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Monatsschrift

für

Psychiatrie und Neurologie.

Herausgegeben von

Th. Ziehen.

Band XXI. Mit zahlreichen Abbildungen im Text und 10 Tafeln.

BERLIN 1907.

VERLAG VON S. KARGER KARLSTRASSE 15.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalts -Verzeichnis.

Originalarbeiten.

Bechterew, W. von, Automatisches Schreiben und sonstige automatische Zwangsbewegungen als Symptome von Geistesstörung . . . 206

Ueber die klinischen and pathologisch-anatomischen

Besonderheiten der nervösen Form der Steifigkeit und der Ankylose der Wirbelsäule und ihre Behandlung . 527

Birnbaum, Karl, Ueber degenerativ Verschrobene. . . 8308 Bruns, Oskar, Neuralgien bei Melancholie. . . . . . 481 Chotzen, F., Transitorische Alkoholpsychosen. . . 285 Fischer, Oskar, Ein weiterer Beitrag zur Klinik und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. . . 1

Ueber die sogenannten rhythmischen, mit dem Puls synchronen Muskelzuckungen bei der progressiven

Paralyse . . 273 Friedmann, M,, Ueber die Abgrenzung und die Grund- lagen der Zwangsvorstellungen. à’ . . 214, 348 Gregor, Adalbert, Beiträge zur Kenntnis der Gedächtnis- störung bei der Korsakoffschen Psychose. . . . 19, 148 Hartmann, Fritz, Beiträge zur Apraxielohre. (Hierzu Tafel I-ID . . . . . 97, 248

Jacobsohn, L., Ueber Cysticercus cellulosae cerebri et musculorum, mit besonderer Berücksichtigung der den Parasiten einschliessenden Kapselwand. (Hierzu Tafel II—VII). .... ©.. > . 119 Kutner, R., Die transkortikale Tastlähmung 20... 191

Lachmund, H., Ueber einseitigen klonischen Krampf des

weichen Gaumens . . .-. 518 Mendel, Kurt, Der Unfall in der Astiologie der Nerven- krankheiten . . . . . 468, 550

Pappenheim, M., Ueber paroxysmale Fieberzustände bei rogressiver Paralyse mit Vermehrung der polynukleären Leukozyten i im Blut und in der Cerebrospinalflüssigkeit, nebst Bemerkungen über Blut und Liquor bei Exazer- bationen des paralytischen Prozesses . . . . . . 586

5654

IV _

Pelz, Artur, Ueber periodische transitorische Bewusstseins- störungen nach Tr rauma. (Dipsomanie etc. nach Trauma)

Pilcz, Alexander, Zur prognostischen Bedeutung des Argyll- Robertsonschen Phänomens .

Saiz,Giovanni, Einige plethyamographisch Unters uchun gen bei affektiven Psychosen .

Schuckmann, Walter von, Ver leichende Untersuchung einiger Peychosen mittelst der Bildehenbenennungs- methode

Takasu, K., Beiträge : zur athologischen Anatomie der Tdiotie. (Hierzu Tafel IX—X)

Veraguth, Otto, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen

Völsch, Max, Ueber Osteomalacie und die sogenannte osteomalacische Lähmung

Weber, L. W., Zur prognostischen Bedeutung des Argyll- Robertsonschen Phänomens .

Weinberg, Richard, Ueber sogenannte „Doppelbildungen“

am Gehirn, mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stirnwindung . rn à’

Berichte.

78. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Stuttgart, 16.-—22. September 1906. Von Dr. Lilien- stein in Bad Nauheim (Schluss) .

Wanderversammlung des Vereins für Psychiatrie und Neuro- logie in Wien, 5.—7. Oktober 1906. Von Priv.-Doz. Dr. A. Pilcz in Wien

XXXVII. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte“ in Tübingen, 8. und 4. November 1906. Von Dr. M. Isserlin in Heidelberg .

XXIV. Kongress für innere Medizin in _ Wiesbaden, 15. bis 18. April 1907. Von Dr. Lilienstein in Bad Nauheim

Buchanzeigen . . . . . 2000. . 182, 280, 478,

Notizen, Personalien und Tagesnachrichten 96, 190, 284, 478, 479, 480,

53 46

492

820

425 887

488 271

136

76

167

177

672

677

678

Aus der psychiatrischen Universitätsklinik (Prof. A. Pick) in Prag.

Ein weiterer Beitrag zur Klinik und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. Von Dr. OSKAR FISCHER,

I. Assistenten.

Auf Grund eines genauen klinischen Studiums eines sehr günstigen Falles von hysterischer paroxysmaler Makropsie!), bei der eine koordiniert auftretende Mikrographie ein sehr genauer Gradmesser für die Stärke der Sehstörung war, konnte ich einige Aufschlüsse über die bisher noch sehr unklaren Ursachen der Makropsie und Mikropsie, kurz als Dysmegalopsie zusammengefasst, gewinnen. Da die in der erwähnten Publikation mitgeteilten Untersuchungsergebnisse eine Basis für die jetzt weiter zu be- richtenden weiteren Untersuchungsresultate darstellen, ist es an- gezeigt, in kurzen Worten dieselben zu wiederholen.

Bei einer 22jährigen Patientin, die seit einigen Jahren an hysterischen Krämpfen leidet, traten Dämmerzustände auf, die mit Makropsie vergesellschaftet waren; sie sah zu dieser Zeit alles grösser, verkannte deswegen die Umgebung und geriet da- durch immer in einen Zustand ängstlicher Desorientiertheit. Dabei zeigte Patientin die von Herrn Prof. A. Pick beschriebene Mikro- graphie, die desto ausgesprochener wurde, je stärker die Makropsie war. Wenn man in diesen Zuständen der Patientin eine künst- liche Dysmegalopsie verursachte, so addierte sich dieselbe zu der schon vorhandenen Makropsie. Durch Vorsetzen von Konvex- gläsern und Einwirkung von Eserin wurden die Makropsie und Mikrographie verstärkt, durch Konkavgläser und Homatropin wurden dieselben vermindert. Wenn man weiter durch Atropin die Akkom- modation ausgeschaltet hatte, so verschwand bei entsprechender Linsenkorrektion die Makropsie vollkommen, wogegen sie ım Beginn und beim Abklingen der Atropinwirkung, die dann eine Parese des Akkommodationsapparates bedingte, nur vermindert wurde. Da nun durch totale Akkommodationslähmung keinerlei Dysmegalopsie ent- steht und durch dieselbe die Makropsie verschwindet, da weiter

1) Ueber Makropsie und deren Beziehungen zur —— sowie über eine eigentümliche Störung der Lichtempfindung: 'Monatssehr. f. Psych. a. Neurol. Bd. XIX.. H.3, en DE En BE SEE a F

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft ı. 1

2 . Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik

derAkkommodationsapparatbeider Patientin während der Makropsie sich vollkommen normal verhielt, so musste man daraus schliessen, dass die Ursache der Makropsie in zentralen Vorgängen nach Veraguth in einer gestörten Dynamästhesie des Akkommodations- vorganges zu suchen ist; aus’ naheliegenden Gründen wurden die- selben Bedingungen auch für die Mikropsie und dadurch für die Dysmegalopsie im allgemeinen erschlossen.

Im Folgenden sollen nun weitere Beobachtungen mitgeteilt werden, welche die vorhin gemachten Erläuterungen stützen und noch wesentlich ergänzen werden.

In erster Linie sind es Untersuchungen, die bei späteren Dämmerzuständen an derselben Patientin unternommen wurden,

Die zitierte Publikation bezieht sich auf Beobachtungen, die mit April 1905 abschliessen. Seit der Zeit wiederholten sich die Anfälle in gleicher Weise: immer zur Zeit der Menses Dämmer- zustände mit makropischer Desorientiertheit, dazwischen einige hysterische Krampfanfälle. Dabei verhielt sich die Makropsie immer in gleicher Weise, wie schon damals beschrieben wurde. Auch hier ging die Desorientiertheit immer mit der Makropsie einher, welche auch immer mit der l. c. beschriebenen Störung der Lichtempfindung vergesellschaftet war, indem Patientin dabei alles dunkler sah. Später zeigte sich besonders im Abklingen der genannten Dämmerzustände ein ganz eigen- und neuartiges Phänomen, indem sie bald die Umgebung verkannte, bald richtig erkannte, und wobei auch zugleich mit dem Schwanken der deliranten Verkennung und der richtigen Erkennung der Umgebung auch der Gesichtsausdruck sich änderte. In der Phase der deliranten Desorientierung war der Gesichtsausdruck ängstlich dämmerhaft, um sofort wieder mit dem richtigen Erkennen der Umgebung in den, sonst in klaren Zeiten gewohnten, klaren Gesichtsausdruck zu überspringen.

Ein deutliches Beispiel eines solchen Zustandes gibt eine Probe aus dem Examen:

‚Sie wird in das Zimmer geführt, ihr Gesichtsausdruck ärgerlich und leicht ängstlich; vom Chef der Klinık gefragt, wer er sei, antwortete sie ärgerlich: „Was weiss ich, ich kenne nicht einen jeden Menschen!“

Auf die Frage: „Bin ich nicht der Prof. Pick?“ sagt sie lächelnd: „Nicht im geringsten, der ist nicht so gross, nicht so grob und so zudringlich!“ Wird sofort darauf gefragt: Wodurch unterscheide ich mich vom Prof. Pick? Dabei klärt sich ihr bis daher dämmerhaft ängstlicher Gesichtsausdruck auf, sie wird freundlich und sagt prompt: „No gar nicht, Sie sind es ja selbst!“

Sofort aber wird der Gesichtsausdruck wieder dämmerhaft ängstlich, und sie verkennt die Umgebung in der früheren Art. In ähnlicher Weise schwankt das Bewusstsein in einem fort. und sie weiss in der einen Phase nicht, was sie in der anderen erlebt hatte; die Dauer der einzel: en Phase ist ganz kurz, zeitweise nicht mehr als 20 Sekunden betragend, wobei Patientin auch halluziniert, aber nur zur Zeit der dämmerhaften Phase; sie hört z. B. Stimmen von Bekannten oder sieht in einem solchen Moment jemanden vor dem Fenster, oder einen Luftballon aufsieigen, um dann im nächsten klaren Moment nichts mehr davon zu wissen und in der darauffolgenden dämmer- haften Phase wieder darauf zu reagieren. Sie wird zu dieser Zeit zum Schreiben aufgefordert, und, wie zu erwarten war, zeigte die Schrift dasselbe Öszillieren, wie das Bewusstsein. Dies zeigt ein Beispiel: Sie soll an die

und Pathoganese der hysterischen Dysmegalopsie. 8

Mutter einen Brief schreiben. Sie fängt in einer normalen Phase an, schreibt „Liebe“ in gewohnter normaler Grösse; jetzt wird wieder der Gesichtsausdruck dämmerhaft und „Mutter“ wird ganz klein geschrieben (Fig. 1); sie soll an den Examinator schreiben; schreibt im normalen Moment „Lieber“, dabei wird die letzte Silbe immer kleiner, dann schreibt, sie „Herr“ ganz klein (Fig. 2) und hört auf, weil sie siehtlich nicht weiss, wie den Examinator zu titulieren, da sie ihn nicht zu kennen scheint; besonders instruktiv ist Fig. 8, eine Schriftprobe, die sich bei einem anderen ähnlichen Examen abapielte: Sie wird vom Examinierenden (Herrn Prof. Pick) gefragt, ob sie ihn kenne, und soll die Antwort schreiben. Mit dämmerhafter Miene schreibt sie leicht mikrographisch: „Ich weiss nicht“. Nach wiederholter Frage klärt sich der Gesichtsausdruck, sie schreibt die Antwort in normaler Grösse, wundert sich über die Schrift von vorher, will es nicht geschrieben haben, um im Nu wieder dämmerbaft und desorientiert zu werden. Interessanter Weise war sie in den einzelnen Phasen, wie schon oben erwähnt, für das in der anderen Phase Geschehene mehr oder weniger vollständig amnestisch.

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Schrift während des oszillierenden Bewusstseins.

Nun hatten wir auch früher Zustände von Makropsie beobachtet, in denen die Patientin aber nicht dämmerhaft gewesen war, sondern nur die Umgebung gross und verändert sah; solche Zustände von Makropsie ohne Desorientiertheit zeigten auch später einigemal ein Oszillieren, das durch einige Aeusserungen der Patientin besonders lehrreich war. So wird ihr io einem solchen Zustande ein Geldstück (Krone) vorgezeigt: Sie ist sehr ver- wundert darüber und sagt, das müsse aus Kautschuk sein, bald sei es eine Krone, bald ein Gulden, das wechsle in einem fort, und zwar ganz schnell; sie tastet auch das Geldstück ab und probiert daran herum, ob es nicht wirklich aus Kautschuk sei. Auch die Umgebung sei bald gross, bald klein, sie ist darüber bald erstaunt, bald ärgerlich ängstlich, glaubt, da müsse ein Vexierspiegel dahinterstecken. Weiter gab sie an, dass nicht nur die Grösse der Dinge wechsle, sondern dass sie jedesmal auch eine andere Farbe zeigten; wenn sie gross werden werden sie auch immer dunkler und dann wieder heller, welche Aufhellung ganz plötzlich geschehe, so dass es aussehe, als ob ein Blitz alles plötzlich beleuchte.

Dieses ÖOszillieren wiederholte sich später beinahe bei jedem der makropischen Zustände, die während jeder Menstruation durch einige Tage anhielten und sich durch einige Monate wiederholten, als eines Tages sich ein Dämmerzustand, sozusagen aussertourlich in einer Menstruationszwischen- pause einstellte, der nicht mit Makropsie, sondern mit Mikropsie vergesell- schaftet war. Dies geschah so: Sechs Tage nach einer menstrualen Makropsie ersucht sie um die Extraktion eines kariösen Zahnes, bittet aber um eine schmerzlose Operation; sie lässt sich ruhig eine Kokaininjektion geben, wird dabei plötzlich ängstlich, der Gesichtsausdruck dämmerhaft, sie blickt staunend bald den Arzt an, bald wieder die Zange, wehrt energisch ab, bekommt darauf einen hysterischen Krampfanfall der gewöhnlichen Art und verfällt nachher in Schlaf. Nach einer Stunde wacht sie auf, ist auf den Arzt sehr schlecht

4 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik

zu sprechen, ärgert sich, er hätte ihr versprochen, einen Zahn zu ziehen, und inzwischen hätte er einen kleinen därren Kerl mit einer ganz winzig kleinen Zange geschickt, der doch nicht einmal die Kraft haben könne, einen Zahn zu ziehen; dabei ist sie wieder vollkommen klar und orientiert. Die Mikropsie blieb in vollster Erinnerung, und Patientin liess sich von dem Glaanben an die Realität dieser Wahrnehmung nur schwer und ungläubig abbringen.

Es war zu erwarten, dass dieser ausserhalb der Menstruation durch den mit der Erwartung des Zahnziehens verbundenen Angstaffekt hervor- gerufone mikropische Zustand sich in einem der nächsten menstruellen

ämmerzustände vielleicht wiederholen werde. Die nächste Menstruation war wieder mit einer Makropsie wie sonst verbunden; aber seither erscheint in jedem Dämmerzustand ganz regelmässig die Mikropsie. Das Verhalten der Patientin ist mutatis mutandis ganz äbnlich dem Verhalten während der makropischen Zustände. Auch da ist sie desorientiert, aber kaum mehr ängstlich, sondern mehr ärgerlich; sie befindet sich in einer komisch ver- wandelten Umgebang, „es müssen lauter Gnomen da sein“. So wie es in den Zuständen von Makropsie Pausen gab, in denen sie vollkommen orientiert und klar war trotz vorhandener Sehetörang, so war dies auch hier der Fall; sie ist zeitweise vollkommen orientiert, sieht aber alles kleiner, wundert sich darüber, dass alles so klein ist; auch sie selbst kommt sich im Spiegel be- sehen äusserst klein vor, ihre Hände, alles was sie sieht, ist auffallend klein; sie kann es sich nicht erklären auf welche Weise dies geschieht, aber es müsse dabei ein Vixierspiegel eine Rolle spielen. Ein Fünfkronenstäück hält sie für einen (kleineren) Gulden, diesen für eine (kleinere) Krone, diese ist für sie eine unbekannte Münze; dabei erkennt sie durch das Tastgefühl bei geschlossene Augen die Münzen ganz richtig und wundert sich darüber, wie

lein das alles wird, wenn sie die Augen aufmachı. Längenmasse werden ebenfalls falsch geschätzt, und zwar sowohl in transversaler als auch in sagittaler Richtung; 10 cm für 6 cm, 50 cm für 30, 1 m für 70 cm; dabei wird nie jene Störung in der Helligkeitsempfindung wie bei den makropischen Zuständen gefunden.

Aehnlich wie während der Makropsie war auch die Schrift in den mikropischen Dämmerzuständen in ihrer Grösse verändert; je grösser die Mikropsie war, desto grösser und gröber wurden die Schriftzeichen, eine Störung, die als optische Makrographie zu bezeichnen wäre (Fig. 4a). Dagegen hatte die Schrift bei geschlossenen Augen annähernd die normale Grösse (Fig. 4b).

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Schrift während der Mikropsie; a) bei offenen Augen, b) bei Angenschluss.

Es lag nahe, diesen mikropischen Zustand einer ähnlichen Unter- suchung zu unterwerfen, wie dies seiner Zeit bei der Makropsie geschehen, um zu erfahren, ob die Mikropsie denselben oder ähnlichen Gesetzen folgt wie die Makropsie. Zu diesem Zwecke wurde genau so vorgegangen, wie seinerzeit bei der Makropsie; es wurde künstlich eine Dyamegalopsie erzeugt und ihre Einwirkung aut die Grössenwahrnehmung studiert; anch hier hatte man in der Grösse der Schrift einen sehr genauen Indikator für den Grad der Mikropsie. Vorsetzen von Gläsern änderte den Grad der Mikropsie in der Art, dass die durch dieselbe verursachte Dysmegalopsie sich zu der

und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsic. B

ersteren einfaeh hinzu addierte. Durch Konvexgläser, die eine Makropsie verursachen, würde dieselbe vermindert, durch Konkarvgläser verstärkt.

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C Fig. 5. Beeinflussung der Makrographie durch Konvexgläser. a) ohne Brille; b) mit + 2 D; c) mit 4+- 5 D.

Auch die Schrift wurde entsprechend geändert, indem Vorsetzen von Konvexgläsern je nach ihrer Stärke die Makrographie minderte (Fig. 5). Mit einem Konkavglas konnte Patientin überhaupt nicht schreiben; sie machte immer wieder Ansätze zu sehr groben Schriftzeichen, also zu einer noch stärkeren Makrographie, wurde aber immer ärgerlich, dass es nicht richtig ge- lingen wolle: „sie wisse nicht, was das sei, aber sie bringe die Schriftzeichen nicht zustande, entweder sei die Feder zu fein, oder sie hätte auf einmal das Schreiben verlernt, sie könne nicht richtig schreiben.“ Die Ursache dieser Verwunderung liegt auf der Hand. Mit der Verstärkung der Mikropsie muss

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Fig. 6. Beeinflussung der Makrographie durch Eserin b und Homatropin c; a) Makrographie des unbeeinflussten Auges.

6 Fischor, Ein weiterer Beitrag sur Klinik

Patientin, um die ihr richtig scheinende Grösse der Sehrift herrerzubringen, wesentlich grösser schreiben, und zwar so gross, dass dasu nicht mehr die bei der gewöhnlichen Schrift gewohnten Bewegungen der Finger, sondern solche der ganzen Hand und eventuell auch des Vorderarmes nölig waren; dieses Ungewohnte war es eben, welches sie stutzig und ärgerlich machte. Weiter wurde Eserin, Homatropin und Atropin verwendet, und zwar wieder derart, dass immer nur ein Auge behandelt wurde, bei welcher An- ordnung man die Grössenwahraehmung der beiden Augen untereinander ver- leichen konnte, besonders mit Hilfe der Schrift. Eserin, das als Miotikum Makropsie verursacht, verkleinert die Schrift (Fig. 6b). Parese des Akkommo- dationsmuskels, bewirkt durch Homatropin oder Atropin im Beginn und Aus- klingen der Wirkung, verstärkten die Mikropsie, so dass Patientin wie bei den Versuchen mit Konkavgläsern behauptete, nicht schreiben zu können; erst auf mehrfaches Zureden schrieb sie Fig. 6c. Dagegen wurde bei voll- kommener Lähmung des Akkommodationsapparates die Sehstörung voll- kommen behoben. Patientin sah mit dem atropinisierten Auge bei ent- sprechender Linsenkorrektur normal gross und schrieb auch die für sie normal rosse Schrift (Fig. 7). Besonders instruktiv ist Fig. 8, welche einen Brief fer Patientin darstellt, der abwechselnd mit dem linken und mit dem rechten (atropinisierten) Auge bei gleichzeitigem Verdecken der vorherigen Worte geschrieben wurde; die Makrographie entspricht da dem unbeeinflussten, die normale Schrift dem atropinisierten Auge. Diese günstige Wirkung des Atropins wurde bei der Patientin auch therapeutisch verwendet. Es gelang bei ihr zwar während der dysmegalopischen und mit desorientierter Aengst- lichkeit verbundenen Zustände ihre Desorientierung zumeist durch anregende

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Fig. 1. Beeinflussung der Makrograpbie durch Atropin. a) Makrographie des unbeeinflussten; b) Schrift des mit Atropin behandelten Auges nach vollständiger Akkommodationsläbmung unter entsprechender Linsen-Korrektur.

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Fig. 8.

und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. 7

Unterhaltung und Vorweisen von logischen Gründen zu beheben, sowie mau sie aber sich selbst überliess, kehrte gewöhnlich die Desorientierung unter dem Drucke der Dysmegalopsie wieder. Deswegen wurde ihr ein Auge atropinisiert und mit eiser Konvexbrille versehen, das andere verbunden, und dadurch blieb zumeist die Desorientierung aus.

Seitdem die Mikropsie aufgetreten war, wiederholte sie sich immer zur Zeit der Anfälle, und zwar derart, dass entweder nur Mikropsie bestand oder aber dass dieselbe in längeren, ganz unregelmässigen Perioden, die meist durch eine Zeit des Schlafes abgetrennt wurden, mit der Makropsie abwechselte. Weiter kam es, genan wie bei der Makropsie, auch zu einer zeitweisen raschen ÖOszillation zwischen Mikropsie und normaler Grössen- wahrnehmung; schliesslich konnte man den Andeutungen der Patientin ent- nehmen, dass sie manchmal auch ein schnelles Oseillieren zwischen Makro- and Mikropsie gehabt hätte, indem dieselben ganz schnell ohne Dazwischen- treten eines Stadiums normaler Grössenwahrnehmung abwechselten; klinisch konnte ein solcher Zustand nicht beobachtet werden, respek!ive man wusste picht, wann sie in diesem Zustande sich befand; es ist am wahrscheinlichsten, dass dies in jene Zeiten fällt, in denen die Kranke von hochgradiger Aengst- lichkeit befallen, vollkommen unzugänglich war, welcher Zustand sich zeit- weise zu einem kurzdauernden Stupor steigerte.!)

Es stimmt also das bei der Untersuchung der Mikropsie gewonnene Resultat vollkommen mit den Untersuchungsergebnissen bei der Makropsie überein und bestätigt den einheitlichen Sitz und Pathogenese beider Arten von Dysmegalopsie. Wir haben für die Makropsie nach Veraguth eine Störung der Dynam- ästhesie angenommen. Versuchen wir, diese Annahme näher zu begründen.

Es bestand bei der Patientin eine Dysmegalopsie bei sonst ganz intaktem peripheren Akkommodationsapparat; jedes Mittel, welches den letzteren im Sinne einer Mehr- oder Minderleistung beeinflusste, also auch schon unter normalen Umständen eine Dysmegalopsie hervorruft, hatte auch hier durch einfache Summation den schon vorhandenen Grad geändert, entweder im Sinne eines Plus oder eines Minus. Wenn man nun durch Atropin den peripheren Akkommodationsapparat gelähmt hatte, so verschwand, trotzdem es sonst durch Akkommodationslähmung nie zu Dysme- galopsie kommt, die früher bestandene Dysmegalopsie vollkommen.

Da der periphere Akkommodationsapparat intakt war, konnte in diesem die Störung nicht liegen, da weiter die Ausschaltung der Tätigkeit des Akkommodationsapparates die Dysmegalopsie zum Schwinden brachte, so muss die Dysmegnlopsie in irgend einer Komponente des ganzen Akkommodationsvorganges liegen. Der- selbe besteht darin, dass von einem zentralen Projektionszentrum durch Vermittlung des Oculomotorius dem Akkommodationsmuskel ein Reiz übermittelt wird. Eine Störung im Oculomotoriuskern kann der Dysmegalopsie nicht zu Grunde liegen, aus denselben Gründen, aus welchen auch eine Störung des Oculomotorius und des Akkommodationsmuskels ausgeschlossen ist, weil die Akkommo-

1) Nachtrag bei der Korrektur: Inzwischen ist Patientin an einer akuten käsigen Pneumonie verstorben, ohne dass sie klinisch etwas von dem ge- schilderten Abweichendes dargeboten hätte. Das Gehirn zeigte normale Verhältnisse.

8 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik

dation während der Dysmegalopsie keinerlei objektiv nachweisbare Störungen aufwies. Wir haben weiter Gründe, auch ein Rinden- zentrum für die auf den Oculomotorius entfallenden motorischen Funktionen anzunehmen und zwar sowohl für die Augenbewegungen, als auch, wie in neuerer Zeit bewiesen wurde, für die Pupillen- bewegung und wahrscheinlich auch für die Akkommodation!). Es fragt sich also, ob irgend eine Störung dieses Zentrums die Dysme- galopsie in unserem Falle hervorgerufen haben konnte. Dies kann aber ebenfalls nicht zutreffen, und zwar aus denselben Gründen, welche eine Erkrankung des Oculomotorius ausschliessen. Man muss die Störung also anderswo suchen. Veraguth?) ver- legt dieselbe in eine sensible Komponente des Akkommodations- apparates, die mit Zentrum, sensibler Bahn und Endapparaten ausgestattet, dem Muskelgefühl, von Veraguth Dynamästhesie enannt, dienten. Wenn ich die Erklärung Veraguths in ein

chema zu fassen versuche, so vollzieht sich nach ihm der Akkommodationsvorgang derart, dass vom motorischen Anteil M des Zentrums CA (Fig. 9) ein Impuls dem Akkomodationsmuskel auf der Bahn m entsendet wird. Bei der Kontraktion desselben wird ein sensibler Reiz auf der Bahn s dem sensiblen Anteil S des Centrums CA mitgeteilt, nach dessen Grösse wir die Leistung des Akkommodationsapparates bemessen. Bei der Hysterie haben . wir allen Grund, den Sitz der Störung der sensiblen Bahn nur in ein Zentrum, und zwar in CA.S zu verlegen. Dieses kann nur im Sinne einer Hyperästhesie oder Hypästhesie erkranken. Wenn eine Hypästhesie desselben besteht, bekommen wir bei sonst gleicher Akkommodationstätigkeit die Empfindung, wie wenn sonst wenig akkommodiert wird; ein Minus im Akkommodationsversuch verursacht eine Makropsie; deswegen kommt es durch die Dynamo- hypästhesie zu einer Makropsie und durch Dynamohyperästhesie zu Mikropsie.

Fig. 9. Sohema der bei der Grössenwahrnehmnng in Betracht kommenden Zentren und Bahnen.

1) v. Bechterew, Arch. f. Anat. u. Physiol, 1900; Parsons, Brit. med. Eri 1900. | 3) 1. co.

und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. 9

.Ohne weiter auf die vom physiologischen Standpunkte so interessante Frage über die Muskelempfindungen einzugehen, will ich mich hier nur auf die für unseren Fall notwendigen Ueber- legungen beschränken. Wenn wir eine solche sensible Bahn an- nehmen, müssen wir uns in erster Linie irgendwelche Vorstellungen darüber machen, in welcher Weise die von derselben geleiteten Reize entstehen könnten. Diese können nur beim Akkommodations- akte, und zwar durch die Verschiebung des Akkommodationsmuskels, zustande kommen. Darin ist aber schon ein Widerspruch ent- halten; denn wenn wir ein Auge homatropinisieren, so muss in diesem zum scharfen Sehen dieselbeExkursion des Akkommodations- muskels hervorgebracht werden, wie im normalen Auge, und dennoch sieht das erstere Auge mikropisch. Die Exkursion blieb dieselbe, folglich konnte der angenommene sensible Reiz auch nur derselbe geblieben sein. Dagegen ist es klar, dass zur gleichen Exkursion im homatropinisierten Auge ein viel stärkerer zentraler motorischer Impuls notwendig ist.

Diese Wahrnehmung der Stärke des zentralen Impulses . genügt vollkommen zur Erklärung der Dysmegalopsie; sie stellt ja ebenfalls eine „Dynamästhesie“ dar, nur ist deren Zustande- kommen ohne jegliche, wie ich glaube, auch unnötige periphere Bahn gedacht. Diese Erklärung nähert sich auch sehr der Er- klärung von Binswanger!) und Koster?), die die Ursache der Dysmegalopsie in einer motorischen Störung suchen. Wir brauchen also im Schema Fig. 9 die sensible Bahn s ausfallen zu lassen und die der Empfindung der Innervationsstärke des motorischen Anteiles M des Zentrums CA dienenden Elemente mit S zu be- zeichnen, so ist das Schema auch für unsere Erklärung geeignet.

Das Zentrum CA ist unpaarig; da müsste es scheinen, dass nach Homatropinisieren eines Auges eine einseitige Dysmegalopsie nicht möglich wäre. Das trifft aber nicht zu, und zwar aus folgendem Grunde: Betrachten wir den Fall, als die Patientin durch einseitiges Homatropinisieren nur einseitig dysmegalopisch wird; wie immer wird auch jetzt den beiden Augen nur ein beiderseits gleich starker Impuls zugesandt; da nun die ver- schiedene Grössenwahrnehmung aus selbstverständlichen Gründen dann nur bei jeweilig verdecktem einen Auge zustande kommt, so richtet sich der akkommodative Innervationsimpuls und dadurch auch die Grössenwahrnehmung nach den Verhältnissen des jeweilig sehenden Auges. Aus diesem Grunde kann trotz unpaarigem Zentrum dennoch eine einseitige Dysmegalopsie entstehen.

Bei der geschilderten Patientin kommt noch ein Umstand zur Beachtung, der weitere Aufschlüsse über das Wesen der Dysmegalopsie zu geben imstande ist. Es ist schon wiederholt erwähnt worden, dass Patientin während der Dämmerzustände auch Gesichtshalluzinationen hatte. Es musste sich deswegen die

') Epilepsie in Nothnagels Handbuch. 3) Graefes Arch. f. Ophthalm., 1896.

10 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik

Frage aufwerfen, ob diese Halluzinationen auch der Dysmegalopsie unterworfen waren. In dieser Richtung angestellte Nach- forschungen ergaben, dass Patientin zur Zeit der Dysmegalopsie die halluzinierten Personen immer normal gross wahrnahm, gleich- gültig, ob es sich um einen makropischen oder mikropischen Zustand gehandelt hatte.

Dieses Phänomen bedarf einer Erklärung, besonders aus dem Grunde, weil wir versuchen müssen, dasselbe in einen orga- nischen Zusammenhang mit den vordem beschriebenen Störungen zu bringen. Wie schon in der ersten Mitteilung bewiesen wurde!), kommen für die hier beschriebene Dysmegalopsie von den sonst zur Grössenwahrnehmung beitragenden Komponenten nur zwei in Betracht: Ä

1. die Grösse des Netzhautbildchens,

2. der Akkommodationsvorgang.

Versuchen wir, uns das in unser anatomisch-physiologisches Schema, Fig. 9, zu übersetzen. In CA haben wir das kortikale Akkommodationszentrum, in CO das für die Registrierung der optischen Eindrücke bestimmte kortikale Sehzentram. Das Zu- sammenarbeiten dieser 2 Zentren führt zur Grössenschätzung; diese Zentren sind nun die ersten nervösen Endstationen der in Betracht kommenden Bahnen. Für die psychische Verwertung der dorthin gelangten Eindrücke, also für ein richtiges Erkennen derselben, müssen dieselben in die höheren Gehirngebiete geleitet werden, in die supponierten Zentren psychischer Funktionen, nach Flechsig in die Assoziationszentren oder nach Wernicke in die transkortikalen Gebiete. Dieselben bezeichnet in unserem Schema der Kreis TO. Versuchen wir, an der Hand dieses Schemas die Halluzinationen zu erklären. Man nimmt jetzt wohl allgemein als Ursachen der Halluzinationen abnorme, mehr oder weniger endogene Reizzustände derjenigen Zentren an, in welchen sich die physiologischen Korrelate der Vorstellungsprozesse abspielen, also nach unserem Schema im transkortikalen Zentrum TO. Dabei ist zu erwähnen, dass von einzelnen Autoren als zur Wahr- nehmungsintensität unbedingt notwendig eine retrograde Erregung der Projektionszentren angenommen wird. In unserem Falle ist nur das Zentrum CA erkrankt; der periphere Sinnesreiz erreicht erst nach Passage dieses gestörten Zentrums den Tuimmelplatz der psychophysischen Korrelate der Vorstellungen TO. Es kommt also zur Dysmegalopsie.e Wenn hingegen in TO selbst endogen ein zur Halluzination führender Reiz entsteht, so kommt es zu Halluzinationen von normaler Grösse nur dann, wenn das kranke Zentrum CA nicht mit erregt wird; da es nun in unserem Falle zu Halluzinationen von normaler Grösse trotz Erkrankung des Zentrums CA kam, erscheint die Annahme einer zentrifugalen Erregung der Projektionszentren beim Halluzinieren widerlegt.

In den makropischen Zuständen hatte die Patientin auch

1) 1. c., Seite 294.

und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. 11

noch, wie schon eingangs erwähnt wurde, eine Störung der Licht- empfindung, indem sie alles gegenüber den normalen Zeiten auf- fallend dunkler sah. Wenn sie zu dieser Zeit halluzinierte, so waren die Halluzinationen nicht nur normal gross, sondern auch von normaler Farbe. Dadurch ist erwiesen, dass diese Störung der Lichtempfindung analog mit der Dysmegalopsie in kortikalen Veränderungen ihre Ursache hat.

Diese Ueberlegung brachte aber weiter auch die Erklärung für ein bis jetzt nar ein einzigesmal bei der Kranken beobachtetes Phänomen. In einem (nicht dem letzten) mit Mikropsie ver- . bundenen Dämmerzustande wurde bei der Patientin ein Ange mit Atropin versetzt, nachdem die anderen, an und für sich eine Dysmegalopsie verursachenden Mittel die schon vorhandene Dys- megalopsie in der zuvor beschriebenen gesetzmässigen Weise be- einflusst hatten. Nach eingetretener vollkommener Akkommodations- lähmung blieb jedoch die Dysmegalopsie in ganz unbeeinflusster Weise bestehen. Da die verschiedenen Zustände von Dysmegalopsie schon so wiederholentlich in ganz gesetzmässiger und immer gleichartiger Weise sich beeinflussen liessen, und da auch bei dieser letzt geschilderten Beobachtung alle Fehlerquellen suszu- schliessen waren, musste man nach einer plausiblen Erklärung suchen und die gibt sofort einen Blick auf das Schema. Wenn trotz der Ausschaltung des Akkommodationsvorganges dieMakropsie bestehen blieb, so muss dieselbe ihre Erklärung nicht in emer Störung von CA haben, sondern von TO sie muss das kortikale Projektionszentrum verlassen und aufs transkortikale übergegangen d. h. sie muss psychisch geworden sein. Dieser Schluss erheischt eine Abschweifung in die Frage der Pathogenese der hysterischen Symptome. Trotzdem man seit Charcot bemüht ist, die Hysterie als eine psychische Erkrankung darzustellen und deren Symptome, soweit es geht, als psychisch bedingt zu erklären, musste man dennoch zugeben (Charcot, Janet, Binswanger u. A.), dass es eine Reihe hysterischer Krankheitsphänomene gibt, für welche sich eine rein psychische Entstehung nıcht erweisen lässt, dieselben vielmehr als durch eine kortikale Störung (d.h. eines Projektions- zentrums) verursacht sein müssen. Eine ganze Reihe klinischer Erfahrungen spricht aber weiter dafür, dass es zu einem Wechsel in diesen Symptomen kommt, in dem einmal nicht psychische hysterische Symptome in ähnliche, psychisch bedingte übergehen können.

Alles dies bestätigt nun unsere Beobachtung und die darauf basierten Schlussfolgerungen.

Die Folgerung, dass Patientin in dem einen Dämmerzustand eine durch Erkrankung des transkortikalen Zentrums bedingte also transkortikale Dysmegalopsie hatte, lässt noch die weitere Konklusion machen, dass die Patientin in einem solchen Zustande ebeufalls dysmegalopische Halluzinationen haben musste. Bis jetzt ist, wie gesagt, nur ein solcher Zustand beobachtet worden, und in diesem halluzinierte Patientin, vielleicht nur zufälliger-

12 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik

weise nicht, es wartet also diese Annahme noch auf die klinische Bestätigung.

Diese Verhältnisse wurden hier deswegen so genau erörtert, weil sie uns erst das volle Verständnis für einen, in der aller- letzten Zeit in die Klinik aufgenommenen Patienten brachten, der eine eigenartige, bisher kaum bekannte, aber dennoch für eine ganze Reihe von psychopathischen Zuständen vielleicht nicht unwichtige Sehstörung zeigte.

Es handelt sich um einen 38jährigen Flösser, der am 17. VI. 1906 in die Klinik aufgenommen wurde.

Der Patient soll früher immer gesund gewesen sein; nichts von Here- dität. Am 7. VI. 1906 wurde er bei der Arbeit von einem Holzstück in die linke Nackengegend und in die Magengrube getroffen, ohne dass äusserlich eine Wunde entstanden wäre; er taumelte einige Sekunden, fiel bewusstlos zu Boden und kam erst nach einigen Stunden zu sich. Klagte dann über starke Schmerzen im Kopfe, versuchte zwar noch zu arbeiten, konnte aber nicht mehr, weil er schwindlig war und sich schwach fühlte. Er war seither sehr schläfrig, ärgerlich, sprach wenig und schlief nur auf Schlafmittel. Ueber sein sonstiges Verhalten liegen nur spärliche Angaben vor, aus denen aber hervorgeht, dass er zeitweise halluzinierte; er sah Engel an der Wand tanzen, Menschen im Zimmer herumgehen und dort etwas suchen, nahm auch eine Hacke gegen sie; einmal äusserte er, dass schon eingespannt sei, um ihn zum Landesherrn zu fahren.

Der Mann wird vollkommen ruhig und orientiert eingebracht, gibt ganz richtige und prompte Angaben über seinen Unfall. Seit dem Unfalle atte er nicht mehr seine eigenen Gedanken, es stellten sich ihm eigentümliche Gestalten vor, ein grosser Kerl wollte mit ihm raufen, er sah gesattelte Reitpferde vorbeireiten, aus dem einen Menschen wurden zwei, dann sah er Engel, Bilder, Hunde, Zwerge und ganz merkwürdige Tiere, die ihu beissen wollten, dabei machte er die Aeusserung, dass er alles merkwürdig verzerrt gesehen habe, so wie ihm auch jetzt noch meist alles schief vorkomme; er klagt jetzt nur über den Schmerz im Nacken, der sich gegen den linken Scheitel zieht und bis in das linke Auge dringt.

Status somaticus:

Leichte Anämie, schlechter Ernährungszustand; die Zunge zeigt leichten, die ausgespreizten Finger stärkeren feinschlägigen Tremor; Konjunktival-, Corneal- und Rachenreflex beinahe ganz fehlend, Gesichtsfeld nur wenig eingeschränkt; sonst nichts Pathologisches, keine Sensibilitätsstörung. Schon bei der ersten Untersuchung der Augenbewegung fällt die Angabe des Kranken auf, dass er bei Linksblicken den vorgeführten Gegenstand sehr gross sehe.

19. VI. Patient verhält sich hier vollkommen ruhig, zeigt einen etwas erstaunt-mürrischen Ausdruck, fühlt sich ganz wohl, nur wenn er einschlafe, sehe er Eisenbahnen fahren und einen Nebel' auf- und absteigen. Eine jetzt vorgenommene genauere Untersuchung des Sehvermögens ergibt folgenden merkwürdigen Befund:

Werden ihm zwei gleich lange Stäbe vorgehalten, so sieht er den links liegenden (vom Pat. aus gerechnet) durchwegs grösser, höher und dicker; werden ihm drei gleich lange Stäbe nebeneinander ehalten, sieht er den nach links liegenden am grössten, den nach rechts fie enden am kleinsten und den in der Mitte liegenden mittelgross. Werden ihm einzelne Münzen vorgelegt, erkennt er sie richtig, wenn ihm aber zwei nebeneinander gezeigt werden, ist er unsicher, weil ihm die links liegende durchwegs wesentlic grösser vorkommt als die rechts liegende; wird ihm z. B. ein Gulden vor- gelegt und links etwa in einer Entfernung von 2 cm davon eine Krone, so sieht er beide gleich gross, wie einen Gulden; wird ihm ein Fünfkronenstäck vorgelegt und in einer Entfernung von etwa 10 um links davon eine Krone, so sieht er beide gleich gross und hält sie für 2 Fünfkronenstücke, Wenn

und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie, 13

ihm gleichgrosse Zahlen vorgeschrieben werden, so sieht er die Zahlenreihe nach links hin immer grösser werdend. Einen horizontal liegenden Stab sieht er nach links dicker; ein 8 Meter langer Stab von 2], cm Dicke er- scheint ihm gegen das linke Ende hin oberarmdick. Dieselbe Angabe macht Patient auch bei Schliessen des rechten Auges. Bei linksseitigem Augen- schluss und offenem rechten Auge sieht er dagegen ganz normal. enn man ihn einen Gegenstand abwechselnd mit dem finken und rechten Auge betrachten lässt, so ist er verwundert, wie der Gegenstand seine Grösse wechselt, mit dem linken Auge betrachtet ist er wesentlich grösser, beinahe zweimal so gross, wie mit dem rechten gesehen. Er wird aufgefordert zu schreiben; mit dem rechten zeigt er normal grosse Schrift, mit dem linken Auge sehr starke Mikrographie (Fig. 10). Vorgesetzte Brillen ändern das Sehen derart, dass zwar alles um eine Spur grösser oder kleiner gesehen wird, aber die Differenz in der Grössenwabrnehmung der einzelnen Augen bleibt im gleichen.

na [oill

Fig. 10. a) Schrift mit dem linken Auge, b) mit dem rechten im 2, Falle.

Die Tiefenlokalisation mit dem rechten Auge ist ganz richtig, mit beiden Augen und dem linken Auge ist sie nicht immer gesetzmässig, meistens aber lokalisiert er die links liegenden Gegenstände näher; man muss also zwei Gegenstände, die ihm gleich weit erscheinen sollen, derart vor ihm auf- stellen, dass der links liegende etwas entfernter vom Patienten steht als der rechts liegende.

Eine genaue Untersuchung der Augen ergibt normale Sehschärfe bei Emmetropie, ganz normale Akkommodationsbreite, bei gleichem Befund an beiden Augen.

Untersuchung mittelst des Stereoskops,

Patient sieht ganz deutlich und richtig stereoskopisch, dabei aber auch alles links Liegende grösser. Werden ihm zweiidentische Bilderoder Zeichnungen

a d 4 À

b

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4 Fig. 11.

14 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik

in das Stereoskop eingelegt, so sieht er sie flächenhaft, und auch da ist immer alles links Liegende grösser. Wenn man ihm nun, ohne dass er es merkt, in das Stereoskop bald nur vors linke und bald nur vors rechte Auge ein Bild bringt, so sieht er auch mit dem rechten Auge alles, was links sich befindet, grösser. Ein ähnliches Resultat ergeben sich gegenseitig ergänzende Teilbilder, wie Fig. Ila. Ein normaler Mensch sieht dieselben im Stereoskop, wie b zeigt, während Patient dieselben so, wie c es zeigt, sah, indem ihm der Strich IIl wesentlich grösser schien als Strich II, trotzdem er den ersteren tatsächlich nur mit dem rechten Auge wahrnehmen konnte.

19. VL Am Nachmittag verschwindet ziemlich plötzlich die Seh- störung, und erfreut meldet Pat., er sei im Garten spazieren gegangen und hätte selbst seine Sehstörung geprüft; er betrachtete zwei Zündhölzchen, und immer wieder erschien ihm das linke grösser; ärgerlich warf er es weg; nach einer halben Stunde machte er dieselbe Probe, und die Sehstörung war verschwunden; er freut sich, dass er gesund ist und bald nach Hause kommen kann, um wieder seine Arbeit aufzunehmen.

Pat. hat volle Erinnerung, dass und wie er die Umgebung verändert sah; er schildert, dass er seit dem Trauma alles ganz merkwärdig und' ver- zerrt, dem früheren Aussehen gauz unähnlich sah; manchmal kam ihm vor, dass alles schief sei, so dass er diese Empfindung durch Neigen des Kopfes korrigieren wollte, was ihm aber nie gelungen ist, eher wurde er davon noch mehr schwindlig.

Er wusste sich auch ganz gut zu erinnern, wie sein Sehvermögen untersucht wurde; wenn man ihm die zwei Stäbe vorzeigte, sah er immer den linken grösser als den rechten; dabei standen die unteren Pole gleich hoch auf einer Horizontalen, nur die oberen Pole standen verschieden hoch; er sah also die Stäbe nicht wie in Fig. Ild, sondern wie in Fig. lle Aehnlich war es auch, wenn er ein Viereck sah; das sah aus wie ein Trapez Fig. 11f.; in ähnlicher Weise sah er die Häuser; dadurch, dass der Boden horizontal verlief und die linke Seite höher war, sah er das Haus wie Fig. lig; auch alle sonstigen Details desselben waren in gleicher Weise verändert.

Ganz eigenartig sah er die Münzen. Pat., der ein ganz ungebildeter; nur mässig intelligenter Holzarbeiter vom Lande ist, der nur buchstabierend lesen und sich nur mit Mühe unterschreiben kann, konnte das nicht recht schildern, und zeichnen konnte er es ebenfalls nicht; er schilderte es derart, dass die Münze links grösser war als rechts und dass sie gar nicht rund, sondern beinahe wie eckig aussah. Zeichnete man ihm einzelne Möglich- keiten, wie er die Münze gesehen haben mochte, vor, so bezeichnete er die Form der Fig. 11h als die richtige, von ihm gesehene, indem die linke Hälfte höher war und die rechte niedriger, aber mit dem unteren Pol gleich hoch wie die linke stand.

Besonders bizarr seien ihm aber die Gesichter und die menschlichen Gestalten überhaupt vorgekommen. Er selbst konnte eine derartige Form nicht aufzeichnen. Bei seinen Zeichenversuchen zeichnete er immer nur das linke Auge höher und grösser, die rechte Seite der Stirn wie einen Buckel auf; als ihm dann wieder einzelne Möglichkeiten der Verzerrung vor- gezeichnet wurden, erkannte er nach mehrfachen Versuchen endlich, so- zusagen mit einem Ausdruck von Freude, die Fig. lli als die richtige; und ähnlıch war es mit der ganzen Gestalt, die rechte Schulter, der rechte Arm, alles war rechts höher und grösser. Wie schon in der Krankengeschichte erwähnt worden ist, hat Pat. Palluziniert, und darüber gab er nun die ganz prompten Angaben, dass auch die Halluzinationen genau so wie die wirklichen Dinge verzerrt waren and dadurch besonders schreck- lich aussahen.

22. VI. Seit gestern totale retrograde und anterograde Amnesie; an den Unfall selbst und an eine nicht genau bestimmbare Zeit von einigen Tagen vor dem Unfall weiss Pat. sich jetzt nicht zu erinnern, ebenso auch nicht auf die ganze Zeit seiner Erkrankung bis zum gestrigen Tage; er kann sich auch gar nicht erinnern, auf welche Weise er hergekommen; gestern früh sah er sich plötzlich auf der Klinik; er weiss auch nichts von dem von

und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. 15

ihm selbst erzählten tatsächlichen Ableben seines Bruders, der zwei Tage vor seiner Einlieferung begraben worden.

Auch somatisch hatte insofern eine Aenderung stattgefunden, als Corneal- und Rachenreflexe viel lebhafter sich darstellten.

Der Krankheitsfall bietet in vieler Hinsicht Interessantes: In erster Linie ist es der Krankheitsverlauf als solcher; ein Mann erhielt ein Trauma, wird bewusstlos, klagt über Kopfschmerzen, zeigt eine eigenartige Verstimmung und Halluzinationen neben einer ganz eigenartigen Sehstörung; die Halluzinationen ver- schwinden und der Mann macht mit Ausnahme seiner Sehstörung einen sonst nicht psychopathischen Eindruck; am nächsten Tage ist auch die Sehstörung verschwunden, er weiss sich jedoch an sie und an alles sonstige des Zustandes zu erinnern; dabei macht er auch auf die ihn besuchenden Verwandten einen vollkommen nor- malen Eindruck; am nächsten Tage ist er für das Trauma und die ganze Zeit mit Einschluss des vorigen Tages, wo er schon ganz normal zu sein schien, vollkommen amnestisch. Es kommt zwar bei Delirium tremens und ein wenig Alkoholiker war der Mann eben auch auch eine mehr oder weniger vollständige Amnesie vor, aber ein derartiges Verhalten, dass jemand nach einem De- llirium eine Zeitlang psychisch scheinbar vollkommen normal ist und plötzlich mit Inbegriff dieses normal scheinenden Zustandes für jene pathologischen Zustände vollkommen amnestisch würde, ist vom Verlauf des Delirium tremens nicht bekannt; eine derartige Erkrankung lässt sich nur unter die Dämmerzustände einreihen, Der Umstand, dass Patient nie an Epilepsie gelitten, das trau- matische Moment und dessen psychische Verwertung, sowie das Verhalten der Reflexe sprechen vollkommen für Hysterie. Und last not least kommt die eigenartige Sehstörung selbst in Be- tracht, deren Eigenartigkeit wir noch weiter zu besprechen haben werden und die in ihrer Art nur auf hysterischem Boden ent- stehen kann. Wenn wir vom Patienten zuerst hören würden, dass er mit dem linken Auge beinahe doppelt so gross sieht wie mit dem rechten, und wenn wir sehen, dass er in entsprechender Weise mit dem einen Auge beinahe um die Hälfte kleiner schreibt als mit dem andern, so wäre es klar, dass es sich hier um einen Fall von einseitiger Makropsie handle, die vielleicht ähnlichen Gesetzen zu folgen hätte, wie im vorigen Falle. Wenn wir aber hören, dass diese Makropsie sich nicht auf das ganze Gesichts- feld bezieht, sondern nur auf alles, was im linken Gesichtsfeld sich befindet, so ist man vor die Frage gestellt, ob es sich denn nicht um eine Makropsie einer Gesichtshälfte handelt. Aber die Untersuchung am Stereoskop beweist auch diese Annahme als nicht zutreffend. Denn es zeigt sich, dass Patient nicht nur dann die linke Hälfte immer grösser sieht, wenn das linke Auge bei dem Sehakt mitbeteiligt ist, sondern auch dann, wenn dasselbe ausgeschaltet ist, Patient aber von der Ausschaltung desselben nichts weiss und mit demselben noch zu sehen glaubt. Dieser Umstand schliesst eine jede physiologisch-anatomische Grundlage

16 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik

aus. Es ist endlich noch die Frage der Simulation zu erwägen, die ja bekanntlich auch in ähnlicher Weise, wie Patient unter- sucht worden ist, mit dem Stereoskop, entlarvt wird. Dass Simulation hier nicht vorliegt, braucht wohl keines langen Be- weises. Die Sehstörung ist von einer so ganz sonderbaren und, soviel mir bekannt, bis jetzt ganz unbekannten Art!), dass es einer ganz sorgfältigen und planmässigen Untersuchung bedurfte, bevor man dieselbe sicherstellen konnte, und wenn man bedenkt, dass der Mann ein ganz gewöhnlicher, vielleicht noch unter dem gewohnten Intelligenzniveau und sicher unter dem auch hierzu- lande gewohnten Bildungsniveau stand, dass bei ihm keinerlei Ursache für eine Simulation vorhanden war, dass er nie von einem Rentenanspruch, sondern nur von der Krankenunterstützung sprach, so wird schon dadurch die Simulation nichts weniger als wahr- scheinlich, und wenn man in Betracht zieht, dass die Sehstörung zu einer Zeit aufgetreten ist, als Patient nach der klinischen Be- obachtung unbedingt in einem hysterischen Dämmerzustand sich befand, erscheint das Pathologische derselben erwiesen. Wenn wir das Schema Fig. 9 betrachten, müssen wir eine Erkrankung des peripheren Sehapparates und der Projektionszentren aus- schliessen. Es bleibt also nur das transkortikale Zentrum, in das wir die Sehstörung verlegen können: sie muss also eine rein psychische sein. An der Hand des Schemas mussten wir schliessen, dass in einem derartigen Fall, wenn es zu Halluzinationen kommt, dieselben ebenfalls in gleicher Art dysmegalopisch sein müssten; dies stimmt nun in sehr schöner Weise mit den Angaben des Patienten zusammen, der seine Halluzinationen in gleicher Weise verändert sah, wie die wirklichen Objekte’).

Die Beobachtung gestattet aber auch noch weiter, auf die Genese der dysmegalopischen Störungen einzugehen. Dafür gibt uns die Aeusserung des Patienten einen Anhaltspunkt, indem er immer hervorhob, dass er links in den Nacken einen Schlag er- hielt, er von da einen ziehenden und zuckenden Schmerz in der linken Kopthälfte aufsteigen fühlte und dass er dann bis in das linke Auge kam, wo es sich als ein dumpfes Stechen lokalisierte; und seitdem habe er so eigenartig alles links grösser gesehen.

1) S. den Nachtrag.

1) Irgend eine ähnliche Beobachtung konnte ich in der mir zugäng- lichen Literatur nicht auffinden, Man findet zwar von vielen Geisteskranken vermerkt, dass sie während halluzinatorischer Verwirrtheitszustände die Um-

ebung merkwürdig verändert sehen, aber von genaueren Untersuchungen darüber wird nichts berichtet. Als interessant sei zu bemerken, dass Uth- hoff in den „Beiträgen zu den Gesichtstäuschungen bei Erkrankurgen des Sehorgans“ (Monatsschr. f. Psychol. u. Neurol, Bd. V) einen Fall von apo- plektiform entstandener Hemianopsie (Fall 8) beschreibt, wo Patient anfalls- weise eigenartige Sehstörungen hatte, die Gesichter waren „fratzenhaft, und es sehe aus, als ob das Gesicht herumspringt und hopst“, so dass „es komisch sei, dass Patientin während der Anfälle nicht weiss, wie die Umgebung aus- sieht“, Aber auch diese Beobachtung entbehrt einer genaueren Analyse der. so eigenartigen und der unseren nicht unähnlichen Sehstörung; auch in anderen klinisch ähnlichen Fällen liegen ähnliche Angaben der Kranken vor,

und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. 17

Es ist nun gerade von einer ganzen Reihe hysterischer Störungen bekannt, dass sie sehr gerne einseitig auftreten; nach irgend einer, häufig ganz unbedeutenden Verletzung einer Körperseite entstehen ausgesprochene Hemiplegien oder Hemianästlesien. Für diese fällt eine Erklärung nicht schwer; nachdem man gelernt hat, dass die Hysterie ihre somatischen Störungen durch ganze Reihen von Schlussfolgerungen, die zum grösseren oder kleineren Teil dem Unterbewustsein entstammen, hervorruft, war es leicht, Sensi- bilitäts- und Motilitätsstörungen nach gleichseitigen Traumen auf dieselbe Basis zu stellen; denn der Gedanke, dass eine Schäd- lichkeit, die eine Körperseite trifft, diese auch in irgend einer Weise schädigen werde, ist ziemlich naheliegend und leicht für einen Hysterischen zu verarbeiten. Bei der vorliegenden eigen- artigen Störung der Grössenwahrnehmung stimmt ja zwar die Verbreitung derselben auf die geschilderte Seite mit dem oben erwähnten überein, aber es ist schwer, sich vorzustellen, dass diese ganz eigenartige, dem menschlichen Denken und Empfinden so ungewohnte Veränderung der Objekte auf einem logischen Schluss basieren könnte, um rein psychisch bedingt angesehen zu werden. Wir köunen wohl nicht anders annehmen, als dass die Ursache dieser sicher transkortikalen Störung nicht in einer rein psychisch bedingten Veränderung des zur optischen Apperzeption fahrenden materiellen Substrates liegen kann, sondern in einer mehr mechanisch-reflektorischen Schädigung eines physiologisch zu- sammengehörenden Mechanismus dieses „Zentrums“, die erst in Verbindung mit psychischen Faktoren das beschriebene Resultat herbeiführt.

Die hier niedergelegten Beobachtungen und Schlüsse führen zu folgendem Resume:

Wir können unter den nervösen Dysmegnlopsien [im Gegen- satz zu der muskulären Dysmegalopsie!)] zwei Arten unterscheiden. Die erste, deren Ursache in einer Störung des entsprechenden Projektionszentrums zu suchen ist, folgt vollkommen den ana- tomisch-physiologischen Gesetzen und ist per analogiam mit dem Wernickeschen Schema als kortikale Dysmegalopsie zu bezeichnen; die zweite, deren Ursache in psychischen, trans- kortikalen Störungen liegt, die dem anatomisch-physiologischen Gesetz nicht entsprechen muss und für welche dıe Bezeichnung transkortikale Dysmegalopsie vorzuschlagen wäre In beiden Arten von Dysmegalopsie kann die Wahr- nehmung der Sehdinge in gleicher Weise gestört sein, sie unterscheiden sich nur dadurch, dass bei der korti- kalen Dysmegalopsie vorkommende Halluzinationen nicht dysmegalopisch, bei der transkortikalen aber in gleicher Weise dysmegalopisch erscheinen und dass weiter die kortikale Dysmegalopsie anatomisch-physio- logischen Gesetzen vollkommen entsprechen muss, wo-

1) Fischer, L e, S. 305. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hott ı. 2

18 Fischer, Ein weiterer Beitrag sur Klinik etc.

gegen sich die transkortikale nur an psychische Ge- setze hält.

Man könnte noch versucht sein, auf eine ganze Reihe von Einzelheiten dieser so ausserordentlich lehrreichen zwei Fälle ein- zugehen, so z. B. auf das interessante oszillierende Bewusstsein, das für die Frage der Bewusstseinszustände manches Lehrreiche bietet, sowie das Verhalten der Halluzinationen, das für die Lehre der Halluzinationen überhaupt, einem auf noch auch so wenig &esichertem Boden stehenden Kapitel der allgemeinen Psycho- pathologie ebenfalls nicht ohne Bedeutung ist; aber dies würde

en Rahmen dieser Mitteilung überschreiten, um so mehr, als später an anderer Stelle darauf eingegangen werden soll. Nur auf eines möchte ich kurz hindeuten, was vielleicht für die klinische Psychiatrie von Wert sein könnte. Der erste Fall ist zur Zeit der Alienation symptomatisch genommen eine Verwirrtheit, die 2um grössten Teil ihre Ursache in der Dysmegalopsie hatte; auch der zweite Fall war in gewisser Hinsicht eine Art von Verwirrt- heit, basiert auf einer Kombination von halluzinatorischer und digenartiger dysmegalopischer Desorientierung. Nun gibt es in der Psychiatrie eine ganze Reihe von Verwirrtheits- Zuständen, bei deren Klassifizierung wir nicht weiter áls über die einfach äusserliche Symptomatologie hinaus-

ommen. Vielleicht wäre es möglich, unter diesen auch analoge Unterschiede wie bei den geschilderten Fällen aufzufinden und dadurch einer weiteren Zergliederung und einem tieferen Verständnis derselben näher zu treten.

Nachtrag,

Nachdem das Vorstehende niedergeschrieben war, wurde ich von Herrn Prof. Pick auf auch ihm bis dahin entgangene Be- obachtungen P. Janets aufmerksam gemacht, die dem zweiten hier besprochenen Falle ziemlich nahe kommen und auf die ich deshalb noch nachträglich eingehen will.

Janet schildert in dem Werke „Nevroses et Idees fixes“ (1898) auf Seite 278 des ersten Bandes bei zwei Hysterischen eine Störung, die er Hemimakropsie nennt. Die erste Patientin sah zeitweise alles Rechtsliegende grösser oder kleiner, und zwar, wie Janet schreibt: „Ce pest plus objet tout entier qui diminue ou grandit, c’est un seul cöte, toujours le droit, qui devient tout petit ou qui grandit d&ömesurement pendant que lautre paraît rester normal. Le fait se produit spontanément, les deux yeux ouverts, il persiste, quand on ferme l’ail droit et qu'elle regarde avec Paıl gauche seul. C’est donc, si je puis ainsi dire, de l’hemi- micropsie et de l’hdmi-macropsie monoculaires. Que se passe-t-il si on ferme l'œil gauche et si on force la malade à regarder avec l’ail droit seul.“ Die zweite Beobachtung ist von dieser insofern different, als es sich um eine ungleichmässige Makropsie handelte, indem alles rechts im Gesichtsfeld Liegende stärker ver-

Gregor, Beiträge zur Kenntnis ete.] 19

grössert gesehen wurde als links und dabei ausserdem immer nach rechts zu fliehen schien. Ohne auf eine Besprechung des von Janet gegebenen Erklärungsversuches einzugehen, glaube ich der Ansicht Ausdruck geben zu sollen, dass die hier gemachten Feststellungen auch für die Fälle Janets zutreffen.

Der erste hier zitierte Fall Janets ist mit unserem zweiten Falle beinahe identisch. Diese Wiederholung eines so seltenen und ungewöhnlichen Symptomenkomplexes gibt einen weiteren Beweis für die schon oben geäusserte Meinung, dass diese Seh- störung erstens nicht simuliert sein kann, und zweitens, dass maa als deren Ursache nur eine Schädigung bestimmter, den psycho- physiologischen Prozessen dienender materieller Substrate an- sehen kann.

Aus der psychiatrisch-neurologischen Klinik des Geheimen Rates Flechsig zu Leipzig.

Beiträge zur Kenntnis der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. Von

Dr. ADALBERT GREGOR, I. Assistenzarzt.

Einleitung.

Bei Untersuchung!) der Auffassungsfähigkeit von Patienten mit Korsakoffscher Psychose ergaben sich uns Hinweise auf länger dauernde Nachwirkung früherer Eindrücke als nach bie- heriger Erfahrung zu erwarten war. Ein eingehenderes Studium dieser Nachwirkung lag umso näher, als unsere Kenntnisse in . dieser Richtung noch ziemlich lückenhafte sind.

Dass die Merkfähigkeitsdefekte bei derartigen Patienten keine vollständigen seien, lehrte auch die klinische Beobachtung. So stellte schon Korsakoff?) fest, dass seinen Kranken gewisse Ein- drücke durch die Sinne unbewusst haften blieben. Bonhoeffer?) fand Reste von Merkfähigkeit auch bei scheinbar totalem Verluste derselben für Gegenstände von besonderem Interesse und be-

1) Gregor und Roemer, Zur Kenntnis der Auffassung einfacher optischer Sinneseindrücke bei alkoholischen Geistesstörungen, insbesondere bei der Korsakoffschen Psychose. Neurolog. Zentralbl. 1906. No. 8.

3) Tb. Tiling, Ueber die bei der alkoholischen Neuritis multiplex beobachteten Geistesatörungen. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatr. Bd. 46. S. 238—257. 1890.

3) K. Bonhoefrer, Die akuten Geisteskrunkheiten der Gewohnheits- trinker. Jena 1901.

9e

20 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

obachtete, dass scheinbar vergessene Bilder zufüllig bei Prüfung mit andern Bildern wieder auftauchten. Die nähere Erforschung dieser Reste der Merkfähigkeit ist von der experimentellen Methode zu erhoffen, wenn auch die Bemerkung Finzis'), dass eine Unter- suchung mit exakter Methode bei Korsak offschen Patienten kaum durchführbar sei, nicht besonders verheissend klingt. Aehnlich lautet das Urteil von Boldt?) und Goldstein?) bezüglich der Verwendbarkeit exakter Methoden zum Studium des Gedächtnisses von Geisteskranken überhaupt. Die Ausbeute mit der gewiss sehr einfachen Untersuchungsmethode von Krauss*) war ziemlich gering und vermehrte kaum das Wissen aus der klinischen Erfahrung. Ueberdies haftet seiner Methode, bei der nach Exposition der Reizworte die Versuchsperson sich selbst überlassen bleibt, mit dem Auftrage, das Wahrgenommene nach Tunlichkeit zu wieder- holen, ebenso wie dem Verfahren Finzis, nach welchem die Versuchsperson zwischen Auftauchen des Reizes und Wiedergabe desselben starr und unbeweglich dasitzt und die Augen dauernd auf den Punkt, wo der Reiz gesehen wurde, richtet, der Fehler an, dass sich auf diese Weise die tatsächlichen Bewusstseins- prozesse zwischen Auffassung des Reizes und der Reproduktion der Kontrolle des Versuchsleiters entziehen. Für die Ausfüllung dieser Pause muss aber von ihm gesorgt werden, da auf die Mit- wirkung psychopathischer Individuen beim Experimente nicht ge- rechnet werden darf.

Tieferen Einblick in die Psychopathologie der Korsakoff- schen Psychose gewährte die Untersuchung von Brodmann’).

Bei dem von ihm eingehender untersuchten Falle handelte es sich um das Höhestadium der Korsakoffschen Psychose, das während der Untersuchung allmählich in Genesung überging. Eine Uebertragung der von ihm gewonnenen Ergebnisse auf das (chronische) Endstadium der Korsakoffschen Psychose, dem die von mir untersuchten Fälle angehören, ist schon deshalb un- tunlich, weil letzteres sich auch schon klinisch vom Höhestadıum unterscheidet. Zudem handelt es sich hier um wesentlich andere Interessen und damit um eine andere Fragestellung. Wollen wir z. B. das Gedächtnis irgend eines Individuums studieren, so liegt wohl die Frage nach seiner Leistungsfähigkeit nahe, also nach der Festigkeit einmal geschaftener Assoziationen, d. h. nach der Stärke der Dispositionen ein einmal Erlerntes wiederzu reproduzieren.

1) J. Finzi, Zur Untersuchung der Auffussungsfähigkeit und Merk- fähigkeit. Psycholog. Arbeiten. Bd. 3. S. 289—8384 1901.

3) K. Boldt, Studien über Merkdefekte. Monatsschr. f. Psychiatr. Bd. 17. S. 97—115. 1905.

3) K. Goldstein, Merkfähigkeit, Gedächtnis und Assoziation. Zeitschr. f. Psycholog. Bd. 41. S. 38-47, 117—144. 1906.

9 R. Krauss, Ueber Auffassungs- und Merkversuche bei einem Falle von polyneuritischer Psychose. Psycholog. Arbeiten Bd. 4. S. 523—537. 1904.

5 K.Brodmann, Experimenteller und klinischer Beitrag zur Psycho- pathologie der polyneuritischen Psychose. Journal f. Psychol. und Neurol. Bd. 1. S. 225—246. 1902. Bd. 3. S. 1—48. 1904.

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 21

Ein exaktes Studium dieser Frage erscheint von vornherein nur dann möglich, wenn die Reproduktionsfähigkeit des Individuums für die ın Frage kommende Zeit als annähernd konstant an- gesehen werden kann. Dies ist nun bei Brodmanns Kranken, der während der Untersuchung genas, nur für eine verhältnis- mässig sehr kurze Zeit möglich. Brodmann konnte bei seinen Patienten Erinnerungsspuren experimentell nur für 1, 1!/, und 24 Stunden nachweisen, gewann aber nach der klinischen Unter- suchung den Eindruck, dass sie über eine viel längere Zeit zu verfolgen wären. Brodmann dürfte hierbei wohl die Be- obachtung im Auge gehabt haben, dass sein Patient sich nach Monaten an gewisse Ereignisse aus dem Höhestadium seiner Krankheit erinnerte. Aehnliche Beobachtungen zwangen schon früher, bei derartigen Kranken Erinnerungsinseln anzunehmen, Inwieweit eine solche Annahme berechtigt ist, ob bloss einzelne, affektbetonte Eindrücke stärker haften bleiben oder auch andere, aufmerksam verfolgte Reize dauernde Dispositionen zur Re- prod uktion hinterlassen, kann nur die experimentelle Untersuchung ehren. Eine solche ist natürlich auch bei einem veränderlichen Zustande des Gedächtnisses nicht ganz ausgeschlossen, wohl aber sehr erschwert, da, wie es auch in meinen Versuchen zur Aus- schaltung des Uebungsfaktors sich nötig erwies, der Massstab für die Beurteilung immer wieder gewounen werden muss.

Was die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses Korsakoff- scher Patienten anlangt, so sind wir aus klinischer und experi- menteller Erfahrung gut über die negative Seite der Frage, das rasche Vergessen von Eindrücken, orientiert. Für die positiven Leistungen des Gedächtnisses bei neuerworbenen : Eindrücken fehlen aber noch genauere Beobachtungen. Wenn uns M. am gleichen Tage, an dem einwandsfrei Erinnerungsspuren von Ein- drücken nachgewiesen werden konnten, die er vor 25 Tagen erlebte, versichert, dass er den ganzen Vormittag im Bette ge- legen, während er erst vor zwei Stunden aus dem Garten zurück- kehrte, so ist aus diesem Beispiel ohne weiteres zu entnehmen, dass man bei gewöhnlicher Beobachtung leicht zu einer Unter- schätzung des Gedächtnisses Korsakoffscher Patienten gelangen kann. Der Weg, die Gedächtnisleistungen auf Grund einmal gegebener Reize zu prüfen, erscheint wegen der Flüchtigkeit der einmaligen Eindrücke ungangbar. Wollen wir einen Massstab für die Beurteilung der Veränderung des Bewusstseinsinhaltes ın Abhängigkeit von der Zeit gewinnen, dann müssen wir den zu prüfenden Eindrücken gleich von vornherein eine grössere Stärke verleihen, damit eine sichere Reproduktion gelinge.

Den Ausgangspunkt meiner Untersuchung bildete die Frage nach der Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses Korsakoffscher Patienten, nämlich wie lange bei ihnen einmal erworbene Dis-

ositionen zur Reproduktion nachdauern und ob, sowie in welchem Grade ihr Gedächtnis übungsfähig sei; hiebei ergab sich Gelegen- heit, für die vorliegende Geistesstörung zu gewissen Fragen Stellung

22 Gregor, Reiträge zur Kenntnis

zu nehmen, die bisher fast ausschliesslich für den Normalen er- örtert wurden: Bildung rückläufiger Assoziationen, Oekonomie des Lernens, Wiedererkennen früherer Eindrücke.

Zur Untersuchung wurden zwei typische Fälle von Korsa- koffscher Psychose mit alkoholischer Aetiologie herangezogen. Dadurch sollte von vornherein der Schwierigkeit, welche bei Ver- suchen an Geisteskranken stets zu gewärtigen ist, begegnet werden, nämlich, dass mit Rücksicht auf die Ausdauer der Versuchs- personen die Versuche nicht in wünschenswerter Weise gehäuft werden können. Aus diesem Grunde erschien es auch empfehlens- wert, die Versuchsanordnung derart zu treffen, dass selbst kürzere Versuchsreihen eindeutige Resultate liefern konnten. Natürlich ist hierin die Konsequenz enthalten, dass wir mitunter auf die Feststellung feinerer Differenzen verzichten müssen. Zur Ver- deutlichung des eben Gesagten diene ein Beispiel aus den fol- genden Versuchen: Eine naheliegende Ueberlegung liess vermuten, dass die durch wiederholte Lesungen geschaffenen Dispositionen zur Reproduktion zusammenhängender Wortreihen dauerhafter seien, als jene für unzusammenhängende. Der nächste, beim Normalen jedeufalls einzuschlagende Weg wäre es gewesen, mehrere Reihen beider Gruppen, welche zur Einprägung gleich vieler Lesungen bedurften, lernen, nach einem gewissen Intervall beide wiedererlernen zu lassen und die Ersparnisse zu ver- gleichen. Diesem Verfahren erwuchs aber bei meinen Versuchs- personen die Schwierigkeit, dass Gedichtsstrophen von ihnen verhältnismässig sehr unregelmässig gelernt wurden und eine grössere Häufung der Versuche hier aus dem Grunde zu ver- meiden war, weil die Patienten gerade beim Erlernen zusammen- hängender Worte den Eindruck schlecht zu lernen gewannen und bald missmutig wurden. Ich zog es darum vor, die Zeit zu ver- gleichen, innerhalb welcher für beide Arten von Erlernungsmaterial noch eine Ersparnis zu erzielen war, verzichtete aber damit darauf, einen genaueren, zahlenmässigen Ausdruck für die fest- zustellende Differenz zu gewinnen. Ebenso konnte das Urteil, ob nach einseitiger Uebung durch Lernen unzusammenhängender Wortreihen eine Steigerung der Leistungsfähigkeit für das Lernen von Gedichtsstrophen erzielt wurde, nicht durch den Vergleich der zur Erlernung solcher erforderlicher Wiederholungen gefällt werden, sondern nach der Zahl der Sitzungen, nach welchen ein einmaliges freies Hersagen einer Strophe ın beiden Perioden gelang.

Da ein Vergleich der Befunde im akuten und chronischen Stadium der Korsakoffschen Psychose gewiss von grösstem Interesse ist, so werde ich im folgenden, soweit sich die Frage- stellung berührt, auf die Ergebnisse Brodmanns zurückkommen. Allerdings wird ein Vergleich, wie schon Lippmann betont,!) dadurch besonders erschwert, dass Brodmann die einzuprägenden

1) Lippmann, Zeitschr. f. Psycholog. Bd. XL. S. 116—118. 1906.

der Gedächtnisstörang bei der Korsakoffschen Psychose. 28

Reihen seinen Versuchspersonen nicht, wie bisher bei Gredächtnis- versuchen stets geübt, visuell vorführte, sondern sie ihnen vorlas. Für pathologische Fälle bürgt dies Verfahren den schwerwiegenden Nachteil, dass, wie Müller und Schumann!) hervorheben, eine Reihe bloss gehörter Silben mit Aufmerksamkeit aufzunehmen, mehr Anstrengung erfordert, als solche Silbenreihen mit Auf- merksamkeit abzulesen; ferner weil bei Brodmanns Verfahren, wie unten näher ausgeführt werden soll, dem Versuchsleiter die Kontrolle der Aufmerksamkeitsspannung seiner Versuchspersonen sehr erschwert ist. Es erscheint darum besonders wünschens- wert, weitere Fälle akuter Korsakoffscher Geistesstörung in der einfacheren Weise, wie siedieneuen Gedächtnisapparate gestatten, zu untersuchen. Hierbei wäre auf das Gelingen von Versuchen mit dem Ersparnisverfahren besonderer Wert zu legen, welches wie meine Erfahrung an der Versuchsperson O. zeigte, mit Reihen sinnvoller Worte auch bei weniger geeigneten Versuchspersonen durchführbar ist.

Versuchspersonen.

Als Versuchspersonen dienten die Patienten M. und O., deren Auffassungsfähigkeit ich in Gemeinschaft mit Roemer-Illenau untersuchte. Zur näheren Orientierung werde ich hier die beiden Fälle ın Kürze charakterisieren.

R. M., 51 Jahre alt, aufgenommen am 13. V. 1904. Besuchte mit gutem Erfolge die Schule, erlernte Büchsenmacherei und Graveurhandwerk. 24 Jahre alt, ging er ins Ausland, Oesterreich, Rumänien, Russland. In Russland trat er bei einem Jugendfreunde in Stellung und verwaltete dessen Weingut, daselbst sehr starker Potus. Nach 16 Jahren kehrte er nach Leipzig zurück, arbeitete erst in der Werkstätte seines Bruders und mietete später (7 Monate vor Aufnahme in die Klinik) ein Restaurant. In diese Zeit fällt seine Ver- heiratung. 5—6 Monate vor Aufnahme in die Klinik wurde von der Umgebung Abnahme seines Gedächtnisses bemerkt. In den letzten Tagen erschien er zeitlich und örtlich unorientiert, taumelte beim Gehen, sah im Zimmer Vögel und andere Tiere, eine ganze Schützengesellschaft, sah Stühle auf der Nase seiner Frau tanzen. Auch Geliörshalluzinationen traten auf. Bei der Auf- nahme glaubt sich M, bei seinem Freunde in der Krim zu befinden; Aerzte werden als Bekannte von dort begrüsst. Am 14. V. gewinnt er vorüber- gehend örtliche Orientierung, gibt an, verheiratet zu sein, erzäblt aber, noch ständig bei seinem Bruder ım Geschäfte zu arbeiten. Am 15. V. glaubt er sich wieder in Odessa, konfabuliert lebhaft, macht in einem Atem ganz widersprechende Angaben; vergisst neue Eindrücke sehr rasch, glaubt sich schon zum zweiten Male an der Klinik zu befinden. Vom 5. VII. festere örtliche Orientierung. Die Dauer des Aufenthaltes in der Klinik wird auf 2—8 Wochen geschätzt. Oktober 1904 macht er oft widersprechende Angaben bezüglich seiner Verheiratung. Später setzt sich das Urteil, ledig zu sein, fest.

Seit einem Jahre ist der Zustand des Pat. unverändert. Er ist örtlich vollkommen orientiert, die Angaben über die Dauer seines Aufenthaltes sind schwankend. Meist weigert er sich, oine bestimmte Zeit anzugeben. Bio- dringlicher befragt, sagt er überlegend: „An das Weihnachtsfest erinnere ich mich noch, da war ich wohl schon da.“ Den laufenden Monat kennt er in

1) G. E. Müller and F. Schumann, Experimentelle Beiträge zur Untersuchung des Gedächtnisses. Zeitschr. f. Psychol. Bd. VI. S.81—1%0' . 1 94. i -= '

24 Gregor, Baiträge zur Kenntnis

der Regel nicht. Er ist fest überzeugt, sich schon das drittemal in der Klinik zu befinden (batte in früherer Zeit mehrmals Ausgänge). Verheiratet zu sein oder eine Restauration g-halten zu haben, stellt er entschieden in Abrede. Seine Frau bezeichnet er als seine Braut, die nur, um leichter vor- gelussen zu werden, sich als seine Frau ausgebe. Die Dauer der Gedächtnis- prüfung schätzt er auf 14 Tage (9 Monate). Intelligenz erweist sich nicht stärker beeinträchtigt, er erscheint in seinem Fache gut bewandert, er kann z.B. die Weinbereitung in allen Einzelheiten beschreiben; russische Aus- drücke sind ibm ziemlich geläufig. Keine Stimmungsanomalien. Es besteht eine gewisse Stampfheit des Wesens und auffälliger Mangel an Spontaneität. Konfubulation ist nur dann zu beobachten, wenn man ihu nach bestimmten Vorfällen fragt; er gerät dann in Verlegenheit und macht seine Angaben im Sinne des gewöhnlichen Verlaufes der Tageserlebnisse. Nach Einzelheiten betragt, entschuldigt er sich immer wieder damit, dass er nicht genügend aufmerksam gewesen sei, da er nicht erwartete, dass man ibn danach fragen würde.

R. O., Brauer, 49 Jahre alt, aufvenommen am 9. IX. 1905. 1888 Trauma capitis, Sturz vom Eisenbahnzuge; 1891—92 in Lyon als Brauer in Stellung; starker Potas, täglich 4—6 ! Bier. Anfänglich steht Konfabulation im Vorder- grande des Krankheitsbildes. Pat. weiss täglich von Ausgängen zu berichten,

ei denen er einkehrte und trank. Personen der Umgebung ‚werden als alte Bekannte bezeichnet Völlige örtliche Orientierung bat Pat. bisher nicht ewonnen. Er glaubt sich bald in Magdeburg, bald in Leipzig zu befinden. indringlicher befragt, kommt er bloss darauf zurück „aus Halle sind wir fortgefuabren*. Nach der Dauer seines Aufenthaltes an der Klinik befragt, gab er anfänglich ganz stereotyp zur Antwort „Montag waren es 8 Tage.“ Als man ihn einmal ein Datum schriftlich fixieren liess und nach einigen Tagen wieder zeigte, bestritt er, dass es seine Schrift sei, weil er sich nicht erinnern könne, etwas derartiges notiert zu haben. Er gab dann zu, sich zu jener Zeit tatsächlich in der Klinik befunden zu baben; doch sei er in- zwischen fort gewesen und habe in einer Brauerei gearbeitet. In der letzten Zeit glaubt Pat. sich mehrere Monate in der Klinik zu befinden. Vorkomm- nisse, an die er sich erinnert, lokalisiert er ganz falsch. Die Frage, wie oft er bereits im psychologischen Laboratorium gewesen sei, wird stets prompt mit „gestern zum ersten Male* beantwortet Er erzählt täglich in ganz stereotyper Weise, dass er sich schon im Juhre 1880 eiumal an der Klinik befunden habe, man habe ihm damals die Wiedererkrunkung vorhergesugt. Verf sei schon damals an der Klinik gewesen, habe mit ihm dieselben Ver- suche gemacht. Prof. Flechsig kenne er auch von daher; nur hätte er damals noch keinen grauen Bart gehabt. An einzelne Aerzte glaubt er sich erinnern zu können; bei andern meint er, sie seien doch zu jung. Seine Reise nach Frankreich vermag Pat ziemlich genau zu schildern, Städte. in denen er sich dabei autgehalten, gut zu beschreiben. Bei einzelnen Begeben- heiten schwanken aber seine Angaben, indem er einen Tag erzählt, sie selbst erlebt zu haben, den andern, nur von Hörensagen davon zu wissen. Seine Stimmung ist stets euphorisch, er ist gexprächig und zu Scherzen aufgelegt; neigt dazu, sich Ausserlich zu vernachlässigen.

Untersuchungsmethode,

Von den zur Untersuchung des Gedächtnisses verfügbaren Methoden benutzte ich das Ersparnisverfahren, indem ich Wort- reihen verschiedener Länge erlernen liess und nach einem be- stimmten Zeitraume prüfte, ob eine Wiedererlernung mit einer geringeren Zahl von Wiederholungen erfolgte, als zum ersten

rlernen erforderlich war. Die Reihen wurden mittels des von Wirth modifizierten Ranschburgschen Gedächtnisapparates vor- eführt, der es ermöglicht, die Glieder einzeln mit ubstufbarer Geschwindigkeit in Ruhe zu exponieren und sich auch zu Ver-'

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose, 25

suchen mit zusammenhängendem Lesen eignet. Der Gang des Apparates wurde durch ein Metronom derart eingestellt, dass bei der Exposition von unzusammenhängenden Worten jedes Feld der Reiztafel 1, beim zusammenhängenden Lesen ?/, Sekunde exponiert blieb. Nach Ablauf der Reihe, welche die Versuchsperson laut zu lesen hatte, wurde der Strom durch einen Drücker unter- brochen, der Apparat stand und die Versuchsperson hatte nun die Reibe herzusagen; gelang dieses nicht, so wurde der Apparat wieder in Tätigkeit gesetzt und der nächste Abschnitt der Reiz- tafel, welcher die gleiche Reihe trug, vorgeführt. Ich betrachtete die Reihe als erlernt, sobald sie die Versuchsperson einmal fehlerlos hersagte und, ohne sie nochmals za lesen, wiederholen konnte. Es erschien mir nötig, mich auf diese Weise von der festeren Einprägung der Reihe zu vergewissern, weil es der Ver- suchsperson häufig im Vergleiche mit den übrigen Resultaten vorzeitig gelang, Reihen ganz herzusagen, nach der nächsten Lesung aber viele Fehler auftraten; meist fehlte hier auch, wie in ähnlichen Fällen beim Normalen, das subjektive Gefühl des Könnens.

Bei der Wahl der zu exponierenden Eindrücke entschied ich mich für einsilbige sinnvolle und sinnlose Worte. Reihen einziffriger Zahlen, welche sich mir bei noch tieferen Gedächtnisstörungen als sehr vorteilhaft erwiesen, konnten bei meinen jetzigen Ver- suchspersonen nicht verwendet werden, da sich nach den Vor- versuchen verhältnismässig lange Zahlenreihen nötig erwiesen, die bei der geringen Zahl von Grundelementen nur wenig variiert werden können. Sinnlose Worte waren bei einer meiner Ver- suchspersonen nicht zu verwenden, weil sie (O.), durch fort- währendes Verlesen und Versprechen verwirrt, keine einzige der- artige Reihe erlernen konnte. Die Reiben sinnloser Worte waren da streng nach den von Müller und Schumann aufgestellten Regeln gebaut, wo es besonders auf eine Gleichmässigkeit in der Erlernoung ankam; so in den Versuchen über rückläufige Asso- ziationen, Oekonomie des Lernens. Aber auch bei Zusammen: stellung der übrigen Reihen wurde es vermieden, dass in derselben Reihe der gleiche Anfangs- oder Endkonsonant zweimal vorkam, Aus- und Anlaut aufeinanderfolgendar Worte übereinstimmten, hingegen wurde in achtgliedrigen Reihen mitunter ein Vokal wiederholt, allerdings in weiter auseinanderliegenden Silben. Ein Unterschied in der Erlernung beider Arten von Reihen war nicht zu bemerken. Offenbar fielen die inneren Schwierigkeiten der Reihen wesentlicher ins Gewicht. Auffälligerweise machte sich in jenen Versuchsgruppen, wo Silben gut eingeprägter Reihen in veränderter Folge gelernt wurden, eine bedeutende Gleich- mässigkeit in der Erlernung geltend. In diesem Falle bestand aber auch ein Unterschied in der Erlernungsart, indem solche Reihen von der ersten Exposition an fehlerlos gelesen wurden, während bei den übrigen erst mehrere und zwar verschieden viele Expositionen nötig waren, bis die zu erlernende Reihe geläufig gelesen wurde.

26 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

Bei der Zusammenstellung von Reihen sinnvoller Worte wurden möglichst schwer assoziierbare gewählt. Bei den in Tabelle 1 und 2 verzeichneten Versuchen (1—23) fand mitunter eine Wiederholung desselben Vokales in derselben Reihe statt. Die übrigen Reihen waren nach den für normale Reihen sinnloser Silben geltenden Regeln zusammengestellt. Als Reizworte be- nutzte ich bei den Versuchen mit sinnvollen Worten die ein- silbigen von Wirth zusammengestellten Worte.

Im Gegensatze zu Versuchen beim Normalen war ich bei meinen Versuchspersonen in der Verwendung längerer Reihen beschränkt. Während z. B. Ebbinghaus’) noch 26stellige Reihen in 55 Wiederholungen erlernte und einzelne Reihen 64mal auf- merksam lesen konnte, war bei meinen Versuchspersonen, wie eine Durchsicht der Protokolle zeigte, nach der 15ten Wieder- holung der Effekt weiterer Lesungen auffallend gering und konnten Reihen, die nach 20- bis 22maligem Lesen nicht haften blieben, überhaupt nicht mehr in der gleichen Sitzung erlernt werden. Wurde nämlich das Lernen über diese Grenze hinaus fortgesetzt, dann begann die Versuchsperson unruhig zu werden, Unwillen über ihr schlechtes Gedächtnis zu äussern, sich häufiger zu versprechen und zu verlesen etc. Stellten sich diese Zeichen, die wohl als Ausdruck von Ermüdung aufzufassen sind, ein, dann wurde mit dem Lernen ausgesetzt, und erst naclı einer längeren Pause von 5 bis 10 Minuten (die normale betrug 3 Minuten) eine neue Reihe exponiert. Traten auch bei der nächsten Reihe Ermüdungserscheinungen „uf, dann wurde am gleichen Tage das Lernen neuer Reihen beschränkt. Nach meinen Erfahrungen erwies es sich als zweckmässig, an einem Tage nicht länger als eine Stunde lernen zu lassen. In einer derartigen Sitzung wurden höchstens 3 bis 4 Neuerlernungen vorgenommen. Aus diesem Grunde waren die Beobachtungen über den Einfluss der Zeitlage auf die Art des Erlernens ziemlich spärlich.

Aehnliches zeigte sich bei Versuchen?) mit dem Treffer- verfahren bei beiden Versuchspersonen; stets erfolgte hier mit zunehmender Zahl der Lesungen eine Zunahme der Treffer un- gefähr bis zu einem Punkte, welcher der Zahl der noch wirksamen Lesungen beim Erlernungsverfahren entsprach. Von da an in den noch folgenden Lesungen eine Abnahme der Trefferzahl. Danuch muss es uns befremden, wenn wir bei Brodmann von Versuchen hören, in denen eine Reihe 50- und 100mal wiederholt wurde. Dass hier eine auch nur annähernd gleichmässige Aufmerksamkeits-

) Ebbinghaus, H., Ueber das Gedächtnis. Leipzig 1885.

2) Da ich in diesen Versuchen neben sinnlosen Worten auch die von Renschburg zusammengestellten, schwer assoziierbaren Wortpaare (wie Frau Mühle, Duarm-Schimmer) verwendete, so möchte ich es nicht unter- lassen, vor einer ausgedehnten Anstellung derartiger Versuche zu warnen. Die Versuchspersonen empfinden sie als zwecklos, wodurch der von Ebert und Meumann als wichtig betonte Fuktor des Willens zur Erlernung beeinträchtigt wird; die Bedingungen für die Aufmerksamkeitsspannung werden so verändert und die Versuche unvergleichbar.

der Gedächtnisstörung bei der Korsakofischen Psychose, 27

spannung bei Patienten mit Korsakoffscher Psychose im Ver- laufe des Versuches bestand, ist äusserst unwahrscheinlich. Nach meinen unten zu besprechenden Erfahrungen möchte ich bei der- artigen Versuchspersonen eine 18 malige Exposition einer 12 silbigen Reihe, wie es in den Versuchen Brodmanns geläufig ist, nicht ohne genauere Kontrolle der Aufmerksamkeitsspannung wagen. Eine solche ist im Erlernungsverfahren ohne weiteres gegeben, indem bei genauer Verzeichnung der Reproduktionen im Versuchs- rotokolle der Punkt leicht auffindbar ist, von dem ab eine weitere

xposition Verschlechterung der Resultate ergibt. Im Treffer- verfahren sind Anhaltspunkte in der Art des Lesens zu gewinnen, da ermüdete Versuchspersonen zu Verlesungen neigen. Anders bei der Brodmannschen Modifikation, wo eine Leistung der Versuchsperson erst nach dem Anhören sämtlicher Wieder- holungen beginnt. Um auclı beim Trefferverfahren den erwähnten Vorteil des Erlernungsverfahrens zu gewinnen, nahm ich derartige Versuche ın der Weise vor, dass ich von 8 za 3 Expositionen der Reihe die Trefferzahl bestimmte; dann ist natürlich die be- ginnende Verschlechterung, d. h. der Eintritt der Ermüdung, leicht konstatierbar.

Das Auftreten von Ermüdungserscheinungen wechselt nach dem verwendeten Erlernungsmateriale.. So sehen wir beim Ver- gleiche von Tabelle 8 (sinnvolle Worte) mit Tabelle 4 (sinnlose Worte), dass Reiben sinnvoller Worte noch in 22 Wiederholungen erlernt wurden, während nur einmal eine Reihe siınnloser Worte nach 18maligem Lesen behalten wurde. Im ersten Falle finden wir das Minuszeichen, welches in der Tabelle andeutet, dass über die bezeichnete Wiederholung kein Erlernungsfortschritt mehr stattfand, bloss einmal- bei der Zahl 17, sonst meist bei 19 bis 22. Im zweiten Falle auch schon bei 12 bis 14 und bloss einmal bei 19. Im Verlaufe der wirksamen Wiederholungen wurden von O. 7- bis 8stellige, von M. anfänglich 7-, später 8-, zum Schlusse 9stellige Reihen sinnvoller Worte erlernt, ferner von M. 7- bis 8stellige Reihen sınnloser Worte. In dem Bestreben zur prägnanten Feststellung von Ersparnis möglichst lange Reihen erlernen zu lassen, musste ich bei der übungsfähigeren Versuchs-

erson M. mit fortschreitender Uebung zur Erlernung längerer

eihen übergehen. Da aber die Neuerlernung als Basis für die Beurteilung der Ersparnis diente, so mussten dann auch bei der Wiederholung die bereits einmal erlernten Reihen entsprechend ergänzt werden, worauf ich gleich bei Herstellung der Reiztafeln durch Freilassen von Feldern Rücksicht nahm. Ich spreche demnach von einer Ersparnis im folgenden nur dann, wenn die Zahl der zu neuerlichem Erlernen erforderlichen Wiederholungen noch unter dem jeweiligen Minimum von Wiederholungen lag, welches zur Erlernung gleich langer Parallelreiben erforderlich war. Die Versuche fanden bei beiden Versuchspersonen stets zur gleichen Tageszeit statt und zwar bei O. von 10 bis 11 Uhr a. m., bei M. von 3 bis 4 Uhr p. m. Die Lebensweise beider Versuchs-

28 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

personen war während der ganzen Versuchszeit durchaus gleich- örmig. Eine eingreifendere Medikation fand nicht statt, beide Patienten erhielten nie ein Schlafmittel. Den Versuchen wurde von den Patienten grosses Interesse entgegengebracht, da sich bei O. daran die Hoffnung, entlassen zu werden, knüpfte, M. an eine Stärkung des Gedächtnisses glaubte und Verfusser wieder- holt für seine Mühe dankte. |

Uebersicht des Lernmaterials. Wirkung einseitiger Gedächtnisübung.

Bevor ich auf die Darstellung der einzelnen Versuchsreihen eingehe, möchte ich eine kurze Uebersicht des im Ganzen ver- arbeiteten Lernstoffes geben, wobei ich mich auf das Anführen der Neuerlernungen beschränke, welche, dem Zwecke der Unter- suchung gemäss, den kleineren Teil der Erlernungen ausmachıten.

M. lernte in Vorversuchen, welche in der ersten Hälfte des Monats Januar vorgenommen wurden, mehrere 6—7gliedrige Reihen sinnvoller Worte, 6—8stellige Zifferreihen und 5—tstellige Reihen sinnloser Worte. Die Hauptversuche begannen für M. am 9. IV. In der Zwischenzeit hatteer Gelegenheit,sich bei Auffassungsversuchen in der Ablesung am Wirthschen Apparate zu üben. Bei den Haupt- versuchen lernte M. zwischen 9. und 16. IV. 9 sechsstellige Ziffer- reihen in durchschnittlich 2,4 Wiederholungen; je eine 7-, 8- und Ostelligo Reihe in 5, 5 und 9 Wiederholungen. In der Zeit vom

10. IV. bis 6. VI. wurden ziemlich gleichmässig über den Zeit- raum verteilt, Erlernungen von 7-, 8- und Ostelligen Reihen sinn- voller Worte vorgenommen (im ganzen 30). Der hierbei beobachtete Uebungsfortschritt soll weiter unten besprochen werden, hier sei bloss erwähnt, dass zwischen 1. und 6. VI. fünf 8stellige Reihen in durchschnittlich 12,2 Wiederholungen erlernt wurden. Vom 27. V. bis 7. VI. wurden, nachdem eine Anzahl von Vorversuchen vorangegangen war, 11 8stellige Reihen sinnloser Worte gelernt, von denen 5 in der ersten Sitzung nicht erlernt werden konnten, 6 nach durchschnittlich 14.5 Wiederholungen behalten wurden; drei 7stellige Reihen wurden jetzt in durchschnittlich 11,7 Wieder- holungen erlernt. Am 24. VII. wurden von drei 8gliedrigen Reihen sinnvoller Worte eine in 15 Lesungen erlernt, zwei konnten nach 18 Lesungen noch nicht frei hergesagt werden. Vom 28. VII. bis 8. VIII. lernte M. die ersten sieben Strophen aus A. Babes: „Der Auswanderer am Orinoko.“ Von diesen wurde bloss eine am zweiten Tage, zwei am dritten Tage, die übrigen später erlernt. Vom 11. VIII. bis 14. 1X. wurden Reihen sinnloser Worte in grösserem Umfange gelernt, u. zw. fanden im ganzen 64 Neu- erlernungen statt; hiebei konnten zwischen 11. und 14. VIII. von neun 8gliedrigen Reihen 5 am ersten Tage nicht erlernt werden; drei 7stellige wurden in durchschnittlich 12 Lesungen erlernt. Am 22. und 23. VIII. wurden sechs 7stellige Reihen sinnloser Worte in durchschnittlich 6,6 Lesungen erlernt, und von sechs

der Gedächnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 29

zwischen 1. und 18. IX. gelernten 8gliedrigen Reihen konnte bloss eine nicht erlernt werden.

Zwischen 15. und 18. IX. wurde durch das Gedächtnis der Versuchsperson M. ein Querschnitt im Sinne von Ebert und Meumann!) gelegt. M. lernte jetzt vier 8gliedrige Reihen sinn- voller Worte in durchschnittlich 7 Wiederholungen. Von zwei Gedichtstrophen eine (9.) am ersten und die zweite (8.) am zweiten Tage. Ferner wurden je drei 7-, 8- und Bgliedrige Zifferreiben exponiert, welche im Mittel nach 2, 2,6 und 7 Wiederholungen erlernt wurden.

Wie aus dieser Uebersicht zu entnehmen, lernte M. in drei Perioden: in der ersten (10. IV. bis 7. VI.) Reihen sinnvoller und sinnloser Worte, in der zweiten (28. VII. bis 8. VIII.) Gedichts- strophen, in der dritten (11. VIII. bis 14. IX.) Reihen sinnloser Worte. In der Zeit vom 6. VI. bis 24. VII., in welcher keine Neuerlernungen, sondern nur Wiederholungen älterer Reihen an vereinzelten Tagen vorgenommen wurden, fand eine starke Ab- nahme der Leistungsfähigkeit für das Erlernen von Reihen sinn- voller Worte statt. Ebenso sind auch die Resultate bei Wieder- aufnahme von Neuerlernungen sinnloser Worte ungünstiger. Dies erscheint um so bemerkenswerter, als unmittelbar vorher Gedichts- strophen gelernt wurden. Allerdings erstreckt sich hier die Ver- schlechterung bloss auf die Erlernung 8stelliger Reihen sinnloser Worte, während 7stellige wie zuvor erlernt wurden. Die einseitige Uebung durch ausgedehnteres Lernen von Reihen sinnloser Worte zwischen 11. VIII. und 14. 1X., die von einem deutlichen Uebungs- fortschritte begleitet war, erzeugte eine Steigerung der Leistungs- fähigkeit für die Einprägung von Reihen sinnvoller Worte und Gedichtsstrophen, wie der vom 15.—18. IX. vorgenommene Quer- schnitt beweist. Auch wurden jetzt Zahlenreihen schneller als in den Versuchen zwischen 9. und 16 IV. gelernt, ohne dass in- zwischen derartige Versuche vorgenommen wurden. Wir finden also bei M. wie beim Normalen eine Steigerung des Ge- dächtnisses durch einseitige Üebung desselben, aber einen weit stärkeren Abfall nach Einschaltung von Pausen.

Auch O. wurde vor Beginn der Hauptversuche in ähnlicher Weise wie M. geübt. Am Anfang der Periode der Hauptversuche hatte er Zahlenreihen zu lernen und prägte sich acht 6stellige nach durchschnittlich 5, zwei 8stellige nach je 16 Wiederholungen ein. In der Zeit vom 14. IV. bis 26. VI. lernte er erst 7-, später 8stellige Reihen sinnvoller Worte, im ganzen 43. Zwischen 29. VII. und 7. VIII. lernte O. 6 Strophen des gleichen Gedichtes wie M. Hierbei konnte keine vor der dritten Sitzung frei hergesagt werden. Vom 2.—8. IX. wurden neuerlich 8stellige Wortreiben, im ganzen 24 gelernt. Ein Abfall der Leistungsfähigkeit war gegenüber der

ı) E. Ebert und E. Meumann: Ueber einige Grundfragen der Psycho- logie der Uebungsphänomene im Bereiche des Gedächtnisses. Arch. f. Psychol. Bd. 4. S. 1—232. 1904..

30 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

letzten Erlernung ähnlicher Reihen (26. VI.) nicht bemerkbar. Zwischen 9. IX. und 12. IX. wurden abermals Zifferreihen und Strophen des gleichen Gedichtes gelernt. Von zwei Strophen wurde eine in der zweiten, die andere in der ersten Sitzung er- lernt. Vier 8stellige Zifferreihen erlernte O. jetzt durchschnitt- lich in 10 Wiederholungen. Wir finden demnach auch bei dieser Versuchsperson eine Steigerung des Gedächtnisses durch einseitige Uebung.

Art der Reihenerlernung Fehleranulyse.

In diesem Abschnitte werde ich die Art und Weise, in der

meine Versuchspersonen die vorgeführten Reihen erlernten, be- sprechen, da sie mir im Vergleiche zu andern, bisher untersuchten deistesstörungen in mancher Hinsicht als charakteristisch für den vorliegenden Krankheitsprozess erscheint. M. las 7stellige Reihen mit einem leichten Iktus auf dem ersten und vierten, 3- und Bstellige mit Betonung des ersten und fünften Wortes und setzte vor dem vierten resp. fünften Worte mit der Stimme etwas ab. In gleicher Weise las er meist auch Reihen sinnloser Worte, diese allerdings mitunter auch in jambischem Rhythmus, ohne abzusetzen. So gelesene Reihen wurden aber auffallend schlechter erlernt. Nach dem Lesen der letzten Silbe folgte bis zum Beginn der Reproduktion eine ziemlich lange Pause von durchschnittlich ö Sekunden (4—8).

Schon durch die ersten Lesungen gewann er eine richtige Vorstellung von der Länge der Reihe, indem er nach der ersten Reproduktion die Zahl der ausgelassenen Worte richtig angeben konnte, ohne allerdings die Länge der Reihe numerisch ausdrücken zu können.

Bei der Reproduktion wurden stets die ersten beiden Worte, häufig auch schon das dritte, in der ersten bis zweiten Lesung erlernt und an richtiger Stelle genannt. Was die Einprägung der übrigen .anlangt, so lassen sich zwei Arten des Lernens unter- scheiden; in der ersten wurden auch die zwei letzten Glieder der Reihe verhältnismässig rasch an richtiger Stelle genannt. Die mittleren traten nach und nach an ihre Stelle. Beim zweiten Erlernungstypus wurden die Worte der dritten, vierten... .. und letzten Stelle successive erlernt. Die Verschiedenheit der beiden Typen wird aus den Kurven Fig. 1 und 2 klar; dieselben wurden ın folgender Weise entworfen: auf der Abscisse wurde die Stelle in der Reihe verzeichnet, auf die Ordinate die Ge- samtzahl der Wiederholungen, in denen das entsprechende Wort richtig genannt wurde. Fig. 1 ist nach den Protokollen für die erste Erlernung der I.— VIII. Reihe sinnvoller Worte, Fig. 2, für die erste Erlernung der 8stelligen Reihen entworfen. Nach der ersten Art wurden ausser den in den Vorversuchen exponierten Reihen die meisten der ersten Versuchsperiode (stellig) erlernt; der zweite Modus macht sich schon bei einzelnen Wiedererlernungen

der Gedächtnisstörang bei der Korsakoffschen Psychose. 31

7stelliger Reihen geltend und äussert sich später in allen Ver- suchen mit sinnvollen und sinnlosen Worten. M. lernte also nach dem zweiten Modus weit rascher als nach dem ersten. Das späte Erscheinen der letzten Reihenglieder bei der Reproduktion im zweiten Falle erscheint zunächst befremdlich, da ja erfahrungs- gemäss die letzten Worte einer Reihe sich besonders leicht ein- prägen; es ist aber zu bemerken, dass es sich hier lediglich um

eststellung des Tatbestandes handelt, dass die letzten Reihen- glieder in gewissen Fällen relativ spät genannt werden. Dass trotzdem eine feste Einprägung der letzten Worte stattfand, soll damit nicht geleugnet werden; im Gegenteil, ich konnte beobachten, dass M. dieselben gleich nach den ersten Lesungen angeben konnte, wenn man ihn danach fragte. Auf diese Weise bekam man den Eindruck, dass er gewisse Worte bewusst verschwieg, und die Reproduktion sich aufdrängender zu hemmen suchte.

Fix. 2

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Nun rufen aber nach der Selbstbeobachtung gerade die sich vordrängenden Worte subjektiv eine gewisse Verwirrung hervor, indem sıe die Aufmerksamkeit von den noch fehlenden ablenken, so dass wir also tatsächlich den zweiten Erlernungsmodus als den zweckmässigeren ansehen müssen.

Die von M. neben der Auslassung von Worten bei der Re- produktion begangenen Fehler lassen sich in folgender Weise gruppieren:

1. Zwei aufeinanderfolgende Worte wurden in verkehrter Reihenfolge wiedergegeben.

2. Ein an entfernterer Stelle zu nennendes oder genanntes Wort vertritt das zu reproduzierende. Als derartige Ersatz- oder Flickwörter dienten Reihenglieder, die durch Klang, Be- deutung oder Stellung in der Reihe sich rascher einprägten. Wie schon erwähnt, blieben zumal die letzten zwei Worte besonders

32 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

rasch haften, gleiches gilt für Worte, welche der Iktus traf, also das vierte bei siebenstelliger, das fünfte bei mehrstelliger Reihe.

3. wurden falsche Worte genannt, d. h. solche, die in der Reihe überhaupt nicht vorkamen. Derartige Worte entstammten entweder einer Wortvermengung [assoziative Mischbildung im Sinne von Müller und Pilzecker]!), zweier nebeneinander oder ferner liegender, sich leichter einprägender Worte oder stellten ganz neue Worte vor. Für einzelne letzterer konnte eine ent- ferntere Beziehung zu Worten der Reihe gefunden werden, so drängte sich in einer Reihe, in welcher das Wort „Hund“ vor- kam, das Wort „Biss“; in einer anderen, wo „Reif“ stand, das Wort „Ring“ vor. Oft war aber ein solcher Zusammenhang nicht zu ermitteln und auch die bei O. beobachtete Beziehung zu einer vorangegangenen Reihe nicht festzustellen. Als Bei- spiele von Wortvermengung seien genannt: Kraft aus Krebs und Schaft; Schuld aus Schirm und Huld; Tang aus Ton und Zwang; Ring aus Reim und Wink.

Bei der Reproduktion von Reihen sinnloser Worte konnten Wortmengungen und Wortneubildungen besondershäufig beobachtet werden, so: raf aus ral und wef; jes aus jel und vos; bul aus bum und jel; dak aus dap und jek; gan aus gal und jen; juf aus jen und fuf. |

Bei Durchsicht der Protokolle für die auch in umgekehrter Reihenfolge gelernten Reihen ergibt sich, dass gut eingeprägte Worte der Normalreihe an jenen Stellen der Umstellungsreihe auftreten, deren Worte schwerer erlernt werden und einmal

enannt, im Sinne der Normalreihe assoziativ weiter wirken. So findet man in mehreren Reihen fast in allen Reproduktionen die dritte Stelle durch Worte aus dem ersten Teile der Normal- reihe ersetzt und anschliessend weitere Worte im Sinne der Normalreihe. In einem weiteren Versuche findet man fast sämt- liche Reihen mit dem letzten Wortpaare der Normalreihe ab- geschlossen. Wir haben also im Vergleiche zu den Normalreihen eine grosse Anzahl von Falschnennungen zu erwarten, was denn auch die prozentuelle Berechnung ergab. Gleiches zeigt die Durchsicht der Protokolle für das Lernen von Umstellungsreihen sinnloser Worte. Hier findet man oft schon die zweite Stelle durch das homologe Glied der Normalreihe . ersetzt. Ferner assoziative Mischbildung zwischen homologen Gliedern der Normal- und Umstellungsreihe.

| Ueberblicken wir noch das Verhältnis der ausgelassenen zu den falsch genannten Worten für die einzelnen Versuchs- gruppen. In den Versuchen, welche der Kurve | zugrunde gelegt sind, beträgt die Zahl der ausgelassenen Worte 17,1 pCt., jene der falsch genannten 18,8 pCt. der im ganzen gelesenen Worte. In den Versuchen der Kurve 2 betragen die Auslassungen 33,42 pCt., die Falschnennungen 11,36 pCt. Wir sehen also

1) G. E. Müller und A. Pilzecker, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gedächtnis. Zft. f. Psycholog. Ergzbu. 1. 1900.

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 83

mit steigender Uebung die Zahl der falsch reproduzierten Worte abnehmen, die der ausgelassenen zunehmen. Beim ersten Er- lernen der Umstellungsreihen sinnvoller Worte betragen die falsch- genannten 85,07 pCt., die ausgelassenen 24,74 pCt. gegenüber 13,98 und 86,73 pCt. der Normalreihe. Also eine starke Zu- nahme der falsch reproduzierten Worte. Ein ähnliches Verhältnis ergibt der Vergleich für Normal- und Umstellungsreihen sinnloser Worte, nämlich für erstere 22,68 pCt. falschgenannter und 31,28 pCt. ausgelassener, für letztere 35,47 pCt. und 14,36 pCt.

. zeigte starke Tendenz, bei der Reproduktion gleich lange Wortreihen zu nennen wie gelesen wurden; da er aber quali- tativ schlechter lernte als M., so treten Falschnennungen viel zahlreicher auf. Dieses Bestreben dürfte wohl ein Ausdruck der bei O. stärker ausgesprochenen Konfabulation sein. Qualitative Merkmale für das schlechtere Lernen erkennen wir in den Ver- suchsprotokollen darin, dass mitunter auch an die erste Stelle relativ spät das richtige Wort tritt, so beim VIII. Versuche erst von der 10. Lesung an. Der steile Abfall der Kurve (Fig. 8 und 4)

Fig. 8. Fig. 4.

138324567

zwischen unmittelbar und allmählich erlernten Worten liegt hier schon zwischen dem 1. und 2. Abszissenpunkte, währeud er bei M. zwischen dem 2. und 8. zu finden ist. Auch sehen wir bei ©. überall jenen Erlernungstypus, den wir bei M. als den lang- wierigeren erkannten. Ein Vergleich der ersten und der folgenden zehn Reihen durch Konstruktion ähnlicher Kurven wie oben für M. lässt keinerlei Unterschied in der Art des Erlernens feststellen.

Was die Nennung falscher, Worte anlangt, finden wir wie bei M., dass jene Worte, die durch auffällige Bedeutung (Most, Bier) oder leichtere Einprägbarkeit (zumal durch Klang oder durch Stellung in der Reihe bedingt) rascher haften bleiben, an die Stelle noch nicht eingeprägter treten. Wortvermengungen finden

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXL Helt ı. 8

84 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

wir verhältnismässig seltener nls bei M. Viel häufiger als bei diesem tritt hier an Stelle eines Wortes ein inhaltlich assozi- iertes oder ein klangverwandtes Wort. Als Beispiel für den ersten Fall: Getreide statt Feld, Graben statt Damm, Mops statt Hund, Ziel statt Pfeil. Als Beispiel für den zweiten Fall diene: Brot statt Ort, Uhr statt Kur, Kleid statt Leid, Kraut statt Kauz, Kost statt Trost. Diese Beispiele zeigen auch die Richtung (ins Triviale) an, in welcher die Falschnennung aufzutreten pflegte. Ein neues Moment tritt uns in der Neigung entgegen, Worte früher erlernter Reihen zum Ersatze nicht eingeprägter zu verwenden. Meist waren es Worte der letzterlernten Reihe, insbesondere dann, wenn ein grosser Teil der neuen Reihe ersetzt wurde, also gleich nach den ersten Lesungen einer neuen Reihe. Einzelne Worte aber entstammten auch älteren Reihen, und zwar bildeten sich im Laufe der Versuche aus Worten, die durch ihre Bedeutung sich leicht einprägten, stereotype Flickworte. In einem Falle wurden bei der ersten Reproduktion 6 Worte der zuletzt erlernten Reihe genannt. In der Regel fand eine rasche Verdrängung der perse- verierenden durch die Glieder der neuen Reihe statt. Doch findet man mitunter einzelne nicht in die Reihe gehörige Worte auch noch bei den letzten Reproduktionen der neuen Reihe. Den kon- fabulatorisch genannten, also in der Reihe nicht vorkommenden Worten fehlte das Sicherheitsgefühl. Wenigstens konnte man regelmässig auf die Frage: „Haben Sie dies auch wirklich ge- lesen?" unter Lächeln: „Nein!“ zur Antwort erhalten. Die Neigung, zu konfabulieren, schien das Erlernen auch dadurch stark zu schädigen, dass häufig bei der nächsten Lesung im Sinne der letzten Reproduktion verlesen wurde.

Vergleichen wir Auslassungen und Falschnennungen für die erste Erlernung der ersten und späteren Reihen. Die ersten zehn Reihen wurden durchschnittlich nach 17,5maligem Lesen erlernt. Die Zahl der ausgelassenen Worte betrug 17,47, die der Falsch- genannten 41,99 pCt. der bis zur Erlernung gelesenen Worte. In den folgenden zehn Reihen, welche nach durchschnittlich 10,3 Lesungen erlernt wurden, betragen die bezüglichen Werte 12,59 pCt. und 55,18 pCt. Wir finden also mit der Steigerung der Leistungs- fähigkeit eine Abnahme der Auslassungen und starke Zunahme der falschen Fälle. Ä

Brodmann beobachtete, dass im Höhestadium der Korsa- koffschen Psychose die Zahl der falschen Fälle auf Kosten der richtigen vermehrt sei und nach beginnender Genesung die Fehl- reproduktionen abnehmen, während die Null uud richtigen Fälle relativ ansteigen. Da bei meiner Versuchsperson O. die Falsch- nennungen die Auslassungen überwogen, bei M. ein umgekehrtes Verhältnis bestand, so scheinen im chronischen Stadium der Korsakoffschen Psychose beide Möglichkeiten verwirklicht, in- dem sich die Befunde bei O. jenen Brodmanns für das Höhestadium, die Befunde bei M. jenen für die beginnende Genesung nähern. |

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 35

Die beim Normalen zu beobachtenden Lesestufen waren bei meinen Versuchspersonen nur für Erlernung von Gedichtsstrophen und Prosastücken ausgesprochen. Beim Lesen unzusammen- hängender Wortreihen kam die Stufe des antizipierenden Lesens nicht zur Geltung, weil die Versuchspersonen bei den ersten Ansätzen, welche fast ın jeder Reihe zu beobachten waren, ent- täuscht, zurückhaltend wurden und sich stärker auf das zu Lesende konzentrierten. Kontrollierendes Lesen trat erst nach dem ersten fehlerlosen Hersagen auf, bis zu dem meist das Gefühl der Sicher- heit fehlte.

Bei der Erlernung zusammenhängender Wortreihen zeigte O. nach den ersten Lesungen die Tendenz, das Behaltene einfach zu nennen und ohne Rücksicht auf den Sinn des Gelesenen durch andere Worte zu ergänzen. Als solche traten meist Worte der letzterlernten Reihe, aber auch älterer, gut eingeprägter auf, welche selbst nach Pausen von 3—5 Minuten an Stelle der neu- gelesenen hergesagt wurden. Ferner wurden die Lücken auch durch unmotivierbare falsche Worte ergänzt. Infolgedessen bildete oft der Inhalt der ersten Reproduktionen ein ganz sinn- loses, unzusammenhängendes Wortgefüge. Auch bei diesen Lern- stoffen behielt O. gleioh nach den ersten Lesungen die ersten: und letzten Worte, meist auch einzelne, die durch ihre Bedeutung stärker hervortraten. Nach den folgenden Lesungen wurde aus den haftengebliebenen und perseverierenden Worten ein gramma- tikalisch mehr-weniger korrekter Satz gebildet, der aber mitunter gar nicht den Inhalt des Gelesenen wiedergab. Statt: „Da be- wegte sich ein langsamer Zug auf der Landstrasse geräuschlos zu den ersten Häusern der Vorstadt. Das waren die zurückkehrenden Franzosen,“ lautete die Reproduktion nach der ersten Lesung: „Da lag die Strasse wie ein Leichenzug die zurückkehrenden Franzosen“ Aus dem früher gelernten Satze perseverierte „Leichentuch“ und wurde nun mit „Zug“ vermengt. Nach der dritten Lesung hiess es: „Da bewegte sieh langsam wie ein Leichenzug in die Vorstadt, das waren die zurückkehrenden Franzosen.“ Nach der fünften Lesung: „Da kam ein langsamer Zug geräuschlos wie ein Leichenzug in die Vorstadt. Das waren .. ..“ Die Korrektur erfolgte allmählich. Schneller bei stärkerer Differenz von Konfabulation und Lesestoff. Bloss an einzelnen perseverierenden oder erfundenen Worten wurde zäher festgehalten, was wieder Anlass zu Verlesungen gab. Am spätesten erschienen die Adjektiva an richtiger Stelle. Vertauschungen oder Fälschungen durch perseverierende oder erfundene Worte traten überaus haufig auf, zum Teil ohne Rücksicht auf den Sinn. So nach der sechsten Lesung der zweiten Strophenhälfte: „Dort stand der farbenreiche Mond in weiter Ferne und winkte matt in dunkler Nacht dem Frieden.“ Statt: „Dort stand der Mond in dunkler Ferne und winkte majestätisch Ruh dem Müden.* „Farbenreich* stammte aus einer früheren Strophe und zeigte auch sonst Per- severationstendenz; „dunkel“ wurde sinngemäss zu „dunkler Nacht“

86 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

ergänzt, das schwerer einzuprägende „majestätisch“ offenbar unter dem Einflusse des späteren „Müden“ durch „matt“ ersetzt. „Dem Frieden“; nach Korrekturen, die die Versuchsperson selbst anbrachte, ist zu entnehmen, dass ıhr statt „Kuh dem Müden“ Ruh und Frieden vorschwebte, wie sie auch tatsächlich einige- male verlas. Auffallend war der Einfluss perseverierender Worte auf die Bildung falscher Ausdrücke. So wurde von O. einigemale „savonisch“ statt „melodisch“ gesagt. In einer früheren Strophe, die vor Erlernung der „melodisch“ enthaltenden mehreremale wiedererlernt wurde, kam das Wort „Savanna“ vor, welches sich O. relativ früh einprägte und auch bei anderer Gelegenheit per- severatorisch gebrauchte.

Bei M. war zu beobachten, dass er bei anklingenden Stellen in die Reproduktion früher gelernter Strophen, einmal auch aus einem Gedichte, das in den Versuchen gar nicht vorkum, geriet. M. lernte auch zusammenhängende Wortreihen successive. Erst blieb der erste Teil, dann der folgende des Ge- lesenen haften. Die Fehler bestanden wesentlich in Auslassung von Satzteilen oder Sätzen attributiver Funktion. Sehr häufig wurden Adjektiva vertauscht durch sinn- oder klangverwandte oder aus früheren Erlernungen perseverierende, zum Teil auch durch unmotiviert falsche ersetzt. Ä

Was den Einfluss der Zeitlage auf die Erlernungsart anlangt, so konnte bei beiden Versuchspersonen beobachtet werden, dass sie schon durch die erste Erlernung bei einer Sitzung „in Zug kamen“; vorausgesetzt, dass die erste Erlernung überhaupt glückte. War dies nicht der Fall, dann bedurfte es zur Erlernung der nächsten Reihe verhältnismässig mehr Wiederholungen als ge- wöhnlich bei gleicher Zeitlage. In der Art des Ausfalles der ersten Erlernung in einer Sitzung tritt uns ein neues, bei normalen Versuchspersonen in der Regel nicht zu beobachtendes Moment entgegen, welches für den Einfluss der Zeitlage auf die Erlernungsart zu berücksichtigen ist. Ä

Ergebnisse der Gedächtnisversuche,

Drei Monate vor Beginn der Untersuchung stellte ich mit Dr. Roemer zur Einübung der Pat. in Ablesungen am Wirthschen Apparate eine Reihe von Gedächtnisversuchen an. Eine weitere Reihe von Vorversuchen, bei denen auch das Erlernen von Zahlen und sinnlosen Worten geübt wurde; fand unmittelbar vor den hier zu besprechenden Versuchen statt.

Die Ergebnisse der Gedächtnisversuche sind ın Tabellen zusammengestellt, zu deren Erläuterung folgendes zu bemerken ist. Je eine Horizontalreihe entspricht einer Gruppe von Ver- suchen und-enthält die Resultate, welche bei den zu verschiedenen Zeiten angestellten Erlernungen einer und derselben Reihe sinnloser oder sinnvoller Worte gewonnen wurden. Die Zahlen bedeuten die Lesungen, die zum Erlernen der Reihen notwendig waren. Wurde eine Reihe in einer Sitzung nicht erlernt, so fügte ich in

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoflschen Psychose. 37

der Tabelle der Zahl, welche in dem früher besprochenen Sinne die letzte wirksame Lesung bezeichnet, ein Minuszeichen hinzu, Unmittelbar nebeneinander wurden die Zahlen bei einer Wieder- erlernung nach 24 Stunden gesetzt. Zwischenzeiten von wenigen Tagen sind durch wagrechte Striche markiert, wobei ein Strich einen Zeitraum von 24 Stunden bedeutet. Grössere Zwischen- räume wurden in Klammer vermerkt.

Zunächst suchte ich festzustellen, wie lange die Spuren einer Einprägung nachweisbar sind; dabei stellte es sich bald heraus, dass ebenso wie beim Normalen es für das Wiedererlernen einer Reihe keineswegs gleichgültig ist, ob sie vorher ein- oder mehrmals erlernt wurde. Es trat also in der Zahl der Erlernungen ein neuer Faktor für die Beurteilung der Gedächtnisspuren hinzu. Anfänglich wählte ich zwischen den einzelnen Erlernungen ganz kurze Zwischenräume, da ich nach den bisherigen Erfahrungen die Gedächtnisleistungen meiner Patienten unterschätzte. Später warden die Abstände allmählich erweitert. Nach einiger Orientierung ging ıch systematisch vor, indem ich die Zwischenzeit mit der Zahl der Frlernungen wachsen liess und Versuchsreihen gleicher Art häufte.

Wenden wir uns den Gedächtnisversuchen der Versuchs-

erson O. zu, deren Resultate Tabelle 1 und 2 enthält. Aus Tabelle 1 ist zu entnehmen, dass die erste Wiederholung also zweite Erlernung nach 24 Stunden oder nach 48 Stunden, vorausgesetzt, dass die Reihe schon bei der ersten Sitzung erlernt wurde, eine Ersparnis der zum freien Hersagen erforderlichen Lesungen ergab. Bei erster Wiederholung nach 72 Stunden finden wir in drei Versuchen eine deutliche Ersparnis, in einem (XVII) schien eine solche nicht zu bestehen. Allerdings wurde hier vor der zweiten Erlernung die Silbenzahl von 7 auf 8 vermehrt. Nach einem parallelen Versuche wäre für die erste Erlernung 20 statt 12 zu setzen und danach doch eine Ersparnis bei der Wieder- holung anzunehmen sein. Wie eine Betrachtung des oberen Teiles der Tabelle lehrt, war bei einem Abstande von 72 Stunden zwischen zweiter und dritter Erlernung regelmässig eine Ersparnis festzustellen. Die erste Wiederholung naeh 4 mal 24 Stunden ergab in sechs Versuchen bloss einmal Ersparnis (XIII). Fast stets (XX, XXI, X—XV) war aber eine solche nach 4 mal 24 Stunden dann zu bemerken, wenn der Wiederholung bereits zwei Eirlernungen vorausgegangen waren.

Bei der dritten Erlernung fand ich in Versuchsreihe XVI nach 6 Tagen, Versuchsreihe x vll. XIX, nach 7 Tagen, Ver- suchsreihe XVII nach 8 Tagen eine deutliche Ersparnis.

Die vierte Erlernung erfolgte nach 10 Tagen mit Er- sparnis (Versuchsreihe XVII—XX).

Die fünfte Erlernung ergab eine Ersparnis nach 14 Tagen (Versuchsreihe XII—XV), nach 20—21 Tagen (Versuchsreihe XVIIl—XXT), nach 80 Tagen (Versuchsreihe XVI), nach 45 Tagen (Versuchsreihe XVII). |

38 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

Bei der sechsten Erlernung lernte O. nach 60 Tagen in Versuchsreihe XVIII mit nur geringer, in Versuchsreihe XVI, XVII, XIX— XXI mit ausgiebiger Ersparnis.

Die siebente Erlernung ergab nach 90 Tagen deutliche Ersparnis (Versuchsreihe XII—XVI, XVII, XIX, XXVI).

Die achte Erlernung ergab nach 60, 80, 90, 120 Tagen (Versuchsreihe IX, XI, XXIV, X) eine grosse, in Versuchsreihe VII und XXV nach 107 und 120 Tagen eine geringe Ersparnis.

Bei der neunten Erlernung lernte er in Versuchsreihe II, V nach 90 Tagen, ın Versuchsreihe VI und IX nach 120 Tagen mit Ersparnis.

Bei der zehnten Erlernung lernte er in Versuchsreihe III nach 120, in Versuchsreihe I und XXII nach 150 Tagen mit Ersparnis, in Versuchsreihe IV nach 150 Tagen ohne Ersparnis.

(Hier folgt Tabelle 1 und 2 auf Seite 89.)

Tab. 2 veranschaulicht die allmähliche Abnahme der zur Einprägung erforderlichen Lesungen bei täglicher Wiederholung der gleichen Reihe. Vergleichen wir den Effekt dieser Lern- methode mit jener in den Versuchen der Tab. 1, wo eine Ver- teilung der Lesungen auf einen längeren Zeitraum stattfand, so ergibt sich als Mittel für die Zahl der Lesungen im ersten Falle (tägliche Wiederholung) bei der sechsten Erlernung der Reihe 8,6.

um Vergleiche wurde das Mittel aus den sechs ersten Lesungen jener Versuchsreihen gewählt, in denen die 6. Lesung mit der 6. der früher erwähnten Versuche zusammenfiel (X, XI, XII— XV). Wir finden im zweiten Falle ein Mittel von 3,2. Der Effekt ist somit bei Verteilung der Wiederholungen auf einen Zeitraum von 6 oder 39 Tagen nahezu derselbe. Die Berührung beider Reihen findet allerdings erst ım Verlaufe der Erlernungen statt, da wegen des verhältnismässig weiten Abstandes derselben im zweiten Falle die Ersparnis in den ersten Lesungen nur sehr gering war. | Eine weitere Versuchsgruppe sollte über das Verhalten einmal eingeprägter Reihen bei einer Wiederholung nach kürzerer Zeit orientieren. Zu diesem Zwecke liess ich O. achtstellige Reihen erlernen und exponierte sie nach 1, 2, 2!/,, 3 und 24 Stunden wieder bis zur Erlernung. Hierbei ersparte er in 10 Versuchen bei einer Wiederholung nach 1 Stunde 55,36 pCt., bei einer Wiedererlernung nach 24 Stnnden in 10 Versuchen 44,72 pCt. an Lesungen. Ausserdem wurden je 3 weitere Reihen nach 2, 2!/, und 3 Stunden wieder erlernt. Die Ersparnis betrug durch- schnittlich 36,89 pCt. Berücksichtigt man, dass O. nach 2 mal 24 Stunden mit einer kleinen, nach 3 mal 24 Stunden mit un- sicherer, nach 4 mal 24 Stunden ohne Ersparnis wiedererlernte, so stellt sich der Abfall der Assoziationen als eine Kurve dar, die nach einer Stunde ungefähr um die Hälfte der Ordinate, in den nächsten 24 Stunden nicht ganz gleichmässig um einen ver- hältnismässig kleinen Wert absinkt, nach 3 mal 24 Stunden sich stark der Abszisse nähert und dieselbe nach 4 mal 24 Standen

39

der Gedächtaisstörung bei der Korsakoffschen Psychose.

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40 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

erreicht. Ein Vergleich mit der von Ebbinghaus für den Normalen entworfenen -Gedächtniskurve zeigt für beide in dem ersten Teile ihres Verlaufes eine annähernde Uebereinstimmung in der frühzeitigen Berührung der Abszisse für den Korsakoffpatienten eine auffällige Differenz.

Bei M. ging ich vom Erlernen siebenstelliger Reihen sinn- voller Worte aus. Nach 14 Tagen sank die Zahl der Lesungen rasch ab, weshalb die Reihen auf 8 erhöht wurden. In der Folge musste eine weitere Erhöhung um ein Wort vorgenommen werden. Betrachten wir Tab, 3, welche die Ergebnisse der Gedächtnis- versuche bei M. veranschaulicht, so fällt der verhältnismässig niedrige Wert der ersten 4 Zahlen in der ersten Vertikalreihe auf. Dies beruht darauf, dass durch ein Versehen die gleichen Tafeln auch in den Vorversuchen verwendet wurden.

(Hier folgt Tabelle 3 auf Seite 41.)

Gehen wir auch hier von der Frage aus: Wie lange ist nach einmaligem Erlernen noch eine Ersparnis nachweisbar}, so zeigt die Tabelle, dass eine solche nach 24 Stunden immer in ausgiebiger Weise stattfand (Versuchsreihe I, II, V, VIII). Ber einer Wiederholung nach 2 mal 24 Stunden war bloss einmal keine Ersparnis festzustellen. Allerdings wurde hier die Reihe auch bei der ersten Sitzung nicht erlernt. Nach 3 mal 24 Stunden (Ver- suchsreihe XXI, XVII und XIX) wurde 4 mal mit Ersparnis gelernt. Auch hier gab bloss die Wiederholung jener Reihe, die bei der ersten Sitzung nicht erlernt wurde, keine Ersparnis. Nach 4 mal 24 Stunden wurde in allen Fällen eine deutliche Ersparnis wahrgenommen (Versuchsreihe XIII, XIV, XVI, XVII, XX). Eine solche fehlte überall nach 5 mal 24 Stunden (Versuchsreihe XXII bis XXV).

Die 1. Wiederholung nach 6mal 24 Stunden (Versuchs- reihe XV) und 7 mal 24 Stunden (Versuchsreihe XXI) ergab zwar noch eine Erniedrigung in der Zahl der Lesungen, doch ist die Differenz zu gering, um nach Abzug des Uebungsfaktors eine Er- sparnis annehmen zu können.

In Versuchsreihe XIII und XIV wurde bei der 3. Erlernung nach 5 mal 24 Stunden eine beträchtliche Ersparnis erzielt. Eine Erhöhung der Zwischenzeit zwischen 2. und 3. Erlernen (Versuchs- reihe I, XV— XXI) ergab noch nach 5, 6, 7, 8 und 11 Tagen Ersparnis. Wie ein Blick auf den oberen Teil der Tabelle zeigt, lernte M. auch in anderen Versuchen, wo zwischen 1. und 2. Wieder- holung kürzere Abstände gewählt wurden, die gleiche Reihe das dritte Mal stets mit Ersparnis an Lesungen.

In Versuchsreihe VIII fand die 2. Wiederholung nach 22 Tagen statt. Eine kleine Ersparnis scheint auch hier zu bestehen, da die Zahl der Lesungen (13) noch unter dem Durchschnittswerte der für die 1. Erlernung neunstelliger Reihen erforderlichen Lesungen liegt.

41

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose.

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42 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

Bei der 4. Erlernung wurde in Versuchsreihe XVI—XX nach 3—19 Tagen eine sichere Ersparnis gefunden, in Versuchs- reihe XXI sogar nach 30 Tagen mit Ersparnis gelernt. Dagegen wurde in der XII. Versuchsreihe bei der 3. Wiederholung die Reihe nach 5 Tagen in 20 Lesungen noch nicht erlernt. In Versuchs- reihe VI und VII fand nach 21 bezw. 22 Tagen keine sichere Ersparnis statt.

Bei der 5. Erlernung wurde in der XIII. und XIV. Ver- suchsreihe nach 14 bezw. 19 Tagen Ersparnis erzielt. Versuchs- reihe I ergab nach 13 Tagen, Versuchsreihe IV nach 20 Tagen keine deutliche Ersparnis. Dagegen wurde in Versuchsreihe XVII nach 25, in Versuchsreihe IX, XV, XVI, XIX, XX nach 30 Tagen mit Ersparnis erlernt.

Bei der 6. Erlernung lernte M. 60 Tage nach der 5. Er- lernung die gleiche Reihe mit Ersparnis wieder (Versuchsreihe XVI—XX).

Die 7. Erlernung ergab nach 90, 100 und 107 Tagen aus- giebige Ersparnis (Versuchsreihe X—XII, XVI, XVII, XIX, XIII, XIV).

Die 8. Erlernung ergab Ersparnis nach 90, 120 und 150 Tagen (Versuchsreihe III, XXVII, XXVIII I).

Die 9. Erlernung nach 150 Tagen (Versuchsreihe II).

In den Versuchen XXVI—XXVII wurden Reihen sinn- voller Worte in aufeinanderfolgenden Tagen wiederholt erlernt. Man findet bei der fünften Erlernung eine niedrigere Zahl von Lesungen als in den analogen Versuchen mit grösseren zeitlichen Intervallen zwischen den einzelnen Wiederholungen, Auch erweisen sich jene Reihen bei späterer Vorführung nach einem langen Zeit- raume als die fester eingeprägten.

Vergleicht man bei M. und O. die Protokolle jener Versuche, in welchen eine Reihe nach wiederholtem Erlernen mit grösster

. Ersparnis wiedergelernt wurde, mit jenen, wo eine Reihe in wenig

Lesungen zum erstenmale erlernt wurde, so findet man bei M. im ersten Falle Falschnennungen nur in den ersten Wieder- holungen, ferner ist hier jener Typus, der sich für das Erlernen als vorteilhafter erwies, besonders deutlich ausgesprochen. Wir finden somit die festere Einprägung einer Wortreihe auch schon in der Art des Erlernens gekennzeichnet und gewinnen so An- haltspunkte für die Beurteilung von Fällen, wo die Zahl der Lesungen kein sicheres Urteil über eine Nachwirkung früherer Er- lernungen zulässt. |

Tabelle 4 bringt die Ergebnisse einiger Versuche mit sinn- losen Worten. In einer Gruppe wurden fünf achtstellige Reihen in sechs aufeinanderfolgenden Tagen sechsmal erlernt, in den ersten zwei Versuchen nach drei Tagen wiederholt, sodann für alle Reihen grössere Unterbrechungen eingeschaltet. In der zweiten Gruppe wurde gleich im Anfang in Zwischenräumen gelernt. Wie die erste Vertikalreihe zeigt, ist die Zahl der Reihen, welche in der ersten Sitzung nicht erlernt werden konnten, ziemlich beträchtlich. Eine

but pas

m OLONA L e pa go m

PESSEREISNS

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 43

Tabelle 4. V. 14 6 2 8 28 3 68 Tage) 2 (120 Tage) 4 V. 16(—) 9 4 768 8 (50 Tage) 5 (120 Tage) 8 V. 18 4 4 B 4 8 (14 Tage) 4 (40 Tage) 7 (120 Tage) 4 V. 11 6 4 6 44 (20 Tage) 4 (60 Tage) 2 V. 16(—) 9 8 5 58 (81 Tage) 6 (90 Tage) 5 V. 18 16 8 2 (14 Tage) 4 (45 Tage) 3 v 17 (2) 16 8 V. 15(— v ee EO 5 (9 Tage) 9 (14 Tage) 6 (80T (60 Tage) 3 . age age age) 4 e V. 13) 18 9 8 Ta 11 (14 10 8 ER 6 (60 Tage) 4

Wiederholung nach 24 Stunden ergab bis auf Reihe 9, welche auch in der ersten Sitzung nicht erlernt werden konnte, deutliche Er- sparnis. Im Gegensatz zu den Versuchen mit sinnvollen Worten ist schon bei einer Wiederholung nach 48 Stunden keine sichere Ersparnis mehr nachzuweisen. Dagegen findet man bei der zweiten Wiederholung auch nach 72 Stunden eine Erniedrigung des Wertes. Die Versuche mit täglicher Wiederholung der Reihen zeigen ein anfänglich rascheres, später allmähliches Absinken der Zahl er- forderlicher Lesungen. Einschaltung sserer Zeiträume zeigte bei einem Abstande von neun Tagen deutliche Ersparnis bei der vierten Erlernung; ferner Ersparnis in der fünften Erlernung nach 14 Tagen (Reihe 6, 10, 11) und Ersparnis bei einem Zwischen- raume von 30 und 45 Tagen zwischen fünfter und sechster Er- lernung (Reihe 10, 11, 6).

Bei der siebenten Erlernung wurde nach 60 Tagen (Ver- suchsreihe 10 und 11), bei der achten Erlernung Versuchs- reihe 4 nach 60 Tagen, Versuchsreihe 5 nach 90 Tagen eine Er- sparnis erzielt.

Die neunte Erlernung ergab nach 120 Tagen deutliche Er- sparnis (Versuchsreihe 1, 2, 3).

Nach den Versuchen Brodmanns mit dem Erlernungs- verfahren sind Korsakoffsche Patienten im Höhestadium der Erkrankung nicht im stande, zusammenhängende Vorstellungs- reihen sich derart einzuprägen, dass sie frei reproduziert werden können; allerdings gilt dieser Satz bloss für 8- und mehrstellige Reihen sinnloser Worte, Wie bereits erwähnt, fand Brodmann im Höhestadiam der Krankheit latente Erinnerungsspuren nach 1, 1!/ und 24 Stunden, indem bis auf imal, wo Ermädung der Versuchsperson hindernd wirkte, die wiederholte Erlernung der Reihe eine Zunahme der Trefferzahl ergab.

Bei der Erlernung von Strophen aus Bubes „Auswanderer“, die durchschnittlich 30 Worte zählten, musste ich von dem gewöhn- lichen Verfahren abweichen, bei welchem die Versuchspersonen den zu erlernenden Stoff im ganzen lasen, da, wie ein Blick auf Tab. 5 lehrt, dies Verfahren hier nur sehr langsam zum Ziele führte. Ich liess daher die Versuchspersonen erst jede Strophen- hälfte für sich erlernen und dann die Strophe im ganzen bis zur

44 . Gregor, Beiträge zur Kenntnis

Einprägung lesen. Die hierzu erforderlichen Wiederholungszahlen sind in der Tabelle in der Weise wiedergegeben, dass die zur Erlernung der Strophenhälften nötigen Lesungen in Bruchform ausgedrückt sind!). Wie aus der Tabelle ersichtlich, lernte M, Gedichtsstrophen bei der 2. Erlernung nach 10 Tagen, bei der 3. Erlernung noch nach 70 und 80 Tagen mit grosser Ersparnis. Bei der 5. Erlernung wurde auch nach 120 Tagen mit Ersparnis erlernt (No. VII). In auffälligem Gegensatze zur schwierigen Neuerlernung unbekannter Strophen stand das Resultat, welches bei Erlernung eines ihm bekannten Gedichtes (Bürgschaft) erzielt wurde. M. lernte dieses schon in der Schule und hatte während des Aufenthaltes in der Klinik vorher keine Gelegenheit, es zu wiederholen. Die ersten Strophen dieses Gedichtes wurden, ohne sie vorher zu lesen, frei hergesagt; die folgenden 7 nach 1—2 Wiederholungen. Bemerkenswert ist, dass M. gleich beim ersten Lesen einzelne Abweichungen des Textes von dem in der Schule verwendeten auffielen, so: „Und die Stimme, die rufende schicket“, während er in der Schule „und die Kappe ins Antlitz rücket“ gelernt zu haben angab. Obwohl sich Pat. bemühte, nach dem jetzt gelesenen Texte zu rezitieren, erfolgte selbst nach 6—7maligem Lesen derartiger Strophenteile keine Korrektur der 1. Reproduktion.

' (Hier folgt Tabelle 5 auf Seite 45.)

Mit welcher Schwierigkeit die Erlernung der Strophen bei O. erfolgte, ist aus der Tabelle leicht ersichtlich. Er erlernte in der 1. Versuchsperiode (1.—6. Strophe) bloss zwei Strophen, in der 3. Sitzung; war aber eine Strophe einmal eingeprägt, dann konnte sie selbst nach Einschaltung längerer Zeiträume, nach verhältnismässig wenigen Wiederholungen wiedererlernt werden. So lernte er bei der 8. Erlernung noch nach 50—70 Tagen mit grosser Ersparnis. E

Da wegen der abweichenden Erlernungsart die Nachdauer einer einmaligen Erlernung in diesen Versuchen nur unscharf hervor- trat und damit ein Vergleich mit den Versuchen über das Er- lernen unzusammenhängender Wortreihen erschwert wurde, so liess ich noch das aus kürzeren Strophen bestehende Gedicht „Kreuzschau* von Chamisso No. X—XII und einige Zeilen aus Freytags „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ lernen. In beiden Versuchsreihen fand ich bei M. stets auch nach 9 Tagen (weiter wurde nicht untersucht) eine ausgiebige Ersparnis für die 2. Erlernung in 2. Sitzung. Auch O. lernte Gedichtsstrophen und Prosastücke, die in 1. Sitzung erlernt wurden, nach 10 Tagen mit Ersparnis, Eine Strophe, die erst in der 2. Sitzung erlernt wurde, erlernte er bei der 8. Sitzung nach 17 Tagen mit geringerem Aufwande an Wiederholungen.

1) Die durch ein + Zeichen mit dem Bruche verbundene Zahl entspricht der nach Erlernung der Strophenhälften noch zum Erlernen der ganzen Strophe erforderlichen Lesungen.

der Gedächtnisstörung bei der Korsakofischen Psychose.

| Tabelle 5. Zahl der Wiederholungen bis zum freien Hersagen.

45

M. Gedichtstrophen 6(—) 12 (—) 4(—) 4 5 5 2 (10Tg.)8 (110Tage)2 1(—) 8 38 6 4 8 NOTAT (Otago) , 12(-) 148 (— 15 4 8 2 1(120Tg.)2 299 —— +8) Io) 4 (10Tage) 8 (110Tage)3 ttis) 8 2 3 (20Tage) 1 (100Tage 1 e= Fra) itiha 8 (45Tage) 2 (I05Tage)B SHT hatt? pa Itla 4 (120Tage) 8 +2 += HH +5 (80Tage) 4 stye 10 Tag) E41 CT 3 10 (4 Tage) 8 (50 Tage 2 6 (9 Tage) 2 (80Tage 2 9 (9 Tage) 7 (80 Tage 8 Prosa 4 ST 1 807 8 9 G 18 1 (80 8 10 (9 Tage) 8 (80 Tage) 2 O. Gedichtstrophen 9(—) 9(—) 6(—) 4(—) 3) 23 3(120Tg)8 HI, 18 (—) SFA i)e 6 TE) 7 (110Tg)8 2 tt) BEE a) - 5 8&5 8 44 (10Tago)8 5 Et) Hjem a (50 Tag) 3 (10Tage)2 . EHS peeti palts 5 (30 Tago) 8 (100Tage)4 5 | SBa 38215 (60 Tage) 8 Ht ATTage) FE! +5 8 (8 Tage) 8 (50Tage) 8 8 (10 Tago) 4 —88 5 0 (10 Tage) (T0Tage) 10 Prosa 7 (8 Tage) 3 (40 Tage) 1 9 (10 Tage) 4 (70 Tage) 4 9 (10 Tage) 5 (70 Tage) 8

46 Pilos, Zur prognostischen Bedeutung

Wir sehen also einen bemerkenswerten Unterschied in der Stärke der Dispositionen zur Wiedererlernung eines einmal gelernten Stoffes je nach seinem Inhalte. Während bei sinnlosem Materiale die 2. Erlernung nach 2x24 Stunden für M. keine sichere Ersparnis gibt, unzusammenhängende ‘Reihen sinnvoller Worte bei 2. Erlernung nach 4X24 Stunden leichter erlernt werden, ist bei zusammenhängenden Wortreihen bei ihm eine Ersparnis noch nach 10X24 Stunden zu beobachten. Auch O., bei dem eine Nachwirkung einmal erlernter unzusammen- hängender Reihen sinnvoller Worte nach 4X24 Stunden nicht mehr festzustellen war, lernte zusammenhängende Wortreihen nach 10X24 Stunden noch mit Ersparnis wieder.. Diese Tatsache ist dadurch zu erklären, dass zwischen unzusammenhängenden, sinn- vollen Worten festere Assoziationen als zwischen sinnlosen Worten gebildet werden, die festesten aber zwischen zusammenhängenden Worten. | (Schluss im nächsten Heft.)

Aus der k. k. I. psychiatr. Univ.-Klinik in Wien.

Zur prognostischen Bedeutung des Argyli-Robertsonschen Phänomens. Von

Dozent Dr. ALEXANDER PILCZ, suppl. Vorstand der Klinik.

Bei den grossen. Schwierigkeiten, welche mitunter der Differentialdiagnose zwischen schwerer Neurasthenie und Paralys. rogr. incipiens sich entgegenstellen können, soweit die psychischen Symptome in Betracht kommen, wurde stets ein besonderes Ge- wicht auf den Nachweis, bezw. das Fehlen gewisser motorischer Störungen gelegt. Darunter verdient an erster Stelle das Ver- halten der Bupillen genannt zu werden. Ä Nun wissen wir freilich, dass die verschiedenen Pupillen- störungen, speziell Anisokorie und träge Lichtreaktion bis zu völligem Argyli-Robertson, keineswegs als pathognostisch für Tabes und Paralys. progr. gelten dürfen. Ich verweise z. B. auf die Beobachtung von Moëli, Raimann, Gudden u. A. bei Al- koholikern, von mir, Stransky u.A. bei periodischen Psychosen etc. Immerhin scheinen Pupillenphänomene der oben angedeuteten Art bei reiner Üerebrasthenie relativ wenig Berücksichtigung in der neurologischen Literatur gefunden zu haben. as zunächst die Erscheinung der Anisokorie anbelangt, so war Beard wohl der erste, welcher auf das Vorkommen zeit- weiser Pupillendifferenzen bei Neurasthenikern aufmerksam ge-

des Argyli-Robertsonschen Phänomens. 47.

macht hat. Pelizaeus beobachtete unter 320 Fällen diese Er- scheinung 11mal, darunter 6mal das Phänomen, dass bald die eine, bald die andere Pupille die weitere war.

In einem seiner Fälle war das Auftreten der Anisokorie an den Menstruationsprozess gebunden, in einem anderen liess die- selbe sehr deutlich eine Abhängigkeit von dyspeptischen Störungen erkennen. Besonders bemerkenswert ist, dass in einem der Fälle von Pelizaeus die Pupillenungleichheit mehr als Jahresfrist be- stand und sich dann erst allmählich spurlos verlor. Ja, nach einer mündlichen Mitteilung Pelizaeus an König (zit. nach Schau- mann) bestand bei einem Neurastheniker durch 17 Jahre hin- durch das Phänomen der springenden Mydriase, ebenso in einem von Riegel publizierten Falle durch 12 Jahre. Josef will sogar langdauernde Anisokorie bei Neurasthenikern sehr häufig gesehen haben, was wohl, wie auch Löwenfeld meint, jeder neurologischen Erfahrung vollstäudig widerspricht. Löwenfeld erwähnt von Papillenphänomen der Neurastheniker als häufig eine ungewöhn- liche Weite der Pupillen und den Hippus. Betreffs der Anisokorie berichtet dieser Autor u. a. über einen Fall, bei welchem nur während dyspeptischer Störungen eine einseitige Mydriase sich zeigte, über einen weiteren Kasus, bei dem er eine „seit Jahren“ bestehende Pupillendifferenz beobachtete, endlich über mehrere Fälle, in welchen bei vorhergegangenerluetischer Infektion „Pupillen- veränderungen neben rein neurasthenischen Symptomen Jahre lang bestanden, ohne dass es zur Entwicklung schwererer Gehirn- symptome kam“. Es ist ja auch zur Genüge bekannt, dass die Syphilis allein auch bei Nicht-Tabetikern und Nicht-Paralytikern die verschiedensten Pupillarstörungen setzen kann, so auch echten Argyli-Robertson. (Vergl. u. a. Moeli, Babinski, Bumke, Braillon, Redlich etc.)

Kehren wir wieder zu den Autoren zurück, welche sich mit den Pupillenphänomenen bei Neurasthenikern befassen, so sagt v. Krafft-E ing u.a. von den Pupillen bei der Neurasthenie, dass sie „oft abnorm weit und träge auf alle Reize reagierend“ sind, dann „häufig mittelweit und von ungewöhnlich prompter, selbst bis zu Hippus“ gesteigerter Reaktion. „Enge Pupillen kommen der Neurasthenie nicht zu. Myosis, eventuell gar mit Lichtstarre, spricht für eine organische Erkrankung“. Schliesslich erwähnt v. Krafft-Ebing auch die Anisokorie, wobei er auch die oben zitierten Angaben Pelizaeus anführt.

Oppenheim. bespricht das Vorkommen der „springenden Pupillen“ bei der Neurasthenie; Hippus sei nicht selten, „. . . nament- lich ist der Lichtrefex immer erhalten...“ Ueber Beobachtungen der „springenden Mydriasis“ berichtet endlich in jüngster Zeit Schaumann, der auch in vollständigster Weise die einschlägige Literatur zusammengestellt hat!).

1) Aus den von Schaumann zitierten Arbeiten sei hier nur eine Publikation von König (Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde, 1899, 15. Bd.) speziell erwäbnt, der in einer Fussnote mitteilt, dass er einmal einseitige

upillenstarre bei einem „kerngesunden* 17j. Mädchen antraf.

48 Pilez, Zur prognostischen Bedeutung

Während, wie wir eben sahen, das Vorkommen vorüber- gehender oder selbst länger dauernder Anisokorien bei der Neur- asthenie mehrfach beschrieben wurde, konnte ich in der mir zu- gänglichen Literatur nichts über Störungen in der Lichtreaktion bei der einfachen Neurasthenie finden.

Die meisten Literaturangaben, wie sie besonders sorgfältig von Fuchs zusammengetragen wurden, gehen dahin, dass im allgemeinen die Lichtreaktion bei Neurasthenischen nichts be- sonderes aufzuweisen hat, bis auf das häufige Vorkommen von ungewöhnlich prompter Lebhaftigkeit. Bei seinen eigenen (11) Fällen fand Fuchs die Lichtreaktion sehr schnell, prompt und demzufolge als Durchschnittszahl der mittleren Geschwindigkeiten eine verhältnismässig hohe Ziffer, 1,401.

Bumke, dem sich Cramer anschliesst, sagt ausdrücklich: „Bei der Neurasthenie kommen Pupillenstörungen, die zur Ver- wechslung mit organischen Krankheiten des Nervensystems Ver- anlassung geben könnten, nicht vor. Wo solche Symptome, wie die reflektorische Pupillensterre z. B., .. . beobachtet werden, darf mit Sicherheit die Diagnose der ... ‚Nervenschwäche‘ ... abgelehnt werden.“ Auch bei Marburg finden wir keinen Hin- weis auf das Vorkommen bedeutsamerer Pupillenstörungen bei der Neurasthenie.

Die Angaben von v. Krafft-Ebing und Oppenheim wurden schon oben zitiert.

Es sei zunächst ganz kurz zusammengestellt, was über das Vorkommen des Argyli-Robertsonschen Phänomens und Störungen in der Lichtreaktion überhaupt bei Nichttsbischen und Nichtparalytischen bekannt ist. Der Arbeiten von Moeli, Rai- mann, mir, Babinski u. A. wurde schon gedacht, d. h. des Vorkommens der fraglichen Symptome bei Alkoholismus, periodi- schen Psychosen und bei Syphilis. In einer sehr fleissigen Arbeit hat Hu et Fälle gesammelt, welche den Schluss zulassen: „Ce signe (scil. Argyli-Robertson. Anm. d. V.) a été rencontré dans un certain nombre d’affections à étiologie non syphilitique et dues .. . à des infections ou à des intoxications diverses, exogènes ou endogènes.“ Huet stellt Fälle zusammen von Dementig praecox, Melancholie, Paranoia etc., von Névrite interstitielle hypertrophique, multipler Sklerose, progressiver Muskelatrophie, Vergiftung mit Schwefelkohlenstoff etc., die alle diese Erscheinung boten. Huet berichtet auch über eine Reihe von Fällen (Tabes, Paralyse etc.), in denen echter Argyll-Robertson als intermittierendes Symptom auftrat. (Ein genaues Eingehen auf die einschlägige Kasuistik erscheint mir mit Rücksicht auf die eben erwähnte Huetsche Dissertation überflüssig.)

Ich erinnere ferner unter anderm an die interessanten, von M oeli in seiner Gruppe VI publizierten beiden Fälle, bei welchen, ohne irgend eine nachweisbare Aetiologie (Lues od. dergl.), neben nicht näher zu diagnostizierenden psychischen Störungen Argyll- Robertson als stationäres Symptom bestand (bei Obs. 1 allerdings

des Argyli-Robertsonschen Phänomens. 49

Anamnese mangelhaft, Argyll - Robertson durch 14 Jahre, bei Obs. 2 Beobachtungsdauer 4 Jahre, Pupillensymptome stationär; psychischer Zustand weist sonderbare Remissionen auf). Ä Durch gewisse Beobachtungen bei wiederholter Untersuchung derselben Fälle stutzig gemacht, war ich bemüht, katamnestisch oder womöglich durch eigene Beobachtung eine Reihe von ambulanten Kranken zu verfolgen, die in den letzten Jahren in unser Nerven- ambulatorium gekommen und daselbst mit der Diagnose „pro- ressive Paralyse“ oder „Paralyseverdacht“ geführt worden waren. Soweit ich über das weitere Schicksal der Patienten Positives er- fahren konnte, war nun die Sache so, dass die meisten tatsächlich mit Dementia paralytica gestorben waren oder sich noch in den verschiedenen Anstalten oder in Familienpflege befanden. Bei einigen aber verhielt es sich anders,und deren Krankheitsgeschichten seien nun im Folgenden in Kürze gebracht:

1. H. W., Kontorist, 39 Jahre. Für Lues kein Anhaltspunkt. Ge- schäftliche Sorgen. Seit einem Jahre zunehmende typische, neurasthenische Symptome. Objektiv (22. XI. 1902) Pupillen entrundet, enge, reagieren auf Licht nur träge und spurweise, auf Akkommodation nnd Schmerz prompt und ausgiebig. Keine Sprachstörung, P.S.R. gleich, sehr lebhaft, mehrfache Druckpunkte. Psychischerseits Defekte nicht nach; weisbar. Rat, sofort absolut auszuspannen, Urlaub, vollständige Alkohol- abstinenz, allgemeine diätetische Vorschriften und sol. causa Fellows Syrup.

6. VI. 1904 stellt sich Pat. neuerdings mit den alten Klagen vor. Die ganze Zeit her sei es ihm ausgezeichnet gegangen. In den letzten Monaten stärkere „Aufregungen“ im Geschäft; neuerdings Schlaflosigkeit, Kopfdruck, Arbeitsunfähigkeit u. s w. Pupillen mittelweit, rund, reagieren

rompt in jeder Hinsicht. P.S.R. normal. Katamnese. Dauernd berufs hig, bisauf zeitweise stärker hervortretende, allgemeincerebrasthenische Beschwerden gesund’).

2. P. N., Pbarmazeut, 29 Jahre, stellt sich 14. V. 1902 wegen aller. er- denklichen neurasthenischen Beschwerden vor. Lues energisch negiert. Aetiologisch: Masturbation, frustrane Erregungen (als Bräutigam) und Prü- fungsjahr. Rechnen, Schreiben etc. prompt. Sprache tadellos. Beide Pu-

illen enge und lichtstarr (!), auf Akkommodation und schmerz-

afta Reize träge, aber deutliche Reaktion?) Bei dem Fehlen irgend welcher suspekter Symptome psychischerseits und der quoad Syphi- lis absolut negativen Anamnese bestellte ich den Mann für acht Tage später, während welcher Zeit ich ihm strengstens vollständige Rube und Landauf- enthalt auftrag, sowie der Agrypnie wegen ein wenig Paraldehyd verordnete. Am 22. V. subjektive Beschworden ein. wenig geringer, genügend Schlaf. Pupillen mittelweit, reagieren prompt in jeder Beziehung. P. g R. normal. Katamnese: Bis auf zeitweilig auftretende leichtere neur- asthenische Klagen dauernd wohl, übt seinen Beruf als Apotheker. aus, ist verheiratet, Vater 2 gesunder Kinder.

8. W. J., Agent, 88 Jahre, 1895 Lues, mehrfache Inunktionskuren, einmal Abortus der Frau. Seit tja Jahr Schlaflosigkeit, Kopfdruck, Klagen überschlechtes Gedächtnis und enormeErmüdbarkeit; vor allem viele hypochon-

ı) Die Katamnesen datieren bis zum Zeitpunkte der Publikation dieser Mitteilung. on '

1) Für eine Morphium- .oder andere toxische Wirkung, woran gerade mit Rücksicht auf den Beruf des Patienten gedacht werden musste, ergab die Anamnese keinen Anhaltspunkt. en

Monstsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XX. Helft ı. 4

60 Pilcz, Zur prognostischen Bedeutung

drische Ideen, Furcht, sicher an P. p. zu .erkranken. (Pat. ist über den Zu- sammenhang von Lues und P. P unterrichtet.) Befund (80. V. 1904) im all- emeinen bis auf mässigen Lidtremor durchaus negativ, doch erscheint ie linke Pupille ontrundet und reagiert (in jeder Hinsicht) träger als die rechte. P. S. R. mässig>,=. Katamnese: Dauernd berufsfähig Alljährlich gegen Sommer zu stärkere neurasthenische Beschwerden, die nach einem mehrwöchigen Erholungsurlaub schwinden.

4. D. Sz., Student, 22 Jahre, für Lues kein Anhaltspunkt. Schon als Obergymnasiast mehrfach ähnliche Zustände wie der gegenwärtige: De- pression, Schlafsucht und Schlaflosigkeit wechselnd, Abulie, Zwangsvor- stellungen. Masturbation (seit vielen Jahren), Ueberarbeitung (Rigorosum und gleichzeitig Lektionen erteilen). Pupillen unter mittelweit, bei gewöhnlich er Prüfung lichtstarr; bei Prüfung im Dunkelzimmer mittels

eflektors zunächst keine Reaktion; wenn aber das Auge längere Zeit un- belichtet geblieben, erfolgt bei grellem Lichteinfall eine träge, wenig aus- giebige, aber entschiedene Kontraktion, ohne dass sich im übrigen die Pu- pille in der Dunkelheit sonderlich erweitert hätte. 27. IV. 1905 psychischer- seits nicht der geringste Verdacht auf P. p. Keine Sprachstörung, Rechnen, Gedächtnis etc. ungestört. P. S. R. gleich, ein wenig gesteigert. Keine Katamnese.

5. A. St., Elektriker, 42 Jahre. Lues negiert, nach einem Schädel- trauma verschiedene vage nervöse Beschwerden, Zittern, Schlaflosigkeit, Ge- dächtnisschwäche. 3. VII. 1904 kein bes. Befund. 8. XI. 1905: Die linke Pu- pille auffallend träge Lichtreaktion, rechts prompt. Juni 1906: Pu-

illarreaktion beiderseits prompt. Patient, er sich 8. XI. 1905 wegen besonderer Steigerung seiner Beschwerden vorgestellt hatte, kam Juni 1906 nur auf Aufforderung in die Ambulanz, berichtet über Wohlbefinden und volle Berufsfähigkeit. Psychisch nicht der mindeste Defekt.

6. F. Th., Postamtsdiener, 38 Jahre, Lues 1887, kommt 9. V. 1904 mit vagen hypochondrisch-neurasthenischen Beschwerden in die Ambulanz. Leider liegen über den damaligen Status nervosus und psychicus nur höchst dürf- tige Notizen vor; es steht die Diagnose P. p. und Anisokorie, träge Lfehtreaktion. 22. VI. 1906 neuerlicher Befund: Pupillen r. < 1., I. mydria- tisch, lichtstarr, auch sympathische Reaktion erloschen, nkkommodative prompt. Keine Sprachstörung. P.S.R.>=. Der psychische Zustand des dauernd trotz seiner neurasthenischen Beschwerden vollkommon dienstfähigen Mannes liefert jetzt nicht den geringsten Anhaltspunkt für P. p. incipiens.

1. X. Y., 61 Jahre, Universitätsprofessor. Lues negiert. In der letzten Zeit besonders intensive geistige Anstrengung, die dem Patienten namentlich wegen der Zersplitterung für zahllose, nicht wissenschaftliche Agenden, die sich zufällig gehäuft hatten, sehr schwer gefallen war. Ziemlich akut ein- setzende Cerebrasthenie, und zwar stehen vorwiegend asthenopische Be- schwerden im Mittelpunkt der Klagen. Bei der ersten Prüfung (Dezember 1905) Gedächtnis etc. durchaus zufriedenstellend; Pupillen unter mittel- weit, anf Licht kaum, besser, aber auch nur mit geringer Exkur- sionsweite und entschieden träge, auf Akkommodation und Schmerz reagierend. Im übrigen belangloser Befund. Anraten sofortiger absoluter Schonung und die üblichen Verhaltungsmassregeln, Bei einer zweiten (etwa 3 Wochen später vorgenommenen) Untersuchung subjektives Wohlbefinden, Pupillenreaktion in jeder Hinsicht gleich, wenn auch ein wenig träger und in geringerem Ausmasse.

Ueberblicken wir die angeführten Fälle, so will ich zunächst von Obs. 3, 4, 6, 7 ganz absehen, die ich nur der Vollständigkeit halber hier mit aufgenommen habe. In Obs. 3 und 6 lag sicher- gestellte Syphilis vor; bei Obs. 4 ist keine weitere Katamnese vorhanden, so dass eine eventuelle spätere anatomische Affektion nicht ausgeschlossen werden kann, und Obs. 7 betrifft ein seniles Individuum (wiewohl der Unterschied in der Schnelligkeit bezw.

des Argyli-Robertsonschen Phänomens. bi

Trägheit der Irisbewegungen bei zwei aufeinander folgenden Unter- suchungen immerhin nicht zu verkennen war).

In den ersten beiden Fällen und bei Obs. 5 aber liegen die Dinge anders. Da handelt es sich um durch den weiteren Verlauf sichergestellte Neurasthenien, welche vorübergehend Pupillen- störungen boten, wie sie sonst bei organischen Nervenerkrankungen, beim Alkoholismus und bei periodischen Geistesstörungen beobachtet werden. In einem Falle bestand ausgesprochenes Argyll- Robertsonsches Phänomen, bei Obs. 1 und 5 war es angedeutet.

Zwei naheliegende Einwände drängen sich zunächst auf. Erstens, dass die fraglichen Befunde doch, trotz gegenteiliger Anamnese, auf eine überstandene luetische Affektion zurückzuführen seien. Dagegen sprechen aber wohl Obs. 1 und 2, auch 5 und 7, bei welchen die bewusste Erscheinung mit der Besserung der neurasthenischen Beschwerden sich zurückgebildet hatte (in Obs. 2 sogar schon innerhalb von 8 Tagen). Den zweiten Ein- wand, dass die Pupillenphänomene doch nur Initialerscheinungen eines anfangs nicht Niagnastizierten organischen Leidens bedeuteten, glaube ich mit Rücksicht auf die lange Beobachtungsdauer, den derzeitigen Befund und auf das eben erwähnte Zurückgehen des Symptomes gleichfalls entkräften zu dürfen. (Auf einen anderen Einwurf, dass vielleicht die Befunde durch Fehler der Unter- suchungstechnik vorgetäuscht wurden, meine ich wohl nicht erst näher eingehen zu müssen; es versteht sich von selbst, dass alle irgendwie in ihrer Lichtreaktion suspekten Fälle im Dunkelzimmer mittels Reflektor und unter allen Kautelen geprüft werden.)

Bezüglich Potus war zwar kein einziger dieser Fälle Tem- perenzler strengster Observanz; allein ebensowenig konnte von Alkoholmissbrauch die Rede sein; die Leute waren durchweg, im sprachgebräuchlichen Sinne, mässig. Auch für Trauma Anamnese negativ (bis auf Obs. 5). Ob für die suspekten Pupillenerschei- nungen die Neurose als solche verantwortlich gemacht werden kann, wage ich nicht zu sagen’). Auch eine Erklärung der frag- lichen Erscheinung zu geben, bin ich ausserstande. Nachtragen möchte ich nur noch, dass keiner der Fälle das Erbensche Symptom aufwies. Möglicherweise handelt es sich um ein Reiz- phänomen. Wir wissen ja auch nichts über die mehrfach beob- achteten analogen Erscheinungen bei periodischen Psychosen (vergl. die Literatur darüber in meiner Monographie).

Dergleichen Beobachtungen bei der Cerebrasthenie dürften wohl sehr selten sein. Möglicherweise es ist dies lediglich

2 Vielleicht darf ich mir an dieser Stelle folgende Erinnerung erlauben. Auch die Lehre von der differentialdiagnostischen Bedeutung der Pupillen- starre beim epileptischen gegenüber dem hysterischen Anfalle war ein Dogma, an dem niemand zu rütteln wagte. Erst nach den Mitteilungen Karplus’ (Jahrb. f. Psychiatrie etc.; XVIII, p. 1, und Wiener klin. Wochenschr. 1896) mehrten sich mit einem Male die Berichte über Pupillenstarre während unzweifelhaft hysterischer Krampfanfälle (Oppenheim, Zeitschr. f. praktische Aerzte. 1898; Westphal, Berl. klin. Wochenschr. 1897, etc. etc.).

4*

52 Pilcz, Zur prognostischen Bedentung eto.

eine persönliche Vermutung werden sich solche Fälle doch noch gelegentlich finden, wenn bei all den paralyseverdächtigeri Kranken, bei welchen schliesslich nur die pupillären Erscheinungen für die Diagnose Paralys. progr. incipiens ausschlaggebend waren, durch genaue Katamnesen nach Jahr und Tag der weitere Ver- lauf verfolgt werden könnte. Jedenfalls aber sollten dergleichen Beobachtungen uns zu noch grösserer Vorsicht in der Diagnosen- stellung bei paralyseverdächtigen Neurasthenikern mahnen und anspornen, noch mehr auf das Ergebnis der rein psychischen . Exploration bedacht zu sein. DerWertdesArgyll-Robertsonschen Phänomens in der Symptomatologie der progressiven Paralyse wird dadurch nicht gemindert; nur überschätzen dürfen wir das Symptom nicht. In diagnostisch unklaren Fällen wäre das Ergebnis der Lumbalpunktion von grosser Wichtigkeit.

Literatur.

Moeli, Ueber Pupillenstarre etc. Arch. f. Psych. etc. 1887. XVIII, p. 1.

Raimannn, Zur Lehre von den alkoholischen Augenmuskellähmungen. Jahrb. f. Psych. etc. XX. Bd., p. 86, und: Polioencephalitis acuta und Delir. alcohol. etc. Wiener klin. Wochenschr. 1900. p. 31.

Gudden, Neurolog. Centralbl. 1900. p. 1096.

Pilcz, Die periodischen Geistesstörungen. Jena 1901. p. 168.

Stransky, Monatsschr. f. Psych. u. Neurologie. 1902. Vol. 11, p. 422. Zur Lehre von d. period. Manie.

Beard, Die Nervenschwäche (Neurasthenie). Deutsch von Neisser. 1881.

Pelizaous, Deutsche Medizinalztg. 1889. p. 330.

Schaumann, Anhang „Ueber die Häufigkeit und klinische Bedeutung der Pupillendifforenz etc.“. (Reichliche Literatur, so dass statt weiterer An- gaben auf diese Arbeit verwiesen sei.) Zeitschr. f. klin. Medizin. Bd. 49, p. 61, und Nord. med. Arch. 1903. Bd. II.

Riegel, Ueber springende Mydriasis. Deutsche Zeitschr. f. Nervenbeilk. 1900. 17. Bd.

Josef, Deutsche Medizinalztg. 1891. p. 494.

Löwenfeld, Die objektiven Zeichen der Neurasthenie. Münch. med. Ab- handlungen. VI. R. 8. H. 1892. p. 5f. ,

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Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen etc. 53

Aus der psychiatr. Universitätsklinik zu Königsberg i. Pr., Direktor: Prof. E. Meyer.

Ueber periodische transitorische Bewusstseins- störungen nach Trauma (Dipsomanie etc. nach Trauma).

Von

Dr. ARTUR PELZ, ehem. I. Assistensarzt der Klinik, jetzt Nieder-Schönhausen.

Uebersieht man die recht reichhaltige Literatur, die über die „Geistesstörungen nach Trauma“ vorhanden ist, so findet man das fast allgemein angenommene Ergebnis, dass ebensowenig, wie die unter dem Namen der „traumatischen Neurose“ noch oft zusammengefassten Krankheitsbilder eine wirkliche klinische Einheit darstellen, eine einheitliche, spezifische, „traumatische Psychose“ unterschieden werden kann, sondern dass die verschiedenartigsten

sychischen Krankheiten durch das Trauma hervorgerufen werden

Können, wobei über die wirkliche Rolle des Trauma, ob als ursäch- lichen, ob als auslösenden Momentes, ebenfalls eine einheitliche Auffassung nicht besteht. Oft sind es bekannte oder wohl abgrenz- bare Psychosen; oft aber auch passen die entstandenen Krankheits- bilder in den Rahmen der bekannten Typen nicht hinein, ohne doch ihrerseits hinreichend Vergleichspunkte in dem Masse zu besitzen, dass sie zu einem neuen, eigenartigen Typ zusammen- gefasst werden könnten.

Transitorische Bewusstseinsstörungen sind als Erscheinung einer posttraumatischen Erkrankung nicht unbekannt. Die ein- fachsten Bewusstseinsstörungen sind Anfälle von Schwindel, der sich bis zu kompletter Ohnmacht steigern kann; sie treten im Verlauf einer „traumatischen Neurose*“ oder „Psychoneurose* überaus häufig auf und sind allgemein bekannt; insbesondere ist der Schwindel „ein fast konstantes Symptom der sich an Kopf- verletzungen anschliessenden Neurosen“ [Oppenheim (1, 2)]. Transitorische Bewusstseinsstörungen mit ausgesprochenen psycho- tischen Symptomen, zumeist in Form der sogenannten „Dämmer- zustände“, werden fast immer einer posttraumatischen Epilepsie oder Hysterie zugezählt; seltener handelt es sich um alkoholische Bewusstseinsstörungen auf Grund posttraumatischer Alkohol- intoleranz. Dagegen finden sich in der Literatur, soweit ich sie darchsehen konnte, keine Beobachtungen von periodischen posttraumatischen Bewusstseinsstörungen, von „Dämmer- zuständen“ jeder Art, bei denen sich das Bestehen einer der oben

54 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewausstseinsstörungen

angeführten Grundkrankheiten, Epilepsie, Hysterie, chronischer Alkoholismus, in deren Verlaufe solche Dämmerzustände als wohl- bekannte Erscheinungen auch ohne vorausgegangene Verletzung vorkommen können, nicht nachweisen lässt; bei denen man also schliessen kann und muss, dass die ja allgemein angenommene, durch das Trauma hervorgerufene psyclıo-nervöse Alteration, wie Kaplan sie nennt: die „traumatische Degeneration“, als solche in iesen Formen sich äussern kann; nur Cramer (3) erwähnt Zustände von transitorischer Bewusstseinsstörung bei Traumatikern und führt eine Beobachtung an, wo die traumatische Seelenstörung (Verblödung) durch einen ausgesprochenen Dämmerzustand ein- geleitet wurde.

Die folgenden Mitteilungen sollen ein Versuch sein, solche reine traumatische Bewusstseinsstörungen darzustellen; die erste der Beobachtungen ist gleichzeitig ein Beitrag zur Pathologie und Pathogenese der sogenannten Dipsomanie.

Beobachtung I. Johann S., Eisenbahninvalide, 48 Jahre alt; in die Klinik aufgenommen am 18. Dezember 1505.

Anamnese (Ehefrau, die einen intelligenten Eindrack macht): Here- dität unbekannt. Patient ist als Kind von 10 Jahren vom Fenster gefallen; er soll damals sehr krank gewesen sein. Seit 12 Jahren verheiratet; 2 Kinder, keine Aborte oder Frühgeburten. Sonstige Erkrankungen nicht bekannt. Nie getranken; nie Krämpfe, nie Schwindel, kein Einnässen etc.

Im Jahre 1892 Eisenbahnunfall in Berlin. Patient wurde von der Bahn überfahren, so dass der rechte Fuss amputiert werden musste. (Laut Ausweis der Personalakten der Königl. Eisenbahndirektion Berlin wurde $. beim Wagenkuppeln überfahren. Intolge Zersplitterung des rechten Fusses musste derselbe amputiert werden. S. blieb mehrere Wochen im Kranken- haus. Aus einer in den Akten enthaltenen Schrift des S. an das Reichs- versicherungsamt sind bemerkenswert seine Klagen „über immerwährende Schmerzen im Rückgrat, fast unaufhörlich; er müsse oft tagelang das Bett häten“.) S. erhält seitdem 75 pCt. Unfallrente. Seit dem Unfall konnte Patient Alkohol nicht mehr so gut vertragen, wie früher. Er bekam oft danach „böse Zustände“, worin er z. B. das Sofa zerschnitt, drohend gegen die Frau wurde, sehr erregt und wütend aussah etc. Nach 2—8 Stunden war meist alles wieder gut. Vor 6 Jahren wurde er in einer Klinik wegen Ge- fühllosigkeit der rechten Wange elektrisiert; völlige Heilung. Seit £ Jahren bemerkte die Frau eine Verschlimmerung und Veränderung. Er konnte jetzt gar nichts mehr vertragen. Alle 6—8—12 Monate bekommt er eigenartige „Zustände“. Mehrere Tage, „bevor es losgeht“, wird Patient ausserordentlich verstimmt und reizbar; „die Fliege an der Wand ärgere ihn“. Die Kinder, die er sonst abgöttisch liebt, schlägt er bei dem geringsten Lärm. Der Schlaf wird unruhig und sehr gering; der Appetit lässt nach, nichts schmeckt ihm. Die geschlechtliche Erregbarkeit ist gesteigert, Schmerzen oder irgend welche Sensationen in der Narbe bestehen nicht. Dann weiss die Frau genau, dass es wieder losgeht. Alles Bitten und Vorstellen hilft dann nichts; „es komme wie eine böse Macht“. Es überfällt ihn ein unwiderstehlicher Reiz zum Trinken. Er liegt fast den ganzen Tag in den Kneipen, er borgt sich überall Geld zusammen, verkauft Sachen etc., trinkt so lange, bis er besinnungslos betrunken in der Gosse liegt. Er bekommt fast jedesmal in solchen Zuständen ein Strafmandat von der Polizei. Zu Hause ist Patient in diesem Zustande ausserordentlich erregt, bis zur Ge- walttätigkeit; er zerschlägt und zertrümmert alles, so dass der Familie ein solcher Anfall jedesmal sehr teuer zu stehen kommt. Er droht Fraa und Kinder zu erwürgen, äussert die heftigsten Eifersuchtsideen. Während dieser Zeit isst und schläft er überhaupt nicht.

nach Trauma (Dipsomanie ete. nach Trauma). 55

Nach 21,—3 Tagen fängt Patient meist ziemlich plötzlich an, sich zu beruhigen; er wird still, traurig, weint, wenn die Frau ibm erzählt, was er wieder angerichtet hat; bittet auf den Knieen um Verzeihung; beteuert, es nie wieder tun zu wollen, er könne doch nichts dafür. Nuch einigen Tagen ist auch die Traurigkeit vorüber; dann erscheint Patient wieder ganz normal. Die eigene Erinnerung fehlt vollkommen. In der Zwischenzeit kommt kein Tropfen Alkohol über seine Lippen, er lebt völlig abstinent; ja, er empfindet sogar Ekel vor Schnaps etc. Er ist ein sehr gutmätiger, ruhiger, stiller Mensch, ein sehr zärtlicher Gatte und Vater; nie besteht auch nur Andeu- tung von Eifersuchtewahn. Bei Witterungswechsel klagt Patient über Reissen und Ziehen in der Narbe. Der letzte Anfall war Mai 1905.

Der gegenwärtige Anfall entwickelte sich nach einer Lungen- und Brustfellentzändung, die Patient Oktober—November 1905 durchgemacht hatte. Bis Anfang Dezember lag er zu Bett; er erholte sich nur langsam, war schon damals nicht ganz gleichmässiger Stimmung. Mitte Dezember steigerte sich die Reizbarkeit: er wurde wütend und drohend gegen die Kinder und Frau; Eifersuchtsideen zeigten sich gleichfalls schon. Auch verkehrte Handlungen kamen zuweilen vor; so ging er einmal statt zur Mangelfrau zum Schlächter; war darüber sehr ärgerlich, Die geschlecht- liche Erregbarkeit war gesteigert. Der Schlaf gestört und unruhig; ass wenig. Am 18. Dezember fing er dann an zu trinken, erst Bier; im Hanse wurde er sehr heftig. Dann ging er in die Kneipe und trank dort bis 10 Uhr abends. Kam in sinnloser, trankener Erregung nach Hause, stiess die gefährlichsten Drohungen gegen die Frau aus: "Wo bist du? Jetzt er- würge ich dich!“ Er riss die Kinder aus den Betten: „Ihr bleibt unter meinen Händen“ etc. Die geängstigte Frau veranlasste daranfhin bei der Polizei seine Uoberführung in die Klinik.

Status praesens: 18. Dezember. Patient kommt abends 1,12 Uhr

im Krankenwagen mit einem Schutzmann. Er ist örtlich und zeitlich hin- reichend orientiert; gibt Name, Alter und weitere persönliche Daten richtig an. Er macht einen wirren, unklaren Eindruck. Die Stimmung ist furcht- sam, sebr traurig. Patient weint bitterlich, bittet wiederholt unter lebhaftem Jammern und Händeringen um seine Entlassung. Er folgt willig auf die Abteilung, lässt sich baden und legt sich, immer weinend und jammernd, zu Bett. Pup. =mittelweit, rand R/L+, Rje +, Ku/Ph +. Rechter Fuss am- putiert. Prothese, Puls beschleunigt. Mässiges Schwitzen; Röte des Gesichts. 19. Dezember. Patient war nachts ruhig. Heute Morgen ist er noch

sehr traurig; weint jämmerlich; bittet immer wieder um seine Entlassung, Man möge an seine Frau schreiben, sie werde ihn holen. Heredität, ins- besondere Epilepsie, wird völlig in Abrede gestellt. Im 9. Lebensjahr Fall einen Stock tief zwischen Holzkloben. Damals habe er 12 Wochen krank gelegen, habe phantasiert, habe sich den Schädel durchgeschlagen; es seien an der Stelle keine Haare gewachsen. Er habe bei der Infanterie 8 Jahre gedient. 1890 sei ihm als Rangierer in Berlin das Bein überfahren worden; es sei im Krankenhaus Bethanien amputiert worden, und er habe seitdem Rente erhalten. Seit dem Unfall leide er an häufigen Kopfschmerzen. Schwindelgefähl habe er sehr selten gehabt, anfänglich allerdings etwas mehr. Seit dem Unfall könne er Alkohol schlecht vertragen. Viel getrunken habe er nie, jetzt trinke er nie, nur „wenn es so kommt“. Er merke selber, wenn der Anfall komme; er werde so reizbar, schon bei dem geringsten Widerspruch; es sei ihm so wüst und schwer im Kopf; er werde wie um- estimmt. Von dem, was er dann im Anfall tue, wisse er nachher nichts. on dem letzten Anfall wisse er nur, dass er seine Frau hinansgejagt habe. Wie er hierber gekommen? Er erinnere sich nur dunkel, dass ihn ein Schutz- mann von Hause abgeholt habe. Als er heute früh hier aufgewacht sei, habe er erkannt, dass er im Krankenhause sei. Wie und wann er hier auf- genommen sei, welcher Arzt (Ref.!) bei der Aufnahme zugegen gewesen sei, wisse er gar nicht! Er weiss nicht, dass er zuerst auf einer anderen Ab- teilung (Deliranten-Station) gewesen ist. Für die heutigen Geschehnisse volle Erinnerung. Oertlich ist Patient gut orientiert. Die Zeit weiss er nicht ganz genau anzugeben: es sei der 17. oder 18. Dezember. Patient ist

56 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörangen

danernd traurig, gedrückt, etwas wehleidig.e Er macht auch heute noch einen etwas unklaren, willensschwachen, eicht beeinflussbaren Eindruck. Das Rechnen geht schlecht, er motiviert das damit, dass er wenig die Schule besacht habe. Er macht keinen beschränkten oder schwachsinnigen Eindruck. Die körperliche Untersuchung ergab, neben gutem Ernährungszustand und freien inneren Organen und freiem Urin, grosse kahle Flecke auf der rechten Schädelhälfte, geringe Differenz (r.>1.) der Papillen. R./L.: r. prompt, 1. träge, wenig ergiebig. R./C.-+-A.B. frei, Hiranerven, Kopfperkussion frei; Zunge gerade, zittert wenig, Gaumensegel hängt in der Mitte, wird gleich stark innerviert. Der Gaumen- und Rachenreflex fehlt. Dermatographie ond mechanische Muskelerregbarkeit sind etwas erhöht. Der rechte Fuss ist unten am Ende des Unterschenkels abgesetzt. Der Stumpf ist weder spontan noch auf Drack schmerzhaft, Motilität und Sensibilität frei. Keine Druck- empfindlichkeit der Muskeln (Waden) oder grossen Nervenstämme. Trie./Refl. + Kn./Ph. + + Hautrefleze +.

20. Dezember. Patient hat ruhig geschlafen. Ist vormittags noch sehr traurig, wehleidig, jammert über sein Geschick, dass er wieder einen Anfall gehabt habe. Bekisgt seine Frau und seine Kinder, dass er ihnen so viel Sorge und Aufregung bereitet habe. Bittet jammernd um seine Ent- assung.

Sa Nachmittags Besuch der Ehefrau; Patient weinte sehr, beruhigt sich auf die Mitteilung, dass er morgen entlassen werden solle. Völlig geordnet. Amnesie vollkommen unverändert.

21. Dezember. Ruhig geschlafen. Gleichmässige freie Stimmung. Sehr höflich und entgegenkommend. Sehr ordentlicher Kindruck. Volle Ein- sicht. Von der Frau abgeholt.

Wir haben den Patienten noch 3 mal in die Poliklinik kommen lassen, Er machte jedesmal einen überaus ordentlichen, intelligenten Eindruck und beteuerte, seitdem nie getrunken zu haben. Einsicht und Amnesie bestanden unverändert.

Ende Mai 1905 erhielt ich von der Ehefrau die Mitteilung, dass der Patient, wie immer in den Intervallen, völlig abstinent lebe, und dass kein neuer Anfall eingetreten sei, doch klage Patient seit einigen Tagen wieder über Kopfschmerzen.

Fassen wir diese ausführliche Darstellung noch einmal kurz zusammen! Ein bis dahin völlig gesunder Mann, der nie viel getrunken hatte, der nie epileptische oder epileptoide Erscheinungen gehabt hat, erkrankt nach einem erheblichen Trauma mit unmittel- bar darauf folgendem, längeren Krankenlager offenbar an einer sogenannten „traumatischen Neurose“, die sich zunächst nur in fast dauernden Schmerzen im Rückgrat und im Kopf, in Schwindel- gefühl, in Intoleranz gegen Alkohol und starker Explosivität und Labilität des Affektlebens äussert. Allmählich stellt sich eine Verschlimmerung ein, die nun ganz neue, eigenartige Er- scheinungen hervorruft. In langen Zwischenräumen, von 6—8 und mehr Monaten, tritt in fast regelmässiger Gleichartigkeit eine einige Tage anhaltende, völlig psychische Veränderung ein. Der sonst ruhige, gutmütige Mann wird unstät, auffällig missgestimmt, reizbar, „die Fliegen an der Wand ärgern ihn“; er wird gewalttätig gegen Frau und Kinder, die er sonst zärtlich liebt. Schlaf und Appetit werden mangelhaft, die geschlechtliche Erregbarkeit ist gesteigert. Nach einigen Tagen (im letzten Anfall scheint dies Podromalstadium etwas länger gedauert zu haben} „kommt es dann wie eine böse Macht über ihn“, es befällt ihn ein unwiderstehlicher Drang zum Trinken; Bitten und

nach Trauma (Dipsomanie etc. nach Trauma). 57

Beschwörungen seiner Frau steigern nur seine Reizbarkeit. Auf jede Weise versucht er sich Geld und Mittel zu verschaffen, um dies Verlangen nach Schnaps zu stillen. Sinnlos betrunken findet man den sonst völlig abstinenten, ordentlichen Mann im Kinnstein liegen. Auf der Höhe dieses Zustandes kennt er keinen Schlaf und keine Nabrungsaufnahme. So lange er vermag, trinkt er. Zu Hause gebärdet er sich wie ein Tobsüchtiger; er zerschlägt alles, vergreift sich an Frau und Kindern, stösst die schrecklichsten, gefährlichsten Drohungen aus. Während des ganzen Anfalles äussert er auch ausserordentlich heftige Eifersuchtsideen. Dieser Zustand dauert 2—3 Tage; dann setzt ziemlich plötzlich die Auf- hellung ein. Der Kranke wird still, traurig, weinerlich, fängt allmählich an, sich einzufnden. Nach kurzer Zeit endet auch diese depressive Phase, und der Kranke erscheint wieder völlig wie sonst. Die Erinnerung für das Vorangegangene fehlt völlig. Keine Wahnideen, keinerlei Störung der Intelligenz oder des Affektes.

Aus dieser Zusammenfassung erhebt sich überraschend ein bekanntes und wohl gekanntes Krankheitsbild; man denkt sogleich an die Dipsomanie. Die einzelnen Symptome und der ganze Verlauf des dargestellten Bildes stimmen mit denen der Dipsomanie, wie sie in letzter Zeit erst noch von Kräpelin a und seiner Schule, insbesondere von Gaupp (5) in seiner Monographie, gezeichnet wurde, völlig überein. ir haben hier wie dort in typischer Weise einmal den Beginn mit reizbarer, anlustiger Ver- stimmung; dann die unwiderstehliche triebartige Begierde nach berauschenden Getränken, ihre Befriedigung bis zur Sinnlosigkeit; die verhältnismässig schnelle Lösung mit kurzer, depressiver Phase; die völlige Amnesie und last not least den periodischen Verlauf mit völlig freien, langdauernden Intervallen. Es ist also wohl berechtigt, unseren Fall als Dipsomanie zu bezeichnen.

Die wenigen, nicht ganz typischen Erscheinungen, die hier gleich erörtert seien, sind so unbedeutend, dass sie an dieser Auffassung nichts ändern können. Einmal ist es die starke geschlechtliche Erregung am Beginn, die nicht zur Regel gehört, die aber auch von Kräpelin, Gaupp u. A. erwähnt wird. Dann ist abweichend die Reaktion unseres Kranken auf die übergrosse Menge des genossenen Alkohols. Gaupp sagt darüber (loc. cit. p. 124), „es erscheine zweifellos, dass der Dipsomane im Anfall selbst nach abnormen Mengen von Alkohol nicht eigentlich betrunken werde und namentlich nach aussen hin nicht den Eindruck eines Trunkenen mache“, „die körperlichen Lähmungssymptome bleiben aus ete.“ Cramer (3) betont dagegen, dass Dipsomanen häufig intolerant gegen Alkohol seien. In unserem Falle glich die Reaktion des Patienten auf die grossen Alkoholmengen durchaus der gewöhnlichen des chronischen

rinkers. Es stellte sich sinnlose Betrunkenheit mit Lähmungs- erscheinungen Patient lag in der Gosse ein, die gleich oder

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58 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen

nach kurzer Ruhe von hochgradiger psychomotorischer Erregung abgelöst wurden. So eigenartig es auch ist, dass Dipsomanen oft durch entsprechende Mengen des Giftes nicht in sinnloser Betrunkenheit versetzt werden, so scheint uns das für unseren Fall einen wesentlichen Unterschied nicht zu bedeuten. Vielleicht kommt hier für die stärkere Wirkung in Betracht, dass unser Patient in den Intervallen völlig abstinent lebt und schon lange vor Auftreten der typischen dipsomanischen Anfälle auffallend intolerant gegen Alkohol gewesen war. Als die Ursache aber dieser schon vorher bestehenden Intoleranz, die sich also auch in den Anfällen noch in ungewöhnlicher Weise äussert, ist wohl mit Sicherheit das Trauma bezw. die dadurch gesetzte „trauma- tische Degeneration“ anzusehen. Dieser Punkt, der uns später noch ausführlich beschäftigen soll, sei hier besonders betont. Bemerkenswert ist auch das völlige Fehlen jeglicher here- ditärer Belastung.

Eine besondere symptomatische Eigentümlichkeit bietet unser Fall noch bezüglich der Eifersuchtswahnideen. Finden sich, was überhaupt selten, solche bei Kranken, die an Dipsomanie leiden, so treten sie nach Abklingen des Anfalls hervor und „müssen in der Regel als Folgen der Alkoholvergiftung betrachtet werden. Sie verschwinden dann allmählich bei völliger Enthalt- samkeit, kehren aber gern nach neuen Anfällen in gleicher Weise wieder“ (Gaupp, loc. cit., p. 129). Demgegenüber zeigt unser Patient den Fiforsuchtswahn nur in den Anfällen selber, und zwar schon im Beginn derselben, bevor er noch grössere Mengen Alkohol zu sich genommen hat; und zugleich mit dem Ende des Anfalles hört auch dieser Wahn auf und wird unter grosser Be- trübnis als krankhaft erkannt. Es besteht also im Gegensatz zur Regel hier diese partielle wahnhafte Verfälschung des Bewusst- seinsinhaltes nur so lange, wie überhaupt die allgemeine Ver- änderung der Bewusstseinsvorgänge, der „Dämmerzustände“, besteht, ist also exquisit akuter Natur. Der Eifersuchtswahn der Trinker ist aber ein chronischer Zustand, der auf dem Boden lange Zeit fortgesetzten Alkoholmissbrauches erwächst und nur allmählich bei völliger Abstinenz schwindet, um hei Rückkehr zur Trunksucht zumeist wieder hervorzutreten. Der Wahn der ehelichen Untreue als Folge einer akuten Alkohol- intoxikation, als akutesZustandsbild ohne Grundlage des chronischen Alkoholismus, ıst meines Wissens nicht in der Literatur bekannt; wenigstens ist in den gangbaren Lehrbüchern nichts derartiges beschrieben. Beides aber, sowohl der akute Verlauf als auch das Fehlen der chronisch-alkoholistischen Grundlage, ist in unserem Falle vorhanden. Rasch und plötzlich endet der Unfall, hellt sich die allgemeine Bewusstseinstrübung auf; und gleichzeitig und ebenso plötzlich schwinden auch die Eifersuchtswahnideen. In den Intervallen besteht völlige Abstinenz ohne nachweisbare Zeichen chronischen Alkoholismusses, und auch früher hat nie Missbrauch bestanden. Die Dauer der dipsomanischen Exzesse aber ist nicht

nach Trauma (Dipsomanie ete. nach Trauma). 59

lang genug, und die Intervalle sind nicht kurz genug, um daraus chronischen Alkoholismus zu folgern. Es liegt daher der Gedanke nahe, dass dieser Wahn nur ein Teil der allgemeinen Störung ist, entstanden auf dem Boden der schweren Trübung des Bewusst- seins und nur in seiner besonderen Art bedingt durch das

alkoholische Gift.

Kehren wir nach dieser Erörterung der symptomatologischen Besonderheiten zur Betrachtung des Gesamtbildes zurück, so ist die wesentliche Frage die, was wir als Grundlage und Ursache dieser ausgeprägt dipsomanischen Zustände annehmen müssen. Denn die Dipsomanie als Krankheit sui generis im Sinne der Monomanien Esquirols lehnt die moderne Psychiatrie wohl allgemein ab. Es ist bekannt, dass Kräpelin und seine Schule, insbesondere Gaupp in seiner bereits mehrfach erwähnten aus- gezeichneten Monographie, die Dipsomanie ausschliesslich als eine Erscheinungsform echter Epilepsie auffassen; ja, dass sie sogar allein aus dipsomanischen Zuständen auf Epilepsie zu folgern sich berechtigt glauben, auch dann, wenn sonstige der gewöhn- licheren epileptischen oder epileptoiden Symptome nicht nachzu- weisen sind; wobei sie als Grundcharakter der dipsomanischen Zustände die periodische Verstimmung annehmen und diese wiederum als ein typisch und ausschliesslich epileptisches Symptom und deshalb als beweisend für die Zugehörigkeit jener zur Epile sie betonen. Von dieser Lehre muss Gaupp allerdings selbst gestehen, dass sie trotz eines gewissen Entgegenkommens, das ihr gerade in Deutschland bereitet wurde, „doch bis jetzt keine allgemeine Anerkennung gefunden habe, weil in manchen Fällen angeblich keinerlei epileptische Störungen vorhanden seien“.

Die Stellungnahme zur Auffassung der Kräpelinschen Schule in der Dipsomanie-Frage setzt in gewisser Weise eine Stellung- nähme zur Epilepsiefrage überhaupt, wie sie seit Samt (6) und Falvet (7) unaufhörlich diskutiert wird, voraus. Je nachdem man auch hierin den weitgehenden Samt-Kräpelinschen Standpunkt teilt, dass man alleın aus der Form einer Geistesstörung ihre epileptische Natur auch ohne Nachweis irgend welcher epileptischer Antezedentien erkennen könne, oder zum Nachweis, dass bestimmte Krankheitsbilder zu den Formen des epileptischen Irreseins ge- hören, mit Binswanger (8), Siemerling (9) u. A., in erster Linie die Feststellung der Tatsache verlangt, dass das erkrankte Individuum wirklich an Epilepsie leidet; je nachdem wird man geneigt sein, der rigorosen Auffassung Kräpelins in der Dipso- maniefrage zuzustimmen oder nicht.

Würden wir uns auf den Kräpelinschen Standpunkt stellen, so wäre die Antwort auf die oben gestellte Frage höchst einfach und bequem: Bis auf nicht wesentliche Abweichungen gleichen, wie ausgeführt, die periodischen Zustände unseres Kranken den typischen dipsomanischen, insbesondere ist das gemeinsame Haupt- symptom der periodischen initialen Verstimmung sehr deutlich; also gehört unser Fall zur Epilepsie, gleichgültig, ob sich

60 Pelz, Ueber periodische trunsitorische Bewusstseinsstörungen

sonst diese Diagnose durch den Nachweis sonstiger epileptischer oder epileptoider Antezedentien sicherstellen lässt oder nicht.

hne in Breite meine Stellung zur Epilepsiefrage begründen zu wollen, muss ich bemerken, dass ich darin auf dem Standpunkt der Kräpelinschen Schule nicht stehe, und dass ich also auch für unseren Fall a priori jene eben angeführte bequeme Lösung nicht aufnehmen kann. Wenn auch zugegeben werden soll, dass in einer grossen Zahl von Dipsomaniefällen Epilepsie vorliegt, so muss doch immer in jedem einzelnen Falle, für den diese Grund- lage beansprucht wird, deren Nachweis aus anderen Zeichen erst erbracht werden, sei es, im Binswangerschen Sinne, nur durch abortive oder rudimentäre Anfälle, sei es durch die sogenannten epileptoiden Momente im Sinne Griesingers (10) und Siemer- lings. Die Existenz periodischer Verstimmungen allein reicht nach der Meinung der Mehrzahl der Autoren nicht aus, die Epilepsie sicherzustellen. Raecke (11), in dessen trefllicher Monographie über „Die transitorischen Bewusstseinsstörungen der Epileptiker“ die Dipsomanie charakteristischerweise kaum erwähnt wird, weist mit Siemerling darauf hin, dass lebhafte Stimmungs- änderungen, denen sogar gelegentlich eine gewisse Periodizität zukomme, sich bei den meisten Schwachsinnsformen, ferner bei Neuropathen überhaupt, bei Hysterikern, Morphinisten etc., sich fänden. Oft sind solche periodischen Verstimmungen nichts anderes als rudimentäre Anfälle einer zirkulären (manisch-depressiven) Psychose. Für unseren Fall ist sowohl in der ausführlichen Dar- stellung, als auch in der Zusammenfassung bereits wiederholt betont worden, dass irgendwelche epileptischen oder epileptoiden Antezedentien nicht eruiert werden konnten, Weder von einer allgemeinen psychopatischen, noch von einer besonderen Belastung mit Trunk oder Epilepsie der Aszendenten ist etwas bekannt. Schwindelanfälle (abgesehen von den nach dem Unfall aufgetretenen), Bettnässen, Absenzen, nächtliches Aufschrecken, abortive Anfälle, nichts hatte bei dem Kranken je bestanden. Von dieser Seite bestehen also keine Tatsachen, die die Existenz einer reinen genuinen Epilepsie sicherstellen.

mso bedeutungsvoller ist ein anderes Moment, das hier schon eine eingehende Erörterung gerade bezüglich der Frage der Epilepsie verlangt; das ist das Trauma, das Patient erlitten, und im Anschluss daran sich die psychopatische Veränderung des Kranken entwickelt hatte. Es liegt nämlich der Gedanke nahe, dass wir es hier vielleicht mit einem Falle von sogenannter „traumatischer Epilepsie“ zu tun haben. Die Lehre von der traumatischen Epiepsie ist bekannt, und in den Lehrbüchern [Binswanger, ppenheim, Gowers (12) etc.] eingehend be- rücksichtigt. Ich brauche sie hier nicht zu erörtern. Sehen wir aber diese Darstellungen durch, dann werden wir sofort ein Moment finden, das unserem Falle nicht zukommt. Fast allgemein wird nämlich von der Entstehung einer „traumatischen Epilepsie“ nur nach Schädelverletzungen gesprochen. Ja, eine grosse Reihe

nach Trauma (Dipsomanie eto. nach Trauma). 61

von Autoren kennt auch traumatische Psychosen nur nach Schädel- verletzungen. Abgesehen davon, dass sich sonst epileptische Symptome nicht feststellen lassen, spricht also auch die peripherische Art der Verletzung in unserem Falle mit grosser Wahrscheinlichkeit gegen das Bestehen echter Epilepsie, dagegen führt sie uns zu der Frage, ob vielleicht das vorliegt, was man Reflexepilepsie nennt.

Die Reflexepilepsie kennzeichnet sich nach Oppen- heim (1,2) vornehmlich dadurch, dass eine Aura von der Narbe ausgeht und die Zuckungen in der verletzten Extremität beginnen. Dass die Narbe eine epileptogene Zone bildet, ist nicht notwendig. Von dieser Definition kommt für uns nur der erste Teil in Betracht, da die fraglichen Anfälle bei unserem Patienten nie ın Zuckungen bestanden haben. Aber auch von einer Aura, die von der Stelle der Verletzung ausgeht, liess sich für keinen Anfall etwas fest- stellen. Nach sehr bestimmten Angaben des Kranken, und insbesondere seiner Ehefrau, hatten wohl oft, besonders bei Witterungswechsel, Schmerzen und Missempfindungen in der Narbe und.in dem Stumpf bestanden, wie das ja bei Traumatikern ganz gewöhnlich ist; dass aber etwa im Beginn eines Anfalles diese Schmerzen besonders auffällig geworden seien oder gar nach Art einer Aura sich von der Stelle der Verletzung zentralwärts ausgedehnt hätten, wurde durchaus in Abrede gestellt. Druck auf die Narbe selber war zuweilen schmerzhaft; sonstige Er- scheinungen traten danach nicht auf.

Das Resultat der bisherigen Frörterungen ist also, dass Epilepsie, die nach Kräpelin, Gaupp, Smith (13) etc. stets, nach anderen Autoren oft die Grundlage der dipsomanischen Zustände ist, ın unserem Falle sich nicht sicherstellen lässt.

Wenn wir aber weiter die monomanische Natur der Dipsomanie als einer Krankheit sui generis ablehnen, was verbirgt sich dann hinter dieser eigenartigen Aeusserungsform, zu welcher Grand- krankheit sonst gehören diese Zustände als Symptom?

Die Urheber der Lehre von der Dipsomanie [v. Brühl- Cranier (14), Erdmann (15) etc.] hatten die Ansicht, dass nur chronische Säufer dipsomanisch werden könnten. Diese Lehre ist ja von den späteren Forschern fast allgemein aufgegeben worden, auch in unserem Falle würde sich der Nachweis des chronischen Alkoholismus nicht erbringen lassen.

In Frankreich gelten über das Wesen der Dipsomanie haupt- sächlich noch die Lehren Magnans (16), der sie als Symptom des Irreseins der Hereditär-Entarteten betrachtet. Auch hierfür ergibt unsere Beohachtung keinerlei Anhaltspunkte. | Um also zu einer Lösung zu gelangen, glaube ich, werden wir gedrängt werden, auf ein ursächliches Moment zurückzugreifen, das wir bereits mehrfach erwähnt haben und dessen Bedeutung für die Entstehung von psychisch-nervösen Störungen allgemein anerkannt ist, ich meine das Trauma. Gaupp hat bei Be- ‘sprechung der Dipsomanie (d. h. Epilepsie) auslösenden Momente auch des Traumas Erwähnung getan, „es sei nicht ohne Be-

62 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen

deutung“; und er weist auf Fällevon Foville, Vallon und vielleicht auch den von Pilcz hin. Den Fall von Foville habe ich im Original nicht einsehen können, Der Beobachtung Vallons, so interessant und für die Lehre vom traumatischen Irresein wichtig sie auch ist, fehlt sicher jede Aehnlichkeit mit der Dipsomanie. Es handelt sich um einen sehr befähigten, sehr ordentlichen Offizier der französischen Kolonialarmee, der nach einem überaus schweren Trauma (Sturz vom Pferde, Schädelbasisfraktur und lange dauerndes Krankenlager) eine völlige Charakterveränderung erfuhr. Er wurde liederlich, nachlässig, gleichgültig, vor allem fing er an, in der unmässigsten Weise zu trinken, ohne angeben zu können, warum, ohne Scham und Rücksicht. Er sank immer mehr und mehr, verlor alle möglichen Stellungen, weil er wieder trank. Er war dann vier Monate im Villejuif und wurde als „geheilt“ entlassen. Vallon hat nichts wieder von ihm gehört.

Es liegt auf der Hand, dass dieser Erkrankung, deren Be- schreibung übrigens ausserordentlich flüchtig und feuilletonistisch gehalten ist, die wesentlichsten Symptome der Dipsomanie, die Periodizität und die einleitenden Verstimmungen völlig fehlen. Ich glaube, dass wir es dabei mit einem traumatisch Degenerierten zu tun haben, der zum chronischen Alkoholisten geworden ist; kaum dass die Beobachtung unter jene Formen von Pseudo- dipsomanie gehört, die Margulies (20) beschrieben hat, bei denen es sich wohl zumeist auch um chronische Alkoholisten oder haltlose Psychopathen handelt, die nach kurzer Besserung durch periodische Gelegenheiten wieder rückfällig werden.

In dem Falle von Pilcz begann die Dipsomanie im 17. Lebensjahre, nachdem Patient im fünften Lebensjahre ein schweres Schädeltrauma erlitten hatte. In den Kinderjahren litt Patient auch an Pavor nocturnus. Es ist zweifelhaft, ob hier noch eine Scheidung zwischen posttraumatischer Neurose und posttraumatischer, wirklicher Epilepsie möglich ist.

Dagegen konnte ich in der Literatur noch einen, auch von Gaupp sonst nicht erwähnten Fall finden, bei dem sich die Krankheit fast unmittelbar nach einem schweren Trauma ent- wickelte. Es ist eine Beobachtung von Wagner (21).

J. H., 42 Jahre alt, dem Trunke ziemlich ergeben, aber ohne Schädigung seines Geisteszustandes. 1882 Fall auf einen Keller; bewusstlos, keine un- mittelbaren Folgen. Nur empfindliche Narbe. Bald aber heftige, anfallweise auftretende Kopfschmerzen, Schwindelanfälle.e Dazu von Zeit zu Zeit Zustände tiefer Verstimmung mit Angstgefühlen, in welchen er sich unwiderstehlich zu stärkstem Alkoholgenuss hingetrieben fühlt. Dann rasch vorübergehende Zustände von Geistesstörung, die Pat. bis jetzt schon zum 9. Male in die Irrenanstalt geführt haben; keine Alkoholdelirien. Beschreibung eines solchen Anfalles: Bei der Aufnahme Grössenideen; sei Ludwig Il. von Bayern; sei hierher gekommen, sich sezieren zu lassen, damit man sehe, dass er den Professor Gudden nicht getötet habe; der sei selber ins Wasser ge-

angen; er habe ihn nicht gerettet, damit Bayern nicht ohne König bleibe.

ei Prüfung von Rechenaufgaben beleidigt; man glaube überall, er sei ein Schneider und verrückt. Beim Namen genannt, wird er entrüstet; man wisse wohl nicht, wer er sei.

nach Trauma (Dipspmanie etc. nach Trauma). 63

. Am nächsten Tage klar, später fast völlige, auch retrograde Amnesie festgestellt.

In der gleichen Weise verliefen die anderen Anfälle.

Bis auf die Eigenart der Wahnideen, die völlig ukut auf- treten und schwinden, gleicht der Fall völlig der typischen Dip- somanie. Es ist gewiss kein Anlass, ihn nicht dazu zu zählen. Die Besonderheit des Falles erinnert stark an unsere eigene Be- obachtung. Wenn es sich auch bei uns nicht um Grössenideen, sondern um Eifersuchtswahn handelte, so ist doch wie dort für Dipsomanie auffällig diese akute wahnhafte Verfälschung des Be- wusstseinsinhalts, diese wenn man so will „akute Paranoia“. Es bliebe nur die Frage, inwieweit dem chronischen Alkohol- missbrauch, der, vor dem Trauma bestanden, eine ätiologische Wichtigkeit beizumessen ist. Ich will hier nur darauf hinweisen, dass Wagner selber betont, dass eine „Schädigung des Geistes- zustandes“ vor dem Trauma nicht bestanden habe, und will die nähere Erörterung des gegenseitigen Verhältnisses von Alkoholismus und Trauma bezüglich der Entstehung solcher Dämmerzustände für später zurückstellen.

Um zu unserem Falle zurückzukehren, so fanden wir weder irgendwelche hereditäre Entartung noch sonstige Momente zur Erklärung. Dagegen bestanden dauernd nach dem Unfall die Er- scheinungen einer ausgesprochenen traumatischen Neurose: Rücken- schmerzen, Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Intoleranz gegen Alkohol. Auf dem Boden dieser „traumatischen Neurose“ er- wuchsen allmählich die typischen dipsomanischen Zustände, nach- dem bereits vorher einigemale das Gehirn die Schwere seiner Schädigung vorerst noch unter dem Einfluss eines äusseren Giftes, des Alkohols, gewissermassen demonstrierthatte. Diese traumatische Veränderung der nervösen Funktion bleibt also in unserem Falle allein übrig zur Erklärung der Dipsomanie.

Die nähere Erörterung dieser Auffassung wollen wir erst an die Mitteilung und Besprechungen zweier weiterer Beobachtungen anschliessen.

Beobaehtung IL Robert B., 29 Jahre alt, Mulergehilfe. In die Klinik aufgenommen am 26. XII. 1905.

Anamnese (Ehefrau): Pat. ist illegitim geboren. Heredität ist nicht bekannt. Seit 4 Jahren ist Pat. verheiratet; 2 Kinder; keine Aborte oder Frühgeburten. Vor 4 Jahren Lungenentzündung; seit damals Unterschenkel-

eschwür; deswegen wiederholt, auch im Krankenhaus, behandelt, Nicht Soldat gewesen, war aber angesetzt. Als Lehrling, vor ca. 10 Jahren, sei or vom 4. Stockwerk herab mit dem Kopf auf einen Sandhaufen gefallen, ohne schwerere Verletzungen davonzutragen. Vor 2 Jahren sei er von einer hohen Leiter herabgefallen. Seitdem klage er oft über Schmerzen in der linken Seite. Er sei immer sehr reizbar und erregt, schon bei der geringsten Kleinigkeit. Eifersuchtsideen hätte er nie geäussert. Getrunken habe er nie viel, höchstens für 5—10 Pf. Schnaps und etwas Bier dazu. (Die Angaben der Ehefrau machen einen durchans glaubhaften Eindruck.)

Aber er vertrage, besonders seit der Lungenentzündnug, fast nichts. Für 5 Pf. Schnaps mache ihn wie betrunken. Er werde gleich immer sehr erregt da- nach und wisse nachher nicht, was er getan habe. Seit dem 25. IX. 1905 ausser Arbeit, wegen des Beingeschwüres in ärztlicher Behandlung.

64 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen

Seit einigen Jahren leide er öfters an Unwohlsein; alle 8—14 Tage bekomme er Beklemmung, Schwindel, starke Schwäche. Der Zustand dauere ij4+—'|s Stunde; nachher breche ihm der Schweiss aus, und er fühle eich schwach danach. Die Erinnerung ist völlig erhalten. Einmal sei er vor mehreren Jahren ohnmächtig hingefallen; er habe vorher noch über Unwohl- sein geklagt, sei dann umgefallen; habe !/, Stunde bewusstlos gelegen. Er- brechen und Zuckungen bestanden nicht. Nachher ohne Erinnerung. Oft Anfälle von Herzklopfen bis zu einer Stunde lang. Nie Krämpfe, nıe Ein- nässen. Oft Wadenkrämpfe,

Seit Anfang Dezember 1905 sah er nachts, aber auch am Tage, wenn er die Augen schloss, zahlreiche Gestalten, die Stube voll Menschen etc. Glaubte zuerst, dass es Wirklichkeit sei. Erst nach Mühe kam er zur Ein- sicht. Er sprach nicht mit den Erscheinungen. Stimmen hörte er nicht. Er sehlief auch unruhiger, träumte ängstlich; kam trotz guten Appetites sehr herunter.

Am 18. XII. 1905 bekum er plötzlich einen Anfall schwerer Erregang. Er hatte vorher bestimmt nicht getrunken, auch keinen Aerger ge- habt. Er stürzte sich plötzlich auf die Frau, würgte sie am Halse, schlug anf sie ein; zeigte den Ausdruck rasender Wut, knirschte mit den Zähnen, rollte mit den Augen, zitterte stark; sah aus wie ein Wahnsinniger. Er sprach kein Wort. Nur als die Frau sagte: „Du erwürgst mich ja," ant- wortete er: „Das will ich auch.“ Plötzlich wurde er tür 8—4 Sekunden ruhig; fragte die Frau, woher sie das blutige Auge habe; als sie es ihm sagte, wusste er von nichts. Gleich darauf würgte und schlug er sie wieder, in der gleichen Weise wie vorher. Nach ®/, Stunden gelang es der Fraa, sich auf die Strasse zu flüchten. Pat. soll sich darauf gleich beruhigt haben; schlief später. Nachher wusste er von nichts. Er glaubte den Erzählungen der Frau nicht. Er war völlig ruhig. Am 25. XII. wieder so ein Zustand. Ganz plötzlich, ohne jedes Anzeichen, ging er auf die Fran mit einem Stuhl los, ohne zu sprechen. Er sah nicht so schrecklich. aus, wie beim ersten Male. Als die Frau losschrie, beruhigte er sich und kam zu sich; er fragte, was denn los sei, und wusste von nichts. Er ass ruhig Mittag und war ganz ordentlich, als wenn nichts vorgefallen wäre. Am späten Abend desselben Tages, gegen 11 Uhr, war er bei seiner Mutter. Als er fortgehen wollte, kam aus der gegenüber liegenden Tür ein alter Mann. Pat. stürzte sich sofort wütend auf ihn; einem anderen Manne, der dem Alten zu Hilfe eilte, zerriss er die Kleider; sie konnten nichts gegen seine Wut ausrichten. Pat. ging dann die Treppe hinunter und traf unten eine fremde Frau, die er ebenfalls am Halse würgte. Dann versuchte er nochmals ins Haus einzudringen, demolierte dabei die Haustär. Der herbei- geeilte Schutzmann hielt ihn für geisteskrank und liess ihn nach Hause gehen. Pat. legte sich zu Hause ruhig hin und schlief, als die Frau gegen 2 Uhr nach Hause kam. Gegen 4 Uhr richtete er sich mehreremals im Schlafe auf, ohne zu erwachen; sah sehr wütend aas, sprach von dem alten Manne, der ihn geschlagen habe und den er erwärgen wolle. Dann schlief er bis 7 Uhr früh. Ging aus, kam um 9 Uhr wieder, hatte wohl etwas ge- getrunken, versuchte, auf die Fran einzudringen. Dann fing er wieder an, zu sagen, dass der alte Mann ihn geschlagen hätte, und lief nach dem Hause der Mutter. Die Frau eilte ihm nach uud fand ihn ganz ruhig am Tisch sitzend, das Kind auf dem Schoss; er erzählte der Schwester, dass er Schlingen in der Tasche habe; wenn der alte Mann herauskommen werde, würde er ihm eine um den Hals werfen und ihn erwärgen. Nun holte die Frau den Krankenwagen, und nach anfänglichem Widerstreben ging er dann ruhig mit. Ä

Statns praesens: Pat. macht bei der Aufnalıme einen unklaren, energielosen, schlafen Eindruck. Er scheint der Aufnahma innerlich zu widerstreben. Er ist örtlich, zeitlich und zur Person orientiert. Interesse und Affekt etwas abgestumpft. Er wisse nicht, weswegen die Frau ihn hierher gebracht habe; er macht dabei eine Geste, als wenn er sich wohl etwas dabei denke. Er gibt aber auf Befragen keine nähere Auskunft darüber, insbesondere negiert er entschieden Eifersuchtsideen. Er wisse

nach Trauma (Dipsomanie etc. nach Trauma). 65

nicht, was losgewesen sei. Er sei gestern abend bei der Mutter gewesen; da sei nichts besonderes los gewesen. Als er heate früh bei der Mutter ge- wesen, sei ein Schutzmann gekommen und habe ibn aufgefordert, mitzugehen; er sei gefolgt, um sich nicht strafbar zu machen. Pap.: RIL. + K/Ph. ++, Unterschenkelgeschwür links.

27. XIL. Pat. hat nachts völlig rohig geschlafen. Auch heute ruhig und geordnet. Er sei gestern bei seiner Mutter gewesen, da sei der alte Mann auf den Fiur gekommen, und da sei er auf ihn losgegangen. Warum er das getan habe, wisse er nicht; er habe wohl einen getrunken.

(Wollte er Ihnen was tun?) I wo; wie das so kam, weiss ich nicht; er muss doch was gesagt haben.

Ob er was gesagt habe, wisse er nicht. Auf weiteres Befragen gibt dann Pat. an: Der alte Mann sei in die Wohnung zurückgegangen; er, Pat., habe ihm nichts getan. Dann sei der Alte wieder herausgekommen und habe, ihn ins Gesicht geshlagen. Er, Pat., sei dann die Treppe hinunter gegangen, dort habe er eine Frau getroffen, die er aber nicht gewürgt oder geschlagen habe. Ein Schatzmann habe ihm gesagt, er solle nach Hause gehn, und das habe er auch getan und habe sich schlafen gelegt. Das habe er am nächsten Morgen alles gewusst. Bei der Aufnahme habe er nichts davon gesagt, weil er nicht geglaubt habe, dass das der Grund für die Aufnahme gewesen sei. Er wisse nicht, weshalb er auf den Alten losgegangen sei. „Wenn ich einen getrunken habe —!!“ Am anderen Morgen habe es ibm leid getan. Er habe um Entschuldigung bitten wollen; der Alte sei aber nicht zu Hause gewesen. Vom Strick habe er nur scherzhaft gesprochen. Früher habe er aach schon solche Zustände von sinnloser Erregung gehabt, so dass er nachher nicht wisse, was er getan habe; es sei das seit dem Unfall so, besonders wenn er getrunken habe. Früher habe er viel mehr vertragen können. Von dem Anfall, in dem er seine Frau gewürgt haben solle, wisse er absolut nichts. Er glaube, er müsse wohl etwas getrunken haben, wenn er so einen Anfall habe bekommen können. Für 10 Pf. Schnaps sei ihm jetzt schon zu viel. Er habe nie an Krämpfen gelitten. Jetzt füh er sieh gauz gut. Er sei sehr vergesslich geworden. Anfälle von unmotivierter Traurigkeit negiert er. Körperlich findet sich ausser leichtem Händerzittern, etwas Drackempfindlichkeit der Waden und grossen Nervenstämme und einem talergrossen Unterschenkelgeschwür links nichts Besonderes.

28. XII. Dauernd ruhig, etwas interesselos, gleichgültig. Meist sorg- lose, stille Heiterkeit. Macht einen beschränkten Eindruck. Er gibt heute auf Befragen an, dass er im Dezember nachts, wenn er die Augen ge- schlossen, Gestalten, Männer und Frauen, gesehen habe. Einer habe sogar Steine nach ihm geworfen; er sei sehr äugstlich gewesen, wenn er die Augen offen hatte, sei alles weg gewesen. Er habe das nicht für wirklich gehalten. Jetzt sei ‘alles gut. Jetzt könne er auch wieder gut schlafen. Keine lückenlose, klare Erinnerung.

9. I. Dauernd unverändert. Heute für 15 Pf. = 250 g „Korn mit Rum“ („seine Marke*) innerhalb 2 Stunden erhalten. Keine wesentliche Aenderung. Pat. fühlt sich sehr wohl danach. Macht einen leicht angeregten Eindruck. Papillen reagieren prompt. Händezittern nicht vermehrt.

13. I. Nach Hause entlassen.

Es ist ein eigenartiges Krankheitsbild, das hier ausführlich dargestellt wurde. Ein verhältnismässig junger Mann, bei dem hereditäre Belastung, ernstliche Erkrankungen, chronischer Alkohol- missbrauch nicht festzustellen sind, erleidet im Alter von 19 und 27 Jahren je eine schwere Schädelverletzung.

Im Anschluss daran stellen sich Erscheinungen psycho- nervöser Veränderung ein, zunächst Spontanschmerzen, Labilität und erhöhte Erregbarkeit der Affekte, erhebliche Intoleranz gegen Alkohol, Vergesslichkeit; später eigenartige Anfälle von Schwindel-,

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helt 1. 5

66 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewausstseinsstörungen

Beklemmungs- und Schwächegefühl, bei völlig erhaltenem Sen- sorium, die sich einmal zu einer völligen Ohnmacht gesteigert hatten. Ebenso traten öfters Anfälle von Herzklopfen auf. Anfang Dezember entwickelte sich dann ein schwerer psychotischer Zustand, der am besten als visionell-sensorische Uebererregbarkeit gekennzeichnet werden kann, indem schon bei Augenschluss zahlreiche Gesichtshalluzinationen auftreten, die zuerst so ver- wirrend wirken, dass Patient sie für wirkliche Wahrnehmungen hält und sich geängstigt fühlt und dass es ihm erst mit Mübe gelingt, zur Einsicht zu gelangen, die er dann aber dauernd bewahrt. Mitten in diese Zeit fallen nun jene merkwürdigen, eben ausführlich dargestellten Zustände von tiefer Bewusstseins- störung. Patient zeigte, ohne vorheriges Anzeichen, ohne äussere Einwirkung, etwa durch seelische Erregung oder Alkoholgenuss, plötzlich eine schwere Trübung des Bewusstseins mit überaus eftiger psychomotorischer und affektiver Entladung; er stürzt sich auf seine Frau, würgt und schlägt sie, zeigt ganz den Aus- druck höchster Wut und Besinnungslosigkeit. Ebenso plötzlich, wie sie gekommen, schwindet die Störung wieder; Patient weiss von nichts, ist überaus verwundert. Aber schon nach kurzer Pause wiederholt sich genau derselbe Zustand, jetzt aber von erheblich längerer Dauer; auch das zweite Mal tritt ziemlich lötzlich auffällige Ruhe ein und völlige Erinnerungslosigkeit. wei Wochen später stellen sich von neuem, nachdem Patient in der Zwischenzeit keine Zeichen abnormer Seelentätigkeit geboten, gleiche Zustände traumhaft veränderten Bewusstseins mit sjnn- loser psychomotorischer Entladung und partieller Amnesie ein, die seine Uebertührung in die Klınik nötig machten. Hier zeigt er ausser einer leichten Abstumpfung der geistigen und gemüt- lichen Regsamkeit nur bei der Aufnahme einen etwas unklaren, alienierten Eindruck. Sonst verhielt er sich geordnet; es sind keinerlei Wahnideen, auch keine Sinnestäuschungen mehr vor- handen. Für die ersten Anfälle besteht völlige Amnesie, für die letzten nur sehr lückenhafte, unklare Erinnerung und keinerlei Einsicht.

Die Auffassung dieses Falles kann keine ganz eindeutige sein. Die zuerst aufgetretenen Erscheinungen der Herabsetzung der Reizschwelle sowohl für gemütliche Erregungen als auch für das alkoholische Gift lassen sich wohl ohne Bedenken als all- bekaunte Ausdrucksformen einer echten posttraumatischen Neurose ansehen. Schwieriger schon ist die Beurteilung der nicht lange darauf aufgetretenen Anfälle von Schwindel, Beklemmung, Angst, Herzklopfen. Lenkt man den Blick gleichzeitig auf die späteren schweren Zustände von Bewusstseinstrübung, die sicherlich die grösste Aehnlichkeit mit epileptischen Dämmerzuständen zeigen, so könnte man geneigt sein, diese leichteren Anfälle damit in Parallele zu setzen und sie als petit mal, als „epileptoide* Sym- ptome als abortive epileptische Anfälle anzusprechen, d. h. die

onsequenz (oder vielmehr die Voraussetzung!) wäre, das ge-

nach Trauma (Dipsomanie etc. nach Trauma). 67

samte Bild als wirkliche Epilepsie traumatischen Ur- sprungs aufzufassen.

So bedeutungsvoll ich das ätiologische Moment des Traumas auch in diesem Falle hinstellen und nachweisen möchte, so möchte ich gerade deswegen die epileptische Natur jener kleinen „vaso- motorischen“ Anfälle entschieden verneinen, umsomehr als sonstige Anhaltspunkte für Epilepsie sich keineswegs feststellen lassen; denn auch für die schweren Dämmerzustände werde ich nach- zuweisen suchen, dass ihre epileptische Natur nicht notwendig ist. Ich glaube, seine kleinen Schwindel. etc. Anfälle lassen sich un- gezwungen in die Erscheinungsformen der psychoneurotischen Veränderungen, die nach Trauma entstehen, einordnen. Sie ge- hören sogur zu den bekannteren derselben, wie an besonders reichem Material noch Kaplan (22) nachgewiesen hat. In unserem Falle lassen sich die Anfälle von Herzklopfen und von Beklemmung, von Schwindel (Blutandrang zum Kopf) etc. leicht auf solche Störungen der vasomotorischen Funktionen zurück- führen, und damit zu gar nicht ungewöhnlichen Symptomen einer traumatischen Neurose, deren Bestehen ja aus anderen Zeichen schon sehr nahe gelegt war, stempeln, ohne dass die Annahme ihrer epileptischen Natur notwendig oder auch nur wahrscheinlich ist. Dass auch der einmalige Anfall kompletter Ohnmacht nicht dagegen spricht, sondern dass auch dieser bei traumatischer Neu- rose vorkommen kann, darauf ist bereits in der Einleitung hin- gewiesen worden.

Nun die Erscheinungen der letzten Zeit! Am schwierigsten ist wohl die Erklärung der sensorischen Hyperfunktion im Gebiete der optischen Sphäre. Am bekanntesten sind solche Zu- stände als Ausdruck eines sehr vorgeschrittenen, sehr hoch- gradigen chronischen Alkoholismus, wo oft vor einer akuten Exazerbation, etwa einem Delirium oder einer akuten Paranoia, aber auch sonst solche schreckhaften Gesichts- und Gehörstäuschungen besonders des Nachts auftreten, und ebenso als Ausdruck der schweren psychischen Schädigung aufzufassen sind, wie die meist

leichzeitig auftretenden, an sich häufigeren Störungen des Schlafes und der Träume, die mit ihrer ängstlichen, schreckhaften Färbung in diesem Stadium fast pathognomonisch sind. Auch dieses anfängliche Schwanken zwischen wahnhafter Auffassung und Einsicht und oft dann die Erwerbung der Einsicht bei Fort- bestehen der Störungen ist sehr charakteristisch. Vereinzelte Sinnestäuschungen sind ja auch bei Epilepsie bekannt. Allein einmal treten sie dort noch mehr isoliert auf, nur zuweilen ein Kopf oder eine Figur etc.; ausserdem erscheinen sie bei Epilepsie unabhängiger von den peripherischen Zuständen der Sinnesorgane (Augenschluss! Dunkelheit!). Die Existenz einer Epilepsie haben wir aber oben schon verneint. Und chronischen Alkoholismus können wir als Erklärung dafür nach den Angaben des Patienten und seiner Ehefrau, deren Angaben ja ausserordentlich zuverlässig erschienen, in unserem Falle kaum annehmen; jedenfalls rechneten

5%

68 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen

wir in der Klinik bei der ortsansässigen, arbeitenden Bevölkerung, den Genuss von etwas Bier und für 5—10 Pfg. Schnaps noch nicht ausreichend zur Sicherstellung des ätiologischen Charakters des Alkohols. Und wenn wir nicht annehmen wollen, dass der Kranke, der ja wegen des Fussgeschwürs seit längerem arbeitlos war, wie das in solchen Zeiten bei Arbeitern gewöhnlich Müssiggang ist aller Laster Anfang in letzter Zeit mehr Alkohol genossen hat als früher, und mit seiner traumatischen Intoleranz behaftet, schneller und leichter wie ein alter chronischer Alkoholist reagiert, so müssen wir eine sichere Entscheidung über die Ursachen dieses halluzinatorischen Zustandes dahin- gestellt sein lassen.

Die interessantesten Erscheinungen sind die eigenartigen Dämmerzustände, von denen Patient in der letzten Zeit befallen war. Ihre Aehnlichkeit mit echt epileptischen ist auffallend und zweifellos. Der plötzliche Eintritt schwerster Bewusstseinstrübung, der kolossale Anstieg eines negativen Affektes und die sinnlose Energie der psychomotorischen Entladung, das plötzliche Auf- hören, als wenn nichts gewesen wäre, die Amnesie, im letzten Anfall auch die illusionären Wahrnehmungsverfälschungen, dass alles erinnert lebhaft an Epilepsie ohne Kenntnis der Vorgeschichte. Allein es ist bekannt, dass solche Dämmerzustände wie bei unserem Patienten auch bei chronischem Alkoholismus, besonders wenn eine Schädelverletzung vorhergegangen, bei Hysterie, bei Neurasthenie Krafft-Ebing (23) etc. vorkommen können. Wägen wir diese verschiedenen Möglichkeiten für unseren Fall gegen- einander, so ist bereits ausgeführt, dass der Nachweis einer Epilepsie sich nicht erbringen lässt. Für Hysterie oder Neurasthenie sind gar keine Anhaltspunkte vorhanden. Die Existenz eines chronischen Alkoholismus kann nicht völlig von der Hand ge- wiesen werden, wie oben bei Erörterung des halluzinatorischen Zustandes bereits dargelegt worden ist. Bevor ich aber die Be- ziehungen der möglichen alkoholischen Grundlage zu den Be- wusstseinsstörungen dieses Falles untersuche, möchte ich die Be- schreibung der dritten Beobachtung anschliessen, bei der das gleiche Problem in Frage kommen wird’).

Beob. III. Ludwig D., Zimmergeselle (Unfallinvalide), 85 Jahre. In die Klinik aufgenommen 18. VI. 1905.

Vorgeschichte (z.T. aus den Akten des Unfallprozess-Gerichtes):

Heredität fehlt völlig, weder Potus noch Epilepsie oder allgemeine Geisteskrankbeiten in der Familie. Früher immer gesund. Soldat gewesen. Verbeiratet; 2 Kinder, 2 Aborte. Mehrere Unfälle. Erster Unfall 1893 oder 1894, bewusstlos, völlige Erholung. Zweiter Unfall 1895 oder 1896; damals ans dem Ohr geblutet; bewusstlos, schwerhörig, Beeinträchtigung der Arbeits- fähigkeit; kein Rentenanspruch. Dritter und letzter Unfall am 18. XII. 1901. D. fiel beim Herabsteigen von einer Leiter etwa 8 m hoch mit dem Rücken auf den hartgefrorenen Erdboden. D. war !/s Stunde lang bewusstlos; aus

1) Anmerkung. Ich teile diese Krankheitsgeschichte nieht voll- ständig mit, weil sie alizulang ist;, insbesondere gebe ich die aktenmässige Vorgeschichte und das Gutachten nur im Auszuge.

nach Trauma (Dipsomanie etc. nach Trauma). 68

dem rechten Ohr floss Blut. D. klagte sofort über Schmerzen im Leib, im Rücken und in der Brust. Der Arst stellte eine Quetschung und Staachung der ganzeu rechten Körperseite, Schädelbasisfraktur und Gehirnerschätterung fest. Die Klagen des D. bestanden in völliger Taubheit des rechten Ohres, Schwindelgefühlen, fortwährendem Sausen im Kopf, Stichen in der Brustseite, ` Schwäche in der rechten Hand und dem Gefühl, als wenn diese vinschlafe, und Schmerzen im rechten Bein u.s.w. Objektiv damals Narbe im Trommel- fell. Hörvermögen rechts = 0, links normal. Romberg + a.s.w. D. erhielt 50 pCt. Rente. Auf Veranlassung der Berufsgenossenschaft wurde er in den tolgenden Jahren noch mehrfach, meist mit dem gleichen Resultat, untersucht und begutachtet.

Im September 1904 gab die Ehefrau des D. zu Protokoll, dass ihr Mann infolge des Unfalles geistesgestört geworden sei; er sei mehrfach barfuss plötzlich vom Hause weggelaufen, weit weg bis zur nächsten Stadt, ohne nachher zu wissen, wie er dort hingekommen sei; im August 1904 sei er in - fremde Wohnungen eingedrungen und habe den Leuten mit einem Hackmesser die Köpfe abschlagen wollen, er sei dann durch das Fenster wieder fortgelaufen; auch dafür habe nachher die Erinnerung gefehlt.

Infolge dieser Angabe wurde D. wieder mehrfach begutachtet, einmal als völlig erwerbatähig, denn wieder als schwer geschädigt erklärt, und kam schliesslich auf Veranlassung der Schiedsgerichts ia die Klinik. Die von der Klinik aus über die obigen Angaben veranlsssten Erhebungen bei den Heimatsbehörden und Arbeitsgenossen des D. ergaben einmal, dass D. eines Nachts zu toben angefangen hatte; er bedrohte seine Frau, so dass sie aus dem Zimmer flüchten und bei dem Nachbar Schutz suchen musste; nach einiger Zeit trat Berahigung ein. D. sei früher sehr starker Trinker gewesen; seit längerer Zeit enthalte er sich aller Getränke. Ein anderer Arbeitskollege berichtete, dass D. im Frühjahr 1905 öfter an Schwindel- anfällen gelitten habe, manchmal ganz unzurechnungsfähig gewesen sei und ‚Handlungen begangen habe wie ein Mensch, der seiner Sinne nicht ganz mächtig sei, Einmal habe er, als man nach der Mittagspause an die Arbeit ging, die Bretter, an denen gearbeitet wurde, nicht gesehen, sondern sei trotz Rufens auf dem Platze umhergegangen, als wenn er etwas suche; ale ihm ein Kollege zurief, er solle doch kommen und an die Arbeit gehen, habe er geantwortet, dass er sich doch einen Haufen Bretter zum Bearbeiten aus- gesucht habe, und nun finde er sie nicht; dann sei er geraden Weges aaf eine Kulkgrube zugegangen und wäre wohl hineingefallen, wenn er nicht zurückgehalten worden wäre. Im Vorjahre sei er einmal plötzlich und ohne jeden Grund von der Arbeit weggegangen und weit entfernt in einem Walde aufgefunden worden.

Klinische Beobachtung.

D. ist bei der Aufnahme ruhig und geordnet.. Ueber die Art u.s.w. der Unfälle berichtet er, wie eben aus den Akten dargestellt. Infektion und Alkoholmissbrauch negiert er; „er habe wie alle getrunken“. Die subjektiven Beschwerden waren im wesentlichen dieselben wie früher; be- sonders bestanden Schwindelgefühle, vorzüglich beim Blick naəh oben, und Schmerzen in den verschiedensten Körpergegenden. Ausserdem klagte er über häufige traurige Verstimmungen, Bintandrang nach dem Kopf, über Vergesslichkeit, über leichte Erregbarkeit und Reizbarkeit und über ver- minderte Widerstandsfähigkeit gegen Alkoholgenuss; er werde jetzt viel schneller und oft ganz plötzlich danach benommen. Das sei alles erst nach dem Unfall aufgetreten. Ausserdem macht D. noch Angaben über „innere Krämpfe“, die er im Sommer 1904 im Schlaf an einem Tage viermal gehabt haben solle; er selber wisse nichts davon; er habe wirr gesprochen, Blut solle aus Nase und Ohren gekommen sein (!). Zuckungen, Zungenbiss, Ein- nässen u.s. w. hätten nicht bestanden. (Aus den Angaben des etwas be- schränkien und gedrüäckten Kranken liess sich kein Bild von diesen Zuständen gewinnen, die angestellten Erhebungen ergaben überhaupt nichts Nachweis- liches über diesen Punkt.) Einmal solle er nachts, bloss mit Hose und Hemd bekleidet, vom Hause weggegangen sein, ganz ohne Bewusstsein; er sei erst

70 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen

in einem entfernten Ort zum Bewnsstsein gekommen und sei sehr erschreckt gewesen, als er gesehen habe, wo er sei.

D. zeigte während der ganzen Beobachtung ein sehr ängstliches, scheues, unsicheres Wesen; die Stimmung war wehleidig und gedrückt, Es fehlte ihm fast jede Munterkeit und frische Lebendigkeit. Das Interesse wur gering; mit den anderen Kranken verkehrte er nicht; seine Bewegungen waren langsam und schwerlällig; oft machte er einen direkt stumpfen, apathischen Eindruck.

Körperlich fand sich im wesentlichen lebhafte Dermatographie und starke Steigerung der mechanischen Muskelerregbaurkeit, hochgradige Rötung des Gesichts und Pulsverlangsamung beim Bücken; geringer Nystagmus beim forcierten Blick nach links; eine nach Urteil des Herrn Professor Dr. Stenger traumatisch entstandene Labyrintherkrankung mit Taubheit des rechten Ohres;

eringe Herabsetzung der groben Kraft auf der rechten Körperhälfte, Schwanken beim Gehen und Wenden; sehr lebhaftes Rombergsches Phänomen, Er- höhung der Sehnenreflexe.

im Gutachten wurde ausgeführt, dass, abgesehen von den organischen Störungen am inneren Ohr nnd deren Folgeerscheinungen, Verlauf und Art der Symptome auf eine allgemeine funktionelle Neurose, durch das Trauma hervorgerufen, hinwiesen. Die eigenurtigen Dämmerzustände liessen an Epilepsie oder Hysterie denken. Da erstere nicht sichergestellt werden könne, sei letstere wahrscheinlich. Es wurden 60—70 pCt. Erwerbsbeschränkung an- genommen.

Die Symptomatologie des Falles ist eine verhältnismässig einfache. Wir haben neben der Erkrankung des inneren Gros vorerst die gewöhnlichen Erscheinungen einer typischen post- traumatischen Neurose: unbestimmt lokalisierte Hyperalgesien und Parästhesien, Schwindelgefühle, Vergesslichkeit, Steigerung der Reizbarkeit, ängstliche Verstimmung, Widerstandslosigkeit gegen Alkohol etc.

Daneben bestehen jene eigenartigen Zustände von verändertem Bewusstsein, die sich verschieden in schwerer Trübung der Auf- fassung, in psychomotorischer Erregung, in nachfolgender völliger Erinnerungslosigkeit etc. äussern und die als gewöhnliche Zeichen einer traumatischen Neurose nicht bekannt sind. Ich habe diese Neurose, wie angedeutet, im Gutachten unter Ablehnung der Epilepsie als „Hysterie“ aufgefasst; ich gestehe aber, dass ich in Verlegenheit war und Hysterie nur angenommen hatte, um diese Dämmerzustände in ein hinreichend bekanntes Krankheitsbild ein- fügen zu können, obwohl ich sonst keine Stigmata für die Sicher- stellung einer Hysterie gefunden habe. Jetzt, nachdem ich die beiden zuerst mitgeteilten, aber später beobachteten Fälle kenne, würde ich diesen Verlegenheitsschritt nicht tun, sondern diese Dämmerzustände als mögliche Erscheinungen der traumatischen nervösen Degeneration auffassen.

Ein Einwand dagegen bliebe offen: dass es sich um alko- holische Dämmerzustände handle. Patient selber gibt nur müssigen Alkoholgenuss für früher zu. Nach der Auskunft der Ortsbehörde müssen wir aber wohl annehmen, dass D. tatsächlich früher ein sehr starker Trinker gewesen ist, wenn er auch seit längerer Zeit fast abstinent gelebt hat. Auch unsere zweite Beobachtung hat bereits an die Möglichkeit dieser Erklärung denken lassen,

Dass innige Beziehungen zwischen Trauma und Alkoholismus

nach Tranma (Dipsomenie etc. nach Trauma). 71

bestehen, ist bekannt. Im allgemeinen ist eine zwiefache Wechsel- wirkung (ich beschränke mich naturgemäss in dieser Erörterung auf die chronischen Folgezustände nach Trauma) möglich; einmal, dass ein chronischer Alkoholist, der vorher keine Zeichen nervöser oder psychotischer Störung gezeigt hat, von einem Trauma betroffen wird und dann allmählich nervös oder psychisch erkrankt; oder umgekehrt, dass ein bis dahin nüchterner und mässiger Mensch eine Verletzung erleidet, danach eine auffällige Widerstandslosigkeit egen Alkohol’) erwirbt und nun allmählich Erscheinungen gestörter Hirnfunktion zeigt. Dabei bleibt natürlich nach beiden Richtungen hin die Frage offen, welchem Faktor die hauptsächlichste ätio- logische Wirksamkeit zukommt. Zum Teil werden wir in der Lage sein, das aus der Art der Krankheitsbilder entscheiden zu können. Erkrankt ein solches Individuum, das in eine der beiden Kategorien gehört, z.B. an charakteristischem Delirium tremens oder an akuter Alkoholparanoia, so werden wir aus unserer übrigen Erfahrung zu dem Wahrscheinlichkeitsschluss berechtigt sein, die eigentliche Ursache dieser Erkrankungen in dem chronischen Alkoholismus zu suchen, und werden dem Trauma nur eine ver- stärkende oder auslösende Wirkung zuschreiben. Die Rolle des Traumas kann noch dunkler sein; denn auch bei erst nach einem Trauma infolge Intoleranz zu chronischen Säufern Gewordenen können natürlich solche spezifischen Alkoholpsychosen entstehen. Bei mehr allgemeinen, funktionellen, neurotischen Erkrankungen oder bei unbestimmteren, chronischen, psychotischen Prozessen, besonders in Form fortschreitenden Schwachsinns, ist die Unter- scheiduug im Einzelfall oft schwierig bis unmöglich, weil sowohl bei Säufern als bei Traumatikern allein, ohne die Doppeltheit der Aetiologie, solche Zustände vorkommen.

Die transitorischen Bewusstseinsstörungen der chronischen Alkoholisten aber sind immer durch einen Faktor gekennzeichnet, nämlich, dass sie stets erst ausgelöst werden müssen durch einen unmittelbar vorangehenden, mehr weniger übermässigen Alkoholgenuss, wobei allerdings daneben andere Umstände, wie gemütliche Erregungen, Anstrengungen, Hitze, noch eine Rolle spielen können. Das gilt sowohl für die sogenannten „Krach- alkoholisten“ als für die pathologischen Rauschzustände (soweit sie nicht epileptischen Ursprungs sind) etc. Natürlich ist der ausschliessende Wert des Fehlens eines Faktors bedeutender als sein Vorhandensein; denn es ist selbstverständlich, dass auch bei einem epileptisch oder sogar traumatisch Degenerierten durch einen Alkoholexzess eine transitorische Bewusstseinsstörung her- vorgerufen werden kann. Fehlt aber diese akute Intoxikation,

ı) Anmerkung. Die Tatsache der durch das Trauma verminderten Widerstandsfähigkeit gegen Alkohol ist bekannt und fast durchgängig fest- zustellen. An einem grossen Material von Unfallkranken konnten wir in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle sowohl von den Kranken, als von

ngehörigen die Angaben hören, dass Alkohol fast gar nicht mehr ver- tragen werde. |

T2 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen

so handelt, soweit wenigstens die bisherige Literatur ergibt, es sich nicht um alkoholische Dämmerzustände.

Noch in der letzten grösseren Arbeit über diesen Gegen- stand, in dem hochinteressanten Aufsatz von Moeli (24) über „vorübergehende Zustände abnormen Bewusstseins infolge von Alkoholvergiftung“, finden sich nur Fälle von Säufern, teils mit Schädelverletzung, teils ohne, die solche Zustände nach akuter Alkoholvergiftung erfuhren, die sich gewissermassen auf der chro- nischen superponierte. Unter den Moelischen Fällen findet sich einer (Fall 4), der nach der Krankengeschichte, wie sie Moeli gibt, sich durchaus als traumatischer, transitorischer Dämmer- zustand rechtfertigen liesse. Es handelte sich um einen 40jährigen, immer rüstigen Arbeiter, der nie stark „höchstens ab und zu für 10 Pf. Schnaps“, keine Flasche! getrunken hatte. 1891 schwerer Unfall, drei Stunden bewusstlos, mehrfache Frakturen. Arbeitskollege tot. 15 Wochen im Krankenhaus. Später anfalls- weise sehr verdriesslich, hin und wieder sehr zerfahren; hoch- gradige Behinderung der Merkfähigkeit. Nach dem Unfall mehr als früher getrunken, aber nicht sehr grosse Quantitäten. In den Träumen lebhafte Erinnerungen an den Unfall und den Tod des Kameraden. Seit 1894 von Zeit zu Zeit Zustände schwerer Bewusstseinstrübung. Patient wurde unstet, unruhig, heftig, und zugleich drängte er mit aller Gewalt unaufhaltsam fort, um auf den Kirchhof zu gehen und das Grab seines Freundes zu schmücken. Beim Erwachen völlige Amnesie; Aerger, dass er soweit gegangen sei.

In der Besprechung dieses Falles fügt Moeli noch hinzu, dass mit Bestimmtheit sowohl von dem Kranken selber, als auch von seiner Frau versichert werde, dass Alkoholgenuss die Störungen verursache, die Frau könne sie wegen ihres regelmässigen Ein- tritts nach stärkerem Trinken voraussehen. Dass trotzdem das Trauma hier die ursprüngliche und gewichtigere Ursache bildet, ist nach der Krankheitsbeschreibung offenbar. Immerhin kann die Beobachtung zu den Fällen reiner traumatischer Bewusstseins- störung in unserem Sinne mit Sicherheit nicht gezählt werden, wenn auch die Möglichkeit, trotz der jedesmaligen Auslösung durch einen Alkoholexzess, nahe liegt.

Moeli hat darauf hingewiesen, dass die alkoholischen Be- wusstseinsstörungen gegenüber den epileptischen sowie auch den neurasthenischen dadurch ausgezeichnet sind, dass in ihnen eine bereits länger bestehende, auch im wachen Leben wirkende Gedankenreihe die leitende Rolle übernimmt. Indem er aber selber betont, dass die Lockerung des Zusammenhanges im Denken zum Wesen der Bewusstseinstrübung gehört, lässt er den Einwand offen, dass jene Erscheinung tatsächlich nur die Folge eines graduellen, quantitativen Unterschiedes der Trübung ist.

Nach dieser Darlegung können wir für unsere beiden letzten Fälle die alkoholische Grundlage, die für sie in Frage gestellt war, ausschliessen, denn beidemal konnten wir mit Sicherheit

nach Trauma (Dipsomanie etc. nách Tranme). 73

feststellen, dass akute Alkoholvergiftungen den Dämmerzuständen nicht vorausgegangen waren. Es muss also eine Störung zugrunde liegen, die für sich allein, ohne das „Komplement“ des „toxophoren*, Alkohols imstande ist, die Bewusstseinstätigkeit vorübergehend in hochgradiger Weise zu stören und zu verändern; und diese ursächliche Grundlage ist eben nach unserer Auffassung die „traumatische Degeneration“.

Unsere mitgeteilten, ja allerdings nicht sehr durch die Wucht der Zahl starken Beobachtungen müssen für sich den Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung erbringen. Aus der Literatur lassen sich, wie gesagt, bis auf den Hinweis von Cramer Stützen und Zeugen nicht heranziehen. Und doch glaube ich nicht, dass das Fehlen bisheriger derartiger Publikationen zurück- zuführen ist auf die Seltenheit solcher Fälle. Ich suche die Gründe dafür wesentlich in einem anderen Umstande, und zwar darin, dass, wo solche Fälle zur Beobachtung gekommen sind, wohl zumeist daraus auf das Vorliegen einer Epilepsie oder Hysterie traumatischen Ursprungs geschlossen und diagnostiziert worden ist, wie wir das ja selber im Fall IJI anfänglich getan haben. Einmal ist das bequem, besonders wenn man auf sehr radikalem Standpunkt in der Diagnostik steht und aus periodischen Bewusstseinsstörungen, wenu Hysterie ausschliessbar, in jedem Falle Epilepsie annimmt; und zum anderen ist es ja unzweifelhaft, dass zwischen Trauma und Epilepsie innige Kausalbeziehungen besteben, so dass es wohl Pflicht ıst, in jedem solchen Falle, wo Traums und Dämmerzustände vorhanden sind, sich die Frage, ob nicht vielleicht Epilepsie dahinter stecke, vorzulegen.

Allein meine Ueberzeugung, dass oft in diesen Fällen der Nachweis der Epilepsie nicht zweifellos erbracht worden ist und tatsächlich nur traumatische Bewusstseinsstörungen in unserem Sinne vorliegen, stützt sich auf zwei Tatsachen. Werner (25) weist darauf hin, dass im allgemeinen nach Kopftrauma die isolierte transıtorische Bewusstseinsstörung (psychische Epilepsie) relativ häufig dreimal so häufig! vorkomme. Er erwähnt, dass von acht traumatischen Epilepsien, die Wildermut (26) anführt, fünf nur verschiedene Formen von Bewusstseinsstörung ohne motorischeErscheinungen darboten. Diese Feststellungscheint mir für unsere Auffassung von grosser Bedeutung. Es liegt doch ohne weiteres der Gedanke nahe, dass die verschiedenen Formen der Bewusstseinsstörungen in diesen fünfreinpsychischen Epilepsien nach Trauma nichts anderes als unsere traumatischen Dämmer- zustände gewesen sind und fälschlich zur Annahme einer Epilepsie geführt haben, weil dieMöglichkeit des rein traumatischen Ursprungs jener Bewusstseinsstörungen ja garnicht erwogen wurde. Und wie in diesen fünf Fällen Wildermuts mag es wohl auch sonst oft ‚geschehen sein; denn und das ist die zweite Tatsache die Grenzlinien zwischen traumatischer und epileptischer Degeneration überhaupt sind durchaus keine festen, offenbaren, jederzeit leicht ‚erkennbaren. Die Aehnlichkeit bezw. Gleichheit gewisser regel-

74 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen

mässiger Symptome bei beiden Zuständen ist ebenso evident wie bekannt. In beiden Fällen finden wir eine progressive zunehmende Charakteränderung, ferner eine allgemeine Anfälligkeit gegen sychische Eindrücke und Intoleranz gegen Alkohol, eine starke Lebilität und Explosivität des Affektlebens (erhöhte Reizbarkeit), Periodizität der Erscheinungen u.s.w. u.s.w.

Kaplan (29) fand bei einem enormen Materiale einen Haupt- komplex solcher Symptome, den er mit dem Namen „explosive Diathese“ bezeichnet, in 46 pCt. aller Traumatiker. Dass bei Epileptikern diese „explosive Diathese“ in mindestens dem gleichen, wenn nicht noch höheren Prozentsatz vorhanden ist, brauclıt wohl kaum gegenüber gestellt zu werden. Epileptiforme Krämpfe konnte Kaplan in 34 pCt. der Fälle feststellen. in 43 pCt. Schwindel- 'anfälle und besonders häufig einfache Absenzen und Ohnmachten, Anfälle von Angst mit und ohne Sinnestäuschungen etc. Kaplan hat durchaus nicht daraus die Folgerung gezogen, dass alle die Fälle, die irgendwelche dieser Erscheinungen besässen, zur Epi- lepsia traumatica gezählt werden müssten, sondern er führt in be- sonders geistreicher Weise aus, dass diese dauernden, nicht nur quantitativen, sondern auch qualitativen Aenderungen der habi- tuellen psychischen Empfindungs- und Reaktionsweise auf Reize verschiedener Art, diese „psychische Ea R“, nicht allein bei Traumatikern vorkämen, sondern sehr ähnlich bei gewissen Formen der hereditären Degeneration und besonders eben als Ausdruck der allgemeinen epileptischen und auch der alkoholischen Degene- ration sich erkennen liessen. Das drückt sich ja auch deutlich in der Promiskuität der ätiologischen Faktoren dieser Symptomen- komplexe aus. Alkohol verstärkt die traumatische Degeneration; Trauma, Heredität, Epilepsie begünstigen die alkoholische Degene- ration. Alkohol, Trauma und Heredität sind wiederum die haupt- sächlichsten Entstehungsbedingungen für das, was wir unter dem Begriff „Epilepsie“ zusammenfassen. Wir haben es eben wahr- scheinlich mit untereinander ähnlichen und beziehungsvollen Grund- prozessen bei diesen Erscheinungen zu tun.

