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MONOQRRPHIEM MODERMER MUSIKER
-C=I-
Band II
20 Biographien
zeitgenosslscher Tonsetzer mit Portraits
Eigentu'm des Verlegers fiir alle Lander Alle Rechte vorbehalten
C. F. KRHMT MRCHFOLQER, LEIPZIQ
Herzogl. Anhalt. Hof- |,^Kl^ Musikalienhandler 1907.
Alle Bechte, audi die der Vhei'setzung vorbehalten. NacJidruck verboten.
Monographien moderner Musiker
Band II
INHALT
Die Musik unsrer Tage . . . von Max Hehemann .
d'Albert, Eugen „ Arthur Smolian .
Berger, Wilhelm „ Emil Krause . .
Blech, Leo „ Ernst Rychnowsky
BossI, Enrico „ Wilhelm Weber .
Delius, Frederick ,, Max Chop . . .
Hegar, Friedrich ,, Hermann Trapp .
Heinrich XXIV. j. L Prinz Reuss „ Friedrich Keller .
Kampf, Karl ,, Julius Hagemann .
Klose, Friedrich „ Rudolf Louis . .
Koch, Friedrich E „ Karl Kampf . .
Limbert, Frank L „ ^- Eccarius Sieber
Mikorey, Franz „ Ernst Hamann . .
Pfitzner, Hans „ Rudolf Louis . .
RabI, Walter „ ^- Eccarius Sieber
Reger, Max „ Richard Braungart
V. Reznicek, E. N „ Otto Taubmann .
Scheinpflug, Paul „ Franz Dubitzky .
Weismann, Julius ,? A. Thomas-San-Gall
Zilcher, Hermann „ Wilhelm Altmann
Zollner, Heinrich „ Eugen Segnitz . .
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Monographien moderner Musiker
Band I
Wolf-Ferrari, Ermanno Huber, Hans . . . Kistler, Cyrill . . . Thuille, Ludwig . . Fried, Oskar . . . Humperdincl^, Engelbert Gast, Peter .... IVIahler, Gustav IVIendelssohn, Arnold Becker, Reinhold . . Sommer, Hans. . . Reiter, Josef . . . V. Hausegger, Siegmund Strauss, Richard . . Kaun, Hugo .... Schumann, Georg Bungert, August . .
INHALT
Seite
von Hermann Teibler .... 1
„ Edgar Refardt 11
„ A. Eccarius-Sieber .... 22
,. Edgar Istel 34
,, Hugo Leiehtentritt .... 46
„ Georg Mtiuzer 59
„ Lothar Brieger -Wasservogel 73
,, Ludwig Schiedermair ... 81
„ Wilibald Nagel 95
,. Heinrich Platzbecker , . . 107
„ Ernst Stier 112
„ Max Morold 121
„ Oskar Noe 128
„ Leopold Schmidt .... 142
„ Wilhelin Altmann .... 156
„ Paul Hielscher 165
„ Max Chop 179
Die Musik unsrer Tage
von
Ma^ Hehemann.
Gar mannigfacli imd reich bliihen die Blumen, Straucher mid Baume in Polyhymnias Garten; und was alles sie zu sagen und zu bedeuten liaben, wird dem Leser in diesem Buclie wie in seinem Vorganger liebevoll erzahlt. Woliin man schaut, drangen Talente froh zum Licht und kampfen urn eigenen Ausdruck innern Lebens. Noch nie zuvor hat die Musik solche Macht liber die Seele der Knlturmenschheit besessen, wie in unsrer Epoche, und vielleicht ist sie mehr noch wie jede andere Kunst der Ausdruck unserer Zeit. Von all den Widersprlichen und Gegensatzen, die eine solche Entwicklung mit sich flihrt, birgt nun eine aus so verschiedenen Federn geflossene Samm- lung von Monographien moderner Musiker selbst- verstandlich eine ganze Menge. Xicht als laute Fanfaren, doch als leise Obertone klingen sie durch, und bieten dem darauf Lauschenden Kurzweil und Gewinn. Einem Buch, das einen Teil seines Eeizes gerade der Verschiedenheit der in ihm sich aus- sprechenden Ansichten verdankt, mag nun eine Ein- fiihrung nicht libel genommen werden, die ein fliichtiges Gesamtbild unserer Zeit und ihrer Unterstromungen oft mit so ganz andern Strichen zu entwerfen sucht,
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als sie im weitern Texte selbst sicli iinden. Eine Skizze aus der modernen musikalischen Entwicklung- urn die Zeit, die durcli das Erscheinen von Straussens Salome, Regers Sinfonietta und Serenade, Schillings Moloch und Mahlers VI. Symphonie bestimmt wird — mehr konnen diese Blatter nicht geben, und wollen sie auch nicht.
Als Richard Strauss im Jahre 1898 die „Wahlstatt" zu seinem Heldenleben dichtete, da war es nicht nur die Lust am „polyphonen Radau", wie man es nannte, die ihm die Feder fiihrte. Auch nicht ein ausserer Anlass gleich der Schlacht bei Vittoria, deren auf die Publikumswirkung berechnete musikalische Apotheose Beethoven zum Helden des Tages erhoben hatte. Beethoven schuf damals mit Bewusstsein ein Gelegenheitswerk — Konzessions- musik, ohne die noch kein Grosser durchs Dasein geschritten — Strauss schopfte aus innerem Erleben, stellte ein Stiick eigener Geschichte, und damit der Musikgeschichte symbolisch in Tonen dar. Doch die Zeiten sind voriiber, wo er nochmals ein Gleiches zu beginnen Anlass hatte, und so ist denn auch seine Schlachtenmusik im Taillefer ein Kunststuck ohne jene innere Notwendigkeit geblieben, die dem Kampf im Heldenleben noch seinen innern Adel verlieh. So sehr auch Strauss immer Neues zu erkampfen strebt, sein Name ist kein Kampfruf mehr, denn dessen, was er erlebt und erstritten, freuen wir uns als eines sichern Besitzes. Und mag ihm noch so heisse Gegner- schaft erstehen, wie nach der Salome: dass er, wie kein anderer, auszusprechen berufen, was uns gerade bewegt, dass seine Werke die musikalische Quint-
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essenz der uns am meisten bewegenden Probleme be- deuten, wird ilim audi der erbittertste Feind seiner Kunst nicht wegzudisputieren Avagen. Strauss ist nun einmal der musikalische Brennspieg-el unserer heutigen Kultur. Man mag ihn audi iliren Leit- artikler oder Feuilletonisten nennen, denn iiber alles Widitige liat er uns etwas zu sagen geliabt; seine Werke begleiten die Wandlungen des geistigen Inter- esses unserer Epodie, und stets waren sie, von allem andern abgeselien, die iiusserungen eines eminent geist- reidien Mannes.
Seltsam sdieint da, und dodi wieder im not- wendigen Gegensatz ganz logisch begriindet, das nach langem vergeblidien Kampfen doppelt plotzlich wirkende Aufsteigen einer Strauss auf den ersten Blick ganz diametral gegenliberstehenden Personlich- keit. Vor wenig Jahren fast nur mit Holm und Spott iibergossen, ist Max Reger jetzt in den Mittelpunkt des Interesses geriickt, und neben Eichard Strauss der meist aufgefiihrte unter den heute sdiaffenden Komponisten deutsdier Zunge geworden. Ihm felilt eigentlidi alles, was an Straussens Erscheinung immer wieder fesselt: das Geistreidie, und das feine Gefiilil ftir das, was sidi aus den geistigen Bewegungen unserer Tage musikalisch einschmelzen lasst. Dann die erotisdie Hitze, die einen grossen Teil von Straussens Erfolg ausmaclit, die Farbenglut, die sein Eigenstes darstellt, wie auch jener weltmannisdie Sdimiss, der selbst die sdilimmsten Groblieiten nocli in tadellose Form zu drediseln weiss. Und das Kapriziose ist die letzte Eigensdiaft, die man bei Reger sudien wlirde. Seine Kunst ist von schwererem Blut und anderer Art als die • eines Richard Strauss. Im all- gemeinen unlit erarisch, eine Musik, die — sdieinbar —
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mit unsern geistigen Bewegungen, imd sicheiiich mit deren Tageserscheinimgen nichts zn tun hat. Schein- bar eine Musik um der Miisik willen, in mancherlei Stilen schillernd, und dabei in ihrem Inhalt kaum durch unsere Zeit bedingt. Scheinbar — betonte icli scbon, denn in Wirklichkeit ist sie so modern und ein Ausdruck unserer Zeit, als die Straussische nur sein kann.
Richard Strauss und Max Reger sind die Pole unseres heutigen Musikschaffens ; in ihnen stehen sich zwei Prinzipien in maclitvollen Personlichkeiten gegen- iiber. Der grosste Konner der deskriptiven Musik, der die alten Formen, wo ihn sein Stoff treibt, in Stiicke schlagt oder neue flir ihn ersinnt, und der fast forraalistische Musiker, der audi in seinen ver- wegensten Schopfungen kaum einen Schritt von den Gesetzen der Tabulatur sich entfernt. Haben dafiir ein Liszt und seine Jlmger gekampft, um neue Ge- staltungen gerungen, dass schliesslich, wo ihr Sehnen und Wollen in Strauss die Erfiillung gefunden, ein Mann erstehe , der all dies ignorierend , alte Formen und Formeln zu neuem Leben erwecke? Es ist nicht anders. All das, was eigentlich nur noch in aka- demischer, vom heissen Odem des Lebens nicht be- riihrten Kompositionen ein Schemendasein fiihrte, tritt nun, oft einen fast anarchistisch anmutenden Inhalt bergend, mit dem Anspruch vor die erstaunte Welt, ihr Ausfluss und Spiegelbild zu sein. Sonaten , Va- riationen und Fugen waren schier ehrwurdige Dinge geworden ; wer dachte wohl vor wenig Jahren daran, dass sie uns noch Sensationen bedeuten wiirden? Dass eine Violinsonate eine noch frechere Verhohnung, eine noch bitterere Abrechnung mit Gegnern sein konne als die beriichtigten Widersacher im Straussischen
Heldenleben? Allein Eegers op. 72, von dem hier die Eede, die in einem ganz merkwlirdigen Cdur stehende Sonate fiir Violine und Klavier, sowie ihre Fortsetzung, das op. 84 (Fis moll) beweisen, dass person- lichster Ausdruck mit den allermodernsten Mitteln im strengen Ealimen der llberkommenen Form en moglich ist. Solclies hat nun zwar audi Strauss getan, doch bindet er sich nur von Fall zu Fall an die Formen, die ilim sonst eine Fessel bedeuten wiirden. Fiir Eeger aber stellen sie die gegebene Norm der musikalisclien Architektonik dar, in der seine Gedanken sich gesetz- massig zu entwickeln haben, wahrend bei Strauss der Gedanke als formgebend auftritt. Es liegt auf der Hand, dass ein Eichard Strauss zum moglichst pragnanten Ausdruck ganz bestimmter dichterischer Vorstellungen , fiir seine deskriptive Musik ganz anderer Formen bedarf als Eeger, der nur ganz all- gemeinen Stimmungen Ausdruck verleiht, und selten einmal in den als programmatisch bezeichneten Werken sich zur Andeutung einer Situation herbeilasst. Strauss libt, um es in einem sinnf alligen , wenn auch nicht tiefgreifenden Beispiel zu sagen, die Kunst der musi- kalischen Gebarde, Eeger die der musikalischen Stimmung. Fiir letztere sind ihm die aus dem Geist der Musik logisch entwickelten Formen auch heute noch berechtigt und vollig ausreichend.
Trotz dieser konservativen Gesinnung findet Eeger bei den offiziellen Hiitern dieser Formen wohl noch intimere Gegnerschaft als sein Antipode Strauss. Weil eben die Sonaten, Variationen, Passacaglien und Fugen einen modernen Gedankeninhalt von ausserster Kiihn- heit der Harmonik bergen. In der Harmonik vor allem liegt das Neue, das fiir uns der Name Eeger bedeutet. Er revolutioniert miser musikalisches Denken
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imd stellt es auf neue Grundlagen; sein Ziel ist die Erweiterimg der Tonalitat durch eine die letzten Konsecjuenzen zieliende Logik. Ein blitzsclinelles Umdeuten der Akkorde fasst weitentleg-ene Ton- geschlecliter zii naclister Nachbarschaft zusammen, imd weiss docli flir den, der weit genug horen kann, bei allem Lichter- und Farbenspiel dieser Changeant- Harmonik den Grundton einer bestimmten Tonalitat festzuhalten. Dieser Zug ist manchmal so stark, dass man viele von Eegers Stiicken als impressionistische Modulationsmusik ansprechen mochte, deren Wirkung nur nocli durch Akkordfarben erzielt werden soil.
Merkwiirdig ist nun, dass Reger in dem Augen- blick, wo er zu anderen Anschauungen kommend und eine Umkelir nach bestimmter Eichtung anbahnend, wieder in Gegensatz zu Strauss gerat, der eben dort landet, wo Eeger sonst unbedingt liatte anlegen miissen. Als Eeger nach der polyphonen und modu- latorischen Kraftprobe der Sinfonietta und den im- pressionistischen Kunststiicken der Sonaten op. 72 und 84, anderer nicht zu gedenken, seinen Weg zu Mozart fand, und begann, nach der edelgeschwungenen Melodie zu suchen, als er die Serenade op. 93 schrieb, da schuf Strauss das standard work des musikalischen Impressionismus : die Salome. Hass und Liebe in gleich heftigem Masse weekend, bedeutet die Salome weit liber die mit ihr nun einmal verbundene Sen- sation hinaus eines der wichtigsten Kunst- und Kultur- denkmale unserer Zeit. Alles Eifern und Yerdammen schafft die Tatsache nicht aus der Welt, dass Strauss hier ausgesprochen, Avas im Empfinden unserer Epoche lebt, dass er diesem die Zunge gelost hat. Aus der Zeit heraus und fiir sie ist Salome geschaffen, eine der sublimsten Erscheinungen heutiger Kultur. Zu
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fabelhafter Hohe ist Straussens Konnen liier gedielien, das einen malerischen St off mit alien Raffinessen musikalisclier Farbengebung in Tone einschmilzt, an die Stelle der melodisdien Zeichnung den musikalischen Impressionismus setzt und Klang- wie Akkordfarbe in gieicher Weise dem dicliterisclien Ausdruck dienstbar niacht. Wie von einer harmonischen Polyphonie darf man hier aucli von einer solchen der Farben sprechen. In der Salome liegt das Grosste beschlossen, was Strauss bisher zn schaffen vergonnt war ; sie bedeutet den Hohepunkt der „ malerischen" Musik, bei der die motivische Eriindung immer melir in den Hintergrund tritt und die Polyphonie ganz der psychologischen Differenzierung des Klangkolorits dienstbar gemacht wird. Ganz im Gegensatz dazu sehen wir Eegers Polyphonie. Sie ist der Zweck, und das Orchester das Mittel ihrer klanglichen Darstellung. Wahrend Strauss aus Griinden der Farbengebung immer kom- plizierter in seiner Polyphonie geworden ist, wandte sich Reger, urn der Deutlichkeit der einzelnen Stimmen sich von der wuchernden Polyphonie der Sinfonietta zu der einfachern und ubersichtlichern der Serenade. Wohin wir blicken, ergibt sich ein Antipodentum dieser beiden machtvoUen Personlichkeiten , und es ist daher auch ganz natlirlich, dass der lodernden Sinnlichkeit der Salome ein so keusches Werk wie Eegers Serenade gegeniibersteht.
Diese grundsatzliche Verschiedenheit der Naturen und des Schaffens von Strauss und Reger darf uns jedoch dariiber nicht tauschen, dass beide als voll- giiltige Erscheinungen modernen Lebens zusammen- gehoren und einander erganzen. Beide sind Pfadfinder in ihrer Kunst, beide geben den musikalischen Aus- druck unserer Zeit und stellen eminent moderne, nach
Neuem, Unerhortem sinnende Naturen dar. Strauss ist der Bewegiichere imd Geistreicliere von beiden, ist eng verwachsen mit den wechselnden Ersclieinungen iinserer Kultur; Eeger ist der Innigere und Gemilt- vollere, der aus der religiosen Mystik oft die tiefsten seiner Inspirationen gewinnt, und sich docli als reso- lutes Kind der Welt mit der en Ersclieinungen stetig auseinandersetzt. Dazu in der fabelhaft sclinellen und leicliten Art seines Schaffens eines der eigen- artigsten Phanomene der Musikgescliichte. Wie Mozart einst alles zur verklarenden Melodie wurde, so setzt sich in ihm alles in Modulation und Polyphonic um. So viele Lieder audi beide geschrieben haben,
— bei Eeger sind sie schon kaum mehr zu zahlen
— und trotz manch' andern Vokal works: im Grunde sind sie beide Instrumentalmusiker. Wie denn liber- haupt unsere heutige Musik ihren Schwerpunkt im Instrumentalen findet, in dem weit differenzierter sich gestalten lasst , als im Yokalen. Das ist es auch, was einen so ganz unmodernen Kiinstler wie Hans Pfitzner zu den modernen Mitteln greifen lasst, wenn er ausspricht, was so ganz fernab liegt von den Wegen, auf denen die andern strebend sich miihen. In ihm ist so ein Stiick Schumann wieder lebendig geAvorden, eine versonnene Eomantik klingt aus seinen Weisen, und die grosse xiUmutter Natur webt in keinem so geheimnisvollen Zauber wie in ihm. Trotz manchem Grllblerischen und Qualenden seiner Musik muss man doch immer wieder an den deutschen Wald denken und an Eichendorffsche Klange, hort man den Namen Hans Pfitzners nennen. Es ist eine gar selt- same und grausame Ironie des Schicksals, gerade eine solche Nachbllite der Eomantik mit diesem kolossalen Konnen und diesen subtilen Geistesgaben in eine Zeit
zu stelleii, wo niir die robusten Naturen den Sieg er- zwingen mogen. Seine Dramen sclieitern am Text
— wer hlllfe ilim wolil zn einem Glllcksfund, wie ihn Strauss bei der Salome tat? — mid doch enthalten sie Stlicke, die nur einer sclireibt, der niclit nur den Blick, sondern auch das Konnen flir die Blihne hat. Er ist ein Eigener in seinem Reich; unter all den Vielen, die sich das Orchester dienstbar machen, einer der ganz Wenigen mit selbstandiger Farbenpalette. ein Mann, der seine bestimmte personliche Note hat
— und was bedeutet er im Geistesleben unserer Nation? Sie muss wirklich sehr reich sein, dass sie an seinem Schaffen so teilnahmlos voriiberzugehen den Mut besitzt.
Dass sein Herz am Drama hangt, mag wohl seinem Wirken das Urteil sprechen. Ist das musi- kalische Drama in unserer Zeit iiberhaupt moglich? Stehen wir nicht vielleicht zu sehr unter dem Banne des einen iiberragenden Genies Richard Wagner, als dass etwas ganz Starkes zu erbliihen und zur Reife gelangen vermochte? Es ist doch gar vieles von dem Werke des Bayreuthers erdruckt worden, und es diinkt uns auch dies ganz natlirlich, tiberdenkt man, welche Flille guter Musik auf symphonischem Gebiete an der Kraft und der Nachfolge Beethovens zu Grunde gegangen ist. Weitab von dem Meister der Neunten hat die Entwicklung eingesetzt, die zu einer neuen Bliite des Symphonischen fiihrte, das dann schliesslich seltsamerweise im modernen musi- kalischen Drama herrschend wurde. Auch ein Max Schillings, dessen lierbe, vornehm-kiihle Art in unserm heutigen Schaffen eine so scharf ausgepragte Note anschlagt, hat das Gliick nicht zwingen konnen. Gedankenschwer ringt seine Kunst um das Hochste,
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iim die Gestaltimg feinster moderner Geisteskultur in das plastische sinnfallige Leben der Blihne. Docli auch er waltet noch nicht des Einges, den zur Stunde vielleicht keiner zu erringen vermag.
Fast sollte der grosse Erfolg der Straussischen Salome das Gegenteil beweisen, und doch mlissen wir uns bei aller Bewunderung ftir die Qualitaten dieser Schopfung sagen, dass ihn nicht ein Dramatiker, sondern der Symphoniker Strauss gewonnen hat. Die Salome ist eine symphonische Farbendichtung mit erlauternder Handlung, als solche ein kolossales Stlick, aber doch kein musikalisches Drama. Dem Prinzipe nach hat ja Siegfried Wagner vielleicht am besten erkannt, woher der Oper neues Leben zu gewinnen ist. Ware er ein so starker Musiker als er klar schauender Kiinstler mit scharfem Blick fiir die Szene ist, vielleicht ware da von einem Deutschen aufs neue gewonnen, was der Blihne not tut. Wir werden uns bescheiden mlissen und abwarten, bis der rauschende Strom der symphonischen Kunst in schmalern Wassern fliesst, ehe wir an eine hohe Bliite des musikalischen Dramas ernsthaft zu denken Avagen. Noch ist nicht alles gesagt, und noch sind fiir jene zuviel Entwicklungs- moglichkeiten vorhanden, die durchlaufen werden mlissen, als dass der Szene ein grosses Genie erstehen konnte. Es wird eine Zeit kommen, die wieder ernst- hafter dem Worte sich zmvendet, als die heutige, die noch zu froh ihrer Keichtumer der Akkord- und Klangfarbe und der mannigfachsten Polyphonic ist, die dem Worte den geheimsten Sinn ablauscht und es selbst zu wenig zur Geltung kommen lasst. Wir leben nun einmal in der Epoche der ausgesprochensten Instrumentalkunst und mlissen, wie ihre Segnungen, so auch ihren Fluch tragen. Und dlirfen doch und
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mlissen uns des vielen schonen freuen, das aucli im Drama erbluht ist, imd sollten seiner mit besonderer Liebe pflegen.
Wie keine je ziivor, breitet imsere Zeit vor dem Musiker die dilferenziertesten Mittel des Ausdrucks aus, imd da ist es nur zu erklarlicli, dass mit ihnen auch Kiinstler erscheinen, deren Wirken eigentlich erst dnrcli diese Mittel angeregt wird. Sclion bei Strauss weiss man niclit immer, wo bei ihm die Moglichkeit der Massenbeherrschung den Ausdruck bestimmte und wo der Ausdruck diese Massen verlangte. Bei Gust a V Mahler aber stelit man vor einer Er- sclieinung', die sich nur durch diese Mittel erklaren lasst. Unter alien Schaffenden unserer Tage ist er wohl die widerspruclisvollste Natur; ein Kiinstler, in dem die seltsamsten Widerspriiche gemisclit sind, der in heiligem Ernste Dinge vorbringt, die man oft kaum melir ernst zu nelimen vermag. Und dabei ein Mensch, dessen ernstes AVollen ilm doch wiederholt ins Grosse erhebt. Man hat ihn scherzhaft den Meyerbeer der Symphonie genannt, und so viel Wahres dieser Aus- spruch enthalt, so kann man ihn doch nur aufnehmen, wenn man betont, dass einem derart von der Heilig- keit seiner Kunst durchdrungenen Manne wie ihm die Meyerbeersche Verlogenheit und Gewissenlosigkeit vollkommen feme liegt. Ist er in gewisser Hinsicht ein Meyerbeer, so doch einer, der an sich und seine Musik glaubt. Und da steht man denn vor dem Unerklar- lichen, dass ein Mann von diesem sublimen musikalischen Yerstandnis das schreiende Missverhaltnis zwischen seinem grossen Wollen wie dem eminenten technischen Konnen und dem thematischen Gehalt seiner Werke nicht einzusehen vermag. In der Idee sind seine Riesensymphonien stets dem Hochsten zugewandt, es
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gibt Augenblicke , avo in ihnen cler Himmel sicli zu offnen scheint, doch bleibt ihre Ausfuhrimg* zumeist in der Erdennahe haften. Mahlers Phantasie diinkt mich, von der hinterher stets abgeleugneten poetischen Idee abgesehen, vor alleni durcli das Klangbild bestimmt. Dieses ist das Primare, die Thematik das erst in zweiter Linie stehende. Mahlers Klangfarben sind originell, seine Themen das Gegenteil davon. Vom Streben nach grosster Pragnanz beherrsclit, — da des Komponisten Stolz eine stets deutlich sich dar- stellende Polj^plionie ist — verfallt sie meist in einen Stil, fiir den der Ausdruck „yolkstiiinlich" selir frennd- lich gewahlt ist. Im Gegensatz zu Kicliard Strauss, dem andern Farbenklinstler und Alleskonner auf dem Orchester ist er ein Eabulist des Klanges und kein Klangpoet; kein Musiker aus Temperament, sondern ein solcher aus Willen. Weiter wie er hat sich keiner sein Ziel gesteckt, der Himmel und Erde umfassen mochte, und doch das erh'Jsende Wort nicht iindet, da es ihm nicht aus Herz und Sinnen zu quillen ver- mag. Gleich einem Ingenieur schlagt er die Eiesen- bogen seiner Symphonien, und wir stehen mit ruhigem Staunen vor diesen Schopfungen einer Phantasie, die uns kalt und berechnend diinkt, weil wir nicht einzusehen vermogen, dass auch ihre Ausserungen ehrlich vergossenes Herzblut adelt. Auch der Fall Mahler hat seine Tragik. Die Natur gab diesem Manne als Danaergeschenk eine wohl noch nicht da- gewesene Beherrschung der gewaltigen Mittel des modernen Orchesters und den Zwang mit auf den Weg, nur in diesem Eahmen musikalisch denken zu konnen. Dazu eine weitgreifende Phantasie, doch nicht die Kraft, die grossen. ihm einfach notwendigen Mittel durch die Wucht seiner musikalischen Gedanken
zu rechtfertigen. Musiker, die weniger konnen, sind gllicklicher daran wie er, da sie die Natur nicht zwingt, gegen ihr Talent zu schaffen.
Mag man nun gegen seine Kunst noch so viele und berechtigte Einwendungen erheben, fehlte sein scharf umrissenes Profil, es ware eine Lticke im Ge- samtbild der heutigen Musik. Denn mit seiner kraft- voU bestimmten Diatonik steht er eigenwillig und unbeirrt in den chromatischen Stlirmen der Gegen- wart. AVo Yor allem Reger und Strauss die grossten Anforderungen an ein Aveitgreifendes horizontales Horen stellen, bleibt er der altvertrauten Vertikale treu; wo in Frankreich Debussy und Delius die Ge- setze der Harmonie schier aufzuheben trachten, be- halten bei Mahler Tonika und Dominante ihr lang verbrieftes Recht. Je mehr sich bei andern Meistern die Herrschaft der Klang- und Akkordfarbe ausbreitet, desto eindringlicher wirkt seine scharf umrissene, wenn auch nicht immer edle Zeichnung. Doch ist sie leider fast immer die gleiche, und von Mahler erwartet man keine Uberraschungen mehr, nur noch Wiederholungen. Von Piitzner und Schillings kann man nicht ahnen, womit ihre etwas schwer schaffende Phantasie uns beschenken wird, und wer wohl mochte prophezeien, wohin uns nach wenig Jahren vielleicht schon Reger und Strauss gefiihrt haben werden? Sind sie auch nur Werkzeuge der Entwicklung, so weisen sie doch auch dieser den Weg. Im gewohn- lichen Leben wie in der Kunst bedeutet eben, eine grosse Personlichkeit sein: alles!
Phot. Otto Becker & Maass, Berlin, W.
Eugen d' Albert.
Eugen b'fllbert
(geb. zu Glasgow [Schottlanb] am 10. flpril 1864).
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Eugen d'^lbert
/Arthur Smolian.
Eugen d'Albert, der einen fremdlandisch klingenden Namen tragt, jenseits des Kanals im rauch- und nebel- truben Albion geboren wurde und sich seit mehreren Jahren schon ein stilles Platzchen im sonnigen Siiden (Meina am Lago Maggiore) zur Heimstatt erkoren hat, ist trotz alledem ein wahrhaft deutscher Kiinstler ge- worden und geblieben — , deutsch im Denken und Empfinden, deutsch in seinem Kunsternste und seiner Kunsttreue, deutsch in der kunstreichen Gediegenheit seines pianistischen und seines tonsetzerischen Konnens und Wissens, echt-deutsch in dem sanguinen Idealismus, mit dem er rastlos eine Schopfung an die andere reiht, und deutsch schliesslich auch in der Geistesgeschmeidig- keit, mit der er als reproduzierender und als produ- zierender Kiinstler sich in die heterogensten und frem- desten Stilarten hineinzufinden vermag.
Anlage und Liebe zur Tonkunst, die d'Albert gleichsam als Himmelsgabe und als Erbe von seinem Vater her zugefallen waren , hatten ihn friihe schon betrachtliche Fertigkeit im Klavierspiel und viele ton- setzerische Geschicklichkeit erlangen lassen, und um 1880 war das schone Talent des Knaben trotz manchen hemmenden Eiuflussen bereits soweit zum Durchbruch gekommen, dass der scharfblickende Hans Richter durch ein Begegnen mit dem sechzehnjahrigen Ruhmes- aspiranten dazu bestimmt werden konnte, d'Albert dem wenig forderlichen Milieu der englischen Musik- macherei zu entreissen und ihn auf deutschen Musik-
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boden — zunachst nach Wien bin und dann in die Schule Liszts nach Weimar zu verpflanzen.
Meister Liszt, dem der geniale Jiingling als will- kommener Ersatz fur seinen allzufriih dahingeschiedenen liebsten ^Lieblingsschiiler" Carl Tausig gegolten baben mag, bracbte mit geradezu vaterlicber Liebe und Hin- gabe das ausserordentliche Klaviertalent bald zu voller Reife, so dass denn Eugen d'Albert schon in der Musik- saison 1882 — 1883 seinen Siegeszug durcb die Konzert- sale antreten konnte.
Den eminenten Klavierspieler Eugen d'Albert, der mit der Grosse und Scbonbeit seines Spieles und mit der unparteiischen Recbtlichkeit seines Kunstge- scbraackes an Franz Liszt — , mit der temperamentvollen Energie seiner Virtuositat an Anton Rubinstein — , und mit der geistvollen Treue seines Interpretierens an Hans von Billow gemalint, kennt beutzutage die ganze musikaliscbe Welt und scbatzt ibn als den vollkommen- sten Techniker und als den am vielseitigsten entwickel- ten, ausgereiftesten Geist unter den Pianisten der Gegen- wart. Anders aber steht es um den Komponisten d'Albert, den die weitere Musikwelt bislang nur in wenigen liebenswurdigsten Liedkompositionen („Zur Drossel spracb der Fink", „Das Madcben und der Schmetter- ling" und ^Voriibergang") sowie weiterbin in dem fein- sinnigen musikaliscben Lustspiel „Die Abreise" und in dem mit froblicber Laune etwas burlesker ausgestalteten Buhnenwerke „Flauto solo" wirklicli kennen und lieben gelernt bat, und so erscbeint es denn geboten, weiteren Kreisen Musikliebender, fiir die ja die „Monograpbieen Moderner Musiker" bestimmt sind, Eugen d'Albert als Tondicbter naber zu rlicken, was bier mit einem Uber- blicke uber all sein bisberiges Schaffen, mit Hinweisen auf besonders Vorziiglicbes und Beacbtenswertes in seinen Werken, und, daran anscbliessend , mit einer Cbarakterisierung von d'Alberts kiinstleriscbem Wollen und Vollbringen gescheben soil.
Seiner ernst und tief angelegten Kiinstlernatur gemass hat d'Albert schon in der Friihzeit seines offent- lichen Kunstwirkens weder an glanzendsten Virtuosen- erfolgen noch an stilleren Triumphen, die ihm als Inter- preten beschieden waren, voiles Geniigen finden konnen,
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und so ist denn der Musiker d'Albert fast unmittelbar nach dem Erringen seines ersten Pianistensieges auch schon mit eigenen Kompositionen vor die Offentlicbkeit getreten. Eine in Bach'scliera Geiste konzipierte Suite fiir Klavier allein, ein in Lisztscher Art geformtes Klavierkonzert, zwei stimmungsreiche Liederhefte und eine von Schumann zu Brahms hiniiberdeutende Sym- phonie waren die Erstlingsgaben , die der junge Ton- dichter am Altare der Tonkunst niederlegte und mit deren Auffuhrung er sich wahrend des Jahres 1886 in Berliner, Dresdner und Hamburger Konzerten sowie in einem zum Vorteil des Fonds ftir das Leipziger Richard Wagner-Denkmal veranstalteten Kompositionskonzerte in Leipzig seiner Mitwelt als ernstgesinnter, kunstge- wandter und hochstrebender Tonsetzer vorstellte. Damit war die HofiPnung wachgerufen, dass d'Albert sich als Komponist zu einem starken Bannertrager der „ab- soluten" Musik entwickeln werde, und solchem Hoffen entsprach denn auch d' Alberts Schaffen wahrend der nachstfolgenden fiinf Jahre, in denen neben Einzelge- sangen und ein paar Heften zwei- und vierhandiger Klavierstiicke zwei Streichquartette , eine Schauspiel- Ouverture, eine Klaviersonate und ein zweites Klavier- konzert zur Ausfiihrung gelangten. Dann aber machte d'Albert plotzlich eine Schwenkung, indem er sich mit voller Entschlossenheit der Opernbuhne zuwandte, und ob er gleich auch in der Polgezeit als Liederkomponist nicht gefeiert hat und mit der Komposition eines grosseren Chorwerkes, mehrerer Klavierstiicke und seines schonen Konzertes fiir Violoncello gelegentlich selbst in den Bannkreis der „absoluten" Musik zuriickgetreten ist, so hat fiirderhin sein eifrigstes tonsetzerisches Be- miihen dem Erstreben eines grossen Theatererfolges gegolten, wie das schon die rastlose Arbeitsamkeit be- zeugt, mit der er in kurzen zwolf Jahren nun bereits fiinf mehraktige und drei einaktige Biihnenwerke kom- poniert und zur Auffuhrung gebracht hat. Eine neunte, wiederum mehraktige Oper d'Alberts, die wohl erst in der Saison 1907 — 1908 auf die Biihnen gelangen wird, ist soeben zur Vollendung gelangt und da man es somit gegenwartig fast ausschliesslich mit dem Opernkompo- nisten d'Albert zu tun hat, so wird diesem auch ein
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wesentlichster Teil der vorliegenden Monographie zu- gewiesen werden miissen. —
Zunachst aber sei inkurzer Skizzierung, fiir die bier um der besseren Ubersicbtlichkeit willen eine Gruppierung in Werke fiir Klavier allein und mit Be- gleitung, in ein- und mebrstimmige Gesangskompo- sitionen und in Scbopfungen fiir Orcbester und fiir Streicbinstrumente stattbaben moge, alles aussertbeatra- liscbe ScbafFen d' Alberts angefiibrt und gewlirdigt. Die Mitangabe einiger bedeutsameren Widmungen ist fiir solcbe Leser bestimmt, die derartiges im Sinne des alien Wabrwortes : Sage mir, mit wem du umgebst, und icb will dir sagen , wer du bist" zu deuten verstehen. Fiir Klavier allein zu zweiHanden bat d'Albert bislang merkwiirdigerweise nur fiinf Opera berausgegeben, darunter sein op. 1, die strenggeformte, gut-Bacbscbe Dmoll-Suite, deren ungemein cbarak- terfeste Ecksatze, eine Allemande und eine bei tradi- tioneller Umkebrung des Tbemas im zweiten Teile treflflicb fugierte Gigue, drei andere nacb alten Mustern gestaltete Tanzstucke umrabmen, von denen insonderbeit die modern klangvirtuose Gavotte mit der ibr einge- fiigten reizvoU barmonisierten Musette als kostlicbes Meisterstiicklein zu gelten bat. Diese Suite ist der fiirsorgenden Freundin Tausigs und begeisterten Sacb- walterin Wagners, Grafin Marie von Scbleinitz (nacb- maligen Grafin Wolkenstein-Trostburg) gewidmet.
Ganz berrlicbe Kompositionen mit einem den in- timsten Klavierscbopfungen von Brabms verwandten Stimmungszuge sind die in zwei Heften berausgegebenen Acbt Klavierstlicke op. 5, die zum Teil audi im Konzertsaale wobl am Platze waren, so die zwei tbemen- verwandten , tecbniscb - interessanten und lobnenden Cis moll-Stiicke No. 1 und No. 8 und die zur Hervor- bringung allerfeinster Klangwirkungen anregende scbon arcbaisierende Aria No. 5, die iibrigens erst mit dem leidenscbaftlicb anbebenden und visionar verklingenden secbsten Stiicke zu vollem Abscbluss gelangt. Nur Spieler, denen beim Vortrage dieses prachtigen Klang- stlickes der alte Johann Sebastian mit seinen von zarten Terzengangen der Streicber begleiteten riibrenden Oboen- melodien in den Sinn kommt, werden zu der fiir die
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voile Klangverlebendigung der d'Albertschen Esdur- Aria erforderlichen Inbrunst des Herzens und der Finger gelangen und dann auch dem tief-geheimnisvollen drei- undeinhalbtaktigen Ritornell seine rechte Klangaus- deutung geben konnen. Die edle Schwarmerei des zweiten Stiickes, die fragende Unruhe in No. 3 und die tandelnde und sinnende Anmut der Stiicke 4 und 7 miissen jede feinempfindendeMusikseele gefangen nehmen.
Ein gewaltiges, an die Klaviersonaten von Brahms hinanreichendes und diese technisch mit der imposanten Faktur seines als Tripelfuge ausgestalteten Finales noch uberbietendes Werk ist die „Hans von Biilow in Verehrung zugeeignete" FismoU-Sonate op. 10 von d' Albert. Grossartig — recht als ein Karapf feindlicher Energien, in den das Gesangsthema und ein viertaktiges pastorales Zwischensatzchen Friedensverheissungen hin- eintonen — wirkt der erste Satz der Sonate, zu grosser Klangschonheit steigert sich der frei variierte zweite Satz, der in eine fiir den Klaviersatz neue Kombinierung von zv^ei mit eigenen Begleitmotiven umrankten gegen- satzlichen Melodien ausmiindet, und gewaltig, gleich nianchen spateren Fugen von Max Reger, baut sich nach einer Orgelpunkt-fundamentierten imposanten Ein- leitung die dreiteilige Fuge auf, in der dem chromatisch in Viertelbewegung einherschreitenden ersten Thema ein in Achteltriolen andringendes zweites — und ein in Sechzehntelnoten figuriertes drittes Thema — sowie schliesslich auch noch eine aus der Einleitung heruber- klingende heftige Klanggeste auf ganz meisterhafte Art gegeniibergestellt und zugesellt werden.
Als „Vier Klavierstucke'' op. 16 erschienen ein grandioser Asdur-Walzer mit der auffalligen Peri- odenbildung von 8 -|- 8 + zweimal 2 -f 2 -f 4 Takten im Hauptteile und von sich wiederholenden 8 -|- 2 + 2 + 4 Takten im lyrischeren Trioteile, und ein fein-virtuoses Fis dur-Scherzo mit einer in 4, 6 und zweimal 4 Takte zu gliedernden Melodie im Mittelsatze, die beide als ausserst wirksame Konzertstiicke gelten konnen, sowie ein sehr liebenswiirdiges Intermezzo in H dur und eine tiefernste Ballade in Hmoll, zwei intimere Tongedichte, die sich mehr an den Stimmungsmasiker als an den Virtuosen wenden.
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Mit seiner reizvoll italienisierenden „Serenata" flir Klavier zu zwei Handen hat d' Albert ein wirksames und spieltechnisch interessantes Vortragsstuck ge- schaffen, das vorgeschrittenen Spielern — insonderheit auch als Studie fiir subtile Anwendung des Pedaies — zu empfehlen ist.
Charaktervoll-ansprecliende und niclit gerade schwer spielbare Vortragsstiicke sind die „Walzer fiir das Pianoforte zu vier Handen" op. 6, die urn der anregend und erziehlich wirkenden Mannigfaltigkeit ihrer metrischen Formungen willen von ernsthaften Musiklehrenden auch in das Unterrichtsprogramm auf- genommen werden sollten.
In seinen zwei Klavierkonzerten op. 2 in Hmoll und op. 10 inEdur, die in den Jahren 1885 und 1892 entstanden sein diirften, bedient sich d' Albert auf durchaus selbstandig ausgestaltende und weiter- bildende Art der von Liszt geschaffenen themeneinheit- lich - zusammengedrangten Konzertform und mancher Spezialitaten der Lisztschen Technik, so dass denn die iiber dem ersten Konzerte prangenden Worte : „Meinem hochverehrten Meister Dr. Franz Liszt in Dankbarkeit zugeeignet" gleichsam auch iiberpersonlich bedeutsam wirken miissen. Das Hmoll-Konzert, an dem man einzig wohl das dehnende Haftenbleiben an Seitenge- danken im ersten Allegro und in dessen Wiederkehr bemangeln konnte, hebt diister-leidenschaftlich mit einer aus dem Hauptthema des Allegros gestalteten langsamen Einleitung an, erfreut im Allegro mit der energievollen Durcharbeitung aller Gedanken und mit dem Klangreize des zuerst von den Blasern, dann vom Klaviere vorge- tragenen und weiterhin in prachtiger Orgelpunktstim- mung verklingenden ekstatischen zweiten Themas, ge- langt dann mit der Durchfiihrung zu einem aus zwei sehr schonen neuen Themen hervorbliihenden Adagio, das den hervorragendsten Teil des Werkes bildet, bringt im weiteren Fortgange eine Wiederholung der Ein- leitung und des Allegros (ohne Durchfiihrung), und leitet mit einer den Anfang des zweiten Allegrothemas fugierenden Klavierkadenz in das Finale iiber, das nach spriihendem Tonspiele mit den metrisch umgestalteten Allegrothemen in eine von glanzenden Klavierpassagen
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durchrauschte Klan^apotheose der mit dem Anfanpjs- motive des eisten Themas vereinigten Gesangsmelodie ausmtindet.
Zu weiterreichender Verbreitung und Beliebtheit ist das Pauline Erdmannsdorfer - Fichtner gewidraete sonniger und knapper geformte E dur-Konzert gelangt, das — recht als ein freudiges Kampfspiel zwischen dem Soloinstrumente und dem Orchester — gleichsam wie mit einem Fehderufe des letzteren anhebt, der — nur beim langsamen Teile verstummend — kraftvoll an- eifernd hertiber- und hiniibertont und schliesslich zur Siegesfanfare fiir das Klavier wird. Gleicherweise er- halt auch die ungemein entschlossene Fis moll-Phrase, mit der das Klavier in den Kampf eintritt, thematische Bedeutsamkeit, indem sie nicht nur die beiden Ecksatze vielfach durchklingt und im Finale sogar eine kontra- punktische Verbindung mit dem Fehderufe eingeht, sondern in metrischer Umbildung auch zum Hauptthema fiir den Scherzoteil der Komposition wird. Relativ un- fruchtbar bleiben nur das in Klavier und Horn ertonende erste Allegrothema und der liedartige Hauptsatz des langsamen Teiles, wogegen das mit der Septime into- nierende gefdhlsschwelgerische Kantilenenthema des Allegros mit reizvoller Gegensatzlichkeit im Scherzo und im Finale wiederkehrt und die inmitten des langsamen Teiles sich wohlig breitende G-Saiten-Melodie der Vio- linen kurz vor Schluss des Werkes hymnisch den auf- jubelnden Bravourpassagen des sieghaften Soloinstru- mentes gegeniibertritt.
Mit alleiniger Ausnahme des in die Edition Peters aufgenommenen op. 16 und der durch Fr. Hofmeister verlegten ^Serenata" sind alle vorerwahnten Klavier- kompositionen d'Alberts durch Bote & Bock verlegt worden.
Mit der riihmenden Erwahnung zweier stilgerecht scbonen Kadenzen, die d' Albert zum G dur-Konzert von Beethoven komponiert hat und die bei Bote & Bock erschienen sind, haben wir uns noch einer Gruppe von solchen Werken zuzuv^renden , die von d' Albert fiir Klavier iibertragen oder mit instruktiven Anmerkungen, Fingersatzen und Vortragsbezeichnungen versehen worden sind. Da diirften denn zu allernachst vortreffliche
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Ubertragungen Job. Seb. Bachscher Orgelwerke zu nennen sein: der C moll-Passacaglia und des Ddur- Praludium und Fuge (beide bei Bote & Bock), sowie der Praludien und Fugen in Gdur, Adur unci Fmoll, der Fantasia und Fuge in CmoU und der Toccaten und Fugen in Fdur und in Dmoll (Rob. Forbergs Verlag), in zweiter Reihe aber d' Alberts kritisch-instruk- tive Ausgaben des vierten und fiinften Klavier- konzertes (Breitkopf & Hartel) und samtlicher Sonaten von Beetboven (Otto Forberg) sowie mancher anderen bedeutenden Klavierwerke (^Carneval* und Cdur- Pbantasie von Schumann, D moll-Suite von J. S. Bach, Gdur-Rondo op. 51 No. 2 und Rondo a capriccio op. 129 von Beethoven), die unter dem Gesamttitel „Aus den Klavier-Abenden von Eugen d'Albert" durch Rob. For- berg veroflfentlicht wurden. Neben einigen Fliichtig- keiten und Absonderlichkeiten in den instruktiven Angaben und erlauternden Anraerkungen bieten die d'Albertschen Ausgaben klassischer Klavierwerke eine Fiille wertvoller Spiel- und Auffassungsanregungen.
Fiir eine Singstimme mit Klavierbeglei- tung hat d' Albert bislang zehn Opera mit insgesamt 54 Liedern geschrieben, wozu allerdings noch fiinf ur- sprunglich mit Orchesterbegleitung versehene, zum Teil grossere Gesange hinzukommen. Die Carl Scheidemantel gewidmeten „Zehn Lieder und Gesange" op. 3 (Bote & Bock), mit denen d' Albert als Liederkomponist sehr glucklich debutiert hat, bezeugten an den drei schonsten Stiicken des ersten Heftes: der edel-weihevollen Hymne „Abend", dem entzuckenden Scherzliede „Das Madchen und der Schmetterling" und dem ergreifenden Stim- mungsbilde ^Nebel" allsogleich des jungen Tondichters hervorragendes Begabtsein fiir das Tonausdeuten hete- rogenster Dichtungsvorwurfe, dem weiterhin viele wahr- haft fesselude Liederbliiten entsprossen konnten. So aus dem Hermine Spies gewidmeten op. 9 (Bote & Bock) vornehmlich die Lieder „Zur Drossel sprach der Fink" und „Der Frlihling kam" — , aus den Hermine Finck gewidmeten „Liedern der Liebe" op. 13 (Bote & Bock) der leidenschaftliche Gesang „Ohne dich" und die an- mutige ^Serenade" — , aus dem Sophie Rohr-Brajnin dedizierten op. 17 (Ed. Peters) die feinen Klangstucke
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^Erwachen" und „An den Mond" und das scharf-charak- teristische Stimmungsbild „Auf der Haide ist ein Platz" — aus dem Emilie Welti-Herzog gewidmeten op. 18 (Ad. Fiirstner) das melancholische Lied ^Grauer Vogel" und das Trutzliedlein „Der Korb" — , aus den ^Seclis Liedern" op. 19 (N. Simrock) „Das heilige Feuer", „Er ist's" und das volksliedartige „Ein Stiindlein wohl vor Tag" — , aus dem Anton Sistermans gewidmeten op. 21 die ^Heimliche Aufforderung" das launige „Jedem das Seine" und die besonders mit hinzutretender Violine ungemein eindringlich wirkende Elegie „Vorubergang" — , aus op. 22 (C. F. W. Siegel) die stimmungssatten Gesange ^Sehnsucht der Nacht" und „Die Hutte" und das gesangskolorierte Necklied ,.Hut du dich" — , aus op. 27 (Bote & Bock) das fein-tonmalerische „Strom- iiber" und das kokette „M6chte wohl gerne ein Schmet- terling sein" — , und aus den „Funf Liedern im Volks- ton aus des Knaben Wunderhorn" op, 28 (Bote & Bock), insonderheit „Gedankenstille", „Die scbweren Brom- beeren" und „Knabe und Veilchen". In alien diesen Liedern ist der Part der Singstimme ausdracksvoll- melodiscli gehalten und die Klavierbegleitung bei vor- trefflichem Tonsatz und bei Yermeidung des aller- modernsten Harmonisierungs-Raffinements charakte- ristisch genug ausgefiihrt, um mit stimmunggebend wirken zu konnen. Mit seiner in den Themen und in der Harmonisierung eigenartig-bedeutend angelegten und mit starker dramatischer Steigerung durchgefiihrten orchesterbegleiteten Konzert-Szene op. 15 „Seejungt'rau- lein" (Max Brockhaus) hat d'Albert hohen, kraftvollen Sopranen eine ebenso schwierige als lohnend-schone Aufgabe gestellt, und wie dieses Werk bereits mehr- fach im Konzertsaal erklungen ist, so haben auch einige von d' Alberts sonstigen, bei Rob. Forberg er- schienenen Kompositionen fiir Solo-Sopran oder Tenor und Orchester sich als wirksame Konzertvortrage er- weisen konnen, so das vornehme, Leo Blech gewidmete grossere Stimmungsbild op. 24 „Wie wir die Natur erleben", das bestrickende ,,Wiegenlied" aus op. 25 und die lediglich schwunghafte „Mittelalterliche Venus- hymne'' op. 26 mit hinzutretendem Mannerchor.
Im Gebiete der Chorkomposition ist d'Albert —
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abgeselien von den mancherlei Chorsatzen in seinen Biihnenwerken — nicht sonderlich tatig gewesen. Selb- standige a capella-Gesange fiir gemiscliten Chor sucht man unter seinen Kompositionen vergeblich, wohl aber hat er flir vierstimmigen Mannerchor „Aclit Lieder" op. 23 (Bote & Bock) veroffentlicht , Tonsatze, die riihuienswertes Hinausstreben uber die Liedertafelei — zugleich aber auch ein gewisses Nichtvertrautsein mit den Wirkungsbedingnissen dieser homosexuellen Kunstart wahrnehmen lassen. Als unmittelbar wirksame Vor- tragsstiicke diirften aus dem op. 23 die zwei Lieder „Herbstlied" und ^Ermunterung" hervorzuheben sein, and am „Arion" soUten sich bessere Mannerchorvereine gleichsam als an einer „ Etude d'execution transcendante" versuchen. Ein Seitenstlick zu den Brahmsschen Chor- oden schuf d'Albert mit seiner stimmungsgewaltigen Komposition der Otto Ludwigschen Dichtung „Der Mensch und das Leben" fiir sechsstimmigen Chor (2 Sopr., 1 Alt, 1 Tenor und 2 Basse) und grosses Orchester, die als op. 14 bei Breitkopf & Hartel in Partitur, Klavierauszug und Stimmen herausgekommen ist. Duster, trostlos und zugleich doch auch gross, wie die Gedanken der Dichtung es sind, schreitet auch die Komposition in tragischem und beim Mittelsatze durch lichtere Gdur- und Hdurklange triigerisch auf- gehelltem Gmoll einher und weist mit der Herbheit der Themen, mit dem Zwielichte der Harmonisierung und mit manchen rhapsodischen Partien des Chorsatzes tief-eindringlich auf das spatere Mysterium „Kain" vor- aus. Mit seinem op. 30, einer fiir Chor, Soli (ad libitum) und grosses Orchester gesetzten ekstatisch - schwung- voUen Komposition der Herderschen Ode „An den Genius von Deutschland" (Bote & Bock) hat d'Albert der Koniglichen Akademie der Kiinste in Berlin fiir seine Ernennung zum Mitgliede Dank abgestattet. In hohem Grade imponierend wirkt auch heute noch die Fdur- Symphonie, die d'Albert noch vor Zuriicklegung des zwanzigsten Lebensjahres als sein op. 4 komponiert und dem kunstfreundlichen Christo- phorus, der ihn zum europaischen Festlande gebracht hatte: „Karl Klindworth in Verehrung und Freund- schaft" zugeeignet hat. Diese bei Bote & Bock in
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Partitur, Stimmen und Klavierarrangement zu vier Handen erschienene, jugendlich-enthusiastische und zugleich doch auch vollig kunstreife Schopfung beginnt mit einem massig-bewegten Schwarmsatze in Sechsachteltakt, dessen zunachst von Klarinette und Bratsche angestimmter romantischen Hauptmelodie, die kurz vor dem Schlusse der Symphonie noch einmal mit einigen gewaltigen Gesdur-Takten anklingt, ein etwas dezidierteres, leicht Schumannisch angehauchtes zweites Thema und mancher- lei energische Verarbeitungsgedanken mit reicher kontra- punktischer Kunst- und Stimmungsentfaltung gegen- ubergestellt werden. In dem melodisch-deklamatorischen C moll - Andante , das an zweiter Stelle steht , fesselt insonderbeit eine die Reprise des Haupttbemas vor- bereitende ganz gewaltige Steigerung, wahrend im reiz- vollen Scberzo dem fugiert eintretenden froblicben Hauptthema ein Basstbema, dessen Anstieg d'Albert in spateren Jabren bei der Komposition seiner ^Impro- visator^-Musik wieder in den Sinn gekommen ist (2. Tbema der Ouverture), eine ganz Scbumanniscb wirkende Syn- kopen-Melodie und ein vornebmlicb mit scbonen Holz- blasereff'ekten bestrickendes gesangreicbes Trio bei- gegeben sind. In die Energienspbare der Beetboven- Brabmsscben sympboniscben Kunst drangt d' Albert mit dem letzten Satze seiner Fdur-Sympbonie vor, einem durcb eine langere, balbwegs mysteriose Einleitung vorbereiteten jaucbzenden Kampf- und Siegesbymnus der kiibn zu den bocbsten Zielen emporverlangenden Jugendgenialitat. Diejenige Konzertdirektion, die es unternabme, statt der russiscben, skandinaviscben und siiddeutscben Gegenwartskomponisten , die beutzutage Mode sind, aucb wieder einmal d'Albert mit seiner Jugendsympbonie zum Worte zu bringen, erwlirbe sicb zugleicb mit dem Danke des zweifellos erfreuten Pub- likums vielleicbt aucb das Verdienst einer Anregung des Tondicbters zu neuen sympboniscben Taten.
Den liebenswiirdigen Ouverturen-Komponisten Cbe- rubini und Mendelssobn, denen fiir ibre Ouverturen mebr eine musikaliscbe Wiederspiegelung als eine Aus- deutung dramatiscber Yorgange im Sinne gelegen baben diirfte, bat sicb Eugen d'Albert mit seiner „Herrn Prof. Dr. Franz Wiillner in Verebrung und Dankbar-
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keit" gewidmeten Ouverture zu Grillparzers „Esther", op. 8 (Bote & Bock) zugesellt. Ohne Auf- gebot einer besonders tiefen oder grossen Erfindungs- kraft vermochte es d' Albert in diesem Werke durch eigenartige Rhythmisierangen und durch die form- gewandte GegendberstelluDg und Durchfiihrung von deutlich kontrastierenden, cbarakteristisch-wohllautenden Klanggebilden ein Tongemalde za schaffen, das die Zuborenden ganz unwillkurlich fesselt und ihnen gar wobl als eine Scbilderung des Begegnens, Werbens und Sichineinandererschliessens zwischen dem in orien- talischem Prunke daherkommenden Konige und der seine Trauer mit der Heiterkeit und Anmut ihresWesens bannenden und ihn schliesslich ganz fiir sich gewinnen- den jungfraulichen Esther gelten kann.
Kunstreich wohlgelungene und in einzelnen Teilen ganz hervorragend schon erfundene und klingende Werke sind die gleichfalls durch Bote & Bock verlegten zwei Streichquartette von Eugen d' Albert: das „Herrn Professor Dr. Joseph Joachim in Verehrung gewidmete** AmoU-Quartett op. 7, das nach einem klangromantischen, leidenschaftlich-bewegten Einfuhrungssatze ein sehr melodieinniges Adagio und ein rassiges Scherzo von trefflicher Faktur bringt, una schliesslich in etwas spie- lerische Variierungen eines liebenswurdigen eigenen Themas auszumunden , — und das ^Johannes Brahms verehrungsvollst" zugeeignete bedeutendere Esdur- Quartett op. 11, darin ein ganz genial ersonnenes Scherzo von einem interessanten Andante und einem tief beseelten Gesangs- Adagio umrahmt wird und das kraft- und freudebeschwingte Finale mit seinem Hauptthema auf den ^Flanto solo" spielenden Furstensohn vorausdeutet.
Mit seinem , dem „lieben Freunde Hugo Becker** gewidmeten Cdur-Violoncello-Konzert op. 20 (Rob. Forberg), das als spieltechnische Aufgabe und als Komposition an sich gleich sehr zum inhaltreichen und formenschonen Meisterwerke geraten ist, hat d'Albert sich in einem etwas abseits liegenden Gebiete der Ton- kunst ein dauernd schones Klangdenkmal errichtet und alien vornehmen Violoncello- Virtuosen den Siegeszug durch romantisches Tonland ermoglicht.
Beim IJberblicken von d' Alberts gesamtem absolut-
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musikalischen und lyrisch-tondichterischen SchaffeQ wird man es deutlich gewahr, dass d' Albert gleich den meisten produktiven Musikern derGegenwarfc weniger ein Eigentoner als ein Eklektiker ist, dabei aber vor vielen Neueren und Neuesten voile Natiirlichkeit und Warme des musikalischen Empfindens, feinstes Formengefiihl und eine allem Krampfhaften, Uberstiegenen und Ab- strusen abholde wahre und freudige Schonheitsliebe voraus hat. Man konnte den vornehmlich durch Schu- mann und Brahms beeinflussten absoluten Tondichter d'Albert um seiner edlen Melodiefreudigkeit , seiner Satzreinheit imd seines vornehmen Masshaltens in der Anwendung der harmonisch-kontrapunktischen und in- strumental-koloristischen Ausdrucksmittel willen gar wohl den Philokalon unter den modernen Komponisten heissen, und ein solcher ist er auch bei seinem spateren Schaffen fiir die Biihne geblieben, darin er nur ausserst selten imd dann mit wohlberechtigter Absichtlichkeit (so in der Gernot-Hubald-Szene des zweiten „ Gemot "- Aktes und im Wolfs- Motive des „Tiefland-Dramas") wirklich grelle Dissonanzwirkungen erstrebt und anderer- seits selbst da noch, wo er mit einzelnen Weisen und Rhythmen dem Vaudeville und der Operette nahekommt (in der ^Abreise", dem ^Improvisator" und in „Flauto solo"), an sich Triviales durch Feinheit des Tonsatzes und Subtilitat der Instrumentierung in eine hohere Kunstsphare zu erheben vermocht hat.
Dass die gewaltigen Anlaufe des absoluten Ton- dichters d'Albert im allgemeinen nur wenig beachtet worden sind, mag seinen Grand darin haben, dass in den achtziger und neunziger Jahren , da d'Albert mit seinen Klavierwerken , seiner Symphonie und seinen Quartetten hervortrat, die musikalische Menschheit noch voUauf damit beschaftigt war, sich in die ungeheuren geistig-seelischen Exaltationen eines Wagner und in die gewaltigen geistig-gemtitlichen Kontemplationen eines Brahms hineinzufinden , und in ahnlicher Weise mag der Biihnenkomponist d'Albert mit seinen in der Text- wahl nicht immer gliicklichen, musikalisch aber vor- wiegend edlen und gesund-schonen Dramen und Ko- modien darunter zu leiden haben, dass das moderne Theaterpublikum durch den verismo und andere stark
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uberwiirzte Kunstnahrung immer sensationsbegieriger und zugleich ausspannungsbediirftiger geworden ist, so dass es nunraebr mit abgestumpften Kunstorganen ganz den ausserkiinstlerischen Anreizungen der nSalome" und — der fllustigen Witwe" verfallen musste.
Umsomehr diirfte es geboten erscheinen, weitere Kreise darauf hinzuweisen, was alles d' Albert im Laufe der letzten vierzehn Jabre flir die Opernbiibne ge- scbrieben hat und wie vieles davon ganz unverdienter- weise nicht zu gebiihrender Wiirdigung im Kunst- getriebe der deutscben Operntbeater gelangt ist. Das soil nun bier mit kurzen, durcb je ein Notenbeispiel illustrierten Cbarakterisierungen samtlicber d'Albertschen dramatiscben Kompositionen gescbeben.
Mit seinem ersten Biibnenwerke, dem zweiaktigen musikaliscben Marcben ^Der Rubin", dessen Urauf- fiibrung im Oktober 1893 auf der Karlsruber Hofbubne stattfand, bat d' Albert das frei nacb Fr. Hebbel drama- tisierte Orientaliscbe Marcben von der in einen Edel- stein verwandelten Kalifentocbter und ibrer Errettung durcb einen scbwarmeriscben Jiingling mit wirklicb ungemein scbonen Klangen und Melodien illustriert und ausgedeutet, und wenn es irgend eine Gerecbtigkeit im Kunstleben gibt, so muss dieser anmutvoU-edlen Scbop- fung nocb voiles begliickendes Auferleben an den deut- scben Bubnen bevorsteben. Die reizvolle Ouverture, die in einer Kombinierung des v^eibevollen Rubintbemas:
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mit einer jubelnden Allegrofigur gipfelt, ist durcb Konzertauffiibrungen weitbin bekannt geworden; da- neben aber birgt die Rubin-Komposition in ibren dra- matiscb - musikaliscben Hobepunkten (der kostlicben Plauderszene zwiscben dem tauben Juwelier Soliman und dem traumeriscben Nicbtstuer Asaf und der ganz pracbtigen Entzauberungsszene in der unterirdiscben Grotte) und in mancben ganz wunderbar-eindringlicben Gesangssatzen (so insonderbeit Asafs Traumerzablung
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mit der schon-geschwungenen B dur-Hornkantilene, und das kanonische Desdur-Duett „Leite sie in Paradieses- auen") so viel beseelte und beseligende Anmut und Schone, dass die Entzauberung der „Rubin''-Partitur wohl von alien fein - musikalischen Opernbesuchern geradezu als eine Wohltat empfunden werden diirfte. Der sinnigen Marclienoper liess d'Albert eine nach Immermann gedichtete dreiaktige lyrisclie Tragodie „Ghismonda" folgen, die im November 1905 an der Dresdener Hofoper zur Aufflibrung gelangt ist, wobei denn das im Werke vorherrschende alter ierte Pathos der Handlung und der Komposition dem Premieren- publikum die rechte Aufnahmefahigkeit fiir wahrhaft grosse und schone Einzelteile der Komposition gemindert zu haben scheint. Ahnlich wie in Wagners „ Tristan und Isolde" liegt auch liber d'Alberts jjGhismonda" das dunkle Klangviolet einer sturmschweren Sonnen- untergangsstimmung gebreitet; dennoch aber haben d'Albert fiir die tonende Ausmalung der altitalischen Liebestragodie andere Farbenmischungen und eine ganz andere Pinselfuhrung zu Gebote gestanden, so dass denn sein Werk durchaus als Originalgemalde wirkt, als ein vorwiegend diisteres Klangbild, aus dem als herr- lichste Gestaltungen die grosse Liebesszene zwischen der Fiirstentochter Ghismonda und dem Vasallensohne Guiscardo im zweiten Akte, der Traumgesang zu An- fang des dritten Aktes und die gewaltige Abschieds- und Sterbeszene der Ghismonda hervortreten. Aus der letzterwahnten Szene sei als Beispiel fiir die edle Aus- druckswahrhaftigkeit der d'Albertschen Tonsprache das nachstehende Fragment angefiihrt:
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Mit dem im April 1897 am Hof- und National- theater zu Mannheim erstmalig aufgefiihrten ^Gernot" hat d' Albert versuchsweise das Gebiet der Heldenoper betreten, und wenngleich dieses hochgemute Werk sich zufolge wesentlicher Mangel in seiner drama- turgischen Anlage nicht als lebensfahig hat erweisen konnen, so verdient es um der vorziiglich-schon kom- ponierten einleitenden Elfenszene, um der sehr wirksamen heroisch-lyrischen Duoszene zwischen Helma und Gemot: „Im wilden Gebirge, der Fremdling! Woher er kam, ich weiss es nicht", um des aus dem mannhaften Thema:
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gebildeten ersten Finales und um mancher treflflichen Klangcharakterisieruugen in den folgenden Akten willen doch die Beachtung aller ernsthaften Musikfreunde. Gleich dem festrauschenden Orchestervorspiele zum zweiten Aufzuge, das vielfach in Konzerten aufgefiihrt worden ist, sollte auch die ausserordentlich wirksame Elfenszene mit den Solis des Gemot (Bariton) und der Elfenkonigin (Sopran) — und vielleicht gar auch der erwahnte Zwiegesang zwischen Sopran und Bariton — in den Konzertsaal heriibergenommen werden. Die drei Biihnenwerke „Der Rubin", „Ghismonda" und „Gernot" sind durch den Verlag von Breitkopf & Hartel ver- offentlicht worden.
Im Oktober des Jahres 1898 hatte sich d' Albert zum ersten Mai eines grossen und weitreichenden Buhnen- erfolges zu erfreuen, und diesen hatte ihm sein nach einer alten Verskomodie von A. E. von Steigentesch
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komponiertes einaktiges lyrisches Lustspiel „Die Ab- reise" (Max Brockhaus) eingebracbt. Das war nun allerdings eine von Froblaune und Anmut durchsattigte herzlicb liebenswiirdige Scbopfung, wie sie dem durch das andauernde Vorgefiibrtbekommen von musikdrama- tiscben Erbabenbeiten und veristiscb-musikaliscben Ro- beiten ermiideten Opernpablikum wirklicb not tat, der erste Scbritt biniiber in das Neuland einer fein-deutscben Lustspielmusik, und neben einigem wenigen operetten- artigen Unkraut, das ibm gleicbsam an den Kleidern bangen geblieben war, bat d' Albert gleicb bei diesem ersten Vordringen einen stattlicben Strauss entzuckender Klangbliiten pfliicken konnen.
Fallt der Scbwerenoter Trott nocb bisweilen in eine etwas vulgare musikaliscbe Ausdrucksweise, so ist docb fast alles , was das zu neuer Liebe erwacbende Ebepaar Gilfen und Louise sagt und singt und was dazu das diskret bebandelte Orcbester erklingen lasst, auf einen wirklicb feinen musikaliscben Lustspielton eingestimmt, und mit dem leider zu keiner grosseren Ausdebnung gelangenden ganz wunderbar intim wirken- den Satzcben:
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Ich war be-sturzt
Auch ich
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simile.
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Wie lang-sam sich ein Wort auf mei - ne
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Wie laut sprach meinGe-fiihl
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hat d' Albert einen neuea Typus fiir begleitete Gesangs- deklamation geschaffen, dem zum Heile der Kunst- liebenswiirdigkeit weitgreifende Vorbildswirkung zu wiinsclieii ist.
Dem heiteren lyrischen Lustspiele reihte sich als nachste Buhnenschopfang d'Alberts das einaktige bib- lische Mysterium ^Kain" an, das zu Anfang des Jahres 1900 im Berliner Kgl. Opernhause zur Urauffiihrung gelangt ist. Mit seinem auf eine tiefgriindige Dichtung Heinrich Bulthaupts komponierten und wirksam mit
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hymnischen Gesangen durchsetzten ^Kain" hat d'Albert ein ^anz hervorragendes Begabtsein flir die musikalische Schilderung iiberpersonlich-grosser finsterer Stiuimungs- zustande offenbar maclien konnen. Durch weite, gleich- sam halt- und trostlos niedersinkende Intervallschritte weckt er voiles Mitempfinden am Weh der aus dem Paradiese ausgetriebenen ersten Menschenfamilie , mit furchtbar trotzigen Themen und einer leidenschaftlichen Zartlichkeitsfigur charakterisiert er den in Kains Seele tobenden Kampf zwischen prometheischer Auflehnung gegen Gott und welimutigem Gedenken an Weib und Kind, meisterhaft symbolisiert er mit drei zwielichtig aufsteigenden Akkorden und einem dissonanten Pauken- wirbel :
Posaunen. w
den nach der Hohe verlangenden und an die Tiefe ge- fesselten Lucifer, in weihevoll mysteriose Klange hiillt er das Geheimnis des Todes, und gewaltig, wie aus tosenden Wetterstiirmen lasst er die Stimme des ziirnen- den Gottes hervorbrecben.
Bei der Textwahl und Komposition seiner drei- aktigen Oper ^Der Improvisator", die am 26. Febr. 1902 im Berliner Kgl. Opernhause zur Urauffiihrung gelangt ist, war d'Albeit ganz von dem Bestreben ge- leitet worden, dem Werke durch kontrastreiche Bunt- heit der Handlung, starkes Indenvordergrundriicken der Gesangsmelodik und dementsprechende formale Abgrenzung liedartiger Tonsatze, sowie durch mass- voile Schlichtheit der Harmonisierung und der Or- chestration den Charakter einer unterhaltenden, leichter- ansprechenden Volksoper zu geben. Leider aber hat das nach einem Drama von Victor Hugo (^Angelo, Tyrann von Padua") abgefasste Libretto mit seiner komplizierten Gegeniiberstellung von finsterer Tyrannei und singseligem Freiheitsverlangen, von Kerkerschrecken
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und Festtrubel, von Tragodie und Operette mehr ver- wirrend als interessierend wirken und so auch die in vielen Einzelheiten ganz vortrefflich gelungene Musik mit zu Fall bringen miissen. Um der vielen gut-volks- tumlichen Teile der Komposition : der zum Teil schwiing- haft-schonen Gesange des Improvisators, der ungemein- charakteristischen grotesken Trauerszene um den Tod des Prinzen Karneval, aus der hier der parodistische Klagegesang angefuhrfc sein moge:
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und mancher reizvollen Instrumentalsatze willen, ist das lebhaft za beklagen. Die festfreudige Ouverture, der man die Programmbezeichnung ^Karneval in Padua" geben sollte, und ein paar sehr anmutige Tanzsatze aus dem dritten Akte sind in den Konzertsaal hiniiber- gerettet vrorden, und dem Fortleben einiger Tenor- gesange des Improvisators durfte nur der Umstand im
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Wege stehen , dass sie noch nicht in Einzelausgaben berausgekommen sind.
Nachdem d' Albert bis bierzu scbon mit dem ge- schwinden Aneinanderreihen einer Marcbenoper , einer lyriscben Tragodie, einer Heldenoper, eines lyriscben Lustspieles, eines bibliscben Mysteriimis and einer Volks- oper ein ganz ausserordentlicbes Anpassungsvermogen an verschiedenartigste Formen des dramatiscb-musikaliscben Ausdrucks bekundet hatte, wandelte er sicb mit seiner nachsten Biibnenscbopfung, dem im November 1903 am Prager Neuen Deutscben Tbeater zur Urauffiibrung ge- brachten dreiaktigen Musikdrama „Tiefland" zum Veristen , als welcber er mit der Rassigkeit und der Blutwarme des musikaliscben Empfindens kaum wesentlicb binter den Neu-Italienern zuriickblieb und sie binsicbtlicb der Ausdrucksvergeistigang und Form- beberrscbung in betracbtlicbem Masse iibertraf. Obwobl es anfangs befremden musste, einen deutscben Kompo- nisten in einer stark walscb akzentuierten Tonspracbe und mit ganz sudlandiscber Lebbaftigkeit der musika- liscben Gesten reden zu boren, bat man sicb der un- gebeuren Temperamentswarme und Stimmungswabr- haftigkeit der ^Tiefland^-Komposition docb allentbalben gefangen geben miissen, und der scbuldig-scbuldlosen Martba ergreifende Rufe: Sehr heivegt. Lasst mich bin - aus, ich bit - te
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sind mit berzbezwingender Gewalt in die Welt liinaus geklungen. Das Musikdrama „TieflaDd", dem der Kom- ponist durch Zusammendrangen der letzten Szenen eine noch pragnantere Fassung gegeben hat, diirfte jedenfalls als das ergreifendste und wirksamste von alien d'Albertschen Buhnenwerken und gewissermassen wobl auch von alien in Deutschland nacli Wagners Tode geschaffenen ernsten Opernwerken zu bezeicbnen sein. Bei grossartig-kontrastierender musikalischer Aus- deutung von scbuldfreier Hobenreinbeit und Begebrlicb- keits- und Reue-scbwerer Tieflandsschwiile ist es dem Tondicbter gelungen, die Horenden in eine ganz eigen- tiimlicbe mitleidvoll-bangende Stimmung einzuspinnen, aus der sie erst befreit werden, als zu den brutalen Klangen des Wolfstbemas der scbuldige Gebieter von dem unscbuldigen Racber erwiirgt worden ist.
Diesem fiir den Hirten Pedro und seine entsubnte Braut Martba gut ausgebenden veristiscben Musikdrama bat d'Albert scbliesslicb nocb eine an bekannte bisto- riscbe Uberlieferungen anknupfende musikaliscbe Ko- modie folgen lasseo, der eine von Hans von Wolzogen verfasste liebenswurdige Dicbtung zu Grande liegt, und merkwurdigerweise ist gerade dieses fein-musikaliscb- anbebende aber weiterbin stark in einen partikularistiscb- nationalen Vaudeville-Ton geratende Werk, das ein- aktige musikaliscbe Lustspiel ^Plauto solo" (Urauf- fubrung im Dezember 1905 zu Prag) ganz besonders scbnell iiber die deutscben Biibnen vorgedrungen. Das diirfte denn neben den mancberlei freundlicb-biibscben Ziigen der Komposition, von denen bier ein mit dem Flauto- solo -Motive anbebendes Satzchen als Beispiel angefiibrt sein moge:
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vornehmlich wohl die heitere Handlung mit ihrem er- gotzlichen Widerspiel zwischen den trotz der Maskierung in einen Fursten Eberhard und Prinzen Ferdinand leicht erkenntlichen Haupthandelnden (Konig Friedrich Wilhelm 1. von Preussen und sein Sohn Fritz) und den diesen attachierten beiden Musikmeistern, dem deutschen Marsch- und Schweinekanonkomponisten Pepusch und dem italienischen Ariendrechsler Maestro Emanuele, und mit ihrem drolligen Dazwischentreten der pseudo- italienischen Sangerin Peppina bewirkt haben.
„Kain", „Der Improvisator", „Tiefland" und „Flauto solo" erschienen im Verlage von Bote & Bock.
Wer d'Albert als Buhnenkomponisten wirklich kennen und seinem vollen Werte nach einschatzen lernen will, der studiere seine vier vortrefflichsten Werke: das zweiaktige Marchen „Der Rubin", die beiden Ein- akter „Die Abreise" und ^Kain" und das erschiitternde Musikdrama ^Tiefland"; diesen vier Werken moge denn auch das ihnen rechtens zukommende voile Lebendig- werden auf alien deutschen Opernbuhnen in Balde be- schieden sein!
Wilhclm Bcrger
(geb. zu Boston am 6. August 1861).
Phot. Johannes Liipke, Berlin, AV.
Wilhelm Berger.
Wilhelm Berger
Prof. Emil Krause.
Die Produktivitat der heutigen, den verschiedenen Richtungen angehorenden modernen Komponisten ist, iiberblickt man das gesamte Gebiet ihres Schaffens, ausserordentlich reich und vielseitig. Vom objektiven Gesichtspunkte aus sind vier getrennte, sicb einander schroff gegentiberstehende Riclitungen zu erkennen. Wagner, Brahms, Bruckner und Strauss be- zeichnen die vier Hohepunkte, die dem Wirken unserer deutschen Tondichter die Impulse geben. Mehr oder weniger strebt jeder Epigone in seinem Wirken nach einem der Ziele, wie sie von den Vorgenannten ge- geben sind.
