Nachrichten

der

Kirche

Oktober 1979

Der Geist

der

Brüderlichkeit

von Harry Bohler, Hoherrat im Pfahl Frankfurt

Liebe Brüder, liebe Schwestern, ich freue mich, daß ich in dieser besonderen Abendmahlsversammlung zu Ihnen sprechen darf. Denn es ist etwas Beson- deres, wenn sich Menschen, die verschie-

dene Sprachen sprechen und die ver- schiedenen Kulturen angehören, ge- meinsam versammeln. Und es ist etwas Besonderes, wenn die Versammelten sich mit Bruder oder Schwester anreden. Dies ist nichts Selbstverständliches. Vor einigen Jahren reiste ein westlicher Journalist nach Rumänien. In einem In- terview stellte er einem Mann auf der Straße die folgende Frage: „Wie ist das Verhältnis der Rumänen zu den Rus- sen? Sind die Russen eure Freunde oder sind sie eure Brüder?" Die Antwort lau- tete: „Natürlich sind sie unsere Brüder." Den Journalisten überraschte die Ant- wort, und er wölke eine nähere Erklä- rung. Der Mann erklärte: „Natürlich sind die Russen unsere Brüder, denn Freunde kann man sich aussuchen, Brü- der nicht!"

Nun, weil man sich seine Brüder und seine Schwestern nicht aussuchen kann, haben wir als Mitglieder der Kir- che eine Verpflichtung. Nephi lehrt uns im Buch Mormon den Grundsatz wah- rer Brüderlichkeit. Ich möchte daraus 2. Nephi 26:33 zitieren: „Er und Nephi spricht hier von Gott lädt alle ein, zu ihm zu kommen und seiner Güte teil- haftig zu werden; und er wehrt keinen, die zu ihm kommen wollen, ob Schwar- zen oder Weißen, Gebundenen oder Freien, Männern oder Frauen, Amerika- nern oder Deutschen, Italienern oder Griechen, Jugoslawen oder Spaniern, Russen oder Rumänen, Bayern oder Preußen, Armen oder Reichen; und er gedenkt der Heiden, und alle sind vor Gott gleich, sie seien Juden oder Nicht- juden."

Das Ideal der Brüderlichkeit ist Bestand- teil des Evangeliums. Es ist besonders in unserer Zeit notwendig, dieses Ideal zu verwirklichen. Unsere Zeit, die durch neuartige Verkehrsmittel die Menschen auf der ganzen Welt räumlich einander näher bringt, unsere Zeit, die durch ihre

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großen Städte die Menschen zu engem Zusammenleben zwingt, diese unsere Zeit verlangt notwendigerweise eine bessere Verständigung der Menschen auf geistigem Gebiet. Wir brauchen größere Einigkeit und mehr Harmonie. Wir als Heilige der Letzten Tage müssen Brük- ken der Verständigung zu unseren Mit- menschen bauen. Wir müssen Brücken- bauer, Pioniere sein, die für dieses Ideal einer weltweiten Bruderschaft kämpfen. Es gibt Hindernisse, die sich uns bei der Verwirklichung dieses Ideals entgegen- stellen, zum Beispiel die Sprache. Je- mand hat gesagt, die Sprache der Musik sei international. Jeder könne sie ver- stehen, ohne daß man sie zu übersetzen braucht. Das mag sein, aber ich möchte Ihnen eine andere Sprache offerieren, ebenfalls eine internationale Sprache. Eine Sprache, die jeder verstehen kann: Die Sprache der Liebe. Ein freundlicher Gruß, eine nette Geste, ein gütiges Lächeln, dazu bedarf es keiner Regeln und keiner Grammatik. „Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe un- tereinander habt", sagt Christus in Jo- hannes 13:35 zu seinen Jüngern. Liebe, die jedermann erkennen kann, ist also das Merkmal der wahren Kirche, unse- rer Kirche. Ich habe von der Sprache der Liebe gesprochen. Sprechen ist eine Tätigkeit, etwas Aktives. Sprechen ist das Gegenteil von Schweigen. Unsere Liebe muß sich bemerkbar machen, muß sich äußern, sich zeigen. Wir dürfen nicht einfach gleichgültig oder achtlos aneinander vorbeigehen, wenn wir uns im Gemeindehaus oder auf der Straße begegnen. Wir dürfen nicht gleichgültig nebeneinandersitzen und denken: „Mein Nächster wird schon merken, daß ich ihn liebe, ich tu' ihm ja nichts Böses, ich tret' ihm ja nicht auf die Füße, und wenn er mit mir spricht, gebe ich ja freundlich Antwort." Unsere Liebe muß