Die Aehnlichkeit aber dieser klinischen Ausdrucksformen, die auf der einen Seite zu so erheblicher Schwierigkeit der Unter- scheidung führen kann, wird es auf der anderen Seite gar nicht überraschend erscheinen lassen, wenn sich neue Aehnlichkeits- beziehungen zwischen den genannten psychischen Alterationen herausstellen, sondern wird sogar eine dahingehende Erweiterung unserer Kenntnis erwarten lassen. Und als eine solche neue Aehn- lichkeitsbeziehung sehe ich die Feststellung an, dass auch bei der traumatischen Degeneration transitorische Störun- gen der allgemeinen Bewusstseinstätigkeit vorkommen können. Denn für die anderen Prozesse, die epileptischen, alko- holischen und hereditär - degenerativren in Form der Hy- sterie etc. —, sind diese Symptome ja gar nichts Ungewöhnliches. Warum sollte sich also diese Aehnlichkeit mit der traumatischen Degeneration nicht auch auf dieses Zeichen erstrecken? Ich glaube

nach Trauma (Dipsomanie etc. nach Trauma). 75

dabei, dass diesem Symptom der transitorischen Bewusstseins- änderung nicht mehr differentieller Wert zukommt als den anderen, oben angeführten ähnlichen Erscheinungen. Es bedeutet wahr- scheinlich nichts anderes als den Ausdruck einer bis zu einem gewissen Grad gesteigerten, allgemeinen, diffusen Konstitutions- änderung des ergriffenen Orguns, des Grosshirns, wobei die Art des Prozesses ganz verschieden sein kann. Es ist vielleicht eine Eigentümlichkeit des Grosshirns, so wie es bei verschiedensten Prozessen mit der lokalautonomen Reaktion der Halluzinationen, der Krampfanfälle etc., antworten kann, ohne dass aus deren Existenz allein irgend ein differential-diagnostisches Urteil ge- folgert werden darf; so bei gewissen, durch die Allgemeinheit und den Grad der Alteration ausgezeichneten Krankheitsvorgängen durchgehends mit einer Veränderung der Bewusstseinslage (Locke- rung des Gedankenzusammenhanges, Störung der Auffassung, Steigerung der inneren Innervationen etc.) zu reagieren, der dann für sich allein ebensowenig ein differential- diagnostischer Wert zukäme. Es wäre also durchaus möglich, dass diese Störungen auch bei so allgemeinen nervösen Erkrankungen, wie es die post- traumatischen Neurosen sind, vorkommen können. Ebenso geht daraus hervor, dass eine besondere, spezifische Färbung solcher traumatischer oder irgend welcher Dämmerzustände sonst nicht erforderlich ist, wie ja dann in der Tat nach dieser Richtung unsere Beobachtungen keine Besonderheiten bieten.

Es wird also der Nachweis der traumatischen Grundlage der transitorischen Bewusstseinsstörungen nicht aus ihrer Form er- bracht werden müssen oder können, sondern allein die Betrach- tung und das Abwägen des Gesamtbildes wird es ermöglichen; insbesondere wird jedesmal der Ausschluss einer epileptischen, alkoholischeu oder hereditären Degeneration besondere Aufmerk- samkeit verlangen. Nach der positiven Seite wird der Nachweis des Traumas und einer zeitlichen, damit zusammenhängenden all- gemeinen Neurose notwendig sein. Dabei ist es aber möglich, dass die posttraumatischen Bewusstseinsträbungen erst Jahre nach Beginn der traumatischen Neurose erscheinen. Es wird dann wahrscheinlich nicht immer gelingen, aber auch nicht notwendig sein, das Vorhandensein neurotischer Symptome in den Intervallen zwischen den einzelnen Anfällen feststellen zu können, wie ja ent- sprechend der objektive Nachweis der Epilepsie oder der hyste- rischen Stigmata zwischen solchen Anfällen durchaus unmöglich sein kann. Es wird genügen, überhaupt einmal das frühere Be- stehen einer traumatischen Neurose aus den Akten oder der Anamnese sicherzustellen, woraus dann auf eine fortbestehende traumatische Degeneration geschlossen werden darf.

Ueber die Art etwaiger die traumatischen Dämmerzustände auslösender Momente lässt sich noch nichts Bestimmtes sagen. Sollte dabei Alkohol eine Rolle spielen, so wäre im einzelnen Falle natärlich die Unterscheidung gegen einen alkoholischen Dämmer-

vo „or...

76 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher

zustand erforderlich und, wie z. B. in den angeführten Fällen von Moeli und Wagner, wahrscheinlich auch sehr schwierig.

Ueber die prognostische, d. h. zugleich auch unfalltechnische Bedeutung der Unterscheidung zwischen traumatischer Epilepsie und rein traumatischen Dämmerzuständen möchte ich auf Grund meiner wenigen Beobachtungen noch nichts Bestimmtes sagen. Es muss das weiteren Mitteilungen überlassen bleiben.

Zum Schluss erfülle ich gern die angenehme Pflicht, meinem früheren Chef, Herrn Prof. Dr. Meyer, für die Ueberlassung des Materials meinen herzlichsten Dank auszusprechen.

Literatur.

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Cramer, A., Gerichtliche Psychiatrie. 8. Aufl. 1908.

Kräpelin, Psychiatrie. 7. Aufl. 1904. II. Bd.

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10. Griesinger, Arch. f. Psych. I.

11. Rascke, Die transitorischen Bewusstseinsstörungen der Epileptiker. 1908. 12. Gowers, Epilepsie (Deutsche Ausgabe). 1902.

13. Smith, Münch. med. Wochenschr. 1898. 48.

14. v. Brühl-Cramer, Ueber die Trunksucht u. s.w. 1819.

15. Erd mann, zit. nach Gaupp. S. 155.

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20. Marguliez, Prager med. Wochenschr. 1899.

21. Wagner, Jahrb. f. Psych. VIII. 8.100.

22, Kaplan, Psychiatrische Wochenschrift. 1899.

28. Krafft-Ebing, Arb. aus d. Gesamtgebiet der Psychiatrie. Heft I. 24. Moeli, Allgem. Ztschr. f. Psych. Bd. 57. 1900.

25. Werner, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medizin. 1902. Suppl. 26. Wildermuth, Württemberg. Correspondenzbl. 18%. 19.

78. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Stuttgart 16.— 22. September 1906.

Bericht von Dr. Lilienstein-Bad Nauheim. (Schluss.)

II. Sitzung: 18. September, vormittags.

(Kombinierte Sitzung der Abteilung 21 und 28 (gerichtliche Medizin). Vorsitzender: Strassmann-Berlin. Gaupp: Klinisehe Untersuehungen über die Ursaehen und Motive des Seibstmords. Die Selbstmordatatistik gibt manchen wertvollen Auf-

schluss über die allgemeinen Ursachen des Selbstmords (Rasse, Lebensalter, Familienstand, Jahreszeit etc.), lässt abor im Stich, wenn wir die im Individuum

und Aerzte in Stattgart. 77

gelegenen Ursachen und die Motive kennen lernen wollen. Hier helfen nur Spezialuntersuchungen. Am toten Selbstmörder können sie nicht mehr an- gestellt werden, da er seine wahren Motive mit ins Grab nimmt. Die Leichen- Sffnaug gibt auch keinen genügenden Aufschluss. Bleibt als sicherster We

die Untersuehung und Ausfragung der Menschen, deron Selbstmordversac

misslang. Diesen Weg ging G. In München werden alle Personen, die bei oder nach Ausführung eines Selbstmordversuches betroffen werden, ohue Unterschied kurzer Hand in die psychiatrische Klinik gebracht, wenn nicht schwere Verletzungen nach Schuss oder Stich die Verbringung in ein chirurgisches Krankenhaus erforderlich machen. Gaupp untersuchte alle diese Personen und berichtete über seine Ergebnisse (124 Personen). Er unterschied streug zwischen Ursachen und Motiven. Die Motive sind die im Bewusstsein des Täters auftretenden Gründe seines Handelns, Ursachen sind die wirklich treibenden Kräfte, die sehr oft dem Täter nicht zum Bewusstsein kommen, also keine Motive werden. Die Ursache des Selbstmords eines Melancholischen ist der pathologische Hirnzustand, seine Motive sind etwa: der Glaube, zu verarmen, der Hölle verfallen zu sein, die Familie ungläcklich zu machen. Von den Resultaten der Untersuchungen G.s seien hier zur die wichtigsten mitgeteilt. 60 Männer und 64 weibliche Personen wurden nach Ausführung eines Selbstmordversuches in die Klinik gebracht. Von den Männern waren 84 ledig, 22 verheiratet, 4 verwitwet, von den weiblichen Personen 84 ledig, 16 verheiratet, 9 verwitwet, 5 geschieden. Weitaus die meisten Versuche fielen in die Monate Mai bis September. Ursachen und Motive fielen sehr auseinander. Selten war die Tat das Produkt langer Deberiegung, meist wurde sie in starker gemütlicher Erregung ausgeführt. Die Mehrzahl der Aufgenommenen erwies sich bei eingehender atersuchung nicht als geisteskrank, wohl aber als krankbaft veranlagt oder nervenleidend,

sychopathisch. Nur eine einzige Person bot keine Symptome einer krank- kaften Beschaffenheit, uad dies war ein 2ljähriges Dienstmädchen, das im achten Monat der Schwangerschaft stand. Von ihrem Geliebten, der sich am die Alimente drücken wollte, war sie ohne jede Berechtigung der Untreue bezichtigt worden, während er selbst es mit anderen Mädchen hielt. Sie hatte in Verzweiflung in der Isar den Tod gesucht. Hier waren die un- gewöhnlich schweren Schicksalsschläge auf eine jange Person im labilen Gemüätsznstand der. Schwangeren hereingebrochen; etwas Krankhaftes war an ihr nicht wahrzunehmen. In allen anderen 123 Fällen aber ergab die psychia- trische Untersuchung das Vorliegen eines abnormen Seelenzustandes zurzeit der Tat. Eine Frau litt an Hirverweichung, 7 Männer und 4 Frauen an Dementia praecox, 4 Männer und 18 Frauen waren in der melancholischen Phase des zirkulären Irreseine, 4 Männer begingen die Tat im alkoholischeu Waha- sinn (Halluzinose, Angstpsychose), 2 Männer in seniler Verblödung, eine Frau in seniler Melancholie, 5 Männer in schwerem akutem Rausch. 6 männ- liche und 7 weibliche Selbstmörder handelten in epileptischer Verstimmung, wobei 5 mal ein Alkohoiexzess mitwirkte. 9 hysterische Mädchen bezw. Frauen machten zum Teil nicht sehr ernste Selbsmordversuche. 25 Männer und 19 Frauen waren psychopathisch, die Mehrzahl dieser pathologischen Personen handelte in pathologischer Erregung, oft nach ganz geringem Anlass, die Männer meist unter dem Einfluss des Alkohols; von .den weiblichen Psychopathen waren mehrere gleichzeitig mehr oder weniger schwachsinnig. Das Hanptergebnis war das: der Mensch ist bei Begehung eines Selbst- mordes fast stets in einem abnormen Zustande. Wenn auch nur 88 von 1834 Personen ausgesprochen geisteskrauk waren, ala sie sich töten woliten, so waren doch auch alle die anderen unter dem Einfluss eines krankhaften Seslenzustandes.

Diskussion.

Bayerthal, Haberde.

Eulenburg bespricht seine Erfahrungen mit Schülerselbstmorden, die er auf staatlichen Anlass hin bearbeitet hat. Ausgesprochene Psychosen waren nur in 10 pCt. der Fälle vorhanden. Bei Hysterischen hat E. noch keinen gelungenen Selbstmord gesehen. Pro

78 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher

. . Hans Gudden-München: Die Zureehnungsfähigkeit bei Waren-. hausdiebstählen.

In München sind seit April 1904 zwei grosse Kaufhäuser. Das eine erstattete prinzipiell bisher gegen die Ladendiebe mit Ausnahme der als professionsmässig erkannten keine Anzeige, während das andere mit Anzeigen vorging. In beiden Warenhäusern haben jedoch die Diebstähle ausserordent- lich abgenommen, seitdem in ihnen ein Selbstschutz eingeführt wurde, der darin besteht, dass die Auslugen von leicht zu greifenden und zu verstecken- den Waren mit Glaswänden versehen wurden. Diese Glaswände sind nur an der dem Publikam zugekehrten Seite angebracht, während die Verkäuferin nach wie vor mit Leichtigkeit das gewünschte Stück aus den offen vor ihr stehenden Kästen entnehmen kann. In dem einen Kaufhaus wurden diese Glasschutzwände im April d. J. eingeführt, und seit dieser Zeit kam nicht mehr ein einziger Fall von Warenhausdiebstahl zur Begutachtung. Da auch in der Presse nar noch selten über die Aburteilung von Warenhausdieb- stählen berichtet wurde, so ist anzunehmen, dass sie in München sehr selten geworden sind.

Zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit bei Warenhausdiebstähblen haben wir in erster Linie den Betrieb der grossen Kaufhäuser zu berück- sichtigen, der von anderen Geschäften erheblich abweicht.

Die Warenhäuser zieben alle Bevölkerungsschichten an. Sie fesseln und blenden darch die Reichhaltigkeit und den Glanz ihres Inhaltes, sowie durch das in ihnen pulsierende Treiben, das zu manchen Zeiten zur beängstigen- den Hochflut ansteigt, den Besucher in ausserordentlichem Grade. So kommt es, dass bei nicht wenigen Besuchern bisher nicht vorhandene Begehrunge- vorstellungen entfacht werden, gleichzeitig mit einem märchenartigen Gefühl, als müsse man nur die Hand nach den Schätzen ausstrecken. Dass in der Tat in vielen, wenn nicht in den meisten Fällen von Warenhausdiebstahl solch halb unbewusste Vorstellungen auftauchen und durch die Sinnenreize, sowie durch das herrschende Gewühl noch verstärkt werden, geht meines Erachtens aus einer kritischen Betrachtung dessen hervor, was gestohlen wird. Es sind in der Regel für den Dieb nnbrauchbure Gegenstände. Da entwendet z.B. eine Maurersfrau eine Flasche feinsten Parfums für 8 Mk., mit der sie gar nichts anfangen kann, während sie mit einem gewöhnlichen Parfum zu 40 Pf. Staat hätte machen können. Eine andere stiehlt kostbare Seidenbänder, Blusenstoffe u. dergl., die ebenfalls für sie wertlos sind, weil der Gegensstz dieser Stoffe zu ihren sonstigen Kleidern und Mitteln zu auf- fallend wäre. Aus der Zwecklosigkeit und Unbrauchbarkeit des gestohlenen Gutes ist also wohl ein Schluss auf die Planlosigkeit und Piötzlichkeit des Vorgehens des Täters gerechtfertigt.

Bedeutsam scheint ferner:

1. dass an den Warenhausdiebstählen die ländliche Bevölkerung so gut wie ger nicht beteiligt ist, obwohl diese ein nicht geringes Kontingent zu den Kunden stellt;

3. dass betrunkene Individuen ebenfalls nicht unter den Warenhaus- dieben gefunden werden;

8. dass bei mehr als ?/, der Diebe ein bestimmtes Motiv, eine vor Betreten des Kauthauses schon bestehende Diebstahlsabsicht oder eine materielle Notlage bestimmt nicht vorhanden ist;

4. dass ca. 99 pCt. der Warenhausdiebe dem weiblichen Geschlecht angehören. Unter diesen finden wir alle Altersstufen und alle Gesellschafts- klassen vertreten. Als ich mich erkundigte, welche Beobachtungen denn im allgemeinen an den Disben gemacht würden, wurde mir erwidert, der Ge- samteindruck sei der der „Minderwertigkeit“, der allerdings nicht näher definiert werden konnte.

Ebenso wie bei den Rentämtern laufen auch bei den Kaufhäusern häufig anonym aufgegebene Postanweisungen ein, mit dem Vermerk, der Be- trag sei Ersatz für unrechtmässig erworbene Ware.

Die von G. beobachteten Fälle, die er alle für unzurechnungsfähig erachten musste, betrafen mit einer einzigen Ausnahme weibliche Personen. Weitaus überwiegend waren die Fälle von Hysterie und zwar waren die

und Aerzte in Stuttgart. 79

Diebstähle fast stets unter dem Einfluss des Menstrustions- oder besser gesagt Ovulationsprozesses begangen. Bei einigen Fällen lag Schwanger- schaft in den ersten Monaten, in einem Schwangerschaft im 8. Monat vor. Ein Fall litt an progressiver Parulyse, endlich einer und zwar der einzige männ- lichen Geschlechts an eigentümlichen Zwangsvorstellungen.

Das Hauptinteresse nahmen die unter den Einfluss der Menstruation, entweder karz vor, während oder unmittelbar nach der menstruellen Blutung begangenen Diebstähle in Anspruch. In nahezu allen Fällen lag mehr oder weniger schwere erbliche Belastung vor, und es liess sich nachweisen, dass schon lange vor Begehung des Diebstahls teils dauernde, teils periodische, eben zur Zeit der Menstruation auftretende hysterische Symptome bestunden, Die mit der Monstruation verbundenen Störungen Ausserten sich hanptsäch- licb neben der bekannten Reizbarkeit bald in heftigen Angstzuständen und innerer Unruhe, bald in Wandertrieb, Schwindel und vorübergehender Be- nommenheit des Bewusstseins. Bei einigen Patienten war die Erinnerung an das Reat von Anfang an getrübt. Sie waren bei der Attrappierung derart. fassungslus, dass sie auf die ziemlich unsanft ihnen entgegengeschleuderte Beschuldigung, sie hätten alles gestohlen, was man bei ibnen vorgefunden, entweder überhaupt nicht zu antworten wussten oder einfach alles zugaben, obwohl sie die Kaufzettel für einen Teil der Waren bei sich hatten. Aller- dings kommt hier als erschwerendes Moment der Shok der Festnahme im Kaufbans hinzu. Ein ganz ähnliches Verhalten beobachtete G. einmal an einem Postoberschaffner, der an schwerer traumatischer Neurose liti und eines Tages vor dem Posthof auf die Denunziation einiger Mädchen wegen eines angeblich an einem bestimmten Tag vor 2 Wochen an ihnen verübten Sitt- lichkeitsvergehens verhaftet wurde. Der Mann gab auf der Polizeidirektion ohne weiteres das Delikt zu und erklärte dem Ref. später, er hätte auch ebensogut sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Tatsächlich konnte er nachweisen, dass er am fraglichen Tage dienstlich von München abwesend war, also gar nicht der Täter gewesen sein konnte.

Wo G. Gelegenheit hatte, die Fälle während einer der folgenden Menstruationsperioden zu beobachten und zu untersuchen, konnte er häufig 1—2 Tage vor Eintritt der Blutung vasomotorische Störungen in Form von beschleunigtem, unregelmässigem, selbst aussetzendem Puls konstatieren.

Die von Ref. begutechteten Personen waren bis auf eine noch unbe- straft. Diese eine, eine 26jährige verheiratete Schlossersfrau, war erblich angeblich nicht belastet und erstmals als 13jähriges Mädchen wegen Laden- diebstahis verurteilt worden, sodann noch mehreremale wegen des gleichen Reates, ferner wegen Uniugs und Körperverletzung. Die letzteren beiden Reate waren in einem Eifersuchtsefiekt während Schwangerschaft geschehen. Im 5. Lebensjahre hatte sie eine Gehirmnerschütterung erlitten, in der Schule blieb sie im letzten Jahre zurück. Während ihrer Menstruation fiel sie jedesmal durch ihre Reizbarkeit auf, vernachlässigte dabei ihren sonst gut

eführten Haushalt, trank während dieser Zeit ihrem Manne heimlich von

ier weg, obwohl ihr das gar nicht verwehrt war, leugnete dann, aus dem Glase getrunken zu haben. Unumwunden erzählte sie dem Ref., dass sie seit Jahren während der Menstruation und auch während der ersten Monate einer Schwangerschatt den Drang habe, irgend etwas zu nehmen. Sie habe oft im Laden eine Bagatelle zu sich genommen, z. B. eine Schachtel Vorhang- rioge, sich dann gleich gedacht, was sie denn damit tun solle und warum sie das genommen habe. Sie habe dann die Sachen entweder fortgeworfen, oder heimlich wieder zurückgestellt. Wie oft und wo sie Waren sich ange- eignet habe, wolle sie nicht sagen, weil sie damit ja sich selbst anzeige.

Nach seinen Erfahrungen kommt G. zu der Ueberzeugung, dass die bei psychopathischen, sonstwie nervösen oder hysterischen Personen infolge des Menstruationsprozesses häufig sich einstellende Alteration der Vor- stellungs-, Willens- und Gemütssphäre sehr leicht durch die eingangs

eschilderten äusseren Reize, wie sie in einem Warenhaus einwirken, jähe teigerongen erleiden kann, welche die Zurechnungsfähigkeit ausschliessen. Da solche Exazerbationen tatsächlich durchaus nicht selten sind, wird man bei den während der Menstruation begangenen Diebstählen, wenn die Vorgeschichte

80 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher

nur genügende pathologische Anhaltspunkte liefert, Unzurechnungsfähigkeit anzunehmen haben. Selbstverständlich ergeben sich daraus unter Umstäuden auch die Konsequenzen der Einweisung in die Irrenanstalt wegen Gemein- gefährlichkait.

Während also die eben besprochene Kategorie der Begutachtung wenig Schwierigkeiten bietet, erheben sich bei den ausserhalb der Menstruation fallenden Delikten, die sich hysterische Personen zu Schulden kommen lassen, schon mehr Bedenken. ir haben hier den einzelnen Fall auf das genaneste zu würdigen. Das Vorhandensein von einigen hysterischen Stig- maten oder früheren hysterischen Anfällen, selbst des hysterischen Charakters, wenn dieser nur leicht ausgeprägt ist, genügt nicht für die Annahme des $ 51 Str. G. B. Dagegen trifft derselbe zu, wenn es sich um Dämmer- zustände oder um ausgesprochenen hysterischen Charakter handelt.

Nach den übereinstimmenden Erfahrungen, die überall gemacht werden, steht es fest, dass das weibliche Geschlecht beim Warenhausdiebstahl ganz anverhältnismässig gegenüber dem männlichen prävaliert, und dass die einzige Erklärung hierfür in dem Hereinspielen krankhaiter Elemente zu suchen ist. Es erscheint daher die Forderung gerechtfertigt, duss in jedem Fall von Waren- hausdiebstahl eine psychiatrische Untersuchung angeordnet werden sollte.

Die der Gesamtheit nach als minderwertig erkannte Eigenart der Täter wie dıe anreizenden Umstände des Tatortes verdienen in den Füllen, wo nicht volle Unznrechnungsfähigkeit angenommen werden kann, eine be- sondere Berücksichtigung, weiche zweckmässig gesetzlichen Ausdruck durch die Zulässigkeit auch von Geldstrafen statt Gefängnis finden sollte.

Die überaus günstigen prophylaktischen Erfolge, welche die Selbst- schutzmassregeln aufweisen, sollten eranlassung geben, diese allen grösseren Warenhäusern zur polizeilichen Auflage zu machen.

Diskussion.

Ungar-Bonn warnt vor den praktischen Konsequenzen, die G. gezogen hat, wenn jeder Fall von Warenhausdiebstahl psychiatrischer Beurteilung unterbreitet werden soll. Das rege zu neuen Diebstählen an. Vom wissen- schaftlichen Standpunkt aus liege die Gefahr der Aufstellung von Monomanien vor, die glücklicherweise in der Psychiatrie überwunden seien. Ganz be- denklich sei die grosse Bewertung der Menstruation in dieser Frage. Der hysterische Charakter könne nicht als strafausschliessend betrachtet werden, sondern nur das hysterische Irresein.

Gaupp-Tübingen: Die psychiatrische Beurteilung, von der der Vor- tragende wünsche, dass sie bei den Angeklagten Anwendung findet, ist noch keine Freisprechung. ‚Beim Warenhausdiebstahl liegen doch eine Reibe von typischen Merkmalen vor. Z. B. sei die Vermögensbereicherung meist so ering, dass von einem Diebstahl eigentlich nicht die Rede sein könne. fenbar seien doch Menstruation und Schwangerschaft tatsächlich von Bedeutung.

Hänel-Dresden findet die Eigenartigkeit nicht in der Persönlichkeit der Angeklagten, sondern in der Art des Diebstahls und glaubt, dass es eine wirksame Prophylaxe sei, wenn man die Leute nicht auf Glatteis führe, sondern das Aufsichispersonal durch Uniformen kenntlich mache,

Cron-Berlin hält im Gegensatz zu H. die Persönlichkeiten für typisch and nicht die Gelegenbeit.

Liepmann ist ebenfalls gegen die Aufstellung einer neuen Krank- heitsgruppe auf der Grundlage eines bestimmten Deliktes.

Strassmann: Psychopathische Anlage und Gelegenheit wirken bei dem Zustandekommen des Delikts zusammen. Menstruation und Schwanger- schaft allein können ebensowenig wie der hysterische Charakter exkulpierend wirken. S. ist der Ansicht, dass die meisten Warenhausdiebinnen tatsächlich enzurschnungsfähig sind. Was die Strafe anlangt, so halte er die Gefängnis- strafe ganz besonders in diesen Fällen für ungeeignet; es sollte hier ebenso wie bei der Unterschlagung die Umwandlung in eine Geldstrafe ermöglicht werden.

Gudden (Schlusswort): Dass die Leiter der Warenhäuser zum Teil

und Aerzte in Stuttgart. 81

selbst keine Anzeige erstatten, beweist schon, dass sie den Diebstahl nicht als solchen ansehen. Die Umwandlung der Haftstrafe in eine Geldstrafe erscheint auch G. sehr zweckmässig. Das Ueberwiegen der weiblichen An- eklagten spricht doch für die Wichtigkeit bestimmter Zustände, der ersten onate der Schwangerschaft und der Menstruation.

Kreuser: Die Zeugnisfänigkeit der Sehwaehsinnigen. Die all- emeine Zeugnisfähigkeit wird durch die Ergebnisse der experimentellen Studien auf dem Gebiete der Aussage nicht erschüttert. Ihrer Beeinträchtigung bei Schwachsinnigen wird durch die im Gesetz vorgesehene unbeeidigte Ver- mehmung nicht ausreichend Rechnung getragen. Als krankhafte Störung der Geistestätigkeit schädigt der Schwachsinn die Zeugnisfähigkeit mehr, als dies von der unvollständigen geistigen Reife zu gelten hat. Verringerte Merkfähigkeit und Aufmerksamkeit führen vorzugsweise zu unvollständigen Aussagen; unrichtige Auffassungen bei egozentrischem Fühlen, Urteilsschwäche and ungenägende ethische Begriffe zu bedenklichen Entstellungen des Tat- bestandes; kritiklose Phantasie und die suggestive Beeinflussbarkeit zu fingierten Erlebnissen. mag daher das Zeugnis Schwachsinniger noch so oft Unrichtiges aicht enthalten, innerhalb gewisser enger Grenzen mitunter sogar besonders zuverlässig sein, die volle Wahrheit ist kaum je davon zu erwarten, recht hänfig aber bedenkliche Fälschungen des Tatbestandes. Ohne eingehende psychologische Prüfung der Persönlichkeit kann ihm daher ein Beweiswert nicht zuerkannt werden; als Belastungszeugen sollen Schwachsinnige allein keine Beachtung finden. (Autoreferat.)

Diskussion.

Wildermuth-Stuttgart stimmt dem Vortragenden zu, besonders was die Produktivität der Phantasie Schwachsinniger anbelangt, und weist auf einen gut illustrierenden Fall seiner Beobachtung hin. Man müsse gausz besonders bei Schwachsinnigen individualisieren. Es gibt Schwachsinnige, die sehr zuverlässig sind.

Bayerthal-Worms hat als Schularzt experimentell in den Klassen festgestellt, dass die Aussagen aller Kinder gefälscht waren.

Buchholz-Hamburg hat vor Juristen (in einem Kursus) die Mangel- haftigkeit der Zeugenaussagen demonstriert.

Cimbal-Altona: Über die besondere antisoziale Eigenart des ehronisehen Alkoholismus.

. Der gewohnheitsmässige Schwerverbrecher ist selten chronischer Alkoholist, häufiger sind die Folgen sozialer Entgleisung, Bettelstrafon und Landstreicherei, sowie Nachlässigkeiten in verantwortlicher Stellung (Eisen- bahnunglück). Die kriminelle. Tätigkeit ist nicht das Ausschlaggebende, die wichtigsten Gefahren richten sich gegen dio Familie. C. hat versucht, die Eigenart dieser Gefahren durch methodige Untersuchung auch der Frauen und Kinder greifbar zu machen, Erwerbsverhältnisse, Lebensgang, die Ur- sachen des häuslichen Unglücks wurden ausser den Angaben der Beteiligten kontrolliert darch die amtlichen Unterstützungsakten der Armenverbände nnd Vernehmung der Arbeitsgenossen. Bei 4/; der untersuchten Ehefrauen fanden sich nervöse Störungen, Herzklopfen, Angstzustände, Schlaflosigkeit, ge- steigerte Sehnenreflexe, basedowähnliche Symptome. Idiotie der Kinder war verschwindend gering gegenüber neurasthenischen und hysterieformen Störungen, häufig waren schwere körperliche Traumen durch den Vater im Beginn des Delirs. Nur die seltensten Fälle waren forensisch verfolgt worden.

Die Gesellschaft kann sich der Schädlinge erwehren, z. B. durch Ent- lassung Fahrlässiger, durch Internierung der Verbrecher. Die schwer- gefährdete Familie ist nach dem heutigen Recht wehrlos. Die Heilungs- aussichten durch Intern-Behandlung werden vom Volk überschätzt, sie be- stehen nur dann, wenn der Kranke nach der Entlassung aus der Anstalts- pflege in einem der grossen Antialkoholverbaände verbleibt. Die Ent- mündigung wegen Trunksucht § 6/3 BGB. ist für die Heilbehandlung deshalb meist wertlos, weil die Entmündigung stets zu spät kommt. Die Familie ist in den Anfangsstadien zur Antragsstellung nicht zu bewegen. Das Erwerbs-

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helft t. 6

sb Lilienstein, 78: Versammlung deutscher Naturforscher

leben leidet anfangs zu wenig, um einen genügenden Grand abzugeben. Be- merkenswert sind‘. die Vorschläge von Strassmann und Leppmann, ehronische schwere Trunksucht als Ehescheidangsgrund gelten zu lassen. Die jetzige Irröufürsorge eigne sich für die Alkoholisten nıcht. Das Bedürfnis nach Ausschaltung der geschilderten Kranken sus der bürgerlichen Gesell: schaft sei ein dringendes, erfordere jedoch einen neuen Typus von Anstalten im Sinne der z. T. schon bestehenden Arbeitskolonien, dann werde auch die Entmüändigung wegen Trunksucht Breuchbar sein. Im Kampf gegen den Alkoholismns direkt leisten die erfahrenen Antialkoholverbände weitaus besseres als Arzt und Polizei. Die nächste ärztliche Anfgabe ist die Er- forschung der sozialen Grundlage des Alkoholismus. Die Verwahrung der antisozial gewordenen Trinker in unseren heutigen Irrenanstalten ist durch- aus unzwöeckmässig.

t

Diskussion.

Lilienstein stimmt dem Vortr. darin bei, dass die Behandlang und Prophylaxe des chronischen Alkoholismus durch Laien sich leider isher wirksamer gezeigt hat, als diejenige der Aerzte, in den Anstalten n. s. w. ijs der Aufnahmen in der Frankfurter städtischen Irrenanstalt sind Trinker inkl. wiederholter Aufnahme). Der Guttemplerorden hat sich in einigen ällen prophylaktisch und therapeutisch bewährt. L. fragt nach der Wirkungs- weise dieses Verbandes in Hamburg, wo mehrere Tausende in demselben organisiert sind. |

Cimbal berichtet hierauf im speziellen über die Behandlung der chronischen Trinker und Dipsomanen an der psychiatrischen Abteilung des Altonaer Krankenhauses: Die Frauen bringen die Kranken so rasch wie möglich bei jedem Exzess in das Krankenhaus. Vou hier aus werden die interessierten Alkoholgegnerverbände benachrichtigt. Es zeigte sich eine grosse Ueberlegenheit der Vereinskontrolle übor die Krankenhausbehandlung.

Döllken-Leipzig: Verschiedene Arten der Reifung des Zentral- nervensystems.

D. hat vor einem Jahr begonnen. mittels der Ramönschen Technik die Entwicklung der Nervenbahnen im Gehirn zu untersuchen. Als wichtigstes Ergebnis seiner Studien hebt er hervor, dass die Leitsätze Flechsigs über den Bauplan des Gehirns, welche er aus der Markreifung ableitete, auch für die frühesten Reifungsvorgänge ihre Geltung haben. Zuerst entwickeln sich die Projektionssysteme und dann die Assoziationsfaserungen.

ein Material war ausser anderen Wirbeltier- und Säugetiergehirnen eine vollständige Reihe der Entwicklungsstadien des Gehirns (Flechsigsche Methode) der Maus.

. Zur Lösung von hirnanatomischen Problemen sind vor allen Dingen elektive Methoden nötig, und diese hat uns Ramón!) neuerdings geschenkt. Um vergleichbare Werte zu erhalten, muss man pendantisch jedesmal die- selben Bedingungen nach jederRichtung schaffen. Schon geringe Abweichungen können neue Resultate bringen. D. überzeugte sich, dass salpetersaures Silber ein ungemein feines Reagens auf zahlreiche funktionelle und pathologische Zu- stände der Norvensubstanz ist; er wandte Fixation mit Alkoholfund Ammoniak- alkohol an. Mit der sonst so vorzüglichen Methode Bielschowskys hat D. keine breuchbare Serien erhalten.

Nach Vorbehandlung mit Alkohol lässt die Silberreduktionsmethode bei sehr jungen Tieren die Faser, welche später Mark erhält, bis dicht an ihre Ursprungs-. oder Endzelle erscheinen. Ammoniakalkohol (24 Stunden) bringt die marklosen Fasernetze um die Zellen und einen Bestandteil der dünnen markhaltigen Fasern, alles sehr zarte, feine Gebilde. Die Methoden sind sicher.

Die Fragestellung lautet: Besteht für die wesentlichen Bestandteile des Gehirns ein klarer entwicklungsgeschichtlicher Bauplan, und welche Be-

"=! 1) Ramón y Cajal, Trois modifications. Comptes rend. do la socs’ de biol. 1904. | o

f r

und Aerzte in Stattgart. 83

ziehungen zur Phylogenie und zur physiologischen Funktion lassen sich erkennen?

Dass die beiden letzten Punkte einen engen Zusammenhang haben, zeigen uns die Forschungen Edingers!) über das Gehirn der niederen Wirbeltiere.

Wenn nun wirklich Häckels Satz, dass die Ontogenie eine abgekürzte Phylogenie ist, stimmt, so darf man erwarten, dass eine entwicklungsgeschicht- liche Sonderung der einzelnen funktionellen Systeme nachzuweisen ist.

Für den spätesten grossen Abschnitt der Hirnentwicklung, für die Markreifung, finden wir den Beweis dafür in den bekannten Arbeiten Flechsigs. Nun aber erfolgt die Markreifung, diese Krönung eines fertigen Werkes, so rasch, dass ein genialer Blick und ein bedeutender Formensinn dazu gehörten, den Plan klar zu erkennen und darzustellen.

Auch Ramón?) bringt mit seinen Methoden so viele entsprechende Daten, dass er sich im grossen und ganzen Flechsig anschliesst.

D.s eigene Untersuchungen ergeben, dass sich eine ganze Reihe von Reifungsprozessen in der Nervensubstanz mit salpetersaurem Silber nach- weisen lassen. Bestimmte Bestandteile der Fasern, der Zellen differenzieren sich successive, und zwar die gleichen Bestandteile an verschiedenen Orten nicht zu gleicher Zeit.

Die erste Stufe ist das Myelospongium His’, die nächste eine färbbare Substanz exogener (von aussen stammender) Fasern. Dann folgen Fasern innerhalb der Rinde, nach der Geburt Endnetze. Alle Fasern haben ein verschiedenes Aussehen. Ramón gibt an, dass es um die Zeit der Geburt eine Fibrillenreifung der Zellen gibt. Wichtiger ist für D. ein anderer Be- fund an den Zellen. Es lässt sich sehr deutlich und klar mit allen Silber- reduktionsmethoden eine successive Reifung der Zeillschichten darstellen, und zwar ist der Typus nicht für alle Rindenfelder der gleiche.

Topographische Reifung: Bei sehr jungen Embryonen (10 Tage) sah D. aus der inneren Kapsel ein System aussen um das Hinterhorn in den Lobus pyriformis ziehen, ein zweites nach vorn aufwärts im Bogen durch die Pars cinguli, nach hinten gleichfalls in den Lobus pyriformis, Das erste endet in der plexiformen Schicht, das zweite später anch, wenigstens teilweise. Diese beiden Bündel sind das Schmecksystem. Zu gleicher Zeit strahlt der Stabkranz der Bewegungsrinde in die Schicht der polymorphen Zellen der ihm gehörigen Konvexität ein. Ausserdem hat noch ein Teil der unteren Riechrinde zu reifen begonnen. Das Ammonshorn ist noch völlig undifferen- ziert. Weitere Systeme der Grosshirnrinde gibt es nicht um diese Zeit. Bald nach der Geburt haben sich weitere Systeme in der Pars cinguli hinzu- gesellt, die zum Teil vorn über dem Balken enden, zum Teil im Lobus

yriformis und Ammonshorn einstrahlen. Auch die Sehstrahlung in dem

ceipitalpol beginnt sich zu entwickeln, und zwar auch zuerst nur in die

Schicht der polymorphen Zellen hinein.

- Unterdessen aber beginnt die Taststrahlung Fasern auch noch in die zweite Zellenschicht zu senden. Im Schmeckfeld des Lobus pyriformis sieht D. nun in der inneren Körnerschicht Gabelungen der Fasern.

Erst am 8. Tage etwa beginnen in der Bewegungerindo auch die Fasern der 3. und 4. Schicht, mittelgrossen und grossen Pyramiden, zu reifen, etwas früher die weiteren Schichten des Lobus pyriformis. Aehnlich nicht ganz gleich dem Bewegungssystem, nur später, reift das System des Sehens und noch später das des Hörens. Die Unterschiede in der Zeit sind auf- fallend gross, etwa 10 und 15 Tage. In späteren Zeiten ist die Faserung der 4. Schicht in der Seh- und Hörrinde wesentlich dichter als in der Be- wegungsrinde.

Assoziationsfasern erscheinen später als die zugehörigen Projektions- fasern: Zuerst treten solche innerhalb der eben erreichten Zellenschicht der Rinde auf, später erst die Kommissurenfasern, nachdem die zweite Schicht erreicht ist. Ein Feld im hintersten Teil der Konvexität erhält nie mehr als

1) Edinger, Arbeiten über das Vordernhirn ete. Lehrbuch. 1905. 3) Ramón y Cajal, Studien über die Hirnrinde. Leipzig 1900—1906.

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84 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher

nz spärliche Projektionsfasern. Beliebig lassen sich hier aber marklose

chseuzylinder darstellen. Ramón spricht dieses Feld als Assoziations- zentrum an. D. schliesst sich dem an. Vielleicht liegt im Stirnhirn noch ein solches von geringen Dimensionen.

Die Rindenfelder sind vom ersten Tage ihres Entstehens an scharf umgrenzt und haben relativ dieselbe Grösse wie beim erwachsenen Tier. Die Abgrenzungen der Bewegungs- und Sehrinde von D. stimmen mit den von Brodmann?) an Nissl-Bildern gefundenen überein.

D. hat seine Untersuchungen im Institut für gerichtliche Medizin der Universität Leipzig angestellt (Direktor: Prof. Kockel). Autoreferat.)

Dräseke-Hamburg: Befunde am Rückenmark bei Knochen- orkrankuneen.

Der Vortragende schilderte an der Hand von 6 Diapositiven Befunde, die er an 15 Rückenmarken von Menschen, sowie drei vom Affen in völliger UVebereinstimmung hat erheben können. Den Anlass zu dieser Untersuchung gab das Rückenniark eines schwer rachitischen Neuweltaffen (Ateles arach- noides), das der Vortragende mit Rücksicht auf die an ihm festgestellte rachitische Erkrankung des Skelettsystems bei seinen vergleichend-anatomi- schen Arbeiten heranzog. Es handelt sich in allen genannten Fällen nicht um eine Systemerkrankung. Vielmehr zeigt das Rückenmark vorwiegend in den Seiten- und Vordersträngen, viel seltener in den Hintersträngen, schon makroskopisch Lichtungen, die mikroskopisch im Querschnitt folgendes Bild bieten: Während die Markscheiden einer Reihe von Achsenzylindern bei der angewandten Weigert-Methode mit ihren Modifikationen sich tiefschwarz, färben, sieht man unmittelbar daneben Achsenzylinder, deren Markscheiden erheblich weniger Hämatoxylin aufgenommen haben. Ja es verlieren die Markscheiden stellenweise so sehr ihre Aufnahmefähigkeit für den betreffenden Farbstoff, dass man nur mit Mühe die einzelne Nervenfaser im Querschnitt erkennen kann. Hand in Hand hiermit geht auch eine mehr oder weniger beträchtliche Zunahme des Gliagewebes, eine Erscheinung, die zumal an der Peripherie des Rückenmarkes deutlich hervortritt. Sehr interessant sind die Bilder, welche die erkrankten Neurone im Längsschnitt zeigen. Ebenso wie im Querschnittsbilde hält es schwer, die einzelnen Fasern sicher zu erkennen oder gar sie zählen zu wollen. Die deutlicher hervortretenden Fasern sind in ihrem ganzen Verlauf streckenweise mit kleinen und grösseren Vakuolen besetzt. Auch aus- und eintretende Nerven zeigen eine wechselnde Färbbar- keit ihrer Markscheiden. Bei bester Chromierung färben sich die erkrankten Fasern erstens sehr schlecht, zweitens sind sie beim Differenzieren äusserst empfindlich, indem sie den Farbstoff nur allzu leicht wieder fahren lassen. Auf Grund dieser pathologisch-anatomischen Befunde wird man es versuchen können, eine klarere Vorstellung von dem Heilungsprozess bei der Rachitis zu gewinnen. Denn umgeben sich alle Neurone des Rückenmarkes wieder mit einer normal myelinhaltigen Markscheide, so wird der Achsenzylinder, mag er nun der motorischen oder der sensiblen Sphäre angehören, voraus- sichtlich seine Funktion in vollem Masse wieder aufzunehmen imstande sein. So dürfte die Heilbarkeit der Rachitis als solcher, von den Folgeerkrankungen natürlich abgeseben, auch von dieser Seite her sich betätigen. Auch die Therapie, zumal die Phosphortherapie, wird jetzt in einem etwas anderen Lichte erscheinen. Zu zwei Fragen geben diese Ergebnisse nunmehr Anlass: 1. Sind die am Skelettsystem, sowie die jetzt auch am Nervensystem er- hobenen Befunde einander gleichzusetzen, und zwar durch eine bisher noch unbekannte Noxe bedingt? Oder ist 2. die Erkrankung des Nervensystems «ie primäre, die des Knochensystems die sekundäre? Die erste Frage wird durch die neuen Ergebnisse vorläufig nicht irgendwie weiter gefördert, da- gegen erscheint der Weg zur Beantwortung der zweiten Frage jetzt gang-

arer geworden zu sein. Bereits 1885 hat Pommer auf Grund seiner überaus eingehenden „Untersuchungen über Osteomalacie und Rachitis* (S. 467) die Vermutung ausgesprochen, dass die Rachitis wahrscheinlich „in abnormen Vorgängen und Zuständen im zentralen Nervensystem ihren Ursprung hat“.

) Brodmann, Journ. f. Neurol. 1906.

und Aerzte in Stuttgart. 85

Der Vortr. selbst stiess auf die Vermutung Pommers erst, als er anlässlich der von ihm gewonnenen pathologisch-anatomischen Ergebnisse sich mühte, die weitschichtige Literatur über Rachitis mit ihren vielfachen Widersprüchen durchzuarbeiten. Inwieweit die von ihm zuerst am Affenrückenmark ge- machten, beim Menschen dann gleichfalls bestätigten Beobachtungen diese Vermutung zu stützen vermögen, muss erst an einem erheblich grösseren Material, auch mit Anwendung anderer Färbemethoden, am ganzen Nerven- system, sowie unter Berücksichtigung des gesamten Neurons (Zellleib u. s. w.)

enauer untersucht werden. Bei der Schwierigkeit der Frage glaubte der

ortragende gleichwohl die bisher von ihm gewonnenen Ergebnisse schon jetzt mitteilen zu dürfen.

Seiffer-Berlin: Ueber eine seltene Rüekenmarksgesehwulst (mit Demonstration).

Vortr. berichtet über einen Fall von seltener Rückenmarksgeschwulst, welche bei einem 56jährigen Müllergesellen nach einem Trauma im Laufe von mehreren Jahren zu einer vollständigen motorischen und sensiblen Lähmung beider Körperhälften bis zum Halse herauf (mit Ausschluss des Kopfes, der Gehirnnerven) geführt hatte. Die Diagnose war auf eine intra- medulläre Geschwulst, mit Wahrscheinlichkeit Gliom mit Syringomyelie ge- stellt worden. Durch die Obduktion wurde die Diagnose im allgemeinen bestätigt, indessen fand sich ausser dem intramedullären Gliom, welches sich vom mittleren Cervikalmark bis zum 10. Dorsalsegment hinab erstreckte und den Querschnitt des 3.—5. Cervikalsegments fast vollständig zerstört hatte, noch eine extramedulläre Geschwulst, welche den oberen Cervikalsegmenten kappen- förmig aufsass und dieselbe Struktur aufwies wie die intramedulläre Ge- schwulst, d. h. also jedenfalls anch gliomatöser Natur war. Dieser Fall schliesst sich an ähnlicho Fälle von Pels-Leusden, Grund und Klebs an. Eine spezifische Neurogliafärbung konnte nicht mehr ausgeführt werden.

Diskussion.

Haenel-Dresden weist auf den von ihm beschriebenen Fall im Archiv f. Psychiatrie, 1898, hin, in dem’ multiple kleine Tumoren an Basis und Kon- vexität des Gehirns aufgetreten waren; dieselben durchbrachen Pia und Dura und hatten stellenweise sogar den Knochen arrodiert; ihre mikroskopische Untersuchung zeigte, dass sie aus gliomatösem Gewebe bestanden und stützte somit die Ansicht, dass in seltenen Fällen ein Gliom die Grenze der Nerven- substanz überschreiten kann.

Quensel-Leipzig fragt, ob sich Beziehungen zu den Wurzeln haben feststellen lassen and weist hin auf die Veränderungen ausserhalb des Zentral- nervensystems bei der multiplen Sklerose.

Seiffer (Schlusswort) verneint die Frage des Herrn Quensel.

v. Monakow: Ueber Aphasie und Diasehisis (Vortrag zu kurzem Referat nicht geeignet, erscheint in extenso im Neurol. Centralbl.).

Diskussion. Liepmann, Fauser.

Sitzung am 21. September.

J. Finckh-Tübingen: Ueber die psychischen Symptome bei Lues.

Die Aufgabe umfasst die Schilderung dieser Symptome und die Ent- scheidung der Frage nach ihrer Spezifität. Bei Lues werden sämtliche peychische Symptome beobachtet. Die häufigsten sind die neurasthenischen, epressiven (mit meist hypochondrischem, melancholischem und selten paranoischem Gedankeninhalt), manischen, zirkulären und hysterischen Kom- plexe, die ihre Eigenart durch die gleichzeitigen nervösen Reiz- und Ausfalls- symptome oder Demenz erhalten. Am wichtigsten ist die letztere, die über ihren Grad durch Inkohärenz und Benommenbheit täuschen, aber bis zur Ver- blödung gehen kann. Sie entwickelt sich primär oder im Anschluss an obigen Symptomenkomplex schleichend oder akut und schubweise zunehmend. Sie

86 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforschor

kann den .herdförmigen Charakter der 'neurolagischen Symptome durch partielle geistige Defekte bei vorläufiger Schonang der persönlichen Eigenart tragen. ufig Krankheitseinsicht; Gedächtnis, Merkfähigkeit, geistige Reg- samkeit, Orientierung über Ort, Zeit und Umgebung auch bei schwcrer Demenz erhalten; momentane Anklänge an die Höhe des früheren geistigen Zustandes. Zweilen Merkstörung wie bei amnestischer Psychose mit Amnesio, Euphorie and Konfabulationen im Vordergrund und Ausgang in Heilung oder statio- näres Verhalten. Sodann episodische Zustände (nach Anfällen oder selbständig) als Bewusstseinstrübung aller Grade bis zum Koma (rauschartige Benommen- heit, Schlafsucht, traumhaftes halluzinatorisches Delir mit rregung, ge- legentlich als Beschäftigungsdelir, äbnlich dem Del. trem., sich darstellend) Bemerkenswert ist der Wechsel zwischen Koma und geistiger Klarheit.

Die Diagnose ist geknüpft an den Ueberblick über Entwicklung und Verlauf der psyschischen Symptome und den Nachweis ‚charakteristisch grappierter, neurolgischer Erscheinungen, eventuell unter Verwertung der für Lues positiven Anamnese, florider syphilitischer Prozesse im Körper und des therapeutischen Erfolges.

Eigenarten des Verlaufes, erklärt aus der Natur und Lokalisation des Iustischen Prozesses, sind die proteusartige Wandelbarkeit, das Nebeneinander von geistiger Gesundheit und Klarheit neben lebensbedrohlichen Zuständen und schwerer Benommenheit, der rudimentäre Charakter der lokal nicht zur sammengehörigen Symptome und das stationäre Verhalten im Endstadium. Ein einheitliches Bild der luetischen Psychosen gibt es nicht. |

Die gonannten Symptomenbilder, sofern sie nicht zufällige Erscheinungen bei Luetikern sind oder selbständige einfache Psychosen, so z. B. in akuten Fällen von Lues cerebri, zu sein scheinen, sind Phasen eines weit aus- gedehnten Krankheitsprozeases, oft mit Ausbildung luetischen Schwach- sinns, der fast konstant und am schwersten bei hereditärer Lues und recht häufig bei acquirierter Lues Erwachsener ist, wo er unter mannigfachen Bildern verlaufen kann, so z. B. als einfacher luetischer Schwachsinn (all- mähliche oder schnelle geistige Reduktion mit indolenter, gereizter oder

ehobener Stimmung, Selbstüberschätzung, spärlichen paranoischen oder äufigen hypochondrischen Ideen und allerlei episodischen Zufällen, Herd- symptome etc) oder in komplizierteren Bildern (zunächst in Form oben- genannter einfacher Psychosen in wechselnder Reihenfolge, dann Uebergang in stationäre geistige Schwäche). Dauer 20 und mehr Jahre; nach spezi- fischer Behandlung öfter wesentliche Besserung, selten nahezu Heilung. .

Verwechslung mit Pl. pr., besonders in der Entwicklung, mäglich (syphilitische Pseudoparalyse). Differentialdiagnostisch wichtig lange Dauer, stationäres Verhalten im Endstadium, Herdsymptome, Fehlen der paralytischen Sprach- und Schriftstörung, relativ gute Konservierung von erkfähigkeit und Regsamkeit, plötzlicher Wechsel der Erscheinungen etc. Diagnose ist indes nicht immer möglich. Charakteristisch für Syphilitiker ist nur der luetische Schwachsinn. u (Eigenbericht.) .

Diskussion.

Wildermuth, Weil. ' . .

Stadelmann-Dresden: Cerebrale Kinderlähmung und genuine Epilepsie.

Stadelmann postuliert für die Beurteilung der cerebralen Kinder- lähmung und der genuinen Epilepsie den energetischen Standpunkt neben dem cellularpathologischen. Diejenige Betrachtungsweise, die vom energetischen Standpunkte aus geschieht, führt zu dem Gedanken, dass die beiden, in ihren Symptomen vielfach gleichartigen Erkrankungen von einer gleichen Kon- stitutionsanomalie ausgehen und dass nur durch das jeweilige Quantum und die Lokalisierung der (chemischen und physikalischen) Schädlichkeit im Ge- hirn, sowie durch dessen jeweilige bauliche Resistenzfähigkeit die Ver- schiedenartigkeit der Symptome verursacht ist. Die Betrachtung vom energetischen Gesichtspunkte aus erlaubt den Blick auf alle im menschlichen Organismus gegenwärtig wirksamen chemischen und physikalischen Kräfte und auf den Menschen als etwas Einheitliches.. Da durch die alleinige Gültigmachung des oellularpathologischen Standpunktes nur eino Seite des

und Aerzte in Stuttgart - 87

Krankheitsbildes erleuchtet wird, schlägt Stadelmann eine andere Frage- stellung bezüglich der Astiologie der cerebralen Kinderlähmung und der genuinen Epilepsie vor: „Welche Kräfte aind es, die die Erscheinungen der cerebralen Kinderlähmung und der genuinen Epilepsie hervorrufen?“ St. halt diesbezügliche methodische Untersuchungen für nötig, da diese Gesichtspunkte Perspektiven für eine Therapie eröffnen können. (Autoreferat.) ,

Diskussion. Wildermuth, Haenel, Liepmann.

Gemeinschaftliche Sitzung mehrerer medizinischen Gruppen am 19. IX.: Ueber Hirn- und Rüskenmarksehirurgie. |

Vorsitzender: Prof. Bruns- Hannover.

HerrSaenger-Hamburg: Veber Palliativtrepanation belinoperablen Birntumoren. Trotz der grossen Fortschritte in der Chirurgie und Neun- rologie ist doch noch immer bei weitem der grössere Teil aller diagnosti- zierten Hirngeschwülste operativ unzugänglich. Andererseits gibt es auch eine recht grosse Zahl von Hirntumoren, die nach unseren gegenwärtigen Kenntnissen nicht lokalisiert werden können. Wie sollen wir uns nun solchen Tumorkranken gegenüber verhalten? Schon 1902 hat Vortr. diese Frage auf dem Chirurgenkongress zu Berlin behandelt. Da ersterer gegen- wärtig über eine grössere Erfahrung verfügt und da die Ansichten über die Behandlung der inoperablen Tumorkranken noch nicht übereinstimmen, ao kommt er auf diesen wichtigen Gegenstand zurück. Vortr. teilte nun im einzelnen seine klinischen Erfahrungen mit, die anderen Ortes veröffentlicht werden sollen. Vortr. verfügt Pi im ‚ganzen über 19 Fälle, bei denen die Pallistivtrepanation des Schädels ausgeführt worden ist. In 2 Fällen trat erst ein Erfolg ein, als die Tropanstionsöffnung erweitert worden war und mehr Liquor cerebrospinalis abfliessen konnte. In zwei anderen Fällen hatte die Trepanation keinen Erfolg. In einem Falle von Basistumor trat un- mittelbar nach der Trepanation Sopor ein, in dem der Exitus erfolgte. In allen anderen Fällen war die wohltätige Wirkung der Trepanation evident: Kopfschmerz, Erbrechen, Krämpfe und andere Symptome, die durch den erhöhten Druck im Schädelinneren hervorgerufen waren, so die Stauungs- papille, liessen nach und verschwanden völlig in einem Teil der Falls.

arvey Cushing empfiehlt, den Schädeldeiekt in der Temporal- und Oecipitalgegend mittelst Muskulatur zu decken. Diese Methode wurde yon Herrn Dr. Wiesinger bei der Trepanation über dem Kleinhirn schon seit vielen Jahren mit Erfolg angewendet. Als Zeitpunkt des operativen Ein- schreitens ist der Beginn der Herabsetzung des Sehvermögens zu empfehlen. Trepaniert man später, so bleibt sehr leicht eine Opticusatrophie zurück. Was den Ort der Trepanation betrifft, so ist in erster Linie diejenige Stelle der Hirnschale ins Auge zu fassen, unter welcher man den Tumor vermutet. Ist eine Lokaldiagnose gar nicht zu stellen, so dürfte sich empfehlen, über dem rechten Parietallappen zu trepanieren, da von dieser Gegend am ‚wenigsten Ausfallssymptome zu befürchten sind. Die Trepanation über den Kleinhirnhemisphären ist nach den Erfahrungen des Vortr. nicht so gefähr- lich, wie man früher Angenommen hat. Man muss nur sehr vorsichtig zu Werke gehen und nach Freilegung der Dura eine Zeitlang warten, bevor man dieselbe eröffnet. Die Lumbalpunktion und die Punktion der Seiten- ventrikel können sich in Bezug auf Wirksamkeit nicht mit der Trepanation des Schädels messen. Vortr. resumiert auf Grund seiner erweiterten Er- fahrungen seine Ansicht dahin: die Palliativtrepanation des Schädels ist bei dem heutigen Stande der Chirurgie in den Händen eines geübten Operateurs eine nahezu ungefährliche, ungemein segensreiche Operation, die bei jedem inoperablen Hirntumor zu empfehlen ist, um die Qualen des Patienten zu erleichtern und um denselben namentlich vor der drohenden Erblindung zu bewahren. Autoreferat. |

Herr Feodor Krause-Berlin: Ueber die operative Behandlung der Hirn- und Rückenmarkstumoren. Um das sehr umfangreiche Gebiek

‘88 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher

in möglichster Kürze vollständig zu behandeln, beschränkt sich Vort. in seiner Darstellung nur auf eigene Erfahrungen und führt Beispiele aller in Frage kommenden Operationen in Projektionsbildern vor. An der Hand dieser bespricht er zunächst die Geschwülste der sensomotorischen Region, des klassischen Ortes für die Chirurgie der Hirntumoren. Nach Aufzeichnun der Rolandoschen und Sylvischen Furche auf dem rasierten Schäde werden mit Hülfe der osteoplastischen Lappenbildung grosse Trepanations- öffnungen mit der Dahlgreenschen Zange angelegt. Die Blutung aus den Weichteilen wird durch die Heidenhainsche Umstechungsnaht wesentlich gemindert oder aufgehoben. Kortikal sitzende Geschwäülste sind nach appenförmiger Duraleröffnung meist leicht zu erkennen, bei subkortikalen leistet die faradische einpolige Reizung mit sehr schwachem Srome aus- ezeichnete Dienste, wie überhaupt diese Methode auch im Operationssaal r den Chirurgen unentbehrlich ist. Ebenso wie Tumoren müssen Gummata, Solitärtuberkel und Cystenbildungen behandelt werden. Von letzteren gibt Vortr. ein Beispiel an einer grossen Cysticercusblase der vorderen Zentral- windung. Zunächst gelan die operative Heilung, später ging der Kranke an multiplen Cysticerken der Hirnbasis zugrunde. Doch die hirargie der Zentralwindungen stellt heute nur ein recht kleines Gebiet der Gehirn- chirurgie dar. Als Beispiel für einen Tumor der Parietralregion zeigt Vortr. die Operationsbilder eines von H. Oppenheim diagnostizierten pflaumen- grossen, an zwei Stellen eitrig geschmolzenen Solitärtuberkels, der in toto exstirpiert wurde. Wegen der Eiterung musste die Wunde 12 Tage tamponiert und offen gehalten werden; der eintretende grosse Hirnprolaps liess sich durch Zurückklappen des Dural- und Hautknochenlappens, sowie durch exakte Vernähung der weithin abgelösten umgebenden Haut beseitigen, so dass Heilung eintrat. Der Kranke ging später an Lungenphthise zugrunde; die Autopsie zeigte im Gehirn vollkommene Heilung und hier auch an keiner anderen Stelle einen Tuberkelherd. Weiter wird eine gleichfalls von Oppenheim diagnostizierte Geschwulst des Occipitallappens bei einem Sbjährigen Manne als Beispiel vorgeführt. Die Exstirpation erfolgte in zwei Zeiten und führte zu vollständiger Heilung, so dass selbst die Hemianopsie verschwunden ist. Dann ging Vortr. auf die Operstionen am Stirnlappen und in der vorderen Schädelgrube über, und im Anschluss daran besprach er die Freilegung der Hypophyse von vorn her nach Bildung eines Stirn- lappens. Dieser Operation wesentlichen Teil hat er mit vollständigem Er- folge vor 6 Jahren ausgefü um eine schwere Symptome verursachende Revolverkugel aus der Gegend des Chiasma zu entfernen. Der Operierte ist vollkommen gesund geblieben. Die Geschwülste der mittleren Schädel- grube werden in analoger Weise entfernt, wie Vortr. bei der Exstirpation eg Ganglion Gasseri vorgeht. Die letzte Operation hat er 5i mal mit 7 Todesfällen ausgeführt und niemals innerhalb eines Zeitraumes von 14 Jahren ein Rezidiv der Trigeminusneuralgie beobachtet. Diese radikale Methode wendet er aber nur in den schwersten Fällen an, wenn die unge- fährlichen Resektionen der peripheren Trigeminusäste erfolglos geblieben sind; dann aber ist die Exstirpation des Ganglion Gasseri zu empfehlen. Bei den Eingriffen in der hinteren Schädelgrube und am Kleinhirn bildet es einen Unterschied in der Technik, ob beide Seiten oder nur eine frei- gelegt werden sollen. Letzteres Verfahren kommt vor allem bei den sogen. custicustumoren, den Geschwäülsten des Kleinhirnbrückenwinkels, in Betracht. Durch Freilegen und vorsichtiges Verschieben der betreffenden Kleinhirn- hemisphäre medianwärts oder nach innen und oben kann man die hintere Felsenbeinfläche und den hinteren Abschnitt der Schädelbasis, sowie die hier liegenden Hirnnerren (Acusticus, Facialis, Glossopharyngeus, Vagus, Accessorins) zu Gesicht bringen und die in solcher Tiefe liegenden Tumoren, zumal sie meist abgekapselt und ausschälbar sind, entfernen. Eine derartig operativ geheilte Kranke ist in der Neurologischen Gesellschaft zu Berlin vorgestellt worden. Im ganzen hat Vortr. 10 solcher Operationen ausgeführt, einen genauen Bericht über 9 Fälle hat er auf dem diesjährigen Chirurgen- kongress geliefert. Im Anschluss an die Technik für die Freilegung beider Kleinbirnhemisphären bespricht Vortr. die Punktion des 4. Ventrikels . als

und Aerzte in Stuttgart. 89

einen unter Umständen lebensrettenden Eingriff; weiterhin erörtert er die Prognose aller erwähnten Hirnoperstionen. Die wirkliche Heilung einer Hirngeschwulst durch den Chirurgen gehört immer noch zu den Seltenheiten. Bedenkt man aber, dass jeder Kranke sonst verloren ist und zumeist unter den grössten Qnalen, so findet die Operation doch ihre Berechtigung. Gelingt die radikale Entfernung nicht, so bedeutet die Trepanation mit Duraleröffnung als druckentlastende Operation eine grosse Erleichterung für den Kranken und häufig eine Verlängerung seines Lebens. Einen solchen pallistiven Eingriff darf man mit demselben Recht vornehmen wie z. B. die Gastrotomie bei Speiseröhrenkrebs u. dergl. mehr. Die Hauptgefahren der Operation sind Blutung und Shock, während die Infektion mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit auszuschalten ist. Wenigstens hat Vortr. unter allen Operationen wegen Hirngeschwulst und Epilepsie, sowie bei den 51 Exstirpationen des Ganglion Casseri keinen Kranken an Meningitis ver- loren. Man muss immer auf die einzeitige Vollendung der Operation vor- bereitet sein, da dio Verhältnisse dazu zwingen können. Wenn aber die Wahl offen bleibt, so ist das zweizeitige Verfahren am Gehirn vorzuziehen. Man verteilt damit die Gefahr und vermindert sie für jeden der Eingriffe. Ganz anders bei der Entfernuug der Tumoren der Rückenmarkshäute; hier ist das einzeitige Verfahren das richtige, ausserdem sollen die Wirbel- bögen nicht erhalten, sondern geopfert werden. Die Wundverhältnisse werden dadurch vereinfacht, zudem haben die Bögen für die Stätzfäbigkeit der Wirbelsäule keine Bedeutung. Vortr. hat 19 derartige Operationen aus- geführt mit 5 Todesfällen. Die älteste Patientin ist vor 6 Jahren operiert und lebt 72 Jahre alt noch jetzt; es handelte sich um ein Psammom in der Höhe des 7. Brustwirbels, das von Dr. Böttiger diagnostiziert worden war. Am gefährlichsten sind die Eingriffe am oberen Halsmark; von drei derartigen Operierten sind zwei im Collaps gestorben; bei einem dritten musste der Bogen des Epistropheus des 3. und 4. Halswirbels ent- fernt und nach Spaltung der Dura der untere Teil der Medulla oblongata freigelegt werden; der Kranke ist geheilt und hat sich 2 Jahre nach der Operation in guter Gesundheit vorgestellt. Von anderen Schwierigkeiten, die sich bei Rückenmarksoperationen herausstellen, sind zu erwähnen: inoperable Geschwülste; dann Verwachsungen im Arachnoidalraum, die Tumorsymptome vortäuschen oder oberhalb der wirklich vorhandenen Geschwulst weit hinaufreichend zu einer falschen Segmentdiagnose Veran- lassung geben können; endlich die Meningitis Serosa ex Arachnitide chronica, die, bereits von Oppenheim betont, vom Vortr. in mehreren Fällen ge- funden wurde. Für alle diese Vorkommnisse werden operative Erfahrungen an Diapositiven vorgeführt. Selbst bei Rückenmarksgeschwülsten können also noch diagnostische Schwierigkeiten mancherlei Art erwachsen, und doch ist hier die Disgnostik dank der Segmentierung des Organs soviel leichter und soviel besser ausgebildet als bei Gehirngeschwülsten, dazu kommt noch die geringere Gefahr des Eingriffes.. Wenn es aber dermal- einst gelingen sollte, die von vornherein inoperablen Hirntumoren als solche zu erkennen und dann höchstens der druckentlastenden Trepanation zu unterziehen, so werden die operativen Ergebnisse auch auf diesem Gebiete bessere werden. Die grossen Fortschritte der neurologischen Diagnostik in den letzten Jahren, namentlich auf dem Gebiete der Tumoren der hinteren Schädelgrube, berechtigen zu begründeten Hoffnungen auch für die Chirurgie des Grosshirns. Die Fortschritte der Neurologen sind es, welche auch die Chirurgen vorwärts bringen; denn diese sind ihre ausführende Hand. Autoreferat.

Herr Steinthal-Stuttgart stellt einen Patienten vor, bei dem die Pallistivtrepanation gemacht worden ist. 87jähr. Mann, bei dem ohne vorausgegangene anderweitige Erkrankung am 1.Maid.J. eine Jacksonsche Epilepsie der linken Körperseite auftrat. Nach mehreren Anfällen blieb zunächst nur eine Lähmung der linken Oberextremität und nach weiteren Anfällen eine Lähmung der linken unteren Extremität zurück. Keine Allgemeinsymptome von Hirndruck, speziell keine Stauungspapille. 2 Tage nach letztem Anfall zunehmende Somnolenz, Sinken der Pulszahl, auch jetzt

20 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher

keine Stauungspapille..e Wegen steter Verschlechterung des Allgemein- ‚zustandes Trepanation über der rechten motorischen Region. Weder kortikal moch subkortikal Tumor gefanden, deshalb Schluss der Lücke unter Weg- nahme des Knochenstückes. Am Abend des ÖOperationstages kehrt das Bewusstsein wieder. Im Laufe der nächsten ochen stete Besserung. Jetziger Zustand: durchaus normales psychisches Verhalten, von. Hirnnerven nur noch im linken Facialis leichte Parese in sämtlichen Zweigen. Liuks- seitige cerebrale spastische Paralyse der oberen Extremitäten, an der unteren Extremität keine motorische oder sensible Störung, nur leichte Erhöhung der Sehnenreflexe, Babinski positiv. Operation war indiziert durch die zy- nehmende Somnolenz und die vorausgegangene typische Jacksonsche Epilepsie. Ob der Tumor nicht gefunden wurde oder, ähnlich wie in den bekannten Fällen von Nonne, überhaupt nicht existiert, ist eine Frage der Zukunft. Autoreferat,

~ „Herr Oppenheim-Berlin verliest zunächst für den durch Krankheit am Erstatten seines Referates verhinderten Geh. Rat Schultze-Bonn folgendes von demselben eingesandte Resume:

„it. Von. 97 Gehirntumoren wurden im ganzen 19 operiert; a) nur einmal wurde eine Heilung konstatiert, die ein paar Jahr nach der Operation noch festgestellt wurde, und zwar bei einem Kleinhirntumor; |

b) Imal wurde durch Ventrikelpunktion nach dem Neisserschen Verfahren eine sehr erhebliche Besserung erzielt, so dass Stauungspapille und starke Amblyopie nebst Kopfschmerz schwanden. Diese Besserung dauerte etwa ®/, Jahre, dann trat rasch der Exitus letalis ein; ' .

c) nur in wenigen Fällen wurde durch Palliativtrepanation eine monatelange Besserung erzielt. |

Das Ergebnis ist also leider trübe,

2. Dagegen wurden bei insgesamt 11 Geschwülsten der Rückenmarks- haut vier völlige Heilungen und eine danernde wesentliche Besserung konstatiert. I n In den letzten vier noch nicht publizierten Fällen wurde jedesmal ‚der Tumor an der richtigen Stelle lokalisiert, war aber zweimal entgegen -der Wahrscheinlichkeitsdiagnose maligner Natur und Ing ein drittes Mal so hoch am oberen Halsteil, dass der Operateur ihn nicht zu operieren wagte. Im vierten Falle folgte vollständige Heilung. In den beiden ersten Fällen wurde die Operation selbst gat überstanden.“

oe Sodann erstattet Herr Oppenheim -Berlin sein eigenes Ergänzangs-- referat. Zunächst ergänzt Vortr. die Krausesche Kasuistik, soweit sie sich mit der seinigen deckt, durch Schilderung der klinischen Verhältnisse und Motivierung der Diagnose in einzelnen, besonders interessanten Fällen von Tumor cerebri. Dahin gehört einer, in dem es gelungen ist, durch Entfernung einer Geschwulst aus dem linken Lobus occipitalis vollkommene Heilung zu erzielen, ein geradezu ideales Resultat, wie es nur ausnahmsweise erreicht wird. Ein zweiter gibt Anlass, die Diagnose der Tumoren der hinteren Zentralwindung und des Scheitellappens auf Grund von fünf eigenen Operstionsfällen dieser Art mit jedesmal zutreffender Diagnose zu besprechen. Von einem erfolgreich operierten (Borchardt) dieser Kategorie zeigt Vortr. das stereoskopische Bild des Operationsbefundes und den herausgenommenen Tumor. Dann bespricht er eingehender die Geschwälste der hinteren Schädelgrube und des Kleinhirnbrückenwinkels, unter Demonstration der Präparate von mehreren, teils mit Krause, teils mit Borchardt behandelten Fällen. Er bat in den letzten Jahren acht dieser Patienten dem Chirurgen überwiesen. Davon ist nur einer geheilt, ein zweiter vorübergehend gebessert worden, während bei sechs die Operation mittelbar oder unmittelbar den Exitus veranlasst hat (aber immer Gewächse von enormem Umfang). Vortr. gibt dann eine. Bilanz seiner seit Anfang 1903 operierten Fälle von Tumor cerebrj. Es sind 27, davon 3 (11 pCt.) geheilt, 6 vorübergehend gebessert (22,2 pCt.), 15 gestorben (55,5 pCt.) wobei allerdings zu berücksichtigen,

und Aerzte ja Stuttgart. . on 91

dass es sich 12mal um Gewächse der hinteren Schädelgrube handelte 3 Palliativoperationen mit zum Teil unsicherem Ergebnis. In 28 von .den 27 Fällen war die allgemeine wie lokale Diagnose zutreffend. Einmal wurde statt des erwarteten Kleinhirntumor Hydrocephalus gefunden, bei einem andern, bei welchem Hydrocephalus für wahrscheinlicher gehalten war, ausser diesem ein Tumor des Lobus temporalis. Einmal schwankte die Diagnose zwischen Tumor lobi frontalis und Corporis striati, im Bereich der ersteren wurde er bei der Operation nicht gefunden, der Kranke steht noch in Beobachtung; im 4. Falle, in welchem Vortr. Neubildung im Bereich der motorischen Region diagnostizierte, war der dort bei der Operation „erhobene pathologische Befund als Tumor zu deuten. Diesen Patienten. hat ‚Vortr. aus den Augen verloren. Im ganzen hat nach seiner Erfahrung von -10 oder 9 für die chirurgische Behandlung sorgfältig ausgesuchten und fast durchgängig richtig diagnostizierten Fällen nur einer Aussicht auf volles Heilresultat. Die chirurgische Behandlung der Hirntumoren bildet slao trotz einzelner blendender Erfolge immer noch eine der schwierigsten und undankbarsten Aufgaben ärztlicher Tätigkeit. Wenn es sich auch meist um ein ohne. diese Therapie tödliches Leiden handelt, verlangen doch die Erfahrungen mit der Meningitis serosa, der akuten Hirnschwellung und dem sogenannten Pseudotumor cerebri volle Berücksichtigung. Die Lehre von Bergmanns, dass die Hirnchirurgie eine Chirurgie der Zentralwindungen sei, Pat nach den neuen Erfahrungen ihre Gültigkeit verloren. Von Vortr. Geheilten gehört kein einziger diesem Gebiete (in Bergmanns Sinne) an. Weit günstiger sind die Ergebnisse der chirurgischen Therapie der Rückenmarkshautgeschwülste. Zunächst Statistik der eigenen Be- ‚obachtungen (Wirbelgeschwülste ausgeschaltet): In 8 von 11 seiner Fälle war allgemeine wie lokale. Diagnose zutreffend, der Tumor wurde an der erwarteten Stelle gefunden. In zweien lag lokalisierte Meningitis bezw. Meningitis serosa spinalis vor, in der letzten Kombination eines intramedulären Prozesses mit lokalisierter Meningitis am Orte des Eingriffes. Die Operation ist in 5 von den 11 Fällen eine glückliche, erfolgreiche gewesen, in 6 hat sie mittelbar oder unmittelbar den tödlichen Ansgang herbeigeführt. In h weiteren Fällen war die Operation von vornherein als explorative ausgeführt, und gerade diese Frage, die Berechtigung der explorativen Laminektomie, bedarf der eingehendsten Erörterung. Nur in einem dieser Fälle ist der Exitus der Operation zur Last zu legen, in einem zweiten hat sie Nutzen ebracht, in den beiden andern ist sie für den Verlauf irrelevant gewesen.

ach Schilderung der klinischen und diagnostischen Verhältnisse in diesen 4 Beobachtungen fasst Vortr. seine Anschauungen über die chirurgische Behandlung der Rückenmarkshautgewächse zu folgenden Thesen znsammen: 1. Es unterliegt keinem Zweifel mehr, dass bei den Krankheitszuständen, die die typische Symptomatologie des Rückenmarkshauttumors bieten, die chirurgische Behandlung dringend indiziert ist. Beschränt man sich auf diese Fälle, so ist schon nach den jetzigen Erfahrungen in etwa 50 pCt. auf einen Heilerfolg zu rechnen, der um so vollkommener ist, je früher der Eingriff gemacht wird. 2. Auch bei typischer Symptomalogie sind diagnostische Fehler möglich, indem das Bild des extramudallären Tumors einmal durch Wirbelgeschwülste vorgespiegelt, als auch ausnahmsweise durch einen lokalisierten meningitischen Prozess oder durch die intramedulläre Neu- bildung vorgetäuscht werden kann. Dass die Differentialdisgnose zwischen dem extramedullären Tumor einerseits, dem intramedullären und den Wirbelgewächsen andererseits noch keine ganz sichere ist, wird besonders durch die Kasuistik Nonnes (Sterk) bewiesen. 3. Unter den Formen der lokalisierten Meningitis, die das Krankeitsbild des extramedullären Tumore täuschend nschahmen können, verdient die von Oppenheim und Krause beschriebene Meningitis serosa spinalis besonderes Interesse. Es muss aber hervorgehoben werden, dass es noch an abgeschlossenen Beobachtungen fehlt, die die Existenz und Pathogenese dieses Leidens dartun und seine Beziehungen zar Symptomatologie in durchsichtiger Weise erläutern. 4. Die Symptomatologie der extramedullären Rückenmarksgeschwülste ist sehr häufig eine atypische. Kine grosse Anzahl der chirurgischen heilbaren Neu-

92 Lilienstein, 78. Versammlang deutscher Naturforscher

bildungen würde also dieser Behandlung entzogen werden. Es muss somit die Berechtigung der explorativen Laminektomie unbedingt anerkannt werden. Gewiss soll sie nur ausnahmsweise auf Grund sorgfältiger Er- wägungen bei deutlicher Progredienz des Leidens in differentialdiagnostisch schwierigen Fällen, und zwar dann vorgenommen werden, wenn unter den verschiedenen Möglichkeiten die Annahme einer extramedullären Geschwulst ein gewisses Mass von Wahrscheinlichkeit besitzt. Eins muss aber dann verlangt werden, dass bei unsicherer Allgemeindiagnose die Lokaldiagnose eine möglichst bestimmte ist, damit der probatorische Eingriff ein möglichst beschränkter bleibt und kein wesentliches Periculum vitae mit sich bringt. Die explorative Laminektomie soll nicht an der Dura mater Halt machen. Die Annnahme eines sogenannten Pseudotumors des Rückenmarkes schwebt noch in der Luft, desgleichen die der spontanen Rückbildung. Es ist sehr wünschenswert, dass von dieser Versammlun Anregun zu einer Sammel- forschung auf dem Gebiet der Hirn- und Rückenmarksc Irargie ausgeht. utoreierat.

Herr Bruns-Hannover hat bisher noch keinen vollen Erfolg bei Hirntumoren gehabt, ist trotzdem auf dem Standpunkt, dass wir welter operieren müssen und auch dass wir das Gebiet, in dem wir operieren, möglichst weit ausdehnen. Lokal zu diagnostizieren und operabel sind auch Geschwülste im linken Schläfenlappen, wie ein von ihm schon 1898 beobachteter Fall bewies. Er hat in den letzten Jahren zwei Tumoren der einen Kleinhirnhemisphäre und zwei des Kleinhirnrückenwinkels nach richtiger Diagnose zur Operation gebracht. Sie sind aber alle bald nach der Operstin gestorben. Im letzten Fall war Oppenheims Areflexie der Cornea sehr deutlich, dazu noch Areflexie von Nasenloch und Gaumen auf der Tumorseite. Den pallistiven Operationen steht er sehr günstig gegen- über, hat sie auch schon früher wiederholt, ebenso wie jetzt Saenger empfohlen (Versammlung niedersächsischer und westfälischer Irrenärzte 1 un Eulenburgs Realenzyklopädie 1905). In den letzten Tagen hat er einen Fall zur Operation gebracht unter der Diagnose Tumor der Haut am oberen Cervikalmark, bei dem zunächst nur eine lokale, mit Serum gefüllte Ausdehnung der Meningen gefunden wurde. Differential - diagnostisch kommt hier auch manchmal die multiple Sklerose in Betracht. Schliesslich erwähnte B. 2 Fälle, deren Symptome alle für Tumoren im Rückenmark sprachen, aber alle oder teilweise wieder zurückgingen: Pseudotumor medullae spinalis.

Herr Defranceschi-Rudolfswert berichtet über einen Fall, bei welchem von einem Neurologen die Diagnose auf Hirntumor mit grosser Wahrscheinlichkeit gestellt, bei der Operation jedoch ein Abszess vor- gefunden wurde. Der Erfolg der Operation war bis vor kurzem ein aus-

ezeichnoter, in letzter Zeit sind jedoch Symptome aufgetreten, die entweder ür einen neuen Abzess oder Närbenbildang sprechen. Auf Einwendungen von Bruns-Hannover weist D. auf die Schwierigkeit der Differential- diegnose hin, da der Kranke nie ohren- oder nasenkrank gewesen und ein Eiterherd nirgends nachzuweisen war.

Herr Schüller-Wien erwähnt im Anschluss an Saengers Vortrag ein Symptom, welches er bei einseitigen grösseren Tumoren des Gehirns beobachtet hat. Die Innenfläche des Schädels erscheint auf der Tumorseite gleichmässig, auf der gegenüberliegenden Seite grubig usuriert. Die

öntgen-Unterenchung des Schädels ermöglicht, schon am Lebenden dieses Symptom und damit den Sitz des Tumors zu konstatieren.

Herr Saenger-Hamburg teilt mit, dass im Hamburger ärztlichen Verein ein Fall von Hirntumor demonstriert worden ist, bei welchem mit Hülfe des Röntgen-Verfahrens der Sitz des Tumors durch die Usur des darüberliegenden Schädelknochens festgestellt worden war. Was den vom Vortr. diagnostizierten und von Krause operierten Tumor des Falles H. betrifft, welcher unmittelbar nach der Operation starb, so hat S. diesen Fall vorher gesehen und in derselben Weise lokalisiert. S. hatte aber nur zur Palliativoperation geraten; wahrscheinlich hätte dann der Knabe länger gelebt, und seine in der Ferne weilende Mutter hätte ihn wiedergesehen. Bei

und Aerzte in Stuttgart. 93

der Operation von Hirntumoren müssen alle Verhältnisse und Chancen ins Auge gefasst werden. Was die Tumoren der hinteren Zeutralwindungen betrifft, so stimmte S. den Ausführungen des Vortr. auf Grund seiner eigenen Erfahrungen durchaus bei. S. möchte auch warm für die explorative Laminektomie eintreten. In einem Falle traten die Symptome eines Rücken- markstumors unter heftigen Reizerscheinungen auf. Es wurde die explorative Laminektomie gemacht ohne Fröffnung der Dura; es fand sich bei der Operation nichts Besonderes, nach derselben hörten die qualvollen Reiz- erscheinungen auf. Bei der nach einigen Jahren erfolgton Autopsie ergab sich eine Meningitis post syphilitica. Die früher eingeleitete energische ` antiluetische Behandlung hatten keinen Erfolg gehabt. In einem zweiten Falle wurde bei der explorativen Laminektomie in der Höhe des ersten und zweiten Lendenwirbels durch Sondierung nach unten ein Tumor der Cauda equina gefunden und exstirpiert. Sebr interessant waren S. die Angaben des Vortr. über eine Meningitis serosa circumscripta, da er einen analogen Fall beobachtet hatte, den er bisher nicht anzudeuten vermochte. Zum Schluss weist S. auf die gar nicht so seltenen Fälle von Hirntumoren hin, die ohne Stauungspapille und ohne andere Hirndrucksymptome verlaufen und regt an, über dies Faktum eine Sammelforschung zu veranstalten, nachdem er noch daranf hingewiesen hatte, dass möglicherweise anatomische Veränderungen am Foramen opticam die Ursache des Ausbleibens der Stauungspapille darstellen könnten. Autoreferat.

Herr Monakow-Zürich bestätigt im allgemeinen die Erfahrungen des Vortr.; er hat nur einen Fall von günstigem Ausgang bei einem operierten Hirntumor gesehen (Tumor der motorischen Region). In diagnostischer Beziehung weist er auf einige Eigentümlichkeiten der subcortical sich entwickelnden, langsam wachsenden Tumoren in der Regio centralis (sich attackenweise wiederholende lokalisierte tonische und klonische Muskelkrämpfe im paretischen Glied, ohne successiven Uebergang auf andere Glieder) hin. Vom Temporrallappen ausgehende, langsam wachsende Tumoren können durch akustische Aura, die epileptischen Attacken voran- geht, charakterisiert sein. Palliative Trepanation bei inoperablen Tumoren halt S. für zulässig und hat von diesem Eingriff in 2 Fällen relativ befrledigenden Erfolg gesehen.

err Nonne-Hamburg tritt auch für die Palliativtrepanation bei inoperablen und nicht genau zu lokalisierenden Hirntumoren ein. Fünfmal hat N. die Operation ausführen lassen, viermal mit erheblichem Rückgang der quälenden subjektiven Symptome. N. berichtet über zwei neue Fälle von „Pseudotumor cerebri“, von denen einer unter Cerebellum-, der andere unter Halbseitensymptomen verlief; bei beiden nicht der geringste Anhalt für Syphilis, keine sonstige Aetiologie; zunächst unter Quecksilberbehandlung pro ressiver Verlauf, dann Rückbildung der Symptome bis zu rastloser eilung. N. betont für sein Hirntumorenmaterial die grosse Seltenheit der Pulsverlangsamung; er warnt an der Hand eines neuen vierten Falles aus seinem Material aufs neue vor Lumbalpunktion bei Tumor cercbri. Dass bei extraduralem komprimierenden Rückenmarkstumor jeder wesent- liche Schmerz fehlen kann, erläntert N. an der Hand eines eigenen. Falles, in dem wegen Fehlens der Schmerzsymptome die Gelegenheit zur Entfernung eines gutartigen extraduralen stoibroms versäumt wurde. Er tritt für die häufigere Ausführung der Probelaminektomie ein. Auch bei multipler Skerose können heftige Schmerzparoxysmen auftreten, wie N. dies exquisit in einem Fall sah, in dem die Obduktion multiple kleine Gliawacherungen an den hinteren Wurzeln zeigte.

Herr Schwarz-Leipzig fragt, ob bei den Tumoren am Halsmark gewöhnliche paralytische Miosis beobachtet wurde oder gelegentlich auch reflektorische Pupillenstarre. Bekanntlich wurde neuerdings wieder ab und zu die Ansicht vertreten, dass reflektorische Pupillenstarre durch Affuktion des Halsmarkes bedingt werde. Ferner fragt S., ob jemand bei Tumoren des Kleinbirnbrückenwinkels Erweiterung der Lidspalte mit Gräfes Symptom

esehen hat; er beobachtete kürzlich einen solchen Fall (ohne wesentlichen. ophthalmus) mit den sonstigen typischen Symptomen.

——

94 Lilienstein, 78. Versammlung dentscher Naturforscher

- Herr Bayerthal-Worms bemerkt bezüglich des weiteren Verlaufes der operativ erfolgreich behandelten Fälle von Hirntuberkel, dass der von ihm auf der Naturforscherversammlung in München vorgestellte, von Prof. Heidenhain Oktober 1898 operierte Patient im wesentlichen noch den gleichen befriedigenden Befund darbietet. . Soweit er die Literatur übdersieht, hat nur noch ein Patient Krönleins die Operation mehrere Jahre überlebt.

Herr Frankl-Hochwart-Wien hält Schmerzen bei der Sclerosis multiplex für nicht selten. In einem Falle stellte F.-H. die Diagnose darauf, in dem ausserordentliche Schmerzen auftraten; hauptsächlich war das Symptom des Zwangslachens ausschlaggebend. Die Nekropsie bestätigte die Diagnose. F.-H. möchte direkt von einer eigenen Form, der Sclerosis multiplex dolorosa, sprechen.

Herr Wildermuth-Stuttgart hält Schmerzen, sowohl gürtelfórmige wie rheumatoide, bei Sclerosis multiplex für recht häufig und die Schmerzen für diagnostisch nicht verwertbar.

Herr Tilmann berichtet über die erfolgreiche Entfernung eines Glioms der rechten Hirnhälfte, die bis jetzt nach 9 Monaten geheilt

eblieben ist, obwohl zur Zeit der Operation schon völlige Erblindung Destanden hatte. i .

Gemeinschaftliche Sitzung (mit Chirurgie, Gynäkologie u.s.w.) am 18. Sept.

Ueber den Einfluss der neueren deutsehen Unfallgesetzgebung auf Heilbarkeit und Unheilbarkeit der Kranken.

- Herr Nonne - Hamburg: Posttraumatische organische Er- krankungen im Rückenmark (mit Demonstrationen). Vortr. hatte 667 Obergutachten in Unfallsneurosen zu erstatten: Das Krankheitsbild ist überaus monoton, ganz überwiegend ist das Bild der hypochondrischen Neurasthenie, nur sehr selten ist die Ursache das organische Moment des Traumas, meist Entwicklung des seelischen Zustandes in der von Strümpel dargelegten Weise. Vortr. projiziert verstümmelte Glieder von nicht „Unfallekranken“, die sämtlich Vollarbeit zu Vollohn verrichten. Er sieht die Ursache der Kalamität in Tätigkeit unverantwortlicher Ratgeber, im Gesetz an sich, in der Handhabung der Gutachten, Meinungsverschiedenheit der Gutachter, Mitteilung des Gutachteninhaltes an die Verletzten, in der absoluten Kostenlosigkeit des Berufsverfahrens für die Verletzten, in der gesetzlichen Unmöglichkeit der Abfindung. Vortr. bringt sodann zum Kapitel posttraumatischer Rückenmarkserkrankungen neue Fälle bei: 1. 4 Fälle von Tabes dorsalis; keine Lues, zeitliches und örtliches Zusammentreffen der subjektiven und objektiven Symptome mit dem Trauma. Zweimal sah er bei bestehender Tabes Arthropathien im Fussgelonk nach Fusskontusion, einmal im Kniegelenk nach Kniekontusion, einmal bulbärparalytischen Symptomenkomplex nach Kopf- und Nackenverletzung. 2. Myelitis chron. dors. sah Vortr. ohne sonstige Astiologie 4mal (3mal Obduktion, Nekrosen im Dorsalmark ohne Residuen von Blutung). Im 4. Falle hatte sich eine „traumatische Syringomyelie* aus Nekrosen im Halsmark entwickelt (Sektion). 8. Amyotrophische Lateralsklerose sah Vortr. zweimal sich posttraumatisch entwickeln. 4. Multiple Sklerese sah Vortr. zweimal (einmal periphere Hautverletzung, einmal Rückenverletzung). Sie war in einem Fall kombinfert mit Hysterie (Hemiannesthesia sinistra, auf Seite des Traumas).

Nach Autoreferat.

Herr Gaupp-München behandelte den Einfluss der deutsehen Unfall- gesetzgebung auf den Verlauf der Nerven- und Geisteskrankheiten. ortr. legt zunächst dar, dass die Unfallgesetzgebung selbst nur auf eine bestimmte Form von Krankheiten einen unmittelbaren Einfluss ausübe, auf die sog. „traumatischen Neurosen* (Unfallneurosen). Sie sind keine be- soüdere Krankheiten von klinischer Selbständigkeit; eigentümlich ist ihnen. nur die besondere Entstehung (nach einem Unfall). Es gibt keine „trau- matische Neurose“, sondern nur traumatische Hysterie, : Neurasthenic, Hypochondrie u.s.w.: Diese Unfallneurosen: kommen nach Unfällen leichter

und Aerzte im Stuttgart. 95

und schwerer Art vor; die Stärke und Art der Verletzung ist ohne wesent- lichen Einfluss auf die Schwere und Dauer der Neuropsychose. Nach nicht entschädigungspflichtigen Verletzungen sind diese Erkrankungen selten; vor allem dauern sie alsdann nicht so lange. Vortr. schildert, welchen Einfluss : das Gesetz auf die Psyche des verletzten Arbeiters ausübt. Den Kern des Leidens machen krankhafte Vorstellungen (Angst, seelische Unruhe, gespannte. Erwartung auf den Ausgang des Rentenverfahrens, falsche Vorstellungen über die Voraussetzungen des Rentenbezuges) aus; den „objektiven Symptomen“, die bei der körperlichen Untersuchung festgestellt werden, kommt nur geringer Wert zu. Aengstliche und missmutig-gereizte Stimmung und der Glaube, nicht mehr arbeiten zu können, sind die wichtigsten Krankheitszüge. Warum hatte die Unfallgesetzgebung diesen unerwünschten Einfluss? Zur Zeit, als sie ins Leben trat, war das soziale Leben raschen und bedeutenden Wandlungen unterworfen. Vortr. kennzeichnet den „nervösen Seelenzustand der modernen Zeit“, den Einfiass der chronischen Trunksucht auf die Energie der arbeitenden Klassen, die veränderten- politischen An- schauungen und Stimmungen der Arbeiter, ihre anfänglich misstrauische oder selbst feindliche Stellung gegen die ganze soziale Gesetzgebung, ihre oft irrigen Vorstellungen über ein vermeintliches Recht auf Rente als eines Schmerzensgeldes. Als Uebelstände im einzelnen werden genannt: Die Sorge für den Verletzten liegt anfänglich bei den Krankenkassen, statt gleich bei den Berufsgenossenschaften. Das Gesetz verlangt leider keine genaue schriftliche Fixierung des ärztlichen Befundes sofort nach dem Unfall. Das Rentenfestsetzungsverfahren dauert zu lange. Das Gesetz selbst ist für den Arbeiter zu schwer verständlich. Nach erstmaliger Rentenfestsetzung gelangt der Verletzte nicht zur Ruhe, die häufigen Nachuntersuchungen schaden; einmalige Abfindung ist leider nur bei niedrigen Renten und nur auf Antrag des Verletzten möglich. Die Uneinigkeit der Aerzte ist um so verhängnis- voller, als nach dem Wunsche des Gesetzgebers der Verletzte den wesett- lichen Inhalt der über ihn erstatteten Gutachten erfährt. Die Aerzte urteilen im Gefühl der Unsicherheit und der grossen Verantwortung oft zu milde, empfehlen Vollrente und schaden damit dem Arbeiter, machen ihn zum unglücklichen und untätigen Hypochonder. Die Frage des Arbeitsnachweises für teilweise erwerbsfähige Unfallkranke ist im Gesetz nicht erörtert. Eine Kürzung der Rente ist nur bei Nachweis wesentlicher Besserung zulässig; dieser Nachweis ist bei der subjektiven Natur der Symptome selten zu führen. Die Prognose des Leidens ist weniger von dem speziellen Symptomenbild, als von der Eigenart der Verletzten und von der Gestaltung des Renten- kampfes abhän ig; auch wirken chronischer Alkoholismus, Milieueinflüsse oft schädlich. Se r oft ist der Verlauf ein ungünstiger. Bisweilen beobachtet man frühzeltiges Altern, frühe Arteriosklerose. Zur Beseitigung der

eschilderten Uebelstände empfiehlt Vortr. richtige Schulung der Aerzte,

ermeidung aller schädlichen Suggestionen von ihrer Seite, humanes, aber bestimmtes Auftreten, sorgfältige neurologische Untersuchung; er warnt davor, aus falschem „Hummnitätsgefühl“ den Verletzten auf Kosten anderer Wohltaten zu erweisen. Krankenhausbehandlung ist oft zwecklos, oft schädlich. Häufige Kontrolluntersuchungen sind zu verwerfen. Die Fürsorge für den Verletzten soll von Anfang an nur bei den Berufsgenossenschaften liegen. Namentlich empfiehlt Vortr. einmalige Kapitalabfindung. Er macht hier folgenden Vorschlag: Nach Ablauf von $ Jahren nach dem Unfall steht der . Berufsgenossenschaft das Recht zu, nach Anhören eines ärztlichen Kollegiums von wenigstens drei Aerzten, von denen zwei den Verletzten schon früher untersucht hatten, diesen mit einmaliger Auszahlung eines bestimmten Kapitals abzufinden, wenn nach dem einstimmigen Ausspruch der Aerzte die Verletzung selbst völlig geheilt ist und die übriggeblie enen Störungen im Verlauf der letzten 12 Monate objektiv keine Verschlimmerung erfahren hatten. Die einmalige Abfindung soll nur dann stattfinden, wenn nach dem Ausspruch der Aerzte die endgültige Erledigung der Rentenfrage im gesundheitlichen Interesse des Unfallkranken selbst liegt.

Von chirurgischer Seite referierte Herr Thiem-Kottbus, von gynäko- logischer Herr Baisch-Tübingen.

96 Notiz.

Herr Rumpf-Bonn betont auf Grund eines Materials von stwa 1500 Fällen die Wichtigkeit einer sorgfältigen Aufnahme und Niederschrift des ersten Befundes nach Unfällen. Er verlangt sorgfältigere klinische Schulung der angehenden Aerzte. Bezüglich der angestrebten Verbesserungen des Unfallgesetzes stimmt R. den Vorrednern darin bei, dass eine leichtere Ablösung der Unfsllrenten ermöglicht werden soll, weiterhin, dass ein früh- zeitigerer Uebergang der Unfallverletzten in die Fürsorge der Berufs- genossenschaften statthabon soll. Hochgradig erwänscht ist auch Schaffung von Arbeitsgelegenheit für die nur teilweise Arbeitsfähigen. Gegenüber Nonne bemerkt er, dass er in Bonn traumatische Erkrankungen der Unter- leibsorgane mit Nieren-, Magen-, Darmblutungen, Endokarditis durch septische Wunden, Herzaffektionen durch Trauma u.s. w. nicht selten sieht. Er macht weiterhin auf die Brüche der Wirbelsäule und auf die häufige Fraktur der Schädelbasis aufmerksam.

Herr Haenoli-Dresden regt an, die von Gaupp auf Grund der Jollyschen Gedanken gemachten orschläge Erweiterang der einmaligen Abfindung an Stelle der Rentenzahlung in Form einer Resolution den suständigen Stellen zugänglich zu machen.

Herr Bruns-Hannover stimmt Herrn Gaupp im allgemeinen zu, möchte aber einige Einwendungen machen. Er fand, dass die „Begehrungsvor- stellungen“ nicht nur in der „Arbeiterseele“ zustande kommen, er fand sie sogar besonders deutlich und stark ausge rägt in den sogen. höheren Klassen (Privatversicherung und Haftpflicht), vielleicht weil hier den Begehrungs- vorstellungen gar keine Grenzen gesetzt sind. Man darf sie nicht als alleinige Ursache der Unfalleneurose ansehen und mechanische Schädigungen, den Schreck beim Unfall, die Sorge um die Existenz, ganz ausser Acht lassen. Schwere traumatische Neurosen sind gar nicht so selten, auch nach nicht entschädigungspflichtigen Unfällen, meist dann nur nicht so hartnäckig; aber auch hier gibt es unheilbare Fälle. Man solle auch nicht die guten Seiten der Unfallgesetzgebung vergessen. Heilen kann nur die Wieder- gewöhnung an die Arbeit, und es muss Gelegenheit zu wirklich Werte schaffender Arbeit für teilweise Arbeitsfähige geschaffen werden.

Abteilung für Kinderheilkunde.

C. v. Pirquet- Wien: Galvanisehe Untersuehungen an Säug- lingen. An ca. 600 Untersuchungen an 20 Säuglingen wird der Schluss gezogen, dass die von Mann für den normalen Säugling angegebenen Durch- schnittswerte zu hoch’ sind, weil sie durch Zusammenziehung von Werten normaler und leicht übererregbarer Kinder gewonnen sind. Für leichte Ueber- erregbarkeit ist das Auftreten der Anodenöffnungszuckung charakteristisch, welche normalerweise über der Grenze von 5 E-A. liegt. Für die Ent- stehung galvanischer Ueberregbarkeit ist die Nahrung nicht der einzig in Betracht kommende Faktor, und gewiss ist die Tetanie nicht als eine Calciumvergiftung aufzufassen.

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Notiz.

In Halle hat sich Dr. B. Pfeiffer, Assistent au der psychiatrischen and Nervenklinik, habilitiert.

Aus der neurologisch-psychiatrischen Klinik der Universität Graz.

Beiträge zur Apraxielehre. Von

Prof. Dr. FRITZ HARTMANN.

Uebersicht:

. Einleitung.

. Krankenbeobachtung mit pathologisch - anatomischem Befunde. Serien- schnitte darch das Gehirn (Tafel I, Il, Figg. 2, 8, 4).

. Das linke Stirnhirn und seine mutmassliche Bedeutung für den Bewegungs- ablauf.

. Krankenbeobachtung mit pathologisch-anatomischem Befunde. Serien- schnitte durch das Gehirn (Tafel I, III, Figg. 5, 6).

. Die Bedeutung des Balkens für die apraktischen Störungen.

. Krankenbeobachtung mit pathologisch-anatomischem Befunde Tafel I, III,

ig. 7).

. Die Bedeutung des rechten Stirnhirnes für den Bewegungsablauf.

. Zusammenfassung. Schlussfolgerung in Hinsicht der gefundenen Tatsachen und deren Deutung.

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Oa men e Q

1. Einleitung.

Die Erkeuntnis von der Pathologie der Bewegung hat in dem abgelaufenen Quinquennium ungeahnte Bereicherung und Vertiefung erfahren. Die aus den jüngsten Erforschungen hervor- gehenden neuen Erkenntnisse und die daran geknüpften hypothe- tischen Erörterungen versprechen speziell auch für die Auffassung psycho-pathologischer Phänomene am Krankenbette bedeutungs- voll zu werden.

Unsere bisherigen Kenntnisse umfassten nicht viel mehr als die Kenntnis der Hemiplegie, des zentripetalen Einflusses auf die Bewegung, der zentralen motorischen Stationen und die weitere Ausgestaltung der Lehre von der Kleinhirnfunktion in ihren Be- ziehungen zum Bewegungsakte.

Die einzelnen motorischen Repräsentationsstätten kortikaler und subkortikaler Natur genauer zu erforschen, war im Sinne der Lokalisationslehre ebenso das Hauptziel wie die Erkenntnis der Umgrenzung der Sinnesfelder.

Die so festgelegte Arbeitsrichtung umgrenzte ziemlich will- kürliche anatomisch getrennte Bezirke, ohne dass dem Hauptziele der Erkenntnis der Gesamtfunktion des Gehirnes in Hinsicht des Bewegungsablaufes nähergetreten worden wäre.

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft s. 7

98 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

Die Forschungen der letzten Jahre führen uns mitten hinein in die Dynamik des Grosshirnes in ihren Beziehungen zu den effektorischen Leistungen auch komplizierter Art.

Ich darf die Genesis der um den Namen Apraxie gescharten Arbeiten als bekannt voraussetzen und will nur darauf hinweisen, dass hier im Fortschritte die unverkennbaren Spuren jenes all- mählich sich vollziehenden Umschwunges sich zeigen, den die Zentrenlehre des Grosshirnes erfährt.

Aus dem Kampfe der Anschauungen, mit welchen die ex- perimentelle Tierphysiologie u. a. unsere Erkenntnis in so hervor- ragendem Masse gefördert hat, scheint mir, soweit die tatsächlichen Errungenschaften in Frage kommen, im Zusammenhalte mit den neuesten Erfahrungen über die pathologischen Grosshirnfunktionen beim Menschen und die Auffassung von der Gesamtleistung des Grosshirnes neuerlich in gewissem Sinne eine Näherung der ver- schiedenen Divergenzen in den Anschauungen hervorzugehen.

Der einheitlichen Gesamtfunktion des Gehirnes werden wohl nunmehr als Zentren jene Hirnregionen zur Seite gestellt, über die die Gesamtfunktion jeweils zu einer bestimmten Spezifizierung ihrer Leistung und ihres Effektes sich bedient.

Sind ja diese „Zentren“ physiologisch definiert durch die Art und Vielfachheit ihrer Verknüpfungen untereinander und mit den peripheren Endapparaten. Endlich haben auch die Er- scheinungen am klinischen Krankenbette, die der Deutung der Er- fahrungen des tierphysiologischen Experimentes Korrektur und Be- schränkung gewiesen haben, ähnliche Auffassungen in der mensch- lichen Pathologie gezeitig. Antons, Flechsigs, Monakows, Dejerines, Wernickes Forschungen und Wundts psychologische Anschauungen nähern sich nicht nur einander in erfreulicher Weise, sondern weisen sowohl nach der morphologischen als funktionellen Seite auf die Aggregierung elementarer Strukturen zu höheren Einheiten und dieser wieder zu komplexen Verknüpfungen. Jüngst haben der Histoloege Ramon y Cayal und der Physiologe A. Tschermak in geistreicher Weise die einzelnen Lehren gegen- übergestellt und zu einer schematischen Vereinigung gebracht.

Auch die Fragen insbesondere über das Zusammenwirken der beiden Hemisphären und die Dignität der beiden Hälften ım Getriebe der Gesamtmechanik haben neue Bereicherungen er- fahren (Anton!), Liepmann?), Sinkichi Imamura’) u. A.).

So zeigen auch die jüngsten Ergebnisse über die Pathologie der Bewegung beim Menschen, dass die Forschung über die Kenntnis der rezeptorischen und effektorischen Bahnen hinaus das höchste Ziel: die Morphologie der assoziativen Leistungen komplexer Grosshirnfunktionen, in Angriff nimmt und daran geht,

1) Anton, Zeitschr. f. Heilk. XIV. 313. Archiv f. Psych. XXXII. 1. Münch. med. Wochenschr. 1906.

23) Liepmann, Münch. med. Wochenschr. 1905. No. 48, 49.

3) Sinkichi Imamura, Pfügers Archiv. C.

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre, 99

dem, was wir Wille und Handlung nennen, auf ihren Wegen im Zentralnervensysteme nachzugehen.

Hier darf daran erinnert werden, dass Anton schon seiner- zeit die Anschauungen über die Beeinflussung der Bewegung im zentralsten Mechanismus dadurch bereichert hat, dass er nicht, wie biehin, nur dem sensiblen und Muskelsinn-Systeme, sondern auch den zentralen optischen Sphären massgebenden Einfluss zuschreibt.

Bruns,!) Exner,?) Paneth u.A. haben diese Anschauungen erweitert und auch den übrigen Sinnessystemen je nach ihrer Dignität massgebenden Einfluss eingeräumt.

Die Forschungen von Ewald?) und Bickel*) greifen hier er- gänzend ein. Von Klinikern ist nicht zuletzt Wernicke zu nennen, welcher auf der Grundlage einer solchen breiten Auf- fassung der sensorischen Beeinflussung des Bewegungsapparates die Gehirnfunktionen verstanden wissen will.

Ich darf zusammenfassend meinen Ausführungen über einige Fälle von Störung des Bewegungsablaufes durch zentrale Er- krankungen vorausschicken, das fussend auf den Anregungen Meynerts über motorische Asymbolie und gefestigt von Wer- nickes Schulung und Denkart, Liepmann die Ursachen ge- störten Handelns bei Gehirnkrankheiten aufreiht in solche, welche auftreten durch:

1. Ausfall von optischer, akustischer, taktiler Empfindung (Rindenblindheit, Rindentaubheit, Rindenempfindungslosigkeit),

2. Ausfall von kinästhetischen Empfindungen und ent- sprechender, nicht zum Bewusstsein kommender zentripetaler Er- regungen (Ataxie),

8. Ausfall des Erkennens bei erhaltener Empfindung, Ver- lust der sensorischen Erinnerungsbilder (Wernicke) oder der Verknüpfung von Empfindung und Erinnerung, Seelenblindheit, Seelentaubheit, Seelenlähmung (Agnosie),

3a. Verlust der Verknüpfung. der einzelnen Sinnesgebiete untereinander (ideatorische Agnosie),

4. ideatorische Apraxie,

5. Unfähigkeit, den sensorisch wohlentstandenen Entwurf einer Bewegung trotz Intaktheit des kortikomuskulären Apparates in die zugehörige Bewegungsform umzusetzen (motorische Apraxie),

6. Verlust der kinästhetischen Vorstellungen, des Gedächtnisses für komplexe Bewegungsreihen (Seelenlähmung),

7. Lähmung oder Parese.

Liepmann hatte das Glück, einen Erkrankungsfall zu beobachten und zu beschreiben, in welchem dio Direktion von

1) Bruns, Festschrift Nietleben. 1897. Leipzig, Vogel. 2) Exner (u. Paneth), Pflüger Archiv XLIV. 3) Ewald, Wiener med. Wochenschr. 1896. 4) Bickel, Untersuchungen über den Mechanismus der nervösen Bewegungsregulation. 1908.

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no 4

100 Hartmann, Beiträge sur Aprarielehre.

Bewegungen und Handlungen für die linksseitigen Extremitäten ersichtlich weitgehend erhalten geblieben war, während rechter- seits Bewegungsverwechselungen, amorphe Bewegungen, zeitweilige Akinese beobachtet wurden, aber weder Lähmung noch Ataxie vorhanden waren, die Eigenleistungen des Senso- motoriums und, wie ich noch hinzufügen möchte, die Intention von Bewegungen desgleichen erhalten blieben.

Es erschien der gesamte sensomotorische Apparat der rechten oberen und unteren Extremität aus der seelischen Gesamt- leitung herausgeschnitten.

Im folgenden kann ich nun einen nicht minder interessanten Fall zur Diskussion stellen, welcher mir geeignet erscheint, für den Mechanismus des Bewegungsablaufes eine Reihe neuer Tat- sachen zu bringen und einen weiteren Fortschritt in der Deutung der Erscheinungen, zugleich einen Ausblick für die Klärung höchster psychischer Leistungen zu ermöglichen scheint.

2. Krankenbeobachtung mit pathologisch-anatomischem Befunde. Serienschnitte durch das Gehirn (Tafel I, II, Fig. 2, 3, 4).

Krankengeschichte?): S. A. ist ein 84 Jahre alter Grundbesitzers- sohn, bereditär nicht belastet, militärtauglich und litt früher niemals an schwereren Krankheiten. Aus seiner Ehe entstammen zwei gesunde Kinder, ein drittes starb gleich nach der Geburt. In seinem 18. Lebensjahre erlitt er durch eine Eisenstange eine Verletzung am Kopfe, welcher Bewusstlosigkeit folgte. Vor 2 Jahren stürzte er von einem Baum auf Rücken und Hinter- haupt, konnte sich anfangs nicht erheben und litt nachher an starken Kopf- schmerzen. Alkoholismus, Lues und Krampferscheinangen werden glaub- würdig in Abrede gestellt. 8 Tage vor seiner Aufnahme auf die Klinik klagte er über Magenbeschwerden, erbrach öfters und zeigte sich psychisch verändert. Er sass stundenlang ruhig, den Kopf in die Hand gestützt, ohne durch die Vorgänge seiner Umgebung beeinflusst zu werden, verssh ohne weitere Motive seine Wirtschaft nicht mehr, starrte oft lange wie abwesend vor sich hin und zeigte in den letzten Tagen auch keine Initiative zur Nahrungsaufnahme. l

Auf der Klinik wurde folgender körperlicher Befund aufgenommen: Der innere Organbefund erwies mit Ausnahme oberflächlicher Atmung und verlangsamter Herzaktion normale Verhältnisse. Der allgemeine Ernährungs- zustand war sichtlich ungünstig beeinflusst. Aus dem nervösen Befunde sollen ebenfalls nur die pathologischen Erscheinungen hervorgehoben werden.

Auf dem Gebiete der Hirnnerven fand sich beständig Unruhe der Kau- muskulatur. Die Kniesehnenreflexe waren nicht auslösbar. Die rechtsseitigen Extremitäten zeigten Verlangsamung aller Bewegungen ohne besondere Parese, die Sensibilität zeigte keine erhebliche Schädigungen.

Es bestand beiderseits Stauungspapille von 9 D. ohne wesentliche Be- einträchtigung des Schvermögene.

In psychischer Hinsicht zeigte sich Patient im groben orientiert, in apathischer Stimmungaslage frei von Sinnestäuschungen und Wahnbildungen. Gedankenablauf und sprachliche Aeusseruugen waren ersichtlich verzögert.

Auf dem Gebiete der Psychomotilität wurde eine Reihe beträchtlicher Störungen beobachtet:

1) Hierüber habe ich auf dem Kongresse für innere Medizin, München 1906 und daselbst in der Jahresversammlang des Deutschen Vereins für Psychiatrie abgehandelt.

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Hartmann, Beiträge zur Apraxislehre. 101

I. Eine enorme Verarmung an Spontanbewegungen.

lI. Eine Verlangsamung aller durch sensorische Anregung erzeugten Bewegungsvorgänge.

HI. Kompliziertere Bewegungsaktionen mit den oberen Extremitäten werden ausschliesslich links und auch hier nicht normal geleistet.

IV. Allgemeine Körperlokomotion erfolgt von allen Bewegun am besten, nur tritt hierbei eine geringere Mitarbeit der rechte tremitäten hervor.

Die sensorischen Leistungen erwiesen sich im Gegensatze hierzu mit Ausnahme einer allgemeinen Verlangsamung, nur in gewissen eigenartigen Beziehungen geschädigt.

1. Im optischen Gebiete wurden linkerseits vorgezeigte Gegenstände und Bewegungsvorgänge sofort richtig erkannt, be- zeichnet bezw. nachgeahmt und veranlassten entsprechende Be- wegungsabläufe. Im rechten Gesichtsfelde erschien Pat. bei allen Prüfungen ın seinen Reaktionen wie ein Hemianopiker.

2. Auf akustischem Gebiete fand sich links prompte Reaktion auf Geräusche, Verständnis des gesprochenen Wortes, Fähigkeit zum Nachsprechen und zur Bezeichnung von Geräuschen und Erkennen bezüglich Gegenstände intakt. Vom rechten Ohre aus zeigte sich Pat. wie ein zentral Tauber.

3. Die Tastempfindung der linken Körperhälfte, ins- besondere auch die Fähigkeit zur Betastung mit der linken Hand, das Erkennen und Bezeichnen von Gegenständen von hier aus erschien intakt. Auf der rechten Körperoberfläche signalisierte Pat. eintreffende Reize allenthalben, die zugehörigen Reaktionen beschränkten sich hingegen auf unvollkommene Bewegungs- äusserungen der Extremitäten, hingegen waren die mimischen Begleiterscheinungen intakt. Der Tastap arat der Hand bei in diese gelegten Gegenständen bietet einen höchst unvollkommenen Ansatz zur Abtastbewegung. Zu einem Erkennen und Bezeichnen von Gegenständen kam es hier niemals, auch fehlten gleichsinnige Einstellbewegungen von Kopf und Augen.

Im Geruchsinne bestand beiderseitige Anosmie.

Die einfache Nachahmung von passiv erteilten Stellungen der rechten Extremitäten gelang links sehr prompt, von links gegebenen rechts verlangsamt. Bewegungen, welche in denselben Extremitäten passiv vorgemacht wurden, konnten beiderseits leidlich imitiert werden, rechts langsamer und ungeschickter.

Die weiteren Veränderungen im körperlichen Zustande zeigen sich als fortschreitende Abmagerung, andauerod niedrige Pulszahlen, beginnende rechtsseitige zentrale Facialisparese.

In psychischer Hinsicht fanden sich ohne wesentliche Veränderung des psychischen Allgemeinzustandes weiterhin folgende Erscheinungen, welche sich insgesamt als dem Gebiete der Psychomotilität zugehörig erweisen:

Der spontane Bewegungsablauf ist auf allen Gebieten ausserordentlich verarmt, so dass der Kranke zumeist mit ge- schlossenen Augen in ruhiger Rückenlage stundenlang regungslos verbleibt.

Auch kann jetzt schon bemerkt werden, dass, wenn durch äussere Anstösse ein Muskelgebiet (z. B. Augenmuskel oder Ex-

pevorgängen seitigen Ex-

102 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre,

tremitäten etc.) in Bewegung gesetzt war, andere Muskelgebiete fast niemals dadurch in Mitbewegung gerieten (z. B. Sprache etc.).

Beeinflussung des Bewegungsablaufes,

I. Durch optische, fixe und bewegte Reize.

Im linken Gesichtsfelde befindliche Gegenstände werden sofort mit Kopf und Augen fixiert, der Blick folgt den Be- wegungen auch über die Mittellinie hinüber in die Nähe und in die Ferne,

Zu einem Ergreifen der Gegenstände kommt es selten auf optischen Antrieb allein, auch nicht zum Abschweifen der optischen Tätigkeit zu anderen optischen Ereignissen, nicht zu spontaner Initiative, mit anderen psychischen Leistungen einzugreifen, zu fragen, überhaupt die Sprache zu benutzen. Das weitere Handeln mit einem solchen Gegenstande erfolgt äusserst selten spontan, zumeist ist auch hierzu wieder neuerliche Anregung von anderen Sinnessphären her notwendig. Ebenso erfolgt sprachliche Be- zeichnung optischer Gegenstände zumeist nur durch Anregung von mehreren Sinnessphären. Von vorgemachten Gebärden, welche Aufforderungen enthalten, gilt ähnliches, nur wenn die Allgemein- lokomotion des Körpers in Frage kommt, kommt es zu meist entsprechenden Reaktionen. Vorgemachte, Aufforderungen ent-' haltende Gebärden erzeugen auch im linken Gesichtsfelde nur selten motorische Reaktionen; Nachahmung von vorgemachten Be- wegungen, die früber links noch gut geleistet wurde, erfolgt nicht mehr, trotzdem der Kranke die äusseren Vorgänge mit sichtlicher Aufmerksamkeit verfolgt.

Erfolgen aber kompliziertere Bewegungen, so sindsierudimentär, in ihren Teilen zweckgemäss. Eigentlich vertrackte Bewegungen werden kaum beobachtet.

Auf rechtsseitige optische Reize erfolgen keine wie immer gearteten Bewegungen weder im rechten noch im linken Motorium.

II. Durch akustische Reize inklusive Sprache.

Rechtsseitig angebrachte Gehörsreize irgend welcher Art rufen konjugierte Blick- und Kopfbewegung nach links oben hervor. Sprachliche Beeinflussung der Bewegungen der rechten Körperseite ist vollkommen erloschen, hingegen werden Bewegungen der linken Körperseite einfachster Art durch sprachliche Auf- forderung zumeist gut geleistet, kompliziertere Anordnungen für Handlungen der Hand werden mitunter richtig intendiert, ersterben aber zumeist vor der Beendigung. Werden sprachliche Auf- forderungen an den Kranken gerichtet, welche Reaktionen im Gefolge habeu sollen, die aus der Erinnerung zu leistende Bewegungsabläufe darstellen wie Nasedreben, Herwinken, mit der Hand grüssen, Anklopfen, Trinken, Sperren, so kommen zumeist gar keine Bewegungsablüufe oder doch nur oft zwecklose zu Bewegungen zustande.

Hartmann, Beiträge aur Apraxielehre, 103

UI. Durch (lediglich) taktile Reize erfolgen rechts überhaupt keine Bewegungsreaktionen, so dass der Kranke anästhetisch schien, wenn er nicht auf Befragen richtige sprachliche Signale gegeben hätte. |

Links erfolgen einfache Abtastbewegungen bis zum Eintritte des Erkennens. Weitere Bewegungsabläufe erfolgen (Nahrungszufuhr zum Munde etc.) nicht oder sehr langsam, etappenweise.

Interessant ist auch, dass der Kranke, auf taktilem Wege seine rechtsseitigen Extremitäten zu suchen veranlasst, hierzu ganz ausser Stande ist. Es erfolgen zum Teil ganz unzweckgemässe ver- trackte Bewegungen nach Richtung und Form.

Hat Patient aber einmal seine oder die Extremität des Arztes erfasst,. so erfolgen zweckgemässe Bewegungsabläufe, ebenso wie dies erfolgt, wenn endlich eine Nahrung zum Munde gebracht ist, seine Hand die Hemdmasche erfasst hat oder sonstwie Eigen- leistungen des Sensomotoriums der oberen oder unteren Er. tremitäten provoziert werden.

Aufforderung zu allgemeinen Lokomotionen des Gesamt- körpers (Gehen, Stehen, Umdrehen etc.) werden noch am besten durchgeführt.

Gut erhalten bleibt die auf Aufforderung erfolgende Inner- vation des Gesichtes. Sehr mangelhaft wird die durch sprach- liche Aufforderung zu erzeugende Bewegung der Zunge.

Bei allen diesen Prüfungen wird immer wieder das Ver- ständnis für die gestellte Frage kontrolliert.

Für alle diese Störungen kann konstatiert werden, dass dem Patienten die Selbstwahrnehmung der Ausfallserscheinungen vollkommen fehlt.

Irgendwelche affektive Erregungen der Lust oder Unlust, der Aengst- lichkeit oder Spannung kommen nicht zur Beobachtung.

Bei allen Prüfungen wurde ersichtlich, dass das Gedächtnis für von verschiedenen Sinnessystemen aus wahrgenommene Bewegung auch bei den linksseitigen Handlungen des Kranken insofern gestört war, als die Handlungen zumeist in ihre einzelnen Komponenten zerfielen und die Spontanität der Handlung immer dort aufhörte, wo das von einer anderen Sinnessphäre her gelieferte Bewegungsgedächtnis einsetzen sollte.

Der anatomische Befund. (Vgl. Tafel I, II, Fig. 2, 8, 4.)

Inuerhalb des linken Stirnhirnes hat sich ein weicher, ziemlich stark vaskularisierter Tumor entwickelt, welcher ersichtlich von der linken Hälfte der vorderen Balkenanteile ausging, das Balkenknie zerstörte und mit einem zapfenartigen Fortsatze in die medianen Anteile des Marklagera im rechten Stirnhirne hineinreichte.

Das Marklager des linken Stirnhirnes war im Stirnpole und den un- mittelbar dahinter liegenden Gebieten bis auf die Fibrae propriae vollkommen durch den Tumor ersetzt. In der Höhe des hinteren Drittels der ersten linken Stirnwindung war an der Konvexität das Marklager dieser und zum Teile der zweiten Stirnwindung in der Tiefenausdehnung von ungefähr 1 cm intakt erhalten, hingegen waren in den medianen Anteilen dieser Gegend Nucleus lentiformis und Corpas caudatum, sowie die dazwischen liegenden Anteile der inneren Kapsel zerstört. In jenen Schnittebenen, in welchen die vordere Zentralwindung mit ihrem Fussanteile an der Konvexität erscheint, beschränkt sich das stielartig nach hinten und medialwärts sich verjüngende Areal des Tumors auf die Balkenausstrahlung oberhalb des Corpus caudatum und auf dieses selbst, und hat hier der Tumor die Faserung der inneren Kapsel nicht wesentlich geschädigt, sondern nur nach auswärts verdrängt.

104 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

Im rechtsseitigen Stirnhirne blieb die innere Kapsel und das ganze konvexe Marklager von der Erkrankung verschont.

Die übrigen Anteile des in Serienschnitte zerlegten Gross- und Klein- hirnes zeigten mit den üblichen Markscheidenmethoden keine primären pathologisc en Veränderungen.

8 konnte somit der anatomische Nachweis erbracht werden, dass in beiden Gehirnen die Rindengebiete der motorischen Sprachleistungen, die vordere und hintere Zentralwindung mit ihren Projektionsstrahlungen ver- schont geblieben waren.

eber den Verfolg von Fiaserdegenerstionen aus dem ergriffenen Stirn- hirn und Balkenanteilen in die sonst intakt gebliebenen Hirngebiete werde ich an anderem Orte berichten.

3. Das linke Stirnhirn und seine mutmassliche Bedeutung für den Bewegungsablauf.

Was den hier nur kurz skizzierten Krankheitsfall vor allem wertvoll und bemerkenswert gestaltet, ist der Umstand, dass hier analog mit dem Liepmannschen Falle eine wesentliche Diffe- renz in den Bewegungsleistungen beider Körperhälften vorliegt.

Meine Ausführungen und der anatomische Tatbestand haben erkennen lassen, dass der vorliegende Fall aber wesentlich von dem von Liepmann gezeichneten Krankheitsbilde abweicht.

Gemeinsam ist beiden Bildern jedenfalls, dass Störung des Bewegungsablaufes ohne gröbere anatomische Schädigung der optisch-akustisch-taktilen Rindengebiete und bei Intaktheit der motorischen Projektionsbahn vorliegt.

Kurz zusammengefasst lässt sich sagen:

Von den sensorischen Hirnstationen des linken Ge- hirnes waren Direktionen des Bewegungsablaufes über- ‚haupt nicht auslösbar, was die Störung klinisch hat wie eine agnostische aussehen lassen, d. h. mit anderen Worten: vom linken sensorischen Hirnanteil war die Anregung zu den sensomotorischen Regionen des linken sowohl als des rechten Gehirnes geschädigt.

Von den sensorischen Stationen des rechten Ge- hirnes waren durchweg motorische Leistungen auch komplizierterer Art in der linken Körperhälfte zu er- zielen, nicht in der rechten, d. h. mit anderen Worten: die sensorischen Stationen des rechten Gehirnes ver- mochten das Sensomotorium des rechten Gehirnes noch in ziemlich ausgiebiger Weise zu beeinflussen, nicht aber das linke Gehirn.

‚Vermögen aber die Sinnessysteme des linken Gehirnes es nicht, Einfluss auf die rechte Körpermuskulatur zu gewinnen, obwohl sie von den linken Zentralwindungen nicht direkt ab- geschnitten sind, und findet sich wie hier ein mächtiger Stirnhirn- herd und adäquate Balkendurchtrennung, dann ist wohl daran zu denken, dass zur Überleitung der also sensorisch ent- standenen Bewegungsanregung auf die Zentralwindungen das Stirnhirn nötig ist.

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 105

Da aber von den Sinnessystemen des linken Gehirnes auch nicht Bewegungsimpulse auf (das rechte Sensomotorium der Ex- tremitäten) die linke Körpermuskulatur abgegeben werden können, so scheint daraus zu folgen, dass die einfache Übertragung durch den Balken hierfür nicht genägt und dass auch hier das linke Stirnhirn und seine Balkenverbindung mit dem rechten Gehirn von einschneidender Bedeutung sind.

Hiermit steht in Übereinstimmung, wenn die Sinnessyateme des rechten Gehirnes auf die linksseitige Körpermuskulatur eben- falls nicht einen normalen Einfluss auszuüben vermögen.

Innerhalb eines Sinnessystemes (insbesondere der Körper- fühlsphäre) laufen hier Handlungen oft ausserordentlich prompt ab, aber die Kooperation mehrerer Sinnessysteme und der Sprache beim Handeln, dıe Verknüpfung aller zum Continuum der Hand- langen, zusammengesetzte Bewegungsfolgen aus dem Gedächtnisse sind geschädigt und wird also auch für die Tätigkeit des rechten Sensomotoriums die Intaktheit des linken Stirnhirnes und Balkens eine notwendige Vorbedingung sein.

Nur bei einer ähnlichen Voraussetzung scheinen mir die vor- liegenden Tatsachen mit der Gehirndynamik in verständliche Be- ziehung gebracht.

Liepmanns Fall waren die klinischen Erscheinungen, wie ich schon angedeutet habe, doch wesentlich andere.

Bei gleichfalls erhaltener Beweglichkeit und erhaltener Sen- sibilität vermochten akustisch- optisch - taktile Anregungen den Bewegungsablauf der rechten oberen Extremität nicht als dem Zwecke gemäss zu dirigieren, aber die Intention zu Bewegungen war ausgeprägt erhalten, ebenso waren die Eigenleistungen des linken Sensomotoriums vorhanden, was wohl sagen will, dass auch ein Bewegungsgedächtnis vorhanden war, aber nicht zu zweck- gemässer Ansprache bereit war.

Bewegungsverwechslungen, amorphe Bewegungen, zeitweise Akiınese waren die prägnantesten Folgeerscheinungen.

Im vorliegenden Falle trat das Symptom der halb- seitigen Bewegungsschädigung bis zur vollkommenen Akinese in die Erscheinung, auch die Intention zur Be- wegung überhaupt war sonach auf dasgröbste geschädigt.

Es erhebt sich nun die Frage, inwieweit die hier vorliegende Symptomatik mit unserem bisherigen Wissen in Einklang gebracht werden kann und inwieweit wir hieraus für die Funktion des Stirnhirnes Neues hinzulernen können.

Schon Meynert) hat in wenigen Worten einmal zu hierher gehörigen Fragen geistvoll vorausblickend gesprochen: „Aphasie und Gebrauchsmangel sind nur Einzelfälle von herd- artig bedingter, kortikaler, assoziativer Störung. Es ist ganz derselbe Fall, ob bei motorischer Aphasie die Inner- vationsgefühle des klangbildenden Apparates sich mit dem Anblick

?) Meynert, Klinische Vorlesungen über Psychiatrie. 1890. 270.

106 Hartmann, Beiträge sur Apraxielehre.

der Kugel nicht verbinden können oder die Innervationsgefähle der.oberen Extremität |

Liepmann!) und Heilbronner’) folgen auf analogen Wegen. Heilbronner hat die Frage näher studiert, in welche Beziehung Liepmanns Form der motorischen Apraxie zu den verschiedenen bekannten Formen aphatischer Störungen zu setzen sei.

Er hat dieselbe als eine den Leitungsaphasien nahestehende transkortikale Störung bezeichnet.

Sie stellt hiernach eine Form der Apraxie dar, bei welcher die Intaktheit des Exekutivorganes voransgesetzt wird und welche jenseits der Zentralstätte des Erinnerungsfeldes für abgelaufene Bewegungsvorgänge der Körpermuskulatur ihren Sitz hat; so wie also etwa die transkortikale motorische Aphasie durch eine Er- krankung entsteht, welche die Brocusche Windung, die Zentral- stätte des Erinnerungsfeldes für abgelaufene Bewegungsvorgänge der Sprachmuskulatur ebenso wie die motorische Sprachbahn in- takt lässt, aber diese Regionen der meisten Verbindungen mit dem übrigen Gehirn beraubt. Liepmann und Heilbronner haben nun in Anlehnung an Meynert das Sensomotorium der Extremitäten mit dieser Zentralstätte mehr minder homologisiert, stellen also die Extremitätenzone der Zentralwindungen homolog, dem Wortbilderzentrum der Sprache, der Brocaschen Windung.

Es hatte diese Homologisierung für die Zwecke beider Autoren vor allem nur einen heuristischen Wert und äussert sich auch Heilbronner dahingehend.

Meines Erachtens ist die Extremitätenzone der Zentral- windungen homolog zu halten der Zentralwindungszone der mo- torischen Hirnnerven, ein Feld analog dem Brocaschen etwa für die Erinnerungsbilder komplizierter Bewegungsvorgänge der Extremitätenmuskulatur steht eben noch aus.

Dem Zentrum für die Klangbilder der Worte von Wernicke würde wohl das Rindengebiet für komplizierte Tasterinnerungs- bilder (von Wernicke) entsprechen.

Dem Bewegungsbilderzentrum der Sprache würde als homo-. loges Rindengebiet der Extremitäten ein Rindenfeld entsprechen, in welchem optische Bewegungsbilder, akustische taktile Be- wegungsbilder fremder Körper assoziiert mit komplizierten Be- wegungebildern aus oberflächlicher und tiefer Sensibilität und dem Schwersinne des eigenen Körpers gedächtnismässig fest- gelegt sind. Ein kinästhetisches Gedächtnis komplizierter Be-, wegungsabläufe, die Summe abstrakter Richtungsvorstellungen (die eines Gliedes sind ja nur ein Spezialfall). o,

Der Verlust dieser Leistungen bedeutet bei Intaktheit der' zu- und ableitenden Bahnen der Körpersensibilität und Motilität

1) Liepmann,' Monatsschrift für Psychiatrie, XVII., 289; XIX., 217. Vgl. Lit. Anm. 2. u

3) Heilbronner, Zeitschrift für Physiol. und Psych. der Sinnesorg., XXXIX., 161. |

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre, 107

eine Seelenläbmung, analog. der Seelentaubheit, -Blindheit etc., und Liepmann hat auch in der vorhin besagten Reihe den Verlust des kinästhetischen Vorstellungsschatzes als Seelenlähmung skizziert.

Heilbronner konstruiert das Bild einer „kortikalen Apraxite“, als Analogon zur kortikalen Aphasie, als totalen Ausfall aller komplizierteren, erlernten Bewegungskomplexe. Anderer- seits muss aber totale motorische Apraxie entstehen durch eine Läsion jenes Rindenfeldes, welches die zur Anregung des Motoriums nötigen zusammengesetzten Bewegungsbilder gedächtnismässig festhält.

Liepmann deutet auch an, dass aus theoretischen Ueber- legungen der Verlust der kinästhetischen Vorstellungen Bewegungs- losigkeit zur Folge haben dürfte.

Im Lichte dieser Ausführungen ergibt sich für unseren vor- liegenden Fall in klinischer Hinsicht ohne weiteres die Identität der Störungen mit dem Begriffe der Seelenlähmung. Der objektive Nachweis der Intaktheit der zu- und ableitenden Bahnen der Projektion an den angefertigten Serienschnitten vervollständigt die klinische Krankenuntersuchung.

Nahezu vollständige rechtsseitige Bewegungslosigkeit auf die verschiedensten ein- und beiderseitigen sensorischen Reize und der Verlust jeglichen spontanen Antriebes der Bewegungen der gegenüberliegenden Seite steht entgegen der Möglichkeit der Anregung von Bewegungsformen auf der linken Körperseite durch von dieser Seite einlangende Reize.

Was im komplexen Mechanismus der Handlung vom in- takten rechtsseitigen Gehirne noch geleistet werden kann, sind einfache Bewegungsabläufe, die so lange sich regelrecht fort- spinnen, als nicht ein anderes Sinnesgebiet zur Weiterführung benötigt erscheint. Hierdurch war der kontinuierliche Bewegungs- ablauf geschädigt, wenn auch auf neuerliche Antriebe hin noch möglich; später allerdings waren auch das Nachahmen optisch vorgemachter Bewegungen und das Handeln aus Bewegungs- erinnerungen allein schwerer beeinträchtigt.

Dieser Symptomatik, welche auf den Verlust eines Rinden- gebietes hindeutet, über welches das Gesamtgehirn seine Leistungen zum Ablaufe einer Handlung zu senden hat und das im rechten Gehirne allein nicht befähigt ist, den normalen Bewegungsablauf der linken Extremitäten zu garantieren, dieser Symptomatik ent- spricht eine herdförmige Erkrankung, wie sie oben des näheren schon beschrieben wurde und im wesentlichen das linke frontale Assoziationszentrum von Flechsig seiner Verbindungen mit dem übrigen Gehirne beraubt und auch das ganze Balkenknie einnimmt.

Es erübrigt noch auszuführen, inwieweit bei aller Vorsicht in der Deutung der Befunde aus diesem Falle Schlüsse über die Art der Schädigung des Bewegungsablaufs durch Er- krankungindenberegten Gehirnabschnitten und Schlüsse

108 Hartmann, Beiträge sur Apraxielehre,.

über die Bewertung derselben für die Dynamik des Gehirnes gezogen werden können.

Wie wir gehört haben, entspricht Liepmanns motorische Apraxie einer transkortikalen Schädigung des Bewegungsablaufes,. Der bezügliche Fall zeigt Absperrung der Zentralwindungen und ihrer Projektionsbahnen inklusive eines grossen Anteiles der I., II. und III. Stirnwindung und deren Marklager vom übrigen Gehirne.

Innerhalb dieser erhaltenen Gebiete muss also neben den Projektionsfeldern auch das Feld für die kinästhetischen Erinnerungs- bilder komplizierter Bewegungsformen erhalten sein (so wie dies auch Liepmanns Reihe fordert).

Bewegungsanregung aus gedächtnismässig festgelegten Eigen- . leistungen waren demnach auch erhalten, so wie wir gewohnt sind, dies bei entsprechenden aphatischen Störungen zu sehen, in denen die Brocasche Windung und das Sensomotorium der motorischen Hirnnerven intakt geblieben sind.

Fallen in diesem letzteren Komplex die Rindenterritorien für die komplizierten Leistungen der bei der Sprache beteiligten Muskulatur fort, so tritt Bewegungsausfall der Sprachleistung ein. Dasselbe werden wir, wie schon Liepmann vermutet hat, in grandioser Weise eintreten sehen, wenn die Gesamtleistung des

rosshirnes (Wernickes Begriffszentrum) trotz eigener Intaktheit nicht mehr in der Lage ist, die komplizierten Bewegungsbilder, die letzte Vorstufe der Bewegung, zu beschicken.

Wir hätten es demnach hier symptomatologisch mit einer echten totalen Apraxie zu tun, der totalen motorischen Aphasie direkt homolog. Diese totale Apraxie führt zur Akinese der rechten Körperseite, schädigt aber auch den Akt des Er- kennens-der rechten rezeptorischen Körperhälfte!) und zeigt, dass die homologen rechtsseitigen Hirnpartien zwar die Entwicklung der von einem Sinnessystem beeinflussten und unterhaltenen Bewegungsvorgänge ermöglichen, jedoch zur Erhaltung des Kon- tinuums der Bewegungsvorgänge einer komplizierten Handlung, z. T. des Bewegungsgedächtnisses, der Nachahmung optisch vor-

emachter Bewegung (?), der Kooperation mit dem linksseitigen tirnhirn bedürfen.

Mit einem Wort muss hier noch hervorgehoben werden, dass trotz dieses schweren Ausfalles in der Bewegungstätigkeit der rechten Extremitäten eine Leistung in auffallender Weise erhalten war: die Nachahmung von passiv erteilten Bewegungen einer Seite durch dieselbe Seite und ebenso auch im wesentlichen die Nachahmung von passiv erteilten Bewegungen einer Seite durch die andere Seite. Heilbronner hat diese Leistung im speziellen

ı) Vgl. Heilbronner, Zeitschr. f. Psych. u. Phys. d. Sinne. XXXIX, 198. („Wie weit sie“ (die fühlbaren Vorstellungen der Bewegung) „etwa durch die Anregung von Vorstellungen vom Gebrauche der Gegenstände schon beim Erkennungsakt eine Rolle spielen, wieweit ihr Fehlen diesen beein- trächtigen kann, bleibe dahingestellt“.)

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 108

gegenüber dem Nachahmen optisch vorgemachter Bewegungen als dem Nachsprechen*) analog bezeichnet. Wir werden im weiteren

* Das Nachsprechen erscheint meines Erachtens als erste Form des sprachlichen Ausdruckes, entstehend daraus, dass ge- hörten Reizen selbst produzierte unter Vermittlung ständiger Kon- trolle und Nachhilfe des Muskelsinnes der Sprachorgane allmählich so ähnlich gemacht werden, dass die klanglichen Bilder sich decken. Bei Tauben werden die gehörten Reize durch optische Reize er- setzt, die solange nachgeahmt werden, bis selbst produzierte, unter Vermittlung des Muskelsinnes beeinflusste identische Bewegungs- vorgänge in den Sprachorganen erzeugt werden.

Das blinde .Kind erlernt die akustisch wahrgenommenen Klänge der Schelle selbst erzeugen durch Kontrolle des Muskel- sinnes seiner oberen Extremitäten und ahmt dann auf den Klang hin auch die erzeugende Bewegung nach.

Setzen wir die Bewegungsapparate der Extremitäten und Sprachmuskeln einander gleich, so entstebt Nachahmung der den aufgenommenen Sinnesreizkomplex erzeugenden Bewegung von allen Sinnesgebieten her, und erscheint nur da und dort eine elek- tive Bevorzugung jenes Sinnessystems, das spezifische Beziehungen zum Muskelapparate besitzt.

Dass in Hinsicht der Skelettmuskulatur das taktile und optische Sinnessystem die bevorzugten und meistbeteiligten sind, geht aus der Natur der Sache hervor, und eine ins Detail gehende Homologisierung scheint mir vorderhand nicht gut denkbar. Das Nachahmen einer passiv vorgemachten Bewegung wäre bei all- gemeiner Betrachtung der Erscheinungen am ehesten gleichzusetzen der Nachahmung von sit venia verbo passiv erzeugten Bewegungsvorgängen in der Sprachmuskulatur. Das Nachahmen von passiv gegebenen Bewegungen der anderen Seite durch die Extremitäten der gegenüberliegenden Seite zeigt neue In- konsequenzen, die der Homologisierung entgegenstehen.

enn wir die Beziehungen der Sinnessysteme zu den Bewegungszentren auf eine einheitliche Basis stellen würden, dürften wir zu klareren Formulierungen unserer Anschauungen über die Homologisierung kommen, wobei als oberster Grundsatz wird gelten müssen, dass der dabei waltende Mechanismus einer Energietransformation gleichen dürfte, welche ähnlich beschaffen ist wie die der Umsetzung äusserer Reizqualitäten in nervöse Leitungsenergie. Auch im Zentrum selbst würden dann wieder die von einzelnen Sinnessystemen dem Bewegungssysteme dar- gebotene Energieimpulse auf eine einheitliche Energieform redu- ziert werden, mit der die motorische Maschine bedient werden kann.

Zur Frage, ob kortikal oder transkortikal, dürfte bei den hier in Frage kommenden höheren Leistungen das Vorhandensein der Möglichkeit, aus Muskelsinnesreizen allein Bewegungen von einer Seite mit der anderen nachzuahmen, kaum verwertet

110 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre,

‘sehen, dass die Schädigung dieser Leistung in eminentem Masse bei Balkendurchtrennung auftritt.

Auch hierin prägt sich demnach jenes auch für die trans- kortikale Apraxie und ähnliche Herderkrankungen der linken Hemisphäre gültige Gesetz, das Ramon y Cajal jüngst als ein- seitige Anlage der höheren Erinnerungszentren bezeichnet hat.

In diesen mit allem nötigen Vorbehalt wiedergegebenen Anschauungen erschiene das frontale Assoziationszentrum von Flechsig als ein hochstehender Verknüpfungsapparat.

Einerseits bringen wie Anton und Zingerle!) ausgeführt haben subkortikale, in die präzentralen Hirnregionen vom Kleinhirn her einstrahlende Systeme eine Art Bewegungsgedächtnis niederer Ordnung zu.

Dieses besteht seinen Elementen nach aus der Verknüpfung sensomotorischer Leistungen fast aller Sinnessysteme, mit Aus- nahme der chemischen Sinne. |

Andererseits wird dasselbe beschickt von den aus der Leitung der optischen, akustischen, taktilen Hirnstationen ent- stehenden kinästhetisch räumlichen Komponenten.

Es muss das vergleichbare und gegenseitig ersetzbare kinä- sthetische räumliche Material, welches die einzelnen Sinnesgebiete liefern, in eine neue, für die Rezeption durch die motorische Extremitätenrinde brauchbare einheitliche Energieform (die Be- wegungsformel Liepmanns, das Innervationsgefühl der psycho- logischen Autoren, „Myopsyche“ Storch) übergeführt werden.

Sie erst vermag die durch zeitliches Nebeneinander und Nacheinander, zweckgemässe Folge und beständige Kontrolle des Gesamtgehirnes charakteristische Kontinuität des Erregungs- ablaufes der motorischen Projektionsbahnen, die Einheit der Handlung zu garantieren.

Ich bin mir wohl bewusst, dass für die eben gegebenen Deutungen ein Fall dieser Art wie der vorliegende, nicht aus- reicht, insbesondere habe ich die Bedenken, die durch die Beein- flussung der Gesamthirnleistung durch eine tumoröse Neubildung in mir aufstiegen, wohl berücksichtigt.

Zufällig hatte ich Gelegenheit, Fälle von Tumoren der Parieto- oceipitalregion und der Schläfelappen in Vergleich zu ziehen, und konnte dabei trotz besonderer Allgemeinerscheinungen doch die wesentlichen Differenzen der klinischen Bilder feststellen, insonder- heit ähnliche Störungen des Bewegungsablaufes niemals beobachten.

Mir erschien die Symptomatik des vorliegenden Falles an und für sich als ein Beispiel eigenartig gestörter Grosshirndynamik bemerkenswert.

werden dürfen. Ich möchte diese Leistung näher den Eigen- leistungen stellen, welche schon durch die fokalen Gebiete der Bewegungssphären im Zusammenhange mit ihren subkortikalen Stationen geleistet werden dürften.

1) Bau, Leistung etc. des menschlichen Stirnlirns. Festschrift. Graz 1902.

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 111

Weitere darauthin anzustellende Untersuchungen finden in den hier versuchten Deutungen Anhaltspunkte für eine Korrektur und den Ausbau bisher noch dunkler Wissens ebiete.

Um möglichst vollständig zu sein, will ich hier noch hinzu- fügen, dass in Liepmanns?) Arbeiten sich Andeutungen vorfinden, welche nahe den hier vorgetragenen Anschauungen liegen.

Es lässt die Häufigkeit der motorischen Aphasie bei links ohne Schädigung der motorischen Bahn leicht apraktischen, „ins- besondere bei den Kranken, dessen Nachmachen gestört war, so- wie die Häufigkeit der rechtsseitigen motorischen Lähmung daran denken, dass die entscheidende Region oberhalb der Brocaschen Windung und vor den Zentralwindungen gelegen sei. Man könnte an die benachbarten oberen und mitt- leren Stirnwindungen denken, als an einen Bezirk, der die Um- setzung von Richtungsvorstellungen in Innervation ver- mittelt und einer höheren Zusammenfassung der Einzel- bewegungen zu Zweckkomplexen dient.“

Es entspräche das dem frontalen Assoziationszentrum Flechsigs, nur dass es vorwiegend links angelegt wäre und eine speziellere Funktion hätte, als Flechsig ihm zuteilte.

Flechsig selbst verweist mit Nachdruck darauf, dass die frontalen Terminalgebiete durch mächtige Assoziationslager mit der Zentralzone in Zusammenhang stehen?), „so dass der Ein- druck entsteht, es liege hier eine Zusammenfassung sämt- licher Körpersegmente vor, während von den speziellen Sinnen nur der Geruch spärliche Verbindungen eingeht, Befunde, welche Flechsig veranlasst haben, „im Stirnhirne eine Repräsentation der körperlichen Person“ zu vermuten. |

In diesem Zentrum seien die wesentlichsten Komponenten des Persönlichkeitsbewusstseins und die wichtigsten Regu- latoren für das Handeln enthalten.

Anton, l. c., legt den Gedanken nahe, dass dem Stirnhirne eine „Ordnung des Betriebes“ der subkortikalen Kleinhirnfunktion in ihren Beziehungen zum psychischen Organe zukomme.

Alle diese Anschauungen stehen meiner Deutung über die Beeinflussung des Bewegungsablaufes durch Erkrankung des Stirn- hirnes nicht im Wege, sondern in Uebereinstimmung mit denselben.

Hier darf ich noch speziell darauf hinweisen, dass der vor- liegende Fall der Stirnhirnerkrankung nicht der einzige mit aprak- tischen Erscheinungen einhergehende ist.

Liepmann?) erwähnt leider in aller Kürze und ohne daraus weitergehende Schlüsse zu ziehen, einen beobachteten Fall einer sehr grossen, dicht an der Oberfläche liegenden Cyste im linken Stirnhirne, welcher beiderseits Apraxie, sowohl beim Nachmachen

1) Die linke Hemisphäre und das Handeln. Münch. med. Wochenschrift. 1905. No. 49, 2375.

2) Mionakow (Gehirnpathologie. 2. Auflage S. 428) beschreibt einer pa thologischen Fall mit ähnlichen Nachweisen.

3) Münch. med. Wochenschr. 1905. No. 48, 2325.

112 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

als beim Manipulieren mit Gegenständen zeigte. Der Fall wurde zwar nur operiert und nicht obdaziert, jedoch steht Liepmann nicht an, zu erklären, dass er für das Vorhandensein einer auch linksseitigen mässigen Apraxie das Vorhandensein auch noch eines rechtsseitigen Herdes nicht für notwendig halte.

Dieser Fall, sowie die früher angezogenen Andeutungen er- schienen mit gewichtige Anhaltspunkte gegen den Einwand, dass etwa für das Wesentliche in den bei meinem Falle von Stirn- hirntumor beobachteten Bewegungsstörungen allein Fernwirkungen und Allgemeinerscheinungen verantwortlich gemacht werden könnten.

Im Folgenden füge ich zwei weitere Fälle interessanter Herd- erkrankungen hinzu, welche von apraktischen Erscheinungen be- gleitet waren.!) Der Zufall fügte es, dass sich die pathologisch anatomischen Grundlagen und die funktionellen Ausfallserschei- nungen dieser zwei Fälle und der Liepmannschen Beobachtungen in eigenartiger Weise ergänzen und m. E. eine Reihe von Deu- tungen zulassen, welche sich zu einer vorläufigen Uebersicht über einen Teil der komplizierten motorischen Dynamik des Gross- hirnes zusammenfügen.

4. Krankenbeobaehtung mit pathologisch-anatomischem Befunde.

Serienschnitte durch das Gehirn (Tafel I, I, Fig. 5, 6).

Krankengeschichte: W. F., Postrat, 57 Jahre alt, verheiratet, war bis in die letzte Zeit kräftig und gesund, kein Potator, auch kein starker Raucher. Sein Vater starb in höherem Alter an Schlagfluss, keine weiteren bereditären Verbältnisse. Seit zirka zwei Jahren wurde bemerkt, dasa Pat. mit der Erledigung seiner Amtsgeschäfte grössere Mühe hatte, dass er er- müdet, schwieriger sprach, häufig Fremdworte gebrauchte.

Am 7. IV., nachdem Pat. noch tagsüber wie gewöhnlich seinen Dienst versehen hatte, ging er wie öfters in eine Gesellschaft Karten spielen. Nach- dem er, wie er den Angehörigen mitteilte, nur mit grosser Anstrengung seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkam, ging er von dort bis zu seiner ohnung (ca. !/, Stunde weit) recht mähselig. Als er über die Stiege ging, stiess er beim Steigen immer an die Stufen an, so dass er nicht weiter konnte und nur wenige Stufen erreichte. Zufällig kam sein Sohn dazu, der ihn unter den Arm nahm und zum Bett fährte.

Als er zu Bett gebracht war, begannen Krämpfe an Händen und Füssen, er fing an, fortwährend die Stirne hinaufzuziehen, um sie dann wieder zu glätten. Während dieser Krämpfe hat Pat. nichts gesprochen, ein herzu- geholter Arzt verordnete Brom, wonach Pat. die Krämpie verlor und einschlief.

Einige Tage blieb Pat. im Bett, die Krämpfe kehrten nicht wieder, dann konnte er auf Stunden ausser Bett bleiben und selbst in den Garten gehen, las die Zeitung, konnte die Hände sehr gut gebrauchen, so dass er sogar seinen Kindern das Essen vorlegte. Er sei auch immer völlig bei Be- wusstsein und gut orientiert gewesen; erst vor ca. 14 Tagen phantasierte er manchmal und glaubte sich an anderen Orten. Der Zustand verschlimmerte sich allmählich, er sprach mit seinen Angehörigen italienisch, obwohl sie die Sprache nicht verstehen, vermengte seine Sprache mit noch mehr Fremd- wörtern als früher. Seit ca. 8—4 Wochen konnte er auch nicht mehr in

1) In beiden Fällen haben die an den ersten Fall geknüpften Ueber- legungen zur richtigen Lokaldiagnose geführt.

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 118

den Garten gehen, seit swoi Wochen war er ausser Stande, im Zimmer am- herzugehen, machte aber beständig Gehversuche. Seit 14 Tagen soli er auch über rechtsseitigen Kopfschmerz und Ohrenweh geklagt haben.

Status psychicus. Orientiorungsfähigkeit: Ueber Ort und Zeit wohl orientiert, erkennt Pat. auch elementare Raumformen von verschiedenen Sinnesgebieten aas und vermag Distanzen in Höhe, Breite und Tiefe und Unterschiede solcher wohl einzuschätzen.

Auch über seine Persönlichkeit, Stellung im Amt und Gesellschaft ete. gibt er korrekte Auskunft.

Seine Stimmungslage ist eine gleichförmige, wenn aber die Sprache auf sein Leiden kommt, erscheint er adäquat diesem Umstande gedrückt und weint des öfteren. hand Zeichen einer abnormen Erregbarkeit und Reizbarkeit sind nicht vor- anden. '

Sinnestäuschungen und systematisierte Wahnbildungen sind nicht nachweisbar.

Der Gedankenablauf ist entschieden verlangsamt, die Aufmerksam- keitsleistungen sind gröber nicht geschädigt, hierzu wird nur bemerkt, dass die motorische Entäusserung des Aufmerksamkeitsvorganges häufig eine sehr mangelhafte ist, so dass nicht selten der Anschein apaıhischer Stumpfheit entsteht, obwohl der Kranke alle Vorgänge wie im normalen aufgefasst und verwertet hat.

Die Intelligenzprüfung (Rieger): Die perzeptiven Fähigkeiten sind auf allen Sinnesgebieten erhalten, Die Apperzeption von Sinueseindräcken unter Ausschluss der Sprache ist anf allen Sinnesgebieten erhalten.

Lediglich das Lesevermögen und Leseverständnis erscheinen schwer beeinträchtigt. ,

Die Sprechfähigkeit zeigt Verlangsamung, mitunter ein Versprechen sonst normale Verhältnisse.

Das Nachsprechen zeigt keine gröberen Störungen, auch bei schwierigeren Leistungen.

Das Sprachverständnis ist insofern vollkommen erhalten, als nur bei

ewissen, durch das zugerufene Wort provozierten motorischen Leistungen der Extremitäten ein Ansfall in der Reaktion ersichtlich wird.

Die Schreibefähigkeit und Diktatschreiben erscheinen vollkommen anmöglich.

Das einfache Nachmalen, Nachzeichnen ist rechts möglich, links un- möglich.

Ebenso ist, wie schon oben bemerkt, Lautlesen und Leseverständnis erloschen.

Das Bezeichnen optischer Gegenstände ist ebenso wie das lediglich taktil, akustisch, olfaktorisch vermittelte Bezeichnen von Gegenständen ge- trennt und gemeinsam in beiderseitigen Sinnesflächen erhalten.

Das Erkennen von durch verschiedene Sinnesgebiete vermittelten Aussen- weltdingen ist insofern erhalten, als alle dadurch vermittelten Begriffsbildungen and Gedankenablänfe korrekt ablaufen. Nur insoweit das Erkennen in motori- schen Bewegungsabläufen der Extremitäten nach aussen vermittelt werden soll, ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten.

Der Bewegungsablauf.

Während, wie noch im körperlichen Befunde ausgeführt wird, gröbere Schädigungen der Bewegungsfreiheit nicht vor- handen sind, erscheint doch die Direktion von Bewegungsabläufen einerseits different zwischen rechts und lınks, andererseits von verschiedenen Sinnesgebieten aus nicht in gleicher Weise möglich.

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Holt 1. 8

114 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

Allein in den oberen Extremitäten angeregter Bewegungsablauf.

Optische Direktionen von Bewegungen:

Rechts: Vorgehaltene Gegenstände, welche zur Betastung anregen, werden zumeist richtig ergriffen, und es kommt zu ent- sprechenden Ahtastbewegungen.

Aufforderungen, welche durch Geberden ausgedrückt werden, werden hier zumeist gut beantwortet.

Nachahmung vorgemachter Bewegungen gelingt langsam, aber richtig.

Links: Vorgehaltene Gegenstände werden fast nie ergriffen, auch dann nicht, wenn die rechte Hand an der Betastung ver- hindert wird.

Aufforderungen, welche durch Geberden ausgedrückt werden, werden durch die linke obere Extremität nie befolgt.

Nachahmung vorgemachter Bewegungen erfolgt links fast niemals, mitunter kommt es zwar zu Bewegungsäusserungen, jedoch erfolgen dieselben „vertrackt“.

Akustische Direktionen von Bewegungen:

Rechts: Aufforderungen zu einfachen Bewegungsfolgen

z. B. einzelne Körperteile zu betasten, Gegenstände zu ergreifen, ie Extremität in bestimmte Richtungen zu bringen, einfache Ausdrucksbewegungen zu erzeugen, wie Winken, Nasedreben etc., einfache Zweck-Bewegungen, wie Handreichen, Knöpfen, Salutieren, Kämmen, Schneiden, Uhraufziehen) gelingen langsam, aber doch in allen Teilen richtig.

„mie verlangten Wahlreaktionen werden sehr prompt aus- gelührt.

Links: Dieselben Aufforderungen vermag Pat. links nicht in die Bewegungsreihen umzusetzen. Es kommt entweder über- haupt zu keiner Bewegung oder nur zu einem rudimentären Be- wegungsansatz, welcher zumeist nicht zweckgemäss ist, oder es erfolgen endlich vertrackte Bewegungen.

Zu den rechtsseitigen Leistungen ist noch zu bemerken, dass auch hier die Bewegungsfolgen ausfallen, ausserordentlich un- genügend bleiben und mitunter vertrackt entstehen, wenn die Mit-

ilfe des Opticus ausgeschaltet wird.

Es muss besonders bemerkt werden, dass bei allen akusti- schen Direktionen von Bewegungen alsbald Kopf und Augen intensiv den Beginn und Ablauf der Bewegungen kontrollieren.

Taktile Direktion von Bewegungen:

Rechts: In die Hund gelegte Gegenstände werden sofort betastet und schliesslich entsprechend gehalten. Daran gefügte Aufforderungen, den Gebrauch der Gegenstände zu zeigen (Löffel, Kamm, Glas, Gabel, Kreide, Zündholz, Zigarre, Uhr etc.), gelingen sehr langsam, mitunter gar nicbt, mitunter nur rudimentär. Die

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 115

Erscheinung vertrackter Bewegungen tritt hier nicht auf. Sowie bei diesen Versuchen jedoch der Opticus ausgeschaltet wird, ver- mögen zweckgemässe Bewegungsfolgen von Objekthandlungen viel schlechter ausgelöst zu werden, ja es tritt auch Bewegungsausfall oder vertrackte Bewegung in die Erscheinung.

Eigenleistungen des Sensomotoriums, Weiterspinnen einer ein- mal begonnenen Bewegungsreihe in der rechten, weniger in der linken oberen Extremität, können auch bei Ausschluss anderer Sinne gut vollfährt werden, so Knöpfen, Auflösen einer Schleife und andere Manipulationen mit den Kleidern etc.

Links: Die Erscheinung der Unmöglichkeit, vom Tastsinne aus angeregte kompliziertere Bewegungsfolgen zu leisten, tritt hier auch auf, wenn die übrigen Sinnessysteme zur Unterstützung herangezogen werden können. Bewegungsausfall, rudimentäre und vertrackte Bewegungen sind der Erfolg.

Er ist ausser Stande, mit der linken oberen Extremität zu zeigen, wie man mit dem Schlüssel, Löffel, Kamm manipuliert, Zündhölzer anzündet, ein Messer öffnet, ein Fass rollt etc.

Werden die übrigen Sinnessysteme ausgeschaltet, so vermag der Kranke oft den Gegenstand nicht einmal zu ergreifen oder festzuhalten.

Das Nachahmen von passiv einer Körperseite erteilten Stellungen ist trotz des Umstandes, dass der Kranke von der Art, dem Ausmasse und dem Orte der Veränderungen Kenntnis hat, weder von rechts nach links, noch von links nach rechts möglich, kann hingegen auf der gleichen Seite ziemlich gut vollzogen werden, was bei Lähmungen des Muskelsinnes einer Seite nicht möglich ist.

Bei allen diesen Versuchen kann der Ausfall von Bewegungs- leistangen auch dadurch nicht korrigiert werden, dass der Kranke, was oft spontan geschieht, die sprachliche Bezeichnung für den Gegenstand oder den Gebrauch sich reproduziert. Es kann auch festgestellt werden, dass der Kranke sich die verlangte Bewegung wohl vorzustellen vermag.

Direktion vonBewegungen in beidenoberenExtremi- täten gleichzeitig: Anzünden eines Zündholzes, Anzünden einer Kerze, Einschenken von Wasser, Ausspritzen eines Syphons in ein Glas gelingen nicht, auch nicht mit Buhilfenahme sprach- licher Aufforderung. Der Kranke vollzieht hierbei eine Menge von untereinander unzausammenhängenden und nicht zweckgemässen Bewegungen.

Bewegungsablauf in den oberen Extremitäten bei all- gemeinen Körperbewegungen.

Die unterstützenden Bewegungsentäusserungen bei den Ver- suchen, sich aufzusetzen, sind in beiden oberen Extremitäten sehr mangelhaft.

Hierbei scheint besonders die linke obere Extremität nicht zweckgemäss innerviert. Dasselbe gilt bei den Versuchen, sich

8*

116 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

niederzusetzen, vom Sessel aufzustehen, gilt für die Mitbewegungen beim Gehen, bei den Versuchen, sich umzudrehen, sich beim Stehen zu unterstützen etc.

Bewegungsablauf bei allgemeiner Körperlokomotion.

Aufgefordert, sich aufzusetzen, schiebt der Kranke mit der rechten Hand die Decke von sich und vollführt den entsprechenden Ansatz der Rumpfbewegung. Es kommt jedoch hierbei zu gar keiner entsprechenden zweckgemässen Innervation der Beine.

Dasselbe gilt auch für die zur Erhaltung des Gleichgewichtes notwendigen Muskelinnervationen beim Sitzen. Hierbei sinkt der Kranke immer nach links und hinten und bleiben alle Aufforde- rungen zur Korrektur der Körperlage ohne Muskelerfolg.

Einmal zum Gehen gebracht, vollführt er automatische Geh- bewegungen mit den Beinen, obne dass die Rumpfmuskulatur die entsprechende zugehörige Innervation empfängt.

Obwohl Pat. die Aufforderungen zur Vollführung der nötigen Korrekturbewegungen sehr wohl versteht, auch sprachlich sie des öfteren wiederholt, äussert er dann doch vollkommen ratlos, „ich weiss nicht, wie ich es machen soll“.

Es tragen demnach auch die Rumpfbewegungen und die die Statik des Körpers besorgenden Muskelfunktionen keineswegs einen ataktischen Charakter, sondern können vielmehr überhaupt nicht zweckgemäss ablaufen. Dies kommt auch darin zur Geltung, dass der Kranke oft gar keinen Versuch macht, die geforderten Bewegungsreihen auszulösen, andererseits oft statt dieser ganz vertrackte Bewegungen leistet.

Ein interessantes Phänomen zeigt sich dann, wenn der Kranke aufgefordert wird, aus dem Gedächtnisse wohlbekannte ein- fache Bewegungsformen mit den Händen zu leisten und umgekehrt ihm vorgemachte einfache Bewegungsformen richtig zu bezeichnen und in die Begriffswelt einzureihen.

So vermag er nicht einen gezeigten einfachen Buchstaben, Kreis, Quadrat, Linie oder Winkel in die Luft zu zeichnen, auch nicht, wenn ihm die betreffenden geometrischen Formen genannt werden.

Dies gilt in vollem Umfange von der linken Hand, hingegen vermag er mit der rechten einzelne derartige Leistungen anstandslos zu vollziehen.

Sensorische Leistung Erkennen geometrischer Figuren, intakt.

Status somaticus: Mittelgross, mässig kräftig und mässig ernährt.

Die allgemeinen Hautdecken und sichtbaren Schleimhäute sind blass.

Am Drüsensystem inklusive der Darmdrüsen findet sich nichts Patho- logisches.

Der Zirkulstionsapparat zeigt normale Verhältnisse in Hinsicht auf Herzgrösse, Blutdruck und Pulsbeschaffenheit. Der zweite Herzton ist ganz wenig accentuiert. Die beiden Carotiden etwas rigide.

Am Respirations- und Darmtrakte finden sich keine Veränderungen.

Der Schädel ist symmetrisch, seine Perkussion nicht wesentlich schmerz- haft, über dem rechten Parietale ist der Klang deutlich sonorer.

Hartmann, Beiträge zur Aprazielehre. 117

Am Opticus findet sich beiderseits Neuritis optica ohne Stanung !).

Alle Hirunerven sind in sämtlichen Funktionen intakt.

Die Kopfhaltung zeigt ein Ueberhängen nach vorn, desgleichen hängt der Körper im Stehen nach links vorne über.

Der Toons der quergestreiften Muskulatur ist allenthalben verringert, die grobe Kraft der vier Extremitäten erhalten, und es fällt nur auf, dass bei den sogenannten willkürlichen Leistungen die linksseitigen Extremitäten weniger ausdauernd funktionieren.

Das Volumen der Muskulatur ist allenthalben normal.

Die Trisepsreflexe sind beiderseits auslösbar.

Die P. S. R. links besser als rechta, aher beiderseits abgeschwächt. Die Bauchhaut- und Fusssohlen-, sowie die Cremasterreflexe fehlen. Haut- und Muskelsensibilität sind allenthalben normal vorhanden.

Bei den ausgelösten Bewegungen der Extremitäten finden sich keine Zeichen von Tremor oder Ataxie. i

Der weitere Verlauf?).

Die wichtigsten Veränderungen in der Folgezeit schliessen sich an mehrere Anfälle an, von denen der erste am 9. Tage der Aufnahme auf die Klinik stattfand.

Ein solcher Anfall entsteht apoplektiform. In kurzer Zeit tritt Be- wausstlosigkeit, Cheynes Stokes-Atmen, Druckpuls und Veränderungen in der Innervation der Extremitäten ein.

Die rechtsseitigen Extremitäten sind schlaff und zeigen keinen Tonus bei passiven Bewegungen. Die linksseitigen Extremitäten zeigen eine tonische Kontraktur und dementsprechende Erhöhung der Reflexe. Ausserdem finden anf dieser Seite monotone Wischbewegungen statt. Ein solcher Anfall dauert einige Tage, worauf rasche Besserung eintritt.

i Die daran sich schliessenden Störungen werden in folgendem zasammen- eiasst: 8 Oertliche und zeitliche Desorientiertheit: Hierbei können auch elementare Störungen der Schätzung von Raumgrössen der Lokalisation im optischen und akustischen Raunıe, der Schätzung von Richtungen, der gegenseitigen Lage der Gegenstände und des perepe tivischen Sehens fest- gestellt werden, Leistungen, welche früher wohl erhalten waren.

Die Stimmungslage ist vollkommen apathisch.

Schwere Störungen zeigen auch die Merkfähigkeit und das Gedächtnis.

Schliesslich entwickeln sich auch asymbolische Erscheinungen auf verschiedenen Sinnesgebieten, insbesondere aber auch sensorisch-aphatische Symptome. Dementsprechend verschlechterten sich zusehends die motorischen Leistungen.

Das Sensorium des Kranken wurde zusehends benommen, es traten Störungen im Schlingakte, hypostatische Pneumonie, Herzschwäche hinzu, und nach ca. zweimonatlichem Krankenlager trat uuter diesen Erscheinungen der Tod ein.

Pathologisch-anatomischer Befund. (Vgl. Tafel I, II, Fig. 5, 6.) Das Schädeldach ist rundlich, oval, mässig dick, kompakt. Die Dura ist gespannt, gerötet. In den Sinus flüssiges Blut. Die Pia der Konvexität gespannt, längs der Gofässe etwas verdickt, zart, trocken, blutreich, die Gyri etwas abgeplattet. Die basalen Hirnanteile sind ebenfalls etwas abgeplattet und blässer.

1) Dieser Umstand gab in diesem Stadium Veranlassung, die Diagnose einer Eocephalitis (des rechten Stirnhirns bezw auch des Balkens) zu stellen.

3) Ich füge diesen un, um zu zeigen, wie sehr späterhin die Allgemein- erscheinunzen des Tumors das Krankheitsbild veränderten, anderseits zu dokumentieren, dass die früher deutlich allein bestehenden Motilitäts- erscheinungen unabhängig hiervon aufgetreten waren.

118 Hartmann, Beiträge zur Apraxiolehre.

In den Ebenen des Mittelstückes der vorderen Kommissur zeigen sich dem Balken aufgelagerte Geschwulstmassen, welche etwa 0,5 cm hoch und breit den Gyrus cinguli nach aufwärts verdrängen, gleichzeitig findet sich das Septum pellucidum ein- genommen von einem in den linken Ventrikel einragenden, knapp 1,5 cm breiten, 2 cm hohen und 2 cm im sagittalen Durchmesser messenden flachscheibenförmigen Tumor.

Unmittelbar nach hinten hat der supracallöse Tumor den Balken fast vollkommen durchsetzt und finden sich nur an der dem Ventrikel zugewendeten Begrenzung Bündel schlecht färb- barer Fasern. Der Tumor überschreitet in seiner Breite nicht die seitlich ausladenden Ecken des Ventrikels, hält sich vielmehr noch fast 1 cm nach innen vom Fasciculus subcallosus. Der Balken erscheint noch einmal so hoch am Frontalschnitte als de norma. Der Tumor greift in den hinteren Ebenen des Linsen- kernes auf die dem Balken zugekehrten Teile des linken Gyrus cinguli über. In den hintersten Balkenebenen verbreitet sich der Tumor (es sind dies die weichsten, blutreichsten, offenbar jüngsten Gebilde desselben) noch auf die mediale Hemisphärenwand des linken Gehirnes bis nahe an die Fissura calcarina (diesem Weiter- wachsen des Tumors entsprechen ersichtlich die im späteren Ver- laufe der Erkrankung zugewachsenen sensorischen Symptome. Eine ins Detail gehende Schilderung der sekundär-degenerativen Ver- änderungen soll nicht im Rahmen dieser Arbeit abgehandelt werden, und behalte ich mir dieselbe für einen späteren Zeitpunkt vor.

Es soll nur, was auch an den dieser Abhandlung beigegebenen Schnitten ersichtlich ist, festgestellt werden, dass die Zentral- windungen und ihre Projektionsbahnen nicht nur nicht primär tangiert erscheinen, sondern auch nur insofern sekundäre Ver- änderungen aufweisen, als Balkendegenerationen in dieselben ver- folgbar sind.

Besonders ausgesprochen sind solche noch in dem vor dem Tumor gelegenen Balkenareale ersichtlich (Fig. 5), woselbst auch das Markblatt des linken Cingulums, weniger das des rechten, gelichtet erscheint.

In der Höhe des Arm- und Beinzentrums finden sich aus- gesprochene sekundäre Degenerationen besonders im Marklager der rechten, weniger, aber doch deutlich nachweisbar der linken Zentralwindungszone, deren Zusammenhang mit den vom Balken ausgehenden Degenerationsfeldern nachzuweisen ist. (Fig. 6.)

Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass auch in diesem Falle der anatomische Nachweis erbracht werden konnte, dass die hervorstechenden Symptome nicht durch eine primäre Schä- digung der Zentralwindungen und ihrer langen Pro-

jektionsbahnen erzeugt wurden. (Schluss im nächsten Heft.)

Jacobsohn, Ueber Cysticercus cellulosse cerebri oto. 119

Ueber Cysticercus cellulosae cerebri et musculorum, mit besonderer Berücksichtigung der den Parasiten einschliessenden Kapselwand.

Von |

L. JACOBSOHN, Berlin.

(Hiersu Tafel III—VIII.)

Vor mehreren Jahren hatte ich durch die Freundlichkeit eines meiner Schüler, Herrn Dr. Tanıguchi aus Japan, Ge- legenheit, Präparate von Distomum cerebri zu sehen, die er in meinem Laboratorium angefertigt hatte. Die Eigenschaften der Kapselwand dieses in Japan häufig beim Menschen vorkommenden Parasiten erweckten den Anschein, als ob es sich bei diesen Wandbestandteilen nicht ausschliesslich, der üblichen Annahme gemäss, um reines Bindegewebe handelt, sondern als ob diese Kapsel- wand eine durch Entzündung stark veränderte Gefässwand sei. Herr Dr. Taniguchi hat alsdann auch in der über diesen Gegen- stand handelnden Arbeit!) den Bau dieser Kapselwand näher beschrieben und die Umstände erläutert, welche zu der erwähnten Vermutung geführt haben. Indessen weiter als bis zu dieser Vermutung konnten die Präparate nicht führen, ein vollgältiger Beweis für diese Anschauung war nicht zu erbringen.

Es war mir deshalb von grossem Interesse, als ich durch die grosse Liebenswürdigkeit meines Freundes Prof. L. Minor aus Moskau Gehirn- und Muskelstücke einer an Cysticerkose ver- storbenen Patientin erhielt. Die grosse Zahl der in diesen Stücken vorhandenen Cysten und die relative Kleinheit der meisten der- selben liessen von vornherein vermuten, dass man bei mikro- skopischer Bearbeitung des Materials der Entscheidung der auf- geworfenen Frage vielleicht näher kommen dürfte.

Der Krankheitsfall selbst ist klinisch von Herrn Dr. Preo- braschensky aus Moskau beobachtet und im Korsakoffschen Journal für Psychistrie und Neurologie 1904 publiziert worden. In dieser Arbeit finden sich auch Angaben über den makro- skopischen Sektionsbefund nebst zwei Abbildungen, welche die ausserordentliche Cysticerkeninvasion im Gehirn und im Herz- muskel veranschaulichen?). Ferner sind in der Arbeit auch An-

1) Taniguchi, Ein Fall von Distomum-Erkrankung des Gehirns etc. Arch. f. Payoh. Bd 38. H.1.

23) Fig. 1, Taf. III, ist die Reproduktion einer dieser genannten Ab- bildungen.

120 . Jacobsohn, Ueber Cysticercus cellulosae cerebri

gaben über den mikroskopischen Befund gemacht worden, welche aber diejenigen Punkte, die hier näher erörtert werden sollen, nicht betreffen. Beiden Herren sage ich für die Ueberbringung des Materials und für die Ueberlassung desselben zu wissen- schaftlicher Bearbeitung meinen besten Dank.

Nach einem, von Herrn Dr. Kron-Moskau erstatteten Referat über diesen Fall handelt es sich um eine 28jährige Bäuerin, die am 21. V. 1908 ins Hospital aufgenommen wurde. Anfang Januar 1903 lag sie 1!/, Wochen wegen „Febris typhoidea“ in einem Krankenhaus. Eine Woche nach der Entlassung aus letzterem traten die Erscheinungen wieder auf und veranlassten Pat., abermals das Krankenhaus aufzusuchen. Letzteres verliess sie nach einem Monat mit deutlichen Zeichen von Gedächtnis- schwäche. Seit dieser Zeit leidet sie an schnell vorübergehenden Ohnmachtsanwandlungen, an allgemeiner Schwäche und psychi- schen Störungen. Diese Erscheinungen nahmen zu, weshalb sie ins Hospital eintrat. Während des Krankenaufenthaltes wechselten die Symptome bloss in ihrer Intensität. Es zeigten sich dort folgende Erscheinungen: Gedächtnisschwäche, Verwirrtheit, Illa- sionen, Halluzinationen und flüchtige Wahnvorstellungen. Hin und wieder traten Ohnmachtsanfälle oder Konvulsionen auf. Patientin geht oder sitzt bloss mit Unterstützung. Abgesehen von einer 2—83 Tage dauernden Lähmung des linken N. Abducens, bestanden keine Paresen. Es bestand Stauungspapille ohne Sehschwäche. Die Patellarreflexe waren bald normal, bald schwer auslösbar. Im Dezember trat Verschlechterung des Allgemeinbefindens und Zu- nahme der psychischen Störungen ein. Gegen Ende der Krank- heit entwickelte sich eine akute Tuberkulose. Exitus am 16. I. 1904.

Autopsie: Cysticercus cellulosae disseminatus im Cerebrum und in allen Muskeln (auch in Herz und Lunge), Tuberculosis scuta pulmonum. Auf der Oberfläche der rechten Grosshirn- hemisphäre waren etwa 250 Blasen zu sehen, auf der linken ea. 270; in der Hirnsubstanz ungeheuer viele. Auf jedem Frontal- schnitt über 100 Blasen (Fig. 1, Taf. III). Die Gesamtzahl der Blasen in beiden Hemisphären beträgt einige Tausend, es fanden sich auch Blasen im Plexus vasculosus, im Pedunculus cerebri, im Pons, in den Corpora quadrigemina und im Cerebellum. Dagegen waren in der Medalla oblongata und spinalis keine Blasen zu finden. Auf der Herzoberfläche sassen etwa 120 Blasen, in der Herz- muskulatur mehrere hundert Blasen. In allen Muskeln, in den Kau-, Gesichts-, Zungen-, Hals-, Brust-, Rücken-, Bauch-, Diaphragma- und Extremitätenmuskeln waren massenhaft Cysticerkenblasen. Eine Blase wurde unter der Magen- und eine andere unter der Dünndarmschleimhaut gefunden. Im Unterhautzellgewebe waren keine Blasen. Preobraschensky hebt die auffallende Tatsache hervor, dass trotz der kolossalen Invasıon im Gehirn keine Lokal- symptome vorhanden waren.

Soweit das Referat über die Arbeit von Preobraschensky.

et muscalorum, mit besonderer Berücksichtigung etc. 121

Von den mir übergebenen Stücken aus Hirnrinde und. von Muskeln fertigte ich Serienschnitte an, um den Bau der Cysticercus- blase etwas näher kennen zu lernen. Die meisten Schnitte wurden nach van Gieson gefärbt, einzelne auch mit Eosin-Alaun-Häma- toxylin, nach Weigerts Färbung der elastischen Fasern und nach der Weigert-Palschen Markscheidenfärbung.

Betrachtet man einen dieser Schnitte mit dem blossen Auge oder mit der Lupe (Fig.2, Taf. III), so hat er eine gewisse Aehnlichkeit mit dem als Schweizer Käse (fromage de gruyère) bezeichneten Zu- stand. Es finden sıch nämlich auf dem Schnitt zahlreiche, meistens rundliche, aber auch etwas anders gestaltete, grössere und kleinere, bald eng aneinander, bald etwas entfernt voneinander liegende Löcher. Der Unterschied zwischen dem eigentlichen Schweizer- käsezustand (oder der von Hartmann benannten cystischen Degeneration) und dem vorliegenden besteht darin, dass hier die Löcher nicht leer sind, sondern als Inhalt den Durchschnitt des Cysticercus enthalten, und dass die Wand der Löcher nicht ein- fach Gehirnmasse ist, sondern dass sich eine wirkliche, bald dicke,

„bald dünne, bald glatte, bald gewundene Kapselwand findet.

Wenn viele Löcher, wie auf der Abbildung (Fig. 2, Taf. III) ersichtlich ist, entweder ganz leer sind oder ausser der Kapselwand nur eine dünne, hüllenartige Membran enthalten, so liegt das daran, dass einzelne Oysticerken schon in der Härtungsflüssigkeit aus den Löchern herausgefallen waren, und dass auch bei den. vielen Manipulationen, denen später die Schnitte unterworfen wurden, einzelne Cysten ihren Inhalt einbüssten. In einem grossen Teil der Cysten war der Cysticercus nicht mehr erhalten, sondern nur ein grösserer oder kleinerer Haufen von Trümmerresten lag in der Kapsel drin (Fig. 8, Taf. III). Einzelne Cysten liegen so nahe, dass sie nur noch durch eine Membran voneinander getrennt sind, mehrfach ist auch diese schon durchbrochen, so dass zwei oder mehrere Cysten ineinander übergehen und eine einzige, viel- gestaltige Uyste aus ihnen entsteht (Fig. 2, Taf. IN).

Die Kapselwand hat sich an vielen Cysten nicht überall gleichmässig ausgebildet. Neben geringeren Unterschieden an fast jeder Cyste findet man an einzelnen, dass die Kapselwand sich z. B. an einer Stelle ungemein verdickt hat, während an anderen das Gegenteil, eine Art Atrophie, eingetreten ist. Diese Atrophie kann so stark sein, dass dann überhaupt jede Spur von Kapsel- wand fehlt. Wahrscheinlich durch postmortale Veränderungen (auch durch die Einwirkung verschiedener, zum Härten etc. be- nutzter Rengentien) zeigt dann die benachbarte Hirnsubstanz unregelmässige Einrisse, die der Cyste den sonst in sich abge- schlossenen Charakter nehmen (Fig. 2, Taf. III).

Sehen wir einstweilen von der Beschaffenheit der Kapsel- wand ab und betrachten zunächst den Bau der in der Kapsel gelegenen Cysticercusblase. Da diese Blasen in vielen wohler- haltenen Exemplaren in den uns zur Verfügung gestellten Stücken

122 Jacobsohn, Ueber. Oysticereus cellulnsae cerebri

vorhanden waren, so konnte der Bau dieser Blase gut studiert werden. |

Es wurden zum Zwecke einer genautn Einsichtnahme Serien- schnitte durch das Hirnstück, welches ich erhalten hatte (und welches nach seiner inneren Konfiguration dem Corpus striatum nebst angrenzender äusserer Kapsel und Insel entsprach), gelegt.

Betrachtet man einen Schnitt, welcher die Cysticercusblase etwa durch die Mitte ihrer Längsachse getroffen hat (Fig. 4, Taf. III), so hat man folgendes Bild: Der Kapselwand liegt eine lockere, schmale Hülle (a) ziemlich dicht an. Diese äussere Hülle geht an einem Pole (d) in eine innere Hülle (b) über. In dieser letzteren liegt der Hauptteil des Cysticercus (c) mit Kopf und Saugnüpfen. Die innere Hülle (b) liegt als eine kleine, eiförmige Blase in der grösseren äusseren Hülle, und da sie an einer Stelle (d) unter spitzem Winkel in letztere übergeht, so muss ihre Lage zur äusseren Hülle exzentrisch sein. Da die innere Hülle wiederum’ den Cysticercuskopf etc. umschliesst, so ist dessen Lage natürlich gleichfalls eine zur ganzen Blase exzentrische. Ein derartiges Bild bekommt man allerdings nur, wenn der Schnitt, wie vorher angegeben, durch die Längsachse des Oysticercus gegangen ist und dabei seine Einstülpungsstelle (d) oder deren Nachbarschaft ge- troffen hat. Ist das nicht der Fall, würde z. B. der Schnitt den Cysticercus in der Verbindungslinie von b f, Fig. 4, Taf. IlI, ge- troffen haben, so würde einmal die innere Hülle nicht exzentrisch ın der äusseren, sondern ungefähr in der Mitte der letzteren liegen, und ferner würden beide Hüllen vollkommen getrennt von einander erscheinen. Ein solches Bıld bietet die in Fig. 2 in der Mitte gelegene Cyste.

Während der Raum zwischen der inneren (b) und äusseren Hülle (a), wenn der Schnitt die Cysticercusblase, sei es längs oder quer, jedoch durch die Mitte trifft, stets erheblich gross ist, ist derselbe nur klein, wenn der Schnitt der Einstülpungsstelle des Cysticercus (d) nahe liegt. Ein solches Bild stellt ungefähr Fig. 5, Taf. IV, dar. Dieses Bild zeigt, dass die beiden Hüllen a und b in der einen unteren Hälfte a’ b’ eine einzige Hülle ausmachen, während sie im oberen Teil durch einen schmalen Spalt getrennt sind. Liegt der Schnitt noch näher dem Pole zu, so ist der Cysticercus ringsherum nur von einer einzigen, aber breiteren Hülle umgeben. Diese Hülle hat einen der Kapselwand zugerichteten scharfen, dunkler gefärbten Rand (Fig. 5 a') und einen dem Cysticercus zugewendeten, ebenso scharfen und ebenso dunklen Rand (Fig. 5b’) und besteht ın ihrem inneren, zwischen den beiden Randstreifen gelegenen Abschnitt aus ganz lockerem Gewebe. Dieses lockere Gewebe, welches also am Einstälpungspol (Fig. 4d, Taf. III) resp. dessen Nachbarschaft die beiden Randstreifen zu einer gemeinsamen Hülle vereinigt, wird nun, walırscheinlich durch Flüssigkeit, welche in ihre Maschenräume tritt, bei weiterem . Wachstum des Cysticercus immer mehr gelockert. Schliesslich werden die Maschenräume durch immer grössere Ansammlung

ot musculorum, mit besonderer Berücksichtigung etc. 123

von seröser Flüssigkeit so gross, dass sich weite Cysternen bilden, die von einander nur durch feine, spinnwebeartige Septen getrennt sind (Fig. 4, Taf. III bei a). Auf einem Durchschnitt durch die Cysticercusblase erhält man dann den Eindruck, als wenn zwei Hüllen den Cysticercus umgeben, während es, wie aus dem Gesagten hervorgeht, in Wirklichkeit nur eine ist!), in deren inneres Maschen- werk Flüssigkeit getreten ist und dadurch ihre Wände auseinander getrieben hat. Dass dem so ist, erkennt man daraus, dass jede dieser beiden Hüllen an den sich zugekehrten Flächen einen. schmalen Saum von gleichartigem lockeren Gewebe enthält, dass hier und da eine schmale Brücke von lockerem Gewebe von der einen zur anderen Hülle hinüberführt, und dass in der Nähe des Einstülpungspoles beide Säume zu einem gemeinsamen zusammen- fliessen (Fig. 4d, Taf. lII, und Fig. 5a’ b', Taf. IV).

In diesen beiden, oder wenn man nach dem Auseinander- gesetzten will, in dieser einen schlauchartigen und ringförmig ge- bogenen Hülle liegt nun der Hauptbestandteil des Cysticercus ein- gestülpt drin. Sehr einfach wird dies fürs erste durch Fig.5 und Fig.6, Taf. IV, veranschaulicht. Der Hauptbestandteil des Cysticercus ist hier der Kopf mit dem Hakenkranz und den vier Saugnäpfen. Diese Gebilde, im Zentrum gelegen, sind von einer Scheide von dichten, starken Fasern umgeben (Fig. 5f und 6f, Taf. IV), welche nach aussen hin allmählich in lockeres Gewebe übergehen. Dieses lockere Gewebe geht bei d (Fig. 5) in das gleichartige lockere Ge- webe der den Üysticercus umfassendeh gemeinsamen Hülle über, während der Uebergang auf der gegenüberliegenden Seite bei e, da hier die gemeinsame Hülle in eine äussere und innere gespalten ist, natürlich nur in die innere verfolgt werden kann. Dieses lockere Gewebe umzieht aber auch ringsum den Bandwurmkopf (Fig. 6d) und schliesst wiederum, wie es bei den vorher beschriebenen Hüllen gewesen ist, mit einem schmalen, dunklen Rande (c) ab, und «ieser Rand geht kontinuierlich in den homologen von b über. Vergegenwärtigen wir uns, dass dieser Rand b an einer anderen Stelle (Fig. 4d, Taf. III) in den Rand a übergeht, und dass a und b die äusseren Flächen eines schlauchartigen Gebildes sind, dessen Innenraum durch lockeres Gewebe erfüllt ist, so ergibt sich daraus, dass an einer bestimmten Stelle dieses schlauchartigen Gebildes, wo der Kopf des späteren Bandwurmes sich entwickelt, eine Einstülpung eingetreten sein muss (Fig. 4d, Taf. III) und dass in der dadurch entstandenen grubenartigen Aushöhlung der Kopf sich empor entwickelt haben muss.

Hat nun der Schnitt die Oysticercusblase ungefähr in der Mitte, sei es in der Längs- oder Querrichtung, getroffen (Schnitte, wie sie durch die Fig. 4 veranschaulicht werden), so sieht man, dass der Hauptbestandteil des Oysticercus ausser dem Kopf (derselbe kann natürlich auch fehlen, wenn er auf dem Schnitt nicht gerade mitgetroffen ist) noch eigenartige, wie vielfach gewundene Drüsen-

1) Auch diese ist, wie wir später schen werden, nur eine scheinbare Hälle.

124 Jacobsohn, Ueber Cysticercus cellalosae cerebri

gänge anssehende Gebilde enthält. Betrachtet man nun die einzelnen otten dieser vermeintlichen Drüsengänge näher, so bestehen sie aus einem dem Lumen des Ganges zugewandten scharfen, schmalen, dunkler gefärbten Rande und einem sich anschliessenden lockeren Gewebe. Der äussere, schmale Randsaum der zottenartigen Ge- bilde gleicht vollkommen in seiner Breite, seiner Farbe, seiner vollkommen homogenen Beschaffenheit demjenigen Rande, welcher an den beiden, den Öysticercus einschliessenden Hüllen zu be- obachten ist, und ebenso ist auch das lockere Gewebe in seiner Art identisch demjenigen, welches an den beiden oder an der einen gemeinsamen Hülle zu sehen ist. Der Hauptunterschied in dem Bau dieser im Inneren des Cysticercus vorhandenen zotten- artigen Gebilde und demjenigen der Hüllen besteht darin, dass die Hüllen bis auf ihre Umschlagstellen (Fig. 4d) eine ziemlich glatte, gestreckte Oberfläche haben, wälırend die Zotten im Inneren vielfältig gewunden sind, und ferner darin, dass das lockere Gewebe in den Zotten nicht so stark gelockert ist wie in den Hüllen, weil es noch von etwas derberen Faserzägen, die von der derben Scheide (siehe vorher) ausgehen und in die einzelnen Zotten hineineinstrahlen, fester zusammengehalten wird. Während nun in sehr vielen Schnitten diese, im Inneren des Cysticercus gelegenen drüsenartigen Gänge von dem Raume getrennt erscheinen, der zwischen innerer Hülle Fig. 4b und dem Hauptbestandteil des Cysticercus (Fig. 4c) liegt, sieht man an anderen Schnitten, besonders an solchen, die in der Nähe der beiden Pole geführt sind, dass diese Gänge in diesen erwähnten Raum einmünden (Fig. 7d, Taf. IV). Diese Schnitte im Verein mit solchen, welche durch die Ein- stülpungsstelle gelegt sind, geben zusammen mit dem Umstande, dass die gewundenen, zottenartigen Gebilde im Inneren des Oysti- cercus in ihrem Bau vollkommen demjenigen der Hüllen gleichen, den Schlüssel, wie die auf den einzelnen Schnitten etwas kompli- ziert aussehenden Bilder zu deuten sind, d. h. welche Wandlungen die Cysticercusblase in ihrem weiteren Wachstum in ihrer äusseren Gestalt durchmacht, um sich in einem abgeschlossenen Raume möglichst ausbreiten zu können.

Die aus dem Ei der Taenia sich entwickelnde Onkosphäre, welche auf dem Wege der Blutbahn ins Gehirn verschleppt wird, stellt ein längliches, schlauchartiges Gebilde dar. Dieses Gebilde besteht nur aus einer äusseren glatten Haut und entbält im Inneren ein mit Flüssigkeit erfülltes lockeres Gewebe. Dieses schlauchartige Gebilde hat ausserdem an einem Ende die Anlage für den späteren Kopf. Kopf- und Schwanzende des Schlauches krümmen sich so gegen einander, dass sie einen nicht vollkommen geschlossenen Ring bilden. Bei weiterem Wachstum wandert der Kopf in den Innenraum des Ringes hinein, den schlauchartigen Leib immer nach sich ziehend und diesen Innenraum in hundertfältig ver- schiedenen Windungen durchmessend. Der King bildet schliesslich eine gleichmässige mantelartige Umhällung der in seinem Innern gelegenen vielfachen Windungen. Indem der Ring, der also das

et musculoram, mit besonderer Berücksichtigung éte. 125

eaudale Ende des schlauchförmigen Parasiten darstellt, viel Flüssigkeit in seinem lockeren Gewebe aufnimmt, trennt sich seine äussere Lamelle mehr und mehr von seiner inneren. Zwischen beiden bildet sich ein weiter, blasenförmiger Raum, der den grössten Teil der Oysticercusblase ausmacht. Dieser Raum verengert sich nur an derjenigen Stelle, an welcher der Kopf in den Innenraum des Ringes eingewandert ist (Einmündungsstelle Fig. 4d, Taf. III). Durch diese Aufblähung des Ringes zu einer grossen Blase kommt es zuwege, dass nur seine innere Lamelle dem gewundenen Parasiten anliegt, während die äussere Lamelle durch einen weiten Raum von ihm getrennt ist. Diese Lamellen des Ringes scheinen später einem regressiven Prozess anheimzufallen, insofern die beiden Schichten schmäler und lockerer werden, als diejenigen der im Inneren gelegenen gewundenen Einfaltungsgänge des Cysticercus. Nur das muss man festhalten, dass diese Hüllen weiter nichts sind, als das Ende des Cysticerkenschlauches.

Ausser den genannten beiden Bestandteilen des Cysticercus- schlauches (natürlich abgesehen vom Kopf), nämlich des äusseren, schmalen, glatten, sich dunkel färbenden Randstreifens und der inneren Zone von lockerem Gewebe, erwähnte ıch schon, dass in dies lockere Gewebe sich noch Büschel von starken Fasern ergiessen, welche besonders die Kopfregion mit einer starken Scheide um- schliessen (Fig.5f und 6f, Taf.IV). Man findet ferner in dem lockeren Gewebe eigentümliche, sich mit Alaunhämatoxylin stark violett färbende, kleine, ovale Körperchen liegen, die insgesamt das Bild von kleinen, im Streu liegenden Eiern gewähren. Diese kleinen, eierartigen Gebilde trifft man auch vielfach an der Stelle, wo der freie Rand der inneren Hülle in den freien Rand des eingestülpten Cysticercus umschlägt (Fig. 6g, Taf. IV). Ja, bisweilen liegen sıe in der blindsackartigen Einstülpung der Umschlagstelle selbst drin, so dass es den Anschein hat, als ob sie vom Cysticercus ausgestossen worden sind. Man trifft dann weiter grössere, rundliche, mit Alaunhämatoxylin sich gleichfalls stark färbende Gebilde sowohl in den Einfaltungskanälen des Cysticercus, als auch in dem Raum zwischen innerer Hülle und eingestülptem Cysticercus, als schliess- lich zwischen äusserer Hülle und Kapselwand an. Die Gebilde haben einen konzentrischen Bau, und wenn sie zwischen äusserer Hälle und Kapselwand liegen, kerben sie erstere an der Stelle buchtartig ein (Fig. 8, Taf. IV). Wenn mehrere derartige Gebilde in gewissen Abständen zwischen äusserer Hülle und Kapselwand liegen, so macht es den Eindruck, als ob erstere sich gleichsam an ihnen fest verankert hat. Es handelt sich bei diesen Gebilden wahr- scheinlich um Ausscheidungsprodukte des Cysticercus. Welcher Natur aber dieselben sind, konnte nicht ermittelt werden. Hat die Kapselwand einen etwas zerklüftet lamellösen Bau, so kann man sie auch einzeln zwischen diesen Lamellen liegend finden.

Ueber den Bandwurmkopf und die Saugnäpfchen habe ich nichts Besonderes zu sagen. Die Figg. 6, Taf. 1V, und 9, Taf. V, geben das bekannte Bild dieses Kopfes wieder. Auch vetzichte

126 Jacobsohn, Ueber Cysticercus cellulosae cerebri

ich hier auf eine noch genauere Beschreibung der einzelnen Schichten, die in den Hüllen und im Inneren des Cysticercus einzelne Besonderheiten haben.

Der anatomische Bau des Cysticercus in der Muskulatur ist genau derselbe, wie im Gehirn (Fig. 10, Taf. V). Hervorzuheben wäre nur, dass der Zwischenraum zwischen der sog. äusseren und inneren Hülle des Cysticercus in der Muskulatur ein bei weitem grösserer ist, als im Gehirn. Die Ursache liegt wohl daran, dass das lockere Muskelgewebe der Ausdehnungsfähigkeit dieses Raumes viel geringeren Widerstand entgegensetzt, als die kompakte Hirnsubstanz.

Bevor ich die Beschreibung des anatomischen Baues des Cysticercus abschliesse, möchte ich noch einen Punkt etwas näher erörtern, der mir des Interesses wert erscheint. Der Umstand, dass viele Cysticerken frisch erhalten waren, im Verein mit dem- jenigen, dass Serienschnitte angelegt waren, brachte Aufschluss darüber, in welcher Art die Ernährung des Parasiten in dem Wirte, in dem er sich angesessen, vor sich geht.

Sieht man die Serie durch, so begegnet man einzelnen Präparaten, ın welchen die äussere Hülle entweder an der Ein- buchtungsstelle oder in deren Nachbarschaft (zuweilen kann es such in einiger Entfernung von dieser Stelle sein) einen regel- mässig und vielfach eingekerbten Rand zeigt. Kleine hügelartige Erhabenheiten wechseln gleichmässig mit ebenso leichten Ein- buchtungen ab. Diesen leichten Einbuchtungen der äusseren Hülle des Cysticercus entsprechen kleine kegelförmige Hügel, welche sich von der gegenüberliegenden Wand der Kapsel er- heben und sich in die Einbuchtungen der äusseren Hülle hinein- legen (Fig. 11, Taf. V). Mündet gerade die Einfaltungsöffnung des Cysticercus in diese Ansaugungsstelle des Cysticercus, so legt sich ein grösserer Hügel der Kapsel zungenartig in diese Ein- faltungsöffnung hinein (Figg. 11 u. 12, Taf. V). Die Kapselwand an dieser Ansaugungsstelle des Cysticercus zeigt gewöhnlich einen locker lamellösen Bau. Zwischen den einzelnen Lamellen liegen entweder ganz feine Blutgefässe, welche strotzend mit Blut gefüllt sind, oder aber die Blutkörperchen liegen gedrängt in den Maschen zwischen den Lamellen. Ausserdem liegen zwischen diesen Lamellen auch grosse rundliche Elemente, welche einen ganz kleinen Kern enthalten, sonst aber von fast homogener Beschaffen- heit sind. Diese Elemente, d. h. massenhaft Blutkörperchen, zwischen welchen die grossen Elemente eingestreut liegen, erfüllen nun auch die buchtenartigen grösseren und kleineren Räume zwischen der äusseren Hülle des Cysticercus und der Kapselwand, so dass man den Eindruck gewinnt, als ob an dieser Ansaugungs- stelle einmal das Nährmaterial in den Üysticercus übergeführt, gleichzeitig aber auch die Absonderungsstoffe aus ihm heraus- geschafft werden. Der ganze Bau dieser Ansaugungsstelle erinnert etwas’an das Chorion der Säugetiere.

et musculorum, mit besonderer Berücksichtigung etc. 127

Ich habe den Bau des eingefalteten Cysticercus hier etwas näher beschrieben, obwohl ich annehme, dass dies von seiten der Zoologen schon genugsam geschehen ist, weil der Mediziner wohl selten Gelegenheit hat, frische, wohlerhaltene Exemplare dieses Parasiten zu untersuchen.

Indessen, das Hauptinteresse dieser Arbeit ist nicht dem Bau des Cysticercus zugewandt gewesen, sondern der Kapsel, welche ihn umschliesst. Dieser Gegenstand hat insofern ein allgemeineres Interesse, als die Kapselwand wie hier, so auch bei manchen anderen nicht infektiösen embolischen Prozessen sich wahrscheinlich aus den gleichen Elementen zusammensetzen wird. Diese Kapselwand scheint mir, um es gleich vorweg zu sagen, bei vielen Cysticerken nichts anderes als die veränderte Gefässwand zu sein, in welche hinein der Fremdkörper verschlagen wurde, und die sich seh» ver- schieden verändert, je nachdem der Cysticercus nur leicht reizend, oder reizend und die Kapselwand erweiternd, oder schliesslich stark entzündungserregend wirkt,

Sehen wir uns nun einmal die Kapselwand in diesem Falle von Cysticerkenembolie des Gehirns an.

Die Kapselwand hebt sich durch ihre dunkle Färbung stets ganz scharf von der äusseren Hülle des Cysticercus ab, so dass sie mit letzterer gar nicht zu verwechseln ist. Es tritt dies besonders hervor, wenn die äussere Hülle mehr oder weniger sich gefaltet und von der Knpselwand abgehoben hat (Fig. 5, Taf. IV); ebenso deutlich in Cysten, deren Inhalt in Trümmer zerfallen ist und in denen die Trümmer bald in grösserer Menge (mit Haken dabei) angehäuft sind (Fig. 8, Taf. III) oder sich nur noch in Spuren der Kapselwand anhaftend vorfinden (Fig. 18). Aber auch in solchen Cysten, wo die äussere Hülle des wohlerhaltenen Cysticercus der Kapselwand anliegt (Fig. 4, Taf. III, und noch mehr Fig. 14, Taf. VI), hebt sich letztere durch ihren viel dunkleren Farbenton vor der ersteren scharf heraus, und ist auch zwischen beiden gewöhnlich an dieser oder jener Stelle ein feiner Spalt erkennbar, der diese beiden Elemente von einander trennt.

Die Kapselwand wird also nicht, wie von vielen Autoren angenommen wurde, von Bestandteilen des Oysticercus gebildet!).

Wenn aber nicht aus Elementen des Parasiten, woraus bildet sich die Kapselwand dann? Auf diese Frage geben die Präparate dieses Falles, wie ich glaube, eine ziemlich deutliche Antwort.

Die Kapselwand ist entweder von ziemlich gleichmässiger, glatter Beschaffenheit und von mittlerer Dicke, wenn die Cysti- cercusblase frisch erhalten ist und ihr dicht anliegt (Fig. 4, Taf. IIl; Fig. 8, Taf. IV; Fig. 14, Taf. VI) oder aber sie zeigt ein ge- fultetes Aussehen und ist dann von wechselnder Dicke, wenn die äussere Hülle des Cysticercus sich zusammengefaltet hat (Fig. 5,

1) Was bier vom Cysticercus gesagt wird, gilt wahrscheinlich auch für die anderen Parasiten.

128 Jacobsohn, Ueber Cysticercas cellulosae cerebri

Taf. IV) oder wenn der Oysticercus abgestorben und in Trümmer zerfallen ist. In den letzteren Fällen hat sie bald ein kompaktes, schichtenartiges Gefüge (Fig. 13, Taf. VI) oder sie zeigt einen etwas locker lamellösen Bau (Fig. 8, Taf. III). Schliesslich findet man einzelne Cysticerken, die nur zum kleinsten Teil in einer Kapsel zu liegen scheinen, während der grösste Teil in einem nur in der Gehirnsubstanz befindlichen Loche zu stecken scheint. Sieht man sich den Rand dieses Loches aber etwas näher an (Fig. 15 und Fig. 16, Taf. VI), so findet man auf grössere oder kleinere Strecken Reste einer vorhanden gewesenen Wand, die als feine geschlängelte Lamelle sich erhalten hat.

Zur Färbung wurde, einzelne Präparate ausgenommen, durch+ gehend das van Giesonsche Farbgemisch benutzt. Dieses Ge- misch hat bei einfachster technischer Anwendung den unvergleich- lichen Vorteil, die verschiedenen Gewebsarten durch einen anderen F arbenton herauszuheben und dadurch als solche kenntlich zu machen.

Von Elementen, welche als Bausteine der Kapsel gedient haben konnten, kamen im Gehirn in Betracht: erstens die Neuroglia, zweitens die Gefässe, drittens das adventitielle Bindegewebe. Da die Kapselwand der Muskelcysticerken ungefähr den gleichen Bau auf- wies, wie diejenige der Gehirncysticerken, so war eine Be- : teiligung der Neuroglia schon von vornherein ausgeschlossen, ausserdem fand sich nach dieser Richtung auch kein Anhaltspunkt.

Es konnten also als Bausteine der Kapsel nur die Gefässe resp. das adventitielle Bindegewebe in Betracht kommen. Hier- bei war also zu entscheiden, ob das Material, aus welchem die Kapsel besteht, von der ganzen Gefässwand oder nur von einem bestimmten Gewebsteil derselben, speziell von dem adventitiellen Bindegewebe, gebildet wird.

Betrachtet man den Durchschnitt, Längs- oder Querschnitt nach von Gieson gefärbten Gefässen, so kann man an ilınen gewöhnlich 3 Schichten wahrnehmen, die sich durch einen anderen Farbenton von einander abheben. Die lockere Adventitia zeigt einen scharlachroten Farbenton mit einem starken Stich ins Violette, die feste, je nach der Grösse des Gefässes verschieden starke Media zeigt einen gelblich oder gelblich-bräunlichen Ton und die bei kleineren Gefässen aus einer scharfrandigen Lamelle mit Endothelzellen besetzte Intima einen blassgelblich-rosa- farbenen Ton.

Vergleicht man mit diesem Aussehen der Gefässwände das- jenige der Kapselwand, so findet man in einzelnen auch einen dreischichtigen Bau, wobei alle Schichten gewöhnlich durch starke Wucherung verbreitert sind (Fig. 17, Taf. V11). Zu innerst gegen das Lumen, zuweilen mit einem scharfen Rande abschneidend, eine. verdickte und leicht gewundene Lamelle; auf diese folgt eine breite, bei schwächerer Vergrösserung wie porös aussehende, gelblich-bräunliche Zone und auf diese eine noch breitere, bald

et musculoram, mit besonderer Berücksichtigung etc. 139

einschichtige, bald mehrschichtige Zone von scharlachroter Fär- bung. Diese letztere Zone ist entweder von ganz kompaktem Gefüge oder aber von lockerem Bau, oder schliesslich teils von lockerem, teils von festem Gefüge, wobei die lockere gewöhnlich die am meisten peripher gelegene Zone einnimmt und in das lockere Gewebe der Nachbarse aft übergeht. Am besten aus- geprägt fand ich diesen dreischichtigen Bau an einzelnen Kapseln

r Muskelcysticerken (z. B. Fig. 17). Dieser dreischichtige Bau findet sich nber niemals im ganzen Umkreis der Kapsel, sondern immer nur an einem mehr oder weniger grossen Abschnitt der- selben. Häufig sieht man, wenn man den Umkreis der Kapsel verfolgt, dass sich die Kapselwand nach der entgegengesetzten Richtung zu (also auf dem Querschnitt nach dem anderen Pole zu) verschmälert (Fig. 10, Taf. V). Die innerste Lamelle verschwindet anz, ist wenigstens nicht deutlich zu erkennen; die mittlere

chicht reduziert sich langsam zu einer schmalen, gelblich-bräun- lichen Schicht, und auch die äussere Zone hat sich zu einer schmalen, festen Schicht gleichsam zusammengedrückt und geht in das intermuskuläre lockere Bindegewebe über. Diese beiden letzten Schichten können sich bis auf ganz schmale, aneinander- gepresst liegende glattwandige Lamellen reduzieren, wobei häufig noch die äussere über die innere herübergelagert ist, so dass die mittlere gelbe schwer oder an einzelnen Stellen überhaupt nicht zu erkennen ist.

Im Vergleich mit dem Querschnitt von daneben im lockeren intermuskulären Bindegewebe liegenden Gefässen geht man wohl nicht fehl, wenn man die innere, leicht gewundene Lamelle der gewucherten Kapselwand mit der Intima, die porös aussehende gelblich-bräunliche Schicht mit der Media und die äussere scharlachrote, bald kompakte, bald lockere Schicht mit der Ad- ventitia identifiziert. Diese Schichten erfahren auf der einen Seite durch Wucherung eine sehr starke Verbreitung, wührend an anderen Stellen eine leichte Verschmälerung durch einfache Ausdehnung erfolgt. Diese verschmälerten Stellen sind es vor- nehmlich, die zumal im Muskelgewebe zuerst beim Betrachten Zweifel erwecken, ob man es mit einem Gefässlumen zu tun hat oder ob es sich einfach um Muskelfasern handelt mit angrenzen- dem Bindegewebe, zwischen welchen der Cysticercus sich einfach hineingelegt und weiter entwickelt hat.

Die Kapselwand der Gehirncysticerken ist in einzelnen Exemplaren ähnlich gebaut wie bei den Muskelcysticerken (Fig. 13, Taf. VI) aber nicht in ihrem ganzen Umfange, sondern nur an einzelnen Stellen. In Fig. 18 zeigt die Stelle abc z.B, einen mehrschichtigen Bau, während die Stelle e einen lockerlamellösen darbietet, wogegen schliesslich die Stelle f erkennen lässt, wie sich aus dem lamellösen Bau durch dichteres Zusammentreten der Lamellen ein mehrschichtiger Bau ausbildet. Die innere gelbliche poröse Schicht bei c dürfte der Media (im reinen Zu- stand) entsprechen,. während die dicke, dunklere Schicht b einem

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 2. 9

130: Jacobsohn, Ueber Cysticercus cellulosae cerebri

Gemisch von Bestandteilen der Media und Adventitia entspricht, weshalb der Farbenton dieser Schicht auch ein Gemisch von Scharlachrot und Gelbbraun darbietet. Diese feste Schicht geht dann nach aussen zu in das lockere perivaskuläre Bindegewebe a über. Der inneren Schicht liegen an einzelnen Stellen Blutreste und Trümmer des zerfallenen Öysticercas an (d).

" Während nun einzelne Kapselwände, wie eben geschildert, keinen gleichmässigen Bau in ihrem. ganzen Umkreis darbieten, ist dieser Bau bei anderen ein vollkommen gleichartiger, entweder schmal glattwandiger (Fig. 4, 8, 10a, 14, 17) oder durchgehends lamellöser. Letzterer Bau findet sich am häufigsten bei geschrumpften oder in Trümmer zerfallenen Cysticerken (Fig. 3 und 20). Der glatt- wandige. findet sich dagegen bei wohlerhaltenen Cysticerken, bet denen sich derRaum zwischen den beschriebenen beiden Hüllen stark erweitert hat. Die Kapselwand dieses glattwandigen Typus schliesst nach innen, nach dem Lumen zu, mit einem scharfen Rande ab (Fig. 8 und 14), an welchen sich der glatte Rand der äusseren Hülle des Cysticercus anlegt. Mitunter liegt die Hülle der Wand so dicht an, dass sie beide wie verklebt erscheinen, meistens aber ist zwischen beiden doch ein feiner Spalt sichtbar. Die Wand solcher Kapsel bildet ein schmales, kompaktes, festes Gefüge, nur nach aussen zu lockert sie sich ein wenig auf. Betrachtet man sie bet stärkerer Vergrösserung, so zeigt sıe in ihrer äusseren, nach der Hirnsubstanz zugerichteten Zone einen lamellösen Bau, während sie nach innen durch eine feste, schnurartige Membran abgeschlossen ist. Diese schnurartige innere Membran erkennt man besonders deutlich an einzelnen Stellen, wo sie sich zufällig etwas von der übrigen Kapselwand abgehoben hat (Fig. 8), und sie bleibt wahr- scheinlich auch als letzter Rest zurück, wenn die Kapselwand atrophiert (Fig. 15 und 16). Die in der Nähe solcher glatt- wandiger Kapseln gelegenen Gefässe (Fig. 14c) zeigen in ihrem Bau und Farbenton eine solche Aehnlichkeit mit der Kapselwand, (Fig. 14b) dass man schon durch diese Aehnlichkeit dahin geführt wird, sie für gleichartige Elemente aufzufassen. An einzelnen Stellen scheinen solche Gefässe sogar direkt in die Kapselwand hinein zu münden (Fig. 18, Taf. VII). Diese plattwandigen Ka seln zeigen, wie erwähnt, nur in ihrer äusseren Zone einen schichtenartigen Bau aus einzelnen Lamellen. Letztere sind dünn und glattwandig. Zwischen den Lamellen sind viele Blutkörperchen reihenartig ein- gelagert. An diese Lamellen schliessen sich noch weiter nach aussen dünne, mit Blut vollgepfropfte Kapillaren an.

Neben diesen Kapseln findet man andere, deren Wand einen ganzgewundenen Verlauf zeigt. Auch hier zeigen einzelne eine ausser- ordentlich grosse Aehnlichkeit mit stark erweiterten Gefässen. Man’ vergleiche z. B. Fig. 13 mit Fig. 19, Taf. VII. Die Wand solcher Kapseln setzt sich aus einzelnen Lamellen zusammen, die ent- weder dicht aneinander liegen (Fig. 5) oder ganz locker in kon- zentrischer Art nebeneinander herlaufen (Figg. 3, 13, 20). Ob diese locker lamellös gefügten Kapselwände dadurch entstehen,

et musculöram, mit besonderer Berücksichtigung etc. 181

dass die einzelnen Schichten des ursprünglich fest gefügten Ge- fässes bei der weiteren Verwandlung etwas auseinandergetrieben werden, wobei das adventitielle Gewebe stärker sich vermehrt, oder ob diese lamellös gebaute Kapsel dadurch entsteht, ‘dass immer neue Gefässsprossen in der Peripherie des anfänglich durch den Embolus erweiterten kleinen Gefässes sich anreihen, ist nicht sicher in allen Fällen zu entscheiden. Für den ersteren Ent- stehungsmodus könnten z. B. Bilder, wie Fig. 19, sprechen, wo man sieht, dass ein einfaches, nur erweitertes Gefäss, abgesehen von den verschiedenen Dickendurchmessern, fast genau der Kon- figuration einer Kapselwand entspricht (vergl. hierzu Fig. 13); für den zweiten Entstehungsmodus sprechen Bilder, wie Fig. 8 oder Fig. 20 sie darbieten.

Von den Kapselwänden mit diesem lamellösen Bau ist noch zu erwäbnen, dass man besonders da, wo die Lamellen dicht aneinander liegen, zwischen ihnen quer getroffene Gefässlumina antrifit (Fig. 5), die bald leer, bald mit Blut gefüllt sind und die wahrscheinlich vasa vasorum repräsentieren.

Hervorgehoben muss noch weiter werden, dass man auf Querschnitten, die unmittelbar peripher vom Pol einer Kapsel- wand liegen, eine Art Strahlenkrone von vielen, mit Blut voll- gestopften Gefässen findet (Fig. 21, Taf. VIII).

Häufig liegt ein etwas stärkeres Gefäss im Zentrum, und von diesem breiten sich kleinere radienartig nach aussen hin aus. Extravaskuläre Blutungen waren nicht zu beobachten.

Elastische Fasern waren sehr spärlich und nur an ver- einzelten Stellen der Kapselwand nachweisbar. Eine Elastica interna war nicht zu beobachten. Bezüglich dieser Fasern ver- hielten sich auch einzelne stark erweiterte Gefässe dieses Falles sehr verschieden. An demjenigen, das z. B. in Fig. 15, Taf. VI, abgebildet ist, waren elastische Fasern nur fragmentweise sichtbar, während an demjenigen, welches in Fig. 19 abgebildet ist, eine sehr starke Elastica besteht.

Immerhin war es bemerkenswert, dass ausser gelegentlich hier und da doch zu beobachtenden spärlichen Resten solcher Fasern in der Kapselwand letztere bei dieser Weigertschen Färbung genau den diffus-violetten Farbenton zeigte, wie ihn die Media und Adventitin der Gefässe darbieten, während die äussere Hülle des Cysticercus bei dieser Färbung ganz blass gefärbt blieb.

Nach alledem was die Präparate dieses Falles zeigen, unterliegt es für mich keinem Zweifel, dass die Kapselwand, welche den Öysticercus einschliesst, nicht ausschliesslich binde- gewebiger Natur ist, sondern dass sie in vielen Fällen eine ver- änderte Wand des Gefässes ist, in welches der Parasit durch den Blutstrom vertrieben wurde und in welchem er stecken geblieben ist. Dieses Gefäss ist in der Mehrzahl der Fälle von kleinem Umfange, es scheint in einzelnen Fällen dem Arteriensystem, in anderen dem Venensystem anzugehören. Der Parasit im embryo-

133 Jacobsohn, Ueber Cysticercas cellulosas cerebri

nalen Zustande wird in manchen Fällen die Kapillaren des Gehirns passieren (ebenso wie er die Lungenkapillaren passiert), und wird, vermöge der Verlangsamung des Blutstromes, in einer kleinen Vene stecken bleiben, und in dieser, falls er Subsistenzmittel findet, sich weiter entwickeln, falls nicht in diesem oder jenem Entwickelungsstadium zerfallen.

Dass die Kapselwand vielfach eine veränderte Gefässwand ist, dafür sprechen 1. die äussere Aehnlichkeit zwischen beiden, die in vielen Fällen geradezu verblüffend ist; 2. das Einmünden von verstopften Gefässen in die Kapselwand, resp. der Um- stand, dass sich am Pol der Kapsel regelmässig ein gröberes und viele feinere verstopfte Gefüsse finden; 8. der Bau der Kapselwand, der in einzelnen Fällen wie ein Gefäss, einen drei- schichtigen Bau zeigt, der in vielen Fällen einen zweischichtigen Bau zeigt, wobei diese Schichten bei der Färbung nach van Gieson den gleichen Farbenton zeigen wie die beiden äusseren Schichten (Media und Adventitia) der Gefässe; 4. das Vorhandensein, wenn auch spärlicher elastischer Fasern und auch bei dieser Färbung der gleiche Farbenton, wie ihn Gefässe hierbei aufweisen; 5. das Zuräckbleiben einer feinen, leicht gewundenen, schnur- artigen Lamelle bei Atrophie der Gefässwand und das Bestehen einer inneren, etwas stärkeren, einfachen Lamelle bei den glatt- wandigen Kapseln.

Die äussere Hülle des Cysticercus, welche nach der voran- gegangenen Analyse im Verein mit der innzren Hülle nichts anderes ist, als das kaudale Ende der Cysticercusblase, nimmt an der Kapselbildung nicht teil. Die äussere Hülle kann zuweilen der Kapsel so dicht anliegen, dass sie wie verklebt mit ihr er- scheint, aber meistens ist ein feiner Spalt zwischen beiden vor- handen. Es kann allerdings nicht in Abrede gestellt werden, dass hier und da die Verklebung dieser beiden Wandteile eine stärkere sein kann, so dass einzelne Stücke auch bei späterer Verwandlung des Cysticercus an der Kapselwand haften bleiben und dass, wenn bei Zerfall des Cysticercus einzelne Bröckel an der Kapselwand haften geblieben sind, sie bei der Weiterbildung der Kapselwand gleichsam histologisch mit verarbeitet werden (Fig. 13). Das sind aber nicht regelmässige Bestandteile der Kapselwand, sondern der Grundbau derselben besteht aus den Elementen des Gefässes.

Es ist schliesslich noch zu erwähnen, dass, wenn die Kapsel- wand sich nicht weiter entwickelt, wenn sie im Gegenteil atrophiert und dann zerreisst, der Cysticercus auch in einzelnen Fällen aus dem ursprünglichen Gefässlumen herausgehen und etwas in die be- nachbarte Gehirnsubstanz eindringen kann (Fig. 22, Taf. VIII). Dann bildet sich gewöhnlich nur an einer Hälfte eine neueKapsel und zwar aus neu entstandenen kleinen Gefässen, deren Lamellen sich an- einanderlegen. Dieser Austritt aus einem Gefässe geschieht wahr- scheinlich oft, wenn der Parasit in ein Gefüss an der Peripherie des Gehirns oder in eines in der Nachbarschaft der Ventrikel verschlagen worden ist. Aber auch hier, wo der Cysticercus aus

et musculorum, mit besonderer Berücksichtigung ete. 133

der ursprünglichen Gefässkapsel heraustritt, bildet er sich eine neue wiederum aus kleinen Gefüssen.

Es ist ferner nicht ausgeschlossen, dass die Wand des Gefässes, in welches der junge Cysticercus verschlagen wurde, nicht nur partiell, sondern in einzelnen Fällen auch total zur Atrophie kommt, und dass dann die Kapselwand in ihrem ganzen Umfange aus neuge- bildeten Gefässsprossen zusammengesetzt ist. Aber um es besonders zu betonen, auch in diesen Fällen setzt sich die Kapselwand nicht aus einfachem Bindegewebe, sondern aus Grefüsssprossen zusammen, die sich lamellenartig aneinander reihen und bald locker geordnet, bald dichter gefügt sind.

Wenn in einem Falle, in welchem der Cysticercus aus einem Gefäss herausgetreten ist, keine Blutung erfolgt ist, so liegt das daran, dass Biutungen doch nur da entstehen können, wo Blut- flüssigkeit in Bewegung sich befindet; wenn nun ein Parasit ein kleines Gefäss verstopft und verödet hat und dann dies Gefäss in seiner Wand zerfällt und der Parasit heraustritt, so ist es ja natürlich, dass kein Blut mit heraustritt, weil diese Stelle aus dem Blut- kreislauf schon längst ausgeschaltet ist. Dass auch in den anderen Fällen bei Verstopfung von Gefässen keine nennenswerten Infarkte entstanden sind, liegt daran, dass im Gehirn, speziell in der Hirnrinde, ein so ausgiebiger Collateralkreislauf vorhanden ist, dass bei Verstopfung so kleiner Gefässe ein Abschneiden gewisser, selbst kleiner, Hirnpurtien vom Blutlauf nicht eintreten kann. Darin und in dem Mangel an stärkeren Entzündungserscheinungen liegt auch der Grund, weshalb die Markfaserung der von mir untersuchten Hirngegend keine nennenswerte Atrophie zeigte.

Zum Schluss möchte ich noch ein paar Worte über die weiteren Veränderungen sagen, denen die Kapselwand des Cysti- cercus (und wahrscheinlich auch anderer Gehirnparasiten) unter- liegt. Frische und verhältnismässig junge Fälle‘), wie der vor- liegende, kommen ja seltener zur Beobachtung. Am häufigsten trifft man solche Fälle, wo sich der Cysticercus in eine mit Flüssigkeit oder mit Trümmern mehr oder weniger erfüllte Oyste verwandelt hat, deren Natur festzustellen nur aus der Anwesenheit von Haken gelingt. In solchen alten Cysteņ sieht die Kapsel- wand ganz anders aus.

Der Liebenswürdigkeit des Herrn Kollegen Henneberg verdanke ich ein Präparat einer solchen alten Cysticercusblase. Eine Stelle aus dieser Cyste ist in Fig. 23, Taf. VIII, wiedergegeben. Aus dem Vergleich dieser Cyste mit denjenigen des hier beschriebenen Falles erkennt man sofort, dass die Lamelle a Fig. 23 identisch der üusseren Hülle des Cysticercus ist. Auch sie besteht hier aus einem scharfen, äusseren, dunkler gefärbten Rande und einer dem Lumen zugekehrten inneren Zone, die aus lockerem Gewebe besteht. Diese Hülle hat sich auf der rechten Seite des Präparates

1) Nach der Krankengeschichte zu urteilen, dürfte das Alter der untersuchten Cysticerken nicht ganz ein Jahr betragen.

131 Jacobsohn, Ueber Cysticercas collulosae cerebri.

mit scharfem Rande abgehoben, ebenso sieht man auf der linken Seite ıhren scharfen Rand, dagegen liegt sie an der dritten, quer- gestellten Seite der nach aussen befindlichen Substanz dicht an, nur hin und wieder ist zwischen Hülle und Substanz auch .hier ein kleiner Spalt bemerkbar. Der zwischen den eben genannten Abteilungen der Hülle liegende Raum, Fig. 23d, entspricht dem Raum zwischen äusserer und innerer Hülle des frischen Cysticercus. Dieser Raum hat hier durch vielfache Faltungen und Verschiebungen der Cyste eine vielgestultige Form angenommen und ist an einzelnen Stellen, an denen zwei Blätter der Hülle bei dieser Einfaltung aneinander gekommen sind (Fig. 23a’), vollkommen obliterirt. Es ist nicht unmöglich, dass an solchen Stellen die beiden aneinander tretenden Blätter der äusseren Hälle mit ihrem lockeren Gewebe fest verkleben. Es ergibt sich demnach auch hier, dass nicht die äussere Hülle des Cysticercus, obwohl sie mit der anliegenden Substanz mehr oder weniger verkleben kann, die Kapsel, in welcher der ganze Cysticercus ruht, bildet, sondern dass die nach aussen von dieser Hälle gelegene Wand diese Kapselwand ausmacht. In dem Präparat Fig. 23, ist also nicht a resp. a und b c die Kapsel des Oysticercus, sondern sie wird nur von b und c ge- bildet. Diese Kapselwand wird im grossen und ganzen von zwei breiten Schichten gebildet, einer inneren, helleren (b) und einer äusseren dunkleren (c). Letztere geht nach aussen langsam in die normale Hirnsubstanz über. Die innere helle Substanz besteht aus spindelförmigen Elementen mit ovalen langgestreckten Kernen, nach dem Lumen zu schliesst sie mit einer schmalen, etwas dunkler gefärbten Randzone ab, in welcher sich etwas heterogene Elemente (evtl. Abfallstoffe der äusseren Hülle) finden. Die breite äussere Zone besteht aus einer ausserordentlich dichten An- sammlung von rundlichen Elementen, die einer perivaskulären Entzündungszone entspricht, nur dass sich hier die rundlichen Elemente zonenweise ungemein zusammengeballt haben, um sich allmählich nach aussen hin zu lockern und in das normale Gewebe überzugehen.

Da in dieser alten COysticercusblase, Fig. 23, die Lamelle a der äusseren Hülle des Cysticercus entspricht, so müssen die beiden Zonen b und c die veränderte Kapselwand darstellen. Durch diese Veränderung wird eine vorher lamellöse Wand in eine Art dicken Schutzwall umgewandelt. Das ist die üblich als Demar- kationszone bezeichnete Wand. Wie im einzelnen nach und nach diese Veränderungen sich vollziehen, darüber geben die Präparate keinen vollkommenen Aufschluss. Nur aus einem Vergleich der Figg. 16, 19, 13, 20, 3, 23 kann man sich ungefähr eine Vor- stellung von den sich vollziehenden Veränderungen machen. '

Das Präparat, welches in Fig.24, Taf. VIII, abgebildet ist, stellt einen kleinen Ausschnitt einer durch Distomum hepaticum bedingten Gehirncyste dar. a in Fig. 24 ist der in Trümmer zerfallene und in der Oyste liegende Parasit, und b c sind die Schichten der ihn umgebenden Kapsel. Dass dies die Kapselwand ist, geht

... et masculoram, mit besonderer Berücksiehtigung etc.: -.; :4AD

‚wohl unzweifelhaft aus einem Vergleich mit derjenigen in Fig. 28 hervor. Hier wie dort sind die Schichten die gleichen und setzen sich aus den gleichen Grundelementen zusammen. o

Da nun die Kapselwand der alten Cysticerkenblase (Fig. 23) aus einer Gefässwand sich entwickelt hat, und da die Kapselwand des Distomum derjenigen des Cysticercug vollkommen gleicht, 80 ist die Schlussfolgerung berechtigt, dass auch die Kapselwand des Distomum weiter nichts ais eine veränderte Gefässwand dar- stellt: Mit der Wand einer Blutcyste hat die Kapselwand "des Cysticercus gar keine Aehnlichkeit, mit der Wand eines Abszesses nur eine entfernte. Die letztere stellt, wenigstens in frischem Zustande, eine einfache, einheitliche, gleichmässige, sehr breite Entzündungszone dar, die wellenartig nach der Peripherie zu fortschreitet, während in den zentralen Partien sie sich in Blut und Eitermasse auflöst. Ob die Wand älterer Gehirnabszesse eine grössere Aehnlichkeit mit der Kapselwand des Cysticercus besitzt, darüber kann ich nichts Bestimmtes aussagen, da ich derartige Präparate nicht besitze,

Erklärung der Abbildungen nach Photogrammen auf den

Tafeln II—VII.

Fig. 1. Frontalschnitt durch beide Hinterhauptslappen, die enorme Cysti- cerken-Invasion illustrierend. Aus der Arbeit des Herrn Dr. Prevbra- schensky (Korsakoffsches Journ. f. Psych. u. Neurol., 1904).

fig. 2. Cysticerken des Gehirns. Lupenvergrösserung eines Schnittes durch das Corpus striatum.

Fig. 3. Trümmer einer zerfallenen Cysticercusblase mit gewundener Kapsel- wand. Im Trämmerhanfen liegen einige Haken (a) als letzte erkenn-

bare Reste des Cysticercus.

Fig. 4. Cysticercusblase durch die Mitte ihrer Längsachse getroffen.

: a) Aeussere, b) innere Hälle, c) eingestülpter Cysticercus, d) Ein- ‚stülpungsstelle. Ä

Fig. 5. Cysticercusblase in der Nähe eines Poles durchschnitten. a) Acussere, b) innere Hülle, c) eingestülpter Cysticercus; a’ und b’ die dunkeln, scharfen, freien Ränder der gemeinsamen Hülle, d) und e) lockeres Ge- webe, f) dichtes Fasergewebe.

Fig. 6. Kopfteil der Cysticercusblase von Fig. 5, vergrössert. Bezeichnungen wie in Fig. 5. g) Rundlich-eiförmige, im lockeren Gewebe liegende Elemente. : 9—

Fig. 7. Schnitt durch eine Cysticercusblase unweit eines Poles. d) Aus- mündungsstelle des vielfach eingefalteten Cysticercuskörpers in den von den Hüllen ab umschlossenen Raum,

Fig. 8. Rundliches, amorphes Gebilde zwischen Kapselwand und äAusserer Hülle des Cysticercus, letztere buchtartig einstälpend.

Fig. 9. Durchschnitt durch den Kopf des Cysticercus .mit Hakenkranz (in der Mitte) and vier umliegenden Saugnäpten.

Fig. 10. Cysticerken in der Muskulatur; bei b) Kapselwand von mehr- achichtigem Bau, der sich nach dem anderen Pole der. Kapsel zu ver-

l s6hmälert. , . 7 _ l en

Fig. 11. Ansaugungsstelle des Cysticercus an die Kapselwand (b). Bildung der letzteren aus einzelnen Gefässlamellen. .

Fig. 12. Zungenartiger Hügel, der sich zwischen Kapselwand (b) und einer

l Einstülpungssstelle des Cysticercus (a) 'hineinlegt, und der von Blutkörperchen und einzelnen grösseren Elementen erfüllt iste -

,

186 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppelbildungen* am Gehirn,

Fig. 13. Kapselwand einer zerfallenen Cystioercusblase.. a) Lockeres, lamel- löses Gewebe, b) dichtes Gefüge aus Elementen der Media und Adventitia, c) lockeres Gewebe, im Farbenton der Media ähnlich sehend, d) Zerfallsträmmer, e) lamellöser Bau der Cystenwand, f) Zone, an welcher die Lamellen sich zu einer fosteren Wand zusammenschliessen.

Fig. 14. Glatte Kapselwand einer Cysticereusblase (b) mit daneben gelegenen Blatgefässen (c). a) Aeussere Hülle der Cysticercusblase.

Fig. 15. Cysticorcnsblase mit atrophischer Kapselwand (rechts). Ein er- weitertes Gefäss (links).

Fig. 16. Kapselwand einer zerfallenen Cysticercusblase, bestehend aus der dünnen, leicht geschlängelten, an einer Stelle zerrisseonen Gefässwand.

Fig. 17. Segmente aus zwei nebeneinander liegenden Muskelcysticerken nebst ihren Kapselwänden. a) Aeussere Hüllen der Cysticerken, b) Kapsel- wand, c) Muskalatur.

Fig. 18. Einmündungsstelle eines Gefässes in die Kapselwand einer Cysti- eercusblase.

Fig. 19. Ein erweitertes Gefäss der Hirnrinde.

Fig. 20. Wellenartig gewundene Kapselwand eines zerfallenen Cysticercus; nach innen zu eine dunklere Zone, in welcher die Lamellen dicht ge- fügt sind, nach aussen zu locker gelagerte Lamellen, die sich gleich- mässig anlagern; im Inneren, der welligen Kapselwand anliegend, Trümmerhaufen des zerfallenen Cysticercus.

Fig. 21. Verstopfte Gefässe am Pol einer Cysticercusblase.

Fig. 22. Ein kleines, gewundenes, zerrissenes Gefäss (rechts). Im Inneren desselben und in der Nachbarschaft der zerrissenen Stelle Erweichungs- trämmer. Links davon die Cysticercusblase.

Fig. 23. Querschnitt durch einen Teil einer älteren Cysticercusblase (nach einem Präparat des Herrn Prof. Henneberg). a) Aeussere Hülle des Cysticercus, b) und c) innere und änssere Zone der Kapselwand der Cysticercusblase, d) Innenraum der Blase. a’ Ausbuchtungsstellen der

yste, wo zwei Faltenblätter der äusseren Hülle dicht aneinander ge- lagert und sowohl miteinander als auch mit der Kapselwand ver- klebt sind.

Fig. 24. Kleiner Segmentabschnitt einer Gehirneyste von Distomum hepaticam (nach einem Präparat des Herrn Dr. Tanıguchi). a) Zerfallene Masse

es Distomum, im Hohlraum der Cyste gelegen, b) inuere, c) Aussere Zone der Kapselwand, d) Distomumei.

Ueber sogenannte „Doppelbildungen“ am Gehirn, mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stirn- windung.

Von

Dr. RICHARD WEINBERG, Dorpat.

Nachdem Lussana!) und Rolando?) (wie es scheint, zuerst) auf die Neigung des menschlichen Stirnhirns zum Zerfall in vier

2) Ph. Lussana, Circumvolutionum cerebralium anatome humana et comparata, quam ex vero 80 tabulis exaravit. Ph. L. Patavii 1888. Ed. II.

2) Rolando, Della struttura degli emisferi cerebrali. Məm. R. Accad. Torino. 1829. XXXV.

mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stimwindung. 187

sagittale Windungszüge aufmerksam gemacht hatten, wurde diese Angelegenheit in den siebziger Jahren wieder von Benedikt auf- genommen!), der sie in einer Reihe von Publikationen im Zusammen- hange mit der bekannten Frage der Verbrechergehirne und mit Beziehung auf einige Homologien des Carnivorentypus zu be- handeln versuchte,

Im ganzen geht aus seinen Ermittelungen hervor?), dass ein Vierwindungstypus des Stirnlappens, wo er beim Menschen vor- handen ist, weıtaus am Öftesten durch mehr oder weniger voll- ständige Spaltung des Gyrus frontalis medius in zwei sekundäre Züge bedingt werde. Unter 87 untersuchten Gehirnhemispliären mit 40 Fällen von komplettem oder angedeutetem Vierwindungs- typus war dies Verhalten 24mal ausgesprochen in einer Weise, wie dies Hanot?®) schon an anderem Material ausdräcklich festgestellt hatte.

Dass es sich auch ın der Norm so verhält, dafür scheint zuerst Sernow*) und demnächst Giacomini’) und Chiarugi®) ein umfassendes Beweismaterial erbracht zu haben.

Nun ist aber und daran knüpfen meine nachstehenden Ausführungen an folgendes wohl zu beachten.

Während Benedikt für die Vermehrung der „normalen“ Anzahl von Stirowindungen die Dreizahl galt damals noch für normal neben dem Gyrus frontalis medius in einer gewissen Anzahl von Fällen nur noch den Gyrus frontalis superior ver- antwortlich macht, eine Auffassung, der sich Chiarugi vollkommen anschliesst, taucht bei Giacomini die Vorstellung auf, dass normaliter auch der Gyrus frontalis inferior sich der Länge nach spalten könne, und zwar angeblich gar nicht so selten, nämlich in reichlich einem Viertel der Fälle von Vierwindungs- typus und in etwa 4 pCt. aller überhaupt von ihm untersuchten

ehirne.

Diese Angabe eines anerkannt sorgfältigen Beobachters ist recht bemerkenswert. Eberstaller, dem wir eine Mono-

1) Benedikt, Der Raubtiertypus am menschlichen Gehirn. Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1876. XIV. 930.

Benedikt, Anatomische Studien an Verbrechergehirnen. Wien 1879.

9 Benedikt, Zur Frage des Vierwindungstypns. Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1880. XVIIL 849.

3) Hanot, Quatre observations de dédoublement de la deuxiöme eireonvolution irontale chez les malfaiteurs. Progrès medic. 1880. No. 1. Gazette mödic. de Paris 1880. No. 4. p. 47. Derselbe, Corveaux des condamnés. Compt. Rend. soc. de Biologie. Paris 1879. Decembre 27.

4) D. N. Sernow, Individualnyä tipy mosgowych iswilin u delow£ka. 12 Figg. Moskau 1877. $ C. Giacomini, Varietà delle circonvoluzioni cerebrali dell’ uomo,

Mem. comman. alla R. Accad. di Medic. d. Torino in 1881. Torino 1882. . 183 #. Ch. Giacomini, Variétés des circonvolutions cérébrales chez homme. Arch. ital. de Biologie. 1882. I. 835 f. Vergl. auch: Guida

allo stadio delle circonvoluzioni cerebrali dell’ uomo. Sec. ediz. Torino 1884.

G. Chiarugi, Osservazioni sulla divisione delle circonvoluzioni frontali. Boll. soc. tra i cult. delle scienze di Siena 1885. Chiarugi hat, soviel ich sehe, die Bedeutung des Sulcus frontalis medius zuerst richtig erkannt.

138 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppelbildungen“ am Gehirn.

graphie über den Stirnlappen verdanken!), kennt keine Fälle von Längsgliederung der unteren Stirnwindung. Weder Sernow?), noch Cunningham?), noch Retzius*) erwähnen etwas davon, dass ähnliche Zustände vorkommen. Und so ist es auch mit den Er- fahrungen aller übrigen älteren und neueren Spezialforscher, die sich mit den Variationen der menschlichen Gehirnoberfläche be- schäftigt haben.

Ich dachte anfänglich geradezu an etwaige Rassenunterschiede. Aber als ich die Meinung Giacominis näher kennen lernte, ver- warf ich dies. Denn wie aus nebenstehender Abbildung‘ wohl unzweifelhaft hervorgeht, ist das, was er als „raddoppiamento della circonvoluzione frontale inferiore“ aufführt, ein sehr klarer Fall von Zweiteilung des Gyrus frontalis medius bei gewöhnlichem Verhalten des eigentlichen Gyrus frontalis inferior. |

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Fig. 1.

„S. F. J.“ ist (Fig. 1) nach der jetzt angenommenen Be- trachtungsweise nicht die „Scissura frontale inferiore“, sondern der Sulcus frontalis medius, wie dies zuerst Chiarugi richtig erkannte und späterhin Eberstaller näher begründete; statt „Gyr. fr. inferior internus“ der Abbildung würde man jetzt sagen: laterale Wurzel und Pars lateralis der mittleren Stirnwindung, deren mediale allein Giacomini als Gyrus frontalis medius ansieht; und „Gyr. Fr. inferior externus“ ist die untere (dritte) Stirnwindung, deren obere

1) O. Eberstaller, Das Stirnhirn. Ein Beitrag zur Anatomie "der Oberfläche des Grosshirns. Wien und Leipzig 1890.

2) D. N. Sernow, Individualnyä tipy mosgowych iswilin u delowöka: 12 N Moskau 1877.

3) D, I. Cunningham, Contribution to the surface anatomy of the cerebral hemispheres. R. Jrish Academy, Cunningham Memoirs. No. VIL 1892. 4) G. Retzius, Das Menschenhirn. Studien in der makroskopischen Morphologie. 2 Bände. Stockholm 1896. u

mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stirnwindung. 139

Grenzfurche „S. F. In.“ nicht einer „Scissura terziaria frontale inferiore, che divide la circonvoluzione omonima“ entspricht, sondern alle charakteristischen Merkmale der unteren Stirnfurche aufweist, die hier in typischer Weise durch jene laterale Wurzel des Gyrus frontalis medius von dem System E Präzentralfurche Abgedränet erscheint.

Man sieht also, Giacomini hat durchaus genau beobachtet, nur weicht, worauf auch schon Sernow hinwies 1), seine Deutung der Furchen wesentlich von derjenigen ab, die gegenwärtig, nach dem Vorgange von Chiarugi und Eberstaller, wohl von der Mehrzahl der Anatomen befolgt wird und auf der die meisten neueren Windungsstatistiken basiert erscheinen.

Die von Giacomini gemeinte Varietät Zusammenhang des Ramus anterior sulci praecentralis mit dem Sulcus frontalis medius bei starker Entwicklung einer lateralen Wurzel der mittleren Stirnwindung kommt auch nach meinen Beobachtungen in einer ähnlichen Häufigkeit vor, wie er sie dafür angibt.

I.

Dagegen ist in dem Sektionsmaterial, dass mir seit einer Reihe von Jahren reichlich zur Verfügung stand, bisher nur ein einziges Gehirn aufgetaucht, bei dem von einem wirklichen „raddoppiamento“, einer sagittalen Spaltung der unteren Stirn- windung die Rede sein kann.

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Fig. 2

Die photographische Nachbildung dieses Falles, der von einem geistesgesunden erwachsenen Manne herrührt, gibt Fig. 2 wieder; und zwar bei stärkerer seitlicher Neigung des Gehirns, um möglichst alle Einzelheiten des Stirnlappens übersehen zu können.

. D D.Sernow, O predölach individualnych i plemennych widoismenenį tipičeskich borosd i 'iswilin mosga. Moskau 1883. p. 17. F

140 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppelbildungen“ am Gehirn,

Wie die beigefügte erläuternde Skizze (Fig. 3) der Furchen- verhältnisse andeutet, ist an diesem merkwürdigen Gehirn zunächst die Präzentralfurche anscheinend doppelt angelegt, da vor der normalen (Sulcus praecentralis inf. + sup.), die oben den Sulcus frontalis superior abgibt, entsprechend ihren unteren zwei Dritteln eine zweite, dem S. Rolandi parallele Spalte (Sulcus praecentralis access.) vorhanden ist, aus der die mittlere und die untere sagittale Stirnfurche sich nach vorne hin entwickelt.

Gyr. front. sup.

s" Hami anti

Fig. 3.

Von dieser Komplikation abgesehen, erscheinen die Windungs- anordnungen im Stirnlappen durchweg typisch ausgebildet und eindeutig.

Insbesondere entsteht die mittlere Stirnfurche in charakte- ristischer Weise aus der (überzähligen) Praecentralis inferior als sogenannter Ramus anterior derselben und ziehtsodann kontinuierlich bis an die Querwindungen der vorderen Stirnlappenfläche.

Nicht minder charakteristisch ist die Anlage der unteren Stirnfurche, die sich nicht nur durch ihren ganzen Habitus, sondern auch durch ihre Neigung zur transversalen Fragmentierung, sowie durch ihr typisches Verhalten zu dem Sulcus radiatus, der sie vorn quer abschliesst, als solche dokumentiert.

Sehr klar ausgeprägt erscheint auch der Aufbau der mittleren Stirnwindung aus einem lateralen (F?l) und einem medialen Längs- zuge (F?m), wie dies ja in allen typischen Fällen die Regel ist.

Kurz, wir haben es bis auf jene sonderbare Anlage der Präzentralfurche mit einem geradezu schematisch ausgebildeten Typus der beiden oberen sagittalen Stirnwindungen zu tun.

mis besonderer Berücksichtigung der unteren Stirnwindung. 141

Hinsichtlich der Deutung der oberen Stirnfurche und oberen Stirawindungen sind hier wohl keine Zweifel denkbar.

Die unterste oder dritte aber und hierin scheint mir das Besondere dieses Falles zu liegen ist in ihrem mittleren Abschnitt der Länge nach gespalten, und zwar darch die Furche fil, deren sagittales Element eine bedeutende Tiefe auf- weist und sich hierdurch, sowie durch ihre Beziehungen zu den sie flankierenden, für diese Rindengegend charakteristischen trans- versalen Bestandteilen als eine Art Wiederholung der unteren Stirnfurche, als Sulcus frontalis inferior accessorius ausweist!). Dass sie distalwärts die Präzentralfarche nicht erreicht, ist von keiner grossen Bedeutung, da letztere, wie erwähnt, in diesem Fall eine ungewöhnliche transversale Gliederung mit scheinbarer Verdoppelung erfahren hat.

Da das Präparat, wie erwähnt, in stark seitlich übergeneigter Lage photographiert wurde, erscheinen die beiden schon an und für sich etwas schwachen Rami anteriores der Fossa Sylvii in der perspektivischen Ansicht sehr verkürzt, aber sie sind sonst ziemlich regelrecht gestaltet, und man erkennt, dass zwei Sulci radiati in das von jenen umfasste Operculum intermedium hin- einschneiden, die hier in den bekannten charakteristischen Be- ziehungen zu der gewöhnlichen und zu der „überzähligen“ unteren Stirnfurche stehen.

Läge von dem ganzen Gehirn nur das Rindenstück mit diesen beiden Radiärfurchen, dem Operculum intermedium und der ano- malen Furche fil vor, so würde ich nicht zögern, diese als eine untere sagittale Stirnfurche zu betrachten.

1) Diese Furche einfach als sekundäre Vertiefung oder dergleichen abzutun, wie dies wohl bei oberflächlicher Betrachtung naheliegen könnte, ist hier, wie jeder Kenner der Gehirnoberflüche zugeben wird, ganz saus- geschlossen. Ich habe grössere Reihen von Gehirnen verglichen und nie im Bereiche der dritten Stirnwindung etwas gefunden, worauf unsere fil-Furche auch nur im entferntesten zurückgeführt werden könnte. Das Rindengebiet abwärts vom Sulcus frontalis inferior hat in der hier ia Betracht kommenden Gegend überhaupt keine Nebenfurchen und entwickelt im übrigen nur trans- versale Falten. Ueber die Plastik der dritten Stirnwindung ist man gegen- wärtig vollkommen genau unterrichtet, und die vorkommenden Variationen knüpfen immer wieder an bekannte Dinge an. Grösseres Gewicht würde der Hinweis haben, dass die Entstehung der fil-Furche in dieser oder jener Weise mit der Ausbildung der Rami anteriores der Fissura Sylvii zusammen- hängen möchte. Diese befindon sich hier in der Tat in einem otwas rudimentären Zustand, und es wäre daher ganz gut möglich, dass durch Auftreten einer strahligen Sagittalfalte eine Art Kompensation in der Nachbarschaft des in der Entwicklung gehemmten Teiles herbeigeführt wurde. Es könnte sich also evtl. um ein „Produkt des Kompensationsgesetzes“ im Sinne von G. Retzius handeln (Das Menschenbirn, p. 95). So sehr ich sonst geneigt bin, mir den vorliegenden Fall so zu erklären, muss ich dennoch bemerken, dass unter einer ganzen Anzahl von Präparaten mit äusserst zurückgebliebenem Sylvi- schem Vorderast kein Fall vorhanden ist, wo eine derartige Kompensation im Sinne einer sagittalen Faltenbildung zu beobachten wäre. Rudimentäre Bildung des Ramus anterior der Fossa Sylvii tritt ausserdem in der Regel im Gefolge von mehr oder weniger ausgesprochenen Defekten des frontalen Klappdeckels auf, hinsichtlich deren es unsicher, wie und ob sie eine Aus- gleichung erfahren können.

142 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppeldildangen“ am Gehirn,

Im übrigen zeigt die untere Stirnwindung keine nennens-

werten Abweichungen vom gewöhnlichen Verhalten. Sie ist sogar sehr regelmässig gebaut, wird in ihrem Fussteil von einem typischen Sulcus diagonalis geschrägt und weist nicht, wie man vielleicht erwarten sollte, in dorso-lateraler Richtung eine über das normale Mass hinausgehende Breitenentwicklung auf. 7 Zu bemerken ist auch, dass die hinzugehörige linke Hemisphäre sich im Stirnlappengebiet ganz wie gewöhnlich verhält, also keine denrechtsseitigen entsprechende abweichende Anordnungen aufweist, | Wie sich die Inseln verhalten und ob ın der Anordnung des Linsenkerns und der übrigen Ganglien und Teile Abweichungen bestehen, weiss ich noch nicht, da das Objekt einstweilen geschont werden musste.

Der Fall steht in meinem Material, wie gesagt, einstweilen noch als Unikum da, doch möchte ich nicht unterlassen, ein anderes Objekt (Fig. 4) hier vorzuführen, das in mancher Hinsicht eine Art Pendant zu jenem bildet. Auch hier sehen wir (bei schematisch

Salc. front. med. £ulc. front. inf.

! Sule. front. sup.

-~ > (4 h 5 `

Gyr. front. med. pars lat. ~.. _ -, E *Sule. praecentr. sup.

Sule. praecentr. int.

Sulc. radiatus - -|

”"Sule. Rolandi À i = Sulec. diagonalis operculi

Sulc. Irontomarg. lateral. - -F Sulo. suboentr. post.

—— der Gyr. centr.

pos Sulc. subcentr. ant.

z , N Ram. fiss. Sylvii Sulc. front. Ram. fiss. Sylvii ant. horiz. inf. access. ant. vertie.

Fig. 4.

ausgebildeter vorderer Zentralwindung und kräftiger Entfaltung der Sylvischen Vorderäste) unterhalb bezw. lateral von der ee unteren Stirnfurche eine dieser parallele accessorische agittalspalte auftreten, aber sie lagert bier im distalen Teil des Gyrus frontalis inferior, während Fig. 2 uns eine überzählige Furche im mittleren bezw. proximalen Teil der Windung aufweist. Die Stelle, die der accessorischen unteren Stirnfurche fil der Fig. 2 und 3 entspricht, finden wir an diesem Gehirn, wie gewöhnlich, exquisit quer bezw. coronal angeordnet in Gestalt der üblichen Gyri radiati, die gegen das Operculum triangulare ge- richtet sind. Ä

mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stirnwindung. 143

_ Eine Missdeutung der Bestandteile des Stirnlappens erscheint bei diesem Gehirn kaum denkbar; immerhin wird man bemerken, dass der. Sulcus frontalis medius nicht aus dem Sulcus praecentralis, wie m Fig. 2, sondern, wie so oft, anscheinend aus der oberen Stirnfarche sich entwickelt hat und mit dieser jedenfalls ober- flächlich ein Kontinuum bildet: das distale Feld des Gyrus frontalis medius ist daher ungespalten geblieben.

Die dritte Stirnwindung enthält also in ihrem hinteren Ab-

schnitt deutlich zwei Etagen. Die trennende Furche erinnert in mancher Hinsicht an einen veritablen Sulcus frontalis inferior (Umkrümmung des vorderen Endes radıär zum ÖOperculum inter- tedium u. s. w.). Dennoch wage ich es noch nicht, zu entscheiden, ob sie genetisch die gleiche Bedeutung hat wie die entsprechende Bildung in Fig. 2, da ihre Lagerungsverhältnisse etwas abweichen und die beiden Gehirne auch sonst recht verschiedene Entwicklungs- zustände aufweisen. Was die Häufigkeit der hier beschriebenen Vorkommnisse betrifft, so kann sie keine sehr grosse sein, da, wie gesagt, Spezial- forscher, die mit umfangreichem Material arbeiteten, den Zustand nicht bemerkt haben. Nach meinen eigenen Berechnungen dürfte #/,—1 pCt. nicht überschritten werden.

II.

Ist die bisherige Darlegung richtig, dann erscheint die Möglich- keit, dass hier im Bereiche des Gyrus frontalis inferior wenigstens die Andeutung einer wirklichen Doppelbildung besteht, nicht ohne weiteres ausgeschlossen. |

Denn es handelt sich hier in der unteren Frontalregion nicht am eine Steigerung typischer, normal auftretender Furchenanlagen, wie sie beispielsweise im Bereiche der oberen Stirnwindung (als sogenannte 9-Furche) oder in der mittleren Stirnwindung (als schon embryonal präformierter Sulcus frontalis medius) u. s. w. den longitudinalen Gliederungen zur Grundlage dienen, sondern wir haben in fil ein Gebilde vor uns, das 1. seiner Lage und seinem ganzen übrigen Verhalten nach genetisch auf keine der typischen gewöhnlichen Faltungsdifferenziate zurückgeführt werden kann und das 2. die morphologischen Eigenschaften einer typischen Furche, nämlich des normalen unteren Frontalsulcus, in unverkennbarer Weise darbietet.

Wir würden also, um es kurz zu sagen, statt einer unteren Stirnfurche im vorliegenden Fall deren zwei haben.

Vorausgesetzt, dass die obige Deutung von fil richtig ist.

Der Bildungsmechanismus der Rindenfaltungen entzieht sich ja noch vollkommen einer tieferen Erkenntnis, und das einzige, was leidlich feststeht, ist, dass die Elemente der Furchen und Windungen ihre gesetzlichen Beziehungen haben, dass also zwar kompensatorische Bildungen auftreten, nicht aber typische Bestand- teile. zur Entstehung von ihrer Anlage inadäquaten Strukturen Anlass geben können. '

144 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppelbilduugeu* am Gehirn,

Wer mit weitreichenden Hypothesen leichtfertig iat, über- sieht die Schwierigkeiten der Frage, ob in dem Windungsrelief gelegentlich wirkliche Doppelbildungen auftreten können.

Aber der Gedanke daran wird durch die hier beigebrachte Beobachtung einigermassen nahegelegt, so lange eine andere Er- klärung sich dafür nicht findet. Eine Entscheidung ist freilich daraufhin allein nicht möglich.

° III.

Was man sonst wohl als „Verdoppelung“ von Furchen und Windungen betrachtet, ist meiner Ansicht nach keine solche, hat mit der hier aufgeworfenen Frage meist gar nichts zu tun and gehört nicht hierher.

Jene Bildung beispielsweise, die am Gehirn Gambettas ala „Verdoppelung der Brocaschen Windung“ beschrieben.) und von den Pu \izisten gleich als etwas Besonderes aufgegriffen wurde, möchte einer ernsten Kritik kaum Stand halten. An den skizzen- haften Zeichnungen wenigstens, die das Gehirn darstellen sollen, erkenne ich an der linken sowohl wie an der rechten unteren Stirnwindung alle jene Strukturen, wie sie für ein typisch ent- wickeltes menschliches Gehirn charakteristisch sind. Eine eigent- liche Atypie liegt bei Gambetta nicht vor. Es ist indessen immer- hin möglich, dass in der feineren Ausmodellierung, in den Wölbungs- und Faltungsverhältnissen der betreffenden Rindengegend Be- sonderheiten zu Tage treten, was nur am Präparate selbst und zumal unter Vergleichung beider Seiten sicher beurteilt werden kann. Gemeint ist in diesem Fall übrigens eine ge- steigerte Querdifferenzierung des Gyrus frontalis inferior, nicht, wie in meiner Beob- achtung, Spaltung in der Längs- richtung.

