0 c == N IT — N Te > 6 — D 0 > . 1 — — — > FT, = 8 Ha) Wie I A me — ae: Ss 2899 100 1080 0 Hanuman 10HM/ TAU ir» af als N. n a \ * 1 1 1 1 . N a 77 . 175 e ten wi | natürliche Schöpfungsgeſchichte. Gemeinverſtändliche wiſſenſchaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Beſonderen. Von Dr. Eruſt Haeckel Profeſſor an der Univerſität Jena. Vierte verbeſſerte Auflage. Mit 16 Tafeln, 19 Holzſchnitten, 18 Stammbäumen und 19 ſyſtematiſchen Tabellen. Berlin, 8 Verlag von Georg Reimer. ingen 4 . 2 * 5 2 Ä 7 En: EEE 3 n nee eat rd re Das ueberſesungsrecht wird vorbehalten. . ‚aka Ben EV 2 7 * Allgemeines Inhaltsverzeichniß Erſter Abſchnitt: Hiſtoriſcher Theil. (J. VI. Vortrag.) Geſchichte der Entwickelungslehre. I. Vortrag. Inhalt und Bedeutung der Abſtammungslehre oder Defcen- Seite denztheorie . . 1 II. Vortrag. Wiſſenſchaftliche Berechtigung t der Deſtendenztheorke Schb⸗ N 8 pfungsgeſchichte nach Linne . III. Vortrag. Schöpfungsgeſchichte nach Cuvier und Agaſſtz e IV. Vortrag. Entwickelungstheorie von Goethe und OB ken 65 V. Vortrag. Entwickelungstheorie von Kant und Lamarck... 89 VI. Vortrag. Entwickelungstheorie von Lyell und Darwin. . 111 Zbweiter Abſchnitt: Darwiniſtiſcher Theil. (VII. XI. Vortrag.) Der Darwinismus oder die Seleetionstheorie. VII. Vortrag. Die Züchtungslehre oder Selectionstheorie. (Der Darwi⸗ Miss.) 5% ͤ RE VIII. Vortrag. Vererbung und hehe A R IX. Vortrag. Vererbungsgeſetze. Anpaſſung und Ernährung. n X. Vortrag. Anpaſſungsgeſetze . 203 Kl. Vortrag. Die natürliche Züchtung durch ber Kampf ums Dasein. 1 Arbeitstheilung und Fortſchritttt 2 2 2 225 = 2 * IV Allgemeines Inhaltsverzeichniß. Dritter Abſchnitt: Kosmogenetiſcher Theil. (XII XV. Vortrag.) Grundzüge und Grundgeſetze der Entwickelungslehre. eite XII. Vortrag. Entwickelungsgeſetze der organiſchen Stämme und Indi⸗ 5 viduen. Phylogenie und Ontogenie . 3 XIII. Vortrag. Entwickelungstheorie des Weltalls und der Site, Fe gung. Kohlenſtofftheorie. Plaſtidentheorie . . . 281 XIV. Vortrag. Wanderung und Verbreitung der Organismen. Die Cho⸗ rologie und die Eiszeit der Erde . 311 XV. Vortrag. Schöpfungsperioden und Schöpfungsurkunden . 333 Vierter Abſchnitt: Phylogenetiſcher Theil. (XVI— XXI. Vortrag.) Die Phylogenie oder Stammesgeſchichte der Organismen. XVI. Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Protiſtenreich. .. 364 XVII Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Pflanzenreichs .. 400 XVIII. Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. I. Urthiere, Pflanzenthiere, Wurmthiere . 435 XIX. Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. II. Weichthiere, Sternthiere, Gliederthiere .. 468 XX. Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. III. Wirbelthiere -» R XXI. Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. IV. Sängethiere uns 1 > «DR Fünfter Abſchnitt: 1 el (XXI XXIV. Vortrag.) Die Anwendung der Entwickelungslehre auf den Menſchen. XXII. Vortrag. Urſprung und Stammbaum des Menſchen .. . 564 XXIII. Vortrag. Wanderung und Verbreitung des Menſchengeſchlechts. Meuſchenarten und Menſchenraſſen - 53328 XXIV. Vortrag. Einwände gegen und Beweiſe für die Wahrheit der Desen. denzther re 25 77 BSEHEREeEn De 7 EEE Beſonderes Inhaltsverzeichniß. Vorwort zur erſten Auflage Vorwort zur dritten Auflaghnite ge Vorwort zur vierten Auflage Die Natur (Goethe, 178hhõ » » 2 2 2 nee. Erſter Vortrag. Inhalt und Bedeutung der Abſtammungslehre oder De⸗ ſcendenztheorie x Allgemeine Bedeutung und weſentlcher Juhalt der von 1 imer ER mirten Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie. Beſondere Bedeutung der- ſelben für die Biologie (Zoologie und Botanik). Beſondere Bedeutung der- ſelben für die natürliche Entwickelungsgeſchichte des Menſchengeſchlechts. Die Abſtammungslehre als natürliche Schöpfungsgeſchichte. Begriff der Schö- pfung. Wiſſen und Glauben. Schöpfungsgeſchichte und Entwickelungsge⸗ ſchichte. Zuſammenhang der individuellen und paläontologiſchen Entwicke⸗ lungsgeſchichte. Unzweckmäßigkeitslehre oder Wiſſenſchaft von den rudimen⸗ tären Organen. Unnütze und überflüſſige Einrichtungen im Organismus. Gegenſatz der beiden grundverſchiedenen Weltanſchauungen, der moniſtiſchen (mechaniſchen, cauſalen) und der dualiſtiſchen (teleologiſchen, vitalen). Be⸗ gründung der erſteren durch die Abſtammungslehre. Einheit der organi⸗ ſchen und anorganiſchen Natur, und Gleichheit der wirkenden Urſachen in Beiden. Bedeutung der Abſtammungslehre für die einheitliche (moniſtiſche) Auffaſſung der ganzen Natur. Zweiter Vortrag. Wiſſenſchaftliche Berechtigung der Deſeendenztheorie. Schöpfungsgeſchichte nach Linné Die Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie als bie einheitliche Er. 22 VI Beſonderes Inhaltsverzeichniß. klärung der organiſchen Naturerſcheinungen durch natürlich wirkende Urſachen. Vergleichung derſelben mit Newton's Gravitationstheorie. Grenzen der wiſ— ſenſchaftlichen Erklärung und der menſchlichen Erkenntniß überhaupt. Alle Erkenntniß urſprünglich durch ſinnliche Erfahrung bedingt, apoſteriori. Uebergang der apoſterioriſchen Erkenntniſſe durch Vererbung in aprioriſche Erkenntniſſe. Gegenſatz der übernatürlichen Schöpfungshypotheſen von Linne, Cuvier, Agaſſiz, und der natürlichen Entwickelungstheorien von Lamarck, Goethe, Darwin. Zuſammenhang der erſteren mit der moniſtiſchen (mecha— niſchen), der letzteren mit der dualiſtiſchen (teleologiſchen) Weltanſchauung. Monismus und Materialismus. Wiſſenſchaftlicher und ſittlicher Materialis⸗ mus. Schöpfungsgeſchichte des Moſes. Linns als Begründer der ſyſtema⸗ tiſchen Naturbeſchreibung und Artunterſcheidung. Linns's Claſſifikation und binäre Nomenclatur. Bedeutung des Speciesbegriffs bei Linné. Seine Schöpfungsgeſchichte. Linné's Anſicht von der Entſtehung der Arten. Dritter Vortrag. Schöpfungsgeſchichte nach Cuvier und Agaſſiz Allgemeine theoretiſche Bedeutung des Speciesbegriffs. Unterſchied in der theoretiſchen und praktiſchen Beſtimmung des Artbegriffs. Cuvier's De- finition der Species. Cuvier's Verdienſte als Begründer der vergleichenden Anatomie. Unterſcheidung der vier Hauptformen (Typen oder Zweige) des Thierreichs durch Cuvier und Bär. Cuvier's Verdienſte um die Paläonto⸗ logie. Seine Hypotheſe von den Revolutionen des Erdballs und den durch dieſelben getrennten Schöpfungsperioden. Unbekannte, übernatürliche Urſa⸗ chen dieſer Revolutionen und der darauf folgenden Neuſchöpfungen. Teleo⸗ logiſches Naturſyſtem von Agaſſiz. Seine Vorſtellungen vom Schöpfungs⸗ plane und deſſen ſechs Kategorien (Gruppenſtufen des Syſtems). Agaſſiz' Anſichten von der Erſchaffung der Species. Grobe Vermenſchlichung (An- thropomorphismus) des Schöpfers in der Schöpfungshypotheſe von Agaſſiz. Innere Uuhaltbarkeit derſelben und Widerſprüche mit den von Agaſſiz ent- deckten wichtigen paläontologiſchen Geſetzen. Vierter Vortrag. Entwickelungstheorie von Goethe und Oken Wiſſenſchaftliche Unzulänglichkeit aller Vorſtellungen von einer Schöpfung der einzelnen Arten. Nothwendigkeit der entgegengeſetzten Entwidelungstheo- Seite 43 65 Beſonderes Inhaltsverzeichniß. rien. Geſchichtlicher Ueberblick über die wichtigſten Entwickelungstheorien. Ariſtoteles. Seine Lehre von der Urzeugung. Die Bedeutung der Natur⸗ philoſophie. Goethe. Seine Verdienſte als Naturforſcher. Seine Meta— morphoſe der Pflanzen. Seine Wirbeltheorie des Schädels. Seine Ent- deckung des Zwiſchenkiefers beim Menſchen. Goethe's Theilnahme an dem Streite zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. Goethe's Entdeckung der beiden organiſchen Bildungstriebe, des konſervativen Specifikationstriebes (der Vererbung) und des progreſſiven Umbildungstriebes (der Anpaſſung). Goethe's Anſicht von der gemeinſamen Abſtammung aller Wirbelthiere mit Inbegriff des Menſchen. Entwickelungstheorie von Gottfried Reinhold Treviranus. Seine moniſtiſche Naturauffaſſung. Oken. Seine Naturphiloſophie. Oken's Vorſtellung vom Urſchleim (Protoplasmatheorie). Oken's Vorſtellung von den Infuſorien (Zellentheorie). Oken's Entwickelungstheorie. Fünfter Vortrag. Entwickelungstheorie von Kant und Lamarck un. Kant's dualiſtiſche Biologie. Seine Anſicht von der Entſtehung der An⸗ organe durch mechaniſche, der Organismen durch zweckthätige Urſachen. Wider⸗ ſpruch dieſer Anſicht mit ſeiner Hinneigung zur Abſtammungslehre. Kant's genealogiſche Entwickelungstheorie. Beſchränkung derſelben durch feine Te- leologie. Vergleichung der genealogiſchen Biologie mit der vergleichenden Sprachforſchung. Anſichten zu Gunſten der Deſcendenztheorie von Leopold Buch, Bär, Schleiden, Unger, Schaafhauſen, Victor Carus, Büchner. Die franzöſiſche Naturphiloſophie. Lamarck's Philoſophie zoologique. Lamarck's moniſtiſches (mechaniſches) Naturſyſtem. Seine Anſichten von der Wechſel— wirkung der beiden organiſchen Bildungskräfte, der Vererbung und Anpaſ— ſung. Lamarck's Anſicht von der Entwickelung des Menſchengeſchlechts aus affenartigen Säugethieren. Vertheidigung der Deſcendenztheorie durch Geof- froy S. Hilaire, Naudin und Lecog. Die engliſche Naturphiloſophie. An⸗ ſichten zu Gunſten der Deſcendenztheorie von Erasmus Darwin, Grant, Herbert Spencer, Hooker, Huxley. Doppeltes Verdienſt von Charles Darwin. Sechſter Ader. e von Lyell und Darwin bg Charles Lyell's Grundſätze der Geologie. Seine natürliche Entwicke— lungsgeſchichte der Erde. Entſtehung der größten Wirkungen durch Sum⸗ VII Seite 89 VIII Beſonderes Inhaltsverzeichniß. mirung der kleinſten Urſachen. Unbegrenzte Länge der geologiſchen Zeit⸗ räume. Lyell's Widerlegung der Cuvier'ſchen Schöpfungsgeſchichte. Begrün⸗ dung des ununterbrochenen Zuſammenhangs der geſchichtlichen Entwickelung durch Lyell und Darwin. Biographiſche Notizen über Charles Darwin. Seine wiſſenſchaftlichen Werke. Seine Korallenrifftheorie. Entwickelung der Selectionstheorie. Ein Brief von Darwin. Gleichzeitige Veröffentli- chung der Selectionstheorie von Charles Darwin und Alfred Wallace. Dar⸗ win's Studium der Hausthiere und Culturpflanzen. Andreas Wagner's Anſicht von der beſonderen Schöpfung der Culturorganismen für den Men⸗ ſchen. Der Baum des Erkenntniſſes im Paradies. Vergleichung der wil- den und der Culturorganismen. Darwin's Studium der Haustauben. Bedeutung der Taubenzucht. Gemeinſame Abſtammung aller Tauben⸗ raſſen. Siebenter Vortrag. Die Züchtungslehre oder Selectionstheorie. (Der Dar⸗ ma ꝶ,⸗;=;ꝛ¶ c ð : Darwinismus (Selectionstheorie) und Lamarckismus Weſtenden hebt. Der Vorgang der künſtlichen Züchtung: Ausleſe (Selection) der verſchiede⸗ nen Einzelweſen zur Nachzucht. Die wirkenden Urſachen der Umbildung: Abänderung, mit der Ernährung zuſammenhängend, und Vererbung, mit der Fortpflanzung zuſammenhängend. Mechaniſche Natur dieſer beiden phyſiologiſchen Functionen. Der Vorgang der natürlichen Züchtung: Aus⸗ leſe (Selection) durch den Kampf um's Daſein. Malthus' Bevölkerungs⸗ theorie. Mißverhältniß zwiſchen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der wirklichen (actuellen) Individuen jeder Organismenart. Allgemeiner Wettkampf um die Exiſtenz, oder Mitbewerbung um die Erlangung der nothwendigen Lebensbedürfniſſe. Umbildende und züchtende Kraft dieſes Kampfes um's Daſein. Vergleichung der natürlichen und der künſtlichen Züchtung. Zuchtwahl im Menſchenleben. Militäriſche und medieiniſche Züchtung. Achter Vortrag. Vererbung und Fortpflanzung 5 Allgemeinheit der Erblichkeit und der Vererbung. Auffalende beſondere Aeußerungen derſelben. Menſchen mit vier, ſechs oder ſieben Fingern und Zehen. Stachelſchweinmenſchen. Vererbung von Krankheiten, namentlich von Seite 133 157 Beſonderes Inhaltsverzeichniß. Geiſteskrankheiten. Erbſünde. Erbliche Monarchie. Erbadel. Erbliche Ta⸗ lente und Seeleneigenſchaften. Materielle Urſachen der Vererbung. Zuſam⸗ menhang der Vererbung mit der Fortpflanzung. Urzeugung und Fortpflan⸗ zung. Ungeſchlechtliche oder monogene Fortpflanzung. Fortpflanzung durch Selbſttheilung. Moneren und Amoeben. Fortpflanzung durch Knospenbil⸗ dung, durch Keimknospenbildung und durch Keimzellenbildung. Geſchlechtliche oder amphigone Fortpflanzung. Zwitterbildung oder Hermaphroditismus. Geſchlechtstrennung oder Gonochorismus. Jungfräuliche Zeugung oder Par- thenogeneſis. Materielle Uebertragung der Eigenſchaften beider Eltern auf das Kind bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung. Unterſchied der Vererbung bei der geſchlechtlichen und bei der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung. Neunter Vortrag. Vererbungsgeſetze. Anpaſſung und Ernährung Unterſcheidung der erhaltenden und fortſchreitenden Vererbung. Geſetze der erhaltenden oder conſervativen Erblichkeit: Vererbung ererbter Charaf- tere. Ununterbrochene oder continuirliche Vererbung. Unterbrochene oder latente Vererbung. Generationswechſel. Rückſchlag. Verwilderung. Ge⸗ ſchlechtliche oder ſexuelle Vererbung. Secundäre Sexualcharaktere. Ge⸗ miſchte oder amphigone Vererbung. Baſtardzeugung. Abgekürzte oder ver- einfachte Vererbung. Geſetze der fortſchreitenden oder progreſſiven Erblich⸗ keit: Vererbung erworbener Charaktere. Angepaßte oder erworbene Verer⸗ bung. Befeſtigte oder conſtituirte Vererbung. Gleichzeitliche oder homo⸗ chrone Vererbung. Gleichörtliche oder homotope Vererbung. Anpaſſung und Veränderlichkeit. Zuſammenhang der Anpaſſung und der Ernährung. Unterſcheidung der indirecten und directen Anpaſſung. Zehnter Vortrag. Anpaſſungsgeſetze 5 Geſetze der indirecten oder potentiellen Anpaſſung. Individuelle Anpaf. ſung. Monſtröſe oder ſprungweiſe Anpaſſung. Geſchlechtliche oder ſexuelle Anpaſſung. Geſetze der directen oder actuellen Anpaſſung. Allgemeine oder univerſelle Anpaſſung. Gehäufte oder cumulative Anpaſſung. Gehäufte Ein⸗ wirkung der äußeren Exiſtenzbedingungen und gehäufte Gegenwirkung des Organismus. Der freie Wille. Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Uebung und Gewohnheit. Wechſelbezügliche oder correlative Anpaſſung. Wech⸗ IX Seite 182 203 Ei Beſonderes Inhaltsverzeichniß. ſelbeziehungen der Entwickelung. Correlation der Organe. Erklärung der indirecten oder potentiellen Anpaſſung durch die Correlation der Geſchlechts— organe und der übrigen Körpertheile. Abweichende oder divergente Anpaj- ſung. Unbeſchränkte oder unendliche Anpaſſung. Elfter Vortrag. Die natürliche Züchtung durch den Kampf um's Daſein. Arbeitstheilung und Fortſchritt Wechſelwirkung der beiden organiſchen Bildungstriebe, der ene wi Anpaſſung. Natürliche und künſtliche Züchtung. Kampf um's Daſein oder Wettkampf um die Lebensbedürfniſſe. Mißverhältniß zwiſchen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der Zahl der wirkichen (actuellen) Individuen. Verwickelte Wechſelbeziehungen aller benachbarten Organismen. Wirkungs- weiſe der natürlichen Züchtung. Gleichfarbige Zuchtwahl als Urſache der ſym— pathiſchen Färbungen. Geſchlechtliche Zuchtwahl als Urſache der ſecundären Sexualcharaktere. Geſetz der Sondernng oder Arbeitstheilung (Polymorphis⸗ mus, Differenzirung, Divergenz des Charakters). Uebergang der Varietäten in Species. Begriff der Species. Baſtardzeugung. Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung (Progreſſus, Teleoſis). Zwölfter Vortrag. Entwickelungsgeſetze der organiſchen Stämme und Indi⸗ viduen. Phylogenie und Ontogenie e eee Entwickelungsgeſetze der Menſchheit: Differenzirung und Vervollkomm— nung. Mechaniſche Urſache dieſer beiden Grundgeſetze. Fortſchritt ohne Dif— ferenzirung und Differenzirung ohne Fortſchritt. Entſtehung der rudimen— tären Organe durch Nichtgebrauch und Abgewöhnung. Ontogeneſis oder in— dividuelle Entwickelung der Organismen. Allgemeine Bedeutung derſelben. Ontogenie oder individuelle Entwickelungsgeſchichte der Wirbelthiere, mit In⸗ begriff des Menſchen. Eifurchung. Bildung der dreissteimblätter. Ent⸗ wickelungsgeſchichte des Centralnervenſyſtems, der Extremitäten, der Kiemen⸗ bogen und des Schwanzes bei den Wirbelthieren. Urſächlicher Zuſammen⸗ hang und Parallelismus der Ontogeneſis und Phylogeneſis, der individuellen und der Stammesentwickelung. Urſächlicher Zuſammenhang und Parallelis⸗ mus der Phylogeneſis und der ſyſtematiſchen Entwickelung. Parallelismus der drei organiſchen Entwickelungsreihen. Seite 225 250 Beſonderes Inhaltsverzeichniß. Dreizehnter Vortrag. Entwickelungstheorie des Weltalls und der Erde. Ur⸗ zeugung. Kohlenſtofftheorie. Plaſtidentheorie Entwickelungsgeſchichte der Erde. Kant's Entwickelungstheorie des Welt— alls oder die kosmologiſche Gastheorie. Entwickelung der Sonnen, Planeten und Monde. Erſte Entſtehung des Waſſers. Vergleichung der Organismen und Anorgane. Organiſche und anorganiſche Stoffe. Dichtigkeitsgrade oder Aggregatzuſtände. Eiweißartige Kohlenſtoffverbindungen. Organiſche und an⸗ organiſche Formen. Kryſtalle und ſtructurloſe Organismen ohne Organe. Stereometriſche Grundformen der Kryſtalle und der Organismen. Organiſche und anorganiſche Kräfte. Lebenskraft. Wachsthum und Anpaſſung bei Kry- ſtallen und bei Organismen. Bildungstriebe der Kryſtalle. Einheit der or⸗ ganiſchen und anorganiſchen Natur. Urzeugung oder Archigonie. Autogonie und Plasmogonie. Entſtehung der Moneren durch Urzeugung. Entſtehung der Zellen aus Moneren. Zellentheorie. Plaſtidentheorie. Plaſtiden oder Bildnerinnen. Cytoden und Zellen. Vier verſchiedene Arten von Plaſtiden. Vierzehnter Vortrag. Wanderung und Verbreitung der Organismen. Die Cho⸗ rologie und die Eiszeit der Erde Chorologiſche Thatſachen und Urſachen. Einmalige Entſtehung der mei- ſten Arten an einem einzigen Orte: „Schöpfungsmittelpunkte“. Ausbreitung durch Wanderung. Active und paſſive Wanderungen der Thiere und Pflan⸗ zen. Transportmittel. Transport der Keime durch Waſſer und Wind. Beſtändige Veränderung der Verbreitungsbezirke durch Hebungen und Sen— kungen des Bodens. Chorologiſche Bedeutung der geologiſchen Vorgänge. Einfluß des Klima-Wechſels. Eiszeit oder Glacial-Periode. Ihre Bedeu— tung für die Chorologie. Bedeutung der Wanderungen für die Entſtehung neuer Arten. Iſolirung der Koloniſten. Wagner's „Migrationsgeſetz“. Verhältniß der Migrationstheorie zur Selectionstheorie. Uebereinſtimmung ihrer Folgerungen mit der Deſcendenztheorie. Fünfzehnter Vortrag. Schöpfungsperioden und Schöpfungsurkunden k Reform der Syſtematik durch die Deſcendenztheorie. Das natürliche Sy— ſtem als Stammbaum. Paläontologiſche Urkunden des Stammbaumes. Die XI Seite 281 311 333 XI Beſonderes Inhaltsverzeichniß. Verſteinerungen als Denkmünzen der Schöpfung. Ablagerung der neptuni⸗ ſchen Schichten und Einfluß der organiſchen Reſte. Eintheilung der orga⸗ niſchen Erdgeſchichte in fünf Hauptperioden: Zeitalter der Tangwälder, Farn⸗ wälder, Nadelwälder, Laubwälder und Culturwälder. Syſtem der neptuni⸗ ſchen Schichten. Unermeßliche Dauer der während ihrer Bildung verfloſſenen Zeiträume. Ablagerung der Schichten nur während der Senkung, nicht wäh⸗ rend der Hebung des Bodens. Andere Lücken der Schöpfungsurkunde. Me⸗ tamorphiſcher Zuſtand der älteſten neptuniſchen Schichten. Geringere Ausdeh- nung der paläontologiſchen Erfahrungen. Geringer Bruchtheil der verſteine⸗ rungsfähigen Organismen und organiſchen Körpertheile. Seltenheit vieler verſteinerten Arten. Mangel foſſiler Zwiſchenformen. Die Schöpfungsur⸗ kunden der Ontogenie und der vergleichenden Anatomie. Sechszehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Protiſtenreichs Specielle Durchführung der Deſcendenztheorie in dem natürlichen Syſtem der Organismen. Conſtruktion der Stammbäume. Abſtammung aller mehr- zelligen Organismen von einzelligen. Abſtammung der Zellen von Mone— ren. Begriff der organiſchen Stämme und Phylen. Zahl der Stämme des Thierreichs und des Pflanzenreichs. Einheitliche oder monophyletiſche und vielheitliche oder polyphyletiſche Deſcendenzhypotheſe. Das Reich der Pro- tiſten oder Urweſen. Acht Klaſſen des Protiſtenreichs. Moneren. Amoe⸗ boiden oder Protoplaſten. Geißelſchwärmer oder Flagellaten. Flimmerku⸗ geln oder Katallakten. Labyrinthläufer oder Labyrinthuleen. Kieſelzellen oder Diatomeen. Schleimpilze oder Myxomyceten. Wurzelfüßer oder Rhizo⸗ poden. Bemerkungen zur allgemeinen Naturgeſchichte der Protiſten: Ihre Lebenserſcheinungen, chemiſche Zuſammenſetzung und Formbildung (Indivi⸗ dualität und Grundform). Phylogenie des Protiſtenreichs. Siebenzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Pflanzenreichs Das natürliche Syſtem des Pflanzenreichs. Eintheilung des Pflanzen⸗ reichs in ſechs Hauptklaſſen und neunzehn Klaſſen. Unterreich der Blumen⸗ loſen (Cryptogamen). Stammgruppe der Thalluspflanzen. Zange oder Al⸗ gen (Urtange, Grüntange, Brauntange, Rothtange, Mostange). Fadenpflan⸗ zen oder Inophyten (Flechten und Pilze). Stammgruppe der Prothallus⸗ Seite 364 400 Beſonderes Inhaltsverzeichniß. pflanzen. Moſe oder Muscinen (Lebermoſe, Laubmoſe). Farne oder Filicinen (Laubfarne, Schaftfarne, Waſſerfarne, Zungenfarne, Schuppenfarne). Unter⸗ reich der Blumenpflanzen (Phanerogamen). Nacktſamige oder Gymnoſper⸗ men. Palmfarne (Cycadeen). Nadelhölzer (Coniferen). Meningos (Gneta⸗ ceen). Deckſamige oder Angioſpermen. Monocotylen. Dicotylen. Kelch⸗ blüthige (Apetalen). Sternblüthige (Diapetalen). Glockenblüthige (Gamope⸗ talen). Achtzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. I. Urthiere, Pflanzenthiere, Wurmthiere 5 5 Das natürliche Syſtem des Thierreichs. e von Linne das La. marck. Die vier Typen von Bär und Cuvier. Vermehrung derſelben auf ſieben Typen. Genealogiſche Bedeutung der ſieben Typen als ſelbſtſtändiger Stämme des Thierreichs. Monophyletiſche und polyphyletiſche Defcendenz- hypotheſe des Thierreichs. Abſtammung der Pflanzenthiere und Würmer von den Urthieren. Gemeinſamer Urſprung der vier höheren Thierſtämme aus dem Würmerſtamm. Eintheilung der ſieben Thierſtämme in 16 Haupt⸗ klaſſen und 38 Klaſſen. Stamm der Urthiere. Urahnthiere (Moneren, Amoeben, Synamoeben). Gregarinen. Infuſionsthiere. Planäaden und Gaſträaden (Planula und Gaſtrula). Stamm der Pflanzenthiere. Schwämme oder Spongien (Schleimſchwämme, Faſerſchwämme, Kalkſchwämme). Neſſel⸗ thiere oder Akalephen (Korallen, Schirmquallen, Kammquallen). Stamm der Wurmthiere. Plattwürmer. Rundwürmer. Mosthiere. Mantelthiere. Rüſſelwürmer. Sternwürmer. Räderwürmer. Ringelwürmer. Ueunzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. II. Weich⸗ thiere, Sternthiere, Gliederthiere ; : Stamm der Weichthiere oder Mollusken. Vier Klaſſen 55 Weichthere: Taſcheln (Spirobranchien). Muſcheln (Lamellibranchien). Schnecken (Cochli⸗ den). Kracken (Cephalopoden). Stamm der Sternthiere oder Echinodermen. Abſtammung derſelben von den gegliederten Würmern (Panzerwürmern oder Phraktelminthen). Generationswechſel der Echinodermen. Vier Klaſſen der Sternthiere: Seeſterne (Aſteriden). Seelilien (Krinoiden). Seeigel (Echiniden). Seegurken (Holothurien). Stamm der Gliederthiere oder Arthropoden. Vier Klaſſen der Gliederthiere. Kiemenathmende Gliederthiere oder Cruſtaceen. Seite 435 468 XIV Beſonderes Inhaltsverzeichniß. (Gliederkrebſe, Panzerkrebſe). Luftröhrenathmende Gliederthiere oder Trachea⸗ ten. Spinnen (Streckſpinnen, Rundſpinnen). Tauſendfüßer. Inſecten. Kauende und ſaugende Inſecten. Stammbaum und Geſchichte der acht In⸗ ſecten-Ordnungen. Zwanzigſter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. III. Wirbel⸗ i ͤ V F ̃˙ ˙G;“X᷑ Die Schöpfungsurkunden der Wirbelthiere. (Vergleichende Anatomie, Embryologie und Paläontologie.) Das natürliche Syſtem der Wirbelthiere. Die vier Klaſſen der Wirbelthiere von Linns und Lamarck. Vermehrung der- ſelben auf neun Klaſſen. Hauptklaſſe der Rohrherzen oder Schädelloſen (Lan— zetthiere). Blutsverwandtſchaft der Schädelloſen mit den Mantelthieren. Ueber- einſtimmung der embryonalen Entwickelung von Amphioxus und von den Ascidien. Urſprung des Wirbelthierſtammes aus der Würmergruppe. Haupt⸗ klaſſe der Unpaarnaſen oder Rundmäuler (Inger und Lampreten). Haupt⸗ klaſſe der Anamnien oder Amnionloſen. Fiſche (Urfiſche, Schmelzfiſche, Kno⸗ chenfiſche). Lurchfiſche oder Dipneuſten. Seedrachen oder Haliſaurier. Lurche oder Amphibien (Panzerlurche, Nacktlurche). Hauptklaſſe der Amnionthiere oder Amnioten. Reptilien (Stammreptilien, Eidechſen, Schlangen, Crocodile, Schildkröten, Flugreptilien, Drachen, Schnabelreptilien). Vögel (Fieder- ſchwänzige, Fächerſchwänzige, Büſchelſchwänzige). Einundzwanzigſter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. IV. Säuge⸗ iche e 1 era e ehr. en eu Syſtem der Säugethiere nach Linns und nach Blainville. Drei Unter⸗ klaſſen der Säugethiere (Ornithodelphien, Didelphien, Monodelphien). Orni⸗ thodelphien oder Monotremen. Schnabelthiere (Ornithoſtomen). Didelphien oder Marſupialien. Pflanzenfreſſende und fleiſchfreſſende Beutelthiere. Mo⸗ nodelphien oder Placentalien (Placentalthiere). Bedeutung der Placenta. Zottenplacentner. Gürtelplacentner. Scheibenplacentner. Deciditalofe oder Indeciduen. Hufthiere. Unpaarhufer und Paarhufer. Walthiere. Zahn⸗ arme. Deeiduathiere oder Deciduaten. Halbaffen. Nagethiere. Schein⸗ hufer. Inſectenfreſſer. Raubthiere. Flederthiere. Affen. Seite 502 536 Beſonderes Inhaltsverzeichniß. Zweiundzwanzigſter Vortrag. Urſprung und Stammbaum des Menſchen x Die Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Menſchen. Unermeßliche Bedeutung und logiſche Nothwendigkeit derſelben. Stellung des Menſchen im natürlichen Syſtem der Thiere, insbeſondere unter den discoplacentalen Säugethieren. Unberechtigte Trennung der Vierhänder und Zweihänder. Be— rechtigte Trennung der Halbaffen von den Affen. Stellung des Menſchen in der Ordnung der Affen. Schmalnaſen (Affen der alten Welt) und Platt- naſen (amerikaniſche Affen). Unterſchiede beider Gruppen. Entſtehung des Menſchen aus Schmalnaſen. Menſchenaffen oder Anthropoiden. Afrikaniſche Menſchenaffen (Gorilla und Schimpanſe). Aſiatiſche Menſchenaffen (Orang und Gibbon). Vergleichung der verſchiedenen Menſchenaffen und der ver— ſchiedenen Menſchenraſſen. Ueberſicht der Ahnenreihe des Menſchen. Wirbel- loſe Ahnen (Prochordaten) und Wirbelthier-Ahnen. Dreiundzwanzigſter Vortrag. Wanderung und Verbreitung des Menſchengeſchlechts. Menſchenarten und Menſchenraſſen ir Alter des Menſchengeſchlechts. Urſachen der Entſtehung deſſelben. Der Urſprung der menſchlichen Sprache. Einſtämmiger (monophyletiſcher) und vielſtämmiger (polyphyletiſcher) Urſprung des Menſchengeſchlechts. Abſtam⸗ mung der Menſchen von vielen Paaren. Claſſification der Menſchenraſſen. Syſtem der zwölf Menſchenarten. Wollhaarige Menſchen oder Ulotrichen. Büſchelhaarige (Papua's, Hottentotten). Vließhaarige (Kaffern, Neger). Schlichthaarige Menſchen oder Liſſotrichen. Straffhaarige (Auſtralier, Ma⸗ layen, Mongolen, Arktiker, Amerikaner). Lockenhaarige (Dravidas, Nubier, Mittelländer). Bevölkerungszahlen. Urheimath des Menſchen (Südaſien oder Lemurien). Beſchaffenheit des Urmenſchen. Zahl der Urſprachen (Monoglot⸗ tonen und Polyglottonen). Divergenz und Wanderung des Menſchengeſchlechts. Geographiſche Verbreitung der Menſchenarten. Vierundzwanzigſter Vortrag. Einwände gegen und eie es die EDEN der De- ſeendenztheorie i 5 Einwände gegen die Abſtammmmgelehre. Einwände des Glaubens 0 XV Seite 564 593 627 XVI Beſonderes Inhaltsverzeichniß. der Vernunft. Unermeßliche Länge der geologiſchen Zeiträume. Uebergangs⸗ formen zwiſchen den verwandten Species. Abhängigkeit der Formbeſtändigkeit von der Vererbung, und des Formwechſels von der Anpaſſung. Entſtehung ſehr zuſammengeſetzter Organiſations-Einrichtungen. Stufenweiſe Entwide- lung der Inſtinkte und Seelenthätigkeiten. Entſtehung der aprioriſchen Er— kenntniſſe aus apoſterioriſchen. Erforderniſſe für das richtige Verſtändniß der Abſtammungslehre. Nothwendige Wechſelwirkung der Empirie und Philoſo— phie. Beweiſe für die Deſcendenztheorie. Innerer urſächlicher Zuſammenhang aller biologiſchen Erſcheinungsreihen. Der directe Beweis der Selections— theorie. Verhältniß der Deſcendenztheorie zur Anthropologie. Beweiſe für den thieriſchen Urſprung des Menſchen. Die Pithekoidentheorie als untrenn— barer Beſtandtheil der Deſcendenztheorie. Induction und Deduction. Stufen⸗ weiſe Entwickelung des menſchlichen Geiſtes. Körper und Geiſt. Menſchen⸗ ſeele und Thierſeele. Blick in die Zukunft. Verzeichniß der im Texte mit Ziffern angeführten Schrif⸗ D Erklärung der Tafeln ns Titelbild: Entwickelungsgeſchichte eines Koltſchwammes Olonthus) u Taf. I. Lebensgeſchichte eines einfachſten Organismus, eines Moneres (Protomyza aurantiaca) rn. Taf. II und III. Keime oder Embryen von vier Wirbelthieren Sci kröte, Huhn, Hund, Menſch) Fr Taf. IV. Hand von neun verſchiedenen Säugethieren Taf. V. Stammbaum des Pflanzenreichs, paläontologiſch begründet Taf. VI. Geſchichtliches Wachsthum der ſechs Thierſtämme Taf. VII. Gruppe von Pflanzenthieren im Mittelmeere Taf. VIII und IX. Generationswechſel der Sternthie . Taf. X und XI. Entwickelungsgeſchichte der Krebsthiere oder Cruſtaceen Taf. XII und XIII. Entwickelungsgeſchichte der Ascidie und des Amphioxus Taf. XIV. Stammbaum des Wirbelthierſtammes, paläontologiſch be⸗ gründet Taf. XV. Hypothetiſche Stize des EEE 3 HN der Verbreitung der zwölf Menſchen⸗Species von Lemurien aus über die „ ͤ ͤwᷣñ᷑ 3 „„ , Eh er) 2 EEE Seite 659 663 663 664 664 664 665 666 666 669 671 674 676 678 680 Vorwort zur erſten Auflage. Die vorliegenden freien Vorträge über „natürliche Schöpfungs— geſchichte“ find im Winterſemeſter 186 vor einem aus Laien und Studirenden aller Facultäten zuſammengeſetzten Publikum hier von mir gehalten, und von zweien meiner Zuhörer, den Studirenden Hoͤrn— lein und Römheld, ſtenographirt worden. Abgeſehen von den redactio— nellen Veränderungen des ſtenographiſchen Manuſeripts, habe ich an mehreren Stellen Erörterungen weggelaſſen, welche für meinen enge— ren Zuhörerkreis von beſonderem Intereſſe waren, und dagegen an anderen Stellen Erläuterungen eingefügt, welche mir für den wei— teren Leſerkreis erforderlich ſchienen. Die Abkürzungen betreffen be— ſonders die erſte Hälfte, die Zuſätze dagegen die zweite Hälfte der Vorträge. Der XV., XVI., XVII. und XVIII. Vortrag, welche ur- ſprünglich zuſammen nur zwei Vorträge bildeten, ſind gänzlich um— gearbeitet und bedeutend erweitert worden. Die „natürliche Schöpfungsgeſchichte“ oder richtiger ausgedrückt: Die „natürliche Entwickelungslehre“, deren ſelbſtſtändige Förderung und weitere Verbreitung den Zweck dieſer Vorträge bildet, iſt ſeit nun bald zehn Jahren durch die große Geiſtesthat von Charles Darwin in ein neues Stadium ihrer Entwickelung getreten. Was frühere Anhänger derſelben nur unbeſtimmt andeuteten oder ohne Er— folg ausſprachen, was ſchon Wolfgang Goethe mit dem propheti— ſchen Genius des Dichters, weit ſeiner Zeit vorauseilend, ahnte, was Er XVIII Vorwort zur erſten Auflage. Jean Lamarck bereits, unverſtanden von ſeinen befangenen Zeit— genoſſen, zu einer klaren wiſſenſchaftlichen Theorie formte, das iſt durch das epochemachende Werk von Charles Darwin unver— äußerliches Erbgut der menſchlichen Erkenntniß und die erſte Grund— lage geworden, auf der alle wahre Wiſſenſchaft in Zukunft weiter bauen wird. „Entwickelung“ heißt von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Räthſel löſen, oder wenigſtens auf den Weg ihrer Löſung gelangen können. Aber wie Wenige haben dieſes Loſungswort wirklich verſtanden, und wie Wenigen iſt ſeine weltumgeſtaltende Bedeutung klar geworden! Befangen in der mythi— ſchen Tradition von Jahrtauſenden, und geblendet durch den falſchen Glanz mächtiger Autoritäten, haben ſelbſt hervorragende Männer der Wiſſenſchaft in dem Siege der Entwickelungstheorie nicht den größten Fortſchritt, ſondern einen gefährlichen Rückſchritt der Naturwiſſenſchaft erblickt, und namentlich den biologiſchen Theil derſelben, die Abſtam— mungslehre oder Deſcendenztheorie, unrichtiger beurtheilt, als der ge— ſunde Menſchenverſtand des gebildeten Laien. ö Dieſe Wahrnehmung vorzüglich war es, welche mich zur Ver— öffentlichung dieſer gemeinverſtändlichen wiſſenſchaftlichen Vorträge be— ſtimmte. Ich hoffe dadurch der Entwickelungslehre, welche ich für die größte Eroberung des menſchlichen Geiſtes halte, manchen An— hänger auch in jenen Kreiſen der Geſellſchaft zuzuführen, welche zu— nächſt nicht mit dem empiriſchen Material der Naturwiſſenſchaft, und der Biologie insbeſondere, näher vertraut, aber durch ihr Intereſſe an dem Naturganzen berechtigt, und durch ihren natürlichen Men— ſchenverſtand befähigt ſind, die Entwickelungstheorie zu begreifen, und als Schlüſſel zum Verſtändniß der Erſcheinungswelt zu benutzen. Die Form der freien Vorträge, in welcher hier die Grundzüge der allge— meinen Entwickelungsgeſchichte behandelt find, hat mancherlei Nach— theile. Aber ihre Vorzüge, namentlich der freie und unmittelbare Verkehr zwiſchen dem Vortragenden und dem Zuhörer, überwiegen in meinen Augen die Nachtheile bedeutend. Der lebhafte Kampf, welcher in den letzten Jahren um die Ent— Vorwort zur erſten Auflage. XIX wickelungslehre entbrannt iſt, muß früher oder ſpäter nothwendig mit ihrer allgemeinen Anerkennung endigen. Dieſer glänzendſte Sieg des erkennenden Verſtandas über das blinde Vorurtheil, der höchſte Triumph, den der menſchliche Geiſt erringen konnte, wird ſicherlich mehr als alles Andere nicht allein zur geiſtigen Befreiung, ſondern auch zur ſittlichen Vervollkommnung der Menſchheit beitragen. Zwar haben nicht nur diejenigen engherzigen Leute, die als Angehörige einer bevorzugten Kaſte jede Verbreitung allgemeiner Bildung über— haupt ſcheuen, ſondern auch wohlmeinende und edelgeſinnte Männer die Befürchtung ausgeſprochen, daß die allgemeine Verbreitung der Entwickelungstheorie die gefährlichſten moraliſchen und ſocialen Fol— gen haben werde. Nur die feſte Ueberzeugung, daß dieſe Beſorgniß gänzlich unbegründet iſt, und daß im Gegentheil jeder große Fort— ſchritt in der wahren Naturerkenntniß unmittelbar oder mittelbar auch eine entſprechende Vervollkommnung des ſittlichen Menſchenweſens herbeiführen muß, konnte mich dazu ermuthigen, die wichtigſten Grundzüge der Entwickelungstheorie in der hier vorliegenden Form einem weiteren Kreiſe zugänglich zu machen. Den wißbegierigen Leſer, welcher ſich genauer über die in dieſen Vorträgen behandelten Gegenſtände zu unterrichten wünſcht, verweiſe ich auf die im Texte mit Ziffern angeführten Schriften, welche am Schluſſe deſſelben im Zuſammenhang verzeichnet find. Bezüglich der— jenigen Beiträge zum Ausbau der Entwickelungslehre, welche mein Eigenthum ſind, verweiſe ich insbeſondere auf meine 1866 veröffent— lichte „Generelle Morphologie der Organismen“ (Erſter Band: All— gemeine Anatomie oder Wiſſenſchaft von den entwickelten Formen; Zweiter Band: Allgemeine Entwickelungsgeſchichte oder Wiſſenſchaft von den entſtehenden Formen). Dies gilt namentlich von meiner, im erſten Bande ausführlich begründeten Individualitätslehre und Grundformenlehre, auf welche ich in dieſen Vorträgen nicht eingehen konnte, und von meiner, im zweiten Bande enthaltenen mechaniſchen Begründung des urſächlichen Zuſammenhangs zwiſchen der indivi— duellen und der paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte. Der Leſer, er 2 XX Vorwort zur erſten Auflage. welcher ſich ſpecieller für das natürliche Syſtem der Thiere, Pflanzen und Protiſten, ſowie für die darauf begründeten Stammbäume inter— eſſirt, findet darüber das Nähere in der ſyſtematiſchen Einleitung zum zweiten Bande der generellen Morphologie. Die entſprechenden Stel— len der letzteren, welche einzelne Gegenſtände dieſer freien Vorträge ausführlicher behandeln, ſind im Texte mit (Gen. Morph.) angeführt. So unvollkommen und mangelhaft dieſe Vorträge auch ſind, ſo hoffe ich doch, daß ſie dazu dienen werden, das ſegensreiche Licht der Entwickelungslehre in weiteren Kreiſen zu verbreiten. Möchte dadurch in vielen denkenden Köpfen die unbeſtimmte Ahnung zur klaren Ge— wißheit werden, daß unſer Jahrhundert durch die endgültige Begrün— dung der Entwickelungstheorie, und namentlich durch die Entdeckung des menſchlichen Urſprungs, den bedeutendſten und ruhmvollſten Wen— depunkt in der ganzen Entwickelungsgeſchichte der Menſchheit bildet. Möchten dadurch viele Menſchenfreunde zu der Ueberzeugung geführt werden, wie fruchtbringend und ſegensreich dieſer größte Fortſchritt in der Erkenntniß auf die weitere fortſchreitende Entwickelung des Men— ſchengeſchlechts einwirken wird, und an ihrem Theile werkthätig zu ſeiner Ausbreitung beitragen. Möchten aber vor Allem dadurch recht viele Leſer angeregt werden, tiefer in das innere Heiligthum der Na— tur einzudringen, und aus der nie verſiegenden Quelle der natürlichen Offenbarung mehr und mehr jene höchſte Befriedigung des Verſtan— des durch wahre Naturerkenntniß, jenen reinſten Genuß des Ge— müthes durch tiefes Naturverſtändniß, und jene ſittliche Veredelung der Vernunft durch einfache Naturreligion ſchöpfen, welche auf keinem anderen Wege erlangt werden kann. Jena, am 18ten Auguſt 1868. Eruſt Heinrich Haeckel. Vorwort ür dien Aurtage Zwiſchen die Veröffentlichung der zweiten und dritten Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ fällt das Erſcheinen mehrerer Schriften, welche mir wegen ihrer hohen Bedeutung für die Ent— wickelungslehre ein Vorwort auch zu dieſer Auflage abnöthigen. Vor allen anderen iſt hier das zweibändige Werk von Char— les Darwin über „die Abſtammung des Menſchen und die geſchlechtliche Zuchtwahl“ (1871) hervorzuheben, in welchem der berühmteſte Naturforſcher der Gegenwart die Krönung des Wiſ— ſenſchafts-Gebäudes vollzieht, zu welchem er vor zwölf Jahren durch feine Reform der Deſcendenz-Theorie das Fundament gelegt hatte. Gleich allen anderen Werken des großen britiſchen Naturphiloſophen zeichnet ſich auch dieſes Buch, der bedeutungsvollſte Schlußſtein ſei— ner Lehre, ebenſo durch die Fülle von lehrreichen Thatſachen, wie durch den Reichthum an ſchöpferiſchen Ideen, ebenſo durch ſcharfe Beobachtung, wie durch klare Reflexion aus. Der zweite Theil, die „geſchlechtliche Zuchtwahl“, eröffnet ein neues, höchſt intereſſantes Gebiet für die vergleichende Zoologie, und ſpeciell für die Pſycho— logie. Der erſte Theil, die „Abſtammung des Menſchen“, behandelt den wichtigſten Folgeſchluß der ganzen Abſtammungslehre mit aller der logiſchen Konſequenz und dem moraliſchen Muthe, welcher da— für dem herrſchenden Aberglauben unſerer Zeit gegenüber erforderlich iſt. Bezüglich der ſpeciellen Genealogie des Menſchen, ſeiner Ab— XXII Vorwort zur dritten Auflage. ſtammung von niederen Wirbelthieren, ſeiner Blutsverwandtſchaft mit den Aseidien u. ſ. w. beſtätigt Darwin im Weſentlichen die An— ſchauungen, welche ſchon in meinen früheren Arbeiten entwickelt ſind. Ohne allen Zweifel iſt die Abſtammung des Menſchen von nie— deren Thieren, wie ich fie in dem 22ſten Vortrage des vorliegenden Buches ſpeciell erörtert habe, ein nothwendiger und unvermeidlicher Folgeſchluß der Abſtammungslehre; und gerade in dieſer unabwend— baren Folgerung liegt die unermeßliche allgemeine Bedeutung derſel— ben. Dieſes Verhältniß iſt ſo klar, daß es von vornherein jedem Denkenden hätte einleuchten follen. Auch würde ja Darwin's er— ſtes, 1859 erſchienenes Hauptwerk „über den Urſprung der Arten“, in welchem von der Abſtammung des Menſchen kein Wort ſteht, nimmermehr ſo unerhörtes Aufſehen in der wiſſenſchaftlichen Welt gemacht haben, wenn nicht jeder einigermaßen denkende Leſer ſofort jenen abſichtlich verſchwiegenen Folgeſchluß ſich ſelbſt gezogen und „die Abſtammung des Menſchen vom Affen“, als der nächſt— verwandten Säugethier-Form, als unabweisliche Conſequenz der Deſcendenztheorie anerkannt hätte. Nichtsdeſtoweniger bleibt es eine lehrreiche Thatſache, daß dieſe Anerkennung keineswegs allgemein war, daß vielmehr zahlreiche Kritiker des erſten Darwin'ſchen Buches (und darunter ſehr berühmte Namen) ſich vollkommen mit dem Dar— winismus einverſtanden erklärten, aber jede Anwendung deſſelben auf den Menſchen gänzlich von der Hand wieſen. Grade hieraus entſprang der mir oft gemachte Vorwurf, daß ich „Darwiniſtiſcher als Darwin ſelbſt ſei“, und daß ich in meiner confequenten Anwen— dung der Abſtammungslehre auf den Menſchen und in meiner Auf— ſtellung des menſchlichen Stammbaums Schlüſſe ziehe, an die Dar— win ſelbſt niemals gedacht habe. Dieſe vielfach wiederholten Angriffe fallen jetzt in ſich ſelbſt wirkungslos zuſammen, nachdem Darwin in der Einleitung zu ſeiner „Abſtammung des Menſchen“ ſeine völlige Uebereinſtimmung mit meinen Forſchungs-Reſultaten erklärt und am Schluſſe des ſech— ſten Capitels meinen Stammbaum des Menſchengeſchlechts in den Vorwort zur dritten Auflage. XXIII weſentlichſten Grundzügen gebilligt hat. In Folge dieſer Erklärun— gen haben ſich denn auch ſofort eine Menge von Angriffen, die früher nur meiner generellen Morphologie und meiner natürlichen Schöpfungsgeſchichte galten, gegen Darwin ſelbſt gerichtet. Unter den Naturforſchern von Fach hatte ſich beſonders Pro— feſſor Rütimeyer in Baſel viele Mühe gegeben, meine Arbeiten herabzuſetzen und namentlich der natürlichen Schöpfungsgeſchichte jeden wiſſenſchaftlichen Werth abzuſprechen. Viele ſchlafloſe Nächte ſcheinen ihm meine genealogiſchen Hypotheſen gemacht zu haben, und er läßt keine Gelegenheit vorübergehen, über dieſe die volle Schale ſeines Zornes auszugießen und zu verſichern, daß „Darwinismus und Haeckel'ſche Stammbäume“ gar nichts mit einander zu ſchaffen haben. Inzwiſchen hat nun Darwin allerdings durch die angeführte Zuſtimmung zu meinen genealogiſchen Hypotheſen dieſen Angriffen allen Boden entzogen; und nachdem ſich Profeſſor Rüti— meyer bisher vergeblich bemüht hat zu zeigen, daß ich von dem „wahren und eigentlichen Darwinismus“ Nichts wiſſe, fällt ihm jetzt die ſchwierigere Aufgabe zu, auch zu beweiſen, daß Charles Darwin ſelbſt Nichts von dem „wahren und eigentlichen“ Dar— winismus verſtehe. Indeſſen wird ihm die Löſung dieſer Aufgabe bei der großen Gewandtheit, mit welcher Herr Rütimeyer die Wahrheit in ihr Gegentheil verkehrt, nicht allzuſchwer werden; um ſo mehr, als ihm „die Darwin'ſchen Lehren nur als eine Art Religion des Naturforſchers erſcheinen, für oder wider welche man ſein kann! Allein über Glaubensſachen iſt es bekanntlich böſe zu ſtreiten“, und Rütimeyer „glaubt daher auch nicht, daß Viel dabei herauskommt“! Dieſe harmloſe Auffaſſung der wichtigſten biologiſchen Theorie iſt allerdings naiv, genau ſo naiv, wie wenn ein Phyſiker oder ein Aſtronom ſagen würde: „Mir erſcheint die Gravitations-Theorie als eine Art Reli— gion des Naturforſchers, für oder wider welche man ſein kann; allein über Glaubensſachen iſt es bekanntlich böſe zu ſtreiten und ich erwarte nicht, daß Viel dabei herauskommt.“ XIV Vorwort zur dritten Auflage. Schlimmer iſt es, daß ſich Herr Rütimeyer in feinem Zor— neseifer gegen die „Natürliche Schöpfungsgeſchichte“ ſo weit verſteigt, die wichtigſten und ihm ſelbſt wohlbekannten wiſſenſchaftlichen That— ſachen zu leugnen, bloß weil ich darauf das größte Gewicht lege. So leugnet er z. B. die formale Identität der Eier und der jun— gen Embryonen des Menſchen und der nächſtverwandten Säuge— thiere. Daß kein Menſch im Stande iſt, das menſchliche Ei von demjenigen der nächſtverwandten Säugethiere auch mit Hülfe der beſten Mikroſkope zu unterſcheiden, iſt eine längſt bekannte, wenn auch nicht gehörig gewürdigte Thatſache, die faſt in jedem Hand— buche der Hiſtologie ſteht. Ebenſo weiß längſt ſchon jeder Ana— tom, daß die Embryonen des Menſchen ſelbſt noch in, den von mir auf Taf. II und III dargeſtellten Stadien nicht weſentlich von den— jenigen anderer placentaler Säugethiere verſchieden ſind. Die ganze innere und äußere Bildung des geſchwänzten Körpers, der beiden Gliedmaßenpaare, des Halſes mit den Kiemenbogen und Kiemen— ſpalten, die Anlage der Sinnesorgane, u. ſ. w. iſt beim Menſchen im erſten Monate der Entwickelung durchaus dieſelbe wie bei allen anderen Säugethieren; und auch von derjenigen der Vögel und Rep⸗ tilien, kurz aller höheren Wirbelthiere, nicht weſentlich verſchieden. Der Entwickelungsgang des Keims iſt ja überhaupt bei allen Wir— belthieren im Weſentlichen ganz derſelbe und von demjenigen aller anderen Thiere abweichend. Dieſe embryologiſchen Thatſachen ſind gewiß von der allergrößten Bedeutung und ich für meine Perſon lege darauf mehr Gewicht, als auf alle andern biologiſchen Erſcheinungen und auf alle andern Beweiſe für die Wahrheit der Abſtammungslehre. Mit vollem Rechte ſagt darüber Profeſſor Huxley, einer der ver— dienteſten, an Kenntniſſen und an Verſtändniß reichſten Vorkämpfer des Darwinismus: „Obgleich dieſe Thatſachen von vielen anerkann— ten Lehrern des Volkes ignorirt werden, ſo ſind ſie doch leicht nach— zuweiſen und mit Uebereinſtimmung von allen Männern der Wif- ſenſchaft angenommen, (— hier hätte Profeſſor Huxley Herrn Vorwort zur dritten Auflage. XXV Rütimeyer ausnehmen ſollen —), während anderſeits ihre Be— deutung ſo groß iſt, daß diejenigen, welche ſie gehörig erwogen ha— ben, meiner Meinung nach wenig andere biologiſche Offenbarungen finden werden, die ſie überraſchen können.“ Als Beweis dafür, daß dieſe embryologiſchen, von Rütimeyer geleugneten Thatſachen ſchon längſt bekannt ſind, führe ich für Laien noch an, daß Bär, der größte Ontogeniſt unſeres Jahrhunderts, ſchon 1828, alſo vor 44 Jahren, folgende Sätze ausſpricht: „Die Embryonen der Säugethiere (— mit Inbegriff des Menſchen — Vögel, Eidechſen und Schlan— gen, wahrſcheinlich auch der Schildkröten ſind in früheren Zuſtänden einander ungemein ähnlich, im Ganzen ſowie in der Entwickelung der einzelnen Theile; ſo ähnlich, daß man oft die Embryonen nur nach der Größe unterſcheiden kann. Ich beſitze zwei kleine Embryo— nen in Weingeiſt, für die ich verſäumt habe, die Namen zu notiren, und ich bin jetzt durchaus nicht im Stande, die Klaſſe zu beſtim— men, der ſie angehören. Es können Eidechſen, kleine Vögel, oder ganz junge Säugethiere ſein. So übereinſtimmend iſt Kopf- und Rumpfbildung in dieſen Thieren. Die Extremitäten fehlen aber je— nen Embryonen noch. Wären ſie auch da, auf der erſten Stufe der Ausbildung begriffen, ſo würden ſie doch nichts lehren, da die Füße der Eidechſen und Säugethiere, die Flügel und Füße der Vö— gel, ſowie die Hände und Füße der Menſchen, ſich aus derſelben Grundform entwickeln.“ Wie wenig übrigens dieſe höchſt wichtigen Thatſachen der On— togenie noch gewürdigt werden, und wie ſelbſt unter den Fachmän— nern ihre wahre Bedeutung noch verkannt wird, geht am deutlich— ſten aus der verſchiedenartigen Beurtheilung hervor, welche das Grundgeſetz der organiſchen Entwickelung gefunden hat, das Geſetz von dem Cauſal-Nexus zwiſchen Ontogenie und Phylogenie. Ich habe dieſes „biogenetiſche Grundgeſetz“ in mei— ner generellen Morphologie an die Spitze der allgemeinen Entwicke— lungsgeſchichte geſtellt, weil nach meiner Ueberzeugung das ganze innere Verſtändniß der Entwickelungsgeſchichte davon abhängt. Als XXVI Vorwort zur dritten Auflage. Beiſpiel der erſtaunlichſten Verkennung dieſes Grundgeſetzes führe ich nur einen Anatomen an, welcher ſelbſt ontogenetiſche Unterſu— chungen mit großem Fleiße (wenn auch leider ohne morphologiſches Urtheil) angeſtellt hat, Profeſſor His in Baſel. Derſelbe veröffent— lichte vor kaum zwei Jahren eine Rede „über die Bedeutung der Entwickelungsgeſchichte für die Auffaſſung der organiſchen Natur“, aus welcher nur hervorgeht, daß derſelbe von dieſer Bedeutung keine Ahnung hat. Statt den tiefen urſächlichen Zuſammenhang zwiſchen Ontogenie und Phylogenie, zwiſchen Keimesgeſchichte und Stammesgeſchichte anzuerkennen, und ſtatt darin „eine phyſiologiſche Erklärung der von der Entwickelungsgeſchichte beob— achteten Thatſachen“ zu erblicken, hält Profeſſor His jenes wirklich mechanische „biogenetiſche Grundgeſetz“ für eine unbegründete Hypo— theſe, und ſtellt ſtatt deſſen eine angeblich „mechaniſche“ Theorie der Ontogenie auf, welcher jeder klar urtheilende, mit den Thatſa— chen der vergleichenden Anatomie und Ontogenie bekannte Zoologe nur mit einem Lächeln betrachten kann. So z. B. ſoll die Anlage der vier Gliedmaßen bei den Wirbelthier-Embryonen (Taf. II und III) „den vier Ecken eines Briefes ähnlich, beſtimmt werden durch die Kreuzung von vier den Körper umgrenzenden Falten“! Es iſt aber charakteriſtiſch für die Urtheilsloſigkeit unſerer Zeit, daß man ſolche wunderliche Einfälle als große Fortſchritte bewundert und dabei den allein zum Ziele führenden und von Darwin ſo klar vorgezeichneten Weg verſchmäht. f Es erſcheint überflüſſig, hier auf die Maſſe von größeren und kleineren Schriften einzugehen, welche in letzter Zeit wieder geradezu gegen den Darwinismus und gegen die Entwickelungslehre über— haupt, ſowie gegen meine Darſtellung derſelben in der natürlichen Schöpfungsgeſchichte gerichtet worden ſind. Die allermeiſten dieſer Schriften ſind ſo dilettantiſch geſchrieben, ſo ohne gründliche Kennt— niß der großen Thatſachen-Reihen, auf welche ſich die ganze Ent— wickelungstheorie ſtützt, daß man fie getroſt der verdienten Vergeſſen— heit anheimgeben kann, von der ſie ohnehin bald ereilt werden. Je— Vorwort zur dritten Auflage. XXVII. der beliebige Laie glaubt über die Deſcendenz-Theorie und ihre An— wendung auf den Menſchen ſofort abſprechen zu können; glaubt doch Jedermann von ſelbſt hinreichend zu wiſſen, was überhaupt der Menſch eigentlich für ein Weſen iſt, und weiß doch jeder Ein— zelne ganz ſicher, daß er perſönlich „nicht vom Affen abſtammt“. Daß aber das naturwiſſenſchaftliche Studium des menſchlichen Or— ganismus das ſchwierigſte von allen iſt, daß die ganze körperliche und geiſtige Beſchaffenheit des Menſchen nur durch die Entwicke— lungsgeſchichte, nur durch Vergleichung derſelben mit der körperli— chen und geiſtigen Beſchaffenheit der übrigen Thiere erkannt werden kann, davon wollen die Wenigſten etwas wiſſen. Und doch iſt es ganz unzweifelhaft, daß die ganze Anthropologie nur ein ſpecieller Zweig der Zoologie iſt, und daß alſo die verglei— chende Anatomie und Phyſiologie, und vor allem die Entwicke— lungsgeſchichte für erſtere wie für letztere die unentbehrlichſte Ba— ſis iſt. Daher erhebt ſich faſt die ganze neuere „Anthropologie“ und „Ethnologie“ wie ſie jetzt in umfangreichen Zeitſchriften und von zahlreichen „wiſſenſchaftlichen“ Geſellſchaften eultivirt wird, nicht über den Rang eines halbgebildeten Dilettantismus. Erſt wenn dieſelbe anfangen wird, ſich auf den Boden der vergleichenden Zoologie zu ſtellen, erſt wenn jeder „Anthropolog“ und „Eth— nolog“ wenigſtens mit den Grundzügen der vergleichenden Anato— mie und Ontogenie bekannt ſein wird, erſt dann wird die Lehre vom Menſchen ihren wohlverdienten Platz an der Spitze der übri— gen Naturwiſſenſchaften einnehmen. Wie weit die Anthropologie von dieſem Ziele noch entfernt iſt, und wie wenig ſie geneigt iſt, ihre natürliche Mutter, die Zoologie, und ihre unentbehrliche Führerin, die Deſcendenz-Theorie, als ſolche anzuerkennen, davon legen zahlreiche der noch jüngſt gegen letztere gerichteten Angriffe Zeugniß ab. Unter dieſen möchten wir aus— nahmsweiſe einem einzigen hier der Vergeſſenheit entreißen, weil er in draſtiſcher Form beweiſt, was man dem anthropologiſchen Publi— cum als „wiſſenſchaftliche Ethnologie“ bieten darf; und wie man XXVIII Vorwort zur dritten Auflage. noch gegenwärtig in dieſen Dilettanten-Kreiſen die Entwickelungslehre, die unentbehrliche Grundlage aller biologiſchen Forſchungen, behan— delt. Ich meine die Aeußerungen des Berliner Ethnographen Ba— ſtian, die unter den zahlloſen albernen und kindiſchen Angriffen ge— gen den „Darwinismus“ faſt alle andern an Verkehrtheit und Unver— ſtand übertreffen. Dieſer Unverſtand erſcheint aber deshalb hier hochko— miſch, weil er im Gewande der ſtolzeſten Philoſophie, verbrämt mit der hochtrabendſten Phraſeologie einherſchreitet. Man höre: z. B. nur folgende „kindiſche Faſeleien“: „Alle Fehler der teleologiſchen Glau— bensrichtung aus vermeintlich überwundenen Standpunkten wiederho— lend, fällt die Deſcendenz-Theorie in kindiſche Faſeleien, wenn ſie in dem Wiſſensſtückwerk auf unſerm Erdenwinkel den Plan des Welt— geſetzes durchſchauen zu können meint, und die aufſtrebende Entwik— kelung von Protoplasmen bis zum Menſchen weiter führt.“ Herr Baſtian weiß hiernach nicht einmal, daß er ſelbſt im Be— ginne ſeiner individuellen Exiſtenz, gleich allen andern Menſchenkin— dern, eine einfache Zelle, d. h. ein Protoplasma-Kügelchen mit einem Kerne war! Er begreift nicht einmal den fundamentalen Gegenſatz zwiſchen der teleologiſchen Dogmatik, die einem weisheitsvollen „Plan“ des Schöpfers nachſpürt, und der mechaniſchen Deſcendenz-Theorie, welche gerade umgekehrt das „Weltgeſetz“ der nothwendigen Cauſa— lität an die Stelle des vergeblich geſuchten „Planes der Schöpfung“ ſetzen will. Man höre ferner folgenden Erguß „babyloniſcher Sprach— und Begriffs-Verwirrung“ (die gerade bei dieſem Bombaſtus bis zu einem bedenklichen Stadium gediehen iſt!): „Die Anthropologie hat ſich heutzutage die umgekehrte Pyramide der Evolutions-Theorie zuſammengekleiſtert, einen buntſcheckigen Götzenthurm, der manchen werthvollen Bauſtein der Transmutationslehre entlehnt hat, aber zunächſt ſeine Verehrer mit babyloniſcher Sprachs- und Begriffs-Ver⸗ wirrung zu ſchlagen ſcheint!“ Doch mag der Leſer die „mehr kindi— ſchen als barbariſchen Vorſtellungen“ des Herrn Bastian über orga— niſche Entwickelung lieber in feinen eigenen „geiſtloſen Waſſerſup— pen“, in feinen ſchwülſtigen „Flunkeleien“, übergoſſen mit dem ihm Vorwort zur dritten Auflage. XXIX eigenen „ſchaalen Raiſonnement“ (— wir gebrauchen überall ſeine eigenen Worte! —) nachleſen, um ſich von der Gerechtigkeit unſeres harten Urtheils zu überzeugen. Alles, was gegen die Entwickelungs— theorie überhaupt und gegen ihre Anwendung auf den Menſchen insbeſondere von den verſchiedenſten Seiten eingewendet worden iſt, alle Unwiſſenheit in den Thatſachen der Entwickelungsgeſchichte, alle Unfähigkeit zu ihrem Verſtändniß, aller Mangel an philoſophiſcher Erkenntniß der Erſcheinungswelt — kurz alle Schwächen unſerer Geg— ner — finden ſich in den grenzenlos confuſen Schriften des Herrn Baſtian vereinigt, deſſen einzige Stärke in einem außerordentlichen Thatſachen-Gedächtniß — leider ohne jedes klare und geordnete Verſtändniß der Thatſachen — beſteht. Man leſe namentlich die höchſt komiſche Kritik, welche derſelbe im dritten Bande der Berliner „Zeitſchrift für Ethnologie“ (S. 133 — 143 und S. 349—359) über Darwin's neueſtes Werk gegeben hat, und worin er letzteres als „Träume eines Mittagsſchläfchens“ bezeichnet! Für mich ſelbſt war jedoch die Leetüre dieſes ſeichten Geſchwätzes inſofern ſehr erfreulich, als ich darin nur eine treffende Beſtätigung des ſchon 1866 von mir ausgeſprochenen Satzes fand: „Intereſſant und lehrreich iſt der Umſtand, daß beſonders diejenigen Menſchen über die Entdeckung der natürlichen Entwickelung des Menſchengeſchlechts aus echten Affen am meiſten empört ſind und in den heftigſten Zorn gerathen, welche offenbar hinſichtlich ihrer intellectuellen Ausbildung und cerebralen Differenzirung ſich bisher noch am wenigſten von unſeren gemein— ſamen tertiären Stammeltern entfernt haben.“ Unter den in den letzten zwei Jahren erſchienenen Schriften, die als wahre Bereicherungen der Entwickelungslehre zu begrüßen ſind, möchte ich zunächſt die bedeutende Schrift: „Sittlichkeit und Darwinismus“, drei Bücher Ethik von B. Carneri, hervor— heben, als den erſten glücklichen Verſuch, die durch den Darwinis— mus begründete moniſtiſche Weltanſchauung auf dem Gebiete der practiſchen Philoſophie fruchtbar anzuwenden. Je ſchwieriger und gefahrvoller dieſe Anwendung erſcheint, je mehr man faſt all— XXX Vorwort zur dritten Auflage. gemein von der durch Darwin herbeigeführten Geiſtesbefreiung alle möglichen ſchlimmen Folgen für die Sittlichkeit, und zum min— deſten den revolutionären Umſturz aller beſtehenden ſocialen und moraliſchen Ordnung erwartet, deſto verdienſtvoller iſt es, dieſe un— begründeten Befürchtungen zu widerlegen und zu zeigen, daß der ungeheure, durch die Deſcendenz-Theorie bewirkte Fortſchritt unferer Welt-Erkenntniß nur die wohlthätigfte Einwirkung auf die weitere fortſchreitende Entwickelung des Menſchengeſchlechts, auch im prac— tiſchen Leben, haben wird. Das treffliche Buch von Carneri be— handelt im erſten Buch die Wahrheit (1. Kampf um's Daſein, 2. Selbſtbewußtſein, 3. Religion, 4. Schönes, 5. Wahrheit); im zweiten Buche die Freiheit (1. Nothwendigkeit, 2. Leidenſchaft, 3. Thätigkeit, 4. Gutes, 5. Freiheit); im dritten Buche die Sitt— lichkeit (1. Familie, 2. Arbeit, 3. Rechtsſtaat, 4. Weltgeſchichte, 5. Sittlichkeit). Carneri hat damit der ſtagnirenden Philoſophie der Gegenwart den Weg zu dem fruchtbarſten Speculationsgebiete eröff— net, und wir möchten namentlich den Gegnern der Entwickelungs— theorie unter den Theologen und Philoſophen dieſe Schrift dringend empfehlen. Nur wenn ſich die Philoſophie rückhaltlos auf den Boden der neuen, durch die Entwickelungstheorie reformirten Anthropologie ſtellt, und die Anwendung der Deſcendenz-Theorie auf den Menſchen unbedingt zugeſteht, wird fie im Stande fein, ihre wohlbegründeten An- ſprüche auf die Führung der Wiſſenſchaften geltend zu machen; nur wenn ſie die wichtigſten Reſultate der Naturforſchung in ſich aufnimmt und verwerthet, wird ſie dieſe Führung dauernd behaupten, damit aber zugleich als moniſtiſche Naturphiloſophie die noch beſte— henden Gegenſätze zwiſchen den verſchiedenen Wiſſenſchaften verſöhnen. Unter den zahlreichen Schriften, welche neuerdings über den Darwinismus erſchienen ſind, zeichnen ſich ferner die „Zoologiſchen Briefe“ und die „allgemeine Zoologie“ von Profeſſor Guſtav Jae— ger in Stuttgart aus, welche reich an neuen fruchtbaren Ideen ſind, wenn ſie auch bisweilen ſich von dem ſicheren Boden der Empirie zu weit entfernen und an den Phantaſieflug der älteren Naturphi— Vorwort zur dritten Auflage. XXXI loſophie erinnern. Sodann iſt beſonders „die Darwin'ſche Theorie“ von Dr. Georg Seidlitz hervorzuheben (elf Vorleſungen über die Entſtehung der Thiere und Pflanzen durch Naturzüchtung). Dieſe Schrift zeichnet ſich vor vielen ähnlichen durch richtige Auffaſſung und klares Urtheil aus, widerlegt viele Einwürfe der Gegner und giebt eigene werthvolle Beiträge zur Deſcendenztheorie. Seidlitz hat ſeinen Vorleſungen ein Verzeichniß der „Literatur zur Deſcendenz— theorie ſeit 1859“ vorausgeſchickt, welches auf 30 Seiten eine Vor— ſtellung von dem ſchnellen Wachsthum und dem gewaltigen Umfang dieſer Literatur giebt. Ein ähnliches Verzeichniß hat ſchon früher J. W. Spengel in der Berliner Zeitſchrift für Ethnologie veröffent— licht. Der VII. Abſchnitt des Verzeichniſſes von Seidlitz: „Abhand— lungen über die Darwin'ſche Theorie und Werke, in denen von der Deſcendenz-Theorie die Rede fein muß“ — dürfte in Zukunft ine ſofern noch einen ganz anderen Umfang gewinnen, als von nun an eigentlich jede botaniſche und zoologiſche Arbeit, welche ein wirkli— ches Verſtändniß der Erſcheinungen, eine philoſophiſche Erklärung namentlich der morphologiſchen Thatſachen anſtrebt, die Deſcendenz— theorie als unentbehrlichen Wegweiſer benutzen muß und ihre Füh— rung gar nicht mehr entbehren kann. In ganz beſonderem Maaße gilt dies von der vergleichenden Anatomie, einer Wiſſenſchaft, die durch die Anwendung der Abſtammungslehre eine völlig veränderte Geſtalt und einen unendlich höheren Werth erhalten hat. Um die— ſen coloſſalen Fortſchritt völlig zu begreifen, braucht man nur Ge— genbaur's claſſiſches Werk über vergleichende Anatomie mit allen ähnlichen Schriften früherer Zeit zu vergleichen. Mit vollem Rechte bemerkt dieſer verdienſtvolle Naturforſcher, welcher die vergleichende Anatomie der Gegenwart beherrſcht: „An der vergleichenden Ana— tomie wird die Deſcendenz-Theorie zugleich einen Prüfſtein finden. Bisher beſteht keine vergleichend-anatomiſche Erfahrung, die ihr wi— derſpräche; vielmehr führen uns alle darauf hin. So wird jene Theorie das von der Wiſſenſchaft zurückempfangen, was ſie ihrer Methode gegeben hat: Klarheit und Sicherheit.“ XXXII Vorwort zur dritten Auflage. „Die Deſcendenz-Theorie wird ſo eine neue Periode in der Ge— ſchichte der vergleichenden Anatomie beginnen. Sie wird ſogar einen bedeutenderen Wendepunkt bezeichnen, als irgend eine Theorie in die— ſer Wiſſenſchaft vorher vermocht hat: denn ſie greift tiefer als alle jene, und es giebt kaum einen Theil der Morphologie, der nicht auf's In⸗ nigſte von ihr berührt würde.“ „Vererbung und Anpaſſung ſind die zwei wichtigen Mo— mente, aus denen ſowohl die Mannichfaltigkeit der Organiſation als das Gemeinſame derſelben verſtändlich wird. Auf dem Standpunkte der Deſcendenz-Theorie hat die „Verwandtſchaft“ der Organismen ihre bildliche Bedeutung verloren. Wo wir durch präciſe Vergleichung nachgewieſene Uebereinſtimmung der Organiſation treffen, deutet dieſe, als eine vererbte Erſcheinung, auf gemeinſame Abſtammung hin. Durch die mannichfachen aus der Anpaſſung erworbenen Umwandlun— gen die Organe Schritt für Schritt zu verfolgen, wird zur Aufgabe.“ Gegenbaur ſelbſt hat die hier von ihm bezeichnete Aufgabe glänzend gelöſt, und vor Allem in dem wichtigſten, intereſſanteſten und ſchwierigſten Theile der vergleichenden Anatomie, in demjenigen der Wirbelthiere. Er hat alle die verſchiedenen Gliedmaßen-For⸗ men der Wirbelthiere, deren hohe Bedeutung auf S. 363 und durch Taf. IV angedeutet iſt, auf ihr gemeinſames Urbild zurückgeführt, und als divergente, durch Anpaſſung erworbene Modificationen einer ein— zigen erblichen Urform nachgewieſen. Er hat erſt die wahre Natur der Wirbelſäule und des Schädels erkannt und die berühmte „Wirbeltheo— rie des Schädels“ (S. 75) durch die viel tiefer begründete Reduction der Gehirn-Nerven auf die Rückenmarcks-Nerven erſetzt. Er hat das Herz der Säugethiere, und alſo auch des Menſchen, auf das Herz der Haifiſche, unſerer uralten Vorfahren, zurückgeführt, und uns über— haupt die weſentlichſten Anhaltspunkte für die Begründung des Wir- belthier-Stammbaums geliefert. Dieſe neue vergleichende Anatomie, wie ſie in den Arbeiten von Gegenbaur und Huxley begründet iſt — nicht die „vergleichende Anatomie ohne Vergleichung“, wie ſie gewöhnlich jetzt gelehrt wird — Vorwort zur dritten Auflage. XXXII gehört zu den wichtigſten Stützen der Defcendenz- Theorie und bringt in das Chaos der morphologiſchen Thatſachen die erwünſchte Klarheit. Die vergleichenden Anatomen der älteren Schule haben dieſe Klarheit vergeblich erſtrebt, weil ſie den von Lamarck ihnen gebo— tenen, erklärenden Grundgedanken der Deſcendenz-Theorie nicht an— erkannten. Eine Ausnahme bildet jedoch Goethe, den ich als einen der erſten Begründer der Deſcendenz-Theorie neben Lamarck und als einen der bedeutendſten Vorläufer Darwin's hervorheben zu müſſen glaube. Allerdings iſt dieſe Auffaſſung nicht unbeſtreitbar und auch kürzlich von meinem Freunde Oscar Schmidt angegriffen wor— den, einem der wenigen Zoologen der Gegenwart, welche volles Ver— ſtändniß der Deſcendenz-Theorie erlangt und mit klarem Blicke ihre unermeßliche Bedeutung für die geſammte Biologie erkannt haben. Schmidt hatte bereits vor 20 Jahren in einer Vorleſung „Goe— the's Verhältniß zu den organiſchen Naturwiſſenſchaften“ vortreff— lich erläutert, und richtet nun in einem kürzlich erſchienenen Schrift— chen (Graz 1871) an mich die Frage: „War Goethe ein Darwi— nianer?“ Er beantwortet dieſe Frage in einem, meiner Auffaſſung entgegengeſetzten Sinne, indem er meint, Goethe habe „an ein Umbilden vorhandener Arten nicht gedacht, ſondern an bloße Erſchei— nungsweiſen des Typus oder Urbildes, wie ſie in den gegebenen Arten vorliegen.“ Dieſer Typus ſelbſt ſei etwas Abſtractes, ein „undarſtellbares Urbild“. Ich gebe nun gerne zu, daß man bei der eigenthümlichen, oft aphoriſtiſchen oder ſymboliſirenden Ausdrucks— weiſe, die Goethe grade in ſeinen naturphiloſophiſchen Schriften liebt, ſehr verſchiedene Anſichten über die eigentliche Meinung derſel— ben haben kann. Im Weſentlichen aber glaube ich doch bei meiner Anſicht bleiben zu müſſen, daß Goethe zwar nicht als ein eigentlicher „Darwinianer“, wohl aber als einer der erſten Begründer der Deſcen— denz = Theorie, oder doch mindeſtens als einer ihrer bedeutendſten Pro— pheten anzuſehen iſt. So, wie Schmidt die Frage formulirt: „War Goethe ein Darwinianer?“ werde ich ſie auch ſelbſt, gleich ihm, verneinen. Denn NN XXXIV Vorwort zur dritten Auflage. erſtens hatte Goethe von dem eigentlichen „Darwinismus“, d. h. von der erſt 1859 aufgeſtellten Selections-Theorie, natürlich keine Ahnung, und zweitens war überhaupt eine „Darwiniſtiſche“ Auf- faſſung der Entwickelungstheorie bei dem unvollkommenen Zuſtande der wichtigſten biologiſchen Disciplinen zu jener Zeit noch gar nicht möglich. Wenn ich aber auf der anderen Seite mir Goethe's ganz realiſtiſche, objective Naturbetrachtung, ſein „gegenſtändlich thä— tiges“ Denken vergegenwärtige, und wenn ich Alles zuſammenfaſſe, was er über „Bildung und Umbildung organiſcher Naturen“ geſagt hat (vergl. S. 73 — 83), jo muß ich immer wieder zu der Anſicht zurückkommen, daß dieſe Ausſprüche mehr als bloße Ahnungen oder ſymboliſche Vergleichungen ſind, daß ſie von tiefſtem inneren Ver— ſtändniß der organiſchen Entwickelung zeugen und daß das „Urbild“ oder der „Typus“ der von der Deſcendenz-Theorie geſuchten „Stamm— form“ entſpricht. Namentlich kann ich mir die beiden Bildungstriebe (S. 81) gar nicht anders als in „Darwiniſtiſchem“ Sinne deuten; und wenn Goethe anerkanntermaßen mit Wolff in der „Meta- morphoſe der Pflanzen“ zuſammenſtimmte, alſo für die Ontogenie die Theorie der Epigeneſe begründete, ſo erſcheint es bei einem ſo tiefen und naturverſtändigen Denker nur conſequent, daß er auch für die „Entſtehung der Arten“ die gleiche „Metamorphoſe“ annahm, d. h. für die Phylogenie die Theorie der Deſcendenz aufſtellte. Denn dieſe beiden Theorien, die ontogenetiſche Theorie der Epigeneſis, und die phylogenetiſche Theorie der Deſcendenz, find ganz untrennbar, und man kann nicht der einen folgen, ohne zugleich die andere anzuerkennen. Wie Alfred Kirchhoff ſagt, fie find „Zwillingsſchweſtern. Die Wahrheit die- ſer wird, wie die jener ſiegen, oder vielmehr ſie hat ſchon geſiegt“! Jena, am 18ten März 1872. Ernit Heinrich Haeckel. Vorwort zur vierten Auflage. In wenigen Monaten werden zehn Jahre verfloſſen ſein, ſeit— dem der Darwinismus zum erſten Male auf die Tagesordnung einer deutſchen Naturforſcher-Verſammlung geſetzt wurde. Es war am 19. September 1863, als ich in der erſten allgemeinen Verſamm⸗ lung der deutſchen Naturforſcher und Aerzte zu Stettin einen öffent-. lichen Vortrag „über die Entwickelungstheorie Darwin's“ hielt. Hat⸗ ten mir ſchon vorher wohlmeinende und vorſichtige Freunde von dieſem gefährlichen Wagniſſe abgerathen, ſo lernte ich doch erſt nach— her den ganzen Umfang der damit verknüpften Gefahr ermeſſen. Denn abgeſehen von den Angriffen, welche mein Vortrag oder viel- mehr der darin vertretene Darwinismus alsbald von den verſchie— denſten Seiten erfuhr, theilte die Mehrheit der damals in Stettin tagenden Verſammlung das von einigen namhaften Autoritäten ausgeſprochene Bedauern, daß man überhaupt ſolche „unwiſſenſchaft— liche Gegenſtände“ wie den Darwinismus auf einem Naturforſcher⸗ Congreſſe zur Sprache bringe; die ganze Darwinſche Theorie ſei im beſten Falle eine „unbewieſene Hypotheſe, ein geiſtreicher Traum“. Andere nannten fie „einen leeren Schwindel, ein bodenloſes Phan- taſiegebäude“, und meinten, daß ſie „mit der Tiſchrückerei und dem Od in ein und daſſelbe Gebiet gehöre“! Noch Andere beantragten, daß man den Darwinismus überhaupt von der ernſten wiſſenſchaft⸗ lichen Discuſſion ausſchließe (wie es ja auch in der biologiſchen RER 2 XXXVI Vorwort zur vierten Auflage. Literatur thatſächlich lange genug geſchehen iſt). Einige Theologen endlich, welche der Verſammlung beiwohnten, ſchienen Luſt zu haben, die beliebten Beweismittel der ſtreitenden Kirche, Tortur und Scheiterhaufen, im neunzehnten Jahrhundert auf die Anhänger Dar— win's, die „Affen-Theoretiker“ anzuwenden. Auch würde wohl der Heilige evangeliſche Oberkirchenrath in Berlin, der heute vor unſeren erſtaunten Augen das mittelalterliche Schauſpiel der Ketzergerichte erneuert, dazu ebenſo bereitwillig ſeinen Segen gegeben haben, wie der Unfehlbare katholiſche Kirchenvater in Rom. Iſt doch die In— toleranz und der Haß gegen die freie wiſſenſchaftliche Forſchung hier wie dort von derſelben Art! Wenn wir uns heute erlauben, an jenes Stettiner Erlebniß zu erinnern, ſo geſchieht es, um die damals herrſchende Beurthei— lung des Darwinismus mit ſeiner heutigen Geltung zu vergleichen; und da dürfen wir denn wohl über den gewaltigen, im letzten De— cennium erfolgten Umſchwung unſere volle Genugthuung ausſpre⸗ chen. Was vor zehn Jahren noch von der großen Mehrzahl der Biologen, der zunächſt competenten Richter, beſtritten wurde, iſt heute von der großen Mehrzahl derſelben anerkannt. Die „unbe— wieſene Hypotheſe Darwin's“ hat ſich zu einer unumſtößlich begrün— deten Theorie emporgebildet; der „geiſtreiche Traum“ hat ſich als ſon— nenklare Wahrheit herausgeſtellt; und aus dem „leeren Schwindel“ des „bodenloſen Phantaſie-Gebäudes“ hat ſich das cauſale Verſtänd— niß der wichtigſten biologiſchen Erſcheinungen entwickelt. Faſt jede zoologiſche und botaniſche Arbeit, welche das Gebiet der Morpho- logie (Anatomie und Entwickelungsgeſchichte) berührt, muß gern oder ungern ſich mit der Deſcendenz-Theorie beſchäftigen, und jede morphologiſche Arbeit, welche ein wahres Verſtändniß der Form-Er— ſcheinungen anſtrebt, kann überhaupt ohne die Abſtammungslehre nicht tiefer in daſſelbe eindringen. Die Stammesgeſchichte oder Phy- logenie, der noch vor wenigen Jahren ſelbſt von manchen Dar- winiſten die Lebensfähigkeit abgeſprochen wurde, lebt, wächſt und gedeiht als ſelbſtſtändiger Zweig der Biologie, und die Ontogenie Vorwort zur vierten Auflage. XXXVII oder Keimesgeſchichte wird den Beiſtand dieſer jüngeren Schweſter bald nicht mehr entbehren können. Was aber vielleicht noch über— zeugender, als dieſe erfreulichen poſitiven Erfolge der Entwickelungs— Theorie für ihre volle Wahrheit Zeugniß ablegt, das iſt die voll— ftändige negative Impotenz ihrer Feinde. Kein einziger Gegner iſt im Stande geweſen, irgend einen erheblichen Einwand gegen die Theo— rie vorzubringen oder irgend eine haltbare Hypotheſe über „die Ent— ſtehung der Arten“ an ihre Stelle zu ſetzen. Nicht minder erfreulich iſt es, daß endlich auch die ſpeculative Philoſophie die unermeßliche Bedeutung zu würdigen beginnt, welche die Entwickelungslehre im Allgemeinen und ihre Anwendung auf den Menſchen im Beſonderen beſitzt. Welcher Erfolg hier noch den Philoſophen der Zukunft bevorſteht, beweiſen die beiden berühmten Werke von Strauß und von Hartmann, die beide kürzlich in vierter Auflage erſchienen find. „Der alte und der neue Glaube“ von David Friedrich Strauß, der faſt in vier Monaten vier Auflagen erlebte, enthält die freie und unumwundene Anerkennung der Conſequenzen, welche die Philoſophie der Entwickelung — und die Deſcendenz-Theorie als deren wichtigſter Beſtandtheil — über das allgemeine Gebiet der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß hinaus in dem beſonderen Bezirke der perſönlichen religiöſen Ueberzeugungen nach den Geſetzen der Logik verlangt. Zunächſt iſt dieſes Dar— winiſtiſche Glaubensbekenntniß des berühmten Theologen gleich Dar— win's fundamentalem Werk über die Entſtehung der Arten mit einem Hagel von Geſchoſſen überſchüttet worden, die entweder gar nicht trafen, oder wirkungslos abprallten. In einem der heftigſten An— griffe, welcher in mehreren Zeitſchriften reproducirt wurde, war an— geführt, daß auch die vorgeſchrittenſten Affen-Theoretiker und die eifrigſten Bewunderer Darwin's in Deutſchland die Bundesgenoſ— ſenſchaft von Strauß mit Hohn zurückwieſen, und hierbei war mein Name als Beiſpiel genannt. Das war nun einfache Unwahr— heit; denn ich habe mich bisher bei keiner Gelegenheit über Strauß's Buch ausgeſprochen. Da ich jedoch ſolchergeſtalt zu einem Urtheil XXVLIII Vorwort zur vierten Auflage. über daſſelbe herausgefordert bin, und da überdem jetzt von allen Seiten die verſchiedenſten „Bekenntniſſe“ ſich entgegentreten, ſo ſtehe ich nicht an, auch meinerſeits mein perſönliches Bekenntniß abzu- legen und meine volle Zuſtimmung zu dem „neuen Glauben“ von Strauß zu erklären. Auch ich gehöre zu den zahlloſen „Wir“, in deren Namen Strauß das Wort ergriffen hat und das Meiſte in ſeinem Buche iſt auch meine Ueberzeugung. Daſſelbe kann ich von zahlreichen anderen mir befreundeten Naturforſchern behaupten, wenn dieſe auch aus verſchiedenen Gründen ein offenes Bekenntniß des „neuen Glaubens“ vermeiden. Unter dieſen Naturforſchern aber be— finden ſich Männer, von denen jeder Einzelne durch ſeine Verbin— dung von Verſtandsſchärfe und Gemüthstiefe, Naturverſtändniß und Menſchenkenntniß ein ganzes Tauſend Gegner von Strauß aufwiegt. Was die berühmte „Philoſophie des Unbewußten“ von Hartmann betrifft, ſo habe ich in den früheren Auflagen der Schö— pfungsgeſchichte die nahe liegende Berührung derſelben vermieden, weil unmöglich in wenigen Worten darüber abgeurtheilt werden kann. Dieſes merkwürdige Buch enthält einerſeits ſo viel neue vor— treffliche Bemerkungen und tiefe Ideen, anderſeits aber leider auch ſo viel naturwiſſenſchaftliche Irrthümer und namentlich biologiſche Fehler, daß ohne eine ſehr gründliche und eingehende Kritik ein ge— rechtes Urtheil gar nicht möglich iſt. Inzwiſchen iſt nun eine ſolche ausführliche Kritik von einem anonymen Verfaſſer erſchienen: „Das Unbewußte vom Standpunkte der Phyſiologie und Deſcendenz— Theorie“ (Berlin 1872). Dieſe ausgezeichnete Schrift ſagt im We— ſentlichen Alles, was ich ſelbſt über die Philoſophie des Unbewuß⸗ ten den Leſern der Schöpfungsgeſchichte hätte ſagen können und ich kann daher diejenigen unter ihnen, die ſich dafür intereſſiren, einfach darauf verweiſen. Der anonyme Kritiker weiſt überzeugend nach (was alle die zahlreichen Recenſenten der „Philoſophie des Unbe— wußten“ überſehen hatten), daß dieſes Buch aus zwei ganz zuſammen— hangsloſen und theilweiſe ſich widerſprechenden Stücken zuſammen— geſetzt iſt; das eine Stück (vorzüglich Abſchnitt A) „behandelt alle Vorwort zur vierten Auflage. > XXXIX vorkommenden Probleme ohne jede Rückſicht auf die Deſcendenz— Theorie, während dieſelben einzig und allein von dem Standpunkt der Deſcendenz-Theorie aus richtig geſtellt und annähernd gelöſt werden können.“ Das andere Stück hingegen (vorzüglich Abſchnitt C) ſtellt ſich geradezu auf den Boden der Abſtammungslehre, und zeigt, wie nur durch dieſe eine richtige Stellung und Löſung der höchſten philoſophiſchen Probleme möglich iſt. Nun wird aber gerade durch die Deſcendenz-Theorie und ihre Anwendung auf den Menſchen das Unbewußte ſelbſt, wie es Hartmann als oberſte8s metaphyſi— ſches Princip aufſtellt, theils eliminirt, theils auf das phyſiologiſch (alſo mechaniſch) erklärbare Unbewußte zurückgeführt. Denn, wie der anonyme Kritiker ſehr richtig bemerkt, „confundirt die Philoſo— phie des Unbewußten unter dieſem, den ganzen dunklen Urgrund des Lebens zuſammenfaſſenden Ausdruck — „das Un bewußte“ — eine Menge der verſchiedenartigſten Dinge, welche noth— wendig einer ſondernden Analyſe bedürfen. Es fällt das Unbe— wußte, inſofern es als Subject der teleologiſchen Eingriffe gedacht wird.“ Es bleibt das Unbewußte, inſofern es als mechaniſches Princip in moniſtiſchem Sinne von der Biologie zu verwerthen iſt. Hartmann's Lehrgebäude des Unbewußten als Ganzes fällt unter dieſer Kritik zuſammen; es bleiben aber und werden reiche Früchte tragen die vielen „naturwiſſenſchaftlich werthvollen und folgenſchwe— ren Gedankenkeime“, welche zwiſchen vielen unbrauchbaren meta— phyſiſchen Speculationen darin verſteckt ſind. Jedenfalls können die „exacten“ Naturforſcher, welche gegen— wärtig mit ſo bornirtem Stolze auf die Philoſophie überhaupt her— unter ſehen, von der Philoſophie des Unbewußten (beſonders im Vergleich mit den ausgezeichneten, ſchon früher von uns angelegent— lich empfohlenen philoſophiſchen Schriften von Herbert Spencer, „First Principles“ etc. 45)) zweierlei lernen: erſtens, wie unerläßlich die beſtändige Wechſelwirkung der Empirie und Philo— ſophie, die innige Durchdringung von Beobachtung und Reflexion iſt, und zweitens, wie unendlich werthvoll für dieſe ſtets anzuſtre— XL Vorwort zur vierten Auflage. bende Verbindung der moniſtiſche Entwickelungsgedanke der Deſcendenz-Theorie iſt. Wie Friedrich Zöllner, deſſen na— turphiloſophiſcher Standpunkt mit dem unſrigen zuſammenfällt, in feinem ideenreichen Buche „über die Natur der Kometen“ 8) vor- trefflich ausführt, wird nur „jenem Bündniſſe der exacten Forſchung mit einer geläuterten Philoſophie die neue Weltanſchauung des kom— menden Jahrhunderts in nie geahnter Größe und Klarheit der Er— kenntniß entſprießen.“ 5 Wie weit die meiſten Naturforſcher leider gegenwärtig noch von der Harmonie dieſer neuen moniſtiſchen Weltanſchauung entfernt ſind, zeigt beſonders klar die herrſchende Beurtheilung eines der wichtig— ſten Probleme der Entwickelungslehre, der Urzeugung. Bereits im ſechſten Capitel der generellen Morphologie („Schöpfung und Selbſtzeugung“) und ſpäter ausführlicher in den „Studien über Mo— neren“ (beſonders S. 177 u. f.) habe ich die Nothwendigkeit der Urzeugung in dem Sinne nachgewieſen, in welchem ſie auch im XIII. Vortrage der Schöpfungsgeſchichte (S. 291 — 310) erörtert iſt. Gerade dieſer unerläßliche Beſtandtheil der Entwickelungstheorie hat die ſtärkſten Angriffe von Seiten der ſogenannten „exacten Empiri— ker“ erfahren und ſelbſt einige berühmte Naturforſcher erſten Ranges haben ſich entſchieden dagegen erklärt. Bei allen dieſen Gegnern der Urzeugung reicht das logiſche Denkvermögen nicht ſo weit, um einzuſehen, daß ſie ſich damit auf den übernatürlichen Boden des nackten Wunderglaubens ſtellen! Sehr richtig hat hiergegen ſchon Friedrich Zöllner in ſeinen „photometriſchen Unterſuchun— gen“ bemerkt (S. 263): „Daß einſt wirklich eine Generatio aequi- voca ſtattgefunden habe, kann für den menſchlichen Verſtand nicht an— ders als mit Aufhebung des Cauſalitätsgeſetzes geleugnet werden.“ Wie viel klarer, ſchärfer und logiſcher hat über dieſe wichtige Frage der Theologe Strauß geurtheilt (a. a. O. S. 172 u. f.), mit viel tie⸗ ferem Naturverſtändniß als alle jene „exacten Naturforſcher“! Der Vorwurf, welcher der Deſcendenz-Theorie jetzt noch am häufigſten gemacht wird, lautet, daß ſie nicht ſicher genug begrün— Vorwort zur vierten Auflage. XLI det, nicht genügend bewieſen ſei. Nicht allein ihre entfchiedenen Gegner behaupten den Mangel an ſicheren Beweiſen; ſondern auch viele halbe und unſichere Anhänger meinen, daß allerdings die Hypotheſe Darwin's noch gründlicher bewieſen werden müſſe. Weder Dieſe noch Jene würdigen das unermeßliche Gewicht, welches die großen Erſcheinungs-Reihen der vergleichenden Anatomie und On— togenie, der Paläontologie und Syſtematik, der Chorologie und Oecologie zu Gunſten der Abſtammungslehre in die Wagſchale wer— fen. Auch die Selections-Theorie Darwin's, welche durch die Wech— ſelwirkung der Vererbung und Anpaſſung im Kampfe um's Daſein die Entſtehung der Arten vollſtändig erklärt, erſcheint ihnen nicht genügend. Sie verlangen vielmehr, daß die Abſtammung der Spe— cies von gemeinſamen Stammformen im Einzelnen nachgewieſen werde, daß im Gegenſatz zu den angeführten ſynthetiſchen Be— weiſen für die Deſcendenz-Theorie vielmehr der analytiſche Be— weis von dem genealogiſchen Zuſammenhang der einzelnen Species geführt werde. Dieſe „analytiſche Löſung des Problems von der Entſtehung der Arten“ habe ich ſelbſt in meiner kürzlich erſchie— nenen Monographie der Kalkſchwämme (Berlin 1872) zu liefern geſuchts ). Fünf Jahre hindurch habe ich dieſe kleine, aber höchſt lehrreiche Thiergruppe in allen ihren Formen auf das Sorg— fältigſte unterſucht und darf wohl behaupten, daß die daraus her— vorgegangene Monographie die vollſtändigſte und genaueſte mor— phologiſche Analyſe einer ganzen Organismen-Gruppe darftellt, welche bisher gegeben worden iſt. Ausgeſtattet mit dem geſammten, bisher aufgeſpeicherten Unterſuchungs-Material und unterſtützt durch zahlreiche Zuſendungen aus allen Welttheilen konnte ich die geſammte Formengruppe der Kalkſchwämme in jener möglichſt erſchöpfenden Voll— ſtändigkeit bearbeiten, welche für den Nachweis des gemeinſamen Ur— ſprungs aller ihrer Arten unerläßlich ſchien. Grade dieſe Thiergruppe eignet ſich deßhalb ganz vorzüglich zur analytiſchen Löſung des Spe— cies-Problems, weil fie höchſt einfache Organiſations-Verhältniſſe XLII Vorwort zur vierten Auflage. darbietet, weil bei ihr die morphologiſchen Verhältniſſe eine ganz überwiegende Bedeutung beſitzen, das phyſiologiſche Intereſſe dage— gen zurücktritt, und weil alle Species von Kalkſchwämmen ſich durch eine ungewöhnlich ſtarke Flüſſigkeit und Biegſamkeit ihrer Form auszeichnen. Mit Rückſicht auf dieſe Verhältniſſe unternahm ich zwei Reiſen an die Meeresküſte (1869 nach Norwegen, 1871 nach Dalmatien), um möglichſt große Maſſen von Individuen in ihren natürlichen Verhältniſſen zu unterſuchen und zur Vergleichung zu ſammeln. Von vielen Arten habe ich mehrere Hundert Individuen auf das Sorgfältigſte verglichen. Von allen Species habe ich die geſammten Formverhältniſſe auf das Genaueſte mikroſkopiſch unter— ſucht und gemeſſen. Als End-Reſultat dieſer mühſeligen Unterſu— chungen und tauſendfältigen Meſſungen ergab ſich, daß „gute Arten“ (bonae species) im gewöhnlichen dogmatiſchen Sinne der Schule bei den Kalkſchwämmen überhaupt nicht exiſtiren, daß die verſchie— denſten Formen durch zahlloſe allmähliche Uebergänge mit einander verknüpft ſind, und daß alle verſchiedenen Arten von Calciſpongien von einer einzigen höchſt einfachen Stammform, dem Olynthus ab— ſtammen. Eine Abbildung des Olynthus und ſeiner früheſten Entwickelungs-Zuſtände (beſonders der außerordentlich wichtigen Ga— ſtrula) habe ich auf dem Titelblatt zur vorliegenden vierten Auf- lage gegeben. Abbildungen von ſämmtlichen Form-Verhältniſſen, welche die Abſtammung aller Caleiſpongien vom Olynthus erläutern, finden ſich in dem Atlas von ſechzig Tafeln, welcher die Monogra— phie der Kalkſchwämme begleitet. In der Gaſtrula iſt jetzt zu— gleich die gemeinſame Stammform gefunden, von welcher ſich alle Thierſtämme (nur die niederſte Gruppe der Urthiere ausgenommen) ohne Schwierigkeit ableiten laſſen. Sie gehört zu den älteſten und wichtigſten Vorfahren des Menſchengeſchlechts! Wenn man aus der in der Syſtematik üblichen Praxis ſich einen Durchſchnitts-Maaßſtab für die Begriffe von Genus und Species bildet und dieſen auf die ſämmtlichen bisher bekannten Kalkſchwämme anwendet, ſo kann man unter denſelben ungefähr Vorwort zur vierten Auflage. XLIII 21 Gattungen mit 111 Arten unterſcheiden (wie das im natürlichen Syſtem des zweiten Bandes der Monographie geſchehen iſt). Ich habe aber gezeigt, daß man neben dieſem Syſtem auch noch ein zweites (näher an das bisherige Syſtem der Calciſpongien ſich an— ſchließendes) Syſtem aufſtellen kann, welches 39 Genera und 289 Species enthält. Ein Syſtematiker, welcher dem Species-Begriff eine engere Ausdehnung gibt, könnte dieſelbe Formen-Maſſe auf 43 Gattungen und 381 Arten oder gar auf 113 Genera und 591 Species vertheilen; ein anderer Syſtematiker hingegen, der den Spe— cies-Begriff weiter faßt, brauchte in derſelben Formen-Maſſe nur 3 Gattungen mit 21 Arten oder auch nur eine einzige Gattung mit 7 Arten zu unterſcheiden. Die Abgrenzung der Species und Genera erſcheint bei den zahlloſen Varietäten und Uebergangs-For⸗ men in dieſer Gruppe eben ſo willkührlich, daß ſie vollkommen dem ſubjectiven Geſchmacke des einzelnen Syſtematikers überlaſſen bleibt. In Wirklichkeit erſcheint ja auch vom Standpunkte der Entwicke— lungs-Theorie die Frage, ob man den verwandten Formen-Grup— pen einen weiteren oder engeren Umfang geben, ob man ſie als Genera oder Species, als Varietäten oder Subſpecies auffaſſen will, völlig gleichgültig. Die Hauptſache, der gemeinſame Urſprung aller Arten aus einer Stammform, bleibt erwieſen. Die vielgeſtal⸗ tigen Kalkſchwämme liefern aber auch außerdem dafür in dem höchſt merkwürdigen Verhältniſſe der Metrocormie einen directen Beweis, wie er nicht ſchlagender gedacht werden kann. Es tritt hier gar nicht ſelten der Fall ein, daß aus einem einzigen Stocke oder Cor— mus mehrere verſchiedene Formen hervorwachſen, welche bisher in dem Syſteme als ganz verſchiedene Species, ja ſogar als verſchie— dene Genera angeſehen worden waren. Figur 10 des Titelblattes ſtellt einen ſolchen metrocormotiſchen Stock dar. Dieſer handgreif— liche Beweis für die gemeinſame Deſcendenz verſchiedener Species ſollte doch wohl dem ärgſten Zweifler genügen! In der That darf ich jetzt wohl von meinen Gegnern erwarten, daß ſie den hier gelieferten „exact empiriſchen Beweis“ berück— XLIV Vorwort zur vierten Auflage. ſichtigen, den ſie ſo eifrig verlangt haben. Diejenigen Gegner der Abſtammungslehre, welche zu wenig Urtheilsfähigkeit oder zu wenig Kenntniſſe beſitzen, um die überzeugende Beweiskraft der ſyntheti— ſchen Argumente (der vergleichenden Anatomie, Ontogenie, Syſte— matik u. ſ. w.) zu würdigen, mögen mir auf die Bahn des ana— lytiſchen Beweiſes folgen und die Darſtellung widerlegen, welche ich von der gemeinſamen Abſtammung aller Kalkſchwamm-Arten in meiner Monographie gegeben habe. Ich muß aber wiederholen, daß dieſe Darſtellung ſich auf die genaueſte Unterſuchung eines außerordentlich reichen empiriſchen Materials ſtützt, daß ſie durch Tauſende der ſorgfältigſten mikroſkopiſchen Beobachtungen, Meſſun⸗ gen und Vergleichungen aller einzelnen Theile feſt begründet iſt, und daß Tauſende von geſammelten mikroſkopiſchen Präparaten jeden Augenblick die ſchärfſte kritiſche Controle meiner Angaben ge— ſtatten. Möge man doch verſuchen, mich auf dem Boden dieſer „exacten Empirie“ anzugreifen, ſtatt meine „naturphiloſophiſchen Speculationen“ zu verdammen, und möge man den Beweis zu führen verſuchen, daß dieſe letzteren nicht naturgemäß aus jenen er— ſteren unmittelbar folgen. Möge man mich aber mit der leeren, auch von angeſehenen Naturforſchern noch oft wiederholten Phraſe verſchonen, daß die moniſtiſche Natur-Philoſophie, wie fie in der generellen Morphologie und der natürlichen Schöpfungsgeſchichte auf dem Fundamente der Deſcendenz-Theorie begründet iſt, der thatſäch— lichen Beweiſe entbehre. Die Beweiſe ſind da; wer ſich allerdings vor denſelben die Augen zuhält, wird ſie natürlich nicht ſehen. Ge— rade jene „exacte“ Form des analytiſchen Beweiſes, wie ſie die Gegner der Deſcendenz-Theorie verlangen, findet Jeder, der fie fin— den will, in der Monographie der Kalkſchwämme. Jena, am 24ten Juni 1873. Eruſt Heinrich Haeckel. Die Natur. Natur! Wir ſind von ihr umgeben und umſchlungen — unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in ſie hinein zu kommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt ſie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt ſich mit uns fort, bis wir ermüdet ſind und ihrem Arme ent— fallen. Sie ſchafft ewig neue Geſtalten; was da iſt, war noch nie; was war, kommt nicht wieder: Alles iſt neu und doch immer das Alte. Sie ſcheint alles auf Individualität angelegt zu haben, und macht ſich Nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerſtört immer, und ihre Werkſtätte iſt unzugänglich. N Sie lebt in lauter Kindern; und die Mutter, wo iſt ſie? Sie iſt die einzige Künſtlerin: aus dem ſimpelſten Stoffe zu den größten Contraſten; ohne Schein der Anſtrengung zu der größten Vollendung; zur genaueſten Beſtimmtheit, immer mit etwas Weichem überzogen. Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Weſen, jede ihrer Erſcheinungen den iſolirteſten Begriff, und doch macht alles Eins aus. Es iſt ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt ſie nicht weiter. Sie verwandelt ſich ewig, und iſt kein Moment Stillſtehen in ihr. Für's Bleiben hat ſie keinen Begriff, und ihren Fluch hat ſie an's Stillſtehen gehängt. Sie iſt feſt: ihr Tritt iſt gemeſſen, ihre Ausnahmen ſelten, ihre Geſetze unwandelbar. Sie läßt jedes Kind an ihr künſteln, jeden Thoren über ſie richten, tauſende ſtumpf über ſie hingehen und nichts ſehen, und hat an allen ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung. XLVI Die Natur. Man gehorcht ihren Geſetzen, auch wenn man ihnen widerſtrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen ſie wirken will. Sie macht Alles, was ſie giebt, zur Wohlthat; denn ſie macht es erſt unentbehrlich. Sie ſäumt, daß man ſie verlange; ſie eilt, daß man ſie nicht ſatt werde. Sie hat keine Sprache noch Rede, aber ſie ſchafft Zungen und Herzen, durch die ſie fühlt und ſpricht. Ihre Krone iſt die Liebe; nur durch ſie kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte zwiſchen allen Weſen, und Alles will ſie verſchlingen. Sie hat alles iſolirt, um alles zuſammen zu ziehen. Durch ein paar Züge aus dem Becher der Liebe hält ſie für ein Leben voll Mühe ſchadlos. Sie iſt alles. Sie belohnt ſich ſelbſt und beſtraft ſich ſelbſt, erfreut und quält ſich ſelbſt. Sie iſt rauh und gelinde, lieblich und ſchrecklich, kraftlos und allgewaltig. Alles iſt immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt fie nicht. Gegenwart iſt ihr Ewigkeit. Sie iſt gütig. Ich preiſe fie mit allen ihren Werken. Sie iſt weiſe und ſtill. Man reißt ihr keine Er— klärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geſchenk ab, das ſie nicht freiwillig giebt. Sie iſt liſtig, aber zu gutem Ziele, und am beſten iſt's, ihre Liſt nicht zu merken. Sie iſt ganz, und doch immer unvollendet. So wie fies treibt, kann ſie's immer treiben. Jedem erſcheint fie in einer eigenen Geſtalt. Sie ver- birgt ſich in tauſend Namen und Termen, und iſt immer dieſelbe. Sie hat mich hereingeſtellt, fie wird mich auch herausführen. Ich ver— traue mich ihr. Sie mag mit mir ſchalten; ſie wird ihr Werk nicht haſſen. Ich ſprach nicht von ihr: nein, was wahr iſt und was falſch iſt, alles hat ſie geſprochen. Alles iſt ihre Schuld, alles iſt ihr Verdienſt. Goethe (1780). Natürliche Schöpfungsgeſchichte oder wiſſenſchaftliche Entwickelungslehre. „Nach ewigen ehernen „Großen Geſetzen „Müſſen wir Alle „Unſeres Daſeins „Kreiſe vollenden!“ Goethe. Erſter Vortrag. Inhalt und Bedeutung der Abſtammungslehre oder Deſeendenztheorie. Allgemeine Bedeutung und weſentlicher Inhalt der von Darwin reformirten Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie. Beſondere Bedeutung derſelben für die Biologie (Zoologie und Botanik). Beſondere Bedeutung derſelben für die natür— liche Entwickelungsgeſchichte des Menſchengeſchlechts. Die Abſtammungslehre als natürliche Schöpfungsgeſchichte. Begriff der Schöpfung. Wiſſen und Glauben. Schöpfungsgeſchichte und Entwickelungsgeſchichte. Zuſammenhang der individuellen und paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte. Unzweckmäßigkeitslehre oder Wiſſen— ſchaft von den rudimentären Organen. Unnütze und überflüſſige Einrichtungen im Organismus. Gegenſatz der beiden grundverſchiedenen Weltanſchauungen, der moniſtiſchen (mechaniſchen, cauſalen) und der dualiſtiſchen (teleologiſchen, vitalen). Begründung der erſteren durch die Abſtammungslehre. Einheit der organiſchen und anorganiſchen Natur, und Gleichheit der wirkenden Urſachen in Beiden. Be— deutung der Abſtammungslehre für die einheitliche (moniſtiſche) Auffaſſung der ganzen Natur. Meine Herren! Die geiſtige Bewegung, zu welcher der engliſche Naturforſcher Charles Darwin vor vierzehn Jahren durch ſein berühmtes Werk „über die Entſtehung der Arten“ 1) den Anſtoß gab, hat während dieſes kurzen Zeitraums einen Umfang angenommen, der die allgemeinſte Theilnahme erregen muß. Allerdings iſt die in jenem Werke dargeſtellte naturwiſſenſchaftliche Theorie, welche man gewöhn— lich kurzweg die Darwin'ſche Theorie oder den Darwinismus nennt, nur ein geringer Bruchtheil einer viel umfaſſenderen Lehre, Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 1 2 Allgemeine Bedentung der Abſtammungslehre. nämlich der univerſalen Entwickelungs-Theorie, welche ihre unermeßliche Bedeutung über das ganze Gebiet aller menſchlichen Wiſ— ſenſchaft erſtreckt. Allein die Art und Weiſe, in welcher Darwin die letztere durch die erſtere feſt begründet hat, iſt ſo überzeugend, und die entſcheidende Wendung, welche durch die nothwendigen Folgeſchlüſſe jener Theorie in der geſammten Weltanſchauung der Menſchheit ange— bahnt worden iſt, muß jedem tiefer denkenden Menſchen ſo gewaltig erſcheinen, daß man ihre allgemeine Bedeutung nicht hoch genug an— ſchlagen kann. Ohne Zweifel muß dieſe ungeheuere Erweiterung un— ſeres menſchlichen Geſichtskreiſes unter allen den zahlreichen und großar— tigen Fortſchritten, welche die Naturwiſſenſchaft in unſerer Zeit gemacht hat, als der bei weitem folgenreichſte und wichtigſte angeſehen werden. Wenn man unſer Jahrhundert mit Recht das Zeitalter der Na— turwiſſenſchaften nennt, wenn man mit Stolz auf die unermeßlich be— deutenden Fortſchritte in allen Zweigen derſelben blickt, ſo pflegt man dabei gewöhnlich weniger an die Erweiterung unſerer allgemeinen Naturerkenntniß, als vielmehr an die unmittelbaren praktiſchen Erfolge jener Fortſchritte zu denken. Man erwägt dabei die völlige und un— endlich folgenreiche Umgeſtaltung des menſchlichen Verkehrs, welche durch das entwickelte Maſchinenweſen, durch die Eiſenbahnen, Dampf— ſchiffe, Telegraphen und andere Erfindungen der Phyſik hervorgebracht worden iſt. Oder man denkt an den ungeheuren Einfluß, welchen die Chemie in der Heilkunſt, in der Landwirthſchaft, in allen Künſten und Gewerben gewonnen hat. Wie hoch Sie aber auch dieſen Ein— fluß der neueren Naturwiſſenſchaft auf das praktiſche Leben anſchlagen mögen, fo muß derſelbe, von einem höheren und allgemeineren Stand— punkt aus gewürdigt, doch unbedingt hinter dem ungeheuren Einfluß zurückſtehen, welchen die theoretiſchen Fortſchritte der heutigen Natur— wiſſenſchaft auf die geſammte Erkenntniß des Menſchen, auf ſeine ganze Weltanſchauung und die Vervollkommnung ſeiner Bildung noth— wendig gewinnen werden. Denken Sie nur an den unermeßlichen Umſchwung aller unſerer theoretiſchen Anſchauungen, welchen wir der allgemeinen Anwendung des Mikroſkops verdanken. Denken Sie Allgemeine Bedeutung der Abſtammungslehre. 