aktiv sein. Unsere Liebe muß trotz aller Innerlichkeit auch so äußerlich sein, daß jedermann erkennt, daß wir Liebe un- tereinander haben und Jünger Christi sind! Tätige Liebe verlangt etwas von uns. Beginnen wir mit dieser tätigen Liebe in unserer Umgebung, in unserer Gemeinde. Paulus hat in einem Schrei- ben an die Mitglieder in Rom einige Ratschläge gegeben, wie Menschen mit- einander umgehen sollen. Er hätte dies auch an uns schreiben können, lassen Sie mich deshalb frei aus dem 12. Kapi- tel dieses Briefes zitieren: „Liebe Brüder und liebe Schwestern, ich ermahne euch, daß ihr in der Kirche tätig seid, daß ihr euch Gott weiht und eurem Nächsten dient. Das sei euer ver- nünftiger Gottesdienst. Stellt euch nicht mit der Welt auf eine Stufe, sondern tut Buße. Ändert euch durch die Erneuerung eures Sinnes. Fin- det heraus, was Gott von euch möchte, nämlich das Gute, das Wohlgefällige, das Vollkommene.

Jedermann unter euch halte sich nicht für höher als seine Mitmenschen. Denn wie ein Leib viele verschiedene Glieder hat und alle notwendig braucht, so habt auch ihr verschiedene Gaben und die Gnade Gottes erhalten. Aber durch Christus seid ihr ein Leib. Hat jemand ein Amt erhalten, so übe er es recht aus. Ist jemand Lehrer, so lehre er recht. Wenn ihr Zehnten zahlt, Ge- meindefonds, Fastopfer oder Baufonds spendet, tut es mit lauterem Sinn. Hat jemand ein hohes Amt und muß An- ordnungen treffen, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er es mit Freude. Eure Liebe sei ohne Falsch. Haßt das Böse, strebt nach dem Guten. Die brüderliche Liebe unterein- ander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge, wenn ihr etwas tut. Seid brennend im Geist, dient dem Herrn.

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EINLADUNG

zum Fest der Künste

Künsfhandwerkiiche Ausstellung

Musikalische Unterhaltung und Schautänze

Ein Beispiel deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit

Seid fröhlich in der Hoffnung. Seid ge- duldig im Leiden. Betet immerdar. Lin- dert die Not der Heiligen. Nehmt gerne Gäste bei euch auf. Segnet und flucht nicht. Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden. Seid einig untereinander. Trachtet nicht nach Hohem, und haltet euch nicht selbst für klug. Vergeltet niemals Böses mit Bösem. Seid höflich gegen jedermann. Tut, was ihr könnt, damit ihr mit allen Menschen Frieden haben könnt. Laßt euch nicht vom Bösen überwältigen, sondern überwindet das Böse mit Gutem."

So schrieb Paulus an die Römer. Aber ich glaube, er könnte diesen Brief auch an uns heute geschrieben haben. Brüderlichkeit ist das Ziel des Evange- liums. Das zeigte uns Christus in vielen Gleichnissen und in vielen seiner

Predigten. Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten nannte er die beiden wichtigsten Gebote. Der Begriff „Nächster" umschließt die ganze Welt, nicht nur unsere Gemeinde oder die Mitglieder. Von uns soll diese die ganze Welt erfüllende Liebe ausgehen, wie Christus in einem seiner Gleichnisse sagt: „Das Himmelreich ist einem Sauer- teig gleich, den ein Weib nahm, ver- mengte ihn unter drei Scheffel Mehl, bis daß es ganz durchsäuert ward" (Mat- thäus 13:33).

Es ist unsere Aufgabe, die ganze Welt mit dem Ideal der Brüderlichkeit zu durchsäuern. Als Jesus seinen Jüngern das Gleichnis vom Unkraut erzählte, baten ihn seine Jünger um eine Erklä- rung. Und er sprach zu ihnen: „Des Menschen Sohn ist's, der da guten Sa- men sät. Der Acker ist die Welt" Mat- thäus 13:37, 38.

Der Acker ist die Welt. Deshalb ist es unsere Aufgabe, allen Menschen das Evangelium zu bringen, nicht nur einer bestimmten Gruppe. In der wahren Kir- che Christi darf es weder Klassen noch Rassenunterschiede geben. Denn Gott ist kein Anseher der Person, und er macht keinen Unterschied. Paulus zog daraus den logischen Schluß, als er sagte: „Oder ist Gott allein der Juden Gott? Ist er nicht auch der Heiden Gott? Ja freilich, auch der Heiden Gott. Denn es ist der eine Gott." (Römer 3:29, 30). Oder in unserer heutigen Zeit könnten wir fragen: „Wurde das Evangelium nur für die Amerikaner wiederhergestellt oder für alle? Natürlich für alle!" Ich bin froh und dankbar, daß zwei jun- ge Amerikaner vor mehr als 15 Jahren in ein für sie unbekanntes und fremdes Land reisten, um dort die Wiederher- stellung des Evangeliums zu verkündi- gen. So fanden sie auch unsere Tür, und meine Frau und ich verspürten ihre auf- richtige Liebe. Wir prüften ihre Bot-