Das Bild, das ich hier zu zeichnen versuche, ist das eines jetzt 45jahrigen, in seiner Erscheinung sympathischen Kunstlers, dessen ernstes Schaffen in der Richtung Brahms seit drei Dezennien vom Beginn der Laufbahn an die Aufmerksamkeit und das Interesse air derer auf sich gelenkt hat, die ein aufrichtiges Streben und Ringen nach dem Idealen in unserer hohen Kunst mit f reudiger Genugtuung erfiillt. — Wilhelm Berger! Die Kunstwelt nennt diesen Namen mit grosser Achtung, sie erkennt in seinem Trager einen treuen Verkiinder der Muse Apolls, zu dem er aus- ersehen. Schon im friihen Kindesalter offenbarte sich, ahnlich wie bei Mozart und anderen, das absolute Musiktalent des fern von uns. in Boston, am 6. August 1861 geborenen Kunstlers. Unfahig das Eigene, das sich vom Anschlagen wohlklingender Intervalle bis zu kleinen Melodien ausgesprochen, auf das Papier zu
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bringen, unternahm es der intelligente, musikalisch be- gabte Vater, die Sachelchen aufzuschreiben. Begreif- licher Weise erregten diese schon im sechsten Lebens- jahre sich kundtuenden Kompositionsversuche in nicht geringem Grade die Bewunderang und das Erstaunen aller Nahestehenden, und so unterlag es keinem Zweifel, dass hier die Vorsehung unabweislich die Disposition fiir die Lebensaiifgabe verkiindet hatte. Die schon 1862 erfolgte IJbersiedelung der Eltern nach Bremen, (Berger ist ein Sohn deutscher Eltern) wo der Knabe etwa im achten Lebensjahre von Kallmeyer den ersten regelrechten Klavierunterricbt empfing und in den Gesetzen der Harmonielehre unterwiesen wurde, hatte in vieler Beziehung eine Wandlung der Ver- haltnisse gebracht, unter denen die freudenreiche Jugend des sich unaufhaltsam weiter entwickelnden taient- vollen Knaben dahinging. Das fleissige Arbeiten des ernsten Kunstjiingers erregte allgemeines Interesse, und so wurden auf Anraten der Freunde und auf Befiir- wortung musikverstandiger Personlichkeiten schon 1875 die beiden ersten Opera: Lieder (op. 1) und zwei hiibsche Klavierstucke (op. 2) usw. der Offentlich- keit durch den Stich iibergeben. Diese Kompositionen, denen in kurzen Zwischenraumen eine grosse Anzahl Lieder und ein Klavierquartett folgten, gingen mir seinerzeit von dem Bremer Verlagshause Praeger & Meier mit einem empfehlenden Begleitschreiben zu, in dem ich ersucht wurde, den Werken Bergers sym- pathisch za begegnen. Nach Kenntnisnahme der Kom- positionen bin ich, und dies haben manche Fachge- nossen in gleicher Weise getan, sofort fiir Berger ein- getreten, urn die Kunstwelt auf seine Begabung auf- merksam zu machen. Man muss den Wert dieser Jugendarbeiten noch um so mehr anerkennen, wenn man bedenkt, dass dieselben streng genommen noch ohne vorhergegangene ernste theoretische Studien ge- schrieben wurden, denn Kallmeyers Anleitung in der Harmonielehre hatte sich doch nur auf das Elementare erstreckt. Das vorgenannte Verlagshaus hat das grosse Verdienst, sich in den 1870 er Jahren andauernd den Arbeiten Bergers gewidmet zu haben. Zunachst er- regten die Lieder, deren Zahl bis zu op. 28 schon eine
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sehr hohe geworden, uneingesclirankte Aufmerksamkeit. VoD ihnen aus vollzog sich die weitere Hingebung der tonangebenden Kreise an die Werke Bergers. In Bremen wuchs das Interesse fiir den Aufstrebenden dergestalt, dass ihm von der Stadt aus ein Stipendium auf drei Jahre zu weiteren Studien gewahrt wurde. So war denn ein neuer Impuls durch diese Auszeichnung ge- geben, und ausgeriistet mit den besten Zeugnissen seines ihm bis dahin zur Seite gestandenen Lehrers ging der 17jahrige Jungling 1878 nach Berlin, wo er als Schuler in die Kgl. Hochschule eintrat und sich der Unterweisung Prof. Rudorffs im Klavierspiel und Prof. F. Kiels im Kontrapunkt und der Komposition erfreuen durfte. Beider Lehrmeister, insbesondere Kiels, des 1885 Verstorbenen, gedenkt Berger noch heute in aufrichtiger Verehrung. Es sei bier einschaltend im besondern des Letztgenannten gedacht, der sich dem Talent des von ihm bevorzugten Jiinglings mit auf- richtigem Interesse widmete. Kiel, der die Kunstwelt mit so reichen Graben beschenkte und padagogisch so einflussreich gewirkt, scheint schon jetzt 21 Jahre nach seinem Dahinscheiden der Vergessenheit an- heim zu fallen. Und dies mit Unrecht. Wer Kiels gediegene Kammermusik kennt und sein herrliches Oratorium ^Christus" , seine anderen religiosen Kom- positionen vernommen und studiert hat, weiss es am besten, dass es ein Aussergewohnlicher war, der diese Schopfungen dargeboten. Mag auch unbestritten in ihnen das Geistige weniger vorherrschen , so ist doch die hier sich aussprechende kontrapunktische Kunst so bedeatend, dass dieselbe nicht vergessen werden soUte. Aber unsere leider an Ausserlichkeiten uberreiche Zeit liebt es nur allzu sehr, das wirklich Gediegene zu ignorieren. Fiir Berger konnte es, namentlich im Hinblick auf das tiefgehende Studium, keinen ge- eigneteren Meister als Kiel geben; und wenn es auch eine feststehende Tatsache ist, dass Berger spater als Mitsingender im Chor der Konigl. Hochschule unter Prof. Schultze massgebende Anregung zur Komposition von a capella-Gesangen empfing, so verdankt er doch der Lehrzeit bei dem trefflichen Kiel die starksten Impulse zu dem spateren, so erfolgreichen SchafTen
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auf diesem Kunstgebiete. — Das Lied am Klavier und der a capella-Gesang sind die Stutzpunkte der Kom- positionstatigkeit eines Kunstlers geworden , dessen Wirken , nachdem er von 1888 — 93 das ehrenvolle Amt eines Lehrers im Klavierspiel und Kontrapunkt am Scharwenka - Konservatorium in Berlin bekleidet hatte, durch die Ernennung zum Professor und die Obersiedelung nach Meiningen als Hofkapellmeister (beides 1903) hohe Anerkennung erfahren. Die Kunst- kollegin Isabella Ofenheim aus Groningen in Holland, mit der er in gliicklicber ehelicher Verbindung lebt, stebt ihm aucb in seiner Kunstausubung treu zur Seite. Wie oft ihn seit 1888 seine Gattin fiir die Komposition begeisternd anregte, davon sprecben die vielen zum Teil unter ihrer kunstwarmen Beeinflussung entstandenen Werke. Einen riihrenden Beweis berz- licbster Verebrung und inniger Liebe gibt z. B. die Widmung des pracbtigen Konzertwerkes „Eupborion* (nacb Goetbe), op. 74, dessen erste AulfiibruDg in Dortmund am 12. Mai 1899 allgemeine Begeisterung erregte.
Von den fast 100 bis heute veroffentlicbten grosseren und kleineren Werken Bergers, Liedern f'iir eine und fur mebrere Stimmen mit Klavierbegleitucg, Gesangen a capella und mit Orchester, Klavier-, Kammer- und Orcbesterkompositionen ist mir mit geringen Aus- nabmen alles bekannt. Treue PflicbterfuUung , Be- scbeidenbeit im Auftreten und vor allem strenge Selbstkritik der eigenen Werke cbarakterisieren Bergers Wirken. Hober Protektion batte sicb der Kiinstler nicbt zu erfreuen, fiir die Reklame bat er nie gewirkt. Die fiir sicb selbst spree bende Leistung ist es somit allein, die entscbeidend fiir die Verbreitung seiner Scbopfungen war. Ist aucb Berger meiner Uberzeugung nacb mebr ein nacbscbaffendes als ori- ginales Talent, so muss man seinen Geisteserzeugnissen docb das Zugestandnis der Selbstandigkeit insoweit macben, als dieselben einen eigenen Weg auf vor- nebmer Basis gehen. Der Astbetiker, den man schon in seinen ersten Kompositionen erkannte, ist sicb als solcber treugeblieben. Und diese astbetiscbe Anscbauung der Meisterwerke der vergangenen Kunstperioden leitet
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ihn uberall. Er geliort zur Richtung Brahms, ohne diesen direkt za imitieren. Als besonders bedeutend sind seine Vokalwerke anzuf'iihren, und von diesen die a capella-Ge- sange, von denen icli op. 48, 54, 60 und 67 als einige der schonsten bezeichnen mochte. Das in der Reihe der ersten opera vorwiegend vertretene Lied mit Klavier, das auch noch spater in vorziiglichen Werken wieder- holt erscheint, hat im weiteren Verlaufe der Opusreihe weniger Hohepunkte zu verzeichnen, wogegen das Konzertwerk mit Orchester im „Gesang der Geister iiber dem Wasser" op. 55, „Meine Gottin" op. 72 und „Euphorion'' etc. von hervorragendem Werte sind. Hier tritt der, schon in den a capella-Gesangen so ruhmenswerte Vokalsatz in seinem schon klingenden, dankbaren Stimmengange in ein nicht minder kiinst- lerisches Stadium. Seine Beziehung zam textlichen Untergrund ist so unmittelbar, dass es scheint, als sei die Musik aus der Dichtung herausgew^achsen. Wenige Komponisten der Jetztzeit vermogen so speziell vokal zu schreiben wie Berger. Bei einer Tonsprache, deren Laute nicht nur den Stimmen, sondern auch dem Orchester angehoren, wie dies beim Konzertwerke fiir beide Faktoren der Fall ist, hat die geschickte Ge- sangsfuhrang neben der des Orchesters noch umso mehr zu bedeuten. Bergers Farbenreichtum der In- strumentation deckt nie den Gesang, und so verbleibt diesem als massgebendem Hauptfaktor das erste, vom Dichter gegebene Wort. Denn die Vokalpartie soil im Dienste der Dichtung bleiben, und dies wird sie nur dann, wenn das lustrumentale sie nicht erdriickt. Wenn ich nun auf einzelne der grosseren Vokalwerke naher eingehe, kann dies nur in einer tunlichst prag- nanten Skizze wie sie hier geboten ist, aphoristisch geschehen. Das oben iiber ^Euphorion" Gesagte ist mehr oder weniger auch auf alle andern, dem modernen Konzertwerk angehorenden Schopfungen „Meine Gottin", „An die grossen Toten" op. 85, „Die Tauben" op. 83 und „Der Totentanz" op. 86 zu be- ziehen. Von alien ist vielleicht „An die grossen Toten" das bedeutendste. Leider kam das Werk, das in grossen Zugen die erschutternde Dichtung von Gustav Schiiler „Ihr grossen Toten, also opfre ich euch in dieser
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Morgenfriihe heilgen Glatiz" vertont, bis jetzt nur ein- mal und zwar unter der eigenen Leitung in dem Berliner Abschiedskonzert in der Musikalischen Gesell- schaft (Juni 1903) zu Gehor. Als wichtiges Moment erscheint hier eine iiberreiche, den melodischen Fluss nie hemmende Harmonik. Vom Anfang bis zum Schluss fesselt und ergreiffc die ernst durchgefiihrte hoch tragische Komposition. Von einem andern Gesichts- punkte, aber ebenfalls bedeutend, ist das einer Dichtung von Gerhard Hauptmann folgende Konzertwerk ,Die Tauben" aufzufassen. Es hat nach seiner ersten Berliner Auffiihrung unter Leitung des Komponisten von der gesamten Fachkritik die beste Beurteilung er- fahren. Das 1898 erschienene „Meine Gottin" fur Mannerchor und Orchester wurde von der Jury fiir aus- gezeichnete Vokalwerke mit Orchester seinerzeit preis- gekront. Wie alles, was Berger geschaffen, ist auch diese Komposition vornehm und verbildlicht ideal Goethes herrliche Dichtung. Ein wichtiger Faktor der Tonsprache ist auch hier das Orchester, dessen sym- phonische Behandlung mit dem reichen Klangspiel den Gesang tells unterstutzt, teils aber in selbstandigen, der zu schildernden Situation charakteristisch entsprechenden Ritornellen sich ergeht. Die Vorziige der Komposition ruhen in der herzgewinnenden Melodik und in dem ge- schickten, sich am Schluss noch wesentlich steigernden Aufbau. Berger folgt nie ausserlich dem dichterischen Vorwurf, seine Vertonung idealisiert das innerste Wesen der Dichtung. Bergers Betatigung in der ihm besonders sympathischen Vokalmusik wird in nachster Zeit noch durch weitere Gaben, bestehend in drei Gesangen mit Orchesterbegleitung, die bis jetzt noch Manuskript sind, von sich reden machen.
Fiir Orchester hat Berger verhaltnismassig wenig von grosserer Bedeutung geschrieben, mehr dagegen fiir Kammermusik und fiir Klavier allein. Nicht uninteressant waren mir trotzdem die Studien, die ich den Bergerschen Orchesterkompositionen widmete. Genannt sei hier die erste Symphonie, B-dur, die 1898 als „preisgekront" in der 34. Tonkiinstlerversammlung in Mainz vorgefiihrt wurde. Sie schildert keine grossen Situationen, ist aber von Anfang bis zu Ends klangschon und ausserordentlich
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geschickt im Auf bau. Auf Grund der durch die einfache Instrumentation gewissermassen begrenzten Ausfiihrungs- mittel entfaltet sich eine um so reichere, dabei nie iiber- ladene kontrapunktiscbe Arbeit. Der Schwerpunkt fallt hierbei auf das Festhalten und einheitliche Darchfiihren der Stimmung (hier lyrisch) mit einer innerlich wirksamen Schlusssteigerung. Die zweite Symphonie H-moll kam in der Tonkiinstlerversammlung (Bremen 1900) und in Berlin von der Kgl. Kapelle unter Weingartner zu Gelior, fand aber nicht die gleich wohlwollende Auf- nabme. Anscheinend hat der Komponist eine teilweise Umarbeitung des Werkes in Aussiclit genommen, denn es ist bis heute noch nicht veroffentlicht. Erkennt man auch in Bergers Orchesterwerken (es liegt auch eine Oaverture aus frtihester Zeit vor) die Kunst einer reichen Verwertung der Mittel und andererseits eine nicht minder erfreuliche Begabung, dem grossten aller In- strumente Gediegenes anzuvertrauen, ruht doch haupt- sachlich das Schaffen des Komponisten, wie oben aus- gefiihrt, auf vokalem Kunstgebiete. Vereint mit dem Chor tragt Bergers Orchesterbehandlung dagegen ihre eigene Physiognomie und ist als ein wesentlicher Be- stand der Ausdrucksmittel in der dichterischen Ver- tonung von Bedeutung.
Die ersten Kammermusikwerke, unter denen sich das schon genannte hubsche Jugendwerk, das Klavier- quartett in A-dur, auszeichnet, sind schatzenswerte Arbeiten. Besonders gelungen erscheint mir die dritte Senate fiir Klavier und Violine in G-moll, trotzdem Berger hier den Kammerstil weniger innegehalten. Dem von dem Verein jjBeethovenhaus" in Bonn 1899 preisgekronten Streichquintett in E-moU kann ich nicht die gleiche Bedeutung wie dem Streichtrio in G-moU zuerkennen, trotzdem das Qaintett vieles Prachtige bietet. Das die Opuszahl 69 tragende Trio ist dagegen in Stil und Haltung ein Meisterstiick ersten Ranges und besonders in der Wahrung des Kammermusikstils. Unter den neuesten Pablikationen nehmen das Trio G-moll op. 94 fiir Klavier, Klarinette und Violoncell, wie das Klavierquintett F-moU op. 95 hohes Interesse fiir sich in Ansprach. Das aus vier Satzen bestehende Trio zeichnet sich zunachst durch absolute Klang-
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schonheit aus. Berger folgt wie so manche der Kom- ponisten in der Verwendung des Blasinstrumentes, dem Klavier und Cello gegeniiber, dem ersten Werk dieser Gattung, dem Trio op. 11 von Beethoven, wie den Werken von Brahms und d'Indy etc. In bezug auf die motivische Gestaltung und in der Durchfiihrung der Themen steht das Bergersche Trio auf kiinstlerischer Hohe. Die Satze sind geistig eng miteinander ver- bunden; ein Vorzug gebiihrt dem ersten Satz rait dem sehr schonen zweiten Thema. Das Adagio E-dur ist ein wundervoller Gesang zwischen Klarinette und Cello, an dem das Klavier nicht nur begleitend, vielmehr auch sonst wichtigen Anteil hat. In dem nun folgenden Poco vivace C-moll erscheint als Mittelsatz wieder die Ton- art des Adagio, wodurch an den langsamen Satz harmonisch erinnert wird. Dem ersten Satze gegeniiber hat das Finale mit seinem interessanten Fugato eine gleich grosse Ausdehnung, womit das ganze Werk einheitlich zum Abschluss gebracht wird. Das umfang- reiche Quintett, gewidmet dem bohmischen Streich- quartett, gipfelt in einem Finale, das auf der Grundlage eines zuerst als basso ostinato auftretenden, dann im weiteren Verlaufe aufs vielseitigste sich kontra- punktisch entfaltenden Themas die ausgereifte Kunst eines Komponisten kennzeichnet, der uber das gesamte Rustzeug der Kompositionstechnik gebietet. Man hat schon beim Beginn des ersten Satzes die Empfindung, dass auf diesen nicht der Schwerpunkt gelegt wird, trotzdem er sich, gestiitzt auf sehr einfache Themen, vornehm und interessant ausspricht. Die Wahl der Tonart D-dur fur Satz II, identisch mit der Wahl der Tonart E-dur fur den zweiten Satz des G-moll-Trio, wirkt hier befremdlicher als dort, umsomehr da das D-moll in der Mitte des Quintettsatzes kaum einen Rlickgang zu dem F-moll des ersten Satzes erkennen iasst. Das melodische Prinzip, wie es sich im Satz I und II wiederholt geltend macht (hierfur fiihre ich besonders das zweite Thema im ersten Satze an) leitet auch zum Teil das Molto vivace (Es-dur, Satz III), tritt aber vollstandig im Finale zuruck. Hier in diesem gewaltigen Schlusssatze wird die Steigerung durch den Kontrapunkt in all' seinen Verkettungen er-
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reicbt. Die Grundidee des Quintetts, der Polyphonie den Sieg zu geben, ist in pragnanter Weise zum Aus- druck gebracht. Vielleicht hat die E-moll-Symphonie von Brahms, deren Finale in der grandiosen Passa- caglia ihren Hohepunkt findet, Berger hier die An- regung gegeben.
Von den Klavierwerken, deren ich oben gedachte, bezeichne ich die sehr schone H-dur-Sonate op. 76 als eine der gediegenen Richtung besonders ent- sprechende Komposition. Die vier Fugen, op. 89, die Variationen mit Fuge, op. 91, wie die vier Capricen, op. 93, Bergers jiingste Klavierwerke, stellen das her- • vorragende Konnen des Komponisten aufs neue wieder in das giinstigste Licht. Die Dr. H. Reimann gewid- meten Fugen und die Capricen sind die Arbeit eines gewissenhaften Kunstlers, dem die Architektonik und die Asthetik des Klanges als Hauptprinzipien gelten; die Fugen wirken speziell akademisch. Vielleicht haben diese Kompositionen die Bestimmung, als Studien far Bach usw. zu gelten, und hierfiir sind sie wohl ge- eignet. Am besten gelungen sind die erste und letzte. Von den Capricen ware No. 2 eine der schonsten, wenn sie nicht als Imitation der Brahmschen Muse gelten konnte. Das Adur-Thema klingt wie eine Musik von Brahms. No. 4 der Capricen ist No. 1 und 3 an Wert noch iiberlegen. Die Kunst einer geschickten Hand- habung der Variation rein musikalischen Inhalts , die sich mehrfach, z. B. in den Variationen fur zwei Klaviere iiber ein eigenes Thema op. 61, ausgesprochen, kommt in dem Variationenwerk op. 91 wieder zur reichsten Entfaltung. Diesen zuletzt genannten Variationen dient ein einstimmiges Thema, das sofort auf eine reiche Ausgestaltung hinweist, die sich auch voUzieht, doch in so ausgedehnter Weise, dass der Umfang ein zu grosser ist. Die motivische Verarbeitung die in einer recht schwierigen, sehr umfangreichen Fuge gipfelt, wechselt nur selten mit rein ausserlichen Klaviereffekten ab. Und gerade hierin erkenne ich einen Vorzug des vornehm gehaltenen Werkes. Unbeschadet des fort- laufenden, in steter Steigerung sich vollziehenden Inhalts diirfte der Interpret einige Variationen aus der Mitte uberspringen, umsomehr da er erkennen wird, dass die
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Liebe zur Arbeit den Komponisten zu weit gefiibrt bat. Denn der Fuge geben, allerdings auf der Grundlage des acbttaktigen Tbemas, nicbt weniger als 41 Varia- tionen voran, und so wird man bei einer so grossen Zabl eine Einscbrankung als woblberecbtigt empfinden. Die Variationen sind Eugen d' Albert zugeeignet, ge- wiss die beste Empfeblung, fiir sie einzutreten.
Als Berger 1903 seine Berliner Stellung aufgab und dem ebrenvollen Rufe als Nacbfolger Fritz Stein- bacbs der Meininger Hofkapelle direktionell vorzusteben folgte, durfte er sicb aus Uberzeugung sagen, dass ibm dort auf klassiscbem Boden, wo v. Biilow ge- wirkt und Steinbacb sicb als bervorragender Musiker einen ebrenvollen Namen gemacbt, sicb ein neues Feld fiir seine idealen Bestrebungen nicbt nur als Dirigent sondern aucb besonders fur das eigene Scbaffen eroffnen wUrde. Die unausgesetzte Lebrtatigkeit in der Reicbsbauptstadt gewabrte ibm keine Musse seiner inneren Berufung als Scbaffender weiter nacbzugeben, und so waren es ideale Gesicbtspunkte , die ibm far die tJbersiedelung massgebend erscbienen. Das vor- trefflicbe Orcbester, das er in Meiningen vorfand (icb fiibre als tiicbtigste Kiinstler daselbst die Herren Kammermusiker Mublfeld und Piening an), bat unter seiner Leitung eine Reibe vorziiglicber Auf- liibrungen von Cbor- und Orcbesterwerken zu ver- zeicbnen, bei deren Einiibung ibm die oben genannten Kunstkollegen tatkraftig zur Seite steben. Das Orcbester ist seit Jahren dasselbe geblieben, bat aber leider eine kleine Verminderung an Streicbinstrumenten erfabren miissen. Fiir die Auffiibrung grosserer Cborwerke sind die Cborvereine der nabe liegenden Stadte mitwirkend tatig, und so ist Berger in der Zeit der Vorbereitung oft unterwegs, um die Yereine einzeln einzuiiben. Das Stadium der Orcbesterwerke erfolgte in abnlicber Art wie V. Biilow dies zuerst in den 1880er Jabren getan. Man lasst den Streicbkorper, die Robr- und Blecb- instramente einzeln iiben, und bei diesen tJbungen sind es die Herren Miiblfeld und Piening, die Berger unter- stiitzen. Dies ideale Zusammenwirken bereitet dem Dirigenten bobe kiinstleriscbe Genugtuung. Weniger durcb die Last des Tages bebindert, wirkt er mit bober
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Begeisterung fiir die ihn begliickende Muse. Inwieweit nun das Orchester auch auf seinen Kunstreisen nach Berlin, Erfurt, Halle, Jena, Kassel, Gottingen, Marburg, Eisenach, Gotha und' Kopenhagen Erfolge erzielte, davon sprechen beredt die fachmanniscben Beurteilungen. In jungster Zeit baben die drei genannten Kiinstler ein Meiningensches Trio, Klavier, Klarinette und Cello, gegriindet und bereits in Berlin, Lyon, Paris, Kassel, Freiburg usw. Konzerte ^egeben. Beetbovens op. 11, Brahms op. 114 und 120, das Klarinetten-Trio von d'Indy und andere Werke bilden in vorzuglicher Aus- fiihrung das Programm. Bergers G-moll-Trio op. 94 ist in Anregung der Trio-Vereinigung entstanden. Als Pianist erschien der Kiinstler hauptsachlicb in den letzten Jabren nur in eigenen Kompositionen. Von Vortragen der Werke anderer sei auf den Erfolg seiner Wieder- gabe des C-moU-Konzerts von Mozart in Berlin und Halle und des G-dur-Konzerts von Beethoven in Eise- nach, Gotha und Meiningen hingewiesen.
Heute, wo Berger in der Vollkraft seines Schaffens steht, darf man mit vollem Recht annebmen, dass namentlich unter den so idealen Verhaltnissen noch viel von ihm zu erwarten ist. Treu tind fest steht er auf der TJberzeugung, dass die Asthetik in der Ton- kunst fiir den Fortschritt die allein richtige Basis sei. Man kann modern scbreiben, ohne zu den ^Modernen" zu gehoren, d. h. zu denen, die in rein programmatiscbem Sinne weiterstreben. Die kiinstlerische Aussprache des musikalischen Gedankens darf sich nie vom Pfade der Zuganglichkeit entfernen. Ihr inneres Wesen wird von der Asthetik vorgezeichnet. Berger ist diesem Glaubens bekenntnis, dem er schon vor der Sturm- und Drang- Periode huldigte, bis auf den heutigen Tag treu ge- blieben. Und so erblicken wir in ihm einen der treuesten Diener wahrer Kunst.
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Leo Blech
(geb. zu flachen am 21. April 1871].
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Phot. Atelier Elite, Prag.
Leo Blech.
Leo Blech
Dr. Ernst Rychnovsky.
Die Oper nach Wagner kennt nur wenige Kom- ponisten, denen von der Buhne herab ein dauernder Erfolg beschieden war und erfolgreich waren gerade diejenigen, die nicht auf dem hohen Kothurn des musikaliscben Dramas einherschritten. Zu diesen vom Erfolg begunstigten Komponisten gehort Leo Blech, friiher erster Kapellmeister am Kgl. Deutschen Landes- th eater in Prag, seit 1. Sept. 1906 Konigl. erster Hof- Kapellmeister in Berlin.
Blech, der am 21. April 1871 als der Sohn eines Aachener Burgers geboren ist, war, trotzdem sich sein musikalisches Talent schon fruhzeitig offenbarte, von vornherein nicht fiir die Musikerlaufbahn bestimmt, musste vielmehr sich vier Jahre lang im Beruf eines Kaufmannes betatigen. Kompositionsversuche wahrend dieser Zeit, wie die Vertonung von Lenaus Schilf- liedern , veranlassten seine Eltern dann doch , ihre Einwilligung zu geben, dass der nun 20jahrige junge Mann Musiker wurde. — Blech nahm daraufhin in Berlin fiir kurze Zeit bei Rudorff Klavier- und bei Bargiel Kompositionsunterricht. Schon in diese Tage fallt die Komposition der Oper ^Aglaja", deren Hand- lung in Griechenland unter dem Rauberstamme der Klephten spielt und die in musikalischer Hinsicht ein Gemisch von Wagner und Mascagni darstellt. Diese Oper wurde 1893 in Aachen unter Blechs Leitung, der inzwischen als zweiter Kapellmeister am dortigen Theater engagiert worden war, aufgefiibrt. Im Fruh- ling 1894 entstand die zweite Jugendoper „Cherubina*,
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deren Stoff dem florentinisclien Malerleben der Renais- sance entnommen ist. Verschiedene Reisen, die Biech in dieser Zeit unternahm, erweiterten seinen kiinstle- rischen Horizont um ein Betrachtliches , und als ihn gar ein gliicklicher Zufall Humperdincks , Hansel und Gretel" zur Einstudierung iiberwies, da wusste der bisherige Autodidakt, dass ihm fiir seine weitere Ent- wicklung nur von einem Meister wie Humperdinck das kiinstlerische Heil kommen konne. Zwei Jahre lang studierte er bei diesem Tondichter. Mebrere Chore aus dieser Zeit sind leider bis heute Manuskript ge- blieben, sie wiirden, veroffentlicbt , eine wertvoUe Be- reicberung der modernen Chorliteratur bilden. In die spate Lernzeit fallen eine Menge kleinerer und grosserer Werke, von denen einige aucb unter dem Decknamen Max Frank veroffentlicbt wurden. Neben artigen Klaviersacben sind es namentlich eine Reibe von Lie- dern, aus denen man scbon ganz deutlicb das wabre Gesicbt des seine Eigenart sicber betonenden Kompo- nisten erkennen kann. Blecb vertont in den Tagen seines musikaliscben Sturms und Dranges Gedicbte von Goetbe und Heine, Gedicbte von Engels, Busse und Bliitbgen, Lieder, die sowobl durcb melodiscbe Erfin- dung als durcb barmoniscben Reicbtum Beachtung verdienen. In alien diesen Gesangen offenbart er sich scbon durcbaus als der moderne Musiker, dessen Starke die Differenzierung der Stimmung ist und der die im Text gelegenen psycbologiscben Grundlagen durcb die Musik ausbeutet. Ganz anders sind die auf den gemutlicben , man mocbte sagen Humperdinckscben Ton gestimmten Lieder. Hier wird immer in ganz einfacben Linien gezeicbnet, wie in den Liedern ^Grossmiittercben erzablt den Kindern", „Das Zeislein" oder dem am meisten bekannt gewordenen ^s' scblafrige Deandl". In den Rbeinlanden viel gesungen wird der dreistimmige Frauencbor mit Orcbesterbegleitung „Von den Englein", darin sicb mit der Volkstumlicbkeit des Wurfs eine reicbe kunstmassige Durcbbildung des Satzes verbindet. Dem Orcbesterpart verleibt die Klangfarbe der Violinen und Harfen den recbten spbarenbaften zauberiscben Cbarakter. Hier und in dem stimmungsreicben Cbor „Sommernacbt" verwendet Blecb
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im Gesangsteil sehr oft enharmonische Verwechslungen und erzielt damit neue ganz aparte KlaDgwirkungen.
Das erste grossere Werk Blechs war die sym- phonische Dichtung „Die Nonne" nach dem gleichnamigen Gedicht von 0. J. Bierbaum, das die schwiile monchische, zwischen Leidenschaft und Resig- nation schwebende Stimmung ebenso uberzeugend trifft wie den Ausdruck fiir die nagenden Qualen der Reue und des geheimen wuhlenden Begehrens.
Durch einen Zufall wurde der Direktor des Kgl. Deutschen Landestheaters in Prag, Angelo Neumann, auf den fern von den Kunstzentren wirkenden Kapell- meister aufmerksam und engagierte ihn nach einem erfolgreichen Gastdirigieren im Rahmen der von ihm veranstalteten Maifestspiele als ersten Kapellmeister. In dieser Stellung hat sich Blech um das Prager Musikleben durch die Erstauffuhrung und Neu-Ein- studierung einer stattlichen Anzahl von Opern sowie durch die zielbewusste Pflege der philharmonischen Konzerte (und nebenbei als iiberaus feinsinniger Be- gleiter am Klavier) die hervorragendsten Verdienste erworben. Blech als Dirigent ist der Meister des Details. Deutlichkeit bis ins Einzelne ist seine Devise und wo es auf rhythmischen Fluss, leichten Schwung, feine Gliederung, auf die zarte Abtonung der Dynamik ankommt, erregt er immer die bedingungslose Be- wunderung der Kenner. Dabei besitzt er einen iiber- aus scharfen Blick fiir die Szene und versteht es meisterlich, das dramatische Moment aach in den Werken der alteren Meister zu erfassen.
In den ersten Jahren seiner Kapellmeistertatigkeit in Prag brachte Blech von den in Aachen verlebten Ferien jedesmal eine grossere symphonische Dich- tung mit, das einemal „Trost in der Natur" (Leipzig, Brockhaus), das anderemal die „Waldwande- rung" (Mainz, Schott). Beide Werke sind also nicht willkiirliche , zufallige Schopfungen seiner Phantasie, sondern wuizeln in echten Sommererlebnissen, die der Kiinstler eben nicht anders als in seiner besonderen Sprache, d. h. musikalisch wiedergeben konnte. Dem ersten Werke konnte man vielleicht zum Vorwurfe machen, dass sein Titel den Inhalt nicht genug be-
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stimmt kennzeichne, man muss aber zugestehen, dass es nicht leicht fallt, einen andern besser passenden zu finden. Blech dachte sich deim Vorgang etwa folgender- massen: der angenomtnene Held des Ganzen ist, wie die gestopften Horner, die sein Motiv intonieren, erraten lassen, unmutig uber diese oder jene Widerwartigkeiten des Lebens ; aber energisch will er was ihn driickt von sich abschutteln und dazu muss Mutter Natur ibm Hilfe leihen. Da ertont schon das Hauptthema der Barcarole, von Streichern ausdrucksvoll vorgetragen. Floten und Klarinetten umspielen es wie leicht gekrauselte Wel- len, die sich an einem ruhig daliegenden Boote brechen. Vergessen und Erholung liegt auf dem Wasser. Nichts verscheucht Arger und Grillen besser als eine Kahn- fahrt auf dem Fluss. Die Melodie der Barcarole wird zur Trostweise, in hundert Nachahmungen und kanonischen Fuhrungen dringt sie an sein Ohr. Da auf einmal andert sich die Szene! Vierfach geteilte Celli lassen ein zartes Gesangsthema (A dur) erklingen. Es ist, als ob von feme eine Insel winkte. Wie neu- belebter Ruderschlag setzt das Barcarolenthema wieder ein, und eine bewunderungswiirdige thematische Ver- kniipfung gibt uns die Gewissheit, dass der anfangs so iibelgelaunte Stadtmensch bei jenem Eiland nun wirklich seinen Trost in der Natur gefunden hat. Das Werk wurde nicht nur in Prag, sondern auch in Dres- den und Berlin mit grossem Beifall aufgefiihrt.
Das Jahr darauf schrieb Blech wie ervvahnt wieder ein symphonische Dichtung: „Waldwanderung" — ein Stimmungsbild fiir Orchester. Nach der Prager Urauffuhrung (20. Nov. 1902) wurde das Werk (auf der Tonkiinstlerversammlung zu Krefeld, dann von Richard Strauss in Berlin, Mengelberg in Rotterdam usw. gespielt. Den Gedankengang konnte man etwa in folgende Worte kleiden: Mittagsschwiile lockt in den Wald. Gliihend heiss der Weg, aber schon winkt von feme der kiihlende Schatten. Bald umfangt den Wan- derer des Waldes traute Einsamkeit. Wie wohlig ist's hier! Wie anheimelnd das Summen und Brummen, das Zwitschem und Zirpen in den Liiften! Doch immer tiefer hinein fiihrt der schmale Pfad, dem Bach entlang, iiber Wiesen, bis der majestatische Hochwald
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seine griine Kuppel uber uns wolbt. Hier in dem herrlichen Dom Grottes steigt holder Friede zu dem wegmiiden Wanderer herab, hier erzahlen ihm die Wipfel von den grossen Wunderwerken des Schopfers, und die schwirrenden Schmetterlinge und die tanzenden Mucklein und die goldigen Kafer riihmen die Ehre
Gottes, kunden seinen Ruhm Schon fallen die
Strahlen der Sonne schrag durch die Kronen der Baume, allgemach bricht der Abend herein nnd gestarkt und frohen Mutes verlasst der Wanderer — vielleicht ungern nur — die Statte des Friedens. Wie plastisch und geschaut sind die Themen des Waldes, des Wald- tals, wie eindrucksvoll das choralartige Thema des Hochwaldes. Die meisterhafte Instrumentation setzt dem Gourmand wiederum seltene Leckerbissen vor, wie etwa an der Stelle , wo eine Solovioline und Posaunen das Thema des Waldes mit dem Thema des Hochwaldes kombinieren.
Nach der jjWaldwanderung" hat Blech durch einige Zeit keine grossere Arbeit in Angriff genommen, wohl aber eine ganze Reihe kleinerer Kompositionen ver- schiedenster Art, Gesangsquartette, Lieder, Bearbei- tungen, Stucke fur Cello und Klavier, Instrumentationen beriihmter Gesangsstucke, vierhandige Klaviersachen im Siiddeutschen Musikverlag (Strassburg) erscheinen lassen. Doch das sind im Grunde nur Nebenwerke und Gelegen- heitsarbeiten des Kiinstlers, den die ganze Art seiner Be- gabung immer mehr auf dasjenige Gebiet hinlenkte, auf dem ihm auch seine grossten Erfolge beschieden sein sollten : namlich auf dem Gebiete des musikalischen Dramas.
Dem Dresdner Hoftheater gebiihrt das Verdienst, die beiden nachsten dramatischen Werke Blechs aus der Taufe gehoben zu haben. Am 6. Sept. 1902 erschien, bei Bote & Bock in Berlin verlegt, die Dorfidyllle „D a s war ich" zum erstenmal auf der Biihne und hat sich seither die namhaftesten Theater in raschem Siegeszuge erobert. Schnell nacheinander fiihrten das Werk auf noch im Jahre 1902: Prag, Freiburg, Darmstadt, Zurich; 1903: Koln, Hamburg, Leipzig, Magdeburg, Aachen, Mannheim, Rostock, Berlin, Breslau, Budapest (in un- garischer Sprache) ; 1904 : Karlsruhe, Posen, Diisseldorf, Stuttgart, Munchen, Wien.
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Der harmlos lustige Stoff, den Dr. Richard Batka nach dem hubschen Einakter von Johann Hutt in Verse umgegossen hat, ist alt und soil bis auf Boccaccio zuriick- gehen. Der Verfasser hat sein Singspiel auf den schlichten Ton etwa eines Matthias Claudius gestimmt, also vor allem altfrankische Natiirlichkeit und Herzlich- keit der Sprache beabsichtigt und die kleine Handlung mit sicherer Buhnentechnik abrollen lassen.
In der Zeit Offenbachs hatte ein Komponist jeden- falls sich damit begniigt, die eingestreuten Lieder und Liedchen, also die lyrischen Ruhepunkte, zu betonen, allenfalls noch das Zank- und Schlussensemble musi- kalisch auszufiihren, den Dialog aber bloss sprechen zu lassen. Einem modernen Lustspielkomponisten erwachst hingegen die weit schwierigere Aufgabe, seinem Stoff dramatisch beizukommen, die einzelnen Personen und Momente scharf zu charakterisieren, den Dialog durch die Rhythmik der Tone zu beleben, wie es Blech ge- tan hat. Blech ist der geborene Szeniker. Seine Musik schmiegt sich der Handlung auf das Engste an, kein Takt zu wenig, kein Takt zu viel. Spannung, Ver- zogerung und Steigerung vollziehen sich im genauesten Einklang mit der Bewegung auf der Biihne. Der Stoff brachte es mit sich, dass drei in ihrem Verlaufe ganz ahnliche Liebesszenen unter dem gleichen raotivischen Gesichtspunkt zusammengefasst werden mussten. Man merke nun, wie Blech das anfangt. Wenn der Pachter auf verbotenen Wegen mit seinem hubschen Baschen schackern will, erklingt das Motiv im leichtfertigen Walzertakt, voll von liisternen harmonischen Ruckungen und schmeichlerischen Ziigen. Wenn er dann dasselbe Spiel notgedrungen mit seinem Ehegespons beginnt, wird das Motiv zu einem philistros-burlesken, fugierten Satz im trockenen humoristischen Kolorit der Fagotte verarbeitet, und wenn Roschen und Peter dann ihre echte und rechte Liebesszene auffiihren — wie jauchzt und stromt das Motiv im warmsten lyrischen Ergusse. Das Beste aber leistet der Komponist wohl in dem Zankquintett , das einen gelungenen Versuch darstellt, die von den Modernen sehr mit Unrecht vernachlassigte Ensembletechnik Mozarts zu erneuern. Jede Person singt nicht nnr wie es ihrer Stimmlage, sondern vor
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allem wie es ihrem Charakter bezw. ihrem Affekt, ihrem seelischen Verhaltnis zur Situation entspricht, und da der Librettist dafiir gesorgt hat, einen natiirlichen Gruppenwechsel im polyphonen Satz zu motivieren, so ist ein iiberaus lebendiges Ganze enstanden. Peter und Roschen sind von denselben Gefiihlen beseelt, singen darum die gleiche Weise. Pachter und Pachterin ver- treten gemeinsam ihren Standpunkt, nur dass der Pachter, den das bose Gewissen doch ein bischen zwicken mag, die Worte seiner Frau nachsagt oder erganzt und erst wenn er durch den giinstigen Verlauf Kourage be- kommen, mutiger in den Streit eingreift. (Jberhaupt ist merkwiirdig zu beobachten, dass in dieser nur ein- aktigen Oper so ziemlich alle Ausdrucksmittel der Oper zur Anwendung gebracht sind. Um die ge- schlossenen Lieder als solche deutlich abzuheben, bettet sie der Komponist mit einem gewissen Raffinement in melodramatische Partien ein. Neben dem Rezitativ steht der Sprechgesang, neben der Cantilene das Strophenlied. Von den Ensembles ist schon die Rede gewesen. Auch der Kanon, das Fugato und das sym- phonische Intermezzo fehlt nicht. Blech zeigt sich in alien diesen Formen gewandt und sicher iiber dem Stoffe stehend. Sein Vermogen, die Figuren zu charak- terisieren und sich musikalisch der Szene anzupassen, scheint fast unerschopflich zu sein; mit richtigem Ge- fiihl trifft er den einfachen Volkston ebenso gut, wie er der Sprache des Herzens warme Tone leiht oder den derben Ubermut oder Witz und Laune mit drolliger Komik gepaart auszudriicken versteht. Als Quintessenz des Blechschen Humors hat namentlich das Kouplet der Nachbarin die Aufmerksamkeit der Musiker er- weckt. Die gleichsam nach Atem schnappenden nach- schlagenden Sechzehntel des Anfangs, die wie in un- ersattlichem Arger herausgesprudelte Wiederholung der zweiten Verszeile, die wie ausser sich dahintrippelnden Terzenketten der Holzblaser, die Ausnutzung der Komik des tiefen Brustregisters sind nur einzelne geistspriihende Einzelheiten , womit Blech den primitiven Fagottwitz Lortzings iiberholt. Seiner rhythmischen Phantasie scheinen keine Grenzen gezogen zu sein, au£ diesem Gebiet redet er „fast wie ein Franzos", wogegen die
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musterliafte Faktur und kontrapunktische Gediegenheit des Satzes der Partitur ein echt deutsches Geprage geben. Die einer sozusagen angeborenen polyphonen Denkweise entspringende Fiille des instrumentalen Apparats ist der Punkt gewesen, wo man Einwande gegen Blechs Verfahren erhoben hat. Wo fast jede Mittelstimme des Orchesters selbstandig gefuhrt ist, liegt die Gefahr nalie, dass gegen diese Vielstimmig- keit der Gesang nicht ganz zur Geltang gelange. An sich freilich ist die Zahl der angewendeten Tonmittel keineswegs gross, geht eigentlich nicht iiber das Webersche Orchester hinaus, aber die technische Be- handlung ist so polyphon und modem, dass manche nur nach dem Eindruck urteilende Kritiker glaubten, Blech arbeite mit dem ganzen strotzenden Reichtum des Richard Straussschen Orchesters. Diesem Eindruck gegeniiber bleibt die tatsachliche Okonomie der Mittel allerdings problematisch. Aber man unterschatze dabei nicht die Macht der Gewohnung — auch die „Meister- singer" und ^Hansel und Gretel" galten einmal als iiberladen — und in der Tat kann man bei ofterem Horen beobachten, wie sehr die fiirs erste fast ver- wirrende Polyphonie an Klarheit und Durchsichtigkeit gewinnt, ja dass die Unzahl geistreicher Zuge mit jedem Male lebhafter interessiert; denn die Oper ist vom ersten bis zum letzten Takt motivisch gearbeitet, die iiblichen Begleitungen, Arpeggien und dgl. kommen gar nicht vor, und selbst an Stellen mit Secco-Rezitativ hat Blech sich nicht mit sttitzenden Akkorden begnligt, sondern spannt darliber in kolossaler Vergrosserung ein Hauptmotiv in weitgeschwungenem Bogen aus.
Genau ein Jahr spater, am 1. Okt. 1903, erlebte die zweite Oper Blechs, ein abendfuliendes dreiaktiges Werk, wiederum im Dresdner Hoftheater ihre Urauf- fiihrung: Alpenkonig undMenschenfeind (Ber- lin, Bote & Bock). Das Buch, nach Ferdinand Raimunds gleichnamigem Zaubermarchen, entstammt ebenfalls der theaterkundigen Feder Batkas, der hier ein poesievolles, psychologisch gegen das Original ungemein vertieftes und auch mit goldenem volkstilmlichen Humor reich- lich gewiirztes Opernbuch geschaflFen hat, das der Eigenart Blechs aufs glucklichste entgegenkam. Denn
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auch in Blechs Wesen vereinigen sich eine volkstiim- liche Grundlage mit ausgepragtem Sinn fur die Anspriiche der modernen Zeit. Darin ahnelt er Humperdinck, der den Schiller noch immer im musikalischen Knocbenbau, an innerer Durchsattigung der Melodie ubertrifft, wo- gegen Blech im Sensitiven der Harmonik, an rhyth- mischem Leben und geschmeidiger Anmnt der Linien dem Lehrer voraus ist. Jedenfalls besitzt er sein eigenes Gesicbt, und nicbt bios was die aussern Kon- turen betrifft, auch aus der Art der Polyphonic, aus der Stimmfiihrung (namentlich des Basses) erkennt man bei nur einiger Vertrautheit Blechsche Musik schon auf dem Papier ohne weiteres unter alien andern ohne Miihe heraus. Mit voUem Recht strebt der Kom- ponist der sogenannten ^geschlossenen" Nummer zu, denn sie ist die Blute der Tonkunst, und der Irrtum friiherer Zeiten lag nur darin, dass man das Gewachs des dramatischen Kunstwerks nur aus Bluten zusammen- setzen wollte, statt Wurzel, Blatt und Stengel als notwendige und ebenso wichtige Bestandteile anzu- sehen. Stiicke wie das alpinen Lokalton zeigende erste Duett der Madchen „So viel Blumen bliibn an der Wiese Saum", das Auftrittskuplet Habakuks mit dem Kehrreim „und mein einziger Trost ist dies : zwei Jahre war ich Diener in Paris", der Zwiegesang des Tischler- Musikanten Veit und seiner Tochter Susel ^Morgen ist Sankt Kilian", der von Beethovenscher Weihe er- fiillte Gesang an die Einsamkeit, das innige, allerliebste Liedchen „Schon sind Rosen und Jasmin* oder das entziickend melodiose Buffoduett ,SoIl es also sein* sind Zeugnisse fur Blechs starke formbildnerische Kraft. Aber nicht bios diese liedartigen Gebilde, die den aussern Erfolg der Oper begriinden, sind ihm gelungen, sondern auch die thematisch entwickelten Szenen, ja, die erste Szene des zweiten Aktes ist schlechthin ein Meister- stuck. Als bedeutend seien auch noch die beiden Mono- loge Rappelkopfs und der Trostgesang des Alpenkonigs genannt, ferner aus dem Gebiete der Stimmungsmalerei der feenhafte Schluss des zweiten Aufzuges. Eben dahin gehort die prachtvoll instrumentierte Kirmessmusik, die der Tischlerszene vorangeht, und das Vorspiel zum dritten Akt, das voU zarter Klangreize und feiner Melodiefutrang
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iiber einem Ostinato der Flote in der Mittelstimme sicli aufbaut und der Solovioline eine geschmeidige Kantilene zuweist. Wie schon friiher, liebt Blech auch liier die imitatorischen Formen. Er fugiert z. B. sehr drollig das trockene Motiv Habakuks und verwertet in dem grossartigen Schwur, wo einer des anderen Eidformel nachspricht, ebenso geistreich als einleucbtend den Kanon. Dagegen tritt im letzten Akt, wo vor allem die Szene wirken muss, das Musikalische taktvoll zu- riick und spricht von dem ungemein scbarfen, drama- tiscben Instinkt des Autors. Im ubrigen scbadet es Blecb, dass er zuweilen zu viel auf einmal sagen mocbte, wodurcb die Plastik des Hauptgedankens leidet, ebenso wie er im Dialog durch sein Streben nacb moglicbst deutlicbem und lebbaftem Ausdruck vielleicbt etwas nervos wirkt, etwa wie ein Menscb, der selbst die scblichteste Rede mit drastiscben Ge- berden unterstutzen mocbte. In diesem Sinne die Polypbonie und die Deklamation feiner abzuwagen und fasslicber zu gestalten, blieb seiner nacbsten Oper vorbebalten. Dramatiscbe Kunst ist schliesslicb nicbt bloss Entausserung des eigenen Icb, sondern aucb Mit- teilung an Andere und soil die Bedingungen der Wir- kung stets mit im Auge bebalten. Die vollstandige restlose Harmonie zwiscben Absicbt und Eindruck er- gibt sicb bei Blecbs Instrumentation, die mit bewun- derungswiirdiger Beberrscbung aller Klangfarben, mit gescbmackvoUer Vermeidung alles bloss Larmenden, mit einem Strom von Duft und Glanz das Ohr unaus- gesetzt zu fesseln weiss. Das Auseinanderfallen in zwei Welten, eine patbetisch- dramatiscbe und eine volkstiimlicb-burleske, liegt im Stoff begriindet und wurde von Blecb als scbroffer Gegensatz bebandelt, nicbt aber einbeitlicb stilisiert. Er folgt darin dem Vorbilde etwa der Zauberflote oder des Freiscbiitz, wo ja gleichfalls Scberz und Ernst, das Erbabene und Komische , Modernes und Altvateriscbes , Stilelemente der grossen Oper und des Singspiels sicb je nacb dem Erfordernis der Situationen vermiscben.
Nacb dem Ausweis des Biibnenspielplanes bedeutet aucb Blecbs „ Alpenkonig und Menscbenfeind* , der bisber 1903 in Teplitz, Zliricb, Prag, Mannbeim, 1904 in
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Leipzig, Chemnitz, Koln, Darmstadt, Graz, Karlsruhe, Kassel, Braunschweig, Riga und Bremen, 1905 in Berlin aufgefuhrt wurde, die erfolgreichste Neuheit 1903/4.
Die dritte Open „As chenbrodel", die am 26. Dez. 1905 in Prag zur Urauffiihrung kam, erbrachte den Beweis, dass Blech auf der Hohe seines kiinst- lerischen Schaffens steht, von der aus er der deutschen Musik gewiss noch viele schone Gaben darbringen wird, den Beweis, dass er schon heute mit Recht zu den ersten deutschen Tonsetzern der Gegenwart zu zahlen ist.
Auch diesmal hat Dr. Richard Batka das Libretto gedichtet und dem alten Marchen vom Aschenbrodel, das nicht zum Ball gehen durfte und gar so gerne wollte, eine neue interessante Seite abgewonnen. Er war bestrebt, aus der passiven Marchenfigur eine Heldin zu machen, die eine Schuld auf sich ladt in der sie erfiillenden grenzenlosen Sehnsucht nach dem Feste des Konigssohnes, in der alle Schranken iibersteigenden frevelhaften Ekstase, womit sie dem Himmel das Wunder abringt. Aber der Macht des leidenschaftlichen Be- gehrens steht die Kraft der reuevollen Entsagung gegeniiber und diese findet schliesslich ihren Lohn. Um die naturgemass im Typischen stecken gebliebenen Hauptpersonen des Marchens ist eine vom Librettisten frei erfundene lustige Schusterfamilie gruppiert, Vater Kunze, Aschenbrodels Freund, und seine beiden hoff- nungsvollen Sprosslinge Heinz und Hans, die lebhaft an Wilhelm Buschs Max und Moritz erinnern.
Blechs Musik bedeutet eine merkliche Abkehr von der (wenn Blech nicht so durchaus Gegenwartskiinstler ware, mochte ich sagen, fast niederlandischen) Poly- phonie seiner friiheren Opern. Jetzt ist seine Viel- stimmigkeit klarer, sein Formsinn plastischer, seine Farbengebung milder geworden. Also ein erfreulicher Fortschritt. Als Melodiker kommt er uns viel volks- tumlicher, verstandlicher. Alles ist viel leichter und duftiger gewoben. Als musikalische Hohepunkte mochte ich das ganz volksliedmassige Auftrittslied Aschen- brodels „Es steht ein Schloss in Osterreich* oder Aschen- brodels riihrende Klage „Es steht ein griiner Hasel- baum" nennen; doch finden sich noch viele andere Rosinen im siissen Kuchen. Die iiber ein Walzerthema
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kunstvoll aufgebaute Zankszene der sich zum Ball schmiickenden Stiefschwestern, die glanzende Polonaise, die den zweiten Akt einleitet, das grosse Liebesduett zwischen Aschenbrodel und dem Prinzen und die iiber- aus lebendigen Chorszenen des dritten Aktes, den eine pompose Hymne abschliesst. Den Clou bilden aber jedesmal die humoristischen Partien, als deren Trager Meister Kunze und seine beiden Jungen Heinz und Hans erscheinen, die als rechte Gassenbuben zu alien losen Streichen bereit sind. Ihr „Einzugsmarsch", Kunzes Trinklied, in das die Buben im Kanon ein- setzen, und nicht zuletzt ein ^^esungenes Scherzo" des dritten Aktes schlagen unmittelbar ein. Gerade in der Partie des Schusters hat Blech das Kunststiick zuwege gebracbt, einen bald gemiitvollen, bald humoristischen Schuster hinzustellen, der mit keiner einzigen Note an Hans Sachs erinnert. Aucli auf dem Gebiete des musikalischen Pathos fiihlt sich Blech zu Hause, mag Aschenbrodels Monolog am Schluss des ersten Aktes auch nicht die voile Kraft haben, widerspruchslos zu iiberzeugen. Dass Blech ein phantasiereicher Meister des Orchesterapparates ist, braucht wohl nicht erst eigens betont zu werden. Enthielt der ^Alpenkonig" noch manche ^wiiste* Stellen, so fesselt die Partitur des ^Aschenbrodels" durch eine wimdervoUe Mischung der Klangfarben, durch die Feinheit der koloristischen tJbergange. Hier erst erreicht der Kunstler seine voile Reife und „reif sein ist alles".
Auf diesem Hohepunkt angelangt, traf Blech die Berufung an einen seinen musikalischen Fahigkeiten entsprechenden Posten, zum ersten Kapellmeister der Berliner kgl. Oper. Es war Richard Strauss selbst, der nach der ausgezeichnet vorbereiteten Salome- Premiere in Prag Blech der Intendanz so warm em- pfahl, dass er sogar ohne die iibliche Probezeit als koordinierter Amtsgenosse von Muck und Strauss fiir Berlin verpflichtet wurde. Er schied von Prag, geehrt und betrauert wie kaum je ein Kapellmeister vor ihm. Nach dem glanzenden Eifolge seines Antrittsdirigierens konnen wir diese Zeilen mit dem zuversichtlichen Aus- blick auf eine weitere, ehrenreiche Laufbahn unseres Kunstlers schliessen.
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M. Enrico Bossi.
m. Enrico Bossi
(geb. zu Salo am Garbasee am 25. April 1861).
M. Enrico Boss!
von
Prof. Wilh. Weber.
Man wird es noch nicht oft erlebt haben, dass eine reich begabte ktinstlerische Individualitat, obgleich sich in ihr nur die besten Eigenschaften seiner Nation verkorpern, erst in fremden Landen zur breiten An- erkennung kommen musste, ehe ibrem eigenen Vater- lande das Verstandnis fiir ibre Bedeutung aufgeben konnte. Dieses seltene Gescbick scheint Enrico Bossi bestiramt za sein. Sein Name stebt heute im deutscben Konzertsaal in allererster Reibe, wabrend er sicb sein eigenes Vaterland Italien erst nocb zu erobern baben wird. Bei dieser, man kann wobl sagen abnormen Lagerung von Ursacbe und Wirkung ist allerdings mancberlei in Betracbt zu zieben, was die seltsame Erscbeinung erklaren kann. Einmal ist unsere deutscbe Produktion, soweit kiinstleriscbe Erscbeinungen von nicbt nur stark betonter Eigenart, sondern aucb musikaliscb tieferer Fundierung und dem Anrecbt auf nacbbaltigere Wirksamkeit in Frage kommen, durcbaus nicbt so reicb, dass nicbt ein fremder Gast, der die Ziige einer aus- gepragten Personlicbkeit tragt, einen mebr als voriiber- gebenden Eindruck macben musste. Zum anderen aber sind es gerade zwei Eigenscbaften , in denen unser deutscbes kiinstleriscbes Empfinden, so berrlicb weit wir's sonst aucb gebracbt baben mogen, immer nocb einer starken Anregung bedarf und zwar von aussen, da uns selbst bier der notige Impuls oder docb die natiirlicbe Gabe eben einmal abgeht: die scbone Sinn- licbkeit der Kantilene und das angeborene dramatiscbe Temperament. In Italien findet man aucb beute nocb
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die naturliche Schonlieit oder schone Natiirlichkeit, die in die Augen springen muss, auf der Strasse, und was dramatisches Leben in den einf'achsten Lebensausserungen anlangt, so brauclien wir ja nur den nachsten besten Mann aus dem Volk zu beobachten, wie er spricht und gestikuliert. In der Musik ist's nicht anders : die Melodie ist dem Italiener angeboren und er hat allezeit den guten Geschmack gehabt, auf die Stimme seiner Natur zu lausclien und ilir nachzugehen, wo der Deutsche sich furchtbar anstrengt, etwas ^Interessantes** zu sagen, was womoglich noch niemand vor ihm gesagt hat. Die Art aber, wie der Italiener sich aussert, hat immer etwas ungesucht Dramatisches. Er will Eindruck machen, er will sich behaupten als eine Personlichkeit, die ver- moge ihres stets lebhaft erregten individuellen Lebens und ihrer spriihenden Individualitat ein Recht hat, sich dem Leben gegeniiber zu behaupten. Dessenunge- achtet aber wiirde eine Personlichkeit, die hier lediglich eine hohere Potenz nationaler Eigenheit auf diesem Gebiet verkorperte, allein noch nicht die Fahigkeit be- sitzen, sich in einem so reich bewegten Kunstleben, wie dem unserer Zeit, durchzusetzen , obgleich diese Eigenschaft ja geniigte, Namen wie die der modernen Maestri Mascagni, Leoncavallo, Puccini rasch und sicher popular zu machen. Was diese Preistrager einer mo- dernen Popularitat berlihmt gemacht hat, ist allerdings ihre unverfalschte nation ale Eigenart. Anders bei Enrico Bossi. Wie jene ihre Siege auf einem Ge- biete errangen, auf dem in Deutschland zufolge der ungeheuren Umwalzung durch Richard Wagner in den breiteren Schichten des musikalischen Publikums eine Konsolidierung kunstlerischer Anschauungen eigentlich noch im Werden begriffen ist und wo eine noch nicht gefestigte Empfindung weiterer Kreise nur zu leicht iiberrumpelt werden musste, da ist Enrico Bossi unserem deutschen Kunstleben in seinen anspruchsvollsten For- derungen gefolgt, hatte er die Absicht, nach dem Preis zu ringen, wo nicht der aussere Glanz der szenischen Wirkung, sondern die innere Tiichtigkeit der kunst- lerischen Wesenheit entscheidet. Er ist nicht wie der fremde Eroberer mit larmendem WafiPengetose in unsere Tempel eingefallen, sondern er ist mit hoher Ehrfurcht
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in unser Allerheiligstes eingetreten, um da seine aus heiliger kiinstlerischer tJberzeugung geschaffenen Weihe- geschenke niederzulegen und unsere Sympathie durch die Art und Weise zu erobern, wie er als ganzer Kunstler Schulter an Schulter mit uns nach einem Ziele ringt, das ihm wie uns das hochste ersclieint: reifstes aus der Tiefe schopfendes Konnen im Dienste nicht ausserlicher sondern innerlich erlebter Kunst. Zu diesem Ringen aber hat er die Kraft gestahlt an deutschem Wesen und deutschem kunstlerischem Empfinden. Bach und Wagner sind ihm als die Angelpunkte erschienen, um die sich Vergangenheit und Gegenwart drehen, jener in der bis an die Grenze menschlicher Fahigkeit reichenden virtuosen technischen Schulung des Hand- werkszeugs, dieser in der ErfuUung der Forderungen des modernen Kunstwerks als lebendigen alle Krafte in Anspruch nehmenden, alle kunstlerischen wie ethi- schen Potenzen im freien Spiel der Krafte entfaltenden Kulturfaktors. Er hat ja freilich das, was im tiefsten Kerne des Wesens dieser Meister deutsch genannt werden muss und was im letzten Grund ja ihre epo- chale Stellung im Gesamtkunstwerk der Nationen be- dingt, nicht fuhlen konnen, aber er hat das von ihnen in sich aufgenommen, was eben iiberhaupt mitteilungs- und iibertragungsfahig ist.
In dem Mass wie Bossi sich damit die Berechtigung erwarb, in Deutschland speziell eine ernst zu nehmende Stellung zu behaupten, entfernte er sich freilich gleich- zeitig ausserlich wenigstens von der Moglichkeit , in Italien selbst zunachst eine tonangebende Rolle zu spielen. In Italien gilt noch heute nur der dramatische Komponist. Nur er hat ja dem „grossen" Publikum etwas zu sagen und nur auf das, was er sagt, hort dieses. Bossi hat den deutschen Konzertsaai um zwei hochbedeutsame Werke bereichert: in Italien hat man nicht einmal die Moglichkeit, sich diese Werke vorzufiihren, es sei denn mit den enormen Kosten be- zahlter Chore und teurer meist fremder Orchester; die Haaptsache aber, die breitere, musizierende Offentlich- keit, wie sie in unseren Chorvereinen sich konzentriert, bleibt unberiihrt davon. Gerade so hat Bossi die Kammermusik wie die Orchestermusik um
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wertvolle Werke reicher gemacht: die ersteren wie die letzteren leben in Italien nur ein zufalliges Dasein oline tiefere Bedeutung fur den Rohm ihres Autors. Und dock verdankt Bossi die tiefste Quelle flir die Befruchtung seines Schaffens wiederum einer spezifisch nationalen Eigenart des italienischen Kunstlebens, nam- licli der tiefgriindenden Art, wie auf den italienischen Konservatorien gearbeitet wird. Abgesehen von dem Streben nach allgemeiner Bildung, das erst jungst wieder H. Kretzschmar in seinen „musikalischen Zeit- fragen" *) besonders hervorheben konnte, geht das Stu- dium auf diesen Kunstschulen, getragen von dem ganzen Ehrgeiz einer Bestimmung fiir eine moglichst eindrucks- volle Entfaltung der Personlichkeit , in jedem Punkte ihrer Arbeit auf die griindlichste technische Schulung in Theorie wie Praxis.
Enrico Bossi hat freilich an seinem Teil be- trachtlich viel mit beitragen geholfen, dass der kon- servatoristische Unterricht seines Laudes sich nur die hochsten Ziele steckt. Wenn das, was man die klinst- lerische Atmosphare der breiten Offentlichkeit nennen mochte, so leicht von heute auf morgen erzeugt werden konnte, so hatte Bossi heute auf Grund seiner eigenen kunstlerischen Anschauungen, wie nach den Zielen, die er selbst als musikalischer Leiter einer bedeutenden Musikschule, ebenso wie er es vorher als Lehrer in Venedig und Neapel tat, verfolgt, langst ein Publikum, das ihn gewiss so hoch stellte, wie heute das deutsche. Allein diese Friichte reifen langsam. So aber kommt es, dass heute der Ruhm Bossis aus Deutschland nach Italien dringen muss, bis er es eines Tages erleben wird, dass sein Name von der Buhne der Scala in Mailand aus auch in seinem Vaterland in aller Mund kommen wird.
Der aussere Entwickelungsgang Enrico Bossis war ein sehr einfacher. Er ist geboren am 25. April 1861 zu Salo am Gardasee. Das musikalische Talent war in seiner Familie seit Generationen erblich. Sein Vater war Organist in Salo, und wenn man unter den Tra- ditionen des italienischen Orgelstils, den erst der Sohn
*) Leipzig, Peters.
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mit reformieren helfen sollte, auch nicht allzu Tief- grundiges sich vorstellen darf, so ist diese Abkunffc doch nicht ohne Bedeutung fiir den Sohn, der heute als der bedeutendste Orgelvirtuose Italiens gilt. Mit 10 Jahren kam er in die Klavierklasse des Liceo musicale von Bologna (desselben, das er heute als Direktor leitet) und blieb daselbst zwei Jahre. Die folgenden Jahre bis zu seinem 20. Lebensjahre waren den ernstesten und gediegensten musikalischen Studien auf dem Kgl. Konservatorium in Mailand und zwar in Klavier, Orgel, Violine und Komposition gewidmet. Hier legte er den Grund zu seiner umfassenden musikalischen Ausbildung, die ihn heute auf alien technischen Gebieten als un- bedingten Meister erscheinen lasst. Einer Bereicherung seiner technischen Errungenschaften gait auch eine Konzertreise, die er im Jahre 1879, nachdem er einen Preis im Klavierspiel am Konservatorium davongetragen hatte, nach London unternahm, wo er unter A. Manns Leitung sich wiederholt in den Krystalpalast-Konzerten horen liess. Zu jener Zeit beschaftigte man sich in Italien und speziell in Mailand mit der Frage einer Reform der Orgel- und Kirchenmusik. Bossi interessierte sich besonders lebhaft fiir diese Fragen und betatigte durch seine ernsten Arbeiten und Studien auf diesem Gebiete sein Talent zu organisatorischer Tatigkeit, die ihn auf alien ihm unterstellten Gebieten heute noch fort- wahrend in Anspruch nimmt. Der Einblick in die Unzulanglichkeit der bisherigen, rein auf Empiric mangelhaft begrundeten Praxis im Orgelunterricht und hoherem Orgelspiel veranlasste ihn daher auch, seine Orgelstudien am Konservatorium nach seiner Londoner Reise nicht mehr aufzunehmen, wahrend er einen Ab- schluss seiner Kompositionsstudien unter Leitung von Dominiceti und Ponchielli anstrebte und 1881 erreichte. In diesem Jahre wurde er unter zahlreichen Be- w^erbern zum Kapellmeister und Organisten am Dom zu Como ernannt und damit fiir 8 Jahre mitten in einen sehr fruchtbaren praktischen Wirkungskreis ver- setzt. An Kompositionen entstanden aus dieser Praxis und fiir sie eine Menge Messen, Motetten und anderer Kirchenmusik. Zugleich aber schrieb er als echter Sohn seines Vaterlandes natiirlich auch Opern. Schon
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auf dem Konservatorium gelang es ihm 1881 im Concurs Bonetti ein Ehrendiplom mit einer einaktigen Oper ^Paquita" 7a\ erringen, die mit grossem Erfolg am Konservatorium aufgefuhrt wurde. In Como schrieb er die Oper ^I'Angelo della Notte", Melodram in vier Akten (Text von J. Julgonio) und „il Veggente", opera seria in einem Akt (Text von G. Macchi). Die letztere wurde durch einen Spezialpreis gekront (anlasslicli des Concurses Sonzogno 1889/90) und am Teatro dal Verme in Mailand im Juni 1890 aufgefuhrt. Das Werk hat soeben unter dem Titel „Der Wanderer (il Viandante)", deutsch von Wilh. Weber auch in Deutschland seinen Einzug genommen. (Urauffiihrung unter Leitung von Kutzschbach in Mannheim am 8. Dez. 1906.)
1890 siedelte Bossi als Lehrer flir Orgel- und Harmonielehre an das Konservatorium in Neap el iiber. In dieser Stellung veroffentlichte er zunachst zum Ge- brauch in der hier nach seinen Reformideen eingerichteten Orgelschule in Verbindung mit G. Tebaldini ein Werk, das heute an alien grosseren Lehranstalten Italiens als v^ichtigste Grundlage flir den Orgelunterricht eingefiihrt ist: sein ^Metodo di studio per I'organo moderno" (Mailand, Carisch & Janichen).
Wahrend seines Aufenthalts in Neapel (bis 1895) schrieb Bossi eine ausserordentlich grosse Zahl von Werken der verschiedensten Art: fiir Orgel, darunter sein bei J. Rieter-Biedermann in Leipzig erschienenes, auch in Deutschland best eingefiihrtes Orgelkonzert mit Orchester op. 100, ferner fiir Pianoforte, Violine und Pianforte, eine Messe fiir 4 Mannerstimmen mit Streich- instrumenten fiir die Leichenfeierlichkeiten Ben. Mag- liones und (in Verbindung mit Tebaldini) eine Messe im Palestrinastil , die in einem Nationalconcurs den Preis erhielt und infolgedessen unter Leitung der beiden Autoren beim 15. Jahrestag des Todes Victor Emanuels 11. im Pantheon zu Rom aufgefiihrt wurde. Letzteres Werk hat Bossi in jiingster Zeit erganzt, d. h. die urspriinglich von Tebaldini gesetzten Stiicke der ersten Halfte der Messe nunmehr selbst komponiert ; in dieser Form wird das ebenso interessante als meisterliche Werk demnachst bei Rieter-Biedermann erscheinen und leistungsfahigen Choren eine dankbare und schone Aufgabe stellen.
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Der Ruhm Bossis als erster Orgelvirtuos Italiens war inzwischen allgemein verbreitet und wurde Anlass, dass er zu alien wichtigen Orgeleinweihungen als Autoritat wie als Kiicstler beigezogen wurde. Bei einer solchen in der Steccata in Parma erhielt er audi 1894 auf eigene Initiative des Konigs das Ritterkreuz des Ordens der italienisclien Krone. Aber auch das Aus- land bekam ihn als Orgelvirtuosen zu boren (Konzerte in London und Cambridge). 1895 erhielt Bossi die Direktion sowie die Professur fiir Komposition und Orgel am Liceo musicale Benedetto Marcello in Venedig und blieb daselbst bis 1902.
In Venedig schrieb er ausser vielen Werken fiir Gesang, Orgel, Pianoforte, Violine, Violoncello (auch Kammermusikwerke befinden sich darunter), das Poe- metto „il Cieco" fiir Tenorsolo, Chor und Orchester nach einem Text von G. Pascoli sowie das Werk, das ihn spater mit einem Schlag in Deutschland beriihmt machen sollte, sein „Canticum canticorum". Wahrend seines Aufenthaltes in Venedig leitete er auch die Orchesterkonzerte der Societa dei concerti, in denen er sein Poemetto „il Cieco" sowie einen Prolog zu den „Pirenei" von Pedrell auffiihrte, letztere mit solchem Erfolg, dass ihm seitens des spanischen Konigshauses eine besondere Ehrung zuteil wurde. — Fiir die Ver- mahlungsfeierlichkeiten Victor Emanuels III. wurde Bossi durch das Unterrichtsministerium offiziell mit der Aus- gestaltung des musikalischen Teils der Trauungszere- monie betraut. Er schrieb dazu ein Graduale, Offer- torium und eine Communio zu 4, 5 und 6 Stimmen im Palestrinastil (Mailand, Ricordi), unter seiner Leitung bei S. Maria degli Angioli aufgefiihrt, sowie eine Marcia di nozze fiir Orgel, die er selbst wahrend der Feier spielte (Leipzig, Senff).
Seit 1902 ist Bossi Direktor des Liceo musicale der Stadt Bologna und leitete als solcher auch die oberste Ausbildungsklasse fiir Komposition. Daneben veranstaltete er als Dirigent der Societa del quartetto noch Musikauffiihrungen grosseren Stils, von denen am Schluss noch die Rede sein wird.
Bossi war drei Jahre lang Mitglied der permanenten musikalischen Kommission beim offentlichen Unterrichts-
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ministerium in Rom und als solches bei wichtigen Ent- scheidungen tatig. Bis zum tragischen Tod Umbertos begleitete er auch die Konigin Margherita nach ihrem jahrliclien Sommeraufenthalt in Gressoney, wo er beim Gottesdienst fur die kunstsinnige Monarchin die Orgel zu spielen hatte. Natiirlich ist er audi Ehrenmitglied verschiedener musikalischer Korporationen Italiens, seit neuester Zeit auch der Akademie in Stockholm.
Enrico Bossis produktive Tatigkeit, die ihm heute, namenilich in Deutschland, einen so bedeutenden Namen verschaffte, ist eine ebenso vielseitige als nach den ver- schiedenen Gebieten bedeutsame. Seinem siidlandischen Temperament entsprechend ist seine kompositorische Ader eine ausserordentlich leicht fliessende. Ohne seinen an deutschen Mustern geiibten vollendeten Kunst- geschmack hatte er ebenso leicht ein seichter Viel- schreiber werden konnen, wie er heute ein Komponist von ernstesten Zielen ist.
Es ist fiir die Beurteilung des Kunstschaffens Bossis von Wichtigkeit, daran festzuhalten , dass sein Name in Deutschland vor der Auffiihrung seines Canticum canticorum durch den „Riedelverein" in Leipzig im Jahre 1900 so viel als unbekannt "war und dass die ganze ziemlich ansehnliche Literatur, die wir zu iiber- schauen haben, ohne eigentlichen Kontakt mit dem, was man bei uns „offentliche" Meinung nennt, ent- standen ist. Sie entbehrt damit sozusagen jeglicher Front nach aussen und lenkt den Blick ganz nur in sich selbst und auf ihre inn ere Entwickelungsgeschichte. Dass diese aber unter so ganzlich von unserem spezi- fischen Musikleben verschiedenen Bedingungen und Ver- haltnissen sich abspielte, das ist wohl der Grund, warum uns bei aller freudigen Anerkennung doch manches fremdartig anmuten mag. Vor allem wurde ein deutscher Komponist, der ein Werk von der Bedeutung des „ Can- ticum canticorum" geschrieben hat, doch kaum in Ver- bindung mit Kompositionen eleganteren Salonstils ge- nannt werden wollen. AUein , wo der Deutsche vor einem unerbittlichen „ noblesse oblige" steht, da braucht der Romane, dem oder besser dessen Publikum die Kunst vielfach eben doch mehr eine Ergotzung fiir die Sinne als in erster und letzter Linie, wie bei uns, etwas
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Tiefergeartetes zu sein pflegt, weit weniger skrupulos zu sein. Ebenso sicher aber ist es, dass Bossi heute manches nicht mehr drucken lassen wiirde, was er friiher herausgab. Etwas ahnliches baben wir ja bei Joacbim Raff erlebt, mit dessen auf jegliches bobe Ziel gericbtetem Kunststreben das Scbaffen Bossis mancberlei Abnlicbkeit bat.