3 allein an die Zellentheorie, die uns die ſcheinbare Einheit des menſch— lichen Organismus als das zuſammengeſetzte Reſultat aus der ſtaat— lichen Verbindung einer Maſſe elementarer Lebenseinheiten, der Zellen, nachweiſt. Oder erwägen Sie die ungeheure Erweiterung unſeres theoretiſchen Geſichtskreiſes, welche wir der Spektral-Analyſe und der Lehre von der Wärme-Mechanik verdanken. Unter allen dieſen be— wunderungswürdigen theoretiſchen Fortſchritten nimmt aber jedenfalls die von Darwin ausgebildete Theorie bei weitem den höchſten Rang ein. Jeder von Ihnen wird den Namen Darwins gehört haben. Aber die Meiſten von Ihnen werden wahrſcheinlich nur unvollkom— mene Vorſtellungen von dem eigentlichen Werthe ſeiner Lehre beſitzen. Denn wenn man Alles vergleicht, was ſeit dem Erſcheinen von Dar— wins epochemachendem Werk über daſſelbe geſchrieben worden iſt, ſo muß demjenigen, der ſich nicht näher mit den organiſchen Natur— wiſſenſchaften befaßt hat, der nicht in die inneren Geheimniſſe der Zoologie und Botanik eingedrungen iſt, der Werth jener Theorie ſehr zweifelhaft erſcheinen. Die Beurtheilung derſelben iſt ſo widerſpruchs— voll, größtentheil® jo mangelhaft, daß es uns nicht Wunder nehmen darf, wenn noch jetzt, vierzehn Jahre nach dem Erſcheinen von Dar— wins Werk, dasſelbe nicht entfernt die Bedeutung erlangt hat, welche ihm von Rechtswegen gebührt, und welche es jedenfalls früher oder ſpäter erlangen wird. Die allermeiſten von den zahlloſen Schriften, welche für und gegen den Darwinismus während dieſes Zeitraums veröffentlicht wurden, ſind von Leuten geſchrieben worden, denen der dazu erforderliche Grad von biologiſcher, und beſonders von zoologi— ſcher Bildung durchaus fehlt. Obwohl faſt alle bedeutenderen Natur— forſcher der Gegenwart jetzt zu den Anhängern jener Theorie gehören, haben doch nur wenige derſelben Geltung und Verſtändniß in weite— ren Kreiſen zu verſchaffen geſucht. Daher rühren die befremdenden Widerſprüche und die ſeltſamen Urtheile, die man noch heute allent— halben über den Darwinismus hören kann. Gerade dieſer Umſtand iſt es, welcher mich vorzugsweiſe beſtimmt, die Darwinſche Theorie 1 * 4 Weſentlicher Inhalt der Abſtammungslehre. und die damit zuſammenhängenden weiteren Lehren zum Gegenſtand dieſer allgemein verſtändlichen Vorträge zu machen. Ich halte es für die Pflicht der Naturforſcher, daß ſie nicht allein in dem engeren Kreiſe, den ihre Fachwiſſenſchaft ihnen vorſchreibt, auf Verbeſſerungen und Entdeckungen ſinnen, daß ſie ſich nicht allein in das Studium des Einzelnen mit Liebe und Sorgfalt vertiefen, ſondern daß fie auch die wichtigen, allgemeinen Reſultate ihrer beſonderen Studien für das Ganze nutzbar machen, und daß ſie naturwiſſenſchaftliche Bildung im ganzen Volke verbreiten helfen. Der höchſte Triumph des menſch— lichen Geiſtes, die wahre Erkenntniß der allgemeinſten Naturgeſetze, darf nicht das Privateigenthum einer privilegirten Gelehrtenkaſte blei— ben, ſondern muß Gemeingut der ganzen Menſchheit werden. Die Theorie, welche durch Darwin an die Spitze unſerer Na— turerkenntniß geſtellt worden iſt, pflegt man gewöhnlich als A b— ſtammungslehre oder Deſcendenztheorie zu bezeichnen. Andere nennen fie Umbildungslehre oder Transmutations— theorie. Beide Bezeichnungen ſind richtig. Denn dieſe Lehre be— hauptet, daß alle verſchiedenen Organismen (d. h. alle Thier— arten und alle Pflanzenarten, welche jemals auf der Erde gelebt haben, und noch jetzt leben), von einer einzigen oder von we— nigen höchſt einfachen Stammformen abſtammen, und daß ſie ſich aus dieſen auf dem natürlichen Wege allmähli— cher Umbildung entwickelt haben. Obwohl dieſe Entwicke— lungstheorie ſchon im Anfange unſeres Jahrhunderts von verſchiedenen großen Naturforſchern, insbeſondere von Lamarck?) und Goethe?) aufgeſtellt und vertheidigt wurde, hat ſie doch erſt vor vierzehn Jah— ren durch Darwin ihre vollſtändige Ausbildung und ihre urſächliche Begründung erfahren, und das iſt der Grund, weshalb ſie jetzt ge— wöhnlich ausſchließlich (obwohl nicht ganz richtig); als Darwins Theorie bezeichnet wird. Der hohe und wirklich unſchätzbare Werth der Abſtammungs— lehre erſcheint in einem verſchiedenen Lichte, je nach dem Sie bloß deren nähere Bedeutung für die organiſche Naturwiſſenſchaft, oder Bedeutung der Abſtammungslehre für Biologie. 5 aber ihren weiteren Einfluß auf die geſammte Welterkenntniß des Menſchen in Betracht ziehen. Die organiſche Naturwiſſenſchaft oder die Biologie, welche als Zoologie die Thiere, als Botanik die Pflanzen zum Gegenſtand ihrer Erkenntniß hat, wird durch die Abſtammungslehre von Grund aus umgeſtaltet und neu begründet. Denn die Deſcendenztheorie macht uns mit den wirkenden Ur— ſachen der organiſchen Formerſcheinungen bekannt, während die bis— herige Thier- und Pflanzenkunde ſich bloß mit den Thatſachen die— ſer Erſcheinungen beſchäftigte. Man kann daher auch die Abſtam— mungslehre als die mechaniſche Erklärung der organiſchen Formerſcheinungen, oder als „die Lehre von den wahren Ur— ſachen in der organiſchen Natur“ bezeichnen. Da ich nicht vorausſetzen kann, daß Ihnen Allen die Ausdrücke „organiſche und anorganiſche Natur“ geläufig ſind, und da uns die Gegenüberſtellung dieſer beiderlei Naturkörper in der Folge noch vielfach beſchäftigen wird, ſo muß ich ein paar Worte zur Ver— ſtändigung darüber vorausſchicken. Organismen oder organi— ſche Naturkörper nennen wir alle Lebeweſen oder belebten Körper, alſo alle Pflanzen und Thiere, den Menſchen mit inbegriffen, weil bei ihnen faſt immer eine Zuſammenſetzung aus verſchiedenarti— gen Theilen (Werkzeugen oder „Organen“) nachzuweiſen iſt, welche zuſammenwirken, um die Lebenserſcheinungen hervorzubringen. Eine ſolche Zuſammenſetzung vermiſſen wir dagegen bei den Anorganen oder anorganiſchen Naturkörpern, den ſogenannten todten oder unbelebten Körpern, den Mineralien oder Geſteinen, dem Waſſer, der atmoſphäriſchen Luft u. ſ. w. Die Organismen enthalten ſtets eiweißartige Kohlenſtoffverbindungen in feſtflüſſigem Aggregatzuſtande, während dieſe den Anorganen ſtets fehlen. Auf dieſem wichtigen Un— terſchiede beruht die Eintheilung der geſammten Naturwiſſenſchaft in zwei große Hauptabtheilungen, die Biologie oder Wiſſenſchaft von den Organismen (Zoologie und Botanik), und die Anorganologie oder Wiſſenſchaft von den Anorganen (Mineralogie, Geologie, Me— teorologie u. ſ. w.). 6 Bedeutung der Abſtammungslehre für die Anthropologie. Der unſchätzbare Werth der Abſtammungslehre für die Biologie liegt alſo, wie bemerkt, darin, daß ſie uns die Entſtehung der organi— ſchen Formen auf mechaniſchem Wege erklärt, und deren wirkende Ur— ſachen nachweiſt. So hoch man aber auch mit Recht dieſes Verdienſt der Deſcendenztheorie anſchlagen mag, ſo tritt daſſelbe doch faſt zurück vor der unermeßlichen Bedeutung, welche eine einzige nothwendige Folgerung derſelben für ſich allein in Anſpruch nimmt. Dieſe noth— wendige und unvermeidliche Folgerung iſt die Lehre von der thieriſchen Abſtammung des Menſchengeſchlechts. Die Beſtimmung der Stellung des Menſchen in der Natur und ſeiner Beziehungen zur Geſammtheit der Dinge, dieſe Frage aller Fragen für die Menſchheit, wie fie Huxley 6) mit Recht nennt, wird durch jene Erkenntniß der thieriſchen Abſtammung des Menſchen— geſchlechts endgültig gelöſt. Wir gelangen alſo in Folge der von Darwin reformirten Deſcendenztheorie zum erſten Male in die Lage, eine natürliche Entwickelungsgeſchichte des Menſchenge— ſchlechts wiſſenſchaftlich begründen zu können. Sowohl alle Ver— theidiger, als alle denkenden Gegner Darwins haben anerkannt, daß die Abſtammung des Menſchengeſchlechts zunächſt von affenarti— gen Säugethieren, weiterhin aber von niederen Wirbelthieren, mit Nothwendigkeit aus ſeiner Theorie folgt. Allerdings hat Darwin dieſe wichtigſte von allen Folgerungen ſeiner Lehre nicht ſofort ſelbſt ausgeſprochen. In ſeinem Werke „von der Entſtehung der Arten“ findet ſich kein Wort von der thieriſchen Abſtammung des Menſchen. Der eben ſo vorſichtige als kühne Natur- forſcher ging damals abſichtlich mit Stillſchweigen darüber hinweg, weil er vorausſah, daß dieſer bedeutendſte von allen Folgeſchlüſſen der Abſtammungslehre zugleich das bedeutendſte Hinderniß für die Verbrei— tung und Anerkennung derſelben ſein werde. Gewiß hätte Darwins Buch von Anfang an noch weit mehr Widerſpruch und Aergerniß er— regt, wenn ſogleich dieſe wichtigſte Konſequenz darin klar ausgeſpro— chen worden wäre. Erſt zwölf Jahre ſpäter, in dem 187! erſchiene— nen Werke über „die Abſtammung des Menſchen und die geſchlechtliche Die Abſtammungslehre als natürliche Schöpfungsgeſchichte. 7 Zuchtwahl“ 43) hat Darwin jenen weitreichendſten Folgeſchluß offen anerkannt und ausdrücklich ſeine volle Uebereinſtimmung mit den Na— turforſchern erklärt, welche denſelben inzwiſchen ſchon ſelbſt gezogen hatten. Offenbar iſt die Tragweite dieſer Folgerung ganz unermeß— lich, und keine Wiſſenſchaft wird ſich den Konſequenzen derſelben entziehen können. Die Anthropologie oder die Wiſſenſchaft vom Menſchen, und in Folge deſſen auch die ganze Philoſophie wird in allen einzelnen Zweigen dadurch von Grund aus umgeſtaltet. Es wird erſt die ſpätere Aufgabe meiner Vorträge ſein, dieſen beſonderen Punkt zu erörtern. Ich werde die Lehre von der thieriſchen Abſtammung des Menſchen erſt behandeln, nachdem ich Ihnen Dar— wins Theorie in ihrer allgemeinen Begründung und Bedeutung vor— getragen habe. Um es mit einem Worte auszudrücken, ſo iſt jene äußerſt bedeutende, aber die meiſten Menſchen von vorn herein abſto— ßende Folgerung nichts weiter als ein beſonderer Deduktionsſchluß, den wir aus dem ſicher begründeten allgemeinen Induktionsgeſetz der Deſcendenztheorie nach den ſtrengen Geboten der unerbittlichen Logik nothwendig ziehen müſſen. ö Vielleicht iſt nichts geeigneter, Ihnen die ganze und volle Bedeu— tung der Abſtammungslehre mit zwei Worten klar zu machen, als die Bezeichnung derſelben mit dem Ausdruck: „Natürliche Schöpfungs— geſchichte“. Ich habe daher auch ſelbſt dieſe Bezeichnung für die folgenden Vorträge gewählt. Jedoch iſt dieſelbe nur in einem gewiſ— ſen Sinne richtig, und es iſt zu berückſichtigen, daß, ſtreng genommen, der Ausdruck „natürliche Schöpfungsgeſchichte“ einen inneren Wider— ſpruch, eine „Contradictio in adjecto“ einſchließt. Laſſen Sie uns, um dies zu verſtehen, einen Augenblick den Be— griff der Schöpfung etwas näher ins Auge faſſen. Wenn man unter Schöpfung die Entſtehung eines Körpers durch eine ſchaffende Gewalt oder Kraft verſteht, ſo kann man dabei entweder an die Entſtehung ſeines Stoffes (der körperlichen Materie) oder an die Entſtehung ſeiner Form (der körperlichen Geſtalt) denken. 8 Begriff der Schöpfung. Wiſſen und Glauben. Die Schöpfung im erſteren Sinne, als die Entſtehung 2 Materie, geht uns hier gar nichts an. Dieſer Vorgang, wenn er überhaupt jemals ſtattgefunden hat, iſt gänzlich der menſchlichen Er— kenntniß entzogen, und kann daher auch niemals Gegenſtand natur— wiſſenſchaftlicher Erforſchung ſein. Die Naturwiſſenſchaft hält die Materie für ewig und unvergänglich, weil durch die Erfahrung noch niemals das Entſtehen und Vergehen auch nur des kleinſten Theilchens der Materie nachgewieſen worden iſt. Da wo ein Naturkörper zu verſchwinden ſcheint, wie z. B. beim Verbrennen, beim Verweſen, beim Verdunſten u. ſ. w., da ändert er nur ſeine Form, ſeinen phyſikali— ſchen Aggregatzuſtand oder ſeine chemiſche Verbindungsweiſe. Ebenſo beruht das Entſtehen eines neuen Naturkörpers, z. B. eines Kryſtalles, eines Pilzes, eines Infuſoriums, nur darauf, daß verſchiedene Stoff— theilchen, welche vorher in einer gewiſſen Form oder Verbindungs— weiſe exiſtirten, in Folge von veränderten Exiſtenz-Bedingungen eine neue Form oder Verbindungsweiſe annehmen. Aber noch niemals iſt ein Fall beobachtet worden, daß auch nur das kleinſte Stofftheil— chen aus der Welt verſchwunden, oder nur ein Atom zu der bereits vorhandenen Maſſe hinzugekommen iſt. Der Naturforſcher kann ſich daher ein Entſtehen der Materie ebenſo wenig als ein Vergehen derſelben vorſtellen, und betrachtet deshalb die in der Welt beſte⸗ hende Quantität der Materie als eine gegebene Thatſache. Fühlt Jemand das Bedürfniß, ſich die Entſtehung dieſer Materie als die Wirkung einer übernatürlichen Schöpfungsthätigkeit, einer außerhalb der Materie ſtehenden ſchöpferiſchen Kraft vorzuſtellen, ſo haben wir nichts dagegen. Aber wir müſſen bemerken, daß damit auch nicht das Geringſte für eine wiſſenſchaftliche Naturerkenntniß gewonnen iſt. Eine ſolche Vorſtellung von einer immateriellen Kraft, welche die Materie erſt ſchafft, iſt ein Glaubensartikel, welcher mit der menſchlichen Wiſſenſchaft gar nichts zu thun hat. Wo der Glaube anfängt, hört die Wiſſenſchaft auf. Beide Thätigkeiten des menſchlichen Geiſtes ſind ſcharf von einander zu halten. Der Glaube hat ſeinen Urſprung in der dichtenden Einbildungskraft, das Wiſſen Schöpfungsgeſchichte und Entwickelungsgeſchichte. 9 dagegen in dem erkennenden Verſtande des Menſchen. Die Wiſſen— ſchaft hat die ſegenbringenden Früchte von dem Baume der Erkennt— niß zu pflücken, unbekümmert darum, ob dieſe Eroberungen die dich— teriſchen Einbildungen der Glaubenſchaft beeinträchtigen oder nicht. Wenn alſo die Naturwiſſenſchaft ſich die „natürliche Schöpfungs— geſchichte“ zu ihrer höchſten, ſchwerſten und lohnendſten Aufgabe macht, ſo kann ſie den Begriff der Schöpfung nur in der zweiten, oben ange— führten Bedeutung verſtehen, als die Entſtehung der Form der Naturkörper. In dieſer Beziehung kann man die Geologie, welche die Entſtehung der geformten anorganiſchen Erdoberfläche und die mannichfaltigen geſchichtlichen Veränderungen in der Geſtalt der feſten Erdrinde zu erforſchen ſtrebt, die Schöpfungsgeſchichte der Erde nennen. Ebenſo kann man die Entwickelungsgeſchichte der Thiere und Pflanzen, welche die Entſtehung der belebten Formen, und den mannichfaltigen hiſtoriſchen Wechſel der thieriſchen und pflanzlichen Geſtalten unterſucht, die Schöpfungsgeſchichte der Organismen nennen. Da jedoch leicht in den Begriff der Schöpfung, anch wenn er in dieſem Sinne ge— braucht wird, ſich die unwiſſenſchaftliche Vorſtellung von einem außer— halb der Materie ſtehenden und dieſelbe umbildenden Schöpfer ein— ſchleicht, ſo wird es in Zukunft wohl beſſer ſein, denſelben durch die ſtrengere Bezeichnung der Entwickelung zu erſetzen. Der hohe Werth, welchen die Entwickelungsgeſchichte für das wiſſenſchaftliche Verſtändniß der Thier- und Pflanzenformen be— ſitzt, iſt jetzt ſeit mehreren Jahrzehnten fo allgemein anerkannt, daß man ohne ſie keinen ſicheren Schritt in der organiſchen Morphologie oder Formenlehre thun kann. Jedoch hat man faſt immer unter Ent— wickelungsgeſchichte nur einen Theil dieſer Wiſſenſchaft, nämlich die— jenige der organiſchen Individuen oder Einzelweſen verſtanden, welche gewöhnlich Embryologie, richtiger und umfaſſender aber Ontogenie genannt wird. Außer dieſer giebt es aber auch noch eine Entwicke— lungsgeſchichte der organiſchen Arten, Klaſſen und Stämme (Phylen), welche zu der erſteren in den wichtigſten Beziehungen ſteht. Das Material dafür liefert uns die Verſteinerungskunde oder Paläonto— 10 Individuelle und paläontologiſche Entwickelungsgeſchichte. logie, welche uns zeigt, daß jeder Stamm (Phylum) von Thieren und Pflanzen während der verſchiedenen Perioden der Erdgeſchichte durch eine Reihe von ganz verſchiedenen Klaſſen und Arten vertreten war. So war z. B. der Stamm der Wirbelthiere durch die Klaſſen der Fiſche, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere vertreten, und jede dieſer Klaſſen zu verſchiedenen Zeiten durch ganz verſchiedene Arten. Dieſe paläontologiſche Entwickelungsgeſchichte der Organismen, welche man als Stammesgeſchichte oder Phylogenie bezeichnen kann, ſteht in den wichtigſten und merkwürdigſten Beziehungen zu dem andern Zweige der organischen Entwickelungsgeſchichte, derjenigen der Indi— viduen oder der Ontogenie. Die letztere läuft der erſteren im Großen und Ganzen parallel. Um es kurz mit einem Satze zu ſagen, ſo iſt die individuelle Entwickelungsgeſchichte oder die Ontogenie eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung bedingte Wiederholung oder Rekapitulation der paläontologiſchen Entwicke— lungsgeſchichte oder der Phylogenie. Da ich Ihnen dieſe höchſt intereſſante und bedeutſame Thatſache ſpäter noch ausführlicher zu erläutern habe, ſo will ich mich hier nicht dabei weiter aufhalten, und nur hervorheben, daß dieſelbe einzig und allein durch die Abſtammungslehre erklärt und in ihren Urſachen ver— ſtanden wird, während ſie ohne dieſelbe gänzlich unverſtändlich und unerklärlich bleibt. Die Deſcendenztheorie zeigt uns dabei zugleich, warum überhaupt die einzelnen Thiere und Pflanzen ſich entwickeln müſſen, warum dieſelben nicht gleich in fertiger und entwickelter Form ins Leben treten. Keine übernatürliche Schöpfungsgeſchichte vermag uns das große Räthſel der organischen Entwickelung irgendwie zu er— klären. Ebenſo wie auf dieſe hochwichtige Frage giebt uns die De— ſcendenztheorie auch auf alle anderen allgemeinen biologiſchen Fragen vollkommen befriedigende Antworten, und zwar immer Antworten, welche rein mechaniſch-cauſaler Natur ſind, welche lediglich natürliche, phyſikaliſch-chemiſche Kräfte als die Urſachen von Erſcheinungen nach— weiſen, die man früher gewohnt war, der unmittelbaren Einwirkung übernatürlicher, ſchöpferiſcher Kräfte zuzuſchreiben. Mithin wird durch Rudimentäre oder unzweckmäßige Organe. 11 unſere Theorie aus allen Gebietstheilen der Botanik und Zoologie, und namentlich auch aus dem wichtigſten Theile der letzteren, aus der Anthropologie, der myſtiſche Schleier des Wunderbaren und Ueber— natürlichen entfernt, mit welchem man bisher die verwickelten Erſchei— nungen dieſer natürlichen Erkenntniß-Gebiete zu verhüllen liebte. Das unklare Nebelbild mythologiſcher Dichtung kann vor dem klaren Son— nenlichte naturwiſſenſchaftlicher Erkenntniß nicht länger beſtehen. Von ganz beſonderem Intereſſe ſind unter jenen allgemeinen bio— logiſchen Phänomenen diejenigen, welche ganz unvereinbar ſind mit der gewöhnlichen Annahme, daß jeder Organismus das Produkt einer zweckmäßig bauenden Schöpferkraft ſei. Nichts hat in dieſer Bezie— hung der früheren Naturforſchung ſo große Schwierigkeiten verurſacht, als die Deutung der ſogenannten „rudimentären Organe“, der— jenigen Theile im Thier- und Pflanzenkörper, welche eigentlich ohne Leiſtung, ohne phyſiologiſche Bedeutung, und dennoch formell vor— handen ſind. Dieſe Theile verdienen das allerhöchſte Intereſſe, ob— wohl ſie den meiſten Laien gar nicht oder nur wenig bekannt ſind. Faſt jeder Organismus, faſt jedes Thier und jede Pflanze, beſitzt neben den ſcheinbar zweckmäßigen Einrichtungen ſeiner Organiſation andere Einrichtungen, deren Zweck durchaus nicht einzuſehen iſt. Beiſpiele davon finden ſich überall. Bei den Embryonen man— cher Wiederkäuer, unter Andern bei unſerem gewöhnlichen Rindvieh, ſtehen Schneidezähne im Zwiſchenkiefer der oberen Kinnlade, welche niemals zum Durchbruch gelangen, alſo auch keinen Zweck haben. Die Embryonen mancher Walfiſche, welche ſpäterhin die bekannten Bar— ten ſtatt der Zähne beſitzen, tragen, ſo lange ſie noch nicht geboren ſind und keine Nahrung zu ſich nehmen, dennoch Zähne in ihren Kiefern; auch dieſes Gebiß tritt niemals in Thätigkeit. Ferner beſitzen die meiſten höheren Thiere Muskeln, die nie zur Anwendung kommen; ſelbſt der Menſch beſitzt ſolche rudimentäre Muskeln. Die Meiſten von uns ſind nicht fähig, ihre Ohren willkürlich zu bewegen, obwohl die Muskeln für dieſe Bewegung vorhanden ſind, und obwohl es ein— zelnen Perſonen, die ſich andauernd Mühe geben, dieſe Muskeln zu 12 Rudimentäre oder unzweckmäßige Organe. üben, in der That gelingt, ihre Ohren zu bewegen. In dieſen noch jetzt vorhandenen, aber verkümmerten Organen, welche dem vollſtän— digen Verſchwinden entgegen gehen, iſt es noch möglich, durch beſon— dere Uebung, durch andauernden Einfluß der Willensthätigkeit des Nervenſyſtems, die beinah erloſchene Thätigkeit wieder zu beleben. Dagegen vermögen wir dies nicht mehr in den kleinen rudimentären Ohrmuskeln, welche noch am Knorpel unſerer Ohrmuſchel vorkommen, aber immer völlig wirkungslos ſind. Bei unſeren langöhrigen Vor— fahren aus der Tertiärzeit, Affen, Halbaffen und Beutelthieren, welche gleich den meiſten anderen Säugethieren ihre große Ohrmuſchel frei und lebhaft bewegten, waren jene Muskeln viel ſtärker entwickelt und von großer Bedeutung. So haben in gleicher Weiſe auch viele Spiel— arten der Hunde und Kaninchen, deren wilde Vorfahren ihre ſteifen Ohren vielſeitig bewegten, unter dem Einfluſſe des Kulturlebens ſich jenes „Ohrenſpitzen“ abgewöhnt, und dadurch verkümmerte Ohrmus— keln und ſchlaff herabhängende Ohren bekommen. Auch noch an anderen Stellen ſeines Körpers beſitzt der Menſch ſolche rudimentäre Organe, welche durchaus von keiner Bedeutung für das Leben ſind und niemals funktioniren. Eines der merkwür— digſten, obwohl unſcheinbarſten Organe der Art iſt die kleine halb— mondförmige Falte, welche wir am inneren Winkel unſeres Auges, nahe der Naſenwurzel beſitzen, die ſogenannte „Plica semilunaris“. Dieſe unbedeutende Hautfalte, die für unſer Auge gar keinen Nutzen bietet, iſt der ganz verkümmerte Reſt eines dritten, inneren Augen— lides, welches neben dem oberen und unteren Augenlide bei anderen Säugethieren, bei Vögeln und Reptilien ſehr entwickelt iſt. Ja ſogar ſchon unſere uralten Vorfahren aus der Silurzeit, die Urfiſche, ſcheinen dies dritte Augenlid, die ſogenannte Nickhaut, beſeſſen zu haben. Denn viele von ihren nächſten Verwandten, die in wenig veränderter Form noch heute fortleben, viele Haifiſche nämlich, beſitzen eine ſehr ſtarke Nickhaut, die vom inneren Augenwinkel her über den ganzen Augapfel hinüber gezogen werden kann. Rudimentäre oder unzweckmäßige Organe. 13 Zu den ſchlagendſten Beiſpielen von rudimentären Organen ge— hören die Augen, welche nicht ſehen. Solche finden ſich bei ſehr vie— len Thieren, welche im Dunkeln, z. B. in Höhlen, unter der Erde leben. Die Augen ſind hier oft wirklich in ausgebildetem Zuſtande vorhanden; aber ſie ſind von der Haut bedeckt, ſo daß kein Lichtſtrahl in ſie hineinfallen kann, und ſie alſo auch niemals ſehen können. Solche Augen ohne Geſichtsfunktion beſitzen z. B. mehrere Arten von unter— irdiſch lebenden Maulwürfen und Blindmäuſen, von Schlangen und Eidechſen, von Amphibien (Proteus, Caecilia) und von Fiſchen; fer— ner zahlreiche wirbelloſe Thiere, die im Dunkeln ihr Leben zubringen: viele Käfer, Krebsthiere, Schnecken, Würmer u. ſ. w. Eine Fülle der intereſſanteſten Beiſpiele von rudimentären Orga— nen liefert die vergleichende Oſteologie oder Skeletlehre der Wirbel— thiere, einer der anziehendſten Zweige der vergleichenden Anatomie. Bei den allermeiſten Wirbelthieren finden wir zwei Paar Gliedmaaßen am Rumpf, ein Paar Vorderbeine und ein Paar Hinterbeine. Sehr häufig iſt jedoch das eine oder das andere Paar derſelben verkümmert, ſeltener beide, wie bei den Schlangen und einigen aalartigen Fiſchen. Aber einige Schlangen, z. B. die Rieſenſchlangen (Boa, Python) ha— ben hinten noch einige unnütze Knochenſtückchen im Leibe, welche die Reſte der verloren gegangenen Hinterbeine ſind. Ebenſo haben die walfiſchartigen Säugethiere (Cetaceen), welche nur entwickelte Vor— derbeine (Bruſtfloſſen) beſitzen, hinten im Fleiſche noch ein Paar ganz überflüſſige Knochen, welche ebenfalls Ueberbleibſel der verkümmerten Hinterbeine ſind. Daſſelbe gilt von vielen echten Fiſchen, bei denen in gleicher Weiſe die Hinterbeine (Bauchfloſſen) verloren gegangen ſind. Umgekehrt beſitzen unſere Blindſchleichen (Anguis) und einige andere Eidechſen inwendig ein vollſtändiges Schultergerüſte, obwohl die Vor— derbeine, zu deren Befeſtigung daſſelbe dient, nicht mehr vorhanden ſind. Ferner finden ſich bei verſchiedenen Wirbelthieren die einzelnen Knochen der beiden Beinpaare in allen verſchiedenen Stufen der Ver— kümmerung, und oft die rückgebildeten Knochen und die zugehörigen Muskeln ſtückweiſe erhalten, ohne doch irgendwie eine Verrichtung 14 Rudimentäre oder unzweckmäßige Organe. ausführen zu können. Das Inſtrument iſt noch da, aber es kann nicht mehr ſpielen. Faſt ganz allgemein finden Sie ferner rudimentäre Organe in den Pflanzenblüthen vor, indem der eine oder der andere Theil der männlichen Fortpflanzungsorgane (der Staubfäden und Staubbeutel), oder der weiblichen Fortpflanzungsorgane (Griffel, Fruchtknoten u. ſ. w.) mehr oder weniger verkümmert oder „fehlgeſchlagen“ (abortirt) iſt. Auch hier können Sie bei verſchiedenen, nahe verwandten Pflanzen— arten das Organ in allen Graden der Rückbildung verfolgen. So z. B. iſt die große natürliche Familie der lippenblüthigen Pflanzen (Labiaten), zu welcher Meliſſe, Pfefferminze, Majoran, Gundelrebe, Thymian u. ſ. w. gehören, dadurch ausgezeichnet, daß die rachenför— mige zweilippige Blumenkrone zwei lange und zwei kurze Staub— fäden enthält. Allein bei vielen einzelnen Pflanzen dieſer Familie, z. B. bei verſchiedenen Salbeiarten und beim Rosmarin, iſt nur das eine Paar der Staubfäden ausgebildet, und das andere Paar iſt mehr oder weniger verkümmert, oft ganz verſchwunden. Bisweilen ſind die Staubfäden vorhanden, aber ohne Staubbeutel, ſo daß ſie ganz unnütz ſind. Seltener aber findet ſich ſogar noch das Rudi— ment oder der verkümmerte Reſt eines fünften Staubfadens, ein phyſiologiſch (für die Lebensverrichtung) ganz nutzloſes, aber mor— phologiſch (für die Erkenntniß der Form und der natürlichen Ver— wandtſchaft) äußerſt werthvolles Organ. In meiner generellen Mor— phologie der Organismen !) habe ich in dem Abſchnitt von der „Unzweckmäßigkeitslehre oder Dysteleologie“, noch eine große Anzahl von anderen Beiſpielen angeführt (Gen. Morph. II, 266). Keine biologiſche Erſcheinung hat wohl jemals die Zoologen und Botaniker in größere Verlegenheit verſetzt als dieſe rudimentären oder abortiven (verkümmerten) Organe. Es ſind Werkzeuge außer Dienſt, Körpertheile, welche da ſind, ohne etwas zu leiſten, zweckmäßig ein— gerichtet, ohne ihren Zweck in Wirklichkeit zu erfüllen. Wenn man die Verſuche betrachtet, welche die früheren Naturforſcher zur Erklärung dieſes Räthſels machten, kann man ſich in der That kaum eines Verkümmerung der Organe durch Nichtgebrauch. 15 Lächelns über die ſeltſamen Vorſtellungen, zu denen ſie geführt wur— den, Br Außer Stande, eine wirkliche Erklärung zu finden, kam man z. B. zu dem Endreſultate, daß der Schöpfer „der Symme— trie wegen“ dees Organe angelegt habe; oder man nahm an, es ſei dem Schöpfer unpaſſend oder unverſtändig erſchienen, daß dieſe Or— gane bei denjenigen Organismen, bei denen ſie nicht leiſtungsfähig ſind und ihrer ganzen Lebensweiſe nach nicht ſein können, völlig fehl— ten, während die nächſten Verwandten fie beſäßen, und zum Erſatz für die mangelnde Funktion habe er ihnen wenigſtens die äußere Ausſtat— tung der leeren Form verliehen; ungefähr ſo, wie die uniformirten Civilbeamten bei Hofe mit einem unſchuldigen Degen ausgeſtattet ſind, den ſie niemals aus der Scheide ziehen. Ich glaube aber kaum, daß Sie von einer ſolchen Erklärung befriedigt ſein werden. Nun wird gerade dieſe allgemein verbreitete und räthſelhafte Erſcheinung der rudimentären Organe, an welcher alle übrigen Er— klärungsverſuche ſcheitern, vollkommen erklärt, und zwar in der ein— fachſten und einleuchtendſten Weiſe erklärt durch Darwins Theorie von der Vererbung und von der Anpaſſung. Wir können die wichtigen Geſetze der Vererbung und Anpaſſung an den Hausthie— ren und Kulturpflanzen, welche wir künſtlich züchten, verfolgen, und es iſt bereits eine Reihe ſolcher Vererbungsgeſetze feſtgeſtellt worden. Ohne jetzt auf dieſe einzugehen, will ich nur vorausſchicken, daß einige davon auf mechaniſchem Wege die Entſtehung der rudimen— tären Organe vollkommen erklären, ſo daß wir das Auftreten der— ſelben als einen ganz natürlichen Prozeß anſehen müſſen, bedingt durch den Nichtgebrauch der Organe. Durch Anpaſſung an beſondere Lebensbedingungen ſind die früher thätigen und wirklich arbeitenden Organe allmählich nicht mehr gebraucht worden und außer Dienſt getreten. In Folge der mangelnden Uebung ſind ſie mehr und mehr verkümmert, trotzdem aber immer noch durch Ver— erbung von einer Generation auf die andere übertragen worden, bis ſie endlich größtentheils oder ganz verſchwanden. Wenn wir nun annehmen, daß alle oben angeführten Wirbelthiere von einem 16 Gegenſatz der beiden grundverſchiedenen Weltanſchauungen. einzigen gemeinſamen Stammvater abſtammen, welcher zwei ſehende Augen und zwei wohl entwickelte Beinpaare beſaß, ſo erklärt ſich ganz einfach der verſchiedene Grad der Verkümmerung und Rück— bildung dieſer Organe bei ſolchen Nachkommen deſſelben, welche dieſe Theile nicht mehr gebrauchen konnten. Ebenſo erklärt ſich vollſtän— dig der verſchiedene Ausbildungsgrad der urſprünglich (in der Blü— thenknospe) angelegten fünf Staubfäden bei den Labiaten, wenn wir annehmen, daß alle Pflanzen dieſer Familie von einem gemeinſamen, mit fünf Staubfäden ausgeſtatteten Stammvater abſtammen. Ich habe Ihnen die Erſcheinung der rudimentären Organe ſchon jetzt etwas ausführlicher vorgeführt, weil dieſelbe von der allergrößten allgemeinen Bedeutung iſt, und weil ſie uns auf die großen, allge— meinen, tiefliegenden Grundfragen der Philoſophie und der Natur— wiſſenſchaft hinführt, für deren Löſung die Deſcendenz-Theorie nun— mehr der unentbehrliche Leitſtern geworden iſt. Sobald wir nämlich, dieſer Theorie entſprechend, die ausſchließliche Wirkſamkeit phyſikaliſch— chemiſcher Urſachen ebenſo in der lebenden (organiſchen) Körperwelt, wie in der ſogenannten lebloſen (anorganiſchen) Natur anerkennen, ſo räumen wir damit jener Weltanſchauung die ausſchließliche Herrſchaft ein, welche man mit dem Namen der mechaniſchen bezeichnen kann, und welche gegenüberſteht der teleologiſchen Auffaſſung. Wenn Sie alle Weltanſchaungsformen der verſchiedenen Völker und Zeiten mit einander vergleichend zuſammenſtellen, können Sie dieſelben ſchließ— lich alle in zwei ſchroff gegenüberſtehende Gruppen bringen: eine cau— ſale oder mechaniſtiſche und eine teleologiſche oder vita— liſtiſche. Die letztere war in der Biologie bisher allgemein herr— ſchend. Man ſah danach das Thierreich und das Pflanzenreich als Produkte einer zweckmäßig wirkſamen, ſchöpferiſchen Thätigkeit an. Bei dem Anblick jedes Organismus ſchien ſich zunächſt unabweislich die Ueberzeugung aufzudrängen, daß eine ſo künſtliche Maſchine, ein ſo verwickelter Bewegungs-Apparat, wie es der Organismus iſt, nur hervorgebracht werden könne durch eine Thätigkeit, welche analog, ob— wohl unendlich viel vollkommener iſt, als die Thätigkeit des Menſchen — Mechaniſche oder cauſale und teleologiſche oder vitale Weltanſchauung. 17 bei der Konſtruktion feiner Maſchinen. Wie erhaben man auch die früheren Vorſtellungen des Schöpfers und ſeiner ſchöpferiſchen Thätig— keit faſſen, wie ſehr man ſie aller menſchlichen Analogie entkleiden mag, ſo bleibt doch im letzten Grunde bei der teleologiſchen Naturauf— faſſung dieſe Analogie unabweislich und nothwendig. Man muß ſich im Grunde dann immer den Schöpfer ſelbſt als einen Organismus vorſtellen, als ein Weſen, welches, analog dem Menſchen, wenn auch in unendlich vollkommnerer Form, über ſeine bildende Thätigkeit nach— denkt, den Plan der Maſchinen entwirft, und dann mittelſt Anwen— dung geeigneter Materialien dieſe Maſchinen zweckentſprechend ausführt. Alle dieſe Vorſtellungen leiden nothwendig an der Grundſchwäche des Anthropomorphismus oder der Vermenſchlichung. Es werden dabei, wie hoch man ſich auch den Schöpfer vorſtellen mag, demſelben die menſchlichen Attribute beigelegt, einen Plan zu entwer— fen und danach den Organismus zweckmäßig zu conſtruiren. Das wird auch von derjenigen Anſchauung, welche Darwins Lehre am ſchroffſten gegenüber ſteht, und welche unter den Naturforſchern ihren bedeutendſten Vertreter in Agaſſiz gefunden hat, ganz klar aus— geſprochen. Das berühmte Werk (Essay on classification) von Agaſſizs), welches dem Darwinſchen Werke vollkommen entgegen— geſetzt iſt, und faſt gleichzeitig erſchien, hat ganz folgerichtig jene ab— ſurden anthropomorphiſchen Vorſtellungen vom Schöpfer bis zum höchſten Grade ausgebildet. Was nun jene vielgerühmte Zweckmäßigkeit in der Na— tur betrifft, ſo iſt ſie überhaupt nur vorhanden für denjenigen, wel— cher die Erſcheinungen im Thier- und Pflanzenleben durchaus ober— flächlich betrachtet. Schon jene rudimentären Organe mußten dieſer Lehre einen harten Stoß verſetzen. Jeder aber, der tiefer in die Or— ganiſation und Lebensweiſe der verſchiedenen Thiere und Pflanzen ein— dringt, der ſich mit der Wechſelwirkung der Lebenserſcheinungen und der ſogenannten „Oekonomie der Natur“ vertrauter macht, kommt nothwendig zu der Anſchauung, daß dieſe Zweckmäßigkeit nicht exiſtirt, ſo wenig als etwa die ite ene Allgüte des Schöpfers. Dieſe Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 2 — 18 Unzweckmäßigkeit und Unfriede in der Natur. optimiſtiſchen Anſchauungen haben leider eben ſo wenig reale Begrün— dung, als die beliebte Redensart von der „ſittlichen Weltordnung“, welche durch die ganze Völkergeſchichte in ironiſcher Weiſe illuſtrirt wird. Im Mittelalter iſt dafür die Herrſchaft der „ſittlichen“ Päpſte und ihrer frommen Inquiſition nicht weniger bezeichnend, als in der Gegen— wart der herrſchende Militarismus mit ſeinem „ſittlichen“ Apparate von Zündnadeln und anderen raffinirten Mordwaffen. Wenn Sie das Zuſammenleben und die gegenſeitigen Beziehun— gen der Pflanzen und der Thiere (mit Inbegriff des Menſchen) näher betrachten, ſo finden Sie überall und zu jeder Zeit das Gegentheil von jenem gemüthlichen und friedlichen Beiſammenſein, welches die Güte des Schöpfers den Geſchöpfen hätte bereiten müſſen, vielmehr finden Sie überall einen ſchonungsloſen, höchſt erbitterten Kampf Aller gegen Alle. Nirgends in der Natur, wohin Sie auch Ihre Blicke lenken mögen, iſt jener idylliſche, von den Dichtern beſungene Friede vorhanden, — vielmehr überall Kampf, Streben nach Ver— nichtung des Nächſten und nach Vernichtung der direkten Gegner. Leidenſchaft und Selbſtſucht, bewußt oder unbewußt, iſt überall die Triebfeder des Lebens. Das bekannte Dichterwort: „Die Natur iſt vollkommen überall, Wo der Menſch nicht hinkommt mit ſeiner Qual“ iſt ſchön, aber leider nicht wahr. Vielmehr bildet auch in dieſer Be— ziehung der Menſch keine Ausnahme von der übrigen Thierwelt. Die Betrachtungen, welche wir bei der Lehre vom „Kampf ums Daſein“ anzuſtellen haben, werden dieſe Behauptung zur Genüge rechtfertigen. Es war auch Darwin, welcher gerade dieſen wich— tigen Punkt in ſeiner hohen und allgemeinen Bedeutung recht klar vor Augen ſtellte, und derjenige Abſchnitt ſeiner Lehre, welchen er ſelbſt den „Kampf ums Daſein“ nennt, iſt einer der wichtigſten Theile derſelben. Wenn wir alſo jener vitaliſtiſchen oder teleologiſchen Betrachtung der lebendigen Natur, welche die Thier- und Pflanzenformen als Pro— dukte eines gütigen und zweckmäßig thätigen Schöpfers oder einer Moniſtiſche Anorganologie und dualiftiiche Biologie. 19 zweckmäßig thätigen ſchöpferiſchen Naturkraft anſieht, durchaus ent— gegenzutreten gezwungen ſind, ſo müſſen wir uns entſchieden jene Weltanſchauung aneignen, welche man die mechaniſche oder cau— ſale nennt. Man kann ſie auch als die moniſtiſche oder ein— heitliche bezeichnen, im Gegenſatz zu der zwieſpältigen oder dualiſtiſchen Anſchauung, welche in jener teleologiſchen Weltauf— faſſung nothwendig enthalten iſt. Die mechaniſche Naturbetrachtung iſt ſeit Jahrzehnten auf gewiſſen Gebieten der Naturwiſſenſchaft ſo ſehr eingebürgert, daß hier über die entgegengeſetzte kein Wort mehr verloren wird. Es fällt keinem Phyſiker oder Chemiker, keinem Mine— ralogen oder Aſtronomen mehr ein, in den Erſcheinungen, welche ihm auf ſeinem wiſſenſchaftlichen Gebiete fortwährend vor Augen kommen, die Wirkſamkeit eines zweckmäßig thätigen Schöpfers zu erblicken oder aufzuſuchen. Man betrachtet die Erſcheinungen, welche auf jenen Ge— bieten zu Tage treten, allgemein und ohne Widerſpruch als die noth— wendigen und unabänderlichen Wirkungen der phyſikaliſchen und che— miſchen Kräfte, welche an dem Stoffe oder der Materie haften, und inſofern iſt dieſe Anſchauung rein materialiſtiſch, in einem gewiſſen Sinne dieſes vieldeutigen Wortes. Wenn der Phyſiker die Bewe— gungserſcheinungen der Elektricität oder des Magnetismus, den Fall eines ſchweren Körpers oder die Schwingungen der Lichtwellen ver— folgt, ſo iſt er bei dieſer Arbeit durchaus davon entfernt, das Eingrei— fen einer übernatürlichen ſchöpferiſchen Kraft anzunehmen. In dieſer Beziehung befand ſich bisher die Biologie, als die Wiſſenſchaft von den ſogenannten „belebten“ Naturkörpern, in großem Gegenſatz zu je— nen vorher genannten anorganiſchen Naturwiſſenſchaften (der Anor— ganologie). Zwar hat die neuere Phyſiologie, die Lehre von den Be— wegungserſcheinungen im Thier- und Pflanzenkörper, den mechani— ſchen Standpunkt der letzteren vollkommen angenommen; allein die Morphologie, die Wiſſenſchaft von den Formen der Thiere und der Pflanzen, ſchien dadurch gar nicht berührt zu werden. Die Morpho— logen behandelten nach wie vor, und größtentheils noch heutzutage, im Gegenſatz zu jener mechaniſchen Betrachtung der Leiſtungen, die 2 = 20 Einheit der lebendigen und lebloſen Natur. Formen der Thiere und Pflanzen als etwas, was durchaus nicht me— chaniſch erklärbar ſei, was nothwendig einer höheren, übernatürlichen, zweckmäßig thätigen Schöpferkraft ſeinen Urſprung verdanken müſſe. Dabei war es ganz gleichgültig, ob man dieſe Schöpferkraft als per— ſönlichen Gott anbetete, oder ob man ſie Lebenskraft (vis vitalis) oder Endurſache (causa finalis) nannte. In allen Fällen flüchtete man hier, um es mit einem Worte zu ſagen, zum Wunder als der Erklärung. Man warf ſich einer Glaubensdichtung in die Arme, welche als ſolche auf dem Gebiete naturwiſſenſchaftlicher Erkenntniß durchaus keine Geltung haben kann. Alles nun, was vor Darwin geſchehen iſt, um eine natürliche mechaniſche Auffaſſung von der Entſtehung der Thier- und Pflanzen— formen zu begründen, vermochte dieſe nicht zum Durchbruch und zu allgemeiner Anerkennung zu bringen. Dies gelang erſt Darwin's Lehre, und hierin liegt ein unermeßliches Verdienſt derſelben. Denn es wird dadurch die Anſicht von der Einheit der organiſchen und der anorganiſchen Natur feſt begründet; und derjenige Theil der Naturwiſſenſchaft, welcher bisher am längſten und am hart— näckigſten ſich einer mechaniſchen Auffaſſung und Erklärung widerſetzte, die Lehre vom Bau der lebendigen Formen, von der Bedeutung und dem Entſtehen derſelben, wird dadurch mit allen übrigen naturwiſſen— ſchaftlichen Lehren auf einen und denſelben Weg der Vollendung ge— führt. Es wird die Einheit aller Naturerſcheinungen dadurch end— gültig feſtgeſtellt. Dieſe Einheit der ganzen Natur, die Beſeelung aller Materie, die Untrennbarkeit der geiſtigen Kraft und des körperlichen Stoffes hat Goethe mit den Worten behauptet: „die Materie kann nie ohne Geiſt, der Geiſt nie ohne Materie exiſtiren und wirkſam ſein“. Von den großen moniſtiſchen Philoſophen aller Zeiten find dieſe oberſten Grundſätze der mechaniſchen Weltanſchauung vertreten worden. Schon Demokritus von Abdera, der unſterbliche Begründer der Atomen— lehre, ſprach dieſelben faſt ein halbes Jahrtauſend vor Chriſtus klar aus, ganz vorzüglich aber der große Dominikanermönch Giordano Endgültige Begründung der moniſtiſchen Auffaſſung. 21 Bruno. Dieſer wurde dafür am 17. Februar 1600 in Rom von der chriſtlichen Inquiſition auf dem Scheiterhaufen verbrannt, an demſel— ben Tage, an welchem 36 Jahre früher ſein großer Landsmann und Kampfesgenoſſe Galilei geboren wurde. Solche Männer, die für eine große Idee leben und ſterben, pflegt man als „Materialiſten“ zu verketzern, ihre Gegner aber, deren Beweisgründe Tortur und Schei— terhaufen ſind, als „Spiritualiſten“ zu preiſen. Diurch die Deſcendenztheorie wird es uns zum erſtenmal mög— lich, die moniſtiſche Lehre von der Einheit der Natur ſo zu begrün— den, daß eine mechaniſch-cauſale Erklärung auch der verwickeltſten organiſchen Erſcheinungen z. B. der Entſtehung und Einrichtung der Sinnesorgane, in der That nicht mehr Schwierigkeiten für das all— gemeine Verſtändniß hat, als die mechaniſche Erklärung irgend eines phyſikaliſchen Prozeſſes, wie es z. B. die Erdbeben, die Richtungen des Windes oder die Strömungen des Meeres ſind. Wir gelangen dadurch zu der äußerſt wichtigen Ueberzeugung, daß alle Natur— körper, die wir kennen, gleichmäßig belebt ſind, daß der Gegenſatz, welchen man zwiſchen lebendiger und todter Körperwelt aufſtellte, in Wahrheit nicht exiſtirt. Wenn ein Stein, frei in die Luft geworfen, nach beſtimmten Geſetzen zur Erde fällt, oder wenn in einer Salzlöſung ſich ein Kryſtall bildet, ſo iſt dieſe Erſcheinung nicht mehr und nicht minder eine mechaniſche Lebenserſcheinung, als das Wachsthum oder das Blühen der Pflanzen, als die Fortpflan— zung oder die Sinnesthätigkeit der Thiere, als die Empfindung oder die Gedankenbildung des Menſchen. In dieſer Herſtellung der einheitlichen oder moniftifhen Naturauffaſſung liegt das höchſte und allgemeinſte Verdienſt der von Darwin re— formirten Abſtammungslehre. 3 Zweiter Vortrag. Wiſſenſchaftliche Berechtigung der Deſcendenztheorie. Schöpfungsgeſchichte nach Linné. Die Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie als die einheitliche Erklärung der organiſchen Naturerſcheinungen durch natürliche wirkende Urſachen. Verglei— chung derſelben mit Newtons Gravitationstheorie. Grenzen der wiſſenſchaftlichen Erklärung und der menſchlichen Erkenntniß überhaupt. Alle Erkenntniß urſprüng⸗ lich durch ſiunliche Erfahrung bedingt, apoſteriori. Uebergang der apoſterioriſchen Erleuntniſſe durch Vererbung in aprioriſche Erkenntuiſſe. Gegenſatz der übernatür- lichen Schöpfungsgeſchichte von Linne, Cuvier, Agaſſiz, und der natürlichen Ent- wickelungstheorien von Lamarck, Goethe, Darwin. Zuſammenhang der erſteren mit der moniſtiſchen (mechaniſchen), der letzteren mit der dualiſtiſchen (teleologiſchen) Weltanſchauung. Monismus und Materialismus. Wiſſenſchaftlicher und ſittlicher Materialismus. Schöpfungsgeſchichte des Moſes. Linne als Begründer der ſyſte— matiſchen Naturbeſchreibung und Artunterſcheidung. Linnss Claſſification und bi- näre Nomenclatur. Bedeutung des Speciesbegriffs bei Linns. Seine Schöpfungs- geſchichte. Linnés Anſicht von der Entſtehung der Arten. Meine Herren! Der Werth, den jede naturwiſſenſchaftliche Theo— rie beſitzt, wird ſowohl durch die Anzahl und das Gewicht der zu er— klärenden Gegenſtände gemeſſen, als auch durch die Einfachheit und Allgemeinheit der Urſachen, welche als Erklärungsgründe benutzt wer— den. Je größer einerſeits die Anzahl, je wichtiger die Bedeutung der durch die Theorie zu erklärenden Erſcheinungen iſt, und je einfacher andrerſeits, je allgemeiner die Urſachen ſind, welche die Theorie zur Erklärung in Anſpruch nimmt, deſto höher iſt ihr wiſſenſchaftlicher Vergleichung von Darwins und Newtons Theorie. 23 Werth, deſto ſicherer bedienen wir uns ihrer Leitung, deſto mehr ſind wir verpflichtet zu ihrer Annahme. Denken Sie z. B. an diejenige Theorie, welche bisher als der größte Erwerb des menſchlichen Geiſtes galt, an die Gravitations— theorie, welche der Engländer Newton vor 200 Jahren in ſeinen mathematiſchen Principien der Naturphiloſophie begründete. Hier fin— den Sie das zu erklärende Objekt ſo groß angenommen als Sie es nur denken können. Er unternahm es, die Bewegungserſcheinungen der Planeten und den Bau des Weltgebäudes auf mathematiſche Geſetze zurückzuführen. Als die höchſt einfache Urſache dieſer verwickelten Be— wegungserſcheinungen begründete Newton das Geſetz der Schwere oder der Maſſenanziehung, daſſelbe, welches die Urſache des Falles der Körper, der Adhäſion, der Cohäſion und vieler anderen Erſchei— nungen iſt. Wenn Sie nun den gleichen Maßſtab an die Theorie Darwins anlegen, ſo müſſen Sie zu dem Schluß kommen, daß dieſe ebenfalls zu den größten Eroberungen des menſchlichen Geiſtes gehört, und daß ſie ſich unmittelbar neben die Gravitationstheorie Newtons ſtellen kann. Vielleicht erſcheint Ihnen dieſer Ausſpruch übertrieben oder we— nigſtens ſehr gewagt; ich hoffe Sie aber im Verlauf dieſer Vorträge zu überzeugen, daß dieſe Schätzung nicht zu hoch gegriffen iſt. In der vorigen Stunde wurden bereits einige der wichtigſten und allge— meinſten Erſcheinungen aus der organiſchen Natur namhaft gemacht, welche durch Darwins Theorie erklärt werden. Dahin gehören vor Allen die Formveränderungen, welche die individuelle Entwicke— lung der Organismen begleiten, äußerſt mannichfaltige und ver— wickelte Erſcheinungen, welche bisher einer mechaniſchen Erklärung, d. h. einer Zurückführung auf wirkende Urſachen die größten Schwie— rigkeiten in den Weg legten. Wir haben die rudimentären Or— gane erwähnt, jene außerordentlich merkwürdigen Einrichtungen in den Thier- und Pflanzenkörpern, welche keinen Zweck haben, welche jede teleologiſche, jede nach einem Endzweck des Organismus ſuchende Erklärung vollſtändig widerlegen. Es ließe ſich noch eine große An— 24 Erklärungsgebiet der Deſcendenztheorie. zahl von anderen Erſcheinungen anführen, die nicht minder wichtig ſind, die bisher nicht minder räthſelhaft erſchienen, und die in der einfachſten Weiſe durch die von Darwin reformirte Abſtammungs— lehre erklärt werden. Ich erwähne vorläufig noch die Erſcheinungen, welche uns die geographiſche Verbreitung der Thier- und Pflanzenarten auf der Oberfläche unſeres Planeten, ſowie die geologiſche Vertheilung der ausgeſtorbenen und ver— ſteinerten Organismen in den verſchiedenen Schichten der Erd— rinde darbietet. Auch dieſe wichtigen paläontologiſchen und geogra— phiſchen Geſetze, welche wir bisher nur als Thatſachen kannten, werden durch die Abſtammungslehre in ihren wirkenden Urſachen erkannt. Daſſelbe gilt ferner von allen allgemeinen Geſetzen der ver— gleichenden Anatomie, insbeſondere von dem großen Geſetze der Arbeitstheilung oder Sonderung (Polymorphismus oder Differenzirung), einem Geſetze, welches ebenſo in der ganzen menſchlichen Geſellſchaft, wie in der Organiſation des einzelnen Thier— und Pflanzenkörpers die wichtigſte geſtaltende Urſache iſt, diejenige Urſache, welche ebenſo eine immer größere Mannichfaltigkeit, wie eine fortſchreitende Entwickelung der organiſchen Formen bedingt. In gleicher Weiſe, wie dieſes bisher nur als Thatſache erkannte Ge— ſetz der Arbeitstheilung, wird auch das Geſetz der fortſchreiten— den Entwickelung, oder das Geſetz des Fortſchritts, welches wir ebenſo in der Geſchichte der Völker, wie in der Geſchichte der Thiere und Pflanzen überall wirkſam wahrnehmen, in ſeinem Urſprung durch die Abſtammungslehre erklärt. Und wenn Sie endlich Ihre Blicke auf das große Ganze der organiſchen Natur richten, wenn Sie vergleichend alle einzelnen großen Erſcheinungsgruppen dieſes unge— heuren Lebensgebietes zuſammenfaſſen, ſo ſtellt ſich Ihnen daſſelbe im Lichte der Abſtammungslehre nicht mehr als das künſtlich aus— gedachte Werk eines planmäßig bauenden Schöpfers dar, ſondern als die nothwendige Folge wirkender Urſachen, welche in der chemi— ſchen Zuſammenſetzung der Materie ſelbſt und in ihren phyſikaliſchen Eigenſchaften liegen. Erklärungsgründe der Deſcendenztheorie. 25 Man kann alſo im weiteſten Umfang behaupten, und ich werde dieſe Behauptung im Verlaufe meiner Vorträge rechtfertigen, daß die Abſtammungslehre uns zum erſten Male in die Lage verſetzt, die Ge— ſammtheit aller organiſchen Naturerſcheinungen auf ein einziges Geſetz zurückzuführen, eine einzige wirkende Urſache für das unendlich ver— wickelte Getriebe dieſer ganzen reichen Erſcheinungswelt aufzufinden. In dieſer Beziehung ſtellt ſie ſich ebenbürtig Newtons Gravitations— theorie an die Seite; ja ſie erhebt ſich noch über dieſelbe! Aber auch die Erklärungsgründe ſind hier nicht minder einfach, wie dort. Es ſind nicht neue, bisher unbekannte Eigenſchaften des Stoffes, welche Darwin zur Erklärung dieſer höchſt verwickelten Erſcheinungswelt herbeizieht; es ſind nicht etwa Entdeckungen neuer Verbindungsverhältniſſe der Materie, oder neuer Organiſationskräfte derſelben; ſondern es iſt lediglich die außerordentlich geiſtvolle Verbin— dung, die ſynthetiſche Zuſammenfaſſung und denkende Vergleichung einer Anzahl längſt bekannter Thatſachen, durch welche Darwin das „heilige Räthſel“ der lebendigen Formenwelt löſt. Die erſte Rolle ſpielt dabei die Erwägung der Wechſelbeziehungen, welche zwiſchen zwei allgemeinen Lebensthätigkeiten der Organismen beſtehen, den Funktionen der Vererbung und der Anpaſſung. Lediglich durch Erwägung des Wechſelverhältniſſes zwiſchen dieſen beiden Lebensthätig— keiten oder phyſiologiſchen Funktionen der Organismen, ſowie ferner durch Erwägung der gegenſeitigen Beziehungen, welche alle an einem und demſelben Ort zuſammenlebenden Thiere und Pflanzen nothwen— dig zu einander beſitzen — lediglich durch richtige Würdigung dieſer einfachen Thatſachen, und durch die geſchickte Verbindung derſelben iſt es Darwin möglich geworden, in denſelben die wahren wirkenden Urſachen (causae efficientes) für die unendlich verwickelte Geſtalten— welt der organiſchen Natur zu finden. Wir ſind nun verpflichtet, dieſe Theorie auf jeden Fall anzuneh— men und ſo lange zu behaupten, bis ſich eine beſſere findet, die es unternimmt, die gleiche Fülle von Thatſachen ebenſo einfach zu erklä— ren. Bisher entbehrten wir einer ſolchen Theorie vollſtändig. Zwar 36 Verpflichtung zu allgemeiner Annahme der Deſcendenztheorie. war der Grundgedanke nicht neu, daß alle verſchiedenen Thier- und Pflanzenformen von einigen wenigen oder ſogar von einer einzigen phöchſt einfachen Grundform abſtammen müſſen. Dieſer Gedanke war längſt ausgeſprochen und zuerſt von dem großen Lamarck?) im An- fang unſeres Jahrhunderts beſtimmt formulirt worden. Allein La— marck ſprach doch eigentlich bloß die Hypotheſe der gemeinſamen Ab— ſtammung aus, ohne ſie durch Erläuterung der wirkenden Urſachen zu begründen. Und gerade in dem Nachweis dieſer Urſachen liegt der außerordentliche Fortſchritt, welchen Darwin über Lamarcks Theo— rie hinaus gethan hat. Er fand in den phyſiologiſchen Vererbungs— und Anpaſſungseigenſchaften der organiſchen Materie die wahre Urſache jenes genealogiſchen Verhältniſſes auf. Auch konnte der geiſtvolle Lamarck noch nicht über das koloſſale Material biologiſcher That— ſachen gebieten, welches durch die emſigen zoologiſchen und botaniſchen Forſchungen der letzten fünfzig Jahre angeſammelt und von Darwin zu einem überwältigenden Beweis-Apparat verwerthet wurde. Die Theorie Darwins iſt alſo nicht, wie feine Gegner häu— fig behaupten, eine beliebige, aus der Luft gegriffene, bodenloſe Hypo— theſe. Es liegt nicht im Belieben der einzelnen Zoologen und Bota— niker, ob ſie dieſelbe als erklärende Theorie annehmen wollen oder nicht. Vielmehr ſind ſie dazu gezwungen und verpflichtet nach dem allgemei— nen, in den Naturwiſſenſchaften überhaupt gültigen Grundſatze, daß wir zur Erklärung der Erſcheinungen jede mit den wirklichen Thatſachen vereinbare, wenn auch nur ſchwach begründete Theorie ſo lange an— nehmen und beibehalten müſſen, bis ſie durch eine beſſere erſetzt wird. Wenn wir dies nicht thun, ſo verzichten wir auf eine wiſſenſchaftliche Erklärung der Erſcheinungen, und das iſt in der That der Standpunkt, den viele Biologen noch gegenwärtig einnehmen. Sie betrachten das ganze Gebiet der belebten Natur als ein vollkommenes Räthſel und halten die Entſtehung der Thier- und Pflanzenarten, die Erſcheinungen ihrer Entwickelung und Verwandtſchaft für ganz uner— klärlich, für ein Wunder; ſie wollen von einem wahren Verſtänd— niß derſelben überhaupt nichts wiſſen. * Unentbehrlichkeit der Deſcendenztheorie in der Biologie. 27 Diejenigen Gegner Darwins, welche nicht geradezu in dieſer Weiſe auf eine biologiſche Erklärung verzichten wollen, pflegen freilich zu ſagen: „Darwins Lehre von dem gemeinſchaftlichen Urſprung der verſchiedenartigen Organismen iſt nur eine Hypotheſe; wir ſtellen ihr eine andere entgegen, die Hypotheſe, daß die einzelnen Thier- und Pflanzenarten nicht durch Abſtammung ſich auseinander entwickelt ha— ben, ſondern daß ſie unabhängig von einander durch ein noch unent— decktes Naturgeſetz entſtanden ſind.“ So lange aber nicht gezeigt wird, wie dieſe Entſtehung zu denken iſt, und was das für ein „Natur— geſetz“ iſt, fo lange nicht einmal wahrſchein liche Erklärungsgründe geltend gemacht werden können, welche für eine unabhängige Entſte— hung der Thier- und Pflanzenarten ſprechen, ſo lange iſt dieſe Gegen— hypotheſe in der That keine Hypotheſe, ſondern eine leere, nichts— ſagende Redensart. Auch verdient Darwins Theorie nicht den Na— men einer Hypotheſe. Denn eine wiſſenſchaftliche Hypotheſe iſt eine Annahme, welche ſich auf unbekannte, bisher noch nicht durch die ſinnliche Erfahrung wahrgenommene Eigenſchaften oder Bewegungs— erſcheinungen der Naturkörper ſtützt. Darwins Lehre aber nimmt keine derartigen unbekannten Verhältniſſe an; ſie gründet ſich auf längſt anerkannte allgemeine Eigenſchaften der Organismen, und es iſt, wie bemerkt, die außerordentliche geiſtvolle, umfaſſende Verbin— dung einer Menge bisher vereinzelt dageſtandener Erſcheinungen, welche dieſer Theorie ihren außerordentlich hohen inneren Werth giebt. Wir gelangen durch ſie zum erſten Mal in die Lage, für die Geſammt— heit aller uns bekannten morphologiſchen Erſcheinungen in der Thier— und Pflanzenwelt eine bewirkende Urſache nachzuweiſen; und zwar iſt dieſe wahre Urſache immer ein und dieſelbe, nämlich die Wechſelwir— kung der Anpaſſung und der Vererbung, alſo ein phyſiologiſches, d. h. ein phyſikaliſch-chemiſches oder ein mechaniſches Verhältniß. Aus die— ſen Gründen iſt die Annahme der durch Darwin mechaniſch begrün— deten Abſtammungslehre für die geſammte Zoologie und Botanik eine zwingende und unabweisbare Nothwendigkeit. Da nach meiner Anſicht alſo die unermeßliche Bedeutung von 28 Grenzen der Erklärung und der Erkenntniß. Darwins Lehre darin liegt, daß fie die bisher nicht erklärten or— ganiſchen Formerſcheinungen mechaniſch erklärt, ſo iſt es wohl nothwendig, hier gleich noch ein Wort über den vieldeutigen Begriff der Erklärung einzuſchalten. Es wird ſehr häufig Dar— wins Theorie entgegengehalten, daß ſie allerdings jene Erſcheinungen durch die Vererbung und Anpaſſung vollkommen erkläre, daß da— durch aber nicht dieſe Eigenſchaften der organiſchen Materie ſelbſt er— klärt werden, daß wir nicht zu den letzen Gründen gelangen. Die— ſer Einwurf iſt ganz richtig; allein er gilt in gleicher Weiſe von allen Erſcheinungen. Wir gelangen nirgends zu einer Erkenntniß der letzten Gründe. Die Entſtehung jedes einfachen Salkzkryſtalles, den wir beim Abdampfen einer Mutterlauge erhalten, iſt uns im letz— ten Grunde nicht minder räthſelhaft, und an ſich nicht minder unbe— greiflich, als die Entſtehung jedes Thieres, das ſich aus einer ein— fachen Eizelle entwickelt. Bei Erklärung der einfachſten phyſikaliſchen oder chemiſchen Erſcheinungen, z. B. bei dem Fallen eines Steins oder bei der Bildung einer chemiſchen Verbindung gelangen wir durch Auffindung und Feſtſtellung der wirkenden Urſachen, z. B. der Schwer- kraft oder der chemiſchen Verwandtſchaft, zu anderen weiter zurücklie— genden Erſcheinungen, die an und für ſich Räthſel ſind. Es liegt das in der Beſchränktheit oder Relativität unſeres Erkenntnißvermögens. Wir dürfen niemals vergeſſen, daß die menſchliche Erkenntnißfähigkeit allerdings abſolut beſchränkt iſt und nur eine relative Ausdehnung beſitzt. Sie iſt zunächſt ſchon beſchränkt durch die Beſchaffenheit unfe- rer Sinne und unſeres Gehirns. Urſprünglich ſtammt alle Erkenntniß aus der ſinnlichen Wahr— nehmung. Man führt wohl dieſer gegenüber die angeborene, a priori gegebene Erkenntniß des Menſchen an; indeſſen werden Sie ſehen, daß ſich die ſogenannte aprioriſche Erkenntniß durch Darwins Lehre nachweiſen läßt als a posteriori erworben, in ihren letzten Gründen durch Erfahrungen bedingt. Erkenntniſſe, welche urſprünglich auf rein empiriſchen Wahrnehmungen beruhen, alſo rein ſinnliche Erfah— rungen ſind, welche aber dann eine Reihe von Generationen hindurch Erkeuntniſſe apofteriori und apriori. 29 vererbt werden, treten bei den jüngeren Generationen ſcheinbar als unabhängige, angeborene, aprioriſche auf. Von unſeren uralten thie— riſchen Voreltern find alle ſogenannten „Erkenntniſſe a priori“ ur— ſprünglich a posteriori gefaßt worden und erſt durch Vererbung all— mählich zu aprioriſchen geworden. Sie beruhen in letzter Inſtanz auf Erfahrungen, und wir können durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung beſtimmt nachweiſen, daß in der Art, wie es gewöhnlich geſchieht, Erkenntniſſe a priori den Erkenntniſſen a posteriori nicht entgegen zu ſtellen ſind. Vielmehr iſt die ſinnliche Erfahrung die urſprüngliche Quelle aller Erkenntniſſe. Schon aus dieſem Grunde iſt alle unſere Wiſſenſchaft nur beſchränkt, und niemals vermögen wir die letzten Gründe irgend einer Erſcheinung zu erfaſſen. Die Kryſtalliſationskraft, die Schwerkraft und die chemiſche Verwandtſchaft bleiben uns, an und für ſich, eben ſo unbegreiflich, wie die Anpaſſung und die Vererbung. 5 Wenn uns nun die Theorie Darwins die Geſammtheit aller vorhin in einem kurzen Ueberblick zuſammengefaßten Erſcheinungen aus einem einzigen Geſichtspunkt erklärt, wenn ſie eine und dieſelbe Beſchaffenheit des e als die wirkende Urſache nachweiſt, ſo leiſtet ſie vorläufig Alles, was wir verlangen können. Außerdem läßt ſich aber auch mit gutem Grunde hoffen, daß wir die letzten Gründe, zu welchen Darwin gelangt, nämlich die Eigenſchaften der Erblichkeit und der Anpaſſungsfähigkeit, noch weiter werden er— klären lernen, und daß wir z. B. dahin gelangen werden, die Mole— kularverhältniſſe in der Zuſammenſetzung der Eiweißſtoffe als die weiter zurückliegenden, einfachen Gründe jener Erſcheinungen aufzu— decken. Freilich iſt in der nächſten Zukunft hierzu noch keine Aus— ſicht, und wir begnügen uns vorläufig mit jener Zurückführung, wie wir uns in der Newton'ſchen Theorie mit der Zurückführung der Planeten bewegungen auf die Schwerkraft begnügen. Die Schwer— kraft ſelbſt iſt uns ebenfalls ein Räthſel, an ſich nicht erkennbar. Bevor wir nun an unſere Hauptaufgabe, an die eingehende Erörterung der Abſtammungslehre und der aus ihr ſich ergebenden 30 Natürliche und übernatürliche Schöpfungsgeſchichten. Folgerungen herantreten, laſſen Sie uns einen geſchichtlichen Rück— blick auf die wichtigſten und verbreitetſten von denjenigen Anſichten werfen, welche ſich die Menſchen vor Darwin über die organiſche Schöpfung, über die Entſtehung der mannichfaltigen Thier- und Pflanzenarten gebildet hatten. Es liegt dabei keineswegs in meiner Abſicht, Sie mit einem vergleichenden Ueberblick über alle die zahlrei— chen Schöpfungsdichtungen der verſchiedenen Menſchen-Arten, -Raſſen und -Stämme zu unterhalten. So intereſſant und lohnend dieſe Aufgabe, ſowohl in ethnographiſcher als in culturhiſtoriſcher Bezie— hung, auch wäre, jo würde uns dieſelbe doch hier viel zu weit füh- ren. Auch trägt die übergroße Mehrzahl aller dieſer Schöpfungs— ſagen zu ſehr das Gepräge willkürlicher Dichtung und des Mangels eingehender Naturbetrachtung, als daß dieſelben für eine naturwiſ— ſenſchaftliche Behandlung der Schöpfungsgeſchichte von Intereſſe wä— ren. Ich werde daher von den nicht wiſſenſchaftlich begründeten Schöpfungsgeſchichten blos die moſaiſche hervorheben, wegen des beifpiellofen Einfluſſes, den fie in der abendländiſchen Culturwelt gewonnen, und dann werde ich ſogleich zu den wiſſenſchaftlich for— mulirten Schöpfungshypotheſen übergehen, welche erſt nach Beginn des verfloſſenen Jahrhunderts, mit Linné, ihren Anfang nahmen. Alle verſchiedenen Vorſtellungen, welche ſich die Menſchen je— mals von der Entſtehung der verſchiedenen Thier- und Pflanzen— arten gemacht haben, laſſen ſich füglich in zwei große, entgegen— geſetzte Gruppen bringen, in natürliche und übernatürliche Schöp— fungsgeſchichten. Dieſe beiden Gruppen entſprechen im Großen und Ganzen den beiden verſchiedenen Hauptformen der menſchlichen Weltanſchauung, welche wir vorher als moniſtiſche (einheitliche) und dualiſtiſche (zwie— ſpältige) Naturauffaſſung gegenüber geſtellt haben. Die gewöhnliche dualiſtiſche oder teleologiſche (vitale) Weltanſchauung muß die organiſche Natur als das zweckmäßig ausgeführte Product eines planvoll wirkenden Schöpfers anſehen. Sie muß in jeder einzelnen Thier- und Pflanzenart einen „verkörperten Schöpfungsgedanfen“ Natürliche und übernatürliche Schöpfungsgeſchichten. 31 erblicken, den materiellen Ausdruck einer zweckmäßig thätigen End— urſache oder einer zweckthätigen Urſache (causa finalis). Sie muß nothwendig übernatürliche (nicht mechaniſche) Vorgänge für die Entſtehung der Organismen in Anſpruch nehmen. Wir dürfen ſie daher mit Recht als übernatürliche Schöpfungsgeſchichte bezeichnen. Von allen hierher gehörigen teleologiſchen Schöpfungs— geſchichten gewann diejenige des Moſes den größten Einfluß, da fie durch fo bedeutende Naturforſcher, wie Linné, ſelbſt in der Na— turwiſſenſchaft allgemeinen Eingang fand. Auch die Schöpfungs— anſichten von Cuvier und Agaſſiz, und überhaupt von der gro— ßen Mehrzahl der Naturforſcher ſowohl als der Laien gehören in dieſe Gruppe. Die von Darwin ausgebildete Entwickelungstheorie dagegen, welche wir hier als natürliche Schöpfungsgeſchichte zu be— handeln haben, und welche bereits von Goethe und Lamarck aufgeſtellt wurde, muß, wenn ſie folgerichtig durchgeführt wird, ſchließlich nothwendig zu der moniſtiſchen oder mechaniſchen (caufalen) Weltanſchauung hinführen. Im Gegenſatz zu jener dua— liſtiſchen oder teleologiſchen Naturauffaſſung betrachtet dieſelbe die Formen der organiſchen Naturkörper, ebenſo wie diejenigen der an— organiſchen, als die nothwendigen Produkte natürlicher Kräfte. Sie erblickt in den einzelnen Thier- und Pflanzenarten nicht verkörperte Gedanken des perſönlichen Schöpfers, ſondern den zeitweiligen Aus— druck eines mechaniſchen Entwickelungsganges der Materie, den Aus— druck einer nothwendig wirkenden Urſache oder einer mechaniſchen Urſache (causa efficiens). Wo der teleologiſche Dualismus in den Schöpfungswundern die willkürlichen Einfälle eines launen— haften Schöpfers aufſucht, da findet der cauſale Monismus in den Entwickelungsproceſſen die nothwendigen Wirkungen ewiger und un— abänderlicher Naturgeſetze. Man hat dieſen, hier von uns vertretenen Monis mus auch oft für identiſch mit dem Materialismus erklärt. Da man dem— gemäß auch den Darwinismus und überhaupt die ganze Ent— 32 Monismus und Materialismus. wickelungstheorie als „materialiſtiſch“ bezeichnet hat, ſo kann ich nicht umhin, ſchon hier mich von vorneherein gegen die Zweideutigkeit dieſer Bezeichnung und gegen die Argliſt, mit welcher dieſelbe von gewiſſen Seiten zur Verketzerung unſerer Lehre benutzt wird, ausdrücklich zu verwahren. Unter dem Ausdruck „Materialismus“ werden ſehr allge— mein zwei gänzlich verſchiedene Dinge mit einander verwechſelt und vermengt, die im Grunde gar nichts mit einander zu thun haben, nämlich der naturwiſſenſchaftliche und der ſittliche Materialismus. Der naturwiſſenſchaftliche Materialismus, welcher mit unſerem Monismus identiſch iſt, behauptet im Grunde weiter nichts, als daß Alles in der Welt mit natürlichen Dingen zugeht, daß jede Wirkung ihre Urſache und jede Urſache ihre Wirkung hat. Er ſtellt alſo über die Geſammtheit aller uns erkennbaren Erſchei— nungen das Cauſal-Geſetz, oder das Geſetz von dem nothwen— digen Zuſammenhang von Urſache und Wirkung. Er verwirft da— gegen entſchieden jeden Wunderglauben und jede wie immer geartete Vorſtellung von übernatürlichen Vorgängen. Für ihn giebt es da— her in dem ganzen Gebiete menſchlicher Erkenntniß nirgends mehr eine wahre Metaphyſik, ſondern überall nur Phyſik. Für ihn iſt der unzertrennliche Zuſammenhang von Stoff, Form und Kraft ſelbſtverſtändlich. Dieſer wiſſenſchaftliche Materialismus iſt auf dem ganzen großen Gebiete der anorganiſchen Naturwiſſenſchaft, in der Phyſik und Chemie, in der Mineralogie und Geologie, längſt ſo allgemein anerkannt, daß kein Menſch mehr über ſeine alleinige Berechtigung im Zweifel iſt. Ganz anders verhält es ſich aber in der Biologie, in der organiſchen Naturwiſſenſchaft, wo man die Gel— tung deſſelben noch fortwährend von vielen Seiten her beſtreitet, ihm aber nichts Anderes, als das metaphyſiſche Geſpenſt der Le— benskraft, oder gar nur theologiſche Dogmen, entgegenhalten kann. Wenn wir nun aber den Beweis führen können, daß die ganze erkennbare Natur nur Eine iſt, daß dieſelben „ewigen, ehernen, gro— ßen Geſetze“ in dem Leben der Thiere und Pflanzen, wie in dem Wiſſenſchaftlicher und fittlicher Materialismus. 33 Wachsthum der Kryſtalle und in der Triebkraft des Waſſerdampfes thätig ſind, ſo werden wir auch auf dem geſammten Gebiete der Bio- logie, in der Zoologie wie in der Botanik, überall mit demſelben Rechte den moniſtiſchen oder mechaniſchen Standpunkt feſthalten, mag man denſelben nun als „Materialismus“ verdächtigen oder nicht. In dieſem Sinne iſt die ganze exacte Naturwiſſenſchaft, und an ihrer Spitze das Cauſalgeſetz, rein „materialiſtiſch“. Ganz etwas Anderes als dieſer naturwiſſenſchaftliche iſt der ſitt— liche oder ethiſche Materialismus, der mit dem erſteren gar Nichts gemein hat. Dieſer „eigentliche“ Materialismus verfolgt in ſeiner praktiſchen Lebensrichtung kein anderes Ziel, als den möglichſt raffinirten Sinnengenuß. Er ſchwelgt in dem traurigen Wahne, daß der rein materielle Genuß dem Menſchen wahre Befriedigung geben könne, und indem er dieſe in keiner Form der Sinnenluſt finden kann, ſtürzt er ſich ſchmachtend von einer zur andern. Die tiefe Wahrheit, daß der eigentliche Werth des Lebens nicht im materiellen Genuß, ſondern in der ſittlichen That, und daß die wahre Glückſeligkeit nicht in äußeren Glücksgütern, ſondern nur in tugendhaftem Lebenswandel beruht, iſt jenem ethiſchen Materialismus unbekannt. Daher ſucht man denſelben auch vergebens bei ſolchen Naturforſchern und Philoſophen, deren höchſter Genuß der geiſtige Naturgenuß und deren höchſtes Ziel die Erkenntniß der Naturgeſetze iſt. Dieſen Materialismus muß man in den Paläſten der Kirchenfürſten und bei allen jenen Heuchlern ſuchen, welche unter der äußeren Maske frommer Gottesverehrung lediglich hierarchiſche Tyrannei und materielle Ausbeutung ihrer Mit— menſchen erſtreben. Stumpf für den unendlichen Adel der ſogenann— ten „rohen Materie“ und der aus ihr entſpringenden herrlichen Erſchei— nungswelt, unempfindlich für die unerſchöpflichen Reize der Natur, wie ohne Kenntniß von ihren Geſetzen, verketzern dieſelben die ganze Naturwiſſenſchaft und die aus ihr entſpringende Bildung als fünd- lichen Materialismus, während ſie ſelbſt dem letzteren in der widerlich— ſten Geſtalt fröhnen. Nicht allein die ganze Geſchichte der „unfehlba— ren“ Päpſte mit ihrer endloſen Kette von gräulichen Verbrechen, ſon— Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 3 34 Materialismus und Mechanismus. dern auch die widerwärtige Sittengeſchichte der Orthodoxie in allen Religionsformen liefert Ihnen hierfür genügende Beweiſe. Um nun in Zukunft die übliche Verwechſelung dieſes ganz ver— werflichen ſittlichen Materialismus mit unſerem naturphiloſophiſchen Materialismus zu vermeiden, halten wir es für nöthig, den letzteren entweder Monismus oder Realismus zu nennen. Das Princip dieſes Monismus iſt daſſelbe, was Kant das „Princip des Mecha— nismus“ nennt, und von dem er ausdrücklich erklärt, daß es ohne daſſelbe überhaupt keine Naturwiſſenſchaft geben könne. Dieſes Princip iſt von unſerer „natürlichen Schöpfungsge— ſchichte“ ganz untrennbar, und kennzeichnet dieſelbe gegenüber dem te— leologiſchen Wunderglauben der übernatürlichen Schöpfungsgeſchichte. Laſſen Sie uns nun zunächſt einen Blick auf die wichtigſte von allen übernatürlichen Schöpfungsgeſchichten werfen, diejenige des Moſes, wie ſie uns durch die alte Geſchichts- und Geſetzesurkunde des jüdiſchen Volkes, durch die Bibel, überliefert worden iſt. Be— kanntlich iſt die moſaiſche Schöpfungsgeſchichte, wie ſie im erſten Capi— tel der Geneſis den Eingang zum alten Teſtament bildet, in der gan— zen jüdiſchen und chriſtlichen Culturwelt bis auf den heutigen Tag in allgemeiner Geltung geblieben. Dieſer außerordentliche Erfolg erklärt ſich nicht allein aus der engen Verbindung derſelben mit den jüdiſchen und chriſtlichen Glaubenslehren, ſondern auch aus dem einfachen und natürlichen Ideengang, welcher dieſelbe durchzieht, und welcher vor— theilhaft gegen die bunte Schöpfungsmythologie der meiſten anderen Völker des Alterthums abſticht. Zuerſt ſchafft Gott der Herr die Erde als anorganiſchen Weltkörper. Dann ſcheidet er Licht und Finſterniß, darauf Waſſer und Feſtland. Nun erſt iſt die Erde für Organismen bewohnbar geworden und es werden zunächſt die Pflanzen, ſpäter erſt die Thiere erſchaffen, und zwar von den letzteren zuerſt die Bewohner des Waſſers und der Luft, ſpäter erſt die Bewohner des Feſtlands. Endlich zuletzt von allen Organismen ſchafft Gott den Menſchen, ſich ſelbſt zum Ebenbilde und zum Beherrſcher der Erde. Zwei große und wichtige Grundgedanken der natürlichen Ent— Schöpfungsgeſchichte des Moſes. 35 wickelungstheorie treten uns in dieſer Schöpfungshypotheſe des Mo— ſes mit überraſchender Klarheit und Einfachheit entgegen, der Ge— danke der Sonderung oder Differenzirung, und der Gedanke der fortſchreitenden Entwickelung oder Vervollkommnung. Obwohl Moſes dieſe großen Geſetze der organiſchen Entwickelung, die wir ſpäter als nothwendige Folgerungen der Abſtammungslehre nachwei— ſen werden, als die unmittelbare Bildungsthätigkeit eines geſtaltenden Schöpfers anſieht, liegt doch darin der erhabnere Gedanke einer fort— ſchreitenden Entwickelung und Differenzirung der urſprünglich ein— fachen Materie verborgen. Wir können daher dem großartigen Natur— verſtändniß des jüdiſchen Geſetzgebers und der einfach natürlichen Faſ— ſung ſeiner Schöpfungshypotheſe unſere gerechte und aufrichtige Be— wunderung zollen, ohne darin eine ſogenannte „göttliche Offenbarung“ zu erblicken. Daß ſie dies nicht ſein kann, geht einfach ſchon daraus hervor, daß darin zwei große Grundirrthümer behauptet werden, nämlich erſtens der geocentriſche Irrthum, daß die Erde der feſte Mittelpunkt der ganzen Welt ſei, um welchen ſich Sonne, Mond und Sterne bewegen; und zweitens der anthropocentriſche Irr— thum, daß der Menſch das vorbedachte Endziel der irdiſchen Schö— pfung ſei, für deſſen Dienſt die ganze übrige Natur nur geſchaffen ſei. Der erſtere Irrthum wurde durch Kopernikus' Weltſyſtem im Be— ginn des ſechszehnten, der letztere durch Lamarcks Abſtammungs— lehre im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts vernichtet. Trotzdem durch Kopernikus bereits der geocentriſche Irrthum der moſaiſchen Schöpfungsgeſchichte nachgewieſen und damit die Auto- rität derſelben als einer abſolut vollkommenen göttlichen Offenba— rung aufgehoben wurde, erhielt ſich dieſelbe dennoch bis auf den heu— tigen Tag in ſolchem Anſehen, daß ſie in weiten Kreiſen das Haupt— hinderniß für die Annahme einer natürlichen Entwickelungstheorie bildet. Bekanntlich haben ſelbſt viele Naturforſcher noch in unſerem Jahrhundert verſucht, dieſelbe mit den Ergebniſſen der neueren Na— turwiſſenſchaft, insbeſondere der Geologie, in Einklang zu bringen, und z. B. die ſieben Schöpfungstage des Moſes als ſieben große * 3 36 Schöpfungsgeſchichte des Moſes. geologiſche Perioden gedeutet. Indeſſen ſind alle dieſe künſtlichen Deutungsverſuche ſo vollkommen verfehlt, daß ſie hier keiner Wider— legung bedürfen. Die Bibel iſt kein naturwiſſenſchaftliches Werk, ſon— dern eine Geſchichts-, Geſetzes- und Religionsurkunde des jüdiſchen Volkes, deren hoher culturgeſchichtlicher Werth dadurch nicht geſchmä— lert wird, daß ſie in allen naturwiſſenſchaftlichen Fragen ohne maß— gebende Bedeutung und voll von groben Irrthümern iſt. Wir können nun einen großen Sprung von mehr als drei Jahr⸗ tauſenden machen, von Moſes, welcher ungefähr um das Jahr 1480 vor Chriſtus ſtarb, bis auf Linné, welcher 1707 nach Chriſtus ge— boren wurde. Während dieſes ganzen Zeitraums wurde keine Schö— pfungsgeſchichte aufgeſtellt, welche eine bleibende Bedeutung gewann, oder deren nähere Betrachtung an dieſem Orte von Intereſſe wäre. Insbeſondere während der letzten 1500 Jahre, als das Chriſtenthum die Weltherrſchaft gewann, blieb die mit deſſen Glaubenslehren ver— knüpfte moſaiſche Schöpfungsgeſchichte jo allgemein herrſchend, daß erſt das neunzehnte Jahrhundert ſich entſchieden dagegen aufzulehnen wagte. Selbſt der große ſchwediſche Naturforſcher Linné, der Be— gründer der neueren Naturgeſchichte, ſchloß ſich in ſeinem Naturſyſtem auf das Engſte an die Schöpfungsgeſchichte des Moſes an. Der außerordentliche Fortſchritt, welchen Karl Linné in den ſogenannten beſchreibenden Naturwiſſenſchaften that, beſteht bekannt— lich in der Aufſtellung eines Syſtems der Thier- und Pflanzenar— ten, welches er in ſo folgerichtiger und logiſch vollendeter Form durch— führte, daß es bis auf den heutigen Tag in vielen Beziehungen die Richtſchnur für alle folgenden, mit den Formen der Thiere und Pflan— zen ſich beſchäftigenden Naturforſcher geblieben iſt. Obgleich das Sy— ſtem Linné's ein künſtliches war, obgleich er für die Klaſſifikation der Thier- und Pflanzenarten nur einzelne Theile als Eintheilungsgrund— lagen hervorſuchte und anwendete, hat dennoch dieſes Syſtem ſich den größten Erfolg errungen, erſtens durch ſeine konſequente Durchfüh— rung, und zweitens durch ſeine ungemein wichtig gewordene Benen— nungsweiſe der Naturkörper, auf welche wir hier nothwendig ſogleich Linné's zweifache Benennung der organiſchen Arten. 37 einen Blick werfen müſſen. Nachdem man nämlich vor Linne ſich vergeblich abgemüht hatte, in das unendliche Chaos der ſchon damals bekannten verſchiedenen Thier- und Pflanzenformen durch irgend eine paſſende Namengebung und Zuſammenſtellung Licht zu bringen, ge— lang es Linns durch Aufſtellung der ſogenannten „binären No— menklatur“ mit einem glücklichen Griff dieſe wichtige und ſchwierige Aufgabe zu löſen. Die binäre Nomenklatur oder die zweifache Be— nennung, wie fie Lin ns zuerſt aufſtellte, wird noch heutigen Tages ganz allgemein von allen Zoologen und Botanikern angewendet und wird ſich unzweifelhaft ſehr lange noch in gleicher Geltung erhalten. Sie beſteht darin, daß jede Thier- und Pflanzenart mit zwei Namen bezeichnet wird, welche ſich ähnlich verhalten, wie Tauf- und Familien— namen der menſchlichen Individuen. Der beſondere Name, welcher dem menſchlichen Taufnamen entſpricht, und welcher den Begriff der Art (Species) ausdrückt, dient zur gemeinſchaftlichen Bezeichnung aller thieriſchen oder pflanzlichen Einzelweſen, welche in allen weſent— lichen Formeigenſchaften ſich gleich ſind, und ſich nur durch ganz un— tergeordnete Merkmale unterſcheiden. Der allgemeinere Name dage— gen, welcher dem menſchlichen Familiennamen entſpricht, und welcher den Begriff der Gattung (Genus) ausdrückt, dient zur gemeinſchaft— lichen Bezeichnung aller nächſt ähnlichen Arten oder Species. Der allgemeinere, umfaſſende Genusname wird nach Linné's allgemein gültiger Benennungsweiſe vorangeſetzt; der beſondere, untergeordnete Speciesname folgt ihm nach. So z. B. heißt die Hauskatze Felis domestica, die wilde Katze Felis catus, der Panther Felis pardus, der Jaguar Felis onca, der Tiger Felis tigris, der Löwe Felis leo; alle ſechs Raubthierarten find verſchiedene Species eines und deſſel— ben Genus: Felis. Oder, um ein Beiſpiel aus der Pflanzenwelt hinzuzufügen, fo heißt nach Lin né's Benennung die Fichte Pinus abies, die Tanne Pinus picea, die Lärche Pinus larix, die Pinie Pinus pinea, die Zirbelkiefer Pinus cembra, das Knieholz Pinus mughus, die gewöhnliche Kiefer Pinus silvestris; alle ſieben Nadel— holzarten ſind verſchiedene Species eines und deſſelben Genus: Pinus. 38 Praktiſche und theoretiſche Bedeutung der binären Nomenklatur. Vielleicht ſcheint Ihnen dieſer von Linné herbeigeführte Forts ſchritt in der praktiſchen Unterſcheidung und Benennung der vielgeftal- tigen Organismen nur von untergeordneter Wichtigkeit zu ſein. Al⸗ lein in Wirklichkeit war er von der allergrößten Bedeutung, und zwar ſowohl in praktiſcher als in theoretiſcher Beziehung. Denn es wurde nun erſt möglich, die Unmaſſe der verſchiedenartigen organiſchen For— men nach dem größeren und geringeren Grade ihrer Aehnlichkeit zu— ſammenzuſtellen und überſichtlich in dem Fachwerk des Syſtems zu ordnen. Die Regiſtratur dieſes Fachwerks machte Linné dadurch noch überſichtlicher, daß er die nächſtähnlichen Gattungen (Genera) in ſogenannte Ordnungen (Ordines) zuſammenſtellte, und daß er die nächſtähnlichen Ordnungen in noch umfaſſenderen Hauptabtheilungen, den Klaſſen (Classes) vereinigte. Es zerfiel alſo zunächſt jedes der beiden organiſchen Reiche nach Linné in eine geringe Anzahl von Klaſ— ſen; das Pflanzenreich in 24 Klaſſen, das Thierreich in 6 Klaſſen. Jede Klaſſe enthielt wieder mehrere Ordnungen. Jede einzelne Ord— nung konnte eine Mehrzahl von Gattungen und jede einzelne Gattung wiederum mehrere Arten enthalten. Nicht minder bedeutend aber, als der unſchätzbare praktiſche Nutzen, welchen Linn é's binäre Nomenklatur ſofort für eine über⸗ ſichtliche ſyſtematiſche Unterſcheidung, Benennung, Anordnung und Eintheilung der organiſchen Formenwelt hatte, war der unberechen- bare theoretiſche Einfluß, welchen dieſelbe alsbald auf die geſammte allgemeine Beurtheilung der organiſchen Formen, und ganz beſonders auf die Schöpfungsgeſchichte gewann. Noch heute drehen ſich alle die wichtigen Grundfragen, welche wir vorher kurz erörterten, zuletzt um die Entſcheidung der ſcheinbar ſehr abgelegenen und unwichtigen Vorfrage, was denn eigentlich die Art oder Species iſt? Noch heute kann der Begriff der organiſchen Species als der Angelpunkt der ganzen Schöpfungsfrage bezeichnet werden, als der ſtreitige Mittelpunkt, um deſſen verſchiedene Auffaſſung ſich alle Darwiniſten und Antidarwiniſten herumſchlagen. Nach der Meinung Darwins und ſeiner Anhänger ſind die Bedeutung des Speciesbegriffs bei Linns. 39 verſchiedenen Species einer und derſelben Gattung von Thieren und Pflanzen weiter nichts, als verſchiedenartig entwickelte Abkömmlinge einer und derſelben urſprünglichen Stammform. Die verſchiedenen vorhin genannten Nadelholzarten würden demnach von einer einzigen urſprünglichen Pinusform abſtammen. Ebenſo würden alle oben an- geführten Katzenarten aus einer einzigen gemeinſamen Felisform ihren Urſprung ableiten, dem Stammvater der ganzen Gattung. Weiter— hin müßten dann aber, der Abſtammungslehre entſprechend, auch alle verſchiedenen Gattungen einer und derſelben Ordnung von einer einzigen gemeinſchaftlichen Urform abſtammen, und ebenſo endlich alle Ordnungen einer Klaſſe von einer einzigen Stammform. Nach der entgegengeſetzten Vorſtellung der Gegner Darwins ſind dagegen alle Thier- und Pflanzenſpecies ganz unabhängig von einander, und nur die Einzelweſen oder Individuen einer jeden Spe⸗ ties ſtammen von einer einzigen gemeinſamen Stammform ab. Fra⸗ gen wir ſie nun aber, wie ſie ſich denn dieſe urſprünglichen Stamm⸗ formen der einzelnen Arten entſtanden denken, ſo antworten ſie uns mit einem Sprung in das Unbegreifliche: „fie ſind als ſolche ge- ſchaffen worden.“ Linn ſelbſt beſtimmte den Begriff der Species bereits in dieſer Weiſe, indem er ſagte: „Es giebt ſoviel verſchiedene Arten, als im Anfang verſchiedene Formen von dem unendlichen Weſen erſchaffen worden ſind.“ („Species tot sunt diversae, quot diversas for- mas ab initio creavit infinitum ens.“) Er ſchloß ſich alſo in die— ſer Beziehung aufs Engſte an die moſaiſche Schöpfungsgeſchichte an, welche ja ebenfalls die Pflanzen und Thiere „ein jegliches nach ſeiner Art“ erſchaffen werden läßt. Näher hierauf eingehend, meinte Linné, daß urſprünglich von jeder Thier- und Pflanzenart entweder ein ein- zelnes Individuum oder ein Pärchen geſchaffen worden ſei; und zwar ein Pärchen, oder wie Moſes fagt: „ein Männlein und ein Fräu⸗ lein“ von jenen Arten, welche getrennte Geſchlechter haben; für jene Arten dagegen, bei welchen jedes Individuum beiderlei Geſchlechts— organe in ſich vereinigt (Hermaphroditen oder Zwitter) wie z. B. die 40 Linns's Schöpfungsgeſchichte. Regenwürmer, die Garten- und Weinbergsſchnecken, ſowie die große Mehrzahl der Gewächſe, meinte Linné, ſei es hinreichend, wenn ein einzelnes Individuum erſchaffen worden ſei. Linns ſchloß ſich weiterhin an die moſaiſche Legende auch in Betreff der Sündfluth an, indem er annahm, daß bei dieſer großen allgemeinen Ueber— ſchwemmung alle vorhandenen Organismen ertränkt worden ſeien, bis auf jene wenigen Individuen von jeder Art (ſieben Paar von den Vögeln und von dem reinen Vieh, ein Paar von dem unreinen Vieh), welche in der Arche Noah gerettet und nach beendigter Sündfluth auf dem Ararat an das Land geſetzt wurden. Die geographiſche Schwie— rigkeit des Zuſammenlebens der verſchiedenſten Thiere und Pflanzen ſuchte er ſich dadurch zu erklären: der Ararat in Armenien, in einem warmen Klima gelegen, und bis über 16,000 Fuß Höhe aufſteigend, vereinigt in ſich die Bedingungen für den zeitweiligen gemeinſamen Aufenthalt auch ſolcher Thiere, die in verſchiedenen Zonen leben. Es konnten zunächſt alſo die an das Polarklima gewöhnten Thiere auf den kalten Gebirgsrücken hinaufklettern, die an das warme Klima gewöhnten an den Fuß hinabgehen, und die Bewohner der gemä— ßigten Zone in der Mitte der Berghöhe ſich aufhalten. Von hier aus war die Möglichkeit gegeben, ſich über die Erde nach Norden und Süden zu verbreiten. Es iſt wohl kaum nöthig, zu bemerken, daß dieſe Schöpfungs— hypotheſe Linné's, welche ſich offenbar möglichſt eng an den herr— ſchenden Bibelglauben anzuſchließen ſuchte, keiner ernſtlichen Wider— legung bedarf. Wenn man die ſonſtige Klarheit des ſcharfſinnigen Linné erwägt, darf man vielleicht zweifeln, daß er ſelbſt daran glaubte. Was die gleichzeitige Abſtammung aller Individuen einer jeden Species von je einem Elternpaare (oder bei den hermaphrodi— tiſchen Arten von je einem Stammzwitter) betrifft, ſo iſt ſie offenbar ganz unhaltbar; denn abgeſehen von anderen Gründen, würden ſchon in den erſten Tagen nach geſchehener Schöpfung die wenigen Raub— thiere ausgereicht haben, ſämmtlichen Pflanzenfreſſern den Garaus zu machen, wie die pflanzenfreſſenden Thiere die wenigen Individuen Linné's Anficht von der Entſtehung der Arten. 41 der verſchiedenen Pflanzenarten hätten zerſtören müſſen. Ein ſolches Gleichgewicht in der Oekonomie der Natur, wie es gegenwärtig exiſtirt, konnte unmöglich ſtattfinden, wenn von jeder Art nur ein Individuum oder nur ein Paar urſprünglich und gleichzeitig geſchaffen wurde. Wie wenig übrigens Linné auf dieſe unhaltbare Schöpfungs— hypotheſe Gewicht legte, geht unter Anderem daraus hervor, daß er die Baſtarderzeugung (Hybridismus) als eine Quelle der Entſte— hung neuer Arten anerkannte. Er nahm an, daß eine große Anzahl von ſelbſtſtändigen neuen Species auf dieſem Wege, durch geſchlecht— liche Vermiſchung zweier verſchiedener Species, entſtanden ſei. In der That kommen ſolche Baſtarde (Hybridae) durchaus nicht ſelten in der Natur vor, und es iſt jetzt erwieſen, daß eine große Anzahl von Arten z. B. aus den Gattungen der Brombeere (Rubus), des Woll— krauts (Verbascum), der Weide (Salix), der Diſtel (Cirsium) Ba- ſtarde von verſchiedenen Arten dieſer Gattungen ſind. Ebenſo ken— nen wir Baſtarde von Haſen und Kaninchen (zwei Species der Gat— tung Lepus), ferner Baſtarde verſchiedener Arten der Hundegattung (Canis) u. ſ. w., welche als ſelbſtſtändige Arten ſich fortzupflanzen im Stande ſind. Es iſt gewiß ſehr bemerkenswerth, daß Linné bereits die phy— ſiologiſche (alſo mechaniſche) Entſtehung von neuen Species auf die— ſem Wege der Baſtardzeugung behauptete. Offenbar ſteht dieſelbe in unvereinbarem Gegenſatze mit der übernatürlichen Entſtehung der an— deren Species durch Schöpfung, welche er der moſaiſchen Schöpfungs— geſchichte gemäß annahm. Die eine Abtheilung der Species würde demnach durch dualiſtiſche (teleologiſche) Schöpfung, die andere durch moniſtiſche (mechaniſche) Entwickelung entſtanden ſein. Das große und wohlverdiente Anſehen, welches ſich Linné durch ſeine ſyſtematiſche Klaſſifikation und durch ſeine übrigen Ver— dienſte um die Biologie erworben hatte, war offenbar die Urſache, daß auch ſeine Schöpfungsanſichten das ganze vorige Jahrhundert hindurch unangefochten in voller und ganz allgemeiner Geltung blie— ben. Wenn nicht die ganze ſyſtematiſche Zoologie und Botanik die 42 Autorität von Linne’s Schöpfungsgeſchichte. von Linné eingeführte Unterſcheidung, Klaſſifikation und Benen- nung der Arten, und den damit verbundenen dogmatiſchen Species— begriff mehr oder minder unverändert beibehalten hätte, würde man nicht begreifen, daß ſeine Vorſtellung von einer ſelbſtſtändigen Schö— pfung der einzelnen Species ſelbſt bis auf den heutigen Tag ihre Herrſchaft behaupten konnte. Nur durch die große Autorität Lin- né's und durch ſeine Anlehnung an den herrſchenden Bibelglauben war die Erhaltung ſeiner Schöpfungshypotheſe bis auf unſere Zeit möglich. —ũ— —-¼ — — u —— H—-— Dritter Vortrag. Schöpfungsgeſchichte nach Cuvier und Agaſſiz. Allgemeine theoretiſche Bedeutung des Speciesbegriffs. Unterſchied in der theo⸗ retiſchen und praktiſchen Beſtimmung des Artbegriffs. Cuviers Definition der Spe⸗ cies. Cuviers Verdienſte als Begründer der vergleichenden Anatomie. Unterſchei⸗ dung der vier Hauptformen (Typen oder Zweige) des Thierreichs durch Cuvier und Bär. Cuviers Verdienſte um die Paläontologie. Seine Hypotheſe von den Re⸗ volutionen des Erdballs und den durch dieſelben getrennten Schöpfungsperioden. Unbekannte, übernatürliche Urſachen dieſer Revolutionen und der darauf folgenden Neuſchöpfungen. Teleologiſches Naturſyſtem von Agaſſiz. Seine Vorſtellungen vom Schöpfungsplane und deſſen ſechs Kategorien (Gruppenſtufen des Syſtems). Agaſſiz' Anſichten von der Erſchaffung der Species. Grobe Vermenſchlichung (Anthropomorphismus) des Schöpfers in der Schöpfungshypotheſe von Agaſſiz. Innere Unhaltbarkeit derſelben und Widerſprüche mit den von Agaſſiz entdeckten wichtigen paläontologiſchen Geſetzen. Meine Herren! Der entſcheidende Schwerpunkt in dem Mei: nungskampfe, der von den Naturforſchern über die Entſtehung der Organismen, über ihre Schöpfung oder Entwickelung geführt wird, liegt in den Vorſtellungen, welche man ſich von dem Weſen der Art oder Species macht. Entweder hält man mit Linné die ver— ſchiedenen Arten für ſelbſtſtändige, von einander unabhängige Schö— pfungsformen, oder man nimmt mit Darwin deren Blutsverwandt— ſchaft an. Wenn man Linné's Anſicht theilt (welche wir in dem letzten Vortrag auseinanderſetzten), daß die verſchiedenen organiſchen Species unabhängig von einander entſtanden ſind, daß ſie keine 44 Allgemeine theoretische Bedeutung des Speciesbegriffs. Blutsverwandtſchaft haben, ſo iſt man zu der Annahme gezwungen, daß dieſelben ſelbſtſtändig erſchaffen ſind; man muß entweder für jedes einzelne organiſche Individuum einen beſonderen Schöpfungs— akt annehmen (wozu ſich wohl kein Naturforſcher entſchließen wird), oder man muß alle Individuen einer jeden Art von einem einzigen Individuum oder von einem einzigen Stammpaare ableiten, welches nicht auf natürlichem Wege entſtanden, ſondern durch den Macht— ſpruch eines Schöpfers in das Daſein gerufen iſt. Damit verläßt man aber das ſichere Gebiet vernunftgemäßer Natur-Erkenntniß und flüchtet ſich in das mythologiſche Reich des Wunderglaubens. Wenn man dagegen mit Darwin die Formenähnlichkeit der verſchiedenen Arten auf wirkliche Blutsverwandtſchaft bezieht, ſo muß man alle verſchiedenen Species der Thier- und Pflanzenwelt als veränderte Nachkommen einer einzigen oder einiger wenigen, höchſt einfachen, urſprünglichen Stammformen betrachten. Durch dieſe An— ſchauung gewinnt das natürliche Syſtem der Organismen (die baum— artig verzweigte Anordnung und Eintheilung derſelben in Klaſſen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten) die Bedeutung eines wirklichen Stammbaums, deſſen Wurzel durch jene uralten längſt verſchwundenen Stammformen gebildet wird. Eine wirklich natur— gemäße und folgerichtige Betrachtung der Organismen kann aber auch für dieſe einfachſten urſprünglichen Stammformen keinen über- natürlichen Schöpfungsakt annehmen, ſondern nur eine Entſtehung durch Urzeugung (Archigonie oder Generatio spontanea). Durch Darwins Anſicht von dem Weſen der Species gelangen wir daher zu einer natürlichen Entwickelungstheorie, durch Linné's Auffaſſung des Artbegriffs dagegen zu einem übernatür— lichen Schöpfungsdogma. Die meiſten Naturforſcher nach Linné, deſſen große Verdienſte um die unterſcheidende und beſchreibende Naturwiſſenſchaft ihm das höchſte Anſehen gewannen, traten in ſeine Fußtapfen, und ohne wei— ter über die Entſtehung der Organiſation nachzudenken, nahmen ſie in dem Sinne Linné's eine ſelbſtſtändige Schöpfung der einzelnen Gegenſatz der theoretiſchen und praktiſchen Beſtimmung des Artbegriffs. 45 Arten an, in Uebereinſtimmung mit dem moſaiſchen Schöpfungsbe— richt. Die Grundlage ihrer Speciesauffaſſung bildete Lin né's Aus— ſpruch: „Es giebt ſo viele Arten, als urſprünglich verſchiedene Formen erſchaffen worden ſind.“ Jedoch müſſen wir hier, ohne näher auf die Begriffsbeſtimmung der Species einzugehen, ſogleich bemerken, daß alle Zoologen und Botaniker in der ſyſtematiſchen Praxis, bei der praktiſchen Unterſcheidung und Benennung der Thier- und Pflan— zenarten, ſich nicht im Geringſten um jene angenommene Schöpfung ihrer elterlichen Stammformen kümmerten, und auch wirklich nicht kümmern konnten. In dieſer Beziehung macht einer unſerer erſten Zoologen, der geiſtvolle Fritz Müller, folgende treffende Bemer— kung: „Wie es in chriſtlichen Landen eine Katechismus-Moral gibt, die Jeder im Munde führt, Niemand zu befolgen ſich verpflichtet halt, oder von anderen befolgt zu ſehen erwartet, jo hat auch die Zoologie ihre Dogmen, die man ebenſo allgemein bekennt, als in der Praxis verläugnet.“ („Für Darwin“, S. 71) 16). Ein ſolches vernunftwidriges, aber gerade darum mächtiges Dogma, und zwar das mächtigſte von allen, iſt das angebetete Lin né'ſche Species— Dogma. Obwohl die allermeiſten Naturforſcher demſelben blindlings ſich unterwarfen, waren ſie doch natürlich niemals in der Lage, die Abſtammung aller zu einer Art gehörigen Individuen von jener ge— meinſamen, urſprünglich erſchaffenen Stammform der Art nachwei— ſen zu können. Vielmehr bedienten ſich ſowohl die Zoologen als die Botaniker in ihrer ſyſtematiſchen Praxis ausſchließlich der Formähn— lichkeit, um die verſchiedenen Arten zu unterſcheiden und zu be— nennen. Sie ſtellten in eine Art oder Species alle organiſchen Einzel— weſen, die einander in der Formbildung ſehr ähnlich oder faſt gleich waren, und die ſich nur durch ſehr unbedeutende Formenunterſchiede von einander trennen ließen. Dagegen betrachteten ſie als verſchie— dene Arten diejenigen Individuen, welche weſentlichere oder auffal— lendere Unterſchiede in ihrer Körpergeſtaltung darboten. Natürlich war aber damit der größten Willkür in der ſyſtematiſchen Artunter— ſcheidung Thür und Thor geöffnet. Denn da niemals alle Indivi— 46 Cuviers Definition der Species. duen einer Species in allen Stücken völlig gleich ſind, vielmehr jede Art mehr oder weniger abändert (variirt), jo vermochte Niemand zu ſagen, welcher Grad der Abänderung eine wirkliche „gute Art“, wel— cher Grad bloß eine Spielart oder Raſſe (Varietät) bezeichne. Nothwendig mußte dieſe dogmatiſche Auffaſſung des Species— begriffes und die damit verbundene Willkür zu den unlösbarſten Widerſprüchen und zu den unhaltbarſten Annahmen führen. Dies zeigt ſich deutlich ſchon bei demjenigen Naturforſcher, welcher nächſt Linné den größten Einfluß auf die Ausbildung der Thierkunde ge— wann, bei dem berühmten Cuvier (geb. 1769). Er ſchloß ſich in ſeiner Auffaſſung und Beſtimmung des Speciesbegriffs im Ganzen an Linns an, und theilte feine Vorſtellung von einer unabhängigen Er— ſchaffung der einzelnen Arten. Die Unveränderlichkeit derſelben hielt Cuvier für ſo wichtig, daß er ſich bis zu dem thörichten Ausſpruche verſtieg: „die Beſtändigkeit der Species iſt eine nothwendige Be— dingung für die Exiſtenz der wiſſenſchaftlichen Naturgeſchichte.“ Da Linné's Definition der Species ihm nicht genügte, machte er den Verſuch, eine genauere und für die ſyſtematiſche Praxis mehr verwerth— bare Begriffsbeſtimmung derſelben zu geben, und zwar in folgender Definition: „Zu einer Art gehören alle diejenigen Individuen der Thiere und der Pflanzen, welche entweder von einander oder von ge— meinſamen Stammeltern bewieſenermaßen abſtammen, oder welche dieſen ſo ähnlich ſind, als die letzteren unter ſich.“ Cuvier dachte ſich alſo in dieſer Beziehung Folgendes: „Bei denjenigen organiſchen Individuen, von denen wir wiſſen, ſie ſtam— men von einer und derſelben Elternform ab, bei denen alſo ihre ge— meinſame Abſtammung empiriſch erwieſen iſt, leidet es keinen Zwei— fel, daß ſie zu einer Art gehören, mögen dieſelben nun wenig oder viel von einander abweichen, mögen ſie faſt gleich oder ſehr ungleich ſein. Ebenſo gehören dann aber zu dieſer Art auch alle diejenigen Individuen, welche von den letzteren (den aus gemeinſamem Stamm empiriſch abgeleiteten) nicht mehr verſchieden ſind, als dieſe unter ſich von einander abweichen.“ Bei näherer Betrachtung dieſer Spe— Cuvier als Begründer der vergleichenden Anatomie. 47 ciesdefinition Cu viers zeigt ſich ſofort, daß dieſelbe weder theore— tiſch befriedigend, noch praktiſch anwendbar iſt. Cuvier fing mit dieſer Definition bereits an, ſich in dem Kreiſe herum zu drehen, in welchem faſt alle folgenden Definitionen der Species im Sinne ihrer Unveränderlichkeit ſich bewegt haben. Bei der außerordentlichen Bedeutung, welche George Cuvier für die organiſche Naturwiſſenſchaft gewonnen hat, angeſichts der faſt unbeſchränkten Alleinherrſchaft, welche ſeine Anſichten während der erſten Hälfte unſers Jahrhunderts in der Thierkunde ausübten, er— ſcheint es an dieſer Stelle angemeſſen, ſeinen Einfluß noch etwas näher zu beleuchten. Es iſt dies um ſo nöthiger, als wir in Cuvier den bedeutendſten Gegner der Abſtammungslehre und der moniſtiſchen Naturauffaſſung zu bekämpfen haben. Unter den vielen und großen Verdienſten Cuviers ſtehen obenan diejenigen, welche er ſich als Gründer der vergleichenden Ana— tomie erwarb. Während Linné die Unterſcheidung der Arten, Gattungen, Ordnungen und Klaſſen meiſtens auf äußere Charaktere, auf einzelne, leicht auffindbare Merkmale in der Zahl, Größe, Lage und Geſtalt einzelner organiſcher Theile des Körpers gründete, drang Cuvier viel tiefer in das Weſen der Organiſation ein. Er wies große und durchgreifende Verſchiedenheiten in dem inneren Bau der Thiere als die weſentliche Grundlage einer wiſſenſchaftlichen Erkennt— niß und Klaſſifikation derſelben nach. Er unterſchied natürliche Fa— milien in den Thierklaſſen und er gründete auf deren vergleichende Anatomie ſein natürliches Syſtem des Thierreichs. Der Fortſchritt von dem künſtlichen Syſtem Linné's zu dem natürlichen Syſtem Cuviers war außerordentlich bedeutend. Linné hatte ſämmtliche Thiere in eine einzige Reihe geordnet, welche er in ſechs Klaſſen eintheilte, zwei wirbelloſe und vier Wirbelthierklaſſen. Er unterſchied dieſelben künſtlich nach der Beſchaffenheit des Blutes und des Herzens. Cuvier dagegen zeigte, daß man im Thierreich vier große natürliche Hauptabtheilungen unterſcheiden müſſe, welche er Hauptformen oder Generalpläne oder Zweige des Thierreichs (Ems 48 Unterſcheidung der vier Hauptformen oder Typen des Thierreichs. branchements) nannte, nämlich 1) die Wirbelthiere (Vertebrata), 2) die Gliederthiere (Articulata), 3) die Weichthiere (Mollusca), und 4) die Strahlthiere (Radiata). Er wies ferner nach, daß in je— dem dieſer vier Zweige ein eigenthümlicher Bauplan oder Typus er— kennbar ſei, welcher dieſen Zweig von jedem der drei andern Zweige unterſcheidet. Bei den Wirbelthieren iſt derſelbe durch die Beſchaf— fenheit des inneren Skelets oder Knochengerüſtes, ſowie durch den Bau und die Lage des Rückenmarks, abgeſehen von vielen anderen Eigen— thümlichkeiten, beſtimmt ausgedrückt. Die Gliederthiere werden durch ihr Bauchmark und ihr Rückenherz charakteriſirt. Für die Weichthiere iſt die ſackartige, ungegliederte Körperform bezeichnend. Die Strahl— thiere endlich unterſcheiden ſich von den drei anderen Hauptformen durch die Zuſammenſetzung ihres Körpers aus vier oder mehreren ſtrahlenförmig vereinigten Hauptabſchnitten (Antimeren). Man pflegt gewöhnlich die Unterſcheidung dieſer vier thieriſchen Hauptformen, welche ungemein fruchtbar für die weitere Entwicke— lung der Zoologie wurde, Cu vier allein zuzuſchreiben. Indeſſen wurde derſelbe Gedanke faſt gleichzeitig, und unabhängig von Cu— vier, von einem der größten, noch lebenden Naturforſcher ausge— ſprochen, von Bär, welcher um die Entwickelungsgeſchichte der Thiere ſich die hervorragendſten Verdienſte erwarb. Bär zeigte, daß man auch in der Entwickelungsweiſe der Thiere vier verſchiedene Haupt— formen oder Typen unterſcheiden müſſe ?“). Dieſe entſprechen den vier thieriſchen Bauplänen, welche Cuvier auf Grund der verglei— chenden Anatomie unterſchieden hatte. So z. B. ſtimmt die indi— viduelle Entwickelung aller Wirbelthiere in ihren Grundzügen von Anfang an ſo ſehr überein, daß man die Keimanlagen oder Em— bryonen der verſchiedenen Wirbelthiere (3. B. der Reptilien, Vögel und Säugethiere) in der früheſten Zeit gar nicht unterſcheiden kann. Erſt im weiteren Verlaufe der Entwickelung treten allmählich die tieferen Formunterſchiede auf, welche jene verſchiedenen Klaſſen und deren Ordnungen von einander trennen. Ebenſo iſt die Körperan— lage, welche ſich bei der individuellen Entwickelung der Gliederthiere Stammverwandtſchaft aller Thiere eines Typus. 