4 ueea ur ud 2 N A} b 2.) a LA Va as A ENRARRE, a ar A RR vr el m. N RN v. are = ; Ming EU: » ur 4 v {rin N e Mi Bidet Li aM [) } Er; \ ” Y ’ % 16 s j “ CH ER T NIEREN Von + Monaissehrift des WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS in ZÜRICH. Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : FERDINAND Hırzıc, EDUARD OSENBRÜGGEN, HEINRICH Fr£y, ADOLF SCHMIDT, HEINRICH SCHWEIZER. _ / } f BP, E. (Hauptred.: AnoLr ScHuipr.) BWEITBB JAZESATE ZÜRICH, VERLAG von MEYER & ZELLER. 1857. Ben. =, N . Er 5 1258 | i ji hr “= _ ZNIEAAV WARDLITIAHICHAZIE ER. - > ı asdianash zuundvarunanoidnahefl, usb aov undogsgauarel “ x \ 2 x . i A an souraal ;nunnüsanae) ara ererı aranıaaa 2 saw oma ‚TarmmE won WE ES ZZ BE “Val BEN ' A Ü oe 5 r a man ı F & (una ask Si bertimall) A “ \ Zr Pisi i & gr E DRABELAU DErinWwE . TE A k: ji A # ” N OR | | EB? . ‚nardaS 8 aarıl wor oaıaaV BR er, st ‚Se Y Inhalt des zweiten Jahrganges. Die theologisch -ethischen Zustände der zweiten Hälfte des 17. Jahr- hunderts in der zürch. Kirche. Von Dr. A. Schweizer. : Kritische Bemerkungen über den ersten Theil von Göthe's Faust, na- mentlich den Prolog im Himmel. Von Fr. Vischer. Procrustes ante portas! Ein Be Zeitbild. Von Hermann Meyer B Ueber das Wesen der Wärme, Kuplichen mit Licht ca Schall. Von R. Clausius . ; - Skizzen aus dem Leben der Ka ih der Geschichte (una Ver- breitung. Von Prof. Dr. Lebert . Das Schiff der Buss. Von O. F. Fritzsche - Die Cultur Aegyptens und ihre Stellung in der Entwicklung en in lichen Geistes. Von Privatdocent Dr. 0. H. Jäger . - Joseph von Hammer-Purgstall. Von Prof. Konst. Schlottmann Ueber Cometen und Cometen-Aberglauben. Von Prof. R. Wolf. Ueber die Vererbung im Allgemeinen und die Vererbung einiger psychi- scher Eigenthümlichkeiten insbesondere. Von Dr. Meyer- Ahrens. Ueber deutsche Rechtssprichwörter. Von Dr. Julius Hillebrand. E Die neuere Gymnastik und deren, re SUSE Von Hermann Meyer r - . . . - Medicinalstatistische Notizen über die BR: der IRA ee des Kantons Zürich in den Jahren 1846 — 1855. Von Schrämli. Ueber apokalyptische Geheimnisse, das vierte Buch Esra im Besondern. Von G. Volkmar . . . . . Mittheilungen aus u Sitzungen üeh isn. aa 72, Seite. 100 125 129 153 226 249 268 278 313 333 248, 310 4 rien ih HE m a a hr un NE Ei wor Me sr. ab aa ah burn a "7 Zi en omuih ui zolrE ah Mahl ®, wr SUITE SUR, er W EFRRRKR RM 0 5 N ee ee | ME Man ee ur 2 f wa Ant mW Sr - ErErE, BRD NO PA EOE WR 408 DPESHRREER CE hi - -o susbaunfkul ; heat will ad DIN 4 = ” z a wur "rt in du Rama - a = BER ib SE Bere Er A ru ai Ä EEE u: ei N Be / NEE ze ar a rs = F 88: Haas IR sun DIR ‚Abe ‚er si rind 0 u E A Me r } 178 0.8 ?, 7 ’ u nn Se _e = \ _ “ u ’ = {5 y “ * za F “ | ö 67 Dr “ , + “ \ ws “ ‘ Y se 2 = + ER 2 , E 2 G Monatssehrift ar des WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS h N in | ZÜRICH. Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : FErDINAnD Hırzıs, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, HEINRICH Frey, ApoLr Schamipr, HEeInRicH SCHWEIZER. 2 BE Maspuud.: ApoLF ScHMiDT.) i |... BWBLTER Jazzmsank. I Erstes und zweites Heft. } if r v ZURICH, VERLAG von MEYER & ZELLER. a ee En Preis für den Jahrgang ihr, — Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in, möglichst anziehender und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtbeile über neue Erscheinungen, sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitgetheilt werden. Inhalt des borliegenden Beftes : Die theologisch-ethischen Zustände der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der zürcherischen Kirche. Von Dr. ALEXANDER ScHwEIzER . . . 1 Kritische Bemerkungen über den ersten Theil von Göthe's Faust, namentlich den Prolog im Himmel. Von Fr. Vıscher . . a Er Proerustes ante portas! Ein kulturgeschichtliches Zeitbild. Von HErMmann MEN RE GE Ne TE ER RR AN Ca HR RT DR HT DIN MER Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von Crausıus. LEBERT, WOLF, v. Wyss, v. ORELLI, MEYER-ÄHRENS, SCHLOTTMANN, HILLEBRAND, FRITZSCHE, ViscHEer und Anderen. Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des Buchhandels erbeten. Gegenwärtige Witglieder des Wissenschaftlichen Vereins : J.J. Horrınser, Präsident. ALEx. ScHWEIZER, Vicepräsident. DERNBURG, Sekretär. Bosrık. Crausıus. Escher v. d. LıntH. An. Fıck. H. Frey. Frıtzsche. GIESKER. Hrerr. HiLvesranp. Hırtıesrannd. Hırzıc. Kym. Lesert. v. MarscHALL. H. Meyer. MEYER-Aurens. MEYER v. Knonav. Mürter. NÄgELı. v. ÖRELLI. OsENBRÜGGEN. RAABE. SCHLOTTMANN. An. SchmiDTt. H. ScHWEIZER. STÄDELER, F. Vıscher. VoLKkMARr. R. Worr. G. v. Wyss. Druck von E. Kiesling in Zürich. - Die theologisch-ethischen Zustände der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der zürcherischen Kirche. ‘) Von Dr. ALEXANDER SCHWEIZER. Die theologischen und ethischen Zustände des 17. Jahrhunderts sind dem protestantischen Bewusstsein, sobald dieselben durch andere ersetzt waren, gleichgültig und beinahe verhasst geworden, bis nach Ablauf der folgenden Periode eine unbefangenere Stimmung einge- treten ist. Dieses gilt auch für Zürich. Man liebt es, auf zürcherischem Boden um hundert Jahre zu- rückzugehen in den Kreis jener edeln Männer, welche von lebendiger Humanität und einfachem, undogmatischem Christenthum erfüllt, wie Bodmer und Breitinger, in die verschiedensten Gebiete des geisti- gen Lebens grossartige Anregungen zu geben und löbliche Werke der Gemeinnützigkeit zu begründen vermocht haben. Mit noch grösserer Freude pflegt man um dreihundert Jahre zurückzublicken in die reformatorischen Geisteskämpfe eines Zwingli, Bullinger und ihrer ausgezeichneten Gehülfen. Weit bedenklicher dagegen erscheint es, um zweihundert Jahre zurückzugehen, und dort vollends die Theo- logie zu betrachten. Stolz auf die beiden Glanzperioden des geistigen Lebens schämt man sich beinahe des zwischen ihnen liegenden Zeit- alters. In der That, das 17. Jahrhundert in seinen geistigen Zuständen und namentlich die zweite Hälfte, in welcher der Charakter des gan- . zen Zeitraumes vollkommen ausgebildet erscheint, ist seit wohl hun- dert Jahren nichts weniger als beliebt und hat ohne Zweifel die Un- Sunst der Nachwelt gerade durch sein theologisch - kirchliches Leben sich zugezogen; man nennt Ja das 17. Jahrhundert eine Wiederholung des Mittelalters und seine Theologie eine nochmals auferstandene Scholastik, Bezeichnungen, welche den entschiedensten Tadel aus- drücken sollen. — *) Aus einem gehaltenen Vortrag entstanden. Wissenschaftliche Monatsschrift, 1 Sa Dennoch, auch dieser Theil unserer Vergangenheit will _ erkannt und möglichst verstanden sein; auch diese Periode ist eine im Fort- schritt des geistigen Lebens nothwendige und berechtigte gewesen ; und unter den oft stürmischen Bewegungen unserer Tage hat in manchem Gemüthe nach lange üblicher harter Beurtheilung fast wieder eine Vorliebe für die Ruhe und Festigkeit der geistigen Zustände des 17. Jahrhunderts erwachen wollen verbunden mit der Frage, ob die ganz andere Geistesströmung, welche dann im 18. Jahrhundert sich gel- tend gemacht hat, nicht als verderbliche, zur Revolution führende Störung zu beklagen sei. In der Theologie sind nun die sonst ge- priesenen Meister des Rationalismus fast vergessen, man verweilt lieber wieder bei den von ihnen angefochtenen ältern Lehrern. Unser Urtheil darf sich aber nieht durch Sympathieen oder Anti- pathieen bestechen lassen; vielmehr kann nur die nähere Betrachtung des 17. Jahrhunderts uns sagen, ob jene Männer, welche im 18. Jahr- hundert dann eine so ganz andere Richtung eröffnet hahen, in blosse Willkür verirrt, oder einem wohl begründeten Bedürfnisse gefolgt seien. Wir müssen jene Periode, um den Stoff übersehen zu können, selbst für den localen Standpunkt Zürichs mittelst weniger charakteri- stischer Züge zu schildern uns begnügen. Auch wird die Gefahr, in Kleinliches hinaus zu gerathen, dadurch verringert, dass gerade in jener Periode Zürich als immer noch annerkannter Mittelpunkt der reformirten Kirche einen grossen Einfluss nach Aussen geübt, und dass jede Bewegung des theologisch-kirchlichen Lebens unsers Erdtheils die zürcherischen Theologen mitberührt und bewegt hat. Wir sehen den Charakter des Zeitalters überhaupt in einem Brennpunkte sich scharf und bestimmt darstellen. Das theologisch-kirchliche Leben hat seit dem Beginn der Refor- mation drei bestimmt von einander verschiedene Perioden durchlaufen, welche an die drei Jahrhunderte sich vertheilen, jedoch nur ungefähr, denn die mittlere Periode greift vorwärts und rückwärts weit über das 17. Jahrhundert hinaus. Die erste Periode ist die der grundlegenden eonfessionellen Auseinandersetzung, welche wir die Bekenntniss erzeugende oder symbolbildende nennen können; die zweite ist die der näheren Verarbeitung und Vertheidigung des als gültig. angenommenen Inhaltes jener Bekenntnisse; wir nennen sie die dogmatisch-pole- mische Periode. Die dritte endlich ist die im 18. Jahrhundert entstandene der kritischen, aufklärenden Untersuchung des überlieferten Lehrgehaltes; wir nennen sie die kritisch aufklärende Periode. 4 ur — MM Die dritte haben wir hier nicht näher zu würdigen; wir wissen alle, wie sie als Rationalismus und als Supernaturalismus das alte Lehrsystem erschüttert, aufgelöst, umgebildet und unserm Zeitalter die Aufgabe einer durchgreifenden Erneuerung der kirchlichen Systeme hinterlassen hat, so dass es nur der Trägheit oder Bomirtheit oder einer die Kirche zum blossen Polizeimittel herabdrückenden Politik möglich bleibt, (die ältern Lehrsysteme einfach restauriren zu wollen. Sehr richtig hat Tholuek erkannt, wie einer Geschichte des Ratio- nalismus nothwendig die Erforschung der theologischen Zustände des 17. Jahrhunderts vorher gehen müsse, und dafür ein reiches fast ver- gessenes Material gesammelt. - Kommt darunter viel wüstes nnd rohes Leben vor, so dürfen wir darum noch nicht meinen, der Forscher habe nur den auch uns allen anklebenden Schmutz aus dem 17. Jahrhun- dert zusammengelesen, wie Kliefoth sieh’s zurecht machen möchte, um sein rückwärts liegendes Ideal sich nicht trüben zu lassen. Wir müssen, um die mittlere Periode zu verstehen, die erste übersichtlich uns vorführen. Die eonfessionelle Auseinandersetzung nimmt ihren Anfang ge- nau mit dem Jahre 1519, in welchem Luther mit Eck zu Leipzig disputirt, und zum erstenmal nicht blosse Missbräuche, die von der bestehenden Kirche beseitigt werden könnten, angegriffen, sondern mit Hinsicht auf Lehre und Kirchenregiment Sätze aufgestellt hat, die nothwendig zu einer Krisis führen mussten; dem Jahre, mit dessen ersten Tag Zwingli, der in klarer Verständigkeit die ganze Trag- weite der erwachten Gegensätze von Anfang erkannt hat, seine Wirk- samkeit zu Zürich eröffnete; dem Jahre, in welchem der 19 jährige König von Spanien aus habsburgischem Hause als Karl V. zum Kaiser gewählt wurde. — Thesen, Streitsätze für Disputationen waren die erste Ausdrucksform confessioneller A andersetzung. So ge- nau das Jahr 1519 als Anfangspunkt zu be eichnen ist, eben so ge- nan fällt die Mitte dieser Periode ins Jahr 1530, auf den berühm- ten, vom genannten Kaiser zur Schlichtung der religiösen Wirren ein- berufenen Augsburger Reichstag; denn hier haben die wachsenden Gegensätze zum erstenmal, — da Enthers 1529 erschienene Kate- ehismen doch ein anderes Ziel verfolgen, — in ausführlichen Bekennt- nissen oder Confessionen sich ausgesprochen. Namens der lutherischen Reichsstände wurde die ee TURN RN formulirte Augsburgische Confession dem Kaiser überreicht, sofort durch eine Widerlegung, Con- futation, von den anwesenden katholischen Theologen beantwortet und wiederum von Melanchthon durch eine Apologie vertheidigt. Das ee protestantische und das römisch - katholische System treten hier zum erstenmal ausführlicher in offizieller Fassung einander gegenüber, ob- wol die Klugheit den lutherischen Gegensatz hier noch möglichst wenig gespannt hat, damit der Kaiser ihn leichter dulde. Gerade darum stellte man sich angelegentlich ausser Gemeinschaft mit dem schweize- rischen Protestantismus. An demselben Reichstag erklärt sich neben dem lutherischen auch der reformirte Protestantismus, indem theils die anwesenden Strass- burgertheologen Bucer, Capito und Hedio Namens der von der Schweiz aus reformirten oberdentschen Städte Strassburg, Constanz, Memmingen und Lindau das darum sogenannte vierstädtische Bekennt- niss überreicht, theils Zwingli selbst, da schon zu jener Zeit die Eidgenossenschaft an Reichstagen sich nicht zu vertreten pflegte, seine Confession an den Kaiser geschickt hat. Man war genöthigt, sich besonders auszusprechen, weil ein halbes Jahr vorher Luther und Zwingli beim Gespräch zu Marburg über einen Punkt der Abend- mahlslehre sich nicht hatten vereinigen können, und Melanchthon num in der Augsburger-Confession die schweizerische Ansicht ausdrücklich zu verwerfen sich veranlasst sah. Es haben sich also am Reichstage zu Augsburg dem römischen Katholieismus gegenüber die kirchlich gewordenen Formen des evangelischen Protestantismus neben einander ausgesprochen, sowol der Jutherische als der reformirte, und in letzterem sowol der streng Schweizerische als auch der gemildert unionistische des obern Deutschland. Der lutherische Prote- stantismus musste sich aber noch viel runder aussprechen, als in dieser leise tretenden Confession. Von diesem Reichstage an fahren die protestantischen Kirchen fort, wenn Veranlassung es erheischte, weitere Bekenntnisse zu ver- öffentlichen. Im Jahr 1537 setzte Luther mit seinen Freunden zu Schmalkalden Artikel auf für ein damals in Aussicht gestelltes allge- meines Coneilium, und nun erst wurde der Gegensatz zur römischen Kirche in durchgreifender Schärfe, die man zu Augsburg noch zu umgehen getrachtet hatte, ausgesprochen; die Schweizer aber veröffent- lichten wiederholt ihre Bekenntnisse*), um Verleumdungen ihres Glau- bens zu begegnen. Der Schluss dieser bekenntnissbildenden Periode fällt in die sechsziger und siebziger Jahre für alle drei Confessionen. Die römisch- *) Die erste und die zweite Basler, welch letzere auch erste helvetische Confession heisst. u katholische Kirche hat ihren Lehrbegriff vollständiger als vorher niemals festgestellt auf dem 1545 endlich zu Stande gekommenen und nach öfterm Unterbruch 1563 geschlossenen Coneilium von Trient, welches zu zwei Drittheilen aus Jtalienern bestehend zwar manche Missbräuche, die den ersten reformatorischen Angriff veranlasst hatten, beseitigt oder gemildert, die wesentlichsten Grundsätze des Protestan- tismus aber verdammt hat. Gleich im folgenden Jahre 1564, dem Todesjahre Calvin’s, erschien zu Rom die offizielle Ausgabe der Be- schlüsse und Lehrsätze dieses Coneilium, sofort auch ein der päpst- lichen Gewalt noch günstiger gestellter Auszug unter dem Namen Tridentinisches Glaubensbekenntniss, anf welches seither die katholi- schen Theologen und Geistlichen verpflichtet werden, und 1566 der römische oder tridentische Katechismus. Damit war und blieb die symbolbildende Thätigkeit dieser Kirche abgeschlossen, die Lehre fest und bindend autorisirt; für eine Kirche dieser Art unstreitig ein Ge- winn, so dass sie von da an wie neu gekräftigt aus manchem Lande und verschiedenen deutschen Provinzen den schon vorherrschenden Protestantismus wieder zurückzudrängen vermochte, wobei der neue Orden der Jesuiten, welcher 1540 gestiftet schon 1574 in Luzern ein Collegium gründete, erfolgreiche Dienste geleistet hat. Vielleicht ist nie eine waukende Gestalt der Kirche durch Stiftung enger Glau- bensvereine, inuerer Mission, Benutzung der Armenpflege, Einschie- bung einverstandener Männer in die Beichtstühle und Lehrstellen, Herbeiziehung auch der weltlichen Macht, mit grösserem Erfolge re- staurirt worden als damals der Katholicismus. Die Protestanten pfleg- ten aber diese Mittel zu verwerfen und urtheilten, dass bei solchen Anstrengungen der Satz der Herm: „seid klug wie die Schlangen und.einfältig wie die Tauben“ zerbreche, indem diese Arbeiten ge- wöhnlich nur dem einen folgend entweder klug seien ohne Einfalt und Treuherzigkeit, oder zwar einfältig aber nicht klug und einsich- tig, daher denn sowol die Klugheit als die Einfalt ausarte. Dieselben Mittel also, welehe der römischen Kirche dienlich sind, können hin- gegen der evangelischen Kirche nicht dienen und werden dieser nicht zur Gesundheit ausschlagen. Um ein Decennium später hat auch die lutherische Kirche ihr ‘ letztes Bekenntniss aufgestellt, die sogenannte Eintrachtsformel von 1577, weniger neue Bestimmungen gegen den Katholieismus enthal- tend als vielmehr theils gegen innere Entwieklungen, welche Melanch- thon angeregt hatte, theils gegen die in Deutschland sich verbrei- tende reformirte Lehre. Diese Eintrachts- von Vielen sofort Zwie- Teen trachtsformel genannt, mit schon ınehr theologischem als kirchlichem Charakter, hat aber nicht in allen lutherischen Ländern Eingang ge- funden, namentlich nicht im Herzogthum Braunschweig, dessen Uni- versität Helmstädt dann durchs ganze 17. Jahrhundert im Sinne ihres berühmten Theologen Calixtus durch viel mildere Lehre neben der streng dogmatischen des übrigen Lutherthums sich auszeichnet; auch hat die neue Formelmit ihrem Sonder-Lutherthum viel dazu beigetragen, dass nicht wenige Städte wie Bremen, Hanau, und Fürsten wie Landgraf Moritz von Hessen, Pfalzgraf Johann Casimir, der refor- mirten Eigenthümlichkeit bestimmter als vorher gefolgt, ja 1614 der Churfürst von Brandenburg Joh. Siegismund von der lutherischen zur veformirten Confession übergetreten sind. Ganz anders sehen wir die Bekenntnisse auf dem Boden der reformirten Kirche entstehen, welche bei aller Einheit der Lehre doch weit weniger eine äussere Einheit bildet. Sie gingen hervor aus dem Bedürfnisse der einzelnen Länder, zuerst im zwinglischen, dann seit Calvin mit Bullinger 1549 sich im Zürcher-Consens völlig ver- einbart hatte, im Calvinischen Typus. Der Höhe- und Schlusspunkt dieser symbolbildenden Production fällt auch hier in die sechsziger Jahre. Es haben 1559 die Reformirten in Frankreich sich ihre Con- fession gegeben, 1560 ist die schottische Confession entstaifllen, 1561 die holländische, 1562 die englische durch letzte Redaction der 39 Artikel, 1563 der Heidelberger Katechismus, 1566 die vorzugsweise sogenannte helvetische Confession, von Bullinger einige Jahre vorher aufgesetzt für den Churfürsten von der Pfalz. In allen drei Kirchen schliesst sich somit die symbolbildende Thätigkeit mit den sechsziger oder siebziger Jahren des 16. Jahr- hunderts; immer handelt es sich um die confessionelle Auseinander- setzung. Ihr dienten die vielen Zusammenkünfte und Colloquien. Die begleitende Theologie der Hochschulen selbst war noch eine ein- fache und ungekünstelte; man folgte Melanchthons Lehrbuch, wel- ches einem kirchlichen Symbol ähnlich ohne strenge Systematik die Hauptstücke behandelt, oder Calvin’s auch für Nichttheologen les- barer Institution, die zuerst der in Katechismen üblichen Stoffesver- theilung, in spätern Ausgaben einer verwandten ganz populären An- ordnung folgte. Far, Sobald die Contessionen thatsächlich von einander gesondert und jede Confession Sache einer besondern Kirchengemeinschaft geworden war, musste der Charakter des theologischen Lebens ein anderer werden. De Unsere zweite Periode, die polemisch -dogmatische Verarbeitung des in den Symbolen wesentlich abgeschlossenen Lehrbegriffs, beginnt schon mit den achtziger Jahren des Reformationsjahrhunderts und er- streekt sich über das ganze 17. bis tief in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein ganz anderer Charakter des theologisch kirchlichen Lebens, der dogmatisch -polemische Scholastieismus tritt uns entgegen; statt der Entwicklung Stabilität, statt einfach prakti- scher Darstellung der Kirchenlehre eine künstliche Schultheologie, welche die einmal geltenden Systeme behauptet, zergliedert, bis in die feinsten Bestimmungen hinausführt, und die Dogmen der Kirche gegen jeden abweichenden Standpunkt so wie gegen jede wirckliche Entwicklung hartnäckig vertheidigt. Erst nach der Mitte dieses Jahr- hunderts ist der Name Dogmatik entstanden, sehr bezeichnend, da Dogma in der That Satzung der Autorität von jeher bedeutet hat; vollends die polemische oder Streit-Theologie tritt nun in den Vorder- grund. Die confessionelle Auseinandersetzung war vollendet und ab- geschlossen, auch was an weiteren Bekenntnissformeln wenigstens in der reformirten Kirche noch vorkommt, das ist entweder blosse Deela- ration .Uebertretender, wie das Bekenntniss Joh. Siegismunds von Brandenburg bei seinem 1614 erfolgten Uebertritt aus der lutherischen in die reformirte Kirche; oder es trägt nun selbst auch den dogma- tischen Charakter dieser Periode, wie die Beschlüsse der 1618 auf 1619 gehaltenen Nationalsynode von Dordrecht und die schweizerische Consensus- oder Uebereinstimmungsformel, welche zu Zürich wie ein verlorener Spätling 1675, volle hundert Jahre nach Bullingers Tode, gewissen Entwicklungen der reformirten Theologie Frankreichs ent- gegengesetzt wurde. Kurz vorher, 1664 hatten die lutherischen Eife- rer zu Wittenberg ebenfalls eine solche ganz nur theologische Spät- formel der mildern Helmstädter Richtung entgegenzusetzen versucht, aber diesen „wiederholten Consens der lutherischen Kirche“, welcher an zelotischer Engherzigkeit die schweizerische Formel weit übertrifft, nicht durchsetzen können ; Vorgänge, die den Mittelpunkt des nun in seiner ausgebildeten Gestalt näher zu betrachtenden Zeitraumes bilden. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts wird politisch betrach- tet das Zeitalter Ludwigs XIV. in jeder Hinsicht wichtig für die nachfolgenden Zeiten. Bei aller Stabilität der kirchlichen Systeme war doch das ganze Jahundert äusserlich voll Bewegungen und Er- schütterungen, auch solchen, die unmittelbar mit dem theologisch- kirchlichen Leben zusammenhängen. Das Ende der siegreichen hollän- dischen Befreiungskämpfe, dann der dreissigjährige Krieg erfüllt die er erste Hälfte des Jahrhunderts, sofort beginnt die englische Revolution, 1649 ist Karl I. enthauptet worden, 1658 Cromwell gestorben, 1660 Karl II. zum Throne gelangt, 1689 Jacob II. wegen katholischer Ten- denzen zur Abdankung genöthigt, und die Krone dann seinem Schwie- gersolne, dem aus Holland herübergekommenen Wilhelm von Oranien anvertraut worden. In Frankreich hatten die religiösen Bürgerkriege noch den Anfang ‘des Jahrhunderts erfüllt, 1629 war La Rochelle der Hand Richelieu’s erlegen, die bewaffnete Macht der Reformirten blieb gebrochen; da das Toleranzediet Heinrichs IV. nur aus Gnaden wie- der bestätigt wurde, so musste von da an die reformirte Kirche stets fühlen, dass sie nur aus Gmaden geduldet werde. Von den sechs- - ziger Jahren an wurde ihre Lage immer unerträglicher, Bekehrungen durch Befehle, Bestechung und Gewalt in steigendem Maasse erzwun- gen, Tausende misshandelt, zur Emigration gedrängt, bis endlich 1685 durch förmliche Aufhebung des Toleranzedietes von Nantes die lebens- volle reformirte Kirche in Frankreich auf’s grausamste vernichtet wurde, und die absolute Königsmacht dastand, welche dann hundert Jahre später durch die schreckliche Revolution gestürzt worden ist. Auch in unserer Schweiz war viel Verwirrung und Streit. Wir denken an den Veltlinermord 1620, dann an die Aufstände im Kanton Zürich wegen der Gutsteuer, die zur Bezahlung der zuletzt noch wäh- rend des dreissigjährigen Krieges nöthig gewordenen Grenzbewachung, aber auch zu der 1642 angefangenen Befestigung der Stadt verwendet wurde; dann an den grossen Bauernaufstand von 1653 in den west- lichen Kantonen, an den zwar kurzen Religionskrieg mit der unglück- lichen Schlacht zu Vilmergen 1656, an die durch's ganze Jahrhun- dert herrschende Spannung zwischen beiden Religionsparteien, immer genährt durchs gemeinsame und abwechselnde Regieren über die ge- meinen Herrschaften, eine verdeckte Gluth, welche 1712 noch einmal in heftigen Flammen aufloderte. Alles dieses bildet einen Boden, welcher für das kirchlieh-theo- logische Leben Entwickelungen nicht begünstigen konnte. Treten wir nun auf Zürichs Boden den geistigen Zuständen un- serer Periode selbst näher, um sowohl ihre Vorzüge als ihre Nach- gbeile zu würdigen, und beginnen wir mit der Lichtseite: so werden wir überrascht, in jenem beinahe verrufenen Zeitalter, welches die Consensusformel aufgestellt hat, eine wahre Glanzperiode der zürcherischen theologischen Schule, des seine Gründung von Carl dem Grossen herleitenden, bei der Reformation erweiterten Carolinum, vorzufinden. „Unsere Schulen, — schreibt ein Zürcher- Br theologe*) 1647, — sind nun so weit organisirt, dass sie mit den berühmtesten des Auslandes wetteifern können, und 1650: „Ich habe 118 Zuhörer in meinem öffentlichen Collegium, und nie ist der Ueber- fluss an Candidaten grösser gewesen als jetzt.“ Zürich hatte damals das Glück neben andern gelehrten Männern drei ganz ausgezeichnete theologische Lehrer zu besitzen, Johann Heinrich Hottinger, Joh. Caspar Schweizer, beide 1620 geboren, und den 13 Jahre jüngern Joh. Heinrich Heidegger. Der erste, ein ganz ausserordentliches Talent, ragt hervor in der Kirchengeschichte, neben welcher auch die Dogmatik ihn beschäftigte, und besonders in der orientalischen Gelehrsamkeit; der zweite in der griechischen, sowol klassischen als kirchlichen Philologie, der dritte, obwol den weiter gehenden Zeloten wehrend, doch recht eigentlich als Repräsentant des dogmatischen Geistes, — Heidegger hat die erwähnte Consensusformel aufgesetzt. Diese Blüthe der zürcherischen Schule fällt um so mehr auf, als damals schon nur noch Landeskinder, ja eigentlich nur Bürgerssöhne der Stadt in die höhern Lehrstellen gelangten; während hundert Jahre früher Männer aus weitem Kreise in Zürich vereinigt gewirkt hatten. Hottinger, der schon 1663 diesen Umstand in einer academischen Rede **) besprochen, nennt es einen-Vorzug der Zürcherschule, dass sie mit fast nur einheimischen Kräften so vieles geleistet, während lländische und deutsche Academien grösstentheils fremde Kräfte serbeizurufen genöthigt seien. „Nicht überall, sprach er, erzeugt der Boden selbst Alles, was nöthig ist, zumal für literarisches Fort- schreiten. Die blühenden Academien Deutschlands und Hollands haben ihre grössten Lichter von Aussen her, nur die wenigsten sind aın Orte selbst geboren. Bei uns dagegen haben von Anfang an Bürger und Benachbarte grösstentheils den Bedürfnissen genügt, zur Zeit der Reformation die Zürcher Gualter, Haller, Wertmüller, Lavater, Gess ner, Fries, Wolf, Simler, Ammann, Wirth, Stucki u. A.; Bullinger von Bremgarten, Bibliander aus der Landgrafschaft Thurgau, Zwingli aus dem Toggenburg. Dabei waren aber unsere Väter nicht so von Vaterlandsliebe verblendet, dass sie mehr auf die Geburt als auf die Gaben gesehen und Ungeeignete, bloss weil sie Bürger waren, dem Lehramte aufgedrungen hätten. Peter Martyr (von Florenz) gedachten *) Joh. Caspar Schweizer in seinem handschriftlichen leider nur bis 1675 reichenden Diarium. Stadtbibl. Mserpt. S. 269. *#*) J.H. Hottingeri Schola Tigurinorum Carolina. Tig. 1664 pag. 596. ee sie zu ersetzen durch Zanchi oder Hyperius oder Ursinus, und unser Lavater, eines Bürgermeisters Sohn, eines Antistes Schwieger- sohn, war weit entfernt, diese Bemühungen um einen Auswärtigen zu hindern, obwol er selbst diese Stelle zu bekleiden würdig gewesen wäre. Bedenken wir, Zürich, in der äussersten Ecke Deutschlands, ist durch Studium und Wissenschaft gross geworden — —.* — So hatte man ehedem die einheimischen Kräfte durch auswärtige ergänzt, fremde Lehrer aber gewöhnlich eingebürgert. Wie mächtig die Sym- pathieen hierin gewirkt, sehen wir besonders in Genf, wo Calvin z. B. 1558 an einem einzigen Tage 279 religiöse Flüchtlinge in’s Bürgerrecht aufnehmen lies, 200 Franzosen, 50 Engländer, 25 Ita- liener und 4 Spanier. Jetzt war es anders geworden, 1670 wurde das Bürgerrecht der Stadt Zürich geschlossen, gemäss dem Charakter der Zeit; denn gerade kleinere Städtchen, wie Sursee, hatten es früher schon gethan, und die Landgemeinden wetteiferten hierin mit den Städten. Die in Folge des 30 jährigen Krieges vermehrten Armen und Gebrechlichen, welche von den Gemeinden versorgt werden muss- ten, waren Veranlassung zu dieser Schliessung des Bürgerrechts. Heben wir die Blüthe der damaligen Zürcherschulen um so mehr hervor, weil nur Söhne von Zürich das Lehramt bekleideten, so darf doch nicht Alles dem Verdienste dieser Theologen zugeschrieben wer- den, auch die Umtsände wirkten mit. Streng war die reformirte Lehre auch von der lutherischen geschieden; reformirte Jünglinge konnten nur an reformirten Schulen studieren; an den lutherischen Uni- versitäten wären sie, abgesehen von Helmstädt, mit den heftigsten Ausfällen auf ihre Confession übersehüttet worden; sie mussten also veformirte Anstalten besuchen, und Zürich galt als die Mutterkirche der Reformirten. Jünglinge aus andern evangelischen Kantonen, aus reformirten Gemeinden Deutschlands, Frankreichs, aus Holland, selbst aus England und am regelmässigsten aus Ungarn, — für ungarische Studierende waren in Zürich besondere Stipendien bestimmt, — liebten es, wenigstens nach Vollendung des heimischen Studiencurses noch in Zürich Aufenthalt zu machen. Die Sprache war kein Hinderniss, da die lateinische noch ausschliesslich in der Wissenschaft herrschte, auch liess sich ziemlich billig in Zürich leben. Ueber beides schreibt Schweizer, damals Inspeetor des Alumnates 1648: „Ich habe 12 Alumnen und 7 Privatkostgänger, welche mir fl. 120 oder fl. 100 bezahlen, für deinen Neffen mögen fl. 90 genügen; dafür erhalten sie hinreichende Kost, Aufsicht, Nachhülfe; unter einander dürfen sie durchaus nur lateinisch sprechen. — Endlich ist aus dem untern un an Collegium das langweilige Dietiren verbannt und Keckermann's Sy- stem eingeführt worden mit Uebungen in Aufsätzen und Briefsehreiben. Mehr als früher werden die griechischen und lateinischen Dichter er- -klärt, von mir selbst Isokrates und Homer, von jenem Redner oft drei Seiten, von Homer bis auf 40 Verse in Einer Stunde. Die Studi- renden werden zu Privatarbeiten angehalten.“ Wie Zürich von Aus- wärtigen gerne besucht wurde, so pflegten hinwieder unsere Studiren- den nach ganz oder grösstentheils vollendetem Curse auf auswärtigen Hochschulen weitere Ausbildung zu suchen, nicht wenige auf öffent- liche Kosten.*) Wo die auswärtigen Studien betrieben worden seien, das können gerade die drei genannten Theologen uns vollständig ver- anschaulichen. Hottinger, eines Fischers Sohn, zeigte frühe schon eine ausser- ordentliche Begabung; er soll als junger Student Predigten während des Anhörens griechisch nachgeschrieben haben, und später redete er mit einem Rabbi zu Heidelberg so fertig hebräisch, dass dieser erzürnt seinen Sohn durchprügelte, weil er von diesem Christen in der heiligen Sprache so sehr übertroffen werde. Kaum siebzehnjährig wurde‘ er auf Kosten der Obrigkeit in’s Ausland geschickt, reiste für zwei Mo- nate nach Genf, daun durch Frankreich nach Holland, wo damals die Gelehrsamkeit ihren Hauptsitz hatte. Zuerst studirte er in Gröningen bei Alting, Gomarus, dem bekannten erzcalvinistischen Gegner der ‚Arminjaner, und bei Pasor das Arabische; dann wählte er Leyden, wo er in's Haus des Orientalisten Golius aufgenommen dessen zahl- reiche arabische Handschriften sich abschrieb. Bei einem Muhamme- daner und Juden aus dem Orient machte er dort so schnelle Fort- schritte, dass eine holländische Gesandtschaft ihn nach Constantinopel mitnehmen wollte. Zürich gab es nicht zu, wies ihm vielmehr die Mittel an, England zu besuchen, dessen Orientalisten ihn mit Aus- zeichnung aufnahmen. Nach vierjähriger Abwesenheit kehrte Hottinger 1641, erst 21 Jahre alt, durch Frankreich, wo er in Paris den be- rühmten Grotius, die Theologen Drelineourt, Mestrezat, Dalläus, zu Saumur die Professoren Amyraut, Placäus, Cappellus kennen lernte, in die Heimat zurück und erwarb sich bald durch seine Wirksamkeit einen europäischen Ruf. Sein Altersgenosse und Freund J. C. Schweizer wählte hin- gegen die reformirten Academien Frankreichs aus, reiste 1640 nach Montauban, studirte dann zu Saumur bei den drei berühmten Theo- 1) J. H. Heidegger dissertt. Seleet. Tom. IV. Vita Hottingeri pg. 51. z Ba. logen, gegen deren Ansichten später von Zürich aus die erwähnte Consensusformel gerichtet wurde. Schon 1637 hatten die Zürcher wegen dort auftretender Neuerungen in der Lehre ihre Angehörigen von Saumur zurückberufen, später ist das_Verbot dieser Academie er- neuert worden; jedenfalls hat Schweizer längere Zeit dort studirt, und dann nach Zürich zurückgekehrt langsamer als Hottinger, die Stufen zur Chorherrenwürde und zum theologischen Lehrstuhl durchlaufend die griechischen Fächer mit grosser Auszeichnung vertreten. Heidegger endlich, wie jener eines Geistlichen Sohn, setzte seine Studien fort in Marburg und dann in Heidelberg, bis er als theologischer Professor nach Steinfurt berufen wurde und, als diese Sehule unter Kriegswirren erlag, 1655 in Zürich Anstellung fand. Als Dogmatiker und Polemiker hat er so bedeutende Werke verfasst, dass er wiederholt nach Gröningen, ja nach Leyden selbst an die Stelle des Coccejus berufen wurde, ohne aber dem Rufe zu folgen. An diesen drei Beispielen sehen wir vollständig, wo damals die Zürcher zur Erweiterung ihrer Kenntnisse hinzureisen pflegten; ab- gesehen von kürzerem Aufenthalte in Genf und Basel, entweder noch auf die holländischen, oder auf die französischen oder auf die deutsch reformirten Hochschulen, an welch letztern nicht selten auch Zürcher als Professoren angestellt waren. Nicht nur die für höhere Lehrämter bestimmten besonders hervorragenden Jünglinge, auch eine Menge der übrigen haben die auswärtigen Academien besucht. Dieser persönliche Wechselverkehr mit auswärtigen Reformirten belebte die damals noch sehr innigen Verhältnisse Zürichs zu allen reformirten Ländern. Die Theologen hatten fast überall persönliche Bekannte, mit denen sie seit der Studienzeit Briefe und Schriften wechselten; und von der Theologie her nährte sich auch die politische Freundschaft, welche mit der Pfalz, Hessen, Holland nnd England stets erhalten blieb. Immer noch wurde Zürich in den Zuschriften aus diesen Staaten als Mutterkirche der Reformirten behandelt. Man übte aber auch gerne und gewissenhaft die mit einer sol- chen Stellung gegebenen Pflichten, unterstützte überall die refor- mirte Kirche, bot verbannten ein sicheres Ar und brachte viele Opfer für bedrängte Glaubensgenossen. Als die Universität Heidelberg, während des dreissigjährigen Krieges so heruntergekommen, dass 1625 nur 2 und 1626 nur 1 Student immatrieulirt worden ist, wieder gehoben werden sollte, suchte und fand der Pfalzgraf Karl Ludwig die Mittel zunächst in den Sym- pathieen der Schweiz und namentlich Zürichs. Im März 1651 schreibt u ee Schweizer an einen Freund: „Für Herstellung der Universität Heidelberg giebt man sich alle Mühe. Der Pfalzgraf hat vorige Woche sein restaurirtes Schloss wieder bezogen; er verlangt Geldhülfe von den Schweizern und wird sie ohne Zweifel bekommen.“ Etwas später: „Der Pfalzgraf hat durch einen Gesandten bei unsrer Regierung 6000 Thaler als Darlehen nachgesucht, er erhält mehr als er verlangt, man hat ihm die Summe geschenkt, und hoffentlich werden die übrigen evangelischen Orte gleichen Eifer bezeigen. Die reformirte Kirche liegt uns am Herzen, nächst der vaterländischen zuerst die pfälzische; ich würde selbst nach Heidelberg übersiedeln, wenn meine Gattin sich damit befreunden könnte.* ‘Im Mai dann schreibt er: „Wir erwarten Tossanus, der den kirchlichen Angelegenheiten dort vorsteht; er wünscht Candidaten, und wird von unserm Ueberflusse leicht welche bekommen.“ Dass dieses geschehen, zeigen uns mehrere von Schweizer dann mit dort angestellten Schülern gewechselte Briefe. — Das grösste Opfer glaubte Zürich dem Pfalzgrafen zu bringen, als es auf wiederholte dringende Bitten 1655 seinen Hottinger für drei Jahre, die später verdoppelt wurden, ihm zu leihen sich entschloss. Hottinger, unter- stützt von Friedrich Spanheim aus Genf, dem Polyhistor Freinsheim, der die Studien Christine’s von Schweden geleitet, u. A. brachte die Universität schnell wieder empor. Auf der Hinreise erwarb er sich in Basel die theologische Doctorwürde, die dann auch Heidegger, um die Professur in Steinfurt anzutreten, bei Hottinger in Heidelberg sich ertheilen liess. Die Schweizertheologen pflegten aus alten evan- gelischen Bedenken (‚ihr sollet euch nicht Rabbi, d. h. Doctor, Lehrer nennen,“) diese academische Würde zu verschmähen, den französi- schen Reformirten wurde sie vom Könige verboten, damit die katholi- schen Theologen das Prärogativ allein hätten; da aber holländische und deutsche Academien von jedem theologischen Professor diese Würde forderten, so mussten Franzosen und Schweizer, wenn sie eine solche Professur annahmen, die Bedingung noch erfüllen. Der Zusammenhang mit dem Auslande wurde von unsern Theo- logen auch ihrerseits benutzt, sich literarische Hülfsmittel zu ver- schaffen. An J. C. Schweizer können wir dieses veranschaulichen. Er arbeitete beinahe während seines ganzen Lebens ein dem Theologen immer noch unentbehrliches Werk aus, das er „Schatz der griechischen Kirchenväter“ betitelt hat. Was die erst 1629 gestiftete, durch den gemeinnützigen Eifer unserer Bürger schnell anwachsende Stadtbiblio- thek darbot, bedurfte noch vieler Ergänzung, auch musste manches, um immer zur Hand zu sein, für den Privatbesitz erworben werden. Zr Daher suchte sich dieser Gelehrte von allen Seiten her das Fehlende zu verschaffen. Nach Genf schrieb er einem dort studirenden Schüler: „berichte ınir genau, was die Bibliothek an griechischen Handschriften besitzt, denn was giebt es köstlicheres in der Welt, als griechische Manuseripte! Für die Bücher, welche du mir gekauft, schicke ieh dir hier das Geld; wären sie nur schon da, es sind ja einige griechische Kirchenväter darunter, die ich mit der Zeit alle meiner Bibliothek einzuverleiben hoffe, wenn es nicht gar zu hoch kommt.“ Einem Genfer Buchhändler droht er, sich Bücher von Lyon kommen zu lassen, wenn er die Preise nicht ermässige; „dort kostet Tertullian nur 18 Al., während ihr 25 fl. fordert.* — An seinen ‘Freund Diez, Rector in Ulm: „Wie ist bei euch Duports Psalter zu haben ? in Basel kostet er 5 fl.; bei euch giebt es ja so wenige Liebhaber griechischer Literatur, dass was etwa vorkommt, billig abgehen sollte. Wäre wohl eine homerische Gnomenologie zu haben ?“ Von Saumur erbat er sich ein Verzeichniss aller dort erschienenen Werke, da er von einigen höre, die er nicht besitze. — An Med. Dr. Zaffi in Venedig, der heimlich den dortigen Reformirten als Geistlicher diente, schrieb er: „Die Kirchenväter habe ich nun alle, ich suche aber auch spätere griechische Schriftsteller, in denen Zustände, Gebräuche und Dogmen der griechischen Kirche beschrieben sind. Von hier liegt Griechen- land so weit ab, dass ich dich bei deiner Liebe zur Wissenschaft be- schwöre, mir von dem so günstig gelegenen Venedig aus beizustehen. Du wirst dich dadurch um die ganze Kirche verdient machen.“ Wie es scheint, von Zafli ermuntert, wandte er sich an den Abt von St. Marcus und Bibliothekar in Venedig: „Seit meinem einundzwanzigsten Lebensjahr bin ich in’s Meer der griechischen Kirchenväter hinausge- schifft und habe nicht gerastet, bis ich in den erwünschten Hafen ein- gelaufen. Alle ihre Schrifften, so viele bis jetzt herausgekommen, habe ich genau durchlesen und ausgezogen, um einen patristischen Thesaurus zu schaffen, den ich in sieben Foliobänden glücklich zu Ende geschrieben und noch lange in Arbeit behalte. Jetzt wende ich mich zur Bearbeitung des Hesychius und eines griechisch lateinischen Lexicons. Lass mir doch ein Verzeichniss aller auf eurer Bibliothek vorhandenen griechischen Bücher zukommen; gerne will ich dir dann diejenigen Bücher aufschreiben, welche euch noch mangeln.* — Sehr erwünscht war ein griechischer Erzbischoff Nathana@l von Leucas, der im Abendlande eine Steuer sammelte, 1650 in Zürich erschienen.* „O bliebe er doch länger, — schreibt unser Theologe an einen Freund, — er spricht das jetzige Griechisch, welches dem alten noch sehr _— _— 121 — nahe kommt und leicht von mir verstanden wird; das reine Grie- ehisch versteht er, kann es aber nicht sprechen; auf die meisten Fragen weiss er mir genügende Auskunft zu geben.* Erst 1682 überliess Schweizer seinen Thesaurus, das Werk vierzigjährigen Fleisses, dem Sohne eines befreundeten Baslereollegen, Wetstein, zum Drucke in Amsterdam; eine zweite Ausgabe von 1728 ist werthvoller, weil sie weitere Zusätze giebt, die des Verfassers Sohn und Nachfolger J. Heinrich und nach diesem der Bürgermeister Joh. Caspar Escher in ein Exemplar hineingeschrieben hatte. Schleiermacher hat wiederholt geäussert, dieser Thesaurus Suiceri sollte in zeitgemässer Ueberarbeitung wieder herausgegebeu werden, da er immer noch un- entbehrlich sei. Der Zusammenhang Zürichs mit allen Theilen der reformirten Kirche hat noch durch’s ganze 17. Jahrhundert sich kundgegeben in vielen Leistungen für bedrängte Glaubensgenossen. Einige Beispiele, an denen die genannten Theologen näher betheiligt waren, mögen hier genügen. Am 25. Mai 1676 trafen 25 ungarische Geistliche in Zürich ein, von den Galeeren glücklich befreit. *) Heidegger, sobald das Loos dieser Unglücklichen durch Zaffi nach Zürich berichtet war, hat auf's eifrigste für ihre Befreiung sich be- müht, theils bei unserer Regierung, theils bei der ihm befreundeten holländischen Gesandtschaft in Zürich. Etwa 300 evangelische Geist- liche waren in Ungarn verdrängt worden, die meisten ins Elend aus- gewandert, die Standhaften zum Tode verurtheilt, dann zur Ketten- strafe auf den Festungen begnadigt, ein Theil der letztern aber auf spanische Galeeren verkauft. Als angebliche Türkensklaven transpor- tirte man diese nach Neapel, so dass viele jämmerlich auf der Reise starben. Der Rest, immer noch den Uebertritt zur katholischen Kirche verschmähend, wurde je zwei an die Galeeren geschmiedet, am Kopfe gebrandmarkt und zur harten Ruderarbeit gezwungen. Ein Schweizer- kaufmann in Neapel entdeckte diese lange verheimlichte Misshand- lung, setzte Zafii in Venedig davon in Kenntniss, der sofort nach Zürich berichtete. Man sammelte Geld, die Unglücklichen loszukaufen und erlangte die Verwendung Hollands, welches damals die erste See- macht seinem im Mittelmeer stationirten Helden, Admiral Ruyter Be- fehl gab, diese Märtyrer frei zu machen, so viele noch am Leben *) Diese Geschichte ist genau aufgezeichnet in dem seltenen Werk Hist, ecel. Reform. in Hungaria et Transylvamia, herausg. von F. Adolf Lampe. Tra- jeeti ad Rhen. 1728. Lib. 3. wären. Endlich nach Zürich gelangt wurden sie, Reformirte und Lutheraner ohne Unterschied lange Zeit gastfreundlich beherbergt, und von Heidegger noch bis nach Schaffhausen geleitet, als die Rückkehr in's Vaterland wieder möglich geworden. Die damalige Härte der Katholiken gegen Evangelische bot aber auch in der Schweiz selbst Gelegenheit genug, sich Verfolgter anzu- nehmen. Aus Art im Kanton Schwyz, am Fusse des Rigi, waren 1655 mehrere Familien evangelischer Gesinnung plötzlich nach Zürich geflüchtet; nicht nur wollte die Regierung von Schwyz die Habe dieser Flüchtlinge nicht herausgeben, sondern sie weigerte sich auch, die Streitsache vor das eidgenössische Recht zu bringen. Dieser Streit- handel ist eine Hauptveranlassung zum Religionskrieg von 1656 ge- worden. Zürich hatte freilich in analogem Falle die Güter von Apo- staten auch nicht verabfolgen lassen, nie a so grausam wie Schwyz gehandelt. Hören wir darüber unsern J. ©. Schweizer, der an diesen Flüchtlingen um so lebhaftern ak: nahm, als seine Vor- eltern auch aus Art zwar lange vor der Reformation nach Zürich ge- kommen waren. Er schreibt in öffentlichem Auftrag 1659 an die holländischen Kirchen: „Vor vier Jahren sind 7 Familien, im Ganzen 35 Seelen mit Zurücklassung ihner Habe dem Joche antichristlicher Tyrannei entfliehend aus Art am Zugersee zu uns gekommen. Sobald ihre Flucht nach Schwyz berichtet war, liess man 15 andere evange- lischer Religion Verdächtige in Fesseln werfen und peinlich verhören, Da sie weder durch Versprechungen noch durch Drohungen zur Ver- leugnung der Walırheit zu bringen waren, so wurden drei Männer und eine Matrone hingerichtet, die übrigen aber nach Mailand den Schrecken der spanischen Inquisition überliefert. Jetzt noch wer den leisesten Verdacht evangelischen Glaubens erregt, ist vor Banden und Hinrichtung nicht sicher. Jene zu uns geflüchteten, rechtschaffene, in der Lehre befestigte Greise, Jünglinge, Frauen und Männer, hahen wir der empfangenen Wohlthaten würdig erfunden. Von der Obrig- keit und Privaten sind sie bis zur Stunde reichlich unterstützt worden, auch aus benachbarten Kantonen sind Beiträge geflossen. Jetzt bitten diese Flüchtlinge, dass wir sie den reichen holländischen Kirchen empfehlen. * Wie vieles man zu verschiedenen Zeiten für die Waldenser (Schweizer schrieb für sie Namens der evangelischen Stände 1662 an Karl II. nach England), wie vieles in den achtziger Jahren für die Refugies aus Frankreich, für die aus der verwüsteten Pfalz Geflüchte- ten und Andere, die als Geissel nach Frankreieh geschleppt wurden, — Ai = gethan, ist bekannt; nie fehlte es an Veranlassungen, und nie an ent- sprechender Hülfe. Weniger bekannt dürfte es sein, dass Zürich in einer Art theo- logischer Allocutionen seine Empfindungen über alles, was irgendwo die reformirte Kirebe erlitt oder ihre Gegner sich zu schulden kommen liessen, feierlich ausgesprochen hat. Es geschah dies in academischen Orationen, welche damals auf der Wasserkirche gehalten wurden. Ich wähle Beispiele aus ungedruckten Reden J. C. Schweizer’s, die seinem Tagebuch einverleibt sind. Im April 1652 hielt er eine Rede dieses Charakters über die Ferdinandische Verfolgung: „Vom Hochwürdigen Antistes ist mir aufgegeben, vor Gott unsere gerechten Klagen auszuschütten, da- mit auch die Nachwelt dieses Kaisers Gottlosigkeit erfahre. Ferdi- nand III., welcher jetzo das römische Reich lenkt, hat am 4. Januar neuen Styles in Wien zwei Ediete erlassen, zunächst an die Bewoh- ner des Erzherzogthum Oestreich unter der Ens. Sie sind grausam und unmenschlich, den Rechtgläubigen Bussen und Verbannung an- drohend, wie schon Ferdinand II. gethan, sein Sohn aber nun es er- neuert hat. Die Absicht ist Ausrottung der Evangelischen. Von Lobeserhebungen der römischen Synagoge und Verleumdungen der Kirche Christi strotzen beide Edicte. Das erste befiehlt den Refor- mirten ihre Religion abzuschwören, untersagt ihnen Predigt und Gottes- dienst, verbannt die Lehrer, unterdrückt die religiösen Bücher, ver- bietet allen Gottesdienst im Erzherzogthum ob und unter der Ens, ja auch in den übrigen Ländern, die dem Kaiser unterthan sind. Nach Ungarn, wo immer die rechtgläubige Lehre sich findet, werden Späher und Angeber geschickt, kein Wirth wagt es, flüchtige Evangelische zu beherbergen. Wer einen Lehrer ins Haus aufnimmt, wird gestraft, sein Vermögen eingezogen; wer verbotene Bücher liest oder verheim- licht, wird schwer gebüsst; wer an einem Gottesdienste Theil nimmt, wird zuerst mit Geldstrafe belegt, dann in’s Gefängniss geworfen, end- lich verbannt und seines Vermögens beraubt. Sind sie arın, so wer- den sie in Fesseln zu öffentlichen Arbeiten gezwungen. Wer versteckte Evangelische angibt, wird belohnt. Das zweite Edict gebietet Rück- : kehr in die egyptische Knechtschaft, und mit welch satanischer List wird sie betrieben! Man bescheidet die Reformirten vor Commissionen und Priester, schüchtert sie ein, lockt sie durch Versprechungen u. s. w. — Was können wir anders thun, als beten für die Verfolgten, flehen» dass aus diesem Elend die wahre Kirche kräftiger wieder erstehe!“ Eine ähnliche antirömische Rede, veranlasst durch Ludwigs XIV. Wissenschaftliche Monstsschrift, 2 En, ee erneuerte Freiheiten der gallicanischen Kirche, hat der genannte Theo- loge zu Kirchweih 1663 gehalten, in heiterer Ironie wider den Papst, der mit stelienden Bezeiehnungen überschüttet wird. Nach Erwähnung damaliger Kriege wird fortgefahren: „Wir erleben noch ganz andere Kriege, mehr mit dem Federkiel als mit dem befiederten Pfeil geführt. Es ist der h. Stuhl des h. Vaters von seinen eigenen Sippen, von der ersten theologischen Faeultät Europa’s, von der Pariser. facultät so tapfer als heftig angegriffen worden. Welch unsäglicher Schmerz für den h. Vater, den seligsten Nachfolger der Apostel, den gleichsam vom Himmel herabgesendeten Gott! — Im vorigen Jahr hat die corsicanische Leibwache des Papstes den Palast des franzö- sischen Gesandten, seine Gattin und Dienerschaft in höchster Wuth angegriffen, so dass nicht ohne Blutvergiessen der Handel gestillt worden ist. . Der allerchristlichste König gerietk bei der Kunde von diesem Scandal in den heftigsten Zorn und suchte sich zu rächen. Es wurde hin und her geschrieben ohne Erfolg. In dieser ganzen Comödie schmerzt den Papst am unsäglichsten, dass die theologische Facultät zu Paris, vom Könige angetrieben oder begünstigt, Sätze ver- öffentlicht hat, die von den römisch katholischen Begriffen weit ab- gehen und die päpstlichen Vorrechte mit Füssen treten. Ja diese argen Sätze sind sogar vom Parlamente öffentlich bestätigt und in alle Provinzen und Academien des Reiches verschiekt worden mit Straf- androhung für diejenigen, welche nicht nach diesen Sätzen sich rich- ten würden. — Wie sollte ich, vom Antistes als Redner bezeichnet, umhin können, euch diesen Scandal aus der katholischen Kirche vor- zuführen? Vernehmet den Inhalt jener Sätze: der Papst habe im welt- lichen Gebiete des allerchristlichsten Königs gar keine Autorität, nicht einmal eine indirekte; der König habe üherhaupt in weltlichen Dingen gar keinen Höhern über sich als nur Gott, und von diesen alt galli- canischen Lehren werde die Facultät niemals lassen. Die Unterthanen seien dem Könige Treue und Gehorsam schuldig, dergestalt, dass sie davon unter keinerlei Vorwand dispensirt werden können. Niemals seien irgend welche der Autorität des Königs oder den autorisirten Freiheiten der gallicanischen Kirche widersprechende Lehren zu dul- den, z. B. als dürfe der Papst einen Bischof entsetzen zuwider jenen Freiheiten, als stehe der Papst über den allgemeinen Concilien, als sei er ohne deren Zustimmung unfehlbar.*“ Der Redner unterlässt es nicht, die lange Liste päpstlicher Verordnungen entgegengesetzten Inhalts aufzuführen, um den Widerspruch in’s volle Licht zu stellen. Es ist bekannt, dass Ludwig XIV. unter Bossuets Mitwirkung rn dann 1681 durch eine Synode in Paris diese Freiheiten der gallicani- schen Kirche bestätigen liess; aber gerade von da an wurden die Verfolgungen der Calvinisten so unerträglich, dass unser Theologe als er die Refugies noch in Zürich ankommen sah, schwerlich mehr die Debergriffe des Königs, bloss weil sie dem Papste gegolten, in dieser Weise beurtheilt hätte. Was ist doch die arge Ferdinandische Ver- folgung in Oestreich gegen die Misshandlung der Reformirten in Frank- reich, wo die zu Bestechungen ihrer Geistlichen bestimmte Kasse _ der Madame de Montespan, die Dragonaden und ähnliche Mittel ver- wendet wurden, nachdem einmal der Rath der Jesuiten vom Könige angenommen worden war. Bis in welche Spezialitäten diese Allocutionsreden eingetreten sind, zeigt eine von 1647 betreffend den Abfall eines Bruders des ‚Churfürsten von des Pfalz. „In Frankreich ist durch lockende Hei- rathsaussichten Prinz Eduard zum Abfall verleitet worden; höret den Brief, welehen er im Nov. 1645 von Paris aus an seinen ehurfürst- lichen Bruder geschrieben, damit ihr klar erkennet, dass irgend ein un- wissender Mönch dieses triviale Schreiben muss verfasst haben — —.* Nicht minder als die katholische Kirche haben Separation und Seetenthum, wenn es irgendwo reformirte Gegenden heimsuchte, solche‘ Alloeutionen veranlasst, wie, eine zu Kirchweih 1671 ge- lialtene Rede J. C. Schweizer’s beweist über die Separation der Laba- disten*) ‘in den Niederlanden. Der kirchliche Standpunkt urtheilt hier nicht weniger hart: „Unlängst hat sich eine neue Sippschaft von Häretikern oder Schismatikern gebildet, die sich nieht scheut, den ungenähten Rock Christi (die Kirche) zu zerreissen. Nicht genug, dass Independenten, Brownisten und ähnliche Seeten die blühenden Saaten, der englischen Kirche verwüstet und gleichsam Simsons Füchse hineingetrieben haben, sie zu verbrennen: ist num auch in Holland vor wenigen Jahren solches Gift verbreitet worden. Haupt und Quelle dieser Kirchenvergiftung ist jener französische Geistliche Jean La- badie, der von der römischen zur reformirten Kirche übergetreten war, ob aufrichtig oder heuchlerisch mag Gott wissen. Mit natür- licher Beredsamkeit hat er durch strenge Busspredigt wie ein zweiter 'Cato und Sittenrichter über ganz Frankreich bis nach Genf hin Auf- ‘sehen erregt. Als er aber zu Genf, wo man nieht bloss mit Worten ‚der Kirche dient, auf Widerstand stiess, begab er sich vor fünf \ *) Milder urtheilt die Nachwelt übrer Labadie. Vgl. Hagenbach Vor- lesungen über die Reformation IV. S. 307. f. ie Jahren von dort weg nach Middelburg in Seeland, wo er wiederum eine Pfarrstelle erhielt. Keinem Regimente sich fügend trat er end- lich offen mit seinen Abscheulichkeiten hervor, gab die Kirche auf und errichtete ein Sonderkirchlein, in welches er leider die Anna Maria Schurmann, diese gelehrteste Jungfrau, zu gewinnen wusste, Mit dieser begab er sich in eine westphälische Stadt, wo er nicht aufgehört, die Kirche Christi zu schmähen. Da der Ruf dieser neuen Separation ganz Holland und Deutschland durcheilt, so ziemt es sich dieser Stätte, wie der Hr. Antistes mir wider meinen Wunsch es au- erlegt hat, über die Sache eine öffentliche Erklärung abzugeben. Ich werde nichts dem übertreibenden Gerüchte entnehmen, sondern an die- jenigen Lehren mich halten, welche gottlos genug von jenen Leuten in Schriften verbreitet worden sind. Was diesen Labadie zum Ver- rath und Abfall getrieben, ist eine vorgegebene Erleuchtung aus dem h. Geiste. Noch mitten in den Finsternissen des Papstthums stehend sei er durch Offenbarung berufen worden, die verderbten Sitten‘ der Christenheit zu bessern, die fast vergessene Zucht herzustellen. Als er im Papstthum dieses nicht erreichen konnte, sei er zur reformirten Kirche übergetreten, endlich aber nachdem er 40 Jahre lang umsonst währe Christen gesucht, habe er die Einsamkeit und Ruhe vorgezogen. Wer entsetzt sich nicht über sein lügenhaftes Urtheil, auch die refor- mirte Kirche sei ein Verein von Schweinen und Ungläubigen, ein Teufelsstall und ein Götzenhaus, sie sei der Belial und Antichrist, das gottlose Babylon, aus welchem der heilige Geist uns ausziehen heisse; in ihr könne niemand, es sei denn zufällig, selig werden! Doch wir kennen diese Sprache, es ist die der alten Häretiker, In allen Zeitaltern hat es Leute gegeben, die, vom Wahne völliger Hei- ligkeit erfüllt, die Gemeinschaft mit andern Menschen verschmähten, weil sie dort noch etwas menschliches übrig sahen; sich selbst nann- ten sie Geistliche uud Vollkommene, die Rechtgläubigen aber Fleisch- liche und Unerleuchtete. So die Katharer, die Donatisten, die Nova. tianer, welche auf Erden schon eine Kirche ohne Mackel und Sünde haben wollten. Wahrlich wenn einst unter den Korinthern, wo doch verderbliche Streitigkeiten, Secten, Eifersucht, Zwietracht und Geiz im Schwänge gingen, und ein schändliches Lebensverhältniss geduldet wurde, selbst den Heiden ein Greuel; wo von Etlichen die Aufer- stehung der Todten verspottet wurde, wenn unter diesen Korinthern die wahre Kirche dennoch vorhanden war: wer darf sich erkühnen, Gemeinden, in denen nicht der zehnte Theil jener Verbrechen vor- kommt, die wahre christliche Kirche abzusprechen! Oder wenn er so zu = gehässig ja gottlos wider die reformirte Kirche wüthet, was hätte er denn über die Gemeinde zu Korinth, was über die Galather, welche nur eben nicht völlig vom Evangelium zum Gesetz abgefallen war, was vollends über die spätern Gemeinden zu Konstantinopel, Alexan- dria, Ephesus, Cäsarea urtheilen müssen! Doch Labadie geht noch weiter und verleumdet auch die rechtgläubige Lehre der reformirten Kirche, als enthalte sie Lästerungen wider Gott und schriftwidrige Dogmen. Glauben wir denn etwa nicht die Summe der Schriftlehre, Gott als Ein Wesen in drei Personen, seine allumfassende Vorsehung, Christus als Gottes eingebornen Sohn, wahren Gott und wahren Men- schen, seine beiden Naturen, dreifaches Amt, Menschwerdung, Geburt, Leiden, Tod, Bestattung, Auferstehung, Himmelfahrt, Sitzen zur Rech- ten des Vaters; sein Erlösungswerk, den h. Geist, dessen Gottheit, Kraft, Wirksamkeit und Gaben, die menschliche Sündhaftigkeit als Folge der Sünde Adams, das göttliche Gesetz als Maasstab für unser Thun und Zeugniss über unsere Sünde und verdiente Verdammung; dann die ewige Gnadenwahl, Prädestination, Berufung, Rechtferti- gung u. s. w.? Aber nicht genug, auch die Diener des Wortes klagt er an als treulose, weil sie Wiedergebornen und Unwiedergebornen gleich sehr die Vergebung der Sünden und das ewige Leben ankün- digen. — —* Dass das Treiben der Jesuiten mit grosser Wachsamkeit ver- folgt wurde, versteht sich von selbst. Schon der gelehrte Pfarrer am Fraumünster, Hospinian (Wirth) hatte eine Historia Jesuitica geschrie- ben. Heidegger feierte dessen Andenken durch eine Biographie Hospinianus redivivus. Schweizer sendet 1650 an einen Freund ein Buch, „welches die Nichtswürdigkeit der Jesuiten so klar mache, dass es nur Abscheu erwecken kann.“ Sechs Jahre später sind Pas- cals Briefe erschienen. Die Lichtseite unserer Zürcherperiode erkennen wir in dem blü- henden Zustand der carolinischen Schule, den tüchtigen gelehrten Leistungen, dem engen Zusammenhang mit allen Theilen der refor- mirten Welt, welcher sich in Verwendung und Beistand für unglück- liche Glaubensgenossen kund gegeben, — und iiberhaupt in Zürich’s -Centralstellung, die namentlich in jenen Allocutionen sich ausspricht. Auch von der Schattenseite müssen wir sprechen. Vor Allem fällt auf der trotz aller theologischen Gelehrsamkeit elende Zustand der deutschen Sprache und des ästhetischen Geschmackes. Mit Leichtigkeit handhabten die Gelehrten ihr Latein, Schweizer ein fliessenderes als Hottinger, wogegen Heidegger das gewöhnliche Theo- ei ee logenlatein. Nicht nur die Vorlesungen und Reden, nicht nur die Bücher, auch die Briefe, ja die Tagebücher schrieben sie in dieser Sprache; desto unausgebildeter blieb die deutsche Sprache in der Prosa wie in der Poesie. Deutsche Traktate und Predigten aus jener Zeit sind für uns ganz ungeniesssbar, während wir die der gleichzeitigen englischen Prediger, wie Tillotson, der französischen Hofprediger Ludwigs XIV. Bourdaloue, Massilion, der katholischen Schriftsteller Bossuet, Nicole, Arnauld, Pascal, der ihnen ebenbürtigen Reformirten Daill&, Drelineourt, Du Moulin, Claude, Du Bose, Jurieu u. A. gerne noch lesen. Doch ist die Schweiz frei geblieben von der steifen Pe- danterie lutherisch-deutscher Predigtmethode, welche vielleicht die: steif- sten und schlechtesten Reden erzeugt hat, die man je in öffentlichem Leben zu hören bekommen. Ein strengeres Gebundensein an den Text schützte die Reformirten vor der pedantischen Methodik lutheri- scher Predigtkunst. In Zürich brauchte man aber Kirchenlieder, die das geschmackloseste sein mögen, was je bei einem Kulturvolke in öffentlichen Gebrauch gelangt ist. Die Poesie war überhaupt eine blosse Reimerei geworden. Hottinger’s unglücklicher Tod in der Limmat veranlasste Poesien, welche dies zeigen. — Er wollte, wie Schweizer gleich nach dem Unglück an Diez meldet, kurz vor seinem Abgange nach Leyden, wohin die Regierung ihn den lange bittenden Holländern als Professor für sechs Jahre endlich geliehen, noch sein Landgut Sparenberg an der Limmat besuchen, und verunglückte ganz nahe der Stadt mit drei Kindern und einem Freunde; es war am 5. Juni 1667. Dieser Verlust erschütterte die ganze Stadt, ein nie- gesehenes Leichengeleite, obwol Bäume und Felder mit frischem Schnee bedeckt waren, — zeigte, dass man eine Landescalamität erlitten. Von allen Seiten und in allen gelehrten Sprachen strömten Trauer- gedichte zusammen; in einem Quartband wurden sie gedruckt; es fin- det sich aber wenig Poesie in diesen Arbeiten der gelehrtesten und gebildetsten Männer; überall Wortspiele mit dem lateinisch, griechisch, ja hebräisch übersetzten Landgut Sparenberg (parcimontanum mit paeimontanum), Wortspiele mit der Berufung nach Leyden; ein deutsches Gedicht aber, das sich wie Saul unter die Propheten ver- irrt hat, übersteigt alles, was wir uns vorstellen könnten. Es genügt zu sagen, dass Hottinger’s aus dem Flusse gerettete Frau immer in steifer Höflichkeit als Frau Doctorin, des mit verunglückten Junker Schneebergers Gattin als Frau Rittmeisterin comparirt: „Ach dieser Leyderbruf ihm leider seinen Tod sammt vieren andern schuf, — Herr Doctor mussten enden, Frau Doetorin konnte länden u. s, w.* — u Hat vielleicht gerade bei uns die Verkümmerung deutscher Poesie z. B. im gereimten Katechismus den Gipfel erreicht, damit dann der erste Anstoss zur Besserung um so sicherer von Zürich ausgehe? Auch für die klassischen Comödien des damaligen französischen Hofes kann man wenig Sinn gehabt haben, wenn eine zum Bundesschwur nach Paris geschickte zahlreiche Gesandtschaft in ihre Rechnung ver- zeichnet hat: „4 Fr. Trinkgeld für die ganze Gesandtschaft dem Possenreisser Moliere.* Eine pedantisch gewordene Steifheit und Strenge charakteri- sirte überhaupt das gesellige Leben des damaligen Zürich. Be- kannt sind die genauen Sitten- und Kleidermandate mit weit greifen- dem Befugnissen der obrigkeitlichen Gewalt in das, was nach unsern Begriffen der Privatsittlichkeit überlassen bleibt. Kirchen- und Abend- mahlbesuch wurden überwacht, nöthigenfalls durch Strafmittel er- zwungen. Fremde, welche nach Zürich kamen, rühmten und bewun- derten die strengen, einfachen Sitten, jedoch schwerlich mit dem Ver- langen, bleibend unter denselben zu leben; und so wichtig einfache Sitte für Freistaaten sein muss, so wäre es doch irrig, mit er- zwungener äusserer Strenge immer ein entsprechendes Maass innerer, freier Sittlichkeit verknüpft zu denken. Das Verbotene reizt, der zu Hause herrschende Zwang vermag nicht Eitelkeit und Prunksucht im Herzen selbst auszureuten. Wo die Kantonsgrenzen überschritten waren, schon im benachbarten Baden, hat man sich, oft durch desto übertriebenern Putz schadlos gehalten für den übertriebenen Zwang in der Heimat. Am einleuchtendsten zeigen die Synodalakten, wie viel ‘rohes die „gute alte Zeit“ in sich trug. Immer, besonders im Tlıur- gau, hatte man wider Trunksucht von Geistlichen zu kämpfen. Nicht selten versetzte man Pfarrer deswegen für einige Tage in den Wellen- berg, das Verbrechergefängniss in dem Thurm, der in der Limmath stand, und entliess sie dann nochmals in ihr Amt! Gegen Mitte des 17. Jahrhunderts begann das Tabakrauchen in unseren Gegenden vorzudringen. Denken wir an die seekrankheit- ähnlichen Zustände, welche am angehenden Raucher wahrzunehmen sind: so begreift man, dass diese Sache wenig anders angesehen wurde als jetzt der Gebrauch des Opium. Die Obrigkeiten als Handhaber beider Tafeln des sinaitischen Gesetzes schritten ein mit Verboten, in Bern wurde eine besondere Tabakskammer errichtet; das Rauchen, hiess es in ernsten Verwarnungen, sei unrein, ungesund, kostspielig, selbst dem Verstandesgebrauch nachtheilig, ja wohl gar der Religion gefährlich. Immerhin hat es aber nicht lange gedauert, bis der Tabak a gerade bei den Gelehrten und in den Pfarrhäusern sich einer ausge- zeichneten Aufnahme rühmen konnte.*) Der reformirte Theologe J. Henr. Alsted in seiner grossen und gelehrten Realeneyclopädie, welche sämmtliche Wissenschaften und Künste aufführt, hat eine besondere Wissenschaft als Tabacologia verzeichnet mit überraschend vernünf- tiger Lehre über Natur, Heimat, Zubereitung, nützlichem und schäd- lichem Gebrauch dieses Krautes; es ist aber dieser Diseiplin nicht gelungen, das academische Bürgerrecht zu erwerben. — Ein gleicher Eifer widersetzte sich den Perückentragen. Bedenken wir, dass damals die Perücke ihre Vollkommenheit noch nicht in der möglich- sten Selbstverleugnung gesucht hat, sondern mit grosser Ostentation als Prachtgebäude und Kunstwerk einherstolzirte: so begreifen wir, dass das moralische Gefühl sich verletzt finden konnte. Immer- hin ist sehr bald eine stattliche Perücke als unerlässliches Zeichen eines rechtgläubigen Geistlichen betrachtet worden. Jedenfalls hätte die Welt nichts verloren, wenn beide Artikel ausser Gebrauch geblie- ben wären; dass aber die ob noch so starke obrigkeitliche Autorität in solchen Dingen nichts vermag, liegt am Tage. Weit bedeutender ist der wirkliche Fehler jenes Zeitalters, den wir engherzige Widersetzlichkeit gegen die begründeten Fortschritte namentlich der Naturwissenschaften nennen und verkehrtem theologisch-kirchlichem Eifer schuld geben müssen. Der 1582 verbesserte Kalender wurde von den evangelischen Orten durch das ganze Jahrhundert beharrlich verschmäht, offenbar aus dem Grunde, weil ein Papst, Gregor XIII., die Verbesserung vorgenommen und mit Berufung auf seine Autorität sie den Völkern angeboten. Dass man grosse Bedenken hegen musste, eine unter päpstlicher Autorität zugemuthete ob an sich noch so begründete Neuerung einzuführen, werden wir um so billiger beurtheilen, wenn wir uns erinnern, wie eben Gregor XIII. die schändliche Pariserbluthochzeit von 1572 durch ein Te deum in Rom hatte feiern lassen. Dass man aber über hun- dert Jahre einen offenbar unrichtigen Kalender beharrlich festhielt, ist damit nicht entschuldigt. Antistes Lehmann in Zürich hatte schon anfänglich der Obrigkeit vorgestellt**), die Abweichung des Kalenders von der Realität würde erst in so und so viel 1000 Jahren Tag- und Nachtgleiche in die Hundstage hinrücken, da aber laut der frömmsten Theologen-Einsicht die Welt kaum noch einige 100 Jahre stehe, 50 lohne *) Hagenb. Vorlesungen IV. S. 516 £. *#) Acta eccelesiastica. 3 mn es sich nicht der Mühe, den Kalender zu ändern. Noch 1681 wurde das Bessere zurückgewiesen. Erst nach einer Vorstellung der evangelischen Reichsstände, die freilich auch spät genug im Jahr 1700 das Ver- säumte nachholten, indem zur Beseitigung der schon 11 Tage, welche man nach julianischem Kalender zu viel hatte, der Id. Februar als 1. März gezählt wurde, vermochten unsere vier evangelischen Kantone den schweren Schritt zu wagen, so dass 1701 der 12. Januar wieder als erster gerechnet ward. Zur sachgemässen Erklärung, dass es sich um eine obrigkeitliche, nicht um eine päpstliche Einführung handle, glaubte man auch dogmatische Entschuldigungen dem Volke vorführen zu müssen: „die Zeitrechnung gehöre zu den Mitteldingen, der Ka- lender sei kein Glaubensartikel, die Reformation sei denn doch nicht auf den Kalender, sondern auf Gottes Wort gebaut und diese Ver- besserung könne der Religion nichts schaden.“ Wir dürfen nicht vergessen, dass Zürich immer noch zu den ersten protestantischen Län- dern gehört, welche diesen Schritt gethan; Glarus, Appenzell a. Rh., die Stadt St. Gallen und Bündten blieben noch beim alten; erst Jahrzehnde später sind England und Schweden nachgefolgt, und in der ganzen griechischen Kirche, somit im russischen Reiche gilt jetzt noch die alte Zeitrechnung. Schwerer noch ist es allen christlichen Kirchen gefallen, die ‘eopernikanische Weliansicht statt der alten, ptolemäischen zu- zulassen. Dass die Sonne und die Gestirne sich nicht wircklich um die Erde als vermeinten Mittelpunkt des Weltalls herumbewegen, son- dern dieser Schein durch die viel einfachere Umdrehung der Erde um ihre eigene Achse hervorgerufen werde, schien im Widerspruch zu stehen mit der Bibel und mit der centralen Bedeutung des Menschen- geschlechtes, welche aus der Menschwerdung Gottes gefolgert wurde. Man weiss, wie selbst Melanchthon erschrocken ist über die 1543 erschienene Schrift des Copernikus, und in der ersten Bestürzung meinte, wenn der recht habe, so sei es um das Ansehen der Bibel geschehen. Und .doch hatte er recht, und doch hat die Bibel nie mehr gewirkt, als gerade seit der Reformation. Man weiss, wie noch 100 Jahre später Galiläi vor der Inquisition seine wohlbegründete . bessere Einsicht hat widerrufen müssen. Der erzorthodoxe Sam. Ma- resius in Gröningen, als dessen Schüler sich die meisten Geistlichen der Stadt Zürich betrachteten, erhob noch den naiven Einwand, ein Vogel, der nach Speise ausgeflogen in sein Nest zurückkehren wollte, würde es gar nicht mehr finden, wenn das Nest sammt dem Baum und Erdboden unterdessen im angeblichen Lauf um die Sonne Meilen = % = weit fortgeeilt wäre.*) Auch bei uns fand man sich verpflichtet, der Wahrheit zu misstrauen und sie als eine Sünde zu bekämpfen. In Basel erklärten sich noch 1662 die Theologen gegen die neue An- sicht, weil sie der Schrift widerstreite; in Zürich wie im Holland eiferte man gegen die Philosophie des Cartesius, welche dem Coper- nikus beistimmte; Joh. Heinrich Schweizer, Sohn und Nachfolger des oben genannten Theologen, wurde wie Heidegger selbst seiner eartesianischen Ansichten wegen, die in Holland von vielen Theologen gebilligt waren, heftig angefochten; ein obrigkeitlicher Befehl unter- sagte ihın, irgend etwas derartiges ferner drucken zu lassen, man möge solche Fragen den Holländern überlassen. Unstreitig hätte kein einziges der jetzigen naturwissenschaftlichen Bücher damals die Zür- cher Censur passiren können. Allerdings ist die antike Weltansicht wie überall im Alterthum,, so natürlich auch bei sämmtlichen biblischen Schriftstellern vorausgesetzt oder ausgesprochen, aber schon weit frü- her hatte der Philosoph und rechtgläubige Theologe Keckermann in Heidelberg, dessen Logik doch in unserm Collegium humanitatis eingeführt war, sehr gegründet bemerkt: die Bibel will Religion und Sittliehkeit, nicht aber Astronomie, Mediein, Naturwissenschaft und der- gleichen lehren. Gewiss ist die christliche Frömmigkeit ganz die- selbe, ob nun die Sonne um die Erde, oder ob die letztere um sich selbst sich bewege, ja die Frömmigkeit kann nur gewinnen, wenn die Werke des Schöpfers, je richtiger dieselben erkannt werden, um so grössere Bewunderung wecken müssen. Statt der undenkbaren Ge- schwindigkeit, mit welcher die so weit entfernten Gestirne um unsere - Erde in 24 Stunden rasen müssten, wird das Nöthige viel einfacher bewirkt. Kommt ein theologisches System, eine von ihm gemachte Vorstellung über die Bibel in offenbarsten Widerspruch mit offenbarsten Naturwahrheiten, so dürfen nicht diese verketzert und verdrängt, son- dern es muss die Pflicht anerkannt werden, das theologische System von irrigen Bestandtheilen frei zu machen. Das aber vermochte die damalige theologische Befangenheit nicht und veranlasste lieber den später unausbleiblichen völligen Sturz ihres Systems. Wer Natur- wissenschaft ferne von Aberglauben betrieb, musste es in strenger Verborgenheit thun, oder um Ruhe und Musse war es geschehen. Auch die Heilkunde litt sehr unter diesem Zustande. Es genügt anzu- führen, dass Winterthur seinem Stadtarzt den Gehalt erhöht hat, „weil das wichtigste Arzneimittel gar theuer zu beziehen sei, nämlich die egyp- *). 8. die Vorrede zu meiner Dogmatik der reform. Kirche $. XI. ERNEEEERDENEN Bi tischen Mumien;“ dass Zürich’s wirklich gelehrter Arzt Joh. v. Mu- valt an Zauberei glaubte, durch welche einer seinen Feind über's Meer hinüber erschossen habe,*) ist nur ein Beispiel allverbreiteter Befangenheit. Bei soleher Verkimmerung der Naturwissenschaften blieb der krasseste Aberglaube herrschend, so dass die Obern und Gelehrten selbst von demselben nicht frei werden konnten. Der Naturforscher Scheuehzer hat noch viel unter diesen Verhältnissen leiden müssen. Zwar mag sich in jeder Zeit bei untern Volksschichten noch Aber- glaube finden, welcher oben als Thorheit erkannt und behandelt wird. So meint J. J. Hottinger in seiner helvetischen Kirchengeschiehte: „wenn wirklich einige Reformirte zur Vilmergerschlacht sich festge- macht hätten, so sei das ihre Privatdummheit; wenn aber Capuziner und Jesuiten den katholischen Soldaten die Gewehre benedieirt und ihnen gerathen, beim Laden das allerheiligste Wort Caro factum est auszuspechen, auch Malefizzedulein mit den Kugeln zu laden, so sei diess ein Aberglaube, den die Kirche selbst in ihren Organen aus- übe. In der helvetischen: Kirchengeschichte erzählt derselbe Hottin- ger spottend, dass zur beabsichtigten Erstürmung von Genf Capuziner und Jesuiten Amulette ausgetheilt, kraft welcher man weder zu Land noch zu Wasser umkommen könnte. Dabei sei nur das Sterben in der Luft, nämlich am Strang vergessen worden.“ In der Krim sind bekanntlich nieht bloss bei russischen Soldaten solche Amulette ge- funden worden. Damals blieben aber auch unsere ersten Gelehrten von anderm Aberglauben nieht frei. Der Alechymie war ein früherer Theologe, Raphaöl Egli, welcher den Kirchengesang 1593 bei uns eingeführt hat, eifrig ergeben. In gelehrter Schrift hat er die Kunst Gold zu machen vertheidigt, bei der Praxis aber so viel eignes und fremdes Gold eingebüsst, dass er in’s Elend wandern musste. Der Landgraf vow‘Hessen gab ihm dann eine theologische Professur in Marburg mit der Warnung: „bläst ihr wieder alchymisches Feuer, will ich euch am Leben strafen.* **) — Die Predigtsammlung eines Diakon Müller, “ „Bussuhr“ betitelt, zeigt das Bild der Stadt Zürich und über ihr einen Kometen mit entsetzlichem Schweif. Auch unter den Gelehr- ten war es noch ausgemacht, dass die Kometen Strafgerichte androhen. Als Heidegger im Sept. 1667 die Gedächtnissrede auf den verun- ‘®) Schuler III. S. 274. " ##) Simler Sammlung alter und neuer Urkunden III. $. 831. A ui glückten Hottinger hielt, begann er mit den Zeichen am Himmel droben (Kometen) und in der Tiefe drunten (Erdbeben), welche das nahe Weltende verkünden. Was diese Zeichen näher bedeuten, na- mentlich der Komet, welcher unlängst uns erschreckt hat, sei leicht zu erkennen; unsrer reformirten Kirche hat er das Erlöschen grosser Lichter angekündigt, zumal für's Gebiet orientalischer Gelehrsamkeit. Fast in einem Jahr hat Frankreich seinen Bochart, Holland seinen Golius, England seinen Pocockius, Basel seinen Buxtorf, Zürich seinen Hottinger verloren.“ J. Caspar Schweizer schrieb am 18. Oet. 1650 an einen Freund: „O wie viele Zeichen des göttlichen Zorns, die Erde erzittert ob unsern Sünden; diese Nacht hat ein Erdbeben Alles durcheinander geworfen in unsern Häusern ; aber wir sind völlig todt und thun nicht Busse. Ehedem wurden, sogar in der Nacht des Papstthums, zur Zeit von Erdbeben Ergötzlichkeiten, Tanz, Gastmahle verboten, heut- zutage geht dieses alles ungestraft fort. O wir Reformirten! Sind nicht diese häufigen Erdstösse die sichersten Zeichen unsers Unter- gangs? Wie oft hat die Erde gebebt, zu Basel am 1. Sept. als auch wir es spührten, dann am 16, 17, 23. Was dies bedeute, zeigt sich schon in der Nachbarschaft; in Bündten lodern ja wieder die alten Partheikämpfe empor, seit Einige das französische Bündniss mit dem spanischen vertauscht haben.“ — Unstreitig sonderbare Combinationen der verständigsten Männer damaliger Zeit, dass ein Komet den Tod reformirter Orientalisten, häufige Erdstösse die Partheilosbrüche in Bündten bedeuten. Die Sache stand aber so fest, dass in der da- maligen Liturgie ein Gebet sich findet: „so sich Erdbidem oder Ko- meten erzeigend.“ In Holland hat der berühmte Bayle 1680 ein- leuchtend gezeigt, dass Kometen keineswegs erscheinen bloss um spe- zielle Unglücksfälle anzudeuten, in seiner witzigen Weise aber beigefügt, wie die Kometen übrigens ihr angebliches Prophetenamt ausserordentlich leicht auszuüben hätten; denn der Komet möge kommen wann immer er wolle, so sei irgendwo auf Erden hinlänglich Unglück vorhanden, um ihr nicht zu Schanden werden zu lassen. Die verdienstvolle Schrift kostete Bayle seine Stelle, obwohl er nur philosophischer Professor war. Schlimmer als alles bisher Genannte waren die berüchtigten Hexenprozesse; noch 1701 hat ein solcher in alter besster Form zu Zürich stattgefunden gegen sieben Weiber und einen Mann aus Wasterkingen, die auf der Folter verhört, ihren unzüchtigen Umgang mit dem Teufel bekannt und wirklich geglaubt haben. Ein Weib ist verbrannt, die übrigen Personen sind durch’s Schwert hingerichtet \ u Me worden. Allgemein hielt man noch diese Ausgeburten wilder und wirrer Phantasie für Wirklichkeiten, die Aerzte suchten am Leibe nach den Hexenmahlen. Und doch hatte der reformirte und gelehrte Pfarrer in Holland Balthasar Becker 1691 seine immer noch lesenswerthe ‚Schrift „die bezauberte Welt* wider diesen und ähnlichen Aber- glauben herausgegeben. Der wackere Mann büsste dafür sein Amt ein, und langsam erst, als auch Thomasius in Deutschland den- selben Kampf geführt, verschwanden die Hexenprozesse, ein Unwesen, welches mehr als einer Million Menschen auf die scheusslichste Weise das Leben geraubt haben soll. An Gespenster wurde so allgemein geglaubt, dass der eifrig orthodoxe Antistes Klingler im eigenen Hause von seinem Pedell sich vexiren liess und bei der Obrigkeit Schutz begehrte. Die Unter- suchung wurde sehr ernst genommen und der arme Pedell für sein Gespenstspielen hingerichtet, dann aber verboten, von der Sache zu reden. Durch das ganze Jahrhundert mussten Verbote erlassen wer- den wider das Segnen, Lachsnen, Wahrsagen, Zaubern, Mäuse und Ungeziefer Beschwören ; und zwar galt es hier der ersten, nicht der zweiten Tafel des Gesetzes, d. h. man meinte nicht einer betrüge- rischen Schädigung des Nächsten, sondern einer Gott beleidigenden Realität steuern zu müssen. Dass die Folter noch in anerkannter Thätigkeit gewesen und auch die Theologen sie als etwas selbstverständiges und nöthiges be- trachtet haben, versteht sich von selbst. Als in Zürich ein Maler Wirz*) auf die Kunde hin, in Appenzell a. Rh. sei ein nachher un- schuldig erfundener Pfarrer jämmerlich auf der Folter zugerichtet wor- den, es wagte, ein Schriftehen gegen diese Barbarei zu schreiben und, laut zu beklagen, dass die Pfarrer diese widerchristliche Rohheit nicht bekämpften: musste der gute Mann die Exemplare dieser Schrift ver- nichtet sehen und das obrigkeitliche Missfallen hinnehmen, ats er die Justiz einer befreundeten Regierung getadelt. Dennoch fällt mit allem dem kein besonderer Tadel gerade auf Zürich; es waren dieses weit verbreitete Zustände, die anderwärts vielfach krasser sich gestalteten. Diese Bemerkung findet ganz be- : sondere Anwendung auf einen weitern Zug jener Periode, die überall herrschende confessionelle Intoleranz. Wir haben gehört, wie unser freieste Theologe J. C. Schweizer ohne weiters die katholische Kirche als jüdische Synagoge, babylonische Knechtschaft, Antichristen- *) Schuler die Thaten und Sitten der Eidgenossen III. S. 282. er thum darstellt. , Gegen diese Kirche befand man sich in der That auf dem Kriegsfusse, man wusste, dass sie sobald ihr die Macht dazu gegeben wäre, die Protestanten ausrotten würde und ertrug ‚auch sie nur wo und wie man musste. Es darf aber beigefügt werden, dass man niemals die dort oft gegen Protestanten gebrauchten gröbern Mit- tel grausamer und hinterlistiger Gewalt auch nur in entfernt 'ähn- lichem Masse angewendet hat. Die Pariserbluthochzeit, der Veltliner- mord, die Misshandlung jener ungarischen Geistlichen, jener Einwohner von Art, des wackern Kilian Kesselring im Thurgau, jene Ferdinan- dische Verfolgung und Ludwig XIV. Verfahren wider seine durch Wohlstand und Bildung ausgezeichneten reformirten Unterthanen, stehen in der Geschichte da ohne entsprechende Grausamkeiten, welche von Reformirten wider Katholiken wären [angewandt worden. "Wohl aber duldete man den Katholieismus nirgends, wo man nieht musste und beging gleich den Gegnern viele Uebergriffe in den gemeinen Herr- schaften, welche abwechselnd von katholischen und von evangelischen Ständen regiert wurden. In Genf ist es 1679 nicht ohne Tumult ab- gelaufen, als der französische Gesandte in seinem Hause Messe lesen und benachbarte Katholiken beiwohnen liess. L Unbedenklich dürfen wir auch beifügen, dass unsere Kirche nie- mals gegen die lutherische rücksichtlich der Intoleranz Gleiches mit Gleichem vergolten hat. Wann selbst Gustav Adolf lieber das Aeusserste erleiden als der calvinischen Sache irgend Vorschub leisten wollte; wenn dem Churfürsten von Sachsen sein Oberhofprediger Ho& von Hoänegg rieth, sich jedenfalls eher mit dem katholischen Kaiser als mit reformirten Reichsständen zu verbinden*), wenn noch im Reformationsjahrhundert die von der katholischen Maria aus England vertriebenen, in höchste Noth gerathenen Reformirten von den Luthe- ranern in Dänemark und an der deutschen Küste überall wie verab- seheute Ketzer mitten im Winter wieder abzusegeln genöthigt wurden: so dürfte der emsigste Forscher vergeblich nach Beispielen ähnlicher Intoleranz der Reformirten gegen Lutheraner sich umsehen. ' Schon Bullinger konnte sich dessen rühmen. Man hat in der Schweiz zwar die Polemik beantwortet, niemals aber die Lutheraner darum als Häre- tiker angesehen, sie immer als über gewisse Punkte anders denkende Brüder betrachtet, was nur vom kleinsten Theil derselben erwiedert worden ist. Im Ganzen ist durch unsere Periode Alles bei dem Vor- bilde von Marburg geblieben, wo Zwingli bittend und unter Thränen #) Vgl. meine Geschichte der reformirten Centraldogmen. H. 8. 4. ee die brüderliche Liebe anbot, Luther aber diese verweigernd nur die ehristliche Liebe d. h. wie er später erläuterte, nur die Liebe, welche man auch dem Feinde schulde, entgegen brachte. Wir begreifen es, der Handfesteres, Materielleres, Phantasievolleres Glaubende wird den nicht Zustimmenden immer schwerer tragen, als wer Geistigeres, weniger Materielles glaubt den noch mehr Glaubenden. Darum konnte Calvin brüderlich einen Luther und Melanchthon lieben, einen die Trinität lengnenden Servet aber hinrichten lassen und überzeugt sein, nur seine Pflicht zu thun, wie auch Melanchthon und Bullinger es anerkannten. Selbst das Elend des dreissigjährigen Krieges hatte eine brüderliche Union nicht ermöglicht; es war nur Schein, wenn ein Gespräch zu Leipzig 1632 zwischen sächsischen mit reformirten Theo- logen Brandenburgs und Hessens freundlich geführt, einige Hoffnung erregt hat. Man weiss nicht, was einen Ho& von Hoäöneck zu vorübergehend freundlichem Tone vermochte. Als Hauptstreitpunkte wurden drei bezeichnet; dass nicht bloss Christi Person, sondern seine menschliche Natur als solche der göttlichen Eigenschaften, Allmacht, Allgegenwart, Allwissenheit u. s. w. theilhaft geworden, — ebenso dass im Abendmahl der wahre Leib Christi nicht bloss durch Glau- ben sondern durch den Mund genossen werde, gaben .die Reformirten nicht zu, wogegen ihre Lehre von der unbedingt entscheidenden Prä- destination und Gnadenwahl, einst von Luther selbst so derb be- hauptet*) von den Lutheranern nicht mehr gebilligt wurde. Auf dieses freundliche Gespräch folgte bald ein desto heftigeres Losbrechen gegen die Reformirten, die „gräuliche Gotteslästerung, Dutzende türkischer Irrlehren ihrer Bekenntnisse u. s. w.“ Ein neues Gespräch, zu Cassel 1660 veranstaltet, konnte mehr versprechen, weil nicht sächsische sondern hessische Lutheraner der Universität Rinteln mit den reformirten Marburgern sich unterredeten. Diese Lutheraner, Schüler des schon genannten milden Calixtus, er- wiederten wirklich das Entgegenkommen der Reformirten, in der Hauptsache seien beide Confessionen durchaus einig, andere Punkte könnten das brüderliche Verhältniss nicht aufleben u. s. w.; — aber die Folge war, dass diese mildern Lutheraner sofort von der schroffen Mehrheit lutherischer Theologen auf’s leidenschaftlichste angegriffen und vom Volke als Verräther betrachtet worden sind. Umsonst war ihre Vertheidigung, sie reizte nur die Wittenberger zum Versuch, eine neue, jede Milderung verdammende Bekenntnissformel zu betreiben, #*) Vgl. meine Geschichte der reformirten Centraldogmen I. 8. 80. £. = u den „repetirten Consens der lutherischen Kirche“ von 1664, welcher glücklicher Weise als förmliches Symbol nieht durchgesetzt werden konnte. Am schrofisten gestalteten sich diese Angelegenheiten damals in Berlin, das seine reformirt gewordenen Churfürsten und Könige nur sehr schwer ertragen konnte. Selbst der fromme Liederdichter Paul Gerhard hat das Versprechen, welches der Churfürst forderte, auf der Kanzel nicht ferner die andern Confessionen zu besehimpfen, nicht leisten wollen und lieber den ihn milde schonenden und achtenden Churfürsten genöthigt, seine Entlassung auszusprechen. *) So stand es 1664 in Berlin. Lutherische Pastoren, wenn sie jenen Revers unter- schrieben, wurden vom Volke geächtet, ihre Kirche blieb unbesucht, sie selbst waren Beschimpfungen jeder Art ausgesetzt. Die meisten vermochten es nicht über sich, ihre fanatisirten Anhänger zur Mässi- gung zu mahnen, suchten vielmehr den zweideutigen Muth zu zeigen, dass sie im Sinne der eifrigen Zuhörer die abwesende Minorität der Reformirten verketzerten, wie ein damaliger Prediger laut rief: „ewig verdammt sind alle Papisten, Calvinisten, Helmstädter (die mildern Lutheraner selbst); ich weiss wohl, dass ich das mit Gefahr meines Lebens sage u. s. w.* Die.Lebensgefahr war aber doch nur einge- bildet, Verherrlichung im Volke desto gewisser. Ueber unsern Zeitraum hat ein schottischer Geistlicher Duraeus sich zur Lebensaufgabe gemacht, eine Union beider protestantischer Kirchen zu Stande zu bringen, hat schriftlich und mündlich die Sache betrieben, ist überall herumgereist, auch in Zürich erschienen, wo man ihn freundlich ermunterte, endlich aber obne irgend etwas er- reicht zu haben gestorben, und zum Lohne für seine Anstrengungen vielfach verspottet worden. Da man ‚in der Schweiz die Union immer gewünscht, d. h. die Lutheraner bei noch fortbestehender Ungleichheit einzelner Lehren dennoch als Brüder betrachtet und behandelt, und die Erwiederung zu erlangen gesucht hat: so werden wir auch in unserer Periode diese Stellung von den Zürchern behauptet finden. Ohne das mindeste Bedenken hat Hottinger die zum Antritt eines Lehramtes in der reformirten Pfalz nöthige Unterzeichnung der Augs- *) In Büchern wie Wildenhahn’s Paul Gerhard, dürfen wir als in histo- rischen oder confessionellen Romanen die geschichtlich treue Wahrheit nicht suchen. Dort sind für die lutherische Sache sämmtliche Vertreter idealisirt, als Repräsentanten der reformirten aber wird der würdige Hofprediger Stosch zum Intriganten gemacht und ein vollendet schurkischer Geheimschreiber gedichtet; schon ästhetisch ein Fehler. — Er burgereonfession geleistet; ebenso Heidegger als er zu Heidelberg doctorirte. Seit Melanchthon die Missbilligung der reformirten Abend- mahlslehre in der Confession weggelassen, und die lutherische gemil- dert hatte, stand nichts mehr in derselben, was Reformirte nicht gerne unterzeichnen konnten, mochten sie auch manches anders verstehen als die Lutheraner. Beide Theologen haben für die Union geschrieben, Schweizer theilte ganz diese Gesinnung. Dennoch hätten die Zür- eher nicht vermocht, ihr Lehrsystem selbst dem lutherischen anzu- nähern, namentlich nicht ihr Dogma von der Gnadenwahl, welches für vollkommen schriftgemäss gehalten wurde. Die grösste Intoleranz herrschte in Zürich wenn freilich nicht gegen die Lutheraner, so doch gegen jede abweichende Lehre, die "innerhalb der reformirten Kirche selbst gewagt werden wollte. Hart und lieblos hatte man auf der Dordrechter Synode 1618 auf 1619, auch der treflliche Antistes Breitinger nicht ausgenommen, die gelehrten und frommen Arminianischen Geistlichen verurtheilt und aus der Kirchengemeinschaft ausgestossen, bloss weil sie die starre Gmna- denwahl milder auffassten. In dieser Hinsicht herrschte immer noch derselbe Rigorismus. Ueber die damalige Theologie kann die Consensusformel uns hinreichenden Aufschluss geben. Steif schola- stisch war die ganze Theologie geworden; in der Schweiz und Frank- reich etwas weniger als in Holland und in Deutschland. Sogar kirchen- geschichtliche Bücher wurden in scholastische Begriffsformen hinein- gearbeitet, wie z. B. unser J. Heinr. Hottinger die Reformation so darstellt, dass er nach der obersten wirkenden Ursache fragt, welche Gott selbst sei, nach der werkzeuglichen, die Reformatoren, nach der veranlassenden, der Ablass u. s. w., Formen, welche in der Dogmatik noch weiter gespalten auf jedes Dogma angewendet wurden. Die Richtigkeit des Systems selbst wagte man gar nicht erst zu prüfen, vertheidigte es vielmehr gegen alle Bedenken und abweichenden Sy- steme. Heidegger hat ein grosses theologisches Corpus hinterlassen, das der jüngere Schweizer dann herausgab, überdiess eine Menge ge- lehrt polemischer Werke geschrieben, namentlich gegen den tridenti- nischen Lehrbegrif. Mit dem Abt Reding von Einsiedeln, mit “ Sfondrati, Abt zu St. Gallen, nachher Cardinal, lag er fortwährend im Streit. Man polemisirte damals nicht bloss in Flugschriften, son- dern ernstlicher in grossen Werken; zehn Jahre lang arbeitete Reding sein Werk aus wider Heidegger, bis es endlich, wie dieser sagt, in fünf Elephantenbüchern herauskam. Konnte aber ein solcher Streit bei völlig mangelndem gemeinsamem Boden irgend Erfolg haben? Er Wissenschaftliche Monatsschrift. 3 Br a mahnt uns an zwei Duellanten, die durch ein weites Thal getrennt auf zwei Bergen wider einander fechten würden, jeder von seinem Anhang umgeben, ermuntert, mit Beifall überschüttet für die Hiebe, welche er austheilt, Deckungen die er anwendet u. s. w. Jeder wird als Sieger verkündet, keiner ist wirklich verwundet. Gerade Hei- degger, der eifrige Dogmatiker und Polemiker, war der eigentliche Repräsentant des damaligen theologisch-kirchlichen Zeitgeistes. Hot- tinger polemisirt viel milder, nicht bloss sind ihm sämmtliche von den Ltheranern anders gelehrte Punkte nicht fundamental und können den Frieden nicht stören; schon in Heidelberg*) wies er nach, dass die Milderung der Gnadenwahl durch Amyraut eine mehr schein- bare als wirkliche sei und jedenfalls unbedenklich geduldet werden könne. Hottinger's eigentliche Grösse finden wir jedoch in den rea- len Wissenschaften, den philologischen und historischen. Schweizer vollends hat so ausschliesslich nur das reale Wissen geschätzt, die damalige Art von dogmatischer Theologie aber gering geachtet, dass er mit seinem Baslerfreunde J. Rud. Wettstein eine blosse Ausnahme von der Regel gewesen, und nur seinen gelehrten Leistungen verbun- den mit seiner Vorsicht es zu danken hat, wenn man ihm Ruhe gönnte. Während man sich in der Schweiz wider die mildern Dogmatiker von Saumur erhitzte und die Consensusformel betrieb, schrieb er 1669 sei- nem Freunde in Ulm: „Zu dem grossen Duport, der den Hiob, Psalter, Salomon bearbeitet hat, wünsche ich unserm Zeitalter Glück. O wie treffllich hat dieser Mann seine Zeit verwendet, wahrhaftig viel besser, als die über des Esels Schatten Folianten schreiben, durch welche sie die Menschen vielmehr verkehren als bekehren, Alles mit Hader und Zank so erfüllen, dass man des milden Heilandes Fuss- stapfen kaum mehr auflinden kann. Das aber, treffllicher Mann, nur zu dir und im höchsten Vertrauen. Darum preise ich oft diejenigen glücklich, welche still der wahren Frömmigkeit folgen, von den Streit- studien abgewendet an dem sich ergützen, was sowohl den Geist er- frischen als den Nächsten erbauen kann. Und dazu rechne ich die Philologie.“ Im Stillen war er dem eifrigen Betreiben der Consensusformel sehr abgeneigt, hielt den so wichtig gemachten Streit mit der Lehre von Amyraut für höchst unnütz, schätzte übrigens die Gelehrsamkeit der Professoren von Saumur, bei denen er einst studirt hatte. Schon seit 1637 war der Eifer durch Amyrauts mildere Darstellung der *) Primitie Heidelbergenses. 1659. I. pag. 241. Be un ‚Prädestination geweckt worden. Als der gelehrte ältere Spanheim wider diese geschrieben hatte, äusserte Schweizer im Mai 1649 in einem Briefe an den Genferprofessor Gervasius: „Dass Spanheim mit Widerlegung Amyraut's sich abgiebt, ist mehr zu beklagen als zu preisen. Würden sie doch aufhören, durch solche verderbliche Fech- 'tereien die rechtgläubige Kirche zu verwirren, um lieber den gemein- samen Feind zu bekämpfen.“ Als Amyraut dem Spanheim geant- wortet, schrieb unser Theologe demselben Freund: „Was ich über Amyraut's Schrift denke, mag ich nicht gerne niederschreiben. Ganz habe ich sie nicht gelesen; irre ich nicht sehr, so tritt mir überall blosser Wortstreit entgegen; gäbe man diesem den Abschied, so würde man sich leicht über den Rest verständigen. Aber freilich es ist den Menschen angethan, ihre eigene Ehre mehr zu vertheidigen als die Ehre Gottes.“ Indess ganz anderre Theologen führten in der Kirche das grosse Wort, die immerhin ehrenwerthen und persönlich mildern, Heidegger, dann Franz Türrettin in Genf, Zwinger und Gernler in Basel, Lüthard und Hummel in Bern glaubten zur Wahrung des kirch- lichen Friedens jene von Saumur ausgehenden „Neuerungen“ abwehren zu müssen, und wurden noch mehr angetrieben durch heftige Geistliche, namentlich in Zürich, wie ein gewisser Helfer Gessner, ein Pfarrer Füssli bei St. Peter, ein Antistes Waser und Professor Hofmeister; ganz besonders eiferten unsere jüngern Geistlichen sammt den Stu- denten. Wesentlich galt es, den auf der Synode zu Dordrecht 1618 auf 1619 wider die Arminianer festgestellten calvinischen Lehr- begriff von der Prädestination und Gnadenwahl wiederum zu schützen gegen die von der Academie Saumur, besonders von Amyraut ver- breitete, obwol mehr scheinbare als wirkliche Milderung. Bei dieser -Gelegenheit wollte man aber auch noch einige andere, zu Saumur ge- lehrte „Neuerungen“ beseitigen und zwar durch’s Einschreiten des Kirchenregiments, durch eine neue, die Geistlichen bindende Bekenut- nissformel. Hottinger, der öffentlich Amyrauts Lehre als eine unbe- denklich zu duldende behandelt hatte, erlebte diese Formel nicht mehr, Schweizer hingegen überlebte sie um ein Jahrzehend und konnte sie - micht hindern, obgleich er der ganzen Streitfrage nicht die mindeste ‚dogmatische Bedeutung zuschrieb. Gerade wie Amyraut’s Lehrweise ihm als eine Abweichung bloss in Worten erschien*), konnte er zu- *) Wie gegründet dieses Urtheil sei, ergiebt sich aus meiner Darstellung “Amyraut’s in den Theologischen Jahrbüchern 1852. Heft 1 und 2. Eu sehen und billigen, dass man ihr gegenüber in der Schweiz beim Alten blieb und den Frieden hier wenigstens sichern wollte. Amy- raut hatte zwar viel früher schon beruhigend an Antistes Irminger und die übrigen Zürcher geschrieben, „dass er ja an der orthodoxen Gnadenwahl festhalte und nur um sie besser vertheidigen zu können, die Lehrmethode änderte;* die Zürcher aber fanden, entweder sei es doch eine Aenderung der Lehre selbst, oder wenn nur der Methode, so sei es vollends verwerflich, mit solcher Kleinigkeit Streit zu er- regen und den Kirchenfrieden zu stören. Als nun vollends in Genf selbst amyraldische Lehrweise von Mestrezat und Tronchin versucht werden wollte: trieb der orthodoxe Franc. Turrettin die Zürcher so eifrig an, dass die neue Formel auf Befehl der Obrigkeit als Symbol für die Schweiz 1675 aufgestellt wurde, eilf Jahre nach Amyraut’s Tode, mit einem Inhalte, vor dem wir heutzutage fast erschrecken. Schon was gegen die Ansichten des Cappellus in Saumur be- treffend die h. Schrift gesagt wird, ist durchaus unhaltbar und aus lauter Eifer für ältere Ansichten doch eigentlich dem was Zwingli wie Calvin, ja sogar die helvetische Confession gesagt, wenig gemäss. Die Lehre von göttlicher Inspiration der h. Schriften wurde immer mechanischer als ein äusseres Dietiren der Worte und Buchstaben verstanden und eine ebenso mechanische Sorge Gottes für Erhaltung des dictirten Textes angenommen, so dass durch’s stete Abschreiben der Bibel der Text nie habe verderbt werden können. In unserer Periode pflegten die katholischen, namentlich die jesuitischen Streiter den Protestanten zum Aerger die Zuverlässigkeit des Bibeltextes aufs grellste herabzusetzen, wodurch die letztern gereizt wurden, desto eifriger alles mögliche zu verfechten, was die Bibel zu erheben schien. Dieser Sinn ist auch in die Consensusformel eingedrungen und zu ver- meinten Ehren der Bibel manches gesagt, was ein unbefangener, leiden- schaftsfreier Blick schon damals unhaltbar finden musste. Hören wir J. C. Schweizer, der schon 1648 in einem Briefe gerade das für unhaltbar erklärt, was dann 1675 zur verbindlichen Lehre gemacht worden ist! Es setzte auch ihn bei damaligem Inspirationsbegriff in Verlegenheit, dass 2. Samuel 22, dasselbe Lied, welches den 18. Psalm bildet, in etwas abweichenden Ausdrücken zu lesen ist; denn warum sollte Gott dasselbe Lied dort etwas anders als hier dictirt haben ? Es schien also am einen oder andern Orte ein entstellter Text vorzu- liegen. „Sieh doch zu, schreibt er einem gelehrten Freunde, woher diese Ungleicheit komme und ob dieses ein Beweis sei für Verderb- nisse im Bibeltext. Du hast die nöthigen Kenntnisse und Musse; es , wäre pflichtwidrig, wenn du diess vernachlässigst.“ Einem minder gelehrten Geistlichen schreibt er gleichzeitig: „Diese Schwierigkeit vermag ich, da man die arabische und syrische Uebersetzung ver- gleichen sollte, nicht zu lösen, weil ich in der Rabbinischen Literatur nicht so zu Hause bin, wie in den Kirchenvätern. Doch will ich ver- suchen, etwelche Auskunft dir zu geben. Die Katholiken greifen immer die Unversehrtheit der Bibel an, welche wir billig vertheidigen. Abweichende Lesarten führen sie als Beweis an; ich sehe, dass die Unsrigen verschiedenartige Antwort geben, gewöhnlich diese: Gott habe eine ganz besondere Sorge darauf gerichtet, dass nie im Bibel- texte irgend etwas geändert oder verderbt werden könne. Diese Ant- wort ist zwar fromm, aber wie ich besorge nicht genügend. Man wird einen andern Weg einschlagen und zweierlei den unverschämten Herabsetzern der Bibel erwiedern können, theils dass vor dem triden- tinischen Concilium die Verschiedenheit von Lesarten gar nicht recht wahrgenommen worden und die Kirche immer an den einmal von ihr gebrauchten Text sich gehalten, ohne dass davon her irgend ein prak- tischer Nachtheil erwachsen sei; warum denn nun plötzlich die Sache so gefährlich geworden sein könnte? Sie setzen offenbar die Schrift nur darum herab, damit die Tradition um so nothwendiger scheine. Theils würde ich dann gerne zugeben, dass allerdings abweichende Lesarten eingeschlichen sind durch Versehen der Abschreiber, nirgends jedoch ein irgend bedeutendes Dogma dadurch gefährdet erscheint.* Gerade was er zwar fromm gemeint, aber unhaltbar nennt, hat dann die Formel wider Coppellus behauptet. Ungerecht hingegen ist der Tadel, dass die Formel die Inspiration des Alten Testamentes auch auf die Vocalpunkte ausdehne. Glaubte man damals allgemein, der hebräische Text sei dietirt worden von Gott, so mochten hebräische Worte immerhin nur als Consonanten geschrieben werden, und die Vokalpunkte erst lange nach Christus beigeschrieben worden sein; ausdrücklich oder doch dem Sinne nach gehören sie so nothwendig zum Worte, dass wenn dieses, dann auch die Vocale inspirirt sind. Nur so viel bebauptet die Formel. Nicht minder hart und kühn lehrt sie gegen einen zweiten Pro- fessor von Saumur, gegen des Placäus Lehre, Adams sündliche Handlung werde uns zugerechnet nicht ohne weiters und unmittelbar, sondern bloss mittelbar, nämlich durch die Erbsünde, welche in Folge der Sünde Adams auf uns gekommen sei. Die Formel, wieder im Eifer möglichst viel zu behaupten, verwirft diese Milderung und lehrt, verdammlich seien wir mit Adam allerdings schon durch die Erb- u, sünde, aber zugleich auch abgesehen von dieser schon durch Adam’s Sünde selbst, da wir, als er sie beging, in ihm als dem Haupte und Repräsentanten der Menschheit mit betheiligt gewesen. Dieses nun, obgleich in der Bibel nur ein einziger Ausspruch vielleicht so ge- deutet werden darf, wurde wie eine Hauptlehre verbindlich gemacht. Verworfen wird weiterhin die zu Saumur beliebte Lehre Piscator's, dass nur der leidende, nicht auch der thätige Gehorsam Christi stell- vertretend geleistet worden sei und darum uns angerechnet werde. Hauptzweck war aber, die von dem an wahrer Bildung all seinen Gegnern weit überlegenen Amyraut gelehrte Milderung der Gnaden- wahl zu missbilligen und noch einmal festzusetzen, dass es in Gott gar keine Gnade für alle Menschen gebe, sondern nur für die Er- wählten, neben denen alle übrigen Menschen verworfen seien und zwar ehe sie nur gehandelt haben und obgleich Gott sie um nichts schlechter voraussehe als die, welche er aus freier Gnade zu retten beschliesst. Auch wieder eine Lehre, die nur vielleicht aus Röm. 9. abgeleitet werden kann, mit vielen andern Schriftstellen aber sehr wenig übereinstimmt. Und. diese Formel ist ofüiziell eingeführt worden in Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen und Genf, bei vielem Widerstreben auch in Lau- sanne durch bernische Macht; Neuenburg begnügte sich, sie bloss durch den Decan unterschreiben zu lassen. *) Eine weitere Schilderung damaliger Theologie ist nicht nöthig, nur müssen wir wohl beachten, dass die Lehrer von Saumur keines- wegs verketzert, sondern bloss als Brüder, die sonst orthodox seien, in diesem Punkte ınissbilligt worden sind, so dass diese reformirte Formel noch sehr human lautet im Vergleich mit derjenigen, welche 1664 von den lutherischen Theologen zu Wittenberg wider mildere Lutheraner durchgesetzt werden wollte. Hat doch Heidegger den emigrirten jüngern Dalläus, welcher amyraldisch gesinnt war, nichts desto weniger human in sein eigenes Haus aufgenommen und bis zu seinem Tode verpflegt. Hart aber war die Massregel dennoch und schon darum höchst übel angebracht, weil die Reformirten in Frank- reich eben zu jener Zeit mit den ausgezeichneten Katholiken Arnauld, Nicole und Bossuet literarisch zu kämpfen hatten und eher Kräftigung, Beifall, Unterstützung von den Brüdern in der Schweiz bedurften als dogmatische Missbilligung; weil überdiess die reformirte Kirche in *) Vgl. den Abschnitt in meiner Geschichte der reformirten Centraldogmatik U. S, 678. E:. = BE 2 Frankreich immer unerträglichere Verfolgung zu bestehen hatte. Unter diesen Umständen war die Consensusformel eine lieblose, engherzige Massregel. Eine Lehre, die von Nationalsynnlen in Frankreich als unschädlich zugelassen worden war, haben die Schweizer missbilligt. Diese Formel ist der Gipfel der dogmatischen Periode, und einer jener Siege, welche die Niederlage schon in sich tragen. Unabweis- bare und berechtigte Entwicklungen wollte man mit der Autorität des Staates nnd der Kirche niederhalten und reizte dadurch die geistigen Kräfte zu desto rascherer Gegenanstrengung. In Zürich und Bern zwar herrschte nun für ein halbes Jahrhundert ein starrer Glaubens- zwang noch schroffer als vorher. War 1661 Pfarrer Zink zu St. Jacob trotz Heideggers Verwendung für den in Mathematik, Astronomie und Naturkunde gelehrten, aber eben darum als Schwarzkünstler verschrie- enen Mann,*) weil er Gott eine allgemeine Gnade zugeschrieben, aus dem geistlichen Stande verstossen und aus dem Kanton verbannt worden: so musste nun ein achtzigjähriger Pfarrer Hochholzer von Rickenbach abgesetzt werden, weil ein Candidat die aus demselben Grunde nicht genehme Predigt aus dieses Mannes Predigteoncepten abgeschrieben zu haben behauptete; ja der Sohn und Nachfolger J. C. Schweizer's wurde wegen seiner Vorliebe für cartesianische Philosophie dahin gebracht, seine Chorherrenprofessur an eine Anstellung in Heidel- berg zu vertauschen. Und doch haben gerade Heidegger, Schwei- zer und Wettstein in Basel in der Consensusformel einen Sieg der Milde über viel weiter strebende Zeloten erfochten. Die Zürchergeist- lichen begehrten weit mehr, auch die Cartesianer und Coeejaner soll- ten missbilligt, ja diese holländischen Theologen sollten wie die von Saumur nicht bloss missbilligt, sondern verketzert werden. So weit ging Heidegger nicht, da diese Verketzerung auf ihn selbst gemünzt war. Dafür hat er aber auch bis an sein Lebensende die intrigantesten Verfolgungen von Seite der Geistlichen erdulden müssen. **) Also Heidegger selbst genügte den überreizt Orthodoxen nicht mehr. Seine Schriften wurden nicht ungeschoren durch die Censur gelassen, seine Rechtgläubigkeit auf den Kanzeln verdächtigt, eine Reihe von Anklagen bei der Obrigkeit anhängig gemacht. Edelmüthig ver- schweigt er dieses Alles in seiner gedruckten Autobiographie; hin- gegen hat er handschriftlich die Erzählung dieser Dinge hinterlassen, „damit man nach semem Tode wenigstens erfahre, wie hämisch er *) Vgl. Wertmüller der Glaubenszwang in der zürch. Kirche. “®) van. meinen Artikel Heidegger in Herzogs theolog. Realeneyelopädie. ee immerdar geplagt worden sei.“ Damals konnten die Pfarrer den Ge- lehrten nicht mehr ertragen. Die wirksame Reaction gegen die Consensusformel kam von Aussen. Die Könige von England und von Preussen verwendeten sich 1714 für deren Abschaffung, der erstere, von den Bischöfen unterstützt, weil man in England längst die Gnadenwahl viel milder lehrte; der letztere, weil seine lutherischen Unterthanen durch diese schroffe Fas- sung reformirter Lehre der Union noch abgeneigter gestimmt werden mussten; urtheilte doch selbst Spener, eine Union sei nicht möglich, so lange die Reformirten an ihrer absoluten Prädestination festhielten. Zürich und Bern antworteten wiederholt ablehnend, aber was half ihre Versicherung, die Formel wolle durchaus nicht dem lutherischen Lehr- begriff entgegentreten? Die Absicht war allerdings nicht vorhanden, aber factisch war ja doch die den Lutheranern anstössigste Lehre neu und schroff wieder festgestellt worden. Auch eine innere Reaction erhob sich, jedoch nur in der west- lichen Schweiz, indem Joh. Alphons Türrettin zu Genf, der Sohn des durch orthodoxen Eifer bekannten Franz Türrettin, dann Frie- drich Osterwald in Neuenburg und Samuel Werenfels in Basel, die man etwa das theologische Triumvirat der Schweiz genannt hat, gleich von Anfang des 18. Jahrhunderts überall das hergebrachte Lehrsystem mildernd umgestalteten; Männer von grossen Gaben und grossem Ansehen. Hartnäckig widersetzten sich in Zürich Antistes Klingler und Nüscheler, so wie der Theologe J. J. Hottinger, ein Sohn des berühmten Orientalisten, allen Milderungen der Ortho- doxie, namentlich auch dem bis zu uns vordringenden Pietismus; end- lich aber, von Bürgermeister J. C. Escher eifrig bekämpft, fiel das orthodoxe System in Kirche und Schule, und zwar 1737, als Wirz zum Antistes und J. J. Zimmermann zum Professor der Theologie gewählt wurde. Letzterer, viel angefochten, behauptete das Feld und der Umsehwung von Antistes Wirz und Ulrich weise geleitet, von Zimmermann mit beissender Schärfe wider die „Ketzermacher“ dureh- gekämpft*), wurde so vollständig, dass später noch ein Antistes J. J. Hess den Sturz der alten Glaubensfesseln offen gepriesen hat, unter denen auch ein Lavater nicht hätte bestehen können. Sei immerhin der im 18. Jahrhundert sich verbreitende Rationa- lismus und Supernaturalismus auch nur eine vorübergehende Form der Theologie gewesen, vielfach oberflächlich und tieferm religiösem Bedürf- *) Vgl. meine Geschichte der reformirten Centroldogmen II. S. 790. f. —. en nisse nicht genügend: die neue Wendung der Dinge war höchst noth- wendig und berechtigt, wie wir denn wirklich finden, dass gerade die edelsten und begabtesten Männer, Sprösslinge der edelsten Familien, sie durchgesetzt haben wider Geistliche von zweideutigem Verdienst, die, in ihrer Bildung verkümmert, leider nichts gelernt hatten als das traditionelle Lehrsystem, und darum ihren einzigen Boden desto hart- näckiger vertheidigen mussten. Das Christenthun darf nie als eine blosse Summe von Lehrsätzen betrachtet werden, so nothwendig es sich immer in Lehre ausdrückt und im Ideenkreis jedes Zeitalters zum Systeme gestaltet. Es ist, sei- nem Wesen nach die dnrchgebildete Religion der Menschheit, leben- diges Princip, das über jede Lehrgestalt immer wieder hinausgreift, um sich immer reiner und voller im menschlichen Ideenkreis auszu- prägen. Nie kann die Theologie ohne Schaden sich den edleren Er- gebnissen der Wissenschaft überhaupt widersetzen, obgleich der vor- übergehende Patheieifer dieses immer thun wird. Die Religion, gerade die christliche, hat Ursache, jenes Wort auszusprechen: Gott bewahre mich vor meinen Freunden, mit den Feinden will ich schon fertig werden. Nie wird der menschliche Geist bleibend der Wahrheit, nie das menschliche Herz dem Christenthum sich verschliessen. Je genauer wir die theologisch-kirchlichen Zustände des 17. Jahr- hunderts kennen lernen, desto mehr wird die Beseitigung derselben durch die Aufklärung und Humanität als eine vorerst nothwendige und heilsame Leistung gewürdigt werden. Sobald ein geistiges Ge- bäude nicht einmal mehr den Ansprüchen verständiger Aufklärung und Menschenfreundlichkeit genügen kann, ist für seine Existenz kein Grund mehr vorhanden. Je flacher der Rationalismus, je seichter die Aufklärung, je dünner die Humanität des 18. Jahrhunderts etwa dargestellt werden wollen, desto verkommener und kraftloser müssten die durch solche Gegner überwundenen Lehrsysteme und Kirchenzu- stände gewesen sein. Wie es der Censusformel ergangen ist, dass die spätere Kirche sich derselben fast schämen muss, so dürfte es mancher- lei modernsten Kirchenmachereien baldigst ergehen. Kritische Bemerkungen über den ersten Theil von Göthe's Faust, namentlich den Prolog im Himmel. Von FR. VISCHER, Nicht umsonst hat Göthe der zweiten Ausgabe seines Faust (1807; die erste, von 1790, ist längst vergriffen und Wenigen bekannt) im „Vorspiel auf dem Theater“ einen humoristischen, skeptischen, ab- schlusslosen Entschuldigungsbrief mit auf den Weg gegeben. Er nahm 1797 die Arbeit wieder auf, führte aber auch jetzt die Handlung nicht über den ersten Lebensgang seines Helden, die Liebesgeschichte mit Gretehen, hinaus und in dieser mangelhaften Gestalt, deren Anwüchse aus der zwischen beiden Ausgaben liegenden Zeit wir hier in Kürze kritisch beleuchten wollen, übergab er sie dann 1807 der Oeffent- lichkeit. — Schon in Rom 1788 hatte er sein „vergilbtes* Manuseript aus dem Anfang der siebziger Jahre hervorgezogen; damals schrieb er, er glaube den Faden wieder gefunden zu haben, er habe den Plan zum Ganzen gemacht und hofle, diese Operation solle ilım ge- glückt sein. Und doch erfahren wir aus der Zeit des italienischen Aufenthaltes nichts, als die bedenkliche Mittheilung, dass er in der Villa Borghese die Scene in der Hexenküche gedichtet habe! Blieb er sich gewiss, dass er den Faden richtig gefunden habe, und fehlte es nur an der entschlossenen Ausführung, oder zweifelte er doch wie- der an dem Fund? Man ist sehr versucht, zu glauben, Göthe sei bei dem ersten Entwurfe seines Faust in der Ahnung sich selbst voraus- gesprungen und habe mit dem Bewusstsein sich nur schwer und spät wie- der einholen können. Im Sommer 1831 schreibt er an W. v. Hum- boldt, er habe schon lange her gewusst, was, ja sogar, wie ers wollte. Das Letztere wenigstens war sicherlich eine Selbsttäuschung. Das Ziel muss ihm klar geworden sein, als er aus dem Helldunkel seiner jugendlichen Diehtung in das Licht der. männlichen Einsicht getreten war: der schluss des Drama’s sollte zu Tage bringen, dass Mephistopheles den Faust, indem er ihn verderben wollte, erzogen, dass er das wilde Streben nach Unendlichkeit zur vernünftigen Be- schränkung, zur Thätigkeit in der Beschränkung auf dem Wege durch Leidenschaft, Schuld, Reue gebildet habe, Faust musste die ewig strebende, fallende, im Falle lernende und weiter strebende Mensch- heit darstellen. Aber er musste nach dem tragischen Ende der Liebe mit Gretchen erst noch einen weiten Weg durchlaufen, er musste in „grössere, bedeutendere Verhältnisse* geführt werden. Diess sind am = Göthe’s eigene Worte; er hat auch diess in seiner reifen Zeit erkannt. Doch offenbar auch davon nur das Allgemeinste. Denn wir stossen hier auf die bekannte Schranke in Göthe’s Geist: Faust musste in das politische Leben, und auf diesen Boden vermochte der Dichter nicht einzutreten; hier stockte und staute sich, wie Gervinus schlagend gesagt hat, der Fluss seines Geistes, wie der Sinn der Deutschen überhaupt in der Zeit-Epoche, der seine Bildung angehörte. Das muss der Knoten gewesen sein, vor dem er zurückscheute, als er in jenen Jahren seiner reifsten männlichen Kraft das Gedicht wieder auf- nahm, wie durch einen undurchdringlichen Zauber muss ihm diese Pforte verschlossen gewesen sein. Die Thätigkeit, die nicht vorwärts wusste, wandte sich nun rückwärts; die Handlung des ersten Theils war aller- dings noch nicht ganz geschlossen. Es fehlte der Ablauf der tragi- schen Entwicklung der Liebe zwischen Gretehen und Faust; er wurde hinzugefügt durch die herrlichen Scenen: Strasse vor Gretehens Thür (Valentin’s Ermordung); trüber Tag, Feld (die furchtbaren Vorwürfe Faust’s gegen Mephistopheles, nachdem er Margaretens Schicksal er- fahren); Nacht, offen Feld (F. und M. am Rabenstein vorüberreitend); die Kerkerscene. Die erste Ausgabe hatte mit der Scene in der Kirche geschlossen. Wie Vieles oder Weniges aus früherer Zeit seiner Dich- tung Göthe in diesen Scenen verwendet hat, wissen wir nicht. Das Andere aber, was jetzt eingeflochten wurde, ist in seiner Bedeutung für das Ganze theils zweifelhaft, theils offenbar störender, willkür- licher Zusatz. Der Dichter beginnt nämlich im Uebrigen auf eine be- denkliche Art an dem bis dahin Gedruckten herumzuarbeiten, verhält sich eigenthümlich skeptisch, unsicher zu seiner Aufgabe, er nimmt sie zu leicht, weil sie ihm zu schwer wird. Er wolle das Alte wieder auflösen, schreibt er im Juli 1797 an Schiller, und mit dem, was sehon fertig oder erfunden sei, in grosse Massen disponiren und so die Ausführung des Planes, der eigentlich „nur eine Jdee“ sei, vorbereiten; er bittet ihn, die Sache einmal in einer schlaflosen Nacht durchzudenken, ihm die Forderungen, die er an das Ganze machen würde, vorzulegen und „ihm so die eigenen Träume als ein Prophet zu erzählen und zu deuten;“ da die verschiedenen Theile des Ge- dichtes in Absicht auf die Stimmung verschieden behandelt werden können, wenn sie sich nur den Geist und Ton des Ganzen subordi- niren, und da übrigens „die ganze Arbeit subjectiv® sei, so könne er „in einzelnen Momenten“ (zerstückelt) daran arbeiten; das gemeinschaftliche Balladenstudium habe ihn wieder auf die „Dunst- und Nebelwege“ gebracht und die Umstände rathen ihm, in mehr, als er in Einem Sinne, eine Zeit laug darauf „herumzuirren.* Schiller gibt zu, dass die Fabel nothwendig in's Grelle und Formlose gehe, be- hauptet aber, dass man um so weniger bei dem Gegenstand stille stehen, sondern von ihm zur Idee geleitet werden wolle; die Anfor- derungen an das Gedicht seien „zugleich philosophisch und poe- tisch; Göthe möge sich wenden, wie er wolle, so werde ihm die Natur des Gegenstandes eine philosophische Behandlung auflegen, die Einbildungskraft werde sich zum Dienst einer Vernunft-Idee beque- men müssen. Diese Bemerkungen sind Göthe „sehr erfreulich, sie treffen, wie es natürlich ist, mit seinen Vorsätzen und Plänen recht gut zusammen“, — „nur dass er es sich bei dieser barbarischen Composition bequemer machen und die höchsten Anforde- rungen mehr zu berühren, als zu erfüllen denke; er werde sorgen, dass die Theile anmuthig seien und etwas denken lassen, das Ganze werde immer ein Fragment bleiben.