Um gleicb mit dem Gebiet zu beginnen, auf dem Bossi eine durcbaus originelle Erscbeinung genannt werden kann und auf das er sicb durcb seine eigene reorganisatoriscbe Arbeit mit einem besonderen Nacb- druck verlegte, so ist seine Stellung als Orgelkom- ponist mit seiner Tatigkeit als glanzendster und wobl vielseitigster Orgelvirtuose eng verbunden. Als letzterer aber war er bemlibt, sicb zunacbst selbst das Beste und Gediegenste anzueignen, Job. Seb. Bacb vor allem, was einem rationellen Orgelstil als Grund- lage dienen konnte. Bossi beberrscbt als Spieler alle Stile der grossten Orgelmeister vor ibm in einer Weise, die sicb scbwer bescbreiben lasst. Seine glanzende, ja staunenswerte Tecbnik kennt keine Grenzen. Eine Hand von einer geradezu pbanomenalen Grosse und zugleicb Gescbmeidigkeit setzt ibn in den Stand , tecbniscbe Scbwierigkeiten spielend zu iiberwinden, wie die Tra- dition sie dem grossen Bacb zuscbreibt. Denkt man sicb diesen absolut souveran scbaltenden Apparat nun in den Dienst einer bliibenden Pbantasie, eines ausser- ordentlich regsamen Geistes, eines Farbensinns von ecbt sudlicber Empfanglicbkeit und ebensolcber Reproduk- tionskraft gestellt und nimmt man dazu die Stellung des romaniscben Katboliken (oder katboliscben Romanen, wie man will), bei dem alles, was mit dem Pomp und der raffinierten Eindrucksfahigkeit des romaniscben Kultus zusammenbangt , sicb in scbrankenloser Hin- gebung an die ausserlicb sinnlicbe Wirkung ergeben darf, obne das Odium einer „Stilwidrigkeit" auf sicb zu laden: so bat man den Orgelstil Bossis aucb in der Komposition. Man muss diese Sacben allerdings von ibm selbst gespielt boren, um ganz zu ermessen, welcbe unglaublicbe Fiille von Stimmung und Poesie in diesen Stlicken eigentlicb vermeint ist. Seine Sacben verlangen alle fast unbedingt eine „ Expression", also alle Ein-
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richtungen fiir die Veranderungen der Tonstarke, die den Spieler in den Stand setzen, audi auf der Orgel mit „Ausdruck" zu spielen. Hier aber wird man un- bedingt zugeben mussen, dass er der starren Orgel- stimnie die Zunge gelost hat und ihr Wirkungen ab- lauscht, die wir Deutschen seither nicht in ihr fanden, weil — — wir sie nicht in ihr suchten. Bossi be- handelt eben die Orgel fast ganz unabhangig von ihrem ursprtinglichen Charakter, durchaus als Konzertinstru- ment. Was sonst eine „contradictio in adjecto" ge- wesen ware, ein ^Scherzo fur Orgel", das wird bei ihm zum selbstverstandlichen reizvollen technischen Problem, das er glanzvoli lost. Die Orgel ist ihm eben als Ausdrucksmittel ebenbiirtiger Rivale so gut wie das Klavier oder sonst ein Instrument. Von den zahlreichen Publikationen Bossis liegen unserem Geschmack nament- lich die am nachsten, die er in deutschen Verlagen hat erscheinen lassen (z. B. Carisch & Janichen, deren Stammhaus allerdings in Mailand steht, die aber auf dem deutschen Markt kommissarisch vertreten sind, und vor allem J. Rieter-Biedermann in Leipzig). Aus erstgenanntem Verlag ist zu nennen op. 118 2 Hefte — lauter prachtvolle Musik, — aus letzterem „3 Stiicke" ohne Opuszahl, 2 Stiicke op. 94, 5 Stiicke op. 104. Anderes ist erschienen bei Ricordi-Mailand, Durand & Fils- Paris, Novello, Augener, Cocks-London etc. etc. Das bedeutendste Werk bleibt hier sein Concert fiir Orgel und Orchester op. 100 (Rieter-Biedermann), das ein Repertoirestiick aller bedeutenden Orgelvirtuosen ge- worden ist.
Ganz ausserordentlich fruchtbar und leicht pro- duzierend — allerdings audi mit etwas ungleichen Resultaten hinsichtlich des tieferen Werts der Erzeug- nisse — ist Bossi auf dem Gebiete der Klavier- komposition. Auch hier ist vor allem davon aus- zugehen, dass er selbst ein Pianist von blendendster Technik ist, der also alles, was er schreibt, aus dem Geist des Instruments heraus mit feinster Berechnung seiner pianistischen Wirkung schreibt. Vieles wirkt freilich tatsachlich noch rein ausserlich, aber eine Eigenschaft muss man alien diesen Stiicken lassen: sie spriihen samtlich von Esprit, sind immer interessant,
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aus angeregter StimmuDg heraus gesclirieben. Sie inter- essieren daher audi wie etwa die Unterhaltung einer an sich interessanten Personlichkeit , auch wo der In- halt an sich nicht fesselt. Wer Bossi selbst personlich kennen gelernt und seinen iiberaus anregenden klinst- lerischen Umgang erfahren hat, der wird manches ver- stehen, was ihn aus dem Notendruck selbst heraus kalt lassen wird.
Im ganzen ist's fast durchweg Salonmusik, aller- dings solche vornehmerer Art, die uns hier begegnet; pratenziosere Sachen sind wenig darunter. Zwei Stiicke bei Heinrichshofen-Magdeburg stellen nicht eben viel vor und interessieren mehr in der Reihe. Das gleiche gilt von 6 Stiicken bei Hug in Leipzig, die allenfalls „recht niedlich" genannt werden konnen. Hohere An- spriiche erfiillen 4 Stiicke ohne Opuszahl bei J. Rieter- Biedermann. Das Beste dagegen und wirklich Wert- volles und sehr Anregendes findet sich in op. 95 (J. Rieter-Biedermann) : eine hochst poetisch empfundene Romanze, eine technisch sehr reizvolle Humoreske, ein sinniges „Poeme d'amour", eine stimmungsvoUe „triste nouvelle" und ein sehr interessantes ^Perpetuum mobile" — eins von den Stiicken, die man von Bossi selbst spielen horen muss! Aus op. 100 (Hug) ragt ein im Bachstil gehaltenes Praludium, eine sehr feine ^Giga", ein wohlklingender „Kanon" und eine ganz reizende Caprice („ Cache-Cache") hervor. Imposant wirkt op. 103 (J. Rieter-Biedermann); op. 106 nennt sich „en forme d'une Suite" — freilich ohne mehr als ausserlichen Grund. Aus op. 109 (J. Rieter-Biedermann) hat Bossi ein ganz prachtvolles „ ultimo canto" neuerdings fiir Orchester bearbeitet herausgegeben , daneben stehen eine technisch feine „Fileuse'' und eine feurige ^Toccata" (das ^Spielstiick" wie es im Buch steht). Aus op. 114 (Carisch & Janichen) ist besonders eine „Canzone-Sere- nata" und eine ^Romanze" bemerkenswert. Als op. 93 sind bei J. Rieter-Biedermann noch eine Reihe sehr feiner vierhandiger Walzer erschienen.
Ganz Eigenartiges aber, dieweil Mustergiiltiges und damit eine wahre Bereicherung unserer Literatur, wie man sie nicht mehr missen mochte, bietet Bossi in seinen Kompositionen fiir die Jugend, in denen
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echt musikalischer Inhalt mit prachtigster Form, vor allem aber mit einem geradezu divinatorisclien Gefiihl dafiir, was fiir das jugendlicli empfindende Gem lit zweck- massig, anregend and bildend zugleich sein kanD, in geradezu uniibertrefflicher Weise Hand in Hand gebt. Seinem bei Hug in Leipzig erschienenen ^Kinder- album" und seinem im gleichen Verlag herausgegebenen ^Jug end album" op. 102, ebenso dem bei Carisch & Janichen erschienenen „neuen Jugendalbum" op. 122, an das sich noch op. 124 ,Miniaturen" (ebenda) schliessen konnen, wird die zeitgenossische Jugendliteratur wenig Gleichwertiges, gewiss aber nichts Besseres an die Seite zu stellen haben. Diese ent- zuckenden Stucke sind ein wahres Geschenk fiir unsere heranwachsende Generation; man konnte fast iiber das Raffinement staunen, mit dem sich der Autor „bei den Kleinen Lob bereitet", wo er so ernstlich und so erfolg- reich um die Gunst der ^Grossen" zu werben weiss.
Als ein ebenso eigenartiges als kostliches Parergon auf pianistischem Gebiet hat Bossi jiingst noch bei J. Rieter-Biedermann ein Heft „ Satire musicali" er- scheinen lassen, das er als „opus extra" bezeichnet und das sich als ein feinsinniger musikalischer Scherz be- sonderer Art entpuppt, eine wahre Ergotzlichkeit fiir musikalische Feinschmecker, die sie zu schatzen wissen.
Bossi ist nun aber zum Gliick nicht bei diesen harmlosen Erscheinungen stehengeblieben. Mit seinen „hoheren Zwecken" wusste er auch als echter Kiinstler zu j,wachsen".
Man konnte beinahe den Ubergang zu seiner Kammermusik in einigen kleineren Sachen fiir Vio- line bezw. Violoncell und Klavier erblicken, die sehr schone Musik aufweisen : 3 Albumblatter fiir Violoncell op. Ill (J. Rieter-Biedermann), vorher schon op. 89 (Romanze fiir Violine oder Violoncell und Klavier bei Breitkopf & Hartel, op. 99 4 Stiicke in Form einer „ Suite" [ebenda]), sehr gute und interessante, prachtig klingende Stiicke.
Auf dem Gebiet der Kammermusik hat Bossi seither erscheinen lassen: Eine Sonate in EmoU fiir Violine und Klavier, ohne Opuszahl, bei Breitkopf & Hartel, eine ebensolche op. 117 bei Kistner, ein Klavier-
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trio op. 107 und ein Trio sinfonico op. 123 bei J. Rieter- Biedermann. Wir haben hier, wenn auch mcht durch- gangig, so dock meist wirklich „grosse" Musik vor uns, entsprechend dem anspruchsvollen Rahmen, den Bossi wahlt, entsprecbend aber aucb der kiinstleriscben Stellung derer, die er nach einer von ibm ebenso liebenswiirdigen als fiir sein Wesen bezeicbnenden Gepflogenbeit mit diesen Werken auf dem Weg der Widmung ehren will. Aus der Teresina Tua gewidmeten E moll-Sonate bat der ^Kunstwart" den ganz pracbtvollen langsamen 2. Satz als Probe dieses Autors seinen Lesern mitgeteilt — eine Ebrung, die fiir sicb selbst spricbt. Aucb von dem Trio sinfonico braucbt man nur zu wissen, dass es dem ^Riedelvereins^-Leiter Georg Gobler, dem Verbreiter des flCanticum canticorum", gewidmet ist, um zu er- messen, dass der Autor sicb bier en grande tenue zeigt. In der Tat kann man in der gesamten Kammermusik Bossis alle jene Ziige erkennen, die ibn berecbtigten, auf dem, wenn man vom bubnendramatiscben Gebiet absiebt, ansprucbsvollsten Felde offentlicber Kunstdar- bietung als eine bervorragende Erscbeinung aufzutreten. Wir finden in ibm vornebme Tbematik, kubne Energie, scbwungvolle Entwicklung, Sinn fiir iippige und dabei personlicb oder docb national gefarbte Klangwirkungen, grossen, nie versagenden Zug und aussergewobnlicb temperamentvolle Steigerungstecbnik. Namentlicb finden wir vielfacb Kantilenen von einer Kiibnbeit der Bogen- spannung, die durcbaus ungewobnlicb ist und die zeigt, dass der Autor zu dem Verlegenbeitsmittel der „Pbrase", wo ibm die „Gedanken" ausgeben, nur sebr ausnabms- weise zu greifen braucbt. Wer diese Werke von der Ausfiibrung ber kennt, diirfte sicb fast wundern, dass sie im Kammermusiksaal nocb nicbt breiteren Raum gewonnen baben, wiisste man nicbt, wie ungemein konservativ die Programme gerade auf diesem Gebiet zu sein pflegen. Scbon der ganz pracbtvolle Klavier- satz miisste eigentlicb zur Ausfiibrung reizen. Die Ijbersicbt iiber Bossis Instrumentalkompositionen ist zu bescbliessen mit dem Hinweis auf seine — Artbur Nikiscb gewidmete — Suite fiir grosses Orcbester op. 126 und seine „ Intermezzi Goldoniani", Suite fiir Streicb- orcbester op. 127, welcb letztere gegenwartig auf einem
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wahren Triumphzug durch die Konzertsale der ganzen musikalischen Welt begrifFen ist.
Von den Vokalkompositionen Bossis haben es sein Canti lirici op. 116 und 121 (Carisch & Janichen) seither zu keiner namhaften Verbreitung bringen konnen, so Reizvolles sie enthalten.*) Bei der Uberfiillung des Marktes ist dies nicht zu verwundern, zumal es sich hier ja uin Dinge handelt, bei denen die Frage der (jbersetzung ein wiclitiges Wort mitspricht. Das ist nun freilich bei den grosseren Werken Bossis erst recht der Fall. AUein hier ist der Fall doch der, dass man sich den Zugang zu diesen Werken, die eine fiihlbare Lucke im Konzertsaal auszuflillen bestimmt waren, eben durch eine entsprechende tjbersetzung erzwingen muss. Ausgenommen von dieser Notwendigkeit ist allerdings das erste grossere in Deutschland eingefiihrte Werk Bossis „ Canti cum canticorum" (Urauffuhrung durch den Riedelverein unter Leitung Georg Gohler 1900) bei dem eine Ersetzung des lateinischen Textes durch eine Ubersetzung einen Teil, wenn nicht den ganzen Zauber der hieratischen Feierlichkeit des pracht- vollen Werks zerstoren wLirde. Steht es doch damit von vornherein auf einem sehr prazisen Standpunkt: es ist das Gebiet spezifisch katholischer Mystik. Sein Inhalt ist die kirchlich bis heute festgehaltene alle- gorische Deutung des Inhalts des Hohen Liedes : die Vereinigung der menschlichen Seele als Braut mit ihrem himmlischen Brautigam Jesus Christus. Es kann hier natiirlich auf das Detail der Behandlung des Stoffes in Text und Musik nicht naher eingegangen werden. Es geniige in wenigen Zugen nur das Wesentliche zu skizzieren. Da auch die Auswahl, die Bossi aus dem Ganzen des Originals traf, sein eigenstes Werk ist, so darf auch der Vorzug dieser seiner Auswahl voll auf sein Konto gesetzt werden. Und da muss gesagt werden, dass die Zusammenfassung, wie sie natiirlich notig war, die denkbar gelungenste, die Zusammendrangung der Sprachlyrik der wundervollen Dichtung auf ein Volumen,
*) Ein weiteres Liederheft „Yisioni pittoriche" ist ebeiiso wie ein Sstimmiger a capella Chor ,,Primavera classica" nach einer Dichtung von Carducci soeben bei Rieter-Biedermann im Erscheinen begriffen.
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wo das Ganze formlich zur Musik drangte, von selbst Musik ward, vol! gluhender Empfindung, vol! gross- artiger Plastik des Ausdrucks, an sich sclion der hochsten Anerkennung wert ist. Dass Bossi, wenn er von der kirchlich sanktionierten Auslegung ausgehend, auf ibr fussend und diese seine Grundlage auch ausserlich durch die Wahl der aus dem Officium romanum entnommenen Melodien zu des Thomas von Aquino inbriinstiger Fron- leichnamsbymne „ecce panis angelorum" ausdriicklich betonend, nicht in ibr stecken blieb, sondern sich in die Region mehr menschlich anrautender gluhender Darstellung der Situation erhob , das wird man ihm als Romanen weiter nicht libel nehmen: sinnliche Pracht, schrankenloser Erguss der Gefuhlswallung, siidlicher Farbenreichtum bei iiberschaumendem Temperament, das waren allezeit und sind immerdar Dinge, bei denen eine Profanation religioser Anschauungen dem Romanen auch bei weitgehender Rucksicht auf den sinnlichen Effekt im Grunde fern liegt.
Das weitaus grossere, den Abend fiillende Chor- werk Bossis „Das verlorene Paradies" (Leipzig, J. Rieter-Biederraann) ist dem „Canticum" bald auf dem Fuss gefolgt. Schon im Dezember 1903 konnte es, wie schon erwahnt, der „Oratorienverein Augs- burg" unter Leitung des Verfassers dieser Skizze aus der Taufe heben, nachdem letzterem vergonnt war, durch seine Mitarbeit an der deutschen Ubersetzung dem Werk die Pforten zu unserem deutschen Musikleben iiber- haupt zu offnen. Inwieweit dies gelungen ist, miissen natiirlich andere beurteilen. Uber die textliche Unter- lage des Werks und ihre Bedeutung sowie iiber alle wissenswerten Grundzilge und Einzelheiten seiner musi- kalischen Komposition hat sich Verfasser in seiner „erlauternden Einfiihrung" des naheren ausgelassen, so dass an dieser Stelle auf diese hinzuweisen wohl genugt. Die Beurteilung, die das grossartig angelegte Werk seither gefunden hat, steht durchweg unter dem Ein- druck des grossen und impulsiven Talents , das aus ihm spricht. Um den Weg, den es nehmen wird, braucht uns ebensowenig, wie um die Anerkennung seiner Bedeutung in der an ahnlichen Werken so be- triiblich armen Literatur unserer zeitgenossischen Musik
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bange za sein, unbeschadet der Kritik an einzelnen Zugen, der unser Autor um so eher ausgesetzt sein muss, als er sich auf einem Gebiet bewegt, das ihm national ja eigentlich fremd sein musste und auf dem er sich selbst erst den archimedischen Punkt („gebt mir, wo ich stehe!") zu suchen hatte. Bedauerlicher weise wird das Werk in neuerer Zeit meist mit ^Strichen" aufgefuhrt, die Bossi selbst in nicht zu rechtfertigender Weise einer Kritik konzedierte, die aber die poetische Grundlage des Werks in schonungsloser Weise zer- storen — ein Beweis mehr fur die Gedankenlosigkeit, mit der vielfach noch musiziert wird und gegen die Kulturtaten, wie das Zuriickgreifen auf Miltons un- sterbliches Meisterwerk eigentlich eine verlorene Liebes- miihe genannt werden musste.
Ausser diesen beiden grossen Werken ist in Deutsch- land noch ein kleineres Werk fiir Bariton- (bezw. Tenor-) solo, Chor und Orchester „il Cieco" — „Der Blind e" (Rieter-Biedermann) erschienen, dessen Urauffiihrung in Mannheim stattgefunden hat.
Mit seinem „il Viandante" („Der Wanderer") hat Bossi nun, wie schon oben erwahnt, auch in Deutschland den Boden betreten, von dem er sich in Italien in absehbarer Zeit durch eine grosse fiir die Scala bestellte Oper (,,Lotosblumen — fior di Loto") den in Italien massgebenden Erfolg erhofft. Die ein- aktige Oper ist „lyrisches Drama" genannt. Das Haupt- gewicht liegt in der Lyrik, das Dramatische daran ist mehr accessorisch. Dessenungeachtet ist es reich an echt dramatischer Musik, ja die ganze Musik ist aus angeborenem dramatischem Empfinden heraus geboren, wahrend das orchestrale Gewand die ganze Farbenfiille der koloristischen Phantasie des im Lande der Schon- heit und Charakteristik geborenen Autors entfaltet.
Die tJbersicht iiber die ungemein fleissige und ener- gische Tatigkeit Bossis darf nicht abgeschlossen werden ohne den Hinweis auf die ausserordentlich verdienst- volle Wirksamkeit des italienischen Maestro hinsichtlich der Pflege eines grosser angelegten Konzertlebens in Italien. Er ist der erste, der mit Erfolg Bach und Handel in Italien auf den Schild gehoben hat, er ge- hort zu den energischsten Vorkampfern fiir Wagner,
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er pflegt deutsche Musik, wo und wie immer er kann. Welche „Taten" aber in Italien heute noch zu tun sind, beweist der Umstand, dass Bossis letzte musikalische Grosstat die Auffiihrung der — ^Missa Papae Marcelli" im Dom zu Bologna war. Was bei uns jeder Kathedral- chor als ganz selbstverstandliche Leistung von Zeit zu Zeit hinauszustellen vermag, das muss im Vaterland des Palestrinastils erst unter dem Nimbus des Ausser- ordentlichen miihsam erarbeitet werden!
Enrico Bossi steht noch im aufsteigenden Ast seiner Rubmeslauf bahn. Er vertieft den Eindruck seiner Musik in Deutscbland in neuerer Zeit noch mit Erfolg als •austibender Kunstler auf der Orgel und gewinnt, wohin immer er kommt, durch den Zauber seiner ebenso interessanten als liebenswiirdigen und bescheidenen Personlichkeit. Freuen wir uns seines Eintretens in den Kreis derer, von denen unser deutsches Konzert- leben vielfache Anregung empfangen kann. Er verdient die voile Hochachtung, die er geniesst, durch Ziige, in denen wir Deutsche von jeher die Gewahr innerer Grosse erblickt haben: Ernst, Tiefe, Gewissenhaftigkeit, strenge Selbstzucht, freudige Anerkennung des Ver- dienstes Anderer, Verantwortlichkeitsgefuhl in seinem eigenen Wirken vor der hohen Mission, die zu erfiillen ider wahre Kunstler berufen ist.
Frederick Delius.
FrEberick Ddius
(geb. zu Brabforb [Yorkshire, Englanb] 1863).
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Frederick Delius
Majc Chop.
Bis zum Jahre 1906 war der Name Frederick Delius in der musikalischen Welt wenig bekannt; speziell in Deutschland wusste man von ihm fast ausschliess- lich durch die Vermittelimg der beiden , als Pioniere und Pfadfinder bekannten Musikdirektoren Professor Julius Buths in Dlisseldorf und Dr. Hans Haym in Elberfeld, die fiir Delius mit nachdriicklicher Begeiste- rung eintraten und ihm, wenn auch nicht ohne Kampfe und starke Opposition, den Westen unseres Vaterlandes Schritt fiir Schritt eroberten. Das war und blieb in- dessen ein iramerhin beschranktes Geltungsgebiet ; und da der ausgezeicbnete, bedeutsame Komponist zu jenen Leuten gehort, die fur die eigene Sache und deren Bodengewinn nicht ein Jota tun, so ware wohl Delius nocb heute der einsam schaffende Unerkannte, hatte nicht der junge, temperamentvolle Leiter des Sternschen Gesangvereins in Berlin, Oskar Fried, im Februar 1906 das grosse Orchesterchorwerk ^Appalachia" auf das Programm eines seiner Konzerte aufgenommen und die Komposition neben seinem eigenen „trunkenen Liede** den Berlinern prasentiert. Die Tat erregte um. so mehr Aufsehen, als man sich dem eigenartigen Zauber der bei der ersten Bekanntschaft fast befremd- lich-beriihrenden Musik gleichwohl nicht zu entziehen vermochte und wegen der absoluten Unvertrautheit mit Schopfer und Stoff um die Klassifizierung sehr in Ver- legenheit geriet. Wer war Delius? Was wo lite er mit seiner „Appalachia" sagen? Wohin mit dem blii- henden Stil, der uppigen Instrumentation, der liber-
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reichen Harmonisierung ? All' diese Fragen bereiteten, just wie das Pentagramma dem Mephisto, allseitige Fein. Wohl hatte es in einzelnen Wendungen den Anschein, als waren Vorbilder und Einliusse zu er- kennen; gleichwohl schritt der Komponist mit festem Fusse seinen eigenen Weg, der zu kiihn anstrebenden Hohen an steilen Hangen voriiberfiihrte. Man stand mithin vor der ausserordentlich schweren Frage, einem musikalischen Poeten ohne personliche Analyse, einem bislang ungekannten Genie, den Platz in der Reihe illustrer Geister anzuweisen, und das auf Grund ein- maligen Anhorens eines monumental aufgeturmten Werkes in Variationenform , das einen ganz neuen musikalischen Ausdruck einfiihrte, damit den Beginn einer Richtung bedeutete, die erst zu diagnostizieren war. ^Appalachia" bot im Gegensatze zu Oskar Frieds ^philosopbischer* eine Art von „ethnographischer* Musik, sie schildert in Form riesiger Orcbestervariationen , zu denen schliesslich auch der Chor hinzutritt, jene Gegen- den Mittelamerikas , die vom Alleghanygebirge (Appa- lachiansystem) durchzogen sind, Alabama, die mittleren atlantischen Staaten, Massachussets bis zur Mundurg des St. Lorenzstroms. Und der Tonmaler Delius legi- timierte sich als reifer Kiinstler von ausgesprocbener Individualitat und Eigenart. Mocbte man, infolge der Seltsamkeit der Erscheinung noch unfrei im Urteile, auch bier und da Bedenken erbeben gegen die Willkiir der barmonischen Gestaltung, gegen die Form und die Anwendung der Mittel, mocbte auch der Gebraucb der ubermassigen Intervalle, der Nonenakkorde , der bei- spiellos dastebenden Ubergange und das ruhelose In- einandergreifen verwegenster Modulationen fremd an- muten, dem Eindrucke, dass man bier einer ganz be- deutenden, scbopferiscben Kraft gegentiberstehe, konnte sicb niemand entzieben. Tonende Farben und Farben- miscbungen standen in Uberfiille zu Gebote, gleicbviel ob der Poet die tropisch-uppige Landscbaft am Mis- sissippi, den Urwald Floridas mit der uber ibm ruben- den Mittagsscbwule scbilderte oder die Volksgesange der Neger in ibren eigenartigen Rbythmen und Akkord- folgen einbezog. Delius erwies sicb als Impressionist Selbst dem Cbore war mit Ausnabme einer a capella-
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Variation keinerlei dominierende Rolle zugewiesen, er unterstutzte fast ausschliesslich die Klangwirkung. tjnd — wie merkwiirdig! — iiber air dem unruhigen Ak- kordgewoge, dem wundersamen, tonenden Farbenspiele, lag im Gesamteindrucke eine fast objektive Rube, wie sie die Nabe eines Meisters verrat, der iiber seiner Aufgabe stebt und die Wirkung mit kiinstleriscber Berecbnung abwagt. Etwaige Langen der Form vergass man iiber das, was der Tondicbter an Neuem zu sagen und zu gestalten wusste. So bielt Delius mit einem seiner reifsten Werke den Einzug in die Reicbsbauptstadt. Der Empfang war nicbt iibermassig spontan, wie iiberall da, wo etwas Neues, teilweise un- erbort Grosses auf der Bildflacbe erscbeint und den Besitzstand anderer bedrobt. War das Publikum so wenig durcb Ricbard Strauss u. a. vorbereitet? Fiiblte es sicb in der Tat von der Beriibrung durcbaus be- fremdet, weil ibm jede Beziebung nacb riickwarts unter- bunden war ? Oder spielte aucb grundsatzlicbe Opposition eine kleine Rolle, weil es vielleicbt zum Bewusstsein kam, dass bier Gotzen mit Gottern vertrieben werden sollten? Jedenfalls stand der frostige Willkommengruss des nor- discben Publikums in seltsaraem Gegensatze zu der Farbenglut des in Tonen gemalten Siidens „Appa- lacbia".
Als dann auf dem Programm des Tonkiinstlerfestes zu Essen im Sommer 1906 ein neues Werk von Delius : ^Sea-Drift" (Jm Meerestreiben") fiir Bariton- solo, gemiscbten Cbor und grosses Orcbester erscbien, stand die Kritik der Eigenart des Komponisten scbon nicbt mebr so fremd gegeniiber; sie spracb von wunder- sam erdicbteter, ertraumter und erfiiblter Musik, von sublimer Kunst und praraffaelitiscber Zartbeit, von weicber Rubelosigkeit , allerdings aucb — und zwar irrigerweise — von franzosiscbem Einflusse, speziell von dem Debussys, von germaniscbem Wesen und ger- maniscben Urkeimen in romaniscber Entwickelung, von einer Musik, die mit zartem, violettem Scbleier iiber- deckt sei; aucb den Impressionisten erkanote man beraus, der nur ausserlicb zusammenbanglos in seinen Stimmungen erscbeine, wabrend in dem bald webmiitig, bald wild scbmerzlicben Grundtone Natur und Menscb
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in eins zusammenflosse , — grausam erhabene Natur und innigbewegter Mensch. Jedenfalls waren all' die Urteile in dem Hauptpunkte einig, dass es sich um ein hochbedeutsames Werk mit originellem Stil und selbstandiger kiinstlerischer Auffassung handle. — Was die Behauptung anlangt, dass Delius von den modernen Franzosen, speziell von Debussy, beeinflusst worden sei, so mag diese hier ein fur allemal Widerlegung finden. Delius wohnt zwar seit vielen Jahren auf fran- zosischem Boden , kennt aber franzosische Musik sehr wenig, franzosische Komponisten noch weniger, vor allem w^eder Charpentier noch Debussy. So war auch das Nachtstuck fiir grosses Orchester ^Paris" geschrieben, ehe Delius Charpentiers „ Louise" horte. Die Musik beider Ton- dichter, Charpentiers und Delius, ist so grundverschieden, wie nur moglich ; Charpentier treibt an der Oberflache, Delius strebt nach der Tiefe. Die Ahnlichkeit zwischen beiden beruht lediglich in der Benutzung der „cris de Paris". Auch in „Sea-Drift" findet sich keine Spur von Debussy, noch nicht einmal in den ausserlichsten Wen- dungen. Das sind also Irrtiimer, die vielleicht darin ihre Erklarung finden, dass die modernen Franzosen, speziell Debussy und seine Schule, von Edvard Grieg und den modernen Russen beeinflusst worden sind, ein Stadium, das Delius als Anfanger durchmachte, aber sehr bald iiberwand. Er war eng mit Grieg befreundet, den er als Schiiler des Konservatoriums in Leipzig kennen lernte. Dazu kam, dass Delius bereits damals die Naturschonheiten Norwegens auf langen, einsamen Bergtouren kennen und lieben gelernt hatte. Yon den jungen Russen zeigt er sich jedenfalls nirgends be- einflusst, seine grossen musikalischen Eindrucke ver- dankt er Bach, Wagner und Chopin; indessen lassen sie sich, in einer starken, selbstandigen Natur verarbeitet und zu Eigenem gemacht, nicht mehr ver- folgen, wie bei anderen, schwacheren Poeten, und ver- schmelzen vollstandig mit den Natur- Stimmungsein- driicken , die der Deliusschen Musik das ihr charakte- ristische Geprage verleihen und einzig bestimmend fiir den dichterischen Gehalt bleiben.
Frederick Delius steht in der Vollkraft seiner Jahre; er ist 1863 in Bradford (Yorkshire, England)
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als Sohn deutscher, aber in England ansassiger Eltern geboren. Die Lust zur Musik ofFenbarte sich bei ihm bereits im Kindesalter, wo er Violine spielte. Mit dieser von Jahr zu Jahr tiefer wurzelnden Neigung in Widerspruch stand der elterliche Wille, der ihn fiir den Kaufmannsstand bestimmte. Als Delias zwanzig Jahre alt war, wandte er sich nacb Florida, der Statte, von deren reichen Naturschonheiten er als spaterer Musiker und Tonbildoer die nachhaltigsten Anregungen empfangen sollte. Hier im subtropischen Siiden lernte er als Pflanzer auf einer einsamen, weltverlorenen Orangen-Plantage die Natur studieren und sich mit sich selbst und einem reichen, vertieften Innern be- scheiden: er brauchte keine Menschen da, wo eine sudliche Umgebung aus tausend Wundern zu ihm sprach. Die Keime, die diirftiger Musikunterricht in der Jugend- und Jiinglingszeit gelegt hatte, entwickelte er durch fleissiges Studium weiter und lernte, ganz auf sich angewiesen, die Selbstandigkeit in Handeln, Denken und Gestalten. Die Psychologie des Kunstlers wird aus dem Lebensgange durchaus klar. — Nach einigen Jahren des Verweilens in Florida fiihrte ihn sein Sehnen nach der eigentlichen Heimat, nach Deutschland, dem Lande der Musik. Am Leipziger Konservatorium genoss er den Unterricht Carl Reineckes und Jadassohns, — ein rein formeller Abschluss seiner Laufbahn als Ler- nender. Seit etwa 16 Jahren lebt er in Frankreich, teils in Paris, teils in der Nahe der franzosischen Kapitale, seit 1897 in Grez sur Loing, wo er fast alle an die Offentlichkeit gelangten Werke niederschrieb. Wohl war Delius bereits vor 1897 kompositorisch tatig; allein sein unerbittliches , strenges Selbsturteil verwarf alles, was dem mannlich-kiinstlerisch priifenden Blicke des Fertigen gegeniiber nicht bis in Kleinigkeiten hinein Stand hielt. So besitzen wir von ihm (nach chrono- logischer Folge geordnet) an Hauptwerken: 1. Eine Legende fiir Violine mit Orchesterbegleitung (1892); 2. Die Fantasie-Ouvertiire „Over the hills and far away* (,,tjber die Berge in die Feme", 1893), im Jahre 1897 von Musikdirektor Dr. Haym-Elberfeld als erste Delius-Komposition in Deutschland zur Auf- fuhrung gebracht; 3. Ein Klavierkonzert in CmoU
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mit OrchesterbegleituDg (1897), im Winter 1906—7 vollstandig umgearbeitet, das Professor Julius Buths im Herbst 1904 unter Dr. Hayms Leitung in Elberfeld, dann in Diisseldorf und anderen Stadten spielte; 4, ,,Nor- wegische Suite", Zwischenaktsmusik zu G. Heibergs satirischem Drama ^Folkeraadet" (1897 in Christiania unter furchtbarem Krawall und energischen Demonstra- tionen wegen der Benutzung und etwas satirischen An- wendung der norwegischen Nationalhymne aufgefiihrt); 5. Das 1904 am Elberfelder Stadttheater berausgebrachte Musikdrama ^Koanga** (1896/97); 6. „Lebens- tanz" (1898), Tondichtung fiir grosses Orchester (Urauf- fiihrung in Diisseldorf, Januar 1904, ddrch Prof. Buths); 7. , Paris", ein Nachtstuck (^Impressions de nuit", 1899 — 1900) fiir grosses Orchester (Urauffiihrung in Elberfeld durch Dr. Haym, spater in Berlin, Diisseldorf, Frankfurt und Briissel wiederholt); 8. Das Musik- drama „Romeo und Julie auf dem Dorfe* (1900/2) nach Gottfried Keller mit eigenem Texte von Delius (das Werk erlebte am 21. Febr. 1907 an der Berliner komischen Oper seine Urauffiihrung unter Kapellmeister Cassirer, einem der eifrigsten Delius-Vor- kampfer); 9. „Margot la Rouge" („Eine Nachtin Paris", 1902), Musiktragodie in eineni Aufzug; 10. „Appa- lachia" (1903), Tondichtung fiir grosses Orchester und Chor (Urauffiihrung durch Dr. Haym in Elberfeld dem Prof. Buths auf dem Niederrheinischen Musikfeste 1905 und Oskar Fried in Berlin, Februar 1906, folgte); 11. ,Sea-Drift" (Jm Meerestreiben", 1904) fur Bariton- solo, gemischten Chor und Orchester (erste Wiedergabe auf dem Tonkiinstlerfeste zu Essen im Sommer 1906); endlich: „Eine Messe des Lebens" fiir Soli, Chor und grosses Orchester als jiingste, einen ganzen Abend fiillende Komposition.
Von den angefiihrten Werken sind bislang nur zwei erschienen: „Appalachia" und „Sea-Drift" im Verlage der „Harmonie", Berlin (neben fiinf stimmungsvollen Liedern nach danischen (Texten) ; die iibrigen diirften demnachst herauskommen. Der Komponist tut fiir seine Werke gar nichts; fern liegt ihm die Reklame moderner Produktion. Er glaubt, dass sich ein Kunstwerk, sofern es Wert und Bedeutung hat, von selbst zur Geltung bringen
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muss; auf diesen Grundsatz ist es zuriickzuschreiben, dass die Welt von Delius so wenig kennt, trotzdem er seit vierzehn Jahren am grossen Webstuhl steht und schafft. Musikdirektor Dr. Haym hat als Erster in Deutschland Musik von Delius erklingen lassen, er war es, der Delius eigentlich entdeckte und trotz des be- standigen Protestes der Elberfelder, trotz erbitterter Kampfe mit dem Vorstaud der Konzerte, seine Kom- positionen durchsetzte. Er lud die Kollegen von Nah und Fern ein, um sie mit den neuen, so eigenartigen Werken bekannt zu machen; aber nur der vorwarts- schauende, vortreffliche Professor Buths in Diisseldorf erkannte den Wert und trat gleichfalls fiir Delius ein. Infolge der Elberfelder Konzertauffubrungen erbat sich das dortige Theater das Material zur Neger-Oper „Koanga", die jedoch liegen blieb, da sich der der- zeitige Kapellmeister fur die Musik nicht interessierte. Noch vor Einreichung von ^Koanga" hatte Delius unter Hertzs Leitung in London ein grosses, von Publikum und Presse vielbeachtetes Orchesterkonzert veranstaltet und bei dieser Gelegenheit den zweiten Aufzug des Biihnendramas aufs Programm gesetzt. Dadurch war die Welt aufmerksam geworden. Fritz Cassirer, zur Zeit Kapellmeister an der Berliner Komischen Oper, damals in Elberfeld, entdeckte die „Koanga"-Partitur und war von ihren Schonheiten derart begeistert, dass er im Marz 1904 an der Elberfelder Buhne das schwie- rige Werk vorzuglich zur Auffuhrung brachte, wie er auch jetzt ,,Romeo und Julie auf dem Dorfe" in Berlin herausbrachte. Cassirer machte mich in liebenswiirdiger Weise mit dem neuen Werke bis in Einzelheiten hinein bekannt, ich halte ihn fur den pradestinierten Inter- preten von Delius, weil er infolge seiner genauen Kenntnis des Kunstlers und Menschen den Gehalt dieser Musik restlos zu erschopfen und die Eigenart in einer Weise zu betonen versteht, die sinnfallig wirkt, ohne aus dem Rahmen des Kunstlerisch-Abgeschlossenen heraus- zutreten. Das Werk erregte bei der Urauffuhrung an der Komischen Oper grosses Aufsehen, der Erfolg beim Publikum war ein ausserordentlicher, tiefgehender, bei der Kritik — wie immer in derartigen Fallen — geteilt. Freilich mag dabei in Riicksicht gezogen werden, dass
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die Berliner Komische Oper, in der ^Hoffmanns Er- zahlungen", „Pariser Leben" u. a. ihre Triumphe feiern, nicht der Platz fiir ein tiefernstes Werk vom drama- tischen und musikalischen Werte „Romeo und Julies auf dem Dorfe" ist. Das Dekorative und ausserlich Szenische war von der Regie wohl einigermassen ge- troffen worden, dem Stile stand sie hiilflos gegeniiber, ebenso wie Sanger, Chor und Ochester (trotz Cassirers anfeuernder Leitung) ihren Aufgaben so ziemlicb Alles schuldig blieben. Wenn gleichwohl das Werk einen so ergreifenden Eindruck hinterliess, wird der Ruck- schluss auf seinen eminenten Innenwert nicht schwer. Der zweite Aufzug mit dem Traume der beiden Liebesleutchen birgt so viel des Kostiichen und IJber- waltigenden, zeigt Delius als Dramatiker und Sympho- niker in ein em so hellen Lichte, dass es kaum Jemanden geben diirfte, der die Beriibrung mit einem genialen Geiste leugnen kann. Auch die Tecbnik und Eigen- tumlichkeit seines musikalischen Aufbaus ist keines- wegs so schwierig, wie sie sich beim ersten Blicke vielleicht ausnimmt. Trotz der kiihnen, harmonischen Kombinationen klingt doch alles und ist im Ausdruck von zwingender Grosse, in der Schilderung voll bliihen- den Lebens. Bedingung bleibt, die Orchesterwerke eines Delius nicht nach dem Klavierauszuge zu be- messen; denn diese Klavierauszuge klingen samt und sonders nicht, weil alles orchestral gedacht ist und es zur Unmoglichkeit wird, die vielstimmige , tonende Schilderungspracht eines Delius auf den beschrankten Part zweier Hande zu reduzieren. — Ubrigens sei bei dieser Gelegenheit bemerkt, dass die Gattin unseres Meisters, Frau Jelka Delius geb. Rosen, eine bekannte Malerin, auch zugleich die tjbeisetzerin ihres Gatten ist, dem der konventionelle Stil der Berufsiibersetzer mit' den banalen Reimen verhasst bleibt und der die seiuer Musik angepasste, impressionistische Art der Ubertragung durch die seinem Ideenfluge folgende Lebensgefahrtin naturlich vorzieht.
Bevor ich mich der Bewertung Deliusscher Musik zuwende, noch einige Worte uber den Menschen im Klinstler und den Kunstler im Menschen! Frederick Delius ist, wie bereits gesagt wurde, eine wenig zu be-
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einflussende Natur, vielmebr beeinflusst er seine Um- gebung. Freimlitig und mit der Naivitat des echten MenscheD sagt er seine Meinung, ohne damit die zu kranken oder zu verletzen, denen sie gilt. Konventio- nelle Umwege oder gar Lugen sind ihm unmoglicb. Als originelle Natur umschliesst er zwei Seelen, die des Grossstadters und des in weltverlorener Stille Schaf- fenden. Man lernt ihn nur im Freien draussen auf dem Lande fern vom larmenden Getriebe ganz kennen; dortbin treibt es ibn auch sebr bald wieder aus dem Gewiible der Weltstadt, um auszastromen. Wenn er scbafft, lebt er gern fiir sicb allein und der Verkebr in Grez sur Loing, der obnebin auf ein Minimum be- scbrankt bleibt, wird alsdann ganz unterbunden. Er braucbt die Einsamkeit. Von Natur aus das Gegenteil von einem Streber, bait sicb Delius nur immer fur kurze Zeit in grossen Stadten auf und ist nie dazu zu be- wegen gewesen, aus eigener Initiative einen Scbritt fiir sein Bekanntwerden , fiir die Popularisierung seiner Kompositionen , zu tun. In der Natur, im Freien draussen auf dem Lande fiiblt er sicb am gliicklicbsten ; ware er durcb einen Beruf an die Stadt gebunden, so wiirde ihm der iippig quellende Born der Ideen ver- siegen. So reiste er unmittelbar nacb dem Aufseben erregenden Londoner Orcbesterkonzerte ab, bekiimmerte sicb um nicbts mebr, wollte von nicbts etwas wissen, da er durcb das erstmalige Anboren seiner Werke in orcbestraler Wiedergabe das Ziel erreicbt zu haben glaubt, dem die Veranstaltung selbst zustrebte. Dabei ist von reaktionarer Seite wenigen Komponisten das Leben so scbwer gemacbt worden wie Delius. Wie alles Neue und Geniale, so bat man auch ihn mit grosster Erbitterung bekampft, ohne sonderlicb wahle- riscb beziiglicb der Wafifen zu sein. Indessen umschloss die Art der Kriegsfiihrung zugleich das trostlicbe Zugestandnis der Bedeutung; um einen ungefahrlichen Gegner zu scblagen, entbietet niemand die letzten Reserven auf den Kampfplatz. Oft hat Delius sicb selbst gewundert, dass ihm in diesem heftigen Streit der Meinungen iiber seinen Wert oder Unwert nicht die Lust am Schaffen abbanden kam. Indessen fiir ihn sind das scbliesslich alles Ausserlichkeiten , das Be-
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wusstsein innerer Bestimmung ist zu stark, um ertotet zu werden. Und die Erkenntnis solch' kluger Lebens- weisheit kam ihm gliicklicherweise leicht, weil er erst als reifer Mann und fertiger Kiinstler, nicht als Wer- dender, an die Welt mit der Frage nach der Bewertung herantrat. Er ist Optimist und liebt das Gesunde, das Frohe, das Leben. In seiner ganzen Personlichkeit steckt nichts Morbides, wenn es ihm auch mitunter von der Kritik untergescboben wurde. Die innere und aussere Gesundheit Hess ihn denn auch leicht uber Zeitkrankheiten hinwegsehen, mit denen ihn die Offent- lichkeit in Beriihrung brachte und die er nie als nor- malen Zustand, sondern eben immer als abnormales Symptom erkannte. Die bleibenden Eindrucke fiir sein kiinstlerisches Schaffen bot ihm der Aufenthalt in Florida und der Siiden Nordamerikas ; das spricht direkt aus ^Koanga", ^Appalachia", aus ^Sea-Drift" und aus dem bluhenden Orchesterstil. Dort gewann er in der Ein- samkeit auch die Grundsatze einer mit dem Kiinstler in absoluter Harmonie stehenden Lebensfuhrung und damit den geschlossenen, nach aussen widerstandsfahigen, im Inneren zu bilderreicher Gestaltung stets bereiten Charakter. —
Die Bewertung des Musikers Delius wird sich in Riicksicht auf den immerhin knappen Rahmen eines Essays nicht auf Einzelheiten einlassen konnen, viel- mehr die markanten Linien im Auge zu behalten haben, die das Typische, das Originelle, an ihm ausmachen. Delius steht auf den Schultern von Richard Wagner und Sebastian Bach; das Fundament seines kunstlerischen Lebensbaus ist mithin das einzig richtige, soil von einer massgebenden und bestimmenden Bedeutung seines Stils und von innerem Werte fur die Gegenwart und Zukunft die Rede sein. Wir wissen, dass fiir das Kolorit in der Jugend Edvard Grieg beeinflussend war, fiir die abgeklarte, fliessende Form Chopin. Allein bereits in ^Appalachia" kann man deutlich gewahren, dass sich die Anregung von Grieg ganz verloren hat, in den letzten Werken ist ebenfalls keine Spur zu entdecken. Delius' hauptsachliche Bedeutung liegt in der eigen- artigen, wirklich originellen Harmonik, wie sie z. B. in ^Appalachia" mit so zwingender Sinnfalligkeit zutage
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tritt, ohne Uber die rein kuDstlerische Intuition hinaus- zuwachsen ; sie ist vielmehr mit dieser aufs engste ver- bunden, aus ihr unmittelbar abgeleitet. Im Tondichter setzen sich alle Eindriicke in diese Form um und der Transformationsprozess bleibt so natiirlich, dass er dem musikalischen Horer nirgends als gewollt zum Bewusst- sein kommt. Das reiche Innenleben des beobacbtenden Scbongeistes veranlasst die reicbe Harmonik, die mit der Kiihnheit der angeregten Idee wachst und zu den wunderbarsten Gebilden fiibrt, die tonend das Obr be- rlibren, wie der Blick sich etwa von einer farbensatten Tropenlandschaft , von den leucbtenden Wundern der Meerestiefe gefesselt fuhlt. Delius geht bier, wie auch in der ausserordentlich feinsinnigen Instrumentation ganz eigene Wege, die ibn von der Schar der Wagner- und Strauss-Nachfolger weit abseits auf eine nur ihm zugangliche Marcheninsel gelubrt haben. Solch selbst- herrliche, nicbt, wie bei Richard Strauss von der Kontra- punktik bedingte Harmonik verleiht seinen Kompo- sitionen etwas direkt Berauschendes, eine Wahrnehmung, der sich niemand entziehen kann, ohne mit seiner inneren Empfindung in Zwiespalt zu geraten oder sie zu verleugnen. Die melodische Erfindung quillt iiber- reich und die thematische Arbeit wird mit so spielender Leichtigkeit erledigt, dass sie nirgends als Merkmal auffallig hervortritt. AH' solche Dinge sind bei Delius selbstverstandlich. Seine „Lebensmesse* ist die einzige Komposition, die in einer Doppelfuge filr achtstimmigen Chor und Soli uber die Worte : „Das ist ein Tanz iiber Stock und Stein" das formale Element auch ausserlich prazisiert und dem Pedanten zuruft: ^Hier lege deine Masse an, wenn du den Kontrapunktiker rite und nach Zentimetern messen willst !" Indessen ist eine derartige Legitimation ja nur fiir den notwendig, der ausschliesslich in geschlossener Form nach koiitrapunktischer Kunst sucht, weil er sie in der offenen, frei dahinfliessenden nicht zu entdecken versteht. In dieser Hinsicht fiihrt auch der zweite Akt von „Romeo und Julie auf dem Dorfe* mit der Traummusik zu eigenartigen Ent- deckungen. Delius steht eben so souveran iiber der Form, dass sie sich ihm unter den Handen gefligig gestaltet. Dabei ist alles auf knappste Massen angewiesen; es
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wird zur Unmoglicbkeit, in der Instrumentation etwas zu streichen oder hinzuzufiigen. Im Gegensatze zu Rich. Strauss, der hier ad libitum vier Saxophons mit- gehen lasst, dort die verstarkte oder verringerte Be- setzung in das Belieben des Orcbesterleiters stellt, weist diese Musik jedes Experiment zuriick. Sie bedeutet eben das fertige Kunstwerk eines Meisters, wie ein Gemalde, dem kein nacbtraglicher Pinselstricb , eine Skulptur, der keine Verbesserung mehr notig ist. Naturlich muss die absolut ricbtige Bemessung der Mittel zu der Folgerung fiibren, dass Delius mit kiibl abwagendem Yerstande und vollig ungetriibtem Blicke fiir die Masse an die Niederscbrift seiner Gedanken gebt. Der Kampf der Gegensatze, die Mitleidenscbaft bei der Konzeption der Idee, bei der Geburt des Werkes, air das liegt abgescblossen binter ibm. Wenn er das Produkt seiner inneren Welt in die aussere Form kleidet, stebt er mit leidenscbaftsloser Rube uber dem Werke als sein ecbter Meister, er bat sicb durcb den Stoff bindurcbgerungen, ibn seiner Absicbt vollkommen untertan gemacbt. Stimmungsmalerei ist sein Feld, — nicbt Tonmalerei. Hat er sicb aber an der Stimmung selbst berauscbt und gebt daran, sie in Tonen zu formen, dann wablt er mit genial er Sicberbeit und die Mittel fliessen ibm iippig zu. Hierin liegt der grundsatzlicbe Unterscbied zwiscben Frederick Delius und Ricbard Strauss; bei letztgenanntem iibernebmen Verstand, Witz, Esprit oft die Fiibrung. Trotzdem Delius deutscber Abstammung ist und im wesentlicben deutscbe Meister auf sicb bat einwirken lassen, findet man in seiner Musik wenig von dem, das der deutscben Kunst das typiscbe Geprage verleibt, vom Bebaglicb-Bescbaulicben. Fiir diesen Mangel wird die Pbantasie entscbadigen, die rastlos tatig, Bild auf Bild bervorzaubert und in klingen- den Farben wiedergibt. Fein abgetonte Landscbafts- bilder, im elegiscben Grundtone scbwelgende Stimmungen z. B. in ^Sea-Drift" das vom Weibcben verlassene Vogel- manncben, in ^Appalacbia" das dem Untergange ge- weibte Negervolk, in ^Koanga" um ein abnlicbes Sujet krystallisiert : Die Liebe Koangas, des als Sklaven ver- kauften, afrikaniscben Negerprinzen, zur Sklavin Pal- myra mit air den erscbutternden Konflikten, wie sie
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menschliche Bestialitat ausbrutet, und dem gemeinsamen Tode der Liebenden. Der lebhaften Handlung geben die BUder des PJantagenlebens, des Urwaldes, fantastische Negertanze den eigenartig wirkungsvollen Untergrund. — Ein hervorragendes Stimmungsbild bietet auch das Nacbtstiick „ Paris" mit seinem Gegensatze innerbalb der ratselbaften Stimmen der nacbtlicben Riesenstadt — gebeimnisvoU, scbwelgeriscb, ausgelassen, scbmacbtend, lustigtoll, als FarbmischuDg das Gedicbt: ^Ratselvolle Stadt ! Die du scblafst, wenn das Volk gescbattig drangt nacb Arbeit und Freuden, und nur erwacbst, wenn weicb dunkelndes Zwielicbt alle Dinge gebeimnisvoU farbt; Stadt der Freuden, der selt^amsten Empfindungen, der laut tonenden Musik und Tanze, der scbonen und ge- scbminkten Frauen. Verscbwiegene Stadt! Unver- scbleiert nur dem, der den Tag fliebend, beimkebrt im blassen Blaulicbt des kaum anbrecbenden Tages und in Scblaf sinkt beim Licbt der erwacbenden Strassen in grauem Morgendammern !" — Die ^Lebensmesse* verwertet die beroiscben und elegiscb-idylliscben Stim- mungen von Friedricb Nietzscbe's: „Also spracb Zara- tbustra" in ganz eigenartiger, ergreifender Weise, v^obl eines der bedeutendsten und originellsten Werke fiir Cbor, Solo und Orcbester, das wir besitzen.
Was Delius bisber der Offentlicbkeit vorgelegt bat, war reife Frucbt; der Beweis seiner Kiinstlerscbaft ist ibm iiberall gegluckt, wo er die Menscbbeit mit seines Herzens und Geistes Kindern in Beriibrung bracbte, — teilweise aus der Negative; allein solcbe Beweisfiibrungen sind oftmals scblagender als die positiven, namentlicb dann, wenn ibnen Erfabrungen und Historie ein be- deutsames Relief geben. Dass seine Werke nocb nicbt AUgemeingut geworden sind, liegt ebenso an der Ex- klusivitat ibrer Fassung und Tendenz, wie am Autor selbst, der kein Mann der Propaganda fiir die eigene Person ist und scbon dadurcb so ausserordentlicb vor- teilbaft sich vom Gros der Tagesgrossen und ibren Kliquentreiben abbebt. Seine ernste, verinnerlicbte Natur mit dem aus Herbbeit und scbwelgeriscbem Sicbversenken kombinierten Zuge, die Grosse seiner Tragik, die faszinierende Kraft seiner Stimmungsmalerei, die neuen, oft unerborten und docb so blendenden
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Schmelz erzeugenden Farbenmischungen, die Behandlung des Orchesters, — alles dies schreitet auf unbetretenen Pfaden dahin, — es ist originell, dabei packend und zum unmittelbaren Miterleben zwingend. Ich glaube bestimmt aus Delius' Kompositionen den bedeutsamen Fingerzeig zu erkennen, der von Richard Wagner aus nach vorwarts deutet; von hier aus ist die Briicke uber die weite Klnft moglich, die das nachwagnerische Epi- gonen- und Sektierertum verscblang, und die uns vom Wunderlande einer neuen Kunst trennt.
Dr. FriEbrich Hegar
(geb. zu Basel am 11. Oklober 1841).
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Aufnahme von K. Eessler, K. B. Hofpliotograph, Augsburg.
Friedrich Hegar.
Dr. Friedrich fiegar
Eduard Trapp.
Mit Recht feiert die Schweiz in Friedricli Hegar einen ihrer bedeutendsten Musiker. Sein Name ist in der ganzen musikalischen Welt riilimlichst bekannt ge- worden , in erster Linie durch die herrlichen Balladen fiir Mannerchor a capella, die heute zum eisernen Be- stand des Repertoires aller ernstzunehmenden Gesang-" vereine gehoren.
Von seinem Lebens- und Entwickelungsgang sei kurz folgendes berichtet: Geboren am 11. Oktober 1841 in Basel als Kind einer sehr musikalischen Familie er- hielt Hegar seinen ersten Klavierunterricht von seiner Mutter, wabrend Konzertmeister Hofl sein Lehrer im Violinspiel wurde, in welchem er schon als Zwolf- jahriger so weit vorgeschritten war, dass er in den Quartettabenden des Hauses die erste Violine uber- nebmen konnte. Nacbdem er wabrend einiger Zeit durcb den Basler Organisten Rud. Low in die musikaliscbe Tbeorie eingefiibrt worden war, bezog Hegar im Jahre 1857 das Leipziger Konservatorium und blieb daselbst drei Jahre lang Schuler von Ferd. David, Moritz Haupt- mann, Jul. Rietz und Ernst Friedr. Richter. Fiir seine violinistiscben Fahigkeiten spricbt der Umstand, dass er schon als Konservatorist im Gewandhausorchester Aufnabme fand. Im Sommer 1860 nabm er in dem beriibrnten Bilsescben Orcbester in Warscbau eine Stelle als erster Geiger an, kebrte aber im darauffolgenden Winter zu erneuten Studien nach Leipzig zuriick. Nach kurzem Aufentbalt in London und Paris wurde Hegar von Julius Stockbausen, der damals in seiner elsassiscben
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Heimat Gebweiler einen gemischten Chor und einen Orchesterverein ins Leben gerufen hatte, dazu auser- seben, ibn in der Leitung dieser Vereine, wahrend seiner durcb Konzertreisen veranlassten baufigen Ab- wesenbeit zu vertreten. In engem Verkebr mit dem grossen Yortragskiinstler bracbte er bier zwei Jabre zu, die er selbst zu den frucbtbringendsten und scbon- sten seines Lebens zablt. Nur ein scbmeicbelbafter Ruf an die Stelle eines Konzertmeisters und Cbordiri- genten des Ziiricber Stadttbeaters konnte ibn veran- lassen, die nacb alien Ricbtungen bin so angenebme Position in Gebweiler aufzugeben und im Herbst 1863 nacb Ziiricb iiberzusiedeln, wo man sein bervorragendes Direktionstalent sebr bald erkannte und ibm scbon nacb Jabresfrist den Kapellmeisterposten an der Oper iiber- trug. Im Herbst 1865 wurde Hegar zum Dirigenten des Gemiscbten Chores Ziiricb und der Abonnements- konzerte der Allgemeinen Musikgesellscbaft gewablt. In seiner langjabrigen Tatigkeit in diesen Stellungen — die Direktion des Gemiscbten Cbores bat er 1901, diejenige der Abonnementskonzerte erst mit Ablauf der Saison 1905/6 , also nacb rund vierzigjabrigem Wirken niedergelegt — bat sicb Hegar um das Ziircber- iscbe Musikleben unverganglicbe Verdienste erworben. Durcb ibn, den Vielseitigen und Weitblickenden erfubr es eine vollige Neubelebung und da sein erspriesslicbes Wirken gewissermassen vorbildlicb ward fur die leiten- den Stellen anderer Stadte des Heimatlandes, so kann man wobl bebaupten, dass der riesige Aufscbwung des musikaliscben Lebens der ganzen Scbweiz im Laufe der letzten fiinf Dezennien zum grossten Teile auf das Konto Friedricb Hegars zu setzen ist. Mebrere Jabre leitete er aucb den Sanger verein „Harmonie Ziiricb" und seit dreissig Jabren rubt in seinen Handen die Direktion der mebr und mebr aufbliibenden Ziircber Musikscbule, deren Griindung seiner Initiative zu danken ist. Die Universitat Ziiricb ernannte ibn in gerecbter Wiirdigung seiner boben Verdienste 1889 zum Ebren- doktor.
Als Komponist darf Hegar als eine aussergewobn- licbe Erscbeinung gelten ; er ist kein ^Dutzendscbreiber", das beweist die verbaltnismassig niedrige Opuszabl 37
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bei welcher er heute angelangt ist. Der Schwerpunkt seioer schopferischen Tatigkeit liegt in der Vokalmusik, epeziell auf dem Gebiete des Chorgesangs und zwar wiederum im Besondern des Mannergesangs. Hier ist er ein Bahnbrecher, der sich mutig vom ausgetretenen Pfad der Liedertafelei entfernte, und ganzlich neue Bahnen einschlug, Bahnen, die nur ein grosser Konner, wie es Hegar unbestritten ist, ohne Gefahr, sich zu verirren, betreten und weiterverfolgen konnte. Wir meinen die tonmalerische Yerwenduug der Chorstimmen. Als Vorziige treten bei alien Chorwerken, die Hegar — ein stronger Selbstkritiker ■ — der Offentlichkeit uber- geben hat, zu tage: eine gesunde Erfindungskraft von echter Urwiichsigkeit , eine prachtige stets treffsichere Charakteristik, eine geistreiche, niemals gequalte Dik- tion im Allgemeinen , wie im Besonderen. Und dies alles ohne Uberschreitung der Grenzen, welche in tech- nischer und asthetischer Hinsicht dem Chorgesang ge- zogen sind. Die Stoffe fiir seine prachtigen Chore suchte sich Hegar zumeist bei seinen einheimischen, schweizerischen Poeten, Gottfr. Keller, C. F. Meyer, J. V. Widmann, Ed. Zurcher, Carl Spitteler und Fritz Rohrer; besonders der letztere hat ihn durch seine schwungvollen Dichtungen mehrfach zu besonders be- deutenden, stimmungsvollen Kompositionen begeistert, wir erinnern nur an die Chore: „Morgen im Walde", ^Rudolf von Werdenberg", ^Kaiser Karl in der Johannis- nacht", „Konigin Bertha" u. a. Schon in der ersten Komposition fiir Mannerchor „Morgen im Walde" (op. 4) offenbart sich in einigen stimmungsvollen koloristischen Effekten Hegars ureigenste Begabung; sie tritt noch pragnanter hervor in der nachsten Schopfung „Abend- mahl (op. 5), welchem ein Gedicht Theodor Korners zu Grunde liegt. Der tiefe religiose Ernst der Szene kommt in der Musik herrlich zum Ausdruck. In edler Deklamation leitet die einem Baritonsolo tiberwiesene Rede Christi zu einer imponierenden Schlusssteigerung liber. Die drei Mannerchore ., welche der Autor als op. 8 zusammenfasst, betiteln sich : ^Nebeltag" (Ged. v. H. Lingg) „Reutti im Winkel" (Ged. v. J. V. v. Scheffel) und „Bundeslied" (Ged. v. Th. Korner). Es zahlen diese drei Chore vielleicht zu den wenigst bekannten Schopf-
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ungen unseres Meisters, aber sie sind darum nicht die schlechtesten. Ein schones Ebenmass der Form zeicli- net auch sie aus; sehen wir im ^Nebeltag" ein in seiner Grundstimmung grau in grau gehaltenes Ton- gemalde, welches nur gegen den Schluss bin einige Aufheiterung erfahrt, so haben wir in „Reutti im Win- kel" von der ersten bis zur letzten Note eine von sonnigem Humor und himmelstiirmender Lebenslust durchdrungene Idylle von packender Schlagkraft. Die Perle unter den drei Nummern aber ist unbedingt das feurige und energische „Bundeslied", in dem Korners begeisterte Worte die denkbar beste Vertonung ge- funden haben. In grossem, einheitlichen Zug ist hier der idealistische Grundton des Gedichts meisterhaft fest- gehalten und eine Komposition entstanden, die man das Ideal des formvollendeten , die Grenze des tjber- schwanglichen geschickt meidenden Dithyrambos nennen mochte. Gleichfalls edel aufgefasst ist das Lied „Die beiden Sarge" op. 9, in dem sich der still feierliche Hauptsatz, der die Totengruft des Konigs und des Sangers darstellt, und der Mittelsatz mit der wildbe- wegten Schilderung des Schlachtgetlimmels prachtig von einander abheben. Eine mit Recht besonders be- liebte Konzertnummer ist op. 11. „ln den Alpen"; jeder Akt in diesem Chore bedeutet einen charakteristi- schen Pinselstrich zur VervoUstandigung eines herr- lichen Landschaftsbildes. Kraftige Ziige sind es, die dieses Gemalde geschaffen, das in seiner Grossartigkeit das nachstfolgende op. 13 ^Waldlied" etwas in den Schatten stellt. Mit op. 15 ^Rudolph von Werdenberg" schuf Hegar eines jener Werke, denen er seinen eigent- lichen Ruhm in erster Linie zu verdanken hat. Die schon dichterisch wertvolle Ballade zeichnet sich in ihrer Komposition durch eine eigenartige, sehr charak- teristische Harmonik und durch geistreiche, iiber- raschende Einzelzuge aus; ein ritterlicher Zug geht durch das Ganze, dessen Hohepunkt in der Schlacht- schilderung erreicht wird. tJbertroffen wird diese Ton- malerei kubnsten Wurfes noch in den beiden Choren op. 17 und 18, dem ^Totenvolk" und ^Schlafwandel". Eine Stimmungsgewalt, wie sie im Totenvolk zu tage tritt, hatte man vor dem Erscheinen dieses Chores wohl
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in Orchesterwerken, nicht aber in einem a capella-Chor kennen gelernt. Der grausige Text, in welchem der bekannte Schweizer Dichter J. V. Widmann, den Unter- gang jenes sciiwedischen Heeres von 10000 Mann schildert, das durchs Tydalsche Gebirge heimkehren wollte und mit Mann und Maus der grimmigen Kalte zum Opfer fiel, ist von Hegar mit einer Musik um- geben, die an dramatischem Ausdruck das hochste dar- stellt, was mit den knappen Mitteln von 4 Manner- stimmen iiberhaupt geleistet werden kann. Eine plotz- liche Wendung vom vermin derten Septimenakkord auf C nach Esmoll, wie wir sie im ^Totenvolk'' an der Textstelle „tappt eine Riesenfaust" finden, erscheint auf den ersten Blick mehr als gewagt, sie illustriert aber — realistiscli zwar, aber zwingend — und macbt dem Horer die Haut schaudern. Einen versohnenden Gegen- satz bildet der Schluss, der bei siebenfacher Teilung der Stimmen in einer tiefempfundenen , wehmiitigen C dur Melodie ausklingt. Eine gewisse Verwandtschaft mit op. 17 finden wir in dem Chore op. 18 „Schlaf- wandel", welchem Gottfried Kellers gleichbetiteltes Ge- dicht zu Grunde liegt. Hier fiihrt uns der Stofi" in ein afrikanisches Felsental, in dem ein Bataillon der Fremden- legion von sengender Glut ermattet dahinmarschiert. Im apathischen Halbschlummer denkt jeder der ge- braunten Soldaten an die feme Heimat. Ein Schuss schreckt sie aus diesem Schlafwandel auf und feuert sie zu Mut, Kaltbliitigkeit und Tapferkeit an, mit welcher sie die angreifenden Beduinen nach kurzem Kampf in die Flucht schlagen. Jede Situation des Ge- dichts ist getreu und lebenswarm musikalisch wieder- gegeben. Op. 20 „Hymne an den Gesang" mochten wir eine ganz besonders geistvolle, gedankenreiche und aus innerstem Herzen gekommene Komposition nennen, die bei schwungvoUem und dynamisch gut abgestuften Vortrag — einen solchen verlangen alle Chore unseres Meisters — ihre Wirkung nie verfehlen wird. Ein neues Gebiet beschritt Hegar mit den beiden als op. 21 erschienenen Choren „Trotz*' und „Der Daxelhofer", das- jenige des feinen Humors, dessen Ausdruck ihm ganz besonders im „Daxelhofer" prachtig gelungen ist. Wie bei fast alien seinen Schopfungen decken sich auch in
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diesen beiden Choren Wort und musikalische Erfindung auf das gliicklichste. Mit op. 22 „Weihe des Liedes" brachte Hegar wieder einen Chor, den man hinsicht- lich seiner Anlage im gewissen Sinne dem op. 20 an die Seite stellen kann. Eine eigenartige Deklamation, glanzende Detailmalerei mit originellen Wendungen und packenden Kontrasten, denen niemals der Vorwurf der Effekthascherei gemacht werden kann, das sind die Vorzuge, die den zuletztgenannten Chor ebenso aus- zeichnen, wie alle iibrigen Mannerchorschopfungen. Die guten Eigenschaften, die wir an all den erwahnten Choren priesen, sie sind auch in alien weiteren Werken der gleichen Gattung wiederzufinden: in op. 23 „Ge- witternacht", op. 24 „Die Trompete von Gravelotte", op. 27 „Die Bliitenfee", op. 28 „ Kaiser Karl in der Johannisnacht", op. 30 ^Walpurga", op. 32 „Konigin Berta", op. 33 „Das Marchen vom Mummelsee" und op. 36 ,,Das Herz von Douglas" (Ballade von Moritz von Strachwitz), dem ersten Mannerchorwerk, welchem Hegar grosses Orchester als Ausdrucksmittel beigegeben hat, ohne dem Mannerchor (mit Tenor- und Bariton- Solo) seine dominierende Stellung zu nehmen. Das Orchester gibt gewissermassen nur den Hintergrund ab, vor welchem sich der Chor bewegt. Durch die ^Arbeitsteilung" zwischen Chor und Orchester, deren sich Hegar, wie schon erwahnt, in seinen Balladen bis- her nicht JDedient hat, erheischt das Werk bei einer Be- leuchtung von Hegars Schaffen besondere Beachtung. Seine erste Auffiihrung durch den Wiener Manner- gesangverein, dessen Ehrenchormeister Ed. Kremser es gewidmet ist, bedeutete einen starken Erfolg fur den Komponisten, der die Leitung der Premiere selbst tibernommen hatte. Der Referent des „Deutschen Volksblattes" vom 17. Dezember 1905 schreibt u. a.: „Der Stoff der Ballade war fiir die kraftige, klang- schone Kunst Hegars wie geschaffen und dieser liess sich denn auch nirgends die Gelegenheit entgehen, die farbenreichsten Klangbilder hervorzuzaubern, wobei er in dem zur Dienstleistung herbeigezogenen Orchester des Konzertvereins die beste Stutze fand. Gleich das dem ersten Chore vorausgesendete Vorspiel wirkt spannend, in noch hoherem Grade ist dies bei einem
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folgenden, die Seefahrt ausmalenden Teil der Fall. Alle Minen des Orchesters aber lasst Hegar bei der SchilderuEg der Schlacht springen. Im Ubrigen bringt Hegar soviel des Neuen, Schonen und Zutreffenden, dass sein gewaltiges Tonwerk der Literatur als wert- voUer Besitz zur Ehre gereicht. Welch frische, kernige Gedanken seiner Feder noch immer entstromeD, bezeugte der prachtige Chor „Nun vorwarts Angus" dessen Wirkung mit jener des ^Mannenchores" aus der „Gotter- dammerung" verglichen werden kann. Ungemein stimmungsvoU ist auch der „Zug durch die Wiiste" geraten. Hier hat Hegar die Eintonigkeit durch einen langgehaltenen Orgelpunkt, iiber dem sich das Englisch Horn in traurigen Weisen ergeht, vorzuglich wieder- gegeben. Die Tondichtung endet mit einem eigen- artigen Trauermarsch , dessen ergreifenden Klangen man sich nicht zu entziehen vermag."
Neben den genannten grossen Mannerchorwerken, sind noch eine Anzahl in einfacherem Rahmen gehaltene Chore Hegars, teils mit teils ohne Opuszahl im Druck erschienen, die auch in ihren einfacheren Formen hohen musikalischen Wertes nicht entbehren, wie op. 29. Vier Gesange fiir Mannerchor No. 1. Der fahrende Scolar, No. 2. Nachtlied, No. 3. Ein geistiich Abendlied, No. 4. Der Kleine, op. 35. No. 2. Jang Volker, op. 37. Friih- lingslied, das stimmungs voile Schenkendoiflfsche Lied: jMuttersprache, Mutterlaut" u. a.
Weniger zahlreich sind die Kompositionen Hegars fur gemischten Chor, von denen op. 2 ^Hymne an die Musik", eine gllickliche Jugendarbeit von melodischem Fluss und schvi^ungvoUer Erfiodung heute noch oft auf den Programmen von Festkonzerten figuriert.
Seine grosste und bedeutendste Schopfang schenkte uns Hegar in dem Oratorium — oder wie es J. V. Widmann als Textdichter selbst genannt hat — - dem „dramatischen Gedicht* in 3 Szenen „Manasse". Der Stoff fiihrt uns hier in die Geschichtsepoche des jiidischen Volkes nach der Babylonischen Gefangenschaft und handelt von dem Konflikt des Herzens mit herzlosen Gesetzen, von dem Kampf und Sieg, der Gattentreue iiber Priestergebot und Priesterfluch. In der ersten Szene lobsingen die von der Knechtschaft befreiten
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Israeliten Jehova. Ihr Fiihrer Esra erklart, die zu Baal und Astaroth betenden fremden Frauen seien dem Herren zuwider und verlangt, dass Manasse, der Erst- geborne des Hohenpriesters Jojada, aus der Gemein- schaft gestossen werde, falls er sein heidnisches Weib (Nikaso) nicht von sich stiesse und beistimmend erhebt das Volk neuen Preisgesang auf den Konig Zion. Hier setzt Hegars ganze Grosse, eine wundervolle Beherrschung der massigen Behandlung der Mittel des Chorgesanges ein und bringt es zu einer iiberwaltigenden Steigerung von hochstem dramatischen Schwung, wahrend der Chor der heimkehrenden Schnitter als ein Kabinetstiick poesie- voller Komposition gelten darf. In den Gesang der Gatten Manasse und Nikaso fallt unvermittelt der Bote des Rates ein mit der Kunde, dass Manasse sich von der teuren Gattin trennen soUe. Dieser bleibt stand- baft in seiner Liebe und eins mit ihm erklaren sich seine Anhanger in einem begeisterten Chor. In der dritten Szene erklart Manasse dem Israelitenfiibrer Esra seinen Standpunkt und erntet dafiir den Fluch und Bann- spruch, demzufolge er mit den Seinigen nach Garizim zieht. In einen iiberaus wirkungsvollen Schlusschor, ein Loblied auf den iiber Sonnen und Sternen wohnenden Gott der Liebe klingt dieses herrliche Werk aus, welches reich an Schonheit der Empfindung, Glut des Ausdruckes Hegar in die Reihen der besten Namenunserer deutschen Komponisten stellte. Ein zweites Werk fur gemischten Chor, Baritonsolo und Orchester „Ahasvers Erwachen" (Dichtung von Adolf Frey) ist weniger umfangreich, vereinigt aber ebenso die Vorziige der Hegarschen Muse in sich. Die ungemein reiche und treffende Ver- wendung der Tonmalerei, die. geschickte musikalische Ausbeutung der verschiedensten Stimmungen, [die Meisterschaft in vollendetem Chorsatz treten auch hier iiberzeugend zu Tage. Den von Ort zu Ort gehetzten Ahasver, dem das ewige Schweigen der hehren Gletscher- welt wenigstens fiir einige selige Augenblicke erquickende Ruhe bringt, vermochte Hegar mit wirklich psycho- logischer Kunst zu charakterisieren , und das Ganze gibt sich bei vornehmer Instrumentation als ein in blendenden Farben ausgefiihrtes Tongemalde von packender Wirkung.
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Im Voriibergehen erwahnen wir drei Lieder fur vierstimmigen Frauenchor (mit Klavierbegleitung ad libitum) op. 31 , die sich durch meisterhafte Stimni- fiihrung auszeichnen. An rein instrumentalen Werken schuf Hegar in seiner friihesten Zeit als op. 1 drei Klavierstiicke, als op. 3 ein Violinkonzert mit Orchester, als op. 14 sechs Walzer fiir Violine mit Klavierbe- gleitung und als op. 25 eine zur Einweihung der neuen Tonhalle 1895 geschriebenen Festouvertiire fiir grosses Orchester, die als ein iiberaus schwungvolles Orchester- stuck grosste Beachtung verdient.
Wenig bekannt ist Hegar als Komponist ein- stimmiger Lieder und dock hat er auch auf diesem Gebiete Beachtenswertes geleistet. Aus seinen Liedern fiir eine Altstimme op. 7, den 5 Liedern op. 19 (,,Nacht", „Ist es wohl der Geist der Liebe", ,,Wie sie ruht, die miide Welt", „Was ktimmert mich die Nachti- gall" und „ Stiller Augenblick") und last not least den vier Liedern (op. 26) „Vorubergeh'n", „Standchen", „Schoner Ort" und „An deinem treuen Herzen" spricht unendlich viel edle Empfindung bei schoner Melodie und herrlicher Harmonik.