Ich erwähne sodann das Vorkommen angedeuteter Spal- tung der vorderen Zentral- windung. Sie wird im Be- reiche des unteren Drittels der Windung hin und wieder Fig. 5 zeigt einen der mir vor- liegenden Fälle in grösserer oder geringerer Ausdehnung angetroffen, nie im oberen, wo manch- mal nur ganz seichte Dellen und Rindendepressionen?) vorkommen.

1) Chudzinski und Duval, Description morphologique du cerveau de Gambetta. Bull. soc. anthropol. Paris. Sér. III. T. 1X. 129—152.

3) G. Retzius, Das Menschenhirn. Studien in der makroskopischen Morphologie, S. 110, bemerkt hierzu: „Auf ihrer (der vordera Zentralwindung) Oberfläche sind zuweilen kurze Nebenfarchen vorhanden.“

mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stirnwindung. 145

Besonders bei stärkerer Breitenentwicklung der Basis des Gyrus centralis anterior erhält ihre Oberfläche accessorische Furchen, die dem unteren Teile des S. Rolandi mehr oder weniger parallel verlaufen.

Dass solche und ähnliche „Nebenfurchen“ auch ihre Bedeutung haben, sieht man gewöhnlich erst dann ein, wenn sie gelegentlich zu stärkerer Entwicklung gelangen und man alsdann nicht weiss, wie sie zu deuten sind.

In einzelnen Fällen ist ferner Zweiteilung des Gyrus temporalis superior zu beobachten, doch kommt es hier gelegentlich zur Ausbildung einer längeren Furche von nicht unbedeutender Tiefe, die die vordere Halfte der Windungen in zwei zierliche Längswülste zerlegen kann. Der sekundäre Charakter dieser Bildungen ist meist unverkennbar, aber es handelt sich um eine vollkommene typische Einrichtung, die offenbar mit einer bestimmten, relativ nicht allzu geringen Konstanz hervortritt.

Einer recht gewöhnlichen Anordnung entspricht das bekannte Bild der „doppelten“ Intraparietalis und Callosomarginalis, das in manchen Fällen durch exzessive Entwicklung normaler Brücken im Verlaufe dieser Furchen hervorgerufen wird. Von einer doppelten Anlage der Furchen selbst kann auch hier natürlich nicht die Rede sein.

Uebrigens kann der distale aufsteigende Ast des Sulcus calloso- marginalis bezw. seiner Pars posterior im Sinne Eberstallers!)

Fissura centralis Lob. paracentr.

Ram. asc. access... Ta „— Ram. post. asc. sulci call.-marg.

``- Sulo. praecentr. medialis

Praecuneus -”

ida ~: Sulec. paracentralis

Sulec. splenii Sule. subparietalis Fig. 6.

verdoppelt erscheinen (Fig. 6). Es entsteht dann ein recht eigentüm- liches Bild, indem in der Ansicht von oben hinter dem Mantel- kantenende der Zentralfurche der charakteristische Einschnitt der Callosomarginalis zweimal auftaucht. Man könnte auch die vor- liegende Anordnung sehr wohl auf exzessive Entwicklung der Brocaschen parieto-limbischen Windungsbrücke in dieser Gegend zurückführen, aber die charakteristischen Beziehungen des distalen Astes zu dem Sulcus subparietalis zwingen zu einer anderen Auf-

1) Das Stirnhirn. Wien u. Leipzig 1890. p. 49. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 2. 10

146 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppelbildungen“ am Gehirn,

fassung des Sachverhaltes. Inwiefern die fragliche Bildung einer Tierähnlichkeit entspricht (Sulcus cruciatus des Öarnivorentypus), wie dies Eberstaller vermutet!), wage ich nicht zu entscheiden.

Dass der Sulcus frontomarginalis an einer Reihe von Gehirnen mit stark ausgebildeter Quergliederung der vorderen Stirnlappenfläche in der Zweizahl erscheint, ist ebenfalls ein ganz typischer Zustand, da auch in Fällen, wo nur eine einzige Fronto- marginalis vorhanden ist, jedesmal wenigstens die Elemente der zweiten aufgezeigt werden können.

Auch das Zustandekommen eines zweifachen Sulcus orbi- talis transversus lässt sich ın den seltenen Fällen, wo diese Einrichtung bemerkt wird, ungezwungen auf eine sekundäre Ver- schiebung seiner typischen Elemente durch gesteigertes Wachstum von Windungsbrücken zurückführen.

Weniger klar liegt die Sache bei der Fissura parieto- occipitalis, falls sie wie in einer schon früher abgebildeten Beobachtung?) hinter sich eine Art Doppelgängerin zu haben scheint, die aus der Oalcarina hervortritt. Die inneren Furchungs- verhältnisse des Cuneus bieten aber reichliche Gelegenheit zur Ent- stehung derartiger Strukturen?). Durchschnitte von dem betreffenden Gehirn zu machen, konnte ich mich bisher nicht entschliessen.

Die Annahme endlich, dass die Zentralfurche des Gehirns einer zweifachen Ausbildung fähig ist, beruht wohl auf einer missverständlichen Deutung, wie dies schon Sernow*) vor mehr als 20 Jahren in einer im allgemeinen zutreffenden Weise erkannt hat. Gegen die Auffassung Sperinos, der eine solche Anordnung an dem Gehirn des Anatomen C. Giacomini nachwies®), hat neuerdings E. A. Spitzka®) entschieden Front gemacht.

1) Ibidem. p. 51 ff. u. Abbildung daselbst.

2) Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. XVIII. H.1. p 44. Fig. 13.

3) J. W. Mickle erwähnt als eine der Unregelmässigkeiten des Ver- laufs dieser Furche „doubling of the internal limb of the fissure parieto- occipital“. The Joarnal of mental science. Jan. 1898. Sep.-Abdr. p. 4. Sernow, a. a. O., p. 71, spricht nicht von dieser Varietät. Uebrigens sind für die Auffassung derselben die Tiefenverhältnisse der Parietooccipitalis, auf die wir hier nicht eingehen können, massgebend; vergl. hierzu G., Retzius, Das Menschenhirn. p. 138, u. Taf. 82 u. 98. Ferner D. J. Cunningham, Contrib. to surface morphology a. a. O., und G. Elliot Smith, The fossa

arietooccipitalis. Journal of anat. and physiol. 1904. XXXVIII. N. S. VIII. 164—169.

4) D. N. Sernow, Zur Frage über die Grenzen der individuellen und Rassenvariationeu der typischen Furchen und Winduagen des Gehirns. Moskau 1883. p 11. Sernow betont, dass ihm zahlreiche Fälle der Giacomini- schen Varietät vorgekommen sind, aber von ihm anders gedeutet wurden.

5 G. Speriuo, L’encefalo dell’ anatomico Carlo Giacomini. Estr. dal Giorn. della R. Accadem. di Medicina di Torino, Agosto 1900. No. 8. 4 tav. An der rechten Hemisphäre dieses Elitegehirns findet sich die zweite distale Querfurche mit S.r?. bezeichnet == Sulcus Rolandi secundus. Sep.-Abdr. p. 67, vergl. auch p. 17.

©) E. A. Spitzka, Js the central fissure duplicated in the brain of Carlo Giacomini, anatomist? A note on a fissural anomaly. The Philad. med. Journal. August 24. 1901. Sep.-Abdr. p. 8. („Sperinos alleged ‚second central‘ is nothing more than an unusually long and confluent postcentral and subcentral.“)

mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stirnwindung. 147

Ich möchte meinerseits zu dieser Angelegenheit bemerken, erstens, dass hier auch Fragen der Nomenklatur mit eine Rolle spielen, über die noch keine volle Einigkeit erzielt ist, und zweitens, dass der Ausdruck „duplicit& della scissura di Rolando“ der italieni- schen Autoren jenen Fällen entspricht, wo neben einer vollkommen ausgebildeten [„durchlaufenden“ im Sinne von Waldeyer!)] Post- zentralfurche?) der Anfangsteil des Sulcus intraparietalis sich quer lagert und evtl. in Verbindung mit Brissauds Sillon parietal supérieur) eine zweite Postcentralis vortäuscht. Es sind dann die Varietät finde ich in etwa 3 pCt. aller Gehirne be- kanntlich anscheinend drei „Zentralwindungen“ vorhanden.

Die Furchen sind übrigens sehr leicht auseinanderzuhalten: abgesehen von der allgemeinen Form, die immer entscheidend ist, hat der Sulcus postcentralis am oberen Ende typische Gabelform und nimmt solchergestalt das Ende der Callosomarginalis auf; sein unterer Verlauf ist charakteristisch nach hinten gerichtet, von dem Sulcus Rolandi divergierend‘).

Wirkliche Wiederholungen, Verdoppelungen der Zentralfurche habe ich bei Befolgung der angegebenen Kriterien bisher nie bemerkt’).

Zu dem gleichen Ergebnis gelangte im Anschlusse an Mickle®; vor einiger Zeit auch Leggiardi-Laura, der eine Verdoppelung des Rolando mit Recht für bisher unerwiesen hält und die als solche aufgeführten Fälle in dem oben angedeuteten Sinne auf Kom- plikationen im Scheitellappen und evtl. auf Einfluss der brachyen- cephalen Windungsentfaltung zurückzuführen geneigt ist’).

In dem von Giacomini in Fig. 18a und 19a, p. 96/97, seiner Varieta delle circonvoluzioni abgebildeten Falle von „bilateraler Verdoppelung“ des Roland findet E. A. Spitzka ein unzweifel-

1) Sitz.-Ber. Preuss. Akad. d. Wissensch. 1894. p. 1218 ff.

2) Dass diese Furche häufig zu Verwechselungen Anlass gibt, betont schon Wernicke. Lehrb. der Gehirnkrankheiten. Cassel 1881. Bd. I. Anstomische Einleitung.

3) Brissaud, Anatomie du cerveau de l’homme. 48 pl. Paris 1893.

4) Vergleiche meine Schrift: „Das Gehirn der Letten.“ Cassel 1896. p. 76/77. „Das vordere Ende der Gabel schiebt sich zwischen Callosomarginalis und Zentralspalte hinein.“ `

+) Die Angabe von Ch. Mills(Dercum, Text-book on nervous diseases. p: 890), wonach B. G. Wilder (1894) an dem Gehirn eines Selbstmörders

ie Zentralfarche beiderseits verdoppelt gefunden hätte, ist zwar richtig, aber später (Revised interpretation of the central fissures of the educated suicides brain exhibited to the American Neurological Association in 1894. Journal of nerv. and ment. disease 1900. Sep.-Abdr.) erläuterte Wilder den Fall in dem Sion, dass die hintere der beiden Querfurchen dem Sulcus postcentralis entspreche.

©) W.J.Mickle, Atypical and unusual brain-forms, especially in relation to mental status. A study on brain-surface morphology. The Journal of mental science. April 1897. Sep.-Abdr. p. 11. Mickle bezeichnet die Sache geradezu als „false appearance as of two or three central fissures“.

1) Leggiardi-Laura, Sopra il significate della cosidetta duplieitä della scissura di Rolando e sopra un rapporto costanto della scissura post- rolandica. Giorn. R. Accad. di Medic. di Torino 1900. LXIII. 880.

10*

148 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

haftes Spezimen von Duplizität der Zentralwindung!) („an un- questionable duplication, with a supernumerary Rolandie gyrus“), was ich meinerseits jedoch nicht anerkennen möchte, da die distale der beiden mit R bezeichneten Furchen ohne jede Frage Sulcus postcentralis ist (das geht aus ihrer allgemeinen Gestaltung, der scharfen Abknickung des Lateralendes, der beiderseitigen Gabelung des Dorsalendes unzweifelhaft hervor, ausserdem ist Po rechts nicht Sulcus postcentralis, sondern die Brissaudsche Querfurche).

Ganz aus dem Bereiche der Möglichkeit ausgeschlossen sind wahre Doppelbildungen einzelner Gehirnwindungen freilich nicht. Aber wo sie etwa auftreten sollten sie als solche zu unter- scheiden, ist die Gehirnanatomie jetzt jedenfalls vollkommen im- stande —, läge eine eklatante Abnormität vor, die im teratologischen Sinne den echten Duplizitäten einzuordnen wäre.

Ob die in unserer Fig. 2 und 4 dargestellte Anordnung der dritten Stirnwindung als hierher gehörig betrachtet werden darf, muss, wie gesagt, bis auf weiteres noch dahinstehen. Diese Fälle deuten, wie mir scheint, zunächst nur an, dass einzelne, scheinbar ganz harmlose Windungsvariationen möglicherweise zu Zuständen in Beziehung stehen, die dem Typus einer normalen Entwicklung weit entrückt sind.

(Aus der psychiatrisch-neurologischen Klinik des Geheimen Rates Flechsig zu Leipzig.)

Beiträge zur Kenntnis der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. Von Dr. ADALBERT GREGOR,

I. Assistenzarzt. (Schluss.)

Ueber Oekonomie des Lernens. a) Lernen im ganzen und Lernen in Teilen.

Wie erwähnt, waren meine Versuchspersonen bei der Er- lernung von Gedichtstrophen auf das Lernen in Teilen (T-Ver- fahren) angewiesen. Dies legte es nahe, das Verhältnis dieser Erlernungsart zum Lernen im ganzen (G-Verfahren) auch da zu untersuchen, wo auch das G-Verfahren zum Ziele führte. Wir stehen also vor der Frage, ist das T-Verfahren bei meinen Versuchspersonen das absolut günstigere oder fand die Strophen-

1) E. A. Spitzka, Philad. med. Journ., op. cit. Sep.-Abdr. p. 4.

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 149

erlernung unter einem verhältnismässig zu grossem Aufwande an Lesungen statt. Zu diesem Zwecke stellte ich bei beiden Versuchs- personen je eine Versuchsreihe an, bei M. mit sinnlosen, bei O, mit sinnvollem Materiale. In beiden Fällen wurden achtgliedrige Reihen verwendet, und zwar zunächst die erste Hälfte, hierauf die zweite solange vorgeführt, bis sie frei hergesagt werden konnte, sodann die ganze Reihe bis zur Einprägung gelesen. Die so elernten Reihen wurden nach 24 Stunden in der gewöhnlichen

eise (G-Verfahren) wieder erlernt. Die Versuchsergebnisse sind für M. in Tabelle 6, für O. in Tabelle 7 zusammengestellt. Aus Tabelle 6 ist zu entnehmen, dass das Lernen in Teilen sich für M. weitaus als das günstigere erweist. Selbst die höchste Lesungszahl 10 im ersten Versuche ist niedriger als die niederste, die zur Erlernung einer achtstelligen Reihe nach dem G-Ver- fahren in den Kontrollversuchen erforderlich war. Auch beim Wiedererlernen nach 24 Stunden waren die jetzt nach dem G-Verfahren erlernten T-Reihen im Vorteile. Da von den Ver- gleichsreihen bloss drei nach 24 Stunden wiedererlernt wurden, so berechnete ich das Mittel für die G-Versuche aus diesen und

Tabelle 6.

T-Reihen

Reihen- Erste nummer | lernung | holung || nummer | Erlernung

lo 49 |14 67 8 6

G-Reihen

54 16 | eo #847] 6 6e 18 | 6 2+2 ia 8 e7 |wc] a | ee [#46 6 77 |15 7 a 2+2 ie 5 78 |14 s | 7 2t? ya 4 | 7% er 3

den Versuchen mit verteilten Wiederholungen, die einer verhältnis- mässig geringen Zahl von Lesungen für die zweite Erlernung nach 24 Stunden bedurften. Das Mittel betrug für die ursprünglich nach dem T-Verfahren erlernten Reihen 4,7, für die G-Reihen 5.

Weniger einfach liegen die Verhältnisse bei O. Hier zeigte sich in den ersten drei Versuchen das T-Verfahren entschieden

ne ——

150 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

unvorteilhafter, indem zwei Reihen überhaupt nicht erlernt werden konnten. Dieser Umstand weist auf besondere Störungen hin, die sich dadurch ergaben, dass O. in dieser Versuchsperiode

Tabelle 7.

G-Reihen

Reihen- |Erste Er- nummer | lernung

T-Reihen

Reihen-

nummer

Wieder-

holung Erste Erlernung

"EL um) 80 12 6 64 ate 11 61 13 7 65 2ta +13() (=| 62 10 7 66 zte +9 4 | 67 +3 +5 4 68 1+2 e 7

G-Reihen mit stärkerer Betonung des ersten, vierten und siebenten Wortes las, durch das T-Verfahren aber dazu veranlasst wurde, das erste und fünfte Wort zu betonen. Wurde nun nach Er- lernung der beiden Reihenhälften die Reihe im ganzen gelesen, so schwankte die Versuchsperson zwischen den beiden Rhythmen und wurde dadurch sichtlich verwirrt. In den drei letzten Ver- suchen wurde dagegen von ihr selbst der Rhythmus, mit dem sie die beiden Hälften erlernt hatte, auch beim Lesen im ganzen festgehalten, und damit führte auch bei ihr das T-Verfahren weit- aus rascher zum Ziele.

Wir finden einen bemerkenswerten Gegensatz zwischen unseren Versuchspersonen und dem Normalen, bei welchem das Verhältnis zwischen G- und T-Verfahren am eingehendsten von Steffens!) untersucht wurde. Die Genannte kommt zu dem Ergebnisse, dass sowohl für Reihen sinnloser Worte als auch für Gedichtstrophen das Lernen im ganzen vorteilhafter sei, als das Lernen in Teilen. Dagegen nähert sich das Gedächtnis unserer Versuchspersonen insofern dem kindlichen, als auch Kinder nach den Untersuchungen von Pentschew Reihen sinnloser Silben im ganzen schwerer lernen als in Teilen. Doch lernen Kinder wie Erwachsene Strophen mit grösserem Vorteil beim Lernen im

1) L. Steffens, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom ökonomischen Lernen. Zeitschr. f. Psychol. Bd. 22, S. 321—382

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 151

ganzen, während, wie bereits oben ausgeführt, von unseren Versuchs- personen auch Gedichtstrophen in Teilen leichter erlernt wurden. Die Erklärung des abweichenden Verhältnisses unserer Versuchspersonen vom Normalen ergaben Versuche über das Be- halten von Assoziationen. Diese zeigten, dass durch einmaliges Lesen gestiftete Assoziationen überaus rasch abfielen, Danach ist es begreiflich, dass Reihenglieder, die nicht wegen ihrer Stellung von der Aufmerksamkeit besonders bevorzugt wurden, relativ schwach haften blieben. Das T-Verfahren hob dagegen jene Asso- ziationen auf eine Höhe, von der ein Abfall verhältnismässig viel langsamer erfolgen konnte. Den Beweis für die Richtigkeit dieser Deutung ergab ein Vergleich von Versuchen, in welchen die Assoziationsstärke bei ein- oder zweimaligem Lesen von Wort- aren nach gleichem zeitlichen Abstande mittels des Trefferver- fohrens geprüft wurde. Vier Pare von leicht assoziierbaren ein- silbigen Worten ergaben nach 3 Minuten bei einmaliger Lesung der Reihe 24 pCt. Treffer. Wurde aber die Reihe 2 mal unmittelbar hintereinander gelesen, dann betrug unter sonst gleichen Umständen die Zahl der Treffer 62,5 pCt. Noch ein weiteres Moment kam den T-Reihen deutlich zugute; nämlich das Geläufigerwerden der 'Reihenlesung durch kurz aufeinanderfolgende Wiederholungen. Bekanntlich wies Ephrussi!) darauf hin, dass bei der Erlernung eines ungeläufgen Stoffes eine Anzahl von Wiederholungen darauf verwendet werde, denselben auf ein gewisses Niveau der Geläufigkeit zu bringen. Für meine Versuchspersonen, die, wie in ‘einer früheren Arbeit?) gezeigt, schlechter auffassen als der Normale, stellen auch schon sinnvolle Worte einen nicht ganz geläufigen Stoff vor, wie auch die zahlreichen Verlesungen hewiesen. Konnten solche Störungen beim G-Verfahren mitunter bis gegen Ende der zum Erlernen erforderlichen Lesungen beobachtet werden, so waren sie beim T-Verfahren, als zum Lesen der Reihe ım ganzen übergangen wurde, nicht mehr zu beobachten. Es kommt also im T-Verfahren bei unsern Patienten auch der Vorteil zum Ausdruck, welchen Ephrussi beim H-Verfahren (gehäufte Wieder- holungen) mit ungeläufigen Stoffen am Normalen beobachtete.

b) Lernen mit gehäuften und verteilten Wiederholungen.

Die Art der Strophenerlernung gab Anlass, eine zweite, für die Oekonomie des Lernens wichtige Frage bei unseren Versuchs- personen zu prüfen, nämlich nach dem Werte, welcher der Ver- teilung von Wiederholungen für das Erlernen zukommt. Für den Normalen gilt nach den Untersuchungen von Jost?), dass die aus- gedehnteste Verteilung die günstigsten Resultate gäbe. Zum

1) P. Ephrussi, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gedächtnis. Zeitschr. f. Psych. Bd. 87, S.56—108, 161—234. 1904.

3) loc. cit.

3) A. Jost, Die Assozistionsfestigkeit in ihrer Abhängigkeit von der Verteilung der Wiederholungen. Zeitschr. f. Psych. Bd. 14, 5. 436—472. 1897.

152 Gregor, Beiträge sur Kenntnis

Studium dieser Frage stellte ich bei M..8 Versuchsreihen mit 8 gliedrigen Reihen sinnloser Worte an. In der ersten hatte die Versuchsperson 6 derartige Reihen in 8 Tagen (V-Reihen) und 2 mal zu 8 Reihen (C-Reihen) in 3 Tagen zu erlernen. Es wurde also die eine Gruppe von Reihen an 3 Tagen je 2 mal und in den nächsten 4 Tagen je 3 mal exponiert und am 8. Tage zu erlernen gesucht (V-Reihen). Von den Ö-Reihen wurden je 3 in 2 aufeinanderfolgenden Tagen je 9 mal gelesen und am 3. Tage erlernt. In der 2. Versuchsreihe wurden in der 1. Gruppe 6 Reihen täglich je 8 mal gelesen und am 7. Tage erlernt, mit den Reihen der 2. Gruppe ın gleicher Weise wie bei der 1. Versuchsreihe verfahren. Selbstverständlich fand hier wie in der folgenden Versuchsreihe möglichster Wechsel der Zeitlage statt. Die Versuche führten zu dem Ergebnisse, dass sich die weniger ausgedehnte Verteilung als die günstigere erwies. In der 1. Versuchsreihe konnten von den V-Reihen ‘drei überhaupt nicht erlernt werden; zwei wurden nach einer (im Vergleiche zur Erlernung ähnlicher Reihen in einer Sitzung) mittleren Anzahl von Wiederholungen, eine nach einer verhältnismässig geringen Wiederholungszahl erlernt. Von den C-Reihen wurde bloss eine nicht erlernt, drei nach einer mittleren, zwei nach einer verhältnismässig geringen Zahl von Wiederholungen. In der 2. Versuchsreihe wurden alle V-Reihen mit einer mittleren Zahl von Lesungen erlernt (zusammen 83), von den C-Reihen bloss eine mit einer mittleren Zahl, die übrigen nach verhältnismässig wenig Lesungen (zusammen 47). In einer 3. Versuchsreihe wurde eine noch stärkere Häufung von Lesungen angestrebt, indem jede C-Reihe 18 mal exponiert und nach 24 Stunden erlernt wurde. Diese Lesungszahl entspricht dem Maximum, welches ich den Versuchspersonen, ohne sıe zu ermüden, zumuten darfte, da Reihen, welche nach 18 Wiederholungen nicht erlernt werden konnten, in der Regel für diese Sitzung unerlernbar blieben. Die Versuchs- anordnung war derart, dass unter entsprechendem Wechsel der Zeitlage an einem Tage zwei C-Reihen je 18 mal gelesen und am folgenden Tage erlernt wurden, und daneben zwei V-Reihen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen je 9 mal gelesen und am dritten erlernt wurden. Ein Vergleich mit Parallelreihen, welche in der gleichen Versuchsperiode in erster Sitzung erlernt wurden, ergab, dass sowohl die Ö-Reihen als auch die V-Reihen mit Ersparnis gelernt wurden; doch erfolgte das Erlernen der V-Reihen mit einem viel grösseren Aufwande an Wiederholungen, indem 8 derartige Reihen in zusammen 71 Lesungen und ebensoviel C-Reihen in zusammen 54 Lesungen erlernt wurden. Wir finden also auch bei der stärksten Häufung von Wiederholungen, die bei unseren Versuchspersonen vorgenommen werden konnte, die weniger ausgedehnte Verteilung als die günstigere.

Diese Abweichung vom Normalen erklärt sich aus dem relativ raschen Abfall der Assoziationen bei der Korsakoffschen

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 163

Psychose. Während z. B. von Ebbinghaus eine Nachwirkung einer einmaligen Erlernung noch nach 31X24 Stunden konstatiert wird, ist eine solche bei M. für sinnlose Worte kaum mehr nach 2X24 Stunden zu bemerken. Der Wert einer weiter zurück- liegenden Lesung für die Erlernung einer Reihe ist also bei unseren Patienten verhältnismässig viel geringer als beim Normalen. Man könnte danach vermuten, dass der Aufwand an Lesungen in jenen Fällen (Strophen), wo wir auf eine Verteilung der Wieder- holungen über einen grösseren Zeitraum angewiesen waren, ver- hältnismässig sehr gross war. Doch dürften sich in dieser Hinsicht zusammenhängende Wortreihen von unzusammenhängenden unter- scheiden, da, wie oben bereits angeführt, der Abfall der Assoziationen bei jenen viel weniger steil ist.

Bildung und Abfall rückläufiger Assoziationen.

Eine Anzahl von Versuchsreihen diente dem Studium rück- läufiger Assoziationen bet unseren Versuchspersonen. In einer Versuchsgruppe hatte M. 9 7stellige Reihen sinnloser Worte bis zur Einprägung zu lernen und jede Reihe nach der sonst zwischen 2 Versuchen üblichen Pause in umgekehrter Folge sich einzuprägen. Hierbei war zur Erlernung der Umstellungsreihen eine geringere Anzahl von Lesungen erforderlich, und zwar wurden die Normal- reihen nach insgesamt 96, die Umstellungsreihen nach 63 Wieder- holungen erlernt. Da es bei derartigen Versuchspersonen besonders nahe liegt, die erzielte Ersparnis darauf zurückzuführen, dass die Worte der Umstellungsreihen bekannt waren und geläufiger ge- lesen werden konnten, so wurden in 6 Kontrollversuchen Vergleichs- ‘reihen in der Weise hergestellt, dass die einzelnen Vergleiehs- reihen die Worte der entsprechenden Normalreihen in unbestimmter Folge enthielten. In diesem Falle wurde nur eine Vergleichsreihe mit einer geringeren Anzahl von Lesungen erlernt. In einer weiteren Versuchsgruppe wurden $gliedrige Reihen sinnloser Worte durch wiederholte Erlernung in aufeinanderfolgenden Tagen gut ein- geprägt und nach der letzten Erlernung in umgekehrter Folge gelernt. Unter 5 Versuchen ergab nur einer eine Ersparnis beim Erlernen der Umstellungsreihe, 4 derselben konnten überhaupt nicht erlernt werden, während von den Normalreihen bloss 2 in der 1. Sitzung nicht erlernbar waren. 3 ähnliche Versuche mit 8gliedrigen Reihen sinnvoller Worte ergaben 2mal Ersparnis, einmal nicht. Da diese Versuchsresultate auf ein besonderes Verhalten der gut eingeprägten Reihen hinzuweisen schienen, so wurden 6 von den in der 1. Versuchsgruppe verwendeten Reihen durch wiederholtes Erlernen an aufeinanderfolgenden Tagen gut eingeprägt und nach der letzten Erlernung in umgekehrter Reihen- folge erlernt. In allen Fällen lag die Zahl der erforderlichen Lesungen unter dem Mittel der zur Erlernung von Vergleichs- reihen nötigen. Ein Kontrollversuch wurde jetzt in der Weise vorgenommen, dass aus sämtlichen Silben der NormalreihenKontroll-

154 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

reihen gebildet wurden, in denen die Silben in bunter Folge ver- teilt waren. Diese Reihen wurden von M.in ungefähr ebensoviel Lesungen erlernt wie neue Reihen.

Zunächst ist es als erwiesen zu betrachten, dass auch bei meinen Versuchspersonen die Ersparnis bei Erlernung der umge- kehrten Reihen auf die Wirksamkeit rückläufiger Assoziationen zurückzuführen ist. Wir haben uns nunmehr mit der Frage zu beschäftigen, wodurch das schwerere Erlernen der umgekehrten Sgliedrigen, gut eingeprägten Reihen bedingt war. Örientieren wir uns zunächst über die von unseren Versuchspersonen beim Erlernen umgekehrter Reihen überhaupt gemachten Febler.

Nach den Versuchsprotokollen wirkten in erster Linie Stellen- assoziationen hindernd auf das Erlernen der Vergleichsreihen. Glieder der Normalreihe traten hier an homologen Stellen der Vergleichs- reihe auf. Ein weitere Störung bestand darin, dass von einem Punkte der Vergleichsreibe, wo die Versuchsperson unsicher zu werden begann, die Reihe verkehrt, also im Sinne der Normal- reihe aufgesagt wurde. (Normalreihe: abcdefg, Vergleichs- reihe genannt gfedefg). Endlich drängten sich Worte, die durch ihre Stellung in der Normalreihe fester eingeprägt wurden, an die bezeichneten Punkte der Vergleichsreihe und wirkten assoziativ im Sinne der Normalreihe (Normalreihe: abcedefg, Vergleichsreihe genannt: g f e a b c d). Das Zustandekommen derartiger Störungen scheint bei unseren Versuchspersonen durch 2 Momente besonders gefördert zu werden: 1. die geringe Wirk- samkeit der einzelnen Lesung, die am klarsten dadurch hervor- tritt, dass O. nach der ersten Lesung einer neuen Reihe die letzt- erlernte ganz oder teilweise hersagte, 2. die Kritiklosigkeit, mit der unsere Patienten ihren eigenen Aussagen gegenüberstehen; bei der Raschheit des Vergessens kommt ihnen wohl der Wider- spruch, die eben genannten Anfangsglieder der Reihe in ver- kehrter Reihenfolge aufzusagen, gar nicht zum Bewusstsein.

Während die an zweiter Stelle genannten Fehler bloss in einzelnen Versuchsreihen auftraten, konnte die Störung durch Stellenassoziationen fast in allen Versuchen beobachtet werden, und zwar am stärksten in jenen, wo die Erlernung der umgekehrten Reihen mit grösserem Aufwande an Wiederholungen als zur Er- lernung der Normalreihen erforderlich war, geschah. Fast aus- schliesslich waren es hier die letzten 2 Worte der Normalreihe, welche bei Reproduktion der umgekehrten Reihen an ihre alte Stelle traten. Bekanntlich werden aber die 2 letzten Worte einer Reihe relativ rasch erlernt, während die folgenden Lesungen der assoziativen Verknüpfung der Mittelglieder mit den Anfangsgliedern dienen. Da diese Lesungen aber auch den letzten Reihengliedern zugute kommen, so muss sich deren Assoziation mit ihrer Stellung in der Reihe in dem Masse festigen, als die Reihe mit grösserem Arbeitsaufwande gelernt wird. Wir finden es also begreiflich, dass die Stellenassoziation gerade bei Erlernung jener Umstellungs- reihen, in besonderem Masse hemmend wirkte, deren Normal-

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 155

reihen mit relativ grossem Aufwande von Wiederholungen erlernt werden mussten (8stellige Reihen sinnloser Worte).

Eine weitere Versuchsreihe sollte über den Abfall rück- läufiger Assoziationen in der Zeit orientieren. Zu diesem Zwecke wurden sechs- sieben- und achtgliedrige Reihen sinnloser Silben in einer Sitzung erlernt und nach 24 Stunden in umgekehrter Folge wiedererlernt. Hierbei bestand kein Unterschied in der Erlernung von Normal- und Umstellungsreihen hinsichtlich der Lesungszahl. Da die Wiedererlernung der gleichen Rcihe in allen früheren Ver- suchen eine ausgiebige Ersparnis ergab, so müssen wir danach annehmen, dass die Assoziation von einem Gliede zum vor- hergehenden in der Zeit rascher abfalle, als die Asso- ziation zum folgenden Gliede,

Zu dieser Annahme ist man um so mehr berechtigt, als bei dieser Versuchsanordnung sich die früher besprochenen die Er- lernung umgekehrter Reihen hemmenden Momente nicht mehr geltend machten. Eine nähere Bestimmung des Abfalles der rückläufgen Assoziationen war bei meinen Versuchspersonen wegen der in der Einleitung erwähnten Schwierigkeiten untunlich.

Die zweite Versuchsperson O. lernte 6 Vergleichsreihen, welche durch Umkehr von Normalreihen gewonnen wurden, bei einem zeitlichen Abstande, welcher der gewöhnlichen Pause entsprach, mit Ersparnis, und zwar wurden die Normalreihen in zusammen 79, die Vergleichsreihen in 47 Wiederholungen erlernt. In einer weiteren Versuchsgruppe handelte es sich um Erlernung von Ver- gleichsreihen, welche durch Umkehr von wiederholt eingeprägten Normalreihen gebildet wurden. In 9 Versuchen, in denen die letzte Erlernung der Normalreihe und die Erlernung der Umstellungs- reihe durch die zwischen den Versuchen übliche Pause getrennt war, zeigte sich die Umstellungsreihe 6mal schwerer erlernbar. Die Art der Hemmungen stimmt mit der oben für M. besprochenen überein. In einer weiteren Versuchsreihe wurde der Abstand zwischen Erlernung der gut eingeprägten Normalreihe und der Umstellungsreihe grösser gewählt und je 3 umgekehrte Reihen nach 24, 2X 24 und 20 X 24 Stunden erlernt. Die letzte Gruppe von Umstellungsreihen wurde in gleicher Weise und nach gleich viel Wiederholungen wie gleich lange Parallelreihen erlernt. Stellen- assoziationen der Normalreihen machten sich auch hier, wiewohl in wenig störender Weise, geltend. Dagegen nähern sich die Versuche mit 24- und 48stündigem Intervall zwischen letzter Wiederholung der Normalreihe und Erlernung der Umstellungs- reihe in der Art der Erlernung bedeutend jenen Versuchen, wo beide Erlernungen in der üblichen Pause von 3 bis 5 Minuten von einander abstanden.

Festigkeit der Einprägung einmaliger Eindrücke.

Die oben besprochenen Gedächtnisversuche vermochten uns über die Festigkeit der Einprägung einmaliger Eindrücke in Ab-

——

156 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

hängigkeit von der Zeit nur wenig Aufschluss zu geben. Die genauere Kenntnis dieses Verhältnisses ist aber mit Räcksicht auf die Wichtigkeit des Behaltens einmaliger Eindrücke für das gewöhnliche Leben von grossem Interesse. Eine An- lehnung an die früheren Versuche erschien hier untunlich, denn, wie bereits erwähnt, musste nach dem Durchlesen der Reihe eine Ablenkung unserer Versuchspersonen erfolgen. War dies aber einmal geschehen, dann gelang es nur schwer, sie wieder zu der gewünschten Reproduktion zu veranlassen. Sollte dieselbe zudem auch noch in einem bestimmten Zeitpunkte einsetzen, so musste ein Glied der zu reproduzierenden Reihe exponiert werden. Damit sind wir also auf das Treffer-Verfahren geführt. Der Verwendung desselben für unseren Zweck stana aber wieder die Erfahrung entgegen, dass durch einmaliges Lesen von Reihen, deren Glieder inhaltlich nicht verknüpft waren, bei unseren Versuchspersonen nur sehr unbeständige Assoziationen gebildet wurden.

Ich suchte daher ihre Bildung durch Wahl möglichst leicht assoziierbarer Worte zu erleichtern. Die Versuche bestanden darin, dass Reihen leicht assoziierbarer Wortpare vorgeführt wurden und die Versuchsperson den Auftrag bekam, bei späterer Exposition des ersten Qliedes das zweite zu ergänzen. Eine wesentliche Schwierigkeit lag natürlich darin, für alle Versuchs- perioden das Material gleichwertig zu gestalten. Assoziationen zwischen verschiedenen Wortparen bleiben ungleich fest haften, und gerade bei unseren Versuchspersonen war nach der klinischen Erfahrung auf individuelle Schwankungen besonders zu rechnen. Das Wesen der Korsakoffschen Geistesstörung legte einen einfachen Ausweg nahe, in allen Versuchsperioden nach ent- sprechendem zeitlichen Abstande das gleiche Material zu ver- wenden. Es wurde darum zwischen der Exposition der gleichen Wortpare stets ein Zeitraum von mehreren Wochen eingeschaltet, zudem die einzelnen Versuche derart verteilt, dass auf jedes Intervall ungefähr gleichviele 1, 2. . . Lesungen kamen. So ein- leuchtend es erscheint, nach einem solchen Zeitraume einmal gestiftete Assoziationen bei Korsakoffschen Patienten als er- loschen zu betrachten, so blieb hier doch noch eine Fehlerquelle zu berücksichtigen, die weiter unten erörtert wird.

Zu diesen Versuchen benutzte ich die von Ranschburg auf käuflichen Bogen!) zusammengestellten Wortpare, die ich durch ähnliche Zusammensetzungen aus den Wirthschen Bogen ergänzte. Stets wurden je 4 Wortpare hintereinander gelesen. Diese Anzahl stellte bei meinen Versuchspersonen das Optimum vor, da bei der Vorführung einer grösseren Zahl von Reizparen relativ weniger behalten wurde; jedes Wortpar blieb 2 Sekunden exponiert, welche Zeit sich bei den Versuchspersonen zum bequemen Lesen als notwendig erwies. Nachdem die Reihe abgelaufen, wurde in einer Versuchsgruppe nach 5 Sekunden das erste Wort neuer-

1) Bei E. Zimmermann, Leipzig.

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 157

lich exponiert. Bei diesem Intervalle, das der oben erwähnten Latenzzeit bei M. entspricht, wurden in den Vorversuchen, welche das günstigste Intervall bestimmten, die meisten Treffer erzielt. In weiteren Versuchsgruppen erfolgte die Exposition des Reiz- wortes 1—3—5—10 Minuten nach Lesen des letzten Wortpares. Da die Verauchspersonen das Bestreben zeigten, nach Ablauf der Reihe die haften gebliebenen Glieder im Stillen zu wiederholen und dadurch unkontrollierbare Versuchsbedingungen entstanden wären, so lenkte ich jedesmal nach ungefähr 5 Sekunden ihre Aufmerksamkeit durch eine ganz gleichgültige, ziemliche stereotype Frage ab. Damit ist man natürlich bei Korsakoffschen Geistes- kranken gesichert, dass keine weitere bewusste Verarbeitung des Stoffes erfolgt und kann sie hierauf für den Rest der Pause sich selbst überlassen.

Eine naheliegende Fehlerquelle unserer Versuche bildet das Erraten des zweiten Wortes. Zur Beschränkung derselben wurde einmal bloss das Reizwort exponiert und wenn die Versuchs- person das zweite erriet, dieses in der Reihe durch ein neues ersetzt. Die nähere Feststellung der Fehlergrösse ergab, dass bei erstmaligem Lesen M. 8 pCt., O. 14 pCt. der Worte erriet. Wurde nun die Reiztafel in der erwähnten Weise verändert, dann betrug die Zahl der erratenen Worte bei M. O pCt. bei O. 4 pCt.

Während der Untersuchung wurde ich auf eine weitere Fehlerquelle aufmerksam. Gewisse Assoziationen erwiesen sich im Gegensatz zu andern als ganz besonders fest. Zum Zwecke der Vergleichbarkeit des Materiales suchte ich derartige Versuche auszuschalten, indem ich die Resultate derjenigen nicht weiter verwendete, in denen die Versuchsperson eine Woche nach Ab- schluss der Untersuchung bei blosser Vorführung des Reizwortes mit dem zweiten Worte der Tafel reagierte. Im ganzen verfügte ich bei diesen Versuchen nach Vornahme der erwähnten Aus- schaltungen für beide Versuchspersonen ungefähr über 100 Wort- pare.

Im Gegensatz zu den Vergleichsversuchen am Normalen zeigten die falschen Angaben meiner Versuchspersonen eine ge- wisse Konstanz, Von 36 Fällen, in denen O. nach 8, 5, 10 Minuten ein anderes Wort als er gelesen, assoziierte, lautete dieses 22 mal in allen drei Perioden gleich, obzwar zwischen den ein- zelnen Versuchen ein Zeitraum von mehreren Wochen lag. Bei M. betragen die gleichen Werte 32 und 23; dabei fiel auf, dass eine grosse Zahl dieser falsch assoziierten Worte in früheren Ver- suchen tatsächlich exponiert, später aber durch ein anderes Wort ersetzt wurde. Dies führte zu der Vermutung, dass zwischen den zwei Worten schon in den ersten Lesungen eine festere Assoziation gebildet worden sei. Die nähere Bestimmung konnte nur nach Elimination der erratenen Assoziationen erfolgen. Unter Berück- sichtigung derselben fand ich, dass bei M. in 10 pCt., bei O. in 8 pCt. der Fälle durch einmaliges Lesen festere

158 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

Assoziationen gestiftet wurden. Bisher konnte eine Dauer von 3 Monaten festgestellt werden, was insofern besonders bemerkenswert erscheint, als weitaus die Mehrzahl der übrigen Assoziationen schon etwa nach 10 Minuten in Vergessen- heit gerät. Es dürfte sich hierbei wohl um dieselbe Tatsache handeln, die klinisch als Merkfähigkeitsrest bezeichnet zu werden pflegt.

Die Ergebnisse der Versuche, soweit sie die Abhängigkeit des Behaltens von der Zeit betreffen, sind in Kurven (Fig. 5 u. 6) dargestellt.

pCt. Fig. 5. pCt. Fig. 6.

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20

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Die Abszisse derselben entspricht der nach dem Lesen ver- flossenen Zeit, die Ordinate der Zahl der Treffer in Prozenten. Da im Momente des Lesens sich beide Worte im Bewusstsein der Versuchsperson befinden, so wurde über den Punkt O der Abscisse die Ordinate 100 aufgetragen. Der nächste Abszissen- punkt entspricht der Zeit, welche vom Lesen eines Wortpares bis zur Exposition des ersten Wortes verfioss, und wobei nach Ablauf der Reihe eine Pause von 5 Sekunden eingeschaltet wurde. Beim Auftragen der übrigen Abszissenpunkte wurde die für das Lesen der Reihe erforderliche Zeit (8 Sekunden) vernachlässigt. Kurve 5 wurde nach den Versuchen bei M., Kurve 6 nach denen bei O. entworfen. Wir finden in beiden Fällen nach den ersten 13 Sekunden eine überaus rasche Abnahme der behaltenen Worte. Auch ın den folgenden Minuten wurde rasch vergessen, so dass M. 3 Minuten nach der Exposition nur noch 80 pCt., O. 24 pCt. Treffer aufzuweisen hat. Schon in den folgenden 2 Minuten ist die Abnahme weit weniger stark, und im Laufe der nächsten 5 Minuten wird fast gar nichts mehr vergessen. Durch den raschen Abfall im ersten Teile und dem allmählichen im zweiten ent- sprechen die Kurven jener, die nach den früher besprochenen Ge- dächtnisversuchen für O. zu konstruieren wäre, Sie stimmen ferner

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 159

hierin mit der von Ebbinghaus für den Normalen entworfenen Gedächtniskurve überein. Allerdings sind die quantitativen Unter- schiede gegenüber dem Normalen, wie mir vergleichende Versuche zeigten, sehr bedeutend. Ä

Bei Brodmanns Patienten machte sich ein noch stärkerer Abfall der Assoziationen in der Zeit geltend. Sein Pat. H. ver- gass während der Höhe der Erkrankung nach 60 Sek. bereits 50 pCt., sein Pat. M. vergass 30 pCt. der unmittelbar nach einer vorausgegangenen Einprägung behaltenen und richtig reproduzierten Silben. Bei meiner ersuchsperson M. sank die Trefferzahl in 3 Minuten von 66 auf 80 pCt.; bei O. von 57 auf 24 pCt.; allerdings handelte es sich bei den Versuchen Brodmanns um sinnlose Worte, die durch mehrfache Wiederholung eingeprägt wurden, in meinen Versuchen um imal gelesene Reihen sinnvoller, leicht assoziierbarer Worte. Dabei scheint es ir Brodmanns Versuchen zu keinen festeren Assoziationen gekommen zu sein, da seine Versuchsperson M. selbst nach 2maliger Einprägung einer Reihe keine Treffer mehr lieferte, wenn die Merkzeit !/, Stunde betrug.

Versuche über Wıedererkennen.

Eine genauere Untersuchung der Sicherheit des Wieder- erkennens in Abhängigkeit von der Zeit ist bei unseren Versuchs- personen durch die klinische Beobachtung nahe gelegt, welche ehrt, dass bei Korsako ffscher Geistesstörung grobe Täuschungen nach beiden Richtungen hin erfolgen. Da das Studium reproduk- tiver Funktionen bei beiden Versuchspersonen ungleich tiefe Störungen ergab, so können wir uns nunmehr die Frage vorlegen: besteht nach unserem Versuchsmateriale ein Parallelismus zwischen der Störung des Wiedererkennens und der Reproduktion von Vorstellungen ?

Die Versuche wurden zum Teil den Gedächtnisversuchen direkt angeschlossen, indem ich nach Erlernung einer 8gliedrigen Reihe in einem bestimmten zeitlichen Intervall eine neue Reihe vorführte, in der 4 Worte der früheren enthalten waren; für jedes Intervall wurden 10 Versuche angestellt; ergänzend traten dazu Versuche, in denen eine Reihe wiederholt exponiert wurde und die Versuchspersonen den Auftrag hatten, sie auf- merksam zu lesen, worauf wieder eine Reihe zum Vergleiche vor- geführt wurde. Dass auch hier mit genügender Aufmerksamkeit gelesen werde, suchte ich dadurch zu erzielen, dass die Versuchs-

erson während des Lesens im unklaren gelassen wurde, ob am Schlusse der Lesungen eine Reproduktion der Reihe erfolgen sollte oder nicht. Auch bei diesen Versuchen wurde die Versuchs- person nach Beendigung der Lesungen respektive der Reproduk- tion in der oben erwähnten Weise abgelenkt. Die Reaktion hatte mit „dagewesen“ oder „noch nicht“ zu erfolgen; bemerkenswert erscheint, dass M. nach der Affirmation mitunter „aber nicht heute“ hinzufügte. Es entspricht dies der Neigung dieses In-

160 Gregor, Beiträge zur Kenntnis

dividuums, vor kurzer Zeit erlebte Eindrücke oder Begebenheiten ın weitere Ferne zu verlegen. Das Bedenken gegen die Ver- wendung eines ungleichwertigen Materiales fiel bei den Erkennungs- versuchen besonders schwer in die Wage. Von vornherein erschien es zweckmässiger, zu diesen Versuchen statt sinnvoller Worte Zahlen oder sinnlose Worte zu wählen, doch musste ich davon nach den Vorversuchen Abstand nehmen, weil selbst nach einer möglichst häufigen Wiederholung der Reihe (nach dem oben Gesagten war ja die Zahl wirksamer Expositionen beschränkt) das Gefühl der Unsicherheit noch so so stark war, dass die Versuchspersonen sich auf Raten verliessen. Da sich O. zu Ver- suchen mit sinnlosen Worten nicht eignete, so blieb ich auf sinnvolle Worte angewiesen. Die genannte Fehlerquelle liess sich jedoch dadurch beschränken, dass in den Vergleichsreihen stärker gefühls- betonte Worte nicht verwendet wurden. Anhaltspunkte hierfür ergaben sich, wie erwähnt, aus der Art der Reihenerlernung. Die Verwendung der von Reuther!) zu Wiedererkennungsversuchen empfohlenen Methode der identischen Reihen schien für meine Zwecke ungeeignet, da sie kein Urteil darüber gestattet, ob die Versuchsperson ‚sich auf Raten verlässt und ob bei ihr die Neigung besteht, Unbekanntes als bekannt zu bezeichnen. Zur Technik erübrigt noch, zu bemerken, dass Worte, die in der Normalreihe an erster oder letzter Stelle standen, nicht in die Vergleichsreihe aufgenommen wurden. Dass auf diese Weise tat- sächlich eine gewisse Gleichmässigkeit erzielt wurde, folgt schon daraus, dass bei M. nach einer bestimmten Zeit kein Wort mehr wiedererkannt wurde, zudem rechtfertigte auch eine niedrige mittlere Variation das Verfahren. Das Urteil „dagewesen“ oder „noch nicht“ wurde meist auf Grund des unmittelbaren Eindruckes abgegeben. Bloss zweimal kam der Fall vor, dass die Versuchs- person nach einigem Nachdenken das benachbarte Wort der Reihe nannte und dann das exponierte Wort als bekannt bezeichnete.

Die bei der Versuchsperson O. erhaltenen Resultate sind in den Tab. 8—10 enthalten. Ihre Werte geben die relative Zahl der erkannten Glieder an. Jenen Werten, welche die falschen Fälle ausdrücken, wo also ein neues Wort bekannt erschien, wurde ein f hinzugesetzt. Tab. 8 zeigt, dass die Sicherheit des Wieder- erkennens mit der Zahl der Erlernungen zunehme. In ihr sind

Tabelle 8.

Ordnungszahl der I 1.1 Erlernung 1 2 3 | 4 5 6 7

Nach 3 Minuten durch- schnittlich erkannt 1,6 | 2,6 12,2:

2,6 | 2,4 | 3,5

1) F. Reuther, Beiträge zur Gedächtnisforschung. Psycholog. Stud., Bd. 1, S. 4—101, 1905.

der Gedächtnisstöräng bei der Korsaköffschen Psychose. 161

Tabellé 9. . nm el ` Minuten nach | J Erlernung 1 g` T | e 8 b Einmal . oe. 7 Er erlernt | 2,4 ost 1,6. sa Mi Mehrmals " ea ea erlernt 3,0 oat 2,4 0,31 2,1 | Je Tabelle 10. Minuten nach o Erlernung 1 5 10 Nach 10mal

i .

Lesen erkannt || 4,0 os: | 3,0 ost | 0,8 ost

die Werte für jene Reihen zusammengestellt, die in mehreren aufeinanderfolgenden Tagen wiederholt erlernt wurden. Die Zahl 2,4 (Tab. 9) entspricht dem relativen Wert der erkannten Reihenglieder eine Minute nach der 1. Erlernung. der Reiben, die ‘durchschnittlich nach 18 Lesungen erfolgte. Der gleiche Wert für ältere Reihen, welche nach durchschnittlich 3,8 Lesungen erlernt wurden, beträgt 3. Ferner ist aus der Tabelle zu ent- nehmen, dass mit der Vergrösserung des Intervalles die Zahl der erkannten Worte rasch abnimmt. Sie beträgt für alte Reihen nach 1, nach 3 und 5 Minuten 8, 2,4, 2,1. Ueberblicken wir noch die in Tab. 10 enthaltenen Versuchsresultate, welche die Versuche mit wiederholter Exposition ohne Erlernung der heihe ergaben. Da es sich hier um neue Wortreihen handelt, so sind die Resultate mit den bei erster Erlernung von Wortreihen zu vergleichen. Wir finden hier beträchtlich höhere Werte, obzwar die Zahl der Wiederholungen geringer war, als die durchschnittlich zum ersten freien Hersagen erforderlichen. Es genügt somit eine kleinere Zahl von Lesungen, um eine gleiche Zahl von Worten wieder- zuerkennen, wenn die Reihe einfach gelesen, .als wenn sie zugleich auch reproduziert wird. Die Erklärung für. diese Erscheinung dürfte darin zu suchen sein, dass bei Erlernung einer Wortreihe auch viele in der Reihe nicht vorkommenden Worte genannt wurden, was zerstreuend, also auf das Wiedererkennen der Reihen- glieder schädigend wirken muss.

Die Versuchsresultate, welche bei M. gewonnen wurden, sind in Tab. 11 und 12 enthalten, Ein Vergleich der für M. ge- fundenen Werte zeigt eine Zunahme der erkannten Glieder mit der Zahl der Lesungen (Tab. 12), indem bei 6 Lesungen nach ‚einer Minute durchschnittlich 1, nach 10 Lesungen durchschnitt- lich 1,6 Glieder erkannt wurden. Ferner nimmt die Zahl der erkannten Glieder mit zunehmender zeitlicher Entfernung von der

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 9. Li

‚162 | Gregor, Beiträge zur Kenntnis.

Exposition ab. Das Absinken ist bei den Versuchen, in denen die Reihe bloss gelesen wurde (Tab. 12), weit steiler als in den Versuchen, in denen die Reihen zugleich reproduziert wurden. Be- merkenswert erscheint, dass im Gegensatz zu O. die Versuche mit blossem Lesen der Reihe weniger Treffer ergaben, als die Versuche mit Erlernung der Reihen; tatsächlich spielte bei M. auch jenes Moment eine geringere Rolle, welches wir bei der Einprägung der Reihen als das Wiedererkennen schädigend an- sehen müssen, nämlich die Nennung von Worten, die ın der Reihe nicht vorkamen.

Tabelle 11. Minuten nach Erlernung 1 3 5

Erkannte Glieder. . . 21 1,403. 1,4 Tabelle 12. Minuten nach Exposition . . . . 1 3 5

12: 6 mal gelesen . 1 Erkannte Glieder | 10 mal gelesen . 1,6 1,4 O0, 2041.

Die Zahl der falschen Fälle, wo also ein noch nicht ge- lesenes Wort als bekannt angesprochen wurde, ist bei beiden Versuchspersonen geringer, als nach der klinischen Erfahrung zu erwarten stand. Eine Erklärung dürfte in, bei den Versuchen dem gewöhnlichen Verhalten gegenüber, wesentlich verschiedenen Aufmerksamkeitsbedingungen zu suchen sein.

Vergleicht man endlich noch die Leistungen beider Versuchs- ersonen, so zeigt sich erstens, dass O. in den entsprechenden ersuchen mehr Treffer aufzuweisen hat als M., zweitens, dass

bei O. die Zahl der erkannten Glieder mit der Zeit viel langsamer als bei M. absinkt. So erkennt O. bei 10 Lesungen nach 5 Minuten 3 Glieder, nach 10 Minuten noch 0,8; M. nach 5 Minuten durchschnittlich nur noch 0,2. Dieser Gegensatz ist um so auf- fälliger, als M. in den Gedächtnisversuchen entschieden bessere Leistungen aufzuweisen hatte, ferner bei ihm die Abnahme der durch einmalige Erlernung geschaffenen Dispositionen zum Wieder- erlernen weniger steil war, endlich bei ihm auch die Kurve für die Abnahme der Trefferzahl mit der Zeit langsamer absank als bei O. Dies Ergebnis kann nach den Untersuchungen von Gamble und Calkins!), welche den Beweis erbrachten, dass das Wiedererkennen nicht lediglich auf reproduzierten Vorstellungen beruhe, nicht weiter befremden.

Beim Patienten M. von Brodmann machten im Höhe- stadium der Erkrankung die falschen Fälle der fremden Silben in 2 Versuchsreihen 25 und 26 pCt. aller Reaktionen aus, d. h. von den vorgeführten, noch nicht vorgelesenen Silben wurden 25 resp. 26 pCt. als bekannt bezeichnet. In der Grenesungsperiode

yi E. A. Mc. Gamble und Mary Whiton Calkins, Die reprodazierte Vorstellung beim Wiedererkennen und beim Vergleichen. Zeitschr. f. Peycholog. Band 32. S. 177—199. 1908.

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 168

machte gerade dieser Fehler, wie bei meinen Patienten, eine nur sehr geringe Prozentzahl aus.

Zusammenfassende Vebersicht der Versuchsresultate.

Bei beiden Versuchspersonen konnte eine Nachwirkung ein- mal geschaffener Dispssitionen zur Reproduktion nachgewiesen werden. Letztere erwies sich am stärksten bei zusammen- hängenden Wortreihen (Gedichtstrophen und Prosa) schwächer bei Reihen sinnvoller Worte, am schwächsten, bei Reihen von sinnlosen Worten, indem z. B. für die Versuchsperson M. bei einmaliger Erlernung einer Reihe sinnloser Worte eine Nach- wirkung nur über 2 X 24 Stunden, für Reihen unzusammen- hängender sinnvoller Worte über 4 X 24 Stunden, für Gedicht- strophen bis zu 10 X 24 Stunden nachgewiesen werden konnte. Die Stärke der Reproduktionsdispositionen nahm mit der Zahl der Wiedererlernungen eines Stoffes zu.

Bisher konnte bei O. nach der 9. Erlernung einer Reihe noch eine Dauer der Nachwirkung über 150 Tage, bei M. nach der 7. über 150 Tage festgestellt werden. Der Abfall von Asso- ziationen in der Zeit stellte sich bei O. als eine Kurve dar, welche der Kurve des Normalen in ihrem anfänglichen Verlaufe entspricht, sich aber von ihr wesentlich durch die frühe Be- rührung der Abszisse unterscheidet. Ein auffallender Gegensatz ergab sich bei M. zwischen der Erlernung unbekannten und bereits in der Schule erlernten Stoffes, indem Strophen, welche die für M. in einer Sitzung nicht erlernbaren um das Doppelte an Länge übertrafen, von ihm in diesem Falle nach 1—2 Lesungen frei hergesagt werden konnten.

Einseitige Uebung des Gedächtnisses beider Versuchs- personen bewirkte eine gesteigerte Leistungsfähigkeit nicht ge- übter „Spezialgedächtnisse“,

Im Gegensatz zum Normalen erwies sich bei der Erlernung von Reihen sinnloser Silben eine ausgedehntere Verteilung von Wiederholungen als weniger günstig, als deren Häufung. Der Grund ist in dem verhältnismässig raschen Abfalle der Asso- ziationen bei unseren Versuchspersonen zu suchen.

Bei dem von mir verwendeten Materiale (sinnlose Worte, unzusammenhängende sinnvolle Worte, Gedichtstrophen) erwies sich das Lernen in Teilen vorteilhafter als das Lernen im ganzen. Der Grund hierfür liegt 1. in dem verhältnismässig viel lang- sameren Abfalle von Assoziationen, die durch 2maliges Lesen, gegenüber solchen, welche durch einmaliges Lesen gestiftet werden; 2. ın dem rascheren Geläufigwerden des Stoffes beim Lesen des- selben in Teilen.

Bei der Erlernung der Reihen sinnvoller und sinnloser Worte wurden auch rückläufige Assoziationen gebildet. Ihre Wirksamkeit war unter besonderen Umständen (festere Ein-

11*

164 ` Gregor, Beiträge zur Kenntnis

prägung der Normalreihen) durch Stellei-Assoziationen etc; ger stört. Die Assoziationen von einem Reihengliede zum folgendan zeigten einen langsameren Abfall in der Zeit als die zum voran- gehenden Gliede.

Die bei der Reproduktion begangenen Fehler bestanden i Auslassungen und ın der Nennung falscher Worte. Bei M. über- wogen entschieden die Auslassungen, bei O. die falschen Fälle, wodurch sich M. dem Normalen, O. dem Korsakoffpatienten ım Höhestadium der Krankheit nähert. Bemerkenswert war bei O. die starke Perseverationstendenz: an Stelle der neu zu er- lernenden, zusammenhängenden oder unzusammenhängenden Wort- reihen wurde nach den ersten Lesungen ein mehr oder weniger grosser Teil der letzterlernten Reihe genannt.

Versuche über das Behalten von Assoziationen, die durch einmaliges Lesen gestiftet wurden, ergaben für deren Abfall in der Zeit eine Kurve, welche in ihrem anfänglichen Verlauf steil, im weiteren langsam abfällt. Bemerkenswert erscheint die Bildung festerer Assoziationen, ferner die starke Perseveration von Fehlern.

Das Wiedererkennen gelesener Reihenglieder steht ın Ab- hängigkeit von der seit der Exposition verflossenen Zeit und der Häufigkeit der Erlernung der Reihe. Es besteht kein Parallelismus zwischen der Störung des Wiedererkennens und der Störung der Reproduktionsfähigkeit, indem die Versuchsperson mit relativ schlechterer Merkfähigkeit in den Versuchen über Wiedererkennen entschieden bessere Leistungen aufwies.

Zur Psychopathologie der Korsakoffschen Psychose.

Zum Schlusse meiner Ausführungen möchte ich die Stellung dieser Untersuchung zur Pathologie der Korsakoffschen Psychose andeuten, wobei ich mich vorwiegend auf meine beiden Fälle beziehe.

In erster Linie zeigte die Untersuchung, dass bei derartigen Patienten eine Neuerwerbung von Assoziationen möglich sei und unter welchen Bedingungen eine solche erfolge. (Aufmerksames Verfolgen von Eindrücken, öftere Wiederholung derselben.) Da diese Bedingungen für gewöhnlich nicht erfüllt werden, so kann die Leistungsfüähigkeit ihres Gedächtnisses für unsere Patienten nur von beschränktem Wert sein.

Aus der mangelhaften Einsicht in den Defekt erklärt es sich, dass den Patienten der Wille, sich etwas anzueignen, für gewöhnlich fehlt und die Mittel hierzu unbenutzt bleiben. Der Neuerwerb an Assoziationen bleibt demnach auf jene Eindrücke beschränkt, in denen selbst die Bedingungen für das Haftenbleiben gegeben sind. Also auf jene wenigen Eindrücke (8—10 pCt.), die, wie das Experiment zeigte, nach einmaligem Erleben fester assoziiert bleiben, sowie auf jene Vorkommnisse, die sich im täglichen Leben ständig wiederholen. Dadurch wird es den Patienten ermöglicht, sich in einfachere Lebensverhältnisse ein-

der Gedächtnisstörung bei der Korsakoflischen Psychose. 165

zufinden und mechanische Leistungen zu verrichten, die, falls sie an den'alten Besitz anknüpfen, ganz besonders ausgiebig ausfallen müssten. i Es ergibt sich uns somit das Postulat der Möglichkeit einer erfolgreichen Uebungstherapie bei Korsakoffschen Patienten. Eine bezügliche Aeusserung seitens einer Anstalt, die Beschäftigung von Geisteskranken pflegt, wäre gewiss von allgemeinem Interesse. Man könnte geneigt sein, anzunehmen, dass die Ergebnisse des Experimentes zu einer Unterschätzung des Gedächtnisses unserer Versuchspersonen führen könnten, da ja dem dabei verwendeten Materiale die affektive Betonung fehlte. Nun scheint aber diese für den Normalen nach den Untersuchungen von Gordon!), bei denen sich in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen angenehmen, unangenehmen und indifferenten Eindrücken geltend machte, für die Genauigkeit der Erinnerung keineswegs besonders massgebend. Dass diese Verhältnisse bei unsern Patienten nicht wesentlich anders liegen, davon konnte ich mich dadurch überzeugen, dass ich der Versuchsperson M. eine ihren Ideenkreis betreffende Mit- teilung machte, die sie mit grösstem Interesse aufnahm. Nach 24 Stunden prüfte ich vorsichtig, ob der Eindruck behalten sei; war dies nicht der Fall, so wurde die Mitteilung wiederholt. Dabei konnte ich mich überzeugen, dass auch hier, wie in den Erlernungsversuchen die Eindrücke erst dann haften blieben, nachdem sie wiederholt apperzepiert wurden, sonderbarerweise mit ganz falscher zeitlicher Lokalisation für den Erwerb: die Nebenumstände, unter denen M. die Eindrücke aufgenommen, waren vollständig vergessen. In Wirklichkeit dürften die Ver- suche eher zu einer Ueberschätzung der Gedächtnistätigkeit führen, da sie von einer Spannung der Aufmerksamkeit unterstützt werden, die unsere Patienten in der Regel nicht aufwenden. Der Grund ist wohl klar: Bei ihrer beschränkten Fähigkeit Ver- änderungen wahrzunehmen, muss bei ihnen die Erwartung und das Interesse für das Neueintretende und Besondere fehlen.

Aus dem Gegensatze zwischen der Festigkeit der in den gesunden Tagen und unter entsprechenden Bedingungen neu er- worbenen Assoziationen und neuen, einmaligen Eindrücken erklärt sich die Unkorrigierbarkeit gewisser Urteile, welche sich auf Reste des alten Besitzes oder unter günstigen Bedingungen er- worbenen neuen Besitz stützen. Neue Eindrücke und neu sich ergebende Gegeninstanzen können begreiflicherweise jenem fest- efügten Besitze gegenüber nur untergeordneten Wert haben. Hierzu kommt noch, dass der negative Effekt des Sichbesinnens das Zustandekommen einer geordneten Ueberlegung bei unseren Patienten von vornherein ausschliesst; ferner, dass sie dazu neigen, ihr Gedächtnis sehr zu überschätzen und daher vielfach ebenso wie Normale urteilen, indem sie es für die Existenz oder Nichtexistenz.

1) K. Gordon, Ueber das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke. Arech.'f. ges. Psycholog.: Bd: ‘4. S. 487--458. 1905.

166 Gregor, Beiträge zur Kenntnis atc.

von Vorkommnissen als Kriterium verwenden, welchen gefühls- betonte Eindrücke entsprechen: „So etwas kann man nicht vergessen, es war also auch nicht.“ Die Ueberschätzung ergibt sich auch aus der Tatsache, dass unsere Patienten, so oft ihnen ein Ausfall bewusst wird, wie Normale auf mangelhafte Apperzeptionsbedingungen rekurrieren.

Der früher erwähnte Versuch gewährt zugleich Einblick in den Mechanismus der zeitlichen Täuschung. Die Hauptsache wurde gemerkt, die Nebenumstände vergessen. Einmal, weil keine Einstellung der Aufmerksamkeit auf sie erfolgte, zweitens, weil sie verschieden waren und mangels Stärkung ihrer Dispositionen nicht haften bleiben konnten. Nun sind es aber gerade die ein Vorkommnis begleitenden Umstände, welche dem Normalen die zeitliche Lokalisation ermöglichen; das Behalten derselben bildet aber auch die Bedingung für die Schätzung längerer Zeitstrecken. Beides ist bei der Korsakoffschen Psychose in bekannter Weise gestört. Allerdings ist es noch eine offene Frage, ob bei Korsa- koff-Patienten die primitive zeitliche Anschauung als normal anzusehen ist. Bezügliche Versuche meinerseits sind bereits zum grossen Teile abgeschlossen und werden nächstens veröffentlicht.

Das Experiment zeigte, dass die Bedingungen für die normale Identifikation von Eindrücken gestört sind. Dass bei der geringen Stärke der Dispositionen zur Reproduktion von Erlebnissen das bewusste Vergleichen zu groben Irrtümern führen muss, ist ohne weiteres verständlich; aber die Versuche über das Wiedererkennen machten es auch wahrscheinlich, dass bei unseren Patienten eine Störung der Bekanntheitsqualität anzunehmen sei, 'auf welche das unmittelbare Wiedererkennen zurückzuführen ist.

In den Versuchen ergab sich Gelegenheit, Beobachtungen über das Zustandekommen von Konfabulation zu machen. Auf äusseren Antrieb oder subjektive Neigung eine Lücke auszufüllen oder überhaupt etwas zu produzieren, wurden bereitliegende Assoziationen frei. Doch konnte ich mich auch davon überzeugen, dass als fördernde Momente auch Ablenkung oder Erschlaffung der Aufmerksamkeit und Mangel an Kritik den eigenen Leistungen gegenüber mitwirkten. So konfabulierte O. nicht, wenn man ihn ermunterte, auf das, was er sagen wollte, zu achten. M. kon- fabulierte meist erst dann, wenn sich Ermüdung einstellte oder er, verzagt, sich nicht mehr bemühte, richtig zu reproduzieren. In naher Beziehung zur Konfabulation steht die Perseveration; die gleiche Reaktion, die in Bezug auf eine verlangte Reproduktion als konfabulatorisch zu bezeichnen ist, kann sich bei entsprechender Ableitung als perseveratorisch herausstellen. Mit Rücksicht auf die vielfach (Lissauer, Pick, Heilbronner, v. Sölder) erörterte Theorie der Perseveration möchte ich die Bedingungen hervorheben, unter denen eine solche bei meinen Versuchen zu beobachten war: Relativ . grosse Festigkeit früher gestifteter Assoziationen Neu- erwerbungen gegenüber, verbunden mit der der Konfabulation

Wanderrersammlung des Vereins etc. 167

charakteristischen Kritiklosigkeit. Dagegen sprach nichts dafür, eine abnorm starke Nachwirkung der perseverierenden Asso- ziationen anzunehmen,

Endlich ist auf die Analogien der konstanten falschen Reaktionen beim Trefferverfahren und der zumal bei O. lebhaft in Erscheinung tretenden Stereotypien hinzuweisen. Wie dort ungefähr 30 pCt. von Assoziationen dem Versuche anderweitiger. Verknüpfung standhielten, so sind hier grössere Vorstellungsgruppen zu ähnlichen festen Komplexen vereint. Zur Erklärung ıhrer Bildung ist die relative Gedankenarmut unserer Patienten heranzuziehen, ferner der Drang, bestimmte Gedanken zu äussern. Bei dem relativ starken Uebergewicht, das eine mehrmals wieder- holte Assoziation vor neuen besitzt, ist die Entwicklung von stereotypen Wendungen verständlich.

8 sei mir gestattet, meinem hochgeehrten Chef, Herrn Geh. Rat Flechsig, für die Förderung meiner Untersuchungen auch hier meinen ergebensten Dank nbzustatten.

Wanderversammlung des Vereins für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Wien, 5.—7. Oktober 1906. I. Sitzung, 5. Oktober, 9—12 Uhr.

Referent: Priv.-Doz. Dr. A. Piloz in Wien.

Dr. jur. Türkel: Der geistig Minderwertige und seine Zureeh- nungsfähligkeit.

Vornehmlich historisch gehaltenes, auf reichlichem Litersturstadium (speziell juristischer Werke) basiertes Referat. Der $ 2 a. Oesterr. St.-G,, der von gänzlichem Beraubtsein der Vernunft spricht, trägt den Minderwertigen keine Rechnung; dieselben könnten höchstens unter § 46a subsummiert werden (Milderungsgründe).

Die Frage, ob eine verminderte Zurechnungsfähigkeit zuzulassen sei, ist ausserordentlich kontrovers (diametral entgegengesetzte Anschauung von Liszt einer-, Högel, Lammarsch andererseits). Vor allem blieb die Frage offon, was denn mit den „vermindert Zurechnungsfähigen* zu geschehen habe. Die Psychiater sollen darüber sich näher äussern, davou wären die legis- Iatorischen Massnahmen abhängig zu machen.

(Erscheint in „Jahrbücher für Psychiatrie“.)

Privat-Dozent Dr. Raimann: Die Unterbringung und Behandlung der geistig Minderwertigen. |

Ref. bespricht zunächst die Schwierigkeit der Definition und Ab- grenzung der Minderwertigkeit. Dieser Begriff, von einem Mediziner ge- schaffen, ist zunächst ein medizinischer und gehört in den Wirkungsbereich des Arztes, speziell des Psychiaters. Prophylaktisch und therapeutisch sind wichtige und erspriessliche Aufgaben zu erfüllen, die freilich nach der sozialen Stellung des Minderwertigen dıfferieren. Glatt löst sich die Minderwertigen- frage freilich nur bei günstigen Vermögensverhältnissen.

Die ganze Oeffentlichkeit ist interessiert und hat für die Kosten auf- zukommen, insofern es sich um den Kampf gegen die kriminellen Elemente unter den Minderwertigen handelt. Zunächst muss die Fürsorge für die ver- `

168. . Wanderversammlung des Vereins .

2

wahrloste Jugend, die jugendlichen Kandidaten des Gewohnheitsvorbregber- . ton! Verbissert werden. Vielfach vorbildlich ist die englische und ameri- kanische Kriminalpolitik. Die jugendlichen Minderwertigen sollen nicht göstraft, sondern our in den zu reformierenden Besserungsanstalten nach psyschia- trischen Prinzipien behandelt, nach pädagogischen herangebildet werden.

T: (l Bezüglich der. Unterbringupg der erwachsenen. kriminellen Minder- wertigen ist von zahlreichen Autoren eine Reihe von Vorschlägen diskutiert worden, its Vordergründe steht jener, auch auf dem vorjährigen Jaristentag aagenoinmene Kompromissantrag: qualitativ andere Strafe mit nachfolgender‘

prang. ... Die „orachläge kritisch abwägend und von dem aussichtslosen Be- ginnen einer gründlichen Strafrechtsreform vorläufig absehend, möchte Kef. vorschlagen: Für, die Zwecke der forensischen Praxis muss der Begriff der Mimterwertigkeit zunächst: soweit eingeengt werden, dass er sich fast mit dem des: „geisteskranken Verbrechers deckt; diese Individuen, die bis jetzt ala „kontroverse“ oder „Grenz“-Fälle den Strafprozess behinderten, dem Straf- vollzuge die grössten Schwierigkeiten in den Weg legten, die andererseits aber, nach übereinstimmender Ansicht der Psychiater, für die Irrenanstalt unpeeighiet sind und keinesfalls ihrer Gemeingefährlichkeit entsprechend ver- währt werden::können (im Sprengel des Wiener Landesgerichtes höchstens 50 pro Jahr), wären als unzurechnungsfähig, im strengen Wortsinne, nicht zu bestrafen, was nur eine zweck- und wirkungslose Komplikation bildet, wohl aber durch richterlichen Spruch einer zu schaffenden Zwischen- anstalt (Kriminalasyl) auf unbestimmte Zeit zuzuweisen und dort ihrer Eigen- art entsprechend zu behandeln. (Erscheint ausführlich in den Jahrb. f. Psych. u. Neurol.)

bite netten - Diskussion. | z

v. Wagner führt aus, dass, während die Juristen sich vergebens be- mühen, eine Definition der Zurechnungsfähigkeit zu geben, auf welcher das Strafrecht basieren sollte, das Rechtsbewusstsein des Volkes diese Frage und ihre Beziehungen zur geistigen Gesundheit längst entschieden hat. Was nun die verminderte Zurechnungsfähigkeit anbelangt, so ist die Anschauung, dass es Abstufangen der geistigen Gesundheit gibt, gleichfalls der Allgemeinheit

eläuNg. er Genn die Strafrechtswissenschaft den Begriff der „verminderten Zu- rechnurgsfähigkeit* aufnimmt, müssen auch Veränderungen im Strafvollzuge Platz greifen. Dabei darf nicht schablonisiert werden, etwa in der Art, dass alle Minderwertigen strenger oder alle milder bestraft werden als die völlig Zurechnungsfähigen (Beispiele: ein Exhibitionist einer-, cin Gewalttätigkeits- verbrecher andererseits).

Wenn zugegeben wird, dass die Notwendigkeit, in der kontinuierlichen Reihe vom Pathologischen zum Gesunden eine haarscharfe Grenze zu ziehen, za den grössten Unzukömmlichkeiten bisher geführt hat, aber nun eingewendet wird, dass mit der Schaffung der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“ künftig- hin. zwei solcher willkürlicher Grenzen werden gesetzt werden müssen, so lässt. sich sagen, dass dies in praxi ganz anders fe t. Gerade im Bereiche der verminderten Zurechnungsfähigkeit nämlich häufen sich die Verbrechen, während sie jenseits jener Grenzen numerisch sehr selten sind. Vor allem wird aber mit dem wirksameren Gesellschaftsschutze durch Aufnahme der verminderten Zurechnungsfähigkeit und dadurch bedingtem anderen Straf- vollzuge(Kriminalasyle mit unbeschränkter Datentiousmöglichkeit) die Tendenz, zu simulieren oder wenigstens das Pathologische möglichst herauszustreichen, seitens der Verteidiger und Inkulpaten künftigbin aufhören.

‚Die Errichtung von Kriminalasylen würde schon im Rahmen der be- stehenden Gesetze, d h. auch ohne Aufnahme der verminderten Zurechnungs- fähigkeit, die Frage der Behandlung der geistig Minderwertigen wenigstens zum Teil lösen. Ä

. Benedikt erörtert gleichfalls, dass die Behandlung der Minderwertigen unmöglich durch eine einzige Formel gelöst werden könne. Willens- und geistesschwache Minderwertige (Vagabunden, Imbezille eto. etc.) sind ent-

für Beyshiatrie und Neurologie in -Wien. .- 109

schieden andere zu beurteilen als impulsive Gewalttätigkeitsvorbrecher, ge- fährliohe Komplottverbrecher ete. Das Wichtigste ist überhaupt Schutz der Gesellschaft. Der formale Ausspruch über „Minderwertigkeit“ gehört nicht ir das Gebiet der:ärstlichen Expertise. - -- - - >- - O

Sommer-Giessen betont die Wiehtigkeit der reehtzeitigen Er- kenntnis und Behandlung der Minderwertigen, die schon in der Normal- und ip den Hälfsschulen einzusetzen hätte. Mit fortschreitender psychiatrischer Bildung der Aerzte wird man bald auch schon in der Normalschule jene Kinder herausfinden, die prädestiniert erscheinen für die künftige Kriminalität, Willensschwache, Impulsive, Süchtige. Es sollte in den Hülfsschulen eine Art Krankheitsgeschichte angelegt werden, und diese Leute sollten dauernd klassifiziert bleiben. Als Vormund sollte auch nicht der Erstbeste für diese Kandidaten der Hülfsschulen aufgestellt werden, sondern der Richter hätte Leute auszusuchen, welche eine spezielle peychiatrisch-pAdagogische Bildung besitzen. Die Behandlung hat schon in diesen Schulen gleichzeitig mit der Bevormundung zu beginnen, wobei Aerzte, Lehrer und Juristen zusammen wirken sollten.

Anton-Halle fordert genaueres Differenzieren der Fälle, die unter dem Sammelnamen „Minderwertigkeit‘ geführt werden, und bespricht. besonders den „psychischen Infantilismus“.

Raimann: Schlusswort.

2. Sitzung 5. Oktober, 3—6 Uhr nachmittags.

Vorsitzender: Lähr- Berlin.

l. Dr. Oskar Fischer: Ueber hysterische Dysmegalopsie. Eine Hysterica zeigte zeitweise makropische und mikropische Zustände, in deren Verlaufe auch die Schrift eine Aenderung aufwies, und zwar im makro-- ischen Zustande im Sinne der Mikrographie, im mikropischen Zustande der Makrogra hie; je stärker der Grad der Dysmegalopsie war, war auch der Grad der Schriftstörung stärker, so dass man in der Schriftstörung einen objektiven Gradmesser der Sehstörung hatte. Dabei erwies sich der Akkommodations- apparat immer vollkommen normal. Wenn man bei der Patientin e:ne künstliche ysmegalopsie durch Homatropin, Eserin oder durch Brillengläser hervor- gerufen hatte, so addierte sich die erhaltene D emogalo sie zur schon hbe- standenen, und darnach änderte sich auch die Schrift. Erst wenn man in ein Auge Atropin einträufelte, das bei vollkommener Lähmung keinerlei Dysmegalopsie hervorruft, so verschwand in einem Auge die Dysmegalopsie vollkommen. Darin ist der Beweis zu erblicken, dass die Störung der Grössen- wsahrnehmong nur im Akkommodationsvorgange seine Ursache haben kann. Und zwar hält F. dafür, dass dieselbe nur in der sensiblen Komponente der- selben ihren Sitz haben kann, und zwar kortikal in einem sensiblen „Zentrum“, das dem motorischen Akkommodationszentrum angegliedert sein muss; im Zustande der Dysmegalopsie halluzinierte die Patientin in normaler Grösse; das ist ein Beweis dafür, dass die Halluzinationen rein psychischen Ursprungs, also im Sinne Wernickes transkortikaler Genese sind, denn wenn noch da- zu eine Miterregung der kortikalen Projektionszentren notwendig wäre, so müsste Pat. ebenfalls dysmegalopisch halluzinieren.

Der zweite Fall betrifft einen Mann mit traumatisch - hysterischen Deliried, mit einer eigenen Störung der Grössenwahrnehmung; er sah nämlich alles derartig verzerrt, dass er alles, was links war, wesentlich grösser sah, als das rechts Liegende; es zeigte sich, dass: dies durch keinerlei Störung des Akkommodationsapparates Bedingt war, sondern die Proben mit dem Stereoskop erwiesen, dass er immer dann alles grösser sah, wenn er-es rechts zu sehen glaubte; dadurch konnte diese ganze komplizierte Sehstörung nicht im -Kortikalgebiete seine Ursache haben, sondern ia den „psychischen, trans- kortikalen Regionen“. In diesem zweiten Falle war zu erwarten, dass Halluzinationen in gleicher Weise verzerrt sein: werden, wie die reeller Objekte verzerrt wahrgenommen wurden; und so war es auch; diese Dysme- galopsie nenntıF. transkortikel. Darnach' unterscheidet F. eine kortikale und

170 Wanderversammiung des Vereins

transkortikale Dysmegalopsie bei der Hysterie. Die erste entspricht voll- kommen physiologischen Gesetzen, und eventuelle Halluzinationen werden normal gross wahrgenommen; die zweite entspricht nar psychologischen Gesetzen, und eventuelle Halluzinationen werden ebenfalls dysmegalopisch gesehen. .

p ale Jan Piltz-Krakaa: Sensibilitätsstörungen bei progressiver aralyse.

Bei 14 genauer untersuchten Fällen von progressiver Paralyse zeigte sich, dass die allgemeine Hypästhesie keine gleichmässige war. Am häufigsten ist unbetroffen, d. h. von normaler Sensibilität, die Hals- und Gürtelgegend, manchmal auch das Gesicht (Demonstration zahlreicher Zeiohnungen).

Diskussion.

Lähr, Pilts, Anton. Letzterer weist darauf hin, dass z. B. hooch- gradige Plexusdruckempfindlichkeit bestehen könnte (einseitig oder segwental auftretend) bei gleichzeitiger Hypästhesie der kutanen, der Muskel- sensibilität u. 8. w.

B.Schlöss-Kierling: Zur Kenntnis der Astiologie der angeborenen und frühzeitig erworbenen geistigen Defektzustände,

Das genaue Stadium von 800 Anamnesen bot dem Vortragenden Gelegenheit, sich eine Uebersicht über die Aetiologie der angeborenen und trähzeitig erworbenen geistigen Defektzustände zu verschaffen, und lieferte ausserdem eine Fülle interessanter und teilweise unbekannter Details, deren Mitteilung hauptsächlioh den Inhalt des Vortrages bildete. Derartige Defekt- zustände finden sich selten angeborenerweise auf Grund hereditärer Belastung, meistens spielt noch eine Schädigung des Keimes im intrauterinen Leben oder eine Schädigung des Kindes bei der Geburt eine Rolle. Häufiger aber bereitet die erbliche Belastung den Boden zur Eklampsie oder Epilepsie vor, die dann ihrerseits die geistige Entwicklung hemmt, oder der geistige Defekt schliesst sich bei dem arch Heredität orädie onierten Kind an eine Schädel- verletzung oder körperliche Erkrankung an. Die Tuberkulose als belastendes Moment im obigen Sinne ist fraglich, Blutverwandtschaft scheint kein be- lastender Faktor zu sein. Merkwürdig sind jene Fälle, in welchen ohne be- lastendes Moment in der direkten Aszendenz bei allen Kindern einer Ehe oder doch bei einem Teile derselben sich eine Neigung zu konvulsiven Zu- ständen findet, Intrauterine Schädigungen der Frucht urch physische oder psychische Sohadigung der schwangeren Mutter fübren einesteils zu an-

eborener physischer Schwäche des Kindes, andernteils veranlassen sie die

eigung zur Eklampsie. Intranterin geschädigte Kinder werden häufig hydrocephal geboren. Frühgeborene Kinder sind nicht selten geistig defekt, ebenso bei protrahiertem Geburtsakt, oder asphyktisch geborene Kinder, bei denen einesteils die Neigang zur Eklampsie and Epilepsie eine häufige ist, andern- teils selbst bei Ausbleiben solcher konvulsiver Zustände eine Gelegenheits- ursache leicht zu bleibender geistiger Defektuosität führt. Erstgeburten sind häufig protrahiert und führen oft zar Asphyxie des Kindes, daher ist Erst-

eburt nicht selten indirekt die Ursache angeborenen geistigen Defektes des

indes. Ebenso sind ausserehelich geborene Kinder dann gefährdet, wenn der ledige Stand der schwangeren Mutter Gemütsierstimmungen, Ent- behruugen, Elend und Not der letzteren veranlasst. Hereditäre Lues fand sich nur einmal, und zwar nicht als einzige Ursache angeborener geistiger Defek- tuosität. Angeborener Hydrocephalus er findet sich häufig mit Rachitis kombiniert kann an und für sich, dann aber auch, weil er nicht selten ein Geburtshindernis setzt, endlich, weil er die Kinder zur Eklampsie geneigt macht, die Intelligenz des Kindes gefährden, und ebenso verursacht der er- worbene Hydrocephalus mitunter direkt eine Hemmung der geistigen Ent- wicklung oder er gefährdet letztere, indem er zu konvulsiven Zuständen (Eklampsie, Epilepsie) führt. Die Fälle angeborenen Schilddrüsenmangels (4 unter 800) fanden sich sämtlich in Kombination mit Erscheinungen von Rachitis. Thyreoidio fährt rasch zu körperlicher und geistiger Besserung. Die Mikrocephalie scheint eine durch erbliche Belastung oder durch intrauterine Schädigung der Frucht bedingte Degenerstionserscheinung za sein. Durch

für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 171

meningeale Prozesse im Kindesalter ist die geistige Integrität immerhin, am meisten aber dann gefährdet, wenn eine Prädisposition vorliegt. Infektions- krankheiten können der Anlass schwerer Intelligensstörungen sein, und zwar direkt sowohl wie indirekt durch Vermittlung von eklamptischen, respektive «pileptischen Aufällen. Am meisten scheint das 3. und 8. Lebensjahr ge- Ahrdet za sein, und die in dieser Beziehung am meisten zu fürchtende Infektionskrankheit ist der Keuchhusten. Konsumiereude somatische Er- krankungen, zumal wenn sie schwächliche Kinder treffen, können gleichfalls direkt oder durch Vermittlung von eklamptischen Anfällen die Intelligenz eines Kindes dauernd schädigen. Bei Kindern, die an Rachitis erkranken, wird zuweilen gleichzeitig Verfall der Intelligenz bemerkt. In anderen Fällen vermitteln eklamptische Anfälle die Intelligenzstörung. Bei prädisponierten Kindern kann die Impfung eklamptische Anfälle auslösen, die ihrerseits wieder zu geistigem Verfalle führen. Das gleiche gilt von operativen Ein- riffen. Doch kann auch direkt eine dauernde Iutelligenzstörung durch eine Öperation ausgelöst werden, oder es kann sich als unmittelbare Folge der Operation Epilepsie an diese anschliessen. In einem Falie folgte auf einen durch eine Schulstrafe (Einsperren in eine dunkle Kammer) ausgelösten schweren psychischen Affekt bleibender geistiger Zerfall. Angeborener Sinnes- mangel ist nie ausschliessliche Ursache geistiger Defektiosität, wohl aber beeinflusst er ungünstig das Vorstellungsleben und die Ersiehungsfähigkeit- Schädeltraumen können die Intelligenz eines Kindes direkt gefährden oder aber auch zur Epilepsie führen. Fehlt Epilepsie bei Fällen traumatischen Sehwachsinnes, so stellt sich oft nach Jahren plötzlich merkliche Besserung ein. Regelmässige Alkoholdosen, Kindern verabreicht, können direkt oder durch Vermittlung von Eklampsie oder Epilepsie zu bleibender Geistes- schwäche führen. Die häufigste Ursache frühzeitig erworbener geistiger Defektzustände ist die Eklampsie. Es handelt sich hier immer um Kinder, die prädisponiert sind, sei es durch erbliche Belastung oder intrauterine Schädigung, Frühgeburt, Zangengeburt, Asphyzis, Rachitis, Hydrocephalus, künstliche Ernährung. Eine Gelegenheitsursache löst gewöhnlich die Krämpfe aus. Am häufigsten befallen letztere Kinder zwischen dem 6. und 8, Lebens- monat. Eklamptische Anfälle hinterlassen oft eine auffalleade peychische Veränderung des Kindes, und es entwickelt sich von da an ein psychischer Verfall. In anderen Fällen hinterlassen sie eine Disposition zur Epilepsie, and erst diese führt dann zu bleibendem geistigen Defekt. Die meisten in- folge Epilepsie geistig geschwächten Kinder litten an eklamptischen Anfällen. In den übrigen Fällen von Epilepsie im Kindesalter handelt es sich um Kinder mit erblicher Belastung oder um intrauterin geschädigte Kinder. Auch Zangengeburt, Asphyxie, Trauma capitis, Operation, Infektionskrankheiten spielen in der Aetiologie der infantilen E ilepsie eine Rolle. Nach den in Betracht gezogenen Fällen lassen sich im allgemeinen als Ursache angeborener aud frühzeitig erworbener geistiger Defektzustände anführen: Erbliche Be- lastung, intrauterine Schädigungen, Geburtsanomalien, angeborene körperliche Erkrankung oder angeborene körperliche Defektzustände, erworbene körper- liche Erkrankungen, schliesslich Operationen, Schädelverletzungen, Ver- giftungen, psychische Aftekte.

Diskussion:

v. Wagner erinnert daran, dass nach der grossen Statistik von Mayet die Konsanguineität als solche (d. h. auch ohne hereditäre Belastung) in der Aetiologie gerade der Idiotie eine grosse Rolle spielt. Ferner erwähnt R, die interessante Tatsache, dass auf der Quarnerischen Insel Sansego trotz Inzucht und Alkoholismus (die Kinder trinken schon Wein, sobald sie auf- hören, Milch zu trinken) von einer Degeneration nichts zu sehen sei (kein Geisteskranker, kein Epileptiker oder dergl.).

An der Diskussion beteiligen sich noch die Herren Schüller, Pilez, Schüller. |

4. Dr. Karl Liebscher berichtet über einen eigenartigen Fall von „Ganser‘‘, bei dem er durch gewisse Massnahmen (Eintränlelung von Atropin, Eserin oder destilliertem Wasser in ein Auge) eine Art Halbseitigkeit gewisser,

172 Wanderversammlang des Vereins

dom Ganser zuyehöriger Erscheinungen zeitweise hervorzubringen vermochte. Diese Erscheinungen bestanden darin, duss Patient angab, an Stelle von Buchstaben oder von farbigen Abbildungen andere zu sehen, welche gewöhn- lich zu dem vorgezeigten in einer gewissen gegensätzlichen Beziehung standen. Patient war sich dieser Störung dabei wohl bewusst und gab an: „Wenn er auf ein Bild sehe, so mache sich ihm ein solcher Nebel vor die Augen, und, er sehe dann an seiner Stelle ein anderes.“ Ausser diesen Ganserschen Zügen bestand bei Patienten noch ausgebreitete Analgesie und eine dadurch eigenartige Störung der „Stereognose*, dass die Fehlreaktionen dieselben’ Ganserschen Charakteristika zeigten, wie die, welche zum Beispiel bei der Betrachtung farbiger Abbildungen erhalten wurden.

Durch den „psychischen“ Einfluss der Einträufelung wurden nun diese Störungen korrigiert, und zwar in der Weise, dass dieselben dann nur mehr halbseitig vorhanden waren, nämlich nur auf jener Seite, welche vom Prozesse der Einträufelung unbeeinflusst geblieben war. Ausserdem bestand bei dem Patienten monokuläre Diplopie und eine hysterische Dysmegalopsie, nämlich Makropsie nnd Mikro- resp Makrographie. Der Umstand, dass in seinem Falle auch gelegentlich Makrograp ie mit Makropsie zusammen zur Be-. obachtung gelangte, erscheint dem Vortragenden als ein Beweis des rein psychischen Charakters dieser Sehstörung, in seinem Fall etwa im Sinne der sogenannten nervösen transkortiksalen Dysmegalopsie, wie sie O. Fischer in dieser Sitzung zum Unterschied von der zentralen angenommen hat.

5. Hartmann-Graz: Zur Pathologie der motorisehen Grosshirn- fanktionen. '

Vortragender geht nach kurzer Uebersicht über die neuesten Er- kenntnisse in der Lebre von den komplizierten motorischen Grosshirn- leistangen zu einer gedrängten Schilderung selbst klinisch beobachteter und zum Teil auch an Serienschnitten durch das Grosshirn kontrollierter Fälle über. Erkrankungen von Stirnhirn und Balken (Tumoren, Blutung) liessen Störungen der komplizierten, im individuellen Leben erlernten Bewegungsabläufe (Handeln) nachweisen, ohne dass klinisch nennenswerte Parese oder Lähmung, anatomisch greitbare Schädigung der motorischen Zentralwindangen und der Pyramidenbahn statthatte.

In allen Fällen bestand eine wesentliche Differenz in den Bewegungs- leistungen der rechten und linken Extremitäten. Bei aller Vorsicht in der Deutung der gefundenen Tatsachen glaubt der Vortragende unter Heran- ziehung der bisherigen Erkenntnisse doch eine vorläufige Zusammenfassung dahin geben zu können, dass das Stirnhirn und der Balken beim Ab- laufe komplizierter Bewegungsakte der Extremitäten wesentlich beteiligte Hirngebiete sind.

Dem linken Gehirne kommt hierbei wie schon Liepmann nach- zu weinen sich bemüht hat eine präponderierende Stellung über das rechte ehirn zu.

Ausfall des linken Stirnhirnes erzeugt der Seelenlähmung nahestehende Bowegungsstörungen mit Verlust der Eigenleistangen des Sensomotoriums bezöglich der gegenüberliegenden Körperhälfte, lässt aber auch das Be- wegangsgedächtnis und die Bewegungsintention der gleichseitigen Körper- hälfte geschädigt erscheinen.

Durchtrennung des Balkens von den Ebenen der vorderen Kommissur nach hinten lässt in ihrer Symptomatik scharf den Ausfall der für die rechts- hirnigen Leistungen nötigen Tätigkeit des linken Gehirnes erkennen. Die Bewegungsintention und die Eigenleistungen der linken Extremitäten bleiben erhalten, das Nachahmen optisch vorgemachter Bewegungen, die Objekt- handlungen, das Bewegungsgedächtnis derselben erscheinen schwer beein- trächtigt.

Die rechten Extremitäten zeigen ganz leichte und kaum ins Gewicht fallende Schädigungen.

Trotzdem erschien das zweihändige Manipulieren mit Objekten fast ganz unmöglich. É on Eu '

für Psychiatrie and Neurologie in Wien. 173

Hier kam such noch eine Schädigung. im statisch-lokomotorischen Muskelgeschäfte zur Beobachtung, welche nicht als ataktische bezeichnet werden kann, sondern als statisch-lokomotorische Apraxie angesprochen werden muss.

Läsion im rechten Stirnhirne zeigte trotz relativ geringen Umfanges Störungen der Objektbandlungen nnd des Bewegungsgedäs tnisses der linken Extremitäten bei völlig unversehrter Leistungsfähigkeit der rechten Bx- tremitäten.

Vortragender fasst die sich ergebenden Deutungen der Befunde dahin zusammen, dass es nach diesen Beobachtungen den Anscheiu gewinnt, als würden die Zentralwindangen (Sensomotorium Liepmann’s) nicht wie im Sinne der bisherigen Autoren auch die Sıätten für die gedächtnismässige Festlegung der Beweguugsbilder komplizierter Bewegungsabläufe der Rx- ‚tremitäten enthalten oder durch die Tätigkeit der optischen, akustischen etc. ‚Sionessphären uud hinteren Assoziationsfelder direkte Anregnngen zum Erfolge komplizierter Bewegungsabläufe erhalten, sondern es scheinen sich (noch näher zu bestimmende) Regionen des Stirnhirnes (des vorderen Assoziationszentrums)zurExtremitätenzonederZentralwindungen etwa so zu verhalten, wie sich die Brocasche Windung im motori-

schen Sprachmechanismus zu den motorischen Feldern der Hirun-,

nerven am Fusse der Zentralwindungen verhält.

6. Borgberini-Padus: „Ueber Myasthenia gravis.“

Vortr. untersuchte in 8 Fällen von Myasthenia gravis in vivo ez- zidierte Muskelstäckchen, wobei er sich der Angeluccischen Technik bediente (die exzidierten Muskeln werden sofort auf 24—86 Stunden in die Muskelmasse eines frisch getöteten Tieres eingelegt).

Viele Muskeln zeigten „plasmoidale Regression“ (Vermehrung der Kerne, um diese reichlich Sarkoplasmabildung, während das Myoplasma die eigene Differenzierung verliert und zu plasmoidalem Zustande zurückkehrt. Enge anschliessend Ka illaren mit Leukozyten gefüllt). Aehnliche Bilder fand B. auch in einem Falle von Dystrophia muscalaris (zeigt Photogramm eines Falles von diffuser Muskelatrophie und Myasthenia gravis).

i B. konnte konstatieren, dass, wenn auf K. S. schon Erschöpfungsreaktion aufgetreten war, derselbe Muskel auf An. S. wieder prompt reagierte. meint, dass die My. R. durch chemische Veränderungen in den Nervenfasern selbst bedingt sei.

B. zeigt schliesslich Präparate eines Falles von Polioenceopbalo- malsacie und wendet sich gegen die Auffassung, dass die Myasthenie ihr ‚Substrat in einer Polioencephalomalacie habe.

Diskussion: Marburg hat in 2 Fällen von Myasthenie mittels der Murchimethode die Muskeln untersucht und einen diskontinuierlichen fottigen Zerfall einzelner Fibrillen gefunden. Der Prozess ist als Myositis parenchy- matosa anzusprechen. Dieselben Veränderungen bot die Muskulatur in einem Falle amyotrophischer Lateralsklerose (Fall Pilcz).

Fuchs hat wiederholt das gleichzeitige Vorkommen von Myasthenie und atrophischen Muskelprozessen gefunden. Die echte My.R. hat er bisher nur bei Myasthenia gravis gesehen. Er selbst hat nie einen Fall beobachtet, bei dem darch An. noch Zuckung ausgelöst werden konnte, wenn die K.- Wirkang schon Erschöpfung ergab.

Dr. Stransky bemerkt, ass er in einem Falle von progressiver Amyo- trophie bei einem Paralytiker ganz ähnliche histologische Befunde in der Muskalatur erhoben habe wie jene, von denen Marburg berichtete.

Schüller sah faradische Zuckungsträgheit auch in einem Falle von Myositis universalis.

1. Dr. Grossmann: „Behandlung des Ischias mit perineuraler Koehsalzinfiltration.“ R. berichtet über 15 Fälle von Ischias, von denen 11 geheilt und 3 gebessert worden waren, nach folgender Behandlung: Einstich in der Mitte einer Geraden zwischen Trochanter major und Taber ischii (bei Bauchlage des Pat.). Injektion von 50--100 g 0,6 proz. Kochsalzlösung.

174 Wanderversammlung des Vereins

Auffallend in jedem Fall die unmittelbare schmerzstillende Wirkung der Infektion. Keine üblen Nebenerscheiuungen (absolute Asepsis).

Dauerheilung (in Verbindung mit Thermotherapie) in 11 Fällen.

(Erschienen in der „Wien. klin. Wochenschr.“, 1906, No. 4.2)

8. Sitzung, 6. Oktober 1906, 9—12 Uhr vormittags.

Vorsitzender: Sommer-Giessen.

Pick beantragt vor der Tagesordnung folgende Resolution: Die hier zu wissenschaftlicher Arbeit in der Wanderversammlung des Vereins für Psychiatrie und Neurologie vereinigten österreichischen Irrenärzte legen Ver- wahrung dagegen ein, dass der Psychiatrie und deren Vertretern die Schäden zur Last gelegt werden, welche der Allgemeinheit und dem einzelnen aus der Anwendung der mangelhaften und vielfach fehlenden Gesetzgebung in betreff der Frage des Irrenwesens erwachsen. Das Wenige, was bisher ge- schehen, ist auf die Tätigkeit des Vereins zurückzuführen, der vor fast 40 Jahren schon bei den Ministerien um die Erlassung eines Irrengesetzes vorstellig geworden ist. Mit Rücksicht darauf, dass mehr als fünf Jahre ver- flossen, seit von einer aus Mitgliedern des Vereins zusammengesetsten Enguöte ausführliche Referate über die Grundlagen einer modernen Aus- gestaltung des Irrenwesens und besonders seiner Gesetzgebung ausgearbeitet wurden, stellen die hier versammelten österreichischen Irrenärıte an die Ministerien des Innern und der Justiz die Aufforderung, diese Frage endlich der Durchführnng zuzuführen; sie verlangen besonders, dass alsbald behufs Einleitung entsprechender Reformen eine speziell mit diesen Fragen befasste autoritative Persönlichkeit an die Spitze dieses bisher so vernachlässigten und so wichtigen Ressorts gestellt werde.

Nach Befürwortung durch v. Wagner wird die Resolution einstimmig angenommen.

1. Starlinger- Mauer-Oebling: Besehäftigungstherapie bei Geistes- kranken.

Nach einer breit angelegten theoretischen und historischen Einleitung berichtet Vortr. in ungemein detaillierter Weise über die wahrhaft staunens- werten Erfolge, welche systematische, nnter strengster Individuslisierung und steter ärztlicher Kontrolle ausgeübte Heranziehung der Geisteskranken zu Arbeit und Beschäftigung im weitesten Sinne des Wortes an dem Material der niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt zu Mauer-Ohling gebracht hat. Besonders bemerkenswert war in dem Vortrage dio Tatsache, wie viele anscheinend als capita mortua der lIsolierabteilungen geltende, absolut dissoziale und stationäre Elemente nicht nur als arbeite- und be- schäftigungsfähig sich herausstellten, sondern unter diesem Regime sogar noch ungeahnte Besserungen boten. Gerade dieser Vortrag zeigte so recht, wie viel es auf die hingebungsvolle, tür die Sache begeisterte Tätigkeit der Anstaltsleitung ankommt. Die schönen Erfolge sind zweifellos den besonders eifrigen Bestrebungen des Vortr. zu danken, die aufrichtige Bewunderang erheischen.

2. Max Lähr-Berlin: Besehäftigungstherapie bei Nervenkranken.

Ref. erörtert die prinzipiellen Unterschiede zwischen der Beschäftigungs- therapie bei Geisteskranken und der „Arbeitstherapie“ bei Nervenkranken und entwickelt nan, gestützt auf reichlichste persönliche Erfahrung, die Prinzipien, wie sie in „Haus Schönow“ gehandhabt werden. Strengstes Individualisieren ist auch hier oberstes Gebot. Ein gewisser milder Zwang, insofern der Verbleib in der Anstalt an die Erfüllung der gestellten „Aut- gaben“ geknüpft ist, erweist sich als notwendig. Ref. bespricht auch die törichten Anwürfe, als würden durch die erzwungene Arbeit die Nerven- kranken seitens der Anstaltsleitung „ausgenutzt“. In detaillierter Weise werden die einzelnen Zweige der Beschäftigung, die Indikationen und Kontra- indikationen der Arbeitstherapie und die Erfolge der Behandlung auseinander- ° gesetzt. (Ersch. Wien. klin. Wochenschr., 1906.)

Diskussion: Redlich, Starlinger.

für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 175

4 Sitzung, 6. Oktober 1906, 8—6 Uhr nachmittags.

Vorsitzender: Pick-Prag.

1. Schäller: Über die Beziehungen zwisehen Keimdrüsen und den nervösen Zentralorganen bei Sehwaechsinnigen.

Der Vortragende skizziert die bisherigen Anschauungen über die Ein- wirkung der Keimdrüsen auf die allgemeine Entwicklnng des Organismus. Im speziellen werden die Tatsachen angefährt, welche den Einfluss des Mangels der Keimdrüsen auf.das nervöse Zentrslorgan dartun. Die gegen- sätzliche Beziehung, den Einfluss des Gehirns auf die Beschaffenheit der Keimdräsen, erörtert sodann der Vortragende an der Hand seiner Erfahrungen über 120 männliche Idioten. Es ergibt sich, dass ein trophischer Konnex zwischen Gehirn und Keimdrüsen nicht zu bestehen scheint.

Zum Sehlusse werden jene Formen von Infantilismus, bei welchen eine primäre Genital-Aplasie den wichtigsten ätiologischen Faktor dar- stellen dürfte (Riesenwuchs, gewisse Formen von Fallsucht, Mongolismus?), ausführlich besprochen. Dabei werden insbesondere auch die Beziehungen erörtert, welche zwischen den Keimdrüsen und den übrigen Drüsen mit innerer Sekretion (zu diesen rechnet Vortr. auch das Knochenmarkgewebe). bestehen.

Diskussion.

Anton weist darauf hin, dass das Zusammenwirken der Drüsen unter- einander und auf das Nervensystem sich beim Fiötus anders verhalte als beim Erwachsenen. So wirke z. B. Kastration anders beim Neugeborenen als beim Kinde. Ref. zieht Erfahrungen der Tierzächter heran. Bei Idioten fand Ref. häufig kongenitale Missbildungen und Abweichungen in den geschlecht- lichen Funktionen.

2. Dr. Ernst Sträussler: Zur Frage der nervösen Regeneration im Rüekenmarke. (Demonstration von Rückenmarkspräparaten zweier Fälle mit sogenannten zentralen Nenromen.

1. Fall. 68jähr. Invalide, welcher im Jahre 1866 durch einen Streif- schuss am Rücken eine Verletzung des Rückenmarks im Bereiche des 7. Dorsal- segmentes erlitt und im Januar 1906 einem apoplektischen Insult erlag. Die mikroskopische Untersuchung des Rückenmarks ergab: 1. das Vorbandensein eines echten, in seinem Bau den Neuromen peripherischer Nerven gleich- zustellendes Neurom der 7. hinteren Wurzel der einen Seite, an der dorsalen Räckenmarksperipherie zwischen Eintrittsstelle der Wurzel und dem Sulcus longit. post. gelegen; 2. knäuelförmig zusammengeballte Nervenfasern peri-

herischen Baues innerhalb des Rückenmarks, sogenannte zentrale Neurome, eren Zusammenhang mit dem früher erwähnten Neurom der hinteren Wurzel an Serienschnitten nachzuweisen ist. Dieselben schliessen sich stets an Ge- füsse an; 3. einzelne am Querschnitte im Längsverlaufe zu verfolgende Markfasern ohne Schwannsche Scheiden im Hinterstrange in einem Gewebe, welches sonst fast gar keine anderen nervösen Elemente enthält; 4. im Sulcus longitudinalis anterior, im perivaskulären Lymphraume der Zentral- gefässe and um Gefässe der granen Substanz der Vorderhörner, Knänel von peripherisch gebauten Nervenfasern.

An Längsschnitten, an welchen Fasern in ihrem Verlaufe aus der Räückenmarkssubstanz in die perivaskalären Räume verfolgt wurden, ist er- sichtlich, dass diaselben hier sofort peripherischen Bau annehmen.

2. Fall. 65jahrige Frau, klinisch Tabes mit Demenz, bistologisch Paralyse. Die Untersuchung des frischen Rüäckenmarkspräparater ergab eine nicht weit vorgeschrittene Tabes; nur der Querschnitt des unteren Hals- markes bot das Bild einer grauen Verfärbung des grössten Teiles des Hinterstrangs. Daneben fielen Defekte im Gewebe des Hinterstranges auf, welche jedoch den Eindruck von durch Quetschung des Präparates ent- standenen Kunstprodukten machten.

Die mikroskopische Untersuchung zeigte aber, dass es sich hier um einen keilförmigen Erweichungsherd handelt, welcher den ganzen Hinter-

176 Wanderversammiung des Vereins’ 'ete.

strang mit Ausnahme der äusseren Partien des Bnrdachschen Stranges einnimmt.

Im Bereiche dieser Erweichang sind nun teils in der meningeslen Bekleidung des Hinterstrangs, teils innerhalb des Hiuterstrangs selbst massen- haft zu’ zopfartigen Gebilden und zu Knäueln angeordnete markhaltige Nervenfasern von peripherischem Bau vorbanden; die Faserzüge stehen mit den hinteren Wurzeln in Zusammenhang.

Die Befunde sind vor allem dadurch interessant, dass sie eine ganz erstaunliche Regenerationsfähigkeit der hinteren Wurzeln beweisen. Die neugebildeten Fasern finden auch den Weg in die Bückenmarkssubstanz. Der erste Fall bietet ausserdem einen Beitrag zur Kenntnis der Regeneration endogener Rückenmarksfasern von den Vorderhornzellen aus. drängt sich darnach der Gedanke auf, dass es berechtigt ist, bei Wiederherstellung der Funktion nach zentralen Läsionen neben den bisher zur Erklärung herangezogenen Momenten regenerativen Vorgängen eine Rolle einzuräumen.

Das von Fiokler schon hervorgehobene interessante Verhalten be- züglich des Baues der neugebildeten Nervenfasern, das Erscheinen der Schwannschen Scheidenzellen an den Fasern mit dem Momente, wo sie mit mesodermalem Gewebe innerhalb des Rückenmarks in Berührung treten, könnte als Stütze für die ältere Anschauung, dass die Schwannschen Scheidenzellen mesodermale Gebilde darstellen, angesehen werden; freilich lässt sich der Austritt der Fasern aus der Rückenmarkssabstanz in die erivaskulären Räume in Parallele stellen mit dem Austritt der vorderen Wurzeln aus dem Rückenmark, so dass dann die Fasern in den perivaskulären Räumen als peripherische zu gelten hätten.

Wenn der Satz, dass der Vorgang der Regeneration der Nervenfasern auf denselben Grundsätzen beruht wie der der Entwicklung, richtig ist, so würde der Mangel von Schwannschen Scheidenzellen an den nengebildeten Fasern innerhalb der Rückenmarkssubstanz dafür sprechen, dass auch die Entwicklung der zentralen Fasern keine multizelluläre ist; es sei denn, dass die Zellen nach erfolgter Neubildung der Fasern wieder verschwunden sind.

8. Dr. O. Fischer: Ein weiterer Bericht über den fleekweisen Markfasernausfall bei der progressiven Paralyse.

. demonstriert weitere Präparate, die diese Frage betreffen, und zeigt, dass man diese marklosen Flecken auch bei gewöhnlicher Hämatoxylin-Eosin- ‚färbung als eine leichte Lockerung des Gewebes sehen kann; auch ist es ihm

elungen, mit der Weigertschen Gliamethode eine namhafte Vermehrung der Gliafasern an den Stellen mit der Markatrophie anfzufinden. Er hat bis jetzt 87 Paralysen daraufhin untersucht und fund die Flecken in etwa 55 pCt. derselben; weiter untersuchte er 12 Gehirne von seniler Domenz und arterio- sklerotischer Hiroatrophie und 6 normale Gehirne, und in keinem derselben konnte er derartige zirkumskripte Markatrophien nachweisen.

Iu der Diskussion erwähnt Marburg u. a., dass er ganz dieselben Befunde auch bei senilen Gehirnveränderungen beobachtet hat. Um zu be- weisen, dass die fraglichen Flecke wirklich organischen Ursprangs sind, müsste der Nachweis von Achsenzylindern erbracht werden (dann wäre etwas analoges, wie etwa der diskontinuierliche Zerfallsprozess bei der multiplen Sklerose, anzunehmen). An der Diskussion beteiligten sich noch v. Wagner, Redlich, Anton und Fischer (Schlusswort).

4. Leonowa: Ueber das Verhalten der Rinde der Calearina in einem Falle von Mikrophthalmia und Amelia (Amputation spontanée). (Pobliziert im Arch. f. Psychiatrie.) .

5. Mayr: Experimentelle Beiträge zum histoshemisehen Ver- halten der nervösen Systeme des Rückenmarkes.

(Ersch. in extenso in dieser Zeitschrift.)

6. v. Wagner: Ueber marinen Kretinismus.

(Erschien in der Wiener klin. Wochenschr., 1906, No. 48.)

Entgegen der bekannten und allgemein bestätigten Erfahrungstatuache, dass die Meeresküsten so gut wie kropf- und kretinismausfrei sind, fand R. auf

XXXVII. Versammlung südwestdeutscher Lrrenärzte. 177

den Quarnerischen Inseln zwar auch Kropffreiheit der Bevülkerung, jedoch eine grössere Anzahl von zwerghaften Individuen an einem Punkte der Insel

eglia, welehe den Aspekt von zweifellosen Kretinen boten. Genauere Uater- suchung von 15 Fällen (R. demonstriert zahlreiche Photogramme) lieferten aber doch bemerkenswerte Unterschiede gegenüber dem echten endemischen Kretinismas. So waren alle die 15 Fälle kropffrei, sie wiesen ausnahmslos Zwergwuchs auf, an den Genitalien bestanden Entwicklangshemmungen, wie sie beim endemischen Kretinismus nicht in dieser Häufigkeit sich finden. Gehör und Sprache waren intakt (!). Intellekt nicht oder kaum geschädigt.

Weitere Nachforschungen ergaben nun als ätiologisches Moment Inzucht (wofür u. a auch das von R beobachtete endemische Vorkommen von Albinismus auf diesen Inseln spricht), und R. deduziert, dass es sich in diesen Fällen nicht um echten endemischen Kretinismus, sondern um eine auf Heredität and Inzucht beruhende Erkrankung handelt.

Diskussion: Anton, v. Wagner.

1. Schüller demonstriert Photogramme zur Röntgenologie des Sehädels.

XXXVII. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte. (Tübingen, den 3. und 4. November 1906.) Referent: Dr. M. Isserlin- Heidelberg.

Die Verhandlungen werden durch einen Nachruf für Karl Fürstner (von Prof. Wollenberg) eingeleitet. Dann hält Prof. Dr. Bürker-Tübingen einen Vortrag: Zur Thermod namik des Muskels. Bei der Aktion des Muskels sind ausser den ja sehr reichlich studierten dynamischen und elek- trischen Effekten auch die thermischen Erscheinungen zu berücksichtigen, welche bisher weniger untersucht worden sind. B. hat Versuche über die Wärmeerzeugung bei der Muskelaktion mit Thermosäulen angestellt in einer ex erimentellen Anordnung, welche es ermöglichte, bis zu Millionteln eines Celsiusgrades sicher zu unterscheiden. Das Material bildeten Froschmuskeln, welche, wie festgestellt wurde, keine wesentlichen Unterschiede gegenüber Warmblütermuskeln zeigten. Der mit einem bestimmten Gewicht belastete Muskel wurde von den Thermosäulen umfasst. Indem bei jeder einzelnen Hebung und Senkung die zugleich entwickelte Wärme festgestellt wurde, konnte ein Ueberblick über das Verhältnis von Energieaufwand und Arbeits- leistung gewonnen werden. Es ergaben sich Resultate, welche den Muskel als eine „Wundermaschine“ kennzeichnen, insofern er sich den mannigfachsten Verhältnissen und Anforderungen anpasst. Es wurden frappante Unterschidde der Arbeitsweise der Muskeln in verschiedenen Jahreszeiten, bei verschiedenen besonderen Umständen (Laichzeit), sowie der Muskeln verschiedener Körper- regionen je nach den ihnen zufallenden Funktionen konstatiert. So entfacht ein und derselbe Reiz im Wintermuskel eine hohe Intensität des Feuers, aber ein schnelles Abbrennen, im Frühjahrsmuskel eine nicht so hohe, aber an- dauerndere. Die Herbstmuskeln müssten nach diesen Ergebnissen am meisten Brennmaterial haben, ein Resultat, welches auch wenn dieses Material als Glycogen nngesehen werden darf mit den Forschungen Pflügers übereinstimmt. Ebenso zeichnen sich die Muskeln des Froschweibchens zur Laichzeit durch besondere thermodynamische Leistungsfähigkeit aus. Kröten- muskeln dagegen sind stets weniger arbeitsfähig als Froschmuskeln. Auch über die verschiedenen Arbeitsweisen verschiedener Muskeln brachten die Untersuchungen Aufklärungen. Die Adduktoren arbeiten mit halb so viel Brennmaterial als der Gastroknemius; kann man die ersteren einem Renn- pferd, so muss man die letzteren einem Lastpferd vergleichen. Ferner wurde die Frage erörtert, ob Spannkräfte ohne mechanischen Effekt Wärme

Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hek 2. 12

178 XXXVII. Versammlung südwestdentscher Irrenärzte.

‚produzieren können. Es wurde konstatiert, dass nur der sich kontrahierende :Muskel Wärme erzeugt, dass es eine „Selbstheizung“ ohne mechanische

Leistung nicht gibt.

Privatdozent Dr. Alzheimer-München berichtete über eine eigenartige psychische Erkrankung mit ganz ungewöhnlichem anatomischem Befund.

Es handelt sich um eine Kranke, welche nach 4!/ jähriger psychischer ‚Krankheit gestorben ist. Die 5ljährige, früher stets gesunde, luetisch nicht infizierte Person ohne alkoholistische Neigungen, welche keine körperlichen Krankheitszeichen zeigte, bot ein sehr eigentümliches psychisches Bild. Sie erkrankte mit Eifersuchtsideen, Vergesslichkeit, konnte der Wirtschaft nicht mehr vorstehen, nichts kochen, war unruhig, ratlos in der Wohnung. fn ‘der Anstalt war sie völlig ratlos, unorientiert, kannte niemand, litt an Be- 'äAngstigungen, Delirien, halluzinierte scheinbar, schrie sinnlos. So weit eine genauere Untersuchung möglich war, wurde festgestellt, dass die rechte

örperhälfte nicht ordentlich gebraucht wurde. Beim Lesen kam sie von einer Zeile in die nndere, zeigte ausserdem paraphasische Erscheinungen (z. B. Milchgiesser statt Tasse etc.), auch asymbolische Phänomene. ie Pupillen reagierten, Patellarreflexe waren vorhanden, Arteriosklerose war körperlich nicht nachzuweisen. Diagnostisch wurde ein ausgebreiteter organischer Prozess angenommen; Lues cerebri, Paralyse, Arteriosklerose des Hirns wurde als ausgeschlossen angesehen. Die Sektion ergab eine allgemeine Atrophie des Hirnmantels. Mikroskopisch wurden (nach Bielschowsky) Fibrillenbündel als Reste von Ganglienzellen nachgewiesen, auch die einzelnen Phasen dieses Zerstörungsprozesses der Zellen treten zu Tage. Selbst im Nisslpräparst waren die Fibrillen sichtbar. Ebenso war der Zerfall der Achsenzylinder in Fibrillen nachzuweisen. Ausserdem be- standen eigentümliche Gliaveränderungen. `

In den nächsten Vorträgen behandeln Dr. Frank-Zürichund Dr.Bezzola- Schloss Hard: Die Analyse psyehotraumatiseher Symptome. Es handelt sich um Ausführungen im Sinne der Lehren Freuds über die ätiologische Bedeutung des Traumas für hysterische Zustände. Wenn ‚die Vortragenden die Lehren Freuds auch nicht ganz unbedingt vertreten, so halten sie doch an der traumatischen Aetiologie der Hysterie fest, ohne dass dieses Trauma immer sexueller Natur zu sein braucht. Frank erläutert an einer Anzahl von Fällen die Art und Weise, wie er durch Psycho-Analyse das ätiologische Trauma festzustellen und durch Enthüllung aller mit diesem Trauma verknüpften Erlebnisse („Abreagieren“) die Krankheitserscheinungen dauernd zum Verschwinden zu bringen vermochte. Im Gegensatz zu den neueren Lehren Freuds benutzte F. fast stets die Hypnose sowohl zur "Analyse wie zum Abreagieren. Bezzola gibt mehr theoretische Ausführungen über die Natur und die Wirkungen des psychischen Traumas. Bei der Be- deutung, die allmählich die Diskussion um Freud angenommen hat, mögen die Schlusssätze des Vortrages B.s hier folgen:

l. Die Analyse psychotraumatischer Symptome ergibt, dass sie ins Bewusstsein ragende, durch die Ich-Kritik mehr oder weniger veränderte Bestandteile unvollständiger, psychischer Erlebnisse sind.

2. Der Grund des mangelhaften Bewusstwerdens solcher Erlebnisse liegt in der Plötzlichkeit ihrer Einwirkung und in der Dissoziation -der Hirntätigkeit infolge von Erschütterung, Schlaf, Affekt und anderen Zuständen. die die sofortige Assoziation mit dem Ich-Bewusstsein, d. h. mit der früheren Erfahrung, unmöglich machen.

3. Die Wirkung solcher Erlebnisse ist eine erhöhte Affektspannun; der Persönlichkeit und das zeitweise Auftreten hypnoider Zustände (Tages- träume), die dem Ich-Bewusstsein als Gedankenleere, Gedächtnisschwäche, Ahnungen, Impulse u. dergl. imponieren und mit denen alle ähnlichen Er- fahrungen im Sinne der Verstärkung assoziieren. Die bewusstseinsfähigeh Bestandteile werden dagegen durch Rückläufigkeit zu Verstimmungen, Parästhesien, Illusionen Und Halluzinationen, durch falsche Verkettung zu Zwangs- und Wahnideen, je nach dem Verhalten der Ich-Kritik. Andere

XXXVII. Versammlung sädwastdeutscher Irrenärzte. 179

Reize gehen unbewusst auf die motorische Sphäre über uud bedingen epi- und kataleptoide Erscheinungen.

4. Eine Verdrängung aus dem Bewusstsein besteht in dem Sinne, dass das Erlebnis als Ganzes nie klar bewusst war, sondern von vornherein als bypnoide Persönlichkeit ein Eigenleben führt, das als Schlaf- und Wach- traum zum Bewusstsein drängt, durch Assimilierung ähnlicher Eindrücke zur Neurose sich verdichtet, als manifeste Doppelpersönlichkeit (condition seconde) selbständig werden und durch Schwächen oder Unterdrückung der normalen Erfahrung zur Psychose auswachsen kann.

5. Die Lösung der psychoneurotischen Zustände geschieht am besten durch Rekonstruktion des oder der ursächlichen Ereignisse aus dem mani- festen oder durch künstliche Einengung des Bewusstseins manifest werden- den Symptome. Dieses Verfahren könnte man mit dem Namen Psychosynthese oder Traumatosynthese belegen, um anzudeuten, dass durch eine Zusammen- setzung aus zerschellten Bruchstücken unter ärztlicher Kontrolle ein bloss primär identifiziertes Erlebnis noch nachträglich sekundär identifiziert werden kann.

In der sehr lebhaften Diskussion nimmt zunächst Hoche-Freiburg sehr entschieden Stellung gegen die Lehren Freuds und seiner Anhänger, welche er für völlig verkehrt und einseitig hält. Jung-Burghölzli sucht die Lehren Freuds durch die Ergebnisse seiner Assoziationsversuche zu stützen, indem er darauf hinweist, dass die von ihm festgestellten Komplexphänomene in den Assozistionen Hysterischer auf ein einheitliches psychisches Erlebnis (ätiologisches Trauma) zurückgehen.

Demgegenüber berichtet Isserlin-Heidelberg über von ihm an- gestellte Assoziationsversuche an Hysterischen. Auch er hat den reaktions- zeitverlängernden Einfluss gefühlsbetonter Vorstellungen (Komplexe) nach- weisen können. Im Gegensatz zu Jung hat er aber gefunden, dass diese Phänomene sich durchaus nicht immer im Sinne eines einheitlichen ätio- logischen Erlebnisses zusammenschlossen, dass vielmehr mannigfache gefühlsbetonte Vorstellungen mit ihren charakteristischen Wirkungen im Assoziationsvorsuch zutage treten. I. deutet diese Tatsachen im Sinne der bekannten Emotivität der Hysterischen. Auch die von Jung gefundene - Erscheinung, dass mit gefühlsbetonten Komplexen verknüpfte Assoziationen am leichtesten vergessen werden (eine Tatsache, welche Jung im Sinne der Freudschen Verdrängungstheorie deutete), hat Isserlin nicht bestätigt gefunden.

Gaupp-Tübingen sucht zwischen den’fextremen Anschauungen zu vermitteln.

, Hoppe-Pfullingen: Die strafrechtliche Verantwortliehkeit von Anstaltsinsassen.

Vortragender knüpft an die Tatsache an, dass vor 10 Jahren einmal ein Pflegling strafrechtlich verurteilt wurde, ohne aus der Irrenanstalt ent- lassen zu sein. Er erörtert an Beispielen, dass auch heute noch eventuell in bestimmten Fällen (bei erworbenem und angeborenem Schwachsinn, Perio- dikern) aie Frage der strafrechtlichen Verantwortung trotz des Anstalts- aufonthalts in Frage kommen könnte. Vortragender zeigt, in welcher Weise dann jedes Mal dic Verantwortlichkeit abzulehnen sei. Er streift zum Schluss die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit und der Notwendigkeit von Anstalten, welche zwischen Irrenhaus und Korrektionshaus stehen.

Direktor Krimmel-Zwiefalten: Erfahrungen bei Naehtwaehen.

Das Referat beginnt mit einem historischen Ueberblick über die Ent- wicklung der Ueberwachungssysteme in Irrenanstalten. Während früher ein- mal bei vorwiegender Zellenbehandlung „Laufwachen“ die einzig gebräuch- lichen waren, kommen bei der modernen Bett- und Bäderbehandlung die „Wechselwachen“ und das „schottische System“ fast ausschliesslich in Betracht. Vortragender gibt dann auf Grund einer Rundfrage eine Uebersicht über die Art und Weise, wie an den einzelnen Anstalten halb- oder ganznächtiges Wechselwachsystem oder Dauerwachen nach schottischer Art gebräuchlich sind und sich bewährt haben. Die Zahl der Kranken, welche überhaupt

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150 XXXVII. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte.

unter Wache stehen, schwankte in den einzelnen Anstalten zwischen 5 und und 75 pCt., für gewöhnlich werden 30—40 pCt. der Kranken dauernd be- wacht, während manche Kliniken und Stadtasyle fast sämtliche Kranken bewachen lassen. Im allgemeinen gibt es eine ruhige, halbruhige und unruhige Wachabteilung, bisweilen noch eine besondere für Bäder, Unreine, Sieche und irre Verbrecher. Die Wache beginnt gewöhnlich um 9 Uhr abends und dauert bis 6 Uhr morgens, der Schichtwechsel halbnächtiger Wechselwachen findet im allgemeinen um 12 oder ! Uhr statt. Dauerwachen werden teils abwechselnd herangezogen, teils besonders ausgewählt, bisweilen freiwillig gestellt. Die Zeit der Dauerwachen beträgt ein bis mehrere Monate, weniger oft eine bis mehrere Wochen, in einiger. Anstalten sogar ein halbes Jahr. Die Zwischenzeit zwischen den Nachtwachen pflegt dienstfrei zu sein, jedenfalls ist sie so bemessen, dass das Personal acht Stunden schlafen kann. Oefters erhält das Wachpersonal Zulagen und Vergütigungen. Die allgemeinen Resultate der Umfrage waren die, dass das schottische Wachsystem da, wo es eingeführt war, sich weitaus vor dem Wechselwachsysten bewährt hat. Man hat dann immer ein frisches nicht durch Tagesdienst ermüdetes Personal, welches unruhige, sieche und gefährliche Kranke genau kennt. Die Unzuträglichkeiten, welche der Schichtenwechsel mit sich Bringt, werden vermieden. Es empfichlt sich, nicht zu kurze Dauerwachperioden einzuführen, damit das Personal die Möglichkeit hat, mit dem Kranken vertraut zu werden und allzu häufige Verschiebungen vermieden werden. Auch bedarf es stets einer längeren Zeit, bis das Personal "sich in die veränderten Lebensverhältnisse eingewöhnen kann. Auch zu lange Wachperioden sind nicht anzuwenden; es ist bei solchen öfters das Ueberhandnehmen einer gewissen Zügellosigkeit unter dem Pflegepersonal bemerkt worden. Wachperioden von 2—3 Monaten scheinen die zweckmässigsteu. Irgend eine Beschäftigung während des Wachdienstes ist anzuraten, eine Kontrolle notwendig. Eine ungesunde Be- einflussung des Personals wurde nicht beobachtet, eher das Gegenteil. Zu- lagen sind empfehlenswert, danu meldet sich das Personal freiwillig. Der Gesandheitszustand des Wachpersonals ist dauernd zu beobachten. Im anzen ist das schottische System kostspielig, aber dus empfollenswerteste ür Kranke wie Personal; die Wechselwache ist nur als Hilfe anzuwenden.

Dr. Landerer - Freiburg: Zur gesundheitliehen Prognose des weibliehen Wartepersonals. Vortragender berichtet über Beobachtungen an dem weiblichen Personal der Freiburger Klinik, wie sie in den letzten zehn Jahren gesammelt worden sind. Von 169 Pflegerinnen sind 146 aus- getreten, davon 20 aus gesundheitlichen Gründen. Von diesen letzteren sind nur 8 von Krankheitszuständen befallen, welche nicht auf äussere, mit dem Dienst in keinem Zusammenhange stehende Ursachen zurückgeführt werden konnten; diese acht waren durchweg Psychopathen. Bei den gesunden Wärterinnen war das Optimum der Leistungsfähigkeit nach einem Jahr er- reicht, dann wurde sie durch Eigenwilligkeit, Klatschsucht u.s w. beein- trächtigt. Vortragender schliesst, dass man in Anstalten, wo ein Heiraten des Personals nicht zu ermöglichen sei, besonders auf psychisch intaktes Personal zu sehen habe, am besten sei solches aus ländlichen Kreisen. In der Diskussion betont Kreuser-Winnenthal die Notwendigkeit der Zuver- lässigkeit des Personals beim schottischen Wachsystem, welches ausserdem eine besondere Ueberwachung durch Oberwartepersonal und Aerzte not- wendig mache.

Dr. Sauberschwarz-Elisabethenberg: Besueh und Tätigkeit in einigen Irrenanstalten der Vereinigten Staaten Nordamerikas im Winter 1897/98. Bericht über einige Erfahrungen an nordamerikanischen Irrenanstalten. In einer kleineren Anstalt war das ärztliche Personal nicht gerade auf der Höhe wissenschaftlicher Bildung, die Einrichtungen aber splendid, die Behandlung human, das Wartepersonal gut. An den grossen Anstalten sind alle Einrichtungen äusserst komfortabel und ingeniös, auch die Aerzte durchaus gut geschult und mit denselben Problemen ringend wie wir. Gau Tübingen bestätigt diese Angaben aus eigener Erfahrung.

Dr. Weiler-München: Ueber Messung der Muskelkraft. Nach einer Uebersicht über die Entwicklung der verschiedenen Methoden zur

XXXVII. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte. 181

Messung der Muskelkraft und der hierbei angewandten Instrumente (Ergo- graphen, Dynamometer) demonstriert W. einen von ihm erfundenen, sehr sinnreichen Apparat zur Messung der Muskelkraft. Es ist ein Dynamometer, welches jeweils ein Mass der sufgewandten Kraftanspannung gibt, zugleich aber auch auf einer rotierenden Scheibe die Kraftleistungen graphisch regi- striert und so nicht nur die einzelne Leistung, sondern auch die Verhältniese bei längerer Arbeitsdauer zu überblicken gestattet. In der Diskussion zeigt v. Grützner-Tübingen ein von ihm konstruiertes, gleichfalls registrierendes Dynamometer mit Mareyübertrnagung. Er weist auf «die theoretisch nicht unwichtige Frage hin, dass beim Ergographen die Arbeit ohne weiteres in Meterkilogramm feststellbar sei, während beim Dynamometer die Spannung nicht einmal des Muskels, sondern nur des Apparats angegeben werde. v. G. demonstriert weiter einen Apparat, welcher es ermöglichen soll, das Ver- hältnis isotonischer und isometrischer Muskelkurven exakt zu registrieren.

Privatdozent Dr. Baisch-Tübingen: Funktionelle Neurosen in der Gynäkologie und ihre Begutachtung. Bei der Kombination von gynä- kologischen Leiden und nervösen Beschwerden ist es wichtig, das Wechsel- verhältnis beider festzustellen, insbesondere zu konstatieren, von welchem Einfluss eine Beseitigung des körperlichen Befundes für die nervösen Er- scheinungen wird. Besonders für die Begutachtung der Arbeitsfähigkeita- frage gegenüber den Versicherungsanstalten sind diese Verhältnisse wichtig. B. teilt seine Erfahrungen auf diesem Gebiete in drei Gruppen:

I. Fälle mit gynäkologischem Befund und hierauf hezüglichen nervösen Beschwerden,

2. Fälle mit organischem Befund ohne nervöse Beschwerden,

3. Fälle mit nervösen Beschwerden ohne Befund.

Es ist wichtig, dass in den Fällen der ersten Art eive Beseitigung des gynäkologischen Befundes im allgemeinen keine Besserung brachte, be- sonders dann nicht, wenn die Suggestion der Rente ungünstig beeinflussend mitwirkte. B. weist darauf hin, des es notwendig ist, bei jedem gynäko- logischen Eingriff an etwaige nervöse Folgen zu denken und ihnen von vornherein entgegen zu wirken.

Dr. Pfersdorff-Strassburg: Ueber Denkhemmung. Pf. berichtet über Untersuchungen, welche darauf abzielen, die ver- schiedene Verteilung von Erregung und Hemmung verschiedener Assoziations- rappen in demselben Zustandsbilde nachzuweisen. Er erläutert an einigen ällen die Resultate bei dem Hersagen eingeübter Assoziationen (Buchstabieren, Wochen-, Monatsnamen etc.) und beim Rechnen.

Privatdozent Dr.Rosenfeld-Strassburg: Ueber den Beziehungswahn.

R. referiert über eine kleine Gruppo von akuten, heilenden Erkrankungen. Sie sind ausgezeichnet durch sehr reichliche Beziehuugsideen, zeigen sonst wenig Erscheinungen, insbesondere keinerlei katatonische Symptome. Es handelt sich vorwiegend um eine Verfälschung der sekundären Identifikation, die Empfindungen sind richtig; in der Wahrnehmung wird in Beziehungen zum Ich Stehendes bevorzugt. R. schildert einige Fälle eigener Beobachtung und solche aus der Literatur, die hierher gehören. Für die Diagnose hat man die Rubriken akute oder chronische Paranoia zur Anwendung gezogen. R. zeigt eingehend, dass diese Diagnosen nicht zutreffen. Untersucht man die Fälle genauer, so findet man ausser den im Vordergrund stehenden Be- ziehungsideen abwechselnd Zeichen der Erregung oder Hemmung sowohl auf dem Gebiete des Fühlens wie des Denkens, als auch des Handelns. Es handelt sich sicher um Fälle des manisch-depressiveu Irreseins.

Privatdozent Dr. Specht -Tübingen: Zur Analyse einiger Schwaeh- sinnsformen.

Die klinischen Fortschritte im Differenzieren von Schwachsinnsformen sind bekannt. Auch die psychologische Forschung hat sich um eine feinere Analyse der Arten des Schwachsinns bemüht, ohne bisher über die Anfänge solcher Untersuchungen hinausgekommen zu sein Wesentlich für das psychologische Verständnis der unter der Bezeichnung des Schwachsinns zusammengefassten psychischen Formen iert der Gesichtspunkt, dass für den

182 Buchanzeigen.

Schwachsinn nicht nur intellektuelle, sondern auch subjektive Vorgänge des Fühlens und Wollens zu berücksichtigen sind. S. hat bei einer Anzahl von Schwachsinnsformen Addierversuche nach der fortlaufenden Methode Kraepelins angestellt, welche für die einzelnen Gruppen charakteristische Ergebnisse zu Tage förderten. Bei der Dementia praecox waren die einzelnen Gruppen nicht zu differenzieren. Alle insgesamt zeichneten sich durch eine absolut geringere Leistungsfähigkeit gegenüber den Normalen aus. Eine grössere Ermüdbarkeit dage en war nicbt festzustellen. Uebungsfähigkeit und Uebungstestigkeit ver telten sich ähnlich wie bei Normalen; ebenso die Rechenfehler, eine Tatsache, welche wichtig für die Nachbehandlung ist. Bei Paralyse wurde eine grosse Ermüdbarkeit konstatiert; ausserdem eigen- artige Rechenfehler (z. B. 8+ 4=4 7 +5=4 u. s. w; also eine Art von Haften an derselben Zahl). Ein leichter Uebungsfortschritt war bei der Paralyse festzustellen. Bei der Presbyophrenie war keine Spur von Uebungsfähigkeit und Festigkeit zu finden, eine Tatsache, welche der be- kannten Merkfähigkeitsstörung entspricht. Bei der Alkoholdemenx konnte wohl ein gewisser Uebungsfortschritt, aber keine Uebungsfestigkeit konstatiert werden. Auch hier wurden eigenartige Rechenfehler bemerkt, welche auf Verwechslung der Aufgaben beruhten, z. B. plötzliches Multiplizieren oder Subtrahieren statt des fortlaufenden Addierens. Dieses Phänomen sucht Sp. auf Aufmerksamkeitsschwankungen zurückzuführen. Sp. schliesst damit, dass allo diese Untersuchungen erst dann einem definitiven Abschluss entgegen- gehen werden, wenn es gelungen sein wird, die Aufmerksamkeitsvorgänge genauer zu analysieren.

Die nächste Versammlung soll im Herbst des kommenden Jahres in Heidelberg stattfinden. Als Referatthema ist das der Gefängnispsychosen, als Referent Privatdozent Dr. Wilmanns-Heidelberg bestimmt.

Buchanzeigen.

Bumke, Was sind Zwungsvorgänge? Halle. Carl Marhold, Grundbedingung für sämtliche Zwangsvorgänge ist die Entstehung aus Zwangsvorstellungen im Sinne Westphals mit den 3 Kardinalaymptomen: l. dem Dominieren der Vorstellung unabhängig vom Affekt, 2. dem subjektiveu Gefühl des Zwanges, 8. der vollen Krankheitseinsicht.

Damit sind die Grenzen gezogen gegenüber den Wahnideen, den dominierenden Vorstellungen und den autochthonen Ideen Wernickes. Kempner-Berlin.

Bruns, L., Die Hysterie im Kindesalter. 2. Auflage. Halle. Carl Marhold.

Die 85 Seiten starke Broschüre behandelt in kurzer, aber ziemlich anıfussender Darstellung Aetiologie, Symptomatologie und Therapie der Kinderhysterie.

Die Absicht des Verfassers ging dahin, gerade den praktischen Arzt mit den meist monosymptomatischen Formen der infantilen Hysterie bekannt zu machen, weil nach seiner Erfahrung diese funktionellen Erkrankungen wegen des Fehlens weiterer hysterischer Stigmata oft fälschlich für ein schweres organisches Leiden gehalten werden, wodurch einerseits das Ansehen des Arztes leidet, andrerseits die Heilung erschwert, wenn nicht unmöglich

emacht wird. An praktischen Winken lässt es Verfasser nicht fehlen, deren efolgung geeignet ist, vor Fehldiagnosen zu schützen. K e mpnor- Berlin.

Bachanzeigen. 183

Camerer und Landauer, Geistesschwäche als Entmündigungsgruund.

Jurist.-psych. Grenziragen. Bd. II. H. 7/8. Halle a. S. 1905. C. Mar-.

hold. 46 S.

Die beiden Verff., ein Jarist und ein Psychiater, besprechen das Thema in erschöpfender Weise, ohne wesentlich Neues zu bringen. Man wird sich aber ihren Ausführungen in allen Stücken anschliesscn müssen, vament- lich auch den Angaben Landauers, dass Geistesschwäche nicht einfach ein leichter Grad der Geisteskrankheit ist, sondern ein nach Lebenserfahrung und ärztlicher Wissenschaft zu bestimmeuder Zustand geistiger Gebrechen. Die Besorgnis Camerers wegen der Uebergabe des Entmündigungsbeschlusses halten wir, trotz der gegenteiligen Aeusserung Pfisters, für unnötig. Auch seitdem Cramer betont hat, dass er nie nachteilige Folgen von Jder Ueber-

abe des Beschlusses an den Entmündigten gesehen hat, haben uns die Er- ahrungen der folgenden Jahre nicht vom Gegenteil überzeugen können. Wenn man einem Kranken noch so viel Einsicht und Selbstbestimmungsrecht zubilligt, wie es der Begriff der Geistesschwäche erfordert, dann muss er auch imstande sein, die psychischen Reize, welche die Bekanntgabe der Entmändigungsgrände mit sich bringt, ertragen zu können. Die überaus seltenen Fälle in denen wirklich einmal ein namhafter Schaden für den Kranken zu befürchten wäre, würden auch voch nicht eine Abänderang der Zivilprozessordnung rechtfertigen, sondern lassen sich viel leichter da- durch paralysieren, dass vorher mit dem entmündigenden Amtsgerichte über den Tenor des Beschlusses verhandelt wird. Ebenso wird es rechtlich zu- lässig sein, wenn der behandelnde Arzt, also in diesem Falle der Anstalts- leiter, den Entmündigungsbeschluss vor der Aushändigung an den Kranken verschliesst und, wenn er glaubt, aus seiner Fassung Gefahren für die Ge sundheit des Kranken befürchten zu müssen, ihn mit der Bitte um eine Aenderung oder um Aufschub der Uebergabe an das Amtsgericht zurück- gibt. Das wäre freilich ein Weg, den man in der Praxis nur betreten würde, wenn die in jedem Fall zweckmässigere persönliche Verständigung mit dem Richter aus äusseren Gründen nicht möglich ist. Man wird aber dem An- staltsleiter das Recht nicht abstreiten können, alles von seinem Kranken feru- »uhalten, was dessen Gesundheit beeinträchtigen könnte.

Die Besprechuug der einzelnen Geistesstörungen von dem Gesichts- punkt ihrer Zugehörigkeit zur Geistesschwäche hat immer ihr Missliches, und erf. betont dies ja auch selbst. Von den Degenerierten meint Verf., dass man sie unter Umständen doch wegen Geistesschwäche entmändigen könne, auch wenn der Hauptsache nach nur der ethische Defekt vorhanden ist, vorausgesetzt, dass dieser sie an der richtigen Besorgung ilırer Angelegen- heiten verhindert. Ich möchte da doch die Auffassung Cramers vertreten: das erste ist der Nachweis der Geistesstörung; dieser ist mit der Feststellung der Degeneration nicht erbracht und auch nicht mit dem Vorhandensein eines ethischen Defektes allein. Kommen aber intellektuelle Störungen, namentlich Defekte, dabei in Betracht von einer Intensität, dass sie eine ge- ordnete Lebensführung verhindern, dann besteht keine Degeneration allein mehr, sondern eine Imbecillität. Würde man Degenerierte allein wegen ihres ethischen Defektes entmündigen, so würde man mehr oder weniger ihnen einen Freibrief für kriminelle Vergehen ausstellen; denn es zieht immer, wenn ein Angeklagter vor Gericht nachweist, dass or wegen Geistesachwäche entmündigt ist; jeder geschickte Rechtsanwalt würde ihn daraufhin auch wegen einer Straftat frei bekommen. Ehe die geistige Minderwertigkeit in

die Rechtsprechung eingeführt ist, sollte man doch recht strenge darauf.

halten, dass einfache Degeneration und einfacher ethischer Defekt nicht zu den krankhaften Geisteszuständen in irgendwelchem gesetzlichen Sinne gehören. Weber-Göttingen.

Cohn, T., Die palpablen Gebilde des normalen menschlichen Körpers und deren methodische Palpation. 1. Teil: Obere Extremität. Berlin 1905. S. Karger.

Die auf sorgfältigen Beobachtungen beim lebenden Menschen, an der.

Leiche, an Bildwerken etc. berahende methodische Palpation C.s wird.

F..

184 Buchanszeigen.

durch die grosse Sorgfalt und Klarheit der Abbildungen, wie dureh die Grändlichkeit des Textes bald Freunde gewinnen. Dem Neurologen wird sie bei Beurteilung von Muskelatrophien, von Neurosen nach Trauma und in manchen anderen Fällen von grossem Nutzen sein.

Meyer-Königsberg.

Cramer, A., Ueber Gemeingefährlichkeit vom ärztlichen Stand-

unkte aus. Juristisch - psychiatrische Grenzfragen. Bd. III. H. 4.

Halle 1905. Marhold.

Der Vortrag ist sehr lesenswert und gipfelt in der vielfach von Irren- ärzten ausgesprochenen Forderung, die Aufnahme in eine geschlossene Anstalt zu erleichtern, was auch Referent nus langjähriger eigner Erfahrung nur unterstützen kann, da er gerade ausschliesslich an Anstalten tätig war, an denen bedeutende Erleichterungen bestanden, aus diesem Grunde aber auch manche frühzeitige Stadien studieren konnte, die unter erschwerten Aufnahmebedingungen nicht zur Beobachtung gekommen wären.

Cramers zweite Forderung ist die auch voll berechtigte, geistig Minderwertige nicht zum Straffvollzug in die Irrenanstalten aufnehmen zu müssen. Diese bilden eine immer grösser werdende Misère für die Anstalten. Wenn die allgemeine Meinung auf den Kongressen der letzten Jahre dahin geht, diesen eine strafrechtliche Behandlung angedeihen zu lassen, so soll man für sie eigene Anstalten schaffen. Die Gemeingefährlichkeit der Geistes- kranken werde in vielen Fällen überschätzt und übertrieben; sie könne durch früähzeitigere Aufnahme eingeschränkt und vermieden werden.

Passow-Meiningen.

Ebstein, W., und E. Sehreiber, Jahresbericht über die Fortschritte der inneren Medizin im In- und Auslande. Bericht 1901. H. 2—5. Stottgart 1904 u. 1905. Ferdinand Enke.

Heft I habe ich November 1905 besprochen, jetzt liegen die vier nächsten Hefte vur. Die Autoren haben gehalten, was sie versprachen, nur ist es natürlich eine missliche Sache aller derartiger Sammeljahresberichte, dass viele Monate, sogar Jahre dahingehen, bis z. B. Jahrgang 1901 gänzlich fertig vorliegt.

Aber vielleicht wäre es möglich, die Arbeiten etwas za beschleunigen, dadurch würden sich die zahlreichen namhaften Mitarbeiter ein nicht hoch genug anzuschlagendes Verdienst erwerben.

Die vorliegenden Hefte behandeln die Respirationsorgane, Zirkulations- organe, das Mediastinum, die Verdauangsorgane und Harn und Geschlechts- organe. Näher einzugehen erscheint an dieser Stelle nicht geboten.

Passo w-Meiningen.

Freese, Oberjustizrat, Luise von Sachsen-Coburg und Gotha. Eine forensisch-psychiatrische Studie. Halle a. S. 1905. C. Marhold.

Neben einer objektiven Darstellung der leidigen Affaire interessiert uns an dem Buch vor allem der Umstand, dass es die sämtlichen Gutachten and auch das von den französischen Psychiatern erstattete in deutscher Ueber- setzung bringt. Dass das französische Gutachten auch deutsche psychiatrische Kreise erstaunt und frappiert hat, ist bekannt, und auch der Uebersetzer und Herausgeber, Freese, kann einzelne, zutrefiende kritische Bemerkungen nicht unterdrücken. So bemängelt Fr. zunächst gleich die in der Einleitung kund gegebene Absicht der Sachverständigen, von der Vergangenheit ganz ab- zusehen. Die Sachverständigen meinen damit offenbar die während der fräheren Beobachtungen und Begutachtungen gefundenen Resultate und den früheren Geisteszustand der Prinzessin. Man kann die Berechtigung, sich ausschliesslich mit dem jetzt vorliegenden Zustand zu beschäftigen, nicht abstreiten, denn es ist ja bekannt, dass auch angeborene Schwacheinns- zustände im Laufe von Jahren ihre äusseren Formen so ändern können, dass man von einer Besserung sprechen kann. Aber bei ihrem Status, dem sie die Einteilung in „geistige Fähigkeiten im eigentlichen Sinne“ und „moralische und gemätliche Fähigkeiten“ zugrunde legen, bringen

Buchanzeigen. 185

die Sachverständigen hauptsächlich Erzählungen der Prinzessin von den Ereignissen ihrer Vergangenheit, teils um die Gedüchtnisleistung daraus zu beweisen, teils in der ausgesprochenen Absicht, das frühere Verhalten mit Beweggräünden nicht pathologischer Natur za entschuldigen. Im Vergleich dazu ıst das über den jetzigen Zustand vorgebrachte tatsächliche Material dürftig; es wird nun immer versichert, dass alle psychischen Einzelleistungen nicht wesentlich vom Durchschnitt abweichen, uber Beweise werden hierfür wenige erbracht. Demgemäss kommt das Gutachten zu dem bekannten Resultat, dass die Prinzessin weder einer Anstaltspflege bedarf, noch entmündigt werden muss; bei der letzteren Frage möchten sich die Sachverständigen allerdings durch eine vorsichtige Klausel gegen etwaige Ueberraschungen der Zukonft sichern.

Dem Einwand Freeses, dass die Beobachtung besser in einer Anstalt stattgefunden hätte, wo die Prinzessin nicht unter dem Einfluss ihrer Be- freier und Begleiter stand, können wir nicht völlig beipflichten. Gerade für die Frage, ob die Angelegenheiten besorgt werden können, wird der Anstalts aufenthalt bei solchen Schwachsinnigen nicht ausreichen, es muss eine Beob- achtung unter völlig freien Verhältnissen eintreten. Weber-Göttingen.

Hirsehfeld, Magnus, Geschlechtsübergänge. Leipzig 1905. W. Malende. Verf. bringt eine ausführliche Beschreibung zweier neuer interessanter Fälle von Hermaphroditismus und gibt an der Hand einer grossen Zuhl von guten Abbildungen eine Uebersicht der sexuellen Zwischenstufen. Voran- estellt ist eine kurze und klare Würdigung ihrer Entstebungsgesetze und ihrer Bedeutung, die auch derjenige mit Interesse lesen wird, der nicht in allen Punkten auf dem Boden der Anschauungen des Verf. steht, sondern sich durch eigene Erfahrungen gedrängt sieht, den Homiosexualismus zum mindesten in vielen Fällen als Teilerscheinung einer allgemeinen degenerativen Ver- änderung der gesamten somatischen und psychischen Persönlichkeit nicht nur der Sexualpsyche zu betrachten. R. Lipschitz-Berlin.

Kluge, 0., Potsdam, Ueber das Wesen und die Behandlung der

geistig abnormen Fürsorgezöglinge. Aus: Sammlung von Ab-

_ handlungen a. d. Gebiete d. pädagogischen Psychologie und Physiologie. Berlin. Reuther & Reichard.

Nach Kluge geht durch alle die verschiedenen Krankheitsbilder, die die geistig Minderwertigen bieten, ein gemeinschaftlicher Grundzug, der „abnorme Kgoismus“; auf ihn ist, allgemein gesagt, ihre Uufähigkeit zurück- zuführen, sich den Gesetzen und Ordnungen der Gesellschaft anzupassen. Auf- zufassen sind diese Störungen als der Ausfluss einer allgemeinen, individuell verschieden weitgehenden Schädigung in den niederen und höheren Sinnes- gebieten, wie sie bei der Untersuchung zum Ausdruck kommen in den Ano- malien der Haut- and Tastempfindung, des Muskelsinnes, der Schmerzempfin- dung und der Funktion des Gefässsystems. Sie stellen eine Schädigung im Bewusstsein der Körperlichkeit Jar, die ihrerseits wieder eine Störung im Be- wusstsein der Persönlichkeit zur Folge hat. Es leidet die Ausbildung der normalen, unsere Vorstellungstätigkeit begleitenden Gefühlstöne. Hieraus erklärt sich das Haltlose und das Unberechenbare der Patienten.

Entsprechend dieser Genose, kunn die Behandlung nnr von ärztlicher Seite in Anstalten geschehen. Besondere Aufmerksamkeit erfordern die ge- wohnheitsmässigen und die zwangs- oder triebartigen Eigentümlichkeiten.

Die kirchliche Beeinflussung ist nicht zu entbehren, muss sich aber dem Fassungsvermögen anpassen und sich freihalten von unverständlichen Ideen, da diese schwere Schädigungen hervorrufen können. Für die Patienten, bei denen jede Behandlung fohl schlägt, werden besondere Zwischenanstalten gefordert. Grimme-Göttingen.

Knapp, A. Halle a. S, Die polyneuritischen Psychosen. Wiesbaden 1905. J. F. Bergmann.

Das anfangs so scharf umschriebene Krankheitsbild der polyneuritischer

Psyehose hat sich einigermassen verflüchtigt, nachdem zunächst die poly-

186 Buchaüuzeigen.

aeuritischen, später auch die amnestischen Symptome nicht mehr als unor- lässlich dafür bezeichnet wurden. Die Monographie von Knapp will das Krankheitsbild der polynenritischen Psychose einerseits wieder mehr zusammen- fassen und die ihm eigeuartigen Symptome scharf hervorheben, andererseits zeigen, dass es häufiger vorkommt, als man gewöhnlich annimmt, aber durch allerlei Nebensymptome, Auftreten von besonderen psychischen Störungen, verdeckt wird. Er kommt zu dem Resultat, dass die polyneuritischen Psychosen als eine ätiologische Krankheitsgruppe aufzufassen sind, welche den para- Iytischen nnd hebephrenen Psychosen als dritte organisch bedingte an die eite zu stellen sind.

Als Kern des Krankheitsbildes betrachtet er den amnestischen Symptomen- komplex, als dessen Grundlage in jedem Falle wiederkehrende Veränderungen im Gehirn anzunehmen sind; die daneben auftretenden verschiedenen psychischen Störungen kommen zustande durch sekundäre anatomische Veränderungen.

Die Ausführungen des Verfassers werden erläutert durch acht aus- führliche, sehr anschauliche Krankengeschichten, in denen es sich durchwe um atypische Fälle handelt. Besonders hervorzuheben ist die ausserordentlic sorgfältige und genaue Analyse der psychischen Symptome. Der Hauptzweck der Analyse ist es, den amnestischen Symptomenkomplex, der immer die Grundlage der polyneuritischen Psychose bildet, scharf herauszuheben und zu zeigen, dass die das Krankheitsbild verwirrenden übrigen psychischen Er- scheinungen zum grossen Teil auf ihn zurückzuführen sind oder eine Kom-

likstion darstellen. Mit Wernicke und anderen bezeichnet Verf. als die

auptmomente des amnestischen Symptomenkomplexes die Desorientierung, die Störung der Merkfähigkeit, die retrograde Amnesie und die Konfabulation. In einem seiner Fälle war dieser Symptomenkomplex nur ganz kurze Zeit vor- handen; die Polynearitis liess aber den Fall als Korsakow erscheinen, ein Beweis, wie schwierig sich unter Umständen die Diagnose gestalten kann.

Den Krankheitsgeschichten folgt eine ausführliche Detailbeschreibung Jer bei der polyneuritischen Psychose auftretenden Symptome; darauf kann aber hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Es sei nur nochmals auf die genaue Analyse der Sprach-, Lese- und Schreibstörungen hingewiesen. Ob es sich empfiehlt, für einzelne in ihrer Genese ganz interessante Störangen auf diesem Gebiet, die aber doch an und für sich keine elementare Bedeutung beanspruchen, pleich besondere Namen zu schaffen, wie Verf. dies tut, möchten wir dahingestellt sein lassen.

In der Frage der Aetiologie steht Verf. auf dem Standpunkt, dass nicht nur Alkohol und andere äussere Gifte, sondern namentlich Autotoxine und Infektionen dabei eine Rolle spielen. Eine besondere Gruppe nehmen vielleicht die durch Trauma, Strangulation, Senium und durch Hirntumoren hervorgerufenen polyneuritischen Psychosen ein. Besonders bei den Tumoren des Schläfenlappens, denen Verf. in einer anderen Monographie eine aus- führliche Bearbaitun gewidmet hat, sah er den Korsakow relativ häufig; die Schwierigkeiten für die Differentialdiagnose werden dort eingehend er- örtert. Ausserdem kommen in der Differentialdiagnose namentlich einzelne Stadien und Verlaufsformen der progressiven Paralyse in Betracht. Die Monographie enthält für die gesamte Frage der polyneuritischen Psychose eine Fülle von gut beobachtetem Material und fruchtbringenden Anregungen.

Weber-Göttingen.

Lohsing, E., Das Geständnis in Strafsachen. Jurist.-psychiatr. Grenzfr. Bd. III. H. 1/3. Halle a. S. 1905. C. Marhold. 142 S.

Als Geständnis in Strafsachen wird „jede Aussage bezeichnet, die, an sich genommen, geeignet ist, einen strafrechtlich relevanten Nachteil des Aunssagenden herbeizuführen“. Es braucht also durchaus nicht nur ein „wahres“ Geständnis zu sein. Es folgt ein historischer Exkurs, der Stellung und Bedeutung des Geständnisses, die zu seinem Zustandekommen erlaubten und angewandten Mittel in den Strafrechten aller Zeiten schildert. Für die Beweiskraft des Geständnisses ist am wichtigsten seine psychologische Analyse, wobei natürlich die Motive de» Geständnisses eine besonders wichtige

Bachanzeıgen. 187

Rolle spielen. Darunter werden besondere Faktoren, wie Gewissen, Reue, Liebe, Ehrgefühl, Renommiersucht, Rache etc. angeführt und ihre psycho- logische Würdigung versucht und durch praktische Beispiele belegt. nter den psychopathischen Gründen des Geständnisses erwähnt Verf, das Heimweh, Lebensüberdruss, Fieberdelirien und bespricht auch Geständnisse Geistes- kranker an einzelnen Beispielen, ohne aber näher auf die psychologischen Einzelheiten dieser Fälle einzugehen. In einer Schlussbemerkung wird noch- mals ansdrücklich vor einer Ueberschätzung der Beweiskrait des Geständ- nisses gewarnt, das durchaus nicht den anderweitigen Tatbeweis entbehrlich macht und unter Umständen lediglich als Milderuugsgrund gelten dürfte. eber-Göttingen.

Paton, Stowart, E sychiatry. Philadelphia and London 1905. J. B. Lippincott omp. .

Das Lehrbuch Patons kann im guten Sion als ein eklektisches be- zeichnet werden. Der Verf. hat mit grossem Geschick die wichtigsten psychiatrischen Tatsachen, wie sie in den verbreitetesten Lehrbüchern nieder- gelegt sind, zusammengestellt und auch hier und da um eigene Beobachtungen vermehrt, ohne dass die Einheitlichkeit des Ganzen zu sehr gelitten hätte. Irrtümer finden sich nur ganz vereinzelt. Die Darstellung ist klar. Die Aus- stattung übertrifft diejenige unsrer deutschen Lehrbücher erheblich. Einzelne mikrophotugraphische Abbildungen gehören zu dem Besten, was wir auf diesem Gebiet besitzen. Z.

Reissner, Arthur, Die Zwangsunterbringung in Irrenunstalten und der Schutz der persönlichen Freiheit. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Eulenburg. Berlin 1905. Urban u. Schwarzenberg.

Vorliegende Monographie bildet eine Bereicherung der in den letzten Jahren stark anwachsenden Literatur über diesen speziellen Punkt. Da die Schrift rein juristisch ist, ist der Referent nicht in der Lage, hier näher auf die Thesen einzugehen, die recht gut durchgearbeitet sind. Jedenfalls hat der Autor die einschlägigen gesetzlichen und administrativen Bestimmungen sorgsam durchgearbeitet und gesichtet mit spezieller Be- rücksichtigung derEntmündigung wegen Geistesschwäche und Geisteskrankheit.

Wir können ihm nur daukbar für seine Arbeit sein und hoffen, dass wir in diesem für uns allmählich brennend werdenden Punkte zumal wegen des grossen Publikums und der Oeffentlichkeit bald zu einer Lösung kommen, die beide Teile, Juristen und Irrenärzte, befriedigt, aber die be- rechtigten Forderungen letzterer auch mehr berücksichtigt, als es bisher der Fall ist. Passo w-Meiningen.

Sehüle, Ueber die Frage des Heirutens von früher Geistes- kranken. (Erweiterter Vortrag für die Versammlung der deutschen Irrenärzte in Dresden am 28. April 1905.) Berlin. Georg Reimer.

Schüle gibt ein Schema zur Anlegung der Statistiken, die notwendig sind, um das Material zar Beurteilung der von ihm aufgeworfenen Frage des Heirstens von früher geisteskrank gewesenen Personen zu gewinnen. Da aber bis zur Erreichung des Zeitpunktes, in dem man mit der Verwendung des gewonnenen Materials beginnen kann, noch eine Reihe von Jahren ver- geben wird, macht Schüle gleichzeitig praktische Vorschläge, mit denen jetzt schon versucht werden kann, dem „anerkannten Uebel eines wahl- and reflexionslosen Drauflosheirstens“ entgegenzuwirken.

Der Kernpunkt der ganzen Statistik liegt in der Bezeichnung und Charakterisierang der Krankheitsformen, die natürlich, um ein gemeinsames Arbeiten zu ermöglichen, überall eine gleichmässige sein muss. Die Be- zeichnungen Schüles sind nach symptomatologischem Prinzip gegeben und umfassen grössere Krankheitsverbände, die durch bestimmte charakteristische und regelmässig wiederkehrende Symptome als Einheitsgruppen gekenn- zeichnet werden, wie Melancholie, Manie, primäre chronische Paranoia, primäre Demenz, sekundäre Demenz, juvenile Psychosen, senile Psychosen,

188 Buchanzeigen.

periodische und zirkuläre Psychosen, akute delirante Seelenstörungen u. s. w. Der mütmassliche Verlauf wird vorläufig nicht von ihm berücksichtigt.

Die zur Verarbeitung des gewonnenen Materials gestellten Fragen siod bis in das einzelne differenziert, und das Ganze soll so erledigt werden, dass die einzelnen Anstalten immer nur eine Psychosenform in Ängriff nehmen. Die Vorschläge Schäles für die jetzt schon vorzunehmende Prophylaxe, deren Schwierigkeiten in der Durchführung er sich nicht verhehlt, gipfeln darin, dass erstens allgemein durch Verbreitung der medizinischeo An- schauungen aufklärend auf das Publikum gewirkt, und zweitens dem Staat ein grösserer Einfluss auf die Eheschliessungen eingeräumt werden soll. Im einzelnen: Heraufsetzung der Altersgrenze, Verlangen einer ausreichenden finanziellen Existenzbedingung, Recht jedes Ehepartners, von dem anderen Teil ein Gesundheitszeugnis zu verlangen: Erstatten dieses Zeugnisses darch einen Gesundheitsrat, der mahnend, warnend oder verbietend sein Gutachten abgeben soll, und bei Nichtbeachtung dieses Gutachtens Bestimmungen, die eine finanzielle Trennung bei Erkrankung eines Partners für den anderen un- möglich machen. Endlich verlangt er Entmündigung der Personen, die an rezidivierender Geisteskrankheit leiden, um eine Verheiratung in den Inter- missionen zu verhindern. Grimme- Göttingen.

Weininger, Otto, Ueber die letzten Dinge. Mit einem biographischen Vorwort von Moritz Rappaport. Wien und Leipzig 1904. Wilhelm Braumüller.

Der literarische Nachlass des Verfassers von „Geschlecht und Charakter“, der bekanntlich in seinem 24. Lebensjahre durch Selbstmord endigte. Der empirischen Wissenschaft stand er verständnislos und schroff ablehnend gegenüber und arbeitete doch in seinen abstrakten Spekulationen fast nur mit empirischen Formen. Dieser fatale Widerspruch ist für die Beurteilung seines Werkes wohl wichtiger als seine Psychose, die Aschaffenburg schon nach der Lektüre von „Geschlecht und Charakter“ diagnostizierte und für welche die „letzten Dinge“ weiteres, teilweise typisches Material bieten. Neuerdings wurde nachgewiesen, dass W. die Idee der bisexuellen Anlage, seine Grundlehre, voa Wilhelm Fliess, einem Arzt und Empiriker, über- nommen hat eine seltsame Ironie der Geschichte. E. Hess-Görlitz.

„Geistig Minderwertige“ oder „Geisteskranke"? Von Dr. Werner, Oberarzt an der städtischen Irrenanstalt in Dalidorf-Berlin. Fischers Medizin. Buchhandlung, H. Kornfeld, Berlin W. 85. 1906.

Werner will mit dieser Veröffentlichung einen Beitrag zu der Ab- renzung dieser beiden Krankheitsformen mit Rücksicht auf die geplante

Strafrechtsreform geben. Bei der Beurteilung der etwaigen klinischen Form

„geistiger Minderwertigkeit“ und der Abgreuzung „geistiger Minderwertigkeit“

gegenüber den Zuständen geistiger Gesundheit glaubt W. wenig Meinungs-

verschiedenheiten zu erwarten, wohl aber hinsichtlich der Abgrenzung gegen die unzurechnungsfähigen Geisteskranken. W. bespricht dann in dieser Hin- sicht besonders zwei Kategorien der von Cramer aufgestellten Zustände etwaiger „dauernder geistiger Minderwertigkeit“, und zwar erstens „Patienten mit langsam sich entwickelnden senilen und präsenilen Formen, mit organi- schen Hirnkrankheiten überhaupt“ und zweitens „die Degenerierten“. Zur

Erläuterung und Beleuchtung seiner Ausführungen gibt dann W. in einem

Anhang für jede Kategorie der oben genannten Formen zwei Paare von Gut-

achten in ausführlichster Weise. Das erste Gutachten betrifft einen Beamten

mit deutlichen Zeichen beginnender, krankhafter seniler Geistesschwäche, der bei früherer, sonst tadelloser Lebensführung in einem Warenbause sich ge- ringfügige Sachen angeeignet hatte. Er war in erster Instanz verurteilt worden, nachdem der erste Sachverständige ihn für „geistig minderwertig* erklärt hatte. W. gibt sein Gutachten dahin ab, dass es sich um einen Fall von „Dementia senilis praecox“ handele und die Straftat in einem, die freie

Willensbestimmung ausschliessenden Zustand krankhafter Störung der Geistes-

tätigkeit geschehen sei. Bei dem zweiten Gutachten handelt es sich um die

Anfechtung eines korrekt ubgefassten Testamentes einer Paralytikers, zwei

Buchanzeigen. ` 189

Monate vor der Aufnahme in eine Irrenanstalt, wo er deutliche Krankheits- erscheinungen bot. Das Gutachten hält es für in hohamı Masse wahrscheinlich, dass schon damals bei der Abfassung die freie Willensbestimmung aus- eschlossen gewesen sei. Das dritte Gutachten betrifft „einen pathologischen Schwindler“, der wegen Betrages angeklagt war. Er wird als originär ent- arteter Schwacheinniger begutachtet und als unzurechnungslähig im Sinne von § 51 St. G. B. angesehen. Bei dem letzten Gutachten handelt es sich um einen originär entarteten Gewohnheitsverbrecher mit Zeichen epileptischer Konstitution, bei dew in der Haft epileptoide Verwirrungszustände auftraten. Es fanden sich neben abnormem Hervortreten der Affekte Schwäche auf intellektuellem und ethischem Gebiete, er wurde als unzurechnungsfähig im Sinne von § 51 begutachtet. Der letzte Fall bietet gleichzeitig ein Beispiel, dass es wenig zweckmässig erscheint, einen solchen Entarteten nach Ab- klingen der in der Haft episodisch anfgetretenen geistigen Störungen wieder dem Strafvollzug zurückzuführen, da er trotz längerer irrenärztlicher Be- handlung sofort wieder im Strafvollzug erkrunkte, als er seine Rückführung selbst veranlasst hatte. Reinelt- Göttiogen.

Ueber Idiotie. Referat, erstattet aaf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie. Dresden, 28. April 1905. Von Professor Dr. phil. et med. W. Weygandt, Würzburg. Verlag von Carl Marhold. Halle a. S. 1906.

In dem ersten Teil des Referates werden die Grundlagen der ldiotie besprochen und dabei die amaurotische familiäre Idiotie, der thyreogene Schwachsinn bei Myxödem und Kretinismus unterschieden, sodann wird auf zwei grössere Gruppen ausführlicher eingegangen. Bei der ersten dieser beiden Gruppen beruht die Idiotie auf Anlagemängeln ohne entzündliche Prozesse, z. B. Missbildangen, Mikrocephalie u. a.; bei der zweiten auf entzündlichen Hirnerkrankungen, z. B. Encephalitis, atrophischen, sklerotischen Prozessen u. a. Zum Schluss werden neben einzelnen kleinen Gruppen, die noch teilweise der Deutung harren, die mongoloide Idiotie, eine Form, die sonst noch etwas vernachlässigt ist, besprochen. Der zweite Teil des Referates ist der „Idiotenfürsorge* gewidmet und beginnt mit einer geschichtlichen Einleitung, bei der besonders die stellenweise menschenunwürdige Behandlung der Idioten in früherer nnd teilweise noch in neuerer Zeit, z. B. in Spanien, beleuchtet wird. Die jüngste Periode des Idiotenanstaltswesens beginnt mit dem Erlass gesetzlicher Bestimmungen, in Preussen mit dem Gesetz vom 11. VII. 1891, das in mancher Hinsicht segensreich gewirkt hat. Wäbrend 1892 in Deutschland nur 44 Idiotenanstaltcn bestanden, ist jetzt deren Zabl auf mehr als 100 angewachsen, aber noch nicht !/, entspricht der ärztlichen Forderung der „geeigneten Fürsorge“. Ist die Zusammensetzung der Insassen schon eine sehr mannigfache, so ist die Art der Organisation und der Einrichtung noch bunter. Von 108 Anstalten stehen 54 unter geist- lichem Einfluss, 21 sind staatlich oder städtisch, reine Idiotenanstalten unter ärztlicher Leitung gibt es sogar nur sechs. Die Verköstigung ist jedenfalls zufriedenstellend, die körperliche Hygiene lässt noch zu wünschen übrig. Bedenklicher sieht es vielfach vom speziell psychiatrischen Standpunkt aus. Zwangsmittel und Isolierungen sind noch nicht geschwunden, hier und da bestehen sogar noch Straflisten. Behördliche Revisionen sind selten. Die Leistungen im Unterricht sind recht verschieden. In allen Punkten ist uns Frankreich, das frühzeitig vorbildlich gewirkt hat, überlegen, auch in England haben die Aerzte durchaus die führende Stellung. Das erste Ziel, was hin- sichtlich der Idiotenfürsorge der Referent angestrebt wissen will, ist die Verstaatlichung, und zwar ist nach seiner Ansicht zurzeit am zweckmässigsten die Angliederung der Idiotenfürsorge an das System der staatlichen Irren- anstalten. Bildungsunfähige nnd erwachsene, nicht entlassungsfähige Schwach- sinnige gehören in ärztliche Pflege und Behandlung, die bildungsfähiges sind von den tieferstebenden zu trennen, sie gehören unter pädagogische Aufsicht, jedoch nicht ohne ständige Mitwirkung des Arztes.

Reinelt-Göttingen.

190 Tagesgeschichtliches. Notizen.

Tagesgeschichtliches.

-` Die nächste Jahresversammiung des Deutschen Vereins für Psychiatrie wird am 26. und 27. IV. 1907 in Frankfurt a. M. und Giessen stattfinden.

Es sind folgende Referate vorgesehen: I. DieGruppierung der Epilepsie. Referenten: Alzheimer-München uud Vogt-Langenbagen. . II. Der ärztliche Nachwuchs für psychiatrische Anstalten. Referent: Siemens-Lauenburg. II. Die Mitwirkung des Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung. Reterent: Kluge-Potadam (im Auftrag der Kommission für Idioten- forschung und Idiotenfürsorge).

An Vorträgen sind bisher angemeldet . Hübner-Bonn: Ueber Geistesstörangen im Greisenalter. . Sioli-Frankfurt a. M.: Die Beobachtungsabteilung für Jugendliche bei der städtischen Irrenaustalt zu Frankfurt a. M. . Geelvink-Frankfurt a. M.: Die Grundlagen der Tranksucht. . Knapp-Halle: Körperliche Erscheinungen bei funktionellen Psychosen. . E. Meyer-Königsberg: Untersuchungen des Nervensystems Syphilitischer. .H. Liepmann-Berlin: Beiträge zur Aphasie- und Apraxie-Lehre.

Weitere Anmeldungen werden erbeten an Sanitätsrat Dr. Hans Laehr in Zehlendorf (Wannseebahn), Schweizerhof.

Da N=

Ein internationaler Kurs der gerichtlichen Psychologie und Psychiatrie findet an der Universität Giessen von Montag, den 15., bis Samstag, den 20. 1V. 1907 in der Klinik für psychische und nervöse Krankheiten (Frankfurterstrasse 99) statt. Derselbe ist in erster Linie für Juristen und Aerzte bestimmt, die mit psychiatrischen Gutachten zu tun haben, sodann auch für Beamte an Straf-, Besserungs- und Erziehungsanstalten, besonders im Hinblick auf angeborene geistige Abnormität, ferner für Polizeibeamte, die öfter mit geistig Abnormen za tun haben.

Als Vortragende sind ausser Prof. Sommer beteiligt: Prof. Dr. Aschaffenburg, Köln a. Rh., Privatdozent Dr. Dannemann, Giessen, und Prof. Dr. Mittermaier, Giessen. Begrüssung Sonntag, den 14. IV., abende al Uhr, im Hotel Grossherzog von Hessen. Preis dor Teilnehmer-

arte .

Notizen.

Priv.-Doz. Dr. Raecke in Kiel ist zum Professor ernannt worden.

In Moskau hat Prof. Minor einen Lehrauftrag für Neurologie, Prof. Bajenoff einen solchen für Psychiatrie an der nen gegründeten medizinischen Fakultät für Frauen erhalten.

In Freiburg hat sich Dr. W. Spielmeyer als Privatdozent für Psychiatrie habilitiert.

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie

Fig. 3

Fig. 6

Tafel I—II

Monatsschrift für Psychiatrie Bd. XXI

Jacobsohn, Über Cysticercus cellulosae cerebri et musculorum.

Tafel IH—-IV

Verlag S. Karger in Berlin NW. 6

Monatsschrift für Psychiatrie Bd. XXI

Fig. 10

Jacobsohn, Über Cysticercus cellulosae cerebri et musculorum.

Tafel V—VI

Fig. 14

Fig. 13

Fig. 16

Verlag S. Karger in Berlin NW. 6

| Monatsschrift für Psychiatrie Bd. XXI

Fig. 17

Jacobsohn, Über Cysticercus cellulosae cerebri et musculorum.

Tafel VII—VIII

Fig. 21 Fig. 22

Fig. 24

Verlag S. Karger in Berlin NW. 6

(Aus dem städtischen Irrenhause zu Breslau [Primärarzt Dr. Hahn)).

Die transkortikale Tastlähmung.

Von Dr. R. KUTNER

in Breslau.

Die Fähigkeit, bekannte und allgemein gebräuchliche Gegen- stände allein durch Abtasten mit der Hand zu erkennen, wird schon im frühen Kindesalter erworben. Kramer!) z. B. hat sie schon im zweiten Lebensjahre beobachtet. Voraussetzung für diese Fähigkeit ist natürlich in erster Linie, dass die verschiedenen Veränderungen, die beim Tasten an der Haut, den Gelenken etc. statthaben, ihren Weg zum Gehirn finden und perzipiert werden, Gelangen also durch eine Störung an irgend einer Stelle keine Nachrichten von der Hand zum Gehirn, oder kommen sie nicht zum Bewusstsein, so ist natürlich ein Erkennen dureh Tasten un- möglich, desgleichen, wenn durch totale Lähmung der Hand und Finger jede Tastbewegung ausfällt. Die Lokalität der Störung ist in diesen Fällen belanglos. Nun haben aber Untersuchungen gelehrt, dass nicht nur völliger Verlust, sondern schon ‘eme Herabsetzung der Empfindung die genannte. Fähigkeit aufheben kann. Dabei kommt den einzelnen Empfindungsqualitäten ver- schiedene Bedeutung zu. Im einzelnen sind die Verhältnisse noch nicht genügend klar gelegt; nur soviel steht fest, dass die Schmerz- und Temperaturempfindungen im allgemeinen an Be- deutung gegen die übrigen Qualitäten sehr zurücktreten. Die wesentlichste Rolle scheinen die Empfindungen für passive Be- wegungen und Lage, der Drucksinn?), der Raumsinn und das Ver- mögen der Lokalisation zu spielen, also alles keine einfachen Emp- findungen, sondern schon mehr oder weniger komplizierte Assozia- tionsvorgänge (Urteile). Es entspricht dies auch theoretischen Er- wägungen, nach denen das Erkennen eines Gegenstandes im all- gemeinen dem Erkennen seiner Form gleichbedeutend ist. Ob eine dieser Störungen allein das Tasten unmöglich machen kann,

1) Kramer, Die kortikale Tastlähmung. Monatsschr. f. Paych. and Neurolog. Bd. XIX.

3) Strümpell, Ueber die Bedeutung der Sensibilitätsprüfungen mit besonderer Berücksichtigang des Drucksinns. Deutsche med. Wochenschr. 1904. No. 89/40. nf

Monatsschrift tür Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Holt 3. 13

192 Kutner, Die transkortikale Tastlähmung.

oder welchen Grad sie im Verein mit der einen oder anderen genannten erreichen muss, darüber gehen die Ansichten noch aus- einander. Ebenso wäre es nicht ausgeschlossen, dass auch der Ort der Störung nicht gleichgültig ist, dass sich also auch bei gleicher Intensität der Empfindungsstörung ein Unterschied im Tastvermögen zeigt, je nachdem die sensiblen Bahnen im peri- pheren Nerven, im Rückenmark oder im Gehirn lädiert sind. Da nun ferner das Erkennen der Formen, wie wir gesehen haben, keine einfache Empfindung, sondern einen schon komplizierten Assoziationsvorgang darstellt, wird natürlich auch die psychische Beschaffenheit des Individuums eine Rolle spielen und im gegebenen. Falle in Rechnung zu setzen sein, so dass sich also exakten Be- stimmungen nach der obengenannten Richtung hin eine Reihe- grosser Schwierigkeiten entgegenstellt. Wir sind oft einer ge- wissen Willkür überlassen bei der Beurteilung, ob im gegebenen- Falle die bestehende Sensibilitätsstörung allein ausreicht, um eine- Tastlähmung zu erklären.

Diese Schwierigkeit macht sich vor allem bei Affektionen- der als senso-motorischen Zone der Oberextremitäten bezw. der- Hände bekannten Hirnrindenstelle bemerkbar. Bekanntlich hat Wernicke!) zuerst bei einseitiger Läsion dieser Stelle als Re- sidualerscheinung Tastlähmung der kontralateralen Hand beobachtet, die ihm durch die bestehende geringfügige Störung der Sen- sibilität nicht erklärbar schien und die ihm zu der Aufstellung‘ des Bildes der sog. reinen Tastlähmung Anlass gab, die bedingt. sei durch einen Verlust der Tastvorstellungen. Dieser Befund. Wernickes ist seitdem durch zahlreiche Beobachtungen bestätigt;- aber noch immer herrscht über die prinzipielle Auffassung dieser Störung keine Einigkeit; noch immer gibt es namhafte Autoren,. die entweder die Möglichkeit einer reinen Tastlähmung überhaupt leugnen oder zwar theoretisch zugeben, aber das wirkliche Vor-- kommen in Abrede stellen. Und in der Tat ist auch bisher kein Fall bekannt geworden, in dem tatsächlich jede Sensibilitäts- störung fehlte. Auch die anatomischen Verhältnisse sind von vornherein für die Bestätigung von Wernickes Auffassung: nicht günstig. Der Sitz der Störung ist das mittlere Drittel der Zentralwindungen, besonders in seinen hinteren Partien, und der angrenzende Teil des unteren Scheitelläppchens, also eine Stelle, die zugleich als Zentrum der Sensibilität für die obere Extremität angesprochen wird, und es lässt sich kaum eine Ver- letzung dieser Stelle denken, die allein die Tasterinnerungsbilder- als Assoziationen vernichten sollte, ohne die perzipierenden Elemente selbst zu affizieren. Auch die unleugbare Tatsache, dass in den hierher gehörenden Fällen die Störung der Empfindung so gering- fügig ist, dass sie bei peripherer oder spinaler Genese nicht die geringste Affektion des Tastvermögens bedingen würde, dass im

1) Wernicke, Zwei Fälle von Rindenläsionen. Arbeiten aus der psychiatr. Klinik zu Breslau. Heft II. 1895.

Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 193

Gegensatz bei kortikaler Lokalisation ganz hochgradige Störungen dazu gehören, beweist nicht unbedingt, dass die Tastlähmung ledig- lich auf einem Verlust von Tasterinnerungsbildern beruht, also eine reine Assoziationsstörung ist, bei der die Empfindungsstörungen nur ein zufälliges, durch die Lage des Herdes bedingtes und kein notwendiges, kausnales Attribut der Affektion darstellen. Dazu fehlt, wie schon erwähnt, der Nachweis, dass der Ausfall von Empfindungen in seinem Einfluss auf höhere psychische Leistungen, wie ihn das Erkennen eines Gegenstandes durch Tasten darstellt, völlig unabhāngig von dem anatomischen Sitz des den Empfin- dungsausfall bedingenden Herdes ist. Es wäre sehr wohl mög- lich, dass nach dieser Richtung hin den Störungen aus verschie- dener Lokalisation eine verschiedene Valenz zukommt, und dass gerade bei kortikalem Sitz schon die geringsten Störungen schwere assoziative Folgeerscheinungen nach sich ziehen. In diesem Falle müsste man also die relativ sehr geringen Sensibilitätsstörungen, wenn auch nicht als einzige Ursache, so doch jedenfalls als conditio sine qua non der sog. kortikalen Tastlähmung ansehen.

Wie dem aber auch sein mag, ob die kortikale Tastlähmung, wie sie bisher beobachtet ist, eine rein assoziative Störung darstellt, oder ob der begleitenden Sensibilitätsstörung mit eine kausale Bedeutung zukommt, ihr praktischer, lokalisatorischer Wert bleibt derselbe, sie zeigt eine Hirnrindenaffektion im Bereich des mitt- leren Drittels der Zentralwindungen und der angrenzenden Partie des unteren Scheitellappens an. -

Es wurde oben ausgeführt, dass das Erkennen eines Gegen- standes zunächst im wesentlichen und hauptsächlich ein Erkennen seiner Form bedeutet. Nun ist aber damit der Prozess des Er- kennens noch nicht abgeschlossen; es gehört weiter dazu, dass mit der Form auch die übrigen Eigenschaften des Gegenstandes assoziiert werden, wenigstens gilt dies von den gewöhnlichen Ge- brauchsgegenständen, während z. B. stereometrische Figuren schon durch dıe Form allein eindeutig bestimmt sind. Es ist also not- wendig, dass vom taktilen Felde die andern sensorischen Rinden- felder erregt werden und durch Verbindung seiner verschiedenen Erinnerungsbilder der Begriff des getasteten Gegenstandes ent- steht (sekundäre Identifikation). In erster Linie kommt hier wohl die Erregung der optischen Erinnerungsbilder in Betracht; aber auch die akustischen, olfaktorischen und gustatorischen könnten unter Umständen bei einem Gegenstande von Bedeutung sein. Ist nun von dem taktilen Rindenfelde eine Erregung der übrigen sensorischen Felder nicht möglich, so wird der Begriff des Gegenstandes Schaden leiden, derart, dass wohl seine Form und seine übrigen physikalischen Eigenschaften richtig erkannt werden, aber nicht der Zweck, dem er dient. Der Patient müsste also imstande sein, die Form des getasteten Gegenstandes zu be- schreiben eventl. zu zeichnen, ohne seinen Namen oder durch Worte oder Manipulationen etwas über seine Verwendung an- geben zu können. Stillschweigende Voraussetzung ist natürlich

18*

194 Kutner, Die transkortikale Tastlähmung.

das Fehlen allgemein agnostischer oder störender aphasischer Er- scheinungen ; Voraussetzung ebenso das Fehlen aller Sensibilitäts- störungen an der in Betracht kommenden Hand.

Wir haben dann eine Tastlähmung, die Verger’) als Stéréo- agnosie d’association ou de conductibilit6 im Gegensatz zu der Stéréo- agnosie de réception bezeichnet.

Rein theoretische Konstruktion, hat diese Form bisher kaum Beachtung gefunden. Ihre klinische Bestätigung, die ich in folgen- der Beobachtung zu bringen versuche, mag zeigen, inwieweit wir berechtigt sind, sie von der gewöhnlichen kortikalen Tast- lähmung zu unterscheiden, eventuell als besondere klinische Form anzuerkennen.

Der Fall ist bereits zweimal nach anderen Richtungen hin Gegenstand von Publikationen gewesen?); die gütige Erlaubnis zu einer Untersuchung und zur Veröffentlichung verdanke ich meinem früheren Chef, Herrn Primärarzt Dr. Hahn. dem ich dafür auch an dieser Stelle bestens danke.

Eugen R., 80 Jahre alt.

Im Alter von 5 Jahren zog er sich durch Sturz eine Knochenverletzung an der rechten Stirn zu. Seit dem 12. Lebensjahre leidet er an epileptischen Krämpfen, die zunächst so selten auftraten, dass er das Gymnasium bis Sekunda besuchen konnte. Später häuften sich die Anfälle, er wurde reizbar. Im Mai 1900 wurde auf seinen Wunsch zunächst eine Exzision der Stiranarbe vorgenommen, wobei sich die vorliegende Dura als gesund erwies. Die As- fälle dauerten unverändert fort. Im November desselben Jahres fand eine osteoplastische Schädelresektion im Bereiche des rechten Scheitelbeins statt. Ein Teil der vorderen Zentralwindung, die Zentralfurche, hintere Zentral- windung und oberes Scheitelläppchen wurden freigelegt. Krankhafte Ver- änderungen waren nicht wahrnehmbar. Die Pia wurde an zirkumskripter Stelle, etwas hinter der Zentralwindung, abgehoben; dabei wurden einige Venen verletzt. Nach reaktionsloser Heilung der Wunde blieben als dauernde 'Ausfallssymptome von Seiten der linken Hand eine leichte Ungeschicklichkeit der feineren Fingerbewegungen, eine fast komplette Tastlähmung und eine

eringfügige Störung der Lokalisation und der Bewegun sempfindungen an den Fingern bei im übrigen intakter Sensibilität zurück. Die Anfälle blieben ziemlich unverändert.

1901 wurde noch einmal am Schädel eine osteoplastische Resektion, und zwar am linken Scheitelbein, vorgenommen. Die Oeffnung zog sich etwas ‘weiter naeh vorn als das letzte Mal. Auch hier wurde die Pia an einer Stelle entsprechend der hinteren Partie der 2. Stirnwindung etwas abgehoben and lädiert; einige Gefässe wurden unterbunden.

Nach der Operation bestanden eine wesentlich motorische .Aphasi ‚eine Parese des rechten unteren Facialis und eine Bewegungserschwerung der Zunge (auch nach der linken Seite). Die Aphasie bildete sich im Laufe des nächsten Monats zurück, es blieb nur eine Verlangsamung und Monotonie ‚des Sprachens übrig). oo

. 1) Verger, Sur la valeur semdiologique de la stereo-agnosie,. Revue neurologique. 1902. No, 24.

2) Bonhoeffer, Zur Kenntnis der Rückbildung motorischer Aphasien. Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie. . X. ‚Derselbe, Ueber das Verhalten der Sensibilitat bei Hirnrindenläsionen. Deutsch Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. XXVI. . '

3) Bis hierher ist die Krankengeschichte den zitierten Arbeiten Bon- 'hoeffers entnommen. a

Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 185

Dieser Zustand blieb nach den Angaben der Angehörigen in den folgen- den Jahren ziemlich unverändert. Er bekam ungefähr jede Woche einen epileptischen Anfall, der mit langem Schlaf abschloss. In den Zwischenzeitea machte sich bei dem Kranken eine zunehmenda Reizbarkeit geltend. Die Sprache war langsam, laut, die einzelnen Silben etwas abgohackt. Die Un- geschicklichkeit der linken Hand blieb unverändert.

Seit Anfang 1905 war er nach den Anfällen wiederholt verwirrt, drängte fort, wollte schlagen. In der Nacht vom 8. zum 9. VII. 1905 bekam er eine Reihe schwerer Anfälle. Benommen wurde er ins Krankenhaus zu Aller- heiligen und von da am 10. VII. nach dem städtischen Irrenhause überführt,

Hier liegt er zunächst akinatisch in aktiver Rückenlage, völlig muta- cistisch zu Bett. Die Pupillen sind weit, reagieren auf Licht. Der linke Mundwinkel hängt, aus ihm fliesst Speichel. In der Nacht ist er schlaflos, geht langsam, mutacistisch im Zimmer umher. An den folgenden Tagen ist er etwas freier. Die Aufmerksamkeit und Auffassungsfähigkeit ist deutlich herabgesetzt. Er ist zeitlich nicht orientiert, hat Amnesie für die Zeit seit dem 9, verkennt die Umgebung. Er spricht umständlich, leicht ideenflüchtig. Die Stimmung ist leicht euphorisch. Am 12. desselben Monats bekommt er nach einem kurzen epileptischen Krampfanfall einen ängstlich-deliranten Dämmerzustand, der mit langem Schlaf abschliesst.e Auch am folgenden Tage bekommt er nach einer Serie von epileptischen Anfällen einen Dämmer- zustand, der mit ängstlicher Verkennung der Umgebung, zahlreichen ängst- lichen Halluzinationen und dadurch bedingten Aggressionen gegen die Um- gebung einhergeht. Dieser Zustand dauert vier Tage, schliesst mit Schlaf ab und hinterlässt nur oberflächliche Erinnerung.

Seitdem treten unter Brom und vorwiegender Milchdiät nur selten An- fälle ohne nachfolgende akut psychotische Zustände auf. Der Hubitualzastand zeigt das Bild einer typischen, epileptischen Degeneration mittleren Grades: Leichter Schwachsinn bei relativ noch gut erhaltenen Schulkenntnissen; gutes Gedächtnis und gute Merkfähigkeit; umständliche, weitschweifige Ausdrucks- weise; übermässige Betonung der Höflichkeitsformen; grosse Reizbarkeit; hoffnungsfreudige Stimmung bezüglich seiner Zukunft ohne kritische Würdi- gung seines Leidens. Daneben besteht seit dem Tage der Aufnahme während der ganzen Zeit der Beobachtung, also bis Anfang April 1906, ein, abgesehen von den gleich za erwähnenden Intensitätsschwankungen, konstanter nervöser Symptomenkomplex, der nach der Anamnese vor dem Status epilepticus und seinen Folgeerscheinungen vom Juli 1905 nicht bestanden hatte und der also mit ihm in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden muss. Die untere Gesichtspartie ist beiderseits faltenlos, starr, maskenartig; es fehlen hier alle feineren mimischen Bewegungen in auffallendem Gegensatz zu der über- mässigen Mimik und den starken Mitbewegungen im Gebiet des Stirn- Augenfacialis. Pfeifen, Zähnezeigen, rüsselförmiges Vorstrecken der Lippen, Rämpfen der Nase ist unmöglich. Beim Sprechen bewegt sich der rechte Mundwinkel weniger als der linke. Dauernd fliesst der augenscheinlich ver- mehrte Speichel aus dem Munde, bald rechts, bald links, meist indes in der Mitte, wie Pat. angibt, von der Zungenspitze herunter. Es besteht also eine doppelseitige Parese des unteren Facialis, rechts etwas stärker als links.

Die Zungenspitze kann nur wenig vor die Zähne gebracht werden, weicht dabei vach links ab. Die Bewegung der Zunge nach rechts ist ganz unmöglich, auch nach links ist sie gering und geschieht nur mit grosser An- strengung. Die Zunge kann auch nicht gerollt, die Zungenspitze nicht an die oberen Schneidezähne oder den harten Gaumen gebracht werden. In der Ruhe liegt sie zurückgesunken am Boden der Mundhöhle. Sie zeigt leichtes fibrilläres Zittern, ist aber nicht atrophisch. Die elektrische Erreg- barkeit (faradisch und galvanisch) zeigt völlig normales Verhalten; dasselbe gilt auch von der gesamten Gesichtsmuskulatur. Es besteht also eine starke Parese der Zunge.

Gaumen und Stimmbänder zeigen keine gröberen Lähmungserscheiuungen.

Die Sprache ist hochgradig gestört, meist völlig unverständlich. Der Kranke hat stets Bleistift und Bapier bei der Hand, da er sich meist nur schriftlich verständigen kann. Spontan spricht er verwaschen, nasal, die

196 Kutner, Die transkortikale Tastlähmung.

einzelnen Silben abgehackt, mit sichtlicher Anstrengung und ausgebreiteten Mitbewegungen, nicht nur im oberen Gesicht, auch im ganzen Körper. Das Nachsprechen ist deutlicher; dabei beobachtet er wie ein Taubstummer sorg- fältig das Gesicht des Sprechenden und versucht mit grosser Mühe und zahl- reichen Wiederholungen, die Mundstellung nachzuahmen. Die Vokale werden bis auf i noch relativ gut, nur mit Jumpfem Beiklang und einem dumpfen Vokal oder Konsonanten als Vorschlag herausgebracht; i kann nicht ge- sprochen werden. Von Konsonanten sind d, t, g, k, r, s, z ausgefallen, also wesentlich die, bei denen vorwiegend die Zunge in Aktion tritt. Aber sach die übrigen, besonders die Lippenlaute, werden leidlich gut nur in Ver- bindung mit Vokalen nicht als reine Konsonanten ausgesprochen, z. B. leidlich gut, pd allein unmöglich. Besonders gut ausgesprochen und als Br- satz viel verwendet wird É und ch. Die Zunge bleibt beim Sprechen fast regungslos am Mundboden; es fehlen die feinen abgestuften Mund- und Ge- sichtsbewegungen. Aphasische Störungen sind nicht vorhanden.

Bei der Ausführung aufgetragener Bewegungen fällt die ungezüägelte Kraft- und Exkursionsentfaltung auf, mit der sie von statten gehen. Die Bewegungen geschehen hastig, ruckweise; z. B. aufgefordert, sich zu bücken, wirft er heftig den Rumpf nach vorn, dass er zu fällen droht, oder statt die Arme in die Höhe zu heben, reisst er sie mit einem Ruck in die Höhe, oder er reisst den Mund ad maximum auf, wenu er die Zähne zeigen soll, u. s. f. Auch bei reinen spontanen Bewegungen tritt, allerdings geringer, diese über- mässige Kraftentfaltung zu Tage. Irgend welche ataktischen Erscheinungen fehlen.

Die Tastlähmung der finken Hand besteht noch ziemlich unverändert so, wie Bonhoeffer sie s. Zt. beschrieben hat!). Aber auch an der rechten Hand besteht jetzt eine Störung des Tastvermögens. Wegen des Unter- schiedes dieser beiden Störungen sei auch die erste hier noch einmal in ihren Einzelheiten kurz vorgeführt. Auch jetzt sind an der linken Hand und den Fingern die Berährungsempfindung (selbst für feinste Pinsel- berührungen) Schmerz- und Temperatarempfindung völlig ungestört. Leichte passive Bewegungen werden an den Fingern, besonders in den Gelenken zwischen End- und Mittelphalanx, nicht gefühlt oder in ihrer Richtung falsch angegeben; etwas ausgiebigere Bewegungen werden prompt auch in der Richtung erkannt. Leichter Druck mit der Fingerkuppe wird oft an den Fingern nicht als solcher gespürt. Die Lokalisation von Berührungen ist an der Vola der Finger deutlich, an der Vola der Hand geringer gestört, z. B. ergab sich bei einer Fräfung am 2. II. 1306 bei der Vola der Finger unter 25 Versuchen 12mal Verwechselungen der Phalangen, dabei auch dazu noch einige Male der Finger, 4mal dies allein bei richtiger Phalangenangaba; an der Vola der Hand betrug an diesem Tage der durchschnittliche Fehler ca. 19 mm (bei 25 Versuchen), Auch die zahlreichen späteren Untersuchungen hatten ein ziemlich gleiches Ergebnis.

An der rechten Hand und den Fingern waren alle Empfindungsqualitäten völlig normal. Im Gegensatz zu links wurde auch der leichteste, vom Unter- sucher selbst gerade noch fühlbare Druck mit der Fingerkuppe, ebenso auch noch die geringsten passiven Bewegungen der Phalangen gespürt und nach Richtung richtig angegeben. Gegenstände, die nach ıhrer Länge links fast immer zu niedrig geschätzt wurden, wurden rechts ziemlich gut abgeschätszt, z.B. ein Taschemesser von 9 cm Länge, links 5, rechts 10 cm u. a. m. Ebenso ist die Lokalisation der Berährungen an Hand und Fingern normal, z. B. er- geben die Untersuchungen vom 2. 1I. 1906 und den folgenden Tagen, dass an den Fingern niemals Phalangen oder Fingern verwechselt werden; der Fehler beträgt im Durchschnitt 2—4 mm, proximal zunehmend (je 10 Versuche pro Phalanx); in der Vola manus ist der durchschnittliche Lokalisationsfehler (bei 25 Versuchen) ca. 5 mm. Auch die späteren Untersuchungen ergeben ähnliche Resultate, einigemale erfolgte bei guter Höhenlokalisation Ver- wechsiung von Ring-Mittel- und Ring-Zeigefinger, ein Verhalten, das aber durchaus in den Bereich der Norm fällt?).

1) I. e. 23) Henri, Ueber Raumwahrnehmungen des Tastsinns. Berlin 1898.

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Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 19%

Es sei hier bemerkt, dass alle diese Prüfungen und die folgenden des Tastrermögens unter besonderen Kautelen vorgenommen wurden, um die Ablenkung und die Ermüdung möglichst auszuschalten, in besonderem, ruhigem Zimmer und mit kurzer Pause nach jedem Versuche, mit längerer nach je 5 Versuchen.

Bei verbundenen Augen wurden dem Kranken, der diese Versuche noch von früher her gut kannte und vollkommen begriff, worauf es ankam, ‚Gegenstände zuerst in die rechte, dann in die linke Hand gegeben, mit der Au orderang, die Gegenstände za bezeichnen event. ihre Verwendung. Gelang ihm das nicht, so musste er angeben, was er überhaupt von ihnen aussagen konnte. Aus der grossen Reihe der Untersuchungsprotokolle seien einige ‚die rechte Hand betreffende hier wörtlich aufgeführt.

7. II. 1906. Apfel: „hart, kalt, rand.“

Wollknänel: „rund, weich, lau.“

Zehnpfennigstück: „Blech und sehr dünn, rund.“

Pinsel: „Pinsel.“

Bleistift: „längeres Stückchen Holz, rund, auf der einen Seite spitzig.*

Schlüssel: „Schlüssel.“

Fingerhut: „Fingerhat.*

Haaruadel: „spitzig, gebogen, Draht.“

24. 11. 1906. Apfel: „eine Kagel.“

Uhr: „ein flaches, rundes Stück.“

Löffel: „Löffel.“

Pfropfen: Wohl Stückchen Holz von der Form“ (zeichnet sie richtig in die Luft).

Spielkarte: „Pappe.“

essor: „Messer.“

6. IV. 1906. Wallnuss: „das ist wohl Holz und die Form einer Pflaume.“

Wollknäuel: „ein rundes weiches Fabrikat.“

Löffel: „das ist aus Blech und von der Form“ (zeichnet die Form richtig hin).

Schlüssel: „Schlüssel.“

Fingerhut: „Fingerhut.“

Bleistift: „es ist Holz und hat die Form eines Nagels.“

Pinsel: „es hat die Form eines Bleistiftes und oben vielleicht Wolle.“

Haarnadel: „ein Draht“ (zeichnet richtig die Form hin).

Spielkarte: „ein Stückchen Pappe.“

Korken: „weicher wie Holz und sieht so aus“ (zeichnet es richtig hin).

In der linken Hand wird nur Schlüssel sehr häufig, nicht immer, einigemale auch eine leere Streichholzschachtel erkannt; von den übrigen Gegenständen werden die Temperatur immer, die übrigen Qualitäten selten, die Form nie richtig angegeben.

Stereometrische, aus Pappdeckel gefertigte Figuren: eine Kugel, eine Pyramide, ein Würfel, ein Kegel, werden rechts erkannt, links nicht.

Wiederholt gibt der Patient spontan richtig an, wenn er einen nicht erkannten Gegenstand in derselben Sitzung schon einmal zum Tasten be- kommen hatte, und zwar nur bei der rechten Hand, in der linken erkennt er nie einen wieder.

Wiederholt wird ein Versuch derart angestellt, dass ein getasteter, aber nicht erkannter Gegenstand mit 2—8 andern in eins Schachtel getan wird, aus der er dann ebenfalls mit geschlossenen Augen den getasteten heraussuchen soll; rechts gelingt es ihm immer, links nie; ebenso vermag er einen genannten Gegenstand aus der Schachtel oder aus einer Tasche mit ‚der rechten Hand hervorzuholen, mit der linken nicht.

Die Tastbewegungen erfolgen rechts sehr ausgiebig und geschickt, links ungeschickt, meist nur als Massenbewegung der Finger; kleine Gegen- stände lässt er links oft fallen, rechts nie. Das Tasten geht auch rechts mit erheblicher Verlangsamung und unter grosser geistiger Anstrengung von- statten. Auch bei den Gegenständen, die er richtig erkennt, braucht er oft 3—5 Minuten (NB. sie wurden ihm stets so lange gelassen, bis er sie selbst

198 Kutner, Die trasskortikale Tastlähmung.

weglegte); er sass gewöhnlich da, die linke Hand an der Stirn, das Gesieht in angestrengtem Nachdenken verzogen. Nur wenige Gegenstände warden schneller erkannt, z. B. ziemlich konstant Schlüssel und Fingerhut; es sei hier noch bemerkt, dass links Fingerhut auch dann nicht erkannt wurde, wenn er auf einen Finger gesteckt wurde, andererseits Schlüssel sehr oft und rasch erkannt wurde.

Bezüglich des Erkennens der einzelnen Eigenschaften eines Gegen- standes machte sichtlich das der Form am meisten Schwierigkeit, die Reak- tionszeit war erheblich verlängert. Indes liess sich leicht nachweisen, dass die meiste Zeit und Mühe darauf verwandt wurde, anf den Namen bezw. den Zweck des Gegenstandes zu kommen.

Resultate derart, dass wohl der Zweck erkannt wurde, nur der Name nicht gefunden werden konnte, ergaben sich nie. Stets konnte von einem nicht benannten Gegenstande auch der Gebrauch nicht gezeigt werden und umgekehrt.

Zum Vergleiche wurden auch eine Anzahl durchweg dementerer, zum Teil erheblich. schwachsinniger Epileptiker mit denselben Gegenständen geprüft; alle Dinge wurden prompt erkannt.

Während die Tastresultate an der linken Hand bei den verschiedenen Untersuchungen ziemlich konstant blieben, also fast nar Schlüssel, einige Male such eine Schachtel erkannt wurden, zeigten die Ergebnisse an der rechten Hand erhebliche Schwankungen. Die Verlangsamung und Schwierigkeit im Erkennen blieb zwar immer nachweisbar, war aber doch bei denselben Gegenständen bald grösser, bald geringer; manchmal wurde an einem Tage und nicht einmal unter grösserer Schwierigkeit als bei anderen Gegenständen solche erkannt, die an einem früheren oder späteren Tage trotz grösster An- strengung nicht erkannt werden konnten. Manchmal traten die Ver- schlimmerungen nach Anfällen zugleich mit der gleich zu erwähnenden Verschlimmerung des übrigen somatischen Befundes und mit einer Steigerung der Reizbarkeit auf; indes war meist eine Ursache nicht auffindbar. Die Sensibilität, auch die Lokalisation blieb anch in den Zeiten der verschlechterten Tastfähigkeit rechts ungestört.

Ganz auffallend wurde die Störung durch Ermüdung verschlimmert und diese trat sehr rasch ein. Wurden die Tastversuche nicht unter den oben erwähnten Kautelen vorgenommen, sondern hintereinander ohne Pause, so wurde auch rechts fast kein Gegenstand erkannt; oft wurde auch die Form falsch angegeben, z. B. Schlüssel statt Messer, Glasgefäss statt Stück Seife. (NB. Kurz vorher hatte er ein Tintenfars getastet) Von den stereometri- schen Figuren wurden der Würfel und der Kegel erkannt, die Pyramide nicht völlig wie sonst („eckiges Ding“). Das Phänomen des Haftenbleibens trat deutlich hervor.

Aber auch einzelne der Empfindungsqualitäten zeigten an der rechten Hand bei Ermüdung leichte Störungen. Zwar Berührungs-Schmerz-Temperatur- empfindung blieben ungestört, dagegen wurden leichte passive Bewegungen der Finger in den verschiedenen Gelenken oft gar nicht gespürt, oft ihre Richtung falsch angegeben, Ebenso zeigte die Lokalisation von Berährungen eine leichte, aber deutliche Störung: bei 20 rasch hintereinander ausgeführten Versuchen wurden einigemal Phalangen verwechselt; an der Hohlhand betrug der durchschnittliche Fehler ca. 13 mm.

Auch an der linken Hand wurden die Fehler bei Ermüdung grösser, während die intakten Hautempfindungen ungestört blieben.

In seinem übrigen psychischen Verhalten zeigte der Patient durchaus nicht diese grosse Ermüdbarkeit, z. B. schrieb er gut und mit nur geringen Flüchtigkeitsfehlern ein längeres Diktat, addierte im Kopfes und schriftlich eine Reihe Zahlen ganz gut; gezeigte Bilder erkannte er prompt, ohne dass sich bei dieser groben Prüfung die Krmädung recht merkbar machte,

Wie schon angedeutet, war auch der früher geschilderte Symptomen- komplex in seiner Intensität nicht konstant. Zuweilen, besonders nach einem Anfall, aber auch ohne dass ein solcher beobachtet war, war der Speichelfluss bedeutend verstärkt und die Sprachstörung so hochgradig, dass überhaupt kein Wort verstanden wurde. Im Begiun der Beobachtung soll auch nach

Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 189

Anfällen kurze Zeit eine Ersehwerung des Schluckens fester Speisen bestanden haben; indes waren dies nur Angaben des Pfiegepersonals; von Aerzten konnte diese Erscheinung nie beobachtet werden.

Es handelt sich also um einen jetzt 80 Jahre alten Mann, der seit seiner Kindheit an typischen epileptischen Anfällen leidet und jetzt auch deutlich die psychischen Zeichen epıileptischer Degeneration zeigt. Operativ sind bei ihm s. Zt. zwei leichte umschriebene Hirnläsionen an’genau bekannter Stelle gesetzt worden, die bestimmte Ausfallserscheinungen zur Folge hatten. Die erste Verletzung im Bereich des mittleren Drittels der rechten vorderen Zentralwindung hinterliess eine dauernde Tastlähmung der linken Hand mit geringen Störungen der Sensibilität und einer leichten Ungeschicklichkeit

er feineren Fingerbewegungen. Die zweite Läsion, ®/, Jahre nach der ersten,

betritt wesentlich die hintere Partie der zweiten linken Stirnwindung. Sie hinterlässt als unmittelbare Folge eine wesentlich motorische Aphasie, eine Parese des rechten unteren Facialis und der ganzen Zungenbewegungen. Die Aphasie bildet sich nach einigen Wochen zurück, die Sprache bleibt nur „verlangsamt und silbenmässig abgesetzt“, aber gut verständlich.

Im ganzen sind also Ende 1901 vorhanden: die oben erwähnte Störung der linken Hand, eine geringfügige Störung der Sprache, eine Parese der Zunge und des rechten unteren Facialis. Dieser Zustand bleibt im wesent- lichen unverändert bis Anfang Juli 1905. Nach einer Serie schwerer An- fälle, die vollkommen das Gepräge genuin-epileptischer tragen und von Verwirrtheitszuständen begleitet sind, entsteht teils durch Intensitätszunahme der schon bestehenden Erscheinungen, teils durch das Auftreten neuer ein Symptomenkomplex, der das Bild einer Pseudobulbärparaliyse darstellt: doppelseitige Parese des unteren Facialis, starke Parese der Zunge, starke Dysarthrie, vielleicht anfangs auch Schluckstörung und eine mangelhatte Hemmung aller intendierten Bewe ungen. Das Fehlen von Degeneration und das normale elektrische Verhalten er betroffenen Muskeln spricht gegen eine Beteiligung des peripheren Neurons, die Art der Entstehung allein für einen kortikalen Sitz des zugrunde liegenden pathologischen Prozesses. Da wir nun auch in der Tat eine doppelseitige Rindenläsion vor uns haben, ist es natürlich, diese mit dem bestehenden klinischen Bilde in Zusammenhang zu bringen. Unser Fall wäre demnach auch nach der Seite interessant, dass er .ein Beispiel der immerhin noch seltenen Fälle von Pseudobulbärparalyse rein kortikaler Genese darstellt (meist liegen sonst noch bekanntlich subkortikale resp. pontine Herde vor) Wir müssen also annehmen, dass der patho- logische Prozess von der affizierten hinteren Hälfte der zweiten linken Stirnwindung und dem mittleren Drittel der rechten vorderen Zentralwindung ausgegangen ist. Und in der Tat liegen ja auch abwärts von diesen Regionen in dem unteren Drittel der vorderen Zentralwindung und den hintersten Partien der dritten Stirnwindung hinter der Brocaschen Stelle die Zentren für die Zunge und den Facialis (s. Monakow: Gehirnpsthologie, Fig. 108). Der Prozess hat sich also wesentlich nach unten ausgedehnt, vielleicht auch etwas nach hinten.

Ueber die Art des jetzt vorliegenden Prozesses lassen sich nstürlich nur Vermutungen äussern. Entweder handelt es sich ähnlich wie bei den beiden operativen Läsionen um kleine Rinden- blutungen. Üerebrale Blutungen bei epileptischen Anfällen sind ja schon beobachtet, und hier läge ein durch Residuen früher gesetzter Schädigungen prädisponiertes Gebiet vor. Oder wenn wir im epileptischen Anfall ähnlich wie bei der Paralyse den Ausdruck einer akuten Steigerung des chronischen epileptischen Prozesses sehen, könnte diese an den ohnehin schon geschädigten und vulnerableren Rindenpartien besonders verheerend wirken und eine irreparable Schädigung und damit dauernde Ausfalls- symptome setzen; die Verhältnisse lägen also ähnlich wie bei der

200 Kutner, Die transkortikale Tastlähmung.

Lissauerschen Paralyse. Dass überhaupt cerebrale, im wesent- lichen also wohl kortikale Ausfallserscheinangen einige Zeit oder dauernd nach den Anfällen gewöhnlicher genuiner Epile sie gar nicht so selten zurückbleiben, dafür konnte ich!) vor einiger Zeit Belege bringen, und erst jüngst hat es Redlich?) in umfangreichen. Untersuchungen nachgewiesen.

Bei unserem Kranken ist nun zu der seit der zweiten Operation bestehenden Tastlähmung der linken Hand, die ein typisches Beispiel einer sogen. kortikalen Tastlähmung darstellt, nach einer Serie schwerer epileptischer, also kortikuler Krampfanfälle auch eine Störung des Tastvermögens in der rechten Hand hinzugetreten, die in ihren Einzelheiten erhebliche Unterschiede von der ersten aufweist und vielleicht den Typus einer besonderen Form dar- stellt. Der seltene Zufall, dass wir beide Formen bei demselben Individuum auftreten sehen, bietet uns noch den Vorteil, dass wir von individuellen Besonderheiten, die vielleicht bei manchen feineren klinischen Differenzen eine Rolle spielen könnten, hier absehen können. Der erste und wichtigste Faktor, die Sensibilität, verhält sich links so, wie wir es von den echten Fällen kortikaler Tastläbmung allgemein wissen, es besteht eine geringfügige Störung der tiefen Empfindungen und der Lokalisation; rechts hingegen ist die Sensibilität in der Tat vollkommen intakt. Wir haben hier also endlich das lang gesuchte Beispiel einer wirklich reinen, d. h. von allen Sensibilitätsstörungen freien Tastlähmung.

Während ferner bei der kortikalen Tastlähmung, also auch der linksseitigen Störung unseres Kranken die Gegenstände als solche nicht erkannt werden, der Kranke also nicht sagen kann, ob er einen ihm bekannten Gegenstand oder einen, den er noch nie gesehen, getastet event. geschmeckt oder gerochen, in der Hand hat, während also der Kranke auch durch Tasten allein einen Gegenstand nicht wiedererkennt, den er kurz vorher getastet hat, auch einen genannten Gegenstand mit geschlossenen Augen aus einer Reihe nicht herausfinden kann, sind alle diese Fähigkeiten bei unserem Kranken an der rechten Hand vorhanden. Die Vor- stellung des Gegenstandes als solchen, also wie oben erwähnt, die Vorstellung der Form wird geweckt; demnach vermag der Kranke auch die Form einzelner einfacher Gegenstände zu zeichnen und auch solche Gegenstände völlig zu erkennen, die durch die Form allein eindeutig bestimmt sind, also stereometrische Figuren. Die Störung des Erkennens muss also in einer Störung höherer psychischer Funktionen gelegen sein. Wie eingangs er- wähnt ist, gehört zum Erkennen der meisten Gegenstände, d. h. zum Erkennen ihres Zweckes, ihrer Verwendung, eine Verbindung des Begriffs ihrer Form mit andern Erinnerungsbildern, die der Gegenstand dem Individuum geliefert hat. Die Zahl der Er-

1) Kutner, Schwierigkeiten in der Differentialdiagnose akuter und chronischer Gehirnerkrankungen. Med. Klinik. 1906. No. 4.

3) Redlich, Ueber Halbseitenerscheinungen in der genvinen Epilepsie. Arch. f. Psych. Bd.41.

Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 201

innerungsbilder wird naturgemäss bei den verschiedenen Gegen- ständen verschieden sein, und die einzelnen werden für das Erkennen verschiedenwertig sein; auch individuell, je nach Ver- anlagung, Beschäftigung etc., wird die Zahl der Kennzeichen eines Gegenstandes und ihre Wertigkeit variieren. Im allgemeinen dürfte wohl bei den meisten Gegenständen und den meisten Menschen neben der taktilen die optische Komponente die grösste Bedeutung haben und das Erkennen, die sekundäre Identifikation eines getasteten Gegenstandes dann am meisten gestört sein, wenn es nicht gelingt, von der getasteten Form aus die optische Komponente zu wecken. Werden also in unserem Falle einzelne Gegenstände wiederholt und überraschend gut erkannt, wie Schlüssel und Fingerhut, so beruht dies vielleicht auf einer besonderen, sei es allgemeinen sei es individuellen Ueberwertigkeit der getasteten Form für die Begriffsbestimmung dieser Gegen- stände; vielleicht führt diese Üeberwertigkeit der Tastbilder zunächst zur Erweckung des Wortbildes und auf diesem Umweg zur Erweckung der übrigen Begriffskomponenten.

Unsere Affektion stellt sich also als eine rein assoziative Störung hin, und wir werden demnach auch die für solche charakteristischen Allgemeinerscheinungen zu erwarten haben. Bonhoeffer!) hat schon bei der kortikalen Tastlähmung als Beweis ihres wesentlich assoziativen Charakters auf die Intensitäts- schwankungen der Störung und das Phänomen des Haftenbleibens hingewiesen. Die linksseitige Affektion unseres Kranken ist einer der Fälle, auf die Bonhoeffer dabei Bezug nimmt; er zeigt auch jetzt noch deutlich diese Störung. An der rechten Hand ıst nun zunächst die Schwankung der Intensität bedeutend auffallender. Während links und auch sonst bei der kortikalen Tastlähmung die Schwankung im allgemeinen nur so weit geht, dass von einer geringen Zahl von Gegenständen bald der eine, bald der andere erkannt wird, die meisten aber stets unerkannt bleiben, liegen hier die Verhältnisse so, dass zwar auch, wie schon oben erwähnt, einzelne Gegenstände fast konstant erkannt werden, von den anderen aber auch fast jeder Gegenstand bei irgend einer Unter- suchung, wenn auch mit grosser Anstrengung, erkannt wird, der bei andern Untersuchungen durchaus unerkannt bleibt. Die Ge- samtzahl der nicht erkannten Gegenstände überwiegt aber auch im besten Falle die der erkannten. Manchmal geht die Ver- schlechterung des Erkennens Hand in Hand mit nachweisbarer anderer psychischer Störung, besonders mit der spontan oder nach Anfällen auftretenden erhöhten Reızbarkeit, meist ist aber ein solch allgemeiner psychologischer Faktor nicht erkennbar.

Besonders hochgradig ist ferner die leichte, nur auf die Funktion des Tastens beschränkte Ermüdbarkeit. Auch links ist sie, wie schon Bonhoeffer vor allem an dem Phänomen des Perseverierens zeigte, vorhanden. Rechts ist sie bedeutend stärker

n L. ce.

202 Kutner, Die transkortikale Tastlähmaung.

und muss bei den Untersuchungen als sehr bemerkbare Fehler- quelle ausgeschaltet werden. Dabei ist aber beachtenswert, dass sie sich hier viel mehr im einfachen Versagen als im Auftreten von perseverierenden Reaktionen äussert. Es beruht dies wohl auf emer gleich zu erwähnenden Differenz in der Art der Reaktion beim Tasten mit der linken und mit der rechten Hand. Legt man dem Kranken einen Gegenstand in die linke Hand, so macht er wohl einige ungeschickte Tastbewegungen, wobei das feine Fingerspiel fehlt, die Finger nur zusammen Massenbewegungen ausführen. Das Interesse erlahmt sichtlich bald; er hält den Gegenstand einfach in der geschlossenen Hand fest, bis er erst wieder zu neuen Tastbewegungen ermuntert wird; rel. rasch nennt er dann irgend einen Namen, ich hatte oft das Gefühl, nur, um die ihm lästige Probe möglichst abzukürzen. Manchmal gibt ihm irgend eine vom Gegenstand ausgelöste Empfindung, besonders Temperaturempfindung, den Grund zum Nennen eines Gegenstandes, der eine ähnliche Temperaturempfindung auslöst, meistens lässt sich gar kein Zusammenhang zwischen getastetem und von ihm genanntem Gegenstand herausfinden, und auch er selbst kann keine Erklärung für die Benennung geben. Jedenfalls taucht irgend eine Gegenstandsvorstellung in ihm auf, und diese wird perseveriert. Im Gegensatz zu diesem Verhalten erwecken die [astversuche an der rechten Hand sein grösstes Interesse. Die Tastbewegungen sind geschickt und umfassend; er nennt meist spontan die Eigenschaften, besonders die Form des Gegenstandes, und gibt sich grosse Mühe, seinen Namen und seinen Zweck zu finden. Nennt er, oft erst auf Drängen, einen bestimmten Namen so widerruft er ihn oft, wenn er falsch ist, bei weiterem Tasten, übt so über seine eigenen Angaben Kontrolle aus. Diese durch die gute Identifikation der Form bedingte Möglichkeit der Kon- trolle verhindert wohl das Haftenbleiben einmal eingeschlichener Begriffe.

Bis hierher lässt sich das Wesen der rechtsseitigen Tast- lähmung kurz so ausdrücken, dass die sekundäre Identifikation gestört ist bei intakter primärer Identifikation. Es wäre dann auch ihr Name transkortikale Tastlähmung (im Sinne Wernickes) berechtigt, zumal die Störung der primären Identifikation allgemein als kortikale Tastlähmung bezeichnet wird. Nun zeigen aber schon einfache psychologische Erwägungen, dass ein durchgehender prinzipieller Unterschied zwischen diesen beiden Formen nicht möglich ist. Wir haben oben gesehen, dass einzelne Gegenstände allgemein, andere vielleicht individuell durch die Form, den Haupt- teil der primären Identifikation, vollkommen oder wenigstens genügend charakterisiert und ziemlich eindeutig bestimmt sind; ferner setzt auch der Prozess der primären Identifikation die Tätig- keit schon ganz komplizierter Assoziationen, wie es die Lokalisation, geringer auch die sog. Bewegungs- und Druckempfindung dar- stellen, voraus. Wır sehen demnach auch die allgemeinen Er- scheinungen assoziativer Störungen bei beiden Arten nur in gra-

Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 203

duellen Unterschieden; gelegentlich wird auch mal bei der korti- kalen Tastlähmung ein Gegenstand wenigstens im groben in seiner Form erkannt, ohne weiter identifiziert werden zu können, und umgekehrt müssen wir die zunächst aufgestellte Intaktheit des Erkennens der Form bei unserm Falle dahin richtig stellen, dass sich doch auch bei ihm in der zu Tage tretenden Verlangsamung und Erschwerung eine gewisse Störung kund gibt. Auch in der oben als grundlegend betrachteten Differenz ın dem Verhalten der Sensibilität deckt unser Fall deutlich die Uebergänge auf. Ich habe ausgeführt, dass die Sensibilität wenigstens nach den uns jetzt zu Gebote stehenden Prüfungsmethoden intakt ist. Müssen aber unter dem Einfluss einer Schädlichkeit, vor allem also der Ermüdung, Reize perzipiert werden, dann ergeben sich Fehler, die an Intensität deutlich die übersteigen, die dann auch bei normalen Menschen wenigstens bezüglich der Lokalisation nachweisbar sind. Diese Störungen betreffen nicht die einfachen Empfindungen, sondern die, denen bereits assoziative Vorgänge zu- grunde liegen, vor allem die Lokalisation, aber auch die Be- wegungs- und Druckempfindung. Zugleich damit treten im Er- kennen durch Tasten Fehlreaktionen auf, die auf eine Störung in der primären Identifikation, im Erkennen der Form, hinweisen. Dies beweist, dass auch die oben angenommene Intaktheit dieser Qualitäten eine bedingte ist; sie zeigen sozusagen eine verminderte Widerstandskraft gegen Schädigungen. o, Auch der Vergleich der den beiderseitigen Störungen unseres Falles zugrunde liegenden pathologisch-anatomischen Verhăltnisse führt za änlichen Erwägungen. Die Art des ursprünglichen Pro- zesses ist für beide Läsionen dieselbe, kleine kortikale Er- weichungen oder Blutungen. Die erste Läsion, deren Mittel- unkt ungefähr im mittleren Drittel der vorderen Zentralwindung liegt, hat zu einer dauernden rechtsseitigen kortikalen Tastlähmung geführt. . Diese Lokalisation entspricht durchaus den bisher be- kannten Befunden bei dieser Affektion. Die zweite Läsion liegt etwas weiter nach vorn, in der hinteren Partie der zweiten Stirn- windung. Nach Art des Eingriffs, Aufheben der Pia an dieser Stelle und Unterbinden einiger Gefässe, kann wohl angenommen werden, dass auch das mittlere Drittel der vorderen linken Zentral- ‘windung. wenn auch geringfügig in den Bereich der Schädigung zogen. wurde. Wir haben also ungefähr den gleichen Sitz. der Störungen, "unterschieden von den ersten durch die Intensität. Diese mag zunächst so geringfügig gewesen sein, dass sie keine erkennbaren Symptome machte, wenngleich mir eine Bemerkung Bonhoeffers darauf hinzuweisen scheint, dass wenigstens ıbei einer Untersuchung 2'/, Jahre nach der ersten Operation An- 'klänge an die jetzt beobachtete Störung schon vorhanden gewesen sind; im Protokoll vom 21. II. 1908 heisst es: „An diesem Tage zeigt R. auch bei dem Betasten mit der rechten Hand Schwierig- keiten“; . leider ist über. Einzelheiten. dieser Schwierigkeit nichts ‘gesagt, ‘auch nicht, ob der beobachtete Einfluss der Ermüdung

204 Kutner, Die transkortikale Tastlähmung.

auf die Lokalisation rechts ein abnormer war, also auf Störungen der oben beschriebenen Art deutete, oder noch ın den Bereich der Norm fiel. Durch den mit dem Status epilepticus einher- gehenden, pathologischen Prozess findet in den schon affızierten Rindenstellen eine Intensitätszunahme der Läsion und wohl auch eine geringe Ausbreitung in die Umgebung statt. Der Ver- stärkung der anatomischen Läsion entspricht eine Zunahme bezw. der Eintritt der Funktionsstörung der betroffenen Territorien, hier also wesentlich des mittleren Drittels der vorderen Zentralwindung beiderseits. Als ihr Ausdruck tritt an der linken Hand eine Zu- nahme der bestehenden Störung ein, an der rechten eine ähnliche Störung leichteren Grades neu auf. Dass diese Störung in der Tat nur einen leichteren Grad der ersten darstellt, beweist am besten der Umstand, dass sie dieser näher kommt, wenn eine hinzutretende neue Schädigung wie die Ermüdung die Funktion der lädierten Rindenpartie noch weiter herabsetzt. Wir stellen uns vor, dass die verschiedenen Störungen im Erkennen getasteter Gegenstände verschiedenen Graden der Funktionsherabsetzung des mittleren Drittels der Zentralwindungen entsprechen. Bei leichter Herabsetzung würde die Erregbarkeit noch hinreichend sein, dass die assoziierten Vorgänge in dieser Rindenregion wach- gerufen werden können, wenn auch mit grösserer Mühe, als unter normalen Verhältnissen, der Erregungsstrom wäre aber nicht stark genug, um auch auf die interkortikalen Assoziationen in genügender Intensität abzufliessen; wir hätten eine Störung der sekundären Identifikation bei relativ intakter primärer Identifikation, also das hier beschriebene Krankheitsbild. Bei stärkerer Herabsetzung der Erregbarkeit könnten auch intrakortikale Assoziationen nicht mehr oder nicht mehr hinreichend flott werden, wir hätten dann eine Störung der primären Identifikation, die kortikale Tastlähmung. Dass im einzelnen Falle eine scharfe Grenze zwischen den beiden Formen kaum statthaben wird, geht aus dieser Betrachtungsweise ohne weiteres hervor. .

Wir haben hier also ganz ähnliche Verhältnisse wie bei anderen sogenannten transkortikalen Störungen, besonders denjenigen der Aphasie.e Auch hier geht jetzt die allgemeine Anschauung dahin, in ihnen nur leichtere Grade der Funktionsstörungen der - Sprachfelder zu sehen; daher ihr Auftreten besonders als Phase in der Rückbildung kortikaler Aphasien. Auch in unserem Falle ist die Möglichkeit, dass die Störung nur eine Restitutionsphase einer kortikalen Tastlähmung darstellt, nicht ganz von der Hand za weisen. Der Status epilepticus, seit dem wir unsere Störung datieren, war Anfang Juni 1905; die ersten Untersuchungen fanden aber erst Anfang Februar 1906 statt. Andererseits wäre eine gröbere Störung wohl auch bald nach der Aufnahme entdeckt worden; auch spricht dagegen, dass sie in der Beobachtungszeit von 2 Monaten ziemlich unverändert geblieben ist. Monakow weist darauf hin, dass bei den sogenannten transkortikalen Aphasien, besonders der sensorischen Form, neben einer Läsion der Sprach-

Be ee

Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 20>

region wohl noch immer eine allgemeine, auf Erschöpfung des Grosshirns beruhende Herabsetzung der Auffassungsfähigkeit von Bedeutung ist. Da in unserm Falle eine diffuse Rindenerkrankung, eine genuine Epilepsie vorliegt, könnten auch hier ähnliche Er- wägungen Platz greifen. und schliesslich ist vielleicht auch die Affektion der rechtsseitigen Tastregion nicht ganz belanglos. Eine andere pathologisch-anatomische Genese für unsere Form der Tastlähmung stellt Verger!) auf. Er will sie zurück- führen auf eine Zerstörung von langen Assoziationsfasern, die die Tastregion mit den übrigen sensorischen Rindenfeldern, besonders mit der Sehsphäre, verbinden, also auf Markläsion des Parietal- lappens. Oppenheim?) spricht auch von Tastlähmungen bei in die Tiefe reichenden Tumoren des Parietallappens, meint aber augenscheinlich die klinische Form der kortikalen Störung. Theo- retisch wäre nun in der Tat durch eine Zerstörung im obigen Sinne eine Störung unserer Art möglich. Der Herd müsste so- wohl die Assoziationsbahnen zum gleichseitigen, wie die Kommis- surenbahnen zum gegenseitigen Occipitalhirn durchbrechen. Dies wäre praktisch am ehesten ın unmittelbarer Nähe ihres Algangs von der Tastregion denkbar; dann wäre aber der unmittelbare Einfluss des Herdes auf die Rinde nicht anzuschliessen. Oder der Herd liegt weiter ab von der Rinde, dann müsste er eine

solche Ausdehnung haben, dass durch Läsion sensibler Projektions-

bahnen, die doch auch im Mark des Parietallappens verlaufen, infolge der Sensibilitätsstörungen das Bild der reinen Tastlähmung verwischt wäre. Tumoren sind zudem überhaupt nicht geeignet, diese Frage zu entscheiden; wegen ihrer bekannten Wirkungen auf die Umgebung ist eine funktionelle Störung benachbarter Rindenbezirke niemals auszuschliessen.

Ich vermag also eine besondere anatomische Lokalisation unserer Störung nicht zuzuerkennen. Sie scheint mir nur der Ausdruck leichterer Rindenveränderungen in der Tastzone der Hand. Nur klinisch ist vielleicht ihre Abtrennung von der so- genannten kortikalen Tastlähmung berechtigt, wobei aber zu er- wägen ist, dass Uebergänge zwischen beiden Formen vorkommen und die klinischen Differenzen zum Teil nur quantitativer Art sind.

1) L. e. 3) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 4. Auflage.

206 v. Bechterew, Automatisches Schreiben und sonstige

Automatisches Schreiben und sonstige automatische Zwangsbewegungen als Symptome vonGeistesstörung.

Von `

Prof. Dr. W. v. BECHTEREW.

Die Beobachtung lehrt, dass die Wahnvorstellungen Geistes- kranker in einzelnen Fällen ganz oder zum Teil auf besonderen Erscheinungen beruhen, die zur Gruppe der automatischen Bewegungen gerechnet werden können.

Diese letzteren äusseren sich als Manipulationen, Gesten, Schreiben u.s.w., die ohne und selbst gegen den Willen der Kranken selbst ausgeführt werden. Der Kranke nimmt also keinerlei Anteil an der Vollziehung dieser Bewegungen, und doch gehen diese vor sich, wobei der Kranke nur das Endergebnis der

sychomotorischen Erregung wahrnimmt in Gestalt der vollführten

Bewegung, die er sich in bestimmter Weise erklärt. Aus der Zahl meiner Beobachtungen könnte ich sehr viele Fälle anführen, wo die erwähnten Erscheinungen mehr oder weniger eklatant hervortraten; ich möchte mich hier aber auf einige ganz besonders charakteristische Fälle beschränken.

Pat., Offizier, 86 a. n, Sohn eines verabschiedeten Militärs, stammt angeblich aus ganz gesunder Familie. Geistes- und Nervenkrankheiten sind in der nächsten und entfernteren Verwandtschaft nicht vorgekommen. Vater und Mutter des Pat. leben und erfreuen sich einer guten Gesundheit; ersterer 82, letztere 62 a. n. Der Vater des Pat. trinkt recht viel und tat dies schon in jungen Jahren, er hat einen rauhen und finstern, despotischen Charakter, verlangt von seinen Kindern unbedingten Gehorsam und hat daher mit diesen und besonders mit Pat. häufige Differenzen.

Geboren wurde Pat. unter ganz günstigen Verhältnissen. Seine Mutter ibt an, dass ihr während dieser Schwangerschaft nichts gefehlt hat. Die eburt verlief normal.

Als Kind war Pat zwar nicht besonders kräftig, aber auch niemals ernstlich krank; er war ein lebhafter, fröhlicher Knabe und, wie er sagt, ein grosser Schelm.

In früher Jugend hatte Pat. eine besondere Vorliebe für Phantasien und Luftschlösser. Er verschlang Indianergeschichten, beschäftigte sich tagelang damit und gefiel sich in der eingebildeten Rolle einzelner Helden. Auch die einheimischen Dichter las er eifrig und schrieb selbst Verse. Veberhaupt trat bei ihm die Phantasie stark hervor, wie der Pat. selbst betont. Er zeigte gute Fähigkeiten, er konnte sich aber zu nichts zwingen lassen, sondern tat nur das, was ihm passte, war auch sehr oft träge.

Pat. besuchte anfangs ein Gymnasium, dann eine Militärschule, wo er zum Offizier avancierte. Im Dienst ging es ihm gut, er war bei den Vor- gesetzten wohlgelitten und galt als guter Kamerad.

An seinen Verwandten und Kindern hing er stets mit grosser Liebe und zeigte Verständnis für alles, was sie anging. Mit seinem Vater gab es zuweilen Kollisionen, aber ausschliesslich infolge des despotischen Verhaltens desselben gegen seine Kinder. Friedlich und zurückhaltend, wie er war

Zwangsbewegungen als Symptome von Geistesstörung. 207

vertrug er indessen keinen Druck und stand deshalb in häufigen Gegen-

: sätzen zu seinem Vater.

Krankhafte Erscheinungen von Seiten des Seelenlebens waren, soweit vorhanden, keinesfalls hochgradig. Die Stimmung wechselte nicht ohne Anlass, niemals bestanden Sinnestäuschungen, nur falsche Erinnerungen waren vorhanden. Wenn Pat. in Gesellschaft war und sich unterhielt, hatte er oft das Gefühl, dieselbe Umgebung, die gleichen Personen, die nämliche Unterbaltung schon früher erlebt zu haben, obwohl es tatsächlich zum ersten Mal der Fall war. Ebenso glaubte er, zum ersten Mal besuchte Ortschaften u.s.w schon bei früheren Gelegenheiten gesehen zu haben.

Er trank Branntwein schon in jungen Jahren und in grossen Mengen, ohne sich jedoch zu betrinken. Das Geschlechtsleben begann früh und wurde übertrieben. Auch begann Pat. früh und ziemlich stark zu rauchen.

Syphilis wurde geleugnet, wird aber nach einigen Anzeichen vorhanden gewesen sein.

Im Jahre 1888 kam Pat. nach St. Petersburg, um in die Generalstabs- akademie einzutreten. Erhattehier aberdas Unglück, im Examen durchzufallen, und musste nun zum Dienst in sein früheres Regiment zurückkehren. Damals traten sehr starke Kopfschmerzen auf, wobei Pat. Veränderungen ap den Nasenknochen bemerkte. Er liess sich längere Zeit ohne Erfolg behandeln; schliesslich bekam er Jodkalium und Quecksilbereinreibungen. Die Kopf- schmerzen vergingen bald; der Prozess in den Nasenknochen kam zum Stillstand, aber ihre Form war bereits verändert, ausserdem traten an den Unterschenkeln hochgradige periostitische Erscheinungen auf. Von daan bis zum Jahre 1896 fühlte Pat. sich vollkommen wohl, aber in dem Charakter des Pat. waren von seiner Frau gewisse Veränderungen bemerkt worden: Unruhe und Geschäftigkeit, Neigung zum Trinken, Cynismus in geschlecht- licher Hinsicht. Dennoch bekleidete er sein Amt nach wie vor und kam seinen Pflichten nach. So ging es etwa bis Mitte Oktober 1896. Im Herbst begab sich Pat. mit Frau und zwei Kindern nach Wladiwostok auf oinen Dampfer der Freiwilligen Flotte.

Unterwegs trank Pat. stark, obwohl der Schiffskapitän ihn auf die Gefahr des Alkohols in den Tropen aufmerksam machte. Um diese Zeit bemerkte die Frau des Pat. bei ihm lebhaftes Zittern, schwankenden Gang und Verlangsamung der Sprache. In der Nähe von Singapore erkrankte eine Tochter des Pat. am Scharlach, zwei Tagereisen vor Nagasaki erkrankte dann auch der Sohn. Auf dem Dampfer lebte die ganze Familie im Schiffs- lazarett, wo sie bis zur Ankunft in Wladiwostok verblieb. Am 20.X. 1896 wurde die Offiziersfamilie in dem Wladiwostoker ÖOrtslazarett zur Quarantäne untergebracht.

Tags darauf starb der Sohn des Pat., und seine Leiche wurde in die Anstaltskapelle gebracht. Von diesem Tage an war Pat. auffallend verändert. Er betete inbrünstig um das Seelenheil des Verstorbenen. Er suchte sich dabei zu erklären, was Seele ist und wo das Paradies sich befindet, in welches die Seelen der Frommen und Mübseligen eingehen. Er nahm einen Bleistift, überliess sich ganz jener Gewalt, die seine Hand führen konnte, und versank in eine gewisse unvollständige Vergessenheit. Er befand sich angeblich in einem Zustand vollkommenen Bewusstseins, er wollte aber kein Bewusstsein haben, während er den Stift in seiner Hand kaum berührte. Auf die in Gedanken geflüsterte Frage, wo die Seele des Sohnes sich befinde, zeichnete die Hand des Pat. ohne seinen Willen bestimmte Buchstaben hin, die anfangs keinerlei Sinn hatten; aber nach einigen Seancen, ungefähr bei dem dritten Versuche, schrieb die Hand bereits etwas Bestimmtes hin. So z. B. sollte ein Kreuz am Grabe des Sohnes gemacht werden, wobei auch die Form des Kreuzes aufgezeichnet wurde. Am dritten Tage nach dem Tode des Sohnes, während seiner Beerdigung, hatte Pat., als er nach angestrengtem Gebet ans der Kapelle trat, die Empfindung eines Hauches: „Blase das Licht aus!“

Pat. tat dies und trug das Licht fort. Nach seines Sohnes Beerdigung orgab er sich ganz Gebeten und automatischen Schreibsdancen, aber ohne Zuhilfenahme eines Bleistiftes; er schrieb unwillkürlich mit dem

Monatsschrift für Psychiatrie and Neurologie. Bd. XXI. Helt 3. 14

208 v. Bechterew; Automatisches Schreiben und sonstige

Zeigefinger auf seinem Kopfkissen. Bei voller Stille traten vernünftige Antworten. So z. B. erhielt er wegen seiner Sorge um die Einrichtung und Schmückung der Gruft die Schrift: „Nicht das ist schmackhaft, was den Körper ausmacht, sondern das, was hier ist.“

Bald stellten sich auch ausserhalb der Séancen Stimmen ein. Zuerst erschien eine Stimme, die die Kleider des Sohnes an Arme verteilen hiess, „damit sie mit ihrem Atem seine Seele zu Christo erheben möchten“. Die Stimme war leise, scheinbar in der Gegend des Zimmerfensters. Ich hatte dabei, erzäblt der Kranke, meinerseits eine Anstrengung des Gehörs und Atemverhaltung. Darauf erschien eine Stimme im Kopfe am Scheitel mit der Ankündigung: „gute Gedanken“; daran schloss sich eine längere Predigt über christliches Leben. Den Inhalt der Predigt hat sich der Kranke notiert. Solche Stimmen traten nun immer häufiger auf. Unter dem Einfluss der- selben begann der Kranke inbrünstig zu beten und blieb morgens und’ abends längere Zeit in ekstatischem Gebet. Die Stimmen verkündeten dem Kranken, wie ein Christ leben soll und waser nach den evangelischen Wahr- heiten zu tun hat. Unter dem Einfluss der guten Gedanken, die dem Pat. eingegeben wurden, fühlte er, dass er reiner werde, dass er sich zu den Mensch en jetzt anders verhielt als früher. Eines Tages schrieb Pat. die „guten Gedanken“ auf und versuchte nun schriftlich darzustellen, wie Gott zu verstehen ist, wobei er hoffte, das Diktat der Stimmen werde ihn darüber belehren. Der Versuch wurde plötzlich unterbrochen. Als er seine Hypo- these von Gott niedergeschrieben hatte, durchstrich seine Hand ganz ohne seinen Willen das Geschriebene und schriebin vollkommen festen Zügen: „nicht mit dem Verstand, sondern mit der Seele!“

Nun stellt Pat. verschiedene Fragen. Er schreibt sie auf ein Blatt Papier und seine Hand schreibt ohne seinen Willen die Ant- wort hin.

Auf die Frage z.B.: „Zu wem soll ich beten“, erfolgt die schriftliche Antwort: „Nicht zu dem, der da straft, sondern zu dem, der liebt.“

Pat. schreibt: ich stelle ein Licht hin. Ohne dass er es will, zeichnet seine Hand auf: „Wer es braucht. Gott ist die Tugend, nicht die Strafe.“

Ausser diesen „spiritistischen“ Séancen, wie Pat. es nennt, hat er fortwährend Unterhaltungen mit den Stimmen und Visionen.

Eines Tages erblickte er im Fenster einen feinen weissen Faden, der in der Luft hing; der Faden wurde bald breiter und kürzer und nahm all- mählich menschliche Gestalt an. In dieser Gestalt erkannte Pat. Christum. Er empfand in diesem Augenblick, während ein sündiger Gedanke in ihm aufblitzte, ein starkes Brennen im Rücken. Christus hatte ihm den Rücken verbrannt. Darauf hörte er Christus ihm „gute Gedanken sagen“. Plötzlich erscheint neben Christus die kleine Gestalt seines Bruders, der ihm zuruft:

Glaube nicht diesen Betrügern, sie sind Spiritisten, Du siehst ja, dass sie Dich zerreissen wollen.“ Pat. empfindet dabei tatsächlich, dass etwas sich von ihm entfernt und dass sein ganzer Körper „zerrissen“ wird. Kaum hatte die Gestalt seines Bruders diese Worte hervorgebracht, als Christus ihn zu Asche machte und darauf wiederherstellte. Jetzt sprach der Bruder: „Nun

laube ich.“ „Jetzt sollst Du ihm ins Herz kriechen“ sagte Christus, und ger Kranke fühlte den Bruder in seinem Herzen und hörte von dort seine timme.

Manchmal sah Pat. auf der Zimmerwand rote Punkte; auf seinen Wunsch verwandelten sich die Punkte in kleine lebende Figuren, die stets unter dem Fussboden verschwanden, wo Pat. noch lange ihre Stimmen und Bewegungen hörte.

Die Stimmen und Visionen steigerten sich während der religiösen Betrachtungen und beim Gebet. Pat. war stundenlang in religiöser Ekstase, unterhielt sich lebhaft mit den Stimmen, hörte von ihnen „gute Gedanken“, die seine Fragen beantworteten. Als Pat. schliesslich sich das Wesen Gottes erklären wollte and zu „spiritistischen Séancen“ und zur „Abstimmung“ schritt, erhielt er den Befehl: „Lege Dich hin und stirb.“ Auf die Frage, von wem dieser Befehl ausgeht, bekam Pat, die Antwort: „Von Christus.“

- + Pet. schickte nun nach einem Geistlichen, machte sein Testament,

Zwangsbewegungen als Symptome von Geistesstörung. 209

erklärte seiner Frau, dass er sterben werde, nahm das Abendmahl, zog reine Wäsche an und bereitete sich zum Sterben. Darauf hörte er eine Stimme: „schliesse die Augen, atme ein.“ Als er die Augen schloss, sah er rechts von sich die kleine Gestalt Christi, den Mantel von der rechten Schulter zur linken Hüfte. Er sprach: „gehe“, und die Gestalt Christi entfernte sich in den Korridor, wo in der Ecke ein Kreuz stand, über welchem ein Licht strahlte. Pat. fühlte dabei, dass sich von ihm, von seinem ganzen Körper, aus der Haut hervor etwas ablöste, was sein Wesen bildete, und dass dieses Etwas sich zu Christo hinzog. „Erschrocken über diesen Verlust,“ erzählt Pat., „öffnete ich die Augen, sank vor dem Heiligenbilde auf die Kniee und betete um weiteres Leben.“ Ich hörte dann die Stimme ‚lebe‘, stand auf, beruhigte mich und schlief ein.“

Vach einigen Tagen erhielt Pat. einen neuen Befehl: „Wenn Du das Geheimnis wissen willst, versinke in einen lethargischen Schlaf, aber man soll Dich 6 Tage nicht beerdigen, und wenn Du dann nicht zum Leben zurückkehren willst, dann ist das Deine Sache.“ Pat. schrieb einen Brief, in dem er bat, ihn 6 Tage unbeerdigt zu lassen, schloss die Augen, und sogleich hörte er die Stimmen Christi, Gottvaters, der Engel und Gottsohnes.

Endlich gab Gott ihm eine Offenbarung, die er ihm diktierte und auf- schreiben liess, damit er sie dem Priester und allen Leuten zeige. Pat. fühlte, wie die Gottheit mit ihm zusammenfloss und wie er selbst Gott wurde. Als er die Augen öffnete, hörte er eine Stimme: „Gehe hin und segne.“ Er steht auf und segnet und will dann gehen und dem Geistlichen die Offen- barung zeigen. Dabei wird er aber von den Wärtern (es war im Lazarett zu Wladiwostok) gehalten und sucht sich von ihnen zu befreien. Pat. ist auf sie nicht böse und verzeiht ihnen mit den Worten: „Vater, sie wissen nicht, was sie tan.“ Während des Segnens fühlt Pat., wie von seinem Wesen, von seinem Gehirn und seinem Herzen feine Fäden abgehen, Nerven, die ihn mit den Menschen auf dem ganzen Weltall verbinden. Zugleich sieht und hört er den Papst, Kaiser Wilhelm, den Zaren und alle Menschen. Ihre Stimmen sagen ihm, er sei Gott, er beherrsche die Welt u.s.w. Er glaubt an seine Bestimmung, segnet, predigt, gibt Offenbarungen kund.

Dies einige Beispiele der Sinnestäuschungen und Weahnideen, die unser Pat. hatte.

Auf der Höhe der Krankheitsentwicklung waren bei unserem Pat. ausser den erwähnten Halluzinationen noch optische Pseudohalluzinationen vorhanden.

Pat. sab auch bei geschlossenen Augen, wie an seinem Kopfe lebende Figuren erschienen, die mit Schaufeln bewaffnet waren, und wie sich die Partikel seines Gebirns verschoben.

Er hörte dabei, wie sie davon sprachen, dass der eine oder andere Teil seines Gehirns unbrauchbar sei, wie sieihn mit ihren Schaufelchen aus- schabten und durch andere Partikel ersetzten. Er beobachtete dabei, wie an der Gehirnwunde das Blut strömte, wie die kleinen Figuren dabei die Arbeit unterbrachen und nicht eher weiterarbeiteten, als bis das Blut still- stand. Er hörte auch ihre Unterhaltung: „Jetzt fort mit dem philosophischen Teil!“ „Nun, genug damit, jetzt weiter“ u. dergl. Hatten die Kleinen ein bestimmtes Gehirnstück angebracht, dann probierten sie zunächst seine Wirkung.

As sie z. B. eines der Gehirnstücke hineingestellt hatten, befahlen sie dem Pat., zu reden, und er sprach anfangs langsam, dann beschleunigte er auf das Kommando „schneller“ seine Rede immer mehr, wobei er die Empfindung hatte, dass er einhalten konnte, ehe er den Befehl bekam, auf- zuhören.

Die ganze Arheit der kleinen Wesen bezweckte eine Umgestaltung seines Gehirns im Geiste der neuen religiösen Richtungen. Die Teile des Gehirns, in denen Gedanken entstanden, die mit dem Geiste der Religion nicht übereinstimmten, wurden ansgegraben und an ihre Stelle neue Stücke eingestellt.

In dieser Weise gestaltete sich der Krankheitsverlauf vom 25. X. 1896 bis zum 15. III. 1897. Von da an veränderte sich das Verhalten des

14*

2 10 v. Bechterew, Automatisches Schreiben und sonstige

Pat. zu seinen Halluzinationen; sie verloren für ihn die frühere Realität und er betrachtete sie objektiver, erkannte sie als etwas Krankhaftes. Zu bemerken ist, dass das Bewusstsein des Pat. während der ganzen Krankheits- dauer anscheinend ziemlich klar war, soweit man darüber nach seinen Auf- zeichnungen und Briefen, die während der Krankheit von ihm geschrieben wurden, urteilen kann. Auch die Angaben der Frau des Pat. wiesen darauf hin.

Aus dem Wladiwostoker Lazarett wurde der Kranke am 17. VII. 1897 in die Petersburger Klinik für Nerven- und Geistes- krankheiten übergeführt.

Die objektive Untersuchung ergab folgendes: Pat. von mittlerer Grösse, t gebaut und ernährt, Unterhautfettgewebe stark entwickelt. Entwicklung der Muskulatur befriedigend. Gesicht etwas unsymmetrisch, aber nicht sehr stark. Pupillen gleich weit, reagieren gut auf Licht; Bewegungen der Bulbi vollkommen frei. Zunge zittert ein wenig beim Hervorstrecken in toto. Gesichtsausdruck aufmerksam, Mimik ziemlich beweglich. Blick auf- merksam. Die Prüfung des Knochensystems ergab Periostitis der Knochen der Nase, des Jochbeins und der Unterschenkel. Schmerzhaftigkeit ist beim Beklopfen des Schädels und der Wirbelsäule nicht vorhanden. Gang fest und sicher, das gleiche gilt von den sonstigen aktiven Bewegungen. dentl Leichtes ittern der Hände. Biceps-, Triceps-, Knie- und Hautreflexe eutlich.

Von Seiten der Sensibilität keine besonderen Veränderungen, abgesehen von einer geringen allgemeinen Steigerung der Schmerzempfindlichkeit. Respiration 16 in 1 Minute. Puls 72. Innere Organe normal. Appetit und Schlaf gut. Die Prüfung der Sinnesorgane ergab nichts Abnormes.

Stimmung durchweg gleichmässig, meist fröhlich.

Von Seiten des Intellektes sind keine besonderen Veränderungen zu bemerken; die Gedankenassoziationen ziemlich regelrecht, ebenso die Logik. Schnelligkeit des Gedankenablaufs in den Grenzen der Norm. Wahnideen fehlen. Wohl aber sind vorhanden Sinnestäuschungen in Gestalt von akustischen Halluzinationen und Pseudohalluzinationen, letztere überwiegend. Die Pseudoballzuinationen bestehen hauptsächlich im Hören der eigenen Gedanken. Pat. hört Stimmen, die ans seinem eigenen Kopf, meist aus der Schläfen- und Hinterhauptgegend, herkommen. Er glaubt, dass diese Stimmen ein Ausdruck seiner eigenen Gedanken sind, die gewissermassen von einer dritten Person ausgesprochen und vom Bewusstsein als Gehörsbilder perzipiert werden.