“ Hätte Göthe das letztere Wort nur so gemeint, dass er fürchtete, für den Inhalt, die Handlung, keinen Schluss zu finden, so hätte er dafür zwei Gründe gehabt, die stark genug waren, ihm geraume Zeit einen Schein der Unwiderlegbarkeit vorzuhalten. Den einen dieser Gründe spricht Schiller im folgenden Briefe mit den Worten aus: was ihn ängstige, sei, dass ihm der Faust seiner Anlage nach auch eine Totali- tät der Motive zu erfordern scheine, wenn am Ende die Idee ausge- führt erscheinen solle, und für eine so hoch aufquellende Masse finde er keinen poetischen Reif, sie zusammenzuhalten ; zum Beispiel es ge- höre sich seines Bedünkens, dass Faust in das handelnde Leben ge- führt würde, und welches Stück Göthe auch aus der Masse erwählen möchte, so scheine es ihm seiner Natur nach doch eine zu grosse Um- ständlichkeit und Breite zu erfordem. Ein Held, der die strebende Menschheit, wie sie den Geist der Unendlichkeit und den Geist der Er- fahrung durch Kampf, Schuld, Leiden soll vereinigen lernen, in sich darstellt, scheint durch alle wesentlichen Verhältnisse und Schicksale des Menschenlebens hindurchgeführt werden zu müssen; es bietet sich nicht so schnell der Einsicht dar, was allerdings Göthe später erkannt und nur unzulänglich geleistet hat: dass doch in der That einige Hauptformen des Lebens genügen, um für die unendliche Mannigfal- tigkeit seiner Kreise stellvertretend zu dienen. Wenn Faust als Staats- mann und Hofmann auftrat, wenn er gleichzeitig im Elemente der Kunst, der feinsten Humanität und der ausgesuchten Genüsse eines poetischen Luxus sich bewegte, wenn er nach einer tragischen Kata- strophe hierauf Mann des Volkes wurde, so hatte er die bedeutendsten u -— Lebensgebiete ausreichend durchmessen. Die einzelne Form aber liess sich dabei doch in engerem Rahmen abthun, als Schiller auf den ersten Blick meinte. Der andere dieser Gründe liegt tiefer und schien mir in der Kritik der Faust-Literatur, die ich in den zweiten Band meiner Kritischen Gänge aufgenommen habe, noch entscheidend: die Tragödie kann, so scheint es, nicht geschlossen werden, weil ein Ge- dicht, das ganz erkennbar das Schicksal des in’s Unendliche strebenden Menschengeistes zu seinem Inhalt hat, offenbar sich in eine zeitlich unendliche Linie hineinbegibt. Denn dass die Menschheit in Kampf und Schuld nie verloren ist, ewig neu und bereichert daraus hervor- geht, das ist in keinem einzelnen Punkte der Zeit nachweisbar, kann nie zum Momente, nie zur einzelnen Thatsache werden. Dennoch gibt es einen Weg, die unzeitliche Wahrheit zeitlich auszudrücken, und Göthe hat ihn gefunden; das eben ist es, worauf wir in diesen Bemerkungen hauptsächlich hinsteuern und worauf wir dann im Fol- genden zurückkommen werden. Dass er ihn damals, zur Zeit dieser Correspondenz, noch nicht gefunden hatte, ist natürlich kein Vor- wurf, und so würden wir uns denn überhaupt nicht beschweren, wenn Göthe geantwortet hätte: das Gedicht werde immer Fragment bleiben, aber er wolle doch ernstlich daran gehen, die Handlung vorwärts zu führen. Hier aber fehlt es; er scheint vor der Strenge von Schiller’s Forderungen so zu erschrecken, dass er, verzweifelnd, am Ziel anzulangen, lieber gar nicht weiter geht, sondern den sehon zu- rückgelegten Weg im Zickzack‘ mit willkürlichen Schritten durchge- schlendert. Und am meisten gewiss hat ihn nach unserer obigen Bemerkung über seine Scheue vor dem Politischen das Ansinnen er- schreckt, seinen Helden in das handelnde Leben einzuführen. So sorgt er denn dafür, dass nur die Theile anmuthig sind und zu denken geben, nicht, dass sie nothwendig sind, also das Ganze ein Kunst- werk ist. Einige Formlosigkeit, versteht sich, würden auch wir der Composition, die in gewissem Sinn, cum grano salis, allerdings immer barbarisch, dunst- und nebelhaft sein mochte, ja musste, gern hin- sehen; solche schattenspielartige, phantastische Momente, wie: Faust und Mephistopheles am Rabenstein zu Pferde vorübersausend, stehen ihr ganz wohl an. Nun aber wird zuerst die Expositionsscene in einer Weise fortgeführt, die nicht nur zu denken, sondern viel zu zweifeln gibt. IchThabe schon in den Kritischen Gängen W eisse's Verdienst hervorgehoben, zuerst entdeckt zu haben, dass Göthe früher die Absicht gehabt haben muss, den Mephistopheles als Diener und Werkzeug des Erdgeistes einzuführen. Die unläugbaren, stehenge- er bliebenen Spuren dieses frühern Planes werden wir später zum Theil noch berühren; hier mache ich nur darauf aufmerksam, dass schon die Worte Faust’s bei der Beschwörung des Erdgeitses: „schon glüh’ ich wie von neuem Wein, ich fühle Muth, mich in die Welt zu wagen“ u. s. w. merklich eine andere Stimmung des Helden und eine andere Bedeutung des Weltgeistes verrathen, als diejenige, welche durch die später beschlossene bloss theoretische Natur dieser ersten Krisis bedingt ist. Ich füge nebenher hinzu, dass auch die Ver- gleichung. mit dem Volksbuche für Weisse’s Entdeckung spricht. Göthe ist der Sage, zwar immer umbildend, aber doch mehr gefolgt, als man gewöhnlich bemerkt; in der Sage aber erklärt der Teufel dem Faust, er selbst sei ein zu hoher Geist, um ihm zu dienen, er werde ihm einen spiritus familiaris schicken, der dann in der Person des Mephistopheles erscheint. Fragt man sieh, warum Göthe diesen Zu- sammenhang nun gelöst hat, so wird die richtige Antwort wohl diese sein: die erste Krisis im Geiste des Helden sollte von der Beziehung zur sinnlichen Lust, Leidenschaft, zum Drang nach einer Unendlich- keit des Lebensgenusses noch ganz rein, sollte noch theoretisch blei- ben, die praktische Wendung sollte erst weiterhin eintreten und sich recht nachdrücklich als eine besondere, neue Phase markiren ; die Magie musste daher rein den Zweek des Eindringens in die Geheimnisse der “Wahrheit, der Natur behalten und der Erdgeist sich nur auf diese beziehen, nur die schaffende Kraft des Planeten darstellen. Diess war wol der positive Grund der Aenderung; der negative mochte in Göthe’s Erwägung so lauten: der Erdgeist hat, wenn er nach diesem Plane Faust zurückschreckt, um ihn so zu demüthigen, dass er allen Bemühungen des Forschens entsagt, wenn er ihm dann den Mephi- stopheles schickt, um ihn von seinen hohen Forderungen vollends herunterzustimmen und mit niedrigeren, gemeineren in’s Leben einzu- führen, entweder eine böse Absicht: diess aber reimt sich nicht wohl mit der Idee eines schaffenden Naturgeistes, welche ganz und gar nicht mehr die des Teufels der Volkssage ist; oder er hat, indem er ‚Faust durch seinen Diener in das Leben als eine Schule schickt, eine gute Absicht: dann aber fällt er mit dem Herm zusammen, der nach der neuen Bearbeitung im Prolog auftritt und den guten Weltzweck, die Idee der Entwicklung darstellt, die durch Dunkel, Verirrung zur Klarheit führt. Ich gestehe, mich dabei nicht ganz beruhigen zu können; ich will mich hier auf die verwickelte Gedankenreihe, zu der die Frage veranlasst, nicht umständlich einlassen; wir werden aber mit einigen Bemerkungen auf den schwierigen Punkt zurückkommen. Zunächst > en kann man sich ganz damit einverstanden erklären, dass der Dichter beschloss, zuerst den Helden im theoretischen Gebiete, im Kreise der Innerlichkeit bis zu einer Krisis zu führen, an deren Endpunkt man deutlich erkennt, dass nun eine neue Wendung, der Uebergang in's praktische Leben, eintreten muss: diess ist die Steigerung seiner Ver- zweiflung zum Gedanken des Selbstmords, der Ansatz zur Vollziehung des Entschlusses. Ich habe dieses Motiv als ein nur ganz natürliches schon a. a. O. gegen Weisse in Schutz genommen. Allein die Aus- führung dieses veränderten Planes bietet doch manches Beunruhi- gende, Zweifelhafte, ja offenbar Tadelnswerthe. Die Fortsetzung des Monologs nach Wagners Abgang hat etwas Schleppendes, wiederholt früher schon Ausgesprochenes, trägt, wie ich diess bereits a. a. O. zugegeben, andere Farbe, als das Frühere. Die Fernhaltung jedes Ausdrucks von Angst und wilder Aufregung im Moment eines so furchtbaren Schrittes möchte ich nicht mehr in Schutz nehmen, wie früher, wiewohl das energische Pathos theilweise durch die besondere Bedeutung sich rechtfertigt, die hier der Selbstmord hat: wie Faust in der Magie das Object foreiren wollte, um in die Geheimnisse der Natur einzudringen, so hier zu demselben Zwecke das Subject. Ent- schieden aber angreifen muss ich das Motiv, dass Faust durch den Kirchengesang von seinem Schritt abgehalten, in’s Leben zurückge- rufen wird. Die Scene ist von grosser poetischer, theatralischer Wir- kung, aber sie ist nur für sich schön, nicht hat sie die Schönheit ‚eines organischen, nothwendigen Gliedes in einer Handlung. Sie ist die Hauptquelle eines Missverständnisses geworden, das so weit ver- breitet war, bis Göthe selbst es durch die Vollendung der Tragödie thatsächlich widerlegte: der Meinung, Faust Schuld und Unglück liege darin, dass er sich nicht im Glauben beruhige, nicht durch das Dogma mit seinem Wissensdraug abfinde, sein unbedingter Forschungstrieb sei sein Frevel. Faust fehlt ja nur dadurch, dass er unvermittelt, mystisch, Alles auf einmal erkennen will; es musste vom Dichter Alles vermieden werden, was entfernt den Schein mit sich brachte, als lege er die Schuld seines Helden in das hohe, schlechthin berech- tigte Pathos der Erkenntniss an sich. Sieht man genauer hin, so “ findet man wohl, dass Faust durch den Kirchengesang nur überhaupt, allgemein menschlich gerührt wird, dass es die kindliche Illusion, nicht der strenge Inhalt des Glaubens ist, was ihn dem Leben mit seinen schönen Empfindungen wieder gewinnt. Ihn rührt der Glaube, nicht das Geglaubte, der Glaube wesentlich in Form von Gesang und Glockenklang an das Gefühl dringend. Aber nicht Jeder sieht ge- Er nauer hin. Die Verse sprechen unter dem mythischen Gewande die ethische Idee des Geistes aus, der siegreich sich durch die Kämpfe der Welt hindurcharbeitet: eine Hindeutung auf die Menschheit, auf Faust; diesen rein rationellen Kern nimmt aber Faust nicht aus der kirchlichen Einhüllung im Kirchengesang heraus, nicht in sein Bewusstsein auf; nur der Leser vollzieht, wenn er nachdenkt, diese Abstraction; Göthe präludirt auf den Schluss, den er später gefunden hat, der ihm damals unbestimmt vorschweben mochte. Weisse sieht auf dem positiv christlichen Standpunkte seiner Kritik diese Scene nur als unzureichend entwickelten Keim der wahren Idee an, die in unserem Drama mit der freigeistischen Anschauung der Zeit im Kampfe liege und nicht durchzudringen vermöge; ich finde darin ein nur allzu formelles rein poetisches Motiv und setze noch hinzu, dass die Neigung zum Opernhaften, welche bei Göthe in seinen mittleren Jahren so fühlbar wird, schon an dieser Stelle des Gedichtes täuschend für den, der bei dem nächsten Eindrucke stehen bleibt oder von Voraussetzungen ausgeht, wodurch sie ihn stoffartig besticht, bedenklich für den sich einmischt, der unhefangen den Zusammenhang des Ganzen zum Mass- stabe seines Urtheils macht. Durch diesen war statt der opernhaften Wendung eine andere gefordert: hier hätte Mephistopheles eintreten, durch schmeichelnde Worte und Mittel Faust für die Reize des Lebens gewinnen sollen. Der Eintritt des dämonischen Begleiters musste nun, da der alte Plan, ihn als Sendling des Erdgeistes einzuführen, aufgegeben war, anders motivirt werden. @Göthe hatte die Spaziergang-Scene vor dem Thor in Bereitschaft: nach meiner Ansicht wieder einen Theil, der eigentlich nur für sich anmuthig sein sollte und ist, und an welchen nur durch einen nachträglichen Kunstgriff, da Faust bei dem Anblick der sinkenden Sonne von dem heftigen Wunsche, fliegen zu können, ergriffen wird, die erste Annäherung des Mephistopheles, zunächst in der Maske des Pudels, von dem Dichter geknüpft wurde. Die Scene ist von grosser episch-Iyrischer Schönheit und allerdings lässt sich für ihre Berechtigung im dramatischen Zusammenhang noch sagen, dass sie ganz im Sinne der vorhergehenden fortwirkt.: wie vorher durch die frommen Klänge des Gottesdienstes, so wird Faust jetzt durch die einfache Lebenslust des Volkes sachte aus seinem ursprünglichen Zustande gezogen, dem Leben gewonnen. Beide Scenen wirken ganz in der gleichen Richtung: es sind dieselben Menschen, welche schlicht glauben und frischweg sich freuen, die menschlich einfache Rührung — 49 _ und die menschlich einfache Genussfähigkeit erweichen und ermun- tern in einem und demselben Sinne Faust's Gemüth. Es folgt die erste der zwei Scenen im Studirzimmer: gegen diesen Zusatz habe ich ebenfalls a. a. OÖ. schon meine Bedenken ausge- sprochen ; sie giengen namentlich gegen die Selbstdefinition des Mephi- stopheles, worin dieser das Böse bloss als Zerstörung und Untergang in der Natur bestimmt. Zu der poetischen Form bemerke ich noch, dass Göthe auch hier aus der Volkssage sich Raths erholt hat, wo der böse Geist bei dem ersten Besuche zuerst in der Gestalt eines Unthiers hinter dem Öfen erscheint. Ich muss jetzt übrigens auch zugeben, was Dewette sagt: dass es des Hokuspokus zu viel sei, und ich muss den Vorwurf des Opernhaften wieder aufnehmen. Es war die leichteste Auskunft, den ersten Angriff des Verführers auf Faust durch ein musikalisches Motiv eintreten zu lassen. Die Form des Gesprächs, worin Mephistopheles den Faust lüstern nach der Welt stimmen sollte, ist auf einen verunglückten philosophischen Versuch verwendet und die eigentliche Aufgabe wird dann in der musikali- schen Form gelöst, die übrigens von grosser lyrischer, charakteristisch traumhafter Schönheit ist. Faust erscheint dadurch auch passiver, als nöthig ist. Vielfach genug hat man dem Helden eines Drama’s, wo- rin die innern Motive der kämpfenden Persönlichkeit ausserhalb der- selben in mythische Figuren projieirt sind, mit Unrecht diesen Vor- wurf gemacht; es bleibt aber doch wahr, dass er thatkräftiger sein sollte. Diess führt uns hier auf die Seene mit dem Erdgeiste zurück und gibt Veranlassung, nun die obigen Bemerkungen hierüber zu er- gänzen. Mir scheint es, dem Dichter habe ursprünglich folgender Gang vorgeschwebt. Der Erdgeist wirft, wie schon oben angedeutet, nach einem Plane, der nur eine innere Nothwendigkeit ist, Faust durch die Worte nieder: „du gleichst dem Geist, den du begreifst, nieht mir;“ er will ihn durch diese Beschämung zu dem Entschlusse treiben, dem Wissens- drange zu entsagen und auf dem Wege der Erfahrung die Wahrheit des Lebens kennen zu lernen. Nach Wagner's Abgang steigt in Faust der Gedanke auf, diesen Weg zu betreten, er beschwört den Erdgeist noch einmal, eröffnet ihm den neuen Wunsch und erhält bejahende “ Antwort, nur dass, wie im Volksbuche der Teufel, so der Erdgeist ihm nicht selbst dienen kann, sondern ihm einen Führer in der Per- son des Mephistopheles zuschickt; alsbald erscheint auch Mephistophe- les und es beginnt die Scene, in deren Mitte die erste Ausgabe un- mittelbar nach Wagners Abgang mit den Worten anfing: „Und was Wissenschaftliche Monatsschrift, II, 4 u I der ganzen Menschheit zugetheilt ist* u. s. w. Dass Faust hiebei durch seine entschlossene zweite Beschwörung, durch seinen erklärten Willen activer erschien, war denn kein geringer Vorzug für diese Wendung und ebenso empfahl sie sich durch die Einfachheit, Klarheit des Uebergangs, der Motivirung. In dem Monologe, der diesen Ueber- gang bildete, konnte die Verzweiflung allerdings zuerst bis zu dem Gedanken des Selbstmords anwachsen, dieser musste nun aber auf eigenen Antrieb, ohne Dazwischenkunft des Kirchengesangs, aufgegeben werden, dem Vorsatz einer zweiten Beschwörung weichen. Ich ge- stehe, dass ich mich der Meinung nicht erwehren kann, dass Göthe besser bei diesem Plane geblieben wäre. Ich habe oben die Einwen- dungen zu errathen gesucht, die er sich gegen denselben gemacht haben möge; habe ich richtig gerathen, so halte ich dieselben doch nicht für nöthigend. Der Erdgeist hätte nach dieser Beibehaltung des alten Planes keine gute und keine böse Absicht; er würde wirken, wie er nach seinem Wesen wirken muss. Er gäbe Faust zu er- kennen, dass man nicht das Naturganze auf einmal, ohne vernünftige Mittel, mit Verachtung aller Methode, Geduld und alles Experiments erforschen kann; er würde Faust vorerst auf den andern Weg lei- ten, praktisch zu erfahren, was das Leben ist, und dies widerspräche seinem Charakter nicht, denn er könnte ganz wohl ebensosehr die Sinnlichkeit, den Umfang der praktischen Triebe des Menschen, als die Naturkräfte, wie sie Gegenstand der theoretischen Forschung sind, repräsentiren. Neben dem Herrn (im Prologe) könnte er an seiner besondern Stelle doch wohl bestehen: dieser vertritt den höch- sten Zweek der Entwicklung des Menschen zum Wahren und Guten, der Erdgeist würde einfach als sein Werkzeug handeln, indem er dem Helden der Tragödie zu erfahren gäbe, dass man nicht theoretisch das Naturganze auf Einen Sprung erkennen kann, und nachher, dass man nicht praktisch das Ganze des Lebens wie in Einem Zuge durchge- niessen kann. Mephistopheles, der Beauftragte des Erdgeistes, wäre nun eine dritte Potenz in dieser Reihe; in ihm erschiene das Wesen des Erdgeistes allerdings als böser Wille; er würde das Gesetz, dass im Wollen und Geniessen, wie im Forschen, der Mensch sich beschränken muss, in die Absicht verkehren, Faust in gemeine Zu- friedenheit mit einzelnem Genusse herabzuziehen, und sogleich die Worte: O glaube mir, der manche tausend Jahre An dieser harten Speise kaut, Dass von der Wiege bis zur Bahre Kein Mensch den alten Sauerteig verdaut! Me RE Glaub’ unser Einem, dieses Ganze Ist nur für einen Gott gemacht! Er findet sich in einem ew’gen Glanze, Uns hat er in die Finsterniss gebracht, Und euch taugt einzig Tag und Nacht. sind, so tiefe Wahrheit sie an sich enthalten, in diesem übeln Sinne gemeint, den Helden, der ein Unendliches sucht im Leben wie im Denken, mürbe zu machen, zu geistlosem Genügen herabzustimmen. Uebrigens träte der Erdgeist im Verlauf auch wieder in die theore- tische Bedeutung ein: er würde Faust, der von Zeit zu Zeit doch wieder zur Forschung zurückkehrt, die Wahrheit, das Innere der Natur in einzelnen Momenten fortschreitend weiter und weiter enthüllen. Diess war ja auch Göthe’s Meinung, wie es deutlich aus dem Mono- loge Faust in Wald und Höhle hervorgeht, worin Faust dem er- habenen Geiste, der ihm sein Angesicht im Feuer zugewendet, also offenbar dem Erdgeiste, für die tiefe Einweihung in die Geheimnisse der Natur so fenrig dankt, aber auch beklagt, dass er ihm den kalten und frechen Gesellen zugegeben: eine Stelle, die nun freilich dunkel und unvermittelt bleibt, da wir in Folge der Aufgebung des frühern Planes von einem solchen fortdauernden Verhältnisse zum Erdgeist nichts wissen. Uebrigens bestätigt auch diese Stelle unsere Ansicht, dass jene Alternative, wie wir sie als wahrscheinliches Motiv der Zerschneidung des Zusammenhangs zwischen dem Erdgeist und Mephi- stopheles oben aufgestellt haben, nicht nothwendig ist: demErdgeist wirkt ideal und real zugleich auf Faust. Nun lässt Göthe die zweite Unterredung zwischen Faust und Mephistopheles folgen und schickt den Worten, womit sie in der ersten Ausgabe abgebrochen begann, einen Dialog voraus, welcher den, da- mals noch vorausgesetzten, eigentlichen Abschluss des Vertrags ein- leitet und ausführt; derselbe ist reich an Tiefsinn und Schönheit, doch mit dem früher Veröffentlichten nicht recht vermittelt,. die Reden dre- hen sich in Wiederholungen, ihr Fortgang hat zu wenig folgerechte Entwicklung. Zudem dringt in dem Gesange der Geister des Mephi- stopheles abermals das Opernhafte ein. Es bleibt uns als neue Zuthat, nachdem wir diejenigen, welche von unzeifelhaftem Werthe für den Fortschritt der Handlung sind, gleich anfangs ausgeschieden haben, die Walpurgisnacht und der Walpurgisnachts- Traum. Sie sind eingeschoben an der Stelle, wo Faust in ein Gedränge glänzender Zerstreuungen geführt werden sollte, in welchem er Gretchen vergisst, um nachher, da er ihr Schicksal erfährt, desto furchtbarer zu erwachen. „Wiegst mich in abgeschmackten Sn Zerstreuungen,“ sagt er in der folgenden Scene zu Mephistopheles. Das Puppenspiel bringt ihn an den Hof von Parma; von da nach Mainz geflüchtet will er heirathen, der Teufel schreckt ihn von diesem Vorhaben zurück und führt ihm als Ersatz die Helena, einen Suceu- bus, zu. : Hätte Göthe mit der ursprünglichen Frische und mit der nöthigen Energie des Willens seinen Faust fortgesetzt, so hätte er gewiss diese bedeutenden Winke seiner Stoffquelle benützt, seinen Helden auf realem Boden belassen und vielleicht das Motiv von der Helena mit dem Aufenthalt an einem üppigen Hofe so combinirt, dass sie nicht als Allegorie des Classieismus, wie in der Episode des zweiten Theils, sondern als lebendiger Inbegriff aller verführerischen, schwungvollen, plastischen Reize südlicher Weiblichkeit erschien. Die Untreue gegen Gretchen wäre durch wirkliche Begebenheit motivirt, der dramatische Gang und Schauplatz naturgemäss. Statt dessen wer- den wir nun plötzlich dem Boden des natürlich und menschlich Mög- lichen entrissen, in eine phantastische Spuekwelt geworfen, worin sich die Neigungen der romantischen Schule in Göthe so beunruhigend an- kündigen, mit dunkeln Anspielungen überschüttet, mit einer Anzahl von Xenien meist ephemeren satyrischen Inhalts unterhalten, die ihren Ort überall besser, als in dieser ernsten, tiefen Tragödie gefunden hätten, und da Göthe noch eine grössere Anzahl solcher Epigramme übrig hat, von denen er augenblicklich nicht weiss, wohin damit? so wirft er sie in ein Intermezzo, den Walpurgisnachts-Traum, das er noch hinzugibt. Hier kann uns keine Verehrung Göthe’s abhalten, einen strengen Tadel auszusprechen; diese Willkür ist es am meisten, welche das Vorspiel auf dem Theater mit laxem Humor der. Selbst- Absolution zu entschuldigen sucht. Dass Göthe immer Göthe bleibt, dass bei ihm auch hier vieles Einzelne als elassisch anerkannt wer- den muss, verbessert nichts, verschlimmert nur und mystifieirt über den Werth des ganzen Theils, wie er nach dem Maasstabe des Fort- schrittes der Handlung zu keurtheilen ist. Die meiste Poesie liegt in dem Schauspiele des allgemeinen fieberhaften Naturzustandes und des tollen, wirren Hexenfluges, womit die Walpurgisnacht beginnt, einem tief geschauten Bilde der innern Lüsternheit, Wüstheit und Wildheit des Bösen; ein solches Bild mochte, da ein phantastischer Zauberschein allerdings einmal zur Färbung dieser Tragödie gehört, in schattenspielartiger Kürze immerhin an uns vorübergehen, ähnlich dem, wo Faust und Mephistopheles am Rabenstein vorbeisausen, wenn nur im Uebrigen durch reale, menschliche Handlung uns gezeigt wurde, wie Faust, nachdem er etwa auf der Reise den Blocksberg Br bestiegen, unter den betäubenden Zerstreuungen der vornehmen Welt unterzugehen droht und Gretchen vergisst. Wir brauchen nicht noth- wendig in einen symbolischen Mittelpunkt des Bösen versetzt zu wer- den, Mephistopheles und der Gang der Handlung sind Hölle und Teufel genug; nebenher nur mochte ein grelles Streiflicht solcher Art einbrechen. „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ schliesst das Vor- spiel auf dem Theater und gelegentlich sei gesagt, dass es durch die Reihenfolge, worin es diese Territorien aufführt, Manchen zu der Meinung verleitet hat, das Drama müsse mit Faust's Verdammung endigen. Freilich hätte man von Anfang an erkennen sollen, dass der Prolog im Himmel, welchen Göthe in derselben Zeit, da er den Faust weiter führen wollte und statt dessen nur mit Scenen von so ungleichem Werthe durchschoss, hinzudichtete und dessen Be- trachtung wir dem Schlusse dieser Bemerkungen vorbehalten haben, sogleich jenen Schein widerlegt. Der Dichter erhebt sich in dieser Eröffnungsscene contemplativ über sein Gedicht, bringt sich die Grund-Idee zum Bewusstsein und setzt sie ihm offen ausgesprochen an die Stirne. Im Vorspiel auf dem Theater hat er sich und dem Publikum Rechenschaft über die poetische Form abgelegt, hier legt er solche iiber die innerste Bedeutung ab. Wir theilen nicht den Vorwurf, dass diess zu philosophisch, zu metaphysisch sei; ein Ge- dicht, das einmal überhaupt so unverholen und ausdrücklich in die Tiefe und Weite der Idee geht, durfte und sollte dieselbe auch in Form der ausgesprochenen Allgemeinheit an seine Eingangspforte schreiben. Aeusserst schwer aber war es natürlich, auch für die so direet bloszulegende Idee noch eine poetische Form zu finden, und wir preisen Göthe hoch, dass er sie gefunden hat. Berechtigung und Nothwendigkeit eines beziehungsweise philosophischen Prologs über- setzt sich in seiner Phantasie poetisch in die Berechtigung und Noth- wendigkeit einer mythischen Scene, eines Vorgangs in überirdischem, idealem Raum: diess ist der einzige, der genau richtige Weg, durch die Natur der Sache gegeben in einem Gedichte, das schon im Gange der Handlung Geister und Teufel, transcendente Gestalten aufzu- nehmen durch seinen tiefsinnigen Charakter bestimmt war, und die Rückkehr zu der primitiven Form des neueren Drama, den Mysterien, ist hiermit nur ganz in der Ordnung. Göthe thut den genialen Griff, die Anfangsscene des Buchs Hiob umzudichten; er gewinnt dadurch einen unserer Vorstellung geläufigen, einfachen poetischen Apparat für seine Idee, eine sparsame Gruppe von Gestalten, die für uns — a, gleichgültig, wie wir uns in dogmatischer Kritik gegen sie verhalten, — das Ueberzeugende der Lebenswärme hat, das Allem inwohnt, was nicht der Erfindung des Einzelnen, sondern dem Volksglauben angehört. Die Erzengel stellen nun das ewige, trotz der einzelnen scheinbaren Störung, ja in ihr, welche vielmehr nur die nothwendige streitende Bewegung der Kräfte ist, herrschende Gesetz, die Natur- Ordnung dar, Mephistopheles, zugleich Denunziant und Verführer, Ver- derber, die moralische Welt, wie sie durch das Vermögen des Unbe- dingten, die Freiheit, gegenüber der Harmonie in der Natur eine Welt der Willkür, der Störungen zu sein scheint, der Herr aber die oberste, ewige Einheit, welche beide Welten beherrscht, auch über die moralische übergreift und in ihren Schwankungen, Verwicklungen, ewigen Rückfällen das ewige Gesetz der göttlichen Einheit und Rein- heit herstellt. Die Strophen der Erzengel gehören unbestritten zu dem Erhabensten, klangvoll Tiefsten und Gewaltigsten in unserer lyri- schen Poesie. Dass sie nur von der Planeten-Drehung, Licht und Nacht, Gewitter und sanftem Wandeln des Tages singen, möchten wir keineswegs angreifen, wie der anonyme Verfasser der Broschüre: Ueber den Prolog zu Faust von Göthe (Berlin 1850) gethan hat. Göthe durfte in diesen grossen Ur-Erscheinungen um so mehr das Ganze des Naturlebens zusammenfassen, als ein Hereinziehen des Or- ganischen ihn der geistigen Menschenwelt genähert hätte, die er doch hier ganz getrennt der physischen Welt gegenüberstellen will und muss. Mit der Grund-Idee ist nun in grossem, einfachem Winke zugleich das Ziel der Tragödie angegeben: Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, So werd’ ich ihn bald in die Klarheit führen, Weiss doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt, Dass Blüth’ und Frucht die känft'gen Jahre zieren. Es ist die grosse, organische Idee der Entwicklung, wodurch alle Verirrungen der Menschheit nur als Krisen eines Ganges erscheinen, der eine wachsende Fülle und Bereicherung des strebenden, in Gott ewig aufgehobenen Geistes darstellt. Klar ist nun aber auch, dass Göthe mit diesem Prologe zugleich den Schluss vorbereitet, dass er mit ihm die Form gefunden hat, eine ewige Wahrheit, welche niemals einzelnes Factum sein kann, dennoch in einem solehen auszusprechen, nämlich in einem mythischen. Im Mythus wird ja eben zur einzelnen Thatsache, was niemals und nimmer wahr ist; „das Unbeschreibliche, hier ist es gethan“. Wir werden sogleich sehen, wie hiedurch allein eine schwierige Stelle in diesem Prologe sich aufklärt; ehe wir aber — DE zu derselben übergehen, besprechen wir eine andere, denn wir haben es schliesslich darauf abgesehen, einzelne Hauptpunkte dieser Vor- Scene zu erörtern, welche für die Erklärung etwas eigenthümlich Beun- ruhigendes haben. Alle ächte Poesie schliesst reiche Gedankensummen in ihre Gestalten und deren Aeusserungen ein, Gedankensummen, die sich schwer auseinandersetzen lassen, wenn man daran geht, sie aus dem Bild herauszunehmen und in bildloser Form geordnet hinzustellen; Göthe’s Faust hat diese Eigenschaft im höchsten Grade, und es ist wahrlich kein Tadel, wenn man sie ihm beilegt; aber es fehlt der kühnen Produetion auch nicht an Stellen, wo die im Verhältnisse der Kunst zum Begriff überhaupt liegenden Schwierigkeiten sich durch die weitere erschweren, dass wirklich einige stärkere, deutlichere Licht- puncte im Gemälde fehlen, dass es ist, als wäre etwas verwischt, im Ungewissen gelassen, dass man nicht nur logisch als Exeget, sondern auch kritisch als Aesthetiker wünschen muss, der Dichter selbst hätte nachgeholfen, hätte etwas weiter gethan, den wimmelnden Gedanken- zug, der seinen Gestalten und ihrer Handlung entquillt, in das Netz des poetischen Körpers einzufangen. Eine solche Stelle ist jene Art von Theodicee, welche die Worte enthalten: „Du darfst auch da nur frei erscheinen — schaffen.“ Hier geben zuerst die Worte: „von allen Geistern, die verneinen, istmir der Schalk am wenig- sten zur Last“ allerhand zu denken. Man erwartet in dieser Scene, welche so ausdrücklich in’s Allgemeine geht, so durchsichtig auf den philosophischen Gedanken zeigt, nicht mehr die Erweiterung des per- sonifieirenden Actes, wornach es unbestimmt viele Teufel gibt, son- dern eine Beschränkung desselben auf die Vorstellung Eines Teufels, da das Böse seinem Wesen nach Eines ist. Wir haben natürlich die poetische Einkleidung: ein besonderer Teufel, den es unter andern auch gibt, zunächst zu übersetzen in den Begriff: eine Art, Wirkungs- weise des Bösen, oder richtiger, philosophisch strenger: das Böse, insofern es in einer bestimmten Art wirkt, seine Wirkungen in einer bestimmten Art concentrirt. Was diess für eine Wirkung sei, soll uns das Wort Schalk sagen. Wir erwarten noch einige Züge, wo- durch uns der Dichter nachhelfe; solche sind uns aber in den Worten: „des Menschen Thätigkeit kann allzuleieht erschlaffen, er liebt sich bald die unbedingte Ruh’; d’rum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu, der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen“ offenbar nur unge- nügend geboten. Denn vergleichen wir sie mit der Handlung im Ge- dichte, so wird uns klar, dass unter Schalkheit des verneinenden Geistes die eigenthümlich heilsame Wirkung verstanden ist, welche Ei die Ironie des unerbittlichen, realistischen Verstandes in der Erziehung überfliegend enthusiastischer, nach einem Unendlichen mit Verachtung jeder Schranke jagender Geister ausübt. Dieselbe Rolle spielte der brave Merk in Göthe’s Entwicklungsgeschichte; der ätzende, kaustische, herbe Verstand, der Geist der Erfahrung war in ihm mit Wohlwollen vereinigt, er ist von diesem trennbar und häufiger getrennt, als mit ihm vereinigt, genau gesagt: solcher realistische Verstand ist nicht nothwendig böse, aber umgekehrt verhält es sich anders: das Böse ist nothwendig mit ihm verbunden und verkehrt, was Wahres in ihm ist, zur Frivolität, zur Unwahrheit. Da aber der Realismus, der Geist der Grenze und Erfahrung, die eine Hälfte der Wahrheit ist, so be- hält er, auch vom Bösen geltend gemacht, seine heilsame Wirkung, so hat Mephistopheles immer halb Recht und erzieht den Faust, ohne es zu wollen, bildet ihn zur Einheit des Idealismus und Realismus. Allein diese erziehende Wirkung des ironischen Verstandes wird nur zur geringeren Hälfte darin bestehen, dass überfliegende idealistische Naturen durch sie aus der Trägheit, aus der Erschlaffung aufgerüttelt werden. Es ist wahr, dass der geniale Mensch als Kind der Stim- mungen sich gern einem gewissen Zaudern, einem Gehenlassen seiner selbst und der Dinge hingibt, dass er auch in der Thätigkeit, auf das Gefühl seiner Kräfte gestützt, auf die Inspiration vertrauend, sich leicht zu wenig anstrengt: da sagt ihm der Realist beissend und schneidend zu seinem Heile die Wahrheit; aber viel wesentlicher und häufiger ist, dass er in hastiger und ungeduldiger Thätigkeit und Aufregung zu Vieles im Handeln und Geniessen auf einmal erschaffen will: da muss er vom Realisten, vom Ironiker lernen, dass ınan nicht Alles auf einmal kann, dass man sich beschränken muss, dass man insbesondere im sittlichen Leben durch diesen genialen Drang der Unendlichkeit schuldig, tief schuldig werden kann. Diess sollte nun offenbar in der vorliegenden Stelle bestimmter und vollständiger — nicht ausgeführt, aber in geistreicher Andeutung betont sein. Man kann aber diese Beschränkung, wornach das Böse nur die Bedeutung eines Mittels haben soll, das den Menschen aus der Trägheit aufreizt, von der andern Seite in Schutz nehmen, man kann sagen: Faust reprä- sentirt ja, wiewohl er zunächst die besondere Form des einseitigen idealistischen Drangs darstellt, doch zugleich die strebende Menseh- heit überhaupt, und in dieser Allgemeinheit genommen kann und muss das Böse wesentlich als ein Hebel der Bewegung in der Weltge- schichte aufgefasst werden, schliesslich ist es daher als ein Ferment in jener einfachen Weise zu bezeichnen; es ist ja iiberhaupt das Objeet a MW = des Guten und als Objeet zugleich das zum Handeln, eben zur Be- kämpfung des Objects, Aufreizende, Herausfordernde. Ganz richtig; dann aber müssen wir den Ausdruck: „von allen Geistern, die ver- neinen“ u. s. w. wieder angreifen, denn ist im Folgenden die allge- meine Bedeutung des Bösen als Moments der Weltgeschichte ausge- sprochen, so ist Mephistopheles nicht blos eine der Formen desselben, figürlich einer unter den Teufeln, sondern eben das Böse, der Teufel. Das Beste war aber immer, sowohl diese allgemein aufreizende, den Intrikanten im Drama gleich die Handlung bewegende Wirkung des Bösen, als auch die besondere Bedeutung desselben poetisch auszu- sprechen, wonach es, mit dem realistischen Verstande geeinigt, als sublimirter, in sich entzündeter Geist der Grenze auf den überflie- genden Idealismus heilsam wirkt, und statt der obigen Worte etwa zu sagen: mag auch der Böse immerdar verneinen, er ist, als Schalk, mir nimmermehr zur Last. Wir kommen nun zu der Stelle, mit der wir uns hauptsächlich beschäftigen wollen. Es sind diess die Worte: So lang er auf der Erde lebt, So lange sei dir’s nicht verboten ; Es irrt der Mensch, so lang er strebt. Diese Worte setzen in völlige Confusion, wenn man bei ihrem un- mittelbaren Sinn stehen bleibt. Ist nämlich Faust’s Schicksal im Mo- mente seines Todes zweifelhaft, so wird dadurch schlechterdings in der Sache nichts klar, dass die Aussicht auf ein Jenseits eröffnet wird. Wäre im Jenseits noch Streben, so gienge eben die unentschie- dene Handlung von Neuem an und wiederholte sich nur, was schon im Diesseits zweifelhaft geendigt hat; ist aber im Jenseits, wie der Herr selbst sagt, kein Streben mehr, so hat dieser, wenn er bei zweifelhafter Lage der Wette in Faust's Todesmoment ihn in solch’ ein bewegungsloses Asyl entrückt, doch wahrlich nicht gewonnen, son- dern nur ungerecht den Knoten zerhauen. Unzweifelhaft aber läge die Sache in zwei Fällen. Der eine wäre, wenn Faust wirklich dahin gebracht würde, dass er in einem Zustande der völligen Abstumpfung, der Ertödtung alles Strebens stärbe. Nach Faust's Seele und ihrem - Zustande im Jenseits wäre dann nicht weiter zu fragen, mythisch auf- gefasst hätte Mephistopheles gewonnen: sie führe zur Hölle. Dass aber dieser Fall nicht eintreten wird, versteht sich von selbst bei einem Helden, der die Menschheit in ihrer ewigen, kämpfenden Geistes- bewegung vertritt. Der andere Fall wäre der, dass Faust so fest im Guten stünde, dass kein Rückfall in Schuld zu besorgen wäre ER dieser Fall wird aber auch nicht eintreten, kann nicht eintreten, denn Gutsein ist Streben, aber „es irrt der Mensch, so lang er strebt“; es gibt keine in ruhender Vollkommenheit beschlossene Tugend. Viel- mehr es lässt sich voraussehen, dass die Lage der Dinge im Augen- blicke von Faust's Tod allerdings eine zweifelhafte sein wird in diesem Sinn: Faust wird in seinem Erfahrungsgange durch die wichtigsten Lebensformen stets gestrebt, im Streben aber auf jeder Stufe auch ge- fährlich sich verirrt, in Leidenschaft verstrickt haben und schuldig geworden sein: eine Reihe von Rückfällen und neuen Aufschwüngen. Am Schlusse wird er zum Augenblicke sagen: verweile doch, du bist so schön, d. h. er wird mit einem in edleın Sinne beglückenden (wenn auch nur als sicher bevorstehend angeschauten) Zustande, welcher aber doch kein absolut reiner sein kann, zufrieden sein, er wird also in einem gewis- sen Sinne beharren; er wird in diesem Momente sterben und Mephisto- pheles die Hand auf ihn decken. Nun würde aber, wenn der Dichter nicht einen bestimmten Ausweg gefunden hätte, ein Wortwechsel zwischen ihm und dem Herrn beginnen, der nur durch einen poetisch unzu- lässigen Sprung in den rein philosophischen Begriff und Ausdruck abzuschliessen wäre. Der Herr würde sagen: Faust’s Seele ist ge- rettet, denn er hat aus jedem Fall sich wieder erhoben, er hat aus Schuld und Uebel gelernt und ist bereichert vorwärts geschritten, zuletzt aber ist er zufrieden gewesen mit einem Zustande oder dem Bild einer Wirklichkeit, woran zwar ebenfalls Erdenstaub haftet, die aber im Innersten ideal ist (wie das Bild ächter, thätiger, gesetzlicher Völkerfreiheit, in dessen Anschauung Göthe den Faust am Schlusse wünschen lässt, dass der Augenhlick verweilen möge). Mephistopheles aber würde nun behaupten, in der Reihe von Aufschwüngen und Rück- fällen, durch welche Faust gewandelt ist, seien das Wahre, worauf er sich berufe, vielmehr die Rückfälle, und da auch am letzten Auf- schwung doch wieder Unreines hänge, so würde sicherlich ein neuer Rückfall folgen, — „schon gut, nur dauert es nicht lange* — „er scheint mir, mit Verlaub an Euer Gnaden wie eine der lang- beinigen Cieaden* u.s. w. Das wäre nım das unendliche Lied, wenn nicht der Herr endlich durchschnitte und die wahre Idee philoso- phisch ausspräche, Nun müsste er zeigen, was wir im Anfange dieser Bemerkungen zur Begründung der grossen Schwierigkeit des Schlusses ausgesprochen haben: es kann niemals einen Zeitmoment geben, wo man sagen kann, die Idee habe in der Geschichte schlechthin ge- siegt, ihr ewiger Sieg ist ein ewiger Kampf, der Gang der Mensch- heit ein zeitlich nie endigender Weg durch immer neue Verirrung, ER Schuld und Uebel zu immer neuem, durch diese Erfahrungen be- reichertem Aufschwung; die gemeine, bloss realistische Betrachtung sieht auf die Momente des Falles und erklärt daher den Menschen für ein Thier, dessen Krankheit die Vernunft sei, die wahre, ideale bliekt in die Tiefe und erkennt, dass in aller extensiven Macht des Sinnlichen und Bösen das intensiv Wahre der ewige, unverwüstliche Geist ist; dem breitern, oberflächlichen Scheine nach ist jene negative, der inneren Wahrheit nach diese positive Anschauung die begründete, in der Kategorie der zeitlichen Suecession lässt sich ihr Widerstreit nicht schlichten. Damit hätte nun der Herr wohl philosophisch rich- tig gesprochen, aber auch allen poetischen Schein, schliesslich den seiner eigenen Person und der des,Mephistopheles aufgehoben. Der Dichter wird statt dessen kürzere Wege nehmen, er wird den Herrn einfach sagen lassen: Faust hat immer gestrebt und damit gut, so rette ich ihn in meinen Himmel. Die Thatsache der Erhebung in den Himmel wird statt der Auseinandersetzung jenes philosophischen Begriffs dienen. Und so haben wir in dieser Stelle eine Art Unter- schiebung, worin der Dichter die Unvermeidlichkeit seines poetischen Verfahrens einer der handelnden Personen in den Mund legt, worin er den transcendenten Schluss des Dramss vorbereitet, der ebenso unentbehrlich ist, als der transcendente Anfang, nämlich eben der Prolog im Himmel. Mephistopheles antwortet: da dank’ ich euch, denn mit den Todten u.s.w. Die Worte: „da dank’ ich euch“ sind zunächst nicht ironisch zu nehmen so, wie man sie in der Umgangs- sprache gern ironisch braucht; Mephistopheles will sagen: es ist mir ganz recht so; aber die Stimmung der ganzen Rede ist ironisch; Mephistopheles denkt: buchstäblich genommen hätten deine. Worte einen Sinn, wonach ich übel führe, denn du würdest am Ende den Faust, was ich immer für mich mag vorbringen können, in deinen Himmel retten; aber ich verstehe dich; eigentlich meinst du, eben hier auf der Erde werde es sich bei Faust's Ende doch hinlänglich erprobt haben, wer von uns gewinnt, und ebendavor fürchte ich mich nicht, ich bin zufrieden, wenn, so lang Faust lebt, keine Eingriffe . von dir geschehen, die mir meinen Plan durchkreuzen. — Zum Letz- tern bemerken wir, dass es auf einen Augenblick gegen einen durch die Sache geforderten Parallelismus zu laufen scheint, dass in der ganzen Tragödie zwar der Teufel als Verführer handelt, der Himmel aber nicht als Schützer, dass nicht ebenso, wie höllische Wunder zu Faust’s Nachtheil, auch himmlische Wunder zu seinem Vortheil ge- schehen (wie im Volksbuche z. B. das Homo fuge, im Puppenspiel u die warnende Engelsstimme u. A.). Die poetische Illusion macht aber keine so strenge Forderungen, dass sie sich nicht von der rein ratio- nellen Behandlung durchkreuzen liesse; es liegt zu viel Gewicht dar- auf, dass der Compass des Guten unverrückbar in der Menschheit selbst liegt, als dass auf dieser Seite die mythischen Eingriffe nicht das klare, protestantische, sittliche Bewusstsein stören würden, wo- gegen dasselbe es sich leicht gefallen lässt, dass das Niedrige, Böse ausser den Menschen verlegt und auf ihn einwirkend vorgestellt wird, weil es eben das Unwahre, das Nichtige ist. Ja gerade diese Ver- letzung der poetisch logischen Parallele hat der Dichter wollen müssen: das Gute siegt ohne Wunder, das Böse mag immerhin allen Zauber aufbieten. — Der Herr lässt sich nun nicht weiter ein, sondern schneidet, weil er sich das Handeln im besagten Sinne vorbehält, die Erörterung der hier aufsteigenden Gedankenreihe mit den Worten ab: nun gut, er sei dir überlassen u. s. w., um nur noch die Wahr- heit auszusprechen, die wir so eben als diejenige hervorgehoben, die keiner mythischen Einkleidung bedürfe, weil auf dieser Seite die Nachhülfe durch Mirakel überflüssig ist: „ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst.* Das „nun gut“ will sagen: du+wirst schon sehen, dass ich gewinne, ob- wohl ich, wie du es richtig durchschaust, meine Worte: so lang er auf der Erde lebt u. s. w. nicht so verstanden habe, wie sie buch- stäblich scheinen verstanden werden zu müssen, d. h. trotzdem, dass ich völlig bereit bin, die Entscheidung unserer Wette ganz auf den Schauplatz des Diesseits zu stellen; du wirst sehen, dass es keiner Zerhauung des Knotens, keiner Entrückung in den Himmel ohne vor- hergegangenen Prozess bedarf, um Faust zu retten, so sehr auch das Diesseits das Feld deines Sieges zu sein scheint; du wirst sehen, dass das Diesseits der Sinnlichkeit das Jenseits der siegreichen Idee gleichzeitig in sich selber trägt. Du wirst sehen, dass — nur der Dichter die Form eines Actes der Entrückung in den Himmel bedarf, um diese Wahrheit auszusprechen. Da kehren wir denn zu unserer Behauptung zurück, ın der Stelle, die wir hier erörtert, liege eine Art von Unterschiebung, durch welche ein Bedürfniss der poetischen Ausführung so aus den Personen der Diehtung sprieht, dass für das unmittelbare Verständniss eine Con- fusion entsteht, auf die Behauptung einer Art von Parabase. Aber diese Parabase rechtfertigt sich dadurch, dass im ganzen Gedichte die phantastisch mythischen Motive einmal herrschen, obwohl sie wieder so durchsichtig sind, dass wir hinter ihnen leicht den Dichter und seinen illusionslos hellen Geist erkennen, der uns gesteht, dass er solche Motive nur verwende, weil er sie brauche. Auf ganz ähn- liche Weise schiebt sich das Mythische und nicht Mythische in der Scene des Contract- Abschlusses zwischen Faust und Mephistopheles durcheinander. Dieser sagt: Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden , Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruh'n; Wenn wir uns drüben wieder finden, So sollst du mir das Gleiche thun. Nachher aber: Und hätt‘ er sich auch nicht dem Teufel übergeben , Er müsste doch zu Grunde geh'n. Und Faust vollends wirft die ganze Unterscheidung weg mit den Worten: „wie ich beharre, bin ich Knecht, ob dein, was frag’ ich, oder wessen.“ Ist der Teufel überflüssig, so gibt es auch keine Hölle, sie liegt im menschliehen Busen selbst. Die Illusion eines Teufels, eines Diesseits und Jenseits wird also aufgehoben, während sie sich doch fortbehauptet. Gerade das aber ist nicht die geringste Seite der unendlichen Genialität dieses Gedichtes, dass es so ganz modern aufgeklärt mitten im Scheine des phantastisch Mythischen ist, dass es diesen Schein immer wieder keck auflöst und mit der ganzen Kraft der Poesie wieder herstellt. So in der Hexenküche, wenn Mephistopheles sagt: „den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben“, folgt eigentlich aus diesem Wort eine Aufhebung seiner eigenen mythigchen Existenz, aber doch ist er es, der es sagt; das ist der Humor davon. Kein Dichter hat noch diese Freiheit und ela- stische Leichtigkeit gezeigt, in ein superstitiöses Element zu tauchen und zugleich darüber zu schweben. In der Contraet-Scene sind aber jene Worte des Mephistopheles vom Hier und vom Drüben so stark accentuirt, eben weil auch dort der Dichter auf seinen Schluss, die unentbehrliche mythische Scene, die in der Ausführung des zweiten Theils nur leider so überladen gothisch ausgefallen ist, präludirt. Hiemit schliessen wir diese kritischen Bemerkungen, die durchaus auf keine Vollständigkeit Anspruch machen, grossentheils nur Winke sein wollen. Eine enthusiastische Pietät wird sie für mehr kritlich, als kritisch halten, vielleicht aber dadurch nur verrathen, dass sie im Grund alle Kritik für Kriteln hält. Dass wahre Pietät die Kritik nicht ausschliesst, bedarf für Verständige keines Beweises. 2 Procrustes ante portas! Ein kulturgeschiehtliches Zeitbild. Von HERMANN MEYER. Quid rides ? mutato nomine de te Fabula narratur. In unserer Jugend erzählte man uns von einem schrecklich bösen Manne, welcher im alten Griechenland gelebt habe und Prokrustes genannt worden sei; der Mann habe zwei Betten gehabt, ein langes und ein kurzes; er habe dann den Reisenden aufgelauert und sie mit sich nach Hause genommen; dort habe er die kurzen in das lange Bett gelegt und so lange gestreckt, bis sie in das Bett gepasst hätten; und die langen habe er in das kurze Bett gelegt und ihnen so viel von den Beinen abgesägt, dass ihnen das Bett nicht mehr zu kurz gewesen sei. Mit welchem Grausen hörten wir diese Geschichte an! und welche Genugthuung genossen wir, als wir erfuhren, dass der Alkmene Sohn, Herakles, ein gewaltiger Mann, neben andern Unge- heuern, wie der lernäischen Schlange, dem nemeischen Löwen, dem erymantischen Eber ete., auch diesen Prokrustes erschlagen habe. Man erzählte uns auch das freundliche Märchen vom Aschen- brödel, wie es heimlich auf dem Balle war und dort seinen Schuh verlor; und wie der Prinz alle Mädchen aufforderte, sich zu ınelden, wenn sie glaubten, der verlorene Schuh gehöre ihnen ; und wie Aschen- brödels eitele Schwestern auch kamen und den Schuh anziehen wollten; und wie die eine von ihnen sich die Zehen abschnitt und die andere die Ferse, um den Fuss für den kleinen $chuh passend zu machen. Wie herzlich lachten wir über die Albernheit, den Fuss zu verstümmeln, nur um der lieben Eitelkeit willen, damit er in einen kleinen Schuh passe! und wie freuten wir uns darüber, dass den hochmüthigen Schwestern ihr Streich doch nicht gerieth und dass das verachtete Aschenbrödel zu hohen Ehren gelangte. Später machten wir ethnographische Unterhaltungsstudien und fanden dabei mancherlei Sitten, welche unsere Aufmerksamkeit auf sich zogen. Wir erfuhren, in China werde den Mädchen die grosse Zehe auf den Fussrücken hinaufgebunden und die übrigen Zehen auf die Fuss- sohle hinabgebunden, damit die unschöne Verlängerung, welche die Zehen dem Fusse geben, beseitigt werde; — zwar sollen die Frauen dann nur gehen können, wenn sie jederseits durch eine Dienerin ge- stützt werden, welche gemeine Füsse mit Zehen hat; das ist aber gleichgültig, vornehme Leute brauchen ja nicht zu gehen, sie lassen sich tragen oder schicken Diener. a TE Wir erfuhren ferner, in Amerika lebe ein gar wildes Volk, die Kariben genannt, und bei diesem Volke sei es gemein, einen ge- wöhnlich gebildeten Schädel zu haben; darum werden die Kinder in einen Trog von Baumrinde festgebunden und es werde ihnen der Kopf über Stirn und Hinterhaupt zusammengeschnürt, bis die Stirn die Gestalt der Affenstirne erhalten habe und jede Andeutung an das un- schöne Geradaufsteigen der menschlichen Stirne verwischt sei. Wie freuten wir uns da, dass dergleichen bei uns doch nicht vorkomme! und mit welchem Selbstgefühl blickten wir auf unser ge- bildetes Europa, wo man die edle Menschengestalt nicht durch muth- willige Verstümmelungen verunehrt! Wir lasen ferner von den Botokuden in Brasilien und von den Kamtschadalen und den Neu-Seeländern und anderen Völkerschaften, welche sich die Unterlippe und die Nasenscheidewand und die Ohr- läppehen durchbohren, nnd in die Löcher Holzpflöcke, Knochen, Fe- dern, goldene Ringe etc. einschieben in der Meinung, sich damit zu zieren. Da lachten wir auch, aber doch nicht mehr mit ganz gutem Ge- wissen, denn wir dachten daran, wie auch in dem gebildeten Europa so mancher goldene Ring in einem durchbohrten Ohrenläppchen hängt. Dergleichen könnte man sich noch gefallen lassen, lässt sich erwiedern, denn das kleine Loch in dem Öhrläppcehen wird so wenig gesehen und ist so unbedeutend, dass es keinesweges eine nennenswerthe Ver- unstaltung des Körpers ist; aber wirkliche Verstümmelung des Kör- pers aus Eitelkeitsgründen, wie bei Chinesen und Kariben kömmt doch bei uns nicht vor. Reifröcke, welche bei jedem Schritte hinderlich sind, — Hüte, welche mit Hülfe eines Schnürchens über das Gesicht hinuntergezogen werden und die freie Aussicht hindern, — Hüte, welche auf den Rücken hinabhängen und dem Regen und Sonnen- schein den Zutritt zum Gesichte nicht verwehren, — Hosen, welehe durch ihre Enge jede freie Bewegung der Beine verbieten, — diese alle sind zwar auch nicht Zierden für die menschliche Gestalt, aber sie sind doch auch nicht Verunstaltungen und Verstümmelungen, denn . Sie sind nur unzweckmässig und unschön. Dieses ist in so ferne wohl richtig, antworten wir darauf, als nicht mit dem vollständigen Bewusstsein, wie in China und bei den Kariben der Körper verstümmelt wird; und wir wollten uns die an- geführten und andere Lächerlichkeiten der Kleidung wohl gefallen lassen, wenn wir nur nicht finden müssten, dass die Mode, welche diese Lächerlichkeiten erzeugt, auch zugleich in ihrer bekannten dik- de tatorischen Weise Formen von Kleidungsstücken aufdrängt, welche den gesunden Bau des Körpers verderben und mancherlei Nachtheile für das allgemeine Wohlbefinden zur Folge haben. Zwar klingt es fast nur wie eine Sage aus der Vorzeit zu uns herüber, dass man allerdings vor 50 — 100 Jahren die Sitte gehabt habe, den untern Theil des Brustkorbes durch Schnüren auf einen möglichst geringen Durchmesser zurückzuführen ; man weiss auch, wie scharf der bekannte alte Anatom Sömmerring diese Unsitte gegeisselt und wie ernst er ihre nachtheiligen Folgen hervorgehoben hat; und noch neuere illustrirte Zeitschriften haben seine lehrreichen Bilder von dem Brustkorbe der medicäischen Venus und demjenigen einer ele- ganten Modedame kopirt. Aber wir dürfen uns noch nicht rühmen, dass unsere Zeit jenes Vorurtheil besiegt habe; noch heute gilt eine möglichst dünne „Taille* für elegant und vornehm, während ein wohl- gebauter Brustkorb für tölpisch und bäurisch gehalten wird; und in manchem Schaufenster kann man die fischbeingestützten Panzer stehen sehen, welche vorschreiben, wie die weibliche Gestalt aussehen soll. Wie manchmal mag ein solcher Panzer mit geheimem Bangen vor seiner beengenden Wirkung angeschaut werden; aber die Beruhigung fehlt nicht, denn man tröstet sich mit dem Sprüchlein: Tl faut souff- rir, pour &tre beau. Freilich ist indessen dieses „souffrir“ bei Erwachsenen nicht immer zu gross, denn sie sind ja schon von Jugend auf durch eng anliegende Kleider an der gesundheitsgemässen Entwickelung des un- teren Theiles des Brustkorbes behindert und in die vorschriftsmässigen Panzer hineingebildet worden. — Wie weit ist diese Sitte von dem Kopfschnüren der Kariben entfernt ? Man wendet ein, jene Panzer seien für die ,Haltung nothwendig und schützen vor Verkrümmung der Wirbelsäule. Darin liegt Wahres, aber nicht in dieser Fassung; das Wahre ist nämlich, dass die Panzer die gebeugte Haltung aus Schwäche der Rückenmuskeln zu einer scheinbar geraden Haltung emporstützen und dass sie bereits vorhan- dene Krümmungen der Wirbelsäule können maskiren helfen. Woher kömmt aber diese Schwäche der Rückenmuskeln und die so häufige Verkrümmung der Wirbelsäule? Man lässt die Kinder an zu hohen Tischen arbeiten, so dass sie sich seitwärts gekrümmt hinsetzen müssen, um nur hinaufreichen zu können; — man lässt sie nicht genug in den Freistunden sich herumtummeln, wodurch sich das gesammte Muskelsystem gehörig kräftigen könnte; — man lässt sie vielmehr in den Freistunden wieder sitzen, namentlich die Mädchen, und ver- bietet ihnen, sich, wenn sie ermüdet sind, an den Stuhlrücken anzu- lehnen, so dass sie genöthigt sind, sich seitlich zusammenfallen zu lassen; — man benimmt den Mädchen durch eng anliegende Kleider schon frühe die Nothwendigkeit, die Haltung der Wirbelsäule von ihrer Muskelthätigkeit abhängig zu machen und hindert damit die Ent- wickelung derjenigen Muskeln, welche die Wirbelsäule aufrecht halten sollen et. Dann hat man freilich die fischbeinenen Surrogate und maskirenden steifen Hüllen nöthig; aber würde man sie nöthig haben wenn nicht die gröbsten Vernachlässigungen und gesundheitswidriges Herkommen erst den Körper geschwächt und verunstaltet hätten ? Doch verlassen wir dieses Thema, über welches schon viel und mancherlei geschrieben und gesprochen ist, wenn auch, nach dem Er- folge zu urtheilen, noch lange nicht genug. Ein anderes Schaufenster giebt uns noch viele verwandte Gedanken. Wir stehen vor einem Schuhmacherladen. "Welche Fülle von eleganten „Chaussüren“! in den mannigfachsten Stoffen und Grössen, aber alle zierlich gebildet! Solche Schuhe und solche Stiefel und Stiefelchen sind eine wahre Zierde für den Fuss; sie sind ein Stolz des zivilisirten Europa! Es ist nur zu bedauern, dass nicht alle Füsse diese zierlicken Schuhe tragen können; da ist schmerzende „harte Haut“, da ist ein Plattfuss, da sind „ein- gewachsene Nägel“, da sind die knolligen Hertreibungen an der Wurzel der grossen Zehe, da sind verkrümmte zweite und dritte Ze- hen, welche schmerzhaft an das Oberleder drücken; man kann die schöngebildeten zierlichen Schuhe nieht brauchen; — wenn man sich nicht entschliesst, sie unter grossen Schmerzen selbst „auszutreten“, so lässt man noch diese oder jene Stelle des Oberleders „hinaustrei- ben“, und entschliesst sich mit einer gewissen Resignation, hässlich gestaltete Schuhe zu tragen, um nur bequeme Schuhe zu haben. Wo- her kommen alle die Schäden an den Füssen, welehe unschöne Miss- staltungen sind und den Gebrauch der Füsse hindern ? Jene elegan- ten Schuhgestalten haben sie erzeugt; es ist dem Kinde vielleicht schon absichtlich der Schuh zu klein gemacht worden, oder man hat aus Nachlässigkeit oder falscher Sparsamkeit ihm die verwachsenen Schuhe nicht gegen passendere vertauscht; der Erwachsene hat dann aus eigenem Antriebe elegante Schuhe gewählt oder sie, ohne darüber nachzudenken, von seinem selbstbewussten Schuhkünstler abgenommen; er hat zwar Schmerzen an den Füssen gehabt, bis die Schuhe „aus- getreten“ waren; aber man weiss, das ist einmal nicht anders, und il faut souffrir, pour &tre beau. So wird dann allmählig unter dem Einflusse dieser Umstände schon die Entwickelung des Fusses ge- Wissenschaftliche Monatsachrift. - 5 SS hemmt und dann Hauterkrankungen, Knochenerkrankungen, Gelenker- krankungen in dem Fusse erzeugt, welche nicht nur die unschönste Missstaltung zur Folge haben, sondern auch das Gehen behindern und mit diesem alle Vortheile dieser Uebung für Gesundheit und Lebensgenuss in der freien Natur. Man hat 10 bis 20 Jahre einen „schönen“ Fuss gehabt, um dann für die ganze übrige Lebenszeit einen missstalteten und verkrüppelten Fuss zu haben. — Wie weit ist diese Sitte von der chinesischen entfernt ? Noch eine andere ähnliche Versündigung an dem gesunden Bau der unteren Extremitäten findet man sehr verbreitet, früher vielleicht mehr als gegenwärtig. Die Fussspitzen auswärts setzen ist schön, sagt der Tanzmeister, und um dieses Auswärtssetzen zu erleichtern und seine Möglichkeit zu befördern, stellt er das ihm anvertraute Kind in das „Tanzbrett“, ein horizontales Brett, auf welchem zwei hölzerne Schuhe jeder für sich um einen Zapfen drehbar sind; das Kind muss in die beiden Schuhe stehen und nun werden dieselben „auswärts“ gedreht, so weit es irgend möglich ist, und dann in dieser Stellung fixirt. So muss dann das Kind eine Zeit lang ruhig stehen, wobei es sich indessen an eine Rückenwand anlehnen kann. Welche Folgen muss aber die Ausübung dieses Theiles der „Körperbildungs- kunst“ haben? — Man denke sich ein freies Bein an dem Fuss ge- fasst und nun gewaltsam um seine Längenaxe gedreht; ist das nicht dasselbe, wie das Drehen eines Striekes? Alle weichen und nach- giebigen Theile des Beines müssen gezerrt und verdreht werden, und wenn sie hierauf nach Aufhören der Gewalteinwirkung wieder in ihre natürliche Lage kommen, dann sind sie zu lang und zu schlaff und können den Knochen, welche sie untereinander verbinden sollen, den nöthigen Halt nicht mehr geben. So entsteht durch Zerrung der Bän- der des Kniees und der Bänder des Fussgelenkes und des Fusses Unsicherheit in der Bewegung dieser Gelenke, schlotterige oder seit- wärts verkrümmte Kniee, schwache Füsse, Plattfüsse ete,, und die Brauchbarkeit des schönen Mechanismus des Beines ist auf Lebens- zeit beeinträchtigt. — Und Angesichts solcher Thatsachen aus unserer nächsten Umgebung erzählt man uns noch als ein grausiges histori- sches Kuriosum, dass im Mittelalter in den Folterkammern Personen durch die Foltergeräthschaften so misshandelt worden seien, dass sie lebenslänglich den gesunden Gebrauch ihrer Glieder nicht wieder er- langt hätten ! Doch kehren wir nach dieser kleinen Digression in das Gebiet der Beinverschönerungskunst überhaupt zu dem häufiger betretenen = ii = Gebiete der Fussverschönerungskunst in’s Besondere zurück. Es kömmt vielleicht Manchem als eine zu kühne Behauptung vor, dass alle die oben angeführten Schäden an den Füssen selbstverschuldete Leiden sein sollen; werfen wir darum einen Blick auf die Gestalt des modi- schen Schuhwerkes und des herkömmlichen Schuhwerkes iiberhaupt und untersuchen wir, ob dasselbe wirklich die gerügte Unzweck- mässigkeit besitze. Nebenstehend ist die Gestalt der Fusssohle ge- zeichnet, wie sie sich z. B. im Staube der Landstrasse häufig abgedrückt findet. Der Fuss, dessen untere Fläche sich uns hier darstellt, ist nicht eine einfache feste Masse, sondern er ist fein gegliedert und in sich zu mancherlei Bewegung befähigt. Sechs und zwan- | zig einzelne kleine Knochen setzen sein Gerüste zu- sammen und dreissig Muskeln bewegen ihn theilweise | als Ganzes, theilweise in seinen einzelnen Gliederungen. Die Knochen sind durch Bänder so an einander gefügt, dass sie zusammen ein Gewölbe darstellen, welches den darauf gestützten Körper trägt, und die Hauptrichtung dieses Gewölbes, welche am meisten zu tragen hat, geht in der in nebenstehender Figur gezogenen Linie, näm- lich aus der Mitte der Ferse in die Mitte der grossen Zehe, oder, um es anders auszudrücken, die nach hinten fortgesetzte Axe der grossen Zehe trifft in den Mittelpunkt der Ferse. Wenn im Stehen der Fuss fest aufgestellt ist, dann trägt Ferse und grosse Zehe zugleich, — und wenn im Gehen der Fuss erhoben wird, so wickelt er sich in dieser Linie vom Boden ab, indem zuerst die Ferse vom Boden erhoben wird, während die grosse Zehe noch trägt, — und dann auch diese letztere vom Boden entfernt wird. Soll nun die Sohle eines Schuhes gut sein, so muss sie so gestaltet sein, dass sie wenigstens diese Haupt- - bewegung, welcher entsprechend auch namentlich die ‚Gelenke der grossen Zehe eingerichtet sind, ermöglicht; in derselben muss sich desshalb die oben bezeichnete Linie wiederfinden. Legen wir diese Linie dem Baue einer Schuhsohle zu Grunde, so erhalten wir neben- stehende Zeichnung, welche indessen, natürlich mit Fest- haltung des Grundsatzes ihrer Konstruktion, noch man- cher Verbesserung im Interesse der „Eleganz* fähig ist. ie. Bei dem Entwurfe dieser Sohle gingen wir von dem Grundsatze aus, dass der Schuh des Fusses wegen da ist, und dass er desshalb, ohne seine Funktion zu beeinträchtigen, ihm Schutz gegen Boden und Witterung gewähren soll. So natürlich und selbstverständlich dieser Grundsatz erscheint, so wird er doch keinesweges allgemein anerkannt, und, mit Bedauern sei es gesagt, gerade die wichtigste Person in dieser Angelegenheit, der Schuhmacher, theilt denselben durchaus nicht. Als seine Aufgabe erscheint ihm nicht, dem Fusse eine Hülle zu geben, die ihm das Gehen durch Schutz erleichtert, sondern sein Ziel ist, diese Zusammenhäufung von Bein, Fleisch und Haut, Fuss ge- nannt, in einen möglichst kleinen Raum zu verpacken und zwar in einen solchen von einer bestimmten Gestalt, welche er (Schuhmacher) für schön hält. Recht treffend wird dieses durch die Anekdote von dem Pariser Schuhmacher bezeichnet. Ein junger Mann bringt ihm ein Paar feine Stiefel, die er Tags zuvor bei ihm gekauft hat, zurück mit dem Bemerken, sie seien gleich kei der ersten Benutzung auf allen Seiten zersprungen; — „das darf Sie nicht wundern,* antwortet der Fussbekleidungskünstler, „Sie sind wahrscheinlich in denselben gegangen“. Wie koustruirt nun der Schuhmacher den Schuh oder Stiefel, durch welchen er dem Fusse die Gestalt ebenso diktatorisch vor- schreibt, wie die Modistin der „Taille“ durch das Corset? Er geht von dem Grundsatze aus, dass bei der Verpackung des Fusses die Masse desselben von beiden Seiten her gleichmässig zusammengedrückt werden müsse. In unserer ersten Zeichnung ist eine punktirte Linie durch die Fussohle gelegt; das ist die Linie, nach welcher hin grosse Zehe und kleine Zehe zusammengedrückt werden müssen. Um diese Linie wird symmetrisch oder, wenn er es mit dem Fusse gut meint, in Akkommodation an die Fussgestalt etwas unsymmetrisch eine ele- gante Figur gezeichnet von etwas mehr Länge als der Fuss und von ziemlich viel weniger Breite als dieser. Diese Figur, aus festem Leder ausgeschnitten, ist die Sohle, mit dieser wird dann ein mög- lichst enges Oberleder verbunden und das Kunstwerk ist fertig, dem Besteller übergeben zu werden. Dieser nimmt dem hineintretenden Schuhmacher die Stiefel ab, lobt die Arbeit und lobt die „Eleganz* der Gestalt und begiebt sich dann an’s Anziehen derselben; durch das Rohr geht es ohne Mühe, sobald aber der Fuss in den zunächst für ihn bestimmten Raum eindringen soll, beginnt die Mühe und die Arbeit, da wird gezogen, auf den Boden gestampft, wieder gezogen und wieder gestampft und endlich ist es gelungen, — der Fuss ist de MR in seinen künftigen Behälter eingeklemmt; — der Druck des neuen Stiefels macht zwar grosse Beschwerden, allein „das wird sich schon geben“, elegant sind sie und der Besteller behält sie als sein Eigen- thum. Il faut souffrir pour &tre beau! — Nebenstehende | Figur giebt uns eine Skizze von der Gestalt, welche der Fuss in dem gelobten neuen Stiefel darbietet; ist | es möglich, diese Missstaltung eines der feinsten me- -— chanischen Apparate des Körpers ohne bedauernde Be- : wunderung anzusehen? Dieser Fuss hat aufgehört, ein | Fuss zu sein; er ist nur noch eine Masse, welche das : Bein nach unten breiter macht, und allenfalls noch zum Stützen des Körpers dienen kann; auch zum Gehen kann er wohl benutzt werden, aber nur mit Mühe und Unbeholfenheit und zum Schaden des Fusses selbst. Erst wenn der Stiefel „ausgetreten“ ist, d. h. wenn der Fuss nach und nach das Oberleder annähernd in seine eigene Gestalt gebracht hat, dann ist ein solcher Stiefel zum ungehinderten Gehen dienlich, daher nimmt, wer elegante Stiefel zu tragen gewohnt ist, immer gerne seine „ausgetretenen“ Stiefel, wenn er einen irgend be- deutenden Spaziergang zu unternehmen im Sinne hat. Man rühmt die Bequemlichkeit der „ausgetretenen“ Schuhe; warum kann man sie sich nicht von Anfang an ausgetreten d. h. nach der Gestalt des Fusses machen lassen ? Wenn die Unbequemlichkeit neuer Schuhe das einzige Uebel an denselben wäre, so wäre es noch gut; aber sehr bedeutende und wichtige andere Nachtheile entspringen noch aus der herkömmlichen Gestalt der Schuhe und namentlich der Schuhsohle. Sehen wir die letzte Zeichnung an. Die punktirte Linie ist diejenige, welche wir als die wichtigste Linie im Fusse kennen lernten, und von welcher wir einsehen mussten, dass sie die Grundlage für die Konstruktion der Schuhsohle sein muss; die ausgezogene Linie ist die in der ersten Figur punktirte Mittellinie des Fusses, welche dem Schuhmacher Grund- lage für die Konstruktion der Schuhsohle wird. Die äussere Gränz- _ linie der Sohle ist wenig verschieden von der äusseren Gränzlinie der in der zweiten Figur entworfenen Sohle; aber die innere Gränzlinie ist in ihrer Richtung sehr bedeutend verschieden und die Folge davon ist, dass die grosse Zehe an ihrer Wurzel abgebogen und gegen die kleinen Zehen hingedrängt wird; ihre Spitze kömmt dann in die Mittel- linie der Sohle und die Masse der Zehen ist in die Gestalt eines er gleichschenkeligen Dreiecks zusammengedrängt, dessen Spitze in der Mitte des vorderen Endes des Schuhes liegt. Die Nachtheile von die- sem gar zu starken Zusammenpressen der Zehen hat man allerdings eingesehen und vermeidet dasselbe recht gerne, — so lange es nicht Mode ist, spitze Schuhe zu tragen. Die Hülfsmittel indessen, welche diesen Nachtheilen entgegen wirken sollen, sind nicht die geeigneten; denn die „auf zwei Füsse“ geschnittenen Sohlen und die ganz breit nach vornen geführten Sohlen vermeiden den Hauptfehler in der Kon- struktion der Sohle keinesweges, wie ein Blick auf die dritte Figur lehren wird, wo eine breit nach vornen geführte Sohle in punktirten Umrissen entworfen ist; — so lange die in derselben Zeichnung punk- tirte Linie nicht durch die ganze Länge der Sohle geht und dabei um die halbe Breite der grossen Zehe von dem inneren Sohlenrande entfernt bleibt, ist die Sohle unriehtig konstruirt, und die Folge ist die schiefe Verdrängung der grossen Zehe; — und wenn man noch so gut „Platz hat“ in dem Schuh und ihn desswegen für bequem und vorwurfsfrei ansieht, so ist der Schuh doch nicht recht, wenn er nicht neben dem Platz auch die geeignete Gestalt für die richtige Lage der grossen Zehe hat. Es mag auffallend erscheinen, dass diesem letzteren Umstände eine so grosse Wichtigkeit beigemessen werden soll, und desshalb seien die Folgen der Verdrängung der grossen Zehe etwas weiter ausgeführt. \ i Die erste nachtheilige Folge erkennen wir in dem Verdrängen als solehem und dem Druck, welehen dasselbe auf die freie Seite der grossen Zehe ausübt. Dieser Druck muss den seitlichen Rand des Nagels, welchen er trifft, unter stärkerer Querwölbung des ganzen Nagels nach unten drängen und muss dabei zugleich die diesen Nagel rand bedeckende Haut nach oben drängen, so dass beide sich in zu grosser Fläche decken und dabei immer gegen einander gedrückt wer- den. Es ist leicht einzusehen, dass die Folge dieser beständigen Reizung Entzündung sein muss, welche zu Eiterung führen kann und das gefürchtete Uebel des „eingewachsenen Nagels“ darstellt, ein Uebel, welches mit vielen Schmerzen verbunden ist und oft nur durch eine schmerzhafte Operation beseitigt werden kann. Ein zweites nicht minder unangenehmes und viel häufigeres Uebel ist die Folge von der Verwendung des mit schiefgelegter grosser Zehe behafteten Fusses zum Gehen. Es ist ein Uebel, welches nicht nur schmerzhaft ist, sondern auch die „elegante“ Gestalt des Fusses gefährdet und zerstört, und eine Missstaltung erzeugt, welche als Bir »knotige Anschwellungen an der Wurzel der grossen Zehe bekannt ist. Man tröstet sich zwar über dieses Uebel mit dem Bewmerken, es sei eben „Gicht“ und sei erblich, der Vater habe es auch gehabt und der Grossvater auch. Diese letztere Versicherung kann man wohl glau- ben, aber darum ist das Uebel noch nieht erblich, sondern Vater und Grossvater haben es jeder für sich erworben und was erblich ist, ist nur das Vorurtheil, ein Schuh, der den Fuss einklemmt und an der freien Bewegung hindert, sei schön; und dass ein solcher Schuh das Uebel erzeugen muss, lehrt wieder ein Blick auf die dritte Figur. Wenn in einem Schuhe, wie er dort gezeichnet ist, ein Schritt ge- macht wird, so wird der Fuss dabei in der Mittellinie der Sohle von dem Boden abgewickelt, und wenn in dem vorletzten Akte dieses Abwickelns der Fuss auf die Spitze der Sohle gestützt ruht, so muss zugleich die Spitze der grossen Zehe einen Druck in der Richtung der Mittellinie der Sohle erhalten; da aber die grosse Zehe in dem Schuhe so liegt, dass das Gelenk an ihrer Wurzel ganz nach innen von.der Richtung des Druckes liegt, so kann sie den Druck nicht in ihrer Längenaxe aufnehmen, sondern muss durch denselben immer weiter mit ihrer Spitze gegen die kleinen Zehen gedrängt werden; und da diese Widerstand leisten, so muss die Wurzel der grossen Zehe immer weiter am inneren Fussrande hervorgetrieben werden. Dazu kömmt noch, dass gerade über dieser Stelle die grosse Quer- falte des Oberleders entsteht, und dass diese, namentlich wenn das Oberleder dick und unnachgiebig ist, die hervordrängende Wurzel der grossen Zehe noch durch Druck reizt; dadurch kommen noch Ent- zündungsanschwellungen hinzu, welche die Missstaltung bedeutend ver- mehren und wegen der Häufigkeit der Rückfälle der freien Ausübung stärkerer Gangbewegung wesentlich hindernd sind; und gut ist es noch, wenn es dabei bleibt, denn häufig sind auch schon tiefere und ernstere Knochenleiden die Folge gewesen. Es liesse sich noch mancherlei über die Nachtheile der herkömm- lichen Gestalt der Fussbekleidung sagen; namentlich liesse es sich noch leicht ausführen, wie theilweise die zweckwidrige Sohlengestalt, theilweise das enge Oberleder Ursache an dem so sehr häufigen Vor- _ kommen der Plattfüsse sind; es liesse sich noch die nachtheilige Un- zweckmässigkeit der gebräuchlichen schmalen und hohen Absätze ‚zeigen und Anderes mehr. Doch sei es an diesem genug! Denn wir wollen keine gelehrte Abhandlung schreiben, sondern nur ein Wort der War- sprechen, und dafür genügt das oben Gesagte. Ist doch das ; Entwickelte schon genug, um die Aufmerksamkeit eines’ Jeden = TB = zu erregen, dem sein eigenes Wohl mehr am Herzen liegt, als das Festhalten an einem schädlichen Vorurtheil, — und ist auch schon genug, um davor zu warnen, dass die Klagen der Kinder über Schuh- druck nicht zurückgewiesen werden, und um die grosse Verantwort- lichkeit solcher hervorzuheben, welche den Kindern absichtlich zu enge und zu kurze Schuhe geben, damit sie einen „schönen, kleinen Fuss* bekommen. Blicken wir zurück! Haben wir Ursache im Bewusstsein unserer Civilisationsstufe über Chinesen und Kariben zu lachen ? Halten wir nicht auch, wie sie, einen missstalteten Körper durch das Herkommen für schöner, als einen wohlgebauten und gesunden Körper ? Sind nicht auch wir blind gegen den Schaden, den die Mode unserem Körper zufügt, wenn es nur „vornehm“ ist, die Mode mitzumachen ? Und haben wir Ursache, den Prokrustesmythus als ein Kuriosum alters- grauer Zeit mit lächelndem Grausen zu erzählen ? Ist nicht jeder Tanzmeister mit seinem Tanzbrette und jede Modistin mit ihren Cor- setten und jeder Schuhmacher mit seiner eleganten Waare ein Pro- krustes in moderner Gestalt ? Anzeige. Sitzung des _Wissenschaftlichen Vereins am 16. Febr. 1857. Vortrag des Herrn Prof. Schlottmann über den Schleiermacher’schen Reli- gions- und Offenbarungs - Begriff. Einleitungsweise erinnerte derselbe an Schleier- macher’s vielseitige wissenschaftliche Verdienste insbesondere auf dem Gebiete der Philosophie und ihrer Geschichte, zeigte, wie er namentlich als der scharf- sinnigste und tiefsinnigste Bearbeiter der Ethik seit Aristoteles für diese Dis- eiplin eine ganz neue Bahn gebrochen habe und wies auf den engen Zusammen- hang hin, in welchem seine theologische Bedeutung mit allen jenen mannichfaltigen geistigen Bestrebungen stehe. Sodann stellte er als den Mittelpunkt der Theologie Schleiermacher’s dessen eigenthümlichen Religions - Begriff dar, wie er schon in den epochemachenden Reden über die Religion hervortritt und hernach von ihm in schärferer dialektischer Form entwickelt ist, hob sowohl in Beziehung auf das Formelle und das Materielle jenes Begriffs als hinsichtlich der Genesis der Religion einerseits dasjenige hervor, was ihm als das Bleibende und für immer Bedeutungsvolle, andrerseits dasjenige, was ihm als das einer Ergänzung und Modification Bedürftige in der Auffassung Schleiermachers erscheine, zeigte, wie durch jenen Begriff der Religion auch der der Offenbarung im allgemeinen und besonderen Sinne bedingt sei und schloss mit einer gedrängten Darlegung der Hauptmomente, in denen die Schleiermacher’schen Prineipien zu einem neuen und tieferen wissenschaftlichen Verständniss des Christenthums die Anregung gegeben haben. — An den Vortrag knüpfte sich eine Diskussion, an wel sich die Hereun, Volkmar, Schmid und A. Schweizer betheiligten. Druck von BE. Kiesing. * . ” + . ee,“ N ‘ 3 TH * . ‚ s « ’ x ” + . . “ « rt . „ni Due > Seite 65, Zeile 20 von unten muss es statt Hertreibungen,. heissen B Hervortreib ungen Verlag von Meyer & Zeller in Zürich. Mann, Friedr,, Naturwissenschaftlich-pädagogische Briefe. 1ste und 2te Reihe. Preis des Heftes Fr. 1. — — Die Geometrie, dargestellt in entwickelnder Methode für höhere Lehranstalten und zum Selbstunterricht. 1ster Theil: Planimetrie. . . 1.0... Er Waree 2ter Theil: Stereometrie, nebst Vorkurs der descriptiven Geometrie. ». ... 00... FREI—ZSE — — Das Messen der geometrischen Eigenschaften, nebst einer darauf beruhenden Methode, Aufgaben zu lösen und Lehrsätze ZU DEWEIBEMN. 2 las Me er Dun =) 100 1, Damsie Pneu Moosbrugger, Leop., Professor in Aarau: Grösstentheils neue Auf- gaben aus dem Gebiete der Ge&ometrie deseriptive, nebst deren Anwendung auf die konstructive Auflösung von Aufgaben über räumliche Verwandtschaft der Aftinität, Colineation etc. 14 Bogen Text mit 60 lithographirten Tafeln. 4. brosch. Preis Fr. 16. Orelli, J., Lehrbuch der Algebra, für Industrieschulen, Gymnasien und höhere Bürgerschulen. 18 Bogen gr. 8. geh. Fr. 3. 60. Pädagogische Monatsschrift. Im Auftrage des schweiz. Lehrervereins herausgegeben von H. Grunholzer und H. Zähringer. Jährlich 24 Bogen in 12 Heften. Preis pr. Jahrgang Fr. 5. Raabe, Dr. J., Ueber die Integration zweier simultan bestehenden linearen Differenzialgleichungen zwischen nVariabeln. 8. geh. Preis Pr. — 420 Strauch, Dr. G. W., Theorie und Anwendung des sogenannten Varia- tionskalkuls.. 2 Bände mit 6 Tafeln mathematischer Figuren. Zweite wohlfeile Ausgabe. Lexikonformat. Preis Fr. 18. 75. Monatssehrift ZÜRICH. Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : FErDINAnD Hırzıs, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, HEINRICH FeREy, ADoLF ScHmiDT, HEINRICH SCHWEIZER. oO QDIEI (Hauptred.: Anorr ScHuipr.) SWBELTBRB JABKSATE a ET EEE ZTEWET. N Drittes und biertes Beft. WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS an st ZÜRICH, VERLAG.von MEYER & ZELLER. 1857. o.ä a Preis für den Jahrgang 2 Thlr. 20 Ngr. = 9 Fr. Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitgetheilt werden. Inhalt des borliegenden Heftes: Ueber das Wesen der Wärme verglichen mit Licht und Schall. Von 'R. Cravsıus. EEE eat Yale BASE a eh ray Reit. re Pille, War Re Skizzen aus dem Leben der Seidenraupe und der Geschichte ihrer Ver- breitung. Von Prof. Dr. Luseat. . x. ln irn 1eru100 Das Schiff der Buss. Von O. F. Frizzscht. -. " . 2 2 22 000.0.125 Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von JÄGER, WoLr, w. Wyss, v. ORELLI, MEYER-AHRENSs, ÖCHLOTTMANN, HILLEBRAND, VISCHER, H. Meyer und Anderen. Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des Buchhandels erbeten. Grgentoärtige Mitglieder des Missenschuftlichen Vereins : ‘ Arex. SchwEızer, Präsident. Näeerı, Vicepräsident. v. OrELLı, Sekretär. Bosrık. CLausıus. DERNBURG. Escher v. d. Lınte. Av. Fıcx. H. Frey. Frıtzsche, Gıesker. Heer. HıLdesrand. Hırzesrannd. Hırzıc. J. J. Hortinger. Kym. Lesert. v. MarscHaıı. H. Meyer. MEYER-ÄuRENs. MEYER v. Knonav. MÜLLER. OsENnBRÜGGEN. RAABE. SCHLOTTMANN. An. SchMidDt. H. SchwEIZER. STÄDELER. F. Vıscher. VoLKkmAR. R. Wour. G.v. Wyss. Druck von E. Kiesling in Zürich. Ueber das Wesen der Wärme, verglichen mit Licht und Schall. ‘) Von Dr. R. CLAUSIUS. Wenn wir irgend einen Körper, z. B. ein Stück Metall, be- rühren, so erkennen wir an ihm eine Eigenschaft, welche wir ihm äusserlich nieht ansehen können, und welche wir mit den Worten „warm“ oder „kalt“ bezeichnen. Der Unterschied zwischen warm und kalt ist dabei aber nur ein relativer, indem er ausdrückt, dass der Körper entweder mehr oder weniger warm ist, als unsere Hand. Im ersteren Falle strömt Wärme aus dem Körper in die Hand über, und diese wird dadurch erwärmt; im letzteren Falle strömt Wärme aus der Hand in den Körper, und wir empfinden die durch den Wärme- verlust entstehende Temperaturabnahme. Ein Uebergang von Wärme aus einem Körper in einen anderen kann auch stattfinden, ohne dass die beiden Körper sich berühren. Wenn wir vor einem Feuer stehen und in die Flamme blicken, so fühlen wir deutlich, dass das Gesicht vom Feuer erwärmt wird. Dieses geschieht nicht in der Weise, dass das Feuer zuerst die um- gebende Luft erwärmt, und die erwärmte Luft dann auf unseren Kör- per wirkt, sondern die Wärme kommt direet vom Feuer zu uns, in- dem sie die Luft durchdringt, ohne sie erheblich zu erwärmen. Man kann sich davon am leichtesten überzeugen, wenn man plötzlich einen Schirm zwischen das Gesicht und das Feuer bringt. Dann verschwindet augenblicklich das Gefühl der Wärine, während doch die Luft, welche das Gesicht berührt, dieselbe bleibt. Diese Art der Verbreitung ler Wärme nennt man Wärmestrah- lung, und sie steht, wie wir nachl. » sehen werden, in innigem Zus sammenhange mit der Lichtstrahlung. Durch sie allein ist es möglich, “dass die Wärme von der Sonne zur Erde gelangen kann. Die von der Sonne ausgehende Wärme verbreitet sich nach allen Seiten durch den Weltenraum, ohne dabei eine Schwächung zu erleiden, ausser derjenigen, welche durch die Ausbreitung selbst bedingt ist. Wenn diese Wärme auf ihrem Wege einen für sie undurchdringlichen Körper *) Ein Vortrag vor gemischtem Publikum. Wissenschaftliche Monatsschrift, II, 6 Tr Te, SSR trifft, so nimmt dieser einen grossen Theil derselben in sich auf, und wird dadurch allmälig mehr und mehr erwärmt. Ausser der Einwirkung, welche unser Gefühl von der Wärme erleidet, und durch welche wir ihr Vorhandensein am unmittelbarsten wahrnehmen, erkennt man bei näherer Betrachtung der Naturerschei- nungen noch mannichfaltige andere Wirkungen, welche sie auf den Zustand aller Körper ausübt. Ich will unter diesen Wirkungen hier nur eine anführen, welche für die Erkenntniss des Wesens der Wärme von besonderer Wichtigkeit ist. Wir unterscheiden die Körper nach drei verschiedenen Zuständen, in welchen sie vorkommen, und welche wir die Aggregatzustände nennen, nämlich den festen, den flüssigen und den luftförmigen Zustand. In den festen Körpern haften die einzelnen Theilchen so an- einander, dass man, um sie zu trennen, also den Körper zu zerreissen, eine beträchtliche Kraft anwenden muss, und selbst einer blossen Gestaltänderung, wobei die Theilchen nicht ganz von einander ge- trennt, sondern nur aneinander verschoben zu werden brauchen, wider- setzen sich diese Körper mit grösserer oder geringerer Kraft. Die luftförmigen Körper, oder wie man auch sagt die Gase, zeigen gerade das entgegengesetzte Verhalten. Die Theilchen treiben sich von selbst auseinander, und es bedarf einer äusseren Kraft, um eine Luftmasse, welche einen gewissen Raum einnimmt, in diesem zu erhalten, indem sie fortwährend das Bestreben zeigt, sich weiter auszudehnen. Man darf hiergegen nicht einwenden, dass man bei der uns umgebenden atmosphärischen Luft dieses Ausdehnungsbestreben nicht bemerkt. Dabei muss man bedenken, das die Luft in der Nähe der Erdoberfläche noch eine grosse Luftmasse über sich hat, deren Gewicht sie tragen muss, und dass sie sich nicht ausdehnen kann, ohne dieses Gewicht zu heben. Wenn man ein Gefäss, welches mit Luft gefüllt ist, mit einem leeren Gefässe in Verbindung bringt, so nimmt man ein heftiges Hinüberströmen wahr, bis die Luft sich durch beide Räume gleichmässig verbreitet hat. Bringt man dann diese beiden Gefässe wiederum mit einem leeren in Verbindung, so tritt von Neuem dieselbe Erscheinung ein, und man wird nie zu einer Grenze kommen, wo die Luft nicht mehr in einen ihr dargebotenen leeren Raum hineindränge, um auch ihn noch auszufüllen. Der flüssige Zustand endlich ist ein Mittelzustand zwischen jenen beiden. Die Theilchen treiben sich nicht von einander, sondern bleiben von selbst in dem Raume, welchen sie einmal einnehmen; aber sie hängen auch nicht in der Weise zusammen wie im festen Zustande. u Besonders lassen sie sich leicht gegen einander verschieben, so dass man eine Flüssigkeitsmasse mit geringer Mühe umrühren kann. Diese Verschiedenheit des Zustandes ist eine Wirkung der Wärme. Ein und derselbe Körper kann durch die Wärme nacheinander in alle drei Aggregatzustände gebracht werden. Betrachten wir z. B. den Stoff, mit welchem wir so viel zu thun haben, das Wasser. Bei niedrigen Temperaturen ist er fest, als Eis; bei einer gewissen Tem- peratur, welche wir bei unseren Thermometern als Nullpunet der Skale . gewählt haben, geht das Eis in flüssiges Wasser über; und endlich kann derselbe Stoff durch die Wärme in Dampf verwandelt werden. Dieses letztere findet in geringem Grade schon bei niedrigen Tempe- raturen statt, wird aber bei höheren Temperaturen bedeutend stärker, und besonders beruht das sogenannte Kochen auf einer raschen Dampf- entwickelung, wobei die ganze Flüssigkeit in Wallung geräth. Aehnlich wie beim Wasser kann man die Zustandsänderungen auch bei den meisten anderen Stoffen verfolgen, ‘nur dass die dazu nöthigen Temperaturen sehr verschieden sind. Quecksilber z. B. wird schon flüssig bei einer Temperatur, welche 40° C. unter dem Schmelz- puncte des Eises liegt; die übrigen Metalle dagegen bedürfen höherer und zum Theil sehr hoher Temperaturen, wie z. B. Eisen, Silber und Gold, welche erst bei starker Rothglühhitze oder selbst Weissglühhitze schmelzen. Für Platin reichen die höchsten Temperaturen, welche man im Grossen in Oefen hervorbringen kann, nicht mehr hin, um es ganz flüssig zu machen, sondern es wird nur weich, und in diesem Zu- stande wird es verarbeitet. Aber im Knallgasgebläse, wo Wasserstoff mit reinem Sauerstoff verbrennt, und in der Hitze des galvanischen Stromes lässt es sich ebenfalls vollständig schmelzen. Auch bei den anderen mit dem Platin verwandten Metallen, welehe noch schwerer schmelzbar sind, wohin besonders die Verbindung Osmium -Iridium gehört, ist doch die Möglichkeit der Schmelzung ausser Zweifel gesetzt. . Grosse Schwierigkeit hat dagegen in dieser Beziehung die Kohle gemacht. Alle früheren Mittel, hohe Temperaturen zu erzeugen, waren unfähig gewesen, die Kohle zum Schmelzen zu bringen. Gegenwärtig aber wendet man gerade die Kohle zu einem Processe an, bei welchem die grösste bis jetzt künstlich hervorgebrachte Hitze vorkommt, näm- lich zur Erzeugung des bekannten eleetrischen Lichtes. Bei der Be- trachtung dieses Processes und einigen Versuchen, welche sich daran anknüpften, hat der französische Physiker Despretz an den Kohlen- stücken, zwischen denen der eleetrische Strom übergeht, nicht nur a Tr Spuren von Schmelzung nachgewiesen, sondern. auch Erscheinungen beobachtet, welehe ihn zu einem noch weiteren Schlusse veranlassten. Die Kohle kommt bekanntlich als fester Körper in sehr verschie- denen Zuständen vor. Unter andern ist der werthvollste Edelstein, der Diamant, nichts als reiner erystallisirter Kohlenstoff. Nun hat Despretz nach einigen vorgängigen Versuchen die Einrichtung ge- troffen, dass in einem Juftleeren Raume lange Zeit ein eleetrischer Induetionsstrom zwischen einem Kohlenstab und einem Bündel von Platindrähten überging. Dabei lagerte sich auf den Platindrähten all- mälig ein schwarzes Pulver ab, und als dieses nachher mit dem Mikro- skope untersucht wurde, fanden sich darin kleme Diamanterystalle. Auch zeigte sich, dass man mit *dem Pulver, wenn es mit Oel ge- mischt wurde, Rubinen schleifen konnte, was dafür sprach, dass auch das feinere Pulver aus Diamantstaub bestand. Obwohl die Diamanten so klein waren, dass sie keinen Werth hatten, so ist doeh ein solcher Versuch, in welchem es zuerst gelungen ist, gewöhnliche Kohle in Diamanten zu verwandeln, immer beachtenswerth, und ausserdem ist er für unsere Frage in sofern wichtig, als der Uebergang aus dem amorphen Zustande der gewöhnlichen Kohle in den erystallinischen darauf schliessen lässt, dass die Kohle zwischen beiden Zuständen luftförmig gewesen ist. Andere Körper bieten nach der entgegengesetzten Richtung hin Schwierigkeiten dar, nämlich Flüssigkeiten, bei welchen es nicht ge- lingen will, sie in den festen Zustand zu bringen. Indessen liegt das unzweifelhaft nur daran, dass man die Temperatur noch nicht hat weit genug ermiedrigen können. Ein sprechendes Beispiel dafür liefert der Alkohol. Dieser wurde bisher für alle Versuche, bei wel- chen grosse Kälte vorkam, statt des Quecksilbers als Thermometer- Hüssigkeit benutzt, weil er selbst bei den tiefsten erreichten Tempe- raturen, welche schon mehr als 100° unter den Gefrierpunet des Wassers hinabgingen, noch flüssig blieb. Vor Kurzem hat aber der- selbe Physiker Despretz durch combinirte Mittel eine solche Kälte her- vorgebracht, dass selbst der Alkohol anfing zu gefrieren. Füge ich endlich noch hinzu, dass auch die meisten derjenigen Stoffe, welche unter gewöhnlichen Umständen luftföormig sind, sich flüssig und sogar fest darstellen lassen, wobei ebenfalls besonders die Temperaturerniedrigung wirksam ist, so wird man wohl ohne Bedenken als wahrscheinlich zugeben, dass wenn wir in der Hervorbringung hoher und niedriger Temperaturen unbeschränkt wären, wiv alle Stoffe in alle drei Aggregatzustände würden bringen können. Be Wir wollen uns nun, ohne auf die sonstigen Wirkungen der Wärme näher einzugehen, zu der Frage wenden, was wir uns unter der Wärme, welche einen solchen Einfluss auf den Zustand aller " Körper ausübt, eigentlich vorzustellen haben. In der Mythologie der verschiedenen Völker sieht man, wie die Menschen im kindlichen Zustande bei der ersten Betrachtung der Natur das Bedürfniss haben, überall, wo sie Wirkungen sehen, sich eine Person im Hintergrunde zu denken, welche diese Wirkungen hervorbriugt. So entstanden Götter der Sonne, des Mondes, der Winde, des Meeres und selbst der einzelnen Flüsse und Bäche. In anderer Forin tritt uns ein ähnliches Bestreben auch in der vorgerückteren Wissenschaft entgegen. Man schreibt die veschiedenen Wirkungen, welche man beobachtet, zwar nicht Personen, aber ge- wissen eigenthünmlichen Stoffen zu. So gab es einen Lichtstoff, einen Wärmestoff, zwei verschiedene electrische und ebenso zwei magne- tische Flüssigkeiten, — jeder dieser Stoffe mit seinen besonderen Eigenschaften begabt. Wie nun bei der Entwickelung der Naturerkenntniss zuerst jene Personen, welche die Erscheinungen nach ihrer Willkür regierten, zu- rückgedrängt werden mussten, um der Ueberzeugung Raum zu schaffen, dass alle diese Erscheinungen unveränderlichen, nothwendigen Gesetzen unterworfen sind, so mussten auch bei der weiteren Ausbildung der Naturwissenschaft diejenigen Stoffe, welche unberechtigt in ihr Gebiet eingedrungen waren, bekämpft werden, um die Mannichfaltigkeit der Gesetze auf einfache allgemeine Grundprineipien zurückzuführen. Und der Kampf ist noch nicht beendet. Am wirksamsten ist er bis jetzt durchgeführt gegen den Lichtstofl. Man glaubte früher, es werde von den leuchtenden Körpern, z. B. von der Sonne, ein eigenthümlicher sehr feiner Stoff ausgesendet, der sich mit grosser Geschwindigkeit durch den leeren Raum bewege, und seiner Feinheit wegen selbst viele flüssige und feste Körper durch- dringen könne. Wenn dieser Stoff in unser Auge dringe, so verur- sache er hier die Empfindung, welche wir Sehen nennen. Nachdem man die Gesetze der Lichtbewegung näher kennen gelernt hatte, wurden auch die Vorstellungen über die Natur dieses Stoffes mehr und mehr entwickelt. Der berühmte Philosoph Cartesius stellte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Ansicht auf, der Lichtstoff bestehe aus schr kleinen Kugeln. Wenn diese Kugeln gegen die Oberfläche - eines dichten Körpers fliegen, so pralle ein Theil derselben ab, wie elastische Kugeln von einer festen Wand, und daraus erkläre sich das Zr Gesetz der Reflexion. Der Theil der Kugeln dagegen, welcher in den dichteren Stoff eindringe, erleide in seiner Bewegung durch die Wirkung des Stoffes auf die Kugeln eine Richtungsänderung, welche sich in der Brechung des Lichtes kund gebe. Ausserdem nahm er noch an, um die Farben, welche bei der Brechung entstehen, zu er- klären, dass die Kugeln eine abwechselnd drehende Bewegung hätten.. Dieser Ansicht wurde schon im Jahre 1690 von dem holländi- schen Naturforscher Huyghens die richtige Theorie gegenüber gestellt. Huyghens ging von der Vergleichung des Lichtes mit dem Schall aus. Wenn sich ein schwingender Körper, z. B. eine angestossene Glocke oder Saite, in der Luft befindet, so wird die nächst umgebende Luft mit in Bewegung gesetzt, und diese Erschütterungen theilen sich weiter von Schicht zu Schicht mit. Aehnlich wie auf einer ruhigen Wasserfläche, wenn an einer Stelle das Gleichgewicht durch einen hineingeworfenen Stein gestört wird, Wellen entstehen, die sich kreis- formig um jenen Punet ausbreiten, so breiten sich in der Luft um den schwingenden Körper kugelförmige Wellen aus, bei welchen die dortigen Erhöhungen und Vertiefungen der Wasserfläche durch Ver- dichtungen und Verdünnungen der Luft ersetzt sind. “Dringen diese Wellen in unser Ohr, so erschüttern sie das Trommelfell und ver- setzen es in Schwingungen, die den Schwingungen des Körpers, von welchem die Wellen ausgingen, entsprechen, und dadurch erhalten wir die Empfindung des Tones. In ähnlicher Weise gehen auch von einem leuchtenden Körper Schwingungen aus. Diese finden aber nicht in der Luft statt, son- dern in einem Stoffe, welcher unvergleichlich viel feiner ist, als die Luft und welchen man Aether nennt. Dieser Stoff durchdringt alle Körper, und befindet sich nicht, wie die Luft, welche durch ihre Schwere festgehalten wird, nur in der Nähe der Erde, sondern erfüllt den ganzen Weltenraum. Wenn nun solche von einem leuchtenden Körper kommende Schwingungen des Aethers auf ihrem Wege unser Auge, und nachdem sie die durchsichtigen Theile desselben durch- laufen haben, die Nervenfasern unserer Netzhaut treffen, so erregen sie diese zu einer Empfindung, deren wir uns als eines Lichteindruckes bewusst werden. Das Wort Lichtstrahl bedeutet bei dieser Auffassung der Sache nicht etwas Materielles, sondern bezeichnet nur die Rich- tung, in welcher die Wellen sich bewegen. Aus dieser Ansicht über das Wesen des Lichtes hat Huyghens eine Menge von Eigenschaften desselben auf die klarste Weise abge- leitet, z. B. die Gesetze der Reflexion und der Brechung, welche I u hiernach auf ganz anderen Gründen beruhen, als Cartesius angenommen hatte. Sogar von der complieirten Erscheinung der Doppelbrechung in Crystallen, welche man damals erst in dem wegen dieser Wirkung 8o genannten isländischen Doppelspath kannte, hat er schon die rich- tige Erklärung gegeben. Man sollte nun vielleicht glauben, dass, nachdem die richtige Theorie einmal aufgestellt war, alle Physiker sie mit beiden Händen ergriffen, und mit vereinten Kräften weiter entwickelt haben würden. Das geschah aber nicht. Huyghens hatte das Unglück, einen mächtigen Gegner zu finden. Der grosse englische Naturforscher Newton, welcher zuerst die Be- wegung der Gestirne auf einfache mechanische Prineipien zurückge- führt hat, beschäftigte sich auch vielfach mit der Optik, und hat viele bedeutende Entdeckungen in derselben gemacht. Dieser konnte sich natürlich mit der Beobachtung der Erscheinungen nicht zufrieden geben, sondern suchte nach Erklärungen. Dabei ging er aber nicht von der neu aufgestellten Ansicht, sondern von der älteren aus, und dadurch hat er einen Schaden angerichtet, wie nur ein solcher Mann ihn an- richten konnte. In seiner Hand leistete selbst die falsche Theorie so gute Dienste, und wo sie nicht ausreichen wollte, wusste er ihr mit so sinnreichen Hypothesen zu Hülfe zu kommen, dass alle übrigen Physiker befriedigt waren, und keinen Grund sahen, diese Theorie zu verlassen. Wenn auch -einzelne selbständige Forscher, wie Euler, ihr entgegentraten, so konnten sie doch nicht durchdringen. Dieser Fall giebt ein merkwürdiges Beispiel davon, welchen Einfluss selbst in der Wissenschaft, welche sich etwas darauf zu Gute thut, nichts auf Autorität hin anzunehmen, doch die Autorität hat. Jener eine Mann hat eine richtige und wichtige Theorie über ein Jahrhundert lang zurückgedrängt. Erst in diesem Jahrhunderte hat sie ihre volle Anerkennung gefunden, und ist nun endlich für immer gesichert. In Folge dieser Theorie, welche man wegen der kleinen Wellen, aus denen sie das Licht bestehen lässt, die Undulationstheorie genannt hat, liegt es nahe, die verschiedenen beim Lichte vorkommenden Er- scheinungen mit den analogen Erscheinungen des Schalles zu ver- gleichen. Man hat oft Gelegenheit, zu beobachten, dass der Schall zu seiner Fortpflanzung durch die Luft einer gewissen Zeit bedarf. Wenn in einiger Entfernung von uns ein Gewehr oder eine Kanone abgeschossen wird, so sehen wir zuerst das Aufblitzen des Pulvers und eine Weile ae darauf hören wir den Knall. Ebenso sind bei einem Gewitter Blitz und Donner, obwohl sie beide in demselben Momente entstehen, doch in unserer Wahrnehmung durch einen oft beträchtlichen Zeitraum von einander getrennt, und die Länge dieser Zwischenzeit hängt von der Entfernung des Gewitters ab. Auch die Natur des Douners selbst, dieses lang hingezogene Rollen, muss aus dem gleichen Grunde er- klärt werden. Es ist kein Zweifel, dass der Donner an sich ein kurzer Knall ist; aber dieser entsteht nicht an einen einzelnen Puncte, sondern auf der ganzen Länge des Blitzes, und da die verschiedenen Theile des Dlitzes verschieden weit von uns entfernt sind, so hören wir zuerst den Knall von dem uns zunächst liegenden Theile, und dann allmälig auch von den entfernteren. Dazu kommen freilich auch noch die Reflexionen des Schalles, welche besonders in Gebirgsge- genden sehr dazu beitragen können, das Geräusch des Donners zu verlängern. Der vorher erwähnte Fall einer in der Entfernung abgeschossenen Kanone ist auch zur genauern Bestimmung der Schallgeschwindigkeit sehr geeignet. Unter den darüber vorhandenen Versuchen sind be- sonders diejenigen zu erwähnen, welche im Jahr 1822 in der Nähe von Paris von einer Anzahl der berühmtesten Physiker, unter denen sich auch Arago und Humboldt befanden, ausgeführt wurden. Auf zwei Anhöhen, welche etwa 2°/, geogr. Meilen von einander entfernt sind, wurden zwei Geschütze aufgestellt. In dieser Entfernung konnte man während der Nacht noch das Aufblitzen des Pulvers schen, und wenn Alles ruhig war, den Knall hören. Es stellten sich nun auf jeder der beiden Stationen ausser den Artilleristen, welche die Ge- schütze bedienten, drei jener Fhysiker auf, alle einzeln mit Sekunden- uhren versehen. Man hatte verabredet, dass von einer gewissen Zeit an von fünf zu fünf Minuten ein Geschütz abgefeuert werden sollte, und zwar abwechselnd einmal auf der einen und dann auf der andern Station. Auf diese Weise wussten die Beobachter auf einer Station ganz genau, wenn der Schuss auf der andern Station erfolgen würde und konnten alle ihre Aufmerksamkeit auf-diesen Moment concentriren. Jeder von ihnen. beobachtete dann für sieh die Zeit, welche zwischen dem Lichtblitz und dem Knall verging. Da diese bei der gewählten Entfernung beinahe eine Minute betrug, so konnte die Bestimmung mit hinlänglicher Schärfe gemacht werden. Aus der Vergleichung aller einzelnen bei 24 Schüssen niedergeschriebenen Beobachtungs- zahlen wurde dann eine Mittelzahl gebildet, und daraus ergab sich, dass die Geschwindigkeit des Schalles, (wenn man sie auf die Tem- a wer peratur 0° redueirt) in der Seeunde 333 Meter oder 1110 Schweizer- fuss beträgt, eine Geschwindigkeit, die etwa der einer Flintenkugel bei mässiger Ladung gleichkommt. Ebenso, wie in der atmosphärischen Luft, kann der Schall sich auch in andern Körpern ausbreiten, und in jedem Stoffe hat er seine besondere Geschwindigkeit. Beschränken wir uns auf die Vergleichung der luftföormigen Körper, so gilt für diese das Gesetz, dass je leichter die Luftart ist, desto schneller der Schall sich darin fortpfanzt. Das leichteste Gas, welches existirt, ist das Wasserstoffgas, und in diesem hat der Schall eine beinahe viermal so grosse Geschwindigkeit, als in der atmosphärischen Luft, Viel schwerer, als beim Schall, war die Bestimmung der Ge- schwindigkeit beim Lichte. Das Licht bewegt sich so ausserordentlich schnell, dass es bei solchen Entfernungen, wie sie zwischen zwei Puncten der Erdoberfläche vorkommen, scheint, als ob die Bewegung momentan sei. Es geschah daher zuerst in der Astronomie, wo man es mit ganz anderen Entfernungen zu thun hat, als an der Erd- oberfläche, dass man auf Erscheinungen stiess, welche nach längerem vergeblichen Suchen eines Grundes endlich zu dem Schlusse führten, dass das Licht zur Durchlaufung dieser Räume doch einer beträchtlichen Zeit bedürfe. Ich will hier nicht darauf eingehen, wie man zuerst auf diese Beobachtung gekommen ist, und wie man die Bestimmung ausgeführt hat, sondern möchte Ihnen nur das Resultat, welches übri- gens gerade wegen seiner Erstaunen erregenden Grösse sehr bekannt ist, in das Gedächtniss zurückrufen. Das Licht legt in einer Secunde einen Weg von 42000 geogr. Meilen zurück, d. h. einen Weg, wel- cher etwa acht mal so lang ist, als der Umfang unserer ganzen Erde. In der neuesten Zeit ist es den französischen Physikern Fizeau und Foucault durch verfeinerte Mittel der Beobachtung gelungen, auch für solche Strecken, welche an der Erdoberfläche, und selbst in einem Zimmer zur Beobachtung angewandt werden können, die Zeit, welche das Licht zur Bewegung gebraucht, nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu messen, und das Resultat dieser Messungen stimmt mit dem aus astronomischen Beobachtungen gewonnenen sehr gut überein. Die Kenntniss der Geschwindigkeit des Lichtes ist ausser dem Interesse, welches sie an sich schon hat, auch in sofern wichtig, als man sich aus der Vergleichung dieser Geschwindigkeit mit derjenigen des Schalles eine Vorstellung davon bilden kann, wie fein der Aether, welcher das Licht fortpflanzt, im Verhältniss zur atmosphärischen Luft sein muss. u Ein fernerer und sehr wesentlicher Vergleichspunet zwischen Schall und Licht bietet sich dar in der Analogie von Farben und Tönen. Der Unterschied der Höhe und Tiefe bei den Tönen beruht be- kanntlich darauf, dass bei verschiedenen Schallsystemen die einzelnen Wellen nicht gleich lang sind, und daher die Wellen nicht gleich schnell auf einander folgen. Je mehr Wellen während einer gewissen Zeit, z. B. einer Seceunde, in unser Ohr dringen und das Trommelfell bewegen, desto höher erscheint uns der Ton. Man kann sich davon auf verschiedene Weisen überzeugen, und zugleich die Schwingungs- zahlen der einzelnen Töne bestimmen. Ein in der Luft befindlicher schwingender Körper erzeugt durch jede seiner Schwingungen in der angrenzenden Luft eine Welle, welche sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit nach allen Seiten ausbreitet. Wenn sich daher in einiger Entfernung ein Beobachter befindet, so dringen in dessen Ohr während einer Secunde so viele Wellen, als der tönende Körper Schwingungen macht. Man kann daher die An- zahl der Schwingungen des Körpers auch geradezu als die Schwin- gungszahl des hervorgebrachten Tones bezeichnen. Betrachtet man nun z. B. die Schwingungen einer Saite mit einiger Aufmerksamkeit, so findet man bald heraus, von welchen Umständen ihre Schwingungs- zahl abhängt; nämlich von ihrer Schwere, ihrer Länge und der Stärke der Spannung. Bei derselben Saite kann man die Schwingungszahl vermehren, also den Ton erhöhen, wenn man entweder die Saite ver- kürzt, wie es z. B. bei der Violine durch das Greifen geschieht, oder wenn man sie stärker spannt. Da nun die Gesetze, unter welchen eine schwingende Saite steht, durch mathematische Untersuchungen festgestellt sind, so kann man in solehen Fällen, wo die Einrichtung getroffen ist, dass sich ausser der Länge und dem Gewichte der Saite auch noch die Kraft, mittelst deren sie gespannt ist, messen lässt, berechnen, wie viel Schwingungen diese Saite während einer Sekunde machen muss, und man erhält dadurch für den Ton, welchen die Saite hervorbringt, und dessen Höhe man durch Vergleichung mit anderen musikalischen Instrumenten leicht in Noten angeben kann, die Schwingungszahl. Noch anschaulicher wird die Sache an einer Klasse von Instru- menten, welche eigens für diesen Zweck construirt sind, und welche man Sirenen nennt. Man hat sie von sehr verschiedenen Einrichtungen, von denen ich hier nur eine der einfachsten anführen will. Eine Pappscheibe von 1 bis 2 Fuss Durchmesser ist in einem Kreise, welcher dem äusseren Rande eoncentrisch ist, mit einer Reihe von Löchern durchstossen, welche vielleicht 2—3 Linien Durchmesser haben, und so auf einander folgen, dass der Zwischenraum von je zwei Löchern ungefähr so gross ist, als der Durch- messer der Löcher selbst. Diese Scheibe ist auf einer Axe befestigt, mit- telst deren sie schnell um ihren Mittelpunkt gedreht werden kann. Wird nun an irgend einer Stelle des mit den Oeffnungen versehenen Kreises ein kleines Rohr so gehalten, dass seine Mündung einer der Oefl- nungen gegenübersteht, so muss, wenn man die Scheibe dreht, wäh- rend das Rohr festgehalten wird, offenbar immer abwechselnd eine Oeffnung und ein Zwischenraum bei dem Rohre vorbeigehen. Bläst man nun während des Drehens durch das Rohr, so hat der Luftstrom, so oft eine Oeffinung vor dem Rohre ist, freien Durchgang nach der anderen Seite der Scheibe, so oft dagegen ein Zwischenraum vor das Rohr tritt, wird der Luftstrom von der festen Pappwand aufgefangen. Die an der anderen Seite der Scheibe befindliche Luft wird also so oft erschüttert, als eine Oefinung vor dem Rohre vorbeigeht. Aus jeder solchen Erschütterung entsteht eine verdichtete Luftwelle, und diese Luftwellen zusammen bilden, wenn sie schnell genug auf ein- ander folgen, einen Ton. Wenn man bei einem solchen Apparate, während man durch das Rohr bläst, die Scheibe zuerst ganz langsam und allmälig immer schneller dreht, so hört man anfangs ein schwaches Rauschen, welches abwechselnd anschwillt und wieder abnimmt. Dieses verwandelt sich allmälig in ein wirbelartiges Geräusch, indem die Luftstösse zwar schon schnell auf einander folgen, aber doch noch einzeln zu unter- scheiden sind. Darauf fangen die Stösse an, sich zu einem Tone zu verbinden, der zuerst nur leise neben dem Wirbel mitklingt, und sehr tief ist, bald aber den Wirbel ganz übertönt und zugleich mit der Zunahme der Drehungsgeschwindigkeit immer höher wird. Wenn der Ton eine gewisse Höhe erreicht hat, welche man musikalisch bestimmen kann, und man nun eine Zeit lang dieselbe Drehungsgeschwindigkeit unverändert beibehält, so kann man aus der Anzahl der Umdrehungen, welche man während einer Secunde macht, und der Menge der auf dem Kreise befindlichen Oeffnungen leicht berechnen, wieviel Luftstösse während einer Seeunde vorkommen. Durch solehe und ähnliche Versuche hat man die Schwingungs- zahlen der einzelnen Töne mit grosser Genauigkeit bestimmt. Zum Beispiel das eingestrichene a, der Ton der gewöhnlichen Stimmgabeln, welcher im Notensystem bei dem Violinschlüssel zwischen der zweiten und dritten Linie steht, macht in der Seeunde 430 Schwingungen. Ferner hat man untersucht, wie sich die Schwingungszahlen zweier = Töne zu einander verhalten müssen, damit diese ein gewisses Inter- vall, z. B. eine Terz, eine Quinte oder eine Octave bilden. Mittelst dieser Verhältnisszahlen kann man, sobald ınan die Schwingungszahl eines Tones kennt, die aller anderen Töne berechnen. Betrachten wir die Töne einer von irgend einem Grundtone ausgehenden diatonischen Tonleiter, und wählen zur Vergleichung einen solchen Zeitraum, wäh- rend dessen der Grundton gerade 24 Schwingungen macht, so macht während dieser Zeit die Secnnde 27, die Terz 30, die Quarte 32, die Quinte 36, die Sexte 40, die Septime 45 und die Octave 48 Schwingungen. Die Oetave macht also gerade doppelt so viel Schwingungen als der Grundton. Haben wir z. B. als Grundton das vorher erwähnte eingestrichene a, welches in der Seeunde 430 Schwingungen macht, gewählt, so erhalten wir für dessen Octave, das zweigestrichene a, 860 Schwingungen. Geht man von hier aus noch weiter aufwärts, so stehen in der nächsten Tonleiter die Schwingungszahlen unter sich wieder in demselben Verhältnisse, wie in der vorigen, und ebenso in der Tonleiter jedes anderen Grundtones. Es ist merkwürdig, ein wie feines Unterscheidungsvermögen unser Ohr bei der Vergleichung zweier Töne für deren Schwingungszahlen hat, besonders wenn es musikalisch geübt ist. Der Physiker A. See- beck, welcher sich viel mit Akustik beschäftigte, hatte zwei Stimm- gabeln, von welchen er auf wissenschaftlichem Wege festgestellt hatte, dass sie so nahe übereinstimmten, dass während des Zeitraumes, in welchem die eine 1200 Schwingungen machte, die Schwingungszahl der anderen 1201 betrug, ein Unterschied, welcher, musikalisch aus- gedrückt, 1/;,; eines Komma ist. Diese Töne konnte er selbst noch unterscheiden, und als er zwei Musiker um ihr Urtheil fragte, waren auch sie durchaus nicht zweifelhaft, das die Töne verschieden, und welcher von beiden der höhere sei. \ Derselbe Unterschied, welchen wir beim Schall in den Tönen kennen gelernt haben, findet sich beim Lichte in den Farben wieder. Rothes und blaues Licht sind nur dadurch von einander verschieden, dass bei dem einen die Schwingungen des Aethers schneller geschehen, als bei dem anderen. Das weisse Licht, wie es von der Sonne oder einer hellen Flamme kommt, ist kein einfaches Licht, sondern eine Mischung von allen überhaupt existirenden Farben. Wenn in ein dunkles Zimmer durch eine enge Oefinung der Fensterladen ein schmaler Streifen von Sonnenstrahlen tritt, so kann man die darin enthaltenen Farben mit- = WB = telst eines Glasprismas, durch welches man die Strahlen gehen lässt, auf eine schöne Weise von einander trennen, so dass die Strahlen, wenn sie nachher auf eine Wand fallen, dort nicht eine kleine Stelle weiss beleuchten, sondern ein grösseres farbiges Bild geben. Ich brauche aber auf die Beschreibung dieses Versuches hier nicht einzu- gehen, da man eine ähnliche Erscheinung auch in der Natur beob- achten kann, nämlich im Regenbogen. Indem die Sonne sich in den Regentropfen spiegelt, werden die Strahlen zugleich gebrochen, und durch die Ungleichheit der Brechung, welche die verschiedenen Farben erleiden, werden diese von einander getrennt und sind nun einzeln zu erkennen. Dabei sind die Farben gerade in der richtigen Ordnung aneinander gereiht, wie sie ihren Schwingungszahlen nach aufeinander folgen. Die rothe Farbe, welche am langsamsten schwingt, liegt zu äusserst, dann folgt Orange, Gelb, Grün, Blau, dann ein tieferes Blau, welches man Indigo nennt, und endlich Violet. In einem sehr vollkommenen künstlich hervorgebrachten Farbenspeetrum sieht man noch jenseit des Violet ein schwaches Licht, welches aber kaum be- merkbar ist. Man kann die ganze Farbenreihe des Regenbogens mit einer Tonleiter vergleichen, nur dass die Farben nicht scharf abgegrenzt sind, sondern allmälig in einander übergehen. Die Stellung der ein- zelnen Farben in dieser Tonleiter lässt sich nach den bekannten Ver- hältnissen ihrer Schwingungszahlen leicht angeben. Betrachtet man das äusserste Roth als Grundton, so liegt das Gelb etwas unter der kleinen Terz, das Grün entspricht der grossen Terz, das Blau der Quarte, das Violet der Quinte und das äusserste Violet, welches man noch deutlich sehen kann, der kleinen Sexte. Dass das Intervall der vorkommenden Farben nicht grösser ist, liegt, wie wir später sehen werden, wahrscheinlich nur an einem beschränkten Wahrnehmungs- vermögen unseres Auges. Obwohl zwischen Farben und Tönen ihrem eigentlichen Wesen nach eine volkommene Analogie herrscht, so findet doch in der Art, wie wir dieselben wahrnehmen, ein eigenthünlicher Unterschied statt. Wenn wir zwei Töne zugleich hören, so erkennen wir beide einzeln heraus, und sie bilden für uns eine Consonanz oder eine Dissonanz, Dringt dagegen von einer bestimmten Stelle des Raumes gleichzeitig Licht von zwei verschiedenen Farben in unser Auge, wie es z. B. ge- schieht, wenn wir zwei verschiedene Farbstoffe sehr innig mit einander gemischt haben, so können wir die einzelnen Farben nicht mehr er- kennen, sondern wir sehen statt ihrer nur eine Farbe, welche von a FR jenen beiden verschieden ist. So geben z. B. Roth und Gelb zu- sammen Orange, und wir sind meistens nicht im Stande, durch den blossen Anblick ohne optische Hülfsmittel zu unterscheiden, ob ein Orange, welches wir sehen, ein einfaches sogenanntes homogenes Orange oder eine Mischung von Roth und Gelb ist. Die beiden Farben verhalten sich also in ihrer Zusammenwirkung auf unser Ge- sichtsorgan etwa so, als ob beim Schalle die beiden Töne e und e, wenn man sie zugleich hört, sich vereinigten in den Zwischenton d. Aus dieser Art der Zusammenwirkung der Farben kann man sich auch erklären, woher es kommt, dass das weisse Licht, welches, wie schon erwähnt, eine Mischung von allen möglichen Farben ist, doch eine ruhige, klare Empfindung in uns hervorruft, als ob es eine ein- zelne Farbe wäre, während dagegen ein Geräusch, in welchem alle möglichen Töne wirr durch einander klingen, für uns etwas Betäu- bendes hat, was mit dem Eindrucke eines einzelnen Tones gar nicht zu vergleichen ist. Fragen wir nun noch, ähnlich wie wir es beim Schall gethan haben, wie gross die Schwingungszahl einer einzelnen Farbe ist, so erhalten wir ein sehr überraschendes Resultat. Es kommen hier zwei in gleichem Sinne wirkende Umstände zusammen, erstens die grosse Geschwindigkeit, mit welcher das Licht sich fortpflanzt, und zweitens die Kleinheit der einzelnen Lichtwellen. Beide Umstände tragen dazu bei, dass die Anzahl der Wellen, welche während einer Seeunde in unser Auge dringen, ausserordentlich gross wird. Man zählt hier nicht mehr nach Tausenden, auch nicht nach Millionen, sondern nach Billionen. Das äusserste rothe Licht, welches am langsamsten schwingt, macht doch in einer Secunde 480 Billionen Schwingungen. Diese Zahlen sind allerdings der Art, dass sie vielleicht, wenn man sie zu- erst hört, einiges Misstrauen erregen, indessen, abgesehen von ver- hältnissmässig kleinen Abweichungen, welche möglicherweise noch statt- finden können, stehen sie fest. Wir kehren nun zurück zur Wärme. In den ältesten Epochen der Wissenschaft hat man nicht immer streng zwischen Wärme und Feuer unterschieden, und hat auch das Feuer als einen besonderen Stoff betrachtet. Aristoteles nahm be- kanntlich, wie es auch schon vor ihm geschehen war, an, dass alle Körper aus vier Elementen zusammengesetzt seien, unter denen das Feuer die erste Stelle einnahm, nämlich Feuer, Wasser, Luft und Erde. Diese Eintheilung musste natürlich, sobald die Chemie begann, die Natur der Stoffe genauer zu untersuchen, sofort verlassen werden, u Indessen findet sich doch die Idee, dass es einen eigenen Feuerstoff gebe, auch später wieder. Sie wurden im 17. und 18. Jahrhundert wissenschaftlich weiter ausgebildet, und dieser Stoff hat in etwas an- derer Auffassung und mit bestimmter definirten Eigenschaften unter dem Namen Phlogiston, von gAoyiZsır, brennen, in der Entwicklungs- geschichte der Chemie eine bedeutende Rolle gespielt. Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, hauptsächlich durch Lavoi- sier, ist nachgewiesen, dass der Verbrennungsprozess nichts weiter ist, als die chemische Verbindung des brennenden Körpers mit dem in der atmosphärischen Luft befindlichen Sauerstoff. Das Hervortreten von Wärme im Feuer ist nur eine mit dem chemischen Processe ver- bundene Nebenerscheinung. Wir können daher die Wärme von dem Feuer, welches uns als Wärmequelle dient, ganz getrennt betrachten. Vergleichen wir zunächst die strahlende Wärme mit dem Lichte, so tritt uns sogleich ein eigenthümlicher Unterschied entgegen, welcher der Annahme eines Stoffes bei der Wärme eine festere Stütze zu geben scheint, als beim Lichte, Denkt man sich ein Bündel von Lichtstrahlen auf einen ündurch- sichtigen Körper fallend, so wird ein Theil des Lichtes an der Ober- fläche reflectirt, und geht wiederum in der Form von Lichtstrahlen in anderen Richtungen fort. Der andere Theil des Lichtes aber, welcher nicht reflectirt ist, und welcher sogar der grössere von beiden zu sein pflegt, ist wenigstens als Licht verschwunden. Man sagt zwar, der Körper hat das Licht absorbirt, aber man kann nicht sagen, dass sich nun Licht in dem Körper befinde. Das Licht lässt sich nicht ansammeln und aufbewahren. Anders ist es mit der Wärme. Wenn Wärmestrahlen, z. B. die Strahlen der Sonne, auf einen Körper fallen, so wird auch von diesen nur ein Theil refleetirt, aber der übrige Theil ist nicht verloren. Man kann durch das Gefühl und durch das Thermometer leicht erkennen, dass der Körper durch die Strahlen allmälig erwärmt wird. Die Wärme ist also nach der Absorption wirklich in dem Körper vor- handen, und verhält sich in dieser Beziehung ganz ähnlich, wie ein Stoff, welcher in den Körper eingedrungen ist, und nun durch dessen Anziehungskraft festgehalten wird. Durch diesen Unterschied kann man vielleicht veranlasst werden, selbst wenn man vom Lichte zugiebt, dass es nur aus Schwingungen des Aethers bestehe, doch daran fest zu halten, dass die Wärme etwas hiervon durchaus verschiedenes sei. Man kann sich möglicher Weise in WR Hrn vorstellen, dass die Sonne, während sie den umgebenden Aether in Schwingungen versetzt, zugleich einen gewissen Stoff aussende, und dass dieser nun gleichzeitig mit den Lichtwellen den Weltenraum durchlaufe, ohne sonst irgend etwas mit ihnen zu thun zu haben. Hiergegen spricht aber die grosse Uebereinstimmung, welche Licht- und Wärmestrahlen in vielen anderen Beziehungen zeigen. Lieht- nnd Wärmestrahlen können ausser den luftförmigen auch gewisse feste und flüssige Körper durchdringen, wie z. B. das Glas. Dabei werden sie beim Uebergange aus dem einen Stoffe in den an- deren gebrochen, und diese Brechung findet bei beiden nach denselben Gesetzen statt. Man kann sich davon leicht durch ein einfaches all- gemein bekanntes Instrument, das Brennglas, überzeugen. Wird ein solches den Sonnenstrahlen in senkrechter Richtung entgegengehalten, so entsteht in einer gewissen Entfernung hinter demselben in einem kleinen Raume eine besonders starke Lichtintensität, weil alle auf das Glas fallende Liehtstrahlen durch Brechung in diesem Raume ver- einigt werden. Wenn man nun irgend einen Körper, welcher durch die Wirkung der Wärme sichtbare Veränderungen erleiden kann, in diesen hellen Raum bringt, so erkennt man sogleich, dass dort auch eine grosse Hitze stattfindet, von welcher eben das Brennglas seinen Namen hat. Die Wärmestrahlen sind also ebenfalls und in gleicher Weise gebrochen wie die Lichtstrahlen. Beide Arten von Strahlen können ferner von glatten Körpern, z. B. von polirten Metallflächen reflectirt werden, und diese Reflexion findet wiederum für beide nach denselben Gesetzen statt. Den deutlichsten Beweis liefern auch hier die Brennspiegel, welche, obwohl nur für die Wärmereflexion bestimmt, doch ganz nach den Gesetzen der Licht- reflexion construirt werden. Wenn die Körper, auf welche die Strahlen fallen, nicht glatt polirt sind, so ist die Reflexion unregelmässig, oder, wie man sagt, diffuse, und man kann das Gesetz, nach welchem die Richtung der Strahlen sich ändert, nicht mehr verfolgen. Dagegen kann man die Stärke der Reflexion noch betrachten. Die Körper, welche viel Licht refleetiren, erscheinen uns hell, und die, welche wenig Licht reflec- tiren, dunkel. Denselben Unterschied beobachtet man in Bezug auf die von der Sonne kommenden Wärmestrahlen. Man braucht nur einen schwarzen und einen weissen Körper in die Sonne zu legen, so findet man bald, dass der weisse sich nicht so stark erwärmt, wie der schwarze, weil er einen viel grösseren Theil der Wärmestrahlen reflectirt. Man kann diese Beobachtung oft im Winter am Schnee m (er machen. Während der Schnee auf den Feldern, wo er noch weiss ist, der Wirkung der Sonnenstrahlen widersteht, sieht man ihn auf einer Strasse, wo er grau und schmutzig geworden ist, schmelzen. Sollte man von allen diesen Uebereinstimmungen vielleicht auch noch sagen wollen, dass sie zufällig seien, so sind doch in neuerer Zeit noch andere hinzugekommen, welche eine solehe Annahme vollends unmöglich machen. Durch Benutzung der Wirkungen der T'hermoelectrieität ist man dazu gelangt, eine Art von Thermometer zu construiren, welches man Thermomultiplieator nennt, und welches unvergleichlich viel empfind- licher ist, als die gewöhnlichen Thermometer. Mit Hülfe dieses In- strumentes ist es gelungen, an der strahlenden Wärme Eigenschaften kennen zu lernen, von denen man bisher keine Ahnung hatte. Be- sonders der italienische Physiker Melloni hat dazu beigetragen, dieses neue Feld der Wissenschaft zu eröffnen. Man unterschied bei den Wärmestrahlen bisher nur die Quan- tität, jenachdem sie einen Körper mehr oder weniger stark erwärmten. Von qualitativen Unterschieden, wie die Farben beim Lichte bilden, hatte man nur einzelne isolirte Andeutungen, aus welchen man wenig schliessen konnte. Durch die Untersuchungen von Melloni ist es aber nachgewiesen, dass es bei der Wärme eben so gut verschiedene Farben giebt, wie beim Lichte, und sogar in noch grösserer Mannichfaltigkeit. Ich will unter den Beweisen nur einen als Beispiel anführen. Lässt man weisses Licht durch ein farbiges Glas gehen, so übt dieses die Wirkung aus, dass es von den im Weiss enthaltenen ver- schiedenen Farben einige durchgehen lässt, andere dagegen absorbirt, und daher ist das Licht nach dem Durchdringen des Glases erstens an Intensität geschwächt, und zweitens gefärbt. Rothes Glas z. B. lässt rothe Lichtstrahlen sehr gut hindurch, von den andern Farben aber fast gar nichts. Umgekehrt giebt es ein gewisses grünes Glas, wel- ches gar kein rothes Licht hindurchlässt, dagegen gelbes, grünes und blaues Licht, welche in ihrer Mischung zusammen Grün geben. Be- trachten wir daher einen weissen Gegenstand durch diese Gläser, so erscheint er uns durch das eine roth, durch das andere grün. Lässt man nun Licht, welches schon durch ein rothes Glas ge- gangen ist, noch auf ein zweites ebensolches fallen, so wird es durch dieses sehr wenig weiter geschwächt, weil es nur aus solchen Strahlen besteht, welche durch diese Art von Glas ungehindert hindurchgehen können. Man sieht daher die Sonne oder eine weisse Wand durch die beiden rothen Gläser zusammen beinahe eben so hell, wie durch Wissenschaftliche Monatsschrift. II. Mi a een eins allein. Dasselbe findet statt bei zwei gleichartigen grünen Glä- sern. Lässt man dagegen Licht, welches durch ein grünes Glas gegangen ist, nachher auf ein rothes fallen, so wird es vollständig absorbirt, weil die einzigen Strahlen, welche das rothe Glas hindurchlassen kann, nämlich die rothen, in dem aus dem grünen Glase kommenden Lichte fehlen; und ebenso verhält es sich, wenn man Licht, welches durch ein rothes Glas gegangen ist, nachher auf ein grünes fallen lässt. Zwei solche verschiedene Gläser bilden, obwohl sie einzeln recht gut durchsichtig sind, zusammen einen undurchsichtigen Körper. Ganz die entsprechende Erscheinung beobachtet man bei der Wärme, nur muss man die Stoffe, um eine starke Wirkung zu er- halten, etwas anders auswählen. Schwarzes Glas, welches für Licht undurehdringlich ist, lässt doch eine ziemliche Quantität der von der Sonne kommenden Wärmestrahlen hindurch, und ebenso ist der Alaun für diese Wärmestrahlen etwas durchdringlich. Aber die Wärme erleidet beim Hindurchgehen durch diese Stoffe dieselbe Veränderung, als wenn weisse Lichtstrahlen durch farbige Gläser gehen. Wärme- strahlen, welche eine Alaunplatte durchdrungen haben, gehen durch eine zweite Alaunplatte sehr gut, aber durch schwarzes Glas durchaus nicht, und umgekehrt Wärme, welche durch schwarzes Glas gegangen ist, geht durch eine zweite Platte von schwarzem Glase sehr gut, aber nicht durch Alaun. Es ist also kein Zweifel, dass die Wärme, welche aus dem schwarzen Glase heraustritt, obwohl sie auf ein Ther- mometer und unser Gefühl dieselbe Wirkung ausübt, doch von an- derer Natur ist, als die aus dem Alaun heraustretende, und dieser Unterschied ist, wie noch viele andere Erscheinungen bestätigen, ganz derselbe, wie beim Lichte der Unterschied zweier verschiedener Farben. Ausser den Farben sind in neuerer Zeit, besonders durch Ver- suche von Knoblauch noch eine Reihe anderer Erscheinungen, welche dem Lichte eigenthümlich sind, wie Polarisation und Interferenz, auch bei der strahlenden Wärme nachgewiesen, und da die Erklärung aller dieser Erscheinungen beim Lichte wesentlich auf der Wellenbewegung beruht, so ist es kaum anders möglich, als anzunehmen, dass auch die strahlende Wärme aus nichts anderem besteht, als aus wellenförmig fortschreitenden Schwingungen des Aethers. Betrachten wir nun statt der strahlenden Wärme die in den Kör- pern befindliche Wärme, so kommen auch hier Thatsachen vor, welche mit Entschiedenheit gegen die Materialität derselben sprechen. Es gilt in Bezug auf alle Stoffe das Gesetz: ein Stoff, der ein- mal vorhanden ist, kann wohl in andere Zustände gebracht werden, — MM aber seine Existenz kann man ihm nicht nehmen, und ebenso kann man keinen neuen Stoff schaffen. Wenn es daher auf irgend eine Weise möglich ist, Wärme zu schaffen, so ist das ein Beweis, dass die Wärme kein Stoff sein kann. Nun ist es aber bekannt, dass, wenn man zwei Körper an einander reibt, sie dadurch warm werden. Man kann zwei Stücke trockenen Holzes durch blosses Reiben so erhitzen, dass sie zu brennen anfangen. Ebenso wird ein Handwerkzeug, z. B. ein Bohrer oder eine Säge, oft während der Arbeit so heiss, dass man es nicht anfassen kann, und selbst Wasser kann man durch längeres Durch- einanderrühren deutlich erwärmen. Dabei sind diese Körper, beson- ders im letzteren Falle das Wasser, offenbar im Uebrigen ganz un- verändert geblieben, so dass man nicht annehmen kann, dass durch eine Zustandsänderung der Körper Wärme, welche früher schon in einem gebundenen Zustande in ihnen vorhanden war, frei geworden sei, und es bleibt daher nichts anderes übrig, als dass die Wärme, welche wir während der Reibung zum Vorschein kommen sehen, wirk- lich durch die Reibung neu erzeugt wird. Diese Thatsache würde unter der Voraussetzung der Materialität der Wärme völlig unerklärlich sein. Anders dagegen ist es, wenn man annimmt, dass die in einem Körper befindliche Wärme irgend eine Bewegung seiner Bestandtheile sei, welche man wegen der ausser- ordentlichen Kleinheit der bewegten Theilchen im Einzelnen nicht wahr- nehmen kann, sondern nur aus den durch ihre Gesammtheit hervor- gebrachten Wirkungen erkennt. In diesem Falle ist es leicht denkbar, dass eine andauernde und lebhafte äussere Bewegung, wie sie bei der Reibung stattfindet, mit der Zeit auch eine solche innere Be- wegung der kleinsten Theilchen hervorrufen, und somit Wärme er- zeugen könne. Es entsteht nun aber die Frage, wie haben wir uns diese innere Bewegung vorzustellen, um daraus die Wirkungen, welche die Wärme in den Körpern hervorbringt, erklären zu können ? Diese Frage ist zwar mit Sicherheit noch nicht gelöst, indessen glaube ich, dass man sich wenigstens eine ungefähre Vorstellung von dieser Bewegung mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit bilden kann. Wir müssen dazu die drei verschiedenen Aggregatzustände ein- zeln betrachten. Im festen Zustande haben die Körper nicht nur das Bestreben, die Gestalt, welche sie einmal haben, beizubehalten, sondern es zeigt sich auch bei vielen Körpern, wenn sie aus dem flüssigen in den FREE emo festen Zustand übergehen, das Bestreben, bestimmte, jeder Körper- klasse eigenthümliche Gestalten anzunehmen, nämlich die Crystallge- stalten. Daraus muss man schliessen, dass die Moleküle sich nicht beliebig, wie der Zufall sie gerade zusammenbringt, aneinander legen, sondern dass den Molekülen Kräfte innewohnen, welche sie zwingen, nur bestimmte Lagen zu einander anzunehmen. Diese Lagen können sie dann, so lange der Körper fest ist, nieht ganz verlassen, sondern jedes Molekül kann nur um seine Gleichgewichtslage innerhalb gewisser Grenzen schwingende Bewegungen machen. Im flüssigen Zustande sind die Bewegungen schon so stark ge- worden, dass die einzelnen Moleküle nicht mehr bestimmte Lagen ein- halten, zu denen sie bei ihren Bewegungen immer wieder zurück- kehren, sondern dass sie sich unregelmässig durcheinander bewegen. Daraus erklärt sich die den Flüssigkeiten eigene grosse Beweglichkeit. Hierbei ist aber doch die Anziehung der Moleküle unter einander noch nicht ganz durch die Bewegung überwunden. Wenn auch nicht jedes Molekül an einem bestimmten anderen Moleküle haftet, so hal- ten sich doch die Moleküle in ihrer Gesammtheit durch die gegen- seitigen Anziehungen in der Weise zusammen, dass die ganze Masse innerhalb eines bestimmten Raumes bleibt. Im luftförmigen Zustande endlich muss man, wie es auch schon von Krönig ausgesprochen ist, annehmen, dass die Moleküle sich durch ihre Bewegung ganz aus einander getrieben haben, und nun jedes Molekül unabhängig von den andern fortfliegt, bis es gegen irgend ein Hinderniss stösst, von dem es dann abprallt, um wieder nach einer anderen Richtung zu fliegen. Denkt man sich eine solche Luftmasse im freien Weltenraume, wo keine fremde Kraft auf sie wirkte, so würden die Moleküle sich ganz von einander entfernen und in’s Unbegrenzte ausbreiten. Befindet sich die Luftmasse aber in einem Gefässe, so stossen die Moleküle fortwährend bald hier bald dort gegen die Gefässwände, so dass diese eine gewisse Festigkeit haben müssen, um nicht durch die Stösse zurückgedrängt zu werden. Hier- durch entsteht der Druck, welchen jedes Gas auf seine Umhüllung ausübt. Vergleicht man nun den eben betrachteten Zustand der Wärme, als Bewegung der kleinsten Körpertheilchen, mit demjenigen, welchen sie als strahlende Wärme hat, als eine schwingende Bewegung des Aethers, so erkennt man leicht die Möglichkeit eines Ueberganges aus dem einen Zustande in den anderen. Man kann hierbei wieder von der analogen Erscheinung der Akustik ausgehen. = 55 u Ein schwingender fester Körper bringt, wie früher besprochen wurde, die umgebende Luft mit in Bewegung, und erzeugt in ihr jene wellenförmig fortschreitenden Schwingungen, welche wir als Schall vernehmen. Umgekehrt können aber auch die Luftwellen einen festen Körper, auf welchen sie treffen, in Schwingungen versetzen. Wenn man aufmerksam darauf achtet, kann man oft bemerken, dass bei einer Musik, zumal wenn sie aus kräftigen, gehaltenen Tönen besteht, wie bei Blase- und Streichinstrumenten, oder bei Gesang, alle Körper welche überhaupt fähig sind zu tönen, von selbst anfangen mitzu- klingen. Besonders so oft in der Musik solche Töne vorkommen, welche zu den eigenen Tönen des Körpers in harmonischer Beziehung stehen, scheint in ihm, wie durch eine Art von Sympathie, die Lust zu erwachen, mit in den Chor einzustimmen. Um diese Erscheinung zu beobachten, braucht man nur an irgend einem leicht tönenden Kör- per, z. B. einer Glocke oder einem Glase, welches einen klaren Klang hat, den Ton, welchen er am leichtesten hervorbringt, durch An- schlagen zu prüfen, und dann denselben Ton in seiner Nähe zu singen, oder auf einem Instrumente anzugeben. Dann wird man, nachdem der Hauptton verklungen ist, den Körper noch deutlich nachklingen hören. Aehnlich wie die Schwingungen des ganzen Körpers verhalten sich nun auch die Schwingungen seiner einzelnen Moleküle, nur dass sie viel lebhafter sind. Für diese Schwingungen ist aber die Luft, welche selbst aus ähnlichen Molekülen besteht, ein viel zu grober Stoff, um dadurch in regelmässige, wellenförmige Bewegung zu ge- rathen. Dagegen giebt es, wie ich schon erwähnte, noch einen feine- ren Stoff, den Aether, dessen Theilchen wir uns so klein denken müssen, dass sie zu einem einzelnen Körpermoleküle vielleicht in dem- selben Verhältnisse stehen, wie die Luftmoleküle zu einem ganzen tönenden Körper. Dieser Aether vertritt hier die Stelle der Luft. Indem er die Bewegung der Moleküle annimmt und sie nach allen Seiten wellenförmig fortpflanzt, entsteht die strahlende Wärme. Wenn nun diese Wärmewellen des Aethers auf einen anderen Körper fallen, dessen Moleküle nur eine geringe Bewegung haben, so kann man sich wohl denken, dass die kleinen Stösse der einzelnen Wellen, so fein “auch der Aether ist, doch durch ihre grosse Anzahl mit der Zeit die Bewegung der Moleküle beträchtlich vermehren können, ähnlich wie eine feste Glas- oder Metallglocke durch die Stösse der Luftwellen in Schwingungen gerathen kann. Es erklärt sich also ganz einfach, wesshalb ein Körper durch die Wirkung der strahlenden Wärme all- u mälig erwärmt wird, und so die von dem anderen Körper ihm zu- gesandte Wärme in sich ansammelt, ohne dass man die Wärme als einen Stoff zu betrachten braucht, welcher von den Bestandtheilen des Körpers angezogen, und dadurch in ihm festgehalten würde, Es bleibt nun noch zu betrachten, wie sich die strahlende Wärme und das Licht, welche beide aus Aetherschwingungen bestehen, zu einander verhalten. In den Sonnenstrahlen und in den Strahlen einer Flamme ist Licht und Wärme vereinigt. Dieses findet jedoch nicht überall statt. Viel häufiger sind die Fälle, in welchen Wärmestrahlen ohne Licht vorkommen. Man kann sich schon bei einem mässig erwärmten Kör- per, z. B. einem geheizten Zimmerofen, durch das eigene Gefühl, ohne messende Instrumente, davon überzeugen, dass er Wärme ausstrahlt. Diese Wärme ist aber nicht mit Licht verbunden, sondern der Körper erscheint im dunkeln Zimmer vollkommen dunkel. Eigenes Licht wird, wenn wir von den sogenannten phosphoreseirenden Körpern absehen, nur von solchen Körpern ausgestrahlt, welche eine sehr hohe Tempera- tur haber, und von welchen wir dann sagen, sie glühen. Diese Trennung von Licht und Wärme beruht aber wahrscheinlich nur auf einer Eigenthümlichkeit unseres Auges. Die. verschiedenen Farben des Lichtes weichen in Bezug auf ihre Schwingungsgeschwin- digkeit nicht bedeutend von einander ab. Während die Töne, welche in der Musik angewandt werden, etwa durch 9 Octaven gehen, und die sämmtlichen Töne, welche wir hören können, soweit sie bis jetzt mit Sicherheit bestimmt sind, sogar 12 Octaven überschreiten, um- fassen, wie schon erwähnt, die sämmtlichen sichtbaren Farben noch nicht voll Eine Octave. Es ist aber nach anderen Erscheinungen unzweifelhaft, dass auch noch Aetherschwingungen vorkommen, welche ausserhalb dieses Intervalls liegen, besonders viele solche, welche langsamer sind, als das tiefste sichtbare Roth. Man muss daher an- nehmen, dass unser Auge seiner Organisation nach nicht fähig ist, alle vorkommenden Aetherschwingungen als Licht zu empfinden, son- dern nur solche Schwingungen, deren Geschwindigkeit innerhalb be- stimmter Grenzwerthe liegt. Die Aetherwellen, welche ein Körper von mässiger Temperatur durch die Bewegung seiner Moleküle erzeugt, folgen, wenn auch an sich betrachtet sehr schnell, so doch noch nicht schnell genug auf einander, um auf unser Auge wirken zu können. Wird aber die Temperatur allmälig gesteigert, so wächst wahrscheinlich nicht nur die Stärke der Schwingungen, sondern auch ihre Anzahl, und dadurch (ei geschieht es, dass von einer gewissen Temperatur an unter den Wellen- systemen, die der Körper aussendet, wenigstens einige vorkommen, welche die für die Liehtwirkung erforderliche Geschwindigkeit besitzen, und daher der Körper anfängt zu leuchten. Das erste von den Kör- pern ausgehende Licht ist dasjenige, welches unter den Lichtarten am langsamsten schwingt, nämlich das rothe Lieht; wird aber der Körper noch heisser gemacht, so kommen zu den rothen Schwingungen allmälig auch gelbe, grüne und blaue hinzu, welche die Farbe des Glühens aus Roth zuerst in ein immer heller werdendes Orange und zuletzt in ein blendendes Weiss verwandeln. Indessen darf man selbst bei einem weissglühenden Körper nieht glauben, dass alle Schwingungen, welche er aussendet, als Licht wahrnehmbar sind, sondern es kommen darunter langsame und schnelle Schwingungen in der mannichfaltigsten Mischung vor. Ein Beweis da- für liegt darin, dass die von einem weissglühenden Körper kommenden Wärmestrahlen zum Theil durch schwarzes Glas, welches für Licht- strahlen vollkommen undurchdringlich ist, hindurch gehen. Dieser Theil muss aus solchen Wärmestrahlen bestehen, welche nicht als Licht wahrnehmbar sind. Man kann sich die Wirkung dieses Glases dadurch erklären, dass man annimmt, es habe nur die Fähigkeit, Schwingungen hindurchzulassen, welche langsamer sind, als die des tiefsten Roth, ebenso wie man von rothem Glase weiss, dass es nur Schwingungen hindurchlassen kann, welche lamgsamer sind, als die des Gelb. Melloni hat aus seinen Versuchen den Schluss gezogen, dass unter den Strahlen, welche eine weissglühende Oelflamme aus- sendet, nur ein Zehntel als Wärme und Licht zugleich wirkt, die übrigen neun Zehntel dagegen sich allein durch ihre Wärmewirkung kund geben. Bei dieser Auffassung der Sache gelangt man also zu dem Schlusse, dass strahlende Wärme und Licht gar nicht wesentlich von einander verschieden sind, sondern dass das eine einen Theil des anderen bildet. Unter den vielen vorkommenden Wellensystemen des Aethers, welche alle fähig sind, die Körper, auf welche sie fallen, zu erwärmen, giebt es eine gewisse Klasse, welche ausserdem noch die Fähigkeit hat, in unserem Auge die Empfindung des Lichtes hervorzurufen. Wir haben also nicht Licht- und Wärmestrahlen zu unterscheiden, sondern nur sichtbare Wärmestrahlen und unsichtbare oder dunkle Wärmestrahlen. Fassen wir nun die bisher gewonnenen Resultate über das Wesen der Wärme zusammen, so können wir sagen: alle Körper der ie ER Natur, auch wenn sie vollkommen in Ruhe zu sein scheinen, befinden sich doch in der lebhaftesten inneren Bewegung, und diese Bewegungen der Körper theilen sich auch dem umgebenden Aether mit, so dass der ganze Weltenraum fortwährend in den verschiedensten Richtungen von wellen- förmigen Schwingungen durchzogen wird, und den Inbe- griff aller dieser Bewegungen nennen wir Wärme. So klein diese Bewegungen auch im Einzelnen sind, so können sie doch durch ihre Menge grosse Wirkungen hervorbringen, und in der That überall, wo wir in der Natur Bewegung und Leben wahr- nehmen, finden wir auch die Wärme thätig. Das wirksamste Mittel, welches wir selbst besitzen, um träge Massen in Bewegung zu setzen, und widerstehende Naturkräfte zu überwinden, ist die Dampfmaschine. Was ist es aber, was in der Dampfmaschine arbeitet? Nicht der Dampf, der ist nur das Mittel, das Wirksame ist die Wärme. Durch die Wärme des Feuers wird das Wasser gezwungen, sich in Dampf zu verwandeln, und dadurch den Stempel im Dampfeylinder und mit ihm die ganze Maschine zu treiben. Betrachten wir ferner einige der gewöhnlichsten Naturerscheinungen. Die uns umgebende Luft der Atmosphäre ist nie völlig in Ruhe, sondern stets von Winden bewegt, welche so stark werden können, dass Bäume und selbst Häuser ihnen nicht zu widerstehen vermögen. Diese Winde verdanken ihre Entstehung der verschiedenen Verthei- lung der Wärme auf der Erde. Wenn an einer Stelle der Erdober- fläche die Luft stärker erwärmt wird, als an anderen, so dehnt sie sich dort stärker aus und wird leichter, und dadurch wird das Gleich- gewicht gestört. Die erwärmte Luft steigt in die Höhe, und strömt oben nach einer anderen Gegend fort, während sie unten durch heran- dringende weniger warme Luft ersetzt wird. Die grössten vorkommenden Wärmedifferenzen auf der Erde rühren daher, dass die Gegenden in der Nähe des Aequators von der Sonne stärker erwärmt werden, als in der Nähe der Pole. Demgemäss findet in den Aequatorregionen das stärkste Aufsteigen der Luft statt, und es muss daher fortwährend neue kalte Luft von beiden Polen her zu- strömen, während umgekehrt die aufgestiegene warme Luft nach den Polargegenden zurückströmt. Dadurch entsteht jenes grosse System von Polar- und Aequatorialströmen, welche überall, wenn auch durch lokale Umstände modifieirt, in den Windesrichtungen vorwalten, und deren Wechsel einen so entscheidenden Einfluss auf die Aenderung des Wetters hat. Würde die Erde überall gleichmässig erwärmt, so a würde dieses Strömen der Luft nieht stattfinden, und eine traurige Einförmigkeit in der Witterung herrschen. Eine andere Bewegung, welche wir täglich beobachten, ist die des Wassers. Wir sehen Bäche und Flüsse jahraus jahrein in der- selben Richtung fliessen. Woher kommt es, dass sie nie versiegen, dass nieht endlich alles Wasser sich in den Meeren sammelt, und dort in Ruhe bleibt? Wiederum finden wir die Wärme thätig. Auf der weiten Meeresoberfläche und überall, wo die Erde mit Wasser bedeckt ist, wirkt die Sonne, erwärmt das Wasser, und ver- wandelt einen Theil desselben in Dampf. Der Dampf mischt sich mit der Luft, und wird von dieser theils in seinem ursprünglichen Zu- stande als unsichtbarer Dampf, theils im Zustande von Wolken weit- hin über Land getragen. Wenn dann endlich wegen Uebersättigung der Luft mit Wasserdampf oder wegen lokaler Abkühlung ein Theil des Dampfes, welcher sich nicht mehr in der Luft halten kann, als Regen oder Schnee herunterkommt, so fällt dieser vielleicht auf eine Hochebene oder ein Gebirge, und von hier wird das Wasser durch die Schwerkraft wieder herabgezogen zum Meere. Die Flüsse sind also nur die eine Hälfte eines Kreislaufes, von dem wir die andere Hälfte in den Wolken sehen. Wir benutzen häufig die Bewegung der Luft und des Wassers, um Bewegungen hervorzubringen, welche unseren Zwecken entsprechen. Wir lassen durch den Wind, indem wir ihm die Segel entgegen- spannen, unsere Schiffe treiben, oder lassen ihn Mühlen drehen, und ebenso benutzen wir die Kraft des fliessenden Wassers, um Mühlen und Fabriken zu treiben. Die eigentlich treibende Kraft ist aber, wie sich aus dem Vorigen ergiebt, in allen diesen Fällen die Wärme. Der Unterschied zwischen einer durch Dampfkraft und einer durch Wasserkraft getriebenen Fabrik, oder zwischen einem Dampfschiff und einem Segelschiff besteht nur darin, dass wir im einen Falle die Wärme in einer kleinen, künstlich verfertigten Maschine arbeiten lassen, im anderen Falle dagegen die grosse Maschine der Natur be- nutzen, mit deren gewaltigen Rädern wir unsere kleinen Werke in Verbindung setzen, um sie mittreiben zu lassen. Noch durchgreifender, als in der unorganischen Natur, finden wir , die Wirkungen der Wärme in der organischen. Ich brauche nicht daran zu erinnern, dass zum Bestehen des organischen Lebens eine gewisse Temperatur nothwendig ist. Wenn unsere Wintertemperatur, bei welcher der Boden gefroren ist, fort- während stattfände, so wäre keine Vegetation möglich, und damit REN: Re würde auch dem thierischen Leben die Basis fehlen. Ausser diesem leicht ersichtlichen Einflusse übt aber die Wärme noch eine andere Wirkung aus, welche zwar weniger augenfällig, aber darum nicht minder wichtig ist. Die Menschen und Thiere bedürfen zu ihrem Leben der Nahrung und der Luft. Die Nahrungsmittel bestehen hauptsächlich aus Kohlen- stoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff. Der Stickstoff bildet unter diesen den geringsten Theil, und obwohl er an sich für die Ernäh- rung sehr wichtig ist, so können wir ihn doch bei der Betrachtung, um die es sich hier handelt, vernachlässigen. Von den drei andern Stoffen sind bekanntlich zwei, nämlich Kohlenstoff und Wasserstoff, leicht verbrennlich, indem sie sich mit Sauerstoff zu Kohlensäure und Wasser verbinden können. Soviel Sauerstoff, wie für die Verbindung des Wasserstoffs nöthig ist, ist meistens in den Nahrungsmitteln selbst schon vorhanden, für die Verbindung des Kohlenstoffs aber bedarf es noch einer neuen Quantität Sauerstofl. Diese wird geliefert von der eingeathmeten Luft, und es findet im Innern des Körpers eine Art von Verbrennung statt, welche die Quelle der Wärme des thierischen Körpers und seiner mechanischen Kraft ist. Wenn nun aber bei dem Lebensprocesse der Menschen und Thiere fortwährend Kohlenstoff und Sauerstoff zu Kohlensäure verbunden wer- den und dasselbe ausserdem bei jeder gewöhnlichen Verbrennung und Ver- wesung geschieht, so sollte man meinen, dass die Quantität des freien, unverbundenen Sauerstoffs und des freien Kohlenstoffs sich allmälig vermindern, und dadurch zuletzt das thierische Leben auf der Erde unmöglich werden müsste. Diese Erschöpfung der zum Leben noth- wendigen Stoffe wird jedoch vermieden durch einen eigenthümlichen Gegensatz in der Ernährung der Pflanzen und Thiere. Das Wachsen der Pflanzen beruht zum grössten Theile darauf, dass die Kohlensäure, welche sich in der Luft befindet, zersetzt, und der Kohlenstoff von der Pflanze aufgenommen wird, während der Sauerstoff in die Atmosphäre zurückgeht. Die Thiere liefern also die Stoffe in der Verbindung, wie die Pflanzen sie bedürfen, und. die Pflanzen bringen sie wieder in den Zustand, wie er für die Thiere nöthig ist. Ein solcher Kreislauf kann aber nicht von selbst entstehen. Kohlenstoff und Sauerstoff haben eine chemische Verwandtschaft zu einander, und sie können sich daher, nachdem sie einmal verbunden sind, nicht wieder trennen, wenn nicht eine fremde Kraft hinzutritt, welche die Verwandtschaft überwindet, und diese fremde Kraft, welche — ÖL das Bestehen des Kreislaufes möglich macht, müssen wir wiederum, sofern wir Licht und strahlende Wärme als identisch betrachten, der Wärme zuschreiben. Die von der Sonne kommenden Aetherschwin- gungen üben auf eine bis jetzt noch räthselhafte Weise an der Ober- fläche der Blätter die Wirkung aus, den in der Kohlensäure ent- haltenen Kohlenstoff vom Sauerstoff zu befreien, so dass die Blätter ihn in dem Zustande aufnehmen können, wie er in den Pflanzen an- gesammelt wird, und als ein Hauptbestandtheil der thierischen Nahrung dient. Das ganze vegetabilische und thierische Leben beruht also auf einer unmittelbaren Wirkung der Sonnenstrahlen. So finden wir fast bei allen Veränderungen, welche wir um uns her beobachten, wenn wir nach dem Grunde suchen, die Wärme als das eigentlich bewegende Prineip. Ohne sie würden alle Stoffe bald den ihnen eigenthümlichen Kräften gefolgt sein, und es würde sich ein Gleichgewichtszustand hergestellt haben, bei welchem die ganze Erde eine todte, unveränderliche Masse wäre. Die Wärme aber lässt dieses Gleichgewicht nicht zu Stande kommen. Sie dehnt die Körper trotz ihrer inneren Anziehung aus, treibt die Moleküle der festen und flüssigen Körper auseinander, und löst selbst chemische Verbindungen. Dadurch kommen die Kräfte, welche vorher gebunden waren, wieder zur Thätigkeit, um neue Verbindungen zu schliessen, die dann aber- mals von der Wärme gelöst werden, und dieser fortwährende Kampf zwischen der Wärme und den den Stoffen innewohnenden Kräften ist die Ursache alles Wandels und Werdens in der Natur. Eine solche Rolle würde die Wärme nicht spielen, wenn sie ein Stoff wäre, wie. die anderen Stoffe. Gerade weil sie nichts als Be- wegung ist, darum kann sie Bewegung schaffen. — 10 — Skizzen aus dem Leben der Seidenraupe und der Geschichte ihrer Verbreitung. Von PROF. DR. LEBERT. Ein öffentlicher Vortrag, gehalten in Zürich den 19. December 1856. Einer der gewiss verbreitetsten Charaktere des Menschenge- schlechts ist die Freude an der Natur. Dass diese zu den allge- meinsten und erhabensten Genüssen gehört, beweist schon der so mannigfache Götzendienst der verschiedensten Naturkörper und Er- scheinungen. Bald treffen wir hier die kindliche Anbetung der Sonne und der Sterne, bald sehen wir für ganze Völker nützliche Thiere zu Gottheiten erhoben; und von jener abergläubischen Verehrung ein- zelner Himmels- und Erdkörper bis zum allumfassenden Pantheismus moderner Schulen finden wir so manche für die Geschichte des mensch- lichen Geistes interessante Mittelstufen. Auch unter den eivilisirten und aufgeklärten Menschen giebt es gewiss nur wenige, welche nicht tief von dem Anblick der Natur er- griffen würden. Welch gesundes Gemüth könnte die Majestät unsrer Alpen, die durchsichtigen Wellen unsrer Seen, ihre herrlich grünenden Ufer, die im weiten Ocean untergehende Sonne betrachten, ohne in tiefster Seele feierlich und angenehm zugleich ergriffen zu werden. Aber unendlich grösser noch wird der Genuss, wenn wir ausser den poetischen Eindrücken der Pracht der Natur das Wesen der Er- scheinungen zu erforschen uns bemühen. Wie ernst zwar aber er- hebend werden unsere Gedanken erregt, wenn wir, in sternenklarer Nacht, mit dem Teleskope die Bahnen der Himmelskörper beobachten, oder, bei heiterem Tageslichte, mit dem Mikroskope die dem unbe- waffneten Auge verschlossenen Welten von Thieren und Pflanzen in regem und munterem Leben erblicken. Wahrlich schöner und zier- licher ist diese Wirklichkeit als die sinnreichsten Märchen von den Elfen. Wie angenehm ist die Einbildungskraft beschäftigt, wenn wir, nach dem Vorgange des grossen Berliner Naturforschers Ehrenberg, in jenem gleichförmigen mehlartigen Staube hochnordischer Gebirgs- massen ganze Katakomben der feinsten und elegantesten Kieselpanzer in ferner Vorzeit abgestorbener Thiere und Pflanzen erblicken. Wie tief fühlen wir die Macht des Kleinen im Grossen, wenn wir sehen, wie die aus dem winzig kleinen Körper der Polypen aus- schwitzende Kalkmasse unter der Oberfläche des Meeres allmälig von festem Felsgrund aus weite Bergstrecken gebildet hat, welche am — 101 — Ende als Inseln aus dem Wasser sich erhoben haben und nun, mit Palmen und Kokusbäumen und herrlicher Tropenvegetation bedeckt, dem Menschen neue, gar liebliche Stätten der Ansiedelung geboten haben. Ein wie unendliches Feld schöner und zugleich wahrer Visionen eröffnet sich unsrer Einbildungskraft, wenn wir, nach dem sorgfältigen Durehmustern der Ueberreste untergegangener Schöpfungen, in unsrer Schweiz hier die Wälder Indiens, dort die lieblichen Küsten des Lias- meeres, an noch andern Orten, im Gestein vergraben, die letzten Spuren grosser Wälder baumartiger Farrenkräuter finden, und wenn wir alsdann, noch wohlerhalten, die Thiere des Meeresgrundes, die fleissige Ameise, die zierliche Libelle, die mannigfachen Insekten des Wassers und des Landes vor uns sehen! Gar leicht würde es sein, noch an andern Beispielen zu zeigen, wie genussreich die Naturforschung wird, wenn man stets bemüht ist, von der Beobachtung des Einzelnen sich zu allgemeineren und um- fassenderen Anschauungen zu erheben. Sie werden aber schon aus diesen wenigen Eehnerkuhgeni ersehen, dass, wenn ich Ihnen aus dem Leben der Seidenraupe einige Skizzen mittheilen will, ich besonders von dem Wunsche beseelt bin, Ihnen diejenigen Punkte zu erörtern, welche, mit Hilfe einiger Detailan- gaben, sich leicht zu zusammenhängenden, klaren und lebendigen Bildern verbinden lassen. Es giebt wohl wenige hier unter uns, welche nicht so manches Mal, mit stiller Bewunderung, die Entwickelung der Schmetterlinge, von dem kleinen Ei an bis zu jenem zierlichen Thiere, welches ein Poet so treffend mit einer fliegenden Blume vergleicht, zum Gegen- stande seines Nachdenkens gemacht hätten. Von ganz besonderem Interesse ist aber gewiss allgemein, und so weit die Kulturgeschichte des Menschengeschlechts reicht, das Insekt der Seide. Ich werde im Folgenden versuchen, aus dem Leben der Seiden- raupe besonders das zu besprechen, was mit der Entstehung der Seide einen näheren Zusammenhang darbietet. Alsdann werde ich Ihnen auch von den Krankheiten dieses schönen Insekts Einiges erzählen und Ihnen zeigen, wie dieselben, gleich denen der Weinreben und der Kartoffeln, eine hochwichtige, für den Wohlstand ganzer Länder ein- flussreiche Bedeutung haben. Nach einem Ueberblicke der Versuche, die Seide auch aus anderen Insekten zu gewinnen, werde ich Ihnen zuletzt übersichtlich das Wichtigste aus der Geschichte der Verbrei- tung der Seidenzucht, sowie Einiges über ihren Ursprung im Kanton ‚Zürich zusammenstellen. — 192 — I. Einiges über Entwickelung der Seidenraupe und Entstehung der Seide. Wohl die wenigsten unter Ihnen machen sich, wenn sie ein fer- tiges Stück Seide mit seinen schönen Farben, seinem unvergleichlich lieblichen Glanze, seiner eleganten Verarbeitung sehen, einen richtigen Begriff, wie grosse Schwierigkeiten zu überwinden waren, wie viel Scharfsinn, Beobachtungsgabe und Geduld sich zu den ausdauerndsten Bemühungen vereinigen mussten, um aus der lebendigen Umwandlung der Stoffe des Maulbeerblattes, durch die dem unansehnlichen Ei ent- schlüpfenden Raupe eines chinesischen Schmetterlings, jene schönste Zierde aller Industrieen hervorzubringen. Fangen wir daher damit an, Ihnen Einiges aus dieser merkwürdigen Metamorphose mitzutheilen. Schon in China, und hier seit Jahrtausenden, wurde das Maul- beerblatt als die einzige passende Nahrung für die Seidenraupe an- gesehen. Auch der Maulbeerbaum soll wie das Insekt aus China stammen, indessen kommt seit alten Zeiten eine Maulbeerart in Klein- asien vor, jedenfalls auch durch Erziehung aus dem Saamen des Bau- mes verpflanzt. Von hier verbreitete sich diese Cultur bald über Griechenland und ganz besonders über den Pelopones, welcher sogar diesem Baume, morus genannt, seinen modernen Namen Morea ver- danken soll. Die Araber brachten schon im 8. Jahrhundert den so ergiebigen und nützlichen Baum mit der Seidenzucht nach Spanien. Durch Roger Il. kam er nach Sieilien und durch Dandolo nach Ve- nedig. Von französischen Rittern, welche gegen Ende des 15. Jahr- hunderts bei der Eroberung Neapels betheiligt, das Wohlthätige der Seidenzucht erkannt hatten, wurde er in’s südliche Frankreich über- siedelt. Noch vor 40 Jahren sah man zu Allan, bei Montelimart, den ersten Maulbeerbaum, welcher in Frankreich gepflanzt worden war. Zu uns, im Kanton Zürich, kam diese Kultur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch die Bemühungen der Lokarnischen Einwanderung. Von allem diesem wird umständlicher in dem ge- schichtlichen Theile die Rede sein. Es würde mich zu weit führen, wenn ich Ihnen alle Vorsichts- massregeln anführen wollte, welche für die Einrichtung und Erhaltung einer Maulbeerpflanzung nöthig sind. Wie für die Obsthäume, hat auch hier die Kultur vieles thun müssen, um das Laub zu seiner grösstmöglichen Vervollkommnung zu bringen. Man erzieht die ge- wöhnlichen Sorten aus Saamen und Stecklingen und erst später ver- edelt man sie durch Schnitt und Pfropfen. Wiederholtes Umpflanzen und die Pflege mehrerer Jahre sind erforderlich, um die Blätter zur — 13 — ‘Nahrung im Grossen gebrauchen zu können. Verschiedene Arten kommen in Anwendung, die besten für die Fütterung der vorgerück- teren Entwiekelungszeit. Alles muss nun natürlich dafür gethan wer- den, dass, wie dies in der Natur stets für Thier- und Pflanzenöko- nomie so weise eingerichtet ist, die Entwickelung des Laubs mit dem Auskriechen der Raupen passend zusammenfällt. Ein kleines Ei, welches kaum die Grösse eines Stecknadelknopfs hat, von graugrüner Färbung, mit eleganten, schwärzlichen, oft stern- förmigen Figuren gezeichnet, ist der Ausgangspunkt der Entwickelung. Eine harte Schale schützt es vor äussern Schädlichkeiten und erlaubt, dass man es so lange liegen lassen kann, bis die Maulbeerblätter in passendem Zustande sind. Durch Aufbewahren an trockenen und kühlen Orten kann man das Auskriechen nach Belieben verspäten, so wie die Wärme die Entwickelung sehr zu beschleunigen im Stande ist. Ist nun der passende Augenblick gekommen, so bringt man die Eier in eine allmälig immer wärmere Temperatur, welche jedoch 20° R. nicht zu übersteigen braucht. Nach 10—14 Tagen allmäliger Er- wärmung werden die Eier heller, die kleinen Raupen durchbrechen, etwas über eine Linie lang, von grauer Färbung, ihre harte Hülle, und warten nun in munterem und regem Leben ab, dass man sie hege und pflege, ilınen Lager und Nahrung, Licht und Luft zu gutem Gedeihen verschaffte. Sorgfältig wird hier die Zeit gewählt, in welcher die letzten Frühlingsfröste vorübergegangen und nun schnell im schönen Mai Alles in der Natur sich zu Leben und Blüthe entfalte. Die zweite Hälfte dieses Monats ist daher der günstige Augenblick. In 2 bis 3 Tagen kommt die ganze junge Brut heraus;, was später erscheint, hat nicht mehr vielen Werth. Schon jetzt sorge man dafür, dass die Luft rein, aber nicht zu trocken sei und bewahre die Würmer vor den direkten Sonnenstrahlen. Die gleichaltrigen Raupen sind stets sorgfältig zusammen zu bringen. Es ist dies eins der wichtigsten Prineipien für das Gedeihen der Seidenzucht und grosser Nachtheil kann selbst schon daraus erwachsen, dass man die am gleichen Tage am Morgen und die am Abend ausgekrochenen beisammen lässt. Ueber die jungen Räupchen legt man dann durchlöchertes eigens dazu bereitetes Papier, durch dieses kriechen sie hindurch und steigen nun an den für sie bereiteten Blättern und Zweigen empor. Das erste Laub muss fein und leicht sein; die Temperatur darf in dieser Periode nicht unter 12° R. sinken und nicht 20 — 22 übersteigen. Gehörige — 14 — Lüftung ist um so dringlicher, als bei üblem Geruche sich gar leicht Krankheitskeime entwickeln, welche eine grosse Sterblichkeit zur Folge haben können. Im Mittleren kann die Lebensdauer der Raupen auf einen Monat, 30 — 31 Tage berechnet werden; etwas geringer scheint sie in Nord- italien zu sein; die äussersten Grenzen sind 24 und 40 Tage. Diese Zeit zerfällt in 5 Lebensperioden, in welchen die Raupe viermal voll- ständig ihre Haut erneuert. Während einiger Tage frisst sie, kriecht munter umher, sichtlich sieht man sie gedeihen und zunehmen. Dann verfällt sie, gegen das Ende jeden Alters, in einen Schlaf. Vorher hört sie auf zu fressen und sitzt in unbeweglicher Starrheit, den Vorderleib in die Höhe gestreckt. Mit den Hinterfüssen hat sie sich vorsorglich festgesetzt und mit einigen Seidenfäden angesponnen, so dass die feinen Hacken der Hinterfüsse festhängen und beim Abstreifen der Haut die alte Hülle sitzen bleibt, während so die Raupe sich ‚Jeicht und vollständig aus derselben hervorarbeiten kann. In dieser Zeit ist wieder eine ganz besondere Sorgfalt nöthig, jede Bewegung des hiebei gewiss leidenden Thieres zu meiden, die Luft sei beson- ders rein und die Temperatur warm. Die Gleichzeitigkeit der Häu- tung wird dann auch wieder ein werthvolles Kennzeichen der Alters- gleichheit und kann helfen, frühere Vernachlässigung in dieser Be- ziehung wieder gut zu machen. 