Aus der vorstehenden Wiirdigung von Hegars vielseitigem und erfolgreichem SchafiFen diirfte zur Geniige hervorgehen, dass wir es in Hegar mit einer bedeutenden kiinstlerischen Potenz, mit einer im heutigen Kunstschaffen fast vereinzelt dastehenden starken Indi- vidualitat zu tun haben.
Heinrich XXIU.
j, L. Prinz Reuss
(geb. am 8. Dezember 1855),
Phot. Martin Herzfeld, Dresden.
Heinrich XXIV. j. L. Prinz Reuss.
Heinrich ^^IV, j. L Prinz Reuss
Friedrich Keller.
Zu den zeitgenossisclien Komponisten , die bisher durcliaus nicht die ilmen gebiilirende Wiirdigung er- fahren haben, gebort Heinrich XXIV. Fiirst Reuss- Kostritz. Es scheint fast, als ob der vielbeneidete Vor- zug holier Geburt fiir das Bestreben, kiinstlerische Lorbeeren zu erringen, eher ein Hindernis, als eine Forderung bedeutet. Jedenfalls tun diejenigen, welche in dem Fiirsten Reuss nur einen hocharistokratischen Dilettanten erblicken und einer Auffiihrung irgend eines seiner lange nicht oft genug gehorten Werke mit ent- sprechendem , bedingtem Wohlwollen folgen, diesem talentvollen Tonsetzer und seinem ernsten, hohen Streben bitteres Unrecht. Ein Komponist, der sich wie Fiirst Reuss in unermiidlicher Arbeit und mit nie rastendem Fleisse die Handhabung der kompliziertesten Kunstformen angeeignet hat, der den achtstimmigen Vokalsatz, wie die Gestaltung eines grossen sympho- nischen oder kammermusikalischen Werkes mit der gleichen Souverauitat beherrscht, der hat wohl An- spruch darauf, als Meister unter anderen Meistern zu gelten und den Besten seiner Zeit zugezahlt zu werden.
Schon in den friihesten Jugendjahren dokumentierte sich bei dem am 8. Dezember 1855 geborenen Prinzen eine entschiedene, bald bis zur Leidenschaft gesteigerte, Yorliebe fur die Kunst der Tone, die in dem vater- lichen Hause fleissig gepflegt und praktisch ausgeiibt wurde. Der Abater des Komponisten, Fiirst Heinrich IV. (geb. 26. April 1821, gest. 25. Juli 1894) war ein grund- licher Musikkenner von durchgebildetem Geschmack und
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feinstem Verstandnis, dabei selbst vortreffliclier Pianist und eifriger Kammermusikspieler. Er machte sich die erste Entwickelung der musikalisclien Anlagen seines Solines in vaterlicher Liebe, aber auch mit grosser Strenge zur eigenen Aiifgabe und pflanzte der jungen Seele die tiefe und standhafte Neigung zu den grossen Klassikern, besonders zu Beethoven, ein, die dem Fiirsten Heinrich XXI Y. in seinem ganzen Leben treu ge- blieben ist, Der bevorzugte Wohnsitz der fiirstlicben Familie war damals -^ wie nocb jetzt — das Scbloss Ernstbrunn in Nieder-Osterreich, von wo die alte Kaiser- stadt an der Donau in wenigen Stunden zu erreicben ist. So kani es, dass der junge Prinz schon in den secbziger Jahren in Wien Jos. Hellmesbergers Kammer- musikauffuhrungen besucben und \^on diesem grossen Kiinstler die ersten tiefgehenden Eindriicke empfangen durfte. In Wien erhielt er aucb die erste Unterweisung im Generalbass von dem alten Domorganisten Diszka. Spater wurde in Dresden, wo der Prinz das Vitzthumsche Gymnasium besucbte, der Musikunterricht bei Carl Witting fortgesetzt. Im allgemeinen war der musi- kaliscbe Studiengang etwas sprungbaft und zusammen- banglos. Das Beste an der glucklichen und rascben Entwickelung des fiirstlicben Tondicbters tat sein eigenes feuriges Interesse, das ibu zu fortwabrendem Selbst- studium und scbon in friiben Knabenjabren zu eigenen Kompositionsversucben antrieb. Nach dem Willen des Vaters musste vor allem den Anforderungen des Gym- nasiums und spater den juristiscben Studien an der Universitat vollkommen gentigt werden. Fiirst Hein- ricb IV. drang sogar darauf, dass das Universitats- studium seines Sobnes in aller Form mit der juristiscben Doktorpromotion abgeschlossen wurde. Erst dann gab er seine Einwilligung dazu, dass Letzterer sicb ganz der geliebten Kunst widmen durfte. Wabrend der Universitatszeit in Leipzig, von 1879 — 1882, genoss der Prinz zunacbst den vortrefflichen theoretiscben und Kompositionsunterricbt des beriibmten Thomaskantors W. Rust und bierauf Heinrich von Herzogenbergs. Docb hat wohl erst des Letzteren bedeutsamer Einfluss und der innige Anschluss an diesen eminenten, durch Geist wie Charakter gieich hervorragenden Kunstler das
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schone Talent des Fursteii Heinrich XXIV. zu seiner vollen Entfaltung gebracht. H. v. Herzogenberg ist denn auch spater bis zu seinem im Jahre 1900 erfolgten Tode der treueste Freund und Berater des fiirstlichen Komponisten geblieben. Endlich baben nocb Jos. Joachim und namentlich Brahms, zu dem der Fiirst seit dem Jahre 1885 in naheren Yerkehr trat, grossen Anteil an seinem Schaffen genommen, ihm vielfache Anregung geboten und ihn mit ihrem Rat gefordert.
Wie man in Herzogenbergs Kompositionen sehr haufig einen Hauch Brahmsschen Geistes verspurt, so ist es nicht zu verwundern, dass auch in den Werken des Fiirsten Reuss, und zwar namentlich in denen aus seiner frliheren Zeit, Brahmssche Wendungen auf- tauchen. Er ringt sich aber spater mit Erfolg da von los und nur eines ist es, worin man seine Schaffens- weise auch heute noch mit der jener beiden Meister vergleichen kann. Das ist die treue und respektvolle Beibehaltung der klassischen Formen, welche gewalt- sam zersprengen zu wollen ihm ebenso wenig ein- gefallen ist, wie seinen grossen Vorbildern.
Das Kompositionsgebiet, auf welchem Fiirst Reuss sich mit besonderer Vorliebe betatigt hat, ist die Kammermusik. Die ausgesprochene Neigung zu ihr wurde zweifellos schon in sehr friiher Zeit durch das fleissige Quartettspiel im vaterlichen Hause geweckt. Auf diese Anregung ist auch einer seiner ersten Kom- positionsversuche, ein bereits im Jahre 1869 geschriebenes Streichquartett zurlickzufuhren. Diese Jugendarbeit ist ungedruckt geblieben, wie iiberhaupt dem als op. 1 im Jahre 1881 veroffentlichten Streichquartett in Dmoll eine ganze Reihe Kammermusikwerke , Klaviersachen und Lieder vorausgegangen waren.
Schon das Quartett op. 1 zeigt — neben manchen noch unselbstandigen Gedanken — eine bemerkens- werte Forragewandtheit und durchaus quartettmassigen Stil. Die technische Behandlung der Instrumente ist allenthalben mustergtiltig. Hellmesberger brachte das jugendfrische Werk in seinen Quartettsoireen wieder- holt zur Auffiihrung, wie er auch, ebenso wie dies Joachim in Berlin tat, flir die spateren Kammermusik- sachen des Fiirsten unermiidlich eingetreten ist. Im
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Druck sind ausser genanntem op. 1 nocli vier Streich- quartette erschienen, namlich: op. 11 in Fdur, op. 16 in Asdur und op. 23 No. 1 und 2 in Gmoll und Esdur, sowie noch folgende weitere Kammermusikwerke: Streicli- quintett op. 4 in Fdur, zwei Sextette, op. 12 in Dmoll und op. 17 in Hmoll, Klavierquintett op. 15 in Cdur, Klavierquartett op. 6 in Fmoll, zwei Trios op. 14 in Cismoll und op. 25 in Adur (letzteres fiir Pianoforte, Violine und Viola), zwei Sonaten fiir Klavier und Violine op. 5 Gmoll und op. 21 EmoU, eine Cello-Sonate op. 7 Cdur, und eine Sonate fiir Klavier und Bratsche op. 22 Gdur.
Leider verbietet der beschrankte Raum dieser Skizze, auf jedes einzelne dieser Werke naher einzugehen. Allen gemeinsam sind die Yorziige fllissiger Faktur, schonen Ebenmasses und gewahlter Ausdrucksweise. Das Be- wusstsein, dass Wohlklang das innerste Wesen der Tonkunst ist, kommt dem Flirsten Reuss nie ablianden, "wie leider manchein unserer modernsten jlingeren Kom- ponisten.
Auf einige der genannten Kammermusikwerke sei jedoch hier mit besonderem Naclidruck aufmerksam ge- macht und zwar in erster Linie auf das Streicliquartett op. 16 in As, welches einen sehr gliickliclien Wurf bedeutet und in dem der Komponist aus wertvoUem thematisclien Material ein ganz meisterliclies Stiick auf- gebaut bat. Das Werk ist echtem Schafifensdrang ent- sprungen und scheint in einem grossen Zuge geschrieben zu sein. Es ware scbwer, einem der drei Satze den Vorzug zu geben. Der erste — Allegro un poco vivace, ^j^^ — fesselt gleicb von Anfang an durcL das in schonen melodischen Linien gefiilirte Hauptmotiv und durch seine geschickte Kontrapunktik. Ein reicbes Leben webt in den vier Stimmen, dabei ist alles durcli- sichtig und klar und klingt ganz vortrefflicb. Der zweite Satz — E dur. Adagio non troppo lento, ^/^ — zeigt einen Anflug Schumannscber Romantik. Der scbone, tief empfundene Hauptsatz wird durch ein ein- gestreutes kurzes Scherzo (Presto, ^/g) unterbrochen, welches dann wieder durch den etwas variierten und reicher ausgestalteten Hauptsatz abgelost wird. Endlich huscht das Prestomotiv nochmals vorbei und gibt dem
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Satz einen unerwartet pikanten und ejBfektvollen Ab- schluss. Das Finale — Allegro molto vivace, -/^ — atmet Frohlichkeit und behaglichen Humor und fiihrt das Werk in flotten Rhytlimen und in heiterer Laune zum guten Ende.
Unsere hervorragenden Quartettvereinigungen , die bisher acbtlos an diesem Werk vorbeigegangen sind, haben hier eine TJnterlassungssunde gut zu machen. Mogen sie das scbone und dankbare Quartett baldigst auf ihre Programme setzen.
Auch an das Fdurquartett op. 11, welches durch seine Aufnahme in die Eulenburgsche kleine Partitur- Ausgabe leicht zuganglich gemacht worden ist und das schon in Berlin, Halle, Leipzig, Wien u. a. a. 0. erfolg- reiche Auffuhrungen erlebt hat, sei hier nochmals erinnert. In diesem Quartett bewegen sich die vier Satze in aufsteigender Linie; der in unaufhaltsamem Presto dahineilende Schlusssatz ist der beste. Er ist ein wirkliches Kabinettsttick und auch fiir die Spieler ausserordentlich dankbar.
Aus dem im Jahre 1904 entstandenen und als op. 23, No. 2 publizierten Quartett in Esdur seien als besonders gelungen die beiden Mittelsatze erwahnt: das „Intermezzo" — Allegretto grazioso — ein hochst an- mutiges Stuck im langsamen Menuett-Tempo mit charak- teristisch kontrastierendem Trio, und das ernste und gesangvolle Adagio non troppo in Esmoll.
Von den beiden grossen Streichsextetten ist das erste „seinem lieben Freund und Lehrer Heinrich von Herzogenberg" gewidmete in D moll op. 12 das hervor- ragendere. Es steckt in ihm mehr Kraft und fort- reissender Schwung als in dem etwas elegisch gestimmten zweiten in Hmoll op. 17. Doch soil nicht unerAvahnt bleiben, dass das letztere ein besonders reizvolles Stuck in seinem dritten Satze — Allegretto quasi Andantino, Gdur ^/4 mit Trio, Vivace assai, Cdur 2/4 — enthalt.
Der Kammermusik-Literatur fiir Klavier und Streich- instrumente steuerte Ftirst Reuss mit dem schon frtih (1887) komponierten Quartett in Fmoll eines seiner bestgelungenen Werke bei. Freilich ist nicht zu ver- kennen, dass sein Schaffen dam als noch unter Brahms' machtigem Einfluss stand. Das Werk klingt vielfach
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„brahmsiscli" , obgleich von einer direkten, nachweis- l3aren Anlehnung gar keine Rede sein kann. Es muss im iibrigen als eine vortrefiliclie, von holiem Ernst und edlem Pathos erfiillte Schopfung bezeichnet werden, deren vier gross angelegte und durchgeflihrte Satze samtlich auf gleicher Hobe steben. Yielleicbt selb- standiger in der Erfindung, aber an Gebalt wie an Wirkung docb nicht bober zu scbatzen ist das Quintett in Cdur op. 15, obgleicb dieses der Zabl der Auf- fuhrungen nacb grosseren Anklang zu finden scbeint.
Von den Sonaten fur Klavier und ein Streicb- instrument sei namentlicb auf die zweite Violinsonate in Emoll op. 21 und auf die Sonate fiir Viola und Pianoforte op. 22 bingewiesen. Die Bratscbenspieler haben alien Grund, dem Komponisten fur diese scbone, in liebevollem Eingeben auf den Cbarakter des In- struments dargebotene Gabe dankbar zu sein.
Die Zabl der Manuskript gebliebenen Kammer- musikwerke ist reicblicb nocb einmal so gross als derer, welcbe im Druck berausgekommen sind. Der Fiirst tibt eine strenge Selbstkritik und bait jedes Stuck zu- riick, das ibm der Veroffentlicbung nicbt durcbaus wert erscbeint. Unter den ungedruckten Sacben be- findet sicb aucb ein sebr scbones Oktett fiir Streicb- quintett mit Klarinette, Fagott und Horn, das scbon 1889 durcb Joacbim in Berlin zur Aufftibrung kam und dort, wie aucb das Jabr darauf in Wien, Aufsehen erregte und mit grossem Beifall aufgenommen wurde. Trotzdem konnte sicb der Komponist nicbt entscbliessen es zu veroffentlicben , bis er es einer sorgfaltigen Um- arbeitung unterzogen batte, die nun scbon seit einiger Zeit fertig vorliegt. Die einscblagige Literatur wird mit der Publikation dieses Werkes eine tatsacblicbe und sebr willkommene Bereicberung erfabren.
Von seinen Klaviersacben bat Fiirst Reuss nur zwei Hefte der Veroffentlicbung gewiirdigt: eine Suite in G moll (op. 8) und ein Tbema mit Variationen und Fuge in Cdur (op. 19). Die Suite bat sieben, kurz und knapp im alten Stil gebaltene Satze — Pra- ludium, AUemande, Gavotte, Siziliano, Bourree, Sara- bande und Gigue — von denen namentlicb das Pra- ludium und die Gigue dem Klavierspieler dankbare und
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massig schwere Aufgaben bieten. Der praktische Klavier- satz verrat auf jeder Seite den gewandten Pianisten, als welchen sich der Komponist selbst, auch offentlich beim Vortrag seiner grossen Kammermusikwerke, haufig bewabrt hat. Das Variationenwerk mit der breit- angelegten Scblussfuge stellt bedeutend bohere tech- niscbe Anforderungen , wird aber bei sorgfaltiger und vollendeter Wiedergabe seine Wirkung gewiss nicht verfehlen.
Auch mit der Publikation von Lied em mit Pianofortebegleitung ist Fiirst Reuss sehr zuriickhaltend gewesen. Es liegen nur drei Hefte im Druck vor. Op. 2 enthalt drei Lieder, wahrend in op. 3 fiinf und in op. 18 sechs Lieder vereinigt sind. Aus op. 2 ver- dient das dritte, „Herbstgefuhl" (Ged. von Lenau), hervorgehoben zu werden. Das Lied beginnt, dem schonen Text entsprechend , in flammender Erregung und klingt in tief melancholischer Resignation aus. Unpraktischer Weise verlangt es einen sehr grossen Stimmumfang. Aus op. 3 leuchten zwei Nummern unter den anderen hervor, namlich das zartmelodische, klangschone, etwas Schubertisch angehauchte Schilf- lied („Auf geheimem Waldespfade") und „der Sommer- faden" (Uhland), in welchem die anmutige Linie der Melodie von einer schimmernden 32tel Figur um- sponnen wird. Das viel spater entstandene Heft op. 18 zeigt mehr Sorgfalt und grossere Feinheiten in der Detailarbeit. Die besten Nummern darin diirften „Er- innerung" (Text von Geibel) und besonders das reizvolle, in der Form und im Rhythmus originelle Lied „Ver- schwiegene Liebe" (Gedicht von Eichendorff) sein.
Grosse Neigung wendet Fiirst Reuss dem vier- und mehrstimmigen Chorgesang zu und zwar hat ihn seine ideale und ernste Geistesrichtung und seine hohe Ver- ehrung fiir Joh. Seb. Bach ganz auf die Komposition kirchlicher Chorwerke hingelenkt. Weltliche Lieder fiir gemischten oder Manner -Chor existieren von ihm bis auf weiteres tiberhaupt nicht und es scheint zweifelhaft, ob er sich in diesem, ihm fern liegenden Genre jemals betatigen wird. Die Zahl seiner geistlichen Chorkompositionen ist dagegen ganz bedeutend. Er hat zwei Messen, darunter eine grosse
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fllr Soli, Chor, Orchester unci Orgel, eine ganze Reilie vier-, seclis- und aclitstimmiger Motetten und andere geistliche Chorsaclien geschrieben. Im Druck erscMenen sind als: op. 9 Drei geistliche Lieder zu vier Stimmen, op. 13 Zwei seclisstimmige Gesange, op. 20 „Verzage nicht, o Hauflein klein" fiir funf- stimmigen Chor a capella, op. 24 „Tu nos fiecisti ad Te fiir acMstimmigen Clior und ein ,,Passionsgesang" eben- falls fiir aclit Stimmen. A lie diese Chorsaclien konnen ohne weiteres als Meisterwerke bezeichnet werden. Fiirst Keuss hat sich an den unverganglichen Schopfungen der grossten Kirchenkomponisten in jahrelangem Studium herangebildet und sich deren reinen und erhabenen Stil vollkommen angeeignet. Er steht darum auf diesem Gebiet unter den lebenden Tonsetzern in erster Reihe.
Auch als Symphoniker hat der unermiidlich tatige Komponist eine stattliche Reihe von Orchesterwerken ge- schaffen und ist bereits mit sechs grossen Symphonien hervorgetreten , von welchen die erste in Cmoll, die fast gleichzeitig mit dem oben besprochenen Fmoll- Klavierquartett komponiert wurde und diesem an Stimmungsgehalt nahe verwandt ist, eine grosse An- zahl Auffuhrungen eriebt hat. Sie ist in Koln, Breslau, Miinster, zweimal im Leipziger Gewandhause, ferner in Wiesbaden und in samtlichen grossen Stadten Hollands gespielt worden. Sie erschien als op. 10 im Jahre 1891 bei Barth. Senff in Leipzig.
In der allerletzten Zeit sind nun auch die dritte Symphonic in E moll, die vierte in A dur und die fiinfte in Fmoll gedruckt worden, wahrend die zweite in Ddur und die sechste in Es noch der Veroffentlichung harrt. Auch diese Symphonien haben alle schon im Manuskript die Feuerprobe offentlicher Auffiihrungen in den grossen Musikstadten bestanden und zwar ist die in E moll am haufigsten gespielt worden. Diese und die zuletzt ent- standene F mollsymphonie sind wohl als die reifsten Orchester werke des Komponisten anzusehen und da sich in ihnen zugleich seine kiinstlerische Individualitat am reinsten wiederspiegelt, so sei von beiden noch eine kurze Analyse gegeben.
Die Grundstimmung der E mollsymphonie ist sehr ernst, fast elegisch. Das Hauptmotiv des ersten Satzes,
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welches — wie audi seine anderen Themeii — bereits in der pathetischen Einleitung (Poco Adagio) angedeutet wird, ist pragnant und eindringlich. Basse, Celli und Fagotte intonieren es zuerst, gleich darauf erklingt es in der Dominante und wird hier sofort von den Holz- blasern in der Umkehrung beantwortet. An kontra- punktischen Feinbeiten ist die ganze Partitur ungemein reich. Das zweite Thema kommt etwas kurz weg, dafiir ist die Steigerang am Schluss des ersten Teiles, die nach dem Anfang zuriickleitet , um so schoner ent- wickelt, Der breite Durcbfiihrungsteil zeigt meister- licbe Arbeit, sehr eindrucksvoU ist ein kurzer Rlick- blick auf die patbetische Einleitung vor dem Wieder- eintritt des ersten Tbemas. Der zweite Satz — Andante un poco sostenuto, Hdur, -/^ — tragt einfacbe, fast volkstumliche Ziige. Die Oboe singt als Ftibrerin der Holzblaser, sonst nur von den Celli pizzicato begleitet, eine einscbmeichelnde Weise, die dann vom Streicb- orcbester, alternierend mit den Blasern, wiederbolt und fortgefubrt wird. Der Seitensatz (Gdur) ergebt sicb in breitem Fluss, wird reicber barmonisiert und von cbarakteristiscben 16tel Figuren umwoben, die aucb bei der Wiederkebr der ersten Melodie weitere Ver- wendung finden. Ein zweiter Seitensatz in DmoU bringt ein fast leidenscbaftlicbes Element in diese Idylle binein; die gewollte, scbarf kontrastierende Wirkung wird vollkommen erreicbt. Geistvoll und iiberrascbend ist die Wiedereinfiibrung des ersten Motivs, freundlicb und woblklingend der etwas Mendelssohniscb anmutende Scbluss. Der nun folgende Satz — Alle- gretto un poco mosso, Hmoll, '^jg — vertritt die Stelle des Scherzos, ist aber von der ernsten, fast schwer- mtitigen Art wie etwa der entsprechende Satz in Brahms' F dursympbonie. Die Themen sind gliicklich erfunden, fesselnd und eindrucksvoU, das Ganze ungemein fliessend, formell gerundet und abgescblifiPen. Das Trio (Presto, *^/8) sorgt fiir einen starken und effektvollen Gegensatz, die Scblusscoda ist ziemlich kurz und lasst den Satz in der wehmtitigen Stimmung, in der er begann, ausklingen. Das Finale — Allegro vivace, Emoll (f — gibt der Symphonie einen rauschenden Abschluss, stebt aber an Bedeutung nicht ganz so hoch, wie die anderen Satze.
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Das festliche Edur gegen das Ende der Symphonie tut nach den vielen ernsten Mollthemen recht wohl und die letzte grosse Steigerung ist einer starken Wirkung sicher.
In der F mollsymplionie , die so eben als op. 34 bei C. F. Kabnt erscbienen ist, mutet das Hauptmotiv des ersten Satzes etwas Schumannisch an. Es enthalt nur wenige, aber sehr charakteristische Scbritte, die sich sofort einpragen. Die breite Kantilene des zweiten Themas bildet einen wirksamen Kontrast. Ernste Stimmung waltet audi bier vor. Der ganze Satz ist wie aus einem Guss geformt und zeigt die Meisterscbaft des Komponisten in glanzendem Licbte. Der tbematiscbe Grundgedanke des zweiten (Scberzo-) Satzes ist in geist- reicher Umbildung aus dem Motiv des ersten Satzes bervorgegangen. Im Trio (Molto piti sostenuto) stimmen die Geigen einen warm empfundenen, zu Herzen dringen- den Gesang an, der im Verbaltnis zu dem spater voll- standig wiederbolten Hauptsatz etwas knapp geraten erscbeint. Der dritte Satz — Andante sostenuto, ^/g — lost die MoUstimmung der ersten beiden Satze in einem bebaglicben und bescbaulicben Cdur auf. Er bat fast pastoralen Cbarakter und ist trotz des kleinen Orcbesters — es werden darin nur Streicborcbester , Holzblaser und Horner verwendet — in reinsten Woblklang ge- taucbt. Der letzte Satz — Fdur, Allegro con brio, AUabreve — versucbt dem patbetiscben Motiv des ersten Satzes in nocbmaliger Umbildung einen festlicb beiteren Dur-Cbarakter zu geben , docb feblt diesem Experiment die recbte Uberzeugungskraffc. Trotz aller Meisterscbaft in der Faktur stebt dieses Finale nicbt auf der Hobe der vorausgegangenen Satze, wenn scbon der rauscbende, kraftig gesteigerte Scbluss den Zuborer in gebobener Stimmung entlasst.
Mit dem Blick auf das Scbaffen des Ftirsten Reuss als Orcbesterkomponisten sei diese kleine Skizze be- scblossen. Moge ibm die recbte Wlirdigung und An- erkennung, die seiner Bedeutung und seinem boben, idealen Streben gebubrt, mebr und mebr zu Teil werden !
Phot. Albert Meyer, Berlin.
Karl Kampf.
Karl Kampf
[geb. zu Berlin am 31. August 1874).
Karl Kampf
Dr. Julius Hagemann-Bonn.
Senate in Em oil fiir Pianoforte und Violine von Karl Kampf op. 23 (C. F. Kahnt Nachf., Leipzig), lautete der Titel eines Werkes, das mir mit vielen andern vor etwa Jahresfrist von der Redaktion einer Musikzeitung zur Besprechung eingesandt wurde. Ich war erstaunt iiber den Inhalt dieser Komposition. Da lag mir nach langer Zeit wieder eine Schopfung vor, aus der Originalitat , ein scharfer Geist, ein hervor- ragender Musiker und vor allem eine Seele sprachen. Wie iippig qaollen die Melodien, wie reihte sich natiir- lich und ungesucht Phrase an Phrase, wie geistvoll war die Durchfiihrung angelegt, mit welcher Kunst waren die Instrumente zu einem wohlklingenden Ganzen verwoben !
Seitdem Brahms seine letzte Violinsonate ver- offentlicht hatte, war kein Werk dieser Art imstande gewesen, mich so zu fesseln, wie diese Arbeit von Kampf. Allerdings spielt das Klavier hier insofern eine andere Rolle, als ihm technisch ein schwierigerer Part zufiel wie der Violine. Aber trotzdem dominiert es nicht, da der geistige Inhalt der der Geige zuge- dachten Rolle der des Klaviers ebenbiirtig ist. Drei Satze weist die Sonate auf, die alle auf gleicher kiinst- lerischer Hohe stehen. Kurz und knapp spiegelt ein jeder die Empfindungen wieder, die den Komponisten beim Abfassen derselben beseelten. Kurz und knapp ist die Durchfiihrung, keine Note zuviel, keine zu wenig, ein Werk wie aus einem Gusse.
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Zu meiner Schande muss icli gestehen, dass der Name Kampf mir bis dahin ganzlicli unbekannt war. Aber mir befreundete Musiker und Kritiker, die ich auf die Senate aufmerksam machte, wussten ebenso- wenig von dem Schaffen und Leben dieses Autors wie ich. Selbstverstandlich konnte ich nur einen glanzen- den Bericht uber das Stiick veroflfentlichen, der offen- bar auch in die Hande Kampfs gelangte und eine Korrespondenz zvvischen uns anregte, die mir den Mu- siker und Menschen in Kampf so ganz ofFenbarte und lieb machte. Wenn mir noch einige Daten aus seinem Leben, wenn mir noch einige Ziige seines Charakters fehlten, so wurden diese mir ganz klar, als ich das Gliick hatte, mehrere Wochen mit ihm zusammen an unserem gesegneten Rheinstrome zu verleben.
Ich habe bereits friiher immer darnach getrachtet, mit Musikern, deren Kompositionen mich interessierten, in nahere Verbindung zu treten, um nicht allein ihre Werke, sondern auch ihr Leben zu studieren. Wie anders wiirde das Urteil unserer Kritiker uber manchen jungen Autor lauten, wenn er wiisste, unter welchen Bedingungen dieser seine Geisteserzeugnisse geschaffen hat! Wie oft wurden einem strebsamen jungen Musiker die Wege gebahnt oder erleichtert werden, wenn der gestrenge Richter liber seine Werke einen Blick auf die Werkstatt und deren Umgebung werfen konnte! So erging es auch mir. Obwohl ich einen grossen Teil der Werke Kampfs im Laufe der letzten Jahre sorg- faltig durchgearbeitet hatte, so ging mir doch das voile Verstandnis seiner Werke erst ganz auf, als ich ihn von seinem Kampfen und Ringen erzahlen horte, als er mir berichtete, welche Hindernisse er uberwinden musste, um seiner geliebten Musik ganz leben zu konnen.
In seinen jungen Jahren hatte er es sich nicht trau- men lassen, dass er spater gezwungen sei, sein taglich Brot mit heissem Bemuhen zu erkampfen. Als Sohn einer sehr wohlhabenden Kaufmannsfamilie wurde er am 31. August 1874 in Berlin geboren und besuchte dort auch die Schulen. Natiirlich wurde er auch zum kaufmannischem Beruf bestimmt und zu einem Fell- handler in die Lehre geschickt. Aber jeden freien Augen- blick benutzte er, der seinen ersten Musikunterricht
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von einer sehr gediegenen Padagogin Frau Helene 01b- rich-Poppenhagen erhalten hatte, um im Dachkammer- lein sich in Kompositionen zu ergehen, die er in seiner jugendlichen Begeisterung fur Meisterwerke der Musik hielt. Allmahlich iiberzeugten sich wohl sein Prinzipal und gleichzeitig sein Vater, dass Kampf fiir den Kauf- mannstand verloren sei. Schweren Herzens fugte sich sein Vater ins Unvermeidliche und gab seinen Wider- stand gegen das Studium der Musik auf. Leider starb nach kurzer Zeit dieser vortreffliche Mann, der nur das Gliick seines Sohnes im Auge hatte. Fiir die Familie brach aber gleichzeitig eine schwere sorgenvolle Zeit herein, da mit dem Tode des Ernahrers auch der ge- schaftliche Ruin und der Verlust des ganzen, betracht- lichen Vermogens verbunden war. Um so emsiger ging der junge Mensch jetzt an die Arbeit. Wusste er doch, dass seine spatere Existenz ganz von der strengen Erfiillung seiner Pflicht abhing. Wusste er doch, dass er alle Krafte anspannen musste, um sich durch seine Kunst spater das tagliche Brot zu erwerben. Ausgezeichnete Lehrer erstanden ihm in Alfred Sormann, Sally Lieb- ling und Friedrich E. Koch. Erstere bestrebten sich, ihn zu einem glanzenden Pianisten heranzuziehen, der aber nicht allein Virtuose sein sollte, sondern ein Klavierspieler im strengen Sinne des Wortes, der seine Kunst unterordnen sollte dem Kunstwerke. Unermiidlich libte unser Freund. Keine Stunde des Tages war ihm zu friih, keine zu spat. Recht jung noch spielte er in verschiedenen Konzerten mit grossem Erfolg. Auch als Begleiter wusste er damals bereits sich geltend zu machen. Diesen Bestrebungen setzte aber eine tuckische Krankheit ein Ziel. Ein Blutsturz beendete mit einem Schlage seine glanzende Karriere 1895. Er musste fur langere Zeit nach Italien gehen, um hier Genesung zu suchen. Wenn auch Kampfs Lunge wieder ganz aus- geheilt war, so blieb doch seine Konstitution von so zarter Natur, dass er auch spater noch sich eine strenge diatetische Lebensweise auferlegen musste.
Gliicklicherweise waren es seine grossen theore- tischen Kenntnisse, die er jetzt voll und ganz auszu- nutzen imstande war. Bei Friedr. E. Koch hatte er so sorgfaltige Studien gemacht, dass er wohl mit Recht
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heute als einer der besten Lehrer flir die gesamten theoretischen Facher in Berlin gelten kann. Die Zahl seiner Schiiler, welche von ihni lernen wollen, wachst von Tag zu Tag. Dass die ausgezeichnete Beherrschung des Kontrapunkts ihm , der von jeher den Schaffens- drang in sich spiirte, bei der Abfassung seiner Werke im hochsten Masse zu statten kam, bedarf wohl keiner Frage.
Wir werden ja spater sehen, dass die Zahl seiner Werke nicht ganz gering ist.
Wenn nun auch seine Laufbahn als Klaviervirtuose ein friihes Ende gefunden hat, so erlauben es doch seine Gesundheitsverhaltnisse jetzt wieder, dass er sich als Konzertbegleiter und Harmoniumspieler betatigt. Wie geschatzt er in dieser Beziehung ist, beweist der TJmstand, dass er fast Abend flir Abend im Konzert- saal tatig sein muss.
Auch die Feder vp-eiss er in gewandter Weise zu fiihren und fur die gerechte Sache das richtige Wort zu finden. Wir finden in verschiedenen Zeitschriften Kritiken und Konzertbesprechuugen , die sich durch eine ebenso grosse Sachkenntnis als durch ein ehrliches Urteil auszeichnen.
Wenn er nun nach des Tages Lasten, die oft wahrlich nicht gering sind, in sein Heim zuriickkehrt, so findet er dort die liebevoUste Pflege bei seiner trauten Gattin, die er aus dem fernen Osten Deutsch- lands in sein Haus gefiihrt hat. Es ist ein geradezu ideales Verhaltnis, das zwischen den Ehegatten herrscht. Bis jetzt ist dieser gliicklichen Ehe, die leider auch durch Erkraukung und andere Unfalle heimgesucht war, ein Knabe entsprungen, der Stolz des Vaters, die Wonne der Mutter.
Leider lasst der Winter Kampf verhaltnismassig nur wenig Zeit, um seiner Lieblingsbeschaftigung, der Komposition nachzugehen. Wohl v^ird jede Idee sorg- faltig aufgezeichnet, manches Motiv niedergeschrieben. Aber wenn der Sommer kommt, dann schniirt er sein Biindel und wendet sich in Gottes schone Natur, um in einem stillen Winkel dem Korper die notige Er- holung zu gonnen und alle Plane und Skizzen ausreifen
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zu lassen und auszuarbeiten , die ihm im Winter vor- geschwebt haben. Wie leicht ihm die Arbeit fallt, wie rasch er dem kurzen Gerippe die notwendige Um- kleidung gibt, das zu beachten hatte ich im letzten Sommer die beste Gelegenheit. Es ist erstaunlich, mit welcber Geschicklicbkeit er dann die scbwierigen Pro- bleme lost, und wie rasch er instrumentiert, obne eine Note zu verandern.
Ich will nun auf Kampfs Kompositionen nicht nach der Zeit ihrer Entstehung, sondern nach Gruppen eingehen, da hierdurch das Gesamtbild seiner Tatigkeit iibersichtlicher wird.
Aus verhaltnismassig friiher Zeit stammt seine grosse Hiawatha-Suite, 1894, die aber ihre Drucklegung erst im Jahre 1905 erfahren hat (Berlin, Jonasson- Eckermann). Schon damals offenbarte sich seine Be- gabung, mit Melodienreichtum eine tretfliche Arbeit zu verbinden. Schon damals instrumentierte er aus- gezeichnet. Es geht ein gewisser dramatischer Zug durch seine Orchesterwerke, der es in der Tat bedauern lasst, dass Kampf sich nicht auf das Gebiet der Oper geworfen hat. Auch die Hiawatha-Suite verrat schon diese Eigenschaft. Gehen wir nun auf den Inhalt dieser Suite etwas naher ein, die sich an Longfeliows gleichnamige Dichtung anschliesst! Vier Satze hat der Komponist geschaffen, die trefflich je eine Episode aus dem Epos illustrieren : Minnehaha (lachend Wasser), Hiawathas Klage, Bettlertanz und Chibiabos, der Sanger. Obwohl jedem Satz eine Anzahl Verse vorangehen, als Erklarung fur den jeweiligen Inhalt, so ist doch das Werk in seiner Gesamtheit so klar und durchsichtig, dass jeder musikalisch Gebildete beim Anhoren der- selben sich selbst ein Bild von dem Inhalt machen kann. Jeder Satz ist so selbstandig gehalten, dass er, aus dem Ganzen herausgerissen, allein seine Wirkung nicht verfehlen wird. Dass Kampfs Themen originell und greifbar sind, will ich als selbstverstandlich er- wahnen. Was vor allem in diesem Werke auffallt, das er doch in jungen Jahren bereits geschaffen hat, ist seine durchaus selbstandige und wirkungsvolle In- strumentation. Mag er uns wie im ersten Satz das unruhige Toben und Schillern des Wassers schildern.
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mag er wie in Hiawathas Klage Tone der tiefsten Wehmut anschlagen, kommt er wie in dem Beitlertanz mit einer grotesken Wiedergabe von Raserei und fana- tischen Gebarden, oder tritt er im Chibiabos, der Sanger, mit Rhapsodenklangen auf — immer weiss er Licht und Schatten auf die einzelnen Instrumente zu verteilen, immer versteht er es, durch sinnvolle und oft ver- bliiffende Harmonik und Chromatik den Zuhorer im Bann zu halten. Die Suite hat im In- wie Auslande eine Reihe von hochst erfolgreichen Auffiihrungen er- fahren und ist von der Presse in der schmeichelhaftesten Weise besprochen worden. Dass sie trotzdem so spat erst im Druck erscbienen ist, lag in den eigentiimlichen Verhaltnissen der Autoren zu den Verlegern, die manchen jungen Komponisten erst spat zur Anerkennung kommen lassen.
Ich mochte nun noch auf eine andere Eigenschaft Kampfs eingehen, die sich besonders in zwei grosseren Orchesterwerken, aber auch in anderen Kompositionen widerspiegelt, dies ist seine Vorliebe fur die Land- schaftsmalerei. Er sieht mit dem Auge des Malers. Und was er erschaut, gibt er gleichsam koloristisch in der Musik wieder. Er, der es liebt, jeden Sommer das heisse Berlin zu verlassen , um die freie Natar aufzusuchen , nimmt jeden Eindruck lebendig in sich auf. Die Heide, das Moor, das Meer, die l5une, der Wald liben einen Zauber auf ihn aus, dem er sich nicht entziehen kann. Was er dabei fuhlt und denkt, teilt er uns in Tonen mit. Das ist zunachst der Fall in seiner symphonischen Dichtung ^Deutsche Wald- romantik". Das Werk, das den Zusatz fiihrt „im Stile Eichendorffs" geht alien scharfen Kontrasten aus dem Wege. Nach einer kurzen Einleitung setzt ein Fugato- Satz ein (nachtliche Waldesstimmung). Der Mittelteil, ein Allegro, ist ein Jagdstiick, in dem an die Horner ganz gewaltige Anforderungen gestellt werden, das Finale soil dann den Abendfrieden darstellen.
Wenn die Presse bei der Auffiihrung die iiber- grosse Lange des Stuckes tadelte, so kann man ihr nicht ganz unrecht geben. Aber wem geht der Mund nicht einmal iiber, wenn er an's Erzahlen kommt? Mit einigen Strichen diirfte dem abgeholfen sein. Leider
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ist diese musikalische Dichtung, die in den Jahren 1896 und 97 entstand, im Druck noch nicht erschienen.
Soeben hat eine neue Suite fiir Orchester die Presse verlassen, die von ahnlichen Eindriicken hervor- gerufen wurde, aber sich bei weitem bedeatender in Erfindung und Aufbau gibt: Aus baltischen Landen, op. 24 (Berlin , Paul Koeppen). Dieses Opus ist die Frucht einer Raise an die Kurische Nehrung. „In den Dunen", „Die Haffmiicken", „Im Meeressturm dem Tag entgegen", „Abendlied''und„Kirmes''heissendie einzelnen Teile. Der Inhalt erklart sich wohl selbst durch den Titel. Wer einen Blick in die Partitur wirft, wird sich bald iiberzeugen, mit welchem Geschick es dem Autor gelungen ist, die einzelnen Stimmungen durch den Instrumentenwechsel zu erzeugen und festzuhalten. Wer sich ein Bild von dieser Arbeit machen will, spiele den Harmoniumauszug , in dem der Abschnitt „Im Meeressturm" wesentlich gekiirzt ist. Ich komme hierauf spater noch zuriick.
Von Orchesterwerken, die mir bekannt sind, mochte ich noch den Fafnermarsch erwahnen (aus den Jahren 1897 und 98), mit Benutzung des Fafner und Lind- wurmmotivs aus Wagners Siegfried fiir grosses Orchester komponiert. Es ist eine drollige Idee, diese etwas schwerfalligenVorwiirfe inVerbindung mit eigenenldeen zu einem grandiosen Marsch vornehmen Stiles zu ver- arbeiten.
Zwei Melodien fiir Streichorchester (op. 26), die bereits im Jahre 1898 komponiert waren, erschienen auch erst vor kurzem im Yerlage von Jonasson-Ecker- mann in Berlin. Beide, Liebeslied und Wanderlied betitelt, sind liebenswiirdige , melodiose und dankbare Stiicke, die bei nur einigermassen guter Wiedergabe eines sicheren Erfolges gewiss sind. Auf ein anderes Werk mit Streichorchester werde ich zum Schlusse noch eingehen. Eine ganz merkwiirdige Schopfung, bei der das Orchester eine wesentliche Rolle spielt, ist eine symphonische Ballade fiir eine Singstimme mit Begleitung derselben „Verlorene Liebe", nach Worten von Georg Scongack. Ich wiisste in der ganzen Lite- ratur kein ahnliches Werk. Es verlangt von dem Sanger nicht nur ganz gewaltige Stimmmittel, sondern
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auch tief durchdachten Vortrag. Mit einer Kiihnlieit werden im Orchester Dissonanzen und chromatische Veranderungen aufgebaut, wie wir sie bei Sologesangen kaum jemals erlebt haben. Aber sie sind nicht nur kuhn erdacht, sondern haben vermoge des schwiilen und knorrigen Textes ihre voile Berechtigung.
Kampf hat erst soeben die Instrumentation be- endet und erhofft binnen kurzem die erste offentliche Auffiihrung des schwierigen Gesanges. Bleiben wir nun vorlaufig bei seinen Instrumental werken , so kann ich es mir ja versagen, auf seine hervorragende Violin- sonate, die leider noch keine andere nach sich gezogen hat, nochmals einzugehen. Eine ebenso geistvoUe Komposition hat er auch fiir Cello geschrieben, Legende betitelt, op. 31 (1906, Verlag von Rich. Kaun, Berlin), eine Arbeit, die sich ebenso durch bliihende Melodik und formvollendete Technik, wie durch genaue Bekannt- schaft mit diesem Instrument auszeichnet,
Dass Kampf dem Klavier, das er doch so genau kennt, nicht fern blieb, war als selbstverstandlich zu betrachten. Seine Erstlingswerke widmete er diesem Instrument. Lyrische Stiicke op. 1 (Ries & Erler, Berlin), zeigen noch ein grosseres Wollen als Konnen. Dagegen sind die folgenden Hefte: Lyrische Stiicke op. 2 (Jonasson - Eckermann) und Stimmungsbilder op. 3 (Eisoldt & Rohkramer) durchaus ernst zu nehmen, in der Erfindung ganz selbstandig und gut gearbeitet.
Eine Sonate grossen Stils (Fisdur) ist nicht im Druck erschienen, wahrscheinlich hat sie Kampf mehr als Studienwerk betrachtet. Ein Heft mit Humoresken erschien kiirzlich bei Rich. Kaun in Berlin. Sie stammen aus dem Jahre 1906. Leider fehlt in diesem die letzte dieser Humoresken, die den Titel in „E. A. T. Hoffmanns Manier" flihrt. Von anderen Klavierwerken , die im Manuskript vorliegen und hoffentlich auch recht bald ihre Auferstehung im Druck feiern, nenne ich zwei Nachtstiicke, von denen ich dem ersten, Herbststimmung betitelt, den ?orzug gebe, ein Heft mit Idyllen und zwei Konzertstucke : Walzer- Caprice und Elfe und Gnomen.
Eigentiimlicherweise hat Kampf, der Meister des ■Satzes, bis heute kein grosseres Chorwerk geliefert. Nur einige Mannerchore erblickten das Licht der Welt.
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Aber diese sind zum grossen Teil so genial erdacht, dass unsere grossen Gesangvereine sich ihrer unbedingt annehmen sollten. Von drei Gesangen (op. 25, Paul Koeppen) fur Mannerchor geben die beiden ersten ,Morgen an der Ostsee" und „Wer weiss wo" eine harte Nuss zum Knacken auf. Kampf hatte wohl selbst ge- flihlt, dass die Anforderungen, die er in ihnen an die Sanger stellte, zu gross waren. Er hat deshalb eine leichtere Ausgabe hergestellt. Aber es sind geradezu Perlen der Mannerchorliteratur. Ein Paradestiick diirfte ^Hochzeit" aus op. 30 (Jonasson-Eckermann) fiir jeden Verein bilden, ein Chor, der ganz abseits vom Wege geht, aber eine faszinierende Wirkung auszuiiben im stande ist. Ein anderer Chor derselben Opuszahl ^Schwatz, Schwatz" gehort dem heiteren Genre an und bringt durch seinen sonnigen Humor ganz sicher einen durchschlagenden Erfolg hervor.
Die grossten Triumphe hat Kampf indessen bis jetzt mit seinen Liedern errungen. Eine Reihe unserer bedeutendsten Gesangsgrossen fiihren seine Gesange bestandig auf dem Repertoire. Ich nenne Namen wie Lilly Lehmann, Marie Gotze, Hedwig Kaufmann, Emmy Destinn, Alex. Heinemann, Rich. Koennecke, Eug. Brieger usw. Kampf besitzt das Geheimnis, seine Lieder durch einen gewissen Kompromiss ausserordentlich reizvoll zu gestalten. Er bevorzugt die Melodie als selbstverstandlich, aber hiermit verbindet er einen ganz eigenartigen Sprachgesang , den man gleichsam als modernes Rezitativ auffassen konnte. Es ist sehr schwer, diese Verbindung ohne Notenbeispiele uber- zeugend zu erklaren. Ich verweise alle, die sich fiir Kampf und seine Werke interessieren, auf die Originale.
Dabei weiss er durch den meisterhaften Klaviersatz die Melodie oder die Singstimme zu unterstutzen und zu heben. Seine Ansprtiche an die Ausfuhrenden sind in technischer Beziehung nicht sehr gross, aber was er von ihnen verlangt, ist Seele und Geraut. Gehen wir auf die einzelnen Lieder mit Klavierbegleitung ein, so liegen an erster Stelle drei fein empfundene und vor- trefflich geformte Gesange in op. 16 (Jonasson-Ecker- mann) vor : ^Mittagstunde", ^Liebesfriihling" und ^Nelken". Ihnen wurdig schliessen sich an drei Lieder fiir hohe
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Stimme (op. 17, Berlin, Paul Koeppen) „Hinterm Deich", ^Pfingstlied" und „Klagender Fruhling". Dramatischergibt sich ein grosserer Gesang: „Entsagen" (op. 20, Paul Koeppen, Berlin), dem dann in op. 21 (C. F. Kahnt Nachf., Leipzig) wieder vier lyrische Erzeugnisse folgen („Verschwunden", „Winfcerlied", ,,Die Rose im Tal^' und „Waldgesang"). Sie weisen alle Vorziige der Kampfschen Muse auf. Grosse Leidenschaft strahlt aus dem ersten der beiden Gesange op. 22 „Du bist doch mein!" und „Erinnerung" (ders. Verlag). Eine grosse Anzahl neuer Lieder barren der Drucklegung. Ich nenne verschiedene von ibnen, die mir durcb ihren Inbalt aufgefallen sind : „Maienkatzcben", „Der Kranke'', „Abseits'S „Morgen- wanderung".
Aber nicbt allein das Klavier hat Kampf zur Be- gleitung seiner Lieder herangezogen, sondern auch ein Instrument, das verhaltnismassig geringe Beacbtung bis jetzt gefunden bat, das Harmonium, bez. das Normal- barmonium. Dass Kampf, man konnte sagen im Neben- amt, dem Normalbarmonium seine Beacbtung gescbenkt bat, entspringt eigentlicb nicbt seiner eigenen Initiative. Vor einer Reibe von Jabren begriindete Paul Koeppen in Berlin seinen Verlag fiir eine neue Literatur des Normalbarmoniums. Er vrandte sicb an eine Reibe j lingerer, strebsamer Musiker, und unter anderm audi an Kampf. Mit Feuereifer ging dieser an die Sacbe. Binnen kurzer Zeit bracbte er es in der Beberrscbung dieses Instruments bis zur Virtuositat und scbuf dann, nacbdem er die Gebeimnisse desselben erforscbt batte, eine Reibe von Stucken, teils fiir Harmonium als Solo- instrument, teils in Verbindung mit der menscblicben Stimme und anderen Instrumenten. Es diirfte zu weit fiibren, auf jede dieser Kompositionen naber einzugeben. An anderen Stellen baben wir und andere Autoren bereits klargelegt, dass Kampf in der Erfindung und in der geradezu raffinierten Arbeit an erster Stelle der Komponisten fur das Harmonium marscbiert. Wir finden folgende Kompositionen von ibm fiir Normalbarmonium- Solo : op. 4 Bilder von Riigen (1899), op. 5 „Seltsame Karawane" (1899), op. 6 „Gewitter in den Alpen'^ (1900), op. 7 „Stimmungsbilder'' (1900), op. 7 Cbarakterstucke (1900 und 1902), op. 15 „Elegie" (1901), op. 18 „Lyrische
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Stucke (1902, 04). Seine Suite „A.us Baltischen Landen" hat Kampf bezeichnenderweise nicht fiir Klavier, sondern fiir Harmonium bearbeitet, wie oben bereits erwahnt wurde. Das Klavier ware auch gar nicht im stande ge- "wesen, nur annahernd den Klangcharakter des Orchesters wiederzugeben. Wer aber diese Stucke auf dem Normal- harmonium ein Mai durchgespielt hat, wird entzuckt sein von diesen Tonen, die das Instrument hergibt. Ich mochte jedoch nicht jedem Komponisten raten, seine Orchesterwerke im Harmoniumauszug erscheinen za lassen, dazu bedarf er so genauer Kenntnis vom Harmonium, vrie sie nur ein Kampf besitzt.
Wie wundervoll das Harmonium in Verbindung mit dem Streichorchester klingt, zeigt uns Kampf in einer grosseren Ballade op. 12 (1900). Hier kam es darauf an, durch geschickte Instrumentierung diesem Instrument auch das Wort zu lassen. Das ist dem Komponisten glanzend gelungen. Eine Reihe offentlicher Auffiihrungen waren von steigendem Erfolge begleitet.
Fiir Harmonium und Klavier liegen drei Werke vor: op. 13 „Fruhlingsgruss" (1901), op. 14 „Romantische Tonbilder'' (1901) und op.l9 „Mondnacht am Gardasee". Gerade fiir die Familie eignen sich die frischen und warmbliitigen Stucke ganz vortrefflich, wie iiberhaupt fiir den intimen Kreis das Harmonium nicht nachdriick- lich genug empfohlen werden kann.
In der „Mondnacht am Gardasee" konnen wir wieder jene koloristische Ader bei Kampf bewundern, von der ich oben schon gesprochen habe. Nun muss ich noch einmal auf Lieder und Gesange zuriickkommen , die unser Meister mit Harmoniumbegleitung geschrieben hat. Und unter ihnen befinden sich gerade seine wert- vollsten.
Sein op. 10 umfasst zwei Lieder: „Seitdem die Mutter heimgegangen" und „Todeslust", die wohl zu den besten gehoren, was die moderne Literatur in dieser Beziehung aufzuweisen hat. Besonders das letztere Lied ^Todeslust" wird bestandig von unseren ersten Gesangs- grossen vorgetragen. Auf allgemeinen Wunsch ist von Kampfs Freunde, Conrad Bos eine Klavierbearbeitung erschienen, die jedoch die schwellenden Akkorde des Harmoniums in keiner Weise zu ersetzen vermag.
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Einfacher und mehr lyrischer Natur als diese beiden tief empfundenen Lieder sind „Wiegenlied" und „Marz- katzchen aus op. 9. Ein herrliches Lied ist auch die etwas dustere „Heidenacht" op. 11. Samtliche hier an- geftihrten Werke mit Harmonium sind im Verlage von Paul Koeppen, Berlin erschienen. Im Manuskript liegen noch einige Melodramen vor, bei denen Kampf das gesprochene Wort aucb vom Harmonium begleiten lasst: „EinsamerWeiher", ,,Ein Bild vom Festungswalle" und „I)ie Gefilde der Seligen". Die Art und Weise, wie Kampf sicb dem Wort anpasst, ist hocbst kiinstlerisch. Dass Kampf zahlreiche Bearbeitungen von Original- werken alter und neuer Meister fiir das Normalharmonium geliefert bat, woUen wir der Vollstandigkeit balber nocb erwabnen. Aucb fiir Orcbester bat er verscbie- dene bervorragende Arrangements geliefert. So erinnere icb micb, dass er Klavierstiicke von Bendel aus dem Zyklus „Am Genfer See", fiir Orcbester reizvoll gesetzt bat und zwar: den ,,Gefangenen von Cbillon", den ,,Spazier- gang zum Cbatelard" und „Sonntagsmorgen auf Glion". Selbstverstandlicb war es mir unmoglicb, alle Manu- skriptsacben zu nennen oder zu besprecben, die Kampf nocb liegen bat. Die aufgezablten Kompositionen geben indessen ein binreicbendes Bild von dem emsigen Scbaffen desselben, der docb in erster Linie durcb Unterricbt und Mitwirkung im Konzertsaal sicb und den Seinen eine Existenz zu verscbaffen bemiibt ist. Wer weiss, ob er uns so viele trefflicbe Werke ge- scbenkt batte, wenn nicbt der Kampf um das Dasein seinen Cbarakter gestarkt und seinen Scbaffenstrieb an- gespornt batte?! Hoffentlicb bait ibm die musikaliscbe Welt die gebiibrende Anerkennung nicbt langer mebr vor.
Mogen diese Zeilen aucb dazu beitragen, den JNamen Karl Kampf in recbt weite Kreise zu tragen und ibm und seinen Werken neue Freunde zuzufiibren.
9*
Friebrich KIose
(gcb. zu Karlsruhe i. 6. am 29. noucmber 1862).
rhot. Gebriider Hirscli, Karlsruhe.
Friedrich Klose.
Friedrich Klose
von Rudolf Louis.
Dass ein Kunstler, der nur wenig produziert, aber einem jeden Werke, das er in die Welt gehen lasst, den Stempel des Bedeutenden aufzupragen vermag, den Vorzug verdiene vor dem kritiklosen Vielschreiber, der ohne Wahl und Sichtung seine Einfalle, so wie sie die fllichtige Stunde bringt, festhalt und der Offentlichkeit iibergibt, wird allgemein zugestanden. Und docli liat der skrupellose Vielscbreiber vor dem gewissenhafteren Strebensgenossen einen Vorteil voraus, vermoge dessen jenem es ungleicb viel leicbter fallt, bekannt, ja beriihmt zu werden, als diesem. Je mebr einer veroflFentlicht, desto haufiger wird sein Name genannt, und da die Zelebritat eines Nam ens in erster Linie davon abhangt, wie oft er in der 0£Fentlichkeit auftaucbt — wobei es im Grunde genommen ganz und gar einerlei ist, wie und in welchem Sinne er auftaucbt — , so gibt es heut- zutage kein sicbereres Mittel, um rascb berlibmt zu werden, als die Vielscbreiberei. Ein geistreicber Wiener pflegte zu sagen: Ein Opernkomponist kann dadurcb beriilimt werden, dass er mit einer Oper einen grossen Erfolg bat. Aber dasselbe Ziel erreicbt er aucb, wenn er mit d r e i Opern durcbfallt. Nicbt die Qualitat macbt es, sondern die Quantitat, und nicbt das „Wie" der ktinstleriscben Leistung und ibres Erfolges, sondern das „Wie oft" entscheidet zunacbst iiber die Tages- bertibmtbeit eines scbaffenden Kiinstlers unserer Zeit.
Wenn dem nicbt so ware, miisste der Name Friedricb Kloses langst im Munde aller ernsten Musikfreunde sein, und vor allem: dieser Mann batte
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nicht vierzig Jahre alt zu werden brauchen, um es zu einer heute noch ziemlicli beschrankten und uber den engeren Kreis der Fachgenossen nicht allzuweit hinaus- gehenden Beruhmtheit zu bringen. Aber dieser ernste und bedeutende Ktinstler, in dem sich hohe Begabung und ausserordentliches Konnen mit einer geradewegs „unzeitgemass" anmutenden Reinheit und Lauterkeit des kunstleriscben Wollens eint — ein „ Idealist" in der guten alten, heute fast schon sagenhaft gewordenen Bedeutung des Wortes — , er hat eine so geringe Anzahl von Werken verofiPentlicht , er hat iiber dem Bemtihen, jeder seiner grossangelegten Schopfungen einen moglichst hohen Grad der VoUkommenheit zu geben, so ganz und gar darauf vergessen, die Allgemein- heit mit seiner Person zu beschaftigen und immer wieder von sich reden zu machen, dass eigentlich erst die Ur- auffiihrung seiner symphonischen Dichtung „Das Leben ein Traum", die Felix Mottl im Jahre 1899 (drei Jahre nach der Vollendung des Werkes) in Karlsruhe heraus- brachte, die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf Klose zu lenken begann. Und doch hatte er fast schon ein Jahrzehnt zuvor (1890) seine D moll-Messe geschrieben, die unter den von Liszt und Bruckner beeinflussten Werken der Gattung ganz einzig und unvergleichlich dasteht, ja an musikahschem Gehalt und tiefer Erfassung des liturgischen Textes alles, vv^as mir von moderner katho- lischer Kirchenmusik bekannt geworden, weit tibertrifft ! Freilich darf nicht verkannt werden, dass ausser der quantitativ verhaltnismassig geringen Produktivitat auch noch andere Dinge dazu mitgewirkt haben, einem Ktinstler wie Klose das Durchdringen zu erschweren: zunachst einmal die vornehme Zurlickhaltung des Menschen, der es jederzeit verschmaht hat, Mittel und Wege, die auch nur im entferntesten nach Reklame aussehen, zu seinem Bekanntwerden zu benutzen; dann: die herbe Eigenart mancher seiner Werke selbst, die so ganz und gar nicht dazu angetan ist, dem Sinn der grossen Menge zu schmeicheln ; vreiterhin aber auch der Umstand, dass er, anfangHch in der Ausbildung seiner kunstlerischen Begabung mehr gehemmt als ge- fordert, relativ sehr spat erst dazu gelangt war, seine musikalischen Lehrjahre abzuschliessen.
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Friedrich Klose ist am 29. November 1862 als Sohn des im Jahre 1907 hochbetagt verstorbenen osterreicliischen Hauptmanns a. D. Karl Klose zu Karls- ruhe i. B. geboren. Den ersten miisikalischen Unter- riclit erhielt er auf der Violine, und zwar vom 8. Lebens- jahre an. Gerade die Wahl dieses Instrumentes erwies sich in der Folge als wenig gliicklich. Denn dem latenten Polyphoniker , der in ihm wie in jedem modernen Musiker steckte, bot die Beschaftigung mit der Yioline gar keine oder nur geringe Nahrung. Klose war etwas iiber 10 Jahre alt, als er zum ersten Male den „LohengTin" horte, und ein halbes Jahr spater wirkte er bei einer Aufflihrung der ,,Matthauspassion" im Knabenchor mit. Diese beiden Werke vermittelten ihm die frlihesten musikalischen Eindriicke tieferer und lebendig fortwirkender Art. Sie regten ihn zu den ersten Kompositionsversuchen an, die freilich kindlich genug ausfallen mussten, wenn man bedenkt, dass der Knabe damals ausser seiner Violinmusik kaum schon etwas anderes in Noten kennen gelernt hatte, und dass er 16 Jahre alt war, als er zum ersten Male einen Klavierauszug in die Hande bekam.
Die Mogiichkeit, eine reiche und komplizierte Ton- schopfung wie den ,, Lohengrin" oder die „Matthaus- passion" vermittels des Auszugs in ihren wesentlichen Grundziigen sich am Klavier allein vorflihren zu konnen, diese Mogiichkeit, von der er zuvor keine Ahnung ge- habt hatte, erschliesst ihm eine neue Welt. Lebendige Eindriicke im Konzertsaal kommen hinzu; er lernt Liszt (Preludes) und Berlioz (Fee Mab) kennen. Diese Bekanntschaft macht ihn zu einem begeisterten An- hanger der „neuen Richtung", um die damals der Kampf der Geister noch lieftig tobte. Wagner, Liszt und Berlioz werden seine Gotter, in deren zunachst noch ziemlich unbeholfener Nachahmung die eignen Kompositionsversuche jener Zeit sich gefallen.
Inzwischen hatte der angehende Musiker die Not- wendigkeit eines methodischen Unterrichts in musika- lischer Theorie eingesehen. Der Lehrmeister, den er wahlte, war Vincenz Lachner, der 1893 verstorbene jtingere Bruder des beruhmten Miinchener General- musikdirektors. Diese Wahl war natiirlich: denn
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Lachner genoss einen guten Ruf als Lelirer, und in Karlsruhe hatte jedenfalls kaum ein anderer fiir das von Klose Gesuchte in Betraclit kommen konnen. Trotzdem war es keine gute Walil. Der Umstand, dass Lachner alle die Meister der neueren Zeit, die sein Schliler am meisten verehrte, zu tiefst verabscheute, verhinderte von allem Anfang an das Zustandekommen eines irgendwie vertrauten Verhaltnisses zwischen Lehrer und Schtiler. Dazu kam dann noch, dass Lachner kurz- sichtig genug war, dem Schiiler jegliches Talent ab- zusprechen, und so konnte es nicht fehlen, dass ein Unterricht, bei dem der Lehrer nicht an die Begabung des Schiilers, und der Schiiler nicht an die Autoritat des Lehrers glaubte , ganzlich erfolglos blieb. Das einzige Ergebnis war die feste tlberzeugung, die Klose allmahlich gewann , dass alle Theorie unniitzer Ballast und pedantischer Philisterkram sei, und dass das private Studium der grossen Meisterwerke genlige, um sich das zu eigenem SchafFen notwendige Mass von Wissen und Konnen anzueignen. Und man sieht, welche Gefahr diese tJberzeugung fiir die Entwicklung des jungen Musikers herauf beschwor : die Gefahr zu ver- wildern und im Dilettantismus stecken zu bleiben.
In Genf, wohin Klose, nachdem er Lachners Schule verlassen, iibergesiedelt war, nahm er nur mehr Unterricht im Violin- und Klavierspiel. Doch sollte sein Klavier- lehrer, ein Italiener namens Provesi, Cellist im Genfer Orchester und Akkompagnateur bei den Symphonie- konzerten, auch fiir die Entwicklung des Komponisten von grosser Bedeutung werden. Denn er war es, dem Klose das Erlebnis verdankte, das im Werdegange eines jeden Komponisten von entscheidender Wichtigkeit ist: die erste Auffiihrung eines eigenen Werkes. („Loreley", symphonische Dichtung, 1884.) Diese Auffiihrung hatte nicht nur Erfolg, sie erzielte auch einen volligen Um- schwung in Kloses Meinung von der tJberfliissigkeit theoretischer Studien. Denn gerade das, was er bei Provesi gelegentlich der von diesem geleiteten Aus- arbeitung einer Ouverture gelernt hatte , zeigte ihm, dass ohne systematische Ubung in der Satzkunst, wie sie nur an der Hand eines tiichtigen Lehrers mit Nutzen betrieben werden kann, nicht vorwarts zu kommen sei.
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Ein soldier Lehrer fand sich in Adolf Ruthardt (geb. 1849, damals Musiklehrer in Genf, seit 1886 am Leipziger Konservatorium) , der den angehenden Kom- ponisten in kurzer Zeit bedeutend forderte, allerdings aber den Fehler beging, das als erledigt vorauszusetzen, ■was Klose bei seinem ersten Lehrer Lachner zwar durcligearbeitet , aber keineswegs grundlich sicb an- geeignet hatte.
So kam es, dass Klose das Bedtirfnis empfinden konnte, auch nacli Absolvierung des Unterricbts bei Ruthardt Harmonielehre und Kontrapunkt noch einmal von den allerersten Elementen an mit der Griindlich- keit durchzunehmen, die er bei Lachner so schmerzlich vermisst hatte. Felix Mottl, der 1881 als Hof kapell- meister nach Karlsruhe berufen worden war und sehon friih ein starkes Interesse fur Klose gefasst hatte, empfahl ihn an Anton Bruckner, und bei diesem Meislfer, der in so wunderbarer Weise den hinreissenden Zauber einer durch und durch genialen Kiinstlernatur mit der bis zur Pedanterie gehenden Skrupulositat des peinlich gewissenhaften Padagogen verband, brachte Klose in den Jahren 1886 — 89 seine musikalischen Lehrjahre endlich zum Abschluss.
Darauf nahm er eine Stelle als Theorielehrer an der damals neugegriindeten Academie de musique in Genf an, die er aber nach wenig ermutigenden Er- fahrungen bereits 1891 wieder aufgab. Doch gewann dieser zweite Genfer Aufenthalt Bedeutung durch die Auffuhrung der grossen Messe in Dmoll, die Klose unter dem Eindruck der Nachricht von dem Tode Franz Liszts (31. Juli 1886) konzipiert und v^ahrend der Wiener Studienjahre geschrieben hatte. "Unter Lionetto Banti kam dieses Werk im Frtihjahr 1891 in Genf zum ersten Male zu Gehor. Im Herbst desselben Jahres kehrte Klose nach Wien zuriick, wo er aus- schliesslich der Komposition lebte. Spaterhin nahm er abwechselnd in Karlsruhe und Thun (in der Schweiz) Aufenthalt. Seit Herl^st 1906 wirkt er als Lehrer am Konservatorium zu Basel. Am 1. Oktober 1907 wird er diese Stellung mit einer ahnlichen an der Akademie der Tonkunst in Mtinchen vertauschen.
Wie schon gesagt, ist die Zahl der Kloseschen
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Werke nicht gross, und von dem, was er geschrieben, ist uberdies nur ein Teil veroffentlicht. Drei grosse und monumentale Schopfungen sind es, die vor allem fiir die Beurteilung des Komponisten und seiner Stellung im Musikleben der Gegenwart in Betracbt kommen: die schon erwahnte Messe, die dreisatzige sympbo- nische Dichtung „Das Leben ein Traum" und das Opernwerk „Ilsebill".*)
Langsame Entwicklung und ein vielfacb gehemmter Studiengaug liessen den Komponisten Klose so spat erst zur vollen Reife gelangen, dass man die 1890 be- endete DmoU-Messe durchaus nocb als Jugendarbeit betracbten muss, obgleich sie dasWerk eines 28jabrigen ist. Eine Jugendarbeit freilicb nicbt in dem Sinne, dass in tecbniscber flinsicbt irgend etwas zu vermissen ware; vielmehr verrat sicb souverane Herrscbaft iiber alle Ausdrucksmittel der modernen Musik auf jeder Seite der Partitur. Wohl aber eine Jugendarbeit in- sofern, als die Tonspracbe des Komponisten sicb nocb nicbt zu voller Selbstandigkeit durcbgerungen und viel- facb nocb die Yorbilder deutlicb erkennen lasst, von deren Nacbeiferung das Klosescbe Schaffen ursprlliiglicb ausgegangen war. Wenigstens gilt diese Abbangig- keit ganz zweifellos von den sechs Satzen der eigent- lichen Messe. Nicbt freilicb in der gleicben Weise aucb von den spater binzukomponierten Einlagen, die das Ganze derart komplettieren , dass die Partitur nun samtlicbe fiir die Begleitung der beiligen Handlung des Messopfers benotigten Musikstiicke (also aucb Graduale, Offertorium u. s. w.) als integrierende Teile
*) Ausserdem liegen im Druck vor: eine Elegie fiir Violine und Klavier; Elfenreigen fiir Orchester (komp. 1892; 1. Auffiihrung in Lausanne 1893; spater wesentlich umgearbeitet) ; eine Reihe von Gesangen fiir eine Singstimme mit Klavier- begieitung (14 nach verschiedenen Diehtern und der 9 Gedichte umfassende Zyklus ^Verbunden" von Riickert). Von ungedruckten Kompositionen gelangte ein Orchesterstiick ^Festzug", der letzte Satz einer unvollendet gebliebenen symphonischen Dichtung, mehrmals, zuerst in Sondershausen, zur Auffiihrung. Dagegen sind die Fragmente y^Un chant de fete de Neron'^ (fiir Chor und Orchester, nach V. Hugo) und die Szene des Ariel aus dem 2. Teile des Goetheschen „Faust" noch nicht bekannt ge- worden.
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eines einlieitlichen Kunstwerkes in sich enthalt. Diese Einlagen sind : ein Orgelpraludium, ein Ave 3faria (fur Sopransolo und Orchester), 0 scdutaris hostia (Sopran und Tenorsolo mit Orchester), Wandlungsmusik (fiir kleines Orchester). Sie wurden 1894 komponiert und zum ersten Male bei einer Auffiihrung der Messe in Karlsruhe 1895 zu Gehor gebracht. Ferner gehort hier- her noch das selbstandige , aber sogar motivisch mit der Messe zusammenhangende Vidi aquam (komponiert gleichfalls 1894, erste Auffiihrung in Karlsruhe 1896). So ist die vollstandige Messe ein Werk, das abgesehen von seiner objektiven kiinstlerischen Bedeutung noch das ganz besondere personliche Interesse darbietet, dass wir die Fortschritte , die der Komponist in einer wichtigsten Periode seiner Entwicklung gemacht, inner- halb eines kiinstlerischen Ganzen, das trotzdem nichts von seiner Einheitlichkeit verloren hat, verfolgen konnen. In der zeitgenossischen Kirchenmusik nimmt Kloses jMesse eine ganz eigenartige Stellung ein. Um sie zu verstehen, Avollen wir uns daran erinnern, dass inner- halb dessen, was Gegenwart und jiingste Vergangen- heit an katholischer Kirchenmusik produziert haben, drei sehr verschiedene Richtungen oder Zweige zu unterscheiden sind. Da ist zunachst einmal die im engeren Sinne des Wortes liturgische Musik, die, meist von cacilianischen oder nichtcacilianischen Domkapell- meistern, Organisten und Chorregenten , gelegentlich auch von mehr oder weniger musikbegabten und musik- gebildeten Kaplanen lind Pfarrern geschrieben, nichts weiter pratendiert, als den Gebrauchszwecken des Gottes- dienstes in wlirdiger Weise zu dienen. Sie ist „an- gewandte" Musik, musikalisches Kunsthandwerk und bildet eine Sphare fiir sich, um die sich die an der Entwicklung der Musik als freier Kunst Interessierten nur ganz ausnahmsweise einmal zu kiimmern pflegen. Dann namlich, wenn ein aus der Kirchenmusik hervor- gegangener Komponist etwa anfangt, auch in andern Gebieten der Kunst sich auszuzeichnen und dadurch die Aufmerksamkeit auch auf seine Kirchenmusikwerke lenkt, so dass man sich anschicken darf, diese in den Konzertsaal zu verpflanzen und einer rein asthetisch- musikalischen, von liturgischen Anforderungen ganzlich
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absehenden Beurteilung zu unterbreiten. Ein soldier Musiker, der aus der Kirclie in den Konzertsaal kam, war z. B. Anton Bruckner, zugleicb der einzige in diesem Sinne ursprunglicli liturgisclie Musiker unserer Tage, der sicli einen Platz audi in der allgemeinen Musikgesdiidite der Gegenwart erobert hat.
Einen ganz anderen Typus reprasentiert — um auch hier einen Bedeutendsten und in seiner Art einzigen zu neniien — Franz Liszt. Der kam um- gekehrt s. z. s. aus dem Konzertsaal in die Kirclie. Es war seine subjektive Frommigkeit, das personliclie Verlialtnis, das er zur Religion hatte, was ilm dazu antrieb, sein schopferisches Vermogen im Ver- laufe des spateren Mannesalters immer ausscliliessliclier in den Dienst der Kirclie zu stellen. Er selbst, der zugleicli ein tiefglaubiger Katholik und ein auf den Hohen allgemeiner Geistesbildung wandelnder, durch- aus modern empfindender Menscli und Kiinstler war, filhlte sicli berufen, auf dem Gebiete der Kirclienmusik, r eformatoriscli aufzutreten, d. li. sein Teil dazu beizutragen, dass der Widersprucli dessen, was die Kircbe iibt und vorschreibt , mit dem, was die Gegen- wart empfindet und denkt, der Widersprucli, den lieut- zutage ein jeder gebildete Katholik empfindet, der Treue gegen die Kirche mit der Treue gegen sein eigenes Tun und Sein verbinden mochte, wenigstens auf dem von ihm beherrschten Gebiete der Musik einer gedeihlichen Losung entgegengefiihrt werde.
Und noch eine dritte Art Von Kirchenmusik gibt es. Das ist die Kirchenmusik des reinen Musikers, der iiberhaupt nicht als glaubiger, ja vielleicht niclit einmal als religioser Menscli, sondern ganz einfach als Kiinstler den Aufgaben kirchlicher Tonkunst gegeniibersteht. Ihm sind die kirchlichen Vorstellungen und Empfindungen, die religiosen Dogmeii, Texte und Handlungen ganz einfach ein „Stoff", zu dem er sicli rein-asthetisch ver- halt, so also, wie etwa der Opernkomponist zu seinem Libretto. Man braucht nur an die kirclienmusikalischen Werke Hector Berlioz' zu denken, um zu wissen, was ich meine. Die ganze geistige Personlichkeit Kloses, alles, was wir von seiner Welt- und Lebensanschauung wissen, zwingt uns nun die Uberzeugung auf, dass
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seine Messe ihrem tiefsten Wesen und ihrer Grund- richtung nach gleichfalls dieser rein klinstlerischen Art von Kirchenmusik angehort,. die in gewissem Sinne bis zu Beethovens Missa solemnis zuriickverfolgt werden kann. Denn Klose ist ganz gewiss nichts weniger als konfessionell glaubiger Christ, ja nicht einmal auch nur durcli Taufe und Erzieliung ein Solm der katholischen Kirche : seine Messe erinnert hierin — aber wohl auch nur hierin — an die Messenkompositionen des grossen J. S. Bach, dass sie das Werk eines Protestanten ist. Aber wenn die Klosesche Messe ihrer innersten Tendenz nach der in gewissem Sinne unkonfessionellen und jedenfalls von Haus aus nicht so wohl religios als asthetisch inspirierten Kirchenmusik angehort, so unter- scheidet sie sich von einem Werke, wie etwa Berlioz' gigantisches Requiem eines ist, dadurch, dass hier nicht der liturgische Text zum ausseren Anlass, ja vielleicht bloss zum Vorwand genommen ist fiir ein Musizieren, das eigentlich und streng genommen mit dem Sinn und dem Geiste dieses Textes gar nichts zu tun hat. Vielmehr verhalt sich Klose zur ganzen Vorstellungs- und Empfindungswelt des katholischen Glaubigen ge- rade so , wie etwa ein dramatischer Komponist zu dem Denken und Fiihlen der handelnden Personen seines Werkes sich verhalt. Er strebt nach einer vollkommenen seelischen Identifizierung , er sucht sich ganz in die Psyche des tiberzeugten Bekenners zu versenken, der das heilige Messopfer als ein taglich erneutes Wunder gottlicher Gnade innerlich erlebt. Und so gelingt es ihm auch, die Anregungen, die er von Meistern jener beiden anderen Arten religioser Tonkunst, insonder- heit von Liszt und Bruckner empfangen, in einer Weise fiir sein Werk zu nutzen, dass diese Einfliisse nicht als etwas Fremdartiges sich bemerkbar machen, sondern als durchaus homogene Elemente dem grossen Ganzen sich einfiigen, dessen Originalitat sie zwar bis zu einem gewissen Grade schmalern, aber auch nicht ein einziges Mai vollstandig verwischen konnen.