Wenn er an irgend etwas denkt, hört Pat. seine eigenen Gedanken, wobei die Stimme den Gedanken hervorbringt, noch ehe derselbe als solcher im Bewusstsein auftritt. Manchmal entsprechen die Stimmen der allgemeinen Gedankenrichtung des Pat., in anderen Fällen widersprechen sie derselben, verhalten sich kritisch dazu; dann besteht ein Kampf zwischen Gedanken und Stimmen, die Pat. deutlich erkennt. Ein solcher Kampf ist am öftesten auf religiüsem Gebiet vorhanden. Teberhaupt ist die religiöse Stimmung des Pat. und nächtliche Stille ganz besonders günstig für die Entstehung der Stimmen. Nach verschiedenen somatischen Äffektionen steigern sich die Stimmen.

Die gegenwärtigen Halluzinationen, die vollkommen den Charakter der äusseren Perzeption haben, treten bei dem Pat. ziemlich selten auf. Während des Aufenthalts in der Klinik kamen sie &—4 mal vor.

Folgender Umstand war Anlass zu einem dieser Fälle. Pat. begab sich eines Tages mit seiner Frau in die Stadt, und bei dieser Gelegenheit wollte er das sogenannte Peterhäuschen besichtigen. Der Name Peter des Grossen rief in ihm die Erinnerung an Peter von Amiens hervor, der schon früher öfters in seinem Wahn auftrat und ihm religiöse Gedanken brachte. Gleichzeitig erblickte er ein an der Wand hängendes Heiligenbild, und sogleich hörte er eine deutliche Stimme, die aus der Tiefe des Zimmers kam und anscheinend vom Heiligenbilde ausging: „Für andere bin ich ein Segen, mich selbst aber zerstöre ich.“

Zwangsbewegungen als Symptome von Geistesstörung. 211

Pat. konnte dem Arzt nicht erklären, was dieser Ausspruch bedeutet, aber offenbar war er eine Antwort auf seine Gedanken.

Ausser Halluzinationen und Pseudohalluzinationen konnten bei dem Pat. keine anderen pathologischen Erscheinungen bemerkt werden mit Aus- nahme von falschen Erinnerungen, die schon vor der gegenwärtigen Erkrankung vorhanden waren. Beispielsweise ist zu erwähnen, dass Pat., wenn er die Wärter der Klinik sah und hörte, wie man sie beim Namen rief, sofort sich zu erinnern glaubte, dass er dieselben Personen und Namen schon früher irgendwo gesehen und gehört habe.

In dem Betragen des Pat. war während der ganzen Dauer seinos Aufenthalts in der Klinik nichts Abnormes zu bemerken. Er verhält sich vertrauensvoll zu den Aerzten, erzählt gern aus seiner Vergangenheit, ist vollkommen korrekt gegenüber seiner Umgebung, anständig, ein aufmerk- samer und geistreicher Gesellschafter. Er liest Bacher und Zeitungen, hat Interesse für seine Hausgenossen und bittet nm baldige Heilung. Er verhält sich vollkommen objektiv zu seinen Halluzinationen, hält sie für etwas Krank- haftes und befolgt gern die ärztlichen Anordnungen.

Während der Dauer der klinischen Behandlung trat eine wesentliche Besserung in dem Zustand des Pat. ein. Jetzt hat Pat. nur sehr selten Pseudoballuzinationen, und er ist durch Veränderung der Gedankenrichtung im Stande, sie zu unterdrücken. Ueberlässt er sich aber dem Gedanken- strom und hört er auf die Stimmen hin, dann treten sie wieder auf, wenn auch nicht in dem Grade wie früher. Schliesslich war Pat. von seiner halluzinatorischen Psychose ganz geheilt.

In meinem Artikel über „hypnotischen Zauberwahn!)“beschrieb ich eine Kranke, bei der während der ganzen Dauer der Psychose automatisches Schreiben vorhanden war. IhreKrankheitsgeschichte sei hier kurz resumiert:

Pat., 45 a. n., stammt aus neuropathischer Familie, verheirstet, hat 6 Kinder, in letzterer Zeit stark getrunken, hatte in der Jugend episodische Sinnestäuschungen, begleitet von hysterischen Anfällen. Die somatische Untersuchung ergab Steigerung der Sehnenreflexe und Zittern der aus- gestreckten Finger. Pat. beschäftigte sich vor 15 Jahren auf Anregung eines Bekannten einige Zeit mit automatischem Schreiben, gab dies aber nach kurzer Zeit ganz auf. Im Dezember 1903 wird Pat. psychisch krank, sie schreibt viel, spricht mit sich selbst, erzählt ihre Unterredungen mit Toten und anderen Personen. Am 9. IV. wird Pat. in die Klinik auf- enommen. Durch Befragen wurde festgestellt, dass Pat. sich für hypnotisiert ält, dass bekannte Philosophen, Schriftsteller und andere bekannte und unbekannte Personen durch sie sprechen. Dies geschieht in der Weise, dass ihr in Gedanken Fragen gestellt werden, die sie gegen ihren Willen beant- worten muss, als ob jemand anders ihre Zunge und ihren Kehlkopf in seiner Gewalt hat. Ein anderes Mal kommt es auf ganz ähnliche Weise zu einem Gedankenaustausch unter Einfluss psychischer Halluzinationen, Wirkliche Halluzinationen sind bei der Kranken nicht vorhanden. Ausserdem ist Pat. lebhaft mit automatischem Schreiben beschäftigt. In letzterem Fall legt Pat. passiv ihre Hand auf das Papier, und nun bewegt sich ihre Hand unwillkärlich und schreibt Wörter und Sätze hin, für die sie sich zwar interessiert, an deren Hervorbringung sie aber gänzlich unbeteiligt ist. Wenn das Schreiben der Worte beginnt, erzählt die Pat., kann sie nicht einmal voraussehen, was dabei heraus- kommen und welcher Satz entstehen wird; sie glaubt anfangs, es werde das eine herauskommen, tatsächlich erweist es sich aber schliesslich als etwas ganz anderes. Hier einige Muster ihrer auto- matischen Schrift, die die ihr mitgeteilten Nachrichten wiedergeben:

1. Im Namen des Vaters, des Sohnes und und des heiligen Geistes und der Jungfrau. Amen. Nastja und Wanja Al-ski sind zusammen an einem

on

1) Obosrenije psichiatrii 1905, No. 4.

212 v. Bechterew, Automatisches Schreiben nnd sonstige

Herzfehler gestorben. Die Tötung der Kinder ist noch nicht beendigt. Wolodja K-ski’ starb heute nacht, und in ihm ist unser lieber, armer Sascha auferstanden.

Iwan und Anastasia Kw-ski. Iwan Alexandrowitsch Kw-ski ist nur deshalb nicht gestorben, weil Sascha gebeten hat, auf ihn zu warten. Iw. Kw-ski und Anastasia Sacharowa Kw-ski. Gustav Alexandrowitsch West-ius ist heute 6 Uhr morgens gestorben. West-ius der Schweiger.

Chionia, West-ius und Du schreiben uns immer von Dir und von Gl-skis.

2. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und der Heiligen Jungfrau. Amen. Wir alle haben alles geschrieben, aber wegen des Todes von West-ius kommen keine Briefe mehr aus Nowgorod.

Sascha Jem-ina und Julie Kw-ski und Olga Zech-owitsch.

Man bittet Jem-ius zu schreiben, aber kurz.

Kwjat-ski, Glusch-owski, Chionis J-na-R-owa.,

Vater ist heute nacht um 3 Uhr gestorben.

Wanja und Sasche Jem-in. Kwajat-ski. Camill Flamarion Spero 2.

8. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und der Jungfrau. Amen. Wolodja ist gestorben als schlechter Sohn und wird heute auferstehen als guter Sohn deiner Mutter.

A. K-ski, Alexander Fedorowitsch W-kow kommt am 3. September nach Helsingfors. W-ow. Glusch-owski.

4. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des h. Geistes und der b. Jungfrau. Amen. Jem-jin’s schreiben nicht. Sie sind müde und in Sorgen, aber alle froh, dass ihr Vater nicht gestorben ist, sondern es lebt nur eine von ihnen einstweilen wirklich und trauernd und frob, und in heissem Leben und gedrückt vor Mühe und dem schwerlichen Druck allgemeiner Hypnose.

yp Peter Ost-Kow Kwjat-ski-X. Rosowa und Chionia Jem-jin-Glusch-ski.

5. (An den Arzt) Peter Alexandrowitsch: Wollen Sie die Güte haben, alle Aufzeichnungen der Besessenen an sich zu nehmen, die Sie von Dr. Ros-ow aus Helsingfors, dem Mann Ihrer Patientin Chionia Alexandrowna Rosow, erhalten werden u. s. w.

Es ist noch eine Prophezeiung Jesaias: tut den Willen des Herrn, und Gott wird ihm helfen und, Du, Weib, wirst nicht sein, sondern seines Gottes Weib sein.

Mönch fr.

Die Namen der Erleuchterinnen der Menschheit nach Wahl der vom Lichte der Wahrheit Erleuchteten.

Unsere liebe und dumme und kluge, und kranke und gesunde Chionia Jem-jina. Du bist nicht Du, und ich nicht der, der da war und ist, ich worde nur der sein, der Dich heute nehmen wird. Sein Name ist A. A. Kwjat-ski.

Dies ist ein Pseudonym, sein wahrer Name ist A. Kwja-ski nimmt heute in den himmlischen Bezirk.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des h. Geistes und der h. Jungfrau. Amen.

Thre liebe Tochter Anitschka ist uns ein teures Kind. Wir wollen ihr Glück und bitten Sie, am 30. August auf ihrer Hochzeit zu sein, Sie will meinen Sohn Michael Kwja-ski heiraten.

A. A. Kwja-ski.

Ich könnte hier noch einen ambulatorischen Fall anführen, den Dr. Pewnicki in unserer Klinik beobachtete und den ich dann während der klinischen Vorlesung demonstrierte.

Es handelt sich dabei um ein Mädchen jenseits der Zwanziger, das

nach und nach anfangs Misstrauen, dann systematischen Verfolgungswahn zeigte, in dem ihr Kirchspielsgeistlicher eine besondere Rolle spielte. Die

Zwangsbewegungen als Symptome von Geistesstörung. 213

Besonderheit dieser Kranken, die an Paranoia litt, bestand darin, dass ihr Körper in zwei Hälften geteilt war, von denen die linke ihrer Schwester ehörte, während die einzelnen Finger der rechten Seite als Mittel zum erkehr mit dem Gemeindegeistlichen, ihrem eingebildeten Bräutigam, und mit den nächsten Verwandten desselben dienten. Mit allen diesen Personen unterhält sich die Pat. durch Vermittlung dieser Finger, die sich ihrer Angabe nach ohne ihren Willen und rein automatisch bewegen. Die Unter- redungen bestehen darin, dass die Pat. in Gedanken oder laut Fragen stellt, welche durch automatische Bewegungen der Finger der rechten Hand beantwortet werden. Je nachdem, welcher Finger eine Bewegu ausführt, schreibt Patientin diese einer bestimmten Person zu, die mit ihr durc Jie Finger der rechten Hand in Verkehr tritt. Bewegung der Finger bedeutet Bejahung, Fehlen von Bewegung Verneinung. Die Kranke demonstriert bereit- willigst den Hergang bei solchen Unterredungen. Sie stellt laut irgend eine Frage und wartet einige Zeit, ob nicht eine Bewegung des einen oder anderen Fingers eintritt. In der Tat hebt sich nach einigen Sekunden ohne ihr Zutun einer der Finger ihrer auf dem Knie ruhenden Hand, wobei die Kranke bemerkt: „Nun sehen Sie, der Finger bewegt sich von selbst.“ Das soll bedeuten, dass ihr Bräutigam sie liebt; die Bewegung des Fingers gilt ihr als Antwort auf ihre an den Bräutigam gerichtete Frage. l

Ganz ähnliche Fingerbewegungen erfolgten auch auf andere Fragen, und an den Bewegungen erkannte die Pat. die Antwort und den Antwort- geber. Automatische Bewegungen des Kehlkopfes und der Zunge waren nicht zu bemerken. Auch waren objektiv hinsichtlich der Funktionen des Nervensystems und der inneren Körperorgane keine besonderen Erscheinungen zu verzeichnen, abgesehen von gewissen Veränderungen der Sensibilität, einer Herabsetzung des Rachenreflexes und einer gewissen Steigerung der Patellarreflexe.

Andere Fälle mit den hierhergehörigen Erscheinungen werde ich hier nicht ausführlich darlegen, möchte aber zwei weitere Beobachtungen nicht unerwähnt lassen, wo ganz ähnliche auto- matische Bewegungen ausserordentlich hervortraten.

Einer der Pat., der sich ebenfalls für h pnotisiert hält, sagt in seinen Aufzeichnungen: „Ich habe durch eigene Erha rung gewisse Erscheinungen der Hypnose kennen gelernt, wobei es möglich ist, Ferngespräche zu unter- halten, von dem Hypnotiseur suggerierte Empfindungen und Gefühle in sich anfzunehmen und manchmal sogar von ihnen beherrscht zu werden, d. h. zu handeln gegen den eigenen Willen.“

Eine andere Pat., die an Gehörshalluzinationen leidet, erklärt, dass siemanchmalaufihre Stimmen durch Gesten gegen ihren eigenen Willen antwortet, als wenn irgend welche fremde Einflüsse ihre Bewegungen beherrschten. |

Die hier erörterten Erscheinungen, gleichwie die ihnen ent- sprechenden im Gebiete der Sprache, kommen in Wirklichkeit nicht so selten zur Beobachtung, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Sie können bei verschiedenartigen Psychosen auftreten, die mit reichlichen Sinnestäuschungen einhergehen; bei einigen Formen, insbesondere bei dem von mir beschriebenen „hypnotischen Zauberwahn“, sowie bei den verschiedenen Formen der hysterischen Besessenheit spielen sie eine hervorragende Rolle in dem allgemeinen Symptomenkomplex. |

Was die psychologische Grundlage dieser Erscheinungen be- trifft, so ist wohl nicht zu bezweifeln, dass es sich hier um Einflüsse der sogenannten ausserbewussten Sphäre bezw. des Gemeinbewusst- seins auf die Motilität handelt, was besonders bei der automatischen

214 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

Schrift deutlich ist). Ich bin der Meinung, dass das Stadium der fraglichen Erscheinungen die Kenntnis jener eigentümlichen

sychischen Störungen, die auf dem Boden der Hysterie und Hystero- Neurasthenie hervortreten, befördern wird. Zum mindesten ist Grund zu der Annahme vorhanden, dass automatische Bewegungen und automatische Schrift sowie die entsprechenden Erscheinungen im Gebiete der Sprache, die als psychomotorische Halluzinationen?) beschrieben sind, in der Entstehüngsgeschichte der verschiedenen Formen der Besessenheit und des hypnotischen Zauberwahns einen ganz besonders hervorragenden Platz einnehmen.

Da es für das Bewusstsein der Kranken klar ist, dass die erwähnten Bewegungen ihnen nicht angehören, von ihnen nicht direkt abhängen, sondern einer bestimmten fremden Gewalt unter- worfen sind, so erscheint der Wahn der Besessenheit und Hypnose Bowissormassen als notwendige Folgerung. Ebenso finden die

otteslästerungen der Besessenen im Namen des Teufels sowie eine Reihe kirchenschänderischer Handlungen und dergl. m. eine unge- zwungene Erklärung vom Gesichtspunkte automatischer Zwangs- bewegungen, die sich im Zusammenhang mit dem Besessenheits- wahn entwickeln.

Ueber die Abgrenzung und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen.

Von Dr. M. FRIEDMANN,

Nervenarzt in Mannheim.

Ueber der wissenschaftlichen Erforschung der Zwangsvor- stellungen hat ein sehr günstiger Stern bisher nicht gewaltet. Bis vor wenig Jahren hatte man fast allerseits den Begriff unbesehen ıns Weite wachsen lassen, ohne dass man sich bemühte, an Stelle der scharfen Westphalschen Bestimmungen?) eine neue klare Definition zu setzen. Was man nun Zwangsidee oder „Zwangs- vorgang“ nannte, das schwankte in den weitesten Grenzen: die einen, so namentlich Mendel und Hoche, hielten noch an der ursprünglichen Fassung fest, so dass sie damit einzig einen for-

1) Vergl. W. Bechterew, Ueber das persönliche und Gemein- bewusstsein. Westn. psichol. 1904.

3) J. F. Seglas, L’hallucination dans ses rapports avec la fonction du language. Progrès méd. 1888. 83 und 34. Vergleiche auch F. Söglas und P. Londe, Sur les hallucinations. Arch. de Neurol. 1892. 68 und 69.

3) Westphal, Ueber Zwangsvorstellungen. Berl. klin. Wochenschr. 1877. No. 46/47.

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 215

malen Denkzwang bezeichneten, dessen Inhalt oder Gegenstand als widersinnig vom Patienten erkannt werden musste. Eine zweite Gruppe, zu der ich mich selbst rechne, fügten die sogen. Phobien und auch die weiteren Arten der Zwangsvorstellung hinzu, bei welchen trotz des subjektiven Denkzwanges der Inhalt der Idee dennoch dem Kranken belangreich erschien und wobei primäre Affekte wesentlich mitwirkten. Die dritte Gruppe, dar- unter namentlich viele französiche Autoren, fassten bekanntlich den Zwangsvorgang stets als eine Aeusserung der Degeneration und wiesen ihm jede Form von unorganischem Zwang zu, speziell auch die impulsiven Triebe, die Tics, Angstanfälle, isolierte Empfindungen und Halluzinationen.

Damit verschwammen zugleich die Grenzen gegen die echten Intelligenzstörungen, die Wahnideen, und noch mehr gegen die neue Schöpfung Wernickes, die überwertige Idee. Von Merklin und mir selbst ab bis zu Tuczek und Heilbronner ist namentlich die Scheidung von den mobilen oder oszillierenden Wahnideen unsicher geworden, und das war auch im praktischen Sinne vom Uebel, weil damit der Ruf von der prognostischen Harmlosigkeit des Symptoms bedenklich ıns Wanken geriet. Der „Uebergang“ in Psychosen ist nicht selten als keineswegs un- gewöhnlich angesehen worden, und seit Wille galt die Zwangs- idee ausserdem als ein gewöhnliches Symptom innerhalb der regelrechten Psychosen, während noch Westphal geradezu die Unversehrtheit der intellektuellen Verrichtungen als ihre Voraus- setzung beansprucht hatte. Die Zahl der stets von einander abweichenden psychologischen Deutungen des Zwangsvorganges endlich wuchs allmählich ins Unübersehbare, wie dies ein Blick in die umfassende historische Arbeit Wardas!) ohne weiteres bezeugt.

o war wenigsten damals, vor 4—ö Jahren, die Sachlage. Eine ganze Reihe von Debatten in deutschen und französischen psychiatrischen Vereinen lehrte im wesentlichen nur das Obwalten jener starken Differenzen in der Auffassung der Fachgelehrten, aber ohne dass damit zugleich eine Klärung erreicht wurde. Dann erschienen in rascher Folge die grossen Monographien von Janet?) und Löwenfeld?), die genannte historische Abhandlung Wardas, eine neue theoretische Untersuchung Fausers*) und endlich das Referat Bumkes°) auf der letztjährigen Karlsruher Psychiater- versammlung. Damit war fast mit einem Schlage wenigstens nach einer Seite Klarheit in der Lehre geschaffen worden, welche gerade hier noch allzusehr gemangelt hatte. Man besass wenigstens

eine Uebersicht über das inzwischen herbeigeschaffte äusserst

P} W. Warda, Zur Geschichte und Kritik der sogen. Zwangszustăndo. Arch. f. Psych. Bd. 89. 1905. S. 284. 9 P. Janet, Les obsessions et la psychasthenie. 2. Bd. Paris 1903. 3) L.Löwenfeld, DiepsychischenZwangserscheinungen. Wiesbaden1904. 4) Fauser, Zur allgemeinen Psychopathologie der Zwangsvorstellungen. Centralbl. f. Nervenheilk. No. 208. 1908. s) Bumke, Was sind Zwangsvorgänge? Halle a.S. 19086.

216 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

reiche Tatsachenmaterial und über die weitverzweigte Fachliteratur, während bis dahin fast jeder Autor seinen eigenen Weg wandelte und zudem meist nur einen begrenzten Ausschnitt aus dem Gesamtgebiete vor Augen hatte.

Ist aber damit eine grössere Einheit in der Behandlung des Symptombegriffes erreicht worden oder kann sie nunmehr erreicht werden? Der erste Eindruck, welchen man von der derzeitigen Sachlage gewinnt, ist in der Beziehung nicht gerade ermutigend. Die Monographien Janets und Löwenfelds gehen äusserlich betrachtet in ihren Endergebnissen weit auseinander: dieser be- schreibt ein Symptom von mehrfach verschiedener klinischer Herkunft und ungemein wechselnder Gestaltung im einzelnen; Janet dagegen schildert eine streng einheitliche Krankheit, die Psychasthenie, von der zwar mehrere Entwicklungsphasen, nicht aber verschiedene Formen existieren, und die als eine spezifische Gattung der psychischen Degeneration anzusehen ist. Keiner von beiden Autoren hat nach der Seite, wo das Fortschreiten am meisten not tat, nämlich bezüglich der Um- und Abgrenzung der Krankheitserscheinung, einen Wandel herbeigeführt. Beide über- nelımen ohne allzuviel Bedenken die weiteste Fassung des Begriffes: Löwenfeld nennt Zwangsvorgänge „alle psychischen Elemente, welche der normalen Verdrängbarkeit durch Willenseinflüsse er- mangeln“, und Janet erklärt noch unbestimmter die Zwangs- krankheit, die Psychasthenie, für eine selbständige Neurose, bei welcher die Herabsetzung der psychischen Spannung das auszeichnende Merkmal darstellt. Warda endlich bringt als die ziemlich karge Frucht seiner gewissenhaften historischen Kritik nur das Ergebnis, dass in der Freudschen Angst- oder Zwangs- neurose, in welcher eine geschlechtliche peinliche Vorstellung in Angstgefühle ausmündet, die wahre Zwangskrankheit allein zu finden sei.

Hatten nun seither die meisten von uns zu wenig darauf geachtet, dass wir beim ferneren Aus- und Umbau des ursprüng- lichen eng begrenzten Begriffes, wie ihn Westphal in seiner berühmten Definition festgelegt hatte, die Grundlagen und die Berechtigung zu der Erweiterung erst genauer zu untersuchen hatten, so ist Bumke in dieser Kritik nach meiner Ueberzeugung wiederum zu einseitig negierend vorgegangen. Dass er aber dies getan, dass er auf den früheren Aeusserungen Hoches fussend alle die vielfachen Gestaltungen desZwangsideenbegriffes beleuchtet, die teils offenen, teils versteckten Abweichungen von einander und von der Westphalschen Definition möglichst scharf hervor- gehoben und die Unklarheiten darin aufgesucht hat, das ist ent- schieden als ein Verdienst seiner Arbeit anzuerkennen, Aber sein Schlussergebnis halte ich für bedenklich; allein die strenge Auf- rechterhaltung sämtlicher Westphalscher Bestimmungen soll einen klar abgrenzbaren Begriff des Zwangsvorganges ergeben, jeder Versuch, eines jener Kriterien fallen zu lassen und damit den Begriff selbst zu erweitern, müsse als gescheitert betrachtet

und die Grundlagen der Zwangsvorstellaungen. 217

werden; allenfalls noch könne man die verschiedenen sonstigen Formen, welche unzweckmässigerweise als Zwangsvorgänge in der Literatur figurieren, unter einem älteren, von Stricker ein- mal gebrauchten Kennworte der dominierenden Vorstellungen vereinigen.

Ist das nun wirklich der logisch gebotene Schluss? Hat die heutige Lehre von den Zwangsvorgängen abgewirtschaftet, hat sie glatt sich in Liquidation zu erklären, und muss sie wieder von vorne anfangen, da, wo Westphal begonnen hatte? Ist es denn wahr, dass nur die Ideen mit psychischem Zwang „for- maler“ Art sich klar abheben von andersartigen psychischen Störungen, und ist es denn überhaupt wahr, dass auch bei der streng definierten Westphalschen Form nur ein formaler Denkzwang herrscht? Diese letzteren Fragen werden uns später beschäftigen; jetzt wollen wir nur sehen, wie Bumke zu seiner negativen Entscheidung gelangt ist. Er hat sogleich wie wir übrigens alle in der Wissenschaft es machen mit einer bestimmten Voraussetzung oder Ueberzeugung sich an die Unter- suchung begeben, er hat daher überall nur das Unzulängliche und Missverständliche in den Begriffsbildungen herausgestellt; dagegen hat er weder das Gemeinsame darin weiter verfolgt, noch hat er gefragt, welche logische oder psychologische Bedeutung sowohl die trennenden als die gemeinsamen Momente besässen. Und er konnte gerade diese wirklich entscheidende Arbeit auch nicht verrichten, weil sein Massstab stets und allein die Westphalsche Definition war, die nun doch einmal nur eine empirische oder Habitua-Beschreibung ist. Eine solche sagt uns aber nicht, welche psychische Funktion gestört ist; und wie soll man darnach sich z. b. klar machen, ob ein primärer Affekt verträglich oder unverträglich ist mit dem echten psychischen Zwange? Warum muss die Zwangsidee gerade als widersinniger und warum nicht auch bloss als lästiger Eindringling dem Patienten erscheinen?

Gewiss ist es wahr, dass jeder Symptombegriff in letzter Instanz auf Uebereinkommen beruht; aber um so mehr bedarf es einer rationalen Unterlage dafür. Die psychologische Formu- lierung indessen, ohne welche auch die Kritik der Lehre eine unzulängliche bleibt, bedarf dabei gar nicht des Hypothetischen, sondern nur einer hinreichend weit geführten Analyse der ge- gebenen Erscheinungen. Und ist denn der Begriff des „psychischen Zwaonges“ nnd noch mehr der des „formalen Denkzwanges“ nicht schon eine solche psychologische Formel? Eben dieser Tatsache verdankt er doch seın merkwürdiges Glück in der Wissenschaft. Nur ist die Analyse hier noch gar nicht zu Ende geführt; nicht diesem Umstande jedoch, sondern dem weiteren, dass ein derartiger Zwang bei zu vielen psychischen Abnormitäten sich ereignet, ent- springt es, dass in der Lehre von den Zwangsvorgängen die heutige Krisis eingetreten ist. Schon lange hat man, bald klar. ausge- sprochen, bald etwas verschleiert, noch eine zweite psycho- logische Bestimmung hinzugefügt, und zwar diejenige, dass der

> m u pe e a e T r erg p Te S E E A EE TE O T A a, G

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218 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

Zwangsvorgang gleichzeitig als ein Pfahl, ein „Fremdkörper“ im geistigen Getriebe sich darstellen muss. Diese zweite Formel ist gewiss nicht streng wissenschaftlich gefasst; wendet man nun aber beide Bestimmungen sinngemäss an, so wird man überrascht sein, wie relativ glatt sich das Gebiet der Zwangsvorgänge auf einen bestimmten Umkreis einengt.

Auf der einen Seite nämlich fallen damit aus dem Begriffe alle jene Zwangshalluzinationen, Angstanfälle u. s. w. heraus, denn es sind das alles zwar „Fremdkörper“ im geistigen Leben, aber es mangelt ihnen der psychische Zwang. Auf der anderen Seite zeigt sich uns die viel begehrte Grenzlinie gegen die mobilen Wahnideen und die überwertige Idee; denn mögen diese auch umgekehrt oft genug dem Träger sich mit peinlich gefühltem Zwange aufdrängen (wir erinnern z. B. an eine hypochondrische Syphiliphobie), so gelten sie doch jenem als „seine“ eigene Idee, er selbst steht auf ihrer Seite, es sınd mit einem Worte keine „lästigen Fremdlinge‘‘, keine Fremdkörper im geistigen Organismus. In der Tat, wir können, wie ich glaube, nichts Besseres tun, als eben jene psychologische Formel wissenschaftlicher zu gestalten und zu begründen, und das soll sogleich von mir versucht werden. Und in dieser Aufgabe finde ich zugleich meine Legitimation dafür, dass ich heute schon wieder das Wort in der Frage der Zwangsvorstellungen ergreife; denn wenn die ohnehin schon genugsam im Fortschreiten gehemmte Lehre heute schon wieder zum Stillstande verurteilt bliebe, so würde das für sie mehr be- deuten als auf so manchem anderen Forschungsgebiete.

Wesentlich weniger verschlüge es, wenn unsere theoretische Einsicht in die genetischen Grundlagen des Symptomes heute noch so unsichere geblieben wären, wie die neuesten Kritiker es annehmen. Aber ich kann auch das nicht zugeben: wenn einmal erst feststeht, was ein Zwangsvorgang ist, so können wir hin- reichend gut erkennen, wie er entsteht, bezw. wie er entstehen kann. Denn es gibt kaum einen zweiten psychopathologischen Prozess, der so sehr mit seinen Wurzeln in unser normales Seelenleben hineinragt wie jener. Und wer die neuesten Unter- suchungen aufmerksam vergleicht, dem kann es nicht entgehen, dass sowohl Janet als Löwenfeld, ich selbst und Fauser sich in ihren wesentlichsten Anschauungen immer mehr einander ge- nähert haben. Gelernt aber haben wir alle durch die positive Arbeit sowohl wie durch die Kritik, und so wird eine heute vor- getragene Theorie sich immerhin in manchem Punkte von der eigenen früheren Anschauung unterscheiden. Und auch eine Klärung in diesen theoretischen Fragen kann ich nicht für neben- sächlich halten. In allen anderen Wissenschaften hat man das Streben nach theoretischen leitenden Gesichtspunkten wieder in sein altes Recht gesetzt; es wäre wunderbar, wenn die Psychiatrie darin zurückstehen würde. Und gerade die Zwangsvorstellung nähert sich fast am meisten einem natürlichen Experimente, in welchem die wichtige Frage entschieden wird, wie und wodurch

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 219

der logische Abschluss der Urteilsfunktion vollzogen, bezw. ver- eitelt wird.

1. Ueber die Abgrenzung des Begriffes der Zwangsvorstellung.

Es ist wohl theoretisch klar, welche Bedingungen für eine Einigung zu stellen sind, welche die Grenzen des Geltungsbereiches bezüglich des Begriffes „Zwangsvorstellung“ oder „Zwangsvorgang“ abstecken soll: man muss 1. wissen, welche Störungen man über- haupt unter dem Begriff des psychischen Zwanges umfassen will, und 2. müssen durch fernere Kriterien unter den ver- schiedenen Störungen, welchen ein psychischer Zwang beiwohnt, diejenigen ausgeschieden werden, bei welchen die anderweitigen Eigenschaften wichtiger sind als jenes zwangsmässige Auftreten. Erfahrungsgemäss aber geraten wir in solchen terminologischen Konflikt hauptsächlich bei den ausgeprägten Urteilstäuschungen, der überwertigen und der Wahnidee, ferner etwa noch bei der Erwartungsangst der Melancholischen. Gerade die merkwürdige Tatsache, dass es einen krankhaften Zwang gibt, abnorme Vor- stellungen fort und fort zu denken, ohne dass darum das Urteil darüber beeinträchtigt war, sollte mit dem Namen der Zwangs- idee festgestellt werden.

Man erkennt aber damit sofort, dass die an sich so wichtige und schöne Unterscheidung keine absolut scharfe sein kann; denn die Gewissheit jedes Urteils schwankt in weiten Grenzen, sie kann unbedingt, zweifelhaft oder ganz unsicher sein; und wo findet sich dann im letzteren Falle die Trennung vom einfachen „lebhaften Darandenken“? Wir werden das gleich noch besser begründen können; jetzt sollte nur gesagt sein, dass vorhandene „Uebergänge“ zwischen Zwangsidee und überwertiger Idee nicht etwa in einer Schwäche der Definition an sich, sondern in der Natur der Sache gelegen sein können und werden. In der Haupt- sache indessen wollen wir mit dem Namen Zwangsidee eine solche belegen, deren wesentliche Abnormität gerade in dem ihr eigentümlichen Denkzwange sich ausspricht.

Mit den obigen zwei Bedingungen ist der Gang der Unter- suchung gegeben. Indessen kann sich deren erster Abschnitt sehr einfach und kurz erledigen, und hier kann sich die Einigun fast ohne Schwierigkeit erzielen lassen. Hoche!) und Bumket) haben, darin bin ich durchaus gleicher Meinung, mit Recht ge- sagt, dass der Begriff des psychischen Zwanges entweder irr- tümlich verkannt oder bis zur Unkenntlichkeit erweitert wird, wenn die französischen Autoren, Löwenfeld und Andere, auch jene Störungen darin einbezogen hatten, welchen nichts als ihr Erscheinen gleich „Fremdkörpern“ im geistigen Getriebe eine

1) Hoche, Ueber Zwangsvorstellungen. Neurol. Centralbl., 1899, S. 1185, und derselbe, Handb. d. gerichtl. Psychiatrie. Berlin 1901. S. 506.

2) Bumke, Was sind Zwangsvorgäuge? Halle a. S. 1906.

220 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

besondere Eigenart verlieh. Was ist psychischer Zwang? Westphal hatte ıhn so beschrieben, dass Vorstellungen „wider den Willen der Person in den Vordergrund des Bewusstseins treten, sich nicht verscheuchen lassen und den normalen Ablauf der Vorstellungen hindern“. Ueberträgt man diese Definition noch auf andere psychische Elemente, so müsste noch hinzugefügt werden, dass es solche sind, deren Auftreten und Andauer der normale Mensch zu beherrschen und zu regulieren imstande ist. Denn nur dann kann von einem Zwange gesprochen werden. Niemand bezeichnet es als einen Zwang, wenn sein Bein von einem Krampf erfasst wird, wohl aber dann, wenn jemand es angebunden hat. Reine „Zwangshalluzinationen“, „Zwangsempfindungen“, „zwangsmässige“ Angstanfälle und Muskelzuckungen (Tic’s) gibt es daher nicht. Darüber ist schon von Hoche und in anderem Sinne von Löwenfeld und Janet reichlich gehandelt worden, so dass sich näheres Eingehen hier erübrigt.

Ebenso klar ist es aber auch, dass die monomanischer

Triebe, die Impulse zum Diebstahl, Brandstiftung, sexuellen Perversitäten, zum Davonlaufen u. s. f., keine Zwangstriebe sind. Weder der „Drang“, ihnen nachzugeben, die „Erleichterung“ nach ihrer Ausführung, noch auch ihr gewöhnliches Vorkommen bei sychisch Entarteten sind in jenem Sinne geltend zu machen. Denn ein „Zwang“ existiert auch hier nicht; der einzige vor- handene Zwang liegt gänzlich ausserhalb des Subjektes, und zwar gewöhnlich im Strafgesetzbuch. Dem Träger des Triebes liegt dieser gerade so „im Blute“, wie z. B. der normale Ge- schlechtstrieb, sein Sinnen und Trachten identifiziert sich mit ihm, ja er ist ihm direkt „überwertig“ geworden. Nur insofern können auch diese krankhaften Triebe in der Art eines „Fremd- körpers“ in der Willenssphäre uns erscheinen, als Anknüpfungs- pun te und Motive für ihre Entstehung häufig nicht zu er- ennon sind.

Wir sprechen somit von „psychischem Zwange“ nur da, wo der in der Norm vorhandene, bezw. sich geltend machende Einfluss des Subjektes auf das Auftauchen und Beharren psychischer Vorgänge gehemmt und über- wältigt wird. Ob dies infolge einer besonderen Geltung oder Kraft der Vorstellung, resp. des betreffenden Vorganges oder aber infolge einer Schwäche der regulierenden Kraft des Subjektes oder endlich durch beides zusammen geschieht, dies zu entscheiden, ist Sache späterer theoretischer Untersuchung.

Wesentlich komplizierter gestaltet sich die Untersuchung der zweiten Bedingung, resp. des zweiten Problemes: Wie lassen sich diejenigen Vorstellungen (und Impulse), bei welchen der psychische Zwang das wesentliche und ausschlaggebende krankhafte Moment darstellt, trennen von anderen, bei welchen zugleich eine ausgeprägte abnorme Urteilstäuschung stattfindet?

Eine befriedigende Lösung dieses Problems scheint mir nicht wohl möglich, wenn man nicht dabei den Wernickeschen Be-

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 221

griff der überwertigen Ideen einführt und somit anerkennt. Er ist nicht identisch mit dem ohnehin überflüssigen neuen Kennworte der dominierenden Ideen; denn Wernicke wollte damit die Tatsache bezeichnen, dass einzelne Vorstellungen mit einer gewissen Unvermitteltiheit übermächtig im Denken und Fühlen der Personen werden, und zwar infolge pathologischer Ursachen. Sowohl der Erfinderwahn und viele Gestaltungen des Eifersuchtswahns und des Querulantenwahns, als die weit über- triebene Furcht vor der Syphilis und Hundswut, die lähmende Angst vor einer eingetretenen neuen Schwangerschaft, die un- motivierte Öperationswut mancher Hypochondrischen sind Bei- spiele der überwertigen Idee. Ein gewalttätiger Denkzwang kommt vielleicht der Mehrzahl unter allen zu, sie sind nicht ohne weiteres von den Zwangsideen zu trennen und sind in der Tat sehr oft dazu gerechnet worden. Selbstverständlich ist ein starker Affekt stets mit ihnen verbunden.

Die Wahnidee hingegen unterscheidet sich ziemlich glatt von der Zwangsvorstellung dadurch, dass erstlich hier eine fertig vollendete Urteilsassoziation gebildet ist, und dass zweitens ausser der betonten Wahrnehmung oder Vorstellung noch ein zweites falsches Element hinzutritt, welches der Kranke aus eigenem hinzufügt. Der Idee, eine Suppe könne vergiftet sein, verbündet sich die generelle Wahnidee des Patienten, das sei die Folge einer planmässigen Verfolgung durch die oder jene Person. Der psychologische Vorgang ıst dabei der der „Eingebung“, d. h. die gedachte Idee ist sofort wahr und real für den Patienten, er weiss oder fühlt z. B., dass die oder jene Person ihn durch Anspielungen verfolgt. Bei der überwertigen Idee dagegen besteht nur ein starker und leidenschaftlicher Glaube.

Die Sachlage scheint also damit in einfachster Weise ge- klärt zu sein, denn es ist doch offenkundig, dass jeglicher Zwangs- vorgang, wie weit man auch seine Grenzen stecken mag, kein abgeschlossenes Urteil darstellt, und noch dazu ein solches, welches in ein allgemeines Wahnurteil eingefügt wird. Und gleichwohl treffen wir hier auf den eigentlichsten Zankapfel in der ganzen Lehre. Hat man doch uns, die wir früher eine innere Verwandt- schaft zwischen Zwangsidee und Wahnidee behauptet hatten, manchen Ortes beinahe Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen (so z. B. Warda), und hatte doch andrerseits noch Löwenfeld an- genommen, dass auch heute scharfe Grenzlinien hier nicht leicht zu finden seien.

An welcher Stelle aber liegt die Schwierigkeit? Hebt man wiederum auf die beiden Elemente in der Definition ab, den Denkzwang und das Auftreten der Idee als Fremdkörper, so hat man sich zunächst oft bemüht, den ersteren innerhalb der Zwangsvorstellung als andersartig zu schildern wie in der Wahn- idee. Das will aber nicht recht stimmen; es gibt z. B. sensitive Paranoiker, welche die Angst vor den „Verfolgungen“ auf der

222 Friedmann, Ueber die Abgrenzung `

Strasse kaum auf Momente aus ıbrem Bann entlässt; und sicher nicht minder bedrängen viele melancholische Wahnideen ihren Träger, etwa die, ein altes Verbrechen begangen zu haben, für welches der Staatsanwalt nun Sühne heischen wird. Das ist eben die „Erwartungsangst“, welche mit Recht in der neueren Lehre eine Rolle zu spielen begonnen hat. Nun kann aber zweitens, zu Beginn vieler Psychosen insbesondere, das Wahnurteil ein un- sicheres und schwankendes sein, der Wahn ist dann noch mobil oder oszillierend. Und vor allen Dingen verhalten sich so die überwertigen Ideen, ein Eifersuchtswahn, eine Schwangerschafts- furcht! Oder ganz vorübergehende abnorme Vorstellungen, wie die folgende: Eine zweifellos kluge Dame bekommt es plötzlich mit der Angst zu tun, ob sie ihre Tochter versorgen, verheiraten könne. Sofort folgt die ganz unbegründete Idee, sie brauche zu viel im Haushalte und ibr Mann verdiene nicht genug. Sie wagt mit einem Male auch kleine Rechnungen nicht mehr zu bezahlen, obwohl sie das Geld ın Händen hat, weil „es nicht mehr reicht“. Sie weint und jammert halbe Tage darüber, aber nachdem eine Unmenge von Oxyuren durch Clysma entleert ist, schwindet nach wenigen Tagen das ganze Ideengebäude plötzlich, wie es ge- kommen war. Was lag hier nun vor? War es eine zwangsmässige, überwertige oder Wahnidee? Man erkennt sofort, es ist der be- sondere Inhalt des Gedankens, welcher diesmal die Entscheidung erschwert.

Und offenbar darum haben Mendel»), Hoche und Bumke das strenge Zurückgehen auf den ursprünglichen Westphalschen Begriff gefordert. Hier war ausdrücklich gesagt, dass „der Be- fallene die Vorstellung stets als abnorm, ihm fremdartig anerkennt und dass er ihr mit seinem gesunden Bewusstsein gegenübersteht“, So liessen sich anscheinend die Intelligenzstörungen in die zwei grossen Gruppen der „inhaltlichen“ und der „nur formalen“

törungen reinlich scheiden. . Und dass ein starkes praktisches Bedürfnis, ja auch ein theoretisches in diesem Sinne spricht, ist zweifellos.

Indessen diese Aufstellung ist nicht richtig, das hoffe ich alsbald zu zeigen, und dann ist auch die strenge Ausschliesslich- keit des ganzen Zwangsideenbegriffes nicht mehr vonnöten. Die Westphalsche Beschreibung nämlich ist ganz korrekt, sie ist äusserst präzis sogar gefasst aber sie ist unvollständig, auch für die Fälle, weiche er im Auge hatte. Der Denkzwang in der sogenannten „echten“ Zwangsidee ist kein bloss formaler, vielmehr liegt da ein ganz eigenartiger und psychologisch sehr interessanter Zustand des Denkens vor, welcher von Janet bereits leidlich gut beschrieben wurde, auf welchen auch Bumke anspielt, wenn er von den Handlungen spricht, welche sich oft den Zwangs- vorstellungen anschliessen, ein Zustand, der aber doch im ganzen etwas wenig beachtet und untersucht worden ist.

1) Mendel, Ueber Zwangsvorstellungen. Neurol. Centralbl. 1898. No. 1.

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 223

Führen wir zunächst zwei Tatsachen hier an: Es muss jedem Beobachter erstlich auffallen, dass der geistige Zustand, welcher die „echte“ Zwangsvorstellung erzeugt, doch übermässig häufig auch zugleich die Zwangsvorstellungen der Furcht und Sorge ins Dasein ruft, welche der Patient keineswegs als ihm „fremd“ oder gar als blos erzwungen (d. i. also = formal) ansieht. Ein Herr, den der „sinnlose“ Gedanke verfolgt, es könne Feuer aus seinem Arme \herausschlagen oder er habe Maikäfer verschluckt, quält sich ausserdem noch viel mehr durch die Idee, er werde plötzlich verrückt werden. Eine Dame, welche sich in von ihr verabscheuten Verwünschungen gegen ihre liebsten Angehörigen ergehen muss, fürchtet ebenso zwangsmässig jede Krankheit, von welcher sie gerade hört, sie entsetzt sich beim Anblicke jedes Leichenzuges und muss sich vorstellen, dass es ihr bald ebenso ergehen wird, Dieser Tatbestand ist alltäglich, weitere Beispiele erübrigen sich daher.

Dass ferner der Inhalt der Vorstellung nicht gleichgültig ist, wurde von mir schon früher dadurch belegt, dass keineswegs jede Idee zum Zwangskurse gelangt. Vor allem fehlt in dem nventar die gewöhnlichste Gattung, die einfache Erinnerung, und mag sie auch so grässlich sein wie der unvermutete Anblick eines fremden Selbstmörders. Nach relativ kurzer Zeit kommt er nur wieder ins Bewusstsein, wenn er assoziativ herbeigerufen wird, also im legalen Wege. Nur wenn sich Sorgen oder Befürchtungen hinzugesellen, z. B. schon die Idee, jenes Ereignis habe auf die Gesundheit des unfreiwilligen Zeugen schäd- lich eingewirkt, dann kann auch der erinnerte Vorgang sich dauernd und wider Willen der Person eindrängen. Merkwürdig bleibt es des weiteren auch, dass die bekannten „normalen“ Zwangsvorgänge, nämlich die lästigen Erinnerungen an gewisse Melodien (Gassenhauer) oder an Verse sich so relativ selten pathologisch verstärken und speziell dass sie kaum je als „Neben- produkt“ neben den charakteristischen Zwangsvorstellungen ge- klagt werden. Aus diesen Tatsachen geht zunächst soviel hervor, dass bei den letzteren wohl mehr vorliegen muss, als ein einfacher Erinnerungszwang, und das liegt ja eigentlich schon in dem Begriffe „Denken“ = Reflektieren, in dem Worte „Denkzwang“. Unsere Patienten indessen sind vollsinnige, oft sogar entschieden kritisch veranlagte Menschen; sie können uns daher selbst sagen, wie sie sich ihren Ideen gegenüber stellen.

Nehmen wir also eine Anzahl von Beispielen vor, und zwar solche, welche den Westphalschen Forderungen entsprechen: ein junger Patient Thomsens!), vom 13. Jahre ab erkrankt, hat neben vielen anderen Zwangsideen und Schrullen den Trieb, dass alles nach den Zahlen 8 und 7 sich richten, z. B. eine Person 3 mal anklopfen, 3 mal grüssen musste. Erreichte er das nicht,

1) Thomsen, Klinische Beiträge zur Lehre von den Z stellungen. Arch. f. Psychiatrie. Bd. 27. 1895. S. 819.

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helft 3. 15

wangsvor-

224 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

so war er ganz ausser sich, denn jetzt „müsse etwas Böses- passieren“. Ein geistig sehr begabter, im Leben auch sehr erfolgreicher Herr bekommt in einem Stadium von (periodischer) Depression eine grosse Zahl von Zwangsideen, besonders der Irrtumsfurcht; darunter drangsaliert ihn die folgende besonders lange und intensiv: er hatte auf den Scherz seines Privatgehülfen beim Abschneiden seiner Coupons geantwortet: „Ich wünsche Ihnen, dass Sie auch einmal so viele für sich abzuschneiden haben, wie jetzt.“ Bald hinterher kommt ihm der Gedanke, er könne damit dem Gehülfen sein Vermögen angeboten und so, wenn dieser das ausnutze, sich und seine Familie an den Bettelstab gebracht haben. Obwohl er gleichzeitig sagt, der Gedanke sei unsinnig, wiederholt er doch immer wieder, es „könne“ doch etwas daran sein, und er geht deshalb mehrmals zum Rechtsanwalt, von dem er (mit einigen Verschleierungen vorsichtshalber) sich den Fall rechtlich erläutern lässt, und er sichert sich für alle Fälle noch ein ärztliches Zeugnis, um damit beweisen zu können, dass er bei einer unvorsichtigen Aeusserung nicht festgehalten werden könne. Er ist übrigens ziemlich geizig. Eine dritte Kranke, eine ältere, um ihre Familie sich sehr sorgende Dame, gehört zu den durch Kontrastideen gequälten Patienten; wenn ihre Schwester weggeht, kommt ihr der Gedanke: „Wenn du doch die Treppe hinabfielst und dir das Genick brächest*, oder wenn ihr Mann eine Reise antritt: „Wenn doch der Zug zusammenstiesse und du dabei zugrunde gingest“. Von dem Momente ab, bis sie wieder die betreffende Person gesehen hat, wartet sie förmlich mit Ent- setzen auf das Telegramm oder die Hiobspost, welche ihr das angewünschte Unglück als geschehen verkünden wird. Dabei ver- zehrt sie sich vor Angst und Selbstvorwürfen, weiss aber ganz gut, dass ihre Ideen krankhaft und das strikte Gegenteil ihrer wahren Gedanken sind. Ganz ähnlich geschieht es einer be- gabten, aber übermässig gewissenhaften Bureaugebülfin; nachdem sich ihre Irrtumsfurcht allmählich so gesteigert hat, dass sie jede Rechnung mehrmals nachsehen muss (obwohl sie noch nie ernst- hafte Fehler gemacht hat) und dass sie sich dabei förmlich auf- reibt, überfällt sie schliesslich der Gedanke: „Es hat ja alles keinen Zweck, du machst lieber gleich absichtlich Fehler.“ Und das erst schlägt dem Fass den Boden aus, ihre Kraft erlahmt unter dieser Idee, und sie nimmt einen mehrmonatlichen Urlaub.

Der fünfte Fall betrifft eine von Zwangsideen aller Art heimgesuchte, sonst aber verständige und tätige Dame, deren Mann an einer sehr schmerzhaften Gehirngeschwulst erkrankt und gestorben war. Dieses Schicksal hätte sie mit Fassung getragen, wenn sie Ruhe vor der sie andauernd bedrängenden Vorstellung gefunden hätte, dass sie selbst Schuld an der Erkrankung habe, dadurch, dass sie „einmal“ im Scherz einen Schlag nach dem Ohre ihres Gatten geführt hatte. Keine noch so nachdrückliche Versicherung meinerseits, dass ihr Gedanke unsinnig sei, wirkt länger als einen Tag, und sie muss Monate hindurch stets von

nnd die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 225

mir die gleiche Tröstung sich holen. Wegen des lehrreichen Gegensatzes sei eine nicht ganz „echte“, nämlich hypochondrische ldee hier noch angefügt: ein 45jähriger Herr ist zugleich von nicht unerheblicher chronischer Nephritis und von einem viel- jährigen harmlosen Kältegefühl am Knie affıziert. Während er sich mit der ernsten Nierenkrankheit längst abgefunden hat, bringt ihn das ewige Denken an jene Parästhesie dermassen in Ver- zweiflung, dass er nur mit Mühe sich davon zurückhält, Selbst- mord zu begehen.

Dass noch weit unsinnigere Dinge bei geistig völlig normalen Personen vorkommen, ist bekannt, und ich erwähne nur noch erstlich eine Dame, welche keine Ruhe fand durch den Gedanken, sie hätte die Untaten des vor dem Aufsehen erregenden Prozess ihr ebenso unbekannten Diebold, wie er es uns allen war (er hat bekanntlich seinen Zögling infolge sadistischer Neigungen zu Tode gequält), verhüten können und müssen, und zweitens ein Fräulein, das sich einbilden musste, es werde ein Nachbarkind aus dem Fenster fallen, wenn sie das Haus verlasse. Anlass war, dass sie in einem solchen Momente Zeugin eines derartigen Unglücks hatte sein müssen.

Nun wird ja wohl niemand bestreiten, dass alle diese Ideen keineswegs bloss formal, sondern von allem Anfange an stark inhaltlich wirken. Man hat aber bisher sich regelmässig ge- sagt, der Patient ist sich ja hier bei ihrer Fremdartigkeit und Unsinnigkeit vollkommen klar darüber, dass dies bloss Phantome, Gespenster sind, Dinge, welchen nicht mehr Realität zukommt, als den Trauerspielen im Theater. Und ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, eben dieses wichtige Experiment, wo alle Tage die Zuschauer in jede Art von Ergriffenheit versetzt werden, habe auch die Anschauung der Wissenschaft geleitet. Stimmt aber die an sich naheliegende und schöne Analogie wirklich? Besitzt auch der Träger der Zwangsidee gleichzeitig die ruhige und zweifellose Ueberzeugung resp. Kontrastvorstellung, dass seine Idee ebenfalls nur ein „Spielen“ oder allenfalls ein „Selbstbetrug“ sei? Das ist gerade zu beweisen, fest steht es keineswegs. Und des- halb auch musste ich die Belegfälle vorführen, um zu zeigen, dass der Patient die Sache viel erusthafter nimmt als einen blossen Selbstbetrug; jener Herr, ein hervorragender Kaufmann, befragt den Rechtsanwalt und Arzt und ist nicht nur in Unruhe, sondern in wahrer Sorge; jene Dame „glaubt“ förmlich an die Wirkung ihrer Verwünschungen, die bedauernswerte Gattin sieht sich halb und halb als unfreiwillige Mörderin ihres Mannes und der Patient mit der hypochondrischen Idee, der eine Rückenmarkskrankheit ins Auge gefasst hatte, stand nahe vor dem freiwilligen Tode. Und dennoch liegt natürlich kein bejahtes Urteil vor, alle Patienten wissen gleichzeitig, dass alles „Einbildung“ ist, oder sie neigen wenigstens zu dieser Meinung.

Was liegt also vor? Wir besitzen im normalen Geistes- leben nun in der Tat, wie ich meine, treffende ‚Analogien, und

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226 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

ohne solche würde uns das Verständnis kaum möglich sein. Das Bild eines teueren Angehörigen falle unversehens von der Wand herab, und zwar eines solchen, der in der Ferne weilt und um den wir uns bangen. Wird es viele Personen geben, die dann nicht unwillkürlich von der ganz ernsthaft aufgefassten Idee beunruhigt werden, dass das Ereignis „etwas bedeute“, dass jenem Angehörigen etwas zugestossen sei? Und wird nicht dennoch heutzutage die Mehrzahl aller Gehildeten sich „gleich- zeitig“ sagen, das sei Unsinn, Ahnungen gebe es nicht? Es gehe jemand, der es nicht gewohnt ist, um Mitternacht über einen Friedhot; jedes eigentümliche Geräusch wird ihm eine wahre Ge- spensterfurcht einflössen, mag er auch sonst ganz frei von Aber- glauben sein. Eine unerwartete Reise eines hochstehenden Staats- mannes oder Fürsten erfolge in etwas unruhigen Zeitläuften; die meisten werden die etwaige tatsächliche und einfache Erklärung, z. B. eines Höflichkeitsbesuches, nicht glauben, wenn auch die Tatsachen dafür sprechen. Die Reise muss „etwas Besonderes bedeuten“. Ein ferneres schönes Beispiel ist der Aberglaube vom „bösen Blick“ beim niederen Volke; der scharfe Blick des anderen erweckt den Eindruck der Lästigkeit und muss daher Unglück für den Angeschauten bedeuten, auch wenn er nicht ver- steht, wie das zusammenhängt. Und der ganze religiöse Glaube bei gebildeten Personen zeigt häufig dasselbe „Zugleichsein“ von Bejahung und von logischem Widerspruch. Credo quia absurdum, sagte bekanntlich Tertullian, den Sachverhalt stolz noch übertreibend.

Der Tatbestand ist also der: Vorstellungen, welche lebhaft betont sind,abernicht logisch verstanden werden, erhalten die logische Position einer erhöhten Bedeutung. Im Anfange vieler Psychosen, wo sich das Unbegriffene häuft, sind auch die Wahrnehmungen, welche „etwas Besonderes be- deuten“, in grosser Zahl vorhanden. Jener Knabe, welcher die Zahl 3 oder 7 verlangte, musste sich ja denken, es bedeute etwas Schlimmes, wenn sie nicht eintraten. Die gewöhnlichste Form der „erhöhten Bedeutung“ ist aber die, dass an die Tat- sächlichkeit „geglaubt“ wird. Dieses Glauben ist aber in solchen -Fällen, welche nicht durch ein Dogma oder die allgemeine Denkart im Volke gestützt werden, immer begleitet von der Idee des logischen Widerspruches. Besonders schöne Beispiele dafür gewähren uns die merkwürdigen und nicht gerade seltenen Ge- staltungen der Zwangsidee, welche die Form der plastischen Er- innerungstäuschung gewinnen: Jene Dame, welche den Tod des Mannes verschuldet haben wollte, sah als Kind von 14 Jahren zu, wie ein Schulmädchen einem andern einen Pumpstock so heftig gegen die Stirne stiess, dass dieses bewusstlos liegen blieb. Sofort rennt sie bestürzt nach Hause und ruft ihren Eltern zu: „Verbergt mich, ich habe das Kind N. N, totgeschlagen.“ Sie glaubte das wirklich. Ein tüchtiger Schullehrer, der mit vielen anderen Zwangsideen behaftet war, glaubte immer, die Untat

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 227

selbst begangen zu haben, welche in der Nähe passierte. Oder gar, als ein Epileptischer vor seinen Augen ins Wasser fiel und von ihm gerettet wurde, glaubte er, er selbst habe ihn hinein- gestossen. Jeder Gendarm, den er zu solchen Zeiten sah, flösste ihm dann Schrecken ein. Häufig suchte er vorsichtig heraus- zubekommen durch Fragen bei Bekannten, ob irgend ein Miss- trauen oder Verdacht gegen ihn vorliege.

Wir sind durchaus nicht berechtigt, die absolut sichere An- gabe dieser geistesklaren und verständigen Personen in Zweifel zu ziehen, dass ihnen die Wirklichkeit ihrer Selbstanklage „inner- lich feststehe“ zu ihrer eigenen Pein, obwohl sie zugleich aus lo- gischen Gründen dem widersprechen müssten !). Und vollends nach den berühmt gewordenen Versuchen Sterns über die „Psychologie der Aussage“ wissen wir ja auch, wie leicht Erinnerungstäuschungen bei normalen Personen zustandekommen, wenn sie sich den Vor- gang lebhaft vorstellen. Bedingung in jenen Fällen ist stets, dass _ die ganze Situation den Patienten vertraut ist, insofern die Er- eignisse an Orten passiert sein müssen, welche jene genau kennen, oder als die Dinge gar in ihrer Gegenwart geschehen.

Wollen wir den gesamten psychologischen Zustand bei diesen Zwangsvorgängen genauer bezeichnen, so müssen wir sagen, dass es ein Wettstreit ist zwischen der innerlich geglaubten oder lebhaft vorgestellten Wirklichkeit des Sachverhaltes oder der Richtigkeit einer Annahme und zwischen der daneben ım Bewusstsein stehenden Verneinung aus logischen Gründen.

Das begleitende starke Gefühlsmoment und die starke Betonung der Vorstellung sind es, welche dem Glauben und der Bejahung zu grunde liegen, während das wohlerhaltene kritische Vermögen sich dennoch nicht unterdrücken lässt. Das Beispiel der Ahnung bei dem herabgefallenen Bilde veranschaulicht uns den seelischen Zustand; es zeigt uns auch, dass ein solcher Wettstreit keineswegs identisch ist mit dem Zustande, den wir als Zweifel bezeichnen. Janet hatte nicht vollkommen richtig hier von einem nicht fertig vollzogenen, einem unvoll- ständigen Urteile gesprochen, aber richtiger gesagt, dass es ein „état intermédiaire“ sei in der Mitte zwischen Bejahung und Ver- neinung. Auch das trifft aher nicht ganz zu, es ist eben ein Wettstreit, ein Zwiespalt. Was Janet ausdrückte, ist eher ein Zweifeln, eine Unentschlossenheit.

Jener Kaufmann glaubte gleichzeitig an die reale Gefahr durch seinen unvorsichtigen wohlwollenden Wunsch und wusste logisch, dass der Glaube nicht haltbar sei. Auf sein Gemüt aber wirkte der Glaube ein. Deshalb aber bedürfen diese Personen der stark negierenden Versicherungen durch andere. Sie wollen den anderen glauben, und der eine Glaube soll den anderen

1) Ueber den Unterschied von der Pseudologia phantastica vergl.: Köppen, Ueber die pathologische Lüge. Charit6-Ann. II. 1898. p. 1154

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aufheben. An und für sich aber ist natürlich die allgemeine Wirkung dieser Zwangsideen mit ihrem unaufbörlichen Konflikte zwischen Glauben und logischem Widerspruche in keiner Weise zu vergleichen mit einer tatsächlichen gleichartigen Sorge oder gar mit dem fertig vollzogenen Wahnurteile ähnlichen Inhaltes. Insbesondere beschränken sich die Abwehrmassregeln gewöhnlich auf das, was sich ohne die Gefahr der Lächerlichkeit oder eines Schadens ausführen lässt, also z. B. auf „vorsichtige“ Erkundigung, Fragen bei Vertrauenspersonen oder auf einige sonderbare Pe- danterien, wie sie Janet unter dem Namen der „Manie de? au delà“, d.h. der Uebertreibungsmanie, zusammengefasst hat. Dass aber diese Konsequenzen auch fast bis zur Zerstörung des Lebensinhaltes gehen Fonnen, das lehrt der bekannte Fall von Jahrmārker’) und auch ein solcher von Tuczek 3).

Dass ferner auch der permanente Denkzwang an sich die Patienten heftig bedrängt und erschüttert, wird natürlich durch alle unsere Ausführungen nicht in Zweifel gestellt. Aber weil dies schon feststeht, brauchte nicht weiter darauf eingegangen zu werden. Zu begründen war die fernere Tatsache, dass auch der Inhalt keineswegs gleichgültig ist und dass er fast ebensosehr in die Wagschale fällt, und zwar auch bei den „widersinnigen“ Ideen.

Die ganze Erörterung besitzt aber nebenher ein nicht ge- ringes Interesse für die theoretische normale Psycho- logie. Die Wissenschaft kann kaum ein reineres Experiment erfinden, welches den logischen Wert erkennen lassen soll, den stärker betonte Vorstellungen unabhängig von den zage- hörigen Motiven (oder associativen Verknüpfungen) und sogar ım Widerspruche mit diesen subjektiv, d. h. im Subjekte, erlangen. Das Experiment ist reiner als das der Suggestionsversuche und drastischer als die Fälle von Ahnungen und des Aber- glaubens. Wir sahen also, dass ein direkter instinktiver Trieb besteht, die betonte Vorstellung auch logisch höher zu bewerten.

Was folgt nun aus dieser Untersuchung für die Ab- grenzung des Begriffs der Zwangsidee? Soviel ich sehe, lässt sich der ganze Rest auf dem Gebiete des zwangsmässigen Vor- stellens in den Begriff der „unabgeschlossenen oder ab- schlussunfähigen Vorstellungen“) einreihen, d. h. in die Kate- gorien des Zweifels, der Befürchtung und der Erwartung. Die Fälle sind im ganzen von einem ziemlich gleichmässigen Inhalte und Typus und sind der Zahl nach merklich häufiger als die Fälle mit absonderlichem Inhalte. Sehr oft kommt die zwangs- mässige Furcht, in die „gleiche Krankheit“ zu verfallen, wie ein Bekannter, von dem die Person hörte, oder speziell die Furcht,

1) Jahrmärker,jEin Fall von Zwangsvorstellangen. Berl.klin. Wochen- schrift 1901. p. 1081. No. ji Tuczek, Ueber Zwangsvorstellungen. Berl. klin. Wochenschr. 1899. 0. . 3) M. Friedmann, Ueber die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. Psychistr. Wochenschrift 1901, No. 40.

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 229

geisteskrank zu werden, einen Herzschlag zu bekommen, Andere Male handelt es sich um eine Erwartungsfurcht, so bei der häufigen Zwangsfrage klimakterischer Frauen, ob Gravidität da sei, bei der quälenden Unruhe, wie ein Ehescheidungsprozess ausgehen wird, oder anders wieder, wenn ein junger Kaufmann nach dem liichtenbergschen Ladenmorde in Frankfurt von pein- licher Furcht verfolgt wird, dass es ihm oder seinem Vater ebenso ergehen könnte, und wenn er diese Furcht in keiner Weise los werden kann. Hierher gehört ferner die Irrtumsangst, die Neigung zu Zwangsskrupeln, z. B. jemand beleidigt, ein falsches Urteil gefällt, Rechnungen falsch ausgeführt, ein bedenkliches Ver- sehen begangen, beim Abendmahl nicht genug für die innere Vor- bereitung gesorgt zu haben. Weiter gehört dazu der zwangs- mässige Zweifel, die Fragesucht z. B. in religiösen und metaphy- sischen Dingen, dann die hypochondrische Furcht vor Infektion, die Berührungsfurcht u, s. f.

Diese ganze grosse Gruppe von Zwangsdenken soll nun heute aus dem echten Begriffe wieder ausgeschieden werden. Daher haben wir zu fragen: was ist in ihr verschieden und was überein- stimmend mit dem Westphalschen Symptom? Verschieden ist, dass die Ideen durchschnittlich nicht im Verhältnisse des logischen Widerspruches bezw. der Widersinnigkeit zu dem Träger stehen; vielmehr erscheinen diesem die Sorgen, Erwartungen und Zweifel als belangreich. Verschieden ist ferner die logische Form; wir finden hier einen dauernden und gleichmässig fest- stehenden Zweifel, die Anerkennung der Unabgeschlossenheit durch das Subjekt, während dort in der sogen. echten Form bald die Idee, bald der logische Widerspruch Oberwasser bekam und Geltung besass oder aber ein permanenter Widerstreit bestand, vergleichbar etwa dem Widerstreite der Gesichtsfelder im Stereoskop, wenn hier die Verschmelzung nicht gelingen kann.

Gemeinsam aber ist erstlich das Obwalten des gleichen Denkzwanges, ferner das gleiche Gefühl der Belästigung durch die Idee und sodann drittens das gleiche Verhalten des Patienten gegen die Idee; er betrachtet sie im Grunde genommen ebenso- wenig als sein eigenes geistiges Produkt!) wie die widersinnigen Gedanken, sie drängen sich ihm auf, sind auch für ihn schlecht motiviert und „krankhaft“, und er will sie um jeden Preis los sein. Deshalb geht er ja damit zum Arzte. Ja, schliesslich be- sitzen die widersinnigen Ideen eine ganz ähnliche Unabge- schlossenheit wie die Zweifel und die Erwartungsfurcht, nur ist sie dort sozusagen künstlich erzeugt und hier natürlich: dort der Wechsel zwischen Bejahung und Verneinung und hier der Zweifel, das Schwanken zwischen beiden; dort wird die Vernunft zeit- weise durch die Unruhe, den Affekt übertönt. Hier wird sie bestochen, sodass die Furchtmotive an Wert zu viel gewinnen.

ı) Jedenfalls steht der logische Wert all dieser Ideen weit zurück hinter dem „Phantasie-Werte*, der als aufgedrungen imponiert.

280 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

Die wichtigste Uebereinstimmung aber findet sich in dem identischen Verhältnisse zu den überwertigen und Wahn- ideen, worauf wir nun eingehen.

Die Unterscheidung zwischen den Zwangsideen und den überwertigen Ideen ist als die wichtigste Aufgabe bei der Umgrenzung des Begriffes zu betrachten. Bumke hat ganz richtig dargelegt, dass schon zu allem Anfange bei Krafft- Ebing ein Missverständnis vorgelegen, dass er etwas wesentlich anderes unter dem gleichen Namen wie Westphal als Zwangs- vorstellung gemeint und bezeichnet hatte, und dies war im wesent- lichen das, was später Wernicke mit einem sehr treffend ge- wählten Worte als überwertige Idee!) ausgeschieden hat. Das gleiche ist, wie vorhin gesagt, seither häufig geschehen, so wie es von Krafft-Ebing berichtet wurde, nur hat dieser Mit- entdecker der Zwangsvorstellung sich in der Tat bald nachher dem Westphalschen Begriffe wieder sehr genähert. Jedenfalls wäre die Lehre von den Zwangsvorgängen in ein sehr viel besseres und zuverlässigeres Fahrwasser gelangt, wenn man die Wernickesche Aufstellung weniger unsympathisch aufgenommen und gerade ihr Verhältnis zur Zwangsidee ernsthaft zergliedert hätte. Nur fragt es sich freilich, nachdem wir das bisher beliebteste Kriterium, die Scheidung zwischen inhaltlichen und formalen Denkstörungen, wenigstens in dieser Schärfe, abgelehnt haben, was dann ührig bleibt.

Die Fachliteratur ist keineswegs arm an Hinweisen auf eine zweite Antwort, welche unsere Frage in stichhaltiger Weise, wie mir scheint, beantwortet. Wernicke selbst hatte freilich seine überwertige Idee von Anfang an vielfach diskreditiert, indem er damit an die alte Monomanienlehre anknüpfte; man bestritt, dass es derartig isolierte psychische Störungen gebe. Und nun ist es überaus merkwürdig, dass hier beide Thesen wahr sind, ja dass man geradezu die überwertige Idee von der Zwangsidee ab- sondern konnte und kann dadurch, dass man letztere eben als Fremdkörper im geistigen Leben, die überwertige (und Wahn-) Idee hingegen als voll und ganz im geistigen Konnex stehende Urteilsstörung charakterisiert. Andererseits aber muss man hier den Terminus a quo und den Terminus ad quem unterscheiden. Der Herkunft nach ist die überwertige Idee allerdings gleich dem Zwangsvorgang etwas, was unvermittelt im geistigen Ge- triebe hervorbrechen kann. Ein starker Affekt kann sich sozusagen auf eine einzige Idee stürzen und ohne jede vorausgehende in- tellektuelle Störung sie und nur sie allein krankhaft übermächtig werden lassen. So gestalten sich die Erinnerungen an die bei der Geburt erduldeten Leiden bei manchen Frauen zu einer hoch-

1) Wernicke, Ueber fixe Ideen. Deutsche med. Wochenschr- 1892. S. 581.

und die Grundlagen der Zwangsvorstellangen. 231

gradigen Angst!) vor der zweiten Gravidität, und tritt dann eine solche wirklich ein, so wird diese Angst übermächtig, die Frauen sind fassungslos, sie denken nichts anderes mehr, malen sich in den schwärzesten Farben aus, wie sie die zweite Geburt nicht mehr aushielten. Eine dumpfe oder erregte Verzweiflung be- mächtigt sich ihrer, sie arbeiten nicht mehr, verlieren die Liebe zum Gatten, und der einzige Gedanke, auf den sie noch hin- wirken, ist der, die künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft zu erreichen.

Man erkennt schon in dieser kurzen Schilderung den Unter- schied von der Zwangsidee: die Idee kann fast unter ähnlichen Umständen, allein durch den begleitenden Affekt und sonst durch nichts geboren werden. Aber die überwertige Idee entwickelt sich anders. Das ganze geistige Leben gerät ın Mitleidenschaft, die Idee wird ausgemalt in allen ihren Konsequenzen, in allen Details, alles Denken der Schwangeren beschäftigt sich gerade mit diesen Einzelheiten der früheren Geburt, über die sie weit- läufig zu sprechen pflegen. Sie denken ebenso reichlich motiviert. über die Gefahren der neuen Geburt, und dann vor allem, diese Personen wollen nicht von der Idee, sondern von dem, was sie hervorruft, befreit werden. Ihnen ist die Idee todternst, und der logische Widerspruch gegen ihre Uebertreibungen wird fast mit Erbitterung zurückgewiesen. Das Analogon auf der anderen Seite ist die schon erwähnte häufige Zwangsidee klimakterischer Frauen, das Aufhören der Menses könne eine nochmalige Schwangerschaft bedeuten. Was geschieht hier? Nur die Mög- lichkeit der Idee wird hier unaufhörlich ventiliert, die Frauen denken kaum an ein Ausmalen der Schwangerschaftsgefahren, es ist ihnen sogar unaugenehm, sich solche Details vorzustellen. Immer nur der eine Zirkel wird eintönig wiederholt: „Bin ich schwanger? Ist es nur der Wechsel?“ Nur das Erlangen der Gewissheit plagt die Patienten, die meist im Herzen gar nicht wrklich an die Gravidität glauben. Den Vorschlag des künst- lichen Abortes habe ich in solchen Fällen noch gar nicht er- wägen hören.

Man kann den Gegensatz nun allerdings so ausdrücken: Die eine Idee wirkt mehr durch ihren Inhalt, die andere mehr durch den Denkzwang, welchen sie ausübt. Das ist richtig; besser und zugleich psychologisch schärfer ist die Fassung, welche gleich- falls schon von nicht wenigen Autoren gefunden ist, und welche ich beispielsweise bei Seglas®), Keraval®) und auch Freud klar ausgesprochen sehe. Mir selbst darf ich das Verdienst bei- legen, sofern die Auffassung sich als richtig bewährt, dass ich den Sachverhalt genauer zu zergliedern suchte und dass ıch dessen massgebende Bedeutung für die ganze Frage der Zwangs-

1) Vergl. Gauss, Geburten im künstlichen Dämmerschlaf. Arch. f. Gynäk. 1906. Bd. 78. Speziell S. 593 ff.

2) Söglas, Leçons cliniques sur les maladies mentales etc. Paris 1895.

3) Kéraval, L’Idee fixe. Archives de Neurologie. 1899. Vol. VIII. No. 48.

232 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

ideen zu beleuchten unternahm. Kurz gesagt, wäre das Kriterium so zu kennzeichnen: Die Zwangsidee bleibt im wesentlichen ein isolierter geistiger Vorgang, sie tritt nicht ein in weitere assoziative Verknüpfungen, sie zieht keine weiteren Kreise im Gedanken- und Gefühlsleben, d. h. der Betroffene hat nur das Interesse, sich von ihr zu befreien oder die unabgeschlossene Idee zum Abschlusse zu bringen. Im übrigen fürchtet er mehr, sich näher mit ihr einzulassen und abzugeben, als dass er sie zu überlegen wünscht.

Gerade das Gegenstück ist die überwertige Idee; ist sie erst einmal stark geworden, so strömen von allen Seiten die zugehörigen Assoziationen herbei, sie tritt in engsten Konnex mit dem gesamten Denken und Fühlen der Person, sie wird geradezu zum Zentrum desselben. Die Person „denkt“ nicht nur daran, sondern sie besieht die Idee von allen Seiten. Wie unerschöpflich ist ein Eifersüchtiger an Gründen, an Fallstricken, die er legt, an den Versuchen, seinen Verdacht überall in die entlegensten Verknüpfungen zu bringen! Man nehme noch zwei häufige Parallelfälle: Die häufigste Form der Ueberwertigkeit ist die gewöhnliche Hypochondrie. Hat ein solcher Patient z. B. einen leichten Brustschmerz, so wird er alle Details teils bei verschiedenen Aerzten, teils in Büchern studieren, die stärkste Vielgeschäftigkeit in der Be- handlung ist ihm das Liebste, in Beschreibung seiner Klagen und ım Anhören fremder, anscheinend ähnlicher Beschwerden erlahmt er nie, er gewinnt fast sein Leiden lieb, während er es fürchtet, sein ganzes körperliches Verhalten lenkt er darnach. Hingegen ein Patient mit einer Zwangsfurcht, z. B. vor Herzschlag, fürchtet sich förmlich vor seiner Furcht, er möchte gar nicht daran denken, der Arzt ist da, nicht sein Herz, sondern seine Ideen zu kurieren, Details von Herzkrankheiten scheut er sich noch zu hören, nachdem vielleicht eine zufällige medizinische Lektüre in ihm die Zwangsfurcht erregt hattet).

Setzen wir zweitens den Fall einer widersinnigen Irrtums- furcht: Einem Kaufmann komme ohne weiteren Anhaltspunkt der Gedanke: „Du hast vielleicht jenem Kunden ein Kupfer- geldstück statt eines Goldstückes herausgegeben beim Geld- wechseln“. Wird er die Idee nicht los, obwohl er sich selbst sagt, dass sie ganz aus der Luft gegriffen ist, drängt es ihn immer wieder zu denken, dass der Irrtum doch vorgekommen sei, so ist dies eine Zwangsvorstellung. Begegnet es dagegen einem Kassierer, dass er in der Tat bei einer Auszahlung einen übrigens sehr verzeihlichen Irrtum begangen hat, und ist dies gerade ein übertrieben gewissenhafter und ängstlicher Mann, so kann die Folge die sein, dass er Tag und Nacht keine Ruhe

1) Sehr schön wird auch dieser Gegensatz illustriert, wenn wir die Zwangsfurcht vor einer Topalgie vergleichen mit den suggestiven Schmerzen bei einer traumatischen Neurose, welche letztere der Patient förmlich hegt und pflegt.

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 233

findet deshalb; er fürchtet, man glaube nicht an den Irrtum, sondern verliere das Vertrauen zu ihm, oder man sage bei seinen Vorgesetzten, er sei seinem Posten nicht mehr gewachsen; er findet es selbst unverzeihlich, dass ıhm bei seiner Geübtheit etwas der Art passieren konnte kurz macht er aus dem leichten Versehen in sich eine Lebens- und Existenzfrage, so hat er offenbar eine überwertige Idee gebildet. Und, um die weitere Parallele noch anzufügen, kommt einem Melancholischen die Erinnerung, dass er vor so und so viel Jahren einen gleichen Fehler begangen hat, sagt er sich jetzt: Du hast das schon da- mals aus Schlechtigkeit verübt, die Sache kann jetzt ruchbar werden und dich ins Gefängnis bringen. Dann liegt offenbar eine depressive Wahnidee vor.

Man erkennt nun folgendes: „Abgeschlossen“, klar bestimmt ist weder ım ersten, noch im zweiten Falle die Idee, ja vielleicht nicht einmal im dritten, bei der Wahnidee; dort bei der Zwangs- form besteht sie aber isoliert für sich, es entstand nur die Frage, ob die Vermutung wahr oder falsch ist. Bei der überwertigen Form dagegen drängt sich ein förmlicher Kranz peinlicher Ver- mutungen und Konsequenzen an die arsprüngliche Vorstellung, diese wird zum Zentrum einer reichen assoziativen Verknüpfung und Ausarbeitung. Dasselbe aber geschieht bei der Wahnidee, nar wird hier die Idee nicht bloss übertrieben, sondern auch zu- ungunsten des Patienten gefälscht, es gesellt sich die all- gemeine wahnhafte Täuschung über seine eigene Gesinnung hin- zu. In den bisherigen Beispielen lagen jeweils dem gesamten Vorgange starke ängstliche Affekte zu grunde, und aus ihnen konnte sich zum Teil die Abneigung des Trägers der Zwangs- vorstellung erklären, die Berührung mit seiner Idee weiter zu verfolgen. Aber nicht alle Zwangsvorgänge sind durch diese Gefühlsbetonung lästig. Wie steht es namentlich mit der krank- haften Grübel- und Fragesucht?

Ganz gewiss kommt gerade diese sehr häufig in der Ge- staltung einer Ueberwertigkeit zur Beobachtung. Zahllos sind die Personen, und zwar zu allen Zeitaltern, vor allem in- dessen für das einzelne Individuum in der Epoche der Pubertät gewesen, wo die grosse religiöse Frage sowohl das Gewissen als das philosophische Aufklärungsbedürfnis intensiv bedrängt hat. Auch das geschlechtliche Problem kann dann eben so sehr das Gefühls- als das Gedankenleben des Heranwachsenden über die Massen beherrschen. Laudenheimer hat z. B. einen inter- essanten Fall der letzteren Art uns mitgeteilt. Nun, wir wissen, was dann bei dem normalen oder gar bei dem allzusehr sensitiven Menschen geschieht. Der unruhige Aufklärungsdrang veranlasst ihn, das Gebiet gründlich zu durchdenken, mit er- fahrenen Männern darüber zu reden, die Bücher, welche ihm er- reichbar sind, zu studieren, was er sieht und erfährt, wird unter dem Gesichtspunkte des Problemes betrachtet, als Beweis oder als Gegengrund verwertet, Natur und Menschenleben geraten für

284 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

ihn in den Bannkreis des Religiösen, so wie das in früheren Zeitläuften allgemeine Denkgewohnheit gewesen war. Wie anders . dagegen stellt sich uns die Fragesucht als Zwangsvorgang “dar! Hier ist nicht die Rede von einem metaphysischen oder Gefühlsbedürfnisse; nur nichtige und von vorherein undis- kutierbare Fragen werden gestellt: warum ist der Himmel oben und die Erde unten? Warum bin ich so und nicht anders beschaffen? Warum existiert das Böse in der Welt? Warum sind die Männer und Frauen verschieden? Warum sind die zwei Geschlechter auf der Welt? | Ebensowenig wie diese Fragen tatsächlich überlegt worden, ebensowenig wie sie in Wahrheit auf eine Antwort abzielen, nicht mehr geschieht dies bei der Zweifel- und Skrupelsucht ım all- täglichen Leben, Sie kommt bekanntlich nicht selten auch periodisch vor bei sonst energischen Personen, z. B. bei Frauen mit den Menses auftretend, und ist dann besonders auffällig. Solche Personen können dann nichts entscheiden, wissen nicht, ob sie ihr Kind leicht oder warm anziehen, einen Kauf machen oder unterlassen sollen. Haben sie aber etwas der Art etwa auf Rat getan, so quälen sie Skrupel, ob das recht gehandelt war. Eben ihre Art und Weise ist dann bezeichnend; sie drehen sich ` immerfort im gleichen Kreise, oder vielmehr sie pendeln immer- fort hin und her zwischen Bejahung und Verneinung: „Ich hätte das tun oder ich hätte das nicht tun sollen warum war ich auch so töricht?“ Sagt man, die Patientin solle den Plan ausführen, so folgt die Frage: „Können Sie mir sicher ver- sprechen, dass es nichts schadet?“ u. s. f. Also auch hier findet keine eigentliche Ueberlegung mit Abwägen von Grund und Gegengrund statt, auch hier gibt es keine richtige assoziative Verarbeitung des Zweifels oder Skrupels, sondern der Patient quält sich krampfhaft und vergeblich ab, um direkt eine Ent- scheidung zu erlangen. Noch häufiger aber sind die Zweifel an sich wertlos, denn der Patient würde in gesunden Tagen mit Leichtigkeit fast ohne Reflexion zum Ziele kommen. Andere Male sind viele Skrupel der Art lächerlich und können garnicht mit den allgemeinen Lebensanschauungen des Patienten verknüpft werden; so hat der eine Skrupel, dass er mit seinem Schirme seinem Hintermanne im Gedränge die Augen ausgestossen habe, ein Patient Tuczeks fürchtet, er könne mit Sperma, das ihm von einer Pollution hängen geblieben ist, einen Abort präpariert haben, so dass eine Frau, die ebenfalls dahingeht, davon schwanger werden kann und dergleichen mehr. Wer auch da wieder die Zweifel vergleicht in einer wahren. sychischen Depression, dem bleibt der Unterschied nicht ver- borgen. So knüpfte sich ein melancholischer Zustand an den übrigens vorteilhaften Verkauf ihres Hauses an bei einer älteren Dame. Sie will nun nicht herausgehen aus ihrer gewohnten Häuslichkeit, sie fürchtet die Schattenseiten der Mietswohnung, sie legt sich die Lichtseiten ihres hisherigen Hauses zurecht, kurz,

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 235

sie findet es schliesslich vorteilhafter, ibr Haus mit Reugeld zurückzukaufen und führt dies auch aus. Auch hier finden wir sowohl die logisch geordnete Reflexion, deren Gründe auf die Patientin wirken, als auch eine klare und ernsthafte Zielvorstellung, welcher die entsprechende Handlung folgt. Auch die sogenannte Pedanterie unterscheidet sich von der Zweifelsucht, denn gerade diese untersucht die Fragen mit allen Details „auf den tausendsten Fall“. Indessen ist zugegeben, dass hier ein Grenzgebiet be- steht, wo die Uebergänge ineinander fliessen, aber dies ist nur deshalb der Fall, weil mit der Pedanterie sich gerne die Un- schlüssigkeit verbindet.

Eine besondere Eigentümlichkeit der Zwangsvorgänge sei endlich noch hervorgehoben, sie knüpfen sich wohl stets an einen bestimmten individuellen Fall an, an eine Begebenheit oder einen Einfall. Wenn ein Postbeamter sagt, er könne den Schalter- dienst nicht ertragen, er gehe ihm zu stark auf die Nerven, die Scheu vor dem Verkehr mit dem Publikum übermanne ihn, so ist das entweder ein an sich richtiges, normales Urteil oder aber eine überwertige Idee. Berichtet ein anderer, gerade die weiblichen Schalterbesucher brächten ihn in Verlegenheit, er habe eine förm- liche Furcht, daran zu denken, dass diese nachmittags gegen 3 Uhr hauptsächlich kämen, so wird man meist einen ganz be- stimmten Ursprung dieser Furcht in Erfahrung bringen. So war ein solcher Herr um diese Zeit „einmal“ geneckt worden, er sei rot geworden, wie einige junge Mädchen an sein Schalter kamen. „Von da ab“ befiel ihn diese Errötungsfurcht hauptsächlich zur genannten Zeit. Personen mit Kontrast-Assoziationen, z. B. der Schmähung oder Verwünschung, empfinden nie, sofern es sich um Zwangsvorgänge handelt, den allgemeinen Trieb zur Ver- wünschung, sondern er entsteht jedesmal von neuem im Anschlusse an bestimmte Vorkommnisse; Personen mit Zwangsfurcht vor Krankheiten fürchten immer nur etwas Bestimmtes, den Herz- schlag, die Geisteskrankheit z. B., und auch diese Sorge ist auf einmal bei einem einzelnen Anlasse entstanden, etwa als die Personen gerade von einem solchenFalle gehört hatten. Ja, auch die Irrtums- furcht ist hier nur eine ganz spezifische und nie eine allgemeine: es sind keine Ideen im eigentlichen Sinne, sondern ein- zelne und konkrete sich wiederholende Vorgänge. Wir kommen bei der theoretischen Besprechung darauf zurück.

Die Charakterisierung der Zwangsvorstellung gegenüber den krankhaften Urteilsfälschungen geht dahin, dass jener die assoziativen Verknüpfungen (in irgend nennenswertem Grade) versagt bleiben, dass sie nicht in Konnex mit dem allgemeinen Denken und Fühlen ihres Trägers tritt, und ferner, dass sie stets einen individuellen, nicht begrifflichen Inhalt besitzt; diese Charakterisierung hat den Vorzug, dass wir damit eine klare psychologische For- mulierung gewinnen. Dass sie sich für die Diagnose in Zukunft sicher verwerten lässt, scheint mir nicht zweifelhaft. Indessen ist nicht zu verkennen, dass wir damit nur einen sekundären Folge-

236 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

zustand bezeichnen. Seine Ursache liegt offenbar tiefer. Wenn eine starke, von peinlichem Affekt begleitete oder eine drängende Vorstellung auftaucht, so sehen wir sowohl bei der Zwangsvor- stellung wie bei der überwertigen Idee die Personen dieser er- liegen. Aber sie verhalten sich dabei sehr verschieden; bei dem Zwangsvorgange erweist sich der kritische Apparat des Subjektes als unversehrt, jener wird logisch richtig beurteilt!). Es fehlt nur die Kraft, sich der Gefühlsbetonung, welche der Vorstellung beiwohnt, zu entziehen und sie aus dem Denken hinauszudrängen. Ganz anders bei der überwertigen Idee. Sie wird ohne logischen Widerstand aufgenommen, das ganze Gedankenleben der Person kommt ihr entgegen und klammert sich förmlich an sie, selbst wenn es sich um die peinlichsten Befürchtungen handelt, wie etwa die Sorge, syphilitisch infiziert, von Hundswut ergriffen zu sein. Natürlich bedeutet dies einen wesentlich schwereren, krank- haften Zustand wie bei dem Zwangsvorgange. Hier versagt der kritische Apparat, und der Affekt, welcher der Vorstellung an sich beiwohnt, wird gewaltig verstärkt dadurch, dass auf assoziativem Wege zahllose gleichsinnige und unterstützende Vorstellungen hin- zutreten. So wird zugleich aus der individuellen Ausgangsvor- stellung ein Komplex von solchen, eine Idee. Es handelt sich dann nicht mehr um den einzelnen Vorgang, wobei jener Kassierer sich geirrt hatte, sondern um das Misstrauen und die Gefahren für seine Existenz, welche er sich dadurch zugezogen hat. Nicht der bestimmte Schmerz auf der Brust ist es, von dem der Träger fragt, ob er etwas bedeutet oder nicht, ob er wiederkomme oder verschwinden werde, sondern um die schwere Krankheit, welche sich äussert durch jenen Schmerz, handelt es sich. So nämlich fasst es der Hypochondrische auf.

Es liegt also in der Tat nicht eine isolierte monomanische Affektion vor bei der überwertigen Idee, sondern eine allgemeine Störung im Gebiete der Affekte und des Urteilens. Nur kommt es nicht zu einem fertigen Urteile wie beim Wahne, sondern nur zu einem starken Glauben. Auch bei der Zwangs- vorstellung liegt etwas Allgemeineres vor als der einzelne Vor- gang; beiden Zuständen aber ist eine wichtige und praktisch recht bedenkliche Eigenschaft gemeinsam, bedenklich insbesondere bei der Diagnose der überwertigen Idee, das ist der Umstand, dass sie beide ohne Grenze ın die Breiten und Schwan- kungen des normalen geistigen Lebens übergehen. Darum aber lässt sich doch der Tatbestand selbst und seine Krank- haftigkeit nicht aus der Welt schaffen; und es ist doch auch nicht wissenschaftlich, eben weil es sich um graduelle und nicht um generelle Abnormitäten handelt, gerade bei den Zwangsvorstellungen nur die Gruppe herauszuheben, wo der Grad der Abnormität ein besonders starker ist oder, da mir dies sogar zweifelhaft erscheint, wo die Abnormität uns besonders grell von der Norm abzustechen

1) Die französischen Autoren haben dieses Verhalten bekanntlich als „Locidit6“ (Magnan) oder als „Délire avec conscience“ bezeichnet (Ball).

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 237

scheint. Diese besondere Gruppe aber ist keine andere als die ursprüngliche Westphalsche Form, für welche im wesentlichen nur die Widersinnigkeit des Inhaltes kennzeichnend ist. Dass sie dennoch inhaltlich wirkt, dass das Denken auch hier ein unabgeschlossenes ist, glaube ich nun dargetan zu haben. Als Fremdkörper im geistigen Getriebe erscheinen alle Formen im Gegensatze zur überwertigen Idee, der Zwangskurs kommt ihnen nicht minder gleichmässig zu. Wie es mit der Genese steht, wollen wir später nachsehen.

Ueber einen wichtigen Punkt müssen wir uns noch einigen, ehe ich all das Vorstehende durch eine kurze Definition zusammen- fasse. Wesentlich für den ganzen Charakter des Symptomes ist es, dass es im Rahmen einer inhaltlich normalen und normal arbeitenden Geistestätigkeit sich einstellt; darin liegt gerade das Krankhafte und Merkwürdige der Erscheinung, dass ein gesunder Intellekt trotz seines Widerstrebens hier überwunden wird. Wenn also auch verknüpft mit anderen psychopathischen Symptomen sich Vorstellungen bilden können, welche gleich der Erwartungsangst dem Zwangsvorgange ähnlich sehen, so empfiehlt es sich dennoch nicht, hier von einer Zwangsvorstellung zu sprechen, selbst wenn die Idee isoliert bleibt und nicht assoziativ verkettet wird. So hatte ein Melancholiker sich auf den Gedanken verbissen, entweder er oder seine Kinder oder seine Kindeskinder würden „sicher“ eines Tages vom Pöbel ergriffen und ermordet werden, und es fiel ihm kaum ein, sich nach einer Begründung für die offenbar törichte Idee umzusehen. Seine Intelligenz war eine an sich gute und ist es nach seiner Genesung zweifellos

eblieben. Hier fehlt nun aber das Gefühl für den logischen

Widerspruch, und ähnliche Abweichungen von unserem Begriffe des Zwangsvorganges werden sich fast alle Mal nachweisen lassen, sowie die Idee ihre Wurzeln in einer allgemeinen psychischen Störung besitzt. Es sind meist wahre „fixe Ideen“, die mit Erwartungsangst verbunden sind.

Dies vorausgesetzt, wird nun unsere Begriffsbestimmung der Zwangsvorstellung folgendermassen lauten: „Wir finden eine Vorstellung bestimmten individuellen Inhaltes, welche im logischen Sinne von ihrem Träger als unvernünftig oder doch als schlecht begründet erkannt wird, über welche er nicht weiter reflektiert, die aber dennoch gleichzeitig, sei es durch den mit ihr verbundenen peinlichen Gefühlston, sei es durch ihre Un- abgeschlossenheit, das ist durch die ihr anhaftenden Zweifel und Bedenken, den Träger belästigt und beherrscht (1. Stadium) und welche sich weiterhin trotz seines Widerstrebens fort und fort in sein Denken eindrängt (2. Stadium).“')

Bezüglich des Begriffes des psychischen Zwanges hatten wir ung den Autoren angeschlossen, welche einen solchen nur auf dem Gebiete des klaren Denkens anerkennen, also z. B. nicht bei

~

1) Man kann vielleicht am deutlichsten diese doppelte Art des Denk- zwanges kennzeichnen, wenn man einen „Geltungszwang“ und einen „Er- innerungszwang“ unterscheidet.

238 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

einer sich aufdrängenden Erinnerung an eine Melodie oder bei einer peinlichen isolierten Empfindung, z. B. als ob der Kopf oben offen sei. Diese letzteren können sich in sehr lästiger Weise stets wieder aufdrängen und dennoch hat die Person dabei nicht das Gefühl, als ob sie, d. h. ihr Ich, in Konflikt gerät und über- wältigt wird. Wohl aber liegt ein solcher komplexer psycho- logischer Vorgang, wie wir sahen, der echten Zwangsvorstellung zugrunde. Wird jemand von einer ihm unbegründet scheinenden Krankheitsfurcht oder von einer ihm selbst abscheulich vor- kommenden Verwünschungsidee verfolgt, so liegt hier eben mehr vor als das einfache stete Wiederauftauchen der Idee wider Willen der Person, Ein eigenartiger psychischer Konflikt spielt sich dabei ab, in welchem das intelligente Ich unterliegt, eigenartig dadurch, dass das logische Denken untätig bleibt und dass ein Trieb, die abgelehnte Vorstellung trotz ihrer Ungereimtheit oder logischen Minderwertigkeit als geltend zu denken, in den Vorder- grund tritt. Eben dieser Trieb aber ist es, der als psychischer. Zwang empfunden wird, d. h. die Tatsache, dass er trotz und neben dem logischen Widerspruche wirksam bleibt; und erst aus dieser Grundlage heraus entwickelt sich das zweite Stadium der Zwangsidee, indem der gleiche Konflikt und die gleiche Vor- stellung sich fort und fort wieder aufdrängt. Der Trieb selbst aber gewinnt seine Wirksamkeit um das hier noch voraus- zunehmen dadurch, dass sich in ihm z.B. der peinliche Affekt einer Krankheitsfurcht oder aber die ärgerlich gereizte Stimmung äussert, welche aus der masslos übertriebenen Sorge um das Wohl der Angehörigen entstand. Und sekundär hinzu trat zu dem Triebe die Idee, dass der dergestalt stark betonten Zwangs- vorstellung auch eine tatsächliche Bedeutsamkeit oder ein Mass von Realität zukommt. j Es liegt hiernach ein komplizierter und gerade für die Zwangsvorstellung spezifischer psychologischer Vorgang vor, welcher durch die vorgeschlagene Kennzeichnung als ‚formaler Denkzwang“ sicherlich nicht genügend in seinem Wesen getroffen wird. Charakteristisch ist nicht allein der Denkzwang, sondern auch die Leichtigkeit, mit der hier zwar nicht das logische Gewissen, wohl aber die logische Lenkung des Denkens beiseite gesetzt, mit der also keine Dissoziation, wie man es oft annahm, vielmehr aber ein Dualismus der Denkfunktion geschaffen wird. Bei der Zwaugsvorstellung fanden wir also einen klar aus- gesprochenen, aber merkwürdig unvollkommenen, bezw. schwäch- lichen Widerstand des Subjektes gegen die Idee; bei.der über- wertigen Idee fehlt dieser Widerstand überhaupt, das Denken und Fühlen kommt ihr entgegen weit über den wahren logischen Wert der Idee hinaus, wie dieser von jeder normalen Intelligenz erkannt werden müsste. Die Ursache liegt hauptsächlich in dem hier wesentlich stärkeren Affekte; die Intelligenz kann sonst im allgemeinen eine ganz gute sein. Kritisch veranlagte Naturen treffen wir aber hier nicht, gleichwie sie die Träger der Zwangs-

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 239

gebilde uns darbieten können. Ist aber die Intelligenz direkt abnorm, so kommt es meist zur Wahnidee.

Wir haben nun bisher alle Vorstellungen unter dem Begriffe des Zwangsvorganges vereinigt, welche der Träger im logischen Sinne ablehnt und welche ihn dennoch gegen seinen Willen be- drängen und teilweise überwältigen. Wie steht esnun bezüglich der Vorgänge in der Sphäre des Wollens und Handelns, welche von einem grossen Teile der Fachgenossen gleichfalls jenem Begriffe einverleibt, von anderen dagegen ausdrücklich ausgeschieden werden?!) Erfahrungsgemäss handelt es sich dabei sowohl um aktive Impulse als um Hemmungen einer Aktion, und immer besitzen diese das Merkmal der Unzweckmässigkeit oder doch der Ueberflüssigkeit. Nun ist ja an sich kein Zweifel, dass die Intelligenz sich mindestens ebensosehr auf dem Gebiete’ des Handelns wie des Vorstellens &ussert und dass ein auf Motive’ sich aufbauender Willensentschluss im grossen und ganzen die- selbe logische Gestaltung und Form besitzt wie die Urteilsfunktion. Es besteht daher von vornherein kein Anlass, zu bezweifeln, dass ganz analoge Zwangsvorgänge auch auf dem Gebiete des Willens sich ausbilden können. Wir brauchen also, um zu entscheiden, ob dies zutrifft, nur das bereits gewonnene Schema sinngemäss anzuwenden. `

Hier stossen wir zunächst auf einige Gruppen unter- den heute sogen. Zwangsimpulsen?) samt den Phobien, wo der ganze psychische Vorgung wesentlich einfacher sich abspielt, als wir dies bei dem seltsam komplizierten Prozesse der Zwangs- vorstellung gesehen hatten. Ich denke dabei nicht an die sogen. monomanischen Triebe, bei welchen der Inhaber ganz auf Seite derselben steht und welche wir bereits erledigt haben, wohl aber an Formen wie die vielberufene Errötungsfurcht und die zwangsmässige Hemmung des Schreibens, des Urinierens in Gegen- wart fremder und besonders von Respektspersöonen. Es kommt in derartigen Fällen nicht zu einem Fonflikte zwischen der Ver- nunft und dem Impulse, sondern es liegt einfach eine direkte‘ suggestive Einwirkung infölge der Befangenheit, bezw. infolge einer. ängstlichen Vorstellung vor. Der Patient sagt sich ja freilich in der Regel, dass er keinen Grund zur Befangenheit hat und er ärgert sich auch meist darüber; aber am Ende des Vor- ganges steht nicht ein Kampf der Motive und ein Willensentschluss, sondern ein aus dem Unbewussten heraufsteigender vaso- motorischer Einfluss oder ein Müuskelzittern und dergl.?). In

1) Ausführlich besprochen von Bumke, Was sind Zwangsvorgänge?

Auch von Warda. Arch. f. Psych. XXXIX. ,

- 3) Ausführlicher finden sie sich behandelt insbesondere bet Thomsen;,-

Klin. Beitr. z. Lehre von d. Zwangsvorst. u. verwandt. psych. Zuständen.

Arch. f. Psychiatr. Bd. 27. 1895. - a F

s) Am Zutreffendsten erscheint mir die Deutung, welche allerneuestens

für diese Vorgänge A. Pick gegeben hat in seiner Mitteilung: „Ueber Störungen

motorischer Funktionen durch die auf sie gerichtete Aufmerksamkeit, Wien., klin. Rundschau 1907. No. 1.“

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 3. 16

240 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

ihrer Art ähnlich damit sind die sogen. Tics, eigenartige Muskel- zuckungen und mechanische Bewegungen, z. B. nicht gewolltes Kopfnicken, Ausstossen von Schimpfworten‘), welche gleichfalls direkt aus einer sofort suggestiv wirkenden Vorstellung heraus entstehen, und über deren Bildungsweise Janet ungemein fesselnde und offenbar zutreffende Ausführungen gemacht hat. Verwandt mit den Zwangsimpulsen sind diese abortiven Formen zweifellos, aber sie setzen doch zugleich auch ein stärker hysterisches Element voraus, welches der Mehrzahl unserer sonstigen Patienten. mangelt. In einer anderen Richtung wieder liegt die Abweichung ber einer zweiten Gruppe unechter Zwangsimpulse, welche Janet gleichfalls in seinem wertvollen Buche genau studiert und unter dem Namen der „Manies de l’au delà“, der Uebertreibungs- suchten zusammengestellt hat. Hier finden wir meistens die an sich logische Konsequenz einer zugehörigen Zwangsvorstellung, z. B. die übertreibenden Vorkehrungen gegen Beschmutzung oder Infektion, das Notieren sämtlicher Vorkommnisse des Tages, um sich zu sichern, dass man nichts Strafbares gesagt oder getan hat, die bekannte Sucht des Hypochondrischen, immerfort eine Anzahl von Aerzten zu konsultieren und eine Vielgeschäftigkeit. in den Kurmitteln zu betreiben. Hier also ist der Trieb an sich nicht krankhaft, vielmehr steckt der Denkzwang schon in den zugrunde liegenden Vorstellungen, Eigentümlich ist ausserdem eine Kategorie zwekloser Impulse von der Art, dass Schilder vor- und rückwärts gelesen werden, die Schritte nach bestimmten Abständen abgemessen, ein beabsichtigter Weg vor- und rückwärts genau plastisch vorgestellt, endlich bestimmte Zahlen, wie 7 und 13, überall aufgesucht werden müssen. Sie kommen den echten Zwangs- impulsen am nächsten; immerhin fehlt auch hier das Vorstellungs- element, es sind unbeherrschte, blind sich hervordrängende und mechanische Triebe, vergleichbar dem unbewussten Murmeln und Melodiensummen vieler geistig anderweit absorbierter Personen. Echte Zwangsimpulse sind die bekannten Antriebe, sich ohne jeden Grund zu erhängen oder ins Wasser zu stürzen, seinen geliebten Kindern mit dem Messer den Hals zu durchschneiden,, jeden Tag und bei jedem Wetter genau bis zu einem bestimmten Baume zu gehen, Papierfetzen in den Kleidern zu suchen und von der Strasse weg aufzulesen, den Möbeln im Zimmer unbedingt. eine bestimmte Ordnung und nur diese allein anzuweisen und dergleichen. Wir brauchen die Einreihung dieser Formen nicht. näher zu rechtfertigen, denn selbst die Anhänger einer möglichst puristischen Behandlung unseres Begriffe sind hier meist nicht. als Gegner zu treffen. Es handelt sich da um deutlich vorgestellte Handlungen mit bestimmtem Ziele, die Impulse gelten ihrem Träger, der sich selbst vor ihnen fürchtet, als widersinnig oder zwecklos, und die Wirksamkeit des Impulses geht auch nicht

. 1) Auch der „Latah“ genannte Imitationsdrang malaischer Eingeborener gehört hierher.

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 241

weiter als der „Glaube“ bei den „Zwangsvorstellungen“;, d. h., es werden nur die Impulse innerhalb dieser ganzen Kategorie wirklich ausgeführt, bei welchen das ohne besonderen praktischen Schaden geschehen kann. Wo etwa einmal ein unbegründeter Selbstmordtrieb zu ernsthafter Betätigung gelangt, muss unserer

Lehre zufolge bei ungestörter Intelligenz eine Ueberwertigkeit

und kein reines Zwangsdenken vorausgesetzt werden; die genauere Prüfung wird dann auch die anzunehmenden assoziativen Ver- knüpfungen aufzeigen lassen. Sonst fehlen die letzteren gerade bei den echten Zwangsimpulsen in besonders deutlicher Weise, und die Unzulänglichkeit der Kraft zu Willensentschlüssen spricht auch direkt dagegen, dass ein solcher „Zwangspatient“ sich von seinem Drange fortreissen lässt.

Das eigentliche Streitobjekt bilden nun nicht diese aktiven Impulse, sondern die passiven Aktionshemmungen, deren hauptsächlicher Repräsentant die sogenannte Phobie!) ist. Westphal hatte bekanntlich die von ihm gleichfalls zuerst be- schriebene Agoraphobie, die Platzangst, als ein Schwindelgefühl aufgefasst, welches durch den Anblick der weiten Leere erzeugt wird

. und das ebenso wie beim Höhenschwindel direkt das Weiter-

schreiten des davon Befallenen verhindert. Hat man zahlreiche Fälle der Art beobachtet und genauer in ihrer Geschichte ermittelt, so wird man jener Deutung nicht mehr zustimmen, und das ist seither schon von vielen anderen Autoren ganz ebenso behauptet worden. Die Zahl und die Variabilität der Hemmungsphobien ist bekanntlich sehr gross; einförmig und gleichartig ist dagegen die Art ihrer Entwicklung. Nehmen wir ein paar Beispiele, zunächst eine Defäkationsphobie: Eine junge Frau bekommt in der Sommer- frische, wo sie der Ehemann begleitet, eine etwas langwierige Diarrhoe, und einmal fühlt sie sich während der Stuhlentleerung stärker matt und halbohnmächtig. Nach der Rückkehr denkt sie mit Schrecken daran, dass schon frühmorgens ihr Ehemann fort ins Geschäft geht, dass sie also beim Stuhlgeschäft allein bleiben müsste. Was ist die Folge davon? Schon den ganzen Tag ver- lässt sie die Furcht vor dieser eventuellen Hülflosigkeit am Morgen nicht, und obwohl der Stuhl seither stets normal vor sich geht, besorgt sie dieses Geschäft nur auf dem Nachtstuhl, und der Ehe- mann muss so lange zu Hause im Nebenzimmer zur Stelle sein. Sie hält das selbst für unsinnig, fürchtet sogar, es sei ein Symptom von Geisteskrankheit, aber sie kommt ausser sich, wenn man ihr von Selbstbeherrschung spricht, denn das vermöge sie einfach nicht; und seit Monaten also wiederholt sich Tag um Tag die gleiche Szenerie, die gleiche Angst vor der Defäkation, allmählich auch die vor der Geisteskrankheit.

Der zweite Fall ist noch kürzer berichtet: Ein tüchtiger und gesunder Fabrikingenieur hat sehr oft des Tages den Fabrikhof

1) Wir verstehen unter „Phobie“ nur diese Aktioashemmungen (Phobie- Scheu), nicht aber z. B. einfache, von Angst begleitete Empfindungen, die sogenannten topischen Algien.

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zwischen dem Arbeitsraum und den Bureaus zu durchschreiten; allmählich fällt ihm auf, dass man ihn dabei von allen Seiten beim Herübergehen sehen kann, und nun bringt er es nicht mehr fertig, sich so den Blicken des ganzen Personals auszusetzen, und er muss nun den lästigen Umweg von aussen um die Fabrik herum jeweils ausführen. Noch mehr als der Zeitverlust ärgert und ängstigt ihn aber hierbei das Törichte seines Gebahrens, das er dennoch nicht überwinden kann, und er sucht deshalb ärztliche Hülfe. Ein drittes Beispiel ist eine ganz gewöhnliche Berufs- phobie: Ein belasteter, sonst gesunder und in seinen Händen geschickter Barbier hat einen empfindlichen Kunden beim Rasieren zum zweitenmal geschnitten und bekommt darüber Vorwärfe zu hören. Von nun ab hat er eine steigende Angst vor dem Rasieren und bald nach jenem Misserfolge verlässt er seine Stelle und seinen Beruf, übrigens ohne dem Chef oder irgend jemandem den Grund zu sagen. Noch 4 Jahre darnach traf ich ıhn als Diener oder Taglöhner; obwohl er verheiratet war, gewann er es nicht über sich, in seinen ursprünglichen leichteren und besser bezahlten Beruf zurückzukehren. Uebrigens gibt es hier auch ganz törichte oder selbst alberne Hemmungsvorstellungen: Eine Frau im Klimakterium regt sich über einen Beleidigungsprozess auf und besucht in diesem Zustande das Grab ihres Mannes. Hierbei erfasst sie wider Willen eine allgemeine Furcht vor dem Anblicke des Friedhofes und ın weiterer Folge vor demjenigen von Bäumen überhaupt, welche sie an den Friedhof erinnern. Geht sie nun an Bäumen vorbei, so muss sie sich vorstellen, dass die Bäume förmlich „ausschlagen“ (es gibt einen bekannten Scherz: „Hüte dich vor den Bäumen, sie schlagen im Frühjahr aus“), und sie kann sich nicht mehr überwinden, dahin zu gehen, wo Bäume stehen.

Diese vier Beispiele folgen alle dem gleichen Schema: In irgend einer regelmässigen und bisher mit selbstverständlicher Leichtigkeit vollbrachten Handlung kommt eines Tages eine Unannehmlichkeit, ein Unbehagen oder ein Fehlschlag vor; von da ab entsteht eine steigende Furcht vor der Leistung, welche Idee der Patient selbst für sinnlos oder arg übertrieben hält; dennoch kann er die Furcht nicht überwinden, auch wenn das Unbehagen (wie im ersten Falle) sich gar nicht mehr wiederholt; und das Endergebnis des Ganzen ist, dass die Leistung überhaupt nicht mehr durchführbar ist oder, wenn sie geschehen muss, wie die Defäkation, dass sie mit törichten Garantien vor sich gehen muss. Natürlich kann man einwenden, ein solcher Vorgang sei nicht direkt vergleichbar mit einer Zwangsvorstellung; denn erstlich sei nicht das ganze Vorkommnis abnorm, wie es dort der Fall ist, sondern abnorm sei nur eine in eine normale Aktion eingeschobene Hemmung; und zweitens erfolge nicht eine stete spontane Wiedererneuerung, die Zwangserinnerung des Vorganges, sondern nur, wenn aus natürlichen, praktischen Gründen die Leistung wieder nötig falle, dann erst komme auch die Hemmung

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 243

von neuem zum Vorschein. Diese Einwände nun scheinen mir äusserlicher Art zu sein, sie treffen nicht das Wesentliche. Dass die abnorme Empfindung bei der Handlung nicht das wirkliche Hemmnis darstellt, ersieht man daraus, dass jene Empfindung teils sich gar nicht wiederholt, teils, dass der Patient öfter selbst die Furcht davor für törıcht hält.

Das Entscheidende vielmehr ist eine Furchtvorstellung, die stete und spontan zu allen Zeiten sich eindrängende Er- innerung an die früheren Misserfolge und die daran sich an- schliessende Idee, die Leistung absolut nicht vollbringen zu können. Gewiss handelt es sich hier um etwas Reales, um eine wirkliche Leistung, während die Zwangsidee stets im Bereich des bloss Gedachten verharrt, ein Schemen ist, das sich der Patient in seiner Phantasie erschafft. Aber das ganze Verhalten des Individuums vor der mit Aufregung verknüpften und lästigen Schwierigkeit ist von Hause aus identisch in beiden Fällen: die Unzulänglichkeit seiner geistigen Energie bei dem Wider- streite seiner Logik mit seiner Phantasie tritt wieder grell hervor und ebenso das stete unglückliche Fortarbeiten seiner Phantasie, wodurch die Sachlage sich nur stetig verschlimmert. So wie die Idee, einen gefährlichen Irrtum oder ein solches Versehen be- gangen zu haben, trotz aller widerstrebenden Logik sich fort und fort verstärkt, so tut dies auch die Vorstellung, ein unübersteig- bares Hemmnis bei der gefürchteten Leistung des Rasierens, des ‚Ausgehens etc. immer wieder vorzufinden. Dass aber hier regulär die Furchtvorstellung nach der Aktionsseite überfliesst, dass die Handlung also stets in Wirklichkeit vereitelt wird, das ist an sich nichts anderes, als wenn eine Person mit Berührungs- furcht die entsprechenden überflüssigen Schutzmassregeln trifft oder wenn jener Kaufmann durch ein Zeugnis des Arztes sich davor schützen wollte, dass sein Gehilfe etwa sein Vermögen beanspruchen könne auf Grund seines versehentlichen Ausspruches. Die Hemmungen aber „liegen“ überhaupt diesen unenergischen Naturen, denn es gehört wenig Tatkraft dazu, etwas nicht zu tun.

Der Tatbestand der Phobien ergänzt überhaupt in nicht unerheblicher Weise das Gesamtbild, das man sich von der persönlichen Eigenart unserer Patienten zu machen hat. Wenn man wahrnimmt, dass kein Zusammentreffen in der Praxis häufiger sich ereignet als die Gleichzeitigkeit einer Agoraphobie, einer . Berufsphobie u, dergl. mit irgend einer typischen Zwangsvor- stellung, so wird man urteilen müssen, dass die Willenskraft und die Energie im reinen Denkprozess nahe verwandte psychische Leistungen sind eine Annahme, welche auch ausserhalb der Wundtschen Schule ohnehin gang und gäbe ist.

In recht glücklicher Art bestätigen ferner die Hemmungs- probien unsere Aufstellung bezüglich der Isoliertheit des

wangsvorganges inmitten des geistigen Geschehens und Betätigens. Wenn es allgemeines Gesetz ist, dass jedes irgend wichtigere oder

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sich öfter wiederholende geistige Erlebnis nach allen Seiten bin seine Fühler gleichsam ausstreckt, erfasst und eingegliedert wird, so gilt dies in allererster Linie für unsere Handlungen. Nur im schweren Delirium oder im tiefsten Blödsinne ist es denkbar, dass eine weittragende Leistung oder Unterlassung ohne Ueberlegung und ohne einen weiteren Wellenschlag im ganzen Gedanken- und Gefühlsleben vor sich geht. Was tut aber unsere erste Patientin, eine sonst normale junge Frau? Sie denkt gar nicht daran, dass ihr Darm, der doch Schuld an dem ganzen Jammer tragen soll, von einem Arzt untersucht und behandelt werden kann; es fällt ihr gar nicht ein, systematische Versuche zu machen, um ihre Angst allmählich zu mildern und um so wieder in normalere Bahnen zurückzukehren; sie versucht noch weniger, sich direkt zu überwinden; ja es interessiert sie nicht einmal, die eigentümliche geistige Abnormität in ihr verstehen zu lernen. Sie versteht also weder ihre Angst vor der Defäkation, noch sucht sie diese von sich aus zu bekämpfen. Und jener Barbier gibt fast Knall und Fall seinen Lebensberuf auf; er offenbart sich niemandem; er denkt nicht daran, sich in einem geringeren Geschäfte von neuem einzuüben, er versucht es auch nicht mehr auf meinen Rat hin, er tut nicht einmal das Allernächstliegende, dass er zu- nächst nur das Rasieren bei jenem empfindlichen Kunden meidet, er fragt nicht, ob seine Hand etwa unsicherer geworden sei, kurz, beide ergeben sich mit fatalistischer Selbstverständlichkeit und sogar fast ohne Verwunderung in ihr Schicksal.

Bei den aktiven Zwangsimpulsen, z. B. einem motivlosen Selbstmordtrieb, war es gewiss wunderbar, dass ein solcher Trieb wie eine von aussen hereingebrachte „Besessenheit“ den Kranken ergreifen konnte, im Widerspruche mit allem sonstigen Denken and Fühlen der Person. Indessen das Wunder ist noch grösser, wenn eine vollsinnige Person sich geradezu widerstandslos ihren „Einbildungen“ überlässt, ihren Beruf deshalb aufgibt, sich wochen- und monatelang ins Haus bannt, lächerliche und die Person dem Gespötte aussetzende Dinge übt und dergleichen. Dass es sich auch bei den gewöhnlicheren Agoraphobien im wesentlichen nicht um starke Schwindelgefühle, sondern wieder nur um Vorstellungen, „Einbildungen“, handelt, schliesse ich unter anderem aus der Tatsache, dass der „Schwindel“ ausbleibt, wenn die Personen in Begleitung sind, ja wenn nur ein kleines Kind dabei ist. Jeder von uns aber weiss, dass der tatsächliche Höhen- schwindel auf der Plattform eines Turmes, auf einer jäh ab- fallenden Bergspitze der gleiche bleibt, ob wir allein oder ob wir in Gesellschaft sind. Die Einbildung indessen ist ein despotischer und von der Logik unabhängiger Herrscher, und ihre Opfer wissen ganz wohl selbst, dass sie aus eigener Kraft sich nicht darüber hinwegsetzen können. So hatte ein an sich gutartiger junger Mann seiner Familie erklärt, er könne nicht sich dazu bringen, wieder ins Geschäft zu gehen, wo ibn der Prokurist zweimal ge- scholten hatte, und dies geschah in dem Moment, wo alle Hülfs-

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 245

quellen im Hause versiegt hatten, und wo die Familie unmittelbar vor der Pfändung stand. Statt dadurch angespornt zu werden, dass er der einzige Helfer ın der Not war, brach er, erblich be- lastet, wie er war, ganz zusammen unter dem Gedanken, seine Willenskraft besonders energisch betätigen zu müssen.

Die in der Tat merkwürdige Eigenart all dieser Vorgänge ermessen wir indessen auch jetzt wiederum erst dann in ihrer Schärfe und wahren Tragweite, wenn wir unseren Blick ver- gleichend lenken auf die Willenshemmungen, welche durch ähnliche Furchtvorstellungen und peinliche Affekte ins Dasein gerufen werden, die aber zugleich die Merkmale der Ueber- wertigkeit an sich tragen. Sie sind an sich viel häufiger und praktisch viel wichtiger als jene Zwangsphobien, doch. fallen sie uns weniger als abnorm auf und gelangen auch seltener zur Kenntnis des Arztes eben dadurch, dass sie als weit natürlicher erscheinen. Ausserdem aber sind sie seither zum grossen Teile mit jenen Phobien unterschiedlos zusammengebracht und vermengt worden ein Verfahren, das vielleicht am meisten der An- erkennung der Phobien als Zwangsvorgänge schaden musste.

Die Beispiele sind zahlreich: Hierher gehört schon der ab- norme Geiz, ferner die Verarmungsfurcht der melancholisch Gestimmten, welche sie hindert nötige Ausgaben zu machen; die übertriebene Unschlüssigkeit und Zweifelsucht nervös ab- gespannter Juristen, welche sie veranlasst, von Prozessen ab- zuraten, auf Vergleiche hinzuarbeiten, wo dies nicht am Platze ist; weittragende Bedeutung für die Betroffenen gewinnt es, wenn sich bei ihnen durch eine Reihe von Unpannehmlichkeiten eine Unbefriedigtheit und Angst vor ihrem Berufe entwickelt. Vor Jahr und Tag hat mich als jungen Menschen ein Schwarzwaldwirt selbst über einen Bergsee hinüber gerudert, und ich erfuhr, dass der Mann früher praktischer Arzt war, aber allein aus Verstimmung über einige Todesfälle seinen Beruf gänzlich an den Nagel gehängt habe und nun Gastwirt geworden sei. Gegenwärtig bekandle ich einen begüterten Herrn in den besten ‚Jahren, welcher sein langjähriges und völlig geordnetes Geschäft nicht mehr weiter zu führen entschlossen ist, weil der Verdienst ihm nicht genügt und weil er sich zuviel ärgern muss. Eine der praktisch allerwichtigsten Ueberwertigkeitsphobien ist zur Zeit die überhand nehmende Furcht der rentengeniessenden Unfallkranken vor der Wiederaufnahme ihres Berufes. Von einem Postbeamten ist in anderem Zusammen- hange schon geredet worden, so zwar, dass jener eine allgemeine Furcht vor dem Schalterdienste nicht zu besiegen vermochte, eine Furcht, welche er indessen für berechtigt erklärte. Derartige Dinge kommen sehr häufig bei Post- und Staatsbeamten überhaupt vor; oft ist es der Vorgesetzte oder sind es die örtlichen Ver- hältnisse, welche die Person nur mit Pein und Qual an die Fort- setzung ihres Dienstes denken lassen. Und eine der charak- teristischsten und wirksamsten Hemmungsphobien der Art treffen wir in dem bekannten Heimweh, d. h. der Angst vor dem Leben

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in den neuen Verhältnissen; dass eben diese ihr Opfer sogar in den selbstgewählten Tod treiben kann, ist nichts ungewöhnliches. „Viel berufen ist auch die Examensfurcht, welche nicht allzuselten ein ganzes Leben ruiniert hat; und die übertreibende hypo- chondrische Aengstlichkeit und Scheu vor Erkältung, An- steckung, vor demLebendig-begraben-werden, derHundswutetc.etc. ist ja allgemein bekannt und zum Teil durch schöne griechische Benennungen ausgezeichnet worden.

Wir halten ein; das Verzeichnis könnte, wie der Leser er- kannt haben wird, sich auf das ganze Gebiet menschlicher Be- fürchtungen erstrecken, und das ist kein kleines. An welcher Stelle aber auch wir es berührt haben, überall werden die gleichen Merkmale bei geringer Ueberlegung zutage treten. Stets erkennt der Träger der Befürchtung diese als berechtigt an, stets drängt und treibt es ihn, die Sache gründlichst zu durchdenken, sich Aufklärungen darüber zu verschaffen, sich, wo es nottut, zu ver- teidigen gegen Vorwürfe darüber. Ziemlich oft wird die Person selbst einsehen lernen, dass sie auf falschem Wege ist, dass nur eigene Charakterschwäche oder ungezügelter Gefühlskultus sie in die peinliche Lage versetzt hat, so bei der Examensangst, bei der hypochondrischen Scheu. Um so mehr wird die Person dann die für sie sprechenden Gründe hervorheben, oder aber sie wird sich ernsthaft-bemühen, die Furcht systematisch zu überwinden. Jeden- falls also baut sıch der gesamte Ideenkreis in legaler Form aufMotive auf, und er steht in legaler Verknüpfung mit der gesamten geistigen Persönlichkeit. Nicht ein Fremdkörper im psychischen Or- ganismus, sondern ein Sorgenkind ist ihm, dem Subjekte, er- standen.

Der Grund freilich, weshalb die Personen sich so verhalten, kann ein doppelter sein: entweder ist die Befürchtung hier eine logisch stärker motivierte als bei den Phobien, wo sie oft eine geradezu törichte sein kann; oder aber die Willenskraft ist um- gekehrt nicht allein geschwächt, auch der kritische Apparat zeigt sich ausserstande, den Widerstand zu leisten, welcher bei der Zwangsphobie wenigstens noch erhalten ist und sich von der Niederlage fernhält. |

Wir sind jetzt soweit gelangt, dass wir eine abschliessende Definition der Hemmungsphobie aufstellen können. Es war bisher fast allgemein üblich, dass man die Art des Allgemein- gefühles, das in der Pobie enthalten ist, nämlich die Angst als das sie wesentlich Auszeichnende aufgefasst hat. Man unter- schied so, dem Inhalte nach, drei Hauptformen der Zwangs- vorgänge: solche welche eine Vorstellung oder sinnliche Emp- findung, welche einen Willensimpuls und welche drittens ein Allgemeingefühl der Angst zum (Gegenstande haben. Diese Unterscheidung ist wiederum nicht logisch, denn ein psychischer Zwang kann sich, worauf wir uns bereits geeinigt haben, nur auf solche seelische Elemente oder Inhalte erstrecken, die in der

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 247

Norm dem Willen unterworfen sind, und dazu gehört die Angst offenbar nicht. Muss man also logischer Weise demgemäss die Phobien aus dem Inventar der Zwangsvorgänge streichen? Ich kann diese sehr oft angenommene Folgerung nicht für angemessen halten, aus zwei Gründen: erstlich ist ein Angstgefühl keines- wegs der Phobie allein eigentümlich, geradezu in. der Mehrzahl der „echten“ Westphalschen Zwangsvorstellungen begegnet es uns milder, aber ähnlich, so bei der Irrtumsfurcht, bei den Kontrastvorstellungen peinlichen Inhaltes, bei allen Zwangs- befürchtungen, und wie wichtig es ist für die Genese des Denk- zwanges, wollen wir nun in Bälde dartun. Die seit der West- phalschen Definition so oft erörterte Frage, ob es primär oder sekundär auftritt, scheint mir wahrlich nicht erheblich zu sein !), es ist eben eng verbunden mit der Vorstellung und verleiht ihr ihre besondere Bedeutsamkeit. Wer will übrigens entscheiden, ob bei dem Misserfolge jenes Barbiers zuerst die „Vorstellung“ der Unsicherheit seiner Hand oder die „Angst“ vor dem Schimpfen des verletzten Klienten da und das Entscheidende war? Wer weiss, ob bei der Platzfurcht „die Idee“ der Hülflosigkeit oder die Angst- vor Schwindel massgebend ist? Da ein djähriges Kind den Patienten schon mit Sicherheit erfüllt, wenn es zugegen ist, scheint eher die erstere Alternative zuzutreffen.

Zweitens aber ist es, wie wir gezeigt haben, gar nicht die Angst selbst, sondern die Erinnerung an die Angst oder viel- mehr an den gesamten Vorgang mit seinen Schwierigkeiten, was den Patienten dauernd behelligt, und das ist wiederum eine „Furchtvorstellung“. Das Besondere ist nur, dass der Denk- zwang sich nicht an eine Vorstellung pure anknüpft, sondern an eine solche, welche sich in eine gewohnheitsmässige Handlung einschiebt. Die Art der psychischen Abnormität aber ist durch und durch die gleiche in beiden Fällen, und darauf kommt es doch letztlich an.

So ist in der „Phobie“, wie es auch ihr Name treffend ausdrückt, die Furchtvorstellung, die Vorstellung von etwas, das zu fürchten ist, das Wesentliche, und dieses wollen wir mit der Definition kennzeichnen:

„Mit Phobie bezeichnen wir eine Furchtvorstellung be- stimmten konkreten Inhaltes, welche sich in eine gewohnheits- mässige Handlung einschiebt, welche mit Angstgefühl verbunden ist und welche der Träger als widersinnig oder als schwach be- gründet erkennt und welche er nicht weiter geistig verarbeitet bezw. assoziiert; dennoch empfindet er gleichzeitig den Trieb, sie für wohlbegründet zu halten, und es gelingt ihm weder, das. stetige spontane Wiederauftauchen der Furchtidee abzuwehren, noch die

1) Selbstverständlich ist bei der gewöhnlichen Zwangsvorstellung diese und nieht das peinliche Gefühlsmoment das Primäre, wie Westphal richtig hervorhob.

248 Hartmann, Beiträge zdr Apraxielehre.

Handlung, auf welche sich die Furcht bezieht, durchzuführen oder zu vollenden.“ |

Damit haben wir die bedeutendsten Kontroversen, welche die Umgrenzung des Begriffes der Zwangsvorgänge betreffen, durchgesprochen. Wir haben uns im allgemeinen auf die Dis- kussion des vorhandenen Tatbestandes beschränkt. Indessen hat es sich zur Genüge gezeigt, dass diese Erörterung immer wieder auf das zurückweist, was hinter dem Tatbestande steht, nämlich auf den psychologischen Vorgang, aus welchem jener hervorgeht. Das wissenschaftliche Gewissen verlangt, dass wir nun diesen selbst prüfen.

(Schluss im nächsten Heft.)

(Aus der neurologisch-psychiatrischen Klinik der Universität Graz.)

Beiträge zur Apraxielehre. Von

Prof. Dr. FRITZ HARTMANN. (Schluss.)

5. Die Bedeutung des Balkens für die apraktischen Störungen.

Der vorliegende Fall ist insofern ausserordentlich lehrreich, als er dartut, dass eine ausgiebige Unterbrechung des Balkens in den beregten Abschnitten genügt, um die rechtsseitige Extremi- tätenzone in ihren höheren, durch vielfache zentripetale Impulse angeregten und unterhaltenen Tätigkeiten empfindlich zu schädigen.

Eine Unterbrechung des Balkens in den Höhen von der vorderen Kommissur bis zum Splenium hat im vorliegenden Falle fast die ganze Masse der durchtretenden Faseranteile vernichtet; zugleich wurde auch das Cingulum beider Seiten bis in die vorderen Stirnhirnebenen links mehr als recht zur teilweisen Degeneration gebracht. Die Markfaserung der inneren Kapsel erschien nur insoweit pathologisch, als die durchtretenden Balken- bahnen degeneriert sind.

Im klinischen Symptomenkomplexa findet sich trotz wohl- erhaltener sensorischer Leistungen eine eigenartige und bedeutungs- volle Störung im Bewegungsablaufe insofern, ala auch in diesem Falle die beiden oberen Extremitäten sich bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit sehr bedeutend unterschieden, ohne dass Parese oder Lähmung vorhanden gewesen wäre.

Der Ablaut von Bewegungsfolgen in der rechten oberen Extremität zeigte insolange keine wesentlichen Störungen, als die Mithilfe der von den betreffenden Objekten auf verschiedenen Sinnesgebieten zufliessenden Eindrücke garantiert war, hingegen war die Reproduktion von Bewegungsfolgen allein aus der Er-

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 249

innerung sichtlich erschwert, manchmal unmöglich. Wurde die Mithülfe anderer Sinnessysteme bei Objektshandlungen verhindert, so traten ebenfalls bedeutende Erschwerung, sehr häufig Ausfälle der Bewegung und amorphe Bewegung, mitunter Bewegungs- verwechslung auf. Hingegen war das Nachahmen von Bewegungen nach optisch vorgemachten rechts gut erhalten.

Der Ablauf von Bewegungsfolgen in der linken oberen Extremität zeigte schwere Störungen, insofern hier auch die Mit- hülfe der übrigen Sinnessysteme nicht genügte, die Bewegungs- folgen auszulösen, statt dessen ebenso auch bei Leistungen aus dem Bewegungsgedächtnisse allein Bewegungsausfall und amorphe vertrackte Bewegungen, sehr selten Bewegungsverwechslung erfolgte.

Bewegungsleistungen, welche mit beiden oberen Extremitäten gleichzeitig vollzogen werden sollen, erscheinen am schwersten geschädigt, da sie fast ausschliesslich nur in Form nicht zweck- gemässer vertrackter Bewegungen sich auslösten.

Wir dürfen in Hinsicht der oberen Extremitäten zusammen- fassend schliessen:

Die Direktion von Bewegungen der linken Körperhälfte war ausnahmslos schwer geschädigt, indem von den verschiedenen Sinnessystemen her Bewegungsanregungen zweckgemäss nicht erfolgen konnten. Vom linken und vom rechten sensorischen Hirngebiet war die Anregung zu den sensomotorischen Regionen des rechteg Gehirnes geschädigt.

Die Direktion von Bewegungen der rechten Körperhälfte war nur insofern beeinflusst, als ernste Schädigungen erst bei Ausfall der beständigen kontrollierenden Mitwirkung wichtiger Sınnesspbären auftraten.

Das Zusammenarbeiten beider Gehirnhälften zu gemeinsamer motorischer Tätigkeit der oberen und unteren Extremitäten, sowie insbesondere auch dieser und der Rumpfmuskeln erscheint am schwersten geschädigt.

Vergleichen wir dieses klinische Tatsachenmaterial mit dem anatomischen Befunde, so muss noch besonders betont werden, dass zu diesem Zeitpunkte Störungen im Bezeichnen und Erkennen . in den verschiedenen Sinnessystemen nicht bestanden, die allge- meine Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit und Gedächtnisleistungen sowie die Urteilsbildung keine nennenswerte Einbusse erlitten haben, und wir wohlberechtigt sind, die vorhandenen Symptome auf eine Herderkrankung zu beziehen.

Der Unterbrechung der beregten Balkenanteile dürfen dem- nach als konsekutive klinische Störungen zugeschrieben werden: Apraxie der linken oberen Extremität bei erhaltener Inten- tion zu Bewegungen, vielfach noch erhaltenen Eigenleistungen; Verlust der Befähigung zur Zusammenarbeit beider oberen Extremitäten zu zweihändigen motorischen Leistungen; à . Schädigung der Bewegungsabläufe der rechten oberen. Ex- tremität bei Ausschluss besonders des optischen Systemes.

250 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

. Die geschilderte Störung des kombinierten Bewegungs- ablaufes von Armen, Rumpf und Beinen zum statischen und loko- motorischen Muskelgeschäfte wird mangels anderer Herderkrankung wohl auch auf die Balkendurchtrennung bezogen werden müssen.

Diese Störung wurde bisher seit den Arbeiten von Bruns?) u. A. als Stirnhirn- oder Balkenataxie bezeichnet. Zu

Wenn man aber im strengen Sinne des Wortes unter Ataxie ein Ungeschick ansonst zweckgemäss ablaufender Bewegungs- vorgänge versteht, dann unterscheidet sich die vorliegende Störung hiervon sehr wesentlich. Es findet sich keine wesentliche moto- rische Schädigung der Motilität der Beine bei Bewegungen der- selben in Rückenlage des Körpers, wohl aber die vollständige Unfähigkeit zu zweckgemässer Zusammenarbeit der die Statik und Lokomotion besorgenden Muskelsysteme. Statt dessen treten Akinesen, rudimentäre und vertrackte Bewegungseffekte auf.

Man hat demnach in diesen Erscheinungen ein Analogon zur Apraxie der oberen Extremitäten zu suchen und wird davon abgehen müssen, von einer Stirnhirn- oder Balkenataxie zu sprechen, sondern diese Störungen als Apraxie der unteren

xtremitäten und des Rumpfes in Hinsicht der statischen und lokomotorischen Funktion aufzufassen haben. |

Welche Deutung lassen die klinischen und pathologisch- anatomischen Tatsachen demnach zu?

Es ist durch den geschilderten Herd eine nahezu voll- kommene Trennung der beiden Hemisphären in dem beschriebenen Anteile erfolgt, und scheinen demnach die destruierten Hirn- gebiete Hirnbahnen zu beherbergen, welche

1. das rechtsseitige Gehirn befähigen, den Ablauf von Be- wegungen auf Impulse verschiedener Sinnessphären an- zuregen;

2. welche der Zusammenarbeit der oberen Extremitäten zu gemeinsamen Objekthandlungen dienen;

3. die Zusammenarbeit der für das statische und lokomoto- rische Geschäft der Extremitäten und des Rumpfes not- wendigen Bewegungsfolgen ermöglichen;

4. wahrscheinlich vom rechten Gehirne her unterstützende Impulse für den gedächtnismässig geleiteten Ablauf der motorischen Tätigkeit des linken Gehirns liefern; denn dieser wird bei Unterbrechung dieser Bahnen schon durch Ausschaltung der sinnlichen (speziell optischen) Kontrolle in Frage gestellt.

Hieraus dürfen wir mit Vorbehalt schliessen, dass zu diesen eben angeführten Leistungen die Integrität der bezüglichen Balken- verbindungen eine notwendige Voruussetzung ist.

Im Zusammenhalte von Liepmanns Beobachtung und dem ersten in dieser Abhandlung geschilderten Falle konnte die

1) Bruns, Deutsche med. Wochenschr. 1892.

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 251

Deutung abgeleitet werden, dass präzentralen Gebieten die assoziative Funktion optischer, akustischer, taktiler Bewegungs- bilder mit Bewegungsbildern des eigenen Körpers (ein kinästhe- tisches Gedächtnis komplizierter Bewegungsabläufe) zukomme, In der Deutung, dass innerhalb dieser Funktion die linke Hemi- sphäre über die Befähigung der rechten präponderiert, befinde ich mich in vollem Einklange mit Liepmann.

In Liepmanns Fall bedingte der Abschluss der Zentral- windungen und des Stirnhirns von der übrigen linken Hemisphäre and durch Unterbrechung des Balkens auch von der rechten Hemisphäre folgende Symptome:

1. Verlust der von einzelnen und verschiedenen Sinnes- systemen angeregten Bewegungsabläufe in der rechten oberen

xtremität, Bewegungsverwechslung oder amorphe Bewegungen;

2. hochgradige Herabsetzung der komplizierten Bewegungs- abläufe auch der linken oberen Extremität trotz Intaktheit der beiderseitigen sensorischen Hirnstationen; |

8. Erhaltenbleiben der Eigenleistungen (Knöpfen u. s. w. Liepmann) der oberen Extremitäten und des statischen Ver- mögens?

. 4. Erhaltenbleiben der Bewegungsintention überhaupt. Dem- gegenüber zeigte der Fall I meiner Beobachtung bei Zerstörung des linken Stirnhirnes und des Balkens bis in die Ebenen vor dem linken Thalamus opticus:

1. vollkommenen Verlust von Intention und Anregbarkeit von Bewegungen der rechten Körperseite von Seite beider Gehirnhälften;

2. hochgradige Störung der Bewegungsabläufe der linken Extremitäten in dem Sinne, dass die Zusammenordnung solcher zum Continuum einer Handlung unmöglich, rein gedächtnismässig ausgelöste Bewegung besonders geschädigt wurde, aber auch echt partielle apraktische Erscheinungen, Akinese u. s. w.;

3. Erhaltenbleiben von Eigenleistungen der linken Extremi- täten, also des rechten Gehirnes, Erhaltenbleiben der statischen Funktionen; |

Der Fall II bei Zerstörung des Balkens von den Ebenen der vorderen Kommissur bis nach dem hinteren Ende zeigte:

.1. Amorphe Bewegungseffekte, akinetische Erscheinungen an der linken oberen Extremität, also Störung der vom rechten Gehirne her zu leistenden Bewegungsabläufe bei Erhaltenbleiben von Eigenleistungen;

- 2. Störung der Bewegungsabläufe der rechten oberen Ex- tremität in dem Sinne, dass zur Erhaltung des Continuums einer Handlung zum mindesten die Mitarbeit der optischen Sinnes- kontrolle erforderlich wurde, vorwiegend also eine Schädigung in der Zusammenfassung einzelner Bewegungsreihen aus rein gedächtnis- mässigen Leistungen.

3. Erhaltensein der Eigenleistungen des Sensomotoriums beiderseits, besonders links, Verlust der statischen Funktionen;

4. Erhaltenbleiben der Bewegungsintention.

252 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

Aus dieser vergleichenden Betrachtung ergibt sich eine interessante Gegenüberstellung des in den 3 Fällen gefundenen Symptomenkomplexes in Hinsicht ihrer Beziehung zu den patho- logisch-anatomischen Tatsachen.

Schälen wir aus den Symptomenkomplexen des Falles Liepmann und meines Falles I die Symptome, welche die Balken- durchtrennung meines Falles II darbietet, los, so finden wir:

Linksseitige und doppelhändige Motilitätsstörungen des Falles Liepmann sind allein schon durch Balkenschädigung erklärt (damit in Uebereinstimmung die Schädigungen der linksseitigen Motilität bei rechts Gelähmten, wie sie Liepmann („linkes Gehirn und das Handeln“) als Balkenschädigung gedeutet hat.

Die Störung im Nachahmen von passiven Bewegungen einer Seite durch die andere Seite ist durch die Balkenschädigung erklärt.

Schädigung des Continuums der Handlung der rechten Ex- tremitäten (Liepmanns Fall) ist schon zum Teile durch die Balkenaffektion erklärt. Hinzu tritt als durch Absperrung der Sinnessysteme erzeugt die weitere Summe der apraktischen Er- scheinungen.

Das Erhaltenbleiben der beiderseitigen Bewegungsintention ist vom Balkenverluste unabhängig.

Der Verlust der statischen Funktionen in meinem Falle von Balkendurchtrennung findet sich nicht in Liepmanns Fall; wenigstens macht Liepmann über analoge Störungen im späteren Verlaufe der Erkrankung keine bezüglichen Angaben.

Als Folgen der übrigen Veränderungen in Liepmanns Fall erscheint demnach der Komplex der amorphen Bewegungseffekte und Akinesen bei Öbjekthandlungen aus der Erinnerung, und wenn die Objekte gegeben sind, bei Ausdrucksleistungeu, bei Nachahmung optisch vorgemachter Bewegungen in der rechten oberen Extremität.

Vergleichen wir meinen Fall I und Fall II, so ergibt sich, dass in Fall II bei weitgehender Durchtrennung des Balkens und dem damit einhergehenden. Erscheinungskomplexe (Bewegungs- verwechslung, amorphe Bewegungen, Akinesen der linken oberen Extremität) eher schwerere Schäden der rechtsseitigen Hirn- (linksseitigen Körper-)Funktionen vorhanden waren als in Falll, in welchem zwar die Intention zu Bewegungen in der linken Extremität sehr vermindert schien, wenn aber Bewegungen ab- liefen, dieselben oft zweckgemäss waren und nur deutlich zeigten, dass die Mithilfe aller Sinnessysteme zum Continuum der Hand- lung mangelhaft war, so dass es immer neuer und kräftigerer Reize bedurfte, um einen Bewegungsablauf zu Ende zu führen. Nachahmen vorgemachter Bewegungen war wohl möglich, schwerer geschädigt waren eigentlich nur die rein gedächtnismässig zu reproduzierenden Bewegungsfolgen.

Diesem symptomatologischen Unterschiede entspricht patho- logisch-anatomisch, dass in Fall II der Balken vom Splenium bis.

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 253

in die Ebenen der vorderen Kommissur zerstört war, im Falle I das Splenium zwar frei, aber die Partie des Balkens von den Ebenen der vorderen Kommissur bis nach hinten zerstört ge- funden wurde.

Daraus darf mit Vorsicht geschlossen werden, dass von den Sinnessystemen im Falle I noch isolierte Leistungen auf die rechten motorischen Hirnregionen übertragen werden konnten, dass die bezüglichen Bahnen durch das im Falle II zerstörte Balkenfeld laufen, dass hierfür das rechte Gehirn allein nicht genügt, sondern auch das linke unter Vermittlung der bezüglichen Balkenbahnen Anteil haben muss, geht unzweifelhaft aus dem Falle II hervor.

Im Falle I und II waren die gedächtnismässig auszulösenden Bewegungsfolgen in den linken Extremitäten einmal bei Zer- störung des linken Stirnhirnes, das andere Mal bei Durchtrennung des Balkens erloschen, eine Erscheinung, deren Deutung ich später versuchen will.

Im Falle II war aber ausserdem der Bewegungsablauf unter Mithilfe der von den Sinnessystemen zufliessenden Reize im rechten Gehirne unmöglich, z. B. insbesondere das Nachahmen, während in Fall I, abgesehen von der verminderten Bewegungs- intention und Koordination des Continuums der Handlung, die Bewegungsfolgen noch abliefen, so z. B. das Nachahmen optisch vorgemachter Bewegungen erhalten blieb.

Sonach erscheint mir die Balkenläsion auch elementarere Funktionen des rechten Gehirnes zum Ausfall gebracht zu haben, die Zerstörung des linken Stirnhirnes zeigt hingegen vorwiegend Gedächtnis und höhere Zusammenfassung von Bewegungsfolgen geschädigt. |

Trotz dieser relativ leichteren, aber der Dignität nach höheren Schädigung der Funktion des rechten Gehirnes findet sich nun in Fall I eine sehr schwere totale Apraxie der rechten oberen Extremität ohne Läsion der Pyramidenbahn, und es durfte .wohl schon damals hieraus der Schluss gezogen werden, dass hierfür die Zerstörung des linken Stirnhirnes als massgebende Grundlage wird angesprochen werden müssen.

Sind nur die beiderseitigen hinteren (sensorischen) Hirnab- schnitte, der Teil des Balkens bis vorne intakt, so vermag das intakte rechte Gehirn noch motorische Leistungen durch An- regung eines Sinnessystemes zu leisten. Es bedarf aber zur kontinuierlichen Leistung noch der Mitarbeit des linken Stirn- hirnes durch die vordere Hälfte (?) des Balkens.

Sind die beiderseitigen hinteren Hirnabschnitte und die beiden Stirnhirne intakt, der Balkenabschnitt (wie im Fall II) durchtrennt, so vermag das linke Stirnhirn und das rechte Stirn- hirn das intakte, rechte Gehirn nicht zu zweckgemässer Bewegung anzuregen.

Es fällt also hier schon die elementare Funktion aus, während Verlust des linken Stirnhirnes die komplizierte Funktion

254 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

der Zusammenordnung elementarer Handlungen, die noch erhalten sind, verloren gehen lässt.

Demnach würde sich folgendes Schema für die Mechanik komplizierter Bewegungsabläufe ergeben:

Impulse aus den linksseitigen Sinnessystemen ermöglichen, im linksseitigen Stirnhirne den Ablauf zugeordneter Bewegungs- folgen zur Anregung zu bringen, wobei die Mitarbeit des rechten Gehirnes notwendig wird, wenn nur ein Sinnessystem den Ab- lauf der Bewegungen kontrolliert und während des Ablaufes be- einflusst.

Impulse aus den verschiedenen Sinnessystemen beider Seiten ermöglichen im rechten Stirnhirne allein den Ablauf einer spon- tanen zweckgemässen Bewegungsfolge.e Die gedächtnismässige Fortentwicklung der Handlung bedarf der Mitarbeit des linken Stirnhirnes.

Unterbrechung der Balkenbahnen schädigt neben der ge- dächtnismässigen Beeinflussung schon die Möglichkeit zweck- gemässer Bewegungsanregung im rechten Gehirn. |

Die Ordnung von Bewegungsfolgen der anderen Seite aus Muskelsinnreizen einer Seite bedarf, wie dies schon Anton nach- gewiesen hat, der Uebertragung durch den Balken. Das Zusammen- arbeiten beider oberer Extremitäten zu einer Handlung, also die gegenseitige Zusammenordnung asymmetrischer Bewegungsfolgen zu einen Endzwecke ist ebenfalls an die Intaktheit der Balken- bahnen gebunden.

Das Zusammenarbeiten der für statische und lokomotorische Handlungen des Gesamtorganismus nötigen Bewegungsabläufe ist ebenfalls an die Intaktheit von Balkenbahnen gebunden.')

Ich brauche wohl nicht hervorzuheben, dass ich auch noch durch eine eingehende Untersuchung einer grossen Reihe von Tumoren und Erkrankungen mit anderer cerebraler Lokalisation diese Ergebnisse in dem Sinne zu stützen vermochte, als nicht. in einem einzigen Falle die Erscheinungen der Apraxie in der hier geschilderten Art zu beobachten waren, hingegen konnte ich Liepmanns Beobachtungen an motorisch-aphasischen und rechts- seitig Gelähmten vollauf bestätigen, worüber ich an anderer Stelle berichten werde.

Nach dem Gesagten möchte ich ganz kurz hier noch eines interessanten Falles Erwähnung tun, welcher eine Blutung in das rechte Stirnhirn betraf. Derselbe ist jüngsten Datums und

konnte weiterer histologischer Verarbeitung noch nicht zugeführt werden.

Hier war es (wie im vorhergehenden Falle) auf Grund der eben uuseinandergesetzten Anschauungen gelungen, die Lokal- diagnose in vivo zu stellen, was mir eine willkommene Stütze

1) Die vorhandene Agraphie und Alexie, auf die ich vorläufig nur

hinweisen möchte, verdienen ein gesondertes, hervorragendes Interesse. Vgl. Heilbronner, l. c. l

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 255

der von mir gegebenen Deutungen des bisherigen Tatsachen- materiales ist. |

6. Krankenbeobachtung mit pathologisceh-anatomischem Befunde.

Hierzu Tafel I, II, Figur 7.

Krankengeschichte: K. G. ist 55 Jahre alt, verheiratet, kinderlos, war ÖOberoffizial. Seine Eltern sind beide in hohem Alter gestorben. Es bestehen keine hereditären Verhältnisse, seine drei Brüder und seine Schwester sind vollkommen gesund.

Als Kind soll Pat. sehr aufgeweckt gewesen sein und immer gute Schulerfolge gehabt haben. An Krankheiten hatte er „Gehirnentzündung“, Lungen- und Rippeonfellentzündung durchzumachen. Mit 17 Jahren ging er freiwillig zam Militär. |

Von den Angehörigen des Pat. wird erzählt, dass dieser schon jahre- lang an Nasen-Rachenkatarrhen dureh Prof. Habermann behandelt worden sei. Auch sollen vor Jahren Erbrechen von Schleim, Uebelkeitsgefähl, Schwindelgefühl aufgetreten sein.

In der lezten Zeit besteht ein längs der Sagittalnaht ziehender Streifen von Handbreite, in dessen Bereich eigentümliche Gefühle, Druck auftraten.

Pat. war seit sieben Monaten beurlaubt und sollte in den Dienst zurück- kehren. Es erfolgte eine Einberufung zur Untersuchung nach Cilli, worüber er sich sehr aufregte.

Am 29. VI. kam er in Graz an, war in sehr guter Stimmung und machte einfältige Spässe.

l Vier Wochen vorher fiel gelegentlich einer Anwesenheit in Graz schon auf, dass er dem Gange eines längeren Gesprächs nicht folgen konnte und in Gesellschaft in aunffallender Weise den Anstand verletzte.

An dem oben genannten Tage trat zum erstenmal ein Anfall auf, während welchen Kopf, Nacken und Gesicht nach der linken Seite zu ver- zogen wurden, die Augenlider waren weit aufgerissen, der Blick zeitweise starr nach links gewendet.

Im weiteren Verlaufe nahm auch die linke obere Extremität an krampf- artigen Zuckungen teil. Nach dem Anfalle verblieb eine linksseitige Parese des Facislis. Ks fand jedoch kein Abgang von Stahl oder Urin statt, auch wurden keine Zungenbisse beobachtet.

Status psychieus bei der Aufnahme: Pat. ist zeitlich und örtlich orientiert, frei von Sinnestäuschungen und Wahnbildungen, in seiner Stimmunge- lage läppisch, euphorisch und ermangelt sichtlich voller Krankheitseinsicht.

Die perzeptiven Fähigkeiten erscheinen auf allen Sinnesgebieten erhalten.

Die Apperzeption: das Bezeichnen und Erkennen optischer, akustischer, taktiler, olfaktorischer und gustatorischer äusserer Eindrücke, die Identifikation

von Sinneseindrücken mit Sprachbegriffen, das Aufzählen eingelernter Reihen, die Prüfung der Wahlreaktionen erscheinen bis auf ganz geringe Lücken wohl erhalten [siehe einzelne Beispiele unten].!)

1) 1. Optisch: Erkennen.

Schlüssel richtig °

Glocke »

Kipfel »

Federstiel

Glas »

Uhr Ich hätt’ schon an Vermittlungsweg

Tuch richtig 2. Akustisch: Erkennen. Schnalzen mit der Hand richtig Läuten Klingen mit dem Glase Glocke!

Monataschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd XXI. Heft 3. 17

256 Hartmann, Beiträge sur Apraxielehre.

Die Prüfung des Sprachvermögens: Die 'Sprechfäbigkeit!) (Spoutan- sprechen) erhalten. Das Nachsprechen einfacher Worte gelingt gat, bei schwierigeren und zusammengesetzten langen Worten treten einzelne Para- phasien auf. -

Das Sprachverständnis ist intakt.

Die Schreibfähigkeit ist wohl erhalten, das Nach- und Diktatschreiben weist bei schwierigeren Worten Auslassen einzelner Silben auf.

Die Prüfang auf das Lesen wird durch das Vorhandensein einer Seh- störung sehr erschwert.

Die Aufmerksamkeitsleistungen des Kranken sind bei grober Prüfung nicht schwer geschädigt.

Die Merkfähigkeit ist für alle Sinnesgebiete entschieden verringert. Das Gedächtnis für frühere Ereignisse gut erhalten.

Die Prüfung der Psychomotilität ergibt folgende Befunde: Im spontanen motorischen Gebaren zeigen. sich keine Aus- fallserscheinungen, hingegen treten solche bei der experimen- tellen Beeinflussung des Bewegungsablaufes auf.

Die Motilität im Gebiete der Hirnnerven: Die sprach- liche Aufforderung. zu verschiedenen Bewegungen im Bereiche der Facialisinnervation vermag nicht die entsprechenden Bewegungs- effekte zu erzeugen. Im Bereiche der Zungeninnervation kommt es erst nach längerer Zeit und verschiedenen, nicht zweckgemässen Bewegungen zu einer mangelhaften Ausführung der Bewegung.

Das Nachahmen optisch vorgemachter Bewegungen auf diesen Nervengebieten zeigt vollkommen Bewegungsausfall im Gesichtsbereich, hingegen gute Nachahmung von Zungen- bewegungen. to

- Die Motilität im Gebiete der oberen Extremitäten: Auf sprachliche Aufforderung zu Bewegungen (unter Kontrolle aller Sınne) erfolgen in der rechten oberen Extremität dieselben fast ausschliesslich prompt und richtig, hingegen zeigen sich in der linken oberen Extremität statt dessen amorphe (vertrackte) Be-

Husten - weiss nicht! Niesen richtig

. Ticken der Uhr ` Bürstengeräusch —W Klopfen Poltern Pfeifen Rufer .

8. Erkennen vom Tastsinne aus. Finger: rechts und links richtig Schlüssel: rechts und links »

Zündholzschachtel 3

Kamm: rechts Eisenblättchen Bürste: links und rechts richtig

Glas: rechts | »

Kipfel: beiderseits »

1) Siehe Heilbronner, „Ueber Agrammatismus und die Störung der inneren Sprache“. Arch f. Psychiatrie. XLL, 658. -<

` Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 257

wegungen und akinetische Erscheinungen, niemals Bewegungs- verwechslungen. (Beispiele siehe unten.)!)

Aufforderungen zu Ausdrucksbewegungen (Winken, Drohen etc.) werden beiderseits von richtigen Bewegungs- abläufen gefolgt.

Die einfachen Objekthandlungen mit Ausschluss der Sprache werden sowohl unter Kontrolle aller Sinnessysteme wie auch unter Ausschluss anderer Sinne rechts prompt geleistet, links treten amorphe und akinetische Erscheinungen auf

Optisch vorgemachte Bewegungen gelingen beider- seits gut.

Die Nachahmung rechts passiv vorgenommener Bewegungen durch die linke obere Extremität, sowie der umgekehrte Vorgang zeigen keine Störungen.

Dasselbe gilt vom Nachahmen passiver Bewegungen auf derselben Seite. |

1) SprachlicheAufforderung links rechts zu Bewegungen:. Vorstrecken der Hände + + Spreitzen der Finger amorph + (kataton)

` Türe zusperren +

(es erfolgt nur die grobe Loko- motion des Gesamtkörpers)

Bürsten amorph + (Streichbewegungen m. 2 Fingern) Briefe „bstempeln amorph + Nase drehen + Objekthandlungen mit Aus- schluss der Sprache, aber unter Benutzung verschie- dener Sinne: Was machen Sie mit dem Gegenstande? l Löffel amorph + Kreide (nimmt dieselbe richtig, um erst nach langer Zeit einzelne (es werden so- regellose Strichbewegungen zu fort Schreib- machen) bewegungen gemacht) Zwicker amorph +

(macht mit dem Gesamtkörper eine solche Bewegung, dass er die Nase in die Nähe des Zwickers. bringt, ohne die Hand zu bewegen. Den Zwicker in der Hand, führt er dieselbe flach vor das Gesicht)

Nadel links erfolgt keine Bewegung +

Schlüssel, Kamm, Pfeif-

chen, Bürste amorph +

17°

258 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

Zweihändige Objekthandlungen gelingen trotz des linksseitigen Ausfalles überraschend gut.

Die einfache Urteils- und Schlussbildung, sowie das kom- binatorische Vermögen erscheinen nur soweit geschädigt, als vor- stehend geschilderte Krankheitserscheinungen dasselbe beeinflussen.

Der körperliche Befund: Sensorium frei, Temperatur normal, Körper- gewicht 78 kg, dem Alter entsprechend kräftig gebaut.

Cranium symmetrisch.

Der Kopfumfang ist 56 cm.

Perkussion des Kopfes ist nirgends schmerzhaft, zw. rechts und links deutliche Differenz zu Ungunsten der linken Seite.

Lidspalten sind gleich.

Pupillen ebenfalls gleich, rund, ziemlich deutlich auf Licht und Akkom- modation reagierend. '

Keine Hemianopie. Fundus normal (Befund der Augenklinik, Prof. Dimmer). Augenmuskulatur frei, kein Nystagmus, nur manchmal leichte Zuckangen beim Bliok nach links, beim Aufwärtsblicken horizontale Ein- stellungsbewegungen.

Öeruchsvermögen ist beiderseitig gleich.

Der rechte Mundfacialis in leichter Kontraktar, sonst keine Facialis- Parese. Zunge weicht mit der Spitze etwas nach links ab. Das Zäpfchen ist nach rechts abgewendet. Masseteren-Reflexe sind kräftig, Reflex erhalten. Rachenreflex ist auslösbar.

Kopfhaltung und Kopfbewegungen sind frei.

Das Sprachvermögen, Schluckvermögen, Rumpfbewegungen sind frei, Ueberhängen der linken Körperhälfte sichtbar.

Herz- und Gefäss-System: Temporslarterien sind stark geschlängelt, deutlich vorspringend, rechte Carotis fühlt sich verdickt an, stark klopfend, rigid. Die linke pulsiert schlechter, ist ebenfalls rigide. Herzdämpfung beginnt einen Querfinger nach links von der Mittellinie nach auswärts bis über die M. L. Herzaktion rhythmisch, Töne sind rein, der zweite Ton über den Gefässen stärker accentuiert.

Leberdämpfung reicht in die Mittellinie bis zam Rippenbogen. Bauch- hautreflexe sind auslösbar.

Obere Extremitäten: Normaler Tonus, keine Paresen, keine Koordinations- störangen; grobe Mnskelkratt ist gut.

ynamometer; Rechts 65 aussen, links 55 aussen bei keiner Anstrengung.

Stereognose intakt.

Lagegefühl und Muskelsinn nicht gestört.

Triceps-Sehnen: Rechts eben auslösbar, links etwas lebhafter.

Untere Extremitäten: Normale Lage, keine Tonuserhöhung, Knie- sehnenreflexe rechts und links einfach auslösbar. Achilles-Sehnenreflexe beiderseits gut auslösbar, nicht gesteigert.

Kein Dorsalklonus.

Plantarreflexe beiderseits deutlich, kein Babinsky.

Gang ist stark taumelnd, unsicher, Tendenz, nach links und hinten zu fallen; sehr geringe Standfestigkeit.

Im Harne Spuren von Eiweiss.

Im weiteren Verlaufe des Erkrankungszustandes zeigen sich aut körper- lichem Gebiete da und dort Erbrechen, eine zeitweilige Verschlechterung des Ganges mit Neigung, nach links zu fallen.

Auf dem Gebiete der Reflexe zeigt sich eine linksseitige Abschwächung der Sehnenreflexe bei einer leichten Hypotonie links.

Auf psychischem Gebiete zeigen sich sichtliche Erschwerang in der örtlichen und zeitlichen Orientierung. Es besteht eine leichte Euphorie und Neigung zu witzeln.

In Hinsicht der Leistungen des Erkennens auf den verschiedenen Sinnesgebieten zeigen sich keine wesentliche Veränderungen.

Hartmann, Beiträge zor Apraxielehre. 259

Die krankhaften Erseheinungen auf dem Gebiete des Bewegungs- ablaufes zeigen nach vorübergebender Besserung eine siehtliche Ver- schlechterung.

Es besteht zeitweilig eine fast vollständige Akinese der linken oberen Extremität sowohl für Bewegungsablaufe, welche durch die Sprache angeregt werden, als auch bei Objekthandlungen und Ausdrueksbawegungen (eo z. B. erfolgt das Erheben der linken Hand über Aufforderung nicht, sondern nur einzelne Muskelzuckungen, und es treten rechtaseitig gleichzeitig katatone Erscheinungen auf. Die Äusdrucksgeberde des Geldaufzählens wird rechts gut, links nicht geleistet. Das Winken ist links im Gegensatz von rechte unmöglich etc.).

Diese Verschlechterung geht mit auffallend hervortretender Neigung zum Haftenbleiben einher, welche jedoch anfänglich im sensorischen Gebiete ‘nieht die Richtigkeit der Leistungen hindert. Pat. stirbt an einer inter- kurrenten Pneumonie nach einmonatlichem Krankenhausaufenthalt.

Auszug aus dem pathologisch-anatomischen Befunde.

Das Gehirn bietet ebenso wie die Häute im groben keine Veränderungen dar, insbesondere zeigt sich keine schwerere diffuse oder regionäre Atrophie. Die Gefässe an der Basis sind zart,

Beim Durchschneiden des Gehirnes findet sich noch etwa 2 cm vor der Spitze des linken Vorderhornes eine herdförmige Erweichung der Marksubstanz des rechten Stirnhirnes (Fig. 7).

Dieselbe hat sich zum Teil in eine Cyste verwandelt, zum Teil findet sich in ihrer Mitte ein in Resorption befindliches Blut- coagulum. Der Erkrankungsherd füllt das Marklager der rechten zweiten Stirnwindung fast vollkommen aus, lāsst die Rinde aber noch frei und erstreckt sich in die Tiefe des Marklagers bis an die sagittalen Markblätter heran. Während er nach vorne zu auch das Marklager der dritten Stirnwindung tangiert, beschränkt er sich in den hinteren Partien auf das der zweiten Stirnwindung. Mit dem Ventrikel scheint er nicht zu kommunizieren, da die Ventrikelflüssigkeit vollkommen klar und frei insbesondere auch von Blutbeimengungen sich fand, welche bei dem Vorhandensein einer ausgesprochenen Blutung im Falle einer Kommunikation wohl nicht gefehlt hätten.

7. Die Bedeutung des rechten Stirnhirnes für den Bewegungs- ablauf.

Aus den Beobachtungen an diesem Falle geht mit einwand- freier Sicherheit hervor, dass ein Herd im Marklager der zweiten rechten Stirnwindung linksseitige partielle Apraxie erzeugt hat, welche sich zuerst etwas besserte, was bei der Kleinheit des Herdes unter der Annahme eines Ersatzes der Funktion sehr wohl ver- ständlich erscheint.

Als besonders bemerkenswert muss hervorgehoben werden, dass die einfachen Objekthandlungen an der Hand des Objektes und aus dem Gedächtnisse am schwersten geschädigt waren, das Nachahmen optischer Bewegungen erhalten blieb, dass insbesondere auch sprachliche Aufforderungen zu Ausdrucksbewegungen, welche

260 - Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

den Namen der Bewegung enthielten, prompte Bewegungsabläufe ermöglichten. Ä

Die Eigenleistungnn dieser Extremität waren gut erhalten geblieben.

Das Nachahmen von Stellungen der rechten Extremität durch Muskelsinnanregung geschah ohne wesentliche Schädigung.

Das Zusammenarbeiten beider oberer Extremitäten zu gemein- samen Zweckhandlungen erfolgte über alles Erwarten gut.

Die statisch-lokomotorischen Funktionen zeigten nur sehr leichte (ataktische?) Störungen.

Reihen wir auch diesen Fall in unser bisheriges Tatsachen- material ein, so ergibt sich kein wie immer gearteter Widerspruch.

Schädigung des rechten Stirnhirnes allein müsste nach unseren früheren Deutungen die Unmöglichkeit erzeugen, dass Impulse aus verschiedenen Sinnessystemen je ihre zugehörigen Bewegungsabläufe auslösen. Diese Störung ist trotz der relativen Kleinheit des Herdes in mehrfacher Hinsicht sehr deutlich auf-. getreten.

Während die Erinnerung für gewisse erlernte Bewegungs- folgen erloschen war, sobald dieselben lediglich aus der Materie der (perzeptiven und Erinnerungs-)Sinnessysteme anzuregen war und zu erfolgen hatte, traten bei Nennung der sprachlichen Bezeichnung die Ausdrucksbewegungen zumeist prompt in Erscheinung.

Interessant bleibt noch eine neue Erscheinung: die auffallend gute Koordination und Auslösung zweihändiger Bewegungsfolgen,- eine Erscheinung, welche dartun würde, dass hierbei das linke Gehirn eine gewichtige Rolle für den Ablauf der rechtshirnigen Vorgänge spielt, vielleicht in dieser Funktion nicht erst der Mit. wirkung des rechten Stirnhirnes, jedenfalls nicht der im vor- liegenden Falle zerstörten Teile bedarf.

Interessant ist auch, dass die einfache Nachahmung passiver Stellungen der rechten Seite auf Grund von Muskelsinnsbildern‘ der beregten Stirnhirngebiete des rechten Gehirnes nicht bedarf und vielleicht hierfür nur die direkte Balkenübertragung genügt.

8. Zusammenfassung.

In Hinsicht der dynamischen Tektonik der Grosshirn- oberfläche sind zwei gewichtige Forscher, Ramon y Cajal!) und A. Tschermak?), in Zusammenfassung der bisherigen An- schauungen von Flechsig, Monakow, Dejerine u. A. zu ein- ander sehr nahestehenden Anschauungen und theoretischen Postu- laten gelangt, deren Anwendung auf die hier erörterten Fragen interessante Ausblicke gewährt.

1) Ramon y Cajal, Studien über die Hirnrinde des Menschen. 5. H;

3) A. Tschermak, in Nagels Handbuch der Physiologie des Menschen. 1V. 1. Hälfte. 108#.

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre, 261:

Tschermak unterscheidet schematisch sowohl im sensorischen als im motorischen Gebiete primäre, sekundäre und tertiäre Zentralstätten; für die motorischen Gebiete ein primäres motorisches Zentrum (Bewegungssphäre), ein sekundäres oder Aktionszentrum (Bewegungsbildzentrum) und ein tertiäres oder mnestisches mo- torisches Zentrum (Gedächtnisbildzentrum), nicht ohne bei dieser Statuierung höherer Zentren die grosse Bedeutung der Binnen- leitungen anzuerkennen.

Ramon leitet in wohlbegründeter Weise aus den bisher be- kannten Tatsachen ab, dass neben den doppelseitig angelegten: Projektionszentren einseitig angelegte primäre und sekundäre Merk- zentren (Erinnerungszentren) postuliert werden müssen. Er ver- weist hierbei insbesondere auf die Tatsache, dass die bis jetzt ut gekannten Merkzentren (motorisches, sensorischesg Sprach-, Schreib-, Lesezentrum) exquisit einseitig angelegte Zentren dar- stellen. Da. sich in diesen Fällen sehr verschiedene sensorische Sphären in diesem Sinne verhalten, hält er es berechtigterweise für sehr wahrscheinlich, dass bei den übrigen dasselbe Verhältnis statt hat.

Er neigt zur Annahme, dass die Merkzentren einer Seite, „wenn auch denen der anderen in Bezug auf die allgemeine Funk- tion homolog, nicht dieselben Vorstellungen beherbergen“. „Die optische Projektion z. B. als Perzeption auf beide Hemisphären (die beiden Fissurae calcarinae) verteilt, polarisiert sich oder wird einseitig beider Umwandlung in eine Erinnerung unter Verminderung: ihres projektiven räumlichen Charakters“. Ä

Wenden wir diese befruchtende und hochinteressante An- schauung, welche Cajal in aller Bescheidenheit und Vorsicht!) vorbringt, auf die tatsächlichen Ergebnisse unserer Untersuchungen an, dann würden wir sagen dürfen:

Der Ausfall des Zusammenhanges des linken Gehirnes mit dem rechten (mein Fall II) bewirkt Verlust zweckgeiässer Be- wegungsabläufe an Objekten seitens der linken Extremitäten, insbesondere auch Verlust der optisch perzeptiven Nachahmung, insonderheit eine Schädigung des Bewegungsablaufes in den links- seitigen Extremitäten, von der, in das Psychologische übertragen, gesagt werden darf, dass die in Hinsicht der Bewegungsabläufe erhaltene Gedächtnistätigkeit für die rechtsseitigen Extremitäten hier nicht zur Wirkung kommen kann. |

Man darf hieraus wohl direkt schliessen, dass linksseitige

1) „In Wirklichkeit ist es bei dem gegenwärtigen Stande unseres Wissens nicht möglich, eine definitive Theorie von der architektonischen und dyna- mischen Anlage des Gehirnes aufzustellen.“

„Ich brauche nicht erst zu sagen, dass ich nicht im geringsten bean- spruche, meinen Vermutungen die Bedeutung eines Dogmas beizulegen; in der Wissenschaft ändern sich die Meinungen mit der wachsenden Häufung der Tatsachen, und diese können wir nicht voraussehen,

Unsere Wissenschaft würde sehr gläcklich sein, wenn sie, mit den kommenden Errungenschaften in Widerspruch geratend, einige der Lehren, auf welche sie sich stützt, retten könnte.“ |

262 Hartmann, Beiträge zar Apraxielehre. Rindenregionen und Assoziationsverbände funktionell ein dort angelegtes höher spezifiziertes Bewegungsgedächtnis repräsentieren.

Der Ausfall des linken Stirnhirnes (Fall I) lässt tatsächlich jegliches Bewegungsgedächtnis (mit Ausnahme der unmittelbaren Nachahmung eben passiv abgelaufener Bewegungen) für die ge- kreuzte Körperhälfte verloren erscheinen.

Die Tätigkeit der rechten Hemisphäre zeigt diesem Aus- falle entsprechend eine Schädigung in ihrer Wirksamkeit auf die linken Extremitäten, insofern sich diese immer nur auf Binzel- leistungen der Motilität erstreckt, reine Gredächtnisleistungen komplizierterer Bewegungsfolgen ausfallen und beständige perzep- tive Kontrolle der Bewegungen nötig ist.

Schädigungen des rechten Stirnhirnes (wie in Fall III) be- wirken trotz erhaltenen Bewegungsgedächtnisses ein Unwirksam- werden desselben für bestimmte erlernte Bewegungsformen der linken oberen Extremität bei Erhaltenbleiben einzelner auf gewisse sprachliche Signale, bei Erhaltenbleiben der Nachahmung von optisch perzipierten Bewegungsabläufen seitens der linken oberen

xtremität. Man darf hier vermuten, dass ein solcher Herd wie in Fall IJI Verbindungen zwischen Merkzentren des linken Ge- hirnes und dem rechten Gehirne unterbrochen hat. ..

Da erstere (Merkzentren des linken Gehirnes) aber auch durch das linke Stirnhirn auf den Bewegungsablauf der linken Extremitäten im Sinne höherer Koordination wirken, ergäbe sich, dass das linke Stirnhirn eın Merkzentrum für die höhere Koor- dination der aus verschiedenen Sinnesgebieten und deren Merk- zentren gelieferten Bewegungsbilder darstellt (mnestisches mo- . torisches Zentrum).

Es geht aus dem Gesagten hervor, dass jede Hemisphäre für sich verschiedenes zu leisten vermag; dies deckt sich mit Ramon y Oajals „verschiedenen Vorstellungen“.

Linke Hemis

häre allein. Rechte Hemisphäre allein.

Rechts: Links: ErhalteneBewegungsintention. ErhalteneBewegungsintention, Eupraxie (jedoch nur unter Mit- Unfähigkeit, das Gedächtnis

hilfe einer Anzahl der von den betreffenden gegenwärtigen Ob- jekten [und den bewegten Glie-

dern] stammenden optischen, taktilen, kinästhetischen Ein- drücken).

Eigenleistungen erhalten.

Nachahmen von optisch vor- gemachten Bewegungen erhalten.

‘Nachahmen passiver Bewe- gungen derselben Seite erhalten, der anderen Seite unmöglich.

Zweihändige Tätigkeit un- möglich.

Stat. lokom. Apraxie.

für gewisse erlernte Bewegungs- folgen für die linken Extremi- täten zu verwerten.

Eigenleistungen erhalten.

Optisches Nachahmen unmög- lich.

Nachahmen passiver Bewe- gungen derselben Seite erhalten, er anderen Seite unmöglich.

Zweihändige Tätigkeit möglich.

Stat. lokom. Apraxie.

un-

Hartmana, Beiträge zur Apraxielehre.

Linke Hemisphäre allein, Zentralwindungen und Stirnhirn abgeschnitten (Liepmann).

Rechtes:

Bewegungsintention erhalten.

Transkortikale motorische Apraxzie.

Eigenleistungen erhalten.

Optisches Nachahmen unmög- lich. Nachahmen passiver Bewe- gungen der anderen Seite un- ‚möglich.

Zweihändige Tätigkeit un- möglich.

Linke Hemisphäre ohne Stirnhirn.

Rechts: Bewegungsintention verloren. Seelenlähmung motorisch und

sensorisch.

Eigenleistungen verloren. Nachahmen von optisch vorge- machten Bewegungen unmöglich. Nachahmen passiver Bewe- gongen derselben und der anderen eite möglich.

263

Links: Bewegungsintention erhalten. Verlust des Gedächtnisses für

komplizierte Objekthandlungen. Eigenleistungen erhalten.

Optisches Nachahmen ge- schädigt.

Nachshmen passiver Bewe- gungen der anderen Seite un- möglich.

Zweihändige Tätigkeit un- möglich.

Rechts intakt.

Links:

Bewegungsintention vermindert.

Verlust des Gedächtnisses für Koordination von Bewegungs- folgen bei Objekthandlungen und Ausdrucksbewegungen.

Eigenleistungen erhalten.

Optisches Nachahmen möglich.

Nachahmen passiver Bewe- ungen derselben und deranderen Seite möglich.

Zweihändige Tätigkeit unmöglich.

Stat. lokomot. Handeln un-

sicher.

Ins Positive übertragen, darf ausgesagt werden:

Stat. lokomot. Handeln un- sicher.

Das Er-

haltenbleiben der Bewegungsintention (Anregung zu Bewegungs- leistungen überhaupt) für die sensorisch intakten Körperhälften

besorgt in letzter Linie das linke Stirnhirn.

Dasselbe scheint

hierin auch die rechte Hemisphäre vielfach zu beeinflussen. Bei erhaltener Bewegungsintention erscheint zum vollen

Vollzuge von Bewegungsabläufen das Zusammenwirken beider Hemisphären für jede Körperseite nötig. Für die rechte Körper- seite leistet die rechte Hemisphäre die Tätigkeit, dass Bewegungs- abläufe durch ein Minimum von perzeptiver Anregung und Kon- trolle in ihrem Ablaufe gesichert sind. Für die linke Körperseite ist die Mitwirkung der linken Hemisphäre insoweit nötig, als deren Gedächtnisbesitz zum Ablaufe im individuellen Leben erlernter. Bewegungsfolgen mit Ausnahme der Eigenleistungen des Senso- motoriums der Extremjtäten unbedingt nötig ist, auch das Nach-

2361. Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre,.

ahmen optisch gegenwärtiger Bewegungsfolgen sowie insbesondere die zweihändige Tätigkeit bedürfen für die linke Körperhälfte der Mitarbeit des linken Gehirnes. |

Auch vermag nur das Zusammenwirken beider Hemisphären die erlernten Bewegungsfolgen des statisch lokomotorischen Ge- schäftes zu garantieren.

Das Nachahmen von optisch gegenwärtigen Bewegungsfolgen kann für die rechte Körperhälfte durch das linke Gehirn ge- leistet, für die linke Körperhälfte durch das rechte Gehirn nur mit Hilfe des linken geleistet werden und bedarf im ersteren Fall bestimmt des Stirnhirnes.

Eigenleistungen vermag jede Hemisphäre- für sich zu leisten. (Ob nur bei intaktem, Stirnhirn?) - ZZ

Mir erscheinen nach allem die berechtigten Einwürfe gegen: die Dignität der gefundenen Symptome, welche ich mir auch selbst machte, insbesondere die tumoröse Natur meines haupt- sächlichen Materiales durch den letzten geschilderten Fall einiger- massen widerlegt, will man nicht besonders in dem hervor- gehobenen Umstande der differenten Erscheinungen in den beiden Körperbälften und den Befunden an den sensorischen Leistungen in allen Fällen sowie der genauen Berücksichtigung des psychischen Allgemeinzustandes des Kranken genügende Sicherungen erkennen, und dann darf ich da und dort auftauchendem Zweifel wohlnoch mit dem Hinweise begegnen, dass die Beschreibung derartig subtiler Beobachtungen schwer die überzeugende Kraft der persönlichen Anschauung zu ersetzen vermag.

Den letzten Einwand gegen die vorgetragenen Anschauungen, welcher in gewissem Sinne Berechtigung gewänne, könnten unsere Kenntnisse über experimentelle Verletzungen des Stirnhirnes an Tieren liefern.

Wenn ich in aller Kürze die hierher gehörigen Daten über- blicke, so kann gesagt werden:

Aus den Erscheinungen, welche nach Abtragung der Stirn- lappen(im Flechsigschen Sinne des vorderen Assoziationszentrums) bei Tieren beobachtet wurden, konnten eindeutige Ableitungen von deren Funktion nicht gemacht werden. Positiven Beob- achtungen von „intellektueller“ Schädigung stehen ebensoviele negative Befunde gegenüber.

Wenn wir hingegen die Literatur der Abtragung der motori- schen Zonen der Körperfühlsphäre bei Tieren überblicken (und hier hat Monakow!) das Wesentliche kritisch zusammengetragen), so sind folgende wichtige Tatsachen zu beachten. Nach dem. Abklingen der ersten postoperativen Erscheinungen (transitorische Symptomengruppe) zeigt sich bei den höheren Wirbeltieren eine dauernde Reihe von Ausfallserscheinungen, die nicht wie beim Menschen einem Verluste der Bewegungsfähigkeit gleich ist, Parese oder Lähmung darstellt, sondern das Tier vermag die

. 1) Monakow, Gebirnpathologie. I. Teil.

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 265

groben Bewegungsaktionen (die Prinzipalbewegungen von Munk) noch wohl zu leisten. Hieraus müssen wir wohl schliessen, dass niedere Hirnteile hier relativ unabhängig von der Grosshirnrinde diese Leistungen zu besorgen imstande sind. |

Das Tier verliert jedoch ersichtlich die Fähigkeit, ‚seine Extremitäten (schon bei nur linksseitiger Operation) zu Ziel- bewegungen zu nützen, die „Bewegungstechnik* (Monakow 1. c. 277) geht verloren.

Beiderseitige Läsionen der motorischen Zone er-- zeugen eine hochgradige Intelligenzstörung (Munk). Die Tiere verlieren dauernd die Fähigkeit zum isolierten Gebrauche der Extremitäten „im Dienste ihrer Triebe und Neigungen“. Das Tier vermag noch alle Prinzipalbewegungen (Laufen, Springen, Klettern, Kratzen) prompt und sicher zu vollziehen, wenn auch mit herabgesetzter Geschicklichkeit (Munk), nicht aber an- gelernte Zielbewegungen (Hervorholen eines Gegenstandes etc.) oder nur Bewegungsfiguren als Bestandteile in der Kette von angelernten Fertigkeiten (willkürliche Handgriffe) (Monakow, l. c. 281).

Monakow spricht vom Ausfall der „Zweckkomponente“ aus präformierten komplizierten Reflexen.

Wenn Monakow (l. c. 291) ausfährt, dass nach allen unseren. Erfahrungen in solchem Zustande der psychische Entwurf zur Bewegung wohl als vorhanden zu betrachten ist, aber das Tier. über die Ausführungsweise der entsprechenden „Bewegung nicht näher ins Klare kommen kann“, so ergänzt sich diese Ausführung sehr schön durch die Versuche von S. Exner, wonach die Um- schneidung der Regio sigmoidea, trotz Erhaltenbleiben also der kortikospinalen Bahn, dieselben Ausfallserscheinungen am Tiere hervorruft, also das Abschneiden der die transkortikalen Leistungen. zur Regio sigmoidea vermittelnden Bahnen zur Hervorrufung der bezüglichen Symptome genügt.

Immer mehr ringt sich in der Grosshirnpathologie die Er- kenntnis durch, dass die Analogisierung funktioneller Defekte und, die Homologisierung morphologischer Substrate zwischen Tier und Mensch mit allergrösster Vorsicht gehandhabt werden muss.

Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich nach dem Vorgesagten die Symptomatik der Stirnhirnschädigung und der experimentellen Abtragung der Fühlsphäre dahingehend mit unseren bisherigen Erfahrungen einerseits und mit den von mir verfolgten Gedanken- gängen in Einklang zu bringen versuche, dass mir auch hierin wieder das von Steiner!) geistvoll geschaffene Gesetz von der Wanderung der Funktion nach dem Vorderende die Un- klarheiten richtig zu deuten scheint. |

In diesem Sinne würden m. E. die motorischen Anteile der Körperfühlsphäre bei Tieren (im groben natürlich, die weitere genaue Ueberprüfung solcher Verhältnisse müsste erst

1) Steiner, Die Funktionen dcs Centralnervensystems und ihre Phylo- genese. Il. 1888. RE

266 Hartmann, Beiträge gar Apraxielehre,

weitere Forschung erbringen), noch einen Grossteil jener Funktionen zu leisten haben, welche beim Menschen von nach vorne davon gelegenen Hirnabschnitten, dem Stirn- hirne, zu leisten sind.

Zweckgemässe Führung der Sprachmuskulatur zur Hervor- rufung der im individuellen Leben erlernten motorischen Sprach- mechanismen, zweckgemässe Führung der Extremitätenmuskulatur zur Hervorrufung der im individuellen Leben unter Heranziehung verschiedener Hirnregionen erlernten motorischer Bilder der Schreibebewegung'!) sind hier ebenso nach vorne hin verlegte Rindenleistungen, wie die von mir supponierte praktische Leistung in Hinsicht der Innervation komplizierter Bewegungsabläufe der Extremitäten überhaupt.

Die schweren Intelligenzstörungen bei Abtragung der motori- schen Zonen beim Tiere stehen im Missverhältnisse zu analogen Störungen beim Menschen, jedoch in voller Uebereinstimmung mit unseren Erfahrungen über beiderseitig ausgedehnte Erkrankung im Stirnbirne,

Schon lange war es mir aufgefallen, dass bei manchen Hirnerkrankungen die Kranken in ıhrem Gesamtgebaren einen viel dementeren Eindruck hervorrufen, als etwa einer genauen Prüfung ihres Besitzstandes und momentanen Leistungsvermögens entsprochen hätte; ich?) habe mich gelegentlich des Studiums der motorischen Defekterscheinungen bei Pseudobulbärparalytischen dahin zusammengefasst, dass solche Kranke ein Bild von Demenz zeigen, das als „motorischer Blödsinn“ ähnlichen vielen Littleschen Kranken sich bezeichnen lässt.

Unsere seelischen Leistungen werden ja vorwiegend durch motorische Aktionen der gesamten Körperperipherie nach aussen weitergegeben und verwertet.

erade die die jeweiligen auf uns einwirkenden Sinnesreize begleitenden motorischen Impulse und Bewegungserinnerungen, die was wir Aufmerksamkeit nennen erregenden, begleitenden und unterhaltenden motorischen Vorgänge sind es, welche durch die Schädigung der zentralen sensomotorischen Sphäre im weiteren Sinn, vielmehr ihrer assozistiven Verknüpfungen mit den übrigen Hirnteilen teils geschädigt werden, teils in Wegfall geraten.

= Aehnlich hat sich neuerdings Liepmann (cit. S. 2) dahin- gehend ausgesprochen, dass nach seinen Erfahrungen an Gehirn- kranken, namentlich solchen mit verbreiteten atrophischen, resp. arte- riosklerotischen Prozessen, die Verfügung über die motorischen Vorstellungen einen grossen Raum einnimmt „in dem, was wir Intelligenz nennen, oder vielleicht besser, ihr Verlust in dem, was wir Demenz nennen.“ |

'\ Vergleiche Heilbronner, Ueber isolierte apraktische Agraphie- M. M. W. 1906. No. 89.

3) Hartmann, Die Pathologie der Bewegungsstörungen bei der Pseudo- bulbärparalyse. Zeitschr. f. Heilk. 1902.

Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 267

Sehlussfolgerungen in Hinsicht der gefundenen Tatsachen und deren Deutung.

Ich komme auf Grund meiner Untersuchungen zu folgenden Sehlussfolgerungen, welche ich in zwei Teile trenne, in tatsäch- liche Ergebnisse und Deutung der Ergebnisse, weil ich in dieser scharfen Trennung eine Gewähr dafür erblicke, dass die auf diesem Gebiete so notwendige Weiterarbeit stets sich des Tat- sächlichen und Hypothetischen bewusst bleibe.

Fall

Apraxie (Dyspraxie) an den oberen Liepmann

Extremitäten

Bewegungsintention . . © . 2... Objekthandlungen (bei präsentem Objekte) Objekthandlungen (aus dem Gedächtnisse) Ausdrucksbewegungen (aus dem Gedächt-

Wwegungen . » . e 2 200 Nachahmen passiver Bewegungen durch dieselbe. . . 2. 2 2 0 020. Nachahmen passiver Bewegungen durch die gekreuzte Seite . . . » . . ER O O

Eigenleistungen . . .. 2 220. Zweihändiges Manipnlieren . . . . . _ O | nun

Im statisch-lokomotor. Handeln .||

l. Tatsächliche Ergebnisse (siehe Tabelle).!)

1. Ein Tumor im Bereiche des linken Stirnhirnes, welcher die Rinde der Brocaschen Windung und die an- grenzenden Markpartien schon verschont gelassen hat und mit zapfenförmigem Fortsatze medial bis vor die vorderen Thalamusebenen in die linke Balkenhälfte, mit einem anderen zapfenförmigen Fortsatze vor dem Balken- knie in die medialen Partien des rechten Stirnhirnes sich erstreckt, liess dieübrigenHirnpartien, insbesondere die Zentralwindungen, frei.

Als motorische Krankheitserscheinungen bestanden:

Links: Rechts:

Teilweiser Ausfall wie rechts. Ausfall von Bewegungsab- Teilweise zweckgemässe Be- läufen auf die Anregungen der wegungsabläufeinnerhalbderAn- links- und rechtsseitigen Sinnes- regungen und Kontrolle seitens sphären und Erinnerungsfelder eines Sinnessystems. Rein ge- (Akinese). dächtnismässige Objekthandlun- gen und Ausdrucksbewegungen apraktiech. Erhalten sind die

igenleistungen und das optische Nachahmen.

1) EM hochgradige, geringgradige apraktische, O schwere akine- tische Bewegungsdefekte,.

268 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

Erhalten blieb das Nachahmen passiver Bewegungen in derselben und in der gekreuzten Seite. ,

Ä 2. Ein Tumor, welcher den kompakten Teil des Balkens von den Ebenen der vorderen Kommissur bis an sein hinteres Ende nahezu vollkommen zerstört hatte, das Areal desselben nırgends überschreitet, nachweislich

die übrigen Hirnpartien nicht einbezogen hat, ist begleitet von motorischen Krankheitserscheinungen:

Links:

Bewegungsabläufe, von ver- schiedenen Sinnessystemen an- geregt, fallen zum Teil über- haupt aus, zum Teil finden sich statt ihrer vertrackte Bewegun- en; die Eigenleistungen des ensomotoriums des Armes sind erhalten, ebenso das Nachahmen - passiver Bewegungen auf der- selben Seite.

Rechts:

Bewegungsabläufe sind zu- meist prompt von verschiedenen Sinnesgebieten auslösbar.

Ausschaltung der kontrol- lierenden Tätigkeit des optischen Systemes hat mitunter akineti- sche Erscheinungen oder Be- wegungsverwechslung zur Folge. Erhalten sind ebenso die Eigen- ° leistungen und die Nachahmung

passiver Bewegungen auf der- selben Seite.

Die Nachahmung passiver Bewegungen einer Körperseite durch Aktion der anderen ist unmöglich.

Zweihändige Bewegungsfolgen sind unmöglich.

Es bestehen auf dem Gebiete statisch-lokomotorischer Tätig- keit statt jeglicher zweckgemässer Bewegung vertrackte, rudi- mentäre oder akinetische Erfolge, mit Ausnahme der elementaren Schrittbewegung der Beine (Eigenleistung ?).

3. Eine Blutung in das Marklager der Il. Frontal- windung rechts, von ca. Walnussgrösse, hat an motorischen Krankheitserscheinungen zur Folge:

Links:

Bewegungsabläufe (speziell Ob- jekthandlungen bei präsentem Objekte oder rein gedächtnis- mässig), von verschiedenen Sin- nessystemen angeregt, fallen zum Teil überhaupt aus (Akinesen), zumTeiltretenamorphe,vertrakte Bewegungen auf,

Rechts: Intakte motorische Tätigkeit.

2. Deutung der Ergebnisse.

Näher noch nicht umgrenzbare Anteile des Stirn- hirnes(im Bereiche von Flechsigs vorderem Assoziations- zentrum) erscheinen in die Mechanik der motorischen Grosshirntätigkeit eingeschaltet und verhalten sich in ihrer Funktion zu den Extremitätenzonen der Zentral-

Hartmann; Beiträge zur Apraxielehre. 268

windungen allem Anscheine nach analog, wie sich die Brocasche Hirnregion zu den Hirnnervenzonen der Zen- tralwindungen (in Hinsicht der Dynamik der motorischen Sprachfunktion) verhält.

Die Anregungen zu Bewegungsabläufen von den ver- schiedenen Sinnesgebieten des Grosshirnes bedürfen zur Uebertragung ihrer Impulse auf die fokalen Felder der Zentralwindungen der Mitwirkung des Stirnhirnes,

Fig. 1. Schematische Eintragung von Liepmanns Fall und den drei Fällen eigener Beobachtung auf einen schematischen Hori- zontalschnitt.

\N Fall Liepwann.

li Fall T. = Fall II. III) Fall IM. Ca = Gyrus centralis anterior, Cp = Gyrus centralis posterior.

Der Ausfall dieser Stirnhirnfunktion links erzeugt motorische Seelenlähmung(totale Apraxie)dergekreuzten Extremitäten. |

Das rechte Stirnhirn bedarf der Mitwirkung des linken Gehirnes und der Verbindung mit den anders- seitigen Sinnessphären (und Erinnerungszentren Ramons) zurLeitungdes Ablaufes vonzweckgemässen Bewegungen.

Bei Wegfall nur des linken Stirnhirnes leidet vor-

2370 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.

wiegend das gedächtnismässig garantierte Kontinuum der linksseitigen Bewegungsabläufe. Ä

Bei Wegfall eines grösseren Teiles der Balken-Ver- bindung mit den andersseitigen Gehirn entsteht Leitungs- apraxie der linken Extremitäten bei erhaltenem Be- wegungsgedächtnis.

Die höheren motorischen Leistungen der in ihren Verbindungen voneinander getrennten Hemisphären sind verschiedenwertig. Während die abgetrennte linke Hemi- sphäre nur einer verstärkten perzeptiven Kontrolle der ablaufendenBewegungsvorgänge durch die Sinnessysteme bedarf, erscheint die rechte für sich allein (bei erhaltenen Eigenleistungen und erhaltener Nachahmungsfähigkeit passiv der zugehörigen Körperseite erteilter Bewegungs-

olgen) nur zu apraktischen Leistungen befähigt; kom- pliziertere Bewegungsfolgen, welche gleichzeitig die

uskelgebiete beider Seiten in Anspruch nehmen (zwei- händige und statisch-lokomotorische Bewegungsabläufe), sind an die Intaktheit der interhemisphärischen Asso- ziationssysteme gebunden.

Defekte des rechten Stirnhirnes (Marklager der rechten U. Stirnwindung) erzeugen Symptome partieller Leitungsapraxie der linken Körperseite bei erhaltenem Bewegungsgedächtnis.

Nach den hier vorgetragenen Anschauungen über eine derartige Funktion gewisser Teile des Stirnhirnes würde im Sınne des Gesetzes von der Wanderung der Funktion nach dem Vorderende das menschliche Stirn- hirn einem Grossteile der bei den niederen Wirbeltieren schon durch die motorischen Zentralzonen besorgten Leistungen und solchen hieraus weiter entwickelten von höherer Dignität und Kompliziertheit vorzustehen haben.

Erklärung der Figuren auf den Tafeln I—JI.

Tafel I, II. Ca= G. centralis anterior, Cp == G. centralis posterior. Figg. 1, 2, 8, 4: Fall I. Linker Stirnhirntumor. Fig. 5, 6: Fall II. Balkentumor. Fig. 7: Fall III. Rechtsseitige Herderkrankung im Stirnhirn.

Weber, Zur prognostischen Bedeutung etc. 271

Zur prognostischen Bedeutung des Argyli-Robert- sonschen Phänomens.

Von L. W. WEBER,

Göttingen.

Unter obigem Titel hat Pilcz in Heft 1, Jahrgang 1907 dieser Zeitschrift einige interessante Fälle mitgeteilt, hei denen vorübergehend die Pupillen lichtstarr oder träge waren und die durch Jahre fortgeführte Katamnese kein Zeichen für progressive Paralyse ergab. Da in der Mehrzahl der Fälle das Symptom auch nicht auf eine überstandene Lues zurückzuführen war, so rechnet es P. der Neurasthenie zu, die bei diesen Fällen nach- zuweisen war; die Pupillenstarre verschwand auch mit dem Zurück- gehen der neurasthenischen Beschwerden.

Die Mitteilung von Pilcz möchte ich noch durch folgende Beiträge ergänzen.

1. Cramer hat schon seit vielen Jahren darauf hingewiesen, dass nicht nur bei Alkoholikern, im pathologischen Rausch und im gewöhnlichen starken Rausch, sondern auch bei Imbecillen, Degenerierten und Erschöpften unter der Einwirkung ganz mässiger Alkoholgaben, welche noch keine psychischen Veränderungen setzen, Pupillendifferenz, Pupillenträgheit und Lichtstarre der Pupillen auftreten können. Die ersten von Cramer methodisch angestellten Versuche sind in seiner gerichtlichen Psychiatrie (S. 333) erwähnt und ausserdem von H. Vogt!) ausführlicher geschildert. Es ist dies Verhalten der Pupillen zu diagnostischen Zwecken verwendet worden bei der Begutachtung zweifelhafter Geisteszustände Ich erwähne hier nur einen Fall aus unserer Klinik, einen 19jährigen, stark degenerativ veranlagten Menschen, der im Wirtshaus eine Majestätsbeleidigung beging; beim Alkohol- versuch ergab sich Pupillenstarre und Differenz der Kniephänomene, ehe psychische Veränderungen „auftraten. Kürzlich hat auch Tomaschny?) eine Anzahl ähnlicher Fälle aus der Anstalt Treptow zusammengestellt.

2. Weiter haben wir reflektorische Pupillenstarre in den letzten Jahren wiederholt bei Fällen folgender Art gesehen. Es handelt sich um Menschen des fünften Lebensjahrzehnts oder etwas älter, aber ohne jedes Zeichen präseniler Rückbildung.

1) Berl. klin. Wochenschr, 1905. 3) Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 28. H. 5.

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 3. 18

272 Weber, Zur prognostischen Bedeutung etc.

Beginn der Psychose gewöhnlich allmählich mit jahrelangen Pro- dromen (Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit, Reizbarkeit, Egoismus, ethische Defekte), dann gewöhnlich ziemlich akute Attacke, oft unter dem psychischen Bild der progressiven Paralyse in expansiver Form. ewöhnlich- kommen diese Fälle auch mit der Diagnose progressive Paralyse zur Aufnahme. Die Unter- suchung ergibt scheinbar zur Bestätigung Lichtstarre der Pupillen, oft auch Differenz. Aber nach einiger Zeit verschwindet mit der psychischen Erregung das Symptom, um bei einer neuen Attacke wiederzukehren. Einen dieser Fälle haben wir nach dreijähriger, in steten Schwankungen verlaufender Krankheits- dauer im 47. Lebensjahr zur Sektion bekommen. Es war keine Paralyse, auch keine Hirnsyphilis, sondern eine ‚diffuse Arterio- gklerose der feineren Gefässäste, die zu zahlreichen kleinen Er- nährungsstörungen und Erweichungen geführt hat; der Fall rechnet anatomisch zu dem Bild, das Binswanger als Encephalitis sub- corticalis beschrieben hat. Wir haben deshalb auch bei den beiden anderen, noch in unserer Beobachtung stehenden Fällen, die interkurrent diese Pupillenstörungen zeigen, die Diagnose auf eine diffuse beginnende arteriosklerotische Hirnatrophie ohne gröbere herdförmige Erkrankung gestellt. Gerade bei der diffusen Form der Hirnarteriosklerose, bei der es nicht zu gröberen Herd- erkrankungen kommt, lässt sich denken, dass für gewöhnlich der geringere Blutzufluss für die Funktion der subkortikalen Zentren noch genügt, dass aber unter besonderen Umständen, z. B. bei stärkerer Erregung, bei sonstigen Zirkulationsstörungen u.s.w. hier Ausfallserscheinungen auftreten. Weiter möchte ich darauf hin- weisen, dass es sich in unseren Fällen durchweg um ausgesprochen degenerativ Veranlagte handelt; in einem Falle besteht eine starke hereditäre Belastung, die sich in hochgradiger affektiver Labilität mehrerer Familienglieder kundgibt; die beiden anderen Fälle fielen schon Jahrzehnte früher ihren näheren Bekannten durch ihr eigen- artiges exzentrisches Wesen auf. Wiederholte pathologisch-ana- tomische Befunde legen mir die Annahme nahe, dass ein ana- tomischer Ausdruck der sogenannten degenerativen Veranlagung eine mangelhafte Ausbildung und geringere Widerstandsfähigkeit des Gefässsystems, insbesondere der Gefässwände, ist. Daraus würde sich erklären, weshalb in solchen Fällen auch ohne Mit- wirkung von Lues oder anderen bestimmten, exogenen Schädlich- keiten die Arteriosklerose so frühzeitig gewissermassen als Ver- brauchskrankheit des Gefässsystems auftritt.

Unter den von Pilcz mitgeteilten 7 Fällen ist einer 29 Jahre, einer 388, drei stehen in dem für die Arteriosklerose kritischen Alter um das 40. Jahr, und einer ist 61 Jahre. Auch wenn die Katamnesen jahrelang günstig lauten, ist dabei doch nicht aus- geschlossen, dass es sich um ähnliche, langsam und etappenweise fortschreitende Arteriosklerosen des Gehirns handelt, die unter entsprechender Schonung und Behandlung sich jahrelang gut halten können, bis ein neuer Schub oder eine exogene Schädlichkeit die

Fischer, Ueber die sogenannten rhythmischen etc. 278

Arteriosklerose fortschreiten und die Pupillensymptome wieder auftreten lässt.

Jedenfalls möchte ich unter die Erkrankungen, die mit transitorischen Pupillensymptomen verlaufen, auch die Arterio- sklerose, insbesondere in der frühzeitig beginnenden und langsam verlaufenden Form, auf degenerativer Basis zählen und auf ihre differentialdiagnostische Bedeutung gegen die progressive Paralyse aufmerksam machen.

(Aus der deutschen psychiatrischen Klinik. [Prof. A. Pick in Prag.))

Ueber die sogenannten rhythmischen, mit dem Puls syncehronen Muskelzuckungen bei der progressiven Paralyse.

Von Dr. OSKAR FISCHER,

I. Assistenten.

Im Jahre 1895 fügte Kemmler!) zu den damals bekannten epileptiformen und apoplektiformen paralytischen Anfällen noch eine dritte Krampfart hinzu, die sich durch eine regelmässig rhythmische Wiederkehr kurzer Zuckkrämpfe auszeichnen sollte, die den klonischen Krämpfen gegenüber sich dadurch charakte- risieren, dass sie in ihrem Rhythmus synchron mit dem Pulse verlaufen. Kemmler untersuchte derart, dass er mit dem Finger den Puls abtastete und dabei mit dem Auge die Zuckungen be- obachtete oder aber von einem anderen beobachten liess und den Rhythmus kontrollierte. Er behauptet, dass er auch nachweisen konnte, dass eine jede Aenderung der Pulsfrequenz auch eine Aenderung der Frequenz der Muskelzuckungen bedingte, eine Unregelmässigkeit des Pulses zu Unregelmässigkeiten der Muskel- zuckungen führt, ja dass in einem seiner Fälle auch ein dikroter Puls die Ursache einer ebenfalls dikroten Zuckungsform abge- geben hatte.

Dieser auffällige Befund verlangt eine Erklärung, und die von Kemmler ist auch die nächstliegende, dass nämlich durch den paralytischen Krankheitsprozess im Gehirn die Reizbarkeit der Hirnrinde derart umgestaltet oder erhöht wird, dass sogar die einfache Pulswelle als motorischer Reiz fungiert.

Seit längerer Zeit verfolge ich diese besonders vom allgemein pathologischen Standpunkte interessante Krampfform. Was das

ı) P. Kemmler, Ueber Krampfanfälle mit rhythmischen, dem Puls synchronen Zuckungen bei progressiver Paralyse. In den Arbeiten aus der psychiatrischen Klinik in Breslau. 1895. Herausg. von C. Wernicke,

18*

274 Fischer, Ueber die sogenannten rhythmischen,

Vorkommen derselben bei der progressiven Paralyse, deren Ver- halten zu den anderen motorischen Anfallsarten und deren Dauer anbelangt, kann ich die Angaben Kemmlers vollinhaltlich be- stätigen; auch konnte ich einen mehr oder weniger konstanten Rhythmus derselben verfolgen und beim Befühlen des Palses das rhythmische Zusammenfallen mit demselben wahrnehmen; kon- trollierte man aber längere Zeit, dann konnte man häufig, und auffälliger Weise in ganz bestimmten Zeiträumen sich wieder- holende, leichte Unregelmässigkeiten nachweisen, deren Ursache bei dieser einfachen Prüfungsart nicht recht verständlich war. Dazu musste man ein genaueres Registrierverfahren anwenden, indem man sowohl die Pulswelle als auch die Muskelzuckungen gleichzeitig auf ein mit bestimmter Geschwindigkeit rotierendes berusstes Papier sich aufzeichnen liess, Ich verwendete dazu modifizierte Mareysche Trommeln. Zur Aufnahme des Paulses konstruierte ich einen Schienenspparat, in dem der Vorderarm fixiert werden kann und auf dem die Aufnahmstrommel frei nach allen Richtungen beweglich und von dem Arm abhebbar ist; dadurch wurde eine präzisere Einstellung der Pelotte ermöglicht, die Auf- nahmetrommel konnte durch einfaches Umklappen von der Arterie entfernt werden, was bei Unruhe des Kranken oder während eines Anfalles von Vorteil war, um nachher sofort wieder in die alte Stellung gebracht werden zu können; die Muskelzuckungen wurden ebenfalls mit einer nur etwas gröberen Mareyschen Trommel aufgenommen und zwar derart, dass eine freie Trommel einfach mit der Hand an den gerade zuckenden Muskel womöglich unter ‘gleichem Druck gehalten wurde. Beide Aufnahmetrommeln waren mittelst Schläuchen mit den Marey schen Zeichentrommeln in Ver- bindung; zugleich wurden mit Hülfe eines Metronoms die Sekunden gezeichnet. Für die Anwendung dieser Anordnung musste eine besondere Bedingung gegeben sein. Da die Muskelzuckungen ziemlich grob sind, meist viel stärker als das Pulsieren der Radial- arterie, konnten nur diejenigen Fälle verwendet werden, bei denen die Krämpfe derart angeordnet waren, dass wenigstens ein Arm frei blieb; dann konnte man an dem ruhenden Arm die Puls- kurve und an einem der zuckenden Muskel die Muskelkurve aufnehmen.

Ich habe ın dieser Weise jetzt 4 Fälle untersucht, deren Beschreibung ich sofort folgen lasse.

Fall 1. L. E., 50jähriger Sträfling, eingebracht am 20. XI. 1902 zur Klinik. Schon im Juni des Jahres wurden an ihm von fremden Personen eine auffällige Vergesslichkeit, Apathie und Demenz bemerkt; am 5. IX. 1902 wegen Verbrechen des Betruges verurteilt; in der Untersuchungshaft klagte er schon über Kopfschmerzen und bekam einige Tage vor seiner Einbringung einen nicht näher beschriebenen „Tobsuchtsanfall®, wollte immer wieder weglaufen; eingebracht in der Zwangsjacke, mit stark blutigen Suffusionen der rechten Gesichtshälfte, zeigte er auf der Klinik: psychisch sehr stumpf, war rechtsseitig bemianopisch, hatte eine leichte Parese der rechten Körper- seite, starke Paraphasie mit Paralexie und Paragraphie, neben einer bebenden und häsitierenden Aussprache; Sehnenreflexe und Pupillen normal; die sen-

mit dem Puls synehronen Muskelzuckungen etc. 275

sorische Sprachetörung zeigte einen häufigen Wechsel in der Intensität, die Hemianopsie und die kulationsstörung bleiben im gleichen; es entwickelt sich eine zunehmende Demenz. Pat. ist seit Mitte 1 ganz unrein, dabei wird auch die Sprachstörung wesentlich stärker; Pat. zunehmend stumpfer.

4. X. 1904. Nachts etwa !/, Minute dauernde Zuckungen in der rechten Gesiehtshälfte und im rechten Arm, nachher Schlaf.

5. X. Früh stumpf, bei Bewusstsein; der rechte Mundwinkel etwas gehoben, die Nasolabialfalte rechts stark seitwärts verzogen, der rechte Arm setzt passiven Bewegungen steifen Widerstand entgegen. Kein Babinski. Auftreten vonrhythmischen jähen Zuckungen in den Muskeln der rechten Gesichtshälfte und des rechten Armes; dieselben sind so schwach, dass sie die Extremitäten selbst gar nicht bewegen, aber doch so stark, dass sie die Kontraktion des Muskels iu deutlicher Weise sichtbar werden lassen; dabei Pat. bei Bewusstsein von gewohnter Stumpfhbeit; die Zuckangen dauern durch 1—2 Stunden und kehren im Laufe des Tages einigemal in gleicher Weise wieder auf; beim Befühlen scheinen sie mit dem Puls synchron zu sein, es kommt jedoch nach kurzen Intervallen von gleichartigem Rhythmus immer wieder zu eigenartigen Unregelmässigkeiten zwischen Puls und Muskelzuckungen.

6. X. Nachts wiederholten sich die Muskelzuckungen in ähnlicher Weise; ebenso auch heute; nur ist Pat. benommen und die Zuckungen dauern ohne Unterbrechung; zeitweise kommt es zu einer paroxysmenartigen Ver- stärkung derselben; 6 Uhr nachmittags Exitus.

Die Sektion ergab eine deutliche Atrophie des ganzen Gehirns, be- sonders aber der linken Hemisphäre, unter stärkster Beteiligung des Schläfen- und Occipitallappens. Die mikroskopische Untersuchung ergab das typische Bild einer progressiven Paralyse.

Am 6. X. vormittags wurde die Pulskurve der linken Arteria radialis und die Krampfkurve der rechten Gesichtsmukulatur in der oben geschilderten Weise gleichzeitig aufgenommen; dieselben zeigt Fig. 1; b. ist die Kurve des zwar nicht sehr starken, aber ganz regelmässigen Pulses; dagegen ist die Krampfkurve nicht ganz rhythmisch und, was das Auffallende ist, sie zeigt einen ganz anderen Rhythmus als die Pulskurve; es entfallen auf die hier verzeichnete Zeit von 12 Sekunden nicht ganz 14 Muskel- zuckungen auf 20 Pulsschläge. Um die zeitliche Verschiedenheit der zwei Kurven besser vergleichen zu können, wurden die Kurvengipfel als Punkte auf Abszissen aufgetragen, wobei die Linie d der Krampfkurve, e der Pulskurve entsprechen. Da sieht man besonders deutlich die Unabhängigkeit der beiden Kurven voneinander; auch wenn man die zwei etwas unregelmässig ge- streckten Muskelzuckungen a und ß nicht berücksichtigt, bleibt trotzdem an den anderen Stellen der Rhythmus der beiden Kurven unabhängig, was besonders deutlich die Kurventeile rechts von ß zeigen; da gehen 6 ziemlich rhythmische Muskelzuckungen hinter- einander, und auf dieselbe Zeit entfallen 7 ebenfalls ganz rhyth- mische Pulse; die Zahlen 6 und 7 lassen sich nun in kein einfaches Verhältnis bringen. Die Betrachtung der Linien d und e zeigt, warum die einzelnen Kurvengipfel miteinander zusammenfallen, um dann wieder zu differieren, indem sich eine durch die ver- schiedenen Wellenlängen bedingte Interferenz einstellt.

Fall 2 U. O., 28jähriger Kellner, eingebracht in die Klinik am 3. XII. 1904 wegen Trunkenheitsexzess. Deutliches Bild der progressiven

——

276 Fischer, Ueber die sogenannten rhythmischen,

Paralyse, manische Stimmung, voll von unsinnigen Grössenideen; er ist ein grosser Musikant, General, Kaiser, wird grosse Schlachtschiffe bauen und den Japanern zu Hilfe kommen; wird später zunehmend dement, stumpf und unrein. Somatisch: bebende verlangsamte Sprache, Puapillen ungleich weit, bei guter Reaktion, Tremor der Hände und Zunge,

6.—20. XI. 1905. Anfall von motorischer Aphasie, dabei deutliche Un- geschicklichkeit der rechten oberen Extremität; allmählicher Rückgang der ymptome,

25. XII. Allgemeine epileptiforme Anfälle.

12. I. 1906. Früh bei der Visite somnolent; der rechte Mundwinkel zuckt rhythmisch. Bald darauf ein allgemeiner Krampfanfall von 5 Minuten Dauer, nachher Sopor; eine Zeitlang nach dem Anfalle zucken beide Mund- winkel rhythmisch. Tagsüber ist Pat. weniger frei, wieder von den Zuckungen befallen, deren Sitz aber wechselt; zeitweise ist nur die rechte Gesichts- hälfte befallen, dann wieder die ganze rechte Körperhälfte, dann wieder die beiden Gesichtshälften und die linke obere Extremität, zeitweise zucken auch die Bauchmuskeln mit. Die Muskelzuckungen ziemlich rhythmisch, scheinen bei oberflächlicher Prüfung mit dem Puls synchron zu sein, bei genauerer Prüfung merkt man aber mehr oder weniger häufig sich wiederholende Unregelmässigkeiten, worauf dann wieder mehrere Schläge zusammenfallen.

13. I. Komatös. Kein Anfall, Exitus.

Die Sektion und mikroskopische Untersuchung des Gehirns ergaben das typische Bild der progressiven Paralyse.

Fig. 3.

mit dem Puls synchronen Muskelzuckungen etc, . 277

BLASEN

b

Fig. 4.

Fig. 5. Zeichenerklärung: a) Krampfkurve, b) Pulskurve, c) Sekundenzeichen, d) Projektion der Kurvengipfel von a, e) Projektion der Kurvengipfel von b.

Am 12. I. wurde eine Kurve aufgenommen zu einer Zeit, wo die beiden Gesichtshälften und der linke Arm zuckten; die Kurven sind dem Puls der rechten Radialarterie und den Zuckungen des linken Musculus biceps entnommen. Fig. 2 ist-am Vormittag und Fig. 3 am Nachmittag desselben Tages aufgenommen; in Fig. 3 ist die Pulskurve ziemlich gleichartig, regelmässig, entspricht einem weichen, ziemlich kräftigen Puls von 100 Schlägen in der Minute. Nicht so ganz regelmässig ist die Krampfkurve; die Höhe der einzelnen Kurven ist zwar bis auf einzelne, nicht zu berücksichtigende Differenzen im allgemeinen dieselbe, aber wie dies besonders gut die Projektion der Kurvengipfel d zeigt, kommen immer Perioden von kürzeren und Perioden von längeren Ele- vationen vor. Die Puls- und die Krampfkurve präsentieren sich als vollkommen voneinander unabhängig. In den 12 Sekunden sind einerseits 20 Pulswellen gegenüber 23 Muskelzuckungen ver- zeichnet, und andererseits sind hier zwei Perioden kürzerer und eine dazwischen liegende Periode längerer Muskelzuckungen ver- zeichnet, während deren der Puls unbeeinflusst in gleichmässiger Weise weiter verläuft. Beim Vergleiche der Linien d und e sieht man wieder, dass zeitweise einzelne Elevationen der zwei Kurven immer nacheinander zusammenfallen, dann wieder miteinander interferieren um dann wieder auf einige Schläge zusammenzufallen. So können dem den Puls nur mit dem Tastsinn kontrollierenden Beobachter die vier zwischen a und ß liegenden und die fünf

278 Fischer, Ueber die sogenannten rhythmischen,

zwischen y und ô liegenden Elevationen als ziemlich gleichzeitig erscheinen, da die zeitliche Differenz zwischen denselben zu klein ist, als dass sie bei dieser Untersuchung mit Sicherheit wahrgenommen werden könnte. In ähnlicher Weise verhalten sich auch die Kurven in Fig. 3, nur dass hier die Krampfkurve durch Di- und Polykrotie noch etwas unregelmässig wird. Auch bier entfallen auf 19 Pulse 24 Muskelzuckungen.

Fall 3.) H.H., 13jähriger Pflegling der Idioten-Anstalt, aufgenommen am 8. I. 1905.

Pat. ist seit seinem 6. Lebensjahre progredient schwachsinnig, seit einem Jahr in der Idioten-Anstalt; vollkommen verblödet; Sprache bebend, sich zunehmend verschlechternd; seine Mutter befindet sich zur Zeit seiner Aufnahme mit progressiver Paralyse in der Pflege der Irrenanstalt.

Eingebracht ganz verblödet, bringt nur unartikulierte Laute bebend hervor, Pupillen weit, starr, sehr gesteigertes Kniephänomen.

24. I. Auftreten von kurzen rhythmischen Zuckungen in beiden Ge- sichtshälften und den rechtsseitigen Extremitäten, die Zuckungen bestehen ohne Störung des Sensoriums in verschieden starker Intensität und sind ziemlich regelmässig, etwa 75 in der Minute, der Puls dagegen etwas un- regelmässig; zwischen beiden lässt sich kein deutliches Zusammenfallen wahr- nehmen. |

Die Zuckungen dauern in wechselnder Stärke bis zum Tode des Pat., der am 81. I. 1906 eintritt. Sektion und mikroskopische Untersuchung des Gehirns bestätigen die Diagnose der progressiven Paralyse.

Die am 25. I. aufgenommenen Kurven des L. Radialpulses und der Zuckungen des rechten Unterarmes zeigt die Fig. 4; beide Kurven sind ziemlich unregelmässig, sowohl was die Dauer als auch die Form der einzelnen Elevationen anlangt, und lassen sich in ihrem Rhythmus in keiner Weise auf eine einheitliche Basis bringen: in den 12 markierten Sekunden sind 18 Muskel- zuckungen und 28 Pulswellen verzeichnet.

Fall 4. Z. F., 35 jährige Höcklersgattin, aufgenommen am 1. X. 1905. Pat. ist seit zwei Jahren epileptisch, hat gewöhnlich einmal im Monate einen Krampfanfall; ist nachher meist durch mehrere Stunden verwirrt; der letzte Anfall vor 5 Tagen, seither ein Dämmerzustand. Eingeliefert, drängt sie dämmerhaft weg, lässt sich füttern; zeigt sensorische Aphasie mit Paraphasie, Perseveration und apraktischen Zuständen. Nachts sehr unruhig delirant, nachher gewöhnlich konfabulierend. Pat. wird zunehmend dement, die Sprache leicht bebend und stockend.

20. XII. Status epilepticus von etwa 41 Anfällen; an einen der letzten Anfälle anschliessend streng rhythmische, die gesamte Muskulatur der linken oberen Extremität und die rechte Gesichtshälfte einnehmende Zuckungen. Dieselben dauern etwa 1/,Stunde(Kurvenaufnahme), werdenallmählichschwächer, und zum Schlass zuckt nur noch der linke Musculus extensor digiti minimi und der rechte Musculus frontalis. Die Zuckungen immer im gleichen Rhythmus, dem Gefühle nach ganz mit dem Pulse synehron, etwa 110 in der Minute,

Am nächsten Tage Nachts Fieber, Lumbalpunktion ergibt ziemlich reichliche Pleocytose.

1) Publiziert von Dr. Oskar Woltär: Beiträge zur Kenntnis der Farslysis progressiva im Kindesalter. Prager mediz. Wochenschrift. 1905. o. 89. | =

mit dem Puls syuchronen Muskelsuckangen etc. 279

Im weiteren Verlaufe gleicher Zustand wie vor den Anfällen, zeitweise einzelne epileptische Anfälle, aber keine rhythmischen Muskelzuckungen mehr; Pat. wird zunehmend dementer, stumpf und stirbt in einem Status epilepticus am 27. IV. 1906.

Die Sektion ergab keine deutliche Atrophie des Gehirns und nur sine sehr geringe Meningealtrübung; die mikroskopische Untersuchung steht noch aus.

Die Kurvenaufnahme zeigt Fig. 5. Es wurden verzeichnet die Zuckungen des linken Unterarmes und der rechte Radialpuls.

Sowohl der Puls als auch die Krampfkurve zeigen einen sehr schön gleichmässigen Rhythmus, es kommen aber auf 12 der markierten Sekunden 21 Muskelzuckungen und 24 Pulswellen; auch diese lassen sich in keiner Weise zeitlich aneinanderpassen. Sehr lehrreich ist in diesem Falle die Betrachtung der linearen Gipfelprojektionen d und e, die das zeitweise Zusammenfallen der Gipfel der 2 Kurven in schöner Weise demonstrieren.

Die beschriebene Untersuchung bezieht sich auf drei sichere Paralysen und den Fall einer Epileptica, die ziemlich rasch in einer ganz eigenartigen Weise verblödet ist. In allen diesen Fällen kam es zu den ganz typischen rhythmischen Muskelzuckungen, die in jeder Hinsicht der Schilderung Kemmlers entsprechen, nur dass sie, mit feineren Methoden untersucht, sich nicht als mit dem Pulse synchrom erweisen. Die vorliegende kleine Tabelle zeigt übersichtlich die Differenzen.

Fall No. Figur J

Zuckungsfrequenz in der Minute . | 65 | 115 |120 || 90 || 105 Pulsfrequenz in der Minute. . . || 100 || 100 | 80 || 115 || 120

Die Pulsfrequenz ist nur im 2. Falle niedriger als die Zuekungsfrequenz, in den anderen ist sie durchwegs höher.

Man könnte diesen Untersuchungen vorwerfen, dass die Zahl von 4 Fällen zu gering sei; dazu ist zu bemerken, dass die mit den graphischen Methoden gemachten Erfahrungen auch von einer Reihe anderer Fälle bestätigt wurden, die ich graphisch nicht aufnehmen konnte. Es waren dies zwei Fälle, die ich noch vor der graphischen Untersuchungsmethode untersucht habe und die dureh eigenartige periodenweise wiederkehrende Unregelmässig- keit zwischen Puls und Muskelzuckungen mich auf den Weg ge- nauerer Untersuchung wiesen; dazu kommen noch 4 andere Fälle, bei denen entweder der Puls so schwach war, dass er mit dem Apparste nicht aufzunehmen war, oder aber waren die Zuckungen über den ganzen Körper verbreitet, so dass eine Aufnahme des Pulses ohne Störung durch das Muskelwogen nicht möglich war, und auch in diesen Fällen konnte der Vergleich des nur ge- tasteten Pulses mit den Krampfzuckungen immer wiederkehrende Unregelmässigkeiten nachweisen.

280 Buchanzeigen.

Wir kommen also zu dem Schlusse, dass der Puls und die von Kemmler beschriebenen Muskelzuckungen nicht synchron zusammenfallen, sondern dass beide einen ganz eigenen, von einander unabhängigen Rhythmus aufweisen. Inter- essanterweise ist die Frequenz der Pulswellen in allen Fällen nicht sehr different von der der Muskelzuckungen, so dass es möglich wäre, dass beim wechselnden Verhalten derselben in den verschiedenen Fällen, es ein oder das andere Mal tatsächlich zu einer Synchronizität kommen könnte. Trotzdem wird man, wenn auch dies nachgewiesen werden könnte, auf Grund der obigen Erörterungen sowohl dem motorischen Zentrum als auch dem Herzen selbst je einen ganz selbständigen, von ein- ander unabhängigen Rhythmus zuerkennen müssen. Damit entfallen aber auch die weitgehenden, von Kemmler an die gegenteilige Ansicht geknüpften Folgerungen.

Nachtrag bei der Korrektur: Die inzwischen an dem Gehirn des 4. Falles vorgenommene histologische Untersuchung ergab das typische mikroskopische Bild der progressiven Paralyse.

Buchanzeigen.

v. Franki-Hoehwart, Der Meniöresche Symptomenkomplex. Zweite umgearbeitete Auflage. Wien 1906. A. Hölder.

Die rühmlichst bekannte Monographie hat Verf. in dieser zweiten Auf- lage auf Grund seiner vielfachen neuen Erfahrungen einer bedeutenden Er- weiterung untersogen. Die Einteilung ist im wesentlichen dieselbe geblieben. Den Meniöre-Anfällen bei bisher intaktem Gehörorgan (apoplektische und traumatische Formen) werden die accessorischen, zu Ohrerkrankungen hinzu- tretenden Formen, sowie der transitorische, durch äussere Einflüsse hervor- gerufene Ohrenschwindel gegenübergestellt. Anhangsweise werden Meniöre ähnliche Attacken (Pseudo-Meniere) bei funktionellen Neurosen, vorzugsweise Epilepsie und Hysterie, besprochen. Neu hinzugekommen sind die Meniere- Symptome bei der vom Verf. so genannten Polyneuritis cerebralis Meniöri- formis (Vereinigung von Faxialislähmung, Herpes, kochlearen und vertibularen Störungen) der Symptomatologie, pathologischen Anatomie, deren Ergebnisse, soweit die accessorisehen Formen in Betracht kommen, noch recht dūrfti sind sowie der Differentialdiagnose sind ausführliche und erschöpfende Kapite

ewidmet. Wichtig und neu ist die Aufstellung von Formes frustes des

eniere-Anfalls. Die Prognose ist Verf. geneigt, jetzt günstiger als in der

ersten Auflage zu stellen, wenigstens bezüglich des Schwindels, da ein recht

beträchilicher Teil der Kranken während einer langen Beobachtungsseit von

Anfällen freigeblieben ist. Ein Abschnitt über Prophylaxis und Therapie,

sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis beschliessen die wertvolle „arbeit, ipschitz.

Sante de Sanetis, Die Mimik des Denkens. Uebers. von Joh, Bresler- Halle a. S. C. Martold 1906. 181 S., 44 Abbild. im Text.

Der Verf. gibt eine ausführliche Beschreibung und Analyse des Gesichtsausdruckes, welcher das Aufmerken, Beobachten und Denken be- gleitet. Auch die Mimik der Tiere und des Kindes sowie ihre Modifikationen nach Rasse, Geschlecht etc. werden berücksichtigt, ganz besonders sei aber an dieser Stelle auf die Darstellung der Veränderungen der Denkmimik bei Facialislähmung, Neurasthenie, Blindheit und Geisteskrankheit (inkl. Schwach- sinn) hingewiesen. Die Uebersetzung ist recht gat. Z.

Buchanzeigen, 281

Technik, Wirkungen und Indikationen der Hydro-Elektrotherapie bei Anomalien des Kreislaufes. Von Dr. Paul C. Franze. Preis 1,60 Mk. Erschienen in der „Aerztlichen Rundschau“. München. 1905.

Verfasser gibt eine kurze, leicht verständliche Anleitung zur Aus- führung der Hydro-Elektrotherapie und macht uns mit seinen Erfahrungen bekannt über die Wirkungen hydro-elektrischer Bäder, z. T. in Verbindung mit der Manheimer Kur. A. Kempner.

Förster, 0., Die Kontrakturen beiden Erkrankungen der Pyramiden- bahn. Berlin 1906. S. Karger. M. 1,60.

Verf. legt in dieser bedeutsamen, sehr klar und anregend geschriebenen Arbeit seine Anschauungen über das Wesen nnd die Entstehung der Kon- trakturen bei Pyramidenbahnerkrankungen dar. Nach einer knəppen, aber vollständigen Uebersicht über die Kontrakturen überhaupt scheidet er unter den spastischen Kontrakturen die Früh- oder Reizkontrakturen scharf von den Kontrakturen der Pyramidenbahnerkrankung, die er als Ausfallskontrakturen bezeichnet, ab. Das Wesen dieser Ausfallskontrakturen sieht er in der Tendenz des Muskels, sich der Annäherung seiner Insertionspunkte durch Spannungs- entwicklung anzupassen. Auf die grosse Mannigfaltigkeit der Formen der Kontrakturen hinweisend, sucht er an der Hand seiner Erfahrung in scharf- sinniger Weise zu beweisen, dass die Entwicklung einer bestimmten Kontraktur- stellung fast ausschliesslich davon abhängt, dass das Glied in dieser Stellung eine Zeit lang verharrt, wobei als stellungsbestimmende Momente zunächst die mehr oder minder zufällige Lagerung des Gliedes, nach Rückkehr der Beweglichkeit die möglich gewordenen Willkürbewegungen, Mitbewegungen, sowie Reflexbewegangen wirken. Die Ursache der Kontraktur sieht er in dem Fortfall spannungshemmender Einflüsse der Hirnrinde auf den aus zentripetalen und zentrifugalen Bahnen zusammengesetzten subkortikalen Innervationsmechanismus. Durch Wegfall dieses kortikalen Einflusses wird der normale reflektorische Widerstand der normale Fixationsreflex, wie ihn Verf. nennt zur Kontraktur, zum rein subkortikalen Fixationsreflex. Die Ansicht des Verf, dass die Rigidität der Paralysis agitans analog den Kontrakturen bei Pyramidenbahnerkraukungen als veränderter Fixations- reflex betrachtet werden müsse (wie er andeutet: infolge Erkrankung der kortiko-zerebellaren Bahnen), hat manches für sich; wenig gelungen schoint dagegen der Versuch, die Kontrakturen bei akinetischen Zuständen der Geistes- krauken (Negativismus, Flexibilitas cerea) ebenfalls in Parallele mit den Kontrakturen der Pyramidenbahnläsionen zu stellen und als verändertes Reflex- phänomen aufzufassen. Lipschitz.

Klinik für psyehisehe und nervöse Krankheiten. Herausgegeben von Prof. Dr. Soemmer-Giessen. Verlag von C. Marhold-Halle,

Der Zweck dieser neu herausgegebenen Schritt, welche auf 2 Jahre berechnet ist und in Vierteljahresheften à 3.00 Mk. erscheint, ist nach einem Vorwort des Herausgebers „in erster Linie der, zu lehren, wie man durch bewährte Methoden in den einzelnen Fällen der psychiatrisch- neurologischen Praxis zu einer möglichst genauen Feststellung der Symptome und zur richtigen Auffassung der Krankheitsart gelangt“.

In Form einzelner Aufsätze wird der Leser mit den Untersuchungs- methoden der Giessener Klinik, sowie mit der daraus resultierenden Diagnostik, Prognostik und Therapeutik bekannt gemacht.

Sommer selbst liefert bereits im 1. Vierteljabresbeft 3 Beiträge:

a) „Psychiatrische Untersuchung eines Falles von Mord und Selbst-

mord mit Studien über Familiengeschichte und Erblichkeit“;

b) „Ueber Geistesschwäche bei psychogener Neurose“;

€) „Die elektrischen Vorgänge an der menschlichen Haut“.

Von weiteren Beiträgen seien des kurzen ‚Raumes wegen nur noch erwähnt: i v. Leupoldt: 5 a) „Nachweis der Simulation von Taubstummheit durch Schreckwirkung

auf akustische Reize“; b) „Zur Symptomatologie der Katatonie“. .

282 Buchanzeigen.

Dannemann: „Ueber Bewusstseinsveränderungen und Bewegungs- störungen durch Alkohol, besonders bei Nervösen.*

Laquer: „Die ärztliche und erziehliche Behandlung von Schwach- sinnigen in Schulen und Anstalten und ihre weitere Versorgung.“

Weitere Beiträge sind zu erwarten von Aschaffenburg, Bins- wanger, Gerhard, Edinger, Liepmann, Westphal u. a. m.

A. Kempner-Berlin-Charlottenbarg.

Die religiöse Wahnbildung. Eine Untersuchung von Th. Braun, Stadt- pfarrer in Leutkirch-Täbingen. J.C. B. Mohr (Paul Siebeck). 1906. 74 S.

Braun hat die religiösen Wahnvorstellungen, wie sie von den Geistes- kranken in den verschiedensten Krankheitsiormen bald vereinzelt und unklar, bald in systematisierter Form geäussert werden, hinsichtlich ihrer Genese und ihrer Einwirkung auf die religiös-sittlichen Anschauungen der Patienten untersucht. Die Sehrift bietet für den Psychiater nichts Neues. Die klein- liche und gekünstelte Erklärung und Systematisierung der verschiedensten wahnhaften Aeusserungen ist für ihn ohne Interesse. Beachtenswert sind dagegen die Schlussfolgerungen, dass „der für den Laien naheliegende Gedanke, als ob die religiöse Wahnbildung für den Kranken religiös-sittlich förderlich und das dankbarste, anregendste Feld der Seelsorge sei, in keiner Weise zutrifft“, und dass ein Eingehen auf die im Anfangsstadiam einer Psychose auftretenden religiösen Wünsche und Vorstellungen in der Regel von ungünstigem Ein- fluss auf die Vorstellungstätigkeit sei. Dieser Schluss lässt es wünschenswert erscheinen, dass die Schrift speziell in den theologischen Kreisen Verbreitun finden möge, die sich berufen fühlen, ihre seelsorgerische Tätigkeit auch au das psychiatrische Gebiet aussudehnen. Grimme-Göttingen.

C. Moell, Die in Preussen gültigen Bestimmungen Aber die Ent- lassung aus den Anstalten für Geisteskranke. Alt-Hochesche Sammlung. C. Marhold. 1906. 44 S.

Diese Zusammenstellung der Bestimmungen über Entlassungen von Geisteskranken und die klare Erörterung ihrer praktischen Bedeutang ist sebr dankbar zu begrüssen. Dabei ergibt sich zugleich, wie wenig diese Bestimmungen den tatsächlichen Verhältnissen gerecht werden. 2.

M. Benedikt, Aus meinem Leben. Erinnerungen und Erörterungen. Wien 1906. K. Konegen. 420 S.

Unter den vielen Memoiren und Autobiographien Gelehrter, mit denen uns die letzten Jahrzehnte beschenkt haben, interessiert das vorliegende Werk nivht nur, weil der Verfasser der Psychiatrie nahe steht, sondern auch weil es uns zeigt, wie ein hervorragender Mensch selbst sein Verhältnis zur Mitwelt auffasst und was aus seinem Leben ihm selbst mitteilenswert erschien. Eiu mindestens originell, wenn nicht genial veranlagter Mann, der mit offenen Sinnen und warmem Herzen die Welt betrachtet, dem neben einer immensen und vielseitigen wissenschaftlichen Betätigung auch die glückliche Gabe eines

rossen Selbstbewusstseins zur Verfügung steht. Und das letztere gibt dem Buch noch eine besonders subjektiv gefärbte Note: überall bei wissenschaft- lichen Erörterungen, auf Versammlungen und Kongressen, in politischen Debatten, wie bei den dem Sport und Kanstgenuss gewidmeten Reisen: überall steht der Verf. nach seinem Bericht im Mittelpunkt und hat das Gläck, eine epochemachende Anregung zu geben, Sätze von „blühendem klassischem Wert“ aufzustellen.

Dieser egozentrische Charakter der Darstellung nimmt dem Buch nichts von seinem eigenartigen fesselnden Reiz, weil es eben von einem wirklich begabten Mann, der wirklich viel erlebt, gearbeitet und erfahren hat, ge- schrieben ist. Die speziellen Anschauungen des Verf, namentlich auf kriminalpsychologischem und anthropologischem Gebiet, die er in diesem Buch auch der Laienwelt klarzumachen sucht, sind bekannt und brauchen bei dieser Gelegenheit nicht besprochen zu werden. Weber- Göttingen.

Buchanzeigen. 283

Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. Herausgegeben von Prof. Dr. Hoche- Freiburg. Verlag C. Marhold-Halle.

Im 8. Heft des VII. Bandes spricht Prof. Dr. Nolda „Ueber die Indikationen der Hochgebirgskuren für Nervenkranke".

Verf. stätzt seine Erfahrungen auf ein Material von über 8000 Nerven- kranken, die er in St. Moritz zu behandeln Gelegenheit hatte. Nach seiner Ansicht ist „der Aufenthalt im Hochgebirge worunter eine Höhe von über 13800 m verstanden wird für viele Nervenkranke ein vorzügliches Heil- mittel, auch im Winter“. Besonders geeignet zu Hochgebirgskuren seien Neurasthenie, Hypochondrie, Grübelsucht, Hemicranie, traumntische Neurosen, Asthma bronchiale seu nervosum, Epilepsie, Melancholie, Hysterie und Morbus Basedowii. |

Das 4. Heft des gleichen Bandes bringt eine Abhandlung von Salgó- Budapest über „Die forensische Bedeutung der sexuellen Perversität“.

Wieder ein Beitrag zur Abänderung des 8 175 R.St.G.B., der nach dem Urteil des Verfabrens „irrationell, höchst lüäckenhaft, unaufrichtig und praktisch völlig zwecklos“ ist, ja sogar „schädlich und korrumpierend“ wirkt, weil durch ihn der „Angeberei und gewerbsmässigen Ausnutzung schmählicber Situationen“ Tor und Tür geöffnet sei.

Weiter warnt Salgó den Psychiater davor, jeden Fall von Homosexualität in das Gebiet der Psychose einreihen zu wollen, da zahlreiche Fälle existieren, bei welchen „die eingehendste Untersuchung weder eine Krankheit, noch eine Disposition zu einer solchen, noch auch irgend welche Zeichen einer abnormen Funktion des Zentralnervensystems nachzuweisen“ imstande war.

Für ihn ist „die Frage der sexuellen Perversität als solche nicht Gegenstand der Psychiatrie“. Er betrachtet sie vielmehr in vielen Fällen als besondere „Geschmacksrichtung oder Geschmacksverirrung®.

Mag man sich zu den Ausführungen des Verfahrens stellen, wie man will; jedenfalls sollten Juristen und Aerzte diese Abhandlung in die Hand nehmen, die wieder einen Stein abreisst aus dem morschen Gebäude dieses Kapitels unseres Strafgesetzbaches.

A. Koempner-Berlin-Charlottenburg.

Leyden und Goldseheider, Die Erkrankungen des Rückenmarks und der Medulla oblongata. II., spezieller Teil- und III. Teil, die Medalla oblongata. Zweite, umgearbeitete Auflage. Wien 1904 und 1905. Alfred Hölder.

Das bekannte Werk aus dem Nothnagelischen Handbuch liegt nun vollendet in der zweiten Auflage vor, die eine Erweiterung der ersten dar- stellt unter Berücksichtigung der inzwischen erschienenen Literatur. Der zweite Teil umfasst 534 Seiten und 82 Abbildungen und 5 Tafeln. Er schildert zunächst die Erkrankungen der Wirbel mit Rücksicht auf die dadurch be- dingten Rückenmarkserkrankungen, dano die Erkrankungen der Rückenmarks- häute Hyperämie und Blutungen nebst den Entzündungen der Rücken- markshäute; eigentümlicher Weise werden zwischen beide Erkrankungen die Rückenmarkstumoreneingeschoben. Sodann folgen in amfangreicher Darstellung die Erkrankungen des Rüäckonmarks selbst: abnorme Blutfüllung, traumatische Affektionen, Myelitis, die sekundären und primären Strangerkrankungen, die Tabes, die Friedreichsche Krankheit, die progressive spinale Muskelatrophie, die amyotrophische Lateralsklerose und die Syringemyelie mit der Morvan- schen Krankheit. Es braucht wohl nicht betont zu werden, dass die Dar- stellung überall auf der Höhe steht, die durch die Namen der Autoren ver- bürgt wird. Doch sind die einzelnen Kapitel etwas ungleichmässig ausgefallen. Die Rückenmarkstumoren kommen entschieden etwas zu kurz fort, ebenso wird die Syringomyelie nicht sehr eingehend behandelt. Ganz vorzüglich ist die Darstellung der Myelitis in ihren verschiedenen Formen, an der man ‚die Meisterhand Leydens merkt! Sehr interessaut und allen Möglichkeiten, also jedenfalls nicht einseitig, gerecht werdend ist die Astiologie der Tabes behandelt. Störend wirkt, dass die Zifferbenennung der Kapitel im Text von der Zifferbenennung im Inhaltsverzeichnis abweicht: während im Inhalts-

284 Notiz.

verzeichnis bei Teil Il die von Teil I übernommene Numerierung fort- geführt wird, beginnt sie im Text von neuem.

Teil III behandelt in 82 Seiton die Erkrankungen der Medulla oblongata: es wird zuerst eine allgemeine Symptomatologie gegeben, dann folgt die Dar- stellung der progressiven amyotrophischen Bulbärparalyse, der akuten Bulbär- paralyse, der Bulbärparalyse ohne anatomischen Befund, der Pseadobulbär- paralyse, der Erkrankungen der Augenmuskelkernregion nukleäre Ophthalmo- plegie und der reridivierenden Oculomotoriuslähmung. Auch hier findet überall eine erschöpfende Schilderung der Aetiologie, Symptomatologie, pathologischen Anatomie und der Therapie statt, auc hier werden überall neue und neueste Forschungen gebührend berücksichtigt. Am besten ge- lungen ist die Darstellung der nukleären Ophthalmoplegie.

Das Buch trägt dem Forscher sowohl wie dem praktischan Arzte Rechnung, für letzteren ist es besonders wertvoll wegen der genau besprochenen Therapie. So wird es beiden gleich willkommen sein. Windscheid.

Strasser, H., Anleitung zur Gehirn-Präparation. Halle, Marhold.

. Verf. gibt eine kurze Darstellung davon, wie sich der Studierende Ein- sicht inden äusseren Bau des Gehirnes verschafft,indem er einzelne Präparations- methoden angibt, durch die man Einblick in die Verhältnisse des Gehirns gewinnen kann. Die Uebungen betreffen:

1. Herausnahme des Gehirns, Schädelkapsel, grobe Gliederung des Gehirns, Dura.

2. Weiche Hirnhöhlen, Hirngefässe, Hirnnerven, Rautenhirn und Mittelhirn.

3. u. 4. Aeussere Formenverhältnisse des Grosshirns, Stamm, Anschluss der Hemisphären.

5. Innerer Aufbau der Seitenmasse des Zwischenhirns und des Basal- teils der Hemisphäre, Stabkranz und Balkenstrahlung.

6. Grosshirnrinde, Gliederung der Hemisphären, Furchen und Windungen.

7. Serienschnitte durch das Gehirn. Koeppen-Berlin.

M. Kassowitz, Nerven und Seele. (4. Bd. d. Allgem. Biolog.) M. Perles- Wien. 1906. 584 S. Ä

Der Verf. versucht durch im einzelnen sehr zweifelhafte histologische und chemische Hypothesen bezüglich des Aufbaues des Nervensystems ein Verständnis für die psychophysiologischen Vorgänge zu gewinnen. U. a. stellt er sich vor, dass die adäquaten Keize nicht direkt auf die Sinnesnerven- endigungen wirken, sondern erst eine Gestaltsveränderung protoplasmatischer Gebilde hervorrufen. „Das Bewusstsein ist weder ein Teil des Gehirns, in den eine Nervenerregung eindringen kann, noch eine physiologische Funktion des Gehirns oder eines Gehirnteiles oder gewisser Zellen, sondern es ist ein Zustand, in den ein mit komplizierten Reflexmechanismen ausgestatteter Organismus gerät, wenn ein sehr grosser Teil dieser Mechanismen darch einen Reiz zu gleicher Zeit oder unmittelbar nacheinander in Aktion versetzt wird.“ (Dann müsste der epileptische Krampfanfall mit seiner Bewusst- losigkeit das beste Beispiel eines Bewusstseinszustandes sein. Ref.) Daher beruht für Verf. auch die Reproduktion früherer Bewusstseinsakte auf einer mehr oder weniger vollständigen Wiederholung derselben Reflexvorgänge, welche die physische Grundlage des primären Bewusstseinszustandes gebildet. hatten u.s.f. Jedenfalls ist das Buch durchweg sehr anregend gesc riepen.

Notiz.

Die Gesellschaft Deutscher Nervenärzte hält ihre erste Jahresversamm- lung im September d. Js. in Dresden. Die Eröffnungssitzung fällt voraus- sichtlich auf den 14. September. Die Referate (Krause-Berlin, Bruns- Hannover, Nonne-Hamburg, Neisser-Stettin) beziehen sich auf die chirurgische Behandlung der Nervenkrankheiten. Vorträge haben bislang übernommen: A. Pick-Prag, L. R. Müller- Augsburg, Schüller- Wien u. A. Weitere Vorträge sind rechtzeitig anzumelden bei H. Oppenheim-Berlin, Lennestrasse 8.

N

(Aus der städtischen Irrenanstalt Breslan, Primärarzt Dr. Hahn.)

Transitorische Alkoholpsychosen, Von Dr. F. CHOTZEN,

Die pathologische Alkoholreaktion ist die abnorme Reaktions- weise eines psychopathischen Gehirns, dessen Konstitution mass- gebend für Eintritt und Form der geistigen Veränderung ist, nicht Art oder Menge des genossenen Alkohols. Sie ist nicht in dem Masse spezifisch, dass immer ein ganz bestimmter, gleicher Symptomenkomplex als pathologischer Rausch resultieren muss, sondern es können, je nach der Grundlage, gewisse Symptome, z. B. bald hysterische, bald epileptische überwiegen, so dass manchmal die pathologischen Rauschzustände wie durch den Alkohol ausgelöste, hysterische oder epileptische Komplexe, kom- pliziert mit den Zeichen der akuten Alkoholintoxıkation, er- scheinen. Es bestehen fliessende Uebergänge zu den transitori- schen Bewusstseinsstörungen, die bei Degenerierten auch ohne Alkohol auftreten.

Die Mannigfaltigkeit der Formen ist daher auch eine sehr grosse. Aus dem bunten Gemisch halluzinatorischer, affektiver und motorischer Symptome, das gewöhnlich den epileptiformen Rausch, wie Heilbronner (1) und Bonhöffer (8) ihn schildern, darstellt, können die einzelnen Komponenten so in den Vordergrund treten, dass sie, also bald die halluzinatorischen, bald die affektiven oder motorischen dem ganzen Bild die charakteristische Färbung geben. Der Affekt ist am häufigsten eine Mischung aus Angst, zorniger Gereiztheit und bald Depression, bald Expansion, oder ver- schiedene Stimmungslagen folgen einander in demselben An- fall, so Angst und Expansion oder zornige Gereiztheit und Depression. Zuweilen aber beherrscht eine Stimmungslage den ganzen Zustand, wie in den gereizt-brutalen und den depressiven Formen, die Bonhöffer (3) hervorhebt. Ausserdem gibt es auch über- wiegend expansive mit Grössenideen und gehoben-gereizter Stimmung, wofür Verfasser (5) a. O. Beispiele mitgeteilt hat.

In anderen Fällen wieder stehen die motorischen Er- scheinungen im Vordergrund, bald mehr hysterischer, bald mehr epile tischer Art, sowohl als einförmige Hyperkinese, wie auch als Hemmungszustände, Auch rein motorische Zustände können

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Holt 4. 19

286 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.

als pathologische Alkoholreaktion auftreten. So sahen wir bei einem Traumatiker einen Stuporzustand von mehreren Stunden mit Mutazismus und angedeutetem Negativismus, der mit Schlaf endete und nach einer ungewohnten Alkoholdosis plötzlich ein- getreten war, ohne dass vorher ähnliche Erscheinungen, Krämpfe oder dergleichen je aufgetreten waren.

Dass hier eine pathologische Alkoholreaktion vorliegt, ist wohl nicht zu bezweifeln, nur können solche Zustände, die mit einem Rausch keine Aehnlichkeit mehr haben, wie Bonhöffer (3) bemerkt, nicht mit dem Namen eines pathologischen Rausches belegt werden; ebenso wie man einerseits die rein epilepti- schen und hysterischen Phänomene, auch wenn sie als Alkohol- reaktion auftreten, davon ausschliesst, auf der anderen Seite aber auch jene protrahierten Dümmerzustände, denen die charak- teristische Agitation fehlt. Prinzipiell besteht aber kein Unter- schied in der Pathogenese aller dieser Zustände, denn auch im pathologischen Rausch werden ja verwandte Erscheinungen durch en Alkohol ausgelöst, epileptoide, also den epileptischen ähn- liche, nur von weniger spezifischer, allgemeinerer Gestalt, wie sie bei anderen Degenerierten, Hysterikern etc. auch vorkommen. Darum stehen Fälle, wie der erwähnte, in der spezifischen Wirk- samkeit des Alkohols den pathologischen Rauschzuständen sehr nahe, die nämlich darin besteht, dass er bei disponierten Individuen, die aber bisher keine ausgesprochen neuropathischen Störungen aufwiesen, degenerative, „epileptiforme“ Symptome hervorruft; dass er speziell aber Geistesstörungen verursacht bei Leuten, die sonst höchstens neurotische, aber nie psychische Störungen hatten, die geisteskrank erst unter Alkoholwirkung werden und zumeist nur unter Alkoholwirkung.

Pathologische Rauschzustände sind bei einer grossen Anzahl Psychopathen die einzigen psychischen Störungen, die sie durch- machen. Die Form dieser ist aber auch bei jenen „Degenerierten“, die keine oder nur so unbestimmte neuropathische Symptome bieten, dass man sie keiner bestimmten Kategorie zurechnen kann (wie häufig die Traumatiker), die gleiche wie bei Epileptikern und Hysterikern, die ja die grosse Masse der pathologischen Rauschzustände stellen. Sie zeigen Symptomenreihen, die auch sonst bei Degenerierten vorkommen, ein Beweis, dass der Alkohol eben nur die Aeusserungen einer vorhandenen degenerativen An- lage wachruft.

Bei chronischen Alkoholisten kommen auch die gleichen epileptiformen Rauschzustände vor. Charakteristisch für die chronischen Alkoholisten ist allerdings die delirante Form des athologischen Rausches, die, wie auch Heilbronner (2) und Bonhof fer (3) übereinstimmend berichten, zumeist dem Aus- bruch des Deliriums vorangeht. Für sie ist also der chronische Alkoholismus die unumgängliche Voraussetzung. Sie stellen aber auch mehr abortive Delirien dar, sind also in Form, wie auch in

Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 287

Entstehung und Ablauf von den epileptiformen verschieden; nur für diese gilt die Uebereinstimmung mit denen der Degenerierten und Psychopathen. Wowir aber solche bei chronischen Alkoholisten finden, da können wir fast regelmässig auch andersartige, degenerstive Symptome, Schwindelanfälle etc. antreffen. Häufig zeichnen sich gerade diese Alkoholisten auch ausserhalb solcher Rauschzustände durch eine grosse Reizbarkeit und Brutalität aus.

Die Zahl der chronischen Trinker mit epileptiformen Räuschen, in denen alle sonstigen Anzeichen der Degeneration vermisst werden, ist nach unserer Erfahrung ganz verschwindend gering.

Wie man sich nun das Verhältnis zwischen der alkoholistischen Degeneration und der angeborenen denken möge der chronische Alkoholismus ist doch zumeist ein Symptom der Degeneration —, jedenfalls stimmen sie in ihren Symptomen überein und also auch in dem Symptomenbilde der epileptiformen Rauschzustände. Auch hier also ist es die zugrunde liegende Degeneration, die der aus- gelösten Geistesstörung ihre Gestalt gibt.

Bei den deliranten Räuschen spielen die affektiven Momente für die Entstehung nicht diese Rolle wie bei den epileptiformen, bei denen fast immer ein affektives Moment zur Erzeugung des pathologischen Rausches mit dem Alkohol zusammenwirkt, sei es, dass der Berauschte durch Schreck, Angst oder Bedrohung plötzlich in den krankhaften Bewusstseinszustand gerät oder dass ein Aerger, eine Gemütserschütterung den Genuss von Alkohol erst veranlassen und ihn zu der abnormen Wirkung steigern.

Manchmal kann das affektive Moment aus einer schon be- stehenden, auch durch den Alkohol hervorgerufenen Psychose stammen, so in den kurzen Angstpsychosen der Epileptiker und Hysteriker, die häufig mit einem pathologischen Rauschzustand enden. Dass körperliche Erschöpfungen ein begünstigendes Moment abgeben, hat Heilbronner (1) hervorgehoben. Eine chronische körperliche Schädigung aber setzt eine besondere Dis- position, das ist die Lungentuberkulose; Phthise findet man relativ

äufig neben pathologischen Rauschzuständen. Es bestätigt sich auch hier die sonstige Erfahrung, dass Alkohol und Tuberkulose sich in ihren Wirkungen begegnen und unterstützen.

Die auslösende Rolle des Alkohols zeigt sich wohl am besten an der langen Dauer der pathologischen Wirkungen. Heil- bronner (1) stellt als charakteristisch für den pathologischen Rausch hin, dass die Erregung und Unruhe viel länger als beim gewöhnlichen Rausch anhält.

Es gibt nun auch protrahierte transitorische Bewusstseins- störungen, die sich nach ıhrer Entstehungsweise den pathologischen Rauschzuständen anschliessen, aber unter diesen Begriff nicht mehr fallen können, da sie, wie schon erwähnt, in ihrem Verlauf Rausch- zuständen nich* mehr entsprechen. Das sind die einfachen Dämmer- zustände, sei es ohne charakteristische Färbung mit automaten- haftem Handeln, wie sie am meisten den epileptischen gleichen,

19*

288 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.

oder mit einer ausgeprägten wahnhaften Färbung, wie sie z. B. mit Grössenideen Verfasser an a. O. (5) mitgeteilt hat und die den hysterischen Dämmerzuständen näher stehen.

Daran schliessen sich nun andere Formen, auch protrahierte Bewusstseinsstörungen, aber in ihrem äusseren Bilde wieder mehr. den pathologischen Rauschzuständen gleich, die also in Ent- stehungsweise und in der Vereinigung der Symptome sich eigentlich wie über mehrere Tage protrahierte pathologische Rauschzustände in ihren verschiedenen Formen darstellen.

Bestehen daneben ausgesprochen epileptische oder hysterische Symptome, so wird hier die Abtrennung von den den Psycho- neurosen eigenen Erkrankungen noch unsicherer sein; man muss auch hier auf die Abhängigkeit von Alkohol Wert legen, wenn bei den Individuen sonst keine oder nur unter Alkohol psychische Störungen auftreten, ferner auf die charakteristische Entstehungs- weise gleich der der pathologischen Rauschzustände, auf die gleiche Symptomengruppierung und eventuell darauf, dass sich diese Störungen von anderen, nicht alkoholisch bedingten bei demselben Individuum unterscheiden.

Einen Fall mit expansiven Ideen haben wir an anderer Stelle (5) schon kurz referiert.

Es handelt sich um einen dementen Kranken, der einige Male Schwindel- anfälle mit Dunkelheit vor den Augen hatte. Mehrere Jahre früher hatte er schon 2 mal ganz ähnliche Anfälle wie die hier beobachteten, immer nach Aerger und Alkoholgenuss. War dreimal hier im Laufe eines Jahres. Der erste und dritte Anfall waren typische pathologische Rauschzustände, der zweite katte folgendes Aussehen:

Am 8. VI. 1904 bekam er im Krankenhaus, wo er wegen eines Lungen- spitzenkatarrhs seit Wochen war, aus geringfügigem Anlass Streit mit einer Pflegerin und wurde, weil er sie beschimpfte und bedrohte, entlassen. Im Aerger ging er hin und betrank sich. Er weiss dann noch, dass er ausging, um Wohnung zu suchen, von da ab nichts mehr.

Am selben Abend betrunken und sehr erregt in dıe Anstalt eingeliefert. Schimpfte, liess sich nicht untersuchen, schlug um sich. Schrie, er sei der Inspektor der Feuerwehr. Beruhigte sich und schlief auf I Spr. Hyosein- Morphium. Am andern Morgen aber noch unorientiert, lässt sich nicht untersuchen, schimpft und drängt fort, er werde das ganze Gesindel hier wegen Freiheitsberaubung verklagen, er sei ein Graf und Branddirektor. Erst am Abend etwas ruhiger, aber noch am nächsten Tage ausweichende, un- angemessene Antworten und unverschämtes Benehmen. Am vierten Tage dann ganz geordnet und klar; gibt obenstehende anamnestische Daien.

Die beiden anderen Anfälle zeigten dasselbe Symptomenbild, nur mit etwas mehr halluzinatorischen und deliranten Beimengungen. Hier ist also der gleiche Zustand gewissermassen auf mehrere Tage verteilt. Es scheint, als ob in solchen Fällen der künstlich erzeugte Schlaf seine Wirkung verfehlt; auch bei anderen Kranken werden wir noch finden, dass erst mit dem spontan eingetretenen natürlichen Schlaf eine Aenderung eintritt. Am dritten Tage zeigt der Kranke das patzige, ungezogene Benehmen, das man fast regelmässig auch nm Ende eines gewöhnlichen pathologischen Rausches noch findet, wenn die stürmischen Erscheinungen schon

Chotzen, Trausitorische Alkoholpsychosen. 289

vorüber sind, das in einzelnen Fällen aber auch ganz isoliert auftritt [Bonhöffer (8)]. | l Ausgeprägte motorische Symptome, die in dieser Form auch’ den pathologischen Rauschzuständen eigen sind [Heilbronner (1)]. zeigt nachstehende Beobachtung, die ebenfalls, wenn der Zustand nach wenigen Stunden mit Schlaf geendet hätte, unter die Diagnose „pathologischer Rausch“ fallen würde.

2. Otto B., Arbeiter, geb. 24. 1I. 1880.

Vater hat Anfälle gehabt, in denen er bewusstlos hinfiel. 5 gesunde Geschwister. Fiel als kleines Kind vom Tisch und blieb eine Zeitlang bewasstlos. War von Kindheit an leicht aufgeregt, auf der Schule ungeberdig. Soll niemals Krämpfe gehabt haben, klagte aber viel über Kopfschmerzen.

Mehrfach wegen Diebstahls bestraft; versuchte einmal im Gefängnis sich zu erhängen, wurde rechtzeitig abgeschnitten. Patiest wurde am 2. VII. 1899 nackt auf einem Eisenbahndamm auf- gefunden, von wo aus er die herbeikommenden Leute mit Steinen warf. inem der ihn einfangenden Leute schlug er die Nase ein.

Bei der Aufnahme in die Anstalt benommen; stark kongestioniertes Gesicht, kleiner, weicher, beschleunigter Puls. Die Haut am linken Auge und Schläfe geschwollen, blutunterlaufen, mit kleiner, blutender Wunde.

Verbigeriert fortwährend in eintöniger Weise: Dreyfus, Dreyfus, Dreyfus ... . ete., Feuer, Feuer, Feuer ... ., tot, tot, tot... . Dreyfus tot, Feuer... . etc.

Losgelassen, drängt er blind fort, ist nicht zu halten. Wehrt sich energisch gegen die Untersuchung. In der Isolierung hält die Verbigeration und eine lebhafte Juktation an, erst nach ?!/, Spr. osein,-Morphium be- ruhigt er sich. Nach Schlaf wieder wie vorher. Verbigeriert nan mit einem ängstlichen Inhalt, der auch auf Halluzinationen schliessen lässt: Auf dem Kirchhof, aaf dem Kirchhof da liegen sie herum lauter Totenschädel fliegen herum daheim liegt alles voll Gerippen da kommen sie wieder macht mich nicht tot ich will allein sterben etc. (jeden Satz wiederholt er viele Male).

Nicht fixierbar. Bei Stichen ziehen sich die Muskeln der ganzen Beine tonisch zusammen, er entzieht sich ihnen aber nicht. Pupillen reagieren. Patellurreflexe lebhaft. R. Facislisparese. Tremor der Hände.

4. VII. Warde gestern abend immer matter, schlief spontan ein; auch heute morgen noch sehr schlafsüchtig. Bei Anruf wird er ängstlich, springt wild aus dem Bett, verkriecht sich unter ihm und bleibt da liegen, um weiter zu schlafen. Erscheint dann etwas freier, isst von selbst, aber mit beiden Händen das Essen gierig in den Mund schiebend. Versteckt sich zumeist unter den Kissen.

Der bisher andauernd ängstliche Affekt schlägt nachmittags plötzlich am. Patient ist heiter, lacht und schwätzt fortwährend. Spricht davon, dass man ihn abholen werde, er wolle mit der Bertha um 4 Uhr weggehen etc. Sein Gebahren ist wie das eines übermütigen Kindes. Reagiert jetzt auf Fragen, aber gibt läppische Antworten, die mitunter wie absichtliches Danebensprechen erscheinen:

Wie alt? 50 Jahre. Wie alt? 50. Antworten Sie richtig! Nu, ich sage ja. Was sind Sie? Ein Mensch. Wo arbeiten Sie? Auf dem Kirch- hof. Berichtet dabei wieder, die Totenschädel hätten herumgelegen, er habe sie beiseite geworfen, da wären sie in der Luft herumgeflogen. Er sei hier in einer Leichenhalle, die Patienten seien Tote, die in Särgen liegen. Sei seit einer Stunde hier.

Zwischen diesen Antworten Lachen und Flappern wie ein Weinseliger. Blieb so noch den ganzen 5. VII. Am 6. ganz ruhig, klar und orientiert. Hat vollkommene Amnesie für den ganzen Zustand, seine Erinnerung reicht aar bis zum 2., morgens 11 Uhr. Hat an diesem Tage, nachdem er in der

290 Chotsen, Transitorische Alkohelpsychosen.

letzten Zeit viel Geld verdient hatte, mit Kameraden einen Ausflug früh

emacht und dabei viel getrunken. Erinnert sich noch, was sie getan bis fi Uhr frūh. Von da ab bis heute eine völlige Lücke. Wo sein Anzug hin- gekommen, wie er die Wunde acquiriert hat, ist ihm nicht erinnerlich. Gibt an, solche Zustände schon mehrfach, wenn er getranken hatte, für kurze Zeit gehabt zu haben; so soll er einmal ein Mädchen mit Erschiessen bedroht, einmal einen Leichenzug angehalten, andermal Soldaten zum Ungehborsam aufgefordert haben. Er selbst weiss von diesen Dingen nichts. Leugnet, je Krämpfe oder Schwindel gehabt zu haben, dagegen viel Kopfschmerzen, weil besonders wenn er sich erhitzt hatte.

20. VII. 1899. Hielt sich dauernd ruhig und geordnet. Geheilt entlassen.

22. VII. 1905. Polizeilieh wieder eingeliefert. War verhaftet worden, er Passanten auf der Strasse mit dem Revolver bedroht hatte.

Bei der Aufnahme gereist, unwillig, lässt sich nioht explorieren; ver- langt, entlassen zu werden. Hat die nächsten Tage mehrere hysterische An- fälle, darunter auch einen mit völliger Bewusstlosigkeit, heftigen Zuckungen der Gliedmassan und nachfolgender Benommenheit (leider ärztlich nicht beobachtet). Läppisches Benehmen.

Nach einigen Tagen ganz frei, geordnet, gab an, suf der Strasse fest- genommen und ins Gefängnis geführt worden zu sein, habe sich darüber sehr geärgert, weil er nichts verbrochen hatte.

Weiss von jener Tat nichts, uur, dass er am bestimmten Vormittag einen Bekannten traf, der ihn verleitete, zu trinken, was er sonst nur mässig tat. Erinnert sich noch, dass er mit ihm anf die Strasse ging, was dann mit ibm geschehen sei, weiss er nicht mehr. Den Revolver trug er bei sich, weil er für das Geschäft, in dem er Haushälter war, oft grosse Summen Geldes einwechselte und fürchtete, überfallen zu werden. Gibt jetzt an, in den letzten Jahren wiederholt Schwindel und Krämpfe gehabt zu buben, sei mehrmals umgefallen, einmal habe er sich dabei den Fuss gebrochen. Patient ist etwas dement, überlegt schwerfällig, hat ganz geringe Kenntnisse. Klagt selbst über sein schlechtes Gedächtnis, habe in der Schule schlecht lernen können; habe oft andern Tages vergessen, was ihm tags vorher sein Chef aufgetragen. Merkfähigkeit auch für Zahlen etwas herabgesetzt. In prak- tischen Dingen, z. B. Rentenangelegenheiten, weiss er aber ganz gut Bescheid, macht auch ganz gute begriffliche Unterscheidungen.

Bleibt geordnet. 5. X. entlassen.

Heilbronner (2) schreibt: „Wenn der Zustand länger als einige Stunden anhält, insbesondere einen längeren Schlaf über- dauert, so wird man eine Komplikation mit einer anderen Psy- chose, resp. eine andere Form alkoholischer Geistesstörung an- zunehmen haben.“

Von den sonstigen Formen alkoholischer Geistesstörungen kann hier keine in Betracht kommen, dagegen weisen die späteren Anfälle, wie oben auseinandergesetzt, auf die psychoneurotischen Geistesstörungen hin. Aber weder der Epilepsie, noch der Hysterie kann man den Zustand glatt zurechnen. Die Benommenheit, die Verbigeration, das blinde Fortdrängen am Anfang und die totale Amnesie lassen ja an einen epileptischen Dämmerzustand denken, doch schon am nächsten Tage war das Bild ein für Epilepsie ganz ungewöhnliches und ähnelte wieder den hysterischen mit den einförmigen optischen Halluzinationen, den ungeordneten Jaktationen, die gar nichts Krampfhaftes hatten, mit den er- haltenen, aber eigentümlichen Reaktionen auf jede Berührung. Insbesondere das Zustandsbild nach dem spontanen Schlaf, das läppisch-vergnügliche Gebahren mit dem Danebensprechen, das

Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 291

sehr dem in Ganserschen Dämmerzustand ähnelte, sah wie hysterisch aus. Für Hysterie aber wieder ungewöhnlich war neben den schon erwähnten Momenten die eintönige, durch 2 Tage anhaltende Verbigeration, die einen ganz motorischen Charakter hatte; vielleicht auch die ängstliche Reaktion auf Annäherungen, Eine Kombination beider Erscheinungsreihen liegt nun ohne weiteres nahe, zumal zu der erblichen Belastung noch ein mit Bewusstlosigkeit verbundenes Trauma in der Kindheit hinzukommt. Auch unter seinen späteren hysterischen Anfällen soll einer mit Bewusstlosigkeit und Zuckungen aller Glieder gewesen sein, und Patient selbst berichtet von Schwindelfällen, in deren einem er sich den Fuss gebrochen habe.

Das Aufeinanderfolgen dieser verschiedenen Zustandsbilder

erinnert an eine Beobachtung Heilbronners (2), in der an einen

athologischen Rausch ein dem Goanserschen ganz ähnlicher ustand sich anschloss.

Anologien mit dem pathologischen Rausch finden sich aber in vorliegendem Zustand viele: so die Entstehung, der plötzliche Ausbruch nach Alkoholgenuss, die heftige Erregung, besonders die motorische mit dem eintönigen Verbigerieren und den Jak- tstionen, die Heilbronner (2) gerade als gewissen Formen der pathologischen Räusche eigentümlich schildert. Dann die Angst, insbesondere die ängstliche Verkennung der Annäherung, die einförmigen optischen Halluzinationen, die schliessliche spontan eintretende Schlafsucht (danach erst trat wie ın dem Heil- bronnerschen Fall der dem Ganserschen ähnliche Zustand ein. Bedenken wir nun noch, dass dieser Zustand und ähnliche frühere nur unter Alkoholwirkung eintraten, dass Pat. vorher nie ausgesprochene epileptische oder hysterische Symptome gezeigt hat, ferner, wie gänzlich anders der spätere Zustand aussah, der ohne Alkohol nur infolge des Aergers wegen seiner Verhaftung eintrat, ein einfacher hysterischer Erregungszustand mit nach- folgenden Anfällen, aber kein solch schwerer Dämmerzustand wie die früheren. Demnach dürften diese ihre Entstehung jeden- falls dem Alkohol verdanken, und wir werden berechtigt sein, in dieser transitorischen Psychose ein Gegenstück zu den patho- logischen Rauschzuständen zu sehen, zu denen sie zu zählen wäre, wenn das Ganze auf ein paar Stunden zusammengedrängt wäre,

Zustände, wie den vorliegenden, als alkohol-epileptisches oder alkohol-hysterisches Aequivalent (hier richtiger: alkohol- epileptisch-hysterisches Aequivalent) zu bezeichnen, erscheint uns erade wegen der Vielgestaltigkeit und Unbestimmtheit der Symptome unzweckmässig, worauf wir weiter unten noch zu sprechen kommen.

Auch im nachstehenden Falle handelt es sich jedenfalls um ein hysterisches Individuum, hier hat der Dämmerzustand einen mehr deliranten Anstrich.

292 Chotzen, Transitorische Alkobolpsychosen.

8. Karl K., geb. 1874, Haushälter. Immer still für sich, viel gegrübelt, aber früher nicht krank. Kein regelmässiger Trinker, aber öfters starke Exzesse. Keine Krämpfe. Kam am 15. I. 1901 morgens erst aus einem Vergnügungslokal lärmend nach Hause, legte sich schlafen. Zum Mittag- esson geweckt, wollte er nicht aufstehen; kurz darauf erhob er sich, rannte wütend im Zimmer umher, wurde aggressiv, wollte alles entzweischlagen, be- schuldigte seinen Kameraden, er habe ihm einen Korb Aepfel gestohlen. Gleich danach in die Anstalt gebracht. l

Sehr erregt, sprach beständig von den gestohleuen Aepfeln, schimpfte auf die Wagenföhrer, die ihn herbrachten, dass sie ihn beraubt, ihn tot- zuschlagen versucht und schliesslich hier ins Gefängnis gebracht hätten. . Missdeutet, was um ihn vorgeht, setzt sich zur Wehr, als er ausgekleidet werden soll: Die Hunde wollen ihn jetzt kalt machen. Halluziniert, sieht beständig einen Mann mit Aepfeln, er zeige sie ihm noch, um ihn noch mehr aufzuregen. Ist so erregt, dass er !/, Spr. H-M. bekommen muss. Schläft danach einige Zeit, ist aber nach dem Erwachen noch nicht klar, örtlich und zeitlich unorientiert, noch zeitweise erregt, halluziniert weiter, sieht be- ständig den Mann, der die Aepfel nach seinem Kopf wirft. „Da geht ja der Bruder mit einem Ochsen vorüber.“ Hört ticken, wie vom Telegraphieren. Verkriecht sich ängstlich unter der Dacke. Bei explorstorischen Fragen ab- gelenkt und gereizt. Starker Tremor der Zunge und Hände. Am 15. klonus- artige Zuckungen am ganzen Körper ohne Benommenheit, wundert sich, „dass die Glieder so zappeln“. Klagen über Kopfschmerzen. Am 17. orientiert, noch leicht benommen, gibt aher gut Auskunft. Am 18. noch einmal die Zuckungen wie oben, auch Aufbäumen, wie im hysterischen Anfall, sieht einen Mann mit einem Messer auf sich zukommen. Vom 19. ab vollständig frei und einsichtig. Gibt an, er habe ein Verhältnis mit einem Mädchen gehabt, das ihn betrogen habe; er könne das nicht verwinden; am kritischen

age habe er sie wiedergesehen, und das habe ihn sehr erregt. Am 29. I. 1901 geheilt entlassen.

Am 7.Tl. wieder aufgenommen. Wird von vier Männern eingebracht, die ihn mit Mühe festhalten. Schreit und schimpft, droht, aggressiv zu werden. Glaubt, wieder im Gefängnis zu sein. Redet den Oberpfleger als Gefangenenaufseher an, er habe nichts verbrochen; sieht Leute an der Wand, die mit Messern auf ihn zukommen.

Starker Foetor alcoholic. Nicht fixierbar.

In der Isolierung delirante Sinnestäuschungen, sieht viele Leute, die sich hereindrängen, weicht furchtsam aus; starke Schweisssekretion. An der Wand läuft ein grosser, schwarzer Schwabe; die Matratze sei ein Oder- kahn u.s. w. Der Arzt komme ihm bekannt vor, er müsse ihn vor langer Zeit gesehen habe. Noch am 9. II. unorientiert, glaubt, noch im Gefängnis zu sein. Schimpft auf seine Freunde, dass sie ihn so weit gebracht haben. Schlief mit Schlafmitteln unterbrochen. Am 10. ruhiger, orientiert sich, gibt nun an, er habe mit zwei Freunden in der Restuurstion des Vaters gesessen, habe ein paar Glas Bier und mehrere Schnäpse getrunken. Plötz- lich sei ihm aufgefallen, dass der Ofen schief stehe. Er sei hingesprungen, ihn gerade zu richten, da überredeten ihn seine Freunde, mit ihnen zu gehen, eine Partie Billard spielen, anstatt dessen haben sie ihn aber hierher ge- schleppt. Späterhin larmoyant, reizbar, unterhält sich gelegentlich noch in sehr t entralischer Weise mit „Stimmen“.

Kam später noch mehrmals wegen kurzer Erregungen hysterischen Charakters. In der Anstalt schlechter Schlaf, Kopfschmerz und ab und zu noch Gemütsbewegungen, kurze Erregungszustände.

Hier beginnt also der erste Anfall ganz wie er für viele patliologische Rauschzustände typisch ist: Nach einer voraus- gehenden Erregung und darauf durchschwärmter Nacht kommt Pat. angetrunken nach Hause; nun erst Schlaf, und nachdem er daraus geweckt worden, plötzlicher Ausbruch einer heftigen Er- regung, Verkennung der Umgebung, ängstliche Missdeutungen, Be-

Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 293

einträchtigungsideen, einförmige Halluzinationen, motorische Un- ruhe, ganz das Bild des pathologischen Rausches, nur dass es nach dem allerdings künstlich hervorgerufenen Schlaf nicht aufhört, sondern Desorientierung, Halluzinationen und Beeinträchtigungs- ideen anhalten. Nach 4 Tagen wieder klar. Tags darauf nur noch ein hysteriformer Anfall mit einer vereinzelten Gesichts- täuschung. Von da ab vollkommen frei. Unvollständige Erinnerung.

Auch der zweite Anfall ist in Beginn und Symptomen den pathologischen Rauschzuständen gleich, auch hier die eintönigen Gesichtshalluzinationen, die Heilbronner (2) für den patho- logischen Rausch Hysterischer als charakteristisch bezeichnet; nur auch hier protrahierter Verlauf in dreitägigem, hysterisch ge- färbtem Delirium. Später nur noch leichtere psychopathische Symptome, die aber auf hysterische Konstitution schliessen lassen. Man sieht auch hier die Verwandtschaft der pathologischen Rausch- zustände mit den anderen degenerativen Psychosen, resp. wie sie allmählich ineinander übergehen, und wie sehr die pathologische Alkoholreaktion abhängig ist von der Konstitution des betroffenen

ehirns.

Die bisher betrachteten Kranken zeigten deutliche, wenn auch im ersten Fall nur geringe neuropathische Symptome. Genügte hier schon der einzelne Alkoholexzess, eine Psychose von mehreren Tagen auszulösen, so wird in anderen Fällen, vielleicht bei weniger schwerer Degeneration, dazu ein längerer Abusus erforderlich sein.

Bonhöffer (3) setzt auseinander, dass der depressive patho- logische Rausch in seiner Entstehung darin von den anderen ab- weicht, dass die Verstimmung schon einige Tage besteht, dann erst nach mehrtägiger Alkoholeinwirkung die gewaltsame Reaktion in einem pathologischen Rauschzustand eintritt. Aehnlich entstehen bei Dipsomanien solche und nicht selten auch protrahierte Dämmer- zustände, desgleichen ım Verlauf der kurzen alkoholischen Angst- psychosen der Degenerierten, die wir wiederholt erwähnt haben.

ieselbe Entwicklung zeigt nun das folgende Krankheitsbild bei einem Manne, der bis dahin ohne neuropathische Symptome war. Es folgt in der Symptomatologie den depressiven Formen des pathologischen Rausches, zeigt aber wieder einen protrahierten erlauf.

4. Georg L., Kaufmann, geb. 7. 11. 1877. Aufnahme 4. VI. 1901. Die Kinder der Schwester seiner Grossmutter von Vaters Seite sind geisteskrank, sonst keine Heredität. Patient war stets verschlossen, zurückhaltend. Früher nicht krank. Vom 28. V. 1901 ab kam er Nacht für Nacht nicht nach Hause, versah aber sein Geschäft noch. Hatte damit viel Arbeit und Aerger wegen schlechten Geschäftsgangs. Hatte Angst vor dem Resultat der Inventur, fürchtete, die Bücher nicht richtig geführt zu haben. Am 81. V. schloss er plötzlich nachmittags um 2 Uhr das Geschäft, kaufte einen Kranz und fuhr nach Gr. bei Gl., ging dort auf den Kirchhof und verblieb 2 Stunden am Grabe eines jungen Mädchens, dass er vor 5 Jahren, bei Gelegenheit einer Hochzeit, kennen gelernt hatte und das vor einem Jahre gestorben war. Am Abend des 1. VI. war er wieder nach Breslau zurückgekehrt, sprach kein Wort, alles musste aus ihm herausgezogen werden. Referent traf ihn gauz verstört sussehend, in derangiertem Aufzuge, ohne Kragen, beschmutzt an

294 Chotzen, Traositorische Alkoholspychosen.

Blieb bei Referent in Pflege; sprach auch am folgenden Tage nicht, weinte viel. Beim Ausgehen blickte er beständig zu Boden, gab ganz einsilbige Antworten, sprach von selbst nichts. Am 7. VI. Klugen über heftige Kopf- schmerzen, Erbrechen, wurde unruhig, sah beständig seinen Schwager und einen Gastwirt mit Riemen uuf sich zukommen. Bat seinen Schwager: „Ach, Hermann, hau mich doch nicht so!* Seit !/, Jahre B—4Amal die Woche ausgegangen, bis 2—3 Uhr nachts gekueipt. Oft angeheitert. Bier 6—8 Schoppen, bisweilen Schnaps. -

4. VI. Mittelgrosser, grazil gebauter junger Mann in leidlieb gutem Ernährungszustande. Gesichtsfarbe blass, sichtbare Schleimhäute, anämisch. Pupillen ziemlich weit, reagieren. Tremor der Hände. Patellarreflexe gesteigert. Romberg angedeutet. Kechto Lungenspitze verlängertes Exspirium, rauhes Atmen; Hoerzaktion etwas beschleunigt, sonst o. B. Vollständig desorientiert, benommen, starr vor sich hinblickend.. Gibt auf Fragen keine Antwort, reagiert auf Hautreize mit einer leichten Abwehrbewegung. Hulluziniert offenbar sehr viel. Sieht sich ängstlich um, weicht zurück, starrt nach einem bestimmten Punkt. Personen griffen nach ibm, marmelten Unverständ- liches. Angst.

5. VI. Nachts auf Schlafmittel unruhig geschlafen. Tagsüber ruhig zu Bett. Fortgesetzt abgelenkt; ohne Auskunft. Abends lebhaft delirant und sehr ängstlich. Läuft viel im Saal herum; erzählt, sein Schwager stehe dort in der Ecke und ziele mit dem geladenen Revolver nach ihm; manch- mal sehe er ein langes blitzendes Messer in seiner Hand. Er höre ihn immerfort reden; er mache ihm Vorwürfe, schimpfe ‘ihn einen Lampen, einen

emeinen Kerl, der das Geschäft vernachlässigt und alles Geld vergendet abe. Sucht unter den Betten, im Wäscheschrank nach seinem Schwager. Lässt sich nicht beruhigen; geht immer wieder ausser Bett. Genügende Nahrungsaufnahme.

1. VI. Gestern ruhiger, aber immer noch leicht benommen. Gab sehlecht Auskunft, konnte sich auf nichts besinnen. Schlaf in den letzten beiden Nächten auf Schlafmittel besser. Heut örtlich genau, zeitlich unge- fähr orientiert. Er habe einen Anfall von Kopfschwäche gehabt, viele Illosionen. Teilweise Erinnerung für die deliranten Erlebnisse. Ermüdet sehr schnell bei der Exploration.

15. VI. Vollständig klar, orientiert und einsichtiig. Er müsse seinen Verstand nicht gehabt haben, habo allerlei gesehen und gehört. Auf den Inhalt des Gehörten kann er sich nicht mehr besinnen. Dagegen erinnert er sich, dass er beständig seinen Schwager mit einem Dolch oder Revolver auf sich habe zukommen sehen. Er sei schon einige Tage vor seiner Einlieferung ohne jede Ursache gedrückt und traurig gewesen, alles Unangenehme aus seinem Leben trat ihm vor sein geistiges Auge; er habe sich elend und un- glücklich gefühlt; diesen Zustand habe er durch Alkohol zu verscheuchen gesucht, er sei zu dem Zweck einige Nächte hintereinander in Gesellschaften gewesen und habe vielleicht etwas zu viel getrunken. Wie er dazu gekommen sei, plötzlich nachmittags das Geschäft zu schliessen, mit der Bahn davon- zufahren und das Grab des Mädchens, mit dem er früher korrespondiert habe, aufzusuchen, weiss er nicht; es sei halt plötzlich so über ihn gekommen. Glaubt selbst, dass sein Trinken schuld sei. Guter Appetit und Schlaf. 25. VI. Fortgesetzt geordnet. Geht fleissig zur Arbeit. 29. VI. Geheilt entlassen.

Heilbronner (2) reiht den schwer ängstlichen Formen des athologischen Rausches die Angstpsychosen an, die sich durch ıhren protrahierten Verlauf von ıhnen unterscheiden; im Vorder- grund steht die Angst und der Beziehungswahn, in schweren Fällen kommt es dann zu depressiven Ideen, Selbstbeschuldigungen, Kleinheitswahn und phantastischen Befürchtungen. Bonhöffer (3) schildert die depressive Form des pathologischen Rausches als eine Verbindung von Angst und melancholischen Ideen und

Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 295

identifiziert sie mit der Angstpsychose Wernickes. Beide betonen die relative Unabhängigkeit der Verstimmungen vom Alkohol- genuss; im Verlauf der Psychose kann es dann, gewöhnlich nach mehrtägigen Alkoholexzessen, zu einer plötzlichen Entladung im psthologischen Rausch kommen. Nach unserer Erfahrung kann man rein ängstliche und depressive Formen unterscheiden. Die ersten haben wir schon an anderer Stelle (6) kurz erwähnt. Sie kommen ebenfalls überwiegend bei Epileptikern und Hysterikern vor. Unter chronischem Alkoholmissbrauch entstehen sie plötzlich mit Angst, bedrohenden und beschimpfenden Phonemen, ängst- lichem Beziehungswahn und Beeinträchtigungsideen; nach mehr- tägigen, infolge der Angst noch gesteigerten Alkoholexzessen kommt es dann meist zu einem heftigen pathologischen Rausch- zustand, der häufig den ganzen Anfall beendet, oder er klingt in der Anstalt in wenigen Tagen ab. Hier fehlen depressive Ideen ganz, die Angst ist der vorherrschende Affekt. Bei den depressiven Formen Bonhöff ers stehen die Depression und die melancholischen Ideen voran. Diesen entspricht nun der vorliegende Fall völlig. Seit !/, Jahr häufig Alkoholexzesse, dabei Anstrengung und Aerger ım Geschäft, eine tiefe Verstimmung, um sie zu vertreiben, mehr- tägige stärkere Exzesse; aber nun tritt nicht eine Entladung in einem kurzen pathologischen Rauschzustand ein, sondern an seiner Stelle wieder ein protrahierter Dämmerzustand, nach dessen Ab- klingen der Kranke wieder genesen ist; also nicht nur eine inter- kurrente kurze Bewusstseinsstörung, sondern und dadurch unterscheidet sich der Fall von den eigentlichen Angstpsychosen der Dämmerzustand stellt hier einen integrierenden Bestandteil und die höchste Entwicklung der Krankheit vor. In dem Zustand selbst aber haben wir die Symptome des depressiven pathologischen Rausches, die Desorientierung, Depression und Angst, Verfolgungs- ideen, die ängstlichen, besonders lie monotonen Gesichtshalluzina- tionen (Mann mit Messer).

Sonstige neuropathische Erscheinungen sind uns bei den Kranken hier nicht bekannt geworden, nur eine geringe erbliche Belastung und die Tatsache, dass er von jeher verschlossen und zurückhaltend war.

Indessen der ganze Symptomenkomplex weist doch auch hier deutlich auf die degenerative Natur des Zustandes hin. Leider haben wir das weitere Schicksal des Kranken nicht ver- folgen können, daraufhin, ob später neuropathische Symptome sich enthüllten, wie bei den beiden vorigen Kranken, bei denen ja auch die ersten alkoholisch ausgelösten Dämmerzustände solche Vorläufer noch nicht hatten. Die bisher mitgeteilten Fälle haben etwas Gemeinsames in ihrem Verlauf, der dem des Alkoholdeliriums entfernt ähnlich ist. Es sind kurze Psychosen von etwa 8 bis 5 Tagen, plötzlich ausgebrochen mit gänzlicher Desorientierung, die ın einigen Tagen allmählich abklingen, und meist nach einem tiefen spontanen Schlaf ebenso plötzlich in die Genesung über- gehen. Allerdings besteht bis dahin nicht völlige Schlaflosigkeit,

296 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.

nur ist der anfangs durch künstliche Mitt&l hervorgerufene Schlaf unruhig und unterbrochen. Die Psychosen entstanden bei den befallenen Kranken nur unter Alkoholgenuss; sonst traten bei ihnen ausgesprochene psychische Störungen nicht auf, bei 2 und 3 später noch, allerdings anders geartete, neurotische Symptome, bei 1 werden leichte solche anamnestisch berichtet, bei 4 fehlen sie ganz. Das Symptomenbild in den Dämmer- zuständen war, wie wir gesehen haben, in keinem Falle so charak- teristisch eindeutig, dass es bestimmt einer der Neuropsychosen zugerechnet werden könnte, dagegen schlossen sich die. Zustände in der Symptomatologie, wie in der Entstehungsweise den patho- logischen Rauschzuständen ganz eng an. All das berechtigt uns, sie wie diese durch eine besondere Bezeichnung heraus- zuheben.

Der Name „Dämmerzustände“ bezeichnet mehr die einfachen protrahierten Bewusstseinsstörungen, von denen die vorliegenden durch ihre vielgestaltigen psychotischen Symptome sich unter- scheiden. Der Name „alkohol-epileptische Aequivalente“, den Heilbronner (2) für gewisse Fälle protrahierter Dämmerzustände vorschlägt, scheint uns für die beschriebenen Formen zu all- gemein und zu eng zugleich zu sein. Alkohol-epileptische Aequi- valente können die verschiedenste Gestalt haben, so würde z. B. der eingangs erwähnte Stupor als solcher zu bezeichnen sein wegen seiner Aehnlichkeit mit den bei Epileptikern häufigen Stuporzuständen. Auch andere epileptiforme Erscheinungen kommen als pathologische Alkoholrenktion vor. Ferner aber sind der grösste Teil der pathologischen Rauschzustände und der Dämmerzustände nichts anderes als alkohol-epileptische, wie an- dere alkohol-hysterische Aequivalente, ohne dass es doch möglich wäre, sie mit Sicherheit auseinanderzuhalten oder sie ohne ander- weitige Anzeichen in diese Einteilung zu bringen. Die einzelnen Symptome, die das Bild des pathologischen Rausches zusammen- setzen, sind zumeist auch nicht ausschliesslich epileptische und hysterische, sondern sie kommen ebenso auch bei anderen Degene- rationen vor. Anders, wenn das Symptomenbild selbst eine solche Anreihung gestattet, wie bei dem oben bezeichneten Stuporzustand. Wenn man bei Alkoholisten Zustandsbilder auftreten sieht, die den epileptischen gleichen, so ist man u. E. auch ohne vorangegangene Anfälle berechtigt, sie den epileptischen anzureihen, wie den alkohol-epileptischen Krampfanfall selbst. Dieser ist jaschon darum nicht sicher von den sonstigen epileptischen zu scheiden, weil man mitunter sieht, wie erst nur unter Alkoholwirkung auftretende Anfälle später habituell werden mit dem klinischen Verlauf einer genuinen Epilepsie. Nicht anders beurteilen kann man psychische Symptome, die ja ebenso durch den Alkohol erst ausgelöst werden können. Ja, wie man psychische Attacken gerade in Fällen von Epilepsie mit seltenen und nur ganz leichten Anfällen sieht, so scheinen häufig auch der provozierenden Wirkung des Alkohols nur oder wenigstens leichter psychische Störungen zu

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folgen. Eben die Fälle von pathologischem Rausch beweisen es, in denen epileptiforme psychische Symptome auftreten, bei In- dividuen, die sonst keine oder nur geringe Erscheinungen der Neurose bieten. Gerade weil der Alkohol so häufig latente Epilepsie zum Vorschein bringt, sind wir berechtigt, den epilepti- schen gleiche Erscheinungen, die wir bei chronischen Alkoholisten finden, zur Epilepsie in Beziehung zu setzen. Darum stellen auch Bonhöffer (3) sowohl wie Heilbronner (2), und letzterer gerade unter dem Gesichtspunkt der auslösenden Wirkung, die alkoholisti- schen Dämmerzustände den epileptischen ganz nahe. Eine Ueber- einstimmung im klinischen Bilde rechtfertigt auch eine gemein- same Bezeichnung, ob man nun annimmt, dass die alkoholistische Gehirnveränderung mit der epileptischen in gewissen Punkten sich deckt, oder dass verschiedene Hirnveränderungen gleiche Symptome zur Folge haben können. Für die klinische Gruppierrung kommt es darauf an, ob die beobachteten Störungen typisch alkoholistische sind, oder ob sie Symptomengruppen gleichen, die bei Epileptikern typisch oder am häufigsten sind. In diesem Sinne durften wir an anderer Stelle (6) eine kurze akute Psychose bei einem chronischen Alkoholisten nach einem vor Jahren voran- gegangenen abortiven Delirium auch ohne epileptische Antezedentien als alkohol-epileptischen Mischzustand bezeichnen, weil neben den alkoholistischen Symptomen ein ängstlich-halluzinatorischer Stupor bestand, der ın seinem klinischen Bilde und Verlauf ganz den epileptischen glich. Bei Alkoholisten ist ein solches Symptomen- bild ganz undgar ungewöhnlich, bei Epileptikern sieht man es aber häufig. Wenn man jedoch auf dem Standpunkte steht, dass ohne epileptische Anfälle solche Psychosen der Epilepsie nicht zugeschrieben werden dürfen, so könnte man auch für solche einen weniger bestimmten Namen wählen, wie wir ilın für die hier be- sprochenen Formen vorziehen. Dieses letztere geschieht eben darum, weil, wie auseinandergesetzt, die in dem pathologischen Rausch und den oben erwähnten Formen zusammenkommenden Symptome sich in der Mehrzahl nicht als typische oder aus- schliesslich epileptische oder hysterische charakterisieren, sondern unbestimmtere und allgemein degenerative Symptome sind. Wie die epileptischen, so kann der Alkohol eben auch andere degenerative Anlagen manifest machen und psychische Phänomene dieser Degeneration auslösen. Wenn die pathologischen Rausch- formen fast ausschliesslich bei Epileptikern und Hysterikern, den mit beiden verwandten Traumatikern, bei sonstigen Degenerierten und Alkoholisten, die auch Degenerierte sind, vorkommen, so wird man ihr Auftreten eben als degeneratives Zeichen ansehen dürfen.

Um der Allgemeinheit des Symptomenkomplexes Rechnung zu tragen, scheint uns am bezeichnendsten für die vorliegenden Zustände der Name „transitorische Alkoholpsychose“ zu sein; in ihrem Verlauf und zum Teil auch im klinischen Bilde entsprechen diese Fälle ja wohl jenen akuten Psychosen, die von Krafft- Ebing unter diesem Namen beschrieben hat, Psychosen, die auch

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den degenerativen Zuständen, Epilepsie, Hysterie etc. gemeinsam sind, und auch nach Alkoholmissbrauch entstehen können. Dieser Name würde also am besten die doppelten Beziehungen dieser Fälle kennzeichnen, erstens die alkoholische Entstehung, zweitens die klinische Verwandtschaft oder wenigstens doch symptomatologische Aehnlichkeit mit Symptomenkomplexen, welche bei den ver- schiedenen Formen der psychischen Degeneration vorzukommen pflegen. Wollte man sie nach den hervorstechendsten Symptomen noch einteilen, so könnte man auch von ihnen überwiegend delirante, motorische, expansive und depressive unterscheiden.

Es würden also die Formen der pathologischen Alkohol- reaktion, abgesehen von den eigentlichen alkohol-epileptischen und-hysterischen Aequivalenten, sich scheiden in die pathologischen Rauschzustände, die eintachen Dämmerzustände und die transito- rischen Alkoholpsychosen, die sich in Entstehung und Symptomen wieder eng an die Rauschzustände anschliessen und protrahierte Formen solcher darstellen.

An sie reihen sich nun noch weitere protrahierte Formen an, Psychosen von mehreren Wochen, die nicht mehr mit dem Dämmerzustand ganz zusammenfallen, sondern wo dieser die Psychose nur einleitet oder auch interkurrent eintritt. Sie könnten mit dem Namen der Angstpsychosen (Wernicke) oder der depressiven Alkoholpsychosen ım Sinne Heilbronners (2) belegt werden, dessen Schilderung sie im grossen und ganzen entsprechen. Doch halten wir auch diese ihrer ganzen Natur nach für degenerative,

5. Paul G., Haushälter, 25 Jahre. Aufnahme 14. V. 1899. Keine Heridität. Patient war nie krank. Keine Krämpfe. In den letzten Monaten viel Aergernis wegen eines Mädchens, mit dem er ein Verhältnis hatte. War Ref. oft aufgefallen, weil er verstimmt war, aufgeregt umherging. Heut Morgen sehr erregt, warf alle Gegenstände, die er in die Hand bekam, weg, erkannte Ref. (seinen Bruder) vielleicht, gab aber keine Achtung auf ihn. Er sprach nichts, sang, pfiff und zählte nur. War ein solider Mann, offener Charakter und gesellig. 15. V. Bei der Aufnahme leicht benommen. Stark kongestioniertes Gesicht. Reagiert auf Anreden nicht, pfeift und sammt vor sich hin; reisst an seinem Hut herum, zerreisst ihn, bindet sich das Hutband als Krawatte um und dergleichen, alles mit trägen, unsicheren Bewegungen. Zu Bett liegt er rubig, orientiert sich nach einiger Zeit, erkennt den Ärzt and gibt Auskunft. Habe viel Aerger mit einem Mädchen gehabt, mit dem er sich eingelassen; sie setze ihm sehr zu, dass er sie heirate, und machte ihm häufig Vorwürfe. Deswegen habe er sich den Aerger vertrunken. Vor-

estern Nacht sei er mehrtach aufgewacht, habe sich von dem Mädchen rufen ören, wäre sehr erschrocken; dann habe sie ihm immer vorgeschwebt. In- folgedessen und seiner Selbstvorwärfe wegen gestern Morgeu sehr erregt, warf einen Spiegel nach einem Hausbewohner, weil er wieder glaubte, das Mädchen vor sich zu sehen. Dann habe er sich ins Bett gelegt und meinte sterben zu müssen. Sonst weiss er von dem gestrigen Tage nichts zu berichten. Patient gibt über seine Personalien und Vorleben richtig Auskunft, doch dauert es lange, ehe die Antwort kommt, und manchmal spricht er sie erst mehrmals leise vor sich hin, bis er laut antwortet. Er erscheint aber ab- gelenkt, gibt auch zu, das Mädchen noch immer zu sehen und zu hören, sie rufe ihn an und mache ihm Vorwärfe. Nachts ruhig. Heut klar. Erzählt, auch die vergangene Nacht habe das Mädchen neben seinem Bett gestanden, aber nicht gesprochen.

Pupillen reagieren. Zunge zittert. Leichter Tremor der Hände, Weder Kopfschmerz noch andere Erkrankungen früher.

Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 299

17. V. Bisher ruhig nnd geordnet. Gibt an, gut und ungestört zu schlafen, sei von allen Krankheitserscheinungen freigeblieben. Doch noch sebr zögernd in seinen Antworten; unsicheren Blickes und stets für sich allein geht er, in Godanken versunken, umher. (Pat. soll früher ein heiterer, aufgeweckter Mensch gewesen sein.)

19. V. Pat. erklärt seine Gedrücktheit damit, dass er sich noch immer über das Verhältnis mit dem Mädchen ärgere und darüber, dass er ihr auf ihre Veranlassung häufig Getränke verabreicht habe, die er im Geschäft ent- wendet habe; er fürchte nun, dass es der Herr erfahren worde, während er hier sei. Will entlassen werden. Immer noch unfrei und für sich.

22. V. Arbeitet im Garten fleissig mit, sonst unverändert. Leugnet Sinnestäuschungen. Dafür nur halbe Einsicht, weiss nicht mehr, ob es Wirk- lichkeit oder Täuschung war.

18. VI. Am 4. VI. wieder Erregungszustand. Sah abends Gott als alten Mann über seinem Bette schweben, der ihm verkündete, er würde am andern Morgen sterben, weil das Mädchen sich erschossen habe. Das Mädclıen habe auch einen Brief hierher geschrieben, in dem sie ihn schlecht machte. Hörte im Zimmer: „Ruhig, ich bin hier,“ meinte, es sei das Mädchen. Aeussert andern Tags, er sei schon halb gestorben, werde um 10 Uhr tot sein. Kopf- schmerz und Angst verloren sich bald. Noch einmal, den 7. abends, Halluzinationen, sah Männer an der Lampe. Dabei äusserlich rahig. Immer noch unfrei und gedrücktes Wesen. Am 9.—10. wieder ängstlich erregt; hat gesehen, dass man die Kleider der Angekommenen untersucht, und hatte nun

rosse Angst, weil in seinem Rocke ein sozialdemokratisches Blatt gesteckt abe. Glaubt, er werde kriegsgerichtlich bestraft werden. Das Mädchen würde es veranlassen, ist sehr aufgebracht gegen sie. Sie sei die Anstifterin zu dem Diebstahl gewesen etc.; er werde sich nicht unterkriegen lassen, „dem Mutigen hilft Gott“, „dass ich so ein Sünder gewesen bin, da wird mir vergolten werden“. Esfiel ihm dann cin, dass das Mädchen, als sie das Blatt sah, gesagt habe: „Aha, Du bist wohl Sozieldemokrat.“ Will das Mädchen jetzt als Leiche gesehen haben und glaubte, sie hätte sich getötet.

Seit dem 10. VI. wieder ruhig und ordentlich. Seither keine Angst mehr. Schlaf. Appetit gut.

37. VI. Dauerud gut orientiert; geht mit zur Arbeit; fleissig. In seinem Wesen etwas freier. Wünscht entlassen zu werden, aber kein Drängen, Aeussert sich einsichtig, es wären die Erscheinungen Träume, Täuschungen gewesen; er habe die bewusste Zeitung kaum gelesen und wenn auch, so könne er doch dafür nicht bestraft werden.

12. VII. Pat. ist einsichtig für seine Krankheit, gibt an, dass die früher gehabten Visionen und Stimmen nur auf Sinnestäauschungen, durch seine Krankheit begründet, beruhen könnten. Leichter Tremor der Zunge und Hände. Sonst nichts Pathologisches. Merkfähigkeit und Intelligenz- leistungen gut.

18. VII. Geheilt entlassen.

Die Entstehungsweise ist auch hier analog der der patho- logischen Rauschzustände. Infolge des Aergers und der Auf- regungen mit dem Mädchen, wohl auch unter den Selbstvorwürfen wegen der Entwendungen hat der Kranke in letzter Zeit stark getrunken. Er erwacht eines Nachts und erschrickt heftig, als er sich rufen hört und das Mädchen sich fortwährend vorschweben sieht. Am Morgen dann unter den gleichen Ursachen heftig erregt, wird gewalttätig gegen einen Hausbewohner, den er verkennt, und gerät nun in einen Dämmerzustand, der hier das Aussehen der „einfachen“ Dämmerzustände hat; er achtete nicht auf seine Um- gebung, sprach nichts, sang und pfiff, fasste nicht auf, band sich as Hutband als Krawatte um, riss an dem Hut herum und zerriss ihn etc. An die vorausgehenden Halluzinationen hatte er nachher

300 Chotzen, Transitorische Alkobolpsychosen.

Erinnerung. Die psychotischen Erscheinungen, die in den vorigen Fällen die Bewusstseinsstörung komplizieren, kommen hier ge- wissermassen nach. Der Kranke ist nicht sofort frei, sondern noch leicht gehemmt, abgelenkt, halluziniert noch in monotoner Weise, sieht und hört das Mädchen. Die Halluzinationen schwinden, er bleibt noch einige Tage still versunken, unfrei und gedrückt. Später treten dann, bei schon ganz geordnetem Verhalten, wieder- holt noch kurze Angstzustände auf mit Halluzinationen, Beziehungs- wahn, ängstlicher Missdeutung und Beeinträchtigungsideen, die rasch vorübergehen. Von der 4. Woche ab ganz frei, geordnet, guter Stimmung, einsichtig.

Hier geht also wieder ein länger dauernder Alkoholmissbrauch voraus, Tremor der Zunge und Hände sind anfangs stark, noch bei der Entlassung vorhanden. Die Psychose beginnt plötzlich, es setzt bald der Dämmerzustand ein, der nur einen Tag dauert, während die Psychose in eigenartig. intermittierendem Verlauf noch einige Zeit anhält. Die leichte Hemmung, Angst, ängstlicher Beziehungswahn, Missdeutung, Beeinträchtigungsideen und Hallu- zinationen sind die Kennzeichen, die Heilbronner?) von der Angstpsychose gibt.

Der Verlauf der Psychose ist insofern eigentümlich, als immer nach einigen freien Tagen neue Angstzustände mit Hallu- zinationen und auch an Vorgänge der Umgebung angeknüpfte

ängstliche Missdeutungen und Beeinträchtigungsideen wieder- kehren.

Diese intermittierende Verlaufswese und die Art der Symptome scheinen uns auf die degenerative Grundlage der Psychose hinzuweisen. Solchen Verlauf sieht man bei Psychosen Degenerierter öfters [s. Schröder!) Bonhöffer*) und Verf. ®)], und Gegenstücke finden sich in dem anfallsweisen Auftreten iso- lierter Halluzinationen mit Angst bei Epileptikern, die von ver- schiedenen Beobachtern berichtet wurden [s. Lachmund?°)]. Eine Andeutung dazu haben wir auch oben in dem Fall 3, wo nach der Aufhellung des Dämmerzustandes sich auch noch vereinzelte Halluzinationen dort mit leichten hysteriformen Symptomen wieder- holten. Es bestanden bei dem Kranken hier allerdings keinerlei neurotische Symptome sonst, auch von Heredität ist nichts berichtet, indessen haben wir auch bei ihm nicht verfolgen können, ob sein weiteres Schicksal nicht unsere Annahme bestätigte. Es sind ja doch immer abnorm veranlagte oder minderwertige Gehirne, die mit protrahierten Dämmerzuständen auf Alkoholmissbrauch rea- gieren. Hier bestand aber noch kein jahrelanger Alkoholismus, sondern nur Exzesse seit einigen Monaten, die indes wohl hin- reichen können, auch eine weniger schwere pathologische Ver- anlagung zu erwecken.

Demnach reiht sich diese Psychose den mitgeteilten Fällen darin an, dass sie ebenfalls aus dem Zusammenwirken affektiver Momente mit Alkoholmissbrauch entsteht, mit einem protrahierten

Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 801

Dämmerzustand in die Erscheinung tritt und wahrscheinlich degene- rativer Natur ist.

Deutliche degenerative Stigmata finden wir dagegen in folgendem Fall, der ebenfalls wieder in seiner Entstehungsweise mit den depressiven Formen des pathologischen Rausches sich deckt und in seinen weiteren Symptomen der Schilderung Heilbronners (2) von den protrahierten depressiven Formen ent- spricht. Der Fall ıst aber vielleicht für die ganze Auffassung der

tellung dieser Psychosen und der depressiven pathologischen Räusche von Bedeutung.

6. August J., Arbeiter, 42 Jahre. Erste Aufnahme 30. X. 1896. Vor ca, 10 Jahren Blutsturz. Seit 4 Jahren keine Arbeit bekommen. Viel Husten. Potatorium (20 Pfg. pro Tag). Wenig Appetit. Schlechter Schlaf seit Wochen. Seit 20. X. Angstlich, Todesfurcht. Er spüre, dass er sterben müsse; klagt über Brustschmerzen. Seit 28. X. Selbstanklagen, er sei nicht wert, dass er auf der Welt sei, habe nichts gearbeitet, sei grosser Sünder, ein schlechter Mensch. Man solle ihn nicht ansehen. Seine Fran sei ein Engel etc. Nahm das Abendmahl, letzte Oelung. Schweres Unglücksgefühl. Nicht von Snicidium gesprochen.

80. X Patient verhielt sich ruhig; bleibt im Bett. Zeitweise machte er den Mund auf und hielt denselben eine ganze Zeit lang offen. Er sei ein schlechter Mensch, er lasse sich von seiner Frau ernähren. Erzählt, dass er viel Schnaps getrunken habe. Nachts auf 4 g Paraldehyd geschlafen.

8l. X. Differente Pupillen, die linke etwas weiter als die rechte, auf Lichteinfali sehlecht reagierend. Tremor und fibrilläre Zuckungen der Zunge. Grosse Ungeschicklichkeit in den Zungenbewegungen. Der Mund voll von Speiseresten, namentlich auf der linken Seite. Kieferschluss gut. Schluckt gut Flüssigkeiten. Linker Facialis etwas verstrichen. Patellarreflexe beider- seitig vorhanden, nicht verstärkt. Passive Beweglichkeit beiderseits etwas vermindert. Dorsalflexion beiderseits gut. Keine Ataxie, kein Romberg. Tremor in den Beinen. Ungeschickt in Fingerbewegungen. Leichter Grad von Benommenbeit. Patient ist unruhig, geht ausser Bett. Spricht un- verständlich, Er ist sehr ängstlich und schreckhaft, wenn man ibn anfassen will, macht sich dann dabei ganz steif. Nachts nicht geschlafen, Klagen über Kopfschmerz.

1. XI. Sehr unruhig, bleibt absolut nicht im Bett, von Zeit zu Zeit hebt er die Arme in die Höhe, macht sie ganz steif und zittert, schreit dabei halblant, deliriert, sieht seine Frau und Tochter, spricht zu ihnen. Am Tage unsauber mit Urin. Nachts kein Schlaf, delirierte, wollte aus dem Bett, schrie, wenn er daran verhindert warde. Hypochondrische Schluckstörung. Reisst den Mund auf, kaut, schluckt aber nicht, tut, als ob er erwürgen wollte. Schwierigkeit beim Schlingen. Speisereste bleiben im Munde. Spricht schlecht. Im übrigen deliranter Bewegungsdrang. Situations- und Personen- verkennungen, unterhielt sich mit Fran und Kind. Autopsychische Angst- vorstellungen. Kleinheitswahn.

4. X]. Seit gestern nicht mehr delirant, bleibt ruhig im Bett. Schlucken wieder ganz gut. Fühlt sich nur sehr matt. Ernährung genügend. Schlaf gut.

9. XI. Schlaf noch mangelhaft. Muskelschmerzen. Neuritische Er- scheinungen. Alte Dämpfung und Geräusche auf beiden Lungen. Schwer- krankes Aussehen.

11. XI. Ruhig und klar, nur körperlich schwach.

16. XI. 1896. Heute entlassen. Modifiziertes Delir. alcoholic.

II. Aufnahme am 26. VII. 1900. Ref. Tochter.

Seit 5—6 Wochen krank. Jammert, er sei ein grosser Sünder, er hätte was Schlechtes begangen, was er nicht mitteilen könnte. „Ach Gott, was hab’ ich gemacht!* Gegessen fast gar nicht, auch nicht geschlafen. Keine Personenverkennung. eine Halluzinationen. Gestern früh fort- gegangen, seitdem noch nicht zu Hause gewesen.

Monatasschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft «. 20

302 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.

26. VII. Pat. wurde auf freiem Felde angetroffen, wie er halb nackend im Schlamme lag und sich darin vergrub, resp. den Schlamm in den Mand hineintat. Er wurde aufgegriffen, konnte angeblich nicht bewältigt werden und wurde gefesselt an den Händen. Er versuchte, sich in die Finger zu beissen und sprach immer davou, sich das Leben zu nelımen. Pat. geberdet sich anfangs sehr unruhig, strampelt mit den Beinen, zieht an den Bettsäcken herum, reısst den Mund auf, steckt die Finger hinein, ohne sich ernstlich zu beissen, reibt und drückt die Augen. Anfangs gibt er zum Teil un- Besogene Antworten, auf Vorhalten geordnetere, aber eigenartiges, etwas äppisches Danebensprechen. Welcher Tag heut? Keine Idee. Monat? Im August. Krank? Ja. Was fehlt Ihnen? Greift in den Mund hinein, sagt: Was ist das für ein Theater. Ich werde hinausfliegen wie der Deibel (beisst in die Decke). Wo sind Sie hier? Ach, wo denn. Gehen Sie herunter. Wie viel Kinder? Vier. Wie ult sind diese? 20 Mädel, 28 Mädel, 16 Jahre. Junge 97. Seit wann krank? Schon lange. Heut schmeissen Sie mich raus Herr Doktor. Seit wann krank? Seit 84. Habe mir das Leben

enommen. Seit wann jetzt krank? Seit die Welt steht. Wann sind

ie von Haus fortgelaufen? Vorige Woche. Was hat Ihnen gefehlt? Alles krank. Wo wohnen Sie? No. 12. Strasse? Laurentiusstrasse. Welches Haus hier? Allerheiligen-Hospital. Sie waren doch schon mal hier? Dann ist es die Einbaumstrasse. Nachdem Patient Milch zu sich genommen hat und noch etwa !/;—2/, Stunden unruhig war, aufstand, an den Betten zerrte etc., schlief er ein. Pat. war bei seiner Ankunft beschmutzt, das Gesicht mit Schlamm bedeckt, der Mund voller Schlamm. Die Augen sind aufgeqnollen, die Konjunktiven gerötet. Eine Menge von Kratzwunden am ganzen Körper, Bisswunden an den Fingern und Druckmarken mit Hautabschärfungen an den Handgelenkon. Temperatur 88,8°. Dämpfung über der rechten Spitze. Rassel, eräusche auf beiden Lungen. Patellarreflexe sind nicht auszulösen. Kein Foetor alcoholicus.

27. VIL. Hat nachts gut geschlafen. Ist zeitlich nicht orientiert, datiert einen Tag zurück, Glaubt, er sei gestern von Haus fortgeblieben resp. fortgelaufen, er sei umhergelaufen, habe nichts gegessen, nur etwas Schnaps getrunken. Die vorgestrige Nacht glaubt er zu Haus zugebracht zu haben. Gibt an, seit 4 Wochen sei er vergesslich, er verlege alle Tage die Sachen. Er habe sich über seine Kinder geärgert, weil sie nicht arbeiten wollen. Deswegen wolite er sich das Leben nehmen. Er sei aber schuld an der Trägheit der Kinder, weil er sie schlecht erzogen habe. Warum er gestern so unruhig war? Er habe keine Ruhe gehabt; er wusste nicht, wo er sei. Warum er die Finger in den Mund gesteckt habe? Weil er ver- hungern wollte.

Er habe so gejammert, weil er daran dachte, was denn die Leute von ihm sprechen würden, nachdem er versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Isst spontan genügend. Urin eiweisshaltig. Unterscheidung von spitz und stumpf überall ungenau. Pupille r. œ> l, träge Reaktion. Keine Ataxie. Romberg geringgradig. Keine neuritischen Schmerzen. Keine Gedächtnis- oder Intelligenzdetekte. Merkfähigkeit herabgesetzt: 8217 nach 8 Minuten vergessen.

28. III. Apsthisches Wesen. Sitzt schlaff, energielose da. Meint, er sei seit 3 Tagen da, Tag und Datum gibt er falsch an. Vermehrte Selbst- sorwürfe: Er sei ein schlechter Mensch, will den Geistlichen haben. Er habe tür seine Familie nicht gesorgt. Glaubt, die Frau lebe nicht mehr. Er- kundigte sich, ob die Kinder nicht im Gefängnis seien. Die anderen, die hier sind, sind millionenmal besser wie er. Will fort, denn er könne doch die Toten hier nicht stören. Herr Doktor, helfen Sie mir doch auf die Strasse. Bittet, man möge seiner Frau sagen, sie solle ihm nicht verzeihen. Hypochondrische Sensationen und Ideen. Der Magen ist wie zugeschnürt, er kann nichts verdauen. Er kann kein Wasser lassen, „weil er nıchts trinkt“. Isst genügend.

80. VII. Macht sich Gedanken, was wohl die Leate draussen über ihn

reden. Es habe wohl in der Zeitung gestanden von den beiden Strohhüten. Er habe einen Strohhut von seiner Schwester geschenkt bekommen und den seinigen

Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 303

habe er verbrannt. Was er an dem Tage gemacht habe, als er von Hause fortging, weiss er nicht genau anzugeben. Zeitlich immer nicht orientiert.

81. VII. Gleichmässig apathisches, : verstimmtes Wesen. Gibt heute an, er müsse dem Arzt etwas zuleide tun, damit er herauskäme. Einerseits verlangt er heraus, andererseits sagt er, man werde ihn hier nicht behalten, man wolle ihn nur los werden. Er müsse hier sterben, wie alle anderen. Hier komme niemand heraus. Er sei ein schlechter Mensch. Er kann nicht schlafen.

8. VIII. Meint, er müsste hier verhungern, so schlecht sei hier die Kost, man wolle nur, dass er schneller ins Grab komme. Glaubt nicht, dass seine Frau ihn einmal besuchen werde. Sie lebe nicht mehr.

4. VIII. Nimmt den Arst bei jeder Visite mehrmals in Anspruch. Fragt, was man mit ihm tun wolle. Er werde hier ja nur hingemordet. Er bekomme stets Abführmittel, damit er um so schneller sterbe. Der Stuhlgang enthalte lauter unverdaute Speisen. Das Essen sei schlecht, wo anders be- komme man etwas zur Stärkung, aber nicht zum Abführen. Die Selbstvorwärfe werden selten mehr geäussert. Kein äusserlich erkennbarer Affekt. Isst genügend. Schlaf wenig.

10. VIII. Im ganzen ruhig und zufrieden, nörgelt nicht mehr. Am Rücken zwei Furunkel, die heute gespalten werden.

14. VIII. Spaltung eines handtellergrossen Abszesses am Rücken. Fieber.

17. VIII. Nochmalige Spaltung des unterminierten Gebietes. Tampo- nade mit Jodoformgaze.

20. VIII. Hin und wieder wird noch der Gedanke geäussert, dass er nächstens sterben müsse; die Krankheit, die er jetzt habe (der Furunkel), sei eine Strafe, weil er gesagt habe, die hi. Maria habe einen Bubo. Stereotypes Klagen über schlechten Stublgang und Schlaflosigkeit. Verlangt beständi Mittel dagegen, obgleich festgestellt ist, dass die Klagen nnbegründet sind. Kein Fieber mehr. Es bildet sich eine gut ausgebildete Granulationsfläche aus (Handtellergrösse).

29. VIII. Psychisch wesentlich besser. Keine Selbstvorwürfe, Be- fürehtangen mehr. Nur Klagen über schlechten Stuhlgang.

20. IX. Epithelisiernng der Wundfläche schreitet fort. Paychisch wechselnd: Nicht mehr märrisch, will aber nicbt glauben, dass die Wunde beilen werde. Selbstvorwürfe werden nicht geäussert. Ruhig und geordnet.

8. X. Einsichtig für seine Krankheit, gibt Alkoholmissbrauch zu. Stimmang im ganzen gut; äussert nur manchmal, ob die Wunde heilen würde.

24. X. Jetzt ziemlich gleichmässiger Stimmung; er fühlt sich wohl. Krankheitseinsicht nar summaurisch; er muss wohl krauk gewesen sein. Fast gar keiue Erinnerung für die Einzelheiten seiner Psychose, selbst wenn man sie mit ihm an der Hana der Krankengeschichte bespricht. Das könne er nicht glauben, dass er so etwas gesagt haben könne. Manchmal gibt er die Möglichkeit zu, diese oder jene Aeusserung getan zu haben, macht dafür „seinen Tee“ verantwortlich, womit er einen durch Schnapsgenuss bedingten Zustand von Bewusstlosigkeit meint. Weiss nichts von der Situstion, in welcher er aufgegriffen wurde, auch davon nichts, dass er beständig ge- äussert habe, sich das Leben nehmen zu wollen. Dagegen sei ihm in voll- ständig bewusstem Zustande manchmal der Gedanke gekommen, sich das Leben zu nehmen, er habe sich öfters sehr unglücklich gefühlt. Gibt zu, dass daran die äusseren Verhältnisse viel schuld gewesen seien. Er habe eine mangelhafte Pfiege, könne nicht mehr so viel verdienen, sei oft auf die Unterstätzung seiner Angehörigen angewiesen. Dass ihm dann zeitweise das

20*

304 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.

Leben überdrüssig war und er dann auch wieder Schnaps getrunken habe, könne ihm niemand verdenken. Er habe täglich für 80 bis 40 Pfg. Schnaps getrunken. 10. XI. Gleichmässiger Stimmung. Sucht sich im Hause etwas zu beschäftigen. Amnesie für seine Psychose nach wie vor. Schlat ohne Schlafmittel. Am 20. XI. entlassen.

15. II. 1906 zum drittenmal aufgenommen.

Trank nach seiner nachträglichen Angabe für 20 bis 30 Pfg. täglich. Machte häusliche Arbeiten und half der Frau in einem kleinen Handel. Er- krankte wieder mit depressiven Ideen, er müsse sterben, die Kinder würden betteln müssen, wollte nichts zu sich nehmen, hielt die Angehörigen um sein Bett versammelt. Bei der Aufnahme ablehnend, antwortet nicht, sträubt sich gegen die Unterscuhung. Am selben Abend schon zugänglicher, larmoyant, beklagt sich, dass man ihm keine Ruhe lasse, er müsse doch sterben. Hypochondrische Ideen, bekomme keinen Atem mehr, müsse er- sticken. Habe lfa Jahr keinen Stuhlgang mehr gehabt. Ist dabei örtlich orientiert, zeitlich nicht, keine Verkennungen, keine Phoneme. Pupillen reagieren ganz träge,die Patellar-und Achillessehnenreflexe fehlen. Ueber beiden Spitzen verkärzter Klopfschall, diffuse, bronchitische Geräusche. Bleibt so einige Tage mürrisch liegen, für sich ganz still, vor dem Arzt klagt er ein- tönig stets die gleichen hypochondrischen Beschwerden. Isst anfangs wenig, dann ganz gut. Dann treten die Ideen ganz in den Hintergrund, nur auf Befragen bringt er noch monoton die Klage über schlechten Stuhlgang vor, sonst geht er rasch über seine Ideen hinweg, lenkt ab. Bleibt aber immer teilnahmslos und stumpf zu Bett und klagt, bis man ihn aus dem Bett schickt. Dann sind schon am nächsten Tage alle Beschwerden verschwunden, er fühlt sich von da ab wohl. Gibt prompt Auskunft, doch sind seine Zeitbestimmungen nur ganz approximative. Er hat Krankheitseinsicht, beschuldigt selbst wieder den Schnaps. Es stellt sich heraus, dass er von den zwei Tagen, die seiner Einlieferung vorangingen, wieder keine Erinnerung hat. Die Pupillen reagieren prompt, die Sehnenreflexe sind lebhaft, dagegen fehlt der Rachenreflex, und es besteht eine diffuse Herabsetzung der Schmerzempfindung. Pat. ist im ganzen schlecht genährt und abgemagert, hat sich aber in den wenigen Wochen

ier recht gut erholt. Hustet fast gar nicht, wirft jetzt nicht aus.

6. V. 1906. Seitber dauernd frei. Kein Husten und Auswurf. Wohl- befinden. Von manischen Zuständen weiss er nichts zu berichten (auch die Angehörigen nicht).

Bei einem chronischen Trinker, nebenbei Phthisiker, stellt sich also das erstemal eine Psychose ein, die mit depressiven und hypochondrischen Ideen sich einleitet; am zweiten Tage beginnt eine lebhafte Unruhe, die drei Tage anhält, dann bleibt der Kranke psychisch frei. Es treten dabei die alkoholi- stischen Züge, Tremor und delirante Beschäftigungsunruhe, so hervor, dass die Psychose als modifiziertes Alkoholdelirium bezeichnet wird. Die zweite Erkrankung beginnt, nachdem er wieder seine Missstimmung und Lebens- überdruss wegen seiner Krankheit und ungünstigen Lage durch fortgesetzten starken Schnapsgenuss zu betäuben gesucht hatte, mit Selbstvorwärfen, Klein- heitswahn und Angst; dann kommt eine plötzliche Exaltation mit einem eigenartigen Selbstbeschädigungsversuch, man fand den Kranken halb nackt auf dem Felde, sich in den Schlamm eines Grabens einwühlend. Danach erst einige Stunden laug noch sehr unruhig, gewalttätig, dann Schlaf. Für diesen ganzen Zustand besteht nur ganz lückenhafte Erinnerung. Am anderen Tage auch hier erst ungezogene Antworten, wie sie so häufig nach patho- logischen Räuschen sind, dann aber auch wieder eine Art der Antworten, die ganz an hysterisches Danebensprechen erinnern.

Nach Abklingen dieser Erregung bleibt er apathisch, schlaff mit melancholischen, aber auch Beeinträchtigungsideen, schimpft auf das schlechte Essen,or werdeabsichtlich geschwächt, hingemordetetc. Diese Beeiuträchtigungs- ideen treten bald mehr in den Vordergrund. Schliesslich bleiben nur einzelne bhypochondrische Ideen zurück, nach 4—5 Wochen ist alles vorbei, die Stimmung gut, der Kranke einsichtig, es zeigt sich nun, dass er auch für diese ganze Phase nur wenig Erinnerung hat.

Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 805

Auch das drittemal wieder der gleiche Beginn; ist auch hier zuerst wieder ablebnend, daun müärrisch, mit depressiven Ideen und hypochondrisch. Die eintönigen, hypochondrischen Klagen bleiben noch eine Zeitlang bestehen, sonst ist er stumpf, teilnahmslos zu Bett. Ass die ersten Tage schlecht, dann gut. Auch hier blieb eine Amnesie für zwei Tage vor der Aufnahme. Die Entwicklung ist also bei den beiden letzten Psychosen wieder die vom pathologischen Rausch her bekannte. Erst die Depression mit melancholischen Ideen, dann die Bewusstseins- störung im protrahierten alkoholistischen Dämmerzustand und im Anschluss daran noch längere Zeit melancholische und hypo- chondrische Vorstellungen, Angst und Beeinträchtigungsideen, die besonders im zweiten Anfall ganz der Schilderung Heil- bronners von den depressiven Psychosen entsprechen.

Bei der periodischen Wiederkehr der gleichen Zustände muss man an periodische Depressionen endogener Entstehung denken. Insbesondere der dritte Anfall war einem solchen sehr ähnlich, wenn auch keiner der gewöhnlichen Form der periodischen Depressionen ganz entspricht. Die Hemmung ist keine aus- gesprochene, andererseits stimmt das Bild aber auch nicht ganz zueiner „depressiven Erregung“. Dagegen spielen Beeinträchtigungs- ideen von vornherein eine grosse Rolle. Solche kommen indes in den nörgelnden Formen, die Kräpelin (10) schildert, auch vor, und Ziehen (11) erwähnt als eine besondere Verlaufsform Melancholien, bei denen die melancholischen Ideen zurücktreten und einem paranoischen Bilde Platz machen. Schliesslich können die periodischen Depressionen ja ganz atypische Formen annehmen; bemerkenswert ist jedenfalls das gänzliche Fehlen von Hallu- zinstionen in den beiden letzten Anfällen, auch ist der Kranke in dem Alter, in welchem solche Depressionen auftreten. Die dauernde Unklarheit des Bewusstseins, für welche die fehlende Rückerinnerung in der zweiten Psychose spricht, bei anscheinend völliger Luzidität, ist doch wohl etwas anderes als die Dämmer- zustände, die nach Kräpelin (10) auch bei der periodischen Depression vorkommen können. Degenerative Stigmata sind bei dem Kranken aber mehrere vorhanden; neben den Bewusstseins- trübungen die eigenartige assoziative Störung in dem Daneben- sprechen. Dann bleibt auch in der psychisch normalen Zeit die Schmerzempfindung diffus herabgesetzt, und der Rachenreflex fehlt. Bei der Aufnahme fehlten übrigens auch die Patellarreflexe, die Pupillenreaktion war träge. Bei der späteren Untersuchung wenige Wochen danach sind aber beide prompt und lebhaft.

Auch bei den beiden vorigen Aufnahmen ist dieselbe Störung der Pupillen erwähnt, bei der zweiten auch das Fehlen der Reflexe, doch ist von einer späteren Nachuntersuchung nichts notiert. Nun ist es wohl gänzlich ausgeschlossen, dass die Re- flexe dauernd gefehlt hätten, sie könnten doch nach jahrelangem Fehlen nicht in so kurzer Zeit wieder völlig zurückgekehrt sein. Auch von einer neuritischen Affektion ist das nicht anzunehmen, nachdem vor Jahren die Reflexe schon fehlten und durch den

306 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.

fortgesetzten Alkoholmissbrauch die Schädigung seither nur intensiver geworden sein könnte. Von neuritischen Symptomen sind ausserdem nur das erste Mal Muskelschmerzen erwähnt, beim zweiten Mal ist ihr Fehlen ausdrücklich erwähnt, und auch jetzt fehlen sie ganz. Wir werden also annehmen können, dass auch das vorige Mal die Reflexe wiederkehrten, dass wir es nur mit der vorübergehenden Reflexstörung zu tun haben, welche die toxischen Dämmerzustände begleitet. Von der Pupillenreaktion hat diese Störung Gudden (14) bekannt gemacht, das Fehlen der Patellarreflexe in pathologischen Rauschzuständen, das wir auch früher gelegentlich beobachtet haben, wurde von Kutner (18) als häufig und pathognomonisch nachgewiesen. '

Wir haben einen weiteren Hinweis dafür, dass alkoholische Dämmerzustände vorliegen. Zeigen nun die erwähnten Stigmata auf eine vorhandene degenerative Anlage hin, so widersprechen sie doch nicht der Annahme endogener periodischer Depressionen. Kräpelin bebt ja die Zugehörigkeit des manisch-depressiven Irreseins zu den degenerativen Zuständen besonders hervor und erwähnt das Vorkommen ausgesprochener hysterischer Symptome dabei. Degenerative Zustände im weiteren Sinne wären sie also such. Nun schildert Ziehen (12) neuerdings als verwandt mit den periodischen Melancholien periodische Depressionen, die endogen bei den verschiedenen Psychopathen, Epileptischen, [raumatikern etc. auftreten. Zu solchen würden Stigmata wie im vorliegenden Fall, gut passen; auch ist von manischen Zu- ständen bei unseren Kranken nichts zu erfahren. Aber ob sie nun zu den Degenerationen im engeren oder weiteren Sinne ge- hören, in beiden Fällen könnte der Alkohol auch für sie, wie für andere degenerative Symptome, ein wirklicher Erwecker sein, ganz besonders natärlich, wenn sie auf die Ziehenschen Formen passen. Indessen hat auch die umgekehrte Annahme gerade bei einer so protrahierten Psychose, die in so gleicher Weise rezidiviert, viel Wahrscheinlichkeit für sich, also, dass wir es im vorliegenden Fall mit einer endogenen Depression und nicht mit einer depressiven Alkoholpsychose in dem Sinne zu tun haben, dass der Alkohol faktisch das auslösende Moment ist. Für die ganz gleichen Verhältnisse der einfachen depressiven pathologischen lRäusche erhebt sich nun gerade mit Bezug auf diese rezidivierende protrahierte Psychose die Frage, ob wir nicht in beiden Fällen nur die kurze Phase der interkurrenten Bewusstseinsstörung, des eigentlichen pathologischen Rausches resp. Dämmerzustandes, dem Alkohol zuschreiben dürfen, während wir es sonst mit endogenen periodischen Depressionen zu tun haben, die unabhängig vom Alkohol auftreten und ihrerseits erst den Boden für die patho- logische Alkoholreaktion abgeben, also ein ähnliches Verhältnis, wie bei manchen Anfällen der echten Dipsomanen, Die Perio- dizität kommt ja beiden Formen zu, auch die pathologischen Rauschzustände rezidivieren in immer gleichen Formen. Für die endogene Natur kann auch die relative Unabhängigkeit der depres-

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sivep Formen von Alkoholexzess sprechen, die sowohl Heilbronner wie Bonhöffer betonen; die Depression geht immer voran, und durch sie kommt es zu noch gesteigerteren Alkoholexzessen und zur Bewusstseinsstörung. Dafür spricht ferner, dass diese Formen Uebergänge zeigen zu protrahierten Psychosen und dass auch diese protrahierten Psychosen, wie der vorliegende Fall zeigt, rezidivieren.

Eine solche nur ausgestaltende Rolle scheint der Alkohol übrigens auch bei anderen Formen von rezidivierenden Psychosen bei schweren Alkoholisten zu haben. Es sind insbesondere stuporöse Formen mit massenhaften deliranten und halluzinanten Sinnestäuschungen und häufig sehr mangelhafter Rückerinnerung, bei welchen diagnostisch die deliriösen und gewisse Mischformen mit in Frage kommen, welche Kräpelin beim manisch-depressiven Irresein schildert. Auch hier ist es fraglich, ob dem Alkoholismus eine auslösende Wirkung bei dem Ausbruch der Psychose zukommt oder nur eine komplizierende, und beide ebenbürtige Symptome der psychopathischen Konstitution sind.

Wir müssen also im zuletzt mitgeteilten Fall offen lassen, ob er wirklich im ganzen Umfange eine „Alkoholpsychose“ auch nur im Sinne einer durch Alkohol ausgelösten Psychose ist. Da- für könnte man vielleicht geltend machen, dass zum ersten Mal die Depression in Verbindung mit einem, wenn auch atypischen, Delirium aufgetreten ist. Jedenfalls waren wir aber berechtigt, sie den früher beschriebenen anzureihen wegen ihrer Verbindung mit protrahierten alkoholistischen Bewusstseinsstörungen, zu denen solche Formen überhaupt enge Beziehungen haben, und wegen der verwandten degenerativen Erscheinungen.

Auch Heilbronner (2) stellt die depressiven Psychosen mit den pathologischen Rauschzuständen zusammen. und erwähnt ebenfalls, dass sie nicht reine Alkoholpsychosen sind.

Nachzutragen wäre noch, dass der zuletzt erwähnte Kranke auch an Tuberkulose litt, indes ist es hier bei der Art der Psychose schwer abzuschätzen, inwieweit diese ausser einer allgemeinen Steigerung der Disposition vielleicht mitgewirkt hat. Am ehesten käme sie wohl noch für das Delirium im ersten Anfall in Frage. Aber im allgemeinen ist der Prozess wenig floride. Der Kranke ist allerdings sehr schlecht genährt und abgemagert, aber obwohl die Krankheit schon mehr als 20 Jahre alt ist, bestehen nur ganz geringe lokale Erscheinungen, kein Husten, Auswurf und kein

ieber.

Zum Schluss gestatte ich mir, meinem hochverehrten Chef, Herrn Primärarzt Dr. Hahn, für die Ueberlassung der Kranken- geschichten auch an dieser Stelle meinen Dank zu sagen.

1. Heilbronner, Ueber pathologische Rauschzustände Münch. med. Wochenschr. 1901.

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Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.

. Heilbronner, Die strafrechtliche Begutachtung der Trinker. Halle 1905. Marhold.: . Bonhöffer, Die akuten Geisteskrankheiten der Gewohnheitstriuker. Jena 1901. . Derselbe, Die alkoholischen Geistesstörungen. Dentsche Klinik am Ein- gang des 20. Jahrhunderts. 1905. l . Chotzen, Ueber atypische Alkoholpsychosen. Arch. f. Psych. Bd. 41, IL . Derselbe, Mischzustände bei Alkoholismus und Epilepsie. Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 1906. . Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie. 7. Aufl. . Schröder, Ueber chronische Alkoholpsyobosen. Habilitationsschrift. Halle 1905. 9. Lachmund, Ueber vereinzelt auftretende Halluzinationen bei Epileptikern. Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. XV. 10. Kräpelin, Lehrbuch der Psychiatrie. 7. Aufl. 11. Ziehen, Lehrbuch der Psychiatrie. 1902. 32. Aufl. 12. Derseibe, Zur Lehre von den psychopathischen Konstitutionen. Charite- Annalen. XXIX. 18. Kutner, Zur Diagnostik des pathologischen Rausches. Deutsche med. Wochenschr. 1904. 14. Gudden, Ueber die Pupillenresktion bei Rauschzuständen und ihre forensische Bedeutung. Neurol. Centralbi. 1900. No. 28.

nf in b O Y

Ueber degenerativ Verschrobene'). Von

Dr. KARL BIRNBAUM, Assistongarzt an der Anstalt Horzberge der Stadt Berlin.

Unter der Bezeichnung „degenerativ Verschrobene‘“ soll ver- sucht werden, aus der Mannigfaltigkeit psychopathischer Persön- lichkeiten eine Anzahl Individuen herauszuheben, die ohne weiteres durch das paranoide Gepräge ihres Wesens auffallen. Ganz all- gemein gefasst, ist ihre Eigenart hauptsächlich dadurch bedingt, dass bei ihnen infolge pathologischer Veranlagung die natürlichen Beziehungen der Gefühlselemente zu anderen seelischen Bestand- teilen gestört sind und diese daher nicht wie beim Normalen sich passend und einheitlich zusammenfügen. In einer in Qualität wie Intensität abnormen Weise verbinden sich die Gefühlstöne mit den Elementen des Vorstellungslebens, und auch die den Gedanken- ablauf begleitenden Gefühle üben einen unrichtigen Einfluss auf den Vorstellungsinhalt selbst aus. Dadurch bekommen im einzelnen die ausgeprägteren geistigen Aeusserungen den Stempel des Schiefen, Einseitigen, Uebertriebenen, das Gesamtbild jene ungleichmässige und unharmonische Zusammensetzung, wie sie eben am treffend- sten als „Verschrobenheit‘‘?) gekennzeichnet wird.

!) Vortrag, gehalten im Berliner psychiatrischen Verein am 14. VII. 1906.

%) Die Bezeichnung „originär Verschrobene* findet sich öfter ohne bestimmtere Uharakterisierung. Dieckhoff (Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 55)

Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene. 309

Klinisch ist die Krankheitsform jenen psyohopathischen Konstitutionen zuzurechnen, welche auf dem Boden der Degeneration erwachsen. Ihre Zugehörigkeit zu diesen wird durch die fast stets nachweisbare, teilweise sogar sehr schwere erbliche Belastung bewiesen, sowie das Bestehen körperlicher und geistiger Stigmata der Entartung.

Die Individuen, um die es sich handelt der überwiegenden Zahl nach sind es Männer sind gewöhnlich schon als Kinder durch abnorme Charakterzüge aufgefallen; doch kommt das eigent- liche Krankheitsbild naturgemäss erst mit der Ausbildung aller seelischen Eigentümlichkeiten und Beziehungen in der Pubertätszeit zur vollen Entwicklung. Es hält sich dann mit interkurrenten Steigerungen dauernd auf der Höhe, um vielleicht im Alter etwas abzublassen.

Was nun die Eigenart des Durchschnittsbildes selbst angeht, so sind auf dem Gebiete des Vorstellungslebens die einfacheren Vorgänge nicht wesentlich in Mitleidenschaft gezogen. In charakteristischer Weise leidet vielmehr erst die Urteils- bildung im weitesten Sinne und zwar eben infolge unrichtig verteilter Gefühlseinflüsse. Durch sie wird die natürliche Auf- fassung und Abschätzung beeinträchtigt, einzelne Anschauungs- weisen und Gedankenrichtungen überwiegen in unberechtigtem Grade, andere werden dafür zurückgedrängt. So sind es bald Vorstellungskreise philosophischen und ähnlichen Inhalts, die sich durch übertriebenen Gefühlswert herausheben, während durch dessen Mangel auf der anderen Seite Verständnis und Interesse für die nächstliegenden praktischen Verhältnisse verkümmert. Es kommt dann zu mancherlei Welt- und Lebensanschauungen, deren inhaltliche Besonderheit von irgend welchen Zufälligkeiten ab- hängt, indem ihre Empfänglichkeit für allerhand Auffallendes sie ungewöhnliche Ideen, hochtönende Phrasen und dergleichen auf- greifen lässt: der eine hat eine ‚individualistisch-idealistische Welt- anschauung“‘, der andere eine „theosophische von der Veredlung der Menschen“, ihre Moralbegriffe sind „ethisch-ästhetischer“ Art, auf religiösem Gebiete sind sie Atheisten oder halten sich mehr an die Naturvergötterung. Auch in einzelnen Prinzipien kommt ihre Lust an solchen dem Durchschnitt fernliegenden Dingen zum

spricht von Paranoösie als „verkehrter und verschrobener Denkweise“ und. kennzeichnet seine Paranostiker dahin, dass sie, „von jeher phantastisch und träumerisch oder skeptisch, springend in den Gedankengängen, originell, affektuös, misstrauisch, dünkelhaft, zaghaft und ängstlich, verschlossen und zur Einsamkeit neigend, überhaupt sonderbar und schwer verständlich sind überall in der Weise, dass eine gewisse falsche Auffassung und Ver- arbeitung der äusseren Eindrücke als Grund für diese Eigentümlichkeiten anzusehen ist.“ Koch erwähnt die habituellen Verschrobenheiten der psy oho- pathisch Minderwertigen in seiner gleichnamigen Darstellung (Ravensburg 1898), „die ihnen einen besonderen Stempel aufdrücken und sie jedermann sofort anders als den gewöhnlichen Menschen als verdreht, geziert, geschraubt, steif, sässlich, schwärmerisch, zimperlich, scheu u. dergl. erscheinen lassen, zumeist mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zu lage treten und von ihren Trägern für das Bessere nnd Schönere gehalten werden.“

810 Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.

Ausdruck: Das Handeln ist sich Selbstzweck, sich veredeln Menschen- flicht, seiner Natur nach müsse man sich ausleben. In der Erziehungsfrage sind sie für Darlegungen der Weltanschauungen, vom Stantsleben fordern sie sittliche Basis, sind für Kunst dem Volke. Ein andermal wieder ist es der Reiz extremer Ansichten, der ihre Stellungnahme bestimmt: Sie sind gegen Autorität, Dogmen und Gesetz, gegen Knechtungs- und Ver- dummungssysteme, antimilitaristisch und anarchistisch u. s. f. Solche vom Gewöbnlichen abweichende Anschauungen werden aber selbst zur Beurteilung und Bewertung konkreter Verhältnisse, auch der persönlichen, herangezogen: Den einen rührte der Aus- bruch des russisch-japanischen Krieges zu Tränen, weil nun die Arbeit des Christentums umsonst sei, der zweite verwarf an der Behandlung Geisteskranker, dass sie auf Brechung des freien individuellen Subjekts ginge.

All diese Gedanken eigenartigen Gepräges sind nun nicht etwa der Ausdruck eines entsprechend hoch entwickelten Gefühls- und Vorstellungslebens, denn ein wirkliches Verständnis dafür geht ihnen völlig ab, entspringen auch nicht dem natürlichen Bedürfnisse nach einem gefestigten höheren Standpunkte den wechselnden Lebenserscheinungen gegenüber; sie sind vielmehr von dem Reiz getragen, den es ihnen gewährt, solche aparte Ideen zu vertreten und ihrem Persönlichkeitsbilde einzuverleiben. Das gleiche Gemüätsbedürfnis, vielleicht auch noch das Lustgefühl, das für sie mit dem Ablauf des Vorstellungsganges an sich ver- knüpft ist, bringt sie dann weiter dahin, sich auch an alle mög- lichen anderen Gebiete heranzumachen und allerhand Anschauungen von besonderer Art und Bedeutung zurechtzulegen. „Meine Devise ist: nicht andere für uns denken lassen“, erklärte der eine. Sie haben ihre eigene „Feuer- und Selbstmordtheorie“, eigene psycho- logische und psychiatrische Einteilungen, besondere Ansichten über Reizsch welle d es Bewusstseins und die Zusammenhänge im Kosmos. Die unscheinbarsten Dinge heben sich für sie bedeutungsvoll heraus; „Der Kloakenreiniger, der verachtet wird und doch der Menschheit durch Vernichtung derKrankheitskeime den grössten Dienst erweist.‘ Diese Vorstellungskreise, von denen ihr Gefühl angezogen wird, bestimmen auch die Richtung und Tätigkeit ihrer Gedanken. Seltsame Probleme und Erfindungen nehmen ihren Geist in An- spruch: die Messung der geistigen Fähigkeiten aus dem Gesichts- winkel, die Verwertung natürlicher Kräfte im Menschen zur Heilung der Gemütskrankheiten, sozialtechnische Einrichtungen zur künstle- rischen Erziehung des Volkes. Auch hier wieder nicht sowohl das natürliche Bestreben nach Klarheit und Ueberblick auf wissen- schaftlichen Gebieten, die ja doch weit über ihrem geistigen Horizonte liegen, als die Befriedigung vor sich selbst, wie vor andern, als eine solche Persönlichkeit mit so bedeutsamen Ideen dazustehen. Sie sind denn auch von ihren Geistesprodukten als dem Ausdruck ihrer persönlichen Eigenart bis zur Verbohrt- heit durchdrungen: „Mein Dogma und festes Glaubensbekenntnis

Birnbaum, Ueber degenerstiv Verschrobene. 3911

erkläre ich hiermit für richtig und werde es auf dem Totenbette noch eidlich erhärten.“

Diese masslos übertriebene Wertschätzung der eigenen Person und allem, was zu ihr gehört, bildet überhaupt den Kern ihres Wesens. Sie fühlen sich als besondere Menschen, die keinen Parteien, nur idealen Zwecken dienen, moderne Kulturmenschen und Theosophen, Kämpfer gegen die Vergewaltigung persönlicher Menschenrechte, bestimmt, die Lehre vom Kosmos auszubauen. „Ich bin ein Philosoph, das erklärt alles,“ sagte ein Schornstein- fegergeselle. Einzelne dieser Aeusserungen erreichen durchaus die Höhe der Grössenideen wirklicher Paranoiker: Sei keine Natur wie andere; sei in der Tat verrückt, weil er aus der Ebene des Gewöhnlichen nach theosophischer Anschauung in die des Gött- lichen gerückt sei. Entsprechend tief schätzen sie ihre Mitwelt ein, die sie selbst nicht zu würdigen versteht: Stumpfsinnige Bierbauchphilister, die die Arbeit für den Sinn des Lebens halten; durch überlanges Studium verbildete lidoten die Irrenärzte.

Nach aussen hin geben sie sich in prahlerischer Auf- geblasenheit, bringen ihre Vielbelesenheit, ihr Wissen und Können überall an. Selbst durch gröbste Aeusserlichkeiten suchen sie eindrucksvoll zu wirken: der eine gewöhnte sich Bismarcks Hand- schrift an, ein anderer trug langwallendes Haar, um im Auffallen seine Stärke zu zeigen. Entsprechend greifen auch in der sprach- lichen Darstellung ihre Uebertreibungen Platz, indem ihre Sprache überladen ist mit überschwenglichen Bildern, eigenartigen Ver- gleichen, schwungvollen Phrasen und bedeutsamen Kunstausdrücken, Dinge, die bei aller Schiefheit in der Anwendung zugleich mit dem ungewöhnlich klingenden Inhalt geistige Originalität und Produk- tivıtät vortäuschen können.

Ihre Stimmungslage ist keine einheitliche. Aus ihrem Empfindungsleben hebt sich die den Entarteten eigene Un- beständigkeit derGefühle und Ungleichmässigkeit in ihrer Verteilung heraus, so dass das eine Mal Lust- und Unlusttöne mit ungemeiner Leichtigkeit und Lebhaftigkeit ansprechen und sich zur Geltung bringen, um ein ander Mal und von anderen Dingen völlig unbe- rührt zu bleiben. So lassen sie sich denn in schnellem Wechsel von ullen möglichen Zeitströmungen, neu aufkommenden Ideen und seltsamen Bestrebungen, von fremdartigen Gedankenkreisen fesseln und mitreissen. Da nun aber ihre Anschauungen von zwar überschwenglichen, aber beweglichen Gefühlen getragen und nicht durch geistige Verarbeitung vertieft und gefestigt sind, so kommt es auch nicht zur Bildung dauernder richtunggebender Motive für das Handeln, ein eigentlicher Charakter entwickelt sich nicht.

Ihre Willenskraft ist entschieden gering, sie sind mehr Helden des Wortes als der Tat. Da es ihnen besonders in Bezug auf praktische Verhältnisse an Einsicht und Interesse mangelt, so fehlt es ihnen an Anpassungsfähigkeit an die gemeine Wirklichkeit, und ihre Lebensführung wird eine unzulängliche: Ein im Leben völlig hilfloser Mensch verliess die Pflegestelle, weil er nicht durch

312 Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.

die rabiate Infamie eines Weibes an Leib und Seele Schiffbruch leiden wollte, einen Gerichtsbeschluss erklärte er für null und nichtig, weil er keinem Menschen einen Eingriff in die von Gott verliehenen natürlichen Rechte gestatte. Statt geordneter, ziel- bewusster Tätigkeit geben sie sich mit allerhand fernliegenden Problemen bald technischer, bald philosophischer oder sozialerNatur ab und allen möglichen reformatorischen Bestrebungen hin. Auch unzweckmässige Handlungen kommen vor, sie klären Majestät über seine Stellung auf, werfen der Polizei ihre verrückte Moral vor. Ja selbst schwere Schädigungen durch ernsthafte Konflikte bleiben nicht immer aus, so sind mehrfach langdauernde Strafen wegen Majestätsbeleidigung und militärischer Vergehen verzeichnet.

Dieses Durchschnittsbild, das neben den erwähnten Grössenideen auch ausgeprägte Beeinträchtigungsvorstellungen um- fasst, wie sie das im Widerspruch zu ihrer Selbstüberse ätzung stehende Verhalten einer urteilsfähigeren Umgebung in ihnen wach- ruft: sie fühlen sich von den Eltern nicht verstanden, Opfer des Hasses und Neides, man will sie unterdrücken, um Ruhe vor ıhnen zu haben, dieses Durchschnittsbild steigert sich zeitweise, besonders unter dem Einflusse ungünstiger äusserer Verhältnisse, wie der Haft, zur voll ausgebildeten Psychose. Es kommt dann vorzugs- weise zu ziemlich plötzlich einsetzenden und schnell sich ent- wickelnden Wahnbildungen, die mehr oder weniger systematisch aufgebaut, auf der Höhe der Erkrankung der Paranoia ähneln können. Sie pflegen aber nach einiger Zeit wieder abzuklingen.

Das reine Bild der Verschrobenheit findet sich allerdings nur in einzelnen Fällen. Meist gesellen sich ihm weitere Er- scheinungen der Entartung hinzu. Durch stärkeres Hervortraten einzelner Züge, sowie durch gewisse Modifikationen ergeben sich dann auch andere Typen degenerativ-exzentrischer Persönlichkeiten, bei denen gleichfalls die Art der Stellungnahme den Lebens- erscheinungen gegenüber nicht von nüchtern sachlicher Verarbeitung der Erfahrungen, sondern von überwiegenden Gefühlseinflüssen abhängig ist. Es sind dies die Phantasten, denen es Reiz und Befriedigung gewährt, die gegebene Wirklichkeit mit den Produkten ihrer lebhaften Einbildungskraft zu bereichern, und die Träumer, die das gleiche Gemütsbedürfnis dazu drängt, aus sich heraus in schön erdachte Verhätnisse sich zu versetzen. Schliesslich rücken noch durch schroffe Ungleichmässigkeiten in der Gefühlsverteilung Uebermass auf der einen, Mangel auf der anderen Seite die pathologischen Schwärmer in die Nähe der Verschrobenen. Auch die bei psychopathischer Minderwertigkeit ja nicht so seltene Verbindung mit Imbezillität kommt vor, ohne dass es anginge, aus dem Schwachsinn allein heraus die Verschrobenheit zu er- klären, mag er auch durch Urteilsschwäche nach dieser Richtung hin begünstigend wirken. Diejenigen Imbezillen, die von geistig überlegenen Personen sich derartige Anschauungen aufdrängen lassen, gehören natürlich überhaupt nicht hierher.

Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene. 813

Differentialdiagnostisch kommen von abnormen Ver- anlagungen die konstitutionell Manischen in Betracht. Mit ihnen haben die Verschrobenen eine in mancher Beziehung leichte Ansprechbarkeit des Interesses, eine gewisse Oberflächlichkeit, den Phrasenschwulst und das erhöhte Selbstbewusstsein mit paranoiden Zügen gemein; es trennt sie die hypomanische Stimmungslage, die Flatterhaftigkeit und der Betätigungsdrang der ersteren.

Von ausgeprägten Psychosen soll die Dementia paranoides wenigstens Erwähnung finden, mit der insofern eine allerdings grob äusserliche Aehnlichkeit besteht, als die Verschrobenheit auch erst im Pubertätsalter in Erscheinung tritt und einzelne Vorstellungen der Verschrobenen paranoische Färbung tragen; doch geben die initiale Verstimmung, stärkeres Hervortreten von Sinnestäuschungen und Wahnideen sowie der meist progressive Verlauf ohne weiteres den Ausschlag für die Psychose.

In jeder Hinsicht am wichtigsten und nicht immer von selbst gegeben ist die Abgrenzung von der Paranoia. Die Aehnlichkeit mit ıhr wird am besten dadurch charakterisiert, dass die aus- geprägten Fälle fast alle dauernd oder wenigstens vorübergehend unter der Diagnose Paranoia oder originäre Paranoia gelaufen sind. Und es besteht ja auch eine grosse Aehnlichkeit mit dem, was Krafft-Ebing als Paranoia reformatoria und inventoria be- zeichnet, denn dies sind eben keine Paranoiker, sondern Degene- rierte.e Hinzu kommt, dass die akuten, paranoischen Steigerungen mit phantastischen Grössenideen an die originäre Paranoia an- klingen. Von dieser lassen sie sich aber beım weiteren Verlauf trennen, da sie nur eine vorübergehende kurze Periode im Gesamt- bilde darstellen. Die Scheidung von der typischen Paranoia Kraepelins ist jedenfalls schon dadurch gegeben, dass es sich hier im wesentlichen um einen von vornherein gegebenen Dauerzustand handelt, während dort zu gewisser Zeit ein Krankheitsprozess von bestimmter Verlaufsweise einsetzt. Von einer „langsamen Herausbildung eines dauernden, unerschütterlichen Wahnsystems“ (Kraepelin) kann zudem überhaupt keine Rede sein.

Sieht man schliesslich die Verschrobenen noch einmal auf ihre Beziehung zur Entartung an, so zeigen sie sich auch, abgesehen von dem durch Heredität, körperliche und geistige Stigmata gegebenen Nachweis, ganz allgemein durch ihre Charakter- eigenart als typische Degenerierte. Denn gerade die, jene kenn- zeichnende Disharmonie in den Massverhältnissen der einzelnen seelischen Elemente, der Mangel an psychischem Gleichgewicht sind Grundzüge ihres Wesens. Sind dabei in dem oder jenem Falle manche Fähigkeiten, wie es ja bei Entarteten vorkommt, hervorragend ausgebildet, dann dürfte man ihnen allerdings nicht gerecht werden, ohne über den Rabmen klinischer Betrachtungs- weise hinauszugehen.

Als Beispiele für das psychologische Bild der Verschrobenen sollen die nachfolgend wiedergegebenen Selbstbiographien dienen.

314 Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.

Dabei ist von den rein klinischen Einzelheiten, die ja viel Ge- meinschaftliches mit denen anderer Degenerierter haben, völlig abgesehen.

I. H. R., Arbeiter, 26 Jahre alt.

Aller Anfang ist schwer. Ob dies auch mit mir der Fall war, weiss ich nicht, es ist aber kaum wahrscheinlich. Jedenfalls, wer mich kennt, wird nicht bezweifeln, dass ich geboren bin. Ueber den Ort und die näheren Umstände dieser Tatsache a priori kann ich aus eigenem Wissen nichts be- richten. Im Standesamtsregister zu Berlin ist als Datum meiner Geburt der 14. Mai 1880 angegeben. Als meine Eltern sind ebendaselbst der Arbeiter G. R. und dessen staatlich konzessionierte Ehefrau bezeichnet. Eine um drei Jahre ältere Schwester lasse ich am besten unerwähnt, wie ich über- haupt dies so gerne zitierte Wort: „Blut ist dicker wie Wasser“ ignoriere. Der Mensch ist die Hauptsache, nicht seine Abstammung. Die sogenannte Elternliebe ist lediglich ein Gefühl, durch die Gewohnheit des Beisammen- seins hervorgerufen. Das meist herzliche Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist auf die gleichartigen, ererbten Charaktereigenschaften und die- selben Lebensbedingungen zurückzuführen. Dass dieses Gefühl bei mir so wenig stark ausgebildet ist, ja beinahe das Gegenteil darstellt, ist die not- wendige Konsequenz und das ist mir jetzt zur vollsten und wahrsten Ueberzeugung geworden einer gänzlich andersartigen Veranlagung, bei der die Darwinsche Vererbungstheorie ausnahmsweise nicht anwendbar erscheint. Ich bin eben ein eigenes Gewächs und tue meinen Eltern unrecht, wenn ich sie dafür verantwortlich mache. Merkwürdigerweise ist es mir nicht gegeben, mein Benehmen, trotz dieser Erkenntnis und allen vorhandenen gute Willens, zu ändern. Der wahre Grund meines Wesens ist ja auch mir ein Geheimnis. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es ein direkter Eingriff nicht mensch- licher, ausserhalb unseres Erkenntnisvermögens liegender Mächte. Im ersten Moment klingt dies absurd, aber nur scheinbar. Wer mein Leben und meinen Entwicklungsgang kennt, wird logischerweise zu demselben Schluss kommen. Schon das Gefühl des Unbehagens, des Abscheus in einer Gesellschaft und unter Umständen, welche, wie ich sehe, jedem Freude und Genuss bereiten, ist eine deutliche Wirkung der in mir schlummernden aussergewöhnlichen Kräfte, der Kräfte, die ich bis jetzt mit allen Mitteln unterdrückt habe und als deren grossartigste und alle anderen Deutungen ausschliessende Aeusserung meine Fähigkeit, mehr wahrzunehmen als andere, ist. Wenn auch dies bis- her nur in geringem Masse im Krankheitsprotokoll als farbenspielähn- liche Punkterscheinungen gekennzeichnet und bei äusserster Anstrengung meines Geistes der Fall ist, so ist doch sicher meine Annahme, die Ent- stehung eines neuen Sinnes bereite sich hier vor, genügend motiviert. Aller- dings hielt ich noch vor gar nicht langer Zeit diese Erscheinungen für geisteskrank. Nachdem auch ärztlicherseits diesem Umstand als Krankheit so wenig Gewicht beigelegt wird, vielmehr man an meinen ethisch-ästhetischen Moralbegriffen,meinerindividualistisch-idealistischen Weltanschauung laboriert, ist auch der Wahnsinn für mich abgetan.

„Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss“, sagt Nietzsche. Und weiter: „Littet ihr schon am Menschen?“ Jawohl, ich habe gelitten und leide noch daran, das Unmögliche möglich zu machen. Oder ist es etwas anderes, wenn man sich in unendlich qualvoller Sysiphusarbeit zum Gipfel der Gedankenpyramide hinaufgerungen hat und dann durch die not- wendige Befriedigung der profansten materiellen Dinge, wie Essen, Schlafen, der ganze Geistesbau zusammenstürzt und von neuem aufgeführt werden muss, man bei jedem Schritt an das armselige Menschsein erinnert wird? Was ist’s, das mır die unerträglichen Schmerzen, das Leben zur Hölle macht? Es ist der Kampf des Neuen, Unbekannten, Unwiderstehlichen mit der morschen, sterbenden Welt, es ist das Ungeborene in mir, das zum Licht drängt, es ist der Uebermensch. Uebermensch ein schönes Wort, doch leider allzu oft missbraucht. Ich weiss es, auch ich werde verlacht. Doch kann ein wirklich ernst zuNehmender mein Uebermenschentum nicht bezweifeln. Einerlei, was schert mich die Meinung des Pöbels. Ich werde nicht mehr

Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene. 815

die Entfaltung meiner Kräfte zu hindern suchen, vielmehr auf jede nur mögliche Art zu fördern mich bemühen. Allerdings werden die von der Aussenwelt veranlassten physischen wie psychischen Leiden in demselben Masse wachsen wie der innere Zwiespalt, die Selbstqual verschwindet. Viel- leicht sind die mir entgegenstrebenden Hindernisse mächtiger als ich. Nun gut: besser sterben wie ein Mensch, als leben wie ein Tier. Aut Caesar, aut nihil! Nichts ist mir widerwärtiger als der stumpfsinnige Bierbauch- ilister.

P Um das Thema, meinen Lebenslauf innezuhalten, berichte ich zunächst über meine früheste Jugendzeit, und zwar nehme ich besondere Rücksicht auf die Seelenvorgänge. Der Wert einer Sache macht ja auch erst aus, was man sich dabei denkt. Aus Berichten von meinen Eltern und aus eigener Rückerinnerung weiss ich, dass ein eigentümliches, träumerisches Wesen schon in meiner ersten Kindheit an mir bemerkbar war.

Meiner Ungeduld, in die Schule zu gehen, kamen meine Eltern dadurch nach, dass ich 6 Monate früher wie üblich eingeschult wurde. Die Ent- täuschang war gross. Was ich lernen sollte, interessierte mich absolut nicht. Immer hing ich meinen eigenen Gedanken nach. Zur Absolvierung der beiden unteren Klassen brauchte ich denn auch vier volle Jahre. Im Stillen zer- marterte ich schon damals mein Hirn mit dem Rätsel meines Seins, gab aber mir selbst und meiner „sündigen Seele“ die Schuld, jedoch nur vernunfts- mässig, ohne die instinktive Abneigung gegen meine Umgebung unterdrücken zu können.

Nach meiner Schulzeit besuchte ich auf Bestimmung meiner Eltern die Präparandenanstalt und stümperte mich ‘daselbst 2 Jahre durch. Kurz ent- schlossen griff ich darauf zum Mechanikerberuf.

Zu dieser Zeit war es auch, als ich zum letztenmal mich zu meinen Eltern über mein Innenleben aussprach. Mein ganzes Streben ging damals dahin, viel Geld zu verdienen, bis ich plötzlich die Wertlosigkeit des mate- riellen Schätzesammelns einsah und nun in tollem Taumel das Versäumte nachholte. Ich lebte und genoss; vielmehr ich bildete es mir ein. In Wirk- lichkeit lebte ich wie ein Schwein.

Ueber mein Sexualleben das viel mehr Bedeutung hat, als man gemeinhin zugibt möchte ich überhaupt nichts sagen, da ich nicht mich und andere Leute unnötig kompromittieren will, die herrschenden Moral- anschauungen auch gar zu gern nach dem Pöbelmassenmasstab alles Anders- artige verketzern. In der genannten Periode hatte sich ein aus den denkbar schlechtesten Motiven eingegangenes Liebesverhältnis aus den niedrigsten Sinnengenüssen zu idealer Höhe entwickelt.

Als zu dieser Zeit ein Studienfreund von mir an der Schwindsucht starb, glaubte ich fest, ich wäre ebenfalls tuberkulös, hatte mich im Stillen sogar aufgegeben.

Dass der Abbruch des ca. 2 Jahre andauernden Verhältnisses und durch so einschneidende Bedingungen herbeigeführt, zu einer Katastrophe führen musste, ist für den Psychologen selbstverständlich. Der durch überlanges Studium verbildete Idiot vermag dies jedoch, ausserhalb seines engen geistigen Horizonts liegend, in seiner Erhabenheit nicht zu fassen. Von dieser Zeitan bekam mein Denken eine ganz andere, neue Richtung. Ich sah nur zu bald das Verwerfliche der Sinnengenüsse ein und warf mich nun mit wahrem Feuereifer auf schöngeistige Literatur, Kunst, Philosophie, Politik, kurz alles, was ein modern Gebildeter wissen muss, um sich ein objektives Urteil über seine Zeit zu bilden. Bald sah ich, was für ein ungeheurer Frevel an mir verübt worden war. Die Verantwortlichen meiner pfäffischen, sentimentalen,

efühlsduseligen, christlich religiösen Erziehung hätte ich erwürgen mögen. Was für Kampf hatte mir nicht die verfluchte Gottespest in meinen Putertäts- jahren gekostet. An alles legte ich den kritischen Masstab und verzweifelte fast ob des Resultates. Nichts erkenne ich an, nichts lasse ich gelten, kein Dogma, keine Autorität noch sonstige Verdummungsparasiten. Ein Skeptiker und Egoist vom reinsten Wasser. Nur nicht andere für uns denken lassen, lautet meine Deviso.

316 Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.

Das Theater und die Oper besuchte ich so oft, als es mein Portemonnaie estattete, besonders die naturalistischen sozialistischen Stücke. Immer mehr Kam es mir zum Bewusstsein, was Mensch sein heisst, wie viel edlere und höhere Genüsse das Geistesleben gewährt. Aber leider, leider, wie sind Genüsse der Art für einen Menschen in meiner sozialen Lage möglich? Der Arbeiter hat als Genuss nur die Schnapsflasche, alles andere ist Mumpitz und durch die wenige verfügbare Zeit unerreichbar. Ich gebe offen zu, mit dem Alkohol als Mittel zum Zweck zu sympathisieren. So betrank ich mich ` einstmals mit meinem Freunde zusammen in reinem Kognak dermassen, dass ich mich nicht selbst entkleiden konnte. Und nicht etwa bei gesellschaft- lichem Anlass, rein aus moralischem Katzenjammer.

Ich sprach vom ästhetischen Genuss, als soviel höher stehend, und von der verwerflichen Befriedigung der grobsinnlichen Gefühle. Der schwerste Kampf für mich, den Menschen zu überwinden, ist der sexuelle Trieb. Die durch denselben veranlassten niederdrückenden, jedes Aufwärtsbewegen hem- menden Leiden werde ich auf meinem Weg zum Uebermenschen durch die Homosexualität verdrängen. Ich neige mehr und mehr dazu, namentlich seitdem ich mich in letzter Zeit mit den Bestrebungen Dr. M. Hirschfelds eingehend beschäftigt habe. Unsere ganze sogenannte Kultur ist verweibert, nirgends Charakter und gerades Wesen. Es ist wahr, die Menschen geben hentzutage eher ihren Charakter auf, als eine kleine Bequemlichkeit zu ent- behren. Hundeseelen. Ein Aufgeilen der Menge durch bewusstes Schmeicheln der Masseninstinkte ist das Hauptgeschäft der Tagesliteratur.

„Ihr sollt euch nicht fortpflanzen, sondern hinaufpflanzen!'* Welcher Kontrast zur realen Wirklichkeit der heutigen Brunst- und Schacherliebe.

Mit einer jungen Schriftstellerin hatte ich ein rein platonisches Ver- hältnis ca. 2 Jahre. Dutzende von gedruckten und ungedruckten Gedichten sowie Korrespondenzbriefe stehen eventuell zur Verfügung. Trotzdem eine eheliche Verbindung mir mehr als nahegelegt wurde, konnte ich mich nicht dazu entschliessen, obgleich diese Dame meine Anschauungen im wesent- lichen teilte und die Aussichten für mich durchaus günstig lagen. Instinktiv fühlte ich wohl schon damals meine Bestimmung zum höheren Menschen. Eingehend die Gedanken und Erlebnisse zu schildern, ist nicht möglich, da sonst der Lebenslauf den Umfang eines mehrbändigen Romans erreichte.

Einen grossen Teil meiner Zeit und Kraft legte ich später in Er- findungen an. Mit unendlicher Mühe und Geldopfern arbeitete ich mit meinem Freunde Nächte hindurch. Mein Plan war damals, in Gemeinschaft meines Freundes per Tandem durch Südrussland nach Sibirien zu fahren. Nach Sibirien, dem neuen Amerika, um dort einen Lebenszweck zu finden. Von technischen Neuerungen, die mich eifrig beschäftigten, nenne ich noch eine Antriebsmaschine für Fahrzeuge. Auch aufthermoelektrischem Gebiet in Verbindung mit Explosionsmotoren habe ich eine umwälzende Idee. Von allen Dingen am meisten fesselte mich und betrachte ich als einen bedeut- samen Schritt zu meiner Selbsterlösung die Ausführung des Problems einer sozial-technischen Einrichtung zwecks künstlerischer Erziehung des Volkes, speziell der untersten Proletarierschichten, als dem einzig möglichen Mittel, den Menschen, das denkende Individuum, aus dem Massenarbeitstier zu bilden, um die geistige und ökonomische Freiheit, einen höheren, ästhetischen Lebens- genuse zu ermöglichen... Dass die Notwendigkeit besteht sofern man den

lauben an eine fortschreitende Entwicklung gelten lässt —, die Menschen auf bessere Genüsse, wie Fressen und Saufen, hinzulenken, steht ausser Zweifel. Ich bole den Himmel herunter, das Fest der Erde, das neue Paradies des Lebens werde ich schaffen. Was nützt es, ewig zwecklos um Gnade winseln zu einem Phantom, von dem wir nur Vermutungen und Legenden wissen, während die besten Kräfte in uns vermodern.

Bei dieser Gelegenheit kann ich es unmöglich und trotz der persön- lichen Gefahr für mich unterdrücken. die Reflexion meines hiesigen Aufent- haltes wiederzugeben.

Pfui Teufel, wie erbärmlich kleinlich denkt doch hier der nar auf die Beibehaltung seiner Brotstellung, auf die Verteidigung gegenüber der eventuellen Rüge seiner Handlungsweise bedachte Pöbel. Elende Materialisten.

Birnbaum, Usber degenerativ Verschrobene. 817

Der Kranke interessiert allenfalls wie das Kaninchen dem Vivisektor der Mensch, nein, ordinäres Pack, Iguoranten! Was ist ein armseliger Patient? Nieht soviel, als man Sorge um den Schmutz seiner Stiefel trä Vielleicht lächelt man über das ohnmächtige Krümmen des zertretenen Wurmes, ohne sich jedoch auch nureinen Moment aus der behäbigen Philisterruhe aufscheuchen zu lassen. Ist man übel gelaunt, bekommt er sicher die angenehmen Seiten desfreiwilligen Galeerenlebens zufühlen. „Bin ich für nichts an dieser Stelle?“ Sic volo, sic jubeo, nach berühmtem Muster. Die ganze Behandlung zielt ja hier auch auf die Brechung des freien individuellen Subjekts hin. Dass die Lebensenergie dadurch untergraben wird, kommt weiter nicht in Betracht, wenn nur der Patient nicht revoltiert. Ich will auch gar nichts mehr, nur träumen will ich, träumen meinen „einsamen Weg“!

Ich bin am Schluss und habe nur noch über die Vorgänge, die mein Hiersein direkt veranlassen, zu berichten. Um den vielfachen Bemerkungen meiner Bekannten von „verrückt sein“ etc. und dem auffälligen Benehmen meiner Eltern mit einem Schlage abzuhelfen, wollte ich ein amtliches Attest von der Direktion der Anstalt über meinen (Geisteszustand haben, um dadurch meine Zurechnungsfähigkeit dokumentieren zu können. Von einer wirklichen Geisteskrankheit kann jedoch nach meinem heutigen Dafürhalten im Gegensatz zu früheren Bekundungen absolut nicht die Rede sein. Meine Krankheit besteht lediglich in Nervosität, damals besonders stark auf- tretend. Einesteils kann ich dem Geschick nicht grollen, das mich hierher führte. Andernteils, wenn ich an die Folgen einer Internierung in der Irren- anstalt denke, graut’s mir. Doch ich will es zertreten, das ‚graun Ges enst, Pessimismus. Auf zum Licht, zur Sonne der Wahrheit, zum Debermenschen!

li. H. B., Arbeiter, 42 Jahre.

Mein Lebenslauf.

Mein Lebenslauf ist zur Aufklärung meiner persönlichen Verhältnisse hiesiger Anstaltsdirektion zu überweisen. x otto:

Hast du schon einen Sumpf gesehen,

Voll Moder und Todasgraun?

Kannst du seinen Schatten, sein Spiegelbild sehen, Dich fröstelnd im Reiche des Todes ergehen, Seine Wüsten im Leben erschaun:

Im Leben, das dir hier vor Augen gemalt,

Mein eigenes Konterfei.

Kindheit.

O, du meiner Kindheit Freude,

Meines Daseins Sonnentraum,

Bist in Nebeln du zerronnen

Wie des Meeres Flockenschaum ?

Wirst du nimmermehr verweilen

Bei mir einen Augenblick

Bringe doch des Lebens Hoffnung,

Himmelsfrieden mir zurück!

l Ja, wenn ich obigen Vers doch mit aufrichtigem Herzen nachbetsa könnte. Doch, was die dichterische Inspiration in überschwänglicher Idealität erschaut ist wohl meistenteils mit der nackten Prosa einer realen Wirklichkeit in keiner Beziehung zu vereinbaren.

Als aussereheliches Kind von einer M. B. in einem winzigen Dörfchen Holsteins ins Leben gerufen, verbrachte ich die ersten 5 Jahre meiner irdischen Wallfahrt, ohne wesentliche Eindrücke zu hinterlassen, auf dem Lande.

Nachdem meine Mutter sich mit einem in Hamburg angesessenen Subalternen verehelicht, wurde ich von meinem früheren Aufenthaltsort, woselbst ich mich bei meiner alten Grossmutter, einer recht biderben, gut- mütigen Frau, sehr wohl befunden, nach Hamburg überführt, um unter der

Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Rd. XXI. Heft «. 21

318 Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.

Zuchtrüte meines: gestreugen Herrn Stiefvaters zu einem nützlichen Mitglied der menschlichen Gesellschaft gedrillt za werden.

Es wäre ja gegen einen solch löblichen Vorsatz keineswegs was ein- zuwenden gewesen, wenn selbiger Entschluss humanitären Rücksichten ent- sprun en; ass dies aber nicht der Fall, bekam ich täglich zu hören und zu fühlen.

Wo Schimpfreden und sonstige Roheit an der Tagesordnung, ist nicht zu verwundern, wenn die zarten Blütenkeime kindlicher Harmlosigkeit zerstört und an Stelle eines milden Gottesfriedens Verwilderung der Sitten eintritt.

Die Folge hiervon war meine endgültige Ueberweisung einer städtischen Erziehungsanstalt,

Die ersten Jahre meines Dortseins lebte ich ziemlich in Frieden, bis ein gewisser B. ans Ruder gelangte. Da konnte ich auch mit Don Carlos verzweifeind ausrufen:

„Die schönen Tage von Aranjung, Sie sind vorbei!“

Im Interesse der Menschlichkeit wäre es wohl angezeigt, wenn die Institutionen gedachter Anstalt durch eine unparteiische Kommission auf deren Wert geprüft, um Missbräuche abzustellen, das Panier menschenfreund- licher Gesittung aufzapflanzen, zu fördern.

Was ich während dieser Zeit empfunden und gelitten habe, lässt sich kaum mit Worten beschreiben; oder ich müsste die ersten Abschnitte in dem Voz Dickensschen Roman, David Koperfield“ rezitieren, denn was der be- gebte Autor seinen jungen Helden in der Krikelschen Anstalt Salem-Huse

at leiden lassen, dieselben Drangsale habe ich auch erdulden müssen und das alles um Gottes Willen!

Nach erfolgter Einsegnung wurde ich einem Schuhmachermeister in die Lehre gegeben, der mich schon nach 7 Wochen als unbrauchbar entliess.

Wurde, dann einem im Hannöverischen wohnhaften Landmann in Obhut gegeben, dem ich aber schon nach 3 Monaten ohne jeglichen Grund entlauien.

II. Jünglings- und Mannesalter.

.... „Ins Leben führt ihr ihn hinein, Und lasst den Armen schuldig werden, Dann überlasst ihr ihn der Pein,

Denn jede Schuld rächt sich auf Erden.“

(Aus Goethes Harfenspieler.)

Es scheint, das unser Altmeister nicht so ganz Unrecht hat, wenn er behauptet, dass jede Schuld ihren Rächer auf Erden finden werde!

Dass ich auch nicht ganz schuldlos gewesen, dass ich mich konkreten Verhältnissen und wären sie noch so drückend gewesen hätte anbequemen müssen, ist gar nicht zu bezweifeln; dass ich mich aber gegebenen Um- ständen nicht unterworfen, vielmehr beflissen war, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen, das ist eben mein Verderb!

Für meine damaligen 16 Jahre von der Natur fürs praktische Leben

eistig und körperlich stiefmütterlich behandelt, von meinem Stiefvater im eisein meiner mit dem Tode ringenden Mutter kaltherzig abgewiesen, nicht wissend, wohin mich wenden, geriet ich als „Hausbettler“ mit der Polizei in Konflikt, in welchem ich natürlich den kürzeren zog. Würde man schon damals für die aus den Korrektionsanstalten zur Entlasssung gelangten Detinierten in fürsorgender Weise etwas Erspriessliches getan haben, würde vieles anders und besser geworden sein. Die bestehenden Arbeiterkolonien gereichen dem christlichen Kultus durch ibr Wuchsr- und Aussaugesystem gerade nicht zur Ehre.

Die beiden hiesigen Kolonien können hierfür als schlagende Be- weise gelten.

- Wenn man die Behandlungsweise der französischen Hugenotten unter Ludwig XIV. kennt, sich ihren Jammer, ihr Elend veranschaulicht, so hat man

Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene. 319

das getreue Ebenbild preussischer respektive deutscher Arbeitshäuser wahre Mördergruben und Folterkammern des 19. Jahrhunderts; und das zu einer Zeit, in welcher Deutschlands Herrscher den Gesetzen ein treuer Wächter und der bedrängten Armut ein fürsorgender Helfer sein wollte!!

Es soll hier nicht in Abrede gestellt werden, dass eine gewisse Strenge zum Besten des Allgemeinwohls zwecks Aufrechterhaltung einer wohltätigen Ordnung unumgänglich notwendig sei; jedoch darf diese Befugnis nicht die Schranken christlicher Humanität durchbrechen, um in bodenlose Tyrannei auszuarten, wie dies leider an der Tagesordnung.

Mein ganzer mir innewohnender Mannesstolz lehnte sich gegen eine derartige Vergewaltigung persönlicher Menschenrechte auf, um sie mir kämpfend zu erhalten.

Ein Exzess folgte dem andern, eine Misshandlung der andern, bis man mich einkerkerte, auspeitschte, zweimal den Versuch machte, mich mittels Dampf dem Erstickungstode nahe zu bringen.

Dass auch stärkere Geister als ich schliesslich solchen Stürmen auf die Länge nicht gewachsen, war vorauszusehen.

Was aber eigentlich geschehen, was sich mit mir ereignet, ist mir ein Rätsel.

Nur soviel ist mir bewusst, dass man mich angeblich wegen Majestäts- beleidigung belangen und dementsprechend zu 4 Jahren Gefängnis verurteilen liess! Ob mit Recht? Ich bezweifle es.

Habe auch Berufung dagegen eingelegt, doch leider vergeblich.

Im Gefängnis, wohin man mich geführt, muss sich mit mir was Ausser- gewöhnliches ereignet haben; wurde der Irrenanstalt S. zur Begutachtung überwiesen.

Wurde gut behandelt, brauchte nicht zu hungern und durfte ungestört meinen Passionen leben; wollte Gott, dass ich auch dasselbe von hiesiger Anstalt behaupten dürfte.

Nach Verbüssung der vierjährigen Gefängnisstrafe musste ich den Restbestand der zweijährigen Korrektionsnachhaft von 15 Monaten abdienen und wurde dann am 2. II. 1895 endgültig auf freien Fuss gesetzt.

Um mich vor Wiederholungen gedachter Eventualitäten zu schützen, mich durch eigene Kraft zu einem Mitgliede der menschlichen Gesellschaft za prädestinieren, versuchte ich es mit den Arbeiterkolonien: Rückling, Hamburg, Magdeburg, Berlin und Tegel; doch hier kam ich erst vom Regen in die Traufe. War ich als anständig gekleideter Gentleman hingekommen, ging ich als abgerissener Lump wieder von dannen.

b es mir gelingen wird, mir einen Freund zu erwerben, der sich meiner in uneigennütziger Weise annimmt, muss ich der Zukunft anheim- stellen; jedenfalls wäre der Tod einem solchen Leben, wie ich es habe durch- kosten müssen, vorzuziehen. 0.

Ueber meine poetischen Arbeiten nur soviel, dass ich derartige Be- strebungen schon als zwölfjähriger Knabe, also anno 1877 oder 1878, in meiner „Frühlingswonne“ Rechnung getragen; dafür gehöhnt, deshalb das Dichten netto 10 Jahre eingestellt, bis ich den Bestrebungen poetischer Form- schmiederei auf die Dauer nicht mehr zu widerstehen vermochte und selbige Gefühle in nachtolgenden Gedichten: „Wüstensturm, Freundschaft, Nemesis, Verlorenes Paradies, Heimkehr, Hühnengrab, Leitstern, Morgen- und Abend- stern, Sehnsucht, Mutterliebe, Meerfahrt, Jungfrau von Patrik“ etc. zum Aus- druck gebracht.

gez. H. B., Verfasser von Mementemori, Phantasmagorie. (Folgi das Gedicht.) Abgefasst vom 18. VII. bis 1. VIII. 1905 von

Anmerkung des Verfassers: Die erschreckende Zunahme der Völlerei mit deren Begleiterscheinungen hat dem Verfasser den Stoff zu seiner erschütternden Ballade „Mementemori“ in ausgiebiger Weise geliefert,

21°

320 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger

Ob es dem Verfasser, der sich Schiller zum Vorbild genommen, bei seiner minderwertigen Volksschulbildang gelungen, sich diesem schwierigen Problem gewachsen zu zeigen, muss er dem Ermessen sachvorständiger Autoritäten anheimstellen.

Ich werde wohl im Kampf ums Dasein gegen die Engherzigkeit eines materialistisch angehauchten Zeitgeistes unterliegen müssen, ohne noch lebend die Früchte meines dichterischen Strebens einheimsen und geniessen zu können.

Aus den vermögenden und gebildeten Kreisen waren es zwei Männer, die mein Talent unumwunden anerkannten, nämlich Herr Pastor .... und Herr Dr... ..!

Dass es mir mit Hülfe wohlmeinender Gönner gelingen möge, mein nichtsweniger als beneidenswertes Dasein in erträglicher Weise beschliessen

zu dürfen, das walte Gott in Gnaden. gez. H. B., der Verfasser.

Meinem hochverehrten Chef, Herrn Geheimrat Moeli, spreche ich für sein liebenswürdiges Interesse an der Arbeit und mancherlei Hinweise sowie die Ueberlassung des Materials meinen ergebenen

ank aus.

(Aus der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt zu Rybnik OJS.)

Vergleichende Untersuchung einiger Psychosen mittelst der Biidehenbenennungsmethode.

Von

Dr. WALTER von SCHUCKMANN, Abtellungsarzt.

Es ist schon öfter und von verschiedenen Seiten darauf hin- gewiesen worden, dass bei der gebräuchlichen Methode der Exploration und Untersuchung Geisteskranker den akustischen, speziell den Wortreizen in Gestalt der explorativen Fragen und der Assoziationsversuche eine ungebührlich dominierende Stellung ein- geräumt wird und demgegenüber die übrigen sit venia verbo Eintrittspforten, die uns von seiten der anderen Sinnesgebiete zu der Psyche des Kranken offen stehen, dementsprechend ver- nachlässigt werden. Die zweifellose Berechtigung dieses Ein- wandes veranlasste mich bereits vor etwa drei Jahren, gelegentlich der Uebernahme der Aufnahmestation der hiesigen Frauen- abteilung, mir zum Zwecke der klinischen Krankenuntersuchung ein „Bilderbuch“ zusammenzustellen (ich komme auf dasselbe weiter unten ausführlicher zu sprechen), um systematisch alle neu- aufgenommenen Kranken nach einheitlicher, vergleichbare Werte liefernder Methode in ihrer Reaktionsform auf optische Eindrücke zu untersuchen. Anderweitige Interessen liessen leider das „Bilderbuch“ zu früh einer unverdienten Vergessenheit anheim-

Psychosen mittelst der Bildohenbanennungsmethode. 821

fallen. Erst die interessanten Ergebnisse, die Heilbronner!) mittelst seiner Bildchenbenennungsmethode erzielte, veranlassten mich, die Frage der Methode und Anwendung optischer Reize zur klinischen Untersuchung Geisteskranker wieder in Angriff zu nehmen. Ich will in den folgenden Zeilen zunächst kurz die von mir angewandte Untersuchungsmethode schildern und dann auf die damit gewonnenen Resultate eingehen.

A. Untersuchungsmethode.

Die leitenden Gesichtspunkte für die in Rede stehenden Untersuchungen waren für mich folgende:

1. Lässt die Form der Reaktion der einzelnen Kranken auf optische Eindrücke die gleichen pathologischen Abweichungen oder psychotischen Momente erkennen wie die Reaktionsform auf die üblichen Wortreize?

2. Geht die Reduktion des von der optischen Sinnessphäre aus erweckbaren Bewusstseinsinhaltes, soweit letzterer aus der Summe der Inhalte der einzelnen Reaktionen erschlossen werden kann, bei den einzelnen Kranken ungefähr parallel der Reduktion des gesamten Bewusstseinsinhaltes, das heisst: ist der Grad der sit venia verbo optischen Verblödung proportional dem Grade der Allgemeinverblödung?

Was zunächst den zweiten Punkt anlangt, so besitzen wir ja genau genommen eigentlich kein Verfahren, den Bewusstseins- inhalt als solchen festzustellen. Was wir ermitteln können, ist ja lediglich die Entscheidung der Frage: Ist die Anspruchs- fähigkeit oder Erregbarkeit der einzelnen Vorstellung so gross, dass sie durch den adäquaten, von der Sinnesperipherie wirkenden Reiz über die Schwelle des Bewusstseins gehoben wird oder nicht? Demnach ist also der Umfang des von der optischen Sphäre aus erregbaren, kürzer gesagt, des optischen Bewusstseins- inhaltes eine Funktion der Anspruchsfähigkeit seiner einzelnen Partialvorstellungen, und da letztere, die Anspruchsfähigkeit wieder- um eine Funktion der Zeit darstellt, insofern uls sie von der Dauer sowohl, wie der jeweiligen Phase der einzelnen Psychose abhängig ist, erscheint demnach auch der Umfang des optischen Bewusstseinsinhaltes als abhängig von der Zeit. Da es mir bei vorliegender Untersuchung vor allem darauf ankam, möglichst vergleichbare Werte für verschiedene Krankheitsformen zu ge- winnen, habe ıch, um diese zeitliche Abhängigkeit und die da- durch bedingten Schwankungen nuch Möglichkeit auszuschalten, solche Krankheitsfälle ausgewählt, bei denen die akute Periode der Psychose bereits abgelaufen war und einem annähernd stabilen Zustande mit nur geringen Schwankungen in der Intensität der Krankheitserscheinungen Platz gemacht hatte. Für diese aus-

1) Heilbronner, Zur klinisch-psyebologischen Untersuchungstechnik. Monatsschr. f. Psych. a. Neur. XVII. p. 115.

322 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger

ewählten Fälle kann man demnach ohne erheblichen Fehler den mfang des Bewusstseinsinhaltes als eine wenigstens für die Zeitdauer der Untersuchung konstante Grösse ansehen und definieren als Summe aller derjenigen optischen Vorstellungen, deren Anspruchsfähigkeit gross genug ist, um durch den adäquaten Sinnesreiz über die Bewusstseinsschwelle gehoben zu werden. Eine lückenlose Inventur des gesamten optischen Bewusstseins- inhaltes, die theoretisch zur Entscheidung der oben präzisierten Frage 2 eigentlich erforderlich wäre, ist ja praktisch nun leider undurchführbar aus Gründen, die nicht nur den Untersucher, sondern auch den Untersuchten betreffen. Es kann demnach nur eine Inventur durch Stichproben stattfinden, die möglichst ver- schiedenen optischen Gebieten entnommen werden müssen. In diesem Sinne wurden die Gegenstände der benutzten Bilder aus- gewählt; die bei dieser Art der Untersuchung ermittelten Defekte des Bewusstseinsinhaltes dürften als sehr annähernd proportional dem (Gesamtdefekte des optischen Bewusstseinsinhaltes an- zusehen sein.

Was nun die oben präzisierte Frage 1 anlangt, so ist ohne weiteres ersichtlich, dass es gerade die akuten Phasen der Psychosen sein werden, die das reichhaltigere Material an patho- logischen Abweichungen oder psychotischen Momenten in der Reaktionsform der einzelnen Kranken auf optische Eindrücke liefern werden. Da es mir in vorliegender Arbeit aber vor allem auf eine Entscheidung der Frage 2 ankam, so musste der Wunsch, optimale Versuchsbedingungen zur Entscheidung der Frage 1 zu schaffen, zurücktreten. Das die erste Frage betreffende Material, was ich in dieser Arbeit beibringe, ist demnach nur quasi als Nebenprodukt zu betrachten, und dürfte die eingehendere Be- handlung der ersten Frage Gegenstand besonderer Untersuchung sein. Zur Lösung der Aufgabe, die Anspruchsfähigkeit einer grösseren Anzahl optischer Vorstellungen durch adäquate optische Reize festzustellen, kamen a priori drei Möglichkeiten in Frage: der zur Anwendung zu bringende Reiz konnte sein: entweder das betreffende Vorstellungsobjekt in natura oder seine flächen- hafte Abbildung, und zwar in letzterem Falle entweder eine farbige oder eine einfache, einfarbige Zeichnung. |

Meine ursprüngliche Absicht, durchweg Parallelversuche mit allen drei Untersuchungsarten anzustellen, um den Einfluss fest- zustellen, den ein dreidimensionales Objekt auf die Erweckbarkeit der betreffenden Vorstellung ausübt, gegenüber einer nur zwei- dimensionalen Zeichnung, scheiterte an der Unmöglichkeit, die nötige Anzahl von Objekten verschiedenster Art und gleichgrosse, genau entsprechende Zeichnungen zusammenzubringen. Ich musste mich also darauf beschränken, unter Verzicht auf die Feststellung des Einflusses der Dreidimensionalität in mein Programm lediglich die Frage aufzunehmen: Besteht ein Unter- schied hinsichtlich der Erweckbarkeit optischer Vorstellungen zwischen farbigen und nichtfarbigen Abbildungen als Erweckungs-

Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode. . 828

reizen? Zur Entscheidung dieser Frage diente die. unten be; schriebene „Bilderserie“ sowie das „Album A* und „Album BS,

- Zur Entscheidung der Frage, wie die zunehmend genauere Detailausführung der Zeichnung auf die Erweckbarkeit der be- treffenden optischen Vorstellung einwirkt, diente lediglich die Bilderserie.

Um möglichst eindeutige Reaktionen zu erzielen und den komplizierenden Einfluss etwaiger erhöhter Ablenkbarkeit der Kranken auszuschalten, wurde während der sämtlichen Unter- suchungen streng das Prinzip gewahrt, immer nur ein Objekt auf einmal dem Blick der Patienten zu exponieren. Aus diesem Grunde waren die üblichen Bilderbücher für mich unbenutzbar. Bei den von.mir zusammengestellten Bilderbüchern war durch- weg stets nur auf der jeweils rechten Seite ein Bild angebracht, während die linke Seite freiblieb, ebenso war bei den auf Karton- blättchen gezeichneten Serienbildchen nur die eine Seite des Kartons benutzt, so dass das Prinzip, stets nur ein Objekt auf einmal in den Gesichtskreis des Patienten einzuführen, durchweg gewahrt wurde.

Unter Berücksichtigung der bisher erörterten Gesichtspunkte setzte sich demnach mein Untersuchungsapparat an Bilder- zusammenstellungen in folgender Weise zusammen:

L Die Bildchenserie: Aus einem Meggendorfer Bilderbuch „Für die ganz Kleinen“ wurden nachfolgende neun einfachen kolorierten Bilder ausgeschnitten: 1. Kirche, 2. Tonne, 3. Eich- hörnchen, 4. Eule, 5. Taschenubr, 6. Brunnen, 7. Kanone, 8. Fisch, 9. Schildkröte. Jedes Bildchen wurde auf ein weisses Karton- blatt aufgeklebt und mit je 3 andern Kartonblättern, auf denen mit Tinte das betreffende Objekt in gleichen Dimensionen, mit zunehmender Deutlichkeit der Detailausführung nachgezeichnet war, zu einer Unterserie vereinigt.

Die Unterserie No. 1: Kirche demnach z. B. setzte sich aus folgenden 4 Blättchen zusammen: I zeigt lediglich die Umrisse der Kirche, ganz ım groben; innerhalb der Konturen keinerlei Details; II zeigt ausser den Umrisskonturen noch die perspek- tivischen Konturen von Vorder- und Seitenwand, Dach und Turm; III ist ebenso wie I und II nur mit Tinte und ohne Anwendung von Farben gezeichnet, zeigt aber ausserdem noch Türen, Fenster, Glocke und Kreuz, und entspricht in seiner Zeichnung nach Grösse und Form vollkommen dem Blatt IV, welches das aufgeklebte kolorierte Meggendorfer Bild enthält. In genau derselben Weise bestanden auch die weiteren 8 Unterserien aus je 4 Kartonblättchen, von denen enthielt: I die groben Konturen, II Konturen und Hauptlinien, IJI völlig ausgeführte Detailzeichnung, IV auf- geklebtes Meggendorfer koloriertes Bild.

II. Album, „schwarz“ und „bunt“. Aus dem gleichen Bilder-

buch wurden nachfolgende 20 Bilder ausgeschnitten: 1. Gänse; 2. Geflügelkäfig; 3. Wollwickelgestell; 4. Hirsch; 5. Elephant;

824 Schuckmann, Vergleichende Untersuchang einiger

6. Esel; 7. Ziegenbock; 8. Koffer und Reisetasche, 9. Tiegel; 10. Schäferwagen; 11. Zigarren; 12. Landarbeitergeräte; 13. Schorn- steinfegergeräte; 14. Wäschetrockenplatz; 15. Papagei; 16. Schreib- und Lesezeug; 17. Hund; 18. Pferde am Brunnen; 19. Fluss- landschaft; 20. Dachszenerie.

In das Album „bunt“ wurden diese 20 kolorierten Bilder in der angegebenen Reihenfolge eingeklebt, immer je ein Bild auf eine Seite. In das gleichgrosse Album „schwarz“ wurden diese 20 Bilder mit Tinte nachgezeichnet, in genau gleicher Ausführung, gleicher Grösse, gleicher Reihenfolge und auch immer nur je ein Bild auf eine Seite. Beide Albums enthielten also genau die gleichen Bilder, nur mit dem Unterschiede, dass die Bilder des Albums „bunt“ koloriert waren, die des Albums „schwarz“ da- gegen nicht.

IIT. Das (bereits oben erwähnte) Bilderbuch, ein 42 Blatt starkes Diarium, in das nachstehend aufgeführte, aus verschiedenen illustrierten Blättern ausgeschnittene unkolorierte Bilder ın der angefürten Reihenfolge eingeklebt waren, ebenfalls immer nur ein Bild auf ein Blatt, und von einfacheren und leichteren zu zusammen- gesetzten und schwierigeren Gegenständen übergehend: 1. Hya- zinthe; 2. Erdbeeren; 3. Farrenkraut; 4. Kakteen; 5. Staude mit Fiederblättern; 6. Ranke; 7. Eberesche; 8. Vogel; Y. Igel; 10. Schmetterlinge; 11. Langohr-Kaninchen; 12. Krokodil; 13. Langflossiger Fisch; 14. Schildkröte, 15. Herrenbrustbild; 16. Ge- lehrter im Studierzimmer; 17. Knabe mit Violine; 18. Zwerg, auf einer Stuhllehne sitzend; 19. Schauspielerin; 20. Indische Fürstin; 21. Nacktes Mädchen am Brunnen; 22. Nacktes Weib von hinten; 23. Marmorgruppe (Mann und Weib); 24. Nackte Jünglinge im Walde; 25. Pistolenszene (2 Herren im Walde); 26. Betrunkener auf der Strasse; 27. Betrunkener zu Hause; 28. Dame und Herr ım Zimmer; 29. Volksszene; 30. Kronprinz mit zwei erlegten Hirschen; 31. Bläserchor im Walde; 32. Ein Herr am Niagara- fall; 33. Dame und Schafherde; 34. Südliche Landschaft; 35. Villa im Park; 36. Zahnradbahn; 37. Lenkbares Luftschiff; 38. Motor- fahrer, von schräg oben gesehen; 89. Artist mit Zirkushund; 40. Sprechzimmer in der Kinderklinik; 41. Vielarmiger Leuchter; 42. Landkarte.

Es enthielten demnach an einzelnen Bildern:

I. die Bildchenserie: 9 Unterserien à 4 Bilder == 36 Bilder, Il. die Albums: 2 Albums & 20 Bilder == 40 Bilder, III. das Bilderbuch 43 Bilder.

Der Untersuchungsgang gestaltete sich nun im Einzelfalle folgendermassen: Jede dieser drei Bilderkombinationen wurde jedem Patienten dreimal vorgelegt, und zwarwurde dem betreffenden Patienten das eine Mal das rechte, das andere Mal das linke Auge, ein drittes Mal keines der beiden Augen verbunden. (Auf die Gesichtspunkte, die mich zur getrennten Prüfung der einzelnen Augen veranlassten, und auf die damit gewonnenen Ergebnisse

-Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode,. 325

komme ich erst zum Schluss der Arbeit zurück. Vorläufig be- trachte ich alle drei, mit dem rechten, dem linken und beiden Augen gewonnenen Ergebnisse als gleichwertig und berücksichtige sie gleichmässig bei der Analyse behufs Beantwortung der beiden eingangs aufgeworfenen Fragen i und 2.)

Um hinsichtlich eines etwaigen Einflusses der Ermüdung sowohl wie der Uebung möglichst gleichartige Verbältnisse zu schaffen, wurde dem einzelnen Patienten an rinem Tage immer »ur eine Kombination vorgelegt; da jede Kombination je dreimal vorgelegt wurde, entfielen auf jeden Patienten 9 Untersuchungs- tage; die Zahl der am einzelnen Tage vorgelegten Bilder schwankte, wie ersichtlich, zwischen 36 und 42 Bildern. Die Gesamtzahl der von jedem einzelnen Patienten erforderten Einzelreaktionen betrug 3 (36 +40 -+ 42) 854 Reaktionen. Die Bilder wurden vorgezeigt mit der Frage: „Was ist das?* Die Stellung der Frage war meist nur im Anfang der Untersuchung nötig. Im Verlaufe der Untersuchung löste die einfache Tatsache der Vorlage eines neuen Bildes resp. der Umwendung einer Seite bereits die erforderte Reaktion auch ohne jedesmalige erneute Fragestellung aus.

Suggestivfragen irgendwelcher Art wurden vollkommen ver- mieden. Sonstige Zwischenfragen wurden nur selten gestellt und stets mit protokolliert, ebenso natürlich möglichst wortgetreu die betreffenden sprachlichen Reaktionen der Patienten. Zwischen den einzelnen Untersuchungen wurden den Patienten weder die betreffenden Bilder gezeigt, noch mit ihnen darüber gesprochen.

Auf die gleichzeitige Feststellung der Reaktionszeiten musste ich mangels geeigneter Apparate verzichten.

Es wurden nur solche Patienten zu den Versuchen ausgewählt. deren Refraktionsanomalien sich in mässigen Grenzen (bis zu 8 Dioptrien) hielten und die nach Korrektion der Refraktion auf jedem einzelnen Auge volle oder fast volle (j) Sehschärfe be- sassen. Die vorhandenen Refraktionsanomalien wurden während der Untersuchungen durch die entsprechenden Brillen korrigiert. Da ich hiermit die von mir angewandte Untersuchungsmethode ausführlich genug besprochen zu haben glaube, wende ich mich nunmehr zur Erörterung der damit gewonnenen

B. Untersuchungsergebnisse.

Da einerseits der angewandte Untersuchunrsgang ziemlich umständlich und zeitraubend war, andererseits nur eine sehr geringe Anzahl von Patienten sämtlichen oben näher präzisierten Be- dingungen völlig entsprachen, verfüge ich bisher nur über 5 Fälle, die vollkommen einheitlich nach der oben geschilderten Methode untersucht worden sind. Im gebe im folgenden zunächst zur all- gemeinen Orientierung einen möglichst kurzen Abriss aus den betreftenden

Krankengeschichten:

Fall I. Auguste L., geboren 1829, erkrankte im Jahre 1902, in hiesige Anstalt aufgenommen am 24. II. 1906. Hatte zu Hause ibre Wirtschaft ver-

326 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger

uachlässigt, hielt sich sehr ansaaber, lief herum, fand nicht nach Hanse zurück, brachte häufig fremde, ihr nicht gehörige Sachen mit nach Hause, die sie fortnahm, wo sie sie gerade fand, suchte angeblich verlorene Gegen- stände im ganzen Hause mit brennendem Holzspan und zündete dabei beinahe das Bett an. Während ihres gesamten Anstaltsaufenthaltes, vom 24. II. bis zu ihrem infolge interkurrenten fieberhaften Darmkatarrhs am 6. V. erfolgten Tode, völlig stabiler Zustand: Presbyophrenie in Form des chronischen Stadinms der polyneuritischen Korsakoffschen Psychose, allopsychische Desorientiertheit bei fehlender Ratlosigkeit, Konfabulation; sowohl Des- orientiertheit wie Konfabulation im Sinne ihrer früheren Lebensgewohnheiten: glaubt, ihrem Sohne die Wirtschaft zu führen, habe ihm heute früh den Kaffee gekocht, dann habe er sich sein Frühstück eingesteckt und sei in die Arbeit gegangen u.s.w. Kompletter Verlust der Merkfähigkeit bei erhaltener Aufmerksamkeit und retroaktive Amnesie für einige Jahre (mangels geeigneter Daten aus dem Vorleben nicht genauer festzustel en). Leichte polyneuritische Symptome: Gang und Haltung wacklig und unsicher, reissende Schmerzen in den Gliedern, passagere Incontinentia alvi et urinae |

Refraktion: Mit +3D. wird Snellen 0,5 beiderseits in ca. !5 m Ent- fernung gelesen.

Fall II. Marie K., geboren 1885, in hiesige Anstalt aufgenommen 6. II. 1906, erkrankte im Dezember 1905, klagte über Länten und Singen in den Ohren und Stimmenbören, bald Ruhelosigkeit und Verfolgungsideen. Hörte zu Hause fortwährend Stimmen von armen Seelen, überall, im Zimmer. im Bett, auf dem Hausboden sässen arme Seelen; wandert nachts mit dem Licht im ganzen Hause umher, um die armen Seelen zu suchen und sie im Korbe auf den Kirchhof za tragen. Sah zeitweise Männer, die sie erschiessen wollen. Sie soll erschlagen, zerhackt werden. Während ihres hiesigen Auf- entbaltes ganz stabiler Zustand: leicht ängstlich-depressiver Affekt, örtlich und zeitlich nicht völlig orientiert, erhebliche Schlaflosigkeit, anscheinend zahlreiche Phoneme, zum Teil auch desorientierende, bedrohenden, be- schimpfenden und ängstlichen Inhaltes. Hört auch ihre Töchter draussen sprechen, verlangt zu ihnen geführt zu werden, die Tochter wäre krank. otorisches Verhalten geordnet, hochgradige Schwerhörigkeit. Refraktion: Mit +8D. wird Snellen 0,5 beiderseits in ca. !/ m Ent- fernang gelesen.

Die Klassifikation des Falles dürfte einige Schwierigkeiten machen; im Kräpelinschen Sinne ist er wohl noch als Alters- melancholie anzusprechen, wenn auch bereits mit deutlichem Stich ins Paranoische. Im Wernickeschen Sinne zweifellos keine Melancholie, am ehesten wohl noch als akute Halluzinose zu be- zeichnen.

Fall III. Agnes K., geboren 1856, aufgenommen 25. IV. 1906, ca. 4 Wochen vorher erkrankt, heiter erregt; obwohl ledige Mutter, glaubt sie sich glücklich verheiratet; ihr Mann, ein Obersteiger, habe sich bei den Rettungsarbeiten beim Grubenunglück von Courriöres ausgezeichnet, Kaiser, Kronprinz und Prinzessin holen ihren Mann per Dampfer aus Frankreich ab. Sie sei gnädige Frau geworden, habe eine Villa mit allem Komfort, Dieneriunen, Weinkeller u.s.w. in Gleiwitz bekommen, läuft zu Hause fort, fährt nach Gleiwitz in ihre Villa. Seit ihrer Aufnahme stabiler Zustand: kritiklose Grössenideen, will bald entlassen werden, eine Badereise nach Wiesbaden machen, mit 1000 Mark würde sie wohl dabei auskommen Stimmung meist ruhig-heiter, selten weinerlich. Fortgeschrittene Tabes, Pupillenstarre, leicht paralytische Sprachstörung, Fehlen sämtlicher Sehnenreflexe, totale Analgesie - des ganzen Körpers. Romberg positiv, beträchtliche Koordinationsstörung. Gang stapfend, unsicher. Tabo-Puralyse.

Refruktion: Mit +2 D. wird Snellen 0,6 beiderseits in ca. !/s; m Ent- fernung gelesen (S. = 0,5/0,6).

Fall IV. Ulrike H., geboren 1854, seit 1889 in Anstaltshehandlung, seit 1895 in hiesiger Anstalt. Stabiler Zustand: Macht einen hochgradig

Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode. 827

blödsinnigen Eindruck; stets heiter, grinsend, motorisch ungeordnet, stets leicht motorisch erregt, vielfach unsauber, zu keiner Beschäftigung fähig. Spricht vielfach vor sich hin, Halluzinationen sind nicht sicher zu ermitteln. Fixe Wahnidee, sie wäre die Braut des Fürsten Friedrich von Pless. Dementia paranoides mit hebephrenen Zügen.

Refraktion: Rechts mit +3 D.: S. = 0,5/0,5; linksjmit +4 D.: S. = 0,5/0,6.

Fall V. Johanna M., geboren 1833, erkrankte ca. 1896 an klonischen, beiderseits stets gleichzeitig und symmetrisch stossweise auftretenden Zuckungen, durch welche beide Schulterblätter gehoben, etwas nach vorn geschoben und beide Arme mit rechtwinklig-dektiertem Ellenbogengelenk und gestrecktem Handgelenk bis zur Horizontalen emporgeworfen wurden. Diese Zuckungen bestehen in wechselnder Intensität und Häufigkeit bis jetzt fort. Am 12. IV. 1904 in eine Pflege-Anstalt infolge ihrer Hülfsbedürftiykeit überführt, am 23. I. 1906 in hiesige Anstalt überführt, weil sie unter den Mitkranken der ruhigen Abteilung dort beständig Unzufriedenheit und Miss- stimmung gegen Aerzte und Personal hervorrief und duroh ihr Betragen lästig und für die innere Ordnung störend war. Bietet keine akuten, pre otischen Momente dar, ist orientiert, aber sehr empfindlich, leicht zu

einen und Jammern geneigt, auch nörglich und reizbar. Schleichend ver- laufender seniler Schwachsinn.

Refraktion: Mit -+ 3 D. beiderseits S. = 0,5/0,6.

Was zunächst die sprachliche Form resp. den grammatischen Satzbau anlangt, in welchem die Patienten auf die Vorlage der Bilder reagierten, so war derselbe für jeden einzelnen ein sehr charakteristischer, von dem der übrigen durchaus verschiedener und für die ganze Untersuchungsperiode konstanter. Am nächsten der Reaktionsform, die wir unter derartigen Umständen vom 'Geistesgesunden erwarten, kam die Paralytika: auf die einfacheren Bilder reagierte sie lediglich mit der Nennung der betreffenden Bezeichnung unter Anwendung des unbestimmten Artikels (eine Kirche, eine Tonne u. s. w.), bei komplizierteren zählte sie präzise die einzelnen dargestellten Gegenstände kurz auf (z.B. bei Album No. 16: Tintenfass, Sandnapf, Messer, A-b-c-Buch), bei Bildern, die einfache Situationen darstellten, bediente sie sich auch eines einfachen Aussagesatzes (z. B. Bilderbuch 17: „Ein Junge spielt Violine“; Bilderbuch 21: „Ein Fräulein steigt ins Wasser“). Nur selten fügte sie ihrer Aussage ein kurzes, fragendes „Nicht wahr?“ bei; auf Bilder, die sie nicht erkannte (z. B. Konturenbild des Brunnens) reagierte sie mit einem: „Ich weiss nicht, was das bedeutet“.

In formaler Hinsicht ähnlich günstige Resultate produzierte die Melancholika; sie antwortete fast stets in ganzen Sätzen. Bei den einfacheren Bildern in Form: des einfachen Aussagesatzes (z.B.: „Das ist eine Ziege“, „Das ist eine Tasche“), seltener unter Beifügung eines näher beschreibenden Relativsatzes (z. B.: „Das ist eine Frau, die nicht angezogen ist“, „Das sind 2 Herren, die schiessen“). Oefters fügte sie auch noch bei: „Das habe ich schon gesehen“ oder „Das habe ich noch nicht gesehen“ oder „Das haben Sie mir schon gezeigt“. Kleinere grammatikalische Unstimmigkeiten, die hier und da in ihren Aussagen vorkamen, ‚dürften auf das Konto ihrer polnischen Muttersprache zu setzen sein. Einige Male bezeichnete sie auch Bilder, deren deutsche Namen ihr nicht sofort einfielen, mit polnischen Ausdrücken.

328 Sohuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger

Im Gegensatz zu diesen beiden Patientinnen, die durchaus präzise, kurz, sachlich und objektiv in ihrer Reaktionsform waren, trat bei den Antworten der Johanna M. (seniler Schwachsinn) einerseits eine gewisse Umständlichkeit und Weitschweifigkeit, andererseits eine gewisse Subjektivität, resp. Tendenz hervor, die Gegenstände in Bexiehung zur eigenen Persönlichkeit zu setzen, oder lust- oder unlustbetonte Urteile über dieselben zu fällen. Als Beispiele für Weitschweifigkeit führe ich Aeusserungen an, wie: „Ach du lieber Gott! Das soll ich raten“, „Ja, wenn ich das wüsste; das hab’ ich in meinem Leben noch nicht gesehn“, „Das getrau’ ich mich nicht zu sagen! Das treff’ ich nicht“. Der egozentrische Standpunkt, den sie vielfach den dargestellten Ob- jekten gegenüber einnimmt, erhellt u.a. aus folgenden Aeusserungen: (Schildkröte 4): „Ach, mein Gott, vor so was wär mir ordentlich Angst“; (Geflügelkäfig): „Die hab’ ich selber gezogen“; (Hund): „Ach, wenn der lebendig ist, der nımmt mich und verzehrt mich“; (Gänse): „Ach, jetzt freu’ ich mich“; (F isch 4): „Ich war auf einem Dominium, da haben wir einen Karpfen zum heiligen Abend ge- kriegt“; (Gänse): „Das sind Enten, Schwäne, die waren in Sibyllenort“. Als Beispiele affektbetonter Urteile führe ich an: Fisch 4): „Der ist famos schön“; (Vogel): „Ein allerliebster

ogel, sitzt so schön auf einem Mohnhäuptel“; (Indische Fürstin): „Eine schöne, eine feine Dame, hat einen schönen Hut nach der neuesten Mode“; (Hund): „Ein abscheuliches Tier“.

In ähnlicher Weise, d.h. als in Beziehungsetzen der Objekte zur eigenen Persönlichkeit, ist es wohl auch zu betrachten, wenn sie mehrfach den Objekten den bestimmten Artikel vorsetzt, z. B. (Kirche 4): „Ach, das ist ja die Kirche“ scilicet: die mir bekannte Kirche, ferner: der Wolf, der Igel, der Ziegenbock, die

erzen.

Selbst eine gewisse epische Breite und Anschaulichkeit, sogar mit einem Stich ins Humoristische, trat in einigen Reaktionen zu Tage, wie: „Ach je, hier kommt der Ziegenbock-mecek-meck!“ „Ach, das ist wohl der Igel, der hat sich aufgemacht“. „Ja, die sitzen auf dem Kahn, da zieht der Dampf, der Rauck“.

Eine ähnliche Umständlichkeit und Weitschweifigkeit, wie oben beschrieben, zeigten die Reaktionen der Auguste L. (Korsa- koff), besonders sobald die richtige Reaktion ausblieb (z.B. „Nun, was soll ich hier sagen, Das kann ich ja nicht wissen, was das sein kann, Ja, Gott weiss, mein Lieber, wie kann ich das sehen, das ist ja keine Möglichkeit, Mit solchen Sachen hab’ ich mich doch noch nicht abgegeben, Das habe ich ja noch nie gesehen“). Sehr häufig, sowohl bei richtigen, wie bei falschen Angaben wurde das Urteil nicht als einfache Aussage, sondern in bedingender oder möglicher Form gegeben; z. B.: „Das sieht so aus, als wenn es Wasser wäre“, „Das wird wohl ein Fässel sein“, „Das ist wie eine Mühle“, „Das scheint mir ein Geistlicher zu sein“ u.a. Hier und da wurde auch eine Aussage beschlossen

Psychosen mittelst der Bildohenbenennungsmethode. 329

mit der Floskel: „Weiter ist es nichts“. Im Gegensatz zu dem Wort- und Satzreichtum dieser Aussagen, die die Protokolle auf erheblichen Umfang anschwellen liessen, steht der auffallende Mangel an Substantiven, resp. konkreten Bezeichnungen. So wurden alle möglichen, auch sehr charakteristisch aussehenden Tiere, besonders Säugetiere, lediglich mit der farblosen Allgemein- bezeichnung „Tier“ abgefertigt, oder aber durch perseveratorischen Fortgebrauch kurz vorher angewandter Spezialnamen falsch be- zeichnet, oder es wurden Verlegenheitsbezeichnungen gewählt, wie: „Das ist doch ganz anders“, „Das ist alles sowas“, Nein, mein Gott, lauter solche —* „Lauter solche Geschichten“, „So ein randes Ding“, „Verschiedenes Zeug“. Vereinzelt traten sogar direkt paraphasische Bildungen zu Tage, so z. B. wenn Farren- krautblätter als: „Lauter solche Fackeln“ und ein Gelehrter mit dickem, langem Kopfhaar als „bewachsen“ bezeichnet wurden.

Diese sich im Fehlen der Substantiva dokumentierenden aphasischen Initialerscheinungen sind ja schon mehrfach bei seniler Demenz sowohl wie bei Korsakoff beschrieben worden. Im Laufe der gewöhnlichen Unterhaltung und Exploration waren bei dieser Patientin aphasische Symptome niemals zu Tage getreten. Erst die gesteigerten Ansprüche, die die Bildchenbenennung an den Substantivvorrat der Patientin stellte, förderten diesen Defekt zu Tage. Die bei der vorigen Patientin vorhanden gewesene Tendenz, die Gegenstände in Beziehung zur eignen Persönlichkeit zu setzen oder affektbetonte Urteile abzugeben, fehlte in diesem Falle von Korsakoff vollständig.

Sehr viel komplizierter als bei den bisher besprochenen Fällen gestalteten sich die sprachlichen Reaktionen bei der hebephrenen Ulrike H., und zwar aus folgenden Ursachen: Auf- merksamkeit, Fixierbarkeit und Willigkeit war bei den bisherigen vier Fällen während der ganzen Untersuchungsdauer stets in weitestem Umfang vorhanden; z. T. waren die Patienten sogar mit Lust und Liebe bei der Sache und entwickelten grossen Eifer dabei, besondere Anspornung der Aufmerksamkeit war nie nötig; vielfach erübrigte sich sogar, wie schon oben erwähnt, die ein- leitende Frage von seiten des Untersuchers: „Was ist das?“, da die Patienten bereits auf die Vorlage eines neuen Bildes ohne weiteres sprachlich reagierten. Wesentlich anders gestalteten sich diese Verhältnisse bei dem letzten Fall: die Aufmerksamkeit war hier eine sehr wechselnde. Zeitweise reagierte Patientin ebenso

rompt wie die vorigen Fälle, zeitweise aber bedurfte es mehr- facher, selbst mit erhobener Stimme gestellter Aufforderungen, ehe eine Reaktion erfolgte. Mitunter erwies sich Patientin über- haupt auf Minuten als völlig unfixierbar, wobei sie entweder stumpf vor sich hinblickte oder aber einen Redefluss entwickelte, der zu den vorgelegten Bildern nicht in der geringsten Beziehung stand. Während nämlich bei den bisherigen Patienten alle sprach- lichen Aeusserungen, die während der gesamten Untersuchungs- zeit zu Tage traten, direkte Reaktionen auf die Vorlage der

330 Schuckmaun, Vergleichende Untersuchung einiger

Bilder darstellten und durch diese, in teils naher, teils weniger naher psychologischer Verknüpfung ursächlich bedingt waren, schoben sich in die sprachlichen Expektorationen der letzten Patientin Elemente ein, bei denen irgend welche Abhängigkeit von dem Reiz der Bildervorlage als auslösendem Moment durch- aus nicht nachweisbar war. Der gedankliche Inhalt dieser wie ich sie vorläufig nennen will spontanen Aeusserungen stand entweder in Beziehung zu ihren Familienverhältnissen oder zu ihrer stabilen Wahnidee, Braut des Fürsten von Pless zu sein. Als Beispiele derartiger spontaner Aeusserungen, die völlig un- vermittelt auftraten, teils überhaupt die Stelle einer Reaktion vertraten, teils sich direkt und oft mitten ın die Worte einer Reaktion hineinschoben, führe ich folgende Protokolistellen an: (Farrenkraut): „Ich heirat’ nicht Piesser Fürst ein Baum ist das“; (Gelehrter im Studierzimmer): „Ich heirat’ nicht Ge- liebter unser Prinz es ist Fürst Pless“; (Revolverszene): „Friedrich Plesser Fürst ich kenn’ die nicht der Vater hat Recht ich weiss nicht“; (Kinderklinik): „Das ist der Papa ich bin die Tochter von Markus H.“; (Zirkushund): „Erziehung hab’ ich zu Huus gehabt mit Strenge“; (Schildkröte 4): „Es ist ein Fisch er hat mich überfallen“; (Wäschetrockenplatz): „Das ist wie geh’ ich richtig Papa das ist ein Garten- geräte‘“.

Ob diese spontanen Aeusserungen Reaktionen auf irgend- welche Halluzinationen resp. Phoneme darstellten oder primär motorischer Reizung ihren Vorsprung verdankten, beziehungsweise nur sozusagen einen Abfluss hochwertiger, die Patientin auch sonst dauernd beherrschender Vorstellungskomplexe in die in ihrer Anspruchsfähigkeit durch die Vornahme der Untersuchung ohnehin gesteigerten motorischen Sprachfelder darstellten, darüber war es mir bei dem reduzierten Intelligenzzustande der Patientin nicht möglich, ins Klare zu kommen.

Die Häufigkeit, mit der diese spontanen Aeusserungen sich ın die Expektorationen der Patientin einschoben, war an den einzelnen Untersuchungstagen eine sehr verschiedene. Bei ge- steigerter Häufigkeit wurde die Aufmerksamkeit und Fixierbarkeit der Pat., wie schon oben bemerkt, sehr ungünstig beeinflusst. In vereinzelten Fällen gelang es trotz der energischten Aufforderungen nicht, von der Pat. eine zum vorgelegten Bilde in Beziehung stehende sprachliche Reaktion zu erzielen. Wenn wir von diesen spontanen Aeusserungen absehen, so erfolgten die Reaktionen der Pat. im übrigen in ziemlich geordneter grammatischer Form, entweder in Form der einfachen Benennung mit unbestimmtem Artikel oder in Form des einfachen Satzes: „Das ist ein u. s. w.“. Bei nicht erkannten Bildern reagierte sie mit einem: „Das weiss ich nicht“ oder „Ich kenn’s nicht“ oder mit der stereotypen, häufiger wiederkehrenden Wendung: „Ich hab keine Idee“.

Neben den oben erwähnten spontanen Aeusserungen der Pat., die in keinerlei Beziehung zum angewandten optischen Reize

Psychosen mittelst der Bildcheubenennungsmethode. 331

standen, finden sich in den Protokollen noch Aeusserungen, die formal zweifellos als Reaktionen auf den Reiz des vorgelegten Bildes zu bewerten sind, die aber inhaltlich zum dargestellten Gegenstande in keinerlei Beziehung zu stehen scheinen. Unter Beiseitelassung derartiger Fehlreaktionen, soweit sie auf perseve- ratorischer Basis beruhen, führe ich folgende Beispiele derartiger Fehlreaktionen an: (Kirche 1:) Das ist ein Globus, das ist eine Kirche; (Eichkatze:) Das ist ein Reh, (Nein, das ist kein Reh!), Das ist ein Reh; (Elephant:) Das ist ein Tiger; (Ziegenbock:) Ein Uhu; (Elephant:) Eine Antilope, ein Antilop; (Erdbeeren:) Das kenn’ ich auch nicht, Kokusnuss, Kokusnuss; (Igel:) Mops Mops; (Eichkatze:) Das ist ein Pferd; (Ziegenbock:) Ein Löwe; (Katze auf dem Dach:) Das ist ein Pferdel.

Zunächst ıst es auffallend, dass es sich bei diesen zehn charakteristischen Feblreaktionen, die ich aus den Protokollen herausgesucht habe, 8mal um Bilder von Tieren, und zwar von Säugetieren, handelt. Einen pluusiblen Grund fär diese Prädilektion vermag ich nicht anzufübren. Was diese Fehlreaktionen als solche anlangt, so liegt es ja ausserordentlich nahe, dieselben als negativistisch aufzufassen resp. unter den Begriff des Vorbei- redens zu subsumieren, ohne dass damit natürlich für die Deutung des Symptoms etwas Wesentliches gewonnen wäre. Dass eine Ver- kennung der betreffenden Bilder vorläge, ist völlig ausgeschlossen, um so mehr, als dieselben einerseits ein anderesmal richtig benannt wurden, andrerseits es sich gerade um die leichtesten und charakteristischten Bilder handelt. Wenn eine Kirche als Globus, ein Ziegenbock als Uhu und ein Elephant als Antilope bezeichnet wird, so kann ja an der negativistischen Tendenz, eine der normalen und erforderten Bezeichnung möglichst gegensätzliche zu pro- duzieren, kaum gezweifelt werden, besonders wenn Pat., auch nachdem sie auf die Unrichtigkeit ihrer Angabe aufmerksam gemacht wurde, eine Eichkatze zum zweiten Male als Reh be- zeichnet. Auffallend und interessant für die Auffassung der negativistischen Tendenz im allgemeinen scheint es mir zu sein, dass diese Tendenz doch nicht imstande ist, den durch die Bilder- vorlage angeregten Vorstellungsablauf von vornherein in falsche Bahnen zu lenken, etwa so, dass der Elephant meinethalben als Leuchter oder dergleichen bezeichnet würde, sondern dass der Vorstellungsablauf zunächst die richtige Direktion mit der 2iel- vorstellung: Säugetier einschlägt und erst sozusagen im letzten Moment in die falsche Gasse gerät.

In einer weiteren, oben nicht aufgeführten Reaktion (Pat. sagte zum Bilde eines Schmetterlings: „Das ist ein Schmett ein Tier“) war der Vorstellungsablauf sogar schon bis zum Aussprechen der richtigen Spezialbezeichnung gelangt, ehe er so- zusagen von der negativistischen Tendenz eingeholt wurde. Letztere unterdrückte dann nur noch die zweite Hälfte des bereits richtig intonierten Wortes und schraubte den Vorstellungsverlauf um eine Etappe zurück bis zu der nächst höheren Allgemeinbezeichnung

382 Schuckmaan, Vergleichende Untersuchung einiger

„Tier“, ohne noch Kraft genug zu besitzen, ihn von dort aus wieder vorwärts in eine falsche Gasse zu dirigieren, so dass in diesem Falle aus der negativistischen Tendenz die Produktion nicht einer direkt falschen, sondern nur einer farblosen allgemeinen Be- zeichnung resultierte.. Auffallenderweise erfolgte nach Vorlage des nächsten Bildes (Langohrkaninchen) folgende Reaktion: „Das ist ein Tier das war ein Schmetterling das ist ein grosses Tier“. Hier kam also die anfangs richtig eingeleitete, dann durch die negativistische Tendenz wieder unterdrückte richtige Reaktion schliesslich, und zwar erst bei Vorlage des nächsten Bildes, doch noch zum Durchbruch. Man gewinnt dabei den Eindruck, als ob durch den wirkenden Reiz als solchem dem Vorstellungsablauf der richtige Weg direkt gesperrt worden wäre und erst mit Entfernung des Reizes, d. h. in diesem Falle des Bildes, die Passage wieder frei gemacht worden wäre ein sehr instruktives Beispiel für den Funktionsmechanismus des Negativismus,

Auch dieses Symptom, negativistische Tendenzen, war mir früher an dieser Pat. nie aufgefallen und wurde erst durch die Bildchenbenennungen zutage gefördert.

Der Vollständigkeit halber seien zum Schluss noch einige grammatische Maniriertheiten und monströse Wortbildungen aus den Reaktionen dieser Patientin registriert: So bezeichnete sie den Wollwickelständer wiederholt und an verschiedenen Tagen als „Hydraulität“, Kirche 1 ale „Turmform’”, Eichkatze 2 als „ein Tierchen mit Schellchen“, eine Schiebkarre als „Kleemaschine“, die Katze auf einem Dach wiederholt als „Läufer“. Mehrfach wurde der Artikel ausgelassen: „Das ist Schlange“, „Das ist Muschel“, „Das ist Pferdel“, „Das sind Gans“ (sic!),

Schliesslich möchte ich noch eines pathologischen Momentes Erwähnung tun, auf das auch Heilbronner (l. c.) bereits hin- gewissen hat und das unter den von mir untersuchten fünf

ranken ausschliesslich bei der zuletzt besprochenen Hebephrenen Ulrike H. konstatiert werden konnte: der Tendenz, vorgelegten Bildern eine ganz besondere, durch das Objekt als solches nicht begründete Spezielbedeutung beizulegen, oder die Bilder, wie Heilbronner es nennt, zu individualisieren. Ich führe dafür aus den Protokollen nachstehende Beispiele an: (Bilderbuch 15, Herrenporträt:) „Ein Cohn ist das“; (Bilderbuch 16, Gelehrter:) „Ich kenn das Bild nicht das ist Humbold“; (Bilderbuch 17, Knabe mit Violine:) „Das ist Blumenreich aus Berlin das ist ein Sohn des Fürsten“; (Bilderbuch 31, Bläserchor im Walde:) „Das sind drei, vier Scholz ist das“; (Bilderbuch 15, Herren-

orträt:) „Cohn kenn’ ich nicht“; (Bilderbuch 28, Dame und Herr:) „Kaiser und ein Dienstmädel“; (Bilderbuch 40, Kinder- klinik:) „Das ist der Papa, ich bin die Tochter von Markus H.. .“; (Album 19, Flusslandschaft:) „Das ist ein Schiff, preussisches Dampfschiff“; (Bilderbuch 15, Herrenporträt:) „Herr Cohn aus Berlin“; (Bilderbuch 16, Gelehrter:) „Herr Pracht aus nicht, nicht ein Herr Pracht, ich heirat keinen Pracht das ist Herr

Psychosen mittelat der Bildohenbegennungsmethode. 833

‚Doktor von Schuckmann“; (Bilderbuch 20, Indische Fürstin:) ‚Das ist Friedrich Pless Pracht eine Negerin“; (Bilderbuch 25, Pistolenszene:) „Das sind Verwandte nicht verunglimpfen Cohns sind das“; (Bilderbuch 28, Dame und Herr:) „Ein Cohn st es“; (Bilderbuch 25, Villa im Park:) Konditor eine Konditorei“.

Bei diesen Individualisierungen handelt es sich, mit Aus- nahme des „preussischen Dampfschiffes“‘, das sehr an das von ‚Heilbronner angeführte „russische Geschütz“ eines Hebephrenen -erinnert,und mit Ausnahme der Konditorei, durchweg um Individuali- sierung von Personenabbildungen, im Gegensatz zu den oben be- sprochenen negativistischen Fehlreaktionen derselben Patientin, die sich gerade mit Vorliebe an Tierbilder anknüpften.

Die Deutung dieser Individualisierungen als wirkliche Ver-

&ennungen im Sinne vorhandener Aehnlichkeiten erscheint mir aus dem Grunde nicht acceptabel, weil derartige Aehnlichkeiten tatsächlich nicht vorhanden waren. Weder hatte das mit Konstanz in allen drei Fällen als „Herr Cohn“ bezeichnete Herrenporträt, No. 15, irgend welche Züge aufzuweisen, die für diesen Namen charakteristisch sind, noch die indische Fürstin irgend welche -Aehnlichkeit mit dem Fürsten von Pless, noch das Bild des Gelehrten, No. 16, irgend welche Anklänge an das Aeussere meiner Wenigkeit. Der Umstand, dass diese Individualisierungen von Personen- ‘bildern in der Hauptsache ebenso wie oben die „spontanen Aeusserungen“ inhaltlich in Beziehung standen entweder zu den Familienverhältnissen oder früherem Bekanntenkreise der Patientin oder in ıhren Wahnideen, scheint mir eine ähnliche Deutung, wie die dort gegebene, nahezulegen: diese beiden ‚Vorstellungskomplexe (Familie und Wahnsystem), resp. deren einzelne Komponenten sind bei der Pat. so hochwertig bezw. so leicht ansprechbar, dass der normaliter durch. Vorlage derartiger .Personenbilder angeregte Vorstellungsablauf, der beim Gesunden etwa bis zu dem Allgemeinbegrift „Herr“ oder dergleichen ge- langen würde, bei der Pat. nicht bei diesem Allgemeinbegriff stehen bleibt, sondern in die bei ihr eine grössere Ansprechbarkeit aufweisenden Partialvorstellungen des Herrn Cohn, Pracht, Blumen- reich oder Pless überfliesst.

Auf eine Besprechung des Symptoms der Perseveration, das bei drei Patienten völlig fehlte, aber in den Fällen von Korsakoff und Hebephrenie in grosser Häufigkeit und zum Teil in sehr interessanter Form auftrat, glaube ich an dieser Stelle aus Raumrücksichten verzichten zu müssen.

Ich glaube, im vorstehenden die formale Seite der Reaktionen und die hierin bei den einzelnen Patienten zutage getretenen psychotischen Momente ausführlich genug besprochen zu haben und wende mich jetzt zur Betrachtung des eigentlichen Inhalts der. Reaktionen.

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd XXI. Heft 4. 2.)

334 Schuckmann, Verglciehende Untersuchung einiger

Wie aus den einleitenden Worten erinnerlich sein dürfte, kommen für mich dabei zwei Hauptgesichtspunkte in Frage, nämlich:

Inwieweit ist der gedankliche resp. Vorstellungsinhalt einer durch Vorlegung von Bildern bei einer Geisteskranken pruvozierten sprachlichen Reaktion abhängig:

1. von der Art des Reizes?

2. von der Art der Geisteskrankheit?

Die Entscheidung der ersten Frage wird nach bekanntem Muster in der Weise herbeigeführt, dass man bei Konstanz der benutzten Psychose die Art des Reizes variiert, die der zweiten Frage, indem man bei Konstanz des benutzten Reizes die Art der Psychose variiert.

Da die erste Frage eine rein methodologische ist, dürfte sie zweckmässigerweise auch an erster: Stelle vor der zweiten er- örtert werden.

Wie bereits in den einleitenden Worten erwähnt wurde, konnte ich meine Absicht, die Variation des Reizes auch auf die Alternative; Zweidimensional Dreidimensional auszudehnen, aus äusseren Gründen nicht verwirklichen. Es standen mir lediglich zweidimensionale Reize zur Verfügung, für die sich, wie ersichtlich, folgende Variationsalternativen ergaben:

1. Zeichnung nur konturiert Zeichnung detailisiert,

2. Zeichnung ohne Zeichnung mit Anwendung von Farben,

8. Zeichnung einfacher Zeichnung zusammengesetzter Objekte.

Für die Entscheidung dieser sowie aller folgenden Fragen konnte, meines Erachtens, ausschliesslich eine zahlenmässige resp. statistische Verwertung des in den Untersuchungsprotokollen niedergelegten Reaktionsmateriales in Frage kommen. Die Er- mittelung einer Methode, die einzelne Aussage jeder einzelnen Patientin in einer einerseits ihrem gedanklichen Inhalte ange- messenen, andererseits wiederum durchaus einheitlichen und ver- gleichbare Werte liefernden Art und Weise ziffernmässig zu ver- werten, machte mir zuerst erhebliche Schwierigkeiten. Nach mannigfachen Vorversuchen mit Methoden, die sich dann immer wieder bei der speziellen Durcharbeitung der einzelnen Protokolle ale undurchführbar und der Fülle und Mannigfaltigkeit der zu verwertenden Reaktionen gegenüber als nicht elastisch genug er- wiesen, bin ich schliesslich zu folgendem, ganz einfachen Aus- wertungsverfahren gekommen:

Für jedes Bild wurde eine die Hauptgegenstände desselben umfassende Bezeichnung als Normalreaktion angenommen und jede einzelne, vom Patienten produzierte sprachliche Reaktion, in der diese Normalbezeichnung vorkam, mit der Zahl 2 bewertet. Diejenigen Reaktionen, die zwar diese Normalreaktion nicht ent- hielten, wohl aber die Bezeichnungen einer Reihe von Details, und zwar mindestens der Hälfte aller vorhandenen Details, wurden

Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode, ‚335

mit 1 bewertet. Alle anderen Reaktionen, gleichgältig ob sie entweder überhaupt ausblieben oder direkt Falsches enthielten

oder auch Richtiges, aber weniger als die Hälfte, wurden mit O ‚bewertet. In diesem Sinne wurden die ursprünglichen Versuchs-

protokolle umgewertet in Tabellen, in denen jede einzelne der gesamten 1470 Reaktionen (5 Patienten à 354 Reaktionen) je mit 0,1 oder 2 Punkten bewertet, figurierten. Diese Tabellen, auf deren Wiedergabe ich aus Raumrücksichten glaube verzichten zu müssen, liegen allen folgenden Betrachtungen zugrunde.

Die Zahlen, die ich im folgenden anführe, stellen also die aus diesen Tabellen berechneten Summen der einzelnen Be- wertungspunkte bestimmter Gruppen von Einzelreaktionen dar und sind demnach, wie ich ausdrücklich hervorhebe, direkt pro-

ortional der Richtigkeit und Vollständigkeit, die der gedankliche keaktionsinhalt unter bestimmten Versuchsbedingungen erreichte.

Ich wende mich nunmehr zur Beantwortung der Frage: „Inwieweit ist der (zahlenmässig dargestellte) Reaktionsinhalt ab- hängig von der Art des Reizes?“ und bespreche zunächst unter Hinweis auf die oben aufgestellte erste Variationsalternative den Einfluss, den die zunehmende Detailisierung der Zeichnung in ihren drei Hauptetappen blosse Konturen, Konturen und Haupt- linien, fertig ausgeführte Detailzeichnung auf den Reaktions- inhalt ausäbt.

Zur Entscheidung dieser Frage dienen die Reaktionsresultate der eingangs beschriebenen Bildchenserien mit ihren neun Unter- serien: 1. Kirche, 2. Tonne, 3. Eichhörnchen, 4. Eule, 5. Taschen- uhr, 6. Brunnen, 7. Kanone, 8. Fisch, 9. Schildkröte.

Eine vollständige Uebersicht über die hierbei ermittelten Verhältnisse gibt beistehende Tabelle I, zu deren Erläuterung ich folgendes bemerke:

Tabelle I. Normalzahl: 54.

Korsakoff 7 | 19 | 26 Seniler Schwachsinn | 14 | 23 | 27 Hebephrenie 14 | 26 | 34 Melancholie 11 | 33 | 34 Paralyse 27 | 37 | 42

Die neun Unterserien der Bildchenserie bestanden, wie an- fangs beschrieben, jede wieder aus vier Kartonblättchen, deren erstes (I) nur die einfachen Konturen, deren zweites (II) die Konturen und Hauptlinien, deren drittes (III) die vollständig ausgeführte Detailzeichnung, deren viertes die Detailzeichnung farbig darstellte. Die Resultate des vierten Blättchens kommen erst

22°

336 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger

bei Erörterung der zweiten Variationsalternative (farbig nicht- farbig) zur Sprache und finden in Tabelle I keine Berücksichtigung. Die Zahlen der Tabelle wurden in der Weise gewonnen, dass für jede der fünf untersuchten Psychosen gesondert die ziffernmässig ermittelten Reaktionsinhalte zusammengezählt wurden, lediglich nach dem Gesichtspunkte, ob dieselben erhalten wurden mit einem Kartonblättchen I, II oder III, wobei die Art des dargestellten Gegenstandes völlig ausser acht gelassen wurde.Die Ziffer 7 zum Beispiel (Vertikalkolumne I, Horizalkolumne Korsakoff) besagt, dass die Patientin mit Korsakoff in sämtlichen Reaktionen zusammen, die sie auf Vorlage der Kartonblättchen I produzierte, nur sieben Bewertungspunkte erzielte. Da neun verschiedene Kartonblättchen I zur Verwendung kamen und jedes, wie unter „Methode“ be- schrieben, dreimal vorgelegt wurde, stellt z. B. die Zahl 7 (und natürlich jede andere Zahl der Tabelle ebenso) die Summe der Bewertungspunkte von 27 Reaktionen dar. Die optimale, von Gesunden zu erwartende „Normalzahl“ der Tabelle würde, da die richtige Normalreaktion mit 2 Punkten bewertet wurde, dem- nach 2 X 27 = 54 sein.

Die Resultate der Tabelle I sind absolut eindeutig: In jedem einzelnen der fünf untersuchten Krankheitsfälle wird die zahlen- mässig ausgedrückte Qualität der Reaktionen von Kolumne zu Kolumne besser, die Kartonblättchen II ergeben durchweg bessere Resultate als die Kartonblättchen I, und III besser als II. Die a priori nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit, dass die zunehmende Detailisierung der Zeichnungen infolge der erhöhten Ansprüche, die sie an die Auffassungs- und Kombinationsfähig- keit der Patienten stellt, die Reaktionsresultate verschlechtern könne, wird für die untersuchten fünf Krankheitsfälle durch diese Tabelle eindeutig widerlegt und im Gegenteil bewiesen, dass mit zunehmender Detailausführung der Zeichnungen die Reaktionsresultate. zunehmend verbessert werden.

Die Entscheidung der zweiten, oben aufgestellten Alter- native: Welchen Einfluss übt die Anwendung farbiger Reize auf den Reaktionsinhalt aus im Gegensatz zu farblosen Reizen? wird durch Tabelle II, ebenfalls in durchaus eindeutiger Weise, geliefert.

Tabelle II. Normalzall: 174.

| Farblos | Farbig

Korsakoff 57 72 Seniler Schwachsinn 84 122 Hebephrenie 76 82 Melancholie 110 130

Paralyse 143 152

Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode. 837

Die Zahlen dieser Tabelle wurden in ganz analoger Weise gewonnen wie die der Tabelle I. Als Reaktionsmaterial kam bierfär in Betracht: 1. die Reaktion mit dem eingangs be- schriebenen „Album schwarz“ und „Album bunt“, enthaltend je 20 Tintenzeichnungen resp. bunte Bilder, 2. die Reaktionen mit den Kartonblättchen III und IV, umfassend je 9 mit Tinte ge- zeichnete resp. bunte Bilder; also insgesamt 29 mit Tinte ge- zeichnete, sowie die ihnen in Grösse und Form kongruenten 29 farbigen Abbildungen.

Jede Abbildung jeder Patientin 3 mal vorgelegt, ergibt je 87 Einzelreaktionen; die optimale resp. Normalzahl der ziffern- mässig ausgedrückten Summe der Reaktionsinhalte ergibt (die Reaktion à 2 Punkte) 174 Punkte. Das Ergebnis dieser Tabelle ist, wie gesagt, ebenfalls ein vollkommen eindeutiges und lässt sich in die Worte zusammenfassen: In sämtlichen fünf unter- suchten Krankheitsfälleen ist die Summe der gedanklichenReaktions- inhalte bei Anwendung farbiger Bilder erheblich grösser als bei Anwendung von ceteris paribus unkolorierten Bildern,oder mit anderen Worten: als Reize zur Erweckung von Vorstellungen von der optischen Sinnessphäre aus bieten kolorierte Bilder erheblich grössere Chancen auf Erfolg (ca. 20 pCt grösser) als nichtkolorierte.

Dieses Resultat war a priori ebensowenig vorauszusehen wie das vorige und ist um so beachtenswerter, als es sich eben- falls bei allen fünf untersuchten Krankheitsfällen konstatieren liess.

Was schliesslich die dritte der oben formulierten Alter- nativen: welchen Einfluss die Kompliziertheit des dargestellten Objektes auf den Reaktionsinhalt ausübt, anlangt, so lässt sich über diesen Punkt schwer ein zahlenmässiger Entscheid bringen. Im allgemeinen geben natürlich einfache Darstellungen bessere Resultate als komplizierte. Aber auch dabei zeigten sich im einzelnen sehr wesentliche Differenzen. So führe ich als Beispiel die Resultate der neun kolorierten Kartonblättchen IV an, bei denen es sich durchweg um ganz einfache, unkomplizierte und cbarakteristische Darstellungen handelt:

Tabelle III.

Fisch 30 „schen uhr 30 Kirche 29 Brunnen 29 Fass 27 Kanone 21 Eule 16 Eichkatze 13 Schildkröte 2

Nur die beiden Kartonblättchen „Fisch“ und „Taschenuhr“ erreichten die für diese Tabelle gültige Normalzahl 30, d. h. wurden von jeder Patientin and in jedem einzelnen Falle richtig erkannt,

338 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger

während es z. B. so charakteristische und allgemein bekannte Tiere wie Eule und Eichkatze nur auf 16 resp. 18 Bewertungs- punkte brachten. Das äusserst ungünstige Resultat des Blättchens „Schildkröte“ dürfte wohl lediglich auf die geringe Bekanntschaft zurückzuführen sein, deren sich dieses Tier hierzulande erfreut. Durchschnittlich schlechter waren die Resultate, die mit den grösseren und komplizierteren kolorierten Bildern des „Albums bunt“ erreicht wurden, wie nachstehende Zusammenstellung zeigt:

Tabelle IV.

Tiegel 30 Gänse 27 Pferde am Brunnen 25 Schornsteinfegergeräte 23 Cigarren 21 Landarbeitszeug 21 Hirsch 20 Geflügelkäfig 20 Papagei 20 Flusslandschaft 18 Ziegenbock 18 Hund 17 Koffer und Tasche 17 Wäscheplatz 16 Schreib- und Lesezeug 18 Esel 13 Schäferwagen 13 Dachszenerie 13 Wollwickelständer 11 Elephant 7

Lediglich das Bild „Tiegel auf dem Feuer“ wurde durchweg richtig erkannt. Auffallend schlecht waren wiederum die Resultate unter den Tierbildern., und zwar gerade mit so allgemein be- kannten Tieren wie Ziegenbock, Hund und Esel. Für „Elephant“ dürfte das gleiche zutreffen wie oben für Schildkröte. Der Woll- wickelständer wurde häufig als Wasserleitung angesprochen. Von der „Dachszenerie“ wurden stets nur die auf dem Dache befind- liche Katze und 2 Vögel erkannt. In keinem einzigen Falle wurde das durch Wetterfahne, Schornstein, Blitzableiter, Giebelfenster und Dachrinne wohlcharakterisierte Dach als solches erkannt. Ebenso ergabne das Bild: „Schreib- und Lesezeug“, das auf engen Raum zusammengedrängt die Gegenstände: „Federmesser, Feder- halter, Bleistift, Brille, Tintenfass, Streusandbüchse, A-b-c-Buch“ darstellte, sowie das Bild: Schäferwagen (Schäferwagen, Hürde, Hund, Schaf) sehr schlechte Resultate. Schon die Sonderung und Erfassung der einzelnen Komponenten dieser zusammen- gesetzten Bilder machte den Patienten grosse Schwierigkeiten; geschweige, dass sie imstande gewesen wären, die einzelnen

Psychosen mittelst der Bildehenbenennungsmethode. 839

Komponenten zu einem höheren und umfassenderen Begriff, wie etwa: Dachszenerie oder Schreibmaterialoder dergleichen, zusammen- zufassen.

Bei der bisherigen Betrachtung des Reaktionsinhaltes haben wir sozusagen die reagierende Psychose als die konstante und gegebene Grösse betrachtet und das Zahlenmaterial der Tabellen

azu benutzt, den Einfluss der Art des Reizes als unbekannte zu erschliessen, wobei wir im wesentlichen zu dem Ergebnis ge- langt sind: Bei gegebener und konstanter reagierender Psychose wächst der Reaktionsinhalt 1. ungefähr proportional der zunehmenden Detailisierung des Reizbildes;

2. um ca. 20 pCt. durch Kolorierung des Reizbildes;

3. nimmt der Reaktionsinhalt um so mehr ab, je zusammen- gesetzter und reicher an gesonderten Einzeldarstellungen das Reizbild wird. Ä

Wir drehen nunmehr den Spiess um, betrachten die an- gewandten Reize als die konstante und gegebene Grösse und den Einfluss der Art der Psychose als unbekannte, und treten der Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage 2 näher:

Inwieweit ist der Reaktionsinhalt abhängig von der Art der reagierenden Psychose?

Zugleich wenden wir unsere Aufmerksamkeit der im Anfang vorliegender Arbeit aufgeworfenen Frage zu: Geht die Reduktion des von der optischen Sphäre aus erweckbaren Bewusstseins- inhaltes ungefähr parallel der Reduktion des gesamten Bewusstseins- inhaltes, d. h. ist die optische Verblödung proportional der All- gemeinverblödung? Es erscheint mir hier angezeigt, zunächst einige naheliegende Einwände gegen die von mir benutzte Methodik zu besprechen. Wie bereits eingangs erwähnt, erschien mir eine vollkommene Inventur des gesamten optischen Bewusstseinsinhaltes aus äusseren Gründen als technisch undurchführbar. Was die von mir vorgenommenen Untersuchungen bezwecken, ist, wie gesagt, lediglich eine Inventur durch Stichproben.

Um trotzdem zu einer Beantwortung der soeben aufgeworfenen Fragen zu gelangen, bin ich zu der Annahme genötigt, dass der durch diese Stichproben ermittelte Defekt des optischen Be- wusstseinsinhaltes proportional ist dem bestehenden Totaldefekt des optischen Bewusstseinsinhaltes.

Der Einwand, dass diese Annahme hypothetisch ist, muss ohne weiteres als berechtigt zugegeben werden. Immerhin glaube ich durch die erhebliche Anzahl der verwandten Einzelbilder und durch die Auswahl derselben, wobei möglichst verschiedene und manigfaltige Gebiete des optischen Bewusstseinsinhaltes berück- sichtigt werden, dafür Sorge getragen zu haben, dass man tat- sächlich mit einer für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ausreichenden Annäherung diese Proportionalität des ermittelten

340 Schuokmann, Vergleichende Untersuchung einiger

Defektes zu dem wirklichen Gesamtdefekt als gegeben wird an- nehmen dürfen. oo

Weiterhin wäre noch folgender Einwurf zu berücksichtigen: Sind die Defekte des optischen Bewusstseinsinhaltes, wie sie durch die von mir angewandte Methode festgestellt werden, auch wirklich Ergebnisse des destruierenden Einflusses der betreffenden Psychose? An und für sich liegt ja natürlich die Möglichkeit vor, dass der- artige Defekte auch schon vor Ausbruch der Psychose bestanden haben. Diese Möglichkeit war ich bestrebt auf ein Minimum zu reduzieren. S

1. Durch geeignete Auswahl der benutzten Psychosen. Sämt- liche Patientinnen waren entweder erst im mittleren oder erst im hohen Lebensalter erkrankt, zu einer Zeit, als der Erwerb des von jedem Menschen als Minimum zu verlangenden Bewusstseins- inhaltes längst abgeschlossen war.

2. Durch geeignete Auswahl der optischen Stichproben. Mit einigen wenigen Ausnahmen (Schildkröte, Elephant, Krokodil, Zahnradbahn, Luftballon) waren sämtliche Reizbilder von der Art, dass auch bei ungünstigsten Kulturbedingungen die Bekanntschaft mit den zur Darstellung gebrachten Objekten bei den einzelnen Patienten vorausgesetzt werden konnte. Ich halte es demnach für gerechtfertigt, die durch die angewandte Untersuchungsmethode aufgedeckten Defekte in ihrer Hauptsache als tatsächliche Folge des destruierenden Einflusses der betreffenden Psychose auf- zufassen,

Um zunächst einen Ueberblick über den Reaktionsinhalt der einzelnen Patientin zu gewinnen, gebe ich die Summe aller Bewertungspunkte, die jede einzelne Patientin in sämtlichen 354 Einzelreaktionen zusammen erzielte, in Tabelle V wieder.

(Normalzahl 708).

Tabelle V. Korsakoff 252 (456) Hebephrenie 291 4 17) Sen. Demenz 401 (807) Melancholie 455 (253) Paralyse 535 (173)

Um einen unmittelbareren Eindruck des im Einzelfalle er- mittelten Defektes zu gewähren, geben die in Klammern beigefügten Zahlen die Anzahl der Punkte an, die jeder Patientin zu der normaliter zu erfordernden Punktzahl 708 fehlen. Eine Zerlegung der einzelnen Zahl nach dem Gesichtspunkte, wieviel des Defektes in jedem Falle auf die Kartonblättchen, wieviel auf die kolorierten Bilder und wieviel auf die unkolorierten entfällt, ändert an den gegenseitigen Verhältnissen der einzelnen Psychose nichts, und glaube ich deshalb auf die Wiedergabe einer ın diesem Sinne zu- sammengestellten Tabelle verzichten zu können.

Was mich zunächst an dieser Tabelle in Erstaunen setzte und was ich vor Beginn der Untersuchungen nicht erwartet hatte,

Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode. 341

ist die absolute Grösse des ermittelten Defektes, und in zweiter: Linie, nicht minder überraschend, die Unterschiede, die die einzelnen Psychosen in der Grösse ihres Defektes aufweisen.

Als „blödsinnig“ im vollen Sinne des Wortes konnte man von den untersuchten Kranken nur die Hebephrenie bezeichnen; der bei ibr ermittelte Defekt des von der optischen Sphäre aus erweckbaren Bewusstseinsinhaltes dürfte (natürlich cum grano salis) als etwa proportional dem Gresamtdefekt anzusehen sein.

Bei der Altersmelancholie war ein eigentlicher Intelligenz- defekt, wie dies ja auch nach der kurzen Dauer der Krankheit nicht anders zu erwarten war, nicht zu konstatieren, und fiel hierbei die Reduktion des optischen Bewusstseinsinhaltes um fast ein Drittel des Normalinhaltes grösser aus als a priori zu erwarten war. Ob man hierin ein Charakteristikum gerade derartiger Psychosen zu sehen hat, können natürlich erst weitere vergleichende Untersuchungen lehren.

Unerwartet gross (etwas weniger als die Hälfte des Normal- besitzes) war auch der Defekt des senilen Schwachsinns, um so mehr als diese Patientin elementare psychotische Momente nie geboten hatte und nur infolge ihres unzufriedenen, reizbaren und nörglichen Charakters, für dessen Deutung der bei der Bildchen- prüfung hervorgetretene egozentrische Standpunkt der Patientin ja einige Anhaltspunkte enthüllte, in Anstaltsbehandlung ge- kommen war.

Am umfassendsten war der enthüllte optische Defekt ın dem Falle von Korsakoff. Wenn auch ein Teil dieses Defektes auf das Konto der oben besprochenen aphasischen Erscheinungen gesetzt werden muss, so verdankt doch der Hauptteil zweifellos einem primären Verlust der betreffenden optischen Vorstellungen seine Entstehung. Sonstige asymbolischen oder agnostischen Erscheinungen waren ım Verlauf des gewöhnlichen Anstaltslebens bei dieser Patientin nicht an den Tag getreten. Ueber die sonstigen intellektuellen Fähigkeiten dieser Patientin ein Urteil zu gewinnen, war bei ihrer Desorientiertheit und Konfabulation erschwert; immerhin erweckte sie im allgemeinen nicht im entferntesten einen derart blödsinnigen Eindruck wie die Hebephrenie, so dass im Vergleich za dieser ihre optische Sphäre entschieden schwerer geschädigt war. Das überraschendste Resultat der Untersuchungen waren jedenfalls die im Vergleich zu den übrigen Patienten glänzenden Ergebnisse, die die Paralytika produzierte. Der all- gemeine, spezifisch-paralytische Schwachsinn der betr. Patientin war bereits sehr erheblieh, ihre Wahnideen verrieten völlige Kritik- losigkeit. Die der allgemeinen Intelligenz proportionale Tendenz, die Wahnvorstellungen systematisch auszubauen, sie mit dem übrigen Bewusstseinsinhalt zu einem harmonischen und möglichen Ganzen zu verschmelzen, fehlte völlig. Im Gegenteil liess sich Patientin durch Suggestivfragen zu immer weitergehenden und unmöglichen wahnhaften Behauptungen drängen. Diese Diskordanz

342 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger

zwischen den hochgradigen Allgemeindefekten und den sehr gering- fügigen optischen Defekten ist sehr auffallend und steht in direktem Gegensatz zu den beim Korsakoff ermittelten, gerade umgekehrten Verhältnissen.

Inwieweit die bei den fünf untersuchten Psychosen ermittelten Verhältnisse als typisch für die Form der Psychose zu betrachten sind, wird sich natürlich erst nach Fortsetzung dieser Unter- suchungen an einem grösseren Krankenmaterial entscheiden lassen. Nach den kurzen Notizen Heilbronners (l. c.) wurden von ihm bei seniler Demenz schlechte, bei Paralyse gute Resultate mit seinen Bildchenserien erzielt, was mit den von mir ermittelten Ergebnissen ja gut übereinstimmen würde. Immerhin geht aus den bisherigen Versuchen so viel mit Sicherheit hervor, dass auch bei völligem Fehlen asymbolischer Erscheinungen sensu strictiori die Reduktion des optischen Bewusstseinsinhaltes durchaus nicht immer parallel der des allgemeinen Bewusstseinsinhaltes zu gehen braucht, sondern dass der Grad des erreichten Defektes auf beiden Gebieten ein ganz verschiedener sein kann.

Es wird Aufgabe weiterer Untersuchungen sein müssen, diese Feststellungen auch auf alle anderen Gebiete des Bewusstseins- inhaltes auszudehnen, um schliesslich zu einer Entscheidung der Frage gelangen zu können, ob sich für die einzelnen verblödenden Prozesse konstante differenzierende Kriterien auffinden lassen, je nach der Prädilektion, mit der sie die einzelnen Bewusstseins- gebiete veröden, und der zeitlichen Reihenfolge, in der sie dieselben ergreifen.

Es erübrigt sich nunmehr noch die kurze Erwähnung eines letzten Gesichtspunktes. Wie ich eingangs unter „Methodik“ be- schrieben habe, wurde jeder Patientin jedes Bild dreimal vorgelegt, wobei das eine Mal das rechte, das andere Mal das linke Auge verbunden wurde, während ein drittes Mal beide Augen offen blieben. Während ich bei den bisherigen Betrachtungen die Er- gebnisse aller dieser drei Verfahren als gleichwertig angenommen and gleichmässig' berücksichtigt habe, will ich zum Schluss noch untersuchen, inwieweit sich eine Differenz in den erzielten Re- aktionsinhalten nachweisen lässt, je nachdem die Reaktionsreize dem Bewusstsein auf dem Wege des rechten, des linken und beider Augen zugeführt wurden. i

Tabelle VI gibt eine Zusammenstellung der bei den einzelnen Patienten erzielten Reaktionswerte, je nachdem die verwandten 118 Reizbilder dem Bewusstsein auf dem Wege des rechten, des linken oder beider Augen zugeführt wurden (Normalzahl dieser Tabelle 118x2 = 2386).

(Hier folgt nebenstehende Tabelle.) Die V. Vertikalkolumne dieser Tabelle VI (Summa) ist

identisch mit der oben mitgeteilten Tabelle V; beide Tabellen unterscheiden sich nur darin, dass in Tabelle V (wie eingangs der

Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode. 843

Tabelle VI. m | ie | iia | Somm Korsakof . . . 64 | (252) Hebephrenie . . 101 (291) Sen. Demenz . . 129 (401) Melancholie . . | 138 (455) Paralyse. . . . | 174 (535)

(Summa) . . . | 606) | (65) | (677)

Arbeit unter „Methodik“ erwähnt) die auf den drei verschiedenen Wegen rechtes Auge linkes Auge beide Augen ge- wonnenen Reaktionsinhalte als völlig gleichwertig betrachtet und von vornherein zusammen addiert figurieren, während es gerade der Zweck der Tabelle VI ist, diese drei Gruppen von Reaktions- inhalten gesondert vorzuführen, um ihre Differenzen klarzulegen.

Die unterste Horizontalkolumne (Summa) zeigt, dass sich die gesamten, bei allen fünf Patienten in sämtlichen Reaktionen zusammen erzielten Bewertungspunkte im Betrage von 1934 nicht gleichmässig auf die Reaktionsgruppen rechtes Auge linkes Auge beide Augen verteilen.

Die Resultate des rechten Auges sind um reichlich 7 pCt. schlechter als die des linken, am besten sind die Resultate der- jenigen Versuche, an denen die Patienten die Reizbilder mit beiden Augen betrachteten. Mit Ausnahme des Korsakoff, der mit dem linken Auge allein ein um einen geringen Bruchteil besseres Resultat erzielte, als mit beiden Augen zusammen, zeigte sich in den vier anderen Fällen das binokulare Sehen in bezug auf seine Ergebnisse dem monokularen überlegen. An und für sich ist dieses Ergebnis ja etwas merkwürdig, da eine Ueberlegenheit des binokularen Sehens bei Betrachtung rein zweidimensionaler Objekte keine recht plausible Erklärung zulässt. Immerhin möchte ich diesem Ergebnis keinerlei prinzipielle Bedeutung beilegen, da die beobachteten Differenzen meines Erachtens viel zu klein sind, meistens wohl noch innerhalb der Fehlergrenze der Methodik liegen, als dass sie zu weitergehenden Schlussfolgerungen be- rechtigten.

he wir noch einen Blick auf die Differenzen der mit dem rechten und linken Auge allein erzielten Ergebnisse werfen, er- scheint es mir zweckmässig, zunächst für diese Betrachtungen ‚die Horizontalkolumne „Hebephrenie“ auszuschalten. Diese Pat. war, wie oben ausführlich auseinandergesetzt, die einzige, deren- Aufmerksamkeit während der Untersuchungen nicht konstant war. Damit steht die aus den hier nicht in extenso mitgeteilten ‚Spezialtabellen ersichtliche Tatsache in Einklang, dass dieselbe -an den einzelnen Untersuchungstagen bald mit dem rechten, bald mit dem linken Auge bessere Resultate produzierte. Die in der

844 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger

Gesamtsumme der Reaktionen erzielte Ueberlegenheit des rechten Auges stellt also sozusagen nur eine Zufallsmajorität dar, die ihre Entstehung unkontrollierbaren, nicht in der Natur der beiden Reizleitungswege begründeten Einflüssen verdankt.

Was die übrigen vier Fälle anlangt, so zeigt sowohl bei der senilen Demenz, wie bei der Paralyse das linke Auge gegenüber dem rechten ein Plus von vier Bewertungspunkten, d. h. etwa 2—3 pCt. des Gesamtresultates. Da dieser Unterschied bei weitem noch innerhalb der Fehlergrenze der Methode liegt, muss er gleichfalls unberücksichtigt bleiben.

Bei der Melancholika übertrifft das Reaktionsresultat des linken Auges das des rechten Auges um 19 Punkte, das sind ca. 13 pCt. des Resultates. Diese Zahl dürfte wohl schon jenseits der Fehlergrenze der Methode liegen, doch halte ich auch in diesem Falle immerhin die Mitwirkung „zufälliger“ Faktoren noch nicht für ganz ausgeschlossen.

Dagegen scheint mir letzteres allerdings der Fall zu sein bei der Differenz, die in den Resultaten des rechten gegenüber dem linken Auge in dem Falle von Korsakoff zu Tage tritt. Hier erzielte das linke Auge ein Plus von 31 Punkten, d. h. fast 40 pCt. des Gesamtresultates,.

Dieses Ueberwiegen der Reaktionsresultate des linken gegen- über denen des rechten Auges kommt nicht nur in der hier mit- geteilten Gesammtsumme, sondern auch in den einzelnen, hier nicht gesondert angeführten Gruppen resp. Versnchstagen zur Geltung. In keiner Versuchsgruppe wurde das. gegenteilige Ver- halten konstatiert. Es kann demnach meines Erachtens kein Zweifel daran bestehen, dass diese Patientin, wenn ihr eine Serie von Reizbildern auf dem Wege über ihre linke Retina zugeführt wurde, von diesen Bildern ca. 40 pCt. mehr erkannte, als wenn ihr genau die gleiche Serie mittels der rechten Netzhaut über- mittelt wurde.

Da mir von vornherein die Entscheidung der Frage, ob sich in einzelnen Fällen derartige . Differenzen würden nachweisen lassen, als eines der Hauptziele der vorliegenden Untersuchungen vorschwebte, legte ich, wie bereits eingangs erwähnt, bei der Auswahl der Patienten das Hauptgewicht auf völlig normale Seh- schärfe beider Augen. Auch diese hier in Frage stehende Kranke besass auf beiden Augen volle Sehschärfe; sie las mit +3 Dioptrien die kleine Druckschrift Snellen 0,5 auf !/, m Entfernung zwar langsam, aber fast fehlerfrei. Es ist demnach vollkommen ausgeschlossen, zur Erklärung der oben konstatierten Differenz zwischen den Resultaten der beiden Augen etwa eine funktionelle Schädigung des peripheren rechten Sehapparates heranzuziehen. (Eine exakte Gesichtsfeldaufnahme vermochte ich bei dieser Patientin nicht zu erzielen; bei grober Prüfung waren Defekte nicht nachweisbar.)

Psychosen mittelst der Bildehenbenennungsmethode. 345

So wurde z. B. mit dem linken Auge auf die Karton- bildchen „Fass 1I, III und IV“ sämtlich richtig mit dem Wort „Fass“ reagiert, ebenso auf das Kartonblättchen „Plumpe III“ richtig mit „Plumpe“, auf die Albumbilder „Hirsch“ und „Hund“ ebenfalls mit den richtigen Bezeichnungen, während bei Be- sichtigung dieser Bilder mit dem rechten Auge jede richtige Reaktion völlig ausblieb. In andern Fällen wurden zwar auch mit Hilfe des linken Auges nicht die adäquaten Bezeichnungen gefunden, aber fast stets mit diesem Auge eine grössere Anzalıl an Details erfasst, resp. sprachlich zum Ausdruck gebracht, als mit dem rechten.

Diese unzweifelhafte Tatsache, dass bei dieser Patientin die sprachlichen Reaktionen bei Besichtigung von Bildern mit dem linken Auge erheblich besser austielen als mit dem rechten Auge, lässt, zunächst ganz allgemein gesprochen, doch nur die Deutung zu, dass der psychische Reflexbogen rechte Retina— Sprachzentrum, erheblich stärker geschädigt sein muss als der Bogen linke Retina— Sprachzentrum. (Geschädigt ist ja natürlich der letztere auch, wie aus den bisherigen Ausführungen hinreichend hervorgeht.)

Dass diese Schädigung im Sprachzentrum selbst lokalisiert sein’

sollte, ist kaum möglich; denn dass von zwei, wenn auch auf verschiedenen Bahnen, so doch in gleicher Stärke eintreffenden Reizen der eine (von der linken Retina kommend) die Sprach- bewegungsvorstellung zum Anklingen bringen sollte, während der von der rechten Retina in gleicher Stärke kommende Reiz dazu nicht ım Stande sein sollte, wäre ohne Analogie und nicht ver- ständlich. Ebenso ausgeschlossen ist es aber, dass die Schädigung am anderen Ende des Reflexbogens in der Retina oder in der peripheren Opticusbahn lokalisiert sein sollte. Denn diese An- nahme wird durch den Ausfall der Sehschärfeprüfung mit Sicher- beit widerlegt.

Dieses Plus an Schädigung des rechten gegenüber dem linken Reflexbogen kann demnach nur lokalisiert sein entweder im Seh- zentrum selbst oder in der Verbindungsleitung Seh-Sprachzentrum. Fassen wir zunächst die erste Möglichkeit ins Auge, so würden bei deren Acceptierung die Verhältnisse folgendermassen liegen: Von zwei gleichen, in gleicher Stärke von der Peripherie ins Seh- zentrum einströmenden Reizen ist der von der linken Retina kommende im Stande, das ihm adäquate Erinnerungsbild zum Anklingen zu bringen, der von der rechten Retina kommende dagegen nicht. Diese Annahme erscheint unvereinbar mit der herrschenden Anschauung über die Vertretung der Netzhaut in der Hirnrinde, resp. die Lokalisation der optischen Erinnerungs- bilder. Für die vorliegende Frage kommt ja lediglich das zentrale Projektionsfeld der Macula in Betracht, da sowohl bei dem Er- werb der optischen Erinnerungsbilder nls auch bei dem jemaligen späteren Wiedererwecken derselben die peripheren Netzhaut- gebiete anscheinend nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen.

——

346 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger

Wenn, wie angenommen wird, jede Macula symmetrisch und in gleicher funktioneller Stärke in beiden Sehzentren (des rechten wie des linken Occipitallappens) vertreten ist, dann müssen auch die im Laufe des individuellen Lebens erworbenen optischen Er- innerungsbilder in gleicher Art und gleicher funktioneller Stärke in beiden Sehzentren lokalisiert sein, wobei es (notabene nur für die uns hier beschäftigende Frage) indifferent ist, ob man sich vorstellt, dass jede der beiden Sehsphären von jedem Objekte ein eignes, isoliert von der andern Seite ansprechbares Erinnerungs- bild besitzt oder dass beide, das rechts und das links lokalisierte Erinnerungsbild, nicht isoliert jedes für sich, sondern nur als zu- sammengehörige funktionelle Einheit ansprechbar sind. Unter dieser Annahme völlige Symmetrie der zentralen Projektion jeder einzelnen Macula in beiden optischen Sphären ist eine funktionelle Schädigung eines oder beider Sehsphären beziehungs- weise der in diesen lokalisierten optischen Erinnerungsbilder mit dem Effekt, dass Erinnerungsbilder von der linken Retina aus ansprechbar wären, von der rechten aus aber nicht, undenkbar. Bei Annahme einer völligen Symmetrie der zentralen Vertretung der Macula müssen funktionelle Schädigungen der Sehsphäre, mögen sie im übrigen beliebiger Art und beliebig lokalisiert sein, stets auch einen bezüglich der beiden Retinae symmetrischen Effekt haben, d. h. ein derart geschädigtes Erinnerungsbild, das von der einen Macula aus nicht mehr ansprechbar ist, muss dann notwendigerweise auch von der andern aus nicht mehr an- sprechbar sein.

Ebensowenig lässt sich die zweite der oben aufgestellten Deutungsmöglichkeiten das Plus an Schädigung des rechten gegenüber dem linken Auge kann lokalisiert sein in der Ver- bindungsleitung: Seh-Sprachzentrum mit einer Symmetrie in der zentralen Projektion der Maculae vereinigen. Möge jedes Sehzentrum seine eigenen Erinnerungsbilder besitzen, so dass die Leitung Seh-Sprachzentrum in doppelter Zahl zu postulieren wäre, oder mögen die zusammengehörigen Erinnerungsbilder beider Sehsphären nur als funktionelles Ganze ansprechbar sein, wobei die Annahme einer einfachen Seh-Sprachzentrumsbahn genügen würde, immer wird eine Schädigung, die eine oder beide dieser Bahnen trifft, einen Funktionsausfall bedingen müssen, der sich in gleicher Stärke auf beide Augen verteilt.

Ein Untersuchungsergebnis, wie das im vorliegenden Falle erhobene, dass bei einer Patientin mit beiderseits normaler Seh- schärfe die Benutzung des psychischen Reflexbogens Retina- Sprachzentrum auf dem Wege von der linken Retina aus er- heblich bessere funktionelle Resultate ergibt, als auf dem Wege von der rechten Retina aus, lässt sich meines Erachtens mit der Annahme einer bilateral-symmetrischen Vertretung der einzelnen Macula in beiden Sehsphären überhaupt nicht in Einklang bringen.

Alle Schwierigkeiten sind sofort behoben, wenn wir für jede Macula eines der beiden Sehzentren (gleichgültig, ob das homonyme

Psychosen mittelst der Bildebenbenennungsmethode. 347

oder das gekreuzte) als gesonderte kortikale Vertretung und Sitz der betreffenden Erinnerungsbilder in Anspruch nehmen. Dann findet die Frage ihre Lösung dahin, dass der zu allmählichem Verlust der erworbenen Erinnerungsbilder führende Prozess, der bei dieser Patientin nachweislich beide Sehsphären ergriffen hat, in der die rechte Macula vertretenden Sehsphäre bereits zu weiterem Umfange gediehen und zum Verlust einer grösseren Anzahl von Erinnerungsbildern geführt hat als in der die linke Macula vertretenden Sehsphäre, eine Annahme, die nichts Un- wahrscheinliches, sondern mancherlei Analogien für sich hat. Die Annahme einer völligen kortikalen Isolierung beider Maculae an- einander wäre gar nicht erforderlich; die rechte Macula z. B. könnte mit einem gewissen Bruchteil ihrer Elemente in dem in- takteren Rindengebiet der linken vertreten sein (und natärlich vice versa), aber eben mit einem so geringen Bruchteil, dass die dadurch von der Sinnesperipherie aus übermittelten Daten ohne Ergänzung von seiten der linken Macula aus nicht imstande wären, die Erinnerungsbilder anzusprechen resp. den Akt der primären Identifikation auszulösen. Nur eben mit einer kortikalen ertretung der einzelnen Macula derart, dass jede funktionelle Einheit derselben in jeder der beiden kortikalen Sehsphären die gleiche Vertretung besässe, lässt sich meines Erachtens der bei dieser Patientin erhobene Befund nicht in Einklang bringen.

Ich verhehle mir keineswegs, dass es etwas gewagt ist, auf Grund der vorliegenden Untersuchungsergebnisse rinden- lokalisatorischen Bestrebungen zu fröhnen. Nur bitte ich, dabei als mildernden Umstand zu berücksichtigen, dass einerseits die Frage der Rindenprojektion der Retina trotz der sehr zahlreichen darüber veröffentlichten anatomischen Untersuchungen immer noch so viel dunkle Punkte aufweist, so dass es gestattet erscheint, dieser Frage auch einmal vom rein klinischen Standpunkt aus näherzutreten, und andererseits, dass die Frage der quantitativen Beteiligung des einzelnen Auges an dem Zustandekommen optischer Asymbolien bisher in der Literatur ausserordentlich stiefmütterlich behandelt worden ist, obwohl sie zweifellos von erheblicher theoretischer Bedeutung ist. Leider standen mir in letzter Zeit Fälle von optisch-asymbolischen Erscheinungen nicht zur Verfügung; Fortsetzung derartiger Untersuchungen an geeignetem Krankenmaterial würde vielleicht manche der aufgeworfenen Fragen zur Lösung bringen können.

348 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

Ueber die Abgrenzung und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. Von

Dr. M. FRIEDMANN, Nervenarzt in Mannheim.

(Schluss.)

2. Ueber die psyehologischen Grundlagen der Zwangsvorgänge.

Es liegt auch jetzt nicht im Plane dieser Arbeit, mit einer historischen Uebersicht der bisherigen Versuche zu beginnen, welche von den Autoren bezüglich einer Theorie der Zwangs- vorgänge unternommen worden sind. Warda, Löwenfeld, Janet, Thomsen und auch Bumke haben bereits derartige, zum Teile sehr gründliche Zusammenstellungen gegeben, welche an dieser Stelle auszüglich zu wiederholen wenig Nutzen brächte. Unsere Aufgabe ist wie im vorangehenden Abschnitte eine andere; an- gesichts der Tatsache, dass in der Wissenschaft bisher anscheinend keine jener Deutungen als befriedigend anerkannt worden ist, gilt es, eine neue Fassung zu gewinnen, welche den merkwürdigen und wichtigen Tatbestand ohne wesentliche Lücke erklärt. Unsere Aufgabe ist aber noch genauer zu präzisieren; die Lehre von den Zwangsvorgängen, wie sie sich allmählich entwickelt hatte, schien ‚einen Tummelplatz der gröbsten, kaum in sich zu vereinigenden Widersprüche, ja von logischen Fehlern und Missverständnissen ‚darzubieten. Wir hatten dem gegenüber viel weniger neue Gesichts- punkte zu finden, als zu zeigen, dass die Widersprüche bei näherer

etrachtung merklich geringere sind, als es zunächst erschien, und dass eine Einigung auf dem Boden des umfassenden, heute gewonnenen Materials an Tatsachen und an scharfsinnigen begriff- lichen Untersuchungen nicht allzu schwierig ist. |

Diepsychologische Zergliederung nun bietet natürlich besondere Schwierigkeiten und kann nicht wie bei der Feststellung des Symptombegriffes sich auf Tatsächliches beschränken, sondern muss sich an Möglichkeiten und an brauchbare Analogien halten. Ausserdem muss sie, soweit uns Experimente fehlen, im wesentlichen deduktiv, nicht induktiv vorgehen. Dennoch schrumpft auch hier die verwirrende Vielgestaltigkeit der Theorien, wenn man sie vergleichend betrachtet, sehr zusammen; durchschnittlich rühren die Verschiedenheiten her entweder von der klinischen oder rein symptomatischen Betrachtungsweise, von der Art der normalen Analogie, welche der Autor yor Augen hatte, und von dem psychologischen System, welches er zugrunde gelegt hatte. Je ‚mehr wir uns aber dem jüngsten Abschnitte der Forschung, etwa

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 349

innerhalb der letzten 5—8 Jahre, nähern, um so grösser wird die Uebereinstimmung in der Theorie; dass jeder von uns sich darin gewandelt hat, durfte ich schon vorhin ohne Scheu auch hin- sichtlich meiner Person bekennen; denn die begriffliche Analyse der Zwangsvorgänge hat eben infolge der gemeinsamen Arbeit vieler Geister sich inzwischen beträchtlich verfeinert.

Die hauptsächlichen Postulate der Theorie sind eigent- lich von jeher mehr oder minder klar gemeinsam erfasst worden; wir haben einen Vorgang vor uns, wo entgegen dem Willen und der logischen Ueberzeugung des Subjektes eine Vorstellung oder ein Impuls sich Geltung verschafft und hervordrängt. Folglich musste das theoretische Problem diese beiden Faktoren ins Auge fassen: erstlich liegt eine Schwächung des Willens oder des das Kommen und Gehen der Vorstellungen regulierenden Apparates primär vor? oder zweitens besitzen die Zwangs- vorstellungen und -impulse selbst besondere Eigenschaften, z. B. eine besondere Spannung, besondere Affektbetonung, welche ihr Hervordrängen begünstigen? Man hat nun bald das eine, bald das andere Moment in den Vordergrund gerückt oder aber beide miteinander kombiniert und hat dabei die Art der Abnormität mit recht verschiedenartigen Namen belegt. So sprach Buccola von einer Uebererregbarkeit, Tamburini umgekehrt von einer Schwächung der Aufmerksamkeit, Meynert nahm an, dass durch eine „kortikale Schwäche“ die mechanischen assoziativen Ver- bindungen die Oberhand bekämen, R. Raymond und wiele, besonders französische, Autoren betonten das Element der „Emo- tivität*, und zwar im Zusammenhange mit der gleichzeitigen „psychomotorischen Hesitation“; Seglas hat in einer sehr an- sprechenden und meiner eigenen Anschauung genäherten Art und Weise die Unzulänglichkeit der "psychischen Synthese ins Licht gestellt, wodurch eine Desaggregation der psychischen Verbindungen und die Isolation des Zwangsvorganges inmitten des geistigen Geschehens sich ergebe. Auch Gadelius hat die dissoziativen Reizerscheinungen ausführlich geschildert, Sollier die Wichtig- keit der Gedächtnisschwäche in der Folie du doute betont. Viele Autoren haben die Bedeutsamkeit der Angst und der Spannungs- empfindungen erkannt, darunter Störring und Freud, in dessen an sich origineller Analyse freilich stets der Gedanke bekanntlich wiederkehrt, dass eigentümliche Umgestaltungen und Auflösungen sexueller Erlebnisse immer dem Zwange zugrunde lägen. Ich selbst hatte früher!) das Hauptgewicht zu einseitig auf die Steigerung in der Intensität der Zwangsvorstellungen gelegt, und später habe ich dargetan, dass der Inhalt der Zwangsideen logisch keinen Abschluss finden könne und deshalb nicht aus dem Bewusstsein mit Erfolg zu verdrängen sei?). Manche wieder, wie Ribot, hatten eine primäre Steigerung der Erinnerung, eine Art von Gedächtniskrampf psychologisch zu begründen gesucht etc.

1) M. Friedmann, Ueber den Wahn. Wiesbaden 1894. 3) M. Friedmann, Psychiatr. Wochenschr. 1901. No. 40. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hoeft 4. 23

A —— O Mi md $

350 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

Löwenfelds Analyse, welche das Hauptmoment ebenfalls in der Intensitätssteigerung der Vorstellung selbst erblickt, verkennt nicht, dass damit Hemmungen der assoziativen Tätigkeit einher- gehen müssen; die Affekte der Unruhe und Angst bewirken neben zahlreichen anderen Einflüssen eben jene erhöhte psychische Geltung der Zwangevorstellung, Bei ihm beginnt!) überhaupt die modernere Auffassung des Problems, welche den vielfältigen Gelegenheitsanlässen und den in der Person selbst gegebenen spezifischen Dispositionen nachgeht, wodurch die wechselnde Be- schaffenheit des Symptomes erzeugt wird. Janet aber hat endlich mit eindringlicher Schärfe und mit einer überhaupt nicht zu über- treffenden Gründlichkeit die eigenartige Geistesanlage des Trägers der Zwangssymptome, die Psychasthenie, zergliedert; er hat die besondere Art der Unzulänglichkeit („Incompletude“) ın den in- tellektuellen Leistungen und in den Handlungen dieser Personen nachgewiesen, sie auf die in ihnen herabgesetzte geistige Span- nung zurückgeführt, und er hat es versucht, durch geistreiche, aber etwas gezwungene Hypothesen von dieser einzigen Abnor- mität aus die Genese des Symptomes begreiflich zu machen. Die zu extreme Fassung seiner Lehre wird schwerlich haltbar sein, und ein grundlegender Mangel im ganzen Aufbaue derselben wird es wohl bleiben, dass sie nur der schwersten klinischen Form der Zwangskrankheit, den hochgradigen „Degeneres“ sozusagen auf den Leib geschrieben ist. Indessen wäre es zu bedauern, wenn das viele Wertvolle und Aufklärende, was in dem grossen Werke enthalten ist, nicht die genügende Beachtung fände?).

Endlich hat Fauser in kürzerer dogmatischer Darstellung wieder eine Theorie der Zwangsvorstellung entwickelt, welche teilweise dem nahe kommt, was ich selbst nunmehr besprechen will. In der Hauptsache handelt es sich bei ihm um eine In- suffizienz der aktiven Apperzeption (im Sinne Wundts) und um ein dadurch begünstigtes Hervortreten mechanischer und häufig absurder assoziativer Verbindungen; aus dem mühsamen Ringen der geschwächten aktiven Apperzeption heraus entstehen „oszil- lierende“ Vorgünge des Zweifels, der Skrupel, der Bedenken and damit endlich peinliche Gefühle des Erleidens, des Fremd- seins und der Spannung. So resultiert das „Totalgefühl* der „Zwangsvorstellungsangst“, und dieser Affekt ist zum Schlusse die Ursache für das Haften, die Fixierung der Idee, wobei noch die Wiederholung und Uebung verstärkend eingreift. Vorher schon hatte ich selbst im Anschlusse an die Besprechung der Monographien von Löwenfeld und Janet meine neueren Ansichten entwickelt, und schon damals, vor 2—83 Jahren, habe ich in

1) Löwenfeld, am ausführlichsten in dem Buche: Die psychischen Zwangserscheinungen. Wiesbaden 1904. Vgl. auch meine ausführliche Be- sprechung: M. Friedmann, Löwenfelds Buch über die psych. Zwangsersch. Centralbl. f. Nervenheilk. 1904, No. 175

2) Janet, Les Obsessions et la Psychasthenie, 2 vol. Paris 1908. Dazu meine ausführl. kritische Besprechung: Centralbl, f. Nervenheilk. 1905, No. 190.

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 851

wesentlichen Gesichtspunkten mich nicht sehr verschieden aus- gedrückt von dem, was Fauser!) nun mit den Schulausdrücken der Wundtschen Psychologie dargelegt hat.

Ich erwähne das nur, um zu zeigen, wie wenig sich die neuesten psychologischen Zergliederungen der Zwangsvorgänge von einander entfernen, und wenn man die älteren Lehrmeinungen in modernere Ausdrücke übersetzt, so ergibt sich, dass zwar bald das eine, bald das andere Moment die führende Stelle von dem Forscher angewiesen erhielt. Das Zustandekommen des psychischen Zwanges aber hat man im grossen und ganzen seit langer Zeit sich ähnlich gedacht, und dies rührt daher, weil jedem von uns die Selbstbeobachtung zur Seite stand, welche in milderer Form den Denkzwang innerhalb der Norm uns veranschaulicht.

Wir’ gehen deshalb auch hier bei unserer eigenen Unter- suchnng von den normal-psychologischen Verhältnissen aus. Wie geschieht in der Norm das Ueberwinden und Besei- tigen von Vorstellungen? Und wodurch entsteht in der Norm ein Denkzwang? Das sind unsere beiden Fragen.

Vorstellungen werden im allgemeinen im Wege des assoziativen Wettkampfes gerufen und auch beseitigt, bezw. in ihrer Geltung bestätigt oder verworfen. Darüber hinaus besitzen wir die Fähig- keit der Lenkung der Aufmerksamkeit; das Bleiben einer Vorstellung und ihre Geltung wird dadurch verstärkt. Abweisen und verdrängen können wir in aktiver Form eine Vorstellung nur dadurch, dass wir einmal die Aufmerksamkeit davon abwenden und zweitens, dass wir eine andere und besonders eine wider- streitende Vorstellung hervorzurufen und zu beachten streben. Wichtig ist diese aktive Leistung insbesondere beim Fällen und Entscheiden von Urteilen, vor allem von solchen, welche sich auf eine ausgesprochene Reflexion stützen. Man muss sich ver- gegenwärtigen, dass selten eine Entscheidung durchaus schlüssig ist, selten wird jedes widerstreitende Moment logisch glatt wider- legt und aus der Welt geschafft sein. Alsdann hilft uns entweder der Affekt dazu, den logischen Prozess zu beenden, so z. B. bei politischen Erwägungen, bei persönlichen Fragen, kurz da, wo ein sogen. Werturteil in die Wagschale gelegt wird. Eine Mutter wird z. B. leicht dazu neigen, ihrem Sohne in einer Kollision mit einem anderen Recht zu geben. Fehlt das helfende Gefühl, so muss die Abschliessung des Reflektierens willkürlich da geschehen, wo ein ferneres Nachdenken wahrscheinlich nichts Neues mehr bringt. Beispiele dafür bieten alle Rechtsstreite und wissen- schaftlichen Probleme. Das Denken muss dann auf eine der oben genannten Arten sich gleichfalls von der ganzen Ideenkette will- kürlich befreien resp. zu befreien streben. Einen wahren logi- schen Abschluss gibt nur die volle Identität. Ganz das gleiche gilt mutatis mutandis für die Willenshandlung.

1) Fauser, Zur allgem. Psychopathologie der Zwangserscheinungen. Centralbl. f. Nervenheilk. 1905. No. 208.

23*

852 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

Wie entsteht nun der Denkzwang? Vorausgesetzt, dass jene Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu lenken, normal funktioniert, ann, soviel ich sehe, eine Ueberwindung derselben auf zweierlei Art geschehen: erstlich habe ich schon früher gezeigt?), dass jede Reflexion der eben beschriebenen Art schwer willkürlich zu beenden ist, wenn der Widerstreit der sich bekämpfenden Gründe sich nicht schlichten lässt, oder wenn jene an sich nicht beendet werden kann, weil die Lösung erst in der Zukunft er- folgt. Wir bemerken dann das Gefühl der Unruhe, des Zweifels, der Erwartung und Furcht, wir müssen eine Zeitlang weiter- denken, und dies allerdings namentlich dann, wenn ein besonderes Interesse oder eine Gefühlsbetonung an sich der Reflexion beiwohnt, z. B. wenn es sich um eine Sorge wegen Krankheit, um einen schwebenden Hauskauf u. dergl. handelt.

Der zweite Anlass zum Denkzwang ist ein stärkerer und insbesondere ein peinlicher Affekt an und für sich, welcher der Vorstellung beiwohnt. Wer z. B. das Unglück gehabt hat, einen nahen Angehörigen durch den Tod zu verlieren, kennt den eigen- tümlichen psychologischen Zustand, der dann eintritt: die Vor- stellung taucht dann eigentlich überhaupt nicht völlig unter, wir bemerken das ihr anhaftende Gefühl, wie es mit uns stetig herumgeht, wie es selbst bei fernliegenden Gedanken und Beschäftigungen mitschwingt, eine Tendenz aufzusteigen bekundet, wie es noch mehr auf die leiseste assoziative Berührung hin sofort deutlich emporsteigt, wie es mit uns aufsteht und zu Bette geht, wie es mit einem Worte eine stete Bereitschaft zum Bewusst- werden in sich trägt. Verbindet sich gar der Affekt mit einer unabgeschlossenen Vorstellung, einem Skrupel etwa, so ist diese Tendenz doppelt stark, z. B. wenn Eltern ein Kind verloren haben und sich vorwerfen, das durch ein Versehen verschuldet zu haben. In sehr schöner Weise hat dies merkwürdige Verhalten C. G. Jung?) sogar experimentell nachweisen können; er zeigte, dass in Assoziationsversuchen, wo rasch auf ein zugerufenes Wort irgend ein anderes geantwortet wird, das der Person einfällt, dass da bei jedem irgend verfänglichen „Reizworte“ entweder eine unmotivierte Pause entsteht oder ein Wort geantwortet wird, welches die Beziehung mit der abnorm bereiten Idee verrät. Bei einem jungen Manne, welcher des Diebstahls verdächtig war, erhielt er so den Beweis für dessen Schuld. Wir wissen endlich, dass auch die intensive und häufige Beschäftigung mit einem Gegenstande an sich eine verstärkte Bereitschaft zum Wiederauftauchen hervorruft.

In der Leistung der geistigen Konzentration und der Lenkung: der Aufmerksamkeit gibt es bekanntlich in der Norm

1) Die ausführliche Begründung kann nachgesehen werden in der schon zitierten Arbeit von mir: „Ueber d. Grundlag. d. Zwangsvorst., Psych. Wochenschr. 1901, No. 40.

3) C. G. Jung, Die psycholog. Diagnose des Tatbestandes. Jurist.- psychiatr. Grenzfragen. IV. Bd. 2. Heft. Halle 1906.

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 853

viele Schwankungen: wo die Aufmerksamkeit zu lange gefesselt wird, so dass Entscheidungen schwierig werden, nennen wir die Personen pedantisch oder schwerfällig, wo jene zu schnell abspringt, treffen wir zerfahrene oder „gedankenlose“ Personen. Die ersteren sind „skrupulös“, die anderen leichtsinnig und zerstreut. Dann haben wir in neuerer Zeit eine Methodik kennen gelernt, wie man künstlich Willensentscheidungen und gültige Vorstellungen ohne Begründung bei anderen hervorrufen kann, das ist die Suggestion. Die Methode beruht im wesent- lichen auf der künstlichen Steigerung der Aufmerksamkeit, der geistigen Spannung unter Abschluss des assoziativen

enkens, dasselbe, was man auch, weun es ohne klare Absicht ausgeführt wurde, als „Faszination“ schon kannte. Die „Ein- bildung“ ist ein normaler Vorgang, welcher dem nahe kommt; wer sich z. B. intensiv und mit Angst vorstellt, einbildet, ernsthaft krank zu sein, der ist imstande, gegen das Gewicht der Gegengründe sich eigensinnig zu verschliessen, ihnen gar kein Gehör zu leihen.

Was folgt nun aus all diesen Ausführungen für den Ursprung des pathologischen Denkzwanges? Die einfache Vergleichung belehrt uns darüber, dass die wesentlichen psychologischen Fak- toren bei den krankhaften Gestaltungen die gleichen sind wie in den normalen Vorbildern. Abnorm ist nur die sachlich unmotivierte Steigerung dieser Faktoren, und zwar durchschnittlich der pein- lichen Affekte oder der Unschlüssigkeit bei den Kranken. Wir müssen indessen bei diesem ziemlich ’alltäglichen Tatbestand über- haupt ein Mehrfaches auseinanderhalten. Wir haben untersucht, welche Kräfte in besonderer Weise, d. h. unabhängig von dem normalen assoziativen Erinnerungsprozesse, das Aufsteigen und Beharren psychischer Elemente hervorbringen.

Nun wirken schon die gleichen Faktoren, zum Teile wenigstens, bei den psychischen Geschehnissen, welche gar nicht in die assoziativen Verkettungen eingeschaltet sind. So wird bekanntlich das Hervortreten eines Schmerzes, eines Muskelkrampfes, des Er- rötens befördert, wenn die Person mit ängstlicher Spannung förmlich darauf wartet. Solche „autosuggestive“ Einflüsse indessen haben wir als unechte Form des Denkzwanges früher bereits aus- geschieden. Handelt es sich hingegen um Vorstellungen und Willensimpulse, so wissen wir, dass diese erst recht durch einen gesteigerten Affekt oder durch peinliche Zweifel unverdrängbar werden, wenn sich diese letzteren z. B. mit der Idee der Eifer- sucht oder einer Rechtskränkung verknüpfen. Das sind alsdann die früber ausführlich besprochenen überwertigen Ideen. Und in der Hauptsache, das Gleiche geschieht, wenn ein affektvoller Impuls triebartig stark wird, z. B. das Streben, sich etwas an- zueignen, einem sexuellen Gelüste zu gehorchen, einen Brand anzu- legen. So erklärt sich der gebieterische Drang bei den sogen. impulsiven Monomanien. Man könnte da auch von einer gesteigerten „Zuelstrebigkeit“ reden.

304 = Friedmann, Ueber die Abgrenzung

Wie verhält sich nun aber der Denkzwang bei den echten Zwangsvorstellungen? Ich meine, man wird jetzt zugeben, dass die psychologischen Grundlagen für ihr gesteigertes Streben und Drängen, um ins Bewusstsein zu treten, an und für sich die gleichen sind wie bei den anderen Formen. Wieder treffen wir die gleichen peinlichen Gefühlstöne, dieselben ängstlichen Bedenken, die gleiche Unabgeschlossenheit. Hier also stossen wir nicht auf ein eigentliches Problem. Ein ganz anderes Moment ist das Spezifische und Seltsame, und erst dieses erklärt das besondere Gefühl des Ueberwältigtwerdens bei dem Träger der Idee. Er hat das Gefühl, dass die Idee nicht sein geistiges Eigentum ist, dass er von Rechts wegen ihrer Herr werden müsste. Er steht ihr mit normaler Intelligenz und mit an sich gesunder Kritik gegenüber, er erkennt ihren Unwert oder sogar ihren Widersinn. Das. Krankhafte also ist, nicht dass der Zweifel und der Affekt ihn bedrängt, sondern dass er überhaupt existiert und auf ihn wirkt,

Diese für das Verständnis des Vorganges entscheidende Tat- sache möge, obwohl sie früher ausführlich begründet wurde, hier nochmals durch einen klassischen Fall belegt werden: ein 22jähriger kluger, lebensfroher und sonst normaler Kaufmann (Tabakhändler) wirft eines Tages einige Gramm Kleesalz in den Abort. Alsbald wird er von der Idee verfolgt, das sei falsch gewesen, denn die Substanz sei giftig; nun denkt er sich, das Salz könne durch die Schwemmkanalisation in den Rhein, von da in einen Fisch und von diesem in einen Mensch gelangt sein, der den Fisch verspeist. Er hält selbst die Idee für so törıcht, dass er noch keinem Menschen und keiner Seele davon zu sprechen wagte. Dennoch muss er, um sich zu überzeugen, Experimente anstellen. Einmal trinkt er eine Kleesalzlösung ohne jeden Schaden und schüttet den Rest weg; gleich darauf fürchtet er, er könne „vielleicht“ schon einmal einen solchen Versuch gemacht und dabei vergessen haben, den Rest zu beseitigen. Statt eines Skrupels hat er nun zwei, und ganz ebenso ergeht es ihm bei Experimenten, wo er das Kleesalz in eine Zigarre brachte, die er ohne Beschwerde raucht, wobei er aber nun fürchtet, von der Substanz möchte etwas auf den Fussboden und an die Tabak- vorräte gelangt sein. Er kennt die Torheit all dieser Ideen, aber seit Jahren lassen sie ihm keine Ruhe. Und man sieht, wie deutlich ihr Sinn und Inhalt auf ihn wirkt.

In dem so gefassten Probleme finden wir aber wiederum zweierlei Fragen. Zunächst die: warum verhält sich schon die logische Funktion des Patienten so eigenartig, warum widerstrebt sie zwar, tritt aber dann in den Hintergrund und lässt die Idee gleichsam gewähren?

Wir führen das gleich näher aus. Der eine Kernpunkt bei der Entstehung der Zwangsvorgänge ist also das normale Verhalten der Kritik. Indessen, das ist es doch nicht allein, was den subjektiven Standpunkt gegenüber dem Inhalte der Idee

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 355

bedingt. Wir sahen früher, dass es gar nicht zu einem vernünftigen Ueberdenken und Verarbeiten der Idee kommt, dass sie meist von Anfang an als lästiger Fremdkörper betrachtet und isoliert wird. Zum Teile freilich kann man gar nicht darüber reflektieren, so z. B. bei einer zwangsweisen, obszönen oder abscheulichen Kontrastidee. Zum anderen Teile aber erstaunt man doch, dass eine Fragesucht gerade die unfruchtbursten Ideen herauskramt, eine dürre Weide für das Nachdenken, wo so viele ergiebige Probleme ringsberum vorhanden wären. Drittens aber will auch der Träger der Idee gar nicht nachdenken darüber, und das ist zweifellos hier vom Uebel. Ueber die Einbildung, Stecknadeln verschluckt zu haben, oder den Gedanken, dass einer heute nicht das gleiche Ich wie gestern sei, darüber lässt sich in der Tat nicht verständig verhandeln; aber wenn jene Frau sich denken musste, sie habe durch ihren kleinen „Klaps“ die tödliche Gehirn- geschwulst ihres Gatten hervorgerufen, oder wenn jener Barbier wegen zweier harmloser Ungeschicklichkeiten beim Rasieren gleich Werkzeug und Beruf ohne Umstände an den Nagel hängt, da wäre es doch sicherlich Art eines vernünftigen Menschen gewesen, erst ganz systematisch die Sachlage zu klären, ja sogar in alle Winkel der Frage hineinzuleuchten. Aber nein! Unsere Zwangs- patienten wollen stets den Stier ohne weiteres bei den Hörnern packen; sie sind innerlich überzeugt, dass es sich nur um Ein- bildungen handelt. „Das Ueberlegen ist nutzlos,“ sagte jene Dame mit der Defäkationsphobie, „es reitet mich nur tiefer hinein !).“ Nar die Phantasie arbeitet also wirklich, und diese muss natürlich dem herrschenden Affekt der Furcht gehorchen.

Dass also Schwäche der Willenskraft und ungenügende Schulung oder Erziehung der Denkgewohnheiten oft einen wesentlichen Teil der Mitschuld trägt an der ganz unzulänglichen logischen Bekämpfung der Missgeburt der Einbildungskraft, das ist nicht wohl abzuleugnen.

Man wird das Gesagte nicht missverstehen. Wir sprachen soeben von der Intelligenz und der logischen Funktion. Im allgemeinen geht diese stets Hand ın Hand mit derjenigen Ver- richtung, welche die Lenkung unserer Gedanken und den Ab- schluss von Urteilen und Willenshandlungen regelt, d.h. wir denken und tun nur das, was wir für logisch begründet halten; und wirken starke und unvermittelt hervorbrechende Affekte ein, so wird für gewöhnlich die Vernunft sie entweder besiegen, oder sie werden umgekehrt die Vernunft umstimmen und so auch zur logischen Ueberwertigkeit gelangen. Bei den Zwangsvorgängen nun, sagten wir soeben, sei auch die logische Funktion nicht voll und ganz

1) Dass ein Patient so wie der soeben geschilderte junge Tabakhändler mit seiner Idee „oxperimentiert“, das ist eina entschiedene Ausnahme. Im übrigen sahen wir doch, wie er gerade bei seinen Experimenten wieder die Logik ausschalte. Obwohl in ihnen klare Gegenbeweise stecken, beweisen sie ihm doch gar nichts; umgekehrt werden sie nur Anlass zu neuen törichten Skrupeln.

SUB s m —— A, m

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356 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

auf ihrem Platze; sie ziehe sich nicht nur gezwungen, sondern auch freiwillig mehr als nötig zurück, grossenteils infolge un- enügender Disziplin im Denken. Indessen ist schon oft und mit Recht von den Anhängern des Westphalschen Standpunktes ein- geworfen worden, dass diese Ueberwindung der Intelligenz nur eine scheinbare, eine formale sei, im Gegensatze zur alten „Be- sessenheit“., Man darf in der Tat sagen, dass die logische Funktion bei den Zwangsvorgängen immerhin noch die Rolle eines Regisseurs hinter der Szene übernimmt. Aber das ist sicherlich nur cum grano salis zu verstehen; aktive Impulse und praktische aktive Folgerungen aus den obsiegenden Zwangsge- danken werden zweifellos nur soweit ausgeführt, als dies ohne wahren erheblichen Schaden geschehen kann, in der Regel wenigstens. lch meine indessen, darin erkennen wir auch die all- emeine Signatur der Energieschwäche bei der Mehrzahl unserer Patienten, welche Janet sich so unermüdlich zu schildern bestrebt hatte. Den Unterlassungen geben sich diese Kranken fast ohne jeden Halt hin, Janet hat eine Fülle von Beispielen beige- bracht, welche von dem scheinbar unglaublichen derartigen Falle Jahrmärkers nicht allzusebr in den Schatten gestellt werden; freiwillige Einsperrungen, Aushungern bis zur Lebensgefahr, äusserste Vernachlässigung der mütterlichen Pflichten und der Reinlichkeit sind ın der mehr exzentrischen französischen Be- völkerung hier offenbar nichts Unerhörtes. Und wie früher gesagt, wir sind nicht befugt, die bestimmten Versicherungen derintelligenten und geistesklaren Patienten einfach abzustreiten, dass ihr Glaube an ihre Ideen ein wirksamer sei, trotz des logischen Widersinnes. Man darf in der Tat zweifeln, ob in der Weltgeschichte nicht ein analoger, wenn auch ethisch wertvollerer Glaube die Schick- sale unseres Geschlechtes mehr gelenkt habe als die damit oft streitende Vernunft.

Soviel von der einen Seite des Problems.

Wir verstehen damit die eigenartige psychologische Gestaltung des ganzen Gebildes, seine Isolierung als Fremdkörper in dem geistigen Getriebe und Sein, den Tatbestand, dass die Idee nicht anerkannt wird und dennoch wirkt. Das aber geschieht, um es nochmals ın Kürze zu wiederholen, entweder dadurch, dass hier Ideen konzipiert und stark werden, welche überhaupt keine Be- rührung mit der Logik besitzen, weil sie eben zu widersinnig sind; oder aber, wo das nicht zutrifft, dadurch, dass der Intellekt, d. h. die vorhandenen logischen Fähigkeiten des Subjektes, gleichsam einen Verzicht, eine Art von mutloser Neutralität üben.

Das betraf indessen nur die negative und zweifellos minder erhebliche Seite des Problems. Wir verstehen damit noch nicht die positive Wirkung der Ideen, noch nicht, woher die Kraft und Macht entsteht, vor welcher der Intellekt die Segel streicht. Nun ist man, wie bereits oben gesagt, schon längst sich klar darüber, welche Faktoren hier im Wesentlichen in Betracht kommen. Da eine wirkliche Täuschung und Schwächung der logischen Funk-

und die Grundlagen der Zwangsvorstelluugen. 867

tion nicht vorliegt, so musste man fragen: 1. ob und wodurch eine abnorme Verstärkung der Gefühlsbetonung bewirkt wird, welche direkt die Geltung der Ideen im Subjekte steigert. Und es war zu prüfen, ob nicht 2. der Widerstand, welchen der Patient gegen ihre Geltung übt, schon von Hause aus verringert ist, und dies an einer spezifischen Etappe des logischen Prozesses. Es konnte nämlich die Kraft geschwächt sein, vermöge welcher das Subjekt seine logische Entscheidung durchsetzt und aus- führt, seine Exekutive sozusagen, d.h. die Fähigkeit, die Auf- merksamkeit zu lenken und anzuspannen, das Mass der geistigen Energie mit einem Worte. Und dieses gerade hatte Janet von jeher in den Vordergrund gestellt.

Wir fragen also zunächst: wodurch wird die Geltung und die Gefühlsbetonung der Ideen in direkter Weise verstärkt? Von den Vorstellungen und Impulsen selbst wird dies, soweit ich sehen kann, auf dreifache Weise mehr oder minder direkt begünstigt:

1. Die Tatsache, das die Zwangsvorgänge regulär einen ganz konkreten und plastisch anschaulichen Inhalt besitzen, führt schon darauf hin, dass bestimmte, von peinlichem Affekt be- gleitete Erlebnisse oder Wahrnehmungen häufig den Ur- sprung der Idee herbeiführen. Wohl die meisten Sorgen und Befürchtungen folgen diesem Entstehungsschema: in einem Hause hatte sich eine zu Besuch weilende Tochter erhängt, nachdem sie vorher eine Melancholie mit stürmischer Irrtumsangst dargeboten hatte. Schon wenige Tage darnach kam die vorher gesunde Mutter mit Zwangsfurcht vor Herzschlag und die andere Tochter mit dem Zwangsimpuls, sich gleichfalls das Leben zu nehmen zu mir, obwohl sie jung in glücklichster Ehe verheiratet war. Personen, welche zuerst einen epileptischen Anfall mit angeschaut haben, können sich oft lange nicht schützen vor der Furcht, das gleiche zu erleiden. Ein Brand im Nachharhause bewirkt die un- aufhörliche Angst, es möge bei Nacht oder wenn die Person aus- wärts weilt, in ihrer Wohnung Feuer ausbrechen. Lektüre medi- zinischer Schriften oder nervöse Symptome führen ungemein häufig zu der plötzlich ausbrechenden Zwangsfurcht vor Geistes- krankheit; bei einer jangen Frau war diese Furcht verknüpft mit der Halluzination einer dicken verrückten Frau. Für diese Sinnestäuschung ergab sich nachträglich eine interessante Her- kunft: Die Patientin hatte früher gegenüber ihrer Wohnung die Tobzelle des Krankenhauses, deren Getöse sie oft hörte. Ausser- dem besass sie in ihrem Verkaufsladen das Reklamebild einer dicken, Kaffee trinkenden Frau. Deren Abbild war ihre Hallu- zination. Nachdem die Patientin diesen Ursprung erkannt hatte, . verschwand der Schrecken vor der Illusion und bald diese selbst.

Zartfühlende und ängstliche Patienten glauben leicht in dem Mienenspiele des anderen eine gewisse Unzufriedenheit oder Ge- kränktheit zu erkennen; daraus erwächst leicht der zwangs-

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mässige Skrupel, ein Versehen im Benehmen begangen zu haben. Eine zur übertreibenden Aengstlichkeit neigende Frau liest eines Tages einen längeren Artikel über die Pest; seither lässt ihr der Gedanke keine Ruhe, dass sie selbst von der Pest ergriffen werde, und dabei weiss sie sehr wohl, dass das unsinnig sei; denn die Pest hause ja nur in Indien. Wie der traurige Anblick des Fried- hofes eine aufgeregte Frau zu der Furcht vor Bäumen in einer unsinnigen Fassung gebracht hat, wurde schon oben einmal er- zählt. Wohl fast von allen Phobien kann man behaupten, dass sie bei einem bestimmten aufregenden Vorkommnisse ent- standen sind: Eine Dame bekommt den „Platzschwindel“, aber auf eine sonderbare und fernab liegende Art; ihr Gatte macht sich eines allerdings nicht öffentlich ruchbar gewordenen bedenklichen Uebervorteilungsversuches schuldig. Die Frau schämt sich und ihr wird unwohl auf der Strasse, sie fürchtet von da ab das Ausgehen. Oefter kommt es vor, dass, infolge von Magen- störung z. B., an irgend einer Stelle auf der Strasse ein Schwindel sich einstellt. Von da ab wird das Ausgehen, namentlich aber gerade dieser Ort, lebhaft gemieden. Ein Kind sieht Nachts ein weisses Hemd, entsetzt sich und schreit fürchterlich; nun kehrt es um keinen Preis in das Zimmer zurück, ja es will sogar, wenn es unterwegs ist, nicht mehr nach Hause zurückkehren. Ein Herr bekommt zweimal Urindrang, während er in hoher Gesellschaft beim Essen sich befindet; er kann sich nur mühsam entschliessen, solche Festlichkeiten wieder mitzumachen, zu welchen ihn sein Ehrgeiz aufs intensivste drängt.

Genug der Beispiele! Sie sind ja jedem Fachgenossen aus eigener Erfahrung zur Hand. Der psychologische Hergang in diesen Fällen bietet uns immerhin ein grösseres Interesse; denn fürs erste finden wir das einfachste Schema, wie Zwangs- vorgänge zustandekommen. Es wird nichts anderes aus eigenem hinzugetan, als dass der Patient, oft ganz ohne Grund, fürchtet, es werde ihm „das gleiche passieren“, was er gesehen, ge- lesen oder sonstwie erfahren hat, oder aber es werde ein zu- fälliges einmaliges Erlebnis regelmässig wiederkehren. Ferner sehen wir, wie stark ein einmaliger starker oder chokartiger Eindruck nachwirken kann. Das Zusammentreffen von Schreck mit der Vorstellung bindet diese beiden Elemente fester zu- sammen und gibt der Vorstellung eine besondere logische Be- deutung, und zwar je nach deren Inhalt bald die „Eigen- beziehung“ auf das Subjekt, welches das gleiche erleiden wird, bald die Verstärkung einer Vermutung (jemanden beleidigt zu haben), bald die unbestimmte Idee einer ständigen Gefahr, selbst in der törichten Form, dass die Bäume wie Pferde „ausschlagen‘“ (Gleichklang des Wortes „ausschlagen‘“). |

Woher nun kommt es, dass am Ausgangspunkte eines so grossen Bruchteiles, ja der Mehrzahl wohl aller Zwangsvorgänge ein solches shockartig wirkendes Erlebnis oder eine plötzlich hereinbrechende Aufregung steht? Die Tatsache hat gar nichts

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 359

Verwunderliches, sie ist einfach die Kehrseite der ganzen logischen Gestaltung des Zwangsgebildes, und sie rührt. davon her, dass im ausgesprochenen Gegensatze zur überwertigen Idee dort nicht der logische Wert der Vorstellung, sondern ibr plastischer Wert, wenn ich so sagen darf, zur Geltung gelangt, die Art, wie die Phantasie durch jene erregt und erschüttert wird. Es ist aber doch klar, dass das Gemüt und die Pban- tasie am stärksten ergriffen werden durch etwas, was

lötzlich und unerwartet auf das Subjekt einstürmt. Der Schreck über das Versagen einer längst geübten Technik des Rasierens, desHornblasens, des Rezeptschreibens lähmt die Energie der Person, selbst wenn sie sich sagt, dass sie die Technik ganz wohl beherrscht. So entsteht dann eine Berufsphobie. Ganz ähnlich steht es bei den körperlichen Funktionen. Wie’ anders war es bei einem Verwalter, der nach einjähriger Zurruhesetzung sich überreden liess, die Regie eines enorm komplizierten Ziegel- werkbetriebes wieder zu übernehmen: er merkt, dass er sich damit zu grunde richtet, er sieht nun alle die vielen Ansprüche und Schwierigkeiten, welche an ihn herantreten, er fühlt den Nachlass seiner Kräfte und seiner geistigen Energie. So entsteht eine viel. grössere Angst vor seiner Tätigkeit als bei einem Phobiepatienten, alle Tage übermannt ihn wieder der Gedanke, lieber den Tod suchen, als so weiter zu arbeiten. Aber das ist keine Zwangsfurcht, wie wir sie verstehen, sie stützt sich voll und ganz auf die realen Gründe und die Furchtidee ist der Komplex all dieser Gründe; nicht trotz seiner Einsicht, sondern durch seine Einsicht erliegt er der Furcht. Mit am klarsten aber drängt sich uns die Wirkung des unmittelbaren Affektes da auf, wo er entgegen der offenbaren Evidenz die Entstehung einer Erinnerungstäuschung erzwingt, wenn sich jener Schullehrer, oder jenes junge Mädchen die Situation einer Untat so deutlich vorstellen, dass sie sich sagten: „Das hast du selbst getan“; und nicht weit davon liegt es ab, wenn jene Dame, indem sie die allgemeine Entrüstung über die scheusslichen Misshandlungen Diebolds in dem berüchtigten Prozesse teilte, zu dem Selbst- vorwurf gelangte: „Du hättest das verhindern können und müssen“, während ıhr wahrer Gedanke zweifellos lautete: „Man hätte das verhindern müssen“.

2. Es gibt eine Anzahl von Fällen, wo der durch ein Er- lebnis der besprochenen Art hervorgerufene Affekt bei besonders erregbaren Naturen genügt, um an sich eine Zwangsvorstellung ins Dasein zu rufen; wir sahen vorhin, wie der Selbstmord einer gemütskranken Tochter, sowohl bei deren Mutter als bei der zweiten Tochter, welche vorher beide gesund waren, Vorstellungen vom Charakter der Zwangsfurcht im unmittelbaren Anschlusse erzeugt hat. Der Lichtensteinsche Ladenmord in Frankfurt a. M. erregte einen ängstlichen Ladeninhaber so stark, dass er für sich und seinen Vater lebhaft das gleiche Schicksal 2 Jalıre lang er- wartete; die Lektüre medizinischer Werke kann ebenso vorher

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gesunde Personen mit Zwangsbefürchtungen sogleich erfüllen. Diesen Ideen ist aber gewöhnlich keine allzulange Dauer be- schieden und öfter genügen einige Bromdosen, um alsbald Ruhe zu schaffen. Im allgemeinen muss also ein zweites abnormes Element hinzutreten, das für die Verstärkung und Verlängerung, bezw. Fixierung des Zwangsgebildes sorgt, und wir werden auch dieses zweite Element, wenn es in der bezeichneten Art wirkt, als ein aktives benennen, im Gegensatze zu den später zu be- sprechenden passiven Momenten. Die gewöhnliche Ursache da- für finden wir in einer allgemein gesteigerten abnormen Erregt- heit, wie sie der Nervosität bezw. der Neurasthenie eigen- tämlich ist. Dagegen bedingt für gewöhnlich ein melancholischer Zustand keine reinen Zwangsideen, sondern entweder universale Hemmüngen des Denkens oder infolge der trübenden Einflüsse auf die Urteilskraft überwertige und Wahnideen.

Wichtig ist indessen hier ein anderes, Bei den periodischen Verstimmungen, denCyklothymien, bleibt gewöhnlich ein eigent- licher ängstlicher Affekt aus und die Intelligenzverrichtungen sind nicht gestört. Wohl aber wird das Symptomenbild dieser Formen ziemlich häufig beherrscht von Zwangsvorstellungen, sie sind eine wahre Brutstätte für solche, und namentlich für die- jenigen von seltsam gesuchtem und widersinnigem Inhalt. Dafür werden teilweise die im nächsten Abschnitte zu besprechen- den Hemmungen verantwortlich zu machen sein, noch mehr aber wohl die eigentümlich selbstquälerische Stimmung dieser Kranken. Da sie zu klug geblieben sind, um logisch unschwer zu widerlegende Ideen zur Zwangsform oder zur Ueberwertigkeit auszubilden, so grübeln sie, bis sie hängen bleiben an Be- fürchtungen, die jenseits der praktischen Erfahrung stehen und darum auch unbehelligt bleiben von logischen Widersprächen ihres kritischen Gewissens. Daher der Wıdersinn. Indessen gibt es auch mehr abstrakte Werte, die ebenfalls nicht wohl logisch entschieden werden können. So hatte ein gemütvoller, aber pein- lich gewissenhaft veranlagter Rechtsanwalt zu solchen Zeiten die übliche Furcht vor den Entscheidungen in Prozessen, ausserdem aber noch die ihn aufregende Zwangsidee, dass er im Leben und Berufe es „nicht weit genug gebracht“, nicht genug Erfolge er- rungen habe; gleichwohl wusste er, dass er beruflich und sozial hochgeachtet war, und dass seine Praxis (deren er nicht einmal zur bequemen Existenz bedurfte) zweifellos eine das mittlere Mass überragende war. Häufiger kommen die unverständigen Skrupel und Befürchtungen vor: jener geistig bedeutende Kauf- mann, welchen die Idee verfolgt, er habe durch ein höfliches Wort seinem Gehilfen sein Vermögen angeboten, gehört hierher; andere haben die Idee ohne jeden Grund, sie hätten sich im Laden Geld wechseln lassen, ohne das Geldstück selbst her- zugeben. Bei einer Dame bildete sich aus der Tatsache, dass ein leichtsinniger Bruder zum Auswandern nach Amerika ge- zwungen worden war, die Zwangsidee heraus, jener werde eines

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 361

Tages unerwartet zurückkehren und im Zorne ihren Gatten und Vater erschiessen. Ueber 1!j, Jahr lang schrak sie fast bei jedem Klingelzeichen zusammen, in dem Gedanken, dass nun der Ge- fürchtete vor ihr stehen werde. Einige Jahre vorher hatte sie in der Periode der Erregung unter der Zwangsfurcht vor einer Feuersbrunst im Hause andauernd gelitten, weil eben damals ein Brand im Hause gegenüber sie erschüttert hatte.

In einem Falle meiner Beobachtung konzentrierte sich alles Denken auf die öfter und noch soeben erwähnte Erinnerungs- täuschung begangener Untaten. Sofort nach der Genesung, welche nach 8 Monaten erfolgte, waren diese den Charakter des Zwangs- denkens unverkennbar tragenden und überaus hartnäckig ge- äusserten Ideen wie weggewischt. Ein junger Kaufmann war jedesmal fast ausser sich vor Skrupeln, wenn er einen freundschaft- lichen Rat in Börsensachen auf Verlangen erteilt hatte.

3. Ein drittes, sehr wirksames Unterstützungsmoment für die Zwangsvorstellungen liegt in der Hyperästhesie, in der nervösen Ueberempfindlichkeit des Qb fühles. Darauf be- ruhen die Zwangsvorstellungen des Ekels und die öfter darauf basierende Furcht vor Infektion. Mit dieser Furcht können sich z. B. autosuggestiv erzeugte Berührungsempfindungen verbinden; spie jemand aus, so fühlte z. B. ein Patient, wie Teile des Sputums bis an seine Stirn flogen. Die gesteigerte Empfindung lässt ferner diese Personen einen Druck auf der Brust, eine Parästhesie am Herzen und dergleichen schwer ertragen; daraus entwickeln sich das eine Mal jene bekannten „Algien“ und „Topalgien“, wie sie Janet bezeichnet, das andere Mal die Phobien, die Furcht vor körperlichen Verrichtungen, z. B. dem Urinieren, dem Gehen (Abasie), dem Treppensteigen. Ein ohnehin ausserordentlich starker Erwartungsaffekt!) gestaltet sich hier in beiden Fällen um so stürmischer, als die Empfindungen und Funktionen täglich viele Male wiederkehren. Diese praktisch wichtigen Symptome, speziell die Furcht vor lokalen Parästhesien, kommt gar nicht selten isoliert zur Beobachtung; richtig ist aber, dass es sich noch öfter um neuropathische Naturen mit psychischen Hemmungen handelt, und die Berührungsfurcht vereinigt sich daher ziemlich oft mit einer Zweifel- und Skrupelsucht (folie du doute avec crainte de toucher).

Sonderbar ist es, zu sehen, wie häufig der Sammeltrieb für herumliegende Papierfetzen gegen den erklärten Willen des Patienten gleichzeitig ausgebildet ist. Man wird wohl annehmen dürfen, dass das empfindliche Gefühl für Ordnung hier verletzt wird und dass also auch hier eine Hyperästhesie dem Triebe zu- grunde liegt.

Neues habe ich im übrigen dem allgemein Bekannten bei diesen Kategorien der Zwangszustände nicht hinzuzufügen. Dass

1) Als Beispiel ähnlicher überwertiger Angst mag an die oft stärmische Verzweiflung über den Pruritus vulvae bei Frauen erinnert werden.

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allerlei Vorstellungen sich den Ideen der Verunreinigung bei- gesellen auf assoziativem Wege, ist leicht erklärlich; so entstehen nicht selten sexuelle Abneigungen durch die Vorstellung des Abscheues vor der Befleckung durch die Kohabitation, sonderbare hypochondrisch gefärbte Skrupel sind noch häufiger dabei, z. B. der Gedanke, dass das Gift der Hundswut überall da drohe, wo ein Hund vorbeigelaufen ist. Auch die rituellen Reinheitsgebote der mosaischen Religion verknüpfen sich ähnlich.

Damit verlassen wir die Erörterung der Elemente, welche eine Affekt- und Gefühlsbetonung oder eine direkte Intensitäts- steigerung des Inhaltes der Zwangsgebilde bedingen und welche wir als die aktiv wirkenden Momente zusammengefasst hatten. Im ganzen konnten wir uns dabei auf dem Boden des Tat- sächlichen bewegen; denn die Feststellung des ängstlichen oder peinlichen Gefühles, ferner seiner ersten Entstehung in Gestalt einer chokartigen Erregung und seiner Steigerung durch eine allgemeine Nervosität oder durch eine unruhige Verstimmung, welche periodisch wiederkehrt, endlich einer Ueberempfindlich- keit gegen Ekelvorstellungen und dergleichen ist Sache direkter klinischer Beobachtung. Inwieweit etwas Aehnliches für die pas- siven Momente zutrifft, soll jetzt untersucht werden.

Indessen schon aus allgemeinen, also deduktiven Gründen ist anzunehmen, dass eine spezifische Eignung des Sub- jektes erforderlich sein wird, um aus der gefühlsbetonten Vor- stellung eine Zwangsvorstellung zu machen. Wäre das nämlich nicht so, so müssten erstlich die Zwangsvorgänge noch sehr viel häufiger sein, als sie tatsächlich vorkommen. Zweitens hat ja gerade die Wissenschaft, und zwar hauptsächlich einem syste- matischen und diagnostischen Bedürfnisse folgend, aus der grossen Gruppe der zwangsmässig sich aufdrängenden psychischen Vor- gänge nur eine bestimmte darunter herausgegriffen und als Zwangsvorgüänge Kat’exochen bezeichnet im Gegensatze zu überwertigen Ideen und Impulsen und zu zahlreichen unleidlich empfundenen Trieben und Gefühlen einfacherer Art, und diese Besonderheit liegt eben nicht in der Natur der gefühlsbetonten Vorstellung an sich, sondern in der Art, wie das Subjekt darauf reagiert. Und drittens kennen wir bereits aus den Parallelen im normalen Seelenleben die Naturelle, welche sich so ungefähr verhalten, wie unsere Patienten, nämlich die Pedanten und die Phantasten und noch mehr jenes sonderbar widerspruchsvolle Zwitterding, das aus der Vereinigung beider geboren wird, die pedantische Phantastik, die Grillenfänger etc.

Da es stets sich in all diesen Fällen darum handelt, dass die Personen etwas denken oder tun müssen, was sie nicht wollen, so kommt alle Male eine Hemmung oder Schwächung der Fähigkeit in Betracht, das Kommen und Gehen der Vor- stellungen zu regulieren und gefasste Willensentschlüsse zur Aus- führung zu bringen. Die Wirkung dieser Hemmung aber würde

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 363

sich in dreifacher Weise gliedern, bezw. es müssten sich dadurch folgende drei Fragen beantworten lassen; 1. Ist es nachweisbar, dass ganz allgemein die logisch minderwertigen Zweifel, Be- denken und Befürchtungen auch dadurch mächtig und wirksam werden und bleiben, dass dem Träger derselben die Fähigkeit, sich willkürlich davon abzuwenden, primär mangelt? Und noch eine Etappe im Denken vorher haben wir zu untersuchen: schiessen, von den von aussen her shockartig induzierten Zwangs- ideen abgesehen, aus dem Innern heraus neue und abnorme Vorstellungen dadurch hervor, dass 2. Denkprozessen der Abschluss versagt bleibt oder dass sie als abschlussunfäbig dadurch impo- nieren, dass sich Zweifel an hinreichend klare Vorstellungen anknüpfen, und erkennen wir, dass 3. zufällige Einfälle und mechanischeldeenassoziationen sich besonders leicht geltend machen?

Diese Fragen sind bekanntlich nichts weniger als neu, sie finden sich schon in Arbeiten, deren Abfassung ın ziemlich weit zurückliegende Perioden der Zwangsideenforschung fällt. Es wird sich daher auch hier am wenigsten ein wesentlich neuer Gesichts- punkt durchführen lassen. Aber andrerseits ist dieses Problem mit das bedeutungsvollste unter allen hier in Betracht kommenden psychologischen Fragen, und deshalb müssen wir darnach trachten, uns klar zu werden, auf welche Begründung sich die Lehre von der Hemmung der regulativen Fähigkeiten im Denken stützen kann. Dass sie von vornherein sehr plausibel und sogar wahrscheinlich klingt, wird wohl von keiner Seite heute bestritten werden. Wir können nicht in die Seele der Patienten hinein- sehen, und so liesse an und für sıch die Annahme ganz wohl sich vertreten: die Gefühlsbetonung sei eine so starke, namentlich der Zuwachs durch die nervöse Erregtheit sei so gross, dass beide allein genügen, um sich andauernde Beachtung bei ihrem Träger zu erzwingen. Dies könnte in der Tat am ersten geltend gemacht werden für die widersinnigen, aber stark aufregenden Ideen, z. B. die Kontrastverwünschung mit der Furcht, dass die betroffene geliebte Person dadurch wirksam erreicht wird, die wiederholt erwähnte Diebold-Idee und dergleichen. Aber schon bei der zweoklosen metaphysischen Grübelsucht versagt diese Erklärung; und bei solchen Ideen, welche gleich der Pestfurcht oder einer zwangsmässigen Furcht vor dem Heiraten sehr wohl einer gründ- lichen Ueberlegung zugänglich gewesen wären, unterbleibt eine solche, und dies aus einem sehr’ charakteristischen Grunde. Den Patienten fehlt nämlich die Kraft, die Idee wirksam zu be- kämpfen, sie fühlen ihre eigene Schwäche und suchen lieber fremde Hilfe auf. Die Gegensuggestion des anderen würde aber nicht fruchten, wie sie es tut, wenn die Idee selbst so übermächtig wäre. Allerdings muss die Gegeneinwirkung stets von neuem wiederholt werden, weil sie nicht lange vorhält.

Ferner kann jeder nur halbwegs verständige Patient, wenn anders er aufrichtig gegen sich selbst sein will, uns berichten,

364 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

dass bei den Hemmungsphobien das Gewicht der Entscheidung nicht bei seinen Befürchtungen, sondern bei seinem Zaudern und Zurückscheuen vor der Ausführung der Handlung liegt. Darum sucht er sich vor sich selbst zu entschuldigen dadurch, dass er halb absichtlich seine körperlichen Beschwerden, den Schwindel etc. übertreibt; und darum wirkt hier so oft schon ein kleiner Alkohol- genuss Wunder, nicht weil er die Parästhesien oder die Furcht wegräumt, wohl aber, wie jeder weiss, weil er die Hemmungen beseitigt. Endlich sind in ausgeprägten Fällen bei geborenen Neuropathen die psychischen primären Hemmungen oft mit Händen zu greifen; hier treffen wir das öfter schon mit Recht so genannte klebende Denken und Handeln; das Ankleiden dauert eine bis zwei Stunden, jedem Entschlusse stellen sich die Hinder- nisse bündelweise entgegen; die Patienten können kein Buch mehr lesen, weil sie an jedem Satze, ja an jedem Worte hängen bleiben und so fort. Personen mit überwertigen Ideen sind oft tatkräftige Naturen, und ein Herr, der von Reue über einen Grundstückkauf gepeinigt war bis zum Lebensüberdrusse, empfand daher nicht den erwarteten Verlust so stark, sondern die Scham vor sich selbst, dass ihn seine sonstige klare Klugheit hier im Stiche gelassen hatte. Personen mit Zwangsideen dagegen sind meist weichlich und suggestibel.

Wir kommen zu unserer zweiten Frage. Hier sind die Schlüsse nicht wesentlich indirekter Art wie leider zum Teile bei der vorangehenden Frage und bei der folgenden. Es handelt sich um die Fragesucht und namentlich um die Irrtumsfurcht. Die erstere ist klar, es wird nur gefragt, um zu fragen, nicht um Antworten zu gewinnen, und das ewige Drehen im gleichen Kreise ist kennzeichnend genug für das gesamte Denken. Ueber die Irrtums- furcht habe ich schon früher einmal gesprochen. Man hat nicht ohne Grund aufmerksam gemacht, dass die Zerstreutheit und die Gedächtnisschwäche leicht Anlass gebe, dass ein skrupulös ängst- licher Patient sich hinterher Sorgen mache, dass er unbewusst einen Fehler begangen, fremdes Eigentum eingesteckt habe und dergleichen. Die wichtigste Quelle dieser Furcht aber beruht auf der Tatsache, dass sowohl den Erinnerungen als den Urteilen das normale Geltungsgefühl mangelt; und zwar fehlt es deshalb, weil die Entscheidung schon mit der normalen Energie nicht vollbracht wurde und weil jene früher erwähnte Willensleistung nicht zustande kommt, welche eine Reflexion abzuschneiden sich getraut an der Stelle, wo ein hinreichendes Uebergewicht der Gründe erlangt worden ist. Man versteht es daher, dass in besonders typischer Weise solche Skrupel bei abgearbeiteten Juristen ausbrechen, einerseits weil jene Ent- schlossenheit des Denkens ihnen infolge der Ermüdung und Er- schlaffung abhanden gekommen ist, andererseits weil das ihnen anerzogene logische Zergliedern ihnen nunmehr aus dem gleichen Grunde Mühe macht.

Bei einfacher Erinnerung kann eine Täuschung auf

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 365

autosuggestivem Wege zu stande kommen, und je mehr. die Patienten durch den Denkzwang sich die trügerische Situation wiederholen, um so stärker wird die Täuschung. Seit den be- rühmt gewordenen Experimenten Sterns über die Psychologie der Aussage (als erichtlicher Zeuge) ist diese Möglichkeit selbst bei normalen Menschen allgemein anerkannt, um so mehr kann sie bei den erregten und des Selbstvertrauen ermangelnden Patienten unserer Kategorie erfolgen.

| Das Fehlen dea Geltungsgefühles wird nun von den Kranken direkt empfunden, - Es ist die Ursache, dass sie ‚ihre Berechnungen immer mehrfach revidieren müssen; nicht so sehr Aengstlichkeit als das Gefühl der Unsicherheit ist ‚das Entscheidende. Die Personen können ganz zuverlässig wissen, dass sie keine Fehler machen, es kann ihnen in Monaten ‚nichts. der Art passiert sein, sie mögen sich noch so sehr über ‚sich. selbst. ärgern, sie können das doppelte und dreifache Mass -an Arbeit dadurch auf sich häufen: es hilft alles nichts, sie trauen ‚sich nicht mehr, sowie die Irrtumsvorstellung über sie gekommen ist. Aus diesem Grunde treibt es eben all diese Patienten, sich Gegensuggestionen zu holen bei anderen, und ein erfahrener und als Autorität geltender Jurist kann durch die Zusicherun

eines jugendlichen Praktikanten Ruhe finden. a

Etwas komplizierter wieder ist die Beantwortung der dritten Frage: Wieso häufen sich bei Patienten mit Hemmung der regulativen Denkkräfte die Einfälle absonderlicher ‚Art? Oder: Wie lässt sich beweisen, dass diese Einfälle auf solchem Wege zustande kommen? |

Für viele der Fachgenossen wird gerade die jetzt zu er- -örternde psychogenetische Frage das grösste Interesse beanspruchen; -denn sie haben, wenigstens bisher, nur die widersinnigen und ganz „fremdartigen“ Ideen als echte Zwangsvorstellungen an- ‘erkannt. Eine Erklärung für einen Teil solcher Zwangsgebilde allerdings haben wir schon vorhin gegeben. Der Ursprung war 'hier ein wesentlich anderer als der, welcher jetzt begründet werden ‘soll; ein selbstquälerischer Trieb in der Cyklothymie liest mit ‚einem gewissen Raffinement solche Ideen aus, welche 'zwar ab- sonderlich, aber auch schwer zu widerlegen sind. Ausser den dort angeführten Beispielen mag noch hingewiesen werden auf eine "Skrupelsucht, welche überall fürchtet, den Nebenmenschen ge- ' krānkt und beleidigt zu haben. Bald hatte ein solches allzu zart- fühlendes Fräulein zu wenig gesprochen mit dem anderen, bald "hatte sie versäumt; ihre Dienste anzubieten, bald war die Antwort

des anderen zu kurz geraten, enthielt versteckte und zweideutige Vorwürfe u. s. f. Wer nun die oft geradezu tollen und lächerlichen Einfälle und Grillen unserer Patienten betrachtet, wer sieht, wie die Tage -damit hingebracht werden, solchen ungereimten Kram auszuhscken, wer aber weiss, dass die Personen gleichwohl intelligent und Monataschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 4. 7 M

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geistig sonst normal geblieben sind, der wird kaum zögern, sich ‘daraufhin die Erklärung zu eigen zu machen, dass da eine förm- "liche Anarchie der Gedanken herrscht, dass die Vorstellungen gleichsam auf eigene Faust und unbekümmert um das von Denk- und Lebensanschauungen geleitete Subjekt auftauchen und zur Herrschaft gelangen. Natürlich ist das nicht in so grober Weise ‘zu verstehen, denn so kann ein Deliriam alcoholicum sich aus- nehmen, aber nie ein Zwangsdenken. Aber fürs erst2 muss man sich klar sein, dass die strenge Zentralisation unseres geistigen Lebens keine unbedingte ist; um sie zur Geltung zu bringen, besitzen wir, wie wir wissen, schliesslich nur unsere Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu lenken, die gewollten Vorstellungen dadurch länger im Bewusstsein zu erhalten. Die verschiedenen Störungen dieser Leistung haben uns im bisher Erörterten schon beschäftigt. Dazu kommen aber noch gelegentliche, an sich ganz unmotivierte Entgleisungen, wie sie jedem normalen Menschen da und dort assieren: lächerliche Kontrastassoziationen drängen sich gerade in die gefühlvoll pathetischen Situationen hinein, ein sinnloser Impuls, z. B. ein wertvolles Objekt in den vorbeifliessenden Strom zu werfen, hat, wie L. Meyer‘) vor Jahren schon einmal betonte, wohl die meisten unter uns schon gelegentlich gepackt, uner- wünschte Phantasiespiele mögen uns erschrecken oder beschämen.

_ Unsere Zwangspatienten legen indessen in dieser Hinsicht eine wesentlich gröbere Zügellosigkeit an den Tag.. Insbe- sondere sind die mehr mechanischen und sinnlosen Triebe bei ihnen besonders zu finden: sie müssen bestimmte Schrittrhythımen beim Gehen einhalten, bestimmte Zahlen als glücklich suchen und als . unglücklich meiden, sie stecken voll von Symbolen und Aberglauben, denen sie folgen müssen, wenn sie Ruhe haben wollen; ein Herr musste neben seiner Skrupelsucht jeden Berufsgang vor- und . rückwärts mit den Strassenfluchten sich vorstellen, jede Berechnung von oben und von unten her addieren (ohne vorgestellten Zweck), der Impuls fasste ihn, über seinen Gesellschafter auf der Strasse hinwegzuspringen; die Patienten müssen Tagebücher mit dem unnätzesten Detail ihrer Tageserlebnisse anlegen und anfüllen, sich .hundert und tausend Male des Tages waschen, jedesKleidungsstück in allen Fältchen darauf prüfen, ob Stecknadeln oder wertvolle Papiere dahin geschlüpft seien, tagelang einen entflohenen Personennamen suchen. Kurz, sie sind scheinbar willenlose Sklaven ihrer U eber- treibungsmanien und ihrer schrullenhaften Triebe. Ebenso hilflos erweist sich ihr Wille, wenn sie peinliche Phantasiespiele, die „rêverie forcée“ Janets, verjagen wollen; umgekehrt, diese verfolgt sie nur um so öfter und schlimmer, je mehr sie sich dagegen auflehnen wollen.

Ziemlich häufig ferner beobachten wir an ihnen nicht nur die schon vorhin erwähnte ängstliche Weichlichkeit des Charakters,

1) Ludw. Meyar, Ueber Intentionspsychosen. Arch. f. Psych. 1889. Bd. XX. S. 1.

g

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 867 sondern auch eine Suggestibilität stärkeren Grades und auch . diese von einer besonderen schwächlichen Art. Oft istes die Zahl der fremden Helfer, was ihnen imponieren soll: „mehrere erfahrene Aerzte, mehrere Freunde und mehrere sehr tüchtige Spezialärzte befragen“ etc., so ungefähr lautet der ständige Refrain im Tage- buche eines solchen Patienten Tuczeks. So unzugänglich und widerhaarig uns die stark gehemmten, überall zweifeladen Patienten gewöhnlich erscheinen, so leicht folgt umgekehrt die andere Kategorie allen Gedankenrichtungen, auf die man sie hinweist, gibtsichirgend welchen pseudowissenschaftlichen „Magnetisierungs“- Methoden eines Routiniers hin, und namentlich wird sie alle Skrupel und alle Krankheiten am eigenen Leibe fürchten, von denen sie irgendwo hört. Aber eben diese Suggestionen sind keine echten ` Einbildungen, so etwa wie die Krankheitefurcht eines wahren Hypochonders, vielmehr ist es die vielberufene „Furcht vor ihrer Furcht“, der Affekt der Besorgnis ohne die begleitende deutliche Vorstellung des Ergriffenseins.. Also speziell diese so leicht sich einstellenden Einfälle sind ursprünglich schwächlich, in der Tat folgt das Zwangsdenken da einem mehr „formalen“ Drang, oder besser gesagt, es erfolgt durch ein kraftloses Zurück- weichen vor den Gedanken. Erst durch die vielfältigen frucht- losen Kämpfe dagegen schwillt auch allmählich der subjektive Eindruck, welchen die Idee macht, an. Das lässt sich wenigstens da nicht selten direkt feststellen, wo unter unseren Augen neue Zwangsvorstellungen sich entwickeln; viele andere bleiben über- haupt stets nebensächlich und nur episodisch.

Und noch ein Drittes ist im gleichen Sinne geltend zu machen. Die triviale Tatsache hatte mir früher eine Zeit lang Kopfzerbrechen verursacht, dass dieselben Neurastheniker, ja dieselben normalen Personen, zu gleicher Zeit vor jeder Ent- schliessung zaudernd zurückscheuen, welche umgekehrt in gereizter Stimmung ihren raschen Impulsen ohne jedes Besinnen nach- geben. So hatte ın der Tat auch jene Patientin, welche aus Furcht wor den „ausschlagenden“ Bäumen sich das Ausgehen versagte, unmittelbar vorher durch unbedachte zornige Aeusserungen sich einen Beleidigungsprozess auf den Hals geladen. Die Erklärung dafür ist schliesslich einfach und naheliegend: nicht wohlüberlegte Bedenken sind es, welche sich als Bleigewicht dem Wollen an- legen, diese Personen sind es nicht, welche von des Gedankens Blässe angekränkelt sind; sondern ihnen mangelt die lenkende und regierende Kraft eben so sehr, wenn sie den Abschluss der Ueberlegung beschleunigen, wie wenn sie das Andrängen lebhafter Affekte hemmen sollte. Es sind unbeständige, schwankende, „problamatischef Naturen, denen es versagt ist, bleibende geistige

erte für sich zu erwerben. | Und endlich noch eine direkte Erfahrungstatsache: die Unzulänglichkeit, welche sich in der fehlenden Bestimmtheit bei ihrem Denken und Tun ausspricht, entstammt, wie schon vorhin in anderem Zusammenliange erwähnt ist, zum Teile auch

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368 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

einem Mangel an Uebung darin. Hier ist die Stelle, wo neben- bei hingewiesen werden darf, auf die verantwortungsvolle Auf- gabe der Erziehung. Gewiss sind die schwereren Fälle durch- schnittlich Produkt einer erblichen Degeneration, indessen, gleichwie bei der Hysterie, äussert sich auch hier die Anlage gewöhnlich schon ım kindlichen Alter, und gleich jener dürfte sie fast zur Hälfte Produkt der Lebensführung sein. Ungenügende Ausfüllung durch raktisch nützliche Tätigkeit begünstigt sehr stark den angeborenen Hang zum Ersinnen von Schrullen und zu kleinlichen Abwegen der Phantasie. Die Selbstzucht im Denken und Handeln muss geübt werden.

Die angeführten vier Momente sollen also das Zustande- kommen der geistigen Entgleisungen,' welche uns jetzt zuletzt beschäftigen werden, begreiflicher machen. Ferner ist es nötig, sich zugleich zu vergegenwärtigen, dass die Entstehung der abgeirrten Gedanken ausserordentlich begünstigt wird durch die allge- meine Unfähigkeit, sich von gefühlsbetonten Ideen abzuwenden. In der Tat werden zahlreiche Ideen solcher Art einfach dadurch erzeugt, dass primär eine andere Vorstellung irgendwie im Denken festgehalten war, und diese zieht durch mechanische &usserliche Assoziation dann die eigentliche Zwangsidee heran. Hierfür ein paar Beispiele: wir erzählten wiederholt von schreckenden Kontrastideen. Der eine Fall darunter lag sehr charakteristisch; eine junge Bureaugehilfin, welche protestierte Wechsel einzutragen hatte, war von einer sehr starken, aber an sich bei der absolut zuverlässigen Dame unbegründeten Irrtums- angst gepeinigt. Nachdem sie viele Monate lang sich durch ewiges mehrmalıges Nachrechnen abgearbeitet hatte, packt sie der Zorn, und sie sagt sich: „Ach was, wenn du keine Fehler findest, so machst du sie (i. e. lieber einmal) absichtlich“, soll heissen, damit sie für ihr heisees Bemühen im Suchen nach Fehlern die Genug- tuung hat, einen solchen entdecken zu können. Sofort erschrak sie aber so über diesen drängenden hässlichen Gedanken, dass sie nun gar nicht mehr arbeiten konnte. Jene ältere Dame mit den ldeen, wie: „wenn doch meine Schwester die Treppe herab- fiele und sich den Hals bräche“, war in Wirklichkeit gequält von der Angst vor einem Unglücksfall, und einer Uebersättigung mit dieser Furcht entsprang der Zwangsgedanke!), Hier wirkt der Kontrast befreiend, denn die ewige Wiederholung einer lästigen Vorstellung wirkt aufreibend nach bekannten psychologischen Gesetzen und damit zugleich erbitternd. Die Kontrastidee ist dann eine. erleichternde Entladung, ebenso wie das bekannte Lachen dann, wenn ein Unfall bei einer nahestehenden Person, der erschreckt hatte, glücklich verlaufen ist.

Andere Verknüpfungen erblicken wir in folgenden Bei- spielen: ein junges Mädchen hatte plötzlich ihre innig geliebte

1) Es erinnert dies an den bekannten ernsthaft gemeinten Wahlspruch: „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!“

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 369

einzige Schwester durch den Tod verloren. In dieser Zeit tritt ibr beim Oeffnen der Türe ein Schutzmann mit einem Papiere (den Mietsherrn betreffend) entgegen, und dieser Anblick entsetzte sie heftig. Bald darnach stellt sich eine allgemeine Hemmung in allem Tun ein, vorzüglich indessen beim Ankleiden. Diese Hemmung verbindet sich nun mit der ihr Denken noch verfolgen- den Erinnerung an das Papier, und sie muss jetzt nach versteckten Papierstückchen in ihren Kleidern suchen, ehe sie die letzteren anzieht. Dass auf den Papieren etwas für sie Kompromittierendes stehen könne, wie sie sagt, das ist nur eine nachträgliche Er- klärungsidee. Dieser Hergang bei solchen Vorstellungen (wie dem Papier) mit „freien“ Affinitäten ist sowohl von Wernicke als von Freud in anderem Zusammenhange schon geschildert worden. Man sieht aber hier, wie wenig die künstliche und ge- zwungene Beziehung auf Sexualia, welche Freud postuliert, nötig ist. Uebrigens hat auch nachträglich unsere erste Patientin den Anschluss an die Vorstellung von Papierstücken gefunden, welche von ihrer jahrelangen täglichen Beschäftigung mit Wechseln als wichtig ihr im Kopfe stecken geblieben war; auch sie motiviert die verlangsamende Hemmung im Ankleiden, die sich jetzt ein- zustellen beginnt, dumit, dass vielleicht von ihrer Arbeit her sich Wechsel in ihre Aermel oder Taschen verirrt hätten.

Noch einfacher als Wirkung des „Hängenbleibens“ erweist sich der frühere Fall des bleichsüchtigen jungen Mädchens, welches im Momente, als sie das Haus verliess, das Herabstürzen eines Nachbar- kindes teilweise mit ansehen musste; ihre ohnehin aus Scheu vor den Menschen bestehende Unlust am Ausgehen assoziiert sich mit der Erinnerung an das schreckliche Erlebnis. Sie muss sich denken, das Unglück kehre wieder, wenn sie wieder das Haus verlässt, d. h. die lebhafte Erinnerung au die Situation und die Furcht, dass wieder zu ihrem Missgeschick etwas derartiges vorkommen könne, erhöht die Bedeutsamkeit des Gedankens, und sie sagt sich: es wird geschehen. Ein Hängenbleiben an einem Furchtgedanken ist ferner die häufige Angst vor dem Verschlucken von Stecknadeln; Kinder werden vor den letzteren eindringlich gewarnt und ebenso vor dem Verschlucken von Steinchen u. dergl. Die Vereinigung der beiden Befürchtungen ergibt die Zwangs- idee. Ein 8jähriger Patient Kalischers fürchtet, Glasscherben zu verschlucken, sowie er Glas sieht, und Chemikalien, sowie er solche erblickt, weiss aber, dass dies „Quatsch“ sei. Bei einem französischen sittsamen jungen Mädchen, erzählt Janet, kam mitten ın der tiefen religiösen Andacht die widerwärtige Vor- stellung des männlichen Gliedes, z. B. beim Gedanken an das Abendmalıl; man kann sich leicht kombinieren, dass erstlich hier wieder eine Kontrastidee nach der religiösen Ergriffenheit und dann etwa der Vorsatz, geschlechtliche Erregung zu unterdrücken, die unnatürliche Assoziation zweier im Denken sich zeitlich nahestehender Vorstellungen ins Werk gesetzt hat.

Unsere Patientin mit den Skrupeln bezüglich der Krankheit

370 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

ihres Mannes beschäftigt ausser sehr zahlreichen episodischen Zwangsideen seit bald 30 Jahren immer wieder die Zwangs- vorstellung, dass sie „nicht sie selbst“ oder dass sie „doppelt“ sei; das rührt daher, dass sie merkt, vor irgend einer Bewegung wisse oder fühle sie „schon einmal“, was sie tun wird. Sie nimmt also ganz korrekt die Innervations vorstellung wahr, welche dem Innervationsimpulse vorausgeht, und seitdem sie das konstatiert hat, lässt ihr das Fuktum keine Ruhe, sie fürchtet namentlich, das sei der Anfang einer Geisteskrankheit: wieder einmal die erhöhte Bedeutung einer betonten Vorstellung. Uebrigens ist es wohl möglich, dass hier tatsächlich infolge der Hemmungen in der Lenkung des Willens die Aufeinanderfolge von Bewegungs- vorstellung und Bewegungsinnervation verlangsamt wird und daher leichter vom Subjekt wahrzunehmen ist. Dadurch indessen, dass es den Tatbestand nicht versteht, erweckt er die psychische Unruhe, welche allem Unbegriffenen anhaftet.

Wir dürfen nicht zu weitläufig werden, sonst wäre noch auf die schöne Mitteilung von Laudenhoimer!) bei dieser Gelegen- heit aufmerksam zu machen, der in einem Falle sexueller Zwangsvorstellungen bei einem Kinde zeigte, wie die Aufklärung über die sexuellen Beziehungen heilend gewirkt hatte. Auch an unser früheres Beispiel sei erinnert, wo die schreckende Halluzination einer „verrückten Frau“ im Anschlasse an die Furcht vor Psychose entstand und wieder verschwand, sowie die Patientin sich über die Herkunft der Halluzination hatte orientieren können.

Allgemein ist zu sagen, dass alle diese völlig isolierten und zugleich betonten Zwangsideen eben dadurch so stark wirken, weil sie, so wie sie dastehen, ganz des logischen Zusammen- hanges entbehren; dem Patienten entgeht dadurch die Möglich- keit, sie logisch zu verarbeiten, was bei den anderen Zwangs- ideen wenigstens obenhin geschieht.

Nun zwei Beispiele von Zwangsimpulsen. Ein Arbeiter sehr solider Art, der völlig zufrieden lebt, liegt einmal fieberhaft krank allein in seinem Bett, und halb im Traum wird er auf die Telegraphenstange aufmerksam, die vor seinem Fenster steht. Nun kommt ihn die Furcht an, er könne sich vielleicht im Fieber- wahn an jener drohend seinen Blicken zugewandten Telegraphen- stange aufhängen, und natürlich bleibt ihm diese Erinnerung haften, da er ja die Stange immerfort erblickt, solange er tagüber als Patient zu Bette liegt. Aber auch nach seiner Genesung hat er als Arbeiter im Hafengebiete tagtäglich vor zahllosen Telegraphen- stangen vorbeizugehen, und seit jetzt 3 Jahren bedrängt ihn der Impuls, die Tat auszuführen, und ebensosehr die Furcht vor dem Impulse, welcher absolut sinnlos und unbegründet ist. Der Fall ist besonders lehrreich; man erkennt deutlich die äusserlichen Momente, welche den Gedanken festhalten und

1) Laudenheimer, Ueber Kinderpsychosen nebst Mitteilung eines Falles von sexuellen Zwangsvorstellunsen. Der Kinderarzt. 1902. No. 11.

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 371

immer wieder beleben, sowie er überhaupt einmal klar aufgetaucht war. Charakteristisch ist der Hergang in einem zweiten Beispiele: Eine jüngere Arbeiterfrau schält während der Menses Kartoffeln mit einem Messer und gleichzeitig hört sie, wie ihr Mann mit Hals- abschneiden von einem rohen aufgeregten Hausgenossen draussen auf dem Flur bedroht wird. Nun hat die Vorstellung des Messers eine schreckenerregende Bedeutung für sie bekommen, aber es tritt die bekannte Tendenz zur abnormen Eigenbeziehung hinzu, unterstützt noch durch die Tatsache, dass sie selbst bei jenem Auftritte ein Messer in der Hand hielt: sie fürchtet sich vor dem Messer, sie selbst könnte damit Unheil anrichten. Da aber darin zugleich eine Innervationsvorstellung enthalten ist, nämlich die, dass die Frau mit dem Messer ihren Mann angreifen könne, so führte die verstärkte Betonung der Idee zugleich zu einer ungewollten Steigerung des betreffenden Impulses selbst. Das Messer gewinnt eine magische verderbliche Gewalt, gleichwie wir uns oft des Triebes erwehren müssen, einen Gegenstand, den wir vor dem Fallen beschützen, wegzuwerfen. Aus der Furcht, sie könne ihrem Manne etwas zuleide tun, erwuchs bei der Frau

der Trieb dazu.

Uebrigens kommt diese Furcht vor dem Messer auch in einfacherer passiver Form vor: Ein sehr tätiger, aber neuro- pathischer Herr wird von einer überwertigen Furcht vor einer bestimmten Funktion, nämlich der Bilanzaufnahme in einer Fabrik, verfolgt. In dieser Zeit überfällt ihn die plötzliche Furchtidee zwangsmässigen Charakters, dass seine Frau ihm mit dem auf dem Tische liegenden Messer den Hals abschneiden könne. Un- gemein häufig kommen episodische Zwangsimpulse bei unseren Patienten als „Nebenprodukt“ vor, bald ein Impuls, sich aus dem Fenster, bald in einen vorbeifliessenden Strom oder wieder aus dem Eisenbahnwagen herauszustürzen, und zwar stets nur, wenn eine solche Situation gegeben ıst; nicht gerade selten ist auch die Neigung zu unbegründeten Wutgedanken (die selten ausgeführt werden), z. B. der Impuls, ein Ladenmädchen, welches die Patientin durch zu vieles Reden beim Einkauf reizt, einfach niederzuschlagen, oder einen Säugling, der anhaltend brüällt, aus dem Fenster zu werfen. Endlich aber sei der in der Praxis relativ seltenen Patienten gedacht, welche ein ganzes Arsenal der törichtesten Skrupel an- dauernd und ohne vorausgehende „agents provocateurs“ zum Vor- schein bringen!): Ein jugendlicher, willensschlaffer Kaufmann soll von seiner Frau auf deren Antrag geschieden werden. Solange der Prozess schwebt, „kann er absolut nichts tun“, die unrubige Erwartung führt ihn dazu, sich oft eine Stunde lang brüllend und heulend auf dem Boden zu wälzen (sogenannte „Krise“); er will nicht ausgehen, denn alles schreckt ihn: sieht er eine zerbrochene

1) Das überzengendste Beispiel der Art und ein wahres Kabinettstück ist das „Selbsthekenntnis“ jenes Referendurs bei Tuczek. Berl. klin. Wochenschr. 1894. No. 6 fl.

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Fensterscheibe, so muss er denken, er selbst habe das verübt; war er auf der Post, so fällt ihm ein, er habe seinem Hintermann mit dem Schirme ein Auge ausgestossen; geht er unter einem Balkon, so fürchtet er, dass ein Blumentopf ihm auf den Kopf fallen werde; geht er ins Wirtshaus, so verfolgt ihn die Idee, er habe im Gespräch eine Majestätsbeleidigung verübt; sieht er einen Zank, so bildet er sich hinterher ein, er sei die Ursache davon gewesen. Vor jedem Schutzmann läuft er so schnell davon, als es unauffällig geschehen kann; glaubt er aber, irgend etwas der angedenteien Art angestellt zu haben, so muss er die nächste Zeit sich alle Tage an den Ort begeben und sich z. B. eine: halbe Stunde lang vor die zerbrochene Scheibe hinstellen, um heraus- zubekommen, ob jemand darüber spricht oder ob gar ein Verdacht gegen ihn geäussert werde. Von irgend einer Kur wollte dieser ’atient nichts wissen; sein Fehler sei seine Feigheit und über- grosse Zaghaftigkeit, in deren Schilderung er selbst sich nicht genug tun konnte.

Mas lehren nun im allgemeinen die Belegfälle und ihre psychologische Zergliederung bezw. Deutung? Offenbar doch zweierlei: entweder finden wir, wie im soeben erwähnten letzten Falle, ein halt- und steaerloses Denken mit dem Grundtone der Aengstlichkeit, wo ohne jede Stütze durch die Logik des Patienten jeder einen Skrupel betreffende Einfall selbst bei schwächlicher Affektbetonung sich Geltung erringt; oder aber umgekehrt die starke Gefühlsbetonung hält eine Furchtidee fest und dann erst bekundet sich der anarchische Grundzug im Gedankenleben der Person darin, dass logisch wertlose mechanische Assoziationen sich an jene Idee ungehindert herandrängen können. Natürlich wird noch öfter der Hergang zwischen beiden Extremen in der Mitte liegen.

Das letzte psychologische Problem betrifft den Ur- sprung des dauernden Denkzwanges.

Die seitherigen Betrachtungen haben nicht diesem an und für sich gegolten, sondern sie hatten zu zeigen, wieso eine logisch für minderwertig oder unsinnig erachtete Idee dennoch innerhalb des Denkens eine stärkere Geltung oder Betonung erlangt. Nun soll gefragt werden, wodurch ein solches psychisches Gebilde ausserdem seinen abnorm langen Bestand gewinnt, wieso sich also der Prozess stets wieder erneuert. Genauer also würde statt „Denkzwang“ der Ausdruck Erinnerungszwang zu ge- brauchen sein, da das erstere Wort auch auf alles das anzuwenden ist, was bis jetzt erörtert wurde, also auf die erhöhte Geltung der Ideen wider Willen ihrer Träger. Die wirkliche Bedeutung des. Begriffes hat indessen seither immer wohl in dem Tatbestande gelegen, dass die Patienten durch ihre Idee anhaltend verfolgt und gepeinigt werden. Die erhöhte Geltung würde man mehr als „Einbildung“ und auch wohl mit dem französischen Worte der

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 373

„Obsession“, des Besessenseins, bezeichnet haben, wenn man in den Untersuchungen überhaupt die Begriffe so geschieden hätte!), wie dies von uns im Interesse der Klarheit jetzt durchgeführt worden ist.

Bezüglich dieses dauernden Denkzwanges nun liegt, wie schon öfter hervorgehoben wurde, an und für sich eine grund- sätzliehe und durchgreifende Verschiedenheit weder gegenüber der Norm, noch gegenüber der überwertigen Idee vor. Jedenfalls ıst er, objektiv betrachtet, sicher nicht stärker als gewöhnlich bei einer überwertigen Skrupelsucht oder solchen Selbstanklagen (etwa eine geliebte Person gekränkt zu haben, ihrer Treue nicht ver- trauen zu dürfen, von der Umgebung missachtet zu werden). Selbst der Wunsch, nicht daran denken zu wollen, und das Ge- fühl, dass die Idee sich wider Willen des Trägers ihm aufdrängt, ihn bezwingt, kann auch bei überwertigen Skrupeln, allerdings nur in beschränktem Masse, vorhanden sein. Anders ist eben nur das Verhulten der logischen Einsicht. Es kann jemand sehr be- klagen, dass ihm die Eifersucht keine Ruhe lässt und dass er daran glauben muss, ein Hypochonder kann den Arzt bitten, ıhn von seinen Gedanken zu befreien. Bei solchen fixen Ideen bleibt interessanterweise noch ein Rest von Gegenkritik erhalten, weil die Personen eben sich der ursprünglichen Isoliertheit noch be- wusst bleiben, nachdem sie allerdings längst beseitigt ist. Das Widerstreben entspringt bei der überwertigen und bei der Zwangs- idee schliesslich dem gleichen Grunde, nämlich der Peinlich- keit des Inhaltes; bei alledem lässt sich nicht abstreiten, dass bei dem Zwangsgebilde mehr das „Denken“ und „Erinnern“ ge- mieden werden soll, und dass bei der fixen Idee mehr die zu grunde liegende Tatsache bekämpft, bezw. fortgeschafft werden soll, was überdies schon einmal oben zugestanden worden ist.

Der erstere Patient geht der Reflexion aus dem Wege und sucht fremde logische Gegnerschaft gegenüber seiner Idee direkt zu gewinnen, der andere verbeisst sich förmlich in das Suchen nach logischen Beweisen und will den fremden Opponenten seiner- seits überzeugen?). Dass sich dieser Unterschied in starkem Masse geltend macht bei dem Erinnerungszwange ist selbstverständlich, aber immerhin im wesentlichen zuungunsten des Zwangs- gebildes, welchem dadurch die zahllosen assoiativen Berührungen und Anknüpfungspunkte im geistigen Geschehen und Erleben ver- sagt bleiben, so dass es nicht so leicht auf diesem Wege erweckt wird wie die überwertige Idee.

Gemeinsam haben beide psychischen Gebilde die drän- genden Kräfte der peinlichen Gefühlsbetonung nicht allein,

1) Der Umstand, dass dies nicht geschah, hat z. B. Bumke zn dem folgenschweren Irrtume verleitet, dass das Gefühlsmoment nebensächlich sei bei der „echten“ Zwangsidee, wie das allerdings ursprünglich durch Westphal als ein wesentlicher Teil seiner ganzen Lehre postuliert worden war.

2) Der Gegensatz ist übrigens schon oft (z. B. von Hecker) ähnlich gekennzeichnet werden,

374 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

sondern auch diejenigen der Erwartung und des Zweifels, welche vereinigt den Affekt der Befürchtung, des Bedenkens und des Skrupels ergeben. Zu der Lästigkeit einer Vorstellung wird. sogar künstlich ein Bedenken hinzugefügt, also eine Un- abgeschlossenheit erzeugt, da wo sie von Hause aus fehlte; die Erregtheit über den abscheulichen Dieboldprozess führte bei einer schon skrupelsüchtigen Dame zu dem sinnlosen Selbst- vorwurf, sie habe jene Untaten verhüten können und sollen; die Aufregung über die unaufhörliche Irrtumsangst bei Berechnungen mündet aus in den Skrupel, die Patientin wolle absichtlich Fehler machen; die einfache Beobachtung des Innervationsgefühles veranlasste eine dritte Patientin, dies als Symptom der Geistes- störung zu fürchten; die obszöne Ideenussoziation eines männ- lichen Gliedes bei einer Kranken Janets während einer religiösen Handlung schliesst natürlich Selbstanklagen und Bedenken wegen: der eigenen Moralität in sich. Diese künstliche Erzeugung von Bedenken, welche an anderer Stelle dieser Abhandlung aus- führlicher schon besprochen worden ist, gehört nun allerdings zu den spezifischen Eigenschaften der Zwangsvorgänge. Der Drang, zur Klarheit und zum Abschlusse bezüglich eines Bedenkens oder einer Befürchtung zu gelangen, tritt alsdann in Konnex mit der uns schon von der Norm her bekannten Kraft einer stark peinlichen Vorstellung, sich nahe unter der Oberfläche des Bewusstseins zu halten und leicht die Bewusstseinsschwelle zu überschreiten, mit einem Worte, ihren „Schwellenwert‘ zu steigern. So kommt die gespannte Erwartung, die „expectant attention“, die Er- höhung der geistigen Gespanntheit zustande.

Nicht so hoch indessen, wie ich selbst mit zahlreichen anderen Autoren das früher getan habe, schätze ich heute die Wirk- samkeit des häufigeren fruchtlosen Kampfes, der Uebung im gleichen Sinne ein. Gewiss wird schon durch die einfache Wiederholung, die immer unter Affekt geschieht, die suggestive Gewalt der Idee, ıhr Einfluss auf die Phantasie stetig vermehrt, und dieser Tatbestand scheint mir noch heute wichtig zu sein. Erwäge ich indessen, wie schwächlich überhaupt der Wider- stand für gewöhnlich ist, welcher von seite des kritischen Apparates gegen die Ideen geleistet wird, wie die Patienten sich geradezu „vor ihrer Furcht fürchten“ und einer logischen ernsten Reflexion direkt aus dem Wege gehen, so glaube ich auch nicht recht an den Ernst eines derartigen „Kämpfens“. Eher noch wird eine Art von Probieren sich vollziehen, wobei es die Patienten treibt, sich gleichsam zu überzeugen, ob die Idee noch in alter Kraft da ist. Die Wiederholung wird indessen weit mehr auf einem anderen Wege erzielt.

Ueberhaupt aber meine ich, dass in der Anschauung, als ob die Zwangsideen die Macht besässen, durch eine Art von Erinnerungskrampf sich selbst emporzuheben, dass darin ein Stück von einer „fable convenue“ steckt. Ist es denn wahr, dass die Zwangsideen wirklich ungerufen an die Oberfläche kommen?

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 375

Ob dem so ist, das wird oft gar nicht direkt zu entscheiden sein; recht häufig aber können wir den Schlüssel nachweisen, der ihnen das Tor des Bewusstseins öffnet. In der Regel handelt es sich schon von vornherein um Vorstellungen, welche sich an die all- täglichsten Erlebnisse oder Wahrnehmungen anschliessen. Der Postbeamte, der täglich um 3 Uhr die Errötungsfurcht bekam, sass eben immer am gleichen Schalter wie damals; ein Patient, der das Verrücktwerden fürchtet, nachdem das einem Bekannten passiert war, beobachtet sich unbewusst und merkt dann gewisse auffällige Symptome an sich, er hört auch vun anderen Fällen; die Damen mit den Kontrastverwünschungen gerieten an solche nur, wenn z. B. gerade jemand die Stiege herabging, fortreiste oder wenn eine religiöse Handlung stattfand; die Patientin, welche mit Angst auf den bösen Bruder wartete, der ihren Gatten und Vater erschiessen werde, hatte diese Angst an einen noch häufigeren Umstand angeknüpft, nämlich an das Ertönen der Flurklingel. Der Mann mit dem Impuls, sich aufzuhängen, wurde daran ge- mahnt dadurch, dass er den wirklichen Anstifter, eine Telegraphen- stange, fort und fort erblickte. Bei den Phobien erst recht kommt die Angst dann, wenn aus praktischen Lebensbedürfnissen heraus die gefürchtete Handlung herantritt. Wir sahen endlich, wie seltsam der Hang, Papierstücke zu sammeln, sich verbindet einerseits mit der täglichen Verrichtung des Ankleidens und andrerseits mit den primären Hemmungen und Verlangsamungen im Agieren überhaupt, d. h. die Papierstückchen sollen in Falten der anzuziehenden Kleider gesucht werden, und das Ankleiden geschieht langsam und schwerfällig, weil es überhaupt von Zweifeln aller möglichen Sorten gehemmt wird.

Wir sehen in der Tat, diese Zwangsvorstellungen haben das Bestreben, da wo sie einmal ursprünglich isoliert standen, sich an irgend einen alltäglichen Vorgang anzuhängen, der sie in Erinnerung leicht bringen kann. Ist aber eine abnorme Ver- stimmung vorhanden, wie in den depressiven Perioden der Cyklothymie, dann ist eben der peinlich unruhige Affekt von selbst ständig da, und dieses Gefühl wird die zugehörige selbst- quälerische Zwangsidee wieder wecken oder eine verwandte je nach den äusseren Umständen ins Leben rufen.

So fehlt es nicht anden unterstützenden Anlässen und Ursachen, welche das lange Dasein von Monaten und einigen Jahren, das einer idee oder Phobie meist. beschieden ist, erklären. Doch sei hier nochmals erinnert, dass es auch flüchtige Zwangsideen ganz häufig gibt, teils wenn die Personen keine eigentlichen starken Neuropathen sind, teils wenn die Idee auf einem einmaligen Schreck beruhte, z. B. dem Anblicke eines Epileptikers, oder aber wenn die Idee von Anfang wenig betont blieb.

Schlussbemerkungen. Wir stehen am Schlusse eines langen Weges, und es ziemt sich wohl, prüfend zurückzuschauen auf das, was wir als Ziel ins Auge gefasst und was wir erreicht

376 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

haben. Zunächst darf wohl mit aller Deutlichkeit eines hervor- gehoben werden: Der Begriff der Zwangsvorgänge hat uns aus- schliesslich und allein insoweit beschäftigt, als es sich um das Symptom gehandelt hat. Jedes klinische oder ätiologische Problem hat uns ferne gelegen. Soweit sich heute darüber Fest- stellungen schon machen lassen, verdanken wir sie in genügendem Masse den Monographien Janets und vor allem Löwenfelds. Ueber vieles freilich kann erst dann Zuverlässiges ermittelt werden, wenn einmal die Vorfrage beantwortet ist: Was sind Zwangs- vorgänge?

Unsere Antwort hatte gelautet: Zwangsvorstellungen sind stark betonte unverdrängbare Vorstellungen, welche sich durch ihr Isoliertbleiben im Denken und durch das Gefühl der er- zwungenen, logisch nicht motivierten Geltung auszeichnen. Wir wollen jetzt versuchen, diesen Begriff nochmals zusammen- fassend zu erläutern.

Die gegenwärtige Krisis in der Lehre von den Zwangs- vorstellungen ist dadurch entstanden, dass zwei extrem sich gegen- überstehende Begriffsbildungen in der Wissenschaft gleichzeitig durch namhafte Vertreter zur Geltung gelangt sind: die eine Richtung grif eine Eigenschaft der Zwangsideen, nämlich die abnorme Unverdrängbarkeit, heraus und erklärte sie als das mass- gebende Merkmal. Während dadurch der Umfang des Symptomes ausserordentlich in die Weite wuchs, verlangten andere Forscher wieder die Einengung und Rückkehr zu der ursprünglichen West- phalschen Formulierung, welche lediglich den subjektiven

wang’ ins Auge fasste und die speziell nur auf solche unver- drängbare Vorstellungen anwendbar sein sollte, welche als wider- sinnige, lästige und zugleich inhaltlich bedeutungslose, dazu nicht von Affekt begleitete Eindringlinge auftreten. Demgegenüber glaubte ich, zweierlei zu erkennen: erstlich, ein so allgemeiner psychischer Vorgang, wie der der einfachen Unverdrängbarkeit eines psychischen Gebildes, eignet sich wenig, um daraufhin eine charakteristische Symptomgruppierung zu errichten; aber: ebenso hat zweitens die bisherige widerspruchsvolle Entwicklung der ganzen Lehre dargetan, dass lediglich klinische Gesichtspunkte: hier nicht zu durchgreifenden Kriterien uns verhelfen. Hingegen schien es mir auf Grund der heute gewonnenen eingehenden Kenntnis des ganzen Materials keineswegs besonders schwierig zu sein, den psychologischen Ursprung und Kern des subjektiven psychischen Zwanges herauszustellen und darauf eine klar ver- ständliche Begrenzung des Symptombegriffes zu begründen.

Zunächst ergab sich eine erste Unterscheidung unter den. unverdrängbaren psychischen Gebilden dadurch, dass die einen ım Bereiche und Gebiete des reflektierenden selbstbewussten Denkens sich einstellen, die anderen unter den unbewusst und unterbewusst auftauchenden psychischen Prozessen. Die letzteren benennen wir als unechte Zwangsvorgänge, weil hier, z. B. bei einer Halluzination oder einem Muskelkrampfe, von einem empfun- denen Zwange überhaupt nicht die Rede sein kann. Wenn aber zweitens das intelligente Ich „bezwungen“ wird, da ist es doch

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 377

weiterhin ein grundlegender Unterschied, ob dieses selbst die Geltung herbeiführt oder aber ob diese letztere gegen seinen direkten Widerspruch sich durchsetzt. Im zweiten Falle haben wir den „Geltungszwang“ der echten Zwangsvorstellung, im ersteren Falle das „zwingende Denken“ in der überwertigen Idee.

Die letztere nun ist eine affektbetonte Vorstellung, welche gerade dadurch überwertig wird, dass sie auch einen unbegründeten logischen Wertzuwachs gewinnt; die Zwangsvorstellung hingegen ist und bleibt logisch minderwertig. Für dieses entgegengesetzte Verhalten aber bietet sich ein auch pathognostisch sehr brauch- bares Merkmal dar: das logische Denken des Subjektes isoliert sich von der Zwangsvorstellung, die eine Art von „vita propria“ dergestalt führt!); die überwertige Idee hingegen drängt sich förm- lich in alle irgend erreichbaren assoziativen Verbindungen ein, ja sie entwickelt sich zu einem Hauptzentrum des geistigen Lebens. Und fragen wir jetzt: Worauf beruht schliesslich, psychologisch gesprochen, die Besonderheit der Wirkung bei beiden Vorgängen? Dann ergibt sich die Antwort fast von selbst aus den Tatsachen. Das Zwangsgebilde entsteht in einem völlig normalen, kritisch veranlagten Intellekte, welchem es nur an der Energie gebricht, sich gegen eine abnorm betonte Vorstellung durchzusetzen und sie auszuschalten. Bei der überwertigen Form aber, welche inhaltlich mit der anderen übereinstimmen kann, liegt eine abnorme Gefügigkeit und Widerstandsunfähigkeit des Intellektes selbst gegen die gefühlsbetonte Vorstellung, z. B. eine Eifersuchtsidee, vor. Hier ist die gesamte logische Funktion unzulänglich, dort nur eine einzelne bestimmte Leistung derselben.

Auch diese letztere vermögen wir genauer zu bezeichnen. Alles reflektierende Denken steht unter einem doppelten Gesetze: erstlich besteht das Gesetz des stetigen assoziativen Zusammen- hanges der Vorstellungen unter sich und zweitens dasjenige der Einheitlichkeit der logischen Werte. Nur so kann die Einheit des geistigen Ichs gewahrt bleiben (in einem bestimmten Zeit- abschnitte nämlich). Ob freilich diese Gesetze auf angeborenen Eigenschaften des Geistes beruhen oder ob sie erst während des Verlaufs der psychischen Entwicklung sich ausbilden, das unter- liegt der Diskussion je nach der massgebenden psychologischen ‘Theorie. Jedenfalls aber vollzieht sich jene Leistung so, dass den logisch widersprochenen Vorstellungen die Aufmerksamkeit und das Geltungsurteil (bezw. Geltungsgefühl) von dem Subjekte entzogen wird. Indessen, es gibt zwei Fälle, wo die Erfüllung der genannten Aufgabe Schwierigkeiten begegnet. Ein Gefühls- ton kann im Widerspruche mit unserer Einsicht stehen, und ein Zweifel oder ein Bedenken kann einen logischen Zwiespalt er- regen. Nun, wir wissen, was dann geschieht: erfahrungsgemäss entfalten beide eine innere Unruhe, welche uns in gegebener Zeit zu einer Entscheidung drängt. Wir haben es alle gelernt, ein logisch verkehrtes Streben auszulöschen, z. B. das Begehren nach einem Objekte, das wir nur durch Diebstahl erreichen könnten.

1) Sie wird also in dieser Hinsicht ganz ähnlich behandelt wie die ab- sichtlichen Phantasiespiele der Norm,

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378 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

Wem das aber nicht gelingt, der fügt dann einen logischen Wert dem Streben hinzu, er macht es zu einer Zielvorstellung, welche in diesem Falle einen abnormen Ueberwert besitzen würde (so z. B. bei den impulsiven Monomanien, Kleptomanie etc.).

Ebenso verhalten wir uns gegen Zweifel und Bedenken, z. B. eine Krankheitsfurcht. Entweder können wir den Zweifel in der Hauptsache lösen oder wir lenken unser Denken davon ab, oder endlich wir füblen uns genötigt, unsere Reflexion darüber mit Grund und Gegengrund fortzuspinnen. Jedenfalls also bleibt die Idee mitten im assoziativen Verbande verkettet.

Das ist das normale Verhalten. Etwas wesentlich anderes aber ist das Bestehenbleiben einer Vorstellung, welcher zugleich eine Unverdrängbarkeit, ein Geltungszwang und die logische Iso- lierung anhaftet. Die logische Funktion kann die Ausschaltung nicht vollbringen, aber sie zieht sich zuräck und wäscht gleichsam ihre Hände in Unschuld. Auch das kommt freilich, wie wir wissen, schon in der Norm ab und zu vor, namentlich wenn es sich um logisch scharf abgelehnte, aber gefühlsstarke Vorstellungen handelt; wir haben das Beispiel der Ahnung und eines Aberglaubens an- geführt, auch ein intensiver, z. B. sexueller Trieb kann dieses

ild des Widerstreites erzeugen. Für gewöhnlich ind2ssen kann ein solches Zwangsgebilde nur aus der krankhaften Steigerung

eines der beiden in Betracht kommenden Faktoren oder beider

zugleich hervorgehen, nämlich aus der Verstärkung des Gefühls- tones der Vorstellung oder aus einer abnorm geringen Energie der logischen Funktion. Nur so kann zugleich das Gesetz der Einheit und des inneren Zusammenhanges im reflektierenden Denken durchbrochen werden.

Und wiederum begegnen uns hierbei mehrere Eigentämlich- keiten. Fürs erste und das hat entscheidende Bedeutung für die ganze seitherige wissenschaftliche Diskussion macht es keinen wesentlichen Unterschied in der Gestaltung der Zwangsidee (von abnormer Abkunft), ob die logische Ablehnung auf Grund eines völligen Widersinnes oder aber nur infolge der wohlerkannten logischen Minderwertigkeit erfolgt. Erst vor wenigen Tagen salı ich einen Patienten, der zuerst von dem verabscheuten Zwangs- impulse erfasst worden war, seine Frau ebenso zu ermorden, wie er das gerade von einem scheusslichen und alarmierenden Falle in hiesiger Stadt gehört hatte; kaum war er nach 6 Wochen befreit von dieser Zentnerlast, als ihm die Nachricht zugetragen wurde, ein guter Bekannter, der „ebenso wie er selbst gestört gewesen sei“, habe sich soeben selbst entleibt. Und sogleich verfolgt ıhn nun die neue Zwangsidee, auch er könne oder müsse sich das

‚Leben nehmen. Das eine war ein sinnloser Impuls, das andere

eine halbwegs denkbare Befürchtung nach dem Vorangegangenen. Aber ihm selbst galten beide Ideen gleich, ja, erst wegen der späteren kam er dazu, ärztliche Hülfe anzusprechen. Merkwärdig ist ferner ein zweites: Stark gefühlsbetonte Vorstellungen oder Impulse werden zumeist eher die Logik be- zwingen und überwertig werden, als dass sie zwar das Denken beherrschen, aber doch als unsinnige Fremdkörper isoliert im

and die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 879

Denken verhbarren und praktisch ohne Konsequenzen bleiben. So sind z. B. offenbar gerade solche Mord- und Selbstmordimpulse wie die eben erwähnten an und für sich von geringer Intensität. Anders aber steht es da, wo zwangsmässige Hemmungen von Impalsen erfolgen, bei den Phobien also. Hier kann ersichtlich der Furchtaffekt wesentlich stärker sich gestalten, und gleichwohl können jene unschwer aus dem assoziativen Konnexe ausgeschaltet werden. Das rührt gewiss daher, dass bei solchen energieschwachen Naturen Unterlassungen und Hemmungen relativ leicht und ohne Mitwirkung logischer Motive zustande kommen. Umgekehrt müssten hei den aktiven Impulsen erst die natärlichen Hemmungen der Vernunft besiegt werden, und dazu bedürfte es erst der Selbst- überredung.

: Endlich noch ein drittes: Der Geltungszwang ist nicht ımmer vorhanden, so nicht bei der einfachen theoretischen Grübel- sucht, und ferner tritt er in manchen Formen erst sekundär hinzu, so gerade wieder bei den absurden Impulsen, bei vielen Kontrastvorstellungen der Verwünschung u. dergl. Hier findet sich jedenfalls urspränglich nur die abnorme Unverdrängbarkeit, an diese schliesst sich dann irgend eine Befürchtung an, ein Selbstvorwurf ete. Mag es sich aber um ein lästiges Phantasie- produkt, um eine primäre oder sekundäre Gefühlsbetonung oder auch nur um einen zweeklosen Zweifel handeln, immer. liegt das Wesen des Zwanges hier nicht in der Unverdrängbarkeit der Idee an sich, sondern in dem ÜUnvermögen, die Einheit des Denkens durchzusetzen, in dem unüberbrückten Widerstreite des logischen Ideenkreises und der sich aufdrängenden Vorstellung. Nicht um eine zweifelnde Diskussion, ein Für und Wider, sondern um einen Dualismus, ein Zugleichsetzen von Verneinung und Bejahung handelt os sich.

Deshalb sind denn auch die unechten Zwangsvorgänge von den eehten grundsätzlich zu trennen, obwohl sie in den kausalen Momenten vieles Gemeinsame haben; denn es ist eine wesentlich andere psychische Funktion, welche dort gestört ist. Kommt es zu unbegründetem Erröten, zu einer Hemmung des Schreibens, einem tioartigen Muskelkrampf, ja sogar einem halb- bewussten mechanischen Impuls, wie dem Schilderbuchstabieren, ferner einer sogenannten Zwangsempfindung, so treten diese alle hervor, ohne dass das reflektierende Ich zu einem direkten Ein- greifen dagegen befähigt wäre. Denn das gehört gar nicht zu ‘seinen Funktionen. Wohl aber beruht die ganze Störung einer- ‚seits wieder auf einer allgemeinen Herabsetzung der geistigen Energie (ähnlich etwa wie das starke Zusammenfahren bei poe- lichen Geräuschen) und ferner auf der ungewollten ängstlichen Spannung der Personen, welche gleichfalls unbewusst und auto- suggestiv das Auftauchen jener lästigen Erscheinungen befördert. Ausserdem hemmt geradezu, wie Pick dargelegt hat, die absicht- liche Lenkung der Aufmerksamkeit auf Mechanismen. wie die des Schreibens, Schluckens und Urinierens, deren richtigen Ablauf. In allen solchen Fällen finden wir somit zwar wieder die Eigen- ‚schaft der abnormen Uuverdrängbarkeit, aber man erkennt, wie

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380 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

wenig jene Symptome mit dem physischen Zwange auf. dem Ge- biete der Intelligenzvorgänge zu tun haben.

Soweit die Zusammenfassung unserer Ausführungen über die empirische Definition der Zwangsgebilde. Was ist damit erreicht worden? Definitionen verfolgen einen praktischen und dabei doppelten Zweck: sie sollen eine Reihe von Tatsachen in Zusammenhang bringen und eine einfache diagnostisch brauch- bare Formel oder Inhaltsangabe für jene liefern. Beide Aufgaben entspringen systematischen und einigermassen willkürlich zu be- stimmenden Bedürfnissen; doch stellt sich in der Entwicklung jeder Lehre eine allgemein angenommene Uebung her, von welcher man nicht ohne Notabweichen wird. Eine solche Notwendigkeit aber sollte im gegenwärtigen Falle bestehen und zwar deshalb, weil erstens die Aerztezu Verschiedenartigesmitdem gleichen Kenn worte des Zwangs- vorganges zu bezeichnen pflegten, und dann, weil man im Laufe

-der Zeit einen immer laxeren und undeutlicheren Generalbegriff

sich halb unbewusst zurechtgelegt hatte, in welchem nur der Tatbestand irgend eines Zwanges oder Dranges bei psychischen Vorgängen das Massgebende zu sein schien. So war das Streben nach Klarheit über Inhalt und Umfang des Begriffes zum eigent- lichen Erfordernisse in der ganzen Lehre’ geworden; aber keine der beiden bisher versuchten extremen Lösungen konnte be- friedigen, weder diejenige, welche mit Löwenfeld die laxe Uebung anerkannte und zu systematisieren trachtete, noch das Vorgehen von Hoche und Bumke, welche sämtliche Er- weiterungen des Begriffes, den Westphal vor Jahr und Tag am Anfange unserer Erkenntnis gebildet hatte, zu streichen vor- schlugen.

Ich selbst nahm nun an, vorgeschwebt habe allen derjenige Begriff des Zwangsvorganges, wo der Zwang ein vom Subjekte klar empfundener ist. und wo er zugleich das Wesentliche!) des

anzen abnormen Vorganges darstellt. Damit werden sowohl die Gebilde ausgeschlossen, welche wesentlich mehr enthalten, nämlich zugleich eine logische Ueberwertigkeit, und diejenigen, welche wesentlich darunter bleiben, indem sie nur einen halbbewussten oder unbewussten Drang oder Trieb oder gar nur eine isoliert stehende psychische Abnormität überhaupt darstellen.

Wird nun das Gebilde so bestimmt, wie eben besprochen, dann erkennt man, dass darin ein im Prinzip gleichartiger und etwas komplizierter geistiger Prozess steckt. Eine wirkliche Klarheit wird aber auch dann nicht erreicht, wenn man nicht die psychologische Bedeutung, die Pathogenese, kurz die psycho- ogischen Grundlagen des Vorganges ermitteln kann. Und nun war zu fragen, ob eine solche Untersuchung in der Tat auf so grosse Schwierigkeiten und Dunkelheiten stösst, wie man das heute noch herkömmlich darzustellen pflegt. Zwei allgemeinere

ı) Westphal selbst hielt das primäre Ergriffensein des Vor- stellungselementes für das Wesentliche (gegenüber den primären Er- krankungen des Affektes). So lautet heute das Problem nicht mehr, wenigstens für uns. Wir fragen, wie das Subjekt reagiert auf betonte Vorstellungen, ob aktiv in Form der Ueberwertigkeit oder passiv in Form des Zwangsdenkens.

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 381

Grundsätze waren hier leitend für mich: selbstverständlich war nach dem Grundsatze der wissenschaftlichen Oekonomie zu verfahren, d. h. es war nicht mehr bei den Erklärungen voraus- zusetzen bezüglich einer psychischen Abnormität, als gerade für diesen Zweck erforderlich war. Lag beispielsweise eine Störung der Aufmerksamkeit vor, so war es unnötig, dann gleich von einer Schwäche des Willens zu sprechen; werden geringwertige mechanische Assoziationen nach Kontrast, nach Gleichzeitigkeit ın kausale Beziehungen gebracht, so braucht man nicht eine all- gemeine assoziative Störung anzunehmen, denn es zeigt sich, dass meistens nur die überlange im Bewusstsein festgehaltenen Vor- stellungen so umgestaltet werden von den Patienten. Zweitens hat es sich ergeben, dass es nicht irgendwie einen wesentlichen Vorteil bietet, wenn man eine bestimmte psychologische Theorie, ein bestimmtes System, und insbesondere Ins Wundtsche, den Erklärungen zugrunde legt. Man kann der Kürze wegen, wie ich es früher getan habe, von den „apperzeptiven Funktionen“ sprechen; aber auch das ist entbehrlich. Die Tatsache, dass eıne Lenkung der Aufmerksamkeit stattfindet, steht als solche fest, unabhängig von der Deutung dieser Leistung, und weiter ist es Sache der Beobachtung, dass wir die Fähigkeit besitzen, eine Vorstellung oder einen Impuls zu betonen oder abzulehnen. Dass indessen diesen Leistungen keine absolute Macht gegeben ist, das lehrt gerade am unzweideutigsten die Existenz der Zwangs- vorgänge.

Es beruht nämlich das ganze Gebilde auf normalen Eigenschaften der Psyche, und es sind diese wiederum von zweifacher Art: einmal übt die stärkere Gefühlsbetonung einen gewissen bestechenden Einfluss auf die Urteilsbildung aus, und zweitens hält ein peinlicher Affekt sowie der Tatbestand der logi- schen Unabgeschlossenheit die Vorstellungen im Bewusstsein fest; am stärksten aber geschieht dies, wenn diese beiden Momente in der Gestalt einer Befürchtung, eines Bedenkens oder einer pein- lichen Erwartung zusammen vereinigt auftreten. So resultiert die normale Zwangsvorstellung.

Die klinische Erfahrung nun gibt uns keinen Anlass, die krankbaften Zwangsvorgänge anders aufzufassen denn als eine pathologische Steigerung jener normalen Verhältnisse. Es gibt eine nicht unerhebliche Anzahl derartiger Vorkommnisse, wo wir in der Hauptsache nur eine Erhöhung der peinlichen Gefühls- betonung wahrnehmen, so z. B. wenn Personen, die im Vollbesitze ihrer geistigen Fähigkeiten sich befinden, lediglich infolge einer ‚nervösen Erregtheit oder einer ängstlich unruhigen Verstimmung ‚sich zwangsmässig übertriebene Skrupel machen müssen, etwa jemanden gekränkt zu haben, einem Entschlusse vorschnell gefolgt . zu sein; oder wenn solche Personen, die auf der Höhe ihrer Be- rufsleistungen stehen, einer plötzlichen Krankheitsfurcht erliegen, eine Scheu, in’s Theater zu gehen, zu ihrem eigenen Aerger nicht überwinden können; oder endlich, wenn die gleichen Personen einer übermässig empfundenen Ekelvorstellung sich in keiner Weise zu entziehen vermögen.

Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hett 4. 25

382 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

Zahlreich aber sind auch die Gründe, welche uns lehren, dass diese einfachste Deutung in vielen anderen Fällen nicht ge- nügen kann. Es wäre schon irrtümlich, zu glauben, dass in jenen erstgenannten Fällen nur das aktive Moment der gesteigerten Gefühlsbetonung in Wirksamkeit getreten sei. Die passiven Momente waren selbstverständlich da, nur hat sich deren Intensität nicht über die Breite dessen erhoben, was noch in der Norm vor- kommt. Da hier überall der ausgesprochene Wille sich geltend macht, sich von den zwangsmässigen Vorstellungen zu befreien, und da wir voraussetzten, dass jedesmal die Einsicht bei dem Patienten existierte, dass seine Bedenken weit übertriebene seien, so war ein Defekt an Kraft vorhanden, jene überstark pein- lichen Vorstellungen aus dem Bewusstsein zu entfernen und ihre übertriebene Schätzung wirksam zu überwinden.

Den wahrsten und den wirklich eigenartigen Typus des Zwangsgebildes treffen wir indessen bei der soeben geschilderten einfachsten Kategorie nicht. Diese letztere entfernt sich nicht sehr von dem noch halb normalen Erzeugnisse der Phantasie, das wir als Einbildung charakteristisch benennen. Erst die künstlich aus dem Nichts hervorgeholten Schreckgespenster und das Zurück- weichen der Energie vor sinnlosen Impulsen und Phobien birgt jene Rätsel der psychischen Kräfte in sıch, welche den Scharfsinn der Forscher so oft herausgefordert haben. Es klingt freilich sonderbar, wenn eine sonst verständige Dame, welche vorher nie von dem Sadisten Diebold nur gehört hatte, bald nach dem allgemein aufregenden Prozesse keine Ruhe mehr findet in und vor dem Gedanken, sie selbst hätte die Untaten verhindern müssen. Und doch bedarf es zur Erklärung nur zweier Momente, welche beide als Tatsachen, wenn nicht in diesem einen, so doch in zahlreichen ähnlichen Fällen zu erweisen sind: erstlich des Bestehens einer primär geminderten Energie in der Lenkung der Aufmerksamkeit und zweitens des Bestehens eines eigen- artigen logischen Verhaltens; es existiert nämlich bei solchen, sozusagen für die Logik und die Phantasie inkommensurablen Werten kein wirkliches gegenseitiges Bekämpfen, sondern ein abwechselndes Auftauchen bald des einen, bald des anderen Wertes, also kein Widerstreit oder Zweifel, sondern ein Wett- streit. Das ist aber keineswegs etwas Ungewöhnliches an sich, vielmehr besitzen wir die normalen Vorbilder in der Wirksamkeit sogen. Ahnungen und in dem dogmatischen Glauben überhaupt bei logisch sonst kritischen Personen (sogen. „doppelte Buch- führung“ des Geistes).

Wie das abnorme Festgehaltenwerden peinlicher Vor- stellungen wirkt, haben wir an vielen Beispielen Früher erläutert; ich muss noch einmal darauf abheben: Ein junges Mädchen muss sich infolge solcher Hemmungen mit Irrtumsangst quälen; unter den vielen so entstehenden Phantasiebildern findet sich eines, das sie besonders erschreckt und das deshalb wieder besonders fixiert wird, das ist die Idee: „Am Ende machst du lieber absichtlich einen Fehler“. Eine Dame muss über die Massen und für ihr eigenes Urteil lächerlich sich um ihre Angehörigen sorgen; so

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 383

kommt unter manchen Phantasieschrecken derjenige: „Dann soll lieber einmal etwas Richtiges passieren.“ Dieser wird gerade wegen seiner Peinlichkeit festgehalten, und daran schliesst sich nochmals die Ahnung an: „Durch deinen schändlichen Wunsch hast du das Unglück herausgefordert“. Jener oft zitierte Kaufmann erschrak über die Möglichkeit, dass sein höflicher Wunsch als Anerbieten einer Schenkung gedeutet werden könne. Von dieser Idee kommt er nicht mehr los, sie bleibt fixiert im Wettstreite mit der gleichzeitigen logischen Einsicht, dass die Idee töricht sei.

Was ist nun Konstruktion, und was ist Tatsache in dieser Theorie? Konstruktion ist nur, dass wir die wenigen Bausteine, um die es sich handelt, bald da, bald dort nur einzeln nach- weisen können, sie aber dann zu einem verständlichen Vorgange zusamınenfügen, indem wir die Lücken aus den einzelnen Fällen gegenseitig sich ergänzen lassen. Die primäre Hemmung der Aufmerksamkeit ist nicht jedesmal erweisbar, so z. B. nicht in dem zuletzt erwähnten Beispiele; wie wir hörten, brauchen wir sie auch nur in den mehr absonderlichen Ideen anzunehmen. Die Voraussetzung, dass infolge der Fixation einer peinlichen Vor- stellung allerlei schlimme Bilder auftauchen, von welchen gerade die festgehalten werden, welche einen Selbstvorwurf oder eine Befärchtung enthalten, lässt sich gleichfalls nur als sehr plausibel hinstellen. Als Beweisgrund aber liess sich geltend machen, dass eine ganze Anzahl verschiedener solcher Schrullen immer wieder so entstand, dass eine Grundvorstellung nachweisbar aus äusseren oder inneren Anlässen fixiert war.

Der weitaus wichtigste Lehrsatz aber betrifft die Annahme, dass die Energie der Aufmerksamkeitslenkung primär gehemmt ist in zahlreichen Fällen, und dafür sind brauchbare Beweise aus der klinischen Beobachtung zu entnehmen: erstlich bedürfen die Zwangsgebilde nicht der Widerlegung, wohl aber der Gegensuggestion aus fremdem Munde, und das ist nur erklärlich durch das eigene Defizit an Energie des Denkens; üäberwertige Ideen sind höchstens zu widerlegen, aber nicht wegzusuggerieren. Als Experiment im gleichen Sinne war der befreiende Einfluss des Alkohols zu nennen, denn er schwächt in kleiner Dosis (die schon wirkt) nicht die Phantasie, wohl aber die Hemmungen. Eine dritte Tatsache ist die Minderung des Geltungsgefühles, welche den Skrupeln und der Irrtumsfurcht zugrunde liegt, und auch sie entspringt direkt der geschwächten Energie in der Führung und Abschliessung von geistigen Operationen (z. B. Rechnungen); aber wir beobachten ja auch unmittelbar gleichsam in statu nascendi dieses mangelnde Geltungsgefühl, wenn die Kranken sich unaufhörlich in dem gleichen Zirkel zwischen Bejahung und Verneinung drehen bei Dingen, welche sie in ruhigen Zeiten sofort erledigen können. Auch der Umstand, dass namentlich die nervöse Abspannung, z. B. bei Juristen, Anlass zu solcher Irrtumsfurcht gibt, ist als fernerer Beweisgrund zu unterstellen. Von der entgegengesetzten Seite her erblicken wir den Nachlass der geistigen Spannkraft, wenn wir die Schlaffheit

25%

384 Friedmann, Ueber die Abgrenzung

der Zügel "gegen törichte Triebe und gegen zornige Ausbrüche, bei den gleichen Patienten wahrnehmen; denn es ist ja die Steuerung des geistigen Geschehens, welche Not gelitten hat. Am meisten aber sind von jeher die Beobachtungen ins Auge gefallen, wo wir eine völlige Anarchie erblicken bei gewissen degenerierten Naturen, und zwar nicht etwa ein wildes „disso- zuertes“ Auseinanderreissen der Gedanken, sondern einfach nicht mehr und nicht weniger als Ersetzung der willkürlichen Kon- zentration der Aufmerksamkeit durch die unwillkürliche, und zwar hauptsächlich wieder bei allen möglichen peinlichen Skrupeln und Einfällen, also infolge von Gefühlsbetonungen und Zweifeln. Und wieder ist es bezeichnend bei diesen reinsten Gestaltungen des klebenden Denkens, dass nicht das Gefühl, nicht die Suggestibilität besonders gesteigert ist; vielmehr stossen wir auf ein förmlich pedantisches Wühlen und Grübeln. Die Personen suchen direkt die absonderlichsten Kombinationen, weil ihr eigener Intellekt ihnen bei solchen am wenigsten im Wege ıst. Bekanntlich ıst der absolute Unsinn schwerer zu widerlegen als ein Fehlschluss, weil die Anknüpfungspunkte für den Gegen- beweis fehlen; wie soll z. B. die letzte Spur von Möglichkeit widerlegt werden, dass auf dem Aborte noch lebensfähiges Sperma zu weiblichen Genitalien gelange? Oder dass einer mit dem Schirme dem Hintermanne die Augen verletzt habe, während die Tragweite dieser Verletzung erst nachträglich zum Vorschein kommt, so dass der Betroffene zunächst stille schwieg?

Das Verzeichnis der tatsächlichen Beweisgründe ist damit noch keineswegs erschöpft, aber sie werden genügen, zu zeigen, dass das rein deduktive Element in der ganzen genetischen Theorie nicht etwa überwiegend ist, sondern eher zurücktritt. Seit Menschen denken, hat man gesehen, dass Spuren einer göttlichen Regierung der Logik kaum zugänglich sind, und dennoch hat man daran aus Gefühlsgründen, wegen ethischer Werte fort und fort „geglaubt“. Unsere erste hauptsächliche Deduktion ist, dass wir diese Analogie auf die Zwangsgebilde übertragen haben, und die zweite Deduk- tion, dass wir die nachweisbar vorhandene Hemmung bei der Lenkung der Gedanken und die tatsächliche Steigerung der Affekte bei der nervösen Erregtheit weiter als Erklärungsmomente ver- wertet hatten. Wir begreifen dadurch den Zwangskurs logisch unterwertiger Vorstellungen. Nur aus der Scheu vor psycho- logischer Analyse und aus der mehr formalen, aber stark in die Augen fallenden Verschiedenheit der zahlreichen bisher verlaut- barten Theorien, endlich aus der seitherigen Unsicherheit der ganzen Lehre überhaupt kann ich es verstehen, wenn der wissen- schaftliche Ruf die Zwangsgebilde bisher als besonders schwer erklärlich bezeichnet hat. Denn schliesslich ist die ganze Theorie weiter nichts als die Annahme, dass die beiden Faktoren, welche schon das normale Zwangsdenken bedingen, bei den krankhaften Formen ebenfalls wirksam sind und nur in ihrer Intensität ge- steigert sind.

Wenn also aus der Steigerung einer normalmässigen Un- vollkommenheit der regulierenden Kräfte im Denken sich die

und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 385

pathologischen Zwangsvorgänge erklären, so sind doch die Be- dingungen, aus welchen diese Steigerung hervorgeht, verschieden- artige, und es erscheint zweckmässig, jetzt am Schlusse nochmals die differenten genetischen Formen der Zwangsvorgänge in diesem Sinne zusammenzustellen: 1. Die einfachste Form war die, wo nur der Gefühlston der Zwangsvorstellung erhöht war, und zwar infolge einer eingetretenen nervösen Aufgeregtheit. Die vorhandenen nervösen Beschwerden oder ein besonderes shockartig wirkendes Vorkommnis wirken mit Hülfe von Angstgefühlen auf die Phantasie und erregen zwangsmässige Befürchtungen und Hemmungsphobien, welche zu stark sind, als dass sie noch ohne weiteres überwunden werden könnten. Eigenartig wirkt 2. ein besonderer selbstquälerischer Zug innerhalb der periodischen Anfälle der Cyklothymie; die krankhafte Verstimmung sucht sich Skrupel förmlich heraus, welche durch die Vernunft nicht ohne weiteres völlig zu widerlegen sind, und klammert sich an sie. Der Zug der Unschlüssigkeit im Denken, welcher gleich- zeitig dem Zustande anhaftet, hilft dabei erheblich mit. Am häufigsten aber 3. ist das Verhalten so, das eine nervöse Auf- regung bei einem spezifisch prädisponierten Naturelle aus- bricht, welchem von Hause aus die energische Bestimmtheit im Denken und Tun fehlt und das zu einer ängstlichen Pedanterie an und für sich neigt. Daraus, dass eben diese Kombination am leichtesten Zwangsvorgänge erzeugt, erklärt es sich einerseits, dass die letzteren hauptsächlich in der Neurasthenie der erblich Belasteten auftreten und dass andererseits auch bei den meisten Neuropathen die Zwangszustände doch nur in bestimmten Perioden . sich einzustellen pflegen. Uebrigens kann auch die akute nervöse Erschöpfung in ganz ähnlicher Weise die Energie der Denk- und Willenstätigkeit lähmen und so eine passagere Skrupelsucht erzeugen. An die letzte Stelle sind 4. die schwer degenerativen, erblich übertragenen Naturelle zu setzen, welche ihr ganzes Leben lang oder doch den grössten Teil desselben unter der Herr- schaft starker Zwangsvorgänge stehen, und wo die Störung in der Regulation des geistigen Betätigens eine so elementare und tief- greifende ist, dass auch die ganz schwach oder überhaupt nicht gefühlsbetonten Vorstellungen und Triebe sich ungehindert hervordrängen können, und wo daher ein fortdauerndes Kleben an kleinlichen Grübeleien und an phantastischen Grillen stattfindet. Aus solchen Personen hauptsächlich rekrutiert sich die „Zwangs- ıdeenkrankheit“ und der „primordiale Grübelzwang“.

Bezüglich einer symptomatischen Einteilung der Zwangs- vorgänge scheint mir um das noch kurz anzufügen heute am zweckmässigsten zu sein diejenige in: 1. Zwangsvorstellungen [a) einfache Zwangsvorstellungen, b) Zwangsskrupel und Irrtums- furcht, c) Fragezwang], 2. Zwangsimpulse und 3. zwangsmässige Impulshemmungen oder Phobien. Als unechte Zwangsvorgänge wären anhangsweise die vielfachen anderweitigen Aeusserungen der unzulänglichen Regulation des Handelns und Denkens an- zuschliessen, so die Errötungsimpulse, die Hemmungen des

386 Friedmann, Ueber die Abgrenzung etc.

Schreibens, Schluckens, Urinierens etc., die Uebertreibungssuchten, das zwangsmässige Phantasiedenken (rêverie forcée), die mecha- nischen Triebe zum Schilderbuchstabieren, Schrittezählen etc., Zwangserinnerungen an Verse und Melodien etc.

Ich möchte nicht schliessen, ohne eine Anwendung des gewonnenen Resultates mit einem Worte anzudeuten bezüglich einer wichtigen Spezialfrage in der Lehre. Wie steht es mit den Uebergängen in schwerere psychische Zustände? Zu unter- scheiden sind die Uebergänge, welche bestehen und welche kommen. Die ersteren, das wissen wir schon, sind selbst- verständlich da. Die Abgrenzung gegen die überwertige Idee ist keine strenge, sondern ist nur für die Ueberzahl der Fälle glatt durchfährbar. So munches Gebilde liegt aber in der Mitte mit Rücksicht auf das zweifelhafte Verhalten des logischen Denkens. - Bei vielen Skrupeln, bei vielen Beachtungsideen schwankt der Patient, er ist sich auch logisch nicht klar, reflektiert eingehender über die Sache, hält die Idee bald für gut begründet, bald für schwach begründet! Das sind dann entweder überhaupt normale psychische Prozesse oder aber die sogenannten mobilen Wahn- ıdeen. Jenes Abwechseln von Glauben und Nichtglauben ist aber offenbar an sich etwas wesentlich anderes als der dauernde Wettstreit zwischen Glauben und Logik; es fehlt aber auch die eigentümliche Schwächlichkeit in dem ganzen Verhalten, das für die Zwangsgebilde so bezeichnend ist. Der Wahnglaube ist, wenn er da ist, entweder kräftig, oder er ist überwunden.

Verwandeln sich Zwangsideen in Wahnideen? Das ist nur möglich, wenn sich der ganze psychische Zustand bei dem Patienten ändert, denn aus ihm, nicht aus dem Inhalte des Gebildes resultiert die Zwangsvorstellung. Nun sind aber unsere Patienten aus ganz anderem Holze geschnitzt als die Paranoiker und die Personen mit überwertigen Ideen. Jene sind unenergisch, die Affekte sind oberflächlich, ihre Logik zwar oft scharf kritisch, aber un- entschlossen. Gerade das Gegenstück sind die Paranoiker, sie sind leidenschaftlich, vorschnell und eigensinnig verbohrt. So sind Uebergänge zur Paranoia und zu analogen Krankheiten kaum anzunehmen, eher kann eine nervöse Erregtheit in Melancholie übergehen und dann auch die Zwangsidee zur melancholischen Wahnidee werden. Auch kommen leichte Zwangsideen neben leichten überwertigen Ideen vor. Wo aber die charakteristische Unzulänglichkeit und Schwächung in der Energie des Ent- schliessens ausgeprägt vorhanden und gar angeboren ist, da sind auch die fraglichen Uebergänge nicht wohl denkbar, und in den in der Literatur vorhandenen Fällen wird es sich in der Regel um Verwechselungen mit den überwertigen Ideen gehandelt haben, und zwar schon beim ersten Stadium der Erkrankung.

Ist einmal der Begriff der Zwangsgebilde geklärt, so werden hoffentlich auch die zahlreichen anderen Fragen in der Lehre, welche in dieser Arbeit nicht einmal genannt wurden, der Lösung näher kommen.

Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. Von

Dr. OTTO VERAGUTH, Privatdozent für Neurologie an der Universität Zürich.

I. Bericht.

Wenn man eine galvanische Batterie von niederer, innerhalb bestimmter Grenzen gehaltener, konstanter Spannung leitend ver- bindet einerseits mit einem Drehspulengalvanometer und anderer- seits mit dem menschlichen Körper in bestimmter Kontaktanordnung, so zeigt nach der Schliessung dieser Stromkette der Spiegel des Galvanometers kurzdauernde grössere und kleinere Schwankungen verschiedener Art und Herkunft. Es sind als Grundtypen von solchen Galvanometerbewegungen leicht zu unterscheiden:

1. Einstellungs- Schwankungen des Spiegels beim Ketten- schluss;

2. Schwankungen, die hervorgerufen werden, wenn der Kontakt zwischen den Elektroden und dem Körper der Versuchs- person willkärlich geändert wird;

3. Schwankungen, die nach Ablauf der Einstellungs- Schwankungen und bei Vermeidung jeglicher willkürlichen Ver- änderung des Kontaktes zwischen Elektroden und Körper durch endosomatische Vorgänge in der eingeschalteten Ver- suchsperson verursacht werden.

Die unter 1 und 2 genannten Schwankungen treten gleich- zeitig mit der Ursache auf. Sie erklären dadurch diese zu einer physikalischen. Die unter 3 angeführten Schwankungen dagegen haben, bei aller Verschiedenheit der sie hervorrufenden endosomatischen Vorgänge, als gemeinschaftliches Merkmal die Eigentümlichkeit, erst nach einer Latenzperiode bis zu mehreren Sekunden nach dem Moment des verursachenden Vorganges auf- zutreten. Schon hierdurch deklarieren sie sich zum Ausdruck physiologischer Vorgänge.

Die folgenden Zeilen enthalten Berichte, welche diesem Phänomen gegolten haben.

Es sei gestattet, für dasselbe den Namen „psychophysisches galvanisches Reflex-Phänomen“ abgekürzt: „psycho-galvani- scher Reflex (p. g. R.)“ vorzuschlagen.

Reflex-Phänomen deswegen, weil, was durch die Spiegel- bewegung manifest wird, eine den bisher bekannten Reflexen

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXL Helt 6. 26

388 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

analoge Erscheinung ist. Denn die notwendigen Bedingungen zu seinem Zustandekommen bestehen in einem Reiz, einem Aus- lösungsvorgang und einer zentrifugalen Aeusserung. Zwischen dem Zeitpunkt des Reizes und dem der Aeusserung liegt die Latenz- eriode. P Psychophysisches Reflex-Phänomen deswegen, weil, wie unten zu zeigen sein wird, eine Mitbeteiligung psychischer Instanzen zum Zustandekommen des Phänomens vorausgesetzt werden muss.

Galvanisches Reflexz-Phänomen deswegen, weil zur Sicht- barmachung des zentrifugalen Vorganges der galvanische Strom in messbarer Anordnung notwendig ist.

Zur Geschichte der psycho-physischen Messungen mittels des Galvanometers mögen die folgenden Notizen von Interesse sein.

Im Jahre 1890 publizierte Tarchanoff in Pflügeers Archiv!) einen Aufsatz „Ueber die galvanıschen Erscheinungen in der Haut des Menschen bei Reizungen der Sinnesorgane und bei verschiedenen Formen der psychischen Tätigkeit“. Dieser „vorläufigen Mitteilung“ hat der gleiche Autor eine weitere Ausführung des Themas nicht folgen lassen. Sie scheint denn auch in der Folgezeit völlig unbeachtet geblieben zu sein: wir begegnen ihrer Erwähnung nirgends in der einschlägigen Literatur der nächstfolgenden Jahre.

Das gleiche Schicksal erfuhr offenbar eine Arbeit Stickers?) über eine Wiederaufnahme, Nachprüfung, teilweise Bestätigung und teilweisen weiteren Ausbau der Tarchanoffschen Versuche, aus dem Jahre 1897. Auch die Würdigung dieser Forschungs- resultate sucht man vergebens in der Literatur bis zum Jahre 1902, wo Sommer?) ım Anschluss an die Tarchanoff-Stickerschen Versuche die Entstehung und Messung von galvanischen Strömen bei Berührung metallisch verbundener Elektroden untersuchte.

Unabhängig von diesen Arbeiten weil ohne Kenntnis derselben (sie sind mir erst nach Abschluss meiner grundlegenden Experimentenreihe, zum Teil im Winter 1905/06, zum Teil im Sommer 1906, zu Gesicht gekommen) habe ich im Jahre 1904 Untersuchungen über das psycho-galvanische Reflex-Phänomen begonnen und seither weitergeführt, deren Ergebnisse mit den Tarchanoff-Stickerschen Resultaten nach der phänomenologi- schen Seite im ganzen parallel, nach der genetischen Seite aber divergent laufen.

Ich bin veranlasst, Wert darauf legen zu müssen, dem Leser die

Umstände zu schildern, unter denen ich das psycho-galvanische Reflex- phänomen kennen gelernt habe.

Im Frühling 1904 stellte Herr Ingenieur E.K. Müller in Zürich Ver- suche an „über die Aenderung des Körperleitungswiderstandes gegen den galvanischen Strom“, um zu prüfen, ob sich Wirkungen des von ihm er-

ı) Pflügers Archiv. Bd. 49. '

23) Wiener klinische Rundschau. 25. VI. 97.

3) Beiträge zur psychiatrischen Klinik. Wien 1902. Zitiert nach Sommer. Münchner medizinische Wochenschrift. 1905. No. 51.

Veraguth, Das psycho-galvunische Reflex-Phänomen. 389

fundenen elektromagnetischen Radiators auf den L. W. objektiv nachweisen liessen. Dabei bediente er sich zu seinenVorversuchen einer im Prinzip gleichen Methode, wie sie unten beschrieben ist, soweit die Stromkreisteile in Betracht kommen’). Nachdem er schon eine grosse Menge präliminarer Experimente über die allgemeinen Variabilitäten des Galvanometerausschlages bei Ein- schaltung des menschlichen Körpers nach Individuen, Elektroden, Wahl der Applikationsstellen ohne gleichzeitige Einwirkung des magnetischen Wechselfeldes mit dieser Methode gemacht hatte, lud er mich im Frühjahr 1904 ein, von diesen seinen damaligen Resultaten mich selbst zu überzeugen und mich über dieselben zu äussern. Hierbei teilte er mir auch mit, es sei ihm, besonders wenn er Experimentator und Versuchsperson zugleich gewesen sei, aufgefallen, dass öfters Vorgänge in der Umgebung, sowie solche im Körper der Versuchsperson (wie z. B. Herzklopfen) kurzdauernde Aenderungen der Spiegelstellung hervorrufen, nnd sprach die Vermutung aus, es könnte hier eine psychische Einwirkung auf den L. W. vorliegen. Meinen aprioristi- schen Einwand, dass wohl bei den Spiegelschwankungen eines so empfind- lichen Galvanometers (wie des von ihm gebrauchten Kontaktänderungen zwischen Elektrode und Hand die Hauptrolle spielen dürften, musste ich sofort fallen lassen, sobald ich mich selber für einen kurzen Versuch mit und ohne willkürliche Kontaktänderung als Versuchsperson eingespannt hatte und nun sah, dass willkürliche Verkleinerung der Kontaktfläche klar koinzidierende Minusschwankungen des Spiegels hervorrief, die mit den mir damals noch unverständlichen anderweitigen Öszillationen kaum etwas zu tun haben konnten. Ich fragte mich also, ob nicht bei dieser Versuchsanordnung auch abgesehen von den in der Elektrodiagnostik längst beschriebenen Anfangsschwankungen des L. W. möglicherweise ein mir wenigstens nicht bekannter physiologischer Vorgang, eventuell mit einer psychischen Komponente, zum Ausdruck gelange der Gedanke an die Vasomotoren und an Analogien zu Plethysmo- und Sphygmographen-Versuchen lag nahe und ob gegebenfalls hierfür ein unabweisliches Kriterium in den mannig- fachen Bewegungen des Spiegels selbst zu finden sei. Von dieser Frage- stellung ausgehend, nahm ich deshalb noch am gleichen Abend an Herrn Müllers Apparaten Versuche mit einer anderen geeigneten Versuchsperson vor, indem ich ihr, während sie in den Stromkreis eingeschaltet war, sen- surische Reize una nachher einen psychischen Reiz durch verbale Erweckun eines stark betonten Unlustgefühls applizierte. Was.ich nun sah, war freilic scharfer Beweis für ein psychophysisches Phänomen: Es zeigte sich ein von allen anderen Schwankungen des Galvanometers durch eine vorgängige Latenzperiode ausgezeichneter Spiegelausschlag nach A ikation des Reizes. Da mir auf Grund dieser Tatsache von diesem Momente an die psychophysische Natur des eben beobachteten Phänomens sicher erwiesen war, stellte ich mir die Aufgabe, selbst diesen Erscheinungen durch eigene Untersuchungen nachzugehen. Ich habe solche dann 1904 bei mir zu Hause begonnen und seither weitergeführt ?).

Herrn Müller machte ich von meiner Ueberzeugung, dass und warum unter den Schwankungen, die ich bei diesem entscheidenden Versuch be- obachtet hatte, auch solche seien, die das Korrelat psychophysischer Vor- gänge sein müssten, sofort Mitteilung. Soweit ich unterrichtet bin, ist über die diesem Gespräch vorangegangenen und an dieses sich anschliessenden eigenen Beobachtungen des Herrn Müller in naturwissenschaftlichen und

') Es wird deshalb in diesen Berichten von einer Müllerschen An- ordnung („Anordnung M“)im Gegensatz zu den Versuchsmethoden Tarchanoff- Sticker („Anordnung TS“) und Sommer-Fürstenau („Anordnung SF“) geredet werden.

s) Das Instrumentarium, das icb 1904 und 1905 benutzte, habe ich vom eidgenössischen Geniebureau leihweise erhalten. Es ist mir eine angenehme Pflicht, hier dieser Behörde meinen Dank für die Ueberlassung der Apparate auszudrücken. Seit Anfang 1906 arbeite ich mit eigenem Instrumentarium von Carpentier in Paris und Zulauf & Co. in Zürich.

26°

——— - --—-

390 Veraguth, Das psycho-galvanische Refex-Phänomen.

Tagesblättern referiert worden!). An den weiteren Interpretationen und Schlüssen in den Referaten des Herrn Müller habe ich keinerlei Anteil und bin deshalb im Fall,jegliche Verantwortung für die daselbst niedergelegten Ideen medizinischer und elektro- logischer Natur abzulehnen.

Ich verweise ausdrücklich auf das untenstehende Literaturverzeichnis, um hierdurch eine reinliche Scheidung jener Arbeiten und meiner eigenen Untersuchungen dem Leser, der sich dafür interessieren sollte, zu ermöglichen.

Diese geschichtliche Notiz schliesse ich mit dem Résumé, dass Herr Müller das klare Verdienst hat, eine Form der technischen Vorbedingungen für das Sichtbarwerden des psycho-galvanischen Reflex-Phänomens gefunden und durch seine ersten Versuche der Erkenntnis vorgearbeitet zu haben, dass hier, abseits von den alten Untersuchungen über den L. W. des Körpers, ein interessantes psychophysisches Phänomen wissenschaftlich studiert wer- den könne.

Die Gelegenheit, das psycho-galvanische Reflex-Phänomen als solches zu erkennen, verdanke ich Gechalb, soweit die materiellen Bedingungen in Betracht fallen, Herrn Müllers Einladung, mich über seine ersten Versuche vom Frühjahr 1904 zu äussern.

Meine erste Mitteilung über die bisherigen Versuchsergeb- nisse vor einem wissenschaftlichen Kreise geschah im März 1906 in der psychiatrisch-neurologischen Gesellschaft Zürich.

Veröffentlichungen anderer als der oben zitierten Autoren über das gleiche Gebiet sind mir bislang nicht bekannt geworden.?) Ueber die mit dem p. g. R. in Kontakt stehenden neuerlichen Arbeiten von Sommer’) und Fürstenau?) sowie über die Tarchanoff-Stickerschen Untersuchungen wird in anderem Zusammenhang ausführlich referiert werden.

Versuehsanordnung.

Die in diesem ersten Berichte beschriebenen Versuche sind mit Apparaten und nach einer Methode ausgeführt worden, wie sie im folgenden skizziert werden sollen. Abweichungen von dieser Versuchsanordnung („Anordnung M“), wie sie bei Experimenten

1) Compte rendu de la société helvétique des sciences naturelles. Sept. 1904. Physikal.-mediz. Monatsh. Sept. 1904. Schweiz. Bl. f. Elektro- technik, Nov. i904: „Ueber den Einfluss psychischer und physiologischer Vorgänge auf das elektrische Leitvermögen des Körpers“, nachher als Separat- abzug erschienen unter dem Titel: „Das elektrische Leitvermögen des menschlichen Körpers als Massstab für seine Nervosität“. Revue generale des Sciences. Paris 1905. Naturwissenschaftliche Rundschau. Jena 1905. American Review of Reviews. 1905. Neue Züricher Zeitung. Okt. 1905.

23) Herr Dozent Dr. C. Jung, Burghölzli-Zürich teilt mir mit, dass er gegenwärtig (Oktober 1906) Notizen über die von mir beschriebene experi- mentelle Verwertung des p. g. R. beim Assoziationsversuch zum Nachweis der Gefühlsreaktion, mit technischen Modifikationen, die er eingeführt hat, im Journal of abnormal psychology unter der Presse habe. lapardde, Archives de Psychologie, 1906, T. VI, und Della Valle, La face attuale della psicologia sperimentale ed il Congresso di Würzburg, Pavia 1906, ent- halten Referate (ersteres ein Autoreferat, letzteres einen kritischen Bericht) über meine Demonstration im April 1906 am II. Kongr. für experimentelle Psychologie in Würzburg,

3) Íoc. cit. Ferner: Neurol. Zentralblatt, 1905, No. 7; Zentralblatt f. Physiologie, 1906, No. 6; Klinik f. psych. u. nervöse Krankheiten.

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 891

vorgenommen werden, die später beschrieben werden, sollen dort in Kürze angeführt werden.

Als elektrische Batterie dienen 2 Leclanch&-Elemente, die, mit reiner Salmiaklösung hergestellt, ihre anfängliche Spannung von zirka 1,4 Volt nach anderweitigem Gebrauch verloren haben und für die Experimente erst benutzt werden, wenn sie die konstaute und von Zeit zu Zeit nachkontrollierte Dauerspannung von 1,2 Volt aufweisen. Die Gesamtspannung der Eiementenstromquelle beträgt somit 2,4 Volt. Aus später zu erörternden Gründen eignen sich wesentlich höhere Spannungen nicht zu den Versuchen. Experi- mente mit geringerer Spannung, z.B. mit 1 Element (1,2 Volt), geben weniger klare Resultate. Die beiden Elemente werden . hintereinander geschaltet, Kathode und Anode abgeleitet mittelst biegsamer, isolierter Kupferdrähte von !/; mm Durchmesser und einer Gesamtlänge von etwa 10 m.

Mit dem einen gleichgültig mit welchem Pol ist ver- bunden das Galvanometer. Als solches dient ein Spiegel- spulengalvanometer nach Deprez-d’Arsonval von Carpentier ın Paris. |

Das Prinzip dieses Instrumentes beruht darauf, dass die vom zu messenden Strome durchflossene Drahtspule beweglich, der Magnet aber fest ist. Zwischen den beiden Armen des Magneten ist ein Stahlzylinder angebracht, der den Zweck hat, die magnetischen Kraftlinien auf das Feld zwischen den Armen zu konzentrieren. Auf einem viereckigen, an einer Stelle durchbrochenen Rahmen ist die Drahtspule aufgewickelt; sie besteht aus Kupferdraht von bestimmter Dicke und Länge resp. Windungszahl. Dieser Rahmen ist in seiner Längsachse vertikal suspendiert durch Silberfäden von bestimmter Dicke, die den Strom zu- resp. ableiten, und zwar ist er so orientiert, dass er frei beweglich ist zwischen den Magnetarmen und dem Stahlzylinder. Die Drehungen der Drahtspule werden zu Messungszwecken sichtbar gemacht durch einen kleinen Spiegel, der am oberen Silberfaden lotrecht angebracht ist.

Dieses Galvanometer hat, wie jedes Spulengalvanometer, vor denjenigen anderer Konstruktion den Vorteil, dass die Spiegelschwankungen zufolge der starken magnetischen Dämpfung nur durch Ströme hervorgerufen werden, welche durch den zu messenden Stromkreis gehen und nicht auch durch Ströme in näherer und weiterer Umgebung (z. B. Tramleitungen auf der Grasse), den Erdmagnetismus oder durch mechanische Erschütterungen der

nterliage.

Diese Dämpfung ist abhängig vom Widerstand im Stromkreis. Sie nimmt mit demselhen zu.

Die Empfindlichkeit des Apparates hängt ab won der Dicke, Form und dem Material des Sus ensionafadens, der Länge der Drahtspule und dem Material und der Dicke des verwendeten Drahtes und dem eingeschalteten Widerstand.

Der Eigenwiderstand des Apparates ist abhängig von der Länge und Dicke der Spule und des Suspensionsfadens ; die Dauer des Spiegelausschlages bei Stromschluss hängt ab von den mechanischen Momenten der Suspension und dem Eigenwiderstand des Apparates.

Die Schnelligkeit, mit der bei geschlossener Kette die Spiegelbewegungen des Kettenschlusses aufhören, hängt ab von der Dauer des primären Spiegel- ausschlages und dem im Stromkreis eingeschalteten Widerstand (Dämpfung).

Als Nebenapparat zum Galvanometer kann eingeschaltet werden ein sogenannter Shunt, d.h. ein auf den Eigenwiderstand des Galvanometers geaichter Nebenschlusswiderstand.

392 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

Ist dieser Apparat eingeschaltet, so geht nur ein Teil des Stromkreises durch das Galvanometer, der andere aber durch den Shunt. Wie gross dieser abgezweigte Stromanteil sei, hängt ab von der Stöpselung des’ Shunt. Ist der Stöpselkontakt bei einer ersten Verbindung hergestellt, so geht der Strom kurzgeschlossen durch den Shunt, d. h. seine Wirkung auf das Galvano- meter ist annähernd Null. Ist der Kontakt dagegen bei der zweiten Ver- bindungsstelle eingeschaltet (siehe Fig.1), so läuft der dadurch abgezweigte Strom durch eine Spule im Shunt, deren Widerstand gleich ist dem Eigen- widerstand des Galvanometers; infolgedessen ist bei konstanter elektro- motorischer Kraft die Intensität des Spiegelausschlages um die Hälfte reduziert. Bei der Stöpselung an der dritten Verbindun sstelle aber findet der Strom. im Shunt !/, des Widerstandes, den er im Galvanometer zu überwinden hat. Es geht deshalb 9mal mehr Strom durch den Shunt als durch den Gaivano- meter, durch welchen nur !},o der Strommenge fliesst (?};o + tho = 1). Darum ist bei dieser Schaltung der Galvanometerausschlag lOmal kleiner als bei der ersten Schaltung. Abgesehen von der Verkleinerung der Ausschlagsamplitude erreicht man mit der Einschaltung des Shunt eine stärkere Dämpfung, wie oben angedeutet. Dies ist von Vorteil, wenn man die Einstellungschwankungen des Spiegels möglichst zeitlich reduzieren will. Bei einer Anzahl von Ex- perimenten wurde auf diesen Vorteil verzichtet zu gunsten der grösseren Amplitude der experimentell erzeugten Schwingungen.

Galvanometer und zweiter Elementenpol sind durch Leitungs- drähte verbunden mit den Elektroden. Als solche dienen entweder Hohlzylinder von Nickel mit glatter Oberfläche von 3 cm Durch- messer und 10cm Länge (im folgenden mit dem Namen Griff- elektrode bezeichnet) oder Nickelplatten von 5 cm Durchmesser, glatter Oberfläche und einer Bandvorrichtung zum Befestigen an den. geeigneten Körperteilen der Versuchsperson (Plattenelektroden)!). Aus Gründen, deren Erklärung später folgen wird, sind, was die Form betrifft, die Griffelektroden am empfehlenswertesten.

Diese Elektroden werden nun mit bestimmten Körperteilen. in Kontakt gebracht, fast immer mit den Händen; auch über die Gründe hierfür wird später referiert werden. Meistens hat also- die Versuchsperson die Griffelektroden mit mässigem, beguemem Druck in den Händen zu halten, natürlich unter Vermeidung von Kurzschluss durch direkten Kontakt der beiden Elektroden unter sich.

Als Versuchsperson (V.-P.) wurden zunächst Gesunde- beiderlei Geschlechts im Alter von 3 bis etwa 40 Jahren in den Stromkreis eingeschaltet. Ueber Versuche mit Kranken handeln spätere Berichte. |

Die Beobachtung der Spiegeldrehungen geschieht im ver- dunkelten Zimmer auf zwei Arten.

1. Subjektive Ablesung. (Siehe Figur 1.) In einem Meter Distanz vor der Galvanometerspiegelebene befindet sich eine trans- arente Zelluloidskala, die in 500 mm eingeteilt ist. Mittels Spiegel-,. lenden- und Linsenvorrichtung wird ein Lichtauf den Galvanometer- spiegel und von dort auf die Skala geworfen. Zur scharfen Ablesung der Lichtfleckmitte auf der Skala dient der Schatten eines senk-

1) Die Versuche mit anderen Elektroden werden übersichtshalber in diesem Bericht nicht erwähnt.

Veraguth, Das psycho-galvanische Refex-Phänomen. 393

rechten Drahtes, durch den auf ihrem Weg durch eine Blende die Lichtstrahlen unterbrochen worden sind. Bei geeigneter Ein- stellung werden nun die Spiegelbewegungen auf der Skala für mehrere Beobachter zugleich sichtbar. Diese Methode eignet sich

Fig. 1.

daher insbesondere auch für Demonstrationszwecke. Zur ungefähren Fixierung der Zeitverhältnisse der Spiegelschwankungen dient ein Metronom, das auf Sekundenpendelung eingestellt ist, oder eine ı/,-Sekundenuhr mit Stecher.

Bei der Verwertung der so erhaltenen Skalengrössen müssen zwei physikalische Tatsachen im Auge behalten werden:

Es ist zunächst klar, dass die Skalenwerte sich mit der Distanz vom Galvanometerspiegel ändern. Je grösser diese letztere, desto geringere Spiegeldrehungen rufen gleiche Exkursionen auf der Skala hervor. Solange es sich aber nur um relative Werte handelt, fällt dieser Umstand nicht ins Gewicht.

Weiter aber muss berücksichtigt werden, dass Drehungen des Spiegels in einer Kreisebene auf eine Gerade projiziert werden. äre die Skala wie ein Perimeter gebogen, so würden zwei gleichen Hälften einer grösseren Spiegeldrehung zwei gleiche Skalenwerte entsprechen. So aber bestreicht, angenommen, dass der ruhende Spiegel auf dem Nullpunkt der Skala ein- gestellt sei, eine Spiegeldrehung um den Winkel a einen bestimmten Skalen- teil, z. B. 100 mm; eine zweite Drehung von diesem Punkte an wieder um den Winkel a dagegen wird den Lichtfleck nicht auf Strich 200 einstellen, sondern bedeutend weiter um wie viel weiter, dies hängt wieder von der

394 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

Spiegelskaladistanz ab. Mit anderen Worten, die Skala steht in der Tangente zu den Drehungswinkeln; für kleine Drehungswinkel ist die Tangente bei l m Distanz proportional dem Winkelwert, bei grösseren aber wächst sie mit zunehmender Geschwindigkeit. Auch diese Ueberlegung kommt erst zur Geltung, wenn die Skalenwerte in andere umgerechnet werden sollen. In den folgenden Zeilen sind nur die Skalenmillimeter der Ausschläge angegeben.

Die Nachteile der subjektiven Methode sind die einer jeden solchen Ablesungsmethode; sie sind bedingt durch die subjek- tiven Beobachtungsfehler und dadurch, dass die Protokollierung immer nur einzelne Momente der Spiegelbewegung festhalten kann.

2. Objektive Methode (siehe Figur 2). Als Lichtquelle dient eine Projektionslampe mit Spiritusauerbrenner. Vor ihr Objektiv wird eine Blende mit einer linearen senkrechten Spalte gesetzt (im Bild nicht sichtbar). Das durch dieselbe fallende Licht wird auf den Galvanometerspiegel gerichtet und von dort auf den Eimpfänger- apparat geworfen. Als solcher dient ein Filmkasten, in welchem

Fig. 2.

ein photographischer Film von der gebräuchlichen Empfindlichkeit mittelst Rollenbewegung hinter einer Aluminiumwand vorbeigeführt wird. In dieser letzteren ist eine lineare wagerechte, ca. 12 cm lange Spalte angebracht. Der Filmkasten wird nun so in Stellung zum Galvanomsterepiegel fixiert, dass das reflektierte strichförmige Bild der Projektionslampenblende bei Spiegeldrehungen auf der horizontalen Spalte der Aluminiumwand sich bewegt. Der Schnitt- „punkt“ des Lichtstreifens und der Spalte vor dem Film ist somit die einzige kleine Fläche, auf der der Film beleuchtet werden kann. Wird nun dieser in einer zur Aluminiumspalte senkrechten Richtung an derselben vorbeigezogen, so wird bei ruhiger Spiegelstellung eine gerade Linie, bei Spiegeldrehungen aber eine Kurve anf der lichtempfindlichen Fläche beleuchtet, die

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 395

beim entwickelten Film sich als eine mehr oder weniger scharfe schwarze Linie zeigt. Die Vorbeiführung des Films an der lichtempfangenden Spalte geschieht mangels komplizierter Prä- zisionsinstrumente mit Kurbelhandbetrieb, mit beliebig variabler Schnelligkeit. Um nun aber doch eine genaue Zeiteinteilung auf dem Film vornehmen zu können, sind noch zwei weitere kleine Spältchen zu Seiten des lichtempfangenden Spaltes und auf gleicher

öhe mit ihm in der Aluminiumwand des Fimkastens angebracht. Vor das eine dieser Spältchen wird nach aussen lichtdicht ein Glüblämpchen fixiert, das nur am Beginn jeder Sekunde zum Glühen gebracht wird, ındem es mit einem Akkumulator und einem Metronom verbunden ist, das jede Sekunde in ein Queck- silbernäpfchen eintauchend, den Strom schliesst. Kleine schwarze Striche am Rand des entwickelten Films sagen dann bei gelungenem Versuch die Sekunden an und erlauben durch einfache senkrechte Projektion auf die Spiegelkurve, diese in Sekunden und deren Bruchteile zu zerlegen. Vor dem zweiten seitlichen Spältchen der Aluminiumwand ist in gleicher Weise ein Glühlämpchen an- ebracht, das durch Kontaktvorrichtungen nur so lange zum

lühen gebracht wird, als ein Reiz bei der V.P. appliziert wird. Auf dem entwickelten Film zeichnen sich diese Reizdauern als schwarzen Bäder von grösserer oder kleinerer Längenausdehnnng auf dem den Sekundenzeichen entgegengesetzten Rand des Streifens ab und können wie diese auf die —— projiziert werden.

Bei Vergleichung von Kurven, die bei verschiedenen Ver- suchen erhalten werden, darf man nicht vergessen, dass die Grösse der Kurvenbiegung abhängt von der Entfernung des Films vom Spiegel. Wenn wie bei den unten referierten Versuchen die immer genau gleiche Distanz nicht eingehalten wird, ist eine gegenseitige Vergleichung der Kurvenordinaten zweier verschiedener Versuche deshalb nicht angängig.

Der Hauptnachteil dieser Methode beruht darauf, dass nur relativ sehr kurze höchstens etwa 2 Minuten lang dauernde Versuche pbotographiert werden können es müssten denn schon ungewöhnlich lange Films in Anwendung kommen.

Andere Nachteile zeigen sich, wenn zu primitive Mittel zur Verfügung sind, und bestehen darin, dass dieSignallampen gelegentlich versagen. Bei einiger Uebung gelingen aber die meisten Films so, dass sie zum mindesten anschauliche, wenn auch nicht immer mathematisch genaue Bilder bieten‘).

Im folgenden sollen einige typische Versuche aus der Gesamt- zahl der Experimente, die ich ınnerhalb der letzten 2!/, Jahre gemacht habe, herausgehoben werden, um das Wesen des psycho-

1) Zum Zweck der Reproduktion im Druck mussten die Kurven um- gezeichnet und leider z. T. verkleinert wiedergegeben werden. Im folgenden wird vielfach von Kurven gesprochen, wo es sich um die Skalenablesung handelte. DerLeser wird diese Lizenz im Interesse der Kürze gerne akzeptieren.

Monatsschriit für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 5. 97

396 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

galvanischen Reflex-Phänomens mitTatsachenmaterial zu beleuchten. Auf eine eingehende Kritik meiner bisherigen Resultate, auf einen genetischen Erklärungsversuch und auf die an diese Ergebnisse sich anknüpfenden weiteren Fragestellungen wird später eingegangen werden. Massgebend bei der Auswahl der hier angeführten Bei- spiele war erstens der Wunsch einer möglichst übersichtlichen

emonstration der bisherigen experimentellen Ausbeute und der zweite, über die Resultate an verschiedenen Versuchspersonen zu referieren.

A. Ruhekurven.

Wird eine normale Versuchsperson mittelst Griff- elektrodenkontakt in den Stromkreis eingespannt und werden nun so vollständig wie irgend nur möglich sen- sorische Reize ferngehalten und intrapsychische affekt- betonte Vorgänge vermieden, so beobachtet man, dass der Spiegelgalvanometer im Verlauf von ungefähr 15 Minuten von einem anfänglichen Maxımum der Drehung zu einem schliesslichen tiefen Werte derselben sinkt, d. h, dass also die Kurve der Stromintensität allmählich abnimmt. Dabei ist es gleichgültig, ob die V.P. die Kathode oder die Anode in der rechten resp. linken Hand hält.

Versuch IN), V.-P. 25j. ges. Mann. Die V.-P. ist allein in einem gänzlich dunkeln Zimmer, sitzt bequem in einem Lehn- stuhl und hat sich so ruhig wie möglich zu verhalten, bis durch ein Zeichen Schluss des Versuchs angezeigt werden wird. Die Drähte, an denen dıe Griffelektroden, welche die V.-P. ohne An- strengung in den Händen hält, fixiert sind, laufen unter der ge- schlossenen Tür in das Apparatenzimmer, wo die Ausschläge beobachtet und von 15 zu 15 Sekunden notiert werden.

9 Uhr abends Beginn des Versuches. Shunt ausgeschaltet. Ein- stellungsschwankung des Spiegels während zirka 4 Sekunden.

(Hier folgt die Tabelle von S. 11.)

Das hier angeführte Beispiel ist ein solches einer exquisiten Ruhekurve. Es zeigt das Charakteristikum eines schnellen Ab- stieges am Anfang, in den ersten 3 Minuten, eines Flacherwerdens in der 4. und den nächsten Minuten und eines ganz flachen Ver- laufes in der folgenden Zeit. Ob mit 80 mm Skala das Minimum erreicht ist, bleibt fraglich, eine zu lange Ausdehnung des Ver- suches hatte vorläufig kein Interesse.

Versuch II. 24jährige gesunde Frau. Abends 8 Uhr 20 Min. Gleiche äussere Versuchsbedingungen wie in Versuch I.

1) Die Numerierung der Versuche gibt nicht die chronologische Reihen- folge derselben an, sondern dient nur zur schnelleren Orientierung.

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 897

Zeit Skala Zeit Skala 9 Uhr 1 Min. Sek. 270 9 Uhr 8 Min. 30 Sek. 90 9,1, 15, 20] 9, 8., 4&, 90 9 , 1,90, 20 |9 , 9 , , 8 9 1,8, 230 |9, 9, 15, 88 9, 2 , , 224 |9, 9 , 30 88 9,2., 15, 14Í9,;, 9, 4&, 8 9,2, 30, 174 |9 , 10 , , 87 9, 2., 45, 165 | 9 , 10, 15, 87 9,3, —, 1152 |9 10 30, 87 9> 3, 15, 1&6 |9 , 10 , 45 > 86 9,3, 30, 135 |9 , 1l , 86 9,3, 4&&, 8 | 9,11 , 15 , 86 9 4, —, 119, 1,30%, 86 9,4, BB, 15 | 9,1, 4&5 , 8 9,4, 30, 12 |9 ,12 , , 8 9, 4, 88, 109 |9 ,13, 15 > 8 9,5, —,— 16 |9 ,12 30 8 9.5, 15, 10% 9,2, ,8, 85 9? 6, 30, 102 |9 , 13 , , 84 9.5, 4&, 09,13 „15, 84 976, —., 8|9, 13, 30 83 9.6, 156, 86 9,13, 4&5, 83 9 76e, 3 , |9, l4 , , 82 9,6, 4&6, 5] 9, l4, 15” 82 9> 12 n, %| 9,1l, 30 > 8 9, 7.» 9%2|/9,1l4, 4& , 8l 977 , 30, 9%2]|9, 15 , , 80 977, 88,8 92 )|9,1l5, 15 > 80 9? 8, —, 119,15, 30 ,„ 80 3 , 8, 15, 919,15, 4& , 80

Ruhekurve, gewonnen durch Rintragang, der Skalenwerte der Tabelle zum Versuch I auf Millimeterpapier. Die Abacissen bedeuten Zeit, die Ordinaten Skalenteile. Verkleinerung um ?/;

27°

898 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

Shunt ausgeschaltet. Einstellungsschwankung etwa 30 Sekunden lang. Dann Beginn des Versuches.

Zeit Skala Zeit Skala 8 Uhr 21 Min. Sek. 68 8 Uhr 28 Min. 30 Sek. 49 8 , 2 , 15, 60 |8 , 238 , 4&5 4 8 , 21 , 30 , 56 |8, 39 , „, 49 8 , 2 , 4& , 52 |8,2 , 15 | 49 8 , 2, , 50 |8 2 ; 30 , 8 8 , 2 , 15, 4 ]8, 9,65, 49 8 , 2322 , 30 , 488 |8 , 30 , ; 4&8 8 , 2,65, 48 |8 , 30 , 15 , 49 8 , 23 , , 48 |8 , 30 > 30 48 8 , 235, 15, 4 |8, 30, 4& , 4T 8 , 233 > 30 , 471| 8 , 31l , ; 4 8 , 23 , 4&5, 41 |8, 31l, 156 , 49 8 „am. -,„ 4 |8 31 30 , 4 8 , 24 , 15, 4 |8., 31 , 4& 50 8 , 4 , 30, 471 |8 , 322 , ,„ 50 8 , 24 , 45, 48 |8, 32 , 15 , 50 8 , 23 , , 48 |8, 32 30 50 8 , 2 , 15, 488 |8 , 32 , 45 , 49 8 , 25 > 30 > 488 |8 ? 3, , 48 8 , 2 , 45 , 488 | 8 , 33 , 15 „, 49 8 , 3 , „, 41 |8, 33 7? 30 , 48 8 , 236 , 156, 471 |8 , 3,6, 4&8 8 , 26 , 30 , 471 | 8 , 3 , , %9 ee, 23 > 85, 471 |8 , 4,15, 8 ,. 2, , 4 |8, 3 „, 30 „, 49 8 27, u, 4 |8 , 3 , 45 , 49 ee, 27 , 30, 47 |8 , 3 , , 49 8 7 27 7 4%, 48 |8? 35 , 15 , 9 8 , 383 , , 48 |8, 35 , 30 , 49 8 , 238 , 15, 488 |8, 35 , 45 49

Diese Zahlen zeigen auch in der ersten Minute einen schnelleren, später aber einen langsameren Abfall. Von der 3. Minute an kommen sogar kleine Plusschwankungen vor. Aus der Gesamtheit der experimentellen Erfahrungen bin ich geneigt, den Schluss zu ziehen, dass es sich bei diesen kleinen Anstiegen um Störungen der „Ruhe“ der V.-P. handelt, sei es durch Ein- wirkung äusserer Reize kontrollierbarer oder unkontrollierbarer Natur (z. B. sensible, die sonst im Unterbewusstsein abreagieren), sei es durch intrapsychische Vorgänge höherer Art. Es ist auch hervorzuheben, dass die Umstände, unter welchen die Experimente vorgenommen werden mussten, es ungemein schwierig machten, störende äussere Reize, besonders akustische, völlig zu vermeiden. Intrapsychische Vorgänge zeigten: sich bei verschiedenen „Ruhe- kurven“-Versuchen deutlich durch mehr oder weniger starke Plus-

Veraguth, Das psycho-galvanische Refiex-Phänomen. 399

schwankungen. Dass es sich jeweilen um solche Ursachen handelte, konnte nachher bei den meisten V.-P. mit genügender Sicherheit festgestellt werden durch Angaben der V.-P. über das, was sie während des Versuches gedacht hatten, und dadurch, dass sie ver- sichern konnten, dass sie von aussen her nicht gestört worden seien.

Die kleinen Plusschwankungen im Versuche II hindern nicht, dass die Gesamtwerte der Ruhekurve doch allmählich abflachen, ähnlich wie im Versuch I.

Wenn die zwei eben angeführten Versuche die als Para- digmen für eine grosse Anzahl von anderen gelten mögen, deren einzelne Beschreibung nichts wesentlich Neues lehren würde noch kurz unter sich verglichen werden, so finden wir beträcht- liche Unterschiede bezüglich der absoluten Höhe der Zahlen (270 gegen 68 am Anfang, 80 gegen 48 am Ende der Versuche). Diese Zahlen sind deswegen miteinander vergleichbar, weil beide Versuche bei gleichem Abstand der Skala vom Galvanometer- spiegel und bei gleicher zeitlicher Anfangseinstellung vor dem

xperiment angestellt worden sind. Die Differenz der beiden Zahlenhöhen bringt eine individuelle Verschiedenheit zum Ausdruck, eine Erscheinung, die in unendlicher Variabilität zu beobachten ist. Aber nicht nur die Versuchspersonen unter sich zeigen verschiedene absolute Skalenwerte, sondern auch bei dem gleichen Individuum können diese innerhalb einer gewissen Breite wechseln, je nach einer Menge von Umständen, die einstweilen nur zum Teil kontrolliert werden können,

Es kommt indes hier nur darauf an, festzustellen, dass die Ruhekurve normaler Personen bei zulänglichen Versuchsverhält- nissen eine anfangs schneller, später langsam sinkende Linie ist. Auf die absoluten Werte bei verschiedenen V.-P. und bei der gleichen V.-P. unter verschiedenen Umständen dagegen sei an dieser Stelle kein Gewicht gelegt. Vielmehr hat die Vor- führung der Ruhekurven nur den Zweck, das Verständnis der zu- nächst zu beschreibenden Reizversuche zu ebnen.

B. Reizkurven.

Bei den zu beschreibenden Experimenten wurde die V.-P. meist mittels Griffelektroden in den Stromkreis eingeschaltet. Aeussere sensorische Reize wurden zunächst tunlichst vermieden; die V. P. sass bequem in einem verdunkelten Zimmer, in mög- lichster Stille. Nun wurde abgewartet, bis die Einstellungs- schwankungen des Spiegels vorüber und die Ruhekurve in das Stadium des flachen Verlaufes gelangt war. Eventuelle Plus- schwankungen (aus endopsychischen oder nicht ohne weiteres kontrollierbaren Gründen entstanden) liess man vorerst sich aus- gleichen, um dann erst mit Reizen auf die V.-P. einzuwirken,

Diese Reize waren

1. sensorischer Natur, und zwar. akustischer, optischer und taktıler (Schmerzreize),. Von Geschmacks- und Geruchsreizungen

400 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen,

wurde abgesehen, wegen der Schwierigkeit, den Moment des Reiz- anfanges objektiv zu erkennen;

2. komplizierter psychischer Natur: indem die V.P. in den Zustand einer Erwartung versetzt wurde, oder indem sie während des Versuches still für sich bestimmte Lektüre zu lesen hatte, oder indem mit ihr ein Assoziationsversuch vorgenommen wurde;

3. schliesslich wurde der V.P. die Aufgabe gestellt, bestimmte Denkprozesse von sich aus innerhalb der Zeit des Versuches anzuregen und still für sich durchzumachen („autochthone“ psychische Reize),

1. Akustische Reizversuche.

Als Reiz genügte bei totaler Stille in der nächsten Umgebung etwa irgend ein leises Geräusch, z. B. Aufklopfen mit dem Fingernagel auf Holz. Um aber gegen die allfälligen Geräusche der Umgebung in unabhängiger Weise konkurrieren zu können und um eine Reizgrösse zur Verfügung zu haben, die bei wieder- holtem Experiment annähernd ähnlich gross sei, wurde in der Mehrzahl der Fälle eine Kinderpistole hinter der V.-P. abgeschossen. Der nicht übermässig laute, mit sehr geringer Lichterscheinung einhergehende Knall hatte den Vorteil einer kurzen Reizdauer. Auch war es möglich, die Reizstärke allerdings nieht in mess- barem Grade abzustufen durch Wahl der Entfernung der Kinder- pistole vom Ohr der V.-P.

Bei Skala-Ablesung wurden die Zahlen vor, während uud nach dem Reizmoment mit ungefährer Schätzung der Zeit- verhältnisse notiert. Die graphische Methode erlaubte eine genaue Messung des Zeitablaufes und scharfe Vergleichung von Kurven- teilen untereinander.

Versuch III. 18jähriges gesundes Mädchen. Griffelektroden. Shuntausgeschaltet. Nach den Einstellungsschwankungen Sinken von den Anfangswerten der Ruhekurve auf 240; dort längeres Ver- weilen. Von nun an wurde die Zeit kontrolliert auf einer geräuschlos gehenden '/,-Sek.-Uhr.

Zeit Skala 5 Uhr 30 Min. Sek. 240 5 „30, 1, 240 5 30 16 240 Schuss 5 300 17 ,„ 240 5 , 30 , 18 , 240 p í 50 a0 i 240 Latenzperiode 5 „30, 2l, 240 5 30, 22, 240 5 a 30 , 23 , 290 5 „, 30 , 24, 290 5 „, 30, 25 280

Allmähliches Sinken bis auf 210.

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 401

In Worte umgesetzt, sagen diese Zahlen folgendes:

Der abfallende Verlauf der Skalenwerte von der anfänglichen Höhe (die von jetzt bei jedem Versuch als „Ruhestellung* be- zeichnet werde) hier 240 auf den tiefen Wert am Ende des Versuches 210 ist nicht ein stetiger, wie bei einem Ruheversuch, sondern er zeigt ein plötzliches Ansteigen der Skalenwerte auf 290 und von da an ein (ruckweises) Zurück- fallen auf 210. Der Zeitpunkt des Anstieges auf 290 ist durch eine Pause von 6 Sekunden getrennt von einem vorherigen Er- eignis, das die Ruhe der V.-P. gestört hat von dem Zeitpunkt des akustischen Reizes. Diese Pause, die wir schon anfangs als charakteristische Konstante aller Reizversuche genannt haben, sei von jetzt an als Latenzperiode bezeichnet, in selbstverständ- licher Analogie zu den Latenzperioden bei anderen physiologischen Experimenten.

Versuch IV. Sjähriges gesundes Mädchen. Plattenelektroden durch Bänder an die gestreckte Hohlhand befestigt. Shunt aus- geschaltet.

Zeit Skala 9 Uhr 20 Min. Sek. 170 = Ruhestellung 9 30 l 170 Schuss 9, 30, 2, 170 9 30, 3, 170} Latenzperiode I, 30, 4, 170 9 30 5 210

In den nächsten Sekunden Abfluten auf 165.

Der Vergleich zwischen Versuch III und Versuch IV ergibt Aehnlichkeit der relativen Zahlenschwankungen und Ungleichheit der absoluten Zahlen und der Dauer der Latenzperioden.

Versuch V. 32jähriger gesunder Mann. Griffelektroden. Shunt ausgeschaltet. Im Verlaufe der Zeit, in welcher das Abrollen eines Films im Empfängerapparat vorgenommen werden kann, wird unter anderen Reizen ein akustischer in Form eines Schussknalles eingeschaltet, sobald beobachtet worden ist, dass sich die Spiegel- bewegung vom vorherigen Reiz wieder erholt hat. (Siehe È ig. 4.)

Die Interpretation dieser Kurve ergibt sich nach dem Vor- hergesagten ohne weiteres. Die Ruhekurve war auf dem flachen Ablauf begriffen, als der Knall ertönte. 1!/, Sekunden lang blieb sie auf gleicher Höhe, um dann im Verlauf 1 Sekunde steil, im Verlauf der nächsten halben Sekunde weniger steil anzusteigen. Die nächsten 2 Sekunden bringen dann ein völliges Abschwellen der Drehungswinkel des Spiegels, und schliesslich mündet die Kurve wieder in eine langsam, aber stetig fallende Linie aus, deren Wert nach Verlauf von 12 Sekunden (nicht mehr auf dem Bilde) nach dem Knall wieder gleich ist, wie zur Zeit, da der Schuss fiel.

Die akustischen Reizversuche eignen sich besonders zur Untersuchung der Frage, welchen Einfluss bei gleicher Qualität des Reizes variierte Intensität desselben auf die Drehungswerte

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402 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

Fig. 4. Reizkurve. AkustischerReiz. Die Marken oberhalb der Kurvebedeuten Sekunden, die Marke unterhalb der Kurve den Moment des Reizes. Die panktierte Ordinate ist hier, wie in allen folgenden Figuren nachträglich eingezeichnet. Die Linie A—B bedeutet hier wie in allen folgenden Figuren den unteren Filmrand. Richtung der Filmbewegung von A nach B.

des Spiegels ausübt. Zu diesem Zwecke wurden, während die V.P. in den Stromkreis eingeschaltet war und keine andern Geräusche konkurrierten, in gemessenen Zeitabschnitten 3 annähernd gleich laute Schüsse abgefeuert, der erste in einem entfernten Zimmer, eben noch gut hörbar, der zweite im Zimmer neben dem Versuchs- raum, der dritte im Versuchsraum.

Versuch VI. 35jähriger gesunder Mann. Griffelektroden. Shunt ausgeschaltet. Nach Erreichung der Ruhestellung: Schuss in weiter Entfernung: kein nennbarer Ausschlag.

Nach Ablauf einiger Sekunden Schuss im Nachbarzimmer: nach einer Latenzperiode von 2 Sekunden Ausschlag von 3 mm.

Nach Aufhören der Spiegelschwankungen Schuss im Versuchs- zimmer: nach einer Latenzperiode von 2 Sekunden Schwankung von 20 mm.

Versuch VI spricht also für die Annahme, dass die Intensität der galvanischen Reaktion (ceteris paribus) abbängig sein kann von

derIntensität des akustischen Reizes, d. h. dass sie mit dieser wächst;

ob in Parallele oder nicht, ist freilich durch dieses Experiment nicht erwiesen. Wohl zu beachten ist, dass der schwächste Reiz zuerst und der stärkste zuletzt gesetzt worden ist. Bei umge- kehrter Reihenfolge hätte eine weitere, gesetzmässig bei ver- schiedenen Experimenten aufgetretene Eigentümlichkeit bei der Interpretation in Konkurrenz treten müssen. Wird nämlich ein nach Qualität und Intensität gleicher akustischer Reiz in kurzen zeitlichen Zwischenräumen mehreremale hinter einander angewendet, so nimmt die Amplitude des Spiegeldrehungswinkels von einem zum anderen Male ab.

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 403

Versuch VII. 24jährige gesunde Frau. Griffelektrode. Shunt ausgeschaltet. In gleicher Entfernung von der V.-P. und in gleichem Winkel zu ihrer Interauralachse werden in Abständen von 15 Se- kunden zwei annähernd gleich laute Schüsse abgefeuert.

Ruhestellung 60 mm.

1. Schuss: nach 1!/,—2 Sekunden Latenzperiode Steigen auf 120 mm.

Im Verlauf von weiteren 13 Sekunden allmähliches Zurück- fallen auf 56 mm, dann

2. Schuss: nach 3—4 Sekunden Latenzperiode Steigen auf 65 mm. ` Im Verlauf der nächsten 11 Sekunden Fallen auf 35 mm.

Der erste Reiz verursachte eine Plusschwankung von 60 mm, der zweite, gleiche, wenige Zeit später applizierte eine solche von 9 mm; die Latenzperiode dauerte beim ersten Reiz 1'/, bis 2 Sekunden, beim zweiten 3 bis 4 Sekunden. Diese Zunahme der Latenzperiode bei gleichen Reizen in gleichen Zeitabschnitten ist aber keine konstante Erscheinung. Um ihre Unbeständigkeit zu illustrieren und in scharfen Gegensatz zu bringen zur offen- baren Beständigkeit der eben betonten Abnahme der Schwankungs- zone bei konstanter Reizgrösse, sei noch das folgende Gegenbeispiel aus den Protokollen ausgewählt.

Versuch VIII. Gleiche V.-P. wie bei Vers. VII; gleiche

Versuchsbedingungen. Nach Erreichung der Ruhestellung 1. Schuss. Latenzperiode 5 Sek. Ausschlag Te mm On

nach 15 Sek. 2. s 4 » » 8. » 3 8 * » » » 4. m n 3 » 2 ked 5. n 4 +1 n »» 8. » „nn L | keine Ausschläge mehr nn» & m

Bei Aufeinanderfolge von gleichen Reizen in 15 Sekunden Zeit- abstand sinken also hier die Latenzperioden von 5 auf 8 Sekunden, um nachher wieder auf 4 Sekunden zu steigen; die Ausschläge nehmen aber vom 2. Schuss an stetig ab, um vom fünften an gleich O zu bleiben.

Um festzustellen, nach Verlauf von wie viel Zeit die Re- aktion auf den gleichen akustischen Reiz wieder eine gleich grosse sei, d. h. die Spiegeldrehungsamplitude wieder das vor- herige Mass annehme, wurden Versuche gemacht, für welche der folgende ein Paradigma ist.

Versuch IX. Gleiche V.-P. wie bei Vers. VIII. und VII. Gleiche Versuchsbedingungen. Nach Erreichung der Ruhestellung

1. Schuss: Latenzperiode 5 Sekunden Ausschlag +10 mm, dann eine Versuchspause von 40 Sekunden; sodann

404 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

2. Schuss: Latenzperiode 4 Sekunden, Ausschlag +10 mm, dann eine Versuchspause von 30 Sekunden; sodann 3. Schuss: Latenzperiode 5 Sekunden, Ausschlag 4 10 mm.

Aus diesem Versuch ist nur das negative Resultat zu ent- nehmen, dass bei dieser V.-P. Pausen von 80 Sekunden nicht genügten, um eine Erschöpfung des galvanischen Phänomens auf wiederholten gleich intensiven Reiz eintreten zu lassen. Wenn es also erlaubt ist, unter Vernachlässigung der temporären Re- aktionsverschiedenheiten bei. einem Individuum einen Schluss aus der Zusammenstellung von Versuch IX und Versuch VIII zu ziehen, so liesse sich für diese V.-P. der Satz aufstellen, dass zwischen den Zeitintervallen von 15 und 80 Sekunden ein solcher liegen muss, innerhalb dessen die galvanische Reaktionsfähigkeit für gleiche akustische Reize sich erholt.

2. Optische Reizversuche.

Im verdunkelten Zimmer, in welchem die V.-P. sass, brannte bei den meisten Versuchen die Kerze in der Blendiaterne des Beleuchtungsapparates. Reflexe fielen von den glänzenden Apparatenteilen, and so konnte von einer absoluten Dunkelheit in der Umgebung der V.-P. in den unten zu schildernden Ex-

erimenten nicht die Rede sein. Auch wurde aus Zweckmässig- keitsgründen mit dem Experiment nicht gewartet bis zur voll- ständigen Adaptation der Retina der V.-P. an die relative Dunkel- heit des Versuchsraumes.

Unter Berücksichtigung dieser Umstände schien es angezeigt, einen intensiven optischen Reiz zur Anwendung zu bringen. Ein solcher fand sich in Gestalt der Lichterscheinung beim Ver-

uffen einer Magnesiumblitzlichtpatrone, wie sie für photographische Momentaufnahmen im Dunkeln gebraucht werden. Die an- gewendete Form wurde durch geräuschlosen Zug an einer Schnur entzündet. Das bei der Verpuffung auftretende Geräusch war kein lautes, so dass der ungefähr gleichzeitige akustische Reiz kaum in Betracht kam; die Lichtentwicklung aber war intensv. und kurzdauernd. Die Patrone wurde ohne Wissen der V.-P. in einiger Entfernung vor derselben und bei den photographischen Kurvenaufnahmen zugleich vor dem Empfangsapparat fixiert; infolgedessen konnte das Licht gleich auch voll in die Spalte fallen, auf welcher die Spiegelkurve sich bewegte. Deshalb ist auf den nebenstehenden Figuren der Moment des Reizes durch ein queres Band über die ganze Filmbreite hin angegeben. Schwächere Lichtreize, in Form etwa einer elektrischen Taschen- lampe, eines Streichholzes etc., hatten ausser der geringen Licht- intensität andere Unzukömmlichkeiten; so wird denn auch ın diesem Bericht nur über die Wirkung des Magnesiumblitzlichtes referiert.

Bei der Anwendung dieses starken Lichteszeigte sich dann frei- lich auch der Nachteil, dass der Untersuchende, der an der Skala

405

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

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406 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

ablesen sollte, auch geblendet wurde, so dass die subjektive Ab- lesung der Skalenwerte unzuverlässig wurde, namentlich mit Be- zug auf die Zeitverhältnisse. Deshalb beschränke ich mich darauf, hier nur automatisch protokollierte Versuche anzuführen.

Versuch X. Sjähriges gesundes Kind. Gleiche V.-P. und Applikation der Elektroden wie bei Versuch IV. Nach gewonnener Rahestellung des Spiegels Magnesiumblitz. (Figur 5.)

Die Kurve zeigt, dass etwas vor Ende der 8. Filmsekunde die Patrone gelöst wurde, und dass der Lichtreiz höchstens %/, Sekunden dauerte. Die Kurve der Spiegeldrehung, die zwar schon vor dem Reizmoment kleine Wellenbewegungen aufwies worauf vorderhand nicht eingegangen werden soll verlief in ihrer Gesamtrichtung ruhig auf ungefähr gleicher Höhe weiter, bis reichlich 1?/, Sekunden nach Beginn des Reizes der plötzliche Anstieg der Spiegeldrehung eintrat, der sich in den ersten zwei Sekunden steil aufzeichnete, am erst nach 7 Sekunden allmählich zu fallen und dann wieder den welligen Charakter anzunehmen.

Versuch XI. 31jähriger gesunder Mann. Griffelektroden. Nach Erreichung der Ruheeinstellung Magnesiumblitz. (Figur 6.)

In dieser Kurve beobachten wir 1*/, Sekunden nach dem Reizanfang plötzliches Steigen zu einer beträchtlichen Höhe, wo ähnlich wie ım vorigen Fall eine kleinhügelige Wellenfolge während 2 Sekunden auftritt; nach dieser 1 Sekunde lang ebenes Abfallen dann nochmaliger, zweiter höherer Hügel und von dort an stetiges Abfallen der Kurve. Die hier abgebildete Zweiteilung des Kurvenanstieges wird öfters beobachtet.

Abstufung der optischen Reizwirkung nach Intensität und Zeitintervallineiner einigermassen einwandfreien Versuchsanordnung vorzunehmen, gestatteten die äusseren Umstände nicht.

3. Versuche mit Schmerzreizen.

Bei den Experimenten dieser Gruppe wurde als Reiz ein energischer Nadelstich in eine beliebige geeignete Körperstelle appliziert; der Untersuchende bediente sich hierzu meistens einer in einem Horngriff eingelassenen Nadel. Bei andern Versuchen wurde ein Öhrläppchen der V.-P. plötzlich gekniffen. Ver- suche mit weniger energischen taktilen und thermischen Haut- reizen ergaben nur unter besondern Bedingungen Resultate, und diese waren nicht immer eindeutig. Hier, wo es sich zunächst nur um einen allgemein orientierenden Bericht über das bisher Beobachtete handelt, sei von ihnen abgesehen. Hautreize mittelst des faradischen Pinsels dagegen gaben so unzweideutige Resul- tate, dass sie auch für Präliminarexperimente geeignet erscheinen. Hautreizungen mit dem galvanischen Strom geben zwar sehr klare Spiegelausschläge, allein diese bringen ein Moment in die Ver- suchsanordnung, welches solche Experimente in eine andere Gruppe weist, weshalb an anderer Stelle hierüber berichtet werden soll.

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 407

Versuch XII. 25jähriger, gesunder Mann. Griffelektroden. Shunt !/, (neuer Apparat). Im Verlauf der Zeit, da ein Film abgerollt wird, erhält die V.-P. ohne ihr Vorwissen einen Nadel- stich in die Kopfhaut.

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Fig. 7. Reizkurve. Stich in die Kopf hant. O Unten Sekundenmarken. Die oben- stehende Reizmarke entspricht der Zeit des Stiches.

Die Kurve, in schwachem Absteigen (wāhrend 11 Sekunden) begriffen, erfährt einen erst weniger steilen, dann einen steilen Anstieg während 2 Sekunden. Der Beginn dieses Anstieges tritt in Erscheinung etwa 2!/, Sekunden nach Beginn des Stiches in die Kopfhaut,

Es ist klar, dass Nadelstiche oder Kneifen des Ohres nicht messbare sensible Reize sind; der Reizeffekt hängt ab von der nicht leicht zu kontrollierenden Kraft und Schnelligkeit des Stosses und vor allem von der Topographie der Stichstelle.

Es ist indes interessant, der Frage nachzugehen, ob bei Wiederholung von Nadelstichen in eine Körperregion (z. B. Kopf- haut) der V.-P. trotz der wahrscheinlichen quantitativen Ver- schiedenheit des primären Reizeffektes sich eine ähnliche Abnahme der galvanischen Reaktion zeigt, wie bei den wiederholten quali- tativ gleichen akustischen Reizen. Dieser Frage galten die folgenden zwei Versuche.

Versuch XIII. (Siehe Figur 8.) 26jähriger, gesunder Mann.

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® "R

N ' Fig. 8. Reizkurve. Zwei Stiche in die Kopfhaut. Unten Sekundenmarken, oben Reizmarken. Verkleinerung ji. Die der 2., 8. und 4. Sekunde entsprechende Linienbewegung ist Erwartungskurve. (Vergl. Fig. 11.)

408 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

Griffelektroden. Shunt !/,. In einem Abstand von 10 Sekunden werden der V.-P. zwei Nadelstiche in die Kopfhaut appliziert. Man sieht nach dem ersten Stich eine Latenzperiode von annähernd 21, Sekunden verstreichen, ehe eine, wegen der Shuntdämpfung flache, Erhebung auftritt. In den abflachenden Schenkeln derselben fängt der Moment des zweiten Stiches an; nach einer etwas kürzeren Latenzzeit erfolgt eine deutliche flache Erhebung der zweiten Reizkurve. (Ueber den Kurvenanstieg vor dem ersten Reiz siehe unten sub „Erwartungskurven“.)

Versuch XIV. 22jähriger gesunder Mann. Griffelektroden. Shunt 1/1. In annähernd gleichen Zeitabständen werden der V.-P. 5 Nadelstiche in die Kopfhaut appliziert. Fig. 9 zeigt ebenfalls bei im allgemeinen steigender Linie eine jeweils schwächer werdende Reaktion auf jeden neuen gleichen Reiz; der Effekt des fünften Stiches ist nicht mehr auf dem Film sichtbar.

| ! p p u ! A mhıae ya 1 009 291 ' I il G ı e 1 ' 1t: 0 UE t | ? t t b 9 U 'B Fig. 9.

Reizkurve. Fünf successive Stiche in die Kopfhaut. Oben Reizmarken, unten Sekundenmarken. Verkleinerung !j;.

Versuch XV. 34jähriger gesunder Mann, an faradische Ströme gewöhnt, so dass das psychische Moment der Erwartung (s. unten) bestmöglichst ausgeschaltet ist. Griffelektroden. Shunt ausgeschaltet. Vor Beginn der Ablesungen wird V.-P. gleich- zeitig in einen zweiten Stromkreis eingeschaltet, grosse indifferente Elektrode auf dem Sternum, kleine differente mit Unterbrecher auf dem Deltoides, und durch diese Kette wird in gemessener Zeit- und Intensitätsabstufung der sekundäre Strom eines Schlitten- induktionsapparates geschickt.

Ruheeinstellung 65 mm.

Spulendistanz 8 cm. Schluss des Unterbrechers. V.-P. fühlt den faradischen Strom noch nicht; das Galvanometer bleibt auf 65 mm. Unterbrechung des sekundären Stromes. Spulendistanz 6 cm. Schluss des Unterbrechers. V.-P. fühlt den Strom eben, das Galvanometer bleibt auf 65 mm.

Unterbrechung des sekundären Stromes.

Spulendistanuz 4 cm. Schluss des Unterbrechers. V.-P. fühlt den Strom intensiv. Nach 4 Sekunden Latenzperiode Plus- schwankung von 5 mm. Nach Ablauf derselben Unterbrechung des sekundären Stromes.

Spulendistanz 2 cm. Schluss des Unterbrechers. V.-P. fühlt den Strom schmerzhaft. Nach 4 Sekunden Latenzperiode Plus- schwankung von 10 mm. Nach Ablauf derselben Unterbrechung des sekundären Stromes.

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

409

Der Versuch ist geeignet, zu zeigen, dass es für den faradischen Strom wenigstens bei dieser V.-P. einer bestimmten Reizstärke bedarf, deren Schwelle (bei dieser V.-P.) höher liegt als die Empfindungs-

schwelle, um das galvanische Phänomen auszulösen.

4. Höhere Endopsychische Vorgänge. a) Erwartungskurven.

Bei der Durchführung der Reizexperimente, für die soeben Paradigmata gegeben worden sind, fiel oft eine für diese Versuche störende Spiegel- bewegung auf, die im Sinne einer Verstärkung der Stromintensität den Reizschwankungen vorausgeht.

Sie tritt mit Regelmässigkeit dann ein, wenn die V.-P. weiss, dass jetzt alsbald etwas Be- stimmtes mit ihr versucht werden soll. Diese Spiegel- bewegung mag darum kurz Erwartungsschwan- kung, die sie markierende Linie Erwartungskurve genannt werden. Um ihr Auftreten zu vermeiden, wurden, wie oben betont, die Reize meist ohne vor- heriges Wissen der V.-P. vorbereitet und appliziert.

Wenn man dagegen z. B. den Schmerzreiz- versuch durch Kneifen des Ohrläppchens in der Weise vornimmt, dass man seine Hand unter Mit- wissen der V.-P. dem Ohr derselben nähert, so be- wegt sich der Spiegel in raschem Tempo an der Skala zahlaufwärts, ehe das Ohr wirklich gekniffen wird. Die Zeitverhältnisse sind hier natürlich schwer zu bestimmen, d. h. es ist für den Beobachter un- möglich, zu untersuchen, wann bei der V.-P. die Erwartung beginnt, ob also auch diesem Vorgang eine Spiegelschwankung mit vorhergehender Latenz- periode, und wenn ja, mit einer wie grossen, ent- spricht. Auch durch Selbstbeobachtung ist das schwer zu eruieren. Wenn die V.-P. zugleich selbst die Skala beobachtet, so ist es klar, dass die Erwartung, auf der Skala eine Bewegung zu sehen, schon als psychisches Moment selbst eben eine Erwartungs- schwankung hervorruft.

Es ist daraus der Schluss zu ziehen, dass Experimente, bei denen V.-P, und Beobachter in einer Person vereinigt sind, nie einwandsfrei sein können.

Versuch XVI. 80jähriger gesunder Mann. Griff-Elektroden. Shunt ausgeschaltet.

Die V.-P. weiss, dass sie für sensorische Reiz- versuche in den Stromkreis eingespannt ist. Der Film wird ein Stück weit (leider versagte die Sekundenlampe) in gewöhnlichem Tempo abgerollt,

Fig. 10 Reizkurve. Erwartungsschwaukungen. Die Sekundenlampe versagte beim Experiment. Weitere Erklärung im Text.

A

410 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

ehe der erste Reiz appliziert wurde. Während dieser etwa 40 Sekunden war die V.-P. keinem energischen Sinnesreiz ausgesetzt; sie konnte wchl das spärliche, aber kontinuierliche Licht aus der Projektionslampe sehen und das leise,aber kontinuier- liche Geräusch des Filmdrehers vernehmen; diese sensorischen Reize waren aber bedeutend schwächer als die experimentellen Reize, die, später appliziert, starke Schwankungen hervorriefen. Während der Zeit vor dem ersten Reiz befand sich nun die V.-P. im Zu- stand der Erwartung, und der Spiegel schrieb die Erwartungs- kurven, die hier reproduziert sind. (Figur 10.)

Aus diesen Linien ist folgendes zu entnehmen (und es mag beigefügt werden, dass dieses Verhalten ein typisches zu sein scheint): Anfangs sieht man das normale langsame Sinken der Ruhekurve noch deutlich vorhanden. Nach schätzungsweise 10 Sekunden (wenn man die Filmlängen vergleicht mit anderen, etwa gleich schnell abgerollten Films, auf denen die Sekunden- lampe geleuchtet hatte) stellt sich eine flache Erhöhung der Kurve em, die langsam abklingt, um nach etwa 10 weiteren Sekunden in einen zweiten, ähnlich formierten, aber höheren Kurvenhügel überzugehen. Ein dritter solcher stellte sich noch ein, ehe die Magnesiumpatrone entzündet wurde, und dann trat die typische Reizkurve auf (hier nicht reproduziert).

Mit besonderer Schärfe tritt die Erwartungsschwankung in Erscheinung in Figg. 11 und 8, welche den Versuchen XII resp. XIII entstammen. Die Klarheit der anfänglichen Erwartungs-

_ 7

III II I II I ,

Fig. 11. Erwartungskurve. Unten Sekundenmarken.

A

schwankung ist zwei Umständen zu verdanken: erstens war es das erste Mal, dass die V.-P. als solche fungierten, und zweitens wussten sie zum voraus, dass sie sensorisch gereizt werden sollten.

Diese Erwartungskurven arbeiten wie multiple Reiz- schwankungen der abfallenden Tendenz der Ruhekurve entgegen, so dass als Resultante ein langsames Aufsteigen der ganzen Linie entsteht. Vergleicht man die Erwartungsschwankungen mit den Reizschwankungen, so ist, falls die Dämpfung im Neben- schluss wegfällt, ohne weiteres ein Unterschied zwischen den

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 411

beiden Kurven ersichtlich. Reizkurven steigen plötzlich an, um mehr oder weniger langsam abzufallen, Erwartungskurven aber steigen und fallen langsam, ihr Kurvenhügel ist flach.

b) Lesekurven bei indifferenter Lektüre.

Der Versuch bei ruhigem, stillem Lesen indifferenter Lektüre wurde in folgender Weise durchgeführt. Die V.-P. hielt die Griff-Elektroden ruhig in den Händen, die bequem auf der Unter- lage gestützt waren. Während dieser Zeit las sie bei gleich- mässigem Lampenlicht eine indifferente Lektüre, z. B. einen nicht aufregenden Zeitungsartikel oder eine wissenschaftliche Abhandlung ohne persönliche Anknüpfungspunkte. Das Umdrehen der Blätter geschah durch den Untersuchenden auf leises Kopfnicken der V.-P. hin. Der Experimentator zeichnete die Skalenwerte von 15 zu 15 Sekunden auf.

Versuch XVII. 34jähriger gesunder Mann. Griff-Elektrode, Shunt ausgeschaltet. Lektüre.

Von 15 zu 15 Sekunden wurden folgende Skalenwerte notiert: 70 69 68 67 66 65 64 63 62 61 61 60 59 58 60 59 59 59 59 59 59 58 59 59 59 59 59

59 60 59 59 60 60 60 65 55 60 58 57 58 59 60 59 57 58 59 58 58 58 60 60 59 59 59 60 60.

Die Aehnlichkeit mit der einfachen Ruhekurve mit geringen Plusschwankungen (Versuch II) ist auffallend. Unverkennbar ist die Tendenz zum allmählichen, anfangs schnelleren, später langsameren Sinken der Drehungswerte.

c) Lesekurven bei differenter Lektüre.

Bei einer Reihe anderer Versuche wurde ceteris paribus Lektüre gewählt, von der mit Bestimmtheit vorausgesetzt werden konnte, dass sie Stellen enthalte, die bei der V.-P. Affekte aus- lösen. Als Beispiel sei zitiert:

Versuch XVIII. 34jähriger gesunder Mann. Griff-Elek- trode, Shunt ausgeschaltet. Lektüre eines Abschnittes eines vor Jahren unter lebhafter Gefühlsreaktion mitangesehenen, seither aber selten mehr gelesenen patriotischen Festspieles, von dem sich V.-P. erinnerte, ganz besonders „gepackt“ worden zu sein. Beginn der Lektüre nicht weit von den betreffenden Stellen.

(Hier folgt die Tabelle von S. 412.)

Man beachte gleich zu Anfang die Steigung, die in der dritten Minute etwas unterbrochen, aber gleich wieder auf- genommen wird, in der vierten und fünften Minute leichtes Sinken und wieder Steigen der Zahlen, in der sechsten und siebenten aber enormes Anschwellen (von 131 bis 185) und nachher Ab-

Monatssehriit für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helt 6. 28

412 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

Zeit Skala | Zeit Skala 8 Uhr 40 Min. Sek. 95 8 Uhr 44 Min. 30 Sek. 132 8 , 40 „, 15, 9% |8, 4&4 4 18 8 > 40 ,„ 30 „, 105 | 8 „6 18 8 3 40 , 6, l0 |8, 4& 15 132 8 , 4 , , 130 |8 „, 4& 30 „183 8 , 4, 15 , 125 | 8 „46 4 132 8 , 4 „, 30 „, 127 | & , 46 , ,„ 43i 8 , 4, 45 130 |8 „4 15 150 8 42 , ,„, 18 | 8 , 46 30 152 8 > 42 , 15 , 135 |8 , 46 45 166 8 > 423 , 30 , 127 |8 , 47 , „1% 8 ° 42 , 45 , 135 | 8 , 47 > 15 , 185 8 , 43 , —, 43| 8,47 , 30 „, 175 8 > 43 , 15 , 149 |8 , 47 , 4&5 168 8 , 43 „, 30 „, 140 | 8 , 48 , . 16l 8 43 , 45 140 |8 , 48 15 162 8 7 4 , , 135 |8 „4 „30 162 8 > 4 , 156 , 1322 | 8 , 4&8 > 45 ,„ 162

sinken auf 162. Die Lektüre wurde beendet etwa zwei Minuten, nachdem die Stelle gelesen worden war, welche in besonderem Masse ausgeprägte Gefühlsbetonung ausgelöst hatte. Die Erhöhung der Zahlen entspricht also offenbar dem Moment des von der Lektüre „Gepacktseins“. Zu gleicher Zeit hatte V.-P. beobachtet, dass es ihr „kalt über den Rücken lief“.

c) Assoziationsversuche,

Um den in den vorherigen Experimenten manifest gewordenen Beziehungen zwischen den durch die rezeptive Sphäre der Sprache wachgerufenen Affekt und den Spiegelschwankungen nachzugehen, wurde eine Anzahl von Versuchen vorgenommen, wobei die V.-P., während sie in den Stromkreis eingeschaltet war, gleichzeitig einem „Assoziationsexperiment“ ausgesetzt wurde.

Dieses letztere wurde in zwei Modifikationen vorgenommen. Der V.-P. wurden mit monotoner Stimme vom Untersucher oder einem Gehülfen in gemessenen Zeit-Abständen Worte zugerufen, die vorher in geeigneter Reihenfolge ohne Mitwissen der V.-P. auf einen Zettel geschrieben worden waren. Für die Wahl und Folge dieser Reizworte war massgebend die Vermutung, dass unter den niedergeschriebenen Worten eine Anzahl der V.-P. gleichgültig seien, während einige andere einen differenten Eindruck auf sie ausüben sollten, weil vermutlich durch ihr Lautwerden in der V.-P. bestimmte gefühlsbetonte Vorstellungen wachgerufen werden sollten.

Die beiden Gruppen der Assoziationsversuche unterscheiden sich nun darin, dass bei der ersteren die V.-P. die Aufgabe hatte, auf jedes Reizwort mit einem Reaktionswort zu antworten,

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 418

bei der zweiten aber schweigend die Reihe der Reizwörter an- zuhören. Im ersteren Fall wurden meistens die Reaktionszeiten zwischen Reizwort und Reaktionswort notiert.

I. Assoziationsversuche mit sprachlicher Reaktion.

Versuch XIX. 30jähriger gesunder Mann. Griff-Elektroden, Shunt ausgeschaltet. Nachdem der Film in Bewegung gesetzt ist, werden der V.-P. die folgenden Reizworte zugerufen, auf die sie nach der unten angegebenen Reaktionszeit mit den danebenstehenden Reaktionen antwortet.

Reizwort Reaktionzeit Reaktionswort Sonne 1,6 Sek. Licht Spazieren 12 draussen Lugano 1,0 schön Poliklinik 22 Nerven Meerschweinchen 1,4 Corpus geniculat. ext. Japan 0,8 , Asien Arbeit 12 , gut Essen 12 , langsam Kinder 20 , zwei Petroleum 08 , Licht Musizieren 08 schön Blume 12 duftig [verstanden Freude 20 ich habe Sie nicht Freude 40 gut Stark 08 Mann Epilepsie 2,0 Morbus sacer Schliessen 20 öffnen.

Auf dem Film ist nur der Moment der Reizworte, derjenige der Reaktionsworte nicht automatisch markiert; der Zeitpunkt

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Fig. 12.

Assoziationskurve. Assoziationen mit Reaktionsantwort. Oben Sekunden-

marken. Die von dort aus nachträglich eingezeichneten Hilfsordinaten deuten

den Zeitpunkt der sprachlichen Reaktion auf das Reizwort an. Unten Reizmarken. Vergl. Text. Verkleinerung !js.

der Wortreaktion ist an der Hand der obigen Tabelle ausgerechnet auf dem Film durch die nachträglich von den Sekundenzeichen ‚aus gefällten Ordinaten angegeben. Bei der Interpretation dieser Kurve muss zunächst im Auge behalten werden, dass der Film nicht ganz regelmässig abgerollt 28°

414 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

wurde, die Sekundensbstände sind deshalb ungleich. (Ferner passierte zwischen der sechsten und siebenten Reaktion das Miss- geschick, dass der Empfängerapparat einen kleinen Ruck erhielt, der sich auf der Kurve als scharfabfallende Niveaudifferenz dar- stellt.) Wenn dieses Experiment dennoch hier produziert wird, so geschieht dies, weil es doch geeignet ist, das Wesentliche dieser Assoziationsversuche mit Reaktionsantwort gut zu beleuchten. Zunächst sieht man bei der Betrachtung der Kurve ın toto, dass sie einen von Anfang bis Ende hügeligen Verlauf aufweist und dass in diesen Biegungen eine gewisse Ordnung besteht. Zieht man nämlich von den Reizmarken aus Senkrechte durch den Film, so kann man konstatieren, dass sie beständig in einen absteigenden Schenkel der Kurven fallen und dass nach Ablauf einer gewissen Zeit dem Reiz ein erneutes Ansteigen folgt. Die Hügelkette ist also eine Reihenfolge von Reizkurvenhügeln, wobei der nächstfolgende Reiz immer in die absteigende Linie der vorherigen galvanischen Reaktion fällt. Der Moment der sprachlichen Reaktion der V.-P. fällt meistens, wenn auch nicht immer, in die Gegend des tiefsten Kurventales, oft vor, oft nach Beginn des Wiederanstieges, letzteres im allgemeinen bei den Reaktionen mit „langer Reaktionszeit“. Ver- gleicht man die einzelnen Kurvenhügel unter einander, so sieht man zunächst ein Ansteigen, später ein ungefähres Horizontal- bleiben der Tangente der Kurvenbiegungen; dies entspricht der auch sonst bei den Experimenten beobachteten Tatsache, dass anfangs eine kumulative Wirkung von Erwartung und den ersten Reizen stattfindet, während im Verlauf des Experimentes all- mählich das Moment der Erwartung ausgeschaltet ist. Sodann ist zu konstatieren, dass, sobald die Kurve in toto nicht mehr wesentlich steigt, doch noch beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Kurvenhügeln bestehen, und zwar sind gegen Ende des Experimentes beträchtlichere Erhebungen immer noch nach- weisbar. Es hat also hier nicht ein allmähliches Abklingen statt- gefunden, wie bei einfachen wiederholten akustischen Reizungen (vergleiche Versuch VIII). Die Reizworte haben demnach ungleich stark gewirkt.

Den Versuch, der auf der folgenden Figur 13 abgebildet ist, lasse ich hier folgen, weil er geeignet ist, diese ungleiche Wirkung verschiedener Reizworte bei Assoziationsworten mit sprachlicher Reaktion besonders scharf zu illustrieren. Man ver- misst auf der Filmrolle die Reizmarken: die Signallampe versagt bei diesem im übrigen so klaren Versuch. Allein an Hand des schriftlichen Protokolls ist festgelegt, dass die stärkste Schwankung der Spiegelmarke auf dem Empfängerapparat dem Worte „Oerlikon“ gefolgt ist- Damit ist. wenn leider auch die genauen Zeitverhältnisse aus der Kurve nicht hervorgehen, doch so viel klargelegt, aut welchen Reiz hin die Linie die auffallendste Bewegung machte.

Versuch XX. 19jähriger Student. Griffelektroden, Shunt ausgeschaltet.

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 415

Reizwort Reaktionswort | Reizwort Reaktionswort

Objektiv Brennweite Kronenhalle fidel

Spiritus brennbar Veloziped Maschine

Bierjunge sitzt Oerlikon Industrieort

Wissenschaft interessant Wohnung geräumig

breiten Luft Mensur verboten

artyrium schmerzhaft Grossvater gestorben Xia Corps Film Celluloid Email glänzend | DEE TI u IE Bu Be Be 1 1116111981 11 09 tiL GS 1 099 ır ı9 tI CLI’ t3 111 1i 11 1111141 111 11 ı. —— 6 Fig. 18.

Assoziationskurve. Assoziationskurve mit Reaktionsantwort. Oben Sekunden-

marken. Die Lampe für die Reizmarken funktioniert nicht. Die Stelle, wo

unter der Kurve nachträglich ein X eingezeichnet ist, entspricht laut Protokoll dem Reizwort „Örlikon*. Verkleinerung !/..

Man bemerkt an dieser Kurve anfängliches Ansteigen (Mit- wirken der Erwartung), dann ein ungefähres Gleichhochbleiben der Kurvenhöhen und Kurventäler bis zu dem Punkte, wo unter der Kurve ein X markiert ist, das den ungefähren Moment des Reizwortes Oerlikon andeutet; von da an hettiges Aufsteigen und starkes ÖOszillieren der Spiegellinie, das sich wieder beruhigt (vermutlich sobald das nächstfolgende Reizwort zur Wirkung ge- langte). Schon vor dem Aufstieg „Oerlikon“ macht sich eine zitternde Bewegung in der Kurve bemerkbar; indes hebt sich dieser Kurvenwert nicht so schroff und nicht so hoch hinauf. Das Experiment war überraschend; denn bei der vorherigen Auswahl der Reizworte hatte ich „Oerlikon“ (Name einer Zürich benach- barten Ortschaft) in die Reihe der zu rufenden Worte nieder- geschrieben in der Meinung, zwischen den differenten Reizen „Kronenhalle“ (Name der Stammkneipe der V.-P.) und „Mensur“ unter zwei andern ein drittes möglichst harmloses Wort einzufügen. Die Reaktionsantwort „Industrieort“ gibt als solches keine Er- klärung für die sonderbare Unruhe der galvanıschen Kurve, wohl aber die nachherige Schilderung der V.-P. dessen, was ihr bei Anhören des Reizwortes in den Sinn gekommen sei, was er aber bei der sprachlichen Reaktion unterdrückt habe. Er gab an, er habe gemeint, der Untersuchende hätte gewusst, dass er vor einigen Tagen in Oerlikon wegen einer Mensur von der Polizei abgefasst worden sei.

II. Assoziationsversuche ohne sprachliche Reaktion.

Versuch XXI. 2öjährige gesunde Frau. Griffelektroden, Shunt ausgeschaltet. Es werden der V.-P. in gemessenen Zeit-

416 Versguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

räumen folgende Reizworte zugerufen: Millimeter schwarz trinken Kuno Amiet Buch Babywagen Haushaltung München Glarus X. X. (Name einer verwandten Frau) springen. Die Versuchsperson hatte sprachlich nicht zu reagieren.

Fig. 14.

Assozistionskurve. Assoziationsexperiment ohne Reaktionsantwort. Oben

Sekundenmarken; in der zweiten Hälfte des Versuches versagte die Lampe.

Unten Reizmarken. Die entsprechenden Reizworte heissen, von links nach

rechts gelesen: Millimeter schwarz trinken Cuno Amiet Buch

Babywagen Hausbaltung München glarus xx (Name einer Verwandten) springen. Verkleinerung 1]s.

Vergleicht man diese Kurve mit den vorigen zwei, so fällt der ungemein viel ruhigere Verlauf ohne weiteres auf, besonders wenn wir bedenken, dass der dämpfende Shunt ausgeschaltet ist. Bezüglich der einzelnen Kurvenbewegungen sind auch hier wesent- liche Unterschiede der galvanischen Reaktion auf die verschiedenen Worte nachweisbar man vergleiche „Buch“ und „Babywagen“ „München“ und „Glarus“ einerseits und „X. X.“, den Namen der verwandten Frau, andererseits.

Die Höhenunterschiede der galvanıschen Reaktion zeigen sich anschaulich in dem folgenden

Versuch XXII. 80jähriger gesunder Mann, Griffelektroden, Shunt ausgeschaltet. Die im Bereich der reproduzierten Film- länge gerufenen Reizworte sind: Mutig Y.Y. (Name eines französischen Gelehrten, über den V.-P. kurz vor dem Experiment mit starker persönlicher Teilnahme gesprochen hatte) Apfel Brot Vater (Der Vater der V.-P. war um diese Zeit ernstlich krank) Stall Zentralblatt April.

vrdsansı EHE ————— 00m eesel esan 1er Re bwo

C TN T TOT

A - - . B

Fig. 15. Assozistionskurve. Assoziationsexperiment ohne Reaktionsantwort. Oben Sekundenmarken (in der Mitte des Films zu wenig scharf für die Reproduktion, daher weggelassen). Unten Reizmarken, die denselben entsprechenden Worte sind von links nach rechts gelesen: mutig 7 (Name eines französischen Ge- lehrten) Apfel rot Vater Stall Zentralblatt April. Ver- kleinerang !/s.

Bei der im ganzen (im Vergleich zu Versuch XIX und XX) ruhigen Kurve fallen als stärkste Reaktion die Kurvenbewegungen nach „Y. Y.“ und nach „Vater“ auf; auch „Zentralblatt“ ist von einer stärkeren Wallung gefolgt, als „mutig“, „rot“ und „Stall“.

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 417

Bei der Reaktion unter dem Worte „Apfel“ fällt auf, dass die Steigung. mit dem Reizwort koinzidiert; es ist naheliegend, diese gänzlich aus dem Rahmen aller andern Erfahrungen tretende Tatsache damit zu erklären, dass diese Schwankung eine Nach- wirkung des Reizes „Y. Y.“ ist, wie man sie gelegentlich in Form eines Doppelberges sieht (vgl. Reizreaktion in Versuch XI).

Die bis hierher geschilderten Assoziationsversuche liessen es als wünschenswert erscheinen, Unterschiede in der galvanischen Reaktion auf verschiedene Reizworte noch klarer herauszuheben, als dies bisher geschehen. Dieses Ziel wurde erreicht durch Ein- schaltung des dämpfenden Shunts, durch den die kleineren Schwankungen fast vollständig unterdrückt wurden.

Versuch XXV. 2öjährige gesunde Frau (gleiche V.-P. wie in Versuch XXIII. Griffelektroden, Shunt !/, Apparat 1906). Reizworte: Militär Rettig Altane Nelly (Name eines Kindes der V.-P.) Stärke Nerven Winkel X.I. Z. (Name einer Verwandten) Strom Marie (Name einer Be- kannten) Eisen.

vers V

A Fig. 16. Assozistionskurve. Assoziationsexperiment ohne Reaktionsantwort. Unten Sekundenmarken. Oben Reizmarken. Die diesen entsprechenden Reizworte heissen, von links nach rechts gelesen: Militär Rettig Altane Nelly Stärke Nerven Winkel xyz (Name einer Verwandten) Strom Marie Eisen. Verkleinerung ?/,.

Die zwei wesentlichsten Erhebungen der Kurve fielen auf die Worte „Militär“ und „X. I. Z.“, den Namen einer Verwandten, die zwei noch eben nachweisbaren auf „Nelly* und „Nerven“, die übrigen Reaktionen sind, falls sie überhaupt auftraten, durch den Shunt unterdrückt worden. Nun ist hervorzuheben, dass die V.-P. mit dem Begriff „Militär“ eine Menge von lebhaften Affekten, meist unlustiger Art, verbindet und dass die Verwandte X. 1.2. (wie auch die Verwandte X. X. im Versuche XXIII) in ihrem psychischen Leben zeitweise eine präponderante, ebenfalls mit stark ausgeprägten Unlustgefühlen ausgezeichnete Rolle spielt.

Den schärfsten Ausdruck des Unterschiedes in der Reaktion auf unbeantwortete Reizworte weist der

Versuch XXVI auf. 20jähriger gesunder Mann. Griff- elektroden, Shunt !/,, Apparat 1906. Reizworte: Eisen spazieren grün Berg Thusis (Heimat der V.-P.) Weiss Busch Mauer.

Die Kurve verläuft ohne die leiseste Erhebung bis zwei- einhalb Sekunden nach Lautwerden des Wortes Busch. Auch das Reizwort Thusis, von dem angenommen wurde, dass es ver-

418 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

mutlich bei der V.-P. Gefühlsreaktionen hervorrufen werde, ist von keiner Kurvenerhebung gefolgt. Nach dem Worte Busch aber plötzliches und steiles Ansteigen der Kurve mit nachherigem allmählichem Abfluten. Die Erklärung, die die V.-P. für dieses Phänomen gibt, ist folgende: er habe mit einem Freunde, Busch geheissen, in der letzten Zeit besonders häufig eine Wirtschaft

equentiertt und habe gedacht, dass der Untersuchende als Abstinent hierauf habe eine Anspielung machen wollen. Der

= a m p p p i p A —— ——383 Fig. 17.

Assozistionskurve. Assoziationsexperiment ohne Reaktionsantwort. Unten

Sekundenmarken, oben Reizmarken. Die diesen entsprechenden Reizwörter

heissen, von links nach rechts gelesan: Eisen spazieren grün Berg Thusis weiss Busch Mauer. Verkleinerung !/s.

Name dieser Wirtschaft ist „Apfelkammer“; im selben Versuch kommt später das Reizwort „Apfel“ vor, auf welches wieder eine wesentliche Erhebung der Kurve sich einstellte (hier in der Figur nicht reproduziert).

d. „Autochthone“ psychische Reize.

Unter dieser Bezeichnung mögen die Vorgänge angeführt werden, deren Wirkung auf das Galvanometer im folgenden Ver- suchsbeispiel dargestellt ist. Es wurde der V.-P. aufgetragen, innerhalb eines markierten Zeitraumes von 2 Minuten an beliebigen Momenten etwas schwierigere Kopfrechnungen zu lösen (z. B. eine 4—bstellige freigewählte Zahl durch 7 oder 9 zu dividieren). Während dieser Zeit wurde die Skala beobachtet und allfällige Schwankungen nach Anzahl und Grösse notiert. Sodann wurde der V.-P. aufgegeben, innerhalb der nächsten Versuchszeit von 2 Minuten, deren Anfang und Ende wieder markiert wurde, an etwas Gefühlsbetontes aus der jüngsten Vergangenheit zu denken, an ein Ereignis, persönliches Erlebnis mit starker innerer Teil- nahme, und es wurde beigefügt, dass es nicht nötig sei, nachher dem Untersuchenden darüber zu referieren. Auch während dieser Zeit wurden die Zahlen der Skala beobachtet und notiert. Schliess- lich erhielt die V.-P. die Aufgabe, wieder innerhalb 2 Minuten sich in eine ebenso gefühlsbetonte Erinnerung aus älterer Zeit zu versenken und sich diese so scharf wie immer möglich auszumalen. Gleichzeitig wurde die Wirkung auf dem Gralvanometer notiert,

Versuch XXVII. 26jähriges gesundes Mädchen. Griff- elektrode, Shunt !|.. Kopfrechnungsversuch. Keine Plusschwankung, stetiges Abfallen im Sinne der Ruhe- Kurve.

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phäuomen. 419

Erholun gepause. Erinnerungan.neuerlichespsychi- EinmaligeSchwankungvon8mm, sches Erlebnis. langsames Abfluten.

Erholungspause. Erinnerung an früheres psychi- EinmaligeSchwankung von 8mm, sches Erlebnis. langsames Abfluten.

Die V.-P,gibt an, innerhalb der ersten zwei Minuten zweimal vierstellige Zahlen durch 7 dividiert zu haben; über die Er- innerung an psychische Erlebnisse wurde der Verabredung gemäss keine Auskunft verlangt, jedoch gab die V.-P. spontan an, dass beide Erinnerungskomplexe ungemein intensiv gefühlsbetonte Er- lebnisse betreffen.

Die vorstehend angeführten Versuche dürfen deswegen als typisch gelten, weil keiner der ungezählten Kontrollversuche und keines der seither unternommenen anderweitigen Experimente ihren Resultaten grundsätzlich widerspricht. Es ist also zulässig, schon an dieser Stelle eine zusammenfassende Uebersicht des bisher Dargestellten zu versuchen.

1.Das psycho-galvanischeReflexphänomen bestehtin einerIntensitätsvariation eines elektrischen Stromes, der bei der „VersuchsanordnungM“ mindestens teilweise aus einer körperfremden, in den Stromkreis eingeschalteten Stromquelle entstammt. Es spielt deshalb bei dieser An- ordnung die Variation des Leitungswiderstandes des Körpers gegen diesen exogenen Strom eine Rolle bei der Varıation der Stromintensität. Durch die wesentliche Kom- ponente der Abstufung eines in körperfremder Stromquelle ent- stehenden und den Körper der V.-P. passierenden Stromes unter- scheidet sich das psycho- galvanische Reflexphänomen in dieser Form, wie unten auszuführen sein wird, grundsätzlich von den Tarchanoff-Stickerschen Versuchen.

2. Die Variation geschieht im Sinne der Abnahme der Stromintensität, wenn die V.-P. im Zustand der Ruhe längere Zeit in der Stromkette eingeschaltet bleibt. Durch diese Tatsache stellt sich die „Ruhekurve“ in Gegensatz zu den gewöhnlichen bisherigen Erfahrungen über anfängliche Variationen des Körperleitungswiderstandes gegen einen durch- fliessenden elektrischen Strom.

8. Die Variation verläuft im Sinne der Intensitäts- zunahme, wenn die V.-P. Reizen ausgesetzt wird. Diese Reize können von aussen her die V.-P. treffen, auf dem Wege der peripheren Sinnesorgane oder durch Erregung der höheren, perzeptiv-sprachlichen Sphäre; anderer- seits können sie auch „autochthonen“ Ursprungs sein (Versuch III bis XXVII).

4. Auch beiden sensvriellen Reizen ist eine psychische Komponente als notwendig zur Hervorbringung des gal-

420 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

vanischen Reflexphänomens anzunehmen. Dieser letzte Satz bedarf einer genaueren Besprechung, da in den Erklärungen der einzelnen Versuche auf diesen Punkt noch nicht eingegangen worden ist. Es darf zunächst darauf hingewiesen werden, dass in den akustischen Reizversuchen bei im übrigen absoluter Stille ein ganz leises Geräusch genügte, um eine Reaktion hervorzurufen, und dass man genötigt war, als einheitlichen Reiz bei allen Versuchen einen ziemlich intensiven Knall zu wählen, um gegen die Geräusche der Umgebung konkurrieren zu können. Die galvanische Reaktion auf akustischen Reiz ıst also eine elektive; sie zeichnet diejenigen akustischen Reize aus, welche die Aufmerksamkeit der V.-P. erregen. Ferner sei in Er- innerung gebracht, dass bei Wiederholung des scharfen Knalles eine Erschöpfung des Phänomens eintrat, doch wohl nicht deshalb, weil die folgenden akustischen Reize weniger scharf perzipiert worden wären, sondern weil die innere Teilnahme an diesen Reizen abnimmt. Nach einer genügend langen Pause erholt sich das galvanische Phänomen. Ein später wiederholter gleicher Reiz ruft aufs neue Spiegelschwankung hervor: die Aufmerksamkeit der V.-P. hat sich durch völliges Ausruhen oder durch ander- weitige Betätiguug soweit erholt, dass ein neuer gleicher Reiz wieder mit einer neuen Aufmerksamkeit empfangen werden kann; der Reiz wird nach einer Pause wieder aktuell. Dieser Auffassung widerspricht m. E. auch die Tatsache nicht, dass ein qualitativ gleicher, nach der Intensität aber ungleicher Reiz un- gleiche galvanische Reaktion hervorruft. Der kaum hörbare Schuss im dritten Zimmer „interessiert“ die V.-P. entschieden weniger als ein lauterer Knall im nächsten oder gar ein solcher im gleichen Zimmer, die naturgemäss einen erheblich höheren Reizunterschied gegen die übrige absolute oder relative Stille bedeuten. Man denke nur an die Unterschiede in den anderen Ausdrucksreaktionen für psychische Vorgänge, die unser Körper durchmacht, wenn wir einen energischeren akustischen Reiz, z. B. den eines Kanonen- schusses 1 km weit, 100 m weit oder 2 m weit vom Geschütz entfernt empfangen.

Es dürfte überflüssig sein, auf die Analogien bei den opti- schen und taktilen Reizversuchen ausführlicher hinzuweisen.

5.Auchbei denhöheren psychischenReizenistdiegal- vanische Reaktion eine elektive, indem ein quantitativer Unterschied besteht zwischen den Reaktionen auf Reize, welche von Gefühlsbetonung begleitet sind, und solchen, dieesnicht sind. Man vergleiche die Reaktionen auf Kopfrechnen und auf autochthone Erweckung einer gefühlsbetonten Erinnerung in Versuch XXVI, man vergleiche die Kurvenhügel bei den Assoziationen auf die verschiedenen zugerufenen Worte, ferner die Verschiedenheit der Reaktion auf indifferente und differente Lektüre.

6. Das Moment der Gefühlsbetonung allein ist es nicht, das die Stärke der galvanischen Reaktion bedingt:

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 421

es kommt auch bei den höheren psychischen Reizen als weitere Komponente deren Aktualität in Betracht. Das

alvanısche Reflexphänomen ist also ein Indikator für

efühlsbetonung und Aktualität des psychischen Reizes. Belege hierfür liefern die Versuche mit autochthonen Reizen (vgl. Versuch XXVII, wo die alte Erinnerung 3 mm, die rezente 8 mm Ausschlag hervorrief). Reiner tritt diese Erscheinung vor Augen in den Assoziationsversuchen, namentlich in denjenigen ohne Reaktionsantwort. Es sei z. B. erinnert an den Versuch XXI, wo ein wesentlicher Ausschlag der Nennung des Namens eines fran- zösischen Gelehrten folgte, über den man eben vor dem Experiment debattiert hatte, oder an die Reaktion auf „Oerlikon“ im Versuch XX, wo die V.-P. an etwas wenige Tage vorher Erlebtes erinnert worden war.

7. Die Aktualität des psychischen Reizes kann auch darin bestehen, dass für die V.-P. deshalb die Reize gefühlsbetont werden, weil sie von der Person des Ex- perimentators ausgehen. Zur Illustration dieses Satzes möge der Hinweis genügen auf den Versuch, dessen Reaktion „Busch“ nach Aussage der V.-P. deswegen aufgetreten ist, weil der Unter- suchende Abstinent, die V.-P. aber nıcht Abstinent ist und die letztere eine Anspielung des Experimentators auf die Tatsache und daran sich anschliessende Gedankenreihe vermutete.

Auf den gleichen Grund dürfte auch die Tatsache zurück- zuführen sein, dass im grossen und ganzen die autochthonen psychischen Reize geringere Ausschläge provozieren als die von aussen her erregten, ferner auch die zweite, dass Assoziations- versuche mit Reaktionsantwort der V.-P., bei denen also die V.-P. gezwungen ist, nach aussen Stellung zu nehmen zu dem Reize, viel heftigere Kurven zutage fördern, als die Versuche ohne Reaktionsantwort, bei denen dieses Moment einer Offen- barung gegenüber dem Experimentator wegfällt.

s . k

Beim Versuche, das bisher Gefundene vorläufig im grossen und ganzen einzureihen in frühere Untersuchungs- befunde der Elektrophysiologie, müssen wir von der Tat- sache ausgehen, dass das, was die Spiegeldrehungen uns zeigen, vorderhand nichts anderes ist als der Ausdruck einer Variation der Stromintensität. Nach dem Ohmschen Gesetz ist diese direkt proportional der elektromotorischen Kraft und umgekehrt proportional dem Widerstand.

Es erhebt sich deswegen zunächst die Frage: Ist die Strom- stärke beim galvanischen Reflex-Phänomen variabel, weil eine dieser zwei Grösen variabel und die andere konstant ist, oder weil beide variabel sind?

Unkontrollierbare Variabilitäten des Widerstandes in dem Stromkreisteile ausserhalb der V.-P. sind ausgeschlossen; die Tat-

422 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

sache der Variabilität des Leitungswiderstandes des menschlichen Körpers gegen durchfliessenden Strom ist bekannt. Mit ihr haben wir also bei unseren Experimenten mit körperfremdem, durch- fliessendem Strom sicher zu rechnen. Nun zeigt sich aber bezüglich dieses Leitungswiderstandes ein auffallender Unterschied zwischen den obigen Resultaten und den gewohnten Erfahrungen aus der Elektrodiagnostik: bei unseren Experimenten nimmt, wenn keine Reize eintreten, die Stromstärke stetig ab, nicht, wie wir gewohnt sind zu beobachten, der Widerstand. Hier ist also ein erstes Problem, welches das galvanische Reflex-Phänomen in Gegensatz stellt zu bisherigen Annahmen. An dieses schliesst sich das zweite, welches sich ergibt aus der Tatsache, dass in den obigen Experimenten die Hohlhand die beste Applikationsstelle bietet, während die Applikation der Elektroden mit gleich grossen Flächen an anderen Stellen der Haut viel geringeren Spiegelausschlag ergibt, eine Tatsache, auf die hier vorderhand nur hingewiesen werden soll und die den banalen Erfahrungen über Lokalisation des Leitungs- widerstandes der Körperoberfläche, wie wir sie von den elektro- diagnostischen Massnahmen her gewohnt sind, direkt entgegensteht. Es kann sich also beim galvanıschen Reflex-Phänomen nicht um eine einfache Variation des Leitungswiderstandes handeln, wenigstens nicht im Einklang mit den bisherigen elektrodiagnostischen An- schauungen über diesen.

Vielmehr muss wohl bei diesen Experimenten in der Ohm- schen Formel auch E, die elektromotorische Kraft, eine variable sein. Dies ist nur dann möglich, wenn ausser der konstanten Strom- quelle der Batterie noch andere, variable Quellen im Stromkreis vorhanden sind. Dass dem so ist, wird evident durch Zusammen- stellung der obigen Versuche mit denjenigen Tarchanoffs und Stickers.

Tarchanoff fand Ablenkungen des Galvanometers, wenn die angeschlossene V.-P. Reizen der Sinnesorgane ausgesetzt wurde, wenn sie im Zustand der Erwartung war, wenn willkürlich hervor- gerufene Empfindungen, Gefühle und Vorstellungen in ihr ab- liefen, abstrakte geistige Tätigkeit oder willkürliche motorische Innervationen von ihr vorgenommen wurden. Die Schwankungen bei den Tarchanoffschen Versuchen unterscheiden sich von den oben beschriebenen phänomenologisch im wesentlichen nur dadurch, dass sie, wohl wegen mangelnder Dämpfung, quantitativ grössten- teils unkontrollierbar waren. Bei diesen Versuchen nun war eine körperfremde Stromquelle, die den Leclanche- Elementeninder „Anordnung M“ entsprochen hätte, nicht in den Stromkreis eingeschaltet. Als Galvanometer wurde ein Meissner und Meyersteinsches Modell gebraucht. Die Ströme verschiedener Partien der Haut wurden in das Galvano- meter geleitet durch unpolarisierbare Tonelektroden, die mit den zu untersuchenden Stellen der Hautstrecke mittels 10—15 cm langer, in physiologischer Kochsalzlösung getränkter hygro- skopischer Wuttebäusche verbunden waren.

Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 423

Die Stickerschen Versuche haben nach der technischen Seite hin diejenigen Tarchanoffs bestätigt, nach der phänomeno- logischen Seite erweitert. Sticker bediente sich eines Galvano- meters nach Dubois und Rubens und unpolarisierbarer Elek- troden. Er konstatierte u. a. das Auftreten einer gelegentlichen negativen Vorschwankung vor den starken Hauptschwankungen auf Sinnesreize, er beobachtete Analoga unserer oben beschriebenen Ruhekurve (mit sinkenden Skalenwerten bis auf Null) und solche der oszillierenden Bewegungen, wie sie z. B. auf Fig. 13 oben abgebildet sind.

Aus diesen Zitaten geht hervor, dass in einer Stromkette ohne körperfremdeElemente(„AnordnungT.S.“) ein Strom entsteht, dessen Schwankungen zum mindesten ähnliche sein müssen mit den Spiegelschwankungen des galvanischen Reflex-Phänomens bei der „Anordnung M“. Das dritte Problem formuliert sich also in der Frage: Wo entsteht dieser Strom?

Es sind drei Möglichkeiten vorhanden. Er kann entstehen an den Kontaktstellen, er kann jenseits derselben in der V.-P. entstehen und die Haut passieren, oder drittens kann beides der Fall sein. Falls nur erstere Stromquelle im Menschen in Betracht kommt, so muss bei den Reizversuchen ein somatischer Vorgang bestehen, der diese Stromquelle an der Kontaktstelle beeinflusst nach psycho-physischen Gesetzen. Die neuerlichen Untersuchungen von Sommer!) und Fürstenau!) machen es wahrscheinlich, dass die Elektrizität, die an der Kontaktstelle entsteht, eine Rolle spielen muss.

Diese Autoren fanden, dass der menschlichen Haut mit aller Wahrscheinlichkeit eine ganz bestimmte Stellung in der elek- trischen Spannungsreihe zukomme, d. h. dass sie mit einer Gruppe von Metallen in Berührung gebracht, ein positives, mit einer anderen Gruppe ein negatives Potential annimmt, und zwar soll diese Stellung zwischen Zink und Aluminium sein.

Wir können also die Ohmsche Formel für das galvanische Refiexphānomen bei der oben skizzierten Anordnung M folgender- massen erweitern:

E app konst. + E Körper var

I= W app + W Körper var.

Aus diesen Ueberlegungen geht hervor: Die Frage nach dem Wesen des galvanischen Reflexphänomens spaltet sich vorder- hand in drei Probleme:

1. Neue Fragen bezüglich des Leitungswiderstandes des menschlichen Körpers.

2. Nachweis der elektromotorischen Quellen im oder am Körper, die unter Reizen im psycho-galvanischen Reflexphänomen variabel sind.

1) loc. eit.

424 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.

8. Nachweis der anatomischen Substrate des zentrifugalen Reflexschenkels bis hinaus zur Elektrode.

Spätere Berichte werden über Versuche handeln, die sich mit diesen Fragen beschäftigen.

Bis jetzt kann nur das eine als feststehend betrachtet werden: dass das galvanische psychophysische Reflexphänomen ein kom- ‚plizierter Vorgang ist mit einer grossen Anzahl von variabeln und noch nicht bis auf den letzten Kern herausgeschälten Komponenten. Doch darf schon beim jetzigen Stand der Dinge behauptet werden, dass zunächst auf zwei Wissensgebieten das Phänomen Per- spektiven eröffnet: auf dem experimentell-psychologischen (und damit indirekt auf dem psychiatrischen) und em neurologischen.

Auf dem ersteren deshalb, weil wir in dem gulvanischen Reflexphänomen eine „Ausdrucksmethode* par excellence besitzen. Namentlich wenn die Technik des Versuchesnoch weiter ausgearbeitet sein wird, wenn z. B. durch genaue Dosierung des sensoriellen Reiz- versuches die Studien über die psychischen Komponente vervoll- ständigt sein werden Arbeiten, wie sie in jedem psychologischen Institut, aber auch nur in einem solchen, möglich sind, dann wird man hier einen Indikator in erster Linie für die Gefühlsreaktion im allgemeinen, dann besonders wohl auch für die Aufmerksamkeit und die psychische Ermüdung um nur das zunächst Liegende zu nennen vor sich haben, der vermutlich die vieldeutigen anderen Ausdrucksmethoden der Sphygmo-, Plethysmo- und Ergo- graphie an Klarheit und elektiver Differenzierung übertrifft. Welche Konsequenzen für die experimentelle Psychologie sich darausergeben werden, ist freilich des genaueren im voraus nicht festzulegen.

Dagegen wird es am Platze sein, im jetzigen Stadium der Erkenntnis vor zu weit gehender Einschätzung der praktischen Bedeutung des Phänomens in einer bestimmten Richtung zu warnen. Seit der Veröffentlichung der Resultate in Würzburg ist mir der Vorschlag mündlich und schriftlich zu verschiedenen Malen gemacht worden, es sollte diese Methode gerichtlich beim Verhör von Verbrechern zur Erhebung eines Tatbestandes ver- wertet werden. Ich lese in Stickers Arbeit, dass dieser Autor für seine Methode eine ähnliche Verwertung voraussieht. Allein die Praxis wird hier erhebliche Schwierigkeiten bereiten: Nehmen wir z. B. an, dass zwei Menschen eines Verbrechens bezichtigt werden; der eine sei schuldig, der andere unschuldig. Wenn nun im Verlauf des Verhöres der Unschuldige galvanische Reaktionen der Gefühlsbetonung äussert bei Anspielungen auf die inkriminierte Tat, so beweist das doch nicht mehr, als dass diese psychischen Reize, denen er während des Versuches ausgesetzt wurde, bei ihm momentan innere Teilnahme hervorrufen ob aber deshalb, weil er schuldig ist oder weil diese Reizbegriffe im Verlauf des Verhöres für ihn an Gefühlsbetonung und Aktualität gewonnen haben, ist damit bei weitem noch nicht entschieden. Immerhin sind Fälle denkbar, in denen das psycho-galvanısche Reflex-

Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotiee 425

phänomen, nachdem es nach allen Richtungen geprüft und end- ältig in seinem Wesen scharf umschrieben ist, auch für ein solches Verfahren wertvoll werden mag.

Die Perspektiven nach der neurologischen Seite hin sind nicht abgegrenzt in den Fragen nach dem anatomischen Substrat des zentrifugalen Schenkels des Reflexbogens der doch zum mindesten grösstenteils aus Nervenbahnen bestehen muss —, sondern es wird sich auch darum handeln, hier neueren Problemen nach- zugehen bezüglich der Reizung sensibler Bahnen der Körper- oberfläche. Haben wir im galvanischen Reflexphänomen eine Methode des objektiven Nachweises der sensiblen Reizung oder nicht? Sticker verneint die Annahme für seine Versuche. Wie sich das galvanische Reflexphänomen zu dieser und andern aktuellen Fragen über die Sensibilität der Körperoberfläche verhält, darüber werden spätere Berichte über meine bezüglichen Untersuchungen Aufschluss zu geben versuchen.

Bei der Redaktion eingegangen am 28. XI. 1906.

(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Kgl. Charité in Berlin.)

Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie. Von

Dr. K. TAKASU. (Hierzu Taf. IX—X.)

Im folgenden will ich über zwei Fälle von Idiotie berichten, nämlich:

1. Fall: Idiotie mit Littlescher Krankheit.

Befunde: Sklerotische Atrophie der Stirnrinde und Kleinheit der Pyramidenbahnen.

2. Fall: Idiotie mit epileptiformen Krämpfen.

Befunde: Entwicklangshemmung der Stirnrinde, mehrere Gliome auf den beiderseitigen Corpora striata und multiple Gliose in den Markbündelstrahlungen.

1. Fall.

O. R., geboren am 18. XI. 1885, gestorben am 11. V. 1904 an Lungentuberkulose. Aufgenommen in der lIdiotenanstalt zu Potsdam am 11. VIII. 1902.

Krankengeschichte.

In Bezug auf Heredität ist nichts Näheres bekannt, doch sind andere Mitglieder der Familie nicht geisteskrank.

426 Tukasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.

Ueber die Gravidität der Mutter und die Geburt des Patienten ist nichts augegeben. Beim Säugling fiel es schon auf, dass er nicht sitzen, stehen und sprechen lernte; ausserdem hatte er schon früh eine steife Gliederhaltung. Er konnte sehen, hören und riechen. Gegen die Aussenwelt scheint er teilnehmend und meldet seine natürlichen Bedürfnisse an. Ge- wöhnlich zeigt er sich freundlich und ruhig. Uebrigens hat er keine auf- fallenden Angewöhnungen, Unarten und Liebhabereien und hat niemals an Krämpfen gelitten.

Status praesens: Mittelkräftig gebauter junger Mann in gutem Er- nährungszustand. Er hat keine abnorme Koptbildung nur etwas niedrige Stirn. Die Ohren sind gross und stehen weit vom Kopf ab. Die Zähne stehen unregelmässig und sind teilweise kariös. Die Zunge wird ohne Zittern

erade hervorgestreckt. Die Uvula steht gerade. Die Bulbi sind nach allen Richtungen frei beweglich. Die Pupillen sind mittelweit und gleichweit und reagieren prompt auf Lichteinfall und Akkommodation.

Die Brust ist am unteren Ende des Sternums trichterförmig vertieft. Die Lungengrenzen sind leicht und aurgiebig verschieblich und finden sich an der normalen Stelle; Dämpfungen sind im Bereich der Lunge nicht vor- handen; das Atemgeräusch ist überall rein vesikulär. Die Herztöne sind rein; die Dämpfungsfigur des Herzens ist nicht vergrössert; der Spitzenstoss be- findet sich an der normalen Stelle.

Die Bauchorgane sind ohne krankhaften Befund. Hoden, Penis und Skrotum sind ziemlich gross. Der Urin ist frei von Zucker und Albumen.

Die Arme sind im Ellenbogengelenk nur wenig beweglich; die Finger sind nur zum Teil zu strecken. Die unteren Extremitäten sind kreuzförmig übereinandergeschlagen; die Füsse stehen in Spitzfussstellung. Die Muskulatur der Extremitäten, besonders der unteren, ist stark strophisch. Der Kranke kann nicht allein gehen, sitzen oder stehen. Er ist von Zeit zu Zeit erregt und versucht, um sich zu schlagen. Die Patellarreflexe sind sehr gesteigert; Abdominal- und Cremasterreflexe sind vorhanden.

Die Sensibilität weist keine gröberen Störungen auf.

Er kaun nur einzelne Worte sprechen; er scheint aber fast alles zu verstehen, was man ihm sagt.

Verlauf: Nach der Aufnahme in der Anstalt blieb der Zustand im ganzen unverändert.

Seit 19. IV. 1904 litt er an fieberhafter Lungentuberkulose und starb am 11. V. desselben Jahres un allgemeiner Schwäche.

Makroskopische Untersuchung des in Formalin gehärteten Ge- hirna und Rückenmarks:

Das Gehirn ist 16,0 cm lang, 15,2 cm breit und 7,7 cm hoch, ist also als Ganzes verhältnissmässig klein. Die weiche Hirnhaat ist stark injiziert and mässig verdickt. In dem vorderen Teil der ersten linken Stirnwindung liegt ein fingerspitzengrosser, dünner, mit Pia und Rinde fest verwachsener Verkalkungsherd. Die Hirnrinde des Stirn- und Occipitallappens ist sehr resistent, und die Windungen sind an diesen Stellen etwas schmal. Die Seitenveutrikel sind beiderseits etwa normal weit. Das Corpus callosum ist 2,0—2,8 mm dick.

Auf den Frontalschnitten des Thalamus opticus und Nucleus caudatus sieht man beiderseits einige erbsengrosse, resistente grauweisse Herde.

Der Pons und das Kleinhirn bieten nichts Bemerkenswertes.

In der Medulla oblongata ist die Pyramide etwas schmal.

Die Grösse des Rückenmarks beträgt im unteren Cervikalteil 5,5 X 9,0 mm und im oberen Lumbalteil 7,0X 7,0 mm, ist also als Ganzes sehr klein, und ‘zwar scheinen namentlich die Seitenstränge überall schmal zu sein; übrigens ist der Centralkanal erweitert,

Mikroskopische Untersuchung: Bei der Untersuchung der Gross- und Kleinhirnrinde habe ich einige Stücke von jedem Lappen herausgeschnitten und einerseits nach Nissl, andrerseits nach Pal gefärbt.

Bei der Untersuchung der zentralen Ganglien, der Brücke, des ver- längerten Markes und des Rückenmarks habe ich Serienschnitte einer Strecke von jedem dieser Teile gemacht und nach Pal und van Gieson gefärbt.

Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie. 427

Lobus frontalis: In der Rinde der unteren Stirnwindungen kann man kaum irgendwelche typische Pyramidenzellen sehen. Die kleineren sowie grösseren Pyramidenzellen haben eine eckige Form und meist spärliche kurze Fortsätze; auch ihre Lagerung ist sehr unregelmässig. Dagegen hat die Rinde der oberen Stirnwindungen fast normalen Bau, nur ist die Zahl der grösseren Pyramidenzellen etwas gering. Die tigroide Substanz der Ganglienzellen ist im allgemeinen wohl erbalten. Die Blutgefässe und Gliskerne sind überall beträchtlich vermehrt. Was die feineren Fasern der Rinde betrifft, so sind nur die Tangentislfasern etwas spärlich.

Gyri centrales: In der Rinde der Zentralwindungen, besonders im oberen Teil der vorderen Zentralwindung, sieht man wieder viele umgestaltete Pyramidenzellen, die sehr unregelmässig gelagert sind. Die grössten Pyramiden- zellen messen 15 x in der Breite. Die Vermehrung der Blutgefässe und der Glia- kerne sowie die Erweiteruug der perivaskulären und pericellularen Räume sind hier besonders deutlich (vgl. Fig. 1). Die feineren Fasern in der Rinde dieser Windangen sind im allgemeinen weniger dicht.

Lobas occipitalis: Die oberen Oceipitalwindungen baben fast nor- malen Bau, jedoch scheint die Schicht der grossen Pyramidenzellen etwas schmal und die Zahl dieser Zellen auch kleiner als normal zu sein. Die Ver- mebrung der Blutgefässe und der Kerne ist hier nicht so beträchtlich. Der Vicq d’Azyrschen Streifen ist etwas dänn.

Die der Fissura calcarina näher liegenden Windungen zeigen keine besondere Abweichung von der Norm, ebenso auch die der Parietal- und Temporallappen.

Kleinhirn: Die Ganglienzellen sowie die Markfasern sind ganz normal. Die Blutgefässe und Gliakerne sind etwas zahlreich.

Die zentralen Ganglien: In dem medialen Teile des Nucleus caudatus und des Thalamus opticus sieht man beiderseits einige gefässreiche Stellen, die den makroskopisch als resistente grauweisse Herde beschriebenen Stellen entsprechen.

Peduneuli cerebri und Pons zeigen nichts Abnormes.

Medulla oblongata: Beide Pyramiden sind verhältnismässig schmal (vgl. Fig. 2). Die Ganglienzellen der Hirnnervenkerne sind wohlerhalten.

Rückenmark: An den Bahnen und Ganglienzellen sind gar keine Veränderungen nachweisbar, uur sind die Seitenstränge überall schmal. Der Zentralkanal ist besonders lin der unteren Hälfte des Halsmarks auf das Doppelte erweitert, und in der Substantia gelatinosa centralis sind viele ge- schlängelte Blutgefässe sichtbar.

Wenn wir die klinischen und pathologisch-anatomischen Be- funde resumieren, so sind sie kurz folgende:

Ein 19jähriger, apathischer, leicht schwachsinniger Mann, der schon seit der Säuglingszeit spastische Starre aller Ex- tremitäten zeigte und niemals allein sitzen, stehen und gehen, nur bei psychischer Erregung die Extremitäten bewegen konnte (also keine totale Lähmung). Exitus an Lungentuberkulose.

Pathologisch-anatomischer Befund: Verdickung der Pia mit einer Verkalkungsstelle über dem linken Stirnlappen, Verhärtung und Schmalheit der Frontal-, Zentral- und Occipitalwindungen, un- regelmässige Formen und Lagerungen der Ganglienzellen in den Stirn- und Zentralwindungen, vermehrte Blutgefässe und Gliakerne in der Gehirnsubstanz (kurz: diffuse atrophische, sklerotische Ver- änderungen); ausserdem mehrere resistentere, gefässreiche Herde in den Zentralganglien, Kleinheit der Pyramidenbahnen und Er- weiterung des Üentralkanals.

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 5. 29

428 Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.

Die oben erwähnten klinischen Symptome stimmen mit dem Bild der Littleschen Krankheit überein, welche nach Freud!) zwei klinische Merkmale hat, nämlich: 1. das Ueberwiegen der Starre über die Symptome der Lähmung; 2. die stärkere Beteiligung der Beine an den Krankheitssymptomen. Leider fehlt eine genaue Angabe über die Geburt des Patienten,

Die pathologisch-anatomischen Befunde bestehen in der atrophischen Sklerose vieler Windungsbezirke mit gleichzeitiger Verdickung der darüberliegenden Pia mater, wie es Mac Natt, Railton u. A.2) in Fällen gefunden haben, welche durch die Littleschen aetiologischen Momente, d. h. Geburtsanomalien, verursacht sein sollen. |

Stellen wir nun die klinischen Symptome mit den gefundenen pathologisch-anatomischen Veränderungen zusammen, so erklären sich die Störungen der Sprache und der psychischen Funktion durch die atrophische Sklerose des Stirnlappens. |

Wodurch kann man jedoch die allgemeine Starre erklären? Diesbezüglich wollen wir einen kurzen Blick auf die bisherige Literatur werfen.

Nach Freud?) sind verschiedene pathologische Prozesse als Ursache der allgemeinen Starre angegeben, nämlich: Mac Nutt fand eine sklerotische Schrumpfung der motorischen Region selbst bilateraler Degeneration der Rückenmarksstränge, dagegenRailton eine Verdickung der Pia mater, Verminderung der Zahl der grossen Pyramidenzellen und Vermehrung der Neuroglia ohne Veränderung der Pyramidenbahnen. Henoch beobachtete skle- rotische Atrophie des: Frontallappens nebst Verdickung der Pia mater, Erweiterung des Seitenventrikels und Atrophie des Corpus callosum und des Fornix. Ross, de Forest Willard und J H. Lloyd fanden Porencephalie um die Rolandische Furche, und Otto fand .beiderseitige ausgiebige Defekte verschiedener Stirnwindungen und Verwachsung der Pia mater. Dagegen fasste Ganghofner diepathologisch-anatomischen Befunde einestypischen Falls von allgemeiner Starre zusammen als Hydrocephalus und Hydromyelus chronicus leichten Grades, und bei einem anderen Falle konnte er makroskopisch keine Veränderung des Zentralnerven- systems konstatieren.. _

Nachdem die Monographie Freuds erschienen ist, wurden noch folgende Fälle von Littlescher Krankheit berichtet: Philipp und Cestan*) fanden bei vier Fällen Intaktheit der. Pyramidenstränge und glaubten, dass der eigentliche Sitz in einer Erkrankung der Ganglienzellen der grauen Vorderhörner zu suchen

1) Freud, Die infantile Cerebralläihmung (Nothnagel, Spez. Pathol. u. Therapie, IX. Bd., 1897). S. 111. `>

3) Ibid. S. 180 u. 181. F

3) Freud, l. o. S. 180—187.

4) Cestan, siehe Rolly, Angeborene doppelseitige Starre (Littlesche Krankheit) bei Zwillingen mit Sektionsbefund. Deutsche Zeitschr. f. Nerven- heilkunde. Bd. 20. =

Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie. 429

sei. Massalongo!) beobachtete bei einem Fall eine Verfärbung und Konsistenzvermehrung der Stirn- und prärolandischen Win- dungen, und fand deutliche Degeneration der Pyramidenbahnen nur im Cervikalteile.

Collier?) fand in einem Fall von „generalised rigidity“ eine Verdickung der Pia, Atrophie und Derbheit der Frontal- und Zentralwindungen, Zurückbleiben in der Zahl und Grösse der Pyramidenzellen in der Rinde sowie Degeneration der Pyramiden- bahnen, und in einem anderen Fall keine Veränderung der Pia, sondern nur leichtere Schrumpfung der Frontal- und Zentral- windungen, Atrophie und Verminderung der Pyramidenzellen ın der Rinde nebst einer deutlichen Degeneration der Pyramiden- bahnen.

Kotschetkowa?) hob als eine interessante Tatsache hervor, dass sie bei einem Fall von totaler Gliederstarre nur eine leichte Verminderung der Riesenpyramidenzellen in den Zentralwindungen and leichte Verschmälerung der Pyramiden gefunden habe.

Rolly*) konstatierte bei vier Fällen, die angeborene Muskel- starre ohne Lähmung im klinischen Verhalten boten, makroskopisch negativen Befund bei der Sektion und mikroskopisch Wucherung des Gliagewebes und Vermehrung der Blutgefässe im Gehirn und Rückenmark.

Huet und Sicard°) behaupteten, dass die Littleschen Symptome sich durch die bilateralen symmetrischen meningo- encephalitischen Läsionen in der Gegend der motorischen Zentren erklären lassen.

Wie oben erwähnt,sind die pathologisch-anatomischen Befunde der Littleschen Krankheit sehr verschieden, und zwar gibt es keinen einzigen bestimmten Befund, welcher bei allen Fällen ge- meinsam nachgewiesen worden ist. Nur eine sklerotische Veränderung des motorischen Rindengebietes ist bei den meisten Fällen nachweis- bar, durch welche daher viele obengenannte Autoren die allgemeine Starre erklären wollen. Dagegen sind Veränderungen der Pyramiden- bahnen, Erweiterung der Gehirnventrikel und des Zentralkanals sowie andere Abnormitäten ganz vereinzelt konstatiert worden.

Freud®) hat auch die Hypothese aufgestellt. dass die Starre entsteht, wenn die Funktion des cortico - motorischen Neurons nur abgeschwächt ist. Neuerdings hat Knapp’) sogar über zwei Fälle von funktionellen Psychosen berichtet, bei denen

1) Massalongo, Ueber cerebrale Diplegien im Kindesalter. Wiener med. Blätter 1898. No. 7—12.

23) Collier, Cerebral diplegia. Brain. Vol. 22. 1899.

3) Kotschetkowa, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Mikro- gyrie und der Mikrocephalie. Arch. f. Psych. Bd. 34. S. 39.

t) Rolly, Angeborene doppelseitige Starre bei Zwillingen mit Sektions- befand. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 20. 1901.

5) Huet und Sicard, Cerebral diplegia. Neurol. Centralbi. 1903. S. 143.

©) Freud, l.c. S. 247.

1) Knapp, Spastische Symptome bei funktionellen Geistesstörungen. Monatsschr. f. Psych. und Neurol. Bd. 16. H. 8.

29%

480 Takasn, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.

ausgesprochene Steifigkeit an den Extremitäten ohne irgend eine anatomische Veränderung im Zentralnervensystem vorkam.

Bei meinem Fall sind als wichtige Befunde die sklerotische Veränderung der Zentralwindungen, Gefässproliferation in den Zentralganglien, Erweiterung desCervikalkanals und Verküämmerung derPyramidenbahnen zu betrachten, aber nach kritischer Würdigung der bisherigen Literatur komme ich zu dem Schlusse, dass nur die sklerotische Veränderung der motorischen Rindenregion die Ursache des Littleschen Krankheitsbildes sein kann. Die übrigen Befunde sind teils als zufällige Komplikation, teils als Folgen der Atrophie der motorischen Rindenregion zu betrachten.

II. Fall. A. B., geboren am 30. VI. 1898, gestorben am 10. 1V. 1902 an Lungentuberkulose. Aufgenommen in der Idioten- anstalt zu Potsdam am 12. X. 1901.

Krankengeschichte.

Die Eltern sind nicht mit einander verwandt. Andere Glieder der Familie sollen nicht an Krämpfen oder anderen Krankheiten des Nerven- systems leiden.

Es fehlen genaue Angaben, wie es dem Knaben als Säugling gegangen ist. Von seinem zweiten Lebensjahre litt er oftmals an epileptilormen Krämpfen, welche zugleich doppelseitig in Armen und Beinen auftraten. Auch machte er zeitweise standenlang anhaltende automatische Bewegungen: Wiegen des Körpers und Schlagen mit der Faust gegen den Kopf. Er kann nicht allein gehen und nicht seinem Alter gemäss sprechen. Gegen die Aussenwelt scheint er ganz gleichgültig, seine Stimmungslageist gewöhnlich freundlich. Er ist absolut unreinlich.

Status praesens: Mittelkräftig gebauter Knabe. Er hat keine abnorme Kopfbildung. Der Mund ist geöfinet, so dass der Speichel heraus- fliesst. Die Augäpfel sind intakt, dagegen ist sein Sehvermögen entweder leich Null, höchstens ist vielleicht eine Unterschiedwahrnehmung zwischen

ell und Dunkel vorhanden. Sprechen und hören kann er ebenfalls nicht. Es ist zweifelhaft, ob er riechen kann.

Von Seiten der Brustorgane ist kein krankhafter Befund anzugeben, ebenso wie von denen der Bauchorgane.

Die Extremitäten sind frei von Läbmungen, jedoch kann der Knabe nur dann gehen, wenn er an beiden Händen geführt wird, und dabei pflegt er sich ängstlich an seinen Führer anzuklammern. Patellar-, Bauch- und Cremasterreflexe sind normal erhalten.

Urin ist frei von Eiweiss und Zucker.

Verlauf: Nach der Aufnahme fand keine Veränderung der eigentlichen Krankheitssymptome statt.

Seit dem Anfang Januar 1902 bekam er fieberbafte Lungentuberkulose, dann Decubitus, Otorrhoe und hartnäckige Diarrhoen. Endlich ist er am 10. IV. desselben Jahres infolge fortschreitender Schwäche gestorben.

Makroskopische Untersuchung des in Formalin gehärteten Gehirns und Rückenmarks.

Das Gehirn ist 14,2 cm lang, 18,4 cm breit und 6,9 cm hoch, also in der Grösse seinem Alter gemäss. Die rechte Hemisphäre ist kleiner als die linke. Die weiche Hirnhaut zeigt keine pathologische Veränderung. Die Windungen des Stirn- und Occipitallappens sind stellenweise sebr schmal, doch ist ihre Konsistenz ganz normal. Das Corpus callosum ist 1,5—2,0 mm dick.

Die beiderseitigen Seitenventrikel sind mässig erweitert. Ihr Boden hat besonders an den vorderen und hinteren Teilen ein höckriges und wulstiges Aussehen, welches durch mehrere Tumoren hervorgerufen wird. er grösste Tumor ist fingerspitzengross und länglich; er liegt schräg auf dem

Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie. 481

hinteren medialen Teil des Kopfes des linken Nucleus caudatus und drängt letzteren bis zum oberen vorderen Teil des Putamen, während der hintere lateral bis zum oberen vorderen Teil des Thalamus opticus reicht. Ein anderer, mehr abgeplatteter, bohnengrosser Tamor deckt die mediale Seite des Schwanzes des linken Nucleus caudatus. Im rechten Seitenventrikel sitzt ein erbsengrosser Tumor auf dem hinteren medialen Teil des Nucleus caudatus und ein anderer bobnengrosser, abgeplatteter auf dem Schwanz desselben. Die Konsistenz der Tumoren ist etwas härter als die der umgebenden grauen Substanz; ihre Schnittfläche ist grauweiss und von dem umgebenden Gewebe scharf abgegrenzt. In der Mitte des grössten Tumors sieht man einen kleinen cystischen Er- weichungsherd (vergl. Fig. 8 u. 4).

Hirnstamm, Kleinhirn und Rückenmark bieten makroskopisch nichts Abnormes.

Mikroskopische Untersuchung: Die Untersuchungsmethoden sind dieselben wie im ersten Fall. Leider gestattete der Härtungszustand auch in diesem Fall die Anwenduug der spezifischen Glisfärbungsmethode nicht.

Hirnrinde: Die Rinde der verschiedenen Lappen ist überall schmal und ca. 1,0 mm dick. Besonders in der Rindo des Frontal- und Occipital- lappens kann man kaum mehr als zwei Schichten unterscheiden, nämlich eine zellfreie Schicht und eine Ganglienzellenschicht. Die Ganglienzellen in allen

Sebichten sind sehr klein und messen 10—14 a in der Breite. Sie sind -

nicht pyramidenförmig, sondern spindelförmig oder birnförmig und haben entweder einen oder zwei kurze, vertikal verlaufende Fortsätze. Alle Zellen haben einen verhältnismässig grossen Kern mit deutlichem Kernkörperchen und ein schmales, fein granuliertes Protoplasma. Nur in der Rinde der Zentralwindungen sieht man auch viele grössere pyramidenförmige Ganglien- zellen mit mehreren Fortsätzen. Ausserdem finden sich eigenartige ovale, auffallend grosse, fein granulierte Zellen (80 X 60 a) mit einem Kern (10X 25 x), und zwar sehr selten und vereinzelt, in der tieferen Schicht der Hirnrinde.

. Ausser den Ganglienzellen finden sich viele kleine, rundliche Zellen mit einem deutlich konturierten Kern in der Rinde, sowie im Marklager. Die Blutgefässe sind ganz normal.

Die markhaltigen Nervenfasern der Rinde sind überall wenig dicht, und in der Rinde des Frontal- und Öceipitallappens konnte ich sogar fast gar keine Tungentialfasern konstatieren, während sie in den Zentralwindungen ziemlich zahlreich gefunden worden sind.

Geschwalst: Von Färbemethoden kamen van Giesonsche Färbung und die von Stroebe empfohlene Färbung mit Neutralkarmin in Anwendung.

Die Geschwülste bilden auf den Ventrikelinnenflächen prominente Knoten, welche zum Teil in die graue Substanz des Nucleus caudatus eindringen. Ibre freie Fläche wird von regelmässig angeordnetem Ependymepithel über- zogen, und dicht unterhalb desselben, ebenso wie an der Grenze zwischen Geschwulst und Hirnsubstanz, findet sich eine Schicht von streifiger Struktur, die aus feinen, zarten, dicht geflochtenen Fasern und dazwischen dicht

uppierten kleinen Spindelzellen besteht. Im Innern der Geschwülste bilden ie feineren oder gröberen, verschieden gerichteten Fibrillen ein unregel- mässiges alveoläres Geflecht, in welchem, bald mehr, bald weniger deutlich in Gruppen zusammengeordnaet, spindelförmige bis randliche grosse Zellen liegen. Diese Zellen haben meist einen, selten zwei exzentrisch gelagerte Kerne (10—15 x) miteinem Kernkörperchen im blasigen, strukturlosen, hyalinen Zeilleib (30— 50 u), welcher wenig scharf konturiert ist und immer eine Anzahl von Ausläufern hat; sie sehen daher bald sternförmig, bald spinnenförmig oder ganglien- zellenähnlich aus. Die Blutgefässe im Geschwulstgewebe sind nicht zahlreich, und die Gefässwand zeigt keine Zellinfiltration. Kleinere oder grössere Amyloidkörper sind in allen Bezirken der Geschwälste gruppenweise zerstreut, doch konnte ich darin keine Reste von Markfasern finden (vergl. Fig. 5).

Io Pal-Präparaten der beiden Hemisphären fanden sich zunächst makroskopisch sehr viele feinste bis linsengrosse, bald streifige, bald fleckige, blasse Herde in den dunkel gefärbten Markbündelstrahlungen überall ganz

452 Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.

zerstreut (vergl. Fig. 6). In diesen Herden sieht man mikroskopisch lockere zarte, blasse Fasern, welche teils als Gliafasern, teils als atrophische Nervenfasern zu betrachten sind,und dazwischen, stellenweise mehr oder weniger dentlichzuGrappen zusammengeordnet,grosse blasige Zellen mit einem deutlichen perivellulären Lymphraum,die an dieim Geschwulstgewebe gefundenen Elemente sehr erinnern und im allgemeinen noch grösser sind, während ihre Fortsätze viel undeutlicher sind oder oft ganz fehlen. Diese Zellen färben sich nach van Giesonscher Methode ziemlich intensiv rot, infolgedessen treten dabei auch einzelne Herde in den gelblich gefärbten Markbündelstrahlungen als rote Streifen oder Flecken deutlich hervor, welche ohne scharfe Grenze in das umgebende Gewebe übergehen. In Nissl-Präparaten zeigen die Zellen keine Granulation im Protoplasma, welches sich ganz matt, diffus bläulich färbt und selten mehrere feine Vakuolen hat (vergl. Fig. 7).

Von sonstigen Veränderungen markhaltiger Nervenfasern fand ich in der linken Hemisphäre folgende:

Auf den F'rontalschnitten, die den Kopf des Striatum treffen, hat der

rösste Teil des retikulierten Stabkranzes (Sachs) sowie ein Teil der zerstreuten

Önerfaserbündel im vorderen Schenkel der inneren Kapsel seine Färbbarkeit fast total verloren (vergl. Fig. 6). Auf den Frontalschnitten durch die Cella media sieht man nicht mehr die oben beschriebenen Veränderungen, sondern einige sehr blass gefärbte schmale Faserzüge, welehe von dem medialen Teile des Kopfes des Nucleus caudatus nach unten lateral bis zum oberen lateralen Teile des Putamen zu verlaufen scheinen und als ein Teil der inneren Kapsel zu betrachten sind. Sie sind als inselförmige schmale Felder in den Lücken der dunkel gefärbten dichten Fasern der inneren Kapsel sichtbar. Diese leicht - degenerierten Faserzüge sind nach hinten auf den Frontalschnitten durch. den Schwanz des Corpus striatum noch deutlich nachweisbar, doch verschmälern sie sich allmählich bis zam Verschwinden.

In der rechten Hemisphäre fand ich als veränderte Stelle nur auf den Frontalschnitten durch das Hinterhorn ein blassgefärbtes länglich-schmales Faserfeld, welches an der lateralen Seite des von dem Tumor überdeckten Nucleus caudatus liegt und vielleicht dem oberen Teile der Radiatio optica entspricht.

Kleinhbirnrinude: In der Molekularschicht sind die kapillaren Bint- gefässe etwas zahlreicher als normal und stark erweitert. DieZahl der Purkinje- schen Zellen ist nicht vermindert. Sie haben einen grossen, blasigen Kern mit einem deutlichen Kerukörperchen und sehr feine Nisslkörper in ihrem ovalen Zellleib. Die Ganglienzellen im Nucleus dentatus sind meist läuglich schmal und zeigen einen ähnlichen Bau. Die markhaltigen Nervenfasern, besonders die feineren, sind sehr spärlich.

Pons und Medulla oblongata zeigen keine Veränderung.

Im Rückenmark färben sich nach Pal die Hinterstränge überall blass, besonders erscheinen die beiderseitigen Gollschen Stränge in den unteren Cervikalsegmenten sehr blass.

Es sei mir gestattet, über. einzelne der beschriebenen patho- logisch-anatomischen Befunde einige Bemerkungen zu machen.

Was zunächst die Hirnrinde betrifft, so fanden wir makro- skopisch in dem Frontal- und Occipitallappen stellenweise sehr schmale Windungen,so dass man von Mikrogyrie sprechen kann, und mikroskopisch in der Rinde der oben genannten Lappen spärliche Markfasern, kleine spindelförmige Ganglienzellen mit einem ver- hältnismässig grossen Kern, die keine Anordnung in Schichten erkennen lassen, und endlich ganz vereinzelt vorkommende Riesen- zellen. Solch ähnliche Befunde hat Hammarberg!) bei vielen Idioten erhoben und daraus geschlossen, dass die Hirnrinde in der

ı) Hammarberg, Studium über Klinik und Pathologie der Idiotie. 1895.

Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie. 433

letzten Hälfte des Fötallebens in ihrer normalen Entwicklung ge- hemmt werde. Aber es gibt viele verschiedene, mit einander nicht übereinstimmende Angaben über die Entwicklung der Hirn- rinde, wie es in der Monographie von Probst!) näher geschrieben ist. Bei meinem Fall hatten ausserdem die Geschwäülste eine ge- wisse Rolle in der Entwicklungsbemmung gespielt, daher ist es schwer, zu bestimmen, in welchem Fötalmonate die Entwicklung gehemmt wurde.

In den Geschwülsten sind typische Gliazellen und Gliafasern und zahlreiche Amyloidkörperchen gefunden, also kann man sie wohl ohne weiteres als Gliome betrachten aber andrerseits sind sie, wie es nur bei Sarkomen gesehen wird, sehr zellreich und ziemlich scharf abgegrenzt.

Bruns?) schreibt, dass man Gowers Recht geben muss, der sich bei Zweifeln in der Differentialdiagnose schon makro- skopisch bei diffusem Uebergang der Geschwulst in das Hirn- gewebe für Gliom, bei scharfer Grenze zwischen beiden für Sarkom entscheiden will. Allerdings gibt es auch seltene Ausnahmen: Stroebe!) fand ein von der umgebenden Hirnsubstanz scharf abgegrenztes Gliom, und Bruns selbst beobachtete ein Gliom ım 4. Ventrikel, welches von den Wänden desselben überall leicht abzulösen war.

Uebrigens haben die Geschwülste in meinem Fall sehr reichliche Zellen von verschiedenen Grössen, die jedoch nicht nur alle Eigenschaften der Gliazellen zeigten, sondern auch keinen Zusammenhang mit den Blutgefässen hatten, während Sarkome von den letzteren auszugehen pflegen. Daher möchte ich die Ge- schwälste doch als richtige Gliome, und zwar als zellreiche oder sarkomatöse Gliome, bezeichnen, welche gewöhnlich, wie bei meinem Fall, ım früheren Alter, meist bei Kindern, auftreten, was auf eine kongenitale Anlage schliessen lässt.

Hartdegen*) berichtet über einen Fall, bei welchem sich mehrere erbsengrose, isolierte oder zu Kleeblattform konfluierende höckerige, harte, scharf begrenzte Tumoren beiderseits an fast symmetrischen Stellen, etwa der Gegend zwischen Seh- und Streifenhügel entsprechend, fanden. Diese Tumoren scheinen nach seiner Schilderung einen mit meinem Fall ganz überein- stimmenden mikroskopischen Befund gezeigt zu haben. Er be- zeichnet die Tumoren als Glioma gangliocellulare, weil er glaubte, dass die grossen Zellen im Geschwulstgewebe einen mit Ganglien- zellen vollkommen übereinstimmenden Bau haben, und bisher

1) Probst, Gehirn und Seele des Kindes. 1904.

2) Bruns, Hirngeschwülste und Hirnparasiten. Handbuch der patho- logischen Anatomie des Nervensystems. 1904.

3) Stroebe, Ueber Entstehung und Bau der Gliome. Zieglers Bei- träge. Bd. 18.

4) Hartdegen, Ein Fall von multipler Verbärtung des Grosshirns nebst histologisch eigenartigen harten Geschwülsten der Seitenventrikel („Glioma ganglio-cellulare“) bei einem Neugeborenen. Arch. f. Psych. 1881.

434 Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.

nirgends gliöse Riesenzellen beschrieben worden sind. Indes später hat Stroebe solche Fälle als Riesenzellengliome bezeichnet und behauptet, dass manche Formen der Gliomzellen sich zu ganglienzellenähnlichen Gebilden entwickeln und andere gliazellen- ähnlich bleiben. Daher will ich meinen Fall lieber als sarkomatöses Riesenzellengliom bezeichnen, weil die grossen Zellen keine Granu- lation, wie die typischen Ganglienzellen, zeigen.

Die multiplen fleckigen und streifigen Herde in den Mark- bändelstrahlungen enthalten zarte lockere Nerven- und Gliafasern sowie grosse blasige Zellen mit wenig deutlichen oder gar keinen Ausläufern. Ganz ähnliche Herde fand Neurath!) im Gross- hirn eines Kindes mit postinfektiöser Hemiplegie. Nach seiner Beschreibung waren die multiplen Herde schon im frischen Prä- parate als hellergrosse, harte Knoten sowohl in der Rinde als auch in dem Marklager sichtbar, während bei meinem Fall viel kleinere Herde erst im gefärbten Präparate, und zwar nur im Marklager, gefunden worden sind. Auch ergab eine Messung Zellgrössen von durchschnittlich 30—40 p, oft von 64 p, 72 p und darüber. Er bezeichnete seinen Fall als diffuse ganglio- cellulare Neurogliose und schrieb: „Der gleichzeitige Befund von Veränderung des gliösen Gewebes, die sich in wechselnder Dichte, stellenweise filziger Beschaffenheit der Glia zu erkennen gab, und den geschilderten merkwürdigen Zellgebilden muss uns ver- anlassen, die ursprüngliche primärste Anlage der Veränderungen in jene Epoche der fötalen Entwicklung der nervösen Zentren zurückzuverlegen, in der die Differenzierung der vom Ektoderm abstammenden Zellen in eigentliche Nervenzellen und in gliöses Stützgewebe statthat; denn eine Entstehung dieser Gebilde etwa durch Teilung präexistierender, normaler Ganglienzellen muss schon mit Rücksicht auf die in ganglienzellenfreien Schichten der Nervenfaserstrahlungen vorhandenen Nester für ausgeschlossen gelten.“ Diese Ansicht halte ich für richtig und glaube weiter- hin, dass die verschiedensten Uebergangsformen zwischen Ganglienzellen und Gliazellen sich finden können. In meinem Fall haben die Zellen keine Granulation im Protoplasma, und ihre Fortsätze sind meist undeutlich oder oft gar nicht nachweisbar; also zeigen sie eine Abweichung von Ganglienzellen. Auch sind die Nervenfasern in den Herden nicht als neugebildete, sondern als präexistierende atrophische Fasern zu betrachten. Daher will ich die multiplen Herde bei meinem Fall einfach als diffuse Riesenzellengliose bezeichnen.

Wie es bei den meisten Gliomen der Fall ist, sind die von den Tumoren hervorgerufenen Ausfallsymptome auch hier ver- hältnismässig gering. Hier will ich nur über den retikulierten Stabkranz noch einige Bemerkungen machen. |

1) Neurath, Beitrag zur postinfektiösen Hemiplegie im Kindesalter und zur pathologischen Anatomie des kindlichen Zentrainervensystems (Neuro- gliosis gangliocellularir diffasa). Jahrb. f. Psych. Bd. 18. 1899.

Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der idiotie. 430

Nach Anton-Zingerle!) wurde dieses Faserbündel teilweise als ein Assoziationsbündel betrachtet und von Meynert als Fasciculi fronto-sabependymales, von Dejerine und von Edinger als Fasciculus fronto-occipitalis bezeichnet, während Sachs (später Schroeder) schon früher die Anschauung vertreten hat, dass es dem Stabskranze zugehört und aus weiter hinten ge- legenen Teilen der Capsula interna stammt. Auch wird es von Obersteiner-Redlich?) wegen seiner Lagebeziehungen und des innigen Kontaktes mit dem Nucleus caudatus als retikuliertes cortico-caudales Bündel bezeichnet. Neuerdings haben Anton- Zingerle sich der Anschauung von Sachs angeschlossen und das Faserbündel als Stratum sagittale internum bezeichnet.

Auch ia meinem Fall gibt letztere Ansicht die natür- lichste Erklärung, weil die inselförmigen atrophischen Faserfelder im hinteren Schenkel der inneren Kapsel, welche von den Tumoren weit entfernt sind, offenbar als eine sekundäre Degeneration, die - von der Atrophie des retikulierten Stabkranzes hervorgerufen ist, aufzufassen sind.

Eine Atrophie der hinteren Stränge im Rückenmark kommt häufig bei Hirntumor vor; so haben sie, z. B. Batten und Collier®), in 65 pCt. aller Fälle nachgewiesen. Es ist jedoch noch immer zweifel- haft, ob diese Atrophie, wie die letzteren Autoren behaupten, durch Zerrung an den hinteren Wurzeln (durch die infolge des ver- mehrten intrakraniellen Druckes ausgedehnte Arachnoidea) hervor- gerufen wird, oder ob sie, wie Becker und Dinkler*) glauben, durch chemische Einwirkungen zu erklären ist.

Halten wir nun bei unserem Fall die klinischen Symptome mit den gefundenen pathologisch-anatomischen Veränderungen zu- sammen, so werden dıe Störungen der Sprache und der psychischen Funktionen vielleicht durch die Entwicklungshemmung der Stirn- lappen erklärt.

Sehr schwer ist ın meinem Fall die Beziehung zwischen den Krampfanfällen und den Hirntumoren festzustellen. Nach Ziehen®) soll das Auftreten irgendwelcher epileptischer Anfälle mindestens in 50 pCt. aller Fälle von Imbecillität beobachtet werden. Mit Rücksicht auf die Grösse und Verbreitung der Tumoren, die Erweiterung der Ventrikelhöhlen und den späteren Beginn der Krämpfe (erst im 2. Lebensjahre) kann man in meinem Fall kaum ausschliessen, dass die letzteren in einem gewissen Zusammen-

ı) Anton-Zingerle, Ban, Leistung und Erkrankung des menschlichen Stirnhirns. 1902.

2) Obersteiner-Redlich, Arbeiten aus dem neurologischen Institut an der Wiener Universität. VITT. 1902.

3) Batten und Collier, Spinal cord changes in cases of cerebral tamor. Brain 1899.

4) Becker, Ein Gliom des 4. Ventrikels nebst Untersuchungen über Degeneration in den hinteren und vorderen Wurzeln bei Hirndruck u. s. w. Arch. f. Psych. 1902.

s, Ziehen, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. 1902. S. 48.

436 Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.

hang mit der Steigerung des Hirndrucks stehen. Oppenheim!) hat richtig betont, dass die Krämpfe sich in der Regel erst im weiteren Verlauf der Hirntumoren, im Stadium der Hıirndruck- steigerung einstellen, entsprechend den experimentellen Be- obachtungen Leydens, der sie bei Hunden durch artefizielle Hirndrucksteigerung, und zwar bei einem Druck von 130 mm Hg, hervorrufen konnte. Andererseits können die Krämpfe nebst anderen Arten der motorischen Reizerscheinungen vielleicht auch als Herdsymptome bei Neubildungen im Bereich des Nucleus caudatus vorkommen; doch stellen sie sich bei solchen Fällen mindestens in einem bereits gelähmten oder paretischen Gliede ein, wie es Oppenheim behauptet, während mein Fall frei von Lähmungen war.

Auch ist es sehr schwer, zu entscheiden, ob die automatischen Bewegungen meines Kranken als eine lokale Reizerscheinung oder als eine von Kopfschmerzen hervorgerufene zwangsmässige Keaktionsbewegung zu betrachten sind. Bernhard?) hat in 5 unter 26 Fällen von Tumoren der Corpora striata und Thalamı optici merkwürdige Erscheinungen gesehen, die teils als krampf- artige Zustände, teils als Zittern oder als rhythmische, mehr dem Veitstanz ähnliche Bewegungen beschrieben worden sind. Auch Oppenheim?) bat ähnliche Fälle beobachtet, Andererseits ist bekannt, dass Kranken mit Hirntumoren wegen des anfallsweise zunehmenden Kopfschmerzes sich oft wie Rasende geberden, den Kopf gegen die Wand pressen etc. Auch in meinem Fall bin ich geneigt, eine von den Kopfschmerzen hervorgerufene Reaktions- bewegung anzunehmen, hierauf deutet namentlich das Schlagen mit der Faust gegen den Kopf.

Die Blindheit meines Kranken kann ich nicht bestimmt auf die Stauungspapille zurückführen, weil er einerseits ophthalmo- skopisch nicht untersucht wurde, und andererseits eine sehr mangel- haft entwickelte Rinde des Occipitallappens hatte, die sehon allein die Blindheit verursachen kann, wie es Hammarbergt) bei vielen Idioten beobachtet hat.

Zum Schluss sei ein kurzer Ueberblick über die Kasuistik der doppelseitigen Tumoren der Corpora striata gestattet. Als solche wurden die folgenden dreiFälle von Bernhardt°)gesammelt, der darüber hinzuschrieb: „Aus der Gesamtsumme (26 Fälle von Tumoren der Corpora striata und Thalami optici) der Beobachtungen heben sich zunächst drei heraus, welche von den Autoren aus- drücklich als Geschwülste der Linsenkerngegend bezeichnet wurden. Merkwürdigerweise sind in allen drei Fällen stets die Linsenkerne beiderseits von der Neubildung eingenommen gewesen.“

) Oppenheim, Die Geschwülste des Gehirns (Nothnagel, Spec. Path. u. Therap. IX. Bd. 1896). S. 56.

3) Bernhardt, Beiträge zur Symptomatologio und Diagnostik der Hirngeschwülste. 1881. S. 158.

3) Oppenheim, l. c. S. 46

4) Hammarberg, l. c.

5) Bernhardt, l. c. S. 157.

Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.

437

Autor Klinische Symptome Anatomische Befunde

Fürstner 30 jährige Frau. Hart- Teleangiektatisches näckige Schlaflosigkeit. Gliom in dem Globus „Mania puerperalis“. Feh- pallidus des Linsenkerns len aller Linsenkernsym- beiderseits.

ptome.

Rondot 30jähriger Mann. Kopf- Beide Linsenkerne von und Nackenschmerz. Ver- nussgrossen Tumoren kehrtheit. Plötzlicher Tod. eingenommen. Innere

Kapsel komprimiert.

Beurmann 30jähıiger Mann. Links- Beiderseits die Linsen-

seitige Hemip!egie,Z ittern der paretischen Extremi- täten bei gewollten Be- wegungen. Vermindertes Sehvermögen. Sprachbe- hinderung.

Die folgenden zwei Fälle werden

Keine Lähmung. Torpor.

kerne von Gliomen ein- genommen.

von Schuster!) zitiert.

Autor Klinische Symptome Anatomische Befunde Clouston 41 jährige Frau. Kopf- Murmelgrosse, mit Kalk schmerzen. Wiederkeh- durchsetzte Geschwulst

rende maniakalische Zu- beiderseits in und ober-

stände. halb desCorpusstriatum.

- Hutchinson Paralyse der Sphinkteren. Sarkom, welches beider-

seits dıe freien inneren Partien desCorpusstria- tum eingenommen hatte,

Nach Schuster gehört die Gegend der Basalganglien zu

denjenigen Hirnregionen, in welchen relativ oft symmetrisch sitzende Krankheitsherde der verschiedenen Arten gefunden werden, ich konnte aber keinen weiteren Fall von symmetrischen Tumoren der Corpora striata finden.

. Am Schlusse meiner Arbeit ist es mir eine angenehme Pflicht, meinen hochgeehrten Lehrern, Herrn Prof. Ziehen, sowie Herrn Prof. Köppen, für die gütige Ueberlassung der Fälle und die freundliche Unterstützung während der Arbeit bestens zu danken. Die untersuchten Gehirne entstammen der Potsdamer Anstalt für Idioten und Epileptiker, deren Leiter, Herrn Dr. Kluge, ich hiermit auch bestens danke.

Erklärung der Abbildungen auf Tafel IX-X.

Fig. 1. Schicht der grossen Pyramidenzellen aus der vorderen Zentral- windung mit den unregelmässig gelagerten, vielfach umgestalteten Ganglien-

1) Schuster, Psychische Störungen bei Hirntumoren. 1902.

438 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte

zellen, vielen Blutgefässen und Gliskernen. Färbung nach Nissl. Photo- graph. mit Zeiss. Apochrom. 7,5 mm. Ocul. 4.

Fig. 2. Frontalschnitt des Gehirns durch das Vorderhorn des Seiten- ventrikels mit zwei Tumoren (X) und Markfaseratrophie an der punk- tierten Stelle.

Fig. 3.” Frontalschnitt darch das Hinterhorn des Seitenventrikels mit den höckerigen Tumoren (X) am hinteren unteren Teil des Nucleus caudatus,

Fig. & Schnitt des Geschwulstgewebes mit einer peripherischen, faserreichen und einer zentralen, grosszelligen Schicht, in welcher zwei dunkolgefărbte Amyloidkörperchen sichtbar sind. Färbung nach van Gieson. Photograph. mit Zeiss. Object. aa. Ocul. 4.

Fig. 5 Ein feinster Herd von Riesenzellengliose mit ciner zwei- kernigen und drei einkernigen Riesenzellen, von denen eine multiple feinere Vakuolen im Zellleib hat. Färbung nach Nissl. Photograph. mit Zeiss. Apochrom. 8 mm.

Ueber Osteomalacie und die sogenannte osteo- malacische Lähmung. Von Dr. MAX VÖLSCH

Nervenarzt in Magdeburg.

Die Lehre von der Östeomalacie und speziell von der sog. > osteomalacischen Lähmung darf heute keineswegs als abgeschlossen gelten. Nicht nur, dass Aetiologie und Pathogenese der Krank- heit und ihrer Erscheinungen fern davon sind geklärt zu sein, auch über die Symptomatologie und die Umgrenzung der Krank- heit bestehen Meinungsverschiedenheiten. So mag es mir, zumal im Hinblick auf die wirkliche oder angenommene extreme Seltenheit derselben im Nordosten Deutschlands gestattet sein, in den folgenden Beobachtungen einen kleinen kasuistischen Beitrag zu diesem Thema zu liefern, obwohl dieselben nur wenig positiv Neues bieten. An der Hand derselben werden sich einige Schwierig- keiten und Probleme erörtern lassen, die sich dem entgegenstellen, der sich eingehender mit der Krankheit und der gewaltig ange- wachsenen Literatur über dieselbe beschäftigt. Zwei Fragen sınd es vornehmlich, die mein Interesse gefesselt haben, und die ich etwas eingehender zu behandeln gedenke. Einmal ist es die Frage, ob und inwieweit die Osteomalacie in der Tat, wie viele Autoren wollen, eine einheitliche und scharf umschriebene Krankheit dar- stellt, wie weit sie sich ähnlichen Krankheitszuständen, anders- artigen Erweichungen gegenüber klinisch abgrenzen lässt. Dann aber hat mich vor allem das Problem der sog. „osteomalacischen Lähmung“ beschäftigt. Neuere Autoren (vergl. Stieda) verstehen darunter eine charakteristische, initiale Gruppe von eigenartigen Symptomen, unter denen eine mehr oder weniger vollkommen

osteomalacische Lähmung. 439

isolierte und als solche oft Jahre lang bestehende Schwäche oder, wie viele Autoren sich ausdrücken, „Parese“ des Musculus ileo- psoas hervorragt. Das Auftreten einer solchen isolierten Mono- parese ist vom neurologischen Standpunkte aus meines Erachtens eine so auffällige Erscheinung, dass es sich wohl verlohnt, den Bedingungen nachzuforschen, unter welchen dieselbe zustande kommt. Es wird mir nach Lage der Dinge nicht möglich sein, auf diese Fragen eine zweifelsfreie und bündige Auskunft zu er- teilen, aber vielleicht wird es nicht ganz unfruchtbar sein, erneut darauf hinzuweisen, dass hier noch viele Rätsel zu lösen sind, und dass manches, was hier und da als gesichert vorausgesetzt zu werden scheint, doch noch weiterer Forschung dringend be- därftig ist. Und noch ein anderes Moment rechtfertigt vielleicht diese Mitteilung. Einer der besten Kenner der Osteomalacie, der sich zumal um die Verbreitung der Kenntnis der Anfangserschei- nungen der Krankheit grosse Verdienste erworben hat, Latzko, weist ın Uebereinstimmung mit andern Autoren immer wieder darauf hin, wie oft und wie lange die Östeomalncie verkannt werde. Die von mir behandelte Frau ist seit zehn Jahren krank und behandelt, und ich glaube mich nicht zu irren, dass bei ihr die richtige Diagnose noch nicht gestellt ist. Seit ich nun aber darauf achte, habe ich einiges gesehen, was mir die Möglichkeit nahe legt, dass die Östeomalacıe, wie bereits mehrfach betont ist, auch bei uns!) nicht so selten ist, als gewöhnlich angenommen wird. Ich denke dabei nicht sowohl an die ganz schwesen progressiven Osteo- malacien, als an leichtere oder ganz leichte Formen, die lange oder dauernd den Charakter der initialen Krankheit behalten.

Endlich sei es mir gestattet, an dieser Stelle meiner Dank- barkeit gegen Herrn Geheimrat Orth Ausdruck zu geben, der mir freundlicherweise gestattete, das sehr instruktive Knochen- material des Museums des pathologischen Institutes eingehend zu besichtigen.

I. Der erste der beiden im folgenden beschriebenen Fälle befindet sich seit neun Monaten in meiner Beobachtung und Be- handlung.

Frau K., 48 Jahre alt, ist in Szittkehmen in Ostpreussen geboren. Sie hat bis zu ihrer Grossjährigkeit an ihrem Geburtsorte gelebt, dann ein halbes Jahr in Schlesien und seitdem in Berlin, wo sie sich vor 28 Jahren ver- heiratet hat. Sie erinnert sich nicht, vor Beginn ihres jetzigen Leidens jemals krank gewesen zu sein. Sie hat 5 normale Geburten durchgemacht; vier ihrer Kinder leben, sind stets gesund gewesen und jetzt 21—17 Jahre alt. Das jüngste, vor 16 Jahren geborene, ist im Alter von !/, Jahren an Masern gestorben. Weiter gibt sie an, 6 Fehlgeburten gehabt zu haben, die erste vor 14, die letzte vor 4 Jahren, sie seien stets in der 6. bis 8. Woche der Gravidität eingetreten, bei genauerem Befragen gibt sie zu, dass es sich bei einigen dieser angeblichen Fehlgeburten vielleicht um eine Verspätung der Menstruation gehandelt haben könnte, 3 mal habe sie ganz bestimmt abortiert, das sei auch ärztlich festgestellt. Lues oder irgend welche auf

!) Der Aufsatz wurde noch während meines Aufenthaltes in Berlin verfasst; auch die Fälle stammen aus Berlin.

440 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte

Lues verdächtige Erscheinungen werden sowohl von der Patientin, als von dem anscheinend durchaus zuverlässigen Ehemann geleugnet. Die Menses sollen stets regelmässig gewesen sein; sie bestehen noch.

Vor 10 Jahren empfand Patientin zeitweise stechende Schmerzen in den Fusssohlen, besonders in der linken, die während der nächsten Jahre zunahmen und sich über die Beine bis zur Hüfte ausbreiteten. Vor 7 Jahren ist sie einmal von einer Zimmerleiter gestürzt und auf die linke Hüfte ge- fallen; sie hat damals in der Hüfte starke Schmerzen gehabt, doch sind die- selben in einigen Tagen vorübergegangen. Seit 6 Jahren hat sie dauernd lebhafte Schmerzen im Knie und Oberschenkel beiderseits bis zur Hüfte her- auf, links erheblich stärker als rechts, gelegentlich auch Kreuz- und Räcken- schmerzen. Dieselben treten sowohl bei Bewegungen, z. B. beim Gehen, als in der Ruhe auf, rauben ihr oft nachts den Schlaf. Dazu hat sich allmählich eine Steifheit und Schwere der Beine, besonders des linken, gesellt, die ihre Beweglichkeit sehr beschränkt. Ihre häuslichen Arbeiten kann sie nur mit grosser Mühe verrichten, beim Gehen ermüdet sie schnell, Treppensteigen, und noch mehr das Hinabsteigen der Treppen macht ihr grosse Beschwerden. Seit dem letzten Winter verspürt sie bisweilen ein lästiges Kriebeln in den Händen. Sie gibt aaf Beiragen an, dass sie glaube in den letzten Jahren kleiner geworden zu sein; sie habe das schon mehrfach ihren Angehörigen gegenüber geäussert; die Röcke würden ihr immer länger. Mit aller Be- stimmtheit leugnet Patientin, dass ihre Beschwerden in der Zeit ihrer Schwangerschaften oder im Anschluss an dieselben entstanden wären. Irgend welche Verschlimmerungen während derselben oder sonstige Beziehungen zu ihnen habe sie ebensowenig wie zu der Menstruation beobachtet. Sonst tühlt sich Patientin völlig gesund. Blasenstörungen haben nie bestanden. Eine hereditäre oder familiäre Veranlagung besteht nicht; nur eine Cousine hat ein schweres Nervenleiden anderer Art, (wie mir zufällig bekannt ist, eine amyotrophische Lateralsklerose).

Die Untersuchung ergibt folgendes: Kräftige, etwas untersetzte Frau mit starker Entwicklung der Muskulatur und sehr reichlichem Fettpolster, Grösse 156,5 cm, Gewicht 91 kg. Von seiten der Brust- und Bauchorgane keinerlei Befund, speziell Herz durchaus normal. Urin obne Eiweiss und Zucker. Die Kopfnerven (bis auf ein geringes Abweichen der herausge- streckten Zunge nach rechts) völlig normal, speziell normale Papillcnreaktion. Anden Armen kein Befund. Aufrichten aus der Rückenlage ist der Patientin ohne Zuhülfenahme der Hände absolut unmöglich, auch mit Hülfe der Hände geht es nur sehr schwerfällig und ungeschickt. Das linke Bein wird in Rückenlage nur etwa 20 cm gehoben, wobei eine starke krampfhafte An- spannung der ganzen sichtbaren Becken- und Oberschenkelmuskulatur ein- tritt; ein geringer Widerstand unterdrückt die Bewegung gauz. Das rechte Bein hebt Patientin etwa 50 cm, hält es aber ebenso wie das linke nur kurze Zeit hoch. Uebereinanderschlagen der Beine in sitzender Stellung ist un- möglich. Die übrigen Bewegungen der Beine gegen das Becken (Streckung, Rotation, Ab- und Adduktion) werden aktiv gut, wenn auch vielleicht mit etwas verminderter Kraft ausgeführt. Die Bewegungen im Kniegelenk er- folgen normal, die Unterschenkelmuskulatur agiert ausserordentlich kräftig. Die Gelenke sind frei, passive Bewegungen lassen sich nach allen Richtungen leicht ausführen, nur extensive Abduktion und Aussenrotation in der Hüfte werden schmerzhaft empfunden, und der Bewegung wird ein krampfhafter Widerstand entgegengesetzt. Beiderseits, links etwas stärker, leichte Genu- valgam-Stellung; beide Unterschenkel lassen sich passiv hyperextendieren. Der linke Oberschenkelknochen ist auf Druck schmerzhaft. Die Muskeln and Nerven sind nieht druckempfindlich, nur der linke Cruralis schmerzt ein wenig. Die Messung der Ober- und Unterschenkel ergibt keine Umfangs- differenzen der beiden Seiten. Die elektrische Untersuchung der Ober- schenkelmuskulatur zeigt nichts Auffallendes, es besteht nirgends Mya R. Bezüglich des Tonus und der Reflexe keine Besonderheiten. Andeutung von Romberg. Sensibilität überall völlig normal. Es besteht ein ganz leichtes Oedem beider Unterschenkel. Durchaus auffallend ist der Gang der Kranken, der als typischer Watscholgang bezeichnet werden muss; bei der Abwicke-

osteomalacische Lähmung. 441

lang des linken Fusses vom Erdboden beugt sie den Rumpf nach rechts, um dann heim Wiederaufsetzen des linken Fasses mit dem Oberkörper gewisser- massen nach der linken Seite hinüber zu fallen, und umgekehrt; dabei ist dieses „Fallen“ nach links viel ausgeprägter, als nach rechts, sie knickt dabei förmlich in der linken Hüfte zusammen. An den Knochen liess sich ausser den bereits erwähnten Erscheinungen am Oberschenkel folgendes feststellen:

Schädel nirgends druckempfindlich. Umfang: 561), cm. Form leicht brachycephal (18,5 : 15,0 cm, Längenbreitenindex == 81). Sternum und einige Rippen werden auf Druck als schmerzhaft bezeichnet. Es besteht eine deut- liche Lordose der Lendenwirbel. Die letzteren sowie das Kreuzbein sind nicht ausgesprochen druckempfindlich, dagegen ist Druck auf das Schambein der liegenden Patientin exquisit schmerzhaft. Die von mir aufgenommenen Beckenmasse betragen: D. sp. 28, D. er. 81, C. ext. 21, Tr. 34. Die Trochan- terenspitzen stehen beiderseits etwa 1 om oberhalb der Roser-Nölatonschen Linie. Herr Professor Dührssen, der die Freundlichkeit hatte, die Patientin zu untersuchen, teilte mir ohne Angabe der Masse mit, dass dieselbe „ein

uerverengtes Becken mit schnabelförmiger Symphyse“ habe, wie es für

steomalacie, aber auch für pseadoosteomalacische (rachitische) Becken charakteristisch soi. Ueber das Resultat einer Röntgenaufnahme berichtet das Königl. Universitätsinstitut für Untersuchungen mit Röntgeustrahlen, dass es sich um ein von oben nach unten zusammengedrücktes Becken mit nach vorn gerichteten Beckenschaufeln und tiefstehendem Promontorium handele, und betont die auffällig leichte Durchstrahlbarkeit der Knochen, die für eine gewisse Armut an Kalksalzen spreche. Aus leizterem Grunde ist das Bild so wenig kontrastreich, dass ioh leider auf seine Wiedergabe verzichten muss. Am linken Knie wurde ausser einer leichten Verdickung (Auftreibung) des - ganzen Überschenkels radiographisch nichts Besonderes gefunden. Sonstige Anomalien des Knochensystems, Verbiegungen, Exostosen vermochte ich nicht festzustellen; eine Coxa vara scheint nicht zu bestehen. Ich erwähne noch mit Rücksicht auf die später anzuführenden Anschauungen einiger Autoren, dass die Schilddrüse fühlbar, aber nicht vergrössert ist. Halsumfang 89 cm. Es bestanden keinerlei Anzeichen von Basedow (kein Exophthalmus, kein Gräfe, keine Störungen des Zirkulationssystems, kein Tremor, keine Durch- fälle u. s. w.).

Die Behandlung der Patientin bestand zunächst neben indifferenten Bädern uud Faradisation der Oberschenkelmuskulatur, denen ich eine wesent- liche Einwirkung auf den Krankheitszostand nicht einräumen möchte, in der Darreichung von Phosphorlebertran. Sie erhielt während der ersten T Wochen der Behandlung ea. 1 dog Phosphor. Während dieser Zeit trat, sehr bald einsetzend und ganz allmählich fortschreitend, eine deutliche Besserung zunächst in den subjektiven Beschwerden der Patientin ein; die Schmerzen wurden geringer, liessen dann fast ganz nach; die Beweglichkeit wurde grösser; sie konnte nach Verlauf jener Zeit das linke Bein, das sie früher Kaum 20 cm hob, bis über 50 cm heben. Aufrichten des Oberkörpers, Uebereinanderschlagen der Beine war noch immer unmöglich, der Gang durch- aus unverändert. Trotzdem glaubte ich, wegen gewisser intestinaler Störungen und wegen der erheblichen Gewichtszunahme der an sich schon sehr adiposen Frau (3!/ kg in 7 Wochen) eine Pause in der Phosphorlebertran-Medikation eintreten lassen zu sollen. Ich benutzte diese Pause zur Einleitung einer Inunktionskur. Während der ersten Wochen der Kur trat eine weitere ekla- tante Besserung ein. Die Patientin machte Gänge und verrichtete Arbeiten, wie es ihr seit Jahren unmöglich gewesen war. Druck auf das Os pubis wurde kaum noch schmerzhaft empfunden. Aber schon nach etwa 8 Wochen stellten sich ein Müdigkeitsgefühl in den Oberschenkeln, bald auch wieder Schmerzen ein, die allmählich heftiger wurden und die Patientin auch wieder, wie früher, nachts störten; die Beweglichkeit verschlechterte sich. Unter diesen Um- ständen brach ich die Kur nach Verbrauch von 140 g Ung. hydrarg. cin. ab und kehrte zum Phosphor zurück. Nach mehrmonsatlichem Gebrauch des- selben, zuerst in Form von Protylintabletten, dann wieder von Phosphor- lebertran (in der Latzkoschen Dosierung), ist wieder eine gewisse Besse- rung der Beschwerden eingetreten. Die Patientin fühlt sich zeitweise fast

442 'ölsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte

frei von Beschwerden, ist beweglicher, der Gang ist nicht so stark wackelnd wie früber; immerhin kommen noch immer wieder zeitweilige Verschlimme- rungen mit recht lebhaiten Schmerzen vor. Ob die Phosphormedikation schliesslich zu einer relativen Heilung führen, oder ob man die Kastration in Erwägung zu ziehen baben wird, lässt sich noch nicht sicher übersehen.

Was die Art des hier vorliegenden Krankheitsprozesses be- trıfft, so kann nach dem Befunde am Becken kein Zweifel sein, dass es sich um einen osteomalacischen Prozess (zunächst im weitesten und gröbsten Sinne des Wortes) handelt. Mit Sicher- heit lässt sich wohl die Möglichkeit ausschliessen, auf welche Herr Professor Dührssen die Güte hatte mich aufmerksam zu machen, die Möglichkeit einer Rachitis, welche zur Bildung eines beeu oostoomalacischen, raehitischen Beckens geführt hätte. Denn

ie Patientin gibt nach Erkundigung bei ihrer Mutter an, dass

sie niemals auf Rachitis deutende Erscheinungen ehabt, zeitig gehen gelernt habe etc., ferner, dass ihre sämtlichen Geburten glatt und leicht verlaufen seien, während die Kinder gut ent- wickelt gewesen seien und wenigstens eines von ihnen ganz auf- fällig kräftig gewesen sei. Man wird also, zumal bei dem Fehlen sonstiger Zeichen von Rachitis, die Entstehung der Deformität auf eine spätere Zeit, auf die Mitte der 30er Jahre der Patientin verlegen und den Prozess als einen osteomalacischen (in jenem Sinne) ansprechen müssen.

Aber bei dem Versuch, diesen Prozess genauer zu analysieren, erwachsen einige Schwierigkeiten.

Bevor ich jedoch auf dieselben eingehe, möchte ich über einen zweiten Fall von osteomalacischer Erkrankung berichten.

II. Derselb2 ist kürzlich in der Königl. Nervenklinik der Charite beobachtet, wohin die Patientin von der geburtshälflichen Station verlegt war. Ihr Aufenthalt auf der Nervenklinik währte nur einen Tag, und so konnte die Untersuchung nicht eine völlig erschöpfende sein. Da jedoch der Fall manches bietet, was von Interesse ist, und da er in einiger Beziehung ein Gegenstück zu dem Falle I darstellt, mache ich von dem gütigen Anerbieten des Herrn Geheimrat Ziehen gerne Gebrauch und referiere kurz über den Fall. Ich selbst habe keine Gelegenheit gehabt, ihn zu

untersuchen.

Frau W., 20 Jahre alt, stammt aus Berlin und hat die Stadt nie ver- lassen. Eltern und 4 Geschwister sind gesund. In der Familie sind keine Geistes- und Nervenkrankheiten, keine Knochenerkrankungen und kein Kropf vorgekommen. Patientin selbst war stets gesund, hat keine Anzeichen eng- lischer Krankheit gehabt. Lues wird geleugnet. Vor ihrer Ehe war sie Fabrikarbeiterin, mit 16!/ Jahren heiratete sie. Menses seit dem 14. Jahre regelmässig, zuletzt vor 7 Monaten. Sie hat in den letzten 4 Jahren dreimal ausgetragene Kinder geboren, die alle im ersten Lebensjahre an Brechdurch- fall stc. gestorben sind. In den früheren Schwangerschaften keinerlei Be- schwerden,

Sie ist seit Fobrdar dieses Jahres wieder gravid. In der Österzeit bekam sie Schmerzen in der rechten Häfte, die sie für rheamatisch hielt; daon breiteten sich die Schmerzen in die rechte Schulter, später in die linke Schulter and Hüfte und das Kreuz aus. Im Juni oder Juli bemerkte sie, dass sie kleiner wurde; die Röcke wurden ihr zu lang, der Kragen zu hoch;

osteomalacische Lähmung. 443

gleichzeitig hat sie Veränderungen an dem Brustbein wahrgenommen. Vor 4 Wochen fiel sie beim Aufstehen von einem Stuhl aaf die rechte Seite, viel- leicht, weil sie sich anf den Rock trat; sie konnte vor Schmerz nicht auf- stehen. Im Anschluss daran ist der Gang schlechter geworden, sie hat lebhafte Schmerzen beim Gehen, besonders in den Rippen rechts. Sie musste sich beim Gehen mit den Händen an den Kleidern in der Hüfigegend fest- balten, um sich zu stützen. Wenn sie das nicht tat, war sie in Gefahr, nach vorn zu fallen. Nach dem Fall zeigte sich auch eine Erschwerung, den Kopf hoch zu halten; derselbe sank nach vorne zwischen die Schultern. Die Patientin kann wegen heftiger Schmerzen, „als ob die Brust zerreissen wollte“, nicht auf der Seite liegen. Sie ist bisher nicht völlig bettlägerig.

Statas (Septbr. 1906): Leidender Gesichtsausdruck; auffallend starke Backenknochen, Kopf nicht klopf- und druckempfindlich; Kopfumfang 55'/, cm. Kopfbewegnngen von Schmerzen im Nacken begleitet.

An den Kopfnerven fällt nur anf, dass der rechte Mundfacialis eine Spur mehr innerviert ist als der linke; der rechte Mundwinkel staht eine Spur höber, dagegen ist die rechte Augenspalte etwas weiter, als die linke. Beide Bulbi leicht prominent, die Augenspalten weit. Sonst alles normal, speziell Lichtreflex der Pupillen prompt.

Der Hals ist auffallend kurz, die Nackenhant in starke Querfalten ge- legt. Beim Palpieren der Dursfortsätze fühlt man, dass die unteren Hals- wirbel stark nach vorn gesunken sind, während die oberen zu ihnen in einem nach hinten offenen Winkel stehen. Der Kopf scheint in die Schultern hinsingesunken, die Schultern lassen sich sehr leicht bis an die Ohren schieben. Der Schildknorpel stösst in Rückenlage fast an das Sternum. Die Fossa jugularis ist verstrichen.

Clavicula ohne Befand. Die Brust ist auffallend flach, im dorso-ven- tralen Durchmesser verkürzt, im Frontaldurchmesser verbreitert. Der untere Teil des Sternum springt stark vor, der obere Teil ist muldenförmig einge- zogen. Rippenbögen rechts sehr druckempfindlich. In der Mammillarlinie rechts an der Knorpelknochengrenze fühlt man dentlich einen Absatz (die Stelle ist seit dem Fall schmerzhaft). Die Patientin kann sich nicht allein aufrichten; passiv aufgerichtet, kann sie sich nicht, ohne sich mit den Armen festzuhalten, aufrecht erhalten; dabei Schmerzen in der Rippenbogengegend. Der Kopf sinkt stark zwischen die Schultern, wenn sie sich anf die Arme stützt. Es entsteht dabei eine dentliche Kyphose der Lendenwirbelsäule, letztere auf Druck ziemlich stark empfindlich. Becken (Geb. Klinik): Cristae breit und wulstig, 27, Spinae 22—23, Trochanteren 32, Conj. ext. 18,5, Augulus pubis verengt. Promontorium nicht zu erreichen, nicht in das Becken eingesunken. Pfannengegend nicht eingedrückt. Dist. tub. isch. 8—9, Sym- physenhöhe 6.

Die Beine werden in Rückenlage gleichmässig erhoben, alle Bewegungen erfolgen ohne Störung. Links Lasegue.

Der Patellarreflex ist links normal, rechts nur mit Jendrassik gelegent- lich schwach zu erzielen. Achillesreflex beiderseits lebhaft. Beklopfen der ` Tibiae schmerzhaft.

Der Gang ist behindert; ohne doppelseitige Unterstützung ist Stehen und Gehen nicht möglich. Unterstützt geht sie breitbeinig mit kleinen Schritten, äussert Angst vor dem Fallen.

An den oberen Extremitäten besteht ein Schwächegefühl, doch werden die Arme gut und gleichmässig bewegt. Auch sonst hier nichts Abnormes. Sensibilität überall normal. Keine Blasenstörung. Herz normale Grenzen, Aktion kräftig, Puls 92, regelmässig. I. Ton an der Spitze unrein; Geräusch an der Pulmonalis und Aorta. Zweiter Pulmonalton verstärkt.

Fundus uteri fingerbreit über dem Nabel.

Auch in diesem Falle wird die übrigens zuerst von autoritativer gynäkologischer Seite gestellte Diagnose einer osteomalacische Erkrankung berechtigten Zweifeln nicht begegnen. Die in einer Gravidität entstandenen Schmerzen, die Druekschmerzhaftigkeit

Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hett 6. 80

444 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte

und die Verbiegungen und Stellungsveränderungen der Knochen sind charakteristisch. Auf die Eigentümlichkeiten des Falles werde ich später Gelegenheit haben, einzugehen.

Ich glaube nicht berufen zu sein, eine ausführliche Dar- stellung der Lehre von der Osteomalacie‘) zu geben, auf das patho- logisch-anatomische Geschehen beider Krankheiteinzugehen und über Kontroversen zu berichten, die hinsichtlich der feineren Modalitäten der Knochendestruktion entstanden sind. Nur ein Moment möchte ich aus der Fülle des Stoffes kurz herausheben, das mir in seinen Konsequenzen auch für die klinische Stellung der Osteomalacie von grosser Wichtigkeit dünkt: ihre nahe anatomische Verwandt- schaft mit anderweitigen Knochenprozessen. v. Recklinghausen, welcher die anatomische Grundlage der Osteomalacie in neuerer Zeit eingehend geprüft hat, unterscheidet drei Gruppen innerhalb der chronischen Einschmelzungsprozesse des Knochens, die alle mit einer geringeren oder grösseren Neubildung von Knochen- substanz verbunden sind; gerade in dem quantitativen Verhältnis von Resorption und Apposition sieht er ein wesentliches Unter- scheidungsmerkmal dieser Gruppen. Ausdrücklich aber betont er trotz dieser und gewisser anderer Verschiedenheiten, speziell, trotz der grossen Verschiedenheit der Endresultate, die nahe Verwandt- schaft aller dieser Gruppen der Knochenerweichung, die er übrigens durchweg auch auf gleiche oder ähnliche zirkulatorische Grundvor- gänge zurückführt. Von grösster Bedeutung erscheint es mir nun, dass v. Recklinghausen zu dieser grossen Klasse der osteomalacischen Knochenerkrankungen auch eine Gruppe rechnet, die ganz gewiss ätiologisch eine Sonderstellung einnimmt, die der osteoplastischen Krebse; die in das Knochenmark ver- schwemmten Krebsmetastasen sollen Zirkulationsstörungen her- vorrufen, die ihrerseits die destruierenden und die hier ganz im Vordergrunde stehenden osteoplastischen Veränderungen bedingen. Für die beiden anderen Gruppen, die Ostitis deformans (Pagetsche Krankheit) oder fibrosa und die „eigentliche“ oder „reine“ Osteomalacie steht der Nachweis des ätiologischen Faktors noch aus, welcher ähnliche Störungen der Blutversorgung und daran anschliessend analoge, wenn auch unter sich und von der ersten ` Gruppe quantitativ differente Vorgänge des Knochenumbaues her- vorrufen könnte. Es steht durchaus dahin, ob sie ätiologisch gleichartige und sich nur bis zu einem gewissen Grade pathologisch- anatomisch und klinisch unterscheidende, oder ob sie auch ätiologisch differente Gruppen sind.

Zu ganz ähnlichen Anschauungen bezügl. des Verwandtschafts- verhältnisses der Östeomalacie und der deformierenden Ostitis resp. der verschiedenen Formen der Osteomalacie unter sich (puer- perale, nicht-puerperale, senile Form) gelangt Ribbert. Auch R auf-

1) Vergl. d. Sammelreferat von Laufer im Zentralblatt für die Grenz - gebiete der Med. u. Chir. III, 1900, hier auch Literatur-Verzeichnis.

osteomalacische Lähmung. 445

mann!) schliesst sich der Auffassung v. Recklinghausens an und hält die Ostitis deformans für nahe verwandt mit der Osteomalacie,. Endlich scheint auch Tashiro’), der neuerdings unter Zieglers Leitung histologische Untersuchungen an osteomalacischen Knochen vorgenommen hat, nur graduelle Verschiedenheiten zwischen den beiden Krankheiten zuzulassen.

Ferner scheint auch die Syphilis, abgesehen von den gummöson Formen, im stande zu sein, eine diffuse Knochenerkrankung zu erzeugen. Wie weit dieselbe pathologisch-anatomisch mit den vorhin erwälınten Prozessen verwandt oder identisch ist, ist mir nicht bekannt. Doch schreibt Schuchardt’ der Lues die Fähig- keit zu, in ihren späteren Stadien (ähnlich wie andere Infektions- krankheiten) eine toxische Malacie mit Weichheit und Brüchig- keit der Knochen zu entwickeln. An anderer Stelle freilich spricht er von Osteoporose mit Neubildung, und auch Ziegler konstatiert als Folge der Lues Osteoporose, Hyperostose, Sklerose der Knochen. Nur kurz erwähnen will ich, dass französische Autoren (Lan ne- longue, Fournier) einen Zusammenhang der Pagetschen Krank- heit mit Lues, speziell mit hereditärer Lues anzunehmen geneigt sind. Auch in einem der von Wollenberg“) neuerdings aus der Hoffaschen Klinik beschriebenen Fälle von Pagetscher Krankheit lag erworbene Lues vor.

Bei dieser Sachlage, wonach also z. T. ätiologisch exquisit differente Faktoren Knochenprozesse erzeugen, welche zwar in einigen Richtungen und zumal quantitativ verschieden, aber doch zum mindesten einander sehr ähnlich sind, ist es meines Erachtens a priori zu erwarten, dass auch die klinischen Folgezustände dieser Vorgänge sich ähneln werden. In der Tat führen sie alle prin- zipiell zu denselben Resultaten, zu. Verbiegungen und Verdickungen gewisser Knochen, wenn auch in verschiedener Intensität und Verteilung. Da jedoch diese letzteren Verschiedenheiten keines- wegs regelmässig hervortreten, da vielmehr auch in der Lokali- sation des Prozesses, die nach v. Recklinghausen überall von denselben statischen Momenten, der Druck- und Zugbelastung einzelner Knochen- und Knochenteile abhängig ist, durchaus kon- stante und durchgreifende Unterscheidungsmerkmale sich nicht zu finden scheinen, so dürfte die klinische Differentialdiagnose vielfach schwierig sein. Gewiss werden sich viele Erkrankungen sicher rubrizieren lassen, gewiss wird nicht nur der wohl ausge- bildete Symptomenkomplex der Pagetschen Krankheit, sondern es werden auch viele Initialfälle derselben bei typischer Lokali- sation und typischem Verlauf gut erkennbar sein [vergleiche z.B. Schmieden’), Wollenberg (l. c.) u. A.], gewiss wird man oft,

1) Lehrbuch der spez. pathol. Anatomie 1904.

2) Histologische Untersuchungen am osteomalacischen Knochen. Zieg- ders Beiträge Band 84. Heft 2.

8) Deutsche Chirurgie. Bd. 28. 1899.

+) Beitrag zur Pagetschen Knochenkrankheit, Zeitschrift für ortho- pädische Chirurgie. Bd. 13.

%) Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. 70.

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wenn nicht aus dem klinischen Skelettbefund, doch aus den be- gleitenden Umständen eine karzinomatöse oder luetische Genese der jeweils vorliegenden Krankheit erschliessen können, aber es werden auch Fälle übrig bleiben, ın denen es zunächst oder für die Dauer in dubio bleiben wird, welcher Prozess der vorliegenden Knochenerweichung zu Grunde liegt. Speziell drängt sich dem, der sich in die Literatur dieser Affektionen hineinarbeitet, die Ueberzeugung auf, dass die Ostitis deformans und die Osteomalacie, anatomisch so nahe verwandt, auch klinisch doch unter Umstäuden sehr nahe Berührungspunkte haben müssen. Als der Haupt- unterschied wird meist die verschiedene Lokalisation angeführt: Die Osteomalacie beginnt „gewöhnlich“ am Becken und beteiligt dasselbe „hauptsächlich“, die Ostitis deformans ergreift „beson- ders“ die Extremitätenknochen. Aber der erste Teil dieses Satzes trifft nach den Zusammenstellungen z. B. von Litzmann und Hennig nicht einmal für die gewöhnliche puerperale Form kon- stant zu, und bei der nicht-puerperalen Form gehören nach Litz- mann in der Mehrzahl der Falls zu den frühest ergriffeuen Teilen die Knochen der unteren Extremitäten, das Becken dagegen war in einem nicht ganz unerheblichen Prozentsatz der Fälle nicht beteiligt. Ich erwähne als Beispiele für den Beginn der Krank- heit an den Extremitäten von vielen nur den Fall von Kobler (virginelle Form), ferner den Fall Bergers (Osteomalacie mascu- line); derselbe begann mit Genu valgum (ein anscheinend häufigeres Vorkommnis bei ÖOsteomalacie!) und führte in der Folge zu ganz schweren Erweichungszuständen des Skeletts, die der Ver- fasser mit dem Fall Supiot von Morand (abgebildet z. B. hei Schuchardt und bei Volkmann) in Parallele stellt. Ich weise ferner hier schon auf den oben berichteten zweiten Fall, der Frau W., hin, bei welchem bei einer typisch puerperalen Form das Becken in verhältnismässig geringfügiger Weise ergriffen ist, während die Erscheinungen am oberen Teil der Wirbelsäule, am Sternum und an den Rippen ım Vordergrunde stehen. Anderer- seits findet sich z. B. bei einigen der von v. Recklinghausen pathologisch-anatomisch als Ostitis deformans angesprochene Fälle eine deutliche schwere Beteiligung des Beckens, nicht nur ın dem ganz schweren Falle 6 (vergleiche die Abbildung Fig. 6, Tafel V), sondern auch in dem offenbar weniger vorgeschrittenen Falle 2.

Die ferner als differentialdiagnostisches Moment angeführte Neigung der Östitis zuVerbiegungen ist doch nur ein sehr relatives Kriterium, da bei vorgeschrittener Osteomalacie die hochgradigsten Verbiegungen auch der Extremitäten vorkommen, so auch bei zwei Skeletten der Sammlung im hiesigen pathologischen Museum. Frakturen und Infraktionen sind etwas Gewöhnliches wohl bei beiden Zuständen. Das mir noch am meisten einleuchtende Unterscheidungsmerkmal ist die grössere Neigung der Östitis zur Verdickung, der Ausdruck der von v. Recklinghausen ja

1) Vergl. Rose, Berl. klin. Wochenschrift 1895.

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anatomisch nachgewiesenen stärkeren Tendenz derselben zu Proli- ferationsvorgängen; aber auch dieses Merkmal scheint nicht durch- aus zuverlässig zu sein (vergl. z. B. den Fall von Tschistowitsch, Berl. klin. Wochenschrift 1893, Osteomalacie mit Verdickung an den Unterschenkelknochen). In der Sammlung des hiesigen pathologischen Museums findet sich ferner ein als Osteomalacie bezeichnetes Skelett mit schwerer Beteiligung des Brustkorbes, relativ geringerer des Beckens und mit kolossaler diffuser Ver- dickung beider rechter Unterschenkelknochen; daneben bestanden augenscheinlich schwere Gelenkaffektionen, so dass der ganze Fall etwas dunkel erscheint.

Die Unsicherheit und Unklarheit, die auf diesem Gebiete noch herrscht, wird meines Erachtens trefflich illustriert durch die Verschiedenartigkeit der Gesichtspunkte, nach welchen man bei der Einteilung der Knochenerweichungsprozesse zu verfahren gezwungen ist. So unterscheidet Schuchardt bei der Osteomalacie der Erwachsenen eine puerperale und eine nicht-puerperale Form und rechnet zu der letzteren die Untergruppen: 1. der juvenilen, 2. der neurotischen oder senilen Osteomalacie, ferner 3. die Osteomalacia chronica deformans mit fibrösen Herden, Cysten und Geschwulstbildung (v. Recklinghausensche Krankheit), nota bene dasselbe, wasRecklinghausen als „Ostitis fibrosa“ mit der „Ostitis deformans“, der folgenden Untergruppe, identifiziert, und 4. die Osteomalacia chronica deformans hypertrophica (Pagetsche Krank- heit), ausgezeichnet durch die Neigung zu Verkrümmungen. Wie man sieht, teils ätiologische, teils pathologisch-anatomische, teils klinische, teils endlich mehr äusserliche Gesichtspunkte.

Diese Schwierigkeit der Abgrenzung der Östeomalacie sens. strict. einmal von ätiologisch sicher differenten Erweichungs- zuständen (osteoplastische Krebsen, Lues), das andere Mal von der so nahe verwandten Östitis deformans, dürfte die Beurteilung der einzelnen Fälle praktisch doch im höheren Grade erschweren, als einzelne Autoren zuzugeben geneigt scheinen.

Es mag an dieser Stelle einer Erkrankung Erwähnung getan

werden, welche in ganz besonderem Masse differential-diagnostische Schwierigkeiten zu machen scheint, der Myelo-Sarkome, die insofern eine eigenartige Mittelstellung einnehmen, als sie sich gelegentlich sekundär in den primär-osteomalacischen Knochen entwickeln (Hirschberg, v. Recklinghausen, Schmorl, Schönen- berger)!). |

Aber selbst wenn man alle diese Zustände stets mit Sicher- heit abzuscheiden in der Lage wäre, so bleibt doch noch immer die Frage, ob alles das, was übrig bleibt, die „echte“ oder „aus- gesprochene“ oder „eigentliche“ oder „reine“ Osteomalacie in der

1) Bezüglich sonstiger differential-diagnostisch in Frage kommender Zustände, welche zu einer Erweichung nicht führen (z. B. Arthritis deformans), verweise ich auf die ausführlichen Darstellungen Latzkos (Monatsschr. f. Geb. u. Gyn., Bd. 6), Sternbergs und Laufers; sie kommen in unseren Fällen kaum in Betracht.

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Tat eine einheitliche Erkrankung darstellt, wie es manche Autoren wollen. Ob in der Tat die puerperale Form und die von ihr abgeschieden katameniale Form (Hennig), die mit dem Puer- perium nichts zu tun hat, aber wenigstens Beziehungen zur Men- struation erkennen lässt, ätiologisch identisch und wesensgleich mit den nicht-puerperalen Formen, der juvenilen und senilen, der virginellen und virilen ist? Und ob die letzteren Formen, unter sich verglichen, stets der Ausdruck der gleichen „konstitutionellen* Ursache sind? Die meisten neueren Autoren neigen mehr oder weniger ausgesprochen dieser Ansicht zu. Ohne mir ein Urteil hierüber zumessen zu können, möchte ich doch betonen, dass die entgegenstebende Ansicht, z. B. Gelpkes, als widerlegt nicht an- gesehen werden kann. G. will nur die Gruppe der puerperalen Östeomalacie als ein einheitliches Ganzes gelten lassen, von dem er die nicht-puerperalen Formen abscheidet. Die Annahme, dass die Osteomalacie, auch im engeren Sinne, eine einheitliche Krank- heit nicht ist, würde jedenfalls zusammen mit den betonten Schwierigkeiten der Differentialdiagnose manche Widersprüche verständlicher machen. Sie könnte erklären, dass noch keine der Theorien, die bisher über das Wesen der Krankheit aufgestellt sind, es zur Allgemeingültigkeit gebracht hat. Mit Uebergehung zahlreicher älterer Hypothesen!) erwähne ich nur die Fehlingsche Theorie, die die Osteomalacie auf eine durch krankhafte Tätig- keit der Ovarien bedingte Alteration der Zirkulationsverhältnisse in den Knochen zurückführt. Trotz der glänzenden Erfolge der Kastration ist sie aus guten Gründen nicht allgemein acceptiert. Ob die neuerdings vonHoennicke?) lebhaft vertretene Anschauung, welche in der Östeomalacie den Ausdruck einer Schilddrüsen- erkrankung sieht, sich eine allgemeine Anerkennung erringen wird, muss abgewartet werden. H. hält ım Gegensatz zu anderen namhaften Autoren die ausgesprochene endemische Verbreitung der Krankheit für erwiesen, ihr geographischer Verbreitungsbezirk soll genau mit dem des Kropfes zusammenfallen. Er führt eine grosse Zahl von Fällen aus der Literatur und aus eigener Beob- achtung an, in denen Östeomalacie mit Morb. Basedowii, mit grösserer oder kleinerer Struma oder wenigstens mit „thyreogenen Symptomen“ vergesellschaftet war. Er sieht in diesen Fakten einen Beweis für die erwähnte Theorie und nimmt hypothetisch an, dass die Schilddrüsenerkrankung zu einer Störung des Phos- phorstoffwechsels und damit zur Osteomalacie führe, während die physiologische Tätigkeit der Ovarien verschlimmernd, ihre Aus- schaltung daher oft bessernd wirke.

In Uebereinstimmung mit jener Annahme von der Ungleich- artigkeit der Osteomalacie würde auch die Ungleichartigkeit der

1) S. die Zusammenstellung bei Laufer l. c.

2) Ueber das Wesen der Osteomalacie, Sammlung zwangloser Abhand- lungen aus dem Gebiet der Nerven- und Geisteskrankheiten, Halle 1905. Bei H. findet sich auch ein ausgiebiges Verzeichnis der Literatur über die Osteomalacie, auf welches ich bezüglich der Autoren, bei welchen in dieser Arbeit keine Angaben gemacht sind, verweise.

osteomalacische Lähmung. 449

therspeutischen Erfolge stehen. Dieselbe Therapie, die in einem Falle Wunder wirkt, versagt bei dem andern. So berichten die Autoren über zahlreiche Erfolge der Kastration darunter beiläufig auch beinichtpuerperaler Östeomalacie (Fehling, Hofmeier, Hol- länder u. A.) —, aber auch über zahlreiche Misserfolge. So wirkt Phosphor hier in wahrhaft überraschender Weise (Stern- berg, Latzko u. A.), dort lässt es mehr oder weniger im Stich (Heitzmann, Berger, Jolly u. A.).

Der vorstehende theoretische Exkurs in ein mir im Grunde fernliegendes Gebiet schien mir berechtigt, weil diese Erwägungen auch in den vorstehend geschilderten Fällen, besonders in dem ersten, Beachtung erforderten.

Mit Sicherheit kann bei Frau K. mit Rücksicht auf die Dauer der Erkrankung und den Ernährungszustand der Patientin eine Karzinomatose und wohl auch das Myelom ausgeschlossen werden, zumal sich auch die von Kahler für das letztere postu- lierte Albumosurie nicht fand. (Salkowskische Probe).

Schwieriger schon ist die Entscheidung darüber, ob der dem Leiden zugrunde liegende Prozess den Charakter der „reinen“ Osteomalacie oder der Ostitis deformans hat. Neben dem Becken fand ich beteiligt den linken Oberschenkel, wahrscheinlich die untere Wirbelsäule, weniger sicher die Rippen und das Brustbein, vielleicht den Schädel. Zudem weist einiges in der Anamnese darauf hin, dass der Prozess den linken Oberschenkelknochen sehr frühzeitig ergriffen, vielleicht hier begonnen hat. Immerhin glaube ich mich auf Grund des vorwiegenden Befallenseins des

eckens, des Fehlens deutlicher Verkrämmungen an andern Knochen und des Mangels an Knochenverdickungen für echte Östeomalacie und gegen Ostitis deformans entscheiden zu sollen, mit der Reserve, die die oben angeführten Erwägungen erfordern, zumal, wie wir sogleich sehen werden, gewisse die Diagnose Östeomalacie unterstützende Momente fehlen. Der anfängliche Erfolg der Phosphortherapie lässt sich nach dem Stande des heutigen Wissens wohl kaum gegen Östitis verwenden.

Auch eine luetische Genese kann meines Erachtens nur vor- sichtig ausgeschlossen werden. Die zahlreichen Aborte, für die sich auch gynäkologisch ein Anhaltspunkt nicht ergeben hat, von einem bestimmten, übrigens vor dem manifesten Beginn der Er- krankung liegenden Zeitpunkt an bleiben etwas verdächtig; ich finde in der Literatur wohl zahlreiche Hinweise auf angeblich erhöhte Fertilität der Osteomalacischen eine nach Latzko und anderen wahrscheinlich ırrtümliche Annahme —, jedoch keine Angabe über gehäufte Aborte. Wenn ich trotzdem eine luetische Entstehung des Leidens für unwahrscheinlich halte, so bestimmt mich dazu (neben der anscheinenden Glaubwürdigkeit des Ehe- manns) mehr der Umstand, dass sonst alles fehlt, was für Lues sprechen könnte, als der Misserfolg der Inunktionskur. Bei so alten Fällen wird nur ein positiver Ausfall als beweisend ange-

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sehen werden können, wie in einem kürzlich von Schlesinger!) veröffentlichten Fall. Ob der bei Frau K. während der HgKur zunächst eintretende Fortschritt lediglich als eine Nachwirkung des Phosphors oder als Wirkung des Quecksilbers aufzufassen ist, will ıch nicht entscheiden; das letztere äussert seine resor- bierenden und entzündungswidrigen Eigenschaften ja oft genug, wo keine Lues vorliegt. Keinesfalls kann dieser Fortschritt im Hinblick auf den späteren Verlauf für die Annahme einer Lues ver- wertet werden.

Halte ich somit die Krankheit in der Tat für echte Osteo- malacie, so lässt sie sich doch schwer in eine der gewöhnlich unterschiedenen Gruppen derselben rubrizieren. Die Angabe der Patientin, dass keinerlei Beziehungen der Beschwerden zu den Puerperien, den Aborten, der Menstruation dagewesen seien, lauten ganz unzweideutig. Wenn die Autoren solche Erkrankungen meist doch als puerperale ansehen, so wird man sich der Gezwungen- heit einer solchen Zurechnung bewusst bleiben müssen. Mit der Einflusslosigkeit der Vorgänge des Geschlechtslebens fehlt uuch das den puerperalen Formen sonst meist eigentümliche Kriterium des remittierenden Verlaufs; wir haben hier anscheinend einen gleichmässig langsam progredienten Gang der Krankheit. Auch in die juvenile und senile Gruppe lässt sich der Fall nicht gut ein- fügen. Man muss sich begnügen, ihn den nicht ganz seltenen Fällen in der Literatur an die Seite zu stellen, in welchen die OÖsteomalacie bei Frauen, die geboren haben, ohne erkennbare Abhängigkeit vom Geschlechtsleben auftritt. |

Bei Frau W. traten alle diese diagnostischen Bedenken zurück hinter der einfachen Tatsache, dass der Beginn der Krank- heit. ausgesprochen und einwandsfrei in die Gravidität hineinfällt. In dieser Tatsache kann man wohl zusammen mit den Knochen- erscheinungen einen vollgültigen Beweis für das Bestehen einer echten puerperalen Osteomalacie sehen. Freilich bietet sie dann viel Eigenartiges und Ungewöhnliches. Wir finden, wie bereits oben erwähnt, die Beteiligung des Beckens keineswegs so hervor- tretend in dem Symptomenkomplex, wie es gewöhnlich bei der puerperalen Osteomalacie zu sein pflegt. Zwar ist der Schambein- bogen verengt, aber das Promontorium ist nicht ins Becken ge- sunken, die typische Lendenlordose fehlt; statt ıhrer hat sich eine (kompensatorische [?]) Kyphose herausgebildet. Die Schmerzen haben zwar in der Hüfte begonnen, treten aber anscheinend später gegen die Schmerzen an den Rippen zurück, deren eine freilich bei dem Fall frakturiert zu sein scheint. Rippen und Sternum zeigen Gestaltsveränderungen, am schwersten aber ist wohl die Hals- wirbelsäule betroffen, die in sich zusammengesunken ist, so dass der Kopf zwischen die Schultern sinkt, die Nackenhaut ein quer- gefaltetes Aussehen bekommt und der Schildknorpel sich dem

1) Syphilitische und hysterische Pseudoosteomalacie. Deutsche Med. Wochenschrift 1906. No. I.

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Sternum nähert. Der Fall ıst ein kontrastreiches Gegenstück zum Falle K. Dort (Frau W.) typischer Beginn in der Gravidität, aber eine ziemlich diffuse Lokalisation mit geringer Becken- beteiligung, hier (Frau K.) Fehlen jedes nachweisbaren Zusammen- hanges mit dem Geschlechtsleben, Lokalisation in typischer Weise vorwiegend im Becken. Der Vergleich der Fälle zeigt mithin von neuem, dass die Gesetze betreffs Verlauf und Lokalisation der Osteomalacie nicht stets Gültigkeit haben. Eine Verwertung unserer Beobachtungen im Sinne der Hönnickeschen Annahme ist schwer möglich. Selbst die Möglichkeit einer geringfügigen, nichtnachweisbarenresp.nicht auffälligen Schilddrüsenvergrösserung zugegeben, so finden sich doch weder sonst irgend welche Störungen, die als „thyreogen“ gedeutet werden könnten, noch stammen die Patientinnen aus einer osteomalacischen oder Kropfgegend. Frau W. hat stets in Berlin gelebt. Bezüglich Frau K. habe ich nach dieser Richtung der Sicherheit wegen noch Erkundigungen ein- gezogen und bin sowohl von.dem an dem Geburtsort der Patientin ansässigen Herrn Dr. Brenke als von dem Kreisarzt Herrn Dr. Ozygan in freundlichster Weise dahin informiert, dass ihnen dort kein Fall von Osteomalacie begegnet sei. Der erstere berichtet ferner, dass er in fünf Jahren in dortiger Gegend ca. 5 Kröpfe gesehen habe, darunter 3—4 genuine Kröpfe. Man wird ihm zustimmen müssen, wenn er meint, dass in ähnlicher Zahl auch sonst Kröpfe sich vorfinden dürften. Die Patientin hat dann auch weiterhin, abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Schlesien, stets in osteomalacie- und kropffreier Gegend gelebt. Auch in den Familien beider Kranken sind weder Knochen- erkrankungen noch Kröpfe vorgekommen.

Alles, was sonst von ätiologischen Faktoren angegeben wird (feuchte Wohnung, Ernährung, Mangel an Luft und Bewegung), kommt nicht in Frage. Neuerdings weist Thiem!) auf das Trauma als angebliche Ursache der Osteomalacie hin. Bei Frau K. hat der im Laufe der Krankheit vorgekommene Sturz anscheinend keinen Einfluss auf ihren Gang gehabt. Frau W. schreibt ihrem Falle eine erhebliche Verschlimmerung zu, es muss offen bleiben, wie weit der Rippenbruch, den sie wahrscheinlich dabei akquirierte, daran schuld ist.

Der Vollständigkeit wegen will ich erwähnen, dass in den vorliegenden Fällen die Vortäuschung einer Osteomalacie durch Hysterie mit Rücksicht auf den Knochenbefund ausgeschlossen werden kann. Viele Autoren, zuletzt Schlesinger?), weisen auf solche Möglichkeit hin. Ich möchte mir erlauben, an der Hand eines kürzlich von mir beobachteten, noch nicht abgeschlossenen Falles hier parenthetisch auf die bereits anderweitig betonte Gefahr einer umgekehrten Verwechslung hinzuweisen. Jedenfalls der

ı) Auf der Naturforscher-Versammlung zu Düsseldorf. Der mir vor- Hegon zo Bericht über dieselbe gibt nur das Thema wieder. s) l. e.

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Neurologe wird gelegentlich der Möglichkeit ausgesatzt sein, eine beginnende Osteomalacie für Hysterie zu halten. Im erwähnten Falle fand sich bei einer Frau, die jahrelang an heftigen Kreuz- schmerzen litt, eine ausserordentliche Druckschmerzhaftigkeit der Körper der unteren Lenden- und oberen Sakralwirbel bei Pal- pation durch die Bauchdecken hindurch, und bei genauer Unter- suchung liess sich eine immerhin auffällige Abbiegung des unteren Teils des Kreuzbeins nach vorne nachweisen. Der radiographische Befund war negativ. Der Fall kann und soll nichts beweisen, legt aber doch den Gedanken nahe, dass vielleicht manche „Rachialgie“ sich bei genauerem Zusehen als Beginn einer Knochen- erkrankung entpuppen könnte.

Endlich möchte ich an dieser Stelle einschalten, dass ziemlich häufig in der Literatur Erscheinungen berichtet werden, die auf eine die Osteomalacie begleitende funktionelle Störung des Nerven- systems hinweisen, oder wenigstens Erscheinungen, die einen hysteriformen Charakter haben. Vielleicht gehört hierher auch wenigstens ein Teil der „susceptibilite nerveuse“ von Trousseau und Lasègue, über welche Senator berichtet. Ob gewisse Störungen hei Frau W. teilweise auf solche Momente zu beziehen sind, mag dahingestellt sein. Bei Frau K., die sonst in keiner Weise das Bild der Hysterie bietet, fiel mir sofort die krampf- hafte, mit Zittern verbundene Anspannung der ganzen Ober- schenkelmuskulatur beim Versuch der Oberschenkelbeugung auf. Sie erinnerte lebhaft an die falsche Innervation mancher Trauma- tiker. Auch die Neigung zum Schwanken beim Stehen mit ge- schlossenen Augen lässt sich wohl am besten alsfunktionell auffassen.

Was nun die auf das Nerven- und Muskelsystem zu be- ziehenden Symptome anbetrifft, welche die Osteomalacie begleiten, so kann ich mich betreffs der sensiblen Erscheinungen sehr kurz fassen. Es ist schon lange bekannt, dass die Krankheit mit heftigen, eigenartigen Schmerzen im Rücken, Kreuz, den Rippen, den Extremitäten u.s. w. einhergeht, Schmerzen, die spontan auf- treten, die aber ganz besonders heftig bei Druck auf die er- krankten Knochen sich äussern. Man führt dieselben wohl allgemein zum grossen Teil direktaufdieKnochenaffektion zurück („Ostalgien“). Nur wenige Autoren (Pommer) verhalten sich skeptisch gegen diese Annahme. Ein anderer Teil dieser Schmerzen sowie namentlich die vielfach erwähnten Parästhesien werden wohl auf mechanischen Momenten, auf der Reizung der Wurzeln und Nerven durch die verdickten und verkrümmten Knochen beruhen. Auch in unseren Fällen steht einer Deutung der sensiblen Reiz- erscheinungen in dem einen oder andern Sinne nichts im Wege. Ein bisher meines Wissens noch kaum erwähntes Symptom, das wohl durch solche neuritische Reizung durch Druck erklärt werden muss, ist das Las&guesche Zeichen bei Frau W.

Schwieriger ist meines Erachtens die Deutung der moto- rischen Symptome. Dass die Osteomalacie, zumal in ihren vor-

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geschrittenen Stadien, von schweren Motilitätsstörungen begleitet sein kann, ist gleichfalls von jeher betont und geschildert. Sehr häufig figuriert unter diesen Schilderungen das unzweifelhaft auf- fallendste Symptom, der sogenannte Enten- oder Watschelgang. Im übrigen aber sind die älteren Angaben über die beobachteten Bewegungsstörungen ziemlich unbestimmt und allgemein, die letzteren erscheinen recht vielgestaltig. Stieda hat im Jahre 1898 alle nervösen Störungen, welche bei der Osteomalacie be- obachtet sind, zusammengestellt; ich verweise hier auf seine Arbeit ın der Monatsschrift für Geb. und Gyn. Bd. 8. Es ist das Verdienst von v. Renz!), aus der Mannigfaltigkeit und Un- bestimmtheit_der beschriebenen Erscheinungen ein Symptom als das häufigste und hervorstechendste herausgeschält zu haben, die Schwäche des leopsoas. Indem Köppen dann dies Symptom mit dem eigentümlichen Gang und den eigenartigen Schmerzen zusammenstelite, schuf er eine Symptomentrias, die in hohem Grade für die am Becken beginnenden Fälle von ÖOsteomalacie charakteristisch zu sein scheint. Die Frage nach der Natur dieser eigenartigen Bewegungsstörungen werden wir später zu prüfen haben. Köppen äussert sich darüber recht vorsichtig, spricht stets von Muskelschwäche und vermeidet das Wort Parese, welches nach der gebräuchlichen Ausdrucksweise einen neuro- pathisch oder myopatlisch bedingten wirklichen Lähmungszustand präjudiziert. Spätere Autoren reden dann freilich stets von soasparese.

ehrere derselben haben die Angaben Köppens über jene Symptomentrias im wesentlichen bestätigt, und man darf heute wohl unter der Bezeichnung der (typischen und frühzeitigen) „osteomalacischen Lähmung“ die Vereinigung jener beiden mo- torischen Kardinalsymptome, des Entenganges und der Funktions- störung des Heopsons mit den eigenartigen Schmerzen, verstehen; ‘die Psoasschwäche kann sich dann freilich gelegentlich auch mit weniger hervorstechenden Schwäche- oder Reizzuständen an den Becken- oder ÖOberschenkelmuskeln verbinden. Latzko hat unter diesen die Häufigkeit einer Kontraktur der Adduktoren- muskulatur hervorgehoben und jenen Kardinalsymptomen als gleichwertiges Frühsymptom an die Seite gestellt). Auch diese Adduktionskontraktur ist mehrfach bestätigt worden.

Nach Köppens Ansicht gestatten die oben erwähnten Merkmale die Diagnose der Osteomalacie schon zu einer Zeit, wo aus den Knochenveränderungen noch keine Schlüsse gezogen werden können. Latzko, Rissmann°) und Stieda sprechen sich

1) Ich habe mir die Arbeit von Renz leider nicht mehr verschaffen können und muss mich darauf beschränken, nach den Angaben Köppens, Latzkos u. A, zu zitieren.

3) Latzko nennt als Initialsym tome: Druckempfindlichkeit einzelner Knochen, isolierte Psoasparese, A duktorenkontraktur. in zweiter Linie Er- höhung der Patellarreflexe, nicht den Watschelgang.

s) Rissmann nennt unter den Initialsymptomen ebenfalls nicht den Watschelgang, hat aber auch die Adduktorenkontraktur nicht gefunden und

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bezüglich der Wertigkeit der „Initialsymptome“ für die Diagnose bei Abwesenheit irgend welcher Skelettveränderungen noch viel bestimmter aus.

Dem gegenüber betont z. B. Oppenheim, der in seinem Lehrbuch die „osteomalacische Lähmung“ freilich nur ganz kurz behandelt, dass es zu einer sicheren Diagnose doch immer der Skelettveränderungen bedarf. Auch Vierordt äussert sich zurückhaltender. Ich möchte meinerseits auch glauben, dass die Diagnose, so lange sich an den Knochen durchaus nichts Objektives findet, doch immer auf unsicheren Füssen stehen wird, zumal, wenn man, wie Latzko und Rissmann, auch den Watschelgang für entbehrlich zur Diagnosenstellung hält.

Aber wie dem auch sei, durchaus notwendig erscheint es mir, dass man diese initialen, isolierten Bewegungsstörungen ver- einzelter Muskeln strenge absondert von den schweren, diffus verbreiteten Muskelschwächezuständen, wie sie die schweren ter- minalen Stadien der ÖOsteomalacie begleiten, in welcher die Kranken in völliger Prostration kaum noch ein Glied zu rühren vermögen.

Von weiteren Erscheinungen seitens des Nerven-Muskel- systems will ich nur noch die Erhöhung der Patellarreflexe und das Muskelzittern erwähnen, die beide häufig angegeben werden; letzteres wird oft als fibrilläres bezeichnet.

Frau W. bietet von all’ diesen motorischen Symptomen nichts; es besteht zwar eine Gangstörung, doch geht die Pat. überhaupt nur gestützt, die Beine entlastend, vorsichtig, mit kleinen Schritten; vom typischen Watschelgang ist nichts zu be- merken. Man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass diese Gangstörung durch die Schmerzen bedingt ist, wie auch die Pat. selbst nur hierin den Grund der Gangstörung sieht. Die Muskeln des Beckens und der Beine, speziell der Psoas, erweisen sich bei Einzelprüfung als völlig funktionstüchtig.

Bei Frau K. dagegen fand sich jene Köppensche Trias vollkommen ausgesprochen, die Schmerzen, spontan und zumal bei Druck auf das Becken, der Watschelgang und die Psoas- schwäche; dazu kommt eine nicht gerade sehr ausgesprochene, aber deutliche Behinderung der passiven Abduktion der Ober- schenkel. Im übrigen ist die Behinderung der Beugung der Oberschenkel (links stärker als rechts) die einzige eklatant nach- weisbare motorische Ausfallserscheinung, aus der sich fast alle erwähnten Funktionsstörungen erklären lassen: die Behinderung beim Treppensteigen, die Unmöglichkeit des Sichaufrichtens, des Uebereinanderschlagens der Beine etc.

Das Rombergsche Phänomen, das auch Köppen und

spricht als Initialeymptome an: 1. Druckempfindlichkeit der Stammesknochen, 2. Paresen der Oberschenkel- (Psoas, Abduktoren) und Beckenmuskeln; 8. eigentümliche subjektive Beschwerden (Schwere des Beines, Schmerzen in der Nacht, Muskelzittern).

osteomalacische Lähmung. 455

Latzko schon sahen, war nur schwach angedeutet und, wie ge- sagt, wahrscheinlich funktioneller Natur.

Die Genese der erwähnten motorischen Erscheinungen ist keine ohne weiteres zweifelsfreie.

Wie kommt zunāchst der Entengang zustande? Man hat gemeint (Köppen, Jolly, Latzko), dass er lediglich die Folge der Psoasschwăche (resp. der „Psoasparese“) sei; bei der Vorwärts- bewegung der Beine müsste infolge dieser Schwäche der Rumpf stärker als normal nach der anderen Seite geneigt werden. Die Möglichkeit eines solchen Entstehungsmechanismus des Ganges kann meines Erachtens ohne weiteres zugegeben werden, gleich- gültig, wie man sich die Entstehung der Peoasschwäche denkt; aber wenn hierin die einzige Ursache für die Eigenart des Ganges läge, so müsste bei Frau K., bei welcher unzweifelhaft die linke Seite die stärker beteiligte und der linke Psoas der schwächere ist, die stärkere Neigung nach der rechten Seite erfolgen, wie es in der Tat Köppen bei einem seiner Fälle mit ungleicher Be- teiligung der Beine beobachtet hat. Gerade das Gegenteil aber ist bei Frau K. der Fall, die Neigung erfolgt in viel ausgiebigerer Weise nach der linken Seite.

Eine zweite Erklärungsmöglichkeit für das eigenartige Schwanken liesse sich in der Verlegung des Körperschwerpunktes nach vorn, durch das Hineinsinken der Wirbelsäule in das Becken und in der sekundären Ausbildung der Lendenlordose sehen. Die Fortbewegung des rückwärts gebeugten Oberkörpers erfordert eine weitergehende Verlegung des Schwerpunktes nach der jeweils ruhenden Seite. Eine solche auf statischen Momenten beruhende Erklärung würde auch die Entstehung derselben Modifikation des Ganges bei der Dystrophie und bei der kongenitalen Hüftgelenks- luxation verständlich machen, wobei es gleichgültig sein dürfte, dass die Ursachen für die Verlegung des Körperschwerpunktes nach vorn bei diesen Krankheiten in andersartigen Momenten zu suchen wären.

Aber, abgesehen davon, dass Latzko den Watschelgang auch da beobachtet hat, wo eine nachweisbare Beckendeformität noch nicht bestand, scheint mir auch diese Annahme zur Er- klärung des stärkeren Schwankens der Frau K. nach links nicht ausreichend, man müsste denn eine bei der Osteomalacie ganz gewöhnliche, aber hier sich klinisch und radiographisch nicht markierende schräge Verschiebung des Beckens annehmen.

Vielleicht lässt sich das Moment, das jenes Phänomen ver- ständlich macht, im Anschluss an die Anschauungen älterer und meines Erachtens trotz allem nicht widerlegter Autoren in der relativ grösseren Weichheit und Elastizität der linken Pfannen- gegend finden, in einer Herabsetzung des Widerstandes dieses Beckenteiles gegen den Femurkopf, der während der Phase des Aufsetzens des linken Fusses von unten her andrängt. Das „Federn“ der Beckenknochen ist ja eine häufig betonte Er-

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scheinung bei der Osteomalacie. In der Tat macht es den Ein- drack, als ob die Patientin beim Vorsetzen des linken Fusses gewissermassen mit dem Oberkörper auf die linke Seite fiele. Wir hätten dann hier einen Vorgang, der wiederum dem sich bei dem Schwanken der Patienten mit kongenitaler Hüftluxation abspielenden sehr ähnlich zu denken wäre.

So sind es wohl verschiedene Momente in verschiedenen Kombinationen, welche den Gang der Osteomalacischen bedingen.

Auch die Frage nach der Genese der Schwäche des Psoas und der andern etwa betroffenen Beckenmuskeln (Rissmann) ist nicht ohne weiteres zu beantworten. Zwei Ansichten stehen sich hier, wie oben bereite angedeutet, diametral gegenüber. Nach der einen soll diese Schwäche lediglich in mechanischen Ver- hältnissen, auf die wir weiter unten ausführlicher zurückkommen, ihren Grund haben; die Vertreter der anderen Ansicht aber nehmen eine wirkliche Parese an, die dann entweder neuropathisch, und zwar durch Erkrankung des Zentralnervensystems oder der peripheren Nerven resp. Wurzeln, oder myopathisch durch eine primäre Erkrankung des Muskels bedingt sein könnte.

Gehen wir diese letzteren Möglichkeiten zunächst der Reihe nach durch.

Es ist vornehmlich Pommer (1885), der den Gedanken, die Osteomalacie als solche könnte auf abnormen Vorgängen im Zentralnervensystem beruhen, lebhaft verficht. Er weist unter anderem darauf hin, dass Litzmann durch eine Anzahl von Fällen, in welchen sich Osteomalacie „im Gefolge tieferer Läsionen der Zentralorgane des Nervensystems“ entwickelte, sich zur Auf- stellung einer neurotischen Form der Osteomalacie genötigt sah, und erinnert daran, dass Knochenveränderungen und Frakturen bei schweren Geisteskrankheiten nicht so selten seien. Im Gegen- satz zu anderen Autoren, welche umgekehrt die psychischen Er- scheinungen von den osteomalacischen Schädelknochenveränderungen herleiten (Finkelnburg) oder, wie jüngst Hönnicke, als koor- diniert, als ebenfalls „thyreogen“ entstanden ansehen möchten, neigt er zu der Annahme der Abhängigkeit der Knochen- erscheinungen von dem Nervensystem. In Konsequenz dieser Ansch&uung liegt es ihm nahe, auch die motorischen und sen- siblen Erscheinungen der Osteomalacie auf das Zentralnerven- system zu beziehen. Indem er dieselben (unter denen auch er schon frühzeitige und spätere, wenn auch nicht scharf, scheidet), ungefähr aus denselben Gründen, welche wir sogleich bei Fried- berg kennen lernen werden, nicht mechanisch entstehen lassen will, indem er ferner eine primär myopathische Entstehung nicht für erwiesen hält, drängt sıch ihm der Gedanke eines Ursprungs und Sitzes derselben im zentralen Teil des Nervensystems „geradezu von selbst auf“.

Ich glaube nicht, dass man die Hypothese und nur als solche stellt sie P. auf —, dass der Osteomalacie in letzter Linie feinere Veränderungen des Zentralnervensystems zugrunde liegen,

osteomalacische Lähmang. 457

kurzweg von der Hand weisen kann; selbst, wenn beispielsweise etwa die Meinung Hönnickes vom thyreogenen Ursprung der Östeomalacie zu Recht bestehen sollte, wird sich die Möglichkeit nicht bestreiten lassen, dass die Knochen- und vielleicht auch ein Teil der Muskelschädigungen schliesslich doch durch Ver- mittelung des Nervensystems zustande kommen. Aber diese Hypo- these ist in den 20 Jahren, seit Pommer sie vertrat, kaum ge- fördert worden, die tatsächlichen anatomischen Befunde am Zentralnervensystem sind äusserst spärliche [Moses: Osteomalacie mit Hydromyelus, Pommer: Anscheinend Seitenstrangdegene- ration bei Osteomalacie!)], und können keinen Anspruch auf Verallgemeinerung erheben?). Aber selbst, wenn sie richtig wäre, selbst, wenn es erlaubt wäre, einiges von den späten Motilitäts- störungen der schwersten ÖOsteomalacien auf Defekte in den Pyramidenbahnen zu beziehen, die geschilderte frühzeitige typische and isolierte Psoasschwäche könnte durch solche Befunde nicht erklärt werden, wie ich mir überhaupt einen konstant zu einer solchen Lähmung führenden Rückenmarksprozess nach Art und Lokalisation nicht vorstellen könnte, ohne zu ganz paradoxen Annahmen zu gelangen.

Die Konstanz der isolierten Psoasschwäche lässt es meines Erachtens ebenso unzulässig erscheinen, den Locus morbi in den Wurzeln oder den peripherischen Nerven zu suchen, womit natür- lich nicht die Möglichkeit bestritten werden soll, dass beide gelegentlich durch die verdickten und verbogenen Knochen ge- schädigt werden können. Im Gegenteil, ähnlich, wie es vorhin bei. den sensiblen Nerven angenommen wurde, werden daraus ge- wiss häufig in den vorgeschritteneren Stadien der Osteomalacie motorische Reiz- und Ausfallserscheinungen resultieren. Viele der bei Stieda zusammengestellten, gelegentlich beobachteten Symp- tome könnten so ihre Erklärung finden (manche Lähmungen, motorische Reizerscheinungen, Atrophien, Alterationen der Re- flexe u. s. w.). Natürlich müssten sich dann an den entsprechenden Muskeln die Kriterien der peripherischen Nervenläsion nachweisen lassen. Auch die Abschwächung eines Patellarreflexes bei Frau W., ein, wie ich glaube, noch nicht beobachtetes Symptom, wäre so leicht zu verstehen. Rissmann hat bereits nachdrücklich auf einen derartigen Entstehungsmodus mancher Störungen hinge- wiesen. Für ihn, der ja gar nicht die isolierte Psoasparese, sondern diffusere Muskelparesen als charakteristisches Früh-

1) Untersuchungen über Osteomalacie und Rachitis. Leipzig. 1885. p. 480.

2) Einer jüngst veröffentlichten Arbeit von Eugenio Medea und Corrado da Fano: Contributo all’ anatomia patologica della Malattia ossea de Paget, Il Morgagni, 1906, No. 6 (estratto), entnehme ich, dass die entsprechenden Beobachtungen bei der Pagetschen Erkrankung etwas zahl- reicher sind. Es handelte sich meist um einen mässigen Faserausfall in den Seiten- und Hintersträngen und mässige Verdichtung der Stützsubatanz. Man wird den Autoren lebhaft zustimmen müssen, wenn sie sich betreffs der Verwertung dieser Befunde für die Pathogenese der Krankheit mit vor- sichtigster Zurückhaltung äussern.

458 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte

symptom der Östeomalacie ansieht, liegt es nahe, diesen Ent- stehungsmodus auch für die Initialsymptome zu supponieren (obwohl er beweisende Zeichen für den peripheren Sitz der - Läsion in seinen Fällen nicht beibringt). Wenn man aber, wie doch wohl die meisten neueren Autoren, gerade in der konstanten, isolierten Psoasschädigung das Typische der „osteomalacischen Lähmung“ sieht, eine Ansicht, die durch den Fall K. bestätigt wird, so wird man die neuritische Genese derselben kaum ac- ceptieren können. Ich werde später noch auf die Möglichkeit der Ausbildung einer verbreiteten Polynearitis auf der Basis der osteomalacischen Dyskrasie hinzuweisen haben; für die frühzeitige Psoasschwäche kommt auch das nicht in Frage.

So hat man denn den Ort der Störung im Muskel selbst gesucht; es soll sich um eine primäre Erkrankung des Muskels, eine „Dystrophia osteomalacica“ (Köppen) oder, wie Friedreich sagt: „um eine der Knochenerkrankung koordinierte Muskel- affektion, den Effekt einer gemeinsamen, auf beide Gewebssysteme wirkenden Ursache, begründet in konstitutionellen Anomalien“, handeln. Danach also läge auch der initialen Psoasschwäche eine echte myopathische Parese zugrunde. Bei dieser Annahme wärden die Bedenken. die sich gegenüber einer neuropathischen Entstehung des Phänomens aus seiner Konstanz und Isoliertheit ergeben, wenigstens einigermassen zurücktreten gegen die Er- wägung, dass die Schädlichkeit, die ja unter den Knochen zuerst gewönlich Becken und Lendenwirbelsäule ergreift, begreiflicher Weise auch unter den Muskeln zuerst und mit einer gewissen Regel- mässigkeit die jenen Knochen benachbarten und an ihnen in- serierenden Muskeln befallen würde.

Die Vertreter dieser Anschauung stützen sich einmal darauf, dass seit langer Zeit einzelne Muskelbefunde vorhanden sind, die das Vorkommen von Veränderungen in den Muskeln Osteo- malacischer erweisen und z. T. auch für das Bestehen einer primären Myopathie sprechen, das andere Mal darauf, dass bis- weilen die Muskelstörungen den manifesten Knochenveränderungen vorausgehen. Dies letztere Argument findet sich schon bei Friedberg. Nach ihm erschliessen „schon die ziehenden, reissenden Schmerzen (lange Zeit vor der Deklaration der Osteo- malacie), die Kraftlosigkeit, Ermüdbarkeit, das schlaffe Aussehen der behafteten Körperteile, die unregelmässig verteilte Lähmung die Ernährungsstörung der Muskeln. Während die Erscheinungen (sc. seitens der Muskeln) sich ausbilden, wird durch die Ernährungs- störung der Knochen die Weichheit derselben eingeleitet, und erst wenn der Krankheitsprozess im Knochen weit genug ent- wickelt ist, so wird die Bewegung allerdings auch durch ihn ver- hindert. Die Lähmung der Immobilität zuzuschreiben, wäre ein Anachronismus, da jene sich vor dieser und schon in einem Stadium entwickelt, in welchem die Kortikalsubstanz des Knochens fest genug ist, um für die Muskeln eine genügende Angriffsfläche darzubieten“. So bestechend diese von vielen Autoren acceptierte

osteomalacische Lähmang. 409

Argumentation ist, für beweisend und für zwingend wird man sie nicht halten können.

Und damit komme ich zu der letzten Erklärungsmöglichkeit der osteomalacischen, frühzeitigen Psoasschädigung, welche mir, wie ich vorweg bemerken will, als die bei weitem wahrscheinlichste und glaublichste erscheint. Danach ist die fragliche Funktions- störung teils durch mechanische Verhältnisse infolge der mehr oder minder ausgesprochenen Formveränderungen des Beckens bedingt, teils die Folge der mit der Kontraktion des Muskels ver- bundenen Schmerzen. Das Hineinsinken der Wirbelsäule in das Becken einerseits, das Höhertreten der Femora andererseits be- wirkt bei der ausgesprochenen osteomalacischen Beckenveränderung eine Annäherung der Insertionspunkte des lleopsoas, die, wie mir scheint, fast notwendig zu einer Aktionsstörung führen muss. Wenn die Muskeln hierbei Veränderungen eingehen, so meinen die Autoren, ist die Veränderung eine sekundäre, eine Folge der Inaktivität. Aber auch in den Fällen, in denen Psoasschwäche besteht ohne erkennbare Beckendeformität, lässt sie sich meines Erachtens wohl verstehen, ohne die Zufluchtnahme zur Supposition einer Myopathie. „Jede Aktion des Ileopsoas,“ sagt z. B. Vierordt, „leistet der sich einleitenden Deformität der hinteren Beckenwand Vorschub und ruft Unbehagen und Schmerzen hervor, was von selbst zu einer tunlichst geringen Inanspruchnahme des Muskels führen wird.“ Wenn es auch richtig ist, möchte ich dem hinzufügen, dass die Erkrankung vom Knochenmarke ihren Aus- gang nimmt, so deutet die häufige Entstehung von Exostosen v. Recklinghausen hält „die Vergrösserung der Spinae und Tubera, der Ansätze der stärkeren Muskeln, Sehnen und Ligamente* geradezu für charakteristisch für die reine Osteomalacie, doch auf eine lebhafte Beteiligung der Corticalis an den feineren, regressiven und proliferierenden Vorgängen am malacischen Knochen; es ist durch nichts erwiesen, dass solch feine Struktur- veränderungen der oberflächlichen Knochenschichten nicht schon zu einer Zeit statthaben, in der es zu groben Verbiegungen noch nicht gekommen ist. Auch daran wird zu erinnern sein, dass das Periost bei der Osteomalacie doch vielfach alteriert gefunden ist, und wenn Pommer sich auf Grund seiner Befunde dagegen ver- wahrt, dass der Osteomalacie eine allgemeine Periostitis zu Grunde liegt, so konstatiert doch auch er lokale Vorgänge am Periost nicht nur atrophischer, sondern auch proliferierender Natur. Er gibt die Möglichkeit zu, dass die Merkmale einer Periostitis..... eventuell auch da zu finden seien, wo nach den Angaben Roloffs mechanische Reizungen in den infolge von Bewegungen eintretenden „Zerrungen der Muskeln, Sehnen oder Bänder“ gegeben seien. Es wird nicht zu bestreiten sein, dass unter allen diesen Umständen Funktionsstörungen möglich sind.

Aber neben diesen Momenten, welche die letzteren also auf eine durch Schmerz und Zerrung bedingte Inaktivität zurückführen, kann meines Erachtens die Einwirkung rein mechanischer Faktoren

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460 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte

auf die Muskeltätigkeit auch da nicht ausgeschlossen werden, wo nachweisbare Stellungsveränderungen der Beckenknochen zu ein- ander noch nicht vorhanden sind. Denn selbst geringe Aenderungen des normalen Spannungszustandes der Muskeln (speziell des Psoas), der allein eine richtige und prompte Funktion gewährleistet, werden genügen, um die letztere zu schädigen. Solche Aenderungen des normalen „Spannungsgleichgewichtes“, wenn ich so sagen darf, ım Sinne der Erschlaffung könnten aber schon durch Deformationen der Knochen erzeugt werden, die sich der Feststellung an Lebenden noch entziehen,

Auch das Vorkommen des charakteristischen Ganges ohne manifeste Beckenveränderungen (Latzko) beweist aus diesen Gründen das Bestehen einer echten Psoasparese selbst dann nicht, wenn man ihn ausschliesslich auf die Störung der Tätigkeit dieses Muskels zurückführt; auch die einfache Funktionsstörung infolge jener Momente wird zu demselben Resultat führen. End- lich, auch die gleichfalls von Latzko zu Gunsten einer „Parese“ des Psoas ins Feld geführte Tatsache, dass der Gang geheilter Östeomalacischer wieder normal zu werden pflege, oder dass er, wenn er abnorm bleibe, doch nicht mehr den eigentümlichen Charakter des Entenganges behalte, verliert im Lichte der Vierordtschen Gesichtspunkte seine Stichhaltigkeit und wird ganz hinfällig, wenn man die oben angeführte, meines Erachtens sehr naheliegende Annahme einer abnormen Elastizität der Pfannen- gegend mit zur Erklärung des Ganges heranzieht.

Eine wertvolle Bestätigung der Richtigkeit der Anschauungs- weise Vierordts sehe ich in einem kürzlich von Schlesinger (l. c.) veröffentlichten Fall von „sypbilitischer Pseudoosteomalacie“. Bei einem Manne fanden sich neben Schmerzen, die denen bei Osteomalacie täuschend ähnlich waren, alle die früher genannten charakteristischen motorischen Erscheinungen: mühsames Beugen der Beine im Häft- und Kniegelenk, Unmöglichkeit, das gestreckte Bein bei Rückenlage zu erheben, Zittern der geschwächten Muskeln bei intendierten Bewegungen, passive und aktive Abduktions- behinderung und, sobald der Kranke imstande war das Bett zu verlassen, Watschelgang. Eine Inunktionskar brachte schnelle Heilung. Schl. führt die Erkrankung auf eine luetische Periostitis multiplex mit Arthritis zurück; man wird meines Erachtens die Möglichkeit eines luetischen Knochenerweichungszustandes (s. oben) wenigstens in Erwägung zu ziehen haben. Aber, wie dem auch sei: das Vorkommen genau der gleichen Funktionsstörungen bei einer ätiologisch ganz anders gearteten diffusen entzündlichen Knochenerkrankung spricht meines Erachtens auf das lebhafteste für die Abhängigkeit dieser Störungen eben von den im Knochen selbst sich abspielenden Reizzuständen.

Aber all dieses theoretische Für und Wider kann am Ende volle Sicherheit hierüber nicht bringen. Es sind vielmehr ledig- lich die tatsächlichen anatomischen Befunde an den Muskeln, welche die Frage sicher entscheiden können. Ich sehe ab von

osteomalacische Lähmung. 461

der Auffährung der Autoren, welche Schlaffheit, Schwäche der Muskulatur etc. nur am Lebenden festgestellt haben, sowie derer, welohe ohne Angabe von tatsächlichen Befunden nur im allge- meinen mehr oder weniger bestimmt das Vorkommen entzünd- licher oder degenerativer Veränderungen behaupten. Das alles findet sich z. B. in der Stiedaschen Arbeit zusammengestellt. Nur die Fälle, in denen der Nachweis solcher Veränderungen ositiv erbracht wird, möchte ich unter Hinweis auf einzelne Figentümlichkeiten derselben nochmals in Kürze referieren.

Da ist zunächst der vielzitierte Fall von Chambers!) aus dem Jahre 1854. (Die faserige Struktur der makroskopisch homogenen Muskeln war verschwunden, es fanden sich Fett- körnchenzellen, in den Zwischenräumen granulierte Körper.) Der Fall (nicht puerperal, 26jähriges Mädchen) ist klinisch auffällig dadurch, dass die Muskelsymptome ausgeprägt 7 Jahre vor dem nachweislichen Beginn der Knochenerkrankung bestanden; sie be- schränkten sich nicht auf die Ileopsoas.

O. Weber (1867) beschreibt 2 Fälle, deren einer erst 6 Tage nach dem Tode in seine Hände kam. Derselbe (71jährige Frau mit „echter seniler Osteomalacie*) zeigt neben „osteomala- tischen Gelenkentzündungen“ ausgedehnte lipomatöse Veränderung undfettigeEntartungderMuskulatur,besondersderBeckenmusk ulatur. „Die Glutaeen und sämtliche Rollmuskeln bildeten Fettbündel, die nur hie und da noch Streifen fettig degenerierter oder trübkörniger Muskelfasern enthielten. Ebenso erschienen sämtliche tiefe Rücken- muskeln un der vorderen Seite der Wirbelsäule, die Ileopsoas und selbst die Intercostalmuskeln in höherem oder geringerem Grade verändert“. Auch bei dem 2. Fall (87jährige Frau) „fehlte nicht die fettige Degeneration und Fettdurchwachsung der Mus- keln, nur hatte sie einen geringeren Grad erreicht“.

Friedreich (1873) sah bei einem erwachsenen Manne mit Osteomalacie „die Muskeln atrophisch, schlaff und welk, teils von hellgelblicher Farbe, teils durchzogen von weisslich sehnigen Streifen und Flecken, Das Mikroskop enthüllte eine ausgeprägte, sehr kernreiche Hyperplasie des Perimysium internum, sowie an den Muskelelementen selbst die unzweideutigsten Zeichen ent- zündlicher Reizung (körnig albuminöse Trübung, Wucherung der Muskelkerne) neben all jenen Formen des Zerfalls der kontrak- tilen Substanz, wie ich sie für die progressive Muskelatrophie ausführlich geschildet habe“. (d. h. Zerklüftung, Zerfall, wachs- artige und fettige Degeneration u. s. w.)

Dann ist noch zu erwähnen der Fall, den Jolly und Kaiser- ling im Jahre 1899 in der Gesellschaft der Chariteärzte be- sprachen. Es handelte sich scheinbar um eine typische puerperale, kolossal weit vorgeschrittene Form, bei welcher sich in den er- weichten Knochen vielfach Cysten fanden. Die Muskeln waren

1) Ich zitiere nach Friedberg, Pathologie und Therapie der Muskel- . dähmung. Leipzig 1862, p. 276.

31*

462 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte

gelb, mit feinen, weisslich-gelben Strängen (Fettdurchwachsungen) durchzogen. Mikroskopisch fanden sich neben kolossaler Fett- entwicklung viel abgerundete Querschnitte, an Stelle der polygo- nalen grossen und kleinen ganz kleine Querschnitte, sehr starke Atrophie an einzelnen Stellen neben gut erhaltenen Muskelbündeln an anderen. Sehr reichliche intermuskuläre Kernentwicklung: ein Bild, das, wie Jolly sagt, ausserordentlich an das bei der Dystrophie erinnert. Herr Professor Kaiserling hatte die Güte, mir mündlich mitzuteilen, dass sich bei späterer, genauerer Unter- suchung herausgestellt hat, dass in diesem Falle der Knochen- erweichungsprozess am Becken mit einer schweren Sarkomatose verbunden war, während sich an den übrigen betroffenen Knochen weder makroskopisch noch mikroskopisch Sarkome gefunden haben. Er demonstrierte mir ein Präparat (vom Becken), in dem sich deutlich ein ganz allmählicher Uebergang des normalen oder annähernd normalen Knochengewebes in typisches Riesenzellen- sarkomgewebe verfolgen liess. Wenn nun auch mit Rücksicht auf die bereits erwähnte Anschauung hervorragender Autoren, wonach sich eine Sarkomatose einer echten Osteomalacie gewisser- massen supraponieren kann, der Fall seine Bedeutung für unsere Betrachtung hinsichtlich der Muskelbefunde behält, so wird man ihn doch als vollkommen rein und eindeutig nicht ansehen können.

Ich will noch hinzufügen, dass Wetzel (1899) bei einem schweren, einige Eigentümlichkeiten zeigenden Falle die Muskeln des Oberschenkels in eine gelbliche, wachsartige Masse verwandelt fand. In der Inzisionshöhle sammelte sich eine Menge- flüssigen Fettes. Angaben über den mikroskopischen Befund fehlen.

Dem stehen einige Befunde gegenüber, die man mehr oder weniger als negativ bezeichnen muss. In einem Falle typischer Osteomalacie F. Winckels (1884) fand v. Recklinghausen den lleopsoas, die Gemelli, den Quadratus femoris sehr schlaff, dënn und blass. Die einzelnen Fasern in all jenen Muskeln hatten ein ziemlich normales Aussehen; sie waren sehr stark glänzend, zeigten grosse Reihen von Kernen, keine fettige Dege- neration.

Köppen (1890) untersuchte einige Muskelstückchen aus der Wadenmuskulatur zweier lebenden Östeomalacischen ohne sicheres Resultat; er fand ferner in den spärlichen Resten von Muskel- fasern, die an einem in Spiritus aufbewahrten Becken sitzen ge- blieben waren, deutlich atrophische Fasern; mehr konnte nicht nachgewiesen werden.

Somit finde ich in der mir zugänglichen Literatur fünf oder, bei Hinzurechnung des Falles von Winckel, sechs mikroskopisch untersuchte positive Fälle. Mehrere derselben stammen aus einer Zeit mit relativ gering entwickelter mikroskopischer Technik, in der die Anschauungen über atrophische und degenerative Ver- änderungen am Muskel immerhin noch nicht so weit geklärt waren, wie sie es heute sind. In allen Fällen handelt es sich um ganz

osteomalacische Lähmung. 463

schwere Osteomalacien, um Kranke, die an der Krankheit oder ihren direkten Folgezuständen zugrunde gegangen sind. Selbst in solchen Fällen, so scheint es, sind die Befunde nicht eindeutig, stimmen nicht miteinander überein. Während einige auf degenerative Prozesse hindeuten (Chambers, Friedreich, z. T. auch Weber), sprechen andere für atrophische infiltrative Vorgänge (Jolly, ev. Winckel); in einigen scheint eine Mischung von beidem vor- zuliegen. Die ersteren liessen sich vielleicht als Druckneuritis auf- fassen, wahrscheinlicher durch kachektisch polyneuritische Prozesse erklären. Diegeringen Veränderungenim Falle Winckels lassen sich gewiss durch Inaktivität erklären (Vierordt). Für die Annahme einer primären Myopathie bleibt eigentlich der Jollysche Fall, der, wie gesagt, an sich zweifelhaft ist; zudem sagt J. selbst, dass zur Zeit der Berichterstattung ausgedehnte Untersuchungen nóch nicht hätten stattfinden können!).

Noch auf einen merkwürdigen, vielleicht zufälligen Umstand bei diesen Muskelbefunden möchte ich aufmerksam machen. Die sämtlichen älteren Fälle (bis auf den so geringe Veränderungen der Muskeln zeigenden Fall von Winckel) gehören nicht zu der gewöhnlichen und nach der Ansicht aller Autoren weit über- wiegenden puerperalen Osteomalacie.e Zweimal (Weber) handelt es sich um Greisinnen, einmal (Friedreich) um einen Mann, einmal [Chambers?)] um ein junges Mädchen.

Wenn ich aus dem allen das Facit ziehe, so scheint es mir erwiesen, dass die schweren, terminalen Osteomalacien von hoch- gradigen Muskelveränderungen begleitet sein können, Verände- rungen, die sich intra vitam durch schwere Funktionsstörungen, Jähmungen kundgeben müssen. Woher diese und jene kommen, darüber geben die bisherigen Befunde keine Auskunft.

Möglich wäre es, dass sie ihre Entstehung sehr verschiedenen Ursachen verdanken, vielleicht z. T. den supponierten Seitenstrang- veränderungen im Rückenmark, bisweilen gewiss polyneuritischen

1) Wenn ich trotzdem die Möglichkeit, dass wenigstens gelegentlich doch derartige Kombinationen von pathogenetisch gleichwertigen Knochen- und Muskelerkrankungen vorkommen, ausdrücklich betonen möchte, so ver- . anlassen mich dazu einige Bemerkungen Jollys. Nicht nur, dass er i diesem Falle die Aehnlichkeit der mikroskopischen Bilder mit denen bei Muskeldystrophie betont, er erwähnt gleichzeitig auch einen anderen Fall, in welchem sich zu einer typischen Dystrophie bei einem jungen Mann eine ausgesprochene Östeomalacie gesellt habe. Vielleicht lassen sich auch einige andere Beobachtungen in der Literatur als Kombinationen beider Erkrankungen auffassen; ein Fall von Winckel (in den „Klinischen Beobachtungen zur Dystokie von Beckenenge“, 1882) erinnert in vielen Beziehungen an Dystrophie, zeigt freilich auch einiges Auffällige (Beteiligung der Handmaskeln und anderes). Schlippe und Dreyer (Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 80 respektive 31) haben neuerdings auf das Vorkommdn von allerdings anders- artigen Knochenstörungen bei Dystrophie hingewiesen.

) Für den Fall von Chambers, dessen Original mir nicht zur Ver- fügung steht, ist die nicht puerperale Entstehung nicht ganz sicher. Doch findet sich bei Friedberg und in sonstigen Zitaten nichts von einem Puerperinm vermerkt; auch handelt es sich um ein Mädchen, dus bei Beginn der Muskelerkrankung 19 Jahre alt war.

464 Völsch, Ueber Osteomalasie und die sogenannte

oder lokalneuritischen Prozessen, vielleicht auch zuweilen echten, der Knochenerkrankung koordinierten Myopathien. Vielleicht kombinieren sich gelegentlich bei demselben Kranken mehrere dieser Ursachen, Ueberall wird die, die schweren Osteomalacien komplizierende, Kachexie, überall auch das Moment der Inaktivität, welche durch mechanische Verhältnisse und Schmerz erzeugt wird, in Rechnung zu ziehen sein: Ein Konvolut von Fragen, die nur durch vielfältige und eingehende Untersuchung des Muskel- und Nervensystems Osteomalacischer allmählich gelöst werden können.

Ganz unzweideutig aber, meine ich, ergibt sich aus dieser Betrachtung die Folgerung, dass die Befunde für die Lösung der Frage, um welche es sich hier zunächst handelt, nicht verwertet werden können, der Frage, ob die charakteristische, frühzeitige oder initiale Bewegungsstörung des Ileopsoas durch eine neuro- oder myo- pathisch bedingte Muskelerkrankung hervorgerufen wird, oder ob sie auf mechanischen Ursachen beruht, mit anderen Worten, ob es sich dabei um eine Parese oder um eine mechanische Funktionsstörung handelt. Nach dem, was ich oben ausführte, ruht die erstere Annahme meines Erachtens einstweilen auf einer recht unsicheren Grundlage, und man wird so lange berechtigt sein, diese initiale Funktionsstörung des Psoas (und wohl auch der etwa sonst noch bei der initialen „osteomalacischen Lähmung“ beteiligten Beckenmuskeln [Rissmann]) als eine einfache, auf mechanische und „Zerrungs“-Momente zu beziehende Schwäche aufzufassen, als nicht sichere Muskelbefunde aus Frühstadien der Krankheit dazu zwingen, diese Auffassung aufzugeben.

Ich verkenne nicht, dass die genetische Trennung der frühen und der späten „Lähmungen“, zu der man auf diese Weise mög- lichenfalls kommt, und die Pommer perhorresziert, zunächst etwas Bedenkliches hat. Aber ich meine, dies Bedenken verliert an Gewicht bei der Annahme, dass die frühen und ein Teil der späten Funktionsstörungen eben keine Lähmungen, sondern mechanisch etc. bedingt sind, und dass in den späten Stadien mancher Fälle noch ein zweiter „lähmender“ Faktor hinzukommen mag. Und anderer- seits, die Supposition einer isolierten Psoaslähmung hat etwas mindestens ebenso Gezwungenes, Ä

Die Vergleichung der beiden besprochenen Fälle ist geeignet, die Anschauung von der mechanischen Entstehung der frühen Psoasschwäche zu stützen. Bei Frau K. ist sie deutlich aus- gebildet; bei ihr steht das Promontorium tief, es besteht Lenden- lordose. Bei Frau W. ist das Promontorium „nicht zu erreichen“, die Lendenwirbel zeigen eine leichte Kyphose; demgemäss hat sie volle Beweglichkeit in ihren Oberschenkelbeugern.

Noch ein Wort über die Adduktorenkontraktur Latzkos. Schon vor ihm haben, wie er selbst angibt, viele Autoren (z. B. Winckel, Senator, v. Recklinghausen, Volkmann u. A.) eine „Abduktionsbeschränkung“ bei Osteomalacie gefunden. Erst Latzko aber hat die Regelmässigkeit dieses Phänomens scharf

osteomalacische Lähmung. 465

hervorgehoben und hat als seine wesentlichste Ursache eine Kontraktur der Adduktoren angegeben. Er lässt dabei frühere Deutungsversuche wenigstens für einen Anteil der Störung zu, für den Anteil nämlich, der sich auch in der Narkose nicht aus- gleicht. Dieser „Rest der Abduktionsbehinderung“ mag, wie L. meint, durch Knochenverbiegungen, z. B. auch des Schenkelhalses und Aenderung der Pfannenstellung bedingt sein (Kehrer, v. Bruun, Holländer und andere), indem etwa der Trochanter sich gegen den lateralen Pfannenrand stemmt; auch Schrumpfung der Kapsel mag gelegentlich in Frage kommen. Aber das Wesent- liche, worauf der nach Latzko weit erheblichere Anteil der Ab- duktionsbeschränkung, welcher sich in der Narkose vollkommen ausgleicht, zu beziehen ist, ist ihm eine „Aktive Kontraktur“ der Adduktoren. „Genau so,“ sagt er, „wie bei Frakturen, Luxationen, Gelenkentzündungen der betreffende Körperteil durch aktive Kon- traktur der umgebenden Muskeln fixiert wird, so kontrahiert sich die an den zumeist erkrankten Partien des Beckens inserierende Adduktorengruppe dauernd, um eine Zerrung durch übermässige Abduktion zu verhindern.“ Er beruft sich dann weiter auf Breisky und führt das folgende Zitat an: „Vorzüglich auffallend ist die Schwierigkeit, die Beine zu abduzieren, vielleicht wegen der mit der Abduktionsbewegung gesetzten passiven Ausdehnung und Spannung an der Insertion der von deu erkrankten und zur Schnabelbildung verwandten Beckenteilen entspringenden Adduk- toren zur Zeit der Exacerbationen der Krankheit. Nach einer solchen Exacerbation ..... lässt nämlich die Schmerzhaftigkeit wieder nach, und die Kranken können die Beine wieder besser abduzieren, obschon die Beckendeformität einen weiteren Schritt gemacht hat.“ Beide Autoren stellen also die Schmerzhaftigkeit des erkrankten Schambeins ganz in den Vordergrund; zur Ver- meidung der Zerrung bei der Abduktion kontrahieren die Kranken die Adduktoren. Ich glaube, man wird ihnen darin rückhaltlos zustimmen können, und zumal zur Erklärung der aktiven und passiven Abduktionsbehinderung reicht die Betonung dieser chmerzhaftigkeit gewiss aus. Ich möchte aber zugleich zur Er- wägung stellen, ob zur Erklärung der „Kontraktur“, die gerade Latzko so sehr betont, d. h. eines dauernden Kontraktions- zustandes der Adduktoren, nicht noch ein weiteres Moment ver- dient, schärfer und ausdrücklicher hervorgehoben zu werden, als es beide Autoren tun. Ich meine die Dehnung der Adduktoren durch die Beckendeformation, schon im relativen Ruhezustande, nicht erst bei dem Versuch der Abduktion.. Wie die typische Beckenveränderung {bei Osteomalacie zu einer Annäherung der Insertionspunkte des Psoas führt, so entfernt sie andererseits die Ansatzpunkte der Adduktoren von einander, was ja auch Breisky in dem wiedergegebenen Zitat andeutet. Ich verweise hierzu noc auf die hierfür äusserst instruktive Abbildung bei Litzmann!),

1) Die Formen des Beckens, 1861, Taf. VI.

466 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte

aus der hervorgeht, wie viel weiter, als bei anderen Becken- deformitäten, die Symphyse des osteomalacischen Beckens nach vorn liegt. Auch schon eine ganz geringfügige. Zunahme der normalen Adduktorendehnung, wie sie durch eine am Lebenden noch keineswegs nachweisbare Verschiebung der Knochen hervor- gerufen werden kann, muss meines Erachtens zu einer dauernden leichten Zerrung an dem kranken Knochen führen; es wird an dem erkrankten Bein im Vergleich zu dem normalen Zustande, wenn ich so sagen darf, dauernd ein relativer Abduktionszustand bestehen, den der Kranke, wie Latzko sehr richtig sagt, dauernd durch Verminderung der Dehnung, d.h. durch verstärkte Adduktion, auszugleichen die Tendenz haben wird.

Wir haben meines Erachtens hier das vollständige Gegen- stück zu den Vorgängen, die sich bei der Genese der Psoas- schwäche abspielen mögen. Bei letzterer: Annäherung der Insertionspunkte, vielleicht nur in ganz geringem Masse, klinisch nicht erkennbar,.aber genügend zu einer Aenderung des „Spannungs- gleichgewichtes“ nach der negativen Seite und Erschlaffung des Muskels; als Folge davon Hypofunktion. Hier, bei der Adduktoren- kontraktur, Entfernung der Insertionspunkte, Verstärkung der Dehnung, aus der an sich schon eine Art Hyperfunktion resultieren mag, eine erhöhte Kontraktibilität, wenn der Ausdruck erlaubt ist, wie im physiologischen Experiment der stärker belastete Muskel bis zu einer gewissen Grenze auf denselben Reiz mit einer grösseren Arbeitsleistung, einer stärkeren Kontraktion antwortet. Dazu kommt in beiden Fällen als hochwichtiges Moment die Schmerzhaftigkeit des Knochens. Aber während dort die Zweckmässigkeit Kontraktionen tunlichst vermeiden lässt, wird hier in der oben ausgeführten Weise eine dauernde Kontraktion der Adduktoren zum Ausgleich ihrer Dehnung zustande kommen.

Dass sich an die aktive Kontraktur, wie Latzko will, in- folge nutritiver Verkürzung schliesslich auch ein passiver Kon- trakturzustand anschliessen kann, wird wohl unbestreitbar sein. Das kommt ja aber für die frühzeitige Kontraktur, um die es sich hier handelt, nicht in Frage.

Bei Frau K. bestand eine nicht sehr erhebliche, aber deut- liche Abduktionsbehinderung, wohl sicher durch Anspannung der Adduktoren ;die Entstehungsweise durch Anstemmen desTrochanters glaube ich ausschliessen zu können.

Ich resumiere mich folgendermassen:

Die „osteomalacische Lähmung“ in dem prägnanten Sinne eines frühzeitigen Symptomenkomplexes (Schmerzen, Watschel- gang, mehr oder minder isolierte Psoasschwäche, Abduktions- behinderung bezw. Adduktorenkontraktur) ist in der Tat charakteristisch für viele Fälle beginnender Osteomalacie; man wird aus ihnen die Diagnose mit Wahrscheinlichkeit auch in solchen Fällen stellen können, in denen Knochendeformitäten sich noch nicht finden.

osteomalacische Lähmung. 467

Die genannten motorischen Symptome bedürfen zu ihrer Erklärung nicht der Annahme einer neuropathischen oder primär myopathischen Muskelerkrankung.

Vielmehr können sie durchweg durch mechanische Ver- hältnisse and durch die Wirkung der Zerrung am erkrankten Knochen erklärt werden. Die Bezeichnung der Funktionsstörung als Lähmung oder Parese (Psoasparese) ist daher inkorrekt; sie präjudiziert etwas, was zum mindesten noch nicht erwiesen ist.

Die schweren, vorgeschrittenen Osteomalacien scheinen, bis- weilen wenigstens, von schweren Veränderungen der Muskulatur begleitet zu sein; über die Genese und die Natur dieser Ver- änderungen wissen wir durchaus nichts Sicheres.

Alle diese Fragen können nur durch exakte anatomische Untersuchungen sicher entschieden werden; die Mahnung, die Winckel vor 42 Jahren aussprach, bei der Obduktion Osteo- malacischer auf die Muskeln zu achten, besteht heute noch ebenso sehr zu Recht, wie der vor 27 Jahren ausgesprochene Wunsch Senators, es möchte das Nervensystem Osteomalacischer unter- sucht werden; ich möchte hinzufügen, dass zum Verständnis der Initialsymptome der Osteomalacie und damit zur Befestigung ihres diagnostischen Wertes die Untersuchung der entsprechenden Or- gane frühzeitig verstorbener Osteomalacischer dringend wünschens- wert ist,

Zum Schluss sei mir noch eine Bemerkung gestattet. Wenn die Auffassung von der mechanischen Entstehung der oben er- wähnten motorischen Störungen sich als zutreffend erweisen sollte, wenn ferner die weiter oben verteidigte Annahme richtig ist, dass auch andere, von der Osteomalacie zu trennende Erweichungs- und Reizungszustände der Knochen ähnliche Deformationen und ähnliche mechanische Verhältnisse .hervorrufen können, so wird die Möglichkeit im Auge zu behalten sein, dass jener eigenartige Symptomenkomplex sich gelegentlich auch bei solchen anders- artigen Erkrankungen (Karzinom, Sarkom, Lues, vielleicht auclı einmal bei Ostitis deformans) findet. Wenn ich ausser dem er- wähnten, meines Erachtens äusserst beachtenswerten Fall Schle- singers keinen sicheren derartigen Fall in der Literatur habe finden können, so werden vielleicht spätere Untersuchungen darüber Klarheit bringen, ob das an der Irrtümlichkeit meiner Voraus- setzungen oder an einer zu weit gehenden Ausdehnung des Begriffs „Osteomalacie“ s. str. seitens der Autoren liegt.

468 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.

Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten. Von Dr. KURT MENDEL,

Nervenarzt in Berlin.

Vorbemerkungen.

An der Hand von mehr als 1500 Gutachten, die zum Teil von meinem Vater, der sie mir freundlichst überliess, zum an- deren Teile von mir selbst erstattet worden sind, sowie unter Berücksichtigung der bisherigen Literatur!) und der Entscheidungen der höchsten Instanz des Versicherungswesens, des Reichs- Ver- sicherungsamtes, ' will ich in den folgenden Aufsätzen die Rolle des Trauma in der Aetiologie der Nervenkrankheiten zu beleuchten suchen. Zur Besprechung sollen gelungen in fortlaufender Reihen- folge die progressive Paralyse, der Hirntumor, Hirnabszess, die Apoplexie und die Meningitis; die Tabes, multiple Sklerose, Syringomyelie, Myelitis, amyotrophische Lateralsklerose und progressive Muskelatrophie; die Dystrophia musculorum pro- gressiva und Neuritis; die Paralysis agitans, Basedowsche Krank- heit, Akromegalie und Epilepsie in ihren Beziehungen zum Unfall, d.h. als „posttraumatische“ Krankheiten?). Ein Schlusskapitel möge dann die sich aus dem Studium der Literatur und meines Materials ergebenden Folgerungen kurz noch einmal zusammenfassen und einigen allgemeineren Bemerkungen Raum bieten.

Die traumatische Neurasthenie und Hysterie, welche schon allzu oft Gegenstand monographischer Abhandlungen waren, stelle ich vorerst noch zurück, die Verwertung meines gerade nach dieser Richtung hin überaus reichhaltigen Materials mir für eine spätere Arbeit vorbehaltend.

Der Wortlaut der Gutachten ist von mir nur auszugsweise, die Krankengeschichte selbst zuweilen ausführlicher wiedergegeben ; letzteres erschien mir erforderlich, um dem Leser Gelegenheit zu bieten, dasjenige Material, auf welches ich meine Folgerungen stütze, eventuell einer Nachprüfung unterziehen zu können. Zudem bieten meines Erachtens einzelne Krankengeschichten an sich ein solches Interesse, dass mir ihre ausführlichere Publikation gerechtfertigt erscheint (z. B. Fall 16 und 21 unter „Paralyse“,

1) Am Ende eines jeden Kapitels zusammengestellt.

3) „Posttraumatisch‘‘ bezeichnet den Gegensatz zu den sofort durch das Trauma erzeugten Zufällen. Eine Apoplexie in Hirn oder Rückenmark, welche durch direkte Zerreissung eines Blutgefässes anlässlich des Unfalls entstand, soll z. B. eben so wenig Gegenstand der Erörterung sein wie etwa eine sich an eine infizierte Kopfwunde direkt und per continuitstem an- schliessende Meningitis».

Mendel, Der Unfall in der Astiolegie der Nervenkrankheiten. 469

der Fall von amyotrophischer Lateralsklerose post trauma, Fall 11 unter „Tabes“, der anhangsweise unter „Hirntumor“ mitgeteilte Fall von Sinus pericranii u. 8. w.).

I. Progressive Paralyse und Unfall. A. Experimentelles.

1. Im Jahre 1884 konnte E. Mendel bei Hunden ein Krankheitsbild experimentell erzeugen, welches demjenigen der rogressiven Paralyse beim Menschen überaus ähnlich ist. Seine Versuche wurden folgendermassen angestellt: Hunde wurden auf einer Tischplatte so befestigt, dass ıhr Kopf an der Peripherie des Tisches sich befand. Die Tischplatte wurde alsdann 100—110 mal in der Minute 4—6 Minuten lang in Rotation versetzt. Bei Aufhören des Drehens traten Schwindelerscheinungen auf. Wieder- holte man diese Drehungen täglich, und zwar 3—4mal mit kurzen Pansen, so sah man gegen den 12. bis 14. Tag zuerst Verlust des Muskelgefühls in den hinteren Extremitäten. Hörte man dann mit den Drehungen auf und überliess man die Tiere bei guter Fütterung sich selbst, so stellten sich im Verlaufe der nächsten Wochen ein: Zunahme der Erscheinungen an den hinteren Extremitäten (Labmsein, Hahnentritt), Facialisparesen, Paresen der Rumpfmuskulatur, der Nackenmuskulatur, Veränderungen des Bellens, erschwertes Urinlassen. Gleichzeitig nahm die meist schon in der 2. Woche deutliche Apathie stetig zu und wurde allmählich zum teilnahmlosen Blödsinn. Das Körpergewicht sank, der Appetit blieb ungestört. Der Tod erfolgte unter den Erscheinungen allgemeiner Lähmung. Die Sektion ergab: Ver- wachsung des Schädels mit der Dura, dieser mit der Pia und der Hirnrinde im Bereiche des Sulcus cruciatus, Trübung der Pia, Eingesunkensein der Gyri, Hydrocephalus internus, mikro- skopisch Kernvermehrung, Wucherung der Gliazellen mit Neu- bildung von Gefässen, stellenweise Veränderungen der Ganglien- zellen. Die hochgradigsten Veränderungen fanden sich in der Umgebung des Sulcus cruciatus und der Fissura Sylvii.

Für die Erzeugung der Krankheit war die aktive Hyperämie der Hirnrinde die wesentliche Bedingung; wurde der Kopf des Hundes in der Mitte der Tischplatte fixiert und dann in gleicher Weise experimentiert, wodurch Hirnanämie hervorgerufen wurde, so war das Resultat ein völlig negatives.

Mendel erzeugte somit bei Hunden durch Hyperämi- sierung des Hirns nach. wiederholt ausgeführten Dreh- versuchen (nicht durch einmaliges Trauma) den paralytischen Symptomenkomplex.

2. de Luzenberger führte mit dem Wintrichschen Hammer bei 7 Meerschweinchen Schläge auf den Schädel aus oder fügte ihnen andere Insulte, wie Stoss mit dem Kopf gegen eine Mauer, zu und fand, dass sich zunächst eine Vermehrung der regressiv

470 Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten-

veränderten Ganglienzellen zeigte, dass die dem Trauma fol- genden zirkumskripten Läsionen jhren Ursprung zum Teil Quetschungen infolge des Contrecoup, zum anderen Teil der vom Liquor cerebrospinalis fortgepflanzten Erschütterung verdanken. Mikroskopisch fand de Luzenberger häufig an den dem Contrecoup ausgesetzten Stellen Zellalterationen und Zerreissungen der Mark- scheiden auch in weiter Entfernung vom Angriffspunkt des Trauma.

Die Veränderungen der Ganglienzellen bestanden in einer eigentümlichen Anhäufung des Chromatins an dem einen Pol der Zelle, während am anderen Pol das Protoplasma rarefiziert er- schien (nach Nisslpräparaten). Das Gefässsystem reagiert, wie de Luzenberger ausführt, auf Traumen durch Erweiterung der Kapillaren und Venen. Hat das Trauma Cachexie im Ge- folge, so ähneln die Zellveränderungen oft den bei der progressiven Paralyse beobachteten.

8. Scagliosi rief bei Kaninchen durch wiederholte Schläge mit einem Holzhammer auf den Kopf Hirnerschütterung hervor und fand in fast allen Ganglien- and Neurogliazellen der ver- schiedenen nervõsen cerebralen Regionen als auch im ganzen Rückenmark regressive Veränderungen (Chromatolyse, Vakuolen- bildung im Zellleib, Schwund der Gestalt der Ganglienzellen u. s. w.) wie bei der Paralyse. Besonders frühzeitig und stark be- teiligt waren die Gliazellen, woraus Scagliosı schliesst, dass die Veränderungen zuerst das Stützgewebe betreffen, dessen Zellen ihre Nahrung unmittelbar aus den Blutgefässen ziehen, Mit Rücksicht auf diesen Umstand sowie in Anbetracht der diffusen Verbreitung der Veränderungen nimmt er als Primäres eine Störung der Gefässtätigkeit an und schreibt demnach dem Gefässsystem die Hauptrolle zu. Demgegenüber war Schmaus bei seinen in dem Kapitel „Myelitis und Trauma“ des näheren wiederzugebenden Versuchen sowie Bikeles zu dem Schlusse gelangt, dass nach künstlich verursachten Erschütterungen des Körpers die spezifischen Elemente des Nervensystems [ins- besondere Achsenzylinder (Schmaus) und Markscheiden(Bikeles)] primär, und ohne dass die Blutgefässe wesentlich an dem Prozess beteiligt sind, erkranken können.

Bei all diesen Experimenten ist zu berücksichtigen, dass es sich nicht wie bei dem gewöhnlichen Trauma um eine einmalige Verletzung, sondern um mehrfach ausgeführte Er- schütterungen bei empfindlichen Tieren handelt. Im allgemeinen wird man wenigstens für die meisten Fälle zu der An- nahme berechtigt sein, dass der Angriffspunkt der Traumawirkung das Gefässsystem ist (wie dies auch mit den Experimenten von Mendel und Scagliosi übereinstimmt), ohne jedoch eine direkte Wirkung des Traumas auf die spezifischen Nervenelemente aus- schliessen zu können (Schmaus Bikeles). Auf dem Wege der Blutbahn sind auch am besten die Fälle von Geisteskrankheit, insbesondere von progressiver Paralyse, die angeblich nach heftiger seelischer Erschütterung (Schreck u. s. w.) einsetzten, zu erklären,

Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 471

das psychische Trauma erzeugt eben ähnliche vasomotorische Störungen wie eine körperliche Erschütterung des Gehirns, und durch Vermittelung des Gefässsystems wird alsdann die Psychose ausgelöst. Fälle von progressiver Paralyse nach psychischem Trauma, deren Entstehung auf diese Weise ihre beste Deutung erfährt, sind z. B. von Witkowski, Sprengeler und Kriege veröffentlicht. Experimentell ist diese Frage von Conty und Charpentier (nach Binswanger zitiert) behandelt worden, welche bei Hunden nach Schreckwirkung Blutdrucksteigerung und erhöhten Gefässtonus beobachteten, ebenso konnten Bezold und Danilewsky durch einen Schrei in das Ohr bei Tieren Blat- drucksteigerungen erzeugen.

B. Klinisches.

Die Hauptfrage, welche uns hier zu beschäftigen hat, ist: Gibt es eine reine traumatische Paralyse? d.h. kann bei einem bis dahin gesunden und zur Erkrankung nicht besonders disponierten Individuum ein Trauma an sich eine progressive Paralyse verursachen?

Die Ansichten der Autoren, welche sich mit dieser Frage beschäftigt haben, sind geteilt.

a) Autoren, welche die Möglichkeit einer rein trau- matischen progressiven Paralyse zugeben.

E. Mendel: Ein Trauma kann eine Paralyse erzeugen, doch ist dies ungemein selten. Unter tausenden Fällen von Paralyse ist vielleicht ein einziger rein traumatischer Fall vor- handen. Häufiger spielt das Trauma eine auxiliäre Rolle, es trifft ein bereits prädisponiertes oder schon krankes Gehirn und wird der Agent provocateur. Kapilläre Blutungen, Zerstörung von Nervenelementen können das anatomische Bindeglied bilden.

In völlig gleichem Sinne sprechen sich Regis, Ball, Barbo, Meschede, Seiffer, Thiele und Troeger aus: sie geben alle zu, dass eine Verletzung allein eine progressive Para- lyse hervorrufen kann, betonen aber gleichzeitig die grosse Seltenheit des Vorkommens einer rein traumatischen Paralyse. Auch knüpfen sie zumeist an das Trauma selbst bezüglich seiner Art und Lokalisation bestimmte Bedingungen an, von denen später die Rede sein wird. E. Meyer kennt nur einen Fall, in welchem „nicht zu bestreiten ist, dass die Paralyse durch die Verletzung ausgelöst sei“; er hält es aber doch „zum mindesten für sehr unwahrscheinlich, dass ein Trauma allein die Ursache des Leidens bilden könne“. Kraepelin führt das Trauma als eine der Ursachen der Paralyse an; Mabille, Luys, Baillarger, Lunier geben die Existenz einer traumatischen Paralyse zu, obne sich des Näheren über diese Frage auszulassen. Bailey konnte das Trauma als alleinige Ursache der Paralyse mit Sicherheit in keinem einzigen seiner Fälle feststellen, die Möglichkeit einer rein traumatischen Paralyse gibt er jedoch

472 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten

zu, hält aber solche Fälle, falls sie überhaupt vorkommen, für äusserst selten und den Beweis des ursächlichen Zusammenhanges als sehr schwer zu erbringen. |

Zwischen diesen Autoren und den sub b zu nennenden stehen Vallon und Sımon, welche der Ansicht sind, dass ein Schädeltrauma an sich bei Fehlen jeglicher Prädisposition eine progressive Paralyse erzeugen könne; es sei aber für die Manifestation der Paralyse vorauszusetzen eine gewisse Alters- grenze, diesseits oder jenseits welcher man sie kaum sich ent- wickeln sieht, und eine mit diesem Alter verbundene, also nicht von früher übernommene „condition anatomique“, welche in ge- wissem Masse das Terrain präpariert.

Wir sehen also, dass diese Autoren schon bestimmte Be- dingungen (insbesondere eine gewisse Alterslage) an das Indi- viduum selbst stellen, während die sub a angeführten lediglich einige Anforderungen an das Trauma (bezüglich Art und Lokali- sation) richten. Ä

b) Autoren, welche eine traumatische Paralyse bei fehlender (ererbter oder erworbener) Disposition zur Krankheit nicht anerkennen.

Die Zahl dieser Forscher ist ungleich grösser als diejenige der sub a genannten. Die wichtigsten der niedergelegten An- sichten seien hier kurz angeführt.

Mit Bestimmtheit sprechen sich gegen das Trauma als alleinige Ursache einer Paralyse aus:

i. Werner: Ein Trauma allein kann bei rüstigem Gehirn

rogressive Paralyse nicht veranlassen. Bei entsprechender in- Sividueller Disposition kann aber ein Kopftrauma den letzten Anstoss zur Entwicklung der Paralyse geben, dieselbe einleiten, den Ausbruch beschleunigen, eine bestehende Paralyse wesentlich verschlimmern. Die Hirnerschütterung begünstigt dank der All- gemeinschädigung der Hirngefässe chronisch - encephalitische rozesse.

2. Gieseler: Ein Trauma allein kann nicht progressive Paralyse hervorrufen. Es ist wenig wahrscheinlich, dass ein selbst sehr erhebliches Trauma die alleinige Ursache der Paralyse sein kann. Doch kann das Trauma die Entstehung der Krank- heit fördern.

3. Hirschl: Wir können das Trauma als ursächliches Moment der progressiven Paralyse nicht anerkennen, müssen aber hervorheben, dass es als veranlassendes Moment bei syphi- litisch infiziert Gewesenen die Paralyse einleiten könne. Bei be- reits paralytisch Erkrankten hat es den Einfluss eines para- Iytischen Insultes und bewirkt rasches Eintreten der Demenz,

4. Sachs und Freund: Ein Unfall an sich macht nie progressive Paralyse. Gelegentlich kann bei vorbereitetem Boden eine schwere Kopfverletzung den schnelleren Ausbruch der Para- lyse herbeiführen, die Krankheit beschleunigen.

Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 473

5. Kundt: Ohne Prädisposition kann ein Trauma Paralyse nicht erzeugen.

6. Kölpin: Es gibt keine echte traumatische Paralyse. Die Art des pathologischen Prozesses bei der Paralyse sowie seine Ausbreitung sprechen gegen die Möglichkeit einer traumatischen Entstehung.

7. Brissaud, welchem sich Raymond und Briand an- schliessen, sagt, dass das Trauma als solches progressive Paralyse nicht verursachen kann.

Aehnlich, wenn auch nicht ganz so bestimmt, äussern sich viele andere Autoren; so schreibt Kaplan dem Kopftrauma eine mehr „nebensächliche, auxiliäre Bedeutung“ für die Paralyse zu, Ziehen hat nie einen zweifelsfreien Fall von traumatischer Para- lyse beobachtet, das Trauma mag aber zuweilen eine wesentliche

olle für die Entwicklung der Paralyse spielen, Gudden meint, dass man neben dem Trauma wohl eine besondere Disposition zu der Krankheit, wie sie in erster Linie durch Heredität und Syphilis geliefert wird, annehmen müsse, Edel führt aus, dass das Trauma im ganzen eine geringe Rolle in der Aetiologie der Paralyse spiele, dass aber durch schwere Erschütterungen, nicht bloss des Kopfes, sondern auch des Rückens und selbst durch starken psychischen Schreck die Entwicklung der Paralyse auf hereditär belastetem Boden begünstigt werde; und schliesslich schreibt Windscheid: „Gibt es eine traumatische Paralyse? Diese Frage ist mit Sicherheit nicht zu beantworten. Man wird wohl zunächst dem Unfalle bei der Paralyse unter Umständen die Rolle eines sehr beschleunigenden Momentes nicht absprechen können, ohne dabei die Syphilis als Hauptätiologie zu verkennen. Das Trauma spielt in diesen Fällen wahrscheinlich dieselbe Rolle, wie sie gelegentlich grosse körperliehe oder besonders geistige Ueberanstrengung, Exzesse jeder Art spielen können, Dinge, an die wir öfters den raschen Ausbruch der Paralyse sich anschliessen sehen, ohne sie lediglich als die einzige Ursache der Krankheit zu betrachten. Falsch wäre es jedenfalls, wollte man einem Trauma jeden Einfluss absprechen.“

Houghberg, König, Kriege, Oppenheim u. v. A. sehen gleichfalls ın dem Trauma ein nicht direkt verursachendes, sondern mehr ein den Anstoss zur Entwicklung der Paralyse gebendes Moment.

All diese sub b genannten Autoren stellen demnach gewisse Bedingungen (vornehmlich Heredität oder durchgemachte Syphilis) an das Individuum selbst, damit es nach dem Unfall an Pa- ralyse erkranken könne; es sind nun aber, wie übereinstimmend (und zwar auch von den sub a genannten Forschern) angenommen wird, gleichfalls gewisse

Anforderungen an das Trauma zu stellen. Ä a) Die Verletzung muss eine gewisse Erheblichkeit

474 Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten

besitzen (in somatischer oder psychischer Beziehung). Nicht jegliches geringfügige Trauma vermag eine Paralyse zu er- zeugen bezw. auszulösen. l

Insbesondere ist eine Mitbeteiligung des Gehirns zu fordern, sei es nun, dass der Schädel mitverletzt ist oder nicht, sei es, dass lediglich eine Erschütterung des Gehirns oder eine direkte materielle Schädigung desselben stattgefunden hat.

Ist aber eine solche Beteiligung des Cerebrum sozusagen in somatischer Beziehung nicht nachweisbar, so ist zum mindesten ein stärkerer, mit dem Trauma verbundener psychischer Shock zu verlangen. Oder aber dem Unfall muss ein längeres Kranksein mit Bettzwang, Nahrungssorgen, Aufregungen, Entbehrungen u.s.w. folgen, wie dies z. B. bei Verletzungen (auch geringfügigster Art) vorkommen kann, welche einen langwierigen septischen Prozess nach sich ziehen. .

Bei Fällen, wie denjenigen von Goldscheider (siehe die spätere ausführliche Erörterung desselben), Schmiedicke, @rashe und Edel, in denen nach verhältnismässig gering- fügigen Önfällen ohne Kopfverletzung, stärkeren psychischen Shock oder längeres Krankenlager Paralyse auftrat, darf meines Er- achtens ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Paralyse und dem Trauma nicht angenommen werden.

Hingegen erfüllen die Beobachtungen von Kriege, Wit- kowski undSprengeler vollständig die Bedingung des erheblichen psychischen Shocks (bei Kriege schwerer Ueberfall durch mehrere Räuber ohne körperliche Verletzung, bei Witkowski Vorbeistreifen einer Granate während eines Bombardements, bei Sprengeler Kesselexplosion in der Nähe [Patient war stunden- lang der Sprache beraubt]. Die Einwirkung des psychischen Traumas auf das Gehirn ist -- wie oben bereits ausgeführt wurde durch vasomotorische Störungen zu erklären, nicht, wie Witkowski in seinem Falle annimmt, durch direkte Schädi- gung der Gehirnsubstanz.

Wie viel in den Fällen von Paris (Paralyse nach Hitzschlag), Eulenburg (siehe über diesen Fall später) und Jellinek (Pa- ralyse nach elektrischem Unfall) bei der Erzeugung des Leidens dem psychischen Shock, wie viel einer direkten, materiellen Schädigung der Hirnsubstanz zuzuschreiben ist, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Adam führt in seiner Beobachtung von Paralyse im Anschluss an einen Unfall durch elektrischen Starkstrom das Leiden auf die elektrische, mechanische und thermische Wirkung des Stromes an der Hirnrinde zurück.

6B) Es muss ein gewisser zeitlicher Zusammenhang zwischenBeginn der Paralyse und Trauma vorhanden sein.

Und zwar darf einerseits dieser Zeitraum nicht zu lang sein; liegen zwischen den ersten Zeichen der Paralyse und dem Unfall mehr als etwa 1!/, Jahre, so ist ein ursächlicher Zusammenhang sehr zweifelhaft, bei mehr als 3 Jahren wohl auszuschliessen.

Mendol, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 475

Andererseits aber‘ darf auch die Zeit zwischen dem Unfall und den ersten deutlichen Symptomeh - der Krankheit ‘nicht kurz sein. Wenn z. B. bei einem Patienten wenige Tage nach erlittener Verletzung "bereits Pupilleustarre oder Opticusatrophie (s. Fall 12) nachzuweisen ist, so ist mit Sicherheit anzunehmen, dass derselbe schon vor dem Unfall Paralytiker war. Im allge- meinen ist ein Zeitraum von einigen Wochen für den zeitlichen Zusammenhang zu fordern. Dieser Zeitraum ist: übrigens fast stets mit subjektiven Beschwerden des Verletzten: ausgefüllt.

Zahlreiche veröffentlichte Fälle von Paralyse ‚post trauma halten. einer strengeren Kritik nicht stand, eben weil der Unfall an sich nicht erheblich genug war oder weil ein zeitlicher Zu- sammenhang zwischen Verletzung und Paralyse-Beginn nicht zu konstruieren ist. Es gibt jedoch noch eine Reihe anderer Fehler- quellen auf dieselben macht besonders Kaplan aufmerksam —; welche bei der Frage der traumatischen Paralyse Berücksichtigung verdienen: | V a) Nach Unfällen kommt nicht selten ein besonders von Köppen studiertes . Krankheitsbild . vor, welches der Paralyse symptomatologisch täuschend ähnlich sehen kann, von ihr aber in

athologisch-anatomischer Beziehung und besonders in der Ver- laufsart durchaus zu trennen ist. Es ist dies die sogenannte post- traumatische Demenz, die in psychischer Beziehung oft kaum von der Paralyse zu unterscheiden ist, in somatischer Hinsicht aller- dings die starken Sprach- und Pupillenstörungen des Paralytikers vermissen lässt. ine nicht geringe Zahl der veröffentlichten Fälle von traumatischer Paralyse ist zweifellos dieser Dementig posttraumatica zuzuzählen. | |

b) Die Frage, ob nicht die Paralyse bereits vor dem Trauma bestand, ist von mir bereits gestreift worden. ‚Sie ist zu bejahen, wenn sofort oder einige Tage nach der Verletzung schon typische objektive Zeichen der Gehirnerweichung nachweisbar sind. Es ist stets zu bedenken, dass der Unfall selbst bereits eine Folge der bestehenden Paralyse darstellen. und sozusagen das erste alarmierende Symptom der Kranklıeit sein kann. (S. Fall 7 und 8.) Paralytiker sind 'ataktisch, ungeschickt, unvorsichtig, leiden an Schwindel und können daher leicht em Trauma. erleiden, sie neigen auch zu Streitigkeiten, zuweilen zum Alkoholismus und kommen somit leicht in die Gefahr, aus Anlass von Schlägereien verletzt zu werden, - Es beweist: alsdann garnichts, wenn seitens der Ver- wandten versichert wird, dass bei dem Verletzten vor dem Un- fall durchaus nichts Krankhaftes bemerkt wurde, da erfahrungs- gemäss der Beginn einer Paralyse nicht nur Laien, sondern selbst Aerzten häufig entgeht oder von ihnen verkannt wird,

Dass aber eine Verletzung, auch wenn dieselbe geringfügig - war, selbst ohne Mitbeschädigung des Schädels oder Gehirns, eine bereits bestehende Paralyse verschlimmern, ihren Verlauf beschleunigen und einen Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hoeft 5. 32

416 Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten.

bis dahin noch arbeitsfähigen Paralytiker plötzlich völlig erwerbsunfähig, einen noch geschäftsfähigen ge- schäftsunfähig machen kann, wird von sämtlichen Autoren anerkannt und wird auch von mir späterhin an mehreren Beispielen (Fall 7—19) gezeigt werden. Natürlich muss die Verschlimmerung aber alsbald nach dem Trauma einsetzen, Es gilt dies ebenso wie für alle anderen Krankheiten des Nerven- systems (Tabes, Myelitis, multiple Sklerose u. s. w.) In dem Kapitel „Tabes und Trauma“ werde ich einen Fall (s. Fall 8 daselbst) des näheren beschreiben, in welchem ein Tabiker nach einem Unfall Taboparalytiker wurde.

c) Eine ganz besondere Sorgfalt ist bei Verdacht auf trau- matische Paralyse der Anamnese zu widmen, weil es sonst leicht vorkommen kann, dass ein neben dem Trauma vorhandener ätiologischer Faktor übersehen wird. Ganz speziell kommt hier die Syphilis in Frage. Aus naheliegenden Gründen wird von: den im Rentenkampf stebenden Unfallverletzten jegliche Erkrankung bis zum Tage des Unfalls geleugnet, der Verletzte war wie man oft zu hören bekommt bis zum Unfall stets „gesund wie- ein Fisch im Wasser“. So wird auch überstandene Syphilis sehr häufig nicht angegeben bezw. in Abrede gestellt, zumal unter Laien die Kenntnis der Nachkrankheiten der Lues ziemlich ver- breitet ist. Erwähnt sei hier einer meiner Patienten, von welchem, bekannt war, dass er Syphilis durchgemacht hatte; derselbe- wusste aus früherer Begutachtun dass, wenn bei ihm eine Tabes. festgestellt werden würde, dieselbe unmöglich auf seinen sehr un- erheblichen Unfall zurückgeführt werden könnte; er hatte deshalb- bei späteren Untersuchungen das Vorhandensein von Patellar- reflexen geschickt vorgetäuscht und so in der Tat zu falscher- ärztlicher Begutachtung Anlass gegeben. Als „traumatische Neu- rasthenie* (das wusste er) hatte er Aussicht auf Unfallrente.

Auch muss es auffallen, wie selten Unfallkranke von Nerven- leiden in der Familie zu berichten wissen, während doch bei Nicht- verletzten auch in poliklinischen Fällen psycho- oder neuro- pathische Belastung gar nicht so selten eruiert werden kann.

Bezüglich der Frage nach überstandener Syphilis kann es wie mein Fall 16 zeigt von Wichtigkeit sein, eine Untere suchung der Frau des Verletzten vorzunehmen. Wird bei ihr eine Tabes oder Paralyse festgestellt, so spricht dies sehr für eine bei beiden Ehegatten gemeinsam vorhanden gewesene Ursache des. Leidens, für durchgemachte Lues, In gleichem Sinne kann eine eventuell nachweisbare hereditäre Lues bei den Kindern des Traumatikers verwertet werden. Auf diese Weise fällt es manch- mal leicht, eine überstandene Syphilis bei dem Verletzten zu eruieren, während es andererseits recht schwer ist, sie auszu- schliessen. Allerdings geht meines Erachtens Kaplan zu weit, wenn er argumentiert, dass zum Nachweis einer echten traumatischen Paralyse der Nachweis, dass Lues ausgeschlossen ist, notwendig,

Mondel, Der Unfall in’der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 477

letzterer aber niemals möglich ist. Allzu streng darf man in dieser Beziehung auch nicht sein.

Wie einerseits ein Trauma als verschlimmerndes und be- schleunigendes Moment bei bestehender Paralyse wirken kann, so erscheint andererseits die Annahme berechtigt, dass eine das Gehirn direkt oder indirekt treffende Verletzung etwa in ähn- licher Weise wie die Syphilis den Organismus zam Empfang der Paralyse vorbereiten, also prädisponierend wirken kann. Das Trauma setzt bei dieser Annahme die Widerstandskraft des Cerebrum herab, es macht das Gehirn zum Locus minoris rösi- stentiae, an welchem dann eine andere Schädlichkeit, insbesondere die Syphilis, ihren Angriff einsetzt, sei es dass dieselbe schon vorher den Körper getroffen hatte oder erst späterhin als neues Moment hinzukommt. (Mendel, Mickle, E. Meyer, Thiele, Terrien, Ziehen [„das Trauma wirkt begünstigend für die Ein- wirkung des zu supponierenden Virus“], Gieseler.)

Ob nun das Trauma prädisponierend, direkt verursachend, auslösend, verschlimmernd oder beschleunigend in einem be- stimmten Fall gewirkt hat, ist in praxi gleichgültig, da das Untallversicherungsgesetz für jeden dieser Fälle dem Verletzten die Rente gewährt.

Die nach einem Unfall einsetzende Paralyse!) unterscheidet sich nicht von derjenigen bei Nicht-Verletzten, wie auch die Durchsicht meiner Falle ergibt; sie kann die demente sowie die expansive Form zeigen (Thiele veröffentlicht 8 Fälle von expan- siver Paralyse post trauma mit zeitweiligem depressivem Stadium), weit überwiegend ist wie auch sonst die demente Form. Die Symptomatologie ist die gleiche für die Paralyse auf trauma- tischer Grundlage wie für die nichttraumatische; wenn Bruns angibt, dass bei der „traumatischen“ die Pupillenstarre fehlt, so ist dies meines Erachtens unrichtig; die von Bruns bei dieser Aeusserung hauptsächlich in Erwägung gezogenen Fälle gehören wohl der Dementia posttraumatica (Köppen), nicht der Paralyse an. Gudden fand bei seiner grossen Statistik, dass die Prodromi, die Symptomatologie und der weitere Krankheitsverlauf der traumatischen Paralysen im allgemeinen von dem bekannten Bilde der Paralyse in nichts abweichen, nur dass die weitaus grössere Hälfte der traumatischen Fälle gleichzeitig mit deutlichen Affek- tionen des Rückenmarks verbunden sind (Kniephänomen viel häufiger gesteigert als bei nichttraumatischen Fällen!), auch schien ihm die Sprachstörung der traumatischen Paralytiker einige Male besonders stark und typisch zu sein, „Lähmungssymptome von seiten der Pupillen fehlten nirgends.“ Auf Grund meines Materials kann ich diesen Feststellungen Guddens in allen Punkten durch- aus beistimmen. In psychischer Beziehung fand Gudden die

1) Gemeint sind in folgendem alle nach einem Unfall offenkundig werdenden Paralysen, nicht nur die „rein traumatischen‘.

33°

478 | "0017.00 Buohanzeigen, ©. oae ea’ depressive Form mit zeitweiligen Angst-. oder Erregungszuständen gegenüber den maniakalischen Stadien: mit Grössenideen vor- herrschend. |

~ "Nach Gudden und Thiele ist das Durchschnittsalter der traumatischen Paralytiker niedriger als das Mittel, welches für die Paralyse im allgemeinen gefunden wird. (89,8 Jahre bei trauma- tischer Paralyse gegen 41,8 bei nichttraumatischer.) Das. sicher beschleunigend wirkende Trauma hat wohl die Altersgrenze in die etwas frühere Lebensperiode gerückt. In’ meinen Fällen sub H und III ist hingegen sofern man Fall 21: mit der juvenilen Paralyse ausser Acht lässt das Durchschnittsalter 44 Jahre, also höher als das. sonst gefundene Mittel,. in einigen Fällen (2. B. Fall 15 und 17) erscheint das Alter des Verletzten sogar auffallend hoch für Paralyse. | .' Gehen wir nunmehr zum eigenen Material über und prüfen wir an der Hand desselben die im Vorangehenden aufgeworfenen Fragen! Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass eine grössere Reihe von Gutachten als zu unsicher unberücksichtigt bleiben musste, weil die Anamnese teils wegen Unbesinnlichkeit der Er- krankten, teils wegen ungenauer Angaben in den Unfallakten zu grosse Lücken aufwies; auch werden nur solche Fälle berück- sichtigt, bei welchen die Diagnose keinem Zweifel unterliegen konnte, insbesondere wurden diejenigen, wo eine Dementia post- traumatica in Frage kommen konnte, ausgeschaltet. Wo es sich um völlig typische Paralyse-Bilder handelt, unterlasse ich es, den Status anzuführen. (Schluss im nächsten Heft.)

Buchanzeigen.

E. A. Homön, Arbeiten aus dem pathologischen Institut der Uni- versität Helsingfors. Bd. I. H.3. Berlin. 1906. S. Karger. 576 S. u. 9 Tafeln. Unter den Abhandlungen dieses Bandes befinden sich zwei von Homön und A. de la Chapelle, die die angeborene Spätsyphilis des Nervensystems behandeln. Schon früher hat H. eine meist familiär im jugendlichen Alter auftretende, mit progressiver Demenz verlaufende Erkrankung beschrieben, die er tür luetischen Ursprungs erklärte. Jetzt werden dazu weitere klinische und anatomische Belege gebracht. Klinisch lassen sich die Fälle von der juvenilen Paralyse abtrennen wegen des Mangels charakteristischer paralytischer Symptome. Der günstl e Einfluss 'antiluetischer Behandlung spricht ebenfalls für den syphilitischen Charakter des Krankheitsbildes, während gegen eine erworbene Syphilis das Fehlen gröberer tertiärer Störungen anzuführen ist. Meist handelt es sich aratomisch um diffuse Ver- änderungeh der Pia, der kortikalen Hirnsubstanz und insbesondere der Ge- fässe, entweder in Form frühzeitiger, für dies kindliche Alter ganz ungewöhn- licher Arteriosklerose oder um Infiltrate der Lymphscheiden.

Die Durchsicht der einzelnen Fälle zeigt weitgehende Verschieden- beiten im klinischen Krankheitsbild; auch kann die ätiologische Grundlage der Hereditärlues nur durch Ausschliessung der anderen Momente angenommen werden; aber diese Annahme hat die grösste Wahrscheinlichkeit für sich.

Geitlin gibt eine ausführliche Beschreibung eines Falles von tuberöser Sklerose des Gehirns bei einem Kinde: Knötchenbildung in allen Teilen

Nekrolog. -- 479

des Gehirns mit Verminderung der Zahl der Ganglieuzellen, Auftreten starker Büschel von Gliafasern und zahlreichen gtypischen Zellen. Die letzteren hält er für Neuroblasten, die, in ihrer Entwicklung gehemmt, in den verschiedenen Gehirnteilen verschiedene Schicksale erlitten haben. Da sie neben den atypischen Gliaproduktionen einen wesentlichen Teil der Knötchen bilden, können diose mit Recht als Neurogliome bezeichnet werden. en Weber- Göttingen.

P. J. Möblus, Die Höffnungslosigkeit aller Psychologie. Halle a. S. C. Marhold. 1907. 69 S.

Auch der modernen empirischen Psychologie steht als Forschungs- material nur das Ergebnis der Selbstbeobachtung zur Verfügung; denn was das Experiment und die Beobachtung anderer ergibt, wird immer im Lichte der eigenen seelischen Erfahrung gesehen. Die -Beobachtung lässt aber nur einen Teil der Soelenvorgänge klar erkennen; ein wesentlicher Teil ist der Beobachtung unzugänglich, weil -er überhaupt nicht im Bewusstsein verläuft; daher wird ‘auch in der empirischen Pathologie zu Hypothesen gegriffen, die über die Erfahrung hinausgehen, also metaphysisch sind. Die materia- listische und die idealistische eltanschauung werden besprochen, und M. lässt durchblicken, dass seiner Auffassung die idealistische Anerkennung näher liegt, allerdings mit bestimmten, schon aus seinen früheren Publika- tionen bekannten Modifikationen. i

Unser Bewusstsein und unser Seelenleben ist nur der Ausschnitt aus einem einheitlichen „Seelenreich“, das überall, auch in allen Wesen und in der Umwelt lebt; auch in dem uns Unbewussten herrscht Logik, deren Gesetze wir nur nicht erfassen können. Wenn M. damit seinen im wesent- lichen verneinenden Ausführungen einen positiven Schluss gibt, so begibt er sich doch selbst auf metaphysische Wege und verlässt den Boden der Tat- sachen. Aber die Abhandlung enthält soviel interessaute Details und ist so anregend geschrieben, dass wir dem Verf. gerne folgen, auch wo wir ihm nicht zustimmen können. Und die Abhandlung mutet fast an wie ein letztes Bekenntnis, das der zu früh verstorbene geistreiche Forscher über seine Auffassung von Seele und Welt uns binterlassen hat. Weber-Göttingen.

=

Nekrolog.

Am 8. Januar ist P. J. Moebius in Leipzig im Alter von 54 Jahren gestorben. Seine Hauptverdienste um die Neuropathologie liegen auf dem Gebiet der funktionellen Neurosen. Seine Theorie von der psychogenen Natur der hysterischen Symptome griff einen wesentlichen Punkt des Krankheitsbildes richtig heraus und hat ausserordentlich anregend gewirkt. Seine Studien zur Migräne, zur Basedowschen Krankheit und zur Elektrotherapie haben ebenfalls in vielen Beziehungen aufklärend gewirkt. Auf organi- sches Gebiet greifen die Arbeiten über angeborene und periodische Augenmuskellähmungen und über infantilen Kernschwund über. Be- sonders segensreich war sein Eintreten für Volksnervenheilstätten. Sehr anfechtbar sind die psychiatrischen Leistungen des Ver- storbenen. Seine Pathographien sind vielfach mit Recht be- anstandet worden. Immerhin finden sich auch unter ihnen einzelne wie die Rousseausche, die nicht nur geistreich geschrieben, sondern auch sachlich richtig sind. In der Neurologie wird sein Name stets unter den Besten genannt werden.

480 Tagesgeschichtliches.

Tagesgeschichtliches.

Der 17. Kongress der Irren- und Nervenärzte Frankreichs

und der Länder französischer Zunge findet vom 1. bis 7. VIII. d. Je. in Genf und Lausanne statt.

Vorläufiges Programm: 1. Bericht und Diskussion über die auf dem Kongress in Lille ausgewählten Fragen. a) Psychiatrie: Die periodischen Psychosen. Ref.: Dr. Antheaume-Paris. b) Neurologie: Ueber die Hysterie. Ref.: Dr. Claude-Paris und Dr. Schnyder-Bern. c) Gerichtliche Medizin: 'Gerichtlich-medizinische Untersuchung und die Frage der Verantwortlichkeit. Ref.: Dr. Gilbert-Ballet-Paris.

2. Ori nalmitteilungen über Gegenstände aus dem Gebiete der Psy- chiatrie und Neurologie. Krankenvorstellung, Demonstration anatomischer und histologischer Präparate. Eine Sitzung ist vorgesehen für Demonstrationen mit Lichtbildern.

Anmeldungen von Vorträgen sind bis 1. VII. an Prof. Dr. Prevost in Genf zu richten.

8. Besuch der Irrenanstalt von Bel-Air, Cery, Marseus.

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Zwecks Besprechung aktueller und wichtiger Fragen der gerichtlichen Medizin, besonders der gerichtlichen Psychiatrie, ist am 16. d. Mts. in der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Lublinitz (O.-S.) eine Vereinigung von Juristen und Aerzten begründet worden nach dem Vorbilde ähnlicher Vereinigungen in Sachsen, Hessen, Hannover, Württemberg u. s. w. Direktor Dr. Klinke, der die Versammlung einberufen hatte, legte die Ziele solcher Zusammenkünfte dar, nämlich die Anbahnung einer Verständigung über strittige Punkte des Straf- und Zivilrechts, soweit sie die Rechtspflege bei abnormen Geisteszuständen und die Kriminalpsychologie betreffen, ferner die Pflege der sogenannten Pathographie, wie sie hauptsächlich von Möbius geschaffen. Kreisarzt Dr. Frey betonte die Wichtigkeit solcher gemeinsamen Aussprachen auch hinsichtlich der Begutachtung bei Rentenanträgen und berichtete unter Vorlage von Photographien über einen durch Unfall beider Hände beraubten Invaliden, der durch Uebung der an den Armstumpfen erhalten gebliebenen Muskeln, und zwar aus eigenem Antriebe, ohne Behandlung in einem medico- mechanischen Institut, eine so ausserordentliche Gewandtheit erreicht hat, dass er sich noch jetzt, trotz hohen Alters, einen Tagelohn von 1,60 Mk. als Chausseearbeiter verdient, ein'Fall, der manchen willensschwachen Renten- schindern als nachahmenswertes Beispiel vorgehalten werden sollte. Oberarzt Dr. Bresler sprach über die verschiedenen Formen auf pathologische Weise zustande gekommener Anschuldigungen und suchte dabei eine Reform des

164 St. G. B. zu begründen. Es wurde beschlossen, die Sitzungen alle ierteljahr zu wiederholen.

Die diesjährige Wanderrersammlung der südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte findet am 1. und 2. Juni in Baden-Baden statt. Vorträge sind bei Prof. Wollenberg-Strassburg oder Dr. Laquer-Frankfurt a. M. an- zuinelden.

Die Gründung einer Moebius-Stiftung wird von Bresler, Edinger, Moeli u. A. vorgeschlagen. Die Stiftung soll zu Preisen für psychiatrische und neurologische Arbeiten verwendet werden. Anmeldüngen von Beiträgen sind an Herrn Curt Reinhardt, Leipzig, Lessingstrasse, zu richten.

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie Bd. XXI

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“F ig. 3 l Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie. Liohtdruck: Herrmd

Tafel IX—X

Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6

Berlin 8W. 18

Co..

‚Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in Berlin.

Neuralgien bei Melancholie. Von

Dr. OSKAR BRUNS. Oberarzt der medizinischen Klinik in Düsseldorf.

Lange schon ist es bekannt, dass gelegentlich Sensibilitäts- ‚störungen, speziell Neuralgien, sich mit Psychosen vergesellschaften, und man hat sich eingehend damit beschäftigt, die Beziehung zwischen Neuralgie und Psychose zu ergründen.

Griesinger!) war wohl einer der ersten, die darauf bin- wiesen, dass Neuralgien, wie sie an anderen Stellen des Körpers Mitempfindungen, so auch Mitvorstellungen krankhafter Art er- regen können, die nuf ganz entferntem Vorstellungsfeld sich be- wegen können.

Auch Anton), Laquer?), Krafft-Ebing*), Wagner’), Ziehen®) u. A. haben hervorgehoben, dass echte Neuralgien, z. B. Trigeminus-Neuralgien, imstande sind, durch Irradiation der hoch- gradigen Schmerzerscheinungen Erregbarkeitsveränderungen der Hirnrinde hervorzurufen, die sich klinisch in Anfällen von halluzinatorischer und wahnhafter Erregung. und Verwirrtheit, oft vom Charakter. des Dämmerzustands, äussern. Wagner be- merkt dabei ausdrücklich, dass es allerdings nicht: sicher sei, ob nicht Neuralgie und Psychose als koordiniert zu be- trachten sind. 0

Schüles”) Verdienst ist es, in seiner Abhandlung über die Dysphrenia neuralgica die pathogenetische Funktion der Neuralgien, speziell die psychische Verwertung der Sensationen in allegori- sıerenden Wahnvorstellungen und ihre Affektwirkung betont und erschöpfend geschildert zu haben.

Schon Tigges®) zeigte in seiner Abhandlung über „Die Störungen im Bereich der peripheren Nerven bei Geisteskranken“,

ı) Arch. f. Heilkunde. Bd. 7.

23) Wiener med. Wochenschr. 1889. No. 12—14.

2) Arch. f. Psychiatrie. Bd. 26.

4) Ueber transitorische Störungen des Selbstbewusstseins. Erlangen. 1868. 3) Jahrb. für Psychiatrie. Bd. 8.

e) Psychiatrie. 1. Aufl.

1) Die Dysphrenia neuralgica. Karlsruhe. 1867.

8) Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 89.

Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helft 6. 38

‚482 Bruns, Neuralgien bei Melancholie.

dass trotz häufigen Hand-in-Hand-Gehens der psychischen und körperlichen Krankheitserscheinungen beide Symptomenreihen sich selbständig entwickeln.

~ In einer grossen Reihe der hierhergehörenden Fälle stellen sich die ausgesprochenen sensiblen Störungen des Spinalsystems als erster Angriffspunkt des krankhaften Prozesses dar, der sich von da auf das Gehirn, die anatomische Grundlage der psychischen Funktion, verbreitet. Eine Reflexwirkung kommt nar in symptonma- tischer Hinsicht in Betracht.

Es wird im Folgenden meine Aufgabe sein, an der Hand mehrerer Fälle, von denen ich 3 im letzten Vierteljahr selbst in der Charite zu beobachten Gelegenheit hatte 2 weitere verdanke ich der Güte von Herrn Geh. Rat Ziehen, aus dessen Privat- klientel sie stammen zu untersuchen:

1. Welcher Art sind die beobachteten Sensibilitätsstörungen; handelt es sich um echte Neuralgien oder um Pseudoneuralgien, Psychalgien, Topalgien?

2. Wie werden jene Sensibilitätsanomalien psychisch ver- wertet? |

"8. Was für Beziehungen haben sie zur Entstehung der Krankheit, zum Krankheitsverlauf, und in welchem kausalen Ver- hältnis stehen sie zu den psychischen Störungen?

Zuerst eine kurze Definition des Begriffs der echten Neu- ralgien: von einer echten Neuralgie sprechen wir nur, wenn eine Erkrankung der peripheren sensiblen Nervenbahnen besteht, die sich subjektiv durch Schmerzen äussert, deren Ausbreitung genau der Ausbreitung der betreffenden Nervenstämme entspricht. In der Regel ist als Grundlage ein neuritischer oder perineuri- tischer Prozess anzunehmen. Seltener handelt es sich um einen reflektorisch, z.B. durch Retroflexio uteri, entstandenen pathologischen Erregungszustand. des. peripherischen sensiblen Neurons. Die soge- nannten zentralen Schmerzen bei cerebralen Herderkrankungen scheide ich also aus dem Begriff der Neuralgie aus. Unter Pseudo- neuralgien oder Topalgien verstehe ich im Arschluss an Ziehen Schmerzen, deren. Ausbreitung zwar ebenfalls auf ein. bestimmtes Körpergebiet beschränkt ist, aber nicht mit den anatomischen Abgrenzungen der peripherischen Nervengebiete zusammenfällt, sondern von den naiven Vorstellungen der Körperteile bestimmt wird. Das charakteristischste Beispiel bieten die hysterischen Pseudoneuralgien. re |

Fall 1. P.K., J.-No. 6 (1906), 52 Jahre alt.

Eltern gesund. Vater Gewohnheitstrinker. Drei Brüder an Tuberku- lose gestorben. |

Pat. als Kind und Mädchen ganz normal. Später Handschuhnäherin. 1890 nahm sie ein 17jähriges Mädchen zu sich und lobte mit ihr zusammen, bis dieselbe 1895 an Phthise starb.

Die anstrengende Pflege griff die Frau K.sehr an, sie war zum Schluss erschöpft und hochgradig „nervös“ geworden. Das Mädchen war eine sehr

anspruchsvolle Pat., und so geschah es, dass, als sie (4 Tage vor ihrem Tod) wieder einmal etwas verlangte, Fran K. in ihrem Unmut rief: „Hol dich der

Bruns, Neuralgien bei Melancholie, 483

Teufel“. Kaum war ihr aber dieser Ausruf entfahren, da bekam sie einen heftigen Schreck und fühlte einen intensiven inneren Schmerz, der iu der Herzgegend beginnend nach dem Rücken za durch den Körper durch verlief. Manchmal strablte er auch nach der linken Schulter hin aus. Die Schmerzen waren einmal stärker, einmal schwächer, je nachdem die Pat. abgelenkt wurde oder sich allein überlassen blieb. Von dem Augenblick an war eine Angst und Unruhe über sie gekommen, sie hatte fortgesetzt Herzklopfen und konnte nachts nicht einschlafen. Wenn sie dann die Hand auf die Herzgegend presste, wurde das Herzklopfen schwächer.

Vergeblich suchte die Kranke Schmerzen und Angst durch Schnaps- genuss (dem sie bisher nie gehuldigt hatte) zu betäuben. Sie wusste gar nicht, woher die Schmerzen kamen, und dachte, „wer weiss, vielleicht hast du dir einmal Schaden getan“. Manchmal verliefen die Schmerzen auch bandartig von der Herzgegend nach dem Rücken hin.

4 Tage später starb das Mädchen, und die Pat. zog zu ihrem Bruder. Diesem fiel sofort die Traurigkeit, Konzentrations- und Arbeitsunfähigkeit, das unruhige Umherlaufen auf. Ihm klagte Pat. auch ihre Schmerzen und erklärte sie als Folgen der Aufregung. Beide hofiten, die Schmerzen würden wieder vergehen, wenn Pat. wieder mehr Ruhe und Pflege habe.

Nach der Beerdigung des Mädchens rannte Pat. „wie von Furien ge- peitscht“, vom Kirchhof nach Hause, „es kam ihr eine eigentümliche Ahnung, als sei etwas Besonderes mit ihr im Spiele.“ In der Nacht hatte sie dann keinen Augenblick Ruhe, hatte heftige Schmerzen und Angst. Am folgenden Tage, während sie damit beschäftigt war, einen Brief zu schreiben, kam ganz plötzlich ein fürchterlicher Schmerz und Schreck über sie, sie fuhr vom Stuhl auf und schrie: „Jetzt ist mir alles klar, ich bin vom Teufel be- sessen.“ Es war ihr eingefallen, dass sie zu dem Mädchen gesagt hatte: „Hol dich der Teufel.“ ie Pat. schildert ihren Zustand wörtlich: „Die Schmerzen kommen vom Teufel. Es sind körperliche und seelische Schmerzen zugleich. Es ist so ein wunder Schmerz, so wie wenn Zähne und Krallen io einer Wunde heramwühlen. Der Teutel ist ein Geist, er ist unsichtbar in mich hereingefahren, ich habe nur die Gefühle, wie wenn er mit Krallen mich bearbeitete“.

Pat. wurda danu nach der Provinzial-Irrenanstalt Landsberg gebracht, wo sie 1!/, Jahr verblieb. Dort kam es ebenfalls ganz plötzlich in der Nacht „wie eine Offenbarung“ über sie, dass sie erkannte, dass sie keinen Glauben, keine Religion hätte. Sie rief laut aus: „Was habe ich getan, dass ich das Mädchen zu mir genommen und ihrer Mutter entfremdet habe. Ich bin ver- loren, verloren.“

Gesichts- (Christus) und Geruchshalluzinationen (Geruch nach Leichen) traten nur ganz selten und rasch vorübergehend auf.

Nach ihrer Entlassung aus der Anstalt war sie 10 Jahre lang wieder gesund und arbeitsfähig.

Ein leichter Schmerz im Rücken tauchte von Zeit zu Zeit wieder besonders beim Bäcken auf, dann fuhr ihr blitzschnell der Gedanke an den Teufel und ihre überstandene Krankheit durch den Kopf, und sie dachte voll Angst daran, dass die Krankheit wiederkommen könnte. Sie war der Ueberzeugung, der Teufel sei noch in ihr und habe sich nur versteckt. Sie beschäftigte sich aber nicht weiter mit diesen Gedanken und sprach auch mit niemand davon.

Eines Tages aber, Dezember 1905, ohne dass ein Ausserer Grund vorlag (Ueberarbeitung etc.) kamen die Schmerzen und Angst wieder. Nur mit Mühe konnte sie noch arbeiten, es litt sie nirgends mehr lange. Manchmal rannte sie auch, weil sie nicht arbeiten konnte, in Berlin umher, fortgesetzt von Schmerzen und Angst gepeinigt. Die Schmerzen und entsprechend die Angst wechselten in ihrer Intensität: wenn Pat. sich unterhielt, nahmen sie ab; wenn sie sich selbst überlassen war, steigerten sie sich.

14 Tage später wurde Pat. nach der Charité gebracht.

Im psychischen Krankheitsbild hat sich bis jetzt (Ende Dezember 1906) nichts geändert. Pat. hält fest an der Vorstellung, der Teufel sitze in ihr und bereite ihr die Schmerzen. Sie klagt, dass sie keinen Glauben gehabt habe, dass sie durch ihren Ausruf den Tod des Mädchens beschleunigt

83*

484 Bruns, Neuralgien bei Melancholie.

habe, dass sie verloren sei, denn für derartig furchtbare Sünden gebe es- keine Vergebung. Zar Zeit leidet sie fortgesetzt unter der Angst, der Teufel: könnte sich in ihr jedes Augenblick erheben und mit ihr davonfliegen (trotz- dem sie immer wieder betont, dass es ein Geist sei). Wenn Schmerzen und Angst heftig sind, tritt auch eiu Zucken im tinken Facialisgebiet auf.

Ebenso besteht der Parallelismus zwischen Schmerzen und Angst noch. heute fort. Niemals Schmerzen ohne Angst, zuweilen Angst ohne Schmerzen.

Einzelne charakteristische Äusserungen führe ich wörtlich an: „Ich muss zu viel leiden, dass ich es kaum aushalte. So ein Krallen und Kratzen,. als ob mich Jemand abschlachtet. Die Angst, was mit mir geschehen soll,. Tag und Nacht immerzu. Ich finde keine Rahe auf dieser Welt“ (11. IV.). „Im ganzen Rücken ist ein Brennen, als ob Feuer darin ist, im Herz krampft sich alles zusammen“ (17. IV). Gelegentlich auch Ausserungen im Sinne eines- Délire d'immortalité: „ich kann nicht sterben, es lebt etwas in mir; ich bin unsterblich; wenn ich das stärkste Gift nehme, ich sterbe doch nicht.“ Am 11. VII. versichert sie wieder, dass der Teufel in ihr sitzt und die Schmerzen mit seinen Krallen verursacht. Immerbin äusserte sie weiterhin- auch Zweifel- an der wirklichen Anwesenheit des Teufels. Gelegentlich erstreckt sich der Schmerz über den ganzen Rücken und die ganze Brust bis- zum Nabel. Zuweilen strahlen die Schmerzen in den linken Arm aus. Sie bestehen, wie sie angibt, fast ununterbrochen. Kokaininjektion mildert den Schmerz nur lokal und vorübergeheud. Die Angst wird bald in die Gegend: des Schmerzes, bald in den ganzen Körper lokalisiert. Kein Intelligenzdeiekt.

Status corporis: An den isueren Organen keine Veränderang. Ab undi zu ein leichtes aystol., wohl anämisches, Geräusch über dem Herzen. Keine Accentustion der 2. Töne. Keine Vergrösserang des Herzens. Hemmungs- bildung und infantile Entwicklung der Genitalien (homosexuale Neigungen, die seit dem 1. Anfall von Melancholie geschwunden sein sollen); fast vollkommener- Defekt des rechten, teilweiser Defekt des linken Labium minus, Portio- virginell, Uterus etwa so gross wie derjenige eines lWjährigen Mädchens (Gynäk. Poliklinik). Leichte nicht konstante Hyperästhesie auf der Vorder- seite des Thorax von der 4. Rippe bis zam Rıppenbogen. Ebenso ist die ganze- vordere Thoraxpartie mit Ausnahme des Sternums stark drackempfindlich. Auch der Rücken ausser den Schulterblättern ist bis zur Kreuzbeingegend: druekempfindlich. Die spontanen Schmerzen werden meist in die linke Hälfte des Thoraxinnern verlegt, strahlen aber gelegentlich auch nach rechts hin- über und nach der linken Schulter hin aus. Beide Mammaulpunkte extrem. drackempfindlich.

Im Urio kein Zucker und keiu Eiweiss. Am 8 XIT. 1906 wurde Patientin gebessert entlassen.

Dieser Fall ist der Typus der zentroperipheren Neurosen und gibt uns auf alle 8 Fragen befriedigende Auskunft.

Wir sehen bei einer hereditär psychopathisehen.Person auf dem Boden einer hochgradigen nervösen Erschöpfung heftige neural- ıforme Schmerzen in der linken Seite auftreten, die teils ins horaxinnere verlegt werden, teils äusserlich von der Herzgegend aus bandartig nach dem Rücken hin verlaufen, teils, was ja auch bei echten Interkostalneuralgien gelegentlich vorkommt, nach rechts über das Sternum hinüber und nach der linken Schulter hin aus- strahlen. Dagegen vermissen wir fast vollkommen den anfallsweisen. Charakter der Schmerzsensationen und die für die echte Neuralgie typischen Druckpunkte (Sternal-, Lateral- und Verebralpunkt)., Statt dessen finden wir eine Druckempfindlichkeit der ganzen vorderen Thoraxwand mit Ausnahme des Sternums und des Rückens- bis hinunter zum Kreuzbein, ferner eine leiehte symmetrische-

Bruns, Neurslgien bei Melancholie. 485

Hyperästhesie von der 4. Rippe abwärts, die dann unter den Brüsten endet. Wir hören ferner, dass die Schmerzen unter Selbst- beobachtung zunehmen und wenn Patient abgelenkt wird, prompt abnehmen. Da ausserdem irgend ein objektives ätiologisches Moment für Neuralgie, wie Trauma, Infektion, Intoxikation etc., nicht nachzuweisen ist, spricht das alles für die Auffassung der Schmerzen als pseudoneuralgischer.

Charakteristisch für den inneren Zusammenhang der peri- pheren und zentralen (psychischen) Störungen sehen wir durch eine Gemütserschütterung, einen Affektausbruch mit einem Schlage das Bild der körperlichen und geistigen Erkrankung vor uns enthüllt.

In der Tat gehen von jetzt an Angst und Depression Hand in Hand mit den Schmerzen, sie steigen, wenn (aber durchaus nicht, weil) der Schmerz zunimmt, sie treten zurück, wenn er nachlässt. Wie schon angedeutet, liegt kein Kau- salitätsverhältnis vor, sondern das Zu- und Abnehmen beider Erscheinungen ist zentral bedingt, eine Folge der Konzentration oder Ablenkung der Aufmerksamkeit der Pat. auf oder von ihrem Leiden.

Das Hauptinteresse dieses Falles liegt aber in der psychischen Verwertung der körperlichen Erscheinungen. Sechs volle Tage lang sehen wir die Kritische Kraft des „Bewusstseins“ kämpfen gegen eine wahnhafte Deutung jener unaufhörlichen Schmerzen und Angst. Während dieser Zeit sehen wir die Patienten an der plausiblen Erklärung der Schmerzen durch ein vermutliches „Sich verhoben haben“ festhalten. Endlich aber versagt das korrigie- rende Urteil, und die stark gefühlsbetonte Erinnerung an den Teufel, der die andre holen sollte, taucht plötzlich als wahnhaft modifizierte, überwertige Vorstellung im Bewusstsein auf. Die logische Weiterentwicklung des Wahns ruft dann die typischen Versündigungsvorstellungen hervor, und das Endresultat der systematischen Verarbeitung bildet das Gefühl des rettungslosen Verlorenseins;

Auch die bis dahin unerklärliche Angst und Unruhe bekommt jetzt ihre Deutung: der Teufel kann jeden Augenblick sich in der Pat. erheben und mit ihr durch die Lüfte davonfliegen.

Zu einer Allegorisierung der Schmerzen kommt es anfangs nicht. Pat. bleibt zunächst wie ein normaler Mensch bei dem Ver- gleich der Schmerzen stehen: „Wie wenn Krallen in einer offenen Wunde wühlen“. Erst mit dem weiteren Steigen der Angst kommt es zu dem unkorrigierten Wahn der Teufelbesessenheit.

In Bezug auf die Wahnvorstellung sind also die neural- gitormen Schmerzen das Primäre. Auch während des ganzen Krankheitsverlaufes sahen wir die beiden Erscheinungen in inte- grierender Verbindung, indem die fortdauernden Schmerzen das Wahnsystem im Bewusstsein fixieren. |

486 Bruns, Neuralgien bei Melancholie.

Den Fall der Hysterie zuzurechnen, liegt meines Erachtens ein ausreichender Grund nicht vor. DieKrankae bietet,abgesehen von ihrer Pseudoneuralgie, keine ausgesprochenen typischen Symptome. Ich komme jedoch später auf diese Frage noch zurück.

Fall 2. Frau B., Bauinspektorsgattin, 47 J. alt.

Schwester der Patientin, Schwester des Vaters nervös. Vater des Vaters schwerer Hypochonder.

Patientin früher stets gesund. Normale Entwicklung. Menses unregel- wässig und schwach.

1901 einmal ein Angstanfall mit Schwindel. Beginn der jetzigen Er- krankung Herbst 1904 mit neurasthenischen Beschwerden, Herzklopfen, brennenden Sensationen im rechten und linken Arm. Appetitmangel, Schlaf- losigkeit, Schwindel und Angst. Die Beschwerden verschlimmerten sich be- deutend, als an Weihnachten der Vater der Patientin starb. Es trat ein Depressionszustand ein mit anfallsweiser Angst und Suicidgedanken, Gefühl von Wogen links in der Brust. Im Lauf der Beobachtung (durch Herrn Geh. Rat Ziehen) verwandelte sich das Wogen zeitweise in „schmerzhafte Angst mit Uebelkeit“. Zu Beginn des Anfalls trat zuerst die Angst auf und dann die Schmerzen. Manchmal traten nur die Schmerzen auf ohue Angst und umgekehrt, meist aber gingen beide Erscheiuungen im Anfall neben ein- ander her.

Oft klagt die Kranke, „ich habe keinen Lebensmut und Energie; alles ist öd und tranrig, ich habe kein Herz, bin seelenlos“.

Status corporis: Innere Organe, Nervensystem o. B. Menstruation tritt nur noch selten ein.

Sensibilität normal, nur ein sehr ausgeprägter linksseitiger Mam- millarpunkt.

Also ein Hand-in-Hand-Gehen psychischer und körperlicher Krankheitserscheinungen ohne gegenseitige Kausalität. Keine echte Neuralgie, keine psychische Verwertung der körperlichen Symptome.

Fall 8. A. F., 82 Jahre alt. Eltern tot. Hereditäre Belastung nicht nachweisbar. Patientin früher stets gesund.

Seit 1!/a Jahren etwa alle !/, Jahre wiederkehrende, von den Menses un- abhängige Anfälle: Herzklopfen, Hitze in der Herzgegend, Angst, manchmal auch Beklemmung. Dauer einige Minuten. Patientin musste während der Anfälle die Arbeit abbrechen und sich hinsetzen. Von Frühjahr 1905 bis August 1905 hatte Patientin einen sehr intensiven Geschlechtsverkehr mit 2 Männern, der sio erschöpfte, weil sie noch nebenher den ganzen Tag über stramm arbeiten musste. Als nuu im August der Mann sich zurückzog, den sie hatte heiraten wollen und ausserdem ihr (8 Jahre altes uneheliches) Kind starb, das sie sehr

ern gehabt hatte, häuften sich die Anfälle so, dass sie meist 2—3 im

age hatte. Ausserdem wurden sie sehr viel intensiver. Sie hatte dabei drückende Schmerzen in der Herzgegend, heftiges Herzklopfen und Atemnot. Die zuerst in der Herzgegend einsetzende Hitze zog nach dem Kopf hinauf (ohne Schweissausbruch). Dazu gesellten sich regelmässig eine Reihe psychischer Symptome: Angst, die sich zur Todesfurcht steigerte, innere Unruhe, so dass Patientin auch nachts aus ihrer Wohnung rannte (wenn sie durch den Anfall aus dem Schlaf geweckt wurde) und sich zu den Nachbarsleuten flüchtete. Dort wich die Hitze beim Abklingen der Anfälle dann einem intensiven Kältegofühl, so dass die Kranke in einen Schüttelfrost verfiel und von den Leuten mit Decken zugedeckt werden musste.

Auf Rat des Arztes sollte sich die Patientin viel im Freien unter Menschen aufhalten. Dort trat auch nie ein Anfall ein, wenn auch öfters die Angst da war, es könnte ein Anfall sie überraschen, und Patientin sich ge- legentlich einmal aus Furcht davor nicht getraute, die Strasse zu über- schreiten.

Bruns, Neuralgien bei Melancholie. 487

Wenn Patientin allein iu ihrer Wohnung war und immer daran denken mosste, „es wird doch kein Anfall kommen“, so kam er dann wirklich öfters gerade dadurch.

Infolge der Aufregung über eine neuerliche (zussereheliche) Konzeption steigerten sich nach Weihnachten 1905 die Anfälle so, dass, was bis dahin nie der Fall gewesen war, die Anfälle nun auch eintraten, wenn sie bei Be- kannten zu Besuch war.

Nach einem fieberhaften (kriminellen?) Abort im Januar 1906 wurde Patientin in das Krankenhaus am Urban und von da am 17. I. in die Charite eingeliefert.

Hier liessen die Anfälle sehr bald an Zabl und Intensität nach, so dass Patientin am 83. IV. 1906 entlassen werden konnte.

Jetzt kommen sie nur mehr selten, bestehend io Herzklopfen, Hitze und Druckgefühl auf der Brust. Angst tritt dabei nicht mehr ein.. Die körperliche Untersuchung ergab von objektiven Veränderungen an den inneren Organen nur ein systolisches Geräusch über der Basis des linken Ven- trikels ohne Accentuation des 3. Palm. tons. und ohne Herzvergrösserung. Es besteht ferner eine leichte Hyperästhesie der linken Brustseite von der 2. Rippe abwärts bis nabe an den Rippenbogen. Auf dieser Seite be- steht auch ein Subelavicularpunkt. Ebenso entspricht die Stelle des Herz- spitzenstosses einer hysterogenen Zone. Wenn Patientin an dieser, auf Druck schmerzhaften Stelle während des Anfalls reibt, so kann sie den Anfall zam Verschwinden bringen. Auch die Ovarialpunkte sind deutlich drackempfindlich.

Auch hier schen wir infolge schwerer allgemeiner Erschöpfung Anfälle auftreten, die sich aus gleichzeitigen körperlichen und geistigen Krankheitserscheinungen zusammensetzen. Beiderlei Er- scheinungen sind zentral bedingt. Ein Wahnsystem sehen wir nicht sich ausbilden,

Frau H., 81 Jahre alt.

Vater an Phthise gestorben, ebenso die Stiefmutter. Keine Geistes- und Nervenkrankheiten in der Familie. Als Schulmädchen hat Pat. schlecht gelernt. Sonst Entwicklung normal.

Als: junge Frau machte die Pat. eine Operation eines Gewächses an der Gebärmutter durch.

Am 2. Ill. 1905 starb ihr Mann an Lungenleiden. Während der Sjährigen Pflege des Mannes hatte die Patientin vielen Kummer, Eotbehrungen und erschöpfende Arbeit. Durch den Verdienst ihrer Näharbeit bestritt sie 5 Jahre lang den Unterhalt der Familie (4 Kinder). Der Tod des Mannes alterierte sio sehr. Sie dachte daran, sich und ihren Kindern das Leben zu nehmen. Sie war sehr erschöpft durch die Pflege, und als nun Juli 1905 Kochen in der Brust und Bluthusten auftrat, brach sie vollends zusammen.

Im November 1905 traten Anfälle auf, bestehend in Herzklopfen und Angstgefühl. Zugleich tauchte bei jedem Anfall wieder der Gedanke auf, sich und den Kindern das Leben zu nehmen. Die Anfälle häuften sich all- mählich, so dass im Januar 1906 5—6 Anfälle täglich auftraten. Sie bekam jetzt auch ım Anfall Schmerzen in der Herzgegend, die manchmal nach der Schulter oder bis hinten in die Gegend der * ulterblätter ausstrahlten. Die ganze Brust war druckempfindlich. Zur Angst trat heftige Unruhe, Pat. rannte aus dem Zimmer auf die Strasse, angeblich um sich vor der Aus- führung der Mord- und Selbstmordgedanken zu bewahren. Das Herzklopfen stieg ihr bis in die Brust hinanf, ste hatte innerliches „Frieren und Fliegen“, Stuhldrang ohne Entleerung, Atemnot, Uebelkeit, Gluthitze im Gesicht. Mit der Angst nehmen auch die Schmerzen zu und umgekehrt. In den An- illen hat sie auch „abgestorbene Hände“. Im Anfalle „hemmt innerlich alles so“.

- Im Anschluss an die Anfälle überkomme sie eine absolute Mutlosig- keit, das Gefühl, dass nun (seit dem Tode des Mannes) alles vorbei sei.

488 -Bruns, Nouralgien bei Melancholie.

Nach ihrer Einlieferung in die Charité liessen die Anfälle sehr bald an Intensität und Zahl nach. Im März bestanden die Anfälle bloss noch in Herzklopfen und Druck auf der Brust. Oft blieb jetzt auch schon die be- gleitende Angst weg.

Die körperliche Untersuchung ergibt: an den inneren Organen ist nur au der rechten Lungenspitze eine wohl tuberkulöse Affektion fest- zustellen. Herz und Bauchorgane sind intakt. Die Sensibilität ist intakt. Druckpunkte bestehen nicht. Auch sonst weist das Nervensystem keine palpablen Veränderungen auf.

| Die körperlichen Störungen gehen auch hier nur in losem Zusammenhang mit den psychischen einher. Sie liegen hier be- sonders auf vasomoterischem Gebiet. Von einer echten Neuralgie ist nicht die Rede.

Die psychischen Störungen bestehen in Depression und ‚hauptsächlich in überwertigen Suicidgedanken. |

Frau Si., 81 Jahre alt.

Ein Bruder wahrscheinlich an Suicid gestorben. Sonstige Belastung fraglich. Als Kind ganz normal. Aur der Schule gut gelernt. Glückliche Ehe; zwei normale Graviditäten.

Zuerst mit 24 Jahren einige Wochen nach der ersten Entbindung ein Depressionszustand, der mehrere Monate dauerte, aber in vollständige Heilung überging. Bis zum 18. V. 1905, dem Tag der ersten Konsultation von Geh.-Rat Ziehen, hat die Kranke mehrere Depressionszustände in unregel- mässigen Zwischenräumen durchgemacht (teils leichtere, teils stärkere). Der letztestärkere Depressionszustand dauerte vom Frühjahr 1904 bis September 1904. Die letzten 8 Monate des Jahres 1904 war Pat. angeblich völlig gesund, „eber etwas zu lustig“. Im Januar 1905.war sie ebenfalls noch gesund, aber im Februar setzte langsam eine neue Depressionsphase ein, die sich bis zam Tage der Konsultation allmählich immer mehr steigerte. Die psychischen Krankheitssymptome bestanden damals in Depression, Angst, Gefühl der In- suffizienz, wie es die Put. selbst bezeichnete, und Abulie, „Ich empfinde jetzt alles schlimm und schwer und schlecht. Jede Kleinigkeit ist riesengrosses Unglück.“ Es stellte sich noch weiter heraus, dass Pat. 2 Aborte, 2mal Sehnervenentzändung rechts mit Knochenauftreibung am rechten Os frontale durchgemacht hatte. Der Arzt hielt letztere damals für tuberkülös, da für die Annahme einer Lues nichts vorlag und der Ehemann eine Infektion aufs entschiedenste leugnete. Ein Kind soll allerdings nach Angabe des Arztes „etwas wie Leukoderma“ haben.

Die körperliche Untersuchung ergab am 13. V. 1905 keinerlei Anzeichen für Lues. Alle inneren Organe, das periphere und das Zentralnervensystem waren intakt.

Die Depression hielt bis Juli 1905 an, ging dann rasch in Heilung über, d. h. wohl ia ein Stadium leichter Hyperthymie.

Oktober 1905 erfolgte normale Geburt, durch welche die Psyche nicbt verändert wurde. Pat, stillte nicht,

Neue Konsultation 11. I. 1906. Seit 14 Tagen neue Depression mit wenig Angst. Erscheinungen der Insuffizienz und Abulie: „Alles steht berge- boch vor mir.“ „Ich bin jetzt ein ganz anderes Ich.“

Status cerporis unverändert. |

Pat, gibt an, mit der Depression habe sie Schmerzen bekommen. Sie bezeichnet sie selbst als neuralgisch. Sitz: im ganzen Körper, besonders in den Gelenken. Die Schmerzen nehmen mit dem Steigen der Depression zu und mit dem Fallen der Depression ab. Dabei war der Gelenkbefund sowie die Sensibilität im Bereich der Gelenke normal. Druckempfindlichkeit der Nervenstämme bestand nicht.

Pat. wurde wegen Suicidgedanken in ein Sanatorium geschickt. Dort vom 22. II. bis 2. III. (Eintritt der Menses) Exaltationsphase mit Schmerzen „in den Knochen". Seit 2, Ill. wieder Depression,

Bruns, Neuralgien bei Melancholie. 489

Der Güte des Dr. Warda in Blankenburg (Thüringen) verdanke ich die neuesten Angaben über die Pat. Die Kranke äussert gelegentlich Schmerzen in den Gliedern, nur zum Teil ausdrücklich in den Ge- leuken. Keine Hyperalgesie über den Gelenken. Ueber Ellenbogen und Fuss- gelenken geringe Hyperästhesie. Brüske Bewegung in den Kniegelenken nicht schmerzhaft. Nu. tibisles stark empfindlich.

Interkostalpunkte, Mammalpunkte beiderseits druckempfindlich.

Supra- und Infraklavikularpunkte, Supra- und Infraorbitslpunkte, Iliakal- und Inguinalpaunkt rechts ausgeprägter. Auch bestehen einige Druckpunkte auf der rechten Koptfhälfte.

Im weiteren Verlauf auch wiederholt in unregelmässigen Zwischen- räumen hypomanische Phasen.

Bei einer periodischen Melancholie bezw. unregelmässig zirkulären Psychose sehen wir hier Schmerzen zur Zeit der Depressionszustände auftreten und mit dem Verschwinden der- selben abnehmen. Die Schmerzen sind zweifellos auch hier pseudoneuralgischer Natur.

Echte Neuralgien sind, abgesehen von den seltenen Reflex- neuralgien, die Folgen nachweisbarer Veränderungen, die durch Infektion, Intoxikation, benachbarte Entzündung, Trauma an den Nerven hervorgerufen werden. Zur Begriffsdefinition der Neuralgien müssen wir abgesehen von den reflektorischen Fällen den Nachweis objektiver Veränderungen der sensiblen Bahnen theoretisch unbedingt postulieren, auch da, wo wir infolge un- genügender Technik der Untersuchungsmethoden nicht imstande sind, solche nachzuweisen. Ferner verlangen wir von den Neu- ralgien die drei typischen Kardinalsymptome: 1. ausgesprochen an- fallsweises Auftreten der Schmerzen, 2. Ausbreitung der Schmerzen im Verlauf eines oder mehrerer benachbarter Interkostalnerven, 3. Druckpunkte an den bestimmten Austrittsstellen.

Das Untersuchungsresultat unserer Fälle ergibt, dass nirgends eine echte Neuralgie vorliegt. Veränderungen im Sinne der obigen Definition finden sich nicht. Nirgends finden wir die Kardinal- symptome (besonders die Druckpunkte an den anatomisch ge- gebenen Stellen) typisch ausgeprägt. Wir sehen dagegen Haut- hyperästhesien, deren Abgrenzung nicht den Innervationsbezirken peripherischer Nerven, sondern unseren naiven Vorstellungen der Körperteile entspricht, und druckempfindliche Punkte, die nicht dem Verlauf eines peripherischen Nerven entsprechen und sich auch finden in Thoraxgebieten, die von den antallsweisen spontanen Schmerzen gänzlich frei sind. In mehreren Fällen entsprechen die Schmerzpunkte direkt hysterogenen Zonen, indem von dort aus die ver- schiedenen (auch vasomotorischen) Reizerscheinungen autosuggestiv beeinflusst werden können. Wir finden, dass die Schmerzen durch Selbstbeobachtung wachsen, bei Ablenkung der Aufmerksamkeit schwinden. Es handelt sich also um Pseudoneuralgien, deren periphere Projektion in ihrer Ausbreitung bestimmt wird durch die naiven Vorstellungen der Grenzen der Körperteile gegenein- ander und der Lage der lebenswichtigen Organe in unserem Körperinnern. | a Bu

Monatsschrift ftir Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI, Hoeft 6. 34

490 Bruns, Neuralgien bei Melancholie.

Für die Entstehung solcher Pseudoneuralgien bei einer Psychose und speziell bei einer Melancholie bieten sich meines Erachtens drei Wege:

Erstens könnte es sich um echte Schmerzhalluzinationen, also um Erregungen spezifischer Schmerzempfindungen durch ent- sprechende Schmerzerinnerungsbilder handeln. Gegen diese An- nahme spricht sehr entschieden die Tatsache, dass es sich in der Regel um nichthalluzinierende Kranke handelt, und dass die Schmerzen in engster Beziehung zu den pathologischen Affekten stehen. Immerhin soll zugegeben werden, dass halluzinatorische Pseudoneuralgien bei anderen Psychosen, z. B. bei der Paranoia, gelegentlich vorkommen.

Zweitens könnte man zentrale Irradiationen der durch die Psychose gegebenen Erregungszustände in die sensible Sphäre annehmen. Diese Annahme entbehrt, wofern sie etwas von der ersten Verschiedenes bedeuten soll, aller Grundlagen in unseren klinischen und physiologischen Beobachtungen. Höchstens wären. vielleicht die von Snell’) beschriebenen Begleitsensationen hier- her zu rechnen.

Drittens könnte man denken, dass die von den Affekten hervorgerufenen vasomotorischen Innervationsstörungen die Grund- lage der pseudoneuralgischen Schmerzen bilden. Seitdem wir durch Nothnagel und andere wissen, dass es echte Gefäss- schmerzen gibt, erscheint eine solche Erklärung für einzelne Fälle sehr wohl annehmbar, Für die von mir berichteten reicht sie- nicht aus, da hierbei das Auftreten hysteroider Druckpunkte und. kutaner Hyperästbesien unaufgeklärt bleibt.

Viertens könnte man für jeden dieser Fälle eine latente hysterische Disposition?) annehmen, welche durch die Psychose- zu manifesten Symptomen geweckt würde. Diese Erklärung ist.

ewiss in vielen Fällen zutreffend; ich möchte sie jedoch nicht ür diejenigen gelten lassen, in welchen hysterische Druckpunkte- und überhaupt anderweitige hysterische Symptome vollständig ehlen.

Schliesslich ist fünftens daran zu denken, dass die Schmerzen. und die pathologischen psychischen Symptome, speziell also die- Depression und Angst, koordiniert sind. Diese Erklärung möchte ich in der Tat für alle diejenigen Fälle acceptieren, wo eine der vorausgegangenen Erklärungen nicht zutrifft. Wir wissen aus. anderen Beobachtungen, dass bei prädisponierten Individuen durch einen Affektshock Pseudoneuralgien ausgelöst werden können, ohne dass zugleich durch den Affektshock eine Psychose hervor-. gerufen wird. Nicht nur bei Hysterischen, sondern auch bei Neurasthenischen kommen solche Schmerzzustände vor. Meines

1) Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 28 u. 34. Vgl. auch Erlenmeyer, ibid., Bd. 10, S. 217. 1) Von Fällen, wo schon vor Ausbruch der Psychose eine ausgesprochene- Hysterie oder Neurasthenie mit Pseudoneuralgien bestand, sehe ich natürlich. ier ab.

Bruns, Neuralgien bei Melancholie 481

Erachtens steht nichts der Annahme im Wege, dass ein analoger Affektshock gelegentlich sowohl eine Melancholie wie eine Pseudo- neuralgie als koordinierte Erscheinung hervorruft. Zum Vergleich könnte man etwa die neurasthenische Melancholie von Fried- mann, Ziehen u. A, heranziehen.

Jedenfalls ergibt sich, dass die begleitenden Schmerzen vieler Psychosen, namentlich auch der Melancholie, sehr mannigfachen Ur- sprungssein können undnocheinereingehenden Erforschung bedürfen.

Betrachten wir das zeitliche Verhältnis dieser verschiedenen Erscheinungen zu einander, so bekommen wir ganz verschiedene Resultate. Wir sehen in dem einen Fall zuerst die Angst auftreten und erst später den Schmerz, dann wieder treffen wir das umgekehrte Verhältnis. Bald sehen wir den Anfall nur aus Schmerzen und vasomotorischen Erscheinungen bestehen, bald nur aus Angstzuständen, und endlich sehen wir, wie gleichzeitig sämtliche Erregungserscheinungen entweder nacheinander oder

leichzeitig auftreten. In einem sehr interessanten Fall von ordon!) war jeder Anfall einer periodischen Melancholie anfangs von einer Gesichtsneuralgie begleitet.

Ebenso regellos ist die Dauer und Intensität der in diesen Erregungserscheinungen bestehenden Anfälle. Wir sehen die Kombination dieser Erregungsvorgänge schon in den physiologischen Affektzuständen: Ich sehe mich unvermutet einer Gefahr gegen- über, plötzliche Angst überfällt mich, ich werde blass und habe das Gefühl, wie wenn mir die Brust zusammengeschnürt würde. Die Vorstellung als Reiz ruft psychische, sensible und vasomotorische Erscheinungen hervor.

Dass das Wesen der funktionellen Nervenkrankheiten, der Neurasthenie und Hysterie darin besteht, dass das Gesamtnerven- system auf (relativ geringe) Reize psychischer und „peripherer“

atur mit abnorm starken Erregungszuständen der oben an- gegebenen Natur reagiert, ist bekannt.

Krankheitsfälle wie die unsrigen als neuralgische Psychosen oder als Dysphrenia neuralgica zu bezeichnen, scheint uns un- zweckmässig, denn wenn auch die neuralgiformen Schmerzen im Vordergrund der Erscheinungen stehen mögen, so sind sie doch nur, wie eine genaue Untersuchung und Beurteilung des Falles lehren muss, ein Glied aus der Reihe der Symptome.

Anton, Laquer, Wagner, Ziehen, Gordon und andere haben, wie oben erwähnt, Fälle beschrieben, ın denen teils neu- ralgiforme Schmerzen die Prodromal- und Initialerscheinungen akuter Psychosen bildeten, teils beobachteten sie primäre, echte Neuralgien mit nachfolgenden Psychosen.

Im Gegensatz dazu zeigen sich in den oben von uns be- schriebenen F ällen die neuralgiformen bezw. pseudoneuralgischen Schmerzen als konkomitierende (bezw. sekundäre) Symptome der Psychosen und zwar speziell der Melancholie.

1) Journ. of nerv. and ment. disease. 1908. 84*

492 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen

Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der kgl. Charite (Direktor Geheimrat Prof. Dr. Th. Ziehen.)

Einige plethysmegraphische Untersuchungen bei affektiven Psychosen. Von Dr. GIOVANNI SAIZ,

Volontärarzt der Klinik.

Während die denallgemeinen Gefühlsrichtungen zukommenden Veränderungen der plethysmographischen Kurve auf Grund ein- gehender Untersuchungen einigermassen klargelegt sind, herrscht bezüglich der den speziellen Affekten entsprechenden Veränderungen der Kurve noch grosse Ungewissheit. Nach Wundt stehen die

hysischen Begleiterscheinungen der Affekte in durchaus keiner konstanten Beziehung zur psychologischen Qualität derselben. Dies gilt namentlich von den Puls- und Atemwirkungen. Affekte, die einen sehr verschiedenen, ja entgegengesetzten Gefühlsinhalt haben, können unter Umständen in Bezug auf die physischen Be- gleiterscheinungen zur nämlichen Klasse gehören. Entscheidend ist nach Wundt nur der Umstand, ob es sich um einen sthenischen oder um einen asthenischen Affekt handelt; massgebend für die Einteilung der Affekte in sthenische und asthenische ist nun das Verhalten der äusseren Körpermuskeln, je nachdem es sich nämlich um eine gesteigerte oder um eine verminderte oder plötzlich gehemmte Muskelspannung handelt. Schwache und mässig starke Lustaffekte sind durchwegs sthenische, dagegen die Erbitterung, die Depression asthenische Affekte; überhaupt werden alle Unlustaffekte bei längerer Dauer, auch wenn sie von geringer Stärke sind, asthenisch. Die stärksten Affekte, übermässige Freude, hochgradige Angst, sind stets asthenisch.. Für die sthenischen Affekte, also z. B. für einen mässig starken Lustaffekt, ist nach Wundt vor allem die Erscheinung charakteristisch, dass die ganze Volumkurve lang- same, oft ziemlich regelmässige Wellen zeigt, die ganz unabhängig von den Atemschwankungen sind und in deren auf- und ab- steigenden Teilen die einzelnen Pulse ihre Frequenz nicht merk- lich ändern. Diese „vasomotorischen Undulationen“ sollen der Ausdruck der auf- und absteigenden Intensität des Affektes sein. Bei starken sthenischen Affekten sollen diese vasomotorischen Undulationen an Höhe und Dauer wachsen. Die Atmung ist ohne Einfluss auf den Puls und auf seine Oszillationen. Umgekehrt fehlen bei den asthenischen Affekten die vasomotorischen Un- dulationen vollständig, während der Rhythmus der Atmung auf die Volumpulskurve von deutlichem Einfluss ist, es treten die

bei affektiven Psychosen. 493

respiratorischen Pulsschwankungen deutlich hervor. Es ist, um es noch einmal zu betonen, nicht ohne weiteres jeder Lustuffekt ein sthenischer, jeder Unlustaffekt ein astlienischer; es gibtsthenische Unlustaffekte sowie es asthenische Lustaffekte gibt. Die Affekte sind keine psychischen Elemente, sondern Verlaufsformen von Gefühlen. Dies kommt auch in der plethysmographischen Kurve zum Ausdruck, indem die verschiedenen Gefühle (Wundt unter- scheidet bekanntlich drei Hauptrichtungen der Gefühle) den Ver- lauf der Kurve in verschiedenem Sinne beeinflussen können; die Kurve hat trotzdem die charakteristischen Merkmale im Sinne der sthenischen und asthenischen Affekte. In der Kurve spiegeln sich aber nach Wundt nicht so sehr die Gefühlsinhalte der Affekte als vielmehr die formalen Eigenschaften der Stärke und der Ge- schwindigkeit des Verlaufes der Gefühle. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung war Zielien gelegentlich der sphygmographischen Untersuchungen bei Geisteskranken bereits vor fast 20 J ahren ge- kommen: es ist gleichgültig, ob der Affekt positiver oder negativer Natur ist; nur die Erregungsaffekte, d. h. diejenigen Affekte, welche auch auf dem Gebiete der willkürlichen Körpermuskulatur einen erregenden Einfluss ausüben, wirken verändernd auf die Pulskurve, und zwar ausnalımslos in demselben Sinne, es mag sich um positive oder negative Affekte handeln; leichte Stimmungs- anomalien beeinflussen das Pulsbild nicht. Ziehen betont dies ausdrücklich gegenüber der Annalıme eines Antagonismus der Pulsformen von Manie und Melancholie.

Verschieden verhält sich Lehmann dieser Frage gegenüber. Er verlegt den Schwerpunkt nicht auf die erregende Wirkung der Affekte, sondern auf ihre Qualität, ohne Rücksicht auf den sthenischen und asthenischen Charakter derselben. In Bezug auf die Depressionszustände gibt Lehmann an, dass Respirations- oszillationen dabei konstant vorhanden zu sein scheinen. Normaler- weise finden sich die Respirationsschwankungen in der Kurve eines Menschen, der im normalen Gleichgewicht des Gemüts siclı be- findet, nicht. Nur wenn die Atmung besonders tief und langsam ist, oder wenn infolge irgendwelcher Umstände das Volumen der Kurve mit grossen Pulshöhen ansteigt, können die Respirations- wellen in einer normalen Kurve erscheinen; ausserdem treten sie in der Schläfrigkeit auf. Wenn man von diesen Möglichkeiten absieht, die Respirationsoszillationen also in der Kurve eines nicht schläfrigen Menschen auftreten bei ruhiger Atmung und normaler oder sogar kleiner Pulshöhe, so ist das Individuum deprimiert. In der plethysmographischen Kurve eines im Gleichgewichte des Gemütes sich befindlichen Menschen kommen nach Lehmann, abgesehen von den pulsatorischen Volumschwankungen, zwei Arten von Undulationen vor: erstens jühe Schwankungen und zweitens sanfte Schwankungen. Die jähen Schwankungen sind ganz unregel- mässig über die Kurve verteilt und erstrecken sich bald über 2, 3, bald über 5 Respirationen. Gewöhnlich erfolgt bloss das Sinken jähe mit langen Pulsen; auf die Senkung folgt ein sanftes

494 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen

Steigen mit kürzeren Pulsen; die Höhe der Pulse bleibt unver- ändert; wir finden hier also beim Sinken der Kurve eine Verlang- samung, beim Steigen derselben eine Beschleunigung der Puls- frequenz, da ja diePulslänge kürzer wird. Die sanftenSchwankungen sind ziemlich regelmässig über die Kurve verteilt und erstrecken sich über mehrere Respirationen; hier sind aber die Senkungen sobald dieSteigungen ausserordentlich sanft; die Länge der einzelnen Pulse ändert sich dabei nur ganz wenig, und zwar entspricht der Senkung der Volumkurve eine geringe Pulsverlängerung, der Steigung eine geringe Pulsverkürzung. Diese sanften Undulationen kann man am besten dadurch nachweisen, dass man die Basis der einzelnen Pulse mit einem Lineal verbindet. Lehmann führt nun sowohl die jähen als die sanften Schwankungen auf psychische Prozesse zurück. Die jähen Schwankungen sind denjenigen Volumveränderungen auffallend ähnlich, welche während der Ge- dankentätigkeit irgend einer Art eintreten, z. B. beim Rechnen eines Exempels.. Wenn nun die jähen Undulationen sichtbar sind, so war nach Lehmann die Versuchsperson nicht gedankenleer; in der Hypnose fallen die Undulstionen bei entsprechender Suggestion weg. Das jähe Sinken ist nach Lehmann durch Gedanken, durch psychische Tätigkeit ohne hervortretende Ge- fühlsbetonung verursacht. Es gibt Menschen, die nicht imstande sind, sich auch nur eine kurze Zeit gedankenleer zu erhalten; bei solchen Menschen zeigt die Kurve jähe Schwankungen. Gelingt es einem Menschen, sich gedankenleer zu erhalten, so verschwinden die jähen Schwankungen, es treten aber jetzt die sanften Un- dulationen deutlich hervor; diese treten nach Lehmann überall auf, wo ein normaler, wacher Mensch sich gedankenleer zu er- halten sucht; es ist wahrscheinlich unmöglich, sich von jeglichem Bewusstseinsinhalt los zu machen, und in den sanften Undulationen des Volumens spiegeln sich die vagen Bewusstseinszustände wieder; sobald aber die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gedanken konzentriert wird, erhält man die jähen Senkungen in der Kurve; so argumentiert Lehmann. Respiratorische Oszillationen fehlen in der normalen Kurve vollständig, wofern sie nicht durch ganz bestimmte Umstände (tiefe Atmung, hohe Pulse, Schläfrigkeit) hervorgerufen werden. In jeder Kurve finden wir dagegen ent- weder die jähen Schwankungen oder die sanften Undulationen. Zwischen diesen beiden Extremen finden sich alle möglichen Uebergänge. R. Müller behauptet im Gegensatz zu Lehmann, dass die Respirationsschwankungen auch im Plethysmogramm eines normalen Menschen vorkommen. Es steht da Behauptung gegen Behauptung. Ich habe Untersuchungen an normalen Menschen, die sich im vollständigen Gleichgewicht des Gemüts befanden, nicht vorgenommen, kann daher persönlich keinen Beitrag zu der Frage liefern. Doch muss man erwägen, dass die diesbezüglichen Untersuchungen Lehmanns mit grosser Gründlichkeit gemacht sind und, was besonders ins Gewicht fällt, bei Personen gemacht sind, die in der Selbstbeobachtung geübt waren; es ist bei der

bei affektiven Psychosen. 495

grossen Zahl der von Lehmann aufgenommenen normalen Kurven kaum anzunehmen, dass ihm ein solcher Irrtum widerfahren wäre; die Kurven, die er publiziert, sind in dieser Richtung auch sehr beweisend. Wir wollen daher für unsere weitere Darlegung den Standpunkt Lehmanns akzeptieren, dass respiratorische Schwan- kungen bei Personen, die im normalen Gleichgewicht des Gemüts sich befinden, fehlen, wenn nicht jene oben angeführten Bedingungen erfüllt sind. R. Müller hat auch Lehmann den Vorwurf ge- macht, dass er die physiologischen Verhältnisse viel zu wenig be- rücksichtigt hat. Wir kommen damit auf die Traube-Hering- schen und auf die Mayerschen Wellen zu sprechen. Leider werden sie noch immer mit einander verwechselt, obwohl sie von einander ganz verschieden sind. Die Traube-Heringschen Wellen würden Schwankungen der Volumpulskurve darstellen, welche den Typus der Respirationsoszillationen haben; sie wurden bei Tieren nachgewiesen, und es wurde durch das Experiment gezeigt, dass diese Schwankungen, obwohl sie den Respirationen entsprechen, doch nicht von der Atmung direkt abhängen, indem sie auch am kurarisierten Tiere auftraten, wenn die Atmung voll- ständig aussetzte. Man nimmt an, dass sich die kleineren Gefässe dem Atmungsrhythmus entsprechend erweitern und verengern und dadurch diese Volumschwankungen erzeugen. Charakteristisch für die Traube-Heringschen Wellen ist nun der Umstand, dass die Frequenz der Pulse im auf- und absteigenden Schenkel die- selbe ist. Wollte man also überhaupt die Traube-Heringschen Wellen mitirgendwelchen Volumschwankungen desPlethysmogramms identifizieren,so könnte man es nur mit den Respirationsschwankungen tun. Bei meinen Kurven findet gewöhnlich bei den Respirations- schwankungen eine Verlängerung der Pulse im aufsteigenden Schenkel der respiratorischen Oszillationen statt, wir können daher in meinen Kurven die Respirationsschwankungen nicht als Traube- Heringsche Wellen bezeichnen. Es bleiben nur noch die Mayer- schen Wellen. Es sind dies langsam ansteigende und langsam abschwellende periodische Schwankungen des Volumens, welche von den periodischen regulatorischen Bewegungen der Gefässe, namentlich der kleineren Arterien herrühren; sie erfolgen ganz un- abhängig von der Atmung und sind wahrscheinlich auf direkte Erregungen der vasomotorischen Zentren zurückzuführen. Nach der Beschreibung wären die Mayerschen Wellen mit den sanften Undulationen Lehmanns identisch. Wenn nun diese Wellen infra- kortikalen Ursprunges sind, im vasomotorischen Zentrum ent- stehen, gleichsam automatisch erfolgen, so hat Müller recht, wenn er behauptet, dass die sanften Undulationen Lehmanns überhaupt nicht an ein psychisches Geschehen gebunden sind. Wir wollen hier nicht weiter auf diese Frage eingehen, denn für unsere Untersuchungen ist die Genese der Wellen, ob psychisch oder rein physiologisch, zunächst gleichgültig. Für uns von Bedeutung ist, dass die sanften Undulationen in der normalen Kurve sich vorfinden, vornehmlich, wenn die Kurve keine jähen Senkungen

496 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen

zeigt. In folgendem werden wir stets von sanften Undulationen sprechen; damit wären also die Mayerschen Wellen der Physiologen gemeint. |

Ich hielt es für notwendig, dies alles gleichsam in Parenthese hier einzuschieben, weil diese Vorbemerkungen für das Verständnis des Folgenden notwendig sind. Wir hatten oben erwähnt, dass nach Lehmann respiratorische Schwankungen in der plethysmo- graphischen Kurve eine konstante Begleiterscheinung der De- pressionszustände darstellen. Ausserdem findet man bei Depressions- zuständen subnormale Pulshöhen und niedriges Volumen. In Be- zug auf die Lustzustände fasst sich Lehmann ganz kurz und be- schreibt nur jene Veränderung, welche Lustgefühle in der Kurve hervorrufen; er führt nebenbei an, dass andere, wenig zusammen- gesetzte Lustzustände sich in derselben Weise äussern, nämlich durch Pulserhöhung und Pulsverlängerung, während das Volumen im Anfang ein geringes Sinken zeigt, aber bald darauf rasch bis über das ursprüngliche Niveau steigt. Lehmann stellt also in Bezug auf dns lethysmographische Bild die Lustzustände den Unlustzuständen, Wun dt die sthenischen den asthenischen Affekten, Ziehen die leichten Stimmungsanomalien den erregenden Affekten gegenüber.

Es war nun von einem gewissen Interesse, zu erforschen, wie sich pathologische Lust- und Unlustzustände in der pletbysmo- graphischen Kurve äussern, ob eine (resetzmässigkeit, wie sie Lehmann oder Wundt für die Affekte des normalen Menschen beschreibt, sich nachweisen lässt oder nicht. Dies zu untersuchen, war der Zweck dieser Arbeit. Plethysmographische Untersuchungen an Geisteskranken liegen, wenn auch nur vereinzelt, schon vor. Doch haben die Untersucher dabei weniger Gewicht gelegt auf die durch die pathologische Stimmung bedingte Abweichung der plethysmographischen Kurve von einer normalen Kurve, sondern sie haben die Versuche Lehmanns an Geisteskranken wiederholt und im grossen Ganzen seine Resultate bestätigt. Wir finden nur ganz spärliche Angaben über das Verhalten der Volumkurve bei Geisteskranken vor dem Beginn der Versuche, Vogt gibt an, dass bei Zuständen starker Erregung, besonders bei manischer Erregung, die respiratorischen Schwankungen oft ganz kolossale sind; gewöhnlich sind die Pulsschläge während des Einatmens nicht unbedeutend schwächer und schneller als während des Aus- atmens. Hirschberg gibt an, er habe zunächst mehrere Kurven aufgenommen, bis die Versuchsperson sich an die Situation ge- wöhnt hatte und die Gleichmässigkeit der Atmung und der Volum- kurve die eingetretene Gemütsruhe der Versuchsperson erkennen liess. Was Hirschberg unter Gleichmässigkeit der Volumkurve versteht, sagt er nicht. Hat er solange Kurven aufgenommen, bis er Kurven erhielt, die im Lehmannschen Sinne als normal zu bezeichnen wären, also ohne Respirationsschwankungen ver- liefen? Dies lässt sich aus der kurzen Mitteilung nicht ersehen. Hirschberg gibt weiter an, dass bei gemütlicher Erregung Be-

bei affektiven Psychosen. 497

schleunigung und Vertiefung der Atemzüge eintritt; in der Volum- kurve treten gleichzeitig die Respirationsschwankungen besonders deutlich hervor, während Höhe und Länge der Pulse besonders bei unlustbetonten Erregungen abnehmen, Es scheint also, dass Hirschberg auch bei heiterer Erregung deutliches Hervortreten der Respirationsschwankungen beobachtet hat, wobei freilich zu berücksichtigen ist, dass gleichzeitig die Atmung tiefer, wenn auch beschleunigter wurde und schon darin eigentlich ein Moment gegeben ist, das nach Lehmann imstande ist, auch bei normalen Menschen Respirationsschwankungen hervorzurufen.

Ich habe mich bei der Untersuchung auf die affektiven Psychosen beschräukt und ging dabei von dem Standpunkt aus, nicht auf das Geratewohl bei vielen Patienten Kurven auf- zunehmen, sondern wenige Fälle, diese aber dafür um so gründ- licher zu untersuchen. Ich verfüge über 133 plethysmographische Aufnahmen bei 6 Patientinnen; es sind ausschliesslich Frauen. Bei zweien handelte es sich um die manische Phase eines zirkulären Irreseins, bei einer Patientin um eine ganz leichte Hypomanie in der Pubertät, die wahrscheinlich die Initialphase einer periodischen Manie oder eines zirkulären Irreseins bildet; einmal handelt es sich um eine Melancholie im Klimakterium, einmal um eine melancholische Phase eines zirkulären Irreseins. Besonders lehr- reich wäre es gewesen, wenn man ein zirkuläres Irresein in seinen verschiedenen Phasen hätte untersuchen können. Es stellte sich tatsächlich ein solcher Full ein; es handelte sich um eine periodische Menstrualmanie, an die sich eine mehrere Tage dauernde Depression anschloss. Leider lag gerade bei diesem Fall eine Fehlerquelle vor. Patientin hatte zweimal Gelenkrheumatismus überstanden, und über der Herzspitze war ein systolisches Geräusch hörbar. Pat. selbst hatte keine Beschwerden, auch nicht Herzklopfen ‚beim Laufen und Springen. Der Puls war rhythmisch und zeigte auch sonst keine Abnormität. Zweifellos lag eine leichte Mitral- insuffizienz, die völlig kompensiert war, vor. Ich habe diesen Fall trotz dieser Komplikation in die Untersuchung mit einbezogen, denn es war der einzige Fall, bei dem man in kurzer Zeit erheb- liche Aenderungen der Stimmungslage erwarten konnte. Es handelt sich ja schliesslich um relative Unterschiede, nämlich um den Ver- gleich der Kurven derselben Patientin in verschiedenen Stimmungs- lagen, und ich glaube, dass wir von diesem Standpunkt aus auch die Kurven dieser Patientin verwerten können. Die anderen Patientinnen waren körperlich vollkommen gesund, insbesondere bestand keine Herz-, keine Nieren-, keine Arterienerkrankung. Die älteste Patientin war 39 Jahre alt; die jüngste, das ist die soeben besprochene, 15 Jahre alt.

Nur wenige Worte über die Technik der Untersuchung. Selbstverständlich wurde die Untersuchung in einem abgelegenen Zimmer bei vollkommener Ruhe ausgeführt. Alle besonderen Er- eignisse, unvermutetes Eintreten einer Person ins Zimmer, Ge- räusche aus dem Garten, welche die Aufmerksamkeit der Patientin

498 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen

erregen konnten, wurden aufgezeichnet und auf die entsprechenden Schwankungen bei der Durchsicht der Kurven Rücksicht genommen. Die Einstellung des Armes im Apparate wor immer dieselbe. Vor jedem Versuch erhielt Pat. die Weisung, sich genz ruhig zu ver- halten und an nichts zu denken. Gesprochen wurde während der Versuche nicht. Nach dem Versuch wurden die Patientinnen jedesmal gefragt, woran sie während des Versuches gedacht hätten. Die Angaben waren gewöhnlich spärlich; ich hatte mit einem Krankenmaterial zu tun, das sich aus den niederen Be- völkerungsschichten rekrutierte und in der Selbstbeobachtung gar nicht geübt war. Immerhin habe ich einige Male (speziell bei der schon besprochenen Patientin mit periodischer Menstrualmanie) einigen Aufschluss bekommen und so manche Eigentümlichkeiten im Verlauf der Kurven erklären können. Die Untersuchungen wurden meist in der Frühe zwischen 8 und 9 Uhr ausgeführt. An- fänglich nahm ich absichtlich einige Kurven zu verschiedenen Zeiten, vor dem Essen, nach dem Essen, auf, um den Einfluss physiologischer Faktoren auf die Kurven kennen zu lernen. Aber die diesbezüglichen Kurven zeigten keine auffällige Abweichung gegenüber den Kurven, die ich in den frühen Morgenstunden auf- genommen hatte. Ich beschloss daher, die Kurven in der Frühe, unter möglichst gleichen physiologischen Bedingungen, aufzunehmen, um die verschiedenen Kurven mit einander vergleichen zu können. Die Patienten standen vor 6 Uhr auf, um 8 Uhr wurden die meisten Kurven aufgenommen. Die Trommel des Kymographion brauchte zu einer Drehung 1 Minute 45 Sekunden. Nach jeder plethysmographischen Kurve wurde eine sphygmographische Kurve mittels des Jaquetschen Sphygmographen aufgenommen, da die einzelnen Pulse ım Pletbysmogramm, auch wenn man den Pletbysmo- graphen durch ÖOffenlassen des Wasserhahnes der Wasserstand- flasche als Hydrosphygmograph verwenden wollte, viel zu undeutlch. sind. Man bekommt keine exakten Pulsbilder wie mit dem Hydro- sphygmographen Mossos, weil der Gummisack die feineren sekundären Erhöhungen der Pulse verwischt. Jedesmal wurde die Puls- und die Atemfrequenz aufgezeichnet und eine Notiz über die Beschaffenheit der Arteria radialis für das Gefühl gemacht (Weite und Füllung der Arterie, Beschaffenheit der Pulswelle, Spannung). Jedesmal wurde auch die Intensität des Nachrötens der Haut anf Ritzen mit der Nadelspitze und Streichen mit dem Nadel- kopf geprüft. Ganz speziell wurde natürlich der psychische Zustand der Patientin vermerkt. Die Temperatur sämtlicher Kranken war während der Untersuchung stets normal. Eine Kranke machte eine leichte Angina durch, sie wurde in jenen Tagen nicht plethysmo- graphiert. Wenn möglich, wurde eine Kurve sofort bei der Aufnahme der Kranken gemacht, bevor irgend ein Medikament verabreicht worden war. Patientin Sch. bekam zur Zeit, als die Kurven aufgenommen wurden, Opium (6 Pillen zu 0,05 täglich). Die anderen Patientinnen bekamen leichte Bromdosen oder Eisen- Arsenpillen und manchmal abends ein Schlafmittel, gewöhnlich

bei affektiren Psychosen. 499

0,5—1,0 Veronal. Dies wurde stets ausdrücklich vermerkt. Die plethysmographischen Kurven sind von rechts nach links, die sphygmograplischen von links nach rechts zu lesen.

Wir wenden uns nun den Kurven!) zu und untersuchen zu- nächst diejenigen Kurven, welche in einer hypomanischen Phase aufgenommen warden.

Emma B., 26 Jahre alt; hypomanische Phase eines zirkulären Irreseins. Es bleibt bei einer mässigen Ausgelassenheit mit gelegentlichen Zorn- ausbrüächen. Ich habe bei dieser Patientin 15 Kurven nufgenommen, möchte aber hier nur sechs besprecheu. Die anderen bringen nichts wesentlich Neues, sondern entsprechen den Befunden, die wir bei diesem sechs Kurven erheben werden. lch bezeichne die einzelnen Kurven nach dem Datum ihrer Aufoahme.

10. II. Heiter. P. 72, R. 18. 1 Uhr, vor dem Essen.

Aus der pneumographischen Kurve (der unteren) ersehen wir, dass die Atmung etwas ungleichmässig, aber im grossen Ganzen regelmässig ist, nicht auffallend tief; in der zweiten Hälfte der Kurve sind die Atemzüge etwas tieter als in der ersten. Es wurde immer die thorakale Atmung registriert; das Steigen der Kurve deutet dio Inspiration, das Sinken die Exspiration an. In der Volumkurve (der oberen) sind die Respirationsschwankungen deutlich sichtbar, in der zweiten Hälfte noch deutlicher als in der ersten, entsprechend dem Tiefenwerden der Atemzüge und dem mehr gleichmässigen Verlauf der

anzen Kurve. Aufjede Atmung entfallen 4 Pulse; die Pulse im aufsteigenden Schenkel der respiratorischen Undulationen sind länger als die im absteigenden, die Frequenz der Pulse also im absteigenden Schenkel grösser. Das Sinken der Volumkurve entspricht der Inspiration. In der ersten Hälfte der Volamkurve sehen wir 2 jähe Senkungen und eine jähe Senkung gegen das Ende der Kurve.

An diesen Stellen sind die Respirationsschwankungen weniger deutlich. Entsprechend den jähen Senkungen sind die Pulse etwas länger, aber nur wenig. In der zweiten Hälfte der Kurve finden wir sanfte Undulationen, welche die Respirationsschwankangen tragen. Von den allerersten Pulsen im Begino der Kurve ist abzusehen, weil der Schreibhebel zu fest an die Trommel drückte; vielleicht bestand daselbst Spannung; es wäre dies aus dem niedrigen Volum mit niedrigen Pulsen zu erschliessen. Fassen wir die jähen Senkungen als Ausdruck der Denktätigkeit auf, so hätte Patientin im Verlauf der Kurve 2—3 mal ihre Aufmerksamkeit auf einen bestimmten, nicht gefühlsbetonten Gedanken konzentriert. Diese jähen Senkungen sowie die sanften Undulationen finden sich auch in der Kurve eines normalen Menschen, und insofern wäre die Kurve als normal zu betrachten. Was hier aber besonders in die Augen fällt, ist das Ilervortreten der Respirstions- schwankungen.

Diese müssten nach Lehmann in einem normalen Plethyamogramm fehlen; denn die Atmung ist nicht besonders tief und langsam, die Pulse nicht abnorm hoch; ich habe bei Patientin stets Pulse erzielt, die dieser Pulshöhe entsprachen. Ich habe ferner bei dieser Patientin Kurven auf- genommen, wo bei noch grösserer Pulshöhe die Respirationsschwankungen eher undeutlicher waren. Wir haben also abnorm starke Respirations- schwankungen, die entweder anf rein physiologische Prozesse oder auf die Verstimmang der Kranken zurückzuführen sind. Patientin war während des Versuches weder schläfrig noch deprimiert. Wir müssten also, wenn es uns gelingt, die physiologischen Momente, welche in Betracht kommen könnten, auszuschliessen, die Respirationsschwankungen auf die heitere Verstimmung zurückführen. Damit würde es auch übereinstimmen, dass die Respirations- schwankungen während der jähen Senkungen verschwinden. Lehmann hat ein ähnliches Verhalten bei depressiven Stimmungen gefunden; die Kurve zeigte deutliche Respirationsschwankungen; es wurden nun Versuche angestellt, welche einige Zeithindurch die Aufmerksamkeit des Individuums beanspruchten;

1) Stets warde der Lehmannsche Apparat verwendet. Die Kurven sind verkleinert wiedergegeben.

mn

500 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen

während dieser Versuche verschwanden die Respirstionsschwankungen, weil durch die Arbeit die Depression z. T. bescitigt war; sobald die Aufmerksam- keit durch die Arbeit nicht mehr gefesselt war, kehrten die Respirations- schwankungen sofort wieder; es hatte die Konzentration der Aufmerksamkeit

die Depression gleichsam einen Augenblick lang vergessen gemacht. ch habe bei Patientin mehrere Kurven unter verschiedenen äusseren Bedingungen aufgenommen, nach dem Essen, am späten Nachmittag, um die paysio ogischen Verhältnisse zu variieren. Immer traten bei Patientin die espirationsschwankungen auf. Daraus ohne weiteres die physiologischen Momente als Ursache der Respirationsschwankungen auszuscheiden, geht sicher- lich nicht an. Ueberhaupt kann man die physiologischen Verhältnisse als Ursache der Veränderungen in der plethysmographischen Kurve mit absoluter Sicher- heit nie ausschliessen. Es ist dies eine Fehlerguelle, die jeder plethysmo- raphischen Untersuchung anbaftet. Da Müller nachgewiesen hat, dass die espirationsschwankungen auch ohne psychische Parallelprozesse bei Tieren zustande kommen, bestreitet er die Berechtigung, die Respirationsschwankungen als Ausdruckserscheinungen psychischer Prozesse in Anspruch zu nehmen. Darin geht aber Müller sicherlich zu weit. Solange nicht bewiesen ist, dass ganz bestimmte physiologische Momente allein imstande sind, jene Schwankungen zu erzeugen, ist man gerade so gut berechtigt, jene Schwan- kungen für psychische Prozesse in Anspruch zu nehmen, um so mehr, wenn man nachweisen kann, dass diese Schwankungen unter ganz bestimmten psychischen Verhältnissen zustande kommen. Freilich muss man immer mit der Möglichkeit rechnen, dass gleichzeitig rein physiologische Momente mit- wirken und Veränderungen der Kurve hervorrufen, welche sich den durch die psychische Tätigkeit hervorgerufenen Aenderungen supraponieren, sie aufheben oder sie verstärken. Wenn man aber die psychischen Momente ganz ausser acht lassen wollte, würde man in denselben Fehler verfallen,

wie wenn man die physiologischen Verhältnisse ganz vernachlässigt. 15. II. Heiter (wie am 10.11). P.80, R.22, 1:/, Uhr, nach dem Essen.

Die Atmung ist oberflächlich, leicht inäqual. In der Volumkurve treten die Respirationsschwankungen stark hervor und zwar entsprechen jeder Respiration 8—4 Pulsschläge. Sinken des Volums während der Inspi- ration. Wir sehen im letzten Drittel der Kurve entsprechend den 2 schwächeren Atemzügen auch die Respirationsschwankungen in der Volumkurve undeut- licher werden. Die Kurve verläuft grössentoils mit sanften Undulationen, welche man dadurch am besten sieht, dass man die tiefsten Punkte der Kurve miteinander verbindet. Gegen Ende eine jähe Senkung. Es sinkt das Volumen mit langen Pulsen. Die Pulse siod auch etwas niedriger. Hier spricht vielleicht eine leichte Spannung mit. Wir haben hier also eine Kurve der heiteren Phase, in der die Respirstionsschwankungen sehr deutlich. bervortreten; ausserdem fmden wir jähe Senkungen, welche der Anspannung der Aufmerksamkeit entsprechen. Im übrigen verweise ich auf die Aus- tübrungen bei der Kurve 10. II.

4. III. Heiter. P. 76, R. 22. 11 Uhr.

Die Atmung ist leicht inägnal, ohne Besonderheiten. Die Respirations- schwankungen sind sehr deutlich; ausserdem sehen wir die sanften Undu- lationen. Gegen Ende sinkt die Volumkurve erheblich, die Pulse werden niedriger, die Undulationen sind sehr gering, also höchstwahrscheinlich Spannung. Die Pulslänge bleibt ungefähr gleich. Im ganzen sind die Pulse etwas höher als gewöhnlich, Dies würde das stärkere Hervortreten der

bei affektiven Psychosen. O1

Respirationsschwankungen an diesem Tage ge enüber den vorausgegangenen erklären. Anf jede Atmung kommen 3—4 Pulse.

8. III. Heiter. P. 78, R. 18. 9 Uhr.

Die Atmung ist nicht oberflächlicher als in den anderen Kurven, in denen die Respirstionsschwankungen stärker hervortreten. Die Respirations- schwankungen sind undeutlich; immerhin kann man sie sehen, am ausgepräg- testen gegen Ende der Kurve, aber auch in der ersten Hälfte. Auf jede Atmung entfallen 3 Pulse, mitunter 4. Die Pulshöhe ist nicht niedriger als z. B. in der Kurve vom 10. II., wohl aber niedriger als am 4. III. Was am meisten in dieser Kurve hervortritt, sind die sanften Undulationen und 2 steile Senkungen, eine in der Mitte, eine gegen Ende.

37. III. Heiter. P. 68, R. 16. 12 Uhr.

Die Respiration ist etwas ungleichmässig, nicht abnorm tief. Die Respirsationsschwankungen sind sehr dentlich, namentlich in der ersten Hälfte. Die Pulse sind aber sehr hoch, wie am 4. III; höher als am 10. II. und 15. II. Es kommen auf jede Atmung 3 Pulse. Während der Inspiration Sinken der Kurven. Im aufsteigenden Schenkel sind die Pulse gewöhnlich länger. Im Beginn der Kurven finden wir eine steile Senkung, dem ent- sprechend sind die Pulswellen länger; sonst sind die sanften Uudulationen sehr deutlich sichtbar.

27. III. Ich habe dann unmittelbar darauf den Wassarhahn offen gelassen und ein Hydrosphygmogramm aufgenommen mit einem 80 cm langen Schlauch, um zu sehen, ob die Respirationsschwankungen noch deutlicher würden. Und tatsächlich traten sie in einer sehr demonstrablen Weise auf. Ich lege dem natürlich keine weitere Bedeutung bei, da es ja bekannt ist, dass die Respirationsschwankungen besonders deutlich im Hydrosphygmogramm auftreten, wenn der Schlauch länger ist. Dabei verschwinden alle anderen Undulationen, die Fusspunkte liegen in einer geraden Linie.

‚Schluss: Wir haben bier ausschliesslich Kurven aus der heiteren Phase. Ich habe von der Patientin nie Aufschluss bekommen können, woran sie während der Versuche gedacht hatte. In allen Kurven finden wir mehr oder minder deatliche Respirationsschwankungen, welche sich nicht auf abnorm tiefe and langsame Atmung, nicht auf Schläfrigkeit und auch nicht ohne weiteres auf abnorm hohe Pulse zurückführen lassen. Denn wir sehen sie in der Kurve vom 8. III. schwächer werden, obwohl hier die Pulse nicht niedriger sind als am 10. II. und 15. II., wo wir ganz deutliche Respirations- schwankungen gefunden haben. Wohl treten die Respirationssch wankungen am schönsten hervor, wenn die Pulse hoch sind; das ist aber auch nicht anders zu erwarten (Kurven 4. III. und 27. IIl). Wollten wir das Auftreten der Respirationsschwaukungen unmittelbar auf die abnorm heitere Stimmungs- lage zurückführen, so müsste man erwarten, dass die Respirationsschwankungen um so deutlicher werden, je grösser die heitere Erregung ist. Nun besteht ein Parallelismus zwischen Stärke des Affektes und Deutlichkeit der Respi- rationsschwankungen nicht. Die heitere Erregung war in allen hier be- sprochenen Kurven ungefähr dieselbe, und doch sehen wir einmal die Respi- rationsschwankungen sehr deutlich hervortreten, ein anderes Mal sind sie viel schwächer. Dass diese Schwankungen um so deutlicher hervortreten, je höher die Pulse sind, ist zweifellos. Ich habe aber auch Kurven besprochen, wo

50% Saiz, Einige plethysmograpkische Untersuchungen

bei glaicher Pulshöhe die Respirationsschwankungen einmal deutlicher waren als das andere Mal. Wir köunen daher das verschiedene Verhalten der einzelnen Kurven hinsichtlich der Respirationsschwankungen nicht auf die verschiedene Pulshöhe zurückführen. Es lässt sich dieses verschiedene Ver- halten auch nicht aus dem Verhältnis zwischen der Puls- und der Respirations- frequenz erklären in dem Sinne, dass die Itespirationsschwankungen um so deutlicher wären, je mehr Pulse auf eine Atmung fallen. Es lässt sich auch in dieser Beziehung keine Gesetzmässigkeit nachweisen. Ausserdam finden wir in allen Kurven sanfte Undulationen und vereinzelte jähe Senkungen. Es hat dies nichts Auffälliges an sich, da wir aus den Versuchen Lehmanns wissen, dass dies dem Verhalten jedes normalen Menschen entspricht. Ich will bier nur das bedeutende Ueberwiegen der sanften Undulationen über die jähen Senkungen betonen.

—BEX

Das sphygmographische Pulsbild zeigt uns einen katatrikroten Puls, welcher als normal angesprochen werden kann. Ich will erwähnen, dass ich bei allen sphygmographischen Untersuchungen den Federdruck des Sphygmo-

raphen so gewählt habe, dass die maximale Höhe der Kurve erzielt wurde. eränderungen des Kontraktionszustandes der Gefässe fanden sich bei Pat. während der ganzen Beobachtungszeit nicht.

Alice Le. 34 Jahre alt, hypomanisehe Phase eines zirkulären Irreseins. Pat. ausgesprochen hypomanisch, spricht viel, singt, reimt, sehr erotisch. Häufig Zornausbrüche. Ich habe bei der Pat. 21 Kurven aufgenommen und möchte hier 5 besprechen. Die anderen Kurven schliessau sich an das hier angeführte an.

24. III. Ausgesprochen hypomanisch. P. 108, R. 28. 4 Uhr. Im Be- ginn hielt Pat. den Atem an, dann atmet sie im grossen ganzen regelmässig und ziemlich tief. In der Volumpulskurve finden wir im Beginn keine Re- spirationsschwankungen; das darf uns nicht wunder nehmen, da Pat. nicht atmet. Im weiteren Verlauf treten sie immer deutlicher hervor, und in der zweiten Hälfte der Kurve sind sie unzweideutig nachweisbar; es entsprechen 4 Pulse einer Atmung; der Inspiration entspricht das Sinken der Kurve. Im aufsteigenden Schenkel sind die Pulse kaum merklich länger. Die plötzliche Volumensteigerung im ersten Drittel der Kurve ist wohl von einer leichten Verschiebung des Armes abzuleiten. Was besonders auffällt, ist das Fehlen der jähen Schwankungen, und auch die sanften Undulationen sind kaum nach- weisbar; in der ersten Hälfte haben wir noch eine grosse sanfte Undulation, in der zweiten gar keine; wir sehen einen fast horizontalen Verlauf der Kurve, wenn wir von den Respirstionsschwankungen absehen. Dass die Pat. nicht

edankenleer war, ging aus ihrem Gebahren hervor. Sie war bloss mit Mühe

azu zu bewegen, während der Versuche überhaupt zu schweigen; und kaum war der Versuch beendigt, als sie sofort den Arzt mit einem Redeschwall überflutete. Dass es sich hier nicht um Spannung handelt, geht daraus her- vor, dasa die Pulshöhe, die wir auch sonst bei Pat. finden, nie höher ist, als wir sie in diesen Kurven finden, und ferner aus dem Hervortreten der Re- spirationsschwankungen,

10. V. Ausgesprochen bypomanisch. P, 88, R. 16. 8!/, Uhr früh. |Die

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————————— ——— —— 6—

bei affektiven Psychosen. 508

Atmung ist ragelmkusig, nicht so tief wie am 24. III. Trotzdem sehen wir sehr deutliche Respirationsschwankungen. Jeder Atmung entspreolien 4—5 Puls- schläge. Die Pulse sind im Durchschnitt nicht höher, als sie es am 24. III. owesen sind. Die Pulswellen im aufsteigenden Schenkel sind länger. Jähe akungen finden wir nicht, wohl aber ganz vereinzelte sanfte Undulatıionen.

23. V. Leichtere heitere Erregng. P. 84, R. 22. 11 Uhr. Die Atmung ist regelmässig, etwas angleichmässig. Die Pulse sind ausserordentlich niedrig, und trotzdem treten die Respirationsschwankungen deutlich hervor; ea spricht dies gegen Spannung. £e entfallen 4 Pulse auf jede Atmung. Die Puls- wellen im aufsteigenden Schenkel sind länger, als die im absteigenden Schenkel. In dieser Kurve fehlen ebenfslls die jähen Senkungen, auch die sanften Undu- lationen sind kaum sichtbar.

17. V. Pat. sornig erregt; hatte bis zum Moment, in dem die Trommel in Rotation versetzt wurde, geschimpft, weil ihre sexuellen Erlebnisse beim Krankheitsbeginn in der klinischen Vorlesung besproohen worden waren. P. 76, R. 20. 8 Uhr.

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Die Atmung ist sehr ungleichmässig. In der Volumpulskurve finden wir ausserordentlich starke Respirationsschwankungen, und zwar kommen 5 Pulse auf eine Atmung, 2 auf den aufsteigenden und B auf den absteigenden Schenkel. Die Pulswellen im aufsteigenden Schenkel sind länger. Gegen Ende treten die Atemschwankungen etwas zurück, weil die Atmung oberflächlich wird. Jähe Senkungen fehlen fast ganz, mit Ausnahme (des Sinkens der Kurve infolge der tiefen Atemzüge. Auch die sanften Undalationen sind sehr gering. Die einzelnen Pulse sind in dieser Kurve etwas höher, als sie es gewöhnlich bei dieser Pat. sind; doch reicht dies zur Erklärung der ausserordentlich starken Respirationsschwankungen nicht aus. Andererseits kavn man diese starken Schwankungen auch nicht ohne weiteres auf Rechnung des Zornaffektes setzen, weil ich ın einer anderen Rurre bei mässig starker hypömanischer Erregung ebenfalls ein so starkes Hervortreten der Respirations- schwankungen bei dieser Pat. beobachtet habe.

16. V. Pat. hatte kurz vorher geweint, sagte, ihr wäre so zu Mute wie während der Melancholie. Es wurde rasch eine Kurve aufgenommen, aber schon auf dem Wege zum Untersuchungazimmer fing Pat. zu lachen und zu scherzen an, klingelte beim Vorbeigehen an allen Türen und witzelte bis zum Beginn des Versuches. P. 100, R. 21. 10 Uhr früh.

Leider sind infolge fehlerhafter Einstellung des Pneumographen die Atemsüge nur angedeutet. Die Volumkurve bietet kaum einen Unterschied gegenüber der Kurve vom 10. V.; deutliche Respirationsschwankungen, auf jede Atmung entfallen 4—5 Pulse. Keine jähen Senkungen, sanfte Undu- stionen sind leicht angedeutet. Die einzelnen Pulswellen sind in dieser Kurve nieht so gleichmässig wie am 10. V. Doch kann man beim Plethysmo- gramm auf die Formen der einzelnen Pulse nicht viel geben.

Schluss: Was in allen Kurven dieser Pat. auffällt, ob sie bei mittel- starker oder stärkerer hypomanischer Erregung aufgenommen warden, ist das starke Hervortreten der Respirationsschwankangen. Dabei finden wir auch hier keine konstanten Beziehungen zwischen der Stärke des Affektes und der

504 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen

Deutlichkeit der Respirntionsschwankungen. Wir sehen bei derselben Stärke der bypomanischen Erregung einmal die stärksten Respirationsschwankungen, in anderen Kurven viel geringere Respirationsschwankungen. Ferner fehlen bei dieser Pat. die jähen Senkungen vollständig, und auch die sanften Undulationen sind nur angedeutet. A priori müsste man erwarten, dass beim Gedankenreichtum eines Maniacus jähe Senkungen über jähe Senkungen er- folgen sollten. Bei diesen beiden Patientinnen findet sich aber im Gegenteil im grossen ganzen ein sehr gleichmässiger Verlauf der Kurven; namentlich bei der zweiten Patientin, die die stärkere hypomanische Erregung darbot, treten jähe Senkungen überhaupt nicht auf. Lehmann erwähnt, dass nicht jeder Gedanke eine jähe Senkung hervorzubringen braucht; manchmal tritt nur eine Verkürzung der Pulse ein. Wir könnten nun daran denken, dass bei der Manie die Beschleunigung der Ideenassosziation es mit sich bringt, dass, da bei der Flucht der Gedanken die Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand im höchsten Masse erschwert wird, die Ausdrucks- erscheinungen der Konzentration der Aufmerksamkeit nicht zustande kommen können, gleichsam infolge der Nivellierung der Vorstellungen, wie es Wernicke genannt hat. Wir müssten aber dann erwarten, dass die jähen Senkungen beinı Nachlassen der Erregung, in dem Masse, als die Gedanken stabiler werden, deutlicher hervortreten, oder dass wenigstens Veränderungen der Pulslänge sich einstellen. Dies ist aber nicht der Fall. Es liegen bier wohl persönliche, individuelle Verschiedenheiten vor. Ich hatte schon oben erwähnt, dass Lehmann darauf hingewiesen hat, dass bei manchen Menschen die jähen Senkungen nicht zum Verschwinden zu bringen sind (von der Hypnose sehen wir hier ab), dass sie dagegen bei anderen Menschen häufig nicht auftreten; es kann auch dasselbe Individuum zu verschiedenen Zeiten ein verschiedenes Verhalten darbieten. Wir müssen annehmen, dass diese individuellen Verschiedenheiten auch während der pathologischen Ver- stimmungen andauern. Der Vollständigkeit halber will ich erwähnen, dass Vogt bei paranoischen Kranken oft eine ewige Unruhe an den Kurven auf- gefallen ist; die Kurven zeigten eine grosse Mannigfaltigkeit von steilen Hebungen und Senkungen. Vogt führt dies darauf zurück, dass die Kranken alle möglichen Einwirkungen des Apparates an sich zu merken glaubten,

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Interessant ist das sphygmographische Pulsbild der Pat. Le. Im grosson ganzen war das Palsbild immer dasselbe, ob die Erregung grösser oder ge- ringer war. Die Arteria radialis war mittelweit, weich, glatt, gerade, gut

efüllt, die Pulswelle untermittelhoch, die Spannung kräftig. Obwohl die

öchste Einstellung mit der Schraube gewählt ist, sehen wir, dass die Puls- welle eher niedrig ist. Die Rückstosselevation ist sehr undenutlich ausgeprägt, sie geht unter den Elastizitätselevationen auf. Diese sind an Zahl vermehrt; in manchen Wellen sieht man 5 katakrote Erhebungen. Die erste Rlastizitäts- elevation ist besonders stark ausgeprägt und hinaufgerückt. Wir finden also alle Anzeichen des gespannten Pulses. Dieses Verhalten war bei Pat. konstant, obwohl körperliche Ursachen für die erhöhte Spannung (Nephritis, Herz- hypertrophie u. s. f.) sich nicht nachweisen liessen. Wir haben es mit einer

ypomanie mit mittelstarker Erregung zu tun, die mit vermehrtem Druck einhergeht. Daraos geht hervor, wie misslich es ist, wenn man der Manie einerseits und der Melancholie andererseits verschiedene Pulsformen zau- schreiben will bloss auf Grund der durch die Spannung der Gefässe bedingten Veränderungen der sphygmographischen Kurve. Es ist lange bekannt (im letzten Jahre hat Alter wieder darauf hingewiesen), dass ausgesprochene Aenderungen der Affektlage oft gar keinen Einfluss auf die Blutdruckkurve haben. Nach Ziehen ist der Blutdruck bei der Melancholie insofern und in dem Masse gesteigert, als Angstaffekte bestehen. Bei der Manie ist der Puls durchaus nicht immer entspannt. Man darf Pulsbilder, welche durch Ver- änderung des Kontraktionszustandes der Gefässwände bedingt sind, nicht ehne

bei affektiven Psyehosen. . ZZ. 505

weiteres für eine bestimmte Verstimmung in Anspruch nehmen, bloss weil diese Verstimmung oft mit jenen Veränderungen des Kontraktionszustandes der Gefässwände einhergeht.

Gertrude K., 17 Jahre alt. Sehr leichte Hypomanie, wahrscheinlich Initislphase eines zirkualären Irreseins oder einer periodischen Manie. Es ist dies die leichteste Hypomanie unter den von mir untersuchten Fällen. Ich babe 7 Kurven bei der Pat. aufgenommen; davon will ich hier 3 besprechen.

22. V. Ganz leichte Heiterkeit, deren pathologischer Charakter nur darch Vergleich mit dem Verhalten der Pat. vor der Erkrankung erkennbar ist. P. 96, R. 22. 8 Uhr früh. l |

Die Atmung ist oberflächlich, regelmässig. Die kleinen Zacken in der pneamographischen Kurve rühren von Erschütterungen des Pneumographen durch die Herzaktion her. Respirationsschwankungen sind in der Volum- kurve nicht sichtbar. Sehr schön sieht man die sanften Undulstionen. Dabei fallen fast stets die Volumsteigerungen mit Pulsverkürzung zusammen. Jähe Senkungen findet man nicht.

25. V. Psychischer Zustand wie am 22. V. P.84, R. 18, 8 Uhr früh. Die Atmung ist etwas tiefer als in der Kurve vom 22. V. Trotzdem fehlen Respirationsschwankungen. Die plötzliche Steigerung des Volums in der Mitte der Kurve ist auf eine leichte Verschiebung des Armes zurückzuführen. Die sanften Undulationen treten gegenüber den jähen Senkungen zurück. Wir sehen ein Sinken der Kurve mit langen Pulsen, auf das ein sanftes An- steigen mit kürzeren Pulsen folgt, also typische Auftmerksamkeitsreaktion. Es fällt aber dabei auf, dass die Pulse im ansteigenden Schenkel niedriger werden. Pat. wusste nicht anzugeben, an was sie gedacht hatte.

Schluss: Pat. war stets leicht heiter gestimmt; ihre Heiterkeit war aber der Intensität nach, absolut genommen, kaam als abnorm zu bezeichnen. Die Respirationsschwankungen treten hier überhaupt nicht auf, sondern nur die sanften Undulationen und die jähen Senkungen. Es sind dies Kurven, welche nach Lehmann auch beim normalen Menschen vorkommen köunten, und zwar müssten wir (immer nach Lehmann) annehmen, dass Pat. während der Kurve am 22. V. sich gedankenleer gehalten hat, am 25. V. aber nicht. Wir finden hier also eine leicht beitere Verstimmung mit normalem plethysmo-. graphischen Kurvenbild.

Das sphygmographische Pulsbild zeigt deutliche Dikrotie, während die, erste Elastizitätselevation bloss angedeutet ist. Es ist dies das Bild eines ent- spannten Pulses; tatsächlich war die Spannung in der Arteria radialis herab- gesetzt. Doch ist es nicht ausgeschlossen, dass dieses Pulsbild ein Kunst- produkt sei; ich möchte es daher als zweifelhaft bezeichnen. Trotz mehrerer

ersuche war es mir nicht geglückt, bei dieser Pat. ein einwandsfreies Puls- bild zu erzielen.

Anna Lu., 85 Jahre alt. Melancholische Phase eines zirkulären Irre- seins. Pat. bot zunächst das Bild einer einfachen Depression ohne Angst. Später kam Angst hinzu. Ich habe bei dieser Pat. 8 Kurven aufgenommen, werde hier aber nur 3 besprechen.

15. V. Leichte Depression. P. 96, R. 22, 8 Uhr früh. Die Atmung ist regelmässig, tief; zwischen jedem Atemzug besteht eine ganz kurze Atem- pause. Keine Respirationsschwankungen; wohl aber sanfte Undulationen und zwei jähe Senkungen; es sinkt die Kurve mit langen Pulsen. .

26. V. Leichte Depression wie am 15. V. P. 88, R. 22. 8 Uhr fräb. Die Atmung ist regelmässig, tief. Keine Respirationsschwankungen; dagegen sieht man sanfte Undulationen und zwei jähe Senkungen; Sinken der Kurve mit langen Pulsen und Steigen mit kürzeren. 11. VI. Stärkere Depression mit leichten Angstaffekten. P. 88, R. 24. 8 Uhr früh. | Die Atmung ist nicht so tief wie in den anderen swei Kurven; die preumographische Kurve ist in der Inspiration abgesetzt. Die Volumpuls- urve zeigt deutliche Respirationsschwankungen. Es entsprechen jeder Atmung 3—4 Pulse. Die Kurve sinkt während der Inspiration; die längeren Palse sind im autsteigenden Schenkel. Ausserdem sieht man sanfte Undu-

Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 6. 85

506 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen

lationen, welche über die ganze Kurve ziehen, entsprechend dem normalen Verhalten der Kurve, wenn keine Respirationsschwankungen und keine jähen Senkungen vorhanden sind. Die Respirationsschwankungen sind auf den sanften Undulationen aufgetragen. In dieser Kurve treten die Respirationsschwankungen hervor, obwohl die Atmung oberflächlicher ist als in den anderen zwei Kurven, die während einer leichten Depression aufgenommen worden waren, und obwohl die Pulse nicht höher sind als in den zwei ersten Kurven. Schluss: Die zwei ersten Kurven während der leichten Depression unterscheiden sich von Kurven, die Lebmann bei normalen Individuen auf- enommen hat, gar nicht. Aehnlich wie bei der leichten Hypomanie der Bat. K. finden wir das eine Mal mehr die sanften Undulationen, ein anderes Mal mehr die jähen Schwankungen hervortreten. Während diese zwei Kurven keine Respirationsschwankungen aufweisen,treten die Respirationssch wankungen in der Kurve am 11. VI., wo eine leichte Beängstigung besteht, deutlich auf. Sanfte Undulationen findet man auch in dieser Kurve, entsprechend dem normalen Verhalten der Kurve, wenn die Respirationsschwankungen fehlen.

Das sphygmogrsphische Pulsbild vom 26. V. zeigt ein annähernd nor- males Verhalten; vielleicht ist die erste Elastizitätselevation etwas nach oben gerückt und etwas deutlicher als gewöhnlich. Die sphygmographische Kurve vom 11. VI, d. h. vom Tage, an dem ein leichter Angstaffekt bestaud,

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unteracheider sich kaum wesentlich von der Kurve am 26. V. Die Pulse er- scheinen zwar länger, davon müssen wir aber abseheu, weil das Uhrwerk in der Kurve am 11. VI. schneller gelaufen ist, was man aus den von der Vor- richtung zur Kontrolle der Zeit gezeichneten Zacken ersieht. Am 11. VI. erscheint der Puls etwas niedriger, sonst sind die Pulse fast gleich, obwohl das Plethysmogramm doch irgendwelche Unterschiede erwarten liesse. Am 15. V. erhielt ich bei der Pat. während der leichten Depression eine Kurve,

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in der die erste Elastizitätselevation sehr deutlich war uud höher hinauf- rückte, während die Rückstosselevation schwächer, aber immerhin sehr deut- lich zu sehen war. Dieses Pulsbild hat eine grosse Aehnlichkeit mit der von Ziehen bei den erregenden Affekten beschriebenen Pulsveränderung. Das Plethysmogramm zeigte am 15. V. keine Respirationsschwankungen; es kann als normal angesprochen werden. Marie Sch.,ö9 Jahre alt, klimakterische Melancholie mit schwerer Angst. ‘Zwei Kurven habe ich bei dieser Pat. aufnehmen können, davon will ich nur eine hier besprechen, da beide gleich sind. Ich hatte mehrere Karven bei der Pat. versucht, aber die meisten misslangen wegen des Verhaltens der Pat. Sie versuchte den Arm aus dem Plethysmographen herauszuziehen, bewegte den Kopf, sah sich um u. s. w. Depression mit schwerer Angst. Kurz bevor die Trommel in Rotation versetzt wurde, äAusserte Pat: „Warum soll ich das? Ich weiss.

bei affektiven Psychosen. 607

nicht, ob ioh das darf! Ich möchte nicht einen ins Unglück stürzen. Was soll geschehen? Ich habe solche Angst.“ P. 83, R. 18. 81, Uhr früh.

Die Atmung ist im grossen ganzen tief und regelmässig; nur im letzten Drittel finden wir eine kurze Atempause. Ia der ersten Hälfte der Volam- karve sind die Respirationsschwankungen sehr deutlich, 4 Palse entfallen auf jede Atmung; die Pulse sind im aufsteigenden Schenkel länger als im ab- steigenden. Ausserdem bestehen hier sanfte Undulationen. In der Mitte sehen wir ein plötzliches Sinken der Kurve mit laugen Pulsen. Ich hatte zufällig ganz unwillkürlich eine Handbewegung gemacht, Pat. war darüber erschrocken. Es entspricht tatsächlich das Sinken der Kurve mit langem Pulse der von Lehmann für normale Individuen beschriebenen Veränderung der plethysmographischen Kurve beim Erschrecken. In unserer Kurve bleibt dann das Volumen niedrig mit niedrigen und kurzen Pulsen. Ausserdem treten, wenn auch andeutlich, die Respirstionsschwankuugen und unregel- mässige Undulstionen in diesem Abschnitt der Kurve auf; die einzelnen Pulse sind sehr ungleichmässig. Als Spannung kaon man diesen Zustand nicht bezeichnen, weil die Pulse kürzer werden, und weil Schwankungen der Kurve bestehen. Die Puisfrequenz ist im zweiten Abschnitt der Kurve eine ge- steigerte; es hängt dies wohl mit der ängstlichen Erregang zusammen.

Schlass: In dieser Kurve ist das Wesentliche das Hervortreten der Respirationsschwankungen, wodurch sie sich von der Kurve eines normalen Menschen unterscheidet. Es fehlen jähe Senkungen, wenn man von dem Sinken der Kurve infolge des Erachreckons absieht. Dagegen treten die sanften Undulationen deutlicher hervor. Da aber die sanfıen Undulationen bei einem normalen Menschen vorkommen, müssen wir uns vorstellen, duss diese sanften Schwankungen, welche bei der Pat. anuch im normalen Zustand aufgetreten wären, in der pathologischen Verstimmung ebenfalls zutage treten und die respiratorischen Schwankungen trugen.

Im sphygmographischen Pulsbild ist die erste Elastizitätselevation höber binaufgerückt und besonders deutlich, die Rückstosselevation eben- falls deutlich erkennbar. Wir haben also jene Veränderungen, die Ziehen als für die erregenden Affekte charakteristisch beschrieben hat. Doch ist diese Kurve wegen der runden Gipfel nieht ganz einwandsfrei; ich konnte aber bei dem Verhalten der Pat. keine bessere erhalten. Der Puls war gut gespannt.

Anna H., 15 Jahre alt. Periodische Menstrualmanie, zirkulärer Typus.

Es sei mir gestattet, die Krankengeschichte dieses Falles, auf den sich die meisten plethysmographischea Untersuchungen beziehen und der auch sonst ein gewisses Interesse bietet, ausführlicher wiederzugeben.

Pat. ist nicht belastet. Die Geburt verlief normal. Entwicklung ohne Besonderheiten. Pat. machte in den ersten Lebensjahren Schurlach, Masern und Dipbtherie durch, wurde später wegen vereiterter Drüsen am Halse operiert; es wird sich wohl um skrophalöse Drüsen gehandelt haben. Keine

rämpfe, keine Rachitis. War ein mittelmässig begabtes, fleissiges, ruhiges Mädchen; kam in der Schule gut mit, sie bot keine periodischen Schwankungen der Leistungsfähigkeit. Kein Trauma, kein Alkoholgenuss, keine venerische Infektion. Mit 12 Jahren (Dezember 1908) erkrankte Pat. an Gelenk- rheumatismus, der nach 5 Monaten rezidivierte (April 1904); es waren die Hand- und Kniegelenke befallen; im Anschluss an den zweiten Anfall trat eine Endocarditis auf, die zu einer Mitralinsuffizieoz führte. Mit 14 Jahren ging Pat. zu einer Schneideria in die Lehre. Die Menses traten mit 18?/, Jahren (Januar 1905) zum ersten Male auf; waren dann regelmässig alle 8 Wochen, dauerten 10 bis 12 Tage; dabei anhaltend starker Blutverlust; keine Unter- leibschmerzen.

Die Krankheit begann 6—8 Wochen vor Eintritt der ersten Menses ohus jede Veranlassung; Pat. war etwas über 181, Jahre alt. Sie wurde heiterer, als sie es in früheren Tagen gewesen war, sprach und lachte viel, sang oft, konnte abends nicht einschlafen. Doch hob sich die heitere Ver- stimmung nicht so sehr von ihrer normalen Stimmungelage ab, dass der Zustand ihren Eltern krankhaft erschienen wäre. Pat. besorgte regelmässig alle ihre Arbeiten, war fleissig und ordentlich. Sie gibt an, es wären ihr

35°

508 = Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen

viele Gedanken durch den Kopf gegangen, sie hätte gerne alles haben wollen. In diesem Zustand machte sie viele unnütze Einkäufe, kaufte Blumenbuketts, Spielsachen, und verschenkte dieselben, ohne selbst vorher damit gespielt zu haben; sie bekam die Sachen auf Borg, da sie bei den Kaufleuten bekannt war. Zu Haus erzählte sie, sie hätte dies alles geschenkt bekommer, und erat nachdem sie öfters ermahnt und schliesslich geprügelt worden war, ge- stand sie den Sachverhalt ein. Sie weinte, solange sie die Prügel bekam, war aber hinterher sofort wieder lustig; zar Mutter, die sie geprügelt hatte, war sie unmittelbar nachher zärtlich und zutanlich, als ob nichts gewesen wäre. Im Augenblick der Strafe nahm sie sich dieselbe sehr zu Herzen, allein sie vergass die Züchtigung sehr schnell; sowie sie auf die Strasse kam, machte sie wieder Einkäufe, bald kleinere, bald grössere, bis zu einem Be- trage von 25 Mark. Als man ihr mit Prügeln drohte, wurde Pat. heftig und drohte ihrerseits sich das Leben zu nehmen, wenn sie wieder geschlagen wärde. Ob sich dieser Zustand plötzlich oder nach einem Prodromalstadium entwickelt hatte, konnte anamnestisch nicht mit absoluter Sicherheit fest- estellt werden, ebensowenig, ob dieser Zustand bis zam Eintritt der ersten enses anhielt, oder ob er schon vorber unterbrochen wurde.

Bis zur Aufnahme, die am 29. I. 1906 erfolgte, bot das psychische Verhalten der Pat. während der Menses eine grosse Regelmässigkeit. 8 Tage vor Beginn jeder Menstruation stellte sich die abnorme Heiterkeit ein; der Beginn war ganz brüsk, ein Vorstadiam fehlte. Als erstes Symptom stellten sich Stiche ın den Schläfen ein; Pat. wurde dabei erregt und bemerkte selbst, dass ein neuer Anfall begann. Das klinische Bild entsprach einer sehr leichten Hypomanie. Pat. war nie ausgelassen heiter. Das Krankhafte der Stimmungslage war erst ersichtlich, wenn man das Verhalten der Pat. in den ruhigen Tagen ihrer Stimmangslage zur prämenstrualen Zeit und zur Zeit der Menses gegenüberstellte. Sie sprach viel, lachte gerne, konnte in der Nacht nicht schlafen; zuweilen traten leichte Fluxionen auf. Sie be- sorgte aber auch zu der Zeit der Menses ihre gewöhnlichen Arbeiten. Trieb sich nicht herum; keine Exzesse, keine erotischen Züge; der Geschlechtstrieb war bei Pat. noch nicht erwacht. Keine räsonnierenden Züge. Halluzinationen und Wahnvorstellungen traten nie auf. Dooh war Pat. während des Anfalls jrosstuerisch, prahblte, dass: sie billig einkaufen könne; aber nach 8—14 Tagen

amen dann immer die Rechnungen über den Mehrbetrag. Ausserdem kaufte Pat. immer wieder unnütze Sachen ein (Blumen, Spielereien, kein Naschwerk), so dass man. sie nicht mehr ohne Aufsicht auf die Strasse gehen lassen konnte. Dieser 'Zustand hörte jedesmal haarscharf mit dem Aussetzen der Menses auf. Eine depressive Phase achloss sich zunächst daran nicht an, doch fiel es der Mutter auf, dass Pat. nach den Menses „ein paar Tage noch so scheu von der Seite guckte“. Sie blieb dann bis 8 Tage vor der nächsten Menstruation in ihrer normalen Stimmungslage; dass Pat. reizbarer oder launenhaft geworden wäre, hatte die Mutter nicht bemerkt. Während der heiteren Erregung hatte Pat. keine Krankheitseinsicht, in der Zwischenzeit war ibr das Krankhafte des Zustandes bewusst. Diese Anfälle heiterer Ver- stimmung wiederholten sich vor der Aufnahme ca. 12mal, durch ein ganzes Jahı. Alle Anfälle waren einander gleich, „von photographischer Treue“. Die heitere Phase setzte immer im Intermenstruum ein und hörte mit. dem Aussetzen der Menses auf. Ohne pathologische Erscheinungen verlief keine Periode

Die letzte Menstruation vor der Aufnahme hatte vom 5.—16. 1. 1906 gedauert. Die heitere Verstimmung hatte schon am 80. XII. 1905 eingesetzt und hatte genau mit dem Ausbleiben der Menses am 16. I. ausgesetzt. Pat. bot dann durch einige Tage ein normales Verhalten; aber allmählich setzte nun eine Depression mit leichter Beängstigung ein, die bis zum Eintreten der vächsten Menses anhielt. Pat. war gedrückt, sprach wenig, besorgte aber noch ihre Arbeiten; wollte nicht allein zu Haus bleiben, hatte Angst, es könnte jemand kommen, Sie lokalisierte die Angst nicht. In diesem Zu- stand wurde Pat. am 29. I. eingeliefert.

Die nächsten Menses dauerten vom 81. I. bis 11. II. an. Mit dem Eintreten der Menses wich die Depression allmählich der heiteren Ver-

bei affektiren Psychosen. 509

stimmung. Die Stimmnng schwankte den ganzen Tag zwischen der Depression nnd der Hyperthymie hin und her; abends war Pat. entschieden heiter; der Stimmungsumschlag dauerte also einen Tag. Während bisher der Beginn der heiteren Verstimmung prämenstraal erfolgte, setzte diesmal die heitere Erregung mit dam Eintritt der Menses ein. Pat. blieb während der ganzen Menstruation bis sum 11. Il. heiter erregt; sie bot, wie nach der Anamnese nicht anders zu erwarten war, das Bild einer ganz leichten heiteren Erregung. Sie lachte viel, sprach viel mit den anderen Patienten; zeigte ein etwas schnippisches Wesen; den Ärzten gab sie oft kurze, zum Teil abweisende Antworten. Sie beschäftigte sich fleissig mit Handarbeiten; war willig und

egenüber den anderen Kranken zavorkommend. Zornaffekte traten nie auf; dagegen trat gar nicht so selten ganz motivlos eine vorübergehonde Depression ohna Angst auf, durch einige Stunden. In dieser heiteren Phase wurden die ersten Kurven bei Pat. aufgenommen. Am 12. Il, dem ersten Tage nach dem Ausbleiben der Menses, war Pat. deprimiert, wortkarg; sie äusserte selbst, sie wäre so schwermütig geworden, ım Kopf sei es so sonderbar, sie vergesse alles. Angstaffekte bestanden nicht; sie traten überhaupt in der Folge nie auf. Die Depression dauerte noch den nächsten Tag an, und nun finden wir bis zur nächsten Menstruation kein gesetzmässiges Verhalten mehr. Es wechseln einige Tage abnorm heiterer Verstimmung mit Tagen, in denen die Stimmung gleichmässig oder deprimiert war, ab.

Die nächsten Menses traten am 2. Ill. ein und dauerten bis zum 13, IHI. Zwei Tage vor dem Eintritt der Menses, also am 28. II. und 1. IIE, bestand eine leichte Depression; am 2. Ill. mit dem Eintritt der Menses schwankte die Stimmung zwischen Depression und Exaltation hin und her; vom 3. lII. bis 18. IIL, also während der Menstruation, hielt die heitere Verstimmung an. Mit dem Aufhören der Menses verschwand die Hyperthymie; eine Depression, ein Nachstadiam trut aber nicht auf, sondern zunächst bestand durch 5 Tage eine gleichmässige Stimmungslage. In dem Zeitraum bis zur nächsten Menstruation bot Pat. dasselbe wechselnde Bild wie in dem vor- hergegangenen: Intermenstraalabschnitt. Es wechselten Serien von Tagen mit - depressiver Verstimmung mit mehr gleichmässigen Tagen und mit Tagen, in denen Pat. abnorm heiter war, ganz regellos ab.

Die folgenden Menses setzten am 1. IV. ein und hielten bis zum 4. an. Während Pat. bisher exspektativ (mit Eisenarsenpillen) behandelt worden war, wurde jetzt, um die Menses abzukürzen, Bettruhe verordnet, und Pat. bekam während der Dauer der Menstruation mal täglich 15 Tropfen von

Tet. secalis cornuti

Aq. Cinnamomi as. Tatsächlich dauerten die Menses diesmal auch bloss 4 Tage. Am Tage vor dem Eintritt der Menses war Pat. gleichmässig gestimmt, mit dem Eintritt der Menses trat die heitere Verstimmung ein. Diese überdauerte aber diesmal die Menstruation, indem sie bis zum 7. IV. anhielt. Darauf folgte durch 4 Tage eine mehr gleichmässige Stimmungslage, worauf sich das regellose Spiel der heiteren, gleichmässigen und depressiven Tage wie im vorigen In- termenstrualabschnitte wiederholte.

Auch während der uächsten Menses vom 27. IV.—80. IV. wurde die- selbe Behandlung eingeleitet. Die Gesetzmässigkeit schwindet immer mehr und mehr. Pat. war schon 2 Tage vor dem Eintritt der Menses in gleich- mässiger Stimmung; diese Stimmungslage blieb auch während der 2 ersten Tage der Menstruation bestehen, am 3. lage war Pat. deprimiert, am letzten Tage wieder gleichmässig gestimmt und blieb es auch die nächsten 9 Tage. Es tritt also währond dieser Menstruation eine heitere Verstimmung über- haupt nicht auf. Das Bild wurde dadurch noch verwaschener, dass die Intensität der Verstimmung im weiteren Verlaufe allmäblich geringer wurde, Während des ganzen Monats April konnten aus äusseren Gründen keine Kurven aufgenommen werden. Kurven aus der Zeit, in der Pat. Ergotin bekam, habe ich daher nicht. Am 11. V. wurde Pat. entlassen.