49 (Inſekten, Spinnen, Krebſe) ausbildet, von Anfang an bei allen Gliederthieren im Weſentlichen gleich, dagegen verſchieden von derje— nigen aller Wirbelthiere. Daſſelbe gilt mit gewiſſen Einſchränkungen von den Weichthieren und von den Strahlthieren. Weder Bär, welcher auf dem Wege der individuellen Entwicke— lungsgeſchichte (oder Embryologie), noch Cuvier, welcher auf dem Wege der vergleichenden Anatomie zur Unterſcheidung der vier thieri— ſchen Typen oder Hauptformen gelangte, erkannte die wahre Urſache dieſes typiſchen Unterſchiedes. Dieſe wird uns nur durch die Abſtam— mungslehre enthüllt. Die wunderbare und wirklich überraſchende Aehnlichkeit in der inneren Organiſation, in den anatomiſchen Struc— turverhältniſſen, und die noch merkwürdigere Uebereinſtimmung in der embryonalen Entwickelung bei allen Thieren, welche zu einem und demſelben Typus, z. B. zu dem Zweige der Wirbelthiere, gehören, erklärt ſich in der einfachſten Weiſe durch die Annahme einer gemein— ſamen Abſtammung derſelben von einer einzigen Stammform. Ent— ſchließt man ſich nicht zu dieſer Annahme, ſo bleibt jene durchgreifende Uebereinſtimmung der verſchiedenſten Wirbelthiere im inneren Bau und in der Entwickelungsweiſe vollkommen unerklärlich. Sie kann nur durch die Vererbung erklärt werden. Nächſt der vergleichenden Anatomie der Thiere und der durch dieſe neu begründeten ſyſtematiſchen Zoologie, war es beſonders die Verſteinerungskunde oder Paläontologie, um welche ſich Cuvier die größten Verdienſte erwarb. Wir müſſen dieſer um ſo mehr gedenken, als gerade die paläontologiſchen und die damit ver— bundenen geologiſchen Anſichten Cu viers in der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts ſich faſt allgemein im höchſten Anſehen erhielten, und der Entwickelung der natürlichen Schöpfungsgeſchichte die größten Hinderniſſe entgegenſtellten. Die Verſteinerungen oder Petrefakten, deren wiſſen⸗ ſchaftliche Kenntniß Cuvier im Anfange unſeres Jahrhunderts in umfaſſendſtem Maße förderte und für die Wirbelthiere ganz neu be— gründete, ſpielen in der „natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ eine der Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 4 50 Frühere Anſichten von der Natur der Verſteinerungen. wichtigſten Rollen. Denn dieſe in verſteinertem Zuſtande uns erhal— tenen Reſte und Abdrücke von ausgeſtorbenen Thieren und Pflanzen ſind die wahren „Denkmünzen der Schöpfung“, die untrügli- chen und unanfechtbaren Urkunden, welche unſere wahrhaftige Ge— ſchichte der Organismen auf unerſchütterlicher Grundlage feſtſtellen. Alle verſteinerten oder foſſilen Reſte und Abdrücke berichten uns von der Geſtalt und dem Bau ſolcher Thiere und Pflanzen, welche ent— weder die Urahnen und die Voreltern der jetzt lebenden Organismen ſind, oder aber ausgeſtorbene Seitenlinien, die ſich von einem ge— meinſamen Stamm mit den jetzt lebenden Organismen abgezweigt haben. ö Dieſe unſchätzbar werthvollen Urkunden der Schöpfungsgeſchichte haben ſehr lange Zeit hindurch eine höchſt untergeordnete Rolle in der Wiſſenſchaft geſpielt. Allerdings wurde die wahre Natur der— ſelben ſchon mehr als ein halbes Jahrtauſend vor Chriſtus ganz richtig erkannt, und zwar von dem großen griechiſchen Philoſophen XKenophanes von Kolophon, demſelben, welcher die ſogenannte eleatiſche Philoſophie begründete und zum erſten Male mit über— zeugender Schärfe den Beweis führte, daß alle Vorſtellungen von perſönlichen Göttern nur auf mehr oder weniger grobe Anthropo— morphismen oder Vermenſchlichungen hinauslaufen. Xenophanes ſtellte zum erſten Male die Behauptung auf, daß die foſſilen Ab— drücke von Thieren und Pflanzen wirkliche Reſte von vormals leben— den Geſchöpfen ſeien, und daß die Berge, in deren Geſtein man fie findet, früher unter Waſſer geſtanden haben müßten. Aber ob- ſchon auch andere große Philoſophen des Alterthums, und unter dieſen namentlich Ariſtoteles, jene richtige Erkenntniß theilten, blieb dennoch während des rohen Mittelalters allgemein, und bei vielen Naturforſchern ſelbſt noch im vorigen Jahrhundert, die Anz ſicht herrſchend, daß die Verſteinerungen ſogenannte Naturſpiele ſeien (Lusus naturae), oder Produkte einer unbekannten Bildungskraft der Natur, eines Geſtaltungstriebes (Nisus formativus, Vis pla- stica). Ueber das Weſen und die Thätigkeit dieſer räthſelhaften und Frühere Anfichten von der Natur der Verſteinerungen. 51 myſtiſchen Bildungskraft machte man ſich die abenteuerlichſten Vor— ftellungen. Einige glaubten, daß dieſe bildende Schöpfungskraft, die— ſelbe, der ſie auch die Entſtehung der lebenden Thier- und Pflan— zenarten zuſchrieben, zahlreiche Verſuche gemacht habe, Organismen verſchiedener Form zu ſchaffen; dieſe Verſuche ſeien aber nur theil— weiſe gelungen, häufig fehlgeſchlagen, und ſolche mißglückte Verſuche ſeien die Verſteinerungen. Nach Anderen ſollten die Petrefakten durch den Einfluß der Sterne im Inneren der Erde entſtehen. Andere machten ſich noch eine gröbere Vorſtellung, daß nämlich der Schöp— fer zunächſt aus mineraliſchen Subſtanzen, z. B. aus Gyps oder Thon, vorläufige Modelle von denjenigen Pflanzen- und Thierformen ge— macht habe, die er ſpäter in organiſcher Subſtanz ausführte, und denen er ſeinen lebendigen Odem einhauchte; die Petrefakten ſeien ſolche rohe, anorganiſche Modelle. Selbſt noch im vorigen Jahr— hundert waren ſolche rohe Anſichten verbreitet, und es wurde z. B. eine beſondere „Samenluft“ (Aura seminalis) angenommen, welche mit dem Waſſer in die Erde dringe und durch Befruchtung der Ge— ſteine die Petrefakten, das „Steinfleiſch“ (Caro fossilis) bilde. Sie ſehen, es dauerte gewaltig lange, ehe die einfache und naturgemäße Vorſtellung zur Geltung gelangte, daß die Verſteinerun— gen wirklich nichts Anderes ſeien, als das, was ſchon der einfache Augenſchein lehrt: die unverweslichen Ueberbleibſel von geſtorbenen Organismen. Zwar wagte der berühmte Maler Leonardo da Vinci ſchon im fünfzehnten Jahrhundert zu behaupten, daß der aus dem Waſſer beſtändig ſich abſetzende Schlamm die Urſache der Ver— ſteinerungen ſei, indem er die auf dem Boden der Gewäſſer liegen— den unverweslichen Kalkſchalen der Muſcheln und Schnecken um— ſchließe, und allmählich zu feſtem Geſtein erhärte. Das Gleiche be— hauptete auch im ſechszehnten Jahrhundert ein Pariſer Töpfer, Pa— liſſy, welcher ſich durch ſeine Porzellanerfindung berühmt machte. Allein die ſogenannten „Gelehrten von Fach“ waren weit entfernt, dieſe richtigen Ausſprüche des einfachen geſunden Menſchenverſtandes zu würdigen, und erſt gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, 4 * 52 Begründung der Paläontologie oder Verſteinerungskunde. während der Begründung der neptuniſtiſchen Geologie durch Wer— ner, gewannen dieſelben allgemeine Geltung. Die Begründung der ſtrengeren wiſſenſchaftlichen Paläontologie fällt jedoch erſt in den Anfang unſeres Jahrhunderts, als Cuvier ſeine klaſſiſchen Unterſuchungen über die verſteinerten Wirbelthiere, und ſein großer Gegner Lamarck ſeine bahnbrechenden Forſchungen über die foſſilen wirbelloſen Thiere, namentlich die verſteinerten Schne— cken und Muſcheln, veröffentlichte. In ſeinem berühmten Werke „über die foſſilen Knochen“ der Wirbelthiere, insbeſondere der Säu— gethiere und Reptilien, gelangte Cuvier bereits zur Erkenntniß eini- ger ſehr wichtigen und allgemeinen paläontologiſchen Geſetze, welche für die Schöpfungsgeſchichte große Bedeutung gewannen. Dahin ge— hört vor Allen der Satz, daß die ausgeſtorbenen Thierarten, deren Ueberbleibſel wir in den verſchiedenen, über einander liegenden Schich— ten der Erdrinde verſteinert vorfinden, ſich um ſo auffallender von den jetzt noch lebenden, verwandten Thierarten unterſcheiden, je tiefer jene Erdſchichten liegen, d. h. je früher die Thiere in der Vorzeit leb— ten. In der That findet man bei jedem ſenkrechten Durchſchnitt der geſchichteten Erdrinde, daß die verſchiedenen, aus dem Waſſer in be— ſtimmter hiſtoriſcher Reihenfolge abgeſetzten Erdſchichten durch ver— ſchiedene Petrefakten charakteriſirt ſind, und daß dieſe ausgeſtorbenen Organismen denjenigen der Gegenwart um ſo ähnlicher werden, je weiter wir in der Schichtenfolge aufwärts ſteigen, d. h. je jünger die Periode der Erdgeſchichte war, in der ſie lebten, ſtarben, und von den abgelagerten und erhärtenden Schlammſchichten umſchloſſen wurden. So wichtig dieſe allgemeine Wahrnehmung Cuviers einerſeits war, ſo wurde ſie doch andrerſeits für ihn die Quelle eines folgen— ſchweren Irrthums. Denn indem er die charakteriſtiſchen Verſteine— rungen jeder einzelnen größeren Schichtengruppe, welche während eines Hauptabſchnitts der Erdgeſchichte abgelagert wurde, für gänz— lich verſchieden von denen der darüber und der darunter liegenden Schichtengruppe hielt, indem er irrthümlich glaubte, daß niemals eine Cuviers Hypotheſe von den getrennten Perioden der Erdgeſchichte. 53 und dieſelbe Thierart in zwei auf einander folgenden Schichtengruppen ſich vorfinde, gelangte er zu der falſchen Vorſtellung, welche für die mei— ſten nachfolgenden Naturforſcher maßgebend wurde, daß eine Reihe von ganz verſchiedenen Schöpfungsperioden aufeinander gefolgt ſei. Jede Periode ſollte ihre ganz beſondere Thier- und Pflanzenwelt, eine ihr eigenthümliche, ſpecifiſche Fauna und Flora beſeſſen haben. Cuvier ſtellte ſich vor, daß die ganze Geſchichte der Erdrinde ſeit der Zeit, ſeit welcher überhaupt lebende Weſen auf der Erdrinde auf— traten, in eine Anzahl vollkommen getrennter Perioden oder Hauptab— ſchnitte zerfalle, und daß die einzelnen Perioden durch eigenthümliche Umwälzungen unbekannter Natur, ſogenannte Revolutionen (Kata— klysmen oder Kataſtrophen) von einander geſchieden ſeien. Jede Re— volution hatte zunächſt die vollkommene Vernichtung der damals le— benden Thier- und Pflanzenwelt zur Folge, und nach ihrer Beendi— gung fand eine vollſtändig neue Schöpfung der organiſchen Formen ſtatt. Eine neue Welt von Thieren und Pflanzen, durchweg ſpecifiſch verſchieden von denen der vorhergehenden Geſchichtsperiode, wurde mit einem Male in das Leben gerufen, und bevölkerte nun wieder eine Reihe von Jahrtauſenden hindurch den Erdball, bis ſie plötzlich durch den Eintrit einer neuen Revolution zu Grunde ging. Von dem Weſen und den Urſachen dieſer Revolutionen ſagte Cuvier ausdrücklich, daß man ſich keine Vorſtellung darüber machen könne, und daß die jetzt wirkſamen Kräfte der Natur zu einer Erklä— rung derſelben nicht ausreichten. Als natürliche Kräfte oder mecha— niſche Agentien, welche in der Gegenwart beſtändig, obwohl lang— ſam, an einer Umgeſtaltung der Erdoberfläche arbeiten, führt Cu— vier vier wirkende Urſachen auf: erſtens den Regen, welcher die ſteilen Gebirgsabhänge abſpült und Schutt an deren Fuß anhäuft; zweitens die fließenden Gewäſſer, welche dieſen Schutt fortfüh— ren und als Schlamm im ſtehenden Waſſer abſetzen; drittens das Meer, deſſen Brandung die ſteilen Küſtenränder abnagt, und an flachen Küſtenſäumen Dünen aufwirft; und endlich viertens die Vul— kane, welche die Schichten der erhärteten Erdrinde durchbrechen und 54 Cuviers Hypotheſe von den Revolutionen der Erdoberfläche. in die Höhe heben, und welche ihre Auswurfsprodukte aufhäufen und umherſtreuen. Während Cu vier die beſtändige langſame Um— bildung der gegenwärtigen Erdoberfläche durch dieſe vier mächtigen Urſachen anerkennt, behauptet er gleichzeitig, daß dieſelben nicht aus— gereicht haben könnten, um die Erdrevolutionen der Vorzeit auszu— führen, und daß man den anatomiſchen Bau der ganzen Erdrinde nicht durch die nothwendige Wirkung jener mechaniſchen Agentien er— klären könne: vielmehr müßten jene wunderbaren, großen Umwäl— zungen der ganzen Erdoberfläche durch ganz eigenthümliche, uns gänz— lich unbekannte Urſachen bewirkt worden ſein; der gewöhnliche Ent— wickelungsfaden ſei durch dieſe Revolutionen zerriſſen, der Gang der Natur verändert. Dieſe Anſichten legte Cuvier in einem beſonderen, auch ins Deutſche überſetzten Buche nieder: „Ueber die Revolutionen der Erd— oberfläche, und die Veränderungen, welche ſie im Thierreich hervor— gebracht haben“. Sie erhielten ſich lange Zeit hindurch in allgemei— ner Geltung, und wurden das größte Hinderniß für die Entwickelung einer natürlichen Schöpfungsgeſchichte. Denn wenn wirklich ſolche, Alles vernichtende Revolutionen exiſtirt hatten, ſo war natürlich eine Continuität der Artenentwickelung, ein zuſammenhängender Faden der organiſchen Erdgeſchichte gar nicht anzunehmen, und man mußte dann ſeine Zuflucht zu der Wirkſamkeit übernatürlicher Kräfte, zum Eingriff von Wundern in den natürlichen Gang der Dinge nehmen. Nur durch Wunder konnten die Revolutionen der Erde herbeigeführt fein, und nur durch Wunder konnte nach deren Aufhören, am An— fange jeder neuen Periode, eine neue Thier- und Pflanzenwelt geſchaf⸗ fen ſein. Für das Wunder hat aber die Naturwiſſenſchaft nirgends einen Platz, ſofern man unter Wunder einen Eingriff übernatürlicher Kräfte in den natürlichen Entwickelungsgang der Materie verſteht. Ebenſo wie die große Autorität, welche ſich Linné durch die ſyſtematiſche Unterſcheidung und Benennung der organiſchen Arten gewonnen hatte, bei ſeinen Nachfolgern zu einer völligen Verknöche— rung des dogmatiſchen Speciesbegriffs, und zu einem wahren Miß— Cuviers Hypotheſe von den Revolutionen der Erdoberfläche. 55 brauche der ſyſtematiſchen Artunterſcheidung führte; ebenſo wurden die großen Verdienſte, welche ſich Cuvier um Kenntniß und Unter— ſcheidung der ausgeſtorbenen Arten erworben hatte, die Urſache einer allgemeinen Annahme ſeiner Revolutions- oder Kataſtrophenlehre, und der damit verbundenen grundfalſchen Schöpfungsanſichten. In Folge deſſen hielten während der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts die meiſten Zoologen und Botaniker an der Anſicht feſt, daß eine Reihe unabhängiger Perioden der organiſchen Erdgeſchichte exiſtirt habe; jede Periode ſei durch eine beſtimmte, ihr ganz eigenthümliche Bevölkerung von Thier- und Pflanzenarten ausgezeichnet geweſen; dieſe ſei am Ende der Periode durch eine allgemeine Revolution ver— nichtet, und nach dem Aufhören der letzteren wiederum eine neue, ſpecifiſch verſchiedene Thier- und Pflanzenwelt erſchaffen worden. Zwar machten ſchon frühzeitig einzelne ſelbſtſtändig denkende Köpfe, vor Allen der große Naturphiloſoph Lamarck, eine Reihe von ge— wichtigen Gründen geltend, welche dieſe Kataklysmentheorie Cuviers widerlegten, und welche vielmehr auf eine ganz zuſammenhängende und ununterbrochene Entwickelungsgeſchichte der geſammten organi— ſchen Erdbevölkerung aller Zeiten hinwieſen. Sie behaupteten, daß die Thier⸗ und Pflanzenarten der einzelnen Perioden von denen der nächſt vorhergehenden Periode abſtammen und nur die veränderten Nachkommen der erſteren ſeien. Indeſſen der großen Autorität Cu- viers gegenüber vermochte damals dieſe richtige Anſicht noch nicht . durchzudringen. Ja ſelbſt nachdem durch Lyells 1830 erſchienene, claſſiſche Prinzipien der Geologie die Kataſtrophenlehre Cuviers aus dem Gebiete der Geologie gänzlich verdrängt worden war, blieb ſeine Anſicht von der ſpecifiſchen Verſchiedenheit der verſchiedenen organi— ſchen Schöpfungen trotzdem auf dem Gebiete der Paläontologie noch vielfach in Geltung. (Gen. Morph. II, 312.) Durch einen ſeltſamen Zufall geſchah es vor fünfzehn Jahren, daß faſt zu derſelben Zeit, als Cuviers Schöpfungsgeſchichte durch Dar— wins Werk ihren Todesſtoß erhielt, ein anderer berühmter Naturfor- ſcher den Verſuch unternahm, dieſelbe von Neuem zu begründen, und 56 Teleologiſches Naturſyſtem von Agaſſiz. in ſchroffſter Form als Theil eines teleologiſch-theologiſchen Natur- ſyſtems durchzuführen. Der Schweizer Geologe Louis Agaſſiz nämlich, welcher durch ſeine von Schimper und Charpentier entlehnten Gletſcher- und Eiszeittheorien einen jo hohen Ruf erlangt hat, und welcher ſeit einer Reihe von Jahren in Nordamerika lebt, begann 1858 die Veröffentlichung eines höchſt großartig angelegten Werkes, welches den Titel führt: „Beiträge zur Naturgeſchichte der vereinigten Staaten von Nordamerika“. Der erſte Band dieſer Na- turgeſchichte, welche durch den Patriotismus der Nordamerikaner eine für ein ſo großes und koſtſpieliges Werk unerhörte Verbreitung erhielt, führt den Titel: „Ein Verſuch über Klaſſifikation ?)“. Agaſſiz er läutert in dieſem Verſuche nicht allein das natürliche Syſtem der Or— ganismen und die verſchiedenen darauf abzielenden Klaſſifikations— verſuche der Naturforſcher, ſondern auch alle allgemeinen biologiſchen Verhältniſſe, welche darauf Bezug haben. Die Entwickelungsgeſchichte der Organismen, und zwar ſowohl die embryologiſche als die pa= läontologiſche, ferner die vergleichende Anatomie, ſodann die allge— meine Oekonomie der Natur, die geographiſche und topographiſche Verbreitung der Thiere und Pflanzen, kurz faſt alle allgemeinen Er— ſcheinungsreihen der organiſchen Natur, kommen in dem Klaſſifika⸗ tionsverſuche von Agaſſiz zur Beſprechung, und werden ſämmtlich in einem Sinne und von einem Standpunkte aus erläutert, welcher demjenigen Darwins auf das Schroffſte gegenüberſteht. Während das Hauptverdienſt Darwins darin beſteht, natürliche Urſachen für die Entſtehung der Thier- und Pflanzenarten nachzuweiſen, und ſomit die mechaniſche oder moniſtiſche Weltanſchauung auch auf dieſem ſchwierigſten Gebiete der Schöpfungsgeſchichte geltend zu machen, iſt Agaſſiz im Gegentheil überall beſtrebt, jeden mechaniſchen Vorgang aus dieſem ganzen Gebiete völlig auszuſchließen und überall den übernatürlichen Eingriff eines perſönlichen Schöpfers an die Stelle der natürlichen Kräfte der Materie zu ſetzen, mithin eine ent— ſchieden teleologiſche oder dualiſtiſche Weltanſchauung zur Geltung zu bringen. Schon aus dieſem Grunde iſt es gewiß angemeſſen, wenn Agaſſiz' Anfichten von der Art oder Species. 57 ich hier auf die biologiſchen Anſichten von Agaſſiz, und insbeſon— dere auf ſeine Schöpfungsvorſtellungen etwas näher eingehe, um ſo mehr, als kein anderes Werk unſerer Gegner jene wichtigen all— gemeinen Grundfragen mit gleicher Ausführlichkeit behandelt, und als zugleich die völlige Unhaltbarkeit ihrer dualiſtiſchen Weltanſchauung ſich daraus auf das Klarſte ergiebt. Die organiſche Art oder Species, deren verſchiedenartige Auffaſſung wir oben als den eigentlichen Angelpunkt der entgegen— geſetzten Schöpfungsanſichten bezeichnet haben, wird von Agaſſiz, ebenſo wie von Cuvier und Linné, als eine in allen weſentlichen Merkmalen unveränderliche Geſtalt angeſehen; zwar können die Arten innerhalb enger Grenzen abändern oder variiren, aber nur in unwe— ſentlichen, niemals in weſentlichen Eigenthümlichkeiten. Niemals kön— nen aus den Abänderungen oder Varietäten einer Art wirkliche neue Species hervorgehen. Keine von allen organiſchen Arten ſtammt alſo jemals von einer anderen ab; vielmehr iſt jede einzelne für ſich von Gott geſchaffen worden. Jede einzelne Thierart iſt, wie ſich Agaſſiz ausdrückt, ein verkörperter Schöpfungsgedanke Gottes. In ſchroffem Gegenſatz zu der durch die paläontologiſche Erfah— rung feſtgeſtellten Thatſache, daß die Zeitdauer der einzelnen organi— hen Arten eine höchſt ungleiche ift, und daß viele Species unver- ändert durch mehrere aufeinander folgende Perioden der Erdgeſchichte hindurchgehen, während Andere nur einen kleinen Bruchtheil einer ſolchen Periode durchlebten, behauptet Agaſſiz, daß niemals eine und dieſelbe Species in zwei verſchiedenen Perioden vorkomme, und daß vielmehr jede einzelne Periode durch eine ganz eigenthümliche, ihr ausſchließlich angehörige Bevölkerung von Thier- und Pflanzen- arten charakteriſirt ſei. Er theilt ferner Cuviers Anſicht, daß durch die großen und allgemeinen Revolutionen der Erdoberfläche, welche je zwei auf einander folgende Perioden trennten, jene ganze Bevölke— rung vernichtet und nach deren Untergang eine neue, davon ſpecifiſch verſchiedene geſchaffen wurde. Dieſe Neuſchöpfung läßt Agaſſiz in der Weiſe geſchehen, daß jedesmal die geſammte Erdbevölkerung in 58 Agaſſiz' Anfichten vom natürlichen Syſteme der Organismen. ihrer durchſchnittlichen Individuenzahl und in den der Oekonomie der Natur entſprechenden Wechſelbeziehungen der einzelnen Arten vom Schöpfer als Ganzes plötzlich in die Welt geſetzt worden ſei. Hier— mit tritt er einem der beſtbegründeten und wichtigſten Geſetze der Thier- und Pflanzengeographie entgegen, dem Geſetze nämlich, daß jede Species einen einzigen urſprünglichen Entſtehungsort oder einen ſogenannten Schöpfungsmittelpunkt beſitzt, von dem aus ſie ſich über die übrige Erde allmählich verbreitet hat. Statt deſſen läßt Agaſſiz jede Species an verſchiedenen Stellen der Erdoberfläche und ſogleich in einer größeren Anzahl von Individuen geſchaffen werden. Das natürliche Syſtem der Organismen, deſſen ver— ſchiedene über einander geordnete Gruppenſtufen oder Kategorien, die Zweige, Klaſſen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten, wir der Abſtammungslehre gemäß als verſchiedene Aeſte und Zweige des gemeinſchaftlichen organiſchen Stammbaumes betrachten, iſt nach A gaſſiz der unmittelbare Ausdruck des göttlichen Schöpfungsplanes. und indem der Naturforſcher das natürliche Syſtem erforſcht, denkt er die Schöpfungsgedanken Gottes nach. Hierin findet Agaſſiz den kräftigſten Beweis dafür, daß der Menſch das Ebenbild und Kind Gottes iſt. Die verſchiedenen Gruppenſtufen oder Kategorien des natürlichen Syſtems entſprechen den verſchiedenen Stufen der Ausbil— dung, welche der göttliche Schöpfungsplan erlangt hatte. Beim Ent— wurf und bei der Ausführung dieſes Planes vertiefte ſich der Schö— pfer, von allgemeinſten Schöpfungsideen ausgehend, immer mehr in die beſonderen Einzelheiten. Was alſo z. B. das Thierreich betrifft, ſo hatte Gott bei deſſen Schöpfung zunächſt vier grundverſchiedene Ideen vom Thierkörper, welche er in dem verſchiedenen Bauplane der vier großen Hauptformen, Typen oder Zweige des Thierreichs verkör— perte, in den Wirbelthieren, Gliederthieren, Weichthieren und Strahl thieren. Indem nun der Schöpfer darüber nachdachte, in welcher Art und Weiſe er dieſe vier verſchiedenen Baupläne mannichfaltig aus— führen könne, ſchuf er zunächſt innerhalb jeder der vier Hauptformen mehrere verſchiedene Klaſſen, z. B. in der Wirbelthierform die Klaſſen Agaſſiz' Anfichten vom Schöpfungsplane. 59 der Säugethiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fiſche. Weiter: hin vertiefte ſich dann Gott in die einzelnen Klaſſen und brachte durch verſchiedene Abſtufungen im Bau jeder Klaſſe deren einzelne Ordnungen hervor. Durch weitere Variation der Ordnungsform er— ſchuf er die natürlichen Familien. Indem der Schöpfer ferner in jeder Familie die letzten Structureigenthümlichkeiten einzelner Theile variirte, entſtanden die Gattungen oder Genera. Endlich zuletzt ging Gott im weiteren Ausdenken ſeines Schöpfungsplanes ſo ſehr ins Einzelne, daß die einzelnen Arten oder Species ins Leben traten. Dieſe ſind alſo die verkörperten Schöpfungsgedanken der ſpeciellſten Art. Zu bedauern iſt dabei nur, daß der Schöpfer dieſe ſeine ſpe— ciellſten und am tiefſten durchgedachten „Schöpfungsgedanken“ in fo ſehr unklarer und lockerer Form ausdrückte und ihnen einen ſo ver— ſchwommenen Stempel aufprägte, eine ſo freie Variations-Erlaubniß mitgab, daß kein einziger Naturforſcher im Stande iſt, die „guten“ von den „ſchlechten Arten“, die echten „Species“ von den Spielarten, Varietäten, Raſſen u. ſ. w. zu unterſcheiden. (Gen. Morph. II, 374.) Sie ſehen, der Schöpfer verfährt nach Agaſſiz' Vorſtellung beim Hervorbringen der organiſchen Formen genau ebenſo wie ein menſchlicher Baukünſtler, der ſich die Aufgabe geſtellt hat, möglichſt viel verſchiedene Bauwerke, zu möglichſt mannichfaltigen Zwecken, in möglichſt abweichendem Style, in möglichſt verſchiedenen Graden der Einfachheit, Pracht, Größe und Vollkommenheit auszudenken und auszuführen. Dieſer Architekt würde zunächſt vielleicht für alle dieſe Gebäude vier verſchiedene Style anwenden, etwa den gothiſchen, by— zantiniſchen, chineſiſchen und Roccocoſtyl. In jedem dieſer Style würde er eine Anzahl von Kirchen, Paläſten, Kaſernen, Gefängnif- ſen und Wohnhäuſern bauen. Jede dieſer verſchiedenen Gebäude— formen würde er in roheren und vollkommneren, in größeren und kleineren, in einfachen und prächtigen Arten ausführen u. ſ. w. In— ſofern wäre jedoch der menſchliche Architekt vielleicht noch beſſer als der göttliche Schöpfer daran, daß ihm in der Anzahl der Gruppen— ſtufen alle Freiheit gelaſſen wäre. Der Schöpfer dagegen darf ſich 60 Agaſſiz' Anfichten vom Schöpfer und von der Schöpfung. nach Agaſſiz immer nur innerhalb der genannten ſechs Gruppen— ſtufen oder Kategorien bewegen, innerhalb der Art, Gattung, Fa— milie, Ordnung, Klaſſe und Typus. Mehr als dieſe ſechs Katego— rien giebt es für ihn nicht. Wenn Sie in Agaſſiz' Werk über die Klaſſifikation ſelbſt die weitere Ausführung und Begründung dieſer ſeltſamen Anſichten leſen, jo werden Sie kaum begreifen, wie man mit allem Anſchein wiffen- ſchaftlichen Ernſtes die Vermenſchlichung (den Anthropomor— phismus) des göttlichen Schöpfers ſo weit treiben, und eben durch die Ausführung im Einzelnen bis zum verkehrteſten Unſinn ausma— len kann. In dieſer ganzen Vorſtellungsreihe iſt der Schöpfer weiter nichts als ein allmächtiger Menſch, der von Langerweile geplagt, ſich mit dem Ausdenken und Aufbauen möglichſt mannichfaltiger Spielzeuge, der organiſchen Arten, beluſtigt. Nachdem er ſich mit denſelben eine Reihe von Jahrtauſenden hindurch unterhalten, werden ſie ihm langweilig; er vernichtet ſie durch eine allgemeine Revolu— tion der Erdoberfläche, indem er das ganze unnütze Spielzeug in Haufen zuſammenwirft; dann ruft er, um ſich an etwas Neuem und Beſſerem die Zeit zu vertreiben, eine neue und vollkommnere Thier— und Pflanzenwelt ins Leben. Um jedoch nicht die Mühe der ganzen Schöpfungsarbeit von vorn anzufangen, behält er immer den ein— mak ausgedachten Schöpfungsplan im Großen und Ganzen bei, und ſchafft nur lauter neue Arten, oder höchſtens neue Gattungen, viel ſeltener neue Familien, Ordnungen oder gar Klaſſen. Zu einem neuen Typus oder Style bringt er es nie. Dabei bleibt er immer ſtreng innerhalb jener ſechs Kategorien oder Gruppenſtufen. Nachdem der Schöpfer ſo nach Agaſſiz' Anſicht ſich Millionen von Jahrtauſenden hindurch mit dem Aufbauen und Zerſtören einer Reihe verſchiedener Schöpfungen unterhalten hatte, kömmt er endlich zuletzt — obwohl ſehr ſpät! — auf den guten Gedanken, ſich ſeines— gleichen zu erſchaffen, und er formt den Menſchen nach ſeinem Eben— bilde! Hiermit iſt das Endziel aller Schöpfungsgeſchichte erreicht und die Reihe der Erdrevolutionen abgeſchloſſen. Der Menſch, das Kind Paläontologiſche Entwickelungsgeſetze von Agaſſiz. 61 und Ebenbild Gottes, giebt demſelben ſo viel zu thun, macht ihm ſo viel Vergnügen und Mühe, daß er nun niemals mehr Langeweile hat, und keine neue Schöpfung mehr eintreten zu laſſen braucht. Sie ſehen offenbar, wenn man einmal in der Weiſe, wie Agaſſiz, dem Schöpfer durchaus menſchliche Attribute und Eigenſchaften beilegt, und ſein Schöpfungswerk durchaus analog einer menſchlichen Schö— pfungsthätigkeit betrachtet, ſo iſt man nothwendig auch zur Annahme dieſer ganz abſurden Konſequenzen gezwungen. Die vielen inneren Widerſprüche und die auffallenden Verkehrt— heiten der Schöpfungsanfichten von Agaſſiz, welche ihn nothwendig zu dem entſchiedenſten Widerſtand gegen die Abſtammungslehre führ— ten, müſſen aber um ſo mehr unſer Erſtaunen erregen, als derſelbe durch ſeine früheren naturwiſſenſchaftlichen Arbeiten in vieler Bezie— hung thatſächlich Darwin vorgearbeitet hat, insbeſondere durch ſeine Thätigkeit auf dem paläontologiſchen Gebiete. Unter den zahlreichen Unterſuchungen, welche der jungen Paläontologie ſchnell die allge— meine Theilnahme erwarben, ſchließen ſich diejenigen von Agaſſiz, namentlich das berühmte Werk „über die foſſilen Fiſche“, zunächſt ebenbürtig an die grundlegenden Arbeiten von Cuvier an. Nicht allein haben die verſteinerten Fiſche, mit denen uns A gaſſiz be— kannt machte, eine außerordentlich hohe Bedeutung für das Verſtänd— niß der ganzen Wirbelthiergruppe und ihrer geſchichtlichen Entwicke— lung gewonnen; ſondern wir ſind dadurch auch zur ſicheren Erkennt— niß wichtiger allgemeiner Entwickelungsgeſetze gelangt, die zum Theil von Agaſſiz zuerſt entdeckt wurden. Insbeſondere hat derſelbe zu— erſt den merkwürdigen Parallelismus zwiſchen der embryonalen und der paläontologiſchen Entwickelung, zwiſchen der Ontogenie und Phy— logenie hervorgehoben, eine Uebereinſtimmung, welche ich ſchon vor— her (S. 10) als eine der ſtärkſten Stützen für die Abſtammungslehre in Anſpruch genommen habe. Niemand hatte vorher ſo beſtimmt, wie es Agaſſiz that, hervorgehoben, daß von den Wirbelthieren zuerſt nur Fiſche allein exiſtirt haben, daß erſt ſpäter Amphibien auftraten, und daß erſt in noch viel ſpäterer Zeit Vögel und Säugethiere erſchie— 62 Paläontologiſche Entwickelungsgeſetze von Agaſſiz. nen; daß ferner von den Säugethieren, ebenſo wie von den Fiſchen, anfangs unvollkommnere, niedere Ordnungen, ſpäter erſt vollkomm— nere und höhere auftraten. Agaſſiz zeigte mithin, daß die paläon— tologiſche Entwickelung der ganzen Wirbelthiergruppe nicht allein der embryonalen parallel ſei, ſondern auch der ſyſtematiſchen Entwicke— lung, d. h. der Stufenleiter, welche wir überall im Syſtem von den niederen zu den höheren Klaſſen, Ordnungen u. ſ. w. aufſteigend er- blicken. Zuerſt erſchienen in der Erdgeſchichte nur niedere, ſpäter erſt höhere Formen. Dieſe wichtige Thatſache erklärt ſich, ebenſo wie die Uebereinſtimmung der embryonalen und paläontologiſchen Entwicke— lung, ganz einfach und natürlich aus der Abſtammungslehre, wäh— rend ſie ohne dieſe ganz unerklärlich iſt. Daſſelbe gilt ferner auch von dem großen Geſetz der fortſchreitenden Entwickelung, von dem hiſtoriſchen Fortſchritt der Organiſation, welcher ſowohl im Großen und Ganzen in der geſchichtlichen Aufeinanderfolge aller Organismen ſichtbar iſt, als in der beſonderen Vervollkommnung einzelner Theile des Thierkörpers. So z. B. erhielt das Skelet der Wirbelthiere, ihr Knochengerüſt, erſt langſam, allmählich und ſtufenweis den hohen Grad von Vollkommenheit, welchen es jetzt beim Menſchen und den anderen höheren Wirbelthieren beſitzt. Dieſer von Agaſſiz thatſäch— lich anerkannte Fortſchritt folgt aber mit Nothwendigkeit aus der von Darwin begründeten Züchtungslehre, welche die wirkenden Urſachen deſſelben nachweiſt. Wenn dieſe Lehre richtig iſt, fo mußte nothwen⸗ dig die Vollkommenheit und Mannichfaltigkeit der Thier- und Pflan— zenarten im Laufe der organiſchen Erdgeſchichte ſtufenweiſe zunehmen, und konnte erſt in neueſter Zeit ihre höchſte Ausbildung erlangen. Alle fo eben angeführten, nebſt einigen anderen allgemeinen Ent- wickelungsgeſetzen, welche von Ag aſſiz ausdrücklich anerkannt und mit Recht ſtark betont werden, welche ſogar von ihm ſelbſt zum Theil erſt aufgeſtellt wurden, ſind, wie Sie ſpäter ſehen werden, nur durch die Abſtammungslehre erklärbar und bleiben ohne dieſelbe völlig un— begreiflich. Nur die von Darwin entwickelte Wechſelwirkung der Vererbung und Anpaſſung kann die wahre Urſache derſelben ſein. Anthropomorphismus von Agaſſiz' Schöpfungsgefchichte. 63 Dagegen ſtehen ſie alle in ſchroffem und unvereinbarem Gegenſatz mit der vorher beſprochenen Schöpfungshypotheſe von Agaſſiz, und mit allen Vorſtellungen von der zweckmäßigen Werkthätigkeit eines perſönlichen Schöpfers. Will man im Ernſt durch die letztere jene merkwürdigen Erſcheinungen und ihren inneren Zuſammenhang er— klären, ſo verirrt man ſich nothwendig zu der Annahme, daß auch der Schöpfer ſelbſt ſich mit der organiſchen Natur, die er ſchuf und umbildete, entwickelt habe. Man kann ſich dann nicht mehr von der Vorſtellung los machen, daß der Schöpfer ſelbſt nach Art des menſch— lichen Organismus ſeine Pläne entworfen, verbeſſert und endlich un— ter vielen Abänderungen ausgeführt habe. „Es wächſt der Menſch mit ſeinen höher'n Zwecken“. Wenn es nach der Ehrfurcht, mit der Agaſſiz auf jeder Seite vom Schöpfer ſpricht, ſcheinen könnte, daß wir dadurch zur erhabenſten Vorſtellung von ſeinem Wirken in der Natur gelangen, ſo findet in Wahrheit das Gegentheil ſtatt. Der göttliche Schöpfer wird dadurch zu einem idealiſirten Menſchen er— niedrigt, zu einem in der Entwickelung fortſchreitenden Organismus. Gott iſt im Grunde nach dieſer Vorſtellung weiter Nichts, als ein „gasförmiges Wirbelthier“. (Gen. Morph. I, 174.) Bei der weiten Verbreitung und dem hohen Anſehen, welches ſich Agaſſiz' Werk erworben hat, und welches in Anbetracht der früheren wiſſenſchaftlichen Verdienſte des Verfaſſers wohl gerechtfertigt iſt, glaubte ich es Ihnen ſchuldig zu ſein, die gänzliche Unhaltbarkeit ſeiner allgemeinen Anſichten hier kurz hervorzuheben. Sofern dies Werk eine naturwiſſenſchaftliche Schöpfungsgeſchichte ſein will, iſt daſſelbe unzweifelhaft gänzlich verfehlt. Es hat aber hohen Werth, als der einzige ausführliche und mit wiſſenſchaftlichen Beweisgründen geſchmückte Verſuch, den in neuerer Zeit ein hervorragender Natur— forſcher zur Begründung einer teleologiſchen oder dualiſtiſchen Schö— pfungsgeſchichte unternommen hat. Die innere Unmöglichkeit einer ſolchen wird dadurch klar vor Jedermanns Augen gelegt. Kein Geg— ner von Agaſſiz hätte vermocht, die von ihm entwickelte duali— ſtiſche Anſchauung von der organiſchen Natur und ihrer Entſtehung 64 Dualiſtiſche und moniſtiſche Gottesvorſtellung. fo ſchlagend zu widerlegen, als ihm dies ſelbſt durch die überall her- vortretenden inneren Widerſprüche gelungen iſt. Die Gegner der moniſtiſchen oder mechaniſchen Weltanſchauung haben das Werk von Agaſſiz mit Freuden begrüßt und erblicken darin eine vollendete Beweisführung für die unmittelbare Schöpfungs— thätigkeit eines perſönlichen Gottes. Allein ſie überſehen dabei, daß dieſer perſönliche Schöpfer bloß ein mit menſchlichen Attributen ausge— rüſteter, idealiſirter Organismus iſt. Dieſe niedere dualiſtiſche Gottes— vorſtellung entſpricht einer niederen thieriſchen Entwickelungsſtufe des menſchlichen Organismus. Der höher entwickelte Menſch der Gegen— wart iſt befähigt und berechtigt zu jener unendlich edleren und er— habeneren Gottesvorſtellung, welche allein mit der moniſtiſchen Welt— anſchauung verträglich iſt, und welche Gottes Geiſt und Kraft in allen Erſcheinungen ohne Ausnahme erblickt. Dieſe moniſtiſche Gottesidee, welcher die Zukunft gehört, hat ſchon Giordano Bruno einſt mit den Worten ausgeſprochen: „Ein Geiſt findet ſich in allen Din— gen, und es iſt kein Körper ſo klein, daß er nicht einen Theil der göttlichen Subſtanz in ſich enthielte, wodurch er beſeelt wird.“ Dieſe veredelte Gottesidee iſt es, von welcher Goethe ſagt: „Gewiß es giebt keine ſchönere Gottesverehrung, als diejenige, welche kein Bild bedarf, welche aus dem Wechſelgeſpräch mit der Natur in unſerem Buſen entſpringt.“ Durch ſie gelangen wir zu der erhabenen Vor— ſtellung von der Einheit Gottes und der Natur. Vierter Vortrag. Entwidelnngstheorie von Goethe und Ofen. Wiſſenſchaftliche Unzulänglichkeit aller Vorſtellungen von einer Schöpfung der einzelnen Arten. Nothwendigkeit der entgegengeſetzten Entwickelungstheorien. Ge— ſchichtlicher Ueberblick über die wichtigſten Entwickelungstheorien. Ariſtoteles. Seine Lehre von der Urzeugung. Die Bedeutung der Naturphiloſophie. Goethe. Seine Verdienſte als Naturforſcher. Seine Metamorphoſe der Pflanzen. Seine Wirbel— theorie des Schädels. Seine Entdeckung des Zwiſchenkiefers beim Menſchen. Goe— the's Theilnahme an dem Streite zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. Goe— the's Entdeckung der beiden organiſchen Bildungstriebe, des konſervativen Specifika— tionstriebes (der Vererbung), und des progreſſiven Umbildungstriebes (der Anpaſ— ſung). Goethe's Anſicht von der gemeinſamen Abſtammung aller Wirbelthiere mit Inbegriff des Menſchen. Entwickelungstheorie von Gottfried Reinhold Treviranus. Seine moniſtiſche Naturauffaſſung. Oken. Seine Naturphiloſophie. Okens Vor— ſtellung vom Urſchleim (Protoplasmatheorie). Okens Vorſtellung von den Infuſo— rien (Zellentheorie). Okens Entwickelungstheorie. Meine Herren! Alle verſchiedenen Vorſtellungen, welche wir uns über eine ſelbſtſtändige, von einander unabhängige Entſtehung der einzelnen organiſchen Arten durch Schöpfung machen können, lau— fen, folgerichtig durchdacht, auf einen ſogenannten Anthropo— morphismus, d. h. auf eine Vermenſchlichung des Schöpfers hinaus, wie wir in dem letzten Vortrage bereits gezeigt haben. Es wird da der Schöpfer zu einem Organismus, der ſich einen Plan entwirft, dieſen Plan durchdenkt und verändert, und ſchließlich die Geſchöpfe nach dieſem Plane ausführt, wie ein menſchlicher Archi— Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl 0 66 Wiſſenſchaftliche Unzulänglichkeit aller Schöpfungsvorſtellungen. tekt ſein Bauwerk. Wenn ſelbſt ſo hervorragende Naturforſcher wie Linné, Cuvier und Agaſſiz, die Hauptvertreter der dualiſtiſchen Schöpfungshypotheſe, zu keiner genügenderen Anſicht gelangen konn— ten, ſo wird daraus am beſten die Unzulänglichkeit aller derjenigen Vorſtellungen hervorgehen, welche die Mannichfaltigkeit der organi— ſchen Natur aus einer ſolchen Schöpfung der einzelnen Arten ab— leiten wollen. Es haben zwar einige Naturforſcher, welche das wiſ— ſenſchaftlich ganz Unbefriedigende dieſer Vorſtellungen einſahen, ver— ſucht, den Begriff des perſönlichen Schöpfers durch denjenigen einer unbewußt wirkenden ſchöpferiſchen Naturkraft zu erſetzen; indeſſen iſt dieſer Ausdruck offenbar eine bloße umſchreibende Redensart, ſobald nicht näher gezeigt wird, worin dieſe Naturkraft beſteht, und wie ſie wirkt. Daher haben auch dieſe letzteren Verſuche durchaus keine Gel— tung in der Wiſſenſchaft errungen. Vielmehr hat man ſich genöthigt geſehen, ſobald man eine ſelbſtſtändige Entſtehung der verſchiedenen Thier- und Pflanzenformen annahm, immer auf ebenſo viele Schö— pfungsakte zurückzugreifen, d. h. auf übernatürliche Eingriffe des Schöpfers in den natürlichen Gang der Dinge, der im Uebrigen ohne ſeine Mitwirkung abläuft. Nun haben allerdings verſchiedene teleologiſche Naturforſcher, welche die wiſſenſchaftliche Unzuläſſigkeit einer übernatürlichen „Schö— pfung“ fühlten, die letztere noch dadurch zu retten geſucht, daß ſie unter Schöpfung „Nichts weiter als eine uns unbekannte, unfaßbare Weiſe der Entſtehung“ verſtanden wiſſen wollten. Dieſer ſophiſti— ſchen Ausflucht ſchneidet der treffliche Fritz Müller mit folgender ſchlagenden Gegenbemerkung jeden Rettungspfad ab: „Es ſoll da— durch nur in verblümter Weiſe das verſchämte Geſtändniß ausge— ſprochen werden, daß man über die Entſtehung der Arten „gar keine Meinung habe“ und haben wolle. Nach dieſer Erklärung des Wortes würde man ebenſowohl von der Schöpfung der Cholera und der Syphilis, von der Schöpfung einer Feuersbrunſt und eines Eiſen— bahnunglücks, wie von der Schöpfung des Menſchen reden können.“ (Jenaiſche Zeitſchrift f. M. u. N. V. Bd. S. 272.) Wiſſenſchaftliche Unentbehrlichkeit der Entwickelungstheorien. 67 Gegenüber nun dieſer vollſtändigen wiſſenſchaftlichen Unzuläſſig— keit aller Schöpfungshypotheſen ſind wir gezwungen, zu den entge— gengeſetzten Entwickelungstheorien der Organismen unſere Zu— flucht zu nehmen, wenn wir uns überhaupt eine vernünftige Vorſtel— lung von der Entſtehung der Organismen machen wollen. Wir ſind gezwungen und verpflichtet dazu, ſelbſt wenn dieſe Entwickelungstheo— rien nur einen Schimmer von Wahrſcheinlichkeit auf eine mechaniſche, natürliche Entſtehung der Thier- und Pflanzenarten fallen laſſen; um ſo mehr aber, wenn, wie Sie ſehen werden, dieſe Theorien eben ſo einfach und klar, als vollſtändig und umfaſſend die geſammten Thatſachen erklären. Dieſe Entwickelungstheorien ſind keineswegs, wie ſie oft fälſchlich angeſehen werden, willkürliche Einfälle, oder beliebige Erzeugniſſe der Einbildungskraft, welche nur die Entſtehung dieſes oder jenes einzelnen Organismus annähernd zu erklären ver- ſuchen; ſondern ſie ſind ſtreng wiſſenſchaftlich begründete Theorien, welche von einem feſten und klaren Standpunkte aus die Geſammt— heit der organiſchen Naturerſcheinungen, und insbeſondere die Ent— ſtehung der organiſchen Species auf das Einfachſte erklären, und als die nothwendigen Folgen mechaniſcher Naturvorgänge nachweiſen. Wie ich bereits im zweiten Vortrage Ihnen zeigte, fallen dieſe Entwickelungstheorien naturgemäß mit derjenigen allgemeinen Welt— anſchauung zuſammen, welche man gewöhnlich als die einheitliche oder moniſtiſche, häufig auch als die mechaniſche oder caufale zu bezeichnen pflegt, weil ſie nur mechaniſche oder nothwendig wir— kende Urſachen (causae efficientes) zur Erklärung der Naturer— ſcheinungen in Anſpruch nimmt. Ebenſo fallen auf der anderen Seite die von uns bereits betrachteten übernatürlichen Schöpfungshypothe— ſen mit derjenigen, völlig entgegengeſetzten Weltauffaſſung zuſammen, welche man im Gegenſatz zur erſteren die zwieſpältige oder duali- ſtiſche, oft auch die teleologiſche oder vitale nennt, weil ſie die organiſchen Naturerſcheinungen aus der Wirkſamkeit zweckthätiger oder zweckmäßig wirkender Urſachen (causae finales) ableitet. Gerade in dieſem tiefen inneren Zuſammenhang der verſchiedenen 5 * 68 Grundgedanken der Entwickelungstheorien. Schöpfungstheorien mit den höchſten Fragen der Philoſophie liegt für uns die Anreizung zu ihrer eingehenden Betrachtung. Der Grundgedanke, welcher allen natürlichen Entwickelungs— theorien nothwendig zu Grunde liegen muß, iſt derjenige einer all- mählichen Entwickelung aller (auch der vollkommenſten) Organismen aus einem einzigen oder aus ſehr wenigen, ganz einfachen und ganz unvollkommenen Urweſen, welche nicht durch übernatürliche Schöpfung, ſondern durch Urzeugung oder Archi— gonie (Generatio spontanea) aus anorganiſcher Materie entſtanden. Eigentlich ſind in dieſem Grundgedanken zwei verſchiedene Vorſtellun— gen verbunden, welche aber in tiefem inneren Zuſammenhang ſtehen, nämlich erſtens die Vorſtellung der Urzeugung oder Archigonie der urſprünglichen Stammweſen, und zweitens die Vorſtellung der fort— ſchreitenden Entwickelung der verſchiedenen Organismenarten aus jenen einfachſten Stammweſen. Dieſe beiden wichtigen mechaniſchen Vorſtellungen ſind die unzertrennlichen Grundgedanken jeder ſtreng wiſſenſchaftlich durchgeführten Entwickelungstheorie. Weil dieſelbe eine Abſtammung der verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten von einfach— ſten gemeinſamen Stammarten behauptet, konnten wir ſie auch als Abſtammungslehre (Deſcendenztheorie), und weil damit zugleich eine Umbildung der Arten verbunden iſt, als Umbildungslehre (Transmutationstheorie) bezeichnen. Während übernatürliche Schöpfungsgeſchichten ſchon vor vielen Jahrtauſenden, in jener unvordenklichen Urzeit entſtanden ſein müſ— ſen, als der Menſch, eben erſt aus dem Affenzuſtande ſich entwickelnd, zum erſten Male anfing, eingehender über ſich ſelbſt und über die Ent— ſtehung der ihn umgebenden Körperwelt nachzudenken, ſo ſind dage— gen die natürlichen Entwickelungstheorien nothwendig viel jüngeren Urſprungs. Wir können dieſen erſt bei gereifteren Culturvölkern be— gegnen, denen durch philoſophiſche Bildung die Nothwendigkeit einer natürlichen Urſachenerkenntniß klar geworden war; und auch bei die— ſen dürfen wir zunächſt nur von einzelnen bevorzugten Naturen erwar— ten, daß ſie den Urſprung der Erſcheinungswelt ebenſo wie deren Ent— Entwickelungstheorie des Ariſtoteles. 69 wickelungsgang, als die nothwendige Folge von mechaniſchen, natür— lich wirkenden Urſachen erkannten. Bei keinem Volke waren dieſe Vorbedingungen für die Entſtehung einer natürlichen Entwickelungs— theorie jemals ſo vorhanden, wie bei den Griechen des klaſſiſchen Alterthums. Dieſen fehlte aber auf der anderen Seite zu ſehr die nähere Bekanntſchaft mit den Thatſachen der Naturvorgänge und ihren Formen, und ſomit die erfahrungsmäßige Grundlage für eine weitere Durchbildung der Entwickelungstheorie. Die exakte Naturfor— ſchung und die überall auf empiriſcher Baſis begründete Naturerkennt— niß war ja dem Alterthum ebenſo wie dem Mittelalter faſt ganz un— bekannt und iſt erſt eine Errungenſchaft der neueren Zeit. Wir haben daher auch hier keine nähere Veranlaſſung, auf die natürlichen Ent— wickelungstheorien der verſchiedenen griechiſchen Weltweiſen einzuge— hen, da denſelben zu ſehr die erfahrungsmäßige Kenntniß ſowohl von der organiſchen als von der anorganiſchen Natur abging, und ſie ſich demgemäß faſt immer nur in luftigen Speculationen verirrten. Nur einen Mann müſſen wir hier ausnahmsweiſe hervorheben, den größten und den einzigen wahrhaft großen Naturforſcher des Alterthums und des Mittelalters, einen der erhabenſten Genien aller Zeiten: Ariſtoteles. Wie derſelbe in empiriſch-philoſophiſcher Na- turerkenntniß und insbeſondere im Verſtändniß der organiſchen Natur, während eines Zeitraums von mehr als zweitauſend Jahren einzig daſteht, beweiſen uns die koſtbaren Reſte ſeiner nur theilweis erhal— tenen Werke. Auch von einer natürlichen Entwickelungstheorie finden ſich in denſelben mehrfache Spuren vor. Ariſtoteles nimmt mit voller Beſtimmtheit die Urzeugung als die natürliche Entſtehungsart der niederen organiſchen Weſen an. Er läßt Thiere und Pflanzen aus der Materie ſelbſt durch deren ureigene Kraft entſtehen, ſo z. B. Motten aus Wolle, Flöhe aus faulem Miſt, Milben aus feuchtem Holz u. ſ. w. Da ihm jedoch die Unterſcheidung der organiſchen Spe— cies, welche erſt mehr als zweitauſend Jahre ſpäter Linné gelang, unbekannt war, konnte er über deren genealogiſches Verhältniß ſich noch keine Vorſtellungen bilden. 70 Bedeutung der Naturphiloſophie. Der Grundgedanke der Entwickelungstheorie, daß die verſchiede— nen Thier- und Pflanzenarten ſich aus gemeinſamen Stammarten durch Umbildung entwickelt haben, konnte natürlich erſt klar ausge— ſprochen werden, nachdem die Arten oder Species ſelbſt genauer be— kannt geworden, und nachdem auch ſchon die ausgeſtorbenen Species neben den lebenden in Betracht gezogen und eingehender mit letzteren verglichen worden waren. Dies geſchah erſt gegen Ende des vorigen und im Beginn unſeres Jahrhunderts. Erſt im Jahre 1801 ſprach der große Lamarck die Entwickelungstheorie aus, welche er 1809 in feiner klaſſiſchen „Philosophie zoologique“ weiter ausführte 2). Während Lamarck und ſein Landsmann Geoffroy S. Hilaire in Frankreich den Anſichten Cu viers gegenüber traten und eine natür— liche Entwickelung der organiſchen Species durch Umbildung und Ab— ſtammung behaupteten, vertraten gleichzeitig in Deutſchland Goethe und Oken dieſelbe Richtung und halfen die Entwickelungstheorie begründen. Da man gewöhnlich alle dieſe Naturforſcher als „Na— turphiloſophen“ zu bezeichnen pflegt, und da dieſe vieldeutige Bezeichnung in einem gewiſſen Sinne ganz richtig iſt, ſo erſcheint es mir zunächſt angemeſſen, hier einige Worte über die richtige Wür— digung der Naturphiloſophie vorauszuſchicken. Während man in England ſchon ſeit langer Zeit die Begriffe Naturwiſſenſchaft und Philoſophie faſt als gleichbedeutend anſieht, und mit vollem Recht jeden wahrhaft wiſſenſchaftlich arbeitenden Natur- forſcher einen Naturphiloſophen nennt, wird dagegen in Deutſchland ſchon ſeit mehr als einem halben Jahrhundert die Naturwiſſenſchaft ſtreng von der Philoſophie geſchieden, und die naturgemäße Verbin⸗ dung beider zu einer wahren „Naturphiloſophie“ wird nur von We— nigen anerkannt. An dieſer Verkennung ſind die phantaſtiſchen Aus— ſchreitungen der früheren deutſchen Naturphiloſophen, Okens, Schel— lings u. ſ. w. Schuld, welche glaubten, die Naturgeſetze aus ihrem Kopfe konſtruiren zu können, ohne überall auf dem Boden der that- ſächlichen Erfahrung ſtehen bleiben zu müſſen. Als ſich dieſe An— maßungen in ihrer ganzen Leerheit herausgeſtellt hatten, ſchlugen die — — Empirie und Philoſophie. 71 Naturforſcher unter der „Nation von Denkern“ in das gerade Gegen— theil um, und glaubten, das hohe Ziel der Wiſſenſchaft, die Erkennt— niß der Wahrheit, auf dem Wege der nackten ſinnlichen Erfahrung, ohne jede philoſophiſche Gedankenarbeit erreichen zu können. Von nun an, beſonders ſeit dem Jahre 1830, machte ſich bei den meiſten Naturforſchern eine ſtarke Abneigung gegen jede allgemeinere, philo— ſophiſche Betrachtung der Natur geltend. Man fand nun das eigent— liche Ziel der Naturwiſſenſchaft in der Erkenntniß des Einzelnen und glaubte daſſelbe in der Biologie erreicht, wenn man mit Hülfe der feinſten Inſtrumente und Beobachtungsmittel die Formen und die Le— benserſcheinungen aller einzelnen Organismen ganz genau erkannt haben würde. Zwar gab es immerhin unter dieſen ſtreng empiriſchen oder ſogenannten exakten Naturforſchern zahlreiche, welche ſich über dieſen beſchränkten Standpunkt erhoben und das letzte Ziel in einer Erkenntniß allgemeiner Organiſationsgeſetze finden wollten. Indeſſen die große Mehrzahl der Zoologen und Botaniker in den letzten drei bis vier Decennien wollte von ſolchen allgemeinen Geſetzen Nichts wiſſen; ſie geſtanden höchſtens zu, daß vielleicht in ganz entfernter Zukunft, wenn man einmal am Ende aller empiriſchen Erkenntniß angelangt ſein würde, wenn alle einzelnen Thiere und Pflanzen voll— ſtändig unterſucht worden ſeien, man daran denken könne, allgemeine biologiſche Geſetze zu entdecken. Wenn man die wichtigſten Fortſchritte, die der menſchliche Geiſt in der Erkenntniß der Wahrheit gemacht hat, zuſammenfaſſend ver— gleicht, ſo erkennt man bald, daß es ſtets philoſophiſche Gedanken— operationen ſind, durch welche dieſe Fortſchritte erzielt wurden, und daß jene, allerdings nothwendig vorhergehende ſinnliche Erfahrung und die dadurch gewonnene Kenntniß des Einzelnen nur die Grund— lage für jene allgemeinen Geſetze liefern. Empirie und Philoſophie ſtehen daher keineswegs in ſo ausſchließendem Gegenſatz zu einan— der, wie bisher von den Meiſten angenommen wurde; ſie ergänzen ſich vielmehr nothwendig. Der Philoſoph, welchem der unumſtöß— liche Boden der ſinnlichen Erfahrung, der empiriſchen Kenntniß 72 Empirie und Philoſophie. fehlt, gelangt in ſeinen allgemeinen Speculationen ſehr leicht zu Fehl— ſchlüſſen, welche ſelbſt ein mäßig gebildeter Naturforſcher ſofort wi— derlegen kann. Andrerſeits können die rein empiriſchen Naturfor⸗ ſcher, die ſich nicht um philoſophiſche Zuſammenfaſſung ihrer ſinnli— chen Wahrnehmungen bemühen, und nicht nach allgemeinen Erkennt— niſſen ſtreben, die Wiſſenſchaft nur in ſehr geringem Maße fördern, und der Hauptwerth ihrer mühſam gewonnenen Einzelkenntniſſe liegt in den allgemeinen Reſultaten, welche ſpäter umfaſſendere Geiſter aus denſelben ziehen. Bei einem allgemeinen Ueberblick über den Ent— wickelungsgang der Biologie ſeit Linné finden Sie leicht, wie dies Bär ausgeführt hat, ein beſtändiges Schwanken zwiſchen dieſen bei— den Richtungen, ein Ueberwiegen einmal der empiriſchen (ſogenannten exakten) und dann wieder der philoſophiſchen (ſpeculativen) Richtung. So hatte ſich ſchon zu Ende des vorigen Jahrhunderts, im Gegen— ſatz gegen Linne's rein empiriſche Schule, eine naturphiloſophiſche Reaction erhoben, deren bewegende Geiſter, Lamarck, Geoffroy S. Hilaire, Goethe und Oken, durch ihre Gedankenarbeit Licht und Ordnung in das Chaos des aufgehäuften empiriſchen Rohmate— rials zu bringen ſuchten. Gegenüber den vielfachen Irrthümern und den zu weit gehenden Speculationen dieſer Naturphiloſophen trat dann Cuvier auf, welcher eine zweite, rein empiriſche Periode her— beiführte. Dieſe erreichte ihre einſeitigſte Entwickelung während der Jahre 1830 — 1860, und nun folgte ein zweiter philoſophiſcher Rück— ſchlag, durch Darwins Werk veranlaßt. Man fing nun im letzten Decennium wieder an, ſich zur Erkenntniß der allgemeinen Naturge— ſetze hinzuwenden, denen doch ſchließlich alle einzelnen Erfahrungs— kenntniſſe nur als Grundlage dienen, und durch welche letztere erſt ihren wahren Werth erlangen. Durch die Philoſophie wird die Na— turkunde erſt zur wahren Wiſſenſchaft, zur „Naturphiloſophie“ (Gen. Morph. I, 63 — 108). Unter den großen Naturphiloſophen, denen wir die erſte Begrün- dung einer organiſchen Entwickelungstheorie verdanken, und welche neben Charles Darwin als die Urheber der Abſtammungslehre Goethe's Verdienſte als Naturforſcher. 73 glänzen, ſtehen obenan Jean Lamarck und Wolfgang Goethe. Ich wende mich zunächſt zu unſerm theuren Goethe, welcher von Allen uns Deutſchen am nächſten ſteht. Bevor ich Ihnen jedoch ſeine beſonderen Verdienſte um die Entwickelungstheorie erläutere, ſcheint es mir paſſend, Einiges über ſeine Bedeutung als Naturforſcher über— haupt zu ſagen, da dieſelbe gewöhnlich ſehr verkannt wird. Gewiß die Meiſten unter ihnen verehren Goethe nur als Dich— ter und Menſchen; nur wenige werden eine Vorſtellung von dem hohen Werth haben, den ſeine naturwiſſenſchaftlichen Arbeiten beſitzen, von dem Rieſenſchritt, mit dem er ſeiner Zeit vorauseilte, — ſo vor— auseilte, daß eben die meiſten Naturforſcher der damaligen Zeit ihm nicht nachkommen konnten. Das Mißgeſchick, daß ſeine naturphilo— ſophiſchen Verdienſte von ſeinen Zeitgenoſſen verkannt wurden, hat Goethe oft ſchmerzlich empfunden. An verſchiedenen Stellen ſeiner naturwiſſenſchaftlichen Schriften beklagt er ſich bitter über die be— ſchränkten Fachleute, welche ſeine Arbeiten nicht zu würdigen verſtehen, welche den Wald vor lauter Bäumen nicht ſehen, und welche ſich nicht dazu erheben können, aus dem Wuſt des Einzelnen allgemeine Natur— geſetze herauszufinden. Nur zu gerecht iſt ſein Vorwurf: „Der Philo— ſoph wird gar bald entdecken, daß ſich die Beobachter ſelten zu einem Standpunkte erheben, von welchem ſie ſo viele bedeutend bezügliche Ge— genſtände überſehen können.“ Weſentlich allerdings wurde dieſe Ver— kennung verſchuldet durch den falſchen Weg, auf welchen Goethe in ſeiner Farbenlehre gerieth. Die Farbenlehre, die er ſelbſt als das Lieblingskind ſeiner Muße bezeichnet, iſt in ihren Grundlagen durch— aus verfehlt, ſoviel Schönes ſie auch im Einzelnen enthalten mag. Die exakte mathematiſche Methode, mittelſt welcher man allein zu— nächſt in den anorganiſchen Naturwiſſenſchaften, in der Phyſik vor Allem, Schritt für Schritt auf unumſtößlich feſter Baſis weiter bauen kann, war Goethe durchaus zuwider. Er ließ ſich in der Verwer— fung derſelben nicht allein zu großen Ungerechtigkeiten gegen die her— vorragendſten Phyſiker hinreißen, ſondern auch auf Irrwege verleiten, die ſeinen übrigen werthvollen Arbeiten ſehr geſchadet haben. Ganz 74 Goethe's Metamorphoſe der Pflanzen. etwas Anderes iſt es in den organiſchen Naturwiſſenſchaften, in wel— chen wir nur ſelten im Stande ſind, von Anfang an gleich auf der unumſtößlich feſten, mathematiſchen Baſis vorzugehen, vielmehr ge— zwungen ſind, wegen der unendlich ſchwierigen und verwickelten Na— tur der Aufgabe, uns zunächſt Inductionsſchlüſſe zu bilden; d. h. wir müſſen aus zahlreichen einzelnen Beobachtungen, die doch nicht ganz vollſtändig ſind, ein allgemeines Geſetz zu begründen ſuchen. Die denkende Vergleichung der verwandten Erſcheinungsreihen, die Combination iſt hier das wichtigſte Forſchungsinſtrument, und dieſe wurde von Goethe mit ebenſo viel Glück als bewußter Wertherkenntniß bei ſeinen naturphiloſophiſchen Arbeiten angewandt. Von den Schriften Goethe's, die ſich auf die organiſche Natur beziehen, iſt am berühmteſten die Metamorphoſe der Pflan— zen geworden, welche 1790 erſchien; ein Werk, welches inſofern den Grundgedanken der Entwickelungstheorie deutlich erkennen läßt, als Goethe darin bemüht war, ein einziges Grundorgan nachzuweiſen, durch deſſen unendlich mannichfaltige Ausbildung und Umbildung man ſich den ganzen Formenreichthum der Pflanzenwelt entſtanden denken könne; dieſes Grundorgan fand er im Blatt. Wenn damals ſchon die Anwendung des Mikroſkops eine allgemeine geweſen wäre, wenn Goethe den Bau der Organismen mit dem Mikroſkop durchforſcht hätte, ſo würde er noch weiter gegangen ſein, und das Blatt bereits als ein Vielfaches von individuellen Theilen niederer Ordnung, von Zellen, erkannt haben. Er würde dann nicht das Blatt, ſondern die Zelle als das eigentliche Grundorgan aufgeſtellt haben, durch deſ— ſen Vermehrung, Umbildung und Verbindung (Syntheſe) zunächſt das Blatt entſteht, ſowie weiterhin durch Umbildung, Variation und Zuſammenſetzung der Blätter alle die mannichfaltigen Schönheiten in Form und Farbe entſtehen, welche wir ebenſo an den echten Ernäh— rungsblättern, wie an den Fortpflanzungsblättern oder den Blüthen- theilen der Pflanzen bewundern. Indeſſen ſchon dieſer Grundgedanke war durchaus richtig. Goethe zeigte darin, daß man, um das Ganze der Erſcheinung zu erfaſſen, erſtens vergleichen und dann zwei— Goethe's Wirbeltheorie des Schädels. 75 tens einen einfachen Typus, eine einfache Grundform, ein Thema gewiſſermaßen ſuchen müſſe, von dem alle übrigen Geſtalten nur die unendlich mannichfaltigen Variationen ſeien. Etwas Aehnliches, wie er hier in der Metamorphoſe der Pflanzen leiſtete, gab er dann für die Wirbelthiere in ſeiner berühmten Wir— beltheorie des Schädels. Goethe zeigte zuerſt, unabhängig von Oken, welcher faſt gleichzeitig auf denſelben Gedanken kam, daß der Schädel des Menſchen und aller anderen Wirbelthiere, zunächſt der Säugethiere, Nichts weiter ſei als das umgewandelte vorderſte Stück der Wirbelſäule oder des Rückgrats. Die Knochenkapſel des Schädels erſcheint danach aus mehreren Knochenringen zuſammenge— ſetzt, welche den Wirbeln des Rückgrats urſprünglich gleichwerthig ſind. Allerdings iſt dieſe Idee kürzlich durch die ſcharfſinnigen Un— terſuchungen von Gegenbaur ?)) ſehr bedeutend modificirt wor— den. Dennoch gehörte ſie in jener Zeit zu den größten Fortſchrit— ten der vergleichenden Anatomie, und war für das Verſtändniß des Wirbelthierbaues eine der erſten Grundlagen. Wenn zwei Körpers theile, die auf den erſten Blick ſo verſchieden ausſehen, wie der Hirnſchädel und die Wirbelſäule, ſich als urſprünglich gleichartige, aus einer und derſelben Grundlage hervorgebildete Theile nachwei— ſen ließen, ſo war damit eine der ſchwierigſten naturphiloſophiſchen Aufgaben gelöſt. Auch hier begegnet uns wieder der Gedanke des einheitlichen Typus, der Gedanke des einzigen Themas, das nur in den verſchiedenen Arten und in den Theilen der einzelnen Arten un— endlich variirt wird. Es waren aber nicht bloß ſolche weitgreifende Geſetze, um de— ren Erkenntniß ſich Goethe bemühte, ſondern es waren auch zahl- reiche einzelne, namentlich vergleichend-anatomiſche Unterſuchungen, die ihn lange Zeit hindurch aufs lebhafteſte beſchäftigten. Unter die— ſen iſt vielleicht keine intereſſanter, als die Entdeckung des Zwi— ſchenkiefer beim Menſchen. Da dieſe in mehrfacher Beziehung von Bedeutung für die Entwickelungstheorie iſt, ſo erlaube ich mir, Ihnen dieſelbe kurz hier darzulegen. Es exiſtiren bei ſämmtlichen 76 Goethe's Entdeckung des Zwiſchenkiefers beim Menſchen. Säugethieren in der oberen Kinnlade zwei Knochenſtückchen, welche in der Mittellinie des Geſichts, unterhalb der Naſe, ſich berühren, und in der Mitte zwiſchen den beiden Hälften des eigentlichen Oberkiefer— knochens gelegen ſind. Dieſes Knochenpaar, welches die vier oberen Schneidezähne trägt, iſt bei den meiſten Säugethieren ohne Weiteres ſehr leicht zu erkennen; beim Menſchen dagegen war es zu jener Zeit nicht bekannt, und berühmte vergleichende Anatomen legten ſogar auf dieſen Mangel des Zwiſchenkiefers einen ſehr großen Werth, indem ſie denſelben als Hauptunterſchied zwiſchen Menſchen und Affen an— ſahen; es wurde der Mangel des Zwiſchenkiefers ſeltſamer Weiſe als der menſchlichſte aller menſchlichen Charaktere hervorgehoben. Nun wollte es Goethe durchaus nicht in den Kopf, daß der Menſch, der in allen übrigen körperlichen Beziehungen offenbar nur ein höher ent— wickeltes Säugethier ſei, dieſen Zwiſchenkiefer entbehren ſolle. Er zog aus dem allgemeinen Inductions-Geſetz des Zwiſchenkiefers bei den Säugethieren den beſonderen Deductionsſchluß, daß derſelbe auch beim Menſchen vorkommen müſſe; und er hatte keine Ruhe, bis er bei Vergleichung einer großen Anzahl von Schädeln wirklich den Zwi⸗ ſchenkiefer auffand. Bei einzelnen Individuen iſt derſelbe die ganze Lebenszeit hindurch erhalten, während er gewöhnlich frühzeitig mit dem benachbarten Oberkiefer verwächſt, und nur bei ſehr jugendlichen Menſchenſchädeln als ſelbſtſtändiger Knochen nachzuweiſen iſt. Bei den menſchlichen Embryonen kann man ihn jetzt jeden Augenblick vorzeigen. Der Zwiſchenkiefer iſt alſo beim Menſchen in der That vorhanden, und Goethe gebührt der Ruhm, dieſe in vielfacher Be— ziehung wichtige Thatſache zuerſt feſtgeſtellt zu haben, und zwar ge— gen den Widerſpruch der wichtigſten Fachautoritäten, z. B. des be— rühmten Anatomen Peter Camper. Beſonders intereſſant iſt dabei der Weg, auf dem er zu dieſer Feſtſtellung gelangte; es iſt der Weg, auf dem wir beſtändig in den organiſchen Naturwiſſenſchaften fort— ſchreiten, der Weg der Induction und Deduction. Die Induction iſt ein Schluß aus zahlreichen einzelnen beobachteten Fällen auf ein allgemeines Geſetz; die Deduction dagegen iſt ein Rückſchluß aus Goethe's Theilnahme an der Naturphiloſophie. 77 dieſem allgemeinen Geſetz auf einen einzelnen, noch nicht wirklich beobachteten Fall. Aus den damals geſammelten empiriſchen Kennt— niſſen ging der Inductionsſchluß hervor, daß ſämmtliche Säugethiere den Zwiſchenkiefer beſitzen. Goethe zog daraus den Deductions— ſchluß, daß der Menſch, der in allen übrigen Beziehungen ſeiner Or— ganiſation nicht weſentlich von den Säugethieren verſchieden ſei, auch dieſen Zwiſchenkiefer beſitzen müſſe; und er fand ſich in der That bei eingehender Unterſuchung. Es wurde der Deductionsſchluß durch die nachfolgende Erfahrung beſtätigt oder verificirt. Schon dieſe wenigen Züge mögen Ihnen den hohen Werth vor Augen führen, den wir Goethe's biologiſchen Forſchungen zuſchrei— ben müſſen. Leider ſind die meiſten ſeiner darauf bezüglichen Arbei— ten ſo verſteckt in ſeinen geſammelten Werken, und die wichtigſten Be— obachtungen und Bemerkungen ſo zerſtreut in zahlreichen einzelnen Aufſätzen, die andere Themata behandeln, daß es ſchwer iſt, ſie her— auszufinden. Auch iſt bisweilen eine vortreffliche, wahrhaft wiſſen— ſchaftliche Bemerkung ſo eng mit einem Haufen unbrauchbarer natur— philoſophiſcher Phantaſiegebäude verknüpft, daß letztere der erſteren großen Eintrag thun. Für das außerordentliche Intereſſe, welches Goethe für die organiſche Naturforſchung hegte, iſt vielleicht Nichts bezeichnender, als die lebendige Theilnahme, mit welcher er noch in ſeinen letzten Le— bensjahren den in Frankreich ausgebrochenen Streit zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire verfolgte. Goethe hat eine intereſ— ſante Darſtellung dieſes merkwürdigen Streites und ſeiner allgemei— nen Bedeutung, ſowie eine treffliche Charakteriſtik der beiden großen Gegner in einer beſonderen Abhandlung gegeben, welche er erſt we— nige Tage vor ſeinem Tode, im März 1832, vollendete. Dieſe Ab— handlung führt den Titel: „Principes de Philosophie zoologique par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire“; ſie iſt Goethe's letztes Werk, und bildet in der Geſammtausgabe ſeiner Werke deren Schluß. Der Streit ſelbſt war in mehrfacher Beziehung von höchſtem Intereſſe. Er drehte ſich weſentlich um die Berechtigung der Entwickelungstheorie. 78 Streit zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. Dabei wurde er im Schooße der franzöſiſchen Akademie von beiden Gegnern mit einer perſönlichen Leidenſchaftlichkeit geführt, welche in den würdevollen Sitzungen jener gelehrten Körperſchaft faſt unerhört war, und welche bewies, daß beide Naturforſcher für ihre heiligſten und tiefſten Ueberzeugungen kämpften. Am 22ſten Februar 1830 fand der erſte Konflikt ſtatt, welchem bald mehrere andere folgten, der heftigſte am 19. Juli 1830. Geoffroy als das Haupt der franzö— ſiſchen Naturphiloſophen vertrat die natürliche Entwickelungstheorie und die einheitliche (moniſtiſche) Naturauffaſſung. Er behauptete die Veränderlichkeit der organiſchen Species, die gemeinſchaftliche Abſtam— mung der einzelnen Arten von gemeinſamen Stammformen, und die Einheit der Organiſation, oder die Einheit des Bauplanes, wie man ſich damals ausdrückte. Cuvier war der entſchiedenſte Gegner dieſer Anſchauungen, wie es ja nach dem, was Sie gehört haben, nichts anders ſein konnte. Er verſuchte zu zeigen, daß die Naturphilo— ſophen kein Recht hätten, auf Grund des damals vorliegenden empi— riſchen Materials ſo weitgehende Schlüſſe zu ziehen, und daß die be— hauptete Einheit der Organiſation oder des Bauplanes der Organis— men nicht exiſtire. Er vertrat die teleologiſche (dualiſtiſche) Naturauf— faſſung und behauptete, daß „die Unveränderlichkeit der Species eine nothwendige Bedingung für die Exiſtenz der wiſſenſchaftlichen Natur— geſchichte ſei.“ Cuvier hatte den großen Vortheil vor feinem Geg— ner voraus, für ſeine Behauptungen lauter unmittelbar vor Augen liegende Beweisgründe vorbringen zu können, welche allerdings nur aus dem Zuſammenhang geriſſene einzelne Thatſachen waren. Geof— froy dagegen war nicht im Stande, den von ihm verfochtenen höhe— ren allgemeinen Zuſammenhang der einzelnen Erſcheinungen mit ſo greifbaren Einzelheiten belegen zu können. Daher behielt Cuvier in den Augen der Mehrheit den Sieg, und entſchied für die folgenden drei Jahrzehnte die Niederlage der Naturphiloſophie und die Herrſchaft der ſtreng empiriſchen Richtung. Goethe dagegen nahm natürlich entſchieden für Geoffroy Partei. Wie lebhaft ihn noch in ſeinem Streit zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. 79 Siſten Jahre dieſer große Kampf beſchäftigte, mag folgende, von Soret erzählte Anekdote bezeugen: „Montag, 2. Auguſt 1830. Die Nachrichten von der begonne— nen Julirevolution gelangten heute nach Weimar und ſetzten Al— les in Aufregung. Ich ging im Laufe des Nachmittags zu Goethe. „Nun?“ rief er mir entgegen, „was denken Sie von dieſer großen Be— gebenheit? Der Vulkan iſt zum Ausbruch gekommen; alles ſteht in Flammen, und es iſt nicht ferner eine Verhandlung bei geſchloſſenen Thüren!“ Eine furchtbare Geſchichte! erwiderte ich. Aber was ließ ſich bei den bekannten Zuſtänden und bei einem ſolchen Miniſterium anders erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen königlichen Familie endigen würde. „Wir ſcheinen uns nicht zu ver— ſtehen, mein Allerbeſter,“ erwiderte Goethe. „Ich rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt ſich bei mir um ganz andere Dinge. Ich rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekom— menen, für die Wiſſenſchaft ſo höchſt bedeutenden Streite zwiſchen Cuvier und Geoffroy de S. Hilaire.“ Dieſe Aeußerung Goe— the's war mir ſo unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich ſagen ſollte, und daß ich während einiger Minuten einen völligen Stillſtand in meinen Gedanken verſpürte. „Die Sache iſt von der höchſten Be— deutung,“ fuhr Goethe fort, „und Sie können ſich keinen Begriff davon machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli empfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de Saint Hilaire einen mächtigen Alliirten auf die Dauer. Ich ſehe aber zugleich daraus, wie groß die Theilnahme der franzöſiſchen wiſſenſchaftlichen Welt in dieſer Angelegenheit ſein muß, indem trotz der furchtbaren politiſchen Aufregung, die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten Hauſe ſtattfand. Das Beſte aber iſt, daß die von Geoffroy in Frankreich eingeführte ſynthetiſche Behandlungsweiſe der Natur jetzt nicht mehr rückgängig zu machen iſt. Dieſe Angelegenheit iſt durch die freien Diskuſſionen in der Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Publikums, jetzt öffentlich geworden, ſie läßt ſich nicht mehr 80 Goethe's Entdeckung der beiden organiſchen Bildungstriebe. an geheime Ausſchüſſe verweiſen und bei geſchloſſenen Thüren abthun und unterdrücken.“ Von den zahlreichen intereſſanten und bedeutenden Sätzen, in welchen ſich Goethe klar über ſeine Auffaſſung der organiſchen Na— tur und ihrer beſtändigen Entwickelung ausſpricht, habe ich in meiner generellen Morphologie der Organismen) eine Auswahl als Leit— worte an den Eingang der einzelnen Bücher und Kapitel geſetzt. Hier führe ich Ihnen zunächſt eine Stelle aus dem Gedichte an, welches die Ueberſchrift trägt: „die Metamorphoſe der Thiere“ (1819). „Alle Glieder bilden ſich aus nach ew'gen Geſetzen, „Und die ſeltenſte Form bewahrt im Geheimniß das Urbild. „Alſo beſtimmt die Geſtalt die Lebensweiſe des Thieres, „Und die Weiſe zu leben, ſie wirkt auf alle Geſtalten „Mächtig zurück. So zeiget ſich feſt die geordnete Bildung, „Welche zum Wechſel ſich neigt durch äußerlich wirkende Weſen.“ Schon hier iſt der Gegenſatz zwiſchen zwei verſchiede— nen organiſchen Bildungstrieben angedeutet, welche ſich ge— genüber ſtehen, und durch ihre Wechſelwirkung die Form des Organismus beſtimmen; einerſeits ein gemeinſames inneres, feſt ſich erhaltendes Urbild, welches den verſchiedenſten Geſtalten zu Grunde liegt; andrerſeits der äußerlich wirkende Einfluß der Umgebung und der Lebensweiſe, welcher umbildend auf das Urbild einwirkt. Noch beſtimmter tritt dieſer Gegenſatz in folgendem Ausſpruch hervor: „Eine innere urſprüngliche Gemeinſchaft liegt aller Organiſation zu Grunde; die Verſchiedenheit der Geſtalten dagegen entſpringt aus den nothwendigen Beziehungsverhältniſſen zur Außenwelt, und man darf daher eine urſprüngliche, gleichzeitige Verſchiedenheit und eine unaufhaltſam fortſchreitende Umbildung mit Recht annehmen, um die ebenſo konſtanten als abweichenden Erſcheinungen begreifen zu können.“ Das „Urbild“ oder der „Typus“, welcher als „innere urſprüng⸗ liche Gemeinſchaft“ allen organiſchen Formen zu Grunde liegt, iſt der innere Bildungstrieb, welcher die urſprüngliche Bildungsrichtung erhält und durch Vererbung fortpflanzt. Die „unaufhaltſam fort— Die Specifikation (Vererbung) und die Metamorphoſe (Anpaſſung). S1 ſchreitende Umbildung“ dagegen, welche „aus den nothwendigen Be— ziehungsverhältniſſen zur Außenwelt entſpringt“, bewirkt als äuße— rer Bildungstrieb, durch Anpaſſung an die umgebenden Lebensbedingungen, die unendliche „Verſchiedenheit der Geſtalten“. (Gen. Morph. I, 154; II, 224). Den inneren Bildungstrieb der Vererbung, welcher die Einheit des Urbildes erhält, nennt Goethe an einer anderen Stelle die Centripetalkraft des Organismus, feinen Specifikationstrieb; im Gegenſatz dazu nennt er den äußeren Bildungstrieb der Anpaſſung, welcher die Mannichfaltigkeit der organiſchen Geſtalten hervorbringt, die Centrifugalkraft des Organismus, ſeinen Variationstrieb. Die betreffende Stelle, in wel— cher er ganz klar das „Gegengewicht“ dieſer beiden äußerſt wichtigen organiſchen Bildungstriebe bezeichnet, lautet folgendermaßen: „Die Idee der Metamorphoſe iſt gleich der Vis centrifuga und würde ſich ins Unendliche verlieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zuge— geben: ich meine den Specifikationstrieb, das zähe Beharr— lichkeitsvermögen deſſen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine Vis centripeta, welcher in ihrem tiefſten Grunde keine Aeußerlich— keit etwas anhaben kann.“ Unter Metamorphoſe verſteht Goethe nicht allein, wie es heutzutage gewöhnlich verſtanden wird, die Formveränderungen, welche das organiſche Individuum während ſeiner individuellen Ent— wickelung erleidet, ſondern in weiterem Sinne überhaupt die Um— bildung der organiſchen Formen. Die „Idee der Metamor— phoſe“ iſt beinahe gleichbedeutend mit unſerer „Entwickelungstheorie“. Dies zeigt ſich unter Anderem auch in folgendem Ausſpruch: „Der Triumph der phyſiologiſchen Metamorphoſe zeigt ſich da, wo das Ganze ſich in Familien, Familien ſich in Geſchlechter, Geſchlechter in Sippen, und dieſe wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur In— dividualität ſcheiden, ſondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieſes Geſchäft der Natur; ſie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles, was ſie hervorbrachte, bewahren und erhalten. Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 6 82 Goethe's Anſicht von der Blutsverwandtſchaft aller Wirbelthiere. Aus den Samen entwickeln ſich immer abweichende, die Verhältniſſe ihrer Theile zu einander verändert beſtimmende Pflanzen.“ In den beiden organiſchen Bildungstrieben, in dem konſerva— tiven, centripetalen, innerlichen Bildungstriebe der Vererbung oder der Specifikation einerſeits, in dem progreſſiven, centrifugalen, äußere lichen Bildungstriebe der Anpaſſung oder der Metamorphoſe andrer- ſeits, hatte Goethe bereits die beiden großen mechaniſchen Natur— kräfte entdeckt, welche die wirkenden Urſachen der organiſchen Geſtal— tungen ſind. Dieſe tiefe biologiſche Erkenntniß mußte ihn naturge— mäß zu dem Grundgedanken der Abſtammungslehre führen, zu der Vorſtellung, daß die formverwandten organiſchen Arten wirklich bluts— verwandt ſind, und daß dieſelben von gemeinſamen urſprünglichen Stammformen abſtammen. Für die wichtigſte von allen Thiergrup— pen, die Hauptabtheilung der Wirbelthiere, drückt dies Goethe in folgendem merkwürdigen Satze aus (17961): „Dies alſo hätten wir gewonnen ungeſcheut behaupten zu dürfen, daß alle vollkommneren organiſchen Naturen, worunter wir Fiſche, Amphibien, Vögel, Säuge— thiere und an der Spitze der letzten den Menſchen ſehen, alle nach einem Urbilde geformt ſeien, das nur in ſeinen ſehr beſtändigen Theilen mehr oder weniger hin- und herweicht, und ſich noch täg— lich durch Fortpflanzung aus- und umbildet.“ Dieſer Satz iſt in mehrfacher Beziehung von Intereſſe. Die Theorie, daß „alle vollkommneren organiſchen Naturen“, d. h. alle Wirbelthiere, von einem gemeinſamen Urbilde abſtammen, daß ſie aus dieſem durch Fortpflanzung (Vererbung) und Umbildung (An⸗ paſſung) entſtanden ſind, iſt daraus deutlich zu entnehmen. Beſon⸗ ders intereſſant aber iſt, daß Goethe auch hier für den Menſchen keine Ausnahme geſtattet, ihn vielmehr ausdrücklich in den Stamm der übrigen Wirbelthiere hineinzieht. Die wichtigſte ſpecielle Folge— rung der Abſtammungslehre, daß der Menſch von anderen Wirbel— thieren abſtammt, läßt ſich hier im Keime erkennen ?). Noch klarer ſpricht Goethe dieſe überaus wichtige Grund⸗Idee an einer anderen Stelle (1807) in folgenden Worten aus: „Wenn Goethe's monophyletiſche Deſcendenz-Hypotheſe. 83 man Pflanzen und Thiere in ihrem unvollkommenſten Zuſtande be— trachtet, ſo ſind ſie kaum zu unterſcheiden. So viel aber können wir ſagen, daß die aus einer kaum zu ſondernden Verwandtſchaft als Pflanzen und Thiere nach und nach hervortretenden Geſchöpfe nach zwei entgegengeſetzten Seiten ſich vervollkommnen, ſo daß die Pflanze ſich zuletzt im Baume dauernd und ſtarr, das Thier im Menſchen zur höchſten Beweglichkeit und Freiheit ſich verherrlicht.“ In dieſem merkwürdigen Satze iſt nicht allein das genealogiſche Verwandtſchafts⸗Verhältniß des Pflanzenreichs zum Thierreiche höchſt treffend beurtheilt, ſondern auch bereits der Kern der einheitlichen oder monophyletiſchen Deſcendenz-Hypotheſe enthalten, deren Be— deutung ich Ihnen ſpäter aus einander zu ſetzen habe. (Vergl. den XVI. Vortrag und den Stammbaum S. 398.) Zu derſelben Zeit, als Goethe in dieſer Weiſe die Grundzüge der Deſcendenz-Theorie entwarf, finden wir bereits einen anderen deutſchen Naturphiloſophen angelegentlich mit derſelben beſchäftigt, nämlich Gottfried Reinhold Treviranus aus Bremen (geb. 1776, geſt. 1837). Wie kürzlich Wilhelm Focke in Bremen ge— zeigt hat, entwickelte Treviranus ſchon in dem früheſten ſeiner größeren Werke, in der „Biologie oder Philoſophie der lebenden Na— tur“, bereits ganz im Anfange unſeres Jahrhunderts, moniſtiſche Anſichten von der Einheit der Natur und von dem genealogiſchen Zuſammenhang der Organismen-Arten, die ganz unſerem jetzigen Standpunkte entſprechen. In den drei erſten Bänden der Biologie, die 1802, 1803 und 1805 erſchienen, alſo ſchon mehrere Jahre vor den Hauptwerken von Oken und Lamarck, finden ſich zahlreiche Stellen, welche in dieſer Beziehung von Intereſſe ſind. Ich will nur einige der wichtigſten hier anführen. Ueber die Hauptfrage unſerer Theorie, über den Urſprung der organiſchen Species, ſpricht ſich Treviranus folgendermaßen aus: „Jede Form des Lebens kann durch phyſiſche Kräfte auf doppelte Art hervorgebracht ſein: entweder durch Entſtehung aus formloſer Materie, oder durch Abänderung der Form bei dauernder Geſtaltung. 6 84 Entwickelungstheorie von Treviranus. Im letzteren Falle kann die Urſache dieſer Abänderung entweder in der Einwirkung eines ungleichartigen männlichen Zeugungsſtoffes auf den weiblichen Keim, oder in dem erſt nach der Erzeugung ſtattfin— denden Einfluſſe anderer Potenzen liegen. — In jedem lebenden Weſen liegt die Fähigkeit zu einer endloſen Mannichfaltigkeit der Geſtaltungen; jedes beſitzt das Vermögen, ſeine Organiſation den Veränderungen der äußeren Welt anzupaſſen, und dieſes durch den Wechſel des Univerſums in Thätigkeit geſetzte Vermögen iſt es, was die einfachen Zoophyten der Vorwelt zu immer höheren Stufen der Organiſation geſteigert und eine zahlloſe Mannichfaltigkeit in die lebende Natur gebracht hat.“ Unter Zoophyten verſteht hier Treviranus die Organismen niederſten Ranges und einfachſter Beſchaffenheit, insbeſondere jene neutralen, zwiſchen Thier und Pflanze in der Mitte ſtehenden Urwe— ſen, die im Ganzen unſeren Protiſten entſprechen. „Dieſe Zoophy— ten“, ſagt er an einer anderen Stelle, „ſind die Urformen, aus wel— chen alle Organismen der höheren Klaſſen durch allmähliche Entwicke— lung entſtanden ſind. Wir ſind ferner der Meinung, daß jede Art, wie jedes Individuum, gewiſſe Perioden des Wachsthums, der Blüthe und des Abſterbens hat, daß aber ihr Abſterben nicht Auflöſung, wie bei dem Individuum, ſondern Degeneration iſt. Und hieraus ſcheint uns zu folgen, daß es nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die großen Kataſtrophen der Erde ſind, was die Thiere der Vorwelt vertilgt hat, ſondern daß Viele dieſe überlebt haben, und daß ſie viel— mehr deswegen aus der jetzigen Natur verſchwunden ſind, weil die Arten, zu welchen ſie gehörten, den Kreislauf ihres Daſeins vollen— det haben und in andere Gattungen übergegangen ſind.“ Wenn Treviranus an dieſen und anderen Stellen Dege— neration als die wichtigſte Urſache der Umbildung der Thier- und Pflanzen⸗Arten anſieht, fo verſteht er darunter nicht „Entartung“ oder Degeneration in dem heute gebräuchlichen Sinne. Vielmehr iſt ſeine „Degeneration“ ganz daſſelbe was wir heute Anpaſſung, oder Abänderung durch den äußeren Bildungstrieb nennen. Daß Tre- 8 Moniſtiſche Naturanſchauung von Treviranus. 85 viranus dieſe Umbildung der organiſchen Species durch Anpaſſung, und ihre Erhaltung durch Vererbung, die ganze Mannichfaltigkeit der organiſchen Formen aber durch die Wechſelwirkung von Anpaſſung und Vererbung erklärte, geht auch aus mehreren anderen Stellen klar hervor. Wie tief er dabei die gegenſeitige Abhängigkeit aller leben— den Weſen von einander, und überhaupt den univerſalen Cauſal— nexus, d. h. den einheitlichen urſächlichen Zuſammenhang zwiſchen allen Gliedern und Theilen des Weltalls erfaßte, zeigt unter andern noch folgender Satz der Biologie: „Das lebende Individuum iſt ab— hängig von der Art, die Art von dem Geſchlechte, dieſes von der ganzen lebenden Natur, und die letztere von dem Organismus der Erde. Das Individuum beſitzt zwar ein eigenthümliches Leben und bildet inſofern eine eigene Welt. Aber eben weil das Leben deſſelben beſchränkt iſt, ſo macht es doch zugleich auch ein Organ in dem allge— meinen Organismus aus. Jeder lebende Körper beſteht durch das Univerſum; aber das Univerſum beſteht auch gegenſeitig durch ihn.“ Daß dieſer großartigen mechaniſchen Auffaſſung des Univerſums zufolge Treviranus auch für den Menſchen keine privilegirte Aus— nahmeſtellung in der Natur zuließ, vielmehr die allmähliche Entwicke— lung deſſelben aus niederen Thierformen annahm, iſt bei einem ſo tief und klar denkenden Naturphiloſophen ſelbſtverſtändlich. Und eben ſo ſelbſtverſtändlich iſt es andererſeits, daß er keine Kluft zwiſchen organiſcher und anorganiſcher Natur anerkannte, vielmehr die abſolute Einheit in der Organiſation des ganzen Weltgebäudes behauptete. Dies bezeugt namentlich der folgende Satz: „Jede Unterſuchung über den Einfluß der geſammten Natur auf die lebende Welt muß von dem Grundſatze ausgehen, daß alle lebenden Geſtalten Producte phyſiſcher, noch in jetzigen Zeiten ſtattfindender, und nur dem Grade oder der Richtung nach veränderter Einflüſſe ſind.“ Hiermit iſt, wie Treviranus ſelbſt ſagt, „das Grundproblem der Biologie ge— löſt“, und, fügen wir hinzu, in rein moniſtiſchem oder mecha— niſchem Sinne gelöſt. Als der bedeutendſte der deutſchen Naturphiloſophen gilt gewöhn— 86 Naturphiloſophie von Oken. lich weder Treviranus, noch Goethe, ſondern Lorenz Oken, welcher bei Begründung der Wirbeltheorie des Schädels als Neben- buhler Goethe's auftrat, und dieſem nicht gerade freundlich geſinnt war. Bei der ſehr verſchiedenen Natur der beiden großen Män— ner, welche eine Zeit lang in nachbarſchaftlicher Nähe lebten, konn— ten ſie ſich doch gegenſeitig nicht wohl anziehen. Oken's Lehrbuch der Naturphiloſophie, welches als das bedeutendſte Erzeugniß der da— maligen naturphiloſophiſchen Schule in Deutſchland bezeichnet wer— den kann, erſchien 1809, in demſelben Jahre, in welchem auch La— marck's fundamentales Werk, die „Philosophie zoologique“ er⸗ ſchien. Schon 1802 hatte Oken einen „Grundriß der Naturphiloſo— phie“ veröffentlicht. Wie ſchon früher angedeutet wurde, finden wir bei Oken, verſteckt unter einer Fülle von irrigen, zum Theil ſehr abenteuerlichen und phantaſtiſchen Vorſtellungen, eine Anzahl von werthvollen und tiefen Gedanken. Einige von dieſen Ideen haben erſt in neuerer Zeit, viele Jahre nachdem ſie von ihm ausgeſprochen wurden, allmählich wiſſenſchaftliche Geltung erlangt. Ich will Ihnen hier von dieſen, faſt prophetiſch ausgeſprochenen Gedanken nur zwei anführen, welche zugleich zu der Entwickelungstheorie in der innig— ſten Beziehung ſtehen. Eine der wichtigſten Theorien Oken's, welche früherhin ſehr verſchrieen, und namentlich von den ſogenannten exakten Empirikern auf das ſtärkſte bekämpft wurde, iſt die Idee, daß die Lebenserſchei— nungen aller Organismen von einem gemeinſchaftlichen chemiſchen Subſtrate ausgehen, gewiſſermaßen einem allgemeinen, einfachen „Le— bensſtoff“, welchen er mit dem Namen „Urſchleim“ belegte. Er dachte ſich darunter, wie der Name ſagt, eine ſchleimartige Subſtanz, eine Eiweißverbindung, die in feſtflüſſigem Aggregatzuſtande befind— lich iſt, und das Vermögen beſitzt, durch Anpaſſung an verſchiedene Exiſtenzbedingungen der Außenwelt, und in Wechſelwirkung mit deren Materie, die verſchiedenſten Formen hervorzubringen. Nun brauchen Sie bloß das Wort Urſchleim in das Wort Protoplasma oder Zellſtoff umzuſetzen, um zu einer der größten Errungenſchaften zu Urſchleimtheorie und Infuforientheorie von Oken. 87 gelangen, welche wir den mikroſkopiſchen Forſchungen der letzten zehn Jahre, insbeſondere denjenigen von Max Schultze, verdanken. Durch dieſe Unterſuchungen hat ſich herausgeſtellt, daß in allen leben— digen Naturkörpern ohne Ausnahme eine gewiſſe Menge einer ſchlei— migen, eiweißartigen Materie in feſtflüſſigem Dichtigkeitszuſtande ſich vorfindet, und daß dieſe ſtickſtoffhaltige Kohlenſtoffverbindung aus— ſchließlich der urſprüngliche Träger und Bewirker aller Lebenserſchei— nungen und aller organiſchen Formbildung iſt. Alle anderen Stoffe, welche außerdem noch im Organismus vorkommen, werden erſt von dieſem activen Lebensſtoff gebildet, oder von außen aufgenommen. Das organiſche Ei, die urſprüngliche Zelle, aus welcher ſich jedes Thier und jede Pflanze zuerſt entwickelt, beſteht weſentlich nur aus einem runden Klümpchen ſolcher eiweißartigen Materie. Auch der Eidotter iſt nur Eiweiß, mit Fettkörnchen gemengt. Oken hatte alſo wirklich Recht, indem er mehr ahnend, als wiſſend den Satz ausſprach: „Alles Organiſche iſt aus Schleim hervorgegangen, iſt Nichts als verſchieden geſtalteter Schleim. Dieſer Urſchleim iſt im Meere im Verfolge der Planeten⸗Entwickelung aus anorganiſcher Materie entſtanden.“ Mit der Urſchleimtheorie Oken' s, welche weſentlich mit der neuer— lich erſt feſt begründeten, äußerſt wichtigen Protoplas matheo— rie zuſammenfällt, ſteht eine andere, eben ſo großartige Idee deſſel— ben Naturphiloſophen in engem Zuſammenhang. Oken behauptete nämlich ſchon 1809, daß der durch Urzeugung im Meere entſtehende Urſchleim alsbald die Form von mikroſkopiſch kleinen Bläschen an- nehme, welche er Mile oder Infuſorien nannte. „Die organiſche Welt hat zu ihrer Baſis eine Unendlichkeit von ſolchen Bläschen.“ Die Bläschen entſtehen aus den urſprünglichen feſtflüſſigen Urſchleim— kugeln dadurch, daß die Peripherie derſelben ſich verdichtet. Die einfachſten Organismen ſind einfache ſolche Bläschen oder Infuſorien. Jeder höhere Organismus, jedes Thier und jede Pflanze vollkomm— nerer Art iſt weiter Nichts als „eine Zuſammenhäufung (Syntheſis) von ſolchen infuſorialen Bläschen, die durch verſchiedene Combinatio— nen ſich verſchieden geſtalten und ſo zu höheren Organismen aufwach— 88 Entwickelungstheorie von Oken. ſen“. Sie brauchen nun wiederum das Wort Bläschen oder Infu— ſorium nur durch das Wort Zelle zu erſetzen, um zu einer der größ— ten biologiſchen Theorien unſeres Jahrhunderts, zur Zellentheorie zu gelangen. Schleiden und Schwann haben zuerſt vor dreißig Jahren den empiriſchen Beweis geliefert, daß alle Organismen ent— weder einfache Zellen oder Zuſammenhäufungen (Syntheſen) von ſolchen Zellen ſind; und die neuere Protoplasmatheorie hat nachge— wieſen, daß der weſentlichſte (und bisweilen der einzige!) Beſtand— theil der echten Zelle das Protoplasma (der Urſchleim) iſt. Die Eigenſchaften, die Oken ſeinen Infuſorien zuſchreibt, ſind eben die Eigenſchaften der Zellen, die Eigenſchaften der elementaren Indivi— duen, durch deren Zuſammenhäufung, Verbindung und mannichfal— tige Ausbildung die höheren Organismen entſtanden ſind. Dieſe beiden, außerordentlich fruchtbaren Gedanken Oken's wur— den wegen der abſurden Form, in der er ſie ausſprach, nur wenig berückſichtigt, oder gänzlich verkannt; und es war einer viel ſpäteren Zeit vorbehalten, dieſelben durch die Erfahrung zu begründen. Im engſten Zuſammenhang mit dieſen Vorſtellungen ſtand natürlich auch die Annahme einer Abſtammung der einzelnen Thier- und Pflanzen— arten von gemeinſamen Stammformen und einer allmählichen, ſtufen— weiſen Entwickelung der höheren Organismen aus den niedern. Auch vom Menſchen behauptete Oken ſeine Entwickelung aus niederen Or— ganismen: „Der Menſch iſt entwickelt, nicht erſchaffen.“ So viele willkürliche Verkehrtheiten und ausſchweifende Phantaſieſprünge ſich auch in Oken's Naturphiloſophie finden mögen, ſo können ſie uns doch nicht hindern, dieſen großen und ihrer Zeit weit vorauseilenden Ideen unſere gerechte Bewunderung zu zollen. So viel geht aus den angeführten Behauptungen Goethe's und Oken's, und aus den demnächſt zu erörternden Anſichten Lamarck's und Geoff— roy's mit Sicherheit hervor, daß in den erſten Decennien unſeres Jahrhunderts Niemand der natürlichen, durch Darwin neu be— gründeten Entwickelungstheorie ſo nahe kam, als die vielverſchrieene Naturphiloſophie. Fünfter Vortrag. Entwickelungstheorie von Kant und Lamarck. Kant's dualiſtiſche Biologie. Seine Anſicht von der Entſtehung der Anorgane durch mechaniſche, der Organismen durch zweckthätige Urſachen. Widerſpruch dieſer Anſicht mit feiner Hinneigung zur Abſtammungslehre. Kant's genealogiſche Ent- wickelungstheorie. Beſchränkung derſelben durch ſeine Teleologie. Vergleichung der genealogiſchen Biologie mit der vergleichenden Sprachforſchung. Anſichten zu Gun— ſten der Deſcendenztheorie von Leopold Buch, Bär, Schleiden, Unger, Schaafhauſen, Victor Carus, Büchner. Die franzöſiſche Naturphiloſophie. Lamarck's Philoſophie zoologique. Lamarck's moniſtiſches (mechaniſches) Naturſyſtem. Seine Anſichten von der Wechſelwirkung der beiden organiſchen Bildungskräfte, der Vererbung und An— paſſung. Lamarck's Anſicht von der Entwickelung des Menſchengeſchlechts aus affen— artigen Säugethieren. Vertheidigung der Deſcendenztheorie durch Geoffroy S. Hi— laire, Naudin und Lecog. Die engliſche Naturphiloſophie. Anſichten zu Gunſten der Deſcendenztheorie von Erasmus Darwin, W. Herbert, Grant, Freke, Herbert Spencer, Hooker, Huxley. Doppeltes Verdienſt von Charles Darwin. Meine Herren! Die teleologiſche Naturbetrachtung, welche die Erſcheinungen in der organiſchen Welt durch die zweckmäßige Thä— tigkeit eines perſönlichen Schöpfers oder einer zweckthätigen Endur— ſache erklärt, führt nothwendig in ihren letzten Konſequenzen entwe— der zu ganz unhaltbaren Widerſprüchen, oder zu einer zwieſpältigen (dualiſtiſchen) Naturauffaſſung, welche zu der überall wahrnehmbaren Einheit und Einfachheit der oberſten Naturgeſetze im entſchiedenſten Widerſpruch ſteht. Die Philoſophen, welche jener Teleologie huldi— gen, müſſen nothwendiger Weiſe zwei grundverſchiedene Naturen an— nehmen: eine anorganiſche Natur, welche durch mechaniſch wir— 90 Kant's moniſtiſche Anorganologie. kende Urſachen (causae efficientes), und eine organiſche Natur, welche durch zweckmäßig thätige Urſachen (causae finales) erklärt werden muß. (Vergl. S. 31.) Dieſer Dualismus tritt uns auffallend entgegen, wenn wir die Naturanſchauung eines der größten deutſchen Philoſophen, Kant's, betrachten, und die Vorſtellungen ins Auge faſſen, welche er ſich von der Entſtehung der Organismen bildete. Eine nähere Betrachtung dieſer Vorſtellungen iſt hier ſchon deshalb geboten, weil wir in Kant einen der wenigen Philoſophen verehren, welche eine gediegene natur— wiſſenſchaftliche Bildung mit einer außerordentlichen Klarheit und Tiefe der Speculation verbinden. Der Königsberger Philoſoph erwarb ſich nicht bloß durch Begründung der kritiſchen Philoſophie den höchſten Ruhm unter den ſpeculativen Philoſophen, ſondern auch durch ſeine mechaniſche Kosmogenie einen glänzenden Namen unter den Natur— forſchern. Schon im Jahre 1755 machte er in ſeiner „allgemeinen Naturgeſchichte und Theorie des Himmels 22)“ den kühnen Verſuch, „die Verfaſſung und den mechaniſchen Urſprung des ganzen Weltge— bäudes nach Newton'ſchen Grundſätzen abzuhandeln“, und mit Aus— ſchluß aller Wunder aus dem natürlichen Entwickelungsgange der Materie mechaniſch zu erklären. Dieſe Kantiſche Kosmogenie oder die „kosmologiſche Gastheorie“, welche wir nachher (im XIII. Vortrage) kurz erörtern werden, wurde ſpäterhin von dem franzöſiſchen Mathe— matiker Laplace und von dem engliſchen Aſtronomen Herſchel ausführlicher begründet und erfreut ſich noch heute einer faſt allgemei— nen Anerkennung. Schon allein wegen dieſes wichtigen Werkes, in welchem exaktes phyſikaliſches Wiſſen mit der geiſtvollſten Speculation gepaart iſt, verdient Kant den Ehrennamen eines Naturphiloſo— phen im beſten und reinſten Sinne des Wortes. Wenn Sie Kant's Kritik der teleologiſchen Urtheilskraft, ſein bedeutendſtes biologiſches Werk, leſen, ſo gewahren Sie, daß er ſich bei Betrachtung der organiſchen Natur weſentlich immer auf dem te— leologiſchen oder dualiſtiſchen Standpunkt erhält, während er für die anorganiſche Natur unbedingt und ohne Rückhalt die mechaniſche oder Kant's dualiſtiſche Biologie. 91 moniſtiſche Erklärungsmethode annimmt. Er behauptet, daß ſich im Gebiete der anorganiſchen Natur ſämmtliche Erſcheinungen aus me— chaniſchen Urſachen, aus den bewegenden Kräften der Materie ſelbſt erklären laſſen, im Gebiete der organiſchen Natur dagegen nicht. In der geſammten Anorganologie (in der Geologie und Mineralogie, in der Meteorologie und Aſtronomie, in der Phyſik und Chemie der anorganiſchen Naturkörper) ſollen alle Erſcheinungen bloß durch Me— chanismus (causa efficiens), ohne Dazwiſchenkunft eines End— zweckes erklärbar ſein. In der geſammten Biologie dagegen, in der Botanik, Zoologie und Anthropologie, ſoll der Mechanismus nicht ausreichend ſein, uns alle Erſcheinungen zu erklären; vielmehr können wir dieſelben nur durch Annahme einer zweckmäßig wirkenden End— urſache (causa finalis) begreifen. An mehreren Stellen hebt Kant ausdrücklich hervor, daß man, von einem ſtreng naturwiſſenſchaft— lich⸗philoſophiſchen Standpunkt aus, für alle Erſcheinungen ohne Ausnahme eine mechaniſche Erklärungsweiſe fordern müſſe, und daß der Mechanismus allein eine wirkliche Erklärung ein— ſchließe. Zugleich meint er aber, daß gegenüber den belebten Natur— körpern, den Thieren und Pflanzen, unſer menſchliches Erkenntnißver— mögen beſchränkt ſei, und nicht ausreiche, um hinter die eigentliche wirkſame Urſache der organiſchen Vorgänge, insbeſondere der Ent— ſtehung der organiſchen Formen, zu gelangen. Die Befugniß der menſchlichen Vernunft zur mechaniſchen Erklärung aller Erſcheinun⸗ gen ſei unbeſchränkt, aber ihr Vermögen dazu begrenzt, indem man die organiſche Natur nur teleologiſch betrachten könne. Nun ſind aber einige Stellen ſehr merkwürdig, in denen Kant auffallend von dieſer Anſchauung abweicht, und mehr oder minder beſtimmt den Grundgedanken der Abſtammungslehre ausſpricht. Er behauptet da ſogar die Nothwendigkeit einer genealogiſchen Auffaſſung des organiſchen Syſtems, wenn man überhaupt zu einem wiſſenſchaft— lichen Verſtändniß deſſelben gelangen wolle. Die wichtigſte und merk— würdigſte von dieſen Stellen findet ſich in der „Methodenlehre der teleologiſchen Urtheilskraft“ ($. 79), welche 1790 in der „Kritik der 92 Kant's genealogiſche Entwickelungstheorie. Urtheilskraft“ erſchien. Bei dem außerordentlichen Intereſſe, welches dieſe Stelle ſowohl für die Beurtheilung der Kantiſchen Philoſophie, als für die Geſchichte der Deſcendenztheorie beſitzt, erlaube ich mir, Ihnen dieſelbe hier wörtlich mitzutheilen. „Es iſt rühmlich, mittelſt einer comparativen Anatomie die große Schöpfung organiſirter Naturen durchzugehen, um zu ſehen: ob ſich daran nicht etwas einem Syſtem Aehnliches, und zwar dem Erz eu— gungsprincip nach, vorfinde, ohne daß wir nöthig haben, beim bloßen Beurtheilungsprincip, welches für die Einſicht ihrer Erzeugung keinen Aufſchluß giebt, ſtehen zu bleiben, und muthlos allen Anſpruch auf Natureinſicht in dieſem Felde aufzugeben. Die Uebereinkunft ſo vieler Thiergattungen in einem gewiſſen gemeinſamen Schema, das nicht allein in ihrem Knochenbau, ſondern auch in der Anordnung der übrigen Theile zum Grunde zu liegen ſcheint, wo bewunderungs— würdige Einfalt des Grundriſſes durch Verkürzung einer und Verlän— gerung anderer, durch Einwickelung dieſer und Auswickelung jener Theile, eine ſo große Mannichfaltigkeit von Species hat hervorbringen können, läßt einen obgleich ſchwachen Strahl von Hoffnung ins Ge— müth fallen, daß hier wohl Etwas mit dem Princip des Mechanis— mus der Natur, ohne das es ohnedies keine Naturwiſſenſchaft ge— ben kann, auszurichten ſein möchte. Dieſe Analogie der Formen, ſo fern ſie bei aller Verſchiedenheit einem gemeinſchaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu ſein ſcheinen, verſtärkt die Vermuthung einer wirklichen Verwandtſchaft derſelben in der Erzeugung von einer gemeinſchaft— lichen Urmutter durch die ſtufenartige Annäherung einer Thiergattung zur anderen, von derjenigen an, in welcher das Princip der Zwecke am meiſten bewährt zu ſein ſcheint, nämlich dem Menſchen, bis zum Polyp, von dieſem ſogar bis zu Mooſen und Flechten, und endlich zu den niedrigſten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus welcher und ihren Kräften nach mechaniſchen Geſetzen (gleich denen, danach ſie in Kryſtallerzeugungen wirkt) die ganze Technik der Natur, die uns in organiſirten Weſen ſo unbegreiflich iſt, daß wir uns dazu ein anderes Princip zu denken ge— Kant's genealogiſche Entwickelungstheorie. 