Ganz er selbst ist Klose dagegen — wie iibrigens auch schon in den nachkomponierten Stticken der Messe — in seiner grossen viersatzigen Symphonie „Das Leben ein Traum". Selbstandig I'reilich nicht in
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dem Sinne. in dem es tiberliaupt keiiie Selbstandigkeit gibt — dass Ton fremder Beeinflussung ganz und gar nicbts zu Terspiiren ware, wob.! aber in dem Sinne. dass wir den Eindruck einer ganz ausgesprocbenen und scbarf ausgepragten Eigenart empfangen. Uber den Greist und Grebalt dieses sympboniscben Werkes. dieser kiibnen musikaliscben Epopoe des Pessimismus babe icb micb friiber scbon einmal eingebend ansgesprocben und es ist wobl erlaubt. dass icb bier auf' diese friiberen Aus- fiibrnngen verweise.*) Xur ein p>aar Worte nber die Form des Werkes seien nacbgetragen. Franz Liszt bat seine, bistoriscb aus der OuTertlirenform beraus- gewacbsenen einsatzigen Orcbesterwerke .. svmpboniscbe Dicbtungen^ genannt, wabrend er fiir seine mebr- satzigen Instrumentalscbopfungen (Dante, Faust) die Bezeicbnung ^Svmpbonie^ beibebielt. Diese Unter- scbeidung. die eigentlicb nur insofern einen Sinn bat. als man berkommlicberweise unter ,,STmpbonie" ein zykliscbes, mebrsatziges Werk Terstebt, sie wurde nun von den Vertretern der neueren Programmmusik nicbt nur allgemein akzeptiert — wenn man beutzutage Ton ^srmpboniscber Dicbtung'* redet, meint man fast aus- nabmslos ein einsatziges Orcbesterstiick — . sondern das Beispiel Liszts bat aucb den Einfluss auf die jiingere Greneration gebabt, dass das mebrsatzige Orcbesterwerk aus der Produktion der Gregenwart — wenigstens soweit sie „ modern** gericbtet war — fiir einige Zeit fast ganzlicb Terscbwand. Demgegentiber nennt Klose sein zykliscbes Werk „ sympboniscbe Dicbtung*', eine Be- zeicbnung, mit der er, wie mir scbeint, Tor allem das unumwundene Bekenntnis ablegen will, dass seine Sympbonie dnrcbaus auf dem Boden der sogenannten „ Programmmusik"* stebe. Darin, dass sie. rein ausser- licb betracbtet, eine Anlebnung an die iiberlieferte Form der klassiscben Sympbonie erkennen lasst. konnte Kloses Scbopfang an die Werke Gustav Mablers er- innern. Aber die werden ja stibstiscb gerade so scbarf cbarakterisiert darcb die zweideutige, ja recbt eigentlicb
*) Friedxicli Klose und seine Bymphonische Dichtung ,Das Leben ein Traum'- von Kudolf Louis. MiLnclien und Leipzig 1905. (Munchner Broschtiren. Herausgesreben von G-eorir MuUer. Heft S. ^
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unaufrichtige Stellang ihres Autors zum Problem der Programmmusik, waErend Klose, wie gesagt, eben in diesem Pankte niclit dem geringsten Zweifel Raum lasst. Dieser Umstand nun, dass er einerseits ent- schiedener Programmmusiker ist, anderseits aber formell bei dem Schema der traditionellen viersatzigen Sym- pbonie ankiiiipft, verleiht seinem Werke eine gewisse Verwandtscbaft mit den Sjmpbonien Hector Berlioz', von dem Klose aucb sonst (vielleicbt mehr als irgend ein anderer deutscher Komponist der Gegenwart) stark beeinflusst erscbeint. Aber darin unterscbeidet er sicb wesentlicb von dem franzosischen Meister, dass bei ibm die Form in ganz anderer Weise organisch aus der Idee des Ganzen berauswacbst und obne die bei Berlioz so baufig storende Willkiirlicbkeit mit einer gewissen Notwendigkeit aus dem Gesamtplane des Werkes sicb wie von selbst ergibt.
In einem ganz eigenartigen Verbaltnis zur Sym- pbonieform stelit aber nun aucb Kloses Opernwerk „llsebill", das „Marlein von dem Fischer und seiner Frau", — das der Komponist selbst eine „dramatische Symphonie" nennt. Klose hat diese Bezeichnung zu- sammen mit seinem Textdicbter Hugo Hoffmann in der ganz bestimmten Absicht gewahlt, um seine Oper, deren Handlung auf das bekannte Grimmsche Marchen zuriickgebt, sacblich , ibrer besonderen Art nach, moglichst deutlich zu kennzeichnen. „Es soil", wie die beiden Autoren selbst ausfiibren, „insbesondere da- durch ausgedriickt sein, dass die Handlung, die eigentlich kein Drama im ,schulgerecbten' Sinne ist, aucb nicht den Anspruch erhebt, als solches zu gelten. Anderseits aber soli mit dem Hinweis auf die musikaliscbe Form — und diese ist eine symphonische — gesagt sein, dass der Musik bis zu gewissem Grade, jedenfalls mehr als in anderen musikalischen Blihnenwerken , die Vor- herrschaft eingeraumt ist. Die dramatisch dargestellte Handlung ist sozusagen das .Programm' fiir die Sym- phonie. "
Kloses „Ilsebill" erlebte ibre Urauffiibrung unter Felix Mottl im Hoftheater zu Karlsruhe am 7. Juni 1903. Der Erfolg des ungemein originellen, musikalisch ebenso gehaltvollen wie biihnenmassig wirk-
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sameii Stuckes war ausserordentlich stark. Wenn trotz- dem bis heute erst die Opernbuhnen von Mlinclien und Stuttgart dem Beispiele Karlsruhes gefolgt sind und „Ilsebill" in ihr Repertoir aufgenommen haben, so ist das wohl einzig dem Umstande zuzuschreiben, dass die Klosesche Ojaer ohne Unterbrechung in einem einzigen, sehr langen Aufzuge spielt. Das bedeutet naturlicb filr das Publikum eine wenig willkommene Anstrengung. Aber die ganze, auf eine fortlaufende Steigerung aus- gehende Anlage des Werkes liess eine Abteilung in zwei oder mehrere Akte unmoglich zu. Und auch bei Klose wird man — ahnlich wie bei Wagner — sicb allmablich an das gewobnen, was zunacbst als un- gebiihrliche Anforderung an die Aufnabmefahigkeit der Zuborer beurteilt wird, und, im Bewusstsein dessen, dass es sicli hier um eine kunstlerische Notwendigkeit handelt, um die Erreichung einer Steigerungswirkung, die auf anderem Wege unmoglicli zu erzielen gewesen ware, wird man willig einer kleinen Anstrengung sicli unterziehen, die durdi so reichen kiinstlerisclien Genuss belohnt wird.
Phot. Franz Linkhorst, Halensee-Berlin.
Friedrich E. Koch.
Friebrich E Koch
(geb. zu Berlin am 3. luli 1862).
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Friedrich E. Koch
Karl Kampf.
Mit geringen Ausnahmen bekleiden die heutigen- tags allgemein anerkannten Komponisten angeseliene Amter als Biilmen-, Orcliester- oder Chordirigenten, oder wirken als namhafte Musikschriftsteller und Kritiker, zum wenigsten spielen sie aber ausgezeiclinet Klavier. In jedem dieser Falle haben die jeweiligen Autoren die Macbt, fiir ihre eigenen Werke, resp. die von ihnen vertretene Kunstricbtung dauernd einzutreten, was in unserer leichtlebigen Zeit von unberecbenbarem Nutzen ist, denn das Gebeimnis des Erfolges besteht beute mebr wie je darin, so oft als moglicb auf dem Kampf- platz zu erscbeinen, um die Aufmerksamkeit immer wieder von neuem auf sicb zu lenken. Kraftige Ellen- bogen sind deswegen keineswegs za veracbten, sondern reprasentieren von vornberein eine biibscbe Mitgift. Der Grundsatz, dass der Kiinstler binter seinem Kunst- werke zu verscbwinden babe, scbeint mebr und mebr in Abnabme zu kommen, sebr zum Scbaden der wabren Kunst, denn scbliesslicb ist dieser Personenkultus , der jetzt mit Dirigenten und Komponisten getrieben wird, docb weiter nicbts als eine Fortsetzung der uns unbe- greiflicb erscbeinenden Yerziickungsepidemien , wie sie Sangerinnen, Sanger und Virtuosen entfacbten. Darunter zu leiden werden immer diejenigen Tondicbter babea, denen es von Haus aus nicbt gegeben ist, oder die es aus wabrer Bescbeidenbeit nicbt iiber sicb gewinnen konnen, als „Rufer im Streit" ibre Stimme laut zu er- beben, wie es z. B. der Fall Rossini-Beetboven beweist, von denen ersterer sicb tiicbtig die Tascben vollstopfte,
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wahrend letzterer es bekanntlich nie tiber ein dem Mittelstande entsprechendes Einkommen brachte. Aus neuerer Zeit seien Bruckner, Hugo Wolf und Cornelius genannt, an den en erst die Nacbwelt wieder gutzu- machen hat, was die Zeitgenossen versaumt baben.
Auch Friedricb E. Koch gehort zu denjenigen, die es an sich erfahren haben, wie ausserordentlich schwer es ist, den Parnass als schaffender Kiinstler zu er- klimmen. Wenn es ihm, der seit circa 15 Jahren keinerlei ins Gewicht fallende Tatigkeit als austibender Kiinstler entfaltet hat, trotzdem gelungen ist, den Gipfel zu erklimmen und seinem Namen liberall Achtung und Geltung zu verschaffen, so fallt diese Tatsache doppelt ins Gewicht, weil Koch stets, ohne nach rechts oder links zu blicken, seinen eigenen Weg gegangen ist, und sich niemals zu irgend welchen Konzessionen an den Geschmack der Menge hat bestimmen lassen. In dieser Hinsicht ubertrifft er sogar Brahms, zu welchem Meister seine Muse in ihrer herben Ausdrucksweise und allem ausseiiichen Effekt abgewandten Innerlichkeit gern hin- neigt; denn jener verstand es doch immerhin, in seinen Liedern, Klavierstiicken und Bearbeitungen (Volkslieder und Ungarische Tanze) einen leichteren, dem grossen Publikum zuganglichen Ton anzuschlagen , wahrend Koch mit Ausnahme von einigen kleineren, von ihm selbst als Gelegenheitsarbeiten bezeichneten Stiicken nur in grosstem Rahmen und schwierigsten Kunstformen schafft und sich somit gewissermassen selbst eine Popu- laritat untergrabt und abschneidet. So wenig diese Handlungsweise vom praktischen Gesichtspunkt zu bil- ligen ist, so ist in ihr doch sogleich deutlich zu er- kennen, wie scharf sich Koch selbst beurteilt und wie wenig er von dem als richtig erkannten Wege abzu- weichen gewillt ist.
Seinem eigenen Urteil kann man unbedingt zu- stimmen; in kleinen Formen muss ihm, dem geborenen Symphoniker, unbehaglich zu Mute sein, sein Stil erfordert grosse Flachen und gewaltige Umrisse, nur im aller- grossten Rahmen treten die Vorziige seiner Kunst in das rechte Licht, deshalb ist Koch jetzt in den letzten Werken bei der grossten Kunstform der symphonischen Musik, dem abendfiillenden Chorwerk angelangt und
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liat auf diesem Gebiete seine reifste Schopfiing, das Oratorium „Von den Tageszeiten", eine gewaltige Tat in Worten und Tonen, niedergelegt ; denn Koch nimmfc insofern noch eine eigene Stellung ein, als er sich den Text zu seinen Chorwerken selbst verfasst und somit die Wagnersche Forderung von der Einheit des Dichter- Koraponisten auf das Oratorium iibertragt. Jedoch wollen wir nicht vorgreifen, sondern Kochs Lebensgang in Ruhe an uns voriiberzieben lassen.
Am 3. Juli 1862 als Sohn eines Malers m Berlin geboren, wurde Koch das Gliick zuteil, schon in den ersten Lebensjahren den oden Steinmauern der Gross- stadt entriickt zu werden und seine ganze Jugendzeit in einem kleinen Dorfchen der Mark zu verleben. Hier in Gottes freier Natur erschlossen sich seinem jungen Gemiit alle Reize des Landlebens und hinterliessen in ihm so starke Eindrticke, dass sich selbige spater zu herrlichen pastoralen Szenen verdichten konnten und sich allenthalben in seinem Schaffen nachweisen lassen. So wuchs Koch in landlicher Abgeschiedenheit langsam heran und hatte auch bald Gelegenheit, sich mit Musik verfcraut zu machen; denn sein Vater, der selbst eine grosse Vorliebe fur diese Kunst besass, hielt streng darauf, dass fast allabendlich im trauten Familienkreise mehrstimmig gesungen und musiziert wurde. In seinem 11. Lebensjahre erhielt er den ersten Klavierunterricht bei einem Dorfschulmeister, der, was von einem solchen Manne doch viel besagen will, es in kurzer Zeit dahin brachte, dass Koch Sonaten von Beethoven und Clementi bewaltigen konnte. Auf dieser Stufe angelangt, er- wachte in dem jungen Talent natiirlich auch der Schaffensdrang und zeitigte die ersten Kompositionen, die wie die meisten Erzeugnisse dieser Art zwar mit unendlicher Begeisterung verfasst wurden, aber spaterer Erkenntnis zum Opfer fielen. Bevor wir von diesem Idyll Abschied nehmen, mochte ich es nicht unterlassen, bei dieser Gelegenheit zu erwahnen, dass Koch sich noch heute gern der gllicklichen Tage einer sonnigen Jugendzeit erinnert und mit besonderer Hingabe seines Yaters gedenkt, eines Mannes, der, selbst ein ausge- zeichneter Kimstler und grosser Naturfreund, es in vor- zuglicher Weise verstand, dem empfanglichen Kinder-
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herzen Lust zur Arbeit und friscliem Scliaffen einzuflossen. Koclis Briider sind selir geschatzte Kiinstler, beide Maler und mit dem Professor-Titel ausgezeichnet. Selbst in letzter Zeit war der Vater seinen schon ini reifen Mannes- alter stehenden Sohnen noch immer ein wertvoUer Be- rater und nahm an ihren kiinstlerischen Planen und Arbeiten mit regstem Interesse teil. 1905 starb dieser edle Mann.
Mit 16 Jahren kam Kocb auf die Konigl. Hoch- scbule zu Berlin und wurde hier Schiiler von Prof. Haus- mann (Violoncell) und Succo (Kontrapunkt), spater von den Professoren Bargiel und Radecke (Kontrapunkt und Komposition). Diese Lehrzeit dauerte 4 Jalire, wahrend- dessen der junge Kiinstler noch nebenbei als Cellist in einem alten Berliner Orcliester tatig war. Mit 21 Jahren wurde er als Cellist Mitglied der Konigl. Kapelle und begann jetzt erst seine Kompositionsstudien ernstlich zu vertiefen, so dass er mit 26 Jahren mit gutem Ge- wissen die ersten kleineren Werke im Druck erscheinen lassen konnte. Mit 27 Jahren veranstaltete er in der Singakademie ein Konzert mit dem Philharmonischen Orchester und fiihrte daselbst die Symphonie „Von der Nordsee", op. 4, die Symphonische Fuge, op. 8, ein Streichquartett und Lieder auf. Die Symphonie errang einen so begeisterfcen Erfolg, dass sie sofort von Hans von Billow und daraufhin in alien grosseren Stadten Deutschlands aufgefiihrt wurde. Auch Franz Wiillner, der Dirigent der Giirzenich-Konzerte in Koln wandte jetzt sein Interesse dem eigenartigen jungen Talente zu und brachte nach und nach fast alle Werke von ihm zur Auffiihrung. Ein Jahr spater erhielt Koch den Mendelssohn-Preis fiir ein S t r e i c h - trio, op. 9, das merkwiirdigerweise noch heute Manu- skript ist, und die II. Symphonie Gdur (an Billow), welch letzterer sie mit einem schmeichelhaften Schreiben annahm und in Hamburg zur Auffiihrung brachte. Im Jahre 1891 trat Koch aus der Konigl. Kapelle aus und nahm voriibergehend eine Stelle als Kapellmeister in Baden-Baden an. Im Winter desselben Jahres nach Berlin zuriickgekehrt , lebte Koch von da an standig in seiner Vaterstadt in erster Linie seinem musikalischen Schaffen und als hochgeschatzter Lehrer fiir Komposition
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und Kontrapunkt. Seit 1892 leitete Kocli viele Jahre einen gemischten Chor in Luckenwalde bei Berlin und trat gelegentlich als Dirigent auf. In diese Zeit fallt die Entstehung folgender Werke: Chorkantate „Der^ gefesselte Strom", op. 18, die zweiaktige Oper „Die Halliger" (am Kolner Stadttheater aufgefiihrt), wofur Koch eine Auszeiclinung gelegentlich der Luitpold- Opern-Konkurrenz in Miinclien zuteil wurde. Gleicli darauf schrieb Kocli eine zweite Oper „Lea" nach der HaufFschen Novelle „ Jud Suss", die (man sollte es nicht ftir moglicli halten!) ihres Stoffes wegen von alien grosseren in Betracht kommenden Buhnen abgelehnt wurde. Dazwiscben fallt eine grossere AnzaH kleinerer Werke, wie Lieder, Cborsaclien, Cellostticke etc. Das nachste grossere Werk ist das Chorwerk: „Das Sonnen- lied" nach der Edda.
1900 erhielt Koch den Titel konigl. Professor, 1901 wurde er Mito^lied der Konigl. Akademie der Ktinste zu Berlin und 1902 in den Senat der gleichen Genossenschaft berufen, ein Beweis dafiir, wie seine grossen Verdienste als schaffender Kiinstler auch an massgebender Stelle gewtirdigt werden. Als neuerwahltes Akademie-Mitglied schrieb Koch im Auftrage derselben eine Chorkantate „Halleluja", op. 27. Schon bei den Opern hat sich Koch die Texte selbst geschrieben, auch bei den folgenden Chorwerken: „Von den Tageszeiten" (Oratorium) und „Die deutsche Tanne" stammen die Worte aus seiner eigenen Peder. Als letztes Werk sei noch ein Violinkonzert genannt, das seine Urauffuhrung in dieser Saison durch JBram Eldering in Utrecht erlebt hat. Augenblicklich arbeitet Koch an einem neuen abendfiillenden biblischen Oratorium „Die Stindflat", von dem das Textbuch bereits vollendet ist, und die musikalische Ausarbeitung rtistig vorwartsschreitet. Zu bemerken ist noch, dass die grosseren Chorwerke in den Rheinlanden und auch im Auslande wiederholt mit grosstem Erfolge zur Auffuhrung gekommen sind.
Wie schon oben bemerkt legt Koch auf seine kleineren Werke tiberhaupt kein Gewicht, ich werde sie deshalb der Vollstandigkeit halber nur kurz er- wahnen; op. 1, Drei Noveletten fur Violoncello und Klavier (Prager & Meyer, Bremen), op. 2, Yaria-
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tionen iiber ein deutsches Lied fur Violoncello und Klavier (ebenda), op. 3, Quartett (ausrangiert), op. 5, Heil Dir auf dem Kaiserthron. Ein Fest- gesang fiir gemiscliten oder Mannerchor (Chr. Fr. Vieweg), op. 6, Vier Lieder fiir eine Singstimme und Klavier (Breitkopf &Hartel), op. 7, Konig Wilhelms Waffen- weihe. Eine melodramatisclie Festkantate fiir ge- mischten oder Mannerchor (Chr. Fr. Vieweg), op. 11, Vier Tanzstiicke fiir Violoncell und Klavier (Simrock), op. 12, Klein e Suite fiir Violine und Klavier (Augener & Co., London), op. 14, Vier Lyrische Stlicke fiir Violoncell und Klavier (Rieter - Biedermann) , op. 16, Sechs Lieder und Gesange fiir gemischten Chor (Schlesinger) , op. 17, Drei Charakterstiicke fiir Violoncell und Klavier (Aibl, Miinchen), op. 22, Fiinf ernste und heitere Gesange (Siegel, Leipzig), op. 23, Ernste und heitere Gesange (Kistner, Leipzig) und op. 28, Friedrich Barbarossa. Ein Festspiel fiir Chorgesang etc. (Vievreg).
Das erste grossere Werk ist die Symphonie „Von der N ordsee", op. 4 (Breitkopf & Hartel). Wer diesen mit jugendlichem Feuer geschriebenen, dabei aber auf jeglichen Schwulst verzichtenden, klar und durchsichtig gehaltenen Hymnus auf das Meer durchsieht, wird be- greifen, dass ein solches Erstlingswerk die Augen aller auf den jungen Autor lenken musste, und ihm die glanzendste Zukunffc prophezeit wurde. „Friesen- fahrt", der trotzige erste Satz, das stimmungsvolle Andante, „AbendamStrande" betitelt, das neckisch tandelnde Scherzo „ Spiel derWellen", sowie be- sonders das von wiirzigem Meerduft durchtrankte Finale „Auf hoher See" spiegeln das Milieu in packender Weise wieder und sind durchweg frisch erfunden, interessant gearbeitet und formvollendet aufgebaut. Die Instrumentation ist ebenfalls ausgezeichnet, was umso- mehr anzuerkennen ist, als hier nur die sogenannte klassische Besetzung (4 Horner, 2 Trompeten, 3 Posaunen) angewendet wurde. Eigene Ziige sind allerdings hier noch nicht zu finden. Das nachste Werk „Symphonische Fuge (CmoU), op. 8 fiir Orchester wendet sich an einen kleineren Kreis, namlich nur an musikalisch geschulte und kontrapunktisch durchgebildete Horer. Koch zeigt
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sicli hier als ein eminenter Kontrapunktiker, der nicht nur das Handwerksmassige seiner Kunst mit spielender Meisterschaft beherrsclit , sondern bei allem Konnen niclit vergisst, dass bei der Bewertung eines Kunst- werkes trotz allem Respekt vor der Kunstfertigkeit des Autors schliesslicli doch nur Erfindung und Pliantasie ausschlaggebend sind. Wer ein solches Haupttbema bin- stellt und dariiber in der schwierigsten Kunstform ein derartiges poesiedurcbtranktes Gebilde entsteben lasst, der kann getrost den Meisterfcitel flir sicb beansprucben! Wer die zabllosen Scbonbeiten dieser Fuge so recbt von Grund auf geniessen will, der nebme die Partitur zur Hand, der Klavierauszug gibt leider nur ein ganz entstelltes, diirftiges Bild davon. Das nacbste Orcbester- werk ist die IL Sympbonie (Gdur), op. 10 (Bote & Bock), die ibre Vorgangerin weit in den Scbatten stellt. Dort ein jugendlicbes, gesundes Musizieren obne ausge- sprocbenen Cbarakter, bier die Spracbe eines Fertigen, der bereits abseits vom Wege seine eigene Strasse ziebt und uns interessante Ausblicke in neues Land erscbliesst. Wie ich erfubr, soil diese Sympbonie bei weitem nicbt den einmtitigen, glanzenden Beifall wie ibre altere Scbwester erfabren baben, sondern verscbiedentlicb auf Widerspruch gestossen sein. Das nimmt durcbaus nicbt Wunder, es ist im Gfegenteil ganz erklarlicb und wobl Keinem erspart geblieben, der sicb von der breiten Heerstrasse abwendet und Eigenes zu sagen versucbt. Und Neues, viel Neues bringt diese Sympbonie. Gleicb das erste Tbema setzt friscb und keck ein, scbwingt sicb in weitem Bogen vorwarts und stlirmt mit jugendlicbem Feuer dabin, einem sicb ungesucbt ergebenden Hobe- punkte zu; diesem Tbema scbliessen sicb tbematiscbe Umkebrungen mit interessanten Nebenmotiven an und leiten zum zweiten Tbema tiber. Letzteres, ein kanoniscber Zwiegesang zwiscben Violoncell und Hoboe, zeicbnet sicb durcb keuscbe Anmut und liebenswiirdige Grazie aus und pragt sicb sofort durcb die feingezeicbnete, edle Melodik ein. Der darauf folgende Durcbfiibrungs- teil kann bier nicbt genau durcbgesprocben werden, es mag geniigen, wenn icb erwabne, dass den Tbemen durchweg bocbinteressante Verarbeitungen sowobl in melodiscber, barmoniscber und rbytbmiscber Beziebung
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wie auch in Hinsicht auf Kontrapunkt und Instrumen- tation zuteil werden. Nacli einem gigantischen Auf- schwung, der in einer aiisserst klilinen Trillerkette fllr das ganze Orchester (einschliesslicli Horner, Trompeten und Posaunen!) gipfelt, setzt die Reprise ein und fuhrt den Satz in wurdiger Weise zum Abschluss. Es folgt ein langsamer Satz in Form eines „Thema mit Varia- tionen". Im Gegensatz zum ersten Satz lagert iiber diesem Teil eine gewisse Schwermut, die sicli allerdings in den hochinteressanten, eigenartigen Yariationen zu energiscliem Handeln aufrafft, gegen den Schluss bin aber wieder die Oberband gewinnt und dem Satz da- durch ein elegiscbes, icb mocbte beinahe sagen nordiscbes Kolorit verleibt. Ein trotziges, damoniscb gefarbtes Scberzo mit ausserst kiibner instrumentaler Einkleidung scbliesst sich an, das Trio, eine in rbytbmiscber Be- ziebung barte Nuss (% und ^/^ Takt zu gleicber Zeit), ist nicbt nur geistvoll erdacbt, sondern aucb melodiscb. reizvoU und pracbtig instrumentiert. Kocb bat das wobl aucb selbst empfundeii, denn er deutet es nacb der Reprise nocb einmal an und verleibt dem Scberzo dadurcb einen sebr wirksamen Abscbluss. Das Finale scbliesst sicb in der Stimraung wieder dem ersten Satz an. Obne auf Einzelbeiten naber einzugeben, mocbte ich es nicbt unterlassen, besonders auf den letzten originellen Abscbnitt des Durcbfubrungsteils, sowie auf die im wesentlicben auf 2 Orgelpunkten aufgebaute stimmungs voile Coda mit ibrem Pianissimo-Abscbluss binzuweisen. Das grossziigige Werk stellt an die Aus- fubrenden allerdings ganz erbeblicbe Anforderungen, das kann aber nicbt der Grund dafiir sein, dass es so selten auf Programmen erscbeint. Es scbeint mir eber darin zu liegen, dass diese durcbaus gesunde, allem Krankbaften und Gesucbten aus dem Wege gebende Kunst nicbt nervenaufregend und verbluffend wirkt, gerade beutzutage, wo man durcb ins Masslose ge- steigerte ausserlicbe Mittel um jeden Preis Sensation zu macben versucbt. Jedenfalls ist es aufs Hocbste zu be- dauern, dass Kocb mit dieser Sympbonie die Reibe seiner Instrumentalwerke abgescblossen bat!
Auf dem Gebiete der Kammermusik liegen nur zwei Scbopfungen Kocbs vor, das Streicbtrio, op. 9 und
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Wald- Idyll, op. 20. Das Trio ist noch Manuskript, was wohl in der geringen Naclifrage fiir dieses Genre zu suchen ist. Es besteht aus fiinf Satzen iiberwiegend gefalligen Charakters und weist durctiweg noble The- matik und tiicbtige Verarbeitung auf; ausserdem ist es sebr dankbar fiir die drei Instrumente gescbrieben. — Eine gediegene, von edit Kocliscbem Geiste erfiillte Scliopfung ist Wald-Idyll, ein Heft Phantasiestucke fur Klavier, Violine und Violoncell, Die drei Satze „Mondandacht", „Nixenspuk" und „Waldes- rauscben" sind durcb ibre Titel geniigend gekenn- zeicbnet, so dass sich ein weiteres Eingeben ertibrigt. Erwalint mag nur werden, dass der dritte Satz sicb vollstandig von dem tiblicben unter diesem Titel dar- gebotenen Klingklang fernbalt, sich im Gegenteil mu- sikaliscb voUwertig gibt.
Auch in seiner ersten Oper „Die Halliger", zu der sicb Kocb den Text in Anlehnung an eine Novelle von Anton von Perfall selbst scbrieb, liberrascben so- wobl in der Dicbtung wie audi in der Musik die pracb- tigen Naturscbilderungen und die kraftstrotzenden, ur- wiicbsigen Szenen aus dem Volksleben. Aber aucb das dramatiscbe Element ist reich bedacbt und beweist, dass dem Dicbter-Komponisten bis dabin nur die Ge- legenbeit feblte, selbiges in seinen rein instrumentalen Scbopfungen geniigend zur Geltung zu bringen. Das gross angelegte zweiaktige Werk (ein Yorspiel und zwei Aufziige) ist durcbaus modern gebalten, Kocbs ausge- pragter Eigenwille lasst es jedocb zum Gliick nicbt zu, dass seine Musik vollig im Wagnerscben Epigonentum verharrt, wie es leider so vielen begeisterten Wagner- Anbangern zu ibrem Scbaden ergangen ist. Da „Die Halliger' seinerzeit am Kolner Stadttbeater die Feuer- probe mit bestem Gelingen bestanden und dadurcb ibre Lebensfabigkeit glanzend bewiesen, kann icb wobl von einer genauen Inbaltsangabe und Besprecbung absehen. Wie viele aussere Umstande manchmal das Scbicksai eines Biibnenwerkes beeinflussen, musste Kocb kurz nacb Beendigung seiner „Halliger" erfabren. Gingen docb zu jener Zeit nicbt weniger wie drei Opern in Szene, deren Handlung ungefabr gleicblautend mit seiner Arbeit war, die kurz gesagt eine Art Enoch Arden-
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Schicksal darstellt. Dass ,,Die Halliger" es unter diesen Umstanden iiberhaupt zu einer Auffulirurg brachten, spricht gewiss niclit zu ihren Ungunsten.
Die zweite Oper, namens Lea, ist noch nirgends zur Auffiihrung gekommen. Dem Text liegt die be- kannte Hauffsche Xovelle „ J u d S li s s" zu Grunde, deren mit epischer Breite dargestellten Inhalt Koch dramatisch zusammengefasst bat. Aus diesem Gesicbtspunkt heraus spielen sicb die Gescbebnisse kurz bintereinander ab, sodass keineiiei Langen oder Stockungen die Handlung aufbalten oder verscbleppen. Der Beginn der Oper bringt obne wesentlicbe Anderung den in der Novelle lebenswabr gescbilderten Maskenball. Mit der Ver- baftung des jungen von Lanbeck fallt der Vorbang, die Musik spielt jedocb weiter und leitet zur Verwandlung iiber, die den Scbauplatz nacb dem zwiscben dem ber- zoglicben Scbloss, der Festballe und dem Palais des jVIinisters Hegenden Park verlegt. In finsterer Nacbt sammeln sicb bier die Verscbworer und bescbliessen den Sturz des Titelbelden, der als allmacbtiger Minister und Giinstling des scbwerkranken Herzogs Karl Alexander von Wlirttemberg nacb Laune und Willkiir das ganze Land bedriickt und es sicb und seinem Anbang tribut- pflicbtig macbt. Nacb dieser Szene treffen Lea und der junge Lanbeck zusammen; letzterer gibt zunacbst tlber die Griinde der Preilassung aus seiner wider- recbtlicben Gefangennabme Aufklarung, dann aber ent- spinnt sicb, wabrend der Mond aufgebt, ein Zwiegesang der beiden von so wunderbarer Siisse und Innigkeit, wie man ibn in neueren Blibnenwerken nicbt so bald wiederfinden wird. Das Dazwiscbentreten von Jud Siiss (Leas Bruder) macbt diesem lyrischen Intermezzo jab ein Ende, und von jetzt an drangt die Handlung un- aufbaltsam dem Scblusse zu. Wabrend Siiss bemiibt ist, die Situation flir sicb auszuniitzen und den jungen Lanbeck zu einer baldigen Heirat mit Lea zu zwingen, finden sicb, durcb den Larm angelockt, nacb und nacb die Verscbworer, und unter ibn en der alte Lanbeck, ein. Dieser vergisst bei dem sicb ibm darbietenden Scbauspiel alle Vorsicbt und gibt seiner wabren Meinung tiber das Verbalten seines Sobnes so wie des Ministers riickbaltlos Ausdruck. Die erbitzten Gemliter prallen
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jetzt allenthalben aufeinander, woraus Jud Siiss wiederum den Vorteil zu ziehen gedenkt, sich aller Angreifer mit einem Schlage entledigen zu koiinen, und der Wache den Befehl gibt, die Yerscliworer samtlicli gefangen zu nehmen und zur Festung Hohenneufen abzufiiliren. Jetzt halten Letztere aber den Moment zur Ausfiihrung ihres Planes fur gekommen und rlisten sicli zum offenen Kampf. Walirend beide Parteien sicli klar zum Ge- fecht gegentiber stelien, erschallt plotzlich vom Scliloss her Glockengelaut , die Falme gelit auf Halbmast und ein Bote tritt mit der Nacliricht vom Tode des Herzogs auf: Jud Siiss, der sofort begreift, dass nunmebr seine Macht zu Ende, und seine Machenschaften aufgedeckt werden, stiirzt auf das Pferd des Boten zu, um eiligst zu entflielien und sich in Sicherheit zu bringen, wird jedoch daran verhindert und vom alten von Lanbeck im Namen der Stande Wiirttembergs fiir seines Amtes entsetzt und als Landesverrater verhaftet erklart. Lea, die an der Unschuld ihres Bruders nicht zweifelt, weist ihren Geliebten, der sie zuriickhalten will, ab und folgt ihrem Bruder ins Gefangnis, wahrend jener ohnmachtig in den Armen seines Vaters zusammenbricht.
Dies in Kiirze der Inhalt der Oper. Die Musik des Maskenfestes zeichnet sich durch erquickende Frische und lebendiges Kolorit aus. Koch hat fiir die Biihnen- musiken verschiedene alt-schwabische Volksweisen, wie Landler, Hupfer, Obendrauf verwendet und hierdurch ganz herrliche Effekte erzielt. Die Art und Weise, wie selbige auf der Biihne von mehreren Choren und einem kleinen Buhnenorchester (zunachst aus einer Violine, Flote, Klarinette, einem Horn und Fagott, spater aus einer Violine, einer Piccolo-, einer grossen Flote, einer Es-Klarinette, 3 Hornern, einem Violoncell und Fagott bestehend) zu Gehor gebracht werden, dazu im Yordergrunde die handelnden Personen un- unterbrochen ihren Part ausfiihren, und drittens das grosse Orchester seinerseits noch symphonisch hinzu- tritt, ist geradezu staunenswert und zeigt uns Koch als uniibertroffenen Meister des Kontrapunkts. Nach der Verwandlung packt die Verschworungsszene durch dramatische Lebendigkeit und charakteristische Orche- strierung, den Hohepunkt der Oper bildet jedoch das
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(larauffolgende Duett, das sowolil in Erfindung wie Innigkeit zu den schonsten Eingebungen Kochs gehort. Sowohl die Hdur-Stelle mit ihrer zauberhaften Instru- mentation (zunacbst Solo-Oboe auf der Biilme, sowie Harfe und Streichquartett , ganz langsam dann Holz- blaser, Horner und Pauken hinzutretend) wie audi der sich daranschliessende Kanon der beiden Singstimmen sind ganz in beriickenden Wohlklang getaucbt und mussen einen geradezu marchenbaften Reiz ausstrablen. Das Auftreten des Jud Siiss macht diesem wundervollen Idyll ein Ende, und nunmehr tritt die raulie Wirklich- keit wieder in ihr Recbt. Der Schluss der Oper lasst die Liebenden nochmals zu Worte kommen und legt ihnen wiederum ergreifende Tone unter.
Und dieses Werk ist noch nirgends aufgeftibrt Avorden; sollte sicb wirklicb kein Direktor finden, der es damit wagt? Ob es biibnenwirksam und ausserlich erfolgreicli ist, kann man naturlicli nicht vorher sagen, die Musik an sicli aber miisste meiner Meinung nach scbon allein durch den ihr innewohnenden Gebalt ein- schlagen.
Jedenfalls hat Koch durch sein Abschweifen von der symphonischen Musik nach diesen beiden einaktigen Opern den Vorteil gehabt, seine Begabung als Text- dichter erkannt und weiter ausgebildet zu haben, die ihn jetzt zu dem Hohepunkt seiner Kunst, dem abend- flillenden Chorwerk, geflihrt hat. Vorher gehen aller- dings schon einige Schopfungen auf diesem Gebiet, allerdings zu fremden Texten , die wir kurz erwahnen wollen.
„Der gefesselte Stro m", op. 18. Kantate nach Worten Holderlins fur Sopran-Solo, Chor und grosses Orchester (Bote & Bock) ist ein sehr vornehmes und gehaltvolles Werk, das bei guter Ausflihrung iiberall eines durchschlagenden Erfolges gewiss ist. Der Kom- ponist ist den Worten des Dichters mit sicherem In- stinkt gefolgt und hat dieselben ungemein vertieft. Die Themen sind symphonisch breit angelegt und werden durch einen grossztigigen Aufbau und polyphone Ver- arbeitung noch gesteigert, auch die Instrumentation zeichnet sich durch prachtige Schlaglichter , die Koch genau an den richtigen Stellen aufzusetzen versteht,
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aus. Das nachste Werk, „Das Sonnenlied" nach Worten des „Solarliodli" von Max Bamberger fiir Chor- gesang, Einzelstimmen , Orcliester uiid Orgel, op. 26 (Bote & Bock) ist woM das herbste und komplizierteste aus Kochs Feder. Zunachst wird wohl jeder etwas be- fremdet sein, denn unter einem Sonnenliede denkt man sich unwillktirlicli einen jubelnden Hymnus zu Eliren unserer Lebensspenderin. Hier dagegen finden wir einen ernsten und tief angelegten Text, der von den Nichtigkeiten un seres Daseins singt und auf ein besseres Jenseits hinweist. Es ist wie gesagt scliwer, sich sofort dieser Grundstimmung , die man keineswegs erwartet, anzupassen. Dem Komponisten muss nun zugestanden werden, dass seine Musik der herben, ecbt nordischen Scbwermut des Textes vollkommen gerecht wird, sie zwingt den Borer durcbaus in ibren Bann und wirkt noch lange nacb, es ist aber eine Bequiem-Stimmung, das Sonnenlied steht also gewissermassen mit seinem Titel in Widerspruch. Das Werk selbst giiedert sich in vier in sicb abgeschlossene Teile, von denen sicb der erste mit der ergreifenden Scbilderung der maje- statiscben Sonnenpracht und der mild verklarend aus- klingende letzte am leicbtesten zuganglicli erweisen. Der dritte Teil erscheint mir gegentiber den anderen etwas schwacb geraten, er wird gewissermassen erdriickt zwiscben den ibn umgebenden Giganten, von denen der zweite Satz, eine sebr kunstvoU gearbeitete freie Fuge, erst nach mehrmaligem Horen seine ihm inne- wohnenden Schonheiten enthlillt. Uberhaupt gehort das ganze Werk zu der Kategorie von Schopfungen, die durch ein liebevolles Studium erst voll und ganz verstanden wird, dann aber einen Eindruck furs Leben darstellt. Ein Gegenstiick zum Sonnenlied stellt das op. 27, „Halleluja", eine Festkantate nach Worten der Bibel fiir Chor, Einzelstimmen und Orchester (Chr. Vieweg) dar. AUes atmet hier Frohsinn und Jubel, Chor und Orchester wetteifern miteinander, um frohlockend sich gegenseitig zu iiberflugeln, nur der Mittelteil bringt ruhigere Stimmung zum Ausdruck. Wie die Vorrede besagt, ist das Halleluja im Auftrage der Kgl. Preuss. Akademie der Klinste zum Geburtstag Kaiser Wilhelms 11. am 27. Januar 1902 komponiert;
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man fiihlt es unbedingt aus der Musik heraus, dass Koch dieser Auftrag Freude gemacht hat. Wirklich einmal eine wertvolle Gelegenheitsmusik !
Das erste Chorwerk zu eigenen Worteii ist eine Manuskript-Komposition, betitelt : Polyhymnia. Eine Musen-Feier fiir Mannerchor, Einzelstimmen und Or- chester, op. 24. Das Werk stellt in Worten und Musik einen echten Hymnus dar, demzufolge hat der Autor hier das Hauptgewicht vornehmlich der melodischen Seite zugewandt und ist mit wohlbegriindeter Absicht komphzierter Schreibweise aus dem Wege gegangen. Es ist nicht zu bezweifeln, dass diese frische und in- folge ihrer Vorztige (wohlabgerundete Form und glanz- volle Instrumentation) hochst dankbare Komposition nach ihrer Drucklegung bald von alien grosseren Manner- choren aufgeftihrt werden diirfte. Wir kommen jetzt zu Kochs grosstem Werk, dem Oratorium: „Von den Tageszeiten" fiir Chorgesang, Einzelstimmen, Or- chester und Orgel, op. 29 (C. F. Kahnt Nachf.). Dieses Meisterwerk iiberragt samtliche mir bekannte moderne Erzeugnisse auf diesem Gebiete so turmhoch, dass ich, um es zu klassifizieren , auf unsere Klassiker zuriick- greifen mtisste. Andererseits ist Koch aber, von Jugend auf dem Fortschritt in der Kunst zugetan, zu modern, um in dem blossen Nachahmen seiner Vorganger Ge- niige zu finden. Wir sehen deshalb, wie in diesem Kunstwerk die bis dato obligaten, mitunter rein aasser- lichen Griinden ihre Entstehung verdankenden Fugen verschAvinden, um einer anderen , der jeweiligen Stim- mung entsprechenden, dabei aber durchaus polyphonen Ausdrucksweise Platz zu machen. Diese bewusste Uber- tragung der Wagnerschen Grundsatze auf ein echt konservativer Erstarrung anheimzufallen drohendes Ge- biet, scheint mir von weittragender Bedeutung zu sein. Da nach dem Urteil aller Kenner sich sowohl die Dichtung darch poetischen Gehalt, weihevollen Ernst und vornehme Sprache auszeichnet, wie audi die Ver- tonung durch reiche Erfindung, Eigenart, ungewohn- liches Konnen und farbenreiche Instrumentation hervor- ragt, scheint es mir nicht zweifelhaft, dass Koch infolge seiner Doppelbegabung als Wort- und Tondichter augen- blicklich ohne Rivalen dasteht und die Fiihrerschaffc
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auf diesem Boden fiir die nachste Zeit in seiner Hand behalten wird. Wer wie ich seit circa 15 Jahren be- obaclitet hat, wie dieser Autor mit eisernem Fleiss und unerbittlicher Selbstkritik an sicb gearbeitet hat und von Stufe zu Stufe emporgeklommen ist, um endlich als „Eigener" auf dem Gipfel anzulangen, der wird voUig iiberzeugt sein, dass es sich hier nicht um ein jahes Aufflackern einer blendenden Lokalgrosse, sondern um einen ehrlich errungenen Erfolg von bleibendem Werte handelt.
Der Text des Oratoriums „Von den Tageszeiten" nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er gewisser- massen drei nebeneinander herlaufende Handlungen enthalt, die aber durch die Grundidee wiederum im engsten Zusammenhange stehen. So sind dem Chor die dem Titel entsprechenden Naturschilderungen und -Stimmungen der vier Satze (Nacht, Morgen, Mittag und Abend) iibertragen, wahrend die Solostimmen, den Vorwurf als Symbol des menschlichen Lebens auffassend, die einzelnen Lebensabschnitte in poesievoller Weise zur Darstellung bringen. Wiederum hieran ankniipfend und den Hauptgedanken in das Gebiet der christlichen Religion emporhebend, wird das Leben unseres Heilands in vier Legenden besungen. Um letztere gleich vorweg ZQ nehmen, so erhalten sie dadurch ein ganz besonderes Geprage, dass sie vom Frauenchor und der Orgel aus entfernter Hohe erklingen, wahrend das Orchester nur von Zeit zu Zeit zarte Retouchen hinzufiigt. Ihre schlichte Natiirlichkeit und vertraumte Innigkeit stem- peln sie zu wahren Perlen geistlicher Musik, an denen weiss Gott kein tJberfluss vorhanden ist.
Im ersten Teil sind besonders der die teils unheil- voUen, teils segenspendenden Einfliisse der Nacht schil- dernde Eingangschor , der ausserordentlich charakte- ristische und eigenartige „Zug des Todes" (Tenorsolo, Frauen- und Mannerchore), die Legende „Heilige Nacht" und der trostspendende „Nachtsegen" (Chor, Soli und Orchester) hervorzuheben. Im zweiten Teile tritt zu- nachst der Landmann (Bariton) auf, ihm werden von jetzt ab alle bedeutenden Einzelgesange iibertragen, sodass er als der Hauptsolist des ganzen Werkes be- zeichnet werden muss. Diese Partie ist zwar iiberaus
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scliwierig und verlangt zu ihrer Bewaltigung einen Sanger und Vortragsklinstler allerersten Ranges, der ihr innewolinende poetisclie Gehalt und die Yielseitig- keit der zum Ausdruck kommenden Stimmun gen sicliern dem Solisten aber stets einen bedeutenden Erfolg. Sein erster Gesang schildert den Tagesanbrucli und den Be- ginn der Morgenrote, hierauf setzt allmahlich der Chor ein; es folgt ein maclitvoll sich steigernder und mit berauschender Farbenpracbt gemalter Sonnenauf- gang. Im Gegensatz zu dem bis bierher ernsten Grund- ton roUt sich jetzfc ein lieblicbes Morgenidyll eines Friiblingstages auf, zu dem wiederum die Legende „Jesus im Tempel" eine weihevoUe Unterbrecliung bildet. Der folgende Cborsatz „Sonntag - Morgen" nimmt die Stimmung auf und gibt diesem Teil durch seinen tief empfundenen dicbterischen und musikaliscben Gebalt einen wurdigen Abschluss. Der dritte Teil bringt nacb einer anscbaulicben Cbarakteristik der scbwiilen Mittags- stande (Landmann) ein urwucbsiges und pragnantes Schnitterlied (Chor). An die darauffolgende , wunder- voll eingefiihrte Legende „Bergpredigt" schliesst sich €in Hymnus „Erntedank" ftir Bariton und Chor, der in Erfindung und Stimmung von grosster Gefiihlswarme zeugfc. Der Schlussteil bringt nach ein em einleitenden Soloquartett (Heimkehr) keck hingeworfene, realistische Volksszenen. Die Art und Weise, wie Koch in den Bildern „Unter der Linde", „Tanzlied" und „Trinklied" volksttimlich schreibt und dabei doch stets vornehm und geistreich bleibt, ist schon des ofteren in diesem Artikel beleuchtet worden, es sei deshalb nur noch einmal wiederholt, dass er auch bier voUkommen auf der Hohe ist. Ein milder, betagter Wanderer (als Symbol des Abends) sieht dem frohlichen Treiben zu und lasst im Geiste sein Leben noch einmal an sich vorliberziehen ; „ich fiihl' den Abend nah'n ; wie Todes- sehnsucht Purpurgluten winken — ich komme bald, hab' nun genug getan!" leiten ergreifend zur Legende ^,Golsfatha" iiber. Es folgt, von den Abschiedsworten des Wanderers unterbrochen, eine grosszllgig angelegte Vertonung des Vaterunser; bei den Worten: „Denn Dein ist das Reich" u. s. w. setzt eine sich machtvoll steigernde 8 stimmige Fuge ein, die den gewaltigen und
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kronenden Abschluss des abendfullenden Werkes bildet. Dass Koch den fiir diese grandiose Schopfung aufge- botenen Apparat im vollsten Sinne des Wortes spielend beherrsclit, bedarf wolil keiner besonderen Erwahnung. Auf Einzelheiten naber einzugeben, fehlt bier leider der Platz, der vorzuglicb abgefasste Klavierauszug mag aber jedem Interessenten erapfohlen werden.
„DiedeutscbeTann e". Ein Idyll aus deutscbem Bergeswald nacb eigenen Worten fiir eine tiefe Manner- stimme, Cborgesang und Orcbester, op. 30 (C. F. Kabnt Nacbf.) ist entsprecbend seinem Yorwurf einfacber ge- balten und entfaltet in liebenswiirdiger Weise den wobl alien Deutscben innewobnenden Hang, sicb in die Romantik unserer berrlicben deutscben Walder zu ver- senken. Das bei weitem kleiner angelegte, taufriscbe Werk wird desbalb allentbalben ein liebevolles Ent- gegenkommen finden, zumal es fur den Cbor keine wesentlicben Scbwierigkeiten entbalt, und nur ein einziger Solist, dessen Partie allerdings gut ausgearbeitet werden muss, erforderlicb ist. Immerbin muss jedocb nocb gesagt werden, dass die Musik weit entfernt von jeglicber Liedertafelei ist, vielmebr selbst im kleinen Rabmen durcbaus polypbon und kiinstleriscb vollwertig bleibt.
Wie scbon oben erwabnt, arbeitet Kocb jetzt an einem neuen abendfullenden Cborwerk. Da er dem Trubel der Grossstadt und dem damit verbundenen Anstrengun gen und Aufregungen konsequent aus dem Wege gebt und sein Gluck im bauslicben Kreise (er ist verbeiratet und Vater zweier boffnungsvoller Knaben) findet, ist anzunebmen, dass er aucb fernerbin die zum Scbaffen grosserer Werke erforderlicbe Sammlung sicb bewabren und uns aucb in Zukunft nocb eine statt- licbe Reibe ausgereifter Werke von gleicbem Kunstwert bescberen wird.
Pilot. Constantin Luck, Dusseldorf.
Frank L. Limbert.
Dr. Frank L. Limbert
(geb. zu Rew York am 15. nouember 1866),
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Dr. Frank L Limbert
R. Eccarius-Sieber.
Der Name Dr. Frank L. Limbert hat im Musik- Jeben schon einen guten Klang. Besonders sind es Limberts Kammermusikwerke, denen man in den letzten Jahren immer ofter begegnet und die iiberall lebhaftes Interesse erregen. Sie sind fesselnd im Inbalt, klar in der Form, gewahlt im Ausdruck und verraten die rege Phantasie eines musikalisch fein geschulten, die Satz- tecbnik voUkommen beherrscbenden Kiinstlers.
Frank Limbert wurde am 15. November 1866 zu New York geboren, siedelte aber scbon 1874 mit seinem Vater nach dessen Geburtsstadt Hanau iiber, um dann dauernden Aufentbalt im Vaterlande nebmen zu sollen. Das Dr. Hochsche Konservatorium besucbte der talent- voile Junger der Kunst von 1882 — 88. Carl Falten, James Kwast unterricbteten ibn im Klavierspiele , zu dem sicb Frank Limbert am meisten bingezogen fiiblte ; Iwan Knorr, Franz M. Bohme, Bernbard Scbolz waren seine Lebrer in den tbeoretiscben Facbern und in der Komposition. Nebenbei wurde aber aucb nocb Orgel, Violine und Viola alta geiibt. Aus dieser vielseitigen musikaliscben Betatigung von Jugend auf lasst sicb Limberts umfassendes Wissen und Konnen als aus- iibender und lebrender Musiker erklaren. Im Winter 1888/89 lebte er in Miincben, um sicb bei Rbeinberger mit kompositorischen Arbeiten zu bescbaftigen und weiter zu bilden.
Das folgende Jabr sab den Kiinstler bereits in der Praxis, als Dirigent des Instrumentalvereins seiner Vater- stadt Hanau; docb nur voriibergebend. Der Drang zu
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umfassenden Studien trieb den Wissensdurstigen noch- mals in die Fremde. Von 1890 — 94 war Frank Limbert Student der Musikwissenschaft etc. an den Universitaten Berlin, wo er Spittas und Bellermanns Vorlesungen horte, und Strassburg, wohin ihn Jacobsthals Name lockte. Die Doktorwiirde erwarb er sicb an letzt- genannter Hochschule mit einer Dissertation „Uber die volkstiimliche Musik (und Ballade) in England".
Dann ging der junge Gelehrte nochmals iiber das grosse Wasser, nach Amerika, wo seine Wiege stand; eine Erholungreise , welclie die lange und fruchtbare Studienzeit nun endgiltig abscbloss. Kaum nach Hanau zuriickgekebrt, traf Limbert (1895) daselbst die ehren- volle Wahl zum Dirigenten des 1848 gegrundeten, an- gesehenen ^Oratorienvereins". Damit wurde ihm eine Wirkungsstatte geboten, wo er seine reichen Facli- kenntnisse nutzbar anlegen konnte. Wohl folgte Dr. Limbert 1901 dem Rufe als Leiter des dortigen ^Gesangvereins" nach Diisseldorf, doch gab er diesen wenig dankbaren Posten in einer Stadt, die friiher einmal Mendelssohn, Schumann in ihren Mauern barg, aber neuerdings mehr und mehr ihre Bedeutung als Musik- oder Kunststadt einbiisste, bald wieder auf, um die bei seinem Weggange von Hanau sowieso nur provisorisch besetzte Direktion des Oratorienvereins wieder zu iiber- nehmen. Zudem berief ihn neuerdings noch der hoch an- gesehene, bereits 1828 gegrlindete Mannerchor Frankfurts, der ^Frankfurter Liederkranz", Eigentiimer der Mozart- stiftung, zu seinem Chormeister und das Raff-Konser- vatorium als Lehrer fur Theorie und Komposition.
Eine stattliche Anzahl von Kompositionen ist be- reits von Dr. Frank L. Limbert erschienen. Als op. 15 kam (bei N. Simrock, Berlin) das interessante , form- gewandte und stimmungsvolle Streichquartett in FmoU heraus. Mit viel Erfolg wurden ferner die beiden Sonaten op. 4 in Adur fur Violine und Klavier, sowie die vortreffliche op. 7 in Cmoll filr Viola (Bratsche) und Klavier (erschienen bei E. Germann, fruher Steyl & Thomas, Regensburg) aufgefiihrt. Drei Praludien und Fugen fiir Klavier op. 1 (ebenda verlegt), eine F moll-Rhapsodie op. 8 (Verlag der freien musikal. Ver- einigung, Berlin), 3 Klavierstucke : „2 Intermezzi und
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Ballade" (op. 10) (Germann, Regensburg), gehoren zu den gediegensten Erscheinungen der neueren Klavier- literatur. Ferner schrieb Limbert auch ein Konzert- stiick fiir Klavier und Orchester (op. 3).
Von Vokalwerken sind zq nennen 3 Gesange mit Klavier op. 2 (Rob. Forberg, Verlag), 2 Lieder fiir bohe Stimme op. 13 (Germann), 4 Gesange „Aus den Liedern eines Wanderburscben", Zyklus fiir Bariton mit Klavierbegleitung (Germann) , die Gesange op. 20 (ebenda) und die 5 Duette op. 12 (Verlag freie Ver- einigung). Ein Zyklus von Sonetten (von Lenaa) fiir Sopran, Alt, Tenor, Bass a capella (op. 6), sowie die reizenden „Fiinf deutscben Minnelieder in Tanzform" fiir Sopran, Alt, Tenor, Bass mit Klavier baben sicb bereits gut im Konzertsaale eingefiibrt. Ebenso erfreuen sicb neben den Mannercborliedern op. 9, die a capella- Chore „Agnus dei" (6stimmig), ^Sanctus" (Sstimmig), ^Hosanna" (4stimmig) op. 17 (Germann) und die „Vier Mannercbore" op. 19 (Oppenbeimer, Hameln) allgemeiner Beliebtbeit. Als ganz apartes Werk aber mocbten wir die Frauenchore mit Klavier op. 22 bezeicbnen, welche zu den vornebmsten und sangbarsten Kompositionen ibrer Art geboren und bereits mit grossem Erfolge aufgefiihrt wurden. Es sind dies: „Altes Kindheit- Jesu-Lied", „Die Verlassene", „Unter der Linde", 3 stimmig mit Klavier und ^Floret silva nobilis", 6 stimmig a capella (verlegt bei Jul. Hainauer). Bei der Vielseitigkeit der Begabung Dr. Limberts miisste es endlicb unbegreiflicb erscbeinen, wenn von ibm nicbt aucb die Orcbester- komposition gepflegt wurde. In der Tat erscbienen soeben (bei Breitkopf & Hartel) als op. 16 „Variationen fiir Orcbester iiber ein Handeltbema", eine Arbeit, welcbe durcb Gedankenreicbtum, Klarbeit der Form und vor- nebme Instrumentierung wirkt und ibren Autor als einen berufenen Tondicbter der gemassigten, neuklassiscben Ricbtung kennzeicbnet.
Phot. Adolph Hartmann, Dessau.
Franz Mikorey.
Franz mikorey
(geb. zu miinchen am 3. ]uni 1873).
Franz Mikorey
Ernst Hamann.
„Als die hochsten Aufgaben fiir das Orchester'', so schreibt Richard Wagner in seiner Broschiire „Uber das Dirigieren", „in einer Mozartschen Partitur enthalten waren, stand an der Spitze desselben der eigentlich deutsche Kapellmeister, stets ein Mann von gewichtigem Ansehen, sicher, streng, despotisch und namentlich grob. Als letzter dieser Gattung wurde mir Friedrich Schneider in Dessau bekannt." Zu seinem Nachfolger berief man, nachdem Schneider gestorben, seinen Schiller Eduard Thiele, der »die Bedlirfnisse der neueren Zeit und ihres Kunststiles" klarer erkannte und ihnen grossere Gerechtigkeit widerfahren Hess. Einem August Klug- hardt jedoch erst war es vorbehalten, hier in durch- greifendster Art Wandel zu schaffen, und als dieser hochverdiente Mann im Jahre 1902 allzufruh die Augen zum ewigen Schlummer schloss, trat Franz Mikorey in Dessau ein schones Erbe an, das er bislang in steter Treue verwaltet und mit emsigem Fleiss und Eifer ge- mehrt hat.
In Franz Mikoreys Adern pulsiert echtes Theater- blut. Sein Vater ist der Miinchener Kammersanger Max Mikorey. Dieser, am 15. Sept. 1850 zu Weih- michel in Bayern geboren , besuchte spater das Gym- nasium in Miinchen. Hier wurde bei Gelegenheit seiner Mitwirkung in Kirchenmusiken seine schone Tenor- stimme entdeckt und ihm der Rat gegeben, sich der Buhne zu widmen. Sein erstes Engagement fiihrte ihn an das Stadttheater zu Zurich, wo er im Chor und in kleinen Solopartien Beschaftigung fand. Seine Teil-
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nahme bei den ersten Miinchener Meistersinger-Auf- fuhrungen hatte eine Verpflichtung fiir das Gartnerplatz- Theater im Gefolge. Von nun an ubemahm Heinrich Vogl die Ausbildung des jungen Sangers, der in so trefflicher Schule bald derartige Fortschritte maclite, dass man ihn 1878 in den Verband der Miincheaer Hofoper berief. Durch rastlosen Fleiss und eiserne Energie stieg er hier von Stufe zu Stufe bis zum Kammersanger empor. Ein schones Zeugnis fiir den allgemein beliebten Klinstler bildet em Brief, den Ge- neralintendant Ernst vonPossartMikorey zum 25 jahrigen Jubilaum seiner Tatigkeit an der Miinchener Hof biihne iibersandte. Unter anderem heisst es darin : „Sie, lieber Jubilar, haben im Sinne der echten Kunst jede Auf- gabe, sei sie klein oder gross, mit gleicher Hingebung und gleichem Eifer zu losen erstrebt. Unvergesslich bleiben Sie alien Zeitgenossen als Raoul, Arnold, Hiion, Erik, David und nicht minder als Walther Stolzing. Wahrlich, Sie diirfen das erhebende Bewusstsein in sich tragen, Ihrem hohen Lehrer und Meister Heinrich Vogl iramerdar Ehre gemacht zu haben." Als Sohn dieses gefeierten Kiinstlers wurde Franz Mikorey am 3. Juni 1873 in Miinchen geboren. Den ersten Klavier- unterricht erhielt er durch den Hoforganisten Blum- schein, der den musikalischen Knaben gleichzeitig in die Harmonielehre einfiihrte. Spater absolvierte Franz Mikorey das humanistische Gymnasium seiner Vater- stadt, studierte auch am selben Orte etliche Semester Philologie und war so auf dem besten Wege, seinen wahren Beruf zu verfehlen. Nachdem er sich beim Generalmusikdirektor Hermann Levy einer griindlichen Priifung unterzogen, entsagte Franz Mikorey auf Levys dringendes Anraten dem Studium der Sprachen und widmete sich ganz der Musik. Heinrich Schwarz in Miinchen iibernahm seine pianistische Ausbildung, wahrend Ludwig Thuille (Miinchen) und Heinrich von Herzogenberg in Berlin ihn in die tiefsten Geheimnisse der Theorie einweihten. Auf die Beendigung des Studiums folgte eine reiche und vielseitige praktische Tatigkeit. Gleichzeitig mit Engelbert Humperdink, Heinrich Porges und Siegfried Wagner finden wir 1894 den Einundzwanzigjahrigen als Mitglied der „musika-
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lischen Assistenz" in Bayreuth. Von hier aus nahm ihn Levy, der die Festspiele dirigierte, wieder mit nach Miinchen zuriick, wo der angehende Kapellmeister von der Pike auf diente. Er hielt Chorproben ab, studierte Solopartien ein, dirigierte die Bulinenmusik u. a. m. Aus dieser Beschaftigung „hinter der Gardine" wurde Franz Mikorey auf Empfehlung Hermann Levys durch Angelo Neumann befreit, der den jungen Kiinstler als dritten Kapellmeister an das deutsche Landestheater in Prag berief. Hier fuhrte sich dieser mit der Einstudie- rung und Leitung von Humperdinks ^Hansel und Gretel" vorteilhaft ein. Da er aber in Prag als ^dritter" nur selten zum Dirigieren kam und dann nur eben das iibernehmen musste, was die beiden anderen fiir sich als zu geringfugig erachteten, so hielt es ihn hier nicht lange. „Aut Caesar, aut nihil" mochte er denken; er verliess das grossere Theater, um an einem kleineren • — in Regensburg — der Erste zu sein. Jetzt erwarb er sich als Alleinherrscher in allem die notige Routine, dirigierte audi zum ersten Male die Meistersinger, bei welcher Vorstellung sein Vater den Walther Stolzing sang, und erfreute sich an diesem Orte der besonderen Huld des Fiirsten von Turn und Taxis, auf dessen Veranlassung Franz Mikoreys Symphonie „An der Adria", von der weiterhin ausfiihrlicher die Rede sein wird, erstmalig als Ganzes aufgefuhrt wurde. Nach nur ein- jahriger Wirksamkeit in Regensburg ging Franz Mi- korey an das Stadttheater zu Elberfeld, wo er zwei Jahre verblieb. Hier in Elberfeld entfaltete der junge Kapellmeister eine rastlose Tatigkeit. Als Neuauffiih- rungen erschienen unter seiner Agide — etliche dar- unter als uberhaupt erste in Deutschland — die Opern ^Phryne", „Der Barbier von Bagdad", „Samson und Dalila", „Heinrich VHI." (Saint-Saens) , ,Die Konigin von Saba", „Winkelried", „Uthal" etc. Ein von Franz Mikorey geleiteter Mozart-Zyklus verlief derart erfolg- reich, dass Gustav Mahler im November 1900 den Elberfelder Kapellmeister zu einem sechswochentlichen „Dirigentengastspiel" an der Wiener Hofoper einlud. Mit Meyerbeers J)ev Prophet" errang er sich die un- geteilte Anerkennung des Publikums und der Kritik. Bald folgten „Lohengrin" und „Bajazzo" mit gleich
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gunstigem Ergebnis. Die Presse nannte Mikorey nacli der Lohengrin-Auffiihrung ^einen ganzen Mann, ener- gisch, feurig, umsichtig", dessen Sicherheit „staunens- wert, dessen Fiihrung zuverlassig und die Szene dra- matisch belebend" sei, und nach dem ^Bajazzo" las man; „Der junge Mann verdient voile Aufmerksamkeit. Da scheint ein Feuerkopf mit grossen Gaben am Werk etc. etc." Trotz dieser Erfolge und obwohl be- reits ein sechsjahriger Kontrakt vereinbart war, warde deni jungen Kapellmeister eines Tages plotzlich er- offnet, da&s man in Wien keine geeignete Beschaftigung mehr fiir ihn habe. Man kann sich vorstellen, wie diese Erklarung den rastlos Vorwartsstrebenden treffen musste, den nach solchen Erfolgen die Zakunft im rosigsten Lichte erschien. Grollend schied er von Wien, um dem Theater ganzlich den Rucken zu kehren und nur der Komposition zu leben. In Garmisch bezog er ein trautes Heini und schuf hier im Angesichte der Wunder der Alpenwelt frisch und frei, v^^ie's ihm urns Herz v^ar und „wie ihm der Geist gab auszusprechen*. Da erreichte ihn im Anfang August 1902 die Nach- richt von August Klughardts unerwartet friihem Tode. Auf Anregung und Empfehlung Ernst von Possarts bewarb er sich unter etlichen fiinfzig Anwarfcern um die erledigte Stelle. Aas dieser grossen Zahl gelangten nur drei zur engeren Wahl. Aber nur einer kam und — blieb: der damals neunundzwanzigjahrige Franz Mikorey. Von Seiner Hoheit dem kunstbegeisterten Erbprinzen Friedrich, dem obersten Leiter des Dessauer Hoftheaters, wurden dem Kunstler Aufgaben mannig- fachster Art zugewiesen, die er alle trefflich zu losen wusste; und als der hohe Herr mit feinem Kunstver- standnis und scharfem Blick die hochbedeutenden Fahig- keiten Franz Mikoreys erkannt hatte, erfolgte bald das Engagement und nach halbjahriger Tatigkeit am Dirigentenpulte die Anstellung auf Lebenzeit. Als wohlbestalltem Herzoglich- Anhaltischem Hof kapell- meister hot sich und bietet sich noch fortan der genialen Kiinstlernatur Mikorej^s auf dem Gebiete der Oper, der Hofkapellkonzerte, der Kammermusik, sowie durch die Chorauffiihrungen der Singakademie und der alle zwei Jahre wiederkehrenden anhaltischen Musikfeste ein v^eites
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Feld zu reichster kiinstlerischer Betatigung. Als Opern- dirigent dokumentiert Franz Mikorey neben der vollen BeherrschuDg der Partitur eine Umsicht, die nichts aus dem Auge verliert und niemals den notigen Zusammen- liang zwisclien Buhne und Orchester vermissen lasst. Dazu gesellt sich bei den grosseren Aufgaben das rich- tige Verstandnis fur den dramatischen Gesang und Aus- druck sowie dessen Ubertragung auch in die Instru- mentalstimmen und endlich ausser einem hochpoetischen musikalisclien Feinempfinden eine Energie, wie sie nur, um mit Richard Wagner zu reden, ein auf wirklich eigener Kraft berubendes Selbstvertrauen geben kann. Wie im Bereicbe der Oper, so vermag sich der Dessauer Hofkapellmeister auch als Dirigent der Hofkapellkon- zerte grosser Erfolge zu ruhmen. Ohne die klassischen und romantiscben Werke zu vernachlassigen, bringt er naturgemass dem Modernen das weitestgebende Inter- esse entgegen. An Novitaten vermittelte er wabrend der vier Jahre seines bisberigen Wirkens unter mancb anderem Richard Strauss' „Tod und Verklarung", Franz Liszts ^Tasso", „Die Ideale", die ^Dante-Sympbonie" von Anton Bruckner, den Franz Mikorey in Dessau iiber- haupt erstmalig zu Worte kommen liess, die IV. Syni- pbonie in Es, die ,,Ronciantiscbe'* genannt, nach ibr die V. in B dur, dann die VII. in E mit ibrem uberwaltigenden Cismoll Tuben-Adagio , weiter Alexander Ritters sym- pbonische Trauermusik „Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe" u. m. a. Als Pianist betatigt sich Franz Mikorey ausser durch seine feinsinnigen, anschmiegsamen Liederbeglei- tungen in erster Linie durch seine Mitwirkung bei den Kammermusikabenden. Eine bocbentwickelte, leicht- flussige Fingertecbnik , ein iiberaus modulationsfabiger Anscblag und eine wahrbaft innige Beseelung sind die Hauptvorziige seines Klavierspieles. Mit der Dessauer Singakademie , und gelegentlicb der bislang von ibm dirigierten anbaltiscben Musikfeste, die nacheinander in Dessau, Zerbst, Bernburg und Cothen stattfinden und zu denen die grossen gemischtchorigen Gesang- vereine der genannten Orte das Cborpersonal stellen, kamen als Neuheiten Liszts ^Christus^-Oratorium, des- selben Meisters Chore zu Herders „Der entfesselte Pro- metheus" sowie Bruckners „Te deum" zu Gehor und
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in einem Dessauer Singakademie-Konzert auch Wolf- Ferraris zartsinniges „La vita nuova".
Hochbedeutsam wie als reproduzierender Musiker zeigt sich Franz Mikorey auch als selbstschafFender Kiinstler. Auf dem Gebiete der Symphonie fur grosses Orchester, der Chorkomposition , des Instrumentalkon- zerts, als Komponist von Klavierstucken und einer statt- liclien Anzahl von Liedern hat er bereits Hervorragendes geleistet. Zwei Symphonien sind bisher aus Franz Mikoreys Feder geflossen, eine ^tragische", die meines Wissens noch nicht aufgefiihrt warde, und eine heitere, ,An der Adria" betitelt, deren erster Satz in Prag und Elberfeld erklang, und die als Ganzes in Regensburg, Dessau und Biickeburg erschien. Sie ist, wie Joseph Stransky 1897 iiber sie schrieb, in der Tat geeignet, grosstes Interesse hervorzurufen , da sie in ihrer ge- danklichen Tiefe und durchaus reifen Arbeit kaum ahnen lasst, dass sie von einem noch nicht vierund- zwanzigjahrigen Komponisten stamme. Das aussere charakteristische Merkmal des Werkes ist seine kraft- strotzende Gesundheit, seine pausbackige Frische; frei von Weltschmerz, frei von philosophierenden Medi- tationen bietet sich diese Musik dar, kiihn und neu, dabei doch warm und vertraut. Der Titel „An der Adria" konnte die Meinung aufkommen lassen, es handele sich hier um eine Programmmusik im modernen Sinne. Das ist aber keineswegs der Fall. Die Auf- schriften der Satze — L Meerfahrt, 11. Ruhige See, III. Sturm und Strandidyll, IV. Auf dem Markusplatz in Venedig — geben dem musikalischen Empfinden eine gewisse Richtung, zwingen uns aber nicht, mit einem Programme in der Hand der Fiihrung des Kom- ponisten genau zu folgen, sondern lassen nach aus- gegebener Parole durchaus freien Gedankengang. Einen Vorzug, der heute zur Seltenheit geworden ist, weist das Werk als typisches Merkmal auf: die Formschon- heit. So fest gefiigt ist der monumentale Bau eines jeden Satzes, so selbstverstandlich reiht sich mit un- bestreitbarer Folgerichtigkeit Periode an Periode, mit solch unanzweifelbarer Logik tritt Gedanke zu Ge- danken, dass man nicht umhin konnen wird, Mikorey fur eines der hervorragendsten Formtalente Jungdeutsch-
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lands zu bezeichnen. Die Themen sind von anheimelnder Natiirlichkeit und ehrlicher Urspriinglichkeit und sprechen fiir die reiche Erfindungskraft des Komponisten. In den Dienst der originellen Gedanken stellt sich nun eine Technik, die ganz wunderbar, bei einem so jungen Kunstler schier unbegreiflich ist, und die nicht nur als der Ausfluss einer diesbeziiglichen genialen Veranlagung, sondern auch als die Frucht eines eisernen Fleisses zu betrachten ist. Der ungemein komplizierte Kontra- punkt, den Mikorey scLreibt, ist trotz der kunstvollsten Beschaffenheit immer verstandlich, das Tongewebe, sei es auch noch so verfitzt, wird nie zum unentwirrbaren Knoten. In einem Artikel „Franz Mikorey als Sym- phoniker" aussert sich der als Musikschriftsteller weitest bekannte und mit Fug und Recht hocheingeschatzte Prof. Dr. Arthur Seidl iiber die Adria-Symphonie u. a.: „Ein entschiedener Einschlag siiddeutschen Tempera- mentes hat da vor allem eine grosse Frischzugigkeit gezeitigt in dieser warmbliitig-interessanten Tondichtung mit programmatischer Unterlage. Bei aller Feinnervig- keit und allem Zartgefiihl des Empfindens, wie zugleich aller traumerischen Sinnigkeit eines reichbewegten Ge- miitslebens, sind diese zum Teil mehr objektiven Schil- derungen, zum Teil wieder rein subjektiven Spiegelungen empfangener Natur- und aufgefangener Lokaleindrucke durch die liebenswiirdige Kunstlerhingabe an einen das Leben segnenden, seine Reize keck bejahenden Welt- Optimismus besonders ausgezeichnet — sehr zum Vor- teil gegeniiber so manchen Geistesprodukten der Kunst unserer Tage vom verneinenden Winkel weltschmerz- licher Katzenjammerlichkeit. Ein in meist vornehmer (oder fiir das geforderte Nationalkolorit zum mindesten charakteristischer) Linie sich bewegendes melodisches Vermogen, glanzender Farbensinn, und eine ausge- sprochen dekorative Kraft vereinigen sich mit spezifisch moderner Harmonik, eigenartigen Instrumentaleinfallen und straffer Formenzucht zu einem ebenso stimmungs- echten, wie plastisch einpragsamen Gebilde, d. h. zu einem nicht etwa impressionistisch verschwimmenden, sondern mit solch klarer Abrundung in den einzelnen Satzen sich audi angemessen steigernden, im scharf- kontrastierenden Schlussteile sogar ausserlich uberaus
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wirksani ausklingenden Ganzen, das sicli sehr wohl horen lassen kann, will sageD, die ideale Konkurrenz mit den besten unter den Zeitgenossen wohl aufnehmen darf". — Von den Chorkompositionen Franz Mikoreys wurde die „Nordisclie Sommernacht" fur Soli, Miinnerchor und Orchester, die er als erst 19jahriger geschaflPen, in Mlinchen, Frankfurt, Wien, Graz und Reichenberg mit nnbestrittenem Erfolge aufgefiibrt. Voller Stimmung malt sie — so las man nacb der MUncbener Premiere — den Zanber einer nordiscben Sommernacbt am leucb- tenden Hertbasee. Wir erscbauen die am Ufer zum Opfer versammelte Druidenscbar, Priester, scbneeweisse, scbnaubende Rosse. Mit dramatiscben Accenten nebmen die dem Tode geweibten Opfer, ein Greis und ein Jiingling, vom Leben Abscbied. In erscbiitternden Tonen vernebmen wir den Vollzug des Opfers. Er- loscbende Pracbt kiindet das Ende der nordiscben Sommernacbt. Der Cborsatz bekundet durcbgebendst Originalitat ; die Orcbesterbebandlung ist ausserst ge- wandt, und dem grossen modernen Orcbester werden pracbtige Klangeffekte entlockt, wie iiberbaupt das Werk gewaltig aufgebaute Steigerungen entbalt. — Neuesten Datums ist ein a capella-Cbor „Frubling und Frauen", Text von Waltber von der Vogelweide. Das immens scbwierige doppelcborige Werk ist dem Ber- liner Lebrergesangverein und seinem Dirigenten, Prof. Felix Scbmidt, gewidmet, und wird durcb diese Korper- scbaft in Balde seine Erstaufflibrung erleben. — Unter den Klavierwerken Franz Mikoreys nimmt sein Adur- Klavierkonzert , das am 6. Februar 1905 in einem Abonnementskonzert der Dessauer Hofkapelle durcb die temperamentvolle Pianistin Carola Mikorey, die jugendlicbe Scbwester des Komponisten, aus der Taufe geboben, dann bald darauf von derselben Klinstlerin beim Cotbener Musikfest und neuerdings in einem Muncbener Akademiekonzerte unter Felix Mottl ge- spielt wurde, die erste Stelle ein. Es rangiert seiner ganzen Anlage nacb nicbt in die Reibe solcber Kon- zerte, in denen der Klavierpart fast nur seiner selbst willen da ist, um, vom Orcbester vielleicbt etwas mebr als barmoniscb unterstutzt, einem Virtuosen Gelegen- beit zu geben, lediglicb mit einer frappierenden Tecbnik
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zu glanzen, im Gegenteil, Franz Mikorey weist dem Soloinstrument eine bei weitem hohere Aufgabe zu: es ist der primus inter pares und nimmt an der Sjm- phonik des Ganzen den hervorragendsten Anteil. Das genial angelegte und in gleicher Art durchgefiihrte Werk ist seiner Form nach durcliaus klar, und hin- sichtlich seines musikalischen Gehaltes weist es eine Fulle ebenso schoner wie entwicklungsfahiger musika- lischer Gedanken auf, die der Komponist in der poly- phonen Sprache des Orchesters wirksamst ausspinnt und ihnen ein vielfarben-schones Instrumentalkolorit verleiht. Als interessante Schopfungen auf dem Ge- biete der musikalischen Kleinkunst geben sich ^Fiinf kleine Charakterstiicke fiir Klavier", die Franz Mikorey Hirer Grosslierzoglichen Hoheit der Erbprinzessin (jetzigen Herzogin) Marie von Anhalt widmete. Originalitat der Erfindung, Klarheit der Form, Pragnanz des Ausdrucks und ein durchaus moderner Klavierstil erweisen sich als vorwiegende Charakteristika dieser funf Piecen. Der No. 1 „Elegischer Walzer", in dem sich das melodische Element schon entfaltet, folgt als No. 2 eine „Humo- reske" reizvoUen Inhaltes, reich an dynamischen Kon- trasten, in ihren Prestissimo-Schlusstakten mit dem Aus- druck ungebundensten Lachens endend. Reinste Natur- freude und tiefes Empfinden, das sich in dem Asdur- Mittelsatze zu inniger religioser Erhebung steigert, atmet der „Morgengruss an die Berge" (No. 3), wohin- gegen der Komponist mit seiner No. 4 „Holpriger Weg" zum zweiten Male das Gebiet des Humoristischen be- tritt. Eine ^Heldentotenklage", tief empfunden und von gesundem Pathos erfiillt, die in ihrem Stil die Fesseln des Klaviersatzes fast zu sprengen droht und nach der reicheren Sprache des Orchesters ringt, schliesst die Serie dieser fiinf Charakterbilder wirkungsvoU ab. — Zu Franz Mikoreys Kompositionen gehort des v^eiteren eine stattliche Anzahl stimmungsvoller Lieder fiir eine Singstimme mit Klavierbegleitung, von denen die meisten im Druck erschienen. Der Zeit ihres Entstehens nach fallen sie zumeist in die Sturm- und Drangperiode des Kunstlers. Gefiihlstiberschwang, uberschaumendes Tem- perament, gluhendste Leidenschaft lassen manches noch nicht genugsam abgeklart erscheinen. Andererseits
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treffen wir aber auch wieder Lieder, die man in ihrer Schonheit als echte Perlen musikalischer Lyrik an- sprechen muss. Alles, was des jungen Kunstlers Herz bewegte, ungetriibte Daseinsfreude, die Freude an Gottes herrlicher Natur, junger Liebe selige Lust, die Begei- sterung auch flir Vaterland und Freiheit : das alles hat er hinaustonen lassen im Lied. „Lenzesgebot, die susse Not, die legt' es ihm in die Brust; nun sang er wie er musst' und wie er musst', so konnt er's*. — Als Franz Mikoreys zur Zeit grosstes Werk liegt auf seinem Schreibtisch, nunmehr fertig, eine Oper, die den Kiinstler schon lange beschaftigt, und an deren Instrumentation er im jungstvergangenen Sommer den letzten Feder- strich getan. „Der Konig von Samarkand" ist ihr Titel, und der Gang der Handlung entstammt Grill- parzers Drama „Der Traum ein Leben". Die Erstauf- luhrung der Oper diirfte fiir die nachste Saison in sicherer Aussicht stehen. Moge ein giinstiger Stern ihr leuchtenl Franz Mikoreys reiche, bliihende Phan- tasie, sein tiefes Fiihlen und Denken, sein eminentes Wissen und Konnen in formaler Beziehung, wie in Hinsicht auf die gesamte Kompositionstechnik, all das will Burgschaft dafiir sein, dass er auch mit diesem seinem neuesten Werke etwas kiinstlerisch Hervorragendes bieten wird. —
So sei denn an dieser Stelle Abschied genommen von der genialen Kunstlerpersonlichkeit des Dessauer Hofkapellmeisters, der, in seinem Beruf auf einem be- deutsamen Posten stehend, auf dem er sich der beson- deren Gunst seines kunstliebenden Landesherrn, des Herzogs Friedrich erfreut, mit gleichem Erfolg eifrigst bestrebt ist, die Ausserungen des Dessauer bezw. An- haltischen Musiklebens je langer, je mehr auf eine hohe Stufe der Vollendung zu erheben, wie er daheim in seinen Mussestunden, an der Seite einer feingebildeten, liebenswlirdigen Gattin und im Kreise dreier prachtiger Buben, fleissig komponierend , die Musikliteratur mit wahrhaft Schonem bereichert.