2 Von den fünf Lebensperioden sind die drei ersten die kürzesten und dauern etwa fünf Tage, die vierte ist etwas länger, die fünfte dauert bis zur Verpuppung 8— 10 Tage. In Bezug auf die Einrichtung der Lagerstätten in den verschie- denen Altern, so wie für die sorgfältigste, oft wiederholte Reinigung existiren bestimmte, minutiös zu befolgende Regeln, welche ich hier nicht näher auseinandersetzen kann. Höchst wichtig ist die gute Beschaffenheit und die Regelmässig- keit der Malzeiten. In den ersten Altern sind nicht weniger als 10 — 12 und noch in dem letzten 7 —S Fütterungen in 24 Stunden nöthig. Wie gross der Verbrauch an Maulbeerblättern ist, geht daraus hervor, dass die aus einem einzigen Loth Eier entstandene Brut nicht weniger als 1000 Pfund derselben bedarf, von welchen 5 auf das erste Alter, 12 auf das zweite, 45 auf das dritte, 150 auf das vierte und nahe an 800 Pfd., also fast */, der ganzen Menge, auf das letzte, vor der Verpuppung kommen. Am letzten Tage allein verzehren die Raupen 100 bis 150 Pfd. und machen, bei diesem gierigen Fressen, ein so lautes Geräusch, dass es sich wie ein Regenguss anhört. — 105 — Die ausgewachsene Raupe ist etwa 3 Zoll lang, von schöner, weissgelblicher Farbe; ihr Leib besteht aus 12 Ringen, an jeder Seite hat sie eine Reihe schwarz eingefasster Luftlöcher zum Athmen. Vorn hat sie drei Paar Krallenfüsse, welche wie Finger beweglich sind, hinten fünf Paar weicher Füsse, mit einem Kranze feiner, scharfer Haken umgeben, welche sie, wie die Katzen, einziehen kann und gebraucht, um sich fest an einen Gegenstand ansetzen zu können. Nach jener Zeit unglaublicher Gefrässigkeit hört die Raupe gegen den 9. oder 10. Tag des letzten Alters auf zu fressen. Unruhig um- herkriechend, sucht sie nach einem passenden Orte für ihre Verwan- delung. Hat sie nun an dem mit besonderer Sorgfalt und nach be- stimmten Vorschriften eingerichteten Spinngerüste einen angemessenen Platz gefunden, so beginnt sie ihr Gespinst. Aus dem Munde hängen bereits die Fäden ‘der Seide, aus welchen sie dann bald mit beständig drehenden Bewegungen des Oberkörpers ein rundes feines Gespinst be- reitet und so allmälig aus einem einzigen, gegen 1600 Fuss langen Faden den Ihnen allen bekannten eiförmigen, weissen oder gelben Cocon macht. In drei bis vier Tagen ist dieses kleine, freiwillige Gefängniss, aus welchem die meisten nicht mehr lebendig hervorzugehen bestimmt sind, vollendet. Im Inneren desselben verliert das Thier nun bald sein letztes Raupengewand. In der stillen, schlafenden, unbeweg- lichen Puppe geht alsdann jene merkwürdige Vervollkommnung aller Theile vor sich, welche den Laien schon, und noch vielmehr den Naturforscher, mit Bewunderung erfüllt. Nach 13- bis 20tägiger scheinbarer Ruhe, bei steter und reger innerer Bewegung des Stoffumsatzes, ist jene sonderbare Entwickelung vollendet, durch welche der kriechende Wurm in den fliegenden Falter umgewandelt worden ist. Der Schmetterling durchbricht zuerst die dünne Puppenhülle und dann auch, durch blosses Benetzen mit einem eignen Safte und durch wiederholtes Anstossen mit dem Kopfe, jenen festen und harten Cocon, welchen selbst wir nur mit dem Messer oder der Scheere zu theilen im Stande sind. Schnell wachsen die Flügel des seiner engen Haft Entkommenen und so haben wir denn bald jenen sonderbaren Schmetterling von weissgrauer Farbe, mit ausgezackten Flügeln und kammartigen Fühlern vor uns, welcher schon auf den ersten Blick von allen europäischen Arten verschieden, sogleich seinen fernen, ausländischen Ursprung kund giebt. Eine höchst elegante Varietät dieses sonst gerade nicht schönen Insekts ist die zebraartige Abart, bei welcher jeder Ring des weissen Leibes von dunkelschwarzem Rande eingefasst ist. Wissenschaftliche Monatsschrift, II, 8 — 106 — Von jedem Paare ausgekrochener Schmetterlinge kommen im Mittleren 500 Eier, so dass verhältnissmässig nur eine geringe Zahl zur Fortpflanzung nöthig ist und die weitaus grösste Zahl für die Bereitung der Seide verwerthet werden kann. Da die durchbrochenen Coeons ausgekrochener Schmetterlinge nicht mehr zu feiner, guter Seide brauchbar sind, werden weitaus die meisten Puppen in den Cocons, theils durch heisse Luft, theils auch in neuerer Zeit in Frankreich durch die Dämpfe des Steinkohlenöls getödtet. Nun hat sich gewiss schon mancher unter Ihnen gefragt, wie und wo aber hat sich die Seide für den Cocon gebildet? Sie sollen dies gleich erfahren. Das Innere der Raupe bietet im Allgemeinen eine viel grössere Mannigfaltigkeit und Vollkommenheit der Organisation dar, als man dies in dem unscheinbaren Wurme vermuthen sollte. Die merkwür- digsten und wichtigsten dieser Organe, für unsern Gegenstand, sind unstreitig die sogenannten Spinndrüsen. Dieselben existiren auch bei vielen anderen Insekten, aber bei keinem so entwickelt, wie bei der Seidenraupe. Es sind dies zwei an den Seiten des Körpers liegende gewun- dene Schläuche, welche von vielen Luftröhren umgeben sind. Der hinterste Theil derselben endet blind, ist der engste und sondert die eigentliche Substanz der Seide als eine helle klare Flüssigkeit ab. Dieser Theil geht nach oben in einen breiteren über, in welchem ein zweiter Stoff bereitet wird, welcher, um den ersteren sich anlegend, demselben später nach aussen grössere Festigkeit verleiht. Das ganze Organ endet alsdann zu jeder Seite, an seinem vorderen Ende, in einen feinen Ausführungsgang, welcher in die Spinnwarze des Mundes mündet und so die Seide nach aussen befördert, nachdem vorher eine kleine Drüse auf beiden Seiten, vor dem Austritt, dem Stoffe eine geschmeidig machende wachsartige Flüssigkeit beigemengt hat. Nach aussen und an die Luft gelangt, erstarrt die noch helle durchsichtige, vollkommen flüssige Masse schnell zu einem Faden, welcher, da er in zwei Organen gebildet ist, stets von Anfang an sich als Doppel- faden zeigt, in welchem gewöhnlich die beiden Elemente innig mit einander verbunden sind und nur durch eine alkalinische Flüssigkeit von einander getrennt werden können. Durch diesen doppelten Ursprung lassen sich die Knötehen und Schlingen des Fadene der rohen Seide erklären, welche nämlich durch unvollständiges Aneinanderlegen gebildet werden und der Ver- arbeitung beim Haspeln grosse Schwierigkeiten in den Weg legen. — 107 — Der einzelne Faden hat die Breite des hundert und zwanzigsten Theils einer Linie und der doppelte, wie er zur Verarbeitung ge- braucht wird, den sechzigsten Theil, so dass also 720 soleher Fäden eng neben einander liegen müssen, um die Breite eines Zolles einzu- nehmen. Dennoch aber sind diese feinen Fäden sehr elastisch und lassen sich um ein Viertel ihrer Länge und darüber ausdehnen und, da sie alsdann nicht ganz ihre frühere Länge wieder erhalten, liegt darin ein Mittel, die Seide feiner zu machen. Merkwürdig ist die Festigkeit dieses Stoffs; sie ist so bedeutend, dass der einzelne Faden der rohen Seide ein Gewicht von mehr als 11/, Loth zu tragen im Stande ist, ohne zu zerreissen. Nach dem, was ich Ihnen von den verschiedenen Theilen der Spinndrüse gesagt habe, werden Sie begreifen, dass selbst der feinste Seidenfaden noch ein zusammgesetztes Produkt sei. Dies weisst in der That auch die Chemie nach. Ganz nach aussen am Faden liegt eine wachsartige, firnisartige Lage, welche in Wasser bei der ge- wöhnlichen Temperatur nicht verändert wird. Aether und Weingeist lösen eine Substanz auf, welche sich beim Verdunsten niederschlägt. Am meisten verändert den Seiderfaden eine alkalinische, laugenartige Flüssigkeit, indem sie die leimartige Masse desselben löst und ihn so um ein Viertel seines Gewichtes vermindert, wodurch der Zusammen- hang der Fäden schwindet. Die Seidensubstanz besteht also aus dieser letzteren Klebersubstanz, dem Seidenleim, aus einer soliden, im Wasser unlöslichen, in Alkohol löslichen, aus einem eigenthümlichen, flüchtigen Oele, aus einer fetten, wachsartigen und endlich aus der eigentlichen Substanz der Seide, welche den grösseren Theil des Ganzen beträgt. Ich führe hier die folgenden Analysen nach Proust und nach Mulder an: Auf 100 Theile kommen nach Proust nach Mulder Seidensubstanz (Fibroin) „ ia; 53 Gluten ya al hi121R0 20 Farbestoff \ „ 4,00 24 Flüchtiges Oel 2 on, ya ana 4 Up Fett. Adipocirartiges Fett 2 ” 0,50 100,00. Der in unserer Analyse erwähnte gelbe Farbstoff fehlt in der weissen Seide, welche weitaus die schönste und seltenste ist. Man hat auch durch Fütterung der Raupen mit Krap und Indigo rothe und blaue Cocons erhalten. — 103 — Aus dieser kurzen Skizze der Eigenschaften der rohen Seide gehen schon alle die Vortheile hervor, welche dieselbe, durch Festig- keit, Dehnbarkeit, Widerstandsfähigkeit gegen äussere Einflüsse besitzt. Ein blosser Blick auf die rohe goldfarbene, glänzende, oder silberhell schimmernde weisse Seide reicht hin, um in ihr den schönsten aller Stoffe zu erkennen, welchen menschlicher Fleiss zur Bearbeitung be- nutzt. Wie sehr aber noch derselbe an Glanz und Schönheit durch kunstreiches Färben und Weben zu Sammt und Seidenzeugen gewinnt, das wissen meine liebenswürdigen Zuhörerinnen gewiss besser, als ich es zu schildern im Stande bin. Eine gar grosse Menge von Thieren ist zu einem einzigen Stück Seide nöthig. Die Unze, also etwa 2 Loth, der Eier enthält 39 bis 40,000, von denen natürlich ein grosser Theil nicht zur vollständigen Entwickelung kommt. 2—300 Cocons kommen auf ein Pfund und erst 9— 11 Pfd. Cocons liefern ein Ffund roher Seide. Die besten Coeons sind diejenigen mittlerer Grösse. Die sehr grossen aus dem Friaul und dem südlichen Frankreich, wie solche namentlich auf der Pariser Industrieaustellung zu sehen waren, liefern eher eine grobe Seide. Die feinste und schönste Sorte kommt von den rein weissen Cocons, den Sina’s, einer eigenthümlichen Abart, welche im Jahre 1772 von Mathau de Fagere in die südfranzösische Seidenkultur ein- geführt worden ist. Wie man nun aus den Cocons den Faden abhaspelt, den Abfall wieder so gut als möglich als Floretseide benutzt, wie überhaupt die Seide weiter verarbeitet wird, kann ich Ihnen hier nicht weiter aus- einandersetzen. Es liegt dies nicht bloss ausserhalb des Planes dieser Skizzen, sondern würde auch ein zu minutiöses Eingehen in die Technik der Seidenindustrie nöthig machen. Näher wohl liegt, wegen ihres Einflusses auf die Wohlfahrt ganzer Länder, die Besprechung einiger der wichtigsten Krankheiten der Seidenraupe, welche auch mir als Arzt ein ganz besonderes Interesse eingeflösst haben. Ja, soll ich es Ihnen gestehen, es hat mich eine der Muskardine der Seidenraupe in mancher Hinsicht ähnliche Krank- heit, welche in den letzten Jahren viele Millionen unsrer Stubenfliegen getödtet und auch bei uns in Zürich noch vor wenigen Wochen ge- herrscht hat, wieder, durch die Erforschung der Natur einiger Krank- heiten der Seidenraupe, auf die für mich von jeher sehr anziehenden Studien ihrer Entwickelung und Lebensart zurückgeführt. — 109 — II. Ueber einige Krankheiten der Seidenraupe und ihren Einfluss auf die Industrie. Sie werden leicht begreifen, dass die Seidenraupe vielen Schäd- lichkeiten ausgesetzt ist, welche ihrem Gedeihen hinderlich sind. Vor Allem ist ihr Schicksal innig an das des Maulbeerbaums gebunden. Kommen im Frühjahr die auch sonst so verderblichen Spätfröste, so geschieht es, namentlich im südlichen Frankreich nicht selten, dass ganze Seidenzuchten verloren gehen, ja dass man die junge, lebens- frische Brut zerstören muss, um sie nicht an Hunger und Krankheit zu Grunde gehen zu sehen. Ist man nun auch glücklich über diese schlimme Zeit hinweggekommen, so kann noch das im Anfang herr- liche Laub erkranken, sich mit Rostfleeken bedecken, vertrocknen und schrumpfen, wo es alsdann eine ungesunde und unzureichende Nahrung darbietet. Gerade hierüber wurde in Frankreich in den letzten Jahren sehr geklagt. Dass auch hiedurch die Seidenzucht zu schlechter Ernte komme und viele Raupen erkranken und sterben, ist begreiflich. Ist aber auch die Nahrung in jeder Hinsicht gut, so ist doch diese ganze Treibhauserziehung noch von grossen Schwierigkeiten be- gleitet. Der geringste Fehler: zu hohe oder zu niedrige Temperatur, Mangel hinreichend reiner Luft, Vernachlässigung der Lagerstätten, der Reinlichkeit, der Regelmässigkeit der Mahlzeiten, des strengen Trennens gleichaltriger Raupen, ziehen unfehlbar schlimme Folgen nach sich. Werden aber auch noch alle diese Uebelstände vermieden, so ist nicht minder die Seidenraupe noch an und für sich mannigfachen Er- krankungen ausgesetzt. ‘Es würde mich zu weit führen, Ihnen die- selben auch nur in kurzen Umrissen zu beschreiben. Nur über zwei Krankheiten will ich Ihnen Einiges mittheilen, da sie eine wahrhaft verheerende Pest für die Seidenzucht werden können. Die eine ist die sogenannte Pilzkrankheit, die Muscardine oder der Caleino; die andere: die in letzter Zeit herrschende und noch gegenwärtig sehr gefährliche, welche ich geradezu als Entartung des Insekts der Seide bezeichne. Vorher seien mir aber einige wenige allgemeine Bemerkungen erlaubt. Wie alle organische Wesen ausser dem Einflusse der Ernährung und der äussern Lebensverhältnisse, noch klimatischen und atmo- sphärischen Schädlichkeiten ausgesetzt sind, welche, zeitweise. sich er- neuernd, als Seuchen grosse Verheerungen anrichten, so finden wir auch gerade die Schädlichkeiten dieser Art in hohem Grade in den — 10. — letzten Jahren, nieht bloss unter den Menschen, sondern auch in den mannigfachsten Produkten der Kultur, unter den Kartoffeln, den Trau- ben, dem Korne, den Seidenraupen ete. Aber auch hier sind die Verhältnisse wieder komplieirter, als man von vielen Seiten geglaubt hat. Mit Recht kann man unsrer modernen Wissenschaft, bei all’ ihren sonstigen Vorzügen, den Vorwurf minutiöser Einseitigkeit machen. Der Eine glaubt mit vergrössernden Instrumenten die Natur der Erscheinungen zu ergründen, der andere durch chemische Zersetzung, ein Dritter durch die Anwendung der Physik und der mathematischen Berechnung und noch ein Andrer durch feine anatomische Zergliederung. Ein jeder kommt, bei scharf- sinnigem Forschen und naturgetreuer Beobachtung, zu unläugbaren, oft herrlichen, dem menschlichen Geiste Ehre machenden Resultaten. Man vergesse aber nicht, dass in der lebenden Natur nicht die molekülare Beschaffenheit, nicht bloss die chemisch darstellbaren Substanzen, nicht die physikalische Wechselwirkung, nicht der Bau der einzelnen Or- gane, für sich allein, das Leben ausmachen. Auf diese einseitige Irrrichtung passen gewiss die so treffend spottenden Worte des Mephistopheles: „Wer will was Lebendig’s erkennen und beschreiben , „Sucht erst den Geist herauszutreiben. „Dann hat er die Theile in seiner Hand, „Fehlt leider nur das geistige Band. Im Leben und in der Natur sind die einzelnen Kräfte und Be- wegungen zu harmonischem Einklange verbunden und ihr inniges Zu- sammenwirken verwirklicht jene wunderbar vollkommenen Einrichtungen des Lebens und des Lebenden, welche wir in ihre Einzelnheiten zu zerlegen, aber weder durch Wissenschaft noch durch Kunst zusammen- zusetzen im Stande sind, deren Phänomene wir in Manchem zu deuten im Stande sind, deren innres Wesen aber für uns noch voller Räthsel ist und den aufrichtigen Forscher nur zur Bekenntniss seiner Un- wissenheit führt. So müssen dann auch wir wieder zu jener höheren philosophi- schen Auffassung zurückkehren, durch welche das Detail nur als Theil des Ganzen Werth hat, jede einzelne Wissenschaft aber nur eine Säule des heiligen Tempels menschlichen Wissens ist. So wie man bei der Beurtheilung der Trauben- und der Kar- toffelkrankheit einen zu ausschliesslichen Werth auf die Schmarotzer- pflanzen derselben gelegt hat, so ist dies noch in viel exelusiverer Art bei den Parasitenkrankheiten der Thiere geschehen. Fern von uns — 11 — sei es, den Einfluss derselben läugnen zu wollen. Nur zu unzweifel- haft steht ihre schädliche Wirkung fest. Gleich den immer wieder wachsenden Häuptern der hundertköpfigen Hydra, vervielfältigen ihre Keime das einmal bestehende Uebel in der traurigsten Ausdehnung. Was aber bereitet den geeigneten Boden für diese lebendige Ver- schimmelung vor, was macht sie aufhören, nachdem grade oft vorher die Keime sich in grösster Menge entwickelt hatten? Hier walten viel allgemeinere Verhältnisse ob. Die grosse Perturbation in unsren Jahres- zeiten, zu milde Winter, feuchte Frühlinge, zu frühes Treiben reich- licher aber nicht gesunder Säfte, hiedurch eintretende Veränderung im Boden, in den Pflanzen, diese und noch viele andere Ursachen sind gewiss jenen grossen Plagen der Menschheit nicht fremd, und sie dürfen nicht übersehen werden, wenn man sich von der Ausbreitung, den Folgen und der möglichen Abhilfe jener Uebel einen richtigen Begriff machen will. Die Muskardine ist eine seit langer Zeit bekannte Krankheit, welche gar oft und an vielen Orten grosse Seidenzuchten ganz zu Grunde gerichtet hat. Ihren französischen Namen verdankt sie der Aehnlichkeit einer im südlichen Frankreich gebräuchlichen Art Zucker- werk. In Oberitalien wird das Uebel als Caleino, wegen des kalk- artigen Aussehens der verschimmelten Thiere bezeichnet. Wahrscheinlich ist diese Krankheit so alt als die Seidenraupe. Be- reits in einem Gedichte von Annibal Guasco vom Jahre 1570 wird sie beschrieben. Boissier de Sauvage giebt in seinen klassischen M&moires sur l’education des vers & soie (Paris 1763) schon vor nahe an 100 Jahren eine gute Beschreibung derselben und erzählt, dass sie aus dem Piemont in das südliche Frankreich eingeschleppt worden sei. Vielfach hat das Uebel seitdem die Naturforscher und Seidenzüchter beschäftigt. Bald sah man in ihr nur eine kalkartige Verhärtung durch mineralische Niederschläge aus dem Blute, bald schloss man aus ihrer grossen Ansteckungsfähigkeit auf eine Pilzbildung. Letztere Ansicht wurde auch im Jahre 1835 durch die gründlichen Unter- suchungen des Marquis Balsamo-Crivelli und des Doctor Carolo Bassi aus Lodi zur Gewissheit erhoben. Der eigenthümliche Pilz der Mus- eardine ist seitdem allgemein als Botrytis Bassiana bekannt. Während des Lebens sind die selbst schon tief erkrankten Seidenraupen noch scheinbar völlig gesund. Noch kurz vorher zeichnen sie sich durch ihr kräftiges und schönes Aussehen aus und scheinen zu den schönsten Hoffnungen zu berechtigen. Und doch tragen sie schon den Keim eines sichern, baldigen Todes in sich, welchen der geübte Natur- — 112 — forscher nur mit dem Mikroskope als kleine in ihrem Blute sich ent- wiekelnde Pilzkeime erkennen kann und deren Entwickelung zu Fäden und Sprossen mit immer zunehmender Bildung von Sporen bald die ganze Masse des Blutes krank macht und zu ihrem Schmarotzerleben verwendet. Plötzlich sinkt die scheinbar lebenskräftige Raupe zusammen, be- kommt eine röthliche Färbung, ihr Körper wird weich und schlaff. Man sollte meinen, es wäre eine schnelle Fäulniss eingetreten. Wie sehr überrascht ist man nun aber, wenn man bald aus den Luft- löchern des Thiers ein feines Netzwerk schöner, silberweisser Fäden hervorsprossen sieht, welche in kurzer Zeit den ganzen Körper des Thiers mit weissem Schimmel bedecken, während gleichzeitig unter- dessen der ganze Leib steinhart geworden ist. Zugleich hat sich der Körper der Raupe ansehnlich verkürzt und gekrümmt. Mitunter ver- puppen sich die schon kranken Raupen, alsdann kommt erst im Cocon die Krankheit zur vollkommenen Entwickelung. Der weisse Pilzanflug besteht aus unter dem Mikroskope sehr zierlich aussehenden, feinen einfachen oder verzweigten Fäden, deren Breite kaum den 600sten Theil einer Linie beträgt. An der Spitze derselben und am Ursprunge der Zweigchen finden sich ausserdem eine Menge kleiner kuglicher Körperchen, welche nicht 1/7o9 Linie an Breite übersteigen und den Saamen der Pflanze bilden. Aus jedem einzelnen Keime kann sich die ganze Krankheit entwickeln. Durch die Luft getragen, können sie weithin verbreitet werden und so ent- fernte Seidenzuchten infieiren, ja in kurzer Zeit zerstören. Man kann annehmen, dass im Mittleren vom ersten Eindringen der Keime an bis zum Tode der Raupe eine Woche vergeht. Diese Krankheit ist übrigens nicht der Seidenraupe eigenthümlich und hat man sie mehrfach bei andern Insekten beobachtet. Es ist eine der frühesten und lebhaftesten Erinnerungen meiner Beobachtungen aus dem Gebiete der Naturwissenschaften, wie ich im Sommer 1826 in Berlin eine Menge Raupen eines schönen Nachtschmetterlings, des sogenannten schwarzen Bären (Enprepia villica) eingesammelt hatte und zu erziehen hoffte, und wie mir dann schnell alle ausgewachsenen Raupen starben, und dann, nachdem sie zuerst weich und schlaff ge- worden waren, hart und brüchig wie Baumzweige, sich schnell mit einem schönen, glänzenden, weissen Schimmel ganz bedeckten. Viel hat man auch diese Keime auf andere Thiere übertragen und ich habe selbst noch vor zwei Monaten durch Impfung mehrere Insekten mit dieser Pilzkrankheit insicirt. — 13 — Sind nun aber auch für die Verbreitung des Uebels jene Keime nöthig, so wird ihnen doch erst ein geeigneter Boden in der vor- herigen Erkrankung der Raupe durch schlechte Pflege oder ungeeig- nete Nahrung bereitet. Ich glaube nicht zu weit zu gehen, wenn ich behaupte, dass im Allgemeinen die Häufigkeit des Auftretens der Muscardine in einer Seidenzucht in direktem Verhältnisse zur mangel- haften Sorgfalt und den daraus hervorgehenden nachtheiligen Ein- flüssen steht, so wie in einem Spitale Hospitalbrand und grosse Sterb- lichkeit nach Operationen und Verwundungen in direkter Beziehung zu schlechter Lüftung und Pflege stehen. Verschiedene Mittel und Methoden sind gegen die Muscardine vorgeschlagen worden. Die Einen fassen zu ausschliesslich die ört- liche Behandlung in’s Auge, während andere auch auf allgemeine Massregeln gehörige Rücksicht nehmen. In ersterer Beziehung sind die Versuche von Johannys*) interessant, welcher von 4000 Eiern aus einer infieirten Seidenzucht 1000 mit verdünntem Weingeist, 1/99, 1000 mit einer Lösung von 1/39 schwefelsauren Kupfers und 1000 mit einer Lösung von 1/gp salpetersauren Bleies wusch, die noch übri- gen 1000 aber ohne Behandlung liess. Von jenen ersten 3000 verlor er nur die gewöhnliche Zahl Raupen wie in sonst gesunder Zucht, von den nicht gewaschenen hingegen verlor er die Hälfte. Auf der andern Seite hatte schon Robinet **) richtig erkannt, dass eine passende Pflege das beste Mittel gegen die Muscardine sei. In jüngster Zeit hat eine Wittwe Montsarat ein neues Speeificum empfohlen, welches hauptsächlich in Schwefelräucherungen und zwar in den bereits früher bekannten mit schweflichter Säure besteht. Sehr treffend bemerkt in Bezug auf dieses Mittel Guerin-Meneville in einer kurzen aber inhaltsreichen Mittheilung, welehe er am 9. Januar dieses Jahres der Pariser Gesellschaft für Agrieultur gemacht hat, dass, wenn auch verschiedene Räucherungen durch Zerstörung der Pilzkeime nütz- lich sein könnten, doch das Wesen des Uebels durchaus nicht in diesen allein zu suchen sei und dass das sicherste Mittel gegen diese schreckliche Krankheit in der Anwendung der grossen und allge- meinen Gesetze der Hygiaene bestehe: Erziehen der Seidenraupen aus sichern guten Eiern, nach guter Aufbewahrung und passender In- kubation, in einem Lokale, in welchem die Lüftung hinreichend sei, aber mit Vermeidung schneller Temperatursprünge und der Zugluft *) Annales des sciences naturelles. 1839 T. I. p. 65. #*%) De la Muscardine, Paris 1843. — 114 — hinreichend weite Räume für die Raupen, unausgesetzte Sorgfalt für Reinlichkeit der Lager, gute Auswahl und Bereitnng der Nahrung giebt er mit Recht als beste Heilmittel an. Noch wünschbarer aber als ein Speeifieum gegen die Muskeardine wäre ein Mittel gegen die Unwissenheit, die Routine und die Vorurtheile der Seidenzüchter. Alles dieses wird vollständig durch die Erfahrung der letzten Jahre in Oberitalien bestätigt, wo der Caleino kein gefährlicher Feind der Seidenzucht mehr ist, seitdem man unmittelbar die verdächtigen oder todten Raupen zerstört, passende Räucherungen je nach Um- ständen anwendet, besonders aber die Seidenzucht nach den besten Prineipien der Vernunft und der Erfahrung leitet. Dass aber auch selbst diese Verbesserung der Methode nicht Alles gegen klimatische Einflüsse vermag, beweist die seit einigen Jahren immer mehr sich ausbreitende, die ganze Seidenzucht bedro- hende neue Krankheit, welche man als Gattine, als idropisia della farfalla bezeichnet und welche nach den Ergebnissen meiner mit Herrn Professor Frei gemeinschaftlich angestellten Untersuchungen als Ent- artung des Insekts der Seide bezeichnet werden kann. Vor Allem muss ich Herrn Martin Bodmer in Zürich, so wie Herrn Bertschinger und Herrn Professor Cornalia in Mailand meinen besten Dank für die Güte ausdrücken, mit welcher sie mir noch in später Jahreszeit lebendige Thiere für diese Studien verschafft haben. Ein sonderbarer Kontrast war es für mich, täglich die Schmet- terlinge der Seidenraupe auskriechen zu sehen, während draussen schon Alles mit Schnee bedeckt war. Bei dieser Krankheit sind bereits die Raupen ungesund, be- kommen eine schmutziggelbe Färbung und sind mit kleinen schwärz- lichen Flecken bedeckt, das Horn und einzelne Fusspaare werden schwarz und verschrumpfen. Die Thiere sterben schon in grosser Zahl in früheren Häutungsperioden und auch die ausgewachsenen sind klein, fressen schlecht, verpuppen sich langsam und machen ein kleines oft weiches Gespinst, in welchem noch viele sterben. Geht aber auch ihre Verwandlung regelmässig vor sich, so kriecht doch dann später aus- der Puppe ein unvollkommenes Insekt aus, welches verkrüppelt, mit dieckem Leibe, aufgetriebenen Ringen, träger Bewegung, gewisser- massen wie die Carriecatur des gesunden Insekts aussieht. Auch die Farbe des Schmetterlings ist eine mehr schmutzig gelbe oder in’s Graue spielende mit schwarzen Flecken untermischt. Im ersten Jahre geht aus ihnen noch eine mässige Ernte von Eiern her- vor, im zweiten wird sie höchst gering, im dritten hört sie fast ganz — 15 — auf. Das Insekt ist für die Fortpflanzung der Seidenzucht unbrauchbar geworden. So hat sich also die Krankheit durch mehrere Genera- tionen hindurch mit zunehmender Bösartigkeit entwickelt und zeigt sich nun am Ende als eine völlige Entartung des Insekts, gleich einer Feuersbrunst, welche erst langsam das ganze Innere eines Gebäudes zerstört hat, bevor die Flämmen nach aussen hin durchbrechen. Nach unsern mit Herrn Professor Frei angestellten Untersuchungen ist das Blut schon in der Raupe, und zunehmend in Puppe und Schmetterling erkrankt, dunkler, brauner, fast pechartig beim Trocknen. Im Blute sowohl, wie auch in allen Theilen des Körpers, selbst in den abgeschlossensten Räumen, im Inneren des Auges z. B. finden sich eine zahllose Menge kleiner Schmarotzerpflanzen von eirunder, etwas länglicher Form, ungefähr 1/jooo Linie breit und etwas mehr als doppelt so lang. Dieselben bestehen aus einer einzigen Zelle und vermehren sich durch Theilung in’s Unendliche. Die innern Organe sind zwar erhalten aber begreiflich leidet die ganze Ernährung tief durch jene zahllosen Schmarotzer, welche auf Unkosten der Säfte sich entwickeln und leben. Die pflanzliche Natur derselben haben wir durch eine Reihe chemischer Versuche unzweifelhaft nachgewiesen. Wohl aber haben wir uns gehütet, in diesen Pflänzchen das all- einige Wesen der Krankheit zu erblicken. Wie nachtheilig sie durch ihre grosse Zahl und endlose Vermehrung wirken, lässt sich begreifen. Ob sie aber Ausgangspunkt oder Product der Erkrankung seien, lässt sich noch nicht bestimmt angeben. Wir stimmen Herrn Guerin-Meneville ganz bei, dass, wie er in einer sehr interessanten brieflichen Mittheilung angiebt, auch hier jene allgemeinen klimatischen Perturbationen gewiss von hoher Bedeutung sind. Schon die Eier werden durch unnatürlich warme Wintertem- peratur zu vorschneller Entwickelung angetrieben; durch die gleichen Einflüsse ist auch die Saftbildung im Maulbeerblatt eine zu frühzeitige und unvollkommene. Schwache Raupen werden also mit ungesunden Blättern genährt und so kann nach mehreren Generationen eine förm- liche Entartung des Insekts nicht ausbleiben. Während nun die Krankheit in allen Ebenen Oberitaliens, Süd- frankreichs und Spaniens, in welchen Seidenbau getrieben wird, in den letzten Jahren grossen Schaden angerichtet hat, sind die höher gelegenen Zuchten bei kälterem Winter und grösserem Luftzuge ver- schont geblieben, so in Frankreich die höheren Orte der Cevennen und des Departement de l’Ardöche. Das gleiche gilt von den nordischen Zuchten Preussens Polens und Schwedens. Alle diese Gegenden sind — 16 — auch von der Krankheit der Gewächse mehr verschont geblieben als die südlicheren. Wie nachtheilig auf die Seidenindustrie diese Entartung bereits gewirkt hat, geht daraus hervor, dass der Ertrag an roher Seide in Frankreich kaum !/,, in Spanien 1/9, in Italien 1/5 und an vielen Orten noch weniger, als bei mittleren Jalfresernten erreicht hat. In Frankreich namentlich ist an vielen Orten das Elend dadurch so gross geworden, dass die Seidenzüchter noch die von den fürchterlichen Ueberschwemmungen der Rhone und der Loire Heimgesuchten be- neiden konnten. Ihr- Loos ist um so trauriger, als Niemand ihnen zu helfen sich bemüht, ihr Elend fast unbekannt bleibt und sie so wahrhaft die verschämten Armen der Industrie sind. Man begreift nach Allem diesem, dass von einer Verbesserung der klimatischen Verhältnisse oder von einem Gewöhnen der Seiden- zucht an deren Abnormitäten, also von der Zeit hauptsächlich etwas zu hoffen ist, während man allerdings in etwas höheren und nördlicher gelegenen Gegenden die Seidenzucht zu versuchen hat, wobei freilich die Spätfröste des Frühlings zu fürchten sind, dass endlich in den infieirten Seidenzuchten der Saame aus gesunden und entfernteren Gegenden zu erneuern und Alles von kranken Thieren kommende, die Cocons abgerechnet, zu zerstören ist, während auch die Lokale sorgfältig desinfieirt werden müssen, um die an den parasitischen Keimen haftenden krankhaften Stoffe unschädlich zu machen. Aus dem Mitgetheilten ersieht man, dass diese Krankheit eine wahre Geissel für die Menschheit geworden ist und in ihren Folgen, durch völlige Verarmung ganzer Gegenden den schlimmsten Naturer- eignissen beizugesellen ist. Denkt man nun bei solchen Gefahren der Seidenzucht nicht wie- der unwillkürlich an die schon oft gemachten Versuche, das Gespinst andrer Insekten zur Seidenfabrikation zu benutzen? Ja gewiss sind mehr als je solche Versuche nöthig und haben sie bereits eine erfolg- reiche Vergangenheit in entfernteren Ländern und eine sichere natur- wissenschaftliche Basis für sich. Seit vielen Jahrhunderten schon macht man aus mehreren andern als den gewöhnlichen Gespinsten in verschiedenen Provinzen China’s und Ostindiens schöne und solide Seidenstoffe. Nach Herrn von Humboldt’s gründlichen Forschungen wurden in Mexiko bereits vor der spanischen Eroberung Seidenstoffe bereitet und geben die neuesten Reisenden Aehnliches von den erst kürzlich entdeckten Theilen des Innern Afrika’s an. Eine über die ganze Erde verbreitete, durch sehr grosse und PIE — 117 — schöne Arten vertretene Gattung liefert bis jetzt fast ausschliesslich die Elemente für diese, wegen der Erziehung im Freien auf Sträuchern und Bäumen, sogenannte wilde Seidenzucht. Es ist dies die Gattung Saturnia, welche auch in der Schweiz durch mehrere Arten der Nacht- pfauenaugen und unter andern durch den grössten aller europäischen Schmetterlinge repräsentirt ist, Durch eine vortreflliche Arbeit des um dieses Fach hochverdienten Dr. Chavannes aus Lausanne er- fahren wir, dass nicht weniger als 80 Arten von Saturnien bereits bekannt sind, von denen einzelne einen Cocon von der Grösse eines Taubeneies haben, wiewohl sie wegen des mehr durchschlungenen Fadens schwerer zu spinnen sind, als die gewöhnlichen. Vor Allem sind Östindien und China reich an solchen Arten. Zu ihnen gehört der grösste aller bekannten Schmetterlinge, der Atlas mit fast 9 Zoll Flügelbreite, welcher in Indien und bis in's Thibet und Deccan vor- kommt. Die Raupe lebt auf dem Fagara, sie liefert eine graue, starke und sehr feste Seide. — In China, Bengalen und dem centralen Afrika findet sich die Saturnia Cynthia, welche in den letzten Jahren auch in Algier, Italien, Frankreich und in der Schweiz erzogen worden ist und auf deren Zukunft man namentlich auch im Piemont, beson- ders in Turin, grosse Hoffnungen gründet. Die Raupe lebt auf Ri- einus, Lattich, Weiden und Eschen. Schon längst liefert sie in China eine nicht exportirte Seide. — Ueber die Molluken und einen grossen Theil Bengalens verbreitet, findet sich die Saturnia Mylitta, welche auch schon lange einen sehr guten Seidenstoff, die Tussah-Seide giebt. Die Raupe lebt unter anderm auch auf Eichen, was, da sie bereits in Frankreich und in der Schweiz mit Erfolg erzogen worden ist, vielleicht schon in der nächsten Zukunft günstige Resultate hoffen lässt. Ihre Seide ist übrigens stark, nicht schwer zu haspeln und jeder Cocon liefert nicht weniger als 4/; Loth Seide, die bis jetzt grösste bekannte Menge. Die Saturnia Pernyi, der vorigen ähnlich, liefert im Norden China’s und der Mantschurei bereits seit alten Zeiten einen unter der Bevölkerung sehr verbreiteten Seidenstoff. Das gleiche gilt von der im Königreich Assam vorkommenden Saturnia Assamensis. Afrika ist nicht minder reich und kennen wir bereits 30 Arten aus demselben, jedoch sind sie wenig benutzt. Die auf Madagascar vorkommende Saturnia Cometa und Mimosae werden verarbeitet. Im südlichen Amerika kommen zwar wenige aber sehr ergiebige und grosse Arten vor. So ist die in der Gegend von Rio lebende Aurota fast so gross als der Atlas, mit gegen 7 Zoll Flügelbreite und ihr — 18 — Cocon hat 21/, Zoll Länge auf 1 Zoll Breite und Dicke, sie liefert eine feste, starke, schön weisse Seide. In Mexiko finden sich zwei Arten, von denen die eine, Saturnia Orbignyana, sich bis in die Strassen der Stadt Mexico zeigt und wahrscheinlich den Ureinwohnern die Seide geliefert hat. Von den nordamerikanischen Arten ist die in Sammlungen häufige Saturnia Cecropia nicht verwerthet, während eine andere auf Eichen und Weiden lebende, Saturnia Polyphemus, so viel Aehnlichkeit im Gespinste mit unsern Cocons hat, dass sie den ersten französischen Ansiedlern in Florida die freilich nur kurze Freude und Täuschung bereitet hat, das chinesische Gespinst dort entdeckt zu haben. Die aus Australien bekannten Arten sind noch nicht benutzt worden. Wir wollen hoffen, dass die um diese Versuche bereits sehr ver- diente französische Acelimatisations-Gesellschaft, so wie intelligente Naturforscher in Verbindung mit unternehmenden Seidenzüchtern und Landwirthen, die bereits hoffnungsvollen Versuche der letzten Jahre fortsetzen werden, wobei die grössere Schwierigkeit des Haspelns der Mechanik gewiss lösbare Probleme zu stellen hat. Auch hier ist nur von der gehörigen Ausdauer Erfolg zu erwarten und kann nicht genug vor den beiden Hauptklippen, an welchen industrielle Neuerungen so oft scheitern, vor überschwenglichen Hoffnungen, so wie auch vor zu frühzeitiger Entmuthigung bei diesen Versuchen gewarnt werden. III. Skizzen aus der Geschichte der Seidenzucht. In dem Palaste einer chinesischen Prinzessin Si-ling-ki wurden, nach einer alten, in den Büchern des Confucius erwähnten Tradition die ersten Seidenraupen im Jahre 2600 a. C. erzogen. Wir finden also vor mehr als 4450 Jahren den historischen Anfang der Seiden- zucht. Durch Beispiel und Lehre verbreitete diese hochherzige Prin- zessin die schöne Industrie unter ihrem Volke. Mit Recht lebt daher noch ihr Andenken in dankbarer Erinnerung bei den Chinesen fort. Wann jährlich unter grossen Festlichkeiten die Arbeiten des Feldes und der Seidenzucht beginnen, wird ihr Name besonders als der einer "treuen und lieben Beschützerin angerufen. Auch noch jetzt sind es, nach ihrem Vorbilde, meist Frauen, welche in China die Seiden- raupen erziehen. Das Spinnen und Weben der Seide soll aus der gleichen frühen Zeit stammen. Was wir nun im Alterthum finden, ist von mehr merkantilischer Bedeutung. Die Deutung, dass der Argonautenzug nach dem goldnen Vliess die goldfarbene Seide zum Zweck gehabt habe, ist zwar oft wiederholt worden, aber gewiss — 119 — falsch, da man noch heute in der Gegend von Tauris mit wolligen Fellen das Gold aus dem Flusssande zu gewinnen sucht. Die Phönizier und später die Araber hatten besonders das Mo- nopol des Seidenhandels, welcher aber aus China das alleinige Ma- terial bezog. Im alten Testament geschieht der Seide mehrfach Er- wähnung. Den Griechen war dieselbe nur aus dem Handel bekannt, indessen wurden auf der Insel Cos schon früh Seide aus den Cocons gehaspelt. Daher stammt auch der Name des Coi’schen Gewandes, welches sich durch seine Dünnheit und Durchsichtigkeit auszeichnete und desshalb bei den Sittenrichtern mehrfach Anstoss gefunden hat. Bei den Römern waren seidene Stoffe überhaupt selten und wurden viele halbseidene bereitet, welche zur Zeit Martials in Rom beson- ders in dem Viceus tuscus gewebt wurden. Vergeblich bemühten sich die römischen Kaiser, in näheren Ver- kehr in Bezug auf die Seidenzucht mit den Chinesen zu treten. Als besondere Verschwendung wird erwähnt, das Heliogabalus und Cali- gula ganz seidene Gewänder getragen haben, so wie auf der andern Seite Flavius Vopiscus es als ein Muster von Weisheit vom Kaiser Aurelian rühmt, dass er den Bitten seiner Frau, ihr ein seidenes Kleid zu schenken, widerstanden habe. Gegenwärtig würde wohl eine solche Weigerung ganz anders gedeutet werden. Der Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus giebt um das Jahr 360 p. Ch. zuerst einige genauere Auskunft über den Seiden- handel mit den Chinesen und erzählt, dass sie Verkehr mit Fremden möglichst mieden und dass, wenn Kaufleute an ihre Grenze wegen des Seidenhandels kamen, sie ihre Bedingungen mit der grössten Wortkargkeit machten, Niemandem erlaubten, in die Geheimnisse ihrer Industrie einzudringen und dass auf Ausführung der Eier und der Seidenraupe Todesstrafe stände. — Beinahe 3000 Jahre waren fast bereits vergangen, ohne dass die Seidenzucht die chinesische Mauer überschritten hatte, als, nach der Erzählung des Procopius von Cäsarea, zwei Mönche des Basilius- Ordens, welche lange als Missionäre in China gelebt hatten, und dort mit der Cultur und der Verarbeitung der Seide vertraut geworden waren, dem Kaiser Justinian anboten, die Seidenindustrie gegen eine angemessene Belohnung nach Constantinopel zu verpflanzen. Sie gingen in der That wieder über Persien nach China und brachten, nach vielen Mühen und Gefahren, im Jahre 552 in ihren ausgehöhlten Bambusstöcken Eier der Seidenraupe an den Hof des Kaisers. Dem Genie des Men- schen macht es gewiss alle Ehre, wenn man bedenkt, dass aus dem — 20 — hohlen Stabe jener Mönche der Keim für steigenden Wohlstand und Reichthum in den verschiedensten Ländern für mehr als dreizehn Jahr- hunderte hervorgegangen. Auch in Constantinopel hatte die Seidenraupe lange das Privi- legium, den kaiserlichen Palast allein zu bewohnen. Die Mönche selbst lehrten das Spinnen der Cocons, geschickte Arbeiter wurden herbeigerufen und so entwickelte sich denn bald eine blühende In- dustrie, welche sich über Griechenland und die ionischen Inseln schnell ausbreitete. Als im Anfang des 8. Jahrhunderts die Araber sich Spaniens bemächtigten, verpflanzten sie auf jenen günstigen Boden diese neue Quelle des Wohlstandes. Erst gegen das Ende des 10. Jahrhunderts, im Jahre 988, wurde in Mitteleuropa der erste Maul- beerbaum von dem Pfalzgrafen Hermann mit grosser Feierlichkeit in dem Garten der Abtei von Braunweiler, bei Gelegenheit seiner Ver- heirathung mit der Schwester des Kaisers Otto III. gepflanzt. Nach Italien kommt die Seidenzucht im 12. Jahrhundert. Roger II., König von Sieilien, hatte aus seinen Kriegen viele Gefangene mitge- bracht, welche Seidenzuchten anlegten; auch in Calabrien wurden nun bald viele gegründet. In Oberitalien hatte sie indessen einen ganz andern Ursprung. Dorthin kam sie 1204 durch Dandolo, den greisen Dogen von Venedig, welcher noch in seinem 95. Jahre die Banner seiner Republik in dem von ihm erstürmten Constantinopel aufpflanzte und bei seiner Rückkehr die Seidenzucht aus dem eroberten Lande in seine Heimath einführtee Von hier verbreitete sie sich schnell über ganz Oberitalien und schon im Jahre 1370 erschien von Bona- fido Paganino ein Gedicht über die Seidenraupe unter dem Titel The- soro de’ rustici. Die Seide war aber damals noch so theuer, dass das Tragen von Sammet und Seide als ein Zeichen ausserordentlicher Pracht noch oft geschichtlich erwähnt wird. Wie gegen Ende des 15. Jahrhunderts südfranzösische Ritter die Cultur der Seide in das Languedoc und die Dauphinde brachten, ist bereits mitgetheilt worden. Nur langsam fand sie hier Ausbreitung und die unter Francois I. so sehr begünstigte Industrie bediente sich noch grösstentheils italienischer und spanischer Seide. Erst gegen Mitte des 16. Jahrhunderts beginnt der grosse Seidenhandel in Lyon und machten sich um Seidenzucht besonders Trouchet in der Gegend von Nismes und Ollivier de Serres sehr verdient. Heinrich IV. brachte diesen Zweig des Handels zu ausserordentlichem Gedeihen. Unter ihm verbreitete sich auch die Cultur des Maulbeerbaums über einen grossen Theil von Frankreich; Lyon aber blieb seitdem stets der — 1211 — Mittelpunkt dieser Industrie. Während der grossen französischen Revo- lution war aber auch diese schwer bedroht. Der Nationalkonvent er- fiess gegen die Seidenzucht ein Anathem ; seine unintelligenten Dekrete drangen auf Ausreissen aller Maulbeerbäume, um, wie sie sich aus- drücken, diesen schändlichen Luxus auszurotten. So hatte denn auch die arme, unschuldige Seidenraupe ihre Schreckenszeit. In Deutschland finden wir gegen Ende des 16. Jahrhunderts in dem scheinbar ungünstigsten Klima eine Reihe beharrlicher Versuche die Seidenraupe zu erziehen. Magdalena Elisabeth, die Tochter Joa- chim II., Kurfürsten von Brandenburg, begann im Jahre 1595 diese Seidenzueht,- welche später durch die Einwanderung der durch die Widerrufung des Ediets von Nantes vertriebenen französischen Prote- stanten und ihre Ansiedelung in der Mark Brandenburg, mit erneutem Eifer und grosser Sachkenntniss betrieben wurde. Ich erinnere mich noch aus meiner frühesten Jugend in der Umgegend von Berlin Maul- beerpflanzungen und sonstige Spuren jener Industrie gefunden zu haben, welche aber, trotz aller Beharrlichkeit, doch später an der Rauhheit des Klima’s scheiterte, allmälig zu Grunde ging, indessen gerade jetzt wieder mit erneuertem Eifer betrieben wird. Es würde mich zu weit führen, wollte ich aller weiteren Ver- breitungsversuche erwähnen. Ich führe hier nur noch die zwei inter- essanten Thatsachen an, dass Peter der Grosse sie selbst im nörd- lichen Russland versuchte. Ein nicht zu leugnendes Verdienst erwarb sich ferner Ludwig XVI. dadurch, dass er aus Sinaraca in China frische Eier des Seideninsekts kommen liess und diese unter den besten Seidenzüchtern Frankreichs vertheilte. Bevor ich aber diese historische Skizze beschliesse, will ich noch Einiges in Bezug auf die Entwickelung der Seidenindustrie im Kanton Zürich mittheilen. — Da dieselbe mit der Locarner Einwanderung in einigem Zusammenhange steht, ist es nöthig, eine kurze Digression in die Verhältnisse jener Zeit zu machen. Die Geschichte des Anfangs des 16. Jahrhunderts zeigt uns, wie, gleichzeitig mit dem Wiedererwachen der Wissenschaften, das Bedürf- niss einer Kirchenreform sich von vielen Seiten geltend machte und somit ein unläugbarer Ausdruck des Zeitgeistes war. In Italien finden wir namentlich auch, nach bereits so manchen Vorgängern, unter welchen der unglückliche Savonarola eine hervorragende Rolle ge- spielt hat, zur Zeit der deutschen Reformation eine grosse Parthei für dieselbe. In Rom bildete sich, fast unter den Augen des Papstes Leo X., eine Gesellschaft unter dem Namen des Oratorium der gött- Wissenschaftliche Monatsschrift. II. 9 —_ 12 — lichen Liebe, welche eine wirklich auffallende Aehnlichkeit mit dem späteren Jansenismus zeigte, wie wir ihn besonders in Port-Royal seine höchste Blüthe erreichen sehen. Die Trennung von dem Papst- thum war hier weniger der Hauptzweck, als die Moralisirung und innere Verbesserung der Kirche. Dieser Richtung gehörten Männer wie Contarini, Sadoleto, Caraffa und der Irländer Poole an, welche später alle unter dem versöhnlichen Paul III. zu Kardinälen er- hoben wurden, aber dann freilich sehr auseinanderweichende Rich- tungen verfolgten. Beinahe wäre es sogar den hochherzigen Männern Contarini und Morone gelungen, bei dem Religionsgespräche in Regens- burg 1541 mit Bucer und Melanchthon zu einer Ausgleichung zu kommen, was sich jedoch nicht verwirklichen liess. Noch viel be- stimmter treffen wir an dem Hofe von Ferrara, in der Gemahlin Her- kules II. von Este, der berühmten Rende, Tochter Ludwigs XII., eine entschiedene Anhängerin und Beschützerin der Reform. Nicht lange aber sollte diese Morgenröthe einer bessern Zukunft an dem schönen italienischen Himmel glänzen. Nur zu bald trat an die Stelle des Wunsches der Versöhnung und der innern kirchlichen Verbesserung die Furcht vor der Schmälerung des weltlichen und geistlichen Einflusses Rom’s und des Fapstes, Am 21. Juli 1542 erliess der Papst Paul IV. die berüchtigte Bulle gegen die Ketzer, durch welche der Kongregation der Inqui- sition die Ausrottung der neuen Lehre als Pflicht gestellt wurde. Die schwachen und lauen Theilnehmer derselben traten ängstlich "zurück, viele entzogen sich der Verfolgung durch die Flucht, die Muthigsten und Besten schreckten vor einem schmählichen Tode oder dem leben- digen Grabe italienischer Gefängnisse nicht zurück. In der nur kurzen Blüthezeit freisinniger Duldsamkeit hatten sich die-Grundsätze der Reformation auch über einen Theil der italienischen Sehweiz verbreitet und hier besonders in dem schönen Locarno am Lago maggiore einen sehr regen Anklang gefunden. In Locarno gehörten, nach Ferdinand Meyer, welchem wir die beste Geschichte dieser so interessanten Kolonie verdanken, im An- fange des 16. Jahrhunderts die Familien der Duni, der Maggiora, der Muralto und der Orelli zu den mächtigsten und angesehensten. Muralto hiess sogar damals ein Theil des Städtchens, welches sich durch grosse Thätigkeit und blühenden Handel auszeichnete. Die Regierung wurde von eidgenössischen Vögten besorgt, die kirchlichen Angelegenheiten standen unter der kirchlichen Leitung des Bischofs von Como, — 13 — Der Boden war in Locarno bereits durch gute Kanzelredner aus dem Orte der Franziskaner und durch Lehrer der Jugend vorbereitet, unter welchen sich besonders Beccaria auszeichnete. Durch Pelikan in Zürich, selbst früher Franziskaner, war bereits die geistige und reli- giöse Verbindung mit dieser Stadt angebahnt. Zu den eifrigsten Fein- den der jungen Loearner Gemeinde gehörten nicht bloss die Bischöfe von Como, sondern auch die Vögte aus den katholischen Kantonen. Man begreift übrigens, dass gerade diese Gemeinde ein Stein des Anstosses wurde, da sie bereits im Jahre 1549 in Locarno allein 200 Mitglieder zählte, an deren Spitze Taddeo Duno, Lodovico Ronco und Martino Muralto standen. Nachdem bereits vielfache Reibungen stattgefunden hatten, wurde am 15. August 1549 eine öffentliche Disputation zwischen dem der Ketzerei beschuldigten Beecaria und dem Dominikaner-Mönche Fra Lorenzo, unter der Leitung des Landvogtes Wirz von Unterwalden veranstaltet. Als dieser nun sah, dass der von ihm beschützte Mönch auf dem Punkte war, besiegt zu werden, schloss er gewaltsam die Sitzung und liess Beccaria gefangen nehmen. Dieser wurde aber so- gleich von 30 wohlbewaffneten jungen Leuten aus der Blüthe der Locarnergemeinde befreit und im Triumph davongeführt. Beccaria musste bald flüchtig werden, die Locarner- Gemeinde wurde aber von nun an mit der grössten Erbitterung verfolgt. Die Processe in Reli- gionsangelegenheiten verschonten selbst die übrigens sehr muthvollen Frauen dieser Gesellschaft nicht und als sogar das Haupt des un- schuldigen Nicolao Greeo unter dem Henkersbeile gefallen war, ander- seits auch von Como und Mailand her immer strengere Mandate gegen die Gemeinde erlassen wurden, beschlossen die Mitglieder derselben gegen das Ende des Jahres 1554, ihr Vaterland zu verlassen, nach- dem dies auch von den Schiedsrichtern des Tages. zu Baden, am 18. November 1554, als das Geeignetste anerkannt worden war. So zogen denn am 3. März 1555 zuerst 93 Mitglieder derselben unter der Leitung von Taddeo Duno, Martino Muralto und Giovanni Muralto aus. Diesen ersten Auswanderern folgten nun bald auch viele andere, welebe sich zuerst, da die Alpen noch mit tiefem Schnee be- deckt waren, nach Roveredo wendeten. Von Zürich war ihnen bereits gastfreie Aufnahme auf das Freundlichste angeboten worden, was um so hochherziger und verdienstvoller war, als Zürich bereits Religions- flüchtlinge aus verschiedenen Ländern in grosser Zahl beherbergte und die Erwerbsquellen der Bewohner gerade damals verhältniss- mässig gering waren. Ausserdem war auch das Bündnerland, an — 1214 — welches viele zuerst gedacht hatten, einer allgemeinen Niederlassung nicht günstig gestimmt, Bald war das Frühjahr herangerückt. Bereits in den ersten Tagen des Mai, einer in Hochalppässen noch gefährlichen Zeit, zog die Colonie über den Bernardin nach Chur. Heiter und muthvoll bewerkstelligten sie den Uebergang über das Gebirge und ohne durch Krankheit selbst unter dem schwächeren Theile ein Mitglied einzu- büssen, ohne den geringsten Verlust an ihrem zahlreichen Gepäck, legten sie in sieben Tagen die Reise nach Zürich zurück, wo sie vom 12. Mai an eintrafen und bereits Alles für eine liebevolle Auf- nahme bereit fanden. Unter den Ausgewanderten befanden sich so Manche, welche sich bereits mit Seidenzucht und Industrie viel beschäftigt hatten und sie um so leichter auf Zürcher Boden verpflanzen konnten, als schon im 13. Jahrhundert Zürcher Kaufleute Seide aus der Lombardei bezogen und aus derselben Bänder, Schleier und verschiedene Zeuge verfertigt hatten. Indessen die schweren Kriegszeiten des 14. und 15. Jahr- hunderts hatten diesen aufblühenden Erwerbszweig zu Grunde ge- riehtet, so dass die Erneuerung desselben und der nunmehr dureh denselben immer wachsende Wohlstand der Locarner Gemeinde zu verdanken ist. Einer der ersten in dieser Hinsicht thätigen Männer war Pariso Appiano, welcher die erste Sammtweberei einrichtete und auch das Färben der Seide sehr wohl verstand. Schnell verbreiteten sich diese Gewerbe und charakteristisch ist es, dass Appiano bald verlangte, um seiner Waare einen grössern Werth zu verschaffen, das Zeichen der Stadt Zürich auf den Sammt schlagen zu dürfen, was man ihm denn auch gern bewilligt. Auch die Gebrüder Zanino und Mario Besozzo richteten schnell aufblühende Fabriken für Sammt und Tafft ein und liessen noch aus Italien geschickte Arbeiter kommen. Durch Aloisio Orello und Vangelista Zanino entwickelte sich auch bald der Gross- handel und schon im Jahre 1557 bildeten Ronco, Besozzo, Üastig- lione und Zanino eine Handelsgesellschaft, welche, mit der besten Lokalkenntniss ausgerüstet, in Mailand und Venedig direkt ihre Ein- käufe machten. Von der Locarner Kolonie ging auch der erste Versuch aus, in Zürich Seidenraupen zu erziehen. Im Jahre 1566 bewilligte der Rath von Zürich dem älteren Zanino unentgeldlich die Benutzung einer dem Spital gehörenden Wiese in Sellnau für Pflanzung von Maulbeerbäumen und ein Haus in Oetenbach sammt Garten für Einriehtung einer Seiden- — 1253 — mühle und anderer Gewerbe. Der ältere Zanino brachte sich, bei seinen Reisen in Italien, in böse Händel, fiel der Inquisition in die Hände, wurde nur nach vielfacher Verwendung freigelassen, erntete aber selbst nicht die Früchte seines unternehmenden Geistes und starb 1602 in tiefem Elend. Dass alle diese Fortschritte der Industrie von den oben erwähnten angesehenen Familien der Kolonie stets in jeder Hinsicht begünstigt wurden, ist allgemein bekannt. Von Zürich bezogen nun bald nicht bloss die Nachbarstaaten, sondern auch entfernte Länder die Seiden- stoffe. So trug denn jene liebevolle Menschenfreundlichkeit, mit wel- cher die Locarner Kolonie in Zürich aufgenommen worden war, immer mehr und in stets grösserem Massstabe die wohlverdienten Früchte. Möge noch lange diese schöne Indüstrie eine Quelle des Fleisses und des Wohlstandes sein und mögen auch hier Wissenschaft und Erfahrung stets in harmonischem Einklange für zunehmende Verbesse- rung und steigende Wohlfarth dieses herrlichen Landes bemüht sein. Das Schiff der Buss. Mit diesem Titel bezeichnen wir vorläufig den Inhalt einer uns vorliegenden, im Besitze des Herrn Pfarrers Schulthess in Dällikon befindlichen Handschrift aus dem Jahre 1469. Das Format derselben ist kl. 4., jede Seite hat nur eine Kolumne; die Schrift ist gut, deut- lich und regelmässig, auch ist sie im Ganzen correct; die Ueber- schriften und Initialen sind nach Gewohnheit roth, ebenso die An- fangsbuchstaben der Sätze durch einen rothen Strich bezeichnet und vor den Citaten die Namen und Stellen roth unterstrichen. Die Hand- schrift enthält zwei praetische Schriften, die sich wesentlich den Beicht- spiegeln des 15. Jahrhunderts anreihen, auf deren Wichtigkeit neue- stens J. Geffken in seiner treflichen Schrift: Der Bildereatechismus des 15. Jahrhunderts und die catechutischen Hauptstücke in dieser Zeit bis auf Luther. I. Leipzig 1855. 4., hingewiesen hat. Unseres Wissens sind sie bis dahin gänzlich unberücksı.htigt geblieben, aber ihr Charakter rechtfertigt es, wenn wir auf sie a? Aufmerksamkeit hinlenken. Die erste Schrift, für die der obige Titel gilt, umfasst 24 Blätter. Vorangeht ein Vorwort: Unser Herr Christus hat dem Menschen nıcl® Schiffe gegeben durch das sorgliche Meer dieser Welt zu sehiffen, besonders aber hält er zwei bereit über das grundlose Meer dieser Welt zu fahren, die Taufe, welche von der Erbsünde und die Busse, welche von den begangenen Sünden erlediget. “Und das selb schiff der buos ist in ainem wege nützer wenn der touf. Wann von der wirdikait der gnaden und krafft des schöpfers des töuffers erstat der — 126 — mensch einisten von dem ewigen tod. Aber von der krafft und gnad der gewaren buoss, als dick der mensch in die sünd gefällett. So mag er mit rechter rüwe allzit wider erston und erleediget werden von den sünden. Darum hon ich mir gedacht zuo er des durcher- lüchten hochgebornen fürsten mins gnädigen herren hertzog albrecht zuo österich etliche stuck urkund und kraft des scheffes der buoss ze schriben in dem namen des vaters des suns und des hailgen gaistes. Amen.,, Der Gegenstand selbst wird in 22 Fragen abgehandelt, wobei zur Beantwortung ziemlich viele Stellen aus der heil. Schrift (bei David und Salomon fehlt der Titel Herr nie) und aus den bekanntesten latein. Vätern (Ambros., Hieronym., Augustin., Belasius, Gregor. d. Gr., Isi- dor., Beda, Bernhard; sonst werden ausdrücklich nur Chrysost., Aristot. und Seneca eitirt) beigebracht werden. Wir heben 14. und 15. aus. Wie der mensch bichten sol. Darüber sprechent die lerer, wir nement die bicht zwiffaltetlich, des ersten mals ist die bicht nicht anders wan ain werck der tugent das wider die glichsner ist. Vnd die bicht geschicht also wenn der sünder sich in schuld legt vnd die vergicht darumb das in nieman anders versech wer er sy. Oder wenn der sünder sin sünd dem andren offnot darumb das er desterbass mit des andren rat erkenn vnd er vinden müg wie er hail vmb sin sünd gewinnen müg. In der mas mag der sünder ainem jeelichen bichten layen vnd pfaffen, der Inn wisen vnd raten mag vnd got für in bichten. Also das der, dem der sünder die sünd sait vnd offnot ain sömlicher mensch sy, vor dem sich der Sünder schamen mus. : Vnd sich och von der bicht bessre nicht das er von wissenhait der sünd böser werd vnd ain bösses Ebenbild enpfach. Vnd Bernhardus. Ain vol- komner man ist ain liebhaber der warhait der wolt das Jederman sin sünd wisde. Des andren mals nemen wir die bicht für ain haili- kait der kilchen. Damit sich der sünder versünet gen dem allmäch- tigen got. Vnd die selb bicht sol ainem priester geschechen der ge- walt hab ze ledigen vnd pinden. Och mag ain Jeclich mensch ainem layen bichten in nöten ob er ains priesters nit gehaben mag. Aber die bicht die ainem layen geschicht erlediget den menschen nicht von den sünden. Aber sy mindrett wol die buos vnd die pen der sünden vnd ist ain vrkund der rüwe. Die Frage: wem ein Fürst beichten soll, wird beantwortet mit: sinem bischoff, in des bystumb er huss vnd hoff hat, aber darauf wird angegeben: mit welen sachen Hertzogen Margraffen fürsten vnd ander heren aller maist sünden. “Das sy vff ir lütt vngewonlich stür vnd schatzung anlegent. Vnd das sy wider die fryung der kilchen die pfaffen beschwerent mit stür oder wie das genant ist. Oder das sy brieff oder gewalt über gaistlich lüt gebent wann das alles wider got ist. Och sündent sy das sy In iren hüssern vnd vestinen habent Cappellen vnd pfaffen on des bischoffs vrlob. Sy sündent och das sy fry lüt aigen machen. Sy sündent och das sy dem obern rich etwin in erbern sachen nit gehorsam sind, och das sy arm lüt witwen vnd waisen nit recht wider varn lasent vnd sy doch die herschafft vnd — 127 — das schwert darumb enpfangen habent. Och das sy arm lüt offt. Vnd dick verderben on alle sachen vnd schuld an lib vnd an gut. Och das sy ir pfaffen bischoff vnd äpt nit in eren haltent als sy von forht sölten. Vnd die in offt vndertenig machent vnd beschwe- rent. Och das sy offt krieg machent on sach das sy doch on merck- lieh sach tun nit solten. Och sündent sy das sy ir vnd ir dienst lüt beschweren vnd etwin irs erbs on recht beroubent. Och das sy dik arm vnd richen lüten das recht lengrent vnd verziehent in die vor geschribnen sachen sündent die fürsten gröstlich vnd vast.,, Die zweite Schrift, welche 85 Blätter umfasst, trägt keinen be- sondern Titel, sie ist angehängt, weil ihr Inhalt mit der Beichte in nächster Beziehung steht. Nachdem besprochen ist: warumb alle sünd mit gantzem fliss ze miden syen, werden die 7 Todsünden (saligia), nämlich frashait (gula), vukünschheit (luxuria), gitikait (avaritia), track- hait (aceidia), hoffart (superbia), nid (invidia) und zorn (ira) ziemlich ausführlich und auf Einzelheiten eingehend behandelt. Es wird auf das Wesen, -die Arten und Ursachen der einzelnen eingegangen und warum sie zu strafen, schliesslich aber rat vnd hilff dagegen angegeben. Der Citate sind nicht so viele, die Haltung ist etwas selbstständiger; eitirt werden hier auch Tullius, Horatius, Cyprianus, Anastasius, Hugo de 5. Vietore. Wir heben nur Einiges aus. Als Stücke der gitikait werden behandelt wucher, ungerechter zoll und schatzstür, gab und miet die die herren in nement. “Doch ist daran ain vnderschaid zwischent herren vnd den wolffen wan die wolf zuken noch robent kainen andern wolf! sy zukent nu anderlay tier das nit wolf sint. Aber die herren robent vnd zukent ander lüt die als wol menschen sint als sy.„ Sehr ausführlich wird von der Hoffarth gehandelt. Sie ist eine inwendige im Menschen und auswendige am Menschen, die erstere ist hoffart der verstentnuss und der begird. “*Hoffart der ver- stentnuss ist mengerlay. Am ersten daran wenn ain mensch gelopt vnd wendt was es hab güttes das hab er alles von im selben vnd von anders nieman. Vnd wil voserm herren darvmb nit danck noch lob sagen. — — — Ze dem andern — Wenn ain mensch wendt. Es hab sin hab vm got verdienet. Vnd dasselb ist gaistlich wider vn- sers herren gnad — — Ze dem dritten — wenn er went das er hab das er nütt hat. Das selb ist gar törlich durch des fluchs willen der über die gat die sich selben nit erkennen wellint — — Man sündet och mit hoffart der verstentnuss. Wenn sich ain mensch in sinem sinn über andere lüt ziechen vnd brechen wil — —., “Hoffart der begird ist zwayerlay. Die Erst haist ain gedürstikait das ain mensch im selb getrüwett, vnd das ist vast ze miden darvmb wan got ver- hengt vnder wilen das hailig lüt in offen sünd fallent darvmb das sich ir güt tät nit vber nemet — — Das ander stuck hoffertiger begird ist begird ainiger erhöchung, das ist das ain mensch begert grosser herschafft — —.,, Nachdem bemerkt ist, dass auswendige Hoffarth an mancherlei Sachen sich zeige (“an dem menschen des menschen lib an pferiten an geziertem hoff gesind an buw an guldin klaineten vnd an gesang,,) und warum sie zu meiden und zu strafen sei, wird — 1283 ° — noch im Besondern gehändelt von Hoffart der Gürtel (“verbotten sint beschlagen riemen oder sidin gürtel„), “von den schläyern die die frowen tragent vnd fürwend (zu strafen ist “gilwe farwe an schläyerh vnd alle zierd an wiben,), von der (bösen) scham, von der hoffart des bettes (hier sind “*dryerlay zierd ze merken übrige kostlichhait übrige wat übrige grösse,) vnd von der des adels.,„ “Von adel wegen der gepurt sol nieman hoffertig sin — wan wir all von ainem vatter vnd von ainer muter her komen sint. Man liss nit das vnser herr ain silbrin adam gemacht hab da von die edlen komen werin., An- erkannt wird der Adel des Sinnes und angegeben die Zeichen des wahren Adels. — Schluss: *Vnd davon sol ain Jeelicher mensch in ‚sinen sünden nit verzagen wie gross sy sint Wan got ist erbarmhertzig vnd gütig Amen. Seriptum Anno dni ete. 1469 vff festum thome apostoli.„ Angehängt sind von der gleichen Hand *Die fünff manun- gen solt du mit andacht all tag tun vor dem crucifix dardurch folget dir vil gutz ete.: O Herre und got ich knüw für dich als ain armen betler für ain richen heren — —.,, und von einer viel späteren eim langes Sündenbekenntniss. Der Verfasser dieser Schriftstücke war hauptsächlich nur Sammler, aber auch so verdient er alle Anerkennung. Von Mängeln seiner Zeit ist er ja freilich nicht frei, aber wir erkennen in ihm einen sehr be- sonnenen, praktischen Mann, der sich in der Welt umgesehen hat, der ferner mit dem deutschen Bibelworte sich durchaus vertraut zeigt und der im tiefen Bewusstsein der menschlichen Sündhaftigkeit fern von einer bloss äusserlichen Werkheiligkeit die Gnade in einer ge- wissen Perspective vor sich hat. Die Predigtsanimlung Geiler’s von Kaisersberg, die wir u. d. T. navicula poenitentie, das Schiff der penitentz und Busswirkung besitzen, ist von dem vorliegenden Schrift- werk durchaus verschieden, aber möglich, dass Geiler dieses kannte und von demselben zu seiner Ausführung Anlass nahm. Und wer war der Verfasser? Als Vermuthung möge ausgesprochen werden, Steph in von Landskron, Probst zu St. Dorotheen in Wien F 1477. Aus der Topographie des Erzherzogthums Oesterreich, Bd. 15., Wien 1836. 8., 8. 58 ff. ersehen wir freilich fast nur, dass sich dieser Mann die Vermehrung der Stiftsgüter äusserst angelegen sein liess, aber er war auch asketischer Schriftsteller und seine Art erscheint der in dieser Schrift als durchaus verwandt. Aus seiner Hymelstrass 8. Mehreres mitgetheilt bei Geffken a. a. O. Anhang $. 106. ff. Handschriften scheinen sich von diesem Werke nur wenige er- halten zu haben; nach einer Privatmittheilung besitzt eine solche die Bibliothek des Stiftes Schotten zu Wien und nach Serapeum 1850. S. 102. f. drei die Stiftsbibliothek zu Klosterneuburg, Da nach der Angabe die eine davon 232 zweispaltige Blätter in Folio enthält, so könnte die vorliegende wohl nur eine abgekürzte und unvollständige sein, obschon sie sich als solche nicht giebt. Auch die Schreibart scheint in dieser merkliche Verschiedenheiten darzubieten. O0. F. Fritzsche. Druck von E._Kiesling. Verlag von Meyer & Zeller in Zürich. Academische Vorträge. Crausius, R. Ueber das Wesen der Wärme, verglichen mit Lieht und Schall. Preis 8 Ngr. — 28 kr. — 80 Cts. BiEDERMAnN, Auoıs. Die Pharisäer und Sadducäer. Preis 5 Ngr. — 21 kr. — 70 Cts Niceuı, Cart. Die Individualität in der Natur, mit vorzüglicher Be- rücksichtigung der Pflanzenwelt. Preis 12 Ngr. — 40 kr. — 1 Fr. 20 Ci Scumivr, Dr. W. Av. Der Aufstand in Constantinopel unter Kaiser Justinian. Nebst einem Plan von Constantinopel. Preis 14 Ngr. — 48 kr. — 1 Fr. 70 0 SCHWEIZER, Dr. Arex. Die theologisch-ethischen Zustände der zweite 2 Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts in der zürcherischen Kirche, Preis 6 Ngr. — 22 kr. — 60 Cts SEMPER, G. Ueber die formelle Gesetzmässigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol. 8 Ngr. — 28 kr. — 80 Ots. VIscHER, Fr. Kritische Bemerkungen über den ersten Theil von Göthe’s Faust, namentlich den Prolog im Himmel. Preis 4 Ngr. — 14 kr. — 40 Cts Ruxser, H. Der Berchtoldstag in der Schweiz. Eine mythologische Skizze. Preis 6 Ngr. — 22 kr. — 60 Cts, VOLKMAR, G. Ueber den Ursprung und die erste Krisis der römischer Kirche. Nach den letzten Verhandlungen über Hyppolitus. Preis 10 Ngr. — 36 kr. — 1 Fr Weisser, Aporr. Volksgeschichten aus der Schweiz, ä 10 Ngr. 36 kr. — 1 Fr Inhalt der vier erschienenen Bändchen : | I. Bdehn : Die Züricher Mordnacht. Eine Geschichte aus dem deutschen Städteleben des vierzehnten Jahrhunderts 1], Geschichte des glückhaften Schiffes, oder der warme Hirsbrei auf dem Freischiessen zu Strassburg Jahre 1576. II. u Bruder Klaus von Unterwalden. Lebensbild eines patriotischen Einsiedlers. F IV Rz Zur Geschichte der gymnastischen Spiele. Ein ] Büch lein für Jung und Alt. Te nl ee en S Monatsschrift des WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS in ZÜRICH. Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : FerDINnanD Hırzıc, Epvarn ÖSENBRÜGGEN, Heinrich Frey, I Apour Scuuipr, HEINRICH SCHWEIZER. | (Hauptred.: Anorr Schar.) Fünktes bis uchtes Beft. ZÜRICH, VERLAG von MEYER & ZELLER. | \ BWELITBR JARBERBSATE 1857. 5 i 2 mare ann 0 BEE N r _ m ——— u m 2 Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitgetheilt werden. Inhalt des borliegenden Beltes : Die Kultur Aegyptens und ihre Stellung in der Entwicklung des mensch- lichen Geistes. Von Privatdocent Dr. O. H. JÄceer . . .». . . . 129 Joseph von Hammer-Purgstall. Von Prof. Konst. SchLottmann . . . 158 Ueber Cometen und Cometen-Aberglauben. Von Prof. R. WoLır . . . 226 Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von v. Wwss, v. ORELLI, MEYER-AHRENs, HILLEBRAND, VIscHER, H. Mryer, A. Fıck, VoLKMAR und Anderen. Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des Buchhandels erbeten. Gegentoärtige Mitglieder des Wlissenschaftlichen Vereins : ALEX. SchwEızEr, Präsident. NÄeerı, Vicepräsident. v. Orerrı, Sekretär. Bosrık. Crausıus. DERNBURG. EscHer v. d. Lıntu. Feur. Av. Fıck. H.Frey. Frıtzsche. GiESKER. HEER. Hındesrannd. Hırresranv. Hırzıc. J. J. Horttinger. Kym. LE£EsBErT. v. MarscHauz. H. Meyer. MEyvErR-Anrens. MEYER v. Knonav. MÜLLER. ÖSENBRÜGGEN. RAABE. SCHLOTTMANN. AD. Scuhmipt. H. ScHWEIzER. STÄDELER. F. Vıscuer. VoLkmar. R. Woır. G.v. Wyss. Druck von E. Kiesling in Zürich. u WER Die Kultur Aegyptens und ihre Stellung in dr Entwicklung des menschlichen Geistes. *) Von Privatdocent DR, O. H. JÄGER. Der geistige Fortschritt vom Orient zur klassischen Form — zur griechisch-römischen Kultur des Abendlandes — der its’s, was ich Ihnen zeigen möchte im Aegyptischen. Befürchten Sie darum nicht, sich zu verlieren in ein Trümmerlabyrinth: auch in diesem Fernen, für das Sie den Lärm des Tags auf einen Augenblick vergessen sollen, gilt uns — wenn auch in andrer Form — nur das Eine, was noch jetzt lebendig des Menschen Brust bewegt. In unsern Zeiten wetteifern alle Kulturmittel, den gemächlichsten Besitz des Erdballs — den Genuss des Ganzen der Natur — und mit der Anschauung ihrer Fülle zugleich das klare Bewusstsein von der Geschichte der Welt zu erarbeiten. Mühelos wird uns das Leben im Universum bereitet; und doch — trotz dieser Zucht des Geistes — ist Jedes von uns seiner nächsten Umgebung Kind. Wie viel ge- bundener musste das Alterthum sein. Ihm fehlte, was uns mit Riesen- schritten der allgemein -weltbürgerlichen Bestimmung zuführt, und der freieste Standpunkt war, wenn’s gut ging, der nationale. Es fehlte aber, weil eben diejenige Potenz, welche die Mittel schafft, — welche überhaupt jene universelle Kultur zu einem Zweck erhebt, — weil die innere Freiheit des Geistes im Tiefsten des Lebens noch mit sich selbst rang. Diese Naturbestimmtheit ist beim Aegyptischen doppelt zu be- denken: wegen der 4—5 Jahrtausende, um die es über’s Jetzt zu- rückgeht, und — wegen der betreffenden Landschaft. Indem dieselbe Vergesellschaftung und Verkehr auf einen kleinen Raum einschränkte, überragte sie den Menschen zugleich in mächtigen Zügen und wies ihn in ihrem ernsten Charakter an ein unendlich Höheres, was in ihr wirkt und bindet. Es ist Ihnen bekannt die üppige Vegetation des Nilthals, die bereits im Zauber der Tropen prangt; — allein drüber *) Akademischer Vortrag vor gemischtem Publikum gehalten am 29. Januar 1857 im Grossrath-Saale zu Zürich. Wissenschaftliche Monatsschrift. II. 10 — 130 — her die massigen Felswälle, an deren schwarzgebranntem Gestein sich in feurigen Bächen der gelbe Flugsand der Wüste ergiesst, — auf die der steile Strahl der Sonne das Bild des Todes gezeichnet. Auch das Dritte kennen Sie, — die unabsehbaren Wüsten rings: In blen- denden wesenlosen Flächen, durch deren Stille nur des Raubthiers Stimme und die Gluth- und Sandstürme der Sahara gehen, und wie- der in verschwindenden Meeresgewässern, unter deren Spiegel die Ungeheuer der Tiefe und der Wogen grollende Gewalten schlummern, — in diesem grenzenlosen schimmernden Nichts ging dem Aegypter jener grauen Vorzeit zunächst die Welt zu Ende; sie zerfloss ihm in dieser unruhigen Ferne mit dem Unendlichen dieses unerbittlich wol- kenlosen Himmels, der — ewig derselbe — sich in tiefer glühender Bläue über seine Heimath spannt. Aber in diesem Unendlichen ruhte ihm auch die schaffende Macht, welche diese Oase selbst in’s Dasein gehoben und in jenen Fels- rahmen gefasst hat. Die Macht dieses Unendlichen, wie sie ihn rings mit den Schrecken des Todes gemahnte, — sie zeigte sich ihm zu- gleich im lachenden Schmucke seines Landes als die holde Gewalt, die zum Leben drängt und das Leben gibt. Sie ist der Nil, der — aus ungekannter Ferne herangezogen — nunmehr in majestätischer Ruhe breit sich dahinwälzt und gerade dann diese ganze Thalebene über- schwemmt, wenn das Leben im Uebermaass der Hitze sich zu verzehren droht; er tränkt den lechzenden Anger, erfrischt die Luft und lagert aller Orten die fette Schlammerde, die er im ganzen oberen Laufe abgespühlt und reissend von dannen geführt. Von selbst spriesst alsdann die Erde wiederum jene üppige Vegetation, und in gemässigten Lüften erblühet die Au und reift die Saat — und mit ihr auf's Neue das Leben Aegyptens. Noch jetzt ist dies das vorzugsweis festliche Ereigniss des Jahres. In einer Juninacht feiert man im Freien: es ist die geheimnissvolle Nacht, da nach alter Sage ein Tropfen vom Himmel in den Nil fällt; dieser wunderbare Tropfen schwellt seine Wasser, und wenn nun Alles überfluthet, alsdann schmückt sich das Volk, und jauchzend schaukelt es in zahllosen Nachen auf dem retten- den Element. Sie sehen, wie der Aegypter dazu kam, sich vor der Naturmacht zu beugen: im Unendlichen — inmitten des schroffsten Gegensatzes von Leben und Tod — war es diese, was ihm die Gewissheit des Be- stehens verlieh. Es ist dieser einfache Process seines Landes — in bestimmten und zugleich überwältigenden Zügen alljährlich wieder- kehrend, worin er sich überhaupt erhalten musste. Doch — indem — 131 — hier die Natur das menschliche Leben sicherte und pflegte, heischte sie auch reges selbstthätiges Eingreifen. Gegen Hitze und Wassers- gewalt bedurfte es einer festen Wohnung, und da letzteres auf die höheren Thalstellen zusammendrängte, ward ein enger Zusammenschluss in Städten geboten. Für den weiteren Verkehr, zu dem die Thal- bildung einlud, erzwang wieder die Ueberschwemmung künstliche Mittel: Kähne mussten die Wasser bedecken, Damm- und Wegbauten das Land durchziehen. Auf die Zeit der Dürre und Hochwasser be- durfte man grösserer Vorräthe, und Ackerbau war so die erste Auf- gabe. Die jährliche Verschwemmung der Feldmarken bedingte aber mathematische Künste, und endlich führte Erfahrung und unmittel- barstes Interesse zu einem System von Kanal- und Dammbauten, das die befruchtenden Wasser möglichst auch an die höheren Orte bringen, überall gehörig festhalten und wieder ableiten, und andrer- seits die tieferen Gegenden vor Versumpfung bewahren sollte. Zu alle dem musste aber der Aegypter das wechselnde Niveau des Landes und seiner Wasser und — in Beachtung der Gestirne und ihrer Kon- stellationen — die Perioden und Umgänge des Jahrs kennen lernen. Endlich konnte menschliches Leben unter solchen Verhältnissen nicht bestehen ohne rechtliche Organisation der Gesellschaft in geordneten Staatszuständen. So hat denn Aegypten mit all dem reichen Segen — der schmei- chelnden Pracht, worein sie den Menschen gebettet, doch ein schlaffes Hinvegetiren verwehrt. Was ihn in die Verehrung der Natur beugte, gerade das stiess ihn — fortwährend erregend — spannend — stachelnd — auch hinaus aus ihrem Schoosse und legte seinem Leben das Ge- setz einer höheren Kultur auf. Mit der völligen Hingabe musste sich verknüpfen eine aufrechte Krafi — ein Drang zur That, und wenn irgend — musste hier die Menschheit sehr frühe gelangen zu einer — wenn auch im Naturzweck feststehenden — doch immerhin gross- artigen Lebenskultur. Die Pyramidenfelder bezeugen denn auch hoch hinauf in’s 3. Jahrtausend vor Christus bereits eine gewisse Vollen- dung. Dass aber so Aegypten eine der ältesten Kulturstätten der Erde, gibt wiederum ein schneidendes Kehrbild zum übrigen Afrika, und nur das Eine mildert: wie in der Landschaft — so wird doch auch in der ägyptischen Kultur ein Zug wieder erinnern an das Un- bewegte — Kompakte und Geschlossene des gesammten Welttheils — dieses ungeheuern Länderkolosses, der in seinem formlosen verbrannten Dasein von der Strömung menschlicher Kultur auf ewig ausgeschlossen zu sein scheint. — 132 — Treten wir nun näher. Auf dem sammtnen Teppich der Nil- ebene, über den die Natur neidlos ihren Segen gebreitet, erheben sich geschaart um Tempel und Paläste volkreiche Städte voll bunten Le- bens. Selbst dem Wandrer unsrer späten vorgeschrittnen Zeit, der durch ihre nunmehr gefallene Grösse dahingeht, nöthigt der Bilder- schmuck ihrer Trümmerwände noch immer Bewunderung ab: er zaubert ihm — in den lebendigsten Farben prangend — ein Gemälde mensch- licher Kultur vor, worin er sich auf dem Grabesmoder der Jahrtau- sende vergisst. Er sieht die Menschen sich rühren in allen Zweigen des Besitzes — der Arbeit — des Verkehrs; Ackerbau und Viehzucht — Jagd und Fischfang — Handel und Gewerbe breiten seinem Aug ein blühendes Bild; er sieht den Baumeister und Steinmetzen — den Holzarbeiter und Töpfer — den Bildhauer und Maler — den Schmid und Schmuckarbeiter — den Weber und Schuster; er sieht. sie alle mit ihren Geräthen in ihrer Arbeit. Das Haus des Aegypters hebt sich leicht in seinen Stockwerken, Gallerieen, Terrassen; weiterhin prangen Landhäuser zwischen Hainen mit schattigen Laubgängen — mit säuberlichen Blumenbeeten — mit zierlichen Pavillons — mit ge- räumigen Wasserbecken. In den Strassen aber drängen sich rauschen- der Begegnung Fussgänger jedes Alters — Geschlechts — Berufs zwi- schen Ross und Wagen — zwischen Sänften und Tragsessel. Auf den Wassern endlich schaukeln verzierte Gondeln heitere Gesellschaft, die unter Sonnenschirmen mit Wedel und Fächer in den weichen glän- zenden Lüften dahinzieht. Man liebte eine gewisse Pracht des Auf- zugs: der Mann in blanker Rüstung — umgeben von einer bunten Dienerschaft; um die Frauen aber das Volk der Zofen — nämlich be- schäftigt, zu baden und zu salben, vor Metallspiegeln die Haare zu schlingen, und Ohrgehänge und Halsketten — Ringe und Armspangen — vor allem aber die reichen enganliegenden Sehlepp- und Falten- gewänder zu ordnen. Im Saal des Hauses verkehren sie nın — Männer und Frauen; weisse und schwarze Sklaven bringen Rauch- werk und Blumengewinde: in kostbaren Gefässen tragen sie auf Ge- müse — Geflügel — Kuchen; dazu Trauben — Datteln — u. s. w., was in zierlichen Schalen und Körbchen den Tisch bedeckt. Im Uebrigen versüssen Künstler und Künstlerinnen das Mahl mit allerhand Spiel — mit Harfe und Zither — mit Leier und Flöte — mit Klapper und Tamburin — mit Gesang und Tanz — mit Händeklatschen und wun- derbaren Stellungen und Geberden. Indess bleibt auch die Gesell- schaft nicht so ganz ruhig auf die Polster gelagert: der Mundschenk verwaltet sein Amt, und der Wein jagt das ohnehin heisse Blut des — 13 — Afrikaners. Man bot sich ein Mumienbild mit kräftigem Zuspruch: „Schau und sei lustig und trink, denn einst wirst du wie Dieser sein! — Dass es aber mit dem Gebote der Mässigkeit öfters ver- sehen wurde, zeigen eben jene Wandbilder: da rächt sich gewaltsam Uebermass; dort ist Dienerschaft verdächtig bemüht, und gerne kehren wir uns ab zu Darstellungen, die den Aegypter sich noch ergötzen lassen am Brett- und Fingerspiel, am Ball und Scheibenschiessen, an Schiffer- und Ringerkünsten und wiederum lustwandelnd unter den Palmen seiner Heimath. Also auch hier der ganze Segen der Natur: an der vollen güld- nen Schale hängt der Mensch in vollen kräftigen Zügen. Allein auch der dunkle Rahmen kommt drüber her. In wenigen scharfen Linien — mit einer Art mathematischen Zuschnitts in Bau und Fügung ihrer Formen — bot hier die Natur doch wieder nur ein ernstes Bild. In gebundnem Kreislauf stets dieselben mächtigen Erscheinungen vorüber- führend — mahnte sie den Aegypter in jenem Ueppigen und Bunten an ein strenges Mass, an eine feste Norm, an eine wohlgegliederte geschlossene Ordnung. Das Getriebe jener Kultur — die Wogen dieses ihres Genusses sollten sich fügen einer genauen Regel, die unver- rückbar und unablässig wirke wie das Gesetz der Natur. Verhäng- nissvoll aber war gerade jene Kultur, wie sie gleich im Anfang von selbst gegeben war, eine vorzugsweise bauende, messende, berech nende. Demgemäss wird jetzt überhaupt nach Lineal und Winkel mass zugeschnitten, und in allem und jedem sehen wir nun den Aegypter als diesen berechneten, abgewogenen, ausgemessenen, be schnittenen und wohlabgezirkelten Menschen, der mit der glatten, ge- schlossenen Miene der scharfgeschlitzten Mund- und Augenwinkel feierlichen Anstands den Nilmesser in der Hand hält und jener aus- tiftelnden raffinirten Verständigkeit nachtrachtet, wie sie sich ausspricht im Volksmärchen vom Schatzhause des Rhampsinit. Jeder Aegypter gehörte mit einem viereckigen Stück Land einem bestimmten Bezirk, aus dem er nur heraus konnte durch förmlichen Loskauf. So einbezirkt und festgenagelt trieb er den ihm zugefallenen Kulturzweig mit der Pedanterie eines Staatsamts: Nicht nur Ackerbau und Viehzucht ward nach Vorschrift unter Aufsehern besorgt, auch der Handwerker arbeitet streng nach seiner Schablone, der Schneider hat seinen Schnitt, der Koch seine bei aller Komplieirtheit genau fixirte Küchenregel; selbst dem Baumeister ist sein Riss vorgezeichnet, und ebenso meisselt der Bildhauer unabänderlich nach demselben her- gebrachten Kanon. Wie aber das Gesinde sich abschied in Träger — 14 — des Sonnenschirms — Träger des Wedels zur Rechten — Träger des Wedels zur Linken — in Schreiber — Vorsteher und Schaffner des Hauses — der Gärten und Güter — der Heerden u. s. f. und Jeder von diesen stets nur Eines trieb, — so lag auch dem Aegypter selbst immer nur Ein und Dasselbige ob — nämlich bei Strafe genau das, was schon sein Vater und seit unvordenklich all seine Vorfahren getrieben. Was in einfachen Verhältnissen zu sein pflegt, dass der Sohn in Stellung des Va- ters hineinwächst, ward hier in entwickelten Zuständen Regel ohne Aus- nahme: man brachte sein Amt mit auf die Welt und vererbte es auf Kind und Kindeskinder; ja es finden sich Anzeichen von Ehbeschränkung. Wir hätten so das Eigenthümliche, dass hier die Gesellschaft ohne die nationellen Gegensätze Indiens in förmlichen Kasten lebte, die so pfeilgerade und scharfgeschnitten neben- und übereinander liefen, wie die Schichten der Pyramide. Allein es genügte noch nicht, in dieses Polizeisystem ein- geschachtelt die Fussstapfen seines Geschlechts auszutreten im engen schon seit Jahrhunderten fertigen Geleise; auch für's Indi- viduellste bedurfte man der Regel. Vorweg sollte Alles und Jedes ein- für alle-mal seine Zeit haben; der Gleichtakt des Pendels sollte das Leben regieren: das Leben sollte verlaufen in dieser steti- gen Ordnung, wie am Himmel die Gestirne ihre Bahnen dahinziehen. Früh hatte man Tag und Nacht je zu 12 Stunden, die Woche zu 10 Tagen, den Monat zu 3 Wochen, das Jahr zu 12 Monat und 5 Schalttagen getheilt, letzteres gezählt von der Ueberschwemmungszeit, unsrem 20. Juli, und durch Cyklen ausgeglichen mit dem Mondjahr und dem richtigen astronomischen. Dieser Kalender regulirte nun alles — selbst das Gleichgiltige, so dass auch Schlafen, Spazierengehen und derlei nach dem allgemeinen Stundenplan erfolgte. Nur Eins brachte Leben: Die Unterscheidung der Glücks- und Unglücksstunde, der guten und schlimmen Zeichen am Himmel: wie der Stand des Letzteren bei der Geburt das ganze Lebensschicksal hestimmte, so hing überhaupt der Ausgang jeglichen Dings in den Sternen. Jede Stunde ging die Sonne durch eine Pforte; in jedem Stundenfeld, für jeden Tag, Woche, Monat schürzte ein besonderer Gott den Knoten des Geschicks. Indess — auch dies Astrologische war längst zum vor- aus im Kalender; wir finden Reste von Sterntafeln, wo es heisst: Erste Stunde — Orion wirkt auf den linken Arm; zweite Stunde — Sirius auf’s Herz; dritte Stunde — beide auf’s linke Ohr, u. s. w. So war denn auch das Flüchtige des Moments fixirt; der Aegypter wusste alles genau, und der Zufall hatte in seinem Leben so wenig — 1235 — eine Stelle als die Willkür. Bezeichnend ist hier aber: ein Gesetz achtete derselbe nur in dem, was für ihn mathematisch wirklich fixirbar war; nach Planeten, Kometen, Meteoren frug er nicht, sein Blick hing an diesem unverrückbar stetigen Fixsternhimmel, der gemessen über seinem Scheitel dahinglitt. Allein zur Vervollständigung der Maschine mussten nun auch die be- weglichen Gegenstände einem Schematismus unterworfen sein. Wir sehen Fahrniss, Getreidesäcke, Heerden, Jagd- und Kriegsbeute u. s. w. an Ort und Stelle sortiren, zählen, aufnehmen; auch über Verbrauch und Aus- gaben wurde säuberlichst gebucht, und an der grossen Pyramide stand richtig verzeichnet, was die zahllosen Werkleute während ihres Baus an Rettigen, Zwiebeln und Knoblauch verzehrt; alles sollte nun einmal speeifieirt, numerirt, notirt, registrirt und protokollirt sein. Mit dieser Präcision war auch das Rechtliche entwickelt in Erbgesetzen, Mass- und Gewichtsbestimmungen, Taxen. und Werthansätzen, Marktregeln, Schuld- und Wuchergesetzen und endlich in einem raffinirten Steuer- system; nichts Wichtiges wurde ohne Kontrakt und Zeugenunterschrif- ten, kein Streit vor Gericht ohne schriftliche Klage, Replik, Duplik, und Quadruplik zum Austrag gebracht. Dieser Geist, der die Schreib- feder hinterm Ohr zum Symbol aller Weisheit und Gerechtigkeit erhob, hatte aber sofort seinen gewöhnlichen Begleiter: er verkümmerte den Genuss der Kultur, die er entfalten half; er führte zur Ascese. Doch ist wohlthätig, dass sie noch nichts Zerfressenes zeigt; nur als fromme Entsagung tritt sie auf. Gegen den Genuss steht ein System von Reinigungs-, Fasten- und Kleidervorschriften, verknüpft mit einem System von Gebeten, Opfern, Bussen und Gebräuchen, und anlehnend an ein einfaches Moralgesetz, das 75 Sünden und ihre Strafen auf- zählt. Auch das Gesellige hatte jetzt sein feierliches Ceremoniell. Waren dann letztlich die Jahre, welche die Götter zugezählt, abge- laufen, so ward der Aegypter vorschriftsmäss bestattet, und erhielt in’s Grab eine Beschreibung des Jenseits mit Anweisung, wie er sich daselbst zu benehmen habe. Auch dieses Letzte sollte normirt sein. Endlich erstarrt uns aber auch im Innersten die geistige Kraft, die sich in dieser Kulturverfassung ausspricht. Diese ganze Weisheit war abgeschlossen und im Tempel niedergelegt in einem strenggeordneten Kanon von 42 Büchern, Bezeichnend ist aber gerade Schrift und Sprache. Der Aegypter war nicht etwa von Natur der kalte gesteifte Pedant; im Kern dieser polirten Granitgestalt sprühte die üppige geflügelte Phantasie des Südländers, und das geistige Leben ist noch ganz Bild und volles Wogen im Bild. Allein der Ausdruck schnürt — 136 — sich zusammen in gedrungene springende Sätze, ja ein gut Theil Beredtsamkeit des Aegypters ist strenges feierliches Schweigen, — oder aber geht jener Fluss dahin in gebundener Wiederholung desselbigen so stetig, wie im Spiegel des Nil Welle um Welle. Aber weiter, dieses Mannigfaltige und Bewegliche sollte überhaupt schlechthin fixirt sein; es verfestigt sich im Stein. Auf’s Ausdrücklichste und Dauer- hafteste wurde der innere Bilderstrom mittelst Malerei und Skulptur zum Stehen gebracht und verzeichnet; nichts sollte ungebunden blei- ben, es wirft alsbald seinen Schatten an die Wand, uud Meisel und Pinsel sind geschäftig, es in linirten Feldern und Reihen zu binden, Bekanntlich hat diese Sucht, die den ägyptischen Künstler im Thier- stück, im Genre und im historischen Bilde sich mit gesundem Realis- mus und immerhin mit einer gewissen Virtuosität bewegen lässt, — an den Wänden der Bauten jenen prangenden Teppich des Lebens aufgehängt, dessen wimmelnde Welt wir lediglich im Worte über- setzen. Allein etwas Eigenthümliches ereignet sich hier. Es handelte sich doch wieder nicht um’s Bild, sondern diese Relief- und Silhouetten- streifen sind jetzt bloses Mittel gewesen — blose Schrift, und als ein- fache Wort- und Satzreihen ohne künstlerische Rücksicht schreiber- mässig konstruirt; Abbreviaturen und Zeichen für sprachliche Form und Fügung ziehen hindurch, und während nun Ein Bild wirklich sagt, was es darstellt, ein Andres aber Symbol einer Vorstellungs- folge ist, erstarren eine Menge Bilder zu an sich leeren Lautzeichen, sind nichts mehr als die beliebig verwendbaren Buchstaben, mit wel- chen zufällig je das Sprachwort des abgebildeten Gegenstandes an- fängt. So entstanden die Hieroglyphen, und weitere Abbreviatur, Zeichenbildung und Ründung schuf aus diesen auch die handlicheren Schriftarten. Der Aegypter ward so gepriesen als der Schrifterfinder der Welt. Der Kıystallisationspunkt, worin sich dieser ganze Kulturbau konstruirte, lag nun aber in Einem aus den unendlich Vielen, und bezeichnend finden Sie nur in diesem Einen das, was immer und überall das Volk allein so recht aus den eigensten Wurzeln heraus als eine freie Gesellschaft organisirt, — nämlich eine geschlossene in Monogamie und Grundbesitz konsolidirte Familien- und Eigenthums- welt; nur dieser Eine zunächst hatte blos Eine rechtmässige Gattin und Kindernachfolge, nur dieser Eine war wirklich Grundbesitzer, so dass alle Uebrigen nur seine Pächter waren. Es ist der Pharao, ein König von Gottes Gnaden. Wie die scharfe Spitze der Pyramide in der dunklen wehenden Bläue, so thront der über dem werthlos Un- — 1397 — gezählten der Menge in einsam feierlicher Höhe und hält in steilen’ Kanten und Flächen den Boden, die Grundfeste der Welt. In diesem straffen Zusammenschluss wusste sich nun Aegypten geheiligt und auserwählt, schloss sich ab gegen alles Fremde, und hielt sich unter den gewaltigsten Stürmen Jahrtausende hindurch mit einer fast bei- spiellosen Zähigkeit. Nicht blos landschaftlich schnitt es sich scharf aus der übrigen Welt, und unwillkürlich gedenken wir eben der streng und geheimnissvoll geschlossenen Pyramidengebilde, die noch immer, wenn auch mit gebrochener Krone, ihre Häupter heben, an denen noch jetzt der Wandrer scheu vorüberzieht. Aber noch mehr, in dieser un- bewegten Spitze des Pharao wusste der Aegypter geradezu das wirk- lich geworden, worin er überhaupt als Mensch seine innerste Garantie, seine Versöhnung und Vollendung, seine Einheit mit Gott besitzt; in ihr ist ihm die Welt in die Glorie der Gottheit getaucht; im Pharao ist ihm die Menschheit Gott geworden. Auf dass die Welt und in ihr der Mensch lebe und daure, lässt der Pharao sein Antlitz leuchten; er ist der Mächtige, Weise, Gerechte, der lebt wie die Sonne, er ist der ewiglebende himmelentsprossene Herr der Welt, der grosse Horus, der das Leben gibt und nimmt, er ist der gute gnädige Gott, er ist die Sonne; aus dem geschlossenen Grunde seines göttlichen Wesens empfängt, wie die Natur, so die Menschenwelt bis in’s Einzelnste ihren Impuls, ihre Regel, ihren Zweck, und indem sich der Aegypter in jenen Kulturrahmen spannt, geschieht es eben in der Andacht, mit der er, den ewigen Mächten huldigend, seinem Pharao zu Füssen sinkt. Allein zahlte nicht auch dieser Pharao der menschlichen Hinfälligkeit seinen Tribut, und sprach nicht ein Inner- stes von einer Zeit, da jener strenge Kulturbau sich aufschliesst und zerfällt? So war also von da der Aegypter noch auf ein Weiteres gewiesen, und auch hier, wie in der Landschaft, auf ein Unendliches. Der Pharao ist kein orientalischer Despot, — noch weniger Einer der souverainen Herren, die, während sie das Volk jeden Augenblick zur Ordnung rufen, selbst kein Gesetz kennen. Vorweg stand auch er unter all den heiligen Normen des Volkslebens; ja gerade in ihm als dem Schlusspunkte zeigten diese ihre abschreckendste Härte, und sein Leben war um so herber, als er höher stand denn der gemeine Mann. Demüthig also nimmt er jene Vergötterung auf sich: indem er über das Mass des Endlichen hinausgehoben mit der Majestät der Gottheit bekleidet ist, ward ihm nur eine dieser Höhe gemässe Auf- gabe, und vor dieser beugt er sich, indem er Opfer und Gebete seinen Vorfahren und seinem eignen Genius darbringt. Zugleich lebt aber — 133 — in ihm mit der gesammelten Kraft Aegyptens auch allmächtig der Drang zur That, der hineinreisst in diese Aufgabe und jener Demuth den Muth gesellt. Es ist aber klar: der Pharao war nur Organ; er ist ein Arm, der ausholt, — der zündende Punkt, in dem überhaupt für Aegypten ein Weiteres, ein neues Leben anbricht. Das Weitere ist aber, dass in ihm als jenem Gotte Uebermenschliches d. h. nun auch wirklich Göttliches vollbracht werde. Sollte die Vollendungs- glorie der Gottheit wahrhaft über Aegypten leuchten, so mussten im Pharao erst Thaten geschehen und zwar Thaten in Gotteskraft. Darin ist jetzt vielmehr das Letzte für den Aegypter. Seit Ende des 3. Jahrtausends wirft sich Aegypten über seine Ufer in wilder Kriegsjagd in alle Länder umher; zunächst nur so tritt es überhaupt in die Welt. Es galt, den König an der Spitze — auszuziehen in übermenschlicher Zahl und Rüstung, die Völker und Fürsten der unreinen Erde niederzuwerfen in heiligem Kriege, sie jähen Anlaufs zu züchtigen und zu schrecken, zu durchbohren und zu zersprengen, zu zerschmettern und zu zertreten; darnach aber durch Denkzeichen und tiefgegrabene Felsenschrift die That leben und reden zu machen umher an den Enden der Welt und hinab bis zu den fernsten Geschlechtern. Die Macht und der Schrecken Aegyptens ver- kündete sich laut in Nubien und Aethiopien, in Arabien und Syrien, in Mesopotamien und Kleinasien, ja selbst hinüber in’s alte Hellas, dessen Epiker bekanntlich von Kindern der Morgenröthe, von wimmeln- den Schaaren berichten, die von Sonnenaufgang heranziehen, während Spätere von Zügen fabeln durch halb Afrika, Asien und Europa. Allein werden diese Thaten nicht doch endlich verklingen bei den Verkehrten und jene Zeichen ihren frevlen Händen zum Opfer fallen ? — So genügt dieses noch nicht. In der geweihten Heimath gilt es nunmehr, Werke des Friedens zu vollbringen, aber Werke, die von den Schauern des Unendlichen, von der dunklen Majestät der göttlichen Mächte redeten. Aegypten sollte sich in kolossalen auf Ewigkeit berechneten Zügen hier in Aegypten selbst verkünden. Greifbare Monumente sollte der Pharao hinstellen, in denen die Raumschranke verschwände, an denen der Zahn der Zeit ewig spurlos abglitte.e Mit dem Bau des Aegypterthums wird es also jetzt ein wörtlicher Ernst. Ich fasse mich kurz: bin ich recht berichtet, so sind Sie ja in diese Seite des Aegyptischen bereits ein- mal eingeführt worden. Sie erinnern sich des berühmten Reichs- tempels zu Theben. Indem der ägyptische Tempel sein Allerheiligstes in einer verborgenen kleinen dunkeln nur dem Priester offenen Celle — 139 — besitzt, die im Ganzen völlig verschwindet, und so eigentlich nur besteht aus aufnehmenden, vorbereitenden, annähernden und ewig er- wartungspannenden Baugliedern, öffnet er uns unwillkürlich eine endlose Perspective; an der langen Wallfahrtszeile spinnt unsere Phan- tasie, aufgeregt durch den Wechsel der Gestalten, der uns weiter und weiter treibt, indem er doch immer wieder das Erste vor's Auge stellt: wir wölben Thor um Thor, legen Schwelle um Schwelle, thürmen Saal um Saal, — alles in's Unbestimmte, und zuletzt sind wir verwirrt; es schwindelt uns: wir fühlen uns wirklich im Un- endlichen. Dazu das Kolossale: innerhalb des strengsten Masses ent- faltet sich um so wirksamer eine masslose wilde bunte Welt; das Mass selbst steigt in’s Unermessliche, und endlich alles Mass aus den Fugen treibend, überwuchernd und erdrückend hebt sich steil und massig das Ungeheuer, das Ungeheure aus dem Gemessenen finster erhaben. Zugleich wirkt neben dem Reichthum an Formen, Skulp- turen, Malereien, der Stein selbst: der rothe oder schwarze Granit, der bunte Sandstein, der blendende Marmor, — alles hart und blank, breit und massig, prall und scharfgeschnitten, Monolithen und ge- waltige Felsquader, — starr und für die Ewigkeit gefügt: das dauer- hafteste Material war immer das gesuchteste, und sehr oft gab man den Flächen noch den Schliff; man polirte das Monument: nichts sollte es anzugreifen vermögen. Bezeichnend ist sodann die schräge Neigung der Aussenwände: festungsartig rammt sich der Bau in den Boden der Erde. Vor allem aber spricht eben jene Vorliebe für Monolithen und ungeheure Werkstücke: Sphingen, Kolossalstatuen, Obelisken, Säulen, Wände, Pfeiler, Decken, ja selbst ganze Tempel- häuser wurden je aus Einem Felsblock gemeisselt; ja in gewaltiger Ausdehnung ward geradezu der natürliche gewachsene Fels an Ort und Stelle einfach ausgearbeitet, — ganze Berge ausgehöhlt, be- meisselt, bemalt, beinschriftet. Erinnern Sie sich hier der Todten- stadt Thebens: in Terrassen, Treppen, Stockwerken und Gallerieen, in Einfahrten und Portalen, in Stollen, Gängen und Schachten, in Hallen, Sälen und Kammern — ein wahres Labyrinth 2 Stunden im Gebirge dahin, — und das einzelne Grab selbst wirkt ganz wie jene Tempelanlage, unterstützt zugleich von der Nacht des Unter- irdischen. Sehen wir aber auf die Todtenstadt von Memphis: indem die Pyramide, an sich schon ein Ungethüm, hoch in den Lüften zur Spitze zusammenläuft, ist zwar hier ein Schluss; allein von da ab gleichmässig in die Breite gehend, stösst sie steil und vermittlungslos ihre Kanten und Flächen in den Boden der Erde; so aber sinkt — 1410 ° — der Todte in ihrem Kern hinunter in die unendliche Tiefe und zwingt sich der Vorstellung das Unermessliche des Erdballs auf. Ich fasse zusammen. Es ist nicht zu ermessen, wie Aegypten aussah im Be- ginne der Zeiten. Pharaonen haben den Nil abgedämmt, grosse Ka- näle und Bassins gegraben, an einer Wasserstrasse zwischen dem Nil — beziehungsweise mittelländischem und rothem Meere gearbeitet, Ländereien der Wüste abgewonnen, Dämme aufgeworfen, Städte er- richtet, — aus Stadt und Au hob sich der Wald der Riesenmonu- mente, — Felswände zu Todtenstädten ausgehöhlt, in ungeheuren Steinbrüchen ganze Berge abgetragen und versetzt, und wo ehe alles flach war, erhoben sich in den Pyramiden neue künstliche Berge. Ist’s nicht, als sollte das Land selbst zum Monument umgeschaffen werden? — Nachdem Amenemha III. seine Wasserwerke vollendet, erbaute er dabei einen Palast mit Tempeln für alle Götter und so- viel besondern Palästen, als Aegypten Bezirke hatte; es war Ein grosses Festhaus für's gesammte Reich, Volk und Götterthum; es ist das Labyrinth, eins der Weltwunder. Aegypten ist nunmehr das grossartigste Trümmerfeld der Erde. — Wie war es damals, wie überhaupt möglich, so zu bauen? — Vielleicht möchte man auf De- spotismus hinweisen. Allein wo der despotische Zweck? — voran stehen Tempel; und ihre breiten langen Terrassen, Auffahrten, Propy- läen, ihre gewaltigen Höfe und Hallen bekunden, dass hier der Geist eines grossen Volks aufrecht aus- und eingeht und seine Verherr- lichung gefunden hat; sodann folgen Werke, die um ihren Zweck befragt ja unmittelbar aufs Gesammtwohl zeigen. So aber können wir dem Despotismus auch als blosem Mittel nur eine Nebenrolle zugestehen. Diese spielt er freilich: Tausende gibt der Pharao dahin in menschenlosen Frohnen; die letzte Faser des Aegypters zerschindet am Granit, der letzte Blutstropfen wird kalt an diese Steinwelt ver- spritzt; die Ueberlast mochte dem Manne mit der schwieligen Hand zuweilen hart dünken, und in Augenblicken des Zusammenbrechens mochte der Schrei des Schmerzes und Verbarmens im verbrannten Gesicht aufzucken, so dass denn wirklich über manchem Bau ein schwarzer Schatten lag. Allein im Ganzen brachte diese Opfer das Volk nur aus sich selbst; der Despot handelte mindestens volksthüm- lich und kraft des Schwungs, der Jeden ihm zuführte, wie er denn auch im Grunde ja nur dem Geiste dieser Nation diente. Gerade am kolossalsten und unablässigsten ward ja auch gebaut, da überhaupt das Leben dieses Volks im Safte stand. Es war nun einmal so, dass jede Spannung in dieses Bauen auslief; die gesammte Kultur folgte — 141 — überhaupt diesem Zuge, sich zum Monument hinzustellen; der Geist ist ganz auf diese Aeusserlichkeit hingetrieben. Nach den Inschriften galt es darin, sich reden und leben zu machen. Und wirklich, noch legt ja im Nilthale sowohl das oberweltliche Reich der Lebenden, was im Sonnenbrand erglänzt, als das Felsenhöhlenreich der Todten bei Fackelschein lautredendes Zeugniss ab vom Leben des Aegypters, — noch ist ja dieses Land das Monument, in dessen Trümmern der Geist des alten Aegyptens fort und fort aus dem Tode zum Leben ersteht und lebendig zum Reiche der Lebenden spricht. Indess jenes „Reden und Leben“ hatte der Aegypter selbst doch ganz anders verstanden: er wollte nicht, dass diese Welt in Trümmer bräche, — es war ihm unerträglich zu ahnen, dass doch auch hier gegen das Unendliche alles klein sei und hinfällig. So aber ward er abermals weiter ge- wiesen. Aber wohin noch? — Pharaonenthaten sollten das Letzte sein; sie sollten ihm zur greifbaren Gegenwart des Unendlichen der Gott- heit verhelfen: allein zu kühn! — Die Aufgabe ist nicht gelöst. Das Letzte ist aber so doch vielmehr das, was das Erste war: wenn die Kriegsfurie ausgetobt, — wenn endlich das Monument ruhig sein Haupt in die Lüfte hob, galt es zurückzukehren in jenen, Kultur- rahmen und einfach jene Gebote zu üben, in denen ihm das Gewöhn- liche verzeichnet war: in diesen festen Ufern war ja das Gesuchte längst gefunden; in diesem frommen Dienste durfte er seiner Einheit mit Gott gewiss sein. Hier trug ja wirklich alles jenen Stempel des Unendlichen. Indem selbst das Kleinste und Aeusserlichste in die all- gemeine bleibende Ordnung aufgenommen und selbst das Zufälligste und Gleichgiltigste in ihr schon im Beginne der Zeiten für immer vorgesehen war, — besass hier alles eine unendliche Bedeutung; ewig in derselben ausgemessnen Bahn, worin es weder Lücken noch Ueberschuss, weder Stillstand noch Eklipsen gab, fristete sich dieses längst bekannte Leben, gliederte sich diese längst bekannte Welt. Es bleibt also dabei: in jener Kulturverfassung, zusammengebunden in diese unverrückte Spitze des Pharao, ist die Menschheit hinaus über die Endlichkeit, über dieses Nichtige und Beirrende der Natur, und mit Recht bekleidet sie sich darin mit der Vollendungsglorie der Gottheit. Allein, war es denn wirklich eine blose Irrung, was den Aegypter schon einmal von da unbefriedigt hinauswarf in’s fessellose Kriegsleben und von diesem wieder fortriss ins Bauen ? — Erinnern wir uns! — war es nicht vielmehr der bittre Ernst der Wahrheit, dass er auch an dieser Stelle sterblich sei? — Wir sehen tiefer: diese — 142 — Rückkehr zum Anfang ist nur das Zeichen gewesen, dass nunmehr überhaupt der ganze Kreislauf von Neuem beginnt. Dieser Kreislauf! — Im Mittelpunkte der ganze Segen und Ge- nuss der Natur; allein ein Unendliches hat eben im Centrum das Leben aufgescheucht und baut steil und massig um diese weiche prangende Mitte eine dunkle wilde wunderbare Welt. Im geschlossenen Ringe dieser treibt es nun den Geist unablässig: jenes Unendlichen will er habhaft werden, aber vergeblich. So aber kommt es auch hier wie im Landschaftsbild zum vollen Gegensatz: das Letzte ist für den Aegypter in jenem Kreislauf nicht zu finden; so ist es überhaupt nicht im Leben; es liegt hinaus; es ist die Kehrseite des Lebens; es ist der Tod. Die Vollendung weiss jetzt der Aegypter überhaupt im Tod; dieser ist das Letzte, wahrhaft das Letzte, wie er es äusserlich ist. War es dies, was übher's Aegypterthum jenen geheimnissvollen Isisschleier geworfen? — Wir wollen’s nicht untersuchen; dagegen fragt sich billig jetzt, da wir am Ende sind: was eigentlich lässt hier den Strom des Lebens also anschwellen und über seine Ufer stürzen in’s wüste Kriegsgetös ? — was lässt ihn sodann die Erde aufwühlen und ihr Felseneingeweide zum Monument emporwerfen ? — was engt ihn zuletzt wieder in den festen Rahmen seiner Ufer und lässt ihn endlich schwinden unter das Bahrtuch des Todes? — Es ist auch ein Tropfen, der vom Himmel fällt; Sie fühlen wohl: hier ist Religion die Eine grosse Lebensmacht, und nicht umsonst finden wir jetzt als unmittelbarsten Genossen jenes Pharao — theilnehmend an allem, was diesen zum Könige zeichnet, obwohl selbst ihm zu Füssen liegend — den Priester. Diese Religion kennen wir nun aber schon von Einer Seite: dieses Leben des Aegypters war sein Dienst gegen die Gott- heit; es fragt sich also nur noch: was war ihm Gott selbst? — wo- rin erschien ihm überhaupt Göttliches? — Allein wir müssen sogleich anders fragen. Sie wissen ja alle recht gut, dass es sich hier überall um Gott selbst nicht handelt, sondern einzig um das, worin der Mensch nun einmal seine Garantie und Versöhnung erblickt; dieses Höchste seiner selbst, dies sein eigenmenschliches Wesen und Vollen- dungsziel nennt er Gott. Zum Beispiel: stellt er sich Gott als thie- risch missbildeten Götzen vor, so heisst das eben: der Begriff seiner selbst als freier geistiger Persönlichkeit ist ihm noch ein Buch mit 7 Siegeln; denkt er sich sodann Gott zwar als Schöpfer und Herrn der Welt, aber noch als äusserliche dnnkelüberragende Macht, so heisst diess: das höhere Selbstbewusstsein ist ihm zwar aufgegangen, und der freie Geist ist's nun, worin er seine Vollendung anstrebt, — — 13 — allein er ringt noch mit einseitiger unwahrer Auffassung desselben, und ist so noch in den endlichen Gegensatz verstrickt. Nach dieser allgemeinsten Verständigung fragen wir also richtiger: was war der Aegypter sich selbst in. Gott? — worin erschien ihm seine, nämlich überhaupt des Menschen Einheit mit Gott und Vollendung in Gott? — Dies führt uns zunächst in den Orient. Die geistige Bewegung läuft dort aus in den Gegensatz des Juden- und Heidenthums, nämlich — der zwei Formen der semitischen Kultur. Dort im Jüdischen ist jenes höhere Selbstbewusstsein. Gott ist als heiliger Wille der Schöpfer und Herr der Welt; in dieser Freiheit erblickt hier der Mensch sein Höchstes und Letztes. Allein dieser Gott ist als unmittelbar fertige äusserliche Macht, die räumlich und zeitlich vor und über der Welt steht, doch wieder nichts weniger als schon wahrhaft freier Geist, sondern nur eine zweite Natur, der gegenüber die diesseitig gegenwärtige als Schranke steht, und wie- derum selbst bedroht ist. Im Donner des Sinai verkündet dieser Gott seine Majestät, als Wolken- und Feuersäule wandelt er vor sei- nem Volk, und wie er die Welt schafft, so stösst er Sie auch wieder vor sich her und durchbricht sie im Wunder. Indess, wir wissen ja, das Wunder hat seine Grenze, und so ist überhaupt diese Frei- heit keine: sie leidet an der falschen Erhabenheit. Die Freiheit ist nichts, was von aussen in die Welt einbricht und fertig vom Himmel springt; sie gehört von Anfang der Welt, ist ein Kind dieser Welt und immerhin der feste Boden der Natur ist's, worauf sie stemmt. Das Judenthum fühlte auch diese Schranke, daher sein Harren auf einen Messias. Allein auch darin der Fluch der falschen Erhabenheit: als König sollte dieser Messias einherkommen. Der Mensch begreift es noch nicht, dass Freiheit nun einmal überhaupt nichts unmittelbar Fertiges ist, sondern in der Welt ein Sittliches, ein Kampf, eine Errungenschaft; nicht auf dem Throne erscheint sie, in der Hütte des Armen vielmehr wird sie geboren, nicht im Königspurpur tritt sie einher, vielmehr in Knechtsgestalt muss sie auf der Erde wandeln. Dem gegenüber stellte sich nun der heidnische Semite ganz auf den Boden der Natur. Gott ist in und aus der Welt, und die Welt sein Leib und Leben; Gott ist dieses unendlich Mannigfaltige und Be- wegte, dieser Gegensatz des Männlichen und Weiblichen, dieser Geschlechtsprocess der Pflanzen und Thiere, dieser Wechsel von Lust und Schmerz, von Kommen und Gehen, von Wachen und Schlafen, von Hinsterben und Wiederaufleben u. s. w. In dieser unmittelbaren Natürlichkeit erblickt hier der Mensch sein Höchstes und Letztes — 144 — Allein der freie Geist, der dieses Höchste und Letzte ist, ist nicht dieses Unmittelbare, Einfache, Rohe, Endliche, was am Himmel glänzt, was in den Lüften spielt, was in den Wassern murmelt, was auf den Bäumen wächst, und endlich auch, was im thierischen und mensch- lichen Knochen und Gehirne webt und wächst, dass das nicht Geist, nicht Freiheit ist, das haben ja neuerdings auch Naturforscher entdeckt, und wiederholen es uns eindringlich und unablässig. Die Freiheit des Heidenthums ist keine: sie leidet an der falschen Connivenz. Indess, sollte nun der Mensch aus diesem Gegensatze weiter, so musste er sich vorerst doch ganz auf eben diese heidnische Seite werfen; nur diese bot zunächst eine Entwicklung, und anderntheils wies ja das Jüdische selbst hin auf eine Begründung und Berichti- gung von dieser Seite her. Aus der Erhabenheit des Judenthums musste der Mensch zunächst überhaupt wieder zurück auf den festen Boden der Natur. Auf diesem muss es ihm aber nun auch klar werden, dass er in der Natur eine Geschichte habe, dass in dieser Endlichkeit seiner eine Aufgabe, eine Arbeit warte; er musste erfah- ren, dass sein Höchstes und: Letztes ein Etwas ist, das er aus der Naturschranke heraus in sich selbst sich erringen und verdienen müsse, dass Geist, dass Freiheit zwar der Welt gehört, aber in der Welt eine That, ein Sieg ist. Dies ist also jetzt das Weitere, und es treten somit, an’s Heidnische anknüpfend, nunmehr diejenigem Kultur- formen ein, die sich charakterisiren im Mythus, d.h. die klassischen. Der griechische Gott ist reine Natur: aus diesem Grunde spriesst ja dem Menschen seine Kraft, sein Leben, seine Welt. Allein die Natur ist zugleich dies Endliche; so kann in ihr das wirklich Höchste und Letzte noch nicht sein, vielmehr sie selbst wartet auf ein Höheres, das aus ihr hervorbrechend sie als seinen Stoff bändigt, durchdringt, gestaltet und so verklärt in sich aufnimmt. Dies Höhere tritt aber hervor im Kampf; mit jenem Endlichen liegt die Gottheit im Streit, sie muss überwinden in ihm; der Mensch muss hinaus über den un- mittelbaren Naturzweck, im Kampfe reift ihm die Frucht, und die sittlichen Zwecke sind es vielmehr, in denen er ausruht. So regt sich denn an der geschlossenen Naturmacht kämpfend die innere Un- endlichkeit des Geistes; dieser ist jenes Höhere der Natur. Aus dunklem Schooss ringt sich, diese ganze Endlichkeit zuletzt vollendend und versöhnt umschliessend, empor die schöne sittlich durcharbeitete klare Menschengestalt, und zwar ist es eben Gott selbst, der diesen Process auf sich nimmt. Der Mensch weiss und sucht nun überhaupt sein Höchstes und Letztes ganz in diesem Processe; dieser ist, wie — 15 — er die Geschichte des Menschen ist, so von ihm als Geschichte sei- nes Gottes angeschaut, und damit eben ist er Mythus. Gegen das Symbol des Heidenthums bringt der Mythus zur Geltung, dass der freie Geist als innerlich Unendliches ein Hinaus, Entwicklung, That ist, gegen die Offenbarung des Judenthums aber setzt er die