schaft und erkannten die Wahrheit ihrer Worte. Die gleiche Liebe fanden wir bei den Mitgliedern, bei unseren neuen Brü- dern und Schwestern, und wir versuch- ten, diese Liebe zu erwidern. Neben dem Gedanken der brüderlichen Liebe legte Christus besonderen Wert auf das Befolgen der Gebote. Die Gebo- te, die er gegeben hat, gelten ebenfalls für alle Menschen ohne Rücksicht auf Rasse oder Nationalität. Diese Gebote verlangen von uns, demütig und reinen Herzens, friedfertig und liebevoll, groß- zügig und dankbar zu sein, anderen zu vergeben, sich nicht zu fürchten und nicht habsüchtig zu sein. Jeder von uns kennt das Gesetz, das beim Jüngsten Gericht Anwendung findet. Brüderliche Liebe ist seine Grundlage. Jeden einzel- nen Menschen sollen wir als Kind Got- tes sehen eine unendlich wertvolle Seele, für die wir bereitwillig Opfer auf uns nehmen sollen. Am Jüngsten Ge- richt zählt einmal nicht, was wir in der Welt für eine Stellung hatten, welch hohes Amt wir in der Kirche viele Jahre innehatten, wieviel Zeit wir in Sitzun- gen und Versammlungen zugebracht ha- ben. Am Ende unserer Tage zählt nur, in welchem Maße wir brüderliche Liebe verwirklicht haben.

In dem Maße, in dem neuartige Erfin- dungen die Welt kleiner machen, in dem Maße müssen wir größer werden. Wir haben in unserer Zeit die Möglichkeit, die Grundsätze des Evangeliums in der ganzen Welt zur Anwendung zu brin- gen. „Der Acker ist die Welt", „Vor Gott sind wir alle gleich", „Ihr seid das Salz der Erde", „Ihr seid das Licht der Welt". „Darum geht hin und lehrt alle Völker und tauft sie." Alle diese Aus- sprüche von Christus bedeuten im Grunde genommen nur eines: Brüder- lichkeit.

Ich möchte einige Sätze aus einer Rede Ezra Taft Bensons zitieren, einem Apo-

stel unseres Herrn Jesus Christus: „In der Kirche herrscht der wahre Geist der Brüderlichkeit. Er ist mächtig, unfaßbar, aber doch wirklich. Ich habe überall das- selbe Gefühl, wenn wir die Pfähle und Gemeinden Zions und die Missionen der Erde bereisen. Wo wir auch hinkom- men, immer ist das Gefühl der Kame- radschaft und Brüderlichkeit da. Es ist eines der schönsten Dinge in der Kirche und im Reiche Gottes. Ich habe es weit draußen in Alaska ver- spürt, als ich unsere Brüder und Schwe- stern dort traf. Ich spürte es weit weg in Ostpreußen, in den europäischen Mis- sionen, in Mexiko, auf den Inseln des Meeres und in diesem Lande Zion. Die Brüderlichkeit ist wirklich da. Ich weiß, meine Brüder und Schwestern, sie ist noch nicht das, was sie sein sollte. Sie ist noch nicht, wie der Herr sie wünscht, aber trotzdem gibt es nichts auf der gan- zen Welt, was ihr gleichkommt. Sie ist eines der Ziele auf dem Wege zur Gött- lichkeit, und ich erfreue mich daran. Das Wichtigste für mich ist der Geist dieses großen Werkes, an dem wir teilhaben. Es ist der Geist, der unserer Seele eine Überzeugung von der Göttlichkeit die- ses Werkes bringt. Man kann ihn nicht ganz erklären, und doch ist er wirklich und mächtig." Soweit Ezra Taft Benson. Brüderlichkeit wächst zunächst im Schöße der Familie, in der Nachbar- schaft, in der Gemeinde. Wir brauchen Glauben an die Lehren des Evangeliums, wenn unsere Liebe über diese Grenzen hinauswachsen soll. Als Heilige der Letzten Tage glauben wir, daß Gott un- ser aller Vater ist, daß wir Menschen seine Kinder sind, und darum sind wir alle Brüder. Oder wie Nephi feststellte: „Wir sind nicht mehr Juden oder Nicht- juden, nicht mehr Freie oder Gebunde- ne. Wir sind vor Gott alle gleich." Im Namen Jesu Christi. Amen.

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