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Hans Pfitzner
(gcb. zu moskau am 5. ITlai 1859),
Phot. Job. Hiilsen, Berlin.
Hans Pfitzner.
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Hans Pfitzner
von Rudolf Louis.
Es war im Friilijahr 1895. Ich stand damals am Anfang meiner kurzen Kapellmeisterlauf bahn und suchte micli am Karlsrulier Hoftheater als volontierender Solo- repetitor nlitzlicli zu maclien, soweit das, bei der grossen Anzahl der durcli den Namen Felix Mottls angelockten Kapellmeister -Aspiranten — ,,KapelImeistersetzlinge", wie sie der Buhnenwitz nannte — iiberliaupt moglich war. Der Zufall, dass ich mit einer jungen Sangerin zu studieren batte, die fiir die nacbste Saison an das Stadttbeater zu Mainz verpflicbtet war, spielte mir den Klavierauszug eines Musikdramas in die Hand, das an eben diesem Stadttbeater vor kurzem (2. April 1895) seine Urauffiibrung erlebt batte und in der nacbsten Saison wiederbolt werden sollte. Es biess ,,Der arme Heinricb" und der Komponist war Hans Pfitzner, der vierte Kapellmeister des Mainzer Stadttbeaters.
Der Eindruck, den dieser Klavierauszug damals auf micb macbte, war ganz eigner, scbwer zu be- scbreibender Art. Keineswegs fiiblte icli micb zu un- bedingter, riickbaltsloser Begeisterung bingerissen, und von jenem Rauscbe des EntziickenS; mit dem icb kurz zuvor Max Scbillings' „Ingwelde" in micb aufgenommen batte, war jedenfalls keine Rede. Aber es war docb weit mebr als blosses Interesse, was icb fur Pfitzners Musik empfand. Es war Staunen ob der unerborten Neubeit und Klibnbeit dieser Tone, Bewunderung fiir die eiserne Konsequenz, mit der bier Ausserstes gewagt wurde, Sympatbie fiir den berben Ernst eines ersicbt- licherweise so ganz und gar keine ausserklinstlerische
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Rticksichten kennenden Strebens, an mehr als einer Stelle gesteigert zu wahrliaftem Ergriffensein durch die Tiefe und Machtigkeit eines Gefuhlsausdrucks, dem ge- rade das in so holiem Masse eignete, was im Grunde genommen doch einzig und allein den spezifischen Wert der musikalisclien Gefiililssprache ausmacht: jene ekstatische tlberschwenglichkeit, die schon in ihren Elementen (und niclit erst in ihrer hochsten Steigerung) weit hinausgeht liber alles, was dem gesprochenen Worte jemals erreicbbar ist.
Aber trotz allem, was mich fesselte und packte: ganz kam ich damals noch niclit mit und das Schluss- resultat, das sich aus dem Studium des Klavierauszugs ergab, war problematisch. Hatte ich Gelegenheit ge- babt, den „Armen Heinrich" auf der Biihne zu sehen, so batten sich meine zweifelnden Empfindungen wohl scbon zu jener Zeit in die feste tJberzeugung von der liberragenden Bedeutung Hans Piitzners gewandelt. Das blieb mir jedocb (und zwar bis zur heutigen Stunde!) versagt, und aus dem Klavierauszug mir ein ganz klares und tibersichtliches Bild (namentiich aucb von der Architektonik des Werkes) zu machen, war ich damals
— Avo ich vielleicht gerade kein schlechter, aber doch jedenfalls ein noch sehr unerfahrener Musiker war
— keineswegs im stande.
Immerhin war ich in soldier Weise auf den Namen Hans Pfitzners aufmerksam gemacht worden, dass ich ihn unmogiich mehr aus dem Gedachtnis verlieren konnte, und wo sich spaterhin daza Gelegenheit fand, richtete ich an solche, von denen ich wusste, dass sie die musikalische Produktion der Gegenwart mit aufmerk- samer Teilnahme verfolgten, regelmassig auch die Frage: Was treibt denn eigentlich Pfitzner? — , eine Frage, an die sich im Laufe der Zeit wie unwillkiirlich der Zusatz anzuschliessen pflegte: Von dem hort man ja gar nichts mehr! Und in der Tat, es war merkwiirdig genug: Wahrend um die Mitte der neunziger Jahre der Name Hans Pfitzners es bereits zu einer gewissen Ge- laufigkeit gebracht hatte, so dass wenigstens die fort- schrittlich gesinnten Musikfreunde ihn kannten, nannten und auf ihn hofFten, brachte das folgende Lustrum einen Ruckschlag, der den Komponisten des „Armen
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Heinricli" immer mehr aus dem Gedaclitnis der Mit- welt verscliwinden Hess. Zwar horte man hie und da von Auffulirungen des Musikdramas: in Frankfurt, Prag, Berlin, liberall maclite es auf die Empfangliclien denselben starken Eindruck, erregte es bei den Urteils- fabigen die gleiche Bewunderung wie bei der Urauf- fiihrung in Mainz. Aber sein Schopfer schien ver- schollen zu sein, und da man friiber wobl scbon gebort batte, dass Pfitzner ein scbwachlicber und krank- licber Menscb sei — was iibrigens, nebenbei bemerkt, durcbaus nicbt der Fall ist! — , so vermutete man, dass korperlicbes Leiden seine scbopferiscbe Tatigkeit vor- zeitig beendet oder docb so sebr bescbrankt babe, dass nicbts mebr davon in die Offentlicbkeit babe dringen konnen. Ich und andere mir naberstebende Musiker fiiblten uns wenigstens zu dieser Befiircbtung ver- anlasst.
Um die Jabrbundertwende begann sicb das Dunkel, das Hans Pfitzner den Augen der Welt nabezu vollig entzogen batte, allmablicb zu licbten. In P. N. Coss- mann, dem alten, scbon auf der Scbulbank ge- wonnenen treuen Freunde, fand sicb ein unermiidlicber Anwalt, der zuerst mit seinen 1900 in der „Gesell- scbaft" veroffentlicbten Aufsatzen*) die Propaganda fiir Pfitzners Kunst wieder aufnabm, nacbdem die bedeut- samen Stimmen, die sicb scbon friiber fiir Pfitzner er- boben batten — ich nenne aus der Zahl der von den ersten Anfangen an um Pfitzner hochverdienten Manner nur Wilhelm Trappert und vor alien Paul Marsop — so gut T^rie unbeachtet verballt waren. Aber mit diesem literarischen Eintreten nicht zufrieden und wobl wissend, dass die scbonsten und starksten Worte un- niitz sind, wenn sie nicbt von Taten begleitet oder ge- folgt werden, begann Cossmann weiterhin so etwas
*) Leicht liberarbeitet wurden diese Aufsatze im Frlihjahr 1904 als Broscliiire neu herausgegeben. (Hans Pfitzner von P. N. Cossmann. Munchner Broschliren herausgegeben von Georg Mliller. Heft 1, Miinclien und Leipzig.) Die Piitzner-Literatur ist zur Zeit noch so minimal , dass es nicht allzuviel bedeuten kann, Avenn gesagt Avird: diese Broschiire sei das beste, was bisher liber Pfitzner geschrieben wurde. Mehr will es heissen, dass sie wirklich gut ist.
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wie eine praktische Organisation der Werbearbeit fiir die Musik seines Freundes. Konzerte, bei deren Ver- anstaltung man den fiir die Aufnahme und Wlirdigung neuer Kunsterscheinungen so besonders giinstigen Boden Mtincbens vornehmlicli berucksicbtigte, gaben Pfitzner Gelegenheit, sicli immer wieder und von immer neuen Seiten der Offentlichkeit zu zeigen. Aucli als empfin- dangstiefer, gestaltungskraftiger Lyriker wie als Schopfer genialer Kammer musik kam die universale Kiinstlernatur allmablich zur Geltung und Wiirdigung, die man bisber, wenn liberbaupt, fast nur als Musik - dramatiker gekannt batte.
Inzwiscben batte Pfitzner ein neues grosses Drama vollendet: „Die Rose vom Liebesgarten", die auch von dem Dramatiker ein ganz anderes, kom- pletteres und weniger einseitiges Bild gab als „Der arme Heinricb", bei dem die Natur des Stoffes den Komponisten zwang, eine Seite seines Wesens aus- scbliesslicb bervorzukebren , die man nur dann ricbtig zu versteben und zu werten vermag, wenn man weiss, dass ibre Kebrseite — das Element des Leichten und Lebensfrohen, des Heiteren, Witzigen und Launigen — in einer mindestens ebenso starken Ausbildung bei ibm vorbanden ist, wie jenes Element einer bis an die Grenzen des Patbologiscben gebenden Sensibilitat und Ekstatik. Wicb tiger als die Uraufflibrang der „Rose", die am 9. November 1901 am Stadttheater zu Elber- feld erfolgte, war die erste Mlincbner Auffiibrung des Werkes am 21. Februar 1904. Nicbt nur, dass sie ganz unmittelbar der Pfitznerscben Kunst eine Scbar neuer Bewunderer und Verebrer gerade in der Stadt zufubrte, die sicb von Jabr zu Jabr mebr zum eigent- lichen Centrum der Pfitzner-Bewegung entwickelt bat, sie erregte aucb mittelbar in Diskussionen und Pole- miken*) eine Bewegung, die weit liber den Ort des Ursprungs binaus ibre Wellen trug.
Mir personlicb sind die Eindriicke, die ich aus den Auffiibrungen und dem Studium der „Rose vom Liebes-
*) Vgl. Hans Pfitzners „Die Eose vom Liebesgarten". Eine Streitschrift von Rudolf Louis. Miinchen 1904 (Carl Aug. Seyfried & Comp.).
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garten" davontrug, zu einem kunstlerischen Erlebnis bedeutsamster Art gewordeii. Damals fasste die IJber- zeugung in mir Wurzel , die der seitdem gewonnene tjberblick liber das gesamte Schaffen Hans Pfitzners nur immer mehr befestigt bat, dass der Komponist des „ Arm en Heinridi" und der „Rose ^om Liebesgarten" unter den deutschen Musikern der Gegenwart eine ganz besondere Stellung einnebme. Dass er unter einer ganzen Anzabl von mebr oder minder starken Tale n ten die einzige wabrbaft geniale Begabung sei. Was mit dieser Wertung gesagt sein soil, ist unscbwer zu be- greifen, trotzdem aber nicbt immer und liberall ricbtig verstanden worden. Zunacbst soil damit naturlicber- weise eine quantitative Scbatzung gemeint sein: dass icb unter den Lebenden Pfitzner fiir die be- deutendste scbopferiscbe Begabung balte. Aber nicbt nur das allein, sondern vor allem audi noch ein weiteres: dass mir die Art der produktiven Begabung Pfitzners von der seiner komponierenden Zeitgenossen — die grossten nicbt ausgescblossen — wesentlich und fundamental verscbieden zu sein scbeint. Denn icb bin nicbt der Ansicbt, die man von oberflacblichen Psycbologen und Aesthetikern oft vertreten findet, dass das Genie nur graduell vom Talent verscbieden sei, dass in der genialen Begabung weiter nichts vorliege als eine Steigerung der Fabigkeiten und Fertigkeiten, durcb die das Talent sicb auszeicbnet. Vielmebr liegt bier meiner Meinung nacb ein Artunterschied in der Weise vor, dass nicbt nur das kunstleriscbe Talent in der denkbar bocbsten Ausbildung ohne eine Spur von Genialitat vorbanden sein kann, sondern dass sogar aucb umgekebrt das Genie in all den Dingen, die die eigentlicbe Spbare des Talents ausmachen (Leicbtigkeit und Gev^andtbeit im Tecbnischen, Formensinn, Ge- scbmack u. s. w.), oft weit zuriicksteht binter solcben, die binsicbtlich der Originalitat und Starke des eigent- lich scbopferischen Vermogens, binsichtlicb der Fabig- keit an der s als die andern, d. b. eben im eminenten Sinne des Wortes individuell zu sehen, zu boren und zu empfinden, sicb aucb nicbt im entferntesten mit ibm messen diirfen. Ob es talentlose Genies gibt, mag dabingestellt bleiben. Aber ganz gewiss hat es musi-
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kalisclie Genies gegeben, die keine stark en musika- lischen Talente waren: icli erinnere nur an Berlioz. Und ebendarum will ich niclit sowolil etwas besonders Super lativisches, sondern etwas besonders K e n n - zeicbnendes sagen, wenn ich Pfitzner das einzig echte und walirhafte Genie unter den schaffenden Tonkiinstlern der Gegenwart nenne.
Hans Pfitzner wurde am 5. Mai 1869 in Moskau von deutscben Eltern geboren. Sein Vater, ein am Leipziger Konservatorium ausgebildeter Musiker, war als Orchestergeiger zuerst in seiner sachsischen Heimat, dann an der Moskauer Oper und zuletzt als Musik- direktor am Stadttheater zu Frankfurt a. M. tatig, seine Mutter, eine ausgezeichnete Pianistin — als solche Scbiilerin von Villoing, dem Lebrer der beiden Rubinstein — und aucb wissenscbaftlich eine ungewolinlicb bocb gebildete Frau, entstammte einer in Russland ansassigen, doch gleicbfails dentscben Familie. Seine Scbulzeit macbte er an der sogenannten „Klingerschule" in Frank- furt, einer Realschule, durcb. Im Jabre 1886 trat er in das Hocbscbe Konservatorium zu Frankfurt ein, das er vier Jabre lang, bis 1890 besucbte. Seine Lebrer waren: in Kontrapunkt und Komposition Iwan Knorr, im Klavierspiel James Kwast. Gleicbzeitig mit Pfitzner studierte an dieser Anstalt ein in England geborener und aufgewacbsener junger Deutscber, namens James Grun. Die Freundscbaft , die beide Jiinglinge bald miteinander verband, wurde fiir Pfitzners musikaliscbes Scbaffen von der bocbsten Bedeutung. In Grun ge- wann sicb der angebende Musiker einen dicbteriscb begabten Heifer, mit dem vereint er boflfen durfte, obne Scbaden dariiber binweg zu kommen, dass ibm, dessen scbopferiscber Drang — wenigstens in seiner Grund- ricbtung — von allem Anfang an sicb auf das Wort- tondrama ricbtete, die gliickliche Doppelbegabung eines Ricbard Wagner versagt war. Grun wurde der Text- dichter der beiden grossen dramatiscben Scbopfungen, die wir von Pfitzner besitzen: des „Armen Heinricb" und der „Rose vom Liebesgarten". Ob die kllnstleriscbe Verbindung mit seinem Freunde Grun fiir den Musik-
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dramatiker Pfitzner in der Tat so segensreich gewesen sei, wie er selbst wolil geliofffc und erwartet hatte, ist oft mit Heftigkeit bestritteri worden. Ja, man ging so weit, die Mangel der Textdiclitung dafiir verantwortlicli zu machen, dass jene beiden, in ihrem musikalischen Werte fast widerspruchslos anerkannten Werke bis jetzt verbaltnismassig nocb so wenig Verbreitung gefunden liaben.
Eines muss man gewiss zugeben : das alte Problem, ob jenes ideale Zusammenwirken von Wort- und Ton- dicliter wie es das von Richard Wagner gemeinte Musikdrama erfordert, im scliarfsten Sinne des Wortes liberhaupt moglicli sei, wenn Musiker und Poet zwei verscliiedene Personen sind, haben audi die gemein- samen Arbeiten Gruns und Pfitzners nicht gelost, und wenn einer davon iiberzeugt ware, dass jeder Versucli einer Nachfolge Richard Wagners daran scheitern miisste, dass die Vereinigung dichterischer und musika- lischer dramatischer Begabung in einer Person die unerlassliche, schlechterdings nicht zu umgehende Yor- aussetzung fiir das Musikdrama im Sinne Wagners ist, so konnten ihn die beiden Pfitznerschen Dramen prin- zipiell kaum eines anderen belehren. Aber das gilt ja von alien Nach -Wagnerschen Musikdramen ohne jeg- liche Ausnahme — und wenn man den Massstab rela- tiver Wertung anlegt und die Grunschen Dichtungen mit anderen neueren Operndichtungen vergleicht, so muss man sagen, dass sie ganz gewiss nicht zu den schlechteren ihrer Art gehoren und sich jedenfalls durch eine ganze Reihe hochst gewichtiger positiver Vorziige auszeichnen. Vor allem einmal das: man kann dariiber streiten, ob Grun ein grosser oder kleiner, ein ge- schickter oder ungeschickter , ein mehr oder weniger dramatischer, ein eigenartiger oder ein der Originalitat in hoherem Sinne entbehrender Dichter sei; aber man wird nicht leugnen konnen, dass er ein wirklicher und echter Dichter ist, nicht bloss ein Verseschmied und Szenenschneider. Und zwar ein Dichter, dessen inner- stes kiinstlerisches Wollen gerade so — nur von der entgegengesetzten Seite herkommend — auf das musi- kalische Drama ausgeht und der daher, um sich zu einem Ganzen zu komplettieren, ebensosehr des Musikers
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bedarf, wie dieser — sofern er Musikdramatiker ist — zur Erganzung seiner eigenen Natur den Dichter notig hat. Ein Dichter endlicli, der dem Romantiker Pfitzner innerlich art- und wesensverwandt war in einer Weise, wie es sich wolil schwerlicli bei einem zweiten unter den Mitlebenden hatte finden lassen. Alle diese Eigen- schaften wiegen so schwer, sie haben so wesentlich dazu beigetragen, dass Pfitzner in den beiden grossen Dramen sein musikalisches Genie so voll und iippig entfalten konnte, wie er es getan bat, dass die Aus- stellungen, die man an den Grunscben Texten — und in mancber Hinsicbt gewiss mit Recbt! — gemacbt bat, dagegen kaum in Betracbt kommen. Vollends ge- bort jene Bescbuldigung , dass die Mangel der Dicb- tungen der Verbreitung der Pfitznerscben Dramen im Wege gestanden seien, docb wobl unleugbar zur Klasse der beliebten Ausreden, mit denen man eine be- scbamende Tatsacbe zu erklaren und dadurcb zu be- scbonigen, oder wobl gar zu recbtfertigen sucbt.
Yon anderen Freunden, die sicb Pfitzner aaf dem Konservatorium gewann, seien der als Komponist be- kannt gewordene LandgrafAlexanderFriedricb von Hessen, Heinricb Kiefer, der „Paganini des Violoncells" — wie ihn P. N. Cossmann nannte — und Karl Dienstbacb genannt. Dagegen ist ein anderer Mitscbiiler, Bern bard Sekles, Pfitznern erst naber getreten, als sie beide am Mainzer Stadt- tbeater als Kapellmeister wirkten. Nocb wabrend der Konservatoristenzeit entstanden eine ganze Reibe yon Kompositionen. Von ibnen sind einige Lieder und ein Streicbquartett nicbt bekannt geworden. Verofi'entlicbt wurden dagegen spaterbin das Scberzo fiir Orcbester, die Ballade „Der Blumen Racbe" (fiir Frauencbor, Altsolo und Orcbester), die auf dem Konservatorium wenigstens nocb begonnene Musik zu Ibsens „Das Fest auf Solbaug", die Violoncello- Son ate op. 1 und die Lieder op. 2 (Aucb aus op. 3 — 7 geboren mebrere scbon dieser sebr friiben Zeit an).
Die Musik zu Ibsens „Fest auf Solbaug", das um- fangreicbste und wobl aucb bedeutendste Werk aus dieser Zeit, bat mir immer das Bedauern geweckt, dass die Begeisterung fiir das Drama des nordiscben Dicbters
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Pfitznern nicht dazu vermoclit hat, sich aus iiim ein Opernlibretto bauen zu lassen. Ich weiss zwar sehr wohl, dass Pfitzner selbst einmal seine sehr radikale Abneiguiig gegen jegliche „Veroperung" draflaatischer Meisterwerke ausgesprochen hat, und geAviss mit Recht, soweit man mit radikal ausgesprochen en „Allgemeinwahrheiten" iiber- haupt recht haben kann. Aber wenn es auch zehnmal wahr ist, dass man kein Drama von Kunstwert in eine Oper verwandeln kann, ohne sein Leben zu zerstoren: ich habe die Pfitznersche Musik zum „Fest auf Solhaug'' so gern, dass ich ihr ein wirkliches und wirkendes Leben von Herzen wiinschen mochte. Zu einem solchen wird sie aber als Musik zu Ibsens Schauspiel aller Vor- aussicht nach immer nur ganz ausnahmsweise einmal zu erwecken sein. Denn im Konzertsaal ist sie natur- lich von vornberein deplaziert und an der Stelle, ftir die sie eigentlich geschrieben ist, namlich bei der Theaterauffuhrung des Stuckes selbst lasst sich eine musikalisch einigermassen anspruchsvolle Schauspiel- musik fast niemals nur einigermassen wiirdig auffiihren und zu der ihr gebiihrenden Beachtung bringen, ein Ubelsiand, der sich in Zukunft bei der wohl immer weitergehenden Trennung zwischen Schauspiel- und Opernblihne eher vergrossern als vermindern diirfte. tJberdies mag man bezweifeln, ob Ibsens Schauspiel Tv^irklich ein „dramatisches Meisterwerk" in dem emi- nenten, von Pfitzner gemeinten Sinne sei (vgl. Stid- deutsche Monatshefte 11. Jahrg. S. 90 fF.) und darauf hin- weisen , dass die Form des gesprochenen Schauspiels dem ibsenschen Stiicke doch mehr zufallig als not- wendig, ja in einem gewissen Sinne sogar nicht ganz adaquat, dass, mit einem Worte, sozusagen eine latente Oper schon in Ibsens Drama versteckt ist und sich ge- wissermassen aus ihm heraussehnt.'^)
*) Bei Kleists „Katliclieii von Heilbronn", zu dem Pfitzner in spiiteren Jahren ja auch eine Schauspielmusik geschrieben hat, liegt die Sache anders. Der Gedanke an eine Kiithchen-Oper wiirde auch mir frevelhaft vorkommen. Denn Kleist hat seinem Stoff eine, in ihrer Art ^klassische" (= mustergiiltige) Form gegeben, Ibsen meines Erachtens nicht. Bei Kleist denkt man: das muss so und kann nicht anders sein, bei Ibsen sagt man sich immer: das sollte eigentlich eine Oper sein!
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Naclidem er das Konservatorium absolviert liatte, widmete sicli Pfitzner zunaclist fast ausscliliesslicli der Komposition des „Armen Heinricli", die im Sommer 1893 vollendet wurde, nachdem kurz vorher ein in Berlin veranstaltetes Konzert dem jungen Tondichter den ersten grossen Komponistenerfolg gebracht liatte. Im Winter vorlier (1892/93) hatte er als Lehrer am Konservatorium zu Koblenz gewirkt. Die — vor allem auch nach Munch en gericliteten Versucbe, den „Armen Heinricli" zar Auffuhrung zu bringen, scblugen fehl. Die Furcht, dass er in absebbarer Zeit liberhaupt nicbt dazu gelangen mochte, sein Werk von der Btibne lierab zu horen, veranlasste Pfitznern im Herbst 1894 eine Stellung als volontierender Kapellmeister am Mainzer Stadttheater anzunebmen. Mit Miihe und Not kam es denn aucb wirklich dahin, dass „Der arme Heinricb" am 2. April 1895 in Mainz seine Urauffiilirung er- leben konnte, die — so unvollkommen sie in vieler Hinsicht sein musste — weit liber die Stadt liinaus geAvaltiges Aufsehen erregte. Dem „Armen Heinrich" folgte in der nachsten Saison, die Pfitznern wiederum — und zwar nun als besoldeten 2. Kapellmeister! — in Mainz sab, die Musik zum „Fest auf Solhaug" (28. November 1895).
Mit dieser Saison war die Kapellmeister-Laufbahn Pfitzners vorderhand zu Ende. Nach der Frankfurter Erstaufflihrung des „Armen Heinrich" (7. Januar 1897) siedelte er nach Berlin liber, wo ihm eine Stelle als Lehrer fiir Komposition und Dirigieren am Sternschen Konservatorium libertragen wurde. Daneben wirkte er von 1903 — 1906 als 1. Kapellmeister am Theater des Westens. Im Herbst 1907 will Pfitzner Berlin verlassen, um sein en Wohnsitz in Miinchen aufzu- schlagen, von wo die Aufforderung an ihm ergangen ist, in einem Zyklus von Abonnementskonzerten das Kaimorchester zu dirigieren. Seit dem Sommer 1899 ist er mit einer Tochter seines friiheren Lehrers James Kwast verheiratet. —
Wo man dem Versuch einer historischen Ein- reihung des Pfitznerschen Schaffens begegnet, findet man ihn gewohnlich der Schule Richard Wagners zu- gerechnet, als „einen der leistungsfahigsten Kom-
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ponisten des Wagner -Nachwuchses", wie sich Hugo Riemann ausgedrlickt hat: nicht sehr geschmackvoll, aber hochst bezeiclinend flir die allgemeine Auffassung, die den Kiinstler niclit anders als eine nach ihrer „Leistungsfahigkeit" zu beurteilende Handelsfirma an- sieht. An dieser Einreihung ist soviel richtig, dass der Musikdramatiker Pfitzner, der Komponist des „Armen Heinricli" und der „Rose vom Liebesgarten" allerdings von Wagner lierkommt, insofern er namlicli das asthetische Ideal des Wagnerschen Musikdramas prinzipiell iibernommen hat und auch im einzelnen verrat, dass die Tonsprache des Bayreuther Meisters die seinige vielfach beeinflusste — unbeschadet dessen, was P. N. Cossmann gewiss mit Recht behauptet (a. a. 0. S. 16): dass wer Ohren fur musikalische Physiogno- mien habe, bei keinem Takte von Pfitzner denken werde, er konnte auch von Wagner sein. Ein ganz anderes Bild ergibt sich aber, wenn wir ausser den beiden genannten grossen dramatischen Werken das mit in Rechnung ziehen, was Pfitzner ausserdem noch geschrieben hat; — und es sind das ganz gewiss keine blossen Parerga. Jeder Gedanke an Wagner- Nachfolge flieht meilenweit, wenn man die L y r i k und die Kammermusik Pfitzners betrachtet. Beethoven und die eigentlichen Romantiker bis Schumann ein- schliesslich sind die historischen Voraussetzungen, ohne die Pfitzner der Lyriker und Kammermusiker gewiss nicht denkbar ware. Aber sehr gut kann ich mir vorstellen, dass alle diese Lieder, diese Sonate und dieses Trio ganz genau Note fur Note so, wie sie dastehen, geschrieben worden waren, auch wenn es niemals einen Richard Wagner gegeben hatte.
Dazu kommt noch ein weiteres: fast alle zeit- genossischen Komponisten, die in ihrem Schafi'en wesent- lich von Wagner beeinflusst erscheinen, gehoren (oder gehorten) der sogenannten „neudeutschen Schule" an, d. h. neben dem Bayreuther Meister haben Berlioz und namentlich auch Liszt sowohl auf die Tendenz ihres Schaffens wie auf die Ausbildung ihrer musikalischen Ausdruckssprache eingewirkt. Ftir Pfitzner ist es da- gegen charakteristisch , dass er, kurz ausgedrlickt, zwar zu den „Wagnerianern" (und dies im allerbesten Sinne
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des Worfces!), aber nicht zu den „Neudeutsclien" gehort. Zur modernen Programmmusik verhalt er sicli ablehnend, von Liszt will er wenig oder nichts wissen, und unfcer denen, die sicli zum Trinifcats - Dogma Berlioz - Liszt- Wagner bekannten, ist es vielleiclit einzig und allein Hugo Wolf, fiir dessen SchaflPen Pfitzner wirkliche, obschon keineswegs uneingeschrankte Sympathien hegt. So nimmt er — zeitgeschichtlicli betrachtet — eine ganz eigenttimliche Zwischenstellung ein zwischen denen, die zu der Fahne des musikalischen „Fortschritts" im konventionellen Sinne des Wortes schworen, und denen, die der ganzen „modernen" Entwicklung der deutschen Musik seit der Mitte des vorigen Jahrbunderts mehr oder minder ablehnend gegeniiberstehen.
Natlirlicherweise ist mit der musikalischen Ein- reihung eines Komponisten — soweit sie bei einem noch nicht abgeschlossenen Schaffen liberhaupt moglich erscheint — iiber dessen Eigenart noch sehr wenig Positives gesagt. Die Hauptsache ist und bleibt natiir- licher Weise, dass Pfitzner vor allem einmal er selbst ist, dass er Eigenes zu sagen hat und dass alles, was er schreibt, Ausfluss einer eigenstandigen , kraftvollen und in sich geschlossenen Personlichkeit ist Von dieser Eigenart Pfitzners vermag nun freilich das Wort sehr schwer audi nur einen ungefahren Begriff zu vermitteln. Das eigentlich Auszeichnende seines Schaffens, das, was ihn so hoch tiber alle seine komponierenden Zeit- genossen emporhebt, das sind seine Einfalle, es ist die Starke der Erfindung, die bei Pfitzner grosser ist als bei irgend einem der Mitlebenden. Wie alle ganz Grossen ist Pfitzners Eigenart sehr weit entfernt von dem, was man „Manier" nennt, d. h. es ist eine un- gemein reiche und vielseitige Eigenart, die sein Schaffen kennzeichnet. Deshalb ist es auch gar nicht moglich, aus der Kenntnis eines oder einzelner Werke ein zu- treffendes Urteil tiber das schopferische Vermogen Pfitz- ners zu erlangen. Denn er ist zwar tief zu innerst immer derselbe, aber eben wegen seiner unerschopflichen Vielseitigkeit auch immer wieder ein anderer; und — ausserlich betrachtet — konnte es scheinen , als ob der Komponist des 2. Akts der „Rose" mit dem des Eichen- dorffschen „Gartners" (op. 9 No. 1); als ob eine Musik
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wie die des langsamen Satzes im Trio op. 8 mit der zu Busses „Gretel" (op. 11 No. 5) ganz und gar nichts gemein hatte. Man rauss von Pfitzner sclilechthin jede Note kennen, urn zu wissen, wer und was er eigent- lich ist. Und da es quantitativ nicht iibermassig viel ist, was er geschrieben liat, so ist diese Kenntnis niclit allzuschwer zu erlangen. Freilich muss man sich die einzelnen Werke aus einer ganzen Anzahl verscliiedener Verlage zusammensuclien. Ich gebe im Folgenden einen kurzen tjberblick: I. Dramatisclies : Musik zu „Das Fest auf Solhaug"; „Der arme Heinrich" und „Die Rose vom Liebesgarten", alle drei bei Max Brockhaus, Leipzig. „Das Christelflein", Musik zu dem Weilinachtsmarchen von J. V. Stach, bei Ries & Erler, Berlin (op. 20).
II. Orchestermusik : Musik zu Kleists ,,Kathc]ien von Heilbronn" (Ouverture und 3 Orchesterstticke, op. 17), bei Ries & Erler; Scherzo ftir Orchester, Max Brockhaus.
III. Ghorwerke: „Columbus" (Schiller) ftir Sstimmigen Chor a cappella, op. 16 ; „Der Blumen Rache" (Freilig- rath) ftir Frauenchor, Altsolo und Orchester, beide bei Ries & Erler. IV. Gesange mit Orchesterbegleitung : „Herr Oluf'^ (Ballade von Herder), ftir Bariton und Orchester, op. 12, Bote & Bock, Berlin; „Die Heinzel- mannchen" (Kopisch) ftir tiefe Bassstimme und Orchester, op. 14, Brockhaus. V. Klavierlieder: op. 2 (7 Lieder), Brockhaus; op. 3 und 4 (zusammen 7 Lieder), B. Firn- berg, Frankfurt a. M.; op. 5 (3 Lieder), op. 6 (6 Lieder), beide A. Flirstner, Berlin ; op. 7 (5 Lieder), Ries & Erler ; op. 9 (5 Lieder), op. 10 (3 Lieder), op. 11 (5 Lieder), op. 15 (4 Lieder), op. 18 (Goethes „An den Mond"), op. 19 (2 Lieder), alle bei Brockhaus, Leipzig, op. 21 (2 Lieder), bei C. F. Kahnt Nachfolger, Leipzig, op. 22 (5 Lieder), bei Brockhaus. YI. Kammermusik: Sonate fiir Pianoforte und Violoncell (op. 1), Breitkopf & Hartel, Leipzig; Trio ftir Klavier, Violine und Violon- cello (op. 8) , Quartett fiir 2 Violinen, Viola und Violon- cello, M. Brockhaus.
Walter RabI
[geb. zu Wien am 30, nouember 1873].
Phot. Gebruder Hirsch, Karlsruh(
Walter Rabl.
Walter RabI
von
R. Eccarius-Sieber.
Weiteren Kreisen der musikalischen Welt hat sicli der Kapellmeister und Komponist Dr. Walter Rabl durch die Auffiihrungen seiner romantischen Marchenoper „Liane" bekannt gemacht, durch ein Werk, das, seiner ganzen Anlage und Fassung nach der Wagnerischen Kunstrichtung angehorend, bei seinem Erscheinen um- somehr auffallen musste, als Walter Rabl, der preis- gekronte Autor eines schonen Klarinetten- Quartettes, Yorher zu der Brahmspartei gehorig betrachtet wurde. Dieser Zwiespalt in seiner Kunstlernatur klart sich jedoch bald genug auf, wenn man den Werdegang und Lebenslauf des begabten Komponisten verfolgt.
Walter Rabl wurde am 30. November 1873 in Wien geboren. Wahrend seiner Gymnasialstudien in der Mozartstadt Salzburg nahm er bereits Theorie- unterricht bei J. F. Hummel, dem Direktor des Mo- zarteums. Dass er bier in so uberraschend jungen Jabren den Werken der Klassiker besonders nahe trat, ist jedenfalls von massgebendem Einfluss auf seine weitere musikaliscbe Entwickelung geblieben. Fortgesetzt wurden die tbeoretischen Arbeiten bei Dr. Carl Navratil in Wien, also auf nicht weniger klassischem Boden unserer Kunst. In Prag erwarb sich Walter Rabl 1897 den Doktorhut, nachdem er neben philosophischen Studien speziell bei Guido Adler auch eifrig Musikgeschichte getrieben hatte. Das vorerwahnte, als op. 1 bei N. Simrock erschienene Klarinettenquartett stammt aus dieser Zeit und darf als Resultat seiner bisherigen musikalischen Betatigung betrachtet werden. Sein Entstehen ver-
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dankte es einem von Johannes Brahms veranstalteten Preisausschreiben des Wiener Tonkiinstlervereins, und dass auch einmal ein preisgekrontes Werk nicht, Hans von Billows bekanntem Schlagwort „je preiser ein Werk gekront wird, desto durcher fallt es", entsprechend, eine Niete zu sein braucht, das beweist eben vorgenannte Arbeit, die sich seit ihrer Veroffentlichung und Erst- auffiihrung 1897 (Dezember) dauernd der Gunst und Anerkennung der Fachleute wie des Publikums erfreut. In der Tat macht das Kammermusikstuck in seiner leichtfliissigen , gewandten Satzweise, bei der sicheren Erfassung des Quartettstiles und mit dem klangvollen Klavierpart keinesfalls den Eindruck eines Erstlings- werkes.
Funfundzwanzig Jahre alt, trat der Dr. phil. nun als Volontar in Prag die dornenvolle Theaterlaufbahn an und fand schon wenige Monate spater als erster Correpetitor an der Dresdener Hofoper Beschaftigung. In dieser Stellung blieb Walter Rabl bis 1902, das heisst bis zu seiner Berufung als erster Kapellmeister an das Stadttheater zu Diisseldorf. Im September 1903 debutierte der Kunstler in dieser Eigenschaft und wirkte mit grosser Hingabe bis 1906 unter Ludwig Zimmermann an der rheinischen Biihne. Gregenwaitig ist Dr. Rabl Kapellmeister der vereinigten Stadttheater zu Essen und Dortmund.
Diese ausschliessliche Beschaftigung mit der musik- dramatischen Kunst, speziell mit Richard Wagners Werken, rief einen vollstandigen Umschwung in der schopferischen Tatigkeit des Kiinstlers hervor. Kamen dem Komponisten im Theater Anregungen zu neuem Schaffen, so lag es nahe genug, dass er sich mit, letzterem auch der Btlhne zuwendete. So begegnen wir dem ehemaligen Quartettkomponisten und Be- herrscher des Brahmsschen Stiles nun auch unter den Operndichtern wieder.
Eine Reihe vortrefflicher Vokalwerke (op. 2 — 14) zeigen schon Rabls klares Verstandnis f'iir die Behand- lung der Singstimme. Vor allem mussen die inter- essanten, eine lebhafte tondichterische Phantasie offen- barenden „ Sturmlieder " op. 13 (nach Gedichten von Anna Ritter) fur Sopran und Orchester erwahnt werden.
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Dieselben warden schon von ersten Konzertinstituten erfolgreich aufgefiihrt und bahnten dadurch auch anderen Liedern mit Klavier, so .den hilbschen zwei Gesangen op. 15 den Weg in die Offentlichkeit. (Sie erschienen [wie op. 13] bei Rahter, Leipzig.)
Das Hauptwerk Rabls ist bis heute seine ^Liane" geblieben. Das Libretto stammt von Wilhelm Eberhard Ernst und ist mit einer staunenswerten Geschicklich- keit geschrieben. Es gibt kaum einen erprobten Biilinen- effekt, den Ernst nicht unaufdringlich anzubringen gewusst hatte. Das Vorspiel versetzt uns in das Reich des Meerkonigs. Liane, dessen jijngste Tochter, ist zur Konigin auserwahlt. In feierlicher Versammlung der Edlen des nassen Reiches wird sie von dem greisen Vater gekront. Doch teilt sie die Frohlichkeit ihrer Untergebenen und Schwestern nicht. Sie hat der Sonne Pracht erschaut, sehnt sich nach Warme und Licht und will durch ihre treue Liebe zu einem Erdensohne wie die Menschen eine unsterbliche Seele erringen. AUes tJberreden bleibt fruchtlos, Liane vernimmt lockenden Hornruf von den Schiffen der Erdbewohner und ent- flieht dem feuchten Elemente. Im ersten Akte weilt Liane an waldreicher Meeresbucht, wo Prinz Dagmars Schiff landet. Der Prinz begibt sich an Land, wo ver- fuhrerische Madchengestalten urn seine Gunst werben. Doch Dagmar bleibt test und raft seine Begleiter herbei, wieder an Bord zu gehen, als ein drohender Sturm den Aufenthalt im Hafen gefahrlich erscheinen lasst. Leider erreicht das Schiff das offene Meer nicht; es wird von dem Unwetter erfasst und zerschellt. Nur Dagmar wird bewusstlos ans Land geschwemmt, die anderen ertrinken. Die Bewohner des Landes eilen herbei, mit ihnen Sigrid, die Tochter Konig Olafs und Dagmars, ihm schon als Kind zugesprochene Braut. Akt II ver- setzt uns in den unheimlich belebten Garten der Meer- hexe, von welcher sich Liane einen Zaubertrank erfleht, der ihren Fischleib in menschliche Formen umwandeln soil. Ihrer Liebe zu Dagmar wegen ist sie zu jedem Opfer bereit, nur um sein Herz zu gewinnen. Die Bitte wird gewahrt und als holde Jungfrau aus dem Hexen- garten zuriickkehrend, begegnet sie dem Prinzen und wird dessen Braut. Der dritte Aufzug verkundet zunachst,
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dass Olaf mit Waffengewalt naht, um die seiner Tochter widerfahrene Schmach za rachen. Noch einmal scheuclit Lianens Nahe alien Kummer von dem Prinzen. Da erscheint der Botschafter Konig Olafs und verlangt Genugtuung. Dagmars Volk besturmt den jungen Herrscher, Fliehende eilen herbei tind verkiinden IJn- heil. Als Liana die Schrecknisse des Krieges schaut, verzichtet sie auf Dagmars Besitz und beredet den Greliebten, zu Sigrid zu ziehen. Dagmar, von alien verlassen, von Liane preisgegeben, folgt dem Rat, Liane aber zerfliesst beim ersten Strahle der Morgensonne, wie ihr prophezeit wurde, als Schaum im Meere.
Das Unwahrscheinliche dieser Marchenhandlung erhalt Berechtigung , da die Kunstlerhand den Stoff veredelt und als Trager einer anziehenden, poetischen Idee gestaltet. Auch bietet Ernst mit dem Buche eine recht hiibsche Variante zu dem seit Wagner beliebten Erlosungsgedanken. Obendrein verlieb der Komponist dem Stoffe ein schmuckes Gewand. Rabl steht ganz auf Seite Wagners und wandelt in seinem Biihnen- werke die Bahnen des Bayreuthers. Pinsel und Palette zeigen das grosse Vorbild. Auch die Stimmungs- verwandtschaft der Liane mit derjenigen in Wagners Biihnenwerken fallt dem Horer sofort auf. Doch, ent- behrt die Oper vielleicbt auch den Reiz eines ursprung- lichen, auf neuen Pfaden wandelnden Tonwerkes, so birgt sie anderseits ausserordentlich viel Schones und durchgangig kunstlerisch Wertvolles. Eine leicht dahin fliessende musikalische Erfindung verrat die aus dem VoUen schopfende Phantasie. Leicht fassbare Leit- motive verleihen den Tonausserungen Halt und Riickgrat. Die Beherrschung der Satztechnik, die Behandlung der Singstimmen ist ungewohnlich gewandt. Auch die Instrumentierung verrat die Vertrautheit mit dem heutigen Orchester und seinen Farben.
Die Inszenierung der Oper ist freilich riesig schwer, wie bereits aus der Szenenangabe ersichtlich; ander- seits aber bietet dieselbe dem Beschauer ein ungemein fesselndes Bild. Dies und die ansprechende Musik diirften der „ Liane" unsere Biihnen olfnen.
Phot. Gebriider Liitzel, Miinchen.
Max Reger.
max Reger
(geb. zu Branb [Oberpfalz] am 19, ITlarz 1873).
Majc Reger
Richard Braungart.
Jedesmal, wenn ein Kiinstler auf den Plan tritt, der nicht sein „Wolier?" und „Woliin?" flir jedermann lesbar auf der Stirne tragt, und der neue Wege in den Urwald der Zukunft zu bahnen im Begriffe ist, erleben wir dasselbe seltsame Schauspiel: wie ein Rudel hungriger Dorfhunde umklaffen ihn alsbald eine Menge Leute, die von dem kommenden, so unbe- ktimmert und sicher schreitenden Mann irgend etwas Schlimmes, Feindliches, ja etwas Todbringendes wohl gar zu furchten scheinen. Sie haben Angst fiir den Fortbestand ihrer Tabulaturen, sehen schon im Geiste ihre Tafeln zertrummert und dem Spotte des Publikums preisgegeben , das frliher oder spater auf die neuen Tafeln schworen wird. Sie sehen ihre Zirkel gestort und zerstort, ihre Sinekuren in Frage gestellt, ihre Brotkorbe hoher gehangt. Und darum wird unter all den Vielen, die sich sonst gerne gegenseitig mit klein- lichem Gezanke und Getratsche plagen und in Atem halten, ganz plotzlich die wohlverstandene, gemeinsame Losung ausgegeben: Vogelfrei ist der Mann I Alle Waffen klar! Und wer ihn zu Fall bringt, bekommt zum Lohne dafilr, dass er unsere Nester warm gehalten hat, ein extra Zuckerbrot! Und mit Halloh und Hot und Hiih beginnt die wilde Jagd. Jedes Mittel ist waidgerecht, den Storenfried zu vernichten. Gehts nicht mit regularen Waffen, dann ist auch ein Priigel oder eine Zaunlatte gut genug, oder ein Stein, oder ein gestelltes Bein. Gleichviel, was hilft, wenns nur hilft. Hussah, drauf und dran, fasst an! Tot oder lebendig, wir miissen ihn han!
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Man wird es menschlich, allzumenschlicli vielleicht finden, dass die Zunaclistinteressierten dieses artige Kesseltreiben auf den Ruhmrauber, Erwerbsstorer und Monopolbrecher arrangieren. Sie haben nun mal ein Interesse daran, und, wer weiss, sie tans vielleicht nicbt einmal immer nur fiir sich selbst, sondern wohl auch fiir den Herd, fiir Weib und Kind, fiir die peinlichste Notdurft des Lebens. Wohnt ja doch auf dieser Welt das Edelste und das Gemeinste zumeist friedlich unter einem engen Dach beisammen, just wie der Diamant in gewohnlichem Gestein schlummert, das nicht wert scheint, ihn zu umschliessen.
Aber was soil man dazu sagen, wenn das Publi- kum, das doch nur Vorteile von kiinstlerischen Tateu hat und nicht in seiner Existenz bedroht ist, wenn einer eine neue Weise zu singen wagt, sich ebenfalls in den Streit mischt und Holz herbeischleppt zum Scheiterhaufen fiir den „frechen" Neuerer? Man mochte glauben, das Publikum miisste seine helle Freude daran haben, das allmahliche Werden, Wachsen und Siegen eines kiihnen Jungen zu beobachten. Es miisste ihm eine willkommene Abwechslung sein in dem allzu behabigen Einerlei des Alltags, eine Abwechslung, die fast etwas von dem Reiz und der Pikanterie antiker Gladiatoren- und Tierkampfe hat, natlirlich ins Geistige gesteigert und veredelt. Aber das Publikum empfindet leider nicht so. Es fiihlt sich ebenfalls beunruhigt, ja belastigt; denn seine Behaglichkeit ist gefahrdet, die siisse Ruhe des beschaulichen und verdaulichen Geniessens. Man wird aufgeschreckt aus seligem Hin- dammern, man muss gewaltsam aufhorchen, muss mit- arbeiten, muss laufen, um nachkommen zu konnen, muss denken, um den Zusammenhang nicht zu verlieren, und muss Wege zuriicklegen, die noch nicht ausgetreten sind und den Fusssohlen Pein verursachen. Welche Zumutung, welch unerhortes Verlangen, welche Riick- sichtslosigkeit ! Und so ists denn bald geschehen. Das Publikum, dem doch eine Freude gemacht werden soil, eine neue Freude freilich, die erst errungen und verdient sein will, macht gemeinsame Sache mit jenen, die im Besitze ihrer „Rechte" gestort sind, und nimmt mit Gejohl und Spektakel die Verfolgung des Ver-
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hassten auf. Und er, der alien als Freund, als Freuden- bringer und Himmelserschliesser kam, leuchtenden Augea und frohester Zuversicbt voll, sieht sich mit einem Male ausgestossen aus der Gesellschaft, geachtet, ge- jagt, ein Gezeichneter. Propheten- und Kunstlerlos I
Zu Zeiten allerdings geschieht es dann wohl, dass mitten im Sturm und wild en Gejaid einer der Jagenden plotzlich auf sieht oder aufhorcht, betroffen fast und jah erschreckt, als hatte er ein Zeicben geseben oder einen Ton vernommen aus einer anderen Welt. Es ist das der Augenblick, in dem in einem Gebirn das Bewusstsein von der Bedeutung dessen aufdammert, dem der Hass der Menge gilt. Saulus wird zum Paulus; und ebenso mutig und uberzeugt, wie er frliber wider den Verkannten war, ist er jetzt fiir ibn. Und seinem Beispiel folgen bald andere. Immer grosser wird die Scbar der Freunde, der „(jlaubigen", und immer ferner und scbwacber klingt das Gebeul der Meute, die, mebr einem mecbaniscben Gesetze als dem eigenen Willen untertan, nocb immer binter dem langst nicbt mebr Erreicbbaren einberklafft. Und er, dem nun ebensoviel Liebe zustromt als ibm zuvor Hass den Weg verrannte ? Er wird wobl zeitlebens den Ekel vor dem narriscben Gebabren der Menscben nicbt mebr los. Er freut sicb des endlicb errungenen Sieges; aber so ganz blank, wie seine Seele einst war, als er auszog, wird sie wobl nie wieder werden. Es fiel ein Reif in der Friiblingsnacbt, und so scbon und sonnig und warm aucb dann der Sommer sein mag und der Herbst wobl aucb: Die Spuren dieses Frostes vergeben niemals wieder. Freilicb, sie geben aucb eine gewisse Herbig- keit, die wir nicbt missen mocbten. Aber traurig bleibt es docb, dass der Kiinstler seine Narben fast immer nur Wunden dankt, die er meucblings empfangen bat. Kunstlerlos — Menscbenlos !
Icb will nicbt sagen, dass Max Regers Lebens- gang und Musikerlaufbabn das beste oder etwa gar das einzige konkrete Beispiel aus der Gegenwart fiir die obigen abstrakten Deduktionen darstellt. Es ringen unzablige ebenso wie er, und nicbt wenige unter ibnen, obne dass bis zur Stunde die allgemeine Hatz oder, was fast nocb scblimmer ist, die Gleicbgultigkeit und
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Interesselosigkeit der Menge sich in einen Triumpli- zug umgewandelt hatte. Aber sicherlich ist der Fall Reger von hervorragender, „beispielmassiger" Typik fur die gescliilderten Verlialtnisse. Fiir ihre Nacht- seiten sowohl als auch fiir das Versohnliche, das in dem unaufhaltsam siegreichen Vordringen einer willens- und schaffensstarken Personlichkeit auf alle Falle liegt. Wenn wir also gegenwartig ein allmahliches , aber konstantes Zuriiekweichen der Angriffe auf den Musiker Reger beinahe mit statistischer Genauigkeit nachweisen konnen, so danken wir das fast zu gleichen Teilen dem erfolgreichen Wirken und Werben iiberzeugter Freunde der Regerschen Kunst — wann ware jemals die Sache irgend eines Kunstlers ohne eine ehrlich meinende „Gemeinde" beizeiten durchgedrungen ? — und der wachsenden Einsicht des Publikums, das endlich zu begreifen scheint, dass Reger kein Zer- storer, sondern ein Mehrer, kein Spassmacber, sondern ein Freudenbereiter, kein Satanas und Hollenbreughel, sondern ein Abgesandter aus jenen seligen Gefilden ist, auf deren ewiggriinem Grunde aucb Bacb, Beethoven, Mozart und alle die andern Grossen ihre schonsten Blumen gepfluckt haben. Als mindestens gleichwertig tritt dann zu diesen beiden Faktoren noch die eigene, ungeheure Arbeitslust und Schopferkraft Regers, die ihn Werk auf Werk mit der Unerschopflichkeit und Unermudlichkeit der Natur selbst zu schaffen zwingt. Auch diese, manchem Zeitgenossen zum mindesten verdachtige Produktivitat (man glaubt sie mit dem verachtlichen Worte ^Vielschreiberei" erklart und abgetan zu haben) hat Reger mit vielen Grossen der Vergangenheit gemein; ich nenne nur Bach, Mozart, Schubert, Liszt und will von alteren franzbsischen und italienischen Opernkomponisten vollig absehen, deren Werke oft ganze Bibliotheken fiillen. Wer mochte sie deshalb schelten oder wiinschen, dass sie langsamer gearbeitet batten? Eine Arbeitsmethode, die sich bei dem einen bewahrt hat, darf man des- halb doch nicht ohne weiteres als Norm fiir jeden andern aufstellen. Ebensowenig, wie etwa in der Kunst die Zeit massgebend sein kann, die jemand braucht, um ein Ziel zu erreichen, sondern einzig und allein
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das Erreichte selbst. Der eine gewinnts als Schnell- laufer, der andere allmahlich — einen Vorzug hat aber deshalb keiner vor dem andern.
Man forscbt nun jedenfalls mit nicht geringem Interesse den Griinden nach, die das Publikum und die ^Berechtigten" wobl batten bezw. zu haben glaubten, als sie sich auf die Fahrte des eben im Felde auf- getauchten, neuen, edlen Wildes Reger setzten. Und man entdeckt mit Erstaunen, dass es Grunde sind, die zwar dem Oberflachlicben hinreichend zum Basse scheinen mogen, fur den Tieferblickenden aber gerade Beweise fiir die Notwendigkeit des Gegenteils, nam- lich der Genugtuung und der Freude, sein miissten. Mit kurzen Worten: so ziemlich alle neueren und neuesten Komponisten bauen auf der breiten (nur allzu breiten und darum so beqaemen!) Basis weiter, die Berlioz, Wagner, Liszt und vielleicht auch Bruckner in beinahe hundertjahriger Arbeit geschaffen haben. (Nebenbei: man hat versucht, die Fundamente dieser Basis schon bei Beethoven zu suchen ; doch muss man bei derlei Rekonstruktionen und Beweisen a posteriore recht behutsam sein, wenn man nicht den Eindruck hervorrufen will, als versuche man, um Eideshelfer zu gewinnen, die Tatsachen zu vergewaltigen und auf den Kopf zu stellen). Max Reger nun ist der einzige (bedeutende) Tonsetzer unserer Zeit, der nicht von der illegitimen, sog. literarischen Seitenlinie, sondern von der legitimen, absolut-musikalischen Hauptlinie der Musik abstammt, jener Linie namlich, die in Bach ihren ersten, universellen, modernen Vertreter gefunden hat und sich hauptsachlich durch Beethoven und Brahms bis in die Gegenwart fortpflanzte. Reger ist also, um seine unmittelbaren verwandtschaftlichen Beziehungen zu fixieren, kein Sohn Liszts (des sohne- und tochter- reichen), sondern ein solcher von Brahms, der einzige vielleicht, der seine Legitimitat unwiderleglich beweisen kann. Aber ebenso wie Brahms und Liszt (nicht als Menschen naturlich, sondern als schaffende Potenzen und Personlichkeiten) ewig unversohnliche Gegensatze waren, so musste und muss Reger unfehlbar in Kollision mit jener Generation geraten, die in Liszt den einzig wahren Messias verehrt. Und da diese Generation die
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herrschende ist bezw. es wenigstens bis vor kurzem noch war, so begreift man immerhin ihre Abneigung gegen den unwillkommenen Outsider, dessen Existenz allein scbon die absolute RichtigkeitibrerKunstprinzipien zweifelbaft zu machen geeignet scbien. Und man ver- stebt aucb die Inbrunst, mit der man sicb von dieser Seite aus der Bekampfung des „Erbfeindes" hingab. D. b.: man verstebt sie, wenn man den Massstab des rein Personlicben , ausserlicb Interessierten anlegt. Vollig unverstandlicb aber wird sie, wenn man die Frage auf das geistige Gebiet biniiberspielt. Denn man begreift dann mit einem Male nicbt mebr, wie es moglicb ist, dass soviele intelligente und bedeutende Leute nicbt sofort die innere Notwendigkeit einer Erscbeinung wie Reger erfasst baben. Dass sie nicbt friibzeitig eingesehen baben, dass in der Kunst- ausiibung, wie sie Reger verstebt und betreibt, nicbts Feindseliges gegen ihre eigene „Richtung* entbalten ist, sondern dass sie eben nur die andere jener be- rubmten zwei Seiten ist, die jedes Ding baben muss, nacb einem Naturgesetz, das aucb fiir die Musik Geltung hat. Dass also von einer Konkurrenz (in der hasslichen Nebenbedeutung des Wortes) keinesfalls die Rede sein kann, sondern nur von einem Schaffen parallel jenem andern, von zwei Tatigkeitskomplexen also, die beide zusammen erst die Summe aller musikalischen Moglichkeiten ergeben. Man begreift sie nicbt, diese seltsame Kurzsicbtigkeit, und man be- dauert sie ; denn ohne sie ware mancher Umweg und manche bittere Stunde (flir beide Teile) vermieden worden. Aber sie scheint ein Erbfebler fast aller scbaffenden Kiinstler (und leider aucb nicbt weniger Kritiker!) zu sein, diese fatale Kurzsicbtigkeit. Und trotz Goethes Wort, dass man sicb freuen solle, zwei solche Kerle zu besitzen, will das Debattieren liber die Frage kein Ende nebmen, wer nun wohlbedeutender sei, der X oder der Y, ins Modern-Musikalische iiber- setzt also: Strauss oder Reger. Beide leben und schaffen und wirken. Besonders das Letztere ist Beweis genug dafiir, dass sie beide etwas wert sind. Ihre definitive „Taxierung" aber werden wir wobl oder ubel scbon einer spateren Zeit uberlassen mussen.
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Kaum zu betonen brauche icli nach dem oben Ge- sagten noch, dass die erst kiirzlich von immerhin autoritativer Seite aufgestellte Behauptung, die Zu- kunft der deutschen Musik beruhe so gut wie aus- schliesslich auf Richard Strauss, zum mindesten eine auffallende Ignorierung der geschichtlichen Tatsachen und eine ganzliche Verkennung der keineswegs gleich- artigen Bediirfnisse der modernen, musikalischen Welt (der schaffenden wie der konsumierenden) verrat. Wozu denn immer wieder Monopole inaugurieren ? Je mannigfaltiger die Betatigungsmoglichkeiten , desto reicher die liesultate. Tag und Nacht geben erst den ganzen Tag.
So wichtig nun in jedem Falle die ^Mission" ist, die Reger heute zu erfiillen berufen ist und die er z. T. audi schon erfiillt hat, so einfach hat sich bis jetzt im allgemeinen sein ausseres Leben gestaltet. In Brand in der Oberpfalz, nicht allzuferne der Heimat Glucks (Weidenwang) ist er am 19. Marz 1873 geboren. Sein (1905 verstorbener) Vater Josef Reger war Lehrer dortselbst, wurde aber 1874 nach Weiden (ebenfalls in der Oberpfalz) versetzt, wo er an der Praparanden- schule als Musiklehrer wirkte. Da haben wir denn auch gleich die Erklarung des immerhin seltsamen Phanomens der wagner- und lisztfreien Erziehung Regers. Der grosste, musikalische Gott in dem stillen, landlichen Musiklehrerhaus war Bach, und das Instru- ment, auf dem mehr musiziert wurde, als auf dem Klavier, war (neben der Geige, dem Handinstrument des Musiklehrers) das Harmonium. So wurde schon in fruhester Jugend die Richtung bestimmt, der Reger in der Hauptsache bis heute treu geblieben ist. Bach wurde sein A und 0, dem sich spater von selbst und zwanglos Beethoven und Brahms anschlossen, wahrend Wagner und Liszt nur ungefahrliche Episoden blieben, und der vaterliche Harmonium- und Orgelunterricht liess bereits die gewaltigen Orgelwerke keimen, mit denen Max Reger dann in der Folge zuerst Raum und Ruhm gewann.
Reger besuchte in Weiden die vierklassige Real- schule und die Praparandenschule und bestand 1889 die Aufnahmeprtifung in das Lehrerseminar als Erster.
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Aber es blieb bei der Prufung; denn die Freude an der Musik hatte sicb bei dem jungen Reger allmahlich in eine Liebe fiirs Leben verwandelt. Ausserdem hatte er im Herbst 1888 zum erstenmal in Bayreuth „Par- sifal" und „Meistersinger" gehort (voila Episode*) Wagner- Liszt!) und unter dem Eindruck des Gehorten eine ■ — leider verloren gegangene — symphonische Dichtung „Heroide funebre" fiir grosses Orchester sowie Klavier- und Kammermusikwerke (samtliche ungedruckt) ge- schrieben. Diese Arbeiten wurden Dr. H. Riemann zur Begutachtung vorgelegt, und die praktische Folge dieser sehr giinstig ausgefallenen Prtifung war, dass Reger seinen Rubikon uberschritt, vom Lehrerberuf Abschied nahm und im April 1890 als Schiller Riemanns in das Konservatorium zu Sondershausen eintrat.
Noch im Herbst des gleichen Jahres siedelte Reger mit Riemann nach Wiesbaden an das dortige Fuchssche Konservatorium tiber und zwar nunmehr bereits als Lehrer fiir Klavier und Orgel. Sechs Jahre verblieb er in dieser Stellung, und damals erschienen auch seine •ersten Kompositionen im Druck (op. 1, 1890 bei Augener u. Co. in London erschienen, ist eine H. Rie- mann gewidmete Sonate in DmoU fiir Violine und Klavier). Nachdem er 1896/97 seiner Militarpflicht als Einjahriger geniigt hatte, kehrte er wieder nach Weiden zuriick, wo er sich rasch entfaltete und den Fach- kreisen immer mehr ein Gegenstand der Aufmerksam- keit wurde.
Der breiteren Offentlichkeit aber begann er erst be- kannt zu werden, als er — im Herbst 1901 — nach Miinchen iibersiedelte. Er gab hier Konzerte, die
*) Dass diese Episode wirklieh nur eine Episode blieb, ist wolil dem besonderen Charakter der beiden Wagnerschen Werke zuzuschreiben, die der funfzehDJahrige Reger in Bayreuth horte. Wie unendlich viel Bacbseher Geist steckt docb in den „Meistersingern'*, und wie nabe ist die mystiseh-asketische Stimmuug des „Parsifal" der sakralen Strenge der Orgelmusik verwandt ! Diese beiden Werke waren wirklieh nicht geeignet, Reger dauernd aus seiner Bahn zu werfen. Wie es allerdings gekommen ware, wenn er damals „Tristan und Isolde" oder den „Ring des Nibelungen" gehort hatte, dariiber kann man nur Yermutungen anstellen. Dieser Sirenenmusik hatte Odysseus-Reger vielleieht doch nicht widerstanden.
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naturlich zunachst allgemeines Schiitteln des Kopfes erregten. AUmahlich aber zwang er doch immer mehr Willige und auch Unwillige in seinen Bann und ging im Ubrigen unbeirrt weiter seinen einsamen, weit ab- seits von der larmenden Heerstrasse fiihrenden Weg. Von Miinchen begann er dann, als sein eigener Manager und sein bester Propagandist, auch Konzertreisen durch Deutschland, Osterreich und die Schweiz zu unter- nehmen. Und iiberall dieselbe Erscheinung : Enthusias- mus und schroffste Ablehnung in lieblichem Gemisch. Ein Gllick fur Reger, dass die nicht selten unerhorte Intensitat und Herzlichkeit des Beifalls ihn die Bos- heiten und Verkleinerungsgeluste Ubelgesinnter immer wieder bald verschmerzen liess !
Im Jahre 1902 verheiratete sich Reger und ge- wann dadurch auch ausserlich eine feste Basis fiir sein Schaffen, umsomehr, als er urn diese Zeit auch Ver- leger fand, die ihm mit einer nicht alltaglichen Coulanz und Weitsichtigkeit entgegenkamen, sodass wenigstens in diesem Punkte einmal eine Ausnahme von der fur Kunstler in Deutschland iiblichen Regel zu konstatieren ist. Es entstanden nunmehr seine bedeutendsten Werke (etwa von op. 50 an); heute — da ich dies schreibe — halt er bereits bei op. 100. Die Zahl seiner auswartigen Konzertverpflichtungen ist mittler- weile, besonders da er auch den Ruf eines der aller- besten Begleiter am Klavier gewonnen hat, ins Un- geheuerliche gestiegen, und vor allem in den musik- frohen mittel- und niederrheinischen Stadten und in der Schweiz (Basel, Zurich und Genf), aber auch in Leipzig, in dem sproden Berlin, in Thiiringen und noch an zahllosen anderen Orten bildeten und bilden sich „Gemeinden" iiberzeugter Freunde der Regerschen Kunst. Auch aus Holland, Paris und Petersburg sind Berufungen an ihn ergangen, und ganz im Hintergrunde droht — leider! — auch schon das unvermeidliche Amerika, in dem er bereits zahlreiche nAnhanger" besitzt. Zweifelhafte Erfahrungen hat er — nemo propheta in patria! — in Miinchen gemacht, wo er auf Mottls Veranlassung in das Lehrerkollegium der Akademie der Tonkunst berufen worden war. AUerlei missliche Ver- haltnisse, auf die hier nicht naher eingegangen warden
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kann, veranlassten ihn, diese Stellung bereits nach eineni Jalire wieder niederzalegen. Das Gleiclie war der Fall mit der Direktion des Porgesschen Chor- vereins, die ihm nach M. von Erdmannsdorfers Tod iibertragen word en war. Leute, die es ehrlich mit Reger meinen, freuen sich freilich aufrichtig daruber, dass er, ledig dieser fur seine Schultern nicht geeigneten Burden, sich nunmehr wieder ausschliesslich dem Produ- zieren (und Reproduzieren eigener Werke) widmen kann; denn Schultern, urn solche Amter zu tragen, gibt es ubergenug. Schopferische Begabungen von der Starke und Eigenart der Regerschen aber sind so selten und kostbar, dass man sie nur ungern in ein Joch, und ware es noch so ehrenvoll und schon verziert, ge- spannt sieht.
Und nun wollen wir noch die Werke Regers selbst einzeln und in Komplexen kurz Revue passieren lassen. (Eine genaue und annahernd vollsandige Analyse auch nur der bedeutendsten Werke wiirde den Umfang einer respektablen Brochure erfordern.) Es ist bis jetzt iiblich gewesen, die Orgelkompositionen an die erste Stelle in dem ^Oeuvre" Regers zu stellen. Nach dem Erscheinen der Sinfonietta und der Serenade, der grossen Klavier-Variationen und Chorwerke und der letzten, reifsten Kammermusikwerke diirfte aber diese Bevor- zugung einer ungefahren Gleichstellung aller dieser Opera Platz zu machen haben. Freilich werden die Orgelkompositionen Regers immer jener Teil seiner Schopfungen bleiben, der ihm etwas Einzigartiges unter den zeitgenossischen Tonsetzern verleiht ; denn wahrend fiir alle andern die Symphonie oder das Musikdrama das ureigene Element bedeutet, geht Reger (ahnlich wie Bruckner) von der Orgel und damit selbstverstand- lich von Bach aus. Das Bedeutende an der Orgel- musik Regers ist nun, dass er das ungemein schwierige Problem gelost hat, Bachsche Strenge und Monumen- talitat mit modernster, modulatorischer Beweglichkeit und Vielgestaltigkeit zu verbinden, mit anderen Worten: dass er die Sprache Bachs gewissermassen ins „Neu- hochdeutsche" iibertragen und sie so zum Ausdruck kompliziertester moderner Empfindungs- und Ge- dankenreihen befahigt hat. Was einst, wie Gustav
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Beckmann in einem Artikel uber Reger mitteilt, der 97jahrige Adam Reinken im Jahre 1722 zu dem 37jahrigen J. S. Bach sagte: „Ich hatte geglaubt, diese Kunst sei ausgestorben ; nun aber sehe ich, dass sie in Ihnen noch lebt", gilt heute flir den 33jahrigen Reger. Er hat zustande gebracht, was seit Bach keinem mehr und auch einem Liszt und Rheinberger nicht oder wenigstens nur ganz selten gelungen ist: er hat die Orgel wieder zur Interpretin grosster Ge- danken und Empfindungen gemacht; er hat ihre Koniginnenkrone neu geschmiedet. Dass es Organisten gibt, die dies heute schon begreifen, beweist das Bei- spiel Karl Straubes, der den Orgelwerken Regers seit Langem ein begeisterter Vorkampfer durch Wort und Tat ist. Und andere tun desgleichen.
Von den iiberaus zahlreichen Werken Regers fur die Orgel sind die bedeutendsten: die grossen Choral- phantasien op. 27 („Eine feste Burg"), 30 (^Freu dich sehr, o meine Seele"), 40 („Wie schon leucht' uns der Morgenstern" und „Straf mich nicht in deinem Zorn") und 52 („Alle Menschen mtissen sterben", „Wachet auf, ruft uns die Stimme" und ,Halleluja! Gott zu loben, bleibe meine Seelenfreud'"), Werke von schier uner- schopflichem Reichtum an Empfindung und Stimmung. Ihnen schliesst sich die machtige Phantasie und Fuge liber den Namen B-A-C-H op. 46 an. Die kolossalsten, aber auch schwierigsten Original werke Regers fur die Orgel sind die symphonische Phantasie und Fuge Dmoll op. 57 (man hat behauptet, dass sie von Dantes „lnferno" angeregt sei; derartige literarische Einfliisse liegen je- doch Reger meilenfern; es sind vielmehr ganz allgemeine Todes- bezw. Karfreitagsstimmungen , die hier ihren kiinstlerischen Ausdruck gefunden haben) und die Varia- tionen und Fuge uber ein Originalthema Fis moll op. 73. Angesichts dieser beiden Riesenschopfungen begreift man es immerhin, dass man den Orgelkomponisten Reger schon wiederholt unmittelbar neben J. S. Bach gestellt hat. Ein ebenso instruktives wie erstaunlich vielseitiges Werk sind die 52 (leicht ausfuhrbaren) Choralvorspiele op. 67. Nicht vergessen seien die Sonaten op. 33 und 60, die H moll- Suite op. 92 und die zahlreichen kleine- ren Stucke in op. 47, 59, 63, 69, 80 und 85. Ohne
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Opuszahl erschienen sind eine Anzahl Bearbeitungen Bachscher Werke. Auch einer sehr empfehlenswerten Schule des Triospiels, die Reger gemeinsam mit Straube bearbeitet hat, sei gleich hier Erwabnung getan.