93 nöthigt glauben, abzuſtammen ſcheint. Hier ſteht es nun dem Ar— chäologen der Natur frei, aus den übrig gebliebenen Spuren ihrer älteſten Revolutionen, nach allen ihm bekannten oder gemuthmaßten Mechanismen derſelben, jene große Familie von Geſchöpfen (denn ſo müßte man ſie ſich vorſtellen, wenn die genannte, durchgän— gig zuſammenhängende Verwandtſchaft einen Grund haben ſoll) ent— ſpringen zu laſſen.“ Wenn Sie dieſe merkwürdige Stelle aus Kant's Kritik der teleo— logiſchen Urtheilskraft herausnehmen und einzeln für ſich betrachten, ſo müſſen Sie darüber erſtaunen, wie tief und klar der große Denker ſchon damals (1790!) die innere Nothwendigkeit der Abſtammungs— lehre erkannte; und ſie als den einzig möglichen Weg zur Erklärung der organiſchen Natur durch mechaniſche Geſetze, d. h. zu einer wahr— haft wiſſenſchaftlichen Erkenntniß bezeichnete. Auf Grund dieſer einen Stelle könnte man Kant geradezu neben Goethe und Lamarck als einen der erſten Begründer der Abſtammungslehre bezeichnen, und dieſer Umſtand dürfte bei dem hohen Anſehn, in welchem Kant's kritiſche Philoſophie mit vollem Rechte ſteht, vielleicht geeignet ſein, manchen Philoſophen zu Gunſten derſelben umzuſtimmen. Sobald Sie indeſſen dieſe Stelle im Zuſammenhang mit dem übrigen Ge— dankengang der „Kritik der Urtheilskraft“ betrachten, und anderen geradezu widerſprechenden Stellen gegenüber halten, zeigt ſich Ihnen deutlich, daß Kant in dieſen und einigen ähnlichen (aber ſchwächeren) Sätzen über ſich ſelbſt hinausging und ſeinen in der Biologie ge— wöhnlich eingenommenen teleologiſchen Standpunkt verließ. Selbſt unmittelbar auf jenen wörtlich angeführten, bewunde— rungswürdigen Satz folgt ein Zuſatz, welcher demſelben die Spitze abbricht. Nachdem Kant ſo eben ganz richtig die „Entſtehung der organiſchen Formen aus der rohen Materie nach mechaniſchen Ge— ſetzen (gleich denen der Kryſtallerzeugung)“, ſowie eine ſtufenweiſe Entwickelung der verſchiedenen Species durch Abſtammung von einer gemeinſchaftlichen Urmutter behauptet hatte, fügte er hinzu: „Allein er (der Archäolog der Natur, d. h. der Paläontolog) muß gleich— 94 Kant's dualiſtiſche Biologie. wohl zu dem Ende dieſer allgemeinen Mutter eine auf alle dieſe Geſchöpfe zweckmäßig geſtellte Organiſation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Producte des Thier- und Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken iſt.“ Offenbar hebt dieſer Zu— ſatz den wichtigſten Grundgedanken des vorhergehenden Satzes, daß durch die Deſcendenztheorie eine rein mechaniſche Erklärung der or— ganiſchen Natur möglich werde, vollſtändig wieder auf. Und daß dieſe teleologiſche Betrachtung der organiſchen Natur bei Kant die herrſchende war, zeigt ſchon die Ueberſchrift des merkwürdigen $. 79, welcher jene beiden widerſprechenden Sätze enthält: „Von der noth— wendigen Unterordnung des Prineips des Mechanismus unter das teleologiſche in Erklärung eines Dinges als Na— turzweck.“ Am ſchärfſten ſpricht ſich Kant gegen die mechaniſche Erklä— rung der organiſchen Natur in folgender Stelle aus (F. 74): „Es iſt ganz gewiß, daß wir die organiſirten Weſen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechaniſchen Principien der Natur nicht ein— mal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können, und zwar ſo gewiß, daß man dreiſt ſagen kann: Es iſt für Men— ſchen ungereimt, auch nur einen ſolchen Anſchlag zu faſſen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinſt ein Newton aufſtehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgeſetzen, die keine Abſicht geordnet hat, begreiflich machen werde, ſondern man muß dieſe Einſicht dem Menſchen ſchlechterdings abſprechen.“ Nun iſt aber dieſer unmögliche Newton ſiebenzig Jahre ſpäter in Dar— win wirklich erſchienen und ſeine Selectionstheorie hat die Auf— gabe thatſächlich gelöſt, deren Löſung. Kant für abſolut undenkbar erklärt hatte! Im Anſchluß an Kant und an die deutſchen Nahe mit deren Entwickelungstheorie wir uns im vorhergehenden Vor— trage beſchäftigt haben, erſcheint es gerechtfertigt, jetzt noch kurz eini- ger anderer deutſcher Naturforſcher und Philoſophen zu gedenken, welche im Laufe unſeres Jahrhunderts mehr oder minder beſtimmt Genealogiſche Anſichten von Leopold Buch. 95 gegen die herrſchenden teleologiſchen Schöpfungsvorſtellungen ſich auf— lehnten, und den mechaniſchen Grundgedanken der Abſtammungs— lehre geltend machten. Bald waren es mehr allgemeine philoſophi— ſche Betrachtungen, bald mehr beſondere empiriſche Wahrnehmungen, welche dieſe denkenden Männer auf die Vorſtellung brachten, daß die einzelnen organiſchen Species von gemeinſamen Stammformen abſtammen müßten. Unter ihnen will ich zunächſt den großen deut— ſchen Geologen Leopold Buch hervorheben. Wichtige Beobachtun— gen über die geographiſche Verbreitung der Pflanzen führten ihn in feiner trefflichen „phyſikaliſchen Beſchreibung der canariſchen Inſeln“ zu folgendem merkwürdigen Ausſpruch: „Die Individuen der Gattungen auf Continenten breiten ſich aus, entfernen ſich weit, bilden durch Verſchiedenheit der Standörter, Nah— rung und Boden Varietäten, welche, in ihrer Entfernung nie von an— deren Varietäten gekreuzt und dadurch zum Haupttypus zurückgebracht, endlich conſtant und zur eignen Art werden. Dann erreichen fie viel— leicht auf anderen Wegen auf das Neue die ebenfalls veränderte vorige Varietät, beide nun als ſehr verſchiedene und ſich nicht wieder mit einander vermiſchende Arten. Nicht ſo auf Inſeln. Gewöhnlich in enge Thäler, oder in den Bezirk ſchmaler Zonen gebannt, können ſich die Individuen erreichen und jede geſuchte Fixirung einer Varietät wieder zerſtören. Es iſt dies ungefähr ſo, wie Sonderbarkeiten oder Fehler der Sprache zuerſt durch das Haupt einer Familie, dann durch Verbreitung dieſer ſelbſt, über einen ganzen Diſtrikt einheimiſch wer— den. Iſt dieſer abgeſondert und iſolirt, und bringt nicht die ſtete Ver— bindung mit andern die Sprache auf ihre vorherige Reinheit zurück, ſo wird aus dieſer Abweichung ein Dialekt. Verbinden natürliche Hin— derniſſe, Wälder, Verfaſſung, Regierung die Bewohner des abwei⸗ chenden Diſtrikts noch enger, und trennen ſie ſie noch ſchärfer von den Nachbarn, ſo fixirt ſich der Dialekt, und es wird eine völlig verſchie— dene Sprache.“ (Ueberſicht der Flora auf den Canarien, S. 133.) Sie ſehen, daß Buch hier auf den Grundgedanken der Abſtam⸗ mungslehre durch die Erſcheinungen der Pflanzengeographie geführt 96 Genealogiſche Sprachforſchung von Auguſt Schleicher. wird, ein biologiſches Gebiet, welches in der That eine Maſſe von Beweiſen zu Gunſten derſelben liefert. Darwin hat dieſe Beweiſe in zwei beſonderen Kapiteln ſeines Werkes (dem elften und zwölften) ausführlich erörtert. Buch's Bemerkung iſt aber auch deshalb von Intereſſe, weil ſie uns auf die äußerſt lehrreiche Vergleichung der ver— ſchiedenen Sprachzweige und der Organismenarten führt, eine Ver— gleichung, welche ſowohl für die vergleichende Sprachwiſſenſchaft, als für die vergleichende Thier- und Pflanzenkunde vom größten Nutzen iſt. Gleichwie z. B. die verſchiedenen Dialekte, Mundarten, Sprach— äſte und Sprachzweige der deutſchen, ſlaviſchen, griechiſch-lateiniſchen und iraniſch-indiſchen Grundſprache von einer einzigen gemeinſchaft— lichen indogermaniſchen Urſprache abſtammen, und gleichwie ſich deren Unterſchiede durch die Anpaſſung, ihre gemeinſamen Grund— charaktere durch die Vererbung erklären, ſo ſtammen auch die ver— ſchiedenen Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Klaſſen der Wirbelthiere von einer einzigen gemeinſchaftlichen Wirbelthierform ab; auch hier iſt die Anpaſſung die Urſache der Verſchiedenheiten, die Ver— erbung die Urſache des gemeinſamen Grundcharakters. Dieſer inter— eſſante Parallelismus in der divergenten Entwickelung der Sprachfor— men und der Organismen-Formen iſt in ſehr einleuchtender Weiſe von einem unſerer erſten vergleichenden Sprachforſcher erörtert worden, von dem genialen Au guſt Schleicher, der namentlich den Stammbaum der indogermaniſchen Sprachen in der ſcharfſinnigſten Weiſe phyloge— netiſch entwickelt hat ®). Von anderen hervorragenden deutſchen Naturforſchern, die ſich mehr oder minder beſtimmt für die Deſcendenztheorie ausſprachen, und die auf ganz verſchiedenen Wegen zu derſelben hingeführt wurden, habe ich zunächſt Carl Ernſt Bär zu nennen, den großen Reforma— tor der thieriſchen Entwickelungsgeſchichte. In einem 1834 gehalte— nen Vortrage, betitelt: „Das allgemeinſte Geſetz der Natur in aller Entwickelung“ erläutert derſelbe vortrefflich, daß nur eine ganz kindi— ſche Naturbetrachtung die organiſchen Arten als bleibende und un— veränderliche Typen anſehen könne, und daß im Gegentheil dieſel— Genealogiſche Anſichten von Bär, Schleiden, Unger, V. Carus. 97 ben nur vorübergehende Zeugungsreihen ſein können, die durch Um— bildung aus gemeinſamen Stammformen ſich entwickelt haben. Die— ſelbe Anſicht begründete Bär ſpäter (1859) durch die Geſetze der geo— graphiſchen Verbreitung der Organismen. . J. M. Schleiden, welcher vor 30 Jahren hier in Jena durch ſeine ſtreng empiriſch-philoſophiſche und wahrhaft wiſſenſchaftliche Me— thode eine neue Epoche für die Pflanzenkunde begründete, erläuterte in feinen bahnbrechenden Grundzügen der wiſſenſchaftlichen Bota— nik?) die philoſophiſche Bedeutung des organiſchen Speciesbegriffes, und zeigte, daß derſelbe nur in dem allgemeinen Geſetze der Spe— cififation feinen ſubjectiven Urſprung habe. Die verſchiedenen Pflanzenarten ſind nur die ſpecificirten Producte der Pflanzenbil— dungstriebe, welche durch die verſchiedenen Combinationen der Grund— kräfte der organiſchen Materie entſtehen. Der ausgezeichnete Wiener Botaniker F. Unger wurde durch ſeine gründlichen und umfaſſenden Unterſuchungen über die ausge— ſtorbenen Pflanzenarten zu einer paläontologiſchen Entwickelungsge— ſchichte des Pflanzenreichs geführt, welche den Grundgedanken der Ab— ſtammungslehre klar ausſpricht. In ſeinem „Verſuch einer Geſchichte der Pflanzenwelt“ (1852) behauptet er die Abſtammung aller ver- ſchiedenen Pflanzenarten von einigen wenigen Stammformen, und vielleicht von einer einzigen Urpflanze, einer einfachſten Pflanzenzelle. Er zeigt, daß dieſe Anſchauungsweiſe von dem genetiſchen Zuſam— menhang aller Pflanzenformen nicht nur phyſiologiſch nothwendig, ſondern auch empiriſch begründet ſei s). Victor Carus in Leipzig that in der Einleitung zu ſeinem 1853 erſchienenen trefflichen „Syſtem der thieriſchen Morphologie” ?), welches die allgemeinen Bildungsgeſetze des Thierkörpers durch die vergleichende Anatomie und Entwickelungsgeſchichte philoſophiſch zu begründen verſuchte, folgenden Ausſpruch: „Die in den älteſten geo— logiſchen Lagern begrabenen Organismen find als die Urahnen zu be— trachten, aus denen durch fortgeſetzte Zeugung und Akkommodation Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. l 7 98 Genealogiſche Anfichten von Schaaffhauſen, Büchner. an progreſſiv ſehr verſchiedene Lebensverhältniſſe der Formenreichthum der jetzigen Schöpfung entſtand.“ In demſelben Jahre (1853) erklärte ſich der Bonner Anthropo- loge Schaaffhauſen in einem Aufſatze „über Beſtändigkeit und Umwandlung der Arten“ entſchieden zu Gunſten der Deſcendenztheo— rie. Die lebenden Pflanzen- und Thierarten ſind nach ihm die um— gebildeten Nachkommen der ausgeſtorbenen Species, aus denen ſie durch allmähliche Abänderung entſtanden ſind. Das Auseinander- weichen (die Divergenz oder Sonderung) der nächſtverwandten Arten geſchieht durch Zerſtörung der verbindenden Zwiſchenſtufen. Auch für den thieriſchen Urſprung des Menſchengeſchlechts und ſeine all— mähliche Entwickelung aus affenähnlichen Thieren, die wichtigſte Con— ſequenz der Abſtammungslehre, ſprach ſich Schaaffhauſen (1857) ſchon mit Beſtimmtheit aus. Endlich iſt von deutſchen Naturphiloſophen noch beſonders Louis Büchner hervorzuheben, welcher in ſeinem berühmten Buche „Kraft und Stoff“ 1855 ebenfalls die Grundzüge der Deſcendenztheorie ſelbſt— ſtändig entwickelte, und zwar vorzüglich auf Grund der unwiderleglichen empiriſchen Zeugniſſe, welche uns die paläontologiſche und die indivi— duelle Entwickelung der Organismen, ſowie ihre vergleichende Anato— mie, und der Parallelismus dieſer Entwickelungsreihen liefert. Büch— ner zeigte ſehr einleuchtend, daß ſchon hieraus eine Entwickelung der verſchiedenen organiſchen Species aus gemeinſamen Stammfors men nothwendig folge, und daß die Entſtehung dieſer urſprüngli— chen Stammformen nur durch Urzeugung denkbar ſei 10). Von den deutſchen Naturphiloſophen wenden wir uns nun zu den franzöſiſchen, welche ebenfalls ſeit dem Beginne unſeres Jahrhun— derts die Entwickelungstheorie vertraten. An der Spitze der franzöſiſchen Naturphiloſophie ſteht Jean Lamarck, welcher in der Geſchichte der Abſtammungslehre neben Darwin und Goethe den erſten Platz einnimmt. Ihm wird der unſterbliche Ruhm bleiben, zum erſten Male die Deſcendenztheorie als ſelbſtſtändige wiſſenſchaftliche Theorie erſten Ranges durchgeführt Lamarck's zoologiſche Philoſophie. 99 und als die naturphiloſophiſche Grundlage der ganzen Biologie feſt— geſtellt zu haben. Obwohl Lamarck bereits 1744 geboren wurde, begann er doch mit Veröffentlichung ſeiner Theorie erſt im Beginn unſeres Jahrhunderts, im Jahre 1801, und begründete dieſelbe erſt ausführlicher 1809, in feiner klaſſiſchen „Philosophie zoologique“ ?). Dieſes bewunderungswürdige Werk iſt die erſte zuſammenhängende und ſtreng bis zu allen Conſequenzen durchgeführte Darſtellung der Abſtammungslehre. Durch die rein mechaniſche Betrachtungsweiſe der organiſchen Natur und die ſtreng philoſophiſche Begründung von deren Nothwendigkeit erhebt ſich Lamarck's Werk weit über die vor— herrſchend dualiſtiſchen Anſchauungen ſeiner Zeit, und bis auf Dar— win's Werk, welches gerade ein halbes Jahrhundert ſpäter erſchien, finden wir kein zweites, welches wir in dieſer Beziehung der Philoso- phie zoologique an die Seite ſetzen könnten. Wie weit dieſelbe ihrer Zeit vorauseilte, geht wohl am beſten daraus hervor, daß ſie von den Meiſten gar nicht verſtanden und fünfzig Jahre hindurch todtgeſchwie— gen wurde. Lamarck's größter Gegner, Cuvier, erwähnt in feinem Bericht über die Fortſchritte der Naturwiſſenſchaften, in welchem die unbedeutendſten anatomiſchen Unterſuchungen Aufnahme fanden, die⸗ ſes epochemachende Werk mit keinem Worte. Auch Goethe, welcher ſich ſo lebhaft für die franzöſiſche Naturphiloſophie, für „die Gedan— ken der verwandten Geiſter jenſeits des Rheins“, intereſſirte, gedenkt La marck's nirgends, und ſcheint die Philosophie zoologique gar nicht gekannt zu haben. Den hohen Ruf, welchen Lamarck ſich als Naturforſcher erwarb, verdankt derſelbe nicht ſeinem höchſt bedeuten— den allgemeinen Werke, ſondern zahlreichen ſpeciellen Arbeiten über niedere Thiere, insbeſondere Mollusken, ſowie einer ausgezeichneten „Naturgeſchichte der wirbelloſen Thiere“, welche 1815 — 1822 in ſie— ben Bänden erſchien. Der erſte Band dieſes berühmten Werkes (1815) enthält in der allgemeinen Einleitung ebenfalls eine ausführliche Dar— ftellung feiner Abſtammungslehre. Von der ungemeinen Bedeutung der Philosophie zoologique kann ich Ihnen vielleicht keine beſſere — * 1 100 Lamarck's moniſtiſche Entwickelungstheorie. Vorſtellung geben, als wenn ich Ihnen daraus einige der wichtigſten Sätze wörtlich anführe: „Die ſyſtematiſchen Eintheilungen, die Klaſſen, Ordnungen, Fa— milien, Gattungen und Arten, ſowie deren Benennungen ſind will— kürliche Kunſterzeugniſſe des Menſchen. Die Arten oder Species der Organismen ſind von ungleichem Alter, nach einander entwickelt und zeigen nur eine relative, zeitweilige Beſtändigkeit; aus Varietäten ge— hen Arten hervor. Die Verſchiedenheit in den Lebensbedingungen wirkt verändernd auf die Organiſation, die allgemeine Form und die Theile der Thiere ein, ebenſo der Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe. Im erſten Anfang ſind nur die allereinfachſten und niedrig— ſten Thiere und Pflanzen entſtanden und erſt zuletzt diejenigen von der höchſt zuſammengeſetzten Organiſation. Der Entwickelungsgang der Erde und ihrer organiſchen Bevölkerung war ganz continuirlich, nicht durch gewaltſame Revolution unterbrochen. Das Leben iſt nur ein phyſikaliſches Phänomen. Alle Lebenserſcheinungen beruhen auf mechaniſchen, auf phyſikaliſchen und chemiſchen Urſachen, die in der Beſchaffenheit der organiſchen Materie ſelbſt liegen. Die einfach— ſten Thiere und die einfachſten Pflanzen, welche auf der tiefſten Stufe der Organiſationsleiter ſtehen, ſind entſtanden und entſtehen noch heute durch Urzeugung (Generatio spontanea). Alle lebendigen Na- turkörper oder Organismen ſind denſelben Naturgeſetzen, wie die leb— loſen Naturkörper oder die Anorgane unterworfen. Die Ideen und Thätigkeiten des Verſtandes ſind Bewegungserſcheinungen des Cen— tralnervenſyſtems. Der Wille iſt in Wahrheit niemals frei. Die Vernunft iſt nur ein höherer Grad von Entwickelung und Verbin— dung der Urtheile.“ Das ſind nun in der That erſtaunlich kühne, großartige und weitreichende Anſichten, welche Lamarck vor 60 Jahren in dieſen Sätzen niederlegte, und zwar zu einer Zeit, in welcher deren Begrün— dung durch maſſenhafte Thatſachen nicht entfernt ſo, wie heutzutage, möglich war. Sie ſehen, daß Lamarck's Werk eigentlich ein voll— ſtändiges, ſtreng moniſtiſches (mechaniſches) Naturſyſtem iſt, daß alle Lamarck's Anſicht von der Anpaſſung und der Vererbung. 101 wichtigen allgemeinen Grundſätze der moniſtiſchen Biologie bereits von ihm vertreten werden: Die Einheit der wirkenden Urſachen in der organiſchen und anorganiſchen Natur, der letzte Grund dieſer Urſachen in den chemiſchen und phyſikaliſchen Eigenſchaften der Materie, der Mangel einer beſonderen Lebenskraft oder einer organiſchen Endur— ſache; die Abſtammung aller Organismen von einigen wenigen, höchſt einfachen Stammformen oder Urweſen, welche durch Urzeugung aus anorganiſchen Materien entſtanden ſind; der zuſammenhängende Ver— lauf der ganzen Erdgeſchichte, der Mangel der gewaltſamen und to— talen Erdrevolutionen, und überhaupt die Undenkbarkeit jedes Wun— ders, jedes übernatürlichen Eingriffs in den natürlichen Entwickelungs— gang der Materie. Daß Lamarck's bewunderungswürdige Geiſtesthat faſt gar keine Anerkennung fand, liegt theils in der ungeheuren Weite des Rieſenſchritts, mit welchem er dem folgenden halben Jahrhundert vor— auseilte, theils aber auch in der mangelhaften empiriſchen Begrün— dung derſelben, und in der oft etwas einſeitigen Art ſeiner Beweis— führung. Als die nächſten mechaniſchen Urſachen, welche die beſtän— dige Umbildung der organiſchen Formen bewirken, erkennt Lamarck ganz richtig die Verhältniſſe der Anpaſſung an, während er die Formähnlichkeit der verſchiedenen Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w. mit vollem Rechte auf ihre Blutsverwandtſchaft zurückführt, alſo durch die Vererbung erklärt. Die Anpaſſung beſteht nach ihm darin, daß die beſtändige langſame Veränderung der Außenwelt eine entſprechende Veränderung in den Thätigkeiten und dadurch auch weiter in den For— men der Organismen bewirkt. Das größte Gewicht legt er dabei auf die Wirkung der Gewohnheit, auf den Gebrauch und Nichtge— brauch der Organe. Allerdings iſt dieſer, wie Sie ſpäter ſehen wer—⸗ den, für die Umbildung der organiſchen Formen von der höchſten Be— deutung. Allein in der Weiſe, wie Lamarck hieraus allein oder doch vorwiegend die Veränderung der Formen erklären wollte, iſt das meiſtens doch nicht möglich. Er ſagt z. B., daß der lange Hals der Giraffe entſtanden ſei durch das beſtändige Hinaufrecken des Halſes 102 Lamarck's Anficht von der Entwickelung des Menſchengeſchlechts. nach hohen Bäumen, und das Beſtreben, die Blätter von deren Aeſten zu pflücken; da die Giraffe meiſtens in trockenen Gegenden lebt, wo nur das Laub der Bäume ihr Nahrung gewährt, war ſie zu dieſer Thätigkeit gezwungen. Ebenſo ſind die langen Zungen der Spechte, Colibris und Ameiſenfreſſer durch die Gewohnheit entſtanden, ihre Nahrung aus engen, ſchmalen und tiefen Spalten oder Kanälen her— auszuholen. Die Schwimmhäute zwiſchen den Zehen der Schwimm— füße bei Fröſchen und anderen Waſſerthieren ſind lediglich durch das fortwährende Bemühen zu ſchwimmen, durch das Schlagen der Füße in das Waſſer, durch die Schwimmbewegungen ſelbſt entſtanden. Durch Vererbung auf die Nachkommen wurden dieſe Gewohnheiten befeſtigt und durch weitere Ausbildung derſelben ſchließlich die Organe ganz umgebildet. So richtig im Ganzen dieſer Grundgedanke iſt, ſo legt doch Lamarck zu ausſchließlich das Gewicht auf die Gewohn— heit (Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe), allerdings eine der wichtigſten, aber nicht die einzige Urſache der Formveränderung. Dies kann uns jedoch nicht hindern, anzuerkennen, daß Lamarck die Wechſelwirkung der beiden organiſchen Bildungstriebe, der Anpaſ— ſung und Vererbung, ganz richtig begriff. Nur fehlte ihm dabei das äußerſt wichtige Princip der „natürlichen Züchtung im Kampfe um das Daſein“, mit welchem Darwin uns erſt 50 Jahre ſpäter be— kannt machte. Als ein beſonderes Verdienſt Lamarck's iſt nun noch hervor— zuheben, daß er bereits verſuchte, die Entwickelung des Men— ſchengeſchlechts aus anderen, zunächſt affenartigen Säugethieren darzuthun. Auch hier war es wieder in erſter Linie die Gewohnheit, der er den umbildenden, veredelnden Einfluß zuſchrieb. Er nahm alſo an, daß die niederſten, urſprünglichen Urmenſchen entſtanden ſeien aus den menſchenähnlichen Affen, indem die letzteren ſich an— gewöhnt hätten, aufrecht zu gehen. Die Erhebung des Rumpfes, das beſtändige Streben, ſich aufrecht zu erhalten, führte zunächſt zu einer Umbildung der Gliedmaßen, zu einer ſtärkeren Differenzirung oder Sonderung der vorderen und hinteren Extremitäten, welche mit Naturphiloſophie von Geoffroy S. Hilaire. 103 Recht als einer der weſentlichſten Unterſchiede zwiſchen Menſchen und Affen gilt. Hinten entwickelten ſich Waden und platte Fußſohlen, vorn Greifarme und Hände. Der aufrechte Gang hatte zunächſt eine freiere Umſchau über die Umgebung zur Folge, und damit einen be— deutenden Fortſchritt in der geiſtigen Entwickelung. Die Menſchen— affen erlangten dadurch bald ein großes Uebergewicht über die ande— ren Affen, und weiterhin überhaupt über die umgebenden Organis— men. Um die Herrſchaft über dieſe zu behaupten, thaten ſie ſich in Geſellſchaften zuſammen, und es entwickelte ſich, wie bei allen geſellig lebenden Thieren, das Bedürfniß einer Mittheilung ihrer Beſtrebungen und Gedanken. So entſtand das Bedürfniß der Sprache, deren an— fangs rohe, ungegliederte Laute bald mehr und mehr in Verbindung geſetzt, ausgebildet und artikulirt wurden. Die Entwickelung der ar— tikulirten Sprache war nun wieder der ſtärkſte Hebel für eine weiter fortſchreitende Entwickelung des Organismus und vor Allem des Ge— hirns, und ſo verwandelten ſich allmählich und langſam die Affen— menſchen in echte Menſchen. Die wirkliche Abſtammung der nieder— ſten und roheſten Urmenſchen von den höchſt entwickelten Affen wurde alſo von Lamarck bereits auf das beſtimmteſte behauptet, und durch eine Reihe der wichtigſten Beweisgründe unterſtützt. Als der bedeutendſte der franzöſiſchen Naturphiloſophen gilt ge— wöhnlich nicht Lamarck, ſondern Etienne Geoffroy St. Hi— laire (der Aeltere), geb. 1771, derjenige, für welchen auch Goethe ſich beſonders intereſſirte, und den wir oben bereits als den ent— ſchiedenſten Gegner Cuvier's kennen gelernt haben. Er entwickelte ſeine Ideen von der Umbildung der organiſchen Species bereits gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, veröffentlichte dieſelben aber erſt im Jahre 1828, und vertheidigte ſie dann in den folgenden Jahren, be— ſonders 1830, tapfer gegen Cuvier. Geoffroy S. Hilaire nahm im Weſentlichen die Deſcendenztheorie Lamarck's an, glaubte jedoch, daß die Umbildung der Thier- und Pflanzenarten weniger durch die eigene Thätigkeit des Organismus, (durch Gewohnheit, Uebung, Ge— brauch oder Nichtgebrauch der Organe) bewirkt werde, als vielmehr 104 Entwickelungstheorie von Geoffroy S. Hilaire. durch den „Monde ambiant“, d. h. durch die beſtändige Verände⸗ rung der Außenwelt, insbeſondere der Atmoſphäre. Er faßt den Organismus gegenüber den Lebensbedingungen der Außenwelt mehr paſſiv oder leidend auf, Lamarck dagegen mehr activ oder handelnd. Geoffroy glaubt z. B., daß bloß durch Verminderung der Kohlen— ſäure in der Atmoſphäre aus eidechſenartigen Reptilien die Vögel entſtanden ſeien, indem durch den größeren Sauerſtoffgehalt der Athmungsprozeß lebhafter und energiſcher wurde. Dadurch entſtand eine höhere Bluttemperatur, eine geſteigerte Nerven- und Muskel— thätigkeit, aus den Schuppen der Reptilien wurden die Federn der Vögel u. ſ. w. Auch dieſer Vorſtellung liegt ein richtiger Gedanke zu Grunde. Aber wenn auch gewiß die Veränderung der Atmoſphäre, wie die Veränderung jeder andern äußern Exiſtenzbedingung, auf den Organismus direkt oder indirekt umgeſtaltend einwirkt, ſo iſt dennoch dieſe einzelne Urſache an ſich viel zu unbedeutend, um ihr ſolche Wir— kungen zuzuſchreiben. Sie iſt ſelbſt unbedeutender, als die von La— marck zu einſeitig betonte Uebung und Gewohnheit. Das Haupt— verdienſt von Geoffroy beſteht darin, dem mächtigen Einfluſſe von Cuvier gegenüber die einheitliche Naturanſchauung, die Einheit der organiſchen Formbildung und den tiefen genealogiſchen Zuſammen— hang der verſchiedenen organiſchen Geſtalten geltend gemacht zu ha— ben. Die berühmten Streitigkeiten zwiſchen den beiden großen Geg— nern in der Pariſer Akademie, insbeſondere die heftigen Confliete am 22. Februar und am 19. Juli 1830, an denen Goethe den leben— digſten Antheil nahm, habe ich bereits in dem vorhergehenden Vor— trage erwähnt (S. 77, 78). Damals blieb Cuvier der anerkannte Sieger, und ſeit jener Zeit iſt in Frankreich ſehr Wenig mehr für die weitere Entwickelung der Abſtammungslehre, für den Ausbau einer moniſtiſchen Entwickelungstheorie geſchehen. Offenbar iſt dies vor- zugsweiſe dem hinderlichen Einfluſſe zuzuſchreiben, welchen Cuvier's große Autorität ausübte. Noch heute ſind die meiſten franzöſiſchen Naturforscher Schüler und blinde Anhänger Cu vier's. In keinem wiſſenſchaftlich gebildeten Lande Europa's hat Darwin's Lehre ſo Anhänger der Deſcendenztheorie in England. 105 wenig gewirkt und iſt ſo wenig verſtanden worden, wie in Frankreich. Die Akademie der Wiſſenſchaften in Paris hat ſogar den Vorſchlag, Darwin zu ihrem Mitgliede zu ernennen, ausdrücklich verworfen, und damit ſich ſelbſt dieſer höchſten Ehre für unwürdig erklärt. Unter den neuern franzöſiſchen Naturforſchern ſind nur noch zwei angeſehene Botaniker hervorzuheben, Naudin (1852) und Lecoq (1854), welche ſich ſchon vor Darwin zu Gunſten der Veränderlichkeit und Um— bildung der Arten auszuſprechen wagten. Nachdem wir nun die älteren Verdienſte der deutſchen und fran— zöſiſchen Naturphiloſophie um die Begründung der Abſtammungslehre erörtert haben, wenden wir uns zu dem dritten großen Kulturlande Europa's, zu dem freien England, welches ſeit dem Jahre 1859 der eigentliche Ausgangsheerd für die weitere Ausbildung und die defini— tive Feſtſtellung der Entwickelungstheorie geworden iſt. Im Anfange unſeres Jahrhunderts haben die Engländer, welche jetzt ſo lebendig an jedem großen wiſſenſchaftlichen Fortſchritt der Menſchheit Theil nehmen, und die ewigen Wahrheiten der Naturwiſſenſchaft in erſter Linie fördern, an der feſtländiſchen Naturphiloſophie und an deren bedeutendſtem Fortſchritt, der Deſcendenztheorie, nur wenig Antheil genommen. Faſt der einzige ältere engliſche Naturforſcher, den wir hier zu nennen haben, iſt Erasmus Darwin, der Großvater des Reformators der Deſcendenztheorie. Er veröffentlichte im Jahre 1794 unter dem Titel „Zoonomia“ ein naturphiloſophiſches Werk, in wel— chem er ganz ähnliche Anſichten, wie Goethe und Lamarck, aus— ſpricht, ohne jedoch von dieſen Männern damals irgend Etwas ge— wußt zu haben. Die Deſcendenztheorie lag offenbar ſchon damals in der Luft. Auch Erasmus Darwin legt großes Gewicht auf die Umgeſtaltung der Thier- und Pflanzenarten durch ihre eigene Lebens— thätigkeit, durch die Angewöhnung an veränderte Exiſtenzbedingungen u. ſ. w. Sodann ſpricht ſich im Jahre 1822 W. Herbert dahin aus, daß die Arten oder Species der Thiere und Pflanzen Nichts weiter ſeien, als beſtändig gewordene Varietäten oder Spielarten. Ebenſo erklärte 1826 Grant in Edinburg, daß neue Arten durch fortdauernde 106 Anhänger der Deſcendenztheorie in England. Umbildung aus beſtehenden Arten hervorgehen. 1841 behauptete Freke, daß alle organiſchen Weſen von einer einzigen Urform ab— ſtammen müßten. Ausführlicher und in ſehr klarer philoſophiſcher Form bewies 1852 Herbert Spencer die Nothwendigkeit der Ab— ſtammungslehre und begründete dieſelbe näher in ſeinen 1858 er— ſchienenen vortrefflichen „Essays“ und in den ſpäter veröffentlichten „Principles of Biology“ #5). Derſelbe hat zugleich das große Ver- dienſt, die Entwickelungstheorie auf die Pſychologie angewandt und gezeigt zu haben, daß auch die Seelenthätigkeiten und die Geiſteskräfte nur ſtufenweiſe erworben und allmählich entwickelt werden konnten. Endlich iſt noch hervorzuheben, daß 1859 der Erſte unter den eng— liſchen Zoologen, Huxley, die Deſcendenztheorie als die einzige Schöpfungshypotheſe bezeichnete, welche mit der wiſſenſchaftlichen Phyſiologie vereinbar ſei. In demſelben Jahre erſchien die „Ein— leitung in die Tasmaniſche Flora“, worin der berühmte engliſche Botaniker Hooker die Deſcendenztheorie annimmt und durch wich— tige eigene Beobachtungen unterſtützt. Sämmtliche Naturforſcher und Philoſophen, welche Sie in die— ſer kurzen hiſtoriſchen Ueberſicht als Anhänger der Entwickelungstheo— rie kennen gelernt haben, gelangten im beſten Falle zu der Anſchauung, daß alle verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten, die zu irgend einer Zeit auf der Erde gelebt haben und noch jetzt leben, die allmählich veränderten und umgebildeten Nachkommen ſind von einer einzigen, oder von einigen wenigen, urſprünglichen, höchſt einfachen Stamm— formen, welche letztere einſt durch Urzeugung (Generatio spontanea) aus anorganiſcher Materie entſtanden. Aber keiner von jenen Natur- philoſophen gelangte dazu, dieſen Grundgedanken der Abſtammungs— lehre urſächlich zu begründen, und die Umbildung der organiſchen Species durch den wahren Nachweis ihrer mechaniſchen Urſachen wirk— lich zu erklären. Dieſe ſchwierigſte Aufgabe vermochte erſt Charles Darwin zu löſen, und hierin liegt die weite Kluft, welche den— ſelben von ſeinen Vorgängern trennt. Das außerordentliche Verdienſt Charles Darwin's iſt nach Doppeltes Verdienſt von Charles Darwin. 107 meiner Anſicht ein doppeltes: er hat erſtens die Abſtammungslehre, deren Grundgedanken ſchon Goethe und Lamarck klar ausſprachen, viel umfaſſender entwickelt, viel eingehender nach allen Seiten verfolgt, und viel ſtrenger im Zuſammenhang durchgeführt, als alle ſeine Vor— gänger; und er hat zweitens eine neue Theorie aufgeſtellt, welche uns die natürlichen Urſachen der organiſchen Entwickelung, die wirkenden Urſachen (Causae efficientes) der organiſchen Formbildung, der Ver— änderungen und Umformungen der Thier- und Pflanzenarten ent— hüllt. Dieſe Theorie iſt es, welche wir die Züchtungslehre oder Se— lectionstheorie, oder genauer die Theorie von der natürlichen Züch— tung (Selectio naturalis) nennen. Wenn Sie bedenken, daß (abgefehen von den wenigen vorher angeführten Ausnahmen) die geſammte Biologie vor Darwin den entgegengeſetzten Anſchauungen huldigte, und daß faſt bei allen Zoo— logen und Botanikern die abſolute Selbſtſtändigkeit der organiſchen Species als ſelbſtverſtändliche Vorausſetzung aller Formbetrachtungen galt, ſo werden ſie jenes doppelte Verdienſt Darwin's gewiß nicht gering anſchlagen. Das falſche Dogma von der Beſtändigkeit und unabhängigen Erſchaffung der einzelnen Arten hatte eine ſo hohe Auto— rität und eine ſo allgemeine Geltung gewonnen, und wurde außer— dem durch den trügenden Augenſchein bei oberflächlicher Betrachtung ſo ſehr begünſtigt, daß wahrlich kein geringer Grad von Muth, Kraft und Verſtand dazu gehörte, ſich reformatoriſch gegen jenes allmächtige Dogma zu erheben und das künſtlich darauf errichtete Lehrgebäude zu zertrümmern. Außerdem brachte aber Darwin noch den neuen und höchſt wichtigen Grundgedanken der „natürlichen Züchtung“ zu Lamarck's und Goethe's Abſtammungslehre hinzu. Man muß dieſe beiden Punkte ſcharf unterſcheiden, — freilich geſchieht es gewöhnlich nicht, — man muß ſcharf unterſcheiden erſtens die Abſtammungslehre oder Deſeendenztheorie von Lamarck, welche bloß behauptet, daß alle Thier- und Pflanzenarten von ge— meinſamen, einfachſten, ſpontan entſtandenen Urformen abſtammen — und zweitens die Züchtungslehre oder Selectionstheorie von 108 Doppeltes Verdienſt von Charles Darwin. Darwin, welche uns zeigt, warum dieſe fortſchreitende Umbildung der organiſchen Geſtalten ſtattfand, welche mechaniſch wirkenden Ur- ſachen die ununterbrochene Neubildung und immer größere Mannich— faltigkeit der Thiere und Pflanzen bedingen. Eine gerechte Würdigung kann Darwin's unſterbliches Ver— dienſt erſt ſpäter erwarten, wenn die Entwickelungstheorie, nach Ueber— windung aller entgegengeſetzten Schöpfungstheorien, als das oberſte Erklärungsprincip der Anthropologie, und dadurch aller anderen Wiſ— ſenſchaften, anerkannt ſein wird. Gegenwärtig, wo in dem heiß ent⸗ brannten Kampfe um die Wahrheit Darwin's Name den Anhängern der natürlichen Entwickelungstheorie als Parole dient, wird ſein Ver— dienſt in entgegengeſetzter Richtung verkannt, indem die einen es eben— ſo überſchätzen, als es die anderen herabſetzen. Ueberſchätzt wird Darwin's Verdienſt, wenn man ihn als den Begründer der Deſcendenztheorie oder gar der geſammten Entwicke— lungstheorie bezeichnet. Wie Sie aus der hiſtoriſchen Darſtellung die— ſes und der vorhergehenden Vorträge bereits entnommen haben, iſt die Entwickelungstheorie als ſolche nicht neu; alle Naturphiloſophen, welche ſich nicht dem blinden Dogma einer übernatürlichen Schöpfung gebunden überliefern wollten, mußten eine natürliche Entwickelung annehmen. Aber auch die Deſcendenztheorie, als der umfaſſende bio— logiſche Theil der univerſalen Entwickelungstheorie, wurde von La— marck bereits ſo klar ausgeſprochen, und bis zu den wichtigſten Con— ſequenzen ausgeführt, daß wir ihn als den eigentlichen Begründer der— ſelben verehren müſſen. Daher darf nicht die Deſcendenztheorie als Darwinismus bezeichnet werden, ſondern nur die Selectionstheorie. Dieſe letztere iſt aber an ſich von ſolcher Bedeutung, daß man ihren Werth kaum hoch genug anſchlagen kann. Unterſchätzt wird Darwin's Verdienſt natürlich von allen feinen Gegnern. Doch kann man von wiſſenſchaftlichen Gegnern deſſelben, die durch gründliche biologiſche Bildung zur Abgabe eines Urtheils legitimirt wären, eigentlich nicht mehr reden. Denn unter allen gegen Darwin und die Deſcendenztheorie veröffentlichten Schrif— Agaſſiz's Oppofition gegen den Darwinismus. 109 ten kann mit Ausnahme derjenigen von Agaſſiz keine einzige An— ſpruch überhaupt auf Berückſichtigung, geſchweige denn Widerlegung erheben; ſo offenbar ſind ſie alle entweder ohne gründliche Kennt— niß der biologiſchen Thatſachen, oder ohne klares philoſophiſches Ver— ſtändniß derſelben geſchrieben. Um die Angriffe von Theologen und anderen Laien aber, die überhaupt Nichts von der Natur wiſſen, brauchen wir uns nicht weiter zu kümmern. Der einzige hervorragende wiſſenſchaftliche Gegner, der jetzt noch Darwin und der ganzen Entwickelungstheorie gegenüberſteht, deſ— ſen principielle Oppoſition aber freilich auch eigentlich nur als phi— loſophiſche Kurioſität Beachtung verdient, iſt Louis Agaſſiz. In der 1869 in Paris erſchienenen franzöſiſchen Ueberſetzung ſeines vor— her von uns betrachteten „Essay on classification“ 5), hat Agaſſiz ſeinen ſchon früher vielfach geäußerten Gegenſatz gegen den „Dar— winismus“ in die entſchiedenſte Form gebracht. Er hat dieſer Ueber— ſetzung einen beſonderen, 16 Seiten langen Abſchnitt angehängt, welcher den Titel führt: „Le Darwinisme Classification de Haeckel.“ In dieſem ſonderbaren Capitel ſtehen die wun— derlichſten Dinge zu leſen, wie z. B. „die Darwin'ſche Idee iſt eine Conception a priori. — Der Darwinismus iſt eine Traveſtie der Thatſachen. — Die Wiſſenſchaft würde auf die Rechte verzichten, die ſie bisher auf das Vertrauen der ernſten Geiſter beſeſſen hat, wenn dergleichen Skizzen als die Anzeichen eines wahren Fortſchrittes auf— genommen würden!“ — Die Krone ſetzt aber der ſeltſamen Pole— mik folgender Satz auf: „Der Darwinismus ſchließt faſt die ganze Maſſe der erworbenen Kenntniſſe aus, um nur das zurückzubehalten und ſich zu aſſimiliren, was ſeiner Doctrin dienen kann!“ Das heißt denn doch die ganze Sachlage vollſtändig auf den Kopf ſtellen! Der Biologe, der die Thatſachen kennt, muß über den Muth erſtaunen, mit dem Agaſſiz ſolche Sätze ausſpricht, Sätze, an denen kein wahrer Buchſtabe iſt, und die er ſelbſt nicht glauben kann! Die unerſchütterliche Stärke der Deſcendenztheorie liegt ge— rade darin, daß ſämmtliche biologiſche Thatſachen eben nur durch 110 Agaſſiz's Oppofition gegen den Darwinismus. ſie erklärbar ſind, ohne ſie dagegen unverſtändliche Wunder bleiben. Alle unſere „erworbenen Kenntniſſe“ in der vergleichenden Anatomie und Phyſiologie, in der Embryologie und Paläontologie, in der Lehre von der geographiſchen und topographiſchen Verbreitung der Organismen u. ſ. w., ſie alle ſind unwiderlegliche Zeugniſſe für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. Ich habe in meiner generellen Morphologie +) und beſonders im ſechſten Buche derſelben (in der generellen Phylogenie) den „Essay on classification“ von Agaſſiz in allen weſentlichen Punkten ein— gehend widerlegt. In meinem 24ſten Kapitel habe ich demjenigen Abſchnitte, den Agaſſiz ſelbſt für den wichtigſten hält (über die Gruppenſtufen oder Kategorien des Syſtems) eine ſehr ausführliche und ſtreng wiſſenſchaftliche Erörterung gewidmet, und gezeigt, daß dieſer ganze Abſchnitt ein reines Luftſchloß, ohne jede Spur von rea— ler Begründung iſt. Agaſſiz hütet ſich aber wohl, auf dieſe Wider— legung irgendwie einzugehen, wie er ja auch nicht im Stande iſt, irgend etwas Stichhaltiges dagegen vorzubringen. Er kämpft nicht mit Beweisgründen, ſondern mit Phraſen! Eine derartige Gegner— ſchaft wird aber den vollſtändigen Sieg der Entwickelungstheorie nicht aufhalten, ſondern nur beſchleunigen! Sechſter Vortrag. Entwidelungstheorie von Lyell und Darwin. Charles Lyell's Grundſätze der Geologie. Seine natürliche Entwickelungsge— ſchichte der Erde. Entſtehung der größten Wirkungen durch Summirung der klein— ſten Urſachen. Unbegrenzte Länge der geologiſchen Zeiträume. Lyell's Widerlegung der Cuvierſchen Schöpfungsgeſchichte. Begründung des ununterbrochenen Zuſam— menhangs der geſchichtlichen Entwickelung durch Lyell und Darwin. Biographiſche Notizen über Charles Darwin. Seine wiſſenſchaftlichen Werke. Seine Korallen- rifftheorie. Entwickelung der Selectionstheorie. Ein Brief von Darwin. Gleich- zeitige Veröffentlichung der Selectionstheorie von Charles Darwin und Alfred Wallace. Darwin's Studium der Hausthiere und Culturpflanzen. Andreas Wag- ner's Anſicht von der beſonderen Schöpfung der Culturorganismen für den Men⸗ ſchen. Der Baum des Erkenntniſſes im Paradies. Vergleichung der wilden und der Culturorganismen. Darwin's Studium der Haustauben. Bedeutung der Tau⸗ benzucht. Gemeinſame Abſtammung aller Taubenraſſen. Meine Herren! In den letzten drei Jahrzehnten, welche vor dem Erſcheinen von Darwin's Werk verfloſſen, vom Jahre 1830 bis 1859, blieben in den organiſchen Naturwiſſenſchaften die Schö— pfungsvorſtellungen durchaus herrſchend, welche von Cuvier einge— führt waren. Man bequemte fih zu der unwiſſenſchaftlichen An- nahme, daß im Verlaufe der Erdgeſchichte eine Reihe von unerklär— lichen Erdrevolutionen periodiſch die ganze Thier- und Pflanzenwelt vernichtet habe, und daß am Ende jeder Revolution, beim Beginn einer neuen Periode, eine neue, vermehrte und verbeſſerte Auflage der organiſchen Bevölkerung erſchienen ſei. Trotzdem die Anzahl dieſer 112 Nachhaltiger Einfluß von Cuvier's Schöpfungshypotheſe. Schöpfungsauflagen durchaus ſtreitig und in Wahrheit gar nicht feſt— zuſtellen war, trotzdem die zahlreichen Fortſchritte, welche in allen Ge— bieten der Zoologie und Botanik während dieſer Zeit gemacht wurden, auf die Unhaltbarkeit jener bodenloſen Hypotheſe Cuvier's und auf die Wahrheit der natürlichen Entwickelungstheorie Lamarck's immer dringender hinwieſen, blieb dennoch die erſtere faſt allgemein bei den Biologen in Geltung. Dies iſt vor Allem der hohen Autorität zuzu— ſchreiben, welche ſich Cuvier erworben hatte, und es zeigt ſich hier wieder ſchlagend, wie ſchädlich der Glaube an eine beſtimmte Autori— tät dem Entwickelungsleben der Menſchen wird, die Autorität, von der Goethe einmal treffend jagt: daß ſie im Einzelnen verewigt, was einzeln vorübergehen ſollte, daß ſie ablehnt und an ſich vorüber— gehen läßt, was feſtgehalten werden ſollte, und daß ſie hauptſächlich Schuld iſt, wenn die Menſchheit nicht vom Flecke kommt. Nur durch das große Gewicht von Cuvier's Autorität, und durch die gewaltige Macht der menſchlichen Trägheit, welche ſich ſchwer entſchließt, von dem breitgetretenen Wege der alltäglichen Vorſtellun— gen abzugehen, und neue, noch nicht bequem gebahnte Pfade zu be— treten, läßt es ſich begreifen, daß Lamarck's Deſcendenztheorie erſt 1859 zur Geltung gelangte, nachdem Darwin ihr ein neues Fun— dament gegeben hatte. Der empfängliche Boden für dieſelbe war längſt vorbereitet, ganz beſonders durch das Verdienſt eines anderen engliſchen Naturforſchers, Charles Lyell, auf deſſen hohe Bedeu— tung für die „natürliche Schöpfungsgeſchichte“ wir hier nothwendig einen Blick werfen müſſen. Unter dem Titel: Grundſätze der Geologie (Principles of geology) 11) veröffentlichte Charles Lyell 1830 ein Werk, welches die Geologie, die Entwickelungsgeſchichte der Erde, von Grund aus umgeſtaltete, und dieſelbe in ähnlicher Weiſe reformirte, wie 30 Jahre ſpäter Darwin's Werk die Biologie. Lyell's epochemachendes Buch, welches Cuvier's Schöpfungshypotheſe an der Wurzel zer⸗ ſtörte, erſchien in demſelben Jahre, in welchem Cuvier ſeine großen Triumphe über die Naturphiloſophie feierte, und ſeine Oberherrſchaft Lyell's natürliche Entwickelungsgeſchichte der Erde. 113 über das morphologiſche Gebiet auf drei Jahrzehnte hinaus befeſtigte. Während Cuvier durch ſeine künſtliche Schöpfungshypotheſe und die damit verbundene Kataſtrophen-Theorie einer natürlichen Entwicke— lungstheorie geradezu den Weg verlegte und den Faden der natür— lichen Erklärung abſchnitt, brach Lyell derſelben wieder freie Bahn, und führte einleuchtend den geologiſchen Beweis, daß jene dualiſtiſchen Vorſtellungen Cuvier's ebenſowohl ganz unbegründet, als auch ganz überflüſſig ſeien. Er wies nach, daß diejenigen Veränderungen der Erdoberfläche, welche noch jetzt unter unſern Augen vor ſich gehen, vollkommen hinreichend ſeien, Alles zu erklären, was wir von der Entwickelung der Erdrinde überhaupt wiſſen, und daß es vollſtändig überflüſſig und unnütz ſei, in räthſelhaften Revolutionen die uner— klärlichen Urſachen dafür zu ſuchen. Er zeigte, daß man weiter Nichts zu Hülfe zu nehmen brauche, als außerordentlich lange Zeiträume, um die Entſtehung des Baues der Erdrinde auf die einfachſte und natür— lichſte Weiſe aus denſelben Urſachen zu erklären, welche noch heutzu— tage wirkſam ſind. Viele Geologen hatten ſich früher gedacht, daß die höchſten Gebirgsketten, welche auf der Erdoberfläche hervortreten, ihren Urſprung nur ungeheuren, einen großen Theil der Erdober— fläche umgeſtaltenden Revolutionen, insbeſondere coloſſalen vulkani— ſchen Ausbrüchen verdanken könnten. Solche Bergketten z. B. wie die Alpen, oder wie die Cordilleren, ſollten auf einmal aus dem feuer— flüſſigen Erdinnern durch einen ungeheuren Spalt der weit gebor— ſtenen Erdrinde emporgeſtiegen ſein. Lyell zeigte dagegen, daß wir uns die Entwickelung ſolcher ungeheuren Gebirgsketten ganz natür— lich aus denſelben langſamen, unmerklichen Hebungen und Senkun— gen der Erdoberfläche erklären können, die noch jetzt fortwährend vor ſich gehen, und deren Urſachen keineswegs wunderbar ſind. Wenn dieſe Senkungen und Hebungen auch vielleicht im Jahrhundert nur ein paar Zoll oder höchſtens einige Fuß betragen, ſo können ſie doch bei einer Dauer von einigen Jahr-Millionen vollſtändig ge— nügen, um die höchſten Gebirgsketten hervortreten zu laſſen, ohne daß dazu jene räthſelhaften und unbegreiflichen Revolutionen nöthig Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 8 114 Entſtehung der größten Wirkungen durch die kleinſten Urſachen. wären. Auch die meteorologiſche Thätigkeit der Atmoſphäre, die Wirkſamkeit des Regens und des Schnees, ferner die Brandung der Küſte, welche an und für ſich nur unbedeutend zu wirken ſcheinen, müſſen die größten Veränderungen hervorbringen, wenn man nur hinlänglich große Zeiträume für deren Wirkſamkeit in Anſpruch nimmt. Die Summirung der kleinſten Urſachen bringt die größ— ten Wirkungen hervor. Der Waſſertropfen höhlt den Stein aus. Auf die unermeßliche Länge der geologiſchen Zeiträume, welche hierzu erforderlich ſind, müſſen wir nothwendig ſpäter noch einmal zurückkommen, da, wie Sie ſehen werden, auch für Darwin's Theorie, ebenſo wie für diejenige Lyell's, die Annahme ganz un— geheurer Zeitmaaße abſolut unentbehrlich iſt. Wenn die Erde und ihre Organismen ſich wirklich auf natürlichem Wege entwickelt haben, ſo muß dieſe langſame und allmähliche Entwickelung jedenfalls eine Zeitdauer in Anſpruch genommen haben, deren Vorſtellung unſer Faſ— ſungsvermögen gänzlich überſteigt. Da Viele aber gerade hierin eine Hauptſchwierigkeit jener Entwickelungstheorien erblicken, ſo will ich jetzt ſchon vorausgreifend bemerken, daß wir nicht einen einzigen vernünftigen Grund haben, irgend wie uns die hierzu erforderliche Zeit beſchränkt zu denken. Wenn nicht allein viele Laien, ſondern ſelbſt hervorragende Naturforſcher, als Haupteinwand gegen dieſe Theorien einwerfen, daß dieſelben willkürlich zu lange Zeiträume in Anſpruch nähmen, ſo iſt dieſer Einwand kaum zu begreifen. Denn es iſt abſolut nicht einzuſehen, was uns in der Annahme derſelben irgendwie beſchränken ſollte. Wir wiſſen längſt allein ſchon aus dem Bau der geſchichteten Erdrinde, daß die Entſtehung derſelben, der Anſatz der neptuniſchen Geſteine aus dem Waſſer, allermin- deſtens mehrere Millionen Jahre gedauert haben muß. Ob wir aber hypothetiſch für dieſen Prozeß zehn Millionen oder zehntauſend Billionen Jahre annehmen, iſt vom Standpunkte der ſtrengſten Na⸗ turphiloſophie gänzlich gleichgültig. Vor uns und hinter uns liegt die Ewigkeit. Wenn ſich bei vielen gegen die Annahme von ſo un— geheuren Zeiträumen das Gefühl ſträubt, ſo iſt das die Folge der Unbegrenzte Länge der geologiſchen Zeiträume. 115 falſchen Vorſtellungen, welche uns von früheſter Jugend an über die angeblich kurze, nur wenige Jahrtauſende umfaſſende Geſchichte der Erde eingeprägt werden. Wie Albert Lange in ſeiner Ge— ſchichte des Materialismus 12) ſchlagend beweiſt, iſt es vom ſtreng kritiſch⸗philoſophiſchen Standpunkte aus jeder naturwiſſenſchaftlichen Hypotheſe viel eher erlaubt, die Zeiträume zu groß, als zu klein anzunehmen. Jeder Entwickelungsvorgang läßt ſich um ſo eher be— greifen, je längere Zeit er dauert. Ein kurzer und beſchränkter Zeit— raum für denſelben iſt von vornherein das Unwahrſcheinlichſte. Wir haben hier nicht Zeit, auf Lyell's vorzügliches Werk näher einzugehen, und wollen daher bloß das wichtigſte Reſul— tat deſſelben hervorheben, daß es nämlich Cu vier's Schöpfungsge— ſchichte mit ihren mythiſchen Revolutionen gründlich widerlegte, und an deren Stelle einfach die beſtändige langſame Umbildung der Erdrinde durch die fortdauernde Thätigkeit der noch jetzt auf die Erdoberfläche wirkenden Kräfte ſetzte, die Thätigkeit des Waſſers und des vulkaniſchen Erdinnern. Lyell wies alſo einen continuirlichen, ununterbrochenen Zuſammenhang der ganzen Erdgeſchichte nach, und er bewies den— ſelben jo unwiderleglich, er begründete fo einleuchtend die Herrſchaft der „existing causes“, der noch heute wirkſamen, dauernden Ur— ſachen in der Umbildung der Erdrinde, daß in kurzer Zeit die Geo— logie Cuvier's Hypotheſe vollkommen aufgab. Nun iſt es aber merkwürdig, daß die Paläontologie, die Wiſſen— ſchaft von den Verſteinerungen, ſoweit ſie von den Botanikern und Zoologen betrieben wurde, von dieſem großen Fortſchritt der Geo— logie ſcheinbar unberührt blieb. Die Biologie nahm fortwährend noch jene wiederholte neue Schöpfung der geſammten Thier- und Pflan— zenbevölkerung am Beginne jeder neuen Periode der Erdgeſchichte an, obwohl dieſe Hypotheſe von den einzelnen, ſchubweiſe in die Welt ge— ſetzten Schöpfungen ohne die Annahme der Revolutionen reiner Un— ſinn wurde und gar keinen Halt mehr hatte. Offenbar iſt es voll— kommen ungereimt, eine beſondere neue Schöpfung der ganzen Thier— und Pflanzenwelt zu beſtimmten Zeitabſchnitten anzunehmen, ohne 8 ** 116 Innerer Zuſammenhang von Lyell's und Darwin's Theorie. daß die Erdrinde ſelbſt dabei irgend eine beträchtliche allgemeine Um— wälzung erfährt. Trotzdem alſo jene Vorſtellung auf das Engſte mit der Kataſtrophentheorie Cuvier's zuſammenhängt, blieb ſie den— noch herrſchend, nachdem die letztere bereits zerſtört war. Es war nun dem großen engliſchen Naturforſcher Charles Darwin vorbehalten, dieſen Zwieſpalt völlig zu beſeitigen und zu zeigen, daß auch die Lebewelt der Erde eine ebenſo continuirlich zu— ſammenhängende Geſchichte hat, wie die unorganiſche Rinde der Erde; daß auch die Thiere und Pflanzen ebenſo allmählich durch Umwand— lung (Transmutation) auseinander hervorgegangen ſind, wie die wech— ſelnden Formen der Erdrinde, der Continente und der ſie umſchließen— den und trennenden Meere aus früheren, ganz davon verſchiedenen Formen hervorgegangen ſind. Wir können in dieſer Beziehung wohl ſagen, daß Darwin auf dem Gebiete der Zoologie und Botanik den gleichen Fortſchritt herbeiführte, wie Lyell, ſein großer Landsmann, auf dem Gebiete der Geologie. Durch Beide wurde der ununter— brochene Zuſammenhang der geſchichtlichen Entwickelung bewieſen, und eine allmähliche Umänderung der verſchiedenen auf einander folgenden Zuſtände dargethan. Das beſondere Verdienſt Darwin's iſt nun, wie bereits in dem vorigen Vortrage bemerkt wurde, ein doppeltes. Er hat erſtens die von Lamarck und Goethe aufgeſtellte Deſcendenztheorie in viel umfaſſenderer Weiſe als Ganzes behandelt und im Zuſammenhang durchgeführt, als es von allen ſeinen Vorgängern geſchehen war. Zweitens aber hat er dieſer Abſtammungslehre durch ſeine, ihm eigen— thümliche Züchtungslehre (die Selectionstheorie) das cauſale Funda— ment gegeben, d. h. er hat die wirkenden Urſachen der Verände— rungen nachgewieſen, welche von der Abſtammungslehre nur als Thatſachen behauptet werden. Die von Lamarck 1809 in die Biologie eingeführte Deſcendenztheorie behauptet, daß alle verſchie— denen Thier- und Pflanzenarten von einer einzigen oder einigen we— nigen, höchſt einfachen, ſpontan entſtandenen Urformen abſtammen. Die von Darwin 1859 begründete Seleetionstheorie zeigt uns, wa— Biographiſche Notizen über Charles Darwin. 117 rum dies der Fall ſein mußte, ſie weiſt uns die wirkenden Urſachen ſo nach, wie es nur Kant wünſchen konnte, und Darwin iſt in der That auf dem Gebiete der organiſchen Naturwiſſenſchaft der New— ton geworden, deſſen Kommen Kant prophetiſch verneinen zu kön— nen glaubte. Ehe Sie nun an Darwin's Theorie herantreten, wird es Ihnen vielleicht von Intereſſe ſein, Einiges über die Perſönlichkeit dieſes großen Naturforſchers zu hören, über ſein Leben und die Wege, auf denen er zur Aufſtellung ſeiner Lehre gelangte. Charles Robert Darwin iſt am 12. Februar 1809 zu Shrewsbury am Severn— Fluß geboren, alſo gegenwärtig vierundſechzig Jahre alt. Im ſieb— zehnten Jahre (1825) bezog er die Univerſität Edinburgh, und zwei Jahre ſpäter Chriſt's College zu Cambridge. Kaum 22 Jahre alt, wurde er 1831 zur Theilnahme an einer wiſſenſchaftlichen Expedi— tion berufen, welche von den Engländern ausgeſchickt wurde, vor— züglich um die Südſpitze Südamerika's genauer zu erforſchen und verſchiedene Punkte der Südſee zu unterſuchen. Dieſe Expedition hatte, gleich vielen anderen, rühmlichen, von England ausgerüſteten Forſchungsreiſen, ſowohl wiſſenſchaftliche, als auch practiſche, auf die Schifffahrt bezügliche Aufgaben zu erfüllen. Das Schiff, von Capitän Fitzroy commandirt, führte in treffend ſymboliſcher Weiſe den Namen „Beagle“ oder Spürhund. Die Reife des Beagle, welche fünf Jahre dauerte, wurde für Darwin's ganze Entwickelung von der größten Bedeutung, und ſchon im erſten Jahre, als er zum er— ſtenmal den Boden Südamerika's betrat, keimte in ihm der Gedanke der Abſtammungslehre auf, den er dann ſpäterhin zu ſo vollendeter Blüthe entwickelte. Die Reiſe ſelbſt hat Darwin in einem von Dieffenbach in das Deutſche überſetzten Werke beſchrieben, wel— ches ſehr anziehend geſchrieben iſt, und deſſen Lectüre ich Ihnen an- gelegentlich empfehle 13). In dieſer Reiſebeſchreibung, welche ſich weit über den gewöhnlichen Durchſchnitt erhebt, tritt Ihnen nicht allein die liebenswürdige Perſönlichkeit Darwin's in ſehr anziehen— der Weiſe entgegen, ſondern Sie können auch vielfach die Spuren 118 Darwin's Theorie von der Entſtehung der Korallenriffe. der Wege erkennen, auf denen er zu feinen Vorſtellungen gelangte: Als Reſultat dieſer Reiſe erſchien zunächſt ein großes wiſſenſchaftli— ches Reiſewerk, an deſſen zoologiſchem und geologiſchem Theil ſich Darwin bedeutend betheiligte, und ferner eine ausgezeichnete Ar— beit deſſelben über die Bildung der Korallenriffe, welche allein ge— nügt haben würde, Darwin's Namen mit bleibendem Ruhme zu krönen. Es wird Ihnen bekannt ſein, daß die Inſeln der Südſee größtentheils aus Korallenriffen beſtehen oder von ſolchen umgeben ſind. Die verſchiedenen merkwürdigen Formen derſelben und ihr Verhältniß zu den nicht aus Korallen gebildeten Inſeln vermochte man ſich früher nicht befriedigend zu erklären. Erſt Darwin war es vorbehalten dieſe ſchwierige Aufgabe zu löſen, indem er außer der aufbauenden Thätigkeit der Korallenthiere auch geologiſche He— bungen und Senkungen des Meeresbodens für die Entſtehung der verſchiedenen Riffgeſtalten in Anſpruch nahm. Darwin's Theorie von der Entſtehung der Korallenriffe iſt, ebenſo wie ſeine ſpätere Theorie von der Entſtehung der organiſchen Arten, eine Theorie, welche die Erſcheinungen vollkommen erklärt, und dafür nur die einfachſten natürlichen Urſachen in Anſpruch nimmt, ohne ſich hypo— thetiſch auf irgend welche unbekannten Vorgänge zu beziehen. Une ter den übrigen Arbeiten Darwin's iſt noch ſeine ausgezeichnete Monographie der Cirrhipedien hervorzuheben, einer merkwürdigen Klaſſe von Seethieren, welche im äußeren Anſehen den Muſcheln gleichen und von Cuvier in der That für zweiſchalige Mollusken gehalten wurden, während dieſelben in Wahrheit zu den Krebsthie— ren (Cruſtaceen) gehören. Die außerordentlichen Strapatzen, denen Darwin während der fünfjährigen Reiſe des Beagle ausgeſetzt war, hatten ſeine Geſund— heit dergeſtalt zerrüttet, daß er ſich nach feiner Rückkehr aus dem un— ruhigen Treiben Londons zurückziehen mußte, und ſeitdem in ſtiller Zurückgezogenheit auf ſeinem Gute Down, in der Nähe von Brom— ley in Kent (mit der Eiſenbahn kaum eine Stunde von London entfernt), wohnte. Dieſe Abgeſchiedenheit von dem unruhigen Ge— Ein Brief von Darwin. 119 treibe der großen Weltſtadt wurde jedenfalls äußerſt ſegensreich für Darwin, und es iſt wahrſcheinlich, daß wir ihr theilweiſe mit die Entſtehung der Selectionstheorie verdanken. Unbehelligt durch die verſchiedenen Geſchäfte, welche in London ſeine Kräfte zerſplittert ha— ben würden, konnte er ſeine ganze Thätigkeit auf das Studium des großen Problems concentriren, auf welches er durch jene Reiſe hin— gelenkt worden war. Um Ihnen zu zeigen, welche Wahrnehmun— gen während feiner Weltumſegelung vorzüglich den Grundgedanken der Selectionstheorie in ihm anregten, und in welcher Weiſe er den— ſelben dann weiter entwickelte, erlauben Sie mir, Ihnen eine Stelle aus einem Briefe mitzutheilen, welchen Darwin am 8. October 1864 an mich richtete: „In Südamerika traten mir beſonders drei Klaſſen von Er— ſcheinungen ſehr lebhaft vor die Seele: Erſtens die Art und Weiſe, in welcher nahe verwandte Species einander vertreten und er— ſetzen, wenn man von Norden nach Süden geht; — Zweitens die nahe Verwandtſchaft derjenigen Species, welche die Südamerika nahe gelegenen Inſeln bewohnen, und derjenigen Species, welche dieſem Feſtland eigenthümlich ſind; dies ſetzte mich in tiefes Erſtaunen, be— ſonders die Verſchiedenheit derjenigen Species, welche die nahe gele— genen Inſeln des Galopagosarchipels bewohnen; — Drittens die nahe Beziehung der lebenden zahnloſen Säugethiere (Edentata) und Nagethiere (Rodentia) zu den ausgeſtorbenen Arten. Ich werde nie— mals mein Erſtaunen vergeſſen, als ich ein rieſengroßes Panzerſtück ausgrub, ähnlich demjenigen eines lebenden Gürtelthiers. „Als ich über dieſe Thatſachen nachdachte und einige ähnliche Er— ſcheinungen damit verglich, ſchien es mir wahrſcheinlich, daß nahe verwandte Species von einer gemeinſamen Stammform abſtammen könnten. Aber einige Jahre lang konnte ich nicht begreifen, wie eine jede Form ſo ausgezeichnet ihren beſonderen Lebensverhältniſſen ange— paßt werden konnte. Ich begann darauf ſyſtematiſch die Hausthiere und die Gartenpflanzen zu ſtudiren, und ſah nach einiger Zeit deut— lich ein, daß die wichtigſte umbildende Kraft in des Menſchen Zucht— 120 Entwickelung der Selectionstheorie. wahlvermögen liege, in ſeiner Benutzung auserleſener Individuen zur Nachzucht. Dadurch daß ich vielfach die Lebensweiſe und Sitten der Thiere ſtudirt hatte, war ich darauf vorbereitet, den Kampf um's Da— ſein richtig zu würdigen; und meine geologiſchen Arbeiten gaben mir eine Vorſtellung von der ungeheuren Länge der verfloſſenen Zeiträume. Als ich dann durch einen glücklichen Zufall das Buch von Malthus „über die Bevölkerung“ las, tauchte der Gedanke der natürlichen Züchtung in mir auf. Unter allen den untergeordneten Punkten war der letzte, den ich ſchätzen lernte, die Bedeutung und Urſache des Di— vergenzprincips.“ Während der Muße und Zurückgezogenheit, in der Darwin nach der Rückkehr von ſeiner Reiſe lebte, beſchäftigte er ſich, wie aus dieſer Mittheilung hervorgeht, zunächſt vorzugsweiſe mit dem Stu— dium der Organismen im Culturzuſtande, der Hausthiere und Gar— tenpflanzen. Unzweifelhaft war dies der nächſte und richtigſte Weg, um zur Selectionstheorie zu gelangen. Wie in allen ſeinen Arbeiten, verfuhr Darwin dabei äußerſt ſorgfältig und genau. Er hat mit bewunderungswürdiger Vorſicht und Selbſtverleugnung vom Jahre 1837 1858, alſo 21 Jahre lang, über dieſe Sache Nichts veröf— fentlicht, ſelbſt nicht eine vorläufige Skizze ſeiner Theorie, welche er ſchon 1844 niedergeſchrieben hatte. Er wollte immer noch mehr ſicher begründete empiriſche Beweiſe ſammeln, um ſo die Theorie ganz voll— ſtändig, auf möglichſt breiter Erfahrungsgrundlage feſtgeſtellt, veröf— fentlichen zu können. Zum Glück wurde er in dieſem Streben nach möglichſter Vervollkommnung, welches vielleicht dazu geführt haben würde, die Theorie überhaupt nicht zu veröffentlichen, durch einen Landsmann geſtört, welcher unabhängig von Darwin die Selec— tionstheorie ſich ausgedacht und aufgeſtellt hatte, und welcher 1858 die Grundzüge derſelben an Darwin ſelbſt einſendete, mit der Bitte, dieſelben an Lyell zur Veröffentlichung in einem engliſchen Journale zu übergeben. Dieſer Engländer iſt Alfred Wallace ss), einer der kühnſten und verdienteſten naturwiſſenſchaftlichen Reiſenden der neue- ren Zeit. Viele Jahre war Wallace allein in den Wildniſſen der Selectionstheorie von Charles Darwin und Alfred Wallace. 121 Sundainſeln, in den dichten Urwäldern des indiſchen Archipels um— hergeſtreift, und bei dieſem unmittelbaren und umfaſſenden Studium eines der reichſten und intereſſanteſten Erdſtücke mit ſeiner höchſt man— nichfaltigen Thier- und Pflanzenwelt war er genau zu denſelben all— gemeinen Anſchauungen über die Entſtehung der organiſchen Arten, wie Darwin, gelangt. Lyell und Hooker, welche Beide Dar— win's Arbeit ſeit langer Zeit kannten, veranlaßten ihn nun, einen kurzen Auszug aus ſeinen Manuſcripten gleichzeitig mit dem einge— ſandten Manuſeript von Wallace zu veröffentlichen, was auch im Auguſt 1858 im „Journal of the Linnean Society“ geſchah. Im November 1859 erſchien dann das epochemachende Werk Darwin's „Ueber die Entſtehung der Arten“, in welchem die Se— lectionstheorie ausführlich begründet iſt. Jedoch bezeichnet Darwin ſelbſt dieſes Buch, von welchem 1869 die fünfte Auflage und bereits 1860 eine deutſche Ueberſetzung von Bronn erſchien 1), nur als einen vorläufigen Auszug aus einem größeren und ausführlicheren Werke, welches in umfaſſender empiriſcher Beweisführung eine Maſſe von Thatſachen zu Gunſten ſeiner Theorie enthalten ſoll. Der erſte Theil dieſes von Darwin in Ausſicht geſtellten Hauptwerkes iſt 1868 unter dem Titel: „Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zu— ſtande der Domeſtication“ erſchienen und von Victor Carus ins Deutſche überſetzt worden 14). Er enthält eine reiche Fülle von den trefflichſten Belegen für die außerordentlichen Veränderungen der orga— niſchen Formen, welche der Menſch durch ſeine Cultur und künſt— liche Züchtung hervorbringen kann. So ſehr wir auch Darwin für dieſen Ueberfluß an beweiſenden Thatſachen verbunden ſind, ſo theilen wir doch keineswegs die Meinung jener Naturforſcher, welche glauben, daß durch dieſe weiteren Ausführungen die Selectionstheorie eigentlich erſt feſt begründet werden müſſe. Nach unſerer Anſicht ent— hält bereits Darwin's erſtes, 1859 erſchienenes Werk, dieſe Be— gründung in völlig ausreichendem Maaße. Die unangreifbare Stärke ſeiner Theorie liegt nicht in der Unmaſſe von einzelnen Thatſachen, welche man als Beweis dafür anführen kann, ſondern in dem har— 122 Darwin's Studium der Hausthiere und Culturpflanzen. moniſchen Zuſammenhang aller großen und allgemeinen Erſcheinungs— reihen der organiſchen Natur, welche übereinſtimmerd für die Wahr— heit der Selectionstheorie Zeugniß ablegen. Den bedeutendſten Folgeſchluß der Deſcendenztheorie, die Ab— ſtammung des Menſchengeſchlechts von anderen Säugethieren, hat Darwin anfangs abſichtlich verſchwiegen. Erſt nachdem dieſer höchſt wichtige Schluß von anderen Naturforſchern entſchieden als noth— wendige Conſequenz der Abſtammungslehre feſtgeſtellt war, hat Dar— win denſelben ausdrücklich anerkannt, und damit „die Krönung ſei— nes Gebäudes“ vollzogen. Dies geſchah in dem höchſt intereſſan— ten, erſt 1871 erſchienenen Werke über „die Abſtammung des Men— ſchen und die gefchlechtliche Zuchtwahl“, welches ebenfalls von Vie— tor Carus in das Deutſche überſetzt worden iſt “s). Als ein Nach— trag zu dieſem Buche kann das geiſtreiche phyſiognomiſche Werk an— geſehen werden, welches Darwin 1872 „über den Ausdruck der Ge— müths-Vewegungen bei dem Menſchen und den Thieren“ veröffent— licht hat 19). Von der größten Bedeutung für die Begründung der Selections— theorie war das eingehende Studium, welches Darwin den Haus— thieren und Culturpflanzen widmete. Die unendlich mannich— faltigen Formveränderungen, welche der Menſch an dieſen domeſti— cirten Organismen durch künſtliche Züchtung erzeugt hat, find für das richtige Verſtändniß der Thier- und Pflanzenformen von der allergrößten Wichtigkeit; und dennoch iſt in kaum glaublicher Weiſe dieſes Studium von den Zoologen und Botanikern bis in die neueſte Zeit in der gröbſten Weiſe vernachläſſigt worden. Es ſind nicht allein dicke Bände, ſondern ganze Bibliotheken angefüllt worden mit Be— ſchreibungen der einzelnen Arten oder Species, und mit höchſt kin— diſchen Streitigkeiten darüber, ob dieſe Species gute oder ziemlich gute, ſchlechte oder ziemlich ſchlechte Arten ſeien, ohne daß dem Art— begriff ſelbſt darin zu Leibe gegangen iſt. Wenn die Naturforſcher, ſtatt auf dieſe unnützen Spielereien ihre Zeit zu verwenden, die Cul— turorganismen gehörig ſtudirt und nicht die einzelnen todten Formen, ſondern die Umbildung der lebendigen Geſtalten in das Auge gefaßt Andreas Wagner und der Baum des Erfenntniffes. 123 hätten, fo würde man nicht fo lange in den Feſſeln des Cuvier'— ſchen Dogmas befangen geweſen ſein. Weil nun aber dieſe Cul— turorganismen gerade der dogmatiſchen Auffaſſung von der Beharr— lichkeit der Art, von der Conſtanz der Species ſo äußerſt unbequem ſind, ſo hat man ſich großen Theils abſichtlich nicht um dieſelben bekümmert und es iſt ſogar vielfach, ſelbſt von berühmten Natur— forſchern der Gedanke ausgeſprochen worden, dieſe Culturorganis— men, die Hausthiere und Gartenpflanzen, ſeien Kunſtproducte des Menſchen, und deren Bildung und Umbildung könne gar nicht über das Weſen der Species und über die Entſtehung der Formen bei den wilden, im Naturzuſtande lebenden Arten entſcheiden. Dieſe verkehrte Auffaſſung ging ſo weit, daß z. B. ein Münche— ner Zoologe, Andreas Wagner, alles Ernſtes die lächerliche Be— hauptung aufſtellte: Die Thiere und Pflanzen im wilden Zuſtande ſind vom Schöpfer als beſtimmt unterſchiedene und unveränderliche Arten erſchaffen worden; allein bei den Hausthieren und Cultur— pflanzen war dies deshalb nicht nöthig, weil er dieſelben von vorn— herein für den Gebrauch des Menſchen einrichtete. Der Schöpfer machte alſo den Menſchen aus einem Erdenkloß, blies ihm lebendi— gen Odem in ſeine Naſe und ſchuf dann für ihn die verſchiedenen nützlichen Hausthiere und Gartenpflanzen, bei denen er ſich in der That die Mühe der Speciesunterſcheidung ſparen konnte. Ob der Baum des Erkenntniſſes im Paradiesgarten eine „gute“ wilde Species, oder als Culturpflanze überhaupt „keine Species“ war, erfahren wir leider durch Andreas Wagner nicht. Da der Baum des Erkenntniſſes vom Schöpfer mitten in den Paradiesgar— ten geſetzt wurde, möchte man eher glauben, daß er eine höchſt be— vorzugte Culturpflanze, alſo überhaupt keine Species war. Da aber andrerſeits die Früchte vom Baume des Erkenntniſſes dem Men— ſchen verboten waren, und viele Menſchen, wie Wagner's eigenes Beiſpiel klar zeigt, niemals von dieſen Früchten genoſſen haben, ſo iſt er offenbar nicht für den Gebrauch des Menſchen erſchaffen und 124 Vergleichung der wilden und der cultivirten Organismen. alſo wahrſcheinlich eine wirkliche Species! Wie Schade, daß uns Wagner über dieſe wichtige und ſchwierige Frage nicht belehrt hat! So lächerlich Ihnen nun dieſe Anſicht auch vorkommen mag, ſo iſt dieſelbe doch nur ein folgerichtiger Auswuchs einer falſchen, in der That aber weit verbreiteten Anſicht von dem beſonderen Weſen der Culturorganismen, und Sie können bisweilen von ganz angeſehenen Naturforſchern ähnliche Einwürfe hören. Gegen dieſe grundfalſche Auffaſſung muß ich mich von vornherein ganz beſtimmt wenden. Das iſt dieſelbe Verkehrtheit, wie ſie die Aerzte begehen, welche be— haupten, die Krankheiten ſeien künſtliche Erzeugniſſe, keine Natur- erſcheinungen. Es hat viel Mühe gekoſtet, dieſes Vorurtheil zu be— kämpfen; und erſt in neuerer Zeit iſt die Anſicht zur allgemeinen Anerkennung gelangt, daß die Krankheiten Nichts ſind, als natür— liche Veränderungen des Organismus, wirklich natürliche Lebenser— ſcheinungen, die nur hervorgebracht werden durch veränderte, abnorme Exiſtenzbedingungen. Die Krankheit iſt alſo nicht, wie die älteren Aerzte oft ſagten, ein Leben außerhalb der Natur (Vita praeter na- turam), ſondern ein natürliches Leben unter beſtimmten, krank ma- chenden, den Körper mit Gefahr bedrohenden Bedingungen. Ganz ebenſo ſind die Culturerzeugniſſe nicht künſtliche Producte des Men— ſchen, ſondern ſie ſind Naturproducte, welche unter eigenthümlichen Lebensbedingungen entſtanden ſind. Der Menſch vermag durch ſeine Cultur niemals unmittelbar eine neue organiſche Form zu erzeugen; ſondern er kann nur die Organismen unter neuen Lebensbedingun— gen züchten, welche umbildend auf ſie einwirken. Alle Hausthiere und alle Gartenpflanzen ſtammen urſprünglich von wilden Arten ab, welche erſt durch die Cultur umgebildet wurden. | Die eingehende Vergleichung der Culturformen (Raſſen und Spielarten) mit den wilden, nicht durch Cultur veränderten Organis— men (Arten und Varietäten) iſt für die Selectionstheorie von der größten Wichtigkeit. Was Ihnen bei dieſer Vergleichung zunächſt am Meiſten auffällt, das iſt die ungewöhnlich kurze Zeit, in welcher der Menſch im Stande iſt, eine neue Form hervorzubringen, und der un— Vergleichung der wilden und der cultivirten Organismen. 125 gewöhnlich hohe Grad, in welchem dieſe vom Menſchen producirte Form von der urſprünglichen Stammform abweichen kann. Während die wilden Thiere und die Pflanzen im wilden Zuſtande Jahr aus, Jahr ein dem ſammelnden Zoologen und Botaniker annähernd in der— ſelben Form erſcheinen, ſo daß eben hieraus das falſche Dogma der Speciesconſtanz entſtehen konnte, ſo zeigen uns dagegen die Haus— thiere und die Gartenpflanzen innerhalb weniger Jahre die größten Veränderungen. Die Vervollkommnung, welche die Züchtungskunſt der Gärtner und der Landwirthe erreicht hat, geſtattet es jetzt in ſehr kurzer Zeit, in wenigen Jahren, eine ganz neue Thier- oder Pflan— zenform willkürlich zu ſchaffen. Man braucht zu dieſem Zwecke bloß den Organismus unter dem Einfluſſe der beſonderen Bedingungen zu erhalten und fortzupflanzen, welche neue Bildungen zu erzeugen im Stande ſind; und man kann ſchon nach Verlauf von wenigen Gene— rationen neue Arten erhalten, welche von der Stammform in viel hö— herem Grade abweichen, als die ſogenannten guten Arten im wilden Zuſtande von einander verſchieden ſind. Dieſe Thatſache iſt äußerſt wichtig und kann nicht genug hervorgehoben werden. Es iſt nicht wahr, wenn behauptet wird, die Culturformen, die von einer und derſelben Form abſtammen, ſeien nicht ſo ſehr von einander verſchie— den, wie die wilden Thier- und Pflanzenarten unter ſich. Wenn man nur unbefangen Vergleiche anſtellt, ſo läßt ſich ſehr leicht erkennen, daß eine Menge von Raſſen oder Spielarten, die wir in einer kurzen Reihe von Jahren von einer einzigen Culturform abgeleitet haben, in höherem Grade von einander unterſchieden ſind, als ſogenannte gute Arten („Bonae species“) oder ſelbſt verſchiedene Gattungen (Genera) einer Familie im wilden Zuſtande ſich unterſcheiden. Um dieſe äußerſt wichtige Thatſache möglichſt feſt empiriſch zu begründen, beſchloß Darwin eine einzelne Gruppe von Hausthieren ſpeciell in dem ganzen Umfang ihrer Formenmannichfaltigkeit zu ſtu— diren, und er wählte dazu die Haustauben, welche in mehrfacher Beziehung für dieſen Zweck ganz beſonders geeignet ſind. Er hielt ſich lange Zeit hindurch auf feinem Gute alle möglichen Raſſen und 126 Auffallende Verſchiedenheit der Taubenraſſen. Spielarten von Tauben, welche er bekommen konnte, und wurde mit reichlichen Zuſendungen aus allen Weltgegenden unterſtützt. Ferner ließ er ſich in zwei Londoner Taubenklubs aufnehmen, welche die Züchtung der verſchiedenen Taubenformen mit wahrhaft künſtleriſcher Virtuoſität und unermüdlicher Leidenſchaft betreiben. Endlich ſetzte er ſich noch mit Einigen der berühmteſten Taubenliebhaber in Verbin— dung. So ſtand ihm das reichſte empiriſche Material zur Verfügung. Die Kunſt und Liebhaberei der Taubenzüchtung iſt uralt. Schon mehr als 3000 Jahre vor Chriſtus wurde ſie von den Aegyptern be— trieben. Die Römer der Kaiſerzeit gaben ungeheure Summen dafür aus, und führten genaue Stammbaumregiſter über ihre Abſtammung, ebenſo wie die Araber über ihre Pferde und die mecklenburgiſchen Edel— leute über ihre eigenen Ahnen ſehr ſorgfältige genealogiſche Regiſter führen. Auch in Aſien war die Taubenzucht eine uralte Liebhaberei der reichen Fürſten, und zur Hofhaltung des Akber Khan, um das Jahr 1600, gehörten mehr als 20,000 Tauben. So entwickelten ſich denn im Laufe mehrerer Jahrtauſende, und in Folge der mannichfal— tigen Züchtungsmethoden, welche in den verſchiedenſten Weltgegenden geübt wurden, aus einer einzigen urſprünglich gezähmten Stamm— form eine ungeheure Menge verſchiedenartiger Raſſen und Spielarten, welche in ihren extremen Formen ganz außerordentlich verſchieden ſind. Eine der auffallendſten Taubenraſſen iſt die bekannte Pfauen⸗ taube, bei der ſich der Schwanz ähnlich entwickelt wie beim Pfau, und eine Anzahl von 30—40 radartig geſtellten Federn trägt; während die anderen Tauben eine viel geringere Anzahl von Schwanzfedern, faſt immer 12, beſitzen. Hierbei mag erwähnt werden, daß die An— zahl der Schwanzfedern bei den Vögeln als ſyſtematiſches Merkmal von den Naturforſchern ſehr hoch geſchätzt wird, ſo daß man ganze Ordnungen danach unterſcheiden könnte. So beſitzen z. B. die Sing⸗ vögel faſt ohne Ausnahme 12 Schwanzfedern, die Schrillvögel (Stri- sores) 10 u. ſ. w. Beſonders ausgezeichnet ſind ferner mehrere Tau— benraſſen durch einen Buſch von Nackenfedern, welcher eine Art Per— rücke bildet, andere durch abenteuerliche Umbildung des Schnabels Gemeinſame Abſtammung aller Taubenraſſen. 127 und der Füße, durch eigenthümliche, oft ſehr auffallende Verzierun— gen, z. B. Hautlappen, die ſich am Kopf entwickeln; durch einen großen Kropf, welcher eine ſtarke Hervortreibung der Speiſeröhre am Hals bildet u. ſ. w. Merkwürdig ſind auch die ſonderbaren Ge— wohnheiten, die viele Tauben ſich erworben haben, z. B. die Lach— tauben, die Trommeltauben in ihren muſikaliſchen Leiſtungen, die Brieftauben in ihrem topographiſchen Inſtinct. Die Purzeltauben haben die ſeltſame Gewohnheit, nachdem ſie in großer Schaar in die Luft geſtiegen ſind, ſich zu überſchlagen und aus der Luft wie todt herabzufallen. Die Sitten und Gewohnheiten dieſer unendlich verſchiedenen Taubenraſſen, die Form, Größe und Färbung der ein— zelnen Körpertheile, die Proportionen derſelben unter einander, ſind in erſtaunlich hohem Maaße von einander verſchieden, in viel höhe— rem Maaße, als es bei den ſogenannten guten Arten oder ſelbſt bei ganz verſchiedenen Gattungen unter den wilden Tauben der Fall iſt. Und, was das Wichtigſte iſt, es beſchränken ſich jene Unterſchiede nicht bloß auf die Bildung der äußerlichen Form, ſondern erſtrecken ſich ſelbſt auf die wichtigſten innerlichen Theile, es kommen ſogar ſehr bedeutende Abänderungen des Skelets und der Muskulatur vor. So finden ſich z. B. große Verſchiedenheiten in der Zahl der Wirbel und Rippen, in der Größe und Form der Lücken im Bruſtbein, in der Form und Größe des Gabelbeins, des Unterkiefers, der Geſichts— knochen u. ſ. w. Kurz das knöcherne Skelet, das die Morphologen für einen ſehr beſtändigen Körpertheil halten, welcher niemals in dem Grade, wie die äußeren Theile, variire, zeigt ſich ſo ſehr ver— ändert, daß man viele Taubenraſſen als beſondere Gattungen auf— führen könnte. Zweifelsohne würde dies geſchehen, wenn man alle dieſe verſchiedenen Formen in wildem Naturzuſtande auffände. Wie weit die Verſchiedenheit der Taubenraſſen geht, zeigt am Beſten der Umſtand, daß alle Taubenzüchter einſtimmig der Anſicht ſind, jede eigenthümliche oder beſonders ausgezeichnete Taubenraſſe müſſe von einer beſonderen wilden Stammart abſtammen. Freilich nimmt Jeder eine verſchiedene Zahl von Stammarten an. Und 128 Gemeinſame Abſtammung aller Kaninchenraſſen. dennoch hat Darwin mit überzeugendem Scharfſinn den ſchwierigen Beweis geführt, daß dieſelben ohne Ausnahme ſämmtlich von einer einzigen wilden Stammart, der blauen Felstaube (Columba livia) abſtammen müſſen. In gleicher Weiſe läßt ſich bei den meiſten übri- gen Hausthieren und bei den meiſten Culturpflanzen der Beweis führen, daß alle verſchiedenen Raſſen Nachkommen einer einzigen ur— ſprünglichen wilden Art ſind, die vom Menſchen in den Culturzuſtand übergeführt wurde. Ein ähnliches Beiſpiel, wie die Haustaube, liefert unter den Säugethieren unſer zahmes Kaninchen. Alle Zoologen ohne Aus— nahme halten es ſchon ſeit langer Zeit für erwieſen, daß alle Raſ— ſen und Spielarten deſſelben von dem gewöhnlichen wilden Kanin— chen, alſo von einer einzigen Stammart abſtammen. Und dennoch ſind die extremſten Formen dieſer Raſſen in einem ſolchen Maaße von einander verſchieden, daß jeder Zoologe, wenn er dieſelben im wilden Zuſtande anträfe, ſie unbedenklich nicht allein für ganz ver— ſchiedene „gute Species“, ſondern ſogar für Arten von ganz ver— ſchiedenen Gattungen oder Genera der Leporiden-Familie erklären würde. Nicht nur iſt die Färbung, Haarlänge und ſonſtige Beſchaf— fenheit des Pelzes bei den verſchiedenen zahmen Kaninchen-Raſſen außerordentlich mannichfaltig und in den extremen Gegenſätzen äußerſt abweichend, ſondern auch, was noch viel wichtiger iſt, die typiſche Form des Skelets und ſeiner einzelnen Theile, beſonders die Form des Schädels und des für die Syſtematik ſo wichtigen Gebiſſes, ferner das relative Längenverhältniß der Ohren, der Beine u. ſ. w. In allen dieſen Beziehungen weichen die Raſſen des zahmen Kanin— chens unbeſtritten viel weiter von einander ab, als alle die verſchie— denen Formen von wilden Kaninchen und Haſen, die als anerkannt „gute Species“ der Gattung Lepus über die ganze Erde zerſtreut ſind. Und dennoch behaupten Angeſichts dieſer klaren Thatſache die Gegner der Entwickelungstheorie, daß die letzteren, die wilden Arten, nicht von einer gemeinſamen Stammform abſtammen, während ſie dies bei den erſteren, den zahmen Raſſen ohne Weiteres zugeben. Cultivirte Raſſen und wilde Species. 129 Mit Gegnern, welche ſo abſichtlich ihre Augen vor dem ſonnenkla— ren Lichte der Wahrheit verſchließen, läßt ſich dann freilich nicht weiter ſtreiten. Während ſo für die Haustaube, für das zahme Kaninchen, für das Pferd u. ſ. w. trotz der merkwürdigen Verſchiedenheit ihrer Spiel— arten die Abſtammung von einer einzigen wilden ſogenannten „Spe— ties“ geſichert erſcheint, fo iſt es dagegen für einige Hausthiere, na— mentlich die Hunde, Schweine und Rinder, allerdings wahrſchein— licher, daß die mannichfaltigen Raſſen derſelben von mehreren wilden Stammarten abzuleiten ſind, welche ſich nachträglich im Culturzu— ſtande mit einander vermiſcht haben. Indeſſen iſt die Zahl dieſer ur— ſprünglichen wilden Stammarten immer viel geringer, als die Zahl der aus ihrer Vermiſchung und Züchtung hervorgegangenen Cultur— formen, und natürlich ſtammen auch jene erſteren urſprünglich von einer einzigen gemeinſamen Stammform der ganzen Gattung ab. Auf keinen Fall ſtammt jede beſondere Culturraſſe von einer eige— nen wilden Art ab. Im Gegenſatz hierzu behaupten faſt alle Landwirthe und Gärt— ner mit der größten Beſtimmtheit, daß jede einzelne, von ihnen ge— züchtete Raſſe von einer beſonderen wilden Stammart abſtammen müſſe, weil ſie die Unterſchiede der Raſſen ſcharf erkennen, die Ver— erbung ihrer Eigenſchaften ſehr hochſchätzen, und nicht bedenken, daß dieſelben erſt durch langſame Häufung kleiner, kaum merklicher Abän— derungen entſtanden ſind. Auch in dieſer Beziehung iſt die Verglei— chung der Culturraſſen mit den wilden Species äußerſt lehrreich. Von vielen Seiten, und namentlich von den Gegnern der Ent— wickelungstheorie, iſt die größte Mühe aufgewendet worden, irgend ein morphologiſches oder phyſiologiſches Merkmal, irgend eine charak— teriſtiſche Eigenſchaft aufzufinden, durch welche man die künſtlich ge— züchteten, cultivirten „Raſſen“ von den natürlich entſtandenen, wilden „Arten“ ſcharf und durchgreifend trennen könne. Alle dieſe Verſuche ſind gänzlich fehlgeſchlagen und haben nur mit um ſo größerer Sicher— heit zu dem entgegengeſetzten Reſultate geführt, daß eine ſolche Tren— Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 9 130 Baſtardzeugung zwiſchen Raſſen und Arten.“ nung gar nicht möglich iſt. Ich habe dieſes Verhältniß in meiner Kritik des Species-Begriffes ausführlich erörtert und durch Beiſpiele erläutert. (Gen. Morph. II, 323 — 364.) Nur eine Seite dieſer Frage mag hier kürzlich noch berührt wer— den, weil dieſelbe nicht allein von den Gegnern, ſondern ſelbſt von einigen der bedeutendſten Anhänger des Darwinismus, z. B. von Huxley !“), als eine der ſchwächſten Seiten deſſelben angeſehen wor— den iſt, nämlich das Verhältniß der Baſtardzeugung oder des Hybridismus. Zwiſchen cultivirten Raſſen und wilden Arten ſollte der Unterſchied beſtehen, daß die erſteren der Erzeugung fruchtbarer Baſtarde fähig ſein ſollten, die letzteren nicht. Je zwei verſchiedene cultivirte Raſſen oder wilde Varietäten einer Species ſollten in allen Fällen die Fähigkeit beſitzen, mit einander Baſtarde zu er— zeugen, welche ſich unter einander oder mit einer ihrer Elternformen fruchtbar vermiſchen und fortpflanzen könnten; dagegen ſollten zwei wirklich verſchiedene Species, zwei cultivirte oder wilde Arten einer Gattung, niemals die Fähigkeit beſitzen, mit einander Baſtarde zu zeugen, die unter einander oder mit einer der elterlichen Arten ſich fruchtbar kreuzen könnten. Was zunächſt die erſte Behauptung betrifft, ſo wird ſie einfach durch die Thatſache widerlegt, daß es Organismen giebt, die ſich mit ihren nachweisbaren Vorfahren überhaupt nicht mehr vermiſchen, alſo auch keine fruchtbare Nachkommenſchaft erzeugen können. So paart ſich z. B. unſer cultivirtes Meerſchweinchen nicht mehr mit ſeinem wilden braſilianiſchen Stammvater. Umgekehrt geht die Hauskatze von Paraguay, welche von unſerer europäiſchen Hauskatze abſtammt, keine eheliche Verbindung mehr mit dieſer ein. Zwiſchen verſchie— denen Raſſen unſerer Haushunde, z. B. zwiſchen den großen Neu— fundländern und den zwerghaften Schooßhündchen, iſt ſchon aus einfachen mechaniſchen Gründen eine Paarung unmöglich. Ein be— ſonderes intereſſantes Beiſpiel aber bietet das Porto-Santo-Kanin⸗ chen dar (Lepus Huxleyi). Auf der kleinen Inſel Porto-Santo bei Madeira wurden im Jahre 1419 einige Kaninchen ausgejept, Darwin's Haſenkaninchen und andere Baſtarde. 131 die an Bord eines Schiffes von einem zahmen ſpaniſchen Kaninchen geboren worden waren. Dieſe Thierchen vermehrten ſich in kurzer Zeit, da keine Raubthiere dort waren, ſo maſſenhaft, daß ſie zur Landplage wurden und ſogar eine dortige Kolonie zur Aufhebung zwangen. Noch gegenwärtig bewohnen ſie die Inſel in Menge, haben ſich aber im Laufe von 450 Jahren zu einer ganz eigenthümlichen Spielart — oder wenn man will „guten Art“ — entwickelt, aus— gezeichnet durch eigenthümliche Färbung, rattenähnliche Form, ge— ringe Größe, nächtliche Lebensweiſe und außerordentliche Wildheit. Das Wichtigſte jedoch iſt, daß ſich dieſe neue Art, die ich Lepus Huxleyi nenne, mit dem europäiſchen Kaninchen, von dem fie ab— ſtammt, nicht mehr kreuzt und keine Baſtarde mehr damit erzeugt. Auf der andern Seite kennen wir jetzt zahlreiche Beiſpiele von fruchtbaren echten Baſtarden, d. h. von Miſchlingen, die aus der Kreuzung von zwei ganz verſchiedenen Arten hervorgegangen ſind, und trotzdem ſowohl unter einander, als auch mit einer ihrer Stamm— arten ſich fortpflanzen. Den Botanikern ſind ſolche „Baſtard-Ar— ten“ (Species hybridae) längſt in Menge bekannt, z. B. aus den Gattungen der Diſtel (Cirsium), des Goldregen (Cytisus), der Brom— beere (Rubus) u. ſ. w. Aber auch unter den Thieren ſind dieſelben keineswegs ſelten, und vielleicht ſogar ſehr häufig. Man kennt fruchtbare Baſtarde, die aus der Kreuzung von zwei verſchiedenen Arten einer Gattung entſtanden ſind, aus mehreren Gattungen der Schmetterlings-Ordnung (Zygaena, Saturnia), der Karpfen-Familie, der Finken, Hühner, Hunde, Katzen u. ſ. w. Zu den intereſſan— teſten gehört das Haſen-Kaninchen (Lepus Darwinii), der Baſtard von unſern einheimiſchen Haſen und Kaninchen, welcher in Frankreich ſchon ſeit 1850 zu gaſtronomiſchen Zwecken in vielen Ge— nerationen gezüchtet worden iſt. Ich beſitze ſelbſt durch die Güte des Profeſſor Conrad, welcher dieſe Züchtungsverſuche auf ſeinem Gute wiederholt hat, ſolche Baſtarde, welche aus reiner Inzucht hervorge— gangen ſind, d. h. deren beide Eltern ſelbſt Baſtarde von einem Haſenvater und einer Kaninchenmutter ſind. Der ſo erzeugte Halb— 132 Darwin's Haſenkaninchen und andere Baftarde. blut-Baſtard, welchen ich Darwin zu Ehren benannt habe, ſcheint ſich in reiner Inzucht ſo gut, wie jede „echte Species“ durch viele Generationen fortzupflanzen. Obwohl im Ganzen mehr ſeiner Ka— ninchenmutter ähnlich, beſitzt derſelbe doch in der Bildung der Ohren und der Hinterbeine beſtimmte Eigenſchaften ſeines Haſenvaters. Das Fleiſch ſchmeckt vortrefflich, mehr haſenartig, obwohl die Farbe mehr kaninchenartig iſt. Nun ſind aber Haſe (Lepus timidus) und Kanin— chen (Lepus cuniculus) zwei ſo verſchiedene Species der Gattung Lepus, daß kein Syſtematiker ſie als Varietäten eines Genus aner— kennen wird. Auch haben beide Arten ſo verſchiedene Lebensweiſe und im wilden Zuſtande ſo große Abneigung gegen einander, daß ſie ſich aus freien Stücken nicht vermiſchen. Wenn man jedoch die neu— geborenen Jungen beider Arten zuſammen aufzieht, ſo kommt dieſe Abneigung nicht zur Entwickelung; ſie vermiſchen ſich mit einander und erzeugen den Lepus Darwinii. Ein anderes ausgezeichnetes Beiſpiel von Kreuzung verſchiedener Arten (wobei die beiden Species ſogar verſchiedenen Gattungen an— gehören!) liefern die fruchtbaren Baſtarde von Schafen und Ziegen, die in Chile ſeit langer Zeit zu induſtriellen Zwecken gezogen werden. Welche unweſentlichen Umſtände bei der geſchlechtlichen Vermiſchung die Fruchtbarkeit der verſchiedenen Arten bedingen, das zeigt der Um— ſtand, daß Ziegenböcke und Schafe bei ihrer Vermiſchung fruchtbare Baſtarde erzeugen, während Schafbock und Ziege ſich überhaupt ſelten paaren, und dann ohne Erfolg. So ſind alſo die Erſcheinungen des Hybridismus, auf welche man irrthümlicherweiſe ein ganz übertriebe— nes Gewicht gelegt hat, für den Speciesbegriff gänzlich bedeutungs— los. Die Baſtardzeugung ſetzt uns eben ſo wenig, als irgend eine andere Erſcheinung, in den Stand, die cultivirten Raſſen von den wilden Arten durchgreifend zu unterſcheiden. Dieſer Umſtand iſt aber von der größten Bedeutung für die Selectionstheorie. Siebenter Vortrag. Die Züchtungslehre oder Selectionstheorie. (Der Darwinismus.) Darwinismus (Selectionstheorie) und Lamarckismus (Deſcendenztheorie). Der Vorgang der künſtlichen Züchtung: Ausleſe (Selection) der verſchiedenen Einzel— weſen zur Nachzucht. Die wirkenden Urſachen der Umbildung: Abänderung, mit der Ernährung zuſammenhängend, und Vererbung, mit der Fortpflanzung zuſam⸗ menhängend. Mechaniſche Natur dieſer beiden phyſiologiſchen Functionen. Der Vorgang der natürlichen Züchtung: Ausleſe (Selection) durch den Kampf um's Daſein. Malthus' Bevölkerungstheorie. Mißverhältniß zwiſchen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der wirklichen (actuellen) Individuen jeder Organis— menart. Allgemeiner Wettkampf um die Exiſtenz, oder Mitbewerbung um die Erlangung der nothwendigen Lebensbedürfniſſe. Umbildende und züchtende Kraft dieſes Kampfes um's Daſein. Vergleichung der natürlichen und der künſtlichen Züchtung. Zuchtwahl im Menſchenleben. Militäriſche und mediciniſche Züchtung. Meine Herren! Wenn heutzutage häufig die geſammte Entwicke— lungstheorie, mit der wir uns in dieſen Vorträgen beſchäftigen, als Darwinismus bezeichnet wird, ſo geſchieht dies eigentlich nicht mit Recht. Denn wie Sie aus der geſchichtlichen Einleitung der letzten Vorträge geſehen haben werden, iſt ſchon zu Anfang unſeres Jahr— hunderts der wichtigſte Theil der organiſchen Entwickelungstheorie, nämlich die Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie, ganz deutlich ausgeſprochen, und insbeſondere durch Lamarck in die Naturwiſſen— ſchaft eingeführt worden. Man könnte daher dieſen Theil der Ent— wickelungstheorie, welcher die gemeinſame Abſtammung aller Thier— 134 Darwinismus und Lamarckismus. und Pflanzenarten von einfachſten gemeinſamen Stammformen be— hauptet, ſeinem verdienteſten Begründer zu Ehren mit vollem Rechte Lamarckismus nennen, wenn man einmal an den Namen eines einzelnen hervorragenden Naturforſchers das Verdienſt knüpfen will, eine ſolche Grundlehre zuerſt durchgeführt zu haben. Dagegen wür— den wir mit Recht als Darwinismus die Selectionstheorie oder Züchtungslehre zu bezeichnen haben, denjenigen Theil der Entwicke— lungstheorie, welcher uns zeigt, auf welchem Wege und warum die verſchiedenen Organismenarten aus jenen einfachſten Stammformen ſich entwickelt haben (Gen. Morph. II, 166). Allerdings finden wir die erſte Spur von einer Idee der natür— lichen Züchtung ſchon vierzig Jahre vor dem Erſcheinen von Dar— win's Werke. Im Jahre 1818 erſchien nämlich eine, bereits 1813 vor der Royal Society geleſene „Nachricht über eine Frau der weißen Raſſe, deren Haut zum Theil der eines Negers gleicht“. Der Ver— faſſer derſelben, Dr. W. C. Wells, führt an, daß Neger und Mu- latten ſich durch Immunität gegen gewiſſe Tropenkrankheiten vor der weißen Raſſe auszeichnen. Bei dieſer Gelegenheit bemerkt er, daß alle Thiere bis zu einem gewiſſen Grade abzuändern ſtreben, daß die Landwirthe durch Benutzung dieſer Eigenſchaft und durch Zuchtwahl ihre Hausthiere veredeln, und faͤhrt dann fort: „Was aber im letzten Falle durch Kunſt geſchieht, ſcheint mit gleicher Wirkſamkeit, wenn auch langſamer, bei der Bildung der Menſchenraſſen, die für die von ihnen bewohnten Gegenden eingerichtet ſind, durch die Na— tur zu geſchehen. Unter den zufälligen Varietäten von Menſchen, die unter den wenigen und zerſtreuten Einwohnern der mittleren Gegenden von Afrika auftreten, werden einige beſſer als andere die Krankheiten des Landes überſtehen. In Folge davon wird ſich dieſe Raſſe vermehren, während die Anderen abnehmen, und zwar nicht bloß weil ſie unfähig ſind, die Erkrankungen zu überſtehen, ſondern weil ſie nicht im Stande ſind, mit ihren kräftigeren Nachbarn zu concurriren. Ich nehme als ausgemacht an, daß die Farbe dieſer kräftigeren Raſſe dunkel ſein wird. Da aber die Neigung Varie— Andeutung der Selectionstheorie von Wells. 135 täten zu bilden noch beſteht, ſo wird ſich eine immer dunklere Raſſe im Laufe der Zeit ausbilden; und da die dunkelſte am beſten für das Klima paßt, ſo wird dieſe zuletzt in ihrer Heimath, wenn nicht die einzige, doch die herrſchende werden.“ Obwohl in dieſem Aufſatze von Wells das Princip der na— türlichen Züchtung deutlich ausgeſprochen und anerkannt iſt, ſo wird es doch bloß in ſehr beſchränkter Ausdehnung auf die Entſtehung der Menſchenraſſen angewendet und nicht weiter für den Urſprung der Thier- und Pflanzen-Arten verwerthet. Das hohe Verdienſt Darwin's, die Selectionstheorie ſelbſtſtändig ausgebildet und zur vollen und verdienten Geltung gebracht zu haben, wird durch jene frühere, verborgen gebliebene Bemerkung von Wells ebenſo wenig geſchmälert, als durch einige fragmentariſche Bemerkungen über na— türliche Züchtung von Patrick Matthew, die in einem 1831 erſchienenen Buche über „Schiffsbauholz und Baumceultur“ verſteckt ſind. Auch der berühmte Reiſende Alfred Wallace, der unab— hängig von Darwin die Selectionstheorie ausgebildet und 1858 gleichzeitig mit Darwin's erſter Mittheilung veröffentlicht hatte, ſteht ſowohl hinſichtlich der tiefen Auffaſſung, als der ausgedehnten Anwendung derſelben, weit hinter ſeinem größeren und älteren Lands— manne zurück, der durch ſeine höchſt umfaſſende und geniale Aus— bildung der ganzen Lehre ſich gerechten Anſpruch erworben hat, die Theorie mit ſeinem Namen verbunden zu ſehen. Dieſe Züchtungslehre oder Selectionstheorie, der Darwinismus im eigentlichen Sinne, zu deſſen Betrachtung wir uns jetzt wenden, beruht weſentlich (wie es bereits in dem letzten Vortrage angedeutet wurde) auf der Vergleichung derjenigen Thätigkeit, welche der Menſch bei der Züchtung der Hausthiere und Gartenpflanzen ausübt, mit denjenigen Vorgängen, welche in der freien Natur, außerhalb des Culturzuſtandes, zur Entſtehung neuer Arten und neuer Gattungen führen. Wir müſſen uns, um dieſe letzten Vorgänge zu verſtehen, alſo zunächſt zur künſtlichen Züchtung des Menſchen wenden, wie es auch von Darwin ſelbſt geſchehen iſt. Wir müſſen unterſuchen, 136 Vorgang der künſtlichen Züchtung. welche Erfolge der Menſch durch ſeine künſtliche Züchtung erzielt, und welche Mittel er anwendet, um dieſe Erfolge hervorzubringen; und dann müſſen wir uns fragen: „Giebt es in der Natur ähnliche Kräfte, ähnlich wirkende Urſachen, wie ſie der Menſch hier anwendet?“ Was nun zunächſt die künſtliche Züchtung betrifft, ſo ge— hen wir von der Thatſache aus, die zuletzt erörtert wurde, daß de— ren Producte in nicht ſeltenen Fällen viel mehr von einander ver— ſchieden ſind, als die Erzeugniſſe der natürlichen Züchtung. In der That weichen die Raſſen oder Spielarten oft in viel höherem Grade und in viel wichtigeren Eigenſchaften von einander ab, als es viele ſogenannte „gute Arten“ oder Species, ja bisweilen ſogar mehr, als es ſogenannte „gute Gattungen“ im Naturzuſtande thun. Ver— gleichen Sie z. B. die verſchiedenen Aepfelſorten, welche die Gar— tenkunſt von einer und derſelben urſprünglichen Apfelform gezogen hat, oder vergleichen Sie die verſchiedenen Pferderaſſen, welche die Thierzüchter aus einer und derſelben urſprünglichen Form des Pfer— des abgeleitet haben, ſo finden Sie leicht, daß die Unterſchiede der am meiſten verſchiedenen Formen ganz außerordentlich bedeutend ſind, viel bedeutender, als die ſogenannten „ſpecifiſchen Unterſchiede“, welche von den Zoologen und Botanikern bei Vergleichung der wil— den Arten angewandt werden, um darauf hin verſchiedene ſogenannte _ „gute Arten“ zu unterſcheiden. Wodurch bringt nun der Menſch dieſe außerordentliche Ver— ſchiedenheit oder Divergenz mehrerer Formen hervor, die erwieſener⸗ maßen von einer und derſelben Stammform abſtammen? Laſſen Sie uns zur Beantwortung dieſer Frage einen Gärtner verfolgen, der bemüht iſt, eine neue Pflanzenform zu züchten, die ſich durch eine ſchöne Blumenfarbe auszeichnet. Derſelbe wird zunächſt unter einer großen Anzahl von Pflanzen, welche Sämlinge einer und derſelben Pflanze find‘, eine Auswahl oder Selection treffen. Er wird die— jenigen Pflanzen herausſuchen, welche die ihm erwünſchte Blüthen— farbe am meiſten ausgeprägt zeigen. Gerade dieſe Blüthenfarbe iſt ein ſehr veränderlicher Gegenſtand. Zum Beiſpiel zeigen Pflanzen, Verfahren bei der künſtlichen Züchtung. 