauschen.
Sind nun die obengenannten Nationen ursprünglich gleichspra-
chig, also ursprünglich noch fest an einander haftende Zweige eines
Stammes, so dürfen wir aufs bestimmteste annehmen, dass sie einstmals
auch in Sitte und Glauben übereinstimmten, also die einfachsten
Elemente derselben bei ihrer Losreissung und Wanderung mit sich
wegtrugen. Aber dass sich auf diesen Gebieten noch viel mehr als auf
demjenigen der Sprache, mindestens viel leichter als im sprachlichen
Organismus, nachdem die Nationen sich unter verschiedenem Himmel
und unter verschiedenen Umgebungen selbständig gestaltet und ent-
wickelt, manches ändern musste, ist leicht verständlich, wenn auch die
Aenderung oft nur so weit gieng, dass unter den Anschauungen, die
ursprünglich neben einander standen, die eine mehr zurück-, die
andere klarer und bestimmter hervortrat. So, um ein Beispiel aus
dem Familienkreise zu wählen, konnte im Bruder mehr sein sittliches
und rechtliches Wesen hervorgehoben werden, oder aber er wurde
nach physischer Anschauungsart als derjenige betrachtet und bezeichnet,
der im gleichen Mutterleibe mit Bruder oder Schwester gelegen hatte.
Die vergleichende Sprachforschung — das sollten doch endlich die
vorzüglich sogenannten Philologen merken — will nicht nur generali-
sieren, sondern nicht minder geht sie, und bei vielen Jüngern mit ent-
schiedener Vorliebe, darauf aus, nun erst mit vollem Bewusstsein die
Eigenthümlichkeiten der Einzelvölker aus dem ganzen Kreise der
Verwandten heraus scharf ins Licht zu stellen.
Gemeinsam ist unserm Sprachstamme die Benennung, also auch
die Wesensanschauung von Vater und Mutter. Schon der mit dem
=
folgenreichen, von Grimm, wenn nicht entdeckten, doch völlig auf-
gedeckten‘ Lautverschiebungsgesetze Unbekannte wendet kaum etwas
ein gegen die Zusammenstellung und Gleichsetzung des lateinischen
pater mit unserm Vater, des lateinischen mater mit unserm deut-
schen Mutter; nicht der leiseste Zweifel aber gegen diese Verglei-
chung kann bei dem aufkommen, welcher die Gesetze, die im Verlaufe
der Sprache walten, und besonders die Entwiekelung der germanischen
Sprachen kennt. Pater und Vater bezeichnen nun das Haupt der
Familie, den Herrschenden und Schützenden, von derselben
Wurzel, die, erweitert um ein t in potens erscheint. Die Mutter,
benannt aus der Wurzel mä, messen, meint die Schaffende und
Ordnende. Gegenüber den unerwachsenen Kindern und den Sclaven
des Hauses kann, das lehrt uns auch die Sprache, die Mutter und
Gattin als Herrin, als d&orowe, d. h. Gebieterin über die
Knechte, als zUrVıG, Gebieterin, als frouwa, Herrin, auftreten ;
aber ihre Gewalt ist vom Manne abgeleitet, von dem deororrg, 70018,
frö u.s.f£ Die Kinder sind zunächst als die gezeugten bezeichnet,
wie sicher im sser. sünus, gothischen sunus, Sohn, im griechischen
viog, im griechischen z&zvov, im deutschen degan, im gothischen
barn, in den deutschen Ausdrücken Kind, Knabe u. s. f. Oder
die Kinder sind die wachsenden. Abgesehen von dem allgemeinen
magus, von dem noch im Mittelhochdeutschen deutliche Spuren sich
finden, von magaths, Magd, u. s. f. scheint mir entschieden auch
der im indogermanischen Sprachgebiete ziemlich verbreitete Name
Tochter in diesem Bedeutungskreise zu liegen und nicht, wie andere
sinnig vermuthen, die Melkerin zu meinen. Wie immer es um die
Etymologie von filius und filia stehe, als ausgemacht muss wohl
das gelten, dass auch diese Ausdrücke aus einer sinnlichen Anschauung
hervorgehen, sind doch in den Eugubinischen Tafeln männliche Fer-
kel mit feliuf (aceus = filios) bezeichnet; unsrer Meinung nach
heisst filius der Saugende. Den Kindern als gezeugten ge
genüber stehen die parentes = parientes, die zoxeig, die go-
thischen berusjos — von bairan ferre, parere aus einer nur
hier noch innerhalb des germanischen Alterthums erhaltenen Form
des 'partieipium perf. act. abgeleitet. Mehr ethischen Sinnes sind die
Ausdrücke liberi und vielleicht, doch mir unwahrscheinlich, das skr.
putra, lat. puer u. =. f.
Aber mehr liegt uns hier daran nachzusehen, wie allmählich die
Wörter natürlicher Anschauung in das Gebiet des Sittlich-rechtlichen
hinüberspielen oder ganz in dasselbe übergehen. Knabe, Knappe,
— 434 —
Knecht, Magd sind hier klare Beispiele dafür, wie die väterliche
Gewalt alles im Hause beherrscht; aber auch unsere Ausdrücke die-
nen, Dienst, Demut u. s. f. haben sich unter dem Gesichtspunkte
entwickelt. Die gothischen thius, Knecht, thivi, Magd, die alt-
hochdeutschen dio, deo, diu, das althochdeutsche dionon, dienen,
alle führen uns auf die Wurzel tu erescere, von welcher auch das
gothische thiuda, das ahd. diota, d&@ota, mhd. diet, deutsch,
deuten, lat. totus und manches Wort sonst ausgegangen. Also
thius geht ursprünglich von derselben Anschauung aus, wie magus,
magaths, Magd, bezeichnet das Kind als das heranwachsende
und schlägt dann völlig über in den Sinn von Dienst und Knecht-
schaft, wie pater, Vater, den herrschenden und schützenden
bezeichnet. Wir könnten nun hier ausführen, wie dasselbe Verhältniss
aus der natürlichen Familie auf die fingierte, d. h. bloss rechtlich und
sittlieh geknüpfte, übergegangen, in welchem Verhältnisse z. B. die
Glieder der deutschen Gefolge zu einander gestanden; aber lieber
gehen wir zu einer einlässlichern Besprechung der Geschwister-
stellung, namentlich der Stellung von Bruder zu Sehwester über.
Die Hellenen nennen den Bruder @deApsog, adeApog, die Schwester
adelgr, was eine recht natürliche Anschauung verräth, welche so
nackt in unserm Sprachstamme vielleicht bloss bei den Hellenen auf-
tritt. Adehpeus, adehpis entsprechen ganz genau den indischen Ad-
jeetiven sagarbhya und sagarbha, wer den gleichen Mutterleib
hat; aber diese sanserit. Adjectiva kommen unsers Wissens nur in
Verbindung mit bhrätar vor, oder so, dass dieses dabei zu ergänzen
ist, und bezeichnen mit Nachdruck den leiblichen Bruder. Ein
viel verbreiteteres Wort ist eben dieses Bruder, sanserit. bhrätar,
lateinisch frater u. s. f., im Griechischen mindestens von politischer
Brüderschaft gebräuchlich. Bruder weist uns auf ein ethisches Ver-
hältniss. Unzweifelhaft führt uns bhrätar etc. auf die Wurzel sanser.
bhar, griechisch geg, lat. fer, deutsch bar, bir, bör, „tragen, er-
halten“; also der Bruder ist der Träger, Erhalter. Wessen?
Der Familie, der jüngern Geschwister, besonders der Schwester,
nach des Vaters Tode oder wenn dieser sonst schwach geworden.
Also wann und wo die manus, deutsch die munt (woher Vormund)
des Vaters über die Tochter aufhört, da tritt die vom Bruder über
die Schwester geübte ein, sofern diese nicht schon unter der Gewalt
und dem Schutze eines Gatten steht. Für diese wohl ursprünglich
dem indogermanischen Stamm gemeinsame Anschauung zeugt uns schon
aus der Vedenzeit das häufige Beiwort von Mädchen: abhrätar,
= Be
„bruderlos“, „verlassen“, „unbeaufsichtigt“. Eine schöne dahin ein-
schlagende Stelle findet sich in der Rothischen Ausgabe des Niructa,
Erläuterungen S. 25: Wie ein bruderloses Mädchen, das nach
des Vaters Tode keine Heimat mehr hat, dreister sich den Männern
zuwendet, — so entblösst Aurora vor den Augen der Menschen ihre
ganze Schönheit. — Die Bruderlose wird im Tode neben dem Weibe
genannt, das den Gatten verloren hat. Der Bruder hat also der
Schwester gegenüber eine ähnliche rechtliche und sittliche Stellung,
wie der Vater zu der Tochter, aber nicht minder, wie der Gatte
zur Gattin, da ja auch diese in Gewalt und Schutz, in der manus,
der munt von jenem steht. Schlagend wird nun diese Analogie
aufgeklärt durch den sanseritischen Ausdruck für Gatte und Gattin,
bhartar und bhäryä, „Träger, Schützer,* und „zu Tragende, zu
Schützende“. Bhartar lässt sich sprachlich ganz genau als dasselbe
Wort mit bhrätar erweisen. Leider ist uns der Ausdruck sanserit.
svasar, lat. soror, deutsch sw&ästar, nicht so klar als Bruder;
doch so viel ist klar, es liegt auch in ihm ein mehr ethischer Begriff,
der die Schwester zum Bruder so stellt, wie das Weib zum Manne.
Denn entweder heisst svasar das „verwandteste, eigenste Weib,“
oder die „zusammenwohnende“, oder die „gut, freundlich ist“; eine
vierte auf wissenschaftliche Etymologie gestützte Deutung möchte un-
möglich sein. So viel ist klar, die Sprache lehrt uns ganz deutlich,
dass der Bruder in einem besonders engen Verhältnisse zu seiner
Schwester steht, und es scheint uns nun sehr einleuchtend, warum
auch, wenn die Schwester sich vereheliceht und in der Ehe Kinder
geboren, dieselben wiederum mit dem mütterlichen Oheim sich
besonders enge verbunden fühlen; dieser vertritt ihnen den mütter-
lichen Grossvater, der, sehen wir recht zu, durch viel innigere
sittliche Bande mit der Tochter verknüpft ist, als mit dem Sohne,
welcher schneller seine Selbständigkeit und seinen eigenen Schutz
erwirbt, wie sie die Tochter nie erwerben kann. Darum heisst der
mütterliche Oheim dem Römer avuneulus, der kleine oder junge
Grossvater, und daraus erklärt sich unsers Bedünkens aufs einfachste
die vielfach besprochene Stelle in Taeitus Germania e. 20: sororum
Rlüs idem apud avunculum qui ad patrem honor. Quidam sanctiorem
artioremque hune nexum sanguinis arbitrantur et in aceipiendis obsidibus
magis exigunt, tanguam et animum firmius et domum latius teneant.
Das gerade Gegenstück gegen das lat. avuneulus zeigt sich in dem
althochdeutschen und mittelhochdeutschen nevo, Neffe, das da den
Schwestersohn bezeichnet, während das altindische napät auf den
— 46 —
Sohn, das lat. nepos auf den Enkel geht. Dass nevo im Alt-
hochdeutschen auch vom avuneulus gilt, ist aus der im Deutschen
sehr stark hervorbrechenden Neigung zu erklären, in Verhältnissen
der Verwandtschaft und ähnlichen die bezüglichen Glieder mit dem
gleichen Namen zu belegen; vgl. die Ausdrücke Pathe, Götti,
Vetter, Base u. a.
Im Juli 1856.
Ueber die Zeitdauer der hebräischen Psalmenpoesie.
Zwar dürfen biblische Untersuchungen vorweg in weiteren Kreisen
sich Theilnahme versprechen, als z. B. der Kummer um etruskisches
Volksthum oder das Alter der Vedas, massen wir alle auf deutschem
Sprachboden Juden sind oder Christen, denen die Schriften, auch des
alten Testaments als Religionsquelle gelten, das Psalmbuch unter ihnen
nicht die geringste, so dass ein Abschnitt seiner Literaturgeschichte
die Aufmerksamkeit sollte anzielm können. Da kommt es aber auf
dessen Beschaffenheit an. Die Fragen, welche hier zur Sprache zu
kommen pflegen, sind theils esoterische, welche nur für den Fachmann
Wichtigkeit haben, und nur er für sie ein Verständniss, theils solche,
wie sie Jeden, der auf religiöse Bildung Anspruch macht, interessiren
dürften; sofern jedoch die Felder in einander einlaufen, giebt die
Weise der Behandlung den Ausschlag. Und nun beruhigen wir- vor
allen Dingen den Leser, welchem scheinen könnte, die Ueberschrift
drohe Schlimmes, nämlich eine gründliche Arbeit bis ins Einzelne
hinein, wie sie ganz gewiss den Verfasser, aber schwerlich manch
Andern freuen möge. Untersuchung der Einzelheiten wird nicht völlig
zu vermeiden, die betreffende Partie nicht allgemein verständlich sein;
allein im Ganzen wird unsere Frage sich auch nicht wie die Schlich-
tung einer gewöhnlichen Grenzstreitigkeit abwickeln. Sie zeigt grosse
Verhältnisse, indem ein grosses Gebiet noch erst erobert werden soll,
oder das eroberte vertheidigt; und sie an sich liegt auch dem Schrei-
ber dieses weniger am Herzen, als was an ihr hängt: der Baum uns
nur wegen seiner Früchte. Wenn aber der Endtermin nicht genauer
fixirt werden soll, was sich nur durch die Mittel abstruser Gelehrsamkeit
vollziehn liesse, so verständigen wir in Betreff der Ueberschift uns
weiter dahin, dass hingegen der Anfang der Periode für uns gänzlich
zur Seite falle. Die Glaubwürdigkeit der Ueberlieferung, welche als
— 47 —
den Urheber dieser Diehtungsart David nennt, wird von der Kritik
bestätigt, und die Sache ist im Grunde kaum streitig; dagegen, wie
weit herunter sich unsere Psalmendichtung erstrecke, genauer: welchem
Zeitalter die jüngsten Gedichte in der Sammlung angehören, darüber
hat man sich noch so wenig geeinigt, dass die Marksteine um Jahr-
hunderte auseinandergelegt werden. Und die Frage ist nicht so
gleichgültig, wie sie scheinen könnte. Als lyrische Gedichte sprechen
die Psalmen Stimmungen aus, die in verschiedenen Zeiten bei ver-
schiedenen Personen sich ähnlich äussern konnten. Die veranlassenden
Umstände konnten sich ähnlich sein, und dann wurde es auch ihr
Ausdruck; wurzeln sie in den gewöhnlichen Verhältnissen des bür-
gerlichen Lebens, ist der Dichter irgend ein Privatmann, so ist sein
Lied in dieser Beziehung auch in jedes Zeitalter gerecht. Die Erklä-
rung hat dann nur einmal den individuellen Gemüthszustand des
Diehters aus seiner Rede zu erheben, und sodann nach diesem, so
weit möglich, die Beschaffenheit der äusseren Verhältnisse, nicht sie
selber. Sofern die letzteren aber nicht die alltäglichen sind, wie sie
sich immer wiederholen; sofern der Psalm als Gelegenheitsgedicht
vielleicht eines geschichtlich sonst bekannten Mannes auf eine ganz
besondere Veranlassung zurückgeht, wie sie in der Weise vermuthlich
nur einmal dagewesen: wird, um das volle letzte Verständniss zu er-
reichen, unerlässlich sein, dass man das eonerete Ereigniss, welches
zu Grunde liegt, selber ausmittle. Da hängt nın offenbar Alles davon
ab, dass man den Bereich richtig und namentlich nieht zu eng ab-
stecke, innerhalb dessen man sieh umzusehn hat. Die Urheber der
Ueberschriften im hebr. Texte, welche auch von den echt davidischen
Psalmen das genauere Zeitverhältniss nicht herausfanden, glaubten für
das ganze Psalmbuch auf die Periode Davids sich beschränken zu
sollen; und wenn sie ihn und Zeitgenossen oft fälschlich als Verfasser
nennen, so haben sie auch in der Angabe der bezüglichen Veranlassung
allemal’ geirrt, weil sie den Weg zu Auffindung der Wahrheit sich
zum Voraus verrannt hatten.
Die Frage, welche uns beschäftigt, fasst sich zu der engern zu-
sammen: giebt es, in unsere Sammlung aufgenommen, maccabäische
Psalmen oder nicht? Aufgeworfen wurde sie schon lange, auch bejaht,
und dieses Ja aufrecht erhalten, bis zufällig dem verewigten Gesenius
das Bedenken aufstieg, ob die Geschichte des Kanons diese Annahme
wohl gestatte; ob der Kanon nicht vor der maccabäischen Periode
endgültig geschlossen worden sei. Nun schlug das unzulänglich be-
gründete Ja um in ein grundloses Nein. Man muss die Verfassung
Wissenschaftliche Monatsschrift. 28
— 438 —
der Geister in jenen Tagen gekannt, muss gesehen haben, wie unum-
schränkt der hallische Gelehrte Zion beherrschte, weil er allein ver-
hältnissmässig etwas vom Hebräischen verstand; muss es sich vor-
stellen können, wie die Unwissenheit auch die Unselbständigkeit nach
sich zog und den Servilismus pilanzte, der den „Vater der hebräischen
Grammatik“ auch als Orakel der Kritik und Exegese auf den Schild
hob, — um es begreiflich zu finden, dass ganz von selbst, was der
Meister nieht einmal eigentlich behauptet hatte, in immer weiteren
Kreisen und immer fester geglaubt ward, ohne dass irgend Gründe.
hinzukamen, indem man königlicher war, als der König. Diese Ne-
gation erstarb nie ganz, schlug im Gegentheile neuerdings frisch aus,
und legt uns die Nothwendigkeit auf, die Streitfrage nochmals durch-
zuprüfen.
Als unwiderspreehlich stellen wir zuvörderst hin, dass in den
Zeiten der Maccabäer gedichtet wurde, dass im israelitischen Volke,
dessen Bewusstsein längst der Poesie sich erschlossen hatte, dazumal
die Lyrik wieder aufgewacht sei. Der Heros negativer Kritik, de
Wette selbst, gesteht: „an sich wäre eine so späte Blüthe der Iy-
rischen Poesie nicht unwahrscheinlich, und aus dem religiösen Enthu-
siasmus der Zeit erklärlich.* Gewiss, der Friede ist Prosa, Poesie der
Krieg, welcher langweiligem Bestande ein Ende macht, durch den
Wechsel von Freud und Leid die Seele in Schwingung versetzt und
unbekannte Kraft aller Orten entfesselt. Der Kampf für eine geistige
Religion, für die Sitte der Väter und bald auch für Vaterland und
Freiheit war eine Zeit der edelsten und glühendsten Begeisterung, wie
Israel sie noch nie erlebt hatte: und diese sollte sich in Schweigen
verhüllt haben? Und die Erregtheit des Kriegerlebens, das Hochgefühl
der Tapfern und der Aufschwung des Sieg:s, haben sie einen andern
unmittelbaren Ausdruck, als die Stimme der Lieder? Ein arabischer
Seholienschreiber, Merzugi, merkt in einer Vorrede ausdrücklich an:
„viel wurden der Gedichte nur in ‚den Kriegen, welche unter den
Stämmen vorkamen.* Wir haben unsere Lieder aus dem dreissig-
und dem siebenjährigen Kriege, haben Körner und Freimund Rei-
mar; und selbst Krieg des fremden Volkes, wenn er des Zieles wertl
war, rief das allgemein menschliche Interesse wach und erzeugte in
Deutschland Griechen- und Polenlieder.. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, dass auch damals im Lande Israel die Begeisterung eines
frommen und tapferen Volkes dem kriegerischen Erfolge wie dem
Missgeschiek einen Wiederhall im Liede gab: Auch andere Zweige
der Literatur waren noch lebendig, oder sprossten jetzt von neuem auf,
Für prophetische Apokalyptik steht das Buch Daniel ein; Spruch-
diehtung beurkundet Jesus Sohn Sirachs; und Jahrzehnte später wurde
noch die Geschichte dieser Zeit geschrieben: das „erste Buch der
Maecabäer“.
Wenn damals Lieder gedichtet wurden, so sind sie nicht noth-
wendig in unserer Sammlung enthalten; und wenn in dieser keine
angetroffen werden, so sind sie verloren gegangen. Unter welchen
Bedingungen also, auf was für Gründe hin dürfen wir annehmen, dass
unser Psalmbuch Dichtungen aus jener Zeit der Glaubenskämpfe auf-
hewalre? Die Psalmen der Sammlung alle sind hebräisch; man
müsste also damals noch hebräisch gedichtet haben; und es reicht
nicht hin, dass man das Hebräische damals noch verstand, die Sprache
muss auch als eine lebendige noch gesprochen worden sein. Die
Gedichte nämlich, für welche man maccabäischen Ursprung anspricht,
stehn nicht mit neulateinischen wie z. B. denen Balde’s zu verglei-
chen; sie heben sich merkbar ab von den geist- und leblosen „Salo-
monischen Psalmen“, neuhebräischen Versuchen aus den Zeiten des
Pompejus und Herodes. Es scheint vielmehr, das Eindringen syrischer
Schrift und syrischer Sprache sei ebenso unter sich solidarisch, wie
mit der alten Schrift auf den Münzen Simons ihre hebräischen Legenden.
Dass wirklich bis in Simons Tage das syrische Idiom aus dem Munde
der Hebräer ihre alte Sprache noch nicht verdrängt hatte, steht fest
und wird im Grunde von Niemand mehr bezweifelt. Man sprach und
schrieb also noch hebräisch; und somit sollte es auch nur von der
- Beschaffenheit der fraglichen Schriftwerke selbst abhängen, ob sie hie-
her einzuweisen seien oder nicht. Da steht nun die Sache folgender-
massen.
Die Ansicht, es gebe in unserer Sammlung maccabäische Psalmen,
ist im Besitze. Einzelne Lieder, die wir auch jetzt noch jener späten
Zeit zuerkennen, sind dermassen individuell und ihre historischen Be-
ziehungen von der besondern Art, dass man bei Umschau in der be-
kannten Geschichte entsprechende Sachlagen, Umstände und Ereignisse
nur in der maccabäischen Periode zu entdecken vermochte, und daher
frühzeitig die Gedichte derselben zuwies. Den 44. Psalm bezog schon
Calvin auf die einzige Epoche, in welcher Israel um seines Gottes
willen befehdet ward vgl. V. 23; den 74. und 79. deuteten, jenen
Venema auf die Zerstörung des Tempels, diesen Rudinger auf
diejenige der Stadt zur Zeit des Antiochus Epiphanes; den 83. ver-
stand E. G. Bengel richtig von der Lage der Dinge 1. Mace, C.5.
Bengel erklärte — es sind jetzt gerade fünfzig Jahre her —
— 440 7° —
psalmorum seriem non adeo parvam ipsis Maccabaeorum temporibus
assignare, multa esse quae mihi suadeant;*) und anfänglich folgte den
Genannten Rosenmüller und auch de Wette. Die Ausleger
liessen eben die Wahrheit auf sich wirken und gaben sich unbefangen
dem Eindrucke hin. Wodurch die Wandlung bewirkt worden, dass
die Erklärer den vorliegenden Thatsachen zum Hohne sich in den
Wahn verbissen, maceabäische Psalmen existirten nicht, wurde oben
kurz berührt und wird noch weiter zur Sprache kommen. Den an-
geblichen Gründen, welche man aus der Geschichte des Kanons nahm,
gegenüber versuchte Schreiber Dieses bereits in seiner Erstlingsschrift,
die geschichtlichen Beziehungen der Lieder wiederum in ihr Recht
einzusetzen; in einer zweiten: „die Psalmen historisch-kritisch unter-
sucht,“ wurden vom dritten Buche an sämmtliche Psalmen in die Zeit
der Maccabäer gewiesen, und unser „erstes Buch der Maccabäer* als
fortlaufender geschichtlicher Commentar verwerthet. Seither wurde die
Deutung auf die Periode der Maecabäer für viele, namentlich anch
die oben bezeichneten Psalmen, durch von Lengerke weiter ver-
theidigt; aufrecht erhalten wurde sie wie schon früher von Hesse,
Movers und Anderen durch J. Olshausen, und der Vergessenheit
anheimfallen wird sie nie mehr. Dass jedoch die Wahrheit von selbst
zum Siege durchdringen werde, lässt sich nicht hoffen, und wenn es
wäre, so macht es einen Unterschied, ob früher oder später.‘ Desshalb
eben ergreife ich hier das Wort. Den nächsten Anstoss, die Frage
von neuem zu behandeln, gab ein Aufsatz Ewald's,**) in welchem er
die Möglichkeit, dass unsere Sammlung maccabäische Psalmen enthalte,
wiederum bestreitet. Da nun nächstens auch Hupfeld Veranlassung
haben wird, über den Gegenstand eine Meinung zu begründen, und
unlängst zum fünften Male aufgelegt auch der de Wette’sche Com-
mentar mit seinen verjährten Irrthümern wieder in unsere Gegenwart
hereinragt: so scheint es gerade jetzt gelegene Zeit, mich darüber
auszusprechen, ob und wie weit ich bei meiner vor zwanzig Jahren
vorgebrachten Ansicht nach Allem, was seither für und gegen ver-
handelt worden, annoch beharre. Wir knüpfen somit an ältere Aus-
führungen an und vermeiden thunliehst Wiederholung; Gründe, die
zu widerlegen nicht einmal versucht wurde, habe ich auch nicht weiter
zu verstärken, Stellungen, die nicht angegriffen sind, auch nicht zu
vertheidigen.
*) Opusc. acad. ed. Pressel p. 13.
**) Sechstes Jahrbuch S. 20 fi.
a A —
Mir hat bei öfterer Durcharbeitung des Stoffes, da ich die Psalmen
nie ganz aus dem Auge verlor, im Ganzen sich das einst gefundene
Resultat bestätigt; und die Richtigkeit der damals befolgten Methode
bewahrheitete sich mir weiter in den einzelnen Berichtigungen, zu
welchen auf dem Grunde des Errungenen die Forschung weiterschritt.
Und gerade die dem Anscheine nach kecksten Behauptungen blieben
in der Prüfung bestehn. Dass noch Ewald den 2. Psalm, für einen
der ältesten ansieht, während ich ihn mit für den jüngsten erkläre,
kann meine mit Gründen belegte Ueberzeugung nicht erschüttern.
Tholuck zog aus solcher Differenz von mehr denn 800 Jahren einen
Sehluss gegen die Kritik selbst, während dieselbe doch nur gegen
Ewald oder gegen mich oder gegen beide Kritiker beweist, gleichwie
die Schlussfolgerung ihrerseits gegen Hrn, Tholuck. Jene Meinungs-
verschiedenheit hat aber erst nicht so viel auf sich, als es scheint,
denn das Ende eines Kreislaufes kehrt zum Anfange zurück; und
übrigens gehört weniger Witz dazu, den zweiten Psalm etwa für den
zweitältesten zu halten, als ihn, hinter dem erst der Ueberlieferung
die Psalmen Davids anheben, ihn, der mit dem 7E900L ULOY zUSammen-
hängt, sammt diesem in die Zeit der Herausgabe des Ganzen herab-
zurücken. Dass ferner von. Ps. 73 an kein einziger kommen. solle,
der nicht maceabäisch sei, — es gab Leute, die darüber völlig er-
schraken und den Verf. dafür, dass er sie erschreckt, auszankten;
das war aber auch der einzige Gegenbeweis, der geführt wurde.
Gewiss finden sich in dieser Menge viele Gedichte, die einzeln für
sich betrachtet durchaus nicht nothwendig in die maceabäische Zeit
gehören würden. Allein sie stehen unter maccabäische gemischt, tre-
ten auch wohl durch Aehnlichkeit der Ideen und der Sprache mit
ihnen in Verbindung, und nicht ein einziger ist in der ganzen Schaar,
der durch positive Inzichten ein früheres Zeitalter bekännte. Derge-
stalt sagen solche Psalmen überhaupt nichts aus, sind den wirklichen
Zeugen unter- und ihrem Zusammenhange einzuordnen zu einem Ganzen.
Denn die Form des Wahren ist Allgemeinheit; an der Einzelheit für
sich haftet kein Gedanke, und zu halten ist nichts an ihr.
Nur Ein Punkt könnte nachdenklich machen: das Missverhältniss
der Zahl, wenn auf sieben Jahrhunderte noch keine siebenzig, auf
einige siebenzig Jahre, indem wir auch die Psalmen 44. 59. 70 hieher
ziehen, ihrer achtzig Psalmen gerechnet werden. Jedoch, wenn in der
Länge der Zeit ohne Zweifel viele schriftliche Erzeugnisse verloren
gegangen sind, so erhellt auf der andern Seite, dass aus so kurzem
Zeitraum unmittelbar vor der Sammlung und Redaktion des Psalm-
— 42 —
buchs sich die Schriftstücke zahlreicher, nahezu vollzählig erhalten
mussten. Ausserdem, je höher hinauf, desto weniger war man schreib-
selig; Schreibkunst und Bildung überhaupt verbreitete sich nur nach
und nach, und an den vorhandenen Literaturschätzen selber erst -bil-
deten sich Schriftsprache und Styl der verschiedenen Dichtungsarten.
Wie gewandt, mit welcher Leichtigkeit der spätere Dichter in atısge-
fahrenen Geleisen sich bewegte, zeigen gerade diese jüngsten Psalmen
saftsam. Schliesslich hat ja Israel auch niemals eine Periode gehabt,
welche ähnlich wie der Freiheitskampf der Maceabäer jeden Theil-
nelımer begeistern, das Lied fast in jeder Brust entzünden musste.
Auf alles Das haben nun die Gegner Eine Antwort in Bereit-
schaft: der Kanon des A.T. war schon vor der Epoche der Maccabäer
geschlossen; maceabäische Psaimen existiren also nicht in der Samm-
lung; und die angeblichen können keine solche sein, da unmittelbar
vor ihrem Anrücken die Thüre zugeschlagen worden ist. Erst wurde
die Behauptung nur wie ein Vorbehalt, zögernd und zweifelnd vorge-
bracht; bald aber sprach man von der Abschliessung des Kanons und
wann sie vollendet gewesen sei, mit einer Zuversicht und Dreistigkeit,
als wenn de Wette oder Hassler selbst Mitglied der „grossen
Synagoge“ gewesen wäre, welche die Sache besorgt haben soll. Wir
wissen, was man davon zu halten hat, wenn Einer beweisen soll, dass
er etwas nicht gethan habe, und statt dessen allerhand vorbringt,
weshalb er es nicht gethan haben könne; es ist aber nicht bloss der
Mühe werth, sondern schlechthin nothwendig, der behaupteten Thatsache
auf den Grund zu sehn.
Zu einer Zeit, da man noch glaubte, die Juden hätten im ba-
bylonischen Exil aramäische Sprache (und Schrift) angenommen —
das Buch Daniel, verfasst im 6. Jahrhundert, liefere den Beweis —;
die Münzen Simons seien unecht, oder aber ihre Legenden neuhebrä-
isch, deren Schrift hervorgeholte Antiqua: — dazumal konnte man
auch wenigstens ohne Inconsequenz die Schliessung des Kanons in die
Zeit des Esra und Nehemia setzen. Und wer den Kanon nicht als
die Sammlung der Nationalliteratur, sondern wie herkömmlich als re-
güa fidei betrachtete, so dass man von vorn herein nur heilige und
inspirirte Schriften aufzunehmen beabsichtigt habe, der beruhigte sich,
wenn die Schliessung auch später angesetzt wurde, über das Draussen-
bleiben des Buches Sirach mit dem weltlichen Geiste desselben, als
wäre es nicht im Gegentheil durchgängiger religiösen Characters, denn
die Proverbien. Welche Stellung nehmen nun zu jenen Anschauungen
unsere Gegner der maccabäischen Psalmen ein? Das Buch Daniel,
welches im gleichen dritten Theile des Kanons mit den Psalmen ent-
halten ist, setzte doch auch Gesenius in die maccab. Periode: somit
war die Sammlung noch nicht geschlossen, oder nicht so, dass man
nicht hinterher öffnen und nachtragen konnte. Also greift man zu
der Ausflucht: Die Psalmen beginnen den Zug der Hagiographen,
ohne Zweifel als ältestes Buch in der Sammlung; und es ist höchst
unwahrscheinlich, dass man mediis carminibus vetustissimis (Rosen-
müller) ganz junge Gedichte einschob, man würde sie als ein eige-
nes Buch dem der Psalmen angeschlossen haben. Allein nach unse-
rem Dafürhalten ist ja die grosse Masse der neuen Gedichte wirklich
dein vorgefundenen Grundstocke hinten beigefügt, als drittes, viertes
und fünftes Buch. Was hätte man vernünftiger Weise Anderes thun,
wo sonst sie unterbringen sollen? Offenbar auch, wenn der Kanon
vorläufig geschlossen war, konnten leichter neue Gedichte sich den
schon vorhandenen von gleicher Art anschliessen, als dass ein ganzes
Buch (Daniel) hereinkam, das in diesem Theile der Sammlung kein
Seitenstück hatte. Wesshalb aber nicht nachher eine Schlussredaction
stattfinden und bei dieser Gelegenheit an der Anordnung noch geän-
dert werden konnte, lässt sich nicht einsehn; und übrigens gehörte
das Psalmbuch (das ganze?) anfänglich zu einer andern kleinern Samm-
lung (NON), und befand sich da, wie vorliegt, an dritter Stelle. Wenn
aber schliesslich andere Kritiker mit vollem Rechte der hebräischen
Sprache das Leben über die Zeit des Simon hinaus fristen, und zugleich
dieselben den Kanon nicht zum heiligen Religionsbuche von vorn
_ herein stempeln: was hat es da für einen Sinn, den Kanon zu schliessen
in einer Zeit, da noch fortwährend hebräisch geschrieben wurde?
Die Aunahme, der gelehrte Esra habe den Pentateuch redigirt
— Kern alter Ueberlieferung — und das Zeugniss 2. Mace. 2, 13,
Nehemia habe in eine Sammlung zu den Büchern der Könige und
den Propheten auch die Davidischen Schriften aufgenommen, ziehen
wir nicht in Zweifel. Jener schloss ein Gesetzbuch ab, zu welchem
hinzu noch Nehemia die „Propheten“ nicht gefügt hat; sonst würde
auch sie Manasse nebst dem Pentateuch zu den Samaritern verbracht
haben. Allein dass man auf Geschehenes nicht mehr zurückkommen
konnte, wer will das behaupten? Wenn es möglich ist, dass auch
nach Esra am Pentateuch Aenderungen vorgenommen wurden, so
konnte dies bei der Sammlung der Propheten noch viel weniger einem
Anstande unterliegen. Fanden noch nach Nehemia sich prophetische
Schriften vor, ob für alt oder neu mit Recht oder Unrecht angesehn,
gleichgültig! so wurden sie natürlich der Sammlung einverleibt, und
— 4MiIiUC—
ebenso ergieng es mit den Psalmen. Erwuchs wirklich aus jener „Bi-
bliothek“ des Nehemia unser Kanon, so ist die Thatsache nachträg-
licher Aenderung schon dadurch festgestellt, dass die Schreiben, mit
welehen (heidnische) Könige ihre Weihgeschenke begleiteten (2 Macce.
a. a.0.), die man nicht mit Ewald in „Freiheiten des Tempels und
der Stadt“ verwandeln darf, aus dem Kanon wiederum verschwunden
sind. Wenn wir aber Dan. 9, 2 die Propheten zum Religionscodex
hinzugelegt, den 2. Theil des Kanons definitiv abgeschlossen. finden,
sofern die „Propheten* ja in unmittelbarer Beziehung zu Gott dem
Gesetzgeber stehn: so deutet schon die Bezeichnung des 3. Theiles
auf ein ganz anderes Verhältniss hin. Die Bücher desselben sind
blosse Schriftwerke, schriftstellerische Erzeugnisse (=. D’IND), die
noch im Prologe Sirachs keinen Gesammtnamen führen und von Alters
her bei den Juden weniger hoch im Anschn standen. Diese Bücher
gehörten, wenn vorhanden, nachdem der 2. Theil geschlossen war, eben
nicht zum Kanon, standen mit einander in keinerlei Verbindung, son-
dern existirten zerstreut, bis man vorerst die drei Bücher Emet und
die fünf Megillot sammelte; und so lange man noch das Hebräische
sprach, schrieb man es auch, und konnten zu den vorhandenen neue
Bücher hinzukommen. Als die Sprache ausgestorben war, Jedermann
syrisch redete, da versiegte die Quelle des 3. Theiles, und als nichts
mehr in der bisherigen Landessprache geschrieben wurde, war der
Bestand des Kanons factisch geschlossen. „Nun, als man Grund zu
glauben hatte, es würden keine neuen Bücher mehr hinzukommen,
fasste man die vorhandenen zusammen. Dass eine letztlich ordnende
Hand über die Bücher kam, scheint gewiss; denn eine solche offenbar
liess die Psalmen an der Stelle des Buches Hiob den Anfang machen,
und versetzte an das Ende als andern Eckstein die Chronik. Das
Original des Buches Sirach, vielleicht im einzigen Exemplar nach
Aegypten gewandert, war, wie es scheint, durch die griechische
Uebersetzung in Verstoss gerathen; und das 1. Buch der Maccabäer
war entweder dem Sammler nicht bekannt, oder wurde als zu jung
und noch zeitgenössisch weggelassen, gleichwie man auch von der
„Archäologie“ die gleichzeitige Geschichte zu trennen pflegte.
Mit der Schliessung des Kanons wider die maccabäischen Psalmen
zu fechten, war zum voraus eine missliche Sache, da gerade beim 3.
Theile, auf den es ankommt, am allermeisten Urheber und Umstände
im Dunkeln liegen, und auch über die Zeit nur dann sich etwas Ge-
naueres ermitteln lässt, wenn wir maccabäische Psalmen annehmen,
d. h., an der Hand einzelner Schriftstücke in die Nähe des Zeitpunktes
— 45 —
herabzugelangen wissen. Begreiflich daher, dass die Gegner statt des
Strickes, der zu reissen droht, sich nunmehr an einen andern hängen:
Psalmen der spätesten Zeit sollen, so lautet der Befehl, bereits in den
Büchern der Chronik benutzt sein; das Tempellied 1. Chr. 16, 8—36
sei aus Ps. 105, 1—15., Ps. 96 und 106, 1. 47. 48. zusammenge-
stückt, und ebenso der Schluss des Salamonischen Gebetes 2. Chr. 6,
41. 42. aus Ps. 132, 8—10. eine Entlehnung. — Fast wörtliche
Uebereinstimmung macht, dass hier zwischen Psalmen und Chronik
ein Abhängigkeitsverhältniss besteht, zur Gewissheit; entweder hat
die Chronik beim Psalmisten geborgt oder umgekehrt, oder Beide bei
einem Dritten. Durch den ersten Fall wird die Möglichkeit maeca-
bäischer Psalmen ausgeschlossen; denn es sind alsdann nicht nur die
angeführten älter als die Chronik, sondern auch ihre Umgebungen,
die mehr und weniger zu ihnen Verwandtschaft tragen; und wenn
vorab nicht zu glauben ist, die Psalmen des 3. Buches seien jünger,
als die des 4. und 5., so macht die letztern ihrer Mehrzahl nach
schon der Mangel innerer Nothwendigkeit und einer selbständigen
Haltung zu Erzeugnissen der spätesten Zeit. Wenn wir die Chronik
aber so weit als nur immer möglich herunterrücken, so trennt sie
von dem Anfange der Maccabäerzeit doch noch wenigstens ein Jahr-
hundert; und die betreffenden Psalmen würden demnach zum mindesten
in den Anfang des dritten vor Christus zu setzen sein. Ja sogar, da
der Chronist auch sonst ältere (uellen aufnimmt, so könnte eine
solche, z. B. gerade der Midrasch (2. Chron. 24, 27.) jene Psalmen
ausgebeutet haben, und sie träfen in das 5., selbst 6. Jahrhundert;
gleichwie umgekehrt, wenn die Psalmendichter es sind, welche fremdes
Gut in ihren Nutzen verwandten, ihr Original schon dem Midrasch
eignen konnte, so dass sie selber vielleicht so alt wären wie etwa die
Chronik. Dass aber in der That jene Psalmen aus der Chronik ge-
schöpft sind, ihr Verhältniss zu dieser also nicht gegen, sondern mit
für ihren maccabäischen Ursprung beweist, suchen wir im folgenden
zu zeigen. Nicht um Ewald's willen, der auf unsere Beweisführung
(Psalmen II, 158—62.) in seinen poet. Büchern des Alten Bundes I,
205. gar nicht eingieng, und jetzt im ‚Jahrbuch S. 23 nur beiläufig
und meist mit kahlen Behauptungen den Gegenstand zu erledigen
meint, sondern dies Olshausens halber, der in Wahrheit, wenn er
dem 96. Psalm die grössere Ursprünglichkeit zugesteht und doch
maccab. Psalmen behauptet, weder mir noch Hrn. Ewald die Sache
recht macht und schwerlich sich selber.
Was die Hauptstelle (1. Chr. 16, 8 fl.), so behauptet Ewald
— 4 0 —
(Jahrbuch S. 24), lehren noch viele andere Stellen der Chronik, und
als Beispiel führt er in der Note eben 2 Chron. 6, 41. 42. an, *)
als aus Ps. 132, 8-10. entlehnt. Allein beim Chronisten stehn die
Worte mit dem Vorhergehenden im besten Zusammenhange, indem zu
und nun V.41 im 40. nun die Vorstufe bildet. Ferner wird passend
am Schlusse des Gebetes Jahve aufgefordert, seinen Stuhl einzunehmen,
weil die Weihe des Ortes nun vollendet ist. Der Gesalbte, den Jahve
nicht abweisen wolle V. 42, ist Salomo selbst mit dieser seiner Bitte,
und 6. 7, 1. wird ihre Erfüllung berichtet. Es handelt sich eben
um Verbringung der Bundeslade. Von 6, 41. an ist nicht mehr
1 Kön. C. 8 Quelle, und da im Gegensatze zu 5, 13. (aus 1. Kön.
8, 10.) erst jetzt 7, 1. die Herrlichkeit Jahve’s das Haus erfüllt, so
wird nach des Chronisten oder vielmehr des Midrasch Meinung jetzt
eben die Lade an ihren Ort gebracht, und es ergiebt sich so hier der
schönste Zusammenhang. Wie ganz anders in dem Psalm! Indem
er von vorn bis V. 5 die wortreiche Rede zu hoch schraubt, hat er
zugleich etwas Schwebendes, Nebelhaftes wie keiner mehr. Aller
Unterschied der Zeiten wird VV. 6 u. 8 überflogen; und wer sind
die Sprecher V. 6? sind es die gleichen wie V. 7? ist & V. 8
jemand Anderes? Auch stehn die Sätze V. 6. 7. 8. hinter einander
in keiner Verbindung, jeder für sich, so dass aus all diesen Gründen
der Psalm eines der spätesten Schriftstücke überhaupt scheinen muss.
Und nun soll er doch älter sein, als die Chronik? Wir sehen beim
Dichter billig davon ab, dass die verbindende Partikel fehlt und ebenso
die Nebenbestimmung ob Glück. Aber schreibt der Psalmist: Deine
Frommen mögen jubeln, ersetzt er das seltene F}}J durch A732, so
hat er hier deutlich seinen eigenen Sprachgebrauch (VV. 16. 14)
statt des an ihn überlieferten geltend gemacht; ja sogar der ganze
9. Vers kehrt V. 16 zurück, wo yo aus YUV der Chronik nach-
klingt, — doch wahrscheinlich, weil er das erstemal dem Psalmisten
nicht eigentlich angehört. Seinerseits ist im folgenden Verse wegen
deines Knechtes David Verflachung von Gedenke der Verdienste deines
Knechtes David. Wenn ferner der Gesalbte hier David seyn muss, so
wurde diese Abwandlung vom Parallelismus 2. Chr. 6, 42. an die
Hand gegeben; die umgekehrte Verrichtung, den „Gesalbten“, eine
%) „Und nun erhebe dich, Gott Jahve, zu deinem Ruhesitz, du und deine
Lade der Pracht! Deine Priester, Gott Jahve, mögen sich in Heil kleiden, nnd
deine Frommen mögen sich freuen ob Glück! Gott Jahve, weise nicht ab Dei-
nen Gesalbten, gedenke der Verdienste Davids, Deines Knechtes!*
A
dritte Person, auf den Sprecher, der ein Anderer als David, überzu-
tragen, war weit schwieriger. Endlich verträgt sich der 8. Vers in
keiner Weise mit V. 7. Ist Gottes Fussschemel der neue zu Zion,
so wird er diess doch erst dadurch, dass Jahve daselbst seinen Sitz
nimmt; diess aber zu thun ergeht erst V.8 an ihn eine Aufforderung.
Ist dagegen der bisherige gemeint, so sollte nicht des neuen V. 8
so gedacht werden, als gienge die Rede noch fort über den nemlichen.
Nach dieser Probe wären wir nun wohl neugierig, wie es um
die Beweiskraft der andern „vielen Stellen“ stehe, wenn dieselben
überhaupt vorhanden sind; mittlerweile begnügen wir uns damit, aus
dem gewonnenen Ergebnisse für die Ursprünglichkeit auch von 1. Chr.
16, 8—36. ein Vorurtheil zu schöpfen. Der Schluss VV. 34—36.
soll aus Ps. 106 entnommen sein; ich habe das Gegentheil gefunden.