Natur- seite in ihr Recht, nämlich den festen Grund und Boden, von dem jenes Hinaus, jene Entwicklung abhebt, gegen den jene That stemmt, und den letztlich der freie Geist als sein Material und Organ versöhnt in sich aufnimmt. Hier erhält aber auch das Wahre des Judenthums zuletzt wieder seine vollere Anknüpfung, nämlich in dem Punkte, wo- rin durch die Antike gezeitigt das Christliche hervortritt; dieses ist der Abschluss des Oceidents wie des Orients, und nur eine jüdi- sche Auffassung des Christenthums und wieder nur falscher Götzen- dienst gegen die Antike wird das innere Band verkennen, was die griechisch-römische Kultur verknüpft mit der modern christlichen. Indess, nicht so sind wir gewöhnt zu bedenken, dass wiederum dieser Antike selbst der menschliche Geist längst anderswo vorgearbeitet hatte, "nämlich eben im Aegyptischen. Nicht zufällig, wenn auch in Ver- wechslung des inneren Nervs mit äusserlichen Thatsachen, hat der antike Geist selbst seine Kulturquellen in unsrem Aegypten gesucht. Hier ist wirklich die Brücke vom Orient zum klassischen Abendlande; hier zuerst regt sich ja am heidnischen Symbole das, was wir Mythus nennen. Als reine Natur hat sich dem Aegypter das Göttliche aus dem Schoosse der Zeiten hervorgebildet in und mit der Welt und darin entfaltet zum Mannigfaltigen Bewegten dieses Kosmos: soviel Kräfte, Ent- wicklungen, Gebiete der Natur, soviel Götter und Götterleben. Sie bilden die Oekonomie der Welt, und garantiren dem Menschen seinen Zweck darin. Zu bestimmterer Anschauung kommen sie aber zunächst im Thier. Im Thier ist ja so recht die volle satte Natürlichkeit und zugleich das in der Natur doch ebenso aus sich Herausgehende, Frei- durchschaltende und Zwecksetzende; vermöge seines gattungsmässig gebundnen Typus symbolisirt es dem Menschen das, was im Zersplit- terten und Entzweiten der Natur das Einigende ist, vermöge seines unbeirrten geradlinigen Instinets aber, mit dem es gleichmässig festen _Pfades dahinlebt und ordnend auf seinem Zwecke besteht, symbolisirt es im unsteten Wechsel und Fluss der Natur das Beharrende und Steuernde; es ist so der sachgemässe Ausdruck für die mit höherer u endigkeit im Endlichen sich vollziehende göttliche Ordnung ‘ dazu wirkt seine bedeckte Innerlichkeit, dies bedeutsame schauervolle Wissenschaftliche Monatsschrift, I. 11 — 146 — Halbdunkel, dieses Andämmern eines unfassbar Unendlichen unter der Hülle einfacher, scharfgeschnittener, bestimmt vorspringender Typen. So ward denn das Geheimniss der Gottheit im Thier verehrt, und das Höchste und Letzte des Aegypters, sein Kult, war zunächst jenes einfache Sichversenken in den Segen und Genuss der Natur, was uns im Kulturbilde die Grundlage war. Allein, was hilft's, das Tempelthier zu baden und zu salben, mit Schmuck und Spenden zu überschütten, auf Purpur zu betten und zu pflegen und endlich über seinem Leiden die Welt mit Jammer zu erfüllen? — Die Kreatur ver- endet. Also weiter! — Nicht das Thier, vielmehr der Mensch selbst, dieser in sich unendliche Zweck der Welt, ist jetzt die wahre Form der Gottheit. Aus dem Thierleibe ringt sich der Anschauung wenigstens das Men- schenhaupt, oder aber der Gott, menschlich gebildet, trägt den Thier- kopf nur noch als Maske; endlich aber ist er ganz als Mensch vor- gestellt. Aber auch der Mensch in seiner unmittelbaren Natürlichkeit ist ja jenes Endliche der Kreatur; so genügt es noch nicht, überhaupt einmal bei sich selbst angelangt zu sein; der Aegypter muss hinaus üher’s Unmittelbar-Natürliche, und an die Stelle des einfachen Ver- senktseins in den Segen und Genuss der Natur tritt auch in seiner Anschauung jener straffe harte Kulturrahmen, in den sich sein Leben gespannt hatte. Der menschlich gebildete Gott ist jetzt Koloss im Stein mit streng hieratischem Typus. Aus dem Pfeiler seines Tem- pels halb vorschreitend, Rücken und Füsse lang, breit und fest an- geschlossen an Wand und Sockel, und mit diesen Architekturgliedern aus Einem Block gemeisselt, so erscheint der Gott Aegyptens. Die Beine sind dicht aneinander, Arme über die Brust gekreuzt oder herabhängend straff am Leib, Haltung gezwungen steif, auf dem Rumpf aber das Haupt mit Tiare und Kalantika emporstarrend, un- bewegt von dieser Endlichkeit der Kreatur, auf die es mit der be- zeichneten Aegyptersmiene kalt herniedergrinst. Auch die Gestalt ist fest zusammengenommen, herb in sich geschlossen, ein übereinkömm- licher Typus mechanisch gearbeitet nach genau vermessenem priester- lichen Kanon, der es ausdrücklich verschmähte, blose Kopie des Lebens zu sein. Darin ist endlich auch das Einzelne streng proportio- nirt, und was als Alter und Charakter, als Gebiet und Thätigkeitsform, als individuelle Beseelung und Belebtheit diesem Endlichen der Natur angehört und in es verstrickt, ist abgestreift; nur äusserliches Attri- but und Inschrift zeigen die nähere Bestimmtheit des Gottes, und überall zieht dieser selbe gerade, scharfe, harte Umriss, als hätte es — 1417 — keinen Menschenleib gegolten, sondern ein geometrisches oder archi- tektonisches Problem. Allein dieser Gott ist jetzt doch nur der todte Wächter seines Hauses, und wusste sich der Aegypter nieht auch innerhalb jenes Kulturrahmens der Endlichkeit verhaftet? — Das allgemein Menschliche genügt jetzt auch in dieser strengen Form nicht; vielmehr nur in jenem Einen, den jene Kulturverfassung als den Brennpunkt alles Lebens übers gewöhnliche Mass hinausge- hoben, nur in diesem, der die Königskrone trägt, nur im Pharao, der die Thaten Aegyptens verrichtet, nur in diesem Menschen, der in übermenschlicher Aufraffung das Böse und Ueble von der Erde tilgt, in jenen riesigen unvergänglichen Monumenten sich bezeugt und die Huldigung der Welt empfängt, — nur in ihm ist jetzt der lebendige in Menschengestalt geoffenbarte Gott, nur in ihm der vollendete gott- gewusste Mensch. Der Pharao, dieser wirkliche König, ist jetzt der Gott Aegyptens; um ihn dreht sich die Welt, und die Götter, sofern sie in ihm nicht völlig verschwinden können, flattern um ihn wie die homerischen Unterweltsschemen um’s Opfer des Odysseus. Der wahre Gottesdienst, das Höchste und Letzte des Aegypters, ist jetzt, über den Rahmen jener Kulturverfassung hinaus sich seinem Pharao zu opfern, und das Göttliche selbst ist nunmehr eben in jenen Pharaonen- 'thaten, in dieser Geschichte und Kultur Aegyptens unter seinen Pharao- nen, d.h. aber, wie der Mensch, so ist eben auch sein Gott — mensch- lich geoffenbart — jenes grosse unablässige Ringen über die Natur- schranke hinaus nach dem Unendlichen, was uns im Kulturbilde als Letztes erschien. Allein, wird nicht eine Zeit kommen, da trotz dieses Ringens mit den Königen und ihren Thaten der Name Aegyptens ver- schollen ist, und mit dem Ganzen des Lebens auch die Riesenmonu- mente in Trümmer stürzen? — und ist dieser Pharao nicht dieser Sterbliche ? — Also abermals weiter! — Aber wohin? — Das Leben ist zu Ende. Nun denn über’s Leben hinaus! — Das Höchste und Letzte war ja in Wahrheit der Tod, so sterben denn auch die Götter Aegyptens. Die Gottheit ist jetzt Osiris. Osiris als Träger des ägyptischen Geistes und alles Positiven dieser natürlichen Welt unterliegt der finsteren Gewalt des Typhon d. h. eben jenem Negativen der Natur, der Gott stirbt. Nach einem Leben voll Entsagung, voll Kampf, voll That sinkt der Geist in diese Endlichkeit, und nichts ist dem Aegypter erschütternder; hier in die- sem Unterliegen unter die allgemeine Endlichkeit war ja zumal und für immer Allem ein Ziel gesetzt und er hineingestossen in die Betrachtung der völligen Vergeblichkeit seines Werks. Dieser Tod — 148 — ist das Ueble — Nichtseinsollende. Allein ein Eigenes hat es hier mit dem Tode auf sich; der Geist, der sich im Unendlichen will, ruht nicht in dieser Ruhe des Leibs. Osiris lebt jedenfalls wieder auf in seinem Sohne Horus, und dieser als der goldene Rächer Aegyptens erschlägt nun jenen Typhon. Erinnern wir uns: Mit der Nilüber- schwemmung ist ja der Feind, der über Aegypten Herr geworden, auch gebrochen, und auf's Neue spriesst Leben und Segen im Land. Aber noch nicht das ist's, was den Aegypter getröstet. Nicht nur mit diesem natürlichen selbst wieder endlichen Ergebniss, im siegrei- chen Hervorgehen des Osiriskindes Horus, sondern in unbedingter Weise überwindet der Geist; er hält darin nur fest, dass es für ihn überhaupt voll und bleibend ein Hinwegkommen über die Endlichkeit gebe, und Tod und Begräbniss sind jetzt vielmehr Phase eines höheren Lebens gewesen, worin der Widerstreit des Endlichen wirklich ganz und für immer getilgt ist. Osiris selbst ist jetzt mit seinem ober- weltlichen Unterliegen nur eingegangen in die Unterwelt und hat darin das Lebensreich der Vollendung im Unendlichen aufgerichtet, wonach er und in ihm der Mensch gerungen. Dem Horuslebensreiche der diesseitig gegenwärtigen endlichen Natur stellt sich nun zur Seite das jenseitige künftige Osirisreich der vollendeten Geister in der Gemein- schaft der Seligen. Der Mensch feiert also jetzt im Tod vielmehr nur sein Abscheiden und Freiwerden aus der Endlichkeit; gerade indem er diese ganz auf sich nimmt — im Tod, überwindet er wahrhaft, indem er ihn geistig überlebt. Dieses Hervorgehen des Geists, dies ist die Frucht des Tods; die endliche Natur stirbt, darin lebt sie auf als geistige, als die höhere Osirisnatur, und. gerade im Negativen der Natur hat sich also die göttliche Lebensordnung hergestellt zur sieg- reichen Ordnung des Guten — der Freiheit. Allein hier will uns doch bange werden. Tod und Begräbniss, dieses selbst endliche Abscheiden aus dem Endlichen in Raum und Zeit, diese Aeusserlichkeit soll die Form sein der Ueberwindung — der Versöhnung des Geistes, und die Frucht davon fällt nicht den Lebendigen zu, sondern hinaus über die Welt. Wir hofften eine innere sittliche Ueberwindung — eine solche, die als erlösende That durch die Welt des Lebens ginge, die das Diesseits verklärte, die der Gegenwart den Frieden brächte. Dafür soll uns der Tod getrö- sten; an eine Zukunft — an ein Jenseits — an dieses dunkle ferne Ungewiss hat der Aegypter sich und die Welt vergeben, mit einem Vorbehalte will er den Drang des Geistes zum Schweigen bringen. Dies ist offenbar nichts Wahrhaftiges; die Frucht einer solchen Ueber- — 149 — windung ist selbst eine Endlichkeit; sie ist mit nichten der freie Geist. Dieser ist ein Geist der Lebendigen — nicht der Todten, obwohl er freilich auch im Tode sich nicht verloren weiss. Befragen wir einmal den ägyptischen Unsterblichkeitsglauben. Wie dieselbe Sonne, die dieses Nichtige der Oberwelt bescheint, auch der Unterweltsseligkeit leuchtet, — wie diese ein Leben ist auf den östlichen Sonnengefilden, so ist auch der geschiedene Geist daselbst ganz nur der blasse mark- lose Schemen dieser nämlichen Oberweltlichkeit, aus deren Nichtigkeit er doch hinausgerungen: wie als Hölle eine sinnliche Marter, so er- scheint als Himmel nicht etwa die Seligkeit des freien Geistes — nein ein Paradiesgarten, allwo man Blumen und köstliche Früchte pflückt, in erquickenden Lüften und Wassern badet und gar unter Palmenschatten lustwandelt; dies ist aber alles. Also auch jene höhere Vollendung im Tod bezieht sich doch ganz nur auf’s unmittelbar Na- türliche und seine Kulturordnung; über diese Form, diesen Inhalt weiss der Mensch letztlich nicht hinaus. Die Welt des freien Geistes, die im Sittlichen ihr Centrum besitzt, und freilich von da aus auch ‚die Natur — überhaupt das Ganze des Seins — und zwar versöhnt um- ‚spannt, — diese bleibt ihm ein Räthsel; die Freiheit ist ihm diese ver- eierte Braut, — er wirbt um sie, aber zum Freien kommt es nicht. So aber kann der Aegypter im Tod auch vom Endlichsten nicht weg; ja gerade auf’s Aeusserlichste ist er jetzt in ihm so recht hin- getrieben. Er vermag es nicht über sich, seinen Leib dem Moder der Verwesung verfallen zu lassen; ja gerade an diesem Erstarrten und Abgeschiedenen — an diesem Verstillten und Verblichenen — an diesem Geschlossenen und Vollendeten, was der Tod in’s Men- ‚sehenantlitz drückt, — gerade am Leichnam holt er sich jetzt die Ge- währ und den Genuss jenes seines Siegs über die Endlichkeit; hier und nur hier wird er desselben froh und gewiss; hier liegt es ja endlich sichtbar — greifbar vor ihm, was ihm das Höchste und Letzte ist. Der Geist bei Osiris — überhaupt der Geist tritt jetzt in den Hintergrund: der Leichnam ist es vielmehr, um den sich’s handelt, und die heiligste Lebensaufgabe des Aegypters, sein eigentlicher Gottesdienst, ist nunmehr dies. So früh und gut als möglich baut er sein Grab. In Oberägypten höhlt’ er’s in die Felswand; in Unter- ägypten, wo’s Gebirg zerbröckelt und verflacht, grub er in die Tiefe und thürmte darüber aus Steinen, Schutt und Nilschlamm ein Schutzdach; dieser Hügel erhielt allmählig solidere Bekleidung und den mathematisch-präeisen Ausdruck seiner ursprünglichen sachgemässen Gestalt, und ward endlich auch im Kern in regelmässigen Ziegel- — 150 — und Quaderschichten gebaut; so entstand hier die Pyramide. Diese Gräber wuchsen aber zuletzt in’s Ungeheure; es folgte aus der anfänglichen Baumethode: erst baute der Aegypter nur das Wesent- liche, um im Fall schnellen Ablebens überhaupt ein vollständig Grab beziehen zu können; fühlte er sich dann noch gesund, so baute er dort in den Hypogäen zur ursprünglichen Höhlenanlage eine zweite, hier um die fertige Pyramide einen Mantel, und diese Formatver- grösserung ging so fort, bis ihm endlich wirklich sein Stündlein schlug; es finden sich Schachtelpyramiden, an deren Schalen sich die Jahre ihres Bewohners abzählen lassen, fast wie das Alter des Baumes an seinen Jahresringen. Im Westen aber — dort, wo die Sonne in die Unterwelt hinabging, — wo der heisse Tag in aufgeschlagener goldner Himmelsglorie jäh in die dunkle kühle stille Nacht versinkt, — wo der verbrannte Fels und die Wüste das Bild des Todes zeigen, — an diesen abgelegenen Orten, wo selbst die Gräser des Erdreichs ver- schwunden sind, — dort breitete sich das Todtenreich, und fast noch grossartiger als das der Lebenden, was den blühenden Nilstrand um- lärmte und im Segen des Thales Wohnung gemacht hatte. In dunklen festen kolossalen Felsschlünden, fern vom Getriebe der Welt und ge- schützt vor Sturm und Wüstensand, vor Hitze und Wasser, vor Raub- thier und Frevlers Hand, — so sollten die Leichen Aegyptens ruhen. Eh’ aber der Todte sein Grab bezog, wurde er also nach der priester- lichen Einbalsamirungsregel mit Haut und Haar der Verwesung ent- zogen; man überkleisterte ihn noch mit Harz, schnürte ihn von Kopf bis zur Zehe in Byssusbinden, verschloss ihn dann in unverwüstliche Särge, und nun verbrachte man ihn feierlichst in sein Grab; Durch- lass und Eingang wurde gesperrt, das Ganze sorgfältig verbaut und für immer geschlossen. Der Aegypter war jetzt eingezogen in seine ewige Wohnung. Bezeichnend ist aber, dass er in Geräthen, Ur- kunden, Skulpturen, Malereien, Inschriften die ganze Partikularität seines Lebens mit sich nahm. In diesem geheiligten Dasein der Mumie in Sarg und Grab besass also endlich der Aegypter seine Vollendung; das Höchste und Letzte war ihm diese ewige unbewegte Dauer des Leibes in riesigen unzerstörbaren Gräbern, um die der Ruhm bei der Nachwelt seine Glorie legt und die Namen der Todten lispelt. Was ist aber jetzt aus unserm Gott geworden? — Aus dem Ge- heimniss des Tempelthiers, der Sphinx, der Thiermaske, aus dem finstern Koloss, aus der beschatteten Pharaonengestalt, aus dem Osiris- kampfe vollends hofften wir endlich, weil uns ja Alles darauf hinwies, — 151 — — den Geist, sich erhebend als den heiteren versöhnten Lebensgott, um dessen Haupt der Flügelschlag der Freiheit rauscht; wir hofften einmal eintreten zu dürfen in ein Heiligthum, aus dem er seelenvoll, vom Glanze der Schönheit umflossen, uns begrüssete und in seiner Klarheit die menschliche Vollendung entgegenspiegelte: in Osiris fühl- ten wir uns nahe jenen Titanenbezwingern des griechischen Olymps — jenem Zeusgeiste, der im Bewusstsein der sittlichen Ordnung frei die Welt umspannt und ebenso als beglücktes Kind sich des rosigen Lebens freut, wie er als Herrscher seinen Donnergang durch die Sphären wandelt; es gemahnte uns an einen Apoll, der als der gute Sohn jenes Geistes den heiligen Willen seines Vaters der Welt verkündet, und ihm gesellten wir eine Pallas, die als die weise Tochter mit den klugen Augen ihres Vaters ordnend im Rathe der Männer sitzt uud schirmend auf den Akropolen der Städte weilt. Allein noch nieht! — Zwar an Ethischem fehlt es jenem Träger des ägyptischen Volksgeistes nicht: Osiris ist, wie er als Richter in der Unterwelt Gut und Böse sondert und jedem seinen Lohn zumisst, — so überhaupt der Stifter jeder Ordnung des Geistes: Recht und Staat, Religion und Sitte, Kunst und Weisheit, kurz jene ganze Kultur Aegyptens ist sein Werk und andrerseits ist er ja auch — und bleibt in seinem Kinde Horus ebenso die natürliche Lebensmacht; allein die Momente bleiben aus- einandergefallen; es kommt zu keinem inneren Zusammenschluss und Durchbruch, woraus durcharbeitet der Geist —, woraus gerüstet die Freiheit hervorspränge. So aber tritt jetzt auch die ganze Kluft zu Tage, die überhaupt das Aegyptische noch vom Griechenthume trennt. Doch — es kann uns nicht mehr überraschen : von einem lichten Haus voll fröhlicher Gäste hub unsere Schilderung an; dann war's ein un- geheuerlicher Pharaonenpalast; und jetzt? — Dieser. ganze Bau der ägyptischen Welt umfängt uns als eine dunkle Felsengruft, darinnen zu Hunderten und Tausenden die Mumien herumliegen und an den Wänden lehnen; sie träumen den schweren Traum von Auferstehung, von Vollendung im Unendlichen, von Freiheit. Nun — inmitten dieser _ Ungezählten thront jetzt eben auch Osiris, jener grosse Epigone des . ägyptischen Götterthums, und zeigt starr und feierlich das Bild des Tods; mit jenen Byssusbinden ist er umwickelt: auch er ist Mumie im ewigen Grab. So hat denn der Aegypter die innerste letzte Handlung des My- thus nicht zu ertragen vermocht: der dunkle Naturschooss bleibt ver- schlossen; es bleibt Alles zurückgeschlungen, was so gewaltig sich hervorrang. Aber — sehen wir einmal genauer hin auf unser Bild, in = mei — dem uns das Aegypterthum zu Ende geht! — Es ist uns jetzt in dieser Mumiengruft doch zumal auch wieder ganz anders: es ist uns hier, da wir vom griechischen Leben wissen, wie in einem grossen vollen Schauspielhaus, worin vergeblich der Beginn — der Aufzug er- wartet wurde: nach langem ungestümem Toben — am Masslosen, Trun- kenen ihres eignen Gebahrens sind endlich die Zuschauer allesammt wirr und müde eingesunken in den Bann des Schlafs; — ja bis auf ein paar spärlich glimmende Dochte sind zuletzt selbst die Lichter, die festlich das Haus beleuchteten, alle nacheinander verlöscht; und in schauerlichem Dämmer ragen nun über die Verschlafenen die Ge- stalten des Vorhangs. Allein — ist es nicht, als regte sich dieser Vor- hang in leisen Wellen? — als dränge hervor auf den Seiten und am Grunde verstohlen ein wunderbares Licht? — als wehete Morgenluft von dieser verhängten Bühne und trüge uns grüssend ein Flüstern zu? — — Der Vorhang bleibt. Genug, dass wir wissen, der Augenblick ist nah ; — ja auch die glänzende Scenerie, die festlichen Akte ahnen wir — und endlich vor allem die idealen klassischen Gestalten, deren Freiheitsruf alsdann die müden Schläfer weckt und — auch den Todten zum Leben ruft. Joseph von Hammer - Purgstall. ' Ein kritischer Beitrag zur Geschichte neuerer deutscher Wissenschaft, Von PROF. KONST. SCHLOTTMANN. Inceptis gravibus plerumque et magna professis Purpureus, late qui splendeat, unus et alter Adsuitur pannus — Hor. de arte poet. Die Allgemeine Zeitung hat seit Hammer’s Tode zwei dessen Andenken feiernde Artikel gebracht. Zuerst hat Umbreit nach seiner weichen und gemüthvollen Weise ihm ein Denkmal alter Freundschaft gesetzt. Dann hat Fallmerayer aus seinen schon so oft unermüdlich wiederholten Lobeserhebungen in gewohnter geistreich piquanter Art gleichsam die Quintessenz gezogen. Dass man die Verdienste eines Verstorbenen preise, ist alte gute Sitte Wenn aber das Lob vor der ganzen weiten Welt einerseits in maasslos übertriebener Weise ausgesprochen wird, andrerseits (was wir dem Aufsatze Fallmerayer’s vorwerfen müssen) mit Bitterkeit auch gegen berechtigte und achtungs- werthe Tadler, so fordert die Gerechtigkeit dem entgegenzutreten. Gewiss war Hammer ein Mann nicht nur von einer geistigen Arbeitskraft, wie sie wenigen gegeben worden, sondern auch von einer genialen Begabung. So hat er in staunenswerthem Umfange den ungeheuren Stoff der drei Hauptlitteraturen des Islam Europa und zu- meist dem deutschen Volke zugänglich zu machen gesucht. Es fehlt ihm dabei nicht an geistvollen Blicken in den Gang der politischen und litterarischen, insbesondere auch poetischen Entwiekelung jener Völker. Eine dem Orient verwandte Ader zeigt sich nicht selten in - den Farben, mit denen er geschichtliche Charaktere, dichterische Mei- = „sterwerke, Scenen der Natur zu charakterisiren weiss. Aber daneben ’ ie leider bei weitem Mehreres, was gerechte Rügen hervorrufeu musste, Fallmerayer hat selbst früher einmal von Hammer gesagt, „er sende seine schriftstellerischen Erzeugnisse fabrikmässig in das Publicum.* t In der That sind dieselben vorwiegend von rein compilatorischem Charak- ja zum grossen Theil sind es blosse Zusammenstellungen aus compilatorischen Werken, wie sie die islamitischen Literaturen selbst !) Münchener gelehrte Anzeigen 1839 Nr. 200 S. 565, Wissenschaftliche Monatsschrift, II, 12 — 154 — bereits seit älterer Zeit in grosser Fülle darbieten. Die Uebersetzun- gen, namentlich auch die der Poesien, sind rein maschinenmässig ge- arbeitet. Hammer verdeutscht einen Dichter nach dem andern, ja er übersetzt allein aus türkischen Blumenlesen Proben von 2200 guten und schlechten Poeten: aber die Uebersetzungen sind auch darnach — ein um so unverantwortlicheres Verfahren, als einzelne, freilich ziem- lich seltene, gelungene Stellen zeigen, was er bei grösserer Sorgfalt leisten könnte. Und wenn es noch bloss bei Beleidigungen des gu- ten Geschmacks bliebe! Aber die Makel der Flüchtigkeit und Un- genauigkeit haften auch an der wissenschaftlichen Seite der Hammer- schen Arbeiten in einem Grade, wie diess an einem Schriftsteller von so viel Fleiss und Talent kaum irgendwo sonst erhört ist. Beispielshalber erinnern wir an das Werk über „Konstantinopel und den Bosporus“, welches Fallmerayer ganz besonders als „gedie- gen, gewissenhaft und auf lange Zeit hinaus belehrend* anpreist. Hammer hebt in der Vorrede des ersten Bandes wiederholt und nach- drücklich hervor, dass er zweimal in Konstantinopel gewesen sei, das eine Mal 4 Jahre, und legt ein grosses Gewicht auf seine eigenen selbständigen Beobachtungen, die er auf zahlreichen Wanderungen und Spaziergängen angestellt habe?. Wir geben nun einige Proben von den Früchten dieser Selbstbeobachtung. Der hervorstechendste Platz Stambuls ist der Atmeidan, die Rennbahn des alten Byzanz. Jeder Reisende, der denselben gesehen hat, wird in der Erinnerung behalten haben, dass die alte Meta nebst der delphischen Schlangensäule sich an dem Ende des Platzes be- findet, der ägyptische Obelisk aber nach der Mitte zu. Hammer, der dort gewiss oft genug gestanden hat, kehrt die Ordnung um und stellt den Obelisk mitten zwischen die beiden andern Säulen 3, wäh- rend er doch, wenn er seines Gedächtnisses nicht mehr sicher war, das Richtige in zahlreichen Beschreibungen finden konnte. Einer der interessantesten und bequemsten Spaziergänge ist der an den grossartigen malerischen Resten der dreifachen Mauer entlang, welche die Landseite des alten Byzanz schützte. Jeder für das Al- tertnum sich interessirende Europäer, der am Bosporus verweilte, wird den Gang öfter gemacht haben, zumal derjenige, welcher wie Ham- mer während eines längern Aufenthalts die Materialien zu einer künf- tigen Beschreibung Konstantinopels sammelte. Indem eben derselbe nun in seinem Werke die Thore jener Landseite aufzählt, sagt er von ?) Bd. IS. XI. XXIII. XXVI. 3) Ebendaselbst S. 144. dem Mevlana-Kapusi #: „Auf diesem Thore las Gyllea noch folgende Aufschrift :* — Die angeführte Inschrift ist aber eben dort noch heu- tigen Tages deutlich zu lesen. Der türkische Reisebeschreiber Evlijä Efendi® hat auch eine Sehilderung von Stambul gegeben, wobei er nicht selten in‘ einen poetisch überschwänglichen und hyperbolischen Ton geräth. Hammer theilt aus ihm hin und wieder interessante Auszüge mit. Dabei be- gegnet es ihm aber, dass er die bombastischen Phrasen, mit welchen der Osmane, unbekümmert um die gemeine Wirklichkeit, die Hagia Sophia als Weltwunder preist, für exacte statistische Angaben hält und als solche aufführt. So lesen wir denn zu unserm Erstaunen mitten in der nüchternen oceidentalen Beschreibung jener Moschee die orientalischen Hyperbeln: „Auf den Gipfeln der Minare’s glänzen stark vergoldete Halbmonde, der grösste auf der Kuppel von St. Sophia, statt des Kreuzes, fünfzig Ellen im Durchmesser, zu dessen Ver- goldung allein Sultan Murad III. fünfzigtausend Ducaten verwendet haben soll. Hundert Meilen weit zu Meer und bis auf den Gipfel des bithynischen Olympos funkelt derselbe im Strahle der Sonne, dem Auge bemerkbar“ 6. Und diese Angaben, welche lebhaft an Münch- hausen erinnern, schreibt ein Mann nieder, der nicht nur oft genug vom Meere aus die prächtige Kuppe der Sophien-Moschee sich: ange- schaut, sondern auch selber auf dem Schneegipfel des asiatischen Olymp gestanden hat! Es kann uns nicht Wunder nehmen, wenn die Au- torität eines so gelehrten und vier Jahre lang in Konstantinopel hei- mischen Berichterstatters’ hernach manche ehrliche Reisebeschreiber, z. B. den ehrwürdigen Schubert, verleitet hat, die kühnen Phanta- sieen ihres ihnen freilich unbekannten türkischen Vorgängers in Be- “ treff jenes kolossalen Halbinonds als baare Münze anzunehmen und ‘als höchst glaub- und merkwürdige Notizen in weiteren Kreisen des 'werthen deutschen Publikums zu verbreiten. Noch unschuldiger, als der alte Ewlijä Efendi an dieser Mystifi- - eation, sind die griechisch-byzantinischen Chronisten an einer andern eben so äbenteuerlichen, in welche der edle Freiherr durch sie ge- rathen ist. Sie berichten nämlich von einem wiederholten Gefrieren des Meeres bei Konstantinopel. Damit meinen sie den oberen flache- ren Theil des Hafens, jener prächtigen Meeresbucht, welche verdien- termassen den Namen des goldenen Hornes führt. Dieser ist auch in neuerer Zeit unter Sultan Mahmud bei einem der ausnahmsweise kal- #) S. 109. 5) Hammer schreibt Evylia. ©) Bd. I S. 371. — 156 — ten Winter, wie sie Stambul von Zeit zu Zeit heimsuchen, einmal zugefroren gewesen. Der untere Theil des Hafens würde, eben so wie der Bosporus, selbst unter einem strengeren Himmelstrich schwer zufrieren schon wegen der Tiefe des Wassers, welche bekanntlich der Grund ist, dass selbst mehrere Schweizer-Seeen in Wintern von an- haltend niedrigster Temperatur offen bleiben. Dazu kommt beim Bos- porus die enorme Gewalt der Strömung, gegen die auch der stärkste Mann nicht anschwimmt und die an mehreren Stellen so stark ist, dass dort selbst die fast durchgehends durch Körperkraft ausgezeich- neten Ruderer ihre leichten Kähne mit Seilen müssen aufwärts ziehen lassen. Wer den mächtigen Meeresstrom gesehen und befahren hat, der sollte wissen, dass, um ihn gefrieren zu machen, eine nordpo- larische Kälte erforderlich wäre. Hammer’s orientalische Phantasie trägt aber kein Bedenken, auch in dieser Beziehung das Unmögliche wirklich zu machen. Er schreibt in Betreff des „fast immer gemässigten Klimas“ von Konstantinopel: „Selten friert es im Winter bei Tage und nur während der Nacht fällt der Wärmemesser zwei bis drei Grade unter den Eispunkt; doch erwähnt die Geschichte noch unter den Byzantinern mehr als einmal ausserordentlicher Kältegrade, wo- durch der Bospor fror und man zu Fusse von Asien nach Europa überging“ 7. Wer das Hammer’sche Buch mit einiger Sachkenntniss und Kritik liest, wird sich üherzeugen, dass die angeführten Beispiele die Flüch- tigkeit und Unzuverlässigkeit der ganzen Arbeit charakterisiren. Da- mit sprechen wir der letzteren keineswegs allen Nutzen ab. Die For- schungen Aelterer auf dem Gebiete der klassischen und byzantinischen Topographie Konstantinopel’s und des Bosporus sind übersichtlich com- pilirt; hie und da ist vielleicht eine neue Notiz aus den Byzantinern beigefügt; vor allem aber ist es verdienstvoll, dass hier neben die älteren griechischen die späteren: islamitischen Lokalerinnerungen ge- stellt sind, wobei manche interessante Parallelen gezogen werden und der Unterschied des Alten und Neuen durch Uebersetzungen aus türki- schen Autoren und Inschriften auch für Nicht-Orientalisten eine gewisse Anschaulichkeit erhält. So ist das Werk als Handbuch zum Nach- schlagen allen Europäern zu empfehlen, welche der wundersamen Khali- fenstadt und ihren Umgebungen einige Zeit zu widmen gedenken. Und insofern nennen wir es gern mit Fallmerayer „ein auf lange Zeit hin- aus belehrendes Buch.“ Aber die Prädicate der Gediegenheit und Ge- e® ?) Ebend. S. 35. — 157 — wissenhaftigkeit verdient es nicht. Denn wem es auf Genauigkeit der antiquarischen Untersuchungen ankommt, der muss sich doch noch im- mer an die älteren Arbeiten halten. Und auch jene Uebersetzungen aus den orientalischen Sprachen würden bei weitem nützlicher und werthvoller sein, wenn sie weniger umfangreich, aber dafür gediegener und sorgfältiger wären. Wie sie jetzt sind, geben sie meistens ein sehr ungenaues und viel zu ungünstiges Bild von dem Original. So lautet z. B. die in einfachem Lapidarstyl abgefasste türkische Grabschrift einer Jungfrau in wörtlicher Uebersetzung : Zu ihrer Jugendkraft kehrt sie nicht. Für ihre Krankheit Heilung findet sie nicht. Die edle Gottbefohlene, Aischa, Für ihre Seele eine Fätiha! Die beiden ersten Zeilen sind als Klageruf im Augenblicke des Todes gedacht. In der dritten Zeile wird die Verstorbene nach der fast auf jedem türkischen Leichenstein sich findenden Bezeichnung die Gottbefohlene genannt, wörtlich: die dem göttlichen Erbarmen Anheim- gefallene (merküme). Daneben steht das einfache Prädicat „edel“ (sherife). In der vierten Zeile folgt die gewöhnliche Aufforderung zur Fürbitte. Fätiha (= die Eröffnende) heisst bekanntlich die erste Sura des Korän’s, welche den Muselmännern als gewöhnliche Gebetsformel, namentlich auch für die Verstorbenen, geläufig ist. — Hammer hat, nach der ihn oft befallenden Passion der Knittelreime, aus dieser In- schrift Folgendes gemacht 8: Nimmer kehret ihre Jugend, Unsern Schmerz heilt keine Tugend. Für die edle keusche Fromme Aische Sollst zum Angedenken Du ein Fatiha hier schenken. Die beiden ersten Zeilen sind in seltsamer Weise missverstan- den®. Das Femininum Fätika ist des Metrums wegen in ein Neu- =——— ®) A. a. O. Bd. II. S. LXIV. Das Orginal S. XXXI. °) Sie lauten tür- kisch : gendshligine dönmez. derdine dermän bulmaz. Hammer übersieht die Zu- rückversetzung in den Sterbe-Moment, obgleich sie schon in der ersten Zeile deutlich liegt. Denn nur von einer Sterbenden, nicht von einer Begrabenen kann man sagen: „Sie kehrt nicht zu ihrer Jugend (= Jugendkraft) zurück.“ derd steht hier in dem Sinne des Todesschmerzes oder (was auch sprachgemäss ist und was wir hier vorziehen) der Krankheit. H. scheint bulunmaz gelesen und derdine = „für unsern Schmerz um sie“ erklärt zu haben — was sprach- lich nicht angeht. Es müsste heissen derdimize dermän bulunmaz. — 18 — trum verwandelt. Die Wörter „Tugend“ und „keusch“* sind des Reimes wegen hineingebracht. Um auf „keusch“ zu reimen ist über- diess der dreisylbige Name Aischa in das zweisylbige Aische ver- stümmelt. Ueber die Sinnlosigkeit der zweiten Zeile und die Ge- schmacklosigkeit des Ganzen brauchen wir kein Wort zu verlieren. Während Hammer nicht selten nach Reimen hascht, wo sie über- flüssig sind, giebt er sich wiederum nicht die Mühe, sie da anzuwen- den, wo sie erforderlich sind, um die Zierlichkeit des Originals wie- derzugeben. So ühersetzt er z. B. die zarte sinnige Grabschrift eines Kindes folgendermassen : Zur Welt kam eine Nachtigall, Sie zog nach allen Seiten hin, Durchstrich mit Lust den Weltpalast Und flog als Schmetterling davon !9, Wir würden im genauen Anschluss an die Reime der Ursehrift etwa folgende Uebertragung versuchen: Zur Welt kam eine Nachtigall, Irrt’ auf und ab mit süssem Schall, Durchstrich der Welt Pallast und flog Als Schmetterling zum Himmelssaal. Aber auf dergleichen Vernachlässigungen der Form legen wir natürlich das allergeringste Gewicht und erwähnen derselben nur dess- halb, weil Ilanımer selbst sich in seinen oft übel angebrachten Rei- mereien sehr gefällt und weil er nach seiner Begabung bei ächterem Fleiss Besseres hätte leisten können. Dagegen müssen wir aufs stärkste betonen, dass seine oben angeführte falsche Uebersetzung nicht etwa 10) A.a. 0. S. LXVI. Das Original $S. XXXII. Bei reimloser Uebersetzung kann man um so mehr Genauigkeit verlangen. Der Zusatz „mit Lust“ ist aber offenbar gegen den Sinn des Grundtextes. Denn es liegt der Gedanke zu Grunde, dass die Nachtigall sich im Palaste der Welt nicht heimisch fühlte und ihn eben darum verliess. — Als Probe wie H. häufig die antiken Versmaasse, die er nach Herder's Vorbilde auch auf orientalische Gedichte zu übertragen liebt, recht eigentlich misshandelt, stehe hier seine Uebersetzung der griechischen In- schrift des obenerwähnten Obelisken auf dem Atmeidan (vgl. Gyllius de Constpl. topogr. p. 125) bei Hammer a. a. O. Bd. IS. 144. Von vier Seiten behauen lag auf der Erde der Pfeiler, Von Theodosius wieder gerichtet empor. Proklos unternahm’s und in zwei und dreissig der Tage Hebt auf solche Art (!) hoch in der Luft sich die Säul”. Die eben so matten als holperigen Schlussworte entsprechen den kräftigen . . ' ’ ’ griechischen x«l 10008 2orn xiov reMloıg Ev roL@xovra dTo, — 159 — isolirt dasteht, sondern dass Alles, was er aus den drei islamitischen Hauptsprachen übertragen hat, überall, wo auch nur mässige Schwie- rigkeiten sich darbieten, und oft selbst in leichten und einfachen Stellen, von groben Irrthümern wimmelt. Man braucht, um dies zu behaupten, nicht etwa die hundert Bände Hammer'scher Schriften (so taxirt Fallmerayer den Umfang derselben) durchgelesen zu haben. Es genügt die genauere Prüfung einiger von ihnen, um sich zu über- zeugen, dass, wer in eine solche Manier des Arbeitens hineingerathen ist, nirgends ein gediegener und gewissenhafter Dolmetscher im hö- heren Sinne des Wortes zu sein vermag. Auch bedarf es zu jenem Urtheil keineswegs einer ausserordentlichen orientalischen Litteratur- kenntniss und Belesenheit, auf welchen Ruhm der Schreiber dieses keinen Anspruch macht. Man braucht bloss die betreffenden Spra- chen mit einiger grammatischen Genauigkeit betrieben und die ein- zelnen orientalischen Litteraturgebiete, in die man einzudringen ge- strebt hat, mit einiger Gründlichkeit behandelt zu haben: so wird man, wenn man dann an die nähere Prüfung der Werke des viel- gefeierten „Nestor’s der ÖOrientalisten“ kommt, überall auf eine Un- wissenheit und Leichtfertigkeit stossen, bei der man zuerst recht ei- gentlich seinen Augen nicht traut. Es handelt sich hier nicht etwa um einzelne Irrungen, in die auch der gewissenhafteste und tüchtigste Forscher, oft in komischer Weise, unversehens verfallen kann und die der billige Beurtheiler auf Rechnung der gemeinsamen menschlichen Schwäche setzen wird. Es handelt sich auch nicht um ausnehmend schwierige Stellen morgen- ländischer Schriften, welche durch Corruption der Lesarten oder durch unlösbare sachliche Dunkelheiten nicht nur den europäischen Gelehr- ten, sondern auch den gelehrten Orientalen in Verlegenheit setzen. Nein es handelt sich darum, dass Hammer auch bei mässigen Schwie- rigkeiten, die mit etwas Fleiss und Gründlichkeit wohl zu lösen wa- ren, mit souveräner Verachtung des lexicalischen und grammatischen Thatbestandes die arabischen, persischen und türkischen Schriftsteller oft genug travestirte, wo er sie genau zu übersetzen versicherte. Verhältnissmässig nur selten machte er eine allgemeinere Controlle dadurch möglich, dass er den Grundtext mit herausgab, was dann fast immer durch die Art, in der es geschah, einen neuen Beweis für seine Ungenauigkeit und Kritiklosigkeit darbot. Hierdurch sind auch seine grossartigsten literarischen Unternehmungen dem weit über- wiegenden Theile nach völlig unbrauchbar für die Wissenschaft. So kann z. B. das vierbändige Werk über die Geschichte der Osmanischen — 160 — Diehtkunst, einige wenige geistvolle Ueberblicke ausgenommen, höch- stens dazu dienen, über einen oder den andern Schriftsteller die bio- graphischen Notizen nachzuschlagen, welche Hammer aus den seltenen türkischen Sammelwerken übersetzt hat. Uebrigens aber verdient von den 2200 nicht bloss angeführten, sondern auch excerpirten Poeten die grosse Mehrzahl nicht, auch nur dem Namen nach dem Abendlande bekannt zu sein. Die in grosser Masse übersetzt mitgetheilten Poe- sien kann weder der Litteraturfreund gebrauchen, denn sie geben von den wirklichen Vorzügen des Originals auch nicht die entfern- teste Idee, noch können sie dem Örientalisten, wenn ihm durch gün- stige Umstände die Originale zugänglich werden, als Hülfsmittel die- nen, denn schon bei manchen leichten, geschweige bei schwierigeren Stellen begnügt sich Hammer (um ein hernach anzuführendes treffen- des Wort Silvestre de Sacy’s auch hier anzuwenden) mit dem ersten besten & peu pres, das ihm in den Sinn kommt. Statt der schon auf dem Titel paradirenden 2200 Dichter wäre es verdienstlicher ge- wesen, 22 der bedeutendsten auszuwählen und sie mit demselben Auf- wand an Zeit und mit einem grösseren an Kraft, unter Beifügung des Grundtextes, gediegen und gewissenhaft zu bearbeiten. — Gleiches gilt im wesentlichen auch von den entsprechenden grossen Werken Hammer’s über die persische und arabische Poesie. Ueber alles so eben Gesagte herrscht unter allen Sachverständi- gen die vollkommeuste Uebereinstimmung. Die, welche anders ur- theilen, sind (wenn wir von völlig unselbständigen Nachsprechern absehen) theils oberflächliche Dillettanten, theils befangene Enthu- siasten, theils beides. Wegen des Einflusses, den solche Stimmen auch in weiteren Kreisen ausgeübt haben, werden wir versuchen, die ange- deutete philologische Schwäche Hammer’s, der sich doch vorzugsweise gern den Allerhöchsten Hof-Dolmetsch und im Lateinischen den sum- mus interpres nannte, durch einige conerete Züge anschaulich zu ma- chen. Wir beginnen dabei, wie Fallmerayer, mit seinen Arbeiten auf dem „Gebiete der rein türkischen Litteratur,“ von denen Jener mit besonderer Zuversicht rühmt, dass sie, mit Ausnahme. der deutsch- russischen Akademiker von St. Petersburg, nur wenig oder gar nicht angefochten, sondern als „gediegen und gewissenhaft“ anerkannt seien; wobei er freilich das Gewicht des Urtheils jener Akademiker, insbe- sondere eines Frähn und Schmidt, deren frühere Verkleinerung ihm wahrlich nicht zur Ehre gereicht 11, dem grossen Publikum wohlweis- 11) Wir stimmen in dieser Beziehung dem Urtheil eines orientalischen For- — 161 — lich verschwiegen hat. Wir greifen zunächst ein paar Verse aus Baki, dem berühmtesten türkischen Lyriker, heraus, an dessen Manen sich Hammer besonders versündigt hat, indem er demselben nach seiner Weise einen besonderen Fleiss zuwandte, zuerst durch Uebersetzung seines Diwan’s und hernach durch reichliche Nachträge in der Ge- schichte der Osmanischen Diehtkunst. Ich werde den noch unedirten Grundtext nach der’ in meinem Besitz befindlichen Handschrift nebst einer wörtlichen Uebersetzung am Rande mittheilen, damit alle Ken- ner der Sprache sich überzeugen, in welcher Weise Hammer auch hier das Einfachste und Klarste missverstanden und entstellt hat. Eine Kafide Baki’'s beginnt mit der pomphaften Schilderung einer Sommernacht. Der Himmel wird wie gewöhnlich personifieirt. Der feine goldne Halbring des jungen Neumonds erscheint dem Dich- ter als die eine sichtbare Hälfte eines Chalchäl d. h. eines Knöchel- rings. Es ist diess der bei den Poeten häufig erwähnte Schmuck arabi- scher Frauen, der den Fuss üher dem Knöchel umgiebt und der oft mit kostbaren Edelsteinen besetzt ist. So ist also der Neumond ein solcher Ring am Fusse des Himmels und die Sterne sind (nach der dem Orientalen geläufigen Spaltung des Bildes) die Juwelen, welche den Ring umstrahlen. Aber rasch ändert und häuft der östliche Dich- ter nach seiner Weise die Vergleichung. Jetzt wird der eben auf- gegangene Neumond als Halsband des Himmels dargestellt ( welcher letztere aber unter anderem Namen, etwa als Aether, erscheint) und die Gestirne sind nun die,Rubinen des Geschmeides. — Zu deutsch lassen sich diese Schilderungen etwa so wiedergeben: Wie schön, vom Sternenschmuck umglüht, des Neumonds Ring dem Himmel stand, Um dessen Fuss er schmiegte sich als ein juwelenfunkelnd Band! Ja, wie vom Horizont herauf er stieg in der Gestirne Chor, So war's als ob den Aether er als strahlend Halsgeschmeid' umwand. Hammer übersetzt, indem er die ohnehin sehr gedrängten türki- schen Verse nicht nur metrisch verkürzt, sondern zugleich zu purem Nonsens verstümmelt, das erste Verspaar folgendermassen: Wie schön ist Neumond an Planeten angebunden, Indem ihr Fuss in ihm den Knöchelring gefunden. Darnach haben also die Planeten alle mit einander sich den Ei- nen Neumond als Knöchelring an den Fuss gebunden! Und selbst schers bei, den F. selbst „als einen ernsthaften und graden Mann“ anerkennt, nämlich Weil’s: Einleitung in den Koran, Vorrede S. VII. — 162 — wenn wir bei einem einzelnen Planeten stehen bleiben, was ist das für ein Bild: der kleine Stern legt sich den grösseren Neumond als Fussring an! Die eigentliche Hauptfigur, der Himmel, ist gänzlich beseitigt. — Das zweite Verspaar lautet bei Hammer: Wann in dem Sternenschein am Himmel er aufgeht, Er als Juwelenschmuck im Perlenhalsband steht !2. Hier wird der Neumond, der bei dem Dichter das Halsband ist, nicht bloss zum Juwel, sondern gar zum ganzen Juwelenschmuck in dem Perlenhalsband; was aber das Halsband ist und wer es trägt, das wird als Nebensache hinzuzudenken dem Leser überlassen. Wir werfen noch einen Blick auf die Anfangszeilen des Ghasel’s, welches im Original nach meinem Manuseript das erste der Ghaselen- sammlung ist. Auch hier mögen einige Bemerkungen zum Verständ- niss der für uns etwas fremdartigen Bildersprache vorausgeschickt wer- den. Baki feiert den Gegenstand seiner Liebe dadurch, dass er den Platz an dessen Schwelle, wo die Liebenden Bettlern gleich um Gunst und Huld bitten, als einen Ehrenplatz bezeichnet, dessen selbst die den weiten Himmelsraum frei durchwandelnde Sonne nicht werth ist, und dass er dann sogar den wiederum personifieirten Himmel, den höchsten Repräsentanten aller Creaturen, als einen von denjenigen auf- treten lässt, welche Jenem in freiwilliger Knechtschaft sich ganz und gar zu Gebote stellen. Dabei wird nun abermals jenes Lieblingsbild des ersten Neumonds eingeführt. Diesen betrachtet der Dichter hier 12) Gesch. der Osman. Dichtk. Bd. ITS. 362. — Die vier Zeilen lauten türkisch : ne chosh jarashdy sipihre keväkib itshre hiläl taqyndy päjine guja dshevheri chalchäl. tulü‘ idindshe ufugdan mejän? endshümde tagqyldy gerden? gerdüne sanki ‘aqdi läl. d. h. wörtlich: Wie schön stand dem Himmel an mitten unter den Sternen der Neumond. Er heftete seinem Fusse sich an wie ein juwelenfunkelnder Knöchelring. Indem er vom Horizonte her aufging mitten unter den Gestirnen, Ward er dem Halse des Himmels angelegt wie ein Rubinen- Halsband. Statt sipihre liest H. (der allemal die erste Zeile eines Gedichts türkisch anzuführen pflegt) sipihri. Stand dies in seinem Mser., so konnte er es leicht berichtigen, da jarashdy einen Dativ erforderte. Auch jene falsche Lesart führte aber nicht zu seiner widersinnigen Uebersetzung, sondern der Vers hiesse dar- nach wörtlich (freilich auch so völlig unpassend): „wie schön passte innerhalb des Sternenhimmels der Neumond.“ — 18 — als einen Ohrring, welcher bei den Orientalen den Sklaven als Ei- genthum seines Herrn kennzeichnet. Solchen Ring hat also der Him- mel selbst sich in’s Ohr gehängt, als Zeichen eben der freiwilligen Knechtschaft der Liebe, in welcher er mit dem Sänger sympathisirt, Das besagen die Verse: } Die Sonne, deren Wandel ist am weiten Himmelsplan , Ist stolz, wenn unter Bettlern sie darf deiner Schwelle nahn. Den Neumond hat als göoldnen Reif der Himmel angelegt Zum Zeichen, wie er gern für dich die Sklavenfessel trägt. Hammer lässt den von ihm arg misshandelten Dichter Folgen- des sagen: Sonnen, wandelnd an des Himmels Plan, Steht das Betteln an der Thür schlecht an. Neumond trägt den Ring zu deinem Dienst Und die Sphären sind dir unterthan !8, Der wahre Siun des ersten Verspaares ist hier geradezu umge- kehrt worden. Der Plural „Sonnen“ ist völlig aus der Luft ge- griffen. Und was soll als Anfang des Liebesgedichts der Gedanke, dass für Sonnen das Betteln an der Thür sich nicht schickt? Bettelt etwa das von dem Dichter gefeierte Wesen an der Thürschwelle ? Dies wäre eine alberne Hypothese. Oder soll etwa Jener selbst sich mit einer Sonne vergleichen, als ob er vor dem Gegenstande seiner Liebe um Huld bittend sich nicht zu beugen brauchte? Das wäre eben so abgeschmackt und im Widerspruch mit allem Folgenden. Aber was soll denn vernünftiger Weise für ein Sinn herauskommen ? Dies scheint Hımmer eben so wenig bekümmert zu haben, als bei seinem dritten Verse die Frage, wie der Neumond, welcher selber '3) In Baki’s Diwan nach der Hammer’schen Uebersetzung $.42. — Folgen- des ist der türkische Text: Chorshid kim fazäi felek dir mesir ona degmez gedälar itshre eshikde jir ona. tagdy hiläl Aalgasyny gushi Ayzmete, oldu sipihr bendei fermän pezir ona. d. h. wörtlich: Die Sonne, deren Lustwandel-Ort der weite Himmelsraum ist, Verdient den Platz nicht unter den Bettlern an der Schwelle. Es heftete den Ring des Neumonds an das Ohr der Knechtschaft, Es ward zum Sklaven, der den Befehl empfängt, der Himmel für Ihn. Jjir in V. 2 ist die ältere Form für jer. — chorshid degmez jir — „die Sonne ist den Platz nicht werth“ hat H. eben so sprach- als sinnwidrig aufgefasst = „der Sonne steht der Platz nicht an“. — In V. 3 hat derselbe hiläl fälschlich als Subjeet genommen, während es zu dem Object halgasyny gehört; als Subject ist sipihr aus V. 4. herüberzuziehen. — 164 — der Ring ist, nichtsdestoweniger den Ring tragen könne? Logik hin, Logik her — es reimt sich eben! Und so geht es bei ihm nicht nur in den folgenden Versen dieses Gedichtes fort, sondern auch seine Uebersetzung der übrigen Ghaselen strotzt, wo ich sie mit dem Original verglichen habe, von ähnlichem Unverstand und Ungeschmack. Sollte es gewünscht werden, so kann ich dafür die weiteren Beweise vorlegen. — Ich füge hinzu, dass jeder Kenner der Sprache schon aus der Art und Weise, wie Hammer türkische Wörter und Sätze mit lateinischen Buchstaben ausdrückt, dessen gänzlichen Mangel an philologischer Gründlichkeit und Genauigkeit abnehmen wird. Ich rede nicht von einzelnen Versehen und Inconsequenzen, wie sie da- bei leicht unterlaufen können, noch weniger von Fällen, in denen die Aussprache der Osmanen selbst schwankend ist, sondern von einer beständigen Verletzung feststehender Lautgesetze, wie sie Hammer aus den schon im vorigen Jahrhundert vorhandenen sorgfältigen Dar- stellungen Meninski’s und Viguier’s lernen konnte und wie sie billig auf einer orientalischen Unterrichtsanstalt gleich der zu Wien jeder etwas fortgeschrittene Zögling inne haben müsste, um nicht der ge- rechten Censur der Flüchtigkeit und Nachlässigkeit zu unterliegen 4. Uebrigens irrt Fallmerayer, wenn er meint, dass früher, ausser von Seiten der deutsch-russischen Akademiker, keine erheblichen. Zweifel gegen die „Gediegenheit* der Hammer’schen Leistungen auf dem Gebiete der türkischen Litteratur seien erhoben worden. Schon vor 42 Jahren deckte v. Diez die Leerheit der hohen Ansprüche jenes Summus Interpres durch eine ganze Reihe treffender und drasti- scher Exempel auf, an deren einige hier zu erinnern wohl geziemend sein dürfte. — Hammer versucht in dem zweiten Bande der Fund- gruben des Orients (8. 272) die Uebersetzung einer der leichteren Erzählungen des Humäjün-name, stolpert aber gleich in dem ersten Satze über den Doppelsinn eines Wortes15%. Es wird die friedliche Zurückgezogenheit zweier glücklich mit einander lebenden Tauben geschildert, von denen es wörtlich heisst, dass „durch keine Mühsal der Welt die Natur ihres Innern getrübt wurde.“ Hammer übersetzt statt dessen, dass „der Trinkort ihres Innern durch das Schicksal nicht verunreinigt ward.“ — Noch komischer ist folgendes Quidpro- 14) Die Begründung dieses Urtheils geben wir, weil sie einige Ausführlichkeit erfordert, unten im Anhange a). 15) Des arabischen meshreb vgl. Fundgruben II 272 v. Diez Denkwürdigkeiten Asiens II S. 676. — 15 — quo. Diez hatte einen der alten sogenannten Sprüche des Oghuz so verdeutscht: Wenn du auch des Khalifen Kleider anlegst, wirst du doch keine Matrone (oder Dame) 16. Das Wort ist an ein sich her- ausputzendes gemeines Weib gerichtet. Der sprachlich vollkommen klare Sinn wird noch überdies bestätigt durch die unmittelbar folgen- den Sprüche; als: „Gesträuch und Waizenstengel werden kein Holz. Wenn du gleich dem schwarzen Esel Halftern anlegst, wird doch kein Maulthier daraus. Taschenmesser und Federmesser werden kein Hackemesser* u. s. w. Nichtsdestoweniger will Hammer den an Sprachkenntniss und Sorgfalt ihm überlegenen Gelehrten verbessern und schreibt mit gewohnter Verachtung der Grammatik und des gesunden Menschenverstandes: „Ganz falsch! es muss heissen: wenn der Khalife auch Unterhosen anlegt, wird er desswegen doch nicht zum Weibe!* — Und doch ist dergleichen noch nicht das ärgste der Hammer’schen Dolmetsch-Meisterstücke. Das Schlimmste ist, dass er oft einer gan- zen Gedankenreihe in abenteuerlichster Weise einen falschen Sinn unterschiebt und dabei die wirklich dastehenden Worte wiederholt auf das ungenirteste ignorirt oder verdreht. Er steht dabei nicht selten unter dem Einfluss jener verdorben- orientalischen oder Münch- hausen’schen Phantasie, der wir bereits in der Topographie von Kon- stantinopel begegneten. In gewisser Hinsicht ist dies ein günstiger Umstand, insofern der Uebersetzungsfehler dadurch weniger gefährlich wird. Denn der aufmerksame Leser kann ihn mit Händen greifen. So in dem Beispiel, das wir der grösseren Anschaulichkeit wegen etwas ausführlie’ er mittheilen wollen. Im Eingange des Humäjün-name oder des königlichen Buches wird in poetischer Prosa eine grosse Jagd geschildert, welche der Padischah mit seinem Vesir und den andern Grossen unternimmt. Sonnenaufgang und Tagesanbruch werden in Bildern dargestellt, welche auf den folgenden Hauptgegenstand hinweisen. Die Sonne als der Jagdfalke des Nestes des Firmaments verscheucht die Ge- stime wie flatternde Nachtvögel von der Wiese des Himmels. Schon in der Dämmerung hat der Tag wie ein Spürhund seine Tatzen gleich Löwenklauen von fern schauen lassen und erschreckt vor dem An- blick ist die Nacht, die bisamduftende Gazelle, in die Wüste des Nichts entflohen 17. Die Himmelsflur beneidet das Gefilde, auf wel- 46) Türkisch: chalife don gejirsen, gadyn olmaz. Ebend. I 187 II 581, wo D. den Hammer’schen Einfall verdientermassen derb und gründlich abfertigt. Das gadyn olmaz fasst D. richtig = „so wird doch keine Matrone daraus.“ 17) Diez (über das königl. Buch S. 180 f.) hat durch ein im Anhang erörter- — 166 — chem der Herrscher in prächtigem Aufzuge zwischen den Reihen des Gefolges dahinwandelt, wie der Vollmond unter den leuchtenden Ster- nen. Eine seltsame Musik erfüllt das Ohr der wilden Thiere, näm- lich der helle Ruf der Jagenden, die Flötentöne der Pfeile, die Kla- gelaute der Bogen und Lanzen, welche die Männer gleich riesigen Plectren in den Händen halten. Zuerst werden nun von allen Seiten her die abgeriehteten Raubvögel von ihrer Schnur losgelassen, um das fliehende Wild zu ereilen, es umflatternd aufzuhalten und zu verwunden: so sind sie die Vorschmecker des Blutes der Waldesel und Schakale und spalten die Blase des Bisamrehs. Spürhunde im Tigergewand werden beim Anblick des Wildes wie des Antlitzes der Schönen und beim Hören der Melodien von Schakalen und Hasen ganz und gar Auge und Ohr. Doggen mit Löwenklauen vertreiben dann mit Schlürfen des Blutes und mit Fressen des Fleisches die Krankheit ihrer Gier, während zugleich die Vögeljagd beginnt, in- dem hochfliegende Habichte und langhälsige Falken bald wie abge- schnellte Pfeile und Erhörung findende Gebete emporsteigen als ob sie der Sonne, dem Himmelsadler, nachstellten, bald wie göttliche Verhängnisse und wie fallende Sterne sich hinabstürzen um mit blut- vergiessenden Schnepperkrallen den Vögeln die Ader zu schlagen. — Weiter schildert der Dichter, wie über die mannigfachen Bewohner der Lüfte und über alles Wild des Feldes das Verderben von rings- her zusammenbrach und wie alle Wege der Rettung versperrt wur- tes sprachliches Versehen) die schon hier stattfindende Nebeneinanderstellung der beiden Jagdthiere, des Edelfalken und des Spürhundes verkannt und lässt die Gazelle der Nacht vor dem Anblick der Klauen des Löwen des Tages entfliehen. Darnach hat Göthe in den Erläuterungen zum westöstlichen Diwan (Octav- ausg. Bd. VI S. 105) die beiden obigen Vergleichungen des Osmanen in zwei kleinen herrlichen Gedichten nachgebildet: That nnd Leben mir die Brust durchdringen , Wieder auf den Füssen steh’ ich fest: Denn der goldne Falke, breiter Schwingen, Uberschwebet sein azurnes Nest. Und das andere: Morgendämmrung wandte sich in's Helle, Herz und Geist auf einmal wurden froh, Als die Nacht die schüchterne Gazelle Vor dem Dräun des Morgenlöwen floh. Wir bemerken hier noch, dass Göthe auch das schöne Motto zu dem „Buch Suleika“ von Diez entlehnt hat. Es ist die Uebersetzung eines persischen Disti- chons Sultan Selim’s I s. Diez Denkw., I 254. — Einige sprachliche Erläute- rungen zu der obigen Stelle s. unten im Anhange b). — 17 — den. Er schliesst, indem er noch einmal die Stärke der Hunde und Falken durch die nachdrücklichsten Bilder hervorhebt, folgender- massen: „nachdem die Löwenräuber und die furchtbaren Zerreisser die Felder vom Weidewild und die Lüfte vom Vögelheer gereinigt hat- ten, liess der Padischah den Teppich des Vergnügens der Jagd zu- sammenwickeln,“ d. h. in Prosa: er hob die Jagd auf. Diese kunstvoll ausgeführte, im Einzelnen mehrfach sprachlich schwierige Darstellung hat Diez im Ganzen vollkommen richtig ver- standen und meisterhaft übersetzt. Galland, ein früherer französischer Dolmetsch, oberflächlich wie Hammer, aber nüchterner und verstän- diger, war bei jener Stelle durch die verwickelten Constructionen, durch den Doppelsinn eines persischen Wortes, welches zugleich Spürhund und Panther hedeutet, und durch die für den Oceidentalen seltsame Vergleichung der Hunde mit Löwen und Tigern in Verwir- rung gesetzt worden. Er weiss sich aber zu helfen, indem er eine Umschreibung nach eigner Phantasie giebt; wobei er neben den Hir- schen, Hasen und Füchsen ohne weiteres auch die Löwen, Leoparden und Tiger als gejagte Thiere aufzählt, als abgerichtete Jagdthiere aber richtig neben den Hunden die Sperber und Falken nennt. Hammer, der, ob er gleich Diez’s treffliche Uebersetzung vor sich hatte, doch immer noch in ähnlicher Lage war wie Galland, indem er nämlich, trotz seiner Läugnung der von Diez mit Recht behaup- teten Schwierigkeit des Buches, das Ganze jenes kühnen Gemäldes nicht verstand, gerieth auf einen andern, wenn man will, genialen Ausweg. Er fing‘.t, dass jene wilden Bestien neben den Hunden und Falken als abgerichtete Jagdthiere seien gebraucht worden. Freilich hat er von solch einer wunderbaren Jagd nicht einmal in Tausend und eine Nacht etwas gelesen, geschweige bei orientalischen Schrift- stellern, die von der Jagd handeln, aber das macht ihm keine Sorge. Man hat vielleicht an der Richtigkeit der Nachricht gezweifelt, dass Sultan Bajazid 6000 Hunde und 7000 Falken und andere Jagdvögel “ gehalten habe: Hammer macht ausfindig, dass die früheren Sultane auch noch abgerichtete „Löwen, Panther und andere Raubthiere“ auf der Jagd gebrauchten. Und seine Quelle? Eben die obige Schilderung des Dichters, für die er zuerst den rechten Schlüssel zu finden meint. Freilich will sich nach jener Hypothese die ganze Stelle durchaus nicht erklären lassen. Aber er braucht (denkt er) sie ja nicht dureh- gehends zu berücksichtigen. Es genügt ein und das andere Stück herauszuheben und auszurufen: „Dies muss so heissen! das muss so heissen!“ Trifft es sich doch, dass er den würdigen Diez wirklich — 168 — im Einzelnen bei einem Versehen ertappt. Und so wirft er sich in die Brust, sieht dessen verdienstvolle Arbeit mitleidig von oben an und schreibt buchstäblich wie folgt: „Jammerschade um diese so ganz verstümmelte schöne Beschrei- bung einer der bekannten grossen Jagden in Asien, und vormals un- ter den osmanschen Kaisern, wo abgerichtete Löwen, Panther und andere Raubthiere wider das Wild gelassen wurden. Man führt vor- züglich die Panther in Kisten eingeschlossen mit sich, und öffnet diese, sobald ein Wild sich in der Nähe zeigt. Unser Original sagt dies so deutlich, dass sich ein Sprachkundiger unmöglich irren kann.“ Unmittelbar darauf bringt der wohlweise Recensent in aller Unschuld eine geistreiche Selbsteorreetur herbei. Wo nämlich das Loslassen der Jagdvögel geschildert wird, da bringt er heraus — „Raubthiere, deren Halfter losgebunden wurden“ 18, Also jetzt werden die Löwen und Panther nicht in den Kisten, sondern an Halftern bis zur rechten Zeit zurückgehalten! Die Krone der Gedankenlosigkeit aber ist die Be- merkung über den Schluss unsers Abschnitts, welche so lautet: „Wo Herr v. Diez sagt: Nachdem löwenartige Räuber und furchtbare Zerreisser Felder von Weidevieh 19 und Lüfte vom Geflügel gerei- nigt hatten, ist im Original: als reissende und grimmige Löwen die Felder von kriechenden Thieren gereinigt hatten. Man sieht klar, dass mit Panthern und Löwen gejagt wurde, welche natürlich die Waldesel tödteten.“ Indem Hammer an jener Stelle ausdrücklich die beiden Bezeichnungen Räuber und Zerreisser (von denen in Wahrheit die eine sich auf die Hunde, die andere auf die Jagdvögel bezieht) im eigent- lichen Sinne von abgerichteten Jagd-Löwen versteht 2°, kommt also der Unsinn heraus, dass diese nicht bloss die Erde von den kriechen- den Thieren, sondern auch die Lüfte vom Geflügel gereinigt haben, denn die letztern Worte für unächt zu erklären, das wagt er doch 18) Im Original dshevarir, sing. dshärikat, nach dem Achtar!i — ay qushu atmadsha ve doghän gibi d. h. Jagdvögel wie Sperber und Falke. Sie wurden abgerichtet, selbst grössere Thiere an ihren schwachen Theilen anzugreifen, vgl. Diez Denkw. I. 743. 19) So übersetzt D. wörtlich den Ausdruck, der das Wild (Rehe, Hasen u. 8. w.) als weidendes bezeichnet (tsherende, was H. fälschlich durch „kriechende Thiere“ wiedergiebt). 20) H. liest sogar zwei Wörter, die „Löwen“ bezeichnen: shirän und hize- brän. So auch dieAusgabe von Bulak. Für die andere Lesart hezirän spricht aber sowohl der passendere Sinn, als der genauere Reim. Man vgl. die fol- gende Anmerkung. — 169 — nicht und kann es nicht wagen nach der Beschaffenheit des Textes *1, Hier gilt fürwahr der Spruch, dass es schwer ist nicht eine Satire zu schreiben. Treffend wendet Diez auf den eben so kühnen als ge- schmacklosen Phantasten den Vers an delphinum sylvis appingit, fluctibus aprum. Doch es ist nicht mehr als billig, dass wir dem ehrlichen Manne selbst ein etwas ausführlicheres Wort vergönnen, zumal derselbe in charakteristischer Weise schon damals wiederum in eine entferntere Vergangenheit zurückblickt, in welcher dem Herrn von Hammer be- reits bei seinem ersten wissenschaftlichen Auftreten mit der Bearbei- tung des Hadschi Chalfa seine Flüchtigkeit war aufgedeckt worden, ohne dass dies bei ihm zur Selbstbesinnung und Besserung geführt hatte. Hören wir denn, wie Diez seinem Gegner auf das obige „Jammerschade“ antwortet. „Man hat schon oft,“ beginnt er, „darüber lachen müssen, dass der Hofdolmetscher mit allen Sachen so bekannt thut, während dass er immer kein Wort davon weiss. So sehen wir ihn hier wieder mit seiner gezwungenen Selbstgenügsamkeit zum Vorschein kom- men, indem er behauptet, dass diess eine von den bekannten grossen Jagden in Asien sei, wo man mit abgerichteten Lö- wen und Panthern das Wild gejagt habe. Er stellt sich selbst als ob er dabei gewesen wäre, weil er die Leoparden in Kisten hin- tragen lässt. Wahrscheinlich hat er nur vergessen uns auch zu sagen, ob man die Löwen auf dem Arme oder in der Tasche hingetragen habe. Er hat ohne Zweifel im Thierhause zu Konstantinopel die Lö- wen, Panther und andere wilde Thiere jedes für sich in einer Kiste eingeschlossen beschauet und hat dann, da er einmal alles verkehrt zu sehen geboren ist, sich eingebildet, dass man die reissenden Thiere in solchen Kisten auf die Jagd trage, nachdem sie dazu, man weiss nicht wie? abgerichtet worden. Da ihm diese Art Jagd so bekamt sein soll: so wird es hier an seiner Stelle sein, eine Probe mitzu- theilen, welche er vor einigen Jahren von seiner grossen Bekannt- schaft mit der asiatischen Jagd überhaupt öffentlich abgelegt hat. In seiner encyclopädischen Uebersicht S. 457 lässt er den armen Hadschi Chalfa sagen.: 21) Die betreffenden Worte können nämlich schon der Symmetrie wegen nicht ausfallen, indem der Satz aus künstlich gereimten Parallelen besteht: tshün shirän? füttäk ve hezirän: hüttäk sachräjy tsherendeden ve haväjy perendeden päk itdiler. Wissenschaftliche Monatsschrift, II, 13 — 10 — Die Gliederkunde handelt von den Gliedern des mensch- lichen Körpers, lehrt, wie sie im Stande der Gesundheit er- halten, wie dieselben, wenn sie krank sind, geheilt und die Zeichen, wodurch ihre Stärke oder Schwäche für die Jagd oder andere körperliche Uebungen erkannt werden können. Der kundige Recensent in der Jenaischen Litteraturzeitung er- klärte sich hierüber wie folgt: Wer sieht es dieser lächerlichen Uebersetzung wohl an, dass der arabische Titel eigentlich Abrichtung derFalken zur Jagd oder Falkenbaize ausdrückt? — Statt Glieder müsste also in der Uebersetzung Falken gesetzt werden; dann wird man begreifen wie hier von der Jagd die Rede sein und wie dieser Artikel unmittelbar auf die Vieharzneikunde folgen könne. Die Flickworte „des menschlichen Körpers,“ „oder anderer körperlichen Uebungen“ sind blosse Einschiebsel des ver- legenen Uebersetzers* 22, Von diesen strengen aber wahrheitsliebenden Stimmen des wis- senschaftlichen Ernstes wenden wir uns zu den glatten schmeichelnden und die Wahrheit fälschenden Declamationen des Dilettantismus. Auch diese zu charakterisiren, liegt, wie durch das Weitere erhellen wird, wesentlich in unserer Aufgabe. Es thut uns leid einen Mann wie Fallmerayer, der zu besseren Dingen herufen wäre, als Repräsentanten jenes Unwesens hinstellen und an seinem Beispiele zeigen zu müssen, mit welcher Flüchtigkeit gewisse Lobe- Artikel unter dem Scheine der Sachkenntniss fabrieirt und als Sand dem Publieum in’s Auge ge- streut werden. — Wir haben gesehen, wie wenig die Zuversicht be- gründet war, mit welcher Hammer’s Leistungen auf dem Gebiete der türkischen Literatur als „nur wenig oder gar nicht angefochten® ge- priesen wurden. Indem der redefertige Journalist zu der persischen Literattur übergeht, sagt er: „Auch der metrisch verdeutschte Divan des heissblutigsten und genialsten aller Iyrischen Bettelmönche der eivilisirten Welt — des Schemseddin Mohammed Häfis von Schiras — hat durch die Neuheit des Arguments nicht weniger als durch die zaubervolle Melodie der Nachdichtung die Springfluth der Hammer’ schen Litteraturglorie noch erhöht.* Weiter unten wird dann die Ma- nier jener Uebersetzung besprochen und recht gründlich durch eine 22) Denkw. II 736 f. Das Citat geht auf Hammer's eneyel. Uebersicht II 457 und die (Jenaische, von 1804 an in Halle erscheinende) Allg. Litt.-Zeit. v. Oct. 1804 S. 154. Das missverstandene Wort ist ilmu "Ibaizarati (Wurzel bäz der Falke). - m — allgemeine Reflexion eingeleitet. „Die alte Controversfrage,“ heisst es „ob man den fremden Dichter bloss dem Geiste nach, oder ob man, ihn wortgetreu übertragen solle, vermögen wir nicht zu entscheiden. Zum Frommen gewissenhafter Leser wäre vermuthlich das eine wie das andere zu gleicher Zeit erwünscht. Auf welche Seite sich Ham- mer neige, ist unschwer zu errathen, wenn man seine Uebertragung eines der berühmtesten Doppelverse im Divan des Häfis mit dem Original vergleicht.* Hier folgt der hetreffende Doppelvers im per- sischen Grundtext; dann heisst es weiter: „Wohl hauptsächlich nur, um sich mehr der abendländischen Sitte und Ausdrucksweise zu nä- hern, übersetzt Hr. v. Hammer besagtes Distichum: Schenkte das Mägdlein von Schiras ihr Herz mir, ich gäbe Bochara Und Samarkand um den Sammt rosiger Wangen dahin. Nach dem Wortlaute müsste es aber heissen: Wenn der Türke von Schiras zu Handen brächte (schenkte) das Herz mir, Für sein dunkles Schönheitsmal gäb’ ich Samarkand und Bochara. Von Schiras-Mägdlein und von rosigen Wangen ist, wie der Leser sieht, im Original keine Rede. Diese Bemerkung soll aber kein Tadel des Uebersetzers, sie soll nur eine Erklärung sein.“ Bei dem angeführten Passus hat vielleicht mancher ehrbare Le- ser der allgemeinen Zeitung folgende Betrachtungen angestellt: „Dieser Referent ist offenbar eine ‘der wissenschaftlichen Zierden der Augs- burgischen Zeitungsbeilage. Welch eine gründliche Sachkenntniss ! Und welch eine bescheidenheit dabei! Er wagt ganz gegen Jour- nalisten-Weise eine alte Controversfrage nicht zu entscheiden, sondern bloss eine scharfsinnige Vermuthung in Betreff derselben auszusprechen. Ja er ist fast allzubescheiden! Hammer scheint doch in der That den berühmten Doppelvers bloss desshalb frei nachgebildet zu ha- ben, um jene widerliche Verkehrung der Natur, welche als ein Flecken der morgenländischen Poesie gilt, daraus zu beseitigen. Der vorsichtige Referent aber drückt sich so aus, Hammer habe wohl hauptsächlich nur, um sich der abendländischen Sitte und Aus- drucksweise zu nähern, frei übersetzt. Er lässt nach seiner allzu- grossen Bescheidenheit die Möglichkeit offen, dass noch irgend eine andre ihm unbekannte Absicht dabei mitgewirkt habe. Jedenfalls kennt er den Hammer’schen Hafis mit seiner zaubervollen Melodie der Nachdichtung aus dem Fundament und hat denselben bei seinem gründlichen Verständniss des Persischen wenigstens in zahlreichen Stellen mit dem Original verglichen. Er könnte also füglich apodik- tisch über die dort herrschende Uebersetzungsart sich äussern. Wenn — 1Nn2 — er dieselbe dennoch aus einem einzelnen, aber sicher, als für das Ganze bezeichnend, gewissenhaft ausgewählten Beispiele uns erra- then lässt, so ist auch das wohl hauptsächlich nur seiner grossen Bescheidenheit beizumessen.* Solche harmlosen Gedanken eines aufmerksamen Zeitungslesers müssen wir nun aber durch die Hinweisung auf einige sehr hand- greifliche Thatsachen berichtigen. Erstens: Fallmerayer’s Kenntniss des Persischen ist von der Art, dass er bei seiner angeblich wört- lichen Uebersetzung des sehr leichten Distichon’s sogleich in einer einzelnen Zeile zwei grobe Fehler macht, einen grammatischen und einen lexicalischen ®. Zu beiden lässt er sich, hier völlig ohne Hammer’s Schuld, durch dessen freie Uebertragung verleiten. — Zweitens: Eben diese freie Nachdichtung hat Fallmerayer gar nicht aus dem verdeutschten Hafisischen Diwan, über den er doch redet, sondern anderswoher entnommen, wie denn Hammer auch sonst manche orientalische Gedichte mehreremal bearbeitet hat. In dem Diwan $. 13 lautet das Distichon: Nähme mein Herz in die Hand der schöne Knabe von Schiras, Gäb’ ich für's Maal Samarkand und Buchara. Hier ist wegen des übelgewählten Horazischen Metrums die zweite Zeile etwas gewaltsam verkürzt; sonst aber ist die Ueber- setzung so wörtlich und genau, dass Fallmerayer bei Benutzung der- selben wahrscheinlich seine beiden obenerwähnten Schnitzer nicht ge- macht hätte — Drittens: Eine solche möglichst wörtliche Ueber- setzung erstrebt Hammer durchgehends in seiner Bearbeitung des Hafıs, wovon sich nicht nur der Sprachkenner durch Vergleichung einiger Ghaselen mit dem Original überzeugen kann, sondern was auch in der Vorrede des Werkes (8. VI f.) jeder deutsche Leser aus- 23) Persisch: eger än türkö shiräzi bedest äred dili märä bechäli hindujesh bachshem samargand ü buchärärä. Der grammat. Fehler: di! märä ist, wie F. richtig transseribirt, durch das hier wie so oft in der Aussprache wegen des Metrums verlängerte Je yzafet verbunden, also — mein Herz (im Aceus.) — der lexicalische Feh- ler: bedest avürden heisst so wie das türk. ele getirmek nicht einem andern etwas zu Handen bringen, sondern etwas in die eigne Hand bringen oder neh- men; es steht also hier von der Annahme des geschenkten Herzens. — In dem pers. Texte sind bei F. drei Fehler: zwei wol Druckfehler (es fehlt näml. Z. 1 äred und Z. 2 das rä am Ende): der dritte aber ein grammatischer und me- trischer: es steht nämlich bibachshem statt bachshem (letzteres ist der Conj. — Das Metr,. wie unten Anm. 25). — 173 — führlich hervorgehoben findet. Dort heisst es unter anderm: „Das höchste Ziel, nach welchem diese Uebersetzung ringt, ist die mög- lichste Treue nieht nur in Wendung und Bild, sondern auch in Rlıyth- mus und Strophenbau. Wo es möglich war, Vers für Vers wiederzu- geben, geschah es, und nie ist die Freiheit weiter ausgedehnt als auf die Verwandlung eines Distichons in vier Zeilen. Hiedurch un- terscheidet sich diese Uebersetzung gar sehr von den neuesten eng- lischen, die im eigentlichsten Verstande nichts als Paraphrasen sind- Hingegen ging durch so gewissenhafte Aufmerksamkeit auf gleiche Haltung und Weise, auf gleichen Schritt und Takt der Anklang des Reimes, welcher orientalischem Gehör eine unerlässliche Schönheit dünkt, gänzlich verloren. — Vielleicht möchte man in einigen Stel- len finden, dass ängstliche Treue zu weit getrieben und durch einige ganz dem Persischen nachgebildete Wendungen zu theuer erkauft wor- den. Allein, da die deutsche Sprache von der Griechin und Röme- rin so manches Geschmeide sich glücklich angeeignet hat, so dürften ihr ein paar von der Schwester, der Perserin, abgeborgte Ohrge- hänge um so weniger fremd zu Gesichte stehen*. So Hammer. — Aus dem allen wird sich der Leser überzeugen, dass die sämmtlichen wohlgesetzten Phrasen, durch welche der panegyrische Rhetor zu zeigen sucht, Hammer habe den Hafıs „nur dem Geiste nach, nicht wortgetreu* übersetzen wollen, nichts als blauer Dunst sind. Was nun die Frage betrifft, inwieweit der Uebersetzer des Hafıs das ihm vorschwebende Ideal erreicht habe, so erkennen wir gem an, dass das betreffende Werk zu seinen verhältnissmässig besseren Productionen gehört. Er hat (freilich gleichzeitig mit einer Menge anderer litterarischer Unternehmungen) auf dessen Ausarbeitung sieben, auf dessen Feilung drei Jahre gewandt. Er hat durchweg, wenn auch nicht eben mit vieler Sorgfalt, den trefllichen Commentar des Osma- nen Sudi zu Rathe gezogen.“ Der Verzicht auf den Reim hat ihm die Wörtlichkeit der Uebertragung erleichtert. Dennoch müssen wir auch hier sagen: die gelungenen Stellen sind vereinzelt und zeigen nur, was er bei grösserer Concentration der Kraft hätte leisten kön- nen. Von der angeblichen „zaubervollen Melodie der Nachdichtung,* von dem vermeintlichen thatsächlichen Beweise für „die geistige Ver- wandtschaft der Dichter-Idiome eines Göthe und Hafıs“ wird der unbefangene Leser nur hie und da leise Spuren finden, dagegen um so zahlreichere Proben einer hölzernen und geschmacklosen Ausdrucks- weise, die wahrlich nicht auf Rechnung des Originals zu setzen ist; denn aueh die für uns seltsamen und fremdartigen Bilder werden % — 1141 — hier mitunter, wie bei dem türkischen Lyriker, erst komisch durch die Art, wie sie deutsch wiedergegeben sind. Trotz der erstrebten „gewissenhaften Aufmerksamkeit auf Schritt und Takt* des Dichters opfert doch auch hier der Uebersetzer die genauere Wörtlichkeit oft ohne alle Noth und zum grossen Schaden des Originals, ja er haftet diesem nicht selten durch offenbare Verkehrung des sprachlich gege- benen Sinnes den Vorwurf der Widersinnigkeit an. Es zeugt von der Grösse des Göthe’schen Genius, dass er selbst aus dem in so mangelhafter Form mitgetheilten Stoff den wahrhaften Geist des per- sischen Dichters zu erkennen wusste und es war ganz in der Ord- nung, dass er für das Dargebotene dankbar war. Immer zeigte sich doch in jener Arbeit und eben so in anderen Hammer’schen Ueber- setzungen aus dem Persischen ein gewisses, wenn auch verwahrlostes, dichterisches Talent, das sich in einzelnen von Göthe sicher fein her- ausempfundenen Stellen bis zu wirklicher‘ Congenialität mit dem Ori- ginal steigerte, und das manchen anderen Orientalisten bei ihrer Be- handlung östlicher Dichter gänzlich abging. Wenn aber eben dess- halb dem Uebersetzer des Hafıs der Ruhm unverkürzt bleiben wird, in gewisser Beziehung „den Besten seiner Zeit genug gethan* zu haben, so dürfen wir ihn doch nicht bloss als Colporteur neues Stoffes für unsere Poesie betrachten, sondern müssen seiner Kraft und seinen Ansprüchen gemäss einen höheren Maasstab wissenschaftlicher Prüfung an seine Leistungen legen, und darum war es unsere Pflicht, auch neben unserer Anerkennung der relativen Verdienste des ver- deutschten Hafis jenes scharfe „Aber“ nicht zurückzuhalten, welches wir nun, insoweit es auf sprachlicher Vergleichung mit dem Grund- text beruhen muss, durch einige concrete Beispiele begründen werden, Wir wählen hier wie bei Baki gleich den ersten Doppelvers des Diwans ?*, den wir so zu übersetzen versuchen: Wohlauf, o Schenke! kreisen lass den Becher und kredenz den Wein, Denn leicht zuerst die Liebe war, doch schwere Dinge fielen drein. 2 Der leicht erkennbare Sinn ist, das der Sänger von den Schwie- rigkeiten, die ihm bei seiner Liebe in den Weg getreten sind, sich beim vollen Becher erholen will. Hammer beseitigt diesen Zusam- menhang, indem er ganz ohne Grund das Präteritum in das Präsens 24) Zu grösserer Bequemlichkeit für Sprachkenner stehe auch hier der Grundtext: x elä jä ejjüha ’ssäqt edir käsen we näwilhä ki‘yshq äsän nümüd evvel veli üftäd müshkilhä. De — 15 — und damit das, was der Dichter als eigenes Erlebniss ausspricht, in einen Gemeinplatz verwandelt. Er übersetzt nämlich: Reich mir o Schenke das Glas, Bringe den Gästen es zu, Leicht ist die Lieb’ im Anfang, Es folgen aber Schwierigkeiten. Hier ist „Schritt und Takt“ der Gedichte, man möchte sagen, recht muthwillig matt und lahm gemacht worden und zwar nicht nur hinsichtlich des Sinnes, sondern auch zugleich hinsichtlich des Me- trums. Denn der der persischen Form ?5 hier am nächsten entspre- chende Rhythmus ist der unseres achtfüssigen Jambus, an dessen Stelle ohne Noth eine schleppende metrische Spielerei untergescho- ben ist. Wir betrachten in demselben ersten Ghasel noch das dritte Vers- paar ?®, welches bei Hammer so lautet: Folge dem Worte des Wirths, Färbe den Teppich mit Wein. Reisende sind der Wege, Sie sind des Laufs der Posten kundig. Der fröhliche Uebermuth des Originals ist hier gänzlich ver- wischt. Das Wort, welches durch „Wirth“ übersetzt ist, hat einen von dem Dichter absichtlich gesuchten Doppelsinn. Es bedeutet „der Alte“ und bezeichnet mit dem daneben stehenden Zusatz sowohl den Vorsteher eines Derwischklosters, als den Wirth einer Weinschenke. Gewisse Derwischorden nehmen es auch heutzutage mit dem Weinver- bot des Islam am wenigsten genau, wie denn mir und einer fränki- schen Gesellschaft, mit der ich eine Strecke im Innern Kleinasiens zusammenreiste, in einem Derwischkloster bei Gördes unerwarteter Weise Champagner kredenzt wurde. — Der Teppich, von welchem der Doppelvers redet, ist derjenige, auf dem der Muselmann in den üblichen Stunden sein Gebet verrichtet. Er ist gerade gross genug, damit dieser nach vorgeschriebener Weise sich beim Gebet auf sein Angesicht niederwerfen kann. Es ist nicht eben verpönt, einen solchen Teppich auch zu andern Dingen zu gebrauchen. Aber auf demselben sich zu dem schon an sich verbotenen Weintrinken niederzulassen, das muss dem frommen Muselmann als besonders frevelhaft erscheinen. 25) Das Metrum ist ein 4 mal wiederholtes - — - - (hezedshi sälim). 26) Pers.: be mei sedshäshäde rengin kün geret piri mughän güjed ki sälik bi chaber nebved zi räh ü resmi menzilhä. — 116 — „Dennoch“ meint Hafıs, „thue es nur getrost, wenn der Derwisch- Obere (oder — nach dem schalkhaften Doppelsinne — der Schenk- wirth) dir es sagt. Denn solch einer Respektsperson muss man ja nach der Regel mönchischen Gehorsams unbedingt Folge leisten. Er wird dergleichen Dinge wohl verstehen. Ein Vielgereister (der füg- lich für Andere Führer ist) kennt ja Weg und Weise der Stationen, das heisst er weiss, wie man sich im Nachtquartier einzurichten und zu verhalten hat.“ Letzteres Bild kann im ernsthaftesten Sinne den Reichthum der Lebenserfahrung bedeuten; hier aber liegt darin die neckische Anspielung, der alte Kloster -Vorsteher liebe selber, die Wein- schenke gleichsam zur Station und zum Nachtquartier seiner Pilger- schaft zu machen. — Dies alles hat Hammer, der übrigens auch hier wörtlich zu übersetzen sucht, gänzlich missverstanden. Er hat das zweifellos zusammengehörige „Weg und Weise“ (oder Ordnung und Regel) der Nachtquartiere ?7” auseinandergerissen und daraus einerseits die Wege und andrerseits den Lauf der Posten gemacht. Was die letzteren hier sollen, das wäre in kurzer Anmerkung zu erklären wesentlicher gewesen, als die Horazische Parallele mero tinget pavimentum super- bum beizubringen — wie denn überhaupt die Noten zum deutschen Hafis öfter Entbehrliches bieten und Nothwendiges fehlen lassen. Alle Anspielungen der besprochenen Stelle wiederzugeben ist freilich nicht leicht; ein Versuch möge hier Platz finden: Mit Wein den Teppich färb, wenn dir’s der Meister von der Klause sagt, Denn solch ein alter Wandrer muss der Herbergsregeln kundig sein. Auf das zweite Ghasel des Diwans können wir den Leser als auf ein solches verweisen, in welchem unserem Uebersetzer Mehreres vortrefflich gerathen ist. Wir würden dies ganz besonders auch von dem vielleicht schönsten Doppelverse des Gedichts rühmen, wenn die- ser nicht leider durch die unrichtige Auffassung Eines persischen Wortes entstellt wäre. Wir meinen die Zeilen, welche Hammer übersetzt : Des Sinnes dich zu schauen kam mein Geist auf meine Lippen: Soll er entfliehn? soll er zurück? was ist dein Herrscherwille ? Der angedeutete Makel liegt in der Doppelfrage: „Soll er ent- fliehn? soll er zurück?“ Es muss nämlich vielmehr heissen: „Soll 27) Pers. räh ü resm’ menzilhä. — menzil bedeutet allerdings auch die Post, eigentlich die Poststation, auf welcher auf gewissen Haupstrassen nicht nur für Couriere, sondern auch für Reisende eine freilich meist sehr beschränkte Zahl von Pferden bereit gehalten wird. Ich weiss nicht, in welcher Ausdehnung diese — 17 — er (der schon bis zu den Lippen empor gekommene und auf dem Wege zu dir begriffene Geist) zurück? oder soll er weiter empor, d. h. vorwärts und zu seinem Ziele kommen ? (denn gerade dies letz- tere wird durch das hier stehende persische Zeitwort ausgedrückt) 28, Wir können daher dem Zusammenhange gemäss die zweite Zeile so geben : Soll er zurück? soll er zu dir? was ist dein Herrscherwille ? Jeder wird empfinden, wie die Kraft und die Zartheit des von dem Dichter beabsichtigten Sinnes durch die Verkennung jenes Einen Zeitwortes beeinträchtigt wird. Es würde der Begründung unseres oben ausgesprochenen schar- fen Urtheils über den Hammer’schen Hafıs etwas fehlen, wenn wir nicht auch hier ein anschauliches Beispiel von einem dem Dichter recht leichtfertig angedichteten blühenden Unsinn gäben. Es diene dazu Folgendes. Im ersten Doppelverse des vierzehnten Ghasels heisst es wörtlich: „Seele und Herz sind wegen deines Haares und Schön- heitsmaales in’s Unglück gestürzt“ 2%, Aus diesem einfachen Satze formirt Hammer folgenden sinnlosen Bombast: Mein Herz und meine Seele hat sich gestürzet in dein Haar und Maal. Man würde hier, um wenigstens einigermassen einen Erklärungs- grund für solche Verstümmelung des Dichters zu finden, gern eine verdorbene Lesart in der gebrauchten Handschrift voraussetzen, wenn nicht schon der längst gedruckte Text solche Annahme unmöglich machte und wenn man nicht bei dem Uebersetzer an solche Dinge gewohnt wäre. Das bisher Angeführte wird genügen um es zu rechtfertigen, wenn wir im Rückblick auf die unbegründeten maasslosen Lobpreisun- gen, mit welchen Fallmerayer die Arbeiten Hammer’s auf dem Felde der türkischen und persischen Litteratur erhebt, das Wort wieder- holen, welches ein wahrhaft gründlicher und gewissenhafter Orienta- list 30 schon i. J. 1844 ausgesprochen hat: „Man sieht, dass H. Fall- Einrichtung schon zu Hafıs Zeit bestand. Aber sicher denkt dieser nicht daran, wie denn auch gegenwärtig nur wenige Reisende von den Postpferden Gebrauch machen. Der Dichter spricht von dem, was der orientalische Reisende haupt- sächlich zu lernen hat, nämlich wie er sich im Nachtquartier behaglich einrichte, da er selbst in einem Khan für alle Lebensbedürfnisse selbst sorgen muss. 2») Es steht nämlich ber ämeden. Der ganze Halbvers lautet: bäz kerded? jä ber äjed? tshist fermän? shümä ? 29) Persisch: dshän ü dil üftäde end ez zülf ü chälet der bela. 30) Weil Einleitung in den Koran Vorrede S. XI. — 1718 — merayer nicht absichtlich von der Wahrheit abweicht, dass aber seine Sympathie für H. v. Hammer so gross ist, dass er in seiner Polemik für ihn auch von dessen Nachlässigkeit und Oberflächlichkeit ange- steckt wird.“ Eine so milde Auffassung wird uns dagegen, wenn wir gleich den besten Willen dazu haben, wahrhaft schwer gemacht durch die Art und Weise, wie Fallmerayer immer auf’s neue den freiwilligen Advocaten der Meisterschaft Hammer’s auch auf dem ara- bischen Sprachgebiete spielt, während dessen zahllose Stümpereien in dieser Beziehung (wir wissen bei der damit verbundenen Anmassung kein besseres Wort dafür) durch die geachtetsten Gelehrten wieder- holt aufgedeckt und dadurch allen Sachverständigen so bekannt sind, (dass hier neue Beispiele anzuführen völlig überflüssig wäre, obgleich man nicht weit darnach zu suchen hraucht. Und das weiss Fall- merayer selbst recht wohl. Er hat selber sich einst die Mühe gege- ben, die Fehler zusammenzuzählen, welche Weil in seinem Leben Muhammed’s bloss auf den 237 Seiten der den gleichen Gegenstand behandelnden Hammerschen Schrift nachweist, und er hat deren nicht weniger als 124 herausgefunden. Er weiss, dass eine erhebliche An- zahl dieser Fehler vollkommen analog denjenigen ist, von deren Be- schaffenheit auf dem Gebiete des Türkischen und Persischen wir oben auch dem Nicht-Orientalisten eine Anschauung zu geben versuchten, analog sowohl durch grossartige Ignorirung des lexiealischen und grammatischen Wortsinnes, als durch kühne Verachtung des gesunden Menschenverstandes. Ich erinnere hier bloss erstens an die Verse Abu Dudschana’s, der Muhammed’s Schwert mit dem Versprechen empfing, es nicht eher niederzulegen, bis es zerschlagen oder krumm gebogen sei, und der dann, in den vordersten Reihen streitend, ge- rufen haben soll: „Ich bin es, dem mein Freund das Versprechen abnahm — weil wir im Kampfe stets bei den Edeln — dass ich nie- mals in den hintern Reihen weilen werde, so lange ich fechte mit dem Schwerte Gottes und seines Gesandten* — aus welchen Zeilen Ham- mer, mit gewöhnlichem Missverständniss gewisser den Sinn entschei- denden Stichworte, die von den Gedanken des Originals eben so entfern- ten, als für sich selbst genommen saft- und kraftlosen Reime fabricirt : Ich bin, der auf den Freund vertraut, Der mit dem Schwert im Palmenhaine haut. Dass diese Welt besteh’ ist nicht gewährt, Denn ich, ich schlage sie mit Gottes Schwert. Ich erinnere sodann noch an die Scene in dem gegen den neuen Glauben feindlichen Mekka, als dort ein rascher Hülfe fordernder Bote — 179 — von der Karawane des Stammes anlangt, zum Zeichen der dringen- den Gefahr seinem Reitthiere Nase und Ohren abschneidet, dessen Sattel umkehrt, sein Gewand zerreisst und ausruft: „Gemeinde Ku- reisch! die Karawane! die Karawane!“ — statt dessen Hammer ihn rufen lässt: „die Ohrfeige! die Ohrfeige!“ 31 — Soviel versteht fer- ner Fallmerayer von dem Arabischen, um nach erhaltener Zurecht- weisung einzusehen, dass seine frühere Behauptung, „orientalische Eigennamen mit Sicherheit schreiben und lesen habe unsere Zeit erst durch Hammer gelernt,“ auf einem starken Irrthum beruhte, und dass Weil vollkommen recht hatte zu behaupten: „die Eigennamen sind | fast durchgängig bei H. v. Hammer so unrichtig geschrieben, dass ich ihn in Betreff derselben gar nicht mehr eitiren werde. So z.B. gleich in den nächsten Seiten (der Biographie Muhammed’'s): Abd Al Motallib für Abd Al Mottalib, Wehib für Wahb und Wuheib, Hadjim für Hadjun, Kabis für Kubeis, Koßa für Kußai, Homeir für Him- jar, Irwa für Urwa, Naaman für Nu’man u. s. w.“ Freilich hat Fallmerayer, wie es scheint im ersten Verdruss über seinen eigenen früheren Irrthum, jene einfache, wahrheitsgemässe und leidenschafts- lose Aeusserung Weils, ohne sie wörtlich zu eitiren, mittelst folgen- der durchaus “bgeschmackter und ungerechter Parodie vor dem Publi- kum lächerlich zu machen gesucht: „Setzt H. v. Hammer in einem arabischen Namen irgendwo statt des Doppeleonsonanten nur den ein- fachen oder umgekehrt und schreibt z. B. Motallib statt Mottalib, so schreit H. Dr. Weil, wie ein zweiter Polyphem mit dem glühenden Pfloek im Cyclopenauge, Zeter durch ganz Deutschland und möchte den Fall wie eine allgemeine Angelegenheit des menschlichen Ge- schlechts, wie einen Act grausenhafter Felonie auf einem europäischen Gelehrteneongress verhandelt sehen“ 32. Aber trotz dieser nur aus jeidigem Litteraten-Aerger zu erklärenden carricaturmässigen Verdre- hung der einfachen Sachlage war der leidenschaftliche Verehrer Ham- mer's doch noch ehrlich genug, um gleichzeitig zuzugestehen, dass “Weil, „wo er seinen Gegner grammatikalisch corrigire, sei es in Voealisirung eigener Namen oder in Erklärung bald einzelner Wör- ter, bald ganzer arabischer Phrasen, allezeit Recht und Hammer eben so oft Unrecht haben werde“ #3, Und in dem durch diese und 3) Vgl. Weil Leben Mohammed’s S. 103, 126 wo auch die arabischen Worte nachgesehen werden können. 32) Münchener gel. Anzeigen von 1844 $. 101. — ‚Die bezüglichen oben angeführten Worte Weil’s in dessen Leben Mohammed’s S. 21. 2°) Ebend. S. 113. — 130 — ähnliche Zugeständnisse sich kund gebenden gesunderen Urtheil' hätte er billiger Weise noch bestärkt werden sollen durch die eben so bün- dige und klare als würdig gehaltene Antwort Weil’s in seiner Vor- rede zur Einleitung in den Koran, wo die innern Widersprüche je- ner flüchtigen und leidenschaftlichen Recension ans Licht gezogen und die darin erhobenen ungerechten Beschuldigungen widerlegt wurden. Was soll man nun aber dazu sagen, wenn Fallmerayer nichts- destoweniger auch jetzt noch die schon damals von Weil 3* mit Recht getadelte Taktik anwendet, welche er seinem Schützling Hammer ab- gelernt zu haben scheint, die Taktik nämlich, das deutsche Publieum glauben zu machen, als handle es sich bei der Polemik gegen den berühmten Wiener Hofdolmetsch meistens nur um pedantische Er- bärmlichkeiten ? Denn dieser Wahn muss ja bei den Lesern der All- gemeinen Zeitung durch den Passus hervorgerufen werden, den wir, um die Sache vollkommen klar darzulegen, wörtlich anführen wollen. Nachdem.nämlich Fallmerayer in der uns bereits bekannten Virtuo- sität dreister Oberflächlichkeit behauptet hat, die das türkische und persische Litteratur-Gebiet betreffenden Arbeiten Hammers seien im Wesentlichen unangefochten geblieben, fährt er fort: „Um so heftigere Kämpfe hatte dagegen der Verklärte für seine zahlreichen Uebertra- gungen arabischer Schriftdenkmäler hauptsächlich mit der deutsch- orientalischen Kritik zu bestehen. Bekanntlich sind die deutschen Gelehrten in der Sprache des Koran von vorzüglicher Stärke, und die erbitterten Angriffe, die man, gleichsam um sich für die lange Zurückhaltung und Mässigung schadlos zu halten, in den gelehrten Journalen gegen die Hammer’sche Verdeutschung der „goldenen Hals- bänder* des arabischen Spruchdichters Semachscheri, besonders aber des grossen Lyrikers Motenebbi schleuderte, sind noch unvergessen; namentlich aber ist der Motenebbi-Fehde ihre tragische. Celebrität ‚bis auf den heutigen Tag geblieben, zum Beweis wie unversöhnlich und leidenschaftlich erbost die Recensenten sind. Nicht bloss über Werth und Genauigkeit der Uebertragung des grossen arabischen Lyri- ‚kers ward gestritten; man ist sich über schulgerechte Aussprache des -Namens Motenebbi beinahe noch wüthender in die Haare gefahren als über das Wesen der Arbeit selbst. Dass Urbanität im Ausdruck und weises Maass in der Gegenwehr überall auf Seite des Verfassers war, ist bei seiner Charaktermilde, feinen Sitte und Versöhnlichkeit selbst- verständlich“ 3, Diese rhetorischen Floskeln bilden einen ganzen 22) Einleitung in den Koran $. VII f. ?°) Augsb. Zeitung 1857 vom 6. Febr. 1857 8. 587. — 131 — Knäuel von Verdrehungen der wirklichen Thatsachen. Die Entwir- rung desselben wird zeigen, dass der ganze Vorwurf der unversöhn- lichen und leidenschaftlichen Recensenten-Erbostheit auf dessen Urheber zurückfällt, dem wir mit Samachschari zurufen: „Manche Waffe spricht zu ihrem Träger: leg mich ab! und manches Wort spricht zu seinem Sprecher : lass mich ungesprochen!* Wir fügen noch eine andere Sentenz des-edeln orientalischen Spruchdichters hinzu: „Ich kenne kein treffliche- res Wettrennerpaar als die Wahrheit und den Beweis. Gott erhalte sie eng aneinander geschlossen und nie sei ich ihrer beraubt als wechselseitiger Hülfsgenossen“ 38, Zuerst für Nichtorientalisten die Bemerkung, dass das Arabische für a und e und eben so für o und u nur je Ein Vocalzeichen hat und dass einerseits in fast unmerklichen Nuancen jene verwandten Laute in einander übergehen, andrerseits in gewissen Lautverbindun- gen einige arabische Stämme a, -da wo andere e, einige o, da wo andere u aussprechen. Daher kommt es, dass man bei verschie- denen Örientalisten Mohammed nnd Muhammed geschrieben finden kann’ und eben so Motenebbi neben Motanabbi, Motenabbi, Mu- tenebbi, Mutenabbi. Hammer schreibt in solehen schwankenden Fäl- len, indem er der türkischen Aussprache des Arabischen folgt, vor- wiegend e, daher auch Motenebbi. Und er hält dies nach seiner Art aus mangelnder Einsicht für das allein Richtige und sagt noch lange Zeit nach der sogenannten Motenebbi-Fehde, dass „manche Orientali- sten in verstockter Weise noch immer Motanabbi zu schreiben fortfahren.* Es ist möglich, dass auf der andern Seite Hammer’s osmanisirende Aussprache einmal von einem strengen Arabisten — vielleicht übertrieben — getadelt worden ist. Aber sicher hat grade hierauf keiner unserer hervorragenden Orientalisten, welche Ham- mer wegen seiner nnrichtigen Schreibung arabischer Wörter getadelt haben, ein besonderes Gewicht gelegt. Ihre Rüge bezog sich vielmehr im bestimmten Unterschiede hievon ausdrücklich auf die zahlreichen “bereits oben erwähnten Fälle, in welchen zweifellos eine Verwechse- lung oder Verstümmelung grammatisch feststehender Formen sich kund giebt?’. Es ist daher schon etwas ganz Ungehöriges, wenn gerade der angeblich hitzige Streit über die deutsche Schreibung des Na- 8) Samachschari's goldene Halsbänder 75. 38. 27) Vgl. Weil Leben Mo- hammed's S. 21, wo der oben angedeutete Unterschied ausdrücklich hervor- gehoben wird. Hammer’s Aeusserung über die Verstocktheit derer, die Mota- nabbi schreiben, steht in den Wiener Jahrb. für Lit. v. 1836 Bd. 75 S. 68. mens Motenebbi in den Vordergrund gestellt wird. Vollends als eine Fietion (die wir gern aus einer unwillkürlich dem Dienste parteii- scher Leidenschaftlichkeit verfallenden Phantasie ableiten wollen), und zwar als eine das Urtheil der Leser gänzlich irreleitende Fietion müs- sen wir es bezeichnen, wenn Fallmerayer behauptet, man sei sich über die schulgerechte Aussprache jenes Namens beinahe noch wü- thender in die Haare gefahren, als über den Werth und die Genauig- keit der Uebertragung des arabischen Lyrikers selbst. Er weiss recht wohl, dass alle namhaften Angriffe auf diese und ähnliche der ara- bischen Litteratur angehörigen Arbeiten Hammer’s sich um jene gro- ben Uebersetzungsfehler drehen, welche in ihnen nicht etwa hie und da, sondern massenweise anzutreffen sind, welche den Sinn des Ori- ginals oft durchgehends auf das jämmerlichste travestiren und welche eben dadurch solche Uebertragungen, wenn sie von Nichtorientalisten im Interesse des Geschmacks oder für geschichtliche Zwecke benutzt werden, zu wahren Mystificationen für das Publikum machen müssen. Er weiss ferner recht wohl, dass es nicht an seinwollenden Ovrienta- listen gefehlt hat, welche, in ihrem Dilettantismus mit ihm selbst gei- stesverwandt, eben so unermüdlich wie er, wenn gleich nicht in eben so glänzender Form, Hammer’s Lobredner waren. Er weiss endlich recht wohl, dass Orientalisten, welche wirklich, wie er ironisch sagt, in der Sprache des Koran von vorzüglicher Stärke sind und welche zugleich wegen ihres ehrenhaften Charakters in allgemeiner Achtung stehen, theils durch die Gefahr jener für das Gedeihen und die Ehre deutscher Wissenschaft nachtheiligen Mystificationen, theils auch eben durch die unermüdlichen, jene Gefahr mehrenden Lobhudeleien so wie durch Hammer’s eigenes naives Selbstlob recht eigentlich ge- nöthigt wurden, gegen dessen Uebersetzungs-Unwesen eine eingehende strenge Kritik zu üben, was sie denn auch mehrfach in einer so gründlichen und zermalmenden Weise gethan haben, dass Hammer, wie allen Sachverständigen bekannt ‘ist, nichts auch nur irgend Er- hebliches dagegen zu erwiedern vermochte, dass daher auch im Grunde gar nicht von einem weiteren Kampfe mit ihm und am we- nigsten von seiner in dem Kampfe bewiesenen Urbanität die Rede sein kann. Uebrigens hat Fallmerayer selbst früher einmal davon gesprochen, dass Hammer seine Gegner, auch die Franzosen Silvestre de Sacy und Quatremere „bald sanfter bald herber anlasse,* dass er „seine günstige Stellung unbarmherzig benutze und mit Wucher den Tadel zurückgebe, den man zum Theil mit so viel Bitterkeit und — 183 — Kleinigkeitssinn gegen ihn gerichtet habe“ ?®. Damals freilich stand sein vergötterter Heros noch wirklich in ungetrübter Glorie vor ihm, Er gewahrte bei demselben wohl einzelne Uebereilungen als Folgen seiner allzu „fabrikmässigen“ Productivitä. Aber in der Haupt- sache hielt er ihn auch in Betreff des Arabischen für seinen Gegnern überlegen. Er feierte ihn in eben dem nämlichen Journal- Artikel schlechthin als „den grössten lebenden Orientalisten nicht nur in Deutschland, sondern per orbem terrarum,“ hatte keine Ahnung da- von, dass in dessen Leben Muhammed’s, welches er als epoche- machendes Werk rühmte, eine so grosse Menge von schlimmen Feh- lern stecke und behauptete grade dabei mit einer freilich auf Un- wissenheit beruhenden Aufrichtigkeit, „orientalische Namen mit Sicher- heit schreiben und lesen, habe unsere Zeit erst von Hammer gelernt.“ Aber seitdem sind ihm doch namentlich durch Weil’s Buch die Au- gen wenigstens in etwas aufgegangen. Er hat ja dort die 124 in der gepriesenen Schrift Hammer’s nachgewiesenen Fehler zusammen- addirt und hat dessen Schwäche in der arabischen Grammatik zuge- stehen müssen. Glaubt er nun doch noch, dass derselbe einem Mei- ster des Arabischen wie Silvestre de Sacy gegenüber seine günstige Stellung „unbarmherzig benutzt und den empfangenen Tadel mit Wucher zurückgegeben habe“? Kommt ihm gar nicht der Gedanke, ob nicht etwa der vermeintlich zurückgegebene Tadel zum grossen Theil in neuen Proben der philologischen Schwäche bestand, wel- che der gegnerische Tadel getroffen hatte? Und doch wagt er jetzt noch, seine Leser so viel er kann in der Einbildung zu bestärken, als hätte Hammer heftige wissenschaftliche Kämpfe ehrenvoll bestanden und dabei „Urbanität im Ausdruck und weises Maass in der Gegenwehr überall auf seiner Seite gehabt“! Doch wagt er es gegen die achtungswerthesten deutschen Männer, welche ihrer Pflicht gemäss eine für Wissenschaftlichkeit und Genialität zugleich geltende Ober- flächlichkeit aufdeckten, öffentlich die gröbsten sittlichen Verdächti- gungen zu erheben, als hätten sie in „erbitterten Angriffen auf Ham- mer sich für die lange Zurückhaltung und Mässigung schadlos zu halten gesucht“, und sie zugleich als kleinliche Pedanten darzustel- len, welche wegen eines falsch ausgesprochenen Wortes und ähnlicher Miseren sich an dem Grossmeister ihrer Wissenschaft schnöde ver- griffen hätten! Da Fallmerayer diess trotz seiner früher hie und da sich kundgebenden besseren Einsicht gethan hat, so muss man an- 38) Münchener Gel. Anzeigen 1839 Nr. 196 S. 532. — 184 — nehmen, dass seine vieljährige an den Fanatismus streifende Partei- gängerschaft für den Verstorbenen und seine Recensenten-Erbostheit gegen die Männer der strengen Wissenschaft, vor denen er mit sei- nen dilettantischen Tiraden nicht zu bestehen vermochte, sein gesun- deres Urtheil zeitweilig immer wieder in seinem Bewusstsein verdun- keln und ihn gegen Jene Waffen verwenden lassen, welche er sicher bei ruhigerer Ueberlegung nicht gebraucht zu haben wünschen würde. Dahin rechnen wir insbesondere auch die Kriegslist, dass er den Schein annimmt, als habe er es nur mit den deutschen Orientalisten zu thun, während ihm recht wohl bekannt ist, dass hervorragende ausländische Gelehrte sich eben so entschieden über Hammer’s Ignoranz im Arabischen ausgesprochen haben. Wenn er dies nicht verschwiege, so würde freilich schon dadurch seine Hypothese, dass die wieder- holten Angriffe auf die Wissenschaftlichkeit des berühmten Wiener Orientalisten der Hauptsache nach aus gelehrtem Cliquen-Geist und Pedantismus hervorgegangen seien, an Wahrscheinlichkeit selbst für diejenigen verlieren, die etwa aus Unkenntniss geneigt sein möchten, auf so zuversichtliche Behauptungen hin sich die betreffenden deut- schen Fachgelehrten wirklich als eine solche eng zusammenhängende auf Hammer eifersüchtige Zunft vorzustellen. Um so mehr müssen wir, da in dem vorliegenden Falle für das Urtheil der Nichtorientali- sten das Gewicht der Autoritäten besonders in Betracht kommt, an ein Gutachten Silvestre de Sacy’s erinnern, der auf dem Gebiete des Arabischen unzweifelhaft in unserm Jahrhundert die höchste europäi- sche Autorität war. Seine wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit und sein ehrwürdiger Charakter sind weit über seine Heimath hinaus in dankbarem Angedenken. Das Einzige, was man ihm vielleicht mit- unter nicht ohne Grund vorgeworfen hat, ist eine zu grosse Nachsicht und Milde gegen das Oberflächliche und Mittelmässige. Er war über- dies Hammer’s alter Freund und die Art und Weise, in welcher er sich über denselben geäussert hat, trägt für jedes gerade und offene Gemüth den Stempel der Wahrhaftigkeit an sich, welche wie überall so auch auf dem Gebiete der Wissenschaft selbst der Freundschaft nicht zum Opfer gebracht werden darf. Was ihn zu jener Aeusse- rung veranlasste, war, um mit Fallmerayer zu reden, eben die Sa- machschari-Fehde, welche dieser als eine der Missethaten der deut- schen Orientalisten gegen ihr gebornes Oberhaupt bezeichnet und de- ren Ursprung und Verlauf wir daher zunächst in den Hauptumrissen uns zu vergegenwärtigen haben. Vielleicht ist es manchem Leser nicht uninteressant, auch einmal die Geschichte eines solchen nun — 1855 — schon der Vergangenheit angehörigen gelehrten Krieges, nach au- thentischen Aktenstücken dargestellt, zu überblicken. Zu Anfang d. J. 1835 gab Hammer als Neujahrsgeschenk für seine „Mitgenossen,* die Orientalisten, eine im Morgenlande hochge- schätzte und weitverbreitete gnomische Schrift des Samachschari, „die goldenen Halsbänder“ arabisch mit deutscher Uebersetzung heraus. Es standen ihm dabei zwei Maruscripte mit arabischen Interlinear- und Randglossen zu Gebote. Der Grundtext ist trotz dieser Hülfs- mittel ohne alle Anwendung der Kritik in nachlässigster Weise edirt und die Vebersetzung, die in der Vorrede als „sinn- und reimgetreu* bezeichnet wird, ist von Anfang bis zu Ende eine ächt Hammer’sche im schlimmsten Sinne des Worts. Die Schrift bietet durch den ver- derbten, oft nur schwer herzustellenden Text und durch die künst- liche bilderreiche Sprache viele Schwierigkeiten dar. Eine vollkom- mene Uebersetzung war daher auf den ersten Wurf von Niemandem zu erwarten. Hammer aber, der doch nun schon so lange auf die- sem Sprachgebiet sich bewegte, leistete hier wieder das Unglaub- liche in Verachtung der Grammatik und der Wortbedeutungen, wie des gesunden Mensckenverstandes und Geschmacks. Gleich in den leichten Anfangsworten sind auch hier in verhängnissvoller Weise grammatische und sprachliche Schnitzer begangen, wie man sie kaum dem Anfänger verzeiht. Der Eingang lautet nämlich: „Mein Gott, ich preise dich für das, was du von deiner Gnade mir geschenkt und für das, was du von deinem Zorne von mir abgelenkt, obgleich ich nicht würdig war der ersteren, und den zweiten verdiente.* Ham- mer übersetzt die letzteren Worte mit völliger Vernächlässigung des Zusammenhanges, des Numerus und des Genus: (ich danke dir) „dafür, dass du mich nicht gesetzt unter die Ersten, dass ich aber unter den Zweiten der Erste.“ Von den zahlreichen durch das Ganze hindurchgehenden grotes- ken Travestirungen geben wir folgende Proben. Im 63sten Spruche “wird der Mensch geschildert, welcher Vater und Mutter ehrt, Gott fürchtet und gegen seine Stammgenossen, selbst die feindlichgesinn- ten, ein edles Benehmen innezuhalten weiss: von diesem heisst es am Schlusse: „So ist nur der Zweig eines edlen Maadditischen Baumes, nur der, welcher eine den rechten Weg erstrebende grossmüthige Seele hat.“ Unglücklicher Weise bedeuten die Consonanten des Wor- tes ma‘addijjat (des von dem Namen des Volksstammes Maad gebil- deten Adjeetivs) nach einem bekannten von Hammer benutzten Lexi- eon auch ratis d. h. das Floss. Diess hat er nun für „Ratte“ ge- 14 — 1856 — nommen, aus dem Zweige des edeln Baumes einen König gemacht und darnach eben so kühn als nur für ihn selbst verständlich über- setzt: „So (wenn die Stammgenossen fest und eng aneinander ge- schlossen ) sind dieselben ein Rattenkönig, begabt mit Seele leitender, Gabe bereitender.* — Im 66sten Spruche heisst es von dem From- men: „Er spricht: der Blindheit Anfang wäre, wenn ich weidete rings um das Verbotene; dieses würde mich ins Verderben stürzen, jenes würde meinen Glauben verletzen.* Hammer hat wie dort die Ratten, so hier eine blinde Mähre und ihr zu Gefallen auch schie- lende Augen in den Text hineinphantasirt. Er übersetzt: „Man sagt: der Anfang der Blindheit besteht darin, dass man schielt wie eine alte Mähre, dieses verwundet die Glaubenslehre!“ — Im 74sten Spruche wird ein Uebermüthiger angeredet, der stolz seinen Blick emporhebt: „Mache doch gerade deine Augenlieder: vielleicht klopft schon der Walker dir die Todtenkleider!* Hammer macht aus den übermüthigen Blicken „Blicke vollem schmachtendem Verlangen“ und indem er das übrigens auch im Türkischen sehr gewöhnliche letzte Wort des Satzes nicht versteht, welches die „Todtenkleider“ bedeu- tet, hilft er sich, um doch den klopfenden Walker unterzubringen, dadurch, dass er die Augenlieder mit Walkerschlägeln niederschlagen lässt. Er übersetzt: „Ist dieses die Gleichheit der Augenlieder, welche vielleicht ein Walker mit seinen Schlägeln schlaget nieder?“ Zahlreiche Analogieen zu diesen Abenteuerlichkeiten wird der ver- ständige Leser aus der Hammerschen Uebersetzung der goldenen Hals- bänder, auch ohne eine andere bessere zu vergleichen, leicht heraus- finden. Wenn er z. B. im 17ten Spruche auf einen „Nasengeruch aus dem Gehirne“ stösst, oder im 23sten auf einen Hochmüthigen, der „sich verständiger dünkt als ein alter Bock,“ oder im 44sten auf Roheit-hauchende Bereiter der Seele,* oder im 57sten auf ein Muster der Schönheit, dessen „Zähne schön von einander abstehende Stulpen und dessen Leibes-Mitte fleischig wie Pulpen ist,“ oder im 9dsten auf einen Mann, der. (statt Quellwassers) „Wasser der Wunden schlürft,“ neben einem andern, der (statt Kameelmilch) „Palmenhonig“ kostet — so wird der Urtheilsfähige Dieses und Aehnliches nicht auf Rechnung des gelehrten und geistvollen arabischen Schriftstellers setzen, sondern vielmehr alsbald den wohlbekannten Typus der Ham- mer’schen Phantasie darin wahrnehmen. Die letztere verfällt eben oft (da wo das Verständniss des Originals gänzlich mangelt) unwillkür- lich in dieselbe Art fader und sinnloser Bilder, wie sie der Leser beim 47sten Spruche als Produkte absichtlich freier Selbstthätigkeit — 17 — kennen lernen kann, indem Hammer dort‘ einige sinnige Wortspiele des Grundtextes in der Randnote einigermassen richtig angiebt, in seiner Uebersetzung aber, angeblich als „schwaches Surrogat,“ einen „spasmodischen Spass“ und einen „periodischen Pierrot“ nebst einem allerdings nur für diesen passenden plumpen Witze zum Besten giebt — und das grade in einem recht orientalisch gravitätischen Spruche, des- sen (von ihm leider nicht verstandener) Anfang lautet: „der charak- terfeste Mann ist der, welcher nicht ablässt im Ernst und nicht ab- fällt zu dessen Gegentheil“ — in einem Spruche, welcher gegen das Ende hin den (leider wieder nieht verstandenen) Ruf ertönen lässt: „Wehe dir, o Possenreisser!“ — Aber freilich, wie sehr auch aus- serhalb solcher Gipfelpunkte des Unverstandes und Ungeschmacks der ganze Wein des Originals durch den Uebersetzer verfälscht und ver- wässert oder (wie die Araber sagen) getödtet ist, das wird ein der Grundsprache Unkundiger im ganzen Umfange nur dann durchblicken können, wenn er die Hammer’sche Uebersetzung mit einer anderen bes- seren vergleicht. Um ein anschauliches Bild davon zu geben, wie Hammer oft einen ganzen grösserek Zusammenhang Satz für Satz, Zug für Zug verdreht, theilen wir den 79sten Spruch vollständig mit. Es wird dort in recht characteristischer derber Weise der Gegensatz hinge. stellt zwischen der Kraft und dem Siege, die dem muthigen Glau- benskämpfer verheissen sind, und zwischen dem Elend und der Ver- achtung, die des in den höchsten Angelegenheiten Feigen und Ver- zagten warten. Wir versuchen im Anschluss an unsere hernach zu nennenden Vorgänger folgende Uebertragung: „Stark im Glauben Gottes waren Etliche — und ihre Worte zogen aus als gewappnete Schaaren, ihre Zungen sprangen hervor als gehärtete Schwerter, und Häupter der Stolzen beugten sich ihnen, Fittige der Fürsten neigten sich ihnen. Schwächlich waren Andere — und Hunde bissen sie an, Füchse pissten sie an, oder Klauen und Zähne zerrissen sie, Kamee- _ les- und Rosseshufen zertraten sie.“ Hammer hat jedes Glied der im Ganzen sehr leichten Periode aufs ärgste missverstanden. Er hat insbesondere den scharf hervortretenden Gegensatz völlig übersehen und desshalb in eben so hochkomischer als widersinniger Parodie die zweite Hälfte in das Prokrustes-Bett seiner Auffassung der ersteren Hälfte hineingezwängt. Er übersetzt nämlich: „Männer sind abgehär- tet und gekreuzigt worden in Gottes Horden, aus ihren Worten sind aller Orten bewaffnete Banden entstanden und aus der Scheide ihres Handelns und Wandelns fährt ein scharfes Schwert. Sie sind es, vor — 18 — denen sich die Häupter der Jagd bücken und welche den Fürsten die Flügel niederdrücken, so dass sie im ohnmächtigen Treiben die letzten bleiben. Sie sind es, von denen die Hunde werden geschla- gen und vor denen die Füchse pissend davonjagen. Sie sind es, welche die Klauen und Krallen beschneiden und den Sohlen und Hufen das Schlagen verleiden“ #. Wir verargen es manchen Lesern nicht, wenn sie es kaum glaublich finden sollten, dass solcher pos- sirliche Unsinn in der Schrift des weltberühmten Mannes wörtlich zu finden sei. Und doch hat er denselben sogar zweimal publieirt. Schon im sechsten Bande der Fundgruben hatte er nämlich Proben einer Verdeutschung der Sprüche des Samachschari gegeben, die aber, wie er selbst in der Vorrede zu den goldnen Halshändern meint, weniger „sinn- und reimgetreu®* war. Dennoch hat er gerade auch seine unglückliche Uebertragung jenes 79sten Spruches mit allen ihren Mon- strositäten wieder eben so abgeschrieben, wie er sie bereits 17 Jahre vorher in den Fundgruben veröffentlicht hatte. Hiervon kann sich ein Jeder durch Autopsie überzeugen. Trotz alle dem fehlte es dem Hammer’schen Samachschari nicht an anerkennenden, ja rühmenden Recensionen seitens Solcher, welche von dem Arabischen gar keine oder nur oberflächliche Kenntniss hat- ten und welche die Uebersetzung ohne Aufmerksamkeit und ohne ge- sundes Urtheil lasen. Um so mehr mussten gründliche Gelehrte zur Kritik aufgefordert werden. Diese übte Ewald in den Göttinger An- zeigen #° in kurzer und glimpflicher, aber doch sehr bestimmter Weise aus. Er erklärt, nur der herausgegebene Text, nicht die Ueber- setzung habe einen Werth. Auch der erstere sei „wegen der man- gelnden rechten Philologie“ sehr unvollkommen edirt. Die Ueber- setzung sei unsicher und (wie es euphemistisch ausgedrückt ist) „nieht sehr selten ganz falsch.“ Ewald führt als einziges aber charakteristi- sches Beispiel den auch von uns erwähnten ersten Satz des Eingangs an und bemerkt zu Hammer's falscher Auffassung desselben: „@e- setzt es wäre diess an sich ein würdiger Gedanke, obgleich er sehr missfällt und sich verdächtig macht; aber wo bleibt Grammatik und Wörterbuch ? wo der einfache Sinn für das Einfache?“ — Mehr in’s 3) Ich war hier lediglich Referent dessen, was Fleischer und Weil nach- gewiesen haben, auf deren Bearbeitungen des Samachschari ich dafür verweise. Einige sprachliche Erläuterungen s. im Anhange unter ce). Ich erwähne hier noch, dass das Räthsel des „Rattenkönigs“ in der oben angeführten Weise von Fleischer gelöst worden ist. 40) 1835 Nr. 98. — 189 — Einzelne ging ein anderer sprachkundiger Orientalist in einer der Jenaischen Litteraturzeitung # eingerückten Recension ein. Natürlich ist daher sein Tadel schärfer und derber. Er begründet durch eine Reihe schlagender Beispiele sein Urtheil, dass Hammer eine genaue und zuverlässige Uebersetzung zu Stande zu bringen sich völlig un- fähig zeige: „Denn“ fährt er fort, „die leichtesten Verbindungen sind für ihn ein Räthsel, welches aufzulösen er sich gar keine Mühe giebt; leicht oder schwer — er fährt halter drüber hin.“ Der Recensent schliesst mit dem auf Grundlage des Vorhergehenden völlig berechtig- ten Zuruf an den Uebersetzer, hinzugehen und die beleidigten Manen Samachschari’s um Verzeihung zu bitten. Die beste Art aber, die Ehre des in so trauriger Gestalt dem deutschen Publikum vorgeführten arabischen Spruchdichters zu retten, und zugleich dessen Beleidiger verdientermassen zu strafen, war der Versuch einer neuen Uebersetzung. Es ist sehr erklärlich, dass gleich- zeitig und unabhängig von einander auf diesen Gedanken zwei jün- gere ÖOrientalisten geriethen, Männer, welche noch jetzt Zierden der deutschen Wissenschaft sind, Fleischer und Weil. Beide traten in ihren Bearbeitungen des Samachschari mit der Behutsamkeit auf welche aus der klaren Einsicht in die vorhandenen Schwierigkeiten und in die Unmöglichkeit, das ganz Vollkommene zu leisten, her- vorgeht, aber auch mit der Zuversicht, welche da nicht fehlt, wo man sich auf dem Boden gründlicher und gewissenhafter Forschung bewegt und eben darum weiss, dass auch etwa unterlaufende Fehler nicht der Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit zugeschrieben werden können. Es ist ganz in der Ordnung, dass beide Arbeiten, da sie mit dem Interesse an dem arabischen Sentenzen-Buche die Polemik gegen Jammer’s prunkende Unwissenschaftlichkeit verbinden, diese Polemik auch schon auf dem Titel offen zur Schau tragen. Ueber den Grund und die Tendenz derselben hat Fleischer in seiner Vorrede sich in einer so würdigen und für die Beurtheilung Hammer’s überhaupt zutreffen- den Weise ausgesprochen, dnss Einiges daraus hier wohl am Orte sein dürfte: „Wenn incorrecte Textausgaben und fehlerhafte Uebersetzungen der ersten Zeit eines Sprach - und Litteratur-Studiums angehören, so finden sie billiger Weise Entschuldigung; strenger muss das Urtheil für die späteren Perioden werden, wiewohl der schwächliche gute Wille des Anfängers und Dilettanten, wenn er nur mit Bescheidenheit und Gewissenhaftigkeit verbunden ist, auch dann noch Nachsicht verdient; 4) 1835 Nr. 121 £. — 10 — liefern aber selbst hochangesehene Gelehrte im Mannesalter der Wis- senschaft, im Besitze aller äusseren Hülfsmittel, völlig unbrauchbare Arbeiten, die uns wie mit einem Zauberschlage in weit hinter uns liegende Zeiten zurückversetzen, was soll die Kritik dann thun? Wir meinen: ihre schärfsten Waffen gegen solche Ungebühr richten und, damit das Beispiel nicht ansteckend werde, in diesem Falle selbst Dinge bekämpfen, die eigentlich unter aller Kritik sind. — Alle Ehre ernster Wissenschaftlichkeit, auch wo sie irren sollte; aber strenges Gericht über spielende Oberflächlichkeit, umgäbe sie sich auch mit den glänzendsten Formen. Wahrlich es ist Zeit, dass wir deutschen Orientalisten in diesem Punkte strenger werden, sonst dürfte man sich nicht verwundern, wenn die „deutsche Gründlichkeit* bei den Herrn Mitbrüdern jenseits des Rheins und des Kanals allgemach in Verruf käme.“ Den Eifer und die wirklichen Verdienste Hammer’s um die Be- förderung der orientalischen Studien erkennen Ewald und Fleischer bei ihrer Polemik in den stärksten Ausdrücken an. Ersterer lobt sogar zugleich mehr als billig eine frühere Uebersetzung Hammer’s aus dem Türkischen als tüchtig und sprachgewandt. Weil erinnert an den „ruhmvoll leuchtenden Namen Hammer’s“, und dankt ihm öffent- lich für die ihm persönlich erwiesenen Gefälligkeiten; er fügt aber mit vollem Recht hinzu, dass Rücksichten darauf ihn von dem Aus- sprechen der vollen Wahrheit nicht zurückhalten dürfen. Auch der Recensent in der Litteraturzeitung erkennt sich dem Herausgeber des Samachschari für verpflichtet wegen der darauf gewandten Opfer, und bedauert nur, dass derselbe nicht auch mehr Sorgfalt darauf verwen- det habe, damit man ihm noch mehr danken könnte. Bei keinem dieser Männer trägt die Polemik einen irgendwie persönlichen Charak- ter. Sollte den beiden neuen Uebersetzern des Samachschari in ihren Anmerkungen, indem sie die zahllosen zum Theil höchst lächerlichen Fehler ihres Vorgängers durch die 100 Sprüche hindurch verfolgen, ein oder das andremal ein wirklich zu scharfer Ausdruck entschlüpft sein, so darf man ihnen das nicht zu hoch anrechnen. Der gerechte Unwille geht doch immer von der Sache aus, und wir sahen schon, wie es in diesem Falle schwer ist, nicht sarcastisch zu werden. Wenn z. B. Fleischer zum 93sten Spruche bemerkt, der „Palmenhonig“ scheine aus dem falsch gelesenen arabischen Worte abgezogen zu sein, um einen schmackhaften Gegensatz zu dem getrunkenen „Wundenwas- ser“ zu bilden, wenn Weil in Betreff der fast Wort für Wort wider- dersinnigen Uebertragung des 47sten Spruches entrüstet ausruft, der- — 191 — gleichen müsse im Auge von Nichtorientalisten oder Anfängern der arabischen Litteratur den Stempel des Wahnsinns aufdrücken, wenn er insbesondere hinsichtlich des eben dort figurirenden „spasmodischen Spasses“ und „periodischen Pierrots“ nebst Zubehör urtheilt, Hammer habe einen Spruch, welcher gerade die Spassmacherei verbiete, als ein wahrer Spassvogel übersetzt, so wird man mindestens zugeben müssen, dass hier die Satyre durchaus nicht mit den Haaren herbei- gezogen ist. Die schärfste Ironie liegt bei beiden häufig schon darin, dass der gegebenen richtigeren Uebersetzung die Hammer’schen Ein- fälle einfach in den Noten gegenübergestellt werden. — Wir fügen noch hinzu, dass Weil, der den Vortheil hatte, ein theilweise rich- tigeres arabisches Manuscript in Kairo verglichen zu haben, die etwas vor der seinigen veröffentlichte Arbeit Fleischer's mit der Achtung und Anerkennung behandelt, die sich unter solchen von selbst versteht, welche sich in dem ächten wissenschaftlichen Streben nach demselben Ziele mit einander verbunden wissen. In Wien herrschte schon geraume Zeit ein allgemeiner Enthusias- mus für den berühmten Landsmann. Die gegen diesen schon früher und zuletzt bei Anlass des verdeutschten „Motenebbi* erhobenen Angriffe hielt man für gänzlich bedeutungslos.. Eben im Jahr 1835 bemerkte die nach dem Titelblatt „im Geiste der Unbefangenheit bearbeitete“ Oesterreichische National- Eneyelopädie in einem Artikel über Hammer (in welchem man übrigens dessen bis dahin erschienene an Zahl und Mamnichfaltigkeit wirklich staunenswerthen Werke in grösster Vollständigkeit verzeichnet findet): derselbe habe „seine Geg- ner Diez, Hamaker und Senkowsky, deren Urtheile über seine Lei- stungen bloss von leidenschaftlicher Parteilichkeit geleitet worden seien, durch ruhige besonnene Entgegnung zum Schweigen gebracht #2.“ Einen gewissen Lärmen verursachte aber in Wien die erwähnte Re- eension in der Jenaischen Litteraturzeitung und zwar insbesondere der angeführte sehr richtige Satz: „leicht oder schwer — er fährt halter drüber hin.“ Das unglückliche, sicher nicht so böse gemeinte Wört- lein „halter“ wurde als ein Capital-Verbrechen gegen die Ehre aller Oesterreicher aufgefasst. Eine falsche Nachricht bezeichnete Fleischer als den schuldigen Recensenten. Gegen ihn machte nun zuerst ein Wiener Korrespondent der Dresdener Abendzeitung ??, (den wir übri- gens keineswegs als wirklichen Repräsentanten des ganzen achtungs- 42) Band II. 8. 488. #) 1835 Nr. 241. In Fleischer’s Vorrede X. XI. — 12 — werthen Volksstammes betrachten) seinem Ingrimm Luft in einem Briefe, aus welchem Einiges als integrirender Bestandtheil der Samachschari- Fehde und als psychologische Merkwürdigkeit aufbewahrt zu werden verdient. „Verzeihen Sie, Herr Redacteur, dieser Abweichung [soll heissen: Abschweifung], allein Sie kennen Wien und haben am besten beurtheilt, dass Oesterreich nicht so wegwerfend von einigen pedanti- schen, armseligen, nothleidenden Schulfüchsen behandelt werden soll. Da hat z. B. ein Herr Fleischer in der Jenaer Litteraturzeitung un- seren ehrwürdigen, gelehrten Hofrath, Ritter v. Hammer, ächt fleischer- mässig angefallen. Darüber nun kein Wort; Hammer, dessen Name europäische Berühmtheit besitzt, bedarf meiner Vertheidigung nicht, und findet er es der Mühe werth, einen so albernen Seribler zu Paaren zu treiben, so wird er dies schon selbst thun; aber auch gegen die Oesterreicher hat dieser Fleischerhund gebellt, hat ihnen ebenfalls das Halter! zum Vorwurfe gemacht und seinen Geifer gegen ein Volk ausgespritzt, von dem der letzte mehr in der Ferse hat als Herr Fleischer im Kopfe! Möchte es Herrn Fleischer doch gefallen, uns mit seinem unschätzbaren Besuche zu beehren, um uns näher zu be- trachten. —- Aber Herr Fleischer, der Schmerzenmnann, von dem Schiller sagt dass ihn ein Tübinger Buchhändler dem Allmächtigen nachgedruckt habe, er wird seine unheimliche Clause nicht verlassen ; die Wiener Studenten würde er fürchten müssen, von denen der schwächste mehr Witz an einem Tage zu verzehren hat, als Herr Fleischer im ganzen Jahre, die würde er scheuen; halter! wird er sagen, weit davon ist gut vor dem Schusse! — Halter-Fleischer, das ist klug von dir! — Unsere Theater-Zeitung, an welche sich Saphir angeschlossen hat, florirt ungemein; Saphir ist der Liebling des Tages. Wie wär's, wenn wir diesen über den Halter-Fleischer wettern liessen ? Aber dies wäre doch zu grausam! Vernichten wollen wir den armen Mann nicht, er soll leben und gedeihen in seiner Bornirtheit. Wir Oesterreicher sind zu gutmüthig, um selbst unsern Feind verderben zu lassen.* Trotz der angekündigten Grossmuth fing wirklich auch Saphir in der Theaterzeitung** zu wettern an. Der betreffende Artikel hat aber nichts von den diesem Humoristen zuweilen eigenen Vor- zügen. Der Angriff auf Hammer wird einer „dieken Vornehmthuerei, die aber nur eine geschwollene Anmassung ist,* beigemessen. Auch hier muss der vermeintliche Name des Recensenten herhalten. „Fleischerschwatz!“ 4) 1835 Nr. 201. — 13 — „Friede allen Fleischern!* „Haben Sie genug, Herr Fleischer ?* „Fleischern Sie so fort!“ — Das sind die Blumen dieser Polemik, Endlich trat in den Wiener „Jahrbüchern für Litteratur* #9 Ham- mer selbst auf den Kampfplatz. Von einer wissenschaftlichen Vertheidi- gung ist natürlich nicht die Rede, wie sie denn auch schlechterdings unmöglich war. Von Ewald nimmt er keine Notiz; den Recensenten in der Litteraturzeitung fertigt er mit einem arabischen Spruche ab, wornach der Esel nur durch Schläge zur Vernunft zu bringen ist. Die Angriffe seiner beiden Haupt-Gegner zählt er zusammen, bei Flei- scher 178 „gegen ihn gerichtete Noten,“ bei Weil „ein paar hundert angegebene Uebersetzungsfehler“; einige „wirkliche Verbesserungen“ seiner eigenen Uebersetzungen gesteht er dort zu finden; aber er thut, als wären dies nur ein paar geringfügige Kleinigkeiten und als ob die meisten Vorwürfe sich durch die Berechtigung einer freien Uebersetzung abweisen liessen. „Hätte ich,* behauptet er, „wie Rückert auf den Titel seiner Makamen Hariri's, „nachgebildet“ statt übersetzt geschrieben, so hätten die Herren F. und W. alle ihre unverdauten Brocken, die sie mir grob genug in’s Gesicht speien, im Magen behalten können.* Aus den zahlreichen ihm nachgewiese- nen, zum Theil höchst groben Versehen hebt er zwei Sätze — die übrigens bei weitem nicht von der ärgsten Art der Beispiele sind — heraus, um seine Auffassung derselben zu rechtfertigen: er beweist aber auch dadurch seine Unempfänglichkeit gegen jede noch so deut- liche und gründliche Belehrung #7. Auf der andern Seite beruft er sich darauf, dass es überhaupt keine vollkommenen Uebersetzungen gebe, auch die „des Meisters der Meisterer, seines verehrten Freundes, des Freiherrn Silvestre de Sacy, seien nicht fehlerfrei“; Fleischer sage ja selbst von sich, dass er auf Unfehlbarkeit keine Ansprüche mache, und in der That sei dessen neue Uebersetzung in vielen Stücken unrichtig — was nachzuweisen er andern Orientalisten überlasse. Al- lerdings eine sehr bequeme Art der Ausrede! Weiter unten bemerkt er sodann, es sei ihm „sehr erquicklich,* aus der inzwischen ihm zu Händen gekommenen Schrift Weil’s zu sehen, wie dieser wirklich Fleischer’s Uebersetzung zum Theil unrichtig finde, so dass „er selbst dem Bullenkampfe ruhig zusehen könne.* Solchen Ausdruck gebraucht er von der durchaus würdigen Art, in welcher Weil seine theilweise Abweichung von den Erklärungen Fleischer's ausspricht. Hammer 4) 1836 8. 204— 212. 4) $. die Belege im Anhang unter c.) — 14 — hat eben keine Ahnung von der Kluft, welche zwischen ähnlichen der Erwägung würdigen Verschiedenheiten der Ansicht und zwischen sei- nen eigenen abenteuerlichen Einfällen befestigt ist; er weiss nichts davon, dass selbst wirkliche Versehen gründlicher Forscher, wie eines de Sacy, Fleischer, Weil, nichts gemein haben mit den massen- weisen. Curiositäten, welche aus seiner eigenen gänzlichen Unwissen- schaftlichkeit hervorgehen. Er bestätigt so die Wahrheit des einst von ihm selbst übersetzten persischen Wortes: „Der welcher nicht weiss — und nicht weiss dass er nicht weiss, bleibt immer und ewig in doppelter Unwissenheit.“ Dennoch hatte Hammer sicher wider Willen ein gewisses Gefühl davon, dass die Vorwürfe, die man gegen ihn erhob, zum grossen Theil begründet seien. Nur daraus, dass er sich dies nicht eingeste- hen wollte, und dass die Wahrheit ihm wehe that, erklärt sich die Maasslosigkeit des Schimpfens, in die er sich verlor. Die davon angeführten Proben sind leider bei weitem noch nicht die schlimmsten, Auch Hammer findet in dem Einen unglücklichen „Halter* des Jenai- schen Recensenten „einen pöbelhaften Angriff auf die Oesterreicher überhaupt,“ wesswegen er in den beiden bewussten Artikeln der Abend- und Theater-Zeitung „verdientermassen sei zurecht gewiesen worden.“ Er hat nicht nur kein Wort des Unwillers über das Jäm- merliche jener Artikel, über die Rohheit und Plumpheit, mit der man auf ein leeres Gerücht hin ohne allen Grund (denn Fleischer war ja gar nicht der Verfasser der Recension) sich an dem Namen eines schon damals rühmlichst bekannten Gelehrten vergriffen hatte: sondern er nimmt sogar keinen Anstand, da nun inzwischen wirklich auch Fleischer gegen ihn aufgetreten ist, jenen Journalisten nachzuhinken und ihren ungesalzenen Wortwitz vollends müde zu jagen. So eitirt er einen türkischen Vers, in welchem der Fleischer genannt wird; macht die geistreiche Bemerkung, dass das „Schlächtergestirn“ der Morgenländer nach Ideler nur zu den Sternen dritter Grösse gehöre und meint, indem er unter einigen faden Anspielungen Weil’s Namen in Beil verwandelt, „der Fleischer habe nun also sein Beil gefunden.“ Das Traurigste aber ist der unversöhnliche Zorn, von welchem er sich gegen den längst verstorbenen Diez und gegen Fleischer, der an denselben zu erinnern gewagt hatte, zugleich bemeistern lässt. Er bezieht nämlich auf den Leipziger Gelehrten eine Stelle aus dem 23. Spruche des Samachschari, wie sie jener übersetzt hat, und sagt wörtlich wie folgt: „Er (Hr. F.)#? ist ein eitler Grübler und Conjee- 47) Diese Buchstaben sind hier bei Hammer selbst eingeklammert.a. a. O. S. 210. ( un turenmacher, der sich für einen Sternkundigen ausgiebt, und obgleich nach seiner eigenen Meinung ganz makellos, doch nach dem Urtheile frommer Leute ein überwiesener Lügner, der im Feuer Gottes (in der Hölle) gepeinigt zu werden verdient. — Und hiemit sei der Schatten des Hrn. v. Diez wieder in das Feuer der Hölle, die er dem Recensenten [hiermit bezeichnet Hammer sich selbst] so heiss zu machen sich bemüht hat, entlassen.“ Dies wird den Leser in den Stand setzen um die Behauptung Fallmerayer’s zu würdigen, „dass Urbanität im Ausdruck und weises Maass in der Gegenwehr überall auf Seiten Hammer’s gewesen, das sei bei seiner Charaktermilde, feinen Sitte und Versöhnlichkeit selbstverständlich.“ Unter den gegebenen Umständen war es für den Neubegründer ächter arabischer Philologie, für den, welchem als „dem Meister“ in dem Schlussverse der Erläuterungen zum westöstlichen Diwan Göthe einst sein Büchlein gewidmet hatte, für Silvestre de Sacy, eine Pflicht, sein unumwundenes Urtheil auszusprechen. Er unterzog sich derselben durch eine Anzeige der dreifachen deutschen Uebersetzung des Sa- machschari in dem Journal des Savants von 1836*8. In der Einlei- tung zeigt er, wie durch die augenfälligen Mängel der Hammer’schen Arbeit Fleischer und Weil unabhängig von einander zu der ihrigen veranlasst wurden. „Sie hielten,“ dies sind seine Worte, „im Interesse der orientalischen Litteratur und zur Ehre eines Studiums, dem sie ihr Leben gewidmet haben, für nothwendig, die Irrthümer des ersten Uebersetzers in’s Licht zu setzen. Um dieselben zu verbessern, er- schien beiden als das kürzeste und zugleich sicherste Mittel, eine neue Uebersetzung mit kritischen und erklärenden Anmerkungen zu geben. Dies war in der That die loyalste Weise, gegen Herrn v. Hammer mit gleichen Waffen auf den Kampfplatz zu treten.“ Er fährt sodann fort: „Nicht ohne Widerstreben übernehmen wir die uns obliegende Aufgabe bei diesem wissenschaftlichen Streit in’s Mittel zu treten und, um von vornherein unsere Meinung auszudrücken, so müssen wir bei aller unserer stets bezeugten Achtung und Freund- schaft für Herrn v. Hammer sagen, dass derselbe in Folge jener staunenswerthen Thätigkeit, die ihn so viele verschiedene Werke in kurzer Zeit hervorbringen lässt, sich in seinen Uebersetzungen allzu oft mit dem ersten besten & peu pr&s, das sich seinem Geiste dar- bietet, begnügt, und dass er, wenn es sich um arabische Texte han- delt, der grammatischen Analyse nicht hinlänglich Rechnung trägt #) 8. 715724. — 196 — und lieber durch eine Breche zum Ziele zu gelangen sucht, als dass er sich durch die den Zugang verwehrenden Hindernisse den Weg bräche. Diese Bemerkung haben wir zu unserem aufrichtigen Bedauern schon seit langer Zeit gemacht und sind dadurch wiederholt abgehal- ten worden über die Werke, mit denen er die orientalische Litteratur bereichert hat, Bericht zu erstatten.“ Weiterhin bemerkt er, in Be- treff der vorliegenden Schrift des Samachschari werde er sich nicht damit aufhalten zu zeigen, dass Hammer in einer Menge von Stellen den Sinn total missverstanden habe. Dies sei gegenwärtig eine durch Fleischer's und Weil’s Kritik bewiesene Thatsache. Er beschäftigt sich sodann einzig mit dieser Beiden Arbeiten, deren Gediegenheit er volle Gerechtigkeit widerfahren lässt, wenn er auch mehrere Bei- spiele von Stellen giebt, die er anders fasst als sie und in denen er namentlich den Grundtext nach den zwei in Paris vorhandenen Manuscripten zu verbessern sucht. Schliesslich bemerkt er, dass wem daran liege den ethischen Inhalt des Buches kennen zu lernen, jede der beiden Uebersetzungen dazu dienen könne, und dass durch Com- bination der kritischen Bemerkungen Fleischer’s und Weil’s es auch möglich sei, den bei Hammer gänzlich eorrumpirten Grundtext wesent- lich zu verbessern. Des letzteren Uebersetzung erwähnt er dabei gar nicht mehr und bestätigt so die deutsche Kritik, welche dieselbe gleich zu Anfang für unbrauchbar erklärte. Mit der dargelegten wissenschaftlichen Schwäche Hammer’s auf dem Gebiete der drei islamitischen Hauptsprachen hängt auch der sehr relative Werth seiner historischen Arbeiten eng zusammen. Denn da diese zum grossen Theil aus den nur für Wenige zugänglichen orientalischen Quellen geschöpft sind, so kommt Alles auf das Maass des Vertrauens an, welches man dem Bearbeiter hinsichtlich des rich- tigen Verständnisses seiner Gewährsmänner schenken darf. Hammer selbst erkannte das wohl und gerieth in einen bei den Verständigeren grade Verdacht erregenden Zorn, wenn man seine unbedingte Zuver- lässigkeit irgend bezweifelte. Er verlangt in der Vorrede zum ersten Bande der osmanischen Geschichte, dass „man ihm (so lange das Gegentheil unerwiesen) vollen Glauben beimesse; jeder Verdacht von ungetreuer Uebersetzung, von ungenauer Anführung falle (wenn zuletzt als Rechtfertigung die bezweifelten Stellen im Original beigebracht werden) auf den muthwilligen Zweifler als unbefugte Verletzung schriftstellerischen Leumundes mit Schande zurück.“ Mit Recht be- merkte dagegen der besonnene und übrigens das Verdienst des be- treffenden Werkes im höchsten Maasse anerkennende Recensent in der — 117 — Jenaischen Litteraturzeitung von 1836 (S. 405), dass selbst der ge- wissenhafteste Schriftsteller in ähnlichem Falle so hohe Ansprüche nicht erheben dürfe. Er würde noch strenger geurtheilt haben, wenn er die philologische Ungenauigkeit des Geschichtschreibers im ganzen Umfange durchschaut hätte, Auch Fallmerayer hat in früheren Recensionen von historischen Werken Hammer’s dessen zahlreiche Flüchtigkeiten nicht unerwähnt gelassen. Er meint, dass derselbe seine Werke vor dem Druck gar nicht noch einmal durchzulesen scheine. Er erwähnt, wie nach einer Stelle einer Hammer’schen Schrift 250000 Einwohner einer eroberten Stadt erschlagen werden, welche Summe einige Seiten später auf 100000 zusammenschmelze. Er führt ein paar Curiosa an, welche die deutsch-russischen Akademiker in der Geschichte der goldenen Horde bemerklich machten. Dort wurde z. B. von den Petschenegen gesagt, dass sie Rauchtaback essen und aus dessen Blättern eine Art Wein bereiten — eine Notiz, die auf der Verwechselung zweier ähn- lich lautender Worte für „Taback* und „Hirse* (duchän und duchn) beruht. Dort wurde ferner eine Stelle aus dem alten merkwürdigen Berichte Ibn Fosslän’s über die noch heidnischen Russen, welche als „Menschen von vollkommenem Körperbau, hoch wie Palmbäume und von röthlich weisser Farbe* geschildert werden, dahin umgekehrt, dass „keiner von ihnen einen vollkommenen Körper habe und dass sie gelblich und weiss wie Datteln seien“ -— eine Verdrehung, welche darin ihren Grund hatte, dass Hammer die ganz verschieden klingen- den und sehr gewöhnlichen Ausdrücke für Palmbäume und Datteln in der Eile mit einander vermengte und welche (wie wir hinzufügen ) Hammer’s Flüchtigkeit um so mehr charakterisirt, als er einige Jahre vorher in seiner Recension der trefflichen Frähn’schen Uebersetzung des Ibn Fosslän eben jene Stelle vollkommen richtig ausgeschrieben hatte. Die genannten seltsamen Schnitzer führt Fallmerayer wie ge- sagt selbst an. Ja er traut sogar einmal ohne Grund dem Manne seiner glühenden Verehrung einen ähnlichen Widersinn zu, indem er einen Druckfehler als eine falsche Uebersetzung annimmt und dabei in der Eile selber einen Uebersetzungsfehler macht. Wir meinen eine Stelle in dem historischen Gemäldesaal, wo der Vertheidiger einer belagerten Stadt einen Boten nach Damaskus schiekt, welcher dort zum Zeichen der höchsten Bedrängniss Frauenhaar vorzeigen muss, als Versinnbildlichung eines Wortes in dem mitgeschiekten Briefe: „Die Ungläubigen sind auf dem Punkte unsere Frauen bei den Haa- ren fortzuschleppen.“ Hier ist sicher bloss durch einen Druckfehler — 1% — „uns“ statt „unsere* gesetzt und Fallmerayer’s angeblich bessernde Uebersetzung aus dem Türkischen ist eben so überflüssig als ungenau ®, Aber dergleichen Dinge machten Fallmerayer in seinem Enthu- siasmus nicht irre. Er äusserte sich darüber in folgender Weise: „H. v. Hammer ist eben so wie der Sultan Sindschär, der nach Mirchond zwar das Detail der Regierungsgeschäfte vernachlässigte, aber wie das Schicksal selbst erschien, so oft es die Entscheidung grosser Dinge galt.“ Und anderswo: „Schlimm wäre es für die Nei- der, aber zugleich der grösste Dienst für ihn selbst und für die Wissenschaft, wenn Herr v. Hammer es über sich vermöchte, mehr in die Tiefe als in die Weite zu arbeiten, eben so abgöttisch der Form als der Materie zu huldigen, eine geringere Zahl Werke abzufassen, aber etwas mehr Sorgfalt auf das Schnitz- und Schnörkelwerk und auf die Arabesken seiner litterarischen Prachtbauten zu verwenden. Ein einziges Werk, wenn vollendet, giebt die Unsterblichkeit. — Aber wer den brennenden Thatendrang, die Unruhe, das expansive, be- wegliche, ungeduldig tobende ingenium des H. von Hammer kennt, weiss auch, dass jedes Rathen dagegen vergebene Mühe und Zäh- mung des wilden Elements ihm selbst unmöglich ist. H. v. Hammer ist kein Mann des Details, der Feile, der multa litura und giebt Blössen, die man an diesem Manne mit ambitiösem Erstaunen bemerkt, mit Hohn und Bitterkeit marktschreierisch herumposaunt und am Ende schadenfroh als Substrat allgemeiner Verwerfung oder Verdächtigung der unschätzbaren Hammer’schen Werke unterlegt“ 50, Diese Urtheile sind bei einigen treffenden und charakteristischen Zügen doch in der Hauptsache falsch und ungerecht. Was man in Ham- mer’s geschichtlichen Werken vermisst, ist wahrlich nicht bloss eine 49) Die erwähnte Stelle aus Ibn Fosslän führt H. aus der bezeichneten Ueber- setzung richtig an in den Wiener Jahrb. XXXIX 8. 19. Die betreffenden Aeus- serungen F’s. stehen in den Münchener Gel. Anz. 1842 S. 649. 1839 8. 537 u. 565. Letztere Stelle bezieht sich auf den hist. Gemäldesaal V 228. Die türk. Worte lauten nach richtiger Transscription: Küffär ‘avretimi satshlaryndan tutub götürüjorlar. H. hat den Numerus in ‘avretimi allerdings ungenau übersetzt, aber das Wort sicher nicht für „uns Weiber“ genommen, was ihm F. vorwirft. Dieser sagt: „Gewiss wird sich jedermann zweimal besinnen, H.v. H. im Tür- kischen zu corrigiren, aber hier ist der Fehler so flagrant u. s. w. — Nach den gewöhnlichen Regeln der Grammatik heisst obige Stelle: die Ungläubigen sind auf dem Punkte meine Frau bei den Haaren anzufassen und hervorzuschleppen.* F. verwechselt dabei götürmek mit getirmek. tutub ist einfache Umschreibung unseres bei den Haaren. 50) Ebend. 1839 8. 537. 1842 S. 649. — 19 — „abgöttische* Cultur der Form, eine Sorgfalt in Arabesken, Schnitz- und Schnörkelwerk, sondern dasjenige was Niebuhr als das Aller- nothwendigste für den Geschichtsforscher in den schönen Worten be- zeichnet: „Vor allen Dingen Gewissenhaftigkeit und Redlichkeit fern von Schein und Eitelkeit, gewissenhafter Wandel vor Gottes Ange- sicht.* Diese Eigenschaften mussten aber Schaden leiden bei einem Schriftsteller, bei welchem nach Fallmerayer’s eigenem Ausdruck das „Bücherschreibungsfieber ein nie intermittirendes war,“ welcher nach Ebendesselbigen Meinung „es vorzog seine Nebenbuhler mehr durch die Masse seiner Produkte als durch Sorgfalt und innere Vollendung zu überwinden“ und welcher nach Ebendesselbigen Vorstellung an den Tadlern seiner Uebersetzung des Motanabbi sich dadurch „rächte,* dass er in dessen hernach abgefasster Biographie lange Stücke aus jener Uebersetzung noch einmal abschrieb und „mehr eine poetische Blumenlese als eine eigentliche Lebensbeschreibung lieferte“ #1. Kein Unbefangener wird uns so missverstehen, als ob wir hiermit Hammer irgend einer bewussten Beeinträchtigung der geschichtlichen Wahrheit beschuldigten. Wir zweifeln nicht daran, dass es ihm Ernst war mit den Worten, mit denen er nach Anführung mehrerer biblischer Sprüche _ die Vorrede zu seiner osmanischen Geschichte schliesst: „Wie die Bildsäule des Memnon beim Aufgange der Sonne, dieses leuchtenden und wärmenden schönsten Symbols ewiger Liebe und Wahrheit, dem ersten Strahle derselben wiedertönt, so wiedertöne dieses Gebilde os- manischer Geschichte den Sonnenstrahl historischer und östlicher Er- kenntniss in Wahrheit und Liebe!* Aber der gute Wille wurde bei ihm nicht zur That, weil er nie zu einer klaren Einsicht in dasjenige gelangte, was ihm zu einem ächt wissenschaftlichen ‘geschichtlichen Verfahren fehlte. Jene einzelnen seltsamen Versehen sind nur Phäno- mene der über das Ganze verbreiteten Krankheit der Ungenauigkeit und Oberflächlichkeit. Bemerkt doch Fallmerayer selbst, indem er an - Weil’s Leben des Muhammed die Zuverlässigkeit seiner Citate und ihrer Deutung rühmt, „dass das Gleiche von keinem seiner Vorgän- ger, am wenigsten von dem berühmten Verfasser des Bil- dersaales zu sagen wäre;* giebt er doch zu, dass die betreffende Lebensgeschichte erst durch Weil „eine sichere Grundlage und einen höheren Grad wissenschaftlicher Vollendung“ erhalten habe. Und in der That am wenigsten kann bei Hammer von einer gründlichen Ver- arbeitung des gesammelten Stoffs, von einer geschichtlichen Kritik 5) Ebend. 1839 S. 565. 548. — 200 — und Kunst die Rede sein. Davon wird sich der Leser bei jedem beliebigen Werke desselben überzeugen. Wohl begegnen wir auch hier ähnlich wie in den poetischen Arbeiten desselben Verfassers ein- zelnen Spuren eines hervorragenden Geistes, einzelnen charakteristischen, scharfsinnigen, geistvollen Zügen, aber auch dann wird unsere Freude durch das Gefühl beeinträchtigt, dass wir uns doch immer auf unzu- verlässigem Boden befinden. Fallmerayer’s Versicherung, dass Ham- mer trotz seiner Vernachlässigung des Details wie das Schicksal selbst erscheine, wo es die Entscheidung grosser Dinge gelte, wird bei dem Sachkundigen nur ein Lächeln erregen können. Die Phantasie, als ob die ausgezeichneten Gelehrten, welche von Zeit zu Zeit auf Ham- mer’s Unzuverlässigkeit mit gutem Recht hingewiesen haben, dabei von Neid und marktschreierischer Ambition geleitet worden seien, wollen wir der uns bereits hinlänglich bekannten Hammeromanie eines Mannes verzeihen, welchem wir gern die Rückkehr zu den rühm- licheren Anfängen seiner trotz ihrer Einseitigkeit verdienstvollen pelo- ponnesisch-mittelalterliehen Forschungen wünschen möchten, während seine Journalisten- und Recensententhätigkeit schon seit lange in Lob und Tadel eine zunehmende krankhafte Verbitterung athmet und in der That mehr als jene sprachliche Censur des arabischen Philologen an einen „Polyphem mit dem glühenden Pflock im Cyelopenauge“ gemahnt. Werfen wir einen Blick auf einige der namhaftesten einzelnen historischen Werke Hammer’s, so ist einem derselben, der Geschichte der goldenen Horde, einer einst in einem Theile des jetzigen Russ- lands herrschenden mongolischen Dynastie, eine besonders solenne Be- urtheilung durch die Petersburger Akademie zu Theil geworden, um deren für jenes Thema i. J. 1832 ansgesetzten Preis er sich durch seine Arbeit beworben und dabei an einer Stelle derselben seinen Namen bezeichnet hatte. Auf diess ausführliche Gutachten zweier nun auch verstorbener für den betreffenden Gegenstand besonders competenter Männer, die durch gründliche Forschungen für die Wis- senschaft neue Bahnen gebrochen haben, nämlich Frähn’s und Schmidt’s, beschloss die Akademie den Preis nicht zu ertheilen und nahm, wie gewöhnlich, eine kurze Angabe der sie dabei bestimmenden Motive in ihre hernach gedruckten Verhandlungen auf2, Es wird in diesem Bericht anerkannt, dass der Verfasser eine umfassende Gelehrsamkeit und Belesenheit zeige, dass er verschiedene Thatsachen unter einem 52) Sammlung der Acten der Akad. von 1836 $. 44 — 46. — 201 — interessanten und neuen Gesichtspunkt auffasse und durch mehrere frappante und 'scharfsinnige Bemerkungen den Werth seiner Arbeit erhöhe. Bei aller Anerkennung dieser schätzenswerthen Eigenschaf- ten habe aber die Akademie mit Bedauern bemerkt, dass der Ver- fasser seinen Gegenstand ohne hinlängliche Vorbereitung und in über- eilter Weise behandelt habe. Es sei nicht bloss der Mangel der durch das Programm geforderten Benutzung der russischen Chroniken was man der Arbeit vorzuwerfen habe. „Denn,“ heisst es weiter: „auch die orientalischen Quellen, die dem Verfasser zu Gebote stan- den, sind weder hinlänglich ausgebeutet noch gewissenhaft excerpirt und man vermisst an mehreren Orten eine umsichtige Kritik. Die oft ohne Auswahl aufgehäuften Materialien sind nicht gehörig redigirt. Manche für die betreffende Geschichte höchst wichtige Thatsachen und Begebenheiten sind nur beiläufig oder gar nicht erwähnt, wäh- rend völlig ausserhalb der Aufgabe liegende Dinge sehr ausführlich behandelt werden. Auch auf das Chronologische und Geog aphische ist zu wenig Sorgfalt verwandt und die Lesung der Arbeit wird be- schwerlich durch die grosse Anzahl von müssigen Wiederholungen, von Verwirrungen in den Namen und Anführungen, von Widersprü- chen und Irrthümern selbst in der Uebersetzung der orientalischen Texte.“ Wir haben dieses Urtheil hier ausführlicher mitgetheilt, weil es uns das Wesen der Geschichtschreibung Hammer’s überhaupt wahr- heitsgemäss zu charakterisiren scheint. So kann man sich z. B. durch die Vergleichung seiner Biographie Muhammed’s mit der von Weil gegebenen überzeugen, wie sehr es dort nicht nur an einer treuen und sorgfältigen Benutzung der Quellen fehlt, sondern auch an Einsicht in die wesentlichsten Aufgaben einer solchen Arbeit. Hammer paral- lelisirt (was schon Diez tadelte) ohne weiteres den Muhammed mit den hebräischen Propheten, ohne nach einem tiefern Verständniss der - psychologischen Entwickelung jenes räthselhaften Charakters, seiner Lieht- und Schattenseiten zu streben, wozu dagegen Weil werthvolle Beiträge geliefert hat. — Ebenso treten uns auch in der Geschichte des osmanischen Reiches manche der von den Akademikern gerüg- ten Fehler entgegen, namentlich der Mangel einer Kritik der Quel- len und die öftere Anhäufung eines der Aufgabe fremden Stoffes ?3, 853) Wir erinnern z. B.an die geschichtlichen Notizen über Thessalonich und Korinth. Bd. I. 8.436 fi. 471 ff. — Dergleichen findet sich besonders massenhaft in den zahlreichen Anmerkungen. 15 — 202 — statt dessen die Mittheilung wichtiger Belegstellen im Original viel mehr am Orte wäre. Zwar ist dieses Werk, zu welchem Hammer noch durch Joh. v. Müller persönlich aufgemuntert wurde, unter seinen geschicht- lichen Unternehmungen unstreitig diejenige, auf welche er am meisten Fleiss verwandt hat und zu welcher er durch seine riesenhaft ausge- dehnte, wenn auch flüchtige Leetüre auf den betreffenden Litteratur- gebieten besonders befähigt war. So konnte er grade hier Vieles mit einer Anschaulichkeit darstellen, die Niemand vor ihm erreicht hatte, und tiefer als seine meisten Vorgänger in den Geist des Ösmanenthums eindringen. ‚Aber auch die Lesung dieses vorwiegend compilatorischen Werks wird selbst der an mühevolle Arbeit gewohnte Geschichtsforscher „beschwerlich“ finden und nicht einmal von den gelungeneren Fartieen kann er ohne nochmalige Prüfung der theilweise schwer zugänglichen Quellen einen sicheren Gebrauch machen. Unsere bisherige Kritik drängt uns die Frage auf: wie war es möglich, dass ein so reichbegabter und zugleich durch alle äusseren Umstände begünstigter Geist seine Kraft in solchem Maasse vergeuden konnte? Denn anders können wir das vorliegende psychologische Problem nicht bezeichnen. Hammer nannte sich mit besonderem Stolze den Hofdolmetsch 5%; unter den elf Sprachen, die er sich angeeignet hatte, machte er doch vorzugsweise von der türkischen, persischen und arabischen Profession und dennoch ist er in ihnen insofern zeitle- bens Dilettant geblieben, als er sie nie in strenger und exacter wissenschaftlicher Weise beherrschen lernte, sondern nach einem tref- fenden Bilde Fallmerayer's ein sehr unvollkommener „Scheidekünstler und grammatischer Chemiker“ war. Aehnlich sagte mit Beziehung auf ihn schon Diez vollkommen richtig: „Eine Sprache lernen und sie studirt haben, sind zweierlei Dinge. Mancher lernt zeitlebens oder glaubt ausgelernt zu haben und hat doch die Sprache noch niemals studirt, sondern schöpft aus ihrem Born mit dem Gefässe der Danai- den.“ Hammer hat bei der schon erwähnten vielleicht beispiellosen und wahrhaft immensen Belesenheit in den betreffenden Litteraturen sich dennoch beständig und überall mit dem halben und oft mit dem eingebildeten Sinne begnügt und ist, trotz- früher und später, scharfer und gelinder Zurechtweisungen, in seliger Sicherheit immer wieder, nach dem bezeicehnenden Ausdruck des Jenaischen Recensenten, „über 54) Man vgl. die Osmanische Gesch. Bd. I Vorr. S. XXVIE und die weit- läufige zum Theil sehr interessante Digression über das Dolmetsch-Amt in dem Werke über Konstantinopel und den Bosporus Bd. II S. 130 — 175. — 203 — leicht und schwer dahingefahren.* Er hat mit einem gewissen Schwunge des Geistes und mit einer eisernen Beharrlichkeit Eine grossartige litterarische Unternehmung nach der andern durchgeführt und dennoch, weil er das non multa sed multum nicht beherzigte, nirgends etwas seiner Befähigung Entsprechendes, uch nur relativ Vollendetes ge- leistet. Dieses Phänomen können wir nicht allein aus jenem fieber- haften Drange der Thätigkeit, aus jener Leidenschaft einer ununter- brochenen Productivität erklären. Denn warum hätte diese überspru- delnde Kraft durch einen so energischen Willen nicht gebändigt wer- den können, um nicht zwar unter das Joch peinlicher schulmeister- licher Pedanterie gebeugt, aber wohl dem Jdeal deutscher Gründlich- keit und Tiefe unterthan gemacht zu werden? Dass diess nicht ge- schah, davon finden wir den Grund theils in der mangelhaften Jugend- bildung des Verstorbenen, theils in seinem glühenden, in kleinliche Eitelkeit sich verlierenden Ehrgeiz. Hammer, im Jahr 1774 geboren, verdankt den Unterricht in den orientalischen Sprachen der Wiener orientalischen Akademie, in welche er 1787 eintrat, um dann später, nach einer vorangegangenen dreijährigen praktischen Beschäftigung in Dalmatien, 1799 als soge- nannter „Sprachknabe* zu weiterer Ausbildung für das Dolmetsch- Amt nach Konstantinopel geschickt zu werden. Noch als Zögling jener Anstalt begrüsste der 17jährige Jüngling den dieselbe besuchenden Gesandten der hohen Pforte in einer türkischen, mit persischen Flos- keln gezierten Ansprache und explicirte, gleichfalls auf türkisch, einige in Gegenwart desselben angestellte physikalische Experimente 5%. Wir können allen Anzeichen nach und insbesondere nach den bei dem hervorragendsten Zögling erzielten Resultaten nicht umhin anzunehmen, dass jene Akademie, deren Bedeutung und Verdienste wir hoch hal- ten, wenigstens damals noch, indem sie für den praktischen Zweck der Ausbildung von Dolmetschern die blosse Zungenfertigkeit allzu- einseitig in's Auge fasste, die grammatische Gründlichkeit weniger berücksichtigte, als dies nach den schon damals vorhandenen Hülfs- mitteln wünschenswerth und geziemend gewesen wäre und wir leiten daraus zum grossen Theil jenen Mangel an wissenschaftlicher Ge- nauigkeit ab, welchen Hammer hernach niemals überwand. Es gilt hier recht eigentlich der Spruch des türkischen Oghuzname: wer das Wenige nicht weiss, weiss das Viele gar nicht 5%, — Wir sagen dies 55) y. Starkenfels die k. k. orientalische Akademie zu Wien 8. 15 £. 56) Diez Denkw. II 315. — 204 — in aufrichtiger Theilnahme für die reichen und frischen Kräfte, welche in den österreichischen Volksstämmen, insbesondere in denen der deutschen Alpenlande, auch uns durch persönliche Wahrnehmung ent- gegengetreten sind und welche sich in der Poesie so hoffnungsvoll zu regen begonnen haben. Durch „nichts schaden sich unsere dortigen werthen Landsleute mehr, als wenn sie (wie dies öfter geschieht) auch wohlgemeinten und begründeten Tadel aus Stamm -Eifersucht ab- leiten. Ihre grossen Tonkünstler haben in allen deutschen. Gauen frühzeitig eine allgemeine und begeisterte Anerkennung gefunden: diese wird sicher nicht ausbleiben, wenn in Oesterreich auch auf an- deren Gebieten wahrhaft Grosses und Vollendetes geleistet wird. Möge die dortige Regierung, nachdem sie für die Verbreitung einer gründ- licheren wissenschaftlichen Bildung so erfolgreiche Anstrengungen ge- macht hat, auch die Hindernisse glücklich überwinden, welche sie sich in dieser Beziehung neuerdings selber bereitet haben dürfte. Nichts würde uns mehr freuen, als wenn unter den Jünglingen, welche gerade dort schon die natürlichen Beziehungen des Landes der Beschäftigung mit dem Orient zuführen, bald einer aufstände, der wirklich das würde und das leistete, was Hammer bei einem gründlicheren, wissenschaftlicheren Fundament seines Strebens hätte werden und leisten können. Das Zweite, was den Letzteren hieran hinderte, hängt mit dem Ersten eng zusammen: wir meinen die durch frühe Scheinerfolge und durch blendendes Halbwissen in betrübender Weise genährte Eitel- keit. Es kam hinzu, dass mehr und mehr seine specielleren Lands- leute ihn als ihre höchste wissenschaftliche Zierde feierten und, bei fehlender Einsicht in seine grossen Schwächen, sich gewöhnten, jeden Angriff auf ihn als einen Angriff auf ihre eigene Ehre anzusehen, was ihn dann wiederum in seinen Selbsttäuschungen bestärkte. Umbreit sagt freilich von seinem hingeschiedenen Freunde: „Eitel war er wahrlich nicht, dieser grosssinnige und hochsinnige Mensch! Den Ruhm, den er suchte, erstrebte er im Namen der erlauchten Königin, der Wis- senschaft, und nach Ehre begehrte er, wie schon der gute Bürger in der Stadt und im Staat auf einen ehrenwerthen Namen in ehrenvoller Bezeugung und Anerkennung desselben etwas hält“ 57. In diesem Sinne erklärt Umbreit das arabische Motto, welches Hammer für die auf seine Kosten herausgegebenen orientalischen Schriften bestimmte und so übersetzte: 57) Allg. Zeit. 1856 Nr. 346 ausserord. Beilage. — 205 — Mein Begehren ist nicht Gold, um des Nutzens mich zu freuen, Sondern Ruhm und Ehrensold, der sich immer soll erneuen. Gewiss schwebten dem Ehrgeiz Hammer’s hohe wissenschaft- liche Ideale vor. Aber man kann Ali’s tiefsinnigen Spruch: „Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn“ auch auf das Verhältniss des Menschen zu seinem Ideal anwenden. Die rechte Einsicht in dasselbe geht mit der Selbsterkenntniss Hand in Hand und beide fehlten Hammer. Darum blieb er der Belehrung über seine Ungründ- lichkeit in jüngeren und älteren Jahren unzugänglich, verwechselte Dilettantismus und Wissenschaft, suchte seinen Ruhm in der Masse, nicht in der Vollendung seiner Leistungen und legte oft kleinlicher Weise eine hohe Bedeutung Dingen bei, welche in Wahrheit von sehr zweideutigem Werthe waren. Dahin rechnen wir die noch in seiner Grabschrift zur Schau getragene Sprech - und Schreibfertigkeit in elf Sprachen. Schon in den Fundgruben lieferte er ein ähnliches poly- glottisches Exereitium und mehrfach Prosa und Poesie in verschiede- nen Sprachen. Wenn Jemand, als Dragoman oder durch irgendwelche Umstände zum Gebrauch einer fremden Sprache genöthigt, sich in derselben auf erträgliche Weise verständlich machen kann, so ist man damit zufrieden; wenn aber ein ÖOrientalist in einem von ihm herausgegebenen Organ ernster Wissenschaft bald in dieser, bald in jener Sprache seine kläglichen Dragomanatsproben #® ohne irgend welche Nöthigung zum Besten giebt, so wird man darin kaum etwas Andres als eine bedauernswerthe Eitelkeit erblicken können. Und dasselbe Urtheil drängt sich uns auf, wenn Hammer auf die Geld- opfer, die er für die Wissenschaft dargebracht, immer wieder zurück- kommt. In den Vorreden zu Baki und zur Osmanischen Geschichte und an andern Stellen zählt er die Dukaten auf, die ihm seine Hand- 58) Man vgl.z. B. den Alexandriner auf Sadi's Rosengarten Fundgr. I, 198: Les roses ne duren que trois & quatre jours, Ce parterre aux roses doit durer toujours, wo unter anderm das doit zweisylbig scandirt ist. Eine ganze Blumenlese ähn- lieher Curiositäten bietet die zehnsprachige poetische Inschrift auf das Portrait einer Fürstin Bd. VI 428. H'’s. französische Prosa ist von ähnlicher Beschaf- fenheit. Als Probe diene der Satz: Mohammed fut moins un imposteur et un fourbe, qu’un homme religieux et croyant, vraiment inspir& par la divinite ete. Fundgr. I 361. Von lateinischer Prosa stehe hier der Anfangssatz einer prae- fatio Bd. I S. 401: Gratulamur nobis ac lectoribus, quod homines inter ami- cos nostros praecipui et etiam in cultu musarum Persicarum adjutoris assidui, has lucubrationes elicere contigerit; namque eas non diutius in tenebris, quibus illas auetor damnaverat, delitescere passi sumus etc. — 206 — schriften gekostet; anderswo hebt er mit vielen. Worten hervor, dass er dies oder jenes Buch aus Liebe zur Sache auf eigene Kosten habe drucken lassen und dass der Ertrag wieder zu ähnlichen Zwecken bestimmt sein solle, während Andere, ohne viel Aufsehen, Aehn- liches gethan hatten; 1855 sagt er, in einer Öffentlichen Rede, seine Verdienste um die orientalische Litteratur bestehen nicht in seinen Werken und Studien, die den Studirenden selbst belohnen, sondern darin, dass er bei weitem mehr als zehntausend Gulden zum Besten der Wissenschaft verausgabt habe — als ob nicht auch solche Opfer sich selbst belohnen, als ob nicht manch armer Gelehrter in einer ähn- lichen Reihe von Jahren verhältnissmässig viel grössere Opfer für ähnliche Zwecke gebracht hätte, und als ob jener Selbstruhm sich nicht am wenigsten für den geziemte, welchem seine wissenschaft- lichen Bestrebungen während eines langen glücklichen Lebens ‚doch nicht bloss Ehrensold eingetragen hatten! Aber das alles ist noch nicht genug: er legt die urkundlichen Belege für den ganzen Kosten- aufwand förmlich in die Hände eines Freundes nieder. Und dieser Freund, sonst ein durchaus ehrenwerther und zartfühlender Mann, nimmt in dem Enthusiasmus seiner Freundschaft und Verehrung an jenem ganzen Verfahren keinen Anstoss, rühmt es als „charakteri- stisch für die Gewissenhaftigkeit des Verstorbenen ‚“ betrachtet es als einen Beweis, wie dieser „das oberste Gebot unseres Herrn und Mei- sters erfüllt habe: Entäussere dich selbst!* Bei mehr psychologischem Scharfblick hätte Umbreit statt dessen seinem Freunde jene Ausgaben- Belege zurückgeschickt, ihm gerathen dieselben zu verbrennen, weil er schon zu viel Redens von diesen Dingen gemacht habe, und ihm das auch hier geltende Wort des Meisters zugerufen: lass deine linke Hand nicht wissen was die rechte thut. Vielleicht hätte Ham- mer dabei sich an den fast als Germanismus klingenden Spruch des Oghuz erinnert: „Ein Freund ist der, welcher Jemandem seine Fehler in’s Gesicht sagt“ 5’ oder an einen der zahlreichen verwandten Aus- sprüche in allen drei islamitischen Hauptsprachen, z. B. an den des Sadi, wo es als Pflicht bezeichnet wird, des Freundes Dornen nicht Rosen zu nennen. Einzig aus jener wegen eines dunkeln Bewusstseins ihrer Schwäche um so reizbareren Eitelkeit lässt sich das unedle Verfahren begreifen, zu welchem Hammer in seiner Polemik gegen die verdientesten und achtungswerthesten Orientalisten, von denen zu lernen ihm heilsam 5%) Diez Denkw. II 313 dost ol dur ki kishinin “aibyny jüzüne deje. —. 207 — gewesen wäre, sich trotz seiner sonstigen besseren Natur wiederholt hat hinreissen lassen. Beispiele davon haben wir berührt. Das schmerz- lichste, welches wir schliesslich aus mehreren Gründen etwas ausführ- lieber beleuchten müssen, knüpft sich an die Person des würdigen v. Diez. Dieser, über 20 Jahre älter als Hammer, hatte einen sechs- jährigen Aufenthalt in Konstantinopel als preussischer Gesandter für die Kenntniss der Sprachen und Sitten des Orients wohl genützt und eine reiche und bedeutende Sammlung von Manuscripten mitgebracht, die er nach seinem Tode der königlichen Bibliothek in Berlin ver- machte. Er lebte jetzt in wissenschaftlicher Musse seinen orienta- lischen Studien, deren Früchte er von Zeit zu Zeit auf eigene Kosten veröffentlichte. Was er mit langsamer Arbeit herausgab und üher- setzte, war in glücklicher und sinniger Auswahl darauf berechnet, die für den Orient besonders charakteristischen Züge hervorzuheben und dessen inneres und äusseres Leben zu erschliessen. Sowohl das Grosse und Edle als das Krankhafte und Verwerfliche der islamitischen Bil- dung fasste er mit sittlichem Ernst und im Vergleich zu Hammer mit grösserer Tiefe auf. Auch ihm mangelt öfter eine schärfere geschicht- liche und philologische Kritik, aber überall erkennt man doch den gründlichen und gewissenhaften Arbeiter, und solcher massenhaften groben Verstösse und Oberflächlichkeiten, wie wir sie bei Hammer antreffen, war er gänzlich unfähig. Diez wurde durch einen mit dem Namen des Grafen Rzewusky, des grossmüthigen Begründers der Fundgruben des Orients, unter- zeichneten schmeichelhaften Brief zur Mitarbeit an denselben eingela- den. Er schickte das in mehrfacher Hinsicht höchst merkwürdige Strafgedicht, welches der Derwisch Uweissi im 17. Jahrhundert an den Sultan und das Volk von Stambul richtete, türkisch und deutsch ein. Einige Zeilen desselben hatte schon vorher der französische Dol- metsch Cardonne, jämmerlich übersetzt oder vielmehr gänzlich verstüm- melt, herausgegeben. Diez erwähnte dies in seinen Vorerinnerungen mit der Bemerkung, dass auf solche Misshandlung orientalischer Schriftsteller das italienische „Traduttori traditori* passe. Hammer scheint sich dadurch selbst getroffen gefühlt zu haben und fügte dem Aufsatz Diez’s mehrere Randglossen bei, die zum Theil der Sache nach höchst nichtig und kleinlich, in der Form beleidigend und dem älteren, verdienten Manne gegenüber durchaus ungeziemend waren ®0, 6%) Man vgl. z. B. gleich in der ersten Note die Worte: „— Wir müssen bemerken, dass man Mahadi (!) oder Mehdi spricht, aber keineswegs Mechdi; — 208 — Diez gab darnach das Gedicht noch einmal besonders heraus mit einer etwas gereizten Beantwortung jener Randglossen. Nun aber fing Hammer an, seinen Gegner in den Fundgruben und in mehreren anderweitigen anonymen Recensionen 6! in einer Weise anzugreifen, die als ein Makel an der Erinnerung seines Lebens haftet. In einer nur aus der blinden Leidenschaft gekränkter Eitelkeit erklärlichen Weise wirft er Diez vor, dass derselbe lauter „mittelmässige oder nur stel- lenweise vortreffliche Werke des Morgenlandes* bearbeite, dass er dadurch „dem falschen Geschmack oder der Langweiligkeit einen Tempel errichte* und dass er mit der Anpreisung der von ihm mit- getheilten mittelmässigen Schriftsteller „den eigenen Götzen das Rauch- fass vortrage*. Und so urtheilte er insbesondere über das von Diez zuerst veröffentlichte und übersetzte Oghuzname, eine der orginell- sten und merkwürdigsten unter den zahlreichen Spruchsammlungen des Orients. So urtheilte er über das Buch Kabus, von welchem Göthe sagt, dass es „eine ausgebreitete Kenntniss der orientalischen Zu- stände* darbiete, welches derselbe als „ein vortreffliches ja unschätz- bares Buch“ rühmt, und von welchem er, „damit das Vaterland wisse, welch ein Schatz ihm hier zubereitet liege“ den Inhalt aller vier und vierzig Kapitel aufzählt, indem er zugleich die Tagesblätter auffor- dert, das Publikum darauf aufmerksam zu machen. So wegwerfend ur- theilte Hammer endlich auch über das von den Osmanen noch jetzt als höchstes Meisterwerk ihres prosaischen Styls betrachtete #®? Hu- weiter unten liest man Cazi statt Casi oder Cadi; und im vorletzten Worte des 1. V. ist ein offener Schreibfehler u. s. w.* Mechdi ist allerdings ungenau; aber D. war zu dieser Schreibung dadurch veranlasst, dass der ÖOrientale das h in dem Worte sehr stark ausspricht, während man es im Deutschen nach der Schreibung wmehdi leicht gar nicht zu sprechen veranlasst wird. In Cazi be- zeichnet z das weiche s nach Meninski’s Transseriptionssystem. — Der vermeint- liche Schribfehler ist ein Nun statt des Saghyrnun, welches in der gegenwärti- gen Aussprache von jenem nicht mehr unterschieden und daher bisweilen auch in Handschriften (wiewohl ungenau) mit ihm verwechselt wird. — Für H. ge- ‘ ziemte sich dieses Meistern bei seiner eigenen inconsequenten und falschen Trans- seription am wenigsten. 6) Jenaische Litteraturz. 1813 S. 19 fi. H. hatte sich dazu mit noch einem andern anonymen Recensenten verbunden. — Wiener Lit. Zeit. 1813 6. Jul. 62) Gerade in Beziehung auf das Lob dieses Buches erhob H. gegen D, den Vorwurf, dass er „dem falschen Geschmack und der Langweiligkeit einen Tempel errichte.* D. beruft sich dagegen „um zu zeigen, dass nicht er allein von diesem Werke eine grosse Meinung hege* auf das Urtheil de Sacy’'s, als eines Mannes, „der sich durch seine Einsichten eben so schätzbar gemacht habe, als durch seine Gesinnungen und Tugenden:* „C'est & ce charmant ouvrage, — 209 — mäjün-näme, aus dem wir oben eine Jagdschilderung mittheilten, ein Buch, über welches Hammer damals mehrere, eine völlige Unkennt- niss desselben verrathende Notizen gab und in welches er offenbar kaum hie und da flüchtig hineingesehen hatte, über welches er dage- gen selbst später bei etwas näherer Bekanntschaft ganz anders sich äussert, indem er im ersten Bande der Osmanischen Geschichte (S. 117) von dem am Fusse des asiatischen Olymp einheimischen Verfasser Wasi Ali sagt: „Er sammelte auf dem Blumengefilde Brus- sa's die schönsten Blüthen der Dichtkunst und Rhetorik und über- trug in sein unsterbliches Werk mit dem Farbenschmelz der Natur den Wortlaut der hallenden Wälder und der fallenden Ströme.“ Auch an Einzelnheiten übte sich jene eben so unverständige als kleinliche Mäkelei. Diez liess von dem gelehrten und geistreichen Kemalpaschasade ein kleines reimloses Gedicht über das Elend des menschlichen Lebens türkisch und deutsch drucken. Wir geben hier zur Charakteristik des erhabenen Styls den Anfang: „O Gott! der elende Menschensohn, wie soll er’s machen? Die Kindheit ist noch Ernährung, die Jugendkraft ein Rausch, das Alter Erschlaffung. Die Gier macht ihn rasend, die Sättigung macht ihn sich selbst fremd; schläft er, so wird er eine Leiche, wacht er auf, so trifft ihn Be- stürzung ohne Maass.“ Hammer ohne an den Gliederparallelismus der hebräischen Poesie zu denken (mit welchem auch die Form des Strafgedichts des Uweissi eine auffallende Aehnlichkeit hat) hält sich dreimal, in den Fundgruben und in zwei Recensionen, darüber auf, dass solche nicht gereimte Prosa ein Gedicht sein solle: „ein Gedicht, si Dis placet!“ ruft er an der zweiten Stelle ironisch aus, und an der dritten meint er sogar, weil Diez inzwischen trotz der Fundgruben — übrigens ohne alle Polemik gegen sie — den angeblichen „prosaischen , auquel on peut bien appliquer le omne tulit punetum d’Horace. Ce n'est pas ‚de ce livre, quil faut dire, materiam superabat opus; car le fond n'est pas moins preeieux que la forme exterieure.*“ 6%) Man vgl. z. B. folgende Zeilen (Fundgruben I. 251 £.) Wohlan, o Volk von Islambol, wisset gewiss und vernehmet: Es naht euch plötzlich eines Tages mit Gewalt der Zorn Gottes! Warum verwüstet ihr stets tyrannisch des Hülflosen Seele? Ist es nicht des Gläubigen Herz? ihr Tyrannen, ist es nicht Gottes Haus? Das Original ist metrisch, aber ohne eigentlichen Reim. Nur steht fast durchgehends Allah am Ende der Zeile: und in den wenigen Ausnahmen endet das entsprechende Wort auf-äh. S. 262 steht einmal ä, aber statt bir pashä ist pädishäh zu lesen. — 210. — Lappen“ als Gedicht in seine Denkwürdigkeiten eingerückt hatte, „das heisse doch wirklich verstockt in den heiligen Geist sün- digen!“ — Aber auch in Beziehung auf die Richtigkeit der Ueber- setzungen, wagte er mit gewohnter Uebereilung den älteren und geübte- ren Mann hochmüthig wie einen Ignoranten zu meistern. Er hätte davon zurückgehalten werden sollen nicht bloss durch das Gefühl seiner eigenen Schwäche, die. ihm schon früher von andrer Seite gründlich war nachgewiesen worden, sondern auch durch die Erinne- rung an dasjenige, was er, wie er bei seinen Angriffen gleichsam unter der Hand selbst zeigte, von seinem Gegner gelernt hatte: war doch darunter auch die Berichtigung eines jener groben lächerlichen Fehler, welche schon vorher so oft ihm entschlüpft waren. Er hatte nämlich in den Fundgruben einen arabischen Buchtitel komisch genug durch „Abwischung der Geschichten der Könige“ („abstersio historia- rum regum“) verdolmetscht. Nachdem er aber inzwischen aus einer der von ihm anzuzeigenden Diezischen Schriften das Richtige ersehen hatte, schrieb er nun eben in seiner Recension, sich selbst stillschwei- gend corrigirend, den Namen jenes Buches richtig nieder, nämlich: „Mark der Geschichten der Könige #*.““ Sollte er sich nicht wegen eines solchen Schnitzers vor dem Recensenten in etwas geschämt haben ? Sollte er dadurch nicht mindestens bewogen worden sein, sich in sei- nem Tadel nicht zu übereilen, und denselben, wo er wirklich begründet schien, in maassvollster und glimpflichster Weise auszusprechen? Aber er liess sich durch solche Rücksichten nieht zur Besinnung bringen. Und so ergoss sich denn seine kritisirende, aber unbewusst die ärgste Selbstkritik niederschreibende Feder wie durch eine Nemesis in einen Schwall von wiederholtem Nonsens, von welchem wir bereits die zur Jagd abgerichteten Löwen und Aehnliches als ein ex ungue leonem dem Leser vorgeführt haben. Leider treibt ihn aber das „die Nasenlöcher prickelnde schwarze Pfefferkorn“ (um mit Diez eine arabische bildliche Redeweise hier anzuwenden) dass er nicht, was Lessing mit Recht als einen Grundsatz aller ehrenhaften schriftstellerischen Polemik hinstellt, 64) Man vgl. Fundgruben Bd. II. S. 300 mit der Stelle der betreffenden Recension in der Jenaischen Litterat.-Ztg. v. 1813 S. 53, und Diez Denkw. II. S. 542. — Das von H. missverstandene arabische Wort ist tanqi% und bezeich- net die Auslese oder den Auszug des Besten einer Sache. — Sollte der Mitar- beiter der Recension (vgl. Anm. 60) jene Berichtigung niedergeschrieben haben, so bliebe die Sache doch wesentlich dieselbe. Im Ganzen scheint uns übrigens D. die schon an dem Styl zu erkennenden Hammer'schen Bestandtheile in dem Product jener anonymen Recensenten-Alliance richtig unterschieden zu haben. — 211 — sich auf die in den gegnerischen Schriften vorliegenden Objeete des Angriffs beschränkt, sondern auf Klatschereien horcht und auf Hören- sagen hin gehässige Persönlichkeiten einmischt. Diez lebte schon lange, obgleich mit alten und neuen Freunden bis zuletzt lebhaften und vertraulichen Verkehr pflegend, in einer gewissen Zurückgezogen- heit und Abgeschlossenheit und hatte in seinem Aeussern manche Sonderbarkeiten, welche öfter der Gegenstand des Salon-Geredes wur- den, Das macht sich der Recensent zum vermeintlichen Nutzen und fingirt in Beziehung auf den von Diez besprochenen bildlichen Sinn, in welchem orientalische Schriftsteller vom Vogel Greif reden, ironisch einen andern, indem er sagt: „Die Morgenländer stellen den Greif noch öfter als einen altklugen, langweiligen, absprechenden, men- schenfeindlichen Sonderling vor, wiewohl Wesen dieser Art nichts minder als zur Fabel und zur. Seltenheit geworden.“ Auf diese in dem grossen Jahre 1813 unermüdlich wiederholten kleinlichen litterarischen Verfolgungen, bei denen Hammer obendrein gleichsam ‚durch verschiedene Masken sich persönlich vervielfältigte, indem er in der Wiener Litteraturzeitung vom 6. Juli wiederum anonym auftrat, die durch ihn mitverfasste Jenaische Recension wie eine fremde erwähnte und dabei von sich selbst als von einem dritten redete, antwortete Diez, der bis dahin ausser den Bemerkungen in der neuen Ausgabe des Uweissi nichts gegen Hammer geschrie- ben hatte, erst 1815 in einem sehr umfangreichen Anhange zum zweiten Bande der Denkwürdigkeiten von Asien, unter dem beson- dern Titel: „Unfug und Betrug in der morgenländischen Litteratur nebst vielen hundert Proben von der groben Unwissenheit des H. v. Hammer zu Wien in Sprachen und Wissenschaften.“ Hammer trium- phirte später darüber, dass „dies dicke Buch zur Maeulatur gewor- den sei“®%. Er fügte die für ihn selbst bezeichnende Aeusserung hinzu, dass der Verfasser „sich damit auf seine Kosten habe einen Namen ‘ machen wollen.“ Er hatte keine Vorstellung davon, dass man aus reinem Interesse an der Wahrheit und zu pflichtmässigem Schutz nicht nur der eigenen Ehre, sondern auch der Ehre der Wissenschaft ihn angreifen konnte und musste. Jener Vorwurf gegen seinen Gegner war ganz grundlos. Abgesehen davon, dass dergleichen dem ehren- werthen Charakter Diez’s ganz fern lag, hatte dieser, der sich der Gränze seiner Jahre nahe wusste (er starb zwei Jahre hernach), für seine mühevollen und sorgfältigen Arbeiten bereits reichliche Aner- 65) Wiener Jahrb. für Lit. 1836 Bd. 76 S. 207. — 22 — kennung geerntet, nicht nur bei den Fachgelehrten, sondern auch bei den hervorragendsten Männern der deutschen Litteratur. Jenes Buch war vielmehr recht eigentlich eine litterarische Nothwehr. Dass darin an das in einer jungen Wissenschaft sich breitmachende oberflächliche Unwesen ein strenger sittlicher Maassstab gelegt wurde, war voll- kommen gerechtfertigt. Es wäre freilich gerathener gewesen, dies Element auf einige Punkte, wenn auch in gehöriger Ausführlichkeit, zu concentriren, um dann im Uebrigen der rein objectiven philologi- schen Widerlegung Raum zu machen. So erregt es einen wegen der darin sich kundgebenden Leidenschaftlichkeit peinlichen Eindruck, durch eine ausführliche Schrift hindurch immer in demselben harten und derben Tone jene sittlichen Zurechtweisungen wiederholt zu sehen. Begründet müssen wir diese im Wesentlichen freilich fast durchgehends finden, und immer zielen sie nach jener Lessing’schen Regel auf die in den gegnerischen Schriften öffentlich vorliegenden Thatsachen. Nur das kann man sagen, dass Diez mitunter eine absichtliche Verdrehung seiner Meinung da erblickt, wo bei dem Angreifenden theils die be- kannte Flüchtigkeit und Uebereilung obwaltete, theils Befangenheit der Leidenschaft. Auch in sprachlicher Beziehung ist es sehr natür- lich, dass unter so vielen zusammengehäuften einzelnen Fällen Diez selbst hie und da irrt, in der Behandlung des Persischen wetteifert er sogar einigemale, nicht zwar in Geschmacklosigkeit und Widersinn, wohl aber in Verstössen gegen die Grammatik mit seinem Gegner, und es wäre gut, wenn er seiner eigenen Fehlbarkeit sich mehr be- wusst geblieben wäre. Denn es begegnet ihm, dass er seine frühere Meinung auch da rechthaberisch vertheidigt, wo Hammer, freilich ohne oft selbst eine irgend annehmbare Eıklärung zu bieten, mit Grund Einwendungen erhoben hatte6%, und alsdann machen seine zornigen Reden einen besonders unangenehmen Eindruck. Nichtsdesto- weniger durfte Fleischer, als er das „mysterium iniquitatis philologies“ in den hammerisirten®” goldenen Halsbändern enthüllte, mit gutem Grund an Diez erinnern als an einen Vorgänger, dessen er sich nicht zu schämen brauchte. Denn des Letzteren Polemik ist im Ganzen und Grossen sachlich wohlbegründet. Er hat schon damals durch eine für den Sprachkenner überzeugende Reihe von Beispielen alle die Untugenden der Hammer’schen Dolmetsch- oder (wie er einmal ironisch 66) Vergl. den Anhang unter d.) 67) Wir haben diesen Ausdruck H. nachgebildet, der von einer „den Sinn nicht verrückenden aber rückertisirenden* Uebersetzung der Hamasa spricht. — 213 — sagt) Tollmetsch-Manier aufgedeckt, welche hernach so oft noch die deutsche Wissenschaft verunehren sollte. Das Resultat der über 20 Jahre späteren Samachschari- Fehde ist gleichsam antieipirt in dem kurzen Resume der Diezischen Polemik, dass „Hammer die Orientalen als Tollhäusler darstelle, wenn er z. B. durch Löwen und Tiger die Lüfte vom Geflügel, und die Erde von kriechenden Thieren reinigen lasse; wenn er Pferde für Enten, Apostaten für Meerrettig, Kälber für Wachtthürme, Abwischung für Mark, grosse Schrift für Diamanten und so viele hundert andere Unsinnigkeiten für Ausdrücke und Ge- danken der Morgenländer gebe 68.“ — Diez hat im Gegengsatze nicht gegen die wahrhafte, geistvolle, mit wesentlicher Treue wohl verein- bare Freiheit der Uebertragung, sondern gegen das hernach von de Sacy an Hammer beklagte schülerhafte & peu pres, das sich beson- ders gern hinter dem Klingklang der Reime verbirgt, auf den Grund- satz hingewiesen, welchen Kaiser Friedrich II., der Beförderer von Uebersetzungen aus dem Arabischen, durch seinen Kanzler de Vineis aussprechen liess, „verborum fideliter servata virginitate transferri oportet“; hat eben so treffend erinnert an das Wort des grossen Meisters deutscher Sprache und Uebersetzungskunst: „Litteralis sensus der thut’s, da ist Kraft, Lehre, Kunst drin; in dem andern ist Nar- renwerk wie hoch es gleisse.“ — Es wäre für die ‚Wissenschaft und für Hammer selbst heilsam gewesen, wenn er der von den Orientalen dem Pythagoras zugeschriebenen Mahnung sich erinnert hätte, dass wir dankbar gegen diejenigen sein sollen, welche uns unsere Fehler zei- gen. Und zwar beziehen wir dies auch auf die sittlichen Gebrechen, mit denen hier, wie so häufig, auch die falsche Richtung der Intelli- genz zusammenhing. Trotz der von uns oben getadelten leidenschaft- lichen Härte und Häufung der Vorwürfe, welche Diez in seiner Streit- schrift erhebt, trotz mancher gewiss zu missbilligenden Derbheiten, von denen sich Hammer doch gestehen musste, sie durch wahrhaft “ empörende Beleidigungen provoecirt zu haben, blickt bei jenem überall ein ernster und ehrlicher Sinn durch. Er bezeichnet Hammer als tingirt von jener falschen oberflächlichen Kultur, „welche von Licht- massen träumen lasse, während man noch im Abe des Nachdenkens unerfahren sei.* Er meint, „der Gegner müsse wohl keinen Freund haben, der ihm die Wahrheit sage; das komme aber davon, dass er um Lobsprüche buhle, wodurch man ihn getödtet und zum ersten mal begraben habe.* Darum fehle es ihm an der rechten Selbstbeurthei- 68) Diez Denkw. H, 1025. = Bu lung; darum sei „die Stimme grösser als der Mann“; darum stachele ihn das „schwarze Korn im Herzen“ gegen einen, der seiner Eitelkeit im Wege sei, zu immer neuen unermüdlichen Angriffen, wodurch er nur sich selbst verunehre. Mit männlichem Selbstbewusstsein weist er jene kleinlichen persönlichen Anzüglichkeiten zurück, aus denen man sehe, dass „der Gegner sich aufs Kundschaften gelegt habe.“ Wir müssen es dem schwer gekränkten Manne verzeihen, wenn er auf so giftige Anfeindungen das türkische Sprüchwort anwendet: „Der Hund bellt, die Karawane zieht vorüber.“ Die beiden Gegner theilen mit einander die Ehre, vorzugsweise unter allen Mitlebenden unseren grössten Dichter in das Verständniss des Orients eingeführt und ihm jene geistige Sphäre aufgeschlossen zu haben, deren Product der westöstliche Diwan ist. Wenn gleich in diesem Werke die Schranken des Göthe’schen Geistes überhaupt und insbesondere die Schwächen seiner späteren Zeit sich bemerklich machen (was jetzt wohl die wärmsten Verehrer des Dichters, zu denen wir uns selbst rechnen, nicht läugnen werden), wenn gleich ferner die dadurch gegebene Anregung vieles Uebertriebene, Gekünstelte, Exo- tische in unserer neueren Litteratur hervorgerufen hat, so müssen wir doch gegenüber manchen Kritikern, welche uns dies einseitig geltend zu machen scheinen, der Behauptung Anderer beistimmen, dass jene Anregung einen grossen und nothwendigen Wendepunkt unserer Ent- wickelung bezeichne, dass die frei innerliche poetische Reproduction des Orientalischen, wie des Antiken auch für die tiefere und allgemeinere wissenschaftliche Durchdringung jener grossen menschheitlichen Le- bensformen von hoher Bedeutung sei, und dass auch für unsere Poesie nicht die Aufgabe sein könne, jene gewonnenen Formen wieder aus- zuscheiden, sondern vielmehr sie in lebendigem Wechselspiele mit den ursprünglichen einheimischen sich entfalten zu lassen, in der Gewiss- heit, dass die Kraft des deutschen Geistes eben darin besteht, in dem Kampf mit der Sprödigkeit des Fremden und in der erkämpften An- eignung des darin für die Menschheit Bedeutsamen und Fruchtbaren, zugleich des eigensten ursprünglichsten Wesens nur um so voller und klarer sich bewusst zu werden. Beiden Männern hat Göthe in den Erläuterungen zum Diwan seinen Dank ausgesprochen. Dem damals schon verstorbenen Diez hat er zugleich ein Denkmal der Freundschaft errichtet. Er erzählt wie er mit ihm, nachdem er seiner Bearbeitung des Buches Kabus viele Zeit gewidmet und mehrere Freunde zu dessen Betrachtung auf- gefordert habe, in nähere Verbindung getreten sei. Er schickte ihm — 215 — auf seidenartigem Papier mit prächtiger goldner Blumeneinfassung ein Gedicht, welches mit den sicher nicht als blosses Compliment zu nehmenden Zeilen schliesst: Und wenn mich nicht der goldne Rahm beschränkte, Wo endete was du für uns gethan! „Und so entspann sich,“ fährt Göthe fort, „eine briefliche Unter- haltung, die der würdige Mann, bis an sein Ende, mit fast unleser- licher Hand, unter Leiden und Schmerzen getreulich fortsetzte. — Diese seine Briefe verdienten gar wohl wegen ihres Gehalts gedruckt und als ein Denkmal seiner Kenntniss und seines Wohlwollens auf- gestellt zu werden.“ Ueber seine „strenge und eigne Gemüthsart“ spricht Göthe in würdiger Weise. Charakteristisch für ihn selbst aber ist, wie er über Diez’s „Streitsucht“ redet, ein Ausdruck der übrigens wohl nicht eben passend ist, da Diez ausser der letzten Polemik gegen Hammer nie in eine litterarische Fehde verwickelt war. Nachdem Göthe nämlich gesagt, „das gegenwärtige Heft möge Beweise davon füh- ren, wie er an des Freundes Schriften Theil genommen und Nutzen daraus gezogen,“ fügt er hinzu: „Bedenklicher ist es zu bekennen, dass auch seine, nicht gerade immer zu billigende Streitsucht mir vielen Nutzen geschafft. Erinnert man sich aber seiner Universitäts- jahre, wo man gewiss zum Fechtboden eilte, wenn ein paar Meister oder Senioren Kraft oder Gewandtheit gegen einander versuchten, so wird Niemand in Abrede sein, dass man bei solcher Gelegenheit Stärken und Schwächen gewahr wurde, die einem Schüler vielleicht für immer verborgen geblieben wären.“ Wir können nicht umhin, auch die ernste Seite der Sache hervorzukehren. Uns haben jene Streitschriften immer einen besonders schmerzlichen Eindruck gemacht, weil sie an einem recht hervorstechenden Beispiele zeigen, wie schwer es auch auf dem Gebiete der Wissenschaft selbst dem Menschen von “ hoher Begabung und starkem Willen wird, wenn er einmal mit seinem ganzen Wesen in eine falsche Bahn eingegangen ist, sich von dieser auch durch die gründlichste Kritik abbringen zu lassen, wie gross andrerseits in einem ähnlichen Falle auch für den redlichen und ge- wissenhaften Kritiker die Gefahr ist, bei allem Recht im Ganzen, doch wieder selbst im Einzelnen ungerecht und einseitig zu werden, und dadurch auch an seinem Theile den Eindruck seines Urtheils auf den Getadelten abzuschwächen, wie endlich mitunter selbst die begründetste Kritik des Sachverständigen von der öffentlichen Meinung wenigstens auf eine Zeit lang völlig ignorirt werden kann. Dies darf uns aber — 216 — nicht irre machen weder an der Bedeutung der Kritik (was ein Ver- zweifeln an der Wahrheit selber wäre), noch an unserer Aufgabe sie, nach bestem Wissen und Gewissen zu üben, Darum habe auch ich geglaubt, den lobpreisenden Stimmen, welche in Betreff Hammer’s die öffentliche Meinung schon so oft be- stochen haben, das Urtheil der strengen Wissenschaft gegenüberstellen zu müssen, das freilich unter den Sachverständigen längst allgemein war: Einer der gegenwärtigen Hauptvertreter des betreffenden Gebiets orientalischer Wissenschaft, der zugleich zahlreichen Freunden und Schülern durch seinen achtungswerthen lautern Charakter werth ist, schrieb mir vor längerer Zeit auf einen besonderen Anlass über Ham- mer. „Mag er sich selbst loben und sich loben lassen: nach seinem Tode wird das allgemeine Urtheil über ihn bald zu dem gerechten Maasse gelangen.“ Die bewährten Meister der Wissenschaft schwiegen dem hochbetagten Manne gegenüber, der die Stimme der Wahrheit oft genug vernommen hatte. Jetzt liess man gegen ihn mit Recht die Pietät vorwalten, und duldete gern wegen seiner wirklichen Verdienste, die auch von den bedeutenderen Gegnern stets anerkannt waren, deren maasslose Uebertreibung. Auch über dem Grabe des Dahingeschiede- nen dachten die, welche früher gegen den Lebenden eine hinlänglich gründliche und strenge Kritik geübt hatten, nicht daran, dieselbe zu erneuern. Mir selbst, der ich nicht in jenem Falle bin, wäre es nicht in den Sinn gekommen, über Hammer, und aın wenigsten in einem besonderen Aufsatze, mich öffentlich auszusprechen, wenn es mir nicht, unter Zustimmung von Freunden, deren Urtheil ieh hoch halte, als Pflicht erschienen wäre. Umbreit zwar hätte man seine Lobsprüche, als Ausdruck des Schmerzes über den frischen Verlust eines verehrten Freundes, gern zu Gute gehalten. Nachdem aber Fallmerayer in einer Weise, welche für die schadhaften Seiten unserer Journalistik charakteristisch ist, seinen eben so unbedachten als bombasti- schen Panegyricus hinzugefügt hat, scheint es, dass man nicht länger von Seiten der Wissenschaft die Berichtigung eines so maasslosen Lobes schweigend der Zeit überlassen dürfe. Denn auch auf gewissenhafte Forscher anderer geistigen Gebiete üben solche Stimmen unmerklich einen Einfluss aus, und die deutsche Gründlichkeit wird dabei auch vor dem Auslande zum Spott, indem man als wahrhaft Grosses das rühmt, was es nicht ist, und zugleich, wie wir dies dem Münchener Journalisten verwerfen mussten, sittliche Verdächtigungen gegen Män- ner verbreitet, welche ein Ruhm des deutschen Namens sind, und welche mit vollem Fug und Recht einer prunkenden Oberflächlichkeit — 217 — und Vielgeschäftigkeit entgegen traten. Wollten wir aber jener neuen verderblichen Missleitung der öffentlichen Meinung wehren, so musste dies, da allgemeine Behauptungen Niemanden überzeugen können, mit vorgelegten deutlichen, reichlichen, wenn man will massenhaften Beweisen und mit einer eingehenden wissenschaftlichen Kritik gesche- hen, von der eine gewisse Schärfe unzertrennlich war. Dass diese ohne persönliche Gereiztheit rein aus der Sache selbst hervorging, wird, wie wir hoffen, jedem aufmerksamen Leser einleuchten. Fallmerayer wird uns vielleicht, eben so wie einst den Biogra- phen Muhammeds, zu den „bissigen Grammatikern* rechnen, zumal wir einzig durch einige grammatische Speeial-Untersuchungen auf dem betreffenden orientalistischen Gebiete Mitarbeiter gewesen sind. Aber es wird vergebens sein, wenn er auf’s neue die Streitpunkte als ein- zelne pedantische Bagatellen zu behandeln sucht. Wir haben gezeigt, wie bei Hammer der Mangel grammatischer Präeision mit seiner Flüch- tigkeit und Unzuverlässigkeit überhaupt eng zusammenhängt. Ist doch auch gerade in neuerer Zeit die Sprachforschung zu einer Bedeutung gelangt, welche sie als eine würdige Repräsentantin aller exacten Wis- senschaftlichkeit erscheinen lässt. Schon Luther bezeichnete in geistvol- ler Weise die ganze Theologie als eine Grammatik der heiligen Schrift. Aehnlich können wir jetzt, im Unterschiede von der früheren durch aprioristische Willkür in Verruf gekommenen Geschichts- und Natur- Philosophie, von einer Grammatik der Geschichte, von einer Grammatik der Natur reden, um die Verbindung logischer Schärfe mit einer das objectiv Gegebene bis in die Minutien verfolgenden gewissenhaften Em- pyrie zu bezeichnen, wodurch allein auch wahrhaft weite und grosse wissenschaftliche Gesammtanschauungen sicher und dauernd zu gewin- nen sind. Und in diesem Sinne wollen wir uns gern als Apologeten der Grammatik angesehen wissen und müssen insonderheit auf dem Ge- biet der orientalischen Forschung alle Kritik, welche der grammatischen “Grundlage ermangelt, als unbefugt zurückweisen. Dass auch wir Hammer’s Verdienste anerkennen, daran haben wir wiederholt erinnert. Wir heben dieselben hier zum Schluss gern ausdrücklich hervor. Die fördernde Anregung, welche Jener der Be- schäftigung mit dem muhammedanischen Orient gegeben hat, be- änkt sich keineswegs auf den weiteren litterarischen Kreis, an welchen uns Göthe’s Diwan erinnerte. Auch die Wissenschaft ist ihm dafür zu unmittelbarem Dank verpflichtet. Er erleichterte der- selben den vorläufigen, wenn auch flüchtigen Ueberblick über den ungeheuern zu bewältigenden Stoff. Auch das hätte er in befriedi- 16 — 218 — genderer sorgfältigerer Weise bewirken können, aber wir wollen darum nicht gering schätzen, was er geleistet hat. In dieser Bezie- hung kann man ihn wirklich mit einem orientalischen Eroberer ver- gleichen. Mit einer wahren Leidenschaft griff er immer weiter und weiter und schaute, während er den Einen massenhaften Stoff kaum zu erfassen angefangen hatte, schon nach einem neuen aus. Nicht nur seine Arbeitskraft und unverwüstliche Zähigkeit, sondern auch seine Betriebsamkeit und sein Unternehmungsgeist sind dabei stau- nenswerth. Er war die Seele des durch seines Freundes Rzewuski Mittel ermöglichten „schwunghaften Betriebes“ der Fundgruben. Seine eigenen dort veröffentlichten polyglottischen Spielereien mussten wir tadeln, dass aber neben den Deutschen auch Franzosen, Engländer, Italiener in ihrer Sprache daran mitarbeiten konnten, war ein gross- artiger Gedanke. Auch alle seine weitläufigen Verbindungen wusste er wissenschaftlichen Zwecken dienstbar zu machen und wir haben es im Zusammenhange damit aufzufassen, wenn wir sehen, dass er seine Werke nicht nur den verschiedenen Gliedern des österreichischen Herrscherhauses, sondern auch eines dem dänischen Könige, eines dem russischen Kaiser, eines dem türkischen Sultan und wenn wir nicht irren eines (seine persi- sche Uebersetzung des Mare Aurel) sogar dem Schah von Iran dediceirt. Auch die Anlage mancher seiner Arbeiten ist dem Grundgedanken nach grossartig, und es wäre ein unsterbliches Werk, in gründlicher und umsichtiger Weise z. B. eine solche mit Uebersetzungsproben durch- wobene Geschichte der arabischen, persischen, türkischen Poesie zu schaffen, wie sie der Idee nach ihm vorschwebte. Aber dazu be- durfte es freilich neben jener mächtigen expansiven Bewegung einer Sammlung und Concentration, auf die er seinen energischen Willen nie richten lernte. Weil er (wozu eine einzige Menschenkraft unmög- lich ausreichte) alle seine Ideale verwirklichen wollte, gelang es ihm mit keinem. So gilt ihm der Spruch des Oghuz: „Tritt nicht über, als würdest du zum ‚Meere! was deine Kraft übersteigt, _ umfasse nicht“ 6%! Daher bei Hammer neben der Grossartigkeit der Unter- nehmungen jene nur hie und da durch Spuren eines höheren Geistes unterbrochene Stümperhaftigkeit der Ausführurg, die ihn bei allen glänzenden Vorzügen dennoch des Ruhmes wahrhafter wissenschaft- licher Grösse beraubt und die es als leere Schmeichelei oder offen- bare Unkenntnis erscheinen lässt, wenn man wiederholt gewagt hat, ihn als Koryphäen der Wissenschaft einem Alexander oder Wilhelm 69) Diez Denkw. I 196. . — 219 — von Humboldt zur Seite zu setzen. ° Göthe stellt irgendwo, um die wahre geistige Grösse zu charakterisiren, eine ganze Reihe von glän- zenden Eigenschaften zusammen, von denen die erste die Tiefe, die letzte die Vollendung ist: sie alle, sagt er von Voltaire, waren ihm eigen, nur die erste und letzte fehlten ihm. Aehnliches kann man auf einem völlig verschiedenen Gebiete von Hammer sagen. Seine ganze extensiv riesige, intensiv meist sehr zwerghafte Arbeit muss durch die Wissenschaft unitis viribus gleichsam wiederholt werden, um alle bei ihm hie und da zerstreuten Perlen aufzulesen. Mögen seine wahren Freunde dazu das Ihrige durch rüstige Arbeit beitra- gen! Dass jene Perlen im Ganzen sehr sparsam zerstreut liegen, da- von können sich dieselben nach den schon geprüften und gleichsam gesichteten Theilen des weitschichtigen Stoffes bald überzeugen ; übri- gens wollen wir uns von Herzen freuen, wenn sie recht viele solche Perlen zusammenbringen. Das würdigste Denkmal aber, das sie vor- erst dem Dahingeschiedenen errichten könnten, wäre eine einfache Darstellung seiner einzig umfassenden Thätigkeit dadurch, dass sie eine chronologische Uebersicht über die mannigfaltigen Hammer’schen Werke und Aufsätze gäben und in Betreff des Bedeutenderen durch einige kurze Bemerkungen über Stoff und Absicht der einzelnen Schrif- ten das allgemeinere Verständniss erleichterten. Wir haben um der Wahrheit willen in Hammer’s Charakter ge- wisse Schattenseiten hervorkehren müssen, welche befangene Freund- schaft und Bewunderung öffentlich als Tugenden gepriesen hatten. Manches, was wir berühren mussten, könnte leicht an dem Besseren in dem Manne ganz irre machen: ohne aber das Urtheil über das wirklich Verwerfliche abzuschwächen, wollen wir doch bemerken, dass gerade bei dem Kampf um hohe geistige Dinge das niedere und selbstische Element in dem Menschen sich mit seinen Idealen, wie er sie auffasst, gleichsam verquickt, so dass beides seltsam durcheinan- - der geht und er das Eine von dem Andern nicht mehr unterscheidet. Wie sehr wissenschaftliche Ehrsucht und Eifersucht selbst einen New- ton sich selbst ungleich machen konnten, zeigt dessen Benehmen ge- gen Leibnitz, welches als im höchsten Grade kleinlich und unwürdig jetzt auch von den Engländern allgemein anerkannt wird ’0. Dies alles darf zwar niemandem zur Beschönigung seiner eigenen Fehler dienen, es soll uns aber willig machen, bei der oft räthselhaften Mischung des Edlen und Unedlen in einem Menschenherzen, uns gern, 70%) Man. vgl. das Londoner Athenaeum vom 7. März 1857 p. 306. — 220 — so lange es irgend möglich ist, hoffend an die Lichtseiten desselben zu halten. Und dies wird uns bei dem seligen Hammer, trotz seiner grossen und offenbaren Schwächen, durch so manche schöne und edle Züge seines Wesens besonders leicht gemacht. Wir haben immer aus der warmen persönlichen Anhänglichkeit, den manche von uns hochgeehrte Männer für ihn hegten, geschlossen, dass er ausserhalb des litterarischen Treibens ein Anderer sei als da, wo ihn sein ver- kehrter Bildungsgang nun einmal mit eimer falschen Selbstgewissheit und krankhaften Reizbarkeit zugleich behaftet sein liess. Wir haben dies gern abermals durch die Züge aus seinem inneren, häuslichen und Freundes-Leben, welehe Umbreit in andeutenden Umrissen mit- getheilt hat, bestätigt gefunden. Es soll uns freuen, wenn die zu erwartende Selbstbiographie gerade von dieser Seite ihn uns noch mehr schätzen lehrt. Auch das wollen wir hier ausdrücklich erwäh- nen, dass er jenes von uns angeführte wahrheitsgemässe Urtheil, wel- ches Silvestre de Sacy über seine Uebersetzungen aus dem Arabi- schen fällte, zwar nicht in rechter Weise sich zu Herzen nahm, aber doch auch den Groll darüber das Verhältniss zu dem Freunde nicht dauernd stören liess. Er hat nach dessen nicht lange darnach erfolg- tem Tode wiederholt seiner in würdiger Weise gedacht. Dass auf dem litterarischen Gebiete selbst es ihm ernst war mit der Wissen- schaft, wenn er gleich deren Wesen nicht rein erkannte, dass er wirklich, wenn auch auf verkehrten Wegen, einem Ideale nachstrebte: daran haben wir mehrfach zu erinnern Gelegenheit gehabt. Und so mögen, nachdem wir so manche seiner Geschmacklosigkeiten haben ans Licht ziehen müssen, hier auch einige Beispiele dafür Platz fin- den, dass ihm nicht die Gabe fehlte, da wo gleichsam jene Licht- blicke seines Wesens die Oberhand gewannen, einen edlen Gehalt in edler poetischer Form wiederzugeben. Grössere durchweg gelungene Gedichte wird man allerdings schwerlich bei ihm ausfindig machen, aber aus einzelnen sorgfältig ausgewählten Fragmenten liesse sich viel- leicht eine sinnige nicht uninteressante Blumenlese zusammensetzen. So steht vor einer seiner misslungensten Schriften der Zuruf an die Orientalisten: Aus Osten quillt das Licht, dess wahrer Morgen Uns vor dem falschen trügerischen rette! Wir wollen hammern in dem reichen Schachte Mit gleichgehaltnem Schlag zur Frühemette ; Und wie die Gänge auch sich kreuzen mögen So fördern wir ans Licht Metall in Wette. So stehen im Anfange der Recension, in welcher er den Meister = 21 — Rückert, den ebenso vielseitigen, gründlichen und feinen orientalischen Philologen, als genialen Dichter, öfter auf unpassende und unglück- liche Weise meistert und neben dessen Uebersetzungen seine eigenen misslungenen vergebens zu behaupten sucht, als Antwort auf dessen herrliches Eingangsgedicht zur verdeutschten Hamasa die Verse, in denen er ihn mit fröhlichem Glückauf begrüsst, ihn als den feiert, durch welchen der Osten dem deutschen Genius dienstbar werde, dann aber im Bewusstsein seines eigenen verwandten Strebens ausruft: Doch bin ich auch in Dschinnistan gewesen Bei persischer und türk’scher Gasterei, Ich habe manche Blumen aufgelesen , Die in arab'scher Wüste wachsen frei. Meinst du nicht, dass des Morgenländers Wesen , Weil ich ihn sprach, mir so bekannter sei? Damit sich Deutschland nach dem Osten wende, Bracht’ ich schon früh und bringe spät die Spende. Und den gleichen Gedanken spricht er noch glücklicher am Ende eben jener Recension aus. Die Schlussrede Rückert’s „an seine Ue- bersetzten,“ in welcher derselbe meint, dass diese in beiden Welten niemand so liebe als er, erwiedert nämlich Hammer mit den Worten: Es ist wohl noch ein andrer, Der in Europa lebt, Den der Hamasa Liebe Den Busen schwellt und hebt. . Er liebt die Weggenossen, Mit welchen er nicht zankt, Und hofft, dass mehr als einer, Ihm diese Liebe dankt. Als Schluss aber und gleichsam als Symbol dafür, dass wir uns bewusst sind in reiner Liebe zur Wahrheit über einen merkwürdigen Mann gesprochen zu haben, dessen Besseres und Edleres wir so mehr _ zu ehren hoffen als durch unhaltbare und übertriebene Lobeserhebun- gen, setzen wir die Verse Hammer’s hieher, mit denen auch Umbreit seine Worte der Erinnerung an denselben schliesst, nämlich die schö- nen Distichen an die Cypresse, als den Baum der Freiheit: Frei und luftig erhebt dein Stamm sich über die Erde, Allem Krüppelgewächs niedrer Gesinnungen fremd. Wer sich beuget und bückt, klebt stets an der staubigen Erde, Wer in die Höh’ aufschaut, schwingt sich zum Himmel empor, — 22 — Anhang für Orientalisten. a) Zu Anm. 14. Hammer würde nicht zu tadeln sein, wenn er die türki- schen Lautgesetze und die Aussprache völlig bei Seite lassend lediglich die Schriftzeichen nach Consonanten und Vocalen (welche lezteren freilich selten geschrieben werden) consequent transscribirte, Nun aber mischt er Beides mit gewohnter Prineiplosigkeit durcheinander. Ich zeige dies durch einige Beispiele, wie sie sich mir bei einer raschen Durchsicht der gerade vor mir liegenden Schriften darbieten. — Die Endung des Präteritums lautet nach den verschie- denen vorangehenden Consonanten und Vocalen — di, — dy (das y als die schon von Meninsky eingeführte Bezeichnung eines eigenthümlichen dumpfen Lautes\, — dü, — du z. B. geldi, qaldy, gördü, oldu. Gleichen Modificationen unterliegen die Verbal-Endungen — din, — dim ete., die Nominal-Affixe — i, — si, — in, — im ete. und andere Anhänge-Sylben. H. schreibt nun nicht etwa überall i, sondern i, ü, u bunt durcheinander, während er das y ganz ignorirt. So steht z. B. Fundgr. I, S. 36. 37 oldi neben. oldüm (statt oldu, oldum), $. 40 wieder oldim; umgekehrt $. 38 gündouz statt gündüz. Osman. Dichtk. I S. 6 elünde statt elinde; S. 7 edesün statt edesin; dagegen anderswo i statt ü z.B. S. 19 sözi statt sözü. Oft drängt H. wie zur Verhöhnung der gesetzmässigen Lautfolge alle seine 3 Laute in Einem Worte zusammen, z. B. in oluridüm statt olurudum Baki S. 43 oder er wechselt in 2 neben einanderstehenden, hinsicht- lich der Lautfolge völlig gleichförmigen Wörtern wie zum Spiel die Vocalzeichen z. B. Baki S. 63 janümde chandscharin statt janymda chandscharyn, S. 65 dschamün etrafin statt dschämyn eträfyn. Dieselbe Confusion herrscht in den Fällen, wo a und e nach bestimmten Lautgesetzen mit einander wechseln. So schreibt H. Baki $S. 88 musaffädan, wo nach den 2 aufeinander folgenden a auch — den stehen könnte (was schon Viguier richtig bemerkt Elemens de la langue turque p. 61); dagegen setzt er häufig e wo nothwendig a stehen muss z. B. Baki S. 89 jolünde statt jolunda, Fundgr. I S. 40 tschokden statt tschok- dan, was denn auch weiter unten ‘richtig geschrieben steht. Das Kef ist oft durch k wiedergegeben, wo man g spricht z. B. kibi statt gibi Osm. Dichtk. II S. 19, während $S. 123 richtig girü geschrieben ist. — Trotz solcher totalen Unkenntniss der feineren Nuancen der türk. Aussprache meisterte H. fortwährend die besser Unterrichteten, z. B. in den Wiener Jahrb. für Litt. 1836 S. 133 £. den Armenier Hindoghlu, der gerade hinsichtlich der Aussprache Lob verdient, den aber Hammer auf komische Weise durchgehends ballhornisirt. So ändert er tjapken (nach unserer Schreibung tshapgyn — Hindoghlu bezeichnet nämlich Meninski’s y mit Viguier durch das französische stumme e) fälschlich in tschap- kun; guidermek fälschlich in gidürmek, indem er das Wort wahrscheinlich mit dem ganz verschiedenen getirmek verwechselt. — Wir fügen die Bemerkung hinzu, dass H’s Transscription des Pers. uns im Ganzen richtiger zu sein scheint, als die des Türk. u. Arab. So erhebt er in den Wiener Jahrb. XL. 155 ff. manche richtige Einwendungen gegen Rückert’s übrigens systematisch-gründliche Transscription — freilich auch dies nicht, ohne zugleich seine eigene Unge- nauigkeit an den Tag zu legen. Er will z. B. S. 158 ssiffet und durrer (!) statt sifat und dürer schreiben und $. 159 beruht seine Opposition gegen zusammen- gezogene Formen wie bükshäjed, bishkesti in der poet. Sprache lediglich auf seiner unten zu erwähnenden totalen Unkenntniss der Metrik. _ 23 — b) Zu Anm. 17. Die betreffende Stelle steht in der zu Bulak gedruckten Ausgabe des Humäjün-name S. 16: jüz? rüz? shir mychlebden = vor dem löwenklauigen Spürhunde des Tages [war die Gazelle der Nacht entflohen]. Diez hat zu Anfang das türkische Wort jüz (= Angesicht) gelesen, rüz shir — Tag- löwe verbunden, das — den dem Sinne nach zu jüz gezogen und darnach über- setzt: „vor dem Anblick der Klaue des Löwen des Tages“. Aber ein solches “ Voranstellen eines rein türkischen Wortes, als ob es durch das pers. Je yzäfet mit dem Folgenden verbunden wäre, ist nicht statthaft. Hierin hat Hammer Recht. Er hätte hinzufügen sollen, dass auch D's Construction der folgenden Worte grammatisch nicht haltbar ist. Denn rüz shir als Zusammensetzung zu- gegeben wäre als Individuum zu denken und könnte nicht wieder mit mychleb zusammengesetzt werden. Es müsste nach persischer Weise mychlebi rüzshir oder nach türkischer rüzshirin mychlebi heissen. — Wenn aber H. jüz nach seiner andern Bedeutung im Persischen durch „Panther“ übersetzen will, so müssen wir dem, was D. dagegen bemerkt, im Wesentlichen beistimmen. Sollte die Sonne mit einem wilden Thiere verglichen werden, so würde wie gewöhn- lich der Löwe gewählt sein; und ein „Panther mit Löwenklauen“ wäre eine eben so geschmacklose Zusammenstellung als die auch weiterhin wiederkehrende Bezeichnung des „Hundes mit Löwenklauen“ wahrhaft poetisch ist. — In Betreff des sogleich folgenden arabischen Citats ke 'Ibedru Ahaffa biwädikäti "lendshum (= wie der Vollmond einherwandelt unter den leuchtenden der Sterne) treten wir gegen D. in Betreff der Lesart (er liest chyff) und der Erklärung auf H’s Seite. — Weiter unten lesen wir mit der ägyptischen Ausgabe zachmei senän ile; zachme — Plectrum, was allein in den Zusammenhang zu passen scheint. D liest zakme und übersetzt „mit Schmerzen der Lanzen“ [wurde das Ohr des Wildes erfüllt], was man — „mit Schmerzenslauten der Lanzen“ erklären müsste. ec) Zu Anm. 39. Wir geben hier einige sprachliche Bemerkungen zu den oben erwähnten Sprüchen des Samachschari nach der Reihenfolge, in der sie dort vorgekommen sind. — Zu Spr. 74. Das von H. nicht verstandene Wort ist akfän. Es ist im Türkischen so gewöhnlich, dass es in türkische Wortbil- dungen übergegangen ist z. B. kefenlemek, kefenli (— kefenlenmish). — Zu Spr. 47. Elkäzimu, nach Fleischer — der tüchtige Geschäftsmann, nach Weil — der Besonnene, ist wohl vielmehr im allgemeinern Sinne der Charakterfeste (vgl. das achu 'Aazmi, vir firmi propositi in der Hamasa ed. Freytag p. 33; . die Wurzel kazuma — firmo fuit pectore, proprie : substrietus fuit. So Schultens, der die mehrfache Verknüpfung der Begriffe des Bindens und des Starkseins im Arab. und Hebr. bereits bemerkt hat. — Zu Spr. 79. Das min in Zeile 1 und 2 des Grundtextes nehme ich mit Fl. genitivisch. Auch hinsichtlich der Fassung der Worte darabat bihimi "lakälibu stimme ich in der Hauptsache Fl. gegen W. bei. Dieser erklärt akälib als Plur. von kulbatun — Missgeschick, was aber grammatisch nicht zu rechtfertigen ist. Vielmehr ist es der gewöhnliche Doppel- plural von kelb, wozu auch Sinn und Reim des folgenden parallelen Gliedes (bälat ‘aleihimi 'ththa‘älibu) stimmen. Fl. übersetzt: „Hunde geben ihnen Fuss- tritte.“ Aber dies ist ein unnatürliches Bild. Wenn vom Hunde das „Hauen“ ausgesagt wird, denkt man an seine Bisse, nicht an seine Fusstritte. (So steht daraba ja auch von Verletzungen aller Art, z. B. vom Stechen der Biene). a Zu Anm. 46. Gegen Fl. und W. beharrt H, (Wiener Jahrb. für Lit. LXXVI 208 f.) in Spr. 35 bei der Uebersetzung, dass das Wort des Frommen das Ver- trauen auf Gott _bedinge, während doch gawluhu bi'ttewakkuli ‘aleihi medshzüm nur heissen kann: „sein Wort wird mit dem Vertrauen auf ihn beschlossen“, d.h. (nach Fl’s Bemerkung) mit der gewöhnlichen Ergebenheitsformel wealeihi tewakkaltu. Dennoch fragt H., indem er die arabischen Worte anführt, in ko- mischer Weise: „Wo ist hier die Rede, die sich mit dem Vertrauen endigt!! zu finden ?* — In den folgenden schwierigen Worten we lä jagra‘u tanbürehu ‘ala ghajiri bäbihi geht das Suffix in bäbihi sicher auf Gott: H. bleibt bei seiner völlig unhaltbaren Ueberzetzung : „er spielt die Trommel nur sich selber vor“. In der Auffassung der Suffixe stimmt S. in Sacy, der diesen Spruch im Journal des Savants 1836 $. 720 ff. erläutert, mit Fl. und W. überein; die von ihm nach den Pariser Manuscripten festgestellten Lesarten sind aber unstreitig die richtigeren. — In Spr. 28 heisst es von dem, welcher nicht im Verborgenen und mit Gottesfurcht ‘betet: fedhu da‘watin sachifatin. H. besteht auf seiner Erklärung: „er ist begabt mit grober Anmassung“, während, wenn man da‘wat durch „Anspruch“ übersetzen will, nur der von W. gewählte Sinn herauskommt: „der ist ein Inhaber geringen Anspruchs“, Da man aber nach dem Zusammen- hange am leichtesten an die gewöhnlichste Bedeutung des Worts — „Gebet* denkt, ziehen wir Fl’s Erklärung vor: „der ist Darbringer eines werthlosen, haltungslosen Gebets.* d) Zu Anm. 66. Fälle, in denen Diez auch seine wirklichen Irrthümer gegen Hammer vertheidigt, kommen in allen 3 Sprachen vor, am seltensten im Türkischen (z. B. Denkw. II 710. S. auch oben unter ce) am häufigsten im Per- sischen z. B. a. a. O. S. 768, wo D. sicher H. unrecht thut, wenn er meint dieser nehme hesti für „du hast“ (er übersetzt yielmehr nach der richtigen Lesart behrei ez meleket — statt melek — hest — dir ist ein Antheil vom Engel — hesti ist Druckfehler, denn auf den prosodischen Nachlaut nimmt H. sonst nir- gends Rücksicht); 775, wo D. in besonders seltsamer Weise mit der pers. Gram- matik umgeht; 778 (wo mit der ägypt. Ausgabe des Hum. N. zweimal ni statt ne zu lesen ist); 835; 929. Oft thut H. aber auch da, wo er bei D. mit Recht etwas tadelt, ihm doch zugleich unrecht wie 8. 618 (D. hat än ghubärem nist gelesen, nicht ghubäri men nist), oder die Berichtigung ist unvollständig wie S. 517, wo es in dem arabischen Spruche heissen muss: „wenn einem ohne Recht der Kopf abgehauen würde, so wäre es ihm besser als dass er in die Abgründe der Welt versänke“, oder H. mischt gar seiner eigenen Verbesserung jene bekannten Gedankenlosigkeiten bei, durch die er sich der berechtigten Persiflage seines Gegners aussetzt, vergl. S. 612 und besonders S. 929. Hier handelt es sich um ein persisches Ghasel Sultan Selim’s I. H. tadelt mit Recht D'’s falsche Constructionen, aber was setzt H. selbst an die Stelle! Das Matla‘ lautet: —-vVv-v-—vvo N efläk nist läikz tacht ü serir? mä zir qadem sipihr büved jek hasir? mä. d.h. „der Himmel ist nicht würdig unseres Stuhles und Thrones; unter (unserem) Fuss ist der Himmel ‚eine einzige Strohmatte für uns.“ H. liest gegen das Metrum, von dem er trotz seiner langen Beschäftigung mit orientalischer Poesie o — 2253 — schlechterdings nicht versteht,*) qademi sipihr und bringt so den Nonsens heraus: „eine. einzige Strohmatte von uns liegt unter den Füssen des ganzen Weltalls“. Im dritten Beit will H. statt D’s nemervijim (wir werden nicht wie Alexander getränkt vom Lebenswasser) nemirem setzen, also: „Ich werde nicht wie A. sterben vom Lebenswasser“!! — Solche Verstösse H’s bei so vieler Selbstgefälligkeit, verbunden mit dem verläumderischen Charakter seiner Polemik auch im Einzelnen (man vergl. D’s gerechte Beschwerden S. 515. 827) müssen das Urtheil über die oben auch von uns gerügte Leidenschaftlichkeit der Ab- wehr bei D. mildern. *) Hievon könnten wir manche Proben anführen. Eine einzige hinläng- lich charakteristische möge genügen. Fasli’s Gül und Bülbül ist in der sehr gewöhnlichen Form des Bahri chafif -— 0 —- —- |v—- v - | x _ (fäälätun mefä‘ilun fa‘ilun) abgefasst. H. hat, nachdem er die „drittehalbtausend Disti- chen“ des Gedichts verdeutscht hat, das Metrum noch nicht herausgehört, sondern schreibt in der Vorrede zu seiner Uebersetzung S. XXI: „Das Me- trum des Originals ist ist in der metrischen Formel Faalaton faalaton falan ee ern 2 gegeben, worin die Spondeen vorherrschen, welche daher absichtlich in der Uebersetzung öfter den Gang des Jambus erschweren.“ — Uebrigens ist auch die Bearbeitung jenes leichten Dichters voll von Sinn- und Geschmacklosigkeiten. H. folgt seiner übeln Gewohnheit, den längeren Vers des Originals durch einen kürzeren deutschen (nämlich hier den fünf- maligen Ietus im Türkischen durch einen viermaligen im Deutschen) wieder- zugeben; schon dadurch ist oft Zeile auf Zeile eine Verstümmelung. Man vgl. z. B. die auch hier charakteristischen Anfangszeilen des 1. u. 2. Abschn. auf S. 1, wo dort gülbün, hier kyrmen, beides für den Sinn wesentliche Worte, ohne Weiteres unübersetzt gelassen sind. Was aber jene metrische Ignoranz betrifft, so hatte H. geraume Zeit vorher Rückert’s in den Wiener Jahrb. veröffentlichte sorgfältige und geistreiche Bearbeitung des 7. Theiles des Heft Qulzüm, diesen in der That angenehmsten und interessantesten „praktischen Cursus der persischen (und damit auch in der Hauptsache der türkischen) Metrik“, vergebens als Correetor durchgelesen. — ‘Wir schliessen mit dem Wunsche einer besondern Herausgabe eben dieser Arbeit Rückert's, welche gauze dicke Bände Hammer’scher Werke aufwiegt. Berichtigungen. . Zu Anm. 12. Z. 2 des türk. Textes: statt güja 1. güjä ki; Z. 3 statt mejänt l. mijän. — Zu Anm. 13. Z. 2 des Ghasel’s: in eshikde, was die Handschr. hat, ist des Metrums wegen zu dem einen Kef ein zweites (als Saghyr nun) hinzuzufügen: also eshiginde — an deiner Schwelle (das Metr. ist dasselbe wie in dem oben unter d) angeführten Matla‘ Selim’s; chorshid, hiläl, sipihr haben nach pers. Regel den prosodischen Nachlaut). Zu Anm. 21. Statt sachrajy 1. sahrajy. 17 - Ueber Cometen und Cometen - Aberglauben ‘) Von Professor Dr. R. WOLF. Gewiss finden sich Wenige, die nicht in den letzten Jahren hin und wieder einmal von einem grossen Cometen gelesen haben, welcher zur Zeit Kaiser Karls des Fünften erschienen sei, und nun neuer- dings erwartet werde. Es dürfte daher nicht unwillkommen sein, et- was Genaueres über jene Erscheinung und den Eindruck, welchen sie machte, zu hören, — über den damit innig zusammenhängenden Co- meten-Aberglauben älterer und neuerer Zeit, — so wie endlich über die Wahrscheinlichkeit der verkündeten Wiederkehr. Erwarte man aber nicht etwas eigentlich Neues oder Gelehrtes, — sondern eine schlichte Berichterstattung. 1. Der Comet von 1556. „Anno 1556 den 4ten Tag Märtzens,* erzählt der nachmalige Antistes Ludwig Lavater in seinem Cometen -Catalog!, „ist bey uns zu Zürich zuerst ein Comet gesehen worden: hatte einen gantz un- gleichen lauff; er ist nach etlichen tagen verschwunden; aber her- nacher hat er widerumb angehebt zu leuchten. Es sind auch hin und har andere Zeichen geschehen. Disen Comet hat ein Mathema- tieus auf der hohen Schul zu Wien beschrieben. In disem Jahr ist gestorben Churfürst Friederich, Pfaltzgraff bey Rhein, Hertzog in Bayern, und andere mehr. Wie auch der Ehrwürdige Herr Conra- dus Pellicanus, an dem Pfingstfest, seines Alters in dem 78. Jahr.... Es sind in disem Jahr, auch vil andere gelehrte und fromme Män- ner gestorben..... Den allerhöchsten Herren sollen wir flehenlich anrüffen, dass er nit mit uns handle, wie unsere verderbte sitten verdienet: sondern dass er uns um Christi seines Sohns willen, der unser Mittler und Fürspräch ist, genädig und barmhertzig seye: und dass er alles das übel, welches die Cometen gemeinlich verkünden *) Ein in Zürich gehaltener öffentlicher Vortrag. ') Cometarum omnium fere Catalogus. Tiguri 1556. 8. Deutsche Ausgabe von J. J. Wagner. Zürich 1681. 8. Mi = Mi sollen, nach seiner güte und barmhertzigkeit abwende oder miltere.*- Der Zürcherische Stadtarzt Hans Jakob Wagner, ein Nachkomme je- nes Lavater, fügt in seiner neuen, deutschen Ausgabe des Cometen- Catalogs, über den Cometen von 1556 die Notiz bei: „Er war sehr gross, dunkelroth wie ein Brand von Kienholtz, die Stralen nicht lang, und unbeständig, wie eine Flamım im Hartzbaum loddert.* — Und Guggenbühl meldet in seiner Zürcher-Chronik, nachdem er eben- falls den Cometen angeführt: „Darauff folgt so träffenlich schön und warm wätter dass der schnee schnell und ohne gross wasser mit Verwunderung dahin gieng.... die trauben verdignetend an räben. Der wein war über die massen gut aber nit ville. Die armen Leuth litend gross Hunger angst und noth.“ Ein anderer Zeitgenosse, der Stadtschreiber Berchthold Saxer zu Aarau, berichtet:? „Anno 1556 den fünften tag Mertzen, zu anfang der nacht, umb die achtist stund, ist ein Comet von der Sonnen auffgang, erschinnen, hat sein bleyche doch fewrige strymen und haar gegen nidergang gestreckt, und als er in die höhe kommen, ist er stracks der Sonnen nachgevolget, und als er seine straalen oder schwantz gegen mittag gewendet, da ist er durch den Aprellen der Sonnen aın morgen vorgelauffen, also das er mitt schnellem lauff ist biss zum Herren wagen kommen, daselbst hat er sich zirckelweiss in die ründe bewegt, und mitt herundergangen. Darauff ist gevolget ein schöner warmer Sommer, und sälten rägen, das auch an etlichen orten die Brunnen aussgedorret und ersigen sind, die schnee sind auch wi- der jhr natürliche gewonheyt in den Schneebergen mächtig geschmol- tzen. Ein pestenlentzische sucht und keibet, ist in unseren Lan- den under das vich kommen, und vil ertödet mit grossem schaden.“ Unter den deutschen Beobachtern des Cometen zeichneten sich der kaiserliche Arzt und Mathematieus Paul Fabritins in Wien, so wie der verordnete Astronom zu Nürnberg, Joachim Heller, dadurch aus, dass sie einige, wenn auch ziemlich rohe, Ortsbestimmungen dersel- ben machten, auf die ich später zurückkommen werde. Ganz beson- u A interessirte sich der berühmte Melanchthon für den neuen Ankömmling: ‘Aus einer Reihe von Briefen, von denen Jahn? vor ei- nigen Jahren Auszüge in deutscher Uebersetzung mittheilte, geht her- vor, dass er ihn regelmässig verfolgte, — seine Wahrnehmungen und Befürchtungen seinen gelehrten Freunden mittheilte, — sie um Ge- ®) Cometsternen. Bern 1578. 4. ®%) Wöchentliche Unterhaltungen 1848. —_— 23 — genberichte ersuchte, u. s.f. So schrieb er z. B. am 13. März 1556 an einen gewissen Dr. Menius; „Dass bald die Strafen erfolgen wer- den, kann man eben so gewiss aus der Wuth der Feinde des Evan- geliums abnehmen, als es auch angedeutet wird durch die Erschei- nung des furchtbaren Cometen, den wir schon in mehreren Nächten sahen.“ Und am 19. März an einen gewissen Dr. Hardenberg: „Bei denen, welche nicht ungelehrt sind, ist, wie ich glaube, das Wüthen gegen die Wahrheit, so wie die offenbaren Schmeicheleien ein grös- seres und betrübenderes Anzeichen, als die Cometen und seltsamen Geburten es sind. Und doch mehren auch diese Zeichen meinen Schmerz. Ich glaube, auch ihr werdet den Cometen beobachtet ha- ben, welcher im Laufe dieses Monat März gesehen worden ist. Wir sahen ihn zuerst am 5. März, als er nahe bei der Spica war, was auf Wissenschaften und Gesetze deutet. Von da stieg er rasch zum Arktur auf, dann zum kleinen Bär, wovon er si :h nördlich hinaufzog. Der Schweif war nach unserm Dafürhalten den Niederlanden zuge- kehrt. Gleichzeitig war eine Conjunction des Saturn und Mars. So trugen sich auch, ehe Philipp, der Vater des Kaisers Karl, starb, zur nämlichen Zeit eine Conjunetion des Saturn und Mars und die Erscheinung eines Cometen zu.“ Kaiser Karl V., durch Krankheit und Misslingen mancher Lieb- lingspläne seiner hohen Stellung überdrüssig geworden, hatte damals bereits Spanien und die Niederlande auf seinen Sohn, Philipp IL, übergetragen, und ging auch mit dem Gedanken um, die deutsche Kaiserkrone seinem Bruder Ferdinand in die Hände zu spielen, — zauderte jedoch immer noch mit seiner Abdieation. Da erschien der Comet, und Karl bezog denselben auf sich, — vielleicht theilweise im Gedanken an seinen Vater, dessen Tod für eine der Folgen des Cometen von 1506 angesehen wurde, — theilweise jedenfalls in sei- ner Bescheidenheit sich selbst als den ersten, ja als den einzigen Sterblichen betrachtend, an den sich der neue Comet adressiren könne. In panischem Schrecken rief er aus: „His ergo indieiis me mea fata vocant!* Fort muss ich, meine Uhr ist abgelaufen ! — legte sofort alle weltlichen Würden nieder, und zog sich in ein spanisches Klo- ster zurück, wo er den Frommen spielte. „Bald sind es zwei Jahre, seit Ihr Vater abgedankt hat,“ soll später Jemand zu Philipp II. ge- sagt haben. „Bald sind es zwei Jahre, dass er es bereut,“ war die Antwort. Kaiser Karl starb 1558, — nachdem noch einmal ein Comet für ihn aufgeleuchtet hatte. „Es starb auch,* erzählt Taust in sei- —_— 229 — nem Cometa redivivus*, „der König in Frankreich, und folgeten also diese beyde auf einander im Tode, nachdem sie zuvor auff der Welt einander mercklich gekräncket hatten. Es starb König Johan- nes in Portugal. Maria die Königin in Engelland. Dessgleichen auch die Königin in Ungarn und Pohlen. Christianus III. König in Dänne- mark. Hereules Hertzog zu Ferrara. Der Hertzog von Venedig. Pabst Paulus IV und mit ihm 15 Cardinäle.“* 2. Aeltere Ansichten über die Cometen. Sie sehen aus dem Mitgetheilten, wie man zu jener Zeit gewohnt war, das Auftreten der Cometen mit den Erscheinungen der Natur, des politischen und moralischen Lebens in innige Verbindung zu brin- gen. Es stand diess mit den Ansichten iin Zusammenhange, welche damals über die Natur der Cometen allgemein verbreitet waren. Wohl hatten schon im Alterthume einzelne ihrer Zeit vorausei- lende Männer ganz gesunde Ansichten über die Cometen ausgespro- chen, — diese, analog den übrigen Wandelsternen, als unvergäng- liche und bestimmte Bahnen einhaltende Weltkörper bezeichnet, — ja, der unsterbliche Seneca, nachdem er $® jene Ansichten mit bewun- dernswürdiger Klarheit und Einsicht beleuchtet, vertheidigt und ihre spätere Ausbildung in sichere Aussicht gestellt hatte, mit propheti- schem Geiste ausgesprochen: „Die Zeit wird kommen, wo unsere Nachkommen sich wundern, dass wir so offenbare Dinge nicht ge- wusst haben.* Aber jene Zeit war noch nicht reif für solehe nüch- terne Auffassung, — die von Seneca bekämpften Meinungen, so ober- flächlich sie uns auch scheinen mögen, sassen tief im Fleische, be- haupteten auf viele Jahrhunderte hinaus das Schlachtfeld, und müs- sen somit auch hier noch besprochen werden. Die Einen sprachen den Cometen die Realität oder wenigstens die Materialität ab, — sie hielten dieselben für Wiederscheine der Sonne, oder für Produkte des Zusammenstrahlens naher Planeten , oder gar für Geister von Abgestorbenen. Letztere Ansicht, nach der z. B. vom römischen -Volke der 44 v. Chr. erschienene Comet als die zu den Sternen aufsteigende Seele Julius Cäsars gefeiert wurde, fand sogar noch im 16. Jahrhundert einen Anklang, indem sie der ge- lehrte französische Staatsmann Bodinus mit der Bemerkung auffrischte: Die Cometen verkünden darum Hungersnoth, Seuche und Krieg, weil 4%) Hall. 1681. 4. 5) Naturbetrachtungen. Buch 7. —_— 230 — es nach dem Aufsteigen grosser Geister den auf der Erde Zurückge- bliebenen an Verstand fehle. Die Andern, und unter ihnen der berühmte Aristoteles, gaben zwar die Materialität der Cometen zu, aber hielten sie nur für etwas Ephemeres, Zufälliges, Vorübergehendes: Sie dachten sich, dass die beständig von der Erde aufsteigenden Ausdünstungen, zuweilen, — sei es bei Annäherung an eines der Gestirne oder an die Region des ewigen Feuers, — Feuer fangen, und dass sich dann dieses Feuer nach der Richtung wo, und so lange als es Nahrung finde, fortfresse. Ihre Auffassung war auch nach dem Wiederaufleben der Wissenschaf- ten die fast allgemein verbreitete, und hatte mit geringen Modifiea- tionen bis in das 17. Jahrhundert hinauf Geltung. Auch der sonst so geniale Keppler vermochte noch nicht sich „von den Cometen ist diss mein einfältige Meinung,“ schrieb er noch im hinsichtlich der Cometen auf die Höhe von Seneca zu erheben. Jahre 1608 ® „das wie es natürlich, das auss jeder Erden ein Kraut wachse, auch ohne Saamen, und in jedem Wasser, sonderlich im weiten Meere, Fische wachsen, und darinnen umbschweben, also das auch das grosse öde Meer Oceanus nicht allerdings leer bleibe, son- dern auss sonderm wolgefallen Gottes dess Schöpffers die grosse Wahl- fische und Meerwunder, dasselbig mit jren weitschüchtigen straiffen hin und har besuchen und durchwandern. Allermaassen sey es auch mit der himlischen, uberall durchgängigen und ledigen Lufft be- schaffen, dass nemlich dieselbige diese Art habe, auss ihr selber die Cometen zu gebären, damit sie, wie weit die auch sey, an allen Or- ten von den Cometen durchgangen werde, und also nicht allerdings läer bleibe.... Solcher Cometen halte ich der Himmel so voll seyn, als das Meer voller Fische ist. Das man aber selten solcher Come- ten ansichtig wird, geschicht wegen der unermesslichen weite der himlischen Lufft. Daher es kömpt, dass nur allein diejenige gese- hen werden, welche nechst neben dess Erdbodens in der himlischen Lufft fürüber schiessen: Wehren offt viel länger, denn man sie sie- het, allein weil sie von der Erden hindan schiessen, werden sie je länger je kleiner, und endlich unsichtbar, und komt mehrertheils die Sonne oder der Tag uber sie, dass sie sich alsdann verlieren, da wir nicht wissen, wie; ob sie verleschen, zerspringen , zerstrewet oder gar zu nicht werden.“ Ich schliesse diesen Abschnitt noch mit einer andern Entste- ®) Ausführlicher Bericht von dem 1607 erschienenen Cometen. Hall. 1608. 4. — 231 — > hungsweise der Cometen, zu welcher Kepplers Zeitgenosse, Simon Marius, der glückliche Entdecker der Jupiterstrabanten und des gros- sen Nebels in der Andromeda, Veranlassung gab. Durch Johannes Fabrieius auf die Sonnenflecken aufmerksam gemacht, beobachtete er sie eifrig, und da fiel es ihm einerseits auf, dass er mehrmals in der Sonne „maculas caudatas“ wahrnabm, welche ganz die Gestalt von Cometen hatten, — anderseits, dass er in dem grossen Cometenjahre 1618 auffallend wenige Flecken in der Sonne wahrnahm. Er theilte es mit’, fügte aber ganz bescheiden bei: „Ich erinnere es nur, und schliesse nichts. Ich hab mich die zeit hero, als von Anno 1611 sehr mit gedanken bemühet, was doch solche maculae seyn, oder woher sie entstehen möchten, hab aber noch zur zeit keine gedan- cken gehabt, darauff ich sicherlich. beruhen könnte.* Andere waren jedoch nicht so bescheiden, sondern schlossen keck, dass die Sonnen- flecken Unreinigkeiten seien, — dass die Sonne diese von Zeit zu Zeit auswerfe um dann wieder „hefftiger zu brennen wie ein gebutz- tes Kertzenliecht,* — und dass die Cometen nichts anderes seien als soleher Auswurf. 3. Aelterer Gometen-Aberglauben. „So lange Alles seinen gewohnten Verlauf hat,* sagt Seneca 8, „verliert das Grosse der Ereignisse durch die Gewohnheit .... Und so bringt jene Schaar von Gestirnen, die den unermesslichen Him- melsbau so herrlich schmücken, kein Zusammenlaufen der Leute her- vor. Aber wenn an dem gewohnten Gang etwas verändert ist, da gafft Alles den Himmel an. Die Sonne sieht kein Mensch an, es sey denn, dass sie verfinstert ist. Den Mond beobachtet keine Seele, ausser wenn er verdunkelt ist.... Das Wichtigste beobachtet man nicht, so lange es regelmässig ist. Tritt aber eine Unregelmässigkeit . ein, oder lässt sich etwas Ungewöhnliches sehen, da ist’s ein Gaffen, ein Fragen, ein Hinaufzeigen! So sehr liegts in unserer Natur, mehr das Ungewohnte anzustaunen, als das Grosse. Das ist denn auch der Fall bei den Cometen. Wenn eine solche seltene und ungewohnt ge- staltete Feuererscheinung sich zeigt, da will Jedermann wissen, was denn das sey, und alles andere vergessend, fragt man nur nach dem neuen Gast, und weiss nicht, soll man ihn bewundern oder fürchten.“ Hält man mit diesen, noch heut zu Tage volle Geltung habenden 7) Beschreibung des Cometen von 1618. Nürnberg 1619. 4. 8) Naturbetrachtungen. Buch 7. i _— 232 — Worten Seneca’s den Umstand zusammen dass, wie oben gezeigt wurde, im Alterthume und bis ins 17te Jahrhundert hinauf die Come- ten als eine rein ephemere Erscheinung angesehen wurden, so kann man begreifen, dass die in schönster Blüthe stehende Astrologie hier ein Feld fand, auf dem sie üppig wuchern konnte. Gelang es den Astrologen schon mit Hülfe der Fixsterne und der gesetzmässigen Wandelsterne sich Geltung zu verschaffen R und auf verhältnissmässig ferne Zeit zu prognosticiren, — wie viel leichter wurde es bei den Cometen, die viel mehr Mannigfaltigkeit darboten, — wo schon die Ruthenform des Schweifes durch süsse Erinnerungen an die Jugend die Gemüther empfänglicher machte, — wo, da doch der Comet zu- erst einige Zeit beobachtet werden musste, zum Theil rückwärts pro- phezeit werden konnte, was bekanntlich auch heut zu Tage noch leich- ter geht als vorwärts, — und wo endlich im schlimmsten Falle noch die Barmherzigkeit des Schöpfers zu Hülfe kam, die der trauern- den und bussfertigen Menschheit das Uebel ersparte, das der Comet eigentlich verdientermaassen gebracht hätte. Den Glauben zu stärken, wurde es auch sehr wirksam gefunden, Cometenverzeichnisse anzule- gen, wo bei jedem Cometen angemerkt wurde, was nach seinem Auf- treten Merkwürdiges vorgefallen war; die Chroniken, welche ohnehin mehr Schatten als Licht aufbewahren, gaben Stoff genug dafür, zu- mal man der Wirkung der Cometen nicht eben sehr enge Grenzen zog. So liest man:® A. 596 war ein Comet, hierauff folgete der verzweiffelte Machomet, A. 812 sahe man im November einen Cometen, darauff starb Key- ser Carle der Gross. A. 1042 war ein Comet, darauff stirbt Keyser Conradi dess an- dern Wittib. A. 13501 war ein Comet, darauff war Keyser Albert bey Bruck im Ergöw erstochen. A. 1337 war ein Comet, darauff geschah die Schlacht vor Louppen. A. 1347 war ein Comet, darauff folget ein solcher grausamer Ster- bend, dessgleichen nie gehört worden. A. 1477 war ein Comet, darauff war der stolze Carle von Burgund vor Nantzi erschlagen. A. 1531, 32 und 33 sahe man Cometen. Dazumahl brütete der Satan die Wiedertäuffer vollends aus. A. 1607 war ein Comet, wenig jahr hernach war König Heinrich der Gross erstochen. 9) Christenliches Bedenken über gegenwärtigen Cometen. Basel 1618. 4; etc. —_— 233 — A. 1668 war ein Comet, darauff folget in Westphalen grosses Ster- ben unter den Katzen u. s. w. Wohl erhoben sich zu allen Zeiten einzelne Stimmen gegen das Prognostieiren aus den Cometen. Wird ja schon von Kaiser Vespa- sian berichtet, dass er zu seinen Soldaten, welche aus einem Come- ten Unglück für ihn prophezeien wollten, gesagt habe: 10 „Höret auff Laperey zu treiben, denn der Comet nicht mir, sondern dem König der Parther den Untergang anzeigt: denn er hat lange Haar, ich aber hab ein glatzen.“ — Unser berühmte Landsmann Philippus Au- reolus Theophrastus Paraselsus Bombast von Hohenheim geiselte die Astrologen bei Gelegenheit des Cometen von 1531 fürchterlich: „Se- hend an die artzney,* sagt er unter Anderm 1, „wär macht den kraneken gsund: der Artzet nitt, noch auch das krut nitt. Das jn gsund machet, hat nye kein mensch gsehen. Die Artzny gadt zum mund yn, durch den buch wider uss. Das aber hilft, gsicht nie- mants. Also ists auch mit den obern dingen, die es usslegend, ha- bends nie gsehen.“ — Dr. Ziegler in Zürich machte sich in seiner „Propheceyung auf das Jahr 1606“ sowohl über die Kalenderschrei- ber als über die Astrologen lustig, indem er ihre Voraussagen paro- dirte. So sagt er z. B. Für sterben und den bittern Todt Wirds hewer haben keine noth, Denn gar kein Mensch wird sterben nicht Dieweil er lebt, solch’s mich bericht Die gewiss und lang Experientz, Drum fürchtet nicht die Pestilentz. Wenn dich der Henker und auch Gott Beim leben lest, so hats kein noth, Ein alter Mensch der werden kan, Den diese beyd bey leben lan.“ Seckelmeister Johann Heinrich Rahn von Zürich sagte 1665: 12 „Die Astrologia Judiciaria oder Sternendeuterey ist nichts anders als ein gottloser, verführerischer, falscher, unsinniger, raubsüchtiger Aber- glauben, von dem leidigen Satan zu der Menschen Verderben auf die pan gebracht.“ — Pfarrer Johann Herrliberger zu St. Jakob bei Zürich schrieb 1681:13 „Auss Astrologischen Grundsätzen, die ein 10) Ehinger, Judicium astrologieum. Augsburg. 1618. 4. 11) Usslegung des Cometen erschynen 1531. 4. 12) Philologischer Diseurs über der Cometen Bedeutung. Zürich 1665. 4. 18) Kurtze und gründtliche Beschreibung dess 1680 am Himmel geschwebten Wunder-Cometen. Zürich 1681. 4. 17 — 234 — gar schlechte Gewüssheit haben, als die auf kleinen oder gar keinen Fundamenten bestehen, vil von der Special-Würkung dises Cometen urtheilen und vorsagen wollen, ist vielmehr eine Vermessenheit, als dass vil darauf zu sehen, und halte ich dafür, dass, wie der grosse Gott allein der ist, der solche Wunder- Geschöpfe entweders auss der Natur, oder durch seine freye Macht herfürbringt, uns für Augen stellet, und nach seinem Willen leitet und führt, also seye auch sei- ner heiligen und unendlichen Allwüssenheit allein bekandt, was auf solche Wundergeschöpfe erfolgen werde, wen die Bedeutung oder Würkung derselben werde betreffen.* Aber solche und ähnliche Stimmen verhallten meist ziemlich fruchtlos, und so finden wir z. B., dass sich noch 1665 der sonst sehr verständige, und namentlich auch in einer eigenen Schrift zu Gunsten des Copernicanischen Weltsystems auftretende Peter Megerlin in Basel sich rühmte 1*, dass er aus dem Cometen von 1652 den Bauernkrieg prognosticirt habe. „Es würde diese empörung,“ fügt er bei, „wann der Comet nicht were darzu kommen, vielleicht biss zu den Waffen nicht aussgebrochen, sondern auf eine ringere manier ge- stillt worden seyn. Darbei zu notiren, dass dieser Comet zu Zürich wegen beständig trüben Wetters niemahlen hat können gesehen wer- den, bis er schon längsten über die Eclipticam und in dem Perseo war: Also ist auch ihre Baurschafft A. 1653 still gesessen.“ Jedenfalls waren auch diejenigen, welche auf dem Prognostieiren nichts hielten, entschieden der Ansicht, die Luther in den Worten aussprach :1° „Die Heyden schreiben: der Comet entstehe natürlich ; aber Gott schaffet keinen, der nicht ein gewiss Unglück bedeute.“ So sagt auch Rahn, den ich Ihnen eben als entschiedenen Gegner der Astrologen anführte::16 „Die Würckung betreffend, so sind die Come- ten jederzeit grossen veränderungen und namhafften gerichten des Al- lerhöchsten, zur wahrnung vorhergegangen: dass also derjenig, so es widersprechen wolte, wohl ein Gottsvergessner Mensch seyn müsste, ja ärger, denn vil aus den Heiden.“ Es wurden sogar die verschiedenen Folgen, die ein Comet ha- ben könne, übersichtlich zusammengestellt, — meist in Versform, und ich erlaube mir Ihnen auch hiervon ein Muster vorzuführen, das ich einer Schrift des schon früher benutzten Taust 17 entnehme: 14) Astrologische Muthmassungen. Basel 1665. 4. 15) Voigt, Cometa matatinus et vespertinus. Hamburg 1681. 4. 16) Figürliche Darstellung des erschrockenlichen Cometen von 1664. Fol. 17) Der von Abend gegen Morgen lauffende Unglücksprophete. Hall. 1681. 4. —_ 235 — . „Es zeugen uns alle Cometen zwar Sehr viel Unglücks, Trübsal und Gefahr, Und hat niemals eines Cometen Schein Pflegen ohne böse Bedeutung zu sein. Achterley Unglück insgemein entsteht, Wann in der Luft brennt ein Comet: 1) Viel Fieber, Krankheit, Pestilentz und Todt, 2) Schwere Zeit, Mangel und grosse Hungersnoth , 3) Grosse Hitze, dürre Zeit und Unfruchtbarkeit, 4) Krieg, Raub, Brand, Mord, Aufruhr, Neid, Hass und Streit, 5) Frost, Kälte, Sturmwind, böse Wetter, Wassersnoth, 6) Viel hoher Leute Untergang und Todt 7) Feuersnoth und Erdbeben an manchem End 8) Grosse Veränderung der Regiment. So wir aber Busse thun von Hertzen, So wendet Gott auch alles Unglück und Schmertzen.“ Schon die Titel der Cometen- Schriften sind oft characteristisch. Als Beispiel führe ich Ihnen folgenden von 1681 an: „Geistlicher Betrachtungs-Lust, oder Geistliche Ausslegung dess Comet-Prophetens und Himmlischen Ambassadeurs, welchen der grosse Himmels-König und Herr aller Herren, als der Welt Buss- und Warnungs-Prediger, den 12 Tag dess Monats Decembris Anno 1680 Feuer-straalend, Buss- fertig zu betrachten und hochzuachten, hat an seine Himmels-König- liche Residenz gesetzet.“ Auch unser selige Reformator Ulrich Zwingli war nicht frei von der Cometenfurcht. Hören Sie, was uns Bullinger 1$ von dem Come- ten des Jahres 1531 erzählt: „Umm Laurentij in dem Augsten er- schein ein gar erschrocklicher Comet gägen nidergang der Sunnen hatt ein breiten langen Schwantz den strackt er gägen mittag. Wenn er niedergieng by nacht schein sin Schwantz nitt anders dann wie ein fhüwr in einer ess. Die farw was bleichgäll. Und alls Zwingli ‚von Jörg Müller appt zu Wettingen des abends uff dem kylchhoff Zürych zum grossen Münster näben dem Wettingerhuss gefraget ward, was der Comet doch bedüte? Antwort er, Min Jörg, mich und men- gen eeren man wirt es kosten, und wirt die warheit und kylch nodt Iyden, doch von Christo werdent wir nitt verlassen.“ Ebenso hielt der bereits erwähnte Antistes Ludwig Lavater die Cometen für Zornbothen Gottes, deren Folgen nur durch eine herz- liche Reue abzuwenden seien: „Wolgezogene Kinder,“ sagt er 19, „so- 18) Reformationsgeschichte III 46. 19) In der Einleitung zu dem frühererwähnten Cometencatalog. —_— 236 — bald sie sehen, dass ihre Eltern ein saur gesicht machen, das maul rümpfen, oder mit den füssen scharren, so gedenken sie alsobald dass sie etwas verfehlt haben, fragen was sie begehren, und verrichten also ihr ampt.“ Noch existiren eine Reihe von Predigten, welche bei Gelegen- heit von Cometen gehalten wurden. Ich führe Ihnen aus einer sol- chen, die ein gewisser Dr. Dieterieus, Superintendent zu Ulm, bei Anlass des Cometen von 1613 hielt, — nach Versicherung meiner Quelle 20 ein hochgelehrter Mann, — die Stelle an, mit der er seine andächtigen Zuhörer anleitete, mit welchen Gesinnungen sie einen Cometen ansehen sollen: „Man soll den Cometen nicht ansehen,“ sagt er, „wie das Kalb ein neu Thor ansiehet, — ihm zu Gefallen, mehr aus Fürwitz, als bewegendem Herzen, einen Abend oder zween nachgehen, — sehen, wie er formirt und beschaffen, — uns auf den Marktplatz und andere Gassen stellen, — hinauf gen Himmel gaffen , — uns, wie er so ein seltsamer Stern sei, wie er einen so langen Schwantz oder Schweiff habe, verwundern; oder auch, woher er entstehe, was seine Ursachen in der Natur seyen, an den Natur-Kündigern und Himmels-Lauf-Erfahrmen sorglich erforschen, — wann folgends solcher Vorwitz gebüsst, uns mehr und ferner darüber nicht mehr beküm- mern. Nein, damit ist es nicht ausgerichtet: Sondern, wann wir den strahlenden Cometen oder Schwantzstern, so eben, wie ein langer Kehr- Besen oder Ruten gestaltet und formirt, ob unsern Augen flammen sehen, da sollen wir uns anders nichts einbilden, als wann wir un- sern Herrn und Gott im Himmel, wie einen zornigen Vater, mit ei- ner Rute vor seinen Kindern, vor uns stehen sehen, — der da mit dieser seiner feurigen, zwitzerenden, funckelnden Ruten, bald bald hinder uns her zu wischen träue, — uns unser langverdientes, wol- verschuldetes Product abzuzablen, und um unserer vielfältigen schwe- ren Sünden willen, der Gebühr nach heimzusuchen und zu straffen. Das sollen wir hiebey bedenken, und nicht, aus was verborgener Krafft der Natur der Comet geschehe, vorwitziglich allein nachgrüb- len. Es ist genug, dass du ’Gottes Zorn erkennest, und dein Leben besserst.“ Keppler, obschon natürlich etwas freier in seinen Ansichten als die meisten seiner Zeitgenossen, schrieb ?! über die Bedeutung der Cometen Folgendes: „Ob wol ein Comet ein natürlich Ding, und 20) Verwerfiung des Cometen -Gespötts. 1681. 4. 2!) Siehe 6. — 2397 — sein Schuss oder Strich, trajeetio, auch natürlich: nicht weniger zu ver- muten, dass solcher Cometen täglich und stündlich, wegen der gros- sen weite dess Himmels, unzahlbar viel seyn: So kan doch nichts desto weniger ein solcher Comet, welcher so nahend bey der Erden fürüber streicht, dass er von da auss wargenommen, und in zim- licher quantität gesehen werden mag, durch einen himlischen Geist, eben daher geleitet worden sein, den Menschen dasjenige zu ver- melden, was Gottes Will oder Verhengniss gewest. Weil aber hier- auss folget, dass ein Comet nichts bedeuten würde, wenn nicht ‚etliche Menschen entweder Gott, oder einem solchen Geist bekandt weren, die von Natur, oder auss anderer Änregung, auff die Come- ten, und ihre Bedeutung achtung zu geben disponirt: Als wil sich fast schliessen, dass ein Mathematicus eines Cometens eigentliche spe- eial Bedeutung, die auff solche der Menschen Auffinerkung gericht, nieht wissen könne; in ansehung jhme nicht aller Menschen Sinn und Gedanken offenbar. Gleich wie es zugehet, wann ein jung Gesell zu Nacht auf der Gassen ein Music helt, hören solcher zwar viel Jungfrawen zu, und erlustigen sich darüber, aber keine weiss, welcher es etwas gutes bringe, oder wer der Musikant sey, denn nur eine, mit welcher es der Musicant etwa zuvor verlassen, — kann auch wol seyn das jhrer mehr jhnen darüber falsche Einbildungen machen, und doch der Musicant es nur einer einigen vermeyne,“ — Ueber- gehend auf die Spezialbedeutung des Cometen von 1607, sagt Kepp- ler, halb im Ernst und halb im Spass ein Prognosticon für denselben aufstellend, „dass er von Gott darumb an Himmel gestellet sey, die Menschen alle mit einander zu erinnern, dass abermal in kurtzer Zeit ein gutes theil, es sey durch was Mittel es wolle, von diser Welt abgefordert werden sollen: da dann die Sach mit einzelnen Personen so ungewiss, dass weder der stärkiste vor dem schwächsten, noch der Jüngste vor dem Eltisten, — ja, das zu beweinen, auch der ‘ Sternseher vor demjenigen, so ihn umb die Ausslegung anspricht, einigen Vortheil oder Sicherheit nicht habe: Und demnach ein jeder Mensch sich mit Gott versöhnen, auff die Fahrt gerüst machen, — seine jrdische weltliche Geschäfte, Güter, Studia, Kinder und der- gleichen, nach.Müglichkeit also bestellen solle, wie er wünschet, dass es nach seinem Tod mit denselbigen gehalten werde. Damit wird nicht allein derjenige, welchen der Tod erschnappet, wol fahren, und desto weniger Unrichtigkeit hinder ihme verlassen, sondern auch der- jenige, welcher uberbleibet, diesen Cometen ihme trefflich zu nutz machen, und sich wider den Sternseher, wegen eines solchen seligen _ 23 — Betrugs, im wenigsten nicht zu beschwären haben. Diss setze ich nicht also, als ob der Comet im Himmel stünde, die Leut umzubrin- gen, oder als ob nicht eben so wol ein gutes theil des menschlichen Geschlecht sterben würde, wenn schon kein Comet erschienen were.* Zum Sehlusse dieses, zwar schon etwas lang gewordenen Ab- schnittes noch Einiges über den Eindruck, den der grosse Comet von 1680, mit welchem die Cometen- Theorie eine neue Wendung nehmen sollte, in Zürich machte. „Derselbige ward gesehen,“ wie die Zür- eherischen Acta ecelesiastica?? erzählen, „sehr erschrockenlich, — ge- gen denen Sternen feurig und blutig, in dem Schweyf aber bleich; der Schweif war erschrockenlich lang, wie ein halber regenbogen, — gegen Norden gerichtet, — in extremitate breit und gleich einem Bä- sen; dessgleichen weiss man nit dass jemahl an dem Himmel gesehen worden“. Auch Rahn berichtet,2? dass der Comet „männiglichen wegen seines ungeheuren anblicks ein Zitteren und schräcken ein- jagte“. Viele fürchteten, er möchte ein Anzeichen der wiederkehrenden Pest sein, und ein von Pfarrer Ulrich beim Fraumünster aufgesetztes lateinisches Gedicht schliesst, nach der von einem V. D. M. Caspar Senn davon in Druck gegebenen Uebersetzung ,2* mit den rührenden Versen: „Nemt aber liebe Leuth, das best Recept zu handen, So Pest vertreiben wird: nicht Rettich, Rauten, Randen, Nicht Knoblauch und Treyax, Schabziger und Taback, Vielmehr die wahre Buss im Niniviter Sack.“ Den 3. Dezember 1680 erliess?° Herr Pfarrer Hans Heinrich Erni beim Grossmünster wegen diesem Cometen ein Cireularschreiben an die Zürcherische Geistlichkeit. Er knüpfte an Jeremias IL, 11 u. 12 an: „Nach diesem hat der Herr also zu mir gesprochen: Jeremias, was siehest du? Da sprach ich: Ich sehe eine wachende Ruthe. Da sprach der Herr zu mir: Du hast recht gesehen; denn ich will über meinen Rathschlag wachen, denselben zu vollstrecken.“ Dann machte Erni die Geistlichkeit mit dem neuen Ankömmling bekannt, — erwähnt, dass die Regierung, wie er es im Namen der Geistlichkeit verlangt habe, am letzten Sonntag ein neues Bussmandat verlesen liess, — fer- ner, „dass unsere Christenlichen Regenten und Landesväter auch ein- 22) Msc. der Zürcher Bibliothek. 23) Ebenfalls nach den Act. ecel. 24) Fortsetzung von dem erschrockenlichen, umgekehrten, sehr langen und überauss grossen Cometen. 4. 25) Ebenfalls nach den Act. eccles. — 239 — hellig erkennt, dass an dem bevorstehenden (damals in Zürich, wo noch der Julianische Kalender gebraucht wurde, auf einen Samstag fallenden) Neujahrstag alle Zünfft und Gesellschaften beschlossen seyen, keine Stubenhitzen eingenohmmen werden, — sondern diser tag, wie auch der darauf folgende Sontag allein Gott dem Herren zu seinem Dienst, und seines heiligen Nammens ehren gewidmet und geeignet, — die einnahmen der Stubenhitzen aber samt einem bescheidenlichen Abendtrunk auff den Montag differiert seyn solle“ Zum Schlusse fordert Erni die Geistlichkeit zu ernsthaften Predigten auf, — und wirklich berichten die Acta ecelesiastica wohlgefällig, dass der schon oben angeführte Herr Pfarrer Herliberger bei St. Jakob „auf Wieh- nacht 1680, erudite, pie, prudenter davon perorirt* habe. Die gleiche Quelle gibt uns auch noch folgende, gewiss höchst interessante Nach- richt: „Den 1. Dezember sahe man den Cometen mit einer grausamen Ruthen zu Rom; auch hatte eine Henne eines fürnemmen Päbstlichen Bedienten ein Ey gelegt, auff welchem diese sternesruthen gar eigent- lichem entworffen ward.“ — Dieses Ey, das jetzt noch in verschie- denen Abbildungen existirt, gab viel zu denken, wurde in mehrern der damaligen sehr zahlreichen, wohl 100 weit übersteigenden Come- tenschriften sehr ernsthaft besprochen, und eine derselben ?® meint: „Aber wie kommet dieser Comet auff das Ey. Hätte die Henne eine Beliebung an dem Gestirn und betrachtete dasselbe gleich den Men- schen, absonderlich bey Erscheinung des letzten grossen Cometen, so könnte man die Ursach von einer hefftigen Imagination entlehnen, wie dann neulich im Elsass eine Frau gebohren, deren Kind auff beyden Ar- men mit dem Zeichen des letzthin gesehenen Cometen bemerket gewesen.“ Es ist auch in der That dieses Ey interessant, — denn es bil- det so ziemlich die Spitze und den Abschluss des Cometen - Aberglau- bens älterer Zeit, über den wir so gerne geneigt wären uns lustig zu machen; leider aber hat Babinet nicht Unrecht, wenn er sagt,?7 dass wir dies im Hinblicke auf die Nachwelt kaum wagen dürfen, — denn diese werde wahrscheinlich finden, es seie noch nobler gewesen die Schieksale der Nationen an die Einflüsse der Planeten und Cometen zu knüpfen, als von einem Stück Hausrath Orakelsprüche zu erwarten. 4. Ueber Bahn und Wiederkehr der Cometen. Im Anfange des 17. Jahrhunderts hatten sich noch Keppler, der um den Cometen von 1618 sehr verdiente Luzerner Johann Baptist 26) Unmassgebliches Bedenken über den im Ausgang des verschienenen Jahrs erschienenen Cometen. Hamburg 1681. 8. 7) Etudes et leotures. Paris 1855. 12. — 240 ° — Cysat, und mehrere Andere dahin ausgesprochen, dass die Cometen in gerader Linie zu gehen scheinen. Etwas später äusserte der durch seine grossen astronomischen Arbeiten berühmte Bürgermeister Hevel in Danzig die Vermuthung, dass die Bahn der Cometen eher eine gewisse krumme Linie, eine sog. Parabel, sein möchte.28 Eine sichere Erkenntniss brachte aber erst der grosse Comet von 1680: Zuerst 28) In der sehr seltenen und sogar Lalande unbekannt gebliebenen Schrift: „Physicalischer und astrologischer Bericht von denen erschrecklichen Winden im Nov. und Dec. 1660, wie auch im Jan. 1661. Aufgesetzet von Johannes Placentinus. Frankfurt a. O. 1661. 4.“ findet sich folgender interessante Brief Hevel’s, den ich mir nicht versagen kann hier ganz zu reprodueiren: „Hochge’ ehrter, grossgünstiger Herr Placentine. Nachdem ich etliche Tage verreiset ge- wesen, und gestern Abend erst nach Hause kommen, sihe, da fand ich des Herrn Schreiben vom 11. Februarii, worauff ich auch alsbald, obwohl mit sehr vielen Geschäften beladen, antworte, aber kürtzlich: dass nemblich wahr sei, dass ich den 3. Februarii St. N. des Morgens ungefehr umb 6 Uhr, in Osten einen rechten Cometen, mit einem zimlichen langen Schwantze observiret; stund damals unter dem Delphino, ungefehr im 10. und 20. gr. Aquarii welchen ich nachmals alle Tage, wenn es nur klar Wetter gewesen, sehr fleissig obser- viret mit meinen sehr grossen Instrumenten, welchen ich auch noch heute umb drey Uhr nicht allein mit den tubis, sondern auch mit den Sextante und Qua- drante observirt habe: Worüber sich der H. vielleicht sehr verwundern, nachdem ihn andere schwerlich biss zu dem 5. Februarii werden gesehen haben : hoffe ihn auch noch wol länger zu sehen. Unterdessen wer ihn jtzo sehen wil, muss warlich ein gut Gesicht haben, und die fixas wohl kennen, dann er jetzo schon nicht grösser ausssiehet, als ein 5ts magnitudinis fixa. Dieser Comet ist retro- gradus, stecket annoch in der Aquila, worvon ein vieles zu schreiben wäre, wann es die Zeit leiden wolte. Ich zweifele nicht, der nur hat acht darauf gehabt, dass er wird in allen Landen seyn gesehen worden; der den Comet aber nicht balde zu Anfange observirt, biss zu dem 13. Febr., der wird ihn auch wol hernach nicht gesehen haben; Also auch der Herr wolle sich darüber nicht ver- wundern, dass er ihn auch jetzo nicht sehen wird, weil er nicht weiss, wo er ihn finden soll; Ja obgleich ich ihm den loeum sagen könte, so wird er ihn doch nicht finden; da doch ich ihn wils Gott auch über 8 Tage, und länger wohl werde, wie gesagt, nicht allein sehen, sondern auch observiren können. Aber hiervon genug. Ob der Herr die novam fixam in Ceto observirt hat, welche bey 6 Monat lang nun gestanden, weiss ich auch nicht, die wol was mehres auff sich hat als der Comet, jetzo aber ist sie gantz weg, dass auch nicht ein vesti- gium übrig, wird aber, wils Gott, (welches dem Herrn frembde vorkommen wird) wiederkommen, und das auffs neu, weiss auch ungefehr die Zeit. Worvon auch zu anderer Zeit ein mehrers. Den 20. Febr. im Sontag umb 11 Uhr Vormit- tags ungefehr habe ich allhier zu allererst 7 Sonnen gesehen, welches über alle massen ein sehr schönes und merkliches phaenomenon gewesen, dem gleich ich nicht weiss, ob von jemand von Anfangs her sey observiret worden, worvon auch sehr viel zu schreiben were. Aber hiermit Gott befohlen. In Dantzig Anno 1661 den 2. Martii St. Nov. Des Herrn Dienstwilliger Johann Hewelcke*. — 241 — hatte ein sonst wenig genannter deutscher Geistlicher, Georg Samuel Dörfel, Pfarrer zu Plauen im Sachsenlande, die glückliche Idee, die- sem Cometen nicht nur irgend eine Parabel zur Bahn anzuweisen, sondern zu zeigen, dass er sich in einer Parabel bewegte, in deren Brennpunkte die Sonne stand, — und bald darauf gelang es dem unsterblichen Newton den Beweis zu liefern, dass auch die Cometen dem allgemeinen Gravitationsgesetze unterworfen seien, und ihre Bah- nen aus wenigen Beobachtungen berechnet werden können. Unterdessen war der Comet von 1682 erschienen, und dafür nach Newtons Vorschriften durch seinen Landsmann und Zeitgenossen Ed- mund Halley die Bestimmungsstücke oder sogenannten Elemente der parabolischen Bahn berechnet worden. Als Halley dieselben Rech- nungen für eine Reise früherer Cometen, von denen hinlängliche Be- obachtungen vorlagen, ebenfalls ausgeführt hatte, fiel es ihm auf, dass er für die Cometen von 1531 und 1607 ganz ähnliche Elemente er- halten, wie für den von 1682, — und dass ferner die Zwischenzeit von 1531 bis 1607 nahezu mit der von 1607 bis 1682 gleich war, — so dass er sich fragte, ob nicht etwa diese drei Cometen am Ende nur verschiedene Erscheinungen eines und desselben Cometen seien. Natürlich musste in diesem Falle die Bahn eine geschlossene Linie, also nach dem Gravitationsgesetze eine Ellipse sein. Er widerholte seine Berechnungen unter Voraussetzung einer Ellipse, und fand wirk- lich, dass sich die Beobachtungen durch eine Ellipse darstellen lassen, die eine entsprechende Umlaufszeit voraussetze, — dass ferner diese Ellipse den Cometen nahe genug an einige der Planeten führe, um kleine Differenzen der Umlaufszeiten durch störende Anziehungen er- klären zu können, — und war schliesslich so sicher über die Iden- tität der drei Cometen, dass er es wagen durfte vorwärts zu schlies- sen, und eine Wiederkehr des Cometen auf Ende 1758 oder Anfang 1759 vorauszusagen. — Er suchte auch rückwärts in den Cometen- eatalogen nach früheren Erscheinungen, und da ergab sich, dass der mit Fug und Recht seither unter dem Namen des Halley’schen Come- ten bekannte Irrstern nicht nur 1607 (wo wir ihn mit Keppler) und 1551 (wo wir ihn mit Zwingli betrachtet haben) gesehen worden war, — sondern dass auch der merkwürdige Comet von 1456, der die vor Belgrad liegenden Heere der Christen und Türken gleichmäs- sig erschreckte, — gegen den Papst Calixtus III. öffentliche Gebete anordnete, ja sogar den Bann aussprach, nur eine frühere Erscheinung des Halley’schen Cometen war. Noch frühere Erscheinungeu konnte Halley selbst nicht mehr mit Sicherheit bestimmen, — dagegen ist _ 22 — es in neuerer Zeit den Astronomen Laugier und Hind, zum Theil mit Hülfe chinesischer Beobachtungen, gelungen, den Halley’schen Cometen rückwärts bis in das Jahr 11 vor Christo zu verfolgen. Sie können sich leicht denken, dass es der grossen Menge et- was schwer fiel, die Cometen plötzlich nicht mehr als ephemere Er- scheinungen, sondern als regelmässig um die Sonne kreisende Welt- körper zu betrachten, und dass Halley mit seiner Voraussage auf viele Ungläubige stiess. Sogar die Astronomen, so sehr sie von der Richtigkeit der Newton’schen Grundsätze und der Halley’schen Rech- nungen überzeugt waren, harrten mit gespannter, fast ängstlicher Er- wartung auf die Zeit, wo beide die Probe zu bestehen hatten. Wohl nur diese Spannung gab 1757 dem ausgezeichneten Clairaut den Muth, die wirkliche Berechnung der von Halley angedeuteten Einwir- kungen Saturns und Jupiters zu unternehmen. Mit Hülfe des jungen Lalande und der Madame Lepaute, die über ein Jahr so unablässig rechneten, dass ersterer in Folge der Anstrengungen krank wurde, gelang es ihm am 14. November 1758 der Pariser- Academie anzei- gen zu können, dass der Halley’sche Comet nicht mehr als einen Monat vor oder nach dem 13. April 1759 zur Sonnennähe zurück- kehren werde. — Schon vor dieser Ankündigung hatten viele Astro- nomen angefangen, nach dem Erwarteten am Himmel zu spähen, — unter ihnen der merkwürdige Bauer Johann Georg Palitzsch, zu Proh- litz bei Dresden, ein Autodidakt, — der sich, ohne sein Bauerngut im Mindesten zu vernachlässigen, die schönsten Kenntnisse in der Botanik und Astronomie erworben, und durch gute Oeconomie die Mittel verschafft hatte, eine Bibliothek, ein Naturaliencabinet und ein Observatorium anzulegen. Diesem sogenannten „Bauernprofessor und Sterngückler* war es vergönnt, am 25. Dezember 1758 den Cometen zuerst zu entdecken, und erst im Januar 1759 wurde er dann auch in Leipzig, Paris, ete. beobachtet. Die Berechnung dieser Beobach- tungen zeigte, dass der Comet in der Nacht vom 12. auf den 13. März 1759 durch die Sonnennähe gegangen war, also gerade einen Monat vor dem von Clairaut berechneten Zeitpunkte, aber nicht aus- serhalb der von ihm gegebenen Fehlergrenze. Halley’s Voraussage war erfüllt, — die Astronomie feierte ihren Triumpf, — die Zweif- ler schämten sich. Was Clairaut für die Erscheinung von 1759 gemacht hatte, un- ternahmen mit vermehrten Hülfsmitteln Damoiseau, Rosenberger, Pon- tecoulant und Lehmann für die nächste Wiederkehr, — Damoiseau fand für die neue Sonnennähe des Cometen den 4., Rosenberger den —_— 243 — 11., Pontecoulant den 13. und Lehmann den 26. November 1835. Nachdem dann am 6. August 1835 Dumouchel in Rom den An- gekündigten zuerst gesehen hatte, beeilten sich die verschiedenen Sternwarten ihn zu beobachten, und es zeigte sich, dass er in schön- ster Uebereinstimmung mit den Vorausberechnungen am 16. November in die Sonnennähe kommen werde, — die neuere Astronomie behaup- tete ihren hohen Rang, und einigen verstockten Zweiflern in Deutsch- land, die Wetten gegen das Wiedererscheinen gemacht hatten, ge- schah, was ihnen gebührte. Die kurz zugemessene Zeit erlaubt mir nicht, Ihnen auch noch verschiedene andere Cometen vorzuführen, die auf gleiche Weise sich wiederholt zur voraus bestimmten Zeit zum Appel einstellten, und ich schliesse diesen Abschnitt mit der Bemerkung, dass bis jetzt über 200 verschiedene Cometen ihrer Bahn nach bekannt geworden sind,— und dass man hoffen darf, eine nicht zu ferne Zeit werde auch über die physische Beschaffenheit dieser Bürger unsers Sonnensystems die jetzt noch vermissten nähern Aufschlüsse geben. ö. Neuerer Cometen- Aberglauben. Merkwürdiger Weise knüpft sich an den Cometen von 1680, der dem älteren Cometenaberglauben zu Grabe läutete, gleichzeitig die Entstehung eines neuen Cometenaberglaubens, oder wenigstens, wenn Sie einen mildern Ausdruck vorziehen sollten, eine neue Weise sich vor den Cometen zu fürchten. Halley hatte, wie Encke später be- wiesen hat, irrthümlich den Cometen von 1680 mit denen von 1106, 531 und 43 vor Christo identifieirt, und ihm eine wahrscheinliche Umlaufs- zeit von 575 Jahren zugeschrieben, — Whiston hierauf die Sündfluth mit einer frühern Erscheinung dieses Cometen in Verbindung gebracht, und überhaupt eine ganze Schöpfungsgeschichte aufgestellt, bei der die Cometen eine grosse Rolle spielten. Wenn nun auch diesen Ideen kein grosses Gewicht beigelegt wurde, so legten sie doch die Frage näher, ob nicht Gefahr vorhanden sei, dass einer der vielen Cometen mit der Erde zusammenstosse, und einen verderblichen Einfluss auf die Erde und ihre Bewohner ausübe. Verschiedene Astronomen älterer und neuerer Zeit haben sich diese Frage vorgelegt, und übereinstimmend gefunden, dass zwar ein solches Zusammentreffen nicht geradezu unmöglich sei, — dass aber die Wahrscheinlichkeit, dass einerseits ein Comet nahe an der Erd- bahn vorbeigehe, und anderseits die Erde sich gleichzeitig gerade in dem betreffenden Punkte ihrer Bahn befinde, keine merkliche Grösse — 244 — habe, — dass ferner alle bekannten Cometen eine viel zu geringe Masse haben, um sogar in dem Falle einer grossen Annäherung einen spürbaren Einfluss auf die Erde ausüben zu können, — hat ja sogar Gauss nachgewiesen, dass die Erde im Juni 1819 durch den Schweif eines Cometen ging, ohne dass nur die Witterung irgend eine ausser: gewöhnliche Erscheinung andeutete. So beruhigend aber auch für die Männer vom Fache diese Re- sultate waren, so leicht wurden sie vom grösseren Publikum missver- standen, — zumal mehrere Untersuchungen dieses Gegenstandes den gefährlichen Weg einschlugen, zuerst hypothetische Voraussetzungen zu machen, die allerdings die Erde gefährden würden, und erst, nach- dem sie mit grellen Farben die zerstörenden Wirkungen geschildert hatten, nachträglich zu zeigen, dass diese Voraussetzungen unstatthaft seien, — man also nichts zu besorgen habe. Der berühmte Lalande hatte 1773 angekündigt, dass er in der öffentlichen Sitzung der Pariser- Academie, am 21. April, einen Vor- trag über die Cometen halten werde, die sich der Erde nähern kön- nen, und damit das Interesse der lebhaften Pariser auf das Höchste gespannt. Zufällig erlaubte die Zeit diesen Vortrag nicht mehr, und nun verbreitete sich unter dem Publikum das Gerücht, die Erde werde am 12. Mai durch Zusammenstoss mit einem Cometen untergehen, — Lalande sei an der betreffenden Anzeige durch die Polizei verhindert worden. Panischer Schreeken verbreitete sich über Paris, der sich auch nicht legte, als auf Befehl der Polizey der betreffende Theil von Lalande’s Abhandlung schnell abgedruckt und verbreitet worden war 2%, — man behauptete, es sei aus derselben die verhängnissvolle Ankündigung absichtlich gestrichen worden. Auch andere Publi- cationen in Ernst und Spott halfen wenig, — Todesfälle vor Schrecken, Frühgeburten ete. waren an der Tagesordnung, — und wenn alle die guten Vorsätze, welche damals die Pariser fassten, zur Ausfüh- rung gekommen wären, man hätte bald den Himmel auf Erden ge- funden. Böse Zungen erzählen sogar, dass zu jener Zeit Plätze im Paradies für hohe Preise abgegangen seien ®". Am 29. Nivöse des Jahres. VI, als eben eine grosse Menschen- menge den General Bonaparte erwartete, sah Jemand zufällig noch . 29) Reflexions sur les Cometes qui peuvent approcher de la terre. Paris 1773. 8. 30) Vergl. über diese Schreckenszeit: Histoire de l’Acad&mie des Sciences, Anne& 1773; Journal des Savants, Juillet et Octobre 1773; Journal encyclop6- dique, Juin 1773; etc. , —_— 245 — bei Tageslicht die Venus, welche damals in ihrem grössten Glanze war; der Eine zeigte sie dem Andern ohne zu wissen, was er ei- gentlich sehe, und schnell verbreitete sich das Gerücht über Paris, es seie ein neuer, Verderben drohender Comet im Anzuge. Schnelle Aufklärungen in den Journalen beruhigten jedoch dieses Mal 31, Noch 1832 grassirte ein Cometenschrecken, — namentlich in Deutschland. Die Rechnung hatte gezeigt, dass der Biela’sche Co- met bei seiner erwarteten Wiederkehr der Erdbalın sehr nahe kommen werde, — das Publikum übersah, dass, wie gleichzeitig angegeben worden war, die Erde zur Zeit der Annäherung des Cometen von jenem Punkte ihrer Bahn um nicht weniger als 11 Millionen Meilen entfernt sein werde, — und es war nöthig, dasselbe durch mehrere populäre Schriften über den wahren Sachverhalt aufzuklären. Für ängstliche Seelen, deren Natur nicht zulässt, durch Wahr- scheinlichkeiten und Analogien vollkommen beruhigt zu werden, füge 3) Vergleiche über diesen neuen Schrecken: Lalande, Bibliographie astro- nomique, Histoire de l’ann&e 1798; Moniteur VI Pluviöse 2; ete. — Burckhardt erzählte Zach (s. Geogr. Ephem. 1) im Februar 1798 Folgendes darüber: „De la Lande’s Geschichte mit dem Cometen ist ebenso possirlich, als sie ihm un- angenehm ist. Ein Spassvogel hatte sich im Journal l’Indicateur den Muthwil- len gemacht, das Publikum mit der Nachricht von zwei Cometen, dem einen von Feuer, dem andern von Wasser, die nächstens erscheinen würden, oder schon erschienen wären, zu unterhalten, und am Ende beizufügen, dass der berühmte Astronom De la Lande wahrscheinlich das Nähere über diese bedenk- liche Sache dem Publikum berichten würde. Einige Tage darauf kamen viele Besuche und Briefe an De la Lande, wo man theils aus Neugierde, und noch mehr aus Furcht Nachricht über diesen Cometen verlangte. Er war nun genö- thigt, um sich von dieser lästigen Correspondenz zu befreien, eine Nachricht an das Publikum in das Journal de Paris einrücken zu lassen; aber die Furcht war ausserordentlich, ein panischer Schrecken hatte die Pariser ergriffen, und zeigte ihre astronomischen Kenntnisse in keinem vortheilhaften Lichte. Man lief auf das Observatoire national, um dort Erkundigungen zu holen; man ver- kaufte die absurdesten Nachrichten über diesen Cometen, die man auf den Stras- sen ausrief. Am Tage selbst, wo der Comet erscheinen, und den Untergang der Welt bringen sollte, waren Neugierige genug auf dem Pont neuf und den Quais um — Venus und Jupiter anzustaunen. Als die vermeintliche Gefahr vorbei war, verwünschten die Poissardes den Astronomen, der, ihrer Meinung nach, ihnen diese unnöthige Furcht verursacht hatte. Inzwischen hat man diese lächerli, Furcht auf dem Theater des Vaudevilles und auf dem der Citoyenne Montansier vorgestellt; das erste hat vielen Beifall gefunden, und es ist, als Werk zweier Tage betrachtet, wirklich gut und drollig genug; der Brief des De la Lande, den er in dem Journal de Paris hat einrücken lassen, wird da wörtlich auf dem Theater vorgelesen.* — 24 — ich noch die schönen Worte Mädler’s 32 bei, in denen das Hauptresul- tat der neuern Astronomie ausgesprochen ist: „Im Sonnensysteme ist die reichste Mannigfaltigkeit verwirklicht, alle und jede Einförmigkeit, alle ängstliche Symmetrie vermieden , — und dennoch nichts versäumt um dem Ganzen, wie jedem seiner einzelnen Theile einen dauernden Bestand zu sichern. Wir sehen die Massen in demselben Maasse abnehmen, als ihre Neigungen und Excentricitäten zunehmen, — und umgekehrt. Wir sehen auf der einen Seite die grössere Macht zu schaden -— aber gebannt in die engsten Schranken; auf der an- dern Unschädlichkeit — und gleichzeitig unbeschränkte Freiheit. Nicht absolut unveränderlich sollte das Sonnengebiet dastehen, aber die Ge- währ einer Dauer, die nie gefährdet werden kann, sollte es in sich tragen.“ — „Den Jahrhunderten der Finsterniss und des Aberglau- bens,“ schliesst Mädler, „erschienen die Cometen als drohende Zor- nesboten, als Verkündiger der Strafgerichte einer Macht, der nichts sich entziehen konnte, — mögen wir sie jetzt, in den Tagen der geläuterten Erkenntniss, freudig willkommen heissen, als unabweis- bar deutliche Zeugen einer lebendig und selbstbewusst im Universum waltenden, weisen und allmächtigen @ott- heit.“ 6. Die erwartete Wiederkehr des Gometen von 1556. Es sei mir jetzt erlaubt, noch einmal zu dem Melanchton’schen Cometen zurückzukehren. Schon Halley hatte nach den erwähnten Beobachtungen des Fabricius eine parabolische Bahn für denselben berechnet, — Dunthorne ein halbes Jahrhundert später entsprechendes für den Cometen von 1264 versucht, und so ähnliche Elemente ge- funden, dass er zu der Vermuthung berechtigt war, es möchten die beiden Cometenerscheinungen von 1264 und 1556 einem Cometen entsprechen, der eine Umlaufszeit von 292 Jahren hätte, also im Jahre 1848 wieder erwartet werden dürfte. Zu ähnlichen Resultaten waren später Pingr& und noch in neuerer Zeit Hind gekommen, ja es ging sogar im Januar 1848 die Nachricht ein, letzterer habe wirklich den Erwarteten am Himmel aufgefunden, — es war aber, wie sich nach- her zeigte, nicht ein Comet, sondern eine Zeitungsente, — und das Jahr 1848, wo man sonst vielleicht beschämende Beobachtungen über den Eindruck eines grossen Cometen bei aufgeregten Völkern hätte machen können, verstrich, ohne dass man ihn ankommen sah. — 32) Hind, die Cometen. Deutsche Bearbeitung von Mädler. Leipzig 1854. 8. —_— 247 — Seither hat Bomme in Middelburg, unter Voraussetzung der Identität der beiden Cometen von 1264 und 1556, sehr einlässliche Studien über den muthmasslichen Einfluss der Planeten auf den Zeitpunkt der erwarteten Wiederkehr angestellt, und das Resultat erhalten, dass (immer unter Voraussetzung jener Identität, die durch die neuesten Untersuchungen von Hoek in Leyden über den Cometen von 1264 wieder sehr zweifelhaft geworden ist) der 2. August 1858 nicht über 2 Jahre von der neuen Sonnennähe des Melanchton’schen Cometen entfernt sein könne. — Ob neue Arbeiten, welche Hind in Folge einiger durch Littrow neu entdeckten Quellen, namentlich der schon oben angeführten Beobachtungen Heller’s in Nürnberg, unternommen hat, zu sicherern Resultaten führen werden, wird die Folge entschei- den (nach Hak’s Untersuchungen werden dadurch die frühern Ele- mente von Hind für den Cometen von 1556 nicht wesentlich verän- dert), so wie auch sie allein über jene Identität ein endgültiges Ur- theil fällen wird. Wie dem aber auch sei, — ob der Comet in dem eben ange- tretenen oder den nächstfolgenden Jahren erscheinen möge oder nicht, — immerhin wird es zum Ruhme des gegenwärtigen Standpunktes der Astronomie gereichen, dass auf so äusserst unvollkommene Daten so scharfe Discussionen gegründet werden konnten, — und wer ge- gentheils in einem Nicht-Eintreffen eine Schmach der Astronomie se- hen will, kann dadurch bloss zeigen, dass er den Sinn der eben be- sprochenen Untersuchungen nicht gefasst hat. Schluss. Wer wohl, im Falle der Melanchton’sche Comet uns wirklich einen Besuch abzustatten gedenkt, denselben zuerst erblicken wird? höre ich fragen. — Könnte diess nicht auch in Zürich geschehen ? Es könnte geschehen, aber ich glaube schwerlich, dass es geschehen werde; denn einerseits ist das Gebiet der Astronomie ein so weites geworden, dass eine Theilung der Arbeit vorgenommen werden musste, und bei dieser ist mir ein anderes Feld zugewiesen, als dasjenige Cometen zu suchen und zu verfolgen, — und anderseits ist zwar in Zürich in den letzten Jahren eine kleine Sammlung astronomischer Instrumente angelegt worden, aber noch fehlen die Räumlichkeiten, um sie unterbringen und auf zweckmässige Weise benutzen zu können. Es darf nun zwar nicht bezweifelt werden, dass die Behörden, welche diese Bedürfnisse kennen, mit der Zeit auch für sie sorgen werden; aber doch kann ich den Wunsch nicht unterdrücken, es möch- — 2148 — ten auch in Zürich, wie es in der neuern Zeit in den amerikanischen Freistaaten so vielfach in grossem Maasse geschehen ist, Behörden und Privaten sich zu solchem Zwecke gegenseitig unterstützen, — ein bescheidener, aber zweckmässiger Tempel der Urania würde auf solche Weise bald und ohne zu grosse Opfer entstehen können, und in dem Kranze wissenschaftlicher und gemeinnütziger Anstalten, der Zürich’s Höhen schmückt, keine der geringsten Zierden sein. Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 16. März 1857, Vortrag von Herrn Privatdocent Dr. Orelli über den gerichtlichen Eid. In der Einleitung wurde das Wesen des Eides überhaupt geschildert und namentlich die Frage erörtert, ob derselbe vom christlichen Standpunkte aus zulässig sei? Bei der hierauf folgenden Darstellung des gerichtlichen Eides hob der Redner namentlich zwei Eigenthiimlichkeiten des zürcherischen und des englischen Ci- vilprocesses hervor. Schliesslich versuchte derselbe die Lösung einiger praktisch wichtigen Controversen. An der hierauf folgenden Diskussion betheiligten sich die Herren Schmidt, Kym, v. Wyss, Hitzig, Schlottmann, Alex. Schweizer und Osenbrüggen. — Sitzung am 11. Mai 1857. Vortrag des Herrn G. v. Wyss über „Alemannien und Burgund mit Bezug auf die nordöstliche Schweiz“. Anknüpfend an die Bemerkung, dass über die Lage der alemannisch-burgundischen Gebietsgrenze in der nordöstlichen Schweiz während des Mittelalters noch keine eingehende Untersuchung angestellt, sondern meist nur Vermuthungen geäussert worden und ohne weitere Prüfung von dem einen Geschichtswerk ins andere übergegangen seyen, dass aber eine bestimmte Kenntniss jener Grenze für das volle Verständniss der mittelalterlichen Ge- schichte der Schweiz hohe Wichtigkeit habe, ging der Vortrag in eine einläss- liche Erörterung dieses Gegenstandes ein. — Indem zuerst die ethnographische Frage nach der gegenseitigen Grenze des alemannischen und burgundischen Volksstammes, beziehungsweise der deutschen und romanischen Sprache ausgeschieden wurde, ward als Ziel der Untersuehung lediglich die Lage der politischen Grenze von Alemannien und Burgund bezeichnet, aber auch diess nur mit Beschränkung auf die nordöstliche Schweiz zwischen der Aaare und dem Bodensee, da das Verhältniss von Basel und dessen Bisthumssprengel zu Burgund besonderer Untersuchung bedürfe. Der Vortrag unterschied sodann die sechs verschiedenen Epochen der Merovingischen (Jahr 500 — 752) und Karo- ' lingischen (Jahr 752 — 899) Herrschaft; des zehnten Jahrhunderts (Jahr 899 — 993); des eilften Jahrhunderts bis zu Kaiser Heinrichs III. Tode (Jahr 993 — 1056); der Zeit von Kaiser Heinrich IV. bis zur Thronbesteigung der Hohen- staufen (Jahr 1056 — 1138), und der Hohenstaufischen Herrschaft bis zur Kö- nigswahl Rudolfs von Habsburg (Jahr 1138 — 1273). Unter steter Bezugnahme auf die Geschichtsquellen jeder einzelner dieser Epochen, namentlich auch die Landesurkunden, wurde nachzuweisen versucht, wie sich die Gewalten des deutschen unddes burgundischen Königthums, beziehungsweise des alemannischen oder schwäbischen Herzogthums und des burgundischen Rektorates, in die Land- schaften zwischen Aare und Bodensee getheilt; wie diese Theilungen durch den Gang der grossen Ereignisse, die der allgemeinen Geschiehte angehören, jewei- len sich verändert haben und wie unter ihrem Einflusse die Namen Alemannien, Schwaben und Burgund von den mittelalterlichen Schriftstellern und Urkunden auf die verschiedenen Theile jener Landschaften angewandt worden seyen. Hie- bei wurde namentlich die Zeit Kaiser Heinrichs III. und Herzog Rudolfs von Schwaben als von nachhaltiger Wirkung auf die Landesverhältnisse näher ge- schildert. — An den Vortrag, der in dieser Zeitschrift erscheinen wird, knüpften die Herren Hillebrand, Schmidt, Heer, Schweitzer und Hitzig einige Bemer- kungen an. —— Druek von E. Kissing. Zero Bet Meper & Zeller in Zürid) und Glarus tft ferner erfchtenen: Geschichte EUROPÄISCHEN STAATENSYSTENS Zeitalter der Reformation bis zur ersten französischen - Revolution von r Ya RT ’ Fe yon * D’ Sans Heinrich Vögeli, Professor der Geschichte an der obern Industrieschule in Zürich Privatdocent an der Universität. Erste Abtheilung. Vom Zeitalter der Reformation bis zur Selbstherrschaft von Ludwig XIV. (1519 — 1661.) 41 Bogen gr. 8. Geheftet. Preis 2 Thlr. oder 3 fl. 20 kr. oder 5 Fr. 60 Ct. Die Geschichte des Europäischen Staatensystems ist der wichtigste Theil der Weltgeschichte; denn die Völker unsers Erdtheils bestimmen das übrige Menschen- geschlecht. Jedes Glied dieses Staatenvereins wird in diesem Werke mit Liebe und darum mit Eingehen in seine Eigenthümlichkeit behandelt; der Herr Verfasser zeigt, wie jede Nation, jeder lebenskräftige Staat Europa’s aus innersten Trieben sich ent- wickelt, welchen Bau, welche Ordnungen sein Staatsleben sich schuf und wie das gegliederte, mit Vermögen begabte staatliche Geschöpf durch einzelne Menschen und durch Gesammtheiten auf die Genossen des Lebens, auf seine Nebenstaaten einwirkte. Wir sehen, wie die in Zeit und Raum neben einander bestehenden Gesellschaften gemäss ihrer eigenthümlichen Entfaltung Einflüsse aufeinander ausüben, durch welche die politischen Gedankenkreise und die Stimmungen jedes Zeitraums entstehen. Weil alle Glieder des Europäischen Staatensystems die Aufgabe haben, die in ihnen vor- findlichen Keime zu möglichst vollkommenem Dasein zu bringen, nehmen wir wahr, wie sowohl Einzelne als Bünde jeweilig derjenigen Macht entgegen treten, welche diess ihnen verkümmern könnte, auch wenn sie selbst noch nicht unmittelbar be- droht sind. Die Erzählung fördert diess in strenger ehronologischer Ordnung zu Tage; und in Beziehung auf die Geschichtschreibung als Kunst, ist das Werk der erste Versuch, die Geschichte so mannigfaltiger Erscheinungen, wie das Europäische Staatensystem sie darbietet, nach ihrer Aufeinanderfolge einheitlich in ununterbrochenem Zusammen- hange darzustellen und eben dem thatsächlichen Verlaufe beim Wechsel der Europäi- schen Staatsangelegenheiten die EN Hingabe des Geistes zu widmen. Sandbuc vergleihenden Statifit — der Völferzuftandg- und Stantenfunde. — Sır den allgemeinen praftiiden Gebraud von © Fr. Folb. 25 Bogen gr. 8. geheftet Sr. 7. Eu WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS in ZÜRICH. Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : FERDINAnD Hırzıs, EDUARD OSENBRÜGGEN, HEINRICH FRrEY, ADpoLF ScHwmipt, HEINRICH SCHWEIZER. | (Hauptred.: Avorr ScHuipr.) BZWBLITBB JALZSEATG, Heuntes und zehntes Beft. ZÜRICH, VERLAG von MEYER & ZELLER. 1857. Preis für den Jahrgang 2 Thlr. 20 Ngr. = 9 Fr. Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- . rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitgetheilt werden. Inhalt des borliegenden Beftes; Ueber die Vererbung im Allgemeinen und die Vererbung einiger psychischer Eigenthümlichkeiten insbesondere. Won Dr. Mryrr-Anrenıs. . . . 249 Ueber deutsche Rechtssprichwörter. Won Dr. Jur. Hınnegrand. . . . 268 Die neuere Gymnastik und deren therapeutische Bedeutung. Von HExmann Mevert\. 0 Ne nee De ee nt ee N Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von ScHräuLı, VoLKMAR, v. Wyss, v. OreLtı, VıscHEr, Av. Fick, und Anderen. Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des Buchhandels erbeten. Gegentoärtige Mitglieder des Wissenschaftlichen Vereins : ALEX. ScHwEizeEr, Präsident. NÄseı, Vicepräsident. v. OrELLı, Sekretär. BoBrık. Crausıus. DERNBURG. EscHEr v. d. Lıntn. Feur. Av. Fıck. H.Frey. FRıTzschE. GIEskER. Heer. Hınoesranod. Hırtesranod. Hırzıc. J. J. Horrınger. Kym. LeEBErRrT. v. MarscHarL. H. Meyer. MEYER-AHnRens. MEYER v. Knonav. MÜLLER. OSENBRÜGGEN. RAABE. SCHLOTTMAnN. Ap. Scumipot. H. ScHWEIZER. STÄDELER. F. Vıscuer. VoLkmar. R. Worr. G. v. Wyss. Druck von E. Kiesling in Zürich. Ueber die Vererbung im Allgemeinen und die Vererbung einiger psychischer Eigenthümlichkeiten insbesondere. Von Dr. MEYER- AHRENS, Schon durch die hehren Schöpfungsworte *) gab Gott das Gesetz, nach welchem, so lange die jetzige Schöpfung sein wird, jedes Geschöpf, das sich mehret, ein ihm seelisch, geistig und körperlich ähnliches Geschöpf zeugen soll und wird. Und so hat denn in der That bis auf diesen Tag jede Art in allen ihrenSprösslingen genau dieselbe physische und psychi- sche Organisation behalten. Aber auch in allen jenen Dingen, in denen so leicht noch innerhalb der Grenzen der Norm (Gesundheit) sich haltende Abweichungen entstehen, wie im Charakter, dem äussern Benehmen, den geistigen Anlagen und manchen körperlichen Verhält- nissen des Menschen, wie auch in den die Grenzen der Norm über- schreitenden, den pathologischen Abweichungen, zeigt sich eine starke Tendenz zur Fortvererbung, ja die Tendenz zur Fortvererbung ist vorherrschender als das Gegentheil, wie das die grosse Zahl auf- fallender Familienähnlichkeiten, . die Häufigkeit vererbter Krankhei- ten u. 8. w. beweist. Die Fälle, wo wenigstens einige der Kinder den Eltern ähnlich sehen, wo sich wenigstens einzelne‘ characteristi- sche Züge fortvererben, sind so häufig, dass sie fast die Regel bilden. Wie jedoch ein Bild mit seinem Original nur Aehnlichkeit haben, _ demselben aber nicht absolut gleich sein kann, so kann auch zwi- ‘ schen den Menschen wohl in körperlicher oder seelischer Bezie- hung eine grosse Uebereinstimmung, aber keine absolute Gleichheit herrschen. So bietet der Köperbau gewisse allgemeine, scheinbare - Gleichheiten dar, wie die allgemeine Anordnung und relative Stellung der Körpertheile, das allgemeine Vorhandensein gewisser Organe, der Anordnung der Nerven, Gefässe, Muskeln; aber wie unendlich mannig- faltig sind nicht die Physiognomieen, obgleich die ihnen zum Grunde liegende relative Anordnung der Gesichtsknochen und Gesichtsmus- keln wesentlich dieselbe ist, und nur unwesentliche, dem Gattungs- lau’ ®) Genesis Cp. I. v. 11. 12. 26. 27. Cp. II. v. 22. Wissenschaftliche Monatschrift s. II. 18 — 250 ° — charakter jedoch nicht widersprechende, die Function der Theile und des Ganzen nicht störende Nuancen zeigt, ja sie sind so mannig- faltig, dass selbst die ähnlichsten bei genauer Zergliederung ihrer Componenten wesentliche Verschiedenheiten zeigen. — Wie verschie- den ist ferner nicht die Farbe der Iris, wie verschieden manchmal die Anordnung der Blutgefässe, welche Abweichungen finden sich nicht oft in der Vertheilung der Nerven, der Anordnung und Zahl der Muskeln u. s. f., ohne dass die Funktionen der betreffenden Organe oder Systeme irgend welche merkliche Abweichung oder gar Störung erleiden? Ganz so verhält es sich mit den seelischen Funk- tionen. Leidenschaft ist jedem Menschen eigen, ja die Leidenschaf- ten äussern sich im Grundzuge bei allen Menschen auf dieselbe Weise, und doch bieten diese Aeusserungen bei feinerer Beobachtung qualitativ und quantitativ unzählige Verschiedenheiten dar. „Immer“ sagt in Lavaters physiognomischen Fragmenten ein oldenburgischer Gelehrter, „haben Freude und Schmerz ein einziges, ein eigenthüm- liches Spiel, sie wirken nach einerlei Gesetz, auf einerlei Muskeln und Nerven.“ „Vom Aufgang bis zum Niedergang,“ sagt Lavater selbst, „sieht der Neid nicht so vergnügt aus, als die Grossmuth, die Unzufriedenheit, nicht wie die Geduld. Die Geduld ist allent- halben (wo sie bemerkbar ist), durch dieselben Zeichen bemerkbar. So der Zorn, so der Neid, so jede Leidenschaft“ #). Und doch sage ich, wird der feinere Beobachter in der verschiedenen Art, wie bei verschiedenen Individuen Zorn, Neid, Liebe, Geduld sich äussern, Modifikationen entdecken, die so wenig fehlen können, als die natür- lichen Anlagen, Erziehung und Bildung verschieden sein müssen. Die geistigen Funktionen bieten nicht minder solche Abweichungen dar. Alle Verstandesoperationen gehen zwar bei allen Menschen nach Einem und demselben Gesetze von Statten, aber wie unendlich mannig- faltige Verschiedenheiten bieten sich hier dar; wie gross ist z.B. der Contrast zwischen jenen Rechnengenies, die mit Billionen im Kopfe umspringen wie ein gewöhnlicher gebildeter Mensch mit Hunderten, und den Rechnern, die kaum 20 Posten summiren können, ohne sich zu irren? Das Vermögen, die Eindrücke der Aussenwelt zu bewah- ren und wieder hervorzurufen, ist zwar allen Menschen eigen; aber wie ausserordentlich verschieden ist der Grad dieses Vermögens bei *) Physiognomische Fragmente von J. Casp. Lavater. Dritter Versuch. Leipzig und Winterthur, 1777. S. 89. — 231 — verschiedenen Menschen innerhalb der Grenzen einer gewissen Norm des Erinnerungsvermögens. Schmecken und Riechen, zwei Funk- tionen, an denen Seele und Geist grossen Antheil nehmen, gehen bei- jedem Menschen auf dieselbe Weise von Statten; aber wie ausseror- dentlich verschieden ist nicht innerhalb der Grenzen einer gewissen Norm dieser Funktionen die Perceptionsweise, die Beurtheilung der Schmeck- und Riechstoffe? Sehen und Hören sind zum Theil physi- kalische, zum Theil geistige Funktionen, die bei allen Menschen nach denselben Gesetzen vor sich gehen; aber wie verschieden sind die Ein- drücke, welche Farben und Töne auf verschiedene Menschen machen. Während der eine Mensch gewisse Farbeneombinationen nicht leiden kann, findet ein Anderer dieselben wundervoll; dieselbe Musik, die den einen Menschen in eine freudig gehobene Stimmung versetzt, macht den Andern traurig, und weckt Misstöne in seinem Innern. Nicht anders ist es mit den rein physischen Funktionen. Die chemischen Funktionen folgen bei allen Menschen denselben allgemeinen Gesetzen; aber dennoch weichen Blutmischung und Quali- tät der Secrete und Verdauungsprodukte innerhalb der Grenzen einer gewissen Norm bei verschiedenen Menschen ab, Alle diese Abweichungen nun sind nach meiner Ansicht die Folge feiner, der Forschung noch unzugänglicher Organisationsnüancen inner- halb der Grenzen einer Norm, die uns Gleichheit scheint, aber doch nur Aehnlichkeit ist. -Wie sich aber diese scheinbare Gleichheit, die wir Aehnlichkeit nennen, durch das ganze Geschlecht fortpflanzt, fortvererbt, ohne welche Fortvererbung das Geschlecht nicht dasselbe Geschlecht bleiben könnte, so pflanzen sich auch jene Organisationsnüancen häufig fort, wäh- rend sie manchmal, und wohl noch häufiger, erlöschen, weil die Norm dieselbe bleibt und die Abweichung häufig bei Vermischung der mit Organisationsnüancen Behafteten mit einem normalen Geschöpf durch die immerwachende Norm wieder regulirt wird. Manchmal aber erreichen diese Organisationsnüancen eine solche Extensität und Intensität, dass sie zur Abnormität werden, und diese Abnormitäten können sich dann natürlich eben so gut fortpflan- zen und fortvererben, als die ursprüngliche normale Aehnlichkeit, er- löschen aber gewöhnlich mit der Zeit wieder aus demselben Grunde, aus welchem die innerhalb der Grenzen der Gesundheit stehenden Or- ganisationsnüancen erlöschen. Diese Regulirung hat bei Vererbung von Abnormitäten der Men- — 252 — schen immer in einem gewissen Grade Statt, denn sonst würde unter gewissen Umständen der Geschlechtscharakter bis zur Unkenntlichkeit .verändert, aber sie ist oft unter besonders ungünstigen Verhältnissen so schwach, dass auf Jahrhunderte hinaus ganze Generationen einen von ihren Geschlechtsverwandten mehr oder minder abweichenden Typus behalten (Cretinengegenden). Der Schönheitssinn und der freie Wille des Menschen begünstigen wesentlich die fragliche Regulirung. Beide verhüten in der Regel, wenigstens in gewöhnlichen Verhältnis- sen, die Vermischung physisch oder psychisch verkrüppelter Menschen und dadurch auch die sich weiter fortpflanzende Erzeugung solcher ver- krüppelten, überhaupt abnormen Geschöpfe. Doch können habsüchti- ger Egoismus und politische Unmündigkeit einer Völkerschaft dem freien Willen und dem Schönseitssinn feindlich entgegen wirken. Wenn nun auch die in Rede stehende Regulirung bei Vererbung ‘von Abnormitäten bei den Menschen, wie gesagt, immer in einem gewissen Grade Statt findet, und häufig auch die weitere Fortpflanzung innerhalb der Grenzen der Norm stehender einfacher Organisations- nüancen hemmt, so tritt sie doch im letztern Falle häufig nicht ein. Diese Organisationsnüancen müssen nämlich nicht nothwendig untergehen, da die Sprösslinge ihren Lebenszweck auch mit ihnen erfüllen können; das beweisen z. B. die durch Jahrhunderte sich er- haltenden Nationaleigenthümlichkeiten, ja, es ist sogar wahrscheinlich, dass die allmälige geistige Entwieklung eivilisirter Nationen wesent- lich durch Vererbung der immer mehr ausgebildeten geistigen Fähig- keiten vermittelt wird. Allerdings ist diese Vererbung keine allge- meine, in regelmässiger Progression fortschreitende, sondern eine vielfach unterbrochene; sie musste aber dennoch bei den vielen Glie- dern, durch die sie vermittelt wurde, nach Jahrhunderten äusserst wirksam werden. Eine sprungweise Entwicklung der allgemeinen In- telligenz bis zu der Stufe, auf der sie jetzt bei den civilisirten Na- tionen steht, hat gewiss nicht Statt gefunden, sondern es war eine allmälige, unmerkliche. Grosse Ereignisse, grosse Geister haben ihr nur neuen Anstoss gegeben. Bei den Thieren kann die Regulirung selbst bei wirklichen Abnor- mitäten ausbleiben, insofern diese Abnormitäten das Thier seinem Lebens- zwecke nicht entfremden, mit andern Worten, es können sich bei den Thieren Abnormitäten bleibend vererben, so zwar, dass eine ganz neue Rasse entsteht. Das Zurückkehren zur Norm ist, wo es Statt findet, in der Regel = mM = nur ein allmäliges und kann es auch nur sein, da, wie die Erfahrung lehrt, die Eigenthümlichkeiten einer Generation in der zweiten Gene- ration oft wieder stärker auftreten. Doch scheint es Fälle zu geben, wo die Rückkehr zur Norm. regelmässig in der nächsten Generation vollständig Statt hat. Die Rückkehr zur Norm wird übrigens dadurch sehr erleichtert, dass die Gattungsbastarde in der Regel ganz unvermögend sind, zu zeugen, oder wenigstens sich nieht unter einander, sondern nur mit einer ihrer Stammgattungen fortpflanzen können, in welehe dann ihre Nachkommen bald übergehen. Bei den Pflanzen pflanzen sich die Bastarde zuweilen in ihrer Gestalt fort, doch gleichen die daraus gezogenen Pflanzen häufig mehr einer der Stammarten, und dann sind sie nur in geringem Grade fruchtbar, oder auch ganz unfruchtbar. Sie haben kleinere Pollen- körner und die Antheren öffnen sich zum Theil gar nicht, zum Theil wenig und erst, wenn die Blumen schon zu welken beginnen. Jedoch ist das Verhalten bei verschiedenen Gattungen verschieden. Endlich können sich Pflanzenbastarde durch die fortwährende Be- gattung mit einer bestimmten fremden Art, allmälig vollständig in die fremde Art umwandeln. Hier wird die Regulirung unmöglich. Ein solcher Vorgang kann aber ohne Störung des ganzen Schöpfungsplanes nur bei den niederen Organisationen Statt haben. In den Fällen, wo keine vollständige Regulirung eintritt, macht sich wenigstens die Tendenz dazu häufig in der Form und dem Grade der ererb- ten Abnormität bemerkbar, indem man in beiden Richtungen häufig einen Rücksehritt bemerkt, wenn nicht bei allen doch bei einzelnen Früchten. Die Regulirung zur Norm hinauf hat übrigens nicht nur mit Bezug auf die einzelnen Linien oder Familien Statt, in denen Ab- normitäten vererbt worden sind, sondern sie ist auch eine allgemeine, durehgreifende, gegenseitige. Dort, im Kleinen geschieht sie dadurch, dass entweder der Grad und die Form der ererbten Abnormität zu- rückschreiten, oder die einzig erzeugte Frucht anomaler Eltern, gleich- viel, ob diese ihre Abnormität ererbt haben, oder nicht, normal aus- fällt, oder einzelne Früchte anomaler Eltern normal ausfallen; hier, im Grossen, indem von andern Eltern erzeugte Früchte einen hohen Grad von Vollkommenheit an sich tragen, der Urnorm möglichst nahekommen, (Erzeugung geistig ausserordentlich begabter oder kör- perlich sehr schöner Menschen), oder dass, wo dasselbe Uebel sich in zwei Linien derselben Familie forterbt, in der einen Linie mehr —_— 2354 — die Töchter, in der anderen mehr die Knaben afficirt werden, oder, indem die gute Anlage der Grosseltern sich in den Enkeln wieder- holt und so den schlechten Anlagen der Eltern entgegen wirkt. Eine der auffallendsten Erscheinungen bei der Vererbung, auf die wir so eben hingedeutet haben, ist die, dass die Eigenschaften des Zeugenden (ob sie sich innerhalb der Grenzen der Norm halten, oder ob sie zu den Abnormitäten zählen ) oft in seinen eigenen Er- zeugnissen weniger auffallend hervortreten, als in den Erzeugnissen seiner Erzeugnisse. Beim Menschen haben oft die Enkel mehr Aehn- lichkeit mit den Grosseltern, als mit den eigenen Eltern. Diess geht so weit, dass selbst die ähnlichen Eigenschaften, wenn sie sich in der ersten Generation auf das andere Geschlecht vererbten, in der zweiten Generation wieder auf das Geschlecht des Individuums, d.h. desjenigen der beiden Grosseltern, zurückkehren, von dem sie sich ursprünglich auf die erste Generation vererbt hatten. Merkwürdig ist der Sprung auf die Enkel besonders in jenen Fällen, wo sich das- selbe Uebel in zwei Linien derselben Familie forterbt, in der einen Linie jedoch gleich in der ersten, in der anderen aber erst in der zweiten Generation auftritt. Da nicht nur die anomalen Eigenschaften, sondern auch die normalen auf die erwähnte Weise von den Grosseltern, überhaupt von früheren Generationen, auf spätere vererbt werden, so wird dadurch den späteren Generationen, wie schon oben angedeutet worden ist, oft zu ihrem Vortheil ein gutes Erbtheil erhalten, und auf diese Weise auch zur Aufrechterhaltung der Norm beigetragen. Es können auf diese Weise Fehler in der Erziehung und Pflege der ersten Generation wieder gut gemacht und für die Nachkommen unwirksam gemacht werden. Man sieht ein, wie diese Erfahrung bei der Erziehung praktisch verwer- thet werden kann. Merkwürdig ist bei dem Ueberspringen von den Grosseltern zu den Enkeln die Latenz der Anlage bei der ersten Generation (den Eltern). Noch schwieriger zu begreifen als diese Sprünge ist die That- sache, dass der Einfluss des Zeugenden sich auf von derselben Mutter mit andern Vätern später erzeugte Früchte erstrecken kann. So sehen bisweilen Kinder der zweiten Ehe dem längst verstorbenen ersten Manne ähnlicher und gleichen demselben psychisch mehr als ihrem wirklichen Vater. Weniger auffallend ist es, wenn ein Vater in der zweiten Ehe Kinder zeugt, die denen der ersten Ehe gleichen. Von ganz besonderem Interesse ist die Vererbung der Anomalien — 25 — von Organen, die nur dem männlichen Geschlechte angehören , da sie sich doch durch das weibliche Geschlecht fortpflanzen müssen, und beson- ders merkwürdig ist es, wenn eine derartige Anomalie sich durch viele Generationen regelmässig fortpflanzt. Eine andere merkwürdige Erscheinung bieten die Fälle dar, wo bei den Sprösslingen von Eltern, die an gewissen Krankheiten litten, zwar nicht diese Krankheiten selbst, sondern andere Krankheiten, und zwar von einer bestimmten Art, auftreten, so dass sich die Krankheit der Eltern bei den Sprösslingen in eine andere Krankheit umwandelt. Diese Krankheit tritt dann bei den Sprösslingen in demjenigen Lebens- alter auf, das der Entwicklung dieser Art Leiden günstig ist. Es ist aber auch die Frage, ob in den Fällen, in denen man eine solche Transmutation beobachtet haben will, nicht Täuschung obwaltete. Wie wären diese Fälle zu erklären? Wenn man sagt, es bilde sich in Folge der elterlichen Krankheit bei den Kindern eine allgemeine Krankheitsanlage, die unter Hinzutritt gewisser begünstigender Mo- mente oder Veranlassungen in eine bestimmte Krankheit übergehe, so ist damit nichts erklärt, denn es frägt sich dann eben, worin diese Anlage bestehe, und warum und wie sie aus der elterlichen Krank- heit entstanden sei? Muss man dann nicht fragen, ob nicht die An- lage bloss angeboren, d. h. im Fötus originair entstanden sei, wie da, wo die Eltern nachweisbar gesund waren? Ist es durchaus nö- thig anzunehmen, dass in solchen Fällen die Krankheitsanlage aus der .Krankheit der Eltern entstanden sei? Ist eine solche Annahme nicht ein „post hoc, ergo propter hoc“? Könnte man am Ende nicht eben so gut in allen Fällen, wo die Eltern anscheinend gesund wa- ren, die Krankheitsanlagen der Kinder auf ein verborgenes Siech- tbum, oder wenigstens auf eine verborgene, latent gebliebene Anlage _ der Eltern zurückführen? Denn, dass die Anlage latent bleiben kann, beweisen ja die Fälle, wo Eigenthümlichkeiten oder Abnormitäten, Fehler, eine Generation überspringen, von Grosseltern auf Enkel sich vererben. Man ist hier vielleicht zu weit gegangen. Auf der andern Seite frägt es sich, ob nicht vielleicht manche gewöhnlich für ange- boren angenommene Uebel vielmehr vererbt, und ob nicht latente, oder mindestens sehr unmerkbare Anlagen bei den Eltern in manchen Fällen der Art als Ursache zu beschuldigen sind? Auf diese Fragen werden wir unwillkürlich durch jene merkwürdigen Fälle gebracht, wo von wenigstens scheinbar gesunden Eltern mehrere Kinder mit Fehlern geboren wurden. Ist hier nicht Vererbung einer latenten _— 256 — oder unmerklichen Anlage im Spiele? Ich kann mir wenigstens die Sache nicht anders denken. Die Gleichheit, mit der eine solche Ab- normität bei allen oder mehreren Kindern einer und derselben Mut- ter auftritt, muss ihren Grund in einer besondern Anlage der Eltern haben. Worin diese Anlage besteht, wissen wir freilich nicht; ihre Qualität ist ein unbekanntes X. Es kann diese Anlage nur ganz ge- ring, oberflächlichen Beobachtern unmerkbar sein, und sich doch bei den Kindern sehr hoch potenziren, besonders, wenn sie sich bei beiden Eltern findet. Wir werden auf diese Annahme durch die Analogie geführt, d. h. durch jene Fälle, wo schwersprechende, schwerhörende Eltern taubstumme Kinder zeugen u. s. f£ Diesem Schwersprechen, diesem Schwerhören liegt gewiss in manchen Fällen eine fehlerhafte Organisation der betreffenden Gehirntheile zum Grunde. Denken wir uns nun diese auf ein Minimum reducirt, so dass die fraglichen Funktionen nicht auffallend gestört werden, so lässt sich eine Potenzirung bei den Sprösslingen in der Art, dass die feh- lerhafte Organisation hier einen Grad erreicht, der die Funktion we- sentlich beeinträchtigt, eben so gut denken, wie sie dort vom Schwer- sprechen und Schwerhören zur Taubstummheit Statt gefunden hat. Stö- rungen von Funktionen solcher Organe, die mehr dem physischen Leben angehören, von Funktionen zumal, die wir wahrnehmen kön- nen, lassen sich, auch wenn sie noch so unbedeutend sind, bei etwas Aufmerksamkeit nicht leicht verkennen; anders ist es aber mit Stö- rungen geistiger Funktivnen; da bedarf es grosser Erfahrung, grosser Menschenkenntniss, wenn dieselben in ihrem Minimum der Beobach- tung nicht entgehen sollen. So giebt es z. B. Menschen, die im Allgemeinen ganz vernünftig sprechen und handeln, sogar in man- cher Beziehung bedeutende Einsicht und viel Intelligenz zeigen, so dass keinem gewöhnlichen Menschen, ja Niemandem, der sie nicht längere Zeit anhaltend beobachten kann, von ferne in den Sinn käme, in ihren geistigen Funktionen irgend etwas Abnormes finden zu wol- len. Ein aufmerksamer Beobachter aber, ein feiner Menschenken- ner, ein Mann von Erfahrung, der Gelegenheit hätte, auch nur wäh- rend eines Jahres alle Handlungen und Reden solcher Menschen in ihrer ganzen Succession zu beobachten und zu hören, zu vergleichen und zu prüfen, würde zuletzt finden (vielleicht auch sehr bald), dass diese Handlungen und Reden etwas Kindisches haben, dass diese Leute, wie die Kinder Pläne machen, die sie nicht ausführen, Un- ternehmungen beginnen, die sie nicht zu Ende führen können, in Allem ihre Kräfte, ihre Person überschätzen, mit einem Worte eine ähnlich wie bei den Kindern beschränkte Urtheilskraft haben. Oft verliert sich bei solchen Menschen in spätern Jahren dieses Kindische ihrer Verstandesoperationen, man sagt dann, sie haben sich spät ent- wickelt, oft abar behalten sie das Kindische mehr oder minder durch ihr ganzes Leben bei. Wäre es nun nicht denkbar, dass diese An- lage sich bei der folgenden oder der zweiten Generation (s. oben) zu förmlicher Verrücktheit potenziren könnte? und doch würde es wahr- scheinlich, wenn ein soleher Sohn oder eine solche Tochter in spä- teren Jahren verrückt würde, Niemandem einfallen, diese Verrückt- heit als Erbtheil von den anscheinend geistig ganz gesund, ja ver- ständig gewesenen Eltern ansehen zu wollen. Wie gut aber wäre es, wenn man mit einem solchen fehlerhaften Geisteszustande der Eltern bekannt, die Erziehung ihrer Kinder darnach leiten könnte. Manches lieses sich ins Geleise bringen, manches Unangenehme, das sich im Leben solcher Kinder ereignet, auch bevor die Geisteskrankheit bei ihnen offenbar wird, -verhüten. Wenn wir uns nun so in manchen Fällen, wo mehrere Kinder normal scheinender Eltern mit Abnormitäten geboren werden, oder wo sich bei mehreren solehen Geschwistern in späteren Jahren ähnliche Fehler oder Eigenthümlichkeiten entwickeln, eine Potenzirung einer in unmerkbarem Minimum bei den Eltern dagewesenen Anlage recht wohl denken können, so scheint uns diese Annahme denn doch wie- der in manchen andern Fällen im Stiche zu lassen. Im Grunde aber sind wir um die Erklärung des Vererbungsprozesses eben so sehr ver- legen, wenn wir auch wissen, dass die Eltern eine ähnliche Krank- heit an sich trugen. Wir können dann nur die Vererbung mit meh- rerer Sicherheit annehmen, aber das Wie? der Vererbung, der Pro- zess, durch den sie vor sich geht, ist damit noch keinesweges er- klärt. Wie können uns diesen Prozess nicht anders erklären, als dass wir den Modus der Entwicklung des Kindes von einer Innerva- tion desselben durch die Centralorgane des Nervensystems der Eltern, vermittelt durch das Blut der Mutter und den Saamen des Vaters, abhängig machen. Wenn wir auch gerne zugeben, dass mit einer solchen Theorie nicht viel genützt ist, weil das Wie? immer noch unbegreiflich bleibt, und auch sicher bleiben wird, wie das Schöpfungs- geheimniss selbst, so können wir uns die Sache doch einmal nicht anders vorstellen. Ohne eine solche Innervation ist auch der Ein- fluss des Versehens der Schwangeren auf die Entwicklung der Frucht —_ 258 — nicht gedenkbar. Die Art der Innervation muss aber wieder von der Organisation oder Stimmung der Centralorgane abhängen; ist diese normal, wird sie normal sein, und umgekehrt. Auf einer solchen fehlerhaften Organisation oder Stimmung eines bestimmten Theiles der Centralorgane beruht also offenbar der ererbte Fehler, und auf der- selben Basis ruht wahrscheinlich häufig — (wenn auch nicht imnmer, denn gewisse Krankheiten vererben sich gewiss ohne Vermittlung des Nervensystemes der Eltern durch den Saamen des Vaters und das von der Mutter dem Kinde zuströmende Blut) — der nicht offenbar ererbte Fehler, besonders, wenn er bei mehreren Kindern in gleieher oder ähnlicher Art auftritt. Es wäre somit also eigentlich die feh- lerhafte Organisation oder Stimmung eines Theiles der Centralorgane des Nervensystems der Eltern, die in den hier in Betracht kommen- den Fällen vererbt wird, und eine eben solche in der Frucht erzeugt, nicht der Fehler selbst, denn der kann in der That nicht vererbt werden; nur seine Wurzel, seine Ursache wird vererbt. Für die fragliche Innervation sprechen ausser den Wirkungen des Versehens namentlich auch die sonderbaren Fälle, wo von den Eltern erwor- bene Fehler oder Eigenthümlichkeiten vererbt werden, und diese Fälle stehen auch den Wirkungen des Versehens sehr nahe. Ich finde zwischen beiden Vorgängen keinen wesentlichen Unterschied. Jene Fälle erklären den Vorgang bei diesen, und umgekehrt, wie denn überhaupt die Fälle von Versehen, wenn man sie wenigstens nicht ganz läugnen will, (und das kann man consequenter Weise nicht, wenn man die ganz analoge Vererbung erworbener Fehler oder Eigenthümlichkeiten nicht läugnen kann und will), das ganze Ver- erbungsgesetz enthüllen, so weit wir dasselbe eben angedeutet haben, d. h. deutlich zeigen, dass es die Innervation ist, die von den Eltern ausgeht, welche, wenn auch nicht alle, doch einen grossen Theil der ererbten Eigenthümlichkeiten und Fehler bei den Kindern erzeugt. Uebrigens muss man, wenn man den Verdacht hat, dass erworbene Fehler von den Fltern auf die Kinder übergegangen seien, bevor man dieses als sicher festsetzt, immer wohl untersuchen, ob nicht etwa Verwandte in früheren Generationen an denselben oder ähnlichen Ue- beln gelitten haben, und dieselbe Prüfung ist auch in den Fällen von Versehen anzurathen. Also bei scheinbar angebornen Krankheiten, namentlich, wo mehrere Kinder derselben Eltern mit denselben Fehlern geboren wer- den, in den Fällen, wo bei mehreren Kindern derselben anscheinend — 259 — gesund gewesenen Eltern in späteren Jahren sich ähnliche Figenthüm- lichkeiten oder Fehler (Krankheiten) entwickeln, und da, wo erwor- bene Eigenthümlichkeiten oder Fehler der Eltern auf die Kinder über- gegangen zu sein scheinen, muss man immer Verdacht haben, dass in früheren Generationen ähnliche Eigenthümlichkeiten oder Fehler vorgekommen seien. Denselben Verdacht muss man aber auch haben, wo Geschwisterkinder an demselben Uebel leiden, oder wo in zwei Linien derselben Familie dieselben Uebel vorkommen. In diesen Fällen wird wenigstens eine unmerkliche Anlage bei den Stammeltern ob- gewaltet haben. An die so eben behandelte Frage des Vererbtseins scheinbar an- geborner Krankheiten schliesst sich eine andere sehr wichtige Frage, nämlich die, ob durch Vermischung in engen Verwandtschaftskreisen oder überhaupt durch Vermischung von Gleichartigem, ohne dass vor- her bei den Eltern eine Krankheitsanlage vorhanden gewesen war, Krankheit, oder, wie man es manchmal fälschlich nennt „Ausartung oder Entartung“ *) entstehen könne ? Man will beobachtet haben, dass Einseitigkeit und Mangel an höherer geistiger Regsamkeit bei den Sprösslingen die Folge solcher Verbindnngen zwischen Verwandten gewesen sei; man müsste aber in solchen Fällen immer genau untersuchen, ob nicht etwa eine Fa- milienanlage zu geistiger Trägheit in solchen Fällen bei den Eltern in jenem Minimum vorhanden gewesen sei, dessen wir oben ge- dacht haben. Wo wirklich auffallende Geistesträgkeit bei den Spröss- lingen solcher Verbindungen beobachtet würde, wäre Verdacht auf eine solche Anlage zu haben. — Es gibt nämlich kleine Genossen- schaften, kleine abgeschlossene Bevölkerungen, welche in der That nichts anderes sind, als weitläufige Verwandtschaften, da die Ange- hörigen derselben sich immer nur unter einander verheirathet haben, und doch findet man unter solchen oft die schönsten, kräftigsten Menschen, wenn nur in dergleichen Gegenden keine Anlage zu ende- mischen Krankheiten, z. B. Cretinismus, vorhanden ist. Dass die po- litische Mündigkeit solcher Bevölkerungen durch dieses ewige Wechsel- heirathen nicht gewinnen kann, die politische Einseitigkeit dadurch gekräftigt werden muss, ist natürlich. Hieran tragen aber weniger *) Ein unglücklicher Ausdruck , den man besonders freigebig bei den Cre- tinen angewendet hat. Der Cretin ist ein kranker aber kein entarteter Mensch; diesen Ausdruck verdanken wir, glaube ich, den empfindelnden Philanthropen. — 260 — die physische Vermischung zwischen diesen Menschen an sich, als vielmehr die Abgeschlossenheit solcher Kreise überhaupt, die Berufs- art der dieselben bildenden Individuen, ihre Religion, ihre Landes- gesetze, die Schuld. Der Verstand der einzelnen Individuen kann dabei doch ganz gewaltig entwickelt sein. Aber physische oder gar psychische Ausartung oder vielmehr Krankheit, z. B. Cretinismus, wird durch solche Vermischung an sich, wenn nicht noch andere ungün- stige Verhältnisse, grosse Armuth, Vernachlässigung der Kinderpflege namentlich, und nachtheiliges Clima mitwirken, nicht hervorgerufen; das beweist unter anderem das schöne Unterwaldnervolk. — Aber auch die Erfahrungen, die man bei den Thieren macht, zeigen, dass die fragliche Vermischung an sich nicht schädlich ist. Zur Zucht unter Hausthieren wählt man solche Individuen, die in Hinsicht auf Grösse und Farbe zusammen passen. Für spanische und englische Pferde, für spanische Schaafe gilt das Prinzip der Reinzucht, wäh- rend nach Bojanus Vermengung verschiedener Rassen, wenn sie eine zeitlang fortgesetzt wird, bei den Pferden eine allgemeine „Ausar- tung“ bewirkt. So könnten wir auch die Eigenthümlichkeiten und Schönheiten einer Nation dadurch erhalten, wenn wir das Prinzip der Nichtvermischung mit Fremden in unsere Staatsgesetze aufnehmen würden. Wenn die Erfahrung hie und da das Gegentheil zu lehren scheint, wenn es hie und da scheint, dass durch Vermischung innerhalb enger Genossenschaften physische oder psychische Krankheit entstehe, so beruht dieses gewiss auf oberflächlicher Beobachtung, indem man die endemische Anlage, Clima u. s. w. nicht genugsam verwerthet, entweder, weil die Intensität dieser Einflüsse gering ist und desswe- gen leicht übersehen werden kann, oder weil man an dieselbe so gewohnt ist, dass man sie überhaupt nicht gehörig beachtet. Das ist ganz richtig, dass, wenn mit einer Krankheit oder einer Anlage zur Krankheit behaftete Bevölkerungen in Bezug auf Verheirathung ganz auf sich selbst beschränkt sind, oder wenn mit derselben Krankheit oder Krankheitsanlage behaftete Verwandte unter einander heirathen, die Anlage, ja die Krankheit selbst bei den folgenden Generationen potenzirt werden muss, und zwar um so leichter, wenn die äusseren schädlichen Einflüsse, nachtheiliges Clima, mangelhafte Volksbil- dung u. s. w. auch auf die folgenden Generationen fortwirken. Auch versteht es sich von selbst, dass Eigenthümlichkeiten einer Nation, die vielleicht unsern Begriffen von Vollkommenheit und Schönheit nieht entsprechen, durch fortwährende Vermischung mit anderen Na- — 211 — tionalitäten modifieirt werden müssen, vielleicht allmälig verschwinden, was für uns dann einer Verbesserung gleich ist. Ich wende mich nun zu einigen allgemeinen Bemerkungen über die Vererbung psychischer Eigenthümlichkeiten innerhalb der Grenzen der Norm oder Gesundheit. Jede Thätigkeit der Seele, die sich öfters wiederholt, wirkt auf das Seelenorgan zurück und modifieirt seine Organisation, hinterlässt, wie man zu sagen pflegt, Eindrücke, und diese Veränderung ist um so tiefer, je häufiger sich jene Thätigkeit wiederholt: Selbst ganz ein- fache Handlungen, die öfters wiederkehren, sind im Stande, sich auf solche Weise allmälig ins Seelenorgan einzuprägen. In Folge der hierdurch entstandenen Modifikation wird das Seelenorgan allmälig der- selben entsprechend zu wirken beginnen, mit andern Worten die Af- fecte, die Handlungen des Individuums, die früher nur zufällig Statt hatten, werden zur Gewohnheit, zur Fertigkeit, zum Talent, zur Lei- denschaft, zum Character. Die durch die erwähnten Eindrücke entstandene Modifikation des Seelenorganes nun vererbt sich und damit bildet sich in dem Spröss- ling eine Anlage, in der Art des Erzeugers zu handeln, zu denken, zu fühlen u. s. w. In manchen Fällen ist diese Anlage so stark, dass ihre Wirkung gleichsam hervorsprudelt, auch wenn sie nicht gepflegt wird, oder man sogar ihre weitere Entwickelung zu unter- drücken versucht. Der freie Wille, Erziehung, Lebensschieksale kön- nen hemmend und entwickelnd wirken, Nachahmung kann Entwick- lung der Anlage, z. B. bei Gewohnheiten, sehr fördern. Wie häufig vererben sich gewisse Gewohnheiten und Manieren von den Eltern auf die Kinder! Freilich spielt gerade hier die Nach- ahmung in manchen Fällen eine grosse Rolle. Ihr allein aber ist die Uebertragung der Gewohnheiten der Eltern auf die Kinder doch nicht zuzuschreiben, dafür scheinen die Fälle zu sprechen, wo sich eine ganz eigene Art sich zu benehmen, zu sprechen u. s. f. durch ganze, grosse, verzweigte Familien in allen Linien durch Generationen hindurch forterbt. Allerdings nehmen wir auch in manchen Fällen unwillkürlich von anderen Menschen Gewohnheiten an, wo die Ver- erbung nicht wirken kann, so häufig von Lehrern oder uns sonst be- sonders imponirenden oder auch nur wohlgefallenden Personen. Der — 292 — Prozess dieser Assimilation ist aber offenbar derselbe, durch welchen uns unsere eigenen Handlungen zur Gewohnheit werden. Bei den Thieren vererben sich Gewohnheiten ebenfalls. Die Gewohnheit kann sich aber auch so forterben, dass das Re- sultat ein negatives ist. So z. B. sind die Bereiter nicht im Stande, die norwegischen Ponies, deren Vorfahren gewohnt waren, nur auf die Stimme des Reiters zu hören, und nicht dem Zügel zu gehorchen, mit dem Zügel anzutreiben, obgleich sie ungemein gelehrig und ge- horsam sind, wenn sie den Befehl des Herrn verstehen *). Wenn die durch Kunstübungen modifizirte Organisation des Seelenorganes vererbt wird, so findet ein doppelter Prozess Statt. Einmal wird die Wirkung der Eindrücke der einfachen Handlung, der technischen Fertigkeit vererbt, und dann die Wirkung der Ein- drücke des damit verbundenen Denkens und der damit verbundenen Gemüthsaffeete. Die dadurch vererbte Fähigkeit, ähnlich wie der Er- zeuger zu wirken, ist ererbtes Talent. Die Vererbung der Gewohn- heiten und Talente beruht nach dem Gesagten auf demselben Prozesse. Es ist nicht meine Absicht, in eine specielle Untersuchung über das Maass und die Häufigkeit, in denen sich die verschiedenen Ta- lente vererben, einzutreten; so viel hat mir jedoch eine nur ober- flächliche Untersuchung bereits gezeigt, dass kein Kunsttalent sich so häufig, so überwiegend häufig, und so nachhaltig vererbt, wie das Talent zur Musik. Das Talent zur Kunstmalerei scheint sich lange nicht so häufig und so nachhaltig zu vererben, wenn es schon auch Familien gegeben hat, in denen es sehr heimisch war, wie z. B. die Familie Füssli in Zürich. Aber es ist fast als eine Ausnahme zu betrachten, wenn bei den Eltern oder Grosseltern von Musikern keine Anlage für Musik nachweisbar ist. Unter 22 Tonkünstlern gröss- tentheils ersten Ranges, deren Lebensbeschreibungen ich gelesen **), fand ich nur drei, nämlich Händel, Bellini und Donizetti, in deren Verwandtschaft kein Musiktalent oder keine Musikanlage nachgewie- %) Philos. Transact. 1837. P. II p. 369. Ich bedaure sehr, dass mir der sparsam zugemessene Raum verbot, auch für andere in dieser Abhandlung auf- gestellte Sätze Belege anzuführen, deren ich eine ziemliche Zahl — namentlich auch aus dem Thierleben — gesammelt habe. *#) Palestrina, Bach, Hasse, Graun, Hiller, Händel, Haydn, Naumann, Gertrud Elisabetha Schmähling, verehl. Mara, Mozart, Cherubini, Beethoven, Nägeli, Liste, Bellini, Boieldieu, Paganini, Karl Maria Weber, Donizetti, Maria Malibran Garcia, Mendelssohn Bartholdy, Fanny Hünerwadel. — 263 — sen ist. Meistens zeigten die Eltern, wenn sie auch nicht förmliche Musiker waren, doch eine Anlage für Musik oder ein gewisses Ta- lent dazu. Häufig zeigte sich auch bei Geschwistern der Tonkünstler Anlage oder Talent zur Musik, und häufig entwickelte sie sich wie- der bei einigen Kindern derselben. Es scheint, dass die Beschäfti- gung mit der Musik tiefere Eindrücke im Seelenorgane zurücklässt, dasselbe eingreifender modifizirt, als die Beschäftigung mit anderen Künsten. Es scheint auch daraus hervorzugehen, dass die Eindrücke, die wir durch’s Ohr aufnehmen, tiefer auf unsere Seele einwirken, als die Eindrücke, die wir durch das Auge aufnehmen. Bei den Thieren werden die Talente ebenfalls vererbt, ja diese Vererbung bedingt sogar eigentlich die Existenz der Thiere. Wer lehrt die Bienen ihre Zellen, die Vögel ihre Nester bauen u. s. w., wer lehrt so manche andere Thiere jene Kunstfertigkeiten, die doch zu ihrer Existenz so nothwendig sind? Es ist blos die Vererbung. Die Vererbung der Kunstfertigkeiten ist bei den Thieren die Norm, da sie zu ihrer Existenz nothwendig ist. Bei den Menschen hinge- gen darf sie nicht die Norm sein, bei den Menschen soll sie eine ausserordentliche, eine besondere Gabe, ein Geschenk sein, damit der freie Wille des Menschen, seine Denk- und Arbeitslust freies Spiel haben. Doch giebt es auch bei den Thieren Fälle, wo Kunstfertig- keiten vererbt werden, die nicht nothwendig sind zur Erhaltung der Gattung. Uebrigens ist die Uebertragung der Talente bei den Thie- ren um so vollkommener, je älter und erfahrener die Eltern sind. Bei Mangel an Uebung erlöschen solche Fähigkeiten, wogegen der Rasse neue eigen gemacht werden können. Der Vererbung des Kunsttalentes am nächsten stehen die Verer- bung der Handschrift, des Charakters in der Kunstmalerei und in der Tonsetzung. Der Zusammenhang der Handschrift des Menschen mit der See- len- und Geistesthätigkeit ist eine Thatsache, welche wohl von den wenigsten Menschen geläugnet werden dürfte. Ja nicht nur der Cha- rakter des Menschen überhaupt, selbst seine momentane Gemüths- stimmung, kann wesentlich auf den Charakter der von ihm in einem gewissen Augenblicke gezogenen Schriftzüge einwirken. Wie aber ein einziger Gesichtszug einer Physiognomie ihren Charakter, wie die Veränderung einiger Lineamente oder Striche in einem Portrait der Physiognomie ein anderes Gepräge geben kann, so werden einzelne eingenthümliche Buchstaben, einzelne Züge in — 264 — einzelnen Buchstaben sogar, einer Handschrift eine eigenthümliche Physiognomie geben müssen. Auf diese Weise kann die Schule auf den Charakter der Handschrift modifizirend einwirken. Die Eigen- thümlichkeiten in den Vorlagen werden sich dem Lernenden so fest einprägen, dass er dieselben nie mehr ganz los wird, wenn er nicht nach ganz andern Normen neu schreiben zu lernen anfängt. Es giebt aber ausser dem Charakter und ausser der Sehule noch ein anderes Moment, welches auf den Typus der Handschrift wirken muss, und das ist der Körperbau, insbesondere der Bau des Armes und der Hand, im weitesten Sinne des Wortes, so wie die Art, wie diese Körpertheile vom Gehirn innervirt werden. Erst durch das Zusammenwirken aller dieser Momente wird der "Typus der Hand- schrift bestimmt. Wenn nun aber der Charakter des Menschen oder die demselben zu Grunde liegende eigenthümliche Organisationsnüance des Seelenor- ganes und der Körperbau vererbt werden können, so wird es leicht begreiflich, wie sich auch die von ihnen zum Theil abhängige Hand- schrift vererben kann, und es wird von dem Grade, in dem Charak- ter oder Körperbau oder beide sich vererben, auch die grössere oder geringere Aehnlichkeit der Handschriften von Eltern und Kindern ab- hängen. Uebrigens wird noch die den Charakter der Kinder modifi- zirende Erziehung wiederum auf den ererbten Typus ihrer Handschrif- ten modifizirend einwirken. } Die Achnlichkeit der Schriftzüge springt jedoch gar nicht immer so schnell in die Augen; es bedarf, um dieselben richtig zu erken- nen, oft schon eines feinen diagnostischen Scharfblickes. Häufig wird namentlich die verschiedene Grösse der Schriftzüge die Aehnlichkeit sehr verdecken. Ganz wie mit der Handschrift, verhält es sich mit dem Gemälde. Das Gemälde ist auch eine Haudschrift, in der sich der Charakter des Malers, die Beschaffenheit seines Seelenorganes abspiegelt. Dar- auf beruht zum Theil der Eindruck, den ein Gemälde auf den Be- schauer macht, darauf beruht es, dass oft alle Gemälde eines und desselben Künstlers einen auch dem Nichtkenner auffallenden eigen- thümlichen Charakter haben. Freilich wirkt hier noch ein anderes Moment, nämlich der Farbensinn, mit; dessen ungeachtet ist das Ge- sagte gewiss wahr. Lavater hatte denselben Gedanken: „Lasst,* (sagt er in seinen physiognomischen Fragmenten, 8.111) „alle Schüler eines und desselben Meisters dasselbe Bild abzeichnen, und alle Copieen y Zi = dem Original auffallend ähnlich sehen, — jede Copie wird dennoch sicherlich einen eigenthümlichen Charakter, den Charakter ihres Ver- fassers, wenigstens eine Tinktur davon haben.“ Von der Vererbung dieses Charakters in der Kunstmalerei lässt sich nun freilich nichts sagen, da wir dazu eine grössere Zahl von Belegen für die Vererbung des Malertalentes überhaupt haben, und zugleich selbst Künstler sein müssten. Ganz dasselbe, was ich von dem Charakter in der Kunstmalerei gesagt habe, gilt von der musikalischen Composition. Hierüber lässt sich nichts Besseres sagen, als was Mozart im Jahr 1790 an den Baron van Swieten schreibt: „Aber,“ schreibt Mozart, „wenn Sie mich fragen, wie es zugeht, dass alle meine Arbeiten die ihnen eigenthümliche Mozart'sche Manier haben und in Nichts, auch nicht im Mindesten, den Charakter der Compositionen anderer Meister tra- gen, so kann ich dieses auf keine andere Art erklären, als dass es sich damit gerade so verhält, als wie mit meiner Nase, welche durch ihre Biegung und Länge die ächte Mozart'sche Nase ist, und die von allen andern Nasen unterschieden ist. Ich suche die Originalität nicht, kann Ihnen aber auch von der meinigen keine andere Erklä- rung geben. Warum sollte es in der That nicht ganz natürlich sein, dass die Menschen, von denen ein jeder seine eigene Physiognomie hat, auch im Inneren sich eben so von einander unterscheiden müs- sen, wie sie im Aeussern von einander unterschieden sind? Ich weiss wenigstens, dass, was meine innere Physiognomie betrifft, ich mir sie eben so wenig als meine äussere gegeben habe.“ Der Gang ist sicherlich wie die Handschrift wesentlich vom Charakter abhängig, doch influirt hier noch mehr als bei der Hand- schrift der Körperbau. * Wie Charakter und Körperbau, muss sich daher auch der Gang -vererben können. Und in der That giebt es davon auffallende Beispiele. Doch spielt auch beim Gang die Nachahmung eine grosse Rolle. Wie Handschrift und Gang, so ruht auch die Physiognomie auf einer geistigen und körperlichen Basis. Die körperliche Basis ist zu- sammengesetzt aus dem Bau der Gesichtsknochen und der Anlage und Entwickelung der Gesichtsmuskeln und übrigen weichen Theile des Gesichtes. Auf letztere haben aber Lebensart und Nahrungsweise, und auf die Entwickelung der Gesichtsmugkeln namentlich die see- lische und geistige Thätigkeit des Menschen wesentlichen Einfluss, Wissenschaftliche Monatsschrift, II. 19 | x u — 266 — und dieser letztere Einfluss konstituirt die geistige Basis der dauern- den Physiognomie. Was zuförderst Lebensart und Nahrungsweise betreffen, so zeigt die Erfahrung, dass Menschen, welche sich mit schweren Handarbei- ten befassen, allen Unbilden der Witterung ausgesetzt sind, grobe Nahrung geniessen, leicht grobe, scharfe Gesichtszüge bekommen. Was dann die seelische und geistige Thätigkeit betrifft, so wirken bekanntlich verborgene sowohl als offene Gemüthsaffekte wesentlich auf die Gesichtszüge; das Gesicht eines gedrückten Menschen ist ein anderes, als das eines fröhlichen; das Gesicht eines zornigen ein anderes, als das eines in ruhiger Betrachtung begriffenen Menschen. Soll die Ein- wirkung der Affekte auf die Gesichtszüge eine dauernde sein, so müs- sen sie mit einer gewissen Permanenz einwirken. Einer solchen Per- manenz sind aber nur tiefere Gemüther fähig. Man sucht daher oft vergebens bei grossen Verbrechern auffallende Physiognomien, und um- gekehrt findet man häufig bei den besten, trefflichsten Menschen etwas Zerrissenes, Scharfes in den Gesichtszügen. Wie die Gemüthsaffekte, so wirken auch die geistige Bildung und die geistige Beschäftigung auf den Charakter der Gesichtszüge. Nun können die geistigen und kör- perlichen Elemente, welche den Gesichtsbau bedingen, in verschiede- ner Combination zusammenwirken. Der auf diese Weise gebildete Ge- sichtsbau, die Physiognomie, kann sich dann wie andere körperliche Eigenthümlichkeiten vererben, und diese Vererbung wird um so leich- ter und vollständiger Statt haben, wenn die Anlage zu den die Ge- sichtszüge mitbestimmenden Affekten mitvererbt wird, und um so nachhaltiger, wenn die Sprösslinge auf derselben Bildungsstufe blei- ben, dieselben Berufsarten treiben, dieselbe Lebensart führen, wie ihre Eltern. Wenn Abkömmlinge Eines Stammes sich immer wieder unterein- ander verheirathen, so können die vom Stammyater entferntesten Ab- kömmlinge eine grosse Aehnlichkeit in ihrem Gesichtsbau haben. So fiel mir, als ich vor einer Reihe von Jahren von Stanz im Kanton Unterwalden nach Engelberg wanderte, die Aehnlichkeit im Gesichts- bau der jungen Mädchen sehr auf. So erkennt man ferner des Eng- länders Nationalität von weitem an seinem Gesichtsbau. Was sich hier im Grossen bei Nationalitäten zeigt, können wir natürlich auch im Kleinen, in weiteren oder engern Familienkreisen beobachten. Ver- erben sich Physiognomie, Gemüthsart oder Charakter und geistige Ca- pacität gleichzeitig, und bleiben die Sprösslinge in ihrem Lebenslaufe a — 267 — auf derselben Bildungsstufe stehen, treiben sie denselben Beruf, füh- ren sie dieselbe Lebensart, wie ihre Voreltern, so wird dadurch nicht nur die Erhaltung der ursprünglichen Gesichtszüge befestigt, sondern die Sprösslinge erhalten überhaupt in ihrem ganzen psychischen und physischen Sein einen gleichartigen Typus. Im Grossen entsteht auf diese Weise unter Hinzutreten eines gleichartigen Körperbaues der Typus der Rasse, die Rassenphysiognomie in weiterem Sinne, im Kleinen der Typus des Standes, der Familien, die Standes - Familien- physiognomie im weitern Sinne des Wortes. Ueber deutsche Rechtssprichwörter. Von Dr. JUL. HILLEBRAND. Das Beobachtungsvermögen und der gesunde Sinn eines Volkes offenbaren sich am Deutlichsten in dessen Liedern und Sprichwörtern. Die Ersteren sprechen vorzugsweise die poetischen Anschauungen des Volkes aus, während die Parömieen mehr als Wirkungen der verstan- desmässigen und philosophischen Seite der Thätigkeit desselben er- scheinen. Ein naturgemässes, gesundes Volksleben wird Beides er- zeugen, Lieder und Sprichwörter. Eine Art der Letzteren sind die Rechtsparömieen, d.h. Sprich- wörter, welche eine Rechtsregel ausdrücken. Die Sammler derselben haben freilich bei ihrer Arbeit sich dieses characteristische Merkmal keineswegs zur strengen Richtschnur dienen lassen. Namentlich pfle- gen eine Menge Sprichwörter, welche nur Lehren über die Zweck- mässigkeit gewisser Handlungen enthalten, von ihnen den Rechtsparö- mieen beigezählt zu werden, blos weil darin Rechtsgeschäfte oder auch nur juristische Worte erwähnt werden. Unter den vierhundert von Eisenhart in dessen bekannten Grundsätzen der deutschen Rechte in Sprichwörtern aufgezählten Paröwieen sind mehr als ein Viertheil keine Rechtssprichwörter, z. B. nicht: „Wer sich in Ge- fahr begiebt, verdirbt darin,“ „Wenn der Wurf aus der Hand ist, ist er des Teufels,* „Zuvor gethan und nachbedacht, hat schon Man- chem Leid gebracht,* „Jugend hat nicht allezeit Tugend,“ „Gelegen- heit macht Diebe,* „Die kleinen Diebe hängt man, die grossen lässt man laufen,“ „Ein neuer Arzt, ein neuer Kirchhof,* „Juristen sind böse Christen,* „Es ist besser ein magerer Vergleich, denn ein feis- tes Urtheil“ ete. Manche Rechtsparömieen erscheinen freilich zugleich auch als gewöhnliche Sprichwörter und haben demnach eine umfas- sendere Bedeutung wie die blos juristische, so z. B. „Auf einen gro- ben Klotz gehört ein grober Keil,“ „Noth kennt kein Gebot.“ — Man muss auch sich hüten, die Rechtsparömieen mit den Regulae Juris zu verwechseln. Diese enthalten nicht Sätze, die im Munde des Volkes leben, sie erscheinen nur als Produkt einer wissen- — 269 — schaftlichen Thätigkeit und sollen in möglichster Kürze viel Inhalt geben. Das Rechtssprichwort tritt gewöhnlich in eonereter, mitunter sogar in poetischer Form auf, die Regula juris dagegen in abstracter. In den schätzbaren Institutes Contumieres von Loysel findet man Rechtsparömieen und Regulae juris neben einander. Uebrigens sind die Grenzen zwischen beiden in der Wirklichkeit oft schwer zu ziehen. Die Kenntniss der Rechtssprichwörter hat hauptsächlich histori- sches Interesse, wiewohl dieselben nicht ohne alle praktische juristi- sche Bedeutung erscheinen. Es kann nämlich unter Umständen das häufige Vorkommen einer Parömie in einer bestimmten Gegend für die dortige Geltung des Rechtssatzes sprechen, welchen das bezügliche Sprichwort ausdrückt. Freilich .eursirt ein solches oft, während sein rechtlicher Kern nur noch geschichtlichen Werth hat. Auch sind man- che Parömieen durch die Juristen über das Gebiet ihrer praktischen Geltung hinaus in Gebrauch gekommen. Es gewährt also jedenfalls die blosse Gangbarkeit eines Sprichwortes nur ein trügliches Indicium für dessen Gültigkeit. Dasselbe muss auch neuerdings in den ge- richtlichen Urtheilen des betreffenden Gerichtes befolgt worden sein. Da Rechtsparömieen meist aus dem Volksleben hervorgehen, so be- ziehen sie sich in Deutschland mehr auf das einheimische, weniger auf das römische Recht. Manche unserer Rechtssprichwörter stimmen übrigens in ihrem Inhalte mit denen anderer Völker überein. Ein- zelne derselben sind fremden Parömieen, namentlich römischen, nach- gebildet, bei andern liegt dagegen nur ein gleiches Gewohnheitsrecht zu Grunde. So wurzeln namentlich mehrere berühmte französische Sprichwörter in dem gleichen germanischen Boden wie die 'entspre- chenden deutschen. Da die Rechtsparömieen sich meist aus dem Volksleben entwickelt haben, so pflegen sie auch die Regel, auf welche sie gründen, kei- ‚ Meswegs juristisch genau auszudrücken, sagen entweder zu viel oder zu wenig. Gewöhnlich erschöpfen sie ihren Gegenstand nicht, heben vielmehr nur eine bestimmte Seite desselben mit sinnlicher Kraft her- vor. Sie erscheinen daher meist nicht ohne Weiteres als klar und bedürfen ausserhalb der Kreise, in welchen sie gang und gäbe sind, der Erklärung, des Commentars. Durch die Entstehung der Sprichwörter aus dem Volksleben erklärt sich ferner die häufige Verbindung von Recht und Poesie in densel- ben. . Das eigentliche Volk im Gegensatze zu den sogenannten gebil- deten Ständen findet sich bekanntlich noch auf der Kindheitsstufe in — 270 — der Cultur. Es bestrebt sich das Abstracte coneret auszudrücken und pflegt daher den juristischen Begriff leicht in ein poetisches Gewand zu kleiden !). Der erste Urheber eines Sprichworts wird in der Regel nicht be- kannt sein. Zum Theil haben die Parömieen ein hohes Alter und sich Jahrhunderte unverändert erhalten. Sammlungen deutscher Rechtssprichwörter sind öfter veranstaltet worden. Die bekannteste ist die oben erwähnte Eisenhart’sche, welche drei Auflagen erlebt hat, die erste 1758, die letzte 1823. Das neueste Buch über Rechtsparömieen rührt von Volkmar her. Sein Titel lautet: Paroemia et Regulae juris Romanorum, Germanorum, Franco-Gallorum, Brittanorum. Hinsichtlich der deutschen Sprich- wörter erscheint diese Sammlung als ein nur wenig veränderter Ab- druck des Inhaltsverzeichnisses des Eisenhart’schen Werkes. Da dieses letztere dem gegenwärtigen Standpunkte der Jurisprudenz nicht mehr genügt, so wäre eine neue Erläuterung deutscher Rechtssprich- wörter keineswegs ein überflüssiges Unternehmen, was bereits auch von Anderen bemerkt wurde, namentlich von Osenbrüggen in die- ser Zeitschrift Bd. I S. 147 und von Bluntschli in der kritischen Ueberschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Bd. IV S. 290 etc. Solche Anregungen brachten bei mir den Entschluss zur Reife, eine derartige Sammlung zu veranstalten, welche noch im Laufe dieses Jahres erscheinen soll. Wie sehr die deutschen Rechtssprichwörter Beachtung verdienen, mögen einige Beispiele selbst zeigen. Ich erwähne zuerst mehrere, welche sich auf eheliche Verhält- nisse beziehen. „Ist der Finger beringt, so ist die Jungfrau be- dingt.* Im Mittelalter gehörte zum Abschlusse einer Verlobung un- ter Anderem auch, dass der Bräutigam der Braut einen Ring an den Finger steckte, eine Sitte, welche die Deutschen wohl von den Römern kennen gelernt. Jungfern, die sich nicht im Brautstande be- fanden, pflegten keine Ringe zn tragen. Heutigen Tags ist bekannt- lich der Gebrauch ein anderer geworden und hat die Parömie ihre praktische Bedeutung verloren, wenngleich hier und da die Braut bei der Verlobung vom Bräutigam einen Ring empfängt. #) Vrgl. hierüber J. Grimm von der Poesie im Recht in der Zeitschr. für gesch. Rechtswissenschaft Bd. II. S. 25 etc. — 271 — „Mann und Weib sind Ein Leib.“ Vom allgemeinen Stand- punkte bildet die Ehe eine zur Gemeinschaft allermittheilbarenVerhältnisse auf Lebenszeit geschlossene Vereinigung zweier Personen verschiedenen Geschlechts. Unsere Parömie versinnlicht sehr schön diese Idee. Sie hat ihre Quelle wohl im alten Testamente Moses I 2, 24: „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen, und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch.“ Verwandt sind auch Taci- tus Germ. e. 19 (Er spricht dort von den germanischen Frauen): „Sie unum aceipiunt maritum, quo modo unum corpus, unamque vitam.* Schwabenspiegel 6 ( Wackernagel): „Man unde sin wip die ein reht unde redelichen zer & chomen sint, da ist niht zweiunge an, si sint wan ein lip“. Auch das römische Recht definirt die Ehe in der eben angegebenen Weise. Vrgl.$.1. J. de patr. potest. (I 9): „Nuptiae sive matrimonium est viri et mulieris conjunetio, individuam vitae con- suetudinem ceontinens.“ L. 1. D. de ritu nupt. (23, 2): „Nuptiae sunt eonjunetio maris et feminae, et consortium omnis vitae divini et humani juris communicatio.* Die schöne Idee von der Lebenseinheit der Ehe- gatten ist aber weder im römischen, noch im deutschen Rechte prak- tisch vollständig durchgeführt worden. Doch hat sie in diesem eine grössere Verwirklichung, als in jenem gefunden. „Ist das Bett beschritten, so ist das Recht erstritten.* („Au eoucher gagne la femme son douair“). In der ersten Hälfte des Mittelalters wurde die Ehe nur für vollzogen gehalten, „wenn die Decke Mann und Frau beschlagen.“ Vrgl. z. B. Sachsen- spiegel I 45: „unde se is sin genotinne, unde trit in sin recht, svenne se in sin bedde gat.“ Es pflegte daher auch die Beschreitung des Ehe- bettes öffentlich zu geschehen. Die Braut ward von den Eltern oder Vormündern, von dem Brautführer und der Brautfrau, oft sogar von der ganzen Hochzeitsgesellschaft in die Brautkammer geleitet und dort dem Bräutigam übergehen ?). Als eine stehen gebliebene Folge die- ses Grundsatzes erscheint es nun, dass hier und da — z. B. in Bre- men, in Schwerin, nach dem würtemberger Landrechte, nach dem der oberen Grafschaft Katzenellenbogen, imErbach’schen, nach dem allge- meinen schwedischen Stadtrechte (Stadtlag) — das eheliche Güterrecht erst mit der wirklichen Beschreitung des Ehebettes beginnt. Aehnliches besagt auch die Parömie: „Ist die Decke über %2) Ein Brauch, der in Lübeck sich bis zum Anfange des siebenzehnten Jahrhunderts erhielt. F —_— 272 — dem Kopfe, so sind die Eheleute gleich reich.* Sie pflegt jedoch in einem etwas engeren Sinne genommen zu werden. Man be- dient sich nämlich ihrer hauptsächlich da, wo materielle allgemeine Gütergemeinschaft 3) gilt, wie z. B. in Bremen, in der Grafschaft Erbach. „Mann und Weib haben kein gezweiet Gut zu ihrem Leib. (Aehnlich im Holländischen: „Mann nnde Wyf hebben geen verscheyden Goet“). Der Grundeharakter des deutschen ehelichen Güterrechts besteht in einer von selbst für die Dauer der’ Ehe eintretenden Vereinigung des Vermögens der Frau mit dem des Mannes, über welches der Letztere ein Verfügungsrecht hat, dessen Umfang übrigens verschieden sein kann. Dieses allgemeine Verhält- niss drücken mehrere Parömieen aus, welche mitunter jedoch auch in einem engeren Sinne zur Bezeichnung der materiellen allgemeinen Gütergemeinschaft gebraucht werden. Unter diese Kategorie gehört nun das oben angeführte Sprichwort, welches seine Quelle wohl Sach- senspiegel I 51 $. 1. hat: „Man unde wif ne hebbet nein getveiet gut to irme live.“ Vrgl. auch Schwabenspiegel 6. ®). Gleiches bezeichnet die schöne Parömie: „Wem ich meinen Leib gönne, dem gönne ich auch mein Gut.“ Auch „Leib an Leib und Gut an Gut“ wird in derselben Bedeutung genom- men, in manchen Gegenden aber vorzugsweise für die materielle all- gemeine Gütergemeinschaft gebraucht. Vergl. Tengler’s Laienspie- gel von 1509 Fol. 36: „Aus gewohnheit werden an mer enden alle hab und güter so Eeleut, die leib an leib und gut an gut zu- sammen geheyrat haben .... für ir beider sampliche hab und güter verstanden, daran is jeden in Ee der halb teyl zugehörig werden.“ Das in Rede stehende Sprichwort war bereits im fünfzehnten Jahr- hundert bekannt; es findet sich schon in den ersten Reformationen des Nürnberger Stadtrechts, welche jener Zeit angehören. Gleiches drückt ferner „Schopf und Schopf“ aus. Auch „Mann und Weib sind in gleicher Gewer“ fällt in diese Ka- tegorie und hat vielleicht wie „Mann und Weib haben kein gezweint Gut zu ihrem Leib“ seine Quelle im Sachsenspiegel. Vergl. I Art. 31 $.2: „Svenne en man wif nimt, so nimt he in sine gewere al ir gut ®) Vergl. über dieselbe Chr. L. Runde, Deutsches eheliches Güterrecht $. 139 ete. Hillebrand, Lehrb. des deutsch. Privatr. S. 515. 4) Die bezügliche Stelle ist bereits in diesem Aufsatze abgedruckt worden. —_— 273 — to rechter vormuntscap.* Siehe auch I Art.45$.2: „En wif ne mach ok ane irs mannes gelof nicht ires gudes vergeven, noch egen ver- kopen, noch liftucht uplaten , durch dat he mit ir in den geweren sit.“ „Die dem Manne trauet, die trauet auch den Schul- den.“ Diese Parömie beziehet sich auf diejenigen Arten ehelicher Güterrechte, bei denen die Frau mit ihrem Vermögen für des Man- nes Schulden haftet, freilich meist nur in der Beschränkung, dass sie sich durch Ueberlassung ihrer in des Verstorbenen Hand befindlich gewesenen Güter an dessen Gläubiger von jener Verpflichtung be- freien kann. Früher pflegte diese Cessio in feierlicher, symbolischer Weise zu geschehen, z. B. so, dass die Frau ihren Mantel oder die Schlüssel auf des Mannes Grab legte und ohne Rückkehr in das Sterbehaus blos ihre Leibeskleidung behielt). Auch das noch heuti- gen Tages praktische Berg- und Dachdingsauftragen des lübischen Rechts®) gehört hieher. i Auf dasselbe Verhältniss wie das Sprichwort „Die dem Manne trauet, die trauet auch den Schulden“ beziehet sich: „Die den Mann trauet, die trauet die Schuld.“ (Qui &pouse le corps, €pouse les dettes *). Eine der beiden Parömieen gab wohl Veranlassung zur Entste- bung der andern. Das „Trauen“ ist in der letztgenannten gleich- bedeutend mit „heirathen,“ in der vorhergehenden mit „ver- trauen.“ 5) Wie in Frankfurt a.M., wo übrigens dieser Act die Wittwe nur von der augenblicklichen Zahlung der Eheschulden befreiete. Dieselbe musste nach- zahlen, wenn sie später Vermögen erwarb. Siehe Bender, Handbuch des Frankfurter Privatr., S. 502. Vrgl. überhaupt auch noch Kleines Kaiserrecht II Cap. 50: „Der keyser hat gesaczt daz ein wip dy met erme manne hat scholt gemacht dyse gelden sal. Med sollichem underscheyde. Also se von dem grabe get unn eren man begraben hat So en sal se nicht weder gen in daz huss do se eren man had lassin uztragen un sall ane arglist allez daz lossin legin unde sten daz in dem huse ist. Und findet me se an disser bescheydenheit ganez, So en sal se nicht geldin dy scholt Noch dez keysers rechte.“ 6) Siehe Lübisches revidirtes Stadtrecht Buch IH Tit. 1 Art. 10: „Stirbet ein Mann in Schulden vertiefft und solches offenbar, sollen seine nachgelassene Güter innerhalb sechs Wochen a tempore scientiae von den Creditoren inventi- ret, und so man will, versiegelt werden, darnach muss sich seine nachgelassene Wittfrau mit Vormunden versehen und in sechs Monat bergen und Dachdings- aufftragen, so ferne als sie beerbet, und muss also Haus, Erbe und Güter mit einem Rock und Heucken, nicht den besten, nicht den ärgsten, räumen.“ Ue- ber den sonderbaren Ausdruck Berg- und Dachdingsauftragen siehe Hillebrand, Lehrb. des deutsch. Privatr. S. 509. — 274 — „Frauengut verliert und gewinnt nicht.“ Nach man- chen Landesrechten muss der Mann am Ende der Ehe das in seiner Hand befindliche Weibergut so zurückerstatten, dass er selbst den zufälligen Verlust zu ersetzen hat, deshalb aber auch allen Gewinn durch dasselbe für sich behalten darf. Er erscheint eben verpflichtet und berechtigt das Frauengut nur nach dem Werthe zu erstatten, den es zur Zeit des Anfalls besass. Wie aber, wenn der Mann verschul- det, insolvent ist? Aus dem Satze „Frauengut verliert nicht * ‚scheint sich zwar ein Vorzug der Ehefrau vor den übrigen Gläubigern des Mannes zu ergeben, dennoch aber wird eine derartige Bevorzugung nur selten stattfinden ®a), jedenfalls bildet das entgegengesetzte Princip die Regel. Eine andere Form für den hier besprochenen Grundsatz enthält die Parömie: „Das Weibergut darf weder wachsen, noch schwinden“ (Schweizerisch: „schwinen, auch „schweinen“). Diese Fassung des Sprichwortes ist in der ganzen östlichen Schweiz im Gebrauch, wo auch der durch dasselbe ausgesprochene Rechtssatz gilt. Schon im Mittelalter kommt hier die Parömie vor. Vıgl. z.B. Offnung von Küssnach: „Und soll oech einer frowen guot weder sehwinen noch wachsen on jra wüssen noch willen“. Altes Land- buch von Nidwalden Bl. 13: „Ouch ist unnsers Lanndts recht Das einer Eefrowen Guot hinder jrem mann weder schwinen noch wach- sen soll.“ Hausrodel von Bubikon a. 1483: „Wellicher eigen des huses ein elich wib nimpt, an alle geding, unnd nach des huses ei- gen lüten recht, das deren guot, das sy vil oder lützel, ann eigen unnd erb liggen und geleit werden unnd das weder schwinnen noch wachsen sol. Züricher Rathserkenntniss von 1493: „Unser statrecht sige, daz einer frowen guot weder schwinen noch wachsen sölle.“?). „Längst Leib, längst Gut.“ Von den römischen Erbrech- ten der Ehegatten weichen fast überall deutsche Gewohnheiten und Statuten ab. Doch finden sich solche keineswegs gleichmässig aus- gebildet. Mitunter bestehen sie in einem ausschliesslichen Erbrechte des überlebenden Gatten oder doch in einem Niessbrauche am ganzen a) Eine solche kennt das privatr. Gesetzb, für den Canton Zürich $. 160, 896. 7) Siehe Blumer, Staats- und Rechtsgesch. der schweizer. Democratieen Bd. IS.178. Bluntschli, Staats- und Rechtsgesch. der Stadt und Land- schaft Zürich Bd. I S. 429. — 275 — Nachlasse des Verstorbenen. Wo nun die Succession sich auf die ganze Verlassenschaft bezieht, pflegt man von „Längst Leib, längst Gut,* „Länger Leib, länger Gut,* „Langes Leben, lan- ges Gut“ zu reden. Gleiches sagen: „Der Letzte macht die Thüre zu“8) und „Wer das Andere überlebt, zeucht die Schanz gar$8a). Auch mit „Wer den Kopf hat schiert den Bart“ wird ein ausschliessliches Erbrecht des überlebenden Ehegat- ten gemeint. Das zuletzt genannte Sprichwort ist namentlich in Schwa- ben gebräuchlich 9). Es bezeichnet den Kopf als Hauptsache, den Bart als dessen Beistück und betrachtet demnach den Nachlass des Verstorbenen wie eine Zubehör von diesem, der so angesehen wird, als besitze ihn der Ueberlebende. Ebenfalls hierher gehört die Parö- mie „Ein Gut, und Ein Blut.“ Sie kommt im Würtemberg’schen vor, wo man sich ihrer viel in Eheverträgen bedient, um auszudrük- ken, dass der überlebende Gatte, wenn die Ehe kinderlos sein sollte, das ganze Vermögen des Verstorbenen erhalte 19). Gleiches besagt auch „Hut bei Schleier und Schleier bei Hut.“ Dieses Sprichwort ist vorzüglich im Oberhessischen, Nie- derhessischen und Fulda’schen im Gebrauche. Die Vermögensüber- tragung durch den Mann und die durch die Frau werden sich hier unter den Symbolen Hut und Schleier entgegengestellt. Der Bräu- tigam pflegte in den erwähnten Gegenden bei der Trauung seinen Hut auf den Altar zu legen und die Braut ihren Schleier daneben. Es sollte andeuten, dass wenn die Ehe bei ihrer Trennung kinderlos wäre, der Ueberlebende den Verstorbenen ausschliesslich beerben werde. Diese symbolische Handlung kommt nicht mehr vor. Ihre Stelfe vertritt jetzt eine Erklärung in den Ehepacten, welche durch die Anführung un- serer Parömie zu geschehen pflegt, die wie gesagt, jenem symboli- schen Acte ihre Entstehung verdankt 11). Die beiden berühmtesten Rechtsspriehwörter sind wohl: „Hand muss Hand wahren“ („Hand wahre Hand;* Mobilia non habent 8) Diese Parömie und „Längst Leib, längst Gut“ werden bereits im sieben- zehnten Jahrhunderte als alte bezeichnet. Vergl. Fredersdorf, Promptuarium der Braunschweig-Wolfenbüttel'schen Landesverordn. Bd. I S. 282. 8a) Das heisst, bezieht die Schanze allein. ®) Siehe Reyscher in der Zeitschr. für deutsches Recht Bd. V S. 204. 10) Vergl. Reyscher, das gemeine und würtemb. Privatr. $. 554 Note 33. 11) Vrgl. J. G. Wernher (Waldschmid) Diss. de pactis dotalibus „Huth bei Schleier, Schleier bei Huth“ (1714). — 276 — sequela;“ „Les meubles n’ont point de suite“) und „Der Todte erbt den Lebendigen“ (,„Mortuns aperit oculos viventis;* „Le mort saisit le vif“). Es würde uns zu weit führen, wollten wir diese Parömieen, welche eine ganze Literatur aufweisen können, hier er- läutern. Nur auf die originelle Fassung des zweiten machen wir auf- merksam. Dasselbe scheint eine doppelte Unmöglichkeit auszudrücken; denn ein Todter kann nicht erben und ein Lebendiger nicht beerbt werden. Trotzdem bezeichnet es einen noch jetzt nach manchen Lan- desrechten, z. B. auch nach dem neuen Züricher privatrechtl. Gesetzb. $. 1986, praktischen Rechtssatz, nämlich den, dass die Erbschaft von selbst durch den Tod des Erblassers dem Erben anheimfällt und es däzu keiner besonderen Delation bedarf. Schliesslich wollen wir noch einige der deutschen Schweiz eigen- thümliche Rechtssprichwörter anführen und mit zwei schwyzerischen beginnen, deren Kenntniss wir der gefälligen Mittheilung des Herrn Regierungsseeretärs und Staats-Archivars Kothing zu Schwyz ver- danken: „Dings gespielt ist baar bezahlt“. Dings spielen heisst so viel wie auf Credit, auf Borg spielen. Es ist be- kanntlich ein sehr verbreiteter Rechtssatz, dass selbst bei erlaubtem Spiel der Gewinner keine Klage hinsichtlich der Spielschuld hat. Auch im Canton Schwyz gilt dieses und pflegt durch die bezügliche Parö- mie bezeichnet zu werden. Vergl. Landbuch von Schwyz herausge- geben von Kothing $. 51: „Vnnd ob yeman mit dem andern dings spillte, vnnd einer gen den andern verlury, der soll dem gewünnen- den vm semlich schulldt, so er mit dings spylen schulldig worden, weder pfennig, Noch pfanndt zu geben schulldig syn, er thuye es gern.“ „Ein Weibermarkt ist fünf Sehilling werth.“ Dieses schwyzerische Sprichwort will sagen, dass ein Markt, auf welchem nur Weiber selbständig, für sich Geschäfte machen, von keinem gros- sen Belang sei. Nach dem dortigen Rechte wird nämlich jede Frau bevormundet. Ohne ihren Vogt kann sie kein irgend bedeutendes Rechtsgeschäft abschliessen, ohne denselben nichts von Werth verge- ben. Vergl. Schwyzer Landbuch a. a. O. 8. 147: „Wyer sind auch kommen überein, das ein yede Frow in vnnserem Lanndt Soll be- vogtet sin, Es sy dann durch Iren Eemann, der Lanndtman vnnd zu solchem gut ist, oder Sunst durch ein Lanndtman; vnnd an den hatt — 27 — sy dann keinen gewallt ützyt 12) zu handlen, daran ettwas gelegen ist, noch ützit hinzugeben. Ouch sind wier komen überein, das kein Frow in vnsseren Lanndt macht noch gewallt haben soll von Irem gut zu geben Noch zu verheisssen, dann fünff pfundt Schwytzer wering, oder Iro bestes angeschnittes houptloch 13), Unnd ob eine semlichs überfür, So mag man das lasssen fürgan oder nit, weders man dan will.“ Aus den fünf Pfunden des Landbuches sind viel- leicht die fünf Schillinge des Sprichwortes entstanden. Verwandt mit dieser Parömie erscheint die Glarnerische: „Die Frau ist über ein Biesli!#) Meister.“ Die Frau kann dort während der Ehe für sich allein in der Regel nur unbedeutende Ge- schäfte, welche die Führung des Hauswesens betreffen, wirksam vor- nehmen. Ihr Vermögen pflegt in der Hand des Mannes, des Ehevogts, sich zu befinden und bloss mit dessen Zustimmung darf sie über es verfügen 19). Als ein dem Canton Zürich eigenthümliches Sprichwort stellt sich dar: „Der Geschreite muss ziehen oder fliehen.“ Das Rechtsverhältniss, welches ihm zu Grunde liegt, erscheint etwas ver- wickelter Natur. Hier ist nicht der Ort genauer auf dasselbe einzugehen, wir verdeutlichen nur die Parömie. Es kann vorkommen, dass der Debitor nicht Eigenthümer der für seine Schuld haftenden Liegenschaft ist. Zahlt er nun nicht und soll in seinem Concurse das Pfandrecht auch an dem Grundstück, welches einer dritten Person zugehört, geltend gemacht werden, so tritt die s. g. Geschreiung ein. Es wird der Inhaber jener ver- verpfändeten Sache „geschreit“ und hat nun die Wahl zu „flie- hen“ oder zu „ziehen“. Erklärt er sich für jenes, so verzichtet er auf sein Eigenthum, überlässt dieses dem Gläubiger und wird da- durch natürlich von jeder weiteren Verbindlichkeit frei. Entschliesst . sich aber der Inhaber für's Ziehen, so muss er die auf seinem Grund- 12) ützyt = Etwas. 12) Houptloch —= eine Kopfbedeckung der Weiber. 14) Biesli = Sechskreuzerstück. 15) Vergl. Blumer, Staats- und Rechtsgesch. der schweizer. Democratieen S. 178. Siehe auch Bluntschli, Staats- und Rechtsgesch. der Stadt und Landschaft Zürich Bd. I S. 430. Derselbe erwähnt an dieser Stelle als öfters vorkommende Redensart: „Die Frau dürfe hinter ihrem Mann (ohne sein Wissen und Willen) nicht mehr als achtzehn Pfenning weggeben.* Ob hiefür eine förm- liche Rechtsparömie besteht, ist mir unbekannt. — 278 — stücke haftende Schuld zahlen. Alsdann kann er dasselbe nicht nur behalten, sondern tritt auch in die bezüglichen Forderungs- und Pfand- Rechte des nunmehr befriedigten Creditors 18). Diese Beispiele mögen genügen. Es sollte durch sie nur ge-* zeigt werden, dass die Rechtsspriehwörter nicht bloss vom juristi- schen Standpunete aus von Interesse erscheinen. Und so will ich denn, eingedenk der Parömie „Allzuviel zerreisst den Sack“ für diesmal schliessen. 16) Vergl. das Privatrechtliche Gesetzb. für den Canton Zürich $. 810 etc. und den Bluntschli’schen Commentar zu den betreffenden Paragraphen. Siehe auch Zürcher Stadt- und Landr. von 1715 Th. X $. 40 und Bluntschli, Staats- und Rechtsgesch. der Stadt und Landsch. Zürich Th. II S. 232 etc, Die neuere Gymnastik und deren therapeutische Bedeutung. Von HERMANN MEYER. Die Gymnastik, d. h. die Kunst, die Muskulatur des Körpers durch zweckmässige, zweckbewusste Uebungen zu kräftigen, ist zu allen Zeiten, von welchen die Geschichte meldet, geübt worden. Nach der Verschiedenheit der Zeiten war indessen der Zweck, für welchen die Uebungen angestellt wurden, ein verschiedener; und mit dem Zwecke der Uebungen musste auch die Art der Uebungen immer eine andere werden. Trotz dieser mannichfachen Umgestaltungen in der äusseren Form der Gymnastik, lassen sich doch, wenn wir auf Wesen und Be- deutung derselben gehen, nur zwei grosse Abschnitte in der Geschichte dieser Kunst erkennen. In ihrer ersten Periode war die Gymnastik wesentlich nur eine Vorübung für bestimmte Bewegungen, deren Ausführung bestimmte Zwecke hatte. Diese Vorübung wurde geleitet nach dem alten Satze, dass Uebung den Meister mache, und gründete sich auf die Erfah- rung, dass andauernde Uebung in gewissen angewandten Bewegungen allmälig die nöthige Kraft und Gewandtheit für dieselben zu erzeugen vermag. Die Formen, in welchen sie veranstaltet wurde, waren daher dieselben, auf deren spätere Ausübung sie hinzielten. — Die Zwecke, für welche die Uebungen unternommen wurden, waren Kriegsführung und Spiele, und wie der Schmiedelehrling durch Führen des Hammers sich allmälig kräftigt zu andaüuernder und gewandter Führung dessel- - ben, so wurde der zweckdienliche Gebrauch der Waffen durch die gymnastische Waffenübung gelernt, die Ausdauer in Märschen durch die Märsche selbst, und ebenso für den Zweck der Spiele das regel- rechte und zweckmässige Ringen, Laufen, Werfen ete. durch fortge- setzte Uebung in diesen Künsten selbst. Nach diesen Grundsätzen übten sich die Bewerber um Preise in den Olympischen Spielen, die Gladiatoren, die Kämpfer in Turniren ete. und zu allen Zeiten haben die Streitkräfte „exerzieren“ müssen. Diese Art von Gymnastik ge- hört daher nur zu den Einübungen auf technische Fertig- keiten, deren Anwendung bald ernsteren Zwecken galt, bald auf — 280 — Vorführung von Schaustücken berechnet war; — Gymnastik in diesem Sinne wird eigentlich von einem Jeden in einer oder andern Gestalt getrieben, denn es gehören dahin die Uebungen in den mannichfach- sten Thätigkeiten des bürgerlichen Lebens, die leichtere Schreibübung nicht minder, als die unterhaltende Tanzibung und die ernstere Waf- fenübung; — Gymnastik in diesem Sinne wird daher auch von der Mehrzahl der Menschen getrieben werden, so lange es Menschen giebt. Die zweite Periode der Gymnastik begann mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts, als einsichtsvolle Schulmänner die wichtige pä- dagogische Bedeutung der Leibesübungen mit Bewusstsein erkann- ten und deshalb dieselben grundsätzlich unter die Hülfsmittel einer zweckmässig geleiteten Erziehung aufnahmen. Damit war ein gänz- lich neues Prinzip in die Ausübung der Gymnastik gebracht oder viel- mehr es war neben die bisherige Art der Gymnastik eine ihrem Zwecke nach gänzlich verschiedene neue Art eingeführt worden, welche kei- neswegs bestimmt war, die vorübende Gymnastik zu verdrängen, denn dieses ist unmöglich, sondern neben derselben einen eigenen fol- gereichen Entwicklungsgang zu durchlaufen. In der pädagogischen Gymnastik lernt der Knabe das Springen, Klettern, Werfen ete. zunächst nicht, um springen, klettern, werfen ete. zu können, son- dern um seinen Körper zu kräftigen, auf dessen Entwickelung die Schulstube einen nachtheiligen, hemmenden Einfluss geltend macht. Die pädagogische Gymnastik entstand mit dem vollständigen Be- wusstsein, ein somatisches und damit psychisches Diätetikum zu sein, dessen Bedeutung bald mehr prophylaktisch bald mehr thera- peutisch hervortreten musste, indem sowohl drohendem Schaden vor- gebeugt, als bereits entstandenem Schaden Abhülfe gegeben werden sollte. Genaueres Durchdenken dieser Bedeutung musste zu der Ueber- zeugung führen, dass einerseits die gebräuchliche vorübende Gymna- stik in ihren mit Nothwendigkeit gegebenen Einseitigkeiten dem vor- gesetzten Zwecke nicht genügend entspreche; und dass andererseits auch durch einfachere Mittel der genannte Zwek zu erreichen sei. So entstand das Turnen als pädagogische Gymnastik mit ausgesprochen diätetischer Bedeutung. Dasselbe karakterisirt sich dadurch, dass es eine mit Bewusstsein durchgeführte, möglichst allseitige Uebung des ganzen lokomotorischen Apparates des Körpers ist. Die Organisation der Turnübungen trägt deshalb auch die Gestalt eines wissenschaftlich geordneten, systematisch gerundeten Ganzen. Der vorübenden Gym- nastik gegenüber haben sie an Poetischem verloren, dagegen an Zweck- Pe inässigkeit gewonnen, — eine Veränderung, welche so viele andere Ver- hältnisse in unseren Zeiten ebenfalls haben erfahren müssen. Sie verzich- ten nämlich auf ästhetische Form, sie verzichten auf Hinweisung nach unmittelbarer Anwendung der geübten Bewegungen und der gewon- nenen Kräfte; denn sie finden ihren Zweck in sich selbst, in ihrer Bedeutung für das oben bezeichnete wichtige Ziel. Die Freiheit von den Einseitigkeiten der vorübenden Gymnastik und die systematische Rundung ihrer Organisation könnte für die Turnübnng die Benen- nung einer Theorie der körperlichen Uebungen rechtfertigen. Nachdem einmal das angedeutete Prinzip aufgestellt war, war die Möglichkeit seiner Weiterentwickelung nach verschiedenen, namentlich nach zwei Seiten hin gegeben. Einerseits nämlich konnte und musste die eigentlich pädagogische Seite des Turnens stehen bleiben, welehe die Gefahren, die dem Körper aus einseitiger Bildung des Geistes erwachsen mussten, beseitigen, und dagegen wieder dureh Kräfti- gung des Körpers mehr geistige Frische erzeugen sollte. Andererseits aber auch musste die ärztliche Kunst diesem wichtigen Diätetikum ihre Aufmerksamkeit zuwenden und dasselbe in ihrer Weise ausbeu- ten; die Erfolge, welche nach dieser Seite hin erzielt worden sind, sind sehr bedeutend und betreffen nieht nur die Gesundheitspflege des Körpers überhaupt, sondern auch die Heilung und Minderung örtlicher Beschwerden und Gebrechen. Lange schon aus diesem Grunde ein wichtiger Theil der Orthopädie ist das Turnen in den neuesten Zei- ten durch Einführung einiger neuen Methoden von solcher Bedeutung in dem ärztlichen Handeln geworden, dass die Einseitigkeit, die ein so gewöhnlicher Begleiter wichtiger neuer Erscheinungen ist, in dem- selben sogar beinahe die Universalarznei zu erblicken glaubt; — und init Bedauern muss es gesagt werden, dass aus diesem Grunde die therapeutische Leibesübung in Gefahr ist durch die Extravaganzen ihrer Pfleger in gleicher Weise in gleichen Misskredit zu kommen, wie Homöopathie, Hydrotherapie und ähnliche Auswüchse der medi- zinischen Wissenschaft unserer Zeiten. Mit ungleich mehr Lebensfä- higkeit begabt, als die genannten therapeutischen Methoden, wird sie zwar nicht nur eine ephemere Erscheinung und eine vorübergehende Modesache sein, sondern wird auch in künftigen Zeiten ihren Werth behalten. Damit aber auch selbst nicht vorübergehend der blinde Eifer einseitiger Halbwisser dem Ansehen dieses wichtigen Zweiges der Therapie schade, ist es Pflicht aller, denen die wissenschaftliche Medizin am Herzen liegt, wiederholt und nachdrücklich den Stand- Wissenschaftliche Monatschrift. II. PN) _— 22 — punkt zu zeichnen, welchen die ärztliche Gymnastik überhaupt ein- nehmen kann, und zu zeigen, welches ihre darüber hinausgehenden Auswüchse sind, die der Einseitigkeit, der Unkenntniss und dem Mangel an Logik, um nicht zu sagen, der Charlatanerie ihre Ent- stehung verdanken. Wenn dieses in dem Folgenden unternommen werden soll, so wird es zur Würdigung der neu eingeführten Metho- den angemessen sein, zuerst in Kürze einen Ueberblick zu gewinnen über diejenigen Methoden, welche bis in der neuesten Zeit die einzigen gewesen sind. Es werden sich dabei die Lücken herausstellen, welche noch auszufüllen waren, und es wird sich die Art ihrer Ausfüllung im Verhältniss zu dem früher Vorhandenen besser erkennen lassen. Die Methoden der Gymnastik. Durch alle gymnastischen Methoden geht der eine Grundgedanke hindurch : die Muskeln sollen durch grössere Anstrengungen, als das gewöhnliche Leben sie bietet, gekräftigt werden; — und die einzel- nen Methoden unterscheiden sich zunächst nur durch die Art und Weise, wie die Aufgabe gelöst wird, diese Anstrengungen zu ver- anlassen. Folgendes sind .die geläufigen Methoden: 1. Die Methode der Bewegung von Lasten. — Diese Methode ist die einfachste und diejenige, welche sich als die natür- lichste aufdrängt, indem sie die kräftigenden Bewegungen gewisser Ge- werbe oder Beschäftigungen nachahmt. Sie wird geübt durch Heben und Tragen von Gewichtsteinen, durch Ziehen von Lasten über Rol- len, durch Bewegungen der Arme, während Handgewichte (dumb-bells) mit den Händen gefasst sind etc. So einleuchtend diese Methode durch ihre Natürlichkeit ist, so wenig ist sie doch weiterer Ausbil- dung im Sinne möglichster Allseitigkeit der Uebungen fähig, indem es kaum möglich sein dürfte, eine solche Mannichfaltigkeit von Ap- paraten herzustellen, wie sie für eine durchgeführte Anwendung der genannten Methode nothwendig sein würde. Uebungen, welche in diese Klasse gehören, werden deshalb auch in der angegebenen Form im Ganzen seltener angewendet, indessen finden sie doch in ihrer Umkehrung eine sehr ausgedehnte Anwendung; aus ihrer Umkehrung entsteht nämlich die folgende Methode. 2. Die Methode der feststehenden Geräthschaften. — Wie so eben erwähnt, fällt diese Methode im Wesentlichen mit der vorhergehenden zusammen; sie besteht nämlich ebenfalls in der Be- SE eh, wegung von Lasten; aber die gebotene Last ist unter allen Verhält- nissen die Schwere des eigenen Körpers des Turnenden. Bei der ersten Methode ist der Körper das Ruhende und die Last (Gewicht- steine ete.) das Bewegte. An den feststehenden Geräthschaften ist es anders; der Körper und die zu bewegende Last sind ein und das- selbe; der Körper selbst ist demnach wie das Bewegende, so auch das Bewegte. Die Möglichkeit dazu wird durch die Geräthschaften gegeben, welche im Wesentlichen aus horizontalen und vertikalen Stan- gen bestehen, die mit den Händen, Armen oder Beinen erfasst werden und damit als feste Punkte dienen, zu welchen hin oder von welchen weg der ganze Körper durch seine eigene Muskelkraft bewegt wird. Die verschiedenen auf den Turnplätzen sich vorfindenden Gerüste, welche die hauptsächlichste Ausstattung für diese bilden, sind alle auf diese Methode berechnet; die wichtigsten unter denselben, welche zugleich die Grundsätze zeichnen; die hier in Anwendung kommen, sind folgende: 1) die hochgestellte horizontale Stange (Reck); bei dem an den Armen oder Beinen in verschiedener Weise aufgehängten Körper wirkt die Schwere desselben streckend auf die Gelenke; beu- gende Bewegung, der Schwere entgegenwirkend, zieht den Körper zur Stange hinauf, — 2) die niedriggestellte horizontale Stange in Zwei- zahl (Barren); bei dem mit den Armen gestützten Körper wirkt die Schwere oder eine Schwungbewegung beugend; streckende Bewegung muss daher entweder Widerstand leisten oder den hinabgesenkten Kör- per wieder heben, — 3) die vertikal gestellte Stange (Kletterstange); abwechselnde Beugebewegungen der Arme und Streckbewegungen der Beine erheben den Körper allmälig auf eine durch die Länge der Stange ermöglichte Höhe über dem Boden, — 4) der niedrig lie- gende horizontale Balken mit nur einseitiger Unterstützung (Schwebe- balken); bei den schwankenden Bewegungen des Balkens ist alle Au- _ genblicke dem Schwerpunkte des auf dem Balken Gehenden die Un- terstützung genommen; die Schwere sucht dann den Körper seitwärts hinabzuwerfen und Muskelthätigkeit muss deshalb beständig solche Gestaltveränderungen des Körpers erzeugen, welche den Schwerpunkt wieder über seinen Unterstützungspunkt führen. — Mit diesen Anga- ben sind indessen keinesweges alle gebräuchlichen Geräthschaften oder alle an denselben möglichen Uebungen bezeichnet, am wenigsten die- jenigen, bei welchen mehr auf Uebung der Gewandtheit als auf Ue- bung der Kräfte gesehen wird; es sollten in denselben nur die Grund- sätze hingestellt sein, welehe für die Aufrichtung der Geräthschaften — 234 — leitend sind, und es sollte dadurch gezeigt werden, in welcher Weise diese zur Kräftigung dienlich sind, 3. Die Methode der Bewegung in grössere Bndkans nung. — Zu der Bewegung einer Last in einer gewissen Richtung ist ein gewisser Kraftaufwand nothwendig, und die Strecke, durch: welehe die Last hindurch bewegt wird, steht in direktem Verhältnisse zu der aufgewendeten Kraft, so dass für das Bewegen einer Last durch eine dreifache Strecke ein dreifacher Kraftaufwand nothwendig ist; — da aber auch der dreifache Kraftaufwand nothwendig ist, um die’drei- fache Last durch dieselbe Strecke zu bewegen, durch welche vorher die einfache Last bewegt worden war, so ist es in Bezug ‘auf den nöthigen Kraftaufwand gänzlich gleichgültig, ob die einfache Last durch die dreifache Strecke oder die dreifache Last durch die ein- fache Strecke bewegt wird; immer-ist die anzuwendende Kraft gleich dem Produkte aus Last und Weg. Die Mechanik verzichtet deshalb auch, wenn sie die Grösse einer Kraftäusserung bestimmen will, auf die ausgeführtere Bezeichnung, die Kraftäusserung genüge, um eine gewisse Anzahl von Pfunden durch eine Streeke von einer gewissen Anzahl von -Fussen zu bewegen, und drückt sich dagegen ebenso kurz als umfassend aus, indem sie von einer Kraftäusserung sagt, sie: sei eine solche von einer gewissen Anzahl von Fusspfunden oder Kilo= grammetern. Sie deutet dadurch an, dass die Zerlegung der die An- zahl der Fusspfunde (oder Kilogrammeter) bezeichnenden Zahl in zwei Faktoren, von welchen der eine den Weg in Fussen (oder Metern ) und der andere die bewegte Last in Pfunden: (oder Kilogrammen ) an- giebt, in ganz beliebiger Weise geschehen kann. Eine Kraft von z. B. 24 Fusspfunden--ist daher eine solche, welche 1 Pfund 24 Fuss weit, oder 3,Pfunde 9 Fuss weit, oder 12 Pfunde 2 Fuss weit, oder 24 Pfunde 1 Fuss weit ete. befördern kann. — Aus diesen Ver- hältnissen ist ersichtlich, dass den Muskeln eine grössere Aufgabe auch dadurch gegeben werden kann, dass eine gegebene, wenn auch unbedeutende, Last auf eine grössere Entfernung bewegt werden muss, und die Aufgabe ist alsdann um so grösser, je grösser die Entfer- nung ist, welche als Ziel der Bewegung bestimmt wird. © Auf diese Weise erklären sich die kräftigenden Wirkungen des Steinwerfens, Gehrwerfens und des Springens, welch letzteres ein Werfen des gan- zen Körpers durch ‘schnelle und. kraftvolle Streckbewegungen der Beine ist. sd 4. Die Methode der schnelleren Bewegung. — Bei .. —_— 23 — gleicher Masse der Last und gleicher Entfernung der Bewegung ist mehr Kraftaufwand nothwendig, um eine grössere Geschwindigkeit der Bewegung zu erzielen. Es muss deshalb auch eine kräftigende Wir- kung erreicht werden, wenn man die Muskeln, ohne ihnen grössere Aufgaben durch stärkere Belastung oder durch grössere Entfernung zu geben, zu schnellen Zusammenziehungen veranlasst. Man erreicht dieses in den sogenannten Freiübungen, indem man mit möglichster Sehnelligkeit gewisse durch ein Kommandowort angegebene Stellungen des Rumpfes, der Arme und der Beine annehmen lässt. 5. Die Methode der Häufigkeit der Bewegungen. — Da eine oft wiederholte kleinere Anstrengung für Uebung des Mus- . kels den gleichen Werth hat, wie eine einmalige starke Anstrengung, und dabei zugleich die Nachtheile einer Ueberreizung oder sonstiger übler Folgen gewaltsamerer Anstrengungen vermieden werden, so wird auch häufige Wiederholung derselben kleineren Anstrengungen mit Er- folg bei dem Turnen angewendet; sie wird indessen gewöhnlich mit (der vorhergehenden Methode verbunden in den :Freiübungen, dem Dauerlaufe ete., seltener für sich allein, wie in den Uebungsmärschen (Turnfahrten ). 6. Die Methode des Ringens. — In den bisher besproche- nen Methoden findet sich als durebgehender Grundsatz die Bewegung einer Last und die Methoden sind nur dadurch verschieden, dass die Art der Last verschieden ist (äussere Gegenstände oder der eigene Körper) und dadurch, dass die Art der Bewegung eine verschiedene ist (weit, schnell, häufig). Fragen wir nun, welches eigentlich die Arbeit ist, welche ein Muskel oder eine Muskelkombination bei dem Bewegen einer Last nach der einen oder der anderen Methode’ leistet, so finden wir, dass dieselbe in Ueberwindung der. Trägheit oder der Schwere der Last besteht, oder vielmehr in der Ueberwindung des . Widerstandes, welchen Trägheit und Schwere einer Last der Bewe- gung derselben entgegen stellen. Es handelt sich also, soweit es die Arbeit des Muskels angeht, nur um Ueberwinden eines Widerstandes. Es wird daher der Zweck der Muskelkräftigung auch auf beliebige andere Art erreicht werden können, wenn nur dem Muskel ein Wi- derstand zur Ueberwindung geboten wird. Diejenige Eigenschaft äus- serer Gegenstände,, welche am Geeignetsten ist, neben der Schwere und der Trägheit als Widerstand gegen eine Muskelthätigkeit verwen- det zu werden, ist die Elastizität, und wir sehen diese desshalb eben- falls eine, wenn auch nur wntergeordnete, Rolle bei den Turnübun- — 236 — gen spielen, nämlich in dem Dehnen dickerer Kautschukstreifen (arm- strongs) und in den Uebungen (gewöhnlich nur Kraftproben) an dem Kraftmesser, einer Kombination von starken Stahlfedern nach Art der gegenwärtig gebräuchlichen liegenden Druckfedern. Durch Zug oder Druck müssen an diesem Instrumente die beiden Federn in gleicher Weise einander genähert werden, wie dieses in den liegenden Federn einer belasteten Kutsche geschieht. Es wirken also hierbei die Aktivität der Muskeln einerseits und die Aktivität der Federkraft andererseits gegenseitig als Widerstände und suchen sich gegenseitig zu überwin- winden. — Was hierbei die Federkraft leistet, kann aber auch durch die Muskelkraft eines andern Organismus geleistet werden; geschieht dieses, so ist damit das Ringen gegeben. Das Ringen kann in zweier- , lei Weise geübt werden. Es können nämlich entweder zwei, drei und mehr Personen ihre Muüskelkräfte gegen einander setzen, wie in dem Seilziehen, dem Häkeln und derjenigen Uebung, welche im engeren Sinne „Ringen“ genannt wird; — oder es kann ein Ringen zweier Mus- keln oder Muskelgruppen, welche eine direkt entgegengesetzte Wir- kung haben, in demselben Individuum eingeleitet werden. Das Rin- gen zweier oder mehrerer Personen gegen einander wird in mannich- facher Gestalt auf den Turnplätzen geübt; das Ringenlassen zweier antagonistischen Muskelgruppen in demselben Individuum findet man dagegen nicht. Der Grund dafür ist leicht einzusehen; die ganze Uebung hängt nur von dem Willen des Uebenden ab und ist nicht mit hinlänglich stark hervortretenden Erfolgen begleitet, welche dem Lehrer Gelegenheit geben könnten, zu erkennen, ob und in wieweit seinen Forderungen nachgekommen wird ; sie eignet sich deshalb nicht für den Turnunterricht; dagegen ist sie sehr geeignet für die Privat- übung, indem sie für Kräftigung sehr wirksam ist und durchaus kei- ner Apparate bedarf, um ihre Anwenduug zu ermöglichen. Aus die- sem Grunde bedienen sich auch die herumreisenden Kraftkünstler die- ser Art der Uebung sehr häufig; denn diese können die mannich- fachen Gerüste und andere Hülfsmittel nicht mit sich herumführen, welche für Anwendung anderer Uebungsmethoden nothwendig sind. Da diese Methode wegen ihrer Entbehrlichkeit im Turnunterricht we- nig beachtet ist, so sei es gestattet, dieselbe mit einigen Worten noch näher anzugeben: Eine Person, welche sich dieser Uebung unterwer- fen will, beugt z. B. den Arm im Ellenbogengelenke und erhält ihn fortwährend gebeugt, während sie zu gleicher Zeit Anstrengungen zur Streckung desselben macht; hierbei entsteht ein zitterndes Anstren- —_— 23837 ° — gungsgefühl in beiden Muskelgruppen, ähnlich demjenigen, welches bei dem „Sich-streeken“ wahrgenommen wird, und beide Muskelgrup- pen, Beuger und Strecker, kräftigen sich gegenseitig gerade so, wie zwei ringende Personen sich gegenseitig kräftigen. Wenn in dieser Auseinandersetzung der einzelnen Methoden, welche beim Turnen ihre Anwendung finden, dieselben auch scharf aus einander gehalten sind, so sind sie doch in den geläufigen Ue- bungen vielfach mit einander verbunden und es möchte bei manchen Ue- bungen, namentlich zusammengesetzteren, schwer werden, ihren Platz in einer einzelnen der oben angeführten Methoden genau anzugeben. Es ist auch nicht unsere Aufgabe, die geläufigen Turnübungen zu klassifiziren, sondern nur die wissenschaftliche Grundlage derselben anzugeben und zu zeigen, auf welche verschiedene Weise in den bis- herigen Systemen der Zweck kräftigender Bewegungen erreicht worden ist. Wir sind nunmehr dadurch in den Stand gesetzt, den beiden neuen Methoden der Muskelkräftigung, welche gegenwärtig viel von sich reden machen, ihre Stellung zu den bisher üblichen Methoden zu bezeichnen. Diese beiden neuen Methoden sind: die schwedische Heilgymna- stik und Duchenne’s elektrische Methode. Untersuchen wir genauer, so finden wir, dass unter diesen beiden die sogenannte schwedische Heilgymnastik gar keiue neue Methode ist, indem durch dieselbe kein neues Prinzip in die Gymnastik eingeführt worden ist; sie ist, so weit sie wirklich Gymnastik ist, in demjenigen, welches sie als wirklich Neues bringt, nur eine Ausbildung der Methode des Ringens. — Dagegen hat Duchenne wirklich eine neue Methode ein- geführt, welche einen Platz neben den bisherigen Methoden einnehmen kann und immer einnehmen wird, nämlich die Methode des Elektri- sirens; von dieser ist deshalb in Anreihung an die bisher geführte . Besprechung der Methoden der Gymnastik zunächst zu reden. Duchenne. Duchenne’s Methode besteht, um es sogleich mit einem Worte zu sagen, in dem Elektrisiren einzelner Muskeln und Muskel- gruppen. Es mag manchem wohl sonderbar vorkommen, eine solche Behandlung, welche nur dem Heilapparate angehört und nur von sach- verständigen Aerzten geübt wird, unter die „Gymnastik“ gerechnet zu sehen; da man sich unter dieser immer eine kräftige Aktivität, ein bewusstes Handeln vorstellt, und bei dem Elektrisiren seiner Muskeln u der Patient sich in vollständiger Passivität befindet und nur an sich handeln lässt. Diese Paradoxie wird jedoch sogleich verschwinden; wenn man sich Rechenschaft giebt über das, was eigentlich‘ beim Turnen in dem Körper des Turnenden vorgeht und die beabsichtigte Wirkung der Uebungen zunächst herbeiführt. Was bei den Turnübun- gen diätetische oder therapeutische Wichtigkeit hat, ist nicht, dass dieser oder jener Sprung gemacht, dass die Spitze der Kletterstange erreicht, dass einem Steine durch den Wurf eine andere Lage gege- ben werde ete,, — sondern es ist, dass gewisse Muskeln oder Mus- kelgruppen in lebhafte Zusammenziehung gebracht werden; die Auf- gabe des Springens, Kletterns, Werfens ete. bezeichnet nur in indirek- ter Weise durch Angabe des Erfolges diejenigen Muskelgruppen, welche zur Zusammenziehung gebracht werden sollen, und sie bezeichnet gleich- zeitig den gewünschten Stärkegrad der Zusammenziehung durch. die Grösse der gestellten Aufgabe. Das Mittel, dessen sich der Turnende zur Lösung der Aufgabe, d.h. zur Erzeugung der dazu nothwendigen Muskelzusammenziehung bedient, ist sein Wille, oder vielmehr die mit dem Willen nothwendig verbundene lebhafte Vorstellung von der ge- wollten Bewegung; denn der Wille als Wille kann keine Bewegung hervorrufen. Diese Vorstellung erregt von. dem Gehirne aus die zu den betreffenden Muskeln gehenden Nerven; die Nerven wirken dann erregend auf die Muskeln, und so wird die Zusammenziehung dieser letzteren veranlasst, welche wir in Gestalt von Bewegung in die Er- scheinung treten sehen. Wird der Nerve eines Muskels oder die Sub- stanz desselben selbst durch mechanische Einwirkung, durch Elektrizi- tät oder andere sogenannte Reizmittel angegriffen, so erfolgt ebenfalls eine Zummenziehung des Muskels, welche um so lebhafter und stär- ker ist, je lebhafter die Einwirkung des Reizmittels gewesen ist. Die auf solche Weise erregte Muskelzusammenziehung ist, soweit es ihren Einfluss auf den Stoffwechsel und die Ernährung, somit also auch auf die Kräftigung des betreffenden Muskels angeht, der durch die Vor- stellung von psychischer Seite aus erregten Zusammenziehung vollstän- dig gleichbedeutend. Das Elektrisiren der Muskeln ist demnach in Bezug auf die Vorgänge in den Muskeln und in Bezug auf deren Er- folge von gleichem Werthe, wie das sogenannte Turnen, und verdient deshalb als eine neben den Turnübungen stehende Methode der Mus- kelkräftigung hingestellt zu werden, wenn auch nicht der Wille, son- dern ein äusseres Moment die nöthigen Bewegungen erregt. Duchenne ist indessen nur das Verdienst zuzuerkennen, dass er — 289 — die therapeutische Anwendung der Elektrizität in ihrer besonderen Be- ziehung. auf die Muskeln wesentlich vervollkommnet hat; denn man findet schon vor ihm diese Anwendung derselben vielfach. Es wird sogar ı behauptet, dass schon die Alten die Reibungselektrizität des Bernsteins und die Elektrieität des im Mittelländischen Meere häufi- gen Zitterrochen (Raja torpedo) für ärztliche Zwecke verwendet hätten. Mag dieses sein oder nicht, jedenfalls finden wir erst in dem vori- gen Jahrhundert der Elektrieität eine bedeutendere Aufinerksamkeit von Seiten der Acızte zugewendet, wozu der Anstoss durch die genauere Erforschung der Elektrizitätserscheinungen überhaupt und namentlich durch die Entdeekung der Berührungselektrieität gegeben wurde. Die leicht wahrnehmbaren starken Erregungen der Gefühls- und der Be- wegungsnerven durch den überspringenden Funken, durch die Leide- ner Flasche und durch die galvanische Batterie mussten nämlich noth- wendig in der Elektrizität ein Mittel’erkennen lassen, welches in mäch- tiger Weise in die Funktionen des Organismus eingreifen konnte. Der Mangel richtiger Erkenntniss dieser Funktionen nnd namentlich des Nervenlebens liess- indessen die Anwendung der Elektrizität nicht über unverstandene Versuche und abentheuerliche Charlatanerien hbinauskom- men. Erst die neuere Physiologie hat das richtige Verhältniss zwischen Elektrieität und Nervenwirkung erkennen lassen. Wir wissen jetzt, dass die Elektrizität den Nerven gegenüber nur als ein Erreger anzusehen ist, welcher in gleicher Weise wirkt, wie ein psychisches oder ein mechanisches Erregungsmittel.e. Was die Elektrizität als Erregungs- mittel auszeichnet und sie desshalb auch in den Heilapparat einge- führt hat, ist der Umstand, dass sie leichter und mit weit weniger Gefahr für die Nervensubstanz anzuwenden ist, als ein mechanisches Reizmittel. Ob der Grund der ausserordentlich starken Einwirkung der Elektrizität darin zu suchen ist, dass sie in verhältnissmässig grosser Intensität angewendet werden kann, oder darin, dass die Funktionsvorgänge in den Nerven selbst ihrem Wesen nach elektri- scher Natur sind, ist unbekannt. Die neuere Physiologie hat uns ausserdem aber auch noch dar- über belehrt, dass für Reizung der Nerven die von Faraday entdeckte sogenannte Induktionselektrizität am brauchbarsten ist, mag es nun eine solche sein, welehe dureh einen andern elektrischen Strom, oder eine solche, welche durch einen Magneten erregt ist. Neben einer sogleich zu erwähnenden Eigenthümlichkeit des Induktionsstromes ist die Ursache dafür auch darin zu suchen, dass man durch passende =.» = Vorrichtungen denselben in Bezug auf seine Stärke sehr genau reguliren kann und dadurch in den Stand gesetzt ist, längere Zeit hindurch mit einem gleichmässig starken Strome zu arbeiten. Es ist indessen nicht das längere Durchströmen der Elektrizität durch die Nerven, welches diese in der angedeuteten Weise erregt, sondern es ist der sogenannte Schlag, welchen der Nerve jedesmal in dem Augenblicke erhält, in welchem er in den elektrischen Strom gebracht, und ebenso in dem Augenblicke, in welchem er aus dem Strome entfernt wird. Eine länger andauernde Erregungseinwirkung auf die Nerven kann daher nur in der Weise ausgeübt werden, dass man den Nerven in einen elektrischen Strom bringt und dann den Strom in kurzen Zwischenräumen unterbricht und wieder in Gang bringt. Dieses wird durch eine Vorrichtung erreicht, welche in die Kontinuität der Leitungsdrähte, die von der Batterie zu dem Ner- ven gehen, eingeschaltet wird. Es sind verschiedene Vorrichtungen für diesen Zweck angegeben worden, zum Theil sehr sinnreiche; durch alle aber ist es möglich eine sehr grosse Anzahl von Stromunter- brechungen in kürzester Zeit zu bewerkstelligen; und da einer jeden solehen Unterbrechung zwei Sehläge entsprechen; so kann in kürze- ster Zeit dem Nerven eine grosse Anzahl von Schlägen beigebracht werden, welche ihn in beständiger Anregung erhalten, so lange er mit dem Apparate in Verbindung ist. Der Induktionsstrom verträgt diese beständig wiederholten Unterbrechungen am Leichtesten, ohne Beeinträchtigung seiner Wirkung, weil er zwischen den einzelnen Un- terbrechungen augenblicklich wieder in seiner vorherigen Kraft ent- steht, und dieses ist die oben angedeutete Eigenthümlichkeit, welche ihn vor dem gewöhnlichen galvanischen Strome auszeichnet, und ihn für experimentale und therapeutische Anwendung zu Nervenerregung besonders geeignet macht. | Diese Erfahrungssätze hat nun Duchenne benutzt, um auf die- selben seine Methode zu gründen; und es wurde ihm dieses dadurch ermöglicht, dass er das geeignete Verfahren erfand, den Inductions- strom ohne zu starke Affektion derjenigen Hautstellen, welche die Stromleiter berühren müssen, in die Muskeln und Muskelnerven zu führen, — und dass er sich dadurch in den Stand gesetzt fand, einen jeden einzelnen, nur irgend zugänglichen Muskel für sich zur Zusam- menziehung zu bringen und damit zu kräftigen. Auf dieser letztern Möglichkeit der lokalisirten Einwirkung auf einzelne Muskeln beruht die grosse Brauchbarkeit der Duchenne’ischen Methode, welche ihr — 291 — bereits eine ausgedehnte Anwendung und eine weite Verbreitung ver- schafft hat. Noch ist zu erwähnen, dass Duchenne es für angemessen erach- tet hat, im Interesse einer kurzen Ausdrucksweise einen neuen Namen einzuführen, welcher mit der Methode selbst zugleich weitere Verbrei- tung gefunden hat. Er hat nämlich die Bildung der Wörter „Galva- nismus, galvanisiren, Galvanisation“ aus dem Namen „Galvani“ nach- geahmt und die Induktionselektrizität nach deren Entdecker Faraday als „Faradismus* benannt, so wie die Anwendung derselben für physiolo- gische und therapeutische Zwecke als „faradisiren und Faradisation.“ Diese ganze Darlegung zeigt schon, dass Duchenne’s Methode mehr als irgend eine andere eine spezielle therapeutische Anwendung gestattet, und dass sie daher, wenn auch, wie oben gezeigt, ihrem Wesen nach innigst mit den Turnübungen verwandt, doch immer nur in den Heilapparat der Aerzte gehören und wohl schwerlich jemals eine Anwendung auf den Turnplätzen finden wird. Höchstens möchte sie hier als vorläufig stärkende Methode ihre Verwendung finden kön- nen, würde aber auch dafür sehr überflüssig sein, indem eine ratio- nelle Organisation der Turnübungen diese allmälig vom Leichteren zum Schwereren aufsteigen lässt und dadurch schon für die allmälige Stär- kung besorgt ist. In welchen Fällen die Duchenne’sche Methode der Muskelstärkung ihre Anwendung finden muss, weil sie die allein an- wendbare ist, wird sich aus demjenigen erkennen lassen, was später über die therapeutische Anwendung der Gymnastik überhaupt zu sagen ist. Die schwedische Heilgymnastik. Nachdem in dem Bisherigen die einzelnen. Methoden auseinander gesetzt sind, welche zur Kräftigung der Muskeln für diätetische und therapeutische Zwecke angewendet werden können und wirklich ange- wendet, werden, kann nunmehr auch die Stellung bezeichnet werden, welche zu denselben die von Ling gestiftete schwedische Schule, die sogenannte schwedische Heilgymnastik, einnimmt. Es ist oben bereits angedeutet, dass diese Lehre, soweit sie wirklich eine Gymnastik ist, nur dadurch etwas Neues gebracht habe, dass sie eine besondere Art des Ringens anwendet. Es ist dieses hier etwas weiter auszuführen. Es wurde bei Beschreibung der ersten, natürlichsten Methode der Muskelübung als die sich zunächst zur Anwendung aufnöthigende Me- thode die angegeben, Lasten bewegen zu lassen. Die Schwierigkeit, diese Methode durchzuführen, hat die Uebungen an feststehenden Ge- räthschaften ‘erfinden lassen, welche ihrer Brauchbarkeit und Anwend- barkeit wegen eine grosse Ausbildung und vielseitige Benutzung gefun- den haben. Wollte man die Methode der Bewegung äusserer Lasten weiter ausbilden, so würde dieses in der Weise zu geschehen haben, dass man die Bewegungen, deren ein Glied, z. B. ein Arm, in seinen einzelnen Theilen fähig ist, möglichst genau (mit Zuziehung der Anatomie) unter- sucht und dann Apparate konstruirt, welche eine zu bewegende Last in.einer solchen Weise angebracht enthalten, dass ihre Bewegung je einer bestimmten Art der Bewegung des Gliedes Widerstand entgegen setzen würde. Für viele Zwecke würden z. B. Lasten geeignet sein, welche an dem einen Ende eines Strickes befestigt sind, der über eine oder mehrere Rollen geht, so dass der Zug für Bewegung der Last in einer bestimmten durch die Einrichtung des Apparates vor- geschriebenen Richtung geschehen muss. Eine nicht unbedeutende Man- nichfaltigkeit solcher Apparate müsste konstruirt werden; dabei müss- ten die nöthigen Vorsichtsmassregeln dafür ergriffen sein, dass auch wirklich die Bewegungsthätigkeit auf die gewünschte Muskelgruppe beschränkt bleibe; es müssten ferner verschieden grosse Lasten in Auswahl da sein, damit eine solche ausgesucht werden könne, welche den Kräften des Uebenden angemessen ist ete. Man sieht; es häuft sich hier die Menge der Schwierigkeiten. Für das diätetische Turnen gesunder Individuen fordert kein Interesse die Lösung derselben ; denn eine jede für solehe Individuen berechnete Turnübnng nimmt zugleich mehrere Muskelgruppen in Anspruch, welehe daher aueh’ zu- gleich geübt werden; und es genügt sowohl im Interesse der Allsei- tigkeit der Uebung als auch in dem pädagogischen Interesse der Un- terhaltung durch Abwechselung, dass eine gewisse Mannichfaltigkeit der Uebungen erfunden werde, welche in möglichst gleichmässiger Vertheilung alle Muskelgruppen des Körpers berücksiehtigt. Anders ist es dagegen, wenn. Muskelstärkung für therapeutische Zwecke ver- langt wird; denn hier wird oft gerade eine entschiedene Einseitigkeit der Uebung gefordert und manchmal sogar fortgesetzte ausschliessliche Uebung eines einzigen Muskels; für diese Fälle würde allerdings eine Lösung der angedeuteten Schwierigkeiten von Interesse sein. Indes- sen ist es auch hier nicht mehr nothwendig, denn die Möglichkeit schr einseitiger Uebung eines einzelnen Muskels oder einer einzelnen Muskelgruppe ist schon auf änderm Wege gegeben. Wir haben oben gesehen, dass Duchenne’s Methode des Elektrisirens diesem Zwecke entspricht, und wir finden ferner, dass. die schwedische Schule auf A eine andere Art dieselbe Aufgabe sehr glücklich gelöst hat. Sie be- folgt nämlich in dem Grundgedanken allerdings das Prinzip, dass einem für sich zu übenden Muskel Lasten zur Bewegung oder Wider- stände zur Ueberwindung gegeben werden müssen, welche ihn allein in Thätigkeit setzen ; sie wendet aber, und darin liegt ihre Bigen- thümlichkeit, als den zu überwindenden Widerstand die lebendige Muskelkraft eines anderen Organismus an und hat hierin den schmieg- samsten und geeignetsten Apparat. Sie wendet sich demnach der Methode des Ringens zu, aber mit möglichst weit geführter Speziali- sirung der Ringbewegungen. Natürlich müssen in den betreffenden Anstalten besondere Leute angestellt sein, welche die Widerstände durch ihre eigene Muskelkraft hergeben und somit als reflektirende, mit Bewusstsein handelnde Turngeräthschaften dienen. Solehe Perso- nen heissen „Gymnasten* und im den Anstalten für schwedische Heil- gymnastik hat man aus begreiflichen Rücksichten nicht blos männ- liche, sondern aueh weibliehe Gymnasten. Die Anwendung dieser Gymnasten zur Erregung lokalisirter Muskelzusammenziehungen und damit zur Erzielung von Muskelstärkungen ist das neue Prinzip, welches die schwedische Schule eingeführt hat, und sie hat durch dasselbe sehr bedeutende Hülfen, denn der gut geschulte Gymnast kann neben dem, dass er den Widerstand leistet, auch die Anstren- gungen des Patienten leiten, so dass sie zweckmässig ausgeführt wer- den, und er kann daneben die Grösse des von ihm zu gebenden Wi- derstandes in jedem Augenblicke der Stärke der Anstrengung anpas- sen, welche der Patient aufwenden kann oder nach der Absicht des Leiters der Behandlung aufwenden soll. Die Thätigkeit des Gym- nasten wird in folgender Weise ausgeführt: sollen z. B. die Streck- muskeln des Ellenbogengelenkes geübt werden, so beugt der Patient den Arm und strengt sich an, ihn wieder zu strecken, während zu- gleich der Gymnast durch Festhalten des Unterarms und Gegenstem- men der Streckung in angemessenem Grade entgegenwirkt. Die von dem Patienten in der genannten Weise ausgeführte Streckbewegung ist nach der von der schwedischen Schule eingeführten Namengebung eine „Auplizirte Bewegung;* und zwar ist es eine „konzentrisch du- plizirte Bewegung,“ wenn in dem Wettkampf mit der hemmenden Kraft des Gymnasten allmälig der Patient Sieger wird, und eine’ „exzentrisch duplizirte Bewegung,“ wenn der Gymnast Meister wird. Es ist nicht zu verkennen, dass die schwedische Schule durch die Einführung der duplizirten Bewegungen sich ein bedentendes Ver- — 294 — dienst erworben und die therapeutische Anwendung der Gymnastik sehr wesentlich gefördert hat. Würde sie sich hierauf beschränkt ha- ben, so würde sie sich die Anerkennung aller wissenschaftlichen Aerzte gesichert haben; aber sie ist weiter gegangen und hat sich vieler Extravaganzen schuldig gemacht, die einerseits von gänzlichem Ver- kennen ihrer Stellung zeugen und andererseits eine unglaubliche Un- klarheit der Begriffe erkennen lassen. Sie zieht nämlich in ihr Wir- kungsgebiet allerlei Ungehöriges hinein; denn sie möchte gern statt einer gymnastischen Schule eine ärztliche Schule mit einer besonderen Heilmethode sein, und fühlt sich deshalb berufen, alle Heilungen zu unternehmen, welche durch ein mechanisches Einwirken einer zweiten Person zu Stande gebracht werden können, wenn auch vielleicht nur in ihrer eigenen Meinung. Es ist natürlich, dass sie sich durch ein solches Benehmen in eine sehr schiefe Stellung den wissenschaft- lich gesinnten Aerzten gegenüber gebracht hat, und man darf sich kaum wundern, wenn viele der letzteren durch das anmassende Auf- treten der schwedischen gymnastischen Heilmethode veranlasst werden, selbst die gute Seite derselben zu übersehen, und wenn selbst die- jenigen Aerzte, welche eben dieser guten und brauchbaren Seite we- gen es am Besten mit ihr meinen, sich oft Gewalt anthun müssen, um nicht wegen der schroff auftretenden Extravaganzen der ganzen Schule die Freundschaft zu kündigen. Doch! sehen wir zuerst, wo- rin eigentlich die unpassende Erweiterung des Wirkungsgebietes be- steht, deren sich die schwedische Turnerschule in ihrer Erhebung zur schwedischen Heilgymnastik schuldig gemacht hat. 1) Unbeweglichkeit in Gelenken entsteht nicht selten aus soge- nannten Kontrakturen, Verkürzungen nämlich von Gelenkbändern oder Muskeln; — durch solche Verkürzungen, welche aus mancherlei Ur- sache entstehen, wird z. B. im Kniegelenk eine Beugung erzeugt, welche den freien Streekungsversuchen des Patienten selbst einen be- deutenden, oft unüberwindlichen Widerstand entgegensetzt und selbst durch angewandte äussere Gewalt nur unbedeutend zu überwinden ist. In solchen Fällen pflegt die orthopädische Chirurgie, falls sie nicht es für angemessener findet, operativ einzugreifen, allmälige Dehnung der Kontraktur durch angemessene Maschinen zu unternehmen und zwar, wie es die Natur der Sache mit sich bringt, mit mehr oder mit weniger günstigem Erfolge. Die schwedische Heilgymnastik er- klärt diese Dehnungen als in ihre Thätigkeit gehörig und lässt die- selben durch die Hand des Gymnasten ausführen. Dass die Hand — 295 — einer zweiten Person im Stande ist, eine Maschine zu ersetzen, wird Niemand läugnen, wenn auch die Wirkung der Maschine eine sicherere ist, weil sie sehr genau nach Graden bestimmt werden kann; — da- gegen wird aber auch Niemand behaupten können, dass das Erleiden solcher Operationen in die Gymnastik gehöre; und nur eine sehr un- klare Logik kann sagen: die Ausführung der duplizirten Bewegung ist Gymnastik; die Thätigkeit des Gymnasten ist dabei eine heilende Manipulation ; das gewaltsame Dehnen einer Kontraktur ist auch eine heilende Manipulation des Gymnasten; also — treibt derjenige, an welchem die Kontraktur gedehnt wird, ebenso wie derjenige, welcher eine duplizirte Bewegung mit Hülfe des Gymnasten ausführt, Gym- nastik und zwar Heilgymnastik. 