137 welche in der Regel eine weiße Blüthe beſitzen, ſehr häufig Abwei— chungen in's Blaue oder Rothe hinein. Geſetzt nun, der Gärtner wünſcht eine ſolche, gewöhnlich weiß blühende Pflanze in rother Farbe zu erhalten, ſo würde er ſehr ſorgfältig unter den mancherlei verſchiedenen Individuen, die Abkömmlinge einer und derſelben Sa— menpflanze ſind, diejenigen herausſuchen, die am deutlichſten einen rothen Anflug zeigen, und dieſe ausſchließlich ausſäen, um neue In— dividuen derſelben Art zu erzielen. Er würde die übrigen Samen— pflanzen, die weiße oder weniger deutlich rothe Farbe zeigen, aus— fallen laſſen und nicht weiter cultiviren. Ausſchließlich die einzelnen Pflanzen, deren Blüthe das ſtärkſte Roth zeigen, würde er fortpflan— zen und die Samen, welche dieſe auserleſenen Pflanzen bringen, würde er wieder ausſäen. Von den Samenpflanzen dieſer zweiten Generation würde er wiederum diejenigen ſorgfältig herausleſen, die das Rothe, das nun der größte Theil der Samenpflanzen zeigen würde, am deutlichſten ausgeprägt haben. Wenn eine ſolche Aus— leſe durch eine Reihe von ſechs oder zehn Generationen hindurch geſchieht, wenn immer mit großer Sorgfalt diejenige Blüthe ausge— ſucht wird, die das tiefſte Roth zeigt, ſo wird der Gärtner in der ſechſten oder zehnten Generation eine Pflanze mit rein rother Blü— thenfarbe bekommen, wie ſie ihm erwünſcht war. Ebenſo verfährt der Landwirth, welcher eine beſondere Thier— raſſe züchten will, alſo z. B. eine Schafſorte, welche ſich durch be— ſonders feine Wolle auszeichnet. Das einzige Verfahren, welches bei der Vervollkommnung der Wolle angewandt wird, beſteht darin, daß der Landwirth mit der größten Sorgfalt und Ausdauer unter der ganzen Schafherde diejenigen Individuen ausſucht, die die feinſte Wolle haben. Dieſe allein werden zur Nachzucht verwandt, und unter der Nachkommenſchaft dieſer Auserwählten werden abermals diejenigen herausgeſucht, die ſich durch die feinſte Wolle auszeich— nen u. ſ. f. Wenn dieſe ſorgfältige Ausleſe eine Reihe von Gene— rationen hindurch fortgeſetzt wird, ſo zeichnen ſich zuletzt die aus— erleſenen Zuchtſchafe durch eine Wolle aus, welche ſehr auffallend, 138 Zuchtwahl-Vermögen des Menſchen. und zwar nach dem Wunſche und zu Gunſten des Züchters, von der Wolle des urſprünglichen Stammvaters verſchieden iſt. Die Unterſchiede der einzelnen Individuen, auf die es bei die— ſer künſtlichen Ausleſe ankommt, ſind ſehr klein. Ein gewöhnlicher ungeübter Menſch iſt nicht im Stande, die ungemein feinen Unter— ſchiede der Einzelweſen zu erkennen, welche ein geübter Züchter auf den erſten Blick wahrnimmt. Das Geſchäft des Züchters iſt keine leichte Kunſt; daſſelbe erfordert einen außerordentlich ſcharfen Blick, eine große Geduld, eine äußerſt ſorgſame Behandlungsweiſe der zu züchtenden Organismen. Bei jeder einzelnen Generation fallen die Unterſchiede der Individuen dem Laien vielleicht gar nicht in das Auge; aber durch die Häufung dieſer feinen Unterſchiede während einer Reihe von Generationen wird die Abweichung von der Stamm— form zuletzt ſehr bedeutend. Sie wird ſo auffallend, daß endlich die künſtlich erzeugte Form von der urſprünglichen Stammform in weit höherem Grade abweichen kann, als zwei ſogenannte gute Arten im Naturzuſtande thun. Die Züchtungskunſt iſt jetzt ſo weit gediehen, daß der Menſch oft willkürlich beſtimmte Eigenthümlichkeiten bei den eultivirten Arten der Thiere und Pflanzen erzeugen kann. Man kann an die geübteſten Gärtner und Landwirthe beſtimmte Aufträge geben, und z. B. ſagen: Ich wünſche dieſe Pflanzenart in der und der Farbe mit der und der Zeichnung zu haben. Wo die Züchtung ſo vervollkommnet iſt, wie in England, ſind die Gärtner und Land— wirthe häufig im Stande, innerhalb einer beſtimmten Zeitdauer, nach Verlauf einer Anzahl von Generationen, das verlangte Reſultat auf Beſtellung zu liefern. Einer der erfahrenſten engliſchen Züchter, Sir John Sebright, konnte ſagen „er wolle eine ihm aufge— gebene Feder in drei Jahren hervorbringen, er bedürfe aber ſechs Jahre, um eine gewünſchte Form des Kopfes und Schnabels zu erlangen“. Bei der Zucht der Merinoſchafe in Sachſen werden die Thiere dreimal wiederholt neben einander auf Tiſche gelegt und auf das Sorgfältigſte vergleichend ſtudirt. Jedesmal werden nur die beſten Schafe, mit der feinſten Wolle, ausgeleſen, ſo daß zuletzt von Individuelle Unterſchiede aller Organismen. 139 einer großen Menge nur einzelne wenige, aber ganz auserleſen feine Thiere übrig bleiben. Nur dieſe letzten werden zur Nachzucht ver— wandt. Es ſind alſo, wie Sie ſehen, ungemein einfache Urſachen, mittelſt welcher die künſtliche Züchtung zuletzt große Wirkungen her— vorbringt, und dieſe großen Wirkungen werden nur erzielt durch Summirung der einzelnen an ſich ſehr unbedeutenden Unterſchiede, die durch fortwährend wiederholte Ausleſe oder Selection in einem über— raſchenden Maaße vergrößert werden. Ehe wir nun zur Vergleichung dieſer künſtlichen Züchtung mit der natürlichen übergehen, wollen wir uns klar machen, welche na— türlichen Eigenſchaften der Organismen der künſtliche Züchter oder Cultivateur benutzt. Man kann alle verſchiedenen Eigenſchaften, die hierbei in das Spiel kommen, ſchließlich zurückführen auf zwei phy— ſiologiſche Grundeigenſchaften des Organismus, die ſämmtlichen Thie— ren und Pflanzen gemeinſchaftlich ſind, und die mit den beiden Thä— tigkeiten der Fortpflanzung und Ernährung auf das Innigſte zuſammenhängen. Dieſe beiden Grundeigenſchaften ſind die Erblich— keit oder die Fähigkeit der Vererbung und die Veränderlich— keit oder die Fähigkeit der Anpaſſung. Der Züchter geht aus von der Thatſache, daß alle Individuen einer und derſelben Art ver— ſchieden ſind, wenn auch in ſehr geringem Grade, eine Thatſache, die ſowohl von den Organismen im wilden wie im Culturzuſtande gilt. Wenn Sie ſich in einem Walde umſehen, der nur aus einer einzigen Baumart, z. B. Buche, beſteht, werden Sie ganz gewiß im ganzen Walde nicht zwei Bäume dieſer Art finden, die abſolut gleich ſind, die in der Form der Veräſtelung, in der Zahl der Zweige und Blätter, der Blüthen und Früchte, ſich vollkommen gleichen. Es finden ſich individuelle Unterſchiede überall, gerade ſo wie bei dem Menſchen. Es giebt nicht zwei Menſchen, welche abſolut identiſch ſind, voll— kommen gleich in Größe, Geſichtsbildung, Zahl der Haare, Tempe— rament, Charakter u. ſ. w. Ganz daſſelbe gilt aber auch von den Einzelweſen aller verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten. Bei den meiſten Organismen erſcheinen allerdings die Unterſchiede für den 140 Anpaſſung und Ernährung. Laien ſehr geringfügig. Es kommt aber hierbei weſentlich an auf die Uebung in der Erkenntniß dieſer oft ſehr feinen Formcharaktere. Ein Schafhirt z. B. kennt in ſeiner Herde jedes einzelne Individuum bloß durch genaue Beobachtung der Eigenſchaften, während ein Laie nicht im Stande iſt, alle die verſchiedenen Individuen einer und derſelben Herde zu unterſcheiden. Die Thatſache der individuellen Verſchiedenheit iſt die äußerſt wichtige Grundlage, auf welche ſich das ganze Züchtungsvermögen des Menſchen gründet. Wenn nicht überall jene individuellen Unterſchiede wären, ſo könnte er nicht aus einer und derſelben Stammform eine Maſſe verſchiedener Spielarten oder Raſſen erziehen. Wir müſſen von vornherein den Grundſatz feſthalten, daß dieſe Erſcheinung ganz allgemein iſt. Wir müſſen nothwendig dieſelbe auch da vorausſetzen, wo wir mit unſeren gro— ben ſinnlichen Hülfsmitteln nicht im Stande ſind, die Unterſchiede zu erkennen. Bei den höheren Pflanzen, bei den Phanerogamen oder Blüthenpflanzen, wo die einzelnen individuellen Stöcke ſo zahlreiche Unterſchiede in der Zahl der Aeſte und Blätter, in der Bildung des Stammes und der Aeſte zeigen, können wir faſt immer jene Unter— ſchiede leicht wahrnehmen. Aber bei den niederen Pflanzen, z. B. Moſen, Algen, Pilzen, und bei den meiſten Thieren, namentlich den niederen Thieren, iſt dies nicht der Fall. Die individuelle Unter— ſcheidung aller Einzelweſen einer Art iſt hier meiſtens äußerſt ſchwierig oder ganz unmöglich. Es liegt jedoch kein Grund vor, bloß denjeni— gen Organismen eine individuelle Verſchiedenheit zuzuſchreiben, bei denen wir ſie ſogleich erkennen können. Vielmehr können wir dieſelbe mit voller Sicherheit als allgemeine Eigenſchaft aller Organismen annehmen, und wir können dies um ſo mehr, da wir im Stande ſind, die Veränderlichkeit der Individuen zurückzuführen auf die mechaniſchen Verhältniſſe der Ernährung. Wir können zeigen, daß wir durch Beeinfluſſung der Ernährung im Stande ſind, auffallende individuelle Unterſchiede da hervorzubringen, wo ſie unter nicht veränderten Er— nährungsverhältniſſen nicht wahrzunehmen ſein würden. Die vie— a Vererbung und Fortpflanzung. 141 len verwickelten Bedingungen der Ernährung ſind aber niemals bei zwei Individuen einer Art abſolut gleich. Ebenſo nun, wie wir die Veränderlichkeit oder Anpaſſungs— fähigkeit in urſächlichem Zuſammenhang mit den allgemeinen Ernäh— rungsverhältniſſen der Thiere und Pflanzen ſehen, ebenſo finden wir die zweite fundamentale Lebenserſcheinung, mit der wir es hier zu thun haben, nämlich die Vererbungsfähigkeit oder Erblichkeit, in unmittelbarem Zuſammenhang mit den Erſcheinungen der Fort— pflanzung. Das zweite, was der Landwirth und der Gärtner bei der künſtlichen Züchtung thut, nachdem er ausgeſucht, alſo die Ver— änderlichkeit benutzt hat, it, daß er die veränderten Formen feſt— zuhalten und auszubilden ſucht durch die Vererbung. Er geht aus von der allgemeinen Thatſache, daß die Kinder ihren Eltern ähnlich ſind: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Dieſe Erſcheinung der Erblichkeit iſt bisher in ſehr geringem Maaße wiſſenſchaftlich unter— ſucht worden, was zum Tbeil daran liegen mag, daß die Erſcheinung eine zu alltägliche iſt. Jedermann findet es ganz natürlich, daß eine jede Art ihres Gleichen erzeugt, daß nicht plötzlich ein Pferd eine Gans oder eine Gans einen Froſch erzeugt. Man iſt gewöhnt, dieſe alltäg— lichen Vorgänge der Erblichkeit als ſelbſtverſtändlich anzuſehen. Nun iſt aber dieſe Erſcheinung nicht ſo ſelbſtverſtändlich einfach, wie ſie auf den erſten Blick erſcheint, und namentlich wird ſehr häufig bei der Be— trachtung der Erblichkeit überſehen, daß die verſchiedenen Nachkom— men, die von einem und demſelben Elternpaar herſtammen, in der That niemals einander ganz gleich, auch niemals abſolut gleich den Eltern, ſondern immer ein wenig verſchieden ſind. Wir können den Grundſatz der Erblichkeit nicht dahin formuliren: „Gleiches erzeugt Gleiches“, ſondern wir müſſen ihn vielmehr bedingter dahin ausſpre— chen: „Aehnliches erzeugt Aehnliches“. Der Gärtner wie der Land— wirth benutzt in dieſer Beziehung die Thatſache der Vererbung im wei— teſten Umfang, und zwar mit beſonderer Rückſicht darauf, daß nicht allein diejenigen Eigenſchaften von den Organismen vererbt werden, die ſie bereits von den Eltern ererbt haben, ſondern auch diejenigen, 142 Mechanische Natur der Erblichkeit und Veränderlichkeit. die ſie ſelbſt erworben haben. Das iſt ein höchſt wichtiger Punkt, auf den ſehr Viel ankommt. Der Organismus vermag nicht allein auf ſeine Nachkommen diejenigen Eigenſchaften, diejenige Geſtalt, Farbe, Größe zu übertragen, die er ſelbſt von ſeinen Eltern ererbt hat; er vermag auch Abänderungen dieſer Eigenſchaften zu vererben, die er erſt während ſeines Lebens durch den Einfluß äußerer Umſtände, des Klimas, der Nahrung, der Erziehung u. ſ. w. erworben hat. Das ſind die beiden Grundeigenſchaften der Thiere und Pflan— zen, welche die Züchter benutzen, um neue Formen zu erzeugen. So außerordentlich einfach das theoretiſche Princip der Züchtung iſt, ſo ſchwierig und ungeheuer verwickelt iſt im Einzelnen die praktiſche Verwerthung dieſes einfachen Princips. Der denkende, planmäßig arbeitende Züchter muß die Kunſt verſtehen, die allgemeine Wechſel— wirkung zwiſchen den beiden Grundeigenſchaften der Erblichkeit und Veränderlichkeit richtig in jedem einzelnen Falle zu verwerthen. Wenn wir nun die eigentliche Natur jener beiden wichtigen Le— benseigenſchaften unterſuchen, ſo finden wir, daß wir ſie, gleich allen phyſiologiſchen Funktionen, zurückführen können auf phyſikaliſche und chemiſche Urſachen, auf Eigenſchaften und Bewegungserſcheinungen der Materien, aus denen der Körper der Thiere und Pflanzen beſteht. Wie wir ſpäter bei einer genaueren Betrachtung dieſer beiden Fune— tionen zu begründen haben werden, iſt ganz allgemein ausgedrückt die Vererbung weſentlich bedingt durch die materielle Continuität, durch die theilweiſe ſtoffliche Gleichheit des erzeugenden und des ge— zeugten Organismus, des Kindes und der Eltern. Bei jedem Zeu— gungsakte wird eine gewiſſe Menge von Protoplasma oder eiweiß— artiger Materie von den Eltern auf das Kind übertragen, und mit dieſem Protoplasma wird zugleich die demſelben individuell eigenthümliche Molekular-Bewegung übertragen. Dieſe molekularen Bewegungserſcheinungen des Protoplasma, welche die Lebenserſcheinungen hervorrufen und als die wahre Urſache derſelben wirken, ſind aber bei allen lebenden Individuen mehr oder weniger verſchieden, ſie ſind unendlich mannichfaltig. Darwin's Theorie vom Kampfe um's Daſein. 143 Andererſeits iſt die Anpaſſung oder Abänderung lediglich die Folge der materiellen Einwirkungen, welche die Materie des Orga— nismus durch die denſelben umgebende Materie erfährt, in der weite— ſten Bedeutung des Wortes durch die Lebensbedingungen. Die äuße— ren Einwirkungen der letzteren werden vermittelt durch die molekularen Ernährungsvorgänge in den einzelnen Körpertheilen. Bei jedem An— paſſungsakte wird im ganzen Individuum oder in einem Theile deſ— ſelben die individuelle, jedem Theile eigenthümliche Molekularbewe— gung des Protoplasma durch mechaniſche, durch phyſikaliſche oder chemiſche Einwirkungen anderer Körper geſtört und verändert. Es werden alſo die angeborenen, ererbten Lebensbewegungen des Plas— ma, die molekularen Bewegungserſcheinungen der kleinſten eiweißar— tigen Körpertheilchen dadurch mehr oder weniger modificirt. Die Er— ſcheinung der Anpaſſung oder Abänderung beruht mithin auf der ma— teriellen Einwirkung, welche der Organismus durch ſeine Umgebung oder ſeine Exiſtenzbedingungen erleidet, während die Vererbung in der theilweiſen Identität des zeugenden und des erzeugten Organis— mus begründet iſt. Das ſind die eigentlichen, einfachen, mechani— ſchen Grundlagen des künſtlichen Züchtungsproceſſes. Darwin frug ſich nun: Kommt ein ähnlicher Züchtungsproceß in der Natur vor, und giebt es in der Natur Kräfte, welche die Thä— ügkeit des Menſchen bei der künſtlichen Züchtung erſetzen können? Giebt es ein natürliches Verhältniß unter den wilden Thieren und Pflanzen, welches züchtend wirken kann, welches ausleſend wirkt in ähnlicher Weiſe, wie bei der künſtlichen Zuchtwahl oder Züchtung der planmäßige Wille des Menſchen eine Auswahl übt? Auf die Entdeckung eines ſolchen Verhältniſſes kam hier alles an und ſie ge— lang Darwin in ſo befriedigender Weiſe, daß wir eben deshalb ſeine Züchtungslehre oder Selectionstheorie als vollkommen ausreichend be— trachten, um die Entſtehung der wilden Thier- und Pflanzenarten mechaniſch zu erklären. Dasjenige Verhältniß, welches im freien Na— turzuſtande züchtend und umbildend auf die Formen der Thiere und 144 Darwin's Theorie vom Kampfe um's Dafein. Pflanzen einwirkt, bezeichnet Darwin mit dem Ausdruck: „Kampf um's Daſein“ (Struggle for life). Der „Kampf um's Daſein“ iſt raſch ein Stichwort des Tages geworden. Trotzdem iſt dieſe Bezeichnung vielleicht in mancher Be— ziehung nicht ganz glücklich gewählt, und würde wohl ſchärfer ge— faßt werden können als „Mitbewerbung um die nothwendi— gen Exiſtenzbedürfniſſe“. Man hat nämlich unter dem „Kampfe um das Daſein“ manche Verhältniſſe begriffen, die eigentlich im ſtren— gen Sinne nicht hierher gehören. Zu der Idee des „Struggle for life“ gelangte Darwin, wie aus dem im letzten Vortrage mitge— theilten Briefe erſichtlich iſt, durch das Studium des Buches von Mal— thus „über die Bedingung und die Folgen der Volksvermehrung“. In dieſem wichtigen Werke wurde der Beweis geführt, daß die Zahl der Menſchen im Ganzen durchſchnittlich in geometriſcher Progreſſion wächſt, während die Menge ihrer Nahrungsmittel nur in arithmeti— ſcher Progreſſion zunimmt. Aus dieſem Mißverhältniſſe entſprin— gen eine Maſſe von Uebelſtänden in der menſchlichen Geſellſchaft, welche einen beſtändigen Wettkampf der Menſchen um die Erlangung der nothwendigen, aber nicht für Alle ausreichenden Unterhaltsmittel veranlaſſen. Darwin's Theorie vom Kampfe um das Daſein iſt gewiſſer— maßen eine allgemeine Anwendung der Bevölkerungstheorie von Mal— thus auf die Geſammtheit der organiſchen Natur. Sie geht von der Erwägung aus, daß die Zahl der möglichen organiſchen Indi— viduen, welche aus den erzeugten Keimen hervorgehen könnten, viel größer iſt, als die Zahl der wirklichen Individuen, welche that— ſächlich gleichzeitig auf der Erdoberfläche leben. Die Zahl der möglichen oder potentiellen Individuen wird uns gegeben durch die Zahl der Eier und der ungeſchlechtlichen Keime, welche die Organismen er— zeugen. Die Zahl dieſer Keime, aus deren jedem unter günſtigen Verhältniſſen ein Individuum entſtehen könnte, iſt ſehr viel größer, als die Zahl der wirklichen oder aetuellen Individuen, di. h. derjenigen, welche wirklich aus dieſen Keimen entſtehen, zum Leben Urſachen des Kampfes um's Dafein. 145 gelangen und ſich fortpflanzen. Die bei weitem größte Zahl aller Keime geht in der früheſten Lebenszeit zu Grunde, und es ſind im— mer nur einzelne bevorzugte Organismen, welche ſich ausbilden kön— nen, welche namentlich die erſte Jugendzeit glücklich überſtehen und ſchließlich zur Fortpflanzung gelangen. Dieſe wichtige Thatſache wird einfach bewieſen durch die Vergleichung der Eierzahl bei den einzelnen Arten mit der Zahl der Individuen, die von dieſen Arten exiſtiren. Dieſe Zahlenverhältniſſe zeigen die auffallendſten Widerſprüche. Es giebt z. B. Hühnerarten, welche ſehr zahlreiche Eier legen, und die dennoch zu den ſeltenſten Vögeln gehören; und derjenige Vogel, der der gemeinſte von allen ſein ſoll, der Eisſturmvogel (Procellaria glacia- lis), legt nur ein einziges Ei. Ebenſo iſt das Verhältniß bei anderen Thieren. Es giebt viele, ſehr ſeltene, wirbelloſe Thiere, welche eine ungeheure Maſſe von Eiern legen; und wieder andere, die nur ſehr wenige Eier produciren und doch zu den gemeinſten Thieren gehören. Denken Sie z. B. an das Verhältniß, welches ſich bei den menſchlichen Bandwürmern findet. Jeder Bandwurm erzeugt binnen kurzer Zeit Millionen von Eiern, während der Menſch, der den Bandwurm be— herbergt, eine viel geringere Zahl Eier in ſich bildet; und dennoch iſt glücklicher Weiſe die Zahl der Bandwürmer viel geringer, als die der Menſchen. Ebenſo find unter den Pflanzen viele prachtvolle Orchi— deen, die Tauſende von Samen erzeugen, ſehr ſelten, und einige aſterähnliche Pflanzen (Compoſiten), die nur wenige Samen bilden, äußerſt gemein. Dieſe wichtige Thatſache ließe ſich noch durch eine ungeheure Maſſe anderer Beiſpiele erläutern. Es bedingt alſo offenbar nicht die Zahl der wirklich vorhandenen Keime die Zahl der ſpäter in's Leben treten— den und ſich am Leben erhaltenden Individuen, ſondern es iſt viel— mehr die Zahl dieſer letzteren durch ganz andere Verhältniſſe bedingt, zumal durch die Wechſelbeziehungen, in denen ſich der Organismus zu ſeiner organiſchen, wie anorganiſchen Umgebung befindet. Jeder Organismus kämpft von Anbeginn ſeiner Exiſtenz an mit einer An— zahl von feindlichen Einflüſſen, er kämpft mit Thieren, welche von Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 10 146 Allgemeinheit des Kampfes um's Daſein. dieſem Organismus leben, denen er als natürliche Nahrung dient, mit Raubthieren und mit Schmarotzerthieren; er kämpft mit anorgani— ſchen Einflüſſen der verſchiedenſten Art, mit Temperatur, Witterung und anderen Umſtänden; er kämpft aber (und das iſt viel wichtiger!, vor allem mit den ihm ähnlichſten, gleichartigen Organismen. Jedes Individuum einer jeden Thier- und Pflanzenart iſt im heftigſten Wett— ſtreit mit den anderen Individuen derſelben Art begriffen, die mit ihm an demſelben Orte leben. Die Mittel zum Lebensunterhalt ſind in der Oekonomie der Natur nirgends in Fülle ausgeſtreut, vielmehr im Ganzen ſehr beſchränkt, und nicht entfernt für die Maſſe von In— dividuen ausreichend, die ſich aus den Keimen entwickeln könnte. Da— her müſſen bei den meiſten Thier- und Pflanzenarten die jugendlichen Individuen es ſich ſehr ſauer werden laſſen, um zu den nöthigen Mit— teln des Lebensunterhaltes zu gelangen; nothwendiger Weiſe entwickelt ſich daraus ein Wettkampf zwiſchen denſelben um die Erlangung die— ſer unentbehrlichen Exiſtenzbedingungen. 8 Dieſer große Wettkampf um die Lebensbedürfniſſe findet überall und jederzeit ſtatt, ebenſo bei den Menſchen und Thieren, wie bei den Pflanzen, bei welchen auf den erſten Blick dies Verhältniß nicht ſo klar am Tage zu liegen ſcheint. Wenn Sie ein Feld betrachten, welches ſehr reichlich mit Weizen beſäet iſt, ſo kann von den zahlreichen jun— gen Weizenpflanzen (vielleicht von einigen Tauſenden), die auf einem ganz beſchränkten Raume emporkeimen, nur ein ganz kleiner Bruch— theil ſich am Leben erhalten. Es findet da ein Wettkampf ſtatt um den Bodenraum, den jede Pflanze braucht, um ihre Wurzel zu be— feſtigen, ein Wettkampf um Sonnenlicht und Feuchtigkeit. Und ebenſo finden ſie bei jeder Thierart, daß alle Individuen einer und derſelben Art mit einander ſtreiten um die Erlangung der unentbehr— lichen Lebensmittel, der Exiſtenzbedingungen im weiteren Sinne des Worts. Allen ſind ſie gleich unentbehrlich; aber nur wenigen werden ſie wirklich zu Theil. Alle ſind berufen; aber wenige ſind auser— wählt! Die Thatſache des großen Wettkampfes iſt ganz allgemein. Sie brauchen bloß Ihren Blick auf die menſchliche Geſellſchaft zu len— Züchtende Wirkung des Kampfes um's Daſein. 147 ken, in der ja überall, in allen verſchiedenen Fächern der menſchlichen Thätigkeit, dieſer Wettkampf ebenfalls exiſtirt. Auch hier werden die Verhältniſſe des Wettkampfes weſentlich durch die freie Concurrenz der verſchiedenen Arbeiter einer und derſelben Klaſſe beſtimmt. Auch hier, wie überall, ſchlägt dieſer Wettkampf zum Vortheil der Sache aus, zum Vortheil der Arbeit, welche der Gegenſtand der Concur— renz iſt. Je größer und allgemeiner der Wettkampf oder die Con— currenz, deſto ſchneller häufen ſich die Verbeſſerungen und Erfindun— gen auf dieſem Arbeitsgebiete, deſto mehr vervollkommnen ſich die Arbeiter. Nun iſt offenbar die Stellung der verſchiedenen Individuen in dieſem Kampfe um das Daſein ganz ungleich. Ausgehend wieder von der thatſächlichen Ungleichheit der Individuen, müſſen wir überall nothwendig annehmen, daß nicht alle Individuen einer und derſelben Art gleich günſtige Ausſichten haben. Schon von vornherein ſind die— ſelben durch ihre verſchiedenen Kräfte und Fähigkeiten verſchieden im Wettkampfe geſtellt, abgeſehen davon, daß die Exiſtenzbedingungen an jedem Punkt der Erdoberfläche verſchieden ſind und verſchieden einwirken. Offenbar waltet hier ein unendlich verwickeltes Getriebe von Einwirkungen, die im Vereine mit der urſprünglichen Ungleichheit der Individuen während des beſtehenden Wettkampfes um die Er— langung der Exiſtenzbedingungen einzelne Individuen bevorzugen, an— dere benachtheiligen. Die bevorzugten Individuen werden über die anderen den Sieg erlangen, und während die letzteren in mehr oder weniger früher Zeit zu Grunde gehen, ohne Nachkommen zu hinter— laſſen, werden die erſteren allein jene überleben können und ſchließlich zur Fortpflanzung gelangen. Indem alſo vorausſichtlich oder doch vor— wiegend die im Kampfe um das Daſein begünſtigten Einzelweſen zur Fortpflanzung gelangen, werden wir (ſchon allein in Folge dieſes Ver— hältniſſes) in der nächſten Generation, die von dieſer erzeugt wird, Unterſchiede von der vorhergehenden wahrnehmen. Es werden ſchon die Individuen dieſer zweiten Generation, wenn auch nicht alle, doch zum Theile, durch Vererbung den individuellen Vortheil überkommen 10 * \ 148 Umbildende Wirkung des Kampfes um's Dafein. haben, durch welchen ihre Eltern über deren Nebenbuhler den Sieg davon trugen. Nun wird aber — und das iſt ein ſehr wichtiges Vererbungs— gefeg — wenn eine Reihe von Generationen hindurch eine ſolche Uebertragung eines günſtigen Charakters ſtattfindet, derſelbe nicht ein— fach in der urſprünglichen Weiſe übertragen, ſondern er wird fort— während gehäuft und geſtärkt, und er gelangt ſchließlich in einer ſpä— teren Generation zu einer Stärke, welche dieſe Generation ſchon ſehr weſentlich von der urſprünglichen Stammform unterſcheidet. Laſſen Sie uns zum Beiſpiel eine Anzahl von Pflanzen einer und derſelben Art betrachten, die an einem ſehr trocknen Standort zuſammenwachſen. Da die Haare der Blätter für die Aufnahme von Feuchtigkeit aus der Luft ſehr nützlich ſind, und da die Behaarung der Blätter ſehr verän— derlich iſt, ſo werden an dieſem ungünſtigen Standorte, wo die Pflan— zen direct mit dem Mangel an Waſſer kämpfen und dann noch einen Wettkampf unter einander um die Erlangung des Waſſers beſtehen, die Individuen mit den dichteſt behaarten Blättern bevorzugt ſein. Dieſe werden allein aushalten, während die anderen, mit kahleren Blättern, zu Grunde gehen; die behaarteren werden ſich fortpflanzen und die Abkömmlinge derſelben werden ſich durchſchnittlich durch dichte und ſtarke Behaarung mehr auszeichnen, als es bei den Individuen der erſten Generation der Fall war. Geht dieſer Prozeß an einem und demſelben Orte mehrere Generationen fort, ſo entſteht ſchließlich eine ſolche Häufung des Charakters, eine ſolche Vermehrung der Haare auf der Blattoberfläche, daß eine ganz neue Art vorzuliegen ſcheint. Dabei iſt zu berückſichtigen, daß in Folge der Wechſelbezie— hungen aller Theile jedes Organismus zu einander in der Regel nicht ein einzelner Theil ſich verändern kann, ohne zugleich Aenderungen in anderen Theilen nach ſich zu ziehen. Wenn alſo im letzten Beiſpiel die Zahl der Haare auf den Blättern bedeutend zunimmt, ſo wird dadurch anderen Theilen eine gewiſſe Menge von Nahrungsmaterial entzogen; das Material, welches zur Blüthenbildung oder Samen— bildung verwendet werden könnte, wird verringert, und es wird . 2 Vergleichung der natürlichen und der künſtlichen Züchtung. 149 dann die geringere Größe der Blüthe oder des Samens die mittelbare oder indirecte Folge des Kampfes um's Daſein werden, welcher zu— nächſt nur eine Veränderung der Blätter bewirkte. Der Kampf um das Daſein wirkt alſo in dieſem Falle züchtend und umbildend. Das Ringen der verſchiedenen Individuen um die Erlangung der nothwen— digen Exiſtenzbedingungen, oder im weiteſten Sinne gefaßt, die Wechſel— beziehungen der Organismen zu ihrer geſammten Umgebung, bewirken Formveränderungen, wie ſie im Culturzuſtande durch die Thätigkeit des züchtenden Menſchen hervorgebracht werden. Auf den erſten Blick wird Ihnen dieſer Gedanke vielleicht ſehr unbedeutend und kleinlich erſcheinen, und Sie werden nicht geneigt ſein, der Thätigkeit jenes Verhältniſſes ein ſolches Gewicht einzuräu— men, wie daſſelbe in der That beſitzt. Ich muß mir daher vorbehal— ten, in einem ſpäteren Vortrage an weiteren Beiſpielen das ungeheuer weit reichende Umgeſtaltungsvermögen der natürlichen Züchtung Ihnen vor Augen zu führen. Vorläufig beſchränke ich mich darauf, Ihnen nochmals die beiden Vorgänge der künſtlichen und natürlichen Züch— tung neben einander zu ſtellen und Uebereinſtimmung und Unterſchied in beiden Züchtungsprozeſſen ſcharf gegen einander zu halten. Natürliche ſowohl, als künſtliche Züchtung ſind ganz einfache, natürliche, mechaniſche Lebensverhältniſſe, welche auf der Wechſel— wirkung zweier phyſiologiſcher Functionen beruhen, nämlich der Anpaſſung und der Vererbung, Functionen, die als ſolche wie— der auf phyſikaliſche und chemiſche Eigenſchaften der organiſchen Ma— terie zurückzuführen ſind. Ein Unterſchied beider Züchtungsformen be— ſteht darin, daß bei der künſtlichen Züchtung der Wille des Menſchen planmäßig die Auswahl oder Ausleſe betreibt, während bei der natürlichen Züchtung der Kampf um das Daſein (jenes allgemeine Wechſelverhältniß der Organismen) planlos wirkt, aber übrigens ganz daſſelbe Reſultat erzeugt, nämlich eine Auswahl oder Selection beſonders gearteter Individuen zur Nachzucht. Die Veränderungen, welche durch die Züchtung hervorgebracht werden, ſchlagen bei der künſtlichen Züchtung zum Vortheil des züchtenden Menſchen aus, 150 Vergleichung der natürlichen und der künſtlichen Züchtung. bei der natürlichen Züchtung dagegen zum Vortheil des gezüchteten Organismus ſelbſt, wie es in der Natur der Sache liegt. Das ſind die weſentlichſten Unterſchiede und Uebereinſtimmungen zwiſchen beiderlei Züchtungsarten. Es iſt dann aber ferner noch zu berückſichtigen, daß ein weiterer Unterſchied in der Zeitdauer beſteht, welche für den Züchtungsprozeß in beiderlei Arten erforderlich iſt. Der Menſch vermag bei der künſtlichen Zuchtwahl in viel kürzerer Zeit ſehr bedeutende Veränderungen hervorzubringen, während bei der natürlichen Zuchtwahl Aehnliches erſt in viel längerer Zeit zu Stande gebracht wird. Das beruht darauf, daß der Menſch die Ausleſe viel ſorgfältiger betreiben kann. Der Menſch kann unter einer großen Anzahl von Individuen mit der größten Sorgfalt Einzelne heraus— leſen, die übrigen ganz fallen laſſen, und bloß die Bevorzugten zur Fortpflanzung verwenden, während das bei der natürlichen Zucht— wahl nicht der Fall iſt. Da werden ſich neben den bevorzugten, zuerſt zur Fortpflanzung gelangenden Individuen, auch noch Einzelne oder Viele von den übrigen, weniger ausgezeichneten Individuen, neben den erſteren fortpflanzen. Ferner iſt der Menſch im Stande, die Kreu— zung zwiſchen der urſprünglichen und der neuen Form zu verhüten, die bei der natürlichen Züchtung oft nicht zu vermeiden iſt. Wenn aber eine ſolche Kreuzung, d. h. eine geſchlechtliche Verbindung der neuen Abart mit der urſprünglichen Stammform ſtattfindet, ſo ſchlägt die dadurch erzeugte Nachkommenſchaft leicht in die letztere zurück. Bei der natürlichen Züchtung kann eine ſolche Kreuzung nur dann ſicher vermieden werden, wenn die neue Abart ſich durch Wanderung von der alten Stammform abſondert und iſolirt. Die natürliche Züchtung wirkt daher ſehr viel langſamer; ſie er— fordert viel längere Zeiträume, als der künſtliche Züchtungsprozeß. Aber eine weſentliche Folge dieſes Unterſchiedes iſt, daß dann auch das Product der künſtlichen Zuchtwahl viel leichter wieder verſchwin— det, und die neu erzeugte Form in die ältere zurückſchlägt, während das bei der natürlichen Züchtung nicht der Fall iſt. Die neuen Arten oder Species, welche aus der natürlichen Züchtung entſtehen, erhal— Mathematische Nothwendigkeit der natürlichen Züchtung. 151 ten ſich viel conſtanter, ſchlagen viel weniger leicht in die Stammform zurück, als es bei den künſtlichen Züchtungsproducten der Fall iſt, und ſie erhalten ſich auch demgemäß eine viel längere Zeit hindurch beſtändig, als die künſtlichen Raſſen, die der Menſch erzeugt. Aber das ſind nur untergeordnete Unterſchiede, die ſich durch die verſchiede— nen Bedingungen der natürlichen und der künſtlichen Ausleſe erklären, und die auch weſentlich nur die Zeitdauer betreffen. Das Weſen der Formveränderung, und die Mittel, durch welche ſie erzeugt wird, ſind bei der künſtlichen und natürlichen Züchtung ganz dieſelben. (Gen. Morph. II, 248.) Die gedankenloſen und beſchränkten Gegner Darwin's werden nicht müde zu behaupten, daß ſeine Selectionstheorie eine bodenloſe Vermuthung, oder wenigſtens eine Hypotheſe ſei, welche erſt bewieſen werden müſſe. Daß dieſe Behauptung vollkommen unbegründet iſt, können Sie ſchon aus den ſo eben erörterten Grundzügen der Züch— tungslehre ſelbſt entnehmen. Darwin nimmt als wirkende Urſachen für die Umbildung der organiſchen Geſtalten keinerlei unbekannte Na— turkräfte oder hypothetiſche Verhältniſſe an, ſondern einzig und allein die allgemein bekannten Lebensthätigkeiten aller Organismen, welche wir als Vererbung und Anpaſſung bezeichnen. Jeder phyſio— logiſch gebildete Naturforſcher weiß, daß dieſe beiden Functionen un— mittelbar mit den Thätigkeiten der Fortpflanzung und Ernährung zu— ſammenhängen, und gleich allen anderen Lebenserſcheinungen mecha— niſche Naturprozeſſe find, d. h. auf molekularen Bewegungserſcheinun— gen der organiſchen Materie beruhen. Daß die Wechſelwirkung die— ſer beiden Functionen an einer beſtändigen langſamen Umbildung der organiſchen Formen arbeitet, und daß dieſe zur Entſtehung neuer Arten führt, wird mit Nothwendigkeit durch den Kampf um's Da— ſein bedingt. Dieſer iſt aber ebenſo wenig ein hypothetiſches oder des Beweiſes bedürftiges Verhältniß, als jene Wechſelwirkung der Verer— bung und Anpaſſung. Vielmehr iſt der Kampf um's Daſein eine ma— thematiſche Nothwendigkeit, welche aus dem Mißverhältniß zwiſchen der beſchränkten Zahl der Stellen im Naturhaushalt und der übermäßigen 152 Natürliche und künſtliche Züchtung im Menſchenleben. Zahl der organiſchen Keime entſpringt. Durch die activen und paſſi— ven Wanderungen der Thiere und Pflanzen, welche überall und zu jeder Zeit ſtattfinden, wird außerdem noch die Entſtehung neuer Arten in hohem Maße begünſtigt, ohne daß dieſelben jedoch als ein nothwendiger Factor für den Prozeß der natürlichen Züchtung anzu— ſehen wären. Die Entſtehung neuer Species durch die natürliche Züchtung, oder was daſſelbe iſt, durch die Wechſelwirkung der Ver— erbung und Anpaſſung im Kampfe um's Daſein, iſt mithin eine ma— thematiſche Naturnothwendigkeit, welche keines weiteren Beweiſes bedarf. Wer auch bei dem gegenwärtigen Zuſtande unſeres Wiſſens immer noch nach Beweiſen für die Selectionstheorie ver— langt, der beweiſt dadurch nur, daß er entweder dieſelbe nicht voll— ſtändig verſteht, oder mit den biologiſchen Thatſachen, mit dem empi— riſchen Wiſſensſchatz der Anthropologie, Zoologie und Botanik nicht hinreichend vertraut iſt. Wenn die natürliche Züchtung, wie wir behaupten, die große bewirkende Urſache iſt, welche die ganze wundervolle Mannichfaltigkeit des organiſchen Lebens auf der Erde hervorgebracht hat, ſo müſſen auch alle die intereſſanten Erſcheinungen des Menſchenlebens aus derſelben Urſache erklärbar ſein. Denn der Menſch iſt ja nur ein höher entwickeltes Wirbelthier, und alle Seiten des Menſchenlebens finden ihre Parallelen, oder richtiger ihre niederen Entwickelungszuſtände, im Thierreiche vorgebildet. Die ganze Völkergeſchichte oder die ſoge— nannte „Weltgeſchichte“ muß dann durch „natürliche Züch— tung“ erklärbar ſein, muß ein phyſikaliſch-chemiſcher Prozeß ſein, der auf der Wechſelwirkung der Anpaſſung und Vererbung in dem Kampfe der Menſchen um's Daſein beruht. Und das iſt in der That der Fall. Wir werden ſpäter noch die Beweiſe dafür beibringen. Hier erſcheint es jedoch von Intereſſe, hervorzuheben, daß nicht nur die natürliche, ſondern auch die künſtliche Züchtung vielfach in der Weltgeſchichte wirkſam iſt. Ein ausgezeichnetes Beiſpiel von künſtlicher Züchtung der Menſchen in großem Maßſtabe liefern die alten Spartaner, bei de— Spartaniſche Züchtung. Militärische Züchtung. 153 nen auf Grund eines beſonderen Geſetzes ſchon die neugeborenen Kin— der einer ſorgfältigen Muſterung und Ausleſe unterworfen werden mußten. Alle ſchwächlichen, kränklichen oder mit irgend einem kör— perlichen Gebrechen behafteten Kinder wurden getödtet. Nur die voll— kommen geſunden und kräftigen Kinder durften am Leben bleiben und ſie allein gelangten ſpäter zur Fortpflanzung. Dadurch wurde die ſpartaniſche Raſſe nicht allein beſtändig in auserleſener Kraft und Tüch— tigkeit erhalten, ſondern mit jeder Generation wurde ihre körperliche Vollkommenheit geſteigert. Gewiß verdankt das Volk von Sparta dieſer künſtlichen Ausleſe oder Züchtung zum großen Theil den ſeltenen Grad von männlicher Kraft und rauher Heldentugend, durch die es in der alten Geſchichte hervorragt. Auch manche Stämme unter den rothen Indianern Nordameri— ka's, die gegenwärtig im Kampfe um's Daſein den übermächtigen Eindringlingen der weißen Raſſe trotz der tapferſten Gegenwehr er— liegen, verdanken ihren beſonderen Grad von Körperſtärke und kriege— riſcher Tapferkeit einer ähnlichen ſorgfältigen Ausleſe der neugebornen Kinder. Auch hier werden alle ſchwachen oder mit irgend einem Fehler behafteten Kinder ſofort getödtet und nur die vollkommen kräftigen Individuen bleiben am Leben und pflanzen die Raſſe fort. Daß durch dieſe künſtliche Züchtung die Raſſe im Laufe zahlreicher Generationen bedeutend gekräftigt wird, iſt an ſich nicht zu bezweifeln und wird durch viele bekannte Thatſachen genügend bewieſen. Das Gegentheil von der künſtlichen Züchtung der wilden Roth— häute und der alten Spartaner bildet die individuelle Ausleſe, welche in unſeren modernen Militärſtaaten allgemein behufs Erhaltung der ſtehenden Heere ausgeübt wird, und welche wir ganz paſſend unter dem Namen der militäriſchen Züchtung als eine beſondere Form der Zuchtwahl betrachten können. Bekanntlich tritt gerade in der neue— ſten Zeit das moderne Soldatenthum mehr als je in den Vordergrund des ſogenannten „Culturlebens“; die ganze Kraft und der ganze Reichthum blühender Culturſtaaten wird für ſeine Ausbildung ver— wendet. Die Jugenderziehung dagegen und der öffentliche Unterricht, 154 Nothwendige Folgen der militärischen Zuchtwahl. die tiefen Grundlagen der wahren Volkswohlfahrt und der humanen Veredelung, werden in der bedauerlichſten Weiſe vernachläſſigt und mißhandelt. Und das geſchieht in Staaten, welche ſich einbilden, die bevorzugten Träger der höchſten menſchlichen Intelligenz zu fein und an der Spitze der Civiliſation zu ſtehen! Bekanntlich werden, um das ſtehende Heer möglichſt zu vergrößern, alljährlich alle ge— ſunden und ſtarken, jungen Männer durch ſtrenge Rekrutirung aus— geleſen. Je kräftiger, geſunder, normaler der Jüngling iſt, deſto größer iſt für ihn die Ausſicht, durch Zündnadeln, gezogene Kano— nen und andere dergleichen Culturinſtrumente getödtet zu werden. Alle kranken, ſchwächlichen oder mit Gebrechen behafteten Jünglinge dagegen werden von der „militäriſchen Selection“ verſchont, bleiben während des Krieges zu Hauſe, heirathen und pflanzen ſich fort. Je untauglicher, ſchwächer und verkümmerter der Jüngling iſt, deſto größere Ausſicht hat er, der Rekrutirung zu entgehen und eine Fa— milie zu gründen. Während die kräftige Blüthe der Jugend auf dem Schlachtfelde verblutet, genießt inzwiſchen der untaugliche Aus— ſchuß die Genugthuung, ſich fortzupflanzen und alle ſeine Schwächen und Gebrechen auf die Nachkommenſchaft zu vererben. Nach den Vererbungsgeſetzen muß aber nothwendig in Folge deſſen bei jeder folgenden Generation nicht allein eine weitere Verbreitung, ſondern auch eine tiefere Ausbildung des körperlichen und des davon untrenn— baren geiſtigen Schwächezuſtandes eintreten. Durch dieſe und durch andere Formen der künſtlichen Züchtung in unſeren Culturſtaaten er- klärt ſich hinreichend die traurige Thatſache, daß in Wirklichkeit die Körperſchwäche und Charakterſchwäche unſerer Culturnationen in be— ſtändiger Zunahme begriffen iſt, und mit dem ſtarken, geſunden Körper auch der freie, unabhängige Geiſt immer ſeltener wird. Zu der zunehmenden Entkräftung der modernen Culturvölker, welche eine nothwendige Folge der militäriſchen Zuchtwahl iſt, ge— ſellt ſich ferner der andere Uebelſtand, daß die vervollkommnete Heil— kunde der Neuzeit, obwohl immer noch wenig im Stande, Krank- heiten wirklich zu heilen, doch mehr als früher die Kunſt beſitzt und Militäriſche und mediciniſche Zuchtwahl. 155 übt, ſchleichende, chroniſche Krankheiten auf lange Jahre hinauszu— ziehen. Gerade ſolche verheerende Uebel, wie Schwindſucht, Skro— phelkrankheit, Syphilis, ferner viele Formen der Geiſteskrankheiten, ſind in beſonderem Maße erblich und werden von den ſiechen Eltern auf einen Theil ihrer Kinder oder gar auf die ganze Nachkommen— ſchaft übertragen. Je länger nun die kranken Eltern mit Hülfe der ärztlichen Kunſt ihre ſieche Exiſtenz hinausziehen, deſto zahlrei— chere Nachkommenſchaft kann von ihnen die unheilbaren Uebel erben, eine deſto größere Zahl von Individuen wird dann auch wieder in der folgenden Generation, Dank jener künſtlichen „medieiniſchen Züchtung“, von ihren Eltern mit dem ſchleichenden Erbübel ange— ſteckt werden. Wenn Jemand den Vorſchlag wagen wollte, nach dem Bei— ſpiele der Spartaner und der Rothhäute die elenden und gebrechli— chen Kinder, denen mit Sicherheit ein ſieches Leben prophezeit wer— den kann, gleich nach der Geburt zu tödten, ſtatt ſie zu ihrem eige— nen und zum Schaden der Geſammtheit am Leben zu erhalten, ſo würde unſere ſogenannte „humane Civiliſation“ in einen Schrei der Entrüſtung ausbrechen. Aber dieſelbe „humane Civiliſation“ findet es ganz in der Ordnung und fügt ſich ohne Murren darein, daß bei jedem ausbrechenden Kriege (— und bei dem jetzigen Aufgehen des Culturlebens in der Ausbildung ſtehender Heere müſſen natür— lich Kriege immer häufiger werden! —) Hunderte und Tauſende der beſten jugendkräftigſten Männer dem Hazardſpiel der Schlachten ge— opfert werden. Dieſelbe „humane Civiliſation“ preiſt gegenwärtig die Abſchaffung der Todesſtrafe als eine „liberale Maßregel“! Und doch iſt die Todesſtrafe für unverbeſſerliche Verbrecher und Tauge— nichtſe nicht nur gerecht, ſondern auch eine Wohlthat für den beſſe— ren Theil der Menſchheit; dieſelbe Wohlthat, welche für das Gedei— hen eines wohl cultivirten Gartens die Ausrottung des wuchernden Unkrauts iſt. Wie durch ſorgfältiges Ausjäten des Unkrauts nur Licht, Luft und Bodenraum für die edlen Nutzpflanzen gewonnen wird, ſo würde durch unnachſichtliche Ausrottung aller unverbeſſer— 156 Fortſchritt der Menſchheit durch natürliche Züchtung. lichen Verbrecher nicht allein dem beſſeren Theile der Menſchheit der „Kampf um's Daſein“ erleichtert, ſondern auch ein vortheilhafter künſtlicher Züchtungs-Prozeß ausgeübt, indem jenem entarteten Aus— wurfe der Menſchheit die Möglichkeit benommen würde, ſeine ver— derblichen Eigenſchaften durch Vererbung zu übertragen. Gegen den verderblichen Einfluß der künſtlichen militäriſchen und medieiniſchen Züchtung finden wir glücklicher Weiſe ein heilſames Gegengewicht in dem überall waltenden und unüberwindlichen Ein— fluſſe der viel ſtärkeren natürlichen Züchtung. Denn auch die— ſer iſt überall im Menſchenleben, wie im Thier- und Pflanzenleben, das wichtigſte umgeſtaltende Princip und der kräftigſte Hebel des Fortſchritts und der Vervollkommnung. Der Kampf um's Daſein bringt es mit ſich, daß im Großen und Ganzen immer der Beſſere, weil der Vollkommnere, über den Schwächeren und Unvollkommne— ren ſiegt. Im Menſchenleben aber wird dieſer Kampf um's Daſein immer mehr zu einem Kampfe des Geiſtes werden, nicht zu einem Kampfe der Mordwaffen. Dasjenige Organ, welches beim Men— ſchen vor allen anderen durch den veredelnden Einfluß der natür— lichen Zuchtwahl vervollkommnet wird, iſt das Gehirn. Der Menſch mit dem vollkommenſten Verſtande, nicht der Menſch mit dem beſten Revolver, wird im Großen und Ganzen Sieger bleiben; er wird auf ſeine Nachkommen die Eigenſchaften des Gehirns, die ihm zum Sieg verholfen hatten, vererben. So dürfen wir denn mit Fug und Recht hoffen, daß trotz aller Anſtrengungen der rück— wärts ſtrebenden Gewalten der Fortſchritt des Menſchengeſchlechts zur Freiheit, und dadurch zur möglichſten Vervollkommnung, unter dem ſegensreichen Einfluſſe der natürlichen Züchtung immer mehr und mehr zur Wahrheit werden wird. NN — Achter Vortrag. Vererbung und Fortpflanzung. Allgemeinheit der Erblichkeit und der Vererbung. Auffallende beſondere Aeuße⸗ rungen derſelben. Menſchen mit vier, ſechs oder ſieben Fingern und Zehen. Stachelſchweinmenſchen. Vererbung von Krankheiten, namentlich von Geiſteskrank— heiten. Erbſünde. Erbliche Monarchie. Erbadel. Erbliche Talente und Seelen— eigenſchaften. Materielle Urſachen der Vererbung. Zuſammenhang der Vererbung mit der Fortpflanzung. Urzeugung und Fortpflanzung. Ungeſchlechtliche oder mo- nogone Fortpflanzung. Fortpflanzung durch Selbſttheilung. Moneren und Amoe— ben. Fortpflanzung durch Knospenbildung, durch Keimknospenbildung und durch Keimzellenbildung. Geſchlechtliche oder amphigone Fortpflanzung. Zwitterbildung oder Hermaphroditismus. Geſchlechtstrennung oder Gonochorismus. Jungfräuliche Zeugung oder Parthenogeneſis. Materielle Uebertragung der Eigenſchaften beider Eltern auf das Kind bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung. Unterſchied der Ver— erbung bei der geſchlechtlichen und bei der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung. Meine Herren! Als die formbildende Naturkraft, welche die verſchiedenen Geſtalten der Thier- und Pflanzenarten erzeugt, haben Sie in dem letzten Vortrage nach Darwin's Theorie die natür— liche Züchtung kennen gelernt. Wir verſtanden unter dieſem Aus— druck die allgemeine Wechſelwirkung, welche im Kampfe um das Daſein zwiſchen der Erblichkeit und der Veränderlichkeit der Organismen ſtattfindet; zwiſchen zwei phyſiologiſchen Functionen, welche allen Thieren und Pflanzen eigenthümlich ſind, und welche ſich auf andere Lebensthätigkeiten, auf die Functionen der Fort— pflanzung und Ernährung zurückführen laſſen. Alle die verſchiede— 158 Erblichkeit und Vererbung. nen Formen der Organismen, welche man gewöhnlich geneigt iſt als Producte einer zweckmäßig thätigen Schöpferkraft anzuſehen, konnten wir nach jener Züchtungstheorie auffaſſen als die nothwen— digen Producte der zwecklos wirkenden natürlichen Züchtung, der unbewußten Wechſelwirkung zwiſchen jenen beiden Eigenſchaften der Veränderlichkeit und der Erblichkeit. Bei der außerordentlichen Wich— tigkeit, welche dieſen Lebenseigenſchaften der Organismen demgemäß zukommt, müſſen wir zunächſt dieſelben etwas näher in das Auge faſſen, und wir wollen uns heute mit der Vererbung beſchäftigen (Gen. Morph. II, 170 —- 191). Genau genommen müſſen wir unterſcheiden zwiſchen der Erb— lichkeit und der Vererbung. Die Erblichkeit iſt die Vererbungs— kraft, die Fähigkeit der Organismen, ihre Eigenſchaften auf ihre Nachkommen durch die Fortpflanzung zu übertragen. Die Verer— bung oder Heredität dagegen bezeichnet die wirkliche Ausübung die⸗ ſer Fähigkeit, die thatſächlich ſtattfindende Uebertragung. Erblichkeit und Vererbung ſind ſo allgemeine, alltägliche Er— ſcheinungen, daß die meiſten Menſchen dieſelben überhaupt nicht be— achten, und daß die wenigſten geneigt ſind, beſondere Reflexionen über den Werth und die Bedeutung dieſer Lebenserſcheinungen an— zuſtellen. Man findet es allgemein ganz natürlich und ſelbſtverſtänd— lich, daß jeder Organismus ſeines Gleichen erzeugt, und daß die Kinder den Eltern im Ganzen wie im Einzelnen ähnlich ſind. Ge— wöhnlich pflegt man die Erblichkeit nur in jenen Fällen hervorzu— heben und zu beſprechen, wo ſie eine beſondere Eigenthümlichkeit betrifft, die an einem menſchlichen Individuum, ohne ererbt zu ſein, zum erſten Male auftrat und von dieſem auf ſeine Nachkommen übertragen wurde. In beſonders auffallendem Grade zeigt ſich ſo die Vererbung bei beſtimmten Krankheiten und bei ganz ungewöhn— lichen und unregelmäßigen (monſtröſen) Abweichungen von der ge— wöhnlichen Körperbildung. Unter dieſen Fällen von Vererbung monſtröſer Abänderungen ſind beſonders lehrreich diejenigen, welche eine abnorme Vermehrung Bar Menſchen mit vier, ſechs oder fieben Fingern und Zehen. 159 oder Verminderung der Fünfzahl der menſchlichen Finger und Zehen betreffen. Es kommen nicht ſelten menſchliche Familien vor, in de— nen mehrere Generationen hindurch ſechs Finger an jeder Hand oder ſechs Zehen an jedem Fuße beobachtet werden. Seltener ſind Bei— ſpiele von Siebenzahl oder von Vierzahl der Finger und Zehen. Die ungewöhnliche Bildung geht immer zuerſt von einem einzigen Individuum aus, welches aus unbekannten Urſachen mit einem Ueberſchuß über die gewöhnliche Fünfzahl der Finger und Zehen ge— boren wird und dieſen durch Vererbung auf einen Theil ſeiner Nach— kommen überträgt. In einer und derſelben Familie kann man die Sechszahl der Finger und Zehen durch drei, vier und mehr Gene— rationen hindurch verfolgen. In einer ſpaniſchen Familie waren nicht weniger als vierzig Individuen durch dieſe Ueberzahl ausge— zeichnet. In allen Fällen iſt die Vererbung der ſechſten überzähligen Zehe oder des ſechſten Fingers nicht bleibend und durchgreifend, weil die ſechsfingerigen Menſchen ſich immer wieder mit fünffingerigen vermiſchen. Würde eine ſechsfingerige Familie ſich in reiner Inzucht fortpflanzen, würden ſechsfingerige Männer immer nur ſechsfingerige Frauen heirathen, ſo würde durch Fixirung dieſes Charakters eine beſondere ſechsfingerige Menſchenart entſtehen. Da aber die ſechs— fingerigen Männer immer fünffingerige Frauen heirathen, und um— gekehrt, ſo zeigt ihre Nachkommenſchaft meiſtens ſehr gemiſchte Zah— lenverhältniſſe und ſchlägt ſchließlich nach Verlauf einiger Generatio— nen wieder in die normale Fünfzahl zurück. So können z. B. von S Kindern eines ſechsfingerigen Vaters und einer fünffingerigen Mut— ter 2 Kinder an allen Händen und Füßen 6 Finger und 6 Zehen haben, 4 Kinder gemiſchte Zahlenverhältniſſe und 2 Kinder überall die gewöhnliche Fünfzahl. In einer ſpaniſchen Familie hatten ſämmt— liche Kinder bis auf das Jüngſte an Händen und Füßen die Sechs— zahl, nur das Jüngſte hatte überall fünf Finger und Zehen, und der ſechsfingerige Vater des Kindes wollte dieſes letzte daher nicht als das ſeinige anerkennen. Sehr auffallend zeigt ſich ferner die Vererbungskraft in der Bil— — 160 Vererbung bei Stachelſchweinmenſchen mit monſtröſer Haut. dung und Färbung der menſchlichen Haut und Haare. Es iſt allbe— kannt, wie genau in vielen menſchlichen Familien eine eigenthümliche Beſchaffenheit des Hautſyſtems, z. B. eine beſonders weiche oder ſpröde Haut, eine beſondere Ueppigkeit des Haarwuchſes, eine beſondere Farbe und Größe der Augen u. ſ. w. viele Generationen hindurch forterbt. Ebenſo werden beſondere locale Auswüchſe und Flecke der Haut, ſogenannte Muttermale, Leberflecke und andere Pigmentanhäu— fungen, die an beſtimmten Stellen vorkommen, gar nicht ſelten meh— rere Generationen hindurch ſo genau vererbt, daß ſie bei den Nach— kommen an denſelben Stellen ſich zeigen, an denen ſie bei den Eltern vorhanden waren. Beſonders berühmt geworden ſind die Stachel— ſchweinmenſchen aus der Familie Lambert, welche im vorigen Jahr— hundert in London lebte. Edward Lambert, der 1717 geboren wurde, zeichnete ſich durch eine ganz ungewöhnliche und monſtröſe Bildung der Haut aus. Der ganze Körper war mit einer zolldicken hornarti— gen Kruſte bedeckt, welche ſich in Form zahlreicher ſtachelförmiger und ſchuppenförmiger Fortſätze (bis über einen Zoll lang) erhob. Dieſe monſtröſe Bildung der Oberhaut oder Epidermis vererbte Lambert auf ſeine Söhne und Enkel, aber nicht auf die Enkelinnen. Die Ueber— tragung blieb alſo hier in der männlichen Linie, wie es auch ſonſt oft der Fall iſt. Ebenſo vererbt ſich übermäßige Fettentwickelung an ge— wiſſen Körperſtellen oft nur innerhalb der weiblichen Linie. Wie ge— nau ſich die charakteriſtiſche Geſichtsbildung erblich überträgt, braucht wohl kaum erinnert zu werden; bald bleibt dieſelbe innerhalb der männlichen, bald innerhalb der weiblichen Linie; bald vermiſcht ſie ſich in beiden Linien. Sehr lehrreich und allbekannt ſind ferner die Vererbungserſchei— nungen pathologiſcher Zuſtände, beſonders der menſchlichen Krankheits— formen. Es ſind insbeſondere bekanntlich Krankheiten der Athmungs— organe, der Drüſen und des Nervenſyſtems, welche ſich ſehr leicht erblich übertragen. Sehr häufig tritt plötzlich in einer ſonſt geſunden Familie eine derſelben bisher unbekannte Erkrankung auf; ſie wird erworben durch äußere Urſachen, durch krankmachende Lebensbedin⸗ Materielle Vererbung geiftiger Eigenſchaften. 161 gungen. Dieſe Krankheit, welche bei einem einzelnen Individuum durch äußere Urſachen bewirkt wurde, pflanzt ſich von letzterem auf ſeine Nachkommen fort, und dieſe haben nun alle oder zum Theil an der— ſelben Krankheit zu leiden. Bei Lungenkrankheiten, z. B. Schwind— ſucht, iſt das traurige Verhältniß der Erblichkeit allbekannt, ebenſo bei Leberkrankheiten, bei Syphilis, bei Geiſteskrankheiten. Dieſe letz— teren ſind von ganz beſonderem Intereſſe. Ebenſo wie beſondere Charakterzüge des Menſchen, Stolz, Ehrgeiz, Leichtſinn u. ſ. w. ſtreng durch die Vererbung auf die Nachkommenſchaft übertragen werden, ſo gilt das auch von den beſonderen, abnormen Aeußerungen der Seelenthätigkeit, welche man als fixe Ideen, Schwermuth, Blödſinn und überhaupt als Geiſteskrankheiten bezeichnet. Es zeigt ſich hier deutlich und unwiderleglich, daß die Seele des Menſchen, ebenſo wie die Seele der Thiere, eine rein mechaniſche Thätigkeit, eine Summe von molekularen Bewegungserſcheinungen der Gehirntheil— chen iſt, und daß ſie mit ihrem Subſtrate, ebenſo wie jede andere Körpereigenſchaft, durch die Fortpflanzung materiell übertragen, d. h. vererbt wird. Dieſe äußerſt wichtige und unleugbare Thatſache erregt, wenn man ſie ausſpricht, gewöhnlich großes Aergerniß, und doch wird ſie eigentlich ſtillſchweigend allgemein anerkannt. Denn worauf beruhen die Vorſtellungen von der „Erbſünde“, der „Erbweisheit“, dem „Erb— adel“ u. ſ. w. anders, als auf der Ueberzeugung, daß die menſchliche Geiſtesbeſchaffenheit durch die Fortpflanzung — alſo durch einen rein materiellen Vorgang! — körperlich von den Eltern auf die Nachkommen übertragen wird? — Die Anerkennung dieſer gro— ßen Bedeutung der Erblichkeit äußert ſich in einer Menge von menſch— lichen Einrichtungen, wie z. B. in der Kaſteneintheilung vieler Völ— ker in Kriegerkaſten, Prieſterkaſten, Arbeiterkaſten u. ſ. w. Offenbar beruht urſprünglich die Einrichtung ſolcher Kaſten auf der Vorſtel— lung von der hohen Wichtigkeit erblicher Vorzüge, welche gewiſſen Familien beiwohnten, und von denen man vorausſetzte, daß ſie im— mer wieder von den Eltern auf die Nachkommen übertragen werden Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 11 162 Materielle Vererbung geiftiger Eigenſchaften. würden. Die Einrichtung des erblichen Adels und der erblichen Mo- narchie iſt auf die Vorſtellung einer ſolchen Vererbung beſonderer Tugenden zurückzuführen. Allerdings ſind es leider nicht nur die Tugenden, ſondern auch die Laſter, welche durch Vererbung übertra— gen und gehäuft werden, und wenn Sie in der Weltgeſchichte die verſchiedenen Individuen der einzelnen Dynaſtien vergleichen, ſo wer— den Sie zwar überall eine große Anzahl von Beweiſen für die Erb— lichkeit auffinden können, aber weniger für die Erblichkeit der Tu— genden, als der entgegengeſetzten Eigenſchaften. Denken Sie z. B. nur an die römiſchen Kaiſer, an die Julier und die Claudier, oder an die Bourbonen in Frankreich, Spanien und Italien! In der That dürfte kaum irgendwo eine ſolche Fülle von ſchla— genden Beiſpielen für die merkwürdige Vererbung der feinſten kör⸗ perlichen und geiſtigen Züge gefunden werden, als in der Geſchichte der regierenden Häuſer in den erblichen Monarchien. Ganz beſon— ders gilt dies mit Bezug auf die vorher erwähnten Geiſteskrankhei— ten. Gerade in regierenden Familien ſind Geiſteskrankheiten in un— gewöhnlichem Maße erblich. Schon der berühmte Irrenarzt Es- quirol wies nach, daß die Zahl der Geiſteskranken in den regierenden Häuſern zu ihrer Anzahl in der gewöhnlichen Bevölkerung ſich ver— hält, wie 60 zu 1, d. h. daß Geiſteskrankheit in den bevorzugten Familien der regierenden Häuſer ſechzig mal ſo häufig vorkommt, als in der gewöhnlichen Menſchheit. Würde eine gleiche genaue Sta— tiſtik auch für den erblichen Adel durchgeführt, ſo dürfte ſich leicht herausſtellen, daß auch dieſer ein ungleich größeres Contingent von Geiſteskranken ſtellt, als die gemeine, nichtadelige Menſchheit. Dieſe Erſcheinung wird uns kaum mehr wundern, wenn wir bedenken, welchen Nachtheil ſich dieſe privilegirten Kaſten ſelbſt durch ihre un— natürliche einſeitige Erziehung und durch ihre künſtliche Abſperrung von der übrigen Menſchheit zufügen. Es werden dadurch manche dunkle Schattenſeiten der menſchlichen Natur beſonders entwickelt, gleichſam künſtlich gezüchtet, und pflanzen ſich nun nach den Verer— Materielle Vererbung geiſtiger Eigenſchaften. 163 bungsgeſetzen mit immer verſtärkter Kraft und Einſeitigkeit durch die Reihe der Generationen fort. Wie ſich in der Generationsfolge mancher Dynaſtien die edle Vorliebe für Wiſſenſchaft und Kunſt durch viele Generationen erblich überträgt und erhält, wie dagegen in vielen anderen Dynaſtien Jahr— hunderte hindurch eine beſondere Neigung für das Kriegshandwerk, für Unterdrückung der menſchlichen Freiheit und für andere rohe Ge— waltthätigkeiten vererbt wird, iſt aus der Völkergeſchichte Ihnen hin— reichend bekannt. Ebenſo vererben ſich in manchen Familien viele Generationen hindurch ganz beſtimmte Fähigkeiten für einzelne Geiſtes— thätigkeiten, z. B. Dichtkunſt, Tonkunſt, bildende Kunſt, Mathematik, Naturforſchung, Philoſophie u. ſ. w. In der Familie Bach hat es nicht weniger als zweiundzwanzig hervorragende muſikaliſche Talente gegeben. Natürlich beruht die Vererbung ſolcher Geiſteseigenthümlich— keiten, wie die Vererbung der Geiſteseigenſchaften überhaupt, auf dem materiellen Vorgang der Zeugung. Auch hier iſt die Lebenserſchei— nung, die Kraftäußerung unmittelbar (wie überall in der Natur) verbunden mit beſtimmten Miſchungsverhältniſſen des Stoffes. Die Miſchung und Molekularbewegung des Stoffes iſt es, welche bei der Zeugung übertragen wird. Bevor wir nun die verſchiedenen und zum Theil ſehr mtereſ⸗ ſanten und bedeutenden Geſetze der Vererbung näher unterſuchen, wol— len wir über die eigentliche Natur dieſes Vorganges uns verſtändi— gen. Man pflegt vielfach die Erblichkeitserſcheinungen als etwas ganz Räthſelhaftes anzuſehen, als eigenthümliche Vorgänge, welche durch die Naturwiſſenſchaft nicht ergründet, in ihren Urſachen und eigentlichem Weſen nicht erfaßt werden könnten. Man pflegt gerade hier ſehr allgemein übernatürliche Einwirkungen anzunehmen. Es läßt ſich aber ſchon jetzt, bei dem heutigen Zuſtande der Phyſiologie, mit vollkommener Sicherheit nachweiſen, daß alle Erblichkeitserſcheinungen durchaus natürliche Vorgänge ſind, daß ſie durch mechaniſche Urſa— chen bewirkt werden, und daß ſie auf materiellen Bewegungserſchei— nungen im Körper der Organismen beruhen, welche wir als Theil— 1% 164 Zuſammenhang der Vererbung mit der Fortpflanzung. erſcheinungen der Fortpflanzung betrachten können. Alle Erblich— keitserſcheinungen und Vererbungsgeſetze laſſen ſich auf die materiel— len Vorgänge der Fortpflanzung zurückführen. Jeder einzelne Organismus, jedes lebendige Individuum ver— dankt ſein Daſein entweder einem Acte der elternloſen Zeugung oder Urzeugung (Generatio spontanea, Archigonia), oder einem Acte der elterlichen Zeugung oder Fortpflanzung (Generatio parentalis, Tocogonia). Auf die Urzeugung oder Archigonie, durch welche bloß Organismen der allereinfachſten Art, Moneren entſtehen können, werden wir in einem ſpäteren Vortrage zurückkommen. Jetzt haben wir uns nur mit der Fortpflanzung oder Tocogonie zu beſchäf— tigen, deren nähere Betrachtung für das Verſtändniß der Vererbung von der größten Wichtigkeit iſt. Die Meiſten von Ihnen werden von den Fortpflanzungserſcheinungen wahrſcheinlich nur diejenigen kennen, welche Sie allgemein bei den höheren Pflanzen und Thieren beob— achten, die Vorgänge der geſchlechtlichen Fortpflanzung oder der Am— phigonie. Viel weniger allgemein bekannt ſind die Vorgänge der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung oder der Monogonie. Gerade dieſe ſind aber bei weitem mehr als die vorhergehenden geeignet, ein er— klärendes Licht auf die Natur der mit der Fortpflanzung zuſammen— hängenden Vererbung zu werfen. Aus dieſem Grunde erſuche ich Sie, jetzt zunächſt bloß die Er— ſcheinungen der ungeſchlechtlichen oder monogonen Fort— pflanzung (Monogonia) in das Auge zu faſſen. Dieſe tritt in mannichfach verſchiedener Form auf, als Selbſttheilung, Knospen— bildung und Keimzellen- oder Sporenbildung (Gen. Morph. II, 36 — 58). Am lehrreichſten iſt es hier, zunächſt die Fortpflanzung bei den einfachſten Organismen zu betrachten, welche wir kennen, und auf welche wir ſpäter bei der Frage von der Urzeugung zurückkom— men müſſen. Dieſe allereinfachſten uns bis jetzt bekannten, und zu— gleich die denkbar einfachſten Organismen ſind die waſſerbewohnen— den Moneren: ſehr kleine lebendige Körperchen, welche eigentlich ſtreng genommen den Namen des Organismus gar nicht verdienen. * | | i Organismen ohne Organe. Moneren. 165 Denn die Bezeichnung „Organismus“ für die lebenden Weſen be— ruht auf der Vorſtellung, daß jeder belebte Naturkörper aus Orga— nen zuſammengeſetzt iſt, aus verſchiedenartigen Theilen, die als Werk— zeuge, ähnlich den verſchiedenen Theilen einer künſtlichen Maſchine, in einander greifen und zuſammenwirken, um die Thätigkeit des Ganzen hervorzubringen. Nun haben wir aber in den Moneren während der letzten Jahre Organismen kennen gelernt, welche in der That nicht aus Organen zuſammengeſetzt ſind, ſondern ganz und gar aus einer ſtructurloſen, einfachen, gleichartigen Materie beſtehen. Der ganze Körper dieſer Moneren iſt zeitlebens weiter Nichts, als ein formloſes bewegliches Schleimklümpchen, das aus einer eiweiß— artigen Kohlenſtoffverbindung beſteht. Einfachere, unvollkommnere Organismen find gar nicht denkbar 15). Die erſten vollſtändigen Beobachtungen über die Naturgeſchichte eines Moneres (Protogenes primordialis) habe ich 1864 bei Nizza angeſtellt. Andere ſehr merkwürdige Moneren habe ich ſpäter (1866) auf der canariſchen Inſel Lanzarote und (1867) an der Meerenge von Gibraltar beobachtet. Die vollſtändige Lebensgeſchichte eines dieſer canariſchen Moneren, der orangerothen Protomyxa auran- tiaca, iſt auf Tafel I (S. 168) dargeſtellt und in deren Erklärung beſchrieben (im Anhang, S. 664). Auch in der Nordſee, an der norwegiſchen Küſte bei Bergen habe ich (1869) einige eigenthümliche Moneren aufgefunden. Ein intereſſantes Moner des ſüßen Waſſers hat Cienkowski (1865) unter dem Namen Vampprella beſchrie— ben. Das merkwürdigſte aber vielleicht von allen Moneren hat (1868) der berühmte engliſche Zoolog Huxley entdeckt und Bathy- bius Haeckelii genannt. „Bathybius“ heißt: In der Tiefe lebend. Dieſer wunderbare Organismus lebt nämlich in den ungeheuren Ab— gründen des Meeres, welche uns im letzten Jahrzehnt durch die mühevollen Unterſuchungen der Engländer bekannt geworden ſind, und welche über 12,000, ja an manchen Stellen über 24,000 Fuß Tiefe erreichen. Hier findet ſich zwiſchen den zahlreichen Polythala— mien und Radiolarien, die den feinen kreideartigen Schlamm dieſer 7 ; 166 Formen und Lebenserſcheinungen der Moneren. Abgründe bevölkern, auch maſſenhaft der Bathybius vor, theils in Geſtalt rundlicher oder formloſer Schleimklumpen, theils in Form von maſchigen Schleimnetzen, welche Steintrümmer und andere Ge— genſtände überziehen (Fig. 9, S. 379). Oft ſind kleine Kalk-Kör⸗ perchen (Diskolithen, Cyatholithen ꝛc.) in dieſe ſchleimigen Gallert— maſſen eingebettet, wahrſcheinlich Ausſcheidungsproducte der letzte— ren. Der ganze Körper des merkwürdigen Bathybius beſteht, gleich dem der anderen Moneren, einzig und allein aus ſtructurloſem Plasma oder Protoplasma, d. h. aus derſelben eiweißar— tigen Kohlenſtoff-Verbindung, welche in unendlich vielen Modifikationen als der weſentlichſte und nie fehlende Träger der Lebenserſcheinungen in allen Organismen ſich findet. Eine aus— führliche Beſchreibung und Abbildung des Bathybius und der übri— gen Moneren habe ich 1870 in meiner „Monographie der Mone— ren“ gegeben, aus der auch Tafel I (S. 168) copirt iſt 15). Im Ruhezuſtande erſcheinen die meiſten Moneren als kleine Schleimkügelchen, für das unbewaffnete Auge nicht ſichtbar oder eben ſichtbar, höchſtens von der Größe eines Stecknadelkopfes. Wenn das Moner ſich bewegt, bilden ſich an der Oberfläche der kleinen Schleimkugel formloſe fingerartige Fortſätze oder ſehr feine ſtrahlende Fäden, ſogenannte Scheinfüße oder Pſeudopodien. Dieſe Schein— füße find einfache, unmittelbare Fortſetzungen der ſtructurloſen eiweiß— artigen Maſſe, aus der der ganze Körper beſteht. Wir ſind nicht im Stande, verſchiedenartige Theile in demſelben wahrzunehmen, und wir können den directen Beweis für die abſolute Einfachheit der feſtflüſſigen Eiweißmaſſe dadurch führen, daß wir die Nahrungs- aufnahme der Moneren unter dem Mikroskop verfolgen. Wenn kleine Körperchen, die zur Ernährung derſelben tauglich ſind, z. B. kleine Theilchen von zerſtörten organiſchen Körpern, oder mikroſko— piſche Pflänzchen und Infuſionsthierchen, zufällig in Berührung mit den Moneren kommen, ſo bleiben ſie an der klebrigen Oberfläche des feſtflüſſigen Schleimklümpchens hängen, erzeugen hier einen Reiz, welcher ſtärkeren Zufluß der ſchleimigen Körpermaſſe zur Folge hat, Fortpflanzung der Moneren durch Selbſttheilung. 167 und werden endlich ganz von dieſer umſchloſſen, oder fie werden durch Verſchiebungen der einzelnen Eiweißtheilchen des Monerenkör— pers in dieſen hineingezogen und dort verdaut, durch einfache Dif— fuſion (Endosmoſe) ausgezogen. Ebenſo einfach wie die Ernährung, iſt die Fortpflanzung dieſer Urweſen, die man eigentlich weder Thiere noch Pflanzen nen— nen kann. Alle Moneren pflanzen ſich nur auf dem ungeſchlechtli— chen Wege fort, durch Monogonie; und zwar im einfachſten Falle durch diejenige Art der Monogonie, welche wir an die Spitze der ver— ſchiedenen Fortpflanzungsformen ſtellen, durch Selbſttheilung. Wenn ein ſolches Klümpchen, z. B. eine Protamoeba oder ein Protoge- nes, eine gewiſſe Größe durch Aufnahme fremder Eiweißmaterie er— halten hat, ſo zerfällt es in zwei Stücke; es bildet ſich eine Ein— ſchnürung, welche ringförmig herumgeht, und ſchließlich zur Trennung der beiden Hälften führt. (Vergl. Fig. 1.) Jede Hälfte rundet ſich Fig. 1. Fortpflanzung eines einfachſten Organismus, eines Moneres, durch Selbſttheilung. A4. Das ganze Moner, eine Protamoeba. 2. Dieſelbe zerfällt durch eine mittlere Einſchnürung in zwei Hälften. C. Jede der beiden Hälften hat ſich von der andern getrennt und ſtellt nun ein ſelbſtſtändiges Individuum dar. alsbald ab und erſcheint nun als ein ſelbſtſtändiges Individuum, welches das einfache Spiel der Lebenserſcheinungen, Ernährung und Fortpflanzung, von Neuem beginnt. Bei anderen Moneren (Vam- pyrella) zerfällt der Körper bei der Fortpflanzung nicht in zwei, ſondern in vier gleiche Stücke, und bei noch anderen (Protomonas, Protomyxa, Myxastrum) ſogleich in eine große Anzahl von klei— nen Schleimkügelchen, deren jedes durch einfaches Wachsthum dem 168 Ungeſchlechtliche Fortpflanzung der organischen Zellen. elterlichen Körper wieder gleich wird (Tafel I). Es zeigt ſich hier deutlich, daß der Vorgang der Fortpflanzung weiter Nichts iſt, als ein Wachsthum des Organismus über ſein indi— viduelles Maß hinaus. Die einfache Fortpflanzungsweiſe der Moneren durch Selbſt— theilung iſt eigentlich die allgemeinſte und weiteſt verbreitete von al- len verſchiedenen Fortpflanzungsarten; denn durch denſelben einfachen Prozeß der Theilung pflanzen ſich auch die Zellen fort, diejenigen einfachen organiſchen Individuen, welche in ſehr großer Zahl den Körper der allermeiſten Organismen, den menſchlichen Körper nicht ausgenommen, zuſammenſetzen. Abgeſehen von den Organismen niederſten Ranges, welche noch nicht einmal den Formwerth einer Zelle haben (Moneren), oder zeitlebens eine einfache Zelle darſtellen (viele Protiſten und einzellige Pflanzen) iſt der Körper jedes orga— niſchen Individuums aus einer großen Anzahl von Zellen zuſam— mengeſetzt. Jede organiſche Zelle iſt bis zu einem gewiſſen Grade ein ſelbſtſtändiger Organismus, ein ſogenannter „Elementarorganis— mus“ oder ein „Individuum erſter Ordnung“. Jeder höhere Orga— nismus iſt gewiſſermaßen eine Geſellſchaft oder ein Staat von ſol— chen vielgeſtaltigen, durch Arbeitstheilung mannichfaltig ausgebilde— ten Elementarindividuen s“). Urſprünglich iſt jede organiſche Zelle auch nur ein einfaches Schleimklümpchen, gleich einem Moner, je— doch von dieſem dadurch verſchieden, daß die gleichartige Eiweiß— maſſe in zwei verſchiedene Beſtandtheile ſich geſondert hat: ein in— neres, feſteres Eiweißkörperchen, den Zellenkern (Nucleus), und einen äußeren, weicheren Eiweißkörper, den Zellſtoff (Protoplasma). Außerdem bilden viele Zellen ſpäterhin noch einen dritten (jedoch häufig fehlenden) Formbeſtandtheil, indem ſie ſich einkapſeln, eine äußere Hülle oder Zellhaut (Membrana) ausſchwitzen. Alle übri— gen Formbeſtandtheile, die ſonſt noch an den Zellen vorkommen, ſind von untergeordneter Bedeutung und intereſſiren uns hier wei— ter nicht. Urſprünglich iſt auch jeder mehrzellige Organismus eine ein— N. erehmann.se. ıchsten. Organismus. u te eines eimft HA His bi ya 1e antun, 1 * 1 * An N KR * ev NR x, a8 N 717 N . 60 # 17 4 N 19 2 ee . m n e W 1 UT . * 1 10 „ 0. Fortpflanzung der einzelligen Amoeben durch Theilung. 169 fache Zelle, und er wird dadurch mehrzellig, daß jene Zelle ſich durch Theilung fortpflanzt, und daß die ſo entſtehenden neuen Zel— lenindividuen beiſammen bleiben und durch Arbeitstheilung eine Ge— meinde oder einen Staat bilden. Die Formen und Lebenserſchei— nungen aller mehrzelligen Organismen ſind lediglich die Wirkung oder der Ausdruck der geſammten Formen und Lebenserſcheinungen aller einzelnen ſie zuſammenſetzenden Zellen. Das Ei, aus welchem ſich die meiſten Thiere und Pflanzen entwickeln, iſt eine einfache Zelle. Die einzelligen Organismen, d. h. diejenigen, welche zeitlebens den Formwerth einer einzigen Zelle beibehalten, z. B. die Amoe— ben (Fig. 2), pflanzen ſich in der Regel auf die einfachſte Weiſe Fig. 2. Fortpflanzung eines einzelligen Organismus, einer Amoeba sphae- rococeus, durch Selbſttheilung. 4. die eingekapſelte Amoeba, eine einfache kuge⸗ lige Zelle, beſtehend aus einem Protoplasmaklumpen //, welcher einen Kern ( und ein Kernkörperchen (a) einſchließt, und von einer Zellhaut oder Kapſel umge⸗ ben iſt. 2. Die freie Amoeba, welche die Cyſte oder Zellhaut geſprengt und ver⸗ laſſen hat. C. Dieſelbe beginnt ſich zu theilen, indem ihr Kern in zwei Kerne zer⸗ fällt und der Zellſtoff zwiſchen beiden ſich einſchnürt. D. Die Theilung iſt vollen⸗ det, indem auch der Zellſtoff vollſtändig in zwei Hälften zerfallen iſt Da und DB). durch Theilung fort. Dieſer Prozeß unterſcheidet ſich von der vor— her bei den Moneren beſchriebenen Selbſttheilung nur dadurch, daß zunächſt der feſtere Zellkern (Nucleus) durch Einſchnürung in zwei Hälften zerfällt. Die beiden jungen Kerne entfernen ſich von ein— ander und wirken nun wie zwei verſchiedene Anziehungsmittelpunkte auf die umgebende weichere Eiweißmaſſe, den Zellſtoff (Protoplasma). Dadurch zerfällt ſchließlich auch dieſer in zwei Hälften, und es ſind nun zwei neue Zellen vorhanden, welche der Mutterzelle gleich ſind. War die Zelle von einer Membran umgeben, ſo theilt ſich dieſe ent— 170 Beginnende Entwickelung des Säugethier-Eies. weder nicht, wie bei der Eifurchung (Fig. 3, 4), oder fie folgt paſ— ſiv der activen Einſchnürung des Protoplasma, oder es wird von jeder jungen Zelle eine neue Haut ausgeſchwitzt. Ganz ebenſo wie die ſelbſtſtändigen einzelligen Organismen, z. B. Amoeba (Fig. 2) pflanzen ſich nun auch die unſelbſtſtändigen Zellen fort, welche in Gemeinden oder Staaten vereinigt bleiben und ſo den Körper der höheren Organismen zuſammenſetzen. Ebenſo vermehrt ſich auch durch einfache Theilung die Zelle, mit welcher die meiſten Thiere und Pflanzen ihre individuelle Exiſtenz beginnen, nämlich das Ei. Wenn ſich aus einem Ei ein Thier, z. B. ein Säugethier (Fig. 3, 4) entwickelt, fo beginnt dieſer Entwickelungs— Fig. 3. Ei eines Säugethieres (eine einfache Zelle). a Kernkörperchen oder Nucleolus (ſogenann⸗ ter Keimfleck des Eies); 5 Kern oder Nucleus (ſo⸗ genanntes Keimbläschen des Eies); e Zellſtoff oder Protoplasma (ſogenannter Dotter des Eies); 4 Zell⸗ haut oder Membrana (Dotterhaut) des Eies, beim Säugethier wegen ihrer Durchſichtigkeit Membrana pellueida genannt. . Fig. 4. Erſter Beginn der Entwickelung des Säugethiereies, ſogenannte „Ei- furchung“ (Fortpflanzung der Eizelle durch wiederholte Selbſttheilung). Fig 44. Das Ei zerfällt durch Bildung der erſten Furche in zwei Zellen. Fig. 48. Dieſe zerfallen durch Halbirung in 4 Zellen. Fig. 40. Dieſe letzteren ſind in 8 Zellen zerfallen. Fig. 40. Durch fortgeſetzte Theilung ift ein kugeliger Haufen von zahl⸗ reichen Zellen entſtanden. prozeß ſtets damit, daß die einfache Eizelle (Fig. 3) durch fortgeſetzte Selbſttheilung einen Zellenhaufen bildet (Fig. 4). Die äußere Hülle oder Zellhaut des kugeligen Eies bleibt ungetheilt. Zuerſt zerfällt der Zellenkern des Eies (das ſogenannte Keimbläschen) durch Selbſt— Ungeſchlechtliche Fortpflanzung durch Selbſttheilung. 171 theilung in zwei Kerne, dann folgt der Zellſtoff (der Dotter des Eies) nach (Fig. AA). In gleicher Weiſe zerfallen durch die fortge— ſetzte Selbſttheilung die zwei Zellen in vier (Fig. 45), dieſe in acht (Fig. 40), in ſechzehn, zweiunddreißig u. ſ. w., und es entſteht ſchließ— lich ein kugeliger Haufe von ſehr zahlreichen kleinen Zellen (Fig. 40). Dieſe bauen nun durch weitere Vermehrung und ungleichartige Aus— bildung (Arbeitstheilung) allmählich den zuſammengeſetzten mehrzel— ligen Organismus auf. Jeder von uns hat im Beginne ſeiner in— dividuellen Entwickelung denſelben, in Fig. 4 dargeſtellten Prozeß durchgemacht. Das in Fig. 3 abgebildete Säugethierei und die in Fig. 4 dargeſtellte Entwickelung deſſelben könnte eben ſo gut vom Menſchen, als vom Affen, vom Hunde, vom Pferde oder irgend einem anderen placentalen Säugethier herrühren. Wenn Sie nun zunächſt nur dieſe einfachſte Form der Fort— pflanzung, die Selbſttheilung betrachten, ſo werden Sie es gewiß nicht wunderbar finden, daß die Theilproducte des urſprünglichen Organismus dieſelben Eigenſchaften beſitzen, wie das elterliche In— dividuum. Sie ſind ja Theilhälften des elterlichen Organismus, und da die Materie, der Stoff in beiden Hälften derſelbe iſt, da die beiden jungen Individuen gleich viel und gleich beſchaffene Ma— terie von dem elterlichen Individuum überkommen haben, ſo finden Sie es gewiß natürlich, daß auch die Lebenserſcheinungen, die phy— ſiologiſchen Eigenſchaften in den beiden Kindern dieſelben ſind. In der That ſind in jeder Beziehung, ſowohl hinſichtlich ihrer Form und ihres Stoffes, als hinſichtlich ihrer Lebenserſcheinungen, die beiden Tochterzellen nicht von einander und von der Mutterzelle zu unterſcheiden. Sie haben von ihr die gleiche Natur geerbt. Nun findet ſich aber dieſelbe einfache Fortpflanzung durch Thei— lung nicht bloß bei den einfachen Zellen, ſondern auch bei höher ſte— henden mehrzelligen Organismen, z. B. bei den Korallenthieren. Viele derſelben, welche ſchon einen höheren Grad von Zuſammenſetzung und Organiſation zeigen, pflanzen ſich dennoch einfach durch Thei— lung fort. Hier zerfällt der ganze Organismus mit allen ſeinen Or— 172 Ungeſchlechtliche Fortpflanzung durch Knospenbildung. ganen in zwei gleiche Hälften, ſobald er durch Wachsthum ein ge— wiſſes Maß der Größe erreicht hat. Jede Hälfte ergänzt ſich als— bald wieder durch Wachsthum zu einem vollſtändigen Individuum. Auch hier finden Sie es gewiß ſelbſtverſtändlich, daß die beiden Theilproducte die Eigenſchaften des elterlichen Organismus theilen, da ſie ja ſelbſt Subſtanzhälften deſſelben ſind. An die Fortpflanzung durch Theilung ſchließt ſich zunächſt die Fortpflanzung durch Knospenbildung an. Dieſe Art der Mo— nogonie iſt außerordentlich weit verbreitet. Sie findet ſich ſowohl bei den einfachen Zellen (obwohl ſeltener), als auch bei den aus vielen Zellen zuſammengeſetzten höheren Organismen. Ganz allge— mein verbreitet iſt die Knospenbildung im Pflanzenreich, ſeltener im Thierreich. Jedoch kommt ſie auch hier in dem Stamme der Pflan— zenthiere, insbeſondere bei den Korallen und bei einem großen Theile der Hydromeduſen ſehr häufig vor, ferner auch bei einem Theile der Würmer (Plattwürmern, Ringelwürmern, Moosthieren und Man— telthieven). Die meiſten verzweigten Thierſtöcke, welche auch äußer— lich den verzweigten Pflanzenſtöcken ſo ähnlich ſind, entſtehen gleich dieſen durch Knospenbildung. Die Fortpflanzung durch Knospenbildung (Gemmatio) unter- ſcheidet ſich von der Fortpflanzung durch Theilung weſentlich da— durch, daß die beiden durch Knospung neu erzeugten Organismen nicht von gleichem Alter, und daher anfänglich auch nicht von glei— chem Werthe ſind, wie es bei der Theilung der Fall iſt. Bei der letzteren können wir offenbar keines der beiden neu erzeugten Indi— viduen als das elterliche, als das erzeugende anſehen, weil beide ja gleichen Antheil an der Zuſammenſetzung des urſprünglichen, el— terlichen Individuums haben. Wenn dagegen ein Organismus eine Knospe treibt, ſo iſt die letztere das Kind des erſteren. Beide In— dividuen ſind von ungleichem Alter und daher zunächſt auch von ungleicher Größe und ungleihem Formwerth.. Wenn z. B. eine Zelle durch Knospenbildung ſich fortpflanzt, To ſehen wir nicht, daß die Zelle in zwei gleiche Hälften zerfällt, ſondern es bildet ſich an Ungeſchlechtliche Fortpflanzung durch Knospenbildung. 173 einer Stelle eine Hervorragung, welche größer und größer wird, und welche ſich mehr oder weniger von der elterlichen Zelle abſon— dert und nun ſelbſtſtändig wächſt. Ebenſo bemerken wir bei der Knospenbildung einer Pflanze oder eines Thieres, daß an einer Stelle des ausgebildeten Individuums eine kleine locale Wucherung entſteht, welche größer und größer wird, und ebenfalls durch ſelbſt— ſtändiges Wachsthum ſich mehr oder weniger von dem elterlichen Organismus abſondert. Die Knospe kann ſpäter, nachdem ſie eine gewiſſe Größe erlangt hat, entweder vollkommen von dem Eltern— individuum ſich ablöſen, oder ſie kann mit dieſem im Zuſammen— hang bleiben und einen Stock bilden, dabei aber doch ganz ſelbſt— ſtändig weiter leben. Während das Wachsthum, welches die Fort— pflanzung einleitet, bei der Theilung ein totales iſt und den ganzen Körper betrifft, iſt daſſelbe dagegen bei der Knospenbildung ein par— tielles und betrifft nur einen Theil des elterlichen Organismus. Aber auch hier behält die Knospe, das neu erzeugte Individuum, wel— ches mit dem elterlichen Organismus ſo lange im unmittelbarſten Zuſammenhang ſteht und aus dieſem hervorgeht, deſſen weſentliche Eigenſchaften und urſprüngliche Bildungsrichtung bei. An die Knospenbildung ſchließt ſich unmittelbar eine dritte Art der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung an, diejenige durch Keimknos— penbildung (Polysporogonia). Bei niederen, unvollkommenen Organismen, unter den Thieren insbeſondere bei den Pflanzenthie— ren und Würmern, finden Sie ſehr häufig, daß im Innern eines aus vielen Zellen zuſammengeſetzten Individuums eine kleine Zellen— gruppe von den umgebenden Zellen ſich abſondert, und daß dieſe kleine iſolirte Zellengruppe allmählich zu einem Individuum heran— wächſt, welches dem elterlichen ähnlich wird, und früher oder ſpä— ter aus dieſem heraustritt. So entſtehen z. B. im Körper der Saug— würmer (Trematoden) oft zahlreiche, aus vielen Zellen zuſammen— geſetzte Körperchen, Keimknospen oder Polyſporen, welche ſich ſchon frühzeitig ganz von dem Elternkörper abſondern und dieſen 174 Fortpflanzung durch Keimzellenbildung oder Sporenbildung. verlaſſen, nachdem ſie einen gewiſſen Grad ſelbſtſtändiger Ausbil— dung erreicht haben. Offenbar iſt die Keimknospenbildung von der echten Knospen— bildung nur wenig verſchieden. Andrerſeits aber berührt ſie ſich mit einer vierten Form der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung, welche beinahe ſchon zur geſchlechtlichen Zeugung hinüberführt, nämlich mit der Keimzellenbildung (Monosporogonia), welche auch oft ſchlechtweg die Sporenbildung (Sporogonia) genannt wird. Hier iſt es nicht mehr eine Zellengruppe, ſondern eine einzelne Zelle, welche ſich im Innern des zeugenden Organismus von den umge- - benden Zellen abſondert, und ſich erſt weiter entwickelt, nachdem ſie aus jenem ausgetreten iſt. Nachdem dieſe Keimzelle oder Mo— noſpore (gewöhnlich kurzweg Spore genannt) das Elternindividuum verlaſſen hat, vermehrt ſie ſich durch Theilung und bildet ſo einen vielzelligen Organismus, welcher durch Wachsthum und allmähliche Ausbildung die erblichen Eigenſchaften des elterlichen Organismus erlangt. So geſchieht es ſehr häufig bei den niederen Pflanzen. Obwohl die Keimzellenbildung der Keimknospenbildung ſehr nahe ſteht, entfernt ſie ſich doch offenbar von dieſer, wie von den vorher angeführten anderen Formen der ungeſchlechtlichen Fortpflan— zung ſehr weſentlich dadurch, daß nur ein ganz kleiner Theil des zeugenden Organismus die Fortpflanzung und ſomit auch die Ver— erbung vermittelt. Bei der Selbſttheilung, wo der ganze Organis- mus in zwei Hälften zerfällt, bei der Knospenbildung, wo ein an— ſehnlicher und bereits mehr oder minder entwickelter Körpertheil von dem zeugenden Individuum ſich abſondert, finden wir es ſehr be— greiflich, daß Formen und Lebenserſcheinungen in dem zeugenden und dem erzeugten Organismus dieſelben find. Viel ſchwieriger iſt es ſchon bei der Keimknospenbildung, und noch ſchwerer bei der Keimzellenbildung zu begreifen, wie dieſer ganz kleine, ganz unent— wickelte Körpertheil, dieſe Zellengruppe oder einzelne Zelle nicht bloß gewiſſe elterliche Eigenſchaften unmittelbar mit in ihre ſelbſtſtändige Exiſtenz hinübernimmt, ſondern auch nach ihrer Trennung vom elter— Geſchlechtliche Fortpflanzung oder Amphigonie. 175 lichen Individuum ſich zu einem vielzelligen Körper entwickelt, und in dieſem die Formen und die Lebenserſcheinungen des urſprüng— lichen, zeugenden Organismus wieder zu Tage treten läßt. Dieſe letzte Form der monogonen Fortpflanzung, die Keimzellen- oder Spo— renbildung, führt uns hierdurch bereits unmittelbar zu der am ſchwie— rigſten zu erklärenden Form der Fortpflanzung, zur geſchlechtlichen Zeugung, hinüber. Die geſchlechtliche (amphigone oder ſexuelle) Zeus gung (Amphigonia) iſt die gewöhnliche Fortpflanzungsart bei allen höheren Thieren und Pflanzen. Offenbar hat ſich dieſelbe erſt ſehr ſpät im Verlaufe der Erdgeſchichte aus der ungeſchlechtlichen Fort— pflanzung, und zwar zunächſt aus der Keimzellenbildung entwickelt. In den früheſten Perioden der organiſchen Erdgeſchichte pflanzten ſich alle Organismen nur auf ungeſchlechtlichem Wege fort, wie es gegenwärtig noch zahlreiche niedere Organismen thun, insbeſondere alle diejenigen, welche auf der niedrigſten Stufe der Organiſation ſtehen, welche man weder als Thiere noch als Pflanzen mit vollem Rechte betrachten kann, und welche man daher am beſten als Ur— weſen oder Protiſten aus dem Thier- und Pflanzenreich ausſchei— det. Allein bei den höheren Thieren und Pflanzen erfolgt gegen— wärtig die Vermehrung der Individuen in der Regel größtentheils durch geſchlechtliche Fortpflanzung. Während bei allen vorhin erwähnten Hauptformen der unge— ſchlechtlichen Fortpflanzung, bei der Theilung, Knospenbildung, Keim— knospenbildung und Keimzellenbildung, die abgeſonderte Zelle oder Zellengruppe für ſich allein im Stande war, ſich zu einem neuen Individuum auszubilden, ſo muß dieſelbe dagegen bei der geſchlecht— lichen Fortpflanzung erſt durch einen anderen Zeugungsſtoff befruch— tet werden. Der befruchtende männliche Samen muß ſich erſt mit der weiblichen Keimzelle, dem Ei, vermiſchen, ehe ſich dieſes zu einem neuen Individuum entwickeln kann. Dieſe beiden verſchiede— nen Zeugungsſtoffe, der männliche Samen und das weibliche Ei, werden entweder von einem und demſelben Individuum erzeugt (Zwit— 176 Zwitterbildung und Geſchlechtstrennung. terbildung, Hermaphroditismus) oder von zwei verſchiedenen In— dividuen (Geſchlechtstrennung, Gonochorismus) (Gen. Morph. II, 58— 59). Die einfachere und ältere Form der geſchlechtlichen Fortpflan— zung iſt die Zwitterbildung (Hermaphroditismus). Sie findet ſich bei der großen Mehrzahl der Pflanzen, aber nur bei einer großen Minderzahl der Thiere, z. B. bei den Gartenſchnecken, Blutegeln, Re— genwürmern und vielen anderen Würmern. Jedes einzelne Individuum erzeugt als Zwitter (Hermaphroditus) in ſich beiderlei Geſchlechts— ſtoffe, Eier und Samen. Bei den meiſten höheren Pflanzen enthält jede Blüthe ſowohl die männlichen Organe (Staubfäden und Staub— beutel) als die weiblichen Organe (Griffel und Fruchtknoten). Jede Gartenſchnecke erzeugt an einer Stelle ihrer Geſchlechtsdrüſe Eier, an einer andern Samen. Viele Zwitter können ſich ſelbſt befruch— ten; bei andern dagegen iſt eine Copulation und gegenſeitige Be— fruchtung zweier Zwitter nothwendig, um die Eier zur Entwickelung zu veranlaſſen. Dieſer letztere Fall it offenbar ſchon der Uebergang zur Geſchlechtstrennung. Die Geſchlechtstrennung (Gonochorismus), die verwickel— tere von beiden Arten der geſchlechtlichen Zeugung, hat ſich offen— bar erſt in einer viel ſpäteren Zeit der organiſchen Erdgeſchichte aus der Zwitterbildung entwickelt. Sie iſt gegenwärtig die allgemeine Fortpflanzungsart der höheren Thiere, findet ſich dagegen nur bei einer geringeren Anzahl von Pflanzen (3. B. manchen Waſſerpflan⸗ zen: Hydrocharis, Vallisneria; und Bäumen: Weiden, Pappeln). Jedes organiſche Individuum als Nichtzwitter (Gonochoristus) erzeugt in ſich nur einen von beiden Zeugungsſtoffen, entweder männ⸗ lichen oder weiblichen. Die weiblichen Individuen bilden ſowohl bei den Thieren, als bei den Pflanzen Eier oder Eizellen. Die Eier der Pflanzen werden gewöhnlich bei den Blüthenpflanzen (Pha— nerogamen) „Embryobläschen“, bei den Blüthenloſen (Kryptogamen) „Befruchtungskugeln“ genannt. Die männlichen Individuen ſondern bei den Thieren den befruchtenden Samen (Sperma) ab, bei den Jungfräuliche Zeugung oder Parthenogeneſis. 177 Pflanzen dem Sperma entſprechende Körperchen (Pollenkörner oder Blüthenſtaub bei den Phanerogamen, bei den Kryptogamen ein Sperma, welches gleich demjenigen der meiſten Thiere aus lebhaft beweglichen, in einer Flüſſigkeit ſchwimmenden Flimmerzellen beſteht, den Zooſpermien, Spermatozoen oder Spermazellen). Eine intereſſante Uebergangsform von der geſchlechtlichen Zeu— gung zu der (dieſer nächſtſtehenden) ungeſchlechtlichen Keimzellenbil— dung bietet die ſogenannte jungfräuliche Zeugung (Partheno- genesis) dar, welche bei den Inſecten in neuerer Zeit, beſonders durch Siebold's verdienſtvolle Unterſuchungen, vielfach nachgewie— ſen worden iſt. Hier werden Keimzellen, die ſonſt den Eizellen ganz ähnlich erſcheinen und ebenſo gebildet werden, fähig, zu neuen In— dividuen ſich zu entwickeln, ohne des befruchtenden Samens zu be— dürfen. Die merkwürdigſten und lehrreichſten von den verſchiedenen parthenogenetiſchen Erſcheinungen bieten uns diejenigen Fälle, in denen dieſelben Keimzellen, je nachdem ſie befruchtet werden oder nicht, verſchiedene Individuen erzeugen. Bei unſeren gewöhnlichen Honigbienen entſteht aus den Eiern der Königin ein männliches In— dividuum (eine Drohne), wenn das Ei nicht befruchtet wird; ein weibliches (eine Königin oder Arbeiterin), wenn das Ei befruchtet wird. Es zeigt ſich hier deutlich, daß in der That eine tiefe Kluft zwiſchen geſchlechtlicher und geſchlechtsloſer Zeugung nicht exiſtirt, daß beide Formen vielmehr unmittelbar zuſammenhängen. Uebri— gens iſt die Parthenogeneſis der Inſecten wohl als Rückſchlag der geſchlechtlichen Fortpflanzung (welche die Stammeltern der In— ſecten beſaßen) in die frühere ungeſchlechtliche Fortpflanzung aufzufaſ— ſen (Gen. Morph. II, 56). Jedenfalls iſt ſowohl bei Pflanzen als bei Thieren die geſchlechtliche Zeugung, die als ein ſo wunderbarer Vorgang erſcheint, erſt in ſpäterer Zeit aus der älteren ungeſchlecht— lichen Zeugung hervorgegangen. In beiden Fällen iſt die Verer— bung eine nothwendige Theilerſcheinung der Fortpflanzung. In allen verſchiedenen Fällen der Fortpflanzung iſt das Weſent— liche dieſes Vorgangs immer die. Ablöſung eines Theiles des elter— Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 12 178 Vererbung durch geſchlechtliche Fortpflanzung. lichen Organismus und die Befähigung deſſelben zur individuellen, ſelbſtſtändigen Exiſtenz. In allen Fällen dürfen wir daher von vorn— herein ſchon erwarten, daß die kindlichen Individuen, die ja, wie man ſich ausdrückt, Fleiſch und Bein der Eltern ſind, zugleich im— mer dieſelben Lebenserſcheinungen und Formeigenſchaften erlangen werden, welche die elterlichen Individuen beſitzen. Immer iſt es nur eine größere oder geringere Quantität von der elterlichen Ma— terie, und zwar von dem eiweißartigen Protoplasma oder Zellſtoff, welche auf das kindliche Individuum übergeht. Mit der Materie werden aber auch deren Lebenseigenſchaften, die molekularen Bewe— gungen des Plasma, übertragen, welche ſich dann in ihrer Form äußern. Wenn Sie ſich die angeführte Kette von verſchiedenen Fort— pflanzungsformen in ihrem Zuſammenhange vor Augen ſtellen, ſo verliert die Vererbung durch geſchlechtliche Zeugung ſehr Viel von dem Räthſelhaften und Wunderbaren, das ſie auf den erſten Blick für den Laien beſitzt. Es erſcheint anfänglich höchſt wunderbar, daß bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung des Menſchen, wie aller hö— heren Thiere, das kleine Ei, eine winzige, für das bloße Auge oft kaum ſichtbare Zelle im Stande iſt, alle Eigenſchaften des müt— terlichen Organismus auf den kindlichen zu übertragen; und nicht weniger räthſelhaft muß es erſcheinen, daß zugleich die weſentlichen Eigenſchaften des väterlichen Organismus auf den kindlichen über— tragen werden vermittelſt des männlichen Sperma, welches die Ei— zelle befruchtete, vermittelſt einer ſchleimigen Maſſe, in der feine Geißelzellen, die Zooſpermien ſich umherbewegen. Sobald Sie aber jene zuſammenhängende Stufenleiter der verſchiedenen Fortpflanzungs— arten vergleichen, bei welcher der kindliche Organismus als über— ſchüſſiges Wachsthumsproduct des Elternindividuums ſich immer mehr von erſterem abſondert, und immer frühzeitiger die ſelbſtſtändige Laufbahn betritt; ſobald Sie zugleich erwägen, daß auch das Wachs— thum und die Ausbildung jedes höheren Organismus bloß auf der Vermehrung der ihn zuſammenſetzenden Zellen, auf der einfachen Materieller Vorgang der geſchlechtlichen Vererbung. 179 Fortpflanzung durch Theilung beruht, ſo wird es Ihnen klar, daß alle dieſe merkwürdigen Vorgänge in eine Reihe gehören. Das Leben jedes organiſchen Individuums iſt Nichts weiter, als eine zuſammenhängende Kette von ſehr verwickelten materiellen Bewegungserſcheinungen. Dieſe Bewegungen ſind als Veränderun— gen in der Lage und Zuſammenſetzung der Molekeln zu denken, der kleinſten (aus Atomen in höchſt mannichfaltiger Weiſe zuſammenge— ſetzten) Theilchen der belebten Materie. Die ſpecifiſch beſtimmte Rich— tung dieſer gleichartigen, anhaltenden, immanenten Lebensbewegung wird in jedem Organismus durch die chemiſche Miſchung des eiweiß— artigen Zeugungsſtoffes bedingt, welcher ihm den Urſprung gab. Bei dem Menſchen, wie bei den höheren Thieren, welche geſchlecht— lich ſich fortpflanzen, beginnt die individuelle Lebensbewegung in dem Momente, in welchem die Eizelle von den Samenfäden des Sperma befruchtet wird, in welchem beide Zeugungsſtoffe ſich that— ſächlich vermiſchen, und hier wird nun die Richtung der Lebensbe— wegung durch die ſpecifiſche, oder richtiger individuelle Beſchaffen— heit ſowohl des Samens als des Eies beſtimmt. Ueber die rein mechaniſche, materielle Natur dieſes Vorgangs kann kein Zweifel ſein. Aber ſtaunend und bewundernd müſſen wir hier vor der un— endlichen, für uns unfaßbaren Feinheit der eiweißartigen Materie ſtill ſtehen. Staunen müſſen wir über die unleugbare Thatſache, daß die einfache Eizelle der Mutter, der einzige Samenfaden oder die flimmernde Spermazelle des Vaters ſo genau die molekulare individuelle Lebensbewegung dieſer beiden Individuen auf das Kind überträgt, daß nachher die feinſten körperlichen und geiſtigen Eigen— thümlichkeiten der beiden Eltern an dieſem wieder erſcheinen. Hier ſtehen wir vor einer mechaniſchen Naturerſcheinung, von welcher Virchow, der geiſtvolle Begründer der „Cellularpatholo— gie“, mit vollem Rechte ſagt: „Wenn der Naturforſcher dem Ge— brauche der Geſchichtſchreiber und Kanzelredner zu folgen liebte, un— geheure und in ihrer Art einzige Erſcheinungen mit dem hohlen Ge— pränge ſchwerer und tönender Worte zu überziehen, ſo wäre hier 12% 180 Vererbung durch geſchlechtliche und ungeſchlechtliche Fortpflanzung. der Ort dazu; denn wir find an eines der großen Myſterien der thieriſchen Natur getreten, welche die Stellung des Thieres gegen— über der ganzen übrigen Erſcheinungswelt enthalten. Die Frage von der Zellenbildung, die Frage von der Erregung anhaltender gleichartiger Bewegung, endlich die Fragen von der Selbſtſtändig— keit des Nervenſyſtems und der Seele — das ſind die großen Auf— gaben, an denen der Menſchengeiſt ſeine Kraft mißt. Die Bezie— hung des Mannes und des Weibes zur Eizelle zu erkennen, heißt faſt ſo viel, als alle jene Myſterien löſen. Die Entſtehung und Entwickelung der Eizelle im mütterlichen Körper, die Uebertragung körperlicher und geiſtiger Eigenthümlichkeiten des Vaters durch den Samen auf dieſelbe, berühren alle Fragen, welche der Menſchengeiſt je über des Menſchen Sein aufgeworfen hat.“ Und, fügen wir hinzu, ſie löſen dieſe höchſten Fragen mittelſt der Deſcendenztheorie in rein mechaniſchem, rein moniftifhem Sinne! Daß alſo auch bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung des Men— ſchen und aller höheren Organismen die Vererbung, ein rein me— chaniſcher Vorgang, unmittelbar durch den materiellen Zuſammen— hang des zeugenden und des gezeugten Organismus bedingt iſt, ebenſo wie bei der einfachſten ungeſchlechtlichen Fortpflanzung der niederen Organismen, darüber kann kein Zweifel mehr ſein. Doch will ich Sie bei dieſer Gelegenheit ſogleich auf einen wichtigen Unterſchied aufmerkſam machen, welchen die Vererbung bei der geſchlechtlichen und bei der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung darbietet. Es iſt eine längſt bekannte Thatſache, daß die individuellen Eigenthümlichkeiten des zeugenden Organismus viel genauer durch die ungeſchlechtliche als durch die geſchlechtliche Fortpflanzung auf das erzeugte Indivi— duum übertragen werden. Die Gärtner machen von dieſer That⸗ ſache ſchon lange vielfach Gebrauch. Wenn z. B. von einer Baum— art mit ſteifen, aufrecht ſtehenden Aeſten zufällig ein einzelnes Indivi— duum herabhängende Zweige bekömmt, ſo kann der Gärtner in der Regel dieſe Eigenthümlichkeit nicht durch geſchlechtliche, ſondern nur durch ungeſchlechtliche Fortpflanzung vererben. Die von einem ſol— Vererbung durch geſchlechtliche und ungeſchlechtliche Fortpflanzung. 181 chen Trauerbaum abgeſchnittenen Zweige, als Stecklinge gepflanzt, bilden ſpäterhin Bäume, welche ebenfalls hängende Aeſte haben, wie z. B. die Trauerweiden, Trauerbuchen. Samenpflanzen dage— gen, welche man aus den Samen eines ſolchen Trauerbaumes zieht, erhalten in der Regel wieder die urſprüngliche, ſteife und aufrechte Zweigform der Voreltern. In ſehr auffallender Weiſe kann man daſſelbe auch an den ſogenannten „Blutbäumen“ wahrnehmen, d. h. Spielarten von Bäumen, welche ſich durch rothe oder rothbraune Farbe der Blätter auszeichnen. Abkömmlinge von ſolchen Blutbäu— men (z. B. Blutbuchen), welche man durch ungeſchlechtliche Fortpflan— zung, durch Stecklinge erzeugt, zeigen die eigenthümliche Farbe und Beſchaffenheit der Blätter, welche das elterliche Individuum auszeich— net, während andere, aus den Samen der Blutbäume gezogene In— dividuen in die grüne Blattfarbe zurückſchlagen. Dieſer Unterſchied in der Vererbung wird Ihnen ſehr natürlich vorkommen, ſobald Sie erwägen, daß der materielle Zuſammenhang zwiſchen zeugenden und erzeugten Individuen bei der ungeſchlechtli⸗ chen Fortpflanzung viel inniger iſt und viel länger dauert, als bei der geſchlechtlichen. Die individuelle Richtung der molekularen Le⸗ bensbewegung kann ſich daher bei der ungeſchlechtlichen Fortpflan— zung viel länger und gründlicher in dem kindlichen Organismus be— feſtigen, und viel ſtrenger vererben. Alle dieſe Erſcheinungen im Zuſammenhang betrachtet bezeugen klar, daß die Vererbung der kör— perlichen und geiſtigen Eigenſchaften ein rein materieller, mechani— ſcher Vorgang iſt. Durch die Fortpflanzung wird eine größere oder geringere Quantität eiweißartiger Stofftheilchen, und damit zugleich die dieſen Protoplasma-Molekeln anhaftende individuelle Bewegungs— form vom elterlichen Organismus auf den kindlichen übertragen. Indem dieſe Bewegungsform ſich beſtändig erhält, müſſen auch die feineren Eigenthümlichkeiten, die am elterlichen Organismus haften, früher oder fpäter am kindlichen Organismus wieder erſcheinen. Neunter Vortrag. Vererbungsgeſetze. Anpaſſung und Ernährung. Unterſcheidung der erhaltenden und fortſchreitenden Vererbung. Geſetze der erhaltenden oder conſervativen Erblichkeit: Vererbung ererbter Charaktere. Unun⸗ terbrochene oder continuirliche Vererbung. Unterbrochene oder latente Vererbung. Generationswechſel. Rückſchlag. Verwilderung. Geſchlechtliche oder ſexuelle Ver— erbung. Secundäre Sexualcharaktere. Gemiſchte oder amphigone Vererbung. Ba⸗ ſtardzeugung. Abgekürzte oder vereinfachte Vererbung. Geſetze der fortſchreitenden oder progreſſiven Erblichkeit: Vererbung erworbener Charaktere. Angepaßte oder erworbene Vererbung. Befeſtigte oder conſtituirte Vererbung. Gleichzeitliche oder homochrone Vererbung. Gleichörtliche oder homotope Vererbung. Anpaſſung und Veränderlichkeit. Zuſammenhang der Anpaſſung und der Ernährung. Unterſchei⸗ dung der indirecten und directen Anpaſſung. Meine Herren! Von den beiden allgemeinen Lebensthätigkei— ten der Organismen, der Anpaſſung und der Vererbung, welche in ihrer Wechſelwirkung die verſchiedenen Organismenarten hervorbrin— gen, haben wir im letzten Vortrage die Vererbung betrachtet und wir habem verſucht, dieſe in ihren Wirkungen ſo räthſelhafte Lebens— thätigkeit zurückzuführen auf eine andere phyſiologiſche Function der Organismen, auf die Fortpflanzung. Dieſe letztere beruht ihrerſeits wieder, wie alle anderen Lebenserſcheinungen der Thiere und Pflan— zen, auf phyſikaliſchen und chemiſchen Verhältniſſen. Allerdings er— ſcheinen dieſe bisweilen äußerſt verwickelt, laſſen ſich aber doch im Grunde auf einfache, mechaniſche Urſachen, auf Anziehungs— Unterſcheidung der erhaltenden und fortſchreitenden Vererbung. 