Der Orgelmusik Regers zunachst stelle ich seine Kammermusik. Das eigentliche Wesen der Eegerschen Musik, speziell seiner Harmonik und Chromatik *) er- scbliesst sich dem aufraerksamen und willigen Laien hier vielleicht doch rascher und bequemer als beim ungewohnten Horen der Orgelwerke. Auch die un- mittelbare Verwandtschaft Regers mit Brahms wird hier deutlicher wie anderwarts, ebenso wie es klar wird, wodurch Reger sich von Brahms unterscheidet (durch den grotesk-bizarren Humor seiner raschen Satze vor allem, durch reichere Chromatik und durch das Wesen seiner geliebten Variationensatze , die mehr auf Vor- bilder des 18. Jahrhunderts wie auf Brahms zuriick- weisen). An bemerkenswerter Kammermusik hat Reger bis jetzt geschaffen; zwei Quartette op. 54, das Dmoll- Quartett op. 74, das C moll-Klavierquintett op. 64 und die beiden graziosen Trios op. 77, in denen sich der Anschluss an das 18. Jahrhundert auch durch die aussere Form ohne Weiteres verrat. Von grosster Be- deutung, viel angefochten, aber auch viel bewundert sind die Sonaten Regers, und zwar: die Violinsonaten op. 41, 72 (C dur, ein hochst aggressives, yon grimmigem Sarkasmus erfiilltes „Bekenntnis"- und Ubergangswerk, das auch durch die kecke Beziiglichkeit gewisser wichtiger, sozusagen zoologischer Motive eine gewisse Beriihmtheit erlangt hat), 84 (Fis moll, ein reifes, klares und im Schluss- fugato hinreissendes Werk) und eine kostliche Suite im alten Stil Fdur op. 93; ferner die tiefgriindige Cellosonate
*) Fiir die richtige Erkenntnis dieser nicht eben einfachen Materie sind von Wichtigkeit die bei C. F. Kahnt Nachfolger in Leipzig erschienenen „Betrage zur Modulationslehre", in denen Reger die Grundprinzipien der, d. h. seiner Modulation in pragnan- ter und kaum missverstandlicher Form an hundert gut gewahlten Beispielen entwickelt hat. Ein Beweis fur das Interesse, das man diesem ^FUhrer" entgegenbringt, ist wohl u. a. auch die Tatsache, dass bereits die Ausgabe einer franzosischen und einer englischen Ubersetzuug notwendig war.
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op. 78 und die beiden*) merkwurdigen Klarinetten- sonaten op. 49 ; nicht zu vergessen die prachtigen, un- mittelbar auf Bachsche Vorbilder zuriickgehenden Solo- violinsonaten op. 42 und 91, zusammen elf Stuck.
Unmittelbar anzureihen ist hier die liberaus reiche und noch immer viel zu wenig beachtete Klavierliteratur Regers, die in den beiden, in jedem Betracht unver- gleichlichen , monumentalen Variation enwerken op. 81 (Variationen zu zwei Handen iiber ein Thema aus der 128. [Himmelfahrts] - Kantate von Bach) und op. 86 (Variationen fur zwei Klaviere zu vier Handen fiber ein Thema aus No. 11 der Bagatellen op. 119 von Beethoven) gipfelt. Welches von diesen beiden Werken das bedeutendere sei, ist eine mussige Frage. Sie sind beide standard works der modernen Musikliteratur und vermogen selbst ein reserviertes und kuhles Publikum in eine Begeisterung zu versetzen, die bei solchen immerhin abstrakten Werken doppelt erstaunlich, aber durch die an die Wirkung einer Springflut erinnernde Unwiderstehlichkeit dieser gewaltig anstiirmenden Ton- niassen hinreichend erklarbar ist. Daneben verdienen auch die meist umfangreichen, kleinere, brillante Stucke enthaltenden und z. T. auch Einfliisse Chopins, Schu- manns und Mendelssohns offenbarenden op. 26, 32, 34 (Pittoresken zu vier Handen), 36, 45 (Intermezzi), 53 (Silhouetten), 58 (Burlesken zu vier Handen), 82 (Aus meinem Tagebuche), 89 (2 Sonatinen) und 94 (zu vier Handen) eingehend studiert zu werden. Die op. 82 und 89 durften sich iibrigens auch vortrefflich zur Ein- fiihrung von Schulern usw. in die Welt Regers eignen; auch als Hausmusik werden sie jederzeit gute Dienste tun. Den beiden grossen Variationenwerken op. 71 und 86 scheint sich iibrigens eine eben veroffentlichte,
*) Die durchaus nicht spielerische und willktirliche, son- dern in der Psychologic des Schaffens wohlbegrundete Eigen- tumlichkeit, Paare von Werken gleichen bezw. sich erganzenden Charakters zu schaflPen und unter einer Opuszahl zu vereinigen, hat Reger ebenfalls ganz besonders mit Brahms gemein. Des- gleichen den Reichtum der musikalischen Formen, der in der Zeit der beiden alleinseligmachenden Formen des Liedes und der symphonischen Dichtung fast wie ein unbegreifliches Wunder anmutet.
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gleichfalls in kolossalen Dimensionen gehaltene Intro- duktioD, Passacaglia imd Fuge H moll fiir zwei Klaviere zu vier Handen op. 96 wurdig anschliessen zu wollen. Die Zahl der Lieder Regers betragt bereits weit iiber zweihundert. Man wird kaum ein minderwertiges darunter finden, wenigsten soweit die Klavierbegleitung in Frage kommt, deren melismatiscbe Umspielungen der Singstimrae nicht selten von traumliaft schoner Wirkung sind. Mit dem Melos dieser Lieder selbst wird man freilich zuweilen seine liebe Not haben. In diesem heiklen Punkte unterscbeidet sicb eben audi ein Reger kaum allzuviel von seinen zabllosen liederscbreibenden Zeitgenossen. Bedauernswert ist aucb die Sorglosig- keit Regers in der Auswabl der Texte. Wir sind in dieser Beziebung speziell durch Hugo Wolf und aucb durcb den literariscben Feinscbmecker Ricbard Strauss sebr verwobnt und vor allem gegen jene ^scbalkbafte" Liebeslyrik empfindlicb geworden, deren bumoristiscb sein sollende Pointen besten Falles dem zimperlicb- affektierten Gescbmack von Klosterscbiilerinnen kiibn und originell erscbeinen. Ganz besonders in den „Scblicbten Weisen" op. 76 entdeckt man zablreicbe Proben dieser zweifelbaften Lyrik, deren Scbmackbaft- macbung nicbt einmal dem burlesken Humor Regers, den wir docb gerade in vielen anderen Werken als sein Spezifikum scbatzen gelernt baben, gelingen will. Aucb sonst scbeinen diese ^scblicbten" Weise ibren Nam en mebr nacb dem Vorbilde von lacus a non lu- cendo zu verdienen, was aber natiirlicb nicht aus- scbliesst, dass sicb mancbe wirklich scblicbte Weise darunter findet, die begrundete Aussicbt bat, in ge- wissem Sinne popular zu werden. Ebenso entbalten aucb die andern, zablreicben Liederzyklen Regers man- cbes Stiick, das man obne IJbertreibung eine Perle nennen kann. Spezielle Hervorbebung verdienen u. a.: „Mein Traum" (aus op. 31), „Flieder'' (op. 35), „Frauen- baar" (op. 37), ,Meinem Kinde" (op. 43), „Am Dorfsee" (op. 48), „Scbmied Scbmerz** und „Frublingsregen" (op. 51), ,Rosen", „Viola d'amour", „Der Alte" (op. 55), „Waldseligkeit", „Icb scbwebe" und „Pflugerin Sorge* (op. 62), „Du bist mir gut" (op. 66), „Engelwacbt'' (op. 68), jjSebnsucbt", „Dein Bild" und ^Somraernacbt"
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(op. 70), „ Aeolsharfe" (op. 75). Es gibt kaum eine Stimmung, vom prometheischen Sichaufbaumen bis zum stissesten Versunkensein, die iiicht in den hier genannten und noch vielen anderen Liedern und Gesangen Regers einen pragnanten Ausdruck gefunden hatte. Und doch, trotz alledem: man wird das Empfinden mcht los, dass das Dicliterwort fiir Reger, den absoluten Musiker par excellence, weit ofter eine Fessel als eine Befluge- lung bedeutet. Er wird das vielleicht nicht eingestehen woUen; aber es ist doch wohl so.
Nicht zu iibersehen sind die Chorwerke Regers: seine Manner- und gemischten Chore op. 38, 39 und 83, die vortrefflichen Bearbeitungen weltlicher und geist- licher Volkslieder und Madrigale fiir Manner- und ge- mischten Chor und der „Evangelische Kirchenchor". Die Krone dieser durch strengen und doch klangvoUen Satz ausgezeichneten Werke ist (bis jetzt) der un- gemein schwierige „Gesang der Verklarten" fiir fiinf- stimmigen, gemischten Chor und grosses Orchester op. 71 (Gredicht von Karl Busse), ein bisher kaum be- achtetes und meines Wissens nur ein einziges Mai mit bedeutendem Erfolg aufgefiihrtes Werk von grossten Dimensionen und gewaltigen Steigerungen, das sicher- lich einmal eine glanzvolle Auferstehung erleben wird. An dieser Stelle sind wohl auch die Choralkantaten Regers fiir die Hauptfeste des Kirchenjahres zu nennen, die sich durch eigenartiges und reizvolles Arrangement (verschiedenartigste Kombinationen von Solostimmen, Chor, Kinderchor und Gemeindegesang mit Instru- mentalsolis und Orgel) auszeichnen and volkstiimliche Musik im besten Sinne des Wortes sind. Bis jetzt sind vier solcher Choralkantaten erschienen, und wie sehr sie einem tatsachlichen Bediirfnis entgegenkommen, beweisen die iiberaus zahlreichen Auifiihrungen, die sie schon gefunden haben.
So waren wir denn endlich bei jener Kunstgattung angelangt, der sich Reger erst in neuester Zeit zuge- wandt hat: dem Orchester. Mit seiner vielberedeten „ Sinfonietta" Adur op. 90 hat er die ersten, energischen Schritte auf diesem Gebiete getan, und noch selten ist ein Orchesterwerk mit so gemischten Gefiihlen auf- genommen worden. Man hat behauptet, Reger ver-
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stunde nicht zu instrumentieren, sein Orchester klinge zu dick und entbehre jedes Klangreizes usw. Wenn man auch vielleicht zugeben wird, dass speziell die beiden Ecksatze noch genug sogenannter Papiermusik enthalten (man nenne mir freilich die moderne Sym- phonic, von der man nicht dasselbe behaupten kann!), so ist es doch unerfindlich , wie man angesichts des prachtigen, ersten Themas des 1. Satzes, des Mittel- satzes des Scherzos und des ganzen, herrlichen Andantes (um nur einiges zu nennen) die Behauptung aufrecht erhalten kann, das Regersche Orchester klinge nicht. Ich bin gewiss: wenn der Kampf des Fiir und Wider um diese Schopfung erst einmal zur Ruhe ge- kommen sein wird, dann wird man sie mit alien ihren Widerborstigkeiten lieben lernen; denn sie ist starke, gesunde, absolute Musik, just, wie wir sie heute brauchen. Unterdessen hat Reger jenen Zartnervigen, denen er mit manchen Partien der Sinfonietta bange gemacht hat, rasch und schlagend bewiesen, dass er auch anders kann, wenn es der Gegenstand verlangt: seine Felix Mottl gewidmete Serenade fiir Orchester G dur op. 95 ist dieser Beweis. Dieses wundervolle, von zauber- hafter Nachtstimmung erfiillte Werk wird wohl manchen veranlassen, sein allzu vorschnelles Urteil iiber den Orchestertechniker Reger zu revidieren. Aber nicht nur das kiihne und vollkommen gegliickte Wagnis, ein Streichorchester mit und eines ohne Dampfer durch alle vier Satze hindurch mit einander Zwiesprache halten zu lassen (ein ^Tric", der in den im 18, Jahr- hundert beliebten, ahnlich erzeugten Echowirkungen jedenfalls ein Vorbild, wenn auch kaum ein vollwertiges Gegenstiick besitzt), wird das Urteil iiber die Instru- mentationskunst Regers gerechter werden lassen, sondern auch die Anmut und ^Ausgewachsenheif^ der Themen und die Fiille von echter Poesie, die diesem Meister- werke eine hervorragende Stellung in der modernen Orchesterliteratur sichert. Freilich: jene, die meinen, Reger habe sich etwa ^bekehrt" und werde von nun an immer so „zahm" schreiben, werden wohl bald eine schlimme Enttauschung erleben. Werke wie die Serenade sind nur liebliche Intermezzi. Das Drama — um im Bilde zu bleiben — wird darnach mit voller
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Kraft seinen Fortgang nehmen. Und das ist gut so. Nur Toren konnen glauben, dass ein schopferischer Geist von der Selbstandigkeit Regers zarten Ohren dauernd Konzessionen machen wird. Er schafft, was und wie er es muss, und wer Keger nur ein klein wenig kennt, weiss, dass diesem derben, trotzig-eigen- sinnigen Oberpfalzer gerade das Schwerste und Wuch- tigste am handgerechtesten ist. Lassen wir ihn darum unbebelligt weiter schaffen. Denn er gehort sicherlicb (das ist kein Dogma, sondern eine Uberzeugung) zu jenen Seltenen, um deren Berecbtigung oder >jicht- berecbtigung, Wert oder Unwert man sicb einige Jabr- zebnte leidenscbaftlicb streitet, bis man eines Tages erkennt, wie zwecklos und lacberlicb eigentlicb dieser ganze Kleinkrieg war; denn die Kampfenden (die Siegenden wie die Besiegten) werden vergessen sein; das Werk aber, um das man sicb balgte, steigt in unberiibrter Scbonbeit und Reine aus dem Cbaos zum Licbte empor. Freuen wir uns, dass wir begliickte Zeugen des allmablicben Werdens und Sicbvollendens eines Auserwablten sind!
E R uon Reznicek
(geb. zu Wien am 4. ITIai 1860).
E. M. von Reznicek.
otto Taubmann.
Am 15. April des Jahres 1895 fand in Karlsruhe, wo damals noch Felix Mottl die kiinstlerische Ober- herrschaft iiber das Grossherzogliche Hoftheater aus- iibte, die Urauffuhrung der dreiaktigen Oper „ Donna Diana", Dichtung (frei nacli der Westschen tJbersetzung des gleichnamigen Moretoschen Lustspiels) und Musik von E. N. von Reznicek, statt. Der Erfolg war ein so durchschlagender, dass das Werk in kurzer Zeit iiber nicht v^eniger als dreiundvierzig Biihnen ging und auch einzelne Nummern daraus, so vor allem das Lied der Floretta „Mutterchen, wenn's in Schlaf mich sang", alliiberall — sei's in Konzert, Haus oder Gesellschaft — zu horen v^aren. In der nachv^agnerschen Zeit ist nur wenigen musikalischen Blihnenwerken ein ahnlicher Erfolg beschieden gewesen; was Wunder, dass mit demjenigen von Rezniceks „Donna Diana" der Name des bis dahin ziemlich unbekannten Autors plotzlich in den Mund der Leute kam und man auch seinen Lebens- schicksalen gesteigertes Interesse entgegenbrachte.
Etwas besonders Ungewohnliches bot der Lebens- lauf E. N. von Rezniceks nun freilich kaum, wenn man vielleicht einzig von seiner Abstammung absah. Als Sohn eines osterreichischen Generals, miitterlicherseits sogar mit einem ehemals regierenden rumanischen Furstengeschlecht verwandt, war er immerhin eine seltene Erscheinung unter den Musikern von Fach, die doch meist aus burgerlichen Kreisen kommen. Da- gegen hatte es sich schon otter ereignet, dass durch einen Berufswechsel der Kunst ein neuer Junger zugeflihrt worden war. v. Reznicek studierte zuvor in
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Graz Jura, ebe er sich am Leipziger Konservatorium unter Leitung von Mannern wie Reinecke und Jadassohn ganz der Vorbereitung auf die spatere musikalische Laufbahn widmete. Diese flihrte ihn dann als Opera- kapellmeister uber die Stadttheater in Zurich, Stettin, Mainz usw. an die Hofbiihnen in Weimar und Mann- heim. In Mannheim endete v. Rezniceks theatralisches Wirken. Nach kurzem Aufenthalt in Wiesbaden kam er im Jahre 1901 nach Berlin. Hier begrlindete er vor einigen Jahren die sogenannten „Orchester- Kammerkonzerte" mit dem Philharmonischen Or- chester, die den Zweck verfolgen, solchen Werken „in- timen" Genres, die die starke Besetzung unserer modernen Orchester nicht vertragen, in der ihnen angemessenen Weise dem Publikum vorzufiihren. Seit der Zeit ihres Bestehens haben die ^Orchester-Kammerkonzerte" E, N. V. Rezniceks einen entschiedenen Aufschwung genommen. Ausserdem dirigiert von Reznicek standig die grossen Philharmonischen Konzerte in Warschau, wohin er sich zu diesem Zwecke in mehrwochigen Pausen begibt. Auch als Lehrer (f'iir Theorie und Komposition) hat sich ihm am Konservatorium Klindworth- Scharwenka ein sich stetig erweiternder Wirkungs- kreis eroffnet. Schliesslich ist er jetzt am Werke, in der neuen Ausstellungshalle am Zoologischen Garten in Berlin, die bis 10000 Personen fasst, Volkskonzerte grossten Stils einzurichten. Seine Haupttatigkeit aber gilt nach wie vor dem eigenen Schaffen, dem vor allem denn auch die nachfolgenden Zeilen gewidmet sein sollen.
Die „Donna Diana" war nicht das erste Buhnen- werk E. N. von Rezniceks ; drei Jugendopern — „ Die Jungfrau von Orleans", „Satanella" und „Emerich For- tunat" — waren ihr vorausgegangen und batten das Interesse Angelo Neumanns, des Direktors des Deutschen Landestheaters in Prag, erregt, der sie samt- lich auf seiner Biihne zur Wiedergabe brachte und dem Kiinstler auch ferner fordernd zur Seite stand. In weitere Kreise sind diese Jugendwerke jedoch nicht ge- drungen, und flir Rezniceks Schaffen kommen sie wohl nur insofern in Betracht, als er sich an ihnen die Sicher- heit in der Technik gewann und den Blick ftir das
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Buhnenwirksame scharfte, die ihm in seiner ^Donna Diana" spater so schone Friichte zeitigen sollten.
Es ist namlich wolil sicher, dass wie bei jeder Oper, so auch bei der „Donna Diana" E. N. v. Rezniceks ihrer Bubnenmassigkeit und Biibnenwirksamkeit ein grosser Teil des errungenen Erfolges zu danken ist. Scbon die Wabl des Stoffes, der sicb bis heute friscb erbalten hat, muss eine sebr glucklicbe genannt werden. In seiner eigenen Bearbeitung dieses StofPes zu einem ,,Opernlibretto" ist der Autor dann mit Erfolg bemiiht gewesen, beim Horer keine Ermiidang, keine Langeweile (die gefahrlichsten Feinde jedes Biihnenwerkes !) auf- kommen zu lassen, Es „geht" stets etwas auf der Biihne «vor"; durch den angemessenen Wechsel zwiscben Einzelszenen, grosseren und kleineren Ensembles bis zum Zusammenwirken von Solisten, Chor und Orchester •wird die Aufmerksamkeit stets rege erbalten; und scbliess- licb hat wohl auch das Erscheinen einer wirklich „komi- schen", in Musik und Text das Panier von Witz und Humor hochhaltenden Oper nach all dem Pathos des nachwagnerischen Musikdramas das seinige getan, um dem Werke zu seinem ungewohnlichen Erfolge zu ver- helfen. Obgleich durch und durch ^modern" gesinnt, ist namlich v. Reznicek doch nichts weniger als ein den Pfaden des ^Meisters" blind folgender Wagner- Epigone. Schon seine „Donna Diana" -Musik liefert dafur den schlagendsten Beweis. Wie leicht und durch- sichtig, v^ie klar und zierlich, wie so ganz frei von jeglichem Pathos — es sei denn, dass dieser den Zwecken der Persiflage dient — ist diese Masik! Noch mehr: Nur ganz sparsam ist das Leitmotiv verwertet und ver- v^rendet, die geschlossenen Formen der Arie, des Liedes treten uns wieder entgegen, ja sogar vor den verponten Wortvs^iederholungen scheut der Komponist nicht zuriick, wenn solche ihm dem Sinne oder der Form zuliebe ge- boten erscheinen. Von den grossen Ensembles ist be- reits gesprochen worden; sie v^rerden durch prunkvolle Aiifziige, Marsche und Balletts unterbrochen. Das Alles ist sicher nicht v^agnerisch, auch die zierliche Instrumentation, die vor alien gewaltsamen Effekten zuriickscheut, ist es nicht. Und trotzdem ist die „Donna Diana" dank der ihr innewohnenden Stimmung, dank
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des Geistes, der sie durcliweht, ein durchaus „modernes" Werk von gerade so neuzeitlicher Art, wie es oben von seinem Schopfer gesagt wurde. Weshalb Reznicek in seiner „Donna Diana" nicht wagnerisch schreibt, ist auch gar nicht schwer zu erkennen: Das musikalische „Lustspiel", um das es sich hier handelt, das von Wagner aber gar nicht kultiviert wurde (auch in den „Meistersingern" liegt im Grunde genommen wohl nichts Derartiges vor!), dieses wirkliche musikalische Lustspiel, dessen klassisches Vorbild wiv etwa in Mozarts „Figaro" zu erblicken haben, fordert geradezu geschlossene Formen, deren eine lose an die andere gefugt die Ent- faltung jenes bunten Farben- und Stimmungswechsels erst ermoglicht, der fiir diese Kunstgattung unumgang- liche Bedingung ist. Es ist nun ein Ruhmestitel des Komponisten, den leichten Lustspielton so besonders gut getroffen zu haben, dass man beim Anhoren der Musik so recht das Gefuhl der Stilechtheit und Stileinheitlich- keit bekommt. Daran reiht sich jenes andere, gerade zu unserer Zeit so v^ohltuende Gefuhl, einmal wieder einem echten „Melodiker" gegeniiberzustehen , der mit wirklicher Leichtigkeit erfindet, oder dem man wenig- stens die Muhe des Erfindens nicht anmerkt. Als Perlen schoner und leichtfliessender melodischer Erfindung (die, nebenbei bemerkt, stets durch feines Empfinden und treffliche Arbeit in eine wirklich „kunstlerische" Sphare emporgehoben wird), nenne ich die pikante Ouverture, das Vorspiel zum zweiten Akt, die Ballettmusik und das Walzerzwischenspiel, das schon oben angefiihrte Floretta-Lied, das Narrenlied im dritten Akt und ebendort Dianas Arie „Ist dieses Feuer in der Brust die Liebe?"
Seiner „Donna Diana" hat v. Reznicek bis jetzt nur eine weitere Oper folgen lassen: „Till Eulen- spiegel", Volksoper in zwei Teilen und einem Nach- spiel nach Johann Fischarts „Eulenspiegel Reimens- weiss". Nur Karlsruhe, Mannheim und Berlin (Hof- oper) haben sie bis jetzt gegeben; ein annahernd gleicher Erfolg wie der „Donna Diana" ist ihr also bis jetzt nicht beschieden gewesen. Und doch hatte sie ihn wohl verdient. Denn in gewissem Sinne, nament- lich in Bezug auf die sorgfaltigere Deklamation, be-
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deufcet der „Till Eulenspiegel" einen wirklichen Fort- schritt seines Schopfers gegen die „Donna Diana". Der „Till" ist aber um deswegen noch besonders interessant, weil er v. Reznicek von einer ganz neuen Seite, namlicb als bewusst „volkstumlichen" Komponisten zeigt. Das Bestreben, die Kunst zu popularisieren, ist besonders zu unserer Zeit ein weit verbreitetes geworden. Damit im Zusammenhange stehen die vielen „Volks- opern", die in den letzten Jahren erschienen sind und mit denen ibre Autoren versucbt haben, die breite Masse des Publikums fiir sich zu gewinnen. Leider bat man sich meistens in den Mitteln zur Erreichung dieses Zweckes vergriffen. Nicht der Satz „Fur das Volk ist das Beste gerade gut genug" diente als Richt- schnur, sondern im Gegenteil sollten Konzessionen an den niedrigen Gescbmack der grossen Menge zu dem ersehnten Ziele (der Popularitat des Werkes, resp. seines Schopfers) flihren. Was als volkstumlich gelten sollte, wurde auf solche Weise naturlich „vulgar", und es ergab sich von selbst, dass der wahre Kunst- und Volksfreund gegen sogenannte „volkstumliche'' Opern von vornherein von Misstrauen sich erfiillt fiihlte, das die Tatsachen immer wieder als berechtigt erwiesen. E. N. V. Reznicek ist es gelungen mit seinem „Till Eulen- spiegel" ein Werk zu schafPen, dem gegenliber ein solches Vorurteil nicht aufrecht erhalten v^erden kann. Nicht als billige Konzession gibt sich das Volkstiim- liche darin zu erkennen, sondern als gesunde und nahr- hafte kunstlerische Kost, die um deswegen sich be- sonders furs _ Volk eignet, weil sie sich ebenso von raffinierter tJberfeinerung wie von Roheit und Ver- derbtheit fern halt. Der Autor erkannte sehr wohl, dass wir der Gegenwart edles Volkstum am leichtesten dadurch geben konnen, dass wir ihr die Yergangenheit unseres Volkes im Spiegelbilde wieder vor Augen fuhren. So griff er zuriick auf die volksttimliche Figur des Schalksnarren von Kneitlingen, dessen ^Jugendstreiche", flBrautwerbung" und ^Tod" er in den drei Teilen seiner in Anlehnung an Fischart wieder selbst gedichteten Oper am Zuschauer vortiberziehen lasst. Man hat es der Dichtung zum Vorwurf gemacht, dass sie mehr nach ^epischen" als nach ,,dramatischen" Grundsatzen auf-
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gebaut sei. Und dieser Vorwurf ware in der Tat nicht ohne Berechtigung, wenn nicht gerade die Absicht des Autors, dem Publikum vor allem die volkstiimliche Gestalt des Helden in seinen verschiedenen Lebens- phasen zu zeigen, das eingeschlagene Verfahren recbt- fertigte. Im tibrigen ist eine engere Verbindung zwischen den beiden ersten Teilen der Oper aucb vom „drama- tischen" Gesichtspunkte aus unschwer nachzuweisen. Den letzten Teil bezeichnet v. Reznicek aber selbst als „Nacbspiel" und gibt dadurch kund, dass er sich des Wesens dieses Schlussteils als einer Art Appendix voU- kommen klar gewesen ist.
Der erste Teil der Oper fiihrt den Zuschauer auf den Marktplatz des Dorfes Kneitlingen in Braunschweig, dem Geburtsort Till Eulenspiegels, zur Zeit des sech- zehnten Jahrhunderts. Es ist Friihling. In den Zweigen pfeift und zwitschert das muntere Heer der gefiederten Bewohner der Liifte, was dem Komponisten zu hiibschen Tonmalereien im Orchester Anlass gibt. Aus einer Hiitte tritt die alte Wibeken, Eulenspiegels Mutter, und klagt dariiber, dass ihr unntitzer Schlingel von Sohn nun bereits wieder seit acht Wochen von ihr fortgelaufen sei und sich in der Welt heramtreibe. Dazwischen singt sie ein Lied (vermutlich V oiks lied) von „unserer lieben Frauen". Bei der zweiten Strophe halt ihr plotzlich jemand von hinten die Augen zu, wahrend gleichzeitig im Orchester das charakteristische Eulenspiegelmotiv aufspringt. Sie wendet sich: ihr Sohn Till steht vor ihr. Nach der ersten Freude des Wiedersehens regt sich in der Alten der Zorn iiber den Herumtreiber von Sohn. Mit dem Stecken in der Hand lauft sie ihm nach, um ihn zu ziichtigen; doch Till entweicht auf den vor der Hiitte stehenden Baum, von dem wieder zu der angstlich gewordenen Mutter hinabzusteigen er sich erst dann bequemt, als sie ihm feierlich vollige Vergebung zugeschworen hat. Die Alte beklagt sich , dass Till kein ehrsames Handwerk erlernt habe und fiirchtet fiir seine Zukunft das Schlimmste. Doch Till beruhigt sie. Ein Handwerk erlerne er zwar nimmermehr — ^das heisst, was du so Handwerk nennst".
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„Doch was ich kann und du niclit kennst, das Handwerk, das ich mir erkoren, 'nen glildnen Boden hat es auch, und lernt es auch nicht jeder Gauch, den Meister gibt es nicht verloren!
Mein Handwerk sei die Narretei und Schalkerei, Spitzbiiberei. Ich bin ein Narr und frei. Tarandei!"
Da Eulenspiegel seiner Mutter gleichzeitig einen ge- fdllten Beutel zu zeigen vermag, so berufiigt sie sich schneil wieder; der Mutterstolz auf den ^hiibschen" und sgescheiten" Buben gewinnt bei ihr die Oberband, und mit den Worten »Sorg' , schweig still!" verlasst sie die Biibne.
Es erscbeint die groteske Figur des gelebrten ^Doktors", der seine Rede mit lateiniscben Floskeln auszuscbmllcken liebt. Er wartet auf die Milcbweiber, die bald zu Markt kommen miissen. Fiir eine unter ibnen, die hubscbe Gertrudis, gliibt des Doktors liebendes Herz; mit einem selbst gefertigten Gedicht bofft er, sie fiir sicb zu gewinnen. Da riicken mit einem flotten, friscben Cborgesang aucb scbon die Milcb- weiber an. Als der Doktor der Gertrudis sein Gedicbt vorzutragen beginnt — er kommt aber nicbt weiter, als die tJberscbrift berzuleiern — wird er von den Milcbweibern weidlicb verbobnt. Musikaliscb ergibt das eine Reibe btibscber kanoniscber Nacbabmungen, die dann wieder in den gemeinsamen Chorruf: „Hier Milcb, kauft Milcb" ausmiinden. Gertrudis erklart, kein Wort von dem „ Plunder" zu versteben, und stimmt der Aufforderung ibrer Gefabrtinnen gern zu, dem Doktor als Antwort «das Neuste vom Eulenspiegel" zu singen. Im narriscben ^/g-Takt, zugleicb aber wieder im ^Yolkston", erzablt Gertrudis alsdann vom Eulen- spiegel, wie er vor Magdeburg neun Blinde tauscbte, indem er ibnen neun Gulden zusagte, die nun jeder bei einem anderen von ibnen vermutete ; dass sie darauf ins Wirtsbaus gingen und lustig zecbten , _ bis sicb, als sie zablen wollten, berausstellte, dass keiner das Geld empfangen babe, worauf der Wirt sie zur Tiir binauswarf. Umsonst bat der Doktor immer
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wieder versucht, seinerseits zu Worte zu kommen. Von alien verlacht, raumt er endlich wutentbrannt das Feld. Till, der sich zuletzt herzhaft an der Verspottung des Doktors beteiligt hatte, spielt gleich darauf auch den Milchweibern einen Streich. Er gibt vor, flir einen reichen Kaufmann in der Stadt Milch aufkaufen zu soUen und erklart sich bereit, den samtlichen Milch- weibern auf einmal ihren Vorrat abzunehmen. Als diese aber, freudig zustimmend, ihre Milchgefasse in eine grosse Butte entleert haben, bekennt Eulenspiegel plotzlich, nicht sofort zahlen zu konnen. Jedoch stellt er alien, die von einer spateren Zahlung nichts wissen wollen, es frei, ihre Milch wieder zuriickzunehmen. Das fiihrt zu eineni richtigen Milchkriege unter den Weibern, bei dem die Kriige in Scherben gehen und schliesslich die ganze Milch verschiittet wird. Schimpfend auf den zahlungsunfahigen, reichen Kaufmann verliert sich endlich die ganze Gesellschaft. Nur Till bleibt zuriick, schmunzelnd ob des gelungenen Streiches, und Gertrudis, die kleine Sangerin von vorhin, die weinend vor ihrem zerbrochenen Milchkruge steht. Dieser Anblick stimmt Till schnell zum Mitleid, das sich bald in Liebe wandelt. Und Gertrudis, die ja schon vorhin ihre Teilnahme fiir Eulenspiegels Schelmen- streiche bekundet hat, aber nicht ahnt, dass der vor ihr Stehende eben dieser Eulenspiegel ist, lasst sich leicht von dem lustigen Kumpan trosten und zur Gegenliebe bekehren. Beide enteilen in des nahen Waldes Schatten;
„Dort wollen wir tanzen und singen und scherzen. Was kiimmert die Welt uns mit ihren Schmerzen!"
Auf der Szene erscheinen drei Juden, „das Weib mit dem Hahn" und „die Wirtin mit dem Hundsfell", lauter Opfer von Eulenspiegels Schelmenstreichen, gleich dem Wirt und den neun Blinden, von denen bereits die Rede war, und die sich jetzt jenen ange- schlossen haben. Sie erkennen in dem soeben Abge- gangenen den Missetater und eilen ibm nach, um ihu in Haft nehmen zu lassen. — Aus der Feme ertont ein lustiger Marsch. Des Kaisers „hochnotpeinliches Halsgericht" zieht auf mit Schultheiss, Schoffen und
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Scharfrichter. Recht spricht als kaiserlicher Vogt der Ritter Uetz von Ambleben. Allerdings ist's dem Ritter vor allem darum zu tun, in Ausiibung seines Amies moglichst die eigene Tasche zu fiillen, und derselbe Geist beseelt auch die andern Gerichtsherren. Vor dieses Gericht wird nun Till Eulenspiegel gefiihrt und, nachdem der Ritter Tills gefiillte Borse fiir die eigene Tasche beschlagnabmt hat, in summarischem Verfahren zum Tode verurteilt. Schon hat der Henker dem Delinquenten die Scblinge um den Hals gelegt und will ihn emporziehen, als es Till gelingt, sich durch einen neuen Streich das Leben zu retten. Er nimmt fiir sich das jedem zum Tode Verurteilten zu- stehende Recht einer „letzten Bitte" in Anspruch, und als ihm Gewahrung dieser Bitte zugesagt worden ist, verlangt er nichts geringeres, als dass der Ritter und sein Kumpan, der Doktor, ihn die ersten drei Tage, nachdem er gehangt worden, jeden Morgen niichtern auf den Mund kussen soUen. Schaudernd weisen beide eine solche Zumutung von sich. Die Todesstrafe wird in dreijahrige Verbannung umgewandelt, und Till nimmt Abschied von der Mutter und der Geliebten. Das gibt dem Komponisten wieder Anlass, sehr wirk- sam ein altes Volkslied einzuflechten und darauf ein Ensemble zu erbauen, das stimmungs- und eindrucks- voll den ersten Akt zum Abschluss bringt.
Ich habe diesen ersten Teil etwas ausfiihrlicher behandelt, um dem Leser einen moglichst klaren Einblick in v. Rezniceks Fahigkeit, eine Handlung zu entwickeln und zu steigern, zu geben. Im folgenden werde ich mich kiirzer fassen. Der zweite Teil, ^Wie Eulenspiegel freiete" , spielt drei Jahre nach Schluss des ersten Teils. Uetz von Ambleben hat sich vom habgierigen kaiserlichen Vogt zum Raubritter ent- wickelt. Gertrudis waltet als Schaffnerin auf Burg Ambleben, sehnsiichtig Tills Wiederkehr erharrend, und auch der Doktor gehort zu Uetzens Hausgenossen. Noch immer verfolgt er Gertrudis mit Liebesantragen; ja, um sie zu besitzen, will er sie sogar heiraten. Der Zuschauer ist Zeuge dieses Heiratsantrages , der ein lustiges Ende damit findet, dass Gertrudis sich den zu- dringlich werdenden Freier dadurch vom Halse schafft,
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class sie ihm einen Topf liber ilea Kopf slulpt. — Uetz kehrt mit seinen Gesellen von einem gelungenen Raubzuge heim. Unter den Gefangenen befindet sicb, als Monch verkleidet, Till. Er lasst sich als Ersatz- mann fur den entlaufenen Turmwacbter von Uetz an- werben, gibt als solcber, als es notig ist, aber kein Signal und alarmiert spater unnotig die kaum zuriick- gekehrte Besatzung der Burg. Die Zwiscbenzeit be- niitzt er, um sicb Gertrudis zu erkennen zu geben und mit ibr beider Flucbt zu verabreden. Till erzablt der lauscbenden Gertrudis vom Aufstande der Bauern, denen bereits Eisenacb, Erfurt und Speyer erlegen seien. Durcb einen gebeimen Gang, den Till als Knabe ent- deckte, wiirden diese Nacbt die Bauern aucb in Burg Ambleben eindringen und keinen Stein derselben auf dem andern lassen. So geschieht es. Als die Bauern Herren der Burg sind und sicb des Ritters und seiner Spiessgesellen bemacbtigt baben, scheidet Till mit Gertrudis von Ambleben und seinen Bewobnern:
„Nun lebet wohl, Herr Ritter mein, ich lass Euch Grott befoMen sein! Ambleben fallt bis auf den letzten Ziegel — so freit und racht sich Till Eulenspiegel ! "
Im Nacbspiel ist der Ort der Handlung eia Krankenzimmer im Spital zum beiligen Geist zu Molln im Lauenburgscben. Dreissig Jabre sind seit den Er- eignissen des zweiten Teils vergangen. Nun wirkt Ritter Uetz von Ambleben als Spitalverwalter in Molln, wahrend der Doktor aucb bier ibm zur Seite stebt. Im Grunde genommen, sind beide Kumpane nacb wie vor bauptsacblicb auf ibren Vorteil bedacbt. Dem einsam, alt und sterbenskrank in das Spital kommenden Till Eulenspiegel , gewabren sie daber die anfangs ibrem einstigen Feinde (den sie gar wohl erkennen) verweigerte Aufnabme erst dann, als er sie nicbt nur zu seinen Erben einsetzt, sondern auch verspricbt, das Spital von alien Kranken zu befreien, die Uetz und dem Doktor ja nur eine grosse Last sind. Der zuletzt genannte Streicb gelingt, da Eulenspiegel den Kranken mitteilt, er konne sie gesund macben, wenn er den kranksten unter ibnen zu Pulver brennen und dieses dann den andern als unfeblbares Heilmittel einflossen
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•wiirde. Als er sich darauf mit Uetz und dem Doktor an die Tiir stellt und ruffc: ,Wer nicht krank ist, der komm heraus**, verlassen alle Kranken, von denen keiner zu Pulver gebrannt werden mochte, das Haus, zum Gaudium der beiden Kumpane, die froh sind, die Fresser los zu sein. Audi ihr vermeintliches Erbe glauben sie schon erheben zu konnen, als Eulenspiegel unmittelbar darauf, von Schwache tibermannt, be- sinnungslos niedersinkt. Aber in des Narren schwerem Kasten finden sie nur Lumpen, Steine und eine Narren- kappe. Uber dem gegenseitigen Verdacht, das Erbe vorher entwendet zu haben, geraten sie in Strait. Noch von draussen hort man die sich Verpriigelnden um Hilfe rufen. „Das war des Narren Testament", spricht der nocb einmal zum Leben erwachte Eulen- spiegel, um sogleich trlibe hinzuzufiigen : „Nun kommt heran des Narren End'". Doch dieses gestaltet sich zu einem schoneren, als er es zu erhoffen wagte. In einer Vision erschaut er Gertrudis, die vor ihm heim- gegangene Geliebte, in himmlischer Glorie, und trostend ruft sie ihm zu:
„Preis^ den, der Narrheit dir beschied, Du lebest fort in Wort und Lied! Wenn auch dein leiblich Auge bricht — Das deutsche Volk vergisst dich nicht."
Unter diesen Worten haucht Eulenspiegel seinen letzten Atem aus; leise ertont der Chor der Beguinen: „Re- quiem aeternam dona ei". Uber dem triomphalen Er- kliugen des Narrenmotivs im Orchester schliesst sich der Vorhang.
Ich habe im vorstehenden vor allem die Hand- lung der Oper erzahlt, dagegen uber die Musik nur gelegentlich einmal eine Ausserung gemacht. Ihr volkstiimliches und dabei doch vornehmkiinstlerisches Geprage wurde aber schon mit allem Nachdruck be- tont, ebenso, dass die Volkstumlichkeit des Ganzen, durch direktes Zuriickgreifen auf wirkliche Volks- melodien noch deutlicher ausgepragt erscheine. Diese Volksmelodien sind natiirlich, der Zeit der Handlung entsprechend, durchweg alterer Herkunft. Es ist nun besonders zu betonen, dass der Komponist seine eigene Musik sehr gliicklich dem Stil dieser alten Volkslieder
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angepassfc und es trotzdem verstanden hat, modern zu bleiben. Das hat seinen Grund vor allem in der sehr gewahlten, nichts weniger wie altertiimlichen Har- monik, sowie in der hochentwickelten Satzkunst V. Rezniceks. An freien und strengen Nachahmungen, an der Kombination zweier und mehrerer Themen mit einander, und was der sonstigen Mittel modernster Thematik sind, ist in der Eulenspiegehnasik kein Mangel. Es ist aber daneben wieder auf die erfreu- liche Tatsache hinzuweisen, dass trotzdem der Satz niemals belastet wird, sondern stets klar und durch- aichtig erscheint. Dem entspricht auch die Orchester- behandlung, an der fiir einen modernen Komponisten die Besetzung besonders merkwllrdig ist. Es sind namlich nur die Instrumente des Mozartschen Orchesters zuzuglich einer Harfe, die v. Reznicek in dieser Oper verwendet. Und doch, wie reich klingt dieses Orchester, dank der subtilen Behandlung, die der Komponist ihm angedeihen zu lassen verstanden hat! — Es ist schon bei der Betrachtung der ,, Donna Diana" darauf hinge- wiesen worden, dass man v. Reznicek nicht gut als einen Wagner-Epigonen kennzeichnen kann. Auch in der Musik seines „Till Eulenspiegel* verzichtet er fast ganz auf die fiir Wagner und seine Nachfolger so charakteristische ^leitmotivische" Gestaltung. Es ist eigentlich nur ein Motiv, das leitmotivisch die ganze Oper durchzieht: das ofter genannte !Narren-Motiv, mit dem die kurze Einleitung anhebt, mit welchem aber auch der Horer am Schlusse des Werkes entlassen wird. Im iibrigen waltet die thematische Erfindung des Komponisten mehr oder weniger frei, das heisst, jede Szene, jede Situation bekommt ihre eigenen, fur sie gerade passenden Themen und Motive. Wie bei der „Donna Diana" fallt auch bei dieser jtingeren Oper die leicht fliessende melodische Erfindung v. Rezniceks als besonders erfreuliche Eigenschaft auf. Die „Nummern" sind nicht so „geschlossen" , wie in dem alteren Werke, sondern die Musik schliesst sich mehr zu Szenen als Einheit zusammen. Immerhin ist das Vorkommen in sich selbstandiger Formen, namentlich des Liedes, auch im ^Eulenspiegel" eine feststehende Tatsache, die sich genau mit denselben Griinden er-
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klaren und rechtfertigen lasst, wie es bei Besprechung der „Donna Diana" geschehen ist. Dem Werte beider Opern gescLieht damit ja auch sicherlich kein Abbruch. Da aber die jiingere der altern Oper an Kunstwert mindestens gleich ist, darf wohl nochmals die Er- wartung ausgesprochen werden, dass sie sich ebenfalls noch durchringen wird.
Bisher ist nur von den Opern E. N. v. Rezniceks die Rede gewesen, und es konnte daher scheinen, als ob er sicli nur einseitig als jjdramatiscber" Komponist betatigt batte. Das ist nicbt der Fall. Aucb an einer ganzen Reibe Kompositionen , die fiir die Auffiibrung im Konzertsaal bestimmt sind, bat er sicb mit bestem Gelingen versucbt. Ein mir vorliegendes Verzeichnis nennt als solcbe Kompositionen: zwei Sympbonien, namlicb eine ^tragiscbe" in Dmoll und eine „ironiscbe" in Bdur, ferner zwei sympboniscbe Suiten fiir grosses Orcbester, zwei Streicb quartette (CmoU und Cismoll), ein Requiem, das Felix Weingartner mit dem konig- licben Operncbor und der koniglicben Kapelle im Ber- liner Opernbause auffiibrte, eine Lustspiel-Ouverture, eine „idylliscbe" Ouverture, eine Messe in Fdar fiir Soli, Chor und Orcbester, „Nacbtstiick" fiir Violoncello und Orcbester, eine Serenade fiir Streicborcbester, ein Capriccio fiir Violine mit Orcbester, drei Volkslieder mit kleinem Orcbester und eine grossere Anzabl Lieder fiir eine Singstimme mit Klavier. Besonderes Interesse erregen darunter die drei Volkslieder mit kleinem Orcbester, weil sie ankniipfen an die Bestrebungen nacb edler Volkstiimiicbkeit, die v. Reznicek aucb mit seinem „Till Eulenspiegel" verfolgt bat. Wieder leitete den Komponisten die Einsicbt, dass ecbte Volkstiim- iicbkeit vor allem in der Vergangenbeit wurzelt. Als textliche Grundlage wablte er daber drei Dicbtungen aus „Des Knaben Wunderborn". „Der traurige Garten'' beisst das erste der Lieder. Die Musik abmt den alten Ton nur ganz leicbt nacb, namlicb gerade so viel, dass man ibn etwa wie eine Art das Ganze iiberziebende Patina empfindet. Die Musik bait sicb aucb in grossen Ziigen, an die stropbiscbe Gliederung des Gedicbtes, ge- staltet aber im einzelnen frei und dem Inbalt jeder Stropbe gemass. Die melodiscbe Erfindung gibt sicb,
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wie stets bei diesem Komponisten, wieder als leicht und zwanglos fliessend; die gewahlte aber nie auf- dringliche harmonische Unterlage hebt alles dann in die hohere kiinstlerische Sphare. Dazu aber erklingt die zarte und durchsichtige , die Singstimme gewisser- massen nur verschiedenartig beleuchtende Begleitung eines nicht starker als mit je zwei Holzblasern, Hornern, Trompeten, Pauken und kleinem Streicbquintett be- setzten Orchesters, welche so reizvolle Wirkungen er- zeugt, dass sowohl dieses, wie auch die beiden anderen Lieder nur in dieser Urgestalt, aber nicht mit Klavier gegeben werden sollten. Das zweite Lied „Gedanken- stille" verwendet ausser dem Streicbquintett nur 1 Flote, 2 Oboen, 2 Klarinetten und 2 Fagotte, gewinnt aber der einfacben, warm empfundenen Melodie nicht weniger aparte Klangwirkungen ab. Und dasselbe gilt von dem frisch beginnenden, wehmiitig endenden „Schwimm bin, Ringelein", das fast dieselbe Orchesterbesetzung wie das erste Lied aufweist.
Von den Liedern mit Klavierbegleitung hebe ich die drei charakteristischen „Gesange eines Vagabunden" (von Martin Drescher, aus Hans Ostwalds „Lieder aus dem Rinnstein") hervor. Auch unter den librigen be- findet sich manche wertvolle Gabe, wennschon nicht geleugnet werden kann, dass die Lyrik E. N. v. Rezniceks zuweilen nicht frei von sozusagen ^theatralischen" Zugen ist, das heisst, auf der Biihne im Rahmen eines dramatischen Ganzen vermutlich erst ihre voile Ein- drucksfahigkeit entwickeln wurde.
Von den grosseren Instrumentalwerken liegt mir unter anderen die Symphonic in Bdur vor. In ihrer Instrumentation diirlte sie unter den modernen Werken ihrer Art insofern eine Ausnahmestellung ein- nehmen, als ihre Besetzung wieder die denkbar ein- fachste ist, eine solche namlich, wie sie etwa Beethoven in der Mehrzahl seiner Symphonien vorgeschrieben hat. Eine kleine und zwei grosse Floten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte, zwei Horner, zwei Trom- peten, ein Paar Pauken, Streichquartett: das ist alles. Keine Posaunen und Tuben, kein englisch Horn, keine Bassklarinette , kein Kontrafagott und all das Schlagzeug, ohne welche die Mehrzahl der heutigen
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Tonsetzer nicht mehr auskommen zu konnen glaubt! Dass es freilich ein bedeutend grosseres Konnen voraus- setzt, mit einem kleinen Orcbester zu wirken, ist jedem Wissenden bekannt. Und man muss es v. Reznicek nacbsagen, dass er sein einfacbes Sympbonieorcbester nicbt minder gewandt zu bebandeln verstebt, wie sein Opernorcbester. Was speziell das Orcbester der vor- liegenden Sympbonie an scbonen , wirksamen und cbarakteristiscben Klangfarben produziert, ist erstaun- licb und diirfte allein scbon binreicben, dem Werke Interesse zu gewinnen. Aber aucb die Tbematik der vier, formell im allgemeinen den klassiscben Vorbildern nacbgebildeten Satze und nicbt minder die sorgfaltige und kunstvolle Arbeit sicbern der Sympbonie ibre Be- deutung unter den gleicbzeitigen abnlicben Hervor- bringungen.
Mit einer Erwabnung der in die Entstebungszeit der „Donna Diana" fallen den reizvollen ^Lustspiel- ouvertiire" und der durcb feine Instrumental wirkungen, biibscbe Erfindung und leicbte, durcbsicbtige Arbeit gleicb ausgezeicbneten Suite in Ddur scbliesse icb diese Betracbtungen iiber einen Tonsetzer, der unter den Lebenden eine bemerkenswerte Stelle einnimmt, und von dessen weiteren Scbopfungen man das Beste zu erwarten, begriindeten Anlass baben diirfte.
Phot. L. 0. Grienwaldt, Bremen.
Paul Scheinpflug.
Paul Schcinpflug
(geb. zu Loschwitz b. Dresbcn am 10. Sept. 1875),
Paul Scheinpflug
Franz Dubltzky.
Hoffentlich kann ich dieser Auf- forderung bald nachkommen und einen ,,!Pruhlingssturm" in diese Welt voll Hass, Greisenhaftigkeit und tiefster Erniedrigung brausen lassen! (Aus einem Brief e Paul Sclieinpflugs.)
Nur wenige Jahre sind verflossen, seitdem der Name Paul Scheinpflug zum erstenmal in der Offent- lichkeit erschien; nur wenige (allerdings mehr oder minder umfangreiche) Werke veroffentlichte der Kom- ponist bisher — und doch bedeutet Scheinpflug in dem Reiche der Tonkunst bereits einen Faktor, mit dem man rechnen muss. Man rechnet und — rechtet auch bereits mit ihm, denn an Widersachern und Feinden gebricht es dem jungen Meister nicht. Je mehr Feinde, je mehr Ehre, je grosser ein Sterblicher, desto grosser die Zahl seiner Widersacher, desto grimmer ihr Gram : manch ^liebenswurdiger" Kritik durfte sich unser Ton- dichter schon erfreuen und manch bittere und ^witzige", ( — iiber ernstes Schaff'en sollte man nie witzeln — ) gedruckte oder ungedruckte Rede durfte noch in Zu- kunft sein an Dissonanzen wohlgewohntes Ohr um- schmeicheln.
Gleich mit seinen ersten Werken trat Scheinpflug in die Vorderreihe unserer Komponisten. Opus 1: „Sechs Gesange fur mittlere Stimme mit Klavier"*) — Opus 2: „Sechs Gesange fur hohe Stimme mit Klavier"**) Ein Opus ^eins" und ^zwei" von der Bedeutung und
*) Heinrichshofen, Magdeburg. **) Heinrichshofen, Magdeburg.
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Eigenart, wie wir sie hier erblicken, in der Musiklite- ratur in weiteren Exemplaren aufzuweisen, diirfte nicht so leicht sein. Einem gedruckten Opus 1 pflegen zu- meist zahlreiche ungedruckte Werke vorauszugehen, der Komponist bericbtete mir in dieser Hinsicbt: ,Es sind ■wirklicb wenig Sacben vor diesem op. 1 entstanden, die werfc waren , an die Offentlicbkeit zu kommen. Diese 12 Gesange bielt icb , allerdings unter nocb mebreren der Art, fiir die druckreifsten und batte dann aucb das Gluck nacb einigen Versucben einen Verleger zu finden. Alles andere vorber betracbte icb als Studium und Wegweiser zii dem Standpunkte, auf dem icb jetzt angelangt bin, von dem aus eine Weiterent- wickelung boffentlicb nicbt unmoglicb ist/
Ehe icb Art und Wesen der Scbeinpflug-Gesange beleucbte , will icb die weiteren Kompositionen der gleicben Kategorie anfiibren. In die namlicbe Ent- stebungszeit wie Opus 1 fallt das Lied (fiir bobe Stimme) obne Opuszabl „Icb liege dir zu Fiissen" *). Als op. 3 erscbienen „Drei Gesange fiir eine Singstimme mit Xlavier" **), als op. 6 „Fiinf Gedicbte von Franz Evers fiir eine Singstimme mit Klavier" ***). Sage mir, mit wem du umgebst, nnd icb will dir sagen, wer du bist — sage mir, welcben Dicbter du vertonst, und icb will dir sagen, welcb Tondicbter du bist. Dass Scbeinpflug seine eigenen Wege wandelt, nicbts von Konvention, Tradition und bebaglicber Alltaglicbkeit wissen will, lebrt uns ein Blick in die Liste seiner Dicbter, ein Blick auf die Wabl der Gedicbte. Debmel, Jakobowski, Bierbaum, Arno Holz, Busse, Evers etc. — das sind die Mitstreiter Scbeinpflugs. (Aucb einen tiefen Blick in die Seele des Komponisten gewabrt uns diese Namenreibe.) Den Gesangen Scbeinpflugs ist vor allem ein lebendiger, leidenscbaftlicber, jugend- und kraft- erfiillter Ton , der mutig und keck jedes Hindernis nimmt, nacbzuriibmen. Hugo Wolf tat einmal den Aussprucb: „Die wabre Grosse eines Komponisten wird man immer nur daran erkennen, ob er jubeln kann".
*) Bosworth & Co., Leipzig. **) Ries & Eiier, Berlin. ***) Heinrichsliofen, Magdeburr
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Nun — Scheinpflug ist die Kraft des Jubelns in hohem Masse zu eigen, Jauchzen, Wogen imd Branden in seinen Gesangen „Der Sturmwind braust" (op. 2 No. 1), ^Entbietung'' (op. 2 No. 6), ^Bootfahrt" (op. 3 No. 1), ^Friililing" (op. 6 No. 3) , .Liebesfahrt" (op. 6 No. 5) sind von elementarer Gewalt. Andererseits haftet seinen traumverlorenen, keuschen, sinnigen Weisen ein Zauber nnd eine Herzlichkeit an, denen sich der innere zart- besaitete Mensch nimmer verschliessen kann; ich ver- weise hier auf die Vertonungen „Icli trag dein Bild im Herzen" (op. 1 No. 4), ^Segnung" (op. 2 No. 3), Jn der Heide" (op. 3. No. 2), .Abendlied" (op. 6 No. 2), ^Marchenland" (op. 6 No. 4). Audi den leichten ko- ketten Scherzo-Ton finden wir z. B. in flSehnsuclit" (op. 2 No. 5) und ^Marchen" (op. 3 No. 3) vorzuglich getroffen. Grossen Wert legt der Komponist in diesen Gesangen auf eine stets situationsgemasse, naturwahre Beliandlung des Wortes; nirgends zeigt sich in der Komposition ein Zuviel oder ein Zuwenig gegenuber der Dichtung, die Worte gehen restlos in den Tonen auf, Wort und Ton sind verschmolzen zu eineni ein- heitlichen Ganzen. Diese Wahrheitstreue ist aber zu- gleich in ein ausserst melodisches Gewand gekleidet. Fast iiberall in Scheinpflags Gesangen begegnen wir der Wahrheit in der Deklamation in Verbindung mit der Schonheit der melodischen Linie. Naturlich darf man bei einem modernen Tondichter die meiodische Linie nicht nach dem Rezept unserer Urvater hergestellt erwarten.
Eine bedeutende Aufgabe ist dem Klavier in diesen Vertonungen zugefallen. Ausserst klangvoll zeigt sich der Klavierpart, Liszt-Zauber liegt iiber ihm ausgebreitet Der jeweiligen Stimmung (zum mindesten der Haupt- stimmung) des Gedichtes ist stets meisterhaft in der Gestaltung der Klavierstimme Rechnung getragen, auch bedeutungsschwere Worte finden seitens des Klaviers voiles Gehor. Dass der Komponist, um Wahrheit und Lebendigkeit in hochster Vollendung zu erzielen, vor harmonischen Kiihnheiten nicht zurlickschreckt und nichtsanktionierte Akkorde und Harmoniefolgen, wenns not tut, d. h. wenn der Dichter und die Dichtung die Forderung stellen, mit zagloser Hand aufzeichnet, das
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erscheint in dem Zeitalter eines Richard Strauss als selbstverstandlich. Gut ist niclit immer und an jedem Orte gut, schlecht ist niclit immer schlecht: in Schein- pflugs wunderbarem ^Abendlied" („Du feme Flote hinter dem Hiigel dort") erblicken wir anfangs fiber dem liegen- den cis^ den oftmals repetierten ubermassigen Dreiklang (erste Umkebrung) fis^-ais^-d^, hoch iiber dieser scbmerz- erfuUten (im Pianissimo auftretenden) Dissonanz er- klingt „quasi Flauto" (inezzopiano-espressivo) die Melo- diefolge g-"^, f'% e^ dis-^, dis'% f^, e^, d", d-^, cis^ h- (ais^, cis^). Das sieht auf dem Papier nicht sehr wohl- tonend aus — und doch, wie ergreifend wirkt die ^falsche" feme Klage der (nicht allsogleich die Tonart des Liedes, Fis-dur, respektierenden) Flote „hinter dem Hiigel dort" — wie matt hiergegen wurde ein nach alter Schulweisheit gesetzter, consonierender Flotenklageruf gewirkt haben: gut ist oft schlecht.
Eine hochst eigenartige Schopfung tritt uns in des Tondichters „Worpswede, StimmungenausNiedersachsen, fiir mittlere Singstimme, Violine, Englisch Horn (oder Viola) und Klavier (op. 5)*) entgegen. Das aussere Ge- wand, die Zusammenstellung „Singstimme, Violine, Englischhorn , Klavier" diirfte in der gesamten unend- lichen Musikliteratur keinen Doppelganger haben. Die Verbindung einer Singstimme mit der Kammermusik ist von den Komponisten bisher wenig und in unserem Zeitalter fast garnicht gepflegt worden. Dort aber, wo wir einer solchen Kunstgattung begegnen, werden wir zumeist bemerken, dass die Wahl der mitwirkenden Instrumente zufallig, ohne tiefere Beziehung zu dem musikalischen Vorwurf, zu der Dichtung oder wenigstens ohne durchaus zwingenden Grund geschah. Hier finden wir einen Komponisten , der drei Lieder mit Violin- und Klavierbegleitung zu schreiben sich vornimmt und dann aus dem Liederbuche nach Gutdiinken und ohne viel Denken drei Gedichte sich langt, dort schreibt ein Tonsetzer sechs Gesange mit Begleitung eines Horns (oder einer Flote) und des Klaviers, ebenfalls ohne durch die Dichtungen zu solcher Instrumentenverbindung durchaus veranlasst zu sein. (Beethoven bearbeitete
*) Heinrichshofen, Magdeburg.
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z. B. — auf „Bestellung" — eine grosse Anzahl schot- tischer Weisen fiir ^Singstimme, Violine, Violoncell und Klavier".) Ganz anders verfuhr unser Tondichter. Worpswede, jenes stille, ruhig-einsame, eine gewisse feierliche Schwermut atmende Land, das dem Kompo- nisten wohlvertraut, (Scheinpflug weilt dort oft in seinen Ferientagen) und dessen geheimnisvolles und gewaltiges tonloses und tonvolles Tonen von ihm tief verstanden und ihm lieb ward (, — es drangt mich gewaltsam, die tief en, einzigartigen Eindriicke, die icli draussen in der einsamen, weltfremden, wasserreichen Niederung und im Moor erhalten, in meine Kunst umzusetzen", lautet eine Stelle in seinen Briefen) — welch Instrument konnte den Ton , die Stimmung jener eigengearteten, andersgeartetenErde uberzeugend und deutlich sprechend wiedergeben? — so sann der Komponist als er daran ging, FranzDiederichsDichtungen*)inTonezu schliessen. Eine Flote, eine Klarinette, eine Oboe, ein Horn etc. — keines dieser Instrumente vermochte das rechte Bild, die rechte innerliche Stimmung darzubieten; einzig nur das englische Horn mit seinen verschleierten, eine helle, offene Freude nicht kennenden, geheimnisvollen, be- deutungstiefen Tonen konnte hier zum Interpreten werden. Damit der dunklen beschatteten Farbe zeit- weise ein hellerer Klang zur Seite stehe, der eine im Ver- laufe des etwa eine halbe Stunde in Anspruch nehmenden Werkes sonst wohl leicht sich einstellende Monotonia verhindere, gesellte der Komponist dem Molltone des englischen Horns noch eine Solo violine. den Durton, bei. ^Worpswede" beginnt mit einem „Das Land der Einsamkeit" betitelten Instrumental vorspiel (Violine, Englischhorn , Klavier), als erster Gesang folgt „Der Himmel spannt sein leuchtend Dach" mit Violin- und Klavierbegleitung, zweiter Gesang : ^Lenzgelautert scherzt der Windhauch", drifter Gesang (durch „fern auf dem Wasser, in sinkender Dammerung, auf einer Harmonika [Violine con sord.] verklingende Tone eines Volksliedes" eingeleitet) : „Dunkelgrau, von Sternen selig" (ein Satz von wunderbarer Melodik, Singstimme, Englischhorn,
*) Worpsweder Stimmungen von Franz Diederich. Verlag Georg Miiller, MUnchen.
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Violine und Klavier findet man hier ganz besonders glucklich mit einander verschmolzen).*) Ein ganz anderes Bild als der letztgenannte Satz zeigt der vierte und umfangreichste Gesang ^Herbstfriihgang" ; wie hier der Komponist kiibn und neu den Sieg der Sonne iiber Nacht und Nebel mit den wenigen Instrumenten malt, das ist meisterbaft: eine stete Steigerung bis zu dem grandiosen Sonnendurcbbrucb : „Der Tag! Der Tag! Der Himmel ist befreit!" Eine Meisteraufgabe fur Meistersanger ! Ein kurzer ^Epilog" (ietzter Gesang):
Ich Hebe dich, du braunes Land!
Um dich und deiner stillen Menschen willen
lieb ich dich!
scbliesst ergreifend-innig das Werk,**) das im Jabre 1904 auf dem Tonklinstlerfest in Frankfurt a. M. zur Auf- fiibrung gelangte und unter den Scbopfungen Paul Scbeinpflugs die bocbste Aufflibrungszabl aufweist, aucb im Ausland (Amerika, Russland etc.) grosse An- erkennung gefunden bat.*'*'*)
*) Die drei ersten Gesange sind auch in der Besetzung ^Singstimme, Violine, Klavier" erschienen.
**) Eine kurze Analyse des Werkes findet der Leser in meinem Artikel ,,Eine vergessene Kunstgattung" (Neue Zeit- schrift fur Musik 1904 No. 20/21).
**vr^ Wie grundverschieden oft die Meinungen iiber ein neu- geartetes Werk lauten, das mag man aus folgenden Kritiken iiber ^Worpswede" ersehen. Im Musikalischen Wochenblatt
No. 17 (1904) heisst es: „ Ein ganz urspriingliches und
poesievolles Werk hat Scheinpflug mit ,Worpswede' geschaffen.
Wie er besonders das Englische Horn in ,Land der Ein-
«amkeit' verwendet, ist die Tat eines berufenen Meisters ".
In der Dortmunder Zeitung vom 3. Mai 1904 lesen wir: „Worps-
wede, ein Tongedicht, das ,Stimmungen aus Niedersachsen'
in geradezu unvergleichlicher Weise schildert. — — Nie ge- horte Harmonien, die mit einer bewunderungswiirdigen, jedoch nirgends aufdringlich werdenden Kiihnheit einander folgen und dabei ganz natiirlich erscheinen, wechseln mit Klangeffekten,
denen wir nirgends begegneten. " Dutzende ahnlicher
Kritiken konnte ich dem Leser vorftihren. Wie ganz anders lautet nun die Ansicht einer angesehenen Wiener Zeitung! (der Name tut nichts zur Sache — vielleicht hat sich der be- treffende Referent inzwischen ^gebessert" . . .) dort horen wir: „Wir haben sie an einem ausserordentlichen Abend des Quar-
tetts Prill genossen, diese Yerstimmungen aus Niedersachsen.
Der Komponist mag ja dem strengen Ernst, der Schroffheit der W^orpswede-Landschafter nachgeeifert haben: was ist aber dabei
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Den ahnlichen Wepc wandelfc der Komponist in seinen „Zwei Gesangen fiir eine mittlere Singstimme, Violoncell und Klavier" (op. 7).*) Auch hier ergibt sich die Mitwirkung eines zweiten Instrumentes und die Wahl des Violoncells aus der Dichtung, aus der Stimmung des Gedichtes. Im „Naclitgesang" (op. 7 No. 1) finden wir wieder die warme Melodik, wie wir sie z. B. aus dem dritten Gesange in ^Worpswede" kennen, eine warmbliitige, gesunde Melodik mit einem eigenen, nur Scheinpflug zugehorigen Stempel, mit dem ich-Zug. Der zweite Gesang „Traumklange (Eine Serenade)" mit seiner reizvollen , pikanten una corda- Klavierbegleitung und der con sordino-Kantilene des Violoncells ist von entzuckender Wirkung.**)
Wenden wir uns den Instrumentalwerken des Ton- dichters zu. Eines grossen Erfolges hatte sich gleich bei seiner Erstauffuhrung auf dem Tonkiinstlerfest in Basel (1903 — Ausfubrende: Ed. Reuss [Klavier], H. Petri [Violine], A. Spitzner [Viola], G. WiUe [Cello]) Scheinpflugs Klavierquartett in E dur (op. 4) ***) zu er- freuen. (Erstauffuhrung in Berlin im selben Jahre durch das Dessau- Qaartett.) Dem Werke sind vom Kom- ponisten als Motto, als Leitmotiv, als Inhalt die Verse Richard Dehmels beigegeben:
fiir Musik herausgekommen ! Dass ,Zigarrenasche und Sage- spane , mit Scheidewasser angefeuchtet , nicht gut als Gericht zu servieren seien', war schon die Meinung Liszts. Scheinpflug tut dem schmackhaften Gerichte noch eine Hand voll Torferde hinzu. Bescheidene lyrische Brocken, darunter das markanteste Berliozschen Ursprungs, sehwimmen in einer Pftitze von Disso- nanzen oder — um in Worpswede-Stimmung zu bleiben — versinken in einem Moor von Missklangen. Die Geige gibt, soweit sie nicht zu gereizten Meinungsausserungen liber das jbraune stilleLand' genotigtist, iingstliche, hmgausgehaltenehohe Tone von sich. Trlibselig fallt ihr das Englischhorn in die Rede; es ist das spezifische Instrument der Heide und muss blasen , dazu ist es da. Beiden Gefahrten gegeniiber ist das Klavier im Vorteil; es lasst wenigstens die Vermutung often, nicht gestimmt worden zu sein. Aber die arme Singstimme? Gehorte sie doch nur einem der ^stillen", der ganz stillen
Menschen von Worpswede. — "(!)
*) Heinrichshofen, Magdeburg.
"*) op. 7 No. 2 ist auch in rein instrumentaler Bearbeitung fiir ^Violoncell und Klavier" im Druck erschienen. ***) Ries & Erler, Berlin.
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Raum! Raum! bricli Bahnen wilde Brust! Icli fiihrs imd staiine jede Nacht, Dass uicbt bloss eine Sonne lacht; Das Leben ist dcs Lebens Lust! Hinein, binein mit blinden Hiinden, Du bast noch nie das Ziel gewusst; Zehntausend Sterne, aller Enden, Zebntausend Sonnen stebn und spenden Uns ibre Strablen in die Brust!
Im ersten Satze (Allegro — mit Feuer und Leiden- schaft") finden wir den unbandigen Lebensdrang dar- gestellt, den Ausruf: „Ranm! Raum! bricli Bahnen wilde Brust 1" in kongenialen Tonen wiedergegeben. Trauer, Sehnsucht, wildester Schmerz und endlich trostende Rube bilden den Hauptinbalt des zweiten Satzes (^Duster und schwer"). Der dritte Satz bringt ein wild und froblich in ungezahrater Rbytbmik dabin- stiirmendes „Scherzo fantastique" in D dur ( — ein D dur- Scberzo in einem Edur-Quartett, scbon diese blosse Notiz diirfte einem am Alten bangenden musicus „fan- tastiscb" erscbeinen). Mit einem wilden Scbmerzensruf wird das Finale eingeleitet, bald jedocb verscbeucbt ein Sonnenstrabl die elegiscbe Stimmung, Mut, Lebens- kraft, das Lebenwollen kebrt zuriick und „mit feurigem Scbwunge* setzt das Haupthema ein, ^glanzvoll" findet das Werk seinen Abscbluss.*) Vortrefflicb ist die Scbreibweise in diesem Qiiartett, jedem Instrument ist ein bober Anteil an der Rede zugefallen, leere Aus- fuUungsnoten finden sicb nirgends. Scbeinpflug sagt an einer Stelle in seinen Briefen: „Einen grossen Vor- teil bot mir das Studium fast samtlicber klassiscber Kammermusik und der bedeutendsten der modernen Zeit bis binauf zu Sindings Emoll-Quintett. Icb er- langte eine grosse Fertigkeit diese Werke in partitura auf dem Klavier zu spielen, von den sonstigen uner- scbopflicben Vorteilen fiir die eigene Kompositions- tecbnik ganz zu scbweigen." Die Resultate des eifrigen Kammermusikstudiums und der jahrelangen Mitwirkung in Streicbquartett-Vereinigungen stellen sicb uns in des Tondicbters Klavierquartett als bedeutend dar.
*) Eine Analyse bracbte icb in No. 46 des Jabrgs. 1903 der Allgemeinen Musikzeitung.
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Die ernst schaffenden Komponisten der Jetztzeit pflegen vorwiegend nur das in Tone zu bannen, was sie selbst erlebt haben. „Nur, wenn ich erlebe, tondichte ich", sagt Gustav Mahler einmal. Das „Erleben" eines neudenkenden, neuschaffenden, eigene Pfade suchenden und findenden Komponisten ist nun fast stets ein schmerzgesegnetes. Jauchzendes Hoffen, Enttauschung, Widersacher, Kampf und Erschopfung — so lauten die Kapiteliiberschriften in fast jeder Biographie eines mo- dernen, anderes bringenden Tondichters. Den leid- vollen Lebensgang, die eigene Biographie in Tonen erklingen zu lassen, dieser Aufgabe widinen sich unsere Komponisten mit besonderer Liebe. Ich erinnere nur kurz an „Tod und Verklarung" und ^Heldenleben" von Richard Strauss, an Nicodes ^Gloria", an Friedr. Kloses „Das Leben ein Traum" (am Kopfe der Partitur ver- merkt der Komponist: „wer vom Lebensschmerz zeugen will, der muss sein Herz selber zum Schreibzeugmachen"), an Charpentiers „Le vie du poete", Robert Wiemanns „Erdenwallen'', Gleitz' „Per aspera ad astra" etc. — auch Scheinpflugs schon erwahntes Klavierquartett ge- hort in die Rubrik ^Lebenssang". In fast alien diesen Fallen stellt sich das Programm der selbsterlebten Ton- schopfangen in der Hauptlinie so dar, wie ich oben vermerkte: stiirmischer Jugendmut, Traum von grossen Siegen, Widerstand seitens der zopfigen Welt, Kampf gegen die Philister, Resignation oder Tod. Scheinpflugs hervorragende Schopfung ^Friihling" — Tondichtung fiir grosses Orchester — op. 8*) ist ebenfalls ein Spiegelbild des eigenen Lebens, des eigenen Leidens. „Ein Kampf- und Lebenslied" — diesen Untertitel gibt der Komponist selber seinem Werke, das sich in einem vor uns entrollt, jedoch sechs klar begrenzte ^Abschnitte zeigt. Der erste Abschnitt tragt die Uberschrift: „ Winter welt, ihre Sehnsucht, ihre Not". Gleich die ersten Seiten der Partitur zeigen den neue Bahnen wandelnden Tondichter. Kiihnheit und Eigenheit fesseln in jedem Takte dieses Abschnittes. Eine derartige dramatische Verwertung langer Quintenfolgen, wie wir sie hier finden, diirfte bisher noch nicht dagewesen
*) Simrock, Berlin.
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sein. An Akkorden, die man in keiner Harmonielehre findet, gebricht es ebenfalls nicht. So erblicken wir z. B. auf Seite 4 der Partitnr die pianissimo ausgehaltene Harmonie Dj D A d (Saiten), darliber d^ a^ b^ f2 b^ (Horner con sord. und Holzblaser) und hoch oben zu allem diesen das drei^estrichene h der Solo-Violine, einige Takte weiter treffen wir den verwandt gestalteten Zusammenklang Di D A d (Saiten) f^ c^ P (Ploten) fis^^ fis* (zwei Soloviolinen) — und doch, wie natlirlich, durchaus nicht ungelieuerlich oder gesucht klingen diese Tonverbindungen , die befremdlichen Harmonien stehen eben am rechten Flecke, sie sind motiviert und geschickt eingefiihrt: vieles oder alles ist erlaubt, wenn es am rechten Orte von sicherer Hand gebracht wird. Die Kehrseite, ein sonniger, hochsten Wohllautes voller Satz, „Ein Fruhlingstraum" betitelt, bildet den zweiten Abschnitt des Werkes. Dritter Satz: ^Erwachen und kampfen (. . . und es geht ein Wind und ihr wisst nicht von wannen er kommt!)." Vierter Abschnitt: „Der Sieger. — Friihlingsland" — der erste Teil bringt einen glanzvollen, schwungvoUen Hymnus, der zweite Teil tragt Scherzo-Charakter. Fiinfter Abschnitt: ^Friihlings- und Werdenachte" (ein sehr ausdrucksvoUer , gesang- reicher Satz mit machtiger Steigerung). Sechster und letzter Abschnitt: „Der Sonne entgegen!" (jubelnder und brausender, stolzsieghafter Abschluss). Naher auf das Werk hier einzugehen, verbietet mir der Mangel an Raum, ich verweise den mehr wissen woUenden Leser auf meinen „Fuhrer"*) durch Scheinpflugs „Fruh- ling". Das die verschiedensten Stimmungen zum Aus- druck bringende Werk wahrt den Einheitszug: die Kunst, ein und dasselbe .Motiv durch Umbildung in mannigfaltigster Weise zu verwerten, steht dem Schopfer des flFriihling" in hohem Masse zu Gebote. Auch die Instrumentation ist hervorragend, an neuen Klang- offenbarungen fehlt es nicht. Die Orchesterbesetzung ist folgende: Piccolo, 2 Floten, 2 Oboen, Englischhorn,
1 D-Klarinette , 2 B-Klarinetten , 1 Bassklarinette,
2 Fagotte, Contrafagott , 6 Horner, 5 Trompeten,
3 Posaunen, Tuba, Pauken, Triangel, Becken, grosse
*) Simrock, Berlin.
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Trommel, Tamtam, Castagnetten , 2 Glockenspiele 2 Harfen und Streichinstrumente. Am 13. Febr. 1906 fand in Bremen durch das dortige Pbilharmonische Orchester unter Leitung Prof. Karl Panzners die Urauffiihrung des ^Kampf- und Lebensliedes" P. Scheinpflugs statt. Der Erfolg war gewaltig. Wenige Tage darauf dirigierte der Autor selbst eine zweite Auffiibrung seines Werkes.
Mit der Anfiibrung dieses jugendgescbwellten, packenden Orcbesterwerkes ist die Liste der veroffent- licbten Kompositionen unseres Tondicbters nunmebr vollstandig wiedergegeben. Im Druck befinden sicb „Acbt Lieder und Gesange fur eine Singstimme und Klavier" (op. 9).*) In diesen Liedern ist die Klavier- begleitung durcbgebends einbeitlicb gestaltet, d. b. auf den Hauptton des Gedicbts gestimmt, und auf besondere Tonmalerei, auf ein Hervorbeben und Cbarakterisieren dieses und jenes Wortes vermittelst des Klaviers Ver- zicbt geleistet. Zumeist baben wir es bier mit zarten, innigen, traumeriscben , im Gesangs- und Klavierpart obne Scbwierigkeiten sicb prasentierenden Gebilden zu tun. Als besonders innig empfunden nenne icb: ^Wie sangen die Vogel so siiss" und „An die Natur", einen reizvollen Ton finden wir in „Im Feide", ^Februar- scbnee" und „Regenbuscb im Frubjabr"; grandios wirkt der Gesang ^Weibe"! Im Manuskript (op. 10) liegen fast beendet vor die beiden Kompositionen „Selige Nacbte !" (fur vierstimmigen Mannercbor, Doppelquartett und Solovioline) und „Der Eidervogel" (eine vierstimmige Ballade fur Mannercbor).
Einiges iiber den ausseren Verlauf des Lebens unseres Tondicbters zu erfabren, wird den Leser inter- essieren. Paul Scbeinpflug ist am 10. September 1875 in Loscbwitz bei Dresden, jenem durcb Scbiller und seinen Don Carlos geweibten Orte, geboren. Die Knaben- und Jugendjabre waren nicbt sonderlicb durcb Sonnenstrablen erbellt, ausseres und inneres Leid ver- einten sicb. Friib erwacbte in dem Knaben die Liebe zur Musik, eine billige Weibnacbts-Geige bedeutete ibm sein bocbstes Gut. Mit Unterstlitzung einiger Woblgesinnter (die Eltern waren scbon friib gestorben)
*) Simrock, Berlin.
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und im Besitze eines Stipendiums wurde es dem Jung- ling ermoglicht, auf dem Konigl. Konservatorium in Dresden Studien zu treiben. „Nicht nur Mnsik wurde nun studiert, auch alle Allgemeinbildung zu erganzen gesucht und zwar mit zaher Energie" — so erzahlt Scheinpflug selbst. Draeseke und Braunroth waren seine Unterweiser in der Kompositionskunst. „Wie es unausbleiblicb ist zwischen einer leidenschaftlichen Natur und einem strengen Theoretiker: der Kampf der Krafte gegen ^Ketten" beginnt und die Katastrophe ist unausbleiblicb" — mit diesen Worten erklart Scbein- pflug den nicbt in voUster Harmonie verlaufenen Ab- scbluss seiner Dresdener Studien und bericbtet weiter; ,Nun begann die Wanderung in die Welt, in dies herrlicbe ,Draussen', das mich mit tausend Armen lockte und mit seinen rauscbenden Harmonien be- rauschte !" Scbeinpflug, der die Violine und das Klavier gleicbvortrefflich beberrscbt, nabm dann eine Stellung in dem Hausquartett eines russiscben Fursten in Daszew (Gouvernement Kiew) an. ,Hier verlebte icb mit die scbonste Zeit meines Lebens (1897 — 98). Inmitten berrlicber, eigenartiger Natur, die icb fanatiscb lieben lernte, bei Mutter Erde, kam Rube und Sammlung in micb" — bericbtet der Tondicbter. Eine Klaviersonate ^Heroique" wurde komponiert, in Ton und Anlage noch zwiscben Scbumann und Wagner scbwankend, Lieder in der Farbe ^Brabms" entstanden usw. Dann, nach ausgedebnten Wanderungen durcb Rumanien, Bukowina, Ungarn etc. ging es zuriick nacb dem deutscben Boden. In Bremen wurde Halt gemacbt. Hierfand Scbeinpflug im Stadtiscben Orchester eine Stellung als Konzert- meister und stellvertretender Dirigent, welcbe er augen- blicklicb nocb inne bat. Daneben wirkt er als Mitglied (Violine) des dortigen Pbilbarmoniscben Streichquartetts. In der kunstsinnigen Hansastadt weiss man den Ton- dicbter sebr zu scbatzen und fordernd seinem Schaffen zu begegnen. Uber kurz oder lang diirfte sicb Scbein- pflug neben der Kompositition aber wobl ganz der Dirigententatigkeit widmen, seine bisberigen Erfolge als Dirigent und Cborleiter weisen ihm diesen, von unseren beutigen Komponisten (Strauss, Mahler, Blech, Weingartner etc.) vielbescbrittenen Weg.
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Was uns Paul Scheinpfiug in Zukaoft noch bringen wird, was er Neues, Grosses und Grosseres ersinnen wird — wer vermag eine Mutmassung hiertiber auszu- sprechen? Woliin ihn die Segel seines Geistes in Zu- kunft tragen werden, vermochte der Tondichter selbst nicht zu sngen. Was uns jedoch Scheinpfiug schon bis zur jetzigen Stunde geboten hat, ist des Aufzeichnens auf der Ehrentafel der Musik in hohem Masse wert — — nicht gar viele Namen kommen der Bedeutsamkeit des Namens Paul Scheinpfiug gleich.
Phot. Atelier Elisabeth, Miinclien.
Julius Weismann.
Julius Wcismann
(geb. zu Freiburg l Br. am 26. Dezember 1879).
]Juliu5 Weismann
Dr. Wolfgang f\. Thomas.
Wo wir geboren, unter den hellen glanzenden Ge- stirnen des Siidens oder dem verhangten Himmel unseres geliebten Deutschland, im milderen Suddeutschland oder im rauheren Norden, das wird immer unsere Eigenart machtig beeinflussen. Wir beobachten, wie sehr sich in der Kunst- und Musikgeschichte Ton und Weise des Siiddeutschen von der Art des Norddeutschen unter- scheiden. Der Begriff ^siiddeutsch" umfasst in diesem Sinne auch den deutschen Osterreicher. In der Musik sind uns auch Haydn, Mozart, Schubert, alle Deutsche.
Julius Weismann ist seinem ganzen Wesen nach Siiddeutscher.
Die Familie Weismann stammt aus Osterreich. Der Vater des Komponisten , der beruhmte Zoologe August Weismann, ist freilich in Frankfurt am Main (1834) geboren. Schon im Anfang der 60 er Jahre des 19. Jahrhunderts kam dieser als Universitatslehrer nach Freiburg im Breisgau. Dort entsprossten seiner Ehe mit Mary Gruber, einer Tochter aus der hochangesehenen Familie Gruber aus Lindau, welche den bedeutenden Handelskreisen Genuas angehort, nacheinander vier Tochter. Im Jahre 1879 beschenkte Frau Mary ihren Gatten am 2. Weihnachtsfeiertage (26. Dezember) mit einem Knaben; dieser erhielt den Taufnamen Julius.
Julius Weismann hat wie so viele andere echte Musiker schon in jenen march enhaften Kindheitstagen, aus denen alle Eltern von ihren Kleinen lustige Ge- schichtchen erzahlen konnen, seine Liebe zur Musik zu erkennen gegeben. Im Hause Weismann wurde sehr
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viel rausiziert. Allsonntaglich wurde Kammermusik gemacht. Herr und Frau Weismann waren selbst am Klavier mittiitig. Da man sich naturlich vorwiegend in den Bahnen Haydns, Mozarts, Beethovens, kurz der klassischen Musik hielt, so nahmen die guten, alten Traditionen dadurch bald einen Platz in der jugend- lichen Seele ein.
Im selben Jahre (1886) als der Knabe seinen ersten tiefen Schmerz durch den Verlust der Mutter erfuhr, nahm der erste formliche Unterricht in der Musik, and zwar im Klavierspiel seinen Anfang. Nicht lange nach- her, etwa nach 2 Jahren, ging dann der Unterricht in der Harmonielehre dem Klavierunterricht parallel. Diese ersten musik alischen Unterweisungen erteilte E. H. Seyf- fardt (geb. 1859), der damals Leiter des Chorvereins Liedertafel in Freiburg war. Seyffardt ging spater als Professor an das konigl. Konservatorium nach Stutt- gart, von wo sich sein Ruf als tuchtiger Komponist, namentlich von Chorwerken, weit verbreitete. Weis- mann schatzt die grundlegenden Unterweisungen Seyf- iardts in der Harmonielehre noch heute als frucht- bringend.
Der Knabe sollte nun naturlich auch die libliche Schulbildung erhalten und wurde Schliler des Berthold- gymnasiums in Freiburg. Der Besuch dieser Anstalt dauerte indes nur wenige Jahre. Schon in der Unter- tertia notigte eine heftige Erkrankung den Knaben, die Anstalt zu verlassen. Diesem Umstande hat Weismann einen Vorzug vor vielen anderen schaffenden Musikern zu verdanken. Von jetzt ab wurde er namlich seinem ausgesprochenen Ziele zugefiihrt und voUig zum Kom- ponisten erzogen. Im Jahre 1891, also bereits im Alter von 12 Jahren wurde Weismann der Miinchener konigl. Masikschule als Zogling iibergeben. Dort waren Josef Rheinberger (gest. 1901) und Hans Bussmeyer (geb. 1853, jiingerer Bruder des in Amerika weilenden Pianisten Hugo Bussmeyer) seine Lehrer Unter der Aufsicht Bussmeyers wurde das Klavierspiel wenigstens nicht vernachlassigt. Die Hauptsache aber waren die Kontra- punktstudien , welche der junge Musikschiiler bei dem sowohl als Theorielehrer wie als Komponist gleich hochgeschatzten Rheinberger machte. Nach einjahrigem
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Studium in Mlinchen kehrte Weismann nacli Freiburg zuriick mid begab sich zu weiterer Vervollkomranung im Klavierspiel in die Lehre Hermann Dimmlers. Dimmler, ein ausgezeichneter Musiker, der mit Liszt in freundscliaftlichen Beziehungen stand, leitete seiner Zeit den Freiburger Philharmoniscben Verein, welcber grossere Cborwerke zur Auffiihrung brachte. Wendelin Weissbeimer teilt in seinem Buche „Erlebnisse mit Wagner, Liszt und anderen Zeitgenossen" das Faksimile eines Briefes von Liszt mit, in welcbem dieser schreibt Jm Sommer 81, babe icb Freund Dimmler versprocben, seiner Auffuhrung des Cbristus-Oratoriums in Freiburg (Breisgau) beizuwobnen", Dimmler, der namentlicb ein vorziiglicber Beetbovenspieler war, iibte wie auf alle seine begabteren Schiiler, so aucb auf Weismann einen nacbdrlicklicben Einfluss aus. Er fiibrte seinen Scbuler durcb baufiges Vorspielen von Bacb und Beethoven in die klassiscbe Art und Komposition ein.
Dass sich der heranwachsende Jungling von fruhen Jabren an eifrig im Komponieren iibte, versteht sich. Dabei gaben dann begreiflicherweise zu allererst die Klassiker die Vorbilder und Ideale ab, welchen der angehende Komponist nachzueifern sucbte, wobei dann die ublichen humoristischen , unbewussten Anklange nicht feblten. Wenn Weismann wahrend eines zwei- jahrigen Aufenthaltes in Lausanne in der Schv^^eiz, wo er bauptsacblich zur Erlernung der franzosischen Spracbe weilte auch keinerlei Klavier- oder Theorieunterricbt nahm, so lasst sich doch denken, dass eine grosse Reihe von Kompositionen versucht und vollendet warde, von denen der Urheber einstweilen nichts der Veroffent- lichung fur wert erachtete.
Nach Beendigung des Schweizer Aufenthaltes trat Weismann in die Meisterschule von Heinrich von Her- zogenberg an der Berliner Hochschule fiir Musik ein, wo er fiir die Dauer eines Jahres verblieb (1898 — 99). Herzogenberg, der ja zu dem Kreis der Berliner Aka- demie zahlt, war auch seinerseits von den strengen Prinzipien der alteren Theoretiker durchdrungen. So kam es, dass Weismann, wenn er auch individuell die erwiinschte Freiheit der Bewegung vermisste-, seinen Sinn fiir Foimen und Architektur in der Tonkunst er-
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weckt und verscharft fand. Seine letzte Vervollkomm- nung und seine eigentliche Erziehung zum selbstandigen Kiinstler verdankt Weismann Prof. Ludwig Thuille. Bei Thuille, der als Lehrer an der konigl. Bayrischen Akademie der Tonkunst wirkte*) und sich durch Opern, Kammermusik und viele andere Kompositionen einen glanzenden Rul erworben, machte Weismann noch einen dreijahrigen Privatkursus durch, wahrend dessen er sich mit Kontrapunktstudien und Instrumentationslehre be- fasste und im Dirigieren ubte.
Nachdem Weismann seine Studien vollig abge- schlossen hatte, verblieb er vorerst noch in Munchen; bis zum Jahre 1905. In diesem Jahre siedelte er von dort nach seiner Vaterstadt Freiburg liber.
Mit dem Jahre 1899 beginnt die Serie der ver- offentlichten Werke. Und zwar widmete sich der Kiinstler in den ersten Jahren, da er vor die breitere Offent- lichkeit trat, vornehmlich der Liedkomposition. Es liegt bis heute schon die stattliche Anzahl von 61 ge- druckten Liedern vor. Wiirde man die ungedruckten hinzuzahlen, so kame ungefahr das dreifache heraus. Im Verfolg seiner Kompositionstatigkeit wendete sich Weismann der Kammermusik und grosseren Chorwerken mit Orchester zu, ohne aber dem Klavierliede je ganz untreu zu werden. Manuskript blieben von den Kammer- musikwerken einstweilen ein Klavierquartett und eine Cellosonate. Ein Streichquartett ist als op. 14 bei Rahter in Leipzig erschienen, der gleichzeitig fiinf neuere Lieder (op. 16) und vier Klavierstiicke (op. 17) verlegt hat. An Chorwerken erschienen: Zwei gemischte Chore mit Begleitung des Orchesters, Schnitterlied und Hymnus an den Mond, als op. 10 bei Dr. Heinr. Lewy in Miin- chen, von deuen der erste Fritz Steinbach, der zweite dem Vater des Komponisten gewidmet ist. Op. 11 er- schien als Huldigung an den verehrten Lehrmeister Ludwig Thuille; es ist die Symphonische Dichtung fiir gemischten Chor und grosses Orchester nach dem Ge- dichte ^tJber einem Grabe" von Conrad Ferdinand Meyer.
*) Am 5. Februar 1907 kam die betrtibende Nacliricht vom Tode des Meisters, von dem wir noch viel Bedeutendes hiitten erwarten dlirfen.
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Das Werk gab Rob. Forberg in Leipzig heraus. Im selben Verlage erschien auch op. 12, das Werk, welches Weismann recht eigentlich erst der grossen musika- lischen Welt, auch jenseits der Meere, bekannt gemacht hat: Fingerhiitchen, Marchenballade nach C. F. Meyers gleichnamiger DichtuDg, fiir Bassbariton, vier Frauen- stimmeD und Orchester. Die Komposition, welche bei- laufig Prof. Max Schillings zugeeignet ist, wurde auf dem 41. Tonkunstlerfest des allgemeinen Deutschen Musikervereins, welches im Jahre 1905 vom 31. Mai bis 5. Juni in Graz stattfand, untei allgemeinem Bei- fall aufgefLihrt. Dr. Ernst Descey (Graz) schrieb iiber das Werk in seinem Bericht iiber das Tonkunstlerfest an die „Musik" (Heft 20 des IV. Jahrgangs S. 139): „In die Herzensnahe aller kam Julius Weismann mit seiner reizenden Marchenballade ,Fingerhutchen'. Der Komponist bewies, dass man sehr gut moderner Musiker sein und doch einen einfachen, klaren melodischen Satz schreiben kann, dass noch mehr als harmonische Fi- nessen die Erfindung von Themen wiegt, die — • welches W under der Zeit! — leicht nachzupfeifen sind, ohne dass sie banal seien*. Der Berichterstatter findet dann, dass man von dem Schopfer der Marchenballade sich wohl noch einmal einei echten , komischen Oper ver- sehen konne, eine Erwartung, die der Verfasser in seiner Besprechung der Freiburger Auffiihrung der Marchen- ballade unabhangig von Descey ebenfalls ausgesprochen hat. Die Ballade machte ihren Weg durch die grosseren und kleineren Stadte u. a. Frankfurt a. M. , Munchen, Wien, Koln, und auch iiber die grossen Wasser nach Amerika (New York). Der Herausgabe barren nunmehr drei Balladen („Der Kaiser und das Fraulein". „Der Knabe im Moor" und ^Einsiedei") fiir Bariton mit Orchesterbegleitung und zwei Mannerchore („Das Strand- kloster" und die Ballade: „Der Rappe des Komthur") ebenfalls mit Orchester sowie eine Symphonic, Hmoll, fiir grosses Orchester.
Der Charakter der Weismannschen Musik offen- bart sich natiirlich schon in seinen Liedern. Das Her- vorstechendste ist iiberall ein echt volkstiimlicher Zug. Nicht etwa, dass Weismann planmassig viele Volks- lieder geschrieben; ja ich wiirde gerade in dem Liede
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,Das Scbeiden, ach das Scheiden", op. 5, V, den Volks- ton nicht gerade aussergewohnlicli getroffen finden. Aber die Weismannsche Melodie hat das Volksartige zur Grandeigenschaft. Dies Volksmiissige unterscheidet sich indessen von der Volkstiimlichkeit der Brahmsschea Melodie. Letzteren zog der versteckt wehmiitige Ton des Volksliedes stark an, weil er ihm selber eigen war. Weismann trifft mehr die freudige Note des Volks- liedes; ilberall breitet sich ein Sonnenstrahl aus. Die Leichtigkeit und Beweglichkeit der Weismannschen Melodie, erlaubt ihm audi ein erfolgreiches Eindringen in die Eigenscbaften anderer Volker, deren Stimraungen er auch zu erraten weiss. Hier ware auf folgende Lieder hinzuweisen: Die Rose (nach einem italienischen Volks- lied von H. Leutbold), sodann acht toskanische Lieder (op. 3) von Gregorovius, Spaniscbes Volkslied von He3^se, Grabbligel (aus der Fritbjofsage) , beide letzteren aus op. 4, Chanson romande von Jaques Dalcroze (op. 5, VI) und „Wenn lichter Mondenschein" von Gabriele d'An- nunzio (op. 7, IV). In diesen Liedern handelt es sich dem Komponisten meist nicht so ausgesprochen darum, den nichtdeutschen Tonfall zu treffen, wie ihn Chanson romande in der Tat wiedergibt. Bei diesem Liedchen hat man ausnahmsweise einmal nicht liber deutsche Plumpheit zu klagen. Weismann eroffnet uns da end- lich einmal die HofFnung, dass die Zeit kommen wird, wo wir die Romanen, speziell unsere westlichen Nach- barn, die Franzosen, nicht mehr urn ihren Geschmack und ihre Leichtigkeit zu beneiden brauchen.
Der erwahnte volkstumliche Zug nun schliesst eine gewisse Kindlichkeit ein. Und wir begegnen wirklich bei Weismann auf Schritt und Tritt den offenen, treuen Augen eines unraffiuierten , echten Menschenkindes im Goetheschen Sinue. Selbstverstandlich ist ein inniger Zusammenhang mit der Natur vorhanden. Die Perle des Breisgaus, Freiburg, wo Weismanns Wiege stand, hat mit ihrer unvergleichlichen Umgebung friih den Knaben mit dem Sinn fur Naturschonheiten begabt. Aber auch am Wasser ist der Kiinstler heimisch. In dem stillen Schachen am Bodensee baute er sich ein lauschiges Sommerheim. Da versteht man denn so tiefempfundene Lieder wie jenes „Schwarzschattende
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Kastanie" (op. 17) nach Conrad Ferdinand Meyer, mit ihrer dunklen Melodie. Wiederum auch die Hohen hat Weismann oft besucht, etwa 300 Berge raag er erstiegen haben, und lange war Sils Maria, Nietzsches Sitz, sein Sommeraufenthalt. Die Natur des Kompo- nisten, seine Weise entstammt jedoch den milden Ge- landen des badischen Oberlandes. Da schimmern nicht eisige Kuppen und Zacken, sondern die linden Hohen des Schwarzwaldes blauen hinein (vgl. Kindersehnsucht, op. 13, III).
Wie die Liebe von solch aufrichtigem Wesen be- handelt wird, lasst sich leicht erraten. Die acht toska- nischen Lieder (op. 3), welche der Liebe gesungen sind, geben dariiber Aufschluss. Leben und Lieder stimmen ubrigens in harmonisch schonem Einklang zusammen: Weismann lebt in gllicklicher Ehe mit Fran Anna, geborenen Hecker, welcher die Lieder zugeeignet sind. Da Frau Anna bereits mit einem Knablein gesegnet wurde, dtirfen wir wohl bald auf ein paar herzige Kinderlieder gefasst sein — letzteres ist keine blosse Vermutung. Aus all diesen Liedern des Herzens spricht uberall schlichteste Innigkeit.
Damit soil indes durchaus nicht behauptet sein, dass Weismann bei der betonten schlichten Herzlichkeit die Tiefe abgehe. Im Gegenteil hier spricht tiefe Emp- findung, jene wahre, ungekiinstelte Empfindung, die zu grosseren Hoffnungen berechtigt. Nicht jene Empfind- samkeit, welche in jeder Note sich zu erschopfen droht. Gerade solches ist Weismann verhasst und liegt ihm gliicklicherweise ganz fern. Seine Empfindung ist ge- sund und gut. Er zersplittert seine Satze nicht durch Uberempfindlichkeit, sondern spart Leben und Kraft einer Phrase, um weite, schwunghafte Linien zu bilden. Er beherrscht mit anderen Worten seine Empfindung, steht nicht unter^ibrem Einfluss. Und hierin liegt eine wichtige tJbereinstimmung mit der Volksempfindung. Das Volk singt seine Lieder nicht unter dem unmittel- baren Einfluss der noch herrschenden Empfindung, nicht die Trauer oder Lust, die noch unter Tranen schluchzt, lockt Lieder hervor, sondern die iiberwundene, in der Erinnerung gelauterte Wehmut und Freude ver- klaren sich in Tonen. So adelt auch die Weismann-
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sche Weise die natiirliche Empfindung ; die laute Freude verschont sich im Lied, und wo der Schmerz eingreift, da wird er so innig behandelt, dass die leidende Seele damit ausgesohnt wird. Das sprechendste Beispiel bietet fiir letzteres die Symphonische Dichtung „Uber einem Grabe".
Fast zu erwarten ist es, dass wir bei der geschil- derten Seelendisposition audi haufig auf Regungen des Humors stossen. Er kommt in verschiedenen Ausdeutungen vor, als lustiger Scherz z. B. in dem ^Scherzo" (op. VI, 5) nach Bierbaum und als feine Ironie in der Nummer: „Das Madchen am Teiche singt" (op. 16, V, ebenfalls nach Bierbaum). Als weitere poetische Reproduktion der Welt begegnet uns dann eine hubsclie Vertonung des Marchens. Nicht nur spielen in den Liedern Miir- chenfiguren ofter eine Rolle (z. B. Schneewittchen op. 6, X), sondern op. 12 ist jene grossere freundliche Marchen- ballade, von der schon die Rede war. Das „Finger- hutchen", ein buckliger Korbflecliter, (durch ein Them a im Volkston, „Gemachlich'', gekennzeichnet) schleppt sich von der Arbeit miide heim (Motiv 2) und hort, wahrend er sich unterwegs ausruht, den abgebrochenen Gesang der Elfen (Sopran Motiv 3 a), welchen er ver- voUstandigt (Bariton Motiv 3 b). Die Elfen glatten ihm zum Dank fiirs ^Einhelfen", den Hocker (Motive 5 — 7). Der Tag bricht an, Schafe und Klihe weiden um Finger- hiitchen herum (Pastorales Motiv 8, Sehr ruhig). Finger- hiitchen , der Geschehnisse der Nacht sich allmahlich erinnernd, kommen Zweifel, ob er den Buckel auch wirklich verlor (Motiv 9, zogernd). Da er wahrhaftig ohne die schlimme Zier ist, eilt er jauchzend und llink heim (Motiv 10, Sehr schnell), den Dank an die lieben Elflein nicht vergessend (Nachklange von Motiv 1 u. 3). (Vgl. Die Besprechung des Fingerhutchen vom Kom- ponisten in jjMusik" Heft 17, Jahrg. IV.)
Gerade die humoristische Ader befahigt den Kom- ponisten, ein knappes Scherzo zu schreiben (vgl. Klavier- quartett, Streichquartett und Symphonie!). Die echten Scherzi sind sonst die schwache Seite unserer modernen Tonsetzer. Das Weismannsche Scherzo, welches durch- aus den rechten Scherzando-Charakter hat, entbehrt obenein jener weichen Gemutslinie nicht, die keines-
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wegs nur das sog. Trio ziert, sondern auch das eigent- liche Scherzo, und welche ein Scherzo erst vollendet. Der reichen Empfindung gesellt sich nun, nament- lich in den neueren Kompositionen , grossere Energie des Ausdrucks. So speziell in der neuen Ballade ^Einsiedel" , die mit bedeutender Geschlossenheit des Ausdrucks auftritt. Hierher gehort aber auch schon das Hugenottenlied und der Gesang „Alte Schweizer", beide nach C. F. Meyer, op. 15, II und III. Uberhaupt fehlt es nicht an jener flotten Frische, die das Zeichen triebkraftiger Zukunft ist. Da muss bemerkt werden, dass Weismann niemals eine Epoche jenes blindwiitigen Sturmes und Dranges durchzumachen hatte, welche fast alien jungen Talenten bevorsteht. Von klaren, ein- fachen Anfangen entwickelte sich erst allmahlich ein grosserer Reichtum der Mittel und des Ausdrucks. Daruni liegen dem Kunstler z. B. auch rhythmische und harmonische Spitzfindigkeiten vollig fern. AUes baut sich hochst einfach auf und wird nur aus inneren Griinden modifiziert. Weismann kann also, was die raffinierte Ausgestaltung, die ungesunde Wurze, an- geht, nicht zu den Modernen gerechnet werden. Gleich- wohl ermlidet er nicht etwa durch ewige Geradlinig- keit. Er weicht ihr gerne durch lieblich und ge- schmeidig gefiihrte Figuration aus. In dem neuen Mannerchor wird der Triumph des Geistes iiber das Fleisch, der sich im Gedicht dadurch ausspricht, dass die Klosterbriider sogar mit abgehauenen Kopfen ihr Deo gloria noch fortsingen, musikahsch durch eine herbe Wendung nach Cdur ausgedriickt, wobei der Chor die Litanei als Begleitung zu dem eintonigen Deo gloria der Gekopften weitersingt. Die feineren Satz- klinste sind dem Kunstler natiirlich griindlich gelaufig, die einer Komposition stets eine gewisse vertiefte Per- spektive verleihen. Die Triole scheint Weismann als Ausdrucksmittel nahe zu liegen; sie ist ihm das, was anderen die Synkope ist; sie hat ja auch immer etwas Inkommensurables. Auch Wechsel der Taktarten spielt im Weismannschen Satz eine Rolle, wie das aus dem Streichquartett und der Symphonie zu belegen ware. Dem bestandigen, unruhigen Modulieren ist Weismann abhold. Zwar wirkte die Miinchener Komponistenschule
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in dem Klavierquartett und den beiden Choren op. 10 mit ihrer Vorliebe fiir etwas schwule Harmonik nach. Weismann hat aber die Zeichen seiner musikalischen Herkunft neuerdings vollig ausgemerzt. In den neueren Werken, besonders den vier Klavierstucken op, 17, dem Streicbquartett op. 14 und vor allem der Symphonie, kommt sein ureigenes Individuell zu unverfalscbter Ausspracbe.
Bei den friihesten Liedern eines Kiinstlers darf man keine allzu strengen Schlilsse von den gewablten Texten auf das Naturell des Komponisten macben. Unter den Dicbtern, die Weismann musikaliscb bebandelte, gibt es aber offenbar mit Vorliebe bedacbte. So Goetbe, Bierbaum und Martin Greif. Aucb der badiscbe Dicbter Vierordt ware zu nennen (nacb ibm : Kindersebnsucbt und Das Kornschiffcben aus op. 13 bezw. 16). Wenn Gre- gorovius mit seinen acbt (toskaniscben) Liedern auftritt, so mocbte ich das weniger als tjpiscb fiir den Kom- ponisten, denn als voriibergebende Liebbaberei auffassen. Die Bebandlung von Goetbe, Bierbaum und Greif scbeint dagegen von grosserer Bedeutung. Der beitere, ecbt menscbliche Ton Goetbes musste aucb Weismann locken. Wir finden da das aucb von Hugo Wolf komponierte zierlicbe ^Gleicb und Gleicb", das berzinnige „Elfen- liedcben" und „Nabe des Geliebten". Die ungemein biegsame und klingende Reimkunst eines Bierbaum bat es scbon vielen angetan. Weismann fublte sicb durch neun Bierbaumscbe Gedicbte zur Komposition angeregt. Darunter befindet sicb das reizende „Der Vogel", welches mit ausserordentlicb scbon em Ausdruck vertont ist. Martin Greif gehort zu den selten komponierten Dicbtern. Sprache und Bilder haben bei ibm viel Weicbes und Vertrauliches, Eigenschaften, die Weismann sympatbiscb entgegenkamen. Nicht von jener bei den alteren Ro- mantikern (z. B. Eichendorff) so typiscben versunkenen Verlorenbeit ist dabei die Rede, aucb nicht um das griibleriscbe Sinnen des pbilosophisch gewordenen Deutschen des 19. Jabrhunderts bandelt es sicb, sondern um das Traumen und Schauen, wie es ein Walter von der Vogelweide tat. Das illustriert op. 10, II Hymnus an den Mond nach Greif am besten : Das Werk ergeht sicb in weichen Empfindungen. Das Leben und Weben
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im milden Mondenschein wird iins naher gebracht. Zu- erst empfangen wir den Eindruck des „wirkenden Lichtes, des prangenden Mondes" auf den einsamen Wanderer, dem „trunken die Seele schwarmt". Dann beginnen die Vogel auf ihren Zweigen unruhig za hiipfen und die Pflanzen „liauchen starker", ja sogar Fels und Ge- stein belebt sich, aus denen der Mond Tempel erbaut (feierlich). Schliesslich hebt sich (Sehr ruhig) das grossere Gestirn des Tages — die Sonne steigt mablich empor.
Derjenige Dichter, welcher es aber vor alien Weis- mann angetan, ist Conrad Ferdinand Meyer. Meyer hat ja schon in Hermann Behn und Hermann Zumpe zwei Spezialkomponisten gefunden. Das darf unbedingt als Zeichen dafiir gelten^ wie giinstig Meyers Dich- tungen einzelnen Musikern liegen. Einzeinen, denn es haben sich immerhin noch wenige gerade an diesen Dichter gemacht. Das Verhaltnis Meyer- Weismann be- ruht auf einer tiefgehenden Wahlverwandtschaft. Meyer hat den Komponisten ganz neue Bahnen gewiesen. Weismann seinerseits bringt erst Conrad Ferdinand Meyers musikalische Erfiillung. Der im Ausdruck so originelie und kernige, dabei stark phantastische Schweizer, entlockte mit seinen Gedichten schon wieder- holt dem Freiburger Komponisten seine ureigensten, personHchsten Melodien. Ausser „Der Reisebecher* in op. 13, erwahne ich nochmals op. 16, I. aber auch jjHirtenfeuer" und „Im Spatboot" (op. 16, H und lY), sowie von friiheren Liedern „Abendwolke'' und „Burg: Frag mir nicht nach". Wiederholt erwahnt wurden ^Fingerhiitchen" und „tJber einem Grabe". Im letzteren stimmt der Chor zunachst die Klage uber das vor- zeitige Verbliihen eines Knaben an. Dann steigen gleichsam die getauschten Hoffnungen aus der Erde auf und begehren nach Leben. Die Phantome erstehen, gaukeln vor uns auf und nieder, und in dem Moment, wo sie uns in Lebensflille anlacheln mochten, tritt der schmerzlich - milde Wunsch auf* „Knabe, schlaf in Frieden" ! JDber der ganzen Komposition liegt eine matte Trauer. Uber die phantastische Dichtung und Kompo- sition der Dichtung Strandkloster, war schon oben die Rede. In ^Schnitterlied", welches ebenfalls von Meyer
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stammt, pulstfrohlockendesLeben. Gegeniiberderheissen Arbeit der Buben und der garbenbindenden Madchen und ihrem tosenden Tanze treten bange Momente ein; das erste Mai schildernd, wie das Gewitter feme grollt, das zweite Mai bei den Worten „von Munde zu Munde ist Raum fiir den Tod", welche erst vom Bass allein und dann vom Chor p — pp vorgetragen werden. Un- nacbalimlicli verdeutlicbt der Chor das Drauen des Todes und daneben den heissen Lebenstrotz.
Wabrend sich die Vokalwerke meist mit einem sensitiven Ausdeuten des Stimmungsgebaltes der be- treffenden Dichtung befassen, und die eigentliche Stro- pbenbildung der Melodie nicht angewendet wird, be- gniigt sich Weismann in der Instrumentalmusik nicht mit kurzenMelodien, sondern bildet umfangliche Themen, aus denen dann die Stucke herauswachsen.
Das Streichquartett besteht aus zwei vorwiegend in lieblichem Ton gehaltenen Aussensatzen. Der erste Satz bewegt sich zunachst in anmutigen Konturen, welche das Hauptthema vorzeichnet. Dann durchqueren schroffe Seitenlinien das Bild. An den energischeren Gedanken fallen die vielsagenden , heftigen Triolen- bewegungen auf. Der Satz schliesst lind wie Friih- lingswehen. Das Scherzo hat in seinem Hauptteil sogar etwas Beethovenschen Schwung. Das Trio stellt ein melodisches Intermezzo iiber einem obstinaten Bass dar, wobei ein neckischer Vorschlag wie eine Spitze den Bass ziert. Der Satz endigt mit einer voller aus- tonenden Coda und anschliessender kurzer Friska. Das Andante semplice erfiillt warmer Volksgesang, der bald schlicht zweistimmig sich vortragt, bald auf sacht be- wegten Sechzehnteln und Zweiunddreissigsteln sich wiegt, und der bald in den hohen Tonen des Violin-e iiber dem Ganzen schwebt, bald dunkle Antwort aus der Tiefe empfangt. Das Thema des Schlusssatzes ist heiter und dabei gemiitlich (Allegretto vivace) und tanzt auf den wogenden Wellen der Begleitung frisch einher. Es entwickeln sich getragenere Episoden, ein Piti lento, und gegen Schluss sogar ein Adagio-Einschiebsel. Mit einem raschen piti Allegro endigt das Werk.
Der Stimmungsakkord der ganzen Symphonic ist angeschlagen, wenn das 14taktige Hauptthema in Hmoll
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von den Celli mit dem eigenartigen Oboe-Einwurf er- klungen ist. Dieser melodische Gedanke ist von solcher Rundung und weicher Fiille, dass man es mit Worten nicht naher beschreiben kann. Der Satz flihrt nun in zunehmender Kraft und Frohlicbkeit zu einem marsch- artigen Hohepunkt. Die Gliederung in Hauptteil, Durchfiihrung und Reprise (hier etwas gekurzt) ist die ubliche. Die Entwicklung entspringt logisch aus dem gegebenen Themenmaterial, nicht oline schone Verschlingungen (Verkiirzung von Motiven des Haupt- tbemas werden zur Begleitung verwendet, Umkeh- rung usw.). Das Scherzo mit seinem straffen Drei- viertelrhythmus (vierachtel mit nachfolgendem einviertel) umschliesst ein sehr ansprechendes, pastorales Trio. Der langsame Satz verzichtet auf Durchfiihrungen und er- geht sich statt dessen in einer innigen Gemiitsaussprache, wobei die Themen sanft abklingen, im ubrigen un- mittelbar einander ablosen. Der langsame Satz steht in DmoU. Der Beginn des Hdur-Finales bringt einen grossen Kontrast. Der Schlusssatz eilt freudig und lebendig durch verschiedene Tonarten (Esdur, Fismoll, F dur). Zwischenhiuein immer wieder ernster stimmende Ausblicke gewahrend, kehrt er doch zum Schluss dop- pelt intensiv zur Freude zuriick und endigt das Werk in glucklichem Sinne. Bei aller Gegensatzlichkeit der einzelnen Teile und Gedanken ist der frohe Ton gluck- licher Lebensbejahung im ganzen Werk meisterlich fest- gehalten.
Gerade die Symphonic zeigt deutlich Weismanns Selbstandigkeit als Tonsetzer. Wenn wir historische Ahnlichkeiten nennen soUten, so wurden wir Anklange an Schumann hier und da finden konnen. Ab und zu wandelt auch einmal Brahms in undeutlichen Umrissen vorbei. Eigentliche Verwandtschaft aber hat Weismann mit Franz Schubert. Und ein Schubert tate uns not! Unsere Zeit heischt sehnsiichtig nach Melodie! Wir wunschen es dem Komponisten und uns, dass er ein ganzer Schubert werde.
Phot. Wilhelin Fechner, Berlin, W.
Hermann Zilcher.
Hermann Zilcher
(geb. zu Frankfurt a. m. am 18. August 1881).
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Hermann Zilcher
von
Prof. Dr. Wilhelm Rltmann.
Vielleicht auf keinem anderen Gebiete ist es so schwer, aus der breiten Masse heraustreten , sich als Personlichkeit durclizusetzen, wie in der Musik. Mag ein junger Kiinstler auch noch so tuchtig sein, als Virtuos oder Komponist Hervorragendes leisten, so braucht er in der Kegel lange, schwere und sorgenvolle Jahre, wenn ihm die Schicksalsgottin nicbt hold ist, bis er wenigstens zu einer gewissen Beach tung gelangt. Als ein wahres Gluckskind wird daher vielen Hermann Zilcher erscheinen, der trotz seiner Jugend innerhalb kurzer Zeit als ausubender Kiinstler eine reiche Wirk- sarakeit gefunden, sich als Komponist recht vorteilhaft bekannt gemacht und infolgedessen sogar einige der namhaftesten Verleger fur die Verbreitung seiner Werke gewonnen hat.
Zilcher ist am 18. Aug. 1881 in Frankfurt a. M. geboren, wo sein als Komponist ansprechender, fur den Unterricht bestimmter Klavierstucke bekannt gewordener Vater als Musiklehrer noch heute lebt. Von ihm er- hielt er friihzeitig den ersten Musikunterricht, wurde aber streng angehalten, auch sonst etwas Tiichtiges zu lernen. Nach Absolvierung der Schule wurde er Schuler des Hochschen Konservatoriums in seiner Vater- stadt; Prof. James Kwast bildete ihn zu einem sehr leistungsfahigen Klavierspieler heran, wahrend seine schon sehr friihzeitig hervortretenden kompositorischen NeiguD^en durch Iwan Knorr und namentlich Bernhard Scholz nachdriicklich gefordert und durch strenge Schulung gelautert warden. Durch Verleihung des
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Mozartpreises ausgezeichnet und damit gewissermassen aus der Lehre entlassen, ging Zilcher im Okt. 1901 nach Berlin, um sich auf eigene Fiisse zu stellen. Zunachst wollte er als Pianist Lorbeeren erwerben, allein die Mittel fehlten ihm, um das dazu unumgang- licli eigene Konzert mit Orchester, ja um nur einen ganz bescheidenen, aber immerbin nocb kostspieligen Klavierabend zu geben. Aber er hatte Gluck; sein Spiel gefiel Hermann Wolff, dem allgewaltigen , viel und in vieler Hinsicbt mit Unrecbt verschrieenen, mit erstaunlichem musikalischen Scharfblick begabten Be- herrscber der Konzertsale, der wenige Monate spater sterben sollte; Wolffs Nacbfolger Hermann Pernow engagierte ihn als Begleiter fur einige Geiger und ge- stattete ihm sogar — eine ungebeure Ausnahme in Berliner Konzerten — einige Soli in einem Konzert Maurice Kauffmanns zu spielen. War der Kritik bereits die ungemein feinsinnige, ecbtmusikaliscbe Art, mit der Zilcher des Begleitungsamtes waltete, angenehm auf- gefallen, so konnte sie mit freudigster Anerkennung in den grossen Beifall einstimmen, den der junge Kunstler durch seine Solovortrage (Chopinsche Pra- ludien) bei dem Publikum fand. Von da ab gait er als ebenburtiger Begleiter neben Coenrad van Bos, Eduard Bebm u. a.
Dass er auch, und zwar in erster Linie, Komponist war, davon wusste man in Berlin zu Ende des Jahres 1901 noch kaum etwas. Wieder ein Gliickszufall war es, der ihn vor bestimmte kompositorische Aufgaben stellte, der ihn freudige Interpreten seiner Schopfungen gewinnen liess. Er wurde fiir den bekannten Geiger Alexander Petschnikoff als Begleiter auf einer Konzerttour engagiert. Dieser konzertiert in der Kegel mit seiner Frau, die gleichfalls Geigerin ist, und ist infolgedessen genotigt, haufig Werke fiir zwei Violinen mit Orchester oder Klavierbegleitung zu spielen. Da nun die Zahl der heute noch brauchbaren derartigen Werke eine verhaltnismassig sehr kleine ist (einst sehr beliebte Werke wie die Konzertvariationen von Wasser- mann, die Doppelkonzerte von Alard und Dancla wurde man sich heute sehr verbitten), so schuf Zilcher sein „Doppelkonzert fiir 2 Geigen", ferner die als Zugabe-
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stiicke gedachten ,Zwei Stucke fur 2 Violinen ohne Begleitung", endlich die noch ungedruckte , Suite fiir 2 Violinen mit Orchester". Petschnikoff selbst gewisser- massen auf den Leib geschrieben sind die „2 Stucke fur Violine" op. 3 mit Orchester- oder Klavierbegleitung und das Violinkonzert. Bereits zu Beginn der Saison 1902 kam das seitdem im In- und Auslande haufig gespielte Doppelkonzert in Berlin zur Urauffiilirung und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit der Kritik auf den jungen Komponisten. Dieser wagte dann im Marz 1904 den grossen Schritt, in einem eigenen Konzert mit Orchester, das er selbst mit unbestrittener Begabung und grossem Feuer leitete, eine Anzahl seiner Kompositionen in Berlin zur Auffuhrung zu bringen; und auch bei diesem immerbin gewagtem Unternebmen wurde er von seinem Gliick nicbt im Stich gelassen. Vom Januar bis April 1905 war er als Begleiter des jungen Geigers Franz von Vecsey in Amerika und trat in den Konzerten dieses stark- begabten Knaben regelmassig auch als Solist — und zwar immer mit Erfolg — auf. Im Juli 1905 erhielt er einen sehr vorteilhaften Ruf als Klavierlehrer an das Dr. Hochsche Konservatorium in Frankfurt a. M., dem er zum Herbst Folge leistete. Damit diirfte er wohl fiir alle Zeiten der undankbaren und durch das viele Herumreisen sehr anstrengenden Aufgabe enthoben sein, sich standig als Begleiter sein Brot zu verdienen, wenngleich er gelegentlich mit Freuden sich ans Klavier setzt, um Kunstlern wie z. B. Tilli Koenen, Dr. Ludwig WuUner dienstbar zu sein.
Uns interessiert in erster Linie der Komponist Zilcher. Um es gleich zu sagen, er ist kein Himmels- sturmer, er will nicht steile Hohen erklimmen, die vordem noch kein Fuss betreten, er wiinscht nicht hypermodern zu sein, sondern baut auf dem von den Klassikern iiberkommenen Grund und Boden weiter, ohne freilich zu vergessen, dass er ein Kind unserer Zeit ist und fiir deren Bediirfnisse zu sorgen hat. Uberall merkt man, dass er trotz seiner Jugend die Finessen des Kontrapunkts und die musikalische Formen- lehre wie ein Meister beherrscht, dass er die Harmonik moglichst mannigfaltig zu gestalten versteht, dass manche
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Rhythmen und Phrasen sein Eigenstes sind. Was mir seine Kompositionen aber besonders lieb macht, ist, dass ich immer den Eindruck habe, er komponiere nur, um dem, was sein Herz bewegt, Luft zu machen. Dazu stimmt besonders die zarte Melancholie, die namentlich in seinen langsamen Satzen sich zeigt. Wusste ich nicht, dass er ein guter Deutscher ist, so wiirde ich aus diesen melancholischen Partien seiner Werke auf seine russische Herkunft schliessen. In der Harmonik folgt er tibrigens gem orientalischen Vorbildern.
Sehen wir uns seine Werke etwas naher an, so finden wir, dass op. 1 und 2 offenbar infolge des be- kannten Verleger-Aberglaubens nicht gedruckt vorliegen; vielleicht gehoren sie aber auch zu den vielen Kom- positionen, die der mit Selbstkritik begabte Kunstler freiwillig unterdriickt hat, weil sie ihm nicht reif genug erschienen sind. — Fiir Klavier hat Zilcher bisher nur die ,4 Humoresken" op. 5 und die „4 Klavier- stucke" op. 6 veroffentlicht, keine Sonate oder gar ein Konzert.*) Die Humoresken bieten tiichtigen Spielern amiisante dankbare Aufgaben; ich gebe der dritten wegen ihrer charakteristischen Klangwirkungen den Vor- zug selbst vor der vierten, dem arabischen Tanz, der uns noch in Zilchers Symphonic begegnen wird. Von den Stiicken op. 6 sind No. 2 Spieldose und No. 4 Capriccietto nicht viel mehr als sogen. Yerlegerstuck- chen, dagegen ist die Ballade (No. 1) wertvoU, das Intermezzo (No. 3) ein iiberaus gelungenes Vortragsstlick, so recht geeignet, das Interesse fur den Komponisten wachzurufen. Mit ganz besonderer Freude sei dann der „Sechs kleinen vierhandigen Stiicke" op. 8 gedacht, kostlichen Gaben fur unsere Jugend. No. 1 ist ein wahres, treuherzig-liebes Volkslied, ebenso No. 3, aller- liebst das Reiterliedchen (No. 2). No. 5 versetzt unsere Kleinen in die Kirche, No. 4 ist ein grazioser Walzer, No. 6 endlich ein ansprechender Marsch.
Zahlreicher, umfangreicher und weit bedeutender als die Klavierkompositionen sind die Werke, durch
*) In allerneuester Zeit arbeitet Zilcher freilich an ein em Klavierkonzert, das er vielleicht noch Symphonic fiir Klavier und Orchester nennen wird.
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die Zilcher das Repertoir der Geiger bereichert hat. Von den „Zwei Stiicken" op. 3 ist die Sicilienne ein gehaltvolles , dankbares und cbarakteristisch gefarbtes Tonstiick, der Steppentanz, namentlich mit Orcbester- begleitung, ein sebr effektvolles Vortrags stuck. Dasselbe Verbaltnis bestebt aucb zwiscben der Melancbolie und der Tanz-Caprice op. 7 fiir 2 Violinen obne Begleitung, die beide gewiegte Spieler verlangen. Das dreisatzige Doppelkonzert fiir 2 Violinen und Orcbester op. 9 ist durcbaus sympboniscb gebalten; der erste Satz ist von berber Energie erfiillt; die nur zeitweilig von sanfter Melancbolie abgelost wird. Der langsame Satz, der durcb ein grosses Crescendo der binter einander ein- setzenden 4 Horner eroffnet wird, tragt einen entscbieden dramatiscben Cbarakter und ist iiberwiegend duster, bis auf den einscbmeicbelnden Hdur-Teil. Das tanz- artige, Frobsinn und Lebenslust atmende Finale bringt das iibrigens gar nicbt scbwierige, aucb fiir bessere Dilettanten geeignete Werk zu einem sebr gliicklicben Abscbluss. Vielleicbt nocb mebr Anklang diirfte die Suite fiir 2 Violinen mit Orcbester finden, wenn sie gedruckt vorliegt. Mir erscbienen bei der Auffiibrung die Gesangstbemen ganz besonders gliicklicb erfunden, das ganze Werk sebr wirkungsvoU disponiert. Dagegen scbeint mir das Violinkonzert op. 11, dessen langsamer Satz bedeutend genannt werden darf, im ganzen weniger gelungen als das Doppelkonzert und die Suite, vor allem weil dem Passagenwerk ein zu grosser Spiel- raum eingeraumt ist; immerbin aber lobnt es das Studium. Petscbnikoff bat es des oftern erfolgreicb vorgetragen.
Zeigte sicb scbon in der Orcbesterbebandlung dieser Violin werke Zilcbers grosses Verstandnis fiir Klangwirkungen und allerlei instrumentale Feinbeiten, so belebrt ein aucb nocb so fliicbtiger Blick in seine Orcbestersuite op. 4 uns, dass er die Farben der Orcbester -Palette in einer ganz genialen, an Humper- dinck erinnernden Weise zu miscben verstebt. Diese Orcbestersuite, die wunderbarerweise in Berlin nocb nicbt zur Auffiibrung gekommen ist, bat es mir ganz besonders angetan; sie ist von einer seltenen Friscbe der Erfindung und ungemein ansprecbend. Sie bestebt
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aus einer langeren Einleitung, einer Ballade, in der die geteilten Streichinstrumente eine grosse Rolle spielen, einem pikanten Marsche, einem liebliclieii Standchen mit Violoncell- und Violonsolo und einem Karneval genannten, geistspriihenden Finale; gegen den Schluss werden samtliche vorhergegangenen Themen in iiberaus gelungener Weise kontrapunktisch verarbeitet. Leistungsfahigen Dilettanten-Orcbester-Vereinen sei diese Suite, die sicherlicb bald die Runde durcb alle Konzert- sale machen wird, als eine hochinteressante und bei eifrigem Studium auch zu bewaltigende Aufgabe ans Herz gelegt.
Weit grosser angelegt, den bochsten Zielen zu- strebend, ist die nocb ungedruckte Symphonie Zilchers. Sie besteht aus zwei lang ausgesponnenen Satzen, zwiscben die gleichsam als Intermezzo oder Satyrspiel jener uns als Klavierstuck scbon bekannte arabiscbe Tanz in recht pikanter Instrumentierung eingescboben ist. Trotz vieler Scbonbeiten im inzelnen, die anerkannt wurden, errang diese Sympbonie docb keinen recbten Beifall bei der Kritik ; icb fand die Tbemen zu locker aneinandergereibt, zu wenig sympboniscb verarbeitet, die Instrumentation nicbt ausgeglicben genug. Als icb aber spater Gelegenbeit batte, die Partitur kennen zu lernen, das Werk vom Komponisten auf dem Klavier zu boren, da wurde es mir klar, dass diese Sympbonie wabrbaft bedeutend ist, dass der verbaltnismassig geringe Erfolg bei der Auffiibrung nur an der Ausfiibrung gelegen bat. Dass unser pbilbarmoniscbes Orcbester ersten Ranges ist, dariiber ist kein Zweifel, ebenso wie dariiber, dass es ungebeuer iiberlastet ist. Die Pbilharmo- niker sind eben aucb nur Menscben; nicbt immer ist es ibnen moglicb, aucb wenn sie es wollen, Herren ibrer pbysiscben Abspannung zu werden. Dazu kommt bei ibnen nocb eine gewisse Abneigung gegen Kom- positionsabende , zu denen mebr Proben erforderlicb sind, namentlicb wenn der Komponist selbst dirigiert. Scbon mancber bat bittere Klagen dariiber gefiibrt, wie wenig die Herren auf seine Intentionen eingegangen sind, wie interesselos sie ibren Part absolviert baben.
Am meisten Erfolg batte Zilcber an seinem Kom- positionsabend mit seinen Liedern und, wenn man
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die gedruckt vorliegenden Sammlungen op. 10, 12 und 13 naher ansieht, wird man nicht umhin konnen, sie fast samtlicli als recht gelungen zu bezeicbnen; da stort keine falsche Phrasierung oder Deklamation, ist die Situation trefiflich getroffen , bildet jedes einzelne Lied ein kleines Stimmungsbild. Die Singstimme ist nirgends auf Kosten der Klavierbegleitung, so reizvoU diese auch an sich ausgestattet ist, zuriickgesetzt. Als besonders empfehlenswert erscheint mir der geradezu wie eine Offenbarung wirkende ^Friihgang" aus op. 12, „der Kuckuck ist ein braver Mann" aus op. 10 und (allerdings nur fiir Bassisten geeignet) ^Dorfkirche im Sommer" aus op. 13. In jenem Konzerte Zilchers wurde auch ein Gesang aus dem noch unveroifentlichten Chor- werk jjReinhart", das in Frankfurt a. M. zur Auffiihrung kommen soil, geboten und zwar mit solchem Erfolg, dass bei vielen der Wunsch rege wurde, dem ganzen Werk hier bald einmal zu begegnen. Bei dem Gliick, das Zilcher bisher immer auf alien seinen Pfaden be- gleitet hat, wird dieser Wunsch wohl auch bald erfiillt werden. DerVeroffentlichungharren vor anderen grosseren Werken noch eine Violinsonate, die Petschnikoff bereits mehrfach mit grossem Erfolg gemeinsam mit dem Kom- ponisten gespielt hat, und ein Violoncellkonzert.
Ein gewisser dramatischer Zug, der uns in seiner Symphonic und in dem Doppelkonzert begegnet, scheint darauf hinzuweisen, dass Zilcher auch das Zeug besitzt, um eine Oper oder, was wir lieber sehen wiirden, ein Musikdrama zu schaffen. Hoflfentlich beschert ihm die Glucksgottin dann einen guten Text*); denn wirklich, er verdient sein Gliick, er ist es wert, dass man sich mit seinen Werken beschaftigt.
*) Seitdem diese Zeilen geschrieben sind, hat Zilcher das Traumspiel ^Fitzebutze" von Eich. Dehmel komponiert; der Klavierauszug ist bereits im Stich.
Phot. Carl Bellach, Leipzig
Heinrich Zdllner.
Helnrich Zollner
(geb. zu Leipzig am 4. ]uli 1854).
Heinrich Zollner
Eugen Segnitz.
Heinricli Zollner wurde am 4. Juli 1854 in Leipzig geboren. Er wuchs in einer musikalischen Atmosphare empor. War doch sein Vater Carl Friedricli der auch wait iiber Leipzigs Mauern hinaus gefeierte Kunstler, der dem Mannergesang zu jener hohen Stellung ver- half und dieser ihm die gewaltige Bedeutung verdankt, die er im Kunstleben des heutigen Tages einnimmt. Als der Vater 1860 starb, ging Zollner auf das Gym- nasium nach Bautzen, wo er im Kreise der Familie seines Oheims, des Kantors Friedrich Schaarschmidt, die Schuljahre verlebte. So konnte es kaum fehlen, dass Heinrich Zollner ganz von selbst auf die Lauf babn des Musikers hingewiesen wurde, obgleich er sich an- fanglicb fiir die Jurisprudenz entschlossen batte. Nacb- dem er das Gymnasium in Bautzen absolviert batte, kebrte er nacb Leipzig zuriick, um sicb als studiosus iuris immatrikulieren zu lassen.
Aber es soUte sebr bald anders kommen. Zollner war in den Universitatsgesangverein zu St. Pauli ein- getreten. Vom Vater batte er sicbtlicb feine Empfin- dung und scbarfes Beurteilungsvermogen fiir alle Fragen und Aufgaben des Mannergesangs geerbt und iiber- liefert erhalten — kurz, er leitete unter Dr. Hermann Langer mebrere Semester bindurcb (1875 und 1876) als Vizedirektor die tlbungen des Vereins. Zugleich betrieb er, seine eigentlicbe Bestimmung wobl immer klarer erkennend, ei&ig im Koniglicben Konservatorium musikaliscbe praktiscbe und tbeoretiscbe Studien unter der Anleitung von Carl Reinecke, Salomon Jadassohn,
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Ernst Ferdinand Wenzel und Ernst Friedrich Richter. Anderthalb Jahr hielt sicli Zollner nach Beendigung dieser vorbereitenden Studien in Dresden auf. Dann folgte er (1878) einem Rufe als Musikdirektor an die Universitat Dorpat.
Dorpat war damals noch durchaus deutschen Charakters und auch das Universitatskollegium setzte sich fast nur aus Dozenten deutscher Nationalitat zu- sammen, wahrend jetzt bekanntlich die meisten Pro- fessoren Russen sind und auch die KoUegien in russischer Sprache gelesen werden. ZoUners offizielle Tatigkeit bestand in der Leitung des Dorpater Akademiscben Gesangvereins, eines gemischten Chors. Sclion im November des gen. Jabres hieit Zollner in Dorpat die ersten Ubungen und Proben ab. Das erste Konzert unter seiner Leitung fand am 18. Mai 1879 statt. Es musste zu ZoUners bervorragendsten Pflicbten gehoren, fiir die deutsche Kunst im Auslande einzutreten. Es ge- scbab auch mit der ersten Dorpater Auffiihrung des „Messias" von G. Fr. Handel. Sie fand statt in der Johanniskirche , dem grossten Gotteshause der Stadt, und unter der solistischen Mitwirkung der Frau Baronin von der Osten-Sacken , der Frau Staatsrat Mithoff und des Herrn von Schulmann und war von ausgesprochen grossem Erfolge begleitet. Neben dem Dirigenten ruhte auch der Komponist nicht. Zum 400jahrigen Jubilaum des Geburtstages des grossen deutschen Re- formators schuf Zollner ein Oratorium ^Luther", das am 31. Oktober 1883 gleichzeitig in drei Stadten, namlich in Dorpat, Reval und Petersburg zur Auffiih- rung gelangte. tJber sechs Jahre blieb Zollner in Dorpat. Vorziiglich liess er sich hier die Pflege des a cappella-Gesanges angelegen sein und fiihrte auch beharrlich die Werke alterer italienischer wie auch deutscher Meister seinem Publikum vor. Von neueren Komponisten kamen damals durch ZoUners kiinstlerische Vermittelung besonders Robert Schumann und Johannes Brahms zu Gehor und Geltung auf russischer Erde. So wurden von ersterem z. B. zwei sehr selten gehorte Werke fiir gemischten Chor und Orchester, das Requiem und die Messe, aufgefiihrt.
Nach einiger Zeit iibernahm Zollner auch die
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standige Leitung der Dorpater ^Musikalischen Gesell- sdiaft". Es war damals in dieser russischen Universi- tatsstadt noch kein vollbesetztes grosses Orchester vor- handen. Infolge hiervon mussten die fehlenden Instrumente den Handen mehr oder weniger kunstgeiibten Dilettanten anvertraut werden. Die Vorstande der ^Musikalischen Gresellschaft" erklarten sich dann auch bereit, in die vorhandene Liicke einzuspringen und so trat der ge- wiss seltene Fall hier einmal ein, dass z. B. die Schlaginstrumente, grosse Trommel, Becken und Triangel in ZoUners Orchester durch drei Exzellenzen besetzt waren. Zollners Aufenthalt in Dorpat trug nicht wenig dazu bei, die dortigen Verhaltnisse ergiebiger und erfreulicher zu gestalten. Und doch beschloss der Kiinstler, diesen Wirkungskreis aufzubeben und mit einem neuen zu vertauschen.
Denn Dorpat lag immerhin ziemlich weit abseits des eigentlichen , grossen und schnell pulsierenden Kunstlebens. Zollner selbst sah sich nach wie vor auf einen verhaltnismassig kleinen Kreis bescbrankt und vermochte sich keineswegs nach Wunsch in grosserer kiinstlerischer Form zu betatigen und auszuleben. Im Jahre 1885 nahm er seine Entlassung bei der Dorpater Universitat und wendete sich nach der deutschen Heimat zuriick. Er war in seinem Entschlusse bestarkt worden durch einen Besuch, den er Franz Liszt in Weimar machte. Liszts langjahriger Freund und ge- treuer Gesinnungsgenosse war Professor Carl Riedel in Leipzig, der Griinder des seinen Namen tragenden grossen Chorvereins. Er versah Zollner mit einem in warmem Ton gehaltenen Empfehlungsschreiben und entsandte ihn nach Weimar, wo er beim alten Meister freundlichste Aufnahme fand. Neben anderen Arbeiten hatte Zollner besonders eine Faust -Komposition be- schaftigt. Er war willens, den ganzen Goetheschen Faust in Musik zu setzen , hielt aber mitten in der Komposition an, um Liszts Urteil und Gutachten iiber das Begonnene einzuholen. Er ermunterte Zollner, das angefangene Werk zu beenden und gab ihm seinen Kiinstlersegen mit auf den Weg. Zwei Jahre darauf, im September 1886, hatte Zollner die Partitur vollendet.
Eine neue Berafung trat an Zollner heran: er
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iibernahm 1885 die Leitung des bekannten Mannergesang- vereins zu Koln a. Rb. In der Folge trat er aucb in das Lehrerkollegium des Konservatoriums ein. Seine Kreise soUten sicb bald nocb mehr erweitern, indem ihm die Direktion des fruber unter Ferdinand Hiller stebenden „Stadtiscben Gesangvereins" und jene des Kolnischen Ricbard Wagner-Vereins iibertragen wurden, der sicb unter ibm aufs Beste entwickelte. Gelegent- licb der Tonkiinstlerversanimlung des Allgemeinen deutscben Masikvereins zu Koln war ZoUner einer der Festdirigenten. Er errang sicb bei dieser Gelegen- heit mit seinem Mannergesangverein durcb die ausser- ordentlicb scbone Wieclergabe je eines Cbors von Cornelius, Rbeinberger und Scbumann einen grossen, um so scbwerer wiegenden Erfolg, als ibm der auf dem Gebiete des a cappella - Gesanges als eine der grossten Autoritaten geltende Professor Franz Wiillner gegeniiberstand. Aucb bewerkstelligte Zollner ge- legentlicb der Abbaltung grosser patriotiscber Feste die erstmalige Vereinigung samtlicber Mannergesang- vereine der Stadt Koln. Z. B. am neunzigsten Geburts- tage Kaiser Wilbelms I., ferner bei dessen.und Kaiser Friedricbs III. Totenfeier, Aber aucb nacb auswarts sollte sicb Zollners Talent als Leiter grosser Cbor- massen bemerkbar macben.
Im Jabre 1889 unternabm der Kolner Manner- gesangverein mit Heinricb Zollner als seinem Dirigenten eine Reise nacb Italien und konzertierte in Mailand, Turin, Genua, Venedig, Bologna, Florenz, Neapel und Rom. In der Kapitole Italiens kamen fiinf Konzerte zustande, deren zwei offentlicben, drei bingegen privaten Cbarakters waren. Der Verein musizierte damals fast auf alien sieben Hiigeln Roms. In der seit den Zeiten Palestrinas ber bekannten und beriibmten Musikaliscben Akademie, in dem der deutscben Bot- scbaft gehorigen, auf dem Kapitol befindlicben Palazzo Cafarelli und im koniglicben Palaste auf dem Quirinal spendete die ausgezeicbnete Korporation ibre berr- licben Sangesgaben. Auf dieser Sangerfabrt kam Zollner aucb in personlicbe Beriibrung mit mebreren bedeutenden italieniscben Komponisten, darunter Verdi, Sgambati und Boito. Infolge der bervorragenden
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Erfolge des die deutsche Sangeskunst reprasentierenden Vereins wurde Zollner nach der Heimkehr aus Italien vom Kaiser von Deutschland durch das Pradikat: Koniglicher Musikdirektor und vom Konig Humbert von Italien durch die Ernennung zum Ritter der ita- lienischen Krone ausgezeichnet.
Wanderlust und tjnternehmungsgeist sollten Zollner indes bald noch weiter fiihren. Im Jahre 1890 wurde ihm die Leitung eines grossen Chors der Yereinigten Staaten angetragen. Es war der ^Liederkranz" , ein deutscher Verein in New-York, dem Zollner folgte, um Land und Leute in Nordamerika kennen zu lernen. Acht Jahre waren ihm in diesem neuen Lebens- und Wirkungskreise beschieden. Der Gesangverein „Lieder- kranz" besteht aus einem Mannerchor und einem ge- mischten Chor. Seine Konzerte finden stets unter orchestraler Mitwirkung statt. Auch hier nun fand Zollner einen an Bedeutung und Umfang gleichwertigen Wirkungskreis und auch willkommene Gelegenheit, mancher interessanten musikalischen Neuheit Eingang und Boden im Lande der Dollars zu verschaffen. Und zwar um so mehr, als ihm des Ofteren die Leitung grosserer Musikfeste iibertragen wurde. So dirigierte er teilweise die nordamerikanischen Sangerfeste zu Cleveland und New- York, jenes in Pittsburg als Haupt- dirigent. Wie zuvor mit dem Mannergesangverein in Koln, so unternahm Zollner auch jetzt mit dem New- Yorker flLiederkranz" eine grossere Konzertreise , die ihn im Jahre der Weltausstellung 1893 nach Cincinnati, St. Louis, Chicago, Milwaukee, Cleveland und Buffalo luhrte.
Die Stunde der Riickkehr in die deutsche Heimat schlug. Als Professor Hermann Kretzschmar in Leipzig im Sommer 1897 durch Krankheit behindert war, das 75. Stiftungsfest des von ihm geleiteten Universitats- gesangvereins zu St. Pauli zu dirigieren, ersuchte die Korporation Zollner, ihren ,alten Herrn", um Ubernahme der Leitung beider geplanten Festkonzerte. Zollner kam besuchsweise nach Leipzig. Ein Jahr nach Kretzschmars definitiv erfolgtem Rucktritte (1898) wurde Zollner als Universitatsmusikdirektor nach Leipzig berufen. Damit iibernahm er auch dauernd die Leitung des ^Paulus". —
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Heinricli Zollner ist bis jetzt als schaffender Kiinstler fleissig am Werk gewesen. Zunachst ver- offentlichte er Lieder fur Mannerchor, dann grossere Werke fiir Chor, Soli und Orchester wie Columbus, Hunnenschlacht und Bonifacius. Das eben erwahnte Luther-Oratorium ist Manuskript geblieben. ^Bonifacius", nach einer Dichtung von W. Osterwald entstand schon 1892, wurde aber erst 1904 instrumentiert und publiziert. Es wird im kommenden Jahre als Hauptnummer auf dem Programm des ersten Tages des 3. AUgemeinen Sangerfestes in Breslau stehen. Weiter seien erwahnt „Nordische Sommernacht" , ein ziemlich umfangreicher a cappella-Chor fiir Mannerstimmen und ein kiirzerer Mannerchor mit Orchesterbegleitung, der bei Gelegen- heit der Feier von Schillers hundertjahrigem Todes- tage (1905) in Weimar an dem Goethe- Schiller-Denkmal zur Auffiihrung gelangte. Rein instrumentaler Art unter Zollners Arbeiten sind zwei symphonische Dich- tungen, ^Sommerfahrt" und „Waldidyll" (nach Turgen- jew). Aus friiherer Zeit stammt eine Symphonic; eine zweite, deren Mittelsatze Zollner wahrend seiner ameri- kanischen Reise im Januar 1906 ausfiihrte, harrt noch ihrer VoUendung. Auch eine Oaverture fur grosses Orchester „ Unter dem Sternenbanner", in deren Themen die amerikanische Nationalhymne kunstvoll verwebt ist, erschien 1906. Ausser einer Serie esthnischer und lettischer Lieder mit Pianofortebegleitung , denen eine zweite bald folgen wird, veroffentlichte Zollner noch ein Streichquartett in Cmoll, das seine Urauffiihrung 1906 gelegentlich der Tonkiinstlerversammlung des AU- gemeinen Deutschen Musikvereins in Essen erlebte.
Zollner trat zu wiederholten Malen als dramatischer Komponist hervor. Er schuf neben zwei kleineren, in Uberarbeitung erschienenen komischen Opern „Der Schutzenkonig" und „Die lustigen Chinesinnen" eine Reihe von Werken grossen Stils fiir die musikalische Buhne; „Frithjof", .Faust", „Der Uberfall", ,Bei Sedan", „Das holzerne Schwert" und, nach Gerh. Hauptmann, „Die versunkene Glocke". Letzteres Werk und .Faust" sind vielleicht Zollners bedeutendste Werke. Die Faust-Musik ist reich an iiberaus schonen Momenten; besonders enthalt die zweite Halfte grosse und packende
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Steigerungen. Wie oft, so erweist sich der Tonsetzer auch hier als eigenartiger Stimmungskiinstler. Es sei u. a. nur erinnert an den Prolog im Himmel mit seinen schon geschwungenen melodischen Licien, dem archi- tektonisch wohlgeordneten Aufbau und dem wirkungs- reichen Chorsatze. Auch der, fast beinahe nur einen einzigen langen Monolog darstellende erste Akt ent- halt sehr schone Stellen. Im folgenden Akte verdienen die beiden Chore der Geister, im dritten die Szenen in Gretchens Zimmer besondere Hervorhebung. Sie sind von feinster Behandlung der arabeskenartig verschlun- genen Details und von seltenem Reichtum im melo- dischen Wechsel. Auch die Gartenszene ist nach mancher Seite hin trefflich gelungen. Im Liebesduett zwischen Faust und Gretchen hingegen ist nicht Weniges zu opernhaft gestaltet. Der vierte Akt enthalt vielleicht die schonsten Szenen des Ganzen, z. B. Gretchen vor dem Muttergottesbilde, das Mephisto-Standchen , Valen- tins Monolog und die Kerkerszene nebst dem Schlusse, der dem zweiten Teile des Goetheschen ^Faust" ent- nommen ist.
Zollners Musik zu Hauptmanns ^Versunkener Glocke" ist noch hoher einzuschatzen als jene Faust-Musik. Sie ist urspriinglicher, kraftiger in der Erfindung und teil- weise auch poetischer. Die Musik tritt hier als Ver- mittelungsmoment zweier Gegenpole, wie sie Marchen- land und Menschenland darstellen, auf. Das Gefiihlsdrama mit seinen feinen Veraderungen der Empfindung und seinen seelischen Unterstromungen, die sich schliessiich nur noch rein musikalisch, nicht aber mittelst des ge- sprochenen Wortes dartan und erkennen lassen; die eigentumliche Verschmelzung von Romantik und Rea- lismus, die sich darbietet in dem Empfinden von Traumbildern pnd Phantasiegeschopfen als ein in Wirklichkeit Ubersetztes wirklich Vorhandenes — alles das gab eine Summe von Anregungen fiir den Tondichter, wie sie willkommener kaum gefunden werden mochte. In gliicklichster Weise ergaben sich fiir Zollner die notwendigen Akzente zur richtigen Be- tonung dieser mannigfaltigen Unterschiede. Er benutzte die reichen Stimmungsmittel , die ihm Hauptmanns wundervolle Dichtung entgegenbrachte. Die drama-
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tischen Wirkungen des ganzen Werks gipfeln in den Szenen des vierten Aktes, wo die Kinder mit dem Tranenkruglein erscheinen und die versunkene Glocke zu erklingen beginnt. Aus der Wortdichtung heraus aber wuchs des Tonpoeten Charakterisierung des Haupt- triigers der Handlung, dessen Kunstlernatur nnd empor- strebender Geist zwischen den Einfliissen des Alltags und dem Ringen um ein reines, grosses Ideal bin und ber irren, um sicb scbliesslicb in Todessebnsucbt zu verzebren. Aucb Rautendelein ist in Zollners Fassung ein leibbaft musikaliscbes Portrait: es ist das Marcben selbst mit seinem lockenden Reiz, seinem traumver- wirrenden Zustande und dem Unbewussten in all seinem Tun und Lassen. Alle die vom Komponisten gegebenen lyriscben Momente gruppieren sicb um dieses blonde, entzuckende Hexlein — sie bilden die scbonsten Partien des Werkes uberbaupt. In gewolltem, scbarfem Gegen- satze zu diesen Stimmungsmomenten befinden sicb wieder andere Szenen und Cbaraktere, wie jene eines Nickelmann und Waldscbratt, wo sicb Zollners Be- gabung fiir scbarfe Zeicbnung des Realistiscl en und Derbkomiscben uberzeugend zu Tage tritt, obne aber sicb jemals uber eine gewisse, gegebene Scbonbeits- linie binwegzufliicbten. — Was im Allgemeinen Zollners , Faust" und „ Versunkene Glocke" auszeicbnet, ist der dieser Musik innewobnende grosse Ernst, ibr Anlauf zu den bedeutendsten Hoben und ibr ausgesprocben deutscber Gbarakter. Deutscbes Empfinden , deutscbe Gemiitstiefe, und deutscber Sinn sprecben allentbalben daraus zu dem Horer.
Druck von G. Kieysiug in Leipzig.
Verlag von C. F. KAHNT NACHFOLGER, LEIPZIG.
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Die Griindlicbkeit und Ausfiihrlichkeit, mit ■welclier Breithaupt seiue Belehrungen iiber Klaviertechnik mit alien dieselbe tangierenden Gebieten, also mit der Physik, mit der Physio- logie u. a. in Verbindung bringt , ist bisher un- erreicht. Das Werk ist bitter ernst zu nehmen,
feinen Beobachtungsgabe, in der richtigen Er- kenntnis wesentlicher, bisher unbeachteter Mo- mente. Unbedingt wird das Buch iiberall Auf- sehen erregen und noch weitere Auflagen er- leben. Die eminenten Yorziige sprechen dafiir.
A. r. Dorfzeitung, Hildburghausen.
denn es wird Tausenden jungen strebenden Pia- ' Dieses Werk beabsichtigt nichts mehr und
nisten den Kopf warm machen , die sich einge- pfercht sehen in die einseitige Methods ihres Professors.
General- Anzeiger, Crefeld.
Mit lebhaftera Interesse wird jeder Klavier- spieler Breithaupts Buch lesen , das eine grosse Umwalzung des Klavierspielunterrichts fiir un-
nichts weniger als eine vbllige Umgestaltung des KlavierunterrJchts. Ausgehend von der Tatsache , dass seitdem langst die alte Wiener Mechanik auf dem Klavier durch die englische verdriingt worden ist , ein einseitiges Studium der ausschliesslichen Finger- und Handgelenk- technik nicht nur sehr zeitraubeod und qiiiilend, sondern vollstandig nutzlos geworden ist, ent- abweisbar halt. Wer am eigenen Leibe das wickelt dieses Werk in klarer und Uberzeugender Unzweckmassige, zum Teil Yerwerfliche der Weise eine naturgemasse Methode, die die Aus- landlaufigen Methode erfahren hat, dem ist es bildung des ganzen Spielapparats von der klar, dass moderne Technik durch Fingerkraft Schulter bis zu den Fingern vornimmt und eug
erreichen unmbglich ist. ,,Die moderne Technik erreicht das freie forte durch losge- Ibstes Gewicht." Was der Verfasser mit klarer Logik und einleuchtender Xatiirlichkeit sagt, ist nicht etwa etwas Neues, sondern etwas Be- kanntes, aus der Praxis bedeutender Kiinstler Hergeleitetes. Das Interessante liegt in der
damit Tonbildung iind kunstgerechten Anschlag verbindet. Wenn nicht alles tiiuscht, so wird durch dieses Werk eine vollige Umwalzvmg auf klavier- padagogischem Gebiet hervorgerufen. Dem denkenden Klavierlehrer kann aber nicht dringend genug empfohlen werden , sich mit diesem neuen, wertvoUen Werk zu beschaftigen.
Ml.
V'