Auch nach der Entlassung wurden bei der Pat. Kurven aufgenommen. Der unregelmässige Wechsel von Tagen heiterer Verstimmung mit Tagen depressiver Verstimmung dauerte an. Ich konnte noch die Menstruation

510 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen

vom 24. V.—1. VI. verfolgen. Pat. war sohon 4 Tage vor Beginn der Menses deprimiert gewesen, die Depression hielt während der 2 ersten Tage der Periode noch an; Put. war dann 8 Tage hindurch in gleichhmüssiger Stimmung, erst in den 2 letzten Tagen der Menstruation trat die heitere Verstimmun ein, die dann die Menses um 4 Tage überdauerte. Darauf war Pat. darc 8 Tage in mehr gleichmässiger Stimmung. Ich habe die Pat. bis zum 18. VI. verfolgen können, dann blieb sie aus. Schüle hat vor Jahren einen Fall von zirkulärem Irresein veröffentlicht, in welchem die ersten 14 Tage des Intermepstruums der manischen Phase angehörten, die zweiten der melan- cholischen; im Beginn war dieser Typus rein, in der Folge dauerte aber jede Phase bloss einige Tage. Schüle konstatierte nun, dass die Perioden mathematisch addiert stets die Hälfte eines nahezu 4wöchigen Typus aus- machten. Ich habe sine solche Berechnung auch für unsere Pat. versucht, aber dabei ziemlich ungleichmässige Zahlen bekommen. Ich rechne dabei jeden Abschnitt vom Beginn der einen bis zum Beginn der nächsten Men- struation. Es würde dann die Berechnung bei den einzeluon Menstrual- abschnitten folgende Zahlen ergeben: Erster Abschnitt vom 31. I.—2. III, in 10 Tagen Depression, in 18 Tagen Exaltation, in 7 Tagen gleichmässige Stimmung, zusammen 80 Tage. Zweiter Abschnitt vom 2. III.—1. IV., in 2 Tagen Depression, in 18 Tagen Exaltation, in 9 Tagen gleichmässige Stimmung, zusammen 29 Tage. Dritter Abschnitt vom 1. 1V.—27. IV. in 8 Tagen Depression, in 14 Exaltion, in 9 gleichmässige Stimmung, zusammen 26 Tage. Vierter Abschnitt vom 27 IV. 4. V., 4mal Nepression, 2 mal Exaltation, 22 mal gleichmässige Stimmung, zusammen 28 Fage. Der nächste Abscbnitt ist unvollständig, er reieht vom 1.—18. V1., wir hätten in 5 Tagen Exaltation, in 8 gleichmässige Stimmung, keine De- pression. Jene Tage, in denen die Stimmung schwankend war, habe ich, je nach dem Verhalten, das Pat. beim Aufnehmen der Kurve darbot, zu den exaltierten oder depressiven gerechnet. Ferner muss noch das Verhalten der Pat. in den gleichmässigen Tagen besprochen werden. Pat. war in diesen Tagen äusserst empfindlich und launenhaft, von ausserordentlicher Affekt- labilität. Ein Wort, eine auftauchende Erinnerung genügte, um eine ganz - erhebliche Stimmungsschwankung hervorzurufen, welche aber bald vorüber- ging. Da Pat. vor der Erkrankung dieses Verhalten nicht geboten hatte, möchten wir annehmen, dass es sich um eine Folge der Erkrankung handelt, die Iutervalle sind also nicht rein. Eine Abnahme der Intelligenz konnte bei der Pat. nicht nachgewiesen werden.

Vom körperlichen Befund wäre zu erwähnen, dass es sich um ein mittelkräftiges Mädchen handelt, bei dem die Veränderungen, welche die Pubertät mit sich bringt, noch nicht vollkommen ausgebildet sind. Der Herzspitzenstoss ist fast noch in der Mammillarlinie fühlbar im Bereich des 5. Intercostalraumes, verbreitert, leicht hebend. Die Herzdämpfung reicht nach links etwas über die Mammillarlinie hinaus, nach oben bis zur 4. Rippe, nach rechts bis zum linken Sternalrand. Ueber der Herzspitze hört man ein blasendes systolisches Geräusch; der2. Pulmonalton ist nicht deutlich accentuiert. Kräftige, reguläre Herzaktion. Eine Abnahme der Pulsfrequenz in den Tagen depressiver Verstimmung gegenüber den Tagen heiterer Stimmung konnte nicht sicher nachgewiesen werden.

Es bestand Ungleichheit der Pupillen, nnd zwar war die linke weiter als die rechte. Ob diesa Differenz seit jeher bestand, wusste Patientin nicht anzugeben. Eine Refraktionsanomalie, welche zur Erklärung der Pupillen- differenz hätte herangezogen werden können, bestand nicht. Bei engen Pupillen war die Differenz kaum sichtbar; bei schwacher Beleuchtung er- weiterten sich zwar beide Pupillen, doch wurde die linke deutlich weiter, etwa um 1!/, weiter als die rechte. Eine Abhängigkeit der Anisokorie von der Stimmungslage bestand nicht. Die Pupillurresktionen waren intakt, ebenso die Sehnenphänomene. Druckpunkte waren nicht nachzuweisen, die Sensibilität bot normales Verhalten. Eine Komplikation mit Neurasthenie oder Hysterie lag nicht vor. Das vasomotorische Nachröten der Haut bot keine Konstanten Abweichungen je nach der Stimmungsiage. Das Körper- gewicht betrug bei der Aufnahme 47 kg; in den ersten 14 Tagen sank es

bei affektiven Psyohosen. 511

auf 46. Patientin ass nämlich wenig, da ihr die Kost nicht schmeckte, Sie gewöhnte sich aber bald daran; Mitte März betrug das Gewicht wieder 47kg, blieb durch einige Wochen konstant. Mitte April war es auf 48 gestiegen,. wohl entsprechend dem normalen Wachstum zur Zeit der Pubertät. Die Wägangen wareu alle 2 Wochen vorgenommen worden. Bei der Entlassung wog Pat. 48 kg. i

Auffällig bleibt in diesem Falle das Fehlen irgend eines ätiologischen Momentes. Das frühe Auftreten der Erkrankung ohne Gelegenheitsveranlassuug, die geringe Intensität der Krankheitssymptome müssten wohl anf ein here- ditäres oder überhaupt endogenes Moment schliessen lassen. Doch konute trotz der genauesten Exploration nichts Bestimmtes nachgewiesen werden. Auch für eine fütale oder infantile Hirnerkrankung konnte kein Anhaltspunkt gewonnen werden, denn aus der Ungleichheit der Pupillea wird man wohl noch nicht berechtigt sein so weitgehende Schlüsse zu ziehen. Vielleicht ist der Herzfehler nicht ohne Atiologische Bedeutung. Es sind schan mehrere Fälle bekannt (Pilcz hat bekauntlich anz speziell darauf hingewiesen), dass serebrale Herde, wie sie z. B. auch darch eine Embolie zustande kommen können, die Ursache einer periodischen Manie abgeben können.

Wir würden diesen Fall als eine periodische Menstrualmanie aaf- fassen, an die sich nach dem 13. oder 14. Anfall eine melancholische Phase angeschlossen hatte. Seit dieser Zeit wechselten Tage heiterer Erregung mit Tagen depressiver Verstimmung und gleichmässigen Tagen ganz regellos mit einander ab, wobei zunächst während der Menstruation immer noch die heitere Erregung dauernd bestand. Aber schliesslich verwischte sich das Bild in doppelter Richtung: einerseits wurde die Ungesetzmässigkeit immer

rösser und grösser, indem auch während der Menses Tage depressiver Stimmung und 1eichmässiger Stimmung auftraten, und andrerseits nahm die Intensität der Stimmungsschwankungen ab.

Ich habe bei dieser Patientin im ganzen 80 Kurven aufgenommen und werde hier 10 besprechen; die anderen würden nur eine Wiederholung des hier Erörterten bringen. Zunächst will ich diejenigen Karven einer Kritik unterziehen, die in den gleichmässigen Tagen aufgenommen wurden, dann die- jenigen, die ia der manischen und zuletzt diejenigen, die in der depressiven

hase gezeichnet wurden.

16. 11. Gleichmässig. P. 78, R. 30. 91), Uhr früh.

Die Atmung ist im allgemeinen regelmässig; die letzten Atemzüge sind sehr tief. In der Volamkurve sind Respirationsschwankungen kaum hier und da angedeutet, am ehesten noch im Beginn. Wir sehen 2 jähe Senkungen mit langen Pulsen, darauf sanftes Steigen mit kürzeren Pulsen, also Auf- merksamkeitsreaktion. Ferner finden wir sanfte Undulstionen. Gegen Ende der Kurve tritt Spannang ein, es sinkt nämlich das Volum mit niedrigen Paulsen, während die Pulslänge gleich bleibt; zuletzt löst sich die Spannung, es steigt das Volum mit hohen Pulsen.

8. V. Gleichmässig. Sollte um 11 Uhr auf die Nasenklinik. Sie gab an, während des Versuches daran gedacht zu haben, dass ihr da vielleicht Polypen ausgeschnitten würden; hatte Angst davor. P.66, R.20. 3:/, Uhr früh.

Die Atmung ist regelmässig. Zwischen Exspiration und darauf folgender Inspiration ist eine leichte Atempause. [n der Volumkarve sind die Respirations- schwankungen sehr erheblich. Es kommen 8—4 Pulse auf eine Atmung, die Pulswellen sind verzerrt, kaum erkenntlieh wegen der grossen Volum- schwankungen. [Im Beginn sieht man noch sine jähe Senkung der ganzen Kurve mit folgendem sanften Anstieg. Die Pulse sind niedrig.

1. V. Gleichmässig. Hatte aber während dos Versuches daran gedacht, dass sie heute zum zweiten Male behufs Untersuchung auf die Nasenklinik gehen musste. P. 70, R. 20. 8 Uhr früh,

Die Atmung ist tief, namentlich in der zweiten Hälfte der Kurve. Die Respirsationsschwankungen sind sehr deutlich, und zwar kommen 8—4 Pulse auf eine Atmung. Die Pulswellen im aufsteigenden Schenkel sind länger als die im absteigenden. Ausserdem bestehen sanfte Undnlationen. Jähe Senkungen fehlen. Das leichte Sinken der Kurve im letzten Drittel ist wahrscheinlich

512 Saiz, Einige plethysmographiséhe Untersuchungen

auf die abnorm tiefe Atmung zurückzulühren. Das Auftreten der Respirations- schwankungen ist nicht durch die Höhe der Pulswellen bedingt, denn wir finden bei derselben Pulshöhe am 28. III. keine Respirationsschwankungen. Dass auch nicht die tiefen Atemzüge unmittelbar die Respirationsschwankungen bedingen, geht auch aus der Kurve 28. III. hervor, in der die genannten Schwankungen trotz sthr tiefer Atemzüge fehlen. -

11. V. Gleichmässig. Pat. gab an, beim Beginn des Versuches an die bevorstehende Entlassung gedacht zu haben. P. 88, R. 20. 8 Uhr früh.

Atmung etwas ungleichmässig. Die Volumkarve zeigt in der ersten Hälfte starke Respirstionsschwankangen, auf jede Atmung kommen 4 Polse. In der Mitte sind die Atemzüge oberflächlich, daher auch die Respirations- schwankungen weniger deutlich. Gegen Ende der Kurve werden diese Schwankungen ganz undeutlich. Ausserdem bestehen sanfte Undulationen und im Beginne eine jähe Senkung. Wenn man die erste Hälfte der Kurve mit der zweiten vergleicht, so fällt sofort das verschiedene Verhalten der Respirationsschwankungen in die Augen; in der zweiten Hälfte sind sie ver- waschen, dagegen treten die sanften Undulationen stärker hervor. Es besteht in den gleichmässigen Tagen bei Pat. keine konstante Stimmungslage, es be- steht nicht das stabile Gleichgewicht des Gemütes, sondern das schwankende launische Wesen der Pat. spiegelt sich in der Kurve wieder. Mau müsste nach jeder Kurve von der Pat. genauen Aufschluss erhalten über ihre psychische Tätigkeit während des Versuches. Aber leider fehlt den Patienten die Selbst- beobachtung; wenn man sie nachträglich fragt, können sie oft. beim besten Willen keine Auskunft geben, an was sie gedacht haben.

Wenn ich alle Kurven überblicke, die ich bei dieser Pat. an den gleich- mässigen Tagen erzielt babe, so muss ich dss Gesamtresultat dahin zusammen- fassen, dass das Fehlen der Respirationsschwankungen als Regel zu betrachten ist. Treten an den Tagen, an denen die Stimmung eine gleichmässige zu sein schien, Respirationsschwankungen auf, so gab Pat. fast immer nachträglich an, dass sie an irgend ein gefühlsbetontes Ereignis gedacht hatte; es gehen von den Gefühlen, die den Empfindungen und Vorstellungen zugeteilt sind, Affekte aus, und in der Kurve sind die körperlichen Aeusserungen derselben su finden. Ich habe hier dafür 8 Beispiele angeführt. Sanfte Undulationen oder jähe Senkungen sind in jeder in den gleichmässigen Tagen aufgenommenen Kurve dieser Pat. zu finden, unabhängig davon, ob die Respirationsschwankungen auftreten oder nicht. Hänfig erhielt ich Kurven, welche ein Zerrbild dar- boten, ähnlich wie am 11. V. Pat. wusste dann sehr oft nicht anzugeben, ob sie an irgend etwas gedacht hatte. Das beweist natürlich noch nichts gegen das Vorhandensein eines. psychischen Prozesses, der jedenfalls nicht so stark gefühlsbetont war, dass er sich der Pat. eingeprägt hätte. Ich muss beim Durchseben der Kurven staunen, mit welcher Leichtigkeit vorübergehende Affekte un diesen gleichmässigen Tagen sich in den Kurven dieser Pat. durch das Auftreten der Respirationsschwankungen. ausprägen. Es spielt hier offen- bar die gesteigerte Affektlabilität mit.

28. III. Leicht hypomanisch. P. 72, R. 25, 81/, früh.

Die Atmung ist abhorm tief und regelmässig. In der Volumkurve sind die Respirstionsschwankungen kaum hie und da angedeutet. Wir finden 2 jähe Senkungen und in den Intervallen sanfte Undufationen.

10. V. Leicht hypomanisch. Ich habe zwei Kurven hintereinander aufgenommen und möchte beide hier besprechen. P. 80, R. 84, 12 Uhr. In der ersten Kurve ist die Atmung oberflächlich, ungleichmässig und stark beschleanigt. Die Volumkurve zeigt sanfte Undulationen, keine jäben Senkungen. Respirationsschwankungen können in einer solchen Kurve kaum zustande kommen, weil auf jede Atmung ungefähr 2 Pulse kommen. Trotzdem sind im Beginn der Kurve die Respirationsschwankungen angedeutet, wir sehen abwechselnd einen hohen und einen niedrigen Puls.

Die zweite Kurve wurde gleich hinterher aufgenommen. P. 82, R. 22, 121/, Uhr. Leicht hypomanisch. Die Atmung ist tiefer und langsamer. In der Volumkurve sieht man deutliche Respiratioosschwankungen, hauptsächlich in der ersten Hälfte. Auf jede Atmung entfallen 4 Pulse; die Wellen im auf-

bei affektiven Psychosen. 513

steigenden Sch enkel sind länger als die im absteigenden. Ausserdem sieht man sehr sanfte Undulationen, keine jähen Senkungen. Das verschiedene Verhalten der beiden hintereinander aufgenommenen Kurven glaube ich auf die abnorme Beschleunigung der Atmung in der ersten Kurve zurückführen zu können, welche das Auftreten der Respirationsschwankungen erschwert. In der zweiten Kurve kavon die Atmung als normal angesehen werden.

Fasse ich alle Kurven zusammen, die ich bei dieser Pat. in der manischen Phase gewonnen habe (wobei zu berücksichtigen ist, dass die Er- regung eine leichte war), so bieten die meisten ein Bild dar, das der Kurve 38/IIl. entspricht. Es treten nämlich gewöhnlich die Respirationsschwankungen sehr undeutlich auf, selten fehlen sie ganz. Die sanften Undulationen und die jähen Senkungen sind gewöhnlich deutlich ausgeprägt. Dies entspricht dem Verhalten der Kurve jedes normalen Menschen, und wir können darin nichts Charakteristisches für die abnorme Verstimmung der Pat. sehen. Manchmal treten aber die Respirationsschwankungen deutlicher auf, wie am 10. V. Es ist mir aufgefallen, dass die Respirationsschwankungen haupt- sächlich an jenen Tagen in der Kurve boi heiterer Verstimmung deutlicher zutage traten, an denen die hypomanische Verstimmung einsetzte, während sie in den nächsten Tagen, auch wenn die hypomanische Erregung auf der- selben Höhe blieb, nicht mehr so deutlich waren. Dies würde auch den Widerspruch erklären, dass in den gleichmässigen Tagen vorübergehende Verstimmungen einen so grossen Einfluss auf die Kurve haben können und ohne weiteres das Auftreten von Respirationsschwankungen bedingen, während die leichtere hypomanischa Erregung sich sehr oft bei dieser Pat. in der Kurve überhaupt nicht verrät. Es scheint eben für den Eintritt der Ver- änderungen im Piethysmogramm der Moment des Einsetzens der Verstimmung von grosser Bedeutung zu sein. Wenn die Verstimmung längere Zeitsbe- steht, so gleichen sich die Veränderungen aus, namentlich wenn der Grad_ der Verstimmung ein leichter ist.

12. II. Aussetzen der Menses. Depression ohne Angst. P. 72, R. 19, 8 Uhr.

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Die Atmung ist flach, ungleichmässig. In der Volumkurve sindfdie Respirationsschwankungen sehr stark. Auf jede Atmung entfallen 4 Pulse. Das Sinken entspricht der Inspiration; die längeren Pulse sind im aufsteigenden Schenkel. Ausserden sanfte Undulationen, keine jähen Senkungen.

28. II. Depression ohne Angst. P. 92, R. 20, 8 früh. Die Atmungs-

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514 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen

schwankungeu sind sehr undeutlich; sehr deutlieh sind die steilen Senkungen mit langen Pulsen.

21. II. Depression ohne Angst. P. 90, R. 82, 12 Uhr. Die Atmung ist oberflächlich, ungleiehmässig und beschleunigt. Respirstionsschwankungen fehlen. Doch müssen wir bedenken, dass die Atmang sehr oberflächlich und beschleunigt ist, so dass die Respirstionsschwankungen schon deswegen kaum zum Ausdruck kommen können. Wir sehen sanfte Undulstionen und 2 etwas steilere Senkungen; an diesen Stellen sind die Pulse etwas länger. Die Atmung ist in den verschiedenen Kurven dieser Patienten verschieden tief, und doch sehen wir, dass bei der tiefsten Atmung die Kurve oft kaum Respi- rationsschwankungen zeigt, während die stärksten Respirationsschwankungen oft genug in Kurven auftreten, in denen die Atmang flach ist. Andererseits werden natürlich die Respirationsschwaukungen um so deutlicher, je tiefer die Atmung ist, wenn die Bedingungen zum Entstehen der Atmungsschwankungen gegeben sind.

Die Kurven der depressiven Phase zeigen bei dieser Patientin in über- wiegender Zahl deutliches Hervortreten der Respirationsschwankungen. Am schönsten kommen sie mit dem Aussetzen der Menses in der Kurve 12/Il. zum Ausdruck; es war dies der Tag, an dem der Stimmungsumachlag er- folgte. Leider war dann in der Folge der Stimmungsumschlag nie wieder ein so markanter, indem das Bild sich verwischte und in regelloser Folge heitere mit gleichmässigen und traurigen Tagen abwechselten und auch die Intensität des Stimmungsauschlages geringer wurde. Trotz der Reapi- rationsschwankungen sah ich in den Kurven während der melancholischen Phase die sanften Undulationen, ja auch die jähen Senkungen deutlich her- vortreten. In einigen Kurven der depressiven Phase fehlten die Respirations- schwankungen fast vollständig, ohne dass man immer dieses Verhalten durch die im Verhältnis zur Pulszahl stark beschleunigte und flache Atmung hätte erklären können. Ein Niedrigerwerden der Pulse in der depressiven Phase konnte ich nicht finden.

Schluss. Überblicken wir alle bei dieser Patientin gewonnenen Kurven, so würden wir sagen: Sowohl in den gleichmässigen Tagen wie in der manischen und in der melancholischen Phase werden Kurven erzielt, die im Sinne Lehmanns als normal zu bezeichnen sind, d.h. es fehlten die Respirations- schwankungen, während die sanften Undulstionen oder jähe Schwankungen mehr oder minder deutlich auftraten. Andererseits findet man sowohl in den gleichmässigen Tagen wie in der manischen und melancholischen Phase die Kespirationsschwan ungen oft. Am konstuntesten war dieses Verhalten in der melancholischen Phase, und zwar waren die Respirationsschwankuugen am denutlichsten an jenem Tage, an welchem haarschart der Stimmungs- umachlag erfolgte. Weniger konstant war deren Verhalten in der manischen Phase; dabei fiel es mir auf, dass das Auftreten der Atmungsschwankungen nicht so sehr an die Stärke der heiteren Erregung bei dieser Patientin ge- bunden war, dass vielmehr diese Schwankungen gewöhnlich an denjenigen Tagen am deutlichsten waren, in denen sich die heitere Erregung von der Depression oder dem gleichmässigen Zustand des vorhergebenden Tages ab- hob; dauerte die heitere Erregung mehrere Tage, so waren in den nächsten Tagen die Respirationssch wankungen undeutlich oder ganz verschwunden. Jedoch konnte auch hier von einer absoluten Gesetzmässigkeit nicht die Rede sein. Wenn in den gleichmässigen Tagen die Respirationsschwankungen auftraten, so konnte man gewöhnlich eine stärkere gefühlsbetonte Vorstellung dafür verantwortlich machen, welche während der Versuche die Aufmerksamkeit der Patientin erregt hatte. Dabei war die Qualität der Gefühlsbetonung in- sofern nicht ganz gleichgültig, als Unlustaffekte eher Respirationsschwankungen hervorzurufen schienen als Lustaffekte. Damit würde es auch übereinstimmen, dass in der depressiven Phase dieser Patientin die Respirationsschwankungen viel häufiger auftraten als in der heiteren Phase. Ob dies Verhalten all- gemein ist, oder ob speziell bloss bei unserer Patientin die Unlustaffekte eher Respirationsschwankungen hervorrufen als die Lustaffekte, vermag ich nicht zu entscheiden.

bei affektiven Psychosen. 615

Das sphygmographische Pulsbild kann als normal bezeichnet werden. Den beschriebenen Veränderungen des Plethysmogramms gingen keine ent- sprechenden Veränderungen des sphygmographischen Pulsbildes parallel. Der

KRRRRNEENRANMINNN

Sphygmograph ist ein viel unempfindlicherer Apparat als der Plethysmograph, und ich habe fast durchgehends ohne Rücksicht auf die jeweilige Štimmange. dage der Patientin ähnliche Pulsbiider bekommen. | Kehren wir zu dem Ausgangspunkte unserer Betrachtungen zurück und versuchen wir, nachdem wir das Material übersehen haben, die gewonnenen Erfahrungen mit den Lehren von Lehmann und von Wundt in Einklang zu bringen, so sehen wir, dass weder die Angaben des einen noch die des anderen Autors den Tat- sachen, sofern es sich um pathologische Stimmungslagen handelt, gerecht werden. Nach Lehmann sollten wir bei allen Depressions- zuständen und ausschliesslich bei Depressionszuständen die Respi- rationswellen finden. Sofern es sich um pathologische Depressions- zustände handelt, würden wir auf Grund unserer Untersuchungen behaupten, dass die Respirationswellen nicht immer die Depressions- zustände begleiten, und dass sie andererseits auch bei exaltierter Stimmungslage vorkommen können. Als Beleg für die erste Be- hauptung verweise ich u. a. auf die Kurven 15/V und 26/V der Pat. Lu., sowie auf die Kurven 21/ll und 28/1I der Pat. H. Als Beleg für die zweite Behauptung führe ich die Kurven der Pat. B. und Le., sowie die Kurve 10/V der Pat. H. an. Wohl scheinen die Untersuchungen bei Pat. H. darzutun, dasg die Respirations- schwankungen bei den Unlustaffekten eher zustande kommen als bei den Lustaffekten. Lehmann hat, nebenbei gesagt, eine Theorie für das Zustandekommen der Respirationsschwankungen aufgestellt, welche sich mit der Annahme, dass diese Schwankungen aus- schliesslich und immer die Depressionszustände begleiten, nicht vereinbaren lässt. Er nimmt an, dass die Atmungsschwankungen dann entstehen, wenn der Blutdruck bedeutend über der Norm oder wenn er erheblich unter der Norm ist; die Respirations- schwankungen sollen davon herrühren, dass die Gefässe, wenn der Blutdruck stark von der Norm abweicht, nicht ımstande sind, die kleinen von der Atmung verursachten Aenderungen zu kom- pensieren. Sind aber Aenderungen des Blutdruckes an und für sich imstande, Respirationsschwankungen zu erzeugen, so ist nicht einzusehen, weshalb sie nur bei Depressionszuständen vorkommen sollen, und weshalb sie immer die Depressionszustände begleiten sollen. Wir können also nicht behaupten, dass die Veränderungen in der pletıysmographischen Kurve je nach der Qualität der patho- logischen Stimmungslage verschieden wären, dass bestimmte Ver- änderungen den Kurven der manischen Phase und bestimmte Veränderungen den Kurven der depressiven Phase entsprechen

016 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen

würden, so dass man etwa aus dem Kurvenbild die Stimmungs- lage ablesen könnte. Ein solches Verhalten liegt sicher nicht vor,

Aber auch die Lehren Wundts erklären unsere Befunde nicht. Wir hätten bei der hypomanischen Erregung der Pat. Le., die sicherlich einer sthenischen Affektlage entsprach, ein voll- ständiges Verschwinden der Respirationsschwankungen erwarten sollen; dasselbe gilt für die Pat. B. Umgekehrt hätten wir bei der Depression ohne Angst der Pat. Lu. (15/V und 26/V), die zweifellos einer asthenischen Affektlage entsprach, ein starkes Hervortreten der Respirationsschwankungen erwartet. Bekanntlich zeigen die Kurven Ins gerade entgegengesetzte Verhalten. Es reichen also auch die Lehren Wundts zur Erklärung der Befunde bei pathologischen Verstimmungen nicht aus.

So einfach nun der Nachweis ist, dass die Lehren dieser Autoren auf pathologische Stimmungslagen nicht übertragbar sind, so schwer ist es, eine Erklärung der so komplizierten und viel- deutigeu Befunde zu geben. Mein Material ist zu klein und die Verhältnisse zu verwickelt, um auf Grund meiner Untersuchungen eine allgemein gültige Erklärung der Befunde geben zu können. Es sei mir gestattet, eine Deutung der Befunde zu versuchen, welche den durch meine Untersuchungen zutage geförderten Tat- sachen wenigstens einigermassen gerecht wird.

In der normalen Kurve eines in affektivem Gleichgewichte befindlichen Menschen ist charakteristisch, dass Respirations- schwankungen fehlen oder wenigstens nur schwach ausgeprägt sind, während sanfte Undulationen oder jähe Senkungen in jeder Kurve vorhanden sind. Tritt nun ein Affekt von bestimmter Stärke auf, so gibt er sich in der Kurve durch das Auftreten der Respirations- schwankungen kund, und zwar sowohl Unlust- als Lustaffekte, nur mit dem Unterschiede, dass die Respirationsoscillationen bei dem Unlustaffekten eher zustande kommen. Mit dem Verschwinden des Affektes, der stark gefühlsbetonten Vorstellung, verschwinden auch die Respirationsschwankungen in der normalen Kurve. Ber einer ganz leichten Hypomanie oder bei einer leichteren Depression ohne Angst findet man die Respirationsschwankungen am häufigsten in den ersten Tagen, wenn die pathologische Verstimmung einsetzt; im weiteren Verlaufe verwischt sich das Bild immer mehr und mehr, und die Respirationsschwankungen werden undeutlich oder verschwinden ganz. Wir bekommen Kurven mit sanften Undulationen- oder jähen Senkungen, also Kurven, welche als normal zu be- zeichnen sind (Kurven der Pat. K. und der Pat. Lu., 15/V und 26/V). Bei stärkerer hypomanischer Erregung sowie bei tiefer gehender Depression mit Angst treten die Respirationsschwankungen fast stets auf (Kurven der Pat. Le, B., Sch. und der Pat. Lu., 11/V]). Ob dabei die Volumkurve im ganzen mehr gleichmässig verläuft: oder ob stärkere Undulationen auftreten, hängt von den individuellen Verhältnissen ab. Die Stärke des Affektes, welche notwendig ist,. um die Respirationsschwankungen durch längere Zeit in der Kurve-

bei affektiven Psychosen. 517

zu erhalten, ist natürlich nicht als eine konstante Grösse zu denken, sondern sie schwankt je nach der Individualität und auch bei demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten innerhalb gewisser Grenzen.

Man könnte gegen diese Auseinandersetzungen einwenden, dass eine absolute Gesetzmässigkeit nicht besteht, dass Ausnahmen vorkommen, und andererseits, dass ein Parallelismus zwischen der Stärke der Respirationsschwankungen und der Intensität der Ver- stimmung nicht besteht. Man muss aber erwägen, dass die Ver- hältnisse sehr komplizierte sind, und dass eine absolute Gesetz- mässigkeit daher auch nicht zu erwarten ist. Es ist möglich, ja vielleicht wahrscheinlich, dass (ubgesehen von den schon bekannten) andere physiologische Momente, die bisher noch nicht ergründet sind, neben den psychischen Momenten die Respirationsschwankungen hervorrufen können. Es wäre möglich, dass, wie Lehmann an- nimmt, Veränderungen des Blutdruckes imstande wären, Respi- rationsschwankungen zu erzeugen, welche sich den durch die Affektlage als solche hervorgerufenen Aenderungen supraponieren und so die Ungesetzmässigkeit und den mangelnden Parallelismus zwischen Stärke der Respirationsschwankungen und Intensität der Affekte erklären. Ziehen hat ein ähnliches Verhalten bezüglich des sphygmographischen Pulsbildes nachweisen können, indem den erregenden Affekten, gleichgültig welcher Qualität sie waren, ganz bestimmte, und zwar dieselben Veränderungen des Pulsbildes entsprachen; ausserdem kann aber der betreffende Affekt von Ver- änderungen des Blutdruckes begleitet sein, und die durch die Veränderung der Gefässspannung hervorgerufene Aenderung des Pulsbildes kann sich der durch die Affekte hervorgerufenen supra- ponieren. Ferner erwähnt Ziehen, dass bei manchen Personen, wohl infolge einer individuellen Stumpfheit des Anspreehens der vasomotorischen und respiratorischen Zentren, auch bei sehr leb- haften Affekten Veränderungen der Respiration und des Pulses ausbleiben können. Auch dies würde manche Ungesetzmässigkeit erklären. Ferner wäre, wie wir schon oben an einem Beispiel gesehen haben (Kurve 10/II der Pat. B.), daran zu denken, dass bei leichter Verstimmung die Konzentration der Aufmerksamkeit vorübergehend die Grundstimmung nicht zum Ausdruck kommen lässt; auch dies ist zur Erklärung der widersprechenden Befunde heranzuziehen. Wir befinden uns jedenfalls auf einem schwanken- den Boden und wollen hier mit den theoretischen Auseinander- setzungen abbrechen.

Ich bin mir bewusst, durch meine Versuche die Frage nicht gelöst zu haben; dazu bedarf es noch weiterer zahlreicher Unter- suchungen. Wenn ich aber damit die Frage auch nur um einen Schritt der Lösung näher gebracht habe, so ist mir das ein reicher Lohn für alle Mühe.

Zum Schluss ist es mir ein Bedürfnis, meinem hochgeschätzten Lehrer und Chef, Herrn Geheimrat Ziehen, für die Anregung und Unterstützung während der ganzen Arbeit sowie für die

518 Lachmund, Ueber einseitigen klonischen Krampf

Ueberlassung des Materials meinen innig gefühlten Dank aus- zusprechen. Literatur.

Alter-Leubus, Verhalten des Blutdrucks bei gewissen psychopathischen Zuständen. Jahrb. f. Psychiatrie. Bd. 25. 1908.

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Greenlees, Observations faites avec le sphygmographe sur quelques aliénés.

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Schäf er, Ein Fall von zirkulärer Geistesstörung. Neur. Centralbl.. 1882.

Schüle, Ueber den Einfluss der sogenannten Menstraalwelle anf den Verlauf psychischer Hirnaffektionen. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 47. 1891.

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Wundt, Grundriss der Psychologie. 7. Aufl. Leipzig 1905.

Derselbe, Grundzüge der hysiologischen Psychologie, Leipzig 1902.

Ziehen, Die physiologisc e Psychologie der Affekte. Neur. Centralbi. 1908. Sitzungsber, S. 1086.

Derselbe, Physiologische Psycholo ie. der Gefühle und Affekte. Verhandl. der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Aerzte. Kassel 1908.

Derselbe, Leitfaden der Ph siologischen Psychologie. 1905.

Derselbe, Psychiatrie. P Rafi 1902.

Derselbe, Sp —— "Untersuchungen an Geisteskranken. Jena 1887,

(Aus der Universitäts-Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenleiden zu Breslau, Prof. Hinsberg.)

Ueber einseitigen klonischen Krampf des weichen Gaumens. Von Dr. H. LACHMUND,

Nervenarzt in Breslau.

Kürzlich hatte ich einen in verschiedener Hinsicht interessanten Fall zu beobachten Gelegenheit, der mir der Aufzeichnung wert erscheint.

Es handelt sich um eine 61 jährige Frau W., die verheiratet, Mutter von vier Kindern ist und immer gesund war. Keine erbliehe Belastung; keine

des weichen "&aumens, 519

Früh- oder Fehlgeburten. Vor ca. 18 Jahren habe sie 8 Tage lang Ohren- laufen auf dem rechten Ohre gehabt. Vor ca. 10 Jahren habe sich einmul 8 Tage lang der Mund mehrmals täglich etwa !/, Stunde lang verzogen; da- bei habe sie die Augen beide gut schliessen, nur nieht so gut sprechen können. Bis März 1906 sei sie dann wieder ganz gesund gewesen; dann habe sie auf beiden Ohren und dem ganzen Kopfe einen trockenen Ausschlag be- kommen, wonach auf den rechten Ohre sich wieder Ohrenlaufen eingestellt habe. Im April habe sie wegen allgemeiner Schwäche und Magenkrampf 14 Tage lang zu Bett gele en und leide seitdem an Schwächegefähl im Kopfe. Seit Mai etwa habe der Mann der Pat. bei ihr öfter Zwinkern und Zucken am rechten Auge and im Gesicht bemerkt; es sei das anfallsweise gekommen, habe mit Zacken am Auge begonnen, dann habe Wange und Mund gezuckt, und dunn sei der Anfall vorüber gewesen; mit der Zeit sei dies Zucken häufiger eingetreten. Ende Juni sei ihrem Mann und Sohn aufgefallen, dass ihr Mund schief würde; ibr selbst sei weder das Zucken im Gesicht noch das Schiefstehen des Mundes recht zam Bewusstsein gekommen.

Am 24. VII. 1906 kam Pat. zur hiesigen Poliklinik. Bei der Unter- ` suchung fand sich im innersten Teile des äusseren rechten Gehörganges ein sich nach dem Mittelohr und dem iuneren Ohre ausdehnendes Cholesteatom; dabei Taubheit auf dem betreffenden Ohre, keine objektiven Schwindel- erscheinungen, subjektiv nur Fehlen des Gefühls der Gegendrehung, wenn man beim Versuch der passiven Zentrifugierung die Drehung der Drehscheibe plötzlich anbielt. Nach Entfernung der Cholestestommasse zeigte sich eine etwa kirsebkerngrosse Knochenhöhle, die sich nach und nach mit Granulationen bedeckte. Bei Entfernung des Cholesteatoms warde im rechten Facialis- gebiete heftiges Zacken bemerkt, das sieh auch bei der Behandlung später stets einstellte (Dr. Engelhardt).

Pat. bietet am 3. VIII. folgenden körperlichen Befund:

Mittelgrosse, hagere, aber verhältnismässig kräftige alte Frau mit mässig anämischeu Schleimhbäuten.

Herz, Lunge ohne Besonderheiten.

Urin: Kein Eiweiss, kein Zucker.

Keine auffallende Arteriosklerose, Blutdruck normal.

Trockenes, schuppiges, in Abheilung begriffenes Ekzem der behaarten Kopfbaut und des Gesichtes.

Leichte Konjanktivitis des rechten Auges.

Hirnnerven:

Pupillen gleich, rand, von prompter Reaktion; Augenbewegungen, Augenhintergrund, Sehschärfe normal.

Geruch beiderseits gleich gut. Leichte Verbiegang des Sept. nas. nach links; beide Tuben frei.

Geschmack auch anf den vordern zwei Dritteln der Zunge rechts wie lioks normal.

Trigeminus in seinen sensiblen und motorischen Aesten frei.

Gehörorgan: Otoskopisch sieht man rechts eine granulierende, ziemlich grosse Höhle an Stelle des innersten äusseren und des mittleren Gehörganges, ziemlich genan einer durch Radikaloperation entstandenen Höhle gleichend. Links: Trommelfell normal. Die Funktionspräfung ergibt: Rechts völlige Taubbeit für Flüstersprache sowie für alle Töne. Links Flüstersprache 4,5 m, dabei Rinne positiv; Schwabach ist verkürzt, Weber wird nach links lateralisiert: die obere Grenze der Tonskals ist etwas eingeengt (Galton 8,0: 0,8), die untere Grenze ist normal.

Gleichgewichtsorgan: Keine subjektiven noch objektiven Störangen des Gleichgewichtes. Nur fehlt subjektiv beim Versuch der passiven Zentri- agierang bei der Drehung nach jeder Richtung das Gefühl der Gegendrehung beim Anhalten der Drehung vollständig.

Fscialis: Rechtsseitige Parese aller Aeste; der Mundast ist mehr aretisch als der Augenast. Der Augenschluss gelingt rechts, wenn auch angsamer als links; dem öffnenden Finger bietet sich rechts bei festem Augenschluss viel weniger Widerstand als links. Die Funktionen des Wangen-

620 Lachmund, Ueber einseitigen klonischen Krampf

und Mundfacialis erweisen sich alle im mittleren Grade gestört. Bei Augen- schluss tritt rechts jedesmal eine ticartige Mitbewegung im Gebiete der übrigen rechten Facialisäste auf. i

In Ruhe sieht man sowohl an der Kinnmuskulatur, wie an der der Wange rechterseits fibrilläres Zittern in wechselnder Stärke. Nach Reizung des Facialis mit dem elektrischen Strome ist es besonders deutlich. Die elektrische Erregbarkeit des N. facialis ist rechts für faradischen, wie gal- vanischen Strom erheblich herabgesetzt. Bei direkter galvanischer Reizung der vom N. facialis versorgten Muskeln finden sich die Anzeichen der partiellen Entartangsresktion.

Der Facislisreflex bei Beklopfen des Stammes bleibt rechts wie links aus,

Gaumensegel: Drückt man die Zunge vorsichtig herunter, so steht bei ruhiger Atmung die untere Begrenzungslinie des rechten hinteren Gaumen- bogens eine Spur tiefer und springt. etwas mehr nach der Mitte zu vor als die linke; diese verläuft deutlich spitzer, der Winkel, den sie mit dem Zäpf- chen bildet, ist spitzer wie der entsprechende rechte. Die vordere Gaumen- bogenlinie steht rechts etwas höher als die linke, diese verläuft nicht so spitz, wie die linke hintere Begrenzungslinie.

Das ganze rechte hintere Gaumenbogengewölbe erscheint rechts deut- lich breiter, sozusagen mehr schlaf hängend, als das linke. Das Zäpfchen ist etwas nach rechts geneigt. Beim Intonieren des „a“ wird der weiche Gaumen gehoben und eine Spur nach links verschoben, um dann sofort nach Aufhören des Intonierens von „a* in seinem rechten Teile eine krampfförmige Hebung in der Richtung von links unten nach rechts oben zu erfahren. Diese Hebung ist streng auf die rechte Seite beschränkt und hat ganz den Charakter der gleich zu beschreibenden clonusartigen Krämpfe der rechten Seite des weichen Gaumens. Man sieht nämlich, wenn man die Zunge herunterdrückt, bei ruhiger Atmung etwa BOmal in der Minute eine ticarlige krampfförmige Hebung der rechten Gaumenseite, nicht blitzartig schnell, auch nicht genau rhythmisch, aber doch durch ihre Eigenart von unwillkürlichen Schluck- und sonstigen Bewegungen, die man bei Inspektion des Gaumens oft in unregel- mässiger Weise auftreten sieht, streng unterschieden.

Die Bewegung ist auch nur auf die rechte Seite beschränkt und ver- läuft in der Richtung der Diagonale des Racheneinganges von links unten nach rechts oben. Dabei wird der vordere und hintere Gaumenbogen rechts erbeblich gehoben. Die Raphe erfährt eine Abknickung, indem sie im oberen Teil des weichen Gaumens, wo sie zwischen den beiden Tensorsehnen ver- läuft, genau in Mittelstellung bleibt, weiter unten aber, wo die Levatoren auf sie wirken, nach rechts deutlich verschoben wird, an welcher Verschiebun auch die Uvula teitnimmt. Bei jedem Clonus wird die horizontale Levator- furche, die man beim „a*-Sagen etwa in der Mitte des weichen Gaumens regelmässig auftreten sieht, auf der rechten Seite angedeutet. . Die mulden- förmige Einbuchtung, die man beim „ae“-Sagen im obersten Teil des weichen Gaumene beiderseits als Tensorwirkung auftreten sieht, tritt bei dem Krampf nicht auf, |

Bei mechanischer Reizung der Cholesteatomhöhle an einer Stelle, die noch nicht von Granulationen bedeckt ist, sieht man neben einer Vermehrung der unwillkürlichen Schluckbewegungen eine Zunahme der Reizerscheinung im rechtsseitigen weichen Gaumen. Der Gaumensegelreflex ist rechts wie links deutlich auslösbar. Weitere Symptome von Seiten der Hirnnerven, die etwa auf eine bulbäre Erkrankung hinweisen könnten, fehlen völlig. Dio Zunge hat normales Aussehen, wird gerade vorgestreckt, Schluckbesch werden sind nicht vorhanden. Die Sprache zeigt keinerlei Störungen, Kehlkopf und Stimmbänder bieten ein ganz normales Verhalten.

Das sonstige Nervensystem, Motilität und Sensibilität des Rumpfes und der Extremitäten, ist völlig intakt, die Sehnenreflexe an den unteren Extremi- täten sind lebhaft, doch symmetrisch, im übrigen besteht nur noch leichter Tremor der Hände.

Es handelt sich also in unserem Falle kurz zusammengefasst um eine offenbar schon lange Jahre bestehende rechtsseitige Otitis

des weichen Gaumens. 521

media, deren Anfang wahrscheinlich mit der Ohreiterang vor ca. 18—20 Jahren zusammenfällt und die im Laufe der Jahre zur Cholestestombildung geführt hat. Das Cholestestom seinerseits hat destruierend auf die Umgebung, äusseren Gehörgang, Mittel- ohr und, wie wir anzunehmen gezwungen sind, auf das innere Ohr, das Labyrinth gewirkt. Für Beteiligung des Labyrinthes, das in seinen beiden Organen, dem Gehörgang und dem Gleichgewichts- organ, offenbar schon lange verödet gewesen ist, spricht die völlige Taubheit auf diesem Ohre und ein Ausfallssymptom bei der Gleich- gewichtsprüfung, nämlich das Fehlen des Gefühls der Gegendrehung bei dem Versuch der passiven Zentrifugierung mittels der Dreh- scheibe. Die leichte Schwerhörigkeit auf dem anderen Öhre, welche, kurz gesagt, die Symptome der nervösen Schwerhörigkeit aufweist, ist wohl als eine einfache Altersschwerhörigkeit auf- zufassen. Uns mehr interessierend ist das Verhalten der rechten Gesichtshälfte and des Gaumensegels. Wir finden eine degenerative Parese des rechten N. facialis, die im Mund- und Wangenast mehr ausgeprägt ist, wie im Augenast; dann sehen wir eine ticartige Zuckung der ganzen rechtsseitigen mimischen Muskulatur beim jedesmaligen Augenschluss, ausserdem ticartige Zuckungen beim Austupfen des rechten Ohres, schliesslich fast ununterbrochene fibrılläre Muskelzuckungen in der Muskulatur der rechten Kinn- seite, öfters nur in der Muskulatur der rechten Wange. Dann bemerken wir weiter eine nicht ganz normale Stellung des weichen Gaumens und einen klonischen Krampf des rechten Gaumen- segels, sowie nach jeder aktiven Hebung des Gaumensegels noch eine nachfolgende Kontraktion der rechten Seite des Gaumen- segels.

Wie ist dieses Verhalten des Gaumensegels zu erklären? Die Stellung des weichen Gaumens in Ruhe bei ruhiger Atmung deutet darauf hin, dass das Gleichgewicht der Kräfte, die den weichen Gaumen beı normalem Verhalten in Ruhe verharren lassen, irgendwie gestört ist, d. h. einer oder mehrere von den Muskeln des weichen Gaumens müssen paretisch oder ganz gelähmt sein. Es kommen in Betracht: die beiden Tensores und Levatores veli palatini, welche die Heber, und die beiden Pharyngo- und Glosso- palatini, welche die Herabzieher des weichen Gaumens darstellen; den M. azygos uvulae wollen wir als Binnenmuskel des weichen Gaumens ausser Betracht lassen.

Um die Lähmung dieser einzelnen Muskeln zu erkennen, muss man sich ihrer normalen Wirkung klar sein. Den M.glosso-

alatinus können wir bei unserer Betrachtung ganz aus dem Spiele lassen; er dient lediglich dazu, Velum und Zunge bei Nasen- atmung mit geschlossenem Munde fest aneinanderzupressen. Der Pharyngopalatinus setzt sich aus zwei Portionen zusammen, der Pars thyreo-palatina und Pars pharyngo-palatina; beide sind in gewisser Beziehung Antagonisten, insofern, als durch die Kon- traktion der einen Portion (der Pars thyreo-palatina) die hinteren Gaumenbögen stark zusammentreten, so dass sich die Bogenlinien

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 6. 86

522 Lachmund, Ueber einseitigen klonischen Krampf

zur Sehne abflachen und auf diese Weise ein gleichschenkliges Dreieck bilden, während durch Kontraktion der anderen Portion (der Pars pharingo-palatina) die hinteren Gaumenbögen lateralwärts maximal auseinanderweichen, so dass beide zusammen einen grossen Kreisbogen bilden. Ausserdem ist wichtig, dass jederseits Faser- züge nach der anderen Seite hin aufsteigen und sich mit dem gegenüberliegenden M. Levator veli palatini vereinigen. Diese beiderseitigen Faserzüge verlaufen in Form einer unten und oben oftenen 8, und jeder von ihnen wirkt als Antagonist des gekreuzten Levator. Der M. tensor veli palatini geht von der Schädel- basıs herabsteigend mit seiner Endsehne um den am weichen Gaumen ganz lateralwärts leicht durchzufühlenden Hamulus ptery- oid. herum und bildet mit dem anderseitigen Tensor eine feste Sehnenplatte, die den obersten Abschnitt des weichen Gaumens darstellt und nach oben an den harten Gaumen, lateralwärts an den beiderseitigen Hamulus grenzt. Die Wirkung tritt besonders beim „ae“-Sagen hervor,indem sich am obersten Abschnitt des Velum beiderseits eine flache muldenförmige Einziehung zeigt, die lateral- wärts je bis zum Hamulas geht. Der M. levator veli palatini schliesslich entspringt an der Schädelbasis mehr nach der Mitte zu, wie der Tensor, und tritt in der Richtung von rechts oben nach links unten, resp. links oben nach rechts unten in den weichen Gaumen ein. Hier endigt der eine Teil seiner Fasern in einer medianen Raphe, die von der Spina nas. post. herab- kommt, der andere, grössere Teil der Fasern fliesst bogig mit denen der anderen Seite zusammen. Lässt man ein Individuum „a“ sagen, so sieht man sich das Velum im ganzen heben, die Uvula sich verkürzen; dabei bildet sich etwa 3—5 mm oberhalb der Mitte der vorderen Gaumenbögen eine horizontale Rinne, die ın der Mitte des weichen Gaumens am tiefsten ist, und senkrecht zu dieser in der Mitte nach oben verlaufend eine zweite, die unten am tiefsten ist. Die horizontale „Levatorfurche“ entsteht durch Wirkung derjenigen Fasern des Levator, die mit denen der andern Seite bogig sich vereinigen, die senkrechte durch die, welche an der medianen fibrösen Raphe endigen. Ausserdem strecken und nähern sich die hinteren Gaumenbögen, die vorderen werden etwas flacher.

Bei der Lähmung eines dieser Muskeln zeigt sich nun, je nach der normalen Wirkung des betr. Muskels, ein charakteristisches Bild. Nach Mann-Dresden!), dessen Arbeit „Ueber Gaumen- lähmung“ ich hier bei der Beschreibung der verschiedenen Läh- mungsformen des weichen Gaumens im wesentlichen folge, ist bei der Pharyngo-palatinus-Lähmung der einen Seite die Uvula stark nach der gesunden Seite verschoben; die untere Begrenzungs- linie des hinteren Gaumenbogens der gesunden Seite steht tiefer, ıst spitzer, der Bogen schmäler, während auf der kranken Seite die entsprechende Linie höher steht, mehr kreisrund, der Bogen

ı) Mann, „Ueber Gaumenlähmung“. Zeitschr. f. Ohrenheilk. Bd. 47.

des weichen Gaumen». 523

breiter ist. Ebenso steht die vordere Gaumenbogenlinie auf der kranken Seite höher und ist stärker gewölbt, der gelähmte Bogen ist breiter. Die Raphe verläuft in dem obersten von den Ten- soren beleuchteten Felde des weichen Gaumens genau in der Mitte, macht dann aber eine Abknickung nach der gesunden Seite, um von da senkrecht nach abwärts zu laufen; sie ist also in ihrem unteren Teile wie die Uvula nach der gesunden Seite verschoben. Beim Schlucken und Würgen tritt der hintere Gaumenbogen der gelähmten Seite nicht so weit nach der Mitte der hinteren Rachenwand, wie auf der gesunden Seite.

Bei einseitiger Tensorlähmung ist auf der gelähmten Seite die untere Begrenzungslinie des hinteren Gaumenbogens tiefer und spitzer (infolge der das Uebergewicht bekommenden Antagonisten- wirkung des gleichseitigen Pharyngopalatinus), die des vorderen Gaumenbogens ebenfalls etwas tiefer und mehr rund; der hintere Bogen ist im ganzen schmäler. Auf der gesunden Seite steht in- folgedessen die untere und obere Bogenlinie etwas höher und ist stärker gewölbt, der hintere Bogen ist etwas breiter. Die Raphe ist in ihrer ganzen Länge etwas nach der gesunden Seite konvex ausgebogen. Beim „ae“-Sagen tritt auf der gesunden Seite eine deutliche Einziehung der Tensorfaszie auf, die auf der gelähmten Seite fehlt.

Von unkomplizierten einseitigen Levatorlähmungen hat Mann (siehe oben) keinen Fall beobachtet. Nach Oppenheim steht

as Gaumensegel auf der entsprechenden Seite tiefer, der Bogen, den der freie Rand bildet, ist flacher als auf der gesunden Seite, welche Differenz beim „a“-Sagen noch deutlicher hervortrete. Nach den Ausführungen Manns würde dagegen auf der gesunden Seite der freie Rand des hinteren Gaumenbogens tiefer stehen; es ist das aus der Wirkung der Fasern des Pharyngopalatinus zu er- klären, die von der gesunden Seite nach der anderen Seite oben zum Levator der anderen Seite gehen und über diesen, da er gelähmt ist, das Uebergewicht bekommen; infolgedessen kontra- hieren sie sich mehr und bewirken so auch, entsprechend der Ansicht Oppenheims, dass der freie Rand auf der gesunden Seite spitzer verläuft, während er auf der gelähmten Seite mehr kreisförmig ist; ähnlich ist es mit dem Verlauf der vorderen Gaumenbogenlinie. Das ganze Gaumenbogengewölbe der gelähmten Seite zwischen vorderer und hinterer Gaumenlinie macht so einen erheblich breiteren Eindruck, wie auf der gesunden Seite. Raphe und Uvula sind nicht verschoben, die Uvula höchstens etwas nach der gelähmten Seite gebogen. Beim „a“-Sagen verschiebt sich der ganze weiche Gaumen nach der gesunden Seite. Die hori- zontale Levatorfurche ist nur auf dieser ausgeprägt, die Höhen- differenz der Gaumenbögen gleicht sich mehr aus. Beim „ae“- Sagen tritt in manchen Fällen folgendes ein: Der beim „a“-Sagen nach der gesunden Seite verschobene Gaumen schiebt sich infolge der beiderseits gleich starken Tensorenwirkung plötzlich ruckartig wieder nach der Mitte.

86*

524 Lachmund, Ueber einseitigen klonischen Krampf

Wenn wir den Befund, den der weiche Gaumen unserer Patientin bei ruhiger Atmung bildet, mit diesen Ausführungen vergleichen, so erkennen wir, dass es sich nur um Parese eines Levators handeln kann. Da nun nach Mann die untere Be- grenzungslinie des hinteren Gaumenbogens auf der gesunden Seite tiefer steht wie auf der kranken, so könnte man zunächst an eine linksseitige Levatorlähmung denken; dennoch ist das nicht der Fall, denn das rechte hintere Gaumengewölbe erscheint breiter, mehr hängend, die untere Begrenzungslinie verläuft nicht so spitz und gespannt wie auf der linken Seite; ausserdem rückt der weiche Gaumen beim „a“-Sagen nach links, wenn auch nur wenig, so dass wir nach allem gezwungen sind, eine, wenn auch nur leichte, Parese des rechten M. levator veli pal. anzunehmen.

Interessanter ist bei unserer Patientin der nur auf die rechte Seite des weichen Gaumens beschränkte klonische Krampf. Auch von ihm lässt sich nachweisen, dass nur der rechte Levator be- fallen ist. Zu diesem Zweck haben wir uns klar zu machen, welche unter sich verschiedenen Bilder der einseitige klonische Krampf des weichen Gaumens bietet bei Befallensein nur eines der drei hier hauptsächlich in Betracht kommenden Muskeln. Leicht zunächst ist im Gegensatz zur einseitigen Lähmung eines Muskels die Seite der Affektion zu erkennen; die zuckende Seite ist eben die kranke, während die gesunde nur mitgezogen wird, sonst in Mittelstellung verharrt. Beim Tic des Pharyngopalatinus der einen Seite wird bei jeder Zuckung die Uvula und der untere Teil der Raphe nach der kranken Seite verzogen; dabei senkt sich der freie Rand des hinteren Gaumenbogens dieser Seite und wird im Verlauf steiler; dasselbe geschieht mit der vorderen. Gaumenbogenlinie. Beim Tic des Tensor der einen Seite biegt sich bei jeder Zuckung die Raphe in ihrem ganzen Verlaufe nach der kranken Seite aus, besonders deutlich in ıhrem obersten Teile, während die Uvula in der Verlängerung des unteren Teiles der Raphe nur etwas nach der kranken Seite mitgeht, aber senkrecht nach unten hängen bleibt. Ausserdem tritt auf der kranken Seite bei jedem Krampfe eine deutliche Einziehung der Tensorfaszie auf, die auf der gesunden Seite fehlt. Die Gaumenbögen der kranken Seite werden gehoben. Mann hat in seiner oben zitierten Arbeit, um die Bilder bei den verschiedenen Arten von Lähmungen des weichen Gaumens verständlich zu machen, die Mechanik des weichen Gaumens in sehr anschaulicher Weise dar- gestellt. Bezeichnen wir mit A resp. A, die Kraft der Tensoren, die wir uns vom Hamulus aus wagerecht lateralwärts nach rechts und links, und mit B resp. B, die Kraft der Depressoren des- weichen Gaumens, die wir uns senkrecht nach unten wirkend denken müssen, und mit C resp. C, die Kraft der Levatoren, so ist der Gaumen in horizontaler Stellung im Gleichgewicht, wenn A + A, + C+C, = B + B, ist, und in vertikaler, wenn A+B+C = A, + B, +C, ist. Die Wirkung der Kraft C + C, erfolgt, wenn C= C,, und A = A,, B = B, ist, in einer Richtung, die der

des weichen Gaumens. 525

Halbierungslinie des Bogens entspricht, unter dem die Hauptmasse der Fasern der Levatoren ineinander überfliessen, das wäre in der Richtung der Raphe senkrecht nach aufwärts. Wird nun

C SC, während ABA, B, sich nicht ändern, so kann die ver-

einte Wirkung von C+C, nur C+C in einer Richtung erfolgen, die ` I col mehr oder weniger sich der Diago- C> 1 nalen A, B resp. A B, nähert. Dies würde nun auch die Richtung sein, in der, wenn C=C, ist, die Kraft C resp. C, allein wirken würde, und das ist beim einseitigen Levator der Fall;

der weiche Gaumen bewegt sich dann bei jeder Zuckung in der Richtung von links unten nach

rechts oben resp. rechts unten B B; nach links oben; dabei verläuft

die Raphe in ihrem obersten Teil genau in der Mitte, wird dann nach der kranken Seite abgeknickt und rückt so bei jeder Zuckung in ihrem untersten Teile mit dem Zäpfchen nach der kranken Seite, wobei vorderer und hinterer Gaumenbogen erheblich ge- hoben werden. Die horizontale Levatorfurche, die beim „a*“-Sagen auftritt, wird bei jeder Zuckung auf der kranken Seite sichtbar.

Vergleichen wir wieder den Befund in unserem Falle mit obigen theoretischen Erwägungen, 30 kommen wir zu dem Schluss, dass sich der Krampf nur auf den rechtsseitigen M. levator veli pal. beschränkt, während die anderen Muskeln des weichen Gaumens nicht beteiligt sind.

Klonischer Krampf des Velum pal. Spasmus palatinus ist in der neurologischen und otologischen Literatur schon häufig beschrieben, auch Fälle mit Krampf nur einer Seite. Hier ist das Bemerkenswerte, dass sich der Krampf nur auf einen Muskel beschränkt, dass weiter eine leichte Parese dieses Muskels vor- liegt und dass beide Alterationen, Parese sowohl wie klonischer Krampf, sich noch in einem zweiten von Hirnnerven versorgten Gebiete, der rechten, also gleichen Gesichtshälfte, vorfinden. Sofort drängt sich die Annahme einer einheitlichen Aetiologie uns auf. Nach Oppenheim u. A. sind die Ursachen für Spasmus palatinus meist organische, Tumoren des Kleinhirns, abgelaufene

eningitis. cerebrosp. epid., Aneurysmen der Hirnbasis. Valentin!) hat in der Zeitschr. f. Ohrenheilk. eine Reihe Fälle von Ohr- geräuschen zusammengestellt, die zum Teil mit zuckenden Ein- ziehungen des Trommelfells, mit Blepharoclonus, Facialisclonus, Zucken der äusseren Halsmuskeln, der Zungenbasis, mit Kehlkopf-

1) Valentin: Ueber den klonischen Krampf des M. tensor veli und die dadarch erzeugten objektiv hörbaren Ohrgeräusche. Zeitschr. f. Ohren- eilk. 46.

526 Lachmund, Ueber einseitigen klonischen Krampf etc.

hebung, Adduktion der Stimmbänder verbunden waren; die Ur- sachen waren teils lokale, teils funktionelle Neurosen.

In unserem Falle finden wir weder irgend einen Anbalts- punkt für ein cerebrales Leiden, noch für eine funktionelle Neurose. Auch ein lokales Leiden im Nasen-Rachenraum konnte ausge- schlossen werden. Dagegen finden wir ein schon jahrelang be- stehendes, mit eitrigen und kariösen Prozessen im rechten Schläfenbein einhergehendes Ohrenleiden. Es kann nun wohl keinem Zweifel unterliegen, dass ätiologisch nur diese Mittelohr- erkrankung zunächst für die Parese und die Reizerscheinungen im rechtsseitigen Facialisgebiete verantwortlich zu machen ist. Die Eiterung im Felsenbein hat zu einer Neuritis des rechten N. facialis geführt, die sich als Perineuritis in den oben be- schriebenen Reizsymptomen und als parenchymatöse degenerative Neuritis in Ausfallserscheinungen geltend macht. Auf dieselbe Aetiologie glaube ich nun bei unserer Pat. die Ausfallserscheinungen und Reizsymptome am weichen Gaumen derselben Seite zurück- führen zu müssen. Denn wir haben aus oben näher bezeichneten Gründen anzunehmen, dass der karıöse Prozess im rechten Ohre auch das innere Ohr stark beteiligt und zu einer Zerstörung des Labyrinthes geführt hat. Diesem unmittelbar benachbart liegt aber das Ganglion geniculi, von welchem aus eine bekannte Ver- bindung als N. petrosus superficialis major zum Ganglion spheno- palatinum geht. Von diesem steigen Nervenäste als Rami palatini zur Innervation des weichen Gaumens zu diesem hinab, Die naheliegende Erklärung für den Befund am Velum ist offenbar doch die, dass der neuritische Prozess im N. facialis, hervorgerufen durch die infektiöse Eiterung im rechten Mittelohr, sich durch Beteiligung des Labyrinthes an der Eiterung auf das Ganglion geniculi und von da auf den N. petrosus superf. maj. fortge- pfanzt hat und so sowohl im Gesicht als am weichen Gaumen

eiz- und Ausfallserscheinungen bewirkt.

Die Frage nach der Innervation des Velum palat. ist in letzter Zeit wieder lebhaft ventiliert worden. Die Stimmen, welche den N. facialis von derselben gänzlich ausgeschlossen wissen wollen, mehren sich. Oppenheim!) sagt, dass beim reinen Facialiskrampfe das Gaumensegel fast nie beteiligt sei; in den wenigen Fällen, in denen Zuckungen der Uvula beobachtet worden wären, wie in einem von Leube und Schütz und in einem von Schüssler beschriebenen, möge es sich um eine Komplikation gehandelt haben. Da Komplikationen durch ge- genaue Untersuchung in unserem Falle ausgeschlossen erscheinen, spricht er m, E. für Beteiligung des N. facialis an der Inner- vation des weichen Gaumens. Ob sich vielleicht der neuritische Prozess noch weiter aufwärts nach Art der alten „Neuritis migrans“ bis in das Kerngebiet des Facialis fortgepflanzt hat und hier nun infolge feinster Veränderungen einen dauernden

1) Oppenheim, Lehrb. der Nervenkr. IV. Aufl. S. 1250.

v. Bechterew, Ueber die klinischen etc. 527

Reizzustand unterhält, ist schwer zu sagen; die tic-artigen Zuckungen im Gebiete aller Aeste des rechten Facialis beim unwillkürlichen Augenschluss, sowie das fibrilläre Flimmern in der Kinn- und Wangenmuskulatur sprechen eher dafür wie dagegen. Reizerscheinungen, die für einen ähnlichen Prozess im Kerngebiete des N. acusticus sprechen könnten, wie subjektive Ohrgeräusche, fehlen. Immerhin, mag das Kerngebiet des Facialis befallen sein oder nicht, immer fällt der Fall für die Annahme einer Beteiligung des Facialis an der Innervation des weichen Gaumens, in unserem Falle speziell für die Annahme einer Inner- vation des M. levator veli palatini durch den Facialis auf dem Wege: Ganglion geniculi, N. petrosus superf. maj., Ganglion sphenopalatinum, Rami palatini ins Gewicht.

Zum Schlusse gestatte ich mir, Herrn Prof. Hinsberg für das Interesse, das er dieser Arbeit entgegengebracht hat, und Herrn Dr. Engelhardt für freundliche Üeberlassung der Krankengeschichte meinen besten Dank auszusprechen.

Ueber die klinischen und pathologisch-anatomischen Besonderheiten der nervösen Form der Steifigkeit und der Ankylose der Wirbelsäule und ihre Behandlung.

Von Prof. Dr. W. v. BECHTEREW.

Zuerst im Jahre 1893 und in einer Reihe späterer Arbeiten?!) wurde von mir eine besondere Krankheitsform als „Steifigkeit der Wirbelsäule“ beschrieben, die folgende Grunderscheinungen auf- weist: 1. mehr oder weniger ausgesprochene Unbeweglichkeit oder wenigstens erschwerte Beweglichkeit der ganzen Wirbelsäule oder eines Teiles derselben bei Fehlen stärkerer Empfindlichkeit gegen- über Perkussion oder Beugung; 2. bogenförmige Verkrüämmung der Wirbelsäule nach hinten, vorzugsweise im oberen Brustteil, wobei der Kopf ein wenig vorgestreckt und gesenkt erscheint; 8. paretischer Zustand der Muskulatur des Rumpfes, des Halses

1) W. Bechterew, Steifigkeit der Wirbelsäule und ihre Verkrüämmung als eine besondere Krankheitsform. Wratsch 1892. No. 86. Neurologisches Centralbl. 1893. No. 18. Ueber Verwachsung oder Steifigkeit der Wirbel- säule u. s. w. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 11. 1897. Neue Beobachtungen über Steifigkeit der Wirbelsäule. Deutsche Zeitschr. f. Nerven- heilk. Bd. 15. H.1 u. 2. Ueber ankylosierende Eutzündung der Wirbel- säule u. s. w. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 15. H. i—2. 1899. Demonstration auf der neurologisch-psychiatrischen Sektion des Pirogov- schen Kongresses zu St. Petersburg 1904

028 v. Bechterew, Ueber die klinischen

‚und der Extremitäten, grösstenteils verbunden mit geringer Atrophie der Rücken- und Schulterblattmuskeln ohne Anzeichen von De- generation; 4. Abschwächung der Costalatmung und Ueberwiegen der Abdominalatmung; 5. Abstumpfung der Sensibilität, vor allem im Verbreitungsgebiet der Hautäste der Rücken-, unteren Hals-, manchmal auch der Lendennerven; 6. mannigfaltige, nicht immer gleich stark ausgesprochene Reizerscheinungen seitens dergenannten Nerven in Gestalt von Hyperästhesien, Parästhesien und Schmerzen im Rücken, am Halse, ım Bereiche der Extremitäten und der Wirbelsäule, in letzterer besonders bei längerem Sitzen.

Die Reizzustände seitens der hinteren Nervenwurzeln ent- sprechen aber nicht direkt der Verkrümmung der Wirbelsäule (sie können dieser vorausgehen, können am stärksten an Stellen ausgesprochen sein, wo die Wirbelsäule nicht verkrümmt ist u.s. w.). In einzelnen Fällen erreichen diese Reizzustände eine ausser- ordentliche Intensität und gehören dann zu den quälendsten Krankheitserscheinungen. Ausserdem sind in gewissen Fällen Reizerscheinungen von Seiten der motorischen Nerven zu bemerken. In einer Reihe von Fällen bestehen ferner Veränderungen der Reflexerregbarkeit. Besonders beachtenswert erscheint das häufige Fehlen des von mir beschriebenen Scapulo-Humeralreflexes!), der bekanntlich sonst eine grosse Konstanz aufweist. Was die Ab- dominalreflexe betrifft, so erscheinen sie bei bestehender gürtel- förmiger Hyperästhesie nicht selten gesteigert. Die Patellarreflexe endlich waren teils hochgradig gesteigert, teils herabgesetzt oder ganz fehlend. Später wurde von Dr. Osipow und mir noch ein weiteres wesentliches Symptom aufgefunden in Gestalt von Pupillen- verengung (Miosis spinalis), die bei der vorliegenden Krankbheits- form ziemlich häufig angetroffen werden kann.

Diese Grundmerkmale bezeichnen in klinischer Hinsicht mit vollkommener Schärfe die in Rede stehende Form der „Wirbel- säulensteifigkeit“ gegenüber jener Krankheitsform, die, mit Anky- lose einhergehend, schon den alten Chirurgen unter verschiedenen Namen bekannt war und die späterhin von Strümpell, Marie, mir selbst und vielen anderen beschrieben worden ist.

Diese letztere Form habe ich bei der Beschreibung meiner Fälle als ‚ankylosierende Entzündung der Wirbelsäule und der grossen Gelenke“ benannt, unter Hinweis auf die differential- diagnostischen Momente, die eine Verwechslung derselben mit Wirbelsäulensteifigkeit“ nicht zulassen.

Bei der ankylosierenden Entzündung handelt es sich um wahre totale oder partielle Ankylose der Wirbelsäule und der grossen Extremitätengelenke. Wir finden hier daher eine mehr oder weniger vollständige Unbeweglichkeit der ganzen oder eines bestimmten Teiles der Wirbelsäule und deutliche Schwerbeweg- lichkeit oder selbst vollkommene Unbeweglichkeit der grossen Extremitätengelenke.

1) W. Bechterew, Neurolog. Centralbl. 1900.

und pathologisch-anatomischen Besonderheiten etc. 529

Die Gestaltung der Wirbelsäule kann in diesen Fällen eine wechselnde sein: Es kann Kyphose oder Skoliose bestehen oder aber Streckung der Wirbelsäule vorhanden sein, wobei der Rücken brettförmig abgeflacht erscheint.

Dabei können zugleich geringfügige Muskelatrophien da sein, besonders in der Skapula- und Schultergegend, höchstwahrscheinlich bedingt durch die Gelenkaffektion. Andere Erscheinungen von Seiten des Nervensystems fehlen aber gewöhnlich oder sind kaum ‚angedeutet.

Auch in ätiologischer Hinsicht sind nicht unwesentliche Unterschiede zwischen der „Wirbeisäulensteiigkeit* und der Strümpell-Marieschen Krankheitsform zu bemerken.

Bei der erstgenannten Krankheit wurden von mir in ätiolo- gischer Beziehung Erblichkeit, Trauma und Syphilis namhaft ge- macht. Späterhin ist von den Beobachtern auch auf Erkältung hingewiesen worden als ätiologisches Moment der „Wirbelsäulen- steifigkeit“, während als ätiologische Faktoren bei Ankylose der Wirbelsäule und der grossen Gelenke nach meinen Erfahrungen Arthritiden und Gonorrhoe eine hervorragende Rolle spielen. Zu bemerken ist übrigens, dass gonorrhoische Entzündungen an- scheinend auch bei der von mir beschriebenen „Wirbelsäulen- steifigkeit“ als ätiologisches Moment eine gewisse Bedeutung haben, wie dies u. a. von Dr. Ossipow beobachtet worden ist.!)

Endlich sind auch in dem Verlauf beider Krankheitsformen Unterschiede vorhanden. In den von mir beschriebenen Fällen von „Wirbelsäulensteifigkeit“ handelt es sich zumeist um eine langsam und allmählich fortschreitende Affektion mit einer mehr ‚oder weniger ausgesprochenen Periode der Reizung, während man es in den Fällen von „ankylosierender Entzündung der Wirbel- säule und der grossen Gelenke“ in der Regel mit einem mehr -oder weniger abgeschlossenen Prozess ohne beständiges Fortschreiten der Erkrankung oder wenigstens ohne deutlich ausgesprochene Tendenz zum Fortschreiten zu tun hat.

Augenblicklich umfasst die Literatur der „Wirbelsäulen- steifigkeit“ schon eine recht ansehnliche Kasuistik, allein die Autoren halten leider die Fälle der von mir dargestellten Krank- heitsform von denen der „ankylosierenden Wirbelsäulen-Gelenk- entzändung“ vom Strümpell-Marieschen Typus nicht immer sorgfältig genug auseinander und verwechseln hin und wieder diese mit jener.

Zu den reineren Fällen von „Wirbelsäulensteifigkeit“ gehören -ausser den früher von mir mitgeteilten diejenigen von Marie und Astiè (1), 2 von den 8 Fällen Schatalows (2), einer von den beiden Fällen Lubowiczs (8), die von Schaikewicz (4), 2 Fälle von Zeuner (ö), der dritte ist nicht genügend fundiert, der Fall von Schlesinger (6), von Cantani (7), Nowoselski (8),

1) Io einem Falle von „Steifigkeit“ wurde auch Arteriosklerose als ‚arsächliches Moment bemerkt,

530 v. Bechterew, Ueber die klinischen

Bender (9), einer von 8 Fällen Kedziors (10), der Fall von Kudrjaschew (11), einer von den 8 Fällen Ostankows (12), der Fall von Pussep (13), Ossipow (14), Reimer (15), einige der von Troschin (16) und später von ihm und Pussep (17) beschriebenen Fälle, sowie 2 Fälle von Sobolenski (18).

Wir haben also gegenwärtig bereits etwa 85 reine Fälle von „Wirbelsäulensteifigkeit“, abgesehen von den 2 Initialfällen dieser Krankheitsform, die Winokurow (19) mitteilte, und ungerechnet jene gemischten Formen, die von Mikulicz, Bergmann (20), Kuschew (21) uud einigen anderen beschrieben wurden (22).

In dem ganz unlängst durch Eminet (23) mitgeteilten Fall handelte es sich wohl auch um eine sogenannte gemischte Form, da hier nicht nur hochgradige Nervenerscheinungen, sondern auch Gelenkaffektionen vorlagen.

Von pathologisch-anatomischen Veränderungen bei „Wirbel- säulensteifigkeit“ war in einem unserer Fälle zu verzeichnen: Auflockerung der Knochen der Wirbelsäule, Porosität ıhrer Knochen- substanz, Verschmächtigung und Atrophie des Knorpelbelages der Wirbel, besonders an ihren vorderen Teilen bei Fehlen von Exo- stosen und Verwachsungen der Wirbel, chronische Entzündung der weichen Rückenmarkshäute, bestehend in Verdünnung der- selben, Degeneration derNervenwurzeln (insbesondere der hinteren), Atrophie und Degeneration der Zellen der Spinalganglien und zerstreute Faserdegeneration der weissen Substanz des Rücken- marks von offenbar sekundärem Charakter (24).

In einem weitern Fall, den Troschin (25) in meinem Labo- ratorium untersuchte, wurden ganz analoge Veränderungen wahr- genommen. Er konstatierte u. a. Fehlen hyperplastischer Vorgänge an den Knochen der Wirbelsäule, Weichheit und Rarifikation des Knochengewebes, Schwund der intervertebralen Knorpel im vorderen Teil der Wirbel. Am Knorpel selbst bestanden metaplastische- Veränderungen direkt unter dem Wirbelkörper und Hyperplasien weiter entfernt vom Knochen. Die Gelenke der Wirbelsäule (zwischen den Fortsätzen und mit den Rippen) fanden sich unverändert, desgleichen der Bandapparat; die Spinalganglien zeigten weder Verwachsungen noch Kompression, wohl aber auffallende Pig- mentierung der Zellen, Vergrösserung der Kerne innerhalb der Kapseln, sowie Erscheinungen partieller Atrophie an den Hinter- wurzeln. Die Dura mater war in der oberen Rückenmarkshälfte- verdünnt, die Leptomeningen zeigten diffuse Verdiekung ohne Zu- nahme der Kerne in der oberen Markhälfte, strichweise und flecken- weise Verdickung in ganzer Ausdehnung (Leptomeningitis chronica simplex). Die Wurzeln, insbesondere die hinteren, fanden sich in einem Zustand allgemeiner Atrophie. Weisse Substanz ohne frische- Degenerationen und ohne ausgesprochene Systematrophie. Die graue Substanz zeigte Zellschwund in den Vorderhörnern, weniger bemerkbar im Lendenmark, proximalwärts allmählich zunehmend. Der Zentralkanal war obliteriert, die umliegenden Gefässe hyalin entartet, es bestand Heterotopie eines weissen Faserzuges zwischen,

und pathologisch-anatomischen Besonderheiten etc. 634

beiden Hörnern offenbar ein zufälliger Befund in dem vor-- liegenden Falle.

Die gleichen pathologisch-anatomischen Veränderungen, wie in den vorigen beiden Fällen, fanden sich im ganzen auch in dem: von Pussep und Troschin geschilderten Fall. Endlich wurden in einem Fall von „Wirbelsäulensteifigkeit“, den Shukowski'). in meinem Laboratorium untersuchte, ebenfalls Erscheinungen chronischer Leptomeningitis und da die Dura etwas verdickt war teilweise auch von Pachymeningitis nachgewiesen. Mit der Methode von Busch wurde ferner Degeneration der hinteren. Wurzeln wahrgenommen, aufsteigende Degeneration vorzugsweise des Gollschen Stranges und ringförmige Faserdegeneration an. der Peripherie des Rückenmarkes in nächster Nachbarschaft der- verdickten Pia angetroffen.

Was das Verhalten der Wirbelsäule in diesem Fall betrifft, so hatte dieselbe, wie ich mich durch den Augenschein überzeugen: konnte, überall ihre Beweglichkeit behalten; eine wirkliche Ankylose- war nirgends vorhanden trotz der bei Lebzeiten beobachteten Kyphose und Wirbelsteifigkeit.e. Auch fehlten Exostosen, doch bestand deutliche Rarifikation des Knochengewebes.

Kurz, in allen Fällen, denen Sektionsbefunde zur Seite stehen, fand sich chronische Leptomeningitis, Degeneration der hinteren: Wurzeln und diese oder jenesekundären Veränderungen am Rücken- mark; seitens der Wirbelsäule dagegen wurde Fehlen hyperplasti- scher Vorgänge an den Knochen und Mangel wirklicher Ankylose: konstatiert, wohl aber bestand Atrophie der Knorpeln, besonders in ihren vorderen Abschnitten, Porosität und Rarifikation der Wirbelknochen ohne wesentliche Veränderungen des Bandapparates.

Dagegen besteht in den Fällen von ankylosierender Entzündung des Strümpell-Marieschen Typus eine ossifizierende Affektion der Ligamenta flava der Wirbelsäule, wobei die Wirbel selbst und die Zwischenwirbelknorpel verschont bleiben; zugleich beob-- achtet man bei dieser Krankheitsform Verknöcherung der costo- vertebralen Gelenke, die bei der von mir beschriebenen Form fehlt. Die von Marie?) bei jener Erkrankung bemerkten Exostosen des Kreuzbeins endlich und die klinisch schon wahrnehmbaren ankyloti- schen Vorgänge an den grossen Gelenken bedingen den endgültigen Gegensatz des pathologisch-anatomischen Bildes beider Krankheits- formen. |

Aus dem Gesagten wird hervorgehen, dass die von mir be- schriebene Krankheitsform sowohl in klinischer wie in pathologisch- anatomischer Beziehung einer tieferen Erkenntnis erschlossen ist, und dass ihre Diagnose bei einiger Vertrautheit mit den Er- scheinungen keine besonderen Schwierigkeiten bereiten dürfte?).

1) Shukowski, Bericht über die wissenschaftliche Versammlung der St. Petersburger Klinik für Nerven- und Geisteskranke. 27. März 1908.

23) P. Marie, Revue de Med. 1898. No. 4.

3) Davon konnten sich alle überzeugen, denen ich die fraglichen Fälle auf. meinen Vorlesungen und während des letzten Pirogowschen Kongresses. zu St. Petersburg demonstriert habe.

532 v. Bechterew, Ueber die klinischen

Ungenügend beleuchtet sind aber in der Literatur die Behandlungs- methoden der Krankheit.

Ich habe in dieser Hinsicht schon in meinen ersten Arbeiten über „Wirbelsäulensteifigkeit“!) auf einige therapeutische Mass- nahmen hingewiesen, die in Fällen dieses schweren Nervenleidens von Nutzen sein können. Es gehören dazu: Bäder, Extension der Wirbelsäule, Ableitung auf die Wirbelsäule, Massage, längere Jod- behandlung u. s. w.

Unlängst ist dann dieser Gegenstand von Chmelewski auf- genommen worden, der über die Behandlung der „Wirbelsäulen- steifigkeit“ eine besondere Abhandlung veröffentlichte?).

Es wird hier hervorgehoben, dasssowohl dievonmir beschriebene neuropatbischeForm der Wirbelsäulensteifigkeit, wie auch die arthri- tische Form der Wirbelsäulenankylose nicht nur einer Besserung fähig ist, sondern auch zum Stillstand gebracht werden kann. Eine Besserung des Allgemeinbefindens wird erreicht durch kleinere Dosen tonischer Mittel (Arsen, Eisen) und Salzbäder von 27 - 200 R. Gegen die neuralgischen Schmerzen kommen Galvanisation, Paquelin, Kompressen u. s. w. zur Anwendung. Der Verfasser be- tont in seiner Arbeit vor allem den Einfluss von Schlammbädern, die mit einer Temperatur von 32° R. ohne nachfolgende Schwitz- kur neben Salzbädern bis zu 29° R. (von nicht über Areometer Beaume&) zur Anwendung gelangen sollen. Für die Nachbehandlung empfiehlt er warme Seebäder von 28—29° R.; das direkte Seebad hält er wegen seiner schwächenden Wirkung für schädlich und im ganzen für wenig empfehlenswert.

In frischen Fällen sind Schlamm- und Seebäder nach seiner Angabe im allgemeinen kontraindiziert; sie können nur verordnet werden, falls der Prozess zum Stehen gekommen ist und die Reiz- erscheinungen nachgelassen haben. Von Nutzen sollen ausserdem manchmal Douchen von hohem Druck und hydropathische Be- handlung von nicht weniger als 24° sein.

In therapeutischer Beziehung wird hier aber kein Unterschied gemacht zwischen der von mir beschriebenen Krankheitsform und der arthritischen Strümpell-Marieschen Krankheit, und doch sind dies, wie wir sahen, zwei in anatomischer Hinsicht wesent- lich verschiedene Prozesse, die auch in therapeutischer Hinsicht nicht gleichgesetzt werden dürfen.

Wegen der grossen Bedeutung der Therapie der neuropathischen „Wirbelsäulensteifigkeit“ will ich im Hinblick auf meine eigenen Erfahrungen hier auf die Frage näher eingehen. Auf die See- schlammbehandlung werde ich hier kein grosses Gewicht legen, da diese Methode nur wenigen Kranken zugänglich sein dürfte und meine eigenen Beobachtungen über diesen Punkt nicht hin- reichend ausgedehnt sind.

1) W. Bechterew, Wratsch 1893. 2) Chmelewski, Obosren. psichiatr. 1904. No. 12.

und pathologisch-anatomischen Besonderheiten etc. 533

Seit der Veröffentlichung meiner ersten Beobachtungen über nervöse Wirbelsäulensteifheit habe ich in Ambulanz und Klinik eine ziemlich bedeutende Zahl von Fällen sowohl dieser Krank- heit als auch der Ankylose der Wirbelsäule und der grossen Gelenke in Behandlung gehabt, wobei in einer Reihe von Fällen die Anwendung bestimmter therapeutischer Massregeln näher ver- folgt werden konnte.

Das allgemeine Ergebnis dieser Beobachtungen geht nun da- hin, dass die erstgenannte Form in stark ausgesprochenen Fällen unter allen Umständen eine ungünstigere Prognose hinsichtlich des weiteren Zustandes und Ausganges darbietet als die zweite. Als besonders hartnäckig und quälend erweisen sich in einzelnen Fällen vonneuropathischer Wirbelsäulensteifheit die schon erwähnten Reizungserscheinungen (Schmerzen, Parästhesien) im Gebiete des Rumpfes und der Extremitäten. In einigen derartigen Fällen, die ich klinisch beobachtete, erschien jede schmerzstillende Behandlung ohnmächtig oder fast ohnmächtig, und nur Morphium- oder Heroin- einspritzungen vermochten die unerträglichen Qualen vorüber- gehend zu erleichtern. Alle Ableitungen sowie Licht-, Wärme-, Hydrotherapie u. s. w. konnten keine hinreichende Beruhigung dieser Reizsymptome herbeiführen.

Dies waren jedenfalls die allerschwersten Fälle von Wirbel- säulensteifheit, die infolge anhaltender und qualvoller Reizungs- erscheinungen die Kranken vollkommen zur Erschöpfung brachten und mehrfach den Gedanken an einen operativen Eingriff (Durch- schneidung sensibler Aeste und selbst der Wurzeln) aufkommen liessen. Im ganzen wird man bei der nervösen Krankheitsform mit Reizsymptomen, abgesehen von der Behandlung des Grund- leidens, kaum ohne Anwendung grösserer Gaben schmerzstillender Mittel (Pyramidon, Antipyrin, Phenacetin, Lactophenin, Aspirin, Antifebrin, Citrophen u. s. w.) zum Ziele kommen. Eine gute, schmerzlindernde Wirkung zeigte in unseren Fällen auch syste- matische Anwendung von Chloroform- und Alkoholkompressen sowie Salben aus Menthol und Anästhesin.e Auch Paquelin- behandlung hat einigen Nutzen, aber nur vorübergehend und nicht immer in wünschenswertem Grade.

Handelt es sich um Fälle von „Wirbelsäulensteifigkeit‘“ ohne hochgradige und hartnäckige Reizungserscheinungen, dann sind sie (natürlich wenn nicht allzu verschleppt) in therapeutischer Be- ziehung nicht so ganz aussichtslos. Im Gegenteil, in einer ge- wissen Zahl solcher Fälle, die ich in Beobachtung hatte, konnte eine nicht unwesentliche Besserung der Krankheitssymptome, ja ein Stillstand des Prozesses erreicht werden. Ich will hier die einzelnen Fälle nicht genauer mitteilen, möchte aber in allgemeinen Zügen die Grundsätze andeuten, die nach meinen bisherigen Er- fahrungen für die Behandlung derartiger Zustände massgebend sind.

Da es sich in den fraglichen Fällen um einen chronischen Prozess handelt, der in den weichen Rückenmarkshüllen und zum Teil in der eigentlichen Substanz des Rückenmarks sitzt, später

-5384 v. Bechterew, Ueber die klinischeu

.aber auch die Gelenke der Wirbelsäule in Mitleidenschaft zieht, so wird die Grundbehandlung naturgemäss in der Anwendung resorbierender und verteilender Mittel zu bestehen haben. Hydro- -therapeutisch bewährten sich mir in dieser Beziehung am besten Bäder von 28—29" R. mit oder ohne Zusatz von Salz und Dampf- bäder, sowie in einigen Fällen systematische feuchtwarme Em- packüngen. In manchen Fällen habe ich von der systematischen Anwendung feuchter Priessnitzscher Umschläge auf die Wirbel- säule in der Klinik Erfolg gesehen. Unter den hier nutzbringen- -den physikalischen Mitteln verdienen ausserdem auch Licht-Wärme- ‚bäder Erwähnung.

Pharmakotherapeutisch erwies sich mir innerliche Verab- reichung von Jodpräparaten, Salicyl und Antipyrin als am meisten geeignet. In einzelnen Fällen hatte gleichzeitige Anwendung von ‚Jodkali und Antipyrin mit oder ohne Zusatz von salicylsaurem Natron bei der nervösen Form der „Wirbelsteifigkeit‘‘ den besten Erfolg. Bei der Therapie der Krankheit kommt natürlich auch ‚Jodipinbehandlung in Form von Injektionen in Betracht. Zur -Geraderichtung der Wirbelsäule wurde mit einigem Erfolg syste- matische Dehnung derselben an dem von mir beschriebenen Apparat!) sowie Liegen auf einer geneigten Ebene angewendet. ‘Gegen Muskelatrophien erweisen sich hier, wie in anderen Fällen, Massage und Elektrizität von Nutzen.

Was jene Tonica betrifft, die Ohmelewski für die Therapie der „Wirbelsäulensteifigkeit‘‘ angibt, so ist zweifellos auch von ihnen hier wie bei anderen mit Schmerzen verbundenen Zuständen des Nervensystems ein Nutzen zu erwarten, aber eine direkte Be- ziehung zu der Therapie dieser Krankheit kommt ihnen jedenfalls ‚nicht zu.

Bei der „ankylosierenden Entzündung der Wirbelsäule und der grossen Extremitätengelenke“ wird die Grundbehandlung manches Gemeinsame mit der Behandlung der nervösen „Wirbel- säulensteifigkeit‘‘ haben, da es sich dort um chronische Vorgänge handelt, die in den Gelenken der Wirbelsäule und der Extremitäten wurzeln.

Auch hier erscheinen alle Mittel, die eine Resorption und Verteilung anregen, indiziert, so mässig warme Bäder mit oder -ohne Salzzusatz, Dampfbäder, Licht-Wärmebäder; von grossem Nutzen erwies sich in meinen Fällen auch systematische Applikation feuchter Kompressen auf die Wirbelsäule und die grossen Gelenke. Nicht ohne Einfluss waren ferner pharmakologische Resorbentien, wie Jodpräparate, salicylsaures Natron u. s. w.

Abgesehen von Resorbentien müssen und können in der Therapie der Ankylose der Wirbelsäule und der grossen Gelenke auch entsprechende mechanische Methoden zu ihrem Rechte kommen: systematische Wirbelsäulendehnung an dem vorhin er- wähnten Apparat, Liegen auf geneigter Ebene mit Kopfvorrichtung

1) W. Bechterew, Neurolog. westn. 1893.

und pathologisch-anatomischen Besonderheiten etc. 535

für Zug sowie passive Gymnastik. Letztere ist besonders erfolg- reich im Anschluss an feuchte Kompressen und Bäderbehandlung. Auch liefert Wirbelsäulendehnung gute Resultate, falls damiteine vor- hergehende Behandlung mit lauwarmen Salz- oder einfachen Bädern oder Priessnitz-Umschläge auf die Wirbelsäule verbunden werden.

Die Muskelatrophien endlich erfordern die gleichen Mass-

nahmen wie bei der nervösen Form der ‚„Wirbelsäulensteifigkeit“.

Literatur.

1. Marie und | Astié, Sur un cas de kyphose hérédo-traumatique. Presse

méd

2. Schatalo W, Drei Fälle sogenannter chronisch-ankylosierender Entzündung

. Pussep,

der Wirbelsäule. Med. obosren. Bd. 51. Mai 1899.

. Lubowicz, Zur Kasuistik der ankylosierenden Spondylitis. Med. oboar.

Bd. 52. 1899,

. Schaikewicz, Zur Lehre von der Wirbelsäulensteiigkeit. Wratsch.

1899. No. 51. Ueber neuropathische Unbeweglichkeit der Wirbel- säule. Med. obosr. 1904.

. P. Zenner, Rigidity of spinal column. Journ. of ment. and nerv. dis.

1899. No. 11.

. Schlesinger, Wiener klin. Wochenschr. XII. Jahrg. 1899. No. 49. 42.

.A. Cantani jun, Salle ankilosi delle colonna vertebrale. Il policlinico. . Nowoselski, Steifigkeit der Wirbelsäule. Woenno-med.Journ. Januar 1901. . O. Bender, Ueber chronische ankylosierende Entzündung der Wirbel-

säule. Mänch. med. Wochenschr. 1901.

. Kedzior, Wiener med. Wochenschr. 1902. No. 5—7. . Kudrjaschew, Ueber Spondylitis deformans. Wratsch. 1901. No. 41. . Ostankow, Ueber Wir

elsãulensteifigkeit (Bechterewsche Form) und chronisch-ankylosierende Entzündungen derselben (Strämpell-Mariesche Form). Poln. de Botk. Bd. XIII. 1902. No. 29. Of. auch An- merkang von stankow in Obosr. psich. 1905. No. 1. S. 59.

eber Steifigkeit der Wirbelsäule vom Bechterewschen Typus. Mitteil. XIV. Aerzte-Kongr. Madrid. Wratsch. 1908. No. 82.

. Osipow, Die Bechterewsche Krankheit (Steifigkeit der Wirbelsäule).

Festschr. f. W. Bechterew. Bd. I. 1908. S. 8. Russ. med. Rund- schau. 1905.

. Reimer, Zur Lehre von der Bechterewschen Krankheit (zwei Fälle von

g irbelsäulensteifigkeit) Festschr. f. W. Bechterew. Bd. II. 1908.

Troschin, Bericht über die Januarsitzung der Klinik f. Nerven- und

Geisteskr. zu St. Petersburg. 23. Januar 1908.

. Troschin und Pussep, Bericht über die Aprilsitzung der Klinik für

Nerven- u. Geisteskr. zu St. Petersburg. Vgl. Pussep, XIV. intern. Kongress Madrid: La rigidité de la colonne vertebrale (maladie du rof. W. Bechterew). Sobolewski, Zwei Fälle von Bechterewscher Krankheit. Pet. Wratsch. wedom. 1905. No. 2.

. Winokurow, Zur Frage der Wirbelsäulensteifigkeit. R. Wratsch. 1901. 16.

No.

. Bergmann, Bruns, Miculicz, Handb. d. prakt. Chir. . Kuschew, Ein Fall von Wirbelsäulensteifigkeit. Wratsch. gaz. 1902.

In der Arbeit von Pussep [wW irbelsäulensteifigkeit (Bechterewsche Krank- heit). R. Wratsch. 1908. No. 82] ist das Krankheitsbild bereits auf Grund von 28 Fällen neuropathischer Wirbelsteifigkeit dargestellt, in der Arbeit von Ossipow (Bechterewsche Krankheit oder Wirbelsäulen- steifigkeit. Festschr. f. Bechterew, 1903, S. 8) ist eine eingehende kritische Würdigung einer noch grösseren Anzahl von Fällen dieser

536 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände

Krankheit aus der Literatur vorhanden, und diese Schrift kann zur Orientierung über das in dieser Frage vorhandene literarische Material

dienen.

28. Eminet, Steifigkeit und Verkrämmung der Wirbelsäule vom Bechterew- schen Typus. Wratsch. gaz. 1904. No. 40—41.

24. W. Bechterew, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1899. No. 1—2. Bericht über die wiss. Verhandl. d. St. Petersb. Klinik f. Nerven- u. Geisteskr. 16. Mai 1902.

25. Troschin, ibid. 28. Januar 1908. Pathologische Anatomie der neuro- pathischen Spondylitis. R. Wratsch. 1908. No. 18, 19, 21.

(Aus der deutschen psychiatrischen Klinik [Prof. A. Pick] in Prag.)

Ueber paroxysmale Fieberzustände bei progessiver Paralyse mit Vermehrung der polynukleären Leuko- zyten im Blute und in der Zerebrospinalflüssigkeit, nebst Bemerkungen über Blut und Liquor bei Exazerbationen des paralytischen Prozesses. Von

Dr. M. PAPPENHEIM, Assistenten der Klinik.

Abnorme Temperaturen wurden bei der progressiven Paralyse seit der Anwendung der Thermometrie bei deisteskranken immer wieder beobachtet und bildeten namentlich um das Jahr 1880 herum den Ausgangspunkt vieler Arbeiten. Während für die subnormalen Temperaturen mit denen ich mich hier nicht zu beschäftigen habe seit jeher ein Zusammenhang mit der Para- lyse angenommen wurde, wurden hie und da [Wachsmuth (1), Simon (1), Westphal (1), Maccabruni (2)], Stimmen laut, welche jedes Fieber auf eine somatische Komplikation zurück- führen wollten. Die meisten Autoren jedoch, die sich mit der Frage beschäftigt haben, schliessen eine komplizierende Organ- erkrankung als Ursache vieler Temperatursteigerungen aus und betrachten diese als zum Bilde der Paralyse selbst gehörig. Die Zahl dieser, besonders bei epileptiformen Anfällen gemachten Beobachtungen ist so gross, dass es wohl keinem Zweifel unter- liegen kann, dass die Paralyse an sich tatsächlich imstande ist, Fieber im weitesten Sinne als Erhöhung der Temperatur über die Norm zu erzeugen.

Die Deutung dieser Tatsache ist bei den einzelnen Autoren eine sehr verschiedene: Browne (1) und Meyer (1) ist sie ein Beweis für die entzündliche Natur der Paralyse, die nach letzterem eine chronische fieberhafte Erkrankung ist, auf einer chronischen

bei progressiver Paralyse eto. 587

Meningitis beruhend. Auch Voisin (8) bezeichnet eine „hintere spinale Meningitis“, die manchmal mit „epile tiformen oder sogar tetanıformen Attacken“ verbunden sei, als Ursache von Fieber- zuständen. Nach Bechterew (4), Kroemer 6 sprechen sie für die Abhängigkeit von der Affektion des Zentrainervensystems. Zacher (6) macht den Ort, wo sich der Prozess abspielt, ver- antwortlich. Schüle (1) vermutet eine Beteiligung des vaso- . motorischen Zentrums, Turner (7) regulatorische Veränderungen durch Zerstörung höherer Nervenzentren, Reinhard (1) eine zu dem fortdauernden organischen Prozesse, der die gewöhnlichen Temperaturschwankungen bedingt, hinzugetretene vasomotorische Störung, v. Krafft-Ebing (1) eine temporäre neuropathische Hyperämie des Gehirns und seiner Häute. Göntz (1) erklärt die Temperatursteigerung bei den Anfällen durch Muskelkon- traktionen, was wohl sicher nicht zutrifft.

Die Beobachtung von Fieberzuständen bei einer Patientin unserer Klinik führte zu Befunden, die nicht ohne Interesse sein dürften.

Ich lasse die Krankengeschichte im Auszuge folgen:

Die 44jährige Patientin wurde uns am 27. X. 1906 aus dem Kranken- hause in Leitmeritz eingeliefert.

Die mitgesandte Krankengeschichte lautet: In der Familie keine Geisteskrankheiten. Mutter starb an Hemiplegie, Vater an Lungenleiden; war kein Potator. Patientin hat als Kind Blattern, später Typhus durch- emacht.

s Seit dem Frühjahre bemerkt der Stiefvater der Patientin an ihr eine gewisse Aufgeregtheit und Zerstreutheit. Sie machte Sachen verkehrt. war leicht reızbar. Vor 8 Tagen glaubte Patientin, es sei Weihnachten, ging ohne Geld einkaufen, vergass jedoch die Pakete in dem Laden. Vom Stief- vater zur Rede gestellt, begann sie zu schimpfen und zu schreien, warf mit Geschirr nach ihm.

In das Krankenhaus eingebracht, riss sich Patientin die Kleider vom Leibe, gab auf Fragen keine Antwort, zerriss das Leintuch, verweigerte die Nahrung. In der Zelle polterte sie gegen die Tür. Am nächsten Tage gab sie nur widerwillig Antwort, sagte, sie hätte „Lumpereien* begangen und „genascht*, liess sich nicht anziehen und riss an der Matratze,

Bei ihrer Einbringung auf unsere Klinik lustig, gesprächig, erzählt von vielem Geld, von grossen Villen, die sie habe, und dass sie heiraten werde. Auf das Krankenzimmer gebracht ganz stumpf, spricht nichts.

Somatisch: Dement-euphorischer Gesichtsausdruck. Rechte Pupille 2:/,, linke 8'/3 mm im Durchmesser, die linke prompt, die rechte etwas träger auf Licht reagierend. Akkommodationsreaktion sehr prompt. Die Zunge wird nach links vorgestreckt, zeigt starkes Beben und Wackeln. Uvula nach links abweichend. Rechtes Unterlid tiefer stehend, Augenlidschluss schwächer. Rechter Mundfacialis in Ruhe und bei Innervation deutlich schwächer. Grob- schlägiger Fingertremor. Gang langsam, steif, Schwanken bei raschem Um- drehen. Beim Stehen und Geradeausgehen kein Schwanken. P. S.R. ge- steigert; auch bei Beklopfen der Patella leichter Ausschlag. Fussphänomen beiderseits angedentet. Kein Babinski. Sprache langsam, gedehnt, stockend, bei schweren Worten hochgradiges Stolpern bis zur Unverständlichkeit. Schrift zitternd; Auslassen von Buchstaben und ganzen Worten. Aufgefordert, ihren Krankenmantel aufzuknöpfen, versucht sie ganz unzweckmässig mit beiden Händen die beiden Hälften auseinanderzuziehen, ohne den Knopf selbst anzufassen, schaut dabei immer auf den Mantel. Das Zuknöpfen gelingt etwas besser, wenn auch äusserst langsam und unter ständiger Kontrolle der

Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helft 6. 37

588 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände

Augen; sie steckt den Knopf zur Hälfte durch das Knopfloch und zerrt dann, statt den Knopf herauszudrehen, an dem durchgesteckten Teil desselben. Als es nicht geht, lässt sie es sein.

An den beiden ersten Tagen ihres Aufenthaltes in dement-euphorischer Stimmung; sie sei gesund, „übergesund“, habe viel Geld, vielleicht 5000 und Hunde und Katzen und viele Artikel durcheinander.

Was für Artikel? „Was es so gibt in der Welt.“

„Häuser habe sie nur 2.“ Wo? „Eines in Wien, 2 bekommen wir.“

Von wem? .Wie man sich sie selber nimmt.“

Weiss nicht, wie lange sie hier ist, glaubt in Leitmeritz zu sein, in einem Krankenhause.

Kennt die Jahreszahl, aber nicht den Monat.

Erzählt den ganzen Tag und den grössten Teil der Nacht von ihren Reichtümern, von schönen Villen und einem schönen Bräutigam, deu sie heiraten werde, ladet alle zur Hochzeit ein. Aendert den ganzen Tag etwas an ihrem Bettzeug.

Seit 80 X. stumpfes Verhalten. Pat. liegt ruhig, dement vor sich hin- dämmoernd, da, spricht mit niemandem; angesprochen, verzieht sich ihr Ge- sicht euphorisch, und sie antwortet mit bebender, stockender Stimme.

2. XI. Seit gestern ohne merkbaren Anfall oder sonstige Aenderung im körperlichen Status der Gang viel unsicherer, taumelnder, steif-paretisch.

Bald darauf war der Gang wieder besser und seither zeigt Pat., bis auf bald näher zu schildernde Žustānde, stets das gleiche stumpf-demente Verhalten, beantwortet ganz einfache Fragen nach ihrem Namen und Alter, Jahreszahl, Hauptstadt von Böhmen richtig, erzählt einige Ereignisse aus ihrem Leben, rechnet das kleine Einmaleins richtig, ist aber über die Dauer ihres Aufenthaltes, über den gegenwärtigen Monat nur mangelhaft orientiert, versagt bei allen Gedächtnis oder Intelligenz nur irgendwie stärker in An- spruch nehmenden Fragen.

Am 9. XII. wurde eine Lumbalpunktion gemacht. Im Kubikmillimeter des entnommenen Liquors fanden sich etwa 15 Zellen, von diesen waren 80 pCt. Lymphozyten, 8 pCt. polynukleäre Leukozyten und 12 pCt. grosse, anscheinend einkernige Zellen mit reichlichem Protoplasma. An der Diagnose dieses Falles kann wohl nicht gezweifelt werden.

Als ich am 10. XI. die Frauenabteilung der Klinik übernahm, fand ich die Patientin fiebernd. Ich liess sie in der Folge 8—4mal täglich messen und gebe hier die Temperaturtabelle wieder!).

(Hier folgt die Tabelle von Seite 539.)

Die Tabelle zeigt also in mehr oder minder regelmässigen Zeiträumen wiederkehrende, ziemlich beträchtliche Temperatursteigerungen, neben hie und da auftretenden, bei der langen Dauer der Messung vielleicht kaum über die Norm hinausgehenden, abendlichen Temperaturerhöhungen auf 37,6%. Bei den beiden ersten Fieberattacken begnügte ich mich, da ich nach genauer somatischer Untersuchung (der Stuhl war stets in Ordnung, der Urin eiweiss- frei und ohne Sediment, weder intern noch per genitale, noch im Blute konnte etwas Abnormes gefunden werden) eine komplizierende Organerkrankung für höchst unwahrscheinlich hielt (und die so häufige Wiederkehr des Fiebers obne nachweisbare Aenderung in irgend einem Organe hat dieser Auffassung wohl recht gegeben), mit der Annahme eines „paralytischen Fiebers“. Schon beim zweiten Male war mir aufgefallen, dass das Verhalten der Patientin

egenüber dem in fieberfreien Zwischenzeiten in einer Weise verändert war, die ich nicht gut bloss der Fieberwirkung zuschreiben konnte. Pat. jammerte und stöhnte den ganzen Tag, schrie auch manchmal laut auf, gab aber auf Befragen ausdräcklich an, dass ihr nichts weh tue, beantwortete ganz einfache Fragen, z. B. nach ihrem Geburtsjahr, falsch und, was das Auffallendste war,

1) Gemessen wurde immer in der linken Achselhöhle Die ruhige Patientin war dabei vollständig zugedeckt, Das Thermometer blieb 10 Minuten liegen. Seine Lage wurde von einer am Bett sitzenden Wärterin kontrolliert.

November

10.

Fräh

38,6 37,0 36,9 87,2 36,8 36,8 37,9 36,9 36,8 36,6 36,9 36,6 36,5

bei progressiver Paralyse etc.

Nachm.

39,7 87,0 37,7 37,0 37,0 37,1 87,3 37,5 36,6 36,6 36,5 87,6 36,6 87,0 39,1 87,7 37,4 36,8 38,6 38,2 36,5

36,9 36,9 37,1 39,2 37,0 37,4 86,1 36,6 37,0 37,0 39,6 37,4 36,8 36,5 37,0 37,8 36,9 36,5 36,6 38,9 36,9 36,8 36,5 36,6 38,6 37,0

Abend

Desember Früh

27. 28.

640 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände

konnte sich, aus dem Bette gestellt, nicht auf den Beinen erhalten, konnte nur mit Unterstützung taumelnd einige Schritte machen. Bei den späteren Fieberzaständen waren diese Erscheinungen manchmal wieder ganz deutlich ausgesprochen auch die Beobachtung vom 2. XI. dürfte vielleicht mit einer solchen, damals nicht beachteten Temperstursteigerung zusammenhängen —, während sie manchmal namentlich bei den letzt beobachteten war das der Fall so gut wie gar nicht vorhanden waren.

Am 24. XI. entnahm ich dem Ohrläppchen der Patientin Blut und fand im Kubikmillimeter 17200 weisse Blutkörperchen.

Am 28. XI. früh fiel mir die oben beschriebene Veränderung im Zu- stande der Patientin auf, weshalb ich sie 2ständlich messen liess; zugleich wurde 8mal im Tage das Blut untersucht.

ln der folgenden Temperaturtabelle sind die Resultate der Zählungen

eingetragen. 28. XI. 29. XI. 30. XI. Temp. W.Blutk. Temp. Blutk. Temp. Blutk, 7 Uhr vorm. 36,7 88,7 37,0 9 ,„ » 36,9 8200 38,4 12300 86,8 7500 11 » 87,5 88,8 37,1 l , » 38.2 38,5 86,7 S y » 88,6 15300 88,2 10500 36,5 6800 5 » 89,0 88,0 36,6 7 Uhr nachm. 39,1 19600) 877 10700 36,8 9, » 38,9 87,4 36,6 11 » 88,7 87,7 l , 39,0 37,6 3% » 38,8 37,8 Ban. 384 37,3

Wiederholte Untersachungen bei den verschiedenen Fieberzuständen geben ganz ähnliche Resultate, natürlich nicht so, dass immer dem höheren ieber auch die höhere Blutkörperchenzahl entsprochen hätte so fand ich am 4. XII. mittags bei einer Temperatur von 39,60 (in der Tabelle nicht eingetragen) 15200, am 20. XII. bei 88,70 17600 weisse Blutkörperchen —, immer war aber, sowohl in der Temperatur als in der Blutleukozytose, ein mehr oder weniger parallel gehender, verhältnismässig rascher Anstieg und. langsamer Abfall zu bemerken.

Im Nativpräparat schien die Fibrinbildung in Fieberzeiten eher ge- ringer zu sein, als bei normaler Temperatur. Eine quantitative Bestimmung wurde nicht vorgenommen.

Was die Teilnahme der einzelnen Zellarten an der Leukozytose be- trifft, ist zu bemerken, dass die Zahl der Lymphozyten niemals wesentlich vermehrt gefunden wurde. Es fanden sich meist gegen 2000 im Kubik- millimeter, was ganz normalen Verhältnissen entspricht. Eosinophile Leuko- zyten fanden sich sehr spärlich. Die Zahl der mononukleären Leukozyten. war, absolut genommen, grösser als in fieberfreien Zeiten, während ihre Ver- hältniszahl 3—5 pCt. normalen Werten entsprach. Absolut und relativ vermehrt waren die neutrophilen Leukozyten.

Während mir nun aus der Literatur (8, 9) bekannt war, dass para- lytische Anfälle häufig mit einer Hyperleukozytose im Blut einhergehen eine Beobachtung, die ich selbst wiederholt hatte bestätigen können —, fand ich über paralytische Fieberzustände mit Blutleukozytose erst nach- träglich eine kurze Notiz in einem jüngst erschienenen Buche von Bruce (10). Es heisst dort (S. 176): „Im 2. Stadium kehrt die fieberhafte Temperatur alle

1) Puls dabei 182 (in Zwischenzeiten 76), eher etwas besser gespannt. als sonst.

bei progressiver Paralyse. etc. 541

` 2, 8 oder 4 Wochen wieder“ und weiter (S. 181): „Die Leukozytose folgt der Temperaturkurve; doch übersteigt der Prozentsatz der Polymorphkernigen selten 70.“ Die letztere Bemerkung trifft in meinem Falle nicht zu.

Von Interesse war mir nun das Verhalten der Cerebrospinalflässigkeit während der geschilderten Zustände. Das Resultat dieser Untersuchung war ein ganz üborraschendes,

Der am 5. I. 1907 durch Lumbalpunktion entnommene Liquor, der an- scheinend unter gesteigertem Drucke stand, zeigte makroskopisch eine gans feine Trübung and enthielt im Kubikmillimeter (ia derZählkammer gezählt) etwa 540 Zellen, eine Zahl, wie ich sie bei Paralyse nie getunden. Die Unter- suchung des Strichpräparates!) ergab, dass etwa 96 pCt. der Zellen poly- nakleäre Elemente waren. Am 8. I. waren im Kubikmillimeter 22 Zellen mit 70 pCt. Lymphozyten, 10 pCt. Polynukleären und 20 pCt. plasmareichen Zellen unbestimmten Charakters ?).

Ganz entsprechend war der Befund im nächsten Fiaberanfall am 11. I; 670 Zellen im Kubikmillimeter. Fast ausschliesslich Polynukleäre

Fig. 1. Fig. 2.

[s. Fig. 1°)], unter 200 Zellen etwa war ein Lymphozyt zu sehen; überall war der Kern deutlich polymorph, nirgends waren Zellformen unbestimmten Charakters. k

Am 12. I. (siehe Fig. 2) 150 Zellen im Kubikmillimeter: 10 pCt. Lym hozyten, 15 pCt. nicht deutlich charakterisierte Zellen,: 75 pCt. Poly- nukleäre,.

'

1) Die angewandten Methoden s, Wiener klin. Wochenschr. 1907, No. 10.

2) Auf die Bedeutung dieser Zellen gedenke ich in einer anderen Arbeit einzugehen. Ich will hier nur soviel bemerken, dass wenigstens ein Teil der- selben durch Einwirkung des Liquor umgewandelte polynukleäre Elemente zu sein scheinen, da ihre Zahl auf Kosten der Polynukleären zunimmt, wenn man den Liquor einige Tage stehen lässt. twas Analoges dürfte ver- mutlich auch im menschlichen Körper vor sich gehen.) Es ist daher not- wendig, bald nach der Entnahme zu färben und nur Zellen mit ausgesprochen. polymorphem Kerne zu berücksichtigen,

3) Die Präparate wurden verschieden dünn verstrichen, so dass die Figuren nur über das Zellverbältnis und nicht über die absolute Zahl der- selben Aufschluss geben.

542 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände

Am 14. I. (siehe Fig. 8) unter 26 Zellen im Kubikmillimeter: 65 pCt. Lymphozyten, 25 pCt. undeutliche Zellen, 10 pCt. Polynukleäre.

Am 25. I. Fieber: 470 Zellen mit 90 pCt. Polynukleären.

Am 8. II. 9 Zellen mit 4 pCt. Polynukleären.

Es trat also während der geschilderten Fieberzustände!) neben einer Hyperleukozytose des Blutes regelmässig eine hoch- gradigepolynukleäre Leukozytose im Liquor cerebrospinalis auf, wie sie bis nun wohl nur bei akuten Meningitiden (durch Eiterkokken, Pneumokokken, Meningokokken, Typhusbazillen) oder in den akuten Anfangsstadien der tuberkulösen Meningitis be- obachtet wurde.?) Dass ein solcher Prozess auszuschliessen war, bewies das ständige Fehlen von Infektionsträgern es wurde wiederholt darauf untersucht —, beweist vor allem das Fehlen

Fig. 3.

jeglicher meningitischer Symptome auch in der folgenden Zeit, beweist endlich der wiederholte Wechsel der Erscheinungen, indem diese Liquorleukozytose nach Rückgang des Fiebers in ziemlich kurzer Zeit einer mässigen Lymphozytose Platz machte, um mit dem Auftreten des Fiebers immer von neuem zu erscheinen, ein Verhalten des Liquors, das meines Wissens bis jetzt überhaupt noch nicht beobachtet wurde.

Es fragt sich nun, in welchem Zusammenhang die ge- schilderten Erscheinungen stehen, da wegen des wiederholten

1) Erwähnenswert ist, dass auch bei Tabes dorsalis paroxysmale Temperatursteigerungen vorkommen (Oppler, Ein Fall von Temperaturkriseo bei Tabes dorsalis, Berl. klin. Wochenschr. 1902, S. 884). Es wäre interessant, bei diesen sowie bei tabischen Krisen überhaupt ähnliche Untersuchungen anzustellen. [S. Nachtrag.]

2) S. Nachtrag.

bei progressiver Paralyse etc. 643

Auftretens wohl niemand an ein zufälliges Zusammentreffen denken wird. Da ich eine Meningitis als Ursache aller anderen Symptome zurückweisen musste, hatte ich die entgegengesetzte Möglichkeit zu erwägen, nämlich die, dass die Liquorleukozytose einfach eine Folge der Bilutleukozytose sei, eine allerdings etwas grobe, mechanische Vorstellung. Und zwar könnte diese Gefäss- durchgängigkeit bei Paralytikern überhaupt oder nur bei dieser einen Patientin vorhanden sein. Dass dies im allgemeinen nicht der Fall ist, beweist eine Bemerkung von Fischer (11), der fieber- hafte Zustände und unter diesen waren ja sicher auch solche mit Blutleukozytose „besonders wegen der Frage der Polynu- kleären* mit negativem Resultate untersucht hat. Auch ich selbst sah einen Fall, in dem sich als Folge einer Periproctitis be- trächtliches Fieber mit 21000 weissen Zellen im mm?’ Blut ein- stellte und bei dem im mm? Liquor 76 Zellen mit 72 pCt. Lymphozyten und !j, pCt. Polynukleären vorhanden waren, während ich 11 Tage vorher 54 Zellen mit 60 pCt. Lymphozyten und 5 pCt. Polynukleären gefunden hatte. Es war also keine Ver- mehrung der polynukleären Elemente und nur das ist, wie ich erweisen werde, von Bedeutung aufgetreten.

Die zweite Möglichkeit, die Gefässdurchgängigkeit gerade bei dieser Patientin konnte ich ebenfalls widerlegen. Ich gab der Patientin an 3 Tagen hintereinander je 1 g Nuklein in je 2 Dosen. Die Leukozytenzahl ım Blute stieg allmählich bis auf 16300. Zu dieser Zeit wurde panktiert. Es war die oben erwähnte Punktion vom 8. Il., die vollständig negativ war.

Es blieb demnach nar übrig, anzunehmen, dass Blut- und Liquorleukozytose nicht im Verhältnisse von Ursache und Wirkung zu einander stehen, sondern beide gemeinsam auf die Einwirkung eines giftigen Agens zurückzuführen sind, und zwar da sonst auch komplizierende Infektionen die Erscheinung hervorrufen müssten eines spezifischen Agens eine Anschauung, die ohne weiteres verständlich wırd, wenn man sich der auch aus anderen Gründen immer mehr Boden gewinnenden Auffassung an- schliesst, dass die Paralyse eine durch unbekannte Toxine hervor- gerufene Erkrankung des ganzen Körpers ist. Die geschilderten Fieberzustände, die Vermehrung der Leukozyten in Blut und Liquor entstehen dann dadurch, dass plötzlich eine grössere Menge, ein Schub dieser Toxine gebildet oder in die Blutbahn befördert wird.!)

Unter dieser Voraussetzung musste man vermuten, dass auch bei anderen, durch einen grösseren Schub von Toxinen ver- ursachten Exazerbationen des paralytischen Krankheitsprozesses,

1) Anmerkang während der Korrektur: Seit 28, I. traten bei der Kranken keine Temperatursteigerungen mehr auf. Allmählich besserte sich ihr psychisches Befinden. Die Stumpfheit verlor sich. Pat. verliess das Bett, unterhielt sich mit ihrer Umgebung, beschäftigte sich, so dass sie auf Wunsch ihres Stiefvaters am 11. III. gebessert entlassen wurde. Auch diese Besserung ist ein Beweis für die Zugehörigkeit der geschilderten Attaken zur Paralyse und pietet eine weitere Analogie zum Verhalten bei paralytischen Krampf- anfällen.

544 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände

also vor allem bei paralytischen Anfällen, bei Erregungszuständen, ebenso wie sie oft mit Temperatursteigerung!) einhergehen, eine Blut- und Liquorleukozytose gefunden werde. Nun gibt es, wie oben erwähnt, Befunde, die das für das Verhalten des Blutes bei Anfällen erweisen. Was den Liquor betrifft, so berichtet Zila- nakis (12): „Die Polynukleären finden sich bei der Paralyse in geringer Menge; in den apoplektiformen und epileptiformen An- fällen nimmt ihre Zahl beträchlich zu.“ Fischer (11) hat aus seinen aus unserer Klinik publizierten Untersuchungen negative Schlüsse gezogen, und auch Hartmann (9) konnte bestätigen, dass die Leukozytenzahlen in der Öerebrospinalflüssigkeit bei paralytischen Anfällen häufig keine wesentliche Vermehrung zeigen.

Fischer fand nämlich neben positiven Fällen solche, in denen bei Krampfattacken die Zahl der polynukleären Elemente nicht vermehrt war, anderseits 2 solche, in denen ohne Krampf- zustände sich eine erhebliche Vermehrung der polynukleären Zellen fand. In dem einen der beiden letzten Fälle wurde die Punktion in einem Zustande von starker Erregung vorgenommen. Wenn es aber nun auch ohne Zweifel richtig ist, dass die absolute Zahl der Zellen bei demselben Kranken zu verschiedenen Zeiten ohne sichtbare klinische Symptome stärkere Schwankungen zeigt, anderseits in ähnlichen Zustandsbildern verschiedener Patienten sehr verschieden ist, so ist es doch auffallend, dass, während der Prozentsatz der Polynukleären das geht auch aus Fischers und meinen sich auf über 100 Punktionen erstreckenden Untersuchungen hervor bei der Paralyse im allgemeinen ein sehr geringer ist ich fand meist 4—6 pCt., nie aber in exazerbationsfreien Zeiten mehr als 15 pCt. dieser manchmal vorübergehend eine ganz beträchtliche Steigerung erfährt, was man wohl nur durch eine ‚gesteigerte Giftwirkung erklären kann. Da aber oft (Zilanakis, Fischer, Hartmann, meine Befunde) diese Steigerung der Leukozytenzahlen mit anderen Exazerbations-Erscheinungen des paralytischen Prozesses, die ja, wie meine folgenden Beobachtungen zeigen, nicht immer Krampfanfälle sein müssen, und mit der Leukozytose im Blute mehr oder weniger parallel geht mit dem Rück- gange der klinischen Erscheinungen sinkt auch die Zellzahl —, so

1) Diese Tatsache hat schon Kroemer (5) im Jahre 1880 veranlasst, alle diese Zustände zu einander in Beziehung zu setzen: „Die (Temperatur-) Kurven zeigen zu verschiedenen Zeiten Erhöhungen. Das eine Mal sind diese der Ausdruck der wirklichen ausgebildeten Krampfanfälle, das andere Mal von Erregungszuständen, das andere Mal von solchen Zuständen, in denen die Patienten weinerlicher werden, in denen die psychischen und motorischen Störungen auffälliger und stärker hervortreten, in denen nur Schwindel- und Ohnmachtsanfälle zu Tage kommen. Ich stehe daher nicht an, die eigentlichen paralytischen Krampfanfälle mit den paralytischen Aufregungszuständen und den Exazerbationen sämtlicher Krankheitserscheinungen bei den melancholischen und stupiden Formen nach Analogie derselben Verhältnisse bei den Epileptikern als Asquivaleut zu erklären.“ |

bei progressiver Paralyse etc. 545

muss man daraus schliessen, dass eben alle diese Symptome durch einen grösseren Schub von Toxinen bewirkt werden, darf sich aber nicht wundern, das manchmal dass eine oder das andere Symptom z. B. die Vermehrung der Leukozyten im Liquor ausbleibe.

Im Folgenden seien die einschlägigen Befunde in Kürze wiedergegeben:

Beobachtung I.

40jähriger Kellner, am 19. IX. 1905 zur Klinik gebracht. Beim Militär Schanker acquiriert. Seit 2/, Jahren wiederholt Anfälle von Sprachlosigkeit. In den letzten 14 Tagen wiederholt Zuckungen, die kurze Zeit dauerten. 2 Tage vor der Einbringung verlor er die Sprache, war grösstenteils be- wusstlos, hatte nur manchmal lichte Momente. Schon seit 2 Jahren wurde bemerkt, dass er „nicht normal“ sei.

Bei der Einbringung aphasische Störungen, Zunge nach links vor- gestreckt. Mundfazialis rechts schwächer, Gang unsicher schwankend, das rechte Bein schleift noch mehr auf dem Boden als das linke.

Nach Rückgang der Erscheinungen: schlaffer Gesichtsausdruck, rechte Pupille auf Licht wenig, ausgiebig reagierend, rechter Mundfscialis etwas schwächer. Gesteigerte P. S.R., rechts Babinski; Sprache monoton, langsam, etwas stockend. hie und da Andeutung von Singen und Tremolieren.

Am 24. X. bei getrübtem Bewusstsein Zuckungen in der rechten Ge- sichtshälfte, danach kurze Zeit Sprache sehr verschlechtert; stumpf-abwehren- des Verhalten; später ausser einer gewissen Stumpfheit korrektes Benehmen.

Am 17. XII. 1906 auf Wunsch der Frau entlassen.

Am 2. I. 1907 wieder zur Klinik gebracht, da er in der Sylvester- nacht wärend der Ausübung seines Berufes einen Anfall bekommen hatte; dabei kein Alkobolgenuss.

Kommt klar und geordnet zur Klinik. Pupillen lichtstarr. Sprache schwerfälliger als bei der Entlassung.

Am 8. I. Lumbalpunktion: 44 Zellen mit 40 pCt. Polynukleären, 45pCt. Lymphozyten, und 15 pCt. unbestimmter Zellen.

Am 10. I. 14 Zellen mit 6 pCt. Polynukleären, 84 pCt. Lymphozyten.

Beobachtung II.

4Tjähriger Kaufmann, am 29. X. 1904 zur Klinik gebracht. Frau hat Smal abortiert.

Im Jahre 1899 wurde Argyll- Robertson, Westphal, Andeutung von Romberg konstatiert. 1902 vorübergehend Parästhesien, lanzinierende Schmerzen, die im April 1904 wieder für kurze Zeit auftraten. Damals zeigte sich bereits Silbenstolpern, Reizbarkeit, später erregt; machte Schulden und behauptete fälschlich, sie bezahlt zu haben.

An der Klinik euphorisch, er fühle sich „grossartig, sehr angenehm“; mache grosse Geschäfte, verdiene 5000 Gulden monatlich, das ist 500C0 Gulden jährlich.

3 Somatisch: Schlaffer Gesichtsausdruck. Zunge nach rechts abweichend, rechter Mundfazialis schwächer. Grobschlägiger Fingertremor, Gang leicht ausfahrend, Gehen auf einer Linie erschwert. Romberg. Keine Sensi- bilitätsstörung. Fehlen der P. S. R. und Achilles-S. R.-Enge, leicht ent- rundete, lichtstarre Pupillen.

end des weiteren Aufenthaltes sehr vergesslich, reizbar, zunehmend dement, hochgradige Sprachstörung.

Am 19. I. 1907 Auftreten geringer Zuckungen im rechten Mund- facialis, die fast unterbrochen anhalten, hie und da auch geringe Zuckungen in den Extremitäten. Temperatur normal. Im Blut 8600 weisse Blutkörper- chen. Im Liquor 110 Zellen mit 20 pCt. Polynukleären, 60 pCt. Lymphozyten.

546 Pappenheim, Ueber paroxzysmale Fieberzustände

20. I. Fortdauer der beschriebenen Zuckungen. Höchste Tem- perstur 87,8° (mässige Bronchitis).

Im Blute die Zahl der weissen Blutkörperchen, bloss auf Rechnung der Polynukleären, auf 18000 gestiegen; im Liquor 2360 Zellen mit 50 pCt. Polynukleären und 40 pCt. f mphozyten.

e 22. 1. Leichtes Fieber. Beginnende Pneumonie; Fortbestand der Zuckungen; im Liquor 180 Zellen mit 80 pCt. Polynukleären und 60 pCt. Lymphozyten.

Unter Fortschreiten der Pneumonie und Herzschwäche am 27. I. Exitus letalis.

Die Zuckungen hatten bis zum Ende angehalten. Die Sektion ergab den typischen Befund der progressiven Paralyse.

Beobachtung III.

47jährige Lederfärberswittwe, am 28. IX. 1905 zur Klinik gebracht.

Der Mann starb vor 8 Jabren in dieser Anstalt an progressiver Paralyse.

Frühjahr 1905 fiel Patientin von einer Stiege. Seither soll die Sprache verschwommen, in der letzten Zeit auch stockend gewesen sein. Am 10. IX. plötzlich sprachlos, starrte vor sich, blieb starr und regungslos liegen.

achts mehrmals mit Bewnsstlosigkeit verbundene Krampfanfälle. Wurde deshalb in das allgemeine Krankenhaus gebracht. Daselbst hänfig kurze rechtsseitige Krämpfe, die nach einigen Tagen verschwanden.

Seit 22. IX. erregt, zerriss das Bettzeug, schrie die ganze Nacht, schlug die Wärterin, weshalb sie anf unsere Klinik gebracht wurde.

Somatisch: Schlaffer, dementer Gesichtsausdrack, differente, leicht ent- rundete, lichtstarre Pupillen; starkes Beben der Zunge und im Maundfacialis, rechter Mundfacialis schwächer, grober Fingertremor; keine P. S. R., An- deutung von Romberg.

Hochgradige Sprachstörung. Schwere Demenz. Grobe Rechenfehler. Stumpf-dementes Verhalten. Bei Ansprache euphorisch.

Während des Aufenthaltes wiederholt Krampfanfälle, nach denen für kurze Zeit Paresen und aphatische Störungen zurückblieben.

Am 6. XII. Wieder ein rechtsseitiger Krampfanfall. Temperatur 87.6°.

8. XII. Lumbalpunktion: 82 Zellen mit 11 pCt. Polynukleären und 64 pCt. Lymphozyten.

4. J 1907. Nachmittag wieder geringe Zuckungen im rechten Mund- facialis, zeitweilig auch in der rechten Extremität. Temperatur 88,8% Im Blut 8700 weisse Blutzellen. '

5. I. Lumbalpunktion: 84 Zellen mit 25pCt. Polynukleären und 55 pCt. Lymphozyten. Seither kein Anfall.

l 8. Ji. Punktion: 11 Zellen mit 10 pCt. Polynukleären.

Betrachten wir diese drei Fälle, so sehen wir im ersten Fall noch 2!/, Tage nach dem Anfall eine ziemlich starke Ver- mehrung der mehrkernigen Zellen, die nach einer Woche fast ganz verschwunden ist. Im zweiten Falle findet sich eine, in den beiden ersten Tagen des Anfalles zunehmende Vermeh- rung der Leukozyten in Blut und Liquor, ohne Steigerung der Temperatur (die geringe Zunahme erklärt sich durch den Lungen- befund), während in den folgenden Tagen die Zahl der Liquor- leukozyten trotz des Fortbestehens der Krämpfe abnimmt. Ob das mit dem körperlichen Verfall des Patienten in Verbindung steht, lässt sich nıcht sagen.!) Jedenfalls ist in diesen beiden

2) Anmerkung während der Korrektur: Seither fand ich wieder bei einer Patientin während eines Krampfanfalles die Zahl der polynukleären Zellen auf über 50 pCt. erhöht, während in zwei Fällen (4. und 5. der mit- geteilten Beobachtungen), welche ante mortem (die Obduktion bestätigte die

bei progressiver Paralyse ete. 547.

Fällen die Zunahme der Leukozyten eine so beträchtliche, ' dass man, wenn man bedenkt, dass solche Zahlen in gewöhn- lichen Zeiten bei Paralytikern so gut wie nie gefunden werden, an einem Zusammenhange dieser Erscheinungen nicht zweifeln kann. Den dritten Fall möchte ich nicht für beweisend. ansehen. Denn wenn ich auch in meinen sonstigen Fällen 25 pCt. mehrkerniger Elemente nicht gefunden habe, so ist doch die Ver- mehrung gegenüber den Leukozytenzahlen in aufallsfreien Zeiten: zu gering, um daraus Schlüsse zu ziehen. Bemerkenswert ist auch, dass im dritten Falle während eines Anfalles am 6. XII. die Temperatur fast gar nicht erhöht war, während am B. I. trotz be- trächtlicher Temperatursteigerung sich im Blute eine annähernd normale Zahl weisser Blutkörperchen fand, ein Beweis dafür, dass eben die Symptome nicht immer die gleichen sind.

Beobachtung IV.

53jähriger Kaufmann, zur Klinik gebracht am 15. Dezember 1905. Frau. hat einmal abortiert. Seit einem Jahr Gedächtnisschwäche. Im Jali 1904 wurde Fehlen der P, S. R. konstatiert. Am 16. XI. 1904 verlor Pat. für !/, Stunde- die Sprache. In der letzten Zeit sehr aufgeregt, machte grosse Ausgaben; am Tage vor der Einbringung steckte er am Bahnhofe eine Serviette in die Tasche, kaufte alles mögliche ein, abends zog er auf der Gasse die Hose aus. und wurde deshalb arretiert.

Somatisch: Schlaffer Gesichtssusdruck, enge, differente, lichtstarre Pupillen; der gange Facialis rechts schwächer. Bauchreflexe fehlen beider- seits, Cremasterreflex rechts fehlend. Keine P. S.R. Kein Romberg. Bprach- störung.

Auf der Klinik euphorisch, Grössenideen, schliesst Geschäfte ab, macht grosse Bestellungen; manchmal unruhig, zerwirft das Bettzeug, will fortlaufen. s am 81. XII. 1906 zwei kurzdauernde Krampfanfälle, danach schlechtere.

rache. P 12.1.1907. Im Kubikmillimeter Liquor 12 Zellen mit 8 pCt. Polynukleären,

Am 25. I. plötzliches Auftreten von Sprachlosigkeit. Pat.. bemüht sich wiederholt, zu sprechen, weint, da er es nicht zustande bringt. Keine Zuckungen. Temperatur 88%. Im Liquor 60 Zellen mit 40 pCt. Polynukleären und 40 pCt. Lympbozyten.

28. I. Sprachstörung etwa wie vor dem Anfall. Lumbalpunktion ergibt 42 Zellen mit 12pCt. Polynukleären und 50 pCt. Lympbozyten.

Dieser Fall zeigt, dass auch eine plötzlich auftretende Rindenausfallerscheinung ohne jegliche Reizsymptome mit gesteigerter Temperatur und Vermehrung der Liquor- leukozyten einhergehen kann.

Beobachtung V.

47jähriger Maschinenschlosser, am 6. VII. 1906 zur Klinik gebracht,

Frau hat zweimal abortiert; seit vier Jahren arbeitet Pat. schlecht, seit

zwei Jahren überhaupt nicht mehr; die Frau bemerkte an ihm eine auffallende Interesselosigkeit; seit einem Monat Sprache schwerfällig und stockend; in- den letzten Wochen sehr stumpf. Zwei Tage vor der Einbringung ganz ver-

Diagnose) Krampfanfälle hatten, die Zellvermehrung nicht auftrat, bez. in. dem einen vor dem Tode zurückging. Es scheint also wirklich das Versagen der Reaktion der Meningealgefässe durch den allgemeinen Kräftoverfall be- günstigt zu werden.

548 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände

wirrt, wollte die Suppe mit dem Messer essen, drehte den Teller umher, machte einen änystlichen Eindruck, sang die ganze Nacht. Am Abend vor der Einbringung erregt, sprang aus dem Bette, raufte mit den Männern, die ihn zu bewachen hatten, zerriss das Hemd, sprach immer unverständlich vor sich hin.

Somatisch: Heiter-dementer Gesichtsausdruck. Pupillen sehr different, lichtsterr. Mundfacialis liuks schwächer. Beben der Zunge und im Mund- facialis. P. S. R. schwach, später feblend. Achilles-S.-R. fehlen. Sprache stark bebend, verwaschen, deutliches Silbenstolpern.

Dement-euphorisches Verhalten. Grobe Rechenfehler.

Wiederholt Zustände eigenartiger psychischer Erregung mit an das Katstonische erinnerndem Gebahren, Sprachstereotypien, eigentämlich monotonem Singsang so sang Pat. einmal 1j, Stunde lang immer mit der

leichen Betonung: „Die dort oben haben aufgewartet“ (dabei deutliches Silbenstolpern), anscheinend Halluzinationen des linken Ohres. Dabei kommt aber Pat. einfachen Aufforderungen, wie die Hand za reichen, nach. Während eines solchen Zustandes am 8. XII., bei 86,8% Temperatur allerdings ist eine Abkühlung durch äussere Einflüsse nicht auszuschliessen, da sich Pat. nackt entkleidet hatte im Blut 38200 weisse Blutzellen. (In Zwischen- zeiten waren normale Zahlen gefunden worden.) Dabei keine Vermehrung der Lenkozyten im Liquor: 24 Zellen mit 8pCt. Palynukleären und 70 pCt. Lymphozyten.

Am 19.1. (längere Zeit ohne Erregungszustände) 14 Zellen mit 80 pCt. Lymphozyten öhne Polynukleären.

25.1. Erregungszustaud. Keine Temperstursteigerung. Im Liquor 88 Zellen mit 80 pCt. Polynukleären und 50 pCt. Lymphozyten. (Das Blut wurde nicht untersucht.)

Drei Tage nachher: 86 Zellen mit spot. Polynukleären und 70pCt. Lymphozyten. In diesem Falle also Vermehrung der Liquorleukozyten in Verbindung mit einem psychischen Erregungszustande.

Zusammenfassend lässt sich daher sagen: |

Es gibt anfallsweise auftretende Temperatursteige- rungen bei der progressiven Paralyse, die mit einer Ver- mehrung der polynukleären Zellen im Blute und im Liquor einhergehen.

Auch bei paralytischen Krampfanfällen und bei Rindenausfallserscheinungen sowie bei psychischen Er- regungszuständen findet sich häufig eine solche Vermehrung der mehrkernigen Zellen.

Alle diese Erscheinungen sind durch einen grösseren Schub des auf den ganzen Körper einwirkenden Paralysetoxins zurück- zuführen und finden sich in allen möglichen Kombinationen.

Eine beträchtliche Steigerung der Prozentzahl der polynukleären Leukozyten ım Liquor, welche in exazer- bationsfreien Zeiten der Paralyse stets nur eine sehr geringe Rolle spielen, ist ein Zeichen einer solchen massenhafteren Toxinwirkung.

Nachtrag während der Korrektur: Kurz nach dem Einsenden dieser Arbeit wurde ich durch Herrn Prof. Pick auf eine Arbeit aufmerksam gemacht, die ganz ähnliche Beobachtungen enthält, wie die oben geschilderten.

Villaret und Tixier (18) berichten unter Berufung auf Befunde von transitorischer Liquorleukozytose im Verlaufe ver-

bei progressiver Paralyse etc. 649

schiedener syphilitischer Affektionen des Zentralnervensystems [die bezüglichen Arbeiten waren mir leider nicht zugänglich] über das Auftreten dieser Erscheinung im Zusammenhange mit akuten Symptomen bei zwei Fällen von Tabes.

In dem einen, in dem die Diagnose durch die Obduktion bestätigt wurde, fanden sich während eines deliranten Zustandes mit heftigen Kopfschmerzen 60 pCt. polynukleäre Zellen im Liquor. Auch hier schwand trotz Steigerung der Erscheinungen die Leukozytose vor dem Tode.

In dem anderen Falle enthielt der Liquor zwei Tage nach schwachen Krampfanfällen 98 pCt. polynukleäre Zellen, wahrend er 14 Tage später keine zeigte.

Es beweise also diese Befunde in voller Uebereinstimmung mit meinen den engen Zusammenhang der Liquorleukozytose mit Exazerbationserscheinungen des zugrundeliegenden Krankbeits- prozesses, sie sind eine neue Stütze für die Verwandtschaft zwischen Tabes und Paralyse und sie verbieten eine Erklärung der geschilderten Erscheinungen als direkte Folge der Gehirn- affektion.

Literatur:

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* 08

550 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.

Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.

Von

Dr. KURT MENDEL, Nervenarzt in Berlin.

(Fortsetzung.)

I. Fälle, in denen der Verletzte seine Beschwerden auf den Unfall zurückführte, zwischen Paralyse und Trauma in Wirklichkeit aber keinerlei Zusammenhang als bestehend anzunehmen ist (das Trauma auch nicht ver- schlimmernd wirkte).

a) Die Paralyse begann erst naeh dem Trauma, ohne aber mit letzterem inirgend einem ursächlichen Zusammenhang zu stehen.

1. G. B., Arbeiter, 37 Jahre alt. Vater starb an Lungenleiden, sonst Heredität 0. Bis zum Unfall angeblich stets gesund, insbesondere wird Lues strikte negiert, ebenso Alkoholmissbrauch.

Unfall am 25. I. 1900: Ein herabfallender eiserner Träger traf B. und verursachte eine leichte Hautwunde am linken Auge, er selbst fiel dabei lij m tief mit dem Hinterkopf auf den Fussboden, ohne sich daselbst weiter zu verletzen. Nicht bewusstlos. Kein Erbrechen. Keine Blutung aus Mund, ‚Nase, Ohr. B. blieb 5 Tage zu Haus, nahm dann die frühere Arbeit wieder auf, arbeitete und verdiente wie vor dem Unfall bis Mitte Oktober 1901, zu ‚dieser Zeit traten dann Kopfschmerzen und Schwindel auf, am 9. XI. 1901 hörte er zu arbeiten auf.

8. XII. 1901: Rechte Pupille „eine Idee“ weiter, Kniereflexe gesteigert.

24. IV. 1902: Psychisches Verhalten des B. gegenüber demjenigen im Dezember 1901 deutlich geändert.

31. V. 1902: Aufnahme des B. in meine Klinik: B. klagt über Schwindel, Störungen beim Sprechen und Schreiben. Seine Frau sagt aus, dass er seit etwa !/3 Jahr vergesslich und „kopfschwach“ sei, er finde öfter nicht nach Haus, fahre auf der Stadtbahn eine Station zu weit, habe kein Schamgefühl mehr, ziehe sich z. B. in Gegenwart seiner Kinder aus, sei zeitweise erregt, meist stumpf und interesselos.

Objektiv: Schlaffe Gesichtszüge. Deutliche Intelligenz- und Gedächtnis- schwäche. Typisches Silbenstolpern. Silbenauslassen beim Nachsprechen. Rechte Pupille weiter als linke. Beide rengieren. Zittern der Gesichtsmuskulatur beim Zähnezeigen. Rechte VII <. Sehr lebhafte Patellarreflexe, links ‚Patellarklonus. Kein Babinski. Hypalgesie an den unteren Gliedmassen.

Gutachten: 1. B. leidet an progressiver Paralyse.

2. Das Leiden ist nicht durch die Verletzung am 25. I. 1900 ver- ursacht, weil a) letztere zu unerheblich war (Schädelknochen oder Gehirn ‚nicht mitverletzt, keinerlei Erscheinungen von Hirnerschütterang, keine Gemütserregung, bereits nach 5 Tagen nahm B. seine frühere Arbeit wieder auf) und b) ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Beginn der Paralyse und Unfall nicht vorhanden ist (zwischen Trauma und Beginn des Leidens bezw. Arbeitseinstellung des B. mehr als 12/, Jahr!).

3. Von einer verschlimmernden oder beschleunigenden Wirkung des Traumas kann nicht die Rede sein, da B. noch 1?/, Jahre nach der Verletzung völlig wie früher Arbeit leistete.

Also: Keinerlei Zusammenhang zwischen Paralyse und Trauma.

2. G. R., Arbeiter, 40 Jahre alt. Heredität 0. Im 12. Lebensjahre infolge einer Explosion Verlust des rechten Auges. 1894 Darmgeschwür, Lues und Alkoholismus negiert. Seit 16 Jahren in kinderloser Ehe verheiratet.

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Unfall Dezember 1894: R. stiess mit dem Kopf gesen einen Balken und zog sich hierbei eine biutende Kopfwunde zu. Er arbeitete weiter. Keinerlei Zeichen von Gehirnerschütterung. Abends liess er sich die Wunde von einem Barbier verbinden; letzterer bezeichnet sie als „eine ziemlich unbedeutende, 2/, Zoll lange, die nur in einer Verletzung der Haut bestand“. Die Mitarbeiter des R. bemerkten erst im März 1898 ein verändertes Wesen an ihm, bis dahin war ihnen durchaus nichts Krankhaftes aufgefallen. April 1896 zeigte sich R. mehrfach gewalttätig, er glaubte, dass ihm die Jagd auf den Rixdorfer Wiesen zustehe, im Mai desselben Jahres äusserte er, dass er vom Kaiser zur Jagd abgeholt werde, er war verwirrt und schwer zu konzentrieren,

Juni 1897 wird bei R. eine typische progressive Paralyse mit hoch- gradiger Geistesschwäche, schwachsinnigen Grössenideen, Silbenstolpern und typischen somatischen Erscheinungen festgestellt.

Gutachten: Ein im Dezember 1894 erlittener Unfall könnte mit einer progreseiven Paralyse, deren deutliche und unzweifelhafte Symptome erst im März 1896 bemerkt werden, in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden. Man muss aber, um einen solchen Zusammenhang annehmen zu können, eine gewisse Erheblichkeit des Traumas voraussetzen. Hier aber handelte es sich um eine ganz unbedeutende Hautwunde, die sehr bald heilte. R. arbeitete weiter. Keinerlei Zeichen von Hirnerschütterung. Die Art des Unfalls erscheint demnach nicht geeignet, eine Paralyse hervorzurufen. Andrerseits hat das Trauma aber auch nicht dazu gedient, eine bereits in der Entwicklung begriffene Krankheit zu verschlimmern. Wäre dies der Fall, so müsste die Verschlimmerung alsbald nach dem Unfall, längstens nach wenigen Monaten, eingesetzt haben. Dies ist nicht der Fall, da erst 1!/, Jahr nach der Verletzung etwas Auffälliges an R. bemerkt wurde, er bis dahin wie früher Arbeit leistete.

Also: keinerlei Zusammenhang zwischen Paralyse und Trauma.

. F. N., Monteur, 40 Jahre alt. Bis Unfall völlig gesund. Unfall am 19. II. 1896: N. fiel von einer auf schlüpfrigem Boden ausrutschenden Leiter 1!/3 m tief herab und zwar so, dass seine linke Brustseite auf die Kante eines Mauerpodestes aufschlug. Keine Verletzung des Kopfes. Keine Bewusstlosigkeit. n den Akten wird der Unfall als „linksseitige Brust- quetschung‘“ bezeichnet. N. setzte seine Arbeit keinen Tag aus und blieb bis zum Dezember 1898 in Stellung. In der letzten Zeit wurde allerdings von den Arbeitgebern bemerkt, dass N. sehr zerstreut war, so dass man schon Anfang September 1898 ihn nur unter Leitung eines andern Monteurs arbeiten liess. Die ersten Zeichen von Veränderung des Wesens wurden im Frühjahr 1898 bemerkt.

Dezember 1898 ergibt die Untersuchung eine typische progressive Paralyse. -

Gutachten: Unfall war zu unerheblich, um eine Paralyse hervor- rufen zu können (keine Verletzung des Kopfes, keine Bewusstlosigkeit, N. setzte keinen Tag die Arbeit aus). Auch fehlt der zeitliche Zusammen- hang zwischen Beginn der Paralyse und Trauma: Unfall im Februar 1896 erste Zeichen von Geistesstörung im Frühjahr 1898, also mehr als 2 Jahre nach erlittener Verletzung, deutliche Zeichen geistigen Verfalls werden erst seit September 1898 wahrgenommen, 4!/, Jahr nach dem Trauma ist N. noch am Leben (mittlere Dauer der Paralyse vom ersten Beginn der Krankheit bis zum Tode wird allgemein mit 8—4 Jahren berechnet!).

Von einer Verschlimmerung durch das Trauma kann im vorliegenden Fall wegen seines Verlaufs (N. arbeitete noch 22/, Jahre lang nach der Ver- letzung) nicht die Rede sein.

Also: keinerlei Zusammenhang zwischen Paralyse und Trauma.

b) Die Paralyse bestand schon vor dem Trauma, wurde aber durch dasselbe nicht wesentlich ungünstig beeinflusst.

4. F. A. 48 Jahre alt, Wagenputzer. 5 gesunde Kinder, 8 Kinder starben in den ersten Lebensjahren. 1 Abort der Frau. 1890 Brustfellentzündung.

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In den 70er Jahren Syphilis. Vor dem Unfall oft Kopfschmerzen und Schwindel- anfälle, auch war sein Wesen schon vor demselber. auffällig, er war erregt und unruhig.

Unfall am 24. VIII. 1896: beim Zusammenstossen von Eisenbahnwagen wurde er mit dem Kopf an die Seitenwand des Wagens, in welchem er sich befand, geschleudert. Es entstand eine ca. taubeneigrosse Beule an der linken Kopfseite. A. klagte über Unwohlsein und wurde auf Anraten des Arztes nach Haus geschickt. Er setzte bis zum 6. IX. 1896 die Arbeit aus, arbeitete aber dann mit nur einmaliger Unterbrechung von 3 Tagen (25. bis 27. IV. 1897) bis zum 6. III. 1898 weiter.

Im Juni 1898 ergab die Untersuchung das Bestehen einer progressiven Paralyse: Grössenideen, Intelligenzschwäche, typische Sprachstörung, Pupillen- diferenz, träge Lichtreaktion der Pupillen, Gesichtszittern, lebhafte Patellar- reflexe.

Gutachten: A. leidet an progressiver Paralyse. Die Krankheit bestand schon vor dem Unfall (Kopfschmerz, Schwindel, Unruhe). Der Unfall hat das Leiden auch nicht in wesentlichem Grade verschlimmert oder seinen Ver- lauf beschleunigt, denn der Verlauf der Paralyse ist auch nach dem Unfall ein sehr milder und langsamer geblieben, A. war nach dem Trauma noch volle 18 Monate (August 1896—März 1898) arbeitsfähig, und nachdem er dann im März 1898 wegen Krankheit seine Arbeit einstellen musste, hat er doch noch vom 22. IV. bis 19. V.1898 wieder gearbeitet, auch später noch einmal und erst am 9. X. seine Tätigkeit definitiv aufgegeben. Es ist anzunehmen, dass in den 1!/, nach dem Trauma verflossenen Jahren bei dem gewöhnlichen Ver- lauf der Paralyse auch ohne den stattgehabten Unfall der jetzige Grad der Arbeitsunfähigkeit erreicht worden wäre.

Also: Paralyse durch den Unfall weder hervorgerufen (sie bestand schon vor dem Trauma), noch wesentlich verschlimmert.

5. A. H., Arbeiter. Als Soldat Lues. 1892 durch Hineingeraten der Arme in eine Maschine einfacher Bruch des linken und doppelter Bruch des rechten Vorderarmes. Damals ?!/, Jahr arbeitsunfähig.

Unfall am 15. VII. 1895: beim Zusammennähen zweier Rollen Linoleum und Abschneiden des Bindfadens stiess er sich mit dem dazu benutzten Messer in leichtem Grade in sein rechtes Auge. Öberflächliche Verletzung der Hornhaut. Am 3. VIII. nahm H. wieder die Arbeit ohne jegliche Be- schwerde auf, im September 1895 (also 2 Monate nach dem Unfall) wurde er plötzlich besinnungslos nach Haus gebracht, er redete wirr; seitdem wurde er stiller, dann traten Beschwerden beim Urinlassen sowie Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen auf. Am 10. XI. 1895 wurde eine weisslich-graue Trübung der Hornhaut, welche bis in die Gegend der Pupille reichte und dadurch die Sehkraft des Auges herabsetzte, konstatiert. Gleichzeitig stellte die damalige ärztliche Untersuchung das Bestehen einer progressiven Paralyse fest.

Februar 1896: typische Paralyse.

Gutachten: Unfall kann nichtdie progressive Paralyse hervorgerufen haben, da er für das Nervensystem absolut unerheblich war: die Hornhaut- verletzung hatte tiefere Teile des Auges, speziell den Sehnerv, nicht ge- schädigt, auch trat keine erheblichere plötzliche Aufregung bei dem Unfall ein, die man für die weitere Entwicklung der Hirnkrankheit verantwortlich machen könnte.

Die Paralyse bestand vielmehr schon vor dem Unfall; der im September, also ca. 2 Monate nach dem Trauma, stattgehabte apoplektiforme Anfall zeigt an, dass das Leiden zu dieser Zeit bereits eine gewisse Höhe erreicht hatte. Das ätiologische Moment der Paralyse bildet die durchgemachte Syphilis.

Die Augenverletzung hat aber auch nicht beschleunigend auf den Ver- lauf des Leidens gewirkt, zumal da H. bereits am 8. VIII., also 2! Wochen nach dem Unfall, seine Arbeit wieder in vollem Umfange aufnahm und ohne Beschwerden mehrere Wochen fortsetzte.

Also: Paralyse weder durch den Unfall hervorgerufen, noch wesentlich verschlimmert.

6. In diesem Fall kommen 2 Unfälle in Betracht. Für den ersten gilt das sub a) Angeführte (die Paralyse begann erst nach dem ersten Unfall,

Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 553

ohne aber mit letzterem in irgend einem ursächlichen Zusammenhang zu stehen), für den zweiten Unfall das sub b) Gesagte (die Paralyse bestand wahr- scheinlich schon vor dem zweiten Unfall und wurde durch denselben nicht wesentlich ungünstig beeinflusst). Der Fall ist folgender: . M., Maurer, 41 Jahre alt. 16 Jahre verheiratet. 2 gesunde Kinder. Nach eigener Angabe will er bis zum Jahre 1889, in welchem der erste Unfall stattfand, stets gesund gewesen sein, insbesondere leugnet er mir egenüber, Syphilis gehabt zu haben. Hingegen hatte M. während eines früheren Aufenthaltes in der Kgl. Charité (wie sich aus den Akten ergibt) an- gegeben, dass er syphilitisch infiziert gewesen sei. Unfall I am 29. I. 1889: ein Stück Eisen fiel auf den Kopf des M. Der Verletzte arbeitete weiter. Oefter Kopfschmerzen. Unfall II im September 1896: ein eiserner Träger kippte um und traf mit der oberen Kante den Kopf des M. Kleine Hautabschürfung am Kopf. M. arbeitete sogleich weiter und zwar, ohne auszusetzen, bis zum 6. April 1897.

Die Untersuchung am 20. Dezember 1897 ergab das typische Bild der progressiven Paralyse Diagnose in der Charité auf Grund einer sechs- wöchigen Beobachtung bestätigt). _

Gutachten: 1. Es erscheint ausgeschlossen, dass die am 29. I. 1889 erlittene Verletzung, welche dem M. gestattete, über 8 Jahre seine Arbeit unausgesetzt fortzusetzen, nach dieser Zeit die jetzt vorliegende Krankheit hervorrufen konnte. Der Zwischenraum zwischen dem 1. Unfall und Beginn der Krankheit (welcher kaum mehr als 2 Jahre zurückliegen kann) ist zu gross, als dass man an einen ursächlichen Zusammenhang denken könnte.

2. Betreffs des 2. Unfalls ist die Möglichkeit zuzugeben, dass die rogressive Paralyse bereits zur Zeit dieses Unfalls bestanden hat. Es ist dies sogar wahrscheinlich'), da bereits im April 1897, also !/, Jahr nach dem Unfall, das ausgesprochene Bild der Paralyse in der Kgl. Charite nach- gewiesen wurde.

Ist dies nun der Fall, so kann mit Rücksicht darauf, dass M. mehr als 5 Monate lang nach dem Unfall noch unausgesetzt gearbeitet hat, nicht angenommen werden, dass die erlittene (zudem unerhebliche) Kopfverletzung irgend einen nennenswerten verschlimmernden oder beschleunigenden Einfluss auf den Verlauf der Krankheit gehabt hat.

8. Ist aber und diese Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen die Paralyse erst nach dem 2. Unfall entstanden, so wäre die Frage zu erörtern, ob dieser 2. Unfall geeignet war, eine progressive Paralyse hervorzubringen. Dies ist in Anbetracht der Unerheblichkeit der Verletzung zu verneinen. (Keine Zeichen von Hirnerschütterung. M. arbeitete sogleich weiter.)

Demnach: Erste Möglichkeit: Die Paralyse begann zwischen 1. und 2. Unfall. Dann ist nicht anzunehmen, dass der 1. Unfall sie hervorgerufen hat, ebensowenig aber auch, dass der 2. Unfall ihren Verlauf beschleunigte. (Vor dem ersten Unfall hatte die Paralyse sicher noch nicht begonnen.)

Zweite Möglichkeit (unwahrscheinlich): Die Paralyse begann erst nach dem 2. Unfall. Dann ist trotzdem nicht anzunehmen, dass dieser 2. Unfall die Paralyse hervorrief.

Also: auf keinen Fall irgend ein Zusammenhang zwischen der Paralyse und den erlittenen Unfällen.

U. Fälle, in denen die progressive Paralyse nicht durch den Unfall hervorgerufen wurde, der Unfall ein bereits hirnkrankes Individuum traf, die Krankheit aber ungünstig beeinflusste. (Vom Verletzten bezw. dessen An- gehörigen wurde hingegen als Ursache des Leidens der Unfall angeschuldigt.)

1) Später eingesandte strafrechtliche Akten ergaben in der Tat, dass

M. bereits vor dem zweiten Unfall über Kopfschmerzen, „rheumatische Be- schwerden“ geklagt habe und in seinem Wesen verändert gewesen sei.

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 6. 38

5ö4 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.

7. H. St, Beamter, Lues negiert. Bereits vor dem Unfall war St. „nervös“ und hypochondrisch verstimmt, so dass ihm zur Stärkung seines Nervensystems Licht- und Luftbäder verordnet worden waren.

Unfall am 28. IV. 1899: St. besichtigte ein Haus behufs Entwurfs einer Feuerversicherungs-Police und fiel im 3. Stock 3—4 Stufen hinunter; er ver- spürte heftige Schmerzen im linken Arm, konnte jedoch noch bis zum 1. Stock hinuntergeführt werden, wo er einen. Ohnmachtsanfall“ hatte. 11/3 Stunden nach dem Unfall wurde ärztlicherseits ein „eigentümlicher Angstzustand“ bei St. konstatiert, der Verletzte glaubte, dass er sterben müsse; am 26. V. 1899 ergab eine ärztliche Untersuchung das Bestehen eines „expansiven Delirium mit Wahnvorstellungen mystischer Natur und eine durchaus ungeordnete Handlungsweise“. Am 31. V. 1899 Ueberführung in Irrenanstalt: typische progressive Paralyse.

Gutachten: Es erscheint ausgeschlossen, dass der unerhebliche Unfall die Paralyse des St. hervorgerufen hat (keine Verletzung des Kopfes, keine besondere Aufregung). Laut Aktenberichts war auch St. bereits vor dem Unfall nervenkrank. Seine hypochondrische Verstimmung vor der Verletzung ist wohl bereits als ein Symptom der schon bestehenden Paralyse zu deuten. Letztere hat alsdann im Anschluss .an den erlittenen Unfall einen be schleunigten Verlauf genommen, so dass der bis dahin arbeitsfähige Kranke alsbald erwerbsunfähig wurde.

Mehr Wahrscheinlichkeit hat allerdings in diesem Falle die Annahme, dass der angebliche Unfall durch einen paralytischen Anfall hervorgebracht wurde, also bereits eine Folge der Paralyse darstellt.. Oft bezeichnet der erste paralytische Anfall den nach aussen hin sichtbaren Beginn der geistigen Erkrankung, oft wird die Krankheit von dem ersten paralytischen Anfall datiert, während in Wirklichkeit dieser bereits das Zeichen des auf eine gewisse Höhe gelangten Leidens bedeutet.

Im vorliegenden Falle spricht für die paralytische Natur des Anfalls, der den Unfall hervorbrachte, der Umstand, dass St., noch nachdem er geführt zwei Stock hinuntergegangen war, einen Ohnmachtsanfall hatte. Auch der darauf folgende angstvolle Zustand würde ganz in Uebereinstimmung mit anderweitigen Beobachtungen stehen.

Natürlich ist mit Sicherheit nicht auszuschliessen, dass St. doch aus- geglitten und hingefallen ist und dass erst darauf (vielleicht durch den Fall ausgelöst) der paralytische Anfall eintrat.

Also: Entweder war der Unfall bereits die Folge der schon bestehenden Paralyse und durch einen paralytischen Anfall hervorgerufen, also überhaupt kein Unfall im Sinne des Gesetzes; oder aber der Unfall hat das bereits vorhandene Gehirnleiden zu beschleunigtem Verlauf gebracht, indem er den paralytischen Anfall auslöste.

Ganz ähnlich liegt der folgende Fall:

8. E.H., Tischlermeister, 50 Jahre alt, 27 Jahre verheiratet. 2 Söhne. Heredität 0. November 1898 war H. nach Aussage der Frau „abgespannt“ und sprach etwas langsam. Er suchte deshalb einen Nervenarzt auf, der ihm am 11. XI. 1898 Pillen aus Quecksilberjodid verschrieb.

Unfall am 24. XI. 1898: H. glitt aus, als er einen Pferdebahnwagen besteigen wollte, und fiel hin. Leichte Hautwunden am Kopf. Unmittelbar darauf war er sehr benommen, dann geistig gestört, bereits am 28. XI. sagte er u. a: „Meine Frau ist verrückt geworden“, und „es brennt alles“. Die Untersuchung am 14. XII. 1898 ergibt eine ausgesprochene progressive Paralyse.

Gutachten: Paralyse bestand schon vor dem Unfall (war anfangs November 1898 „abgespannt“, der Arzt verschrieb damals Hg-Pillen!). Wahr- scheinlich bekam der an Paralyse leidende H. am 24. XI. 1898 einen apo- plektiformen Anfall und fiel in demselben hin, so dass der Unfall die Folge des Leidens ist. Möglich ist allerdings, dass H. infolge Ausgleitens, ohne dass ein apoplektiformer Anfall vorhanden war, hinfiel und dass dieser Fall dann in dem kranken Hirn jene Veränderung setzte, welche dem apoplekti- formen Anfall zugrunde lag.

Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 555

9. P., 44 Jahre alt. Ueber das Vorleben ist nichts Sicheres bekannt, doch war P. bis zum Unfall arbeitsfähig.

Unfall am 3. VI. 1890: P. fiel von einer Leiter und verletzte sich hierbei den Hinterkopf. Seitdem Kopfschmerzen. Der Verletzte setzte einen Tag die Arbeit aus, war dann bis zum 27. VI. 1890 tätig.

Herbst 1890 verkehrte Handlungen (er zerschnitt Gardinen u. s. w.). Am 28. XI. 1890 mit der Diagnose „progressive Paralyse“ in der Charité aufgenommen. Exitus am 7. XII. 1890 in Dalldorf. Die Autopsie ergab sehr hochgradige typische Veränderungen au Hirn und Rückenmark.

Gutachten: Die durchschnittliche Dauer der Paralyse bis zum tötlichen Ausgange beträgt 3—4 Jabre, wenn nicht interkurrente anderweitige Er- krankungen dem Leben schon früher ein Ende setzen. Im vorliegenden Fall ist es aber die Gehirnkrankheit selbst gewesen, die den Tod herbeigeführt hat. Würde das Leiden demnach im Unfall ihre Ursache und ihren Beginn gehabt haben, so hätte es nur 6 Monate im ganzen gedauert. Ist ein so schneller Verlauf schon als etwas Seltenes und Ausnahmsweises zu betrachten, so spricht auch gegen diese kurze Dauer der Krankheit, dass die bei der Sektion gefundenen Hirnrückenmarksveränderungen so bedeutend waren, dass sie unmöglich iu einem sechsmonatigen Krankheitsverlauf zustande gekommen sein können. Vielmehr ist der Beginn der Erkrankung lange (vielleicht 1—2 Jahre) vor den Zeitpunkt der Verletzung zu setzen. Ist demnach der Unfall nicht die Ursache der Paralyse, so hat er doch ent- schieden die vorhanden gewesene Krankheit zum schnellen Verlauf, zur Arbeitsunfähigkeit und dann zum tötlichen Ausgang geführt: P. war wie festgestellt ist bis zum Unfall völlig arbeits- und erwerbsfähig, nach demselben klagte er seinem Arbeitgeber und anderen gegenüber andauernd über Kopfschmerzen, und schon nach wenigen Monaten zeigte sich die Geisteskrankheit in vollster Stärke. Ohne den Unfall hätte P. vielleicht noch zwei Jahre und auch länger leben und einen Teil dieser Zeit arbeits- fähig sein können.

Also: Die Paralyse bestand schon vor dem Trauma, letzteres übte einen ungünstigen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit ans. |

10. A. W., 81 Jahre alt, Schiffer. 8 Kinder. Bis Herbst 1892 völlig gesund. Im Frühjahr 1893 fiel es zuerst auf, dass W., obwohl er im übrigen völlig gesund schien, beim Sprechen die Worte nicht recht herausbringen konnte und „stotterte“ (Aussage zweier Zeugen).

Unfälle: Anfang Mai 1893 fiel W. längst der Bordwand des Schiffes, auf welchem er arbeitete, auf Brust und Kopf, nach kurzer Pause konnte er seine Arbeit wieder fortsetzen. Etwa 2—3 Wochen später zweiter Unfall: ein Brett kippte in die Höhe und schlug mit solcher Heftigkeit vor den Kopf des W., dass dieser zu Boden fiel. Blutende Wunde an den Schläfen. Verband. Dann arbeitete W. weiter, konnte aber seine Arbeit nicht mehr so gut verrichten wie früher und musste wiederholt daran erinnert werden, was ihm zu besorgen oblag. Juli 1893 Kopfschmerzen, zerstreut, verändertes Wesen, W. wurde entlassen. August 1893 starke Verschlimmerung, November 1893 Ueberführung in Irrenanstalt, woselbst typische progressive Paralyse fest- gestellt wurde.

Gutachten: Die bei W. im Frühjahr 1893 bemerkte Sprachstörung ist wohl als erstes auffallendes Symptom der Paralyse des Verletzten anzu- sehen. Die Krankheit bestand demnach schon zur Zeit der Unfälle im Mai 1893, letztere können nicht die Ursache des jetzigen Leidens sein. Hingegen ist mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Krankheit nach den Unfällen einen schnelleren Verlauf genommen hat: mit Sicherheit ist allerdings nicht zu sagen, ob nicht auch ohne die Unfälle die Krankheit den oben geschilderten Verlauf genommen hätte und ob nicht die erwähnte Verschlimmerung nach den Unfällen nur ein zufälliges Zusammentreffen war (vielleicht war der erste Unfall die Folge eines paralytischen Anfalls?).

Also: Die Paralyse bestand schon vor den Unfällen, letztere wirkten wahrscheinlich beschleunigend auf den Verlauf des Leidens.

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556 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.

ll. A. F., Arbeiter, 51 Jahre alt. Bis zum Unfall nie nennenswert krank gewesen, insbesondere sollen nach Aussage der Frau des Verletzten keinerlei geistige Veränderungen bei F. vor dem Unfall bestanden haben!

Unfall am 12. XI. 1898: F. glitt mit dem rechten Fuss aus und erlitt einen Bruch des rechten Oberschenkelhalses. Februar 1899 war der Bruch verheilt, die Bewegungsfähigkeit im Hüftgelenk ziemlich ausgiebig, die Ro- tation nach innen noch etwas behindert, Ins Bein im ganzen ca. 6 cm ver- kürzt und atrophisch. Mai 1899 erkannte das Schiedsgericht wegen der Folgen des Oberschenkelhalsbruches auf 75 pCt. In der Folgezeit soll F. nach der Aussage der Frau sehr erregt und „geistesgestört“ gewesen sein. Am 17. VI. 1899 Ueberführung in Irrenanstalt, woselbst er bis zum 7. VIII. blieb, (hier wurden Verfolgungsideen, Nahrungsverweigerung und Lähmungs- erscheinungen festgestellt). Die Untersuchung am 11. XII. 1899 ergab eine typische vorgeschrittene Paralyse sowie die Folgen eines rechtsseitigen Schenkelhalsbruches. Ersteres Leiden ıst unmöglich als Folge des er- littenen Unfalls anzusehen, da bei der Verletzung weder der Kopf mit betroffen ist noch ein starkes psychisches Trauma dieselbe begleitet hat. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Paralyse bereits zurzeit des Unfalls be- stand, zumal da schon etwa 6 Monate nach dem Unfall sehr schwere Er- scheinungen geistiger Krankheit vorhanden waren. Es ist ferner sehr wahr- scheinlich, dass der Knochenbruch, welcher auf eine ganz unerhebliche Ver- anlassung hin bei dem erst 51 Jahre alten Manne erfolgte, schon ein Zeichen. der Nervenerkrankung war, welche erfahrungsgemäss nicht selten mit einer leichten Brüchigkeit der Knochen einhergeht. Andrerseits ist aber nicht zu verkennen, dass der Unfall mit dem langen Krankenlager und den ver- änderten Ernäbrungsverhältnissen wohl imstande war, einen beschleunigten Ablauf des bis dahin latent vorhandenen Leidens herbeizuführen.

Also: Paralyse nicht durch den Unfall hervorgerufen, wohl aber durch ihn ungünstig beeinflusst.

12. W. W., Kesselschmied, 39 Jahre alt, 1 gesundes Kind. Heredität 0. Laes negiert. Alkohol mässig. Am 3. IV. 1895 konsultierte W. einen Arzt wegen eines Augenleidens (dasselbe wird nicht näher bezeichnet). Sonst bis zum Unfall angeblich gesund.

Unfall am 6. IV. 1895; W. wollte von der linken nach der rechten Seite unter einem Kessel hindurchkriechen. In diesem Augenblicke wurde- vom Kesselinnern aus ein Dorn durch ein Nietloch getrieben, dieser Dorn traf den Kopf des W., der Dorn war etwa 5—6 Zoll lang, oben etwa ®/, Zoll stark und wurde nach unten schwächer bis etwa jẹ Zoll. Als W. unter dem Kessel wieder hervorgekrochen war, taumelte er zur Seite, ohne jedoch hin- zufallen. Klaffende Wunde am Hinterkopf.

Am 11. 1V. 1895 wurde von augenärztlicher Seite eine ausgesprochene Sehnervenatrophie festgestellt.

Die Untersuchung am 1. IV. 1896 ergibt das Bild einer vorgeschrittenen Taboparalyse mit Atrophia optici und völliger Erblindung.

Gutachten: Die Krankheit bestand schon zur Zeit des Unfalls: die Tatsache, dass W. am 3. IV. 1895 einen Arzt wegen Angenleidens, welch letzteres nach Lage der Dinge mit der jetzigen Erblindung in Zusammen- hang gebracht werden muss, konsultierte, spricht ebenso dafür, dass die An- fänge der jetzigen Krankheit vor dem Unfall bestanden haben, wie die Tat- sache, dass bereits am 11. 1V. 1895 ein ausgesprochener Sehnervenschwund augenärztlicherseits konstatiert wurde, entschieden dagegen spricht, dass diese Opticusatrophie sich in der Zeit von 5 Tagen entwickelt haben sollte.

Hingegen muss angenommen werden, dass der Unfall in erheblichem Masse beschleunigend auf den Verlauf der Krankheit wirkte, speziell auch auf das Fortschreiten der Sehnervenatrophie. Die Mitarbeiter des W. geben übereinstimmend an, dass sie an ihm bis zum Unfalltage nichts Krankhaftes bemerkt haben und es muss nach diesen Zeugenaussagen angenommen werden, dass die Krankheit, dio unzweifelhaft schon vor dem Unfall bestand, erst nach diesem so schwere Symptome hervorrief, dass dadurch die Arbeits- fähigkeit des W. vernichtet wurde.

Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten.. 557

Also: Paralyse bestand schon vor dem Trauma, wurde aber durch dasselbe in ihrem Verlauf beschleunigt.

13. M. D., 50 Jahre alt, Zimmerer. Seit 22 Jahren in kinderloser Ehe verheiratet. Bis Unfall nie erheblich krank gewesen. Lues und Alkoho- lismus negiert. Von jeher soll er sehr still und wenig mitteilsam gewesen sein, seine Sprache war immer langsam und stotternd, sein Gang bedächtig.

Unfall im Februar 1900: ein umfallender Stempel schlug ihm gegen die Stirn. Bald darauf Beule an Stirn, die nach einigen Tagen wieder ver- schwand. Er arbeitete bald weiter, klagte aber später wiederholt über Kopfschmerzen. Im April 1900 Depression. Im August 1900 soll er Mit- arbeitern gegenüber Grössenideen geäussert, auch ein verändertes Wesen ge- zeigt haben und sehr niedergedrückt gewesen sein. Ende Oktober deutliche schwachsinnige Grössenideen (er will die Provinz Posen kaufen und König von Polen werden). Darauf Tobsuchtsanfälle.

Die Untersuchung im Dezember 1900 ergab eine typische vorgeschrittene progressive Paralyse.

Gutachten: Die Verletzung war zu unerheblich (keine Schädelver- letzung, keinerlei Zeichen von Hirnerschütterung, kein Shock, kein Kranken- lager, D. arbeitete ohne Unterbrechnung weiter), als dass die Paralyse durch das Trauma hervorgerufen sein könnte.

Wohl aber war die erlittene Kopfverletzung imstande, die bereits vorher in der Entwicklung begriffene, latent verlaufene, für Laien noch un- kenntliche Gehirnkrankheit zum schnelleren Ausbruch und Ablauf zu bringen, zumal ein gewisser zeitlicher Zusammenhang zwischen Unfall und dem Auf- treten schwererer Symptome vorhanden ist. Das Hervortreten von Grössen- ideen in exzessiver Weise und Tobsuchtsanfällen im Oktober 1900 bekundet bereits die volle Entwicklung der Krankheit zu dieser Zeit; bei dem ge- wöhnlichen nicht galoppierenden Verlauf der Paralyse kann man annehmen, dass, wenn solche Grössenideen sich zeigen, der erste Beginn der Krankheit schon 1 Jahr und länger zurückzuverlegen ist. Dies würae also vor dem erlittenen Unfall sein.

- Also: Der Unfall traf ein scbon vorher krankes Gehirn, machte aber die Erscheinungen der Krankheit nach aussen hin deutlich und brachte so- mit eine erhebliche Verschlimmerung der Krankheit und eine Beschleunigung ihres Verlaufs.

14. F. V., 50 Jahre alt, Maurer. Hered. 0. Bereits vor dem Unfall öfter Doppelsehen. Sonst gesund gewesen.

Unfall am 6. VIII. 1895: V. fiel 4!, m tief herunter, erlitt eine Kopf- verletzung und einen Bruch der linken 3. bis 5. Rippe. Bereits Oktober 1895 fiel eine ungemein zittrige Schrift bei V. auf, er war sehr „ungebärdig“. All- mähliche Zunahme der Symptome. Am 1. VIII. 1896 werden bei der ärıt- lichen Untersuchung somatische Paralyse-Zeichen festgestellt, in der Nacht vom 31. XII. 1896 zum 1. I. 1897 Suicid durch Erhängen, nachdem V. mehrere Tage vorher wirre Reden geführt hatte.

Die Autopsie ergab die typischen, bereits stark vorgeschrittenen Ver- änderungen der progressiven Paralyse.

Gutachten: Für die Annahme, dass das Leiden bereits vor dem 6. VIII. 1895 begonnen hat, spricht 1. die Tatsache, dass die bei der Sektion gefundenen Veränderungen sehr hochgradig waren (sie deuten also auf einen schon längere Zeit zurückliegenden Anfang des Leidens), 2. das Vorhanden- sein von Doppelbildern vor dem Unfall (dieses Doppelsehen ist in Beziehung zu der späteren Krankheit zu bringen), 3. die bereits 2 Monate nach dem Unfall sich zeigende auffallend zittrige Schrift (was auch darauf hindeutet, dass die Krankheit schon vor längerer Zeit begonnen hatte).

Unzweifelhaft war aber der schwere Unfall, welcher zu langem Krankenlager führte und mit einer nicht unbedeutenden Kopfverletzung ein- herging, wohl geeignet, den Verlauf der Krankheit erheblich zu beschleunigen.

Also: Paralyse schon vor dem Trauma, ihr Verlauf aber durch die Verletzung erheblich beschleunigt.

558 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.

15. F. E., Maurer, 58 Jahre alt. Vor dem Unfall und zwar im Jahre 1888. Kopfschmerzen, öfter Hitze im Kopf, Schmerzen im Rücken und in den Oberschenkeln, sonst gesund gewesen.

Unfall am 15. xí. 1889: Durch einen in einem Brette steckenden Nagel verletzte sich E. den rechten Daumen. Dann Phlegmone, welche ausheilte, aber eine erhebliche Beschränkung der Bewegungsfähigkeit hinterliess. Juni 1890 Depression des Gemütszustandes, dieselbe verstärkt sich stetig. Pfingsten 1891 deutliche progressive Paralyse, 15. VI. 1893 Exitus. Die Au- topsie stellt fest: progressive Paralyse, Krebs des Magens, Dickdarms und Netzes, Lungenentzündung.

Gutachten: Paralyse-Beginn schon vor dem Unfall (bereits im Jahre 1888 Kopfschmerz etc.). Bis zum Unfall hatte aber das Leiden noch nicht die Höhe erreicht, um E. in seiner Erwerbsfähigkeit zu hindern. Nach dem Trauma und dem sich anschliessenden langen und schweren Kranken- lager (mit Sorgen wegen des Zustandes der rechten Hand) sehen wir im Juni 1890 Stadium der Depression, April 1891 Erregtheit, Juni 1891 geistige Schwäche und Grössenideen.

Also: Unfall hat den vollen Ausbruch des Leidens beschleunigt in der Weise, dass ohne ihn E. möglicherweise noch längere Zeit arbeitsfähig ge- wesen wäre.

Es kann jedoch, da der Exitus erst mehr als 5 Jahre nach Beginn des Leidens eintrat (die Durchschnittsdauer der Krankheit demnach überschritten wurde), nicht behauptet werden, dass durch die Zwischenkunft des Unfalls der Tod vorzeitig erfolgt ist. E. ist infolge des Unfalls früher arbeits- unfähig geworden, nicht aber früher gestorben als es ohne den Unfall geschehen wäre. Zudem sind die Haupttodesursachen bei E. die Lungen- entzündung und das Karzinom gewesen.

16. J. H., 46 Jahre alt, Heizer. Heredität 0. 20 Jahre verheiratet. 1 Abort der Frau im 3. Monat. 1 gesundes Kind. Als Kind Diphtherie, beim Militär Flecktypbus. Sonst gesund gewesen. Nie Gelenkrheumatismus. Alkohol mässig. Lues wird negiert. Vor dem Unfall zeitweise Schwindel- anfälle. Bei der Frau des H. sind festzustellen: Atrophia optici, Pupillendifferenz, reflektorische Pupillenstarre, Sprach- und Intelligenzstörung, lebhafte Kniereflexe, Analgesiean den Unter- schenkeln (demnach Paralysis progressiva bezw. eine organische Erkrankung des Zentralnervensystems, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Syphilisinfektion zurückzuführen ist).

Unfall am 31. VII. 1903: Beim Oeffnen eines Dampfhahns eines Kessels wurde ihm durch Ausströmung von Nebendampf das Gesicht verbrüht. Da er wegen des ausströmenden Dampfes nicht gleich gut sehen konnte, stiess er mit dem Kopf gegen die Ummauerung des Kessels und zog sich hierbei eine leichte Stirnverletzung zu. Bereits am folgenden Tage nahm er die Arbeit wieder auf. Seitdem aber Augen schwach, Schwindelanfälle, häufig Kopfschmerzen, Sprache und Schrift schlechter. Wegen „langsamen Fort- schreitens des Verfalles seiner körperlichen Kräfte und seines geistigen Zustandes“ konnte er immer weniger gut sein Arbeitspensum leisten, er wurde seines verantwortlichen Postens als Heizer enthoben und bis zum 8. IV. 1904 nur noch als Kohlenkarrer beschäftigt. Von dann an keine Arbeit mehr. `

Die Untersuchung vom 80. IV. 1904 ergibt eine typische vorgeschrittene progressive Paralyse mit Aorteninsuffizienz und -stenose.

Gutachten: 1. Das Herzleiden steht nicht in ursächlichem Zusammen- hang mit dem Unfall.

2. Unfall za unerheblich, als dass er Paralyse erzeugen könnte (unbedeutende Verletzung ohne Beteiligung des Schädelknochens oder Gehirns und ohne Shockwirkung, keine Bewusstlosigkeit, H. nahm bereits am folgenden Tage die Arbeit wieder auf). Ferner ist in Anbetracht des gegenwärtigen vorgeschrittenen Stadiums der Paralyse bei H. anzunehmen, dass das Leiden zur Zeit des Unfalls bereits bestand und in Entwicklung begriffen war. Für diese Annahme spricht auch das Vorhandensein von Schwindelanfällen vor

Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 559

dem Unfall (dieselben können allerdings auch als Folge des Herzfehlers betrachtet werden). Einen Hinweis auf die eigentliche Ursache der bei dem Verletzten konstatierten progressiven Paralyse gibt uns aber der Umstand, dass seine Frau an einer organischen, mit Wahrscheinlichkeit auf Syphilis zurückzuführenden Hirn- krankheit leidet, und man wird unter diesen Umständen nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass das Hirnleiden des H. gleich- falls die Folge einer früher stattgehabten Syphilis ist, welche derselbe auf seine Frau übertragen hat (oder umgekehrt!) und dass demnach diese Syphilis die gemeinsame Ursache der Er- krankung beider Ehegatten ist. (Konjugale Paralyse.)

8. Wohl aber vermochte der Unfall die bereits vorhanden gewesene, bis dahin latent verlaufene Krankheit manifest zu machen, zum schnelleren Verlauf, zur Erwerbsbeeinträchtigung und schliesslich zur Arbeitsunfähigkeit zu führen. Ohne den Unfall hätte H. möglicherweise noch längere Zeit in

leicher Weise und für den gleichen Lohn wie vor der Verletzung arbeiten önnen.

Also: Paralyse durch den Unfall nicht hervorgerufen, wohl aber durch denselben in ihrem Verlauf beschleunigt.

17. A O., 53 Jahre alt, Arbeiter. Heredität 0. 28 Jahre verheiratet. 2 gesunde Kinder, 5 Kinder an Kinderkrankheit gestorben. Lues zugegeben. Laut Zeugenaussagen war O. bereits vor dem Unfall konfuse und vergesslich, er führte oft Aufträge überhaupt nicht, häufig auch verkehrt aus und „be- nahm sich bezüglich seines geistigen Zustandes oft so, wie man es von einem so alten Manne nicht voraussetzt“. (Angabe eines Mitarbeiters.)

Unfall am 27. XII. 1898. Eine polierte Holzspule von etwa 80 g Schwere flog dem O. mit der runden polierten Fläche gegen das Gesicht. Quetsch- wunde der Haut der linken Wange und Nase. Keichliche Blutung aus der Nase, die die Einführung eines Tampons erforderte. Später noch öfter Nasenblutungen. Als O. 3 Wochen nach dem Unfall wieder zu arbeiten ver- suchte, zeigte sich, dass er die Farben verwechselte und sich ungeschickt anstellte, weshalb er zu arbeiten aufhörte.

Die Untersuchung am 4. XI. 1899 ergibt eine vorgeschrittene progressive Paralyse. Gutachten: Die Paralyse bestand schon vor dem Unfall (Zeugen- aussagen über das Wesen des O. vor dem Unfall!). Auch war das Trauma zu unerheblich, um eine Paralyse hervorrufen zu können. Zudem Lues zu- gegeben! Nach dem Unfall verschlimmerte sich aber der Zustand erheblich, so dass der bis zum Unfall völlig erwerbsfähige Mann wenige Wochen nach dem- selben erwerbsunfähig war, auch zeigten sich schon einige Tage nach dem Trauma schwere Symptome geistiger Störung. Die mit dem Unfall ver- bundenen schweren Blutungen aus der Nase und die dadurch gesetzte Schwächung des Organismus können sehr wohl eine Verschlimmerung des Leidens herbeigeführt haben.

Also: Paralyse, schon vor dem Unfall vorhanden, wurde durch den Unfall und seine mittelbaren Folgen erheblich verschlimmert.

18. St., 37 Jahre alt, Kaufmann. Im Jahre 1893 plötzlich Anfall von Bewusstlosigkeit und Hinfallen. Solche Anfälle wiederholten sich später, auch traten häufig Schwindelanfälle auf, daneben machte sich eine grosse

sychische Reizbarkeit geltend. 1895 Unsicherheit auf den Beinen, Ver- tangsamung der Sprache, Depression des Gemüts, starke Erregbarkeit. Sommer 1898 Besserung.

Unfall am 12. I. 1899. Auf einer wendelartig gebauten Treppe, auf welcher man leicht einen Fehltritt tun und zu Fall kommen konnte, stolperte St. und fiel hinab. Abschürfungen an der Stirn, Bluterguss unter die Haut oberhalb des rechten Auges, Schwellung beider Handgelenke. März 1899 waren die Wunden an Kopf und Händen geheilt, doch zeigten sich die nervösen Symptome, welche früher schon vorhanden waren, erheblich ver- schlimmert: Geschwätzigkeit, fortwährende Heiterkeit, starke Gedächtnis- schwäche, unleserliche Schrift, Intelligenzschwäche, stärkere Gehstörung.

560 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.

Die Untersuchung im August 1899 ergibt eine vorgeschrittene Tabo- aralyse.

P Gutachten: Die Krankheit bestand bereits vor dem Unfall. Durch die Kopfverletzung trat dann eine deutliche Verschlimmerung ein. Es ist möglich, dass auch ohne den Unfall die Symptome sich zu der jetzigen Höhe gesteigert hätten, doch kann andererseits der ungünstige Eindnss des erlittenen Unfalls nicht bestritten werden, zumal Unfall und Verschlimmerung in zeitlichem Zusammenhang stehen.

Gleichfalls kann nicht bestritten werden, dass das Ausgleiten auf der Wendeltreppe auch ohne Einfluss des schon bestehenden krankhuften Zu- standes des St. zustande kommen konnte, also nicht schon Folge der Krank- heit war, zumal die Oertlichkeit laut Zeugenaussage ein leichtes Fallen auch für Gesunde ermöglichte.

Die lange Dauer der Krankheit hat in Anbetracht der Diagnose „Tabo- paralyse“ nichts Auffälliges.

Also: Taboparalyse, schon vor Unfall vorhanden, wurde durch denselben ungünstig beeinflusst.

19. Hierher gehört schliesslich der folgende Fall, in welchem das Trauma den Ausbruch und Verlauf einer erst später einsetzenden Paralyse insofern beschleunigte, als es eine körperliche Krankheit verursachte bezw. ver- schlimmerte, welch letztere die Widerstandskraft des Verletzten herabsetzte. Auf diese Weise heschleunigte der Unfall auf indirektem Wege, sozusagen auf dem Umwege der körperlichen Erkrankung, den Ausbruch der Paralyse und führte indirekt einen vorzeitigen Tod herbei.

H. E., Monteur, 33 Jahre alt. Ueber das Vorleben ist nichts Sicheres bekannt. Syphilis negiert.

Unfall am 11. Il. 1902. Ein heruntergleitender Elevator legte sich mit voller Wucht auf die linke Seite seiner Brust, so dass er in Sitzstellung ge- drückt wurde und eine Brustquetschung erlitt. E. blieb acht Tage noch an Ort und Stelle bei der Arbeit. Als Folge dieses Unfalls (oder wenigstens durch den Unfall verschlimmert) wurde dann ärztlicherseits eine Aorten- insuffizienz und Eiweissharnen festgestellt. Erst im Frühjahr 1903 zeigten sich deutliche Zeichen einer Nervenkrankheit. Bis dahin ist in den ärzt- lichen Gutachten nichts von einer geistigen Veränderung vermerkt. 18. IV. 1903 Zustand von Bewusstlosigkeit und tobsüchtiger Erregung. Ein solcher Anfall wiederholte sich am 29. X. 1903 und später noch mehrmals. Verschlimmerung des geistigen Zustandes. Ueberführung in Anstalt.

Die Untersuchung im Februar 1904 ergab das Endstadium der pro- gressiven Paralyse. Exitus am 30. III. 1904 an paralytischem Marasmus.

Gutachten: Der Unfall war nicht geeignet, eine Paralyse hervor- zurufen (keine Kopfverletzung, keine Bewusstlosigkeit, kein Erbrechen; E. arbeitete 8 Tage wie früher weiter). Ein direkter ursächlicher Zusammen- hang zwischen der Paralyse und dem Unfall besteht demnach nicht.

Hingegen ist anzunehmen, dass die anerkannten Folgen des Unfalls, das Herz- und Nierenleiden, auf den Verlauf der Paralyse einen ungünstigen Einfluss ausübten. Der schnelle Verfall des E. und der frühe Tod (11 Monate nach den ersten deutlichen Symptomen) wurde wohl dadurch bedingt, dass die Krankheit einen Menschen mit schwerer Herz- und Nierenkrankheit ge- troffen hatte. E. hätte den Schädlichkeiten, welche seine Geisteskrankheit hervorgerufen haben, eine grössere Widerstandskraft entgegensetzen können, wenn er nicht infolge des Önfalls in schwerer Weise körperlich erkrankt ge- wesen wäre.

Also: Der infolge Gehirnerweichung erfolgte Tod des E. ist vorzeitig eingetreten,weil die Folgen desUnfallsseinenKörper erheblich geschwächt hatten.

III. Fälle, in denen vor dem Unfall keinerlei Zeichen von Paralyse vorhanden waren, in denen das Trauma die Krankheit hervorrief bezw. auslöste.

20. H. S., Zimmerer, 37 Jahre alt. Hered. 0. Seiner Ehe entstammt ein Kind, welches seit Geburt blind ist (gonorrhoische Augenentzündung).

Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 561

Bis Unfall stets völlig gesund, insbesondere nie irgendwelche Kopfbeschwerden oder geistige Abnormität. Lues, Gonorrhoe und Alkoholabusus negiert. War Soldat.

Unfall am 22. III. 1899: S. brach mit einem nicht gut befestigten Schifter herunter und fiel etwa 3 m tief auf die Abdeckung des obersten Ge- schosses, und zwar so, dass er mit dem Hinterkopf auf einen Balken in der Mansarde aufschlug. Er verlor die Besinnung und kam erst wieder zu sich, als seine Kollegen ihm den Kopf mit Wasser kühlten. Am Abend desselben Tages Erbrechen.

Am folgenden Tage arbeitete er weiter, wurde jedoch nach drei Tagen aus seiner Stellung entlassen; ebenso musste er in der Folgezeit des öfteren (etwa jede Woche) seine Stellung wechseln, da „sein Kopf infolge des Unfalls leidend war“.

September 1899 starke Erregung, „stockende“ Beantwortung der Fragen, leerer Gesichtsausdruck, Intelligenzschwäche und lebhafte Patollarrofloxe ärzt- licherseits festgestellt, und „traumatische Neurose“ seitens des Nervenarztes diagnostiziert. Gleiche Diagnose seitens desselben Arztes am 22. III. 1900. Hingegen nehmen bereits damals zwei andere Gutachter das Bestehen einer progressiven Paralyse an. 27. IlI. 1900 Aufnahme im Krankenhaus am Urban, von wo aus der Verletzte schon nach 24 Stunden in die Irrenanstalt zu Herz- berge überführt werden musste. Meine Untersuchung fand am 29. IX. 1900 statt und ergab das ausgesprochene Bild der Paralyse ( ochgradige Intelligenz- schwäche, Sprachstörung, Pupillenstarre, Schwäche des rechten N. VII und XII, ungleiche, lebhafte Kniereflexe, Hyperalgesie an den Unterschenkeln, S. machte Dummheiten, ging statt auf den Abort auf den Boden und defäzierte dort, fand oft nicht heim, so dass er durch die Polizei nach Haus gebracht werden musste).

Gutachten: 1. Bei der Art der am 22. III. 1899 stattgehabten Ver- letzung (Kopfverletzung mit Hirnerschütterung [Bewusstlosigkeit, Erbrechen) ist die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Ausbruc des Hirnleidens und Unfall nicht von der Hand zu weisen.

2. Diese Möglichkeit wird zur Wahrscheinlichkeit, wenn die in den Akten befindlichen Angaben des Verletzten und seiner Frau als der Wahr- heit entsprechend angenommen werden, insbesondere die Aussage, dass S. bis zum Tage des Unfalls immer völlig beschwerdefrei war, drei Tage nach dem Unfall aber seine Stellung wegen „Schwäche im Kopfe“ wechseln musste und auch später stets nach wenigen Arbeitstagen vom Arbeitgeber entlassen wurde, weil „sein Kopf leidend war“, dass er nach der Verletzung unruhig und aufgeregt wurde u. s. w. Es würde alsdann eben auch ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Beginn der Paralyse und Unfall vor- handen sein.

Also: es ist die Annahme nicht von der Hand zu weisen, dass S. bis zum Unfall gesund war und dass letzterer die Ursache bezw. das auslösende Moment der progressiven Paralyse darstellt, zumal andere ätiologische Momente fehlen. Näheres über diesen Fall siehe später.

21. H. St., 15 Jahre alt, Formerstochter. Vater starb infolge Magen- blutung, hatte laut Aussage der Mutter wahrscheinlich Syphilis. Mutter gesund (von mir untersucht), hat keinmal abortiert, sie hatte eine Früh-

eburt im 7. Monat, fünf Kinder starben in den ersten zwei Wochen nach er Geburt an Lebensschwäche. Pat. ist das letzte, einzig am Leben ge- bliebene Kind.

Kurz nach der Geburt Blennorrhoe. Als Kind Scharlach. Sonst völlig gesund bis zum Unfall. Nie Ausschlag. Lernte zur Zeit laufen und sprechen, war in der Schule ganz gut und entwickelte sich geistig und körperlich in normaler Weise.

August 1908 (Pat. war damals 18 Jahre alt) Unfall: Pat. wollte über den Fahrdamm gehen, als gerade ein elektrischer Strassenbahnwagen heran- kam. Derselbe schleifte sie ca. 4 m lang mit, schliesslich wurde sie unter dem Wagen hervorgezogen, sie war etwa eine Stunde bewusstlos und hatte Erbrechen. Beule an Stirnmitte und am Hinterkopf, Hautabschürfungen an Armen und Beinen. Der herbeigerufene Arzt stellte eine „schwere Hirn-

662 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.

erschütterung“ fest. Pat. musste sieben Wochen lang im Bett bleiben. Während sie vorher ganz normal und beschwerdefrei war, klagte sie seit diesem Unfall über Kopfschmerzen, sie wurde ungeschickter, bekam Zittern der Hände, konnte allmählich nicht mehr recht denken, wurde gedächtnis- schwach. Etwa 1!/, Jahr nach dem Unfall wurde auch eine Verschlechterun

des Sprechens und Gehens bemerkt. Sie wurde kindlicher, beschäftigte sich den ganzen Tag über mit Perlenaufziehen und Puppen, spielte nur mit ganz kleinen Kindern, kam mit ihren früheren, gleichaltrigen Freundinnen aus- einander, wurde etwa wie ein 7jähriges Kind. Die zuerst im 13. Lebens- jahre aufgetretenen Menses sind seit neun Monaten ausgeblieben. Keine

entenansprüche.

Status (April 1905, nachkontrolliert Juli 1906): Kleine, anämische Person. Aengstlich, weinerlich. Keine deutlichen Zeichen hereditärer Syphilis. Starke Demenz. Rechnen sehr schlecht, früher ging es angeblich gut. Urteils- unfähigkeit. Schnalzt dauernd mit der Zunge. Typisches Silbenstolpern. Mydriasis. Pupillenstarre. Unsicherer, wackelnder Gang. Lebhafte Patellar- reflexe. Sensibilität intakt. Innere Organe normal.

Diagnose: Juvenile Form der progressiven Paralyse.

Gutachten: Nach den völlig glaubwürdigen Angaben der Mutter war Pat. bis zum Trauma völlig gesund, nach dem Unfall, welcher sehr erheblich und wohl imstande war, eine Paralyse hervorzurufen (schwere Hirnerschüt- terung), hat sich dann allmählich das typische Bild der progressiven Paralyse- entwickelt. Aetiologisch kommt nun aber in diesem Fall die wahrscheinlich vorhanden gewesene Syphilis des Vaters sehr in Frage (Angabe der Mutter! Eine Frühgeburt der Mutter, fünf Geschwister starben in den ersten zwei Wochen nach der Geburt! Pat. ist das einzige überlebende Kind!), wie ja überhaupt gerade bei der juvenilen Paralyse die Syphilis (der Eltern) eine ganz besondere Rolle spielt.

Es ist anzunehmen, dass im vorliegenden Fall der Unfall die progressive Paralyse bei dem durch die elterliche Syphilis zur Krankheit disponierten Individuum, bei dem von Geburt an invaliden Gehirn ausgelöst hat. Ohne- den, stattgehabten Unfall wäre die Person vielleicht dauernd paralysefrei geblieben.

Näheres über diesen Fall siehe später.

Von den vorstehenden 21 Beobachtungen kommen eigentlich:

nur 2 (Fall 20 und 21) für die Frage: „Gibt es eine rein trau- matische progressive Paralyse?“ in Betracht.

Bei den übrigen 19 Fällen war entweder die Paralyse schon: vor dem Trauma vorhanden, kann also durch dasselbe nicht hervorgerufen worden sein (Fall 4, 5, 6 [bezüglich des zweiten Unfalls], ferner 7 bis 19), oder aber die Paralyse begann allerdings- erst nach der Verletzung, diese war aber ihrer Unerheblichkeit wegen durchaus ungeeignet, eine Paralyse zu verursachen (Fall 1,. 2, 3, 6 [bezüglich des ersten Unfalls]), zudem fehlte bei 3 dieser Fälle (Fall 1, 3, 6) der zeitliche Zusammenhang zwischen Beginn der Paralyse und dem Zeitpunkt des Unfalls.

Bei 3 der erstgenannten Beobachtungen (Paralyse bestand: schon vor dem Unfall) blieb auch das Trauma ohne nachteiligen Einfluss auf den Verlauf der Paralyse (Fall 4, 5, 6), was sich: dadurch zeigte, dass ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Ver-- schlimmerung des Leidens und dem Zeitpunkte des Unfalls fehlte, auch nahm der Verletzte bald nach dem Unfall seine Arbeit in früherer Weise wieder auf. Hingegen ist bei den Fällen 7—19: dem Trauma eine den Verlauf beschleunigende Wirkung zuzu- schreiben. i

Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 568

Dass die Paralyse ın all’ diesen Fällen schon vor dem Un- fall bestand, ergibt sich daraus, dass subjective oder objective Symptome (Schwindel, Kopfschmerz, Augensymptome, Sprach- störung, verändertes Wesen) bereits aus der Zeit vor dem Trauma berichtet werden oder dass die Untersuchung bezw. die Sektion (Fall 9 und 14) eine schon so weit vorgeschrittene Paralyse dar- tat, dass ihr Beginn in eine Zeit vor dem Trauma zurückdatiert werden musste, Eine Sonderstellang nimmt Fall 19 insofern ein, als hier die Paralyse zwar noch nicht vor dem Trauma bestund, letzteres aber die später sich einstellende Paralyse dadurch un- günstig beeinflusste, dass es die Widerstandskraft des Organismus durch Erzeugung eines Herz- und Nierenleidens stark herabgesetzt hatte (s. oben).

Das Hauptinteresse bieten wie gesagt die beiden Fälle 20 und 21 für die Frage der rein traumatischen Paralyse. In beiden Fällen war die Verletzung erheblich genug, um die Annahme zu rechtfertigen, dass durch sie eventuell eine Paralyse hervorgerufen werden konnte, in beiden Fällen soll das Individuum bis zum Unfall völlig gesund und beschwerdefrei gewesen sein, ın beiden Fällen ist auch ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Beginn der Paralyse und Trauma vorhanden.

Nun aber war im Falle 21 wie man mit Sicherheit an- nehmen kann das Individuum zur Paralyse von Geburt an rädisponiert; der Vater hatte wahrscheinlich Syphilis, die Mutter hatte eine Frühgeburt im 7. Monat, 5 Geschwister starben bald nach der Geburt an Lebensschwäche, so dass Patient das einzige überlebende Kind ist. Die elterliche Syphilis hatte das Kind mit einem invaliden, paralyse-empfänglichen Hirn ausgestattet. Das Trauma kam nun hinzu, um den Stein ins Rollen zu bringen; wahrscheinlich hätte, wenn der Unfall das Gehirn nicht betroffen hätte, irgend eine andere Schädlichkeit auf dem dazu präparierten Boden die Paralyse zur Erscheinung gebracht; vielleicht wäre aber auch das Individuum ohne das Trauma dauernd gesund ge- blieben. Kurz: das Trauma hat das Leiden nicht direkt und allein verursacht, sondern nur „ausgelöst“; ohne die vorhandene Disposition des betroffenen Individuums hätte der Un- fall nicht in der Weise wirken können, wie er gewirkt hat; bei völlig gesundem Gehirn hätte er wohl nicht zur Paralyse geführt.

Anders bei Fall: 20: bier ist weder hereditäre Belastung, noch Lues, noch Alkoholismus, noch irgend ein anderes ätiolo- gisches Moment in der Anamnese vorhanden, welches bei Er- zeugung der Paralyse neben dem Trauma hätte wirksam sein können; die Blindheit des Kindes ist auf eine Blennorrhoe zurück- zuführen. Hier scheint also das Trauma die Paralyse wirklich hervorgerufen zu haben. Allerdings sind wir bezüglich der Vor- geschichte lediglich auf die Angaben des Verletzten und seiner Frau angewiesen. Ob nicht der Verletzte, der sicher wohl Gonorrhoe gehabt hat und sie leugnet, auch mal syphilitisch.

584 Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten.

infiziert war und so sein Gehirn zu jener Erkrankung vorbereitet hat, welche dann die Kopfverletzung auslöste?

NachallemmöchteichmichaufGrundmeinesMaterials undin Anbetracht der Tatsache, dass auch die ganz über- aus seltenen Fälle von anscheinend rein traumatischer Paralyse nicht über jeden Zweifel erhaben sind, auf Seite derer stellen, welche eine lediglich durch Trauma erzeugte Paralyse bei nicht prädisponiertem Gehirn nicht anerkennen.

Ein Trauma kann bei vorhandener Prädisposition [Hereditāt, ererbte oder akquirierte Syphilis!)] eine progressive

aralyse auslösen, es kann sicherlich eine bestehende Paralyse verschlimmern, ihren Verlauf beschleunigen und das bis zum Unfall vielleicht noch völlig arbeits- und geschäftsfähige Individuum in kurzer Zeit erwerbs- und geschäftsunfähbig machen, es kann ferner das Gehirn zum Locus minoris resistentiae machen, an welchem späterhin eine andere Schädlichkeit (insbesondere das syphilitische Virus) leichter als sonst einsetzen wird, es kann aber nicht bei völlig gesundem, intaktem, bis dahin durch nichts geschädigtem Gehirn an sich eine Paralyse hervorrufen. Wenn die Tierexperimente das Bild des para- lytischen Blödsinns ergaben, so sind diese Bilder meines Er- achtens doch nur als paralyseähnliche Erscheinungen, nicht als wahre Paralysen, aufzufassen, ebenso wie beim Menschen z. B. die Dementia posttraumatica (Köppen) der Paralyse sehr äbnlich sehen kann, ohne jedoch mit ihr identisch zu sein.

Stellen wir somit einerseits an das verletztelndivi- duum die Bedingung einer (ererbten oder erworbenen) Disposition zur Erkrankung, so fordern wir auch anderer- seits wie oben ausgeführt vom Trauma selbst eine ge- wisse Erheblichkeit (Kopftrauma, Hirnerschütterung, starker psychischer Shock oder langdauerndes, mit Sorgen verknüpftes Krankenlager im Anschluss an die Verletzung) sowie einen ge- wissen zeitlichen Zusammenhang zwischen Beginn der Paralyse und Tag des Unfalls (mehrere Wochen bis zu etwa 1!/; Jahren), um von einer durch Trauma ausgelösten Paralyse sprechen zu können.

Im Anschlusse an diese Ausführungen sei es noch gestattet, an der Hand der von der obersten Behörde des Versicherungs- wesens, dem Reichs-Versicherungsamte, getroffenen Entscheidungen zu prüfen, in welcher Weise in konkreten Fällen die Frage nach dem Zusammenhange zwischen Paralyse und Unfall von juristischer Seite aus entschieden wurde.

Es liegen nach dieser Richtung hin die Entscheidungen über 4 Fälle vor, in 3 derselben wurde der Zusammenhang anerkannt,

1) Wie Fall 16 (konjugale Paralyse) lehrt, kann hierin event. die Unter- suchung der Frau des Verletzten gewissen Aufschluss und einen Hinweis auf die eigentliche Ursache der beim Verletzten konstatierten Paralyse geben.

Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 565.

in einem geleugnet, und zwar schlossen sich in allen 4 Fällen die Entscheidungen des Reichs-Versicherungsamtes den ärztlichen Obergutachten an. In kurzem Auszuge mögen diese 4 Ent- scheidungen hier folgen: '

l. Aus den „Amtlichen Nachrichten des Reichs-Versicherungsamts“, Bd. XXII, 1906, No. 7. Prof. Dr. Flechsig: Obergutachten über die Frage, ob ein peripheres Trauma (hier eine Schalterverletzung): etwa in Verbindung mit psychischer Erregung (Shock, Schreck, Angst, Schmerz) imstande ist, eine fortschreitende Hirnlähmung (Dementia paralytica) unmittelbar aus- zulösen.

Es handelt sich am einen Brauer Sch., der znr Zeit des Unfalls 40 Jahre alt war. Ueber seine Vorgeschichte bis zum Trauma wird nichts erwähnt, insbesondere nichts über Syphilis, Heredität oder Alkoholabusus: (Patient war Brauer!), nur gibt die Frau an, dass er bis zum Unfall geistig gesund war.

Unfall am 6. V. 1901: Sch. glitt aus und erlitt Auskugelung des linken Armes. Nachmittags tat ihm angeblich alles weh, er war blass, nieder- eschlagen, verstört, ohne Appetit, erbrach Schleim und konnte in der Nacht nach dem Unfalltage wegen Schmerzen nicht schlafen. 8. V. 1901 leichte Schwellung der linken Schulter und geringes Reiben im Gelenk. 13. V. bis 22. VI. 1901 arbeitete Sch. wieder, klagte aber über Schmerzen im Hinterkopf. 15. VI. machte er einen groben Fehler beim Köchen des Biers. 23. VI. solche Verschlimmerung, dass er in die Anstalt überführt werden musste, daselbst wird Paralyse festgestellt. Tod am 15. V. 1902 an Eiterfieber nach eitriger Pleuritis. Die Sektion bestätigt die Diagnose: Dementia paralytica.

Flechsig führt in seinem Gutachten aus: Das Trauma war keinesfalls schwer. Ueber einen Schreck durch den Unfall selbst wird nichts berichtet. Aber 2?!|, Stunden nach dem Unfall sah Sch. verstört und blass aus und schlief auch die folgende Nacht nicht. In diesem Benehmen zeigt sich eine erhebliche Haltlosigkeit und ein Mangel an Selbstbeherrschung, dieses Ver- halten ist besonders auffallend im Hinblick auf die Angabe der Frau, dass Sch. früher Schmerzen gut ertragen habe und nicht wehleidig war. (War Sch. nicht Alkoholiker? Ref.) Flechsig betrachtet dieses Benehmen, die psychische Widerstandslosigkeit, als Vorläufererscheinung der 5 Wochen später manifesten Paralyse, wofür auch das schnelle Abklingen des Zustandes spreche.

Der Unfall kann demnach für das Entstehen der Paralyse kaum ver- antwortlich gemacht werden. Auch hat der Unfall bezw. der sich an ihn anschliessende paralytische Erregungszustand den Verlauf der Paralyse nicht begünstigt, zumal dieser Zustand nach einem Tag bereits abgeklungen und Sch. nach 6 Tagen so weit geheilt war, dass er wieder arbeiten konnte. Erst am 15. VI. zeigten sich die ersten Zeichen schwerer Geistesstörung; man kann also ein auffallend rasches Fortschreiten der Paralyse im Anschluss an das Trauma nicht sicher behaupten. Nur der Iltägige Erregungszustand ist durch den Unfall hervorgerufen. Weitere Beziehungen zwischen Trauma und Paralyse sind nicht nachweisbar. Das Trauma hat also für den Ausbruch. der Paralyse und den Tod des Sch. die Bedeutung einer wesentlichen mit- wirkenden Ursache nicht gehabt.

Diesem Obergutachten hat sich das Reichs-Versicherungsamt ange- schlossen und deshalb die Ansprüche der Erben und der Witwe des Sch. in Uebereinstimmung mit den Vorinstanzen abgelehnt.

2. Aus den „Amtlichen Nachrichten des Reichs -Versicherungsamtes“,, XVII, 1901, S. 616. Prof. Dr. Goldscheider: Öbergutachten, betreffend den ursächlichen Zusammenhang zwischen Gehirnerweichung und einem. Betriebsunfall, bei dem nur ein Bein verletzt wurde.

Maurerpolier K., 41 Jahre alt, 19 Jahre verheiratet. Aus der Ehe- stammt eine l8jährige Tochter. 5 Kinder starben, 3 im Alter von mehreren Monaten, 1 gleich nach der Entbindung, 1 im Alter von 1!/ Jahren. Kein

566 Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten.

Abort. Bis auf eine Lungenentzündung nie krank. (Ob er Syphilis hatte, wird nicht angegeben, nur erwähnt, dass bei der Untersuchung Zeichen von Syphilis nicht gefunden wurden!)

Unfall 18. IV. 1899: Beim Heruntertreten von einem Fensterbrett knickte K. nach vorn um und fiel auf die rechte Kniescheibe (Betonboden). Keine Kopfverletzung. Keine Zeiehen von Hirnerschütterung. Als K. am 2. X. 1899 wieder als Polier tätig war, zeigte sich Vergesslichkeit und Mangel an Umsicht, so dass er am 25. XI. 1899 von der Firma entlassen wurde.

23. II. 1900 wurden Knie- und Pupillenreflexe erloschen gefunden.

28. IV. 1901 geringe Arteriosklerose, II. Aortenton verstärkt. Keine Zeichen früherer Syphilis. Am rechten Schienbein Knochenverdickung, die vom Unfall herrühren soll. Im übrigen Bild der Paralyse.

Goldscheider hält es fär wahrscheinlich, dass durch die Verletzung des Beins zunächst eine Erkrankung der Hinterstränge des Rückenmarks erzeugt worden ist, an welche sich in schnellem Verlaufe die Gehirnerkrankung angeschlossen hat. Sollte Syphilis vorgelegen haben, was nicht erwiesen sei, so wäre durch sie der Boden für die verhängnisvolle Wirkung des Unfalls vorbereitet worden.

Die Paralyse ist als Folge des Unfalls anzusehen.

Auf Grund dieses Gutachtens hat das Rekursgericht die Annahme der Vorinstanzen, dass die Gehirnerkrankung mit dem Unfall nicht in ursäch- lichem Zusammenhange steht, für widerlegt erachtet und dem Verletzten die Vollrente gewährt.

Die soeben angeführten Fälle Flechsigs und Gold- scheiders haben mehrere gemeinsame Punkte: in beiden traf ein verhältnismässig unerhebliches, peripheres Trauma ein bis dahin anscheinend gesundes Individuum, in beiden entwickelte sich dann im Anschluss an dieses Trauma in nicht langer Zeit eine Paralyse. Für beide gilt, dass der Unfall ohne Kopfverletzung, Zeichen von Gehirnerschütterung oder psychischen Shock einher- ging, er erscheint also nach der übereinstimmenden Meinung der Autoren durchaus nicht imstande, eine Paralyse direkt hervorzurufen. Im Goldscheiderschen Falle kommt wie übrigens bereits Stolper ausführt als ursächliches Moment die Syphilis sehr wohl in Frage: 5 Kinder klein gestorben, Arterio- sklerose mit klappendem II. Aortenton bei dem 41jährigen Mann, Knochenverdickung am rechten Schienbein (die vom Verletzten allerdings auf den Unfall zurückgeführt wird, trotzdem in der Un- fallanzeige nur von einem Fall auf die Kniescheibe die Rede ist). Dass die Untersuchung keine manifesten Zeichen früherer Syphilis ergab, beweist nichts; wie selten findet man bei Paralytıkern solche Zeichen! Vielleicht sind sogar wie oben erwähnt die frühzeitige Arteriosklerose und die Schienbeinverdickung als solche aufzufassen. In der Anamnese wird überhaupt nicht erwähnt, ob der Verletzte früher Syphilis hatte.

Meiner Ansicht nach traf das Trauma ein zur Paralyse disponiertes Gehirn; der Unfall war zu unerheblich, als dass er eine Paralyse (oder auch wie Goldscheider annimmt zu- erst eine Tabes) erzeugen konnte, er hat aber auf dem vorbereiteten Boden!) die ersten deutlichen Zeichen des Hirnleidens herauf-

1) Von dieser Möglichkeit spricht übrigens auch Goldscheider in seinem Gutachten.

Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 567

beschworen, die bereits, wenn auch latent, bestehende Paralyse offenkundig gemacht; denn ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Auftreten von eindeutigen Paralyse-Zeichen und Trauma lässt sich nicht ableugnen (bis Unfall anscheinend gesund 18. IV. 1899 Un- fall 2. X. 1899 bereits vergesslich und wenig umsichtig 23. II. 1900 Fehlen der Pupillen- und Kniereflexe). Der Goldscheidersche Fall kann demnach durchaus keinen Anspruch darauf machen, als Fallvon rein traumatischer Paralyse zu gelten, und zwar schon wegen der Unerheblichkeit des Unfalls und wegen der Verdächtig- keit auf früher stattgehabte Syphilis. Er wäre unter meine Fälle sub II (Fall 7—19) einzureihen. Die Rentenzubilligung erscheint: jedenfalls gerechtfertigt, da ohne den Unfall der Verletzte wahr- scheinlich noch längere Zeit erwerbsfähig geblieben wäre, die An- nahme einer Verschlimmerung durch das Trauma also nicht von der Hand zu weisen ist. Auch im Flechsigschen Fall war das Trauma entschieden zu unerheblich, als dass es eine Paralyse direkt hätte hervorrufen können. Will man mit Flechsig den Zustand der Verletzten am Unfallstage und in der folgenden Nacht bereits als einen paralytischen betrachten, so müsste die Paralyse schon zur Zeit des Unfalls bestanden haben, denn ein peripheres Trauma kann unmöglich „eine Paralyse unmittel- bar auslösen, dergestalt, dass sie sofort mit dem Trauma deut- lich beginnt, was hier angenommen werden müsste“. Anderer- seits scheint doch aber das Leiden im Anschluss an den Unfall einen sehr schnellen Verlauf genommen zu haben und im Gegensatz zur Zeit vor dem Unfall, wo der Verletzte gesund und arbeitsfähig schien stetig und rasch vorgeschritten zu sein (bis Unfall nichts Auffälliges—6. V. 1901 Unfall— vom 13. V. an Kopf- schmerz 15. VI. verkehrte Handlung 23. VI. Ueberführung in Irrenanstalt erforderlich 15. 5. 1902 Exitus). Ob übrigens der Verletzte früher syphilitisch krank war oder nicht, wird nirgends erwähnt.

Eine Berücksichtigung verdient schliesslich die Ueberlegung, ob nicht das Trauma (wie in meinem Fall 7) schon eine Folge des Hirnleidens war, dass also der Patient am 6. V. 1902 einen paralytischen Anfall hatte, in demselben ausglitt und dann noch einen Tag lang die oben erwähnten psychischen Störungen seines Anfalls zeigte, um darauf in raschem Tempo seinem Leiden zum Opfer zu fallen. Ich erwähne hierbei ausdrücklich, dass niemand Zeuge des Unfalls war!

Wie dem auch sei, im Flechsigschen Fall besteht wie im Goldscheiderschen lediglich ein zeitlicher Zusammen- hang zwischen ersten deutlichen Paralyse-Zeichen und Unfall; für die Frage, ob es eine rein traumatische Paralyse gibt oder nicht, haben beide Fälle keine Beweiskraft, denn ın beiden fehlt der Nachweis, dass das Individuum bis zum Unfall ein völlig intaktes Gehirn hatte, ın beiden ist auch der Unfall zu unerheblich, als dass man auf sein Konto den Ausbruch einer Paralyse setzen könnte.

668 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.

3. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung, 1897, No. 8: Entscheidung des Reichs-Versicherungsamtes: Geisteskrankheit und Tod an Gehirnparalyse durch Unfall auf Grund folgenden Gutachtens des Direktors der Irrenanstalt Dziekanka bei Gnesen:

K., Landwirt, 88 Jahre alt. Hered. 0. 2 Kinder. „Wie der Gesund- heitszustand bis zu dem Unfall war, geht aus den beigefügten Akten nicht hervor.“ Syphilis konnte bei der Sektion nicht gefunden werden, auch während der Anstaltsbeobachtung keine Erscheinung von Syphilis. Die Frau gibt an, dass K. bis zum Trauma ein sehr gutes Gedächtnis hatte.

Unfall am 29. X. 1890: K. wurde von der Verkuppelung einer Leitungs- welle an seinem Rock erfasst und etwa dreimal umgeschleudert, so dass er mit dem Kopf auf die mit Steinen gepflasterte Tenne aufschlug. Lange Zeit bewusstlos. Zeichen von Gehirnerschütterung. In der Folgezeit Kopfschmerzen. Allmähliche Besserung, K. nahm seine gewohnten Arbeiten wieder auf, soll aber nach Aussage der Frau eine gewisse Geistesschwäche gezeigt haben. Am 10. X. 1894 musste er sein letztes Amt als Postagent niederlegen.

12. XI. 1894 in Irrenanstalt, daselbst progressive Paralyse festgestellt. 21. X. 1895 Exitus, Sektion bestätigt die Diagnose.

Gutachten: Der Tod steht mit dem Unfall in Zusammenhang und ist auf die Folgen desselben zurückzuführen.

Das Reichs-Versicherungsamt schloss sich diesem Gutachten an.

In diesem Falle war allerdings das Trauma erheblich genug,, um ein schweres Hirnleiden erzeugen zu können, auch ist ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Paralyse und Unfall als wahr- scheinlich zu bezeichnen (Oktober 1890 Unfall dann Kopf- schmerzen und während der ganzen folgenden Zeit gewisse Geistes- schwäche, Aengstlichkeit, Aufgeregtheit, Vergesslichkeit Juli 1894 eigentümliche Sprachstörung [vom praktischen Arzt Er- krankung des Zentralnervensystems diagnostiziert] November 1894 in der Anstalt Paralyse festgestellt Oktober 1895 Tod). Hingegen erscheint es.nicht genügend erwiesen, ob das Trauma wirklich ein zur Paralyse nicht disponiertes, ein ganz intaktes Gehirn getroffen hat. Der Gutachter sagt selbst, dass aus den Akten nicht hervorgeht, wie der Gesundheitszustand des Verletzten bis zum Unfall war, anamnestisch wird betrefis Syphilis und Alkoholismus nichts erwähnt; dass aber der Kranke während der Anstaltsbehandlung keine Erscheinung von Syphilis zeigte und bei der Sektion Syphilis nicht gefunden werden konnte, kann durchaus nicht das Fehlen derselben in früherer Zeit beweisen, denn es kann dem Satze des Gutachters nicht zugestimmt werden, dass die Syphilis immer nachweisbare Spuren hinterlässt; wir sind eben noch auf anamnestische Daten angewiesen, die hier in positivem wie in negativem Sinne völlig fehlen.

Also auch dieser Fall hat keine Beweiskraft für die Frage der rein traumatischen Paralyse, er gehört zwar zu unserer Gruppe III (vor dem Unfall keine Zeichen von Paralyse, der schwere Unfall löste das Leiden aus), lässt aber wegen der mangelhaften Anamnese den sicheren Nachweis des Fehlens der Disposition zur Erkrankung vermissen.

4. Aus den „Amtlichen Nachrichten des Reichs-Versicherungsamts“, Bd. XX, 1904, No. 10. Prof. Dr. Eulenburg: Obergutachten, betreftend die

Entstehung einer progressiven Irrenparalyse durch einen sogenannten „elek- trischen Unfall“.

Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 569

W. Elektrotechniker, 27 Jahre alt, bis Unfall kräftiger, blühender junger Mensch (von Syphilis nichts erwähnt).

Unfall 5. 1. 1900: Es fand Kurzschluss in dem Augenblicke statt, als W. an dem Telephon beschäftigt war; W. bekam dadurch einen starken elektrischen Schlag, er wurde „dreimal vom Telephonkasten hinausgeworfen“. Er sah erschrocken, verstört und blass aus. Er blieb aber bis 1. VIII. 1901 weiter bei dem Elektrizitätswerk in Stellung. Bereits im Juni 1900 fel jedoch einem Bekannten sein merkwürdiges Benehmen auf, W. sprach damals verworrenes Zeug.

JE 1901 wird ärztlicherseits ein Gehirnleiden („Dementia“) fest- ostollt. s Juni 1903 in Anstalt Dementia paralytica diagnostiziert.

Juni 1804 noch am Leben.

Gutachten: Die bei W. festgestellte Geisteskrankheit ist aller Wahr- scheinlichkeit nach auf die Schädigung durch Uebergang von Elektrizität auf den Körper zurückzuführen, die am 5. I. 1900 stattgefunden hat.

Das Reichs-Versicherungsamt hat das Gutachten seiner Entscheidung zugrunde gelegt und den Rekurs der Berufsgenossenschaft gegen das sie zur Entschädigungsleistung verurteilende Schiedsgerichtsurteil zurückgewiesen.

In diesem Falle, welcher von Eulenburg lediglich auf Grund von Aktenstudien (ohne persönliche Untersuchung) begutachtet wurde, möchte ich zunächst ein grosses Fragezeichen hinter die Diagnose „progressive Paralyse“ setzen. Nach Jellinek werden im Anschluss an „elektrische Unfälle“ zuweilen Zustände be- obachtet, welche an Paralyse erinnern, „von paralyseähnlichem Charakter“ sind, Jellinek selbst aber ist weit davon entfernt (wie er sich mir gegenüber auch mündlich äusserte), diese Zu- stände nun der echten Paralyse zuzurechnen. Meiner Ansicht nach handelt es sich auch in Eulenburgs Falle nicht um eine echte Paralyse; schon die lange Dauer der Krankheit (bereits vor 4 Jahren waren im Benehmen und Tun des zur Zeit der Begut- achtung noch lebenden W. „offenbare Zeichen beginnenden Schwach- sinns in einer selbst für Laien merkbaren Weise“ vorhanden!) spricht in gewissem Sinne gegen diese Diagnose.

Zugegeben aber, es handele sich wirklich um eine progressive Paralyse, so nimmt der Mangel an anamnestischen Daten und ausführlicherem Untersuchungsberichte (von Syphilis, Alkohol, Heredität wird in dem ganzen Gutachten kein Wort erwähnt) dem vorliegenden Falle jede Beweiskraft; wie in Fall 3, ist auch hier ‚der Nachweis des Fehlens der Disposition zur Erkrankung nicht erbracht.

Da ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Beginn der psychischen Störungen und Trauma erwiesen ist, dieser Nachweis aber praktisch genügt, so hat das Reichs-Versicherungsamt mit Recht dem Verletzten die Unfallrente zuerkannt.

'Keinem der Fälle des Reichs-Versicherungsamts kommt dem- nach bezüglich unserer Frage Beweiskraft zu, keiner derselben kann die Frage, ob es eine lediglich durch Trauma erzeugte Para- lyse gibt, im positiven Sinne entscheiden. In der ganzen Lite- ratur fand ich einen Fall von rein traumatischer Paralyse, der über jeden Zweifel erhaben wäre, nicht; entweder liess die Anam- nese zu wünschen übrig, oder die Diagnose war nicht genügend

Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helft 6. 39

570 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.

esichert, oder es musste der Zusammenhang des Leidens mit dem Unfall wegen der Unerheblichkeit des letzteren oder Fehlens des zeitlichen Zusammenhangs verneint werden. Schliesslich lieferte auch mein Material keinen vollgültig beweisenden Fall, keinen, der mit Sicherheit pro paralysi progressiva traumatica spräche.

Ich schliesse demnach: Ein sicherer Fall von rein trau- matischer progressiver Paralyse existiert bisher noch nicht.

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672 Lilienstein, XXIV. Kongress für innere Medizin

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Ziehen, Paralyse und Trauma. Neurol. Centralbl. 1904. S. 627. (Dis- kussionsbemerkung.) (Fortsetzung folgt.)

XXIV. Kongress für innere Medizin in Wiesbaden, 15.—18. April 1907. Bericht von Dr. Lilienstein-Bad Nauheim.

Von den Verhandlungen des Kongresses hatten insbesondere diejenigen der I. Sitzung (15. IV. vorm.) neurologisches Interesse. Zur Diskussion standen die Neuralgien und ihre Behandlung.

Schultze-Bonn arstattete das einleitende Referat, das sich zu einer Zusammeniassung des z. Z. Bekannten auf diesem grossen Gebiete gestaltete:

Sch. definierte den Begriff der Neuralgie als Schmerzen im Verlauf der sensiblen Bahn!), die sich durch anfallweises Auftreten oder doch anfall- weises Stärkerwerden auszeichnen. ÖOrganschmerzen werden durch diese Definition ausgeschlossen. Neuralgie ist nur ein Symptom, kein Krankheits- begriff. Die Diagnose „funktionelle Neuralgie“ muss nach Möglichkeit ein-

eschränkt werden. Erkrankungen im Verlauf der peripheren Nerven, z. B. eitungsunterbrechungen, müssen nicht unbedingt Schmerzen verursachen.

Andererseits spielen bei den sogenannten „funktionellen Neuralgien“ neuritische Vorgänge (Verwachsungen im Perineurium etc.) sicher eine grosse

olle. Zu den neuritischen Neuralgien gehören die Neuralgien der Tabes, der Ischias, bei Gicht, Diabetes, Malaria, die Neuralgien bei Erkältungen etc. Wirklich funktionelle Neuralgien wahrscheinlich ohne organischen Befand sind diejenigen bei Hysterie und Neurssthenie. Eine eigene Stellung nehmen die Herzschmerzen ein. Psychische Einflüsse sind bei Neuralgien Baus zu konstatieren. Auch die Obstipation hat gelegentlich Einfluss auf die Ent- stehung der Neuralgien (iftwirkung?). Genauere anatomische Untersuchungen des Ischiadicus in seinem Gesamtverlauf von den Endausbreitungen bis zum Rückenmark seien für die Ischias noch erwünscht. Der Sitz der Erkrankung bei Neuralgie kann an jeder Stelle der Nervenbahn sein: Ganglion, Nerven- stamm, Endausbreitung oder zentrales Nervensystem (of. Fussnote!).

Zur Erklärung des anfallweisen Auftretens der Neuralgie muss man annehmen, dass es sich um eine Summation von Reizen handelt, deren Ent- ladung als Schmerz empfunden wird.

Symptomatologisch wichtig sind die Druckpunkte, die aber auch fehlen können. Die häufigste Neuralgie, die Ischias, ist meist leicht zu diagnostizieren, ebenso die Gesichtsneuralgien; zu diesen sind neuerdings noch Bernhardsche

1) Da Sch. dieser Definition entsprechend auch die im Zentralnerven- system auftretenden Schmerzen (die lancinierenden Schmerzen der Tabiker, die zentralen Schmerzen [Edinger] u. a.) zu den Neuralgien rechnet, so weicht er hier offenbar von dem allgemeinen Sprachgebrauch ab, nach dem doch wohl nur die im Verlauf peripherer Nerven auftretenden Schmerzen als Neuralgie bezeichnet werden (vgl. auch: Goldscheider, Krankh, d. Nervensyst., Roth, Klin. Terminol.,, Oppenheim). Ref.

in Wiesbaden, 15.—18. April 1907. 673

Parästhesie, Achylodynie, Mortonsche Krankheit etc. gekommen. Nach einigen Bemerkungen über die Unterscheidung der Neuralgien von anderen Krankheitserscheinungen (Coxitis, intermittierendes Hinken gegenüber der Ischias, Stirnhöbleneiterang gegenüber der Trigeminusneuralgie etc.) wandte sich der Redner zu der Therapie. Er besprach zunächst die chemischen Medikamente, die als sogenannte „Antinearalgica* in grosser Anzahl in dem medizinischen Heilschatze vorhanden sind. Neben der medikamentösen Behandlung kommen die physikalischen Heilmethoden in Betracht, unter denen die Massage wenig leistet, während bei der Anwendung des elektrischen Stromes bisweilen Besserung erzielt werde. Vielfach wird die Wärme mit Erfolg angewandt (Bier, Heissluft-Douche). Bei der Ischias sind warme Sandbäder-v.:ı"besonders gutem Erfolg. Allerdings gibt es auch bei dieser Behandlungsart Versager, vor allem die „Rentenischias“ „Ischias testimonialis“, die allen Mitteln trotzt und die besonders seit Bestehen der Unfall- und Invaliditätsversicherang in verstärktem Masse auftritt. Von weiteren Be- handlungsmethoden kommt dann noch bei der Ischias die unblutige Debnung der Nerven in Betracht, die auf verschiedene Weise ausgeführt werden kann. In den letzten Jahren werden immer mehr in die schmerzhaften Nerven oder ihre Umgebung schmerzstillende Mittel, Osmiumsäure, Luft, Wasser, Alkohol, physiologische Kochsalzlösuug etc., eingespritzt.

Die Zahl der chirurgischen Operationen, besonders der tiefgreifenden, bei Neuralgie hat sich vermindert. Krause hat „nur“ 10 pCt. der Kranken verloren, andere mehr. Rezidive sind auch nach gründlicher Zerstörung der sensiblen Nerven und selbst des Ganglion Gasseri nicht immer ausgeschlossen. Auch das von Gehuchten empfohlene brüske Ausreissen der Nerven ist zu den schweren Operationen zu rechnen.

Schlösser-München berichtet über seine Erfahrungen in der Neu- ralgiebehandlung mit Alkoholeinspritzungen.

Vortr. ist seit 15 Jahren mit der Frage beschäftigt und hat experimentell festgestellt, dass 80 pCt. Alkohol, an einen Nerven eingespritzt, den Nerven zum Zerfall und zur Resorption bis auf das Neurilem bringt. Er bezweckt also mit seinen Einspritsungen einen Ersatz für die Resektion zu geben und macht dadurch seine „Resektion“ möglichst ausgedehnt, dass er an den Nerven an verschiedenen Stellen möglichst zentral und poripher einspritzt. S. verfügt über ein Material von 209 Fällen, zum Teil mit wiederholten Rezidiven in Sjähriger Beobachtung. Davon sind 128 Trogeminusneuralgien, 88 Ischias, 16 Occipitalneuralgien u. s. w., und hat bei dem Tic douloureux im Durchschnitt nach 10,2 Monaten Rezidive, bei Ischias nur in 2 Fällen und bei allen anderen Neuralgien noch gar keine Rezidive beobachtet; dagegen kommt nach Alkoholparesen des Facialis der Clonus nach 3 bis 7 Monaten wieder.

An einem Beispiel von Neuralgie des 2. und 8. Quintusastes erklärt S., wie er mit einer besonders geformten Nadel an das Foramen ovale, maddibulare, rotundam etc. geht, um dort 80 proz. Alkohol 0,1 bis 4,0 ein- zuspritzen, bespricht dann die möglichen üblen Zufälle, betont aber, dass sich solche bei entsprechender Kenntnis der Wege, Erfahrung und Vorsicht auf ein Minimum reduzieren lassen. Zum Schluss wiederholt S., dass er nur alte, anderer Therapie trotzende Fälle nach seiner Methode behandelt wissen will und vergleicht seine Erfolge mit den Operationen. Dabei erklärt er die Neurotomie fär überflüssig, hält seine Einspritzungen der Neurektomie für überlegen und glaubt auch, dass ein Neuralgiekranker sich lieber jedes Jahr einmal den ziemlich schmerzhaften Alkoholeinspritzungen unterwerfen wird, als dass er die Operation der Ganzlionexstirpation riskiert. In dem Schlussworte nach der Diskussion warnt S. sehr davor, die akute Neuralgie mit der eigentlichen Neuralgie zu konfundieren, besonders im Hinblicke auf die Therapie. (Eigenbericht.)

Lange-Leipzig: Neuralgiebehandlung dareh Injektion unter hohem Druek.

L. hält weniger die Art der zu injizierenden Flüssigkeiten als deren mechanische Wirkung von Bedeutung für die Therapie der Nearalgien; er wendet daher grosse Mengen indifferenter Flüssigkeit (physiologische Koch- salzlösung) an und hat nach seiner Angabe ausserordentlich gute Resultate.

574 Lilienstein, XXIV. Kongress für innere Medizin

Alexander- Berlin injizierte Kokain (Schleichsche Lösung in einer Menge von 10 cem) und zwar nicht in den Nerven selbst, sondern in dessen Um- gebung. Diskussion. Goldscheider, Treupel, Minkowsky treten für die Injektions- methode ein und berichten über günstige Resultate. Finkelnburg-Bonn laubt auf Grund von Tierversuchen annehmen zu müssen, dass die Autoren, ie über günstige Resultate berichten, nicht in den Nerven selbst, sondern in dessen Umgebang injiziert haben müssten, da eine Injektion in den Nerven auf alle Fälle schwere Lähmungen erzeuge. Krause-Berlin verteidigt die von ihm ausgebildete Operationsmethode. Es handele sich bei den Operationen meist um ganz ausserordentlich schwere Fälle, häufig um Patienten, die za Suicidideen gelangt waren und die darch die Operation dauernd oder zam mindesten für Jahre geheilt wurden. Es sei zuzugeben, dass es sich um eine eingreifende und gefährliche Operation handle. In manchen Fällen gäbe es aber keinen anderen Weg.

Brieger-Berlin berichtet über seine Erfahrungen bei Neuralgie- behandlung durch Hydrotherapie (schottische Douche) und durch feuchte und trockene Wärme. 80 pCt. Heilungen. Chirurgischer Eingriff sei erst dann anzuraten, nachdem alle anderen Behandlungsmethoden sich als wirkungslos erwiesen hätten. Wichtig sei auch die Regelung der Diät, His- Basel stimmt Br. in letzterem Punkte zu und empfiehlt besonders fleischlose Kost. Engländer und Franzosen betrachten die Neuralgie viel mehr als wir als den Ausdruck besonderer Diathese oder Disposition.

Stintzing tritt ebenfalls dafür ein, dass es sich mit Wahrscheinlich- keit um eine chemische Noze handele, die die Neuralgien erzeuge.

Hanau-Frankfurt weist auf den Nutzen trockener Schröpfköpfe hin, Schilling auf denjenigen der Bier-schen Spannung.

Lenhartz-Hamburg, v. Noorden u. A. besprechen noch eine Reihe von bekannten Neuralgiemitteln (Canutharidenpflaster, Methylenblau etc, etc.) und betonten die Wichtigkeit vollkommener Rahe bei schweren Neuralgien.

v.Jaksch-Prag: Ueber ehronisehe Manganintoxikation. Von dieser Aftektion sind bisher 9 bis 10 Fälle bekannt. Im Jahre 1901 konnte Vortr. 8 Fälle beobachten, im Jahre 1902 einen weiteren. Die Hauptsymptome sind: Zwangslachen, Zwangsweinen, Retropulsion, psychische Alteration und ge- steigerte Reflexe. Nach Abklingen dieser schweren Erscheinungen stellt sich ein eigentümlicher Gang ein, der weder spastisch noch paretisch genannt werden kann. Die Kranzen treten mit dem Metatarsophalangealgelenk auf. Es besteht keine Lähmung. Einmal beobachtete Vortr. auch einen Fall von Autosuggestion obiger Symptome infolge Manganophobie. Von den Ver- bindungen des Mangan ist das Manganoxydul als Krankheitserreger anzu- sprechen. Sein Eintritt in den Körper erfolgt wahrscheinlich durch die Lunge.

Fedor Krause-Berlin: Zur Kenntnis der Rüekenmarkslähmungen. Vortr. fand in 4 Fällen, bei denen auf Grund der charakteristischen Symptome die Diagnose eines Rückenmarkstumors gestellt war, anstatt des Tamors nur an der Stelle des Tumors eine zirkumskripte Anhäufung von Liquor cerebrospinalis, die infolge einer chronischen Arachnoiditis sich gebildet und die Lähmungserscheinungen hervorgerufen hatte. Die Ursache der Arach- noiditis war im ersten Falle Gicht, im zweiten Lues, im dritten unbekannt, im vierten Nekrose des Wirbels. Die Lumbalpunktion hatte normale Ver- hältnisse ergeben.

Schultze-Bonn bemerkt hierzu, dass ihm eine Ansammlung von Liquor bei Rückenmarkstumoren nicht so oft vorgekommen ist.

Gutzmann-Berlin: Zur Behandlung der Aphasie. Die Regel, dass die Vebungsbehandlung der Aphasie bei älteren Leuten ke ünstige Prognose habe, ist in dieser allgemeinen Fassung nicht richt Die In- dikation für die Uebungstherapie muss sorgfältig geprüft werden. Ausser manchen anderen hängt die Indikation ab: 1. von dem allgemeinen Zustande des Patienten im Anschluss an die Attacke. Es müssen sämt- liche akute Erscheinungen abgeklungen sein und ein chronischer Zustand

ine ig.

in Wiesbaden, 15.—18. April 1907. 575

relativen Wohlbehagens bestehen. Dies lässt sich u. a. auch aas dem längere Zeit anhaltenden, unveränderten Gleichbleiben des sprachlichen Zustandes entnehmen. Vortr. empfiehlt, mit der systematischen Uebungstherapie erst zu beginnen, wenn der sprachliche Zustand mindestens !/, bis !/, Jahr unverändert geblieben ist. Zu früher Beginn der Uebung ist wegen der schweren Ermüdungs- und Reizzustände gefährlich; 2. vom Zustande des Intellektes. Bei grösseren intellektuellen Defekten ist es zwecklos, die Uebungstherapie zu beginnen, die ja von seiten des Patienten einen hohen Grad von Aufmerksamkeit und Verständnis erfordert. Vortr. macht daher den Beginn der Uebungstherapie stets son einer möglichst genauen und öfters wiederholten Prüfung des intellektuellen Zustandes des Patienten nbhängig; 8. von der Affektlabilität des Patienten. Wenn diese direkt abhängı ist von unlustbetonten Vorstellungen, so handelt es sich gerade gewöhnlich um recht intelligente Personen, bei denen der Gedanke an ihren hülflosen sprachlichen Zustand beständig im Vordergrunde des Bewusstseinsinhaltes steht. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Erinnerung an den früheren Zustand einen starken Kontrast bildet (bei Lehrern, Predigern). Stellen sich bei der Uebung Schwierigkeiten ein, so hat man oft grosse Mühe, die Patienten bei guter Stimmung zu erhalten. Es ist daher sehr wesentlich, das Fort- schreiten in der Uebung dementsprechend einzurichten; 4. vom Alter. Es ist natürlich, dass selbst schwere Ausfallserscheinungen bei Kindern und jugendlichen Personen sich überaus häufig spontan ausgleichen und hier von der Uebungstberapie verhältnismässig leichte Triumphe gefeiert werden. Man soll sich aber auch bei älteren Personen, wenn nur die Indikationen uuter 1 und 2 erfüllt sind, von der systematischen Uebung nicht abhalten lassen, Vortr. erwähnt eiue Anzahl von Patienten zwischen 40 und 50 Jahren, die mit gutem Erfolge behandelt wurden; einen Frediger von 65 Jahren, der nach lja Jahre bestehender Aphasie (es handelte sich vorwiegend um aphatisches Stottern und Akataphasie) wieder dienstfähig geworden ist und seit mehreren Jahren wieder seinen Amtshandlungen obliegt; einen 74jährigen Herrn, der nach 4 Jahre lang unverändert bestehender totaler kortiko-motorischer Aphasio wieder zum Sprechen einfacher Worte und kleiner Sätze gebracht wurde, so dass er seinen Wünschen Ausdruck verleihen konnte u. a. m. 5. und 6. Die Dauer des Bestehens der Aphasie beschränkt die Indikation zur Uebungsbehandlung ebensowenig wie der Grad der aphatischen Störung. Es wurde z. B. eine 10 Jahre lang bestehende, vollständige kortiko-motorische Aphasie bei einem 40jährigen Offizier, der zahlreiche Behandlungsarten (Bäder, Schmierkur usw.) ohne Erfolg vorher durchgemacht hatte, noch gänz- lich beseitigt.

Auf die Therapie selbst geht Vortr. nur insoweit ein, als er die systematischen Schreibübungen mit der linken Hand noch besonders hervor- hebt und darauf hinweist, wie sich die Fähigkeit der rechten Hirnrinde für die Leitung der koordinierten Sprachbewegungen offenbar parallel der er- reichten Geschicklichkeit der linken Hand bewege. Er legt dafür mehrere Schreibproben, u. a. eine eines 40jährigen und die des oben erwähnten 14jährigen Patienten, vor. In einem Fall mussten die Uebungen, da rechts komplette Lähmung bestand, links die Hand aus Holz war (Hand und ein Teil des Unterarmes waren in früher Jugend durch einen Schrotschuss zer- stört worden), mit dieser Hulzhand gemacht werden: mit demselben günstigen Erfolg, wie die Vorlage der Schriftprobe erweist. Autoreferat.

Gara-Bad Pistyan- Wien: Ueber ein bisher unbekanntes pathogno- monisehds Symptom der Isehias.

Veranlasst durch die häufige auamnestische Mitteilang der Patienten, dass ihrer Ischias Tage, oft auch Wochen heftige, hexenschussartige Kreuz- schmerzen vorangingen, an die sich erst die Schmerzen in einer unteren Extremität anschlossen, unterzog Vortragender die Kreuzgegend einer genauen Prüfung. Er fand konstant, dass der Dornfortsatz des letzten Lendenwirbels ungemein druckempfindlich, der nächsthöhere schon weniger, alle weiteren Dornfortsätze schmorzlos waren. Diesen Druckpunkt zeigten auch jene Ischisdiker, welche über keine vorangehenden Kreuzschmerzen klagten. Auf Grund von Krankengeschichten weist er auf den differential- diagnostischen

676 Lilienstein, XXIV. Kongress für innere Medizin etc.

Wert dieses Symptoms hin, z. B. bei Metastasen in den Lendenwirbeln (bei Mammakarzinom), bei Schenkelhalsfraktur, bei Prostatatumor.

Sternberg-Wien demonstriert ein verbessertes Dynamometer und bespricht die Ergebnisse von Untersuchungen, die damit ausgeführt worden sind. Nimmt ein Gesunder in jede Hand je ein Dynamometer und drückt darauf maximal, so ist die Kraftleistung die gleiche, ob er abwechselnd oder gleichzeitig drückt. Die maximale Innervation der einen Extremität beein-

usst die der anderen normalerweise so gut wie gar nicht. Bei Hemi- plegikern soll nach einer Angabe von Pitres eine Verstärkung der Leistung auf der gelähmten Seite eintreten. Diese Angabe bestätigt sich bei genauerer Untersuchung nicht; der Effekt der gleichzeitigen maximalen Innervation beider oberen Extremitäten (Simultaneffekt) ist in verschiedenen Fällen von Hemiplegie verschieden; er kann in einer Erhöhung der Leistung bestehen, er kann aber auch eine, und zwar mitunter beträchtliche, Verminderung aus- machen (positiver und negativer Simultaneffekt).,. Entweder werden durch das „Schisma“ im Sinne v. Monakows Hemmungen und Bahnungen frei, die sich sonst im Gleichgewichte befinden, oder es wird die Art der Be- ansprachung der doppelseitigen Hemisphäreninnervation darch den Hirnherd geändert. t der Angabe von Pitres fallen manche Theorien der hemi- plegischen Kontraktur.

Honigmann-Wiesbaden: Kriegsneurosen.

Vortr. beschreibt nervöse Erscheinungen, die er bei einer grösseren Anzahl von russischen Offizieren nach im japanischen Kriege erlittenen Traumen beobachtet hat. Die Störungen verliefen, wiewohl die Traumen unter zum Teil ganz anderen Bedingungen den Verletzten betrafen, als es bei den gewerblichen Unfallneurosen zu geschehen pflegt, doch in vielfacher Hinsicht ganz im Rahmen dieser Störung, teils in Gestalt von neurasthenisch- hysterischen und hypochondrischen Allgemeinorscheinungen, teils als hysterische

onoplegien, Hyperästbesien, Hypästhesien und Hemianästhesien. Die Mehr- zahl der Fälle, die sich an schwere Gehirncommotionen anschlossen, hatten dagegen einen von dem bei traumatischen Neurosen üblichen Krankheitsbild abweichenden Verlauf. Bei ihnen handelte es sich nicht allein um Zustände, die als rein psychogenen Ursprungs aufgefasst werden dürfen und deren Ver- anlassung nur ın der lebhaften Erschütterung des Vorstellungslebens gesucht werden kann, soudern auch um nervöse Folgeerscheinungen, die auf physi- kalische Veränderungen des Zentralorgans zurückgeführt werden müssen, wenn es sich auch, wie hier ausdrücklich bemerkt werden soll, nicht um aus- esprochene Herderscheinungen handelte. Zwar waren diese Fälle nicht völlig rei von Zeichen materieller Hirnläsionen, aber ausser diesen und den rein psychogenen Symptomen blieb noch eine Anzahl übrig, die nur als Folge- erscheinungen einer dorch die Commotio hervorgerufenen, wenn auch viel- leicht nur vorübergehenden, physikalischen Veränderung des Zentralorgans edeutet werden müssen. Diese Mischformen mögen durch die Eigenart des raumas und der Verhältnisse, unter denen es empfangen, erklärt werden. Zu bemerken ist noch, dass die Behandlung der fraglichen nervösen Er- scheinungen viel grössere Erfolge aufwies, als dies bei den gewerblichen Unfallneurosen der Fall zu sein pflegt, wahrscheinlich, weil die meisten sychischen Momente, die sich bei jenen einer Heilung in den Weg stellen, Bier in Wegfall kommen. (Autoreferat.)

Ratner-Wiesbaden: Untersuehungen zur pathologisehen Ana- tomie der Paralyse. (Der Vortrag erscheint in extenso in dieser Monats-

schrift.

À uis mans- Cöln: Demonstration dermakro-undmikroskopisehen Präparate eines Falles von amaurotiseher Idiotie (Tay-Saehs).

1. Die Tay-Sachssche familiäre amaurotische Idiotie ist kein charak- teristisches Krankheitsbild, weil sämtliche klinischen Symptome der Macula- fleck nieht ausgenommen einzeln und zusammen auch bei anderen soge- nannten familiären und hereditären sowie bei ganz heterogenen Erkrankungen des Zentralnervensystems vorkommen,

Der von Sachs, Knapp, Schaffer u. A. erhobene pathologisch- anatomische Hirnbefund macht klinisch keine charskteristischen Symptome.

Buchanzeigen. 577

Ebenso ist ein Rückschluss vom klinischen Bilde der Tay-Sachsschen familiären amaurotischen Idiotie auf den pathologisch -anatomischen Prozess nicht möglich.

8. Die familiäre amaurotische Idiotie gehört in das grosse Gebiet der sog. familiären und hereditären Erkrankungen des Zentrainervensystems und ist eine Abart der Littleschen Krankheit resp. der cerebralen Diplegie.

4. Es kann zweifelhaft erscheinen, ob es sich bei der Tay-Sachs- schen familiären amaurotischen Idiotie um eine Agenesie oder um eine Ent- wicklungshemmung oder um eine Aufbrauchskrankheit handelt. Auch der Sachssche Befund lässt Reste entzündlicher Veränderung erkennen.

5. In meinem Falle spielten ätiologisch schlechte Ernährung und vor allem schlechte Luft die Hauptrolle. Sie bewirkten gleichzeitig den Aus- bruch einer Rachitis und einer chronischen Pachy- et Leptomeningitis cerebrospinalis, Sinusthrombose, Hydrocephalus und so das ganze Bild der amaurotischen Idiotie (Tay-Sachs).

Kohnstamm-Königstein lobt die Behandlung der Verstopfung mit fieisehloser Ernährung.

Buchanzeigen.

Studies from the Department of Neurology. Vol. I. Publications of Cornell University Medical College. Eine Sammlung neurologischer Arbeiten aus den Jahren 1908/4, enthaltend 19 Aufsätze von Prof. Dr. Dana, den DDr. Hunt und J. Fraenkel, New-York. 7 dieser Ar- beiten sind hier zum ersten Male abgedruckt, die übrigen in verschiedenen amerikanischen Zeitschriften bereits veröffentlicht worden.

In den zum ersten Male veröffentlichten Abhandlungen bespricht Dana die Behandlung der Epilepsie und spezielle Uebungen für Tabiker, Aphasische und Patienten mit Parkinsonscher Krankheit. Hunt schildert einen Fall von jugendlicher Apoplexie mit tödlichem Ausgange, ferner einen Fall von Tumor des r. Frontallappens mit den psychischen Symptomen der Demenz und Apathie und endlich einen Fall von Malum Potti der mittleren Dorsalwirbelsäule mit Kompressionsmyelitis und Heilung durch Gipskorsett.

Vor jeder Arbeit ist in lateinischer Sprache der Inhalt kurz wieder- gegeben, so dass auch der des Englischen unkundige Arzt mit Leichtigkeit in der Sammlung sich orientieren kann.

A. Kempner, Berlin-Charlottenburg.

Senäfer, Hamburg, Der moralische Schwachsinn. Erschienen bei C. Marhold, Halle, im IV. Bande der juristisch-psychiatrischen Grenz- fragen, Heft 4—6.

ür Juristen, Aerzte, Militärärzte und Lehrer ist diese all-

gemeinverständliche Abhandlung geschrieben. Der Titel könnte zu der An- sicht verleiten, als wollte Verfasser die sogen. Moral insanity wieder zu Ehren bringen, d. h. eine Psychose dort annehmen, wo nur ethische Defekte sich finden. Beim Lesen des Buches erweist sich jedoch diese Annahme als irrig. Voraussetzung für den Schwachsinn ist Schwäche des Urteils und des Gedächtnisses. Diese rechtzeitig zu erkennen, sei nicht nur Sache des Psychiaters, sondern vor allem auch der Lehrer, Offiziere und Juristen. Die Hülfsmittel zu ihrer Erkenntnis gibt uns Verfasser an die Hand; gleichzeitig weist er auf die Notwendigkeit hin, ihre Ursachen zu bekämpfen; als Hauptursache nennt er den Alkoholismus der Eltern. Er rät deshalb zur Errichtung von Trinkerasylen, zur möglichst hohen Be- steuerung des Alkohols, um hierdurch den Schnapsgenuss mehr oder weniger zu einer Geldfrage zu machen, und endlich zur Erziehung der Jugend zu „sitt- licher Hygiene“.

678 Tagesgeschichtliches.

Bei dieser Gelegenheit kommt Verfasser auch auf Kunst und Literatur der Gegenwart zu sprechen, wobei der arme Zola hart mitgenommen wird, dessen Romane er schlankweg „Schmutzschriften“ sic! tituliert.

Nun, hierüber wollen wir mit Schäfer nicht rechten; jedenfalls wird das Buch, dessen Lektüre aufs wärmste zu empfehlen ist, dazu beitragen, die Kenntnis des Schwachsinnes in weitere Kreise zu tragen.

A. Kempner, Berlin-Charlottenburg.

R. Cruchet, Traité des torticolis spasmodiques, spasmes, tics, rythmies du cou, torticolis mental etc. Paris, Masson et Cie. 1907. 836 S., 120 Frcs.

Dies von Pitres bevorwortete Werk verdient auch die Aufmerksam- keit der deutschen Neurologen in höchstem Masse. Es bietet weitaus die vollständigste Darstellung der Lehre vom Torticollis. Nach einer vortreff- lichen historischen Einleitung werden eingehend folgende Formen besprochen:

1. Torticolis spasmodigque n&vralgique, ' 2. Torticolis professionel,

3. Torticolis paralytique,

4. Torticolis spasmodique franc ou essentiel,

5. Torticolis spasmodique symptomatique,

6. Torticolis rythmique ou rythmie du cou symptomatique,

7. Rythmie du cou essentielle,

8. Tic du cou,

9. Torticolis d'habitude et torticolis mental.

Die einschlägige Literatur ist sehr vollständig und gewissenhaft ver- wertet. Vielfach gibt Verf. neue Beobachtungen und Anregungen. Strittige Fragen werden durchweg sachgemäss und gründlich erörtert. Die Abbil- dungen sind z. T. ausgezeichnet. 2.

Möbius, P. J, Ueber Robert Schumanns Krankheit. Carl Marhold, Halle a. S. 1906. 52 Seiten.

Möbius, dem wir schon ähnliche Bearbeitungen pathographische Untersuchungen zu verdanken haben, hat sich jetzt mit dem Leiden von Robert Schumann beschäftigt, um die Psychose zu bestimmen, an der Sch.. in seinem 23. Lebensjahr zum ersten Male erkrankte; er hatte dann alle paar Jahre anders auftretende, aber in ein gemeinsames Krankheitsbild hinein-

assende Schübe, bis er mit 44 Jahren in der Anstalt Endenich bei Bonn interniert werden musste, woselbst er nach 11/, Jahren starb. Seine Er- krankung gehört zur Dementia praecox. Charakteristisch für die katatonische Form sind Veränderungen im Auftreten, wie Maniriertheit, theatralische Posen, vor allen Dingen die in diesem Fälle häufig beobachtete, viele Stunden lange Schweigsamkeit, über die Wagner sich wunderte, die Halluzinationen in ihrer wechselnden Heftigkeit und ähnliches. Alle diese krankhaften Er- scheinungen, die wir erst in den letzten Jahren näher zu beurteilen lernten, können wir im gewissen Sinne auch in der Art seiner Kompositionen be- obachten. In ihnen finden wir eine gewisse sprunghafte Hast und gewaltsam fortstürmende Leidenschaftlichkeit; andererseits verstand er doch auch eine selbst Beethoven überbietende Breite der Melodieführung von erhabenster Weihe zu entfalten.

Wir begrüssen dankbar die Möbiussche Schrift und würden als eine eventuell sehr dankbare Aufgabe vorschlagen, dass der innere Zusammenhang zwischen den einzelnen Phasen und Schüben seiner Erkrankung und der Zeit der Kompositionen und Leistungen auf anderen Gebieten untersucht würde. Schumann hat bekanntlich trotz der 21 Jahre dauernden Krankheit in dieser Zeit ausser seinen musikalischen Leistungen auch bedeutendes als Schriftsteller, Kritiker und Dichter geleistet.

Carl Adolf Passo w-Meiningen.

Tagesgeschichtliches.

Dr. Albert Knapp, Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik in Göttingen, hat sich habilitiert.

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v.21 Monatsschrift für 19C7 und | neurologie.

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