183 und Abſtoßungsverhältniſſe der Stofftheilchen oder Mo— lekeln, auf Bewegungserſcheinungen der Materie zurückführen. Bevor wir nun zur zweiten, der Vererbung entgegenwirkenden Function, der Erſcheinung der Anpaſſung oder Abänderung über— gehen, erſcheint es zweckmäßig, zuvor noch einen Blick auf die ver— ſchiedenen Aeußerungsweiſen der Erblichkeit zu werfen, welche man vielleicht ſchon jetzt als „Vererbungsgeſetze“ aufſtellen kann. Lei— der iſt für dieſen fo außerordentlich wichtigen Gegenſtand ſowohl in der Zoologie, als auch in der Botanik, bisher nur ſehr Wenig geſchehen, und faſt Alles, was man von den verſchiedenen Verer— bungsgeſetzen weiß, beruht auf den Erfahrungen der Landwirthe und der Gärtner. Daher iſt es nicht zu verwundern, daß im Ganzen dieſe äußerſt intereſſanten und wichtigen Erſcheinungen nicht mit der wünſchenswerthen wiſſenſchaftlichen Schärfe unterſucht und in die Form von naturwiſſenſchaftlichen Geſetzen gebracht worden ſind. Was ich Ihnen demnach im Folgenden von den verſchiedenen Vererbungs— geſetzen mittheilen werde, ſind nur einige vorläufige Bruchſtücke, her— ausgenommen aus dem unendlich reichen Schatze, welcher für die Erkenntniß hier offen liegt. Wir können zunächſt alle verſchiedenen Erblichkeitserſcheinungen in zwei Gruppen bringen, welche wir als Vererbung ererbter Cha- raktere und Vererbung erworbener Charaktere unterſcheiden; und wir können die erſtere als die erhaltende (conſervative) Vererbung, die zweite als die fortſchreitende (progreſſive) Vererbung bezeich— nen. Dieſe Unterſcheidung beruht auf der äußerſt wichtigen That— ſache, daß die Einzelweſen einer jeden Art von Thieren und Pflan— zen nicht allein diejenigen Eigenſchaften auf ihre Nachkommen ver— erben können, welche ſie ſelbſt von ihren Vorfahren ererbt haben, ſondern auch die eigenthümlichen, individuellen Eigenſchaften, die ſie erſt während ihres Lebens erworben haben. Dieſe letzteren werden durch die fortſchreitende, die erſteren durch die erhaltende Erblichkeit übertragen. Zunächſt haben wir nun hier die Erſcheinungen der confervativen oder erhaltenden Vererbung zu unterſuchen 184 Ununterbrochene oder continuirliche Vererbung. d. h. der Vererbung ſolcher Eigenſchaften, welche der betreffende Or— ganismus von ſeinen Eltern oder Vorfahren ſchon erhalten hat (Gen. Morph. II, 180). Unter den Erſcheinungen der conſervativen Vererbung tritt uns zunächſt als das allgemeinſte Geſetz dasjenige entgegen, welches wir das Geſetz der ununterbrochenen oder continuirlichen Vererbung nennen können. Daſſelbe hat unter den höheren Thie— ren und Pflanzen ſo allgemeine Gültigkeit, daß der Laie zunächſt ſeine Wirkſamkeit überſchätzen und es für das einzige, allein maß— gebende Vererbungsgeſetz halten dürfte. Es beſteht dieſes Geſetz ein— fach darin, daß innerhalb der meiſten Thier- oder Pflanzenarten jede Generation im Ganzen der andern gleich iſt, daß die Eltern ebenſo den Großeltern, wie den Kindern ähnlich ſind. „Gleiches erzeugt Gleiches“, ſagt man gewöhnlich, richtiger aber: „Aehnliches erzeugt Aehnliches“. Denn in der That ſind die Nachkommen oder Defeendenten eines jeden Organismus demſelben niemals in allen Stücken abſolut gleich, ſondern immer nur in einem mehr oder we— niger hohen Grade ähnlich. Dieſes Geſetz iſt ſo allgemein bekannt, daß ich keine Beiſpiele anzuführen brauche. In einem gewiſſen Gegenſatze zu demſelben ſteht das Geſetz der unterbrochenen oder latenten Vererbung, welche man auch als abwechſelnde oder alternirende Vererbung bezeichnen könnte. Dieſes wichtige Geſetz erſcheint hauptſächlich in Wirkſamkeit bei vie— len niederen Thieren und Pflanzen, und äußert ſich hier, im Ge— genſatz zu dem erſteren, darin, daß die Kinder den Eltern nicht gleich, ſondern ſehr unähnlich ſind, und daß erſt die dritte oder eine ſpätere Generation der erſten wieder ähnlich wird. Die Enkel ſind den Großeltern gleich, den Eltern aber ganz unähnlich. Es iſt das eine merkwürdige Erſcheinung, welche bekanntermaßen in geringerem Grade auch in den menſchlichen Familien ſehr häufig auftritt. Zwei— felsohne wird Jeder von Ihnen einzelne Familienglieder kennen, welche in dieſer oder jener Eigenthümlichkeit viel mehr dem Groß— vater oder der Großmutter, als dem Vater oder der Mutter gleichen. Unterbrochene oder latente Vererbung. Generationswechſel. 185 Bald ſind es körperliche Eigenſchaften, z. B. Geſichtszüge, Haarfarbe, Körpergröße, bald geiſtige Eigenheiten, z. B. Temperament, Ener— gie, Verſtand, welche in dieſer Art ſprungweiſe vererbt werden. Ebenſo wie beim Menſchen können Sie dieſe Thatſache bei den Haus— thieren beobachten. Bei den am meiſten veränderlichen Hausthieren, beim Hund, Pferd, Rind, machen die Thierzüchter ſehr häufig die Erfahrung, daß ihr Züchtungsproduct mehr dem großelterlichen, als dem elterlichen Organismus ähnlich iſt. Wollen Sie dies Geſetz allgemein ausdrücken, und die Reihe der Generationen mit den Buch— ſtaben des Alphabets bezeichnen, jo wird A=C=E, ferner B= u fe f. Noch viel auffallender, als bei den höheren, tritt Ihnen bei den niederen Thieren und Pflanzen dieſe ſehr merkwürdige Thatſache entgegen, und zwar in dem berühmten Phänomen des Genera— tionswechſels (Metagenesis). Hier finden Sie ſehr häufig z. B. unter den Plattwürmern, Mantelthieren, Pflanzenthieren, ferner unter den Farnkräutern und Moſen, daß das organiſche Individuum bei der Fortpflanzung zunächſt eine Form erzeugt, die gänzlich von der Elternform verſchieden iſt, und daß erſt die Nachkommen dieſer Generation der erſten wieder ähnlich werden. Dieſer regelmäßige Generationswechſel wurde 1819 von dem Dichter Chamiſſo auf ſeiner Weltumſegelung bei den Salpen entdeckt, cylindriſchen und glasartig durchſichtigen Mantelthieren, welche an der Oberfläche des Meeres ſchwimmen. Hier erzeugt die größere Generation, welche als Einſiedler lebt und ein hufeiſenförmiges Auge beſitzt, auf unge— ſchlechtlichem Wege (durch Knospenbildung) eine gänzlich verſchiedene kleinere Generation. Die Individuen dieſer zweiten kleineren Gene— ration leben in Ketten vereinigt und beſitzen ein kegelförmiges Auge. Jedes Individuum einer ſolchen Kette erzeugt auf geſchlechtlichem Wege (als Zwitter) wiederum einen geſchlechtsloſen Einſiedler der erſten, größeren Generation. Es iſt alſo hier bei den Salpen im— mer die erſte, dritte, fünfte Generation, und ebenſo die zweite, vierte, ſechste Generation einander ganz ähnlich. Nun iſt es aber nicht 136 Generationswechſel. Rückſchlag oder Atavismus. immer bloß eine Generation, die ſo überſchlagen wird, ſondern in anderen Fällen auch mehrere, ſo daß alſo die erſte Generation der vierten, ſiebenten u. ſ. w. gleicht, die zweite der fünften und achten, die dritte der ſechsten und neunten, und ſo weiter fort. Drei in dieſer Weiſe verſchiedene Generationen wechſeln z. B. bei den zier— lichen Seetönnchen (Doliolum) mit einander ab, kleinen Mantel- thieren, welche den Salpen nahe verwandt find. Hier it A=D. =, ferner B=E=H, und C=F=I Bei den Blattläuſen folgt auf jede geſchlechtliche Generation eine Reihe von acht bis zehn bis zwölf ungeſchlechtlichen Generationen, die unter ſich ähnlich und von der geſchlechtlichen verſchieden ſind. Dann tritt erſt wieder eine geſchlechtliche Generation auf, die der längſt verſchwundenen gleich iſt. Wenn Sie dieſes merkwürdige Geſetz der latenten oder unter— brochenen Vererbung weiter verfolgen und alle dahin gehörigen Er— ſcheinungen zuſammenfaſſen, ſo können Sie auch die bekannten Er— ſcheinungen des Rückſchlags darunter begreifen. Unter Rückſchlag oder Ata vismus verſteht man die allen Thierzüchtern bekannte merkwürdige Thatſache, daß bisweilen einzelne Thiere eine Form an— nehmen, welche ſchon ſeit vielen Generationen nicht vorhanden war, welche einer längſt entſchwundenen Generation angehört. Eines der merkwürdigſten hierher gehörigen Beiſpiele iſt die Thatſache, daß bei einzelnen Pferden bisweilen ganz charakteriſtiſche dunkle Streifen auf— treten, ähnlich denen des Zebra, Quagga und anderer wilden Pferde— arten Africa's. Hauspferde von den verſchiedenſten Raſſen und von allen Farben zeigen bisweilen ſolche dunkle Streifen, z. B. einen Längsſtreifen des Rückens, Querſtreifen der Schultern und der Beine u. ſ. w. Die plötzliche Erſcheinung dieſer Streifen läßt ſich nur er— klären als eine Wirkung der latenten Vererbung, als ein Rückſchlag in die längſt verſchwundene uralte gemeinſame Stammform aller Pferdearten, welche zweifelsohne gleich den Zebras, Quaggas u. ſ. w. geſtreift war. Ebenſo erſcheinen auch bei anderen Hausthieren oft plötzlich gewiſſe Eigenſchaften wieder, welche ihre längſt ausgeſtor— Rückſchlag oder Atavismus. 187 benen wilden Stammeltern auszeichneten. Auch unter den Pflanzen kann man den Rückſchlag ſehr häufig beobachten. Sie kennen wohl Alle das wilde gelbe Löwenmaul (Linaria vulgaris), eine auf un— ſeren Aeckern und Wegen ſehr gemeine Pflanze. Die rachenförmige gelbe Blüthe derſelben enthält zwei lange und zwei kurze Staubfäden. Bisweilen aber erſcheint eine einzelne Blüthe (Peloria), welche trichterförmig und ganz regelmäßig aus fünf einzelnen gleichen Ab— ſchnitten zuſammengeſetzt iſt, mit fünf gleichartigen Staubfäden. Dieſe Peloria können wir nur erklären als einen Rückſchlag in die längſt entſchwundene uralte gemeinſame Stammform aller derjenigen Pflanzen, welche gleich dem Löwenmaul eine rachenförmige zweilippige Blüthe mit zwei langen und zwei kurzen Staubfäden beſitzen. Jene Stammform beſaß gleich der Peloria eine regelmäßige fünftheilige Blüthe mit fünf gleichen, ſpäter erſt allmählich ungleich werdenden Staubfäden. (Vergl. oben S. 14, 16.) Alle ſolche Rückſchläge ſind unter das Geſetz der unterbrochenen oder latenten Vererbung zu bringen, wenn gleich die Zahl der Generationen, die überſprungen wird, ganz ungeheuer groß ſein kann. Wenn Culturpflanzen oder Hausthiere verwildern, wenn ſie den Bedingungen des Culturlebens entzogen werden, ſo gehen ſie Veränderungen ein, welche nicht bloß als Anpaſſung an die neu— erworbene Lebensweiſe erſcheinen, ſondern auch theilweiſe als Rück— ſchlag in die uralte Stammform, aus welcher die Culturformen er— zogen worden ſind. So kann man die verſchiedenen Sorten des Kohls, die ungemein in ihrer Form verſchieden ſind, durch abſicht— liche Verwilderung allmählich auf die urſprüngliche Stammform zu— rückführen. Ebenſo ſchlagen die verwildernden Hunde, Pferde, Rin— der u. ſ. w. oft mehr oder weniger in die längſt ausgeſtorbene Ge— neration zurück. Es kann eine erſtaunlich lange Reihe von Gene— rationen verfließen, ehe dieſe latente Vererbungskraft erliſcht. Als ein drittes Geſetz der erhaltenden oder conſervativen Ver— erbung können wir das Geſetz der geſchlechtlichen oder ſe— ruellen Vererbung bezeichnen, nach welchem jedes Geſchlecht auf 188 Geſchlechtliche oder ſexuelle Vererbung. Secundäre Sexualcharaktere. ſeine Nachkommen deſſelben Geſchlechts Eigenthümlichkeiten überträgt, welche es nicht auf die Nachkommen des andern Geſchlechts vererbt. Die ſogenannten „ſecundären Sexualcharaktere“, welche in mehrfacher Beziehung von außerordentlichem Intereſſe ſind, liefern für dieſes Geſetz überall zahlreiche Beiſpiele. Als untergeordnete oder ſecun— däre Sexualcharaktere bezeichnet man ſolche Eigenthümlichkeiten des einen der beiden Geſchlechter, welche nicht unmittelbar mit den Ge— ſchlechtsorganen ſelbſt zuſammenhängen. Solche Charaktere, welche bloß dem männlichen Geſchlecht zukommen, ſind z. B. das Geweih des Hirſches, die Mähne des Löwen, der Sporn des Hahns. Hier— her gehört auch der menſchliche Bart, eine Zierde, welche gewöhn— lich dem weiblichen Geſchlecht verſagt iſt. Aehnliche Charaktere, welche bloß das weibliche Geſchlecht auszeichnen, ſind z. B. die ent— wickelten Brüſte mit den Milchdrüſen der weiblichen Säugethiere, der Beutel der weiblichen Beutelthiere. Auch Körpergröße und Haut— färbung iſt bei den weiblichen Thieren vieler Arten abweichend. Alle dieſe ſecundären Geſchlechtseigenſchaften werden, ebenſo wie die Ge— ſchlechtsorgane ſelbſt, vom männlichen Organismus nur auf den männlichen vererbt, nicht auf den weiblichen, und umgekehrt. Die entgegengeſetzten Thatſachen ſind ſeltene Ausnahmen von der Regel. Ein viertes hierher gehöriges Vererbungsgeſetz ſteht in gewiſ— ſem Sinne im Widerſpruch mit dem letzterwähnten, und beſchränkt daſſelbe, nämlich das Geſetz der gemiſchten oder beiderſei— tigen (amphigonen) Vererbung. Dieſes Geſetz ſagt aus, daß ein jedes organiſche Individuum, welches auf geſchlechtlichem Wege erzeugt wird, von beiden Eltern Eigenthümlichkeiten annimmt, ſo— wohl vom Vater als von der Mutter. Dieſe Thatſache, daß von jedem der beiden Geſchlechter perſönliche Eigenſchaften auf alle, ſo— wohl männliche als weibliche Kinder übergehen, iſt ſehr wichtig. Goethe drückt ſie von ſich ſelbſt in dem hübſchen Verſe aus: „Vom Vater hab ich die Statur, des Lebens ernſtes Führen, „Vom Mütterchen die Frohnatur und Luſt zu fabuliren.“ Dieſe Erſcheinung wird Ihnen allen ſo bekannt ſein, daß ich Gemiſchte oder amphigone Vererbung. Baſtardzeugung. 189 hier darauf nicht weiter einzugehen brauche. Durch den verſchiede— nen Antheil ihres Charakters, welchen Vater und Mutter auf ihre Kinder vererben, werden vorzüglich die individuellen Verſchieden— heiten der Geſchwiſter bedingt. Unter dieſes Geſetz der gemiſchten oder amphigonen Vererbung gehört auch die ſehr wichtige und intereſſante Erſcheinung der Ba— ſtardzeugung (Hybridismus). Richtig gewürdigt, genügt fie allein ſchon vollſtändig, um das herrſchende Dogma von der Conſtanz der Arten zu widerlegen. Pflanzen ſowohl als Thiere, welche zwei ganz verſchiedenen Species angehören, können ſich mit einander ge— ſchlechtlich vermiſchen und eine Nachkommenſchaft erzeugen, die in vielen Fällen ſich ſelbſt wieder fortpflanzen kann, und zwar entwe— der (häufiger) durch Vermiſchung mit einem der beiden Stamm— eltern, oder aber (ſeltener) durch reine Inzucht, indem Baſtard ſich mit Baſtard vermiſcht. Das letztere iſt z. B. bei den Baſtarden von Hafen und Kaninchen feſtgeſtellt (Lepus Darwinü, S. 131). All⸗ bekannt ſind die Baſtarde zwiſchen Pferd und Eſel, zwei ganz ver— ſchiedenen Arten einer Gattung (Equus). Dieſe Baſtarde ſind ver— ſchieden, je nachdem der Vater oder die Mutter zu der einen oder zu der anderen Art, zum Pferd oder zum Eſel gehört. Das Maul- thier (Mulus), welches von einer Pferdeſtute und einem Eſelhengſt erzeugt iſt, hat ganz andere Eigenſchaften als der Mauleſel (Hin— nus), der Baſtard vom Pferdehengſt und der Eſelſtute. In jedem Fall iſt der Baſtard (Hybrida), der aus der Kreuzung zweier verſchiedener Arten erzeugte Organismus, eine Miſchform, welche Eigenſchaften von beiden Eltern angenommen hat; allein die Eigen— ſchaften des Baſtards ſind ganz verſchieden, je nach der Form der Kreuzung. So zeigen auch die Mulattenkinder, welche von einem Europäer mit einer Negerin erzeugt werden, eine andere Miſchung der Charaktere, als diejenigen Baſtarde, welche ein Neger mit einer Europäerin erzeugt. Bei dieſen Erſcheinungen der Baſtardzeugung ſind wir (wie bei den anderen vorher erwähnten Vererbungsgeſetzen) jetzt noch nicht im Stande, die bewirkenden Urſachen im Einzelnen 190 Abgekürzte oder vereinfachte Vererbung. nachzuweiſen. Aber kein Naturforſcher zweifelt daran, daß die Ur— ſachen hier überall rein mechaniſch, in der Natur der organiſchen Materie ſelbſt begründet ſind. Wenn wir feinere Unterſuchungs— mittel als unſere groben Sinnesorgane und deren Hülfsmittel hätten, ſo würden wir jene Urſachen erkennen, und auf die chemiſchen und phyſikaliſchen Eigenſchaften der Materie zurückführen können. Als ein fünftes Geſetz müſſen wir nun unter den Erſcheinun— gen der conſervativen oder erhaltenden Vererbung noch das Geſetz der abgekürzten oder vereinfachten Vererbung anführen. Dieſes Geſetz iſt ſehr wichtig für die Embryologie oder Ontogenie, d. h. für die Entwickelungsgeſchichte der organiſchen Individuen. Wie ich bereits im erſten Vortrage (S. 10) erwähnte und ſpäter noch ausführlich zu erläutern habe, iſt die Ontogenie oder die Ent— wickelungsgeſchichte der Individuen weiter nichts 'als eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung bedingte Wiederholung der Phylogenie, d. h. der paläontologiſchen Ent— wickelungsgeſchichte des ganzen organiſchen Stammes oder Phylum, zu welchem der betreffende Organismus gehört. Wenn Sie z. B. die individuelle Entwickelung des Menſchen, des Affen, oder irgend eines anderen höheren Säugethieres innerhalb des Mutterleibes vom Ei an verfolgen, ſo finden Sie, daß der aus dem Ei entſtehende Keim oder Embryo eine Reihe von ſehr verſchiedenen Formen durch— läuft, welche im Ganzen übereinſtimmt oder wenigſtens parallel iſt mit der Formenreihe, welche die hiſtoriſche Vorfahrenkette der höhe— ren Säugethiere uns darbietet. Zu dieſen Vorfahren gehören ge— wiſſe Fiſche, Amphibien, Beutelthiere u. ſ. w. Allein der Paralle- lismus oder die Uebereinſtimmung dieſer beiden Entwickelungsreihen iſt niemals ganz vollſtändig. Vielmehr ſind in der Ontogenie im— mer Lücken und Sprünge, welche dem Ausfall einzelner Stadien der Phylogenie entſprechen. Wie Fritz Müller in ſeiner ausge— zeichneten Schrift „Für Darwin“ 16) an dem Beiſpiel der Cruſta— ceen oder Krebſe vortrefflich erläutert hat, „wird die in der indivi— duellen Entwickelungsgeſchichte erhaltene geſchichtliche Urkunde all— Geſetze der fortſchreitenden oder progreſſiven Vererbung. 191 mählich verwiſcht, indem die Entwickelung einen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen Thiere einſchlägt.“ Dieſe Verwiſchung oder Abkürzung wird durch das Geſetz der abgekürzten Vererbung bedingt, und ich will daſſelbe hier deshalb beſonders hervorheben, weil es von großer Bedeutung für das Verſtändniß der Embryo— logie iſt, und die anfangs befremdende Thatſache erklärt, daß nicht alle Entwickelungsformen, welche unſere Stammeltern durchlaufen haben, in der Formenreihe unſerer eigenen individuellen Entwicke— lung noch ſichtbar ſind. Den bisher erörterten Geſetzen der erhaltenden oder conſervati— ven Vererbung ſtehen nun gegenüber die Vererbungserſcheinungen der zweiten Reihe, die Geſetze der fortſchreitenden oder pro— greſſiven Vererbung. Sie beruhen, wie erwähnt, darauf, daß der Organismus nicht allein diejenigen Eigenſchaften auf ſeine Nach— kommen überträgt, die er bereits von den Voreltern ererbt hat, ſon— dern auch eine Anzahl von denjenigen individuellen Eigenthümlich— keiten, welche er ſelbſt erſt während ſeines Lebens erworben hat. Die Anpaſſung verbindet ſich hier bereits mit der Vererbung. (Gen. Morph. II, 186.) Unter dieſen wichtigen Erſcheinungen der fortſchreitenden oder progreſſiven Vererbung können wir an die Spitze als das allge— meinſte das Geſetz der angepaßten oder erworbenen Ver— erbung ſtellen. Daſſelbe beſagt eigentlich weiter Nichts, als was ich eben ſchon ausſprach, daß unter beſtimmten Umſtänden der Or— ganismus fähig iſt, alle Eigenſchaften auf ſeine Nachkommen zu vererben, welche er ſelbſt erſt während ſeines Lebens durch Anpaſ— ſung erworben hat. Am deutlichſten zeigt ſich dieſe Erſcheinung natürlich dann, wenn die neu erworbene Eigenthümlichkeit die ererbte Form bedeutend abändert. Das war in den Beiſpielen der Fall, welche ich Ihnen in dem vorigen Vortrage von der Vererbung über— haupt angeführt habe, bei den Menſchen mit ſechs Fingern und Zehen, den Stachelſchweinmenſchen, den Blutbuchen, Trauerwei— den u. ſ. w. Auch die Vererbung erworbener Krankheiten, z. B. der 192 Angepaßte oder erworbene Vererbung. Schwindſucht, des Wahnſinns, beweiſt dies Geſetz ſehr auffällig, ebenſo die Vererbung des Albinismus. Albinos oder Kakerlaken nennt man ſolche Individuen, welche ſich durch Mangel der Farb— ſtoffe oder Pigmente in der Haut auszeichnen. Solche kommen bei Menſchen, Thieren und Pflanzen ſehr verbreitet vor. Bei Thieren, welche eine beſtimmte dunkle Farbe haben, werden nicht ſelten ein— zelne Individuen geboren, welche der Farbe gänzlich entbehren, und bei den mit Augen verſehenen Thieren iſt dieſer Pigmentmangel auch auf die Augen ausgedehnt, ſo daß die gewöhnlich lebhaft oder dunkel gefärbte Regenbogenhaut oder Iris des Auges farblos iſt, aber wegen der durchſchimmernden Blutgefäße roth erſcheint. Bei manchen Thieren, z. B. den Kaninchen, Mäuſen, ſind ſolche Albi— nos mit weißem Fell und rothen Augen ſo beliebt, daß man ſie in großer Menge als beſondere Raſſe fortpflanzt. Dies wäre nicht mög— lich ohne das Geſetz der angepaßten Vererbung. Welche von einem Organismus erworbene Abänderungen ſich auf ſeine Nachkommen übertragen werden, welche nicht, iſt von vorn— herein nicht zu beſtimmen, und wir kennen leider die beſtimmten Bedingungen nicht, unter denen die Vererbung erfolgt. Wir wiſſen nur im Allgemeinen, daß gewiſſe erworbene Eigenſchaften ſich viel leichter vererben als andere, z. B. als die durch Verwundung ent— ſtehenden Verſtümmelungen. Dieſe letzteren werden in der Regel nicht erblich übertragen; ſonſt müßten die Deſcendenten von Men— ſchen, die ihre Arme oder Beine verloren haben, auch mit dem Man— gel des entſprechenden Armes oder Beines geboren werden. Aus— nahmen ſind aber auch hier vorhanden, und man hat z. B. eine ſchwanzloſe Hunderaſſe dadurch gezogen, daß man mehrere Genera- tionen hindurch beiden Geſchlechtern des Hundes conſequent den Schwanz abſchnitt. Noch vor einigen Jahren kam hier in der Nähe von Jena auf einem Gute der Fall vor, daß beim unvorſichtigen Zuſchlagen des Stallthores einem Zuchtſtier der Schwanz an der Wurzel abgequetſcht wurde, und die von dieſem Stiere erzeugten Kälber wurden ſämmtlich ſchwanzlos geboren. Das iſt allerdings Angepaßte oder erworbene Vererbung. 193 eine Ausnahme. Es iſt aber ſehr wichtig, die Thatſache feſtzuſtel— len, daß unter gewiſſen uns unbekannten Bedingungen auch ſolche gewaltſame Veränderungen erblich übertragen werden, in gleicher Weiſe wie viele Krankheiten. In ſehr vielen Fällen iſt die Abänderung, welche durch ange— paßte Vererbung übertragen und erhalten wird, angeboren, ſo bei dem vorher erwähnten Albinismus. Dann beruht die Abänderung auf derjenigen Form der Anpaſſung, welche wir die indirecte oder potentielle nennen. Ein ſehr auffallendes Beiſpiel dafür liefert das hornloſe Rindvieh von Paraguay in Südamerika. Daſelbſt wird eine beſondere Rindviehraſſe gezogen, die ganz der Hörner entbehrt. Sie ſtammt von einem einzigen Stiere ab, welcher im Jahre 1770 von einem gewöhnlichen gehörnten Elternpaare geboren wurde, und bei welchem der Mangel der Hörner durch irgend welche unbekannte Ur— ſache veranlaßt worden war. Alle Nachkommen dieſes Stieres, welche er mit einer gehörnten Kuh erzeugte, entbehrten der Hörner vollſtän— dig. Man fand dieſe Eigenſchaft vortheilhaft, und indem man die ungehörnten Rinder unter einander fortpflanzte, erhielt man eine hornloſe Rindviehraſſe, welche gegenwärtig die gehörnten Rinder in Paraguay faſt verdrängt hat. Ein ähnliches Beiſpiel liefern die nordamerikaniſchen Otterſchafe. Im Jahre 1791 lebte in Maſſachu— ſetts in Nordamerika ein Landwirth, Seth Wright mit Namen. In ſeiner wohlgebildeten Schafheerde wurde auf einmal ein Lamm geboren, welches einen auffallend langen Leib und ganz kurze und krumme Beine hatte. Es konnte daher keine großen Sprünge ma— chen und namentlich nicht über den Zaun in des Nachbars Garten ſpringen, eine Eigenſchaft, welche dem Beſitzer wegen der Abgren— zung des dortigen Gebiets durch Hecken ſehr vortheilhaft erſchien. Er kam alſo auf den Gedanken, dieſe Eigenſchaft auf die Nachkom— men zu übertragen, und in der That erzeugte er durch Kreuzung dieſes Schafbocks mit wohlgebildeten Mutterſchafen eine ganze Raſſe von Schafen, die alle die Eigenſchaften des Vaters hatten, kurze und gekrümmte Beine und einen langen Leib. Sie konnten alle Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 13 194 Befeſtigte oder conftituirte Vererbung. nicht über die Hecken ſpringen, und wurden deshalb in Maſſachu— ſetts damals ſehr beliebt und verbreitet. Ein zweites Geſetz, welches ebenfalls unter die Reihe der pro— greſſiven oder fortſchreitenden Vererbung gehört, können wir das Geſetz der befeſtigten oder conſtituirten Vererbung nen— nen. Daſſelbe äußert ſich darin, daß Eigenſchaften, die von einem Organismus während ſeines individuellen Lebens erworben wurden, um ſo ſicherer auf ſeine Nachkommen erblich übertragen werden, je längere Zeit hindurch die Urſachen jener Abänderung einwirkten, und daß dieſe Abänderung um ſo ſicherer Eigenthum auch aller folgen— den Generationen wird, je längere Zeit hindurch auch auf dieſe die abändernde Urſache einwirkt. Die durch Anpaſſung oder Abände— rung neu erworbene Eigenſchaft muß in der Regel erſt bis zu einem gewiſſen Grade befeſtigt oder conſtituirt ſein, ehe mit Wahrſchein— lichkeit darauf zu rechnen iſt, daß ſich dieſelbe auch auf die Nach— kommenſchaft erblich überträgt. In dieſer Beziehung verhält ſich die Vererbung ähnlich wie die Anpaſſung. Je längere Zeit hindurch eine neuerworbene Eigenſchaft bereits durch Vererbung übertragen iſt, deſto ſicherer wird ſie auch in den kommenden Generationen ſich erhalten. Wenn alſo z. B. ein Gärtner durch methodiſche Behand— lung eine neue Aepfelſorte gezüchtet hat, ſo kann er um ſo ſicherer darauf rechnen, die erwünſchte Eigenthümlichkeit dieſer Sorte zu er— halten, je länger er dieſelbe bereits vererbt hat. Daſſelbe zeigt ſich deutlich in der Vererbung von Krankheiten. Je länger bereits in einer Familie Schwindſucht oder Wahnſinn erblich iſt, deſto tiefer gewurzelt iſt das Uebel, deſto wahrſcheinlicher werden auch alle fol— genden Generationen davon ergriffen werden. Endlich können wir die Betrachtung der Erblichkeitserſcheinungen ſchließen mit den beiden ungemein wichtigen Geſetzen der gleichört— lichen und der gleichzeitlichen Vererbung. Wir verſtehen darunter die Thatſache, daß Veränderungen, welche von einem Organismus wäh— rend ſeines Lebens erworben und erblich auf ſeine Nachkommen über⸗ tragen wurden, bei dieſen an derſelben Stelle des Körpers hervor— Gleichzeitliche und gleichörtliche Vererbung. 195 treten, an welcher der elterliche Organismus zuerſt von ihnen be— troffen wurde, und daß ſie bei den Nachkommen auch im gleichen Lebensalter erſcheinen, wie bei dem erſteren. Das Geſetz der gleichzeitlichen oder homochronen Vererbung, welches Darwin das Geſetz der „Vererbung in cor— reſpondirendem Lebensalter“ nennt, läßt ſich wiederum ſehr deutlich an der Vererbung von Krankheiten nachweiſen, zumal von ſolchen, die wegen ihrer Erblichkeit ſehr verderblich werden. Dieſe treten im kindlichen Organismus in der Regel zu einer Zeit auf, welche der— jenigen entſpricht, in welcher der elterliche Organismus die Krank— heit erwarb. Erbliche Erkrankungen der Lunge, der Leber, der Zähne, des Gehirns, der Haut u. ſ. w. erſcheinen bei den Nachkommen ge— wöhnlich in der gleichen Zeit oder nur wenig früher, als ſie beim elterlichen Organismus eintraten, oder von dieſem überhaupt erwor— ben wurden. Das Kalb bekommt ſeine Hörner in demſelben Le— bensalter wie ſeine Eltern. Ebenſo erhält das junge Hirſchkalb ſein Geweih in derſelben Lebenszeit, in welcher es bei ſeinem Vater und Großvater hervorgeſproßt war. Bei jeder der verſchiedenen Wein— ſorten reifen die Trauben zur ſelben Zeit, wie bei ihren Voreltern. Bekanntlich iſt dieſe Reifezeit bei den verſchiedenen Sorten ſehr ver— ſchieden; da aber alle von einer einzigen Art abſtammen, iſt dieſe Verſchiedenheit von den Stammeltern der einzelnen Sorten erſt er— worben worden und hat ſich dann erblich fortgepflanzt. Das Geſetz der gleichörtlichen oder homotopen Ver— erbung endlich, welches mit dem letzterwähnten Geſetze im engſten Zuſammenhange ſteht, und welches man auch „das Geſetz der Ver— erbung an correſpondirender Körperſtelle“ nennen könnte, läßt ſich wiederum in pathologiſchen Erblichkeitsfällen ſehr deutlich erkennen. Große Muttermale z. B. oder Pigmentanhäufungen an einzelnen Hautſtellen, ebenſo Geſchwülſte der Haut, erſcheinen oft Generatio— nen hindurch nicht allein in demſelben Lebensalter, ſondern auch an derſelben Stelle der Haut. Ebenſo iſt übermäßige Fettentwickelung an einzelnen Körperſtellen erblich. Eigentlich aber ſind für dieſes 53. 196 Wechſelwirkung der Vererbung und Anpaſſung. Geſetz, wie für das vorige, zahlloſe Beiſpiele überall in der Em— bryologie zu finden. Sowohl das Geſetz der gleichzeitlichen als das Geſetz der gleichörtlichen Vererbung ſind Grund— geſetze der Embryologie oder Ontogenie. Denn wir erklä— ren uns durch dieſe Geſetze die merkwürdige Thatſache, daß die ver— ſchiedenen auf einander folgenden Formzuſtände während der indivi— duellen Entwickelung in allen Generationen einer und derſelben Art ſtets in derſelben Reihenfolge auftreten, und daß die Umbildungen des Körpers immer an denſelben Stellen erfolgen. Dieſe ſcheinbar einfache und ſelbſtverſtändliche Erſcheinung iſt doch überaus wunderbar und merkwürdig; wir können die näheren Urſachen derſelben nicht erklären, aber mit Sicherheit behaupten, daß fie auf der unmittelbaren Uebertra— gung der organiſchen Materie vom elterlichen auf den kindlichen Orga— nismus beruhen, wie wir es im Vorigen für den Vererbungsprozeß im Allgemeinen aus den Thatſachen der Fortpflanzung nachgewieſen haben. Nachdem wir ſo die wichtigſten Vererbungsgeſetze hervorgeho— ben haben, wenden wir uns zur zweiten Reihe der Erſcheinungen, welche bei der natürlichen Züchtung in Betracht kommen, nämlich zu denen der Anpaſſung oder Abänderung. Dieſe Erſcheinungen ſtehen, im Großen und Ganzen betrachtet, in einem gewiſſen Ge— genſatze zu den Vererbungserſcheinungen, und die Schwierigkeit, welche die Betrachtung beider darbietet, beſteht zunächſt darin, daß beide ſich auf das Vollſtändigſte durchkreuzen und verweben. Daher ſind wir nur ſelten im Stande, bei den Formveränderungen, die unter unſern Augen geſchehen, mit Sicherheit zu ſagen, wieviel davon auf die Vererbung, wieviel auf die Abänderung zu beziehen iſt. Alle Formcharaktere, durch welche ſich die Organismen unterſcheiden, ſind entweder durch die Vererbung oder durch die Anpaſſung verurſacht; da aber beide Functionen beſtändig in Wechſelwirkung zu einander ſtehen, iſt es für den Syſtematiker außerordentlich ſchwer, den An— theil jeder der beiden Functionen an der ſpeciellen Bildung der ein⸗ zelnen Formen zu erkennen. Dies iſt gegenwärtig um ſo ſchwieri— ger, als man ſich noch kaum der ungeheuren Bedeutung dieſer That— Anpaſſung und Veränderlichkeit. 197 ſache bewußt geworden iſt, und als die meiſten Naturforſcher die Theorie der Anpaſſung, ebenſo wie die der Vererbung vernachläſſigt haben. Die ſoeben aufgeſtellten Vererbungsgeſetze, wie die ſogleich anzuführenden Geſetze der Anpaſſung, bilden gewiß nur einen klei— nen Bruchtheil der vorhandenen, meiſt noch nicht unterſuchten Er— ſcheinungen dieſes Gebietes; und da jedes dieſer Geſetze mit jedem anderen in Wechſelbeziehung treten kann, ſo geht daraus die unend— liche Verwickelung von phyſiologiſchen Thätigkeiten hervor, die bei der Formbildung der Organismen in der That wirkſam ſind. Was nun die Erfheinung der Abänderung oder Anpaſſung im Allgemeinen betrifft, ſo müſſen wir dieſelbe, ebenſo wie die That— ſache der Vererbung, als eine ganz allgemeine phyſiologiſche Grund— eigenſchaft aller Organismen ohne Ausnahme hinſtellen, als eine Lebensäußerung, welche von dem Begriffe des Organismus gar nicht zu trennen iſt. Streng genommen müſſen wir auch hier, wie bei der Vererbung, unterſcheiden zwiſchen der Anpaſſung ſelbſt und der Anpaſſungsfähigkeit. Unter Anpaſſung (Adaptatio) oder Ab- änderung (Variatio) verſtehen wir die Thatſache, daß der Or— ganismus in Folge von Einwirkungen der umgebenden Außenwelt gewiſſe neue Eigenthümlichkeiten in ſeiner Lebensthätigkeit, Miſchung und Form annimmt, welche er nicht von ſeinen Eltern geerbt hat; dieſe erworbenen individuellen Eigenſchaften ſtehen den ererb- ten gegenüber, welche ſeine Eltern und Voreltern auf ihn übertra— gen haben. Dagegen nennen wir Anpaſſungs fähigkeit (Adap- tabilitas) oder Veränderlichkeit (Variabilitas) die allen Orga- nismen inne wohnende Fähigkeit, derartige neue Eigenſchaften unter dem Einfluſſe der Außenwelt zu erwerben. (Gen. Morph. II, 191.) Die unleugbare Thatſache der organiſchen Anpaſſung oder Ab— änderung iſt allbekannt, und an tauſend uns umgebenden Erſchei— nungen jeden Augenblick wahrzunehmen. Allein gerade deshalb, weil die Erſcheinungen der Abänderung durch äußere Einflüſſe felbit- verſtändlich erſcheinen, hat man dieſelben bisher noch faſt gar nicht einer genaueren wiſſenſchaftlichen Unterſuchung unterzogen. Es ge— 198 Anpaſſung und Veränderlichkeit. hören dahin alle Erſcheinungen, welche wir als die Folgen der An— gewöhnung und Abgewöhnung, der Uebung und Nichtübung be— trachten, oder als die Folgen der Dreſſur, der Erziehung, der Ac- climatiſation, der Gymnaſtik u. ſ. w. Auch viele bleibende Verän⸗ derungen durch krankmachende Urſachen, viele Krankheiten find wei— ter nichts als gefährliche Anpaſſungen des Organismus an verderb— liche Lebensbedingungen. Bei den Culturpflanzen und Hausthieren tritt die Erſcheinung der Abänderung fo auffallend und mächtig her— vor, daß eben darauf der Thierzüchter und Gärtner ſeine ganze Thä— tigkeit gründet, oder vielmehr auf die Wechſelbeziehung, in welche er dieſe Erſcheinungen mit denen der Vererbung ſetzt. Ebenſo iſt es bei den Pflanzen und Thieren im wilden Zuſtande allbekannt, daß ſie abändern oder variiren. Jede ſyſtematiſche Bearbeitung einer Thier⸗ oder Pflanzengruppe müßte, wenn ſie ganz vollſtändig und erſchöpfend fein wollte, bei jeder einzelnen Art eine Menge von Ab— änderungen anführen, welche mehr oder weniger von der herrſchen— den oder typiſchen Hauptform der Species abweichen. In der That finden Sie in jedem genauer gearbeiteten ſyſtematiſchen Specialwerk bei den meiſten Arten eine Anzahl von ſolchen Variationen oder Umbildungen angeführt, welche bald als individuelle Abweichungen, bald als ſogenannte Spielarten, Raſſen, Varietäten, Abarten oder Unterarten bezeichnet werden, und welche oft außerordentlich weit ſich von der Stammart entfernen, lediglich durch die Anpaſſung des Organismus an die äußern Lebensbedingungen. Wenn wir nun zunächſt die allgemeinen Urſachen dieſer Anpaſ— ſungserſcheinungen zu ergründen ſuchen, ſo kommen wir zu dem Re— ſultat, daß dieſelben in Wirklichkeit ſo einfach ſind, als die Urſachen der Erblichkeitserſcheinungen. Wie wir für die Vererbungsthatſachen die Fortpflanzung als allgemeine Grundurſache nachgewieſen, die Uebertragung der elterlichen Materie auf den kindlichen Körper, ſo können wir für die Thatſachen der Anpaſſung oder Abänderung, als die allgemeine Grundurſache, die phyſiologiſche Thätigkeit der Er— nährung oder des Stoffwechſels hinſtellen. Wenn ich hier die „Ernährung“ als Grundurſache der Abänderung und Anpaſſung an— Zuſammenhang der Anpaſſung und der Ernährung. 199 führe, ſo nehme ich dieſes Wort im weiteſten Sinne, und verſtehe darunter die geſammten materiellen Veränderungen, welche der Or— ganismus in allen ſeinen Theilen durch die Einflüſſe der ihn umge— benden Außenwelt erleidet. Es gehört alſo zur Ernährung nicht allein die Aufnahme der wirklich nährenden Stoffe und der Einfluß der verſchiedenartigen Nahrung, ſondern auch z. B. die Einwirkung des Waſſers und der Atmoſphäre, der Einfluß des Sonnenlichts, der Temperatur und aller derjenigen meteorologiſchen Erſcheinungen, welche man unter dem Begriff „Klima“ zuſammenfaßt. Auch der mittel bare und unmittelbare Einfluß der Bodenbeſchaffenheit und des Wohn— orts gehört hierher, ferner der äußerſt wichtige und vielſeitige Ein— fluß, welchen die umgebenden Organismen, die Freunde und Nachbarn, die Feinde und Räuber, die Schmarotzer oder Paraſiten u. ſ. w. auf je⸗ des Thier und auf jede Pflanze ausüben. Alle dieſe und noch viele an— dere höchſt wichtige Einwirkungen, welche alle den Organismus mehr Ader weniger in feiner materiellen Zuſammenſetzung verändern, müſ— ſen hier beim Stoffwechſel in Betracht gezogen werden. Demgemäß wird die Anpaſſung die Folge aller jener materiellen Veränderungen ſein, welche die äußeren Exiſtenz-Bedingungen, die Einflüſſe der umge— benden Außenwelt im Stoffwechſel des Organismus hervorbringen. Wie ſehr jeder Organismus von feiner geſammten äußeren Um⸗ gebung abhängt und durch deren Wechſel verändert wird, iſt Ihnen Allen im Allgemeinen bekannt. Denken Sie bloß daran, wie die menſchliche Thatkraft von der Temperatur der Luft abhängig iſt, oder die Gemüthsſtimmung von der Farbe des Himmels. Je nachdem der Himmel wolkenlos und ſonnig iſt, oder mit trüben, ſchweren Wolken bedeckt, iſt unſere Stimmung heiter oder trübe. Wie an— ders empfinden und denken wir im Walde während einer ſtürmi— ſchen Winternacht und während eines heitern Sommertages! Alle dieſe verſchiedenen Stimmungen unſerer Seele beruhen auf rein ma— teriellen Veränderungen unſeres Gehirns, auf molekularen Plasma— Bewegungen, welche mittelſt der Sinne durch die verſchiedene Ein— wirkung des Lichts, der Wärme, der Feuchtigkeit u. ſ. w. hervorge— bracht werden. „Wir ſind ein Spiel von jedem Druck der Luft!“ 200 Zuſammenhang der Anpaſſung und der Ernährung. Nicht minder wichtig und tiefgreifend ſind die Einwirkungen, welche unſer Geiſt und unſer Körper durch die verſchiedene Qualität und Quantität der Nahrungsmittel im engeren Sinne erfährt. Un⸗ ſere Geiſtesarbeit, die Thätigkeit unſeres Verſtandes und unſerer Phantaſie iſt gänzlich verſchieden, je nachdem wir vor und während derſelben Thee und Kaffee, oder Wein und Bier genoſſen haben. Un— ſere Stimmungen, Wünſche und Gefühle ſind ganz anders, wenn wir hungern und wenn wir geſättigt ſind. Der Nationalcharakter der Engländer und der Gauchos in Südamerika, welche vorzugs— weiſe von Fleiſch, von ſtickſtoffreicher Nahrung leben, iſt gänzlich verſchieden von demjenigen der kartoffeleſſenden Irländer und der reiseſſenden Chineſen, welche vorwiegend ſtickſtoffloſe Nahrung ge— nießen. Auch lagern die letzteren viel mehr Fett ab, als die erſte— ren. Hier wie überall gehen die Veränderungen des Geiſtes mit entſprechenden Umbildungen des Körpers Hand in Hand; beide find durch rein materielle Urſachen bedingt. Ganz ebenſo wie der Menſch, werden aber auch alle anderen Organismen durch die verſchiedenen Einflüſſe der Ernährung abgeändert und umgebildet. Ihnen Allen iſt bekannt, daß wir ganz willkürlich die Form, Größe, Farbe u. ſ. w. bei unſeren Culturpflanzen und Hausthieren durch Veränderung der Nahrung abändern können, daß wir z. B. einer Pflanze ganz be— ſtimmte Eigenſchaften nehmen oder geben können, je nachdem wir ſie einem größeren oder geringeren Grade von Sonnenlicht und Feuchtigkeit ausſetzen. Da dieſe Erſcheinungen ganz allgemein ver— breitet und bekannt ſind, und wir ſogleich zur Betrachtung der ver— ſchiedenen Anpaſſungsgeſetze übergehen werden, wollen wir uns hier nicht länger bei den allgemeinen Thatſachen der Abänderung aufhalten. Gleichwie die verſchiedenen Vererbungsgeſetze ſich naturgemäß in die beiden Reihen der conſervativen und der progreſſiven Vererbung ſondern laſſen, fo kann man unter den Anpaſſungsgeſetzen ebenfalls zwei verſchiedene Reihen unterſcheiden, nämlich erſtens die Reihe der indirecten oder mittelbaren, und zweitens die Reihe der directen oder unmittelbaren Anpaſſungsgeſetze. Letztere kann man auch als actuelle, erſtere als potentielle Anpaſſungsgeſetze bezeichnen. Unterſcheidung der indirecten und directen Anpaſſung. 201 Die erſte Reihe, welche die Erſcheinungen der unmittelbaren oder indirecten (potentiellen) Anpaſſung umfaßt, iſt im Ganzen bis jetzt ſehr wenig berückſichtigt worden, und es bleibt das Ver— dienſt Darwin's, auf dieſe Reihe von Veränderungen ganz beſon— ders hingewieſen zu haben. Es iſt etwas ſchwierig, dieſen Gegen— ſtand gehörig klar darzuſtellen; ich werde verſuchen, Ihnen denſel— ben nachher durch Beiſpiele deutlich zu machen. Ganz allgemein ausgedrückt beſteht die indirecte oder potentielle Anpaſſung in der Thatſache, daß gewiſſe Veränderungen im Organismus, welche durch den Einfluß der Nahrung (im weiteſten Sinne) und überhaupt der äußeren Exiſtenzbedingungen bewirkt werden, nicht in der indivi— duellen Formbeſchaffenheit des betroffenen Organismus ſelbſt, ſon— dern in derjenigen ſeiner Nachkommen ſich äußern und in die Er— ſcheinung treten. So wird namentlich bei den Organismen, welche ſich auf geſchlechtlichem Wege fortpflanzen, das Reproductionsſyſtem oder der Geſchlechtsapparat oft durch äußere Wirkungen, welche im Uebrigen den Organismus wenig berühren, dergeſtalt beeinflußt, daß die Nachkommenſchaft deſſelben eine ganz veränderte Bildung zeigt. Sehr auffällig kann man das an den künſtlich erzeugten Mon— ſtroſitäten ſehen. Man kann Monſtroſitäten oder Mißgeburten da— durch erzeugen, daß man den elterlichen Organismus einer beſtimm— ten, außerordentlichen Lebensbedingung unterwirft. Dieſe ungewohnte Lebensbedingung erzeugt aber nicht eine Veränderung des Organis— mus ſelbſt, ſondern eine Veränderung ſeiner Nachkommen. Man kann das nicht als Vererbung bezeichnen, weil ja nicht eine im elterlichen Organismus vorhandene Eigenſchaft als ſolche endlich auf die Nachkommen übertragen wird. Vielmehr tritt eine Abänderung, welche den elterlichen Organismus betraf, aber nicht wahrnehmbar afficirte, erſt in der eigenthümlichen Bildung ſeiner Nachkommen wirkſam zu Tage. Bloß der Anſtoß zu dieſer neuen Bildung wird durch das Ei der Mutter oder durch den Samenfaden des Vaters bei der Fortpflanzung übertragen. Die Neubildung iſt im elterlichen Organismus bloß der Möglichkeit nach (potentia) vorhanden; im kindlichen wird fie zur Wirklichkeit (actu). 202 Unterſcheidung der indirecten und directen Anpaſſung. Während man dieſe ſehr wichtige und ſehr allgemeine Erſchei— nung bisher ganz vernachläſſigt hatte, war man geneigt, alle wahr— nehmbaren Abänderungen und Umbildungen der organiſchen Formen als Anpaſſungserſcheinungen der zweiten Reihe zu betrachten, derje— nigen der unmittelbaren oder directen (actuellen) Anpaſſung. Das Weſen dieſer Anpaſſungsgeſetze liegt darin, daß die den Organis— mus betreffende Veränderung (in der Ernährung u. ſ. w.) bereits in deſſen eigener Umbildung und nicht erſt in derjenigen ſeiner Nach— kommen ſich äußert. Hierher gehören alle die bekannten Erſcheinun— gen, bei denen wir den umgeſtaltenden Einfluß des Klimas, der Nahrung, der Erziehung, Dreſſur u. ſ. w. unmittelbar an den be— troffenen Individuen ſelbſt in ſeiner Wirkung verfolgen können. Wie die beiden Erſcheinungsreihen der conſervativen und der progreſſiven Vererbung trotz ihres principiellen Unterſchiedes vielfach in einander greifen und ſich gegenſeitig modificiren, vielfach zuſam— menwirken nnd ſich durchkreuzen, ſo gilt das in noch höherem Maße von den beiden entgegengeſetzten und doch innig zuſammenhängenden Erſcheinungsreihen der indirecten und der directen Anpaſſung. Einige Naturforſcher, namentlich Darwin und Carl Vogt, ſchreiben den indirecten oder potentiellen Anpaſſungen eine viel bedeutendere oder ſelbſt eine faſt ausſchließliche Wirkſamkeit zu. Die Mehrzahl der Naturforſcher aber war bisher geneigt, umgekehrt das Hauptgewicht auf die Wirkung der directen oder actuellen Anpaſſungen zu legen. Ich halte dieſen Streit vorläufig für ziemlich unnütz. Nur ſelten ſind wir in der Lage, im einzelnen Abänderungsfalle beurtheilen zu können, wieviel davon auf Rechnung der directen, wieviel auf Rech— nung der indirecten Anpaſſung kömmt. Wir kennen im Ganzen dieſe außerordentlich wichtigen und verwickelten Verhältniſſe noch viel zu we— nig, und können daher nur im Allgemeinen die Behauptung aufitel- len, daß die Umbildung der organiſchen Formen entweder bloß der directen, oder bloß der indirecten, oder endlich drittens dem Zuſam— menwirken der directen und der indirecten Anpaſſung zuzuſchreiben iſt. Jieehnter Vortrag. Anpaſſungsgeſetze. Geſetze der indirecten oder potentiellen Anpaſſung. Individuelle Anpaſſung. Monſtröſe oder ſprungweiſe Anpaſſung. Geſchlechtliche oder ſexuelle Anpaſſung. Geſetze der directen oder actuellen Anpaſſung. Allgemeine oder univerſelle Anpaſ— fung. Gehäufte oder cumulative Anpaſſung. Gehäufte Einwirkung der äußeren Exiſtenzbedingungen und gehäufte Gegenwirkung des Organismus. Der freie Wille. Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Uebung und Gewohnheit. Wechſelbe— zügliche oder correlative Anpaſſung. Wechſelbeziehungen der Entwickelung. Corre⸗ lation der Organe. Erklärung der indirecten oder potentiellen Anpaſſung durch die Correlation der Geſchlechtsorgane und der übrigen Körpertheile. Abweichende oder divergente Anpaſſung. Unbeſchränkte oder unendliche Anpaſſung. x Meine Herren! Die Erſcheinungen der Anpaſſung oder Abän— derung, welche in Verbindung und in Wechſelwirkung mit den Ver⸗ erbungserſcheinungen die ganze unendliche Mannichfaltigkeit der Thier— und Pflanzenformen hervorbringen, hatten wir im letzten Vortrage in zwei verſchiedene Gruppen gebracht, erſtens die Reihe der indi— recten oder potentiellen und zweitens die Reihe der directen oder actuellen Anpaſſungen. Wir wenden uns nun heute zu einer nä— heren Betrachtung der verſchiedenen allgemeinen Geſetze, welche wir unter dieſen beiden Reihen von Abänderungserſcheinungen zu erken— nen im Stande ſind. Laſſen Sie uns zunächſt die merkwürdigen und ſehr wichtigen, obwohl bisher ſehr vernachläſſigten Erſcheinun— gen der indirecten oder mittelbaren Abänderung in's Auge faſſen. 204 Geſetze der indirecten Anpaſſung. Individuelle Anpaſſung. Die indirecte oder potentielle Anpaſſung äußert ſich, wie Sie ſich erinnern werden, in der auffallenden und äußerſt wich— tigen Thatſache, daß die organiſchen Individuen Umbildungen er— leiden und neue Formen annehmen in Folge von Ernährungsver— änderungen, welche nicht ſie ſelbſt, ſondern ihren elterlichen Orga— nismus betrafen. Der umgeſtaltende Einfluß der äußeren Exiſtenz— bedingungen, des Klimas, der Nahrung ꝛc. äußert hier feine Wir— kung nicht direct, in der Umbildung des Organismus ſelbſt, ſondern indirect, in derjenigen ſeiner Nachkommen (Gen. Morph. II, 202). Als das oberſte und allgemeinſte von den Geſetzen der indirec- ten Abänderung können wir das Geſetz der individuellen An— paſſung hinſtellen, nämlich den wichtigen Satz, daß alle organi— ſchen Individuen von Anbeginn ihrer individuellen Exiſtenz an un— gleich, wenn auch oft höchſt ähnlich ſind. Zum Beweis dieſes Sa— tzes können wir zunächſt auf die Thatſache hinweiſen, daß beim Men— ſchen allgemein alle Geſchwiſter, alle Kinder eines Elternpaares von Geburt an ungleich ſind. Es wird Niemand behaupten, daß zwei Geſchwiſter bei der Geburt noch vollkommen gleich ſind, daß die Größe aller einzelnen Körpertheile, die Zahl der Kopfhaare, der Ober— hautzellen, die Blutzellen in beiden Geſchwiſtern ganz gleich ſei, daß beide dieſelben Anlagen und Talente mit auf die Welt gebracht ha— ben. Ganz beſonders beweiſend für dieſes Geſetz der individuellen Verſchiedenheit iſt aber die Thatſache, daß bei denjenigen Thieren, welche mehrere Junge werfen, z. B. bei den Hunden und Katzen, alle Jungen eines jeden Wurfes von einander verſchieden ſind, bald durch geringere, bald durch auffallendere Differenzen in der Größe, Färbung, Länge der einzelnen Körpertheile, Stärke u. ſ. w. Nun gilt aber dieſes Geſetz ganz allgemein. Alle organiſchen Individuen ſind von Anfang an durch gewiſſe, wenn auch oft höchſt feine Un— terſchiede ausgezeichnet und die Urſache dieſer individuellen Unter— ſchiede, wenn auch im Einzelnen uns gewöhnlich ganz unbekannt, liegt theilweiſe oder ausſchließlich in gewiſſen Einwirkungen, welche die Fortpflanzungsorgane des elterlichen Organismus erfahren haben. Monſtröſe oder ſprungweiſe Anpaſſung. 205 Weniger wichtig und allgemein, als dieſes Geſetz der indivi— duellen Abänderung, iſt ein zweites Geſetz der indirecten Anpaſſung, welches wir das Geſetz der monſtröſen oder ſprungweiſen Anpaſſung nennen wollen. Hier ſind die Abweichungen des kind— lichen Organismus von der elterlichen Form ſo auffallend, daß wir ſie in der Regel als Mißgeburten oder Monſtroſitäten bezeichnen können. Dieſe werden in vielen Fällen, wie es durch Experimente nachgewieſen iſt, dadurch erzeugt, daß man den elterlichen Organis— mus einer beſtimmten Behandlung unterwirft, in eigenthümliche Er— nährungsverhältniſſe verſetzt, z. B. Luft und Licht ihm entzieht oder andere auf ſeine Ernährung mächtig einwirkende Einflüſſe in be— ſtimmter Weiſe abändert. Die neue Exiſtenzbedingung bewirkt eine ſtarke und auffallende Abänderung der Geſtalt, aber nicht an dem unmittelbar davon betroffenen Organismus, ſondern erſt an deſſen Nachkommenſchaft. Die Art und Weiſe dieſer Einwirkung im Ein— zelnen zu erkennen, iſt uns auch hier nicht möglich, und wir können nur ganz im Allgemeinen den urſächlichen Zuſammenhang zwiſchen der monſtröſen Bildung des Kindes und einer gewiſſen Veränderung in den Exiſtenzbedingungen ſeiner Eltern, ſowie deren Einfluß auf die Fortpflanzungsorgane der letzteren, feſtſtellen. In dieſer Reihe der monſtröſen oder ſprungweiſen Abänderungen gehören wahrſchein— lich die früher erwähnten Erſcheinungen des Albinismus, ſowie die einzelnen Fälle von Menſchen mit ſechs Fingern und Zehen, von ungehörnten Rindern, ſowie von Schafen und Ziegen mit vier oder ſechs Hörnern. Wahrſcheinlich verdankt in allen dieſen Fällen die monſtröſe Abänderung ihre Entſtehung einer Urſache, welche zunächſt nur das Reproductionsſyſtem des elterlichen Organismus, das Ei der Mutter oder das Sperma des Vaters afficirte. Als eine dritte eigenthümliche Aeußerung der indirecten Anpaſ— ſung können wir das Geſetz der geſchlechtlichen oder ſexuel— len Anpaſſung bezeichnen. So nennen wir die merkwürdige That— ſache, daß beſtimmte Einflüſſe, welche auf die männlichen Fortpflan— zungsorgane einwirken, nur in der Formbildung der männlichen Nach— 206 Geſchlechtliche Anpaſſung. Urſachen der indirecten Anpaſſung. kommen, und ebenſo andere Einflüſſe, welche die weiblichen Ge— ſchlechtsorgane betreffen, nur in der Geſtaltveränderung der weibli— chen Nachkommen ihre Wirkung äußern. Dieſe merkwürdige Erſchei— nung iſt noch ſehr dunkel und wenig beachtet, wahrſcheinlich aber von großer Bedeutung für die Entſtehung der früher betrachteten „ſecun— dären Sexualcharaktere“. Alle die angeführten Erſcheinungen der geſchlechtlichen, der ſprungweiſen und der individuellen Anpaſſung, welche wir als „Ge— ſetze der indirecten oder mittelbaren (potentiellen) Anpaſſung“ zu— ſammenfaſſen können, ſind uns in ihrem eigentlichen Weſen, in ihrem tieferen urſächlichen Zuſammenhang noch äußerſt wenig bekannt. Nur ſoviel läßt ſich ſchon jetzt mit Sicherheit behaupten, daß ſehr zahlreiche und wichtige Umbildungen der organiſchen Formen dieſem Vorgange ihre Entſtehung verdanken. Viele und auffallende Form— veränderungen ſind lediglich bedingt durch Urſachen, welche zunächſt nur auf die Ernährung des elterlichen Organismus und zwar auf deſſen Fortpflanzungsorgane einwirkten. Offenbar ſind hierbei die wichtigen Wechſelbeziehungen, in denen die Geſchlechtsorgane zu den übrigen Körpertheilen ſtehen, von der größten Bedeutung. Von die— ſen werden wir ſogleich bei dem Geſetze der wechſelbezüglichen An— paſſung noch mehr zu ſagen haben. Wie mächtig überhaupt Ver— änderungen in den Lebensbedingungen, in der Ernährung auf die Fortpflanzung der Organismen einwirken, beweiſt allein ſchon die merkwürdige Thatſache, daß zahlreiche wilde Thiere, die wir in un— ſeren zoologiſchen Gärten halten, und ebenſo viele in unſere bota— niſchen Gärten verpflanzte exotiſche Gewächſe nicht mehr im Stande ſind, ſich fortzupflanzen, ſo z. B. die meiſten Raubvögel, Papageyen und Affen. Auch der Elephant und die bärenartigen Raubthiere werfen in der Gefangenſchaft faſt niemals Junge. Ebenſo werden viele Pflanzen im Culturzuſtande unfruchtbar. Es erfolgt zwar die Verbindung der beiden Geſchlechter, aber keine Befruchtung oder keine Entwickelung der befruchteten Keime. Hieraus ergiebt ſich unzwei— felhaft, daß die durch den Culturzuſtand veränderte Ernährungsweiſe Geſetze der directen Anpaſſung. 207 die Fortpflanzungsfähigkeit gänzlich aufzuheben, alſo den größten Einfluß auf die Geſchlechtsorgane auszuüben im Stande iſt. Ebenſo können andere Anpaſſungen oder Ernährungsveränderungen des elter— lichen Organismus zwar nicht den gänzlichen Ausfall der Nachkom— menſchaft, wohl aber bedeutende Umbildungen in deren Form ver— anlaſſen. Viel bekannter als die Erſcheinungen der indirecten oder poten— tiellen Anpaſſung ſind diejenigen der directen oder actuellen Anpaſſung, zu deren näherer Betrachtung wir uns jetzt wenden. Es gehören hierher alle diejenigen Abänderungen der Organismen, welche man als die Folgen der Uebung, Gewohnheit, Dreſſur, Er— ziehung u. ſ. w. betrachtet, ebenſo diejenigen Umbildungen der orga— niſchen Formen, welche unmittelbar durch den Einfluß der Nahrung, des Klimas und anderer äußerer Exiſtenzbedingungen bewirkt werden. Wie ſchon vorher bemerkt, tritt hier bei der directen oder unmittel— baren Anpaſſung der umbildende Einfluß der äußeren Urſache un— mittelbar in der Form des betroffenen Organismus ſelbſt, und nicht erſt in derjenigen ſeiner Nachkommenſchaft wirkſam zu Tage (Gen. Morph. II, 207). Unter den verſchiedenen Geſetzen der directen oder actuellen An— paſſung können wir als das oberſte und umfaſſendſte das Geſetz der allgemeinen oder univerſellen Anpaſſung an die Spitze ſtellen. Daſſelbe läßt ſich kurz in dem Satze ausſprechen: „Alle organiſchen Individuen werden im Laufe ihres Lebens durch Anpaſſung an verſchiedene Lebensbedingungen einander ungleich, ob— wohl die Individuen einer und derſelben Art ſich meiſtens ſehr ähn— lich bleiben.“ Eine gewiſſe Ungleichheit der organiſchen Individuen wurde, wie Sie ſahen, ſchon durch das Geſetz der individuellen (in— directen) Anpaſſung bedingt. Allein dieſe urſprüngliche Ungleichheit der Einzelweſen wird ſpäterhin dadurch noch geſteigert, daß jedes Individuum ſich während ſeines ſelbſtſtändigen Lebens ſeinen eigen— thümlichen Exiſtenzbedingungen unterwirft und anpaßt. Alle ver— ſchiedenen Einzelweſen einer jeden Art, ſo ähnlich ſie in ihren erſten 208 Allgemeine oder univerſelle Anpaſſung. Lebensſtadien auch ſein mögen, werden im weitern Verlaufe der Exi— ſtenz einander mehr oder minder ungleich. In geringeren oder be— deutenderen Eigenthümlichkeiten entfernen ſie ſich von einander, und das iſt eine natürliche Folge der verſchiedenen Bedingungen, unter denen alle Individuen leben. Es giebt nicht zwei einzelne Weſen irgend einer Art, die unter ganz gleichen äußeren Umſtänden ihr Leben vollbringen. Die Lebensbedingungen der Nahrung, der Feuch— tigkeit, der Luft, des Lichts, ferner die Lebensbedingungen der Ge— ſellſchaft, die Wechſelbeziehungen zu den umgebenden Individuen der— ſelben Art und anderer Arten, ſind bei allen Einzelweſen verſchieden; und dieſe Verſchiedenheit wirkt zunächſt auf die Functionen, weiter— hin auf die Formen jedes einzelnen Organismus umbildend ein. Wenn Geſchwiſter einer menſchlichen Familie ſchon von Anfang an gewiſſe individuelle Ungleichheiten zeigen, die wir als Folge der in— dividuellen (indirecten) Anpaſſung betrachten können, ſo erſcheinen uns dieſelben noch weit mehr verſchieden in ſpäterer Lebenszeit, wo die einzelnen Geſchwiſter verſchiedene Erfahrungen durchgemacht, und ſich verſchiedenen Lebensverhältniſſen angepaßt haben. Die urfprüng- lich angelegte Verſchiedenheit des individuellen Entwickelungsganges wird offenbar um ſo größer, je länger das Leben dauert, je mehr verſchiedenartige äußere Bedingungen auf die einzelnen Individuen Einfluß erlangen. Das können Sie am einfachſten an den Menſchen ſelbſt, ſowie an den Hausthieren und Culturpflanzen nachweiſen, bei denen Sie willkührlich die Lebensbedingungen modificiren können. Zwei Brüder, von denen der eine zum Arbeiter, der andere zum Prieſter erzogen wird, entwickeln ſich in körperlicher und geiſtiger Beziehung ganz verſchieden; ebenſo zwei Hunde eines und deſſelben Wurfes, von denen der eine zum Jagdhund, der andere zum Ketten— hund erzogen wird. Daſſelbe gilt aber auch von den organiſchen Individuen im Naturzuſtande. Wenn Sie z. B. in einem Kiefern- oder in einem Buchenwalde, der bloß aus Bäumen einer einzigen Art beſteht, ſorgfältig alle Bäume mit einander vergleichen, ſo finden Sie allemal, daß von allen hundert oder tauſend Bäumen nicht U Gehäufte oder cumulative Anpaſſung. 209 zwei Individuen in der Größe des Stammes und der einzelnen Theile, in der Zahl der Zweige, Blätter, Früchte u. ſ. w. völlig übereinſtimmen. Ueberall finden Sie individuelle Ungleichheiten, welche zum Theil wenigſtens bloß die Folge der verſchiedenen Lebens— bedingungen ſind, unter denen ſich alle Bäume entwickelten. Frei— lich läßt ſich niemals mit Beſtimmtheit ſagen, wie viel von dieſer Ungleichheit aller Einzelweſen jeder Art urſprünglich (durch die in— directe individuelle Anpaſſung bedingt), wie viel davon erworben (durch die directe univerſelle Anpaſſung bewirkt) ſein mag. Nicht minder wichtig und allgemein als die univerſelle Anpaſſung iſt eine zweite Erſcheinungsreihe der directen Anpaſſung, welche wir das Geſetz der gehäuften oder cumulativen Anpaſſung nennen können. Unter dieſem Namen faſſe ich eine große Anzahl von ſehr wichtigen Erſcheinungen zuſammen, die man gewöhnlich in zwei ganz verſchiedene Gruppen bringt. Man unterſcheidet in der Regel erſtens ſolche Veränderungen der Organismen, welche un— mittelbar durch den anhaltenden Einfluß äußerer Bedingungen (durch die dauernde Einwirkung der Nahrung, des Klimas, der Umgebung u. ſ. w.) erzeugt werden, und zweitens ſolche Veränderungen, welche durch Gewohnheit und Uebung, durch Angewöhnung an beſtimmte Lebensbedingungen, durch Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe entſtehen. Dieſe letzteren Einflüſſe ſind insbeſondere von Lamarck als wichtige Urſachen der Umbildung der organiſchen Formen her— vorgehoben, während man die erſteren ſchon ſehr lange in weiteren Kreiſen als ſolche anerkannt hat. Die ſcharfe Unterſcheidung, welche man zwiſchen dieſen beiden Gruppen der gehäuften oder cumulativen Anpaſſung gewöhnlich macht, und welche auch Darwin noch ſehr hervorhebt, verſchwindet, ſo— bald man eingehender und tiefer über das eigentliche Weſen und den urſächlichen Grund der beiden ſcheinbar ſehr verſchiedenen Anpaſſungs— reihen nachdenkt. Man gelangt dann zu der Ueberzeugung, daß man es in beiden Fällen immer mit zwei verſchiedenen wirkenden Urſachen zu thun hat, nämlich einerſeits mit der äußeren Einwirkung Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 14 — 210 Einwirkung der Umgebung und Gegenwirkung des Organismus. oder Action der anpaſſend wirkenden Lebensbedingung, und andrer— ſeits mit der inneren Gegen wirkung oder Reaction des Or— ganismus, welcher ſich jener Lebensbedingung unterwirft und anpaßt. Wenn man die gehäufte Anpaſſung in erſterer Hinſicht für ſich be— trachtet, indem man die umbildenden Wirkungen der andauernden äußeren Exiſtenzbedingungen auf dieſe letzteren allein bezieht, ſo legt man einſeitig das Hauptgewicht auf die äußere Einwirkung, und man vernachläſſigt die nothwendig eintretende innere Gegenwirkung des Organismus. Wenn man umgekehrt die gehäufte Anpaſſung einſeitig in der zweiten Richtung verfolgt, indem man die umbildende Selbſtthätigkeit des Organismus, ſeine Gegenwirkung gegen den äußeren Einfluß, ſeine Veränderung durch Uebung, Gewohnheit, Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe hervorhebt, ſo vergißt man, daß dieſe Gegenwirkung oder Reaction erſt durch die Einwirkung der äußeren Exiſtenzbedingung hervorgerufen wird. Es iſt alſo nur ein Unterſchied der Betrachtungsweiſe, auf welchem die Unterſcheidung jener beiden verſchiedenen Gruppen beruht, und ich glaube, daß man ſie mit vollem Rechte zuſammenfaſſen kann. Das Weſentlichſte bei dieſen gehäuften Anpaſſungserſcheinungen iſt immer, daß die Ver— änderung des Organismus, welche zunächſt in ſeiner Function und weiterhin in ſeiner Formbildung ſich äußert, entweder durch lange andauernde oder durch oft wiederholte Einwirkungen einer äußeren Urſache veranlaßt wird. Die kleinſte Urſache kann durch Häufung oder Cumulation ihrer Wirkung die größten Erfolge erzielen. Die Beiſpiele für dieſe Art der directen Anpaſſung ſind unendlich zahlreich. Wo Sie nur hineingreifen in das Leben der Thiere und Pflanzen, finden Sie überall einleuchtende und überzeugende Ver— änderungen dieſer Art vor Augen. Wir wollen hier zunächſt einige durch die Nahrung ſelbſt unmittelbar bedingte Anpaſſungserſcheinun— gen hervorheben. Jeder von Ihnen weiß, daß man die Hausthiere, die man für gewiſſe Zwecke züchtet, verſchieden umbilden kann durch die verſchiedene Quantität und Qualität der Nahrung, welche man ihnen darreicht. Wenn der Landwirth bei der Schafzucht feine Wolle Gehäufte oder eumulative Anpaſſung. 211 erzeugen will, ſo giebt er den Schafen anderes Futter, als wenn er gutes Fleiſch oder reichliches Fett erzielen will. Die auserleſenen Rennpferde und Luxuspferde erhalten beſſeres Futter, als die ſchwe— ren Laſtpferde und Karrengaule. Die Körperform des Menſchen ſelbſt, der Grad der Fettablagerung z. B., iſt ganz verſchieden nach der Nahrung. Bei ſtickſtoffreicher Koſt wird wenig, bei ſtickſtoffarmer Koft viel Fett abgelagert. Leute, die mit Hülfe der neuerdings beliebten Banting-Cur mager werden wollen, eſſen nur Fleiſch und Eier, kein Brod, keine Kartoffeln. Welche bedeutenden Veränderungen man an Culturpflanzen hervorbringen kann, lediglich durch veränderte Quantität und Qualität der Nahrung, iſt allbekannt. Dieſelbe Pflanze erhält ein ganz anderes Ausſehen, wenn man ſie an einem trockenen, warmen Ort dem Sonnenlicht ausgeſetzt hält, oder wenn man ſie an einer kühlen, feuchten Stelle im Schatten hält. Viele Pflanzen bekommen, wenn man ſie an den Meeresſtrand verſetzt, nach einiger Zeit dicke, fleiſchige Blätter; und dieſelben Pflanzen, an ausnehmend trockene und heiße Standorte verſetzt, bekommen dünne, behaarte Blätter. Alle dieſe Formveränderungen entſtehen unmittel— bar durch den gehäuften Einfluß der veränderten Nahrung. Aber nicht nur die Quantität und Qualität der Nahrungsmittel wirkt mächtig verändernd und umbildend auf den Organismus ein, ſondern auch alle anderen äußeren Exiſtenzbedingungen, vor Allen die nächſte organiſche Umgebung, die Geſellſchaft von freundlichen oder feindlichen Organismen. Ein und derſelbe Baum entwickelt ſich ganz anders an einem offenen Standort, wo er von allen Seiten frei ſteht, als im Walde, wo er ſich den Umgebungen anpaſſen muß, wo er ringsum von den nächſten Nachbarn gedrängt und zum Empor— ſchießen gezwungen wird. Im erſten Fall wird die Krone weit aus— gebreitet, im letzten dehnt ſich der Stamm in die Höhe und die Krone bleibt klein und gedrungen. Wie mächtig alle dieſe Umſtände, wie mächtig der feindliche oder freundliche Einfluß der umgebenden Organismen, der Paraſiten u. ſ. w. auf jedes Thier und jede Pflanze einwirken, iſt ſo bekannt, daß eine Anführung weiterer Beiſpiele 14 * 212 Das Dogma von der Freiheit des Willens. überflüſſig erſcheint. Die Veränderung der Form, die Umbildung, welche dadurch bewirkt wird, iſt niemals bloß die unmittelbare Folge des äußeren Einfluſſes, ſondern muß immer zurückgeführt werden auf die entſprechende Gegenwirkung, auf die Selbſtthätigkeit des Organismus, die man als Angewöhnung, Uebung, Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bezeichnet. Daß man dieſe letzteren Er— ſcheinungen in der Regel getrennt von der erſteren betrachtet, liegt erſtens an der ſchon hervorgehobenen einſeitigen Betrachtungsweiſe, und dann zweitens daran, daß man ſich eine ganz falſche Vorſtel— lung von dem Weſen und dem Einfluß der Willensthätigkeit bei den Thieren gebildet hatte. Die Thätigkeit des Willens, welche der Angewöhnung, der Uebung, dem Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bei den Thie— ren zu Grunde liegt, iſt gleich jeder anderen Thätigkeit der thieriſchen Seele durch materielle Vorgänge im Centralnervenſyſtem bedingt, durch eigenthümliche Bewegungen, welche von der eiweißartigen Ma— terie der Ganglienzellen und der mit ihnen verbundenen Nervenfaſern ausgehen. Der Wille der höheren Thiere iſt in dieſer Beziehung, ebenſo wie die übrigen Geiſtesthätigkeiten, von demjenigen des Men— ſchen nur quantitativ (nicht qualitativ) verſchieden. Der Wille des Thieres, wie des Menſchen iſt niemals frei. Das weitverbreitete Dogma von der Freiheit des Willens iſt naturwiſſenſchaftlich durch— aus nicht haltbar. Jeder Phyſiologe, der die Erſcheinungen der Willensthätigkeit bei Menſchen und Thieren naturwiſſenſchaftlich unter— ſucht, kommt mit Nothwendigkeit zu der Ueberzeugung, daß der Wille eigentlich niemals frei, ſondern ſtets durch äußere oder innere Einflüſſe bedingt iſt. Dieſe Einflüſſe find größtentheils Vor— ſtellungen, die entweder durch Anpaſſung oder durch Vererbung er— worben, und auf eine von dieſen beiden phyſiologiſchen Functionen zurückführbar ſind. Sobald man ſeine eigene Willensthätigkeit ſtreng unterſucht, ohne das herkömmliche Vorurtheil von der Freiheit des Willens, ſo wird man gewahr, daß jede ſcheinbar freie Willenshand— lung bewirkt wird durch vorhergehende Vorſtellungen, die entweder Gehäufte oder cumulative Anpaſſung. 213 in ererbten oder in anderweitig erworbenen Vorſtellungen wurzeln, und in letzter Linie alſo wiederum durch Anpaſſungs- oder Vererbungs— geſetze bedingt find. Daſſelbe gilt von der Willensthätigkeit aller Thiere. Sobald man dieſe eingehend im Zuſammenhang mit ihrer Lebensweiſe betrachtet, und in ihrer Beziehung zu den Veränderungen, welche die Lebensweiſe durch die äußeren Bedingungen erfährt, ſo überzeugt man ſich alsbald, daß eine andere Auffaſſung nicht möglich iſt. Daher müſſen auch die Veränderungen der Willensbewegung, welche aus veränderter Ernährung folgen, und welche als Uebung, Gewohnheit u. ſ. w. umbildend wirken, unter jene materiellen Vor— gänge der gehäuften Anpaſſung gerechnet werden. Indem ſich der thieriſche Wille den veränderten Exiſtenzbedingun— gen durch andauernde Gewöhnung, Uebung u. ſ. w. anpaßt, vermag er die bedeutendſten Umbildungen der organiſchen Formen zu bewirken. Mannigfaltige Beiſpiele hierfür ſind überall im Thierleben zu finden. So verkümmern z. B. bei den Hausthieren manche Organe, indem ſie in Folge der veränderten Lebensweiſe außer Thätigkeit treten. Die Enten und Hühner, welche im wilden Zuſtande ausgezeichnet fliegen, verlernen dieſe Bewegung mehr oder weniger im Culturzuſtande. Sie gewöhnen ſich daran, mehr ihre Beine, als ihre Flügel zu ge— brauchen, und in Folge davon werden die dabei gebrauchten Theile der Muskulatur und des Skelets in ihrer Ausbildung und Form weſentlich verändert. Für die verſchiedenen Raſſen der Hausente, welche alle von der wilden Ente (Anas boschas) abſtammen, hat dies Darwin durch eine ſehr ſorgfältige vergleichende Meſſung und Wägung der betreffenden Skelettheile nachgewieſen. Die Knochen des Flügels ſind bei der Hausente ſchwächer, die Knochen des Beines dagegen umgekehrt ſtärker entwickelt, als bei der wilden Ente. Bei den Straußen und anderen Laufvögeln, welche ſich das Fliegen gänz— lich abgewöhnt haben, iſt in Folge deſſen der Flügel ganz verküm— mert, zu einem völlig „rudimentären Organ“ herabgeſunken (S. 10). Bei vielen Hausthieren, insbeſondere bei vielen Raſſen von Hunden und Kaninchen bemerken Sie ferner, daß dieſelben durch den Cultur— 211 Umbildung durch Gewohnheit, Uebung und Gebrauch der Organe. zuſtand herabhängende Ohren bekommen haben. Dies iſt einfach eine Folge des verminderten Gebrauchs der Ohrmuskeln. Im wil— den Zuſtande müſſen dieſe Thiere ihre Ohren gehörig anſtrengen, um einen nahenden Feind zu bemerken, und es hat ſich dadurch ein ſtarker Muskelapparat entwickelt, welcher die äußeren Ohren in aufrechter Stellung erhält, und nach allen Richtungen dreht. Im Culturzuſtande haben dieſelben Thiere nicht mehr nöthig, ſo aufmerk— ſam zu lauſchen; ſie ſpitzen und drehen die Ohren nur wenig; die Ohrmuskeln kommen außer Gebrauch, verkümmern allmählich, und die Ohren ſinken nun ſchlaff herab oder werden rudimentär. Wie in dieſen Fällen die Function und dadurch auch die Form des Organs durch Nichtgebrauch rückgebildet wird, ſo wird dieſelbe andrerſeits durch ſtärkeren Gebrauch mehr entwickelt. Dies tritt uns beſonders deutlich entgegen, wenn wir das Gehirn und die dadurch bewirkten Seelenthätigkeiten bei den wilden Thieren und den Haus— thieren, welche von ihnen abſtammen, vergleichen. Insbeſondere der Hund und das Pferd, welche in ſo erſtaunlichem Maße durch die Cultur veredelt ſind, zeigen im Vergleiche mit ihren wilden Stamm— verwandten einen außerordentlichen Grad von Ausbildung der Geiſtes— thätigkeit, und offenbar iſt die damit zuſammenhängende Umbildung des Gehirns größtentheils durch die andauernde Uebung bedingt. Allbekannt iſt es ferner, wie ſchnell und mächtig die Muskeln durch anhaltende Uebung wachſen und ihre Form verändern. Vergleichen Sie z. B. Arme und Beine eines geübten Turners mit denjenigen eines unbeweglichen Stubenſitzers. Wie mächtig äußere Einflüſſe die Gewohnheiten der Thiere, ihre Lebensweiſe beeinfluſſen und dadurch weiterhin auch ihre Form um— bilden, zeigen ſehr auffallend manche Beiſpiele von Amphibien und Reptilien. Unſere häufigſte einheimiſche Schlange, die Ringelnatter, legt Eier, welche zu ihrer Entwickelung noch drei Wochen brauchen. Wenn man ſie aber in Gefangenſchaft hält und in den Käfig keinen Sand ſtreut, ſo legt ſie die Eier nicht ab, ſondern behält ſie bei ſich, ſo lange bis die Jungen entwickelt ſind. Der Unterſchied zwiſchen Gehäufte oder cumulative Anpaſſung. 215 lebendig gebärenden Thieren und ſolchen, die Eier legen, wird hier einfach durch die Veränderung des Bodens, auf welchem das Thier lebt, verwiſcht. | Außerordentlich intereſſant ſind in dieſer Beziehung auch die Waſſermolche oder Tritonen, welche man gezwungen hat, ihre ur— ſprünglichen Kiemen beizubehalten. Die Tritonen, Amphibien, welche den Fröſchen nahe verwandt ſind, beſitzen gleich dieſen in ihrer Ju— gend äußere Athmungsorgane, Kiemen, mit welchen ſie, im Waſſer lebend, Waſſer athmen. Später tritt bei den Tritonen eine Meta— morphoſe ein, wie bei den Fröſchen. Sie gehen auf das Land, ver— lieren die Kiemen und gewöhnen ſich an das Lungenathmen. Wenn man ſie nun daran verhindert, indem man ſie in einem geſchloſſenen Waſſerbecken hält, ſo verlieren ſie die Kiemen nicht. Dieſe bleiben vielmehr beſtehen “und der Waſſermolch verharrt zeitlebens auf jener niederen Ausbildungsſtufe, welche ſeine tiefer ſtehenden Verwandten, die Kiemenmolche oder Sozobranchien niemals überſchreiten. Der Waſſermolch erreicht ſeine volle Größe, wird geſchlechtsreif und pflanzt ſich fort, ohne die Kiemen zu verlieren. Großes Aufſehen erregte unter den Zoologen vor Kurzem der Axolotel (Siredon pisciformis), ein dem Triton nahe verwandter Kiemenmolch aus Mexico, welchen man ſchon ſeit langer Zeit kennt, und in den letzten Jahren im Pariſer Pflanzengarten im Großen ge— züchtet hat. Dieſes Thier hat auch äußere Kiemen, wie der Waſſer— molch, behält aber dieſelben gleich allen anderen Sozobranchien zeit— lebens bei. Für gewöhnlich bleibt dieſer Kiemenmolch mit ſeinen Waſſerathmungsorganen im Waſſer und pflanzt ſich hier auch fort. Nun krochen aber plötzlich im Pflanzengarten unter Hunderten dieſer Thiere eine geringe Anzahl aus dem Waſſer auf das Land, verloren ihre Kiemen, und verwandelten ſich in eine kiemenloſe Molchform, welche von einer nordamerikaniſchen Tritonengattung (Amblystoma) nicht mehr zu unterſcheiden iſt, und nur noch durch Lungen athmet. In dieſem letzten höchſt merkwürdigen Falle können wir unmittelbar den großen Sprung von einem waſſerathmenden zu einem luftath— 916 Wechſelbezügliche oder correlative Anpaſſung. menden Thiere verfolgen, ein Sprung, der allerdings bei der indivi— duellen Entwickelungsgeſchichte der Fröſche und Salamander in jedem Frühling beobachtet werden kann. Ebenſo aber, wie jeder einzelne Froſch und jeder einzelne Salamander aus dem urſprünglich kiemen— athmenden Amphibium ſpäterhin in ein lungenathmendes ſich ver— wandelt, ſo iſt auch die ganze Gruppe der Fröſche und Salamander urſprünglich aus kiemenathmenden, dem Siredon verwandten Thieren entſtanden. Die Sozobranchien ſind noch bis auf den heutigen Tag auf jener niederen Stufe ſtehen geblieben. Die Ontogenie erläutert auch hier die Phylogenie, die Entwickelungsgeſchichte der Individuen diejenige der ganzen Gruppe (S. 10). An die gehäufte oder cumulative Anpaſſung ſchließt ſich als eine dritte Erſcheinung der directen oder actuellen Anpaſſung das Ge— ſetz der wechſelbezüglichen oder correlativen Anpaſſung an. Nach dieſem wichtigen Geſetze werden durch die actuelle An— paſſung nicht nur diejenigen Theile des Organismus abgeändert, welche unmittelbar durch die äußere Einwirkung betroffen werden, ſondern auch andere, nicht unmittelbar davon berührte Theile. Dies iſt eine Folge des organiſchen Zuſammenhangs, und namentlich der einheitlichen Ernährungsverhältniſſe, welche zwiſchen allen Theilen jedes Organismus beſtehen. Wenn z. B. bei einer Pflanze durch Ver— ſetzung an einen trockenen Standort die Behaarung der Blätter zu— nimmt, ſo wirkt dieſe Veränderung auf die Ernährung anderer Theile zurück, und kann eine Verkürzung der Stengelglieder und ſomit eine gedrungenere Form der ganzen Pflanze zur Folge haben. Bei einigen Raſſen von Schweinen und Hunden, z. B. bei dem türkiſchen Hunde, welche durch Anpaſſung an ein wärmeres Klima ihre Behaarung mehr oder weniger verloren, wurde zugleich das Gebiß zurückgebildet. So zeigen auch die Walfiſche und die Edentaten (Schuppenthiere, Gürtelthiere ꝛc.), welche ſich durch ihre eigenthümliche Hautbedeckung am meiſten von den übrigen Säugethieren entfernt haben, die größ— ten Abweichungen in der Bildung des Gebiſſes. Ferner bekommen ſolche Raſſen von Hausthieren (3. B. Rindern, Schweinen), bei denen Wechſelbezügliche oder correlative Anpaſſung. 217 ſich die Beine verkürzen, in der Regel auch einen kurzen und gedrun— genen Kopf. So zeichnen ſich u. a. die Taubenraſſen, welche die läng— ſten Beine haben, zugleich auch durch die längſten Schnäbel aus. Dieſelbe Wechſelbeziehung zwiſchen der Länge der Beine und des Schnabels zeigt ſich ganz allgemein in der Ordnung der Stelzvögel (Grallatores), beim Storch, Kranich, der Schnepfe u. ſ. w. Die Wechſelbeziehungen, welche in dieſer Weiſe zwiſchen verſchiedenen Thei— len des Organismus beſtehen, ſind äußerſt merkwürdig, und im Ein— zelnen ihrer Urſache nach uns unbekannt. Im Allgemeinen können wir natürlich ſagen : die Ernährungsveränderungen, die einen einzel— nen Theil betreffen, müſſen nothwendig auf die übrigen Theile zurück— wirken, weil die Ernährung eines jeden Organismus eine zuſammen— hängende, eentraliſirte Thätigkeit iſt. Allein warum nun gerade die— ſer oder jener Theil in dieſer merkwürdigen Wechſelbeziehung zu einem andern ſteht, iſt uns in den meiſten Fällen ganz unbekannt. Wir kennen eine große Anzahl ſolcher Wechſelbeziehungen in der Bildung, namentlich bei den früher bereits erwähnten Abänderungen der Thiere und Pflanzen, die ſich durch Pigmentmangel auszeichnen, den Albinos oder Kakerlaken. Der Mangel des gewöhnlichen Farbeſtoffs bedingt hier gewiſſe Veränderungen in der Bildung anderer Theile, z. B. des Muskelſyſtems, des Knochenſyſtems, alſo organiſcher Syſteme, die zunächſt gar nicht mit dem Syſteme der äußeren Haut zuſammenhän— gen. Sehr häufig ſind dieſe ſchwächer entwickelt und daher der ganze Körperbau zarter und ſchwächer, als bei den gefärbten Thieren derſel— ben Art. Ebenſo werden auch die Sinnesorgane und das Nerven— ſyſtem durch dieſen Pigmentmangel eigenthümlich afficirt. Weiße Katzen mit blauen Augen ſind faſt immer taub. Die Schimmel zeichnen ſich vor den gefärbten Pferden durch die beſondere Neigung zur Bildung ſarkomatöſer Geſchwülſte aus. Auch beim Menſchen iſt der Grad der Pigmententwickelung in der äußeren Haut vom größten Einfluſſe auf die Empfänglichkeit des Organismus für ge— wiſſe Krankheiten, ſo daß z. B. Europäer mit dunkler Hautfarbe, ſchwarzen Haaren und braunen Augen ſich leichter in den Tropen— 218 Wechſelbeziehungen der Geſchlechtsorgane und der übrigen Körpertheile. gegenden akklimatiſiren, und viel weniger den dort herrſchenden Krankheiten (Leberentzündungen, gelbem Fieber u. ſ. w.) unterworfen ſind, als Enropäer mit heller Hautfarbe, blondem Haar und blauen Augen. (Vergl. oben S. 134.) Vorzugsweiſe merkwürdig ſind unter dieſen Wechſelbeziehungen der Bildung verſchiedener Organe diejenigen, welche zwiſchen den Geſchlechtsorganen und den übrigen Theilen des Körpers beſtehen. Keine Veränderung eines Theiles wirkt ſo mächtig zurück auf die übrigen Körpertheile, als eine beſtimmte Behandlung der Geſchlechts— organe. Die Landwirthe, welche bei Schweinen, Schafen u. ſ. w. reichliche Fettbildung erzielen wollen, entfernen die Geſchlechtsorgane durch Herausſchneiden (Caſtration), und zwar geſchieht dies bei Thie— ren beiderlei Geſchlechts. In Folge davon tritt übermäßige Fettent— wickelung ein. Daſſelbe thut auch Seine Heiligkeit, der „unfehlbare“ Papſt, bei den Caſtraten, welche in der Peterskirche zu Ehren Gottes ſingen müſſen. Dieſe Unglücklichen werden in früher Jugend caſtrirt, damit ſie ihre hohen Knabenſtimmen beibehalten. In Folge dieſer Verſtümmelung der Genitalien bleibt der Kehlkopf auf der jugendlichen Entwickelungsſtufe ſtehen. Zugleich bleibt die Muskulatur des ganzen Körpers ſchwach entwickelt, während ſich unter der Haut reichliche Fettmengen anſammeln. Aber auch auf die Ausbildung des Central— nervenſyſtems, der Willensenergie u. |. w. wirkt jene Verſtümmelung mächtig zurück, und es iſt bekannt, daß die menſchlichen Caſtraten oder Eunuchen ebenſo wie die caſtrirten männlichen Hausthiere des beſtimmten pſychiſchen Charakters, welcher das männliche Geſchlecht auszeichnet, gänzlich entbehren. Der Mann iſt eben Leib und Seele nach nur Mann durch feine männliche Generationsdrüſe. Dieſe äußerſt wichtigen und einflußreichen Wechſelbeziehungen zwiſchen den Geſchlechtsorganen und den übrigen Körpertheilen, vor allem dem Gehirn, finden ſich in gleicher Weiſe bei beiden Geſchlech— tern. Es läßt ſich dies ſchon von vornherein deshalb erwarten, weil bei den meiſten Thieren die beiderlei Organe aus gleicher Grundlage ſich entwickeln. Beim Menſchen, wie bei allen übrigen Wirbelthie— Wechſelbezügliche oder correlative Anpaſſung. 219 ren, ſind in der urſprünglichen Anlage des Keims die männlichen und weiblichen Organe neben einander vorhanden. Jedes Indivi— duum iſt urſprünglich ein Zwitter oder Hermaphrodit (S. 176), wie es die den Wirbelthieren nächſtverwandten Ascidien noch heute zeit— lebens ſind. Erſt allmählich entſtehen im Laufe der embryonalen Entwickelung (beim Menſchen in der neunten Woche ſeines Embryo— lebens) die Unterſchiede der beiden Geſchlechter, indem beim Weibe allein der Eierſtock, beim Manne allein der Teſtikel zur Entwickelung gelangt, hingegen die andere Geſchlechtsdrüſe verkümmert. Jede Veränderung des weiblichen Eierſtocks äußert eine nicht minder be— deutende Rückwirkung auf den geſammten weiblichen Organismus, wie jede Veränderung des Teſtikels auf den männlichen Organismus. Die Wichtigkeit dieſer Wechſelbeziehung hat Virchow in ſeinem vor— trefflichen Aufſatz „das Weib und die Zelle“ mit folgenden Worten ausgeſprochen: „Das Weib iſt eben Weib nur durch ſeine Genera— tionsdrüſe; alle Eigenthümlichkeiten ſeines Körpers und Geiſtes oder ſeiner Ernährung und Nerventhätigkeit: die ſüße Zartheit und Run— dung der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwickelung der Brüſte bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener ſchöne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, wei— chen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum dieſe Tiefe des Gefühls, dieſe Wahrheit der unmittelbaren Anſchauung, dieſe Sanft— muth, Hingebung und Treue — kurz, Alles, was wir an dem wah— ren Weibe Weibliches bewundern und verehren, iſt nur eine De— pendenz des Eierſtocks. Man nehme den Eierftod hinweg, und das Mannweib in ſeiner häßlichſten Halbheit ſteht vor uns.“ Dieſelbe innige Correlation oder Wechſelbeziehung zwiſchen den Geſchlechtsorganen und den übrigen Körpertheilen findet ſich auch bei den Pflanzen ebenſo allgemein wie bei den Thieren vor. Wenn man bei einer Gartenpflanze reichlichere Früchte zu erzielen wünſcht, be— ſchränkt man den Blätterwuchs durch Abſchneiden eines Theils der Blätter. Wünſcht man umgekehrt eine Zierpflanze mit einer Fülle von großen und ſchönen Blättern zu erhalten, ſo verhindert man die 220 Erklärung der indirecten oder potentiellen Anpaſſung. Blüthen- und Fruchtbildung durch Abſchneiden der Blüthenknospen. In beiden Fällen entwickelt ſich das eine Organſyſtem auf Koſten des anderen. So ziehen auch die meiſten Abänderungen der vegetativen Blattbildung bei den wilden Pflanzen eine entſprechende Umbildung in den generativen Blüthentheilen nach ſich. Die hohe Bedeutung dieſer „Compenſation der Entwickelung“, dieſer „Correlation der Theile“ iſt bereits von Goethe, von Geoffroy S. Hilaire und von anderen Naturphiloſophen hervorgehoben worden. Sie beruht weſentlich darauf, daß die directe oder actuelle Anpaſſung keinen einzigen Körpertheil weſentlich verändern kann, ohne zugleich auf den ganzen Organismus einzuwirken. Die correlative Anpaſſung der Fortpflanzungsorgane und der übrigen Körpertheile verdient deshalb eine ganz beſondere Berückſich— tigung, weil ſie vor allen geeignet iſt, ein erklärendes Licht auf die vorher betrachteten dunkeln und räthſelhaften Erſcheinungen der in— directen oder potentiellen Anpaſſung zu werfen. Denn ebenſo wie jede Veränderung der Geſchlechtsorgane mächtig auf den übrigen Körper zurückwirkt, ſo muß natürlich umgekehrt auch jede eingrei— fende Veränderung eines anderen Körpertheils mehr oder weniger auf die Generationsorgane zurückwirken. Dieſe Rückwirkung wird ſich aber erſt in der Bildung der Nachkommenſchaft, welche aus den veränderten Generationstheilen entſteht, wahrnehmbar äußern. Ge— rade jene merkwürdigen, aber unmerklichen und an ſich ungeheuer geringfügigen Veränderungen des Genitalſyſtems, der Eier und des Sperma, welche durch ſolche Wechſelbeziehungen hervorgebracht wer— den, ſind vom größten Einfluſſe auf die Bildung der Nachkommen— ſchaft, und alle vorher erwähnten Erſcheinungen der indirecten oder potentiellen Anpaſſung können ſchließlich auf die wechſelbezügliche Anpaſſung zurückgeführt werden. Eine weitere Reihe von ausgezeichneten Beiſpielen der correla— tiven Anpaſſung liefern die verſchiedenen Thiere und Pflanzen, welche durch das Schmarotzerleben oder den Paraſitismus rückgebildet ſind. Keine andere Veränderung der Lebensweiſe wirkt ſo bedeutend auf die Wechſelbezügliche oder correlative Anpaſſung. 221 Formbildung der Organismen ein, wie die Angewöhnung an das Schmarotzerleben. Pflanzen verlieren dadurch ihre grünen Blätter, wie z. B. unſere einheimiſchen Schmarotzerpflanzen: Orobanche, La- thraea, Monotropa. Thiere, welche urſprünglich ſelbſtſtändig und frei gelebt haben, dann aber eine paraſitiſche Lebensweiſe auf andern Thieren oder auf Pflanzen annehmen, geben zunächſt die Thätigkeit ihrer Bewegungsorgane und ihrer Sinnesorgane auf. Der Verluſt der Thätigkeit zieht aber den Verluſt der Organe, durch welche ſie be— wirkt wurde, nach ſich, und ſo finden wir z. B. viele Krebsthiere oder Cruſtaceen, die in der Jugend einen ziemlich hohen Organiſations— grad, Beine, Fühlhörner und Augen beſaßen, im Alter als Para— ſiten vollkommen degenerirt wieder, ohne Augen, ohne Bewegungs— werkzeuge und ohne Fühlhörner. Aus der munteren, beweglichen Jugendform iſt ein unförmlicher, unbeweglicher Klumpen geworden. Nur die nöthigſten Ernährungs- und Fortpflanzungsorgane ſind noch in Thätigkeit. Der ganze übrige Körper iſt rückgebildet. Offenbar ſind dieſe tiefgreifenden Umbildungen großentheils directe Folgen der gehäuften oder cumulativen Anpaſſung, des Nichtgebrauchs und der mangelnden Uebung der Organe; aber zum großen Theile kommen dieſelben ſicher auch auf Rechnung der wechſelbezüglichen oder corre— lativen Anpaſſung. (Vergl. Taf. X und XI, S. 487.) Ein ſiebentes Anpaſſungsgeſetz, das vierte in der Gruppe der directen Anpaſſungen, iſt das Geſetz der abweichenden oder divergenten Anpaſſung. Wir verſtehen darunter die Erſchei— nung, daß urſprünglich gleichartig angelegte Theile ſich durch den Einfluß äußerer Bedingungen in verſchiedener Weiſe ausbilden. Die— ſes Anpaſſungsgeſetz iſt ungemein wichtig für die Erklärung der Ar— beitstheilung oder des Polymorphismus. An uns ſelbſt können wir es ſehr leicht erkennen, z. B. in der Thätigkeit unſerer beiden Hände. Die rechte Hand wird gewöhnlich von uns an ganz andere Arbeiten gewöhnt, als die linke; es entſteht in Folge der abweichenden Be— ſchäftigung auch eine verſchiedene Bildung der beiden Hände. Die rechte Hand, welche man gewöhnlich viel mehr braucht, als die linke, 222 Abweichende oder divergente Anpaſſung. zeigt ſtärker entwickelte Nerven, Muskeln und Knochen. Daſſelbe gilt auch vom ganzen Arm. Knochen und Fleiſch des rechten Arms find bei den meiſten Menſchen in Folge ſtärkeren Gebrauchs ſtärker und ſchwerer als die des linken Arms. Da nun aber der bevorzugte Ge— brauch des rechten Arms bei der mittelländiſchen Menſchenart (S. 604) ſchon ſeit Jahrtauſenden eingebürgert und vererbt iſt, jo iſt auch die ſtärkere Form und Größe des rechten Arms bereits erblich gewor— den. Der treffliche holländiſche Naturforſcher P. Harting hat durch Meſſung und Wägung an Neugeborenen gezeigt, daß auch bei dieſen bereits der rechte den linken übertrifft. Nach demſelben Geſetze der divergenten Anpaſſung ſind auch häufig die beiden Augen verſchieden entwickelt. Wenn man ſich z. B. als Naturforſcher gewöhnt, immer nur mit dem einen Auge (am be— ſten mit dem linken) zu mikroſkopiren, und mit dem andern nicht, ſo erlangt das eine Auge eine ganz andere Beſchaffenheit, als das andere, und dieſe Arbeitstheilung iſt von großem Vortheil. Das eine Auge wird kurzſichtiger, geeignet für das Sehen in die Nähe, das andere Auge weitſichtiger, ſchärfer für den Blick in die Ferne. Wenn man dagegen abwechſelnd mit beiden Augen mikroſkopirt, jo erlangt man nicht auf dem einen Auge den Grad der Kurzfichtigfeit, auf dem an— dern den Grad der Weitſichtigkeit, welchen man durch eine weiſe Ver— theilung dieſer verſchiedenen Geſichtsfunctionen auf beide Augen er— reicht. Zunächſt wird auch hier wieder durch die Gewohnheit die Function, die Thätigkeit der urſprünglich gleich gebildeten Organe un— gleich, divergent; allein die Function wirkt wiederum auf die Form und die innere Structur des Organs zurück. Unter den Pflanzen können wir die abweichende oder divergente Anpaſſung beſonders bei den Schlinggewächſen ſehr leicht wahrneh— men. Aeſte einer und derſelben Schlingpflanze, welche urſprünglich gleichartig angelegt ſind, erhalten eine ganz verſchiedene Form und Ausdehnung, einen ganz verſchiedenen Krümmungsgrad und Durch— meſſer der Spiralwindung, je nachdem ſie um einen dünneren oder dickeren Stab ſich herumwinden. Ebenſo iſt auch die abweichende Unbeſchränkte oder unendliche Anpaſſung. 223 Veränderung der Formen urſprünglich gleich angelegter Theile, welche divergent nach verſchiedenen Richtungen unter abweichenden äußeren Bedingungen ſich entwickeln, in vielen anderen Fällen deutlich nach— weisbar. Indem dieſe abweichende oder divergente Anpaſſung mit der fortſchreitenden Vererbung in Wechſelwirkung tritt, wird ſie die Urſache der Arbeitstheilung der verſchiedenen Organe. Ein achtes und letztes Anpaſſungsgeſetz können wir als das Geſetz der unbeſchränkten oder unendlichen Anpaſſung bezeichnen. Wir wollen damit einfach ausdrücken, daß uns keine Grenze für die Veränderung der organiſchen Formen durch den Ein— fluß der äußeren Exiſtenzbedingungen bekannt iſt. Wir können von keinem einzigen Theil des Organismus behaupten, daß er nicht mehr veränderlich ſei, daß, wenn man ihn unter neue äußere Bedingun— gen brächte, er durch dieſe nicht verändert werden würde. Noch nie— mals hat ſich in der Erfahrung eine Grenze für die Abänderung nach— weiſen laſſen. Wenn z. B. ein Organ durch Nichtgebrauch degenerirt, ſo geht dieſe Degeneration ſchließlich bis zum vollſtändigen Schwunde des Organs fort, wie es bei den Augen vieler Thiere der Fall iſt. Andrerſeits können wir durch fortwährende Uebung, Gewohnheit, und immer geſteigerten Gebrauch eines Organs daſſelbe in einem Maße vervollkommnen, wie wir es von vornherein für unmöglich gehalten haben würden. Wenn man die unciviliſirten Wilden mit den Cul— turvölkern vergleicht, ſo findet man bei jenen eine Ausbildung der Sinnesorgane, Geſicht, Geruch, Gehör, von der die Culturvölker keine Ahnung haben. Umgekehrt iſt bei den höheren Culturvölkern das Gehirn, die Geiſtesthätigkeit in einem Grade entwickelt, von welchem die rohen Wilden keine Vorſtellung beſitzen. Allerdings ſcheint für jeden Organismus eine Grenze der An— paſſungsfähigkeit durch den Typus ſeines Stammes oder Phylum gegeben zu ſein, d. h. durch die weſentlichen Grundeigenſchaften die— ſes Stammes, welche von dem gemeinſamen Stammvater deſſelben ererbt ſind und ſich durch conſervative Vererbung auf alle Deſcen— denten deſſelben übertragen. So kann z. B. niemals ein Wirbel— - 194 Unbeſchränkte oder unendliche Anpaſſung. thier ſtatt des charakteriſtiſchen Rückenmarks der Wirbelthiere das Bauchmark der Gliederthiere ſich erwerben. Allein innerhalb dieſer erblichen Grundform, innerhalb dieſes unveräußerlichen Typus, iſt der Grad der Anpaſſungsfähigkeit unbeſchränkt. Die Biegſamkeit und Flüſſigkeit der organiſchen Form äußert ſich innerhalb deſſelben frei nach allen Richtungen hin, und in ganz unbeſchränktem Um— fang. Es giebt aber einzelne Thiere, wie z. B. die durch Paraſitis— mus rückgebildeten Krebsthiere und Würmer, welche ſelbſt jene Grenze des Typus zu überſpringen ſcheinen, und durch erſtaunlich weit ge— hende Degeneration alle weſentlichen Charaktere ihres Stammes ein— gebüßt haben. Was die Anpaſſungsfähigkeit des Menſchen betrifft, ſo iſt dieſelbe, wie bei allen anderen Thieren, ebenfalls unbegrenzt, und da ſich dieſelbe beim Menſchen vor allen in der Umbildung des Gehirns äußert, ſo läßt ſich durchaus keine Grenze der Erkenntniß ſetzen, welche der Menſch bei weiter fortſchreitender Geiſtesbildung nicht würde überſchreiten können. Auch der menſchliche Geiſt genießt nach dem Geſetze der unbeſchränkten Anpaſſung eine unendliche Per— ſpective für ſeine Vervollkommnung in der Zukunft. Dieſe Bemerkungen genügen wohl, um die Tragweite der An— paſſungserſcheinungen hervorzuheben und ihnen das größte Gewicht zuzuſchreiben. Die Anpaſſungsgeſetze, die Thatſachen der Verände— rung durch den Einfluß äußerer Bedingungen, ſind von ebenſo gro— ßer Bedeutung, wie die Vererbungsgeſetze. Alle Anpaſſungserſchei— nungen laſſen ſich in letzter Linie zurückführen auf die Ernährungs— verhältniſſe des Organismus, in gleicher Weiſe wie die Vererbungs— erſcheinungen in den Fortpflanzungsverhältniſſen begründet ſind; dieſe aber ſowohl als jene ſind weiter zurückzuführen auf chemiſche und phyſikaliſche Gründe, alſo auf mechaniſche Urſachen. Lediglich durch die Wechſelwirkung derſelben entſtehen nach Darwin's Selections— theorie die neuen Formen der Organismen, die Umbildungen, welche die künſtliche Züchtung im Culturzuſtande, die natürliche Züchtung im Naturzuſtande hervorbringt. Elfter Vortrag. Die natürliche Züchtung durch den Kampf um's Daſein. Arbeitstheilung und Fortſchritt. Wechſelwirkung der beiden organiſchen Bildungstriebe, der Vererbung und An⸗ paſſung. Natürliche und künſtliche Züchtung. Kampf um's Daſein oder Wett- kampf um die Lebensbedürfniſſe. Mißverhältniß zwiſchen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der Zahl der wirklichen (actuellen) Individuen. Verwickelte Wech⸗ ſelbeziehungen aller benachbarten Organismen. Wirkungsweiſe der natürlichen Züch— tung. Gleichfarbige Zuchtwahl als Urſache der ſympathiſchen Färbungen. Ge— ſchlechtliche Zuchtwahl als Urſache der ſecundären Sexualcharaktere. Geſetz der Sonderung oder Arbeitstheilung (Polymorphismus, Differenzirung, Divergenz des Charakters). Uebergang der Varietäten in Species. Begriff der Species. Baſtard⸗ zeugung. Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung (Progreſſus, Teleoſis). Meine Herren! Um zu einem richtigen Verſtändniß des Dar— winis mus zu gelangen, iſt es vor Allem nothwendig, die beiden organiſchen Functionen genau in das Auge zu faſſen, die wir in den letzten Vorträgen betrachtet haben, die Vererbung und An— paſſung. Wenn man nicht einerſeits die rein mechaniſche Natur dieſer beiden phyſiologiſchen Thätigkeiten und die mannichfaltige Wir— kung ihrer verſchiedenen Geſetze in's Auge faßt, und wenn man nicht andrerſeits erwägt, wie verwickelt die Wechſelwirkung dieſer verſchiedenen Vererbungs- und Anpaſſungsgeſetze nothwendig ſein muß, ſo wird man nicht begreifen, daß dieſe beiden Functionen für ſich allein die ganze Mannichfaltigkeit der Thier- und Pflanzenfor— men ſollen erzeugen können; und doch iſt das in der That der Fall. Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 15 226 Die beiden organiſchen Bildungstriebe: Vererbung und Anpaffung. Wir ſind wenigſtens bis jetzt nicht im Stande geweſen, andere form— bildende Urſachen aufzufinden, als dieſe beiden; und wenn wir die nothwendige und unendlich verwickelte Wechſelwirkung der Vererbung und Anpaſſung richtig verſtehen, ſo haben wir auch gar nicht mehr nöthig, noch nach anderen unbekannten Urſachen der Umbildung der organiſchen Geſtalten zu ſuchen. Jene beiden Grundurſachen erſchei— nen uns dann völlig genügend. Schon früher, lange bevor Darwin ſeine Selectionstheorie aufſtellte, nahmen einige Naturforſcher, insbeſondere Goethe, als Urſache der organiſchen Formenmannichfaltigkeit die Wechſelwirkung zweier verſchiedener Bildungstriebe an, eines conſervativen oder er— haltenden, und eines umbildenden oder fortſchreitenden Bildungstrie— bes. Erſteren nannte Goethe den centripetalen oder Specifica- tionstrieb, letzteren den centrifugalen oder den Trieb der Metamor— phoſe (©. 81). Dieſe beiden Triebe entſprechen vollſtändig den bei— den Functionen der Vererbung und der Anpaſſung. Die Verer— bung iſt der centripetale oder innere Bildungstrieb, wel— cher beſtrebt iſt, die organiſche Form in ihrer Art zu erhalten, die Nachkommen den Eltern gleich zu geſtalten, und Generationen hin— durch immer Gleichartiges zu erzeugen. Die Anpaſſung dagegen, welche der Vererbung entgegenwirkt, iſt der centrifugale oder äußere Bildungstrieb, welcher beſtändig beſtrebt iſt, durch die veränderlichen Einflüſſe der Außenwelt die organiſchen Formen um— zubilden, neue Formen aus den vorhandenen zu ſchaffen und die Conſtanz der Species, die Beſtändigkeit der Art gänzlich aufzuheben. Je nachdem die Vererbung oder die Anpaſſung das Uebergewicht im Kampfe erhält, bleibt die Speciesform beſtändig oder ſie bildet ſich in eine neue Art um. Der in jedem Augenblick ſtatt— findende Grad der Formbeſtändigkeit bei den verſchie— denen Thier- und Pflanzenarten iſt einfach das noth— wendige Reſultat des augenblicklichen Uebergewichts, welches jede dieſer beiden Bildungskräfte (oder phy— ſiologiſchen Functionen) über die andere erlangt hat. Künſtliche oder natürliche Züchtung. 