Das lassen wir auf der Seite, dass der Psalm mit den Worten:
sammle uns aus den Heiden, indem rette uns (vor) wegbleibt, die
dLaonog« ausdrücklich bekennt. Aber wie auffallend heisst es V. 48
zu äusserst: und das ganze Volk spreche Amen! preiset den Jah!
während in der Chronik: und das ganze Volk sprach Amen! und pries
den Jahve. Letzterer Text ist vollkommen in der Ordnung; denn das
Capitel hat es mit einem geschichtlichen Vorgange zu thun; bis dahin
(V. 35) reicht der Vortrag eines Liedes durch die Leviten; und das
Volk ist zur Stelle (V.2. 15,28). Der Psalm dagegen nennt keinen
Sänger des Liedes, den er vom Volk unterschiede; . das Volk ist es
doch wohl, an welches die Anrede ergeht: preiset den Jah! und nun
wird daneben von ihm in 3. Person -die Sprache. Aber wie kommt
„das ganze Volk* überhaupt hieher? Seine Anwesenheit, dass vor
demselben das Lied gesungen werde, ist in letzterem mit keinem
Worte angedeutet. Was anlangt, dass der 34, Vers der Chronik
nicht als Vers 46, sondern als erster im Psalm steht, möge auf die
Erörterung Psalmen II, 161. verwiesen sein; und auch in Betreff der
Bestandtheile, welche in Ps. 105 und als Ps. 96 wiederkehren, beziehn
wir uns im Allgemeinen auf die Pss. II, 158 ff. gegebene Beweisfüh-
rung, die zu widerlegen noch nirgends versucht worden ist. So spa-
ren wir den Raum für einige Nachbesserungen und Zusätze.
Da die beiderseitigen Texte vielfach von einander abweichen, so
sollte zunächst aus ihrer Beschaffenheit sich herauskriegen lassen,
welcher der ursprüngliche, welcher abhängig. Dieser Weg wurde
Pss. II a. a. O. eingeschlagen und nun betritt ihn Jahrb. S. 23 auch
Ewald, um in zwei Fällen die Originalität dem 105. Psalm zuzu-
wenden. Hier im 6. Vers sei die Lesart Abraham „weit richtiger“
— WM
als Israel 1. Chr. 16, 13., und ebendort V. 8 IT er hat sich erin-
nert ursprünglicher als INIT erinnert euch V. 15 in der Chronik.
Beide Varianten sind zwar a. a. O. 8. 159 f. behandelt; indess neh-
men wir sie nochmals vor, um theils unsere Meinung besser, als da-
mals geschehn, zu begründen, theils auch sie zu berichtigen.
Ueber die erstere verliert Ewald zur Rechtfertigung seines Aus-
spruches kein weiteres Wort. Er construirt offenbar: Du Saame
Abrahanıs, seines Knechtes; aber der Parallelismus begünstigt vielmehr
die Auffassung: Saame Abrahams, du sein Knecht. Und nun wird die
Lesart unpassend, da die grosse Mehrzahl der Nachkommen Abrahams
dem Jahve eben nicht diente. Freilich sind und heissen die Juden
ebenfalls O7TEQUR Aßgazus ; aber die Worte hier besagen nicht:
Du, derjenige Saame Abrahams, welcher im Gegensatze zu den andern
dem Jahve dient; und übrigens wird nur noch in diesem Psalm V. 42
Abraham Knecht Jahve’s genannt. „Saame Israels“ dagegen ist so
viel als Israel selbst; und Israel (Jes. 41,8. 49, 3.) oder auch Jakob
(Jer. 46, 27. 30, 10. Ps. 136, 22 ff.) heisst Knecht oder Diener
Jahve’s, weil dieses Volk im Unterschiede zu den Heiden den Jahve
verehrte. Die Variante Abraham fliesst vermuthlich aus Erinnerung
an Jes. 41,8. — Was sodann jenes YJ7 angeht, so ist die schwe-
rere Lesart der LXX in der Chronik (: umuowelouer) YiaT auch
desshalb vorzuziehn, weil aus ihr die beiden, welche in Frage stehn,
sich erklären. Diejenige im jetzigen Texte der Chronik entstand unter
dem Einflusse des 12. V.; jene im Psalm wurde dadurch herbeige-
führt, dass der Infinitiv auch statt des erzählenden Finitums stehen
kann, und dann eine dritte Person als Subjeet zu denken ist. Wurde
aber "IT des Psalms aus JDT der Chronik, so hatte der Psalmist
auch das betreffende Stück der Chronik vor sich liegen, nicht umge-
kehrt. Ewald meint, der Sinn: gedenket des Bundes! liege nieht
im ursprünglichen‘ Zusammenhang der Worte, „da hier vielmehr her-
vorgehoben wird, was Gott seinerseits that ff.“ Gewiss von V. 16
an; ob aber auch schon V. 15, ist die Frage. „Er hat auf ewig
seines Bundes gedacht“ birgt einen Widerspruch; und „das Wort,
welches Jahve gebot auf tausend Geschlechter hin,* scheint nicht seine
Zusage zu sein, sondern die Gegenleistung, welche er Israel auferlegte.
Da NIT AND nicht vorkommt, dagegen MN’2 weggelassen werden
darf, so soll V.16: welcher abschloss mit Abraham, verstanden werden.
V. 16 fi, wird die Aufforderung des 15. Verses durch den in Aus-
sicht gestellten Lohn begründet. Der Vertrag ist ein gegenseitiger;
u > en
und dass die eidliche Zusage an Isaak nicht als Satzung für Jakob
aufgestellt ward V.17, liegt am Tage. Vielmehr, er stellte es, nem-
lich was er gebot, die 11$%@ dem Jakob zur Satzung auf, für Israel
“’DyYri einen ewigen Bund. Vers 17 wird sodann V.18 fortgesetzt;
und wenn, „was Israel thun soll, erst V. 45 am rechten Orte gesagt
wird,* so ist das eben im Psalm der Fall, der es früher versäumt
hat, und schwerlich diess am rechten Orte.
Wenn demzufolge Ps. 105 das erste Drittel aus der Chronik
herübergenommen wurde, so hat der Psalmist, was auch anderwärts
geschehn ist, ein vorfindliches Schriftstück weitergesponnen. Deutlich
liegt vor, dass der Psalmdichter wohl wusste, was er that, wenn er
den geborgten 15. VV. gerade noch zweimal 15 nachschickte. Diese
Fortsetzung trägt gegenüber von V. 12—15 ein anderes Gepräge,
indem diese sich im Allgemeinen halten und auf eine annalistische
Herzählung im Einzelnen nicht angelegt sind. Hingegen wesshalb
umgekehrt der Chronist gerade das erste Drittel des Psalms entlehnt
hätte, lässt sich kein Grund absehn; es sei denn, dass er den Abstand
zwischen V. 1—15 und V. 16 ff., welchen wir gegen den Psalm
geltend machen, selber schon gewahr wurde. VV. 42 u. 43 wieder-
holt der Psalmist, wie bereits angedeutet, eben nicht sich, sondern
einen Vorgänger (vgl. VV. 6 u. 8), und scheint er Y7IY V. 6 als
Apposition zu Abraham zu fassen: was, wie wir sahen, weniger
Wahrscheinlichkeit hat.
Ueber den 96. Psalm schliesslich wird das Urtheil, vermuthen
wir, sich nicht anders stellen, als über den 105. und 106., wenn wir
auch einen Beweisgrund wie 7117/71 V. 27 in der Chronik, wo der
griechische Uebersetzer mit der Lesart Ps. 96, 6. stimmt, fallen zu
lassen uns genöthigt sehn. Bedenklich lautet in beiden Texten, dass
die Heiden dem Jahve huldigen sollen in heiligem Schmucke (Chron.
VV. 28. 29), da solcher sonst nur den Heiligen, d. i. den Leviten
(2. Chr. 20, 21) oder den Israeliten (Ps. 110, 3) oder den Götter-
söhnen (Ps. 29, 2) zukommt. Allein in der Chronik haben LXX
noch das Richtige: in seinen heiligen Vorhöfen, welche der Psalmist,
die Chronik nicht, vorschnell verbraueht und am rechten Orte nicht
mehr zur Verfügung hat. Die Lesart im jetzigen Texte der Chronik
stammt aus Ps. 29, 2 als dem Original, und mit ihr, welche falsch,
steht also die echte im Psalm auf gleicher Linie! Hinwiederum ist
V. 30, welchem gegenüber Ps. 96, 10 besser gefällt, auch in LXX
der Text verdorben, sofern die Worte V. 31: und sie mögen sprechen
— 1350 ° —
unter den Heiden: Jahve herrscht! in die Mitte des 30. heraufgenom-
men werden müssen. Das Subjeet von JAN?) sollte deutlich sein
als ein unbestimmtes (Jo. 2, 17). Da ist aber Y"YON? richtiger, als
YYaN des Psalmes, wo die Aussage auf: sprecht, ihr Völker (V. 7)
unter den Heiden fi. herauskommt. In der Chronik ergeben sich der-
gestalt bis YY?—?XY zwei dreigliedrige Verse hinter einander; und
den nun folgenden hat nur die durch jenen spätern Fehler verstörte
Ordnung der Versglieder verstümmelt. Der Psalm ist hier vollstän-
dig; aber also ist sein letztes Glied von V. 10, daselbst ausbleibend
in der Chronik, eine unpassende Vorwegnahme. Woher jedoch hat
der Psalmist die Worte? Sie machten ursprünglich in der Chronik
von V.33 das letzte Glied aus, so dass sich wiederum wie seit V. 29
drei Glieder herausfinden. Das Lied der Chronik war hier noch
nicht zu Ende; der Psalmist aber wollte ein Ende machen: also
sorgte er für einen pomphaften Schluss, und verwandte, was er da-
gegen wegschnitt, wo anders. Sind nun, wie gezeigt worden, alle
jene Stücke des Psalmbuchs aus der Chronik entlehnt, so fällt nur auf,
dass das eine genau da einhackt, wo das andere loslässt; und man
könnte durch diesen Umstand sich verleiten lassen, das ganze Ver-
hältniss umzudrehn. Haben aber die drei Psalmen Einen Verfasser,
so ist das Räthsel einfach gelöst. Bei zweien, dem 105. und 106,
ist das eine ausgemachte Sache; dann aber ist wahrscheinlich auch
der 96., welchen jene zwei in die Mitte nehmen, desselben Dichters.
Mit diesem Ergebnisse stimmt zusammen, dass die Formulirung von
Tag zu Tag V. 23 neben von Volk zu Volk V. 20 (vgl. Esr. 9, 11)
in der Chronik den 96. Psalm mit dem 105. noch enger zusammen-
heftet.
Durch die bisherigen Erörterungen sind maccabäische Psalmen
ermöglicht, nichts weiter. Ob wirklich solche in der Sammlung vor-
handen und welche sie seien, lehrt uns ihre Erklärung; von exegeti-
schen Thatsachen hängt die schliessliche Entscheidung ab. Dieselben
liegen aber so klar vor Augen, sprechen so deutlich zu einem gesun-
den Wahrheitssinne, dass man nur mit Mühe begreift, wie Kritiker
durch angebliche Resultate einer unbekannten Geschichte des Kanons
und eine vermeinte Abhängigkeit der Chronik sich ins Bockshorn
jagen liessen. Und zu welchen Winkelzügen erniedrigte sich die Ver-
legenheit! Ps. 74, den man auf die Zerstörung durch Nebukadnezar
deuten wollte, wird V. 9 geklagt, dass kein Prophet mehr da sei
(vgl. 1. Mace. 9, 27. 14, 41.); die Epoche aber des Jahres 588 v, Chr.
— 451 —
hatte deren mehr als genug (s. Pss. II, 125). Nun sollen letztere
eben falsche Propheten sein. Gewiss ist: es handelt sich Klagl. 2, 9.
Jer. 23, 14. 26, 16. 27,9. um Mitglieder des Prophetenstandes. Ob
würdiges oder unwürdiges Mitglied, war Keinem an die Stimm ge-
schrieben, so dass von selbst zwei Klassen sich geschieden hätten.
Und würde dann dem Pseudopropheten vorzugsweise der Name Pro-
phet (N?2)) geblieben sein? War damals nicht wenigstens Jere-
mia noch auf dem Platze? Und wie könnte er Klagl. 2, 20 es so
sehr beklagen, wenn die Pseudopropheten umgebracht werden? Nabi
ist hier einfach Prophet wie das daneben stehende koh&n Priester ;
auf den Worten aber im Hedigthume des Herrn liegt nicht etwa ein
Nachdruck oder gar der Hauptnachdruck, denn Priester und Prophet
tödtete man, wo man sie fand; ihr Ort aber war eben der Tempel.
Ein anderes Beispiel, und dabei mag es dann sein Bewenden
haben! Wenn man meinte, des 9. Verses wegen sei der 74. Psalm
nicht nothwendig ein maccabäischer, so sollte um einer andern Stelle
willen der betreffende Psalm unmöglich ein solcher sein. In seinem
Jahrbuche S. 25 holt Ewald eine schon ältere Meinung wieder her-
vor, 1. Mace. 7, 16 ff. beziehe sich der Verfasser mit der Formel
xara ıov Aoyor, Ov Eyoawe auf eine heilige Schrift, als welche schon
damals Ps. 79 (VV. 2 u. 3) gegolten hätte. Mit solchen Redensarten
und solchen Anwendungen auf heilige Schrift hinzuweisen sei fest-
‚ stehende Sitte jener Zeit gewesen. Allein aus jener Zeit (der Ab-
fassung des ersten Buches der Maccabäer) besitzen wir ja, wenn nicht
noch einige Psalmen, keinerlei andere hebräische Literatur; und ein
ferneres Citat kommt auch im 1. B. d. Mace. nicht vor: was wissen
wir denn da von der Art, wie man heilige Schrift anführte? Das
Buch war ursprünglich hebräisch geschrieben; und im Hebräischen
steht die 3. Pers. Sing. Akt. auch mit unbestimmtem Subjekte, so
dass: gemäss dem Worte, welches Jemand oder irgend Einer geschrieben
hat, übersetzt werden darf. Der Verf. könnte übrigens auch II
(welches) geschrieben worden ist, gemeint haben. Gälte aber die For-
mel auch einem heiligen Schriftsteller, was würde damit gewonnen
seyn? Was ohnehin wahrscheinlich ist, dass das 3. Buch der Psalmen,
lauter Gedichte aus der Zeit des Judas enthaltend (Ps. 73—89),
damals in den Tagen Hyrkans bereits gesammelt und zu den beiden
ersten hinzugefügt war. Der Umstand, dass der Verfasser ungenau
aus dem Gedächtnisse eitirt, dass er den Asaph der Psalmüberschrift
nicht nennt, beweist wenigstens nicht für heilige Schrift, und dass
— 452 —
der Uebersetzer von 1. Mace. — wer war er? — die LXX der
Psalmen schon vor Augen hatte (Ewald .a..a..0. S. 26), lässt sich
vollends mit nichts wahrscheinlich machen. Und wenn es auch wäre,
was hätt’ es denn auf sich? Wenn die Psalmen, ein Buch im Kanon,
früher übersetzt wurden, als ein ausserkanonisches, so finden wir das
ganz in der Ordnung; und dass der Uebersetzer eine Uebersetzung,
der Grieche ein griechisches Buch benutzt, gleichwie der hebräische
Schriftsteller den Grundtext, was ist sich darob zu verwundern ?
Von dem Schlage wie die beiden zuletzt berührten Irrthümer
sind die noch übrigen Einwendungen gegen die Existenz maccabäischer
Psalmen im Kanon alle, wie z.B. wenn es noch jetzt, nachdem längst
das Richtige gezeigt ist, nicht Jedem leicht fällt, sich in der Logik
Ps. 110, 4 zurechtzufinden. Denselben gegenüber verweist der Unter-
zeichnete getrost auf seine mehrmals erwähnte Schrift; die Gründe
beider sich widersprechender Meinungen liegen vor; und es hat, wer
sich um die Frage etwas annimmt, die Mittel in der Hand, sich eine
wohlerwogene Ueberzeugung zu bilden.
Hitzig.
Kritische Miscellen zu Sallust.
%
An den Worten Sall. Jug. 108, welche Orelli*) so liest: con-
sulta sese omnia cum ilo integra habere; neu Jugurthe legatum_ perti-
mesceret, quo res communis licentius gereretur ete., haben Ausleger und
Kritiker sich vergeblich abgemüht; Kritz findet, die Stelle sei ver-
dorben und leide an einem uralten Gebrechen, Herzog meint, sie
sei und bleibe dunkel. Nun bieten aber die meisten Handschriften
consulto; und wenn die Part. neu nur so sich ertragen lässt, dass sie
einem Vorschlag oder guten Rath einen andern anschliesse, so werden
wir den Satz einfach über consulto hinaufrücken, womit alle Schwie-
rigkeiten gehoben sind. Bocchus lässt dem Sulla sagen: conlogwo diem
locum tempus ipse delegeret, neu Jugurthe legatum pertimesceret ; consullo
sese omnia cum ilo integra habere, quo res communis licentius gereretur ;
nam ab insidüs ejus aliter caveri nequivisse. Nunmehr hat cum ülo,
*) C. Salusti Crispi Catilina et Jugurtha ete. ete. recognovit Jo, WAREN
Orellius, Turiei. Meyer et Zeller. 1840. t
— 453 —
nicht cum ipso, seine einzig mögliche Beziehung, und erscheint con-
sulto = absichtlich mit dem Satze, der die Absicht ausspricht,
auch innerlich verbunden. Der König liess, wie er behauptet, in sei-
nem Benehmen gegen den Gesandten Jugurtha’s desshalb keine Aen-
derung eintreten, damit ‘desto dreister über den Gebieter desselben
verhandelt werden könnte. Er wollte ihn dadurch sicher, wollte ihn
glauben machen, Sulla sei es, welcher betrogen werden solle; indem
er den Aspar über seine Gesinnungen täuschte, durch Arglist dessen
Argwohn einschläferte, schützte er sich vor seinen Ränken.
Dass ein Wort oder mehrere, die vielleicht eine Zeile ausmach-
ten, dem Abschreiber an unrechten Ort geriethen, ist nichts Seltenes
und kommt namentlich bei Sallust noch öfter vor. So mussten im
Briefe des Mithridat die Worte: egregia fama, si Romanos oppresseris,
futura est, vom Eingange hinweg an das Ende hinter aut oceident, und
zugleich nisi hostes opportuni et sceleratissumi unter den Hauptsatz herab-
gerückt werden (s. Rhein. Mus. Neue Folge X, 467 f£.). Dessgleichen
beanstande ich Jug. C. 100 in dem Satze: Simul consul, quasi nullo.
inposito, omnia provilere ete. die Worte quasi nullo inposito als eine
sehr undeutliche, zweifelhafte Bestimmung, welehe dieses Ortes leicht
zu entbehren und ohne Frage auszustossen sei, wenn sich ein besserer
für sie finden sollte. Was man zur Erklärung und Rechtfertigung des
Sätzchens gesagt hat, genügt bei Weitem nicht; die Worte sind viel-
mehr an das Ende der ganzen Periode zu versetzen. Hinter uti mili-
tibus exequatus cum imperatore labos volentibus esset, womit der Satz
scheinbar vollendet war, wurde quasi nullo inposito für einmal ver-
gessen und sodann in Querschrift nachgeholt, so dass simul consul, den
Schluss der ersten Zeile bildend, durch quasi am Rande fortgesetzt
zu werden schien, während inposito bis gegen volentibus esset hinunter-
reichte. Schliesslich kommt bei Fragen dieser Art nichts darauf an,
ob die betreffende Schrift echt ist oder unecht, wenn sie nur, früh-
zeitig echtem Gute beigegeben, zugleich mit abgeschrieben wurde und
so an dessen Schicksale Theil nahm. Also erkennen wir einen Fall
solcher Art auch in des Pseudosallust erster Epistel an Cäsar gegen
Ende des Vorwortes. Da heisst es jetzt noch: Ergo omnes magna
mediocri sapientia res huc vocat, que quisque optuma potest, utei dicant.
Aec mihi sic videtur: qualeicumgue modo tu victoriam composueris, ita
alia omnia futura — ; es bedarf aber, wofern man erst aufmerksam
geworden, nur mässiger Weisheit, um einzusehn, dass die Worte magna
mediocri sapientia von ihrer jetzigen Stelle weg hinter qualeicumque
modo einzusetzen sind.
Wissenschaftliche Monatsschrift, 29
— 44 —
2.
Von den beiden Episteln de Re Publica hat Orelli einen nach
Cod. Vatic. 3864. berichtigten Text gegeben, der auch in der andern
wenig zu wünschen übrig lässt; doch stosse ich hier ebenfalls an,
p. 198 zweimal hinter einander. Wie kann von den Anhängseln einer
politischen Partei, welche mit dem Ballast eines Schiffes verglichen
sind, füglich gesagt werden: ubi salvi pervenere, usui sunt? (Gerade
dann, wenn man angelangt ist, hört ja der Ballast auf, von Nutzen
zu sein. Nämlich vordem las man hier: wbi salvi pervenire visi sunt;
und aus diesem visi entstand usw, während visi selber erst aus hili,
dem Gegensatze von onera, verdorben ist. Dieselben vor und nach
der Ankunft werden sich nicht entgegengesetzt, sondern parallelisirt;
immer unwerth, werden sie auch während der Fahrt zuerst aus dem
Schiffe geworfen. Im weitern bezeichnet der Verfasser sie unmittelbar
vorher als inertissumni nobiles: „in quwbus sieut instituto preter bonum
nomen nihil est.* Jedoch dieses sieut instituto = wie darauf an-
gelegt scheint kein treffender Sinn, und wir vermissen Beleg aus
dem Sprachgebrauche. Vielmehr nach in quibus steht zu vermuthen,
auch in von instituto werde die trennbare Präposition sein; und wir
schreiben somit: sieut in titulo. Genau des selben Weges beseitigen
wir ein Verderbniss in der Rede des Consuls Lepidus. Das Volk
wird aufgefordert, Widerstand zu leisten; man solle nichts aufschieben,
nicht mit blößsen Wünschen Anstalten treffeu ; „nisi forte speratis
taedium jam aut pudorem tyrannidis Sulle esse et eum per scelus occu-
pata periculosius dimissurum. Die Gefahr wäre doch des Selben, dessen
das Verbrechen, nämlich Sulla’s; also mögen sie die Hände in den
Schooss legen, wenn sie hoffen, Sulla habe das Tyrannisiren satt und
— werde, was er mit Verbrechen an sich riss, mit grösserer Gefahr
loslassen: wer versteht das? Der Sprecher meint, sie würden sich in
dieser Erwartung täuschen, und Hoffnungen, auf Sulla's Ueberdruss
oder Schamgefühl gebaut, betrachtet er mit allem Rechte als grund-
los; aber durch Verbrechen erlangte Gewalt aufzugeben, ist ja in der
That gefährlicher, als sie zu behalten. Diess erwägend, wird Sulla
seine Herrschaft nicht fahren lassen ; und wenn sie erwarten, er werde
periculosius, also um so weniger dieselbe aufgeben, so ist das nicht
der Ausnahmefall, in welchem sie ruhig zuwarten, sondern ein Grund,
ernstlich ins Zeug zu gehn. Somit mangelt der Rede innerer Zusam-
menhang; der zweite Satz müsste lauten: und dass er das durch
Verbrechen Gewonnene, weil mit weniger Gefahr, um so eher frei-
willig aufgeben werde. Freilich ist nicht hinreichend angedeutet, ob
—_— 45 —
als Gegenüber per malas artes gelten soll, oder aber guam retenturum.
Dieser Umstand zeugt, indem dasjenige, womit verglichen würde, aus-
bleibt, gegen beiderlei Comparativ, nochmals auch gegen periculosius ;
und schliesslich wird das Maass seiner Gefahr von ihnen selbst ab-
hängen, ist also nicht ein Gegenstand ihres Hoffens, sondern ihrer
Willensentschliessung. Dnrch die Bemerkung von Kritz, der Com-
parativ beziehe sich auf einen ausgelassenen Positiv: — „wessen er
verbrecherisch nicht ohne grosse Gefahr sich bemächtigt hat, das
werde er ff.“ wird der Kern der Frage nieht berührt, die Schwierig-
keit nicht gehoben; sie kann diess aber auch nicht werden mit Be-
lassen des gegenwärtigen Textes. — In periculosius steckt ein Fehler.
Per scelus weist uns an, auch in periculosius per für die Präposition
zu halten; und wir lesen somit unbedenklich per jocum oeius. Sulla
liebte es zu scherzen (Jug. C. 96); er war ein leichtfertiger Sanguini-
ker, durch dessen ganze Natur „ein Zug der Ironie, man könnte viel-
leicht sagen der Bouffonerie geht“ (Mommsen, Röm. Gesch. II, 351);
und wenn Sallusts Redner hinter dem Erfolge denselben als denkbar
in Aussicht nimmt, so durfte er auch neben andern diesen möglichen
Beweggrund denken,
3.
Von der Rede des Lepidus kommen wir hiemit nicht los; will
der Kritiker nicht das Kameel verschlucken, nachdem er Mücken ge-
seigt hat, so muss er noch einer andern Stelle in derselben Abhülfe
bringen, der schwersten, wie Kritz meint, im ganzen Sallust, einem
„loeus corruptus“, welchen Orelli jener Vatik. Handschrift folgend
also schreibt: Negue jam quid ewistumetis de illo, sed quantum audeatis
vereor; ne alius alium prineipem exspectantes ante capiamini, non opibus
ejus, que futlles et corrupte sunt, sed vestra. socordia, quam raptum iri
licet et quam audeas®) tum videri feliceem. Wenn nun das erstere quam
unzweifelhaft sich nicht auf socordia bezieht, sondern mit ante zu ver-
binden ist, so können wir einmal den Indicativ Zieet nicht brauchen ;
es findet sich aber unter dem übrigen Material im Conjunetiv noch
ein Finitum vor; und wir lassen, da raptum ire audeas zu nichts Ge-
deihlichem führt, raptum iri stelın, schreiben jedoch dann guam raptum
iri audias; audias mit dem 2. Vat. „Eher, als du hören magst, es
solle dahingerissen werden“ — wer? hierüber erhalten wir im Fol-
*) Wie die dritte, so hat auch jene erste Vatik. Handschrift nach Orelli's
Angabe audeas, nicht audeat, und dessgleichen nicht zam, sondern tum; was
hiemit zu Kritz p. 54 angemerkt wird.
— Hs
genden Auskunft. Die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses, auf welches
der Sprecher hier ausschaut, gründet er auf die allgemein verbreitete
Unzufriedenheit, zumal des siegreichen Heeres, „als welches durch
Wunden und Mühseligkeiten nur einen despotischen Gebieter gewon-
nen habe. Die Missstimmung wird also in That ausbrechen; und dann
sind die rapientes Sulla’s Soldaten, und guem rapiunt ist eben Sulla,
über welehen auch bisher im Satze die Rede geht. So passt audias,
in Rom gesagt vor der Volksversammlung; denn die Soldaten, in
Italien zerstreut, setzen sich in Marsch, und die Nachricht vom Auf-
stande eilt voraus nach der Hauptstadt. Nun sollen wir aber das Sub-
jeet auch grammatisch herstellen; und diess kann nur vermittelst
eines Relativsatzes geschehn. Ohnehin verdächtig hinter Zicet, muss
nunmehr et hinwegfallen; quam wird quem; und wenn wir dZicet mit
audias vertauschten, so jetzt umgekehrt audeas mit lieet. Zeugniss für
unser Verfahren leistet felicem, jetzt Attribut Sulla’s in Anspielung auf
seinen Beinamen felix. Indess darf man bei quem licet tum videri fe-
licem sich noch nicht beruhigen ; denn tum spräche die Zeit des rap-
tum iri aus, zu welcher auch der Schein des Glückes geschwunden
seyn wird; Ironie aber, an sieh weniger wahrscheinlich, wäre übel
angebracht, da der Sprecher, dass Sulla mit Recht sich den Glück-
lichen nannte, nicht in Abrede ziehn kann. Schreiben wir: quem licet
aetum videri felicem! Rapere et agere wird auch anderwärts (s. z.B.
Liv. 22, 13) verbunden; und verwandte Begriffe, wie diese sind, kön-
nen im Unterschiede gefasst und sich gegenüber gestellt werden. Agere
ist ein voc. forense, auch als Transitiv = vor Gericht ziehen;
und aectum darf so wenig befremden als actio oder actor. Lepidus
meint, Sulla möge glücklich zu preisen seyn, wenn man ihm in aller
Form den Prozess mache, statt dass ihn Aufrührer in Stücke oder
zum Tode hin reissen. Für diese «actio gegen Sulla sucht der Redner
das Volk eben zu bestimmen, vor welchem sie zu geschehn hätte. —
Das Verderbniss mag auf folgende Art erwachsen sein. Erst wurde
quem ebenfalls zu guam. Nun war der erste Satz nicht mehr durch
den zweiten vollständig, dieser unverständlich und beide sich eoordi-
nirt, wodurch die Vertauschung ihrer Finita sich anbahnte. Von actum
hielt man die erste Sylbe für die Conjunction; und wirklich schien die
Versetzung, wofern audeas gewagt wurde, noch eher einen erträglichen
Sinn zu geben. Also rückte Zicet nebst ac vor, welches letztere unter
dem Einflusse der vorhergehenden Sylbe et ward und die Coordi-
nirung ausdrücklich anzeigte. Möglich bleibt, dass ac erst durch as
von audeas verloren ging, so dass et sich lediglich aus Zicet erzeugt
— 457 —
hätte, oder einfach, um die beiden quam zu verknüpfen, eintrat. Nun-
mehr übrigens noch die Kritik Kritzens zu kritisiren, scheint un-
nöthig; sie schliesst zu dem Ergebniss ab: quam captum ire licet,
quem haud pudeat tam videri felicem. Man wolle wählen!
4,
Die vermuthende Kritik, wie sie bisher geübt zu werden pflegte,
hat bei der eben behandelten Stelle nichts ausgerichtet ; denn der tief
liegende Schaden musste streng methodisch geheilt werden. Die Festung
wollte regelmässig belagert sein. Dagegen hatte in noch andern Fällen,
als den zur Sprache gebrachten, häufig die Conjektur leichtes Spiel, um
gleichwohl zu verunglücken; und noch öfter wird über offenbares Ver-
derbniss hinweggegangen, während das Richtige sich von selbst auf-
drängt, Im Catilina ist der Text ziemlich gut bestellt; aus dem Ju-
gurtha aber und den übrigen Schriften sind erst noch manche Fehler,
selbst ganz widersinnige, auszufegen, bevor ein schlichter Leser ohne
Anstoss darin fortkommt. Dass dem also sei, weisen wir in der Kürze
an Beispielen nach, auf eine ausführlichere Besprechung, deren es nicht
zu bedürfen scheiut, verzichtend.
Um mit dem Anfange anzufangen, wie mochte für Illique Jug.
114. Kritz ibique vorschlagen, da die Fortsetzung doch lehrt, dass
Sallust /nitio et inde usque ad nostram memoriam Romani sic habuere ete.
geschrieben hat? Und was helfen uns alle angeblichen Parallelen zu
. jenem fuerit C. 110? Einer wirklichen folgend: prosit mihi vos dixwisse
puellas (Juven. 4, 36), lese ich: profuerit mihi aliquando eguisse ami-
eitie tue. In Einer Handschrift behauptet aliquando noch seinen Platz
vor eguisse; und hinter —tor die Sylbe pro ausgefallen zu denken,
wird nichts so Grosses sein. Ich setze dieses pro mit demselben Be-
dachte ein, welcher mich abhält, in der Ansprache des Licinius Macer
(Or. p. 175. Kr. p. 291) neque enim ignorantia aures (anstatt res)
elaudit zu verbösern. Doch das sind verhältnissmässig Kleinigkeiten.
Aber wie konnten kritische Herausgeber in dem selben Schriftstücke
p. 174 Or. tribunos plebei, patrieium magistratum stehn lassen, da das
Tribunat gerade ein nichtpatrizisches und antipatrizisches Amt war?
Allerdings huschten nicht Alle sorglos vorüber. Kritz schreibt p. 283:
— quo tribunos plebei, modo patricium magistratum ete., vermeinend, es
stehe hier das Consulat als vordem ausschliesslich patrizisches Amt
in Rede, und kommt dergestalt mit dem Gebrauche von gxo wie mit
der Stellung von modo ins Gedränge. Die Erwähnung des Consulats
ist dieses Ortes ungehörig; auch $ 12 spricht der Tribun nur vom
Tribunate; und eine allgemeine Kategorie, die sich sonst Prädikat zu
— 18 —
seyn eignet, konnte im Zusammenhange hier der Leser nicht für ein
zweites Objekt, sondem nur für eine Apposition halten. Der Verfasser
wird proprium magistratum geschrieben haben (vgl. z. B. Cie. ad Fa-
mil. XI, 23); und patrieium dürfte durch das folgende patrieüs her-
beigeführt sein. Lauft hier das Verderbniss der historischen Wahrheit
zuwider, so schlägt dagegen Jug. C. 104. uti meriti erant der Moral
ins Angesicht. Was man vorgebracht hat, um diesen Text, der das
Unglück zum Verbrechen stempelt, zu rechtfertigen, ist eitel Spreu;
Aenderung Eines Buchstabens : veriti statt meriti, tilgt die Abscheu-
lichkeit. Wie in diesen Fällen Geschichte und Moral, so kam ferner
C. 68 auch die Psychologie übel weg. Die Botschaft von dem Un-
glücke zu Vaga hat den Metellus erst niedergeschlagen ; hierauf, heisst
es, ubi ira et aegritudo permixta sunt, habe er auf Rache gesonnen.
Ubi — permixta sunt? Man sollte meinen, Beide, Kummer und Zorn
hätten sich sofort gleichzeitig eingestellt, der Zorn hätte allmählig die
Betrübniss zurückgedrängt und selber sodann einer männlichen Ent-
schlossenheit Platz gemacht. Die Textesworte hingegen sagen nicht
ausdrücklich, aber geben zu verstehn, Zorn und Kummer hätten sieh
gegenseitig aufgehoben, indem sie gleichsam eine chemische Verbin-
dung eingiengen, welche dieselben neutralisirtee Man wird dem Ver-
fasser ja nicht 'die Vorstellung beimessen wollen, Metellus habe, von
beiden Affekten gleichmässig erfüllt, für den Rachezug das Nöthige
angeordnet. Zorm (ira = furor brevis) hält nicht vor; und die Bei-
ordnung des Wortes an erster Stelle, wie überhaupt die Fassung des
Ausdruckes verbietet den Sinn, als wenn der Zorn den Kummer ver-
trieben und abgelöst hätte; aber vermuthlich stand hier von Hause
aus permuleta sunt.
Durch diese Reihe von Beispielen dürfte unsere obige Behaup-
tung hinreichend bewiesen seyn; man könnte freilich mit solchen
Proben noch eine Zeit lang fortfahren. Um ein Ende zu machen:
wenn wir zu Eingang der deelamatio in M.- Tullium Ciceronem vor-
schlagen möchten : diripi remp. atque audacissumo cuique esse praedae,
indem diese Verbesserung eines übereilten praesidio fälschlich perfidiae
gelesen worden sey, und ebenso Jug. 48: ager hostibus corruptus für
ceognitus: so halten wir natürlich praedae in der That für gute Beute,
und meinen auch gerade die Cognition statt der Corruption in ihr
gutes Recht hiemit eingesetzt zu haben.
Hitzig.
— 459 —
Eine Notiz über amerikanisches Recht.
Von E. OSENBRÜGGEN.
Vor einigen Jahren (1853) ist in Philadelphia ein juristisches
Werk des früheren Oberrichters im Staat Indiana, Thomas L. Smith,
erschienen, welches über die Grenzen Amerikas hinaus Aufmerksamkeit
verdient: „Elements of the laws; or outlines of the system of eivil and
eriminal laws in force in the united states and in the several states of
the union etc.“ Der lange Titel verbreitet sich weiter über die Ten-
denz des Buchs: es ist für den allgemeinen Gebrauch bestimmt und
soll einen Jeden befähigen, sich eine gehörige Kenntniss seiner gesetz-
lichen Rechte und Privilegien zu erwerben in allen wichtigsten poli-
tischen und geschäftlichen Beziehungen der Bürger des Landes. Das
Buch ist aber nichts weniger als ein „Rechtsfreund“, mit dessen Hülfe
sich Geschäfte machen lassen, sondern enthält eine kurze klare Dar-
stellung des gesammten amerikanischen Rechts; es umfasst Staatsrecht,
Privatrecht und Criminalrecht, schildert die Gerichtsverfassung ‘und
giebt die Grundzüge des Civil- und Criminalprocesses. Von der Er-
ziehungsdirection des Staats Indiana ist die Zweckmässigkeit des
Buches dadurch anerkannt worden, dass man es als „Textbuch‘“ für
die öffentlichen Schulen empfohlen hat, damit jeder Bürger sich die-
jenige Rechtskenntniss erwerben könne, ohne welche niemand die ge-
‘hörige Bildung habe, und mit Recht kann man das Werk als Muster
einer populären und doch nicht oberflächlichen Darstellung des Rechts
bezeichnen.
Dies zur allgemeinen Characteristik des Buchs, dessen Erwähnung
in dieser Zeitschrift einen specielleren Grund hat. Bekanntlich ist
den deutschen Juristen oft und immer wieder Spitzfindigkeit und Lust
an Haarspaltereien vorgeworfen werden, mit der Andeutung, dass sie
dazu durch ihre Beschäftigung mit dem römischen Recht verführt
würden. Das amerikanische Recht, wie das englische, verdankt weder
seine Vorzüge dem Einfluss des römischen Rechts, noch sind seine
Mängel daraus herzuleiten; es finden sich aber in demselben Finessen,
welche die Spitzfindigkeit der römischen und deutschen Juristen weit
überragen. Fälle der Art, in denen die berülimte „caleulation“ der
Amerikaner ihren gerühmten „common sense“ überflügelt hat, bietet
auch das genannte Buch.
Das amerikanische Recht stimmt darin mit dem römischen und
deutschen Recht überein, dass nur bewegliche Sachen Gegenstand des
Diebstahls (larceny) sein können, nieht Immobilien. Die Unterscheidung
— 460 —
der Amerikaner von personal property (personal goods) und real pro-
perty führt aber hier zu einer sonderbaren Anwendung. Wer Kar-
toffeln entwendete, welche ausgegraben waren und auf der Oberfläche
des Bodens lagen, oder Korn, welches geschnitten auf dem Felde lag,
ist ein Dieb; wenn aber der Thäter die Kartoffeln selbst ausnimmt
und entwendet, oder Korn entwendet, das er erst selbst abmähte oder
abschnitt, so ist das nur ein „Frevel“ /his ofence would only have
been a trespass), wie desjenigen, der ohne Erlaubniss und gesetzwidrig
ein fremdes Grundstück betritt. Neuere Gesetze, sagt Smith, seien
jedoch bemüht, den Consequenzen solcher feinen Distinetionen (of these
niceties) entgegen zu treten. Für die Gegenwart passen sie jedenfalls
nicht, so interessant sie dem Rechtshistoriker sein mögen. Sie deuten
auf alte germanische Rechtsanschauungen, denn wenn wir auch nur
auf den Sachsen- und Schwabenspiegel zurückgehen, so finden wir,
dass es nicht wie Diebstahl gestraft wurde, wenn jemand im fremden
Walde Holz schlug oder auf fremdem Boden Gras mähte und das
Holz oder Gras mit sich nahm, trug er aber schon gefälltes Holz
oder gemähtes Gras fort, so war es Diebstahl.
Zur robbery gehört wie zum deutschen Raube eine Vergewaltigung
oder ein Zwang an der Person, um die Entwendung auszuführen, und
das führt auf dieselbe Schwierigkeit, die das deutsche Strafrecht kennt,
insofern in einzelnen Fällen oft schwer zu bestimmen ist, ob die Ge-
walt an der Person oder nur an der entwendeten Sache ausgeübt
wurde, ob also Raub oder Diebstahl zu strafen sei. Der Amerikaner
sagt: Wenn jemand einer Dame eine Diamant-Nadel vom Kopfe reisst,
so ist das Diebstahl; wird aber durch das Wegreissen nur etwas vom
Haar der Dame mit fortgerissen, so ist es Raub, wie auch in dem
Falle, wo einer Dame ein Ohrring herausgezogen und dabei das Ohr
verletzt wird.
Literarische Anzeige.
Bei Meyer & Zeller in Zürich erschien so eben eine
Wohlfeile Volksausgabe
von -
Pestalozzi’s
Lienhard und Gertrud.
Ein Büchlein für das Volk.
Mit 13 Federzeichnungen von Hans Bendel und einer Musikbeilage.
Preis 15 ngr. oder 54 kr. oder Fr. 1. 20 Cts.
+ H w.
EE
4 N VeRdı:
-
Bei Meyer & Zeller in Zürich ift focben erfäjtenen:
Sandbud
rennen Statiftif
— der Bölferzuftands- und Stantenfunde. —
Für den allgemeinen praftifden Gebraug
von
©. Fr. Kolb.
25 Bogen gr. 8. geheftet Sr. 7.
Diefes vorzügliche Werk ift nad) den neueften und verläßigften, zum Theil nicht allgemein
zugänglichen Materialien mit großem Fleiße bearbeitet, Es gibt feineswegs ein geifttöntendes
Siffernmeer, fondern es fehtlvert die ftantlichen und focialen Verhältniffe, zulegich die Siffern-
angaben erflärend und erläuternd, die Thatfahen vergleihend und beurthei-
Lend, dabei unter fteter Hinwetfung auf die Hauptveränderungen feit dem Beginne der fo
Dieles umgeftaltenden erjten franzöfifchen Nevolution. Den Nachwelfungen über Umfang,
Beyölkerung, Gebtetswechfel, Tinanzen (Budgets und Schulden), Heerwefen, Gewerbs>,
Handele- und Schtffahrteverhältniffe, fchließen fich foldhe über allgemein menfhliche Zuftände,
über wichtige fociale Fragen an. Da dag Buch wefentlic, für den praftifchen Gebraud,
eingerichtet ift, fo wird dasfelbe nicht nur dem Statiftifer von Sad, fondern aud jedem
Sefhäftsmanne, jedem Zeitungslefer nüslich fein.
Baltische Geheimnifle.
Zur
Sittengefhichte Lieflands
6. Hr. Schultz,
ehemal. Inipektor des Waifenhaufes zu Pernau.
5 Bogen 80 geheftet. Preis Sr. 1.
des
| Monaitsschrift
| WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS
in
ZÜRICH.
Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben :
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Ä | AnoLFr ScHhmipvr, Epwarp BoBRIk.
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(Hauptred.: ApoLr Schaipr.)
BEREZETER JAELSATE,
Eilftes und zwölftes‘ Het.
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5 VERLAG von MEYER & ZELLER.
1856.
Preis für den Jahrgang 4 Thlr. = 14 Fr.
Ferpımann Hırzıs, EDUARD OSENBRÜGGEN, HEINRICH FREY,
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PORTUGAL IM JAHRZEHEND 1830-1840.
Von ADOLF SCHMIDT.
Die spanische Verfassung von 1812 war auch für Portugal das
demokratisch-constitutionelle Vorbild geworden. Als dieselbe im Nach-
barlande wiederhergestellt ward, sah sich König Johann VI. genöthigt,
1320 eine ähnliche zu versprechen; 1321 stellten die Cortes den
Entwurf dazu auf, und am 23. September 1822 trat sie, auf Grund-
lage des Einkammersystems und des suspensiven Vetos, ins Leben.
In Folge aber der in Spanien eintretenden Reaction wurde auch in
Portugal am 5. Juni 1823 diese Verfassung wieder aufgehoben.
Als Johann VI. am 10. März 1826 starb, wurde sein ältester
Sohn Dom Pedro, Kaiser von Brasilien, als König von Portugal an-
erkannt und verlieh dem Lande sofort die conservativ gehaltene Charte
vom 19. April 1826, welche auf dem Zweikammersystem mit erblichen
Pairs und dem absoluten Veto ruhte. Zugleich dankte er, um die
brasilische Krone beibehalten zu können, am 2. Mai zu Gunsten seiner
7jährigen Tochter Donna Maria da Gloria ab.
Sogleich rührte sich die absolutistisch-priesterliche Partei, und
suchte den jüngern Sohn Johanns VI., Dom Miguel, zum absoluten
König zu erheben. Trotz der versöhnlichen Schritte Dom Pedros, der
seinen Bruder zum Regenten einsetzte, und trotz des Eides, den dieser
wiederholt auf die Charte geleistet, wurde durch die sogenannten Cortes
von Lamego, eine willkürlich zusammengesetzte Notabelnversammlung,
die Krone Portugals am 25. Juni 1828 dem Dom Miguel zuerkannt
und durch Dekret vom 30. Juni die Charte Dom Pedros abgeschafft.
Auf ihren Trümmern erhob sich ein bluttriefendes Schreckensregiment,
und trotz der Sympathien des Papstes und mehrerer absolutistischen
Kabinette für die Sache des Dom Miguel, erwarb sich dieser nicht
nur von Seiten der Völker Europas, sondern selbst von Seiten der
Diplomatie und des torystischen Ministeriums in England den Namen
eines feigen und niederträchtigen Wütherichs.
Wissenschaftliche Monatsschrift. 30
— 462 —
Dom Pedro protestirte gegen die Usurpation seines Bruders; auf
der Insel Terceira rüsteten sich» seine Anhänger unter dem Grafen
Villaflor im Sommer 1829 zu einer Expedition gegen Portugal, und
mit Genehmigung Dom Pedros übernahmen Palmella, Villaflor und
Guerreiro daselbst die Regentschaft im Namen Donna Marias.
Die Julirevolution in Frankreich und der whigistische Minister-
wechsel in England machten die Schale des Dom Miguel schwanken.
Beide Länder kamen zu ihm 1831 in eine sehr feindselige Stellung
und begünstigten um so mehr die kriegerischen Absichten Dom Pedros.