2) Die Leibesükung wirkt durch Anregung des Stoffwechsels, durch Vermehrung eines lebhafteren Blutumlaufes und verschiedene andere vermittelnde Erscheinungen im Körper wohlthätig auf die Er- nährungsverhältnisse desselben und somit auf dessen Wohlbefinden überhaupt. Die schwedische Heilgymnastik will nın, was so im All- gemeinen ausgesprochen richtig ist, auch auf die einzelnen Theile des Körpers angewendet wissen und will auch in diesen einen ver- mehrten Blutlauf, unabhängig von dem allgemeinen Blutlaufe erzeu- gen, um damit in dem betreffenden einzelnen Theile alle krank- haften Ernährungsverhältnisse zum Besseren zu änderen und damit zu heilen. Sie glaubt dieses durch Kneten, Rollen, Streichen ete. der Theile selbst oder der zu denselben gehenden Gefässe zu erreichen, wobei sie indessen den Unterschied macht, dass vorübergehendes Schliessen der Arterien die Ernährung und vorübergehendes Schliessen der Venen die Aufsaugung vermehren soll. Auch diese Manipulationen werden durch Gymnasten an den Patienten ausgeführt, also — sind sie Gymnastik, — und sie werden für Heilzwecke ausgeführt, also — sind sie Heilgymnastik. 3) In ähnlicher Weise, wie die Gefässe, werden auch die Ner- ven eines Theiles heilgymnastisch geknetet, gedrückt, gestrichen ete., um erregend oder beruhigend auf sie einzuwirken. Diese angeführten Behandlungsweisen von Erkrankungen lassen sich noch mit einiger Klarkeit erkennen und bezeichnen, und man erkennt in der ersten eine Modifikation einer von der Chirurgie schon längst geühten Methode, und in den beiden anderen erkennt man Aus- übungen, die in dieser Gestalt der schwedischen Heilgymnastik eigen- thümlich sind, deren Theorie und Praxis sie deshalb auch verantwor- = 2% = ten mag. Wenn man auch gerade nicht einsehen kann, in wie ferne „geknetet werden* und „turnen“ gleichbedentende Ausdrücke sein können, so erkennt man doch in den angeführten Behandlungsarten Heilmethoden besonderer Art und in so ferne bezeichnen sie ein ge- wisses Wirkungsgebiet, welches die Tinrnlehrer der schwedischen Sehule in ihren T'hätigkeitskreis hineingezogen haben. Deshalb lässt sich auch darüber sprechen, ob nnd welehe Berechtigungen diese Me- thoden besitzen, was sie eigentlich mit der Gymnastik zu thun ha- ben ete. Die schwedische Schule bleibt indessen hierbei nicht stehen, sondern rechnet in den Bereich ihrer Wirksamkeit alle und jede me- ehanische Einwirkung auf den Körper, so ferne sie nicht durch schnei- dende oder stechende Instrumente geschieht. Wir erfahren zu unserer Verwunderung, dass das Umbinden eines Tuches bei Kopfweh, das Reiben der Füsse zu ihrer Erwärmung, das Schlagen mit den Armen für den Zweck’ des Erwärmens der Hände, das Bürsten Scheintodter, die Anlegung eines Druckverbandes, das Wiegen des Kindes auf den Armen cte., Alles in die schwedische Heilgymnastik gehört. Noch mehr! Die manuellen Untersuchungen, welche Aerzte für Stellung einer Diagnose machen müssen, das Befühlen, Beklopfen, Spannen, Hin- und Herbewegen eines Theiles ete., Alles ist schwedische Heil- gymnastik. Wer kann nach diesem noch eine Definition von der schwedischen Heilgymnastik geben? Sie verschwimmt in das Vage und Unbestimmte, wie die Phrenologie, wenn sie anfängt, sich in Diskursen über Moralität, Gesetzgebung, Gesundheitspolizei ete. zu ergehen, und dieses alles noch Phrenologie nennt. Es würde unnöthige Mühe sein, alle verschiedenen Krankheits- formen aufzuzählen, welche die schwedische Heilgymnastik geheilt ha- ben will; es versteht sich fast von selbst, dass es nahezu alle sind, namentlich gewiss alle chronischen; wir können uns deshalb auf das über die Art und den Kreis ihrer Thätigkeit bereits Gesagte be- schränken. Es ist nur zu deutlich, dass die schwedische Turnerschule durch Aufnahme dieser fremdartigen Elemente ihre Gränzen weit überschrei- tet und dadurch sich in die unrühmliche Gesellschaft der Homöopa- thie, der Hydrotherapie, der Semmelkuren und anderer ähnlicher Er- scheinungen eindrängt, welchen allen ursprünglich ein mehr oder we- niger brauchbarer Gedanke zu Grunde liegt, welche aber durch ihre eigenen Extravaganzen ein baldiges Ende finden mussten, wobei manch- mal sogar das Gute, welches sie zu leisten im Stande waren, leiden a _ 297 — musste. — Nachdem dieses erkannt ist, ist es auch wohl kaum nö- thig, noch besonders zu sagen, dass die schwedische Heilgymnastik mit Ansprüchen auftritt, welche an Marktschreierei gränzen, — dass sie die Aerzte, die Anatomen, die Physiologen in deren Leistungen mit vornehmem Uebermuthe angreift und sogar deren persönlichen Karakter verdächtigt, — dass sie sich nicht nur als die Universalmedizin hinstellt, sondern auch als die einzig giltige medizinische Wissenschaft über- haupt, — dass sie die kühnsten physiologischen Hypothesen erfindet, um ihr Verfahren zu rechtfertigen und dabei dennoch auf ihre Be- gründung durch die Erfahrung pocht ete.e — Dergleichen ist schon oft dagewesen und kömmt überall da vor, wo laienhafte Halbwisser sich ein Ansehen geben wollen den Männern der Wissenschaft ge- genüber; man erinnere sich an das Gebaren der Phrenolegen, der „Wasserdoktoren,“ der Homöopathen, der „Wunderdoktoren“ ete.; und wenn auch wirkliche Aerzte, welche Studien gemacht haben, und so- gar solche, welehe dem äussern Range nach sehr hoch gestellt sind, in dergleichen Redensarten einstimmen, so ändert dieses an der Sache nichts; Aerzte dieser Art geben keineswegs durch ihre Theilnahme der Sache ein Ansehen, sondern sie verzichten freiwillig auf die Rechte ihrer Bildung und steigen in die Reihe der Vertreter der Sache hinunter. Es sei indessen zur Entschuldigung dieser Lehre erwähnt, dass sie nicht ursprünglich diese extravagante Gestalt besass. Ihr Stifter, Ling, entfernte sich nicht wesentlich von dem der Gymnastik zu- stehenden Gebiete und nur seine Nachfolger haben die Sache über- trieben. Um Ling’s Stellung zur Gymnastik zu verstehen, müssen wir jedoch etwas auf das Geschichtliche zurückgehen. Nachdem einmal der Grundsatz des pädagogisch- diätetischen Tur- nens gefunden war, mussten natürlich auch Uebungen erdacht werden, welche dem Zwecke und der Bedeutung desselben entsprechen, und die Aufstellung solcher Uebungen musste nach gewissen leitenden Grundsätzen geschehen. In Beziehung auf diese sagt schon Guts- muths im Jahre 1793: „Es ist mir wohlbekannt, dass eine ächte „Theorie der Gymnastik auf physiologische Gründe gebaut und so die „Praxis jeder einzelnen Uebung nach den individuellen Körperbeschaf- „fenheiten abgewogen werden sollte.“ Das Bedürfniss einer solchen Ausbildung der Turnkunst, welche sich auf genauere anatomische Kenntnisse stützt, war demnach schon von ihm gefühlt und ausge- sprochen, und eine Entwickelung der Turnlehre in diesem Sinne würde Wissenschaftliche Monatsschrift, II. 21 — 293 — "nach gegebener Anregung durch einen in der Geschichte der Gym- nastik so bedeutenden Mann auch nicht gefehlt haben, wenn nicht bekannte Verhältnisse es verhindert hätten. Zuerst kamen politische Ereignisse und Kriegszeiten, welche in die ruhige Entwickelung aller Angelegenheiten störend eingriffen; und als gegen das Ende derselben das Turnen mit einem gewaltigen Aufschwung unter Jahn’s Füh- rung wieder erschien, da war es in seinem Karakter geändert. Jahn ermunterte erwachsene Jünglinge zum Turnen und führte sie selbst an; seine Absicht war, dass sie sich schnell kräftigen sollten, um dem Vaterlande durch ihre Kräfte als Kämpfer zu dienen. Er hatte sich demnach weniger eine Beförderung der Körperentwickelung im Sinne des pädagogischen Turnens, als vielmehr eine möglichste Kräftigung für den Kriegsdienst als Ziel gesteckt. Daher hielt er und seine Schule namentlich auf Kraftstücke und verband damit die bekannte Asketik zur Abhärtung; er wollte starke, abgehärtete Krieger ziehen. Seine Gymnastik trat demnach gewissermassen wieder zurück in die Kategorie der vorübenden Gymnastik; nur war die Art ihrer Ausfüh- rung wesentlich unter dem Einflusse der vorher entstandenen pädago- gischen Turnschule; deshalb wurde nicht exerzirt, sondern geturnt. Als durch die veränderten Zeitverhältnisse die ausgesprochenen Zwecke der Jahn’schen Schule ziellos waren, bestand sie zwar noch fort; aber es ist noch in Jedermanns Gedächtniss, mit welchen spä- teren Zeitereignissen diese Fortsetzung eng verflochten war, und Jeder- mann weiss, wie dadurch das Turnen überhaupt missliebig wurde. Unter diesen Verhältnissen konnte auch von einer ruhigen Entwicke- lung der Turnlehre nicht die Rede sein; es musste erst eine Zeit des Vergessens kommen, ehe ein neuer Anfang derselben mit Anknüpfung an die Gutsmuths’schen Bestrebungen unternommen werden konnte. Diese Zeit des Wieder- Auflebens einer rationellen Turnlehre brachte für Deutschland, das eigentliche Vaterland derselben, Adolf Spiess, dessen erstes, hierher gehöriges Werk: „die Lehre der Turnkunst* im Jahre 1840 in Basel erschien. Das Durchdachte und Systematische, mit Bewusstsein Durchgeführte seiner Grundlage fand ebensoviel Anerkennung, als die auf dieselbe gestützten Vorschläge zu Uebungen, unter welchen er namentlich die in vielfachen Bezie- hungen so wichtigen sogenannten Freiübungen eigentlich neu erschuf. Während Spiess sein System ausbildete, war indessen auch in einem ausserdeutschen Lande, wo das Turnen nicht die Kämpfe durch- zumachen hatte, wie in seinem Vaterlande, eine gleiche Bestrebung, — 299 — wie die seinige entstanden, nämlich in Stockholm durch Ling. Ueber die Priorität dürfen Spiess und Ling nicht streiten, denn ihre Be- strebungen sind sicher bei jedem von Beiden selbstständig entstanden aus Bedürfnissen, welche die Zeit brachte. Ling kam 1831 bei den schwedischen Reichsständen darum ein, dass das Turnen zu einer Na- tionalangelegenheit erhoben werden möchte; nachdem seinem Gesuche willfahrt worden, richtete er 1854 mit Staatsunterstützung in Stock- holm eine grössere Turnanstalt ein, welche Staats - Centralinstitut ge- nannt wurde; und führte diese Anstalt bis 1839, wo er starb. In seinen hinterlassenen Schriften, welche von Liedbeck und Georgii herausgegeben wurden, finden sich seine Grundsätze entwickelt, und daneben enthalten dieselben ein noch nicht vollendetes System von Uebungen, welches sich auf diese Grundsätze stützte. Vergleicht man damit, dass Spiess im Jahre 1840 bereits ein vollständig ausgearbei- tetes und an der Erfahrung bewährtes System veröffentlichte, so wird man über die Gleichzeitigkeit der Arbeiten beider Männer keine Zwei- fel haben. Die Spiess’sche Schule entwickelte sich in Deutschland ruhig weiter und blieb bei dem, was sie sein sollte; sie blieb eine auf anatomische und physiologische Grundsätze rationell gebaute Schule des pädagogisch -diätetischen Turnens. Die Ling’sche Schule indessen überschritt ihre Gränzen; sie wurde in ihrer weiteren Entwickelung zur „schwedischen Heilgymnastik.“ Ling ist im Ganzen unschuldig an den Extravaganzen, welche die schwedische Heilgymnastik sich hat zu Schulden kommen lassen; diese sind erst später durch seine Schüler eingeschlagen worden, un- ter welchen als die hervorragendsten Persönlichkeiten bezeichnet wer- den: Branting in Stockholm, Georgii in London und de Ron in Petersburg. Dennoch aber ist durch Ling selbst schon der Grund gelegt worden zu den späteren Verirrungen. Er erkennt nämlich al- ‘ lerdings als Basis eines rationellen Turnsystemes die Anatomie und die Physiologie an, denn in seinen nachgelassenen Schriften findet sich die Stelle: „die Anatomie, diese heilige Genesis, welche des „Sehöpfers Riesenwerk vor des Menschen Auge bringt, welche ihn „mit einem Male lehrt, wie klein und wie gross er ist, sie sei des „Gymnasten theuerste Urkunde! Aber er wende ihre leblosen For- „men nicht als solche an, sondern schaue sie an in vollem Leben, „nicht als Masse, sondern als des Geistes Hebel wirkend und von dem- „selben in jedem Punkte beseelt. Hierzu wird der Anatomie unzer- „trennliche Gefährtin, die Physiologie, erfordert.“ Auch drängt er die — 300 — Heilzwecke der Gymnastik nicht zu sehr in den Vordergrund, denn er unterscheidet vier Haupttheile der Gymnastik: 1) pädagogische Gymnastik, mittels deren der Mensch seinen eigenen Körper unter seinen eigenen Willen setzen lernt; 2) militärische Gymnastik, worin der Mensch einen fremden Willen seinem eigenen durch Körperkraft unterwerfen lernt; 3) medizinische Gymnastik, wodurch der Mensch eigene oder fremde Leiden zu lindern oder zu heilen sucht; 4) ästhe- tische Gymnastik, wodurch der Mensch sein eigenes Wesen, Gedan- ken und Empfindungen, körperlich zu veranschaulichen sucht, — und der medizinischen Gymnastik ist in seinen Schriften verhältnissmässig wenig Raum gewidmet. Dagegen sind gerade in diesem Abschnitte schon zwei wichtige Punkte zu bemerken, welche die Grundlage für die späteren Verirrungen der Schule geworden sind. Er begnügt sich nämlich nicht, den diätetischen Nutzen des Turnens überhaupt an- zuerkennen, sondern er beginnt schon in das Spezialisiren der Uebel einzugehen, gegen welche das Turnen mit Erfolg anzuwenden sei, und bezeichnet zugleich die einer jeden Klasse dieser Uebung ange- messene Art der Uebungen; wie viel Richtiges auch in solchen Un- terscheidungen und Ausführungen liegt, so dürfen sie doch nicht zu weit geführt werden, und ein Hauptfehler der jetzigen schwedischen Heilgymnastik ist es eben, dass sie darin zu weit geht. Ferner be- geht er in diesem Abschnitte auch schon den logischen Fehler, der bei seinen Nachfolgern so überaus folgereich geworden ist, den Fehler nämlich, dass er passive Bewegungen mit unter die gym- nastischen Uebungen rechnet. Gymnastische Uebungen sind doch ihrem Wesen nach immer Thätigkeiten eines Individuums; dasselbe bewegt selbst seine Gliedtheile durch eigene Muskelthätigkeit; — in den passiven Bewegungen ist dagegen von Muskelthätigkeit nicht die Rede, sondern ein zweites Individuum bewegt die Glied- theile des ersten, wie todte Massen; — ersteres ist „bewegen,“ die- ses „bewegt werden.“ Dass aktive Bewegungen und passive Bewe- . gungen beide „Bewegungen“ heissen, kann eben so wenig berechti- gen beide als gymnastische Uebungen zusammenzustellen, als man Schulden (Minus-Vermögen, Passiva) als Vermögen (Plus-Vermögen, Aktiva) ansehen kann; — und wenn deswegen, weil Gymnastik heilt, auch Alles, was heilt, Gymnastik sein sollte, dann wäre die ganze Medizin Gymnastik. Es ist für das Verständniss der Stellung und der möglichen Bedeutung der Gymnastik durchaus nothwendig und von der grössten Wichtigkeit, dass deren Begriff genau hingestellt und — 301 — festgehalten werde. Der in der ganzen geschichtlichen Entwiekelung der Gymnastik fortgebildete Begriff, für welchen dieser Name stets angewendet wurde, ist aber zu allen Zeiten der einer stärkenden Thätigkeit gewesen. Dass man nicht an diesem Begriffe festhielt und den Unterschied nicht fand zwischen „Thätigsein“ und „Thätig- keiten Anderer über sich ergehen lassen,“ — das ist die Hauptur- sache für die Entstehung der Extravaganzen, welche im Begriffe sind, die schwedische gymnastische Schule mit allen ihren Vortrefflichkeiten zu Grunde zu richten, und vergebens versucht die oben mitgetheilte Ling’sche Definition der medizinischen Gymnastik diesen Fehler zu maskiren. Mit dem allmäligen Wachsthume dieses durch mangelhafte Logik eingedrängten Elementes, trat in der schwedischen Schule auch mit immer mehr Bewusstsein und Ausschliesslichkeit das Gefühl auf, eine Heilmethode zu sein, — und so wurde aus einer vorzüglichen Turnerschule eine ärztliche Pfuscherei. Die deutsche Spiess’sche Schule verkannte ihre Stellung nicht und blieb deshalb in Ehren. Als Schluss dieser Untersuchung stellt es sich heraus, dass die schwedische gymnastische Schule als solche mit der gleichzeitig ent- standenen deutschen Schule von Spiess beinahe den gleichen Werth hat, und wie diese letztere den hohen Werth richtig ausgedachter Frei- übungen hervorhebt. — Als Turnerschule hat sie das Eigenthümliche der besonderen Ausbildung der Ringübungen in Gestalt der „duplizir- ten Bewegungen.“ — In ärztlicher Beziehung kann die schwedische Schule leisten, was jede gute und rationelle Turnerschule, und hat noch durch ihre „duplizirten Bewegungen“ für gewisse Anwendungen besondere Vorzüge. — Sobald sie aber ihren Standpunkt vergisst und statt einer Turnerschule eine ärztliche Schule sein will, nimmt sie sich selbst den Boden unter den Füssen weg und es geht ihr, wie einem Kaufmanne, der als Dilettant einige Gemälde gefertigt hat, welche Anerkennung fanden, und der deshalb sein solides Geschäft aufgiebt, um ganz Maler zu werden; aus der Reihe der Kaufleute, unter welchen er einen ehrenvollen Platz eingenommen hatte, tritt er freiwillig aus, und in die Reihe der Maler kann er nicht eintreten, weil dazu dem Dilettanten noch sehr vieles fehlt, wenn er sich auch noch so viel kunstverständiges und kunstrichterliches Ansehen zu geben bemüht ist. Und welches wird die Zukunft der „schwedischen Heilgymnastik“ sein? — Sie wird verrauchen, wie andere ähnliche Modesachen ver- raucht sind; — es wird aus der Heilgymnastik wieder eine Turner- — 302 — schule werden und ihr Gutes und Eigenthümliches, als einer solchen, wird mit der Turnlehre überhaupt verschmelzen; — was sie in The- rapie Eigenthümliches leisten kann, wird immer bestehen bleiben und in das therapeutische Turnen überhaupt aufgenommen werden; — und einzelne Erfahrungen, welche sie etwa noch ausserdem gewinnt, wer- den Eigenthum der ärztlichen Kunst werden. — In historischer Be- ziehung wird ihr dagegen das Verdienst bleiben, nachdrücklichst die Wichtigkeit der Gymnastik für Therapie hervorgehoben und allseiti- gere Uebung derselben angeregt zu haben, wie auch die Homöopathie das Verdienst hat, die Diät als Heilmittel zu Ehren gebracht zu haben, und wie die Hydropathie das Verdienst hat, die Wichtigkeit des Wassertrinkens und Badens für diätetische Therapie hervorgehoben zu haben. Therapeutische Leistungen der Gymnastik. Wenn wir von demjenigen sprechen sollen, was die Gymnastik in therapeutischer Beziehung wirklich zu leisten vermag, so werden wir dabei der Mühe überhoben sein, die Leistungen zu erwähnen, welche die „schwedische Heilgymnastik* in ihrer überfluthenden, be- griffsunklaren gegenwärtigen Gestalt durch ihre Manipulationen an Kranken (passive Bewegungen, Kneten, Erschüttern ete.) erreicht hat oder erreicht zu haben behauptet. Alles hierher Gehörige ist ja theils aus dem Gebiete der Chirurgie hinübergezogen worden, theils ist es in Theorie und Anwendung höchst verworren, und keinenfalls : fällt es, wie oben gezeigt, unter den Begriff der Gymnastik. Wir haben es hier rein mit der Gymnastik als solcher zu thun, d. h. mit der rationell geleiteten Muskelbewegung, und wenn es als eine Inkonsequenz erscheinen sollte, dass dabei auch die Duchenne’- sche Methode ihre Berücksichtigung findet, so ist auf das in dem Früheren über diese Methode Gesagte zu verweisen, wo nachge- wiesen wurde, dass bei ihrer Anwendung ebenfalls die Muskelzu- sammenziehung das Gewollte und das Wirksamste ist, und dass sie sich von den im engeren Sinne gymnastischen Methoden nur dadurch unterscheidet, dass die Elektrizität statt des Willens als Erreger an- gewendet wird. Der Nutzen, und somit auch die therapeutische Anwendung der Gymnastik, ist verschiedener Art und kann als allgemeiner und als lokalisirter bezeichnet werden. Allgemeiner Nutzen der Gymnastik. — Die Gymnastik ee TE — 308 — besteht in den mannigfachsten Muskelthätigkeiten, welche, wenn sie mit möglichst systematischer Vollständigkeit geleitet werden, zunächst eine allgemeine Kräftigung aller Muskeln erzeugen müssen. Die Folge einer solchen besteht aber nicht nur in der grösseren Anwend- barkeit der Muskeln und grösserer Ausdauer derselben bei verschie- denen Zweckbewegungen, welche dem Geschäftsleben angehören , son- dern sie giebt sich auch auf das Vortheilhafteste in der Entwickelung und der äusseren Erscheinung des Körpers kund. Vor Allem werden nämlich die Formen desselben voller, aber nicht in den indifferenten runden Formen, welche die Masse des Fet- tes giebt, welche Formen man im gewöhnlichen Leben so unpassend „stark“ zu nennen pflegt, — sondern in den schönen, karaktervollen Formen, welche die entwickelte Muskulatur verleiht. Der Muskel wird nämlich durch die Uebung in seiner äusseren Erscheinung zu- gleich dicker und fester; seine Umrisse drängen sich deshalb stär- ker durch die Haut hervor und dieses muss um so mehr der Fall sein, als die unter der Haut gehäuften Fettmassen unter dem Ein- flusse des durch die Uebungen stärker angeregten Stoffwechsels ab- zunehmen pflegen. Der Körper erhält demnach mit seiner Kräftigung zugleich auch schönere Formen. Aber auch die Haltung des ganzen Körpers gewinnt wesent- lich. Allerdings sind die Gelenkmechanismen so eingerichtet, dass sie zum grössten Theile schon für sich allein die Haltung des Kör- pers in der Ruhe und die Richtung seiner Bewegungen in der Thä- tigkeit bedingen, ohne des Aufwandes vieler Muskelkräfte dabei zu bedürfen; aber der auf diese Weise zu Stande gekommenen Haltung und Bewegung sieht man die Wirkung der in der unbelebten Materie sich geltend machenden Kräfte nur zu gut an, die Wirkung nämlich der Schwere, der Spannung, der Elastizität, der Pendelung ete. Je . mehr sich in Haltung und Bewegung die Muskelkräfte betheiligen, um so mehr werden beide diesen wirkenden Momenten abgenommen, und um so mehr erhalten sie alsdann den Karakter der lebendigen Haltung und der lebendigen Bewegung; man erblickt in ihnen so- gleich die Mitwirkung einer grösseren Anzahl von Muskelthätigkeiten, welche die Vielseitigkeit der Gelenkmechanismen vortheilhaft hervor- treten lassen; die Haltung ist eine feste („stramme“) ohne Starrheit und ohne Trägheit, stets bereit in Bewegung überzugehen ; und die Bewegung selbst ist eine leichtere und bewusstere und damit auch elegantere, — sie ist, wie man sich im gemeinen Leben auszudrücken — 304 — pflegt „eine elastische.“ Im diesem Ausdrucke der Volkssprache liegt eine sehr richtige Auffassung des stets wirkenden, stets sich gegen- seitig in Schranken haltenden Spieles antagonistischer Muskeln, wel- ches ähnlich ist dem Gegeneinanderspielen der Elastizität eines ge- dehnten elastischen Körpers mit der auf denselben einwirkenden deh- nenden Kraft; nur misst man mit Unrecht gewöhnlich diese „Elasti- zität“ der Bewegungen einer besonderen Beschaffenheit der Knochen bei, während sie doch, wie oben ausgeführt, ihren Grund in der kraftvollen Thätigkeit der Muskeln findet. Bei den Muskeln bleibt übrigens die Wirkung der Muskelübung nicht stehen; sie giebt sich auch in dem Nervensystem kund. Die Nerven, durch deren Erregung die Muskeln zur Zusammenziehung bestimmt werden, erhalten durch die Uebung, indem sie beständig Vermittler der Muskelthätigkeit sein müssen, eine leichtere und nach- haltigere Erregbarkeit, nicht die krankhaft gesteigerte, wie sie durch die populären Redensarten „nervos sein, Nerven haben“ bezeichnet wird, denn diese ist ein Schwächezustand, sondern die leichte und sichere, in ihrem Maasse stets zweckdienliche, welche die Gewandt- heit karakterisirt. Unter dem Einflusse dieser Verhältnisse und der Ausführung der Uebungen selbst gewinnt auch das psychische Leben. Die stets ge- spannte Aufmerksamkeit während der Uebungen übt nämlich einen raschen, zweekdienlichen Gedankenwechsel, welcher einem krankhaft gesteigerten Gefühlsleben entgegenwirkt, — und das Be- wusstsein der Sicherheit und Brauchbarkeit der gewollten Bewegungen muss allmälig in das allgemeine Selbsthewusstsein übergehen und sich daneben noch vortheilhaft in Haltung und Bewegung des ganzen Kör- pers und des Gesichtes wiederspiegeln. „Jasst sie turnen, turnen macht schön“ ruft deshalb nicht mit Unrecht Hermann Eberhard Richter am Schlusse einer Rede über weibliche Schönheit aus. (Der Turmer 1849. No. 23). So bedeutende Umgestaltungen in der Ernährung der grössten Masse des Körpers können nicht ohne bedeutenden Einfluss auf die Ernährung des Körpers überhaupt sein. Der Stoffwechsel wird rascher und reichlicher; wozu während der Uebungen selbst der be- schleunigte Blutlauf wesentlich beiträgt. Mit dem rascheren Stoff- wechsel ist eine raschere Integration der einzelnen Bestandtheile des Körpers und überhaupt eine bessere Unterhaltung ihrer Mischung gegeben; und daraus folgt allgemeines Wohlbefinden und — 305 — Beseitigung von zahlreichen kleineren und grösseren Beschwerden, denen Stubensitzer und Träge ausgesetzt sind. Diese Erfolge müs- sen alsdann um so lebhafter hervortreten, wenn die Uebungen in frischer, reiner Luft, namentlich im Freien ausgeführt werden; denn unter dieser Bedingung findet bei dem während der Uebungen noth- wendig stattfindenden rascheren und tieferen Athmen die Einführung reichlicherer Mengen unvermischteren Sauerstoffes der atmosphärischen Luft statt, eines Elementes, welches beim Vonstattengehen des Stoff- wechsels eine überaus wichtige Rolle spielt. Aus dem Gesagten geht hervor, dass, wenn man diese Vortheile der Gymnastik therapeutisch benutzen will, man allgemeine gymnasti- sche Uebungen anzuwenden hat bei allgemeiner Muskelschwäche aus Mangel an Uebung so wie bei daraus hervorgehender schlechter Hal- tung und schlechter, unsicherer Bewegung, — ferner bei nervoser Reizbarkeit und abnorm gesteigertem Gefühlsleben ( Hypochondrie, Hysterie) — und endlich bei den mancherlei kleinen Beschwerden, welche die nothwendige Folge einer sitzenden Lebensweise zu sein pflegen. Lokalisirte wohlthätige Folgen der Gymnastik. — Wir hatten in dem Bisherigen zunächst nur die allgemeinen gymnasti- schen Uebungen überhaupt im Auge, deren Einfluss ınehr als ein diätetischer bezeichnet werden kann, weil er sich in dem ganzen Körper durch günstige Umgestaltung seiner Beschaffenheit und Lebens- vorgänge äussert. Es ist indessen auch natürlich, dass die gymnasti- schen Uebungen mehr lokalisirt angewendet auch lokale Wirkungen hervorbringen müssen, welche von dem rationellen Arzte für man- cherlei Zwecke benutzt werden können. Solche lokalisirte Wirkungen werden namentlich da erzielt werden müssen, wo lokale Muskel- schwäche erkennbar nachtheilige Folgen für eine oder die andere wichtige Funktion des Körpers äussert. Beseitigung solcher lokalen Muskelschwächen muss dann auch deren Folgen beseitigen. Es ist übrigens von selbst deutlich, dass für Heilerfolge dieser Art es durch- aus nöthig ist, dass mit aller der ärztlichen Kunst möglichen Sicher- heit erkannt sei, in welchen Muskeln oder Muskelgruppen die Schwäche sich finde, deren Folgen in die Erscheinung treten und die Anwen- dung eines Heilverfahrens zu ihrer Beseitigung verlangen. Hier tritt uns demnach eine auf vereinzelte Heilzwecke direkt gerichtete An- wendung der Gymnastik entgegen, und hier ist demnach das eigent- liche Gebiet einer Heilgymnastik, wenn wir eine solche Lehre als — 306 — einen getrennten Theil der Gymnastik oder besser der Heilmittellehre hinstellen wollen. Es ist nua zu untersuchen, in welchen Fällen eine solche loka- lisirte Muskelstärkung am Platze ist. Die Muskeln des Körpers dienen nicht nur der Ortsbewegung, sondern sie haben auch noch Verrichtungen, welche in näherer Be- ziehung stehen zu den Ernährungsfunktionen. Wenn solche Muskelu leiden, welche in diese Kategorie gehören, so müssen die von ihnen abhängigen Ernährungsfunktionen ebenfalls leiden und mit diesen zu- gleich auch die Ernährung und das Wohlbefinden des ganzen Kör- pers. Uebung und Stärkung solcher Muskeln reiht sich deshalb in ihren Folgen zunächst an die diätetische Wirkung der allgemeinen gym- nastischen Uebungen an und sei deshalb hier zunächst berücksichtigt. Muskeln, deren Thätigkeit für das Vonstattengehen der Ernäh- rungserscheinungen von sehr grosser Bedeutsamkeit ist, sind die Ath- mungsmuskeln. Es ist bekannt, dass Sistirung ihrer Thätigkeit in der kürzesten Zeit zum Tode führt. Mangel an Uebung oder kräftigerer Thätigkeit in diesen Muskeln muss sich deshalb bald durch Einfluss auf die von der Athmung abhängigen Ernährungserscheinungen gel- tend machen; und zwar muss dieses geschehen, ob die zur Einathmung oder die zur Ausathmung der Luft dienenden Muskeln in ihrer Thä- tigkeit gehemmt sind. Es kann demnach bei richtiger Erkennung des Uebels die Heilanzeige für Uebung der einen oder der anderen die- ser beiden Muskelgruppen gegeben sein, und es müssen für diesen Zweck entweder solche Muskelübungen angestellt werden, welche den Brustkorb erweitern (Uebung der Einathmungsmuskeln), oder solche, welche den Brustkorb verengern (Uebung der Ausathmungsmuskeln ). Es mag übrigens doch wohl nur in den seltensten Fällen eine Heil- anzeige in dieser Weise gestellt sein und in den meisten Fällen wer- den Uebungen der bezeichneten Art mehr nur da ihre Anwendung finden, wo anhaltendes gekrümmtes Sitzen oder Stehen fast mehr die Gewohnheit als die Uebung der tieferen und kräftigeren Athmungs- bewegungen genommen hat. Dagegen wird die Heilanzeige auf Ue- bungen, welche den Brustkorb erweitern oder verengern, häufig aus anderer Ursache gegeben, wenn nämlich entweder Hindernisse vor- handen sind, welche der ungestörten Ausübung der einen oder der andern Art oder beider Arten von Athmungsbewegungen entgegen stehen, und zu deren Ueberwindung eine Kräftigung der betreffenden Muskelgruppen als das geeignete Mittel erscheint, — oder wenn Lun- — 3077 — genkrankheiten vorhanden sind, für deren Heilung man einseitige Ver- stärkung der Einathmungsbewegungen zweckdienlich hält; und diese einseitige Verstärkung der einen Art von Athmungsbewegungen wird dadurch erzielt, dass man denjenigen Muskeln, welche der betreffen- den Art der Bewegung dienen, ein Uebergewicht durch vermehrte Ausbildung verschafft. Erkrankungen, die in die erste Kategorie ge- hören, sind z. B. pleuritische Adhäsionen (Verwachsungen der Lunge mit der Brustwand), welche überhaupt Stärkung der Athmungsbewe- gungen erfordern. Erkrankungen, die in die zweite Kategorie gehö- ren, sind: Lungentuberkulose, welcher durch verstärkte Einathmung, und Lungenemphysem, welchem durch verstärkte Ausathmung entge- gengearbeitet werden soll. -(Diese letzteren Mittheilungen über Lun- gentuberkulose und Lungenemphysem gebe ich nur als Referent, ohne mich auf Erörterung der Zweckmässigkeit der genannten Mittel gegen diese Erkrankungsformen oder auf Besprechung der Richtigkeit der Ansichten einzulassen, welche der Anwendung dieser Mittel zu Grunde liegen ). In ähnlicher Weise wird auch Stärkung der Bauchmuskeln an- gewendet, wenn Schlaffheit derselhen deren Beziehungen zur Unter- stützung der Darmbewegung überhaupt und namentlich der auf Ent- leerung zielenden Bewegung des Dickdarmes hemmend entgegensteht. Wichtiger indessen, als diese Anwendungen lokaler Gymnastik sind diejenigen, welche zur Verbesserung einer unrichtigen Haltung dienen oder zur Stärkung solcher Muskeln, deren meist durch lokale Erkrankungen gesetzte Schwäche für Ausübung der Geschäfte des täglichen Lebens oder des Berufes wesentlich hindernd wird. Auf diesem Gebiete hat zwar die Orthopädie schon lange und mit sehr erfreulichen Erfolgen gearbeitet; indessen sind doch gerade hier durch die schwedische gymnastische Schule und durch Düchenne’s Methode des Elektrisirens nieht nur die Hülfsmittel wesentlich vermehrt wor- den, sondern dieses ist auch gerade das Gebiet, auf welehem diese beiden neueren Formen der Gymnastik ihre bedeutendsten Erfolge er- zielt haben. Die Grundsätze, nach welchen Heilungen der oben be- zeichneten Uebel unternommen und durchgeführt werden, sind folgende: die richtige Haltung in einem Gelenke und die zu seinem Gebrauche nothwendige Beweglichkeit gründet sich nur auf die Möglichkeit, dass die Bewegungen in demselben in allen durch den Bau der Gelenk- enden ermöglichten Richtungen mit gleicher Leichtigkeit und deshalb mit annähernd gleicher Häufigkeit und Stärke ausgeführt werden, denn nur — 5308 — hierdurch wird die zur richtigen Haltung nothwendige, möglichst gleichmässige Uebung aller zu einem Gelenke gehörigen Muskeln zu Stande gebracht und unterhalten. Eine Störung in diesen Verhältnis- sen sen. 1) 2) 3) 4) muss deshalb mit Nothwendigkeit unrichtige Haltungen veranlas- Die wesentlichsten Störungen dieser Art sind folgende: Eine Muskelgruppe ist aus irgend einer Ursache zu schwach und die ihr physiologisch entgegengesetzte (antagonistische) ist da- durch relativ zu stark und deshalb in ein solches Uebergewicht gesetzt, dass nunmehr sie allein die Haltung in einem oder in mehreren Gelenken bestimmt, deren Haltung sie gemeinschaftlich mit der erstgenannten Muskelgruppe bestimmen sollte. Hier- durch entstehen oft die hässlichsten, mit grösserer oder geringe- rer Beeinträchtigung der Gebrauchstüchtigkeit eines Gliedes ver- bundenen Missstaltungen z. B.an den Händen und den Füssen. — Hülfe wird in diesen Fällen geschafft durch Stärkung der zu schwachen Muskelgruppe und darin begründeter Herstellung des gestörten Gleichgewichtes. Diesem Falle beinahe gleichbedeutend ist der Fall, in welchem eine Muskelgruppe durch irgend welche Verhältnisse zu stark ge- worden ist und dadurch das richtige Gleichgewicht stört. — Die antagonistische Gruppe ist dann (wenn auch nur relativ) zu schwach und das Gleichgewicht wird dadurch wieder hergestellt, dass sie auf diejenige Höhe der Stärke gebracht wird, welche die erste Gruppe besitzt. Aehnlich ist der Fall, in welchem in unrichtigen Linien wirkende Schwere oder auch eine Zusammenschrumpfung nicht muskuloser Weichtheile in der unmittelbaren Nachbarschaft eines oder meh- rere Gelenke dieselbe Wirkung hervorbringt, welche eine zu starke Muskelgruppe erzeugt. — Auch in diesem Falle wird Abhülfe gewährt durch Uebung einer Muskelgruppe und zwar derjenigen, welche die entgegengesetzte Wirkung erzeugt, wie die beiden genannten nachtheiligen Agentien. In wieder anderen Fällen sind Auswüchse der Knochen in der Nähe der Gelenke, oder Verwachsungen zweier einander berüh- render Gelenkenden der Knochen Ursache einer falschen Hal- tung in einem Gelenke. — In solchen Fällen ist keine Hülfe möglich, ausser etwa auf dem operativen Wege. In allen Fällen von falscher Haltung, in welchen von der Gym- nastik Hülfe zu erwarten ist, gilt es demnach, irgend eine Muskel- — 309 — gruppe (oder einen bestimmten einzelnen Muskel) zu stärken, deren absolute oder relative Schwäche als Ursache der falschen Haltung er- kannt ist. Die bisherige orthopädische Gymnastik konnte dieses nur unvollkommen erreichen, weil sie nicht die Mittel hatte, möglichst isolirte Wirkungen auf einzelne Muskeln anszuüben. Diesem Mangel ist durch die neueren Methoden abgeholfen, indem einerseits die ei- genthümlich ausgebildete Ringmethode (die duplizirten Bewegungen) der schwedischen Schule die Mittel dazu an die Hand giebt, und an- dererseits Duchenne’s Methode des Elektrisirens. Indessen wird im- mer noch ein Unterschied in Anwendung dieser beiden Methoden be- stehen müssen und dieser ist im Ganzen leicht festzustellen. Die Methode der schwedischen Schule, als die naturgemässere, wird über- all da Anwendung finden müssen, wo sie Anwendung finden kann, d. h. überall da, wo der Willenseinfluss noch im Stand ist, in den zu stärkenden Muskelgruppen eine Erregung und Zusammenziehung zu erzeugen, welche zweckdienlich ist. Ist dagegen die Einwirkung des Willenseinflusses beinahe oder ganz geschwunden, die Kontraktions- fähigkeit der Muskeln dagegen, wenn auch nur noch in geringem Grade, erhalten, — oder ist der Willenseinfluss auf die Muskeln noch in Integrität, ist aber die durch ihn erzeugte Zusammenziehung nicht genügend, um den gewünschten Grad der Wirkung zu erzielen, dann ist die stärker erregende Methode des Elektrisirens am Platze, welche die Muskelzusammenziehungen durch direkte Einwirkung her- vorbringt; und in solchen Fällen hat diese Methode sich ihrer glän- zendsten Erfolge zu erfreuen gehabt. — Indessen ist aus dem oben angedeuteten Grunde ihre Anwendung nur so lange angemessen, als sie nothwendig ist: — kann sie entbehrt werden, weil sie schon den entsprechenden Grad der Besserung hervorgebracht hat, dann macht sie passender Weise der gymnastischen Methode im engern Sinne Platz, mögen nun die älteren gymnastischen Uebungsarten dafür ge- nügen oder die Verbesserungen der schwedischen Schule in ihrer An- wendung nothwendig oder angemessener sein. ze Be SEE SE ee ap Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 15. Juni 1857. Herr Dr. Volkmar hielt einen Vortrag über den Brief des Polycarpus mit Rücksicht auf die Ignatiusbriefe. In dem ersten Theil stellte er das Resul- tat der unternommenen Untersuchung über Beides dar oder die einschlagende Geschiehte des Christenthums vom Martyrium des Ignatius bis zur nächsten Fol- gezeit des Martyriums von Polycarpus. Hiernach böte die syrische Recension der Ignatiusbriefe nicht blos in einzelnen Lesarten, sondern durchgängig die ursprüng- — 310 — lichste Gestalt; aber auch diese könne der Trajanischen Zeit nicht zugeschrie- ben werden, sei erst nach Polycarpus Tod möglich geworden. Der Brief des Polycarp dagegen sei echt, aber interpolirt, und zwar mit aller Planmässigkeit von dem Verfasser, welcher jene drei „Märtyrerbriefe* zur grösseren Macht- erweiterung für den Clerus, besonders des römischen, zu der Siebenzahl aus- gedehnt habe. In dieser trete auch Mehr als harmlose Fiction, nämlich raffinirte pia fraus vor; Pseudo-Ignatius sei völliger Vorgänger des Pseudo-Isidor. Der Be- weis hiervon liege theils in der ursprünglichern Drei-Brief-Gestalt mit ihrer noch harmlosen Doctrin, theils in dem Briefe von Polycarpus ad Philippenses, den die von Schwegler erhobenen Anklagen nicht treffen, sobald die von Ritschl schon im Wesentlichen angegebene Interpolation desselben anerkannt werde. Diese suchte der Vortrag im Besondern nachzuweisen, während das Uebrige nur mit in den Gesichtskreis gestellt sein sollte. Das chronologische Verhalten, den Zweck, den Lehrcharakter, das persönliche Verhalten des Briefstellers, die Sprache (ganz die des Siebenbriefverfassers), den innern Zusammenhang stellte er als entscheidend dar. Hieran knüpfte sich eine längere, lebhafte Discussion, an welcher sich die Herren Schlottmann, Fritzsche, Hitzig, Al. Schweizer, Heer, G. v. Wyss betheiligten. Sitzung am 20. Juli 1857. Vortrag des Herrn Prof. Dr. Hermann Meyer über Schädelmissbildungen. — Der Vortragende bemerkte zuerst, wie das Interesse für die Unterschiede in den Schädelgestalten schon lange rege sei, wie man früher denselben mehr in eth- nographischen Beziehungen Aufmerksamkeit geschenkt habe, in der neueren Zeit indessen, ohne die ethnographischen Forschungen zu vernachlässigen, einen an- deren Standpunkt für das Studium der Schädelgestalten gewonnen habe, nämlich den physiologisch-psychologischen, indem man sich nämlich bemühe, den Zusam- menhang zwischen Schädelgestalt und Art der psychischen Thätigkeiten zu er- mitteln. Von diesem Standpunkte aus seien namentlich die Studien der soge- nannten Phrenologie und die Forschungen über die materiellen Ursachen des Kretinismus geführt worden. Der Standpunkt der Phrenologie wurde darauf in wenigen Worten als ein solcher bezeichnet, welcher aller anatomischen, physiologischen und psycholo- gischen Basis entbehre. Eine Bekämpfung der Phrenologie sei zwar in gegen- “wärtiger Zeit eine unnöthige Mühe und deshalb auch eine Lächerlichkeit, er wolle deshalb auch hier nicht dabei verweilen, um so weniger als er bereits früher in einer besondern Flugschrift *) diesen Gegenstand weitläufiger behandelt habe; indessen sei doch darauf aufmerksam zu machen, dass die Mittheilungen, welche er (der Vortragende) zu geben gesonnen sei, im strengsten Widerspruche seien gegen eine wesentliche Grundlage der angewandten Phrenologie, d. h. der Kranioskopie. Dieser Theil der Phrenologie stütze sich nämlich ganz besonders darauf, dass die Schädelgestalt während ‘der Entwickelung durch die Art und Weise bestimmt werde, wie sich das Gehirn entwickele. So ganz allgemein ge- halten, habe dieser Satz allerdings seine Giltigkeit und sei auch schon vor der Phrenologie von der Wissenschaft anerkannt worden. Sobald man indessen in das Einzelne gehen wolle und namentlich auch eine Kongruenz der äusseren Schädelfläche mit der äusseren Oberfläche des Gehirns erkennen wolle, stosse man auf eine Unzahl von Widersprüchen, welche diesen Satz für praktische An- wendung gänzlich unbrauchbar machen. Ausserdem sei aber auch dieser Satz nicht einmal in der oben gegebenen allgemeinen Formulirung richtig, indem in sehr vielen Fällen mit Entschiedenheit die Hirngestaltung durch die Art der Ent- wickelung des Schädels bestimmt werde, wie aus dem später Mitzutheilenden hervorgehe. In Bezug auf die Kretinenfrage drückte der Vortragende vor Allem seine Verwunderung und sein Bedauern darüber aus, dass bei der grossen allgemei- nen Wichtigkeit des Gegenstandes und bei den zahlreichen, mühsamen und kost- *) Die Phrenologie vom wissenschaftlichen Standpunkte aus beleuchtet. — Tübingen, Laupp, 1844, en — 31 — epieligen Untersuchungen, welche allerorts darüber angestellt worden seien, man niemals daran gedacht habe, mit einer anatomischen Definition des Kretinis- mus zu beginnen. Der Name und Begriff sei dem Volksleben entnommen und zu einem wissenschaftlichen erhoben worden, ohne ihm den von seinem Ur- sprunge herrührenden Karakter der Gefühlsauffassung zu nehmen, und ihn wis- senschaftlich zu präzisiren. Er habe diesen Mangel fühlend deswegen schon seit Jahren in seinen Vorträgen den Kretinismus als eine Idiotie bezeichnet, welche ihren Grund in einer Erkrankung der Schädelbasis finde und zwar in einer Rachi- tis (Periostitis) derselben; in Folge einer solehen Erkrankung werde nämlich die Schädelbasis eingedrückt und damit ein Druck auf das Gehirn geübt, welcher nur hemmend auf die geistige Thätigkeit wirken könne. Er habe auch bereits im Jahre 1853 in einem Aufsatze über die Natur der Rachitis und die durch dieselbe bedingten Missstaltungen des Knochengerüstes ®) gezeigt, wie bedeu- tend solche Eindrücke sein können und nach welchen Gesetzen sie entstehen; er habe jedoch seine Ansichten über diese Verhältnisse in neuerer Zeit erweitert. In neuerer Zeit habe indessen Virchow **) eine andere Definition des Kretinis- mus von dem anatomischen Standpunkte aus gegeben und die Erscheinungen desselben erklärt als herrührend von einer zu frühzeitigen Verknöcherung der synchondrosis sphenobasilaris. Die Virchow’sche Definition stimme, wie zu er- kennen, mit der oben gegebenen in so ferne überein, als sie auch den Grund des Uebels in einer Missstaltung der Schädelbasis durch Erkrankung suche. Die Art der Erkrankung sei zwar anscheinend eine andere, im Wesentlichen aber dieselbe, wie die oben bezeichnete, indem auch eine zu frühe Verwachsung jener Synchondrose in einer Periost itisdes kindlichen oder auch des fötalen Al- ters, also in Rachitis, ihren Grund finden müsse. — Virchow sei zu seiner De- finition veranlasst worden dadurch, dass er eine Verwachsung der bezeichneten Art bei einem kretinisch geborenen Kinde gefunden und einen entsprechenden Befund auch bei den Schädeln erwachsener Kretinen angetroffen habe. Er habe um so lieber diese Definition des Kretinismus mit einer gewissen Ausschliesslich- keit hingestellt, als allerdings die erwähnte Missbildung den tiefen Eindruck an der Nasenwurzel der Kretinen genügend erkläre. Der Vortragende hemerkte dar- auf, dass mit dem Virchow’schen Fund allerdings viel gewonnen sei, dass er aber nichts desto weniger an seiner früheren weiteren Definition festhalte und zwar deswegen , weil, wie oben angedeutet, die zu frühzeitige Verwachsung der syn- ehondrosis spheno-basilaris ebenfalls wie die Eindrückung der Basis eine Folge der Periostitis des frühesten Lebensalters (Rachitis) sei und weil er zeigen könne, dass jene Einknickung des Gesichtes an der Nasenwurzel auch ohne die bezeich- nete Verwachsung an rachitischen Schädeln vorkommen könne. Seine (des Vor- tragenden) Definition müsse nur in Folge von Virchow's Entdeckung dahin er- weitert werden, dass die Folgen der Rachitis nicht nur als Eindrückung der Ba- sis, sondern auch als frühzeitige Verknöcherung der Synchondrosen auftreten können. Der Vortragende zeigte sodann noch zwei Schädel, welche durch ein son- derbares kapselartiges Hervortreten der Hinterhauptsschuppe ausgezeichnet sind und erklärte, dass er durch seine neueren Arbeiten über die Schädelbasis, wel- che er im Interesse der oben berührten Frage unternommen, auch in den Stand gesetzt worden sei, die Entstehungsweise dieser Formen, welche bis jetzt noch nicht aufgehellt gewesen sei, zu erklären. Der eine dieser Schädel gehört einem epileptischen Mädchen von ungefähr 30 Jahren an; über die Verhältnisse des Individuums, von welchem der andere Schädel stammt, ist nichts bekannt. Uebergehend auf die pathologischen Gestaltveränderungen der Schädelbasis während ihrer Entwickelung zeigte der Vortragende nun zuerst, dass die Entwickelung der Basis in wesentlicher Abhängigkeit von der Entwickelung des Schädeldaches sei. Als Beweise wurden zwei Schädel vorgezeigt, von welchen *) Henle und Pfeufer’s Zeitschrift N. F. Bd. 1II. *#*) Würzburger Verhandlungen 1856. — Weiter ausgeführt in einer besondern Schrift: Untersuchungen über die Entwickelung des Schädelgrundes. Berlin 1857. — 312° — der eine monstros lang war wegen zu früher Verwachsung des sutura sagittalis, und der andere zu kurz wegen zu frühzeitiger Verwachsung der sutura coronalis; bei beiden war die Basis (von der Spitze des Lambdanaht bis zur Nasenwurze]) nahezu gleich lang, aber an dem ersten Schädel war sie in einen sehr flachen Bogen ausgezogen, an dem zweiten in einem hohen Bogen nach unten gewölbt. Der Vortragende zeigte bei dieser Gelegenheit, dass die Differenzen in der ab- soluten Länge der Schädelbasis nie so bedeutend sein können als diejenigen in der absoluten Länge des Schädeldaches, weil die Basis in ihrem Wachsthume auf einen bestimmten Vorrath von Knorpelmasse angewiesen sei, die durch stets erneuerte Ablagerungen in den Nähten wachsenden Knochenstücke des Daches dagegen ins Unbestimmte fortwachsen können. Als zweite wichtigere Quelle für Missstaltungen der Schädelbasis wurde so- dann das Verhältniss derselben zur Wirbelsäule hingestellt. Die Basis wurde als ein Gewölbe aufgefasst, welches den Gegendruck der Wirbelsäule zu tragen hat. Das Gewölbe bestehe aus vier Haupttheilen, von welchen zweie sich an das Schädeldach anschliessen, nämlich das Keilbein und die Hinterhauptsschuppe, zweie aber zwischen diesen beiden eingeschaltet (pars basilaris und pars con- dyloidea des Hinterhauptes) den Druck der Wirbelsäule zunächst zu tragen ha- ben. — Die Gestalt dieses Gewölbes werde in zweierlei Weise in ihrer Entwicke- lung modifizirt, wenn ein Missverhältniss zwischen Belastung und Widerstands- fähigkeit desselben gegeben sei. Zu grosse Belastung sei gegeben durch Tragen auf dem Kopfe und durch Stösse, z.B. durch Fallen auf den Sitztheil des Kör- pers; — zu geringe Widerstandsfähigkeit sei gegeben durch rachitische (periosti- tische) Erkrankung der Schädelbasis. Die Folgen der Einwirkung des einen dieser beiden Momente oder beider zusammen seien : 1) Flacherlegen des mittleren Theiles des Gewölbes und 2) Einknickung zwischen dem Keilbein und dem mitt- leren Gewölbetheil, — manchmal sogar beides zusammeen. Die Flachlegung des mittleren Theiles des Gewölbes sei mit einer Einwir- kung auf die beiden Endtheile desselben nothwendig verbunden. An dem Keil- beine komme diese Einwirkung nicht in erheblichem Grade zur Aeusserung, weil dieses allseitig zu feste Anheftungen habe; — dagegen werde die Hinterhaupts- schuppe oft bedeutend influenzirt. Wenn nämlich deren Verbindungen weniger fest seien, dann könne sich der Gewölbedruck als Horizontalschub bemerkbar machen und in solchen Fällen werde die Hinterhauptsschuppe nach hinten ge- trieben. Auf solche Weise entstehen die vorher bezeichneten kapselartigen Vor- treibungen der Hinterhauptsschuppe. An den beiden vorgezeigten Schädeln sei es deutlich, dass ihre Basis wirklich ein zerdrücktes Gewölbe sei; auch an der Lage der Schläfenschuppe lasse sich dieses erkennen. Vielleicht habe in den bei- den vorliegenden Fällen auch noch äussere Gewalt die Entstehung der Missstal- tung unterstützt. Sei dagegen die Hinterhauptsschuppe in festerer Verbindung mit den Schei- telbeinen, so werde die Hinterhauptsschuppe senkrechter gestellt und das Hin- terhaupt damit abgeflacht. Bedeutend werde dieses noch vermehrt, wenn als Theilerscheinung der Rachitis auch noch der sogenannte weiche Hinterkopf (Osteoporose der Hinterhauptsschuppe) vorhanden sei, indem dann durch Lie- gen auf dem Rücken die Verflachung des Hinterhauptes noch bedeutend vermehrt werden müsse. In beiden Fällen werde durch das Wachsthum in der Lambda- naht das Schädeldach mehr nach vornen gedrängt und die Nasenwurzel durch das Vordrängen des Stirnbeines eingeknickt. Treten diese Folgen in höherem Grade auf, so sei dadurch einerseits Hirndruck und mit diesem Idiotie gegeben und andererseits die Entstehung der eigenthümlich zusammengedrückten Kretinen- physiognomie. — Durch solche Erfahrungen sei es demnach gerechtfertigt, den Kretinismus in der oben angegebenen weiteren Art, anatomisch zu definiren, namlich: Idiotie aus Hirndruck bedingt durch die Folgen einer rachitischen Er- krankung der Schädelbasis (Verflachung des Gewölbes oder zu frühzeitige Ver- wachsungen). Der Vortrag war verbunden mit Vorweisung der Belegstücke für die ausge- sprochenen Ansichten. Druck von E, Kiesling. Verlag von MEYER & ZELLER in Zürich. Sandbud vergleihenden Statiftif — der Böolferzuftandg- und Stantenfunde. — gür den BERN DER SRULMEN Gebraud ®. Fr. "Kolb. 25 Bogen gr. 8. geheftet Thlr. 2. — fl. 3. 30 fr. Diefes vorzügliche Werk ift nad) den neueften und verläßigften, zum Theil nicht allgemein zugänglichen Materialien mit großem Zleiße bearbeitet. &8 gibt Teineswegs ein geijttödtendes Stffernmeer, fondern e8 fchildert die ftaatlichen und fortalen Verhältniffe, zugleich die Ziffern- angaben erflärend und erläuternd, die Thatfahen vergleihend und beurthet- Lend, dabet unter fteter Htnwetfung auf die Hanptveränderungen feit dem Beginne der fo Dieles umgeftaltenden erten franzöfifchen Nevolution. Den Nacdwelfungen über Umfang, Bevölkerung, Gebtetswechfel, Finanzen (Budgets und Schulden), Heerwefen, Gewerbs-, Handels und Schtffahrtsverhältniffe, fchltepen fich foldhe über allgemein menfcjliche Zuftände, über wichtige fociale Fragen an. Da das Bucy wefentlich für den praftifchen Gebraud eingerichtet ift, fo wird dasfelbe nicht nur dem Statiftifer von Fadı, fondern au jedem Gefhäftsmanne, jedem Zeitungslefer nüslic fein. Weisser, Adolf. Volksgeschichten aus der Schweiz, & 10 Ne —_ 36 kr. — 1 Ft. Inhalt der vier erschienenen Bändchen : I. Bdehn : Die Züricher Mordnacht. Eine Geschichte aus dem deutschen Städteleben des vierzehnten Jahrhunderts. REN .nE Geschichte des glückhaften Schiffes, oder der warme Hirsbrei auf dem, Freischiessen zu Strassburg im Jahre 1576. IH... Bruder Klaus von Unterwalden. Lebensbild eines patriotischen Einsiedlers. IN. Zur Geschichte der gymnastischen Spiele. Ein Büch- lein für en und Alt. Geschichte EUROPÄISCHEN STAATENSYSTENS Zeitalter der Reformation "bis zur ersten französischen Revolution von D’ Bans Beinrich Bögeli, Professor der Geschichte an der obern naeh in Zürich Privatdocent an der Universität. Erste Abtheilung. Vom Zeitalter der Reformation bis zur Selbstherrschaft von Ludwig XIV. (1519 — 1661.) 41 Bogen gr. 8. Geheftet. Preis 2 Thlr. oder 3 fl. 20 kr. oder 5 Fr. 60 Ch. ; Ra Monatsschrifi des -)) WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS ” z vi in ZÜRICH. Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : FErDINAnD Hırzıc, EDUARD OSENBRÜGGEN, HEINRICH Frey, (Hauptred.: Aporr ScHwipr.) BWBLEBR JABESATE Eilites und zboölftes Heft. nun ar are re =. ADpoLF Schuipt, HEINRICH SCHWEIZER. | | VERLAG von MEYER & ZELLER. 1857. 9 IL< de x „ De a Fi a Pe AP SS2L na ıs cn 5 2 2 — © yo (5° Bestellungen auf den nächsten Jahrgang A 2 Thlr. 20 Ngr. (= 9 Fr.) bitten wir recht bald bei den Buchhandlungen oder Postämtern abzugeben. _ Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, sowie Berichte und Anfragen in dem Anhang mitgetheilt werden. Inhalt des borliegenden Heftes: Nationalstatistische Notizen über die Bewegung der Bevölkerung des Kan- tons Zürich in den 10 Jahren 1846—1855. Von Dr. Med. Schräuzı. 313 Ueber apokalyptische Geheimnisse, das vierte Buch Esra im Besondern. Von! DERW:SNVOLKMAR Re N en nee reine atehre ne; AR Die nächstfolgenden Hefte werden Beiträge enthalten von H. Ferr, ViscHErR, v. Wyss, v. OrELLı, Av. Fıck und Anderen. Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des Buchhandels erbeten. Gegenboärtige Mitglieder des Wissenschuftlichen Vereins : ALEx. Schweizer, Präsident. Näseı, Vicepräsident. v. OrEıı, Sekretär. Boprık. Crausıus. DERNBURG. EscHer v. d. Lıntu. Feuer. Av. Fıck. H.Frey. Feıtzsche. Gıesker. Heer. Hındesranvd. Hıresranpd. Hırzıc. J. J. Hortıneer. Kım. L£EBErT. v. MarscHaLı. H. Meyer. MEYER-AuREns. MEYER v. Knonav. MÜLLER. OsENBRÜGGEN. RAABE. ScHtLortrmann. And. Schmivt. H. ScHWEIZER. STÄDELEB. F. Vıscher. Vorkmar, R. Wour. G. v. Wyss. Druck von E. Kiesling in Zürich. 7 EEE EEE Medicinalstatistische Notizen über die Bewegung der Bevölkerung des Kantons Zürich in den 10 Jahren . 1846 -— 1855. Von SCHRAEMLI, Das hier Gebotene ist nur ein freier fragmentarischer Auszug aus einer detaillirtern Arbeit, welche ich mit den Angaben der meist amt- liehen Quellen und mit tabellarischen und graphischen Beilagen ver- sehen, der med. chir. Kant.-Gesellschaft des K. Zürich dieses Früh- jahr (1857) eingereicht habe, und ich muss daher das Vertrauen des Lesers um so mehr in Anspruch nehmen, wenn hier von der An- gabe jener Quellen und Belege schon um des beschränkten Raumes willen möglichst Umgang zu nehmen war. 1. Einleitendes. 1. Der dermalige Gebietsumfang des Kantons Zürich. Das Areale des Kantons umfasst nach dem neuen Eidg. geo- graphischen Flächenmaass — die Juchart zu 40,000 7)‘ und die [) Stunde zu 6400 Jucharten berechnet — 74,84 [_) Stunden, auf welche sich im Jahr 1850 250,907 Einwohner vertheilten. Demnach fielen damals durchschnittlich auf jede [7] Stunde 3353 Einwohner und auf jeden Einwohner 1,9 Jucharten Landes. Diese Berechnung hat aber insofern viel Illusorisches, als von jenem Arealbetrage ein Be- deutendes für unbewohnbares und bis jetzt noch unkultivirtes Gebiet, wie z. B. für See’n, Flüsse, Teiche, Strassen, Eisenbahnen u. dgl. abzuziehen ist, wie folgende Uebersicht nachweist. (Der Riedboden ist hier als noch ceultivirbares Land in Berechnung gebracht). Wissenschaftliche Monatschrift. II. 22 314 Bezirke. Gesammtfläche, Bezirks-Einwohner Nicht bewohn- Bewohnb. Land. Einw.-Zahlnach Zahl der Zahl der Juch, auf 1850. tes Land, in Juchart bewohnb. Quadrat- Juch.auf 1 Familie zu mh in Juchart, Stunden. 1 Einw, 5 Einw. 1. Zürich 43,259 = 6,73 [)St. 48,802 3920 39,330 7935 0,8 4 2. Affoltern 8312238 = Wa... 12,928 910 30,318 2727 2,3 11,; 3. Horgen 36,383 — Bing „ 24,377 9280 27,103 5763 I 5,5 4. Meilen 28,960 — Ay » 19,399 8680 20,280 4399 IE, 2: 5. Hinweil 49,543 = würd n 25,209 1800 47,743 3379 1,9 95 6. Uster 83,202 Bun 17,008 3130 30,072 3618 1,s 9 7. Pfäfikon 45,608 = Tu) „ 19,857 1900 43,708 2907 2% 11 8. Winterthur 69,986 = 10,94 „ 30,498 1980 68,006 2869 2,8 11 9, Andelfingen 45,752 = Ts „ 17,018 1610 44,142 2431 2,6 13 10. Bülach 51214 = 8— „ 20,507 1350 49,864 2632 24 12 11. Regensberg 43,866 = 6,5 „ 19,310 970 42,896 2285 2,8 14 ENDE ES de LA a Te rt 5 0 A le nl a a ee Canton Zürich 479,001 = 749 250,907 35,580 443,471 3621 15; — 69,29 DT) Stunden. h — 35 — Obige Zusammenstellung zeigt also, dass das unbewohnbare Kantonsgebiet 35,530 Jucharten = 5,55 U) Stunden einnimmt und sich zum bewohnbaren wie 1:12 verhält; wonach sich die Juch- artenzahl des ertragbaren Landes für den einzelnen Einwohner auf 1,77 und auf die Familie zu 5 Personen auf 8,85 Jucharten redu- eirt, die [_) Stundenbevölkerung dagegen durchsehnittlich auf 3621 Einwohner (um je 268 E.) vermehrt wird. Dieser im Ganzen viel- leicht geringfügig scheinende Unterschied stellt sich aber, ganz ab- gesehen davon, dass der Umfang der einzelnen Bezirke von 28,960 bis auf 69,986 Jucharten, also um mehr‘ als das Doppelte und die respective Bezirksbevölkerung von 12,925 bis auf 43802 Einwohner, also um mehr als 2/, variiren, — aus dem Grunde als ein sehr we- sentlicher heraus, weil das unbewohnbare Gebiet beispielsweise im Bezirk Meilen eirea 30 %/,, im Bezirk Horgen 23 %,, im Bezirk Uster 10 0/,, im Bezirk Zürich 9 0/, des ganzen resp. Bezirksgebie- tes ausmacht, wonach die Juchartzahl für den einzelnen Bezirksbe- wohner von 2,8 bis auf 0,6 und die [_)] Stundenbevölkerung von 2869 bis auf 4399 Einwohner different werden. Für genauere Berechnung wird man daher immer besser thun, statt des Gesammtgebietes, die bewohnbare Bodenfläche als Maassstab zu gebrauchen. Ueber- haupt zeigt eine nähere Betrachtung dieser Verhältnisse, dass die kleinen Bezirke gerade die relativ grösste, — und umgekehrt die ausgedehntesten Bezirke die relativ geringste Bevölkerungszahl auf- nehmen. 2. Das summarische Ergebniss der bisher bekannten Volkszählungen. Die erste dieser Zählungen fällt in das Jahr 1467, in die Zeit ungefähr, mit welcher der förmliche Bestand eines Kantons Zürich anhebt, da die bis dahin mit der Stadt Zürich noch nicht in einem “ engern gegenseitigen- Verbande gestandene Landschaft unter dem Regimente Waldmanns zum erstenmale in einem gemeinsamen Land- ‚rathe vertreten und die Vereinigung mit einem Landeseide bekräftigt ward. Dieser ersten Volkszählung von 1467 folgten dann successive bis auf unsere Tage noch 12 andere nach, in den Jahren 1529, 1588, 1610, 1634, 1671, 1771, 1792, 1812, 1824, 1833, 1836 und 1850. Der allerdings verschiedene Werth dieser Zählungen, namentlich in den frühern Jahrhunderten, ist leicht zu ermessen, wenn man die Schwierigkeiten bedenkt, welche durch den beständigen Wechsel von Erwerbung und Verlusten an Areal-Bevölkerung und durch‘ die man- — 316 — nigfaltige Verkehrsstörung veranlasst wurden, welche im Gefolge der damaligen Kriegs- und Reisläufe, hauptsächlich aber von 21maligen verheerenden Pestausbrücheu zwischen 1467 bis 1668 eintraten; wur- den ja allein schon die letztern auf die enorme Summe von 243,962 Opfern, also nahezu gleich der Summe unsrer ganzen heutigen Kan- tonsbevölkerung berechnet. Im Jahre 1467 zählte der Kanton Zürich 51,892 Einwohner. Diese haben sich bis 1850, also im Verlaufe von 383 Jahren auf 250,907, oder um den reinen Betrag von 199,015 vermehrt, was durchschnittlich einer jährlichen Vermehrung um 519 oder um 0,19 Procent und im Ganzen einem Gesammtzuwachse von 1:4,84 oder beinahe dem fünffachen Betrage von Ao. 1467 gleichkommt. Dieser Zuwachs war indessen weder ein gleichförmiger noch ein ununterbrochener, indem einerseits in den verschiedenen Zählungen wieder die jährliche Zunahme von 347 bis auf 1962 Einwohner dif ferirt hat, anderseits in einer derselben, zwischen 1610 und 1634 ein förmlicher Rücksehritt im Betrage von 55,579 eingeschlossen ist, der wohl hauptsächlich auf Rechnung 3maliger Pestausbrüche während dieser 24 Jahre zu bringen sein dürfte. Verfolgt man etwas genauer die Zunahme der Bevölkerung, wie sie sich während der letzten 53 Jahre, von 1792 — 1850, in den einzelnen Bezirken gestaltet hat, so begegnet man 10 localen Einbus- sen, von denen sich 6 in 6 Bezirken bald wieder ausglichen; bedenk- licher hingegen sind 4 andere, welche, auf die zwei Bezirke Hinweil und Pfäffikon fallend, bei den zwei letzten Zählungen von 1836 und 1850 rückständig geblieben sind, d. h. fortgedauert haben. Wollte man überhaupt — was mir jedoch bei den nie vorauszusehenden zu- künftigen Wechselfällen nicht sehr verlässlich scheint — die Progres- sionsverhältnisse, wie sie in der kurzen Zeitspanne von 1856 -— 1850 obwalteten, auch für die Zukunft als constant voraussetzen, so müsste man der Zukunft der Zürcherischen Bevölkerung folgendes Prognosti- kon stellen: aundb. Die beiden Bezirke Zürich und Bülach würden, von 1836 an gerechnet, in 36 Jahren oder mit Ao. 1872 c. der Bezirk Horgen würde a Ic ”" Kenn. 18 dam » Winterhur „ nal nr». 1906 e. „ gesammte Kanton Zürich würde SO, FE f. „ Bezirk Andelfingen würde EN ul ini 4 a a 0) guy „n Regensberg 5 „8 ,„ Pa EEE Li, Bike „ Affoltern u Ihosany ai ra — 317 — i. der Bezirk Meilen würde in 101 Jahren oder mit Ao. 1937 Britz 5 Uster 3 «ieBrh Ann 959 ihre respektiven Bevölkerungen verdoppeln; dagegen würden die Be- völkerungen I. des Bezirkes Hinwel . . . in 304 Jahren oder mit Ao. 2140 und m» > Pfäffikon schon . „ 112 5 A n 93% 1948 aussterben! — Eine weitere Vergleichung der zwei letzten Volkszählungen von 1836 und 1850 macht uns ersichtlich, dass der Antheil, den jedes der beiden Geschlechter am Bevölkerungszuwachse nahm, in der Weise differirt, dass sich dabei im Ganzen das Verhältniss von 2 männ- lichen zu 3 weiblichen Eeinwohnern also ein plus von 20 °/, zu Gun- sten des weiblichen Geschlechtes herausstellt. Dieses Verhältniss spricht sich besonders prägnant in den 2 Bezirken Zürich und Mei- len aus, während hingegen gerade das Umgekehrte und zwar in sehr annäherndem Betrage in den 2 Bezirken Regensberg und Affol- tern vorkommt. Noch verweile ich einen Augenblick bei dem Ergebnisse der letzten Volkszählung von 1850, da sie uns später, als in der Mitte unsrer 10 Betrachtungsjahre liegend, noch öfter zum mittlern Anhalts- punkte für uusere Berechnung dienen wird. a. Die Gesammtzahl der Bevölkerung betrug Ende März 1850, — 250,907 Einwohner, darunter waren 123,271 männliche und 127,636 weibliche = 49,13 : 50,g7°/o- b. Auf die einzelne Familie, deren der Kanton damals 49,965 zählte, kommen durchschnittlich und zugleich in 9 Bezirken je 5 Einwoh- ner zu stehen; im Bezirke Bülach etwas weniger (4,8), im Be- zirke Regensberg etwas mehr (5,3). e. Die Stände der Ledigen — 146,649; — der Verheiratheten — 88,483; — und der Verwittweten — 15784; — stehen in den Ver- hältnissen von 58,36 und 6 °%/, zu einander, variiren aber doch in den einzelnen Bezirken je zu 50 — 60; 34 — 38 und 5 — 7%. d. Die Altersklassen, die aber leider nur für die männliche Be- völkerung berechnet vorliegen, zeigen 35 %, im Alter unter 20 Jahren; — 40 %, zwischen 20 — 44 Jahren; 23 °/, zwischen 44 — 70 Jahren; — 2,90 Y von 70 — 80 Jahren und 0,30 %o im Alter über 80 Jahre. Bei der weiblichen Bevölkerung er- reicht diese letzte Serie nur O,47 %0; also beinahe nur die Hälfte der männlichen. e. . Die Gemeinds- und Kantonsbürger zusammen, gegenüber den — 318 — Schweizerbürgern und den Ausländern stellten sich Ao. 1850 zu einander wie 234,128 zu 11,184 und zu 5573 (und 22 Hei- mathlosen) in procentalen Verhältnissen ausgedrückt, wie 93,3 %, zu 4,5; Y, und zu 2,5 %/, (und 0,009 °%/, Heimathlose). Da uns über die Bewegung der Ein- und Auswanderung während der 10 Betrachtungsjahre 1846 — 1855 keine abschliesslichen Daten zu Gebote stehen, so finden wir hier doch die Gelegenheit uns wenigstens darüber zu orientiren, in welcher Richtung sich das Ele- ment der Einwanderung in den 15 Jahren 1836 — 50 bewegt hat; die Bewegung der Auswanderung mag ohnehin schwerlich in ir- gend erheblichen Betracht fallen. Gemeinds- u. Kantonsbrgr. Schweizerbürger. Fremde. Tot. 1836. — 217,219 7,991 6,366 231,576 1850. — 234,128 11,184 5,973 250,907 ' (und 22 Hei- mathlose). Vergleichen wir nun aber die gegenseitigen Verhältnisse der 3 Categorien mit den respectiven Summen der beiden Volkszählungen, so erhalten wir folgende procentale Veränderungen: Der Antheil der Gemeinds- und Kantonsbürger hat sich relativ um 1,45 °/, vermindert. Der Antheil der Schweizerbürger hat sich relativ um 1,05 %, vermehrt. Der Antheil der Fremden hat sich relativ um 0,55 %, ver- mindert. Wahrscheinlich wird sich auch für die letzten 10 Jahre ungefähr das gleiche Ergebniss gewärtigen lassen. Il. Die Bewegung der Bevölkerung in den 10 Jahren 1846 — 55. Die natürlichen Factoren, auf deren combinirter Einwirkung, wenigstens in christlichen Staaten, alle numerische Veränderung be- ruht, sind bekanntlich: Die Zahl der Ehen, zumal der neugeschloss- nen; das Maass ihrer Fruchtbarkeit, oder die Summe der Gebornen; das Maass der Sterblichkeit oder die Summe der Verstorbenen; und die Verhältnisse der Ein- und der Auswanderung. Je nach dem rela- tiven Zusammenwirken dieser fünf Momente wird . der Bestand einer Bevölkerung entweder mehr oder minder stabil bleiben, oder sich ver- — 519 — mehren oder vermindern, und es liegt somit im Zwecke dieses Ab- schnittes, die diessfällige Richtung, wie sie sich in dem angedeute- ten Zeitraume bei uns gestaltete, näher zu verfolgen. Wie bereits angedeutet, müssen hier einerseits das Verhältniss der Ein- und Aus- wanderung, anderseits dann sber auch ‘die Betrachtung der einzelnen Bezirke fallen gelassen werden. 1. Das Verhältniss der neugeschlossenen Ehen. a. Während der benannten 10 Jahre wurden im Kanton Zürich 19926 neue Ehen geschlossen. Jährlicher Durchschnitt 1992 neue Ehen. Nach der Volkszählung von 1850 kommt somit 1 n. E. auf 126 Einwohner; — auf 25 Familien; — auf 74 Ledige; — auf 44 Verheirathete oder circa 20 ständige Ehen; und. auf 8 Verwittwete zu stehen. b. Eine Vergleichung der einzelnen Jahrgänge belehrt uns, dass das Jahr 1848 obigem Mittel am nächsten steht (1999), das Jahr 1850 die meisten n. E. (2223) und der Jahrgang 1847, die wenig- sten (1688) nachweist. Theilt man aber den 10jährigen Zeitraum in zwei gleiche Sjährige Hälften, so wird man in der zweiten der- selben einen Rückschlag um 162 n. E gewahr. e. In den letzten 3 Jahren 1852 — 55 haben sich ununterbrochen alljährlich die Zahl der n. E. vermindert, indem sie immer mehr unter das Medium sank und Ao. 1855 mit 1753 n. E. schloss. d. Das erste und das letzte der 10 Betrachtungsjahre mit einander verglichen, erblicken wir im Jahre 1855 den Stand der n. E. um 297 niedriger als im Jahre 1846, mit 240 unter. dem 10jährlichen Mittel und nur um 65 höher als im niedrigsten Sta- tus des Jahres 1847. Das summarische Ergebniss zeigt uns also unzweifelhaft, dass die Gesammtbewegung der n. E. seit 10 Jahren eine rückschreitende und zwar in den letzten 3 Jahren ohne Unterbrechung rückschreitende ist. Dagegen giebt eine genauere Betrachtung des Ganges in der jährlichen Fluctuation der neuen E. der Deutung Raum, dass die nu- merische Bewegung der n. E., die man sich sonst für je den einzel- nen Fall als Ausfluss des freien menschlichen Willens zu denken ge- wöhnt ist, colleetiv dennoch unter der unbewussten Einwirkung eines höheren Gesetzes stehen möchte, das von 2— 4 Jahren auf theil- weise Ausgleichung hinstrebt. Wäre an dieser Deutung etwas Rich- tiges, so hätten wir, da wir uns seit den Jahren 1853 — 55 offen- — 320 — bar in einer diesfälligen Minusperiode befanden, in den Jahren 1856 und 1857 wieder eine Mehrung der n. E. zu gewärtigen. 3, Das Verhältniss der Geburten. Dieses Verhältniss ist dem vorhergegangenen gegenüber schon complieirter, so dass wir hier folgende Categorieen auseinander halten müssen: A. Einfache Taufgeburten und Fehlgeburten. a und b. Unter den einfachen Taufgeburten, die ehelichen und die unehelichen,, e d und e. unter den Fehlgeburten, die Frühgeburten, die reifen Todt- gebornen und diejenigen lebendgebornen, welche noch vor der Taufe starben. B. Mehrfache Geburten. Zur Verhütung von Missverständnissen werden hier zunächst zweierlei Aufschlüsse nöthig. Für's erste nämlich besteht das ge- wöhnliche statistische Verfahren, das mittlere Verhältniss der Gebur- ten zu den Ehen, also die Fruchtbarkeit der letztern zu bestimmen, darin, dass man die Zahl der jährlichen Geburten nicht wie man etwa annehmen könnte, auf sämmtliche bestehende Ehen repartirt, son- dern einzig auf die neuen Trauungen (da der erstere Modus unaus- führbar wäre). Der hienach entstehende Quotient, welcher auf diese Weise immer mehrere (? — 4) jährliche Geburten auf 1 n.,E. an- häuft, hat daher nur den Sinn, dass er von der Voraussetzung aus- geht, es werde jede einzelne n. E. im Laufe der Zeit und während ihres Bestandes durchschnittlich die angegebene Menge von Kindern erzeugen. — Sodann befinden sich unter der Gesammtrubrik „Fehl- geburten“ auch die Lebendgebornen, welche vor der Taufe starben. Im Grunde sollten, vom phisiologischen Gesichtspunkte aufgefasst, diese Kinder unter den Lebenden aufgezählt werden, da sie, lebend geboren, vom Augenblicke des Eintrittes in ihre Existenz an, durch- aus dieser angehören, um so mehr, da der bürgerlich-kirchliche Act der Taufe ganz der Willkür der Eltern anheimgestellt ist, und je länger je mehr hinausgeschoben wird. Hier müssten aber die siche- rern pfarramtlichen Taufregister den weniger sicheren Geburtsregistern der Hebammen vorgezogen werden. — | In den 10 Betrachtungsjahren wurden im Kanton Zürich gebo- ren; 78,421 Kinder, Jährlicher Durchschnitt: 7,842: — 321 — Darunter befinden sich 71,627 Taufgeburten ; jährl. Durchschn. 7163 —= 91%, und 6,794 Fehlgeburten; jährl. Durchschn. 679 = 9°/, des Ganzen. A. Die Taufgeburten. Fassen wir alle Taufgeburten, ehliche und unehliche unter der Jahressumme von 7163 zusammen, so fallen auf jeden Tag des Jahres durchschnittlich 19,; Taufgeburten und auf jede Stunde des Tages 0,5. Unter den 7163 T. Geb. befinden sich 6825 ehliche = 95%), » a > 56 a » 338 unehliche = 5% aller T. G. Die 20ste Taufgeburt ist demnach eine unehliche. Auf 1 neugeschlossene Ehe kommen 3,, T. G.; auf sämmtliche ständige Ehen berechnet ergäbe sich auf 1 derselben O,,; T. G. 1 ehliche T. G. fällt auf O,; n. E. und auf 6,; ständige E.; auf 36,3 Kant. Einw.; auf 7,, Familien; auf 14 Verheirathete; auf 0,05 unehliche T. G. 1 unehliche T. G. fällt auf 19 ehl. T. G.; auf 742 Kant. Einw.; auf 43,4 Ledige. Der mittlern Summe der ehl. T. G. entspricht am meisten der Jahrgang 1854 mit 6868; bei den unehlichen der Jahrgang 1852, mit 334. — Die meisten ehlichen T. @. zeigt das Jahr 1849 — 7113; die meisten unehlichen das Jahr 1851 — 389. Die wenig- sten ehl. G. hat das Jahr 1847 — 6123; die wenigsten uneh- lichen das Jahr 1848 — 279. Theilen wir wiederum, wie bei den n. E, die 10 Betrachtungs- jahre in 2 gleiche Hälften, so begegnen wir in der ersten, be- treffend die ehlichen Geburten, einer Tendenz zum Steigen; in der zweiten hingegen einer solchen zum Sinken, und zwar in den letzten 3 Jahren ohne Unterbrechung. Vergleichen wir ferner das erste Jahr, 1846, mit dem letzten, 1855, so sehen wir in diesem letz- teren den Stand der Taufgeburten um 47 niedriger stehen, als im Jahrgange 1846; obgleich dieses letztere bereits schon sich be- deutend, um 188, unter dem mittleren Durchschnitt befand. Wir befinden uns daher offenbar, dem Stande der n. E. entsprechend, seit eirca 2 — 3 Jahren in einer Minderungsperiode der ehl. T. G., die aber voraussichtlich in den nächst folgenden Jahren wieder in eine Mehrungsperiode umschlagen wird. — 32 — h. Bei den unehlichen T. G. hingegen war der 10jährige Kurs ein anderer; in den ersten 5 Jahren stand das jährliche Medium auf 155,7; in den letzten auf 182,,; bier also ein Medium-Ueberschuss um 26,,. Halten wir ferner erstes und letztes Jahr gegen einan- der, so überwiegt das Jahr 1855 (364) dasjenige von 1846 (308) um 56 oder das 10Ojährliche Medium um 26 unehl. T. G. Im Ganzen ergibt sich also eine allmälige, jedoch nicht sehr erheb- liche Vermehrung der unehlichen T. G., deren Betrag jedoch die Summe des Jahres 1851 (389), bei weitem (noch um 25) nicht erreicht. i Berücksichtigen wir nun nöch die Geschlechtsverhältnisse der Taufgeburten, so finden wir hier Folgendes: a. Im Ganzen wurden getauft 36,453 Knaben und 55,174 Mädchen —=.:11,627 Jahresdurchschnitt 3,645 Knaben und 3,517 Mädchen = 7,162 oder 51:49 %% b. Die ehlichen Tauf- Geburten bestehen jahresdurchschnittlich aus 3479 Knaben und 3346 Mädchen = 51:49 %%, Die unehlichen T. G. bestehen jahresdurchschnittlich aus 167 Knaben und 171 Mädchen = 49,3:50,7 % Hier begegnen wir nun zwei sehr auffallenden Contrasten; ein- mal nämlich in Betreff des procentischen Geschlechtsverhältnisses zwi- schen ehlichen und unehlichen Kindern; indem bei den unehlichen Kindern procental die weiblichen Geburten beinahe eben so viel die Zahl der Knaben überwiegen, als diess umgekehrt bei den ehli- chen Kindern mit den männlichen Gehurten der Fall ist. Dieser merkwürdige Unterschied ist auch nicht etwa ein zufälliger, sondern er zieht sich durch 7 Jahrgänge hindurch, ist übrigens auch ander- wärts, nur nicht in so ausgeprägtem Maasse, beobachtet worden. — Ferner ist es sehr auffallend, dass an der ganzen retrograden Bewe- gung der gesammten Taufgeburten der Verminderungsantheil lediglich nur auf Seite der männlichen ehlichen Geburten liegt, die Ao. 1855 um 139 tiefer standen als Ao. 1846; während dagegen die weib- lichen ehlichen Geburten sich von 1846 auf 1855 diametral um 92 vermehrt hatten. B. ‚Die Fehlgeburten. Die Gesammtsumme der Fehlgeburten während der 10 Jahre be- trägt 6794. — Jahresdurchschnitt: 679. Das jährliche numerische — 323 — und procentische Verhältniss der 3 verschiedenen Categorien der Fehl- geburten unter sich ist folgendes: Frühgeburten 111 oder 16,5 %o Reife Todtgeborne 297° „ 43,4 % Vor der Taufe + 271 ,„ 400 % Es fällt ferner eine Frühgeburt auf 64, T.G.;auf18n.E. u. auf 2281 K. Einw. „ reife Todtgeburt „ 24 „ ee „845 n ein vor der Taufe * „ 26 „ ar Ta, 4 924 ” eineFehlgbrt. überhpt. „ 10, „ eg 2 EO ” Bei allen 3 Arten von Fehlgeburten erscheint das männliche Geschlecht stärker betheiligt als das weibliche und zwar durch alle 10 Jahrgänge hindurch; ein dabei stattfindender Unterschied besteht bloss darin, dass sich bei der Frühgeburt beide Geschlechter am meisten nähern; dass bei den reifen Todtgebornen das weibliche Ge- schlecht den geringsten Antheil nimmt und dass bei den vor der Taufe Gestorbenen dasselbe dem männlichen wieder etwas näher tritt. Im Ganzen genommen haben sich im Laufe der 10 Jahre die Fehlgeburten in einem mässigen Grade numerisch vermehrt. C. Die mehrfachen Geburten. In der Regel sind unter dieser Bezeichnung Zwillingsgebur- ten zu verstehen. In den amtlichen Tabellen kommen nur 6malige Andeutungen von Drillingsgeburten während der 10 Jahre vor; ich habe sie, um die Rechnung der Zwillingsgeburten nicht zu stören, als 9 Zwillingspaare oder 18 Zwillingsgeburten in dieselbe ineludirt. Anch sind die sämmtlichen Zwillingsgeburten als Taufgeburten in deren angegebener Gesammtsumme eingeschlossen. Diesem etwas un- genauen summarischen Verfahren konnte leider bei der Mangelhaftig- keit der Quellen nicht ausgewichen werden. Die Summe der Zwillinge beträgt für die 10 Jahre 1657, oder 828 Zwillingspaare. Jahresdurchschnitt 165,7, worunter 86,; Knaben und 79,8 Mädchen = eirca 11 Knaben: 10 Mädchen, also annähernd dasselbe Geschlechtsverhältniss wie bei den einfachen ehlichen T. G. Das Verhältniss der Zwillingsgeburten zu den einfachen Tauf- geburten (ehlichen oder unehlichen zusammen) ist folgendes. Im Ganzen alljährlich 165,, Zw. G. auf 7163 Tfgb. =1:43,9 oder 2,53, %/o 86,4 ml.Zw.G. „ 3645 m. T.G.=1:42,3 „ 2,36% 79,6 wbl. >) » 3517 wbl. n„ = 1 :44,9 „ 2,26 0). Ferner fällt eine einzelne Zwillingsgeburt auf 12 n. E. und auf 151,; K. Einw. also ein Zwillingspaar „, 24 „ 9» » 302,8 r — 324 — Die Zahl der Zw. G., nach den zwei 5jährlichen Hälften betrachtet, zeigt eine ganz gleichmässige Vertheilung derselben auf jede der bei- den Hälften; wonach ihre Zahl sich also annähernd fortwährend die gleiche geblieben wäre. Die meisten Zw. G. weist das Jahr 1853 nach (1838), die wenigsten (131) das Jahr 1852. 3. Das Verhältniss der Verstorbenen (Y). A. Die allgemeinen numerischen Verhältnisse. a. Während der 10 Betrachtungsjahre starben im Kanton Zürich, mit Ausschluss der Fehlgeburten: 58,946 Einwohner. — 10jährlicher Durchschnitt 5895 7. Es kommen somit auf jeden Tag des Jahres 16,45 Sterbefälle und auf jede Stunde des Tages 0,67. b. Wir erhalten so 1 Sterbefall auf 42,, Kant. Einw.; auf 8,, Fami- lien, auf 24,, Ledige, auf 15 Verheirathete; auf 2,, Verwittwete; und umgekehrt kommt 1 n. E. auf 2,98 $ und 1 T.Geb. auf 1,55 f- e. Die Summe der Sterbefälle mit den Jahrgängen verglichen, findet man zunächst, wenn man dieselben in 2 gleiche Hälften theilt, dass auf die ersten 5 Jahre 28,434 7, auf die zweiten hingegen 30,512 7 kommen; hier also ein Ueberschuss von 2078 7 be- steht. Vergleichen wir ferner das erste und das letzte Betrach- tungsjahr mit einander, so finden wir Ao. 1846 5548 7, im Jahre 1855 6376; hier also einen Ueberschuss um 828 7, was einer jährlichen Zunahme um 82,3 gleich käme. Aus diesen beiden Momenten darf man unzweifelhaft auf eine nicht ganz unerhebliche Zunahme der Todesfälle während der 10 Jahre schliessen. Dem Medium (5895) nähert sich am meisten das Jahr 1850 mit 5873 + und das Jahr 1852 mit’5957 7. Die meisten Todesfälle — 6376 — kamen im Jahr 1855 vor, die wenigsten — 5548 — im Jahr 1846. B. Die Geschlechtsverhältnisse der Gestorbenen. a. Von den jährlichen 5895 Sterbefällen fallen 2955 auf das männliche Geschlecht und 2940 auf das weibliche, also eine höchst annähernde gleiche Sterblichkeit für beide Ge- schlechter (1,99 männliche : 2 weibliche‘). ’ b. Vergleicht man aber den geschlechtlichen Stand der Verstorbenen im Jahr 1846 mit dem des Jahres 1855, so ergiebt sich bei dem weiblichen Geschlecht eine Mehrzunahme der + um circa 25 %%. — 325 — woraus sich also entnehmen lässt, dass die Zahl der weibliehen Verstorbenen im Jahre 1846 einen ebenso grossen relativen Ueber- schuss über die männlichen + gebildet hatte, C. Die Altersklassen der Gestorbenen. Unter jenen jährlich 5895 + starben: von 0 — 1 Jahr: 1865, oder 31 %, aller Verstorbenen, oder unge- fähr so viele Kinder unter einem Jahr als Erwachsene von 41 — 70 Jahren. von 1 — 5 Jahren: 401, oder 7 %,. Addirt man die Verstorbenen dieser zwei Altersklassen, so ent- halten sie so viele gestorbene Kinder, als Erwachsene vom 5lsten Jahre an durch alle nachfolgenden Altersreihen sterben. Von 6 — 10 Jah- ren starben alljährlich 128 oder 2,50/,. Diese 3 Altersklassen, von 0— 10 Jahren, die man als die Gruppe der Kinderjahre zusammen. fassen kann, betragen 2394 Sterbefälle oder 40 0/, aller +. Vom 11 — 20sten Jahre starben 191 oder 3,5 0%. Dieses Alter, das man als Gruppe der Entwieklungsjahre betrachten kann, bedroht also lange nicht so viele mit dem Tode, als man gemeiniglich annehmen zu müssen glaubt. In den 3 folgenden Klassen des mannbaren Alters 21 — 30; 31 — 40; und 41 — 50 Jahren starben je 332; 337 und 394, oder je 5,55 5,9 und 6,5 %/9; in allen 3 sich ziemlich annähern- den Klassen zusammen 1063 oder eirca 18 %,. In der 3. Klasse vom 51 — 60 Jahren starben 539 oder 9, Yo; in der 9. von 61 — 70 J. 832 oder 15%,; in der 10. von 71 — 80 J. starben 659 oder 12,, Y,; in der 11. von 81— 90 J. 157 oder 2,3 %/, und in der letzten 12ten über 90 Jahre 9,, oder 0,16 %/,. Hier sehen wir also die Sterbezahl vom 51 — 60. Jahre wie- der bedeutend anschwellen, jedoch ward sie noch von der Klasse von 61 — 70 Jahren so bedeutend überboten, dass das Alter von 61 — 70 Jahren, mit Ausnahme der ersten Klasse, das Maximum aller Sterbe-Klassen bildet. Die beiden letzten Altersserien, als die Gruppe des wirklichen Greisenalters, machen mit ihren kleinen Sterbebeiträgen den Eindruck des Absterbens der Uebriggebliebenen. Noch bleibt uns übrig, den interessanten Antheil kürzlich her- vorzuheben, den die geschlechtlichen Verhältnisse an diesen Sterbe- serien nehmen. Dieser stellt sich nämlich im Ganzen so heraus, dass sich die männlichen Verstorbenen in vorherrschendem Masse, ebenso wie die weiblichen auf je 6 Altersreihen vertheilen. Die männlichen — 326 — Verstorbenen nämlich oeeupiren vorherrschend die 3 ersten Perioden des kindlichen Alters von 0 — 10 Jahren; dann die Klasse von 51 — 60 Jahren; diejenige von 71 — 80 J. und die letzte über 90 Jahre. Die weiblichen Sterbefälle hingegen werfen sich vorherr- schend auf die 4 einander folgenden von 11 — 50 Jahren, auf die Klasse von 61 — 70 und auf die von 81 — 90 Jahren. Durch eine weitergehende Untersuchung löst sich nun von selbst das scheinbare Räthsel: dass bei allen Volkszählungen immer das weib- liche Geschlecht an Zahl das männliche überwiegt, während doch immer mehr Knaben als Mädehen geboren werden; dadurch nämlieh: dass schon im ersten Lebensjahre wieder 34 0/, an Knaben, gegen- über von bloss 29 0°/, Mädchen absterben. Dieses Verhältniss setzt sich, wenn auch in geringerem Grade auch durch die nächsten zwei Altersklassen fort in dem Maasse, dass im Ganzen bis zum 10. Le- bensjahre auf 38 0/, verstorbener Mädchen, 44 0/, verstorbene Kna- ben zu stehen kommen. D. Die jährliche Sterbeordnung. Vom minus zum plus geordnet, vertheilen sich die jährlichen 5895 Sterbefälle auf die einzelnen Monate jeden Jahres folgendermaassen : 1. August mit 426 $ oder 7,%, 7. Juni mit 474 + oder 8% & 2. October „484 5, 7% 8. Februar „ 500 + „ 85% 3 3. November „ 4284 „ 73% 9. Januar „5384 „ 94% er 4, September „ 4294 „ 73% 10. Mai n D67.. 00. 2 ale 5. Juli eg dın.. 1, Apr „or , Sunnze E 6. Deecmber „ 4704 „ 8% 12. März „604 „ 10% = Man kann also im Ganzen annehmen, dass alljährlich im März die grösste Zahl der Sterbefälle eintritt. und im August die ge- ringste. Einerseits schiebt sich dann zwischen die Maximalperiode des August und die Maximalperiode des März ein mittleres Maximum im Januar, und anderseits zwischen die Maximalperiode des März und die Minimalperiode des August ein mittleres Minimum im Mai oder Juni hinein. Der Antheil, den jedes der beiden Geschlechter an dieser mo- natlichen Bewegung nimmt, stimmt, was die Maxima und Minima betrifft, in plus und minus mit diesen Extremen ziemlich überein; da- gegen bewegt sich die männliche Sterbekurve ebenso wie die weib- liche in den ersten 5 Monaten über dem Medium; die erstere gibt aber für das mittlere Maximum im Februar den Ausschlag; während dagegen die weibliehe Curve mit ihren grösseren Dimensionen so- ee u ee Tu De ME — wohl im Januar als im December einen höheren Stand einnimmt und sowohl für das Maximum im März als für das Minimum im August einen Mehrbetrag abgiebt. 4. Recapitulation des zweiten Abschnittes. Das Gesammtergebniss der 10jährlichen Bewegung der Zürcher'- schen Bevölkerung besteht: a. in einem erheblichen Rückschlage in der Summe der neugeschlos- senen Ehen; b. in einem demselben entsprechenden Rückschlage in der Summe der Taufgeburten ; €. in einer erheblichen Zunahme in der Summe der Sterbefälle; d. in ungefährem Gleichgewicht zwischen Ein- und Auswanderung. also zusammengefasst in einer offenbaren Tendenz zur Verminderung der Bevölkerung. Diese Richtung ist aber nur als eine temporäre und insofern relative aufzufassen, als im Ganzen genommen doch immer noch die Summe der 71,627 Taufgeburten, diejenige der 58,946 Ver- storbenen um 12,681 Tfg. übersteigt und dadurch für die nächste Volkszählung eine absolute Vermehrung der Bevölkerung in sichere Aussicht gestellt werden kann. III. Einige speciellere Betrachtungen. 1. Die mittlere Lebensdauer der Neugebornen der Zürcherischen Bevölkerung. Die mittlere Lebensdauer der Neugebornen, welche nicht mit der wahrscheinlichen zu verwechseln ist, kann auf dreifache Weise berechnet werden, deren Ergebnisse immer etwas differiren. a. Das gewöhnlichste Verfahren besteht darin, dass man die Einwoh- nerzahl durch die Summe der jährlichen Geburten dividirt. b. Dass man jene durch die Summe der jährlich Verstorbenen divi- dirt; indem man die Zahl der Verstorbenen derjenigen der Ge- burten als annähernd gleich erachtet. Da nun aber in der Regel einerseits beide Summen doch nicht ganz unbedeutend differiren, anderseits die Zahl der Bevölkerung eine jederzeit veränderliche Grösse ist, so wird die Berechnung dadurch sicherer, dass man e. beide obige Berechnungen anstellt, ihr Ergebniss alsdann addirt und aus dem erhaltenen Quotienten das arithmetische Mittel zieht. Diese letztere Methode liegt folgender Berechnung zu Grunde: — 323 ° — Allgemeine mittlere Lebensdauer der Neugebornen. 1846—1855. K. Zürich, jährlich 7,163 Taufgeburten; 5,895 Verstorbene. 250,907 Einwohner (Mittel 1850) 1 Tfgbrt. auf 36,;3 Einw. und 1 Sterbefall auf 42,,; Einw. Arithmetisches Mittel = 39,, Jahre, mittlere Lebensdauer der Neugebornen überhaupt. Mittlere Lebensdauer der männlichen Neugebornen. Männliche Geburten: 3,645 T.G. Männliche Verstorbene 2,955 — Männliche Einwohnerschaft 123,271, 1 Mäml. Gbt. auf 33,8 ml. Einw. und 1 ml. Verstorbener auf 41,, ml. Einw. Arithmetisches Mittel = 37,7; Jahre mittlere Lebensdauer der männlichen Neugebornen. Mittlere Lebensdauer der weiblichen Neugebornen. Weibliche Geborne: 3,517 TG. Weibliche Verstorbene 2,940. Weib- liche Einwohnerschaft 127,636. 1 whl. Gbt. auf 36,3 wbl. Einw. und 1 wbl. Verstorbene auf 43,4 weibl. Einw. Arithmetisches Mittel = 39,9; Jahre mittl. Lebensalter der weib- lichen Neugebornen. Es kommt also den weiblichen Neugebornen, den männlichen ge- genüber, eine um 2,, Jahr längere mittlere Lebensdauer zu gut. Die vor einiger Zeit veröffentlichten Ergebnisse der statistischen Erhebungen des Eidgenössischen Departements des Innern über die Bevölkerungsbewegung in der Schweiz zeigen nun 1 Geburt auf 34 Einwohner und 1 Sterbefall auf 43 Einwohner und die Berechnung der mittlern Lebensdauer ist auf 34 1/, Jahr angesetzt und für das weibliche Geschlecht eine um 2 Jahr 8 Monat und 15 Tage längere Lebensdauer. Wahrscheinlich beruht aber diese Berechnung nur auf dem alleinigen Factor der Geburt (vide oben litt. a) und eine Com- pensation durch den Factor der Sterblichkeit ist nicht in Anwendung gebracht; während nach unserer Berechnung (nach e) die mittlere Lebensdauer in der Schweiz 33,; Jahre betrüge, was von dem all- gemeinen mittleren Lebensdauerverhältnisse unserer Zürcher'schen Bevölkerung nur um 1,9 Jahre ad minus differiren würde. Man ersieht hieraus, wie nothwendig für genauere Vergleichung localer Verhält- nisse ein gleichförmiges und übereinstimmendes Verfahren, oder wie wünschenswerth wenigstens eine jedesmalige genauere Angabe des- selben wird. — 329 — 2. Das Alter der Eltern in seinem muthmasslichen Einflusse auf das Geschlecht der Gebornen. Mehrere auswärtige statistische Untersuchungen haben zu der Lehre veranlasst, dass das Geschleehtsverhältniss der Gebornen von dem relativen Alter beider Eheleute abhängig sei, so nämlich, dass das Geschlecht des Vaters oder der Mutter bei der Erzeugung über- wiege, je nachdem der eine oder die andere älter ist; ja man ist sogar so weit gegangen (Moser), diese Lehre durch ein mathemati- ö 4 sches Gesetz, mit der Formel y- ausgedrückt, fester zu begründen. Obgleich mir schon von vorneherein ein Zweifel in die Zuverlässig- keit dieser Lehre aus dem Grunde aufgestiegen war, weil bei uns in der bedeutenden Mehrzahl ‘der Ehen das Alter des Vaters dasjenige der Mutter übertreffen dürfte, wir somit für diesen Fall in unsrer Bevölkerung auch einen bedeutenden Ueberschuss an männlichen Ein- wohnern und einen noch grösseren an männlichen Geburten wahrnehmen müssten, was keineswegs der Fall; so nahm: ich doch, um diessfalls ins Reinere zu kommen, eine Prüfung dieser Lehre an zwei Centu- rien unseres städtischen Bürgerregisters vor. Das Ergebniss bestand in Folgendem: Es betraf 200 Ehen mit der dazu gehörigen Kinder- zahl von 733; nämlich 364 Söhnen und 369 Töchtern. Unter jenen 200 Ehen waren 174 oder 87 °/,, bei denen der Vater älter war, re Ya ArMer 8 „4% 3» sich das Alter der Eheleute gleichstand. Nach jener Lehre hätten wir also einen sehr erheblichen Ueber- schuss an Knaben gewärtigen müssen. Durchschnittlich kamen aber auf jede dieser Ehen 3,g Kinder, nämlich 1,95 Söhne und 1,54 Töchter, also auf jede einzelne Ehe annähernd noch ein Ueberschuss vou O,99 Töchtern; factisch aber, und zwar in vielen Fällen sehr ausgeprägt umgekehrt, sprachen sich 90 Fälle gegen und 88 Fälle für jenes Gesetz aus und 22 Fälle paralisirten sich durch nummerische Gleich- heit beider Geschlechter bei den Kindern. Eine Regel aber, welche zum, Wenigsten 50 0/, Ausnahmen zulässt, verdient diesen Namen sicherlich nicht oder passt wenigstens nicht für unsere Verhältnisse. Es hat somit nach unsrer hierseitigen Untersuchung das relative Alter beider Eheleute schwerlich einen maassgebenden Einfluss auf das Ge- schlecht der Kinder bei der Geburt. Wissenschaftliche Monatsschrift, II, 23 3. Das Periodische in den jährlichen Geburten, resp. Conceptionen. Man hat anderwärts in dem monatlichen numerischen Ergeb- nisse der Geburten, das selbstverständlich auf dasjenige der Concep- tionen zurückweist, einen bestimmten Typus beobachtet, der sich alljährlich in auffallend regelmässiger Weise kund gibt und verschie- dene Deutungen erfahren hat. Dieser Typus spricht sich auch bei uns durch alle 10 Jahre hindurch in folgenden Monatsmitteln aus: 1. Januar 601 Conceptionen 7. Juli 608 Conceptionen 2. Februar 567 ” 8. August 653 n 3. März 459 r 9. September 595 E 4. April 648 ” 10. October 613 = 5. Mai 564 4 11. November 611 5 6. ‚Juni 608 g 12. December 635 - Eine nähere, namentlich graphische, Betrachtung dieser monat- lichen Summen belehrt uns nun, dass alljährlich in den Conceptionen monatliche Maxima und ebensoviele Minima eintreten; und ferner dass die Maxima einen regelmässigen 4monatlichen Typus beobachten, während dagegen die Minima zwar auch einem alljährlich eonstanten Typus folgen, der aber nicht durchweg 4monatlich ist. Jene Con- ceptionsmaxima fallen auf April, August, December, die dazwischen liegenden Minima auf März, Mai und September. Zum Beweise, dass dieser Decursus nicht ein bloss zufälliger ist, mag dienen, dass sämmt- liche Maxima und Minima sich immer mehr oder minder bestimmt ausgeprägt durch 5, 7, 9 oder alle 10 Jahrgänge hindurchziehen und zugleich findet man, dass in den meisten Jahrgängen, welche in den besagten Perioden nicht zutreffen, der Ausfall dadurch bewirkt wird, dass entweder die Periode um einen nächstliegenden Monat ante- oder postponirt; oder dass der Ausfall mittelst einer, durch die Geschlechts- verhältnisse bewirkten Spaltung und daheriger Vertheilung auf 2 Mo- nate herbeigeführt wird. Vergleichen wir nun den monatlichen Eintritt dieser Perioden mit jedem gleichzeitigen Stande der Sonne oder vielmehr mit unserer geo- graphischen Stellung zur Sonne, so finden wir, dass wenigstens a das Conceptionsminimum des März mit dem Frühlingsaequinoetium, b das dritte Minimum des Septembers mit dem Herbstaequinoetium, und e das dritte Maximum des Decembers wit dem Wintersolstitium zu- sammenfallen und dass man daher den Gedanken nicht ungereimt nennen kann, dass, theilweise wenigstens, die Menge der Conceptio- nen von Einflüssen der Sonnenstände abhängen könnte. — 1 — 4. Zur Frage der Uebervölkerung. Mit dem Resultate, dass seit etwa 1852 die Bevölkerung un- sers Kantons einer unverkennbaren Richtung zur Verminderung ge- folgt ist, könnte man vielleicht diese Frage als eine müssige, factisch abgethanene betrachten; sie drängt sich aber dennoch auf, wenn man bedenkt, dass wahrscheinlich heute schon wieder die drei bezeichne- ten Factoren der n. Eh., der Geburten und der Sterbefälle sich wie- der zur Vermehrung der Bevölkerung combinirt haben und weil be- reits vor unserer dermaligen Untersuchung eine Uebervölkerung, als bereits eingetreten gewesen, gedacht werden kann. Der Begriff der Uebervölkerung ist überhaupt ein sehr relativer, theils weil über denselben die Ansichten und Prineipien anerkannter Staatsöeonomen diametral auseinandergehen, theils weil, was in den einen Gegenden als Uebervölkerung angenommen werden kann, in andern Gegenden noch keineswegs in diese Categorie fällt. Die sogenannten Populationisten z. B. vergleichen die Zahl der Einwohner mit einem durch Zinsen anwachsenden Staatskapitale, er- blicken in möglichst starkem und raschem Zuwachse dieses Menschen- kapitals unbedingt die Kraft und das Glück eines Landes und bevor- worten demgemäss die möglichste Unterstützung der neuen Trauungen von Staatswegen; während hingegen die sogen. Antipopulationisten finden, nichts befördere gerade so sehr und so sicher das Elend einer Bevölkerung, als die grösstmögliche Fruchtbarkeit und Vermehrung der Ehen, indem dabei Menschenüberfluss und Nahrungsmangel Hand in Hand gehen müssen. Sie verlangen daher auch möglichste Hinde- rung des ehelichen Verbandes von Staatswegen, sei es durch starke Besteurung der vermögenslosen Ehelustigen, oder durch andere, wahr- haft abenteuerliche, Massregeln. Für unsere Verhältnisse wird wohl das Richtige insofern in der Mitte liegen, dass man eine mit der Er- tragsfähigkeit des Bodens und zugleich mit dem Maasse der gewerb- lichen und commerciellen Geschäftsthätigkeit nicht im Missverhältnisse stehende Zunahme der Bevölkerung nicht als eine Abnormität oder als ein Unglück zu betrachten habe, dass aber allein und hauptsäch- lich in der Lebenskräftigkeit und sittlichen Gesundheit einer Be- völkerung deren wahres Heil und volle Kraft zu suchen sei, und dass daher der Staat die Würde und die Freiheit der menschlichen Natur nur durch eine verständig freie und sittliche Erziehung und Erhe- bung des Volkes anzustreben habe, welche immer mehr den Einzel- — 332 — nen zum Verständnisse dessen hinführen, was nieht nur diesem selbst, sondern was auch dem Ganzen frommt. Man hat die Furcht vor einer Uebervölkerung unter anderm auch durch die Verbreitung der Lehre zu steigern gesucht, dass die Ver- mehrung der Bevölkerung in geometrischer Progression vor sich gehe, die Vermehrung der Nahrungsproducte dagegen nur in arithmetischer. Unsere Untersuchung hat uns über die Haltlosigkeit dieser Hypo- these und somit auch über das Grundlose jener Befürchtung den genü- gendsten Aufschluss ertheilt. Insofern man nun an unser gegenwärtiges Bevölkerungsverhält- niss ausschliesslich den einseitigen Maassstab des zur Zeit kultivirten Flächenraumes und dessen Ertrages an Nahrungsprodueten und Brenn- materialien anlegen wollte, so käme man ohne anders auf das Resul- tat einer und zwar schon seit Langem eingetretenen Uebervölkerung, indem das bedeutende Missverhältniss zwischen Ertrag und Bedarf an Bodenerzeugnissen in bedeutendem Masse factisch und für uns kein Greheimniss mehr ist. Nach dem Urtheile von Sachverständigen aber geht nicht nur unsere Landwirthschaft einem immer mehr rationell und ertragbarer werdenden Betriebe entgegen, sondern auch die in- dustrielle und commereielle Erwerbsthätigkeit unserer Bevölkerung, die ihren Kulwinationspunkt ebenfalls noch nicht so bald erreicht haben wird, vermag wohl jenes Deficit noch mehr als auszugleichen! — ae Ueber apokalyptische Geheimnisse, das vierte Buch Esra im Besondern. Von G. VOLKMAR. An das Buch Daniel schliesst sich eine ganze Reihe jüdischer und ehristliclier Schriften, welche in ähnlicher Weise eingekleidet, nur in immer späterer Zeit und dieser gemäss, die Hoffnung aussprechen, dass nın gewiss ohne Verzug das Gericht Gottes über seine stolzen Widersacher und die Errettung des heiligen Volkes durch seinen Ge- salbten, den Messias hereinbrechen werde. Bald ist es der zu Gott entrückte Enoch, der von diesem seinem höhern Standpunkte aus die Tiefen der Schöpfung und des Rathschlusses Gottes für sein Volk enthüllt haben soll. Bald tritt die Hoffnung, mit dem Herrn der Welt die Weltherrschaft zu erhalten, in der Hülle uralter Propheten auf. Soll die Heidenwelt ermahnt werden, sich ihres Götzendienstes zu schämen und das kleine aber heilige Volk als den Sohn und Er- ben des Allmächtigen zu achten, dann ist es die von den Griechen selbst in einer Urzeit gedachte Sibylle, welche vorverkündigt den folgenden Weltverlauf mit allen schrecklichen Drohzeichen des nahen- den Gerichtes bis zum Kommen der allmächtigen Herrschaft Jerusa- lems. Soll Israel selbst in seiner Unterdrückung getröstet, zum standhaften Ausharren erweckt, der Nähe seiner herrlichen Errettung versichert werden, dann tritt einer seiner eignen, einer der alten Propheten, wie Ambakum (Habbakuk) oder Jeremia oder Ezechiel gleichsam neu auf, bestimmter verkündigend, lauter tröstend oder mah- nend, oder es ist einer der treuen Diener und Gehülfen dieser alten Gottesmänner, wie Baruch, deren Hand von neuem an das Volk in seiner Knechtschaft schreibt. Auch Esra bekommt jetzt eine neue, trostvolle Bedeutung. Hat er sein gottgetreues Volk aus der ersten vollen Knechtschaft geführt, seinen Tempel-Cultus und, was damit wesentlich gleich ist, seine Selbstständigkeit wieder hergestellt, so kehrt er jetzt wieder, dem neu geknechteten Volk des Allmäehtigen eine zweite und herrlichere Wiederherstellung, den glänzendern Neu- bau seines Tempels, die endliche Erfüllung seiner göttlichen Bestim- Wissenschaftliche Monatsschrift, II. 24 — 334 — mung zu verkündigen. Die Güte Gottes (Tobi-Jah) kann auch in ganz neuer, eigener Gestalt zur Anschauung kommen, aus ärgster Noth den Treuen errettend, wunderbar ihm mit seinem Engel in der Knechtschaftszeit beistehend, den nahen Sturz der Dränger, die baldige :Wiederherstellung des Tempels verkündigend. Selbst die Erzäh- lungen, wie Gott einst sein Volk aus der Knechtschaft geführt, sei es unter Esra oder durch das Wunder-Schwert der Maccabäer, konnte in später Drangsal erneut, neu erquicken, anfeuern und trö- sten, gleichsam von selbst die Wiederkehr solch’ allmächtigen Schu- tzes verbürgen. Selbst die Freude über gefundene Errettung oder erreichten Sieg, wie nach dem Kampfe Palästina’s mit dem Legaten Trajan's nach dem Parther-Kriege 117 u. Z., das Frohlocken über diesen wirklich errettenden Sieg über Trajan’s Haus, konnte man nur versteckt oder in Hülle laut werden lassen, Denn nur ein freiesVolk hat eine freie, offene Sprache, kann unverhüllt sein Innerstes. aussprechen; der Unter- drückte kann das nur im Versteck, sich verbergend, in apokrypher Form. Die National-Literatur Israels in seiner Knechtschafts-Zeit ist eine apokryphe, und die christliche Literatur derselben Zeit nimmt daran Theil. Man kann noch darüber streiten, ob Erröxgugov näher aroxe- zouwuevov, das im Verborgenen, im Hause Gehaltene ist, im Gegen- satz zu @vayıyvangz)uevor, dem in der Gemeinde Vorgelesenen, ob diese Literatur also schon wegen des privaten Gebrauches, der darin gesuch- ten stillen Erbauung apokryph ist, oder ob arscxougor Bıßkior nicht von vornherein in dem Sinne zu verstehen ist, in welchem Epi- phanius noch die Apokalypse Johannes, obwohl er sie völlig als kirchlich anerkannte, doch als ein Errorgugem bezeichnet, weil das eigentlich Gemeinte nicht offen und gerade ausgesprochen sei. In jedem Fall ist der Ausdruck so treffend für den Charakter dieser Trost-Schriften der Knechtschafts - Periode wie kein anderer. Nur als ein besonderer Theil dieser apokryphen Literatur stel- len sich die Apokalypsen im engern Sinn dar. Auch sie sind sich verhüllende, ein Geheimniss bergende Schriften, wie auch alle Apo- kryphen die Absicht haben, zu enthüllen, nämlich dem sinnvollen und sinnenden Leser durch Winke jeder Art zu sagen, dass hier nur Einkleidung geboten, ein tiefer liegender Sinn zu suchen ist. Der Unterschied besteht nur darin, dass in den eigentlichen „Ent- hüllungen,“ den Apokalypseis, die alte Prophetie im engern Sinn sich — 35 — erneuert -hat, dass darin das noch Zukünftige der sichern Erret- tung besonders dargestellt, das noch Verborgene der göttlichen Rathschlüsse für sein Volk dargelegt, das für die Sinnenwelt noch Geheime so weit möglich an’s Licht gestellt wird, sei es nun als Gesichte der Nacht oder als sonst vermittelte höhere Offenbarung. Das Geheimthun ist für das gepresste Herz auch dabei geboten. Es ward endlich auch gegeben die Erfüllung der Zuversicht Is- raels, aber durch ein Kreuz, durch Den, der mit seinem göttlichen Liebes-Leben das Reich Gottes auf Erden begründet hat, der aber auch zeigen sollte, dass zum Eingang in die Herrlichkeit unabtrenn- bar der Leidensweg gehört. In diesem Menschensohne war der Sohn Gottes, der heilige König des gottgetreuen Volkes erschienen, aber gerade tiefste Herabwürdigung war es, wodurch er zur Rechten der Macht erhoben war, von dannen er mit des Himmels Mächten kom- men sollte, um alle Gottwidrigkeit auf Erden zu überwinden und das ewige Reich des Friedens auch herrlich oder herrschend aufzurichten. Die Errettung ist durch Jesus gegeben in Wahrheit, nämlich im in- nersten Grund oder im Geiste, aber sie sollte auch ihre äussere Vollendung erhalten, durch seine kommende Parusie. Diese altchristliche Parusie-Erwartung traf also mit der jüdischen Messias -Erwartung äusserlich fast ganz zusammen, und es gewannen für die Christen jene Trost- und loflnungsbücher des geknechteten Israel neue Bedeutung, um so höhere, als gerade sie von der gott- feindlichen Weltmacht um ihrer Treue willen so gequält und verfolgt waren. Die Apokalypsen des Gottesglaubens wurden von den blu- tenden Christen mit neuer Inbrunst gelesen, aus dem neuen höhern Bewusstsein, der andern Zeit zugleich gemäss erneut, wie das Buch Daniel von der Apokalypse des Johannes, oder im Einzelnen entspre- ehender gemacht durch christliche Ueberarbeitung (Interpolation) wie die meisten übrigen. Auch die Bücher der Erzählung zum Trost und zur Hoffnungserweekung wie von Tobi in der Knechtschaft, vom Siege der gottgetreuen Judith, über den Schergen eines Meder besiegen- den Welt-Herrn, von den alten Wundersiegen des Juda Maccab. (das sog. II. Buch der Maccab.) waren und wurden alsbald Lieblingsbücher der alt-christlichen Märtyrer-Zeit. Sie wurden aufgenommen auch in die Sammlung von biblien des heiligen Volkes, oder heiligen biblien Israels, gerade von den Christen, als dem wahren Israel. Alle diese Apokalypsen und Apokryphen sind ausser der ersten Erneuerung der alten Propheten, ausser dem Buche Daniel, nur durch 2 ie christliche Hände auf uns gekommen, sei es unversehrter, durch die christlichen Abschreiber und Fortsetzer der biblien, wie das Tobi- und II. Mace. Buch, oder in Uebersetzung wie Judith, oder sei es mit In- terpolationen, wie sämmtliche spätere Apokalypsen Israels, die theils geringer und äusserlicher geblieben sind, wie in der Esra.-Apokalypse, die eine christliche Einleitung (cap. 1. 2) und Conclusio (ec. 15. 16) erhalten hat *), oder umfangreicher und eingreifender wurden, wie in der Enoch-Offenbarung und in den Sibyllinen. Beides, die alterthümliche Einkleidung, welche zur Natur dieser Volksliteratur des geknechteten Gottesvolkes gehört, und die christ- liche Ueberlieferung derselben, welche zu ihrer geschichtlichen Stel- lung gehört, hat die nähere Erkenntniss ihres Wesens sehr erschwert, gar wenn sie von den Christen so heilig geachtet waren, um in dem kirchlichen Kanon heiliger Schriften ihre Stellung zu behalten, wie das Buch Daniel, oder eine solche zu erlangen. In den Kanon N.T. licher Schriften kam die Apokalypse des Johannes, in die Reihe A. T. licher Schriften aber, durch die griechische, den 70 (LXX) Völkern gewidmete Uebersetzung, jene Bücher Tobi, Judith, II. Mace., in die h. Sammlung der lateinischen Kirche aber, nämlich in die vulgata, die Esra- Apokalypse, welche dann mit den andern von Esra und seinem wiederherstellenden Werke handelnden Schriften (dem isten Buch Esra, dem Nehemia-Buche und einer blos griechisch ge- schriebenen Combination von beiden, dem sog. griechischen Esra) zusammengefasst wurde und jetzt gewöhnlich als viertes Buch Esra gezählt wird, während es sonst auch als erstes der vier Esra- Bücher gefeiert oder doch gerechnet worden ist. Die Enoch- und Sibyllen- Apokalypsen sind dagegen den alten Christen nur sehr werth gewesen, nicht in die h. Sammlung gekommen, jene als gar zu um- fangreich, diese als vermeintliche Sibyllen. Wenn eine Schrift einmal in eine Sammlung von Büchern kommt, welche die Norm oder einen schriftlichen Kanon für die öffentliche Lehre bilden soll und damit als heilig gilt, so ist zwar im Grunde nur die wirkliche Gotteslehre darin das Massgebende gewesen und das bleibend Massgebende, aber unwillkürlich wird eine sinnlichere Be- *) Innerhalb des Textes ist nur an einer Stelle der Vet. Lat. nachweisbar ehristianisirt 7, 28: Revelabitur enim filius meus Jesus cum his qui cum eo sunt, wie auch Ambrosius (ed. Bend. T. I. p. 1292) schon fand. Der Arab. hat hier blos filius meus, der Aeth. 5, 29 Messias meus. Dagegen sind diese sonst um so reicher an Neuerungen und Zusätzen. : IM — trachtung und Bestrebung dies Heiligsein auch auf die Totalität der Darstellung, auf den Buchstaben ausdehnen; es soll dann Alles, was in einem solehen Buche steht und wie es dasteht, auch ganz echt und geschichtlich sein. So hat es denn lange Zeit gebraucht, ehe das Buch Daniel im A. T. und die Johannes- Apokalypse im N. T. rein geschichtlich erfasst, beziehungsweis das Irrige in der von ihnen ausgesprochenen Sinnen-Erwartung bei allem innern oder tiefern Rechte zur Anerkennung kai. Auch die erste Reformationszeit hat an die- ser sinnlichen Betrachtung des von der lateinischen Kirche überliefer- ten Kanon so viel Theil genommen, dass die beginnende Kritik nur mehr äusserlich verfuhr, und von der Vulgata nur das als wirklich kano- nisch festhielt, was auch in der hebräischen Sprache, im ältesten Ka- non, dem der ‚Juden selbst sich fand, wogegen die nur griechisch oder lateinisch erhaltenen Schriften unter dem Namen Apokrypha im Sinne von solchen, die nur der verborgenen oder privaten Erbauung dienen, abgeschieden wurden. So verloren für die Reformation auch die Bücher Tobi, Judith, II. Maece., III und IV Esra die kanonische Be- deutung, welche in der alten, besonders der lateinischen Kirche für sie festgestanden hatte, und eine freiere kritische Betrachtung dersel- ben ist nun eher möglich geworden. Doch ist die christliche Ueber- lieferung auch bei ihnen noch immer störend genug geblieben. Durch die altchristliche Einfügung unter die heiligen biblia des Gottesvolkes unter den Titel A. T’s. gekommen, erzeugen sie unwillkürlich das Vorurtheil, sie müssten auch der Zeit nach alttestamentlich d. h. vorehristlich sein, da sie in unserer Bibel wirklich vor dem N. TT. stehen. Dieses Vorurtheil ist so festgeblieben, dass erst in der neuesten Zeit durch die, namentlich von F. Ch. Baur zu Tübingen schärfer aus- gebildete Kritik der ältesten kirchlichen Traditionen grössere Entschie- denheit zur Reife gekommen ist, jene Tradition vom A. T. lichen Charakter der altisraelitischen Apokrypha bestimmter in Anspruch zu nehmen und für die nähere Bestimmung ihrer Entstehung lediglich die Sache selbst entscheiden zu lassen. Das Buch Judith ist neuerdings, seitdem die Clemens- Tradition nicht mehr hindert, in sein Licht getreten als eine allerdings apo- kryphe oder sich alttestamentlieh verhüllende, auch sehr poetische, doch ebenso historische Erzählung vom Siege Jehudith's oder Judäa’s über den Legaten des neuen Weltherrn und Israel-Bedrückers Na- buchodonosor Trajanus nach seiner so schnellen Besiegung des Neu- — 338 — Meders von Eebatana und Rhagae, d. h. des Parthers *). Seitdem ist der Gedanke um so näher gelegt, dass auch noch andere, nach Sprache und Geist so nahe verwandten Apokryphen erst der römi- schen Knechtschaftsperiode angehören möchten, was man von Tobi schon früher geahnt, von II. Macc. als ebenso möglich längst er- kannt hat. Directer dazu genöthigt, an diese römische Knechtschaft Israels zu denken, war man durch die Esra- Apokalypse; denn so gewiss sie durch Alles selbst angedeutet, dass hier Esra gleichsam nur neu wie- derkehrend, neues Heil für sein Volk im Geiste bringen will, so di- rect nennt eine dieser Visionen das bedrückende Weltreich das des Adlers! — Auch hat ein erster unbefangener Blick auf die Totalität des Buches, von Lücke, in seiner Einleitung in die Apokalypse Johannes bald näher erkannt: das Buch ist so, wie es sagt, anno tricesimo ruinae eivitatis (III, 1) d. h. eirca 30 Jahre nach der neuen Zerstö- rung des jüdischen Tempelcultus und Staates verfasst. Durch Gfrörer hat dies auch im weitern Detail nähere Bestätigung gefunden. Den- noch ist man auch nach Lücke immer wieder geneigt gewesen, dies A.T. liche Apokryphum sofern wenigstens in A.T. liche Zeit zu stel- len, dass die Adler-Vision nur auf J. Caesar, höchstens auf Octa vian, d.h. vor Christus ausmünde; ja Lücke ist in der 2ten Ausg. jener Einleitung nach dem holländischen Herausgeber der äthiopischen Bearbeitung, van der Vlis, selbst darauf zurückgefallen, während Ewald und Andere an der Entstehung in der christlichen Zeit festge- halten haben **). Weit einiger ist man seit Bleek über die Natur der uns hand- schriftlich erhaltenen Sibyllinen, dass diese meistens, wenn auch un- ter Mitbenutzung alter heidnischer Chresmoi über einzelne Städte, von Juden seit dem 1sten oder 2ten Jahrh. v. Chr. bis zum 2ten n. Chr., mehrere gleich anfangs von Christen verfasst, alle aber von Christen angeeignet sind. Nur ist die Interpolation hier so grossartig, es sind oft drei Schichten aufgeschwemmten Landes zu unterscheiden, dass #) Vgl. Ueber Clemens von Rom und die nächste Folgezeit mit Rücksicht auf den Barnabasbrief und das Buch Judith. Theol. Jahrb. 1856. III. Ueber die Composition des Buches Judith. Das. 1857. IV. Zur Chronologie des traja- nischen Partherkrieges und Judenaufstandes. Rheinisches Museum. 1857. *#) So auch ich, wo ich die christliche Interpolation dieser jüdischen Schrift in die urchristliche Entwicklung einzufügen hatte (Relig. Jesu S. 450), nach Massgabe der so unzweideutigen allgemeinen Kriterien. — 39 — auch Alexandre's und Friedlieb's tüchtige Versuche noch nicht zu ganz klaren Ergebnissen geführt haben. Gleich unbefangen hat die neuere Forschung von Anfang an hinsichtlich der dem Enoch zugeschriebenen Apokalypse sein können, da die Einkleidung hier für moderne Gewöhnung allzustark als solche hervortritt und das Buch, nie in die h, Schriften der alten Christen eingereiht, den A.T.lichen Titel entbehrte. Dagegen ist in Folge eben davon, dass es nicht kanonisch wurde, seine Erneuerung und Erweiterung von Spätern so gross geworden, dass das Text-Verhal- ten allzuwenig klar vorliegt, auch nachdem neuerdings Dillmann die äthiopische Bearbeitung edirt hat. Zwar einigte er sich mit Ewald, und R. Köstlin mit beiden dahin, dass die letzte Reihe der in dem Buche verhandelten 70 Heiden -Hirten in den Seleueiden zu suchen und das vor allen Heiden zu sichernde Eine Horn des h. Landes in Hyrcanus oder Jannaeus zu finden sei. Doch ist man im Zählen die- ser Reihe so bedenklich different und selbst noch über die ursprüng- liche Textbestimmung, dass jene Uebereinstimmung doch nicht zu viel Vertrauen wird erwecken können. Zu wirklicher Klarheit ist es also unter den jüdischen Apoka- lypsen nur über ihr hebräisch, und so auch am reinsten erhaltenes Urbild, das Buch Daniel gekommen, wie über die erste christliche Er- neuerung derselben, die Johannes- Apokalypse, über jene vornehmlich durch F. Hitzig’s Commentar, über diese durch Bleek’s, Ewald’s, Lücke’s frühere, so wie neuerdings durch F. Ch. Baur’s kritische Forschungen *). Der kanonische Charakter beider Schriften hat endlich nicht mehr hin- dern können, dass nieht von einer ausserkirchlichen Wissenschaft, son- dern von allen verständigern Lehrern der protestantischen Kirche selbst entschieden erklärt wird: das Buch Daniel ist trotz des um 70 Jahr- wochen ältern Gewandes unter Antioch. Epiphanes, die Johannes- Apokalypse unter Galba verfasst, d. h. Beide haben die Parusie der Allmacht (jüdisch) irrend in so naher Nähe geschaut **). 7) Hiemach ist eine Erklärung für Gebildete überhaupt in meinem Buche „Die Religion Jesu und ihre erste Entwicklung nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft.“ Leipzig 1857. S. 106 fi. gegeben. **) Unter allen Verständigen, sage ich, ist darüber kein Zweifel mehr, nicht als wenn den Herrn Hengstenberg, Auberlen, Ebrard oder auch den aus- drücklichen Sectenhäuptern, welche ja vom „kanonisch“ Deuten dieser Apoka- lypsen besonders zu leben pflegen, jeder Verstand abgesprochen werden sollte. Aber getrübt ist auch bei denen, welche es hoffentlich mit der Kirche der Reforma- - ww Zur nähern Erklärung der übrigen Schrift-Denkmäler des ersten christlichen Lebens, sei es nun zum nähern Begriff seiner Entstehung tion noch wohl meinen, das theoretische Erkenntnissvermögen jedenfalls durch das praktische Postulat, Alles im „heiligen Kanon *, wie man gleich so tauto- logisch und multiplieirend sagt, müsse ganz echt und unfehlbar sein. Wer nicht Kern von Schale, Wesen von Erscheinung zu unterscheiden versteht, aber den- noch in der kirchlichen Gemeinschaft etwas Unentbehrliches, Unersetzbares, ein erlösendes Gut fühlt und erkennt, wird immer wieder gestachelt sein, das „Ka- nonische* oder kirchlich Sanctifieirte als so ganz heilig bis auf den Buchstaben zu begreifen; man würde ja sonst Unheiliges als heilig zu erklären, also sich lügnerisch in der Kirche zu verhalten scheinen. Aus diesem Dilemma d. h. die- ser Sinnlichkeits- Betrachtung kann sich dann eine wirkliche Krankhaftigkeit, ein sehr unkanonischer Eifer entzünden, der seine Stärke nur im Vergessen hat. Zu besonderem Furor ist er jüngst entflammt worden, da ich veranlasst war, einen weitern Fortschritt zur Erklärung unserer Synoptiker anzubahnen, und so ‘die ganze neuere Forschung über die beiden ersten christlichen Jahrhunderte, im Besondern die Schriften des N. T.’s überhaupt, positiv zusammenzufassen, ver- ständlich auch für die vielen Gebildeten, die noch „draussen“ stehen (in der angegebenen Schrift über die Religion Jesu). Mit aller selbstverständlichen Of- fenheit und Ehrlichkeit ist da zusammengestellt, was sich, so weit man jetzt sehen kann, aus den bisherigen Debatten über die Entstehung und erste Entwick- lung des Christenthums und der Schriften ergiebt, welche für immer die treue- sten Urkunden urchristlichen Wesens und somit auf immer die heiligsten aller Schriften sind. Aber ebenso entschieden und nur mit erhöhter Klarheit zeigte sich bei diesem positiven Abschlusse der objectiven Kritik, so weit sie bis dahin vorgedrungen ist, die Reformationskirche auch von absoluter Kritik nicht ge- stört, sondern nur erhoben. Ueber dies neue Lebenszeichen einer wahrhaft freien Theologie, wie sie A. E. Biedermann so treffend gefasst hat, ist nun die Hof-Kirchen - Theologie von Berlin in einem Herrn Wuttke („Theol. Repertor.* von Hr. Reuter 1857. Jun.) wie wüthend hergefallen. „Widerwärtigeres“ könne es ja gar nicht geben. Für despotische oder katholisirende Tendenzen gewiss auch nicht: Gott Lob. Das sei „absolut unsittlich*; Antichristen, wie Feuer- bach, B. Bauer oder auch die crassesten Materialisten könne man doch noch sittlich achten, da sie sich als antichristlich erklären. Aber mit der kritischen Theologie, die positiv, religiös, kirchengemäss auftrete, höre jede „sittliehe Ge- meinschaft* auf. Gewiss, zwischen allen Negatoren der Geschichte oder geisti- ger Entwicklung, zwischen allen Despoten, sei es nun atheistischer oder krypto-katholischer Form , bestand von jeher die beste Gemeinschaft; die einen leben nur durch die andern! Dagegen hat mit solcher Rohheit und solchem nack- ten oder verkappten Dualismus allerdings die kritisch - historische Theologie Nichts gemein. „Zwar sei es wohl unzweifelhaft, dass Alles das, was ich zur Ehre Jesu, des Christenthums, der Kirche sage, mir ganz Ernst wäre, aber der ganze Standpunct der „Tübinger Kritik,“ der ich ja doch bei allem Kampf da- gegen angehörte, sei ein negativer und unsittlicher“. Dabei hört wirklich jeder Sinn und Verstand auf, Wo man subjeetiv treu ist, wird man doch verdächtigt, ne ZEN — 341 — oder seiner ersten Entwicklung, sind aber auch die übrigen Apoka- lypsen Alt-Israels von nicht geringer Wichtigkeit. Jede erneute Un- tersuchung darüber kann daher nur höchst willkommen sein, um so mehr, wenn sie von einem Manne kommt, der nicht in dem Dienste des Traditionellen steht, und ausser grosser Literatur- und voller Sach- kenntniss auf dem Gebiete altchristlicher Schrift und Tradition schon so mannichfach auf’s erfolgreichste Fleiss und Scharfsinn bewährt hat, wie Hilgenfeld in Jena *). Pflegt auch dieser Kritiker in jüngster Zeit weil der Standpunkt der Erkenntniss unsittlich sei, und wo nun dieser als ab- solut negativ und unsittlich erklärt ist, beziehungsweise als objectiv falsch ge- zeigt, da wird er sittlich! „Er, sagt Herr Wuttke, würde Nichts leiden in dem heiligen Kanon, in diesem heiligen Bereich, was nicht ganz echt und ganz ge- schichtlich treu sei.“ Und wir wollen gar nicht fragen, ob ein Pharisäer in der Gegenwart sich treffiender ausdrücken kann. Es lässt sich auch wohl noch darüber reden, ob nicht die Kirche der Reformation ihr Recht gegen jede Men- schensatzung auch über die kanonische Satzung der altkatholischen Kirche viel weiter, als ich es bisdahin für geschichtsgemäss gehalten habe, nämlich auch äusserlich greifbar ausdehnen sollte; wenigstens thun es ja die Hochkirchlichen schon ungescheut und ungeschlacht genug, indem sie eine ganze Reihe von Schrif- ten wegwerfen, die den Vätern und Märtyrern unseres christlichen Glaubens theuer und gleich heilig gewesen sind als die andern, selbst so ganz Unentbehrliches für Alle, wie I Mace., so Wichtiges wie Sirach und Weisheit. Aber in jedem Fall sei doch dieser ethische Dualismus , der besonders lutherische Kirche be- tont, etwas mehr eingedenk , dass nun seit eirca 100 Jahren die grösste Mehr- zahl auch eben sog. lutherischer Theologen die Geschichte von der Ehebrecherin Ev. Joh. 8, den Zusatz Ev. Joh. 21, den Schluss von Ev. Marc. XVI, 9 Sg., den II Petr., den Jud. Brief, die Apoc. Joh. für gar nieht echt gehalten, auch nicht weggeworfen und doch das N. T. ganz heilig geachtet hat, mit einem Gewissen und einer Wahrhaftigkeit, die sich wohl mit Berliner Productionen messen darf. Vergesse man doch nicht so roh, dass Luther allerdings seinen kritischen Gedanken gemäss Manches weggeworfen hat, wie eben das III und IV Esra-Buch, was die Schweizer Kirche dem heiligen Buche liess, dass er aber den Jacobi-Brief ströhern, die Jona - Geschichte sogar „lügerlich.* die Ep. Judae aus St. Peter schlecht abgeschrieben, den Hebraeer-Brief gar nicht rein lehrend , die Joh.-Apoc. nicht treu apostolisch, wie Vieles in den Mose-Büchern als unerträglich, ja unwürdig erklärt hat und doch „die Biblia“ heilig hielt über Alles. Vergesse man, ehe man so gewissenlos in den Tag hinein redet, auch den Mann nicht, der doch Einiges von Gerechtigkeit oder Sittlichkeit verstand, aber trotzdem er „das Gesetz“ geradezu aufhob, doch erklärte: „He- ben wir nun das Gesetz auf? Keineswegs, wir erheben es.“ Und ich glaube noch, mit allem Recht, mochte auch der Unverstand und die Unsittlichkeit jü- dischen Buchstabendienstes noch so laut dagegen — rasen! *) Die jüdische Apokalyptik in ihrem geschichtlichen Zusammenhang. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Christenthums nebst einem Anhange. Jena 1857. _— 3412 — fast grossartig schnell fertig zu sein und haben desshalb seine letzten „Bearbeitungen“ wie üher die Apostol. Väter (1853) und über die Evangelien (1854) keine sehr haltbaren Resultate gehabt, so sind doch seine Zusammenstellungen und Kritiken stets sehr anregend und im- mer, wenn auch nur mehr negativ, auf’s verdienstvollste fördernd. Die Erwartung wird auch um so höher gespannt, als hier „die freie, aber in die Tiefe dringende Wissenschaft,“ zu deren „festen Bur- gen“ in der That Jena gehört (p. III), nicht bloss einen Beitrag, sondern „die ganze Vorgeschichte des Christenthums“ an’s Licht zu stellen verheisst (p. VI. VIII). Nur fällt dabei sofort auf, wie denn „die jüdische Apokalyptik* ganz in solch blosser Vorgeschichte des Chri- stenthums aufgehen könne; Sibyll. Lib. V ist ja ein sehr bedeuten- des Glied jüdischer Apokalyptik, und doch evident nach christlich, notorisch erst aus Adrian’s erster Zeit. Nur die erste jüdische Sibylle soll bedeutend genug sein? Unsere Hoffnung, die Sibyllinen über- haupt etwas mehr als bisher gelichtet zu sehen, ist schnell vereitelt. Bedenklich ist auch die Abtrennung der Apokalyptik von der übrigen Apokryphik Israels; als wenn die Esra- Apokalypse nicht ein integrirendes Glied der noch sog. Apokrypha wäre, das Buch Tobi aber (e. 13.14) nicht einen ganz apokalyptischen Theil enthielte, die Zusätze zu Daniel das Fragment einer Ambakum-Offenbarung. Wie lässt sich auch ein Glied einer Entwicklung, getrennt von dem Ganzen, wozu es gehört, klar genug erfassen? Wie ist auch nur die jüdische Apokalyptik als solche von der christlichen zu trennen, die sich jene fast durchgängig angeeignet hat? Doch je beschränkter der Kreis, um so specieller und fruchtbringender kann auch vielleicht die For- schung sein. Geboten wird uns nun eine Zusammenstellung der I jüdischen Sibylle, des Enoch- und des IV Esra-Buches mit dem Grundtypus von diesen, dem Buche Daniel selbst. In dieser Zusammenstellung soll sich aber zugleich eine geschichtliche oder Lebens-Einheit ab- spiegeln, welche sich dann überraschend als die Essäer- Schule ent- hüllt. Diese sei „eben die apokalyptische Schule,* in ihren „Schul- büchern“ stufenweis und gerade bis auf Christus hin wirksam, um sich eben da abzuschliessen, nämlich einfach in’s Christenthum überzuge- hen, „die Hoffnung in den Glauben.“ So erklärt sich auch erst der sonst etwas seltsame Titel und ungenügende Umfang der Schrift: es liegt darin sofort die Hypothese ausgesprochen, welche das Ganze durchführen will. re a — 343 — Ueber alle vier jüdischen Bücher wird nun auch Einzelnes neu erörtert, über die drei ersten jedoch wesentlich nur früher Gebotenes recapitulirt und bestätigt, über Daniel besonders F. Hitzig, über Enoch Reinh. Köstlin, über die Sibylle Friedlieb, überall mit geisti- gem Eindringen, überall ein werthvoller Antrieb zum Weiterdenken auch in den weitesten Kreisen. Nur über Esra IV wird eine mehr neue Ansicht durchgeführt, wenn auch im engsten Anschluss an Lücke ed. II. Da diese An- sicht auch das eigentliche Fundament bildet für die vorgetragene neue Auffassung der Apokalyptik und des Essäismus, dieser „Vorgeschichte des Christenthums,“ so verdient dies alte Räthselbuch um so mehr eine nähere Betrachtung. I) Es giebt seine Enthüllungen in sieben Visionen (wie auch die Johannes- Apokalypse sich in der Siebenzahl bewegt). In diesen Vi- sionen führt es durchgängig den Esra selbst redend ein. Er hebt in der (wie bemerkt, mit e. III beginnenden) Grundschrift also an: „Anno trieesimo ruinae civitatis eram in Babylone. Beim Blick auf das strahlende Glück der Heidenstadt gedenkt Esra um so trauern- der des harten Geschickes seines Volkes und Jerusalems.. Wie hat nur Gott den Heiden, deren unsägliche Schlechtigkeit er dreissig Jahre hindurch gesehen hat (hoe tricesimo anno v. 29), ein so viel bes- seres Schicksal geben können als seinem Bundesvolke, wenn das auch Strafe verdient hat? (e. III). Ein Engel erinnert ihn an die verbor- gene Weisheit des Höchsten, auch sei auf den nun nicht mehr so fernen Ausgang zu warten: die gegenwärtige Welt eilt ihrem Unter- gang zu (e. IV). Die Ungerechtigkeit muss erst ihren Höhepuukt er- reicht haben, dann kommt sicher der Tag des Entsetzens für die Feinde Jehovah’s, die Verwüstung auch dieses herrschenden Landes (e. V, 15). Das war die erste Vision. In den folgenden soll nun die Zeit der Erfüllung immer deutlicher angegeben werden; sogleich in der zweiten, welche die Erzählung der Genesis, wie Jacob den Esau im Mutterleibe an den Fersen gehalten habe, so ausdeutet: finis huius seculi Esau, et prineipium sequentis Jacob. Nichts sei da- zwischen (VI, 9), wobei man denken kann an die Edomiter Hero- des oder seine Nachfolger, nach deren Ende nun Jacob oder Israel durch den Messias herrschend werde. In der dritten Vision (VI, 35 — IX, 24) wird betont, dass doch die ganze Schöpfung sammt den Riesenthieren zu Land (Behemoth) und zu Wasser (Leviathan), diesen absoluten, nie aufhörenden Leckerbissen, blos des jüdischen =- Mi = Volkes, dieses primogenitus oder unigenitus filius dei wegen da sei. Wie kommt es nun, dass gerade dieses auserwählte Volk keinen Be- sitz mehr hat und den Händen der Heiden übergeben ist? Es ist nur auf die messianische Zeit zu warten, die 400 Jahre Herrschaft bringen wird. Diese Zeitlichkeit hört dann auf; der Messias selbst wird mit allen Lebenden dann sterben, aber nach einer Woche folgt das allgemeine Gericht, das ein ewiges Paradies für die Gottgetreuen bringt gegenüber dem nnauslöschlichen Feuer; freilich sind es nur Wenige, denen das Paradies eröffnet, der Lebensbaum gepflanzt, die Stadt gebaut, das h. Land gegeben wird, weil so Viele untreu wurden (VIII, 48 £.IX, 8). Aber wann nur? Eine vierte Vision (9, 25 — 10, 60) lässt ein trauerndes, weheklagendes Weib sehen: nach 30 Jahren Unfruchtbarkeit war ihr ein Sohn geboren, aber der starb hin und so will sie sich zu Tod fasten und grämen. Esra erinnert sie daran, wie ja ganz Israel so zu klagen habe. „Unser Heilig- thum ist verwüstet, das Opfer und der ganze herrliche Cultus hat auf- gehört, unsere Weiber und Töchter sind entehrt, unsere Männer und Jünglinglinge sind in Knechtschaft, und das Siegel ist von der Herrlichkeit Zion’s abgerissen; denn sie ist in deren Hände gegeben, die uns hassen.* Während Esra diese Klagen ausspricht, ist das Weib auf einmal verschwunden und an seiner Stelle zeigt sich eine herrliche Stadt, die im Erbauen begriffen ist; es ergiebt sich nun, wie es ein Engel zu erklären bekommt: das jammernde Weib war Zion selbst. Nach langer Unfruchtbarkeit war ihr der Tempelerbauende Sohn geboren, aber plötzlich wieder gestorben; daher ihre laute Klage; doch wie „die dreissig Jahre Unfruchtbarkeit die dreissig Jahre be- zeichnen, darin in ihr nicht mehr geopfert ward* (X, 45), so ihre plötzliche Verwandlung die plötzlich bevorstehende Herrlichkeit des neuen Jerusalems. In welcher Zeit ist das nın näher zu erwarten? Die fünfte Vision (e. XI. XU) ist bestimmt, dies endlich zu detailliren. Esra sieht im Gesichte der Nacht einen Adler vom Meere auf- steigen mit zwölf Feder-Flügeln (duodicem alae pennarum) und drei Häuptern, der seine Flügel über die ganze Erde ausbreitet. Von sei- nen Federn aber gingen aus Gegen-Federn (eontrariae pennae), und diese wurden zu kurzen und geringen Federlein, diese zeigten sich als solche *). Die Haupter ruheten, das mittelste war das grösste unter ihnen, ruhete aber auch (v. 1— 4). *) Vet, Lat. De pennis eius nascebantur contrariae pannae et ipsae fiebant — 345 — Dieser Adler herrschte nun mit seinen Schwingen über das Land und über dessen (oder über die Erde und deren) Bewohner (super terram et super eos, qui habitant in ea), und siehe, Nichts war unter dem Himmel, was ihm widersprochen hätte, auch nicht eine Krea- tur auf Erden (ec. 5 — 6). Die Flügel aber sollten, während die Häupter bis zum Ende aufbewahrt bleiben, einer nach dem andern herrschen, sagte eine von der Mitte des Adlers ausgehende Stimme. Der kleinen Flügel Zahl aber war acht (v. 11). Nun erhebt sich, wird speciell erzählt, der erste Flügel (una penna, wie zur&gvf) von der rechten Seite zur Herrschaft über die ganze Erde bis zum Verschwinden; dann der folgende, und von dem wird es betont, dass er lange geherrscht habe, ja weit länger als irgend ein folgender; nicht die Hälfte von dessen Zeit würden die spätern erreichen (v. 13 — 17). Dann kam der dritte, bis er verschwand, und gerade so ging es mit allen übrigen (v. 18 £.). Und siehe, heisst es nun, die in der Zeit folgenden Federn (et eece in tempore sequentes pennae) richteten sich von der rechten Seite auf, um auch die Herrschaft innezuhaben, und einige von ihnen hat- ten sie zwar inne, waren aber sogleich nicht mehr vorhanden. An- dere standen auf, aber herrschten nicht (v. 19 — 21). Hierauf (post haee) sind nun nicht mehr sichtbar 12 Flügel (pennae) und zwei Flügelein (pennacula), und nichts am Leibe des Adlers übrig als zweierlei: dieruhenden Häupter und sechs Flügelein *), in pennaculis minutis et modicis. Der Uebersetzer giebt auch hier keinen An- lass zum Zweifel an seiner Wörtlichkeit, nur dass er das Eylyvorco eig nte- guyLa wuroa x@l UETOL@ ungrammatisch mit in pennaculis wiedergiebt, ähn- lich wie v. 9 in novissimo servantur. Der Araber erklärt nun contrariae pennae, (errirctägvysg) mit parvae, an sich wahr, aber im Zusammenhange doch un- richtig, da ja erst gesagt wird, dass diese Gegenflügel sich [dann] als so klein oder kurz [kurzdauernd vgl. v. 20 — 27] gezeigt hätten... Der Aethiop. er- klärt gleich, es seien darunter auch Herrscher -Häupter zu verstehen und giebt sofort capita, verwirrend; doch bestätigt er 12, 3 noch die Lesart des Lat., wie schon van der Vlis (p. 132) erinnerte. Um so weniger hätte vom Vet. Lat. abgegangen werden dürfen. Hilgenfeld geht aber dessen ungeachtet auf die Deu- tung des Arab. zurück, indem er avrıregiyia (im Sinne von @VTisterg0S) flügelähnlich deuten will, kleine Flügel, die etwa als Flügel gelten könnten. Der Zusatz, et fiebant (Eyiyvovro) in pennacula, fordert die strenge Bedeu- tung von avıı —; es sind Gegen -Herrscher. #) Die Vulg. liest hier: et nihil supererat in corpore aquilae nisi duo ca- = 6 Nun trennten sich von den sechsen zwei und blieben unter dem Haupte zur rechten Seite, die vier andern blieben an ihrer Stelle. Und siehe die Unterflügel (subalares) gedachten sich zu erheben und zu herrschen: einer stand auf, aber war sogleich nicht mehr zu sehen, und die zweiten waren‘ schneller nieht mehr da als die frühern *). Und die zwei, welche überwanden #*), dachten bei sich, auch zu herrschen. Aber während sie so dachten, da erwachte eines der ru- henden Häupter; das in der Mitte, jenes grösseste, mit dem die bei- den andern verknüpft waren #**), das grosse Haupt wendete sich mit denen, die ihm zur Seite standen, und verzehrte die beiden Unter- flügel, die da gedachten zu herrschen (eogitabant regnare) F). Dies Haupt nun erschreckte die Erde sehr und herrschte stärker und qualvoller als alle Flügel (alae) vorher. Plötzlich war es ver- schwunden: es überstanden aber die zwei Häupter, die nun ähnlich herrschten über die Bewohner der Erde oder des Landes. Da ver- schlang das rechte Haupt das linke. Jetzt erblickt Esra (v. 36) einen brüllenden Löwen, der mit Menschenstimme zu dem Adler sprach: höre des Höchsten Stimme: pita quiescentia et sex pennacula. Räthselhaft und unmöglich „zwei Häupter“; von den dreien (v. 1) ist ja noch keins verschwunden; sie sind hernach erst Gegenstand der Vision (v. 29 fg.). Der Aeth. liest nun: et nihil superfuit in corpore huins aquilae nisi eius capita tacentia et sex eius capita [d.h. für den Aeth. überall pennacula]. Hilgenfeld hat daher dem Aeth. den Vorzug gegeben, da er duo bei capita tacentia weglässt. Vlis wollte duo geradezu in tria ver- wandeln. Das Erstere wäre eine Ausnahme, da der Vet. Lat. durchweg treu übersetzt, der Aeth. frei; das Andere ist Wilkür. Es ist aber auch am Vet. Lat. hier Alles ganz getreu, denn für die schlechte Interpunection kann er nicht. Es heisst: nihil supererat in corpore aquilae nisi duo [i. e. za Övo, dies Zweierlei]: capita quiescentia [ei xegakai] et sex pennacula. Er hat nur die Artikel 7@ und & nicht wiedergeben können. *) Lat. Secundae velocius quam priores non comparuerunt. Hilgenfeld sagt (S. 206) ungenau und selbst ohne Angabe der Abweichung vom Texte: „und das zweite verschwindet noch schneller als das erste.“ Vlis wollte so corri- giren, aber mit doppelter Gewalt. *#) Lat. ecce duae, quae superaverunt. *#%) Die Vulg. lectio des Vet. Lat: et completa sunt duo capita secum ist aus dem Cod. Sangerm. et complexa est duo capita seecum zu erklären und zu berichtigen. Man sah nicht, dass complexa est auf m zegyakı] des Grundtex- tes zurückgeht und fasste es so plural und passivisch. 7) Hilgenfeld deutet „wähnten zu herrschen“ gegen den Context, der v. 25 dafür ausdrücklich sagte: cogitabant se erigere et tenere prineipatum. — 347 — du bist übrig von den vier Thieren, die ich herrschen liess in der Welt; das vierte hat alle frühern besiegt und hat den Erdkreis (om- nem orbem) aufs schrecklichste beherrscht, mit List und Ungerechtig- keit, die Demüthigen hast du gequält, die Ruhenden verletzt, die Lügner geliebt, die Wohnungen der Guten zerstört, die Mauern der Unschädlichen erniedrigt. Deine Schmach ist zu Gott aufgestiegen und dein Stolz und deine Laster sind nun am Ende; hinfort sollst du mit allen deinen schrecklichen Flügeln und Flügelein, boshaften Häuptern und schlimmen Krallen aufhören, damit die ganze Erde, von deiner Gewalt befreit, Erquiekung finde und Gottes Gericht hoffe (ec. XI Ende). Während der Löwe so noch redete, siehe da verschwand das letzte Haupt wie die vier Flügelein, die zwei aber (duaeque, «i d& dvo), von denen es vorher geheissen hatte, sie hätten sich von den sechs zuerst übrigen getrennt und unter dem rechten Haupt gewartet (XI, 24), diese zwei gingen jetzt auf das Haupt über (transierunt ad eam, Exil aurnv, uyv xegaknv, oder wie es später noch bestimmter heisst: tra- jieientes super caput dextrum, vrz2g @urajv) und erhoben sich zu herrschen *). Ihre Herrschaft war aber armselig (exile) und voll Un- *) Die Vulg. hat hier (12, 2) eine Corruptel durch Abschreiber erlitten. Cod. Sang. aber bietet: Et vidi et ecce quod superaverat caput et non com- paruerunt quatuor alae, duaeque ad eum [lies eam sec. anv xepahrv] transie- runt Ki erectae sunt ut regnarent; et erat regnum eorum exile et tumultu ple- num. Et vidi et ecce ipsa [sc. pennacula oder lies ipsae] non apparebant. Statt „quatuor alae, duae que“ hat die Vulg. „quatuor alae illae quae,“ was nun jedenfalls falsch ist, da nur zwei Flüglein zu dem rechten Haupte sich hinge- wendet haben (XI, 24). Der Sang. ist völlig getreu; bei mangelnder Interpunk- tion wurde aus quatuor alae duae das duae für unmöglich gehalten, illae dafür gelesen und danach das que zu quae adäquirt. Nur zu Anfang ist eine Umstellung eingetreten, das non comparuerunt gehört nach „et vidi et ecce“ oder schon vor „quod superaverat caput et quatuor alae [contrariae] “, ganz wie es 11, 22. 23 hiess: et vidi post haec et eece non comparuerunt duodecim pennae et duo pennacula. Der Unverstand stiess an dem plural des Verbums vor dem quod superaverat caput und zog ihn zu dem Plural. Unmöglich wäre aber auch nicht, dass es ursprünglich so hiess, wie v. d. Vlis annimmt: eece quod su- peraverat caput non comparuit et non (ovdE) quatuor alae; jedenfalls haben Arab. und Aeth. mit ihrem caput illud periit oder interiit den Sinn, aber nicht die Sprache es Urtextes getroffen. Ausserdem ist ihr Deuten oder Umschreiben oder Abkürzen ganz gleichgültig. Hilgenfeld hat nun das quae der Vulg. noch in den Cod. Sangerm. schieben, also lesen wollen: non comparuerunt quatuor alae duaeque, quae.. transierunt et erectae sunt, wodurch der Sinn heraus- käme, gleichzeitig mit dem Haupte wären alle sechs Flüglein verschie- den gewesen, die zwei hätten nicht das Haupt überdauert. Das ist eine _— 3485 — ruhe. Und siehe: auch sie waren nicht mehr da und der ganze Ad- lerleib geht nun in Flammen auf zum Erschrecken. Esra erwacht und bittet Gott um nähern Aufschluss (11, 9). Die Enthüllung ist nun diese: Der Adler ist das Reich, welches dem Daniel erschienen aber noch nicht erklärt war, ein Weltreich stärker als eins vorher. a) Zwölf Könige werden darin herrschen, einer nach dem andern, der zweite doppelt so lang als die andern. Das bedeuten die zwölf Flügel. b) Aus der Mitte des Leibes ging die Stimme; denn „nach der Zeit jener Regierung“ (d. h. der zwölf Flügel) werden grosse Streitigkeiten ausbrechen, so dass das Reich nahe daran ist zu zerfallen, doch wird es dann nicht fallen, sondern wieder aufgerichtet werden #*). e) Was aber die acht Unterflügel be- trifft, die mit den Flügeln zusammenhängen, so werden acht Könige in ihm [in ipso, dem Adler, 19 «@ero] sich erheben, deren Zeiten kurz und schnell sind, und zwei von ihnen werden untergehn, wenn die mittlere Zeit naht. Viere aber werden für die Zeit erhalten wer- den, wenn die Zeit des Endes zu nahen beginnt. Zwei aber werden sehr eingreifende Aenderung des Textes, die doch etwas offener als so bedeu- tend erinnert werden sollte. Aber sie ist nicht einmal durch den Aeth. und Arab. geboten, und reine Willkür. Sie widerspricht auch allem zweifellosen Text- bestand geradezu. Wie kann das Verschwinden der zwei Flügel durch das ein- geschobene quae angedeutet sein? Dies wird ja hernach erst angegeben v. 3. Wozu wäre nur der ganze weitläufige Zwischensatz, quae... transierunt et erectae sunt ct., wozu überhaupt die Unterscheidung der duae von den quatuor, wenn Nichts gesagt worden wollte als: mit dem Haupte waren auch die „sechs“ Flüglein verschwunden? Endlich lässt ja auch die interpretatio des Verf. selbst 12, 29. 30 keinen Zweifel darüber, dass die duae alae, ad (eri, hier heisst es geradezu super) caput dextrum transeuntes, gerade nach dessen Ende sich selbst erhoben zur Herrschaft, auch wirklich geherrscht haben nach dem letzten Haupt. Dies eben hat Hilgenfeld aus dem Text brin- gen wollen, in der Hoffnung, dem Tode des Hauptes dann auch noch eine an- dere Wendung geben zu können: dass derselbe nämlich noch gar nicht einge- treten gewesen wäre. Der Verf. von Esra selbst aber hat nur sichtlich zwei Hauptabtheilungen gemacht: 1) die Zeit, als duodeeim alae et duo pennacula verschwunden waren und nun die sex pennaeula et tria capita eintraten (11, 23 — 25) und 2) die Zeit, als hiervon theils alle drei capita, theils die quatuor pen- nacula verschwunden waren und nur duo pennacula noch da waren, die sich nun über (Ertl, ja urteo) das letzte Haupt erhoben, darüber hinaus herrschten (12, 2. 3. und 29. 30) um dann mit dem Adler zu verenden. **) Post tempus regni illius wird von Hilgenfeld auf die Regierung des Zweiten bezogen, gegen den Zusammenhang des Ganzen. Die Interpretation schreitet von locus zu locus fort, hier bezieht sich der zweite Punct der Erklä- — 349 — bis zum Ende behalten werden #). d) Was die drei ruhenden Häup- ter betrifft, so wird zuletzt der Höchste drei Regierungen (tria regna, Toelg Peorkelag) errichten und Vieles darauf zurückführen (et multa in ea revocabit), und sie werden das Land beherrschen und seine Be- wohner unter vieler Last, mehr als alle frühern; desshalb heissen sie die Häupter. Denn sie werden des Adlers Frevel vollenden und sein Letztes vollbringen. e) Das grössere Haupt erschien nicht mehr d.h. der eine von ihnen stirbt, auf seinem Bette zwar, aber mit Schmer- zen. Die beiden andern überstehenden dagegen wird das Schwert verzehren: des Einen Schwert verzehrt den Andern, doch dieser wird in der letztern Zeit (in novissimis) vom Schwerte umkommen. f) Die beiden Unterflügel endlich, die über das rechte Haupt sich erheben (trajicientes super caput), die hat Gott bis zu seinem Ende (in finem suum ) aufgehoben, ein klägliches Regiment voll Unruhe. g) Der er- wachende, brüllende, den Adler anklagende Löwe ist der Messias [unetus], den der Höchste bewahrt hat gegen sie [ei arrovg ad eos], um ihre Gottlosigkeiten und Unsinnigkeiten **) an’s Licht des rung (über die Stimme) auf den ersten (über die alae) zurück (d. h. auf v. 13 — 16), nicht auf einen einzelnen Vers darin (wie v. 15); regnum illud (v. 17 fg.) ist also kein anderes als das regnum der duodecim alae. #) Der Text „duo quidem ex ipsis perient appropinquante tempore medio; quatuor autem servabuntur in tempore, eum incipiet appropinquare tempus eius ut finiatur: duo vero in finem servabuntur“ ist so schon von Vlis hergestellt d.h. erkannt, dass nur eine Transposition des autem eingetreten ist. ##) Der Vet. Lat. hat hier seltsam: servavit ad [i. e. contra, £rri] eos et impietates ipsorum,, et arguet illos et incutiet coram ipsis disicerptiones ‚eorum. Cod. Sang. (bei Vlis p. 65) et infuleit coram ipsis spretiones eorums» Arab. et stultitiam eorum reddet manifestam. Aeth. et coacervabit volunta- tem eorum. WVlis hat hier sehr willkürlich herstellen wollen, H. die Frage nicht berührt. Der Vet. Lat. hat aber nach Allem gewiss auch hier wortgetreu ‚übersetzt, aber eben so sicher hier Falsches gelesen. Die 4 Deutungen des griech. Textes vereinigen sich von selbst und nach der Parallelstelle (13, 37 impietates... mala cogitamenta) auf dieses: al Ertafeı Evarılov aurov Ta TTRDRPEOVF UT. Das Ertafeı haben die Einen richtig verstanden im Sinne von „vorhalten* (errincinEeı, ineutiet, infuleit), der Andere zu wört- lich genommen „aufhäufen“ (coacervabit). Das Wort zagapgov 7 uOTa aber verstand der Arab. richtig, stultitiam; der Aeth. wendete das gomwelv auf das Gesinntsein und gab so voluntatem [malam]; der die ‚Vuig- nach dem Urtext berichtigende Cod. Sangerm. verstand oder fand ZUTAGIOYUATa und . gab danach richtig spretiones, Der Vet. lat. aber hat zagapoon7 uaTa gefunden und diese Form ganz getreu mit disereptiones wiedergegeben. Die Stelle Wissenschaftliche Monatschrift. II. 25 — 3550 — Gerichtes, das erwählte Volk aber in ‘das h. Land zu bringen, um es da, wie früher angegeben, [400 Jahre hindurch] selig zu entschädigen. Das ist die angebliche Erklärung der Vision, die jedoch nur auch ausdrücklich andeutet, der Verf. habe ein Räthsel aufgeben wollen; denn nun ist erst Rathen nöthig. In der sechsten noch folgenden Vision wird das Auftreten und Wirken des Messias näher geschildert (e. XIII), dabei noch erwähnt, dass kurz vorher (v. 31) „Einer den Andern bekriegen werde, ein Volk und Reich und ein Land das andere“; aber wenn sie noch so ein- müthig auf Jerusalem stürzen, der Messias wird sie ohne jede andere Waffe mit dem Feuer des Mundes vernichten und nun auch die ver- lornen 10 Stämme über den wegsam gewordenen Euphrat zurückfüh- ren (wie auch die Johannes- Apokalypse Krieg vorhergehen lässt und den Euphrat wegsam macht, auch in der sechsten Reihe). In der letzten, der siebenten Vision wird dem Esra die Auf- gabe, alle diese Enthüllungen wie überhaupt alle göttliche Weisheit aufzuschreiben, dabei noch einmal das Ende näher bestimmt „von den zwölf Weltperioden sei schon der übergrösste Theil abgelaufen, nur Weniges übrig.* Doch ist der Text über die übrigen Theile so ent- stellt *), dass hier nur das vage Allgemeine festbleibt: das Weltende ist nahe wie dem Greis sein Tod. der folgenden Vision (13, 37) ist, wie schon v. d. Vlis sah, so parallel, dass wohl in keinem Falle zu zweifeln ist: Juooeßelv und TagagpgoVvelv fällt der ganzen götzendienerischen Weltmacht zur Last. ®) Die Vulg. hat: Duodeeim enim partibus divisum est saeculum et tran- ‚sierunt eius decima et dimidium decimae partis: supersunt autem eius [Cod. Sang. fügt da ein: duae] post medium deeimae partis. Der Aeth. decem enim partibus dispositus est mundus et venitad decimam et superest dimidium deeimae. Lücke und Vlis wollten dem Aeth. unbedingt Recht geben, mit Berufung auf die 10 Weltwochen des B. Henoch; aber diese mögen den Aeth. bei der „Cor- rectur* geleitet haben. Nach textkritischem Prineip kann nur der Vet. Lat. als der wortgetreueste Uebersetzer in Betracht kommen, also über die duodecim partes wohl kein Zweifel sein. Der Zusatz „es seien vorüber gegangen der 10te und die Hälfte des 10ten Theiles“ ist dagegen in sich widersprechend. Eine Correctur ist nothwendig: nahe liegt, zu denken, es sind 9 Theile und die Hälfte des 10ten Theiles vergangen, und Hilgenfeld räth, geradezu novem statt decima zu lesen. Entsprechender der Sprache des Verf. ist wohl nona, wie auch aus &yya@tov 4EOOS am ersten ein Ö&x«rov werden konnte. Es blieben also 2!1/, Theile übrig, wie Cod. Sang. ausdrücklich angibt: supersunt duae [partes] post medium decimae partis, das heisst nach der 2ten Hälfte des 10ten Theiles ist noch der 11te und 12te übrig, Die Correctur nona ist um ——, HE oo II. Lücke hat nun hier jeder Kritik wegbahnend ganz verständig sich vor Allem an die Totalität des Buches gewendet. Der Tem- pel ist zerstört, das Opfer und der ganze Tempeleultus hat auf- gehört, das jüdische Volk ist zertreten und ohne Besitz. Wann ist das der Fall gewesen? Nach der Vernichtung des jüdischen Staa- tes und Cultus durch Titus, seit dem babylonischen Exil nur in die- ser Zeit. Denn der ächte Esra hat zwar die Tempelzerstörung durch Nebucadnecar hinter sich, aber nieht etwa 30 Jahre, sondern 130 Jahre (458 nach, 588 v. Chr.). Dann aber hat er selbst den Tempel wie- der erbaut, den Opfereultus hergestellt; das Volk ist neu im Besitz und nichts weniger als zertreten. Giebt der Verfasser damit schon zu verstehen, das er die Ankündigung einer neuen Errettung aus tief- ster Sclaverei, einer neuern weit herrlichern Wiederherstellung Jerusa- lem’s nur dem alten Esra in den Mund gelegt, Babylon nur als Ein- kleidung eines weit späteren, Judäa bedrückenden Götzenreiches [wie Rom] eingeführt hat: so ist im Besondern auch durchaus kein Ge- danke an eine der letzten Zeiten vor Christus. Denn da bestand ja der Tempel und sein Cultus unangefochten, da hatte ja das Volk sei- nen Besitz und Staat, ja gerade damals war es nicht so ganz unter- drückt von den Heiden. Vielmehr passt dies Alles in die Zeit nach Titus; in ihr ist auch ganz besonders und notorisch die Sehnsucht des Judenthums nach seinem schönen Tempeleultus, nach der Wieder- herstellung seines Gottesdienstes erwacht, und bekannt ist es, dass gerade in dieser Zeit von Titus bis zum Bar-Cocheba-Krieg das Wort erschallte: „Nun wird ja bald der Tempel wiederhergestellt sein“ *). Lücke hatte daher ganz Recht, weder auf irgend eine Hallucination über die 12 oder 10 Weltperioden in der allerletzten Vision sich irgend einzulassen, noch das Räthsel von dem Adler mit seinen Flü- geln und Flügelein besonders erheblich zu finden. Gleich der An- fang des Buches Anno tricesimo ruinae eivitatis enthielt für Jeden, der das Ganze in’s Auge fasst und die ausdrückliche Bedeutung, dass so mehr zu empfehlen, als dazu das wiederholte medium oder dimidium deei- mae stimmt, das wohl an sich aus uE0oVv Evdszurov hervorgehen konnte, aber schwerlich zweimal hinter einander mit gleichem Fehler. Auch des Aeth. Correctur so wie das von ihm belassene „dimidium superest“ passt dazu. Nur wird das Ö&xa@rov statt Eyv@rov schon sehr früh eingedrungen sein und den Arab. getrieben haben, lieber hier alle Zahlen aufzugeben. *) Vgl. Friedmann und Gaetz über die angebliche Fortdauer des Tempeleul- tus nach der zweiten Tempelzerstörung. Theol. Jahrb. 1848. 30 Jahre lang das Opfer in Zion aufgehört habe, beachtete, unwider- sprechlich die Zeitbestimmung: entweder präcis oder eirca 30 nach Titus ist das Buch geschrieben, Babylone d. h. nach solennem Typus auch in christlichen Kreisen (Apoeal., I Petr.) „zu Rom“. Die 12 Flügel des Adlers, meinte Lücke, würden wohl die 12 Cäsaren, von Cäsar bis Nerva oder Trajan bezeichnen, in dessen erster Zeit das Buch verfasst sei *), die 3 Häupter möchten etwa noch bevorstehende antimesssianische Gewalten sein, gleich den zwei bis an das Ende aufgesparten Elügelein (nach Art von Apoe. Joh. 19, 20 fl.). — Gfrörer #*) sah richtiger, dass die 3 Häupter schon diesseits des En- des erwachen; es seien die drei Flavier. Ruhend heissen sie con- stant, da sie sich anfangs so klug schweigsam hielten, wie denn Domitian den Juden an (Dom) Schweigen erinnern könnte. Die 12 Herrscher waren ausser den sechs (von Caesar bis Nero), die drei Galba, Otho, Vitellius und noch drei Neben-Regenten oder Gegner, Piso, Vindex, Nymphidius. Die acht Flügelein möchten dann einhei- mische Tyrannen, Regenten in Palästina sein: zuerst Herodes I und Herodes II (Agrippa I), die allein darüber ganz herrschten, zuletzt Agrippa II und Berenice, die sich an die Flavier anschlossen; in der Mitte standen so die Tyrannen Palästina’s während der Empö- rung Eleazar, Johannes (von Gischala), Simon (Bar Giora) und Johannes (der Idumaeer) „die an ihrer Stelle blieben“ d.h.nicht zu Flaviern übergingen. Das letzte Haupt, Domitian, aber werde dem Messias zum Gericht vorbehalten #***). Dass da Manches gezwungen sei, und nicht so völlig zutreffe, erkennt Gfrörer selbst; an dem über- lieferten Text liege da wohl einige Schuld, und den Massstab haarschar- fen Zutreffens werde man an keine Apokalypse legen können +). Der holländische Bearbeiter des Buches aber 77) sah darin so wenig Genügendes, dass er einen neuen Weg für unumgänglich hielt. *) Ein]. in die Offenbarung Johannes. 1832. $. 106 fg. **) Jahrh. des Heils II, 60 fg. *#®) Ungenau bemerkt H. S. 190, auch Lücke I habe das Buch unter Domitian noch entstehen lassen. 7) Was B. Bauer (Berl. Jahrb. für wiss. Krit. 1841 S. 837 f£. H. S. 190) über das Buch bemerkt hat, scheint wenig erheblich zu sein, nach dem, was er Krit. der Synopt. I Bd. 1841 S. 404 angiebt. Er addirt da die 3 Häupter und die 8 Flügelein zusammen und will so die Eilfzahl Dan. 7, 7. 8. finden! +r) Van der Vlis Disp. cerit. de Ezrae libro apocrypho vulg. 1V dieto. Amstelo- dami. 1839. — 353 — Die drei Häupter seien gewiss in einem der römischen Triumvirate zu suchen. Sulla, der super lecto cum tormentis starb, werde das grosse Haupt sein, Pompejus das zur Linken, Caesar, am längsten bestehend, das zur Rechten. Mit diesen beiden, könne man wol (etwas phan- tastisch frei) sagen, habe Sulla den jüngern Marius und den Carbo verschlungen (die beiden subalares); die übrigen sechs Federlein seien nicht mehr speeiell nachzuweisen. Ganz abzusehen habe man von den 12 Flügeln; es seien darin nur die 11 Hörner am letzten Thiere des Daniel (7, 7) wiederholt und voll gemacht. Das sei eine rein apokalyptische Zahl; damit werde die ganze „Herrscherreihe Rom’s“ von Romulus an zusammengefasst. Lücke, in seinem Alter wie bekannt, weniger scharfen als um- florten Auges, mehr krittelig als kritisch, begann durch Gfrörer's Aus- deutung seiner Ansicht über diese selbst stutzig zu werden. Die un- bekannten Piso, Vindex, Nymphidius sollten von einem Juden mitge- zählt sein? Und wie gewaltsam würden die angenommenen Häupter der jüdischen Empörung herangezogen, um 4 subalares herauszubrin- gen. Er glaubte daran verzweifeln zu müssen, mit der Cäsaren-Reihe auszukommen und fand nun auch eher eins der frühern Triumvirate von dem Buche bezeichnet, wenn es auch so apokalyptisch zurecht- gemacht sei; Sulla sei sehr gut bezeichnet, sterbend super lecto cum tormentis, und Caesar, das rechte oder bis zuletzt bleibende Haupt, habe ja den Pompejus so zum Untergang gebracht mit dem Schwert wie IV Esra sage. Die Unterfedern sind dann irgend welche Neben- personen in dem historischen Drama, und die 12 Flügel mit van der ‚Vlis zu deuten, etwa unter Gedanken des Auspiciums von Romulus, der 12 Geier! Freilich sei dann Alles, was zur nähern Charakteri- stik der 12 Schwingen e. 11. 12 gesagt ist, im Besondern das lange Alter der zweiten, auf christliche Interpolation zu schieben, die im Einzelnen so sich geltend gemacht, den Augustus hineingebracht habe *). So war aber in der That auf die alte Unkritik nur mit immer vollern Segeln zurückgesteuert. Diese Deutungen bestehen am Ende darin, dass man von der Deutung fast alles Einzelnen absieht. Wer hätte sich dabei beruhigen können! Hilgenfeld (S. 210 fg.) hat daher etwas sehr Verdienstliches un- ternommen, die Sache weiter zu führen. Nur das glaubt er (von van der Vlis und Lücke) „bewiesen,* dass Gfrörer’s noch bester Ver- *) Einl. in die Apok. Joh. ed. II. S. 190. Vgl. fg. Hilg. S. 213 fg. — 354 — such, das Rätbsel aus der Zeit des Domitian zu deuten, wegen jener Härten, ganz unhaltbar sei. Dagegen biete sich ja auch der ein- fachste Ausweg, wenn man nur dem Seher selbst folge oder auf das Daniel-Buch zurückgehe, dessen viertes Thier er näher angeben will. Man habe also mit Alexander dem Grossen zu beginnen, und man brauche für einen ägyptischen Standpunkt nur die Ptolemäischen Dia- dochen als dessen Nachfolger zu fassen, so treffe Alles ganz über- . raschend zu. Der zweite Flügel ist dann Ptolemaeus Lagi, dessen 40 Regierungsjahre so viel länger dauern als die Zeit irgend eines andern „Alleinherrschers über Aegypten.“ In der Ptolemaeer-Reihe sind auch Flügel und Flügelein genug geboten. Die drei Häupter des Adlers aber sind die drei Römer, durch welche Aegypten von dem Adler verschlungen wird, das mittlere und grösseste ist Caesar, der mit dem ägyptischen Krieg diesem „hellenischen Weltreiche sein Ende bereitete,* auch starb er eum tormentis und warum nicht super lecto ? Das heisse so viel als nicht draussen im Krieg, also etwa so viel als in toga? Das zweite Haupt des apokalyptisch: gestalteten Triumvira- tes sei dann Antonius, der freilich durch sein eignes Schwert umkam, aber doch im Grund durch das Kriegsschwert des letzten Hauptes, Octavian, der mit der Schlacht von Actium die Alleinherrschaft er- halte. In dieser Zeit „als sich die römische Weltherrschaft zu ihrer dauerhaftesten Gestalt befestigte, erwartete der jüdische Seher den Sturz des allherrschenden Octavian durch das Auftreten des Messias“ (8. 217). Hiermit „habe auch der Entwicklungsgang der jüdischen Apoka- lystik seinen wesentlichen Abschluss erreicht; das Esrabuch ist die letzte hedeutende Erscheinung derselben, die spätern Sibyllinen _ alle höhere Bedeutung“ (S. 218. 240). Durch ein merkwürdiges Verhängniss fällt also der Ausgang der jüdischen Apokalistik gerade in die bedeutungsvolle Alleinherrschaft des Octavian und in die Regierung des Herodes, unter der Jesus geboren ward. Das letzte Denkmal dieser Apokalyptik zeigt, wie diese Zeit von Erwartung einer neuen Wendung der Geschichte durch- drungen war, gepaart mit bussfertiger Gesinnung (8.242). Und es bedarf nur noch, den Essäern diese Apokalyptik als eigenthümlich, alle jene Bücher als ihre „Schulbücher“ nachzuweisen (S. 252 fg.), so haben wir in dem IV Esra den letzten Ausläufer des Essäismus, dessen Apokalyptik damit unmittelbar an die Schwelle der Erfüllung, des Christenthums führt. — 355 — Wie anziehend sind diese Combinationen, wie anregend die ganze Zusammenstellung! Wie glücklich der Gedanke, das Buch Daniel ein- mal neben den blutsverwandten Gliedern derselben Entwicklung sich übersichtlich aussprechen zu lassen unter Erwähnung der nur so ge- ringen und seeundären Puncte, über welche wissenschaftlicher Seits noch Differenz statt haben kann. Diese Zusammenfassung von sonst Zerstreu- tem überhaupt Tst für so Viele höchst verdienstlich! Sollte es nicht auch sehr zu erwägen sein, was Hilgenfeld, wenn auch vielleicht zu sehr be- tont, doch neu erinnert, dass die essäische Abstinenz von Fleischspei- sen und Wein so merkwürdig zusammenstimmt mit der, durch welche die Seher im Buche Daniel, Esra und Enoch regelmässig sich zum Em- pfang ihrer höheren Offenbarungen vorbereiten, und dass selbst der Name Essener (Ossener) auf Chasah (sehen) führen kann, was schon Suidas bemerkt? — Selbst ein erbauendes Moment liegt darin, dass so kurz und gerade ein Menschenalter vor Jesu Geburt zuversichtlichste Ankün- digung der Nähe des Messias in Israel sich gefunden habe, Alle zur Busse rufend und aufrichtend, was in Johannes dem Täufer nur noch dringender sich wiederholte! Wie gewinnend ist der Gedanke: die grosse Wendung der Weltgeschichte, welche sich unter Octavian bei der Schlacht von Actium zu erfüllen begann oder das damals für die Welt noch ganz verborgene Heil ist doch schon vorher geahnt und geschaut worden, in der Stille der frommen und keuschen Essäer- Gemeinschaft, wenn auch in noch so trüber, jüdischer Gestalt schon vorher zum Bewusstsein gekommen! Wie merkwürdig wäre es also, wenn die alte Vermuthung, das Christenthum werde wohl aus dem Essäer-Kreise vorzugsweis hervorgegangen sein, die so oft schon ge- wagt immer wieder verworfen ist *), endlich doch noch in einer neuen Weise, so vertiefter und umfassenderer ihre Bewährung fände. Wer würde sie sich auch nicht unbedenklich zu eigen machen, da ja Jesu Christi göttliche Bedeutung keinenfalls etwas dabei verlieren könnte, wenn der Kreis, in den er eintrat, ein sowol durch Bussstrenge als ebendamit auch durch zuversichtliche Messiashoffnung, kurz so esse- nisch und apokalyptisch vorgebildet war, wie es Hilgenfeld glaubt gefunden zu haben, — wenn sich nur die interessante Hypothese ge- schichtlich bewährt. Aber, täuscht mich nicht Alles, so ist dies weniger der Fall. Die neue Vorgeschichte des Christenthums ist Alles, nur keine Ge- *) Vgl. Die Religion Jesu. $. 280. £. — 356 — schichte; das ganze neue Werk Hilgenfeld’s gehört zu demjenigen Theil der kritischen Literatur, welche ihre Bedeutung darin hat, ein Ferment zu sein, durch das Negative des Resultates vorwärts zu treiben oder eine klare Erkenntniss zu veranlassen. Wesentlich irrig oder ohne positives Resultat verlaufend gehört dieses Werk nur noch in erhöhtem Masse zu den letzten, ähnlich anregenden „Bearbei- tungen“ desselben, der seine Kraft und sein bleibendes Verdienst vornehmlich in der kritischen Hypothese hat, im Bilden, Be- haupten, Vertheidigen geistvoller Combinationen, welche das über- lieferte Material in Bewegung setzen, neue Möglichkeiten in den Ge- sichtskreis führen und somit schon unschätzbar werthvoll sind, aber es nicht durchdringen und so nicht zu positiver Gewissheit gelangen. Ja das, was ich schon früher als das Charakteristische der neuern geschichtlichen Kritik angegeben habe, dass sie die Hypothese liebt, also in Wahrscheinlichkeiten oder blossen Möglichkeiten sich bewege *), an Hilgenfeld, als dem eifrigsten Vertreter dieser Art Kritik nament- lich schon früher nachzuweisen hatte **), das scheint mir hier zu sei- nem vollsten und klarsten Ausdruck gekommen. Das Ganze ist nicht blos eins der Erzeugnisse der Subjeetivitäts-Kritik mit allen ihren Glanzseiten, aber auch all ihren Schwächen, in ihrer positiven Er- folglosigkeit, sondern, kann man sagen, gleichsam eine Verkörperung der Subjectivitäts-Kritik durch Stoffe der neuesten Gegenwart, ein Blüthe- und Gipfelpunkt jedenfalls. Schon sofern verdient die neue Erklärung von Esra IV im Besondern eine nähere Betrachtung, als es wohl sonst nothwendig wäre. Denn was eine objective, also die philologisch sich begründende, und vor Allem auf Chronologie ausgehende historische Kritik hier zu thun hat, ist der entscheidenden Hauptsache nach schon oben ge- schehen, ausserdem hat der Hypothetiker selbst so consequent und kunstvoll sein Gebäude aufgerichtet, auf einen Grundstein sich ab- schliessend, dass hier im engsten Sinn wahr wird: „ein Wörtlein® kann ihn fällen, diesen Bau nämlich. Es ist jenes so im Stillen in den Text von Esra IV ce. 12, 2 eingefügte quae, oder umgekehrt die *) Vgl. Das Ev. Mareion. Leipzig 1852. S. III. Ueber Justin den Märtyrer. Zürich 1853. S.10. Hippolyt und die römischen Zeitgenossen. Zürich 1855. S. 16 f. Die Religion Jesu und ihre erste Entwicklung. S. 549 £. *#) Vgl. zuletzt Ueber die römische Kirche, ihren Ursprung und ersten Confliet nach den neuesten Verhandlungen über Hippolyt. Zürich 1857. 8. 16 £. Te ee a ef, — 337 — einfache Umstellung von non eomparuerunt in dem gewöhnlichen Texte das durch Alles Nothwendige an der Stelle, das allein Nöthige, denn damit fällt selbst der letzte Schein für die Möglichkeit der ganzen Deutung von Esra IV und so der darauf gestützten ganzen apoka- lyptisch-essenischen Hypothese. Doch damit wäre die bis dahin nie ganz enträthselte Schrift noch nicht positiv verstanden, und zu diesem Verständniss kann nichts bes- ser einleiten, als ein ruhiges Eingehen in alle Seiten der entgegen- geführten Wahrscheinlichkeiten, welche diesmal auch mit besonders bestimmten Versicherungen der Zuverlässigkeit hervorgetreten sind. Die Hauptbegründung für die Auffassung des Essäismus als einer Schule, deren Entwieklung sich zuletzt kurz vor Christi Geburt e. 30 manifestire, liegt für ihren Urheber selbst in den angegebenen vier apokalyptischen Büchern und deren geschichtlicher Deutung. Dem Buche Daniel als dem Ausgangspunct der ganzen jüdischen Apoko- lyptik in der Makkabäerzeit e. 165 n. Ch., in der auch der Essäis- muss wurzele, folgte zunächst die jüdische Sibylle (Lib. III) als „erster Fortschritt“. Sie selbst (III, 319. 608 f.) weiset hin auf die erschütterungsvolle Regierungszeit des VIIten Ptolemaeer's (Ptol. Phys- kon, 170 — 117 v. Chr.) und Hilgenfeld findet näher das Ende der- selben, 142 — 137 n. Ch. indieirt, so dass Daniel's Hoffnung nur et- was weiter sich erstreckt, aber auch „weiter umfassend wurde in dieser alexandrinischen Färbung“ (S. 51 fg.). Daran schliesse sich in fast glei- chem Abstande das Buch Enoch unter Jannaeus Alexander 105 — 79 v. Ch. gegen den Sadducaeimus desselben (?) sich richtend „und zur Erwartung einer ganz neuen Schöpfung sich aufschwingend* (S. 93 fg.). Endlich schliesst sich wiederum in fast ebenmässigem Abstand die Esra-Apokalypse an c. 30 n. Ch., der letzte Ausläufer der Daniel- schen Gesichte, der Zeit entstammend, als das alexandrinische Reich völlig auf das römische überging, das in Octavian gipfelt (S. 137 fg.). Hiermit hat aber auch die ganze apokalyptische Entwicklung, dies sich stetig manifestirende Leben der Seher- oder Essäer-Schule, (S. 245 fg.) ihren vollen Abschluss erreicht; denn das Himmelreich ist nun wirklich nahe herbeigekommen. D.h. die ganze Hypothese schliesst sich in der Deutung des Esra-Buches als in ihrem Gipfel zusammen, sie beruht wesentlich darauf, dass durch Esra IV die Apokalyptik gerade auf die letzte Zeit vor Christus führe, von dem nun die apokalyptisch-essenische Entwicklung verwirklicht und somit beendigt wird. — 358 — 1. Das Merkwürdigste und Anziehendste ist, dass so kurz vor Jesu Geburt des Messias Nähe angekündigt sei, von der letzten be- deutendern apokalyptischen Stimme. Doch eben dies wird sofort bei etwas näherer Betrachtung mehr als merkwürdig, nämlich ziemlich seltsam. „Gerade in dieser Zeit, als sich die römische Weltherr- schaft zu ihrer dauerhaftesten Gestalt befestigte, erwartete der Seher den Sturz des allherrschenden Octavianus durch den Mes- sias*? Man sollte denken, dass Jeder den Sturz der Weltmacht dann am wenigsten erwartet habe. Daniel sieht sie in nächster Nähe gestürzt, als sie sich in Palästina gegen den Gott Israels auf's frechste erhoben hatte, aber nun schon in der Niederlage begriffen war, die I Sibylle fand unter der 7. Ptolemaeer-Regierung das Judenthum be- sonders bedrängt, aber auch das Reich am zerrissensten, und die Apoc. Johannes schauete das Ende des römischen Götzenreiches, als dieses unter Galba völlig in sich selbst zu zerfallen schien. Nun soll gerade die dauerhafteste Gestalt so baldigen Sturz erwarten lassen ? Was hatte denn auch Israel und sein Cultus gerade von Oetavian so furchtbares erlitten, dass der Messias zum rächenden Gericht über ihn ersehnt werden sollte? Nach allen bisherigen sichern apokalyp- tischen Deutungen, namentlich nach der des Daniel und Johannes, ge- hört zum Hervorgehen soleher Visionen, dass die götzendienerische Weltmacht sich auch wirklich so Jehovahfeindlich gezeigt hatte, wie in Antiochus Epiphanes und in dem Neronischen Blutbad des in Christo Gott getreuen Israel. Octavian aber ist gar kein specifischer Feind oder Bedränger Israels gewesen, weder überhaupt, noch spe- ciell e. 30 v. Chr., höchstens seit 6 nach Chr. ein Unterdrücker. Sowohl objeetiv als subjectiv fehlt es in der letzten Zeit vor Christus gerade an dem speciellen Grund zu solcher Apokalyp- tik, subjeetiv an dem empörenden Drucke, der die Sehnsucht nach baldigster voller Errettung so glühend machen konnte *), objeetiv an den Zeichen der Zeit, welche die Hoffnung auf des Feindes Sturz so lebendig machen konnte, und die Beziehung von Esra IV gerade auf diese Zeit müsste sehr apodiktisch geboten sein, um so Ver- wunderliches geschichtlich zu machen. 2. Versichert wird uns nun auch aufs bestimmteste, „aus der inneren Beschaffenheit dieses Buches ergiebt es sich vollständig, *) Vgl. Rel. Jesu. 8. 55. £. — 359 — dass wir es nicht in das erste Jahrh. nach Christus setzen dürfen“ (8. 242); schon die Einleitung (S. 14 f.) erklärt dies, durch das ganze Buch hin wird es behauptet, selbst in der Form, dass jeder fernere Gedanke an eine nachchristliche Entstehung als arger Ver- stoss gerügt wird (8. 213). Mit allen diesen Versicherungen ist je- doch nur recht ausdrücklich ausgesprochen, was wir schon wissen, wie bedingend die Beziehung vom IV Esra auf e. 30 v. Chr. ist für das Ganze dieser jüdischen Apokalyptik als einer, ja „der* Vorgeschichte des Christenthums: das ganze neue Buch Hilgenfeld’s wäre ohne jene specielle Deutung des Esra-Buches gar nicht er- scheinbar gewesen, gar nicht möglich. | Fragen wir nun näher nach den Momenten vom IV Esra, welche so wenig Zweifel überlassen sollen, so wird des Begründenden um so weniger, je näher wir fragen. „Dass die Apokalypse des Esra wirklich in diese Zeit gehört,* heisst es beruhigend am Schluss der ganzen Erörterung ($. 242 Anm.), „erhellt namentlich aus dem Traum- gesicht e. 11. 12 (über des Adlers Flügel) und aus dem Bestehen der idumäischen Herrschaft über Israel“ (VI, 9). Wie? Aus jener Stelle ergab sich ja für Hilgenfeid selbst nichts für vorchristliche Entstehung Entscheidendes. „Der Edom geht auf Herodes oder auf dessen Nachfolger* (S. 195). Was hilft es da, den Herodes selbst zu betonen, wenn die letzten Herodianer (Agrippa II und Berenice), bis zum Ende des 1sten Jahrhunderts reichend, gleich gut gemeint sein können. Die schliessliche Beruhigung wird so nur doppelt be- unruhigend. Es bleibt für den Urheber der Hypothese selbst in der That nur das Traumbild e. 11. 12 übrig, um die ganze Deutung der „abschliessenden* Apokalypse als einer solchen zu begründen. Und wird diese durch die Beziehung auf Edom nun nicht blos sonstiger Unterstützung sehr bedürftig erklärt ? Was tritt nun unterstützend hinzu? Der (XIII, 30) angekün- digte Krieg von Volk gegen Volk lässt sich wohl auf die grossen Bürgerkriege vor der Schlacht bei Actium beziehen (8. 222), aber da trat doch nicht eigentlich Volk gegen Volk auf. Im Beginn von Trajan dagegen traten die Dacier gegen die Römer. auf und schon nach Domitian’s Tod liess sich ein solches Hereinbrechen der Barbaren- völker, wie es Ezech. e. 33 vor dem Ende erwartet, voraussetzen. Jedenfalls gehört das zu dem für den Seher noch Zukünftigen. Dagegen weiss Hilg. noch recht scharfsinnig der Beziehung der allerletzten Vision auf die 21/, übrigen Weltperioden eine Rechnung — 3560 ° — abzugewinnen (8. 224 f.). Jede der 12 Weltperioden werde so lange dauern sollen als die letzte, die messianische selbst, also 400 Jahre, und der Verfasser rechne die noch übrige Zeit von der angeblichen ‚Abfassung des Buches an, von dem 30sten Jahre nach der Zerstö- rung der Stadt [durch Nebukadnezar], d.h. von 558 a. Ch. (S. 90); die 12te Periode aber, als die messianische ist noch rein künftig; es sind also bisdahin noch 11/, Perioden d. h. 400 -+ 200 Jahre übrig. Und dieses 600 post 558 a. Ch. führt uns nun — wohin? c. 50 Jahre post Christum, in die römische Caesaren-Zeit. Da soll die Messiasperiode beginnen. Nein, sagt die Hypothese: „man braucht nur auf die erste Unterwerfung Judäa’s durch die Chaldäer d.h. 600 v. Chr. zurückzugehen* und die 30 Jahre nicht zuzuzählen, sondern abzuziehen und wir kommen richtig auf e. 30 vor Ch. d. h. zum völligsten Widerspruch gegen alles selbst Vorausgesetzte und direet Angegebene! Diese Rechnung wird dann auch nicht weiter als mit- begründend aufgeführt, aber ihr Dastehen ist weit entfernt, bestäti- gen zu helfen, als nur neu zu verdächtigen, ob einer solchen Apoka- lyptik nicht am Ende Alles möglich werden dürfte. Also das Adler-Traumbild ist es trotz aller andern Worte allein, worauf so Viel, die Zeitbestimmung der Alles abschliessenden Apo- kalypse und somit die ganze „Vorgeschichte“ des Christenthums ge- baut werden soll. Das ist in der That auch der eigentliche Gedanke der neuen Apokalyptik. Doch bei dieser Zuspitzung sehen wir nur, dass sie nicht blos im Unklaren geblieben ist über das, was eine Apokalypse. zu ihrer Existenz bedarf, sondern auch über das, wodurch eigentlich deren chronologische Bestimmung zu begründen sei. Ist es nun nicht selt- sam einseitig, Alles auf das eine Moment zu setzen, alles Andere, was jedenfalls mitzureden hat, zu übergehen? Das Adler-Traumbild will wohl am detaillirendsten die Zeit bestimmen, in- welcher der Messias kommen solle: aber es ist ebenso ausdrücklich ein Räthsel, bei dem die Verhüllung gerade am dichtesten sein kann, so dass es wohl gethan bleibt, vor Allem aus dem gesammten übrigen Inhalt des Buches die allgemeine Zeitstellung desselben zu erfassen, von da aus dann auch das Detail sicherer zu fixiren. Wer verbürgt auch, dass nicht ein absichtliches Vexir-Räthsel vorläge, oder doch der Text so depravirt wäre, dass vielleicht nur noch das Allgemeine entscheiden könnte! Jedenfalls aber will das ganze Buch, schon in den vier ersten Visionen, bei aller Verhüllung andeuten die Zeit, wann die un Are — 361 — Errettung durch den Messias komme, vor Allem durch das anno tricesimo ruinae eivitatis, was aufs stärkste betont ist. Dies ge- schieht schon durch die Stellung gleich im Anfange des Buches, dann durch die laute Wiederholung der anni triginta schon in der 1sten Vi- sion, gar durch das ganze 4te Gesicht von dem 30 Jahre hindurch unfruchtbaren Weibe d. h. von dem nun schon so lange fehlenden Tempeleultus. Wer also überhaupt weiss, dass Esra blos als Hülle, die Knechtschaft durch Babylon blos als Typus einer neuen einge- führt ist, die mit der Tempelzerstörung begann, der kann nach die- sen Zügen so wenig zweifelhaft sein als es Lücke gleich anfangs ge- wesen ist: das Buch ist eirca 30 Jahre nach der (zweiten) Tempel- zerstörung geschrieben, also entweder Anfang Trajan (98 — 102 p. Ch.) oder unter Nerva (96 — 98) wenn nicht noch in den letzten Jahren des Domitian (e. 95 — 96 p. Ch.); wie sollte es früher nur mög- lich sein, möchte nun das Räthsel noch gelöst werden oder unlösbar bleiben. Dazu führt eine richtige Methode: die vom Allgemeinen zum Besondern vorschreitet, nicht umgekehrt. Wer sich dagegen mit Lücke Il von vornherein auf eine Spe- eialität fixirt, lauft Gefahr, durch einen blossen Einfall beherrscht zu werden und so das Allgemeine, also jede Basis überhaupt zu ver- lieren. Und aufs seltsamste hat sie wenigstens Hilgenfeld aus dem Auge verloren. Er verbirgt sieh und seinen Lesern von vornherein (S. 192 fg.) Alles in den frühern Visionen, was auf ce. 30 vor Chr. gar nicht passt, auf eine Zeit, in welcher das Volk seinen Tempelcultus ungestört besass, den Tempel sogar im Neubau begriffen und zu höherer Herrlichkeit kommen sah, seinen Besitz im Lande hatte. So ausserordentlich ausführlich sein Bericht über den Inhalt jener Visionen ist, so wenig klar wird man dadurch über das vor Allem Wichtige in diesem Inhalt. Denn wie wird das so charakteristisch betonte anno XXX ruinae behandelt? Die Wieder- holungen werden verschwiegen (8. 191) und wo es nicht zu umgehen war, gleich zu Anfang (III, 1), wird nur erinnert (S.190): da Jerusalem [durch Nebukadnezar] 583 a. Ch. zerstört ward, Esra aber erst um ein Jahrhundert später (e. 453 a. Ch.) aufgetreten sei, so sei jene Angabe „allerdings zu früh,‘ man werde wohl an (I) Esra 7, 1 und Nehem, 12, 1 gedacht haben, wo schon ein früherer Esra indieirt scheine! Damit ist aber gerade Nichts gesagt und ist es keine Selbsttäuschung, Lücke’s treffende Erinnerung (ed. I), dass — 562 — mit dem „Babylon,“ wo Esra XXX anno ruiuae war, nur Rom ge- zeichnet sein werde, ebenso einfach zu übergehen (selbst 8. 190.) ? Was soll man aber gar davon sagen, dass gerade das Beste und Schlagendste in Gfrörer's ganzer Eröterung, das, worauf dieser selbst Alles baut, dass nur an die zweite ruina ceivitatis [per Titum facta] zu denken sei nach dem Gesammtinhalt aller vier ersten Visionen, gleichfalls einfachst übergangen wird, trotz al- ler sonstigen literarischen Nachweisung, überall (auch $. 190 Anm.), selbst da, wo über Gfrörer’s Auffassung des Ganzen ohne Wei- teres der Stab gebrochen werden soll (S. 212 £)! Ja der Leser er- fährt nicht einmal Etwas von dem Dasein dessen, was derselbe (mit Lücke I) vor Allem hervorhebt, worauf er ausdrücklichst seine specielle Deutung begründet hat! i Das ist allerdings eine Täuschung, aber jene objective, in welcher alle Apologetik für ein bestimmtes Postulat wie alle blosse Hypothe- sen-Kritik sich unbewusst bewegt, die von einer Idee fix beherrscht, nur das in’s Auge fasst, was entsprechend scheint (wie hier Lücke’s II Darstellung), dagegen für Alles blind macht, was dafür nicht brauch- bar ist, oder, mit ihren Worten, dafür „keine höhere Bedeutung hat.“ Wir müssen also hinzusetzen: die Berichterstattungen oder Be- arbeitungen Hilgenfeld’s sind zwar sehr interessant und anregend, aber hier blos anregend dazu, selbstständig auch die Texte wie die ange- zogene Literatur zu erforschen und zu vergleichen *). Diese auffallenden Umgehungen vermögen nur noch stutziger dar- über zu machen, ob der für das Ganze intendirte Grund- und Schluss- stein nicht das Licht des Ganzen zu scheuen habe. D.h. der Mangel an objectiver Methode führt zu solchen Einseitigkeiten unabwendbar, und das vom ganzen Buch Esra allein übrig bleibende Traumbild e. 11. 12, worauf nun Alles über Esra und somit über die ganze Apokalyptik gebaut werden soll, muss sich noch ausser- ordentlich exact in vorchristliche Zeit stellen, wenn so Vieles und selbst so Bestimmtes, was eine Entstehung gerade c. 30 v. Chr. fast räthselhaft erscheinen lassen würde und dagegen so bestimmt in die *) Ganz so ist es schon mit den frühern Berichten über die Evangelien und einen nicht geringen Theil der apostolischen Väter z. B. beim Polycarpus-Brief, wo auch so Bedeutendes keine „höhere Bedeutung“ hat, weil es für die spe- cielle Hypothese nicht brauchbar ist. — 3563 — letzten Jahrzehende nach Titus führt, zum Schweigen gebracht wer- den sollte. Ein künstliches Schweigen vermag das nicht. 3. Gehen wir nun zu dem resultirenden Universalmittel der neuen Apokalyptik, den Federn und Federlein von Esra ce. 11. 12, selbst über, so scheint die Evidenz gar nicht zu fehlen, negativ vor Allem, aber selbst positiv nicht. Da Gfrörer das Mangelhafte seiner Deutung der 8 Federlein selbst eingestehen müsse, diese im Besondern „nicht ganz zugleich mit den 12 Fittigen sondern nur im Ganzen“ nach ihnen geherrscht haben können, wie Vlis erinnerte, auch die zu den drei letzten Schwingen Erkornen sonst zu wenig genannt seien, wie Lücke Il fand, so „lasse sich die ganze Auffassung (Lücke’s I und) Gfrörer’s über- haupt nicht halten und habe kein anderes Verdienst, als das Endur- theil über diesen Weg der Erklärung möglich gemacht zu haben“ (S. 212). Doch zu grosser Ueberraschung nach so fester Versiche- rung, er sei dureh van der Vlis und Lücke II schon völlig widerlegt, erfährt man, dass auch deren Versuche ganz verfehlt seien. An die- sem letzten, bei dem gewiss nicht leicht Jemand sich beruhigen könne, (p. VII), sehe man nur, wie wenig auch auf diesem Wege der eigent- liche Inhalt des Gesichtes aufgehellt werden könne (8. 215 fg.). So scheint denn von vornherein jeder andere Weg verschlossen, nur der eine „Ausweg* übrig zu sein, der jetzt durch die Ptolemaeer- Reihe gesucht ist. Die Voraussetzung hat jedoch hier jedenfalls zu schnell verurtheil. An der Deutung Gfrörer’s war ja so Vieles als ganz treffend anerkannt z. B. in der Caesaren-Reihe Augustus als der Zweite mit so ausserordentlich langer Regierungsdauer, die drei Flavier als die drei Häupter der (anti-jüdischen) Bosheit in jeder Beziehung. An den Deutungen von Vlis und Lücke II dagegen "war kaum ein einzelnes Moment als zutreffend erkannt; „die Bestimmtheit des Inhalts ist dabei zum grössten Theile aufgegeben“ (S. 214). Wie irrelevant ist daher deren Einsprache gegen Gfrörer's Deutung, dass Einzelnes darin weniger genau treffe, oder vielmehr bei der Art, wie gewöhnlich der Text gefasst wird, (nur so „im Ganzen,“ oder so, dass in einer Apokalypse’nicht volle Präeision erwartet werden könne), ist sie noch das allerbeste gewesen und bis dahin geblieben. Oder warum sollte ein Zeitgenosse nicht die Piso, Vindex, Nymphidius, die ihm ja wohl bekannt sein konnten, schon desshalb mitgerech- net haben, um mit ihnen von Caesar an gerade die apokalyptische Zwölfzahl herauszubringen ? Und lässt Josephus selbst anders zäh- — 364 — len als 4 Haupt-Tyrannen in‘ Palästina während der Mittelzeit? Lassen sich die beiden letzten Herodianer (Agrippa II und Berenice) nicht als solche fassen, die sich von jenen trennen und an die Häup- ter, die Flavier, sich anschliessen, im Besondern auch zu dem letz- ten Haupte, Domitian, „übergehend,* ganz von dem abhängig? Kerm- haft ist und bleibt Gfrörer’s Deutung. gegen das wirklich leere Stroh des Alles Verwischens bei Vlis und Lücke II. Und genügte sie nicht ganz, so war auf Grund des durch das ganze Buch sonst fest- stehenden entweder dies hinzunehmen oder auf demselben Boden weiter zu forschen; „die ganze Auffassung“ aber (d.h als nach Titus zu suchen) kann nur von einer festen hypothesis aus, welche das A.T.liche Apokryphum durchaus „vorchristlich* sehen will, in ihm einen Abschluss der christl. Vor-Geschichte haben muss, also nur so be- fangen oder übereilt verworfen werden. Nur die neue apokalyptische Hypothese ist unmöglich, so lange Etwas von Lücke’s erster Auf- fassung besteht. Hilgenfeld hat also mit der schnellen Verwerfung nichts gethan als seine Hypothese abermals nur ausgesprochen, in neuer Form die vorchristliche Deutung von Esra IV als eonditio sine qua non für seine ganze Apokalyptik erklärt. Eine blosse Hypothesen-Kritik kommt überhaupt nicht vom Fleck, die hypothesis wird nur in immer neuen Worten behauptet *), so frei- lich immer fixer, aber auch immer selbsvergessener. Um so schlagender, in sich nothwendig und zugleich haarscharf Alles treffend wird nun schliesslich der gesuchte Ausweg positiv sein. Es felılt auch abermals nicht an den Versicherungen, wie „ein- fach und naheliegend* derselbe sei (S. 217), ja von dem „allgemei- nen Zusammenhang der jüdischen Apokalyptik * geboten, vom eignen Anschlusse des neuen Sehers an Daniel's viertes Thier oder Welt- reich gefordert, von der I Sibyll, und dem Enoch unterstützt, die auf die Ptolemaeer mit refleetirten. Ist nun gemäss der spätern Zeit, in der das Seleueiden-Reich: schon 65 a. Ch. zu Grund gegangen war, nicht von dem neuen Seher zu erwarten, dass er den Uebergang von Alexander auf des römischen Adlers Häupter blos durch die ptole- *) Gerade so ist das Verhalten Hilgenfeld’s in seiner Evangelien-„Kritik“ oder Hypothetik. Von vornherein steht die Abhängigkeit des Marcus von Matth. fest und es kommt nur darauf an dies „näher“ zu bewähren, d.h. durch eine Hypothese nach der andern, erst einen bestimmten unbestimmten Petrus- Marcus (Evv. 1854 S. 147 £.), dann einen besondern Ur-Matthäus, — immer idem per idem, — 365 — mäischen Diadochen des Alexander mache? (S. 217 fg.) Um so mehr, wenn der Verf. in Aegypten lebte, wogegen ja Nichts spricht oder zu sprechen scheint. Aber ist damit etwas weiter geschehen, als die Hypothese nur noch einmal neu ausgesprochen? Nur in der noch fixeren Ge- stalt einer, natürlich unbewussten, doch sehr einfachen Cirkelbewe- gung. In den Schlussworten der Hilgenfeld’schen Erörterung zur positiven Begründung seiner Deutung (S. 218) liegt sie besonders plan vor. „Warum sollte also [weil die Seleueiden schon 65 a. Ch. zu Grund gegangen waren] unser Verfasser die Herrscherreihe des 4ten danielischen Weltthieres nicht eben durch die Ptolemäer hindurch- geführt haben, mit deren Untergang nach der Schlacht von Actium dieses hellenische Weltreich den römischen Adlern gänzlich erlag?“ Dies „eben,“ welches in so manchen neuern Erörterungen Hilgen- feld’s fast auf jeder Seite wiederkehrt, nur abwechselnd mit dem son- stigen „gewiss“ und „offenbar“ *), ist sprechend für die sich immer mehr fixirende Hypothesis, die nur iin unermüdlichsten idem per idem sich ausspricht, so allerdings anregt, aber nicht von der Stelle kommt. Ist denn bei jener Begründung nicht „eben“ die nur etwas spätere Zeit der neuen Apokalypse, d. h. die nur vorausgesetzt, die be- gründet werden soll, e. 31 v. Chr., keine spätere? Ist nicht blos vor- ausgesetzt, was bewiesen werden soll, dass so bald nach dem Er- liegen der ‚Seleueiden (mit denen Enoch es besonders zu thun gehabt habe), aber noch vor dem Erliegen des „ägyptischen Weltreiches* der Verf. gelebt habe, um dann hierauf seine Apokalypse hin zu richten ? ' Was geht es uns aber an, wenn der Sibylline in Aegypten le- bend, auf des VII Ptolemäers Regierung besonders hingeblickt hat, oder ob Enoch besonders die Seleuciden im Auge gehabt habe? Das lag oder läge an ihrer besonderen Zeit (bezieh. Heimath), die für Jeden ganz selbständig zu entscheiden hat und zu bestimmen ist. Ein jüdischer Seher, der noch in der Seleueiden- und Ptolemäer-Zeit lebte, in demselben Jahrhundert mit Daniel, wird dessen 4tes Thier auch wohl richtig von dem griechischen Weltreieh der Diadochen Alexanders ver- standen haben, seiner etwas spätern Zeit gemäss es im Anschluss an dessen Hörner nur näher bestimmend. Aber hat der in weit spä- terer Zeit Lebende in Daniels viertem Thier den Alexander nur noch gezeichnet finden können, wenn er doch an Daniel’s Offenbarung als *) Vgl. auch die neueste Erörterung über die Evangelien. Theol. Jahrb. 1857. IH. Wissenschaftliche Monatsschrift, II, 26 — 3566 — eine völlig wahre glaubte, ohne dass er unter Einem der Ausläufer des: makedonisch-griechischen Weltreiches sie erfüllt, das Messias- Reich für Israel kommen sah? Die Daniel-Gläubigen wollen ja jetzt noch nichts anders, als das 4te Thier desselben näher deuten, als es ihm zu Theil geworden sei. Das wäre auch eine ‚wunderliche Apo- kalyptik, die in jeder Berufung auf Daniel das Jahrhundert dieses jüdischen Sehers selbst indieirt fände. Besonders klar aber ist das an der Apokalypse des Johannes. Dieser knüpft factisch gerade so an Daniel's Thiere an, will nur diese Gesichte seiner Zeit gemäss wiedergeben, er erneut sie aber in so eigner Weise, weil seine Zeit eine völlig andere geworden, jeder Gedanke an Alexanders Diadochen- Reich seit dem alles Frühere vereinigenden furchtbaren Cäsaren- Reich verschwunden war. : Unser jüdischer Seher aber hat mit seiner Vision in gar keinen speciellen Zug der Danielschen Zeichnung eingehakt, das heisst nicht mehr einhaken können. Indem er das letzte. Weltthier ganz neu schildert, als einen Adler, oder von dem schrecklichen Vierfüssler mit so und so viel Hörnern ganz ab- sieht, verräth er eine ebenso ganz neue Zeit, in der von griechi- scher Herrschaft, von Diadochen Alexanders nicht mehr die Rede hat sein können. Das sollte für jeden Unbefangenen schon das Allge- meinste der Esra-Vision, der Adler sagen, gerade indem sie an Daniel’s viertes Thier ausdrücklich erinnert, als „ihm noch nicht recht verständlich geworden“ d. h. als so gar nicht mehr verständlich, so nicht wahr geworden, wesshalb es neuer, ersetzender Offen- barung bedurfte. Die Berufung Hilgenfeld’s auf „den Zusammenhang der jüdischen Apokalyptik* für die Deutung von Esra IV ist nicht blos die stärkste Seite, sondern auch die schwächste daran, nämlich sogar der ein- zige Grund für diese wie für seine Apokalyptik selbst, reine Kreisbe- wegung, nur dass wir bei dieser Wiederholung der hypothesis, oder bei Berufung auf Enoch und Daniel auch die Genesis derselben näher kennen lernen. Er wundert sich einmal — so fest ist die Idee durch das stete Wiederholen (bis S. 217) schon geworden — warum man auf seinen Alles lösenden Ausweg noch „gar nicht verfallen“ sei. Und wirklich hat die ganze Idee den Anschein eines blossen Ein- falles, nur dass wir denselben auch näher als das Werk einer Com- bination begreifen, welcher einer weniger objectiven Kritik in der Gegenwart, wie es scheint, sogar kaum hat ausweichen können. Es gehört zu der ganzen Verdienstlichkeit aber auch Eigenheit — 567 — des gelehrten und 'scharfsinnigen Verfassers diese Vielseitigkeit, darum auch Lebendigkeit und Raschheit seines Eingehens, Abwehrens und Wirkens, dass er fast auf allen Gebieten der gegenwärtigen Discus- sion über das Urchristenthum seine Stelle einnimmt, möglichst ent- scheidend und abschliessend. Und wenn bei solcher Vielseitigkeit des Urtheilens und Erörterns die freie Wissenschaft nicht überall gleicher- weise in. die Tiefe gehen kann und schneller fertig ist, als es An- dere können oder nur verstehen, die glauben, was sie bauen, müsse so begründet werden, dass es wohl zum ersten Mal aber auch dies auf immer ‚sei: so braucht sich diese Verschiedenheit wissenschaftlicher Thätigkeit noch gar nicht auszuschliessen. Auch wenn etwas nur mehr kühnen ‚Griffes hingestellt ist, kann sich vielleicht erst recht deutlich die Unhaltbarkeit einer solchen Stellung und so indireet auch der rechte Punet in’s Licht setzen. Dieser leichtere, überall thätige und anre- gende Gang ist ein wirklicher Gewinn, ich möchte sagen, er gehört mit in den Haushalt wirklichen Lebens der Wissenschaft, in die Oekonomie der ecclesia militans der Gegenwart. Nun hat sich ausser der Hauptfrage — über die Evangelien — neuestens über Zweierlei, was die Vorgeschichte des Christenthums näher berührt, eine lebendige Diseussion erhoben, über die Essäer (Ritschl, Zeller, Ewald u. A.) und über das Buch Enoch (Dillmann, Ewald, Köstlin). Ueber dieses scheint schon einige Einheit erreicht, es war also hier nur abzuschliessen, wie förderlich auch durch Zu- sammenfassung mit dem, was gegen den neuesten antikritischen Ver- such über Daniel (von Auberlen) zu sagen ist; über jene aber war noch solcher Zwiespalt, dass da auch zu entscheiden blieb, Und siehe, beide Probleme brauchten blos combinirt, Enoch nebst Da- niel in ihrer Erfüllung durch die andern ähnlichen Jüdischen Apoka- Iypsen in nähere Verbindung gesetzt zu werden mit den, ja auch in der Abstinenz so nahe verwandten Essäern, — die von Dillmann schon ausgesprochene Vermuthung, Enoch möchte den Essenern angehören, brauchte blos ausgeführt zu werden: und mit der resultirenden Einen apokalyptisch-essäischen Idee und Schule war Beides zum über- windenden Abschluss gebracht, Dieser schien sogar der kritischen Hauptansicht vom wesentlichen judaistischen Charakter des Urchristen- thums [und, denkt man richtig, auch des Urevangeliums ?] zur trefflich- sten Vorbereitung oder noch weitern Begründung auszuschlagen, oder, wie Hilgenfeld gern oder leicht personificirend sagt, für „seine“ An- sicht vom Urchristenthum (p. IX). Für die so bis kurz vor Chr. = 368 — postulirte essäisch-apokalyptische Einwirkung brauchte blos der Esra nach Lücke II, nur befriedigender gedeutet zu werden und in die- sem „Zusammenhang“ gab sich auch sofort aufs einfachste der Aus- weg durch die nach Enoch (d. h. nach Dillmann und Köstlin) allein noch übrigen Ptolemäer; d. h. die Genesis dieser Hypothese ist auch ihr Grund, der bisdahin allein ersichtliche. 4. ‘Aber möglicherweise hätte etwa der Zufall das Richtige ge- troffen; doch weit entfernt, nun eine völlig textgetreue Deutung zu bieten, ist sogar Nichts davon zutreffend. a) Das Reich des Adlers ist für Esra ein die ganze Welt beherrschendes. Ist dies das Reich der Ptolemäer, wenn es über Ae- gypten, Cyrene, Cyprus und zeitweilig auch über ein Stücklein Asiens herrschte? Die Annahme ägyptischen Ursprungs für IV Esra, ohne- hin an sich durch Nichts begründet, hilft da nicht aus. Auch der beschränkteste Jude Aegyptens konnte von dem ptolemäischen „Adler* nicht sagen, er flog und herrschte in omnem terram (11, 2), ihm war Alles unter dem Himmel unterthan (v. 6), er besass die ganze Welt (saeeulum et omnem orbem v. 40). Nun soll freilich durch Voran- stellung Alexanders das „hellenische Weltreich“ erzielt werden; aber der Adler Esra’s inhabitavit tot temporibus orbem terrarum (v, 40): das war schon durch die Flügel Ptolemaeu’s Lagi nicht wahr, geschweige eines Physkon, Lathurus, Auletes, die ja nicht einmal mehr über das Land des Erdkreises herrschen, welches doch auch der be- schränkteste Unterthanenverstand eines ägyptischen Juden nicht von der Erde ausschliessen konnte, nicht mehr über Judäa. Das Adlerreich Esra’s ist ferner ein einiges (11, 2), ein eor- pus (v. 10), derselbe Adler hat tot temporibus über den Erdkreis geherrscht (v. 45). Bei Hilgenfeld soll es aus drei Stücken zusam- mengesetzt werden: 1) Alexanders griechisches Weltreich; 2) das Reich eines Erdtheiles; 3) das römische Weltreich. Ist schon dies unzutreffend, so widerspricht im Besondern der Zug, dass sämmtliche pennae, gross und klein, dem Adler angehören, welchem die drei Häupter eigen sind. Die dabei von Hilgenfeld gesuchte Auskunft, dass die drei Häupter blos Römer seien, aber nun das Ptolemäer- Reich verschlängen und so dem Adler-Reich zu eigen machten ($. 210. 220), wird speciell durch die Angabe verwehrt, dass die Häupter nicht etwa die Flügel oder Flügelein überhaupt verschlungen ha- ben, sondern nur duas subalares (11, 31). Auch sind nicht alle andern zu dem letzten Haupte „übergegangen“ (12, 2), sondern wie- — 5369 — derum nur duae subalares, zwei andere, und ebensowenig ist das letzte Haupt so als Repräsentant des ganzen Adlers dargestellt, dass ein Uebergehn zu ihm das Römischwerden überhaupt abbilden könnte, wie für Hilgenfeld das nothwendig wird. Der Ausweg also, um ge- rade durch die Ptolemäer auf ein römisches Triumvirat vor Christus zu kommen, überhaupt durch eine andere als eine römische Adler- Flügel-Reihe auf die Adler-Häupter, ist unmöglich, und soll vorchrist- liche Deutung Statt haben, so kann es nur in Vlis’ und Lücke’s II d. h. in der alten, erklärt unkritischen Weise geschehen. b) Wollte man aber noch so viel Willkür für den Erklärer oder den Bildner der Vision hinnehmen und schon Alexander den Grossen sowie dessen ptolemäische Diadochen und wiederum blos diese (nicht auch die seleucidischen) zu dem Adlerreiche, zu dem einen rechnen, die Ptolemäer also nebst Alexander Magnus als Adler-Flügel zäh- len, so tritt sofort wieder die Härte ein, dass Alexander damit zu einem ersten Ptolemäer herabgesetzt, ein Auletes dagegen zu einem Alexander Magnus XII erhoben würde. Allerdings scheint dafür durch das Buch Daniel eine Analogie geboten, wenn man die sieben Hör- ner des makedonisch-griechischen Weltthieres so zählt, dass Alexan- der selbst das erste derselben, der erste der Seleueiden wird, statt dass man wohl eher erwarten sollte, Alexander’s Regiment sei viel- mehr -in dem grossen Thier selbst abgebildet. Aber wenn auch die 7 Hörner bei Daniel so zu deuten sind, so liegt doch in der eigenen Darstellung von Esra selbst zu ausdrücklich die Erklärung, dass die Flügel-Regenten sich ganz gleich stehen; gleicherweise herrschen sie super omnem terram, sie sind gleich gross und umfangreich, ver- halten sich nicht wie ein Weltherr zu einem Unterbefehlshaber; im Gegentheil die alae sind sich so gleich, dass von ihnen pennacula unterschieden werden. Aber nehmen wir selbst dabei so viel Willkür hin, so ist durch die lange Ptolemäer-Reihe nur scheinbar der Vortheil geboten, mit der grossen Flügelzahl auszukommen. Es werden 14 Ptolemäer ge- zählt, mit Alexander selbst wären es 15: und es muss daher sofort wieder künstlich diese Zahl redueirt werden. Aus: dieser Ptolemäer- Reihe sind einige als alae zu streichen, um doch auch genug penna- eula zu erhalten aus demselben Gewächs. Und zwar sollen vier nicht als alae gelten (Ptol. X u. XI, XIII u. XIV) und damit nun doch 12 herauskommen, soll nicht blos der Macedonier sondern auch die Cleopatra I zuaddirt werden, weil sie von Rebellen gegen Physkon — 370° — 130 erhoben war und eine Zeit lang mit diesem, mit dem VIII (La- thurus) und IX (Alexander I) „regiert* d. h. den Titel Königin ge- habt habe! Wer kann da Gfrörer noch Etwas vorwerfen, wenn er, „um die Zwölfzahl herauszubringen, die apokalyptisches Postulat war“ (S. 219), auch so kleinere Grössen wie den Mitregenten Piso und einen Vindex zurechnet? — Auch das Vlis und Lücke angeblich so glücklich überwindende Datum (S. 218), „der Zweite in dieser Reihe habe in der That weit länger als Alle folgenden geherrscht, nämlich Ptolemaeus Lagi 40 Jahre“ löst sich beim nächsten Blick auf die von Hilgenfeld selbst mitgetheilte Regententafel (S. 218 f.) und seine eigne Anmer- kung über Physkon’s Dauer (nach Zumpt’s Tabellen) als Illusion auf. „Allerdings erlangte Physkon schon 170 die Königswürde mit dem Bruder, herrschte 6 Jahre lang mit ihm, dann allein zu Cyrene, und endlich von 146 — 117 allein über Aegypten; so kommen zwar 53 Jahre heraus. Allein unser Verfasser kann nur die Alleinherrschaft über Aegypten (29 Jahre) gerechnet haben; warum? „Weil er den Ptolemaeus I als den am längsten Herrschenden darstellt!® So aus- drücklich selbst bewegt sich die Hypothese im Cirkel, sich einfach auf sich selbst stützend. Doch wohl möglicher Weise hatte der Seher einmal Alleinherrschaft über Aegypten im Sinne? Ja nicht, sonst stürzte der ganze künstliche Bau sofort zusammen, denn dazu ist Cleopatra I unentbehrlich, die Mitregentin. Aber * „über Aegypten?“ Auch nicht, sonst könnten ja die Ptolemäer von „Cy- pern und Cyrene* nicht aushelfen, um den über alle Welt sich schwin- genden Adler vollzählig zu befiedern. Die neue Apokalyptik kommt also ‘gleich beim ersten Schritt auf den gehofften Ausweg zu dessen sofortigem Ende, wenn nicht planlose Willkür Statt haben soll. Es bleibt sonst bei den 53 Jahren des sein sollenden 8ten Flügels (Ptolem. VII), der den 2ten sogar um 13 Jahre überdauerte. Aber Esra will obendrein, dass der Zweite „doppelt so lang und noch länger“ als jeder Andere geherrscht habe (v.17). Nun folgt auf Ptolemaeus’ Lagi 40 Regierungsjahre sofort der 3te Flügel (Ptole- maeus II Philadelph.) mit 37 — 38 Jahren (284 oder 285 — 247), der 4te (Euergtes) mit 25, der 6te (Epiphanes) mit 23, der T7te (Philometor) wieder mit 35, der 8te (Physkon) ist schon auf 35 oder blos 29 Jahre herabgesetzt; Cleopatra I ist kaum so zu hohen Ehren gebracht, ein 9ter Alex. Magnus zu sein, so tritt sie von 130 — 89 mit 41 Jahren in den Weg, zum Glück „mit einiger Unterbrechung,“ und der 12te (Auletes) bietet auch schliesslich 29 Jahre. „Einige — 371 — Uebertreibung ist also anzunehmen.“ Also das wäre blos Uebertrei- bung, wenn man sagt: zweimal 35 oder 37 oder 29 Jahre ist noch weniger als 40? „Allein so unbegreiflich ist solche Uebertreibung [rich- tiger würde es heissen, dieser Widerspruch] nicht für einen Sehriftstel- ler wie der unsrige.“ [Ich fürchte wirklich, man verwechselt hier un- willkürlich den Verfasser der Apokalyptik mit dem der Apokalypse, die zu erklären ist.] Denn „der erste Ptolemäer lag e. 30 vor Chr. schon in sehr ferner Vergangenheit.* Nur die Reihe der Ptolemäer und Ptolemäerlein und Mitregentschaften und Verzweigungen wusste er ohne jedes Handbuch auswendig wie kein Gelehrter der Welt. „Viel- leicht waren ihm auch nicht einmal „ganz genaue“ Zeitberechnungen zugänglich.* 20, 30, 35 Jahre sind ja Kleinigkeiten, und kann der alte Herr nicht noch etwas weniger chronologische Reflexion haben, als Dr. Hilgenfeld, in seinem Seherfluge nicht noch freier sich bewe- gen -als- der neueste Apokalyptiker ? „Uebrigens beweist dieser Umstand gegen die obige Auffassung gar Nichts, da der Zug nicht einmal auf Augustus als den zweiten Cäsar zutrifft.“ Die längst vorher (S. 212) völlig todt gesagte alte Lückesche Auffassung regt sich wieder bedenklich, hier also der Gna- denstoss. „Herrschte Augustus als Kaiser von 31 v. Chr. bis 14 n. Chr., also 45 Jahre, so dauerte auch Tiberius 23 Jahre.* Es feh- len also dem Augustus dergestalt 2 oder 1 Jahr, und um so viel durfte sich der Jude gar nicht verrechnen, nur um 20, 30, 35! Man wird dabei noch auf Lücke ed. II besonders verwiesen. Lieber ver- gleiche man die Geschichte selbst. ÖOctavian war ja der Hauptherr- scher im Reiche schon seit Cäsar’s Tod, er der zweite Cäsar galt als der Nachfolger des ersten, „richtete sich“ wenigstens sofort zur Herr- schaft „auf,“ seit 44 v. v. Chr., und war längst vor der Besiegung des letzten Gegners wirklich der Allgewaltige. (Factum est, cum regna- ret, sagt Esra IV von der penna prima, venit ei finis, et sequens exsurrexit et regnabat, ipsa multum tenuit tempus). Seine Jahre waren also eher nahe an 60 als an 50; so ausserordentlich lang hat dieser Zweite wirklich geherrscht, so merkwürdig, dass es der Seher nicht vernehmlich genug ausrufen kann. „Und eine Stimme rief ihm vor seinem Ende zu: höre du [ja höre Leser!], der da so lange geherrscht hat, das kündige ich vor seinem Tod an [das sage ich bei demselben Jedem ganz besonders!]: Nemo post te tenebit tem- pus tuum, sed nee dimidium eius (11, 15 —17), und die Inter- pretation (12, 15) betont es noch einmal. _— 3Nn °— Es kann wohl in einer Apokalypse kaum eine ausdrücklichere Bestimmung erwartet werden als hier zu Anfang zwei gegeben sind: 1) der Adler, ein wirkliches Welt-Reich, durch eine Reihe gleich- stehender Weltherrn tot temporibus omnem orbem terrarum überflügelnd, und 2) der Zweite so ausserordentlich viel länger dauernd als alle andern. Beide müssten aber geradezu vernichtet werden, um den „Ausweg“ auf 31 v. Chr. auch nur betreten zu können. Wer nicht von irgend welchem Postulat beherrscht ist, wer gleichgültig um alle Postulate nur auf den jüdischen Verfasser hört, der kann schon bei diesen beiden bestimmtesten Angaben nicht zweifeln: es ist das Cä- saren-Reich gemeint, ein anderes ähnliches vorrömisches Reich giebt es durchaus nicht weiter, möchten auch andere Dyna- stieen noch so viele Fittige aufzuweisen haben, c) Auch in Betreff der übrigen Haupt-Flügel müssten ausdrückliche Bestimmungen des Sehers aufgegeben werden, um bei den Ptolemäern einen Anhalt zu finden. Sie sollen nicht blos wesentlich gleichartig sein, es soll auch unter ihnen präcis Einer nach dem Andern folgen, Kei- ner neben dem andern bestehen oder gezählt werden: nolite simul vigilare (regnare), v. 8, und es soll auch jedesmal mit dem Tode Eines dessen Stelle erledigt sein (v. 12. 14. 18. v. 19: et sit con- tingebat omnibus aliis). In Aegypten aber giebt es auch unter den noch gezählten Ptolemäern Ein Mitregieren nach dem andern, zum Theil andauernd, der 7te (Philometor) mit dem 8ten (Physkon) 170 — 164, No. 9 (Cleopatra I) sogar mit dreien mit No. 8 (Physkon), mit No. 10 (Lathurus) 117 — 107, und mit No. 11 (Alexander I) 107 — 89. Und welche Unterbrechungen treten ein: Lathurus von 110 — 107, dann von 86 — 81, Physkon 130 verjagt, Cleopatra „mit Unterbre- ehung,* Auletes auch von 58 — 55 verjagt. Das heisst doch nicht: prineipatum gerere et iterum nusquam comparere (und dann, dann erst, aber dann auch nirgends mehr da sein) oder „et eum regnaret, venit ei finis et non apparuit eius locus“. d) Doch wenigstens das angeblich Mangelhafteste bei Gfrörer, die Auffindung der acht Federlein, wird hier wohl etwas übertroffen sein, Denn wie leicht ist's in der Dynastie der Ptolemäer oder auch der Seleuciden dergleichen „kleine Grössen“ zu finden. Aber sind es auch gerade acht Flügelein und nicht mehr, sind sie auch so bestimmt von den Oberflügeln zu unterscheiden, folgen sie auch gerade so aufein- ander, stehen sie auch zu der geschilderten Zeit in dem bestimmten Verhältniss, wie die vier ersten, und zu den Häuptern, wie so aus- — 33. — drüeklich die vier letzten? Von alle dem trifft bei den Ptolemäern sogar Nichts zu. Man braucht blos die Versuche einmal näher an- zusehen, die das durchführen sollen, und man wird sich nur wundern, wie leicht beschwingt man durch Hypothetik werden kann. Da werden vier ganz legitime Diadochen des Lagi, Ptolem. X. XI: XII. XIV zu Gegen-Flügeln gemacht, Von den wirklichen Gegen-Fittigen aber, den revolutionär erhobenen, werden erstens die in der Zwischenzeit von 89 — 86 v. Chr. (8. 219) ganz unterdrückt, aus dieser Zeit wird gar kein Flügel erhoben! Dann wird wohl Be- reniee (von 58 — 55) mit Recht als Gegenflügel anerkannt, aber das andere gleich weibliche, gleicherweise revolutionär erhobene Federlein, Cleopatra I, wird zu einem Haupt-Flügel aufgeputzt. Dann werden die unschuldigsten Neben-Linien wie Ptolemaeus I, Apion von Cyrene und Ptolemaeus I von Cypern zu Fittigen gestempelt, die doch, wie Esra verlangt, an dem Adler selbst sich erhoben, und zwar aus- drücklich „ut et ipsae regnarent oder prineipatum tenerent* nämlich in dem Weltreich selbst, gleich den Hauptflügeln (XI, 20. 28). Doch sehen wir noch davon ab, dass der Text des Esra unter diesen Gegen Schwingen Usurpatoren und zwar solche in dem Weltreich selbst zeichnet, geben wir soviel Text-Verwischung zu, dass überhaupt nur pennacula modica et minuta, ganz kurz regierende gemeint seien, wie H. einmal (nach Lücke’s II und selbst Gfrörer's Vorgang) die Sache fassen will, selbst das, dass Neben-Reiche zählen könnten, wie bei dem. „ägyptischen Weltreich“ Cypern und Cyrene; wir kommen dabei wieder viel zu kurz oder zu weit. Wenn Ptolem. X (81 suecedirend, aber nur 19 Tage herrschend) und der XI (89 succedirend aber nicht anerkannt) wegen dieser kurzen Dauer als die ersten pennacula modica, als. die ersten unter den achten gelten sollen, so folgt ja num Ptolem. XII erst, der eine volle (die 12te) penna sein soll. Esra will dagegen, dass die pennacula nach den 12 Flügeln folgen sollen (XI 20 vgl. XII, 20), wie H. selbst gegen Gfrörer (nach Vlis) mar- kirt hat! Gar arg wird es mit den folgenden sechs Flügelein. Zwei tren- nen sich und bleiben unter dem rechten Haupt (XI 24), dann „gehen sie darauf über (XII, 2) oder erheben sich über dasselbe“ (XII, 29). „Sollten das nicht die beiden Nebenkönige und Söhne Physkon’s sein,“ jener 'Apion von Cyrene, „dessen Gebiet nach seinem Tode (96) von den Römern eingenommen ward, und Ptölemaeus von Cypern, den die Römer 58 absetzten?‘“ Nein, sagt der’ Text, der Apion wäre ja — 3714 — dann das allererste Federlein. „Genau genommen“ ja; aber „unser Verfasser [man denkt hierbei immer unwillkürlicher an den Verfasser nicht der Apokalypse, sondern der Apokalyptik], setzt diese beiden Federchen in einer sachlichen Beziehung gerade hierher, weil’ sie durch die römische Besitznahme ihrer Gebiete den Anfang vom Ende dieses ganzen Weltreiches darstellen (nach Aeth. 12, 35).“ Diesen „Anfang vom Ende“ sparen wir zum Ende auf und fragen nur verwundert, wo bleibt aber das rechte Haupt, „unter dem sie blieben,“ um dann auch „auf es überzugehen?“ Dies Ganze „wird sich daraus erklären, dass dies rechte Haupt (Oetavian) zuletzt übrig, somit eben die Spitze des Römerreiches ist!* Heisst das nicht eben fliegen? Suchen wir uns diesen Nebel zu zertheilen, so geht Apion todt zu dem rechten Haupt über, sein Land nämlich, d. h. ein ungenanntes Vor-Haupt oder der Adler überhaupt hätte es eingezogen! Soll nun Esra nicht vollkom- men verspottet werden, so wird der Hergang ziemlich tragisch für den armen Apion. Sein Schatten, der zu Octavian übergeht, muss sich von 96 v. Chr. bis 31 geduldigen, um dann von diesem empfangen zu werden, oder vielmehr, nach dem alten Esra, würde sich dieser Schatten des Weltreiches in Cyrene seit 66 mit dem cyrischen Col- legen: hinter dem Octavian versteckt halten (11, 24), was auch für den Schatten noch anginge, da das rechte Haupt damals noch nicht exi- stirte, schwer aber für den blos abgesetzten Cyprier. Dann müssen die beiden Verurtheilten hinter dem Haupte bis zu seinem Tode war- ten (12, 2.19), um sich nun darüber zu erheben (trajicere super ca- put), wobei sie freilich lange zu warten haben, da dies Haupt, also Octavian, durch das Schwert fallen soll (12, 27. 28), und nun begin- nen die beiden Schatten zu herrschen, die Zügel der Weltherrschaft zu ergreifen (12, 2. 20)! Und in der That, so wäre endlich etwas vom Texte erreicht, eine ernsthafte „Schatten“-Regierung. — Das Alles wäre nun noch harmloser, für sich wenigstens. Der Alles bezwin- gende Harmonist wird aber nun — man muss es durchaus heraus- sagen — geradezu grausam, obendrein gegen den allerberühmtesten und schönsten aller weiblichen Fittige auf dem ägyptischen Weltthron, gegen die schöne Cleopatra, mit der dieses hellenische Reich so glän- zend schliesst. ’ Sie ist nun doch wohl „ganz gewiss“ der letzte, weil strahlendste Flügel, der zwölfte? Und doch nicht? Etwa weil sie ein Weib ist? Nein, ihre Vorgängerin gleichen Namens, Cleopatra I ist ja (8. 219) zu dem 9ten Hauptflügel erhoben. Diese Cleopatra II war dabei le- — 375 — gitime Nachfolgerin des Auletes und herrschte sogar 20 Jahre (51 — 31), auch ununterbrochen; soll sie nun ein blosses Federlein sein, weil sie mit ihren Brüdern (Ptolem. XIII bis 47 und Ptolem. XIV bis 44) zeitweilig zusammenherrschte? Gewiss nicht, denn Cleopatra I hat ja fast nur mit „geherrscht,“ und dann gäbe es gar keine 12 Flü- gel, am wenigsten wäre ihr Vater Auletes der 12te, der zeitweilig (von 58 — 55) nicht einmal ein Federlein war. Genug, sie ist, ruft der Harmonist, sie muss sein das letzte Federlein. Denn wer sollte denn zu guterletzt 31 v. Chr. verspeist werden von dem Haupte, „unter dem so merkwürdig zutreffend die ganze Apokalyptik schliesst“ und schliessen soll. Ist es auch nicht so, wie Esra (12, 28 f) sagt, duae subalares cogitabant apud semet ipsas et ipsae regnare, sie wur- den aber von dem grossen Haupte in Gemeinschaft mit den beiden andern verschlungen ? Das ist Caesar, „der die beiden folgenden Herr- scher (Antonius und Octavian) in seinem Gefolge hat und dem Reiche der Ptolemäer durch den ägyptischen Krieg 47 im Grunde sein Ende bereitete.* Er hat zwar Cleopatra und ihren Bruder Ptolem. XIV als Könige von Aegypten eingesetzt und bestätigt, doch „war dieses Kö- nigthum ein blosser Schatten, eine traumartige Herrschaft (cogitabant regnare), welche recht wohl als eine Verschlingung der letzten Aus- läufer des griechischen Weltreiches vorgestellt werden konnte!“ Hier- nach kommt bloss noch in Betracht das plötzliche Verschwinden des grossen Hauptes (Caesar) und die Niederlage des linken bei Actium durch Octavian, damit wäre der Abschluss der Apokalyptik durch die Ptolemäer völlig zu Ende gebracht. Wir brauchen wohl kaum zu erinnern 1) „eogitabant et ipsae regnare“ heisst gar nicht „dachten,* also träumten zu herrschen, son- dern: sie gedachten zu herrschen, wie vorher (v. 25) cogitabant se erigere et tenere prineipatum, oder noch ausdrücklicher (v. 20) erige- bantur, ut tenerent et ipsae prineipatum; 2) diese subalares wollten in dem Weltreiche selbst zur Herrschaft sich erheben, wie der Zu- sammenhang v. 20. 21 mit v.28— 31 ausdrücklichst sagt, aber ge- rade diese, ohne es irgend zu erreichen (v. 21. 29. 31); 3) „das Verschlungenwerden* vom Uebergang eines Landes an die Häupter gedeutet, kann nicht identisch sein mit dem so ausdrücklich verschie- denen „Bleiben unter dem Haupt nebst Uebergehn auf dasselbe.“ Dies sollte aueh nur ein solches Uebergehen eines Landes an einen (römischen) Herrscher bezeichnen ? Doch seien wir in alle dem noch so nachsichtig, so kann es — 306 — doch keine Apokalyptik zugeben, dass gerade die grosse Cleopatra bloss von Herrschaft träumen sollte, sie die doch mächtig genug ge- herrscht hat, auch so lange wie andere Hanptflügel; selbst als Mit- regentin ist sie vorherrschend gewesen, aber längere Zeit hatte sie das Regiment auch allein, und wenn irgend ein Ptolemäer-Zweig, so ist gerade sie auch weltbeherrschend gewesen. Denn sie hat nicht bloss das „grösste Haupt,* Caesar, sondern auch das zweite, den An- tonius völlig zu ihren Füssen gesehen. — Die Harmonistik pflegt zwar bekanntlich keinerlei Erbarmen zu kennen, sie bricht alles an Seschichtlicher oder textualer Thatsache, was ihren Postulaten irgend entgegentritt. Um so eher sollte doch „eben die jüdische Apokalyp- tik in ihrem geschichtlichen Zusammenhang“ den grossen, glänzenden Schluss der Ptolemäer-Reiche vor solcher Herabwürdigung. zu einem blossen Schattenleben schützen. Denn sie selbst hat es, nach Hilgen- feld’s eigener Deutung, in dieser Zeit (Sibyll. III, 75 fg.) so auffal- lend gefunden, dass „Die Welt alsdann sich finden wird unter der Hand eines Weibes, Beherrscht von ihr und ihr in Allem gehorchend, . .. Dass eine Wittwe beherrsche die sämmtliche Erde,* Das sei ja himmelschreiend, scheint hiernach der ägyptische Jude sagen zu wollen, da höre Alles auf; da müsse der Himmel drein schlagen und verschlingen die „sündigen Menschen der Erde.* Die Weltherrschaft des -Weibes gibt ihm hiernach gerade ein Zeichen, dass es nun mit dem Weltlauf ein Ende haben müsse: nun werde der richtende Mann, der Messias nicht länger ausbleiben. Hilgenfeld sagt es uns auch noch selbst, nämlich nachdem das Auslaufen der Apo- kalyptik auf das letzte Haupt schon völlig abgeschlossen ist (S. 242). „Diese Stelle der Sibyll. ist ein merkwürdiges kurzes Seitenstück zu der Apokalypse des Esra und bestätigt unsere ganze Auffas- sung derselben!“ Der Sybylline bestätigt also mit seiner An- schauung der Cleopatra als weltbeherrschenden Weibes die Auffassung derselben als einer blossen Schattenkönigin, er zeigt, wie völlig zeitgemäss in Aegypten diese Auffassung war! Ein merk- würdiges Zeichen, wie selbstvergessen man durch fixe Ideen und de- ren Ausspinnung werden kann. Aber die schöne Frau macht dem so ganz rücksichtslosen neuen Apokalyptiker nun erst noch recht zu schaffen, nachdem sie sich „unter diesen Fäusten“ darein ergeben hat, zu einem kurzen Unter- federlein zugeschnitten zu werden, Denn sie soll sich nun auch ver- — 377° — speisen lassen, von dem grossen Haupte Caesar. Dagegen hätte nun und hat auch der schöne Fittig Nichts einzuwenden gehabt, dass sie dieser Julius wirklich schier verschlingen wollte: wurde sie dadurch doch nur um so mächtiger. Aber so galant das zuzugestehen ist der alte Jude nicht: die zwei Federlein, die gedachten zu herrschen wer- den ernsthaft verspeist. Hat aber Caesar nicht auch durch den ägyptischen Krieg 47 „diesem Weltreich ein Ende bereitet,“ also den ältern Bruder der Cleopatra nebst dieser besiegt und verschlungen ? Kann sie nun nicht 31 v. Chr. von Octavian noch einmal verschlun- gen werden, der unvertilgbare Fittig, damit es endlich mit ihr zum non comparere kommt? Nein, zweimal verspeist: das ist zu arg, das leidet auch der Jude nicht. — Dieser will dagegen, dass die bei- den Unterfittige, da sie sich unterstanden hatten, zur (Welt-) Herr- schaft sich zu erheben, — dass sie auch sofort, ehe sie dazu kamen, von dem mittlern Haupte ernsthaftest abgethan werden (nicht von dem rechten), von jenem aber in Verbindung mit den beiden andern. Geht das num nicht auf Caesar, Antonius und Octavianus? Also Caesar war es, der mit Antonius und dieser zugleich brüder- lieh mit Oetavian „in der Schlacht von Actium* — die Cleo- patra besiegt hat und ihren verstorbenen Bruder zugleich, da sich beide zum Herrschen über die Welt erheben wollten 31 v. Chr. ! Das wäre der Abschluss der „jüdischen Apokalyptik in ihrem ge- schichtlichen Zusammenhange*. Erinnert das nicht an die blühendste Harmonistik, früher von Ebrard, jetzt von Ewald, bei der man gleichfalls vergeblich strebt, irgend etwas” Festes und Haltbares zu _ finden, während man bei jedem weitern Schritt nur tiefer in den Sumpf tritt, und nur baldmöglichst sich zurückziehen muss, um nicht zu ersticken. e) Doch den wirklichen Abschluss kann erst geben, was vor Al- lem die Hypothese voraussetzt, auch endlich ausspricht, dessen Be- gründung sie aber um so mehr im Verborgenen gehalten hat. Sie kommt darauf hinaus, dass mit IV Esra die jüdische Apokalyptik 31 v. Chr. schliessen solle oder dass diese mit Octavian’s Weltherr- schaft den Messias kommen sah. Er*soll vom Messias getroffen wer- den, eben da in ihm sich die römische Weltherrschaft völlig consoli- dirt hatte. „Dies Haupt bleibt allein bis zuletzt übrig als die Spitze des ganzen Römer-Reiches* (S. 220). Darin eigentlich liegt der Abschluss der ganzen Apokalyptik, damit wird sie die „Vorgeschichte des Christenthums.* Und darin — -378 — liegt nun auch ihr völliges Ende. Denn wir haben es schon oben, bei dem einfachen Referat über den Text gesehen: das zuletzt Uebrig- bleibende ist nieht das letzte Haupt, sondern dies sind zwei Flüg- lein, die sich über dasselbe nach dessen Ermordung erheben, auch eine Zeit lang herrschen, nur dass ihr regnum ein exile et tumultu plenum ist. Diese sind es, welche von dem Feuer aus dem Munde des nahenden Messias getroffen werden, so dass nun das ganze Ad- lerreich dabei ein Ende nimmt. Das sagt die Interpretatio des Ver- fassers XII, 28 — 30 ausdrücklich, und dasselbe sagt die Vision XII, 2. 3. ebenso fragelos, wenn auch der Text der Vulg. hier doppelt gelitten hat. Es kann sich höchstens noch fragen, wie denn eine solche Entstellung des Thatbestandes an dem allerwichtigsten Punkte nur möglich gewesen ist. Früher war sie es noch, wenn auch schon bei ziemlicher Selbst- verblendung. Denn der vulgäre Text des Vet. Lat. gab XII, 2 ei- nem solehen Gedanken einigen Anhalt. Nachdem nämlich das rechte Haupt das linke gemordet hat (XI, 34), springt der Löwe (der Messias) mit verurtheilenden, das Ende für den ganzen verruchten Adler ankündigenden Worten heran (V. 35 fg... Man kann also denken: dies „rechte Haupt“ wird vom Messias „gerichtet“ (S. 214). Nun heisst es (XII, 1. 2) „Und während der Löwe dies redete zum Adler: vidi et ecce quod superaverat caput (so!) et non comparuerunt quatuor alae illae quae, [so! statt quatuor alae, duaeque] ad eum transierunt* u. s. f. Man kann also denken „siehe das übrigbleibende Haupt! Und es waren verschwunden die vier [und auch die zwei]!“ Es scheint also das Haupt allein nicht verschwunden, sondern noch übrig geblieben. — In der Interpret. heisst es nun zwar (XII, 27. 28) duo [eapita] qui perseveraverint, gladius eos comedet; unius enim gladius comedet [eum] qui cum eo: sed tamen hie gladio in novis- simis cadet. Das letzte Haupt soll also auch nicht übrig bleiben, sondern fallen. Aber könnte man in novissimis nicht so fassen: „in der messianischen Zeit?“ (8. 215) Es folgt zwar darauf (XII, 29. 31) „Was aber die beiden subalares betrifft, trajieientes, super caput dexterum, hi sunt, quos eonservavit Altissimus in finem suum, hoc est regnum exile.“ Aber könnte man nicht denken: da das dieselben beiden 'subalares sind, von denen es früher hiess, manserunt sub capite dextero (XI, 24), dann transierunt ad eum (XII, 2), 30 wird hier auch wohl „sub* zu lesen sein, statt super, oder die Inter- — 379 — pretation braucht nicht chronologisch vorzuschreiten, und in finem suum könnte etwa allgemeiner „bis zu letzten Zeiten“ heissen. Man könnte das Alles einen Augenblick denken, wie es nicht blos Vlis und Lücke II, sondern auch Gfrörer gethan hat, der desshalb das Buch auch unter das letzte Haupt, Domitian, noch selbst setzte. Aber . alle dieses „kann“ ist doch eine Unmöglichkeit. 1) Die Interpretation schreitet durchaus chronologisch vor, d. h. die beiden Flügelein mit ihrer kläglichen Herrschaft folgen auf das letzte Haupt, und diese werden nun (XII, 31. 32) vom Messias gerichtet *). 2) In finem suum heisst gerade „für die Messias-Zeit Gottes“ (XII, 32), während das vorhergehende „in novissimis (£v zoig &oya@roıg)* die letzten Dinge vor dem Ende, vor der Messiaszeit bedeutet, so auch überall (X, 59. XII, XII, 18). 3) Wenn das Haupt durch das Schwert fällt (XII, 28 hie gladio cadet) so heisst das ausdrücklich „nicht durch den Messias,“ denn dieser hat (nach der folgenden Vision) „neque frameam, neque aliquod vas bellicosum, neque manum suam levat, nisi solummodo* das Feuer seines Mundes, womit er seine Gegner niederschmettert (XIII, 9. 10). Durch das Schwert also von Menschen fällt das letzte Haupt, es wird ermordet wie das zweite Haupt von dem letzten. 4) Der Löwe oder Messias springt gar nicht beim Mord dieses zweiten Hauptes richtend auf den Mör- der, sondern „ad aquilam“ überhaupt (XI, 37. 39. 45 f. XIL 1), dem das nahe Gericht auch noch nicht gebracht, sondern als nun ganz nahe vorverkündigt wird. Die ganze Allocution an den Adler hat lediglich die Bedeutung einer Parenthese oder Pause in der Erzählung des Herganges, in welcher beim Hervortreten des letzten verruchten Hauptes das Endgericht für das Reich in aller Nähe ge- ahnet wird. 5) So corrupt der Text XII, 2 ist, so ist doch kein Zweifel nach allen Zeugen, dass das caput superans mit begriffen ist unter dem „et non comparuerunt“. Es bleiben nur noch übrig jene zwei seltsamen subalares, die zuerst latuerunt sub capite dextero, %) Dies wird um so deutlicher, wenn man nur einmal die interpretatio über- sichtlich betrachtet, Sie schreitet ausdrücklich von locus zu locus fort, während ‚die Vision Manches auch allgemeiner eerörterte, und zwar werden ausdrücklich (XH, 16 — 35) folgende Abschnitte nach Sache und Zeit gemacht: 1) die zwölf alae, 2) die medietas corporis, 3) die sex subalares, denn duae werden in finem aufbewahrt, sind da nur schon vorhanden, 4) die tria capita, primum-alterum- dexterum, 5) die duae subalares super caput dexterum trajicientes, in finem ser- vatae, 6) der Leo in fine, qui statuet eos in judieium. — 330 ° — dann (XII, 2) nach dessen Verschwinden transeunt ad eum oder (XII, 29) trajieiunt super eum. Sie sind es, bei deren regnum exile et tumultu plenum nun das Feuer des Messias auf den ganzen Adler fällt, was Vision und Interpretation ganz gleich angeben (XII, 3. und 31 — 33). Es kann nichts Zweifelloseres geben, freilich auch nichts Seltsa- meres, als diese beiden Schluss-Federlein, d. h. das Räthsel wird wohl darin gipfeln und — seine Lösung haben. Wie hat es nur der neue Ausweg vermocht, dies Zweifellose geradezu umzustürzen? Es ist Vieles oder eigentlich Alles auf die- sem Wege des Zufalls oder doch der Subjectivität gewaltsam oder in sich und mit dem Text im Widerspruch. Aber hier wird das Ver- fahren einer unklaren Kritik besonders charakteristisch. Sie hat bei ihrem Text-Vergleichen ein Bewusstsein davon, dämmernd wenigstens dass der Text nicht, keiner aller Texte das letzte Haupt bis zuletzt und allein übrig bleiben lässt, keiner es für den Mes- sias aufbewahrt *). Nur unter der Hand wird so lange der Text wirklich „bearbeitet,“ nämlich „berichtigt* und „gedeutet,“ bis endlich dreist ausgesprochen werden kann, was er verbietet, was man be- wusst blos wünschte. Zu dem Ende war so in aller Stille (8. 207 Anm.) ohne auch nur anzudeuten, dass die ganze Erklä- rung, die ganze Hypothese, das ganze Buch daran hänge, zu dem duaeque des Cod. Sang., was das ganz richtige giebt, das quae der Vulg. auch noch eingeklemmt: denn nun heisst es, die 2 Flüge- lein, „welche* übergegangen „waren,“ sind auch verschwunden mit den 4 und dem rechten Haupt. Diesem kann man nämlich dann wohl noch ein besonderes Schicksal vorbehalten. Weiter (8. 214) heisst es auch bald getrost genug „das rechte Haupt sei allein übrig geblieben mit den beiden übergegangenen Flügeln,“ und schliesslich werden auch diese vergessen, damit nun das rechte Haupt allein übrig bleibe! (8.220). — Doch die beiden hatte der Himmel ja aus- drücklichst noch in finem suum aufbewahrt! Das muss noch beson- ders gebrochen werden. Der Aeth. bietet da „hi sunt, quos conser- *) Desshalb wiri (S. 209 Anm.) bei den Worten XII, 28 „sed tamen hie gladio in novissimis cadet* bemerkt, „der letzte Satz fehlt beim Arab. und beim Aethiopier“. Es ist der grösste Wunsch für den Hypothetiker, beide möchten doch Recht haben; aber freilich gehört die Auslassung zu evident zu den Pri- vatgedanken dieser Bearbeiter, die den Text selbst voraussetzen durch v. 27: duogladius comedet eos, und XII, 2 ausdrücklich sagen: periit istud caput! - — wm vavit Altissimus in finem suum ,‚* und setzt erklärend hinzu „in quibug erit initiam finis et magna turbatio.“ H. hetont alsbald (8.209) nach Lücke II dies initium finis, giebt an „bis zum Ende, um den An- fang des Endes zu machen“ und später ($.220) ist richtig „der An- fang des Endes“ allein da; derselbe kann dann auch so premirt werden, dass die allerletzt übrig bleibenden Flügelein sogar mit zu allererst umkommen, jener Apion von Cyrene 96 v. Chr. und Pto- lemaeus I von Cypern 58 v. Chr.! Ist das nun nicht fast fabelhaft ? Obendrein ist über das „in finem suum“ des Vet. Lat. um so weniger ein Zweifel, als es der Aeth. selbst bietet, nur mit der Ausdeutung verbunden, die lediglich seinem Ermessen angehört. - Sehweben also über Alles kann so eine vermittelnde Idee, aber in ihrem Fixwerden auch so sich selbst direet täuschen! Das mag doch jede halbe Kritik vor fernerm Versinken in blosse Hypothetik warnen und an die Nothwendigkeit der bessern; der Pen vom Object geleiteten Methode malınen *). IV. Der Versuch, die beiden secundären Streitfragen des Ta- ges, über Enoch. und die Essäer, zusammen zu erledigen durch Mit- benutzung von Lücke II, dem nur durch die Ptolemäer der I Sib. aufzuhelfen sei, hat nnr das Verdienst, um so mehr das zu ver- wirklichen, was H. (S. 212) vorbildlich ausgesprochen hat, „das End- urtheil über diesen Weg der Erklärung für Esra IV überhaupt abzugeben.“ Der Text ist so weit näher bestimmt, dass an die Deutung auf — #) Im Besondern mag die freie Wissenschaft in dem schönen Thüringen, aber auch agßerwärts, endlich einmal so frei werden, dem Aberglauben Valet zu ge- ben,.als sei jede kritische Ansicht, welche mit einer Textes-Berichtigung in Ver- steht, eben damit verurtheilt. Wie einät in Schwegler's Kritik des Werkes von Wilke, so tritt jetzt derselbe Gedanke immer wieder bei Hilgen- feld, in der Hippolytus-Frage wie in der synoptischen (Theol. Jahrb. 1857. II), so sich selbst täuschend auf. Es rächt sich, nicht die philologische Methode ‘einzuhalten oder die Textesfrage nicht sogar vor Allem zu erheben, zunächst diplomatisch über die älteste Tradition in dieser Beziehung (wie sie hier wesentlich Vet. Lat. giebt, während Arab. und Aeth. mehr Bearbeitungen sind), dann aber auch mit allem Muthe und aller Ruhe auch im Einzelnen. (Vgl. F, Hitzig Züricher Monatsschrift. 1856. II. Ueber Kritik auf Grund der Exegese). Wer davor erschriekt, wird hinterher in um so willkürlicheres Text- Zurechtmachen sich verlaufen oder gar in immer schwindelndere Urtext-Fietionen. Das Erstere ist hier für H. eingetreten, das Zweite immer schreiender auf dem synoptischen Boden, wo der Ur-Petrus-Marcus jedes Mal eine andere Gestalt er- hält, det Matthaeus-Text aber nicht blos in zwei Stücke zerlegt, sondern schliess- lich wirklich geviertheilt wird, — Alles, um nur zu vermitteln! Wissenschaftliche Monatschrift. II. . 27 — 332 — ein vorchristliches Triumvirat nicht mehr zu denken ist. Denn man mag es suchen, wo, oder gestalten, wie man will, es kommt vor Christus schlechterdings in dem weltbeherrschenden Adler-Reich keins heraus, das noch zwei Flügelein über sich hinaus herrschen sähe, so aber zugleich, dass diese Regierung eine so armselige (exile) gewesen wäre! Im Besondern hört damit jeder Gedanke an ein Aus- münden auf Octavian auf, der nur der zweite in der Reihe sein kann. Wer aber sind diese räthselhaften, überlebenden, armseligen Flü- gelein, die noch nach dem mit dem Schwert getödteten BE der Drei-Häupter herrschen? Diese beiden!? Die vorangegangene Analyse zeigt es, dass das Räthsel darin gipfelt: aber es liegt auch sofort die Lösung des Ganzen darin, das nur wirklich ein Vexir-Räthsel ist, einer schlagenden Uhr ähnlich, die zweimal aufgezogen werden muss. 1) Hört man die Vision selbst und allein, so versteht es sich ja für jedes Kind sofort, dass man nicht mit je einem Fittig fliegen kann, dass zu jeder fliegfähigen Schwinge ein Flügel-Paar gehört, eine Zweiheit von Flügeln. C'est tout! Und wenn es nicht der Kindesverstand den tief Gelehrten sagen konnte, so hätten sie doch so viel Geschmack sich bewahren sollen. Die 12 Flügel oder sechs Flügel-Paare sind also die hie ersten Cäsaren, die dies auch i im engsten Sinne waren, die sechs Julii Caesares: C. Julius, Oetav. Augustus, Tiberius, Caius, Claudius, Nero, Und zwar erhebt sich die erste Schwinge (das erste Flügelpaar) von der rechten Seite der Welt, für den in Rom nach seiner h. Stätte bliekenden Juden also im Oceident, Jul. Caesar von Gallien her, um nun zu- erst den Orbis terrarum allein zu beherrschen, dann aber plötzlich zu fallen. Die folgenden Schwingen, die der andern Julier, sind ebenso weltbeherrschend und auch darin der ersten ganz gleichartig, dass sie jedesmal bis zu ihrem Tode ohne alle Unterbrechung herrschen; nur die zweite (das Flügelpaar des Octavian) macht die merkwürdige Dif- ferenz, dass sie mehr als doppelt so lange herrscht als alle übrigen. Nach des letzten Flügelpaares (Nero’s) Tode (post regnum illud alarum, in medietate temporis) brechen grosse contentiones aus, die das Reich zu zerrütten drohen *). Doch erhält es sich noch; denn *) Diese revolutionäre Zeitlage war es, die dem Johannes-Apokalyptiker (unter Galba) das besondere Zeichen der Zeit für den nahen Fall Roms ward. Vgl. F. Ch. Baur Th. Jahrb. 1855 S. 250 £. und Rel. Jesu. S: 150 £. Josephus (B. J. IV, 10, 4) urtheilte so ausdrücklich. —_— 383 — es erheben sich nun, (abermals von der Rechten, diesmal vom äusser- sten Oceident, von Spanien her) die beiden Schwingen des Galba.Die- ser nicht mehr julische, so nicht legitime, sondern revolutionär erho- bene oder Gegen-Cäsar erhält wirklich noch die Einheit des Reiches, aber wie bald war er schon dahin, wie so viel schneller als alle frü- hern, schon nach einem halben Jahre (Aug. 68 — Jan. 69). Nun er- hebt sich das Flügelpaar eines neuen Usurpator Kaisers, Otho, doch das ist noch schneller dahin als die vorigen, ähnlich kurzflüglichen Schwingen; er hattezwar wirklich das Imperium, vom Senat anerkannt, aber gar«nur ein Viertel-Jahr*)! ‘Secundae also velocius quam priores non eomparuerunt. Jetzt gedenken die ihn überwindenden Zwei- Flügel des Vitellius die Herrschaft der Welt zu erringen, den Cäsaren- Thron einzunehmen. Aber es blieb hier im Grund bei dem blossen „erigere, ut et ipsae prineipatum tenerent“; er war nicht anerkannt. Et cum cogitaret regnare, da erwachte endlich das Ober-Haupt einer neuen Dynastie, das diese tragende Haupt, Flavius Vespasianus, der bis dahin so lange geruht, den Usurpatoren-Erhebungen ruhig zugesehen hatte **). Er „erhebt sich jetzt* und zwar in ihm die ganze neue Dynastie, aber mit seinen Söhnen auch wirklich „verschlungen“ ***), und zwar „wendet er sich* [von Palästina her] gegen den Vitellius in Italien, und verschlingt ihn mit den Söhnen verbunden, nimmt in sich dessen gesammte Macht auf. Er ist, als der Träger der neuen Dynastie, das mittlere Haupt, von den beiden Söhnen umgeben. Dies specielle Bild war dem Juden ohnehin aufs unvergesslichste durch den Triumphzug Vespasian’s über sein Judäa geboten, in dem sie gerade so aufzogen (Jos. B. J. VII, 5, 5). "Nun beginnt er zu herrschen, aber seine Herrschaft ist für die „im [heiligen] Lande“ entsetzlicher gewesen als irgend eine vorher; denn er hat ja das h. Land geknechtet, Jerusalem erobert, den Tem- pel zerstört. Die Strafe bleibt jedoch nicht aus. So hoch er stand, so plötzlich versinkt er. Er stirbt zwar noch natürlichen Todes, doch in dem Brande des hitzigen Fiebers, das ihm das unauslöschliche Feuer anzeigen mag (super lecto, cum tormentis). *) Theoph ad. Antol. IH, 25: ujvag y wjuegas &. Vgl. Clinton Fasti Bomani I, p. 54. #*) Vgl. auch Joseph B. J. 3. IV, 10, 4. #%#) Denn Titus übernahm seine Aufgabe in Palästina, und Domitian stellte sich nicht blos in Rom dem Vitellius entgegen, sondern nabm auch die erste Huldigung des Volkes für den Vater an. Joh. B. J. IV, 11, 4. — 384 — Nur dauert er in den beiden Söhnen fort, die für den Juden gleich abscheulich sind wie er. Von ihnen ist Titus (Flavius) nun gar erst der Sinister für das h. Land gewesen, ohnehin schon als der kürzeste dauernde der linke. Vom „rechten“ Bösewicht, dem: letzten und scheusslichsten Flavier-Haupt wird er verschlungen, ermordet. Aber schon da, wo dieser den Adlerthron besteigt über die Leiche des Bruders hin, hört man die Stimme des nahenden Weltgerichtes über ganz Rom. „Deine Bosheit und Tücke, dein Stolz und deine Ver- brechen haben in ihm den Gipfel erreicht, du verfluchtes Adlerreich: euch alle, auch euch Räuber-Krallen (ihr Heere des Adlers) wird jetzt ohne Frage baldigst der treffen und vernichten mit einem Schlage, der keine Kriegswaffe gebraucht [wie auch wir, sein Volk, keine ha- ben], aber seines Mundeshauch ist gleich dem verbkrennenden Blitz- strahl [ganz so glühend und vernichtend wie auch dieses Seher's Mund]. ' i Und siehe: er ist auch dahin (Sept. 96), vom Mörderschwert ge- troffen, über ihn hin hat sieh zwar noch ein neues Schwingenpaar er- hoben, aber es ist ein greises, das schon längst in der medietas temporis mit Anspruch auf Herrschaft dagestanden hat (XI, 27), aber hinter den Flaviern, ihrem letzten Haupte verborgen (sub capite dex- tro). Im Gegensatz zu dem ermordeten letzten Flavier ist Nerva’s Regierung wieder nur eine Usurpatoren-Regierung, wie die frühern Usurpatoren-Schwingen es waren gegenüber den Juliern, den. legiti- men Flügeln. So sehr kurz alle diese alae contrariae gedauert haben, so höchst kurze Zeit wird auch ohne Frage diese neue Usurpatoren- Regierung dauern, ohnehin die eines Greises, und wie armselig (exile) und keunruhigt (tumultu plenum) ist sie auch! „Von Vielen war Nerva nicht anerkannt, stets war er bedroht von Nachstellungen Soleher, die ihn nicht anerkannten, nur durch Mitleiden mit seiner Greisesschwäche konnte er sich behaupten und die Gegner zeitweilig entwaffuen“ #). Nun beginnt es auch schon im Prätorium gegen ihn **), das ihn selbst erhoben hatte, zu gähren, und draussen giebt es nicht blos fortwährend Krieg gegen den Gog Magog im Norden (die Ger- manen-Völker am Rheine), wo Trajanus abwehren soll, sondern neuer Kriegssturm droht im Nord-Osten an der Donau (von den Daciern *) Vgl. Dio 68, c. 2. 3. Ba$V KETEPIOVELLEVOS dıa To yngus, sagt Dio kurz, regnum exile, sagt Esra IV. %*%*) Dio c. 3; _— 395 — her) , und die Parther im Osten werden nun gewiss auch lange genug still gesessen haben (e. 13)! Jetzt also wird allen Anzeichen zu- folge es aus sein mit deinem letzten und grössten Feind, diesem Adler-Reich, dem letzten aller Thiere Daniels. Mit dem letzten Haupte seiner ganzen Verruchtheit ist es im Grunde schon zu Ende und diese armselige, überall beunruhigte und bedrohte Regierung nur das Siegel auf das Ende, auf dessen nächstes Nahen. Der Messias wird nun im h. Lande hervortreten, man wird ihn zwar bekriegen (ec. 13), aber dann ist es gar aus mit den Feinden Jehovas und der göttliche Tag der Erquiekung (von 400 Jahren) ist für die Getreuen da: jetzt, Ende 96 oder Anfang 97 (u. 2.). Denn schon im Herbste 97 war die Weissagung vereitelt, schon im September war von dem ohnmächtigen alten Mann, mit dem das Reich zusammenzubrechen schien, als das Prätorium immer schwieri- ger ward, ein neues Haupt zur Stütze erhoben, und welches! Ulp. Trajanus Germanivus ward adoptirt und zum Mitregenten gemacht. Des Reiches Wanken hatte wieder ein Ende. Das war noeh ungeahnt. 2. Doch das Buch war einmal geschrieben. Dies Traumbild musste jeder Sinn verstehen: der Adler, über alles Erdreich sich erhebend , sechs erste Flügelpaare, die zweite Schwinge so merkwürdig lang dauernd, eine unruhevolle Mittelzeit mit drei kürzer dauernden Gegensehwingen, eine neue Dynastie von drei besonders Verruchten, ein Schatten-Imperator danach noch, notabene ein Greis, der sehon in der Mittelzeit da ge- standen hatte, kurz von dem ersten Welt beherrschenden Caesar an 6 grosse + 3 kleine + 3 ärgste + 1*)! Und dieser letzte, dieser Alte dem Sturze so nah! Das Ganze war sogar der Gestalt viel zu deutlich, als dass die Schrift voll $Schmach auf dies Adlerreich, auf seine pessima pennacula (auch auf das noch regierende klägliche #) Auch sonst hat der Jude nur diese als Kaiser gezählt, oder unter Ver- hüllung bezeichnet, keine andern (keinen Piso oder Vindex), wie der jüdische Apokalyptiker Sibyll. V, 12 — 41: „Zuerst Einer, der im ersten Buchstaben 2 mal 10 hat (20 K-eioao), auch von der Zehnzahl hat er das erste Zeichen (I-ovAuog). Dann Einer mit dem ersten Buchstaben (A-VyovoT0s) , dann Einer mit 300 (T-iberius), dann 3 (C-ajus), dann 20 (K-laudius), dann fie ent- setzliche Schlange mit der Zahl 50 (N-ero). „Nach ihm gehn drei der Herrscher zu Gründe Dann wird Einer erstehen, ein gewalt’ger Vertilger der Frommen“ mit 70 (O-vessaoıavog). Dann dessen Sohn mit 300 (T-itus), dann „ein verderblicher Mann, den die Vierzah) bezeichnet“ (D-omitianus), dann ein ält- licher Mann mit der Zahl von 50 (N-erva). — Bi Schwingenpaar) sowie auf seine pessimi ungues (die Heere), dem Ver- fasser oder seinen Leuten nicht schlimmste Folgen, wenn nicht selbst einen Process laesae majestatis populi Romani hätte zuziehen können. Die zu grosse Enthüllung musste möglichst wieder verhüllt werden, und dazu war vor Allem die interpretatio da. Sie konnte zwar das Selbstverständliche aussprechen, dass ein Reich, Regenten (Baoıkeig) gemeint seien, selbst manche Züge näher bemerken (wie die drei Häupter so characteristisch umkommen): aber es kam darauf an, durch beigefügte Zahlen die Deutung nicht allzu schreiend leicht werden zu lassen. Der Verfasser erklärte daher (12, 14): regnabunt in eo regno duodecim reges, und das solle die Deutung sein der duodeeim alae (v. 16), auch die subalares octo sollen bedeuten ex- surgentes in ipso oeto reges (v. 19)! So ist der Leser wieder in die Irre geleitet: da lerne Einer zählen, um ausser den 3 capita noch 12 und 8 Aaouleig herauszubringen. Die Gefahr war so abgewehrt; nur für seine aufmerksamern und vertrautern Leser war durch das Ganze (vielleicht auch im ersten MS. durch ein Strichlein durch dwdex« und dxzw, sei es quer oder horin- zontal, oder durch wirkliches Halbiren der Buchstaben) der genügende Wink gegeben: hier heisst es, mein verständiger Leser, die Cardinalen gerade so halbiren, je zwei zusammen nehmen, wie von den Flügeln selbstverständlich ist, und auch durch die interpretatio wirst du nicht irre werden, ohne die und deren Hülle ich ja das Sichere gar nicht hätte aufschreiben können. Auch brauchte man nur weiter zu lesen (v. 20 — 28), und siehe, es geht da Alles so paarweis, dass dies auch von den ersten Zahlen (12 und 8) bei Flügeln und Flügelein gelten muss. Duo perient (v. 20) auf einmal?! Quatuor alii, in der . Mittelzeit, erheben sich und kommen um, wieder zwei Paare, je zu- gleich?! Duo servabuntur in finem, um zusammen zu regieren ?! Die beiden machen nur ein regnum exile aus! Wer Ohren hat zu hö- ren, der hört schon, was der kunstreiche Mann vielleicht auch mit halbirten Buchstaben zu sehen gegeben hat*). Und „Verstand“ nimmt er bei seinem Räthsel gerade so in Anspruch wie der judenchristliche *) Mancher könnte versucht sein, geradezu die Zahlen dwdsxe , OxTW, TEOORQES spätern Abschreibern aufzubürden, die geglaubt hätten, die Zahlen der Flügel müssten so auch. in der interpretatio wiederkehren. Die Consequenz, mit der auch bei den einzelnen Gegenflüglein-Paaren der plural (duo Petit, servabuntur) wiederkehrt, leidet das gewiss nicht. — 3837 — Apokalyptiker vor ihm durchweg, bei Bezeichnung des letzten wie des damals noch lebenden Kaisers besonders (Apoe. Joh. 13, 18 fg.) 3. Uebrigens hat der sinnreiche Israelit gerade unter Nerva beim, speciellen Blick auf Domitian und die Flavier überhaupt den die Welt und Judäa beherrschenden Adler ganz treffend so abgeschildert und gegliedert. Den untern Theil bilden die Julier-Flügel, wodurch er eigentlich so über Alles sehwingend geworden ist, und den letzten, höchsten bilden (mit ihren Hälsen) die Häupter. In der Mitte stehen die kürzern Gegenschwingen, deren eine, das letzte Paar, sich dann noch zum Fliegen ausstreckt, nachdem die Häupter gefallen sind, um so nur das nahe Ende des Ganzen anzukündigen. Bei der danach so passenden Bezeiehnung der julischen, die Weltherrschaft begrün- denden Cäsaren mit den Haupt-Flügeln, wonach denn die drei folgen- den Usurpatoren Gegen-Schwingen und so viel kürzerer Ausdehnung waren, hat ihn schon die Natur der Sache die Dualität, sein hebräi- sches Denken aber (an kanphe) noch besonders den Dualis geboten. Unwillkürlich ist es ihm daher auch in die Feder gekommen, da, wo er in der Vision mit Ordinalen zählt „die erste, zweite Schwinge“ für den sonst gewöhnlichen singular (una d. h. wie oder newWrn, secunda ) auch den plural zu gebrauchen. So heisst es da, wo er besonders auf die kurze Dauer aller solcher Kaiserlein reflec- tirt und die drei ersten (Galba, Otho, Vitellius ) hiernach zusammen- stellt (XI, 26. 27): una subalarium erigebatur et statim non comparuit (schon so bald war Galba dahin), et secundae velocius quam prio- res non comparuerunt (und Otho war noch schneller dahin als der vorgehende Galba). Zu dem seeundae hat man nur den hebräischen Dualis (canphe) zu denken, und zugleich ist ausdrücklich gesagt, auch die prima ist dualisch zu denken, wie er denn sofort den Vitellius wieder ausdrücklich als ein Schwinglein-Paar bezeichnet: et duae, quae superabant [secundas, Othonem] eogitabant et ipsae regnare, wo duae so viel ist als eine „duas subalarium *, wie überall *). Warum hat aber Esra noch einmal den Galba erwähnt, dessen Tod er ja schon (v. 25) beim Hingang der sechs Julier (oder der zwölf Haupt-Fittige) gemeldet hatte? Es liegt darin ein neuer Aus- *) Wie dreifach roh hat also van der Vlis in den Text eingreifen wollen, wenn er „corrigirte“: et secunda velocius quam prior non comparuit, wie heilsam wäre auch für den nicht phantasie-, aber um so mehr hypothesenreichen Hilgenfeld hier mehr philologische und textkritische Strenge und weniger Eile gewesen. —_— 3383 — druck seiner ganzen Anschauung, dass die drei Flavier die Häupter, die Gipfel und so auch das Ende des ganzen römischen Frevlerthums ausmachen, wie seiner Hoffnung und Sehnsucht, dass die doch noch über sie erhobenen Schwinglein nur ganz kurze Zeit währen können, geradeso kurz als alle vorhergegangenen Gegenflügel, die drei Paare in der medietas aquilae. Er theilt im Hinblik auf das erste Flavierhaupt diese drei ganz getreu so ab, dass der von Vespasian noch völlig anerkannte Usur- pator gegen die letzte der Julier-Schwingen mit diesen zusammen bald zu Ende gegangen sei, während Otho und Vitellins schon mehr oder ganz in die zweite, die flavische Hälfte des Adlers gehörten. Aber zur besondern Erinnerung, dass alle solche Rebellen-Kaiserchen auch nur so ganz kurze Zeit dauerten und dauern sollten, werden die drei noch einmal nachdrücklichst zusammengefasst: prima mox periit, secundae velocius adeo quam priores, (tertiae) duae subalares ne regnabant qui- dem: also, gieb Acht, mein Leser! schon hiernach kam dieser ohne- hin so alte (v. 27 längst dagewesene), und armselige Nerva doch ganz gewiss dies Jahr nicht mehr erleben! Ueberhaupt bietet: die durch festes Einhalten des textkritischen Prineips so einfach sich ergebende Lösung des alten Räthsels die überraschende Erscheinung, wie so ganz vollkommen zutreffend auch das ganze Detail der Vision ist, selbst in seiner Gliederung, fast zu prosaisch genau, als man es von Apokalypsen gewohnt ist *). *%, Von da aus wird der Vulgata-Text, wo er sich selbst als so entstellt verräth, wie XII, 2. nach den andern Kennern des griechischen Urtextes eine weitere Berichtigung erhalten können. Der Aeth. hat hier vollständig dieses: Periit istud quod superaverat caput [Domitian]. Et surrexerunt alae illae, quae ad id transierant [Nerva], et ereetae sunt ut regnarent: et agitabantur un- gues earum [statt der Vulg. et erat regnum exile et tumultu plenum], et postea perierunt [das hofft der Verf.]. Die ungues aquilae sind die Heere, die ungues der Nerva-Flügel aber speciell das Prätorium, das ihn erhoben hatte. Der Verf. markirt also selbst den von Dio gemeldeten Beginn einer Empörung des Prätoriums gegen den verachteten „Alten.“ Der Aeth. hat nach allen seinen verkehrten Einfällen sicher den Sinn des historischen Räthsels nicht gefasst: er hat also den Satz nur stehen gelassen, und die Abschreiber der Vulg. werden ihn als gar zu seltsam mit dem vertauscht haben, was die Interpr. dafür gab: et erat regnum exile et tumultu plenum. — Es durfte hierauf Nichts gebaut werden, aber nun werden wir die Vulg. an derselben corrumpirten Stelle wohl noch näher berichtigen dürfen, als es Cod. Sang. schon gethan hat. Nur ist das „Periit“ zu Anfang sicher das Werk des Aeth. statt des fragelosen „et non com- paruerunt“ (caput et quatuor alae). — 339 — 4. Auffallen könnte nur, dass das zweite Haupt (Titus) vom letzten '„ferro“ getödtet wird, während wir nur als Volksgerücht ken- nen, Domitian habe dem tödtlichen Fieber des Bruders „veneno“ auf- geholfen. Wir dürften nun wohl dreist nach diesem jüdischen Zeit- genossen auch das als Volksmeinung annehmen, wenn nicht den Verf. alle das Blut, welehes dann Domitian vergossen hat, zuletzt selbst den nächsten Verwandten hinrichtend, auch unwillkürlich zu dieser Darstellung hätte bringen können, um nichts zu sagen von der Ver- wandtschaft von „Gift und Dolch.“ ' Aber hat der Verf. nicht mit seiner Angabe (XI, 6) „dem Adler war die ganze Welt unterworfen, und Niemand wiedersprach ihm, auch nicht eine Creatur“ den doch sehr lauten Widerspruch, die Re- bellion gerade seiner Iudäa gegen Nero’s Schergen dementirt? Das genaue ‚Festhalten des Textes lehrt das Gegentheil. Von „der Welt“ (omnia sub’ coelo, saeeulum, orbis terrarum)) unterscheidet der Jude dort wie überall die „terra et eos, qui ineolunt in ea“ als das [heilige] Land und dessen Volk #). Dies bildet für ihn echt jüdisch eine eigne Welt in jeder Beziehung **). Und die Empörung? Als solche erkennt er sie nicht an, vielmehr sind die Juden (XI, 46 fg.) die ganz Un- schuldigen , die nur Unterdrückten. Diese Katastrophe steht ihm aber wie im ganzen Buche, so auch in der Vision sogar vorzugsweis vor Auge. Darum kündigt diese medietas temporis Jedem sein Ende an (XI, 14), in ihr wurden auch „die Burgen der Unschuldigen“ gebrochen (v. XI, 47). ’ ‚Endlich. darf man es gar nicht als Ungenauigkeit bezeichnen, wenn der"sieh verhüllende Seher „trieesimo anno“ ruinae eivitatis sagte statt „vicesimo septimo“: denn sonst hätte ja Jeder sofort gesagt, also jetzt, unter Nerva. Er durfte aber um so eher ein Menschenal- ter rund angeben, als ja seine ganze Adler-Vision nach allem Frü- hern nur noch die Bedeutung hatte, nun auch aufs detaillirteste anzugeben; nicht einmal ein ganzes volles Menschenalter wird unsere Klage um des Tempels Ruinen dauern; so nahe bevorsteht die herr- liche _ Wiederherstellung, unser voller Triumph, der Messias ! "#) Vgl. XI, DR 40 fg. Auch Sibyll. IV, 193 f. (aus der Zeit des Titus) heisst es #0gu0g Aargevoeı gi obwol er v. 115. 135 jene Erhebung völlig im Sinne hat. “'##) Auch danach drängte sich ihm die Vorstellung einer Dualität in jedem Kaiser auf, dessen einer Adlerflügel über den Occident, der andere über den h. Orient seines Landes sich so unerträglich schwang. — 3% — Wenn aber der Jude nicht ein Wort. des-Dankes, der Aner- kennung hat für Nerva’s Milde gegen sein Volk, die Aufhebung der domitianischenVerfolgung (Dio 68, 1), für die sublata injuria fisei Judaiei (Eckhel Doetr. N. VI) durch ihn, wenn er auch gegen ihn die Anklage erhebt impietatis et dementiae (XII, 32), so zeichnet sich darin nur besonders das jüdische Sinnen jener Zeit, das auf nichts gerichtet ist als auf die Wiederherstellung seines Tempels und Staates, ja auf seine Herrschaft über die Welt, wogegen ihm solche Acte der „Toleranz* als Lumperei galten, nicht der Rede werth *). Im engsten Zusammenhang damit steht auch das Verhalten zum Christenthum. _Zwar hat der eifrige Jude, so gut wie der sibyllinische Vorgänger (Lib. IV, um 80 p. Ch.) und Nachfolger (Lib. V, 118 u. Z.), die judenehristliche Apokalypse wohl gelesen und unverkennbar be-. nutzt **), so selbständig er auch, ohnehin seiner Zeit gemäss, ‚dabei verfahren ist *#**),. Und dennoch hat er wie keiner der. unverfälscht jüdischen Sibyllinen der christlichen Periode ein Wort auch nur der Verspottung „derer, die den h. König Israels am Kreuze sahen,“ Dies seltsame Schweigen vom Christenthum, auch am Ende des er- sten bis zur Mitte des zweiten. Jahrhunderts, ist wohl nicht der ge- ringste Grund, warum man nicht schon länger die apokryphe Litera- tur Alt-Israels überhaupt ruhiger darauf angesehen hat, ob sie nicht. sogar grössentheils, wenn nicht ganz, diese Verhüllung gerade in der römischen Knechtschaftsperiode hat suchen müssen. Mit dem. Eintritt des Christenthums denkt man (dogmatisch ebenso richtig als historisch unbesonnen ) sofort auch das Judenthum um. jedem höhern Aufschwung gekommen, und mit wie viel Unrecht sehon durch Titus völlig gebrochen, während es gerade seitdem einen neuen Aufschwung %) Ganz das denkt und sagt im Stillen auch die: christliche Fortsetzung jüdischer Heiligkeit, die römische Hierarchie, zu allen Wobhlthaten von „Ketzern.“ *%*) Denn die schon Lücke aufgefallene Verwandtschaft beider Schriften reicht weit über die Gemeinsamkeit der Daniel-Grundlage. Vgl. die Siebenzahl der Visionen, das gehoffte Austrocknen des Euphrat (Esr. 14), um Ferne hinüber- „zuführen, die Abbildung des h. Volkes durch das gebärende [heil.] Weib, das Erdbeben bei der Weissagung, die dritte Posaune (Esr. 5, 4). j *#®) Das Denken an den gespenstig zurückkehrenden Nero ist ihm über die furchtbare Thatsächlichkeit wahrhaftigster Jehovah- und Messias-Gegner, wie in den Tempelzerstörenden Flaviern und besonders noch dem letzten blutigen Verfolger, völlig vergangen. Auch zählt er zeitgemäss (um 12 Kaiser zu haben, 6-+3-+-.3, nnd dann den Iäten als ohnehin überzähligen darzustellen), auch buchstäblicher den Julius Caesar mit, von dem Johannes absah. — 31 — nahm, die Hoffnung aufs höchste gespannt, die glühendste Thätigkeit entwickelt hat. Es galt nun erst ernstlich um die eine grosse Alter- native: ob Römerherrschaft oder endliche Weltherrschaft Israels, ob der Götzendienst oder der Gottesdienst, triumphiren solle, Und dabei hatte man am wenigsten einen Blick für und auf „diese Winkel-Sectirerei von Sclaven und Freigelassenen,,‘“ mochte man sa- gen, die ja ohnehin, sei es direct oder als „Proselyten“ nur zu den Juden zählten. Die in den Winkeln wie in der jüdischen Hülle (!) noch so verborgene Gemeinde hatte noch nicht in die Augen fallend die Bedeutung eines ganz Eignen_oder Dritten in der grossen Alternative des stolzen Juden-Sinnes erhalten. Wir werden wohl noch mehrfach darauf geführt werden, weit. bestimmter als man bisher zu denken gewohnt war, die höchst stillen und wirklich in den Krypten der Welt versteckten Anfänge des wahren Israels in's Auge zu fassen, des Gottesvolkes, welches damit wirklich weltherrschend geworden ist. In keinem Fall wird das Fehlen jeder Beziehung auf das Chri- stenthum auch in einem noch so umfangreichen Theile der National- literatur Alt-Israels fortan die richtige Erklärung ihrer Hülle verhin- dern können. Das Buch von Judith’s Sieg über Trajan, wie das von der Esra-Hoffnung nach Domitian lassen da wohl keinen rechten Zwei- fel mehr. V. Wie steht nun meines verehrlichen Gegners ohnehin so unklare Polemik (8, 213) gegen jene kurze Charakteristik des Esra-Buches in der „Religion Jesu“? Sie hat nur um so eher zu allseitiger Bestätigung derselben geführt, sonst nur sich getroffen *). *) Die fernere, sogar bis zu „Muthwillen“ sich versteigende Polemik gegen meine Zeichnung seiner Hypothesen auf dem synoptischen Gebiete (Anh. S. 300) verräth entweder, dass diese nur allzuerschreckend treffend gewesen ist, oder eine nach seinem frühern Dementi (im Liter. Centralblt.) doppelt auffallende Vergesslichkeit (Vgl. H. Evangelien 1854. S. 447. 148). Der neueste Gang aber, um jene Hypothese (neuester Metamorphose) nun auch gegen die von mir ge- gebene geschichtliche Erklärung der evangelischen Hüllen zu vertheidigen, (Theol. Jahrb. 1857. III) lässt sich wohl seiner höchst subjectiven Haltung we- gen bedauern, aber er ist um so willkommener, als nun um so einfacher die gewonnene grössere Klarheit über die ältesten Erv. auch antithetisch ihre Bewährung haben wird. Merken mögen sich aber die vielen guten Freunde von dünnerm oder dickerem Zwielicht, in Göttingen wie in Darmstadt, Berlin oder Basel, die so flügelschnell und schwirrend auf das in der geschichtlichen „Re- ligion Jesu“ erhobene Licht losfahren, um es möglichst auszulöschen mit den Begrüssungen „Phantasie“, „Tendenz“, „Roman“, — ein „grundloses Gewebe“ schreit so ein Steitz oder wie er heisst, in dem saftigen Blatte der Centralstellung, — 392 — Was aber die von Hilgenfeld versuchte Hypothese überhäupt be- trifft von einer apokalyptischen Entwicklung‘ des. Judenthums gerade bis auf Christus, so zieht sich ‘nach dem völligen Hinwegfall ihres'so betonten merkwürdigen Abschlusses, jenes Schlusssteines, der ohnehin noch das Anziehendste davon war, das Resultat ganz von selbst, ohne dass wir hier näher auf die angeblichen Mittelglieder, im Besondern das Enoch-Buch näher einzugehen: brauchten, dessen „12 letzte. Hir- ten“ ganz danach aussehen, die (Caesares) Augusti bis. Adrian ab- zubilden und auf das Helden „Horn“ der grossen Erhebung zu führen, welchem der Himmels-Weise (Enoch) Akiba die helfende Hand reieht, — um nicht zu fragen, ob nicht auch bei der I. Sibylle, der noch allein sicher vorchristlichen Daniel-Nachbildung, ein noch näheres Eingehen zu sehr andern Resultaten kommt. | In Betreff der Essaeer endlich scheint mir nur die neu .in Er- innerung gebrachte Etymologie ‘und das Allgemeine haltbar, dass die: sen Sonderheiligen Israels auch die prophetistische Seite nicht ganz gefehlt habe, während sämmtliche Apokalypsen mit ihrer höchsten Er- hebung gerade des Opferdienstes wie der nationalen Seite diesem pietistisch-egoistischen Sonderwesen ebenso entgegengesetzt sindals seine ganz äusserliche Richtung auf die Küche, die Tracht und noch kläglichere Observanzen dem innersten und ersten Wesen des Christen- thums entgegensteht. Eine Ergänzung ‚oder Berichtigung. der inder-Reli- gion Jesu (S. 53 fg.) gezeichneten vorehristlichen Entwieklung habe. ich weder hier noch in der nahe verwandten Arbeit Noack’s entdecken können. In die Tiefe dringen wird nur die wirklich freie Wissenschaft , nicht die vermittelnde, sondern die reine Kritik, frei in dem Einen Herrn! und sogar mit „Unsinn“ secundirt man in Basel zum Theil, — merken mögen sich doch alle diese sehr eifrigen Geister vorläufig das Eine. Hilgenfeld hat den für ihn einmal unerlässlich gewordenen» Vorwurf „chronologischer Confusion“ in einer wichtigen Sache auch so hastig „decken“ wollen, wie sie es für ihre blosgestellten Luftschlösser zu thun eilen. Er hat aber bei aller Sachkenntniss, der sie doch wohl selbst nicht das Wasser zu reichen einsehn , und allem Scharf- blick auch nicht ein Moment meiner geschichtlichen Darstellung vom Urchri- stenthum auffinden können, um daran mit einigem Schein den Vorwurf eignen innern Widerspruchs oder nur objectiver historischer Irrung schliessen zu können, ausser die eine Angabe über — Esra IV! Jenes Liter. Junkerthum, welches oben- drein sich nicht einmal im Stande zeigt, nur getreu zu berichten , geschw eige denn zu richten, mag’ so wenigstens anfangen, einigen Begriff mehr zu gewinnen von wissenschaftlichem Ernst und Grund. Die bei solchem ungescheuten Zufah-, ren verbrannten Hände aber sollen dann auch schon an’s Licht kommen. Druck von E. 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