227 Wenn wir nun zurückkehren zu der Betrachtung des Züchtungs— vorgangs, der Ausleſe oder Selection, die wir bereits im ſiebenten Vortrag in ihren Grundzügen unterſuchten, ſo werden wir jetzt um ſo klarer und beſtimmter erkennen, daß ſowohl die künſtliche als die natürliche Züchtung einzig und allein auf der Wechſelwirkung dieſer beiden Functionen oder Bildungstriebe beruhen. Wenn Sie die Thätigkeit des künſtlichen Züchters, des Landwirths oder Gärtners, ſcharf in's Auge faſſen, ſo erkennen Sie, daß nur jene beiden Bil— dungskräfte von ihm zur Hervorbringung neuer Formen benutzt wer— den. Die ganze Kunſt der künſtlichen Zuchtwahl beruht eben nur auf einer denkenden und vernünftigen Anwendung der Vererbungs- und Anpaſſungsgeſetze, auf einer kunſtvollen und planmäßigen Benutzung und Regulirung derſelben. Dabei iſt der vervollkommnete menſch— liche Wille die auserleſende, züchtende Kraft. Ganz ähnlich verhält ſich die natürliche Züchtung. Auch dieſe benutzt bloß jene beiden organiſchen Bildungskräfte, jene phyſiologi— ſchen Grundeigenſchaften der Anpaſſung und Vererbung, um die ver— ſchiedenen Arten oder Species hervorzubringen. Dasjenige züchtende Princip aber, diejenige ausleſende Kraft, welche bei der künſtlichen Züchtung durch den planmäßig wirkenden und bewußten Willen des Menſchen vertreten wird, iſt bei der natürlichen Züchtung der planlos wirkende und unbewußte Kampf um's Daſein. Was wir unter „Kampf um's Daſein“ verſtehen, haben wir im ſiebenten Vortrage bereits auseinandergeſetzt. Es iſt gerade die Erkenntniß die— ſes äußerſt wichtigen Verhältniſſes eines der größten Verdienſte Dar— win’. Da aber dieſes Verhältniß ſehr häufig unvollkommen oder falſch verſtanden wird, iſt es nothwendig, daſſelbe jetzt noch näher in's Auge zu faſſen, und an einigen Beiſpielen die Wirkſamkeit des Kam— pfes um's Daſein, die Thätigkeit der natürlichen Züchtung durch den Kampf um's Daſein zu erläutern. (Gen. Morph. II, 231.) Wir gingen bei der Betrachtung des Kampfes um's Daſein von der Thatſache aus, daß die Zahl der Keime, welche alle Thiere und Pflanzen erzeugen, unendlich viel größer iſt, als die Zahl der Indivi— 15 * 228 Kampf um's Dafein. duen, welche wirklich in das Leben treten und ſich längere oder kürzere Zeit am Leben erhalten können. Die meiſten Organismen erzeugen während ihres Lebens Tauſende oder Millionen von Keimen, aus deren jedem ſich unter günſtigen Umſtänden ein neues Individuum entwickeln könnte. Bei den meiſten Thieren und Pflanzen ſind dieſe Keime Eier, d. h. Zellen, welche zu ihrer weiteren Entwickelung der geſchlechtlichen Befruchtung bedürfen. Dagegen bei den Protiſten, niederſten Organismen, welche weder Thiere noch Pflanzen ſind, und welche ſich bloß ungeſchlechtlich fortpflanzen, bedürfen die Keimzellen oder Sporen keiner Befruchtung. In allen Fällen ſteht die Zahl ſo— wohl dieſer ungeſchlechtlichen als jener geſchlechtlichen Keime in gar keinem Verhältniß zur Zahl der wirklich lebenden Individuen. Im Großen und Ganzen genommen bleibt die Zahl der leben— den Thiere und Pflanzen auf unſerer Erde durchſchnittlich immer die— ſelbe. Die Zahl der Stellen im Naturhaushalt iſt beſchränkt, und an den meiſten Punkten der Erdoberfläche ſind dieſe Stellen immer an— nähernd beſetzt. Gewiß finden überall in jedem Jahre Schwankungen in der abſoluten und in der relativen Individuenzahl aller Arten ſtatt. Allein im Großen und Ganzen genommen werden dieſe Schwankun— gen nur geringe Bedeutung haben gegenüber der Thatſache, daß die Geſammtzahl aller Individuen durchſchnittlich beinahe conſtant bleibt. Der Wechſel, der überall ſtattfindet, beſteht darin, daß in einem Jahre dieſe und im anderen Jahre jene Reihe von Thieren und Pflan— zen überwiegt, und daß in jedem Jahre der Kampf um's Daſein dieſes Verhältniß wieder etwas anders geſtaltet. Jede einzelne Art von Thieren und Pflanzen würde in kurzer Zeit die ganze Erdoberfläche dicht bevölkert haben, wenn ſie nicht mit einer Menge von Feinden und feindlichen Einflüſſen zu kämpfen hätte. Schon Linnä berechnete, daß, wenn eine einjährige Pflanze nur zwei Samen hervorbrächte (und es giebt keine, die ſo wenig erzeugt), ſie in 20 Jahren ſchon eine Million Individuen geliefert haben würde. Darwin berechnete vom Elephanten, der ſich am langſamſten von allen Thieren zu vermehren ſcheint, daß in 500 Jahren die Nachkom— Zahlenverhältniß der möglichen und wirklichen Individuen. 229 menſchaft eines einzigen Paares bereits 15 Millionen Individuen be— tragen würde, vorausgeſetzt, daß jeder Elephant während der Zeit ſeiner Fruchtbarkeit (vom 30. bis 90. Jahre) nur 3 Paar Junge er— zeugte. Ebenſo würde die Zahl der Menſchen, wenn man die mitt— lere Fortpflanzungszahl zu Grunde legt, und wenn keine Hinderniſſe der natürlichen Vermehrung im Wege ſtünden, bereits in 25 Jah— ren ſich verdoppelt haben. In jedem Jahrhundert würde die Ge— ſammtzahl der menſchlichen Bevölkerung um das ſechszehnfache ge— ſtiegen ſein. Nun wiſſen Sie aber, daß die Geſammtzahl der Men— ſchen nur ſehr langſam wächſt, und daß die Zunahme der Bevölke— rung in verſchiedenen Gegenden ſehr verſchieden iſt. Während euro— päiſche Stämme ſich über den ganzen Erdball ausbreiten, gehen andere Stämme, ja ſogar ganze Arten oder Species des Menſchen— geſchlechts mit jedem Jahre mehr ihrem völligen Ausſterben entge— gen. Dies gilt namentlich von den Rothhäuten Amerikas und ebenſo von den ſchwarzbraunen Eingeborenen Auſtraliens. Selbſt wenn dieſe Völker ſich reichlicher fortpflanzten, als die weiße Menſchenart Europas, würden ſie dennoch früher oder ſpäter der letzteren im Kampfe um's Daſein erliegen. Von allen menſchlichen Individuen aber, ebenſo wie von allen übrigen Organismen, geht bei weitem die überwiegende Mehrzahl in der früheſten Lebenszeit zu Grunde. Von der ungeheuren Maſſe von Keimen, die jede Art erzeugt, ge— langen nur ſehr wenige wirklich zur Entwickelung, und von dieſen wenigen iſt es wieder nur ein ganz kleiner Bruchtheil, welcher das Alter erreicht, in dem er ſich fortpflanzen kann. (Vergl. S. 145.) Aus dieſem Mißverhältniß zwiſchen der ungeheuren Ueberzahl der organiſchen Keime und der geringen Anzahl von auserwählten Individuen, die wirklich neben und mit einander fortbeſtehen können, folgt mit Nothwendigkeit jener allgemeine Kampf um's Daſein, jenes beſtändige Ringen um die Exiſtenz, jener unaufhörliche Wettkampf um die Lebensbedürfniſſe, von welchem ich Ihnen bereits im ſieben— ten Vortrage ein Bild entwarf. Jener Kampf um's Daſein iſt es, welcher die natürliche Zuchtwahl ausübt, welcher die Wechſelwir— 230 Urſachen und Folgen des Kampfes um's Daſein. kung der Vererbungs- und Anpaſſungserſcheinungen züchtend benutzt und dadurch an einer beſtändigen Umbildung aller organiſchen For- men arbeitet. Immer werden in jenem Kampf um die Erlangung der nothwendigen Exiſtenzbedingungen diejenigen Individuen ihre Nebenbuhler beſiegen, welche irgend eine individuelle Begünſtigung, eine vortheilhafte Eigenſchaft beſitzen, die ihren Mitbewerbern fehlt. Freilich können wir nur in den wenigſten Fällen, bei uns näher bekannten Thieren und Pflanzen, uns eine ungefähre Vorſtellung von der unendlich complicirten Wechſelwirkung der zahlreichen Ver— hältniſſe machen, welche alle hierbei in Frage kommen. Denken Sie nur daran, wie unendlich mannichfaltig und verwickelt die Be— ziehungen jedes einzelnen Menſchen zu den übrigen und überhaupt zu der ihn umgebenden Außenwelt ſind. Aehnliche Beziehungen walten aber auch zwiſchen allen Thieren und Pflanzen, die an einem Orte mit einander leben. Alle wirken gegenſeitig, activ oder paſſiv, auf einander ein. Jedes Thier, jede Pflanze kämpft direct mit einer Anzahl von Feinden, welche denſelben nachſtellen, mit Raubthieren, paraſitiſchen Thieren u. ſ. w. Die zuſammenſtehenden Pflanzen käm— pfen mit einander um den Bodenraum, den ihre Wurzeln bedürfen, um die nothwendige Menge von Licht, Luft, Feuchtigkeit u. ſ. w. Ebenſo ringen die Thiere eines jeden Bezirks mit einander um ihre Nahrung, Wohnung u. ſ. w. Es wird in dieſem äußerſt lebhaften und verwickelten Kampf jeder noch ſo kleine perſönliche Vorzug, jeder individuelle Vortheil möglicherweiſe den Ausſchlag geben können, zu Gunſten ſeines Beſitzers. Dieſes bevorzugte einzelne Individuum bleibt im Kampfe Sieger und pflanzt ſich fort, während ſeine Mit— bewerber zu Grunde gehen, ehe ſie zur Fortpflanzung gelangen. Der perſönliche Vorzug, welcher ihm den Sieg verlieh, wird auf ſeine Nachkommen vererbt, und kann durch weitere Ausbildung die Urſache zur Bildung einer neuen Art werden. Die unendlich verwickelten Wechſelbeziehungen, welche zwiſchen den Organismen eines jeden Bezirks beſtehen, und welche als die eigentlichen Bedingungen des Kampfes um's Daſein angeſehen wer— Verwickelte Wechſelbeziehungen aller benachbarten Organismen. 231 den müſſen, ſind uns größtentheils unbekannt und meiſtens auch ſehr ſchwierig zu erforſchen. Nur in einzelnen Fällen haben wir dieſelben bisher bis zu einem gewiſſen Grade verfolgen können, ſo z. B. in dem von Darwin angeführten Beiſpiel von den Bezie— hungen der Katzen zum rothen Klee in England. Die rothe Klee— art (Trifolium pratense), welche in England eines der vorzüglich- ſten Futterkräuter für das Rindvieh bildet, bedarf, um zur Samen— bildung zu gelangen, des Beſuchs der Hummeln. Indem dieſe In— ſecten den Honig aus dem Grunde der Kleeblüthe ſaugen, bringen ſie den Blüthenſtaub mit der Narbe in Berührung und vermitteln ſo die Befruchtung der Blüthe, welche ohne ſie niemals erfolgt. Darwin hat durch Verſuche gezeigt, daß rother Klee, den man von dem Beſuche der Hummeln abſperrt, keinen einzigen Samen liefert. Die Zahl der Hummeln iſt bedingt durch die Zahl ihrer Feinde, unter denen die Feldmäuſe die verderblichſten ſind. Je mehr die Feldmäuſe überhand nehmen, deſto weniger wird der Klee be— fruchtet. Die Zahl der Feldmäuſe iſt wiederum von der Zahl ihrer Feinde abhängig, zu denen namentlich die Katzen gehören. Daher giebt es in der Nähe der Dörfer und Städte, wo viel Katzen ge— halten werden, beſonders viel Hummeln. Eine große Zahl von Katzen iſt alſo offenbar von großem Vortheil für die Befruchtung des Klees. Man kann nun, wie es von Karl Vogt geſchehen iſt, dieſes Beiſpiel noch weiter verfolgen, wenn man erwägt, daß das Rindvieh, welches ſich von dem rothen Klee nährt, eine der wich— tigſten Grundlagen des Wohlſtands von England iſt. Die Eng— länder conſerviren ihre körperlichen und geiſtigen Kräfte vorzugsweiſe dadurch, daß ſie ſich größtentheils von trefflichem Fleiſch, namentlich ausgezeichnetem Roſtbeaf und Beafſteak nähren. Dieſer vorzüglichen Fleiſchnahrung verdanken die Britten zum großen Theil das Ueber— gewicht ihres Gehirns und Geiſtes über die anderen Nationen. Offen— bar iſt dieſes aber indirekt abhängig von den Katzen, welche die Feldmäuſe verfolgen. Man kann auch mit Huxley auf die alten Jungfern zurückgehen, welche vorzugsweiſe die Katzen hegen und 232 Wechſelnde Bedingungen des Kampfes um's Daſein. pflegen, und ſomit für die Befruchtung des Klees und den Wohl— ſtand Englands von größter Wichtigkeit ſind. An dieſem Beiſpiel können Sie erkennen, daß, je weiter man daſſelbe verfolgt, deſto größer der Kreis der Wirkungen und der Wechſelbeziehungen wird. Man kann aber mit Beſtimmtheit behaupten, daß bei jeder Pflanze und bei jedem Thiere eine Maſſe ſolcher Wechſelbeziehungen exiſtiren. Nur ſind wir ſelten im Stande, die Kette derſelben ſo herzuſtellen, und zu überſehen, wie es hier der Fall iſt. Ein anderes merkwürdiges Beiſpiel von wichtigen Wechſelbe⸗ ziehungen iſt nach Darwin folgendes: In Paraguay finden ſich keine verwilderten Rinder und Pferde, wie in den benachbarten Theilen Südamerikas, nördlich und ſüdlich von Paraguay. Dieſer auffal— lende Umſtand erklärt ſich einfach dadurch, daß in dieſem Lande eine kleine Fliege ſehr häufig iſt, welche die Gewohnheit hat, ihre Eier in den Nabel der neugeborenen Rinder und Pferde zu legen. Die neugeborenen Thiere ſterben in Folge dieſes Eingriffs, und jene kleine gefürchtete Fliege iſt alſo die Urſache, daß die Rinder und Pferde in dieſem Diftriet niemals verwildern. Angenommen, daß durch irgend einen inſectenfreſſenden Vogel jene Fliege zerſtört würde, ſo würden in Paraguay ebenſo wie in den benachbarten Theilen Süd— amerikas dieſe großen Säugethiere maſſenhaft verwildern, und da dieſelben eine Menge von beſtimmten Pflanzenarten verzehren, würde die ganze Flora, und in Folge davon wiederum die ganze Fauna dieſes Landes eine andere werden. Daß dadurch zugleich auch die ganze Oekonomie und ſomit der Charakter der menſchlichen Bevöl— kerung ſich ändern würde, braucht nicht erſt geſagt zu werden. So kann das Gedeihen oder ſelbſt die Exiſtenz ganzer Völker— ſchaften durch eine einzige kleine, an ſich höchſt unbedeutende Thier— oder Pflanzen-Form indirect bedingt werden. Es giebt kleine ocea— niſche Inſeln, deren menſchliche Bewohner weſentlich nur von einer Palmenart leben. Die Befruchtung dieſer Palme wird vorzüglich durch Inſecten vermittelt, die den Blüthenſtaub von den männlichen auf die weiblichen Palmbäume übertragen. Die Exiſtenz dieſer nütz— Wechſelnde Bedingungen des Kampfes um's Daſein. 233 lichen Inſecten wird durch inſectenfreſſende Vögel gefährdet, die ihrer— ſeits wieder von Raubvögeln verfolgt werden. Die Raubvögel aber unterliegen oft dem Angriffe einer kleinen paraſitiſchen Milbe, die ſich zu Millionen in ihrem Federkleid entwickelt. Dieſer kleine gefährliche Paraſit kann wiederum durch paraſitiſche Pilze getödtet werden. Pilze, Raubvögel und Inſecten würden in dieſem Falle das Gedeihen der Palmen und ſomit der Menſchen begünſtigen, Vogelmilben und in— ſectenfreſſende Vögel dagegen gefährden. Intereſſante Beiſpiele für die Veränderung der Wechſelbeziehungen im Kampf um's Daſein liefern auch jene iſolirten und von Menſchen unbewohnten oceaniſchen Inſeln, auf denen zu verſchiedenen Malen von Seefahrern Ziegen oder Schweine ausgeſetzt wurden. Dieſe Thiere verwilderten und nahmen aus Mangel an Feinden an Zahl bald ſo übermäßig zu, daß die ganze übrige Thier- und Pflanzen— bevölkerung darunter litt, und daß ſchließlich die Inſel beinahe ver— ödete, weil den zu maſſenhaft ſich vermehrenden großen Säugethieren die hinreichende Nahrung fehlte. In einigen Fällen wurden auf einer ſolchen von Ziegen oder Schweinen übervölkerten Inſel ſpäter von anderen Seefahrern ein Paar Hunde ausgeſetzt, die ſich in die— ſem Futterüberfluß ſehr wohl befanden, ſich wieder ſehr raſch ver— mehrten und furchtbar unter den Heerden aufräumten, ſo daß nach einer Anzahl von Jahren den Hunden ſelbſt das Futter fehlte, und auch ſie beinahe ausſtarben. So wechſelt beſtändig in der Oeko— nomie der Natur das Gleichgewicht der Arten, je nachdem die eine oder andere Art ſich auf Koſten der übrigen vermehrt. In den meiſten Fällen ſind freilich die Beziehungen der verſchiedenen Thier— und Pflanzenarten zu einander viel zu verwickelt, als daß wir ihnen nachkommen könnten, und ich überlaſſe es Ihrem eigenen Nachden— ken, ſich auszumalen, welches unendlich verwickelte Getriebe an jeder Stelle der Erde in Folge dieſes Kampfes ſtattfinden muß. In letz— ter Inſtanz ſind die Triebfedern, welche den Kampf bedingen, und welche den Kampf an allen verſchiedenen Stellen verſchieden geſtal— ten und modificiren, die Triebfedern der Selbſterhaltung, und zwar 234 Triebfedern des Kampfes um's Daſein: Hunger und Liebe. ſowohl der Erhaltungstrieb der Individuen (Ernährungstrieb), als der Erhaltungstrieb der Arten (Fortpflanzungstrieb). Dieſe beiden Grundtriebe der organiſchen Selbſterhaltung ſind es, von denen ſogar Schiller, der Idealiſt (nicht Goethe, der Realiſt!) ſagt: „Einſtweilen bis den Bau der Welt „Philoſophie zuſammenhält, „Erhält ſich ihr Getriebe „Durch Hunger und durch Liebe.“ Dieſe beiden mächtigen Grundtriebe ſind es, welche durch ihre verſchiedene Ausbildung in den verſchiedenen Arten den Kampf um's Daſein ſo ungemein mannichfaltig geſtalten, und welche den Erſchei— nungen der Vererbung und Anpaſſung zu Grunde liegen. Wir konn— ten alle Vererbung auf die Fortpflanzung, alle Anpaſſung auf die Er— nährung als die materielle Grundurſache zurückführen. Der Kampf um das Daſein wirkt bei der natürlichen Züchtung ebenſo züchtend oder ausleſend, wie der Wille des Menſchen bei der künſtlichen Züchtung. Aber dieſer wirkt planmäßig und bewußt, jener planlos und unbewußt. Dieſer wichtige Unterſchied zwiſchen der künſt— lichen und natürlichen Züchtung verdient beſondere Beachtung. Denn wir lernen hierdurch verſtehen, warum zweckmäßige Einrichtun— gen ebenſo durch zwecklos wirkende mechaniſche Urſachen, wie durch zweckmäßig thätige Endurſachen erzeugt werden können. Die Producte der natürlichen Züchtung ſind ebenſo und noch mehr zweckmäßig eingerichtet, wie die Kunſtproducte des Menſchen, und dennoch verdanken ſie ihre Entſtehung nicht einer zweckmäßig thätigen Schöpferkraft, ſondern einem unbewußt und planlos wir— kenden mechaniſchen Verhältniß. Wenn man nicht tiefer über die Wechſelwirkung der Vererbung und Anpaſſung unter dem Einfluß des Kampfes um's Daſein nachgedacht hat, ſo iſt man zunächſt nicht geneigt, ſolche Erfolge von dieſem natürlichen Züchtungsprozeß zu erwarten, wie derſelbe in der That liefert. Es iſt daher wohl an— gemeſſen, hier ein Paar beſonders einleuchtende Beiſpiele von der Wirkſamkeit der natürlichen Züchtung anzuführen. Gleichfarbige Zuchtwahl als Urſache der ſympathiſchen Färbungen. 235 Laſſen Sie uns zunächſt die von Darwin hervorgehobene gleichfarbige Zucht wahl oder die ſogenannte „ſympathiſche Far— benwahl“ der Thiere betrachten. Schon frühere Naturforſcher haben es ſonderbar gefunden, daß zahlreiche Thiere im Großen und Ganzen dieſelbe Färbung zeigen wie der Wohnort, oder die Umgebung, in der ſie ſich beſtändig aufhalten. So ſind z. B. die Blattläuſe und viele andere auf Blättern lebende Inſecten grün gefärbt. Die Wüſtenbe— wohner, Springmäuſe, Wüſtenfüchſe, Gazellen, Löwen u. ſ. w. ſind meiſt gelb oder gelblichbraun gefärbt, wie der Sand der Wüſte. Die Polarthiere, welche auf Eis und Schnee leben, ſind weiß oder grau, wie Eis und Schnee. Viele von dieſen ändern ihre Färbung im Sommer und Winter. Im Sommer, wenn der Schnee theilweis ver— geht, wird das Fell dieſer Polarthiere graubraun oder ſchwärzlich wie der nackte Erdboden, während es im Winter wieder weiß wird. Schmetterlinge und Colibris, welche die bunten, glänzenden Blüthen umſchweben, gleichen dieſen in der Färbung. Darwin erklärt nun dieſe auffallende Thatſache ganz einfach dadurch, daß eine ſolche Fär— bung, die übereinſtimmt mit der des Wohnortes, den betreffenden Thieren von größtem Nutzen iſt. Wenn dieſe Thiere Raubthiere ſind, ſo werden ſie ſich dem Gegenſtand ihres Appetits viel ſicherer und un— bemerkter nähern können, und ebenſo werden die von ihnen verfolgten Thiere viel leichter entfliehen können, wenn fie ſich in der Färbung möglichſt wenig von ihrer Umgebung unterſcheiden. Wenn alſo ur— ſprünglich eine Thierart in allen Farben variirte, fo werden diejenigen Individuen, deren Farbe am meiſten derjenigen ihrer Umgebung glich, im Kampf um's Daſein am meiſten begünſtigt geweſen ſein. Sie blieben unbemerkter, erhielten ſich und pflanzten ſich fort, während die anders gefärbten Individuen oder Spielarten ausſtarben. a Aus derſelben gleichfarbigen Zuchtwahl habe ich verſucht die merk— würdige Waſſerähnlichkeit der pelagiſchen Glasthiere zu erklären, die wunderbare Thatſache, daß die Mehrzahl der pelagiſchen Thiere, d. h. derer, welche an der Oberfläche der offenen See leben, bläulich oder ganz farblos, und glasartig durchſichtig iſt, wie das Waſſer ſelbſt. 236 Gleichfarbige Zuchtwahl als Urſache der ſympathiſchen Färbungen. Solch farbloſe, glasartige Thiere kommen in den verſchiedenſten Klaſ— ſen vor. Es gehören dahin unter den Fiſchen die Helmichthyiden, durch deren glashellen Körper hindurch man die Schrift eines Buches leſen kann; unter den Weichthieren die Floſſenſchnecken und Kiel— ſchnecken; unter den Würmern die Salpen, Alciope und Sagitta; ferner ſehr zahlreiche pelagiſche Krebsthiere (Cruſtaceen) und der größte Theil der Meduſen (Schirmquallen, Kammquallen u. ſ. w.). Alle dieſe pelagiſchen Thiere, welche an der Oberfläche des offenen Meeres ſchwimmen, ſind glasartig durchſichtig und farblos, wie das Waſſer ſelbſt, während ihre nächſten Verwandten, die auf dem Grunde des Meeres leben, gefärbt und undurchſichtig wie die Landbewohner ſind. Auch dieſe merkwürdige Thatſache läßt ſich ebenſo wie die ſympathiſche Färbung der Landbewohner durch die natürliche Züchtung erklären. Unter den Voreltern der pelagiſchen Glasthiere, welche einen verſchie— denen Grad von Farbloſigkeit und Durchſichtigkeit zeigten, werden die— jenigen, welche am meiſten farblos und durchſichtig waren, offenbar in dem lebhaften Kampf um's Daſein, der an der Meeresoberfläche ſtattfindet, am meiſten begünſtigt geweſen ſein. Sie konnten ſich ihrer Beute am leichteſten unbemerkt nähern, und wurden ſelbſt von ihren Feinden am wenigſten bemerkt. So konnten ſie ſich leichter er— halten und fortpflanzen, als ihre mehr gefärbten und undurchſichtigen Verwandten, und ſchließlich erreichte durch gehäufte Anpaſſung und Vererbung, durch natürliche Ausleſe im Laufe vieler Generationen, der Körper denjenigen Grad von gladartiger Durchſichtigkeit und Farb— loſigkeit, den wir gegenwärtig an den pelagiſchen Glasthieren be— wundern (Gen. Morph. II, 242). Nicht minder intereſſant und lehrreich, als die gleichfarbige Zucht— wahl, iſt diejenige Art der natürlichen Züchtung, welche Darwin die ſexuelle oder geſchlechtliche Zuchtwahl nennt, und— welche beſonders die Entſtehung der ſogenannten „ſecundären Serual- charaktere“ erklärt. Wir haben dieſe untergeordneten Geſchlechtscharak— tere, die in ſo vieler Beziehung lehrreich ſind, ſchon früher erwähnt, und verſtanden darunter ſolche Eigenthümlichkeiten der Thiere und Geſchlechtliche Zuchtwahl als Urſache der ſecundären Sexualcharaktere. 237 Pflanzen, welche bloß einem der beiden Geſchlechter zukommen, und welche nicht in unmittelbarer Beziehung zu der Fortpflanzungsthätig— keit ſelbſt ſtehen. (Vergl. oben S. 188.) Solche ſecundäre Geſchlechts— charaktere kommen in großer Mannichfaltigkeit bei den Thieren vor. Sie wiſſen Alle, wie auffallend ſich bei vielen Vögeln und Schmetter— lingen die beiden Geſchlechter durch Größe und Färbung unterſcheiden. Meiſt iſt hier das Männchen das größere und ſchönere Geſchlecht. Oft beſitzt daſſelbe beſondere Zierrathe oder Waffen, wie z. B. der Sporn und Federkragen des Hahns, das Geweih der männlichen Hirſche und Rehe u. ſ. w. Alle dieſe Eigenthümlichkeiten der beiden Geſchlechter haben mit der Fortpflanzung ſelbſt, welche durch die „pri— mären Sexualcharaktere“, die eigentlichen Geſchlechtsorgane, vermit— telt wird, unmittelbar Nichts zu thun. Die Entſtehung dieſer merkwürdigen „ſecundären Sexualcharak— tere“ erklärt nun Darwin einfach durch eine Ausleſe oder Selection, welche bei der Fortpflanzung der Thiere geſchieht. Bei den meiſten Thieren iſt die Zahl der Individuen beiderlei Geſchlechts mehr oder weniger ungleich; entweder iſt die Zahl der weiblichen oder die der männlichen Individuen größer, und wenn die Fortpflanzungszeit her— annaht, findet in der Regel ein Kampf zwiſchen den betreffenden Neben— buhlern um Erlangung der Thiere des anderen Geſchlechtes ſtatt. Es iſt bekannt, mit welcher Kraft und Heftigkeit gerade bei den höchſten Thieren, bei den Säugethieren und Vögeln, beſonders bei den in Polygamie lebenden dieſer Kampf gefochten wird. Bei den Hühner— vögeln, wo auf einen Hahn zahlreiche Hennen kommen, findet zur Er— langung eines möglichſt großen Harems ein lebhafter Kampf zwiſchen den mitbewerbenden Hähnen ſtatt. Daſſelbe gilt von vielen Wieder— käuern. Bei den Hirſchen und Rehen z. B. entſtehen zur Zeit der Fortpflanzung gefährliche Kämpfe zwiſchen den Männchen um den Beſitz der Weibchen. Der ſecundäre Sexualcharakter, welcher hier die Männchen auszeichnet, das Geweih der Hirſche und Rehe, das den Weibchen fehlt, iſt nach Darwin die Folge jenes Kampfes. Hier iſt alſo nicht, wie beim Kampf um die individuelle Exiſtenz, die Selbſt— 238 Entſtehung der ſecundären Sexualcharaktere durch geſchlechtliche Zuchtwahl. erhaltung, ſondern die Erhaltung der Art, die Fortpflanzung, das Motiv und die beſtimmende Urſache des Kampfes. Es giebt eine ganze Menge von Waffen, die in dieſer Weiſe von den Thieren erworben wurden, ſowohl paſſive Schutzwaffen als active Angriffswaffen. Eine ſolche Schutzwaffe iſt zweifelsohne die Mähne des Löwen, die dem Weibchen abgeht; ſie iſt bei den Biſſen, die die männlichen Löwen ſich am Halſe beizubringen ſuchen, wenn ſie um die Weibchen käm— pfen, ein tüchtiges Schutzmittel; und daher ſind die mit der ſtärkſten Mähne verſehenen Männchen in dem jeruellen Kampfe am Meiſten begünſtigt. Eine ähnliche Schutzwaffe iſt die Wamme des Stiers und der Federkragen des Hahns. Active Angriffswaffen ſind dage— gen das Geweih des Hirſches, der Hauzahn des Ebers, der Sporn des Hahns und der entwickelte Oberkiefer des männlichen Hirſchkä— fers; alles Inſtrumente, welche beim Kampfe der Männchen um die Weibchen zur Vernichtung oder Vertreibung der Nebenbuhler dienen. In den letzterwähnten Fällen ſind es die unmittelbaren Ver— nichtungskämpfe der Nebenbuhler, welche die Entſtehung des ſecun— dären Sexualcharakters bedingen. Außer dieſen unmittelbaren Ver— nichtungskämpfen ſind aber bei der geſchlechtlichen Ausleſe auch die mehr mittelbaren Wettkämpfe von großer Wichtigkeit, welche auf die Nebenbuhler nicht minder umbildend einwirken. Dieſe beſtehen vor— zugsweiſe darin, daß das werbende Geſchlecht dem anderen zu ge— fallen ſucht, durch äußeren Putz, durch Schönheit, oder durch eine melodiſche Stimme. Darwin meint, daß die ſchöne Stimme der Singvögel weſentlich auf dieſem Wege entſtanden iſt. Bei vielen Vögeln findet ein wirklicher Sängerkrieg ſtatt zwiſchen den Männ— chen, die um den Beſitz der Weibchen kämpfen. Von mehreren Sing— vögeln weiß man, daß zur Zeit der Fortpflanzung die Männchen ſich zahlreich vor den Weibchen verſammeln und vor ihnen ihren Geſang erſchallen laſſen, und daß dann die Weibchen denjenigen Sänger, welcher ihnen am beſten gefällt, zu ihrem Gemahl erwäh— len. Bei anderen Singvögeln laſſen die einzelnen Männchen in der Einſamkeit des Waldes ihren Geſang ertönen, um die Weibchen an— Muſikaliſche Zuchtwahl im Kampf um die Fortpflanzung. 239 zulocken, und dieſe folgen dem anziehendſten Locktone. Ein ähnlicher muſikaliſcher Wettkampf, der allerdings weniger melodiſch iſt, findet bei den Cikaden und Heuſchrecken ſtatt. Bei den Cikaden hat das Männchen am Unterleib zwei trommelartige Inſtrumente und erzeugt damit die ſcharfen zirpenden Töne, welche die alten Griechen ſeltſa— mer Weiſe als ſchöne Muſik prieſen. Bei den Heuſchrecken bringen die Männchen, theils indem ſie die Hinterſchenkel wie Violinbogen an den Flügeldecken reiben, theils durch Reiben der Flügeldecken an einander, Töne hervor, die für uns allerdings nicht melodiſch ſind, die aber den weiblichen Heuſchrecken ſo gut gefallen, daß ſie die am beſten geigenden Männchen ſich ausſuchen. Bei anderen Inſecten und Vögeln iſt es nicht der Geſang oder überhaupt die muſikaliſche Leiſtung, ſondern der Putz oder die Schön— heit des einen Geſchlechts, welches das andere anzieht. So finden wir, daß bei den meiſten Hühnervögeln die Hähne durch Hautlappen auf dem Kopfe ſich auszeichnen, oder durch einen ſchönen Schweif, den ſie radartig ausbreiten, wie z. B. der Pfau und der Truthahn. Auch der prachtvolle Schweif des Paradiesvogels iſt eine ausſchließliche Zierde des männlichen Geſchlechts. Ebenſo zeichnen ſich bei ſehr vie— len anderen Vögeln und bei ſehr vielen Inſecten, namentlich Schmet— terlingen, die Männchen durch beſondere Farben oder andere Zierden vor den Weibchen aus. Offenbar find dieſelben Producte der feruel- len Züchtung. Da den Weibchen dieſe Reize und Verzierungen fehlen, fo müſſen wir ſchließen, daß dieſelben von den Männchen im Wett- kampf um die Weibchen erſt mühſam erworben worden ſind, wobei die Weibchen ausleſend wirkten. Die Anwendung dieſes intereſſanten Schluſſes auf die menſchliche Geſellſchaft können Sie ſich ſelbſt leicht im Einzelnen ausmalen. Of— fenbar ſind auch hier dieſelben Urſachen bei der Ausbildung der ſecun— dären Sexualcharaktere wirkſam geweſen. Ebenſowohl die Vorzüge, welche den Mann, als diejenigen, welche das Weib auszeichnen, ver⸗ danken ihren Urſprung ganz gewiß größtentheils der ſexuellen Ausleſe des anderen Geſchlechts. Im Alterthum und im Mittelalter, befon- 240 Aeſthetiſche und pſychiſche Zuchtwahl im Kampf um die Fortpflanzung. ders in der romantiſchen Ritterzeit, waren es die unmittelbaren Ver— nichtungskämpfe, die Turniere und Duelle, welche die Brautwahl ver- mittelten; der Stärkere führte die Braut heim. In neuerer Zeit da— gegen ſind die mittelbaren Wettkämpfe der Nebenbuhler beliebter, welche mittelſt muſikaliſcher Leiſtungen, Spiel und Geſang, oder mit— telſt körperlicher Reize, natürlicher Schönheit oder künſtlichen Putzes, in unſeren ſogenannten „feinen“ und „hochciviliſirten“ Geſellſchaften ausgekämpft werden. Bei weitem am Wichtigſten aber von dieſen verſchiedenen Formen der Geſchlechtswahl des Menſchen iſt die am meiſten veredelte Form derſelben, nämlich die pſychiſche Ausleſe, bei welcher die geiſtigen Vorzüge des einen Geſchlechts beſtimmend auf die Wahl des anderen einwirken. Indem der am höchſten veredelte Culturmenſch ſich bei der Wahl der Lebensgefährtin Generationen hindurch von den Seelenvorzügen derſelben leiten ließ, und dieſe auf die Nachkommenſchaft vererbte, half er mehr, als durch vieles Andere, die tiefe Kluft ſchaffen, welche ihn gegenwärtig von den roheſten Na— turvölkern und von unſeren gemeinſamen thieriſchen Voreltern trennt. Ueberhaupt iſt die Rolle, welche die geſteigerte ſexuelle Zuchtwahl, und ebenſo die Rolle, welche die vorgeſchrittene Arbeitstheilung zwi— ſchen beiden Geſchlechtern beim Menſchen ſpielt, höchſt bedeutend, und ich glaube, daß hierin eine der mächtigſten Urſachen zu ſuchen iſt, welche die phyletiſche Entſtehung und die hiſtoriſche Entwickelung des Menſchengeſchlechts bewirkten (Gen. Morph. II, 247). Da Darwin in ſeinem 1871 erſchienenen, höchſt intereſſanten Werke über „die Abſtammung des Menſchen und die geſchlechtliche Zuchtwahl“ +8) dieſen Gegenſtand in der geiſtreichſten Weiſe erörtert und durch die merkwürdigſten Beiſpiele erläutert hat, verweiſe ich Sie bezüglich des Näheren auf dieſes Werk. Laſſen Sie uns dage— gen jetzt noch einen Blick auf zwei äußerſt wichtige organiſche Grund— geſetze werfen, welche ſich durch die Selectionstheorie als nothwen— dige Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Daſein erklä— ren laſſen, nämlich das Geſetz der Arbeitstheilung oder Dif— ferenzirung und das Geſetz des Fortſchritts oder der Ver— Nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung. 241 vollkommnung. Man war früher, als man in der geſchichtlichen Entwickelung, in der individuellen Entwickelung und in der verglei— chenden Anatomie der Thiere und Pflanzen durch die Erfahrung dieſe beiden Geſetze kennen lernte, geneigt, dieſelben wieder auf eine un— mittelbare ſchöpferiſche Einwirkung zurückzuführen. Es ſollte in dem zweckmäßigen Plane des Schöpfers gelegen haben, die Formen der Thiere und Pflanzen im Laufe der Zeit immer mannichfaltiger aus— zubilden und immer vollkommener zu geſtalten. Wir werden offen- bar einen großen Schritt in der Erkenntniß der Natur thun, wenn wir dieſe teleologiſche und anthropomorphe Vorſtellung zurückweiſen, und die beiden Geſetze der Arbeitstheilung und Vervollkommnung als nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung im Kampfe um's Daſein nachweiſen können. Das erſte große Geſetz, welches unmittelbar und mit Nothwen— digkeit aus der natürlichen Züchtung folgt, iſt dasjenige der Sonde— rung oder Differenzirung, welche man auch häufig als Ar— beitstheilung oder Polymorphismus bezeichnet und welche Darwin als Divergenz des Charakters erläutert. (Gen. Morph. II, 249.) Wir verſtehen darunter die allgemeine Neigung aller organiſchen Individuen, ſich in immer höherem Grade ungleich— artig auszubilden und von dem gemeinſamen Urbilde zu entfernen. Die Urſache dieſer allgemeinen Neigung zur Sonderung und der da— durch bewirkten Hervorbildung ungleichartiger Formen aus gleichartiger Grundlage iſt nach Darwin einfach auf den Umſtand zurückzuführen, daß der Kampf um's Daſein zwiſchen je zwei Organismen um ſo heftiger entbrennt, je näher ſich dieſelben in jeder Beziehung ſtehen, je gleichartiger ſie ſind. Dies iſt ein un— gemein wichtiges und eigentlich äußerſt einfaches Verhältniß, welches aber gewöhnlich gar nicht gehörig in's Auge gefaßt wird. Es wird Jedem von Ihnen einleuchten, daß auf einem Acker von beſtimmter Größe neben den Kornpflanzen, die dort ausgeſäet ſind, eine große Anzahl von Unkräutern exiſtiren können, und zwar an Stel— len, welche nicht von den Kornpflanzen eingenommen werden könnten. Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 16 242 Geſetz der Sonderung oder Arbeitstheilung. Die trockeneren, ſterileren Stellen des Bodens, auf denen keine Korn— pflanze gedeihen würde, können noch zum Unterhalt von Unkraut ver— ſchiedener Art dienen; und zwar werden davon um ſo mehr verſchie— dene Arten und Individuen neben einander exiſtiren können, je beſſer die verſchiedenen Unkrautarten geeignet ſind, ſich den verſchiedenen Stellen des Ackerbodens anzupaſſen. Ebenſo iſt es mit den Thieren. Offenbar können in einem und demſelben beſchränkten Bezirk eine viel größere Anzahl von thieriſchen Individuen zuſammenleben, wenn die— ſelben von mannichfach verſchiedener Natur, als wenn ſie alle gleich ſind. Es giebt Bäume (wie z. B. die Eiche), auf welchen ein paar Hundert verſchiedene Inſectenarten neben einander leben. Die einen nähren ſich von den Früchten des Baumes, die anderen von den Blät— tern, noch andere von der Rinde, der Wurzel u. ſ. f. Es wäre ganz unmöglich, daß die gleiche Zahl von Individuen auf dieſem Baume lebte, wenn alle von einer Art wären, wenn z. B. alle nur von der Rinde oder nur von den Blättern lebten. Ganz daſſelbe iſt in der menſchlichen Geſellſchaft der Fall. In einer und derſelben kleinen Stadt kann eine beſtimmte Anzahl von Handwerkern nur leben, wenn dieſelben verſchiedene Geſchäfte betreiben. Die Arbeitstheilung, welche ſowohl der ganzen Gemeinde, als auch dem einzelnen Arbeiter den größten Nutzen bringt, iſt eine unmittelbare Folge des Kampfes um's Daſein, der natürlichen Züchtung; denn dieſer Kampf iſt um ſo leich— ter zu beſtehen, je mehr ſich die Thätigkeit und ſomit auch die Form der verſchiedenen Individuen von einander entfernt. Natürlich wirkt die verſchiedene Function umbildend auf die Form zurück, und die phyſiologiſche Arbeitstheilung bedingt nothwendig die morphologiſche Differenzirung, die „Divergenz des Charakters“ 37). Nun bitte ich Sie wieder zu erwägen, daß alle Thier- und Pflan— zenarten veränderlich ſind, und die Fähigkeit beſitzen, ſich an verſchie— denen Orten den localen Verhältniſſen anzupaſſen. Die Spielarten, Varietäten oder Raſſen einer jeden Species werden ſich den Anpaſ— ſungsgeſetzen gemäß um ſo mehr von der urſprünglichen Stammart entfernen, je verſchiedenartiger die neuen Verhältniſſe ſind, denen ſie Geſetz der Sonderung oder Arbeitstheilung. 243 ſich anpaſſen. Wenn wir nun dieſe von einer gemeinſamen Grund— form ausgehenden Varietäten uns in Form eines verzweigten Strah— lenbüſchels vorſtellen, ſo werden diejenigen Spielarten am beſten neben einander exiſtiren und ſich fortpflanzen können, welche am weiteſten von einander entfernt ſind, welche an den Enden der Reihe oder auf entgegengeſetzten Seiten des Büſchels ſtehen. Die in der Mitte ſte— henden Uebergangsformen dagegen haben den ſchwierigſten Stand im Kampfe um's Daſein. Die nothwendigen Lebensbedürfniſſe ſind bei den extremen, am weiteſten auseinander gehenden Spielarten am meiſten verſchieden, und daher werden dieſe in dem allgemeinen Kampfe um's Daſein am wenigſten in ernſtlichen Conflict gerathen. Die vermittelnden Zwiſchenformen dagegen, welche ſich am wenigſten von der urſprünglichen Stammform entfernt haben, theilen mehr oder minder dieſelben Lebensbedürfniſſe, und daher werden ſie in der Mit— bewerbung um dieſelben am meiſten zu kämpfen haben und am ge— fährlichſten bedroht ſein. Wenn alſo zahlreiche Varietäten oder Spiel— arten einer Species auf einem und demſelben Fleck der Erde mit ein— ander leben, ſo können viel eher die Extreme, die am meiſten abwei— chenden Formen, neben einander fort beſtehen, als die vermittelnden Zwiſchenformen, welche mit jedem der verſchiedenen Extreme zu käm— pfen haben. Die letzteren werden auf die Dauer den feindlichen Ein— flüſſen nicht widerſtehen können, welche die erſteren ſiegreich überwin— den. Dieſe allein erhalten ſich, pflanzen ſich fort, und ſind nun nicht mehr durch vermittelnde Uebergangsformen mit der urſprünglichen Stammart verbunden. So entſtehen aus Varietäten „gute Arten“. Der Kampf um's Daſein begünſtigt nothwendig die allgemeine Di— vergenz oder das Auseinandergehen der organiſchen Formen, die beſtändige Neigung der Organismen, neue Arten zu bilden. Dieſe beruht nicht auf einer myſtiſchen Eigenſchaft, auf einem unbekannten Bildungstrieb der Organismen, ſondern auf der Wechſelwirkung der Vererbung und Anpaſſung im Kampfe um's Daſein. Indem von den Varietäten einer jeden Species die vermittelnden Zwiſchenformen erlöſchen und die Uebergangsglieder ausſterben, geht der Divergenz— 16 244 Entſtehung der Arten aus Varietäten durch Divergenz. proceß immer weiter, und bildet in den Extremen Geſtalten aus, die wir als neue Arten unterſcheiden. Obgleich alle Naturforſcher die Variabilität oder Veränderlichkeit aller Thier- und Pflanzenarten zugeben müſſen, haben doch die mei— ſten bisher beſtritten, daß die Abänderung oder Umbildung der orga— niſchen Form die urſprüngliche Grenze des Speciescharakters über— ſchreite. Unſere Gegner halten an dem Satze feſt: „Soweit auch eine Art in Varietätenbüſchel aus einander gehen mag, ſo ſind die Spiel— arten oder Varietäten derſelben doch niemals in dem Grade von ein— ander unterſchieden, wie zwei wirkliche gute Arten.“ Dieſe Behaup— tung, die gewöhnlich von Darwin's Gegnern an die Spitze ihrer Beweisführung geſtellt wird, iſt vollkommen unhaltbar und unbe— gründet. Dies wird Ihnen ſofort klar, ſobald Sie kritiſch die ver— ſchiedenen Verſuche vergleichen, den Begriff der Species oder Art feſtzuſtellen. Was eigentlich eine „echte oder gute Art“ (Bona species“) ſei, dieſe Frage vermag kein Naturforſcher zu beantworten, trotzdem jeder Syſtematiker täglich dieſe Ausdrücke gebraucht, und trotzdem ganze Bibliotheken über die Frage geſchrieben worden ſind, ob dieſe oder jene beobachtete Form eine Species oder Varietät, eine wirklich gute oder ſchlechte Art ſei. Die am meiſten verbreitete Ant- wort auf dieſe Frage war folgende: „Zu einer Art gehören alle In— dividuen, die in allen weſentlichen Merkmalen übereinſtimmen. We— ſentliche Speciescharaktere find aber ſolche, welche beſtändig oder con— ſtant ſind, und niemals abändern oder variiren.“ Sobald nun aber der Fall eintrat, daß ein Merkmal, das man bisher für weſentlich hielt, dennoch abänderte, ſo ſagte man: „Dieſes Merkmal iſt für die Art nicht weſentlich geweſen, denn weſentliche Charaktere variiren nicht.“ Man bewegte ſich alſo in einem offenbaren Zirkelſchluß, und die Naivität iſt wirklich erſtaunlich, mit der dieſe Kreisbewegung der Artdefinition in Tauſenden von Büchern als unumſtößliche Wahrheit hingeſtellt und immer noch wiederholt wird. Ebenſo wie dieſer, ſo ſind auch alle übrigen Verſuche, welche man zu einer feſten und logiſchen Begriffsbeſtimmung der organiſchen Entſtehung der Arten durch Baſtardzeugung. 245 „Species“ gemacht hat, völlig fruchtlos und vergeblich geweſen. Der Natur der Sache nach kann es nicht anders ſein. Der Begriff der Species iſt ebenſo gut relativ, und nicht abſolut, wie der Begriff der Varietät, Gattung, Familie, Ordnung, Claſſe u. ſ.w. Ich habe dies in der Kritik des Speciesbegriffs in meiner generellen Morphologie theoretiſch nachgewieſen (Gen. Morph. II, 323 — 364). Praktiſch habe ich dieſen Beweis in meinem „Syſtem der Kalkſchwämme“ ge— liefert 5%). Bei dieſen merkwürdigen Thieren erſcheint die übliche Species-Unterſcheidung völlig willkürlich. Ich will mit dieſer Er— örterung hier keine Zeit verlieren, und nur noch ein paar Worte über das Verhältniß der Species zur Baſtardzeugung ſagen. Früher galt es als Dogma, daß zwei gute Arten niemals mit ein— ander Baſtarde zeugen könnten, welche ſich als ſolche fortpflanzten. Man berief ſich dabei faſt immer auf die Baſtarde von Pferd und Eſel, die Maulthiere und Mauleſel, die in der That nur ſelten ſich fortpflanzen können. Allein ſolche unfruchtbare Baſtarde ſind, wie ſich herausgeſtellt hat, ſeltene Ausnahmen, und in der Mehrzahl der Fälle ſind Baſtarde zweier ganz verſchiedenen Arten fruchtbar und können ſich fortpflanzen. Faſt immer können ſie mit einer der beiden Elternarten, bisweilen aber auch rein unter ſich fruchtbar ſich ver— miſchen. Daraus können aber nach dem „Geſetze der vermiſchten Vererbung“ ganz neue Formen entſtehen. In der That iſt ſo die Baſtardzeugung eine Quelle der Entſtehung neuer Arten, verſchieden von der bisher betrachte— ten Quelle der natürlichen Züchtung. Schon früher habe ich ge— legentlich ſolche Baſtard-Arten (Species hybridae) angeführt, insbeſondere das Haſenkaninchen (Lepus Darwinii), welches aus der Kreuzung von Haſen-Männchen mit Kaninchen-Weibchen entſprungen iſt, das Ziegenſchaf (Capra ovina), welches aus der Paarung des Ziegenbocks mit dem weiblichen Schafe entſtanden iſt, ferner verſchiedene Arten der Diſteln (Cirsium), der Brombeeren (Rubus) u. |. w. (S. 130 — 132). Vielleicht find viele wilde Spe— cies auf dieſem Wege entſtanden, wie es auch Linné ſchon annahm. 246 Unmöglichkeit der Unterſcheidung von Art und Varietät. Jedenfalls aber beweiſen dieſe Baſtard-Arten, die ſich ſo gut wie reine Species erhalten und fortpflanzen, daß die Baſtardzeugung nicht dazu dienen kann, den Begriff der Species irgendwie zu charakteriſiren. Daß die vielen vergeblichen Verſuche, den Speciesbegriff theo— retiſch feſtzuſtellen, mit der praktiſchen Speciesunterſcheidung gar Nichts zu thun haben, wurde ſchon früher angeführt (S. 45). Die verſchiedenartige praktiſche Verwerthung des Speciesbegriffs, wie ſie ſich in der ſyſtematiſchen Zoologie und Botanik durchgeführt findet, iſt ſehr lehrreich für die Erkenntniß der menſchlichen Thorheit. Die bei weitem überwiegende Mehrzahl der Zoologen und Botaniker war bisher bei Unterſcheidung und Beſchreibung der verſchiedenen Thier— und Pflanzenformen vor Allem beſtrebt, die verwandten Formen als „gute Species“ ſcharf zu trennen. Allein eine ſcharfe und folgerichtige Unterſcheidung ſolcher „echten und guten Arten“ zeigte ſich faſt nirgends möglich. Es giebt nicht zwei Zoologen, nicht zwei Botaniker, welche in allen Fällen darüber einig wären, welche von den nahe verwand— ten Formen einer Gattung gute Arten ſeien und welche nicht. Alle Autoren haben darüber verſchiedene Anſichten. Bei der Gattung Hieracium z. B., einer der gemeinſten deutſchen Pflanzengattungen, hat man über 300 Arten in Deutſchland allein unterſchieden. Der Botaniker Fries läßt davon aber nur 106, Koch nur 52 als „gute Arten“ gelten, und Andere nehmen deren kaum 20 an. Ebenſo groß find die Differenzen bei den Brombeerarten (Rubus). Wo der eine Botaniker über hundert Arten macht, nimmt der zweite bloß etwa die Hälfte, ein dritter nur fünf bis ſechs oder noch weniger Arten an. Die Vögel Deutſchlands kennt wan ſeit längerer Zeit ſehr genau. Bechſtein hat in ſeiner ſorgfältigen Naturgeſchichte der deutſchen Vögel 367 Arten unterſchieden, L. Reichenbach 379, Meyer und Wolf 406, und der vogelkundige Paſtor Brehm ſogar mehr als 900 verſchiedene Arten. Von den Kalkſchwämmen habe ich ſelbſt gezeigt, daß man darunter nach Belieben 3 Arten, oder 21 oder 111 oder 289 oder 591 Species unterſcheiden kanns ). Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung. 247 Sie ſehen alſo, daß die größte Willkür hier wie in jedem an— deren Gebiete der zoologiſchen und botaniſchen Syſtematik herrſcht, und der Natur der Sache nach herrſchen muß. Denn es iſt ganz unmöglich, Varietäten, Spielarten und Raſſen von den ſogenannten „guten Arten“ ſcharf zu unterſcheiden. Varietäten ſind begin— nende Arten. Aus der Variabilität oder Anpaſſungsfähigkeit der Arten folgt mit Nothwendigkeit unter dem Einfluſſe des Kampfes um's Daſein die immer weiter gehende Sonderung oder Differen— zirung der Spielarten, die beſtändige Divergenz der neuen Formen, und indem dieſe durch Erblichkeit eine Anzahl von Generationen hindurch conſtant erhalten werden, während die vermittelnden Zwie— ſchenformen ausſterben, bilden ſie ſelbſtſtändige „neue Arten“. Die Entſtehung neuer Species durch die Arbeitstheilung oder Sonderung, Divergenz oder Differenzirung der Varietäten, iſt mithin eine noth— wendige Folge der natürlichen Züchtung s). Daſſelbe gilt nun auch von dem zweiten großen Geſetze, welches wir unmittelbar aus der natürlichen Züchtung ableiten, und welches dem Divergenzgeſetze zwar ſehr nahe verwandt, aber keineswegs damit identiſch iſt, nämlich von dem Geſetze des Fortſchritts (Progres— sus) oder der Vervollkommnung (Teleosis). (Gen. Morph. II, 257.) Auch dieſes große und wichtige Geſetz iſt gleich dem Diffe— renzirungsgeſetze längſt empiriſch durch die paläontologiſche Erfahrung feſtgeſtellt worden, ehe uns Darwin's Selectionstheorie den Schlüſ— ſel zu ſeiner urſächlichen Erklärung lieferte. Die meiſten ausgezeich— neten Paläontologen haben das Fortſchrittsgeſetz als allgemeinſtes Reſultat ihrer Unterſuchungen über die Verſteinerungen und deren hiſtoriſche Reihenfolge hingeſtellt, ſo namentlich der verdienſtvolle Bronn, deſſen Unterſuchungen über die Geſtaltungsgeſetze 18) und Entwickelungsgeſetze 19) der Organismen, obwohl wenig gewürdigt, dennoch vortrefflich ſind, und die allgemeinſte Beachtung verdienen. Die allgemeinen Reſultate, zu welchen Bronn bezüglich des Diffe— renzirungs- und Fortſchrittsgeſetzes auf rein empiriſchem Wege, durch 248 Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung. außerordentlich fleißige und ſorgfältige Unterſuchungen gekommen iſt, ſind glänzende Beſtätigungen der Selectionstheorie. Das Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung conſta— tirt auf Grund der paläontologiſchen Erfahrung die äußerſt wichtige Thatſache, daß zu allen Zeiten des organiſchen Lebens auf der Erde eine beſtändige Zunahme in der Vollkommenheit der organiſchen Bil— dungen ſtattgefunden hat. Seit jener unvordenklichen Zeit, in wel— cher das Leben auf unſerem Planeten mit der Urzeugung von Mo— neren begann, haben ſich die Organismen aller Gruppen beſtändig im Ganzen wie im Einzelnen vervollkommnet und höher ausgebildet. Die ſtetig zunehmende Mannichfaltigkeit der Lebensformen war ſtets zugleich von Fortſchritten in der Organiſation begleitet. Je tiefer Sie in die Schichten der Erde hinabſteigen, in welchen die Reſte der aus— geſtorbenen Thiere und Pflanzen begraben liegen, je älter die letzte— ren mithin ſind, deſto einförmiger, einfacher und unvollkommener ſind ihre Geſtalten. Dies gilt ſowohl von den Organismen im Großen und Ganzen, als von jeder einzelnen größeren oder kleine— ren Gruppe derſelben, abgeſehen natürlich von jenen Ausnahmen, die durch Rückbildung einzelner Formen entſtehen. N Zur Beſtätigung dieſes Geſetzes will ich Ihnen hier wieder nur die wichtigſte von allen Thiergruppen, den Stamm der Wirbelthiere anführen. Die älteſten foſſilen Wirbelthierreſte, welche wir kennen, gehören der tiefſtehenden Fiſchelaſſe an. Auf dieſe folgten ſpäterhin die vollkommneren Amphibien, dann die Reptilien, und endlich in noch viel ſpäterer Zeit die höchſtorganiſirten Wirbelthierclaſſen, die Vögel und Säugethiere. Von den letzteren erſchienen zuerſt nur die niedrigſten und unvollkommenſten Formen, ohne Placenta, die Beu— telthiere, und viel ſpäter wiederum die vollkommneren Säugethiere, mit Placenta. Auch von dieſen traten zuerſt nur niedere, ſpäter höhere Formen auf, und erſt in der jüngern Tertiärzeit entwickelte ſich aus den letzteren allmählich der Menſch. Verfolgen Sie die hiſtoriſche Entwickelung des Pflanzenreichs, ſo finden Sie hier daſſelbe Geſetz beſtätigt. Auch von den Pflanzen Geſetz des Fortſchritts und der Vervollkommnung. 249 exiſtirte anfänglich bloß die niedrigſte und unvollkommenſte Claſſe, diejenige der Algen oder Tange. Auf dieſe folgte ſpäter die Gruppe der farnkrautartigen Pflanzen oder Filicinen. Aber noch exiſtirten keine Blüthenpflanzen oder Phanerogamen. Dieſe begannen erſt ſpä— ter mit den Gymnoſpermen (Nadelhölzern und Cycadeen), welche in ihrer ganzen Bildung tief unter den übrigen Blüthenpflanzen (Angio— ſpermen) ſtehen, und den Uebergang von den Filicinen zu den An— gioſpermen vermitteln. Dieſe letzteren entwickelten ſich wiederum viel ſpäter, und zwar waren auch hier anfangs bloß kronenloſe Blüthen— pflanzen (Monocotyledonen und Monochlamydeen), ſpäter erſt kro— nenblüthige (Dichlamydeen) vorhanden. Endlich gingen unter die— ſen wieder die niederen Diapetalen den höhern Gamopetalen voraus. Dieſe ganze Reihenfolge iſt ein unwiderleglicher Beweis für das Ge— ſetz der fortſchreitenden Entwickelung. Fragen wir nun, wodurch dieſe Thatſache bedingt iſt, ſo kom— men wir wiederum, gerade ſo wie bei der Thatſache der Differenzi— rung, auf die natürliche Züchtung im Kampf um das Daſein zurück. Wenn ſie noch einmal den ganzen Vorgang der natürlichen Züch— tung, wie er durch die verwickelte Wechſelwirkung der verſchiedenen Vererbungs- und Anpaſſungsgeſetze ſich geſtaltet, ſich vor Augen ſtellen, ſo werden Sie als die nächſte nothwendige Folge nicht allein die Divergenz des Charakters, ſondern auch die Vervollkommnung deſſelben erkennen. Wir ſehen ganz daſſelbe in der Geſchichte des menſchlichen Geſchlechts. Auch hier iſt es natürlich und nothwendig, daß die fortſchreitende Arbeitstheilung beſtändig die Menſchheit för— dert, und in jedem einzelnen Zweige der menſchlichen Thätigkeit zu neuen Erfindungen und Verbeſſerungen antreibt. Im Großen und Ganzen beruht der Fortſchritt ſelbſt auf der Differenzirung und iſt daher gleich dieſer eine unmittelbare Folge der natürlichen Züchtung durch den Kampf um's Daſein. Zwölſter Vortrag. Entwickelungsgeſetze der organiſchen Stämme und Individuen. Phylogenie und Ontogenie. Entwickelungsgeſetze der Menſchheit: Differenzirung und Vervollkommnung. Mechaniſche Urſache dieſer beiden Grundgeſetze. Fortſchritt ohne Differenzirung und Differenzirung ohne Fortſchritt. Entſtehung der rudimentären Organe durch Nicht— gebrauch und Abgewöhnung. Ontogeneſis oder individuelle Entwickelung der Orga— nismen. Allgemeine Bedeutung derſelben. Ontogenie oder individuelle Entwicke— lungsgeſchichte der Wirbelthiere, mit Inbegriff des Menſchen. Eifurchung. Bildung der drei Keimblätter. Entwickelungsgeſchichte des Centralnervenſyſtems, der Extre— mitäten, der Kiemenbogen und des Schwanzes bei den Wirbelthieren. Urſächlicher Zuſammenhang und Parallelismus der Ontogeneſis und Phylogeneſis, der indivi— duellen und der Stammesentwickelung. Urſächlicher Zuſammenhang des Paralle— lismus der Phylogeneſis und der ſyſtematiſchen Entwickelung. Parallelismus der drei organischen Entwickelungsreihen. Meine Herren! Wenn der Menſch ſeine Stellung in der Natur begreifen und ſein Verhältniß zu der für ihn erkennbaren Erſcheinungs— welt naturgemäß erfaſſen will, ſo iſt es durchaus nothwendig, daß er objectiv die menſchlichen Erſcheinungen mit den außermenſchlichen ver— gleicht, und vor allen mit den thieriſchen Erſcheinungen. Wir haben bereits früher geſehen, daß die ungemein wichtigen phyſiologiſchen Geſetze der Vererbung und der Anpaſſung in ganz gleicher Weiſe für den menſchlichen Organismus, wie für das Reich der Thiere Differenzirung in der Entwickelung der Menſchheit. 251 und Pflanzen ihre Geltung haben, und hier wie dort in Wechſel— wirkung mit einander ſtehen. Daher wirkt auch die natürliche Züch— tung durch den Kampf um's Daſein ebenſo in der menſchlichen Ge— ſellſchaft, wie im Leben der Thiere und Pflanzen umgeſtaltend ein, ruft hier wie dort immer neue Formen hervor. Ganz beſonders wichtig iſt dieſe Vergleichung der menſchlichen und der thieriſchen Um— bildungsphänomene bei Betrachtung des Divergenzgeſetzes und des Fortſchrittsgeſetzes, der beiden Grundgeſetze, die wir am Ende des letzten Vortrags als unmittelbare und nothwendige Folgen der na— türlichen Züchtung im Kampf um's Daſein nachgewieſen haben. Ein vergleichender Ueberblick über die Völkergeſchichte oder die ſogenannte „Weltgeſchichte“ zeigt Ihnen zunächſt als allgemeinſtes Reſultat eine beſtändig zunehmende Mannichfaltigkeit der menſchlichen Thätigkeit, im einzelnen Menſchenleben ſowohl als im Familien- und Staatenleben. Dieſe Differenzirung oder Sonderung, dieſe ſtetig zunehmende Divergenz des menſchlichen Charakters und der menſchlichen Lebensform wird hervorgebracht durch die immer weiter gehende und tiefer greifende Arbeitstheilung der Individuen. Während die älteſten und niedrigſten Stufen der menſchlichen Cultur uns überall nahezu dieſelben rohen und einfachen Verhältniſſe vor Augen führen, bemerken wir in jeder folgenden Periode der Geſchichte eine größere Mannichfaltigkeit in Sitten, Gebräuchen und Einrichtun— gen bei den verſchiedenen Nationen. Die zunehmende Arbeitstheilung bedingt eine ſteigende Mannichfaltigkeit der Formen in jeder Beziehung. Das ſpricht ſich ſelbſt in der menſchlichen Geſichtsbildung aus. Unter den niederſten Volksſtämmen gleichen ſich die meiſten Individuen ſo ſehr, daß die europäiſchen Reiſenden dieſelben oft gar nicht unter— ſcheiden können. Mit zunehmender Cultur differenzirt ſich die Phy— ſiognomie der Individuen. Endlich bei den höchſt entwickelten Cul— turvölkern, bei Engländern und Deutſchen, geht die Divergenz der Geſichtsbildung bei allen ſtammverwandten Individuen ſo weit, daß wir nur ſelten in die Verlegenheit kommen, zwei Geſichter gänzlich mit einander zu verwechſeln. 252 Fortſchritt in der Entwickelung der Menſchheit. Als zweites oberſtes Grundgeſetz tritt uns in der Völkergeſchichte das große Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung entgegen. Im Großen und Ganzen iſt die Geſchichte der Menſchheit die Ge— ſchichte ihrer fortſchreitenden Entwickelung. Freilich kommen überall und zu jeder Zeit Rückſchritte im Einzelnen vor, oder es wer— den ſchiefe Bahnen des Fortſchritts eingeſchlagen, welche nur einer einſeitigen und äußerlichen Vervollkommnung entgegenführen, und dabei von dem höheren Ziele der inneren und werthvolleren Ver— vollkommnung ſich mehr und mehr entfernen. Allein im Großen und Ganzen iſt und bleibt die Entwickelungsbewegung der ganzen Menſchheit eine fortſchreitende, indem der Menſch ſich immer weiter von ſeinen affenartigen Vorfahren entfernt und immer mehr ſeinen ſelbſtgeſteckten idealen Zielen nähert. Wenn Sie nun erkennen wollen, durch welche Urſachen eigent— lich dieſe beiden großen Entwickelungsgeſetze der Menſchheit, das Di— vergenzgeſetz und das Fortſchrittsgeſetz bedingt ſind, ſo müſſen Sie dieſelben mit den entſprechenden Entwickelungsgeſetzen der Thierheit vergleichen, und Sie werden bei tieferem Eingehen nothwendig zu dem Schluſſe kommen, daß ſowohl die Erſcheinungen wie ihre Ur— ſachen in beiden Fällen ganz dieſelben ſind. Ebenſo in dem Entwicke— lungsgange der Menſchenwelt wie in demjenigen der Thierwelt ſind die beiden Grundgeſetze der Differenzirung und Vervollkommnung le— diglich durch rein mechaniſche Urſachen bedingt, lediglich die nothwen— digen Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Daſein. Vielleicht hat ſich Ihnen bei der vorhergehenden Betrachtung die Frage aufgedrängt: „Sind nicht dieſe beiden Geſetze identiſch? Iſt nicht immer der Fortſchritt nothwendig mit der Divergenz verbun— den?“ Dieſe Frage iſt oft bejaht worden, und Carl Ernſt Bär z. B., einer der größten Forſcher im Gebiete der Entwickelungsge— ſchichte, hat als eines der oberſten Geſetze in der Ontogeneſis des Thierkörpers den Satz ausgeſprochen: „Der Grad der Ausbildung (oder Vervollkommnung) beſteht in der Stufe der Sonderung (oder Differenzirung) der Theile“ 20). So richtig dieſer Satz im Ganzen Fortſchritt ohne Differenzirung. 253 iſt, ſo hat er dennoch keine allgemeine Gültigkeit. Vielmehr zeigt ſich in vielen einzelnen Fällen, daß Divergenz und Fortſchritt keineswegs durchweg zuſammenfallen. Nicht jeder Fortſchritt iſt eine Differenzirung, und nicht jede Differenzirung iſt ein Fortſchritt. a Was zunächſt die Vervollkommnung oder den Fortſchritt betrifft, jo hat man ſchon früher, durch rein anatomische Betrachtungen ge— leitet, das Geſetz aufgeſtellt, daß allerdings die Vervollkommnung des Organismus größtentheils auf der Arbeitstheilung der einzelnen Or— gane und Körpertheile beruht, daß es jedoch auch andere organiſche Umbildungen giebt, welche einen Fortſchritt in der Organiſation be— dingen. Eine ſolche iſt beſonders die Zahlverminderung gleich— artiger Theile. Wenn Sie z. B. die niederen krebsartigen Glieder— thiere, welche ſehr zahlreiche Beinpaare beſitzen, vergleichen mit den Spinnen, die ſtets nur vier Beinpaare, und mit den Inſecten, die ſtets nur drei Beinpaare beſitzen, ſo finden Sie dieſes Geſetz, für wel— ches eine Maſſe von Beiſpielen ſich anführen läßt, beſtätigt. Die Zahlreduction der Beinpaare iſt ein Fortſchritt in der Organiſation der Gliederthiere. Ebenſo iſt die Zahlreduction der gleichartigen Wir— belabſchnitte des Rumpfes bei den Wirbelthieren ein Fortſchritt in de— ren Organiſation. Die Fiſche und Amphibien mit einer ſehr großen Anzahl von gleichartigen Wirbeln ſind ſchon deshalb unvollkommener und niedriger als die Vögel und Säugethiere, bei denen die Wirbel nicht nur im Ganzen viel mehr differenzirt, ſondern auch die Zahl der gleichartigen Wirbel viel geringer iſt. Nach demſelben Geſetze der Zahlverminderung find ferner die Blüthen mit zahlreichen Staubfä— den unvollkommener als die Blüthen der verwandten Pflanzen mit einer geringen Staubfädenzahl u. ſ. w. Wenn alſo urſprünglich eine ſehr große Anzahl von gleichartigen Theilen im Körper vorhanden war, und wenn dieſe Zahl im Laufe zahlreicher Generationen allmählich ab— nahm, ſo war dieſe Umbildung eine Vervollkommnung. Ein anderes Fortſchrittsgeſetz, welches von der Differenzirung ganz unabhängig, ja ſogar dieſer gewiſſermaßen entgegengeſetzt er— 254 Differenzirung ohne Fortſchritt. ſcheint, iſt das Geſetz der Centraliſation. Im Allgemeinen iſt der ganze Organismus um ſo vollkommener, je einheitlicher er orga— niſirt iſt, je mehr die Theile dem Ganzen untergeordnet, je mehr die Functionen und ihre Organe eentraliſirt find. So iſt z. B. das Blutgefäßſyſtem da am vollkommenſten, wo ein centraliſirtes Herz da iſt. Ebenſo iſt die zuſammengedrängte Markmaſſe, welche das Rückenmark der Wirbelthiere und das Bauchmark der höheren Glieder— thiere bildet, vollkommener, als die decentraliſirte Ganglienkette der niederen Gliederthiere und das zerſtreute Ganglienſyſtem der Weich— thiere. Bei der Schwierigkeit, welche die Erläuterung dieſer ver— wickelten Fortſchrittsgeſetze im Einzelnen hat, kann ich hier nicht näher darauf eingehen, und muß Sie bezüglich derſelben auf Bronn's treffliche „Morphologiſche Studien“ rs) und auf meine generelle Mor— phologie verweiſen (Gen. Morph. I, 370, 550; II, 257 — 266). Während Sie hier Fortſchrittserſcheinungen kennen lernten, die ganz unabhängig von der Divergenz ſind, ſo begegnen Sie andrer— ſeits ſehr häufig Differenzirungen, welche keine Vervollkommnungen, ſondern vielmehr das Gegentheil, Rückſchritte ſind. Es iſt leicht ein— zuſehen, daß die Umbildungen, welche jede Thier- und Pflanzenwelt erleidet, nicht immer Verbeſſerungen ſein können. Vielmehr ſind viele Differenzirungserſcheinungen, welche von unmittelbarem Vortheil für den Organismus ſind, inſofern ſchädlich, als ſie die allgemeine Lei— ſtungsfähigkeit deſſelben beeinträchtigen. Häufig findet ein Rückſchritt zu einfacheren Lebensbedingungen und durch Anpaſſung an dieſelben eine Differenzirung in rückſchreitender Richtung ſtatt. Wenn z. B. Organismen, die bisher frei lebten, ſich an das paraſitiſche Leben ge— wöhnen, ſo bilden ſie ſich dadurch zurück. Solche Thiere, die bisher ein wohlentwickeltes Nervenſyſtem und ſcharfe Sinnesorgane, ſowie freie Bewegung beſaßen, verlieren dieſelben, wenn ſie ſich an paraſi— tische Lebensweiſe gewöhnen; fie bilden ſich dadurch mehr oder min— der zurück. Hier iſt, für ſich betrachtet, die Differenzirung ein Rück— ſchritt, obwohl ſie für den paraſitiſchen Organismus ſelbſt von Vor— theil iſt. Im Kampf um's Daſein würde ein ſolches Thier, das ſich Rudimentäre oder verkümmerte Organe. 255 gewöhnt hat, auf Koſten Anderer zu leben, durch Beibehaltung ſeiner Augen und Bewegungswerkzeuge, die ihm nichts mehr nützen, nur an Material verlieren; und wenn es dieſe Organe einbüßt, ſo kommt dafür eine Maſſe von Ernährungsmaterial, das zur Erhaltung dieſer Theile verwandt wurde, anderen Theilen zu Gute. Im Kampf um's Daſein zwiſchen den verſchiedenen Paraſiten werden daher diejenigen, welche am wenigſten Anſprüche machen, im Vortheil vor den anderen ſein, und dies begünſtigt ihre Rückbildung. Ebenſo wie in dieſem Falle mit den ganzen Organismen, ſo ver— hält es ſich auch mit den Körpertheilen des einzelnen Organismus. Auch eine Differenzirung dieſer Theile, welche zu einer theilweiſen Rückbildung, und ſchließlich ſelbſt zum Verluſt einzelner Organe führt, iſt an ſich betrachtet ein Rückſchritt, kann aber für den Organismus im Kampf um's Daſein von Vortheil ſein. Man kämpft leichter und beſſer, wenn man unnützes Gepäck fortwirft. Daher begegnen wir überall im entwickelteren Thier- und Pflanzenkörper Divergenzpro— ceſſen, welche weſentlich die Rückbildung und ſchließlich den Verluſt einzelner Theile bewirken. Hier tritt uns nun vor Allen die höchſt wichtige und lehrreiche Erſcheinungsreihe der rudimentären oder verkümmerten Organe entgegen. Sie erinnern ſich, daß ich ſchon im erſten Vortrage dieſe außer— ordentlich merkwürdige Erſcheinungsreihe als eine der wichtigſten in theoretiſcher Beziehung hervorgehoben habe, als einen der ſchlagend— ſten Beweisgründe für die Wahrheit der Abſtammungslehre. Wir bezeichneten als rudimentäre Organe ſolche Theile des Körpers, die für einen beſtimmten Zweck eingerichtet und dennoch ohne Function ſind. Ich erinnere Sie an die Augen derjenigen Thiere, welche in Höhlen oder unter der Erde im Dunkeln leben, und daher niemals ihre Augen gebrauchen können. Bei dieſen Thieren finden wir unter der Haut verſteckt wirkliche Augen, oft gerade ſo gebildet wie die Augen der wirklich ſehenden Thiere; und dennoch functioniren dieſe Augen nie— mals, und können nicht functioniren, ſchon einfach aus dem Grunde, weil dieſelben von dem undurchſichtigen Felle überzogen ſind und da— 256 Rudimentäre Flügel vieler Vögel und Inſecten. her kein Lichtſtrahl in ſie hineinfällt (vergl. oben S. 13). Bei den Vorfahren dieſer Thiere, welche frei am Tageslichte lebten, waren die Augen wohl entwickelt, von der durchſichtigen Hornhaut überzogen und dienten wirklich zum Sehen. Aber als ſie ſich nach und nach an unterirdiſche Lebensweiſe gewöhnten, ſich dem Tageslicht entzogen und ihre Augen nicht mehr brauchten, wurden dieſelben rückgebildet. Sehr anſchauliche Beiſpiele von rudimentären Organen ſind fer— ner die Flügel von Thieren, welche nicht fliegen können, z. B. unter den Vögeln die Flügel der ſtraußartigen Laufvögel, (Strauß, Ca— ſuar u. ſ. w.), bei welchen ſich die Beine außerordentlich entwickelt haben. Dieſe Vögel haben ſich das Fliegen abgewöhnt und haben dadurch den Gebrauch der Flügel verloren; allein die Flügel ſind noch da, obwohl in verkümmerter Form. Sehr häufig finden Sie ſolche verkümmerte Flügel in der Claſſe der Inſecten, von denen die meiſten fliegen können. Aus vergleichend anatomiſchen und anderen Gründen können wir mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß alle jetzt lebenden Inſecten (alle Netzflügler, Heuſchrecken, Käfer, Bienen, Wanzen, Fliegen, Schmetterlinge u. ſ. w.) von einer einzigen ge— meinſamen Elternform, einem Stamminſect abſtammen, welches zwei entwickelte Flügelpaare und drei Beinpaare beſaß. Nun giebt es aber ſehr zahlreiche Inſecten, bei denen entweder eines oder beide Flügelpaare mehr oder minder rückgebildet, und viele, bei denen ſie ſogar völlig verſchwunden ſind. In der ganzen Ordnung der Flie— gen oder Dipteren z. B. iſt das hintere Flügelpaar, bei den Dreh— flüglern oder Strepſipteren dagegen das vordere Flügelpaar verküm— mert oder ganz verſchwunden. Außerdem finden Sie in jeder In— ſectenordnung einzelne Gattungen oder Arten, bei denen die Flügel mehr oder minder rückgebildet oder verſchwunden ſind. Insbeſon— dere iſt letzteres bei Paraſiten der Fall. Oft ſind die Weibchen flügellos, während die Männchen geflügelt find, z. B. bei den Leucht— käfern oder Johanniskäfern (Lampyris), bei den Strepſipteren u. |. w. Offenbar iſt dieſe theilweiſe oder gänzliche Rückbildung der Inſee— tenflügel durch natürliche Züchtung im Kampf um's Daſein entſtan— Rudimentäre oder verkümmerte Flügel vieler Inſecten. 257 den. Denn wir finden die Inſecten vorzugsweiſe dort ohne Flügel, wo das Fliegen ihnen nutzlos oder ſogar entſchieden ſchädlich ſein würde. Wenn z. B. Inſecten, welche Inſeln bewohnen, viel und gut fliegen, ſo kann es leicht vorkommen, daß ſie beim Fliegen durch den Wind in das Meer geweht werden, und wenn (wie es immer der Fall iſt) das Flugvermögen individuell verſchieden entwickelt iſt, ſo haben die ſchlechtfliegenden Individuen einen Vorzug vor den gutfliegenden; ſie werden weniger leicht in das Meer geweht, und bleiben länger am Leben als die gutfliegenden Individuen derſelben Art. Im Verlaufe vieler Generationen muß durch die Wirkſamkeit der natürlichen Züchtung dieſer Umſtand nothwendig zu einer voll— ſtändigen Verkümmerung der Flügel führen. Wenn man ſich dieſen Schluß rein theoretiſch entwickelt hätte, ſo könnte man nur befriedigt ſein, thatſächlich denſelben bewahrheitet zu finden. In der That iſt auf iſolirt gelegenen Inſeln das Verhältniß der flügelloſen Inſecten zu den mit Flügeln verſehenen ganz auffallend groß, viel größer als bei den Inſecten des Feſtlandes. So ſind z. B. nach Wollaſton von den 550 Käferarten, welche die Inſel Madeira bewohnen, 200 flügellos oder mit ſo unvollkommenen Flügeln verſehen, daß ſie nicht mehr fliegen können; und von 29 Gattungen, welche jener Inſel aus— ſchließlich eigenthümlich ſind, enthalten nicht weniger als 29 nur ſolche Arten. Offenbar iſt dieſer merkwürdige Umſtand nicht durch die be— ſondere Weisheit des Schöpfers zu erklären, ſondern durch die natür— liche Züchtung, indem hier der erbliche Nichtgebrauch der Flügel, die Abgewöhnung des Fliegens im Kampfe mit den gefährlichen Winden, den trägeren Käfern einen großen Vortheil im Kampf um's Daſein gewährte. Bei anderen flügelloſen Inſecten war der Flügelmangel aus anderen Gründen vortheilhaft. An ſich betrachtet iſt der Verluſt der Flügel ein Rückſchritt, aber für den Organismus unter dieſen be— ſonderen Lebensverhältniſſen iſt er ein Vortheil im Kampf um's Daſein. Von anderen rudimentären Organen will ich hier noch beiſpiels— weiſe die Lungen der Schlangen und der ſchlangenartigen Eidechſen erwähnen. Alle Wirbelthiere, welche Lungen beſitzen, Amphibien, Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 127 258 Rudimentäre Organe des Menſchen. Reptilien, Vögel und Säugethiere, haben ein Paar Lungen, eine rechte und eine linke. Da aber, wo der Körper ſich außerordentlich verdünnt und in die Länge ſtreckt, wie bei den Schlangen und ſchlangenartigen Eidechſen, hat die eine Lunge neben der andern nicht mehr Platz, und es iſt für den Mechanismus der Athmung ein offen— barer Vortheil, wenn nur eine Lunge entwickelt iſt. Eine einzige große Lunge leiſtet hier mehr, als zwei kleine neben einander, und daher finden wir bei dieſen Thieren faſt durchgängig die rechte oder die linke Lunge allein ausgebildet. Die andere iſt ganz verkümmert, obwohl als unnützes Rudiment vorhanden. Ebenſo iſt bei allen Vögeln der rechte Eierſtock verkümmert und ohne Function; der linke Eierſtock allein iſt entwickelt und liefert alle Eier. Daß auch der Menſch ſolche ganz unnütze und überflüſſige rudi— mentäre Organe beſitzt, habe ich bereits im erſten Vortrage erwähnt, und damals die Muskeln, welche die Ohren bewegen, als ſolche an— geführt. Außerdem gehört hierher das Rudiment des Schwanzes, welches der Menſch in feinen 3— 5 Schwanzwirbeln beſitzt, und wel- ches beim menſchlichen Embryo während der beiden erſten Monate der Entwickelung noch frei hervorſteht. (Vgl. Taf. II und III.) Späterhin verbirgt es ſich vollſtändig im Fleiſche. Dieſes verkümmerte Schwänz— chen des Menſchen iſt ein unwiderleglicher Zeuge für die unleugbare Thatſache, daß er von geſchwänzten Voreltern abſtammt. Beim Weibe iſt das Schwänzchen gewöhnlich um einen Wirbel länger, als beim Manne. Auch rudimentäre Muskeln ſind am Schwanze des Menſchen noch vorhanden, welche denſelben vormals bewegten. Ein anderes rudimentäres Organ des Menſchen, welches aber bloß dem Manne zukommt, und welches ebenſo bei ſämmtlichen männ— lichen Säugethieren ſich findet, ſind die Milchdrüſen an der Bruſt, welche in der Regel bloß beim weiblichen Geſchlechte in Thätigkeit tre— ten. Indeſſen kennt man von verſchiedenen Säugethieren, nament- lich vom Menſchen, vom Schafe und von der Ziege, einzelne Fälle, in denen die Milchdrüſen auch beim männlichen Geſchlechte wohl ent— wickelt waren und Milch zur Ernährung des Jungen lieferten. Daß Unſchätzbare philofophifche Bedeutung der rudimentären Organe. 259 auch die rudimentären Ohrenmuskeln des Menſchen von einzelnen Perſonen in Folge andauernder Uebung noch zur Bewegung der Ohren verwendet werden können, wurde bereits früher erwähnt (S. 12). Ueberhaupt ſind die rudimentären Organe bei verſchiedenen Indivi— duen derſelben Art oft ſehr verſchieden entwickelt, bei den einen ziem— lich groß, bei den anderen ſehr klein. Dieſer Umſtand iſt für ihre Er— klärung ſehr wichtig, ebenſo wie der andere Umſtand, daß ſie allge— mein bei den Embryonen, oder überhaupt in ſehr früher Lebenszeit, viel größer und ſtärker im Verhältniß zum übrigen Körper ſind, als bei den ausgebildeten und erwachſenen Organismen. Insbeſondere iſt dies leicht nachzuweiſen an den rudimentären Geſchlechtsorganen der Pflanzen (Staubfäden und Griffeln), welche ich früher bereits ange— führt habe. Dieſe ſind verhältnißmäßig viel größer in der jungen Blüthenknospe als in der entwickelten Blüthe. Schon damals (S. 14) bemerkte ich, daß die rudimentären oder verkümmerten Organe zu den ſtärkſten Stützen der moniſtiſchen oder mechaniſtiſchen Weltanſchauung gehören. Wenn die Gegner derſelben, die Dualiſten und Teleologen, das ungeheure Gewicht dieſer That— ſachen begriffen, müßten ſie dadurch zur Verzweiflung gebracht wer— den. Die lächerlichen Erklärungsverſuche derſelben, daß die rudimen— tären Organe vom Schöpfer „der Symmetrie halber“ oder „zur for— malen Ausſtattung“ oder „aus Rückſicht auf ſeinen allgemeinen Schöpfungsplan“ den Organismen verliehen ſeien, beweiſen zur Ge— nüge die völlige Ohnmacht jener verkehrten Weltanſchauung. Ich muß hier wiederholen, daß, wenn wir auch gar Nichts von den übrigen Entwickelungserſcheinungen wüßten, wir ganz allein ſchon auf Grund der rudimentären Organe die Deſcendenztheorie für wahr halten müßten. Kein Gegner derſelben hat vermocht, auch nur einen ſchwa— chen Schimmer von einer annehmbaren Erklärung auf dieſe äußerſt merkwürdigen und bedeutenden Erſcheinungen fallen zu laſſen. Es gibt beinahe keine irgend höher entwickelte Thier- oder Pflanzenform, die nicht irgend welche rudimentäre Organe hätte, und faſt immer läßt ſich nachweiſen, daß dieſelben Producte der natürlichen Züchtung 1 260 Entſtehung der rudimentären Organe durch Nichtgebrauch. ſind, daß ſie durch Nichtgebrauch oder durch Abgewöhnung verküm— mert ſind. Es iſt der umgekehrte Bildungsprozeß, wie wenn neue Organe durch Angewöhnung an beſondere Lebensbedingungen und durch Gebrauch eines noch unentwickelten Theiles entſtehen. Zwar wird gewöhnlich von unſern Gegnern behauptet, daß die Entſtehung ganz neuer Theile ganz und gar nicht durch die Deſcendenztheorie zu erklären ſei. Indeſſen kann ich Ihnen verſichern, daß dieſe Er- klärung für denjenigen, der vergleichend-anatomiſche und phyſiolo— giſche Kenntniſſe beſitzt, nicht die mindeſte Schwierigkeit hat. Jeder, der mit der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeſchichte ver— traut iſt, findet in der Entſtehung ganz neuer Organe ebenſo wenig Schwierigkeit, als hier auf der anderen Seite in dem völligen Schwunde der rudimentären Organe. Das Vergehen der letzteren iſt an ſich betrachtet das Gegentheil vom Entſtehen der erſteren. Beide Prozeſſe ſind Differenzirungserſcheinungen, die wir gleich allen übrigen ganz einfach und mechaniſch aus der Wirkſamkeit der na= türlichen Züchtung im Kampf um das Daſein erklären können. Die unendlich wichtige Betrachtung der rudimentären Organe und ihrer Entſtehung, die Vergleichung ihrer paläontologiſchen und ihrer embryologiſchen Entwickelung führt uns jetzt naturgemäß zur Erwägung einer der wichtigſten und größten biologiſchen Erſchei— nungsreihen, nämlich des Parallelismus, welchen uns die Fortſchritts— und Divergenzerſcheinungen in dreifach verſchiedener Beziehung dar— bieten. Als wir im Vorhergehenden von Vervollkommnung und Ar— beitstheilung ſprachen, verſtanden wir darunter diejenigen Fortſchritts— und Sonderungsbewegungen, und diejenigen dadurch bewirkten Um— bildungen, welche in dem langen und langſamen Verlaufe der Erdge— ſchichte zu einer beſtändigen Veränderung der Flora und Fauna, zu einem Entſtehen neuer und Vergehen alter Thier- und Pflanzenarten geführt haben. Ganz denſelben Erſcheinungen des Fortſchritts und der Differenzirung begegnen wir nun aber auch, und zwar in derſel— ben Reihenfolge, wenn wir die Entſtehung, die Entwickelung und den Lebenslauf jedes einzelnen organiſchen Individuums verfolgen. Die Differenzirung und Fortſchritt in der Ontogeneſis. 261 individuelle Entwickelung oder die Ontogeneſis jedes einzelnen Orga— nismus vom Ei an aufwärts bis zur vollendeten Form, beſteht in nichts anderem, als im Wachsthum und in einer Reihe von Differen- zirungs- und Fortſchrittsbewegungen. Dies gilt in gleicher Weiſe von den Thieren, wie von den Pflanzen und Protiſten. Wenn Sie z. B. die Ontogenie irgend eines Säugethiers, des Menſchen, des Affen oder des Beutelthiers betrachten, oder die individuelle Entwickelung irgend eines anderen Wirbelthiers aus einer anderen Claſſe verfolgen, ſo finden Sie überall weſentlich dieſelben Erſcheinungen. Jedes dieſer Thiere entwickelt ſich urſprünglich aus einer einfachen Zelle, dem Ei. Dieſe Zelle vermehrt ſich durch Theilung, bildet einen Zellenhaufen, und durch Wachsthum dieſes Zellenhaufens, durch ungleichartige Aus— bildung der urſprünglich gleichartigen Zellen, durch Arbeitstheilung und Vervollkommnung derſelben, entſteht der vollkommene Organis- mus, deſſen verwickelte Zuſammenſetzung wir bewundern. Hier ſcheint es mir nun unerläßlich, Ihre Aufmerkſamkeit etwas eingehender auf jene unendlich wichtigen und intereſſanten Vorgänge hinzulenken, welche die Ontogeneſis oder die individuelle Entwickelung der Organismen, und ganz vorzüglich diejenige der Wirbelthiere mit Einſchluß des Menſchen begleiten. Ich möchte dieſe außerordentlich merkwürdigen und lehrreichen Erſcheinungen ganz beſonders Ihrem eingehendſten Nachdenken empfehlen, einerſeits, weil dieſelben zu den ſtärkſten Stützen der Deſcendenztheorie gehören, an— drerſeits, weil dieſelben bisher nur von Wenigen entſprechend ihrer unermeßlichen allgemeinen Bedeutung gewürdigt worden ſind. Man muß in der That erſtaunen, wenn man die tiefe Unkennt— niß erwägt, welche noch gegenwärtig in den weiteſten Kreiſen über die Thatſachen der individuellen Entwickelung des Menſchen und der Organismen überhaupt herrſcht. Dieſe Thatſachen, deren allgemeine Bedeutung man nicht hoch genug anſchlagen kann, wurden in ihren wichtigſten Grundzügen ſchon vor mehr als einem Jahrhundert, im Jahre 1759, von dem großen deutſchen Naturforſcher Caspar Frie— drich Wolff in feiner claſſiſchen „Theoria generationis“ feſt— 262 Individuelle Entwickelungsgeſchichte oder Ontogenie. geſtellt. Aber gleichwie Lamarck's 1809 begründete Deſcendenz⸗ theorie ein halbes Jahrhundert hindurch ſchlummerte und erſt 1859 durch Darwin zu neuem unſterblichem Leben erweckt wurde, ſo blieb auch Wolff's Theorie der Epigeneſis faſt ein halbes Jahrhundert hindurch unbekannt, und erſt nachdem Oken 1806 ſeine Entwide- lungsgeſchichte des Darmkanals veröffentlicht und Meckel 1812 Wolff's Arbeit über denſelben Gegenſtand in's Deutſche überſetzt hatte, wurde Wolff's Theorie der Epigeneſis allgemeiner bekannt, und die Grundlage aller folgenden Unterſuchungen über individuelle Entwickelungsgeſchichte. Das Studium der Ontogeneſis nahm nun einen mächtigen Aufſchwung, und bald erſchienen die claſſiſchen Un— terſuchungen der beiden Freunde Chriſtian Pander (1817) und Carl Ernſt Bär (1819). Insbeſondere wurde durch Bär's epoche— machende „Entwickelungsgeſchichte der Thiere“ ?“) die Ontogenie der Wirbelthiere in allen ihren bedeutendſten Thatſachen durch ſo vortreff— liche Beobachtungen feſtgeſtellt, und durch ſo vorzügliche philoſophiſche Reflexionen erläutert, daß ſie für das Verſtändniß dieſer wichtigſten Thiergruppe, zu welcher ja auch der Menſch gehört, die unentbehrliche Grundlage wurde. Jene Thatſachen würden für ſich allein ſchon aus— reichen, die Frage von der Stellung des Menſchen in der Natur und ſomit das höchſte aller Probleme zu löſen. Betrachten Sie aufmerf- ſam und vergleichend die acht Figuren, welche auf den nachſtehenden Tafeln II und III abgebildet find, und Sie werden erkennen, daß man die philoſophiſche Bedeutung der Embryologie nicht hoch genug anſchlagen kann. (Siehe S. 272, 273.) Nun darf man wohl fragen: Was wiſſen unſere ſogenannten „gebildeten“ Kreiſe, die auf die hohe Cultur des neunzehnten Jahr— hunderts ſich ſo Viel einbilden, von dieſen wichtigſten biologiſchen Thatſachen, von dieſen unentbehrlichen Grundlagen für das Verſtänd— niß ihres eigenen Organismus? Was wiſſen unſere ſpeculativen Phi— loſophen und Theologen davon, welche durch reine Speculationen oder durch göttliche Inſpirationen das Verſtändniß des menſchlichen Organismus gewinnen zu können meinen? Ja was wiſſen ſelbſt die Unermeßliche allgemeine Bedeutung der Ontogenie. 263 meiſten Naturforſcher davon, die Mehrzahl der ſogenannten „Zoo— logen“ (mit Einſchluß der Entomologen!) nicht ausgenommen? Die Antwort auf dieſe Frage fällt ſehr beſchämend aus, und wir müſſen wohl oder übel eingeſtehen, daß jene unſchätzbaren That— ſachen der menſchlichen Ontogenie noch heute den Meiſten entweder ganz unbekannt ſind, oder doch keineswegs in gebührender Weiſe ge— würdigt werden. Hierbei werden wir deutlich gewahr, auf welchem ſchiefen und einſeitigen Wege ſich die vielgerühmte Bildung des neun— zehnten Jahrhunderts noch gegenwärtig befindet. Unwiſſenheit und Aberglauben ſind die Grundlagen, auf denen ſich die meiſten Men— ſchen das Verſtändniß ihres eigenen Organismus und ſeiner Bezie— hungen zur Geſammtheit der Dinge aufbauen, und jene handgreif— lichen Thatſachen der Entwickelungsgeſchichte, welche das Licht der Wahrheit darüber verbreiten könnten, werden ignorirt. Allerdings ſind dieſe Thatſachen nicht geeignet, Wohlgefallen bei denjenigen zu erregen, welche einen durchgreifenden Unterſchied zwiſchen dem Men— ſchen und der übrigen Natur annehmen und namentlich den thieriſchen Urſprung des Menſchengeſchlechts nicht zugeben wollen. Insbeſondere müſſen bei denjenigen Völkern, bei denen in Folge von falſcher Auf— faſſung der Erblichkeitsgeſetze eine erbliche Kaſteneintheilung exiſtirt, die Mitglieder der herrſchenden privilegirten Kaſten dadurch ſehr unan— genehm berührt werden. Bekanntlich geht heute noch in vielen Cul— turländern die erbliche Abſtufung der Stände ſo weit, daß z. B. der Adel ganz anderer Natur, als der Bürgerſtand zu ſein glaubt, und daß Edelleute, welche ein entehrendes Verbrechen begehen, zur Strafe dafür aus der Adelskaſte ausgeſtoßen und in die Pariakaſte des „ge— meinen“ Bürgerſtandes hinabgeſchleudert werden. Was ſollen dieſe Edelleute noch von dem Vollblut, das in ihren privilegirten Adern rollt, denken, wenn ſie erfahren, daß alle menſchlichen Embryonen, adelige ebenſo wie bürgerliche, während der erſten beiden Monate der Entwickelung von den geſchwänzten Embryonen des Hundes und an— derer Säugethiere kaum zu unterſcheiden ſind? Da die Abſicht dieſer Vorträge lediglich iſt, die allgemeine Erkennt— 264 Das Ei des Menſchen. niß der natürlichen Wahrheiten zu fördern, und eine naturgemäße An- ſchauung von den Beziehungen des Menſchen zur übrigen Natur in weiteren Kreiſen zu verbreiten, ſo werden Sie es hier gewiß gerecht— fertigt finden, wenn ich jene weit verbreiteten Vorurtheile von einer privilegirten Ausnahmeſtellung des Menſchen in der Schöpfung nicht berückſichtige, und Ihnen einfach die embryologiſchen Thatſachen vor- führe, aus denen Sie ſelbſt ſich die Schlüſſe von der Grundloſigkeit jener Vorurtheile bilden können. Ich möchte Sie um ſo mehr bitten, über dieſe Thatſachen der Ontogenie eingehend nachzudenken, als es meine feſte Ueberzeugung iſt, daß die allgemeine Kenntniß derſelben nur die intellectuelle Veredelung und ſomit die geiſtige Vervollkomm— nung des Menſchengeſchlechts fördern kann. Aus dem unendlich reichen und intereſſanten Erfahrungsmaterial, welches in der Ontogenie oder individuellen Entwickelungsgeſchichte der Wirbelthiere vorliegt, beſchränke ich mich hier darauf, Ihnen einige von denjenigen Thatſachen vorzuführen, welche ſowohl für die Defcen- denztheorie im Allgemeinen, als für deren beſondere Anwendung auf den Menſchen von der höchſten Bedeutung ſind. Der Menſch iſt im Beginn ſeiner individuellen Exiſtenz ein einfaches Ei, eine einzige kleine Zelle, ſo gut wie jeder andere thieriſche Organismus, welcher auf dem Wege der geſchlechtlichen Zeugung entſteht. Das menſchliche Ei iſt weſentlich demjenigen aller anderen Säugethiere gleich, und na— mentlich von dem Ei der höheren Säugethiere abſolut nicht zu un— terſcheiden. Das in Fig. 5 abgebildete Ei könnte ebenſo gut vom Menſchen oder vom Affen, als vom Hunde, vom Pferde oder irgend einem anderen höheren Säugethiere herrühren. Nicht allein die Form und Structur, ſondern auch die Größe des Eies iſt bei den meiſten Säugethieren dieſelbe wie beim Menſchen, nämlich ungefähr 5“ Durchmeſſer, der 120ſte Theil eines Zolles, ſo daß man das Ei unter günſtigen Umſtänden mit bloßem Auge eben als ein feines Pünktchen wahrnehmen kann. Die Unterſchiede, welche zwiſchen den Eiern der verſchiedenen Säugethiere und Menſchen wirklich vorhan— den ſind, beſtehen nicht in der Formbildung, ſondern in der chemi— Zuſammenſetzung des Säugethiereies. 265 ſchen Miſchung, in der molekularen Zuſammenſetzung der eiweißar— tigen Kohlenſtoffverbindung, aus welcher das Ei weſentlich beſteht. Dieſe feinen individuellen Unterſchiede aller Eier, welche auf der in— directen oder potentiellen Anpaſſung (und zwar ſpeciell auf dem Ge— ſetze der individuellen Anpaſſung) beruhen, find zwar für die außer⸗ ordentlich groben Erkenntnißmittel des Menſchen nicht direkt ſinnlich wahrnehmbar, aber durch wohlbegründete indirecte Schlüſſe als die erſten Urſachen des Unterſchiedes aller Individuen erkennbar. Fig. 5. Fig. 5. Das Ei des Menſchen, hundertmal ver⸗ FE, größert. a Kernkörperchen oder Nucleolus (ſogenann⸗ genanntes Keimbläschen des Eies); c Zellſtoff oder Protoplasma (ſogenannter Dotter des Eies); 4 Zell- haut oder Membrana (Dotterhaut des Eies, beim Säugethier wegen ihrer Durchſichtigkeit Zona pel- lueida genannt). Die Eier der anderen Säuge- thiere haben ganz dieſelbe Form. Das Ei des Menſchen iſt, wie das aller anderen Säugethiere, ein kugeliges Bläschen, welches alle weſentlichen Beſtandtheile einer einfachen organiſchen Zelle enthält (Fig. 5). Der weſentlichſte Theil deſſelben iſt der ſchleimartige Zellſtoff oder das Protoplasma (c), welches beim Ei „Dotter“ genannt wird, und der davon umſchloſ— ſene Zellenkern oder Nucleus (b), welcher hier den beſonderen Namen des „Keimbläschens“ führt. Der letztere iſt ein zartes, glas— helles Eiweißkügelchen von ungefähr “ Durchmeſſer, und umſchließt noch ein viel kleineres, ſcharf abgegrenztes rundes Körnchen (a), das Kernkörperchen oder den Nucleolus der Zelle (beim Ei „Keim fleck“ genannt). Nach außen iſt die kugelige Eizelle des Säugethiers durch eine dicke, glasartige Haut, die Zellenmembran oder Dot- terhaut, abgeſchloſſen, welche hier den beſonderen Namen der Zona pellucida führt (d). Die Eier vieler niederen Thiere (z. B. vieler Meduſen) ſind dagegen nackte Zellen, ohne jede äußere Hülle. Sobald das Ei (Ovulum) des Säugethiers feinen vollen Reife— grad erlangt hat, tritt daſſelbe aus dem Eierſtock des Weibes, in dem 266 Beginnende Entwickelung des Säugethiereies. es entſtand, heraus, und gelangt in den Eileiter und durch dieſe enge Röhre in den weiteren Keimbehälter oder Fruchtbehälter (Uterus). Wird inzwiſchen das Ei durch den entgegenkommenden männlichen Samen (Sperma) befruchtet, ſo entwickelt es ſich in dieſem Behälter weiter zum Keim (Embryon), und verläßt denſelben nicht eher, als bis der Keim vollkommen ausgebildet und fähig iſt, als junges Säu— gethier durch den Geburtsakt in die Welt zu treten. Die Formveränderungen und Umbildungen, welche das befruch— tete Ei innerhalb des Keimbehälters durchlaufen muß, ehe es die Ge— ſtalt des jungen Säugethiers annimmt, ſind äußerſt merkwürdig, und verlaufen vom Anfang an beim Menſchen ganz ebenſo wie bei den übrigen Säugethieren. Zunächſt benimmt ſich das befruchtete Säugethierei gerade ſo, wie ein einzelliger Organismus, welcher ſich auf ſeine Hand ſelbſtſtändig fortpflanzen und vermehren will z. B. eine Amoebe (vergl. Fig. 2, S. 169). Die einfache Eizelle zer⸗ fällt nämlich durch den Proceß der Zellentheilung, welchen ich Ihnen bereits früher beſchrieben habe, in zwei Zellen. Zunächſt entſtehen aus dem Keimfleck (dem Kernkörperchen der urſprünglichen einfachen Eizelle) zwei neue Kernkörperchen und ebenſo dann aus dem Keim— bläschen (dem Nucleus) zwei neue Zellenkerne. Nun erſt ſchnürt ſich das kugelige Protoplasma durch eine Aequatorialfurche dergeſtalt in zwei Hälften ab, daß jede Hälfte einen der beiden Kerne nebſt Kern- körperchen umſchließt. So ſind aus der einfachen Eizelle innerhalb der urſprünglichen Zellenmembran zwei nackte Zellen geworden, jede mit ihrem Kern verſehen (Fig. 6). Vergl. das Titelblatt, Fig. 1, 2. Fig. 6. Erſter Beginn der Entwickelung des Säugethiereies, ſogenannte „Ei- furchung“ (Fortpflanzung der Eizelle durch wiederholte Selbſttheilung). 4. Das Wiederholte Theilung oder Furchung des Säugethiereies. 267 Ei zerfällt durch Bildung der erſten Furche in zwei Zellen. 3. Dieſe zerfallen durch Halbirung in vier Zellen. C. Dieſe letzteren find in acht Zellen zerfallen. D. Durch fortgeſetzte Theilung iſt ein kugeliger Haufen von zahlreichen Zellen entſtanden, die Brombeerform oder Maulbeerform (Morula). Derſelbe Vorgang der Zellentheilung wiederholt ſich nun mehr— mals hinter einander. In der gleichen Weiſe entſtehen aus zwei Zellen (Fig. 6A) vier (Fig. 6); aus vier werden acht (Fig. 60), aus acht ſechzehn, aus dieſen zweiunddreißig u. ſ. w. Jedesmal geht die Thei⸗ lung des Kernkörperchens derjenigen des Kernes, und dieſe wiederum derjenigen des Zellſtoffs oder Protoplasma vorher. Weil die Thei— lung des letzteren immer mit der Bildung einer oberflächlichen ring— förmigen Furche beginnt, nennt man den ganzen Vorgang gewöhn— lich die Furchung des Eies, und die Producte deſſelben, die kleinen, durch fortgeſetzte Zweitheilung entſtehenden Zellen die Furchungs— kugeln. Indeſſen iſt der ganze Vorgang weiter Nichts als eine ein— fache, oft wiederholte Zellentheilung, und die Producte deſſel— ben ſind echte, nackte Zellen. Schließlich entſteht aus der fortge— ſetzten Theilung oder „Furchung“ des Säugethiereies eine maulbeer— förmige oder brombeerförmige Kugel (Morula), welche aus ſehr zahl— reichen kleinen Kugeln, nackten kernhaltigen Zellen zuſammengeſetzt it (Fig. 6D). Dieſe Zellen find die Bauſteine, aus denen ſich der Leib des jungen Säugethiers aufbaut. Jeder von uns war einmal eine ſolche einfache, brombeerförmige, aus lauter kleinen gleichen Zel— len zuſammengeſetzte Kugel, eine Morula. (Vergl. Titelblatt, Fig. 3.) Die weitere Entwickelung des kugeligen Zellenhaufens, welcher den jungen Säugethierkörper jetzt repräſentirt, beſteht zunächſt darin, daß derſelbe ſich in eine kugelige Blaſe verwandelt, indem im In— neren ſich Flüſſigkeit anſammelt. Dieſe Blaſe nennt man Keimblaſe (Vesicula blastodermica). Die Wand derſelben iſt anfangs aus lauter gleichartigen Zellen zuſammengeſetzt. Bald aber entſteht an einer Stelle der Wand eine ſcheibenförmige Verdickung, indem ſich hier die Zellen raſch vermehren; und dieſe Verdickung iſt nun die Anlage für den eigentlichen Leib des Keimes oder Embryon, während der übrige Theil der Keimblaſe bloß zur Ernährung des Embryon ver— 268 Bildung und Bedeutung der drei Keimblätter. wendet wird. Die verdickte Scheibe der Embryonalanlage nimmt bald eine länglich runde und dann, indem rechter und linker Seitenrand ausgeſchweift werden, eine geigenförmige oder bisquitförmige Geſtalt an (Fig. 7, Seite 271). In dieſem Stadium der Entwickelung, in der erſten Anlage des Keims oder Embryo, ſind nicht allein alle Säugethiere mit Inbegriff des Menſchen, ſondern ſogar alle Wirbel— thiere überhaupt, alle Säugethiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fiſche, entweder gar nicht oder nur durch ihre Größe, oder durch ganz unweſentliche Formdifferenzen, ſowie durch die Bildung der Eihüllen von einander zu unterſcheiden. Bei Allen beſteht der ganze Leib aus weiter Nichts, als aus einer ganz einfachen, läng— lichrunden, ovalen oder geigenförmigen, dünnen Scheibe, welche aus drei über einander liegenden, eng verbundenen Blättern zuſammen— geſetzt iſt. Jedes der drei Keimblätter beſteht aus weiter Nichts, als aus gleichartigen Zellen, jedes hat aber eine andere Bedeutung für den Aufbau des Wirbelthierkörpers. Aus dem oberen oder äußeren Keimblatt entſteht bloß die äußere Oberhaut (Epidermis) nebſt den Centraltheilen des Nervenſyſtems (Rückenmark und Gehirn); aus dem unteren oder inneren Blatt entſteht bloß die innere zarte Haut (Epithelium), welche den ganzen Darmeanal vom Mund bis zum After, nebſt allen ſeinen Anhangsdrüſen (Lunge, Leber, Speichel— drüſen u. ſ. w.) auskleidet; aus dem zwiſchen beiden gelegenen mitt— leren Keimblatt entſtehen alle übrigen Organe. Die Vorgänge nun, durch welche aus ſo einfachem Baumate— rial, aus den drei einfachen, nur aus Zellen zuſammengeſetzten Keim— blättern, die verſchiedenartigen und höchſt verwickelt zuſammengeſetz— ten Theile des reifen Wirbelthierkörpers entſtehen, find erſtens wie— »derholte Theilungen und dadurch Vermehrung der Zellen, zweitens Arbeitstheilung oder Differenzirung dieſer Zellen, und drittens Ver— bindung der verſchiedenartig ausgebildeten oder differenzirten Zellen zur Bildung der verſchiedenen Organe. So entſteht der ſtufenweiſe Fortſchritt oder die Vervollkommnung, welche in der Ausbildung des embryonalen Leibes Schritt für Schritt zu verfolgen iſt. Die ein— Vergleichung des mehrzelligen Organismus mit einem Staate. 269 fachen Embryonalzellen, welche den Wirbelthierkörper zuſammenſetzen wollen, verhalten ſich wie Bürger, welche einen Staat gründen wollen. Die einen ergreifen dieſe, die anderen jene Thätigkeit, und bilden dieſelbe zum Beſten des Ganzen aus. Durch dieſe Arbeits— theilung oder Differenzirung, und die damit im Zuſammenhang ſtehende Vervollkommnung (den organiſchen Fortſchritt), wird es dem ganzen Staate möglich, Leiſtungen zu vollziehen, welche dem einzel— nen Individuum unmöglich wären. Der ganze Wirbelthierkörper, wie jeder andere mehrzellige Organismus, iſt ein republikaniſcher Zellenſtaat, und daher kann derſelbe organiſche Functionen vollzie— hen, welche die einzelne Zelle als Einſiedler (3. B. eine Amoebe oder eine einzellige Pflanze) niemals leiſten könnte 37). Es wird keinem vernünftigen Menſchen einfallen, in den zweck— mäßigen Einrichtungen, welche zum Wohle des Ganzen und der Ein— zelnen in jedem menſchlichen Staate getroffen ſind, die zweckmäßige Thätigkeit eines perſönlichen überirdiſchen Schöpfers erkennen zu wol— len. Vielmehr weiß Jedermann, daß jene zweckmäßigen Organiſa— tionseinrichtungen des Staats die Folge von dem Zuſammenwirken der einzelnen Bürger und ihrer Regierung, ſowie von deren Anpaſſung an die Exiſtenzbedingungen der Außenwelt ſind. Ganz ebenſo müſſen wir aber auch den mehrzelligen Organismus beurtheilen. Auch in dieſen ſind alle zweckmäßigen Einrichtungen lediglich die natürliche und nothwendige Folge des Zuſammenwirkens, der Differenzirung und Vervollkommnung der einzelnen Staatsbürger, der Zellen; und nicht etwa die künſtlichen Einrichtungen eines zweckmäßig thätigen Schöpfers. Wenn Sie dieſen Vergleich recht erwägen und weiter ver— folgen, wird Ihnen deutlich die Verkehrtheit jener dualiſtiſchen Natur⸗ anſchauung klar werden, welche in der Zweckmäßigkeit der Organi⸗ ſation die Wirkung eines ſchöpferiſchen Bauplans ſucht. Laſſen Sie uns nun die individuelle Entwickelung des Wirbel- thierkörpers noch einige Schritte weiter verfolgen, und ſehen, was die Staatsbürger dieſes embryonalen Organismus zunächſt anfangen. In der Mittellinie der geigenförmigen Scheibe, welche aus den drei— 0 270 Entſtehung des Rückenmarks der Wirbelthiere. zelligen Keimblättern zuſammengeſetzt iſt, entſteht eine gerade feine Furche, die ſogenannte „Primitivrinne“, durch welche der geigenför— mige Leib in zwei gleiche Seitenhälften abgetheilt wird, ein rechtes und ein linkes Gegenſtück oder Antimer. Beiderſeits jener Rinne oder Furche erhebt ſich das obere oder äußere Keimblatt in Form einer Längsfalte, und beide Falten wachſen dann über der Rinne in der Mittellinie zuſammen und bilden fo ein cylindriſches Rohr. Dieſes Rohr heißt das Markrohr oder Medullarrohr, weil es die Anlage des Centralnervenſyſtems, des Rückenmarks (Medulla spinalis) iſt. Anfangs iſt daſſelbe vorn und hinten zugeſpitzt, und ſo bleibt daſſelbe bei den niederſten Wirbelthieren, den gehirnloſen und ſchädelloſen Lan— zetthieren (Amphioxus) zeitlebens. Bei allen übrigen Wirbelthieren aber, die wir von letzteren als Schädelthiere oder Kranioten unter— ſcheiden, wird alsbald ein Unterſchied zwiſchen vorderem und hinterem Ende des Medullarrohrs ſichtbar, indem das erſtere ſich aufbläht und in eine rundliche Blaſe, die Anlage des Gehirns verwandelt. Bei allen Kranioten, d. h. bei allen mit Schädel und Gehirn verſehenen Wirbelthieren, zerfällt das Gehirn, welches anfangs bloß die blaſenförmige Auftreibung vom vorderen Ende des Rückenmarks iſt, bald in fünf hinter einander liegende Blaſen, indem ſich vier oberflächliche quere Einſchnürungen bilden. Dieſe fünf Hirnbla— ſen, aus denen ſich ſpäterhin alle verſchiedenen Theile des ſo ver— wickelt gebauten Gehirns hervorbilden, find an dem in Fig. 7 ab— gebildeten Embryo in ihrer urſprünglichen Anlage zu erblicken. Es iſt ganz gleich, ob wir den Embryo eines Hundes, eines Huhnes, einer Schildkröte oder irgend eines anderen höheren Wirbelthieres betrachten. Denn die Embryonen der verſchiedenen Schädelthiere (min— deſtens der drei höheren Claſſen, der Reptilien, Vögel und Säuge— thiere) ſind in dem, Fig. 7 dargeſtellten Stadium noch gar nicht zu unterſcheiden. Die ganze Körperform iſt noch höchſt einfach, eine dünne, blattförmige Scheibe. Geſicht, Beine, Eingeweide u. ſ. w. fehlen noch gänzlich. Aber die fünf Hirnblaſen ſind ſchon deutlich von einander abgeſetzt. Entſtehung des Gehirns der Wirbelthiere. 