Im März 1831 erliess die Regentschaft auf Terceira einen Waffen-
aufruf an die Portugiesen; im April dankte Dom Pedro, der Opposi-
tion weichend, in Brasilien zu Gunsten seines Sohnes ab; im Juni
langte er in Europa an, um — aus der neuen Welt verdrängt — in
der alten wieder Fuss zu fassen und in eigener Person die Ansprüche
seiner Tochter auf den Thron Portugals zur Geltung zu bringen.
Nachdem er in England das Terrain recognoseirt und günstig
befunden, begab er sich an den Hof Ludwig Philipp’s, um die Juli-
dynastie für sein Vorhaben zu gewinnen. Mitten unter den Zerstreu-
ungen der Jagd und der Theater wusste er seinen Zweck so ge-
räuschlos zu verfolgen, dass selbst die Diplomatie irre geführt ward.
In einem uns vorliegenden noch ungedruckten Gesandtschaftsberichte
aus Paris vom 1. September 1831 lesen wir darüber folgende inter-
essante Stelle:
„I y a des personnes, qui veulent toujours attribuer au se-
jour de Don Pedro & Paris un but politique, soit dans l’interet de
sa fille, soit en vue de son propre retablissement sur le tröne du
Portugal. Je ne erois pas quil y ait le moindre fondement & cela.
Don Pedro, dont le caractere, comme celui de son frere, est tres
violent, est cependant assez insoueiant de la politique, et il parle
avec calme des &venemens qui l’ont rejett& en Europe; ce n’est que
sur Don Miguel, qu'il s’exprime avee une amere vehemence; ce &
quoi il pense le plus c’est de s’amuser et surtout d’etre constamment
en mouvement. Comme il n’est pas riche (car on assure qu'il n’a
pas sauvd cent mille livres de rentes) et comme apparemment on
ne suppleerait nulle part avec autant de munificence quiei, & ce qui
. peut satisfaire ses gouts, il est probable, qu'il prolongera autant quil
pourra la jouissance d’une si royale hospitalite. Ind&pendamment
du chateau de Meudon, qu’on lui a donne avec le service necessaire
en tout, le roi a mis 20 chevaux & sa disposition, qu'il faut
changer souvent, puisquil chasse de bon matin et beaucoup, et
— 435 —
qu’il vient habituellement avant et apres le diner de Meudon A
Paris, pour y faire des courses, ou aller au spectacle.“
Neben den Erwägungen des Verstandes wusste Dom Pedro am
Hofe des Bürgerkönigs auch die Hebel des Mitgefühles nicht ohne
Erfolg in Bewegung zu setzen. Dies konnte nur im engsten häuslichen
Familienkreise geschehen, wo die jugendliche Donna Maria dureh ihr
Benehmen in der That eine allgemeine Rührung und Theilnahme er-
weckte. Eine eigenthümliche Scene dieser Art schildert uns ein Di-
plomat in einer ungedruckten Depesche vom 10. September 1831.
Er erzählt darin:
„Je suis all& hier au soir faire ma cour au Palais royal. La
reine et les princesses se trouvaient dans le salon, mais le roi &tait
ä causer dans une piece voisine. Peu de tems apres arriva Don
Pedro avec sa fille Donna Maria, & qui la reine e&da son fauteuil
au haut de la table, oü elle est habituellement assise. Lorsqu’au
bout de quelque tems le roi entra, la petite reine se leva pour
aller presenter son hommage a S. M. et apres avoir fait sa revd-
rence elle a prie le roi, d’intervenir aupres du gouvernement de Don
Mignel, pour en obtenir le pardon de Portugais qui avaient dte
eompromis et qui se trouvent en prison par suite du dernier mou-
vement & Lisbonne. La manidre simple en m&me tems que pres-
sante, avec laquelle Donua Maria a fait cette demarche, a touch&
beaucoup la famille royale et toutes les personnes qui ont &t6
presentes.
Sobald der Boden in Frankreich wie in England hinlänglich
geebnet war, trat Dom Pedro mit seinem Vorhaben offen hervor.
Nach einer vergeblichen Aufforderung an seinen Bruder, dem unrecht-
mässigen Besitze des Thrones zu entsagen, stellte er sich selbst an
die Spitze der kriegerischen Expedition. Von diesem Momente an
ging eine gewisse Umwandlung mit ihm vor. Früher leidenschaftlich,
eigensinnig und launisch, betrat er fortan mit der Bahn des Ruhmes
zugleich die der Selbstbeherrschung.
Unterm 2. Februar 1832 erging in portugiesischer und französi-
scher Sprache das entscheidende Manifest Dom Pedro’s als Herzogs
von Braganza, datirt vom Bord der Fregatte Rainha de Portugal.
Am 8. Juli landete er mit 12,000 Mann bei Oporto. Zwei Jahre
tobte der Bürgerkrieg der Pedroisten und Miguelisten. Vergebens
nahm Miguel den französischen Marschall Bourmont, den Eroberer
Algiers und Anhänger des Absolutismus, in seinen Dienst. Pedro’s
Admiral, Lord Napier, siegte glänzend zur See bei Cap St. Vincent
— 464 —
und nahm die gesammte gegnerische Flotte gefangen; Palmella und
Villaflor, nunmehr Herzog von Tereeira, eroberten Algarbien und nahmen
Lissabon in Besitz; Saldanha vertheidigte Oporto mit Tapferkeit und
vollem Erfolg. Während der abdankende Bourmont durch den Fran-
zosen Macdonald ersetzt ward und der spanische Prätendent Don
Carlos sich im Lager seines sinnverwandten Schicksalsgenossen Dom
Miguel einfand, erschien gemäss der Quadrupel-Allianz ein spanisches
Corps unter General Rodil zur Unterstützung Dom Pedros. Nun gingen
die letzten Stützpunkte der Miguelisten, am 16. Mai 1834 auch San-
tarem verloren, und am 26. Mai musste Dom Miguel durch den Ver-
trag von Evora der portugiesischen Krone entsagen. Auf einem
englischen Schiff ging er nach Italien, protestirte von Genua aus, und
führte in Rom unter dem Schutze des Papstes den Titel König von
Portugal fort.
Dom Pedro, der die Regentschaft selbst übernommen, erklärte
Lissabon und Oporto zu Freihäfen, schaffte das Privilegium der
Weincompagnie von Oporto und damit das Monopol Englands ab,
dekretirte die Aufhebung aller Mönchs- und geistlichen Ritterorden,
aller Hospitien und Klöster, sowie die Confiscation ihrer Güter, redu-
eirte den Armeeetat, schuf die Nationalgarde und stellte die Wirk-
samkeit der Charte von 1826 wieder herr. Am 15. August 1834
eröffnete er die danach berufenen Cortes, wurde aber plötzlich am
24. September vom Tode hingerafft.
Donna Maria, zuvor schon ohne Anstand für volljährig erklärt,
verkündete Amnestie auf Rath des Ministerpräsidenten Palmella, ver-
mählte sich im Januar 1835 mit dem Prinzen August von Leuchten-
berg, ältestem Sohn Eugens von Beauharnais, Vicekönigs von Italien,
und, als dieser schon 2 Monate später starb, im April 1836 mit dem
Prinzen Ferdinand von Sachsen-Coburg-Kohary. Seitdem zeigte sie
sich herrschsüchtig und launenhaft, den Ränken einer eigennützigen
Camarilla ergeben,- der Verfassung Dom Pedros, weil sie die Willkür
beengte, abhold, während ihr gegenüber nunmehr die politischen Par-
teien sich zu schroffen Gegensätzen gliederten. Die für den Prinzen
beanspruchte Oberbefehlshaberstelle in der Armee wurde von den
Cortes einmüthig und trotz wiederholter Auflösungen beharrlich verwei-
gert. Die Anhänger der demokratischen Verfassung von 1822, geführt
von Manuel Passos und Anderen, erhoben sich immer kühner; und
als in Spanien der Militäraufstand vom 12. August 1836 die Wie-
derherstellung der Constitution von 1812 ertrotzt hatte, wurde auch
Donna Maria durch eine Erhebung der Nationalgarden und Linientruppen
— 465 —
am 9. September zur Anerkennung der Verfassung von 1822 genö-
thigt. Manuel Passos und Sa 'da Bandeira traten an die Spitze des
Ministeriums. Seitdem entbrannte der Parteikampf der Chartisten und
der Septembristen.
Der erste Versuch einer Contrerevolution, noch im Novem-
ber zu Belem vom Hofe selbst unternommen, scheiterte an der festen
Haltung Lissabons; doch wurde von Seiten der Septembristen eine
Revision der Verfassung durch die Cortes selbst, gleichwie in Spanien,
zugestanden. Der Hof und die Königin wurden aber wegen der
versuchten Contrerevolution immer unpopulärer. Im Januar 1837
wurde sogar ein Attentat auf das Leben ihres Gemahls gewagt: ein
Franzose Mereier warf, wiewohl vergeblich, einen Stein nach ihm.
Indess zeigten sich die Cortes gemässigt. Sie wurden am 26,
Januar durch die Königin eröffne. Von Eindruck auf das Ausland
war die Thatsache, dass bei der Eidesleistung der Mitglieder zum
erstenmale die Verpflichtung zur Aufrechthaltung der katholischen
Religion als Staatsreligion wegblieb und nur treue Pflichterfüllung
gelobt wurde. Nächst den finanziellen Verlegenheiten beschäftigte
sich die Versammlung vorzugsweise mit der Verfassungsrevision. Und
wirklich sprachen sich, dem Gange der Dinge im Nachbarlande ent-
sprechend, im Mai 1837 die Cortes für das Zweikammersystem und
für das unbedingte Veto aus.
Dennoch ruhten die Chartisten nicht. Mit dem 12. Juli erhoben
sie unter Baron Leiria, Pimentel und Schwalbach zu Gunsten der
Charte Don Pedros zunächst in der Provinz Minho die Fahne des
Aufstandes; der Marschall Saldanha und der Herzog von Terceira
schlossen sich ihnen an; der Hof war, und England schien einverstanden.
Das am 1. Juni ernannte gemässigte Ministerium Dias d’Oliveira, die
Generale Bandeira und Bomfin sowie die Cortes waren trotz ihrer
unsichern Haltung gegen die Bewegung; die Nation aber und die
Hauptstadt blieben theilnahmlos, ungeachtet am 25. August die Char-
tisten vor Lissabon erschienen.
Unter diesen Umständen erfolgte am 28. August 1837 das
Treffen bei Rio-Major zwischen den verfassungstreuen Truppen unter
dem kurz zuvor (11. August) wieder zum Ministerpräsidenten erhobenen
Visconde Sa da Bandeira und Bomfin, und den Chartisten unter Sal-
danha und Villaflor-Terceira. Es blieb unentschieden; ein Waffen-
stillstand war die Folge. Die Sache stand ungeachtet der Theilnahm-
losigkeit des Volkes keineswegs für die Aufständischen verzweifelt; _
auch gelang es ihnen, sich‘ in Oporto festzusetzen. Da rückte in
— 46 —
Eilmärschen, von den Cortes zurückgerufen, das im Jahre 1834 unter
dem Visconde das Antas nach Spanien gesandte Hülfscorps heran.
Die Chartisten zogen sich zurück, wurden am 18. September von das
Antas bei Ruivaes in der Nähe von Braga geschlagen, und mussten
am 20. bei Casas-Novas capituliren. Palmella, Saldanha und Terceira
wurden verbannt; Leiria und Schwalbach hielten sich noch einige
Zeit; der letztere musste auf spanischem Gebiet die Waffen strecken.
Das war der Ausgang des zweiten Versuchs zur Contrerevolution;
In den ultrademokratischen Clubs herrschte die grösste Erbitte-
rung gegen die Königin; es war selbst von Entthronung die Rede.
Palastintriguen steigerten den Unmuth und die Missachtung. Die
Erbitterung wandte sich auch gegen die einflusssüchtigen Engländer;
„nieder mit den Fremden!“ war der Ruf, der sie verfolgte. Selbst
in dem Tagesbefehl, den das Antas am 20. September erliess, kam
eine für England verletzende Stelle vor, was zu diplomatischen Erör-
terungen und zur Desavouirung der Stelle als eines Einschiebsels führte.
Die Geburt eines Prinzen mitten in den Tagen der tiefsten Erre-
gung, am 16. September, stimmte zwar allgemach versöhnlicher, indem
sie den Ehrgeiz des Hofs und die Leidenschaft des Volks beschwich-
tigte. Denn sie berechtigte den Prinzen von Coburg zur Annahme des
Königstitels, und das Land zu der Hoffnung auf eine gesicherte ruhige
Thronfolge. Allein die Revisionsbeschlüsse der Cortes, wodurch man
sich mehr und mehr in wesentlichen Punkten der Charte von 1826
annäherte, warfen alsbald eine neue Aufregung in die ultrademokra-
tische Partei, an die sich die republikanischen Clubs anlehnten.
An der Spitze der ausbrechenden Bewegung standen der Oberst Franga,
Führer des Arsenalbataillons, und der Generaladministrator oder Civil-
gouverneur von Lissabon, Soares Caldeira, Vorstand der Nationalgarde.
Man beschloss, mit bewaffneter Hand der Königin ein neues Ministe-
rıum im Geiste der „glorreichen Revolution vom 9. September“ auf-
zudringen. In Folge dessen kam es am 4. März 1838 in Lissabon
zu Tumulten; es galt die Unterzeichnung einer Adresse, welche die
Forderungen der äussersten Partei enthielt; die Nationalgarde, einer
bewaffneten Demonstration abgeneigt, versagte grösstentheils ihre Be-
theiligung. Dennoch wurde am 9. in gebieterischem Tone die Um-
gestaltung des Ministeriums in jenem Sinne verlangt. Die grösste
Verwirrung herrschte in diesen Tagen; die Minister liessen sich auf
Unterhandlungen ein; mehrere von ihnen, darunter Sa da Bandeira und
Bomfin, forderten ihre Entlassung. Allein die Königin blieb standhaft;
sie warf ihren schwankenden Ministern Feigheit vor und erklärte:
— 467 —
„ich fürchte mich nicht.“ Ihre Entschlossenheit griff durch: Caldei-
ra und Franga wurden für abgesetzt erklärt. Vergebens forderten
die Aufständischen wiederholt und immer drohender deren Wiederein-
setzung. Endlich am 12. Nachts beschlossen die Clubs Absetzung
der Königin und Ernennung einer Regentschaft. Aber die Königin
wich nicht und die Cortes willigten in die Suspension der Habeas-
corpusacte. Nunmehr kam es am 13. zur Entscheidung; im offnen
Kampfe auf den Strassen. und Plätzen Lissabons erlitten die Aufstän-
dischen durch die Regierungstruppen unter Bomfin eine vollständige
Niederlage.
So verblieb der Sieg über Chartisten und Septembristen der
Mittelpartei. Am 21. März erfolgte die Endabstimmung der Cortes
über die neue Verfassung, und am 4. April 1838 wurde sie von der
Königin und ihrem Gemahl feierlich beschworen. Den äussersten
Parteien, zumal aber dem Hofe, gewährte sie keine Befriedigung. Die
Krone erhielt zwar das absolute Veto und das Recht, die Cortes zu
vertagen und aufzulösen; diesen aber wurde die Befugniss beigelegt,
falls sie nicht innerhalb 30 Tagen nach der Auflösung einberufen
würden, eigenmächtig zusammenzutreten. Ferner war allerdings das
Einkammersystem beseitigt; allein die 52 Mitglieder der ersten Kammer
‚ sollten nicht erbliche Pärs sein, wie nach der Charte von 1826, son-
dern auf je 6 Jahre vom Volke gewählt werden. Nur mussten diese
„Senatoren“ ein Alter von 45 Jahren und eine Grundrente von 2000
Reis (etwa 3500 Thlr.) oder ein sonstiges Jahreseinkommen von 4000
Reis (etwa 7000 Thlr.) nachweisen. Doch waren ohne diese Erfor-
dernisse die Inhaber der höchsten Civil- und Militärwürden an sich
zum Senatorenamte befähigt, der T'hronfolger von 25 Jahren an zur
Stimmgebung berechtigt. Im Fall einer Kammerauflösung sollten auch
die Senatoren zur Hälfte erneuert werden. Diäten bezogen nur die
Mitglieder der zweiten oder Deputirtenkammer, die im Gegensatz
zur Charte Dom Pedros direct auf 3 Jahre gewählt werden und einem
passiven Census von ungefähr 700 Thlrn. unterliegen sollten. Das
Wahlrecht wurde Jedem zuerkannt, der ein Jahreseinkommen von etwa
140 Thlrn. nachweise und selbständig sei, d. h. in keines Privaten
Diensten stehe. Bemerkenswerth waren endlich die Bestimmungen,
wonach kein Deputirter ein öffentliches Amt annehmen durfte, der
König und die königlichen Prinzen vom Oberbefehl der bewaffneten
Macht ausgeschlossen wurden, und die Cortes beim Aussterben der re-
gierenden Dynastie das Wahlrecht üben sollten.
Mit dem 4. April 1838 wurden zugleich die ausserordentlichen
— 468 —
Cortes aufgelöst und am 6. eine Amnestie erlassen, die auch den
Häuptern der Chartisten: Palmella, Terceira und Saldanha die Rückkehr
gestattete; mit Zuvorkommenheit wurden dieselben vom Hofe behandelt.
Der neuen Verfassung gegenüber verbargen die zurückgekehrten Char-
tisten ihren Missmuth nicht. Aber auch die Septembristen liessen
noch einmal ihrem Unwillen freien Lauf. Am 14. Juni, auf Anlass
der Prozession beim Frohnleichnahmsfeste, liessen sie ihre Lebe-
hochs auf die „unverfälschte Constitution“ von 1822 erschallen,
schmähten den umringten König und misshandelten die Minister Ban-
deira und Bomfin. Doch blieben diese Ausbrüche des Zorns ohne
weitere Folgen, als dass ein Theil der Nationalgarde aufgelöst ward.
Die Regungen der Miguelisten wurden immer bedeutungsloser;
doch sah sich das Land besonders im Jahre 1837 durch Räuberban-
den mit politischem Parteianstrich beunruhigt. Vorzüglich machte ein
gewisser Remechido von sich reden, der als miguelistischer Guerilla-
chef in Algarbien und in Alemtejo hauste. Er war Neffe eines Geist-
lichen und selbst zu geistlichem Stande bestimmt; daher nicht ohne
Bildung und von Einfluss unter den Landleuten. Raub und Mord
bezeichneten seine Fährte. Lange vermochte man ihm nicht beizu-
kommen. Erst am 28. Juli 1838 wurde er bei Portilla im offnen
Kampf geschlagen, gefangen genommen und am 2. August zu Faro
kriegsrechtlich erschossen. Trotzdem setzte nicht nur sein Sohn, son-
dern auch andere Bandenführer, namentlich Bajöa, der Schrecken des
offnen Landes, das Handwerk rächend fort. Eine der Banden wagte
sich bis Lissabon vor. Mit Bajöa liess man sich, um seiner los zu
werden, auf förmliche Unterhandlungen ein. Noch im Jahre 1839
tauchten hin und wieder Guerillabanden auf, und im September wurde
sogar zu ‘Braga eine miguelistische Verschwörung entdeckt, in Folge
deren selbst der Bischof von Coimbra in Haft gerieth; doch war dies
das letzte Wetterleuchten des hierarchisch absolutistischen Dogmas.
Wie sehr unter allen diesen inneren Wirren und Zuckungen die
Sicherheit und der sittliche Zustand des Landes litt, ist leicht zu er-
messen. In den Kammerberichten des Jahres 1838 wurde die Zahl
der Morde innerhalb Jahresfrist auf 3550, die der Raubanfälle auf
7900 angegeben.
Mit dem Jahre 1839 trat aber im Allgemeinen eine fortschrei-
tende Beruhigung ein. Das Land war augenfällig der fortwährenden
Erschütterungen müde und sehnte sich nach einem festen Halt.
Dieser Sinnesrichtung kam ein Kabinetswechsel zu Statten. Das der
Mittelpartei angehörige, aber in seinen constitutionellen Grundsätzen
14
— 469 —
schwankende, mit den herrischen Gelüsten am Hofe liebäugelnde und
deshalb unpopuläre Ministerium Sa da Bandeira machte im April ei-
nem rein septembristischen Platz, das sich selbst bezwingend vor Allem
die unverkürzte Aufrechthaltung der Verfassung von 1838 zu seinem
Programm erhob. Wiewohl auf dem neuen Conseilpräsidenten Baron
Ribeira Sabrosa aus den Zeiten Dom Pedros her der Makel eines
unehrenhaften Verhaltens ruhte, so wohnte ihm doch ein seltenes Talent
und Geschick zur Leitung der Geschäfte bei. Die gräuliche Verwir-
rung in allen Kreisen der Verwaltung liess alsbald nach, wenngleich
das mittelbare Erkaufen oder Erschleichen von Aemtern nicht ganz
beseitigt ward. Das allseitige Trachten, an der Verfassung zu zerren
und zu flicken, nahm ab; der constitutionelle Sinn fing an sich zu
befestigen; die Herrschsucht mässigte sich. An Cabalen und Hofin-
triguen fehlte es nicht; aber sie zogen sich vom Gebiet der Verfassung
zurück, schienen der Contrerevolution entsagt zu haben. Die Justiz
gegen Mörder und Räuber wurde endlich einmal wieder mit Nachdruck
gehandhabt; nur war es Verblendung, durch massenhafte Aufnahme
von Vagabunden der Demoralisation des Militairs Vorschub zu leisten.
Die friedlichen Gewerbe wurden wieder thätiger und erfolgreicher be-
trieben; der Ackerbau nahm, zumal da die Zehnten und sonstigen
. Abgaben an Geistliche und Klöster abgeschafft worden, einen merk-
lichen Aufschwung. Die geistige Bildung des Volkes aber und das
Unterrichtswesen blieben schlecht bestellt; kaum der achte Theil der
Bevölkerung konnte lesen und schreiben. Noch schlimmer stand es
mit dem Staatshaushalt; der Bürgerkrieg und dessen Nachwehen hatten
die Zerrüttung der Finanzen riesenhaft gesteigert; 1837 ergab sich
für den kleinen Staat, dessen Civilliste nur etwa !/, Million Thlr. ab-
warf, ein Jahresdefieit von 6 Millionen Thalern, und der Staatsschuldenetat
belief sich 1838 auf mehr als 150 Mill. Thlr.; durch wiederholte
Anleihen und durch den Verkauf von Nationalgütern half man sich
nur mühsam über die augenblicklichen Verlegenheiten hinweg. Die
zusammengeschmolzenen Colonien in den fremden Welttheilen, fern
davon, einen Ertrag zu gewähren, nahmen noch überdies einen be-
trächtlichen Zuschuss des Mutterlandes in Anspruch. Und doch waren
die colonialen Bande in diesem Jahrhundert immer lockerer geworden ; die
Regierung, daheim in nächster Nähe von Gefahren bedrängt, hatte die
fernen Besitzungen rathlos und unbekümmert der Willkür der Statt-
halter überlassen, die mehr ihrer selbst als des Staates gedachten.
Auch die Beziehungen Portugals zu den europäischen Staaten
boten wenig Freudsames dar. Die absoluten Mächte entzogen sich
— 470 —
noch immer der Anerkennung Donna Marias, und den Alliürten, Eng-
land und Frankreich sowie Spanien, war es nur um Erweiterung eines
Einflusses zu thun, der, Erleichterung und Unterstützung verheissend,
zur Bürde ward. i
Es war eine seltsame, aber charakteristische Lage der Dinge,
dass, während in Spanien die Moderados an Frankreich, die Exaltados
an England eine Stütze fanden, umgekehrt in Portugal die moderirte
Partei der Chartisten von England, und die exaltirte der Septembristen
von Frankreich her begünstigt ward. Hieraus entstanden mit Noth-
wendigkeit mannigfache Verwickelungen, und so geschah es, dass
zwischen Portugal und seinen Alliirten sogar mehrfach offene Zer-
würfnisse eintraten.
Das wichtigste war die Differenz mit England in der Sklavenfrage.
Durch ein Dekret vom 10. December 1836 war zwar in Portugal der
Sklavenhandel abgeschafft worden, und im März 1838 hatte sich der
Ministerpräsident Sa da Bandeira nach dem Siege über die Septem-
bristen auf das Andringen Englands zu Verfügungen verstanden, wo-
durch wirksame Maassregeln zur Unterdrückung desselben angedroht
wurden. Nichtsdestoweniger war der Sklavenhandel, begünstigt durch
die Gouverneure der portugiesischen Colonien in Afrika, von portu-
giesischen Schiffen und unter portugiesischer Flagge nach wie vor in
der unverschämtesten Weise betrieben worden; in so ausgedehntem
Maasse, dass im Jahre 1838 von 52 aufgebrachten Sklavenschiffen
nicht weniger als 43 portugiesische waren; und mit so barbarischer
Menschenverachtung, dass Hunderte von Negern in der Stickluft der
Schiffsräume oder, Angesichts verfolgender Kreuzer, als Ballast im Meere
den Tod fanden. Darüber war es zu lebhaften diplomatischen Erör-
terungen gekommen, als im April 1839 der für England ungünstigste
Kabinetswechsel in Portugal eintrat. Sa da Bandeira hatte wenigstens
noch kurz vor seiner Abdankung ein Dekret durchgesetzt, das fremden
Schiffen die Führung der portugiesischen Flagge verbot, um dem that-
sächlichen Missbrauch derselben durch die Sklavenhändler anderer
Nationen zu steuern; sein Nachfolger Sabrosa aber war dem englischen
Einfluss ebenso entschieden gram, als dem Sklavenhandel hold. Jetzt
zog England andere Saiten auf; eine Parlamentsbill, welche die Auf-
bringung aller portugiesischen Sklavenschiffe südlich vom Aequator
verfügte, wurde rücksichtslos in Ausführung gebracht. Das Lissaboner
Kabinet legte wider diese Eigenmächtigkeit entschiedenen Protest bei
den übrigen Grossimächten ein, wogegen nun England seinerseits frü-
here Geldforderungen mit Nachdruck geltend machte. Die Lage wurde
— 41 —
bedenklich, liess eine kriegerische Wendung befürchten. Da musste
endlich Sabrosa am 25. November 1839 wieder einem Ministerium
der Mittelpartei unter Bomfin weichen. Wiewohl auch dieses sich die
Miene gab, auf einer Genugthuung von Seiten Englands wegen der
Beschlagnahnze portugiesischer Schiffe bestehen zu wollen: so war es
doch nicht nur mit den Gegnern des Negerhandels grundsätzlich ein-
verstanden, sondern auch auf eine friedliche Ausgleichung mit England
um jeden Preis bedacht, und suchte sich daher Anfangs 1840 durch
Auflösung und Neuwahl der Cortes einen breiteren Boden zu verschaffen.
Mit diesem Experiment verband man aber zugleich noch eine an-
dere Absicht. Gleichwie in Madrid, so hatte auch in Lissabon der
Hof sich zu einem erneuten Rütteln an der Verfassung entschlossen.
Die Auflösung der Cortes in Spanien hatte mit dem Anfang des
Jahres 1840 zu einem der retrogaden Bewegung günstigen Parlament
geführt. Am 25. Februar schritt man daher in Portugal zu dem
gleichen Versuche. Und wirklich stellte sich in den neuen Kammern,
die am 25. Mai zusammentraten, eine sowohl der Aussöhnung mit
England als der politischen Reaetion günstige Majorität heraus. Der
nächste Wunsch des Hofes war die Rückkehr zu der Verfassung Dom
Pedros; eine gewaltsame Contrerevolution mittelst eines Aufstandes
der Chartisten hielt man jedoch für ein zu grosses Wagniss; man
wollte daher trachten, auf verfassungsmässigem Wege sich die conser-
vativen Grundlagen der oetroyirten Verfassung von 1826 wieder an-
zueignen. Das Ministerium Bomfin, Anfangs nach dem Vorbilde Sa
da Bandeira’s zwischen den Chartisten und den Septembristen, dann
zwischen jenen und den Anhängern der Verfassung von 1833 balan-
eirend, war auf dieses Vorhaben eingegangen. Das Hauptaugenmerk
des Hofes war auf die Wiederherstellung einer erblichen Pärskammer
gerichtet; doch legte Bomfin nach dieser Richtung hin durch seine
Behutsamkeit der Ungeduld Zügel an. Dagegen liess er sich zu einer
Reihe von Vorschlägen für anderweitige Verfassungsänderungen herbei.
Eben sollten der Krone mehrere vormalige Prärogativen wieder
eingeräumt werden; ein neues beschränkendes Wahlgesetz ging sofort
ohne Anstoss in den Cortes durch; in der Verwaltung und in der
Rechtspflege standen wesentliche Umwandlungen bevor, namentlich die
Aufhebung der Schwurgerichte in den Provinzen. Schon geriethen die
Anhänger der bestehenden Verfassung, Constitutionelle und Demokraten,
in Gährung. Da langte aus Spanien die Kunde von dem durch ähn-
liche Bestrebungen und besonders durch das Ayuntamientogesetz her-
vorgerufenen Aufstande in Barcellona an, und sofort erfolgte auch in
— 4172 —
Portugal ein Ausbruch. Am 11. August kam es in Lissabon unter
den ehemaligen Obersten Fontouro und Franga zu einem Aufstand, an
dem die verschiedensten Elemente Theil nahmen; am 28. zu einer
Militärrevolte in Castello-Braneco. Beider Orten liess man nach dem
Muster Barcellonas die bestehende Constitution, die Verfassung von
1838 leben, forderte ihre Aufrechthaltung und den Sturz des Mi-
nisteriums.
Während aber in Spanien die Exaltados in langem Ringen einen
entscheidenden Sieg davontrugen, erlitten in Portugal die Septembristen
eine ebenso entschiedene und rasche Niederlage. Die Cortes beeilten
sich, der Regierung die ausgedehnteste Vollmacht einzuräumen; noch
am 12. August deeretirten sie die Suspension der Habeascorpusacte
und der Pressfreiheit, das Verbot aller politischen Journale mit Aus-
nahme der Staatszeitung, die Ernennung eines Kriegsgerichts und eine
Adresse an die Linientruppen; am 29. aber übertrugen sie der Re-
gierung auf die Dauer eines Monats eine vollkommen dietatorische
Gewalt. Unter der Herrschaft dieser Ausnahmszustände wurden die
Regungen des Aufstandes gedämpft und erstickt.
Im Lager der Sieger aber erhob sich Streit, auf welche Weise
man diese Vorfälle ausbeuten solle. Die Camarilla und ein Theil des
Adels wünschten mit einem Schlage nicht nur die Septembristen zu
vernichten, sondern auch die ganze Constitution umzustürzen und das
absolute Regiment wieder einzuführen. Allein die Mittelpartei und
mit ihr die Mittelklassen waren dem absolutistischen Streben durchaus
abgeneigt, wiewohl bereit, mit einer gemässigten Verfassung vorlieb
zu nehmen und daher zu dem Standpunkt der Chartisten sich mehr
und mehr hinüberdrängen zu lassen. An sie glaubte das Ministerium
sich auch ferner noch anlehnen zu müssen; aber es hatte nun freie
Hand bekommen und durfte desto ungescheuter auf retrogade Verfas-
sungsänderungen hinarbeiten.
Von einem unvorsichtigen und gewaltsamen Vorangehen mahnten
die Ereignisse in Spanien ab, wo mit dem September und October die
Gewalt völlig in die Hände der Exaltados überging, deren Sympathien
mit den Septembristen offenkundig waren. Dazu kam, dass sich denn
auch sofort mit dem neuen liberalen Regiment in Madrid ein völker-
rechtlicher Confliet entspann. Er betraf die spanischerseits in Anspruch
genommene freie Schifffahrt auf dem Duero und erschien um so be-
drohlicher, als die Differenz mit England trotz aller Verhandlungen
noch immer nicht zu einer Erledigung gediehen war. Man wusste
überdiess, dass Espartero, der nunmehrige Leiter des Nachbarlandes,
— 43 —
den englischen Interessen 'zugethan sei, und konnte aus der Verdrän-
gung der Christine wie des Carlos entnehmen, dass er seinen Worten
und Handlungen Nachdruck zu geben verstehe, So schien mit dem
Ausgange des Jahres 1840 diese neue Differenz zu den ernstesten
Verwickelungen führen zu wollen; unter reactionären Spannungen und
kriegerischen Besorgnissen sah das Land ihrer Lösung entgegen.
Die Fortpflanzung der Insekten ohne Befruchtung und
Siebold’s*) neueste Arbeit über diesen Gegenstand.
Von H. FREY.
Es gehört in der Geschichte einer Wissenschaft zu den inter-
essantesten Gesichtspunkten, zu finden, wie gewisse Ideen, welche
Jahrhunderte lang als feststehende Wahrheiten gegolten haben, all-
mälig durch fortschreitende nüchterne Forschung in ihrer Irrthümlich-
keit erkannt werden, und wie man nach langen Abwegen zu der
älteren, früher für irrig gehaltenen Auffassung zurückkehrt.
Ueberblickt man die Schicksale, die die Zeugungslehre thierischer
Organismen in den letzten zwei Jahrhunderten erfahren hat, welche
' Revolutionen haben hier stattgefunden; wie lange dominirten Irrthümer,
die erst mühsam durch die allmälig eroberte Wahrheit von ihrem
Throne gestossen werden konnten, und wie manchmal wurden Wahr-
heiten von den Vorfahren in die Rumpelkammer des Irrthumes mit
mitleidigem Bedauern geworfen, aus welcher sie erst die gegenwärtige
Epoche wieder befreit und zu ihrer verdienten Geltung gebracht hat!
Die Lehre von der Urzeugung, der Generatio aequivoca, wie man
sagt, welche Schicksale hat sie durchgemacht — und welches wird nach
unserer Zeit ihr Geschick sein, möchte man fragen. Hat man sie
auch niemals als eine unbegrenzte, weder in der Wissenschaft noch
in dem gewöhnlichen Leben angenommen, so wurde sie doch früher
sehr allgemein zur Erklärung vieler sonderbarer Verhältnisse in dem
Naturleben benützt. Hatte es Fische, Frösche geregnet, die Generatio
aequivoca half hier aus. Insekten, Würmer, das ganze Heer niedriger
Geschöpfe sollte sich häufig in dieser Art bilden. Unreinlichkeit in
*) Wahre Partlenogenesis bei Schmetterlingen und Bienen. Ein Beitrag
zur Fortpflanzungsgeschichte der Thiere von C. Th. von Siebold. Leipzig, 1856,
mit einer Kupfertafel.
— 44 —
unseren Wohnungen und an unserem Körper erzeugt Ungeziefer, wir
sehen es ja jeden Tag. Die Urzeugung erklärte hier Alles. Krank-
heiten, schlechte Säfte unseres Leibes erzeugten in den Eingeweiden
Schmarotzer, von den unschuldigen Spuhlwürmern bis herauf zu den
bedenklicheren Taenien und den bösartigen Blasenwürmern. Und was
ist schliesslich von allem diesem übrig geblieben ? Nichts. — Alle diese
Anschauungen sind vor dem fortschreitenden Wissen gefallen.
In einer spätern Epoche lernte man an der Hand des Mikrosko-
pes, dieses die Welt des Kleinen erobernden Instrumentes, das Ge-
wimmel der Infusorien kennen, wie ein ganzes Heer niedriger Pflan-
zenformen dem forschenden Botaniker als Ausbeute anheim fiel.
Die Beobachtungen, dass sich zersetzende Thier- und Pflaizenstoffe
in wenigen Tagen Millionen von Aufgussthierchen das Leben geben,
dass unter passenden Verhältnissen eine kolossale Flora von mikro-
skopischen Schimmelbildungen in kurzer Zeit sich einstellt, führten
wiederum zur Generatio aequivoca zurück. Gleich einem einmal
geschlagenen Feinde hatte sich diese Anschauung, die Aussenwerke
aufgebend, im Innern der Festung aufs Neue eingenistet. Doch auch
hier sollte ihres Bleibens nicht sein. Angegriffen von vielen Seiten,
scheint die Stunde ihrer Vernichtung geschlagen zu haben — wir
sagen „scheint“, denn gerade die neueste Zeit hat wieder einzelne
Beobachtungen, die Entstehung von Monaden, von Pilzsporen innerhalb
geschlossener Zellenmembranen gebracht, welche ohne die Annahme
einer Urzeugung schwer begreiflich sein dürften. Werden kommende
Jahre uns mehreres in dieser Richtung bringen, oder uns einen Auf-
schluss zur Erklärung jener Verhältnisse im gegentheiligen Sinne
gewähren ?
Doch nieht durch diese Urzeugung hat die Lehre von der Fort-
pflanzung ihre Revolutionen erfahren und ist der alte berühmte Satz
des Engländers Harvey: „Omne vivum ex ovo* seiner Autorität ent-
kleidet worden.
Die Welt niedriger wirbelloser Thiere hat, seit den Tagen Cu-
viers mehr und mehr untersucht, eine Fülle von Material dem zoolo-
gischen Register geboten und nicht minder grossen Reichthum der
interessantesten Lebenserscheinungen der vergleichenden und allge
meinen Physiologie. Gerade hier hat sich viel des Lebendigen her-
ausgestellt, was nicht ex ovo entstanden ist, gerade hier hat man
grosse Gruppen, ganze Klassen kennen gelernt, welche es noch nicht
bis zur Bildung eines Eies bringen. Hier sind die Vermehrungsarten
durch Theilung, Knospenbildung, Conjugation festgestellt worden. Hier
— u =
haben wir in dem sogenannten Generationswechsel eine wunderbare
Seite der Fortpflanzung kennen gelernt, welche nicht mehr zu den
höheren Geschöpfen herauf ragt.
Es ist eine eigenthümliche Laune des Geschickes gewesen, dass
ein gefeierter Dichter Adalbert von Chamisso dazu eine Haupt-
anregung geben musste.
Die Welt der Insekten mit ihren zahllosen formenreichen, oft so
zierlichen Gestaltungen hat von jeher einen Lieblingsgegenstand der
Forschung gebildet — und mit Recht. Nicht allein Fachmänner, sondern
auch Laien und einfache Naturfreunde haben hier mit grossem nach-
haltigem Erfolge gearbeitet, wie man am Ende schon aus der einzigen
Thatsache entnehmen kann, dass wir gegenwärtig an 100,000 Arten
dieser Geschöpfe kennen dürften. Leider ist dieser bewältigenden
Fülle gegenüber kein menschliches Leben, und wäre es auch das
fleissigste und längste, mehr im Stande, Alles zu umfassen.
Auch bei diesen Geschöpfen geht nicht omne vivum im Wege
der Befruchtung ex ovo hervor. Hier ebenfalls liegen schon seit langer
Zeit einzelne Beobachtungen vor über andere Entstehungsarten, welche
lange Zeit hindurch unverstanden und unerklärt, oft hochmüthig &
priori für Irrthümer gedeutet in dem entomologischen Materiale als
‚ Curiositäten aufgeführt wurden.
Der hochgefeierte Forscher, dessen Namen der Titel unseres
kleinen Aufsatzes trägt, hat, wie um so viele andere Gebiete der
Physiologie und Zoologie, so auch hier in zartem häklichem Gebiete
sich grosse bleibende Verdienste erworben und die Resultate seiner
Untersuchungen in einem kleinen bescheidenen Büchelchen veröffent-
licht. Wir wollen versuchen, die Ergebnisse dieser Arbeiten in der
Kürze mitzutheilen.
Der wichtigste und anziehendste Theil dieser Schrift ist wohl die
Fortpflanzung der Bienen. Wie ist es möglich, dass die dreierlei
verschiedenen Zellen eines Bienenstockes, die Drohnenzellen, die Ar-
beiterzellen und die für die Königin jedesmal die richtigen Eier er-
halten? Welche Bedeutung kommt diesen dreifachen Bewohnern des
merkwürdigen Bienenstaates zu ?
Letztere Frage ist von den Naturforschern auf dem Gebiete ex-
acter Untersuchung seit einiger Zeit sicher und über allen Zweifel
entschieden worden. Die Drohnen sind Männchen, die Königin ein
Weib mit entwickelten ausgebildeten Geschlechtswerkzeugen, und die
Arbeitsbienen sind weibliche Individuen, bei welchen die Apparate
— 46 —
der Fortpflanzung nicht ihre Ausbildung erlangt haben, verkümmert
geblieben sind.
Siebold hatte schon vor längerer Zeit nachgewiesen, dass in der
sogenannten Samentasche, dem Receptaculum seminis die befruchtenden
Elemente des Samens, die sogenannten Spermatozoen nicht bloss Mo-
nate, sondern Jahre lang sich lebensfähig erhalten, so dass eine Bie-
nenkönigin Jahre lang befruchtete Eier legen kann, bis der Vorrath
der Spermatozoen endlich erschöpft ist. — In den letzten Jahren
ist die Physiologie der Zeugung um ein Namhaftes dadurch weiter
gefördert worden, dass man darthat, wie bei der Befruchtung diese
Elemente des Sperma in das Innere des Eies eindringen müssen. In
dieser Hinsicht verdienen die Namen von Newport, Keber, Bi-
schoff, Meissner, Leuckart und Andern genannt zu werden.
Nicht minder als bei den Bienen ist die Fortpflanzung der
Blattläuse eine auffallende und zwar — wie wir jetzt sagen dürfen —
dem Bereiche des Generationswechsels anheimfallende. Bei. diesen
Geschöpfen — man weiss es schon seit langer Zeit — findet sich
eine Generation männlicher und weiblicher Thiere, und auf sie folgen
eine Reihe (7”—11) Generationen, wo die Männchen fehlen und nur
dem Weibchen gleichende Geschöpfe, sogenannte Ammen im Sinne
von $Steenstrup vorkommen. Hier ist denn auch, wie Arbeiten der
Anatomen gelehrt haben, der Fortpflanzungsapparat von den weiblichen
Geschlechtswerkzeugen der wahren Weibchen verschieden.
Aber noch andere auffallende Verhältnisse der Fortpflanzung
waren den Entomologen schon seit längerer Zeit aufgefallen. Wahre,
ächte, mit vollkommenen Geschlechtswerkzeugen ausgestattete Weibchen
hatten vereinzelt unter ihren Genossinnen ohne Befruchtung Eier ab-
gelegt, aus welchen eine Larve hervorbrach; ein jungfräuliches Weib,
mithin eine Nachkommenschaft produzirt. Für diese Art der Fort-
pflanzung hat sich Siebold des Wortes „Parthenogenesis“ in
seiner Arbeit bedient.
Allerdings — und Siebold hat es mit scharfer Kritik bewiesen
— sind viele dieser Angaben, welche sich auch meist auf grössere
Schmetterlinge beziehen, nicht als stichhaltig zu betrachten, bei an-
deren fehlt eine genaue Erzählung. Deshalb wurden sie schon im
achtzehnten Jahrhundert angezweifelt. Auf der andern Seite, und wir
möchten dieses hervorheben, sind derartige Notizen gleich Erzählungen
über den thierischen Magnetismus allzuhäufig, als dass ein unbefan-
gener Forscher sich nicht am Ende gestehen müsste: „es ist wohl
doch etwas daran, mag auch der grössere Theil auf Täuschungen beruhen.“
— 417 —
Unter den Mikrolepidopteren, welche erst in neuerer Zeit Ob-
jeete regsamen Studiums geworden sind, kommen nun glücklicherweise
einige Arten vor, bei denen die Parthenogenesis ausser Zweifel steht.
Es sind dieses einige sacktragende Schaben. So vor allem die So-
lenobia Trignetrella FR und Solenobia Lichenella L. Ersteres Thier
‘ist in beiden Geschlechtern, einem geflügelten Männchen und einem
ungeflügelten Weibe, welches weder Augen noch Beine besitzt,
bekannt. Letztere Art, die $. Lichenella durch einen etwas anders
beschaffenen Sack characterisirt, erscheint nach allen Beobachtungen
nur in weiblichen Exemplaren. Kein Entomologe hat von der häufig
vorkommenden Spezies jemals ein männliches Stück gesehen.
Auch sind die Sitten dieser Weibehen von S. Triquetrella und
Lichenella eigenthümlich genug. Sobald das Weibchen ausgeschlüpft
ist, beginnt es Eier zu legen, welche seinen Sack erfüllen. Aus allen
diesen Eiern, die bei der Abwesenheit eines männlichen Exemplares
letzterer Spezies gewiss nicht anders als unbefruchtet sind, erscheinen
kleine Räupehen, welche alsbald mit grösster Emsigkeit sich neue
Säcke zu bilden anfangen. So bestätigen sich die älteren und neueren
Beobachtungen von Degeer, Seriba und Speyer. Auch der Schreiber
dieser Zeilen hatte schon vor Jahren Gelegenheit, dasselbe Factum bei
Lichenella zu constatiren.
Wie haben wir nun diesen Vorgang zu erklären? fällt er in
den Bereich des Generationswechsels, und sind die Exemplare der P.
Lichenella und Triquetrella demnach Ammen, — oder sind es ächte
jungfränliche Weibchen, ist es eine Parthenogenesis, welche uns hier
beschäftigt ?
Die genaue Untersuchung des inneren, wie äusseren Geschlechts-
apparates hat dem Verf. ergeben, dass die betreffenden T'hiere wahre
ächte Weibchen sind, keineswegs Ammen, und dass mithin ein Gene-
rationswechsel wie bei den Blattläusen nicht vorliegt.
Ein weiteres nicht minder merkwürdiges Beispiel einer solchen
Parthenogenesis bietet ein anderes kleines Lepidopteron, die sogenannte
Psyche Helix oder (wie sie früher durch von Heyden genannt worden
war) Psyche Reaumurella dar.
Der Sack des weit verbreiteten Thieres ist höchst merkwürdig.
Statt der gewöhnlichen gestreckten eylindrischen Gehäuse ist er, einer
gewöhnlichen Schneckenschale gleich, spiralig links gewunden und
zwar mit 21/, Gängen versehen. Kleine Erdstückchen bedecken in
zierlicher Weise diese Hülle, welche einer kleinen Erbse im Durch-
messer gleichkommt. Neben der Ausgangsöffnung hat der kleine
Wissenschaftliche Monatsschrift, 31
— 418 —
schneckenförmige Sack noch eine zweite seitliche Oeffnung, da wo die '
zweite Windung beginnt. Sie dient zur Entleerung des Kothes, mög-
licherweise auch zur Begattung.
Die kleine in diesem Sacke steckende und gewundene Larve ist
keine Kostverächterin, indem sie von sehr verschiedenen Pflanzen lebt,
so Artemisia, Anthyllis, Lotus, Gnaphalium, Alyssum, Teuerium ete.
Zu der von Siebold angeführten Reihe dieser Gewächse fügen wir
nach unseren Beobachtungen noch Euphorbia hinzu.
Sehr eigenthümlich ist die Art des Fressens, indem die Larve
nach Art der Coleophoren das Blatt minirt. Für eine Psyche können
wir deshalb das räthselhafte Thier durchaus nicht halten, wenngleich
es in dieses Genus ziemlich allgemein untergebracht worden ist. Eher
möchten wir der Meinung Zeller’s beistimmen, dass unser Geschöpf
eine Coleophore sei oder dass es überhaupt ein neues diesem Ge-
schlechte verwandtes Genus bilde.
In allen Säcken des sonderbaren Geschöpfes hat man bisher nur
weibliche Puppen augetroffen und demnach auch das vollendete Insect
niemals in einem andern als dem weiblichen Geschlechte erhalten.
Dieses ist flügellos, und auch beinahe gänzlich der Beine entbehrend,
ohne Fühler und Augen, ein träges, stumpfsinniges Geschöpf. Die
anatomische Untersuchung des wunderlichen Wesens lehrte Siebold,
dass es ein wahres ächtes Weibchen mit vollkommenem Geschlechts-
apparate versehen ist.
Entsprechend dem Mangel eines Männchens vermissen wir in
dem Anhange des weiblichen Genitalapparates die Spermatozoen. Ebenso
sehen wir von dem Weibe die Eier innerhalb des Sackes baldigst
abgesetzt werden, und treffen während des Winters 16—24 junge
Larven den mütterlichen Sack bewohnend, welche dann im folgenden
Jahre denselben Fortpflanzungsprozess wiederholen. Wie das Männ-
chen, welches mit einer Generation weiblicher Thiere irgend einmal
eine Befruchtung eingehen muss, beschaffen sei, wissen wir noch nicht,
da einige vorhandene Angaben über Männchen der Psyche Helix wohl
irrthümlich sind.
Wir haben also in den beiden Fällen einer sicheren Partheno-
genesis aus unbefruchteten Eiern nur weibliche Exemplare entstehen
sehen. Ganz anders aber, und in vieler Hinsicht weit auffallender,
gestaltet sich die Parthenogenesis eines der merkwürdigsten Insecten,
der Biene.
Der Haushalt dieser Thiere in seinen gröberen Umrissen ist allzu
bekannt, als dass wir nothwendig hätten, hier seiner zu gedenken,
Wie schon oben bemerkt, bilden Drohnen, Arbeitsbienen und die Kö-
— 479 —
nigin den Stock. Ebenso hat die Anatomie sicher dargethan, dass
die Königin ein weibliches Exemplar ist, dessen Genitalapparat zur
vollen Entfaltung gelangt ist, während bei den Arbeitsbienen ein
gleichfalls weibliches, aber nicht zur Ausbildung gelangtes Geschlechts-
system vorkommt. Die Drohnen aber endlich sind die Männchen.
Leider sind diese Resultate der Anatomie von jenen Männern, welche
sich praktisch mit der Erziehung der Bienen oder Gewinnung des
Honigs befassten, ignorirt worden. Bietet ja doch, wie wir sehen
werden, das Bienenleben manche wundersame Erscheinungen der Fort-
pflanzung dar, welche der Physiologie der Zeugung neue Beiträge
liefern.
Ein schlesischer Pfarrer Dzierzon, ein geistvoller, scharfsinniger
Bienenzüchter, hatte schon vor Jahren hier folgendes ausgesprochen :
„Die Königin wird einmal für ihr gaıfzes Leben bei dem bekannten
Ausfliegen befruchtet, und nur eine solche mit brauchbaren Flügeln
versehene kann überhaupt befruchtete Eier zur Welt bringen. Aus
diesen aber entstehen Königinnen und Arbeitsbienen, mithin Thiere
weiblichen Geschlechtes. Die männlichen Wesen, die sogenannten
Drohnen, stammen aus unbefruchteten Eiern. — Wenn eine Arbeits-
biene entwicklungsfähige Eier legt, wie die Beobachtung gelehrt hat,
. so entstehen hieraus niemals etwas anders als Drohnen.*“
Der Leser wird begreifen, dass derartige Fragen nicht durch
Hin- und Herreden, sondern nur durch eine genaue Beobachtung ent-
schieden werden können.
Die neuere Zeit hatte nun, wie schon früher ebenfalls be-
merkt worden, eine Entdeckung gemacht, welche hier mit grösster
Wahrscheinlichkeit die Entscheidung geben musste. Die wesentlichen
Elemente der männlichen Zeugungsflüssigkeit, die Spermatozoen, drin-
gen bei einer Befruchtung in das Innere des Eies ein. Dzierzon
selbst hatte eine neue Art von Bienenstöcken erfunden, welche eine
bei weitem genauere Beobachtung des Bienenlebens, als die früher
üblichen, gestatten, und mit seinen eigenen Untersuchungen hier vieles
festgestellt. Ebenso hat von Berlepsch auf Seebach in dieser Hin-
sicht sich bedeutende Verdienste erworben.
So ist es durch die anatomische Untersuchung, welche Siebold
anstellte, vor allen Dingen festgestellt worden, dass ausserhalb des
Bienenstockes beim Ausfliegen die Königin befruchtet wird. Erst dann
ist der Samenbehälter, das Receptaeulum seminis, mit Spermatozoen
erfüllt. Der Vorrath von Samenfäden muss nun für das ganze Leben
der Königin ausreichen, da eine zweite Begattung nicht mehr statt-
findet.
— 480 —
Vor der Begattung kann also die Bienenkönigin nur Eier legen,
aus welchen sich Drohnen (männliche Thiere) entwickeln ; nach jener
willkührlich männliche, d. h. unbefruchtete, und weibliche, d. h. be-
fruchtete, mit eingedrungenem Samenfaden versehene Eier. Dieser
Umstand, welcher, wie wir früher sahen, gerade in entgegengesetzter
Art bei den Psychiden vorkam, musste einen bis dahin als sicher
festgehaltenen Satz unserer Zeugungslehre umstossen, denjenigen näm-
lich: dass das Ei zur Ausbildung des Embryo immer vorher befruch-
tet sein müsse.
Schon die Beobachtung des Bienenhaushaltes lehrt ein paar hier-
für sprechende Thatsachen. Eine flügellahme, d.h. nicht zur Begattung
gekommene Königin legt nur Drohneneier. Ist ein Bienenstock der
Königin beraubt, so sehen wir einzelne Arbeitsbienen, die Rolle der
Königin usurpirend, Eier legen, aus welchen ebenfalls nur Drohnen
werden. Bei ersterer, der flügellahmen Königin, ist das Receptaculum
seminis stets ohne Samenelemente, bei letzteren sind die äusseren
Genitalien allzu verkümmert, um eine Begattung überhaupt zu gestatten.
Auch das Receptaculum seminis eierlegender Drohnen ist ganz unent-
wickelt, so dass es leicht übersehen wird.
Nicht minder spricht hiefür eine andere, freilich sehr seltene
Beobachtung der Bienenzüchter, diejenige nämlich, dass eine befruchtete
alte Bienenkönigin gegen das Ende ihres Lebens nur Drohneneier legt.
Hier muss sich der Vorrath des im Receptaculum enthaltenen Spermas
aufgebraucht haben. Denn fünf Jahre lang kann der Samenvor-
rath der einzigen Begattung, wie Dzierzon fand, zwar ausreichen
und so. viele tausend Eier befruchten, — endlich aber wird der
Inhalt des Receptaculum sich erschöpfen müssen. Die befruchtete
Bienenkönigin muss endlich beim Eierlegen willkürlich das Ei, was
in eine weite Drohnenzelle kommt, unbefruchtet entleeren können, wäh-
rend sie den Eiern, welche für die engeren Arbeitszellen bestimmt
sind, die Spermatozoen zumischt. (Bekanntlich werden die Insecteneier
nicht im Ovarium, sondern erst bei der Passage des Eileiters befruchtet.)
Und in der That kann man durch die Einrichtung eines Dzierzon’schen
Bienenstockes eine Königin zwingen, bald mehr bald weniger Eier zu
befruchten.
Herr von Berlepsch hät uns mit einigen interessanten, diesen
Gegenstand betreffenden Beobachtungen beschenkt. Einer Königin,
deren frühere normale Fruchtbarkeit eonstatirt war, wurde der Hinter-
leib zufällig stark gequetscht. Sie blieb zwar am Leben, legte aber
in der Folge nur noch Drohneneier. — Der Verbindungstheil des
Receptaculum seminis — wie Siebold richtig eonjeeturirt haben dürfte
— 481 —
— war vom Eileiter abgerissen. — DBienenköniginnen wurden von
jenem im Juni der Kälte eines Kellers unterworfen. Zwei derselben
erfroren, die dritte überdauerte den Frost und legte von nun an nur
Drohneneier. Ihr Vorrath an Sperma war zersetzt worden, die Samen-
faden hatten die Beweglichkeit und damit die Fähigkeit des Befruch-
tens verloren.
Auch die Bastardbildung der Bienen wurde in der neueren Zeit
zur Entscheidung dieser Frage benützt. Bekanntlich entsteht zwischen
nahe verwandten Arten durch Begattung ein Mittelding, ein Bastard.
Bei den Bienen können nun nach demjenigen, was wir oben ausein-
andergesetzt haben, nur die Arbeitsbienen und Königinnen solche Ba-
starde werden, da nur sie aus befruchteten, dem männlichen Samen
unterworfenen Eiern hervorgehen, — nicht aber die Drohnen, denn
diese, aus unbefruchteten Eiern stammend, müssen den Charakter der
Mutter beibehalten, da hier keinerlei Einflüsse vom männlichen Thiere
aus dem Akte der Zeugung angenommen werden können.
Nun wurde in der letztern Zeit neben unserer einfarbigen schwarz-
braunen Biene die gelbliche italienische Biene, eine besondere Varietät,
vielfach eultivirt. Manchfache Kreuzungen zwischen den beiden Ragen
haben die Richtigkeit obiger theoretischer Annahmen im Allgemeinen
dargethan. Bei allen diesen Beobachtungen fiel immer die Zucht der
Drohnen entweder rein italienisch oder rein deutsch aus, je nachdem
die der Kreuzung unterworfene Königin der italienischen oder deutschen
Race angehörte. .
Viel wichtiger jedoch als diese, der Beobachtung des Bienen-
haushaltes entnommenen Argumente werden diejenigen sein müssen,
welche die direete Untersuchung mit Hülfe von Scalpell und Mikro-
skop liefert.
Zweierlei Wege bieten sich hier dar. Einmal die künstliche Be-
fruchtung, wie man sie an den Eiern von Fischen, Fröschen etc.
vielfach vorgenommen hat. Leider verbietet die Zartheit des Bienen-
Eies einen derartigen Gang. Dann die mikroskopische Beobachtung
des frisch gelegten Bieneneies, die Untersuchung der eingedrungenen
Spermatozoen an den weiblichen Eiern, das Fehlen der Samenfaden in
den Drohneneiern. Für das Eindringen der Spermatozoen besitzen die
Eier unserer Bienen, gleich denjenigen der Insekten überhaupt, einen
sogenannten Mikropyl-Apparat, d. h. an dem einen Eipole einfache
oder mehrfache kleine Löcher. Auch diese Eintrittsöffnungen sind
Entdeckungen der letzten Jahre.
Leuckart war der Erste, welcher letztere Beobachtungen in
Seebach bei Herrn von Berlepsch zu unternehmen wagte; aber es
— 482 —
gelang ihm bei der Schwierigkeit der Untersuchung nicht, hier zu ei-
nem Resultate zu kommen.
Nicht abgeschreckt durch dieses Misslingen, nahm der Verfasser
der uns hier beschäftigenden Schrift einige Monate später in Seebach
dieselben Studien wieder auf. Ein eigenthümliches vorsichtiges Zer-
sprengen der Eihüllen war das Mittel, dessen er sich bediente, um
etwaige Samenfaden zwischen der körmnig - blasigen Dottermasse zu
entdecken.
Siebold unterwarf eine grosse Anzahl weiblicher Eier, die theils
so eben, theils vor einer Stunde, theils seit 12—24 Stunden gelegt
waren, der mikroskopischen Analyse. Es gelang ihm hier in einer be-
trächtlichen Zahl von Fällen die Samenelemente theils einfach, theils
mehrfach, bald schon abgestorben, bald noch in Bewegung im Innern
des Eies zu erblicken.
Viel wichtiger als dieses Vorkommen der Samenfaden in den
befruchteten weiblichen Eiern war es natürlich die Abwesenheit der
Spermatozoen in den frisch gelegten Drohneneiern zu constatiren und
somit der Dzierzon’schen Theorie die letzte vollste Bestätigung zu er-
theilen. 27 frische Drohneneier zeigten niemals einen Samenfaden im
Innern, als Beweis einer stattgefundenen Befruchtung, während die
gleichzeitigen weiblichen Eier derselben Königin die Elemente des
Spermas auf das Schönste enthielten.
So bietet uns also die so wichtige Biene ein neues, schönes Bei-
spiel der Parthenogenesis.
Wichtiger noch als sie ist in industrieller Hinsicht der Seiden-
spinner, Bomb. Mori, bisher der ausschliessliche Lieferant der Seide,
obgleich er es, wie es den Anschein hat, nicht lange mehr bleiben
dürfte. Schon im 18. Jahrhunderte bemerkte man, dass auch aus
Eiern unbefruchteter Weibchen dieses Thieres sich Seidenraupen ent-
wickeln können. Derartige Beobachtungen haben sich nun in der
letzten Zeit sehr gehäuft. Sind sie auch noch jetzt nicht in einer
vollgültigen Weise von einem sachkundigen Forscher angestellt worden,
so hat Siebold wenigstens das Verdienst, aus Eiern, welche nach
zuverlässig scheinenden Angaben unbefruchtet waren, Seidenraupen
erzogen zu haben, die nach der Verpuppung zur völligen Ent-
wickelung kamen. Es erschienen Spinner beiderlei Geschlechtes
und nicht, wie man hätte erwarten sollen, nur Stücke des einen
Geschlechtes.
Ist dieses wohl das Ganze der Parthenogenesis bei den Insekten ?
Gewiss nicht. Wahrscheinlich stehen wir hier im Anfange des An-
fanges und haben erst den Beginn einer ausgedehnten merkwürdigen
— 483 —
Fortpflanzungsweise, welche freilich ein neues Dunkel über den ohne-
hin schon so dunkeln Zeugungs- und Befruchtungsprozess verbreiten
dürfte. Die Cynipiden, manche Lepidopteren, von denen schon oben
die Rede war, eine Anzahl von Crustaceen werden weitere Beispiele
in der Folge darbieten. Die Beobachtungen über Psyche Helix müssen
ebenfalls schliesslich die männlichen Thiere erkennen lassen.
Deutung bestimmter einfacher Integrale mit complexen
Integrationsgrenzen.
VORWORT.
Auch in einer logisch geordneten Wissenschaft, deren sämmtliche
Glieder einen gemeinsamen, »ganz einleuchtenden Ausgangspunkt haben,
wird man auf Fragen bisweilen geführt, die den bereits festgestellten
oder begründeten Theilen derselben nicht leicht bei- oder unterzuord-
nen sind. Solche Fragen sind aber dann als schwebende, oder als
noch zu erledigende so lange offen zu halten, bis im Laufe der Zeit
Anknüpfungspunkte an schon festgestellte Begriffe für sie gefunden
oder, wenn dieses nicht angeht, ihre Erledigung aber als ein Bedürf-
niss erkannt wird, durch Einführung eines neuen Begriffes, der auf
eine neu einzuführende Anschauungsweise ruht, gleichwohl aber im
Gesammtbau der betreffenden Wissenschaft seine Wurzeln hat, dersel-
ben als neues selbständiges Glied einverleibt wird.
Der grössern Deutlichkeit wegen, mich aber allerdings auf meine
Wissenschaft beschränkend, lasse ich einige Fälle zur Beleuchtung
des eben Mitgetheilten folgen.
Wenn man beim gegliederten Fortschreiten dieser Wissenschaft
aus ihrem ersten Anfange auf die Operation des Radieirens geführt
wird, und etwa die Bestimmung von v2 vorzunehmen hat, da über-
zeugt man sich sehr bald, dass es hiefür weder eine ganze noch eine
gebrochene Zahl geben kann; daher denn eine Frage über die Natur
der Einheit, die y2 darstellt, offen wird. Da Fragen dieser Art in
grosser Anzahl sich darboten, sonach ihre Erledigung als dringlich
erkannt ward, — so wandte man sich zuletzt der ideellen Anschauung
einer unendlich kleinwerdenden Einheit zu, mittelst der alle diese
Fragen vollständige Erledigung fanden.
— 334 —
Die Fragen, die in der Operation des Dividirens liegen, hatten
die Einführung der gebrochenen Einheit, als Gegenstand des Zählens
der reinen Mathematik zur Folge.
Ebenso führten die Fragen, die in der Operation des Subtrahirens
liegen, zuerst auf die Idee einer negativen Einheit und folglich auch
auf negative Zahlen.
In diesen vorgeführten Fällen sah man sich zur Einführung
neuer Begriffe und der ihnen zu Grunde liegenden Anschauungen
durch die hohe Wichtigkeit der betreffenden Fragen gedrängt.
Führen wir auch einen Fall vor, der sich eine geraume Zeit
ähnlich wie die vorausgeschickten darstellte, schliesslich aber gleich-
wohl bereits bestehenden Anschauungsweisen und Begriffen untergeord-
net werden konnte.
Eine allgemeine, algebraisch rationale und ganze Gleichung einer
Unbekannten x, die den vierten Grad überschreitet, ist ein bis jetzt
noch nicht gelöstes Problem. Noch mehr, es existiren sogar Beweise,
dass der Werth von x durch keine algebraische Function der Coeffi-
eienten der Gleichung angebbar sei. Da aber eine Antwort auf die
durch die Gleichung gestellte Frage, betreffend die Natur von x,
gleichwohl verlangt ward, so lag, meiner Meinung nach, auch der
Gedanke gar nicht fern, Zahlen für x zu vermuthen, deren Einheit
auf keine der bis jetzt bekannten oder deren Combinationen zurück-
zubringen möglich sei. Diese sehr lange Zeit offen gestandene Frage
oder Vermuthung ist in unserer Zeit verneinend entschieden worden.
Man weiss jetzt mit aller wissenschaftlichen Strenge, dass der gesuchte
Werth von x oder die Wurzel der in Rede stehenden Gleichung eine
sogenannte complexe Zahl sei; sie ist nämlich immer von der Form
a--bi, wo i die imaginäre Einheit, a und b aber, wenn gleich noch
unbekannt, sind immer reeller Beschaffenheit oder ruhen auf reelle
Einheiten.
Nach dieser dem vorliegenden Gegenstande scheinbar fremden
Abschweifung von dem uns in der Ueberschrift gesetzten Ziele wenden
wir uns demselben zu, schicken aber die Bemerkung gleich voraus,
dass ein bestimmtes Integral einer Differenzialformel f(x)dx mit
complexen Integrationsgrenzen nach dem gegenwärtigen Stand der
Wissenschaft zu den Fragen gehören dürfte, von denen wir im Voraus-
geschickten gesprochen. So ein Integral ist nach der bis jetzt aner-
kannten Anschauung und Begriffsbestimmung eines bestimmten Integrals
keiner den Inhalt desselben involvirenden Deutung zulässig. Wir
wissen nämlich nicht, was mit der Redensart, die bei den reellen
= u
Integrationsgrenzen a (die untere) und A (die obere) einen klaren
unzweideutigen Sinn hat, und etwa so lautet: „Das bestimmte Integral
sei von x a bis x = A auszudehnen,* womit nämlich eine Sum-
mation der betreffenden Differenzialformel f(x)dx über alle Werthe von
x=abis x = A verstanden wird, — wir wissen nicht, sage ich,
was mit dieser Phrase anzufangen sei, falls diese Integrationsgrenzen
a und A complexe Zahlen sind. Während in dem ersten Falle, wo
a und A reell sind, ein Uebergang von dem einen Werth a zu dem
andern A, gleichsam wie von einem Punkte zu einem andern auf
derselben Linie erscheint, hört dieser eine vorgezeichnete Weg auf,
wenn die Integrationsgrenzen complexer Beschaffenheit sind, welches
offenbar darin seinen Grund hat, dass die beiden Bestandtheile einer
complexen Zahl, die allerdings durch das algebraische Summenzeichen
verbunden sind, heterogen zu einander sind, — also von einer Addi-
tion oder Subtraction derselben im gewöhnlichen Sinne (wo die ein-
zelnen Bestandtheile oder Zahlen in ihre Einheiten gleicher Art aufgelöst
und dann zu einer einzigen Zahl zusammen gefasst werden) nicht die
Rede sein kann.
Für gewisse zu erzielende Zwecke sind allerdings vorgeschriebene,
immer aber willkürliche Uebergänge von der einen complexen Inte-
grationsgrenze zur andern gestattet, wie solches Cauchy und seine Nach
folger gethan. Es bleiben dieselben jedoch der eigentlichen Integral-
rechnung (wo es sich nämlich um die Werthung eines bestimmten Inte-
grals innerhalb complexer Integrationsgrenzen handelt) der erwähnten
Willkürlichkeit wegen so lange fremd, bis nicht deren Zusammenhang
mit den elementaren Grundbegriffen eines bestimmten Integrals wissen-
schaftlich constatirt sein wird.
Es erinnert mich ein solches Integral mit complexen Integrations-
grenzen an einen analogen, schon in den ersten Elementen der Algebra
auftretenden Fall. Nachdem man den elementaren Begriff einer Potenz
mit ganzem, positivem Exponenten festgestellt hat, und dann eine
Uebertragung dieses Begriffes auf die Fälle verlangt wird, wenn der
Exponent negativ oder eine gebrochene Zahl ist. Ohne über die
Art, wie diese Fragen erlediget worden sind, mich hier auszusprechen,
hebe ich doch den Umstand mit besonderm Nachdruck hervor, dass
die gewonnenen Erledigungen mit dem Grundbegriffe der Potenz sammt
ihrem Gegensatze im innigsten Zusammenhange stehen.
In ähnlicher Weise glaube ich den in der Ueberschrift angedeu-
teten Gegenstand erledigt zu haben, wie solches im Folgenden, na-
mentlich in Nr. 5 nach vorhergegangener Motivirung in gedrängter
— 3586 —
Uebersicht zusammengestellt worden ist. Den Beschluss der vorlie-
genden Mittheilung machen einige kleinere Anwendungen, deren End-
ergebnisse zwar nicht neu, gleichwohl Beachtung verdienen.
1. Wenn man durch die Operation des Differenzirens auf die
Gleichung :
d-. Ff(x) = Hlaldx (1)
geführt wird, wo f(x) und F(x) Functionen von x repräsentiren;
wenn ferner a und A reelle Zahlen sind, innerhalb welcher die Fune-
tion F(x) eontinuirlich ist, oder, was auf dasselbe hinausläuft, wenn
der Differenzialausdruck f(x) dx für jeden innerhalb besagter Grenzen
enthaltenen reellen Werth von x unendlich kleinwerdend ist, wobei
dx den unendlich kleinwerdenden Unterschied je zweier aufeinander
folgenden dieser Zwischenwerthe vorstellt (welchen Ausdruck dx ich
sehr oft durch w. darstelle): so stellt, wie bekannt, der Ausdruck
F(A)— F(a) die Summe aller dieser so eben angedeuteten unendlich
kleinwerdenden Werthe von f(x)dx dar. — Betreffend das unendlich
kleinwerdende Intervall dx oder » kann solches von einem Intervall
zum andern, ohne die unerlässliche Eigenthümlichkeit des unendlichen
Kleinwerdens abzulegen, variiren oder auch constant bleiben. Meisten-
theils tritt jedoch ® im letztern Sinne auf.
In jeder bessern Schrift über Integralrechnung wird man von der
Richtigkeit des Vorausgeschickten genügenden Aufschluss erhalten,
wenn, wie gesagt, die Zahlen a und A, als die Integrationsgrenzen
A
des bestimmten Integrals \ f(x) dx, reeller Beschaffenheit sind.
a
2. Sind die Integrationsgrenzen eines bestimmten Integrals rein
imaginär, Zahlen nämlich, denen die imaginäre Einheit i ( = y-ı)
zu Grunde liegt, die, wenn a und A die Grössen dieser Zahlen sind,
durch ai und Ai dargestellt sein werden; so besteht alles im Voraus-
geschiekten Mitgetheilte ungeschmälert in voller Klarheit und Richtig-
keit, mit der einzigen ganz natürlichen Abweichung, dass sämmtliche
Zwischenwerthe, wie der unendlich klein werdende Unterschied des
einen dieser Zwischenwerthe zu seinem nächstfolgenden derselben Na-
tur wie die Integrationsgrenzen selbst, nämlich rein imaginär sind,
Der Sinn eines bestimmten Integrals sls Summe findet hier eine eben
so einleuchtende Anschauung wie in dem Falle reeller Integrations-
grenzen, wie zur Erhärtung dieser Behauptung die folgende Doppel-
gleichung augenfällig darthut:
— 38397 —
Ai
\ f&$ddx =F(Ai) — F(ai)
= wi > f(ai) + f(ai toi) + f(ai+ 20i) + ....-
+ f(ai + a—1)wi) +3fA) },()
inder A—a = nw angenommen worden ist.
Dass hier kein besonderer Nachweis nöthig sei, geht aus dem
allgemeinen Begriffe einer Zahl hervor, die als Ergebniss des Zählens
mit einer Einheit anzusehen ist, deren Beschaffenheit, mit der einzigen
Restrietion, während des ganzen Aktes des Zählens dieselbe zu sein,
ganz willkürlich ist.
Zum Ueberflusse füge ich noch bei, dass unter Oi ein Nichtdasein
der imaginären Zahl zu verstehen sei; ferner hat man unter wi eine
unendlich kleinwerdende, und unter wi eine unendlich grosswerdende
rein imaginäre Zahl zu verstehen.
3. Nunmehr wende ich mich dem eigentlichen Gegenstande vor-
liegender Mittheilung zu, wo die Integrationsgrenzen complexe Zahlen,
oder mindestens nicht gleicher Beschaffenheit sind, d. h. wenn die
untere Integrationsgrenze etwa reell, dann die obere eine rein ima-
ginäre oder eine complexe Zahl u, dgl. m. sei.
Die inverse zur Operationsgleichung (1) ist folgende :
(too dz.=\F (x) + Const.,
oder auch:
(1 de = Hs F(«), (1‘)
wo @ eine beliebige Constante ist, d. h. wie imnier beschaffen sein
kann, wenn sie nur unabhängig von x festgehalten wird. Der Aus-
druck rechterhand vom Gleichheitszeichen oder die Integralfufiction
verschwindet, wie augenfällig, bei x = @; und wenn deren Werth
für x = ß anzugeben ist, schreibt und hat man:
( iz ur F($)—F(e),
1204
wo 8 gleichwie'« jedweder Beschaffenheit, reell, imaginär oder complex
sein kann. Wird also @—=a +biwmd$?=A+Bi angenommen,
wo a, b, A, B reelle Zahlen sind; so hat man auch:
ui, ax = FINE F bi 3
ee dx = F(AHB) Flat bi). (3)
Dieser Zusammenhang nun, wo der Ausdruck linkerhand ein be-
— 3858 —
stimmtes Integral innerhalb complexen Integrationsgrenzen ist, stellt
den Frindamentalbegriff eines solchen Integrals dar; und wir werden
in der folgenden Nr., unter der Voraussetzung, dass F(x) eine ein-
deutige Funetion auch für complexe Werthe von x repräsentirt, den
Zusammenhang desselben mit gewissen Summen, analog denen bei
reellen oder rein imaginären Grenzen, in ganz unzweideutiger Weise
und frei von jeder Willkür feststellen.
4, Wenn A, b und B reelle Zahlen sind, so stellt das be-
stimmte Integral:
Bi
\ f(x + A)dx,
&) bi
nach Nr. 2, die Summe von f(x + A)dx über alle rein imaginären
Werthe von x= bi bis x = Bi ausgedehnt dar, wo der Uebergang
von einem dieser Werthe zu seinem nächstfolgenden etwa durch io’
dargestellt sein mag; stellt man alle diese Summanden her, so über-
zeugt man sich, dass dasselbe auch durch das bestimmte Integral:
A-+Bi
\ f(x) dx
A+bi
erzielt wird, wo der Uebergang von einem Werthe zu seinem nächst-
folgenden derselbe unendlich kleinwerdende rein imaginäre Ausdruck
io‘ ist. Daher besteht folgende Doppelgleichheit :
Er d u A)d F(A+B F(A-+bi) 4)
f(x)dx = \ x RI ( 1) — 1
\., 0 = |, &r® HE) —F(AHb), (
für sämmtliehe reelle Zahlenwerthe von A, b und B.
Wenn ferner A und b dieselben bis jetzt gedachten reellen Werthe
sind und denselben noch die reelle Zahl a beigegeben wird, so stellt
das bestimmte Integral:
\ f(x +bi)dx,
nach Nr. 1, die Summe von f(x-+-bi)dx über alle reelle Werthe
von x=abis x = A ausgedehnt dar, wo der Uebergang von einem
dieser Werthe zu seinem nächstfolgenden durch w angedeutet sein soll;
stellt man auch alle diese Summanden her, so überzeugt man sich,
dass dasselbe auch durch das bestimmte Integral :
Abi
\ f(x)dx
abi
erzielt wird, wo der Uebergang von einem Werthe zu seinem nächst-
folgenden dasselbe unendlich kleinwerdende und reelle Incerement w
ist; sonach besteht auch folgende Doppelgleichheit:
— 389 —
A+bi
\ ER f(sjde= \ f(x +bi)dx = F(A+bi)— F(a+bi), (5)
a-bi
gleichfalls für sämmtliche reelle Zahlenwerthe von a, b und A.
Die Ergebnisse in (4 und 5) bieten durch Addition zunächst
folgendes dar:
£ A+
F(A+Bi)— F(a-+bi) a is) dx—+ per BC: (6)
Ganz in gleicher Weise, wie wir auf die ie in
(4 und 5) geführt worden sind, gelangt man auch auf folgende:
kr dx. Br ib Z— Bi) —F bi 4'
Nur f(x) ef f(x+a)dx = F(a+Bi)—F(a-+bi), (4)
MB re = fer f(x+Bi)dx = F(A+Bi)— F(a+Bi), (5°)
‘a i
die als Gleichheiten für alle reelle Werthe a, b, A, B Bestand haben.
Addirt man auch hier, so gelangt man auf folgende coordinirte
Gleichheit zu (6):
F(A+Bi) — F(a+bi) = ‚a Br ac+ |, "dx, (6)
die gleichfalls für alle reelle Werthe von a, b, A, B a hat. *)
Mit diesen Ergebnissen in (6 und 6’) ist die Schlussaussage
vorangehender Nr. vollständig realisirt, wobei wir gegenwärtig noch
darauf aufmerksam machen, dass je die zwei Bestandtheile rechter
hand der Gleichheitszeichen in (6 und 6’) an den durch folgende
Gleichheit :
( ae \. £(x)dx + W Ela
. ausgedrückten Satz aus den bestimmten Integralen mit reellen Grenzen
erinnern, falls a eine innerhalb der reellen Zahlen &@ und £ fallende
reelle Zahl vorstellt.
5. Fassen wir alles über ein bestimmtes Integral mit complexen
Integrationsgrenzen Gewonnene, sammt den unerlässlichen Beschrän-
kungen, die von der Discontinuität herrühren, zusammen; so stellt
sich Folgendes nunmehr als begründet heraus:
Wenn man die unbestimmte Integralgleichheit hat:
LE (x)dx = F(x) + Const., (I)
*) Die nöthigen Einschränkungen im Falle der Discontinuität der unbe-
stimmten Integralfunetion sind vorderhand unbeachtet gelassen; ich komme jedoch
in der nächstfolgenden Nr. auch auf diese zu sprechen.
— 39% —
wo für x jede Function von x gesetzt werden kann; so bietet sie
nach den Betrachtungen in Nr. 3 folgende dar:
A+Bi
oma f(&)dx = FIALBD Fat bi), (I)
wo a, b, A, B beliebige reelle Zahlen sind und i die imaginäre Ein-
heit vorstellt. Zugleich mit diesem Ergebnisse besteht jedes der beiden
Bi
- E(X)dx =
a+bi
A+bi A-+-Bi N Bi
\, er fx)dx+ \, nei f&x)d= \, f(x+bi)dx + Ä| f(x+-A)dx, (III)
fi: fd
a-+-bi
a+-Bi A+Bi Bi A
x x)Ax — f dx ff5 - 1
|. ig fl Jic+ ke f(x)dx % (x+2) +, (+ Bi)dx, (III)
falls folgende Bedingungen, die aus je den letzten zwei Gliedern die-
folgenden :
ser Gleichheiten entnommen werden, Bestand haben:
a. Es besteht (III) simultan mit (ID:
1. Wenn die unbestimmte Integralfunction F(x)
bekannt ist, falls F(x+-bi) für alle reelle Werthe von
x=abisx= A, sowie auch F(x-+A) für alle rein
imaginären Werthe von x = bi bis x= Bi continuirlich
verbleiben.
2. Wenn die unbestimmte Integralfunction F(x)
unbekannt ist, falls die betreffenden Differenzialformeln
f(x+bi)dx, f(x + A)dx für jeden der betreffenden Werthe
von x, die mit denen in 1. bezüglich einerlei sind, jedes-
mal unendlich kleinwerdend erkannt werden.
b. Es besteht (III') simultan mit (II).
1. Wenn die unbestimmte Integralfunction F(x) be-
kannt ist, falls F(x--a) für alle rein imaginären Werthe
von x=bi bis x=Bi, so wie auch F(x+Bi) für alle
reellen Werthe von x=a bis x= A continuirlich ver-
bleiben.
2. Wenn die unbestimmte Integralfunetion F(x) un-
bekannt ist, falls die betreffenden Differenzialformeln
f(x+a)dx, f(x+Bi)dx, für jeden der betreffenden Werthe
von x, die mit den unmittelbar vorhergehenden bezüglich
— 391 —
einerlei sind, jedesmal unendlich kleinwerdend erkannt
werden.
c. Es bestehen endlich sowohl (III wie II’) simultan
mit (II), wenn sowohl die ausgesprochenen Bedingungen in a.
wie die in b. realisirt werden.
Anmerkung. Wenn die in (a, 1, 2) sowie in (b, 1, 2) aus-
gesprochenen Bedingungen ganz oder theilweise nicht realisirt werden,
dann fällt das in Rede stehende bestimmte Integral mit den com-
plexen Integrationsgrenzen, nämlich :
Bi
fi f(x)dx,
a+bi
in den Bereich jener, wo die Grundbegriffe der Differenzial- und In-
tegralrechnung ein Ende haben, wo man allerdings die Gleichung (II)
zur Bestimmung desselben unterlegen kann, wo aber die Bedeutung
des Ergebnisses nicht mehr durch eine Summation der betreffenden
Differenzialformel, wie es in der Integralrechnung üblich, wissenschaft-
lich zu motiviren möglich wird.
6. Dass der in (a. und b.) unmittelbar vorher festgestellte Unter-
schied unter den Ergebnissen in (III und III‘) eine wissenschaftliche
Nothwendigkeit sei, leuchtet, vom theoretischen Standpunkt angesehen,
zwar sofort ein; ich erachte es aber nicht für unnütz, solches bei
einem concreten Falle noch mehr zur Anschauung zu bringen. Hiezu
eignet sich sehr gut das bestimmte Integral :
a De
BE a
Olıne auf das unbestimmte Integral hier besonders einzutreten, unter-
legen wir die in (a. und b.) unter (2.) aufgestellten Bedingungen.
dx
1+ (+ 5)°
für alle reelle Werthe von x, so innerhalb O und 1 liegen, unendlich
Nach (a. 2.) muss zuerst der Differenzialausdruck
kleinwerdend sein; innnerhalb dieser Begrenzung liegt der Werth
Er a, welcher den Nenner des betreffenden Bruches auf Null
bringt. Wird also, wie man es bei bestimmten Integralen mit reellen
Integrationsgrenzen thut, x = = + w gesetzt, so geht der in Rede
stehende Differenzialausdruck über in:
— 32 —
2
3(—1-+i/3) + 3(14+1/3)o + 202 ’
1 2
welcher beim unendlichen Abnehmen von ® in — E (1-Hi V3) über-
geht; und da dieser Ausdruck nieht unendlich kleinwerdend ist, so
kann, ohne die zweite zu realisirende Bedingung weiter zu unter-
suchen, die Gleichheit in (III) nicht unterlegt werden.
Gehen wir, nun zur Untersuchung über, ob die Gleichheit in (IIT’)
statthaft se. — Nach der Mittheilung in (b. 2.) soll die betreffende
Differenzialformel T ar 3 vorerst innerhalb der Werthe O-+-iV3 und
1 +i/3 beständig unendlich kleinwerdend sein, welches offenbar ein-
trifft, weil innerhalb dieser kein Werth existirt, der den Nenner 1+x?
auf Null A Ferner soll als zweite eng die gleiche Diffe-
für alle Werthe innerhalb 0 + V3 und 0+iy3
renzialformel we =
von x ebenfalls uuendlich kleinwerdend sein; und = hier der Ueber-
gang von einem dieser Zwischenwerthe zum nächstfolgenden rein ima-
ginär ist, so hat man in der erwähnten Beziehung den Differenzial-
4
id
1+x°
Ueberganges durch io’ vorgestellt haben. Da auch für diese Zwischen-
werthe der Nenner 1+x° nie in Null übergeht, so trifft auch diese
Bedingung zu, — und wir haben vermöge (III’) folgende richtige
zu untersuchen, wo wir die Grösse eines solchen
ausdruck
Gleichung:
er dx ei dx +f dx
o+-y3 Km eh =ys 14T) 14(&+HiV3)° >
oder auch, um rechterhand nur reelle Grenzen zu haben:
I+ y® dx h V dx ä dx
Sr N et
Die weitere Ausführung dieser Gleichung bietet noch manche
Schwierigkeit des Caleuls, aber keinerlei wissenschaftliches Interesse
dar; daher wir solche fallen lassen.
Wir bemerken noch, dass wenn der Nenner 1x3, statt der
ersten Potenz, mit irgend einem echtgebrochenen Exponenten versehen
wäre, dann die Bedingungen in (a.) wie die in (b.) sämmtlich reali-
sirt sich herausgestellt hätten, wo wir dann den in (c.) erwähnten
— 493 —
Falle zur Anwendung zu hringen berechtiget wären. Es besteht so-
nach die Integralgleichung :
Br ei ae
it ra
2
i 1
1 1 |
\ 1.2 sr a
An Meta l+6KHV3)'"
falls m positiv ist, nur für echtgebrochene Werthe derselben.
7. In dem nicht selten eintretenden Fall (e.) zweitvorangehender
Nr. gelangt man durch Vergleichung der Ergebnisse in (III und III’)
auf folgenden Zusammenhang :
A Bi
\ f(x + bi)dx + |, fx + A)dx =
a i
A Bi
\ f(x + Bi) dx +[, f(x + a)dx,
der mit folgendem einerlei ist:
A B
\ It Waxti|, f(A+ xi)d« =
a «
A B
| f(x + Bi)dx +i \, f(a + xi)dx, (iv)
wo a, b, A, B beliebige reelle Zahlen sind, und i die imaginäre
Einheit ist. Speeialisirt man diesen Zusammenhang, indem man ent-
weder a=B=0, odeb=A = 0 annimmt, so wird man jedes-
mal auf einen Zusammenhang von folgender Form geführt :
a \ al N \
\ | f&&+bi) — £Cx) \ dx = | f(a+xi) — f@i)} dx, (V)
0 0
wo a und b beliebige reelle Zahlen sind, wovon wir im Folgenden
noch ein Paar Anwendungen mittheilen.
Ax
. 2 .
8. Nehmen wir f(x) =e” an, wo e die bekannte Grundzahl
der natürlichen Logarithmen, und A eine reelle Constante ist.
Führt man diese Annahme in (V) ein, setzt A positiv voraus
undb= », so gelangt man nach Sonderung der reellen von den
imaginären Theilen auf folgende zwei Integralgleichungen :
Wissenschaftliche Monatsschrift, BD)
— 494 —
.- &
( ei cos Yaxdx — | e-A8? dx,
0 0
» „pa
[ ei sin Max dx — = ei? dx &
0 0
wo 4 reell und positiv, a lediglich als reell festzuhalten ist.
Bedenkt man die allgemein bekannte Integralbestimmung :
[e'>} 1 —
[ ei dx = 2y V: 9 (a)
"0
so zieht man aus der erstern vorangehender zwei Gleichungen, falls A
durch « und a durch B
&
ersetzt wird, folgende ebenfalls bekannte In-
tegralbestimmung :
u [os] ä [%
\ er @x eus Da da. = SI z re = (b)
0
die für alle reellen Werthe von ß und für alle positiven reellen Werthe
von & Bestand hat.
Halten wir ferner a als endliche reelle Zahl fest, so bietet die
zweite obiger Gleichungen, wenn mit A und a dieselben a an
vorgenommen werden, folgende dar:
@iurch, I a
[ 8.927 sin 9 dx = ee, 48 \ RT dx;
/( 0)
3 Ruye s :
entwickelt man e“* in eine ohne Ende fortlaufende Reihe und in-
tegrirt innerhalb der angesetzten Integrationsgrenzen, sö gelangt man
sehr bald auf folgende Integralbestimmung:
R 2
\ e ® sinßxdx—=
0)
[67 Bi EN
ae (m) , (ie), ()
V2« 7 nat gi Aa, ne bey
welche in Beziehung auf schnelle Convergenz viel FERNE als die
yrhein int. t5.. (&)
von mir im ersten Bande meiner Integralreehnung (pag. 343) aufge-
fundene Gleichung (10) ist.
9. Wird ferner die Annahme:
getroffen, wo A und ge reelle, positiv angebbare Zahlen vorstellen, so
— 495 —
bietet das allgemeine Ergebniss (V), wenn einmal a = », ein ander-
mal b= » erklärt wird, und wenn jedesmal die reellen von den
imaginären Theilen gesondert werden, folgende zwei Systeme von
Integralgleichungen dar:
( gu sin AX X cos AX bie ” bsin bh — (u 4 +x)cos ba -Ax ı
2y + x? n = Jo b’+(u+x)?
@® _/x
a \ x dx, (d)
o urx
we cosSAX—xsin/x ragen ”peosbA+(u+x%) sin bA ir d
Jo u?-+x? b?+(u—+x)? ie
wur 2 Y
\ se xcosAx— usin?x en
Jo utX 0 + x? :
dh gta Ye x cosix +(u -- a) sin Ax er
0 (ua)-+ x? , (e)
a .
x sin Ax — u C0S x
== \ Eee: dx
e’() j
-Aa ? xsinAx — (ua) cosAx R
Ge Aa (u+a)?+x? #
Vorerst bemerken wir, dass diese zwei Systeme zusammenfallen,
wenn im ersten b= » und im letzteren a= & angenommen wird;
sie bieten nämlich folgendes System dar:
% x cos Ax + u sin Ax yet (” a |
0
+ x? Jo utXx )
"x sin Ax — u cos Ax
r ee = Dee dx = 0.
Diese nun sind für mich deswegen von Interesse, da sie für
alle positiv angebbaren Werthe von A und 4: mit aller mathematischen
Strenge bestehen, daher sie nach jeder Grösse für sich differenzirt
werden dürfen; geschieht dieses nach A und combinirt je ein gewon-
nenes Ergebniss bezüglich mit der Gleichheit, aus der solches gezogen
worden; — so gelangt man auf:
Fi Ve 1 © :
\ sin/xdx = \ e «=, \ cos Axdx—=(, (g)
0 0 J0
die, wie dem Leser meiner Schriften bekannt ist, von hohem Interesse
für mich sind. Raabe)
— 496 —
Die Fortschritte der Medizin und der Naturwissenschaften
in ihrer Einwirkung auf das Strafrecht.
VON E. OSENBRÜGGEN.
Vor einigen Jahren äusserte ein baierischer Jurist bei Gelegenheit
einer strafgerichtlichen Verhandlung, in welcher verschiedene Aerzte
sehr verschiedene Ansichten über die Ursache des Todes eines Kindes
vorgetragen hatten, „es sei höchst wünschenswerth und eine wichtige
Aufgabe der künftigen Gesetzgebung, das Strafrecht möglichst von dem
Einflusse der Arzneiwissenschaft zu emaneipiren, da diese Wissenschaft
bei all ihren Fortschritten und den angestrengtesten Forschungen der
ausgezeichnetsten Aerzte es in den meisten Fällen nur zu Behauptungen
von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten gebracht habe und der
Streitfragen kein Ende sei.“ Er fügte hinzu: „Diese Emaneipation
könnte am füglichsten dadurch geschehen, dass die Strafe weniger
nach dem Erfolge, welcher ganz unabhängig von der Absicht des
Verbrechers einmal eintritt, das andere Mal fehlschlägt, als vielmehr
nach dem bösen Willen bemessen wird. Das volksthümliche Strafrecht,
bei welchem der Hauptzweck der Strafe immer die Besserung des
Verbrechers sein muss, kann sich nicht bloss an den starren Begriff
der Rechtsverletzung halten, wie sie sich in der äusseren Erscheinung
kundgibt, sondern hat mehr das Innere des Menschen, den verbrecheri-
schen Willen zu berücksichtigen. Die vielen ärztlichen Streitfragen
darüber, welcher Erfolg aus einer Handlung als gewiss, wahrscheinlich
oder möglich entstanden sei, oder nicht — welche so oft auf den
Gang der Rechtspflege störend wirken — würden dann in den meisten
Fällen abgeschnitten.“ *)
Die Frage nach der Berechtigung des s. g. subjeetiven Standpunkts
im Strafrecht ist gegenwärtig eine „brennende Frage.* Ihre Erledigung
setzt noch viele weitgreifende Debatten voraus. Was die Wegweisung
der Mediciner als Gehülfen bei der Strafrechtspflege aus den Schwur-
gerichten anbelangt, so ist dieser Vorschlag so kühn, dass er Crimi-
nalisten und Nicht-Criminalisten stutzig machen muss. Die Ersteren
werden es dabei nicht unterlassen können, auf die Geschichte der
deutschen Rechtspflege seit dem Mittelalter zurückzublicken und aus
dieser so reichen Geschichte ein Material zur Würdigung jenes Vor-
schlages zu entnehmen.
*) Sitzungsberichte der bayerischen Strafgerichte, I. S. 271.
— 417 0 —
Es gab eine Zeit volksthümlicher Strafrechtspflege, die Zeit der
Schöffengerichte, in welcher ein Gutachten der Aerzte auch in den
Fällen der Tödtung und Verwundung nicht für nothwendig gehalten
wurde.
Die Körperverletzungen waren nach ihrer Grösse und Beschaffen-
heit sehr mannigfach. Wir finden in den Rechtsquellen als technische
Bezeichnungen: Lemden, beinschrötige Wunden, fliessende Wunden,
Pogwunden, offene Wunden, Fleischwunden, Blutrunst, Meisselwunden,
Verehwunden, Wartschare, Lideschaert, friedbrüchige Wunden, kampf-
bare Wunden u. s. w. Die Bussen waren nach der Qualification der
Wunden verschieden, daher musste dieselbe von den Klägern constatirt
werden und dabei konnte auch der Ausspruch des Arztes, der den
Verletzten behandelte oder behandelt hatte, in Anschlag kommen (die
Goslarischen Statuten, herausg. von Göschen, Buch II., z. A; das
Bamberger Stadtrecht $ 172, 173). Das bedeutendste Zeugniss aus
älterer Zeit für eine Mitwirkung der Aerzte zu der die Bussbestimmung
normirenden Unterscheidung der Verletzungen findet sich in der lex
Alamannorum LIX. War einem Verwundeten ein Knochen aus dem
Kopfe herausgenommen, so sollte die Verletzung mit 6 solidi gebüsst
werden, wenn der über die 24 Fuss breite Landstrasse auf einen
Schild geworfene Knochen einen Klang bewirkte *), hatte aber der
Operateur den Knochen verloren, so konnte er durch zwei Zeugen,
die bei der Operation zugegen gewesen, oder in anderer Weise (durch
seinen Eid) die Herausnahme des Knochens beweisen. Hiernach wurde
also eine Betheiligung des Arztes bei der Wundenmessung oder Be-
stimmung der Kategorie der Verletzung gar nicht verlangt, wenn der
Knochen (os fractum) zur Hand war und gewöhnlich fand während
der langen Zeit der Schöffengerichte in Deutschland keine Zuziehung
sachverständiger Aerzte zur Wundschau statt, weil das, worauf es
damals ankam, auch durch Nichtärzte ermittelt werden konnte, z. B.
ob Blut geflossen und zur Erde gefallen war. Klagte Jemand „mit
der Wunden“, so hatte er diese den Schöffen zu „beweisen“, s. das
alte Kulmische Recht, herausg. von Leman II. 49. 66. III. 8. 96.
Magdeb. Weisthümer herausg. von Neumann Nr. XVI: „Dieselbin
wunden hat her bracht gein Gorlitz jn die gerichte vor scheppin und
gerichte, und hat die beleit und beweist zu rechter tagezyt.“ Nr.
XXIX: „Die scheppin is auch von gerichtswegen besehn und in
#®) Ueber den Knochenklang als Maass s. Grimm, deutsche Rechtsalterth.
S. 77.
— 498 0 —
wolbehegkter bank, da alle ding crafft und macht haben, bekant habin,
das dem kinde dy nasse verbissen sey. Das denn der hochsten lemden
eine ist.“ Die Schöffen entschieden dann über die Kategorie der
Verletzung. Bamb. Stadtr. $ 172: „Man schol umb kein wunten
teylen sy haben denn vor zwen schepphen oder mer gesehen.“
Magdeb. Weisth. Nr. XXXIX: „Hat ein der scheppe geteylt eyne
camphertige wunde, dysch beynsdohrottig ist an sinem obersten glede.“
Bisweilen werden auch unpartheiische „Bidermänner“ mit der Besich-
tigung der Wunden beauftragt. Öffnung zu Rheinau in Grimm’s
Weisthümern I. 8. 287: „Wäre auch, dass ein wundthät da beschähe,
die fridbrech were, alder was sich zum tod zuge, so soll man zween
biderman kiessen, die erfahren, ob die wund fridbrüchig sy, were,
dass die wund fridbrüchig were, so soll man ihm freyen sein leib und
sein guet, drey tag und sechs wochen u. s. w.“
Schon früh wurde eine Entscheidung der Aerzte in dem Falle
verlangt, wenn es ungewiss schien, ob ein Verwundeter mit dem Leben
davon kommen werde oder nicht, s. Herzog Leopolds VII. Freiheitsbrief
für Wiener-Neustadt (vor 1230) e. 13.
War ein Mord oder Todschlag geschehen, so klagten die Ver-
wandten oder Gesippte des Todten, welche den Tod zu rächen hatten,
mit dem todten Manne. Der Leichnam wurde vor Gericht gebracht
und beschaut, Rechtsbuch nach Distinktionen IV, 22, 1: „Ist es ein
Todter, den soll er beweisen.“ Bamb. St. R. $ 141: „Und schol der
mort (d. i. der Leichnam des Gemordeten) auch gegenwertig sein.
und den schullen die schepphen auch beschauen.* Es wurde das
corpus delieti constatirt, d. h. durch das Auge wahrgenommen, dass
eine Tödtung stattgefunden habe; ein ärztliches Gutachten über den
ursächlichen Zusammenhang zwischen Verletzung und Tod wurde nicht
begehrt. Dreyer, Nebenstunden 8. 85 sagt: „Dem ehrlichen teutschen
Richter, der sich daran hielt, was ihm in die Sinne fiel, war es
schon genug, dass ein Mann mit tödtlichen Waffen verwindet und dass
er von den offenen Wunden, die er mit Augen sah, gestorben sei.
Ob aber der Tod ex causa proxima oder remota erfolget, ob die
Wunde an und vor sich selbst tödtlich gewesen oder durch zufällige
Umstände tödtlich geworden ? darum bekümmerte er sich auf keine
Weise, denn er raisonnirte, dass der gegenwärtig vor ihm gebrachte
Mann durch äusserliche Gewalt getödtet, und nicht gestorben sein
würde, wenn er die Wunde nicht bekommen hätte.“
In der peinlichen Gerichtsordnung Carl V. vom J. 1532 wird
zwar die Zuziehung von kunstverständigen Aerzten in Tödtungsfällen
— 419 —
schon an mehreren Stellen (Art. 134, 147, 149) geboten, aber doch
nicht in der Weise als Regel hingestellt, wie es in neuerer Zeit
nothwendig erschienen ist. Der Art. 149 „von Besichtigung eines
Entleibten vor der Begrebnuss“ lautet: „Und damit dann in obgemelten
Fällen gebürlich Ermessung und Erkanntnuss solcher underschiedlichen
Verwundung halb, nach der Begrebnuss des Entleibten desto minder
Mangel sei, soll der Richter samt zweien Schöffen dem Gerichtsschreiber
und einem oder mehr Wundärzten, so man die gehaben
und solchs geschehen kann, die dann zuvor darzu beeidigt
werden sollen, denselben todten Körper vor der Begräbnuss mit Fleiss
besichtigen und alle seine empfangene Wunden, Schleg und Würff,
wie der jedes funden und ermessen würde, mit Fleiss merken und
verzeichnen lassen.“ An diese Bestimmung schloss sieh die Kriminal-
praxis an, ın welcher das inquisitorische Prinzip alsbald zur Herrschaft
gelangte. Der zum offiziellen Einschreiten berechtigte und verpflichtete
Richter, wie er bei verübten Verbrechen nicht zu warten hatte auf
eine Klage der Privaten und nicht gebunden war an das Maass des
Beweises, den ein Ankläger darbringen konnte, so zog er überall
Sachverständige zu, wo zur Erkenntniss der Wahrheit sein eigenes
Können und Wissen nicht ausreichte. Unter den Sachverständigen im
Strafprozesse haben seitdem die Aerzte den ersten Platz eingenommen
und besonders angestellte Gerichtsärzte sind in den deutschen Ländern
längst zur Theilnahme an der Strafrechtspflege verpflichtet, neben denen
jedoch die Thätigkeit und Mitwirkung anderer Mediziner sehr oft zur
Geltung kommt. Fragen wir, wie sie in den drei Jahrhunderten seit
der P. @. ©. ihre Aufgabe gelöst haben, so finden wir, dass die
ungeheuren Fortschritte der medizinischen Wissenschaft und Kunst sich
mit Nothwendigkeit auch hier geltend machten. Der Vergleich eines
gerichtsärztlichen Gutachtens vom Jahr 1756 und eines solchen von
1856 würde dieses in schlagender Weise herausstellen und wir brauchen
nicht um ein Jahrhundert zurückzugehen, sondern nur auf den Anfang
des gegenwärtigen Jahrhunderts, um uns davon zu überzeugen.
Um hier nicht bei einer allgemeinen Behauptung stehen zu bleiben,
wähle ich ein bestimmtes Verbrechen aus, für dessen gerichtliche
Behandlung der Arzt regelmässig zugezogen wird, den Kindesmord.
Ist die Leiche eines neugebornen Kindes gefunden, so ist vor Allem,
zu ermitteln, ob das Kind ausser dem Mutterleibe gelebt, demnächst
wie es das Leben verloren habe. Den Schluss auf das Gelebthaben
des Kindes machte man in früherer Zeit, wenn kein Zeugenbeweis
vorlag, aus der Gestalt und Grösse des Leichnams. Erschien das
— 500 —
Kind als ausgetragen, so hatte es auch gelebt. Man „spürte an den
Gliedmassen der Frucht, ob dieselbe vollkommen gewesen oder nicht“
und in dem Correetorium zur Bamberger Halsgerichtsordnung lesen
wir: „Wo nun eine ein Kindlein allein und heimlich uff ein lawgen
gepiret, dass nach anzaigung seiner glider das leben gehabt hat.“
Damit ist die Erklärung der so bestrittenen „Gliedmässigkeit* in Art.
131 der P. G. O. sehr einfach gegeben: „denn welches Weib jre
Kind, das Leben und Glidmass empfangen hett — ertödtet* und:
„ein lebendig glidmessig Kindlein.“ Zur Erklärung der P. G. ©.
hätte man auch eine Stelle des Sachsenspiegels I. 33 benutzen können:
„of dat Kind bewiset wert unde gesen also grot dat it lifhaftig mochte
wesen.* — Ein grosser Fortschritt lag darin, dass zu der bloss äusser-
lichen Betrachtung der Kindesleiche die hydrostatische Lungenprobe,
Schwimmprobe oder Athemprobe trat, die zuerst im Jahr 1683 von
dem Physikus Schreyer in Zeitz in einem gerichtlich anhängigen
Falle zur Anwendung kam, obgleich der Unterschied der Lungen von
Kindern, welche nach der Geburt geathmet haben und derer, die todt
geboren sind, schon früher bekannt gewesen zu sein scheint. Die
herausgenommene Lunge war in dem erwähnten Falle im Wasser unter-
gesunken und der genannte Obducent hatte diese Thatsache nebst
einer langen sich daran schliessenden Deduetion dem Vertheidiger der
Inquisitin, dem berühmten Chr. Thomasius in Halle, mitgetheilt.
Dieser damals so einflussreiche Mann wusste der neuen Probe Geltung
zu verschaffen und sie stand bald, als die medizinische Fakultät in
Wittenberg und einige berühmte Schriftsteller über gerichtliche Medizin
sich dafür erklärt hatten, als allgemein recipirt da. An Opposition
gegen ihre Untrüglichkeit fehlte es zwar nicht, aber sie wurde regel-
mässig, wenn der Kindesleichnam nicht schon zu sehr in Verwesung
übergegangen war, gebraucht; oft auch ganz mechanisch von unwis-
senden Badern. So wusste ein s. g. Frays-Chirurgus in Baiern noch
in diesem Jahrhundert einem Juristen, der ihn mit der Frage auf die
Probe stellte, welches die Ursache sei, warum die Lungen eines Kindes,
das gelebt habe, auf dem Wasser sahwömmen, die eines todtgebornen
untersänken, nur zu antworten: „Das geht sehr natürlich: Was lebt,
geht aufwärts, was todt ist, muss hinunter.**) Die gegen den Werth
der Lungenprobe gemachten Einwendungen und ihre Vertheidigungen
haben nunmehr zu dem Resultate geführt, dass, wenn auch die
stattgehabte Respiration und das Leben des Kindes nach der Geburt
*) Puchta, der Inquisitions-Prozess, S. 185.
— 501 —
in den meisten Fällen zusammentreffen, diess sich doch nicht für alle
Fälle behaupten lasse und dass die Lungenprobe nur über das Athmen
Aufschluss geben könne, dass sie aber hiefür durchaus nicht zu
verwerfen sei und dadurch ein Anhalt gegeben werde zu dem weiteren
Schlusse auf das Gelebthaben des Kindes.*) Vergleichen wir aber
die Zeit, in weleher man sich begnügte, zum Theil ganz mechanisch,
aus der Schwimmprobe das Gelebthaben oder Nichtgelebthaben des
Kindes zu constatiren, mit der Gegenwart, in welcher das anatomische
Messer so viele Momente ermittelt, aus deren Zusammenfassung die
“ Entscheidung gewonnen wird**), so müssen wir erkennen, dass die
Medizin zum Frommen der Strafrechtspflege einen enormen Fortschritt
gemacht hat.
Freilich, wo das anatomische Messer nicht das Material für die
Entscheidung des Gerichtsarztes herbeischafft, da kann diese denn auch
oft nicht die Sicherheit gewinnen, die man wünschen müsste. Diess
gilt vornemlich von den Untersuchungen zweifelhafter und krankhafter
Seelenzustände. Wir können aber auch hier nicht verkennen, dass
ein Gutachten von Ideler einen ganz anderen Eindruck macht, als
manches Gutachten früherer und auch jetziger Gerichtsärzte, die weder
durch ein Studium der Psychiatrik vorbereitet sind, noch die Erfahrungen
haben sammeln können, die hier ebenso unumgänglich nothwendig sind,
wie überhaupt für ein erspriessliches Wirken der Aerzte. Blicken wir
auf die Studien, die man an einem Reiner Stockhausen gemacht hat***),
so müssen wir gestehen, dass es deutsche Aerzte gibt, welche die
Schwierigkeit, in das Geheimniss des Seelenlebens einzudringeu, nicht
unterschätzen, und die sich nicht getrauen aus einer viertelstündigen
Unterredung mit einem vielleieht Verrückten, vielleicht Verrücktheit
Simulirenden ein Urtheil abzugeben, und quasi re bene gesta mit einem
Dixi abzuschliessen. Es ist noch kein halbes Jahrhundert vergangen,
seit ein Gerichtsarzt in seinem Gutachten sich darauf beschränkte zu
sagen: „dass er den Inquisiten wirklich wahnsinnig befunden, davon
die Ursache wahrscheinlich in einer nach dem Gehirn versetzten
Schärfe zu suchen sein könne. Dieses vorausgesetzt, würde dem
armen Menschen am besten zu helfen sein, wenn ihm in einem Irr-
oder Arbeitshause unter Aufsicht eines Arztes die gehörigen Medica-
*) Bergmann, Lehrbuch der Medicina forensis $. 636 ff. s. die badische
Wund- und Leichenschauordnung von 1851 $. 77. 78.
#®) Vergl. Krahmer, Handbuch der gerichtl. Mediein $. 69 fi.
#=®) Reiner Stockhausen. Ein aktenmässiger Beitrag zur psychisch-
gerichtlichen Mediein für Aerzte und Juristen etc. 1855.
mente gereicht werden möchten, welche eine solche Versetzung vertheilen
könnten.“ Diese Theorie, welche den Wahnsinn wie einen Schnupfen
oder hartnäckigen Katarıh behandelt, kommt uns zwar etwas altmo-
disch vor, aber es ist Aussicht da, dass sie sich in einem eleganteren
Gewande bald wieder einmal werde geltend machen.
Der neue Aufschwung der gerichtlichen Chemie, besonders
in ihrer Anwendung auf die Ermittelung von Giften im menschlichen
Körper, ist so bedeutend, dass man sie eine Wissenschaft der neue-
sten Zeit nennen kann. Wenn die Römer, wie die älteren germani-
schen Rechte, die Giftmischung regelmässig mit der Zauberei zusam-
menstellen, und als eine Unterart derselben behandeln, so erklärt sich
das leicht aus der Heimlichkeit des Beibringens der Gifte und dem
Unvermögen jener Zeiten ihnen nachzuspüren.*) Jetzt sehen wir die
Giftmischer nicht mehr als Zauberer an, aber im Gegentheil erscheint
die Sicherheit, mit weleher die Chemiker in manchen Fällen das bei-
gebrachte Gift im Leichnam aufzufinden wissen, den Laien als Zau-
berei. Der Process Laffarge hat den bedeutendsten Impuls gegeben
zur Ausbildung der Lehre von den Arsenvergiftungen, und regelmässig
wissen die Chemiker, welche ihre Kunst verstehen, das Arsen aus
dem Leichnam herauszufinden, auch wenn vielleicht der Leichnam
schon Monate und selbst Jahre lang im Grabe gelegen hatte. Aber
die Zauberei der Chemiker hat ihre Grenzen, die organischen Gifte
machen ihnen grössere Schwierigkeiten als das Arsen, und die Schwierig-
keiten des Nachweises soleher Gifte würden noch grösser sein, wenn
diejenigen, welche Anderen oder sich selbst Gifte beibringen, statt
wie gewöhnlich grössere Portionen zu nehmen, suecessiv kleinere
Dosen gebrauchten. Erschwert wird ihre Forschung auch dadurch,
dass die Leichenseetionen regelmässig nicht gleich nach dem Tode
geschehen und geschehen können, und für die vollständige Beantwor-
tung der Vergiftungsfrage ist es oft ein grosser Mangel, dass die
Erscheinungen nach genossenem Gifte an dem noch Lebenden nicht
von Sachverständigen beobachtet werden konnten. In dem Palmer'schen
Processe spielte bekanntlich das Strychnin eine Hauptrolle, dessen
Ausmittelung im Organismus so viel schwieriger ist als die des Arsens,
aber es steht zu erwarten, dass so wie der ProcessLaffarge zu seiner Zeit
in Beziehung auf Arsenik die Aufklärung vermittelt hat, die neue
cause eelebre der Wissenschaft und der Praxis durch Anregung zu
Versuchen und Beobachtungen einen ähnlichen Fortschritt bereiten werde.
%) Mittermaier in Goltdammer's Archiv für Preussisches Strafrecht
IV. 8. 433.
— 503 —
Den englischen Chemikern scheint die Aufgabe die Lehre von den
Vergiftungen weiter auszubilden bei der schreeklichen Häufigkeit von
Giftmorden in diesem Lande vornehmlich nahe gelegt zu sein. Mag
auch die Angabe, dass in 6 Jahren, von 1848—1853, 1700 männ-
liche und 1518 weibliche Personen in England durch Gift umgekom-
men seien*), sehr übertrieben sein, so hat doch auch Taylor in
dem Palmer’schen Processe geäussert, dass die Mehrzahl der Fälle
eines plötzlichen Todes in England auf Vergiftung zurückzuführen sei.
In unzähligen Criminalfällen sind verdächtige Flecken (Blut-
Samenflecken u. s. w.) zu untersuchen, und die neuere Chemie hat
grosse Anstrengungen gemacht, um zu einer sicheren Diagnose derselben
zu gelangen.**) Dem Criminalisten ist die Ermittlung, ob Blutflecken
von Menschen- oder Thierblut herrühren, also die chemische Unter-
scheidung des Menschen- und T'hierbluts, meistens wichtiger, als die
Ermittelung, dass gewisse Flecken Blutflecken seien, denn hiemit ist
für das gerichtliche Beweisthema nur noch wenig geboten. Es musste
daher die Criminalisten freudig überraschen, als vor fast 20 Jahren
mitgetheilt wurde, es lasse sich Menschenblut und Thierblut, besonders
‚das der Hausthiere, und weiter auch Männerblut und Weiberblut,
durch den Geruch unterscheiden. Der Franzose Barruel wollte das
„riechbare Prineip“ (le prineipe odorant, aromatique) des Blutes ge-
funden haben. *#**) Wie den Barthold Schwarz ein Zufall darauf ge-
führt haben soll, das Schiesspulver zu erfinden, so brachte diesen
Chemiker ein Zufall dazu jenes „Prineip* zu entdecken. Bei einem
Versuche den Farbstoff im Ochsenblut mittelst Schwefelsäure zu isoliren,
wurde er durch den Kuhstallgeruch frappirt, der sich im Augenblicke
des Schwefelsäurezusatzes zu dem frischen Blute entwickelte. Bald
darauf erhitzte er Blut von einem Manne mit Schwefelsäure, und
sogleich drang ein so starker Geruch von Männerschweiss aus dem
Kolben hervor, dass er sein Laboratorium auf einige Minuten verlassen
musste. Er versuchte und untersuchte weiter, und gelangte zu den
Resultaten: das Blut jeder Thierart besitze ein eigenthümliches (riech-
bares) Prineip; dieses Prineip sei sehr flüchtig, und habe einen dem
*) Augsb. Allgem. Zeitung 1856, Nr. 253.
#%) C, Schmidt, die Diagnostik verdächtiger Flecken in Criminalfällen
1848. B. Ritter, über die Ermittelung von Blut-, Samen- und Exerementen-
flecken in Criminalfällen, 2. Aufl. 1854.
###) Annales d’hygiene publique, Tome I. (1829) p. 267 ff. „Memoire sur
l’existence d'un prineipe propre & caracteriser le sang de l’homme et celui des
diverses especes d’animaux.*“
— 504 —
Schweisse, der Haut- oder Lungenausdünstung des betreffenden Thieres
analogen, eigenthümlichen Geruch; dieses flüchtige Prineip sei mit dem
Blute innig verbunden und nicht bemerkbar, so lange diese innige
Verbindung dauere; wenn diese Verbindung gehoben werde, so ver-
flüchtige sich das riechbare Prineip des Blutes und entwickele den
charakteristischen Geruch des Thieres, von dem es abstamme; Blut
von Männern verbreite einen starken Geruch nach Männerschweiss,
Blut von Weibern einen ähnlichen, aber schwächeren Geruch nach
Frauenschweiss, Ochsenblut einen Kuhmist- oder Ochsenstallgeruch,
Pferdeblut rieche nach Pferdeschweiss oder trocknem Pferdemist
Schweineblut versetze den Riechenden in einen Schweinestall u. s. w.
Seine Methode war einfach die, dass er zu 1 Volum Blut 11/, Volum
eoncentrirter Schwefelsäure hinzuthat, und an der so erhitzten Masse
roch. Bei dem jedesmaligen Umrühren mit einem Glasstäbchen zeigte
sich der charakteristische Geruch.
Leider hat sich diese Entdeckung nicht so bewährt, dass sie
uns, worauf es eben ankommt, in den einzelnen Criminalfällen ein
zuverlässiges Resultat zu liefern vermag. Der berühmte französische
Chemiker Raspail, den Criminalisten aus dem Processe Laffarge
bekannt, opponirte sich wie damals so auch hier gegen Orfila, der
seine Autorität für Barruel interponirtee Raspail erklärte, es sei
bei Criminaluntersuchungen diese Methode als alleiniges Beweismittel
nicht zulässig; die Gerüche seien sehr flüchtig und sehr wandelbar;
ihre Charakteristik und Intensität wechselten nach Umständen und
der Einbildungskraft; nicht alle Nasen könnten als Reagentien
dienen; die zu untersuchende Substanz könne eben so trügen, als der
Geruchssinn selbst u. s. w.*) Auch deutsche Chemiker erklärten sich
gegen die Untrüglichkeit der Barruel’schen Procedur, und es ist jetzt
als ausgemacht anzusehen, dass sich durch den scheinbar sehr
unparteiischen Geruchssinn die Unterscheidung von Menschen- und
Thierblut mit Sicherheit nicht gewinnen lasse. Krahmer*) äussert
sich darüber: Die Untersuchung des specifischen Geruches, welchen
Blut, besonders nach Vermischung mit 1—1!/, Theile Schwefelsäure-
hydrat mit gelinder Erwärmung verbreitet, hat mir als Vorlesungs-
experiment zu oft zweifelhafte Resultate geliefert, um ihr einen all-
gemeineren Werth beilegen zu können. Sie erfordert jedenfalls einen
sehr gebildeten Geruchssinn, den nicht Jedermann besitzt.“ Kein
*) s. Schmidt a. a. O. S. 15.
**) Handbuch der gerichtl. Mediein, $. 236 Anm.
— 505 —
Vertheidiger würde es jetzt unterlassen, falls auf den Geruch in der
angegebenen Weise ein entscheidendes Gewicht zu Ungunsten des
Angeklagten gelegt würde, dagegen mit aller Energie aufzutreten. In
einem neueren Falle*), als in den Kleidern des muthmasslichen Mör-
ders sich Blutflecken fanden, die er dadurch erklärte, dass er sich
mit Zerlegen von Thieren beschäftige, ergab, so heisst es, die chemische
Untersuchung, dass sie höchst wahrscheinlich von Menschenblut her-
rührten, weil sich nemlich aus ihnen ein Geruch nach Achselschweiss
entwickelte. Der als Sachverständiger in der Schwurgerichtssitzung
auftretende Apotheker setzte nicht allein den Geschwornen das betreffende
Verfahren auseinander, sondern machte auch in der öffentlichen Sitzung
das Experiment, dass er in ein Gläschen voll Ochsenblut Schwefel-
säure goss, worauf sich deutlich der Stallgeruch zeigte. „Doch gab
er diese Probe nicht für untrüglich aus.“ Wenn in diesem Falle die
Verurtheilung des Angeklagten erfolgte, so geschah es wohl auf
Grundlage der verschiedenen zusammenfliessenden Indicien, nicht in
Folge jenes Geruchsexperiments, das den Geschwornen, denen die
Sache neu war, imponiren, aber ihnen doch keinen Beweis liefern
konnte. Hat hier, wie der Berichterstatter dieses Falles meint, die
Chemie „einen glänzenden Triumph gefeiert“, so ist dieser Triumph
ein sehr zweideutiger. Anders war es in dem unmittelbar vorher
referirten Falle des Versuchs der Vergiftung mit Phosphor. Der als
Sachverständiger zugezogene Professor der Chemie wiederholte vor
den Geschwornen einzelne Erscheinungen der chemischen Untersuchung:
beim Abschaben der oberen Kruste des schon über 1!/, Jahr alten
Butterbrods verbreitete sich ein starker Phosphorgeruch, und es zeigte
abgeschabte Brodkruste, wenn sie erhitzt wurde, in dem durch Son-
nenlicht sehr erhellten Sitzungssaale einzelne von den Geschwornen
und allen Anwesenden wahrnehmbare Phosphorflämmehen.
Soweit nur zu ermitteln ist, ob gewisse verdächtige Flecken Blut-
flecken sind oder nicht, leisten das Mikroscop und Reaetionen**)
Wunderbares, sobald sich aus den Flecken hinlängliches Untersuchungs-
objeet gewinnen lässt; ob aber, worauf es in so vielen Criminalfällen
eben ankommt, wenn eingetrocknete Flecken gefunden sind, Men-
‘schenblut sich von dem Blute der Säugethiere durch Messung der
Blutkörperchen sicher unterscheiden lasse, das ist sehr zu bezweifeln.
*) Sitzungsberichte der bayerischen Strafgerichte I. (1850) 8. 265.
**) H. Rose über die sichere Erkennung von Blut und von Blutflecken in
Casper’s Vierteljahrschrift für gerichtliche und öffentliche Mediein IV. (1853)
S. 295.
— 506 —
Menschenblut und Froschblut würde sich wohl auf diese Weise uuter-
scheiden lassen, es ist mir jedoch kein Criminalfall bekannt, in welchem
es sich darum handelte; sehr oft wird aber von den einer Tödtung
Angeklagten behauptet, dass gewisse Flecken von Ochsen- oder Schweine-
blut herrühren. Menschen und Ochsen und überhaupt die grösseren
Hausthiere differiren aber hinsichtlich der (sehr geringen) Grösse der
Blutzellen so wenig von einander, dass eine solche Messung, wenn
das Blut eingetrocknet war, schwerlich ein zuverlässiges Resultat bie-
ten könnte.
Zu den unzähligen Fällen, in denen die Schuldfrage abhängig
geworden ist von dem Nachweise der Beschaffenheit gewisser ver-
dächtigen Flecken, gehört auch ein Criminalfall, der durch grosse
Fehler in seiner Behandlung eine Berühmtheit erlangt hat, der Fall
von der Ermordung des Kammerberrn von Qualen in Eutin im Jahr
1830*%). Als es schon ausgemacht war, dass der Kammerherr durch
fremde Hand getödtet worden, fand man im Stalle ein verdächtiges
Beil, an dessen Stiel da, wo das Eisen anfing, sich anscheinend
Blutspuren zeigten. Die Aerzte erklärten sogleich, es seien diess
offenbar Blutspuren, die man abzuwaschen versucht habe. Eine chemische
Untersuchung, die man jetzt überall angeordnet hätte, fand nicht
statt. Bei einer späteren gerichtlichen Besichtigung des Beils gaben
die Sachverständigen (?) nochmals die Erklärung ab, es sei gar
nicht zu verkennen, dass die Flecken von Blut herrührten, zugleich
aber, dass es unwahrscheinlich sei wegen der zu geringen Quantität
der blutig scheinenden Streifen durch eine chemische Untersuchung
mit Sicherheit ein Resultat zu erhalten. So verfuhren dieselben Aerzte,
die schon kurz vorher ein Zeugniss ihrer Leichtfertigkeit abgegeben
hatten. Als am Abend, nachdem der Kammerherr seit einigen Stun-
den von den Seinigen vermisst worden war, die gerichtliche Commission
die Kopfverletzungen an dem im Garten liegenden Leichnam bei dem
Schein einer Laterne betrachtete, äusserte sie gegen den anwesenden
Arzt und einen Chirurgus, dass doch wohl die Verletzungen nicht die
Folgen eines Falles sein möchten. Allein der Chirurgus sprach mit
sachverständiger Miene das Gegentheil aus, und der Arzt äusserte,
dass er die Möglichkeit von Gewaltthätigkeiten nicht in Abrede stellen
könne, aber auch im Ganzen mehr geneigt sei, einen unglücklichen
Fall anzunehmen. Erst am dritten Tage fand die Leichenöffnung
statt, und da fand man an dem Kopfe der Leiche zehn Hieb- und
*) Bauer's Strafrechtsfälle, Bd. II.
— 507 —
andere Wunden und zwar auf dem Scheitel drei scharfgeschnittene
Wunden, aus deren einer das Gehirn hervorquoll! Nachdem der
Kutscher Koch das erwähnte Beil als das seinige anerkannt hatte,
begann für ihn eine mehrjährige Untersuchungsqual. Beinahe 6 Jahre
nach dem Morde gelangten die Untersuchungsakten, da die Angeklagten,
der "genannte Koch und der Diener Wisser, um Aktenversendung
gebeten hatten, an die juristische Fakultät in Göttingen, welche die
Sache unter den Auspizien des trefflichen Criminalisten Bauer sehr
energisch anfasste. Das zu den Akten gelegte Beil wnrde dem Pro-
fessor der Staatsarzneikunde von Siebold und dem Chemiker Bunsen
zur Untersuchung übergeben. Beide gaben die Entscheidung ab, dass
das Beil keirre Blutflecke, sondern nur Rostflecke an sich trage. Das
Gutachten des Chemikers, in welchem von der vorgenommenen chemi-
schen Untersuchung genaue Rechenschaft gegeben ist, schliesst, mit
Verweisung auf das vorangeschickte Detail der Untersuchung: „Als
Resultat dieser Untersuchung lässt sich mit Bestimmtheit feststellen,
dass das mir versiegelt eingehändigte Beil, in dem Zustande, wie es
mir überliefert ist, dem Anschein nach an keiner Stelle seiner Ober-
fläche, der chemischen Untersuchung aber zufolge, an der mir zur
Untersuchung bezeichneten Stelle, durchaus keine Spuren von
Blut an sich trägt, — dass vielmehr die gelblich rothbraunen
erwähnten Flecken von gewöhnlichem Eisenroste (Eisenoxydhydrat und
kohlensaurem Eisenoxyde) herrühren.“ Gegen die vollkommene Rich-
tigkeit der von dem berühmten Chemiker vorgenommenen Untersuchung
und ‘des hingestellten Resultats kann ich mir natürlich keinen Ein-
wurf erlauben, aber vielleicht ist die Frage gestattet: Ist es denn
doch nicht möglich, dass jene geringen blutig scheinenden Streifen,
die man sechs Jahre früher an dem Beile bemerkte, aber nach-
lässiger Weise nicht chemisch untersuchte, wirklich von Menschenblut
herrührten? und kann nicht eine sechsjährige Rostbildung solche Blut-
streifen bis zur Unerkennbarkeit vernichten? Nach Rose hat das
Eisenoxydhydrat die Eigenschaft sich mit dem Blutrothe zu verbinden.
Wenn eine solche Möglichkeit zugegeben wird, so beweist die That-
sache, dass im Jahr 1336 keine Rostflecken an dem Beile aufgefunden
wurden, nichts für das eriminalistische Beweisthema.
Wie wichtig es sei, die Fussstapfen und ähnliche Eindrücke,
die sich an dem Orte eines begangenen Verbrechens oder in dessen
Nähe fanden, sogleich genau zu beobachten und zu constatiren, ist
einleuchtend und allgemein anerkannt. Sie gehören zu den stummen
Zeugen der That, die oft sehr vernehmlich reden. Ihre Wichtigkeit
— 508 —
wird gerade evident durch die häufigen Fälle, in denen ihre Beach-
tung entweder zur rechten Zeit versäumt oder in ungeschiekter und
ungenügender Weise geschehen war. In dem erwähnten Qualen’schen
Falle unterliess man es gänzlich, Fussspuren in der Gegend des
Leichnams aufzusuchen, und bald machte frischgefallener Schnee es
unmöglich das Versäumte nachzuholen; man that überhaupt in den
ersten 36 Stunden nach dem Auffinden des Leiehnams nichts um
etwaige Spuren des Hereinkommens eines Fremden in den Garten zu
entdecken. In einem neueren Falle aus dem Kanton Zürich (1849) *)
waren einfache Landleute, welche den Leichnam eines Erschlagenen
aufgefunden hatten oder bald darauf herzugekommen waren, so um-
sichtig, sich der von dem muthmasslichen Thäter hinterlassenen Fuss-
spuren möglichst genau zu vergewissern. Sie schlossen aus der Ent-
fernung der einzelnen Fussspuren von einander, dass der Urheber
derselben gesprungen sein müsse; sie verfolgten die Spuren und fanden
an einer Stelle den linken Fuss des Nachgespürten besonders deutlich
im Schnee abgedrückt. Sie beschlossen daher, die Form des Fuss-
tritts in Papier auszuschneiden, eine Arbeit, die ihnen um so noth-
wendiger erschien, als es inzwischen wieder zu schneien angefangen
hatte. Ganz ohne Irrung ging es dabei freilich nicht ab, der Absatz
des Papiermodells war etwas zu gross gerathen; allein dieses Modell
stimmte doch sehr überein mit dem demnächst amtlich bewerkstelligten
Gyps-Abdruck des linken Stiefels des Angeklagten. Dazu kam, dass
die Stiefel desselben nach einem Leisten von ungewöhnlicher Form
gearbeitet waren. **)
Die Schwierigkeit, welehe überhaupt mit einer genauen Consta-
tirung von Fussstapfen verbunden ist, wird bisweilen noch dadurch
vermehrt, dass die Verbrecher, welche wohl wissen, welche Bedeutung
die Fussstapfen haben, es so einrichten, dass die Untersuchungsrichter
oder Polizeibeamten dadurch irre geführt werden. Ein seltsamer Fall
der Art kam vor mehreren Jahren in Livland vor. Es waren auf
dem Lande Kosaken einquartirt, die einen starken Begehrungstrieb
hatten, und sich nicht begnügten von sinem benachbarten Landgute
zu wiederholten Malen Kleinvieh zu entwenden, sondern auch einmal
einen Ochsen entfremdeten. Um nicht durch die Fussspuren des
#) Schauberg’s Beiträge zur — Zürcherischen Rechtspflege XI. S. 140 ff.
##) Andere Fälle dieser Art, s. Sitzungsberichte der bayerischen Straf-
geriehte I. 8. 463. 467 fl. Allgemeine österr. Gerichtszeitung 1855 Nr. 58,
S. 235. Mittermaier, das englische, schottische und nordamerikanische
Strafverfahren $S. 144 ff.
— 509 —
Ochsen im Schnee verrathen zu werden, zogen sie dem Ochsen Stiefel
an, aber verkehrt, so dass die Spitzen der Stiefel dem Gute zuge-
wendet waren. Das ergab nun seltsame Spuren, aber keine Spur
vom gespaltenen Fuss, worauf es ihnen eben ankam.
Oft sind auch andere Eindrücke als die erwähnten Fussspuren
zu eönstatiren. Vor geraumer Zeit machte ein Mann in Berlin die
Anzeige, dass bei ihm ein Diebstahl mit Einsteigen verübt und eine
in seiner Gewahrsam befindliche Casse fortgetragen sei. Der gewandte
Polizeibeamte, welcher sich sogleich an Ort und Stelle begab, fand
noch die Leiter, auf welcher der Dieb vom Garten aus eingestiegen
sein sollte, am Hause stehen. Nachdem er mit scharfem Blicke die
Lokalität gemustert hatte, setzte er die Leiter behutsam an eine andere
Stelle, und bat ein in der Nähe stehendes kleines Kind einmal die
Leiter hinaufzusteigen. Als das geschehen war, verglich er die bei-
den Eindrücke der Leiter in dem Boden mit einander und sagte:
„Es ist seltsam, dass der Eindruck, den das Hinaufsteigen des Kindes
bewirkt hat, tiefer ist als jener Eindruck, den der Dieb zurückgelassen,
und doch ist der Boden an beiden Stellen ganz gleich.* Es ergab
sich alsbald die Denuneiation jenes Mannes als falsch, indem er selbst
die ihm anvertraute Casse bei Seite geschafft hatte.
Wenn nun bei der Nothwendigkeit sich der von den Verbrechern
zurückgelassenen Fussspuren und anderer Eindrücke in dem Erdboden
oder im Schnee zu vergewissern, die gewöhnlichen Methoden sich
oft als unzureichend und unsicher herausstellen, so muss der Wunsch
entstehen, eine neue zuverlässige Methode zu gewinnen. Um einzelne
Spuren gegen den Einfluss der Witterung oder sonstige Einwirkungen
zu sichern, bis eine genaue Zeichnung oder dergleichen aufgenommen
werden kann, ist es zweckmässig die Spur mit einem Gefässe, etwa
einer Kiste oder einem hölzernen Fasse, dessen Boden herausgeschlagen
ist, zu bedecken und eine zuverlässige Wache dabei zu stellen, aber
das ist nur ein einleitendes Verfahren, bei dem die Hauptschwierig-
keit noch übrig bleibt. Sehr beachtenswertli ist daher der neue Vor-
schlag eines französischen Chemikers Hugoulin in einem Aufsatze.
„Reproduction des empreintes de pas, de coups de fusil ete. sur la
neige, en matiere eriminelle* *). Seine Operation beruht auf der Eigen-
schaft der reinen in sehr wenig lauem Wasser aufgelösten Gallerte
(gelatine), bei der Berührung mit einem kalten Körper sogleich fest
zu werden. Die Gallerte reprodueirt auf diese Weise eine genaue
*) Annales d’hygiene publique. 2. serie. Tome III (1855) p. 207.
Wissenschaftliche Monatsschrift, 33
— 510 —
Form oder einen Klatschabdruck, (un eliche exact) der Contactfläche,
auf welche man sie applieirt hat, und dieser Klatsch kann, ohne seine
Form zu verändern, zu einer genauen Nachbildung der Contactfläche
dienen mittelst eines plastischen Körpers, der rasch verhärtet, wie
Gyps. Bevor man aber den Gyps auf den Gelatine-Klatsch giesst,
muss man die Oberfläche der Gelatine mit einem Pinsel leicht ölen.
Die Gelatine findet sich überall im Handel, aber die erste Qualität
derselben ist allein zweckdienlich, jede andere, wie flandrischer Leim
(la colle de Flandre), die nicht augenblicklich fest wird, würde un-
brauchbar sein. H. beschreibt genau, wie seine Methode anzuwenden
sei*), und nimmt Rücksicht auf die Verschiedenheit der Fussspuren,
je nachdem sie sich in einer dichten Schneedecke finden oder in einer
dünnen Schneeschicht, so dass der Absatz des Stiefels oder Schuhes
in der darunter befindlichen Erde eingedrückt ist. Er schliesst mit
der Versicherung, dass die zu dem Experiment nöthige Gewandtheit
sich leicht erwerben lasse, auch von den Personen, die von Gerichts-
wegen regelmässig angewiesen seien zur Conservirung und Constatirung
solcher Spuren, und dass jeder Pharmaceut, der Ge&latinekapseln (des
eapsules gelatineuses) verfertigt oder anfertigen gesehen habe, voll-
kommen die Bedingungen der Anwendung der Gallerte kenne.
Obgleich deutsche naturwissenschaftliche und juristische Zeit-
schriften auf diese Entdeckung hingewiesen haben, ist es mir doch
nicht bekannt geworden, ob man das Experiment in Criminalfällen
gebraucht hat. Immerhin scheint dasselbe eine grosse Sorgfalt und
eine geschickte Hand zu erfordern, wenn das Resultat ein zuverläs-
sigeres sein soll als bei dem gewöhnlichen Verfahren Fussspuren in
Gyps zu reprodueiren, und es müsste jeder Beamte, demin vorkommenden
Fällen die Pflicht zu dergleichen Vornahmen obliegt, eine kleine Schule
in der Behandlung der Gelatine und des Gypses durchmachen. Viel-
leicht würde es dann gelingen, in den Fällen, in denen sie anwendbar
ist, durch diese Methode einen Nutzen zu erzielen.
*) Eine Relation davon, aber nicht direct aus der Quelle, sondern aus
Göschen’s deutscher Klinik, gibt Friedreich in den Blättern für gerichtliche
Anthropologie 1855, Heft 5, S. 75. Im dieser Relation ist mir aufgefallen, dass
gesagt wird, wenn der Gelatineklatsch fest genug sei, um weggenommen zu werden,
sollte man ihn auf mehrfach zusammengelegte Leinewand werfen, deren Ränder
über ihn schlagen und dann auf die Gelatine sehr feinen Formsand streuen;
dann aber, dass man Sorge tragen müsse die Oberfläche der Gelatine mit einem
Pinsel leicht zu ölen, bevor man den Gyps darauf giese. Hugoulin hat
nichts davon gesagt, dass man auf den Gelatineklatsch Formsand streuen sollte,
was sich mit der Oelung schlecht vertragen würde.
— 5ll —
Herr Hugoulin hat gleichfalls, und schon früher*), ein Ver-
fahren vorgeschlagen, um Fussspuren oder sonstige in einem weichen
Boden, wie im Sande zurückgebliebene Eindrücke zu eonserviren und
zu fixiren. Das zur Fixirung zu gebrauchende Material ist Stearin-
säure (oxide stearique, bougie de l’&toile), auf chemischem Wege in
äusserst feines Pulver verwandelt. Die weitere Procedur setzt die
sehr geschickte Hand eines Chemikers voraus, sie würde durch einen
Nieht-Chemiker gar nicht zu bewerkstelligen sein. Ob sie jemals in
einem Criminalfalle angewendet worden sei, habe ich nicht erfahren
können. Ein anderer französischer Chemiker, Causse, hat, sich an
Hugoulin anschliessend, eine Methode zur genauen Messung blutiger
Fussspuren vorgeschlagen. **)
Es ist bekannt, dass die Daguerrotypie und Photographie
der Strafrechtspflege bereits wesentliche Dienste geleistet haben. Die
Personalbeschreibungen in den Steckbriefen sind oft so unzuverlässig,
dass schon mancher ehrliche Mann mit dem Verfolgten verwechselt
worden und in Ungelegenheiten gekommen ist, und die Behauptung
ist kaum paradox, dass die Steckbriefe den ehrlichen Leuten gefährlicher
sind als den Verbrechern. Es lassen sich aus dem Gebiet der Steck-
briefe manche Curiosa erzählen. Vor einigen Jahren ging durch die
Zeitungen der Steckbrief eines berühmten Mannes, von dem als besondere
Kennzeichen angegeben waren, dass er verheirathet sei und im Sommer
umgeschlagene Vatermörder trage. Genug, die Personalbeschreibungen
in den Steckbriefen sind sehr trügerisch. Wie ganz anders macht es
sich aber, wenn dem Steckbriefe der zu Ergreifende in Figura bei-
gelegt werden kann. So viel ich weiss, hat man zuerst in der
Schweiz von der Daguerrotypie für polizeiliche Zwecke Gebrauch
gemacht, indem man einige gefährliche Heimathlose abeonterfeite;
aber seitdem ist es für solche Zwecke oft in anderen Ländern, nament-
lich in England und Amerika geschehen, und bei den raschen Fort-
schritten, welche die Kunst des Photographirens ıacht, steht zu
erwarten, dass die Criminalrechtspflege und die Handhabung der
Polizei davon noch weiteren Nutzen ziehen werde, und wenn dann
*) Hugoulin, Solidification des empreintes de pas sur les terrains les plus
meubles in: Annales d’hyg. publ. XLIV (1850) p. 429, vgl. Friedreich's
Blätter für gerichtl. Anthropologie 1851, Heft 4, S. 78.
#®) Causse, des empreintes sanglantes des pieds et de leur mode de
mensuration in: Annales d’hyg. publ. 2. serie, Tome I (1854) p. 175, vgl.
Friedreich's Blätter 1855, Heft 5, S. 73.
— 512 —
erst jeder Polizeibeamte einen Photographir-Apparat zur‘ Hand hat,
so wird die Macht der Polizei gar gross sein.
Von weit grösserer Tragweite als die eben genannte ist die Er-
findung des electrischen Telegraphen im Dienste der Polizei und
Strafrechtspflege.
Im Vorhergehenden ist hervorgehoben, welcher Nutzen für die
Strafrechtspflege aus den Fortschritten der Mediein und Naturwissen-
schaften und aus einigen neuen Entdeckungen und Erfindungen resultire.
Wir müssen nun aber auch die Kehrseite betrachten und da gibt es
ein eclatantes Beispiel, wie eine sonst segensreiche Erfindung dem
Criminalisten grosse Noth bereitet; ich meine die Anwendung des
Chloroforms und ähnlicher Betäubungsmittel, in den Händen der
Aerzte ein Segen für die Menschheit, in den Händen der Verbrecher
ein Fluch, ganz ähnlich wie es mit manchen Giften der Fall ist, die
als Medieamente zur Heilung, als Gifte im e. $. zur Tödtung ge-
braucht werden.
Es sind schon Fälle vorgekommen, in denen an Stelle der zum
Raube gehörigen Vergewaltigung der Person die Betäubung durch
Chloroform angewendet worden ist, um den wehrlosen Betäubten aus-
zuplündern, und unzweifelhaft werden solche Fälle sich mehren.
Als im Mai 1851 spät am Abend ein junger Mann in Brünn
auf dem Wege zu seiner Wohnung durch eine abseitige Vorstadt
ging, in der nur hie und da spärliche Laternen ein karges Licht
spendeten, nahten sich ihm von rückwärts zwei Männer. Bald waren
sie ihm zur Seite und gingen schweigend einige Schritte neben ihm
her, ohne ihn zu berühren. Darauf merkte der junge Mann, dass
einer der Männer eine rasche Bewegung gegen sein Gesicht machte
und ihm etwas hart vor Nase und Mund hielt. Kaum war dieses
geschehen, so fühlte er die Wirkungen dieser unheimlichen Hand-
lung; es war ihm als ob er ersticken müsste, die Füsse versagten
ihm ihren Dienst, er fing an zu sinken und sein Bewusstsein
schwand. Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden, die
beiden Männer befanden sich knieend neben ihm und tasteten an
seinen Kleidern umher. Darauf sagte der Eine: „Jetzt ist es genug“,
worauf beide sich schleunigst erhoben und davon eilten. Allmählig
kehrten die Kräfte des jungen Mannes wieder, er stand auf und ging,
noch etwas betäubt, nach Hause. Auf dem Wege dahin wurde er
von einem Erbrechen befallen, das ihm Erleichterung verschafite. Erst
in der Stadt gewahrte er, dass man ihm mehrere Gegenstände, im
Werthe über 5 fl., und auch einen Versatzschein über eine silberne
— 513 —
Uhr entwendet hatte. Dieser Schein führte später zur Entdeckung
der Thäter. Es waren übelberüchtigte Vagabunden. Der Eine hatte
als Laborant in einer Apotheke gedient, und war kurz vor dieser
That von dort entlassen worden. Der Thatbestand wurde dahin fest-
gestellt, dass der junge Mann durch Vorhalten von Schwefeläther oder
starkem Chloroform vor die Nase narkotisirt war und ihm von den
Thätern, während er sich in dem Zustande der Sinnenbetäubung be-
fand, die erwähnten Gegenstände entwendet waren. An seiner Gesund-
heit hatte er keinen Schaden erlitten. Er wiederholte vor dem Unter-
suchungsrichter auf dessen Befragen, dass er seines Wissens von den
beiden Individuen, bevor er in die Betäubung versank, nieht berührt
worden war, und dass man ihn nicht ergriffen, nicht festgehalten
und ihm überhaupt kein körperliches Leid zugefügt hatte.
Bei der gerichtlichen Beurtheilung dieses Falles entstand der
Zweifel, ob hier das Verbrechen des Raubes oder des mit besonderer
Arglist ausgeführten Diebstahls nach den Bestimmungen des öster-
reichischen Strafgesetzbuches vorliege*). Ein Eingehen auf die Wort-
fassung der betreffenden $$. des österreichischen Strafgesetzes würde
hier zu weit führen. Nach der Satzung vom Raube in den neuen
deutschen Strafgesetzbüchern kann die zum Zwecke der Entwendung
gebrauchte Vergewaltigung der Person nicht bloss durch physische
Gewalt, sondern auch durch gefährliche Drohungen geschehen. Durch
Beides entsteht ein Zwang, welcher der Person angethan wird; ein
soleher Zwang resultirt auch aus der Anwendung betäubender Mittel,
wie sie im obigen Falle gebraucht wurden, aber dadurch geht die
Betäubung so wenig auf in den gefährlichen Drohungen, als in der
physischen Gewalt, sondern sie stellt sich als ein Drittes daneben,
und so wie die Gesetze über den Raub jetzt heschaffen sind, können
wir in der Anwendung des Chloroforms u. dgl. zum Zweck der Ent-
wendung nur ein Analogon des Raubes, aber keinen wirklichen Raub
sehen. Die künftige Gesetzgebung wird aber diesen Fall, der leider,
aber gewiss, bald häufiger vorkommen wird, hier anreihen müssen,
und ihn gelinder zu bestrafen als den durch Handanlegung an die
Person oder durch gefährliche Drohungen ausgeführten Raub ist wohl
kein Grund vorhanden, auch wenn wir die alte germanische Anschauung
nicht wieder aufnehmen, nach welcher der Muth des gewaltthätigen
Räubers diesen hinsichtlich der Bestrafung günstiger stellte als den
feigen Dieb.
#*) Allgemeine österreichische Gerichtszeitung 1854, Nr. 115.
— 514 —
Noch schlimmer zeigt sich die Anwendung des Chloroforms in
einem anderen Verbrechenskreise. Es entsteht ein Analogon der Noth-
zucht, wenn ein Mann Chloroform oder dgl. anwendet, um an dem
betäubten Frauenzimmer seine sinnliche Lust zu befriedigen. Die
neueren Strafgesetzbücher haben diesen Fall nieht unberücksiehtigt
gelassen, wenn sie ihn auch nicht gleichmässig behandeln*). Soll er
der Nothzucht gleichgestellt werden, so muss der Zwang nachweisbar
sein, also dass das Frauenzimmer, wenn es nicht durch ein solches
Mittel betäubt worden wäre, den ihm möglichen Widerstand geleiset
haben würde. Für die richtige Beurtheilung solcher Fälle macht es
Schwierigkeit, dass die nicht bei allen Individuen gleiche Wirkung
der Chloroformirung oder des Aetherisirens noch nicht gehörig ermittelt
ist in der kurzen Zeit, in welcher man darüber hat nachforschen
können®*). Es scheint als ausgemacht angesehen werden zu müssen,
dass die Chloroformirten bisweilen Sinnestäuschungen unterliegen, was
für die Würdigung ihrer Angaben natürlich von Bedeutung ist.
Der folgende ven Mittermaier***) mitgetheilte amerikanische
Fall hat zwar durch das Verdiet der Geschwornen einen Abschluss
erhalten, aber durchaus nicht eine Erledigung aller Zweifel, zu denen
er hinführt. *
Am 24. October 1854 wurde in Philadelphia die Anklage gegen
den Zahnarzt Beale vor dem Assissenhofe verhandelt. Er war be-
schuldigt, ein junges Frauenzimmer, Miss Mudge, welche seine Hülfe,
um einen Zahn herauszunehmen, angerufen und sich in sein Haus
begeben hatte, während er sie, angeblich um die Schmerzen ihr zu
ersparen, chloroformirt hatte, zu seinen Lüsten gebraucht zu haben.
Der Advokat der Anklage erklärte, dass wenn den Geschwornen es
scheinen würde, dass das Mädchen unter dem Einflusse von Sinnes-
täuschungen zu einem Irrthum verleitet worden wäre, die Jury aller-
dings freisprechen müsste. Miss Mudge erschien als Zeugin, gab an,
dass sie, als der Aether angewendet war, allmählig eine Kälte durch
den Körper ziehen und Starrheit gefühlt habe, dass sie sich weder
habe bewegen noch schreien können, aber das volle Bewusstsein dessen
gehabt habe, was mit ihr vorging. Sie behauptete, dass während
dieses Zustandes, in welchem sie die Augen geschlossen gehabt, der
*) Meine Abhandlungen aus dem deutschen. Strafrecht I. 8. 132.
#*) s, den lehrreichen Auisatz in Friedreich’s Blättern für gerichtliche
Anthropologie 1855. Heft 5, 8. 7 fi.
##%) Archiv.des Criminalrechts 1855, 8. 293.
— 515 —
Angeklagte den Beischlaf verübt habe; dass, nachdem der durch die
Aetherisirung hervorgebrachte Zustand aufgehört, sie die Unordnung
an ihren Kleidern bemerkt hätte; dass dann der Angeklagte noch
einmal sie chloroformirt habe, um jetzt erst den Zahn auszuziehen.
Auf die Fragen des Vertheidigers im Kreuzverhör erklärte sie, dass
ihre Angaben das Ergebniss ihrer Empfindungen, aber nicht dessen,
was sie gesehen, seien, dass sie dem Angeklagten keine Vorwürfe
gemacht, dass sie auf dem Rückwege in einem Kaffeehause ein Glas
Eis zu sich genommen, dann zu einer befreundeten Familie gegangen
sei, wo sie am Nachmittage krank geworden, dass sie ihrer Mutter
nichts gesagt und keinen Arzt habe rufen lassen. Die vernommenen
Zeugen bestätigten diese Angaben. Der Vertheidiger griff das Zeugniss
der Anklägerin an, suchte zu zeigen, dass leicht ein auf Halluei-
nationen gebauter Irrthum des Mädchens vorliegen könne; fand es
unwahrscheinlich, dass eine auf die angegebene ‚Art Beschädigte in
das Kaffeehaus gehe (— er fragte, ob Lucretia nach dem Vorfall
mit Tarquinius etwa solches gethan haben würde). Die Geschwornen
erklärten den Angeklagten schuldig, empfahlen ihn jedoch der Milde
des Gerichts, und der Richter verurtheilte ihn zum Gefängniss von
4 Jahren und 6 Monaten.
Mittermaier fügt zu der Relation dieses Falles hinzu: „Der
mitgetheilte Fall gibt Stoff zu manchen ernsten Erwägungen. Man
fragt: ob nach den Erfahrungen angenommen werden kann, dass eine
Person, während sie chloroformirt wird, in diesem Zustande nur die
Kraft der Bewegung und des Widerstandes, selbst die Möglichkeit
des Schreiens verliert, aber das volle Bewusstsein dessen, was mit
ihr und um sie vorgeht, behält; ob eine Aussage der Person über
das, was sie in diesem Zustande erfahren haben will, glaubwürdig
sein kann; ob anzunehmen ist, dass in diesem Zustande vermöge
Hallueinationen Vorstellungen entstanden sein können, welche die Person,
wenn sie aus dem Zustande der Betäubung erwacht ist, bewegen
könnten, ihr Wahnbild für Wahrheit zu halten. Wir wünschen, dass
diese Mittheilung erfahrene Aerzte zu Aeusserungen ihrer Ansichten
veranlassen.“
Der Fall hat manches Eigenthümliehe und Unaufgeklärte. Zunächst
ist es sehr auffallend, dass gar keine ärztliche Untersuchung darüber
angestellt zu sein scheint, ob denn an der Angeklagten ein Coitus
verübt worden sei, und keine Nachforschung nach Blut- oder Samen-
flecken, die sich etwa in ihren Kleidern gefunden hätten. In Deutschland
und Frankreich würde man den Versuch dieses zu ermitteln, nicht
— 516 —
unterlassen haben.*) Sodann erfahren wir nicht, ob sie, die während
des durch die erste Aetherisirung herbeigeführten Zustandes das volle
Bewusstsein dessen, was mit ihr vorging, gehabt haben will, während
des zweiten Actes den Schmerz der Operation des Zahnausziehens
fühlte oder nieht, und wie überhaupt während dieses zweiten Actes
ihr Zustand gewesen sei. Zu dem, was der Vertheidiger sehr passend
hervorhob, dass sie vorläufig Niemandem, auch ihrer Mutter keine
Mittheilung von der Unbill machte, die sie später behauptete, ist
auch noch zu urgiren, dass es nicht zu begreifen ist, wie sie sich
ganz ruhig dazu verstand, sieh zum zweiten Mal chloroformiren zu
lassen. Bedenkt man auch, dass nach Beobachtungen der Medieiner
hysterische Personen eine grosse Neigung zu Simulationen haben, so
muss man um so mehr bedauern, dass nicht die medicinische For-
schung, die nach der obigen Relation in einem der wichtigsten Punkte,
wie angegeben, unterlassen ist, in dieser Richtung thätig wurde. Im
Ganzen kann ich nieht umhin, das Verdiet der amerikanischen Ge-
schwornen in diesem Fall als einen „Währspruch“ , dem die sicheren
Prämissen fehlen, stark anzuzweifeln. Aber möglicher Weise ist die
Relation Mittermaier's, deren Quelle er nicht angibt, unvollständig.
Der Vertheidiger des Angeklagten stellte hier die lächerliche
Frage, ob Lucretia nach dem Vorfall mit Tarquinius in ein Kaffeehaus
gegangen sein würde, es ist aber damit ein sehr wichtiges Vertheidi-
gungsmoment gegen Anklagen wegen Nothzucht, nur in sonderbarer
Form, hervorgehoben, welches in den so viele Bestimmungen über
Nothzucht- enthaltenden alten deutschen Rechtsquellen eine grosse Be-
deutung hat. Die Genothzüchtigte musste sogleich nach der That
die ihr angethane Gewalt und Schande kund thun, widrigenfalls verlor
sie entweder ihr Recht zu klagen oder der ihr obliegende Beweis
war erschwert, dem Angeschuldigten der Entlastungsbeweis bedeutend
erleichtert. Ein Weisthum aus Franken vom Jahr 1523 enthält die
Worte: „Wo eine genotzucht wurd, so soll sie lauff mit gestraubtem
hare und nasser mautzen, iren schleyer an der Hand drag, allermeniglich
wer ir begegent umb hilff anschreyen iiber den theter; schweigt sie
aber dismal still, soll sie hinfüro auch still schweigen. **)“ Am aus-
führlichsten ist der Gegenstand behandelt in dem ungemein interes-
*) 5. z. B. die badische gericht. Wund- und Leichenschau-Ordnung von
1851, $. 66.
*%) Grimm’s Weisthümer II. S. 892; Rechtsalterthümer S. 633. Dreyer's
Nebenstunden S. 67.
— 5l7 —
santen Rechtsbuch der Stadt Mühlhausen am Harz aus dem 13. Jahr-
hundert*): „Lieget ein Mann bei einem Weibe ohne ihren Dank
und wider ihren Willen, ist es ihr dann leid, so soll sie sich wehren
mit Geschrei und soll es darnach zu Hand kündigen mit zerrissenem
Gewande und mit Händeringen und mit weinenden Augen und mit
gesträubten Haar ete.“
Den: obigen amerikanischen Falle ähnlich ist ein österreichischer,
den Mittermaier aus der wiener medieinischen Wochenschrift mit-
getheilt hat**): Auch hier klagte ein Mädchen, die sich schwanger
fühlte, gegen einen Wundarzt, dass dieser, als sie sich einen Zahn
wollte ausziehen lassen, sie chloroformirt und dann gemissbraucht
habe; bei dem Erwachen aus der Betäubung, die 3/, Stunden gedauert,
habe sie sich schwer und dumpf im Kopfe gefühlt, aber an ihrem
Körper keine Spuren der Beiwohnung bemerkt. Der Angeschnuldigte
gab zu, dass als das durch Chloroform betäubte Mädchen auf dem
Bette gelegen, der sinnliche Reiz in ihm entstanden sei, dass er sie
entblösst habe, um sie zu gebrauchen, aber durch vorzeitigen Samen-
erguss am Beischlaf verhindert worden sei. Er gestand auch, dass
er häufig, wenn Mädchen in ähnlichen Fällen zu ihm gekommen
seien, mit ihnen, aber mit ihrer Zustimmung, den Beischlaf vollzogen
habe. In diesem Falle kam neben anderen Umständen auch zur
Sprache, dass die Klägerin, welche am 11. Juli 1853 bei dem Wund-
arzt gewesen war, erst am 24. Mai 1854 ein Kind gebar. Das Ge-
richt sprach den Angeschuldigten von der Anklage der Nothzucht
frei; auf eingelegte Cassation des Staatsanwalts verurtheilte ihn aber
der Cassationshof wegen Uebertretung gegen die öffentliche Sicherheit
zu dreimonatlichem Arrest.
In England existirt ein besonderes Gesetz vom 3. Juli 1851 ***),
die Bestimmung enthaltend: „Wer Chloroform, Opium oder andere
betäubende, oder ausser Stand freier Verfügung setzende Arzneien,
Gegenstände oder Sachen bei Jemandem anwendet, oder ihm beibringt,
oder anwenden lässt, um dadureh sich selbst oder einen Andern in
den Stand zu setzen, ein Verbrechen (felony) zu verüben, soll mit
Transportation von 7 Jahren bis auf Lebenszeit oder zu Gefängniss
nicht über (?) drei Jahre verurtheilt werden.* Mittermaier meint,
die Nothwendigkeit der Nachahmung einer solchen Strafvorschrift in
#) Herausgegeben von E. G. Förstemann 1843, S. 8.
#%) Wiener medic. Wochenschrift 1854, Nr. 10, 11, 12, 13, 17.
“##) Mittermaier a. &. O. S. 300.
— 518 —
unsern Gesetzbüchera könne nicht verkannt werden, allein eine solehe
Bestimmung würde doch wohl nicht ins deutsche Strafrecht passen;
es würde dadurch ein besonderes neues Verbrechen der rechtswidrigen
Chloroformirung hingestellt und mit schwerer Strafe belegt, und dabei
das in der zu Stande kommenden Rechtsverletzung liegende Verbre-
chen gegen das Vorbereitungsmittel ganz zurücktreten. Aber eine Berück-
sichtigung der Chloroformirung zu diebischen, räuberischen und wol-
lüstigen Zwecken in den Abschnitten über die betreffenden Verbrechen
ist nothwendig, und deutsche Gesetzbücher haben auch schon den
Anfang damit gemacht, nur in unvollständiger Weise, insofern der
Missbrauch einer durch Chloroformirung betäubten Frauensperson unter
Art. 182 des neuen sächsischen Strafgesetzbuches fällt, dagegen das
besprochene Analogon des Raubes unberührt geblieben ist. Eben so
nothwendig als die angedeuteten Strafbestimmungen erscheint aber die
Ausführung eines Vorschlages, wie ihn Friedreich gemacht hat:
„es solle von Seiten der Medicinalbehörden darüber gewacht werden,
dass die Inhalationsapparate nie in die Hände des Publikums gelangen
können, um jedem sträflichen Missbrauche vorzubeugen, der Aether
solle unter die Kategorie der Gifte aufgenommen, auf ihn alle in
Bezug auf die Gifte bestehenden Gesetze angewendet und somit be-
sonders der freie Verkauf dieser Substanz verboten werden.“ Durch
die Realisirung dieses Vorschlages würde freilich nicht jedem sträf-
lichen Missbrauche vorgebeugt werden, denn in den obgenannten Fällen
waren die Angeschuldigten - Wundärzte*), aber gewiss würde eine
solehe Vorschrift Nutzen bringen. Es würde auch mit anderen Nor-
men des deutschen Strafrechts harmoniren, wenn die Strafbestimmungen
über den Missbrauch soleher Betäubungsmittel durch Medieinalpersonen,
Wundärzte u. s. w. zu verbrecherischen Zwecken für diese Personen
geschärft würden, und jedenfalls eine zeitliche oder bleibende Ent-
ziehung der Berechtigung zur Ausübung ihrer Kunst einträte (Straf-
gesetzbuch für Baden, $. 542).
An die Fälle zur Chloroformirung zu wollüstigen Zwecken reiht
sich ein österreichischer Fall**), der uns in das wunderbare Gebiet
des Somnambulismus und thierischen Magnetismus versetzt, ein Straffall,
welcher, wie der Berichterstatter sagt, so vor hundert Jahren gar
nicht vorkommen konnte, und recht eigentlich als ein moderner
*) Auch die Gazette des tribunaux vom 31. Oct. 1847 soll einen ähnlichen
Fall von einem Pariser Zahnarzte enthalten.
*#) Allgem. österr. Gerichtszeitung 1855, Nr. 106, 107, 110,
— 519 —
bezeichnet werden darf, Der Fall betraf die Anschuldigung gegen
einen 3ljährigen Chirurgus, eine sehr kränkliche Somnambüle von
24 Jahren gemissbraucht zu haben. Er wurde zur Strafe des schwe-
ren Kerkers in der Dauer von drei Jahren verurtheilt. Bedeutende
Aerzte uud die berühmte medieinische Faeultät in Wien waren thätig,
das Halbdunkel dieses Falles zu lichten, und die Gerichte haben ihn
mit grosser Sorgfalt behandelt, aher es sind doch auf seinem Grunde
Probleme zurückgeblieben, denn es ist ja der magnetische Schlaf ein
grosses Problem.
Ueber
den Ursprung und die erste Krisis der römischen Kirche
nach den letzten Verhandlungen über Hippolytus
von & VOLKMAR.
Ein politisches und ein religiöses Element ist es gewesen, wo-
durch die römische Kirche schon vom dritten Jahrhundert an für die
alte Christenheit die Bedeutung einer immer mächtigeren Autorität
gewonnen hat. Die Welt-Hauptstadt gab der Gemeinde Christi in
ihr von selbst die Bedeutung der Hauptgemeinde für die christliche
Oekumene, wenn sie nur einigermassen Vertrauen erweckte. Dies
ward ihr auch durch ihre quantitative Grösse eher möglich, als
jeder andern, noch so innig religiösen, noch so christlich treuen Ge-
meinde an weniger bedeutenden Orten. Denn je grösser ein Organismus
ist, je mehr Connex eine organisirte Gemeinschaft mit der ganzen
Aussenwelt hat, je lebendiger daher auch in ihr die Gegensätze auf-
treten, um so leichter wird sie die rechte Mitte halten, das Maass
bewahren, welches überall das eigentlich Machtgebende und Erhaltende
wird. Auch haben wir sonst Beispiele genug, wie eine früher politisch
herrsehend gewesene Stadt auch unter sehr veränderten Verhältnissen
Hauptstadt oder Hauptgemeinde bleibt, wenn auch nicht formell, doch
materiell und geistig. So schon ist nichts begreiflicher, als dass für
die alte, von der römischen Welt ausgehende Kirche, gerade die
Gemeinde Gottes zu Rom, auch ohne besondere Gnadengaben, eine
beherrschende Kraft erhalten und lange genug bewahrt hat. Aber es
ist auch nichts anderes als Consequenz, wenn christlich-germanisches
Wesen wie mit dem römischen Reiche, so auch endlich mit der
römischen Kirche völlig abgebrochen hat.
— 520 —
Doch es kommt zu dem politischen Schwergewicht der alten
Welt-Hauptstadt, welches der römischen Gemeinde die Bedeutung
einer christlichen Capitale zutheilen sollte, ein religiöses Element
hinzu, welches gerade jener Gemeinde die Festigkeit lieh, die auch
im Sturm und in der Revolution, hierbei gleich in der ersten Sturm-
periode der Kirche, in der gnostischen Revolution des zweiten Jahr-
hunderts aushielt, und andere Kirchen, welehe durch paulinische Be-
gründung der Gnosis verwandter waren und so eher in’s Schwanken
kamen, den bedurften Halt geben konnte. — Dass die römische Ge-
meinde von Petrus begründet, von ihm sogar als erstem Bischof
regiert worden sei, dies wird durch Alles, schon dureh unsern Römer-
brief (e. I—XIV), selbst dem spätern Anhang nach (e. XV—XVI),
so handgreiflich als Fabel aufgezeigt, dass man sich längst, selbst
römisch-katholischer Seits (in Deutschland wenigstens) dieser Fiction
zu schämen angefangen hat*). Aber anderseits ist auch Paulus nicht
Gründer der Weltgemeinde gewesen, weder allein noch mit einem
andern Apostel. Wenn sie auch dieses zweite Apostelhaupt sich vin-
dieirt hat, so ist das nur ein noch ärgerer Schlag auf’s Gesicht des
eigenen Briefes Pauli an die längst bestehende, ihm sogar von Haus
aus fremde Gemeinde. Das religiöse Element, wodurch sie für die
alte Kirche so beherrschend geworden ist, liegt vielmehr daran, dass
sie gerade von keinem Apostel persönlich begründet ist, d. h. nicht
von dem wirklichen Begründer der Gemeinde Jesu in den Provinzen
Roms ausserhalb Palästina’s, über dessen Bereich Allem zufolge die
Zwölf nicht hinausgegangen sind, also gerade nieht von dem Hei-
denapostel. Unmittelbar aus der Synagoge Jehova’'s zuRom,
welche die zweitgrösste nach der in Jerusalem war, und mit dieser
im engsten Verbande, im lebhaftesten Verkehr stand, ist dort die
Gemeinde des gekreuzigten Messias hervorgegangen. Die frohe Bot-
schaft der Nazaräer (der Erretteten Israels) von dem durch das Kreuz
zur Rechten der Macht erhobenen, und nun bald mit des Himmels
Mächten kommenden Messias Israels ist ganz von selbst aus Palästina
in die römische Synagoge gediungen, schon in der ersten Zeit, wie
auch unsere Apostelgeschichte (IT, 10) noch andeutet. Anfangs blieben
auch die in Rom von der errettenden Botschaft ergriffenen, die gläubig
gewordenen Juden noch in dem Synagogenverbande, bis über die
immer lebendiger erhobene Christus-Frage (impulsore X_0,0TQ, sprich
Christo) immer lauterer Streit, endlich selbst Tumulte entstanden,
*) Vgl. Maier. Der Römerbrief. Freiburg (i. Breisgau) 1850. Einleit.
— 521 —
welche den Claudius (vor 49 u. Z.) bewogen, diese assidue tumultuan-
tes Judaeos (d. h. Messianer und Gegner insgesammt) aus der Stadt
zu treiben. Doch war dies sehr vorübergehend, uud seitdem bildeten
die Messianer Roms eine von den verstockten Brüdern getrennte Ge-
meinschaft, eine selbstständige &x#Anola« xuglovfnoo0. Doch Juden
waren sie von Haus aus, Juden nur im wahren Sinne des Wortes
blieben sie, und wollten Nichts sein als nur die wahren, die Gott
getreuen Israeliten. Die Gemeinde Rom’s ist so von Grund aus,
eben durch die Art ihrer Begründung, eine judenchristliche, so
zugleich die zweite bedeutende Gemeinde des Messias
Israels neben der in Jerusalem. Das ist ihr historisches Wesen,
das ist es auch geblieben. Denn die Heiden, die mit dem erretteten
Israel zu Rom das Kreuz ergriffen, schlossen sich diesem aufs engste
an, galten nur als Judengenossen in der Gemeinde des nur
Israel verheissenen Messias. — Judenchristlich bestimmt blieb diese
Gemeinde auch dem Heidenapostel gegenüber; ja sie nahm an der
jerusalemisch-judaistischen Reaction gegen die paulinische Neuerung
Allem zufolge den entschiedensten Antheil. Verbittert und gegnerisch
war die grosse Mehrheit zu Rom gegen den Apostel, der das Gesetz
Israels in Christo aufgehoben erklärte, und so wohl in immer grösseren
Schaaren die Heiden in die Gemeinschaft Christi führte, aber, wie es
schien, zu um so grösserm Abbruch für die Israel gewordene Verheis-
sung (Röm. IX— XI). So sehr gering und bedroht zugleich war
Paulus’ Anhang gerade in dieser Haupt-Gemeinde, dass er sich genö-
thigt sah, hier endlich umfänglich seine Art, das Evangelium zn ver-
kündigen, als eine wahrhaft christliche darzustellen, die ja auch dem
Gesetze selbst wesentlich entspreche, und zu ebenso wahrhaftiger Er-
füllung des göttlichen, Alle umfassenden, ewig weisen Gnadenplanes
führe (I, 16—XI). — Doch so grossartig auch dieser Nachweis angelegt
und durchgeführt war, so einzig auch dieses theoretische Werk des
grossen Mannes ist, so hat es doch gerade zu Rom in den ersten
Zeiten wenig gefruchtet. Die Missstimmung, als habe der Heiden-
apostel hier gar in ein fremdes Gebiet übergegriffen, auch in einer
Gemeinde Israels der Meister sein wollen, war nur erhöht. Nicht
umsonst ist man später in mannichfachster Weise bemüht gewesen, diese
Missstimmung noch aufzuheben, auch in Form eines neuen Briefschlusses
(e. XV—XVI) selbst mit allerlei Entschuldigungen und halben Compli-
menten (XV, 14—16) oder Retractationen und Milderungen der pau-
linischen Lehre (XV, 1—13), wohin im Besondern auch das sichtlich
auf Rom abzielende apologetische Werk unserer Apostelgeschichte
— 52 —
gehört. — Erst nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts ist Paulus’
Werk auch zu Rom einigermassen zur Anerkennung gekommen ; gegen
seine Person blieb aber selbst bei einem Philosophen, wie Justin
(Dialog. e. 35) entschiedene Abneigung, und ein hartnäckiger Theil
der Gemeinde hat ihn fort und fort geradezu verketzert. (Clem. Homil.
17, 19).*)
Um so weniger gelang es nun der ultrapaulinischen Gnosis, in
Rom Wurzel zu fassen, mochten sich auch ihre geistvollsten Häupter,
wie Valentinus und Markion gerade- die Hauptgemeinde der Welt für
ihre Wirksamkeit ausgesucht haben, und da noch so andauernd wir-
ken. Die Sprödigkeit gegen paulinische Schriften (Evangelium und
Briefe), von Markion jedem Pauliner so doppelt imponirend engegen-
gehalten, das altüberlieferte Einstehen für die Einheit des Gottes
Israels, die Heilighaltung gerade des Alten Testamentes, das Nicht-
eingehen auf irgend eine Speculation über „die Tiefen der Gottheit*
(1. Cor. 2, 10), oder wie schon die Apokalypse (2, 24) darüber
gesagt hatte, „die Tiefen des Satan“, — dies von Grund aus un-
paulinische, ja innerlichst widerpaulinische, orthodox-israelitische Wesen
der römischen Gemeinde ward für sie in jener Zeit des drohendsten
Umsturzes ein Fels, woran die Wogen der gnostischen Fluth machtlos
zerschellten.
Inzwischen waren die Pauliner selbst entschieden gegen die neue,
dualistische Lehre als eine bloss angeblich paulinische aufgetreten,
wie Polycarpus, selbst in Form eigener Briefe des Apostels gegen
die Gesetzesläugner, speciell auch gegen die „ArrıJtosıg* Markion’s
(I. Tim. VI, 20). Man konnte auch zu Rom fortan nieht mehr umhin,
mit solehen wahrhaft christlichen, die Basis Alten Testament’s festeinhal-
tenden Männern und Schriften paulinischen Sinnes den gleichen Weg
einzuhalten. Ein rein jüdisches Gebahren in der Gemeinde Christi,
die Exelusivität der schroffen Judenchristen, welche trotz Allem sogar
Beschneidung und Sabbath festhielten (Justin Dial. e. 23 fg.), konnte
nicht mehr zugegeben werden. Mit der Gnosis ward das judaistische
Extrem gegen 175 n. Chr. endlich auch zu Rom excommunicirt, so
dass wir sie unter dem Spottnamen Ebioniten (die Armseligen) e. 180
schon in dem Index aller Häresie finden, welchen Irenäus aufgestellt
hat. Als eifernder Gegner der Gnosis war er auch ein Hauptfreund
der römischen Gemeinde, die er um so lauter zu einer Hauptautorität
%) Vgl. Baur. Paulus 1845. Zeller, die Apostelgeschichte 1853. Meine
Abhälg. über Clemens von Rom. Theologische Jahrb. 1856, II.
—_— 1253 —
zu erheben begann, als sein Gallien wie eine Provinz der urbs, so
auch eine Colonie der eeclesia Rom& geworden war, die feste anti-
gnostische Tradition und Haltung derselben aber der willkommenste
Schild ward, die feurigen Pfeile der bösen, sonst so schwer zu be-
wältigenden Gnosis aufzufangen.
Die Vereinigung der beiden, rechte Mitte haltenden Parteien,
der judenchristlichen Petriner und der richtigen (d. h. gemässigten)
Pauliner zu der einen allgemeinen Gemeinschaft (der &xxAnoi« wia
x@J$0lıxr) war eine Nothwendigkeit geworden, und das Sehiboleth
dieser Vereinigung ward jetzt der Ruf „Petrus und Paulus“ laut und
feierlich, der schon längst von den verschiedensten, aber gleicherweise
zu vermitteln bestrebten Seiten her erschollen war (Ep. Clem. I, ce. 5,
Philipp. IV. 3., Ignat. ad Rom. ce. 4, II. Petr. 3, 15). So säumte nun
auch Rom nicht, beide Apostel als die Stifter seiner katholischen
Gemeinde zu erklären, Petrus aber zugleich als seinen ersten Bischof.
Solcher Ernst war es dieser Zeit der altkatholischen Einigung und
der zugehörigen neuen Orthodoxie geworden, dass selbst urpaulinische
Gemeinden das Ansehen haben wollten, von dem Apostelhaupte Israels
mit begründet zu sein, aufs naivste sogar Corinth (Euseb. K. G. I,
25), aufs sprechendste selbst Antiochien (Apost. Constitt. VII, 46).
Rom aber setzte es, namentlich auch durch Erneuerung einer alten
petrinischen Apostelgeschichte, durch den Clementinen-Roman, um so
eher durch, den Apostelfürsten für sich allein zu behaupten, als es
die Hauptstadtgemeinde der christlichen Oekumene war, und als erste
Haupt-Pflanzstätte petrinischen Wesens den ersten Anspruch darauf hatte,
Das zweite Apostelhaupt aber wusste sie sich um so schlagender zu
vindieiren, als ja Paulus’ Haupt wirklich in Rom seine Ruhestätte
hatte finden sollen, als er dort (unter Nero) ein Märtyrer geworden
war. Rom war so seine Heimath noch geworden, nun selbst die heiligste.
In der That, das eigenthümliche Wesen der römischen Kirche
lässt sich auf keinen einfachern Ausdruck bringen, als sie es selbst
gethan bat, indem sie an ihrem Kirchweihfest „Petrus und Paulus“
feiert, beide zusammen und gerade in dieser Gestalt als ihre Grün-
der erklärt. Petrus voran; das ist der Ausdruck ihres wirklich petrini-
schen, judenchristlichen Grundwesens, das denn auch so steinern sein,
ein so willkommner Fels gegen die Springfluth der Speeulation werden
kann. Aber auch Petrus nicht so einseitig, dass die paulinische
Universalität nicht höchlich anzuerkennen wäre. Oder hatte der Hei-
denapostel nicht zum „Glaubensgehorsam unter allen Völkern“
(Röm. I, 4) gerufen, nicht die ganze Oekumene um das Kreuz
=
geschaart? Diese Macht des Paulus über die Völker sollte ja von
der Hauptgemeinde geübt, fortan völlig durchgeführt werden. Die
Häupter beider urchristlichen Parteien oder Seiten mussten also von
der Gemeinde conseerirt und sich vindieirt werden, welche das Capi-
tolium für die in Christus sich erneuernde römische Welt, das Haupt
der einen, allgemeinen Kirche römischer Christenheit werden
sollte. — Seit der tiefen Erschütterung durch die Gnosis war auch eine
neue Örthodoxie unbedingt geboten, zu der die Lehre des Apostels
der römischen Provinzen, wenigstens als universalistische, die
paulinische Lehre auf dies rechte Mass gebracht, wie es die Pauliner
selbst und längst angebahnt hatten, unabänderlich gehörte, aber auf
dem alten Grunde des Alten Testamentes und unter dem Schirm juden-
christlicher Gemeindeverfassung. Auch so musste Paulus Rom fortan
gehören, aber auch sofern unter Voraussetzung, unter Voranstellung
des alten Hauptes. Das Dritte zu dieser heiligen Apostel-Zweiheit
machte sie denn selbst aus, gleichsam das heilige Kind, welches von
jener heiligen Syzygie nın neu gehoren, getragen, bevollmächtigt war.
Endlich ist das „Petrus und Paulus“ als Inschrift des Vaticans auch
sofern ganz charakteristisch, als damit das Phantastische, Prosopo-
poetische, die Poesie oder Fiction gleich von vornherein so plastisch
auftritt, welche in der alten Kirche eine so grosse Rolle spielt, und
von Rom dann ganz besonders, in einer Reihe immer grossartigerer
und liebenswürdigerer Fictionen ausgebildet worden ist, von den
Pseudo-Clementinen und Pseud-Ignatiis an bis auf die Pseud-Isidore hin.
Die Kinderwelt der römischen Christenheit hat so viel Vorstellung,
so viel Plastik, so ceoneret Persönliches gar nicht entbehren können.
Und es ist wiederum nur Consequenz, wenn die germanische Man-
neszeit des Christenthums mit all diesem Bilderwesen, der „Petrus-
und Paulus*-Fietion Roms vorab, mit Rom überhaupt auch dieser
Seite nach völlig gebrochen hat. Die sich erneuernde, die wesentlich
germanische Kirche der von 1250 an ringenden, 1517 siegenden
Reformation hat diese Embleme mit Nothwendigkeit umzukehren ge-
habt, auf Paulus wesentlich sich erbauend, aber auch von der ältesten
Ueberlieferung, vom A. T. im Besondern nie lassend, die alte, ja
gerade die älteste Gemeindeform bewahrend, nur stetig erneuernd.
„Paulus und so auch Petrus“, das wird der Wahlspruch der Kirchen-
Erneuerung sein; der einige Grund, der Felsengrund aber, ausser
dem kein anderer gelegt ist, Jesus der Gekreuzigte und Auferstan-
dene selbst in alle Ewigkeit bleiben.
Zu der petrinischen oder judenchristlichen Grundbestimmtheit
_— 5193 —
(im Bilde also in dem Behaupten und Behalten des Petrus als des
obersten Hauptes) liegt die Kraft der römischen Kirche, aber auch
ihre innerste Schwäche, nachdem die Zeiten blos vorstellender, also
auch sich veränsserlichender Katholieität und Kinderwelt abgelaufen
waren, seitdem es Zeit geworden ist, das paulinische Christenthum,
das Christenthum des Geistes reiner, freier, erst wirklich durehzuführen.
Es liegt auch in jenem Wesen der römischen Kirche ihr Gericht,
im Besondern seit dem Beginne der Reformation, diesem weltgeschicht-
lichen Siege des paulinischen Prineips oder der neuen Offenbarung
des Auferstandenen in Paulus. Das alte petrinische Rom ist dafür
zu schwach, dagegen ohnmächtig, dabei unerträglich geworden. Der
Jesuitismus ist zwar nur dazu in die Welt getreten, um die germanische
Christenheit Pauli in die alten Kinderschuhe, unter den Hirten- oder,
Herrscherstab Petri zurückzuzwängen, wenn nicht mit Gewalt, doch
mit List, aber möglichst mit Gewalt, vorab unter listigem Zerspalten
der entgegenstehenden Kräfte. Aber keine Intrigue und Sophistik der
Welt, auch die von Herrn Stahl nicht, auch kein noch so gelin-
gendes Zwietrachtsäen, auch das „neu-Jutherische* Manöver wird nicht
im Stande sein, den alten römischen Völkerbann, die Herrschaft petri-
nisch-jüdischen Wesens in christlichen Formen, Formeln und Bildern
wieder herzustellen, oder nur das alterschwach gewordene Rom selbst
vor dem immer offener nahenden Ruin zu schützen.
Das Schicksal der hebräischen Urgemeinde, dieser ersten sein
wollenden Mutter- und Musterkirche für die erste Christenwelt, ist
merkwürdig vorbildlich geworden für die sein wollende Mutterkirche
der ökumenischen Christenheit. Wie Jerusalem endlich in die Hände
der Ungläubigen gekommen und fast bis zum Unsichtbarwerden er-
bleicht ist, so ist auch die römische Kirche, bei ihrem Versuch, auch
weltlich die Herrschaft über die abendländische Christenwelt zu haben,
schon vom 13. Jahrhundert an immer mehr, endlich in der Gegenwart
so sehr in die Gewalt der Welt- und eben der Westmächte gekom-
men, dass in mehr als einer Hinsicht die Parallele der „heiligen
Stadt“ mit der allerersten heiligen Stadt, mit dem alten, armen Jerusa-
lem sich immer trauriger vollzieht.
Ein erstes Wetterleuchten des endlichen Gerichtes über die stolze
Roma, welche die Apokalypse (c. 17 fg.) so geschichtstreu und so
ahnungsreich auch für ihre christliche Erneuerung geschildert hat
gewahren wir schon im Anfang des dritten Jahrhunderts. Schon da
Wissenschaftliche Monatsschrift, 34
/
zeigte sich die judenchristliche Kraft und Zähigkeit der römischen
Gemeinde als ihre prineipielle Schwäche; sogar selbstbewusst
wurde sie es. Es entwickelte sich vom Ende des zweiten Jahr-
hunderts an eine Krisis innerhalb der römischen Gemeinde aus ihrer
steinern oder petrinisch-jüdischen Grundbestimmtheit, welche seit 218
vor Chr. zu einem offnen Confliet führte, einer ersten Spaltung, die
in der That auch etwas Vorbildliches hat für die spätere grosse,
wirklich weltumfassend gewordene Kirchenspaltung. Dieser erste Con-
fliet war so schroff, so kritisch, so andauernd zugleich und zugleich
so beschämend für die Kirche, welche die Mustergemeinde, eine
Petrus- oder felsenfeste Trägerin unveränderlicher, wnbefleckter Ortho-
doxie sein wollte, dass man bemüht gewesen ist, jede Erinnerung
an diesen ersten Abfall, dies erste Zerfallen der „heiligen“ Gemeinde
aus der Welt zu bringen. Das ist die Bedeutung der Hippoly-
tus-Sache, und, das scheint immer noch hinzuzusetzen, Hippolytus-
Frage. Eben daran, dass Rom so erfolgreich jede Kunde von jenem
so tief ecompromittirenden Confliete zu unterdrücken gewusst, im Be-
sondern das Haupt-Document dieses ofinen Schadens aus der Welt zu
bringen vermocht hat, liegt es, dass erst wir durch einen merkwürdi-
gen. Fund davon Kenntniss erhalten haben, aber auch dann noch so
fragmentarisch, dass selbst mit einer weniger apologetisch befangenen,
einer kritischen Untersuchung jenes so dunkel gewordenen Gebietes
noch nicht aller Zweifel sich sofort aufgehoben hat. Meine Schrift *),
welche sich unabwendbar sowohl gegen Döllinger's zwar sehr glän-
zendes, doch papistisch apologetisches und sehr irre leitendes Werk **),
als gegen Bunsen’s zwar ‘sehr wohl gemeintes, geistvolles und anre-
gendes, aber rationell-apologetisches und geschichtlich nur unter grosser
Vorsicht brauchbares Buch***) richten musste, auch gar nicht ein-
stimmen konnte in den Jubelruf, dass nun endlich die Kritik Baur's
in ihren Grundfesten erschüttert sei, vielmehr, bei allem nothwendigen
Gegensatz gegen Baur auch in dieser speciellen Angelegenheit, die
kritische Ansicht vom Gange der urchristlichen Entwicklung, im Be-
sondern auch von der Entstehung unseres Logos-Evangeliums nur
sehr merkwürdig und neu bestätigt fand — eine solche Schrift konnte
*) Hippolytus und die römischen Zeitgenossen, oder die Philosophumena
und die verwandten Schriften kritisch untersucht. Zürich 1855.
*#*) Hippolytus und Callistus, oder die römische Kirche im Anfang des
dritten Jahrhunderts. Regensburg 1853.
*##) Hippolytus und seine Zeit. London 1851—1853. 2 Bde. Deutsch:
Leipzig. 1853—1854.
\
von vornherein nur auf eine ziemlich weitgreifende Missstimmung rechnen.
Wenn sie dessen ungeachtet auch bei den darüber Unzufriedenen,
dass die Sache nicht schon von Bunsen erledigt sein und eine so ganz
andere Wendung nehmen sollte, die Anerkennung gefunden hat, in
gar Manchem wirklichen Fortschritt angebahnt zu haben, so ist das
ja anerkennend genug. Eine ernstere Revision der ganzen bisherigen
Verhandlung (in der protestantischen Kirchenzeitung) hat mir factisch auch
die Palme zuerkannt, dass nun, nun erst eine endgiltige Entschei-
dung herbeigeführt sei. Aber ist das nicht zu früh? Das literarische
Centralblatt (Hilgenfeld) hat Ja in einer dafür wirklich sehr einge-
henden und wahrlich ebensoviel Sehein erregenden Anzeige auch
diese kritischere Begründung der Hippolytus-Ansicht entschieden be-
stritten. Was kann da die Anerkennung in noch so vielem Einzelnen
helfen? Eine wirklich geschichtliche Tendenz wird also nicht ruhen
können, als bis es auch auf diesem einen Fragmenten-Boden zu mehr
als Wahrscheinlichem, zu wirklichem Licht, zu zweifelloser Evidenz
gekommen ist, und wäre es in den bescheidensten Grenzen. Dazu
aber glaube ich, führt eine nähere Prüfung jenes Versuches, die Sache
noch einmal auf den Kopf zu stellen, wirklich.
Ich darf bei dieser Beleuchtung wohl meine Schrift voraussetzen,
werde aber hier doch, für einen weiteren Kreis, ein allgemeineres
Verständniss der Sache anzubahnen haben.
a EEE
Mit der Gnosis hatte Rom auch das Judenchristliche Extrem, den
ganz stockig gewordenen Ebionitismus aufgegeben. Dazu gehörte
im Besondern auch dessen dogmatiseher Satz, welcher die Göttlich-
keit Christi so sehr beeinträchtigt, dass Jesus als Josephs Sohn der
Sohn Davids und so der allein Jsrael angehörende Messias sei. Die
höhere, zuerst vom Lukas-Evangelium dargestellte Auffassung Jesu
Christi als des Sohnes Gottes, des Gottes, der der Juden wie der
Heiden gleicher Heiland ist, unmittelbar, also aus Maria der Jungfrau,
drang immer allgemeiner durch. Aber um so zäher sperrte man sich
gegen die noch höhere und tiefere Auffassung des Göttlichen in Christo,
welche von geistvollen Männern seit 140 u. Z., wie von Justinus
Martyr und dem geistvollen Unbekannten ad Diognetum vorge-
tragen, in dem Evangelium der wahren Gnosis aber sowohl gegen
Markion’s spiritualistische Uebertreibung als gegen des Hebräer-Evan-
geliums renitente Beschränktheit durchgeführt war. Christus ist nicht,
wie jenes Evangelium durchführte, ein rein überirdisches, fleischloses,
— 5238 —
doketisches Wesen, noch so beschränkt zu fassen als Joseph’s und
David’s Sohn, auch nicht als der in der Taufe erst mit Gottes Geist
Erfüllte (Mare.), auch nicht blos als einer Jungfrau Sohn (Luc. Math.):
sondern er ist das schöpferische Wort Gottes selbst, der Aoyos, der
von Ewigkeit in Gottes eignem Wesen liegt, aber persönlich von
Grund aus, so selbst ein eos, der dann (gleichviel wie) Mensch
oder Fleisch wird. In diesem Aoyog T0CS 10V ecv jedoch, als einem
JEög Ev oder 090 to) Hei fand der alte israelitische Sinn eine neue
Gnosis, neuen, nur verkappten Dualismus und reagirte auch gegen
diese Emanationslehre beharrlich. Die nackte Einheit und Einerleiheit
des einen Gottes (Israels), dessen Alleinherrlichkeit (uovaexi«) sollte
und musste festgehalten werden.
Man versuchte es (unter Vietor von Rom 180—200 v. Chr.)
erst so, dass Christus allerdings von der Jungfrau geboren oder auch,
durch göttliche Geistesbegabung unendlich ausgezeichnet sei, aber
doch ein blos menschliches Wesen. So hätten ja auch, sagte Theodotus
und ein Artemon, die Apostel selbst gelehrt. Aber Christus ein blosser
Mensch (wılcs av gwreos)? Unmöglich, antwortete der christliche
Sinn, der so die Versöhnung mit Gott bedroht sah. Weg mit euch,
die ihr die Göttlichkeit Christi leugnet, rief der christliche Bischof
(Vietor) und excommunieirte sie. Sie versuchten dann mit List unter
dem neuen Bischofe Zephyrinus (200—218) sich geltend zu machen,
sowohl mit Textfälschungen als mit sonstiger Intrigue. Eine Schrift
gegen diese Theodotianer zeigte ihre verschiedenen Texte als „ein
kleines Labyrinth“ auf, und Zephyrinus war ebensobald mit ihnen
fertig. Nun versuchte man wesentlich dasselbe neu: Gott habe sich
allerdings selbst offenbart, aber wie schon in Melchisedek, den Abra-
ham als den Höhern erkannte; so auch in Jesus. So lehrte ein zweiter
Theodotus (der Wechsler). Aber der endliche Refrän der neuen Lehr-
weise, J. Chr. ein wıLög Ev IOWITOS, gleich einem Melchisedek, wenn
nicht dem noch nachstehend, führte ebenso baldige Ausschliessung
herbei. Mit den Theodoten oder Artemon noch irgend zusammen-
treffen, hiess fortan verloren sein: die Göttlichkeit Christi war und
blieb absolutes Postulat.
Aber die Alleinherrlichkeit, die Einheit Gottes ebenso, und was
man nicht deistisch erreichen konnte, das versuchte das judenchrist-
liche Bedürfniss nun pantheistiseh. Gott ist ein einiges, ewiges
Wesen, aber es ist darin Sein vom Werden wohl zu unterscheiden.
Derselbe Gott ist unsichtbar, so lange er will, aber er erscheint auch,
so bald er will; er ist ungeboren aber auch geboren, so bald die
— 529 —
Zeit erfüllt ist; er ist leidenlos und unsterblich, so lange er nicht in
die Zeitlichkeit eingegangen ist; wenn aber die Zeit des Leidens ge-
kommen ist, dann leidet und stirbt er auch. Kurz, der Vater ist
auch Sohn, nur nach den verschiedenen Zeiten und Fällen hat er auch
verschiedene Namen; der Vater selbst leidet und stirbt, wenn das auch vom
Sohne ausgesagt wird. So lehrte No@tus von Smyrna, und seine Lehre fand
nirgends fruchtbareren Boden als in Rom, wohin sie Epigonus und
Praxeas (gegen 200 n. Chr.) brachten. Hier fand sie solchen Anklang,
dass sie nicht blos von einem Cleomenes forterhalten, sondern vom
Bischofe Zephyrinus selbst zugegeben, ja gepflegt wurde, der nun
bald selbst laut erklärte: „ich kenne einen Gott, Chr. J., und ausser
ihm keinen andern, der geboren sei und gelitten habe.* Er gab also
keinen Auyog rrgög zov FE0V, keinen Fe0g neben dem Einen Gott zu,
mochte auch ein Irenäus diese Logoslehre [des Evangeliums] oder
neue Art Gmosis sich angeeignet und ausgebildet haben.
Vergebens war es, dass ein gelehrter, treuer Jünger des Irenäus
zu Rom, Hippolytus, mit allem Eifer die Logoslehre des höchsten
Evangeliums gegen solche Lehre vertheidigte, welche nun Gottes
Wesen, um die Einheit zu erhalten, verflüchtigte. Vergebens war
es, dass er in einem besondern Tractate diese Noötianer mit den alten
Monarchianern in eine Kategorie Alles gefährdender Irrlehre stellte.
Und ebenso erfolglos war es, dass derselbe Irenäus-Jünger zu Rom
‚diesen Pantheismus als den Gipfelpunkt aller Häresis von Anfang an
erklärte, d. h. den Ketzer-Index seines Meisters in der Weise kurz
recapitulirte, aber auch erweiterte, dass an’s Ende aller dieser Häre-
sen (32 zählte er nach Photius auf) die ruchloseste aller gesetzt
wurde, die gefährlichste auch, weil sie in Rom so in Schwang
ging, und die höchste Protection fand.*)
Zu den feurigsten Anhängern der populären Lehre gehörte ein
junger Römer, Sabellius; ihr gewandtester Vertheidiger war aber einer
der merkwürdigsten und interessantesten Männer Roms. — Selave
geboren, KaAlıorog genannt, dann von seinem (obwohl christlichen)
Herrn gezwungen, Wechselbank zu halten, von Juden dabei betrogen
und zum Banquerot gebracht; in der Verzweiflung seine treulosen
Debitoren selbst in der Synagoge mahnend, aber nun gemisshandelt
und vor Gericht gestellt als Christ wie als Störer der Culte; seines
Christenglaubens an den „einen Gott, Jesum Christum“ freudig ge-
ständig, darauf zu den Bergwerken deportirt, endlich durch eine viel-
—
®) Vgl. über die Fragmente von Beidem m. Schr. $. 82 fg. 133 fg.
— 530 —
vermögende (christliche) „Freundin“ des Commodus, Mareia, mit
andern Märtyrern befreit. Nun nahm sich der Clerus seiner an,
bildete den geisteskräftigen Mann selbst zum Cleriker aus, und er
brachte es bald dahin, zu avaneiren, endlich die rechte Hand des
Bischofes (Zephyrinus) zu werden, um so mehr, als er die Lehre von
dem „einen Gott, J. Chr.“ so trefflich selbst gegen den gelehrten
Jünger eines Irenäus zu vertheidigen wusste. Dieser blieb in Rom
in der grössten Minderheit, und musste es geschehen lassen, dass
endlich sein Hauptgegner, dieser Callistus, oder wie man das in Rom
aussprach, Callixtus, nach seines Zephyrinus’ Tod auf den bischöflichen
Thron erhoben wurie.
Doch ganz vergeblich waren des Gegners unablässige Angriffe
auf die Noötianer auch nicht gewesen. Wie? Der Vater selbst sollte
gelitten haben, der allmächtige Gott „also mit Nägeln an’s Kreuz
geheftet, von der Lanze durchstochen, in’s Grab gelegt?* Der Un-
sterbliche sollte gestorben sein? Da hören ja die beiden ersten
Glaubensartikel der allgemeinen Kirche „ich glaube an Gott den
Vater und an seinen Sohn, geboren, gelitten, begraben“ als solehe
völlig auf; und ist der Vater selbst gestorben, wäre dieser Wahnsinn
Wahrheit, oder hätte er sich selbst auferweckt, wie man in der Noth
sagte, so hiesse das ja so viel, er sei in der That nieht gestorben,
damit aber wäre der Anker aller Frlösung durch den Opfer-Tod
Christi Jesu aufgehoben. Dem konnte auch das judenchristliche, weil
doch christliche Bewusstsein sich nicht verschliessen; das „pater passus
est‘“ ward immer unerträglicher dafür, und Callistus selbst konnte dem
Andringen nicht widerstehen. Ein erklärter, ein so schreiender Patro-
passianismus wie der noötianische konnte als solcher nicht mehr zuge-
geben werden, und als Sabellius steif an der Consequenz der beliebten
Lehre festhielt, sah sich der Bischof genöthigt, den wenn auch guten
Freund auszuschliessen, worauf Sabellius sich von Rom überhaupt
weg, nach der Pentapolis Libyens begab, um nun in neuer, eigner,
der uns schon früher bekannten Weise seinen, wie wir nun wissen,
römischen Monarchianismus zu behaupten. *)
Aber war auch der allzu grobe, der ausdrückliche Patropassianis-
mus für immer verworfen, Callixtus selbst hatte einen neuen Weg
gefunden, das römisch-jüdische Postulat von der Einerleiheit Gottes
und das christliche von der Göttlichkeit Christi zu vermitteln. Die
Noötianer hatten darin gefehlt, die Logos-Idee des vierten Evangeliums
*) Vgl. m. Schr. S. 128 tg.
— 531 —
ganz zur Seite zu lassen, dabei aber doch dessen Satz: „ich und
der Vater sind eins“ sich bestens anzueignen. Ja, sagte Callixtus,
der Logos ist &v. @gyn und Heog [er erklärte 6 Ieog und liess das
7008 10v Jecy exegetisch fallen], aber dieser ewige Logos ist der
ewige Gott selbst, denn dieser ist ein geistiges Wesen [rvecue),
der eine, unzertheilbare Gott, der Alles durchdringt. Dieser ist nım
in der Jungfrau Fleisch geworden, so aber kein anderer neben dem
Vater, sondern der Vater ist als der Geist der Logos selbst, der
nur in der Jungfrau Fleisch annimmt. Der so geborene ist daher
wohl dem siehtbaren Sein nach oder als Mensch der Sohn, der Geist
aber in dem’ Sohne, dem Gekreuzigten, ist oder heisst mit Recht der
Vater. So haben wir denn wirklich eine Person (£v rg05wroo),
den einen Gott, durchgesetzt, und doch würde man mit allem Un-
recht sagen, der Vater hat gelitten. Nein, das Leiden gehört nur
dem Einen Wesen an, sofern es Mensch ist, oder Sohn heisst, und
man kann nur sagen, der Vater habe mitgelitten mit dem Sohne.
Vortrefflich, sagte das ganze christliche Rom, oder doch die
allgemeine Stimme. Nein, erwiederte der unermüdete Gegner alles
Noötianismus, das ist ja nichts als eine neue, nur gleissendere und
perfidere Auflage des alten Wesens. Schlau genug ist es, nur nicht
auszusprechen, pater passus est, aber verlangt denn das nicht diese
Lehre doch ehrlicher Weise? Sie ist aber nicht bloss verschmitzt, sie
ist auch unverständig; sie wirft mit Blasphemien gegen den Vater
wie gegen den Sohn um sich. Wird der allmächtige, unsterbliche
Gott nicht so für 10&.I17108 und Ivyzög erklärt? Und einen Sohn
giebt es auch für euch erst seit der Menschwerdung, gerade wie für
Theodotus. Das Sichtbare, der Mensch, soll der Sohn sein, der
Geist, „der Alles durchdringt* der Vater? Kommt das nicht auf das
längst Verruchte hinaus, der Mensch J. Chr. ist, wenn auch aus der
Jungfrau geboren, blosser Mensch, nur der Geist ist das Göttliche
in ihm? Der Vater wird blasphemirt [pantheistisch verflüchtigt], der
Sohn wird nur heuchlerisch so hoch gestellt, der „Eine Gott“ ge-
nannt, in der That auch nur blasphemirt [zum blossen Menschen
degradirt.. Hiergegen hilft auch nichts als meine Lehre, die rechte
Lehre des, Evangeliums vom ewigen, präexistenten „Logos bei Gott“,
einem 9&0g neben dem unendlichen Gott. Damit ist ja auch gar
keine Zweiheit gelehrt, denn Gott schafft ja diesen Gott aus sich
selbst, wie die Welt aus Nichts. *)
*) Das Nähere hinsichtlich dieser Lehr-Entwicklung s. in m. Schrift S. 116 £.
— 532 —
Keinesweges, antwortete der Bischof im Namen der allgemeinen
Stimme, das sind leere Ausflüchte: JiYeoi Eore [Zwei Götter lehrt
ihr], hinaus mit den verkappten, den offnen Gnostikern, geht hin,
wo die Valentinianer mit derselben Zertheilung des einen Gottes
auch sind. Der römische Irenäus ward exeommunieirt, aber ein treues
Häuflein hielt fest zu dem standhaften gelehrten Mann: er ward dessen
Bischof und blieb es der Mehrheit gegenüber, die er seinerseits nun
auch excommunicirte, länger als Callixtus. Denn schon 223 ging
dieser zu dem Kreise der Heiligen ein. Die Mehrheit hielt jedoch
an der nun einmal schon so lange, wie man dachte, von Anbeginn
überlieferten, von Callixtus so trefflich erläuterten Lehre von dem
einen Gott, J. Chr. fest, ausser dem es keinen andern gibt. Die
nachfolgenden Bischöfe Urbanus und Pontianus (223 bis 235) blieben
ihre entschiedenen Vertreter. So lange bestand die Kluft. Und immer
lauter wurde ohne Frage der Gonfliet; immer erbitterter und verbit-
terter wurde wenigstens der verschmähte, geschmähte, zu den Heiden
gesetzte Vertheidiger des ewigen Logos und seiues Evangeliums.
Heiden seid ihr, rief er endlich so laut als möglich, ihr und
euer nobler Callixtus an der Spitze! Alle Häresis ist von Grund aus
solches Heidenthum, beruht nur auf hellenischen Philosophumenis,
innerlichst auf Atheismus; die verruchteste, die noötianische Häresis,
die Callixtus nur nen aufgeputzt hat, speeiell auf Heraelits-Lehre, sie
geht Hand in Iland mit aller Häresis von Anfang an. Hier will
ich euch das des Breitern zeigen: Da sind die Philosophumena der
Griechen und der Barbaren (Lib. I—IV), und da habt ihr aus den
frischesten Quellen den Aufweis aller Häresis (£28yXog raorg aig&-
0E1wWg), wie sie nur Heidenlehre ist, (Lib. V—VIII), und hier schliess-
lich das Heidenthum eures Callixtus, dieses elenden Selaven und
Banquerouteurs, des so wohlfeil Confessor gewordenen blossen Ränke-
machers, des Heiden, des Atheisten. Da habt ihr auch den von mir
näher erforschten, von ihm gross gezogenen Judaisten-Anhang der
Elesaiten aufgedeckt, deren gotteslästerlich leichtes Sündenvergeben
und deren Haupt Alecibiades ohne jenen Hauptpfleger alles solchen
[judenchristlich-rationalistischen] Unwesens hier gar nieht so mächtig
hätte werden können [Lib. IX]. Hier endlich habt ihr ein kurzes
Resume aller sich blos christlich nennenden Gottlosigkeit von Anfang
an bis auf den schreiendsten Wahn, die Nostianer und Callixtus nebst
dem elesaitischen Juden-Zubehör! Und ist nun meine Lehre vom
Aoyog EvdıaFerog, der nach Gottes Willen dann auch ins Leben
tritt, und Aller Versöhner und Vorbild wird, nicht eine wahrhaft
—_— 533 —
christliche, die allein recht christliche? Kommt dazu Alle heran!
[Lib. X].
Das ist der Inhalt der merkwürdigen Schrift, welche, wie es
aus dem Contexte sich noch ergibt, den Titel führte „.... Philoso-
phumena oder zehn Bücher Widerlegung aller Ketzerei“. Sie war
uns früher nur einem dürftigen Fragmente, dem kurzen Ueberblicke der
eigentlich griechischen Philosophumena nach, welches den Anfang
(das 1. Buch) bildete, in einigen eodd. erhalten geblieben. Im Athos-
Kloster aber ist endlich (1847) der grösste Theil, von der Mitte des
Lib. IV an bis Lib. X aufgefunden worden, zwar auch am Schlusse
etwas, aber unbedeutend defeet, auch*mit den ärgsten Schreiber-Ver-
sehen, die sich selbst aufs Fehlen einzelner Zeilen erstrecken. In
seiner Totalität jedoch ist der kostbare Schatz immer klarer, auch text-
reiner geworden*). Fragment aber ist das Werk auch so, darum auch
ohne Haupttitel und ohne den Namen des Verfassers, so dass wir
in dieser Hinsicht lediglich auf Vermuthung, also natürlicherweise
auf wie viel Streit angewiesen sind.
An dem blossen Namen läge freilich nieht viel, wenn uns nicht
zugleich jede nähere Bestimmung fehlte, zunächst hinsichtlich des
Ausganges des merkwürdigen Conflietes, über den alle frühere Kir-
chengeschichte schweigt mit Ausnahme vereinzelter, so gar nicht ver-
ständlich gewesener Momente (von Hippolyt als einem Valentinianer,
von Callixtus als einem Störer der h. Trinität).
Wir wissen nur so viel, dass das christliche Rom eben die
Lehre des Irenäus-Jünger, die es von 218 an bis nach 223 excom-
munieirte, seit 250 n. Chr. selbst als die allein orthodoxe proela-
mirt hat. Wesentlich dieselbe monarchianisch-pantheistische Lehre
von einer göttlichen Person (&v teoswreov), welcher Rom auf das ent-
schiedenste seit 200 bis nach 223 gehuldigt hat, ist später von ihm
als Sabellianismus oder als satanisch verdammt worden. Der römische
Vater der rechten Logoslehre (und so auch Trinitätslehre erster Form)
ist von der Gemeinde, welche die Trägerin unveränderlicher Orthodoxie
sein will, dauernd verketzert und verworfen gewesen. Das
Logos-Evangelium ist weit entfernt, laut Irenäus schon am Ende des
2. Jahrhunderts allgemein anerkannt zu sein, vielmehr nur bei den
geistvollern christlichen Gelehrten durchgedrungen, war als ein neues,
der Apokalypse widersprechendes von betont altchristlicher Frömmig-
keit alsbald und dauernd verworfen, aber selbst von der Mehrheit
*) Besonders in der neuen trefflichen Ausgabe von Duncker und dem zu
früh abgeschiedenen, scharfsinnigen Schneidewin. Göttingen 1855 I
+
= ME
der römischen Gemeinde seine eigentliche Lehre von dem persönlich
präexistenten A0y0g.J208 zc908 zov $e0v nicht anerkannt, vielmehr in
ihrem treuesten Bekenner und Vertheidiger excommunieirt. Dies
bleibt, mag der Philosophumenos sonst näher zu bestimmen sein, wie
er wolle. Döllinger selbst kaun sieh nicht verhehlen, dass das Johan-
nes-Evangelium in dem ganzen Streit als ein sehr neues erscheint
(5. 301 fg.), und seine Versuche, sein Rom in jener Periode noch sonst
zu schützen, sind noch unwidersprochen als Fälschungen nachgewiesen. *)
Wie lange aber diese erste Spaltung in Rom gedauert hat, können
wir nicht eher bestimmen, als bis wir den von Rom in so krassem
innerm Widerspruch als Ketzer erklärten Vater der spätern Ortho-
doxie persönlicher kennen gelernt haben.
Aber ohne dies wissen wir auch nicht den nähern Zusammenhang, in
welchem dieser so kritische Confliet mit der sonstigen kirchlichen
Bewegung jener Zeit gestanden hat. Doch die nähere Bestimmung
eben dieser wird auch am sichersten zu einer bestimmten’ Entscheidung
führen,
Der christologische Kampf zwischen den Pflegern der Logoslehre
und den Anhängern des (wesentlich judenchristlich beeiferten) Monarchia-
nismus erst deistischer, dann selbst pantheistischer Form hatte zwar
sein eignes Gebiet, war aber keineswegs von der praktisch-kirchlichen
Fntwicklung getrennt. Geistig eigentlich machtlos gegen die Gnosis
reagirte das vulgär judenchristliche Bewusstsein und Bedürfniss dage-
gen in praktischer Form durch den Busse-Ruf neuer Propheten und
Prophetinnen (des Montanus u. s. f.). Die von der Gmnosis geistig
verflüchtigte altchristliche Parusie-Erwartung, welche von der Apoka-
Iypsis Joannis chiliastisch näher bestimmt war, wurde mit neuer
ünergie belebt, die Nähe des Gerichts laut verkündigt, und um so
entschiedenere Reinigung der Kirche von (gnostischem) Weltleben und
aller darin eingerissenen Laxheit gefodert. Rein sollte die Kirche
werden von allem Fleischesleben, die Ehe wurde missrathen. Wie-
derverheirathen verdammt, strengeres und mehr Fasten verlangt, jede
Verzeihung aber von Todsünden, soleher Ablass, laut verworfen.
Dieser (neu-judaistische) Bussruf seit e. 150 n. Chr. fand grossen An-
klang, namentlich auch in der antignostisch entschiedenen Haupt-
gemeinde, wo schon eine neue, durchgängig judenchristliche Apokalypse
*) Vgl. m. Schrift $. 124 tg,
_— 55 —
(der Hirt des Hermas e. 130) vorgearbeitet hatte. Doch fand diese
neu auflebende, reactionäre Frömmigkeit der neuen Propbeten an
einem andern Element desselben judenchristlichen. Sauer-
teigs, welches in Rom besondere Pflege fand, an dem hierarchischen,
immer bewussteren Gegensatz. Die neuen Propheten wollten sich über
den Clerus der Presbytern und des darüber allmählig selbst monarchisch
gebietenden ersten Presbyteros oder Episcopus erheben; ihre aristo-
kratisch-fromme Anmassung leistete mehr der Anarchie, als einer
geordneten monarchischen Form Vorschub, welche in Rom gleich-
zeitig mit dem eifrigen Behaupten der göttlichen monar-
chia und von demselben judaistischen Bestreben aus ganz besonders
nach Geltung rang. So wurden denn, wie es scheint, schon unter
Victor, diese (anarchischen) Montanisten, sagte man, diese herrsch-
süchtigen „Frömmler“ als Secte ausgeschieden. Doch auch so blieben
sie in Rom noch rührig genug, so lebendig, dass sie über die christo-
logische Tagesfrage selbst in Parteien zerfielen.
Von Anfang an scheint der Montanismus gleich allem Judaismus
die Einheit des Gottes (Israels und aller Propheten) streng festgehal-
ten zu haben, und am wenigsten waren diese Frommen geneigt, das
neue Evangelium zuzugeben, welches sich unter die Autorität dessel-
ben Johannes gestellt hatte, dessen Apokalypsis ihre erste Schrift-
autorität war. Im Gegentheil, sie sahen bald, gegen wen dies Lo-
gos-Evangelium mit seinem Geistig-Denten der Parusie [gegen alle
chiliastische Hoffnung] und seiner Lehre von dem Paraclet, der von
Anfang an durch den Auferstandenen gegeben sei [nicht erst den
neuen Propheten], auch der ganzen Kirche, allen Jüngern [nicht blos
einzelnen Bevorzugten], vorzugsweis gerichtet sei. Sie verwarfen es
alsbald als unmöglich von dem Johannes der Apokalypse stam-
mend, als eine halb-gnostische Neuerung. *#) Das waren die Ent-
schiedensten unter den „Neu-Frommen.“ An ihrer Spitze stand in
Rom Aeschines. Ein anderer, geistvollerer Theil derselben dagegen
fand sich von der tiefsinnigen Logoslehre angezogen, ohne desshalb
den Chiliasmus und die verlangte Zuchtstrenge, auch ihre sectirerische
Marotte aufzugeben. An ihrer Spitze stand zu Rom ein Prochus.
Aber auch in dem Gemeindeverbande gäb es eine nicht geringe
Zahl, welche zwar von den Fasten-Neuerungen und den Propheten-
Anmassungen, die sich nicht blos über die kirchliche Ordnung, son-
dern selbst über die Apostel zu erheben anfingen, nichts wissen
*) Vgl. m. Schrift $. 110 fg.
D
.
4
— 536 —
wollten, aber doch die altcehristliche Parusie-Erwartung, auch in chiliasti-
scher Form festhielten und die strenge Buss-Diseiplin vollkommen
nöthig fanden. Solchem katholischen, so zu sagen halbem Montanis-
mus war Irenäus zugethan, dann in Rom (nach Steph. Gobarus aus-
drücklicher Angabe) jener Jünger des Irenäus, Hippolytus, in Carthago
immer eifriger und gegen die laxe Buss-Diseiplin des römischen Bi-
schofes (Zephyrinus) immer lauter eifernd Tertullian. Alle diese
wirklich frommen, sittenstrengern Männer waren auch zugleich eifrige
Anhänger der Logoslehre. Sie vertheidigten daher sowohl gegen
Gnosis und Monarchianer als gegen die neuen Propheten-Anhänger
entschieden das neue Evangelium „nach Johannes,“ hielten aber gleich
fest an der alten Apokalypsis „des Johannes“. Was Irenäus und
Tertullian factisch auf's eifrigste gethan hatten, that Hippolyt aus-
drücklich in einer besondern Schrift „für das Ev. nach Johannes und
die Apokalypse.* Beides sollte sich ganz wohl vereinigen lassen,
dieselbe apostolische Autorität haben. So nahe standen sie den wirk-
lichen Montanisten in der Weise eines Proclus.
Um so eifrigern Widerspruch fand Proclus an einem scharfen
Gegner chiliastischer und apokalyptischer Ueberschwenglichkeit, einem
Manne, den Eusebius ganz besonders lieb gewonnen hat, auf den er
immer wieder zurückkommt, an dem Caius von Rom, welcher in einem
scharfgeschnittenen „Dialog“ gegen jenen Proclus auftrat. Eusebius
findet darin einen ernsten, tüchtigen Vorkämpfer gegen den Chiliasmus,
und so gegen die, allen Origenianern sehr missliebige Apokalypse.
Caius wollte sie geistig gedeutet haben, war aber so dem lauten
Verwerfen nahe genug. Dieser Kampf nun war den halben Montani-
sten so schroff, selbst so bedenklich erschienen, dass Hippolytus
nicht anstand, nun auch „gegen Caius einige capita* zu richten,
wie wir durch Ebed Jesu wissen.
Das war die Lage, die Entzweiung im römischen Lager auch der
praktischen Seite nach. Nur in einem Punete war ganz Rom einig,
nämlich gegenüber der orientalischen Christenheit. Auf je festerem
judenchristlichen Grunde man sich hier wusste, um so freier durfte
man auch speeiäsch-christlichem Wesen gegen verstocktes, ungläubiges
Judenthum wenigstens in der Sitte Rechnung tragen. Mit den Juden
sollte nach römischer Sitte das Passah nicht begangen werden und
völlig einig war man in Verwerfung der steif mit den Juden den
quartus decimus (des Nisan) feiernden Idioten. Auch in dieser Be-
ziehung ragte jener Jünger des Irenäus hervor, indem er einen
Öster-Kanon entwarf, eine Art hundertjährigen Kalender, der längere
Zeit gebraucht wurde, dann aber doch als fehlerhaft sich erwies.
Diesem Kanon gab er eine Kronik bei, die ebenfalls Hippolyt's Namen
zu einem gefeierten gemacht hat. Endlich war er auch als Exeget
des Alten Testamentes und als Pfleger kirchlicher Ordnungen (canones
ecelesiastici) besonders in der orientalischen Kirche in hohem Ansehen,
auch schon desshalh von Bunsen längst aufmerksamer beachtet. *)
Das ist die sicher verbürgte Kunde über die römische Kirche
jener kritischen Zeit und ihre hervorragendsten Männer. Zweifelhafter
oder reine Fiction sind spätere Angaben über sie, über Hippolytus
vor Allem.
Eine im 16. Jahrhundert zu Rom aufgefundene Statue feiert ihn
als Verfasser des Osterkanons, der notorisch (laut Eusebius und son-
stiger Kunde) ihm angehört. Derselbe ist an der Kathedra des Kir-
chenmannes vollständig eingegraben, daneben ein (fragmentarisch ge-
wordener) Index von Schriften, von denen die meisten demselben
Hippolytus auch sonst verbürgter Weise angehören. Aber die Säule
ist grossentheils Renovation und das Ganze des Monumentes von jeher
ein völliges Räthsel, also ziemlich bedenklich gewesen.
Ausserdem gibt es noch eine ganze Reihe von Schriften späterer
. Jahrhunderte, welche evident nur mit dem durch so Vieles so glän-
zend gewordenen Namen geschmückt sind. Haarsträubend aber ist
die Legende oder vielmehr das Legendengewirr, welches sich über
das Leben und das Märtyrium des Mannes verbreitet, indem er in
der verschiedensten Weise und an den verschiedensten Orten zu Tod
gebracht sein soll, nach den meisten Angaben in Portus bei Rom,
aber auch in Ostia, selbst in Antiochien, so dass bisher den Kirchen-
und Dogmenhistoriker ein halbes Grausen erfasste, wenn er auf den
vor lauter Heiligkeit so halb gespenstisch gewordenen „Vater“ stiess.
Doch hat schon früher Alles darauf hingedeutet, dass Hippolytus
nach Rom selbst oder doch in dessen nächste Nähe gehört, wie denn
auch das „Büchlein gegen alle Häresen“ von ihm, welches mit den
Noötianern schliesst, deutlichst auf Rom hinweist, ganz wie die Statue
selbst, gleichviel von welcher Art. Auch die Zeit seiner Blüthe
ist von Eusebius wie sonst einmüthigst gegen 220 u. Z. bestimmt.
Er ist sicher Zeitgenosse des Origenes.
ZI
*) Der zweite Band von Bunsen’s Hippolyt bewegt sich fast nur auf die-
sem Gebiete der alten Kirchenordnungen und Liturgieen.
— 398 —
Welehes ist nun sein Verhältniss zu jenem Confliet in der römi-
schen Kirche derselben Zeit? Oder wer ist der römische Christ, der
so laute Anklage gegen die Mehrheit seiner Kirche erhebt, dieser
Vater der (spätern) Orthodoxie, der so andauernd von demselben Rom
verketzert war?
Es lässt sich nur an jene der beiden namhaften römischen Kir-
chenlehrer in dieser Zeit denken; man hat zwischen Caius und Hip-
polytus zu wählen. Die Sache scheint aber noch einfacher. Der
Philosophumenos verweist am Schlusse seines Werkes (Lib. X) auf
seine Schrift „Ueber das Wesen des Alls“. Eine solehe wird auf dem
Sehriften-Index der Statue dem Verfasser des Osterkanons zugeschrie-
ben: also, es schliesst sich kinderleicht, der so räthselhaft gewesene
Hippolytus ist dieser so schnöde verketzert gewesene Bestreiter aller
Härese. Wie Vieles wird so auch alsbald klar. Je mehr er miss-
kannt war, um so höher hat ihn sein kleiner Anhang gefeiert, so
auch mit dieser, in jener Zeit sonst so seltsamen Statue. Die älteste
aller Traditionen aber über das Martyrium eines Hippolytus ist. die
Angabe des (von Mommsen herausgegebenen) Chronographen von 354,
„235 n. Chr. ist der Bischof Pontianus und ein Presbyter Hypolitus
in die sardinischen Bergwerke relegirt; dort hat sich Pontianus seiner
Amtswürde entkleidet (diseinetus est), dort sind beide Märtyrer ge-
worden.“ Zugleich erfahren wir hier, und die sonstige älteste Kunde
bestätigt es, beide sind auch zusammen in Rom bestattet worden.
Diess zusammen scheint nun sein völliges Lieht zu erhalten. Der
Chronograph kann natürlich nur den Einen, den legitimen Bischof
als solchen anerkennen, den Gegenbischof nur nach seiner Presbyter-
Würde bezeichnen. Es werden aber die Häupter beider sich aus-
schliessenden Parteien, die denn wahrscheinlich auch thätlich an einander
geriethen, von dem Kaiser (Alexander Severus 222—235) endlich,
um Ruhe zu bekommen, gerade zu dieser Strafe verurtheilt, in die
Bergwerke verwiesen sein. Dort haben sie sich versöhnt; Pontianus
legte seinen Anspruch auf die bischöfliche Würde ab, von Hippolytus
ist dasselbe zu erwarten. Die Spaltung wird also hiermit, mit dem
Martyrium der beiden Gegner 235 ihr Ende gefunden haben. Die
offne Spaltung hat von 218 bis235.n. Chr. gedauert, (im Keim
und glimmend sogar ein ganzes Drittel-Jahrhundert von 200
bis 235). Darauf hinaus kommt die scharfsinnige Untersuchung
Döllinger's über den Kern der so übermannichfaltig gewordenen Le-
genden über den h. Hippolyt. Er stand denn auch nicht an, auf
Grund der neu entdeckten Quelle, welche erst den Schlüssel zum
a
u a
Durehdringen dieses Labyrinthes darbietet, allen sonstigen Legenden-
Kram als solchen zu verwerfen, wie ich denn glaube gefunden zu
haben, dass diese ganze Märtyrer-Mythologie wesentliche Erneuerung der
antiken (auch italischen) Hippolytus-Mythe ist, was sich bis in’s Detail
verfolgen lässt.
Aber so fruchtbar und anziehend, so bestechend Alles dieses
sein mag, es ruht da Alles doch auf der Annahme, dass gerade
Hippolytus und kein Anderer jener in den Philosophumenis zu uns
redende Gegenbischof sei. Und worauf stützte man diese? Auf eine
Statue von zweifelhaftem Ursprung. Auf einen Schriftentitel obendrein,
der ja von Photius so bestimmt, als alle frühern Vertheidiger der
Hippolytus-Ansicht selbst erklärt haben, gerade dem Gegner des
Hippolytus, dem Caius zugeschrieben ist, freilich von Andern auch
noch Andern. Jedenfalls war sie also anonym herausgegeben; und
kann sie nicht, fragt Baur, zur grössern Verherrlichung des zu feiern-
den Mannes ihm nur eben so beigelegt sein? Ja, wären nicht selbst
mehrere Schriften ähnlich apologetischen Inhaltes über denselben Ge-
genstand denkbar? Wie kann man nun so Vieles und Eingreifendes
auf dieses eine, mehr als zweifelhafte Moment gründen ? — Es kommt
aber noch mehr Bedenkeu hinzu. Photius erwähnt eine zweite Schrift,
die demselben Caius angehören soll, und die ganz auf unsere Philoso-
phumena zu gehen scheint. Es war eine Ketzerbestreitung (wie diese)
und eitirte am Schlusse jenes Büchlein „Ueber das All“ (ganz wie
diese); der gelehrte Bibliothekar nennt sie zwar z0V Aaßügıvdor,
aber beginnt nicht das Schlussbuch unserer Philosophumena mit eben
diesen Worten Tov Außugıvdor (Wr «ig&oewv dıeggnäavres)? Wie
ganz vergeblich und nichtig haben nun die Hippolytus-Freunde diese
gleichfalls dem Caius beigelegte Schrift zu einer andern machen
wollen, indem sie dieselbe bald mit dem (ganz andern) „Kleinen
Labyrinth“ (gegen die Theodote) verwechselt, oder zu noch Anderm, noch
weniger Möglichem gestempelt haben, um von den speciell confusen
Behauptungen Döllinger's über diese Schrift wie über Caius selbst
nicht mehr zu reden, dem er sogar die durch Alles einleuchtende
Eigenschaft als Römer hat entziehen wollen, um seinen Hypothesenbau
davor einigermassen sicher zu stellen.
Endlich scheint ja auch der älteste aller direeten Zeugen für das
Dasein der Philosophumena, Theodoret, aufs bestimmteste gegen den
hippolytischen Ursprung derselben einzutreten. Er benutzt sie wieder-
holt, im Besondern auch über die dualistische Lehre des Hermogenes
und über die Elesaiten, und wen citirt er dabei? ‘Nicht den Hippolytus,
— 540 —
sondern — den Origines, denselben, dem man von jeher, zwar irrig
aber doch zuversichtlichst Lib. I. der Philosophumena zugeschrieben
hat, wie die Schreiber unseres Cod. das Gleiche beim Lib. X an-
merken. T'heodoret scheint aber hiermit um so mehr gegen Hippolytus zu
zeugen, als er ja dessen Schriften sonst sehr wohl kennt. Welch
verwirrte und ineorreete Einwendungen aber sind es, die Döllinger,
gegen jene Erinnerungen Baur’s, und wie hochfahrend zugleich, auf-
geboten hat, um seine Hypothesen nicht zusammenfallen zu sehen!
Wie hat anderseits Bunsen den, wie er selbst fühlt, durch die
Statue allein nimmer erreichbaren Beweis zu ersetzen gesucht? Durch
die gewagtesten, die unmöglichsten Hypothesen. „Das Büchlein gegen
die 32 Häresen“, welches Photius dem Hippolytus bestimmt zuschreibt,
soll mit den zehn Büchern unserer Philosophumena identisch sein!
Die machten nur einen „mässigen Band“ aus! Es lassen sich nur
30 Häresen in unserm Elenchus aufzählen; da sollen nun zwei Ab-
handlungen ausgefallen sein, über Colarbasus und den Valentinianer
Epiphanes! Und doch nur ein „Büchlein“? Obendrein welch will-
kürliche Annahmen, von denen schliesslich sogar die Unmöglichkeit
aufgezeigt worden ist; denn dem angeblichen Colarbasus hat der Philoso-
phumenos völlig genug gethan, und ein Valentinianer Epiphanes exi-
stirt gar nicht für ihn.*) Was soll man überhaupt von einem
Beweisverfahren halten, wenn eine zum mit Händegreifen .nur mit
Hippolyt's Namen geschmückter, erst der Monophysiten-Terminologie
angehöriger Traetat contra Beron et Helicem (d. h. contra Verum et
coötaneum oder „gegen einen Rechten [Monophysiten] und Genossen“),
ebenfalls aufs unverkennbarste echt und die gleiche Abstammung unserer
Philosophumena von Hippolytus attestirt sein soll! Ja dann gehörten
diese sicher am wenigsten dem gefeierten, auch sonst so viel miss-
brauchten Namen an
Genug, es stand am Ende noch gar Nichts in der Sache fest,
und nur die merkwürdigsten Controversen sich gegenüber: Baur und
Döllinger gegen Bunsen; Döllinger und Bunsen gegen Baur, der
immer entschiedener die angeblichen Beweise für Hippolytus als nichtig
aufzeigte, immer wahrscheinlicher das doppelte Zeugniss_ des Photius
und Theodoret gegen ihn fand. Der Katholik Döllinger sah obendrein
mit triumphirendster Miene auf alle „protestantische“ Kirchenhistorie,
sowohl Bunsen’s als selbst Baur’s und Gieseler’s herab, der in der
#) Vgl. über die Colarbasas-Gnosis m. Abhädl. Zeitschr. für hist. Theologie
(von Niedner) 1854 III und diese Monatsschrift (VI. Heft) über die Häretiker
Epiphanes und Adrianus. $. 276 fg.
— 541 —
That zu viel auf Bunsen gebaut, und nicht scharf genug den dog-
mengeschichtlichen Hergang erfasst hatte.
In diesem Stadium der Sache bin ich eingetreten, vor Allem mit
der Einsicht, dass hier nichts übrig bleibe als von vorne anzufangen,
da von vornherein alle drei Parteien einiges Recht hatten, keine ganz.
Meine Methode bestand denn hier näher darin, nach einleitender Be-
seitigung aller oberflächlichen Entscheidungen mit dem allerältesten
Zeugnisse vom Dasein der Philosophumena , mit Theodoret zu beginnen,
so viel Specialfragen dies auch veranlassen mochte. Hieraus ergab
sich denn, dass Theodoret nur das Summarium der Philosophumena ge-
kannt habe; und von da aus wurde es um so klarer, dass Photius
mit seinem Labyrinthos wohl das 10. Buch unsrer Philosophumena,
aber auch nur dieses mit deu Worten TC» Außvgww$ov beginnende
gemeint habe. Hat aber Photius gleich Theodoret nur dies Summarium
als Fragment, und so auch um jeden Namen gekommen, gekannt,
wie können sie dann Beide noch zeugen ? Ihr Urtheil wird ganz irrelevant.
Die Statue tritt so in ein um so höheres Recht. Sie selbst mag
auch zweifelhaften Ursprungs sein, aber die Inschrift wird dadurch
nicht berührt, und Döllinger’s Beweis für ihre Ursprünglichkeit lässt
sich noch weiter unterstützen.
Doch zeugt hier noch Mehr: 2) Der Philosophumenos will schon
einmal gegen alle Ketzer geschrieben haben, kürzer als jetzt. Da
tritt das „Büchlein“ Hippolytus gegen alle Häresen ein, das
Photius beschreibt. Dieses passt völlig dazu, Vorgänger für unsere,
allerdings verschiedenen, aber doch so nahe verwandten Philosophumena
zu sein. Um so einleuchtender wird dies, wenn man einen später Ter-
tullian’s Schrift de praseriptione hzxretica angehängten libellus adv.
omnes hzereses näher in’s Auge fasst. Dies Büchlein ist das BıßAudagıov
Hippolyts nur latinisirt und im Auszug, aber mit den Philosoph.
blutsverwandt. 3) Der Philosophumenos streitet gerade so, wenn
auch in neuer Weise, vor Allem gegen Noötianer, wie Hippolyt
in der von Photius genannten (kleinern, ersten) Ketzerbestreitung und
jener besonders gegen die Noätianer gerichtete Tractat dieser Zeit
thut, der gleichfalls, bei näherer Ansicht unzweifelhaft richtig, demselben
Hippolytus zugeschrieben wird. 4) Der Philos. ist ein Vielschrei-
ber, und das ist nur von Hippolyt bekannt, nicht von Cajus, der
nach seines grössten Verehrers, des Eusebius Kunde nur die eine
Schrift gegen Proclus, den Montanisten verfasst hat. Aber wenn
hiernach noch ein Zweifel bleiben könnte, so wird 5) das dogmatisch-
kirchliche Verhältniss vollends durchschlagend.
Wissenschaftliche Monatsschrift, 35
—_— 542 —
Unsere Philosophumena zeigen in jeder Weise einen Jünger
des Irenäus, der von Anfang an und wiederholt die Noötianer, diese,
wie wir nun sehen, in Rom herrschend gewordene Lehre eifrig bekämpft
hat, zugleich durch Alles jenen halbmontanistischen Character, der
von Hippolytus durch Stephanus Gobarus eben so direct bezeugt, als
durch seine Schrift „für Johannes-Evangelium und Apokalypse“ indieirt
ist. Caius aber war der schroffste Anti-Montanist, und schon so
ist nicht daran zu denken, dass er dieser Gegner des in seiner laxen
Bussdiseiplin gleich antimontanistischen Callixtus gewesen sei. Warum
aber hat Caius gerade den Proclus angegriffen? Weil dieser zugleich
der Anhänger der Logoslehre war, welche auch die der Philosophumena
ist! Caius müsste also in der Folgezeit geradezu einen entgegengesetzten
Character angenommen haben, wenn auch nur ein Gedanke an ihn
noch bestehen sollte. Der uns sonst bekannte Caius ist um so
sicherer, als alle Mythologie auch über ihn sich aufhebt, der Urheber
nicht, vielmehr ein Gegner von ihm wie Hippolytus. An einen
völlig anonym gewordenen und doch so vielschreibenden Kirchenlehrer
Roms aber, wie sich unser Philosophumenos zeigt, ist auch schlecht-
hin nicht mehr zu denken. Alsonur an Hippolytus, den halben Montani-
sten, den Jünger des Irenäus, den entschiedensten Gegner des auch
hier so lebhaft, endlich so tief erbittert bekämpften Noetianismus.
Gegen ihn spricht nun Nichts mehr, für ihn zeugt nun Alles, was
wir aus jener Zeit irgend Sicheres kennen, wie selbst die gesammte
Tradition von da aus sich vollkommen erklärt.
Dogmengeschichtlich finden wir also dies noch nähere Res ulta
Das kirchliche Rom war zwar von einer doppelten Strömung aus der
gnostischen Periode her bewegt, einer theoretischen, der christologi-
schen Parteiung und einer praktisch-eschatologischen, der montanisti-
schen. Aber beide Strömungen hatten sich damals in Rom auf zwei
kirchliche Parteien concentrirt. Die Mehrheit huldigte im zähesten
judenchristlichen Bedürfniss einer Lehre, welche die Alleinherrschaft
Gottes zu bewahren schien, in der T'hat aber das göttliche Wesen
(pantheistisch) ebenso beeinträchtigte, als das eigentlich Göttliche in Chri-
stus, das mehr ist als ein Alles Andere gleicherweise durchdringendes
Wesen. Es war eine Lehre, die mehr in sophistischem Formelklang
als in ernster, lebenswarmer Gläubigkeit bestand. Der Jude wollte
sich nicht geben, und sollte erauch darob Pantheist wer-
den. Aber diesen Pantheismus wollte er wiederum mit einer Sophistik
bedecken und verlarven, welehe den modernsten Römern, unsern Jesuiten,
alle Ehre machen würde. Dieselbe jüdelnde Partei war aber auch
aa
sehr dem irdischen Monarchianismus ergeben, und desshalb allem
Montanismus feindlich, seieht in der Deutung der doch nicht aufge-
gebenen Schriftexte, lax in der Diseiplin, für kirchlich-sittlichen Ernst
unerträglich im Ablass. Dieser Partei, derselben Mehrheit nun ge-
hörte sowohl Caius als Callixtus an, fand ich durch Alles indiecirt,
nur dass jener früher und vorzugsweis gegen den Montanismus, aber
den logoslehrenden sich gekehrt hat, dieser später und vorzugsweise
gegen die der Mehrheit unerträgliche Logoslehre (des Johannes-Evan-
geliums) stritt, gegen den Montanismus nur praktisch, aber um so
erfolgreicher,
Dieser grossen Mehrheit entgegen stand der Eine Hippolytus mit
seinem kleinen Häuflein, allerdings mehr gelehrt, als dem Scharfsinne
seiner Gegner gewachsen. Aber diese von Rom verketzerte, verworfene
Minderheit war eine innig fromme, und daher auch der für jene Zeit
allein berechtigten geistvollen Lehre ergeben. So weit behält also Bunsen
auch materiell Recht, wenn er in Hippolyt einen, dem römischen Un-
wesen schon so früh erliegenden treuen Vorgänger der Reformation
erkennt; nur ist er das Gegentheil von dem, wozu ihn Bunsen noch
speciell machen möchte. Er ist nicht ein gleichsam neu entdeckter
Vater rationalen Christenthums in unserm Sinne, sondern gerade einer
der eifrigsten Vertreter der spätern Orthodoxie; um deren Willen
ist er eben von Rom’s petrinischem Wesen so verworfen worden.
Das ist das eigenthümlich Tragische an Hippolyt, das für Rom am
tiefsten Beschämende in dem ganzen Confliet. Das mein speeielles
Resultat über die Fragmente der römischen Kirche aus dem Beginne
der altkatholischen Zeit.
Was ist nun der Erfolg dieser dritten, der kritischen Hippo-
Iytus-Auffassung gewesen gegenüber der apologetischen, der rationalisi-
renden wie der papistischen? Da hier zu Vieles zum ersten Mal in An-
griff zu nehmen war, so verstand es sich im Voraus, dass genug
Einzelnes noch nähere Bestimmung, oder selbst Berichtigung erfahren
werde. Um so bestimmter aber werde sich das Ganze bestätigen.
Dies habe ich erwartet (S. V), das hat sich völlig bewährt. Nur
habe ich nicht geglaubt, dass die Kirchengeschichtsforschung in Deutsch-
land gegenwärtig so „englisch“ sein würde, als ihr es Bunsen sogar
dringend angerathen hat, d. h. so eilfertig auf praktische Resultate
ausgehend, und desshalb so darniederliegend, als es sich doch bei
— 544 —
dieser Gelegenheit ziemlich auffallend gezeigt hat. Im Besondern auch
das nicht, dass der so süss und anmuthig gemachte Hippolytus Bun-
sen’s, selbst Fachtheologen den Magen so verdorben hätte, um eine
derbere, mehr Studium und mehr Kritik erheischende Kost aus diesem
Stoffe schon bald nachher gut vertragen zu können. Endlich auch das
nicht, dass selbst sein wollende Kritiker auf’ eine einmal adoptirte An-
nahme so versessen sein könnten, um sie a tout prix festzuhalten, selbst
nachdem sie nicht blos in sich eitel, sondern auch völlig fruchtlos
für die Dogmengeschichte geworden ist.
Wenn die römischen Blätter in Deutschland, die gelben an der
Spitze, behutsamst eine literarische Erscheinung umgehen, welche das
Verdienstliche sowohl als die Sophistereien bei Döllinger gleich unum-
wunden an’s Licht gestellt hat, so ist das begreiflich genug; sie könn-
ten ja nicht so oft, wie noch immer, die Triumphe Döllinger’s preisen.
Dass aber seitdem noch kein Protestant in Deutschland diese wichtige
Seite öffentlich auch nur berührt hat, das ist doch seltsam. Die
Meisten scheinen durch so viel Druck so gelähmt und ermattet, dass
sie für Nichts Sinn haben als für pro. und contra in der Unionssache.
Wenn nun dieser Art Verdrossenen die neue Untersuchung fast fremd
geblieben ist, so begreift sich das ebenso leicht, als dass bei dem
Bestreben, doch Etwas darüber zu berichten, vor lauter Unklarheit
selbst directe Falsa mit untergelaufen sind.*)
*) Der Mann der non variata im Repertorium will darüber lächeln, dass
ein Papst von mir zu den „Patropassianern“ gerechnet werde. Es geschieht dies
vom Philosophumenos (Hippolytus), und ich habe nur noch näher zu bestimmen
gehabt, mit wie viel Recht und Unrecht. Aber freilich, die Herrn der non variata
stehen ja auch Sr. Heiligkeit in Rom so nahe, und fühlen mit Recht, in dem
klaren Resultat über den Kirchenconfliet Roms, ihr Hauptpostulat, eine „doctrina
nunquam variata* überhaupt tödtlich bedroht. — Der Freund der variata im
Theolog. Litteraturblatte klagt über die Vernachlässigung seines Gieseler: und
doch ist da wohl p. V. und S. 116 fg. völlig genug geschehn, nachdem die Dar-
stellung durch Döllinger in der That antiquirt war. — Wenn derselbe „die
Entdeckung“, dass Theodoret trotz allem Gegenschein nur das Summarium ge-
kannt hat, für so unbedeutend ansieht, d. h. den ersten, festen Punct, der aus
dem bisherigen Schwanken führt, so ist das seine Sache. Wenn er aber sagt,
ich hätte dem Hippolyt „des Breitern seine Composition nachgerühmt“, so
ist das doch mehr als erträglich. Ich habe S. 151 fg. die bis dahin so confus
erschienene Composition des Elenchus wie des Summariums, namentlich auch
der näher zu bestimmenden Quellen wegen, wie die Kritik des Johannes-Evan-
geliums speciell erheischte, zu lichten begonnen, die Darstellungsweise des greisen
Mannes aber (S. 96) gerade nichts weniger als zu rühmen gehabt. Und der-
gleichen miserabilia stammen von angeblichen Fachtheologen!
—_— 545 —
Auch die oben erwähnte ernstere Revision ist doch allzu wenig
hülfreich geworden, weil sie die, für so Viele fast räthselhaft krittliche
Frage um die Entstehung des Logos-Evangeliums, hier ganz hülflos,
umgangen hat, und in das, doch wahrlich nach so mancher Diskussion
unterwerfbare Detail zu wenig eingegangen ist.*) Dankbarer muss
man also der Kritik Hilgenfeld’s (im Centralblatte) sein, welche zwar
nur darauf aus ist, die einmal adoptirte Ansicht Baur’s quand m&me
noch zu behaupten, aber doch durch den eben dabei bewiesenen
Eifer etwas förderliches gehabt hat.
Es wird zugestanden, dass die neue Erforschung der Sache gründ-
licher und allseitiger geworden sei, aber es soll nicht blos trotz dem
die Caius-Ansicht noch unerscehüttert sein, sondern jetzt noch wahr-
scheinlicher; denn auf Erreiehung von irgend einer Gewissheit wird
von dieser Art Kritik verzichtet.
I. Was spricht also noch, was neu für Caius?
1) Der Ausdruck «igerixwregor für die Montanisten, das heisse
„arge Ketzer‘ und verrathe schroffen Antimontanismus. Im Gegentheil das
x@l @uroi aigerıxwregor spricht nur aus, was schon in der Stel-
lung der Montanisten unter Quartodecimaner und Enkratiten (s. S. 155)
liegt: „auch sie“ sind wie diese, zwar dogmatisch ganz kirchlich,
aber dennoch, durch ihre Abweichung von der kirchlichen Sitte „zu
häretisch“, als um ganz gebilligt zu werden. Vgl. das Folgende
u@AAov Kvvızoi (mehr heidnisch) 7) yoıorıavoi. Wir haben in dem
ganzen Capitel über die Phrygier einen montanizans, auch in diesem
Ausdruck, dieselbe Stellung, welche Lib. VIII und IX auch factisch
überall einhalten (m. S. 103 fg.)
2. Aber die capita Hippolyti adversus Caium zeigten diesen als
halben Häretiker. Ueber die reine petitio prineipii in der Folgerung
hieraus, da ja jene capita auch das Factum „Caius adv. Hippolytum“
enthalten, ist nach meiner Darstellung des ganzen Conflietes in der
römischen Kirche, in der beide Seiten halb häretisch sind oder sich
erklären (S. 106 fg.), Nichts weiter zu erinnern, abgesehen davon, dass
Hippolyt als halber Montanist und zugleich als halber Gnostiker auch
sonst direet bekannt ist (S. 146. 171 fg.).
3) Tertullian’s Beziehung der Taufverächterin Quintilla auf die
Caiana hxresis lasse sich am besten auf einen Caius und die halb-
hzretische oder schismatische Stellung deuten, welche in den Philoso-
%) Der kleine Vorwurf, ich habe Mommsen’s Untersuchung über Hippolyt's
Chronik seltsam übergangen, ist nur ein Uebersehn m. S. 78,
— 546 —
phumenis hervortrete. Unmöglich sogar, schon der Chronologie wegen,
in welcher Hilgenfeld nicht seine Stärke hat. Die Schrift de Baptismo
von Tertullian, wie dessen ganze litterarische Thätigkeit (wahrschein-
lichst auch sein Leben überhaupt) fällt zweifellos in den allerersten
Anfang des 3. Jahrhunderts (ce. 200—e. 210 höchstens) und der Kir-
cheneonfliet in Rom kam erst 218 zum Ausbruch, von den Philoso-
phumenis selbst nicht zu reden, die erst nach 223 entstanden sind.
Hätte Tertullian jenen Contliet erlebt, so hätte er sich auch entschieden
auf die Seite des Philosophumenos (montanizans) gestellt, d. h. den
Caius nur als Gegner des Philosophumenos verketzern können. Doch
Alles, was Hilgenteld gegen die Deutung Kaiana haresis vorbringt,
ist schon längst von Neander (Antignostieus ed I. $. 193 fg.) aufgeführt,
ohne dass es diesen (ed. II. S. 170 fg., s. m. S: 69 fg.) an dem
Schwanken gehindert hätte, welches jetzt wohl überwunden sein wird.
Der von mir gegebenen nähern Bestimmung ist nur noch zuzusetzen,
dass Tertullian mit ganz demselben Ausdruck Kaiana hzeresis de
Bapt. nichts Anderes als de prast. her. ec. 33 hezeichnet haben kann,
d. h. die Gnosis, welche vor lauter Gegensatz gegen den Gott des
A. T. dessen ersten Gegner, den Kain, pries. Die gegebene Dar-
stellung der Quintilla, als gnostisirender Separatistin, die Tert. nur
so schmähte, ist von Hilgenfeld auch mit keinem Worte alterirt.
4) Aber Photius „unterscheide bestimmt das Büchlein Hippolyt’s
gegen die Häresen von den Philosophumenis“. Das würde Nichts
importiren, da ja der Philosophumenos selbst eine frühere kleinere
Häresiologie von der spätern unterscheidet, aber Photius kennt „die
Philosophumena* d. h. unser antihäretisches Werk unter diesem Titel
und in dieser Totalität nicht, nur ein Fragment Lib. X davon, wo
er sich auf zov Aaßugiwdov bezieht. Doch „es verschlage das Nichts,
da er ja aus dem Anfang desselben sehen konnte, dass dies einem”
grössern Ganzen angehöre.“ Nur kannte er damit dieses weder näher,
noch auch den unterscheidenden Titel des Werkes, welches im Anfange
der einzelnen Bücher, so auch Lib. X in. blos allgemein sich mit
E1EY408 Kara TIaOOV wigEGEWV bezeichnete. Er kannte nicht den Haupt-
titel DiAoooyovuevg, in dessen Ermangelung nur er zu den Anfangs-
worten 709 AaßugwIov (tüv eig&oewv dıegoräavres) gegriffen hat,
um es doch noch einigermassen unterscheiden zu können, auch keinen
bestimmten Namen, um so bestimmter Lib. X blos als Fragment.
5) Aber ich konnte es nur künstlich erklären, dass man beim Rathen
eines Namens für das Fragment (Lib. X) gerade auf den Caius (nicht
den ÖOrigines) verfallen sei, durch Unterstellung einer besondern Tra-
— 547 —
dition vom römischen Ursprung, und noch künstlicher werde die
spätere Fietion,, Caius sei &7140x070g &Iv@v, Weih- oder Titularbischof
in Rom gewesen, aus einem Verlesen der Eusebius-Worte über Caius
»xare Zegyvglvov . .. yıycvos Errloxortog« (statt Ertioxorcov) abgeleitet.
Weit natürlicher erkläre sich dieser Titel aus der doyısoareia, welche
der Philosophumenos in Lib. I, (Pro@mium) sich zuschreibt. Gewiss,
nur wird dies Einfachste ein Mögliches erst bei der Unterstellung,
welche der Cajus-Apologet bestreitet und als solcher aufs äusserste
bestreiten muss, dass nämlich Lib. I (ebenso wie Lib. X) blos als
Fragment bekannt geworden, gewesen ist. Denn kannte man das Ganze
der Philosophumena, auch Lib. IX, so musste man es sich vergehen
lassen, die doyısgareia oder die episcopale Würde des Mannes so
harmlos von blos titularem Episcopat zu deuten. Er war ja nach
Lib. IX in der ernstesten Weise wirklicher, freilich so kritisch
schismatischer Bischof. Es bedarf aber nur dessen, nicht bei der
blossen Vereinzelung der beiden Fragmente von den Philosoph. stehen
zu bleiben, wie ich den frühern Confusionen gegenüber naturgemäss
zuerst gethan habe, sondern diese auch zusammenzunehmen, und der
von dem Scharfblicke des Gegensatzes bemerkte Schatten an meinem
Beweise führt ebensobald zur Ueberwindung davon, d. h. zur Errei-
chung noch einfachern und um so grössern Lichtes.
Wer zuerst Lib. X fand, und zugleich Hippolyt’s gleicherweise
in Noötianer ausmündende Ketzerbestreitung kannte, onnte schon an
der Hand des Eusebius über die Kirchenlehrer zur Zeit des Origenes
(Eus. K. G. VI, 20) dafür auf Niemanden anders kommen als auf
den von Eusebius als so kirchlich [also so antihsretisch], so gelehrt,
[Royuutarog] gefeierten „Antihäretiker* Caius. Denn an Tertullian
war schon der [griechischen] Sprache wegen, an Origenes selbst um
der positiven, so ganz unorigenianischen Doctrin am Schlusse von
Lib. X willen nicht zu denken, und der dritte Zeitgenosse, Hippolyt,
hatte ja eine ganz andere Ketzerbestreitung verfasst. Stand aber Caius
für Lib. X somit fest, so musste er auch das so offenbar dazugehörige
Lib. I verfasst haben, also der @oxLEgeÜS oder episcopus im Prooe-
mium davon sein. Dies hiess für den #«r« Zegyvolvov yeyorws, ein
titularer Bischof oder Ertioxortog EIvov.
Wer dagegen das Fragment Lib. I zuerst fand, den leitete dies
gelehrte Referat über die griechischen Philosophieen zunächst auf den
renommirtesten Kenner derselben unter den Kirchenlehrern, auf
den grossen Alexandriner selbst, und von da aus musste er dann
auch das fragelos zugehörige Fragment Lib. X nebst dem darin eitirten
_ 5438 —
Büchlein „über das All“ verfasst haben, wie ja Einige bei Photius
auch annehmen. So schnell hat sich also meine Erwartung (S. V)
bestätigt.
6) Endlich soll Theodoret immer noch für Cajus, d. h. wenig-
stens gegen Hippolyt zeugen. „Er tnterscheide bestimmt die Philoso-
phumena, die er ganz kenne aber nicht als hippolytisch, sondern als
ein Werk des Örigenes, von dem Büchlein des Hippolyt gegen die
Häresen.* Dies ist einfach eine Unrichtigkeit, beziehungsweise eine
Phantasie. Es soll sich das ergeben aus Theod. Hxr. Fab. I, 23
und III, 1. Da heisst es „gegen die Marcioniten* und „gegen die
Nicolaiten“ stritten trefflich unter Andern „Origenes und Hippolytus“!
Nach dem schon in diesen Blättern (S. 308 fg.) Erörterten ist es nicht
nöthig, dem Weichselzopf von Oberflächlichkeit und „Getrostheit“, der
bier zu Tage tritt, näher seine Entstehung nachzuweisen. Es sind
nur einzelne Momente meiner Untersuchung ausser allem Zusammen-
hang aufgegriffen, ohne alle eigne Kenntniss der Sache. Diese sind
nach Bedarf aufgespreizt, und endlich in jener Weise zusammengekallt,
der ich nicht zum zweiten Mal jeden Boden zu nehmen habe. Theodoret
hat so wenig als irgend ein Kirchenlehrer vor ihm, die ge-
ringste Kenntniss von Lib. IX der Philos., d.h. von dem Kirchen-
eonfliet der römischen Gemeinde überhaupt; und wo er
den Hippolytus nennt, meint er überall sonstige Schriften desselben,
wo er den Origenes eitirt, nirgends einen Punct unserer Pbilosophumena.
II. Nun soll aber gegen Hippolytus sprechen
1) der Index an der Statue selbst, der die Philosophumena nicht
erwäbne, wie ich selbst so bedenklich gefunden hätte, dass ich einen
der andern Titel darauf habe deuten wollen, ohne dies selbst haltbar
zu finden. Das Gegentheil, davon ist hinsichtlich der Ph. wahr, wie jetzt
das Centralblatt selbst hat zugestehen müssen, da ich das betreffende
Geständniss der hierbei vorliegenden selbst factischen Unwahrheit dem-
selben im Interesse literarischer Sauberkeit nicht erlassen durfte. *)
2) Selbst mein Beweis, dass der dem tertullianischen Buche de
pr&seriptione hxreticorum angehängte libellus adv. omnes hreses eine
latinisirte Epitome des hippolytischen BeßAudagıov roog arnaoag Tag
#®) Die Zulagen, in welche dieses peccavi des immer renitenter und immer
sprudelnder gewordenen Referenten sich eingehüllt hat, kann ich hier übergehen,
da sie sich zu einfach selbst charakterisiren. Von dem Standpunkte der Hypo-
tbesen-Kritik, welchen Hilgenfeld so beeifert vertritt, scheint in der That so
viel Eile, Unklarheit und Einbildungs-Macht ganz unabtrennbar zu sein.
Me
eioegeıg sei, der auch völlig anerkannt wird, soll zeigen, dass der
Philosophumenos nicht identisch sei mit diesem Verfasser. a) Im
libellus werde Simon Magus einfach von Petrus getadelt, in den
Philos. kommt er in eigener Weise zu Rom um. D. h. Hippolyt hat
zuerst (im libellus) blos den Irenäus ausgeschrieben [hier also we-
sentlich die alte Apostelgeschichte nach Lucas], in der spätern Häresio-
logie weitere Quellen und Mythen auch hierbei kennen gelernt. b)
Dasselbe gilt in Betreff des Basilides, über den Hippolyt im libellus
nur den Irenäus ausgezogen hat, während er später einen eignen
Basilidianer-Tractat kennen lernte, den er dann auch bevorzugte [wie
es scheint, mit vollem Recht]. c) Endlich sehe der libellus mit Recht
in dem Evangelium des Mareion [freilich eigentlich des Cerdon, nach
meinen nähern Nachweis $. 150 aber in der That des Mareion selbst]
einen verstümmelten Lucas, während die Philosoph. darin ein ver-
stümmelten Marcus fänden. Hippolyt kommt aber bei jeder nähern
Betrachtung der Sache in den Philos. gar nicht zu einem Urtheil über
die libri sacri des Mareion, sondern redet nur von den libris sacris
der Kirche gegenüber heidnischen Philosophien. Mit dem x040ßo-
dazrulog Magxos meint er den Marcus-Evangelisten der Kirche, der
(für die Gnosis scheinbar so förderlich) die Geburtsgesebichten bei
Matth. und Luce. ec. I. II abgeschnitten habe, eine Vorstellung der alt-
katholischen Kirche, welche sogar Thema einer ausgebildeten Sage
geworden ist, (vgl. Pref. in Cod. Vulgatze Amiatinum ed. Tischen-
dorf p. VII.), und selbst bis jetzt bei Baur noch herrscht.
Weiter habe ich hierbei nichts zu erörtern. Die Resultate ziehen
sich von selbst. Von einer Hippolytus-Frage kann wohl nicht mehr
die Rede sein. Denn nach dem beeiferten Versuche, die Sache zu
Gunsten des Caius noch einmal auf den Kopf zu stellen, wenn auch
darüber die ganze Periode dunkel bleibe, ist der gute Grund der
Hippolytus-Ansicht und der damit resultirenden Geschichte der römi-
schen Geschichte jener Zeit überhaupt um so klarer in sein Licht
getreten, die gegebene Darstellung nur noch vereinfacht und geschärft.
Die treffliche Sorbonne zu Paris hat zwar neuerdings den be-
schwichtigenden Ausspruch gethan, in den Philos. rede weder Caius,
noch Hippolytus, sondern ein orientalischer Feind der h. römischen
Kirche uud Abbe Cruice (Hist. de l’eglise Romaine sous St. Victor,
St. Zephyrin, et St. Callixte. Paris 1856) hat diesen Trostspruch als ein
Orakel von Weisheit angepriesen. Doch an diesem fast komischen Ver-
suche des Romanismus, gleichsam Lib. IX der Philos. noch ein-
mal aus der Welt zu bringen, zeigt sich schliesslich, wie kri-
— 550 —
tisch für die sein wollende, aber immer rathlosere Autoritätskirche
Set. Hippolytus auch praktisch zu werden beginnt.
Kritische Miscelle zum Agamemnon des Aeschylas.
Bleibt eine Fortsetzung aus, so ist ebendamit auch der Schluss
gegeben; aber nicht unpassend ein Ende finden diesem Jahrgange
unserer Zeitschrift werden wir mit einem Ende, und zwar indem wir
ein schlechtes Ende gutmachen. Also eine Verbesserung! Gleichwie durch
geringe Verstümmelung an der Nasenspitze eine Bildsäule ärger geschän-
det wird, als wenn ihr z. B. eine Hand fehlt, so kann ein Textgebrechen
ausser Verhältniss schwer ins Gewicht fallen je nach dem Orte, wo
es sich eingenistet hat. Der Verfolg des Dramas zweckt allemal auf
den Ausgang ab; erwartet wird vielleicht ein energischer Schluss,
auf den seit einiger Zeit die Fäden näher zusammenlaufen, und —
statt dessen stört und lähmt den Eindruck ein halber Gedanke,
unverständliche Rede, gerade im Augenblicke des Scheidens, der ent-
scheidet. Einen Fall dieser Art nehmen wir in Behandlung. In den
bair. gel. Anzeigen (Jahrg. 185 , Nr. 8. 8. 59) eignet sich Fr.
Thiersch ein Wort Skaligers an: dass der Agamemnon des
Aeschylus allein mehr Schwierigkeiten und Räthsel biete, als alle
grossen und kleinen Propheten des alten Testaments zusammen; und
diess kann der Unterz., wenn er auch nicht diejenigen Erfahrungen
an Aeschylus gemacht hat, welche Skaliger und (wie es scheint)
Hr. Thiersch am A. Test., gleichwohl bestätigen. Zeigt sich aber
im ganzen Agamemnon namentlich der Text vielfach verdorben, so
sind diess die trochäischen Tetrameter zu Schlusse im Uebermass und
durchweg; doch untersuchen wir hier nicht dieses ganze Stück und
fragen um so weniger, ob solche Beschaffenheit des Textes von
Flüchtigkeit eines ermüdeten Abschreibers herrühre, oder ob die
Handschrift auf dem letzten Blatte Noth litt. Es sollen uns nur die
Worte Klytämnestra’s beschäftigen (VV. 1672. 73. Dind.), mit wel-
chen sie den bisherigen Wortwechsel zwischen dem Chor und ihrem
Buhlen Aegisth abschneidet.
Den beiden Tetrametern fehlt in den Handschriften je das letzte
Sylbenpaar, zu
ur rrgoTLUNOng tareiov vond vhayuarum
xal 00 Fr.oouev agaroivre 1wvde doudtov
— 551 —
wird erst aus dem Scholiasten dort &y0, hier x«Aog zugesetzt. Jenes
unverfänglich; aber zu Ir00uEV xls vermissen wir ein Objekt.
Wenn Schneidewin meint, dasselbe ergänze sich aus rwrde doud-
rov von selbst, so macht er aus der Noth eine Tugend: das Objekt
wird ebensowohl existirt haben, wie in rravı’ 2/0 9700 #u)wg Eur.
Hek. V. 865, und raw 20 9900 »e)ög Iph. Aul. V. 401. Hierin
liegt nun, und so weit reicht die Berechtigung, wenn Thiersch (a.
a. OÖ. Bd. XXXVI. S. 544) aus eigenem Gute einen vollen Vers:
navF Hooı0ı dei zar ara Owgpgyvow Bovkevueron,
hinzufügt, mit welchem das Drama schlösse. Die Gräeität dieser
Worte ist nicht zu beanstanden, und sein posse versus facere hat Hr.
Th. dargethan; aber das Gebrechen scheint hiemit nur maskirt, nicht
geheilt zu sein: der Zusatz ist nicht selber gesundes Fleisch, sondern
ein Pflaster.
Davon ausgehend, dass gun wooriunong ebenfalls einen Akkus.
regieren sollte, während die tiayuere, welche Aegisth wirklich
zoorıug, vielmehr im Gen. stehen, versuchen wir die Wiederherstel-
lung. Kei 00 und I7'oousv beweisen das voraussetzliche yo; und
nun schreiben wir das vom nothwendigen Sinn erheischte vlayuara,
wegen @» = @v in der Form vA«yud9; uareiov rovd’ ist nun-
mehr männliches Substantiv. Den*vermeinten Fehler dAeyueIov corri-
girte Jemand in vLayuarov, welcher Gen. statt des Akkus. gelten
musste; und da solche dAayuara die Geronten zuerst beliebten, so
war nahe gelegt, un noorıunos zei 0V zu verbinden: 2&yW, ohnehin
verdächtig durch den Mangel eines Gegenüber, wurde dergestalt von
selber aus dem Contexte hinausgedrängt. Lesen wir nun aber —
Vhayuc$, av 2yw xt), so muss das Folgende ein Wort liefern, von
welchem ©» regiert sei; und dieses Wort kann, indem xgaroüvre
sich durch zwrde duuarew ergänzt, nur in dem vermissten Objekte
zu $7;0042v gefunden werden. Suchen werden wir es an dem Platze,
der noch nicht besetzt ist: an der Stelle des uns aufgedrungenen,
jetzt unbrauchbaren »@Aög. Jenes @v geht am natürlichsten auf das
nächst voranstehende UAayu@$9' zurück; und nun, was werden sie
wohl „dem Gebelle dieser Thoren* setzen? Ich denke: ein Ziel,
ihm machen ein Ende. Der Text lautet nunmehr:
ur) rrgoruun ong uereiov tavd "vLayua$', v &yo
xai 00 I1'00uEv zgaroivre tovde dwuarıwv
rehos
-Achte nicht auf das Gebelfer dieser Thoren, welchem wir,
Ich und Du, des Hauses Meister, setzen werden schon ein Ziel.
— 552 —
Mit den letzten Worten fasst die Sprecherin den Aegisth an der
Hand, um mit ihm abzugehn, das Stück ist zu Ende; aber eben, dass
es zu Ende sei, wird durch das mit gehobener Stimme gesprochene
t&}og zugleich angesagt. Bei einem apokryphischen Geschichtschreiber
b>zeichnet den Nachlass der Natur ein ausdrücklichee &vraud« de
&oraı T ıehevrn ; unser Dichter dagegen verflicht geistreich eine äus-
serliche Notiz über das Drama mit diesem selbst, indem er den
Schlusssatz so anlegt, dass er einen Standpunkt ausserhalb des Ge-
dichtes zugleich in dasselbe hereinnehmen konnte. Das Wörtchen
teAog bekommt auf diese Art eine Doppelstellung; aber von dieser
abgesehen, beabsichtigte der Verfasser auch noch, wie öfter im Munde
Klytämnestra’s, einen Doppelsinn des ganzen Satzes: nemlich ov kann
auch von xg0TOUrTE regiert sein, und dann zovde dwuarwv von TEA0g
abhängen. Was Klyt. sagen will, ist dentlich, und eben so auch,
was sie nicht kann sagen wollen, nemlich dass sie dem Hause, wel-
chem sie selbst angehört, und damit ihrer eigenen Gewalt ein Ende
zu machen beabsichtige; sie verkündet unwissentlich, sie muss weis-
sagen des Hauses Fall. Die drei letzten Worte deuten vorwärts auf
das zweite Drama der Orestie, wo mit Klytämnestra’s und des Aegisth
Tode und der Flucht des Orestes diesem Hause vorerst ein Ende
wird durch Bestrafung des Verbrechens, welche selbst wieder ein
Verbrechen, und durch dessen Strafe.
Weil zugleich Bezeichnung des Endes, wurde das letzte Wort
des ganzen Satzes anfänglich ganz recht unter die Zeile gesetzt; aber
auf seiner Eigenschaft als der Rede integrirend beruhte sein verein-
zeltes Dasein ausserhalb, und verlor es erstere, so wurde dadurch
seine Sonderexistenz in Frage gestellt. Die Abschreiber des Buches
wiederholten das vorgefundene te)os mit, oder liessen es auch weg.
Bestätigt wird diese Vorstellung vom Hergang der Sache durch den
Umstand, dass, während in den vier ersten Dramen das Ende nir-
gends ausdrücklich angemerkt wird, zuerst hinter dem Agamemnon
in zwei Handschriften die Worte xai viv ragsorıv oyauıtuvovog TEhog
und reAog ayauızuvovog hinzugefügt sind; worauf denn auch von den
Choöphoren und Eumeniden in der Handschrift G. und in der Medice.,
welcher der Schluss des Agamemnon mangelt, von den Eumeniden
ausserdem noch in jenen erstern das Ende angezeigt ist.
Hitzig.
„—_— 553 —
Schlusswort zum ersten Jahrgang.
Der wissenschaftliche Verein hat die Fortsetzung der Monatsschrift in der
bisherigen Form beschlossen; nur dass eine Raumbeschränkung eintreten soll,
um eine Verbilligung des Preises zu ermöglichen. Der leitende Gedanke, in
selbständigen Aufsätzen aus allen Gebieten der Wissenschaft „die Ergebnisse
gründlieher Forschung in möglichst anziehender und anregender Form darzu-
legen,“ der in dem ersten Jahrgang bei der Unsicherheit aller Anfänge nicht
immer mit gleicher Schärfe hat aufrecht erhalten werden können, wird nicht
nur für den zweiten Jahrgang massgebend bleiben, sondern — wie wir hoffen
— seiner Verwirklichung um ein Bedeutendes näher geführt werden.
Die ersten Hefte des neuen Jahrgangs werden u. A. folgende grössere Auf-
sätze enthalten: 1) Ueber den Prolog im Himmel in Göthe's Faust, von Prof.
Vischer. 2) Theologisch-ethische Zustände Zürichs in der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts, von Prof. Alex. Schweizer. 3) Ueber die Kometen, von Prof. Wolf.
4) Ein historischer Artikel, von G. von Wyss. 5) Ueber die moderne ärztliche
Gymnastik, von Prof. Herm. Meyer.
Unter den grössern Beiträgen, die der Monatsschrift für den weiteren Verlauf
des Jahres zugesagt sind, können wir schon jetzt folgende namhaft machen: 1)
Ueber den Eid vor Gericht, von Dr. von Oreli. 2) Ueber Christus und So-
krates, von Prof. Schlottmann. 3) Ueber die Vererbung psychischer Eigenthüm-
lichkeiten, von Dr. Meyer-Ahrens. 4) Ueber deutsche Rechtssprüchwörter, von
Prof. Hillebrand. 5) Ueber Shakspeare’s Macbeth, von Prof. Vischer. 6) Ueber
die Grundgesetze aller höheren Configuration, von Prof. Müller. 7) Das schwei-
zerische Volksleben im Mittelalter, von Staatsarchivar Meyer von Knonau. —
Auch ausserdem sind uns zahlreiche erfreuliche Zusagen thatkräftiger Unter-
stützung von den verschiedensten Seiten zugegangen.
Wiewohl wir natürlich noch nicht im Stande sind, eine unabänderliche
Reihenfolge für das Erscheinen der einzelnen Artikel aufzustellen, so glauben
wir doch, dass schon die obigen Anführungen eine hinreichende Bürgschaft für
die Mannigfaltigkeit der Belehrungen geben, die der zweite Jahrgang dem der
Wissenschaft befreundeten Publikum bieten wird.
Der Redactionsausschuss hat sich überdies die Aufgabe gestellt, die Wirk-
samkeit der Monatsschrift durch Zugabe kleinerer Notizen, prägnanter Urtheile
über literarische Erscheinungen, kurzer Charakteristiken, referirender oder pole-
mischer Mittheilungen zu erweitern. In wie weit sich diese Aufgabe wird lösen
lassen, muss der nächsten Zukunft vorbehalten bleiben. Auf alle Fälle gedenken
wir, gedrängte Berichte sowohl über die bisherige wie über die fernere Thätig-
keit des wissenschaftlichen Vereins in Zukunft der Monatsschrift einzuverleiben.
Das erste Heft des neuen Jahrganges wird im Januar erscheinen und die
genannten grösseren Aufsätze von Alex. Schweizer und Fr. Vischer enthalten.
—_ 554 —
Zum Vorstand des wissenschaftlichen Vereins sind für das nächste Jahr be-
stellt: Alex. Schweizer (Präsident), C. Nägeli (Vicepräsident),, v. Orelli (Actuar),
Schmidt, Hitzig, Dernburg und Escher v. der Linth. Den Redactionsausschuss
werden bilden : Hitzig, Osenbrüggen, Frey, Schmidt und H. Schweizer.
ZÜRICH, den 17. Dezember 1856.
Ad. Schmidt.
Inhalt des vorliegenden Sahrganges.
Vorwort des Redaetionsausschusses .
Ausbildung der confessionellen Verhältnisse in Zürich nach Zwingli's
Tode und Einfluss derselben auf das Staatsleben. Von J. J.
Hottinger
Der Centralpunkt des Verhrecheihl ER Ed. Denken
Diagnose des gegenwärtigen Zeitalters. Von Ad. Schmidt. Erster Artikel
Zum Evangelium der Hebräer. Von Fritzsche ö c :
Neutestamentliche Kritik auf dem Grunde der Erklärung. Von F. Hitzig
Diagnose des gegenwärtigen Zeitalters. Von Ad. Schmidt. Zweiter Artikel
Die Aufgabe der Zoologie. Von H. Frey ? :
Gedanken über die Verbreitung der Seuchen. Von Meyer-Ahrens
Strafgesetzgebung und Christenthum. Von E. Osenbrüggen
Ueber die formelle Gesetzmässigkeit des Schmuckes und dessen Bedeu
als Kunstsymbol. (Vortrag vor gemischtem Publicum.) Yon @.
‚Semper - - 2 -
Ueber die Integration zweier Srnaltan bestehenden linearen Dißferenzial-
gleichungen zwischen n Variabeln. Von Professor Dr. Raabe
Ueber die in Island endemische Hydatiden-Krankheit. Von Professor
Dr. Lebert . :
Der Name Germanen. Von F. Hitzig & 5
Die drei Geheimnisse des Rufes bei Ignatius. Von G. Volkmar
Die deutschen Rechtssprüchwörter. Von E. Osenbrüggen
Diagnose des gegenwärtigen Zeitalters. Von Ad. Schmädt. (Schlussartikel,) )
Die Individualität in der Natur, mit vorzüglicher Berücksichtigung des
Pflanzenreiches. Von Carl Nägeli (Ein Vortrag)
Ueber die Druiden bei Cäsar. Von Ferdinand
Beitrag zur-Lehre vom Versuch des Verbrechens, Von Ed. Osenbrüggen
Literatur > .
Gedanken über die Verbreitung der Bonähen. En Die Mer
Ueber die römische Luxusgesetzgebung. Von Dr. Dernburg
Ueber die Häretiker Epiphanes und Adrianus. Von G. Volkmar
Der Name Helvetier. Von F. Hitzig
Exegetisches. Von F. Hitzig 5 - i :
Die Reformbestrebungen des Kaisers Galba. Von Ad. Schmidt
Theodoret und Origenes oder der letzte Freiheitsruf der orientalischen
Kirche. Von G. Volkmar - E 2 2 :
Die Handwerker-Frage in unserer Zeit. Grundlinien zur Beurtheilung
und Behandlung derselben. Von Prof. Dr. Karl Knies in Freiburg
Seite,
42
a 2
Ueber die Cholera in der Schweiz. Von Prof. Dr. Lebert
Die Verbreitung der Cholera in den Jahren 1854 und 1855, mit
Ausschluss des Kriegsschauplatzes. Von Dr. Meyer- Ahrens
Die Handwerker-Frage in unserer Zeit (Schluss). Von Dr. Karl Knies
Ueber einige Verwandtschaftsverhältnisse und Verwandtschaftsnamen des
indogermanischen Stammes. Fon H. Schweizer :
Ueber die Zeitdauer der hebräischen Psalmenpoesie. Von Hitzig
Kritische Miscellen zu Sallust. Von Hitzig :
Eine Notiz über amerikanisches Recht. Von Ed. Ündnraggin
Portugal im Jahrzehnd 1830 — 1840. Von Ad. Schmidt
Die Fortpflanzung der Insekten ohne Befruchtung und Siebold’s neueste
Arbeit über diesen Gegenstand. Von’ H. Frey -
Deutung bestimmter einfacher Integrale mit complexen Integrationsgrenzen.
Von Prof. Dr. Raabe .
Die Fortschritte der Medizin und der treten in der Ein-
wirkung auf das Strafrecht. Von E. Osenbrüggen
Ueber den Ursprung und die erste Krisis der römischen Kirche nach en
letzten Verhandlungen über Hippolytus. Von G. Volkmar
Kritische Miscelle zum Agamemnon des Aeschylus. Von F. Hitzig
Schlusswort zum ersten Jahrgang
Seite,
355
373
405
431
436
452
459
461
473
483
496
519
550
553
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SCRIPTORUM HISTORIAE
N BYZANTINAE.
Editio emendatior et copiosior, consilio B. 6. Niebuhrii C.F. instituta
aucloritate Academiae litterarum Regiae Borussicae continuata.
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Exemplare aufSchreib- und Velinpapier, wovon jedoch meistens nur die neueren
Bände noch einzeln geliefert werden können, kosten, erstere 1/,, letztere ?/, mehr.
Pro
Sofort erscheinen noch: Zonarae Annales Vol. III. und Annae Co-
mnenae Alexias Vol. Il., nebst — schliesslich — einer Litterar - histori-
schen Uebersicht der Byzantinischen Autoren, womit sodann dieses grosse,
für Philologie und Geschichte hochwichtige und berühmte Werk, von den
grössten Gelehrten unserer Zeit, unter dem ehrenvollen Schutze und
der grossmüthigen Förderung einer erhabenen Akademie der Wissen-
schaften, in classischer Form wiederhergestellt, vervollkoınmnet, und
mit vielen werthvollsten hier zum ersten Male erschienenen Schriften
bereichert, in funfzig Bänden vollendet — zugleich auch ein
bedeutendes, von der gelehrten Welt und ehrenwerthen Freunden der
Wissenschaften mit Theilnahme begleitetes Unternehmen, reich an Eh-
ren, schwer an Mühen, endlich zum Abschluss gebracht seyn wird. —
Allen Bibliotheken unentbehrlich, ist das Corpus seriptorum
Byzantinorum auch für minder umfassende, classischer Litteratur
gewidmete Büchersammlungen ein Werk von erster Wichtigkeit: allen
aber eine höchste Zierde, die, wo sie fehlt, zu erwerben gewünscht
wird, jetzt um so mehr, als das ganze Werk nahezu vollendet vorliegt.
Der unterzeichnete Verleger ist gern bereit, die Anschaffung soviel als
thunlich zu erleichtern; zu dem Ende, und im Hinblick auf den von dem
grossen Umfang bedingten hohen, wenn auch nach Verhältniss mässigen
Preis des Ganzen, stellt derselbe hiermit eine begrenzte Zahl von Exem-
plaren zur sofortigen leichteren Erwerbung zur Verfügung, der zufolge
auf von jetzt bis zum März 1857 an ihn gelangende Bestellungen
die vollständige Reihenfolge obiger 48 Bände auf Druckpapier,
deren Preis 147 Thlr. ist, zunur 90 Thlrn., und auf Schreib-
papier, statt 192 Thlr., zunur 128 Thlrn. gegen baare Zah-
lung von ihm abgegeben wird. — Exemplare auf feinem Velin-
papier, deren nur noch wenige complette vorhanden sind, kosten
235 Thlr.
Sollte in einzelnen Fällen gewünscht werden, das Werk nach und
nach zu beziehen, so wird darüber eine befriedigende Vereinbarung
leicht zu treffen seyn.
Auch den Besitzern einzelner Abtheilungen, und namentlich so
manchen früheren Subscribenten oder deren Nachfolgern in Besitz sol-
cher Exemplare, an denen eine Reihe von Theilen fehlt, wird der Ver-
leger zur Complettirung der ganzen Sammlung durch günslige Bedin-
gungen gern behülflich seyn, worüber eine Verständigung gleichfalls
leicht erzielt ist.
So sey dieses wichtige Werk hiermit von Neuem in Erinnerung
gebracht und zu wohlwollender Theilnahme empfohlen.
: Bonn, July 1856.
Eduard Weber.
Gr, :
Hulk
u en anDe =
Bonn, gedruckt bei Carl Georgi,
[
Verlag von Meyer & Zeller in Zürich.
Mann, Friedr,, Naturwissenschaftlich-pädagogische Briefe. 1ste und 2te
Reihe. Preis des Heftes Fr. 1.
— — Die Geometrie, dargestellt in entwickelnder Methode für höhere
Lehranstalten und zum Selbstunterricht.
I1ster. "Theil: "Planimötrie. . . 22... Br, aseme
2ter Theil: Stereometrie, nebst Vorkurs der descriptiven
Geometrie) 2... 1... .. 02.0 re
Moosbrugger, Leop., Professor in Aarau: Grösstentheils neue Auf
gaben aus dem Gebiete der Geometrie descriptive, nebst deren
Anwendung auf die konstructive Auflösung von Aufgaben über
räumliche Verwandtschaft der Affinität, Colineation ete. 14 Bogen
Text mit 60 lithographirten Tafeln. 4. brosch. Preis Fr. 16.
Orelli, J., Lehrbuch der Algebra, für Industrieschulen, Gymnasien
und höhere Bürgerschulen. 18 Bogen gr. 8. geh. Fr. 3. 60.
Pädagogische Monatsschrift. Im Auftrage des schweiz. Lehrervereins
herausgegeben von H. Grunholzer und H. Zähringer.
Jährlich 24 Bogen in 12 Heften. Preis pr. Jahrgang Fr. 5.
Raabe, Dr. J., Ueber die Integration zweier simultan bestehenden
linearen Differenzialgleichungen zwischen nVariabeln. 8. geh.
Preis Fr. —. 40.
— — Mathematische Studien. 1s. Heft... . . . .. Fr. 2. —.
Strauch, Dr. G. W., Theorie und Anwendung des sogenannten Varia-
tionskalkuls.. 2 Bände mit 6 Tafeln mathematischer Figuren.
Zweite wohlfeile Ausgabe. Lexikonformat. Preis Fr. 18. 75.
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