271 Fig. 7. Fig. 7. Embryo eines Säugethieres oder Vo— gels, in dem ſoeben die fünf Hirnblaſen angelegt find. » Vorderhirn. » Zwiſchenhirn. m Mittel- hirn. „ Hinterhirn. „ Nachhirn. 5 Rückenmark. a Augenblaſen. ** Urwirbel. 4 Rückenſtrang oder Chorda. Die erſte Blaſe, das Vorderhirn (v) iſt inſofern die wichtigſte, als ſie vorzugs- weiſe die ſogenannten großen Hemiſphä— ren, oder die Halbkugeln des großen Ge— hirns bildet, desjenigen Theiles, welcher der Sitz der höheren Geiſtesthätigkeiten iſt. Je höher dieſe letzteren ſich bei dem Wirbelthier entwickeln, deſto mehr wachſen die beiden Seitenhälften des Vorderhirns oder die gro— ßen Hemiſphären auf Koſten der vier übri— 5 gen Blaſen und legen ſich von vorn und oben her über die anderen herüber. Beim Menſchen, wo ſie ver— hältnißmäßig am ſtärkſten entwickelt ſind, entſprechend der höheren Geiſtesentwickelung, bedecken ſie ſpäter die übrigen Theile von oben her faſt ganz. (Vergl. Taf. II und III.) Die zweite Blaſe, das Zwiſchenhirn (2) bildet beſonders denjenigen Gehirntheil, welchen man Sehhügel nennt, und ſteht in der nächſten Beziehung zu den Augen (a), welche als zwei Blaſen rechts und links aus dem Vor— derhirn hervorwachſen und ſpäter am Boden des Zwiſchenhirns lie— gen. Die dritte Blaſe, das Mittelhirn (m) geht größtentheils in der Bildung der ſogenannten Vierhügel auf, eines hochgewölb— ten Gehirntheiles, welcher beſonders bei den Reptilien und bei den Vögeln ſtark ausgebildet iſt (Fig. E, F, Taf. II), während er bei den Säugethieren viel mehr zurücktritt (Fig. G, H, Taf. III). Die vierte Blaſe, das Hinterhirn (h) bildet die ſogenannten klei— nen Hemiſphären oder die Halbkugeln nebſt dem Mitteltheil des kleinen Gehirns (Cerebellum), einen Gehirntheil, über deſſen Bedeutung 272 Bildung und Bedeutung der fünf Hirnblaſen der Wirbelthiere. man die widerſprechendſten Vermuthungen hegt, der aber vorzugs⸗ weiſe die Coordination der Bewegungen zu regeln ſcheint. Endlich die fünfte Blaſe, das Nachhirn (n), bildet ſich zu demjenigen ſehr wichtigen Theile des Centralnervenſyſtems aus, welchen man das verlängerte Mark (Medulla oblongata) nennt. Es iſt das Cen⸗ tralorgan der Athembewegungen und anderer wichtiger Functionen, und ſeine Verletzung führt ſofort den Tod herbei, während man die großen Hemiſphären des Vorderhirns (oder das Organ der „Seele“ im engeren Sinne) ſtückweiſe abtragen und zuletzt ganz vernichten kann, ohne daß das Wirbelthier deßhalb ſtirbt; nur ſeine höheren Geiſtesthätigkeiten ſchwinden dadurch. Dieſe fünf Hirnblaſen ſind urſprünglich bei allen Wirbelthieren, die überhaupt ein Gehirn beſitzen, gleichmäßig angelegt, und bilden ſich erſt allmählich bei den verſchiedenen Gruppen ſo verſchiedenartig aus, daß es nachher ſehr ſchwierig iſt, in den ganz entwickelten Ge— hirnen die gleichen Theile wieder zu erkennen. In dem frühen Ent- wickelungsſtadium, welches in Fig. 7 dargeſtellt iſt, erſcheint es noch ganz unmöglich, die Embryonen der verſchiedenen Säugethiere, Vögel und Reptilien von einander zu unterſcheiden. Wenn Sie dagegen die viel weiter entwickelten Embryonen auf Taf. II und III mit ein⸗ ander vergleichen, werden Sie ſchon deutlich die ungleichartige Aus— bildung erkennen, und namentlich wahrnehmen, daß das Gehirn der beiden Säugethiere (8) und (I) ſchon ſtark von dem der Vögel (F) und Reptilien (E) abweicht. Bei letzteren beiden zeigt bereits das Mittelhirn, bei den erſteren dagegen das Vorderhirn fein Ueber— gewicht. Aber auch noch in dieſem Stadium iſt das Gehirn des Vogels (F) von dem der Schildkröte (E) kaum verſchieden, und ebenfo iſt das Gehirn des Hundes (8) demjenigen des Menſchen (H) jetzt noch faſt gleich. Wenn Sie dagegen die Gehirne dieſer vier Wirbelthiere im ausgebildeten Zuſtande mit einander vergleichen, ſo finden Sie dieſelben in allen anatomiſchen Einzelheiten ſo ſehr ver— ſchieden, daß Sie nicht einen Augenblick darüber in Zweifel fein kön⸗ nen, welchem Thiere jedes Gehirn angehört. * 7 8 =: ** 2 ’ y | ) — 5 5 3 . 8 - * : 2 PR = g b Be! er > 2 * — P * * 5 5 — “ 1 5 * N R } * * 2 25% RE a . + — EEE Far 2 4 x u - y . j 7 >, . 7 5 * 5 5 — n 3 er) hieime oder Embripen. Taf. I. . 7 N A 2727 et — ! 2 x E m £ 5 — — x * v. Dorderhirn: at. kmwischenhirn: m. Mittelhirn. hIhnterhirn.. 2 n. Vachhirn: w. Wirbel. r Rückenmarte: r Wirbelthieren. DoN DIE Taf. IH. 3 DON | Bann TREE INNERN I name IW Grohmannse 5 na Nase. a Auge: G. Ohr. Ji JJ. Liiemenbogen. , Schwanr. derbein: bh. Hinterbein . bv. Dor Entwickelung der Extremitäten der Wirbelthiere. 273 Ich habe Ihnen hier die urſprüngliche Gleichheit und die erſt allmählich eintretende und dann immer wachſende Sonderung oder Differenzirung des Embryon bei den verſchiedenen Wirbelthieren ſpe— ciell an dem Beiſpiele des Gehirns erläutert, weil gerade dieſes Organ der Seelenthätigkeit von ganz beſonderem Intereſſe iſt. Ich hätte aber ebenſo gut das Herz oder die Leber oder die Gliedmaßen, kurz jeden anderen Körpertheil ſtatt deſſen anführen können, da ſich immer daſſelbe Schöpfungswunder hier wiederholt, nämlich die That— ſache, daß alle Theile urſprünglich bei den verſchiedenen Wirbelthieren gleich ſind, und daß erſt allmählich die Verſchiedenheiten ſich aus— bilden, durch welche die verſchiedenen Klaſſen, Ordnungen, Familien, Gattungen u. ſ. w. ſich von einander ſondern und abſtufen. Es giebt gewiß wenige Körpertheile, welche ſo verſchiedenartig ausgebildet ſind, wie die Gliedmaßen oder Extremitäten der verſchiedenen Wirbelthiere. (Vergl. Taf. IV, S. 363, und deren Er— klärung im Anhang). Nun bitte ich Sie, in Fig. A—H auf Taf. II und III die vorderen Extremitäten (b v) der verſchiedenen Embryonen mit einander zu vergleichen, und Sie werden kaum im Stande ſein, irgend welche bedeutende Unterſchiede zwiſchen dem Arm des Men— ſchen (H by), dem Flügel des Vogels (Fb ev), dem ſchlanken Vor— derbein des Hundes (G by) und dem plumpen Vorderbein der Schild— kröte (Eb v) zu erkennen. Ebenſo wenig werden Sie bei Verglei— chung der hinteren Extremität (bh) in dieſen Figuren herausfinden, wodurch das Bein des Menſchen (Hb h) und des Vogels (F bh), das Hinterbein des Hundes (G bh) und der Schildkröte (Eb h) ſich unterſcheiden. Vordere ſowohl als hintere Extremitäten ſind jetzt noch kurze und breite Platten, an deren Endausbreitung die Anlagen der fünf Zehen noch durch Schwimmhaut verbunden ſind. In einem noch früheren Stadium (Fig. A—D) find die fünf Zehen noch nicht einmal angelegt, und es iſt ganz unmöglich, auch nur vordere und hintere Gliedmaßen zu unterſcheiden. Dieſe ſowohl als jene ſind nichts als ganz einfache, rundliche Fortſätze, welche aus der Seite des Rumpfes hervorgeſproßt ſind. In dem frühen Stadium, welches Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 18 274 Entwickelung der Kiemenbogen der Wirbelthiere. Fig. 7 darſtellt, fehlen dieſelben überhaupt noch ganz, und der ganze Embryo iſt ein einfacher Rumpf ohne eine Spur von Gliedmaßen. An den auf Taf. II und III dargeſtellten Embryonen aus der vierten Woche der Entwickelung (Fig. A—D), in denen Sie jetzt wohl noch keine Spur des erwachſenen Thieres werden erkennen können, möchte ich Sie noch beſonders aufmerkſam machen auf eine äußerſt wichtige Bildung, welche allen Wirbelthieren urſprünglich gemeinſam iſt, welche aber ſpäterhin zu den verſchiedenſten Organen umgebildet wird. Sie kennen gewiß Alle die Kiemenbogen der Fiſche, jene knöchernen Bogen, welche zu drei oder vier hinter einander auf jeder Seite des Halſes liegen, und welche die Athmungsorgane der Fiſche, die Kiemen tragen (Doppelreihen von rothen Blättchen, welche das Volk „Fiſchohren“ nennt). Dieſe Kiemenbogen nun ſind beim Men— ſchen (D) und beim Hunde (C), beim Huhne (B) und bei der Schild— kröte (A) urſprünglich ganz ebenſo vorhanden, wie bei allen übrigen Wirbelthieren. (In Fig. A—D find die drei Kiemenbogen der rech— ten Halsſeite mit den Buchſtaben k 1, k 2, k3 bezeichnet). Allein nur bei den Fiſchen bleiben dieſelben in der urſprünglichen Anlage beſtehen und bilden ſich zu Athmungsorganen aus. Bei den übri— gen Wirbelthieren werden dieſelben theils zur Bildung des Geſichts, theils zur Bildung des Gehörorgans verwendet. Endlich will ich nicht verfehlen, Sie bei Vergleichung der auf Taf. II und III abgebildeten Embryonen nochmals auf das Schwänz— chen des Menſchen (s) aufmerkſam zu machen, welches derſelbe mit allen übrigen Wirbelthieren in der urſprünglichen Anlage theilt. Die Auffindung „geſchwänzter Menſchen“ wurde lange Zeit von vielen Moniſten mit Sehnſucht erwartet, um darauf eine nähere Verwandt— ſchaft des Menſchen mit den übrigen Säugethieren begründen zu kön— nen. Und ebenſo hoben ihre dualiſtiſchen Gegner oft mit Stolz her— vor, daß der gänzliche Mangel des Schwanzes einen der wichtigſten körperlichen Unterſchiede zwiſchen dem Menſchen und den Thieren bilde, wobei ſie nicht an die vielen ſchwanzloſen Thiere dachten, die es wirk— lich giebt. Nun beſitzt aber der Menſch in den erſten Monaten der ; Der Schwanz des Menſchen. 275 Entwickelung ebenſo gut einen wirklichen Schwanz, wie die nächſt— verwandten ſchwanzloſen Affen (Orang, Schimpanſe, Gorilla) und wie die Wirbelthiere überhaupt. Während derſelbe aber bei den Mei— ſten, z. B. beim Hunde (Fig. C, G) im Laufe der Entwickelung immer länger wird, bildet er ſich beim Menſchen (Fig. D, H) und bei den ungeſchwänzten Säugethieren von einem gewiſſen Zeitpunkt der Ent— wickelung an zurück und verwächſt zuletzt völlig. Indeſſen iſt auch beim ausgebildeten Menſchen der Reſt des Schwanzes als verkümmer— tes oder rudimentäres Organ noch in den drei bis fünf Schwanzwir— beln (Vertebrae coccygeae) zu erkennen, welche das hintere oder untere Ende der Wirbelſäule bilden (S. 258). Die meiſten Menſchen wollen noch gegenwärtig die wichtigſte Folgerung der Deſcendenztheorie, die paläontologiſche Entwickelung des Menſchen aus affenähnlichen und weiterhin aus niederen Säuge— thieren nicht anerkennen, und halten eine ſolche Umbildung der orga— niſchen Form für unmöglich. Ich frage Sie aber, ſind die Erſchei— nungen der individuellen Entwickelung des Menſchen, von denen ich Ihnen hier die Grundzüge vorgeführt habe, etwa weniger wunder— bar? Iſt es nicht im höchſten Grade merkwürdig, daß alle Wirbel— thiere aus den verſchiedenſten Klaſſen, Fiſche, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere, in den erſten Zeiten ihrer embryonalen Ent— wickelung gerade nicht zu unterſcheiden ſind, und daß ſelbſt viel ſpä— ter noch, in einer Zeit, wo bereits Reptilien und Vögel ſich deutlich von den Säugethieren unterſcheiden, Hund und Menſch noch beinahe identiſch ſind? Fürwahr, wenn man jene beiden Entwickelungsreihen mit einander vergleicht, und ſich fragt, welche von beiden wunder— barer iſt, ſo muß uns die Ontogenie oder die kurze und ſchnelle Entwickelungsgeſchichte des Individuums viel räthſelhafter er— ſcheinen, als die Phylogenie oder die lange und langſame Ent— wickelungsgeſchichte des Stammes. Denn eine und dieſelbe groß— artige Formwandelung und Umbildung wird von der letzteren im Lauf von vielen tauſend Jahren, von der erſteren dagegen im Laufe weniger Monate vollbracht. Offenbar iſt dieſe überaus ſchnelle und 18 * 276 Urſächlicher Zuſammenhang der Ontogeneſis und Phylogeneſis. auffallende Umbildung des Individuums in der Ontogeneſis, welche wir jeden Augenblick thatſächlich durch directe Beobachtung feſtſtellen können, an ſich viel wunderbarer, viel erſtaunlicher, als die entſpre— chende, aber viel langſamere und allmählichere Umbildung, welche die lange Vorfahrenkette deſſelben Individuums in der Phylogeneſis durchgemacht hat. Beide Reihen der organiſchen Entwickelung, die Ontogeneſis des Individuums, und die Phylogeneſis des Stammes, zu welchem daſ— ſelbe gehört, ſtehen im innigſten urſächlichen Zuſammenhange. Ich habe dieſe Theorie, welche ich für äußerſt wichtig halte, im zweiten Bande meiner generellen Morphologie “) ausführlich zu begründen verſucht. Wie ich dort zeigte, iſt die Ontogeneſis, oder die Entwickelung des Individuums, eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung bedingte Wiederholung (Recapitulation) der Phylogeneſis oder der Entwickelung des zugehörigen Stammes, d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Individuums bil— den. Dieſer fundamentale Satz iſt das wichtigſte allgemeine Geſetz der organiſchen Entwickelung, das biogenetiſche Grundgeſetz. (Gen. Morph. II, S. 110 — 147, 371.) In dieſem innigen Zuſammenhang der Ontogenie und Phylo— genie erblicke ich einen der wichtigſten und unwiderleglichſten Beweiſe der Deſcendenztheorie. Es vermag Niemand dieſe Erſcheinungen zu erklären, wenn er nicht auf die Vererbungs- und Anpaſſungsgeſetze zurückgeht; durch dieſe erſt ſind ſie erklärlich. Ganz beſonders verdie— nen dabei die Geſetze unſere Beachtung, welche wir früher als die Geſetze der abgekürzten, der gleichzeitlichen und der gleichörtlichen Vererbung erläutert haben. Indem ſich ein ſo hochſtehender und verwickelter Organismus, wie es der menſchliche oder der Organismus jedes anderen Säugethiers iſt, von jener ein— fachen Zellenſtufe an aufwärts erhebt, indem er fortſchreitet in ſeiner Differenzirung und Vervollkommnung, durchläuft er dieſelbe Reihe von Umbildungen, welche ſeine thieriſchen Ahnen vor undenklichen Parallelismus der individuellen und der paläontologiſchen Entwickelung. 277 Zeiten, während ungeheurer Zeiträume durchlaufen haben. Schon früher habe ich auf dieſen äußerſt wichtigen Parallelismus der indivi— duellen und Stammesentwickelung hingewieſen (S. 10). Gewiſſe, ſehr frühe und tief ſtehende Entwickelungsſtadien des Menſchen und der höheren Wirbelthiere überhaupt entſprechen durchaus gewiſſen Bil— dungen, welche zeitlebens bei niederen Fiſchen fortdauern. Es folgt dann eine Umbildung des fiſchähnlichen Körpers zu einem amphibien— artigen. Viel ſpäter erſt entwickelt ſich aus dieſem der Säugethier— körper mit ſeinen beſtimmten Charakteren, und man kann hier wieder in den auf einander folgenden Entwickelungsſtadien eine Reihe von Stufen fortſchreitender Umbildung erkennen, welche offenbar den Ver— ſchiedenheiten verſchiedener Säugethier-Ordnungen und Familien ent— ſprechen. In derſelben Reihenfolge ſehen wir aber auch die Vorfahren des Menſchen und der höheren Säugethiere in der Erdgeſchichte nach einander auftreten: zuerſt Fiſche, dann Amphibien, ſpäter niedere und zuletzt erſt höhere Säugethiere. Hier iſt alſo die embryonale Ent— wickelung des Individuums durchaus parallel der paläontologiſchen Entwickelung des ganzen zugehörigen Stammes; und dieſe äußerſt intereſſante und wichtige Erſcheinung iſt einzig und allein durch die Wechſelwirkung der Vererbungs- und Anpaſſungsgeſetze zu erklären. Das zuletzt angeführte Beiſpiel von dem Parallelismus der pa— läontologiſchen und der individuellen Entwickelungsreihe lenkt nun unſere Aufmerkſamkeit noch auf eine dritte Entwickelungsreihe, welche zu dieſen beiden in den innigſten Beziehungen ſteht und denſelben eben— falls im Ganzen parallel läuft. Das iſt nämlich diejenige Entwicke— lungsreihe von Formen, welche das Unterſuchungsobject der ver— gleichenden Anatomie iſt, und welche wir kurz die ſyſtema— tiſche oder fpecififhe Entwickelung nennen wollen. Wir verſtehen darunter die Kette von verſchiedenartigen, aber doch ver— wandten und zuſammenhängenden Formen, welche zu irgend einer Zeit der Erdgeſchichte, alſo z. B. in der Gegenwart, neben einan— der exiſtiren. Indem die vergleichende Anatomie die verſchiedenen ausgebildeten Formen der entwickelten Organismen mit einander ver— 278 Parallelismus der individuellen und der ſyſtematiſchen Entwickelung. gleicht, ſucht ſie das gemeinſame Urbild zu erkennen, welches den man— nichfaltigen Formen der verwandten Arten, Gattungen, Klaſſen u. ſ. w. zu Grunde liegt, und welches durch deren Differenzirung nur mehr oder minder verſteckt wird. Sie ſucht die Stufenleiter des Fortſchritts feſtzuſtellen, welche durch den verſchiedenen Vervollkommnungsgrad der divergenten Zweige des Stammes bedingt iſt. Um bei dem ange— führten Beiſpiele zu bleiben, ſo zeigt uns die vergleichende Anatomie, wie die einzelnen Organe und Organſyſteme des Wirbelthierſtammes in den verſchiedenen Klaſſen, Familien, Arten deſſelben ſich ungleich— artig entwickelt, differenzirt und vervollkommnet haben. Sie erklärt uns, in welchen Beziehungen die Reihenfolge der Wirbelthierklaſſen von den Fiſchen aufwärts durch die Amphibien zu den Säugethieren, und hier wieder von den niederen zu den höheren Säugethierordnun— gen, eine aufſteigende Stufenleiter bildet. Dieſem Beſtreben, eine zuſammenhängende anatomiſche Entwickelungsreihe herzuſtellen, be— gegnen Sie in den Arbeiten der großen vergleichenden Anatomen aller Zeiten, in den Arbeiten von Goethe, Meckel, Cuvier, Johan— nes Müller, Gegenbaur, Huxley. Die Entwickelungsreihe der ausgebildeten Formen, welche die vergleichende Anatomie in den verſchiedenen Divergenz- und Fort— ſchrittsſtufen des organiſchen Syſtems nachweiſt, und welche wir die ſyſtematiſche Entwickelungsreihe nannten, iſt parallel der paläontolo— giſchen Entwickelungsreihe, weil ſie das anatomiſche Reſultat der letz— teren betrachtet, und ſie iſt parallel der individuellen Entwickelungs— reihe, weil dieſe ſelbſt wiederum der paläontologiſchen parallel iſt. Wenn zwei Parallelen einer dritten parallel ſind, ſo müſſen ſie auch unter einander paräͤllel fein. Die mannichfaltige Differenzirung und der ungleiche Grad von Vervollkommnung, welchen die vergleichende Anatomie in der Ent— wickelungsreihe des Syſtems nachweiſt, iſt weſentlich bedingt durch die zunehmende Mannichfaltigkeit der Exiſtenzbedingungen, denen ſich die verſchiedenen Gruppen im Kampf um das Daſein anpaßten, und durch den verſchiedenen Grad von Schnelligkeit und Vollſtändigkeit, Niedere conſervative und höhere progreſſive Gruppen. 279 mit welchem dieſe Anpaſſung geſchah. Die conſervativen Gruppen, welche die ererbten Eigenthümlichkeiten am zäheſten feſthielten, blieben in Folge deſſen auf der tiefſten und roheſten Entwickelungsſtufe ſtehen. Die am ſchnellſten und vielſeitigſten fortſchreitenden Gruppen, welche ſich den vervollkommneten Exiſtenzbedingungen am bereitwilligſten anpaßten, erreichten ſelbſt den höchſten Vollkommenheitsgrad. Je weiter ſich die organiſche Welt im Laufe der Erdgeſchichte entwickelte, deſto größer mußte die Divergenz der niederen conſervativen und der höheren progreſſiven Gruppen werden, wie das ja eben ſo auch aus der Völkergeſchichte erſichtlich iſt. Hieraus erklärt ſich auch die hiſto— riſche Thatſache, daß die vollkommenſten Thier- und Pflanzengruppen ſich in verhältnißmäßig kurzer Zeit zu ſehr bedeutender Höhe entwickelt haben, während die niedrigſten, conſervativſten Gruppen durch alle Zeiten hindurch auf der urſprünglichen, roheſten Stufe ſtehen geblie— ben, oder nur ſehr langſam und allmählich etwas fortgeſchritten ſind. Auch die Ahnenreihe des Menſchen zeigt dies Verhältniß deutlich. Die Haifiſche der Jetztzeit ſtehen den Urfiſchen, welche zu den älteſten Wirbelthierahnen des Menſchen gehören, noch ſehr nahe, ebenſo die heutigen niederſten Amphibien (Kiemenmolche und Salamander) den Amphibien, welche ſich aus jenen zunächſt entwickelten. Und ebenſo ſind unter den ſpäteren Vorfahren des Menſchen die Monotremen und Beutelthiere, die älteſten Säugethiere, zugleich die unvollkom— menſten Thiere dieſer Klaſſe, die heute noch leben. Die uns bekann— ten Geſetze der Vererbung und Anpaſſung genügen vollſtändig, um dieſe äußerſt wichtige und intereſſante Erſcheinung zu erklären, die man kurz als den Parallelismus der individuellen, der pa- läontologiſchen und der ſyſtematiſchen Entwickelung, des betreffenden Fortſchrittes und der betreffenden Differenzirung bezeichnen kann. Kein Gegner der Deſcendenztheorie iſt im Stande geweſen, für dieſe höchſt wunderbare Thatſache eine Erklärung zu liefern, während fie ſich nach der Deſcendenztheorie aus den Geſe— tzen der Vererbung und Anpaſſung vollkommen erklärt. Wenn Sie dieſen Parallelismus der drei organiſchen Entwicke— 280 Parallelismus der drei organiſchen Entwickelungsreihen. lungsreihen ſchärfer in's Auge faſſen, ſo müſſen Sie noch folgende nähere Beſtimmung hinzufügen. Die Ontogenie oder die indivi— duelle Entwickelungsgeſchichte jedes Organismus (Embryologie und Metamorphologie) bildet eine einfache, unverzweigte oder leiter— förmige Kette von Formen; und ebenſo derjenige Theil der Phy— logenie, welcher die paläontologiſche Entwickelungsgeſchichte der directen Vorfahren jenes individuellen Organismus enthält. Dagegen bildet die ganze Phylogenie, welche uns in dem na— türlichen Syſtem jedes organiſchen Stammes oder Phylum ent— gegentritt, und welche die paläontologiſche Entwickelung aller Zweige dieſes Stammes unterſucht, eine verzweigte oder baumförmige Entwickelungsreihe, einen wirklichen Stammbaum. Unterſuchen Sie vergleichend die entwickelten Zweige dieſes Stammbaums und ſtellen Sie dieſelben nach dem Grade ihrer Differenzirung und Vervollkomm— nung zuſammen, ſo erhalten Sie die baumförmig verzweigte ſyſte— matiſche Entwickelungsreihe der vergleichenden Anatomie. Genau genommen iſt alſo dieſe letztere der ganzen Phylogenie und mithin nur theilweiſe der Ontogenie parallel; denn die Onto— genie ſelbſt iſt nur einem Theile der Phylogenie parallel. Alle im Vorhergehenden erläuterten Erſcheinungen der organi— ſchen Entwickelung, insbeſondere dieſer dreifache genealogiſche Paralle— lismus, und die Differenzirungs- und Fortſchrittsgeſetze, welche in jeder dieſer drei organiſchen Entwickelungsreihen ſichtbar ſind, ſodann die ganze Erſcheinungsreihe der rudimentären Organe, ſind äußerſt wichtige Belege für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. Denn ſie ſind nur durch dieſe zu erklären, während die Gegner derſelben auch nicht die Spur einer Erklärung dafür aufbringen können. Ohne die Abſtammungslehre läßt ſich die Thatſache der organiſchen Entwicke— lung überhaupt nicht begreifen. Wir würden daher gezwungen ſein, auf Grund derſelben Lamarck's Deſcendenztheorie anzunehmen, auch wenn wir nicht Darwin's Züchtungstheorie beſäßen. * Dreizehnter Vortrag. Eutwickelungstheorie des Weltalls und der Erde. Ur: zeugung. Kohlenſtofftheorie. Plaſtidentheorie. Entwickelungsgeſchichte der Erde. Kant's Entwickelungstheorie des Weltalls oder die kosmologiſche Gastheorie. Entwickelung der Sonnen, Planeten und Monde. Erſte Entſtehung des Waſſers. Vergleichung der Organismen und Anorgane. Or⸗ ganiſche und anorganiſche Stoffe. Dichtigkeitsgrade oder Aggregatzuſtände. Eiweiß⸗ artige Kohlenſtoffverbindungen. Organiſche und anorganiſche Formen. Kryſtalle und ſtructurloſe Organismen ohne Organe. Stereometriſche Grundformen der Kry- ſtalle und der Organismen. Organiſche und anorganiſche Kräfte. Lebenskraft. Wachsthum und Anpaſſung bei Kryſtallen und bei Organismen. Bildungstriebe der Kryſtalle. Einheit der organiſchen und anorganiſchen Natur. Urzeugung oder Archigonie. Autogonie und Plasmogonie. Entſtehung der Moneren durch Urzeu⸗ gung. Entſtehung der Zellen aus Moneren. Zellentheorie. Plaſtidentheorie. Plaſtiden oder Bildnerinnen. Cytoden und Zellen. Vier verſchiedene Arten von Plaſtiden. Meine Herren! Durch unſere bisherigen Betrachtungen haben wir vorzugsweiſe die Frage zu beantworten verſucht, durch welche Urſachen neue Arten von Thieren und Pflanzen aus beſtehenden Ar— ten hervorgegangen find. Wir haben dieſe Frage nach Darwin's Theorie dahin beantwortet, daß die natürliche Züchtung im Kampf um's Daſein, d. h. die Wechſelwirkung der Vererbungs- und Anpaſ— ſungsgeſetze völlig genügend iſt, um die unendliche Mannichfaltigkeit der verſchiedenen, ſcheinbar zweckmäßig nach einem Bauplane orga⸗ niſirten Thiere und Pflanzen mechaniſch zu erzeugen. Inzwiſchen wird 282 Entſtehung der erſten Organismen. | ſich Ihnen ſchon wiederholt die Frage aufgedrängt haben: Wie ent- ſtanden aber nun die erſten Organismen, oder der eine urſprüngliche Stammorganismus, von welchem wir alle übrigen ableiten? Dieſe Frage hat Lamarck?) durch die Hypotheſe der Urzeu— gung oder Archigonie beantwortet. Darwin dagegen geht über dieſelbe hinweg, indem er ausdrücklich hervorhebt, daß er „Nichts mit dem Urſprung der geiſtigen Grundkräfte, noch mit dem des Le— bens ſelbſt zu ſchaffen habe“. Am Schluſſe ſeines Werkes ſpricht er ſich darüber beſtimmter in folgenden Worten aus: „Ich nehme an, daß wahrſcheinlich alle organiſchen Weſen, die jemals auf dieſer Erde gelebt, von irgend einer Urform abſtammen, welcher das Leben zuerſt vom Schöpfer eingehaucht worden iſt.“ Außerdem beruft ſich Dar— win zur Beruhigung derjenigen, welche in der Deſcendenztheorie den Untergang der ganzen „ſittlichen Weltordnung“ erblicken, auf einen berühmten Schriftſteller und Geiſtlichen, welcher ihm geſchrieben hatte: „Er habe allmählich einſehen gelernt, daß es eine ebenſo er— habene Vorſtellung von der Gottheit ſei, zu glauben, daß ſie nur einige wenige, der Selbſtentwickelung in andere und nothwendige Formen fähige Urtypen geſchaffen, als daß ſie immer wieder neue Schöpfungsakte nöthig gehabt habe, um die Lücken auszufüllen, welche durch die Wirkung ihrer eigenen Geſetze entſtanden ſeien.“ Diejenigen, denen der Glaube an eine übernatürliche Schöpfung ein Gemüthsbedürfniß iſt, können ſich bei dieſer Vorſtellung beruhigen. Sie können jenen Glauben mit der Deſcendenztheorie vereinbaren; denn ſie können in der Erſchaffung eines einzigen urſprünglichen Organismus, der die Fähigkeit beſaß, alle übrigen durch Vererbung und Anpaſſung aus ſich zu entwickeln, wirklich weit mehr Erfindungs— kraft und Weisheit des Schöpfers bewundern, als in der unabhän— gigen Erſchaffung der verſchiedenen Arten. Wenn wir uns in dieſer Weiſe die Entſtehung der erſten irdi— ſchen Organismen, von denen alle übrigen abſtammen, durch die zweckmäßige und planvolle Thätigkeit eines perſönlichen Schöpfers er- klären wollten, ſo würden wir damit auf eine wiſſenſchaftliche Er— Feſte Rinde und feuerflüſſiger Kern des Erdballs. 283 kenntniß derſelben verzichten, und aus dem Gebiete der wahren Wiſ— ſenſchaft auf das gänzlich getrennte Gebiet der dichtenden Glauben— ſchaft hinübertreten. Wir würden durch die Annahme eines über— natürlichen Schöpfungsaktes einen Sprung in das Unbegreifliche thun. Ehe wir uns zu dieſem letzten Schritte entſchließen und damit auf eine wiſſenſchaftliche Erkenntniß jenes Vorgangs verzichten, ſind wir jedenfalls zu dem Verſuche verpflichtet, denſelben durch eine mecha— niſche Hypotheſe zu beleuchten. Wir müſſen jedenfalls unterſuchen, ob denn wirklich jener Vorgang ſo wunderbar iſt, und ob wir uns keine haltbare Vorſtellung von einer ganz natürlichen Entſtehung je— nes erſten Stammorganismus machen können. Auf das Wunder der Schöpfung würden wir dann gänzlich verzichten können. Es wird hierbei nothwendig ſein, zunächſt etwas weiter auszu— holen und die natürliche Schöpfungsgeſchichte der Erde und, noch weiter zurückgehend, die natürliche Schöpfungsgeſchichte des ganzen Weltalls in ihren allgemeinen Grundzügen zu betrachten. Es wird Ihnen Allen wohl bekannt ſein, daß aus dem Bau der Erde, wie wir ihn gegenwärtig kennen, die Vorſtellung abgeleitet und bis jetzt noch nicht widerlegt iſt, daß das Innere unſerer Erde ſich in einem feurigflüſſigen Zuſtande befindet, und daß die aus verſchiedenen Schichten zuſammengeſetzte feſte Rinde, auf deren Oberfläche die Or— ganismen leben, nur eine ſehr dünne Kruſte oder Schale um den feurigflüſſigen Kern bildet. Zu dieſer Anſchauung ſind wir durch verſchiedene übereinſtimmende Erfahrungen und Schlüſſe gelangt. Zu— nächſt ſpricht dafür die Erfahrung, daß die Temperatur der Erdrinde nach dem Innern hin ſtetig zunimmt. Je tiefer wir hinabſteigen, deſto höher ſteigt die Wärme des Erdbodens, und zwar in dem Ver— hältniß, daß auf jede 100 Fuß Tiefe die Temperatur ungefähr um einen Grad zunimmt. In einer Tiefe von 6 Meilen würde demnach bereits eine Hitze von 1500 5 herrſchen, hinreichend, um die meiſten feſten Stoffe unſerer Erdrinde in geſchmolzenem feuerflüſſigem Zuſtande zu erhalten. Dieſe Tiefe iſt aber erſt der 286ſte Theil des ganzen Erd— durchmeſſers (1717 Meilen). Wir wiſſen ferner, daß Quellen, die 284 Vormaliger geſchmolzener Zuſtand des ganzen Erdballs. aus beträchtlicher Tiefe hervorkommen, eine ſehr hohe Temperatur be— ſitzen, und zum Theil ſelbſt das Waſſer im kochenden Zuſtande an die Oberfläche befördern. Sehr wichtige Zeugen ſind endlich die vulka— niſchen Erſcheinungen, das Hervorbrechen feuerflüſſiger Geſteinsmaſſen durch einzelne berſtende Stellen der Erdrinde hindurch. Alle dieſe Erſcheinungen führen uns mit großer Sicherheit zu der wichtigen An— nahme, daß die feſte Erdrinde nur einen ganz geringen Bruchtheil, noch lange nicht den tauſendſten Theil von dem ganzen Durchmeſſer der Erdkugel bildet, und daß dieſe ſich noch heute größtentheils in ge— ſchmolzenem oder feuerflüſſigem Zuſtande befindet. Wenn wir nun auf Grund dieſer Annahme über die einſtige Ent— wickelungsgeſchichte des Erdballs nachdenken, jo werden wir folgerich⸗ tig noch einen Schritt weiter geführt, nämlich zu der Annahme, daß in früherer Zeit die ganze Erde ein feurigflüſſiger Körper, und daß die Bildung einer dünnen erſtarrten Rinde auf der Oberfläche dieſes Balles erſt ein ſpäterer Vorgang war. Erſt allmählich, durch Aus— ſtrahlung der inneren Gluthhitze an den kalten Weltraum, verdichtete ſich die Oberfläche des glühenden Erdballs zu einer dünnen Rinde. Daß die Temperatur der Erde früher allgemein eine viel höhere war, wird durch viele Erſcheinungen bezeugt. Unter Anderen ſpricht dafür die gleichmäßige Vertheilung der Organismen in früheren Zeiten der Erdgeſchichte. Während bekanntlich jetzt den verſchiedenen Erdzonen und ihren mittleren Temperaturen verſchiedene Bevölkerungen von Thieren und Pflanzen entſprechen, war dies früher entſchieden nicht der Fall, und wir ſehen aus der Vertheilung der Verſteinerungen in den älteren Zeiträumen, daß erſt ſehr ſpät, in einer verhältnißmäßig neuen Zeit der organiſchen Erdgeſchichte (im Beginn der ſogenannten cenolithiſchen oder Tertiärzeit), eine Sonderung der Zonen und dem entſprechend auch ihrer organiſchen Bevölkerung ſtattfand. Während der ungeheuer langen Primär- und Secundärzeit lebten tropiſche Pflan— zen, welche einen ſehr hohen Temperaturgrad bedürfen, nicht allein in der heutigen heißen Zone unter dem Aequator, ſondern auch in der heutigen gemäßigten und kalten Zone. Auch viele andere Erſcheinun— Kant's Entwickelungstheorie des Weltalls. 285 gen haben eine allmähliche Abnahme der Temperatur des Erdkörpers im Ganzen, und insbeſondere eine erſt ſpät eingetretene Abkühlung der Erdrinde von den Polen her kennen gelehrt. In ſeinen ausge— zeichneten „Unterſuchungen über die Entwickelungsgeſetze der organi— ſchen Welt“ hat der vortreffliche Bronn !) die zahlreichen geologi— ſchen und paläontologiſchen Beweiſe dafür zuſammengeſtellt. Auf dieſe Erſcheinungen einerſeits und auf die mathematiſch-aſtro— nomiſchen Erkenntniſſe vom Bau des Weltgebäudes andrerſeits grün— det ſich nun die Theorie, daß die ganze Erde vor undenklicher Zeit, lange vor der erſten Entſtehung von Organismen auf derſelben, ein feuerflüſſiger Ball war. Dieſe Theorie aber ſteht wiederum in Ueber— einſtimmung mit der großartigen Theorie von der Entſtehung des Welt— gebäudes und ſpeciell unſeres Planetenſyſtems, welche auf Grund von mathematiſchen und aſtronomiſchen Thatſachen 1755 unſer kritiſcher Philoſoph Kant 22) aufſtellte, und welche ſpäter die berühmten Ma— thematiker Laplace und Herſchel ausführlicher begründeten. Dieſe Kosmogenie oder Entwickelungstheorie des Weltalls ſteht noch heute in faſt allgemeiner Geltung; ſie iſt durch keine beſſere erſetzt worden, und Mathematiker, Aſtronomen und Geologen haben dieſelbe durch mannichfaltige Beweiſe immer feſter zu ſtützen verſucht. Die Kosmogenie Kant's behauptet, daß das ganze Weltall in unvordenklichen Zeiten ein gasförmiges Chaos bil— dete. Alle Materien, welche auf der Erde und andern Weltkörpern gegenwärtig in verſchiedenen Dichtigkeitszuſtänden, in feſtem, feſtflüſ— ſigem, tropfbarflüſſigem und elaſtiſch flüſſigem oder gasförmigem Ag— gregatzuſtande ſich geſondert finden, bildeten urſprünglich zuſammen eine einzige gleichartige, den Weltraum gleichmäßig erfüllende Maſſe, welche in Folge eines außerordentlich hohen Temperaturgrades in gasförmigem oder luftförmigem, äußerſt dünnem Zuſtande ſich be— fand. Die Millionen von Weltkörpern, welche gegenwärtig auf die verſchiedenen Sonnenſyſteme vertheilt ſind, exiſtirten damals noch nicht. Sie entſtanden erſt in Folge einer allgemeinen Drehbewegung oder Rotation, bei welcher ſich eine Anzahl von feſteren Maſſengrup— 286 Entwickelung der Sonnen, Planeten und Monde. pen mehr als die übrige gasförmige Maſſe verdichteten, und nun auf letztere als Anziehungsmittelpunkte wirkten. So entſtand eine Scheidung des chaotiſchen Urnebels oder Weltgaſes in eine Anzahl von rotirenden Nebelbällen, welche ſich mehr und mehr verdichteten. Auch unſer Sonnenſyſtem war ein ſolcher rieſiger gasförmiger Luft— ball, deſſen Theilchen ſich ſämmtlich um einen gemeinſamen Mittel— punkt, den Sonnenkern, herumdrehten. Der Nebelball ſelbſt nahm durch die Rotationsbewegung, gleich allen übrigen, eine Sphäroid— form oder abgeplattete Kugelgeſtalt an. Während die Centripetalkraft die rotirenden Theilchen immer näher an den feſten Mittelpunkt dis Nebelballs heranzog, und ſo dieſen mehr und mehr verdichtete, war umgekehrt die Centrifugal— kraft beſtrebt, die peripheriſchen Theilchen immer weiter von jenem zu entfernen und ſie abzuſchleudern. An dem Aequatorialrande der an beiden Polen abgeplatteten Kugel war dieſe Centrifugalkraft am ſtärkſten, und ſobald ſie bei weiter gehender Verdichtung das Ueber— gewicht über die Centripetalkraft erlangte, löſte ſich hier eine ring— förmige Nebelmaſſe von dem rotirenden Balle ab. Dieſe Nebelringe zeichneten die Bahnen der zukünftigen Planeten vor. Allmählich ver— dichtete ſich die Nebelmaſſe des Ringes zu einem Planeten, der ſich um ſeine eigene Axe drehte und zugleich um den Centralkörper rotirte. In ganz gleicher Weiſe aber wurden von dem Aequator der Plane— tenmaſſe, ſobald die Centrifugalkraft wieder das Uebergewicht über die Centripetalkraft gewann, neue Nebelringe abgeſchleudert, welche in gleicher Weiſe um die Planeten, wie dieſe um die Sonne ſich bewegten. Auch dieſe Nebelringe verdichteten ſich wieder zu rotiren— den Bällen. So entſtanden die Monde, von denen nur einer um die Erde, aber vier um den Jupiter, ſechs um den Uranus ſich bes. wegen. Der Ring des Saturnus ſtellt uns noch heute einen Mond auf jenem früheren Entwickelungsſtadium dar. Indem bei immer weiter ſchreitender Abkühlung ſich dieſe einfachen Vorgänge der Ver— dichtung und Abſchleuderung vielfach wiederholten, entſtanden die ver— ſchiedenen Sonnenſyſteme, die Planeten, welche ſich rotirend um ihre Kant's kosmologiſche Gastheorie. 287 centrale Sonne, und die Trabanten oder Monde, welche ſich dre— hend um ihren Planeten bewegten. Der anfängliche gasförmige Zuſtand der rotirenden Weltkörper ging allmählich durch fortſchreitende Abkühlung und Verdichtung in den feurigflüſſigen oder geſchmolzenen Aggregatzuſtand über. Durch den Verdichtungsvorgang ſelbſt wurden große Mengen von Wärme frei, und ſo geſtalteten ſich die rotirenden Sonnen, Planeten und Monde bald zu glühenden Feuerbällen, gleich rieſigen geſchmolzenen Metalltropfen, welche Licht und Wärme ausſtrahlten. Durch den da— mit verbundenen Wärmeverluſt verdichtete ſich wiederum die geſchmol— zene Maſſe an der Oberfläche der feuerflüſſigen Bälle und ſo entſtand eine dünne feſte Rinde, welche einen feurigflüſſigen Kern umſchloß. In allen dieſen Beziehungen wird ſich unſere mütterliche Erde nicht weſentlich verſchieden von den übrigen Weltkörpern verhalten haben. Für den Zweck dieſer Vorträge hat es weiter kein beſonderes In— tereſſe, die „natürliche Schöpfungsgeſchichte des Weltalls“ mit ſeinen verſchiedenen Sonnenſyſtemen und Planetenſyſtemen im Einzelnen zu verfolgen und durch alle verſchiedenen aſtronomiſchen und geologiſchen Beweismittel mathematiſch zu begründen. Ich be— gnüge mich daher mit den eben angeführten Grundzügen derſelben und verweiſe Sie bezüglich des Näheren auf Kant's „Allgemeine Naturgeſchichte und Theorie des Himmels“. 22) Nur die Bemerkung will ich noch hinzufügen, daß dieſe bewunderungswürdige Theorie, welche man auch die kosmologiſche Gastheorie nennen könnte, mit allen uns bis jetzt bekannten allgemeinen Erſcheinungsreihen im Einklang, und mit keiner einzigen derſelben in unvereinbarem Wider— ſpruch ſteht. Ferner iſt dieſelbe rein mechaniſch oder moniſtiſch, nimmt ausſchließlich die ureigenen Kräfte der ewigen Materie für ſich in An— ſpruch, und ſchließt jeden übernatürlichen Vorgang, jede zweckmäßige und bewußte Thätigkeit eines perſönlichen Schöpfers vollſtändig aus. Kant's kosmologiſche Gastheorie nimmt daher in der Anorgano— logie, und insbeſondere in der Geologie eine ähnliche herrſchende Stellung ein, und krönt in ähnlicher Weiſe unſere Geſammterkenntniß, 288 Unendlichkeit und Ewigkeit des Weltalls. wie Lamarck's biologiſche Deſcendenztheorie in der ganzen Biolo— gie, und namentlich in der Anthropologie. Beide ſtützen ſich ausſchließlich auf mechaniſche oder bewußtloſe Urſachen (Causae effi- cientes), nirgends auf zweckthätige oder bewußte Urſachen (Causae finales). (Vergl. oben S. 89 — 92.) Beide erfüllen ſomit alle An- forderungen einer wiſſenſchaftlichen Theorie und werden daher in all— gemeiner Geltung bleiben, bis ſie durch eine beſſere erſetzt werden. Allerdings will ich andererſeits nicht verhehlen, daß der großarti— gen Kosmogenie Kant's einige Schwächen anhaften, welche uns nicht geſtatten, ihr daſſelbe unbedingte Vertrauen zu ſchenken, wie Lamarck's Deſcendenztheorie. Große Schwierigkeiten verſchiedener Art hat die Vorſtellung des uranfänglichen gasförmigen Chaos, das den ganzen Weltraum erfüllte. Eine größere und ungelöſte Schwie— rigkeit aber liegt darin, daß die kosmologiſche Gastheorie uns gar keinen Anhaltepunkt liefert für die Erklärung des erſten Anſtoßes, der die Rotationsbewegung in dem gaserfüllten Weltraum verurſachte. Beim Suchen nach einem ſolchen Anſtoß werden wir unwillkürlich zu der falſchen Frage nach dem „erſten Anfang“ verführt. Einen erſten Anfang können wir aber für die ewigen Bewegungserſcheinungen des Weltalls ebenſo wenig denken, als ein ſchließliches Ende. Das Weltall iſt nach Raum und Zeit unbeſchränkt und unermeß— lich. Es iſt ewig und es iſt unendlich. Aber auch für die ununter— brochene und ewige Bewegung, in welcher ſich alle Theilchen des Weltalls beſtändig befinden, können wir uns keinen Anfang und kein Ende denken. Die großen Geſetze von der Erhaltung der Kraftss) und von der Erhaltung des Stoffes, die Grund— lagen unſerer ganzen Naturanſchauung, laſſen keine andere Vorſtel— lung zu. Die Welt, ſoweit fie dem Erkenntnißvermögen des Men- ſchen zugänglich iſt, erſcheint als eine zuſammenhängende Kette von materiellen Bewegungserſcheinungen, die einen fortwährenden urſäch— lichen Wechſel der Formen bedingen. Jede Form, als das zeitweilige Reſultat einer Summe von Bewegungserſcheinungen, iſt als ſolches vergänglich und von beſchränkter Dauer. Aber in dem beſtändigen * Kant's kosmologiſche Gastheorie. 289 Wechſel der Formen bleibt die Materie und die davon untrennbare Kraft ewig und unzerſtörbar. Wenn nun auch Kant's kosmologiſche Gastheorie nicht im Stande iſt, die Entwickelungsgeſchichte des ganzen Weltalls in be— friedigender Weiſe über jenen Zuſtand des gasförmigen Chaos hinaus aufzuklären, und wenn auch außerdem noch mancherlei gewichtige Be— denken, namentlich von chemiſcher und geologiſcher Seite her, ſich ge— gen ſie aufwerfen laſſen, ſo müſſen wir ihr doch anderſeits das große Verdienſt laſſen, den ganzen Bau des unſerer Beobachtung zugäng— lichen Weltgebäudes, die Anatomie der Sonnenſyſteme und ſpeciell unſeres Planetenſyſtems, vortrefflich durch ihre Entwickelungsgeſchichte zu erklären. Vielleicht war dieſe Entwickelung in der That eine ganz andere; vielleicht entſtanden die Planeten und alſo auch unſere Erde, durch Aggregation aus zahlloſen kleinen, im Weltraum zerſtreuten Meteoriten, oder in anderer Weiſe. Aber bisher hat noch Niemand eine andere derartige Entwickelungstheorie zu begründen, und etwas Beſſeres an die Stelle von Kant's Kosmogenie zu ſetzen vermocht. Nach dieſem allgemeinen Blick auf die moniſtiſche Kosmogenie oder die natürliche Entwickelungsgeſchichte des Weltalls laſſen Sie uns zu einem winzigen Bruchtheil deſſelben zurückkehren, zu unſerer mütterlichen Erde, welche wir im Zuſtande einer feurigflüſſigen, an beiden Polen abgeplatteten Kugel verlaſſen haben, deren Oberfläche ſich durch Abkühlung zu einer ganz dünnen feſten Rinde verdichtet hatte. Die erſte Erſtarrungskruſte wird die ganze Oberfläche des Erdſphäroids als eine zuſammenhängende, glatte, dünne Schale gleich— mäßig überzogen haben. Bald aber wurde dieſelbe uneben und höcke— rig. Indem nämlich bei fortſchreitender Abkühlung der feuerflüſſige Kern ſich mehr und mehr verdichtete und zuſammenzog, und ſo der ganze Erddurchmeſſer ſich verkleinerte, mußte die dünne, ſtarre Rinde, welche der weicheren Kernmaſſe nicht nachfolgen konnte, über derſelben vielfach zuſammenbrechen. Es würde zwiſchen beiden ein leerer Raum entſtanden ſein, wenn nicht der äußere Atmoſphärendruck die zerbrech— liche Rinde nach innen hinein gedrückt hätte. Andere Unebenheiten Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 19 290 Erſte Entſtehung der Berge und des Waſſers. entſtanden wahrſcheinlich dadurch, daß an verſchiedenen Stellen die abgekühlte Rinde durch den Erſtarrungsprozeß ſelbſt ſich zuſammenzog und Sprünge oder Riſſe bekam. Der feurigflüſſige Kern quoll von Neuem durch dieſe Sprünge hervor und erſtarrte abermals. So ent— ſtanden ſchon frühzeitig mancherlei Erhöhungen und Vertiefungen, welche die erſten Grundlagen der Berge und der Thäler wurden. Nachdem die Temperatur des abgekühlten Erdballs bis auf einen gewiſſen Grad geſunken war, erfolgte ein ſehr wichtiger neuer Vor— gang, nämlich die erſte Entſtehung des Waſſers. Das Waſ— ſer war bisher nur in Dampfform in der den Erdball umgebenden Atmoſphäre vorhanden geweſen. Offenbar konnte das Waſſer ſich erſt zu tropfbarflüſſigem Zuſtande verdichten, nachdem die Temperatur der Atmoſphäre bedeutend geſunken war. Nun begann die weitere Umbildung der Erdrinde durch die Kraft des Waſſers. Indem daſſelbe beſtändig in Form von Regen niederfiel, hierbei die Erhöhungen der Erdrinde abſpülte, die Vertiefungen durch den abgeſpülten Schlamm ausfüllte, und dieſen ſchichtenweiſe ablagerte, bewirkte es die außer— ordentlich wichtigen neptuniſchen Umbildungen der Erdrinde, welche ſeitdem ununterbrochen fortdauerten, und auf welche wir im nächſten Vortrage noch einen näheren Blick werfen werden. Erſt nachdem die Erdrinde ſo weit abgekühlt war, daß das Waſ— ſer ſich zu tropfbarer Form verdichtet hatte, erſt als die bis dahin trockene Erdkruſte zum erſten Male von flüſſigem Waſſer bedeckt wurde, konnte die Entſtehung der erſten Organismen erfolgen. Denn alle Thiere und alle Pflanzen, alle Organismen überhaupt beſtehen zum großen Theile oder zum größten Theile aus tropfbarflüſſigem Waſſer, welches mit anderen Materien in eigenthümlicher Weiſe ſich verbindet, und dieſe in den feſtflüſſigen Aggregatzuſtand verſetzt. Wir können alſo aus dieſen allgemeinen Grundzügen der anorganiſchen Erdge— ſchichte zunächſt die wichtige Thatſache folgern, daß zu irgend einer be— ſtimmten Zeit das Leben auf der Erde ſeinen Anfang hatte, daß die irdiſchen Organismen nicht von jeher exiſtirten, ſondern in irgend einem beſtimmten Zeitpunkte zum erſten Mal entſtanden. Urzeugung. Vergleichung der Organismen und Anorgane, 291 Wie haben wir uns nun dieſe Entſtehung der erſten Organismen zu denken? Hier iſt derjenige Punkt, an welchem die meiſten Natur— forſcher noch heutzutage geneigt ſind, den Verſuch einer natürlichen Erklärung aufzugeben, und zu dem Wunder einer unbegreiflichen Schöpfung zu flüchten. Mit dieſem Schritt treten ſie, wie ſchon vor— her bemerkt wurde, außerhalb des Gebietes der naturwiſſenſchaftlichen Erkenntniß und verzichten auf jede weitere Einſicht in den nothwendi— gen Zuſammenhang der Naturgeſchichte. Ehe wir muthlos dieſen letz— ten Schritt thun, ehe wir an der Möglichkeit jeder Erkenntniß dieſes wichtigen Vorgangs verzweifeln, wollen wir wenigſtens einen Verſuch machen, denſelben zu begreifen. Laſſen Sie uns ſehen, ob denn wirk— lich die Entſtehung eines erſten Organismus aus anorganiſchem Stoffe, die Entſtehung eines lebendigen Körpers aus lebloſer Materie etwas ganz Undenkbares, außerhalb aller bekannten Erfahrung Stehendes ſei. Laſſen Sie uns mit einem Worte die Frage von der Urzeu— gung oder Archigonie unterſuchen. Vor Allem iſt hierbei erfor— derlich, ſich die hauptſächlichſten Eigenſchaften der beiden Hauptgrup— pen von Naturkörpern, der ſogenannten lebloſen oder anorganiſchen und der belebten oder organiſchen Körper klar zu machen, und das Gemeinſame einerſeits, das Unterſcheidende beider Gruppen andrer— ſeits feſtzuſtellen. Auf dieſe Vergleichung der Organismen und Anorgane müſſen wir hier um ſo mehr eingehen, als ſie ge— wöhnlich ſehr vernachläſſigt wird, und als ſie doch zu einem richtigen, einheitlichen oder moniſtiſchen Verſtändniß der Geſammtnatur ganz nothwendig iſt. Am zweckmäßigſten wird es hierbei ſein, die drei Grundeigenſchaften jedes Naturkörpers, Stoff, Form und Kraft, ge— ſondert zu betrachten. Beginnen wir zunächſt mit dem Stoff. (Gen. Morph. I, 111.) Durch die Chemie ſind wir dahin gelangt, ſämmtliche uns be— kannte Körper zu zerlegen in eine geringe Anzahl von Elementen oder Grundſtoffen, nicht weiter zerlegbaren Körpern, z. B. Kohlenſtoff, Sauerſtoff, Stickſtoff, Schwefel, ferner die verſchiedenen Metalle: Ka- lium, Natrium, Eiſen, Gold u. ſ. w. Man zählt jetzt gegen ſiebzig 19 * 292 Grundſtoffe und Verbindungen der Organismen und Anorgane. ſolcher Elemente oder Grundſtoffe. Die Mehrzahl derſelben iſt ziem— lich unwichtig und ſelten; nur die Minderzahl iſt allgemeiner verbrei— tet und ſetzt nicht allein die meiſten Anorgane, ſondern auch ſämmt— liche Organismen zuſammen. Vergleichen wir nun diejenigen Ele— mente, welche den Körper der Organismen aufbauen, mit denjenigen, welche in den Anorganen ſich finden, ſo haben wir zunächſt die höchſt wichtige Thatſache hervorzuheben, daß im Thier- und Pflanzenkörper kein Grundſtoff vorkommt, der nicht auch außerhalb deſſelben in der lebloſen Natur zu finden wäre. Es giebt keine beſonderen organiſchen Elemente oder Grundſtoffe. Die chemiſchen und phyſikaliſchen Unterſchiede, welche zwiſchen den Organismen und den Anorganen exiſtiren, haben alſo ihren ma— teriellen Grund nicht in einer verſchiedenen Natur der ſie zuſammen— ſetzenden Grundſtoffe, ſondern in der verſchiedenen Art und Weiſe, in welcher die letzteren zu chemiſchen Verbindungen zuſammenge— ſetzt ſind. Dieſe verſchiedene Verbindungsweiſe bedingt zunächſt ge— wiſſe phyſikaliſche Eigenthümlichkeiten, insbeſondere in der Dichtig— keit der Materie, welche auf den erſten Blick eine tiefe Kluft zwi— ſchen beiden Körpergruppen zu begründen ſcheinen. Die geformten anorganiſchen oder lebloſen Naturkörper, die Kryſtalle und die amor— phen Geſteine, befinden ſich in einem Dichtigkeitszuſtande, den wir den feſten nennen, und den wir entgegenſetzen dem tropfbarflüſſigen Dichtigkeitszuſtande des Waſſers und dem gasförmigen Dichtigkeits— zuſtande der Luft. Es iſt Ihnen bekannt, daß dieſe drei verſchiedenen Dichtigkeitsgrade oder Aggregatzuſtände der Anorgane durchaus nicht den verſchiedenen Elementen eigenthümlich, ſondern die Folgen eines beſtimmten Temperaturgrades ſind. Jeder anorganiſche feſte Körper kann durch Erhöhung der Temperatur zunächſt in den tropfbarflüſſi— gen oder geſchmolzenen, und durch weitere Erhitzung in den gasför— migen oder elaſtiſchflüſſigen Zuſtand verſetzt werden. Ebenſo kann jeder gasförmige Körper durch gehörige Erniedrigung der Temperatur zunächſt in den tropfbarflüſſigen und weiterhin in den feſten Dichtig— keitszuſtand übergeführt werden. Dichtigkeitszuſtände der Organismen und Anorgane. 293 Im Gegenſatze zu dieſen drei Dichtigkeitszuſtänden der Anor— gane befindet ſich der lebendige Körper aller Organismen, Thiere ſo— wohl als Pflanzen, in einem ganz eigenthümlichen, vierten Aggregat— zuſtande. Dieſer iſt weder feſt, wie Geſtein, noch tropfbarflüſſig, wie Waſſer, vielmehr hält er zwiſchen dieſen beiden Zuſtänden die Mitte, und kann daher als der feſtflüſſige oder gequollene Aggregatzuſtand bezeichnet werden. In allen lebenden Körpern ohne Ausnahme iſt eine gewiſſe Menge Waſſer mit feſter Materie in ganz eigenthümlicher Art und Weiſe verbunden, und eben durch dieſe charakteriſtiſche Ver— bindung des Waſſers mit der organiſchen Materie entſteht jener weiche, weder feſte noch flüſſige, Aggregatzuſtand, welcher für die mechaniſche Erklärung der Lebenserſcheinungen von der größten Bedeutung iſt. Die Urſache deſſelben liegt weſentlich in den phyſikaliſchen und che— miſchen Eigenſchaften eines einzigen unzerlegbaren Grundſtoffs, des Kohlenſtoffs. (Gen. Morph. I, 122 — 130.) Von allen Elementen iſt der Kohlenſtoff für uns bei weitem das wichtigſte und intereſſanteſte, weil bei allen uns bekannten Thier- und Pflanzenkörpern dieſer Grundſtoff die größte Rolle ſpielt. Er iſt dasjenige Element, welches durch ſeine eigenthümliche Neigung zur Bildung verwickelter Verbindungen mit den anderen Elementen die größte Mannichfaltigkeit in der chemiſchen Zuſammenſetzung, und da— her auch in den Formen und Lebenseigenſchaften der Thier- und Pflanzenkörper hervorruft. Der Kohlenſtoff zeichnet ſich ganz beſon— ders dadurch aus, daß er ſich mit den andern Elementen in unendlich mannichfaltigen Zahlen- und Gewichtsverhältniſſen verbinden kann. Es entſtehen zunächſt durch Verbindung des Kohlenſtoffs mit drei an— dern Elementen, dem Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Stickſtoff (zu denen ſich meiſt auch noch Schwefel und häufig Phosphor geſellt), jene äußerſt wichtigen Verbindungen, welche wir als das erſte und un— entbehrlichſte Subſtrat aller Lebenserſcheinungen kennen gelernt haben, die eiweißartigen Verbindungen oder Albuminkörper (Proteinftoffe). Schon früher (S. 164) haben wir in den Moneren Organismen der allereinfachſten Art kennen gelernt, deren ganzer Körper in voll— 294 Bedeutung der eiweißartigen Kohlenſtoffverbindungen. kommen ausgebildetem Zuſtande aus weiter Nichts beſteht, als aus einem feſtflüſſigen eiweißartigen Klümpchen, Organismen, welche für die Lehre von der erſten Entſtehung des Lebens von der allergrößten Bedeutung ſind. Aber auch die meiſten übrigen Organismen ſind zu einer gewiſſen Zeit ihrer Exiſtenz, wenigſtens in der erſten Zeit ihres Lebens, als Eizellen oder Keimzellen, im Weſentlichen weiter Nichts als einfache Klümpchen eines ſolchen eiweißartigen Bildungsſtoffes, des Plasma oder Protoplasma. Sie ſind dann von den Mo— neren nur dadurch verſchieden, daß im Innern des eiweißartigen Kör— perchens ſich der Zellenkern (Nucleus) von dem umgebenden Zellſtoff (Protoplasma) geſondert hat. Wie wir ſchon früher zeigten, ſind Zellen von ganz einfacher Beſchaffenheit die Staatsbürger, welche durch ihr Zuſammenwirken und ihre Sonderung den Körper auch der vollkommenſten Organismen, einen republikaniſchen Zellenſtaat, auf— bauen (S. 269). Die entwickelten Formen und Lebenserſcheinungen des letzteren werden lediglich durch die Thätigkeit jener eiweißartigen Körperchen zu Stande gebracht. Es darf als einer der größten Triumphe der neueren Biologie, insbeſondere der Gewebelehre angeſehen werden, daß wir jetzt im Stande find, das Wunder der Lebenserſcheinungen auf dieſe Stoffe zurückzuführen, daß wir die unendlich mannichfaltigen und verwickelten phyſikaliſchen und chemiſchen Eigenſchaf— ten der Eiweißkörper als die eigentliche Urſache der or— ganiſchen oder Lebenserſcheinungen nachgewieſen haben. Alle verſchiedenen Formen der Organismen ſind zunächſt und unmit— telbar das Reſultat der Zuſammenſetzung aus verſchiedenen Formen von Zellen. Die unendlich mannichfaltigen Verſchiedenheiten in der Form, Größe und Zuſammenſetzung der Zellen ſind aber erſt allmäh— lich durch die Arbeitstheilung und Vervollkommnung der einfachen gleichartigen Plasmaklümpchen entſtanden, welche urſprünglich allein den Zellenleib bildeten. Daraus folgt mit Nothwendigkeit, daß auch die Grunderſcheinungen des organiſchen Lebens, Ernährung und Fort— pflanzung, ebenſo in ihren höchſt zuſammengeſetzten wie in ihren ein— Lebenserſcheinungen und Formbildung der Organismen und Anorgane. 295 fachſten Aeußerungen, auf die materielle Beſchaffenheit jenes eiweiß— artigen Bildungsſtoffes, des Plasma, zurückzuführen ſind. Aus jenen beiden haben ſich die übrigen Lebensthätigkeiten erſt allmählich hervorgebildet. So hat denn gegenwärtig die allgemeine Erklärung des Lebens für uns nicht mehr Schwierigkeit als die Erklärung der phyſikaliſchen Eigenſchaften der anorganiſchen Körper. Alle Lebens- erſcheinungen und Geſtaltungsproceſſe der Organismen ſind ebenſo unmittelbar durch die chemiſche Zuſammenſetzung und die phyſikali— ſchen Kräfte der organiſchen Materie bedingt, wie die Lebenserſchei— nungen der anorganiſchen Kryſtalle, d. h. die Vorgänge ihres Wachs— thums und ihrer ſpecifiſchen Formbildung, die unmittelbaren Folgen ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung und ihres phyſikaliſchen Zuſtandes ſind. Die letzten Urſachen bleiben uns freilich in beiden Fällen gleich verborgen. Wenn Gold und Kupfer im teſſeralen, Wismuth und Antimon im hexagonalen, Jod und Schwefel im rhombiſchen Kryſtallſyſtem kryſtalliſiren, ſo iſt uns dies im Grunde nicht mehr und nicht weniger räthſelhaft, als jeder elementare Vorgang der organiſchen Formbildung, jede Selbſtgeſtaltung der organiſchen Zelle. Auch in dieſer Beziehung können wir gegenwärtig den fundamentalen Un— terſchied zwiſchen Organismen und anorganiſchen Körpern nicht mehr feſthalten, von welchem man früher allgemein überzeugt war. Betrachten wir zweitens die Uebereinſtimmungen und Unterſchiede, welche die Formbildung der organiſchen und anorganiſchen Na— turkörper uns darbietet (Gen. Morph. I, 130). Als Hauptunterſchied in dieſer Beziehung ſah man früher die einfache Structur der letz— teren, den zuſammengeſetzten Bau der erſteren an. Der Körper aller Organismen ſollte aus ungleichartigen oder heterogenen Theilen zu— ſammengeſetzt ſein, aus Werkzeugen oder Organen, welche zum Zweck des Lebens zuſammenwirken. Dagegen ſollten auch die vollkommen— ſten Anorgane, die Kryſtalle, durch und durch aus gleichartiger oder homogener Materie beſtehen. Dieſer Unterſchied erſcheint ſehr we— ſentlich. Allein er verliert alle Bedeutung dadurch, daß wir in den letzten Jahren die höchſt merkwürdigen und wichtigen Moneren ken— 296 Structur und Form der Organismen und Anorgane. nen gelernt haben 15). (Vergl. oben S. 164 — 167.) Der ganze Körper dieſer einfachſten von allen Organismen, ein feſtflüſſiges, formloſes und ſtructurloſes Eiweißklümpchen, beſteht in der That nur aus einer einzigen chemiſchen Verbindung, und iſt ebenſo vollkom— men einfach in ſeiner Structur, wie jeder Kryſtall, der aus einer einzigen organiſchen Verbindung, z. B. einem Metallſalze, oder einer ſehr zuſammengeſetzten Kieſelerde-Verbindung beſteht. Ebenſo wie in der inneren Structur oder Zuſammenſetzung, hat man auch in der äußeren Form durchgreifende Unterſchiede zwiſchen den Organismen und Anorganen finden wollen, insbeſondere in der mathematiſch beſtimmbaren Kryſtallform der letzteren. Allerdings iſt die Kryſtalliſation vorzugsweiſe eine Eigenſchaft der ſogenannten Anorgane. Die Kryſtalle werden begrenzt von ebenen Flächen, welche in geraden Linien und unter beſtimmten meßbaren Winkeln zuſam— menſtoßen. Die Thier- und Pflanzenwelt dagegen ſcheint auf den erſten Blick keine derartige geometriſche Beſtimmung zuzulaſſen. Sie iſt meiſtens von gebogenen Flächen und krummen Linien begrenzt, welche unter veränderlichen Winkeln zuſammenſtoßen. Allein wir haben in neuerer Zeit in den Radiolarien 23) und in vielen anderen Protiſten eine große Anzahl von niederen Organismen kennen ge— lernt, bei denen der Körper in gleicher Weiſe, wie bei den Kryſtal— len, auf eine mathematiſch beſtimmbare Grundform ſich zurüdfüh- ren läßt, bei denen die Geſtalt im Ganzen wie im Einzelnen durch geometriſch beſtimmbare Flächen, Kanten und Winkel begrenzt wird. In meiner allgemeinen Grundformenlehre oder Promorpho— logie habe ich hierfür die ausführlichen Beweiſe geliefert, und zu— gleich ein allgemeines Formenſyſtem aufgeſtellt, deſſen ideale ſtereo— metriſche Grundformen ebenſo gut die realen Formen der anorganiſchen Kryſtalle wie der organiſchen Individuen erklären (Gen. Morph. I, 375—574). Außerdem giebt es übrigens auch vollkommen amorphe Organismen, wie die Moneren, Amöben u. ſ. w., welche jeden Augen- blick ihre Geſtalt wechſeln, und bei denen man ebenſo wenig eine be— ſtimmte Grundform nachweiſen kann, als es bei den formloſen oder Bewegungserſcheinungen der Organismen und Anorgane. 297 amorphen Anorganen, bei den nicht kryſtalliſirten Geſteinen, Nieder- ſchlägen u. ſ. w. der Fall iſt. Wir ſind alſo nicht im Stande, irgend einen principiellen Unterſchied in der äußeren Form oder in der inne— ren Structur der Anorgane und Organismen aufzufinden. Wenden wir uns drittens an die Kräfte oder an die Bewe— gungserſcheinungen dieſer beiden verſchiedenen Körpergruppen (Gen. Morph. I, 140). Hier ſtoßen wir auf die größten Schwierig— keiten. Die Lebenserſcheinungen, wie ſie die meiſten Menſchen nur von hoch ausgebildeten Organismen, von vollkommneren Thieren und Pflanzen kennen, erſcheinen ſo räthſelhaft, ſo wunderbar, ſo eigen— thümlich, daß die Meiſten der beſtimmten Anſicht ſind, in der anor— ganiſchen Natur komme gar nichts Aehnliches oder nur entfernt damit Vergleichbares vor. Man nennt ja eben deshalb die Organismen be— lebte und die Anorgane lebloſe Naturkörper. Daher erhielt ſich bis in unſer Jahrhundert hinein, ſelbſt in der Wiſſenſchaft, die ſich mit der Erforſchung der Lebenserſcheinungen beſchäftigt, in der Phyſiologie, die irrthümliche Anſicht, daß die phyſikaliſchen und chemiſchen Eigen— ſchaften der Materie nicht zur Erklärung der Lebenserſcheinungen aus— reichten. Heutzutage, namentlich ſeit dem letzten Jahrzehnt, darf dieſe Anſicht als völlig überwunden angeſehen werden. In der Phyſiologie wenigſtens hat ſie nirgends mehr eine Stätte. Es fällt heutzutage keinem Phyſiologen mehr ein, irgend welche Lebenserſcheinungen als das Reſultat einer wunderbaren Lebenskraft aufzufaſſen, einer be— ſonderen zweckmäßig thätigen Kraft, welche außerhalb der Materie ſteht, und welche die phyſikaliſch-chemiſchen Kräfte gewiſſermaßen nur in ihren Dienſt nimmt. Die heutige Phyſiologie iſt zu der ſtreng moniſtiſchen Ueberzeugung gelangt, daß ſämmtliche Lebenserſcheinun— gen, und vor allen die beiden Grunderſcheinungen der Ernährung und Fortpflanzung, rein phyſikaliſch-chemiſche Vorgänge, und ebenſo unmittelbar von der materiellen Beſchaffenheit des Organismus ab— hängig ſind, wie alle phyſikaliſchen und chemiſchen Eigenſchaften oder Kräfte eines jeden Kryſtalles lediglich durch ſeine materielle Zuſam— menſetzung bedingt werden. Da nun derjenige Grundſtoff, welcher 298 Kohlenſtoffverbindungen als Urſachen der Lebenskraft. die eigenthümliche materielle Zuſammenſetzung der Organismen be— dingt, der Kohlenſtoff iſt, ſo müſſen wir alle Lebenserſcheinungen, und vor allen die beiden Grunderſcheinungen der Ernährung und Fort— pflanzung, in letzter Linie auf die Eigenſchaften des Kohlenſtoffs zurückführen. Lediglich die eigenthümlichen, chemiſch-phy— ſikaliſchen Eigenſchaften des Kohlenſtoffs, und na— mentlich der feſtflüſſige Aggregatzuſtand und die leichte Zerſetzbarkeit der höchſt zuſammengeſetzten eiweißarti— gen Kohlenſtoffverbindungen, find die mechaniſchen Ur— ſachen jener eigenthümlichen Beweg ungserſcheinungen, durch welche ſich die Organismen von den Anorganen unterſcheiden, und die man im engeren Sinne das „Le— ben“ zu nennen pflegt. Um dieſe „Kohlenſtofftheorie“, welche ich im zweiten Buche meiner generellen Morphologie ausführlich begründet habe, richtig zu würdigen, iſt es vor Allem nöthig, diejenigen Bewegungserſchei— nungen ſcharf in's Auge zu faſſen, welche beiden Gruppen von Na— turkörpern gemeinſam find. Unter dieſen ſteht obenan das Wachs— thum. Wenn Sie irgend eine anorganiſche Salzlöſung langſam verdampfen laſſen, ſo bilden ſich darin Salzkryſtalle, welche bei wei— ter gehender Verdunſtung des Waſſers langſam an Größe zunehmen. Dieſes Wachsthum erfolgt dadurch, daß immer neue Theilchen aus dem flüſſigen Aggregatzuſtande in den feſten übergehen und ſich an den bereits gebildeten feſten Kryſtallkern nach beſtimmten Geſetzen anlagern. Durch ſolche Anlagerung oder Appoſition der Theilchen entſtehen die mathematiſch beſtimmten Kryſtallformen. Ebenſo durch Aufnahme neuer Theilchen geſchieht auch das Wachsthum der Orga— nismen. Der Unterſchied iſt nur der, daß beim Wachsthum der Or— ganismen in Folge ihres feſtflüſſigen Aggregatzuſtandes die neu auf— genommenen Theilchen in's Innere des Organismus vorrücken (In— tusſusception), während die Anorgane nur durch Appoſition, durch Anſatz neuer, gleichartiger Materie von außen her zunehmen. Indeß iſt dieſer wichtige Unterſchied des Wachsthums durch Intusſusception Wachsthum und Anpaſſung bei Kryſtallen und bei Organismen. 299 und durch Appoſition augenſcheinlich nur die nothwendige und unmit— telbare Folge des verſchiedenen Dichtigkeitszuſtandes oder Aggregat— zuſtandes der Organismen und der Anorgane. Ich kann hier an dieſer Stelle leider nicht näher die mancher— lei höchſt intereſſanten Parallelen und Analogien verfolgen, welche ſich zwiſchen der Bildung der vollkommenſten Anorgane, der Kry— ſtalle, und der Bildung der einfachſten Organismen, der Moneren und der nächſt verwandten Formen, vorfinden. Ich muß Sie in dieſer Beziehung auf die eingehende Vergleichung der Organismen und der Anorgane verweiſen, welche ich im fünften Capitel meiner generellen Morphologie durchgeführt habe (Gen. Morph. I, 111 — 166). Dort habe ich ausführlich bewieſen, daß durchgreifende Un— terſchiede zwiſchen den organiſchen und anorganiſchen Naturkörpern weder in Bezug auf Form und Structur, noch in Bezug auf Stoff und Kraft exiſtiren, daß die wirklich vorhandenen Unterſchiede von der eigenthümlichen Natur des Kohlenſtoffs abhängen, und daß keine unüberſteigliche Kluft zwiſchen organiſcher und anorganiſcher Natur exiſtirt. Beſonders einleuchtend erkennen Sie dieſe höchſt wichtige Thatſache, wenn Sie die Entſtehung der Formen bei den Kryſtallen und bei den einfachſten organiſchen Individuen verglei— chend unterſuchen. Auch bei der Bildung der Kryſtallindividuen treten zweierlei verſchiedene, einander entgegenwirkende Bildungs— triebe in Wirkſamkeit. Die innere Geſtaltungskraft oder der innere Bildungstrieb, welcher der Erblichkeit der Organismen entſpricht, iſt bei dem Kryſtalle der unmittelbare Ausfluß feiner materiellen Conſtitution oder ſeiner chemiſchen Zuſammenſetzung. Die Form des Kryſtalles, ſoweit ſie durch dieſen inneren, ureigenen Bildungstrieb beſtimmt wird, iſt das Reſultat der ſpecifiſch beſtimm— ten Art und Weiſe, in welcher ſich die kleinſten Theilchen der kry— ſtalliſirenden Materie nach verſchiedenen Richtungen hin geſetzmäßig an einander lagern. Jener ſelbſtſtändigen inneren Bildungskraft, welche der Materie ſelbſt unmittelbar anhaftet, wirkt eine zweite formbildende Kraft geradezu entgegen. Dieſe äußere Geſtal— 300 Aeußere und innere Bildungskraft der Organismen und Anorgane. tungskraft oder den äußeren Bildungstrieb können wir bei den Kryſtallen ebenſo gut wie bei den Organismen als Anpaſſung be— zeichnen. Jedes Kryſtallindividuum muß ſich während ſeiner Ent— ſtehung ganz ebenſo wie jedes organiſche Individuum den umgeben— den Einflüſſen und Exiſtenzbedingungen der Außenwelt unterwerfen und anpaſſen. In der That iſt die Form und Größe eines jeden Kryſtalles abhängig von ſeiner geſammten Umgebung, z. B. von dem Gefäß, in welchem die Kryſtalliſation ſtattfindet, von der Temperatur und von dem Luftdruck, unter welchem der Kryſtall ſich bildet, von der Anweſenheit oder Abweſenheit ungleichartiger Körper u. ſ. w. Die Form jedes einzelnen Kryſtalles iſt daher ebenſo wie die Form jedes einzelnen Organismus das Reſultat der Gegenwirkung zweier einander gegenüber ſtehender Factoren, des inneren Bildungstrie— bes, der durch die chemiſche Conſtitution der eigenen Materie ge— geben iſt, und des äußeren Bildungstriebes, welcher durch die Ein— wirkung der umgebenden Materie bedingt iſt. Beide in Wechſel— wirkung ſtehende Geſtaltungskräfte ſind im Organismus ebenſo wie im Kryſtall rein mechaniſcher Natur, unmittelbar an dem Stoffe des Körpers haftend. Wenn man das Wachsthum und die Geſtaltung der Organismen als einen Lebensproceß bezeichnet, ſo kann man daſ— ſelbe ebenſo gut von dem ſich bildenden Kryſtall behaupten. Die teleologiſche Naturbetrachtung, welche in den organiſchen Formen zweck— mäßig eingerichtete Schöpfungsmaſchinen erblickt, muß folgerichtiger Weiſe dieſelben auch in den Kryſtallformen anerkennen. Die Unter- ſchiede, welche ſich zwiſchen den einfachſten organiſchen Individuen und den anorganiſchen Kryſtallen vorfinden, ſind durch den feſten Aggregatzuſtand der letzteren, durch den feſtflüſſigen Zuſtand der erſteren bedingt. Im Uebrigen ſind die bewirkenden Urſachen der Form in beiden vollſtändig dieſelben. Ganz beſonders klar drängt ſich Ihnen dieſe Ueberzeugung auf, wenn Sie die höchſt merkwür⸗ digen Erſcheinungen von dem Wachsthum, der Anpaſſung und der „Wechſelbeziehung oder Correlation der Theile“ bei den entſtehenden Kryſtallen mit den entſprechenden Erſcheinungen bei der Entſtehung Einheit der organifchen und anorganischen Natur. 301 der einfachſten organiſchen Individuen (Moneren und Zellen) verglei- chen. Die Analogie zwiſchen Beiden iſt ſo groß, daß wirklich keine ſcharfe Grenze zu ziehen iſt. In meiner generellen Morphologie habe ich hierfür eine Anzahl von ſchlagenden Thatſachen angeführt (Gen. Morph. I, 146, 156, 158). Wenn Sie diefe „Einheit der organiſchen und anorga— niſchen Natur“, dieſe weſentliche Uebereinſtimmung der Organis— men und Anorgane in Stoff, Form und Kraft ſich lebhaft vor Augen halten, wenn Sie ſich erinnern, daß wir nicht im Stande ſind, irgend welche fundamentalen Unterſchiede zwiſchen dieſen beiderlei Körpergruppen feſtzuſtellen (wie ſie früherhin allgemein angenommen wurden), ſo verliert die Frage von der Urzeugung ſehr viel von der Schwierigkeit, welche ſie auf den erſten Blick zu haben ſcheint. Es wird uns dann die Entwickelung des erſten Organismus aus anor— ganiſcher Materie als ein viel leichter denkbarer und verſtändlicher Proceß erſcheinen, als es bisher der Fall war, wo man jene künſt— liche abſolute Scheidewand zwiſchen organiſcher oder belebter und an— organiſcher oder lebloſer Natur aufrecht erhielt. Bei der Frage von der Urzeugung oder Archigonie, die wir jetzt beſtimmter beantworten können, erinnern Sie ſich zunächſt daran, daß wir unter dieſem Begriff ganz allgemein die eltern— loſe Zeugung eines organiſchen Individuums, die Ent— ſtehung eines Organismus unabhängig von einem elterlichen oder zeugenden Organismus verſtehen. In dieſem Sinne haben wir früher die Urzeugung (Archigonia) der Elternzeugung oder Fortpflanzung (Tocogonia) entgegengeſetzt (S. 164). Bei der letzteren entſteht das organiſche Individuum dadurch, daß ein größerer oder geringerer Theil von einem bereits beſtehenden Organismus ſich ablöſt und ſelbſtſtändig weiter wächſt (Gen. Morph. II, 32). Von der Urzeugung, welche man auch oft als freiwillige oder urſprüngliche Zeugung bezeichnet (Generatio spontanea, aequivoca, primaria etc.), müſſen wir zunächſt zwei weſentlich verſchiedene Ar— ten unterſcheiden, nämlich die Autogonie und die Plasmogonie. 302 Urzeugung oder Archigonie. Autogonie und Plasmogonie. Unter Autogonie verſtehen wir die Entſtehung eines einfachſten organiſchen Individuums in einer anorganiſchen Bildung 3- flüſſigkeit, d. h. in einer Flüſſigkeit, welche die zur Zuſammen— ſetzung des Organismus erforderlichen Grundſtoffe in einfachen und nicht lockeren Verbindungen gelöſt enthält (3. B. Kohlenſäure, Am⸗ moniak, binäre Salze u. ſ. w.). Plasmogonie dagegen nennen wir die Urzeugung dann, wenn der Organismus in einer organi— ſchen Bildungsflüſſigkeit entſteht, d. h. in einer Flüſſigkeit, welche jene erforderlichen Grundſtoffe in Form von verwickelten und lockeren Kohlenſtoffverbindungen gelöſt enthält (3. B. Eiweiß, Fett, Kohlenhydraten ꝛc.) (Gen. Morph. I, 174; II, 33). Der Vorgang der Autogonie ſowohl als der Plasmogonie iſt bis jetzt noch nicht direct mit voller Sicherheit beobachtet. In älterer und neuerer Zeit hat man über die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Urzeugung ſehr zahlreiche und zum Theil auch intereſſante Verſuche angeſtellt. Allein dieſe Experimente beziehen ſich faſt ſämmtlich nicht auf die Autogonie, ſondern auf die Plasmogonie, auf die Entſtehung eines Organismus aus bereits gebildeter organiſcher Materie. Offen— bar hat aber für unſere Schöpfungsgeſchichte dieſer letztere Vorgang nur ein untergeordnetes Intereſſe. Es kommt für uns vielmehr darauf an, die Frage zu löſen: „Giebt es eine Autogonie? Iſt es möglich, daß ein Organismus nicht aus vorgebildeter organiſcher, ſondern aus rein anorganiſcher Materie entſteht?“ Daher können wir hier auch ruhig alle jene zahlreichen Experimente, welche ſich nur auf die Plasmogonie beziehen, welche in dem letzten Jahrzehnt mit be— ſonderem Eifer betrieben worden ſind, und welche meiſt ein nega— tives Reſultat hatten, bei Seite laſſen. Denn angenommen auch, es würde dadurch die Wirklichkeit der Plasmogonie ſtreng bewieſen, ſo wäre damit noch nicht die Autogonie erklärt. Die Verſuche über Autogonie haben bis jetzt ebenfalls kein ſiche— res poſitives Reſultat geliefert. Jedoch müſſen wir uns von vorn herein auf das beſtimmteſte dagegen verwahren, daß durch dieſe Ex— perimente die Unmöglichkeit der Urzeugung überhaupt nachgewieſen Beweiskraft der Verſuche über Urzeugung. 303 ſei. Die allermeiſten Naturforſcher, welche beſtrebt waren, dieſe Frage experimentell zu entſcheiden, und welche bei Anwendung aller mög— lichen Vorſichtsmaßregeln unter ganz beſtimmten Verhältniſſen keine Organismen entſtehen ſahen, ſtellten auf Grund dieſer negativen Re— ſultate ſofort die Behauptung auf: „Es iſt überhaupt unmöglich, daß Organismen von ſelbſt, ohne elterliche Zeugung, entſtehen.“ Dieſe leichtfertige und unüberlegte Behauptung ſtützten ſie einfach und allein auf das negative Reſultat ihrer Experimente, welche doch weiter Nichts beweiſen konnten, als daß unter dieſen oder jenen, höchſt künſtlichen Verhältniſſen, wie ſie durch die Experimentatoren geſchaffen wurden, kein Organismus ſich bildete. Man kann auf keinen Fall aus jenen Verſuchen, welche meiſtens unter den unnatürlichſten Bedingungen, in höchſt künſtlicher Weiſe angeſtellt wurden, den Schluß ziehen, daß die Urzeugung überhaupt unmöglich ſei. Die Unmöglichkeit eines ſolchen Vorganges kann überhaupt niemals bewieſen werden. Denn wie können wir wiſſen, daß in jener älteſten unvordenklichen Urzeit nicht ganz andere Bedingungen, als gegenwärtig, exiſtirten, welche eine Urzeugung ermöglichten? Ja, wir können ſogar mit voller Sicherheit poſitiv behaupten, daß die allgemeinen Lebensbedingungen der Primordialzeit gänzlich von denen der Gegenwart verſchieden ge— weſen ſein müſſen. Denken Sie allein an die Thatſache, daß die ungeheuren Maſſen von Kohlenſtoff, welche wir gegenwärtig in den primären Steinkohlengebirgen abgelagert finden, erſt durch die Thä— tigkeit des Pflanzenlebens in feſte Form gebracht, und die mächtig zuſammengepreßten und verdichteten Ueberreſte von zahlloſen Pflan— zenleichen ſind, die ſich im Laufe vieler Millionen Jahre anhäuften. Allein zu der Zeit, als auf der abgekühlten Erdrinde nach der Ent— ſtehung des tropfbarflüſſigen Waſſers zum erſten Male Organismen durch Urzeugung ſich bildeten, waren jene unermeßlichen Kohlenſtoff— quantitäten in ganz anderer Form vorhanden, wahrſcheinlich größten— theils in Form von Kohlenſäure in der Atmoſphäre vertheilt. Die ganze Zuſammenſetzung der Atmoſphäre war alſo außerordentlich von der jetzigen verſchieden. Ferner waren, wie ſich aus chemiſchen, phy— 304 Entſtehung organischer Verbindungen außerhalb der Organismen. ſikaliſchen und geologiſchen Gründen ſchließen läßt, der Dichtigkeits— zuſtand und die elektriſchen Verhältniſſe der Atmoſphäre ganz an— dere. Ebenſo war auch jedenfalls die chemiſche und phyſikaliſche Beſchaffenheit des Urmeeres, welches damals als eine ununterbro— chene Waſſerhülle die ganze Erdoberfläche im Zuſammenhang be— deckte, ganz eigenthümlich. Temperatur, Dichtigkeit, Salzgehalt u. ſ. w. müſſen ſehr von denen der jetzigen Meere verſchieden geweſen ſein. Es bleibt alſo auf jeden Fall für uns, wenn wir auch ſonſt Nichts weiter davon wiſſen, die Annahme wenigſtens nicht beſtreitbar, daß zu jener Zeit unter ganz anderen Bedingungen eine Urzeugung mög— lich geweſen ſei, die heutzutage vielleicht nicht mehr möglich iſt. Nun kommt aber dazu, daß durch die neueren Fortſchritte der Chemie und Phyſiologie das Räthſelhafte und Wunderbare, das zu— nächſt der viel beſtrittene und doch nothwendige Vorgang der Urzeu— gung an ſich zu haben ſcheint, größtentheils oder eigentlich ganz zer— ſtört worden iſt. Es iſt noch nicht fünfzig Jahre her, daß ſämmtliche Chemiker behaupteten, wir ſeien nicht im Stande, irgend eine zuſam— mengeſetzte Kohlenſtoffverbindung oder eine ſogenannte „organiſche Ver— bindung“ künſtlich in unſeren Laboratorien herzuſtellen. Nur die my— ſtiſche „Lebenskraft“ ſollte dieſe Verbindungen zu Stande bringen kön— nen. Als daher 1828 Wöhler in Göttingen zum erſten Male dieſes Dogma thatſächlich widerlegte, und auf künſtlichem Wege aus rein anorganiſchen Körpern (Cyan- und Ammoniakverbindungen) den rein „organiſchen“ Harnſtoff darſtellte, war man im höchſten Grade erſtaunt und überraſcht. In der neueren Zeit iſt es nun durch die Fortſchritte der ſynthetiſchen Chemie gelungen, derartige „organiſche“ Kohlenſtoff— verbindungen rein künſtlich in großer Mannichfaltigkeit in unſeren La— boratorien aus anorganiſchen Subſtanzen herzuſtellen, z. B. Alkohol, Eſſigſäure, Ameiſenſäure u. ſ. w. Selbſt viele höchſt verwickelte Koh- lenſtoffverbindungen werden jetzt künſtlich zuſammengeſetzt, ſo daß alle Ausſicht vorhanden iſt, auch die am meiſten zuſammengeſetzten und zu— gleich die wichtigſten von allen, die Eiweißverbindungen oder Plasma— körper, früher oder ſpäter künſtlich in unſeren chemiſchen Werkſtätten Bedeutung der Moneren für die Urzeugung. 305 zu erzeugen. Dadurch iſt aber die tiefe Kluft zwiſchen organiſchen und anorganiſchen Körpern, die man früher allgemein feſthielt, größ— tentheils oder eigentlich ganz beſeitigt, und für die Vorſtellung der Urzeugung der Weg gebahnt. Von noch größerer, ja von der allergrößten Wichtigkeit für die Hypotheſe der Urzeugung ſind endlich die höchſt merkwürdigen Mo— neren, jene ſchon vorher mehrfach erwähnten Lebeweſen, welche nicht nur die einfachſten beobachteten, ſondern auch überhaupt die denkbar einfachſten von allen Organismen find 15). Schon früher, als wir die einfachſten Erſcheinungen der Fortpflanzung und Vererbung unterſuchten, habe ich Ihnen dieſe wunderbaren „Organismen ohne Organe“ beſchrieben. Wir kennen jetzt ſchon ſieben verſchie⸗ dene Gattungen ſolcher Moneren, von denen einige im ſüßen Waſſer, andere im Meere leben (vergl. oben S. 164 — 167, ſowie das Ti- telbild und deſſen Erklärung im Anhang). In vollkommen ausge— bildetem und frei beweglichem Zuſtande ſtellen ſie ſämmtlich weiter Nichts dar, als ein ſtructurloſes Klümpchen einer eiweißartigen Koh— lenſtoffvberbindung. Nur durch die Art der Fortpflanzung und Ent- wickelung, ſowie der Nahrungsaufnahme ſind die einzelnen Gattungen und Arten ein wenig verſchieden. Durch die Entdeckung dieſer Or— ganismen, die von der allergrößten Bedeutung iſt, verliert die An— nahme einer Urzeugung den größten Theil ihrer Schwierigkeiten. Denn da denſelben noch jede Organiſation, jeder Unterſchied ungleichartiger Theile fehlt, da alle Lebenserſcheinungen von einer und derſelben gleichartigen und formloſen Materie vollzogen werden, ſo können wir uns ihre Entſtehung durch Urzeugung ſehr wohl denken. Geſchieht dieſelbe durch Plasmagonie, iſt bereits lebensfähiges Plasma vor— handen, ſo braucht daſſelbe bloß ſich zu individualiſiren, in gleicher Weiſe, wie bei der Kryſtallbildung ſich die Mutterlauge der Kryſtalle individualiſirt. Geſchieht dagegen die Urzeugung der Moneren durch wahre Autogonie, ſo iſt dazu noch erforderlich, daß vorher jenes lebensfähige Plasma, jener Urſchleim, aus einfacheren Kohlenſtoffver— bindungen ſich bildet. Da wir jetzt im Stande ſind, in unſeren Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 20 306 Entſtehung der Moneren durch Urzeugung. chemiſchen Laboratorien ähnliche zuſammengeſetzte Kohlenſtoffverbin— dungen künſtlich herzuſtellen, ſo liegt durchaus kein Grund für die Annahme vor, daß nicht auch in der freien Natur ſich Verhältniſſe finden, unter denen ähnliche Verbindungen entſtehen können. So— bald man früherhin die Vorſtellung der Urzeugung zu faſſen ſuchte, ſcheiterte man ſofort an der organiſchen Zuſammenſetzung auch der einfachſten Organismen, welche man damals kannte. Erſt ſeitdem wir mit den höchſt wichtigen Moneren bekannt geworden ſind, erſt ſeitdem wir in ihnen Organismen kennen gelernt haben, welche gar nicht aus Organen zuſammengeſetzt ſind, welche bloß aus einer ein— zigen chemiſchen Verbindung beſtehen, und dennoch wachſen, ſich er— nähren und fortpflanzen, iſt jene Hauptſchwierigkeit gelöſt, und die Hypotheſe der Urzeugung hat dadurch denjenigen Grad von Wahr— ſcheinlichkeit gewonnen, welcher ſie berechtigt, die Lücke zwiſchen Kant's Kosmogenie und Lamarck's Deſcendenztheorie auszufüllen. Es giebt ſogar ſchon unter den bis jetzt bekannten Moneren eine Art, die vielleicht noch heutzutage beſtändig durch Urzeugung entſteht. Das iſt der wunderbare, von Huxley entdeckte und beſchriebene Bathybius Haeckelii. Wie ich ſchon früher erwähnte (S. 165), fin⸗ det ſich dieſes Moner in den größten Tiefen des Meeres, zwiſchen 12,000 und 24,000 Fuß, wo es den Boden theils in Form von nesförmigen Plasmaſträngen und Geflechten, theils in Form von unregelmäßigen größeren und kleineren Plasmaklumpen überzieht. Nur ſolche homogene, noch gar nicht differenzirte Organismen, welche in ihrer gleichartigen Zuſammenſetzung aus einerlei Theilchen den anorganiſchen Kryſtallen gleichſtehen, konnten durch Urzeugung ent— ſtehen, und konnten die Ureltern aller übrigen Organismen werden. Bei der weiteren Entwickelung derſelben haben wir als den wichtig— ſten Vorgang zunächſt die Bildung eines Kernes (Nucleus) in dem ftructurlofen Eiweißklümpchen anzuſehen. Dieſe können wir uns rein phyſikaliſch durch Verdichtung der innerſten, centralen Eiweißtheilchen vorſtellen. Die dichtere centrale Maſſe, welche anfangs allmählich in das peripheriſche Plasma überging, ſonderte ſich ſpäter ganz von Entftehung der Zellen aus Moneren. 307 dieſem ab und bildete jo ein ſelbſtſtändiges rundes Eiweißkörperchen, den Kern. Durch dieſen Vorgang iſt aber bereits aus dem Moner eine Zelle geworden. Daß nun die weitere Entwickelung aller übri— gen Organismen aus einer ſolchen Zelle keine Schwierigkeit hat, muß Ihnen aus den bisherigen Vorträgen klar geworden ſein. Denn jedes Thier und jede Pflanze iſt im Beginn ihres individuellen Lebens eine einfache Zelle. Der Menſch ſo gut, wie jedes andere Thier, iſt an— fangs weiter Nichts, als eine einfache Eizelle, ein einziges Schleim— klümpchen, worin ſich ein Kern befindet (S. 170, Fig. 3). Ebenſo wie der Kern der organiſchen Zellen durch Sonderung in der inneren oder centralen Maſſe der urſprünglichen gleichartigen Plasmaklümpchen entſtand, jo bildete ſich die erſte Zellhautſoder Membran an deren Oberfläche. Auch dieſen einfachen, aber höchſt wichtigen Vorgang können wir, wie ſchon oben bemerkt, einfach phy— ſikaliſch erklären, entweder durch einen chemiſchen Niederſchlag oder eine phyſikaliſche Verdichtung in der oberflächlichſten Rindenſchicht, oder durch eine Ausſcheidung. Eine der erſten Anpaſſungsthätigkeiten, welche die durch Urzeugung entſtandenen Moneren ausübten, wird die Verdichtung einer äußeren Rindenſchicht geweſen ſein, welche als ſchützende Hülle das weichere Innere gegen die angreifenden Einflüſſe der Außenwelt abſchloß. War aber erſt durch Verdichtung der ho— mogenen Moneren im Inneren ein Zellkern, an der Oberfläche eine Zellhaut entſtanden, ſo waren damit alle die fundamentalen Formen der Bauſteine gegeben, aus denen durch unendlich mannichfaltige Zuſammenſetzung ſich erfahrungsgemäß der Körper ſämmtlicher höhe— ren Organismen aufbaut. Wie ſchon früher erwähnt wurde, beruht unſer ganzes Verſtändniß des Organismus weſentlich auf der von Schleiden und Schwann vor dreißig Jahren aufgeſtellten Zellentheorie. Danach iſt jeder Organismus entweder eine einfache Zelle oder eine Gemeinde, ein Staat von eng verbundenen Zellen. Die geſammten Formen und Lebenserſcheinungen eines jeden Organismus ſind das Geſammtre— ſultat der Formen und Lebenserſcheinungen aller einzelnen ihn zu— 20 * 308 Zellentheorie und Plaſtidentheorie. ſammenſetzenden Zellen. Durch die neueren Fortſchritte der Zellen— lehre iſt es möglich geworden, die Elementarorganismen, oder die or— ganiſchen „Individuen erſter Ordnung“, welche man gewöhnlich als „Zellen“ bezeichnet, mit dem allgemeineren und paſſenderen Namen der Bildnerinnen oder Plaſtiden zu belegen. Wir unterſchei— den unter dieſen Bildnerinnen zwei Hauptgruppen, nämlich Cytoden und echte Zellen. Die Cytoden ſind kernloſe Plasmaſtücke, gleich den Moneren (S. 167, Fig. 1). Die Zellen dagegen ſind Plasma— ſtücke, welche einen Kern oder Nucleus enthalten (S. 169, Fig. 2). Jede dieſer beiden Hauptformen von Plaſtiden zerfällt wieder in zwei untergeordnete Formgruppen, je nachdem ſie eine äußere Umhüllung (Haut, Schale oder Membran) beſitzen oder nicht. Wir können dem— nach allgemein folgende Stufenleiter von vier verſchiedenen Plaſtiden— arten unterſcheiden, nämlich: 1. Urcytoden (S. 167, Fig. 1 A); 2. Hülleytoden; 3. Urzellen (S. 169, Fig. 2); 4. Hüllzel— len (S. 169, Fig. 2A) (Gen. Morph. I, 269 — 289). Was das Verhältniß dieſer vier Plaſtidenformen zur Urzeugung betrifft, ſo iſt folgendes das Wahrſcheinlichſte: 1. die Ureytoden (Gymnocytoda), nackte Plasmaſtücke ohne Kern, gleich den heute noch lebenden Moneren, ſind die einzigen Plaſtiden, welche unmittel— bar durch Urzeugung entſtanden, 2. die Hülleytoden (Lepocy- toda), Plasmaſtücke ohne Kern, welche von einer Hülle (Membran oder Schale) umgeben ſind, entſtanden aus den Urcytoden entweder durch Verdichtung der oberflächlichſten Plasmaſchichten oder durch Aus— ſcheidung einer Hülle; 3. die Urzellen (Gymnocyta) oder nackte Zellen, Plasmaſtücke mit Kern, aber ohne Hülle, entſtanden aus den Ureytoden durch Verdichtung der innerſten Plasmatheile zu einem Kerne oder Nucleus, durch Differenzirung von centralem Kerne und peri— pheriſchem Zellſtoff; 4. die Hüllzellen (Lepocyta) oder Hautzellen, Plasmaſtücke mit Kern und mit äußerer Hülle (Membran oder Schale), entſtanden entweder aus den Hüllcytoden durch Bildung eines Kernes oder aus den Urzellen durch Bildung einer Membran. Alle übrigen Formen von Bildnerinnen oder Plaſtiden, welche außerdem noch vor— Die Plaſtidentheorie und die Urzeugungshypotheſe. 309 kommen, ſind erſt nachträglich durch natürliche Züchtung, durch Ab— ſtammung mit Anpaſſung, durch Differenzirung und Umbildung aus jenen vier Grundformen entſtanden. Durch dieſe Plaſtidentheorie, durch dieſe Ableitung aller verſchiedenen Plaſtidenformen und ſomit auch aller aus ihnen zuſam— mengeſetzten Organismen von den Moneren, kommt ein einfacher und natürlicher Zuſammenhang in die geſammte Entwickelungstheorie. Die Entſtehung der erſten Moneren durch Urzeugung erſcheint uns als ein einfacher und nothwendiger Vorgang in dem Entwickelungs— proceß des Erdkörpers. Wir geben zu, daß dieſer Vorgang, ſo lange er noch nicht direct beobachtet oder durch das Experiment wiederholt iſt, eine reine Hypotheſe bleibt. Allein ich wiederhole, daß dieſe Hypotheſe für den ganzen Zuſammenhang der natürlichen Schöpfungs— geſchichte unentbehrlich iſt, daß ſie an ſich durchaus nichts Gezwun— genes und Wunderbares mehr hat, und daß ſie keinenfalls jemals poſitiv widerlegt werden kann. Auch iſt zu berückſichtigen, daß der Vorgang der Urzeugung, ſelbſt wenn er alltäglich und ſtündlich noch heute ſtattfände, auf jeden Fall äußerſt ſchwierig zu beobachten und mit untrüglicher Sicherheit als ſolcher feſtzuſtellen ſein würde. Den heute noch lebenden Moneren gegenüber finden wir uns aber in fol— gende Alternative verſetzt: Entweder ſtammen dieſelben wirklich direct von den zuerſt entſtandenen oder „erſchaffenen“ älteſten Mo— neren ab, und dann müßten ſie ſich dieſe vielen Millionen Jahre hindurch unverändert fortgepflanzt und in der urſprünglichen Form einfacher Plasmaſtückchen erhalten haben. Oder die heutigen Mo— neren ſind erſt viel ſpäter im Laufe der organiſchen Erdgeſchichte durch wiederholte Urzeugungs-Akte entſtanden, und dann kann die Urzeugung ebenſo gut noch heute ſtattfinden. Offenbar hat die letztere Annahme viel mehr Wahrſcheinlichkeit für ſich als die erſtere. Wenn Sie die Hypotheſe der Urzeugung nicht annehmen, fo müſſen Sie an dieſem einzigen Punkte der Entwickelungstheorie zum Wunder einer übernatürlichen Schöpfung Ihre Zuflucht neh— men. Der Schöpfer muß dann den erſten Organismus oder die we— 310 Die Einheit der Natur und der Naturgeſetze. nigen erſten Organismen, von denen alle übrigen abſtammen, je— denfalls einfachſte Moneren oder Urcytoden, als ſolche geſchaffen und ihnen die Fähigkeit beigelegt haben, ſich in mechaniſcher Weiſe weiter zu entwickeln. Ich überlaſſe es einem Jeden von Ihnen, zwiſchen dieſer Vorſtellung und der Hypotheſe der Urzeugung zu wählen. Mir ſcheint die Vorſtellung, daß der Schöpfer an dieſem einzigen Punkte willkührlich in den geſetzmäßigen Entwickelungsgang der Materie ein— gegriffen habe, der im Uebrigen ganz ohne ſeine Mitwirkung ver— läuft, ebenſo unbefriedigend für das gläubige Gemüth, wie für den wiſſenſchaftlichen Verſtand zu ſein. Nehmen wir dagegen für die Entſtehung der erſten Organismen die Hypotheſe der Urzeugung an, welche aus den oben erörterten Gründen, insbeſondere durch die Ent— deckung der-Moneren, ihre frühere Schwierigkeit verloren hat, fo ge— langen wir zur Herſtellung eines ununterbrochenen natürlichen Zuſam— menhanges zwiſchen der Entwickelung der Erde und der von ihr gebo— renen Organismen, und wir erkennen auch in dem letzten noch zwei— felhaften Punkte die Einheit der geſammten Natur und die Einheit ihrer Entwickelungsgeſetze (Gen. Morph. I, 164). Vierzehnter Vortrag. Wanderung und Verbreitung der Organismen. Die Chorologie und die Eiszeit der Erde. Chorologiſche Thatſachen und Urſachen. Einmalige Entſtehung der meiſten Arten an einem einzigen Orte: „Schöpfungsmittelpunkte“. Ausbreitung durch Wanderung. Active und paſſive Wanderungen der Thiere und Pflanzen. Trans⸗ portmittel. Transport der Keime durch Waſſer und Wind. Beſtändige Verände- rung der Verbreitungsbezirke durch Hebungen und Senkungen des Bodens. Cho— rologiſche Bedeutung der geologiſchen Vorgänge. Einfluß des Klima-Wechſels. Eis- zeit oder Glacial-Periode. Ihre Bedeutung für die Chorologie. Bedeutung der Wanderungen für die Entſtehung neuer Arten. Iſolirung der Koloniſten. Wag— ners „Migrationsgeſetz“. Verhältniß der Migrationstheorie zur Selectionstheorie. Uebereinſtimmung ihrer Folgerungen mit der Dejcendenztheorie. Meine Herren! Wie ich ſchon zu wiederholten Malen hervor— gehoben habe, wie aber nie genug betont werden kann, liegt der eigentliche Werth und die unüberwindliche Stärke der Deſcendenz— theorie nicht darin, daß ſie uns dieſe oder jene einzelne Erſcheinung erläutert, ſondern darin, daß ſie uns die Geſammtheit der biologi— ſchen Phänomene erklärt, daß ſie uns alle botaniſchen und zoologi— ſchen Erſcheinungsreihen in ihrem inneren Zuſammenhange verſtänd— lich macht. Daher wird jeder denkende Forſcher um ſo feſter und tie— fer von ihrer Wahrheit durchdrungen, je mehr er ſeinen Blick von ein— zelnen biologiſchen Wahrnehmungen zu einer allgemeinen Betrachtung des Geſammtgebietes des Thier- und Pflanzenlebens erhebt. Laſſen a 312 Chorologiſche Thatſachen und Urſachen. Sie uns nun jetzt, von dieſem umfaſſenden Standpunkt aus, ein bio— logiſches Gebiet überblicken, deſſen mannichfaltige und verwickelte Er— ſcheinungen beſonders einfach und lichtvoll durch die Selectionstheorie erklärt werden. Ich meine die Chorologie oder die Lehre von der räumlichen Verbreitung der Organismen über die Erd— oberfläche. Darunter verſtehe ich nicht nur die geographiſche Verbreitung der Thier- und Pflanzenarten über die verſchiedenen Erd— theile und deren Provinzen, über Feſtländer und Inſeln, Meere und Flüſſe; ſondern auch die topographiſche Verbreitung derſelben in verticaler Richtung, ihr Hinaufſteigen auf die Höhen der Gebirge, ihr Hinabſteigen in die Tiefen des Oceans (Gen. Morph. II, 286). Wie Ihnen bekannt fein wird, haben die ſonderbaren chorolo— giſchen Erſcheinungsreihen, welche die horizontale Verbreitung der Organismen über die Erdtheile, und ihre verticale Verbreitung in Höhen und Tiefen darbieten, ſchon ſeit längerer Zeit allgemeines Intereſſe erweckt. In neuerer Zeit haben namentlich Alexander Humboldts) und Frederick Schouw die Geographie der Pflan- zen, Berghaus und Schmarda die Geographie der Thiere in weiterem Umfange behandelt. Aber obwohl dieſe und manche an— dere Naturforſcher unſere Kenntniſſe von der Verbreitung der Thier— und Pflanzenformen vielfach gefördert und uns ein weites Gebiet des Wiſſens voll wunderbarer und intereſſanter Erſcheinungen zugäng— lich gemacht haben, ſo blieb doch die ganze Chorologie immer nur ein zerſtreutes Wiſſen von einer Maſſe einzelner Thatſachen. Eine Wiſſenſchaft konnte man ſie nicht nennen, ſo lange uns die wirken— den Urſachen zur Erklärung dieſer Thatſachen fehlten. Dieſe Ur— ſachen hat uns erſt die Selectionstheorie mit ihrer Lehre von den Wanderungen der Thier- und Pflanzenarten enthüllt, und erſt ſeit Darwin und Wallace können wir von einer ſelbſtſtändigen chorologiſchen Wiſſenſchaft reden. Wenn man die geſammten Erſcheinungen der geographiſchen und topographiſchen Verbreitung der Organismen an und für ſich betrach— tet, ohne Rückſicht auf die allmählige Entwickelung der Arten, und Einmalige Entſtehung jeder Art an einem Orte. 313 wenn man zugleich, dem herkömmlichen Aberglauben folgend, die ein— zelnen Thier- und Pflanzenarten als ſelbſtſtändig erſchaffene und von einander unabhängige Formen betrachtet, ſo bleibt nichts anderes übrig, als jene Erſcheinungen wie eine bunte Sammlung von un— begreiflichen und unerklärlichen Wundern anzuſtaunen. Sobald man aber dieſen niederen Standpunkt verläßt und mit der Annahme einer Blutsverwandtſchaft der verſchiedenen Species ſich zur Höhe der Ent— wickelungstheorie erhebt, ſo fällt mit einem Male ein vollſtändig er— klärendes Licht auf jenes myſtiſche Wundergebiet, und wir ſehen, daß ſich alle jene chorologiſchen Thatſachen ganz einfach und leicht aus der Annahme einer gemeinſamen Abſtammung der Arten und ihrer paſſiven und activen Wanderung verſtehen laſſen. Der wichtigſte Grundſatz, von dem wir in der Chorologie aus— gehen müſſen, und von deſſen Wahrheit uns jede tiefere Betrachtung der Selectionstheorie überzeugt, iſt, daß in der Regel jede Thier— und Pflanzenart nur einmal im Lauf der Zeit und nur an einem Orte der Erde, an ihrem ſogenannten „Schöpfungsmittelpunkte“, durch natürliche Züchtung entſtanden iſt. Ich theile dieſe Anſicht Darwin's unbedingt in Bezug auf die große Mehrzahl der höheren und vollkommenen Organismen, in Bezug auf die allermeiſten Thiere und Pflanzen, bei denen die Arbeitstheilung oder Differenzirung der ſie zuſammenſetzenden Zellen und Organe einen gewiſſen Grad er— reicht hat. Denn es iſt ganz unglaublich, oder könnte doch nur durch einen höchſt ſeltenen Zufall geſchehen, daß alle die mannichfaltigen und verwickelten Umſtände, alle die verſchiedenen Bedingungen des Kampfes ums Daſein, die bei der Entſtehung einer neuen Art durch natürliche Züchtung wirkſam ſind, genau in derſelben Vereinigung und Verbindung mehr als einmal in der Erdgeſchichte, oder gleich— zeitig an mehreren verſchiedenen Punkten der Erdoberfläche zuſammen gewirkt haben. Dagegen halte ich es für ſehr wahrſcheinlich, daß gewiſſe höchſt un vollkommene Organismen vom einfachſten Bau, Speciesformen von höchſt indifferenter Natur, wie z. B. manche einzellige Protiſten, 314 Die Schöpfungsmittelpunkte oder Urheimathen. namentlich aber die einfachſten von allen, die Moneren, in ihrer ſpe— cifiſchen Form mehrmals oder gleichzeitig an mehreren Stellen der Erde entſtanden ſeien. Denn die wenigen ſehr einfachen Bedingun— gen, durch welche ihre ſpecifiſche Form im Kampfe um's Daſein um— gebildet wurde, können ſich wohl öfter im Laufe der Zeit, oder un— abhängig von einander an verſchiedenen Stellen der Erde wiederholt haben. Ferner können auch diejenigen höheren ſpecifiſchen Formen, welche nicht durch natürliche Züchtung, ſondern durch Baſtardzeu— gung entſtanden ſind, die früher erwähnten Baſtardarten (S. 130, 245) wiederholt an verſchiedenen Orten neu entſtanden ſein. Da uns jedoch dieſe verhältnißmäßig geringe Anzahl von Organismen hier vorläufig noch nicht näher intereſſirt, ſo können wir in choro— logiſcher Beziehung von ihnen abſehen, und brauchen bloß die Ver— breitung der großen Mehrzahl der Thier- und Pflanzenarten in Be— tracht zu ziehen, bei denen die einmalige Entſtehung jeder Species an einem einzigen Orte, an ihrem ſogenannten „Schö— pfungsmittelpunkte“, aus vielen wichtigen Gründen als hinreichend geſichert angeſehen werden kann. Jede Thier- und Pflanzenart hat nun von Anbeginn ihrer Exi— ſtenz an das Streben beſeſſen, ſich über die beſchränkte Lokalität ihrer Entſtehung, über die Schranken ihres „Schöpfungsmittelpunktes“ oder beſſer geſagt ihrer Urheimath oder ihres Geburtsortes hinaus auszubreiten. Das iſt eine nothwendige Folge der früher erörterten Bevölkerungs- und Uebervölkerungsverhältniſſe (S. 144, 228). Je ſtärker eine Thier- oder Pflanzenart ſich vermehrt, deſto weniger reicht ihr beſchränkter Geburtsort für ihren Unterhalt aus, deſto hef— tiger wird der Kampf um's Daſein, deſto raſcher tritt eine Ueber— völkerung der Heimath und in Folge deſſen Auswanderung ein. Dieſe Wan derungen find allen Organismen gemeinſam und ſie ſind die eigentliche Urſache der weiten Verbreitung der verſchiede— nen Organismenarten über die Erdoberfläche. Wie die Menſchen aus den übervölkerten Staaten, ſo wandern Thiere und Pflanzen allge— mein aus ihrer übervölkerten Urheimath aus. Active Wanderungen der fliegenden Thiere. 315 Auf die hohe Bedeutung dieſer ſehr intereſſanten Wanderungen der Organismen haben ſchon früher viele ausgezeichnete Naturforſcher, insbeſondere Lyell !), Schleiden u. A. wiederholt aufmerkſam ge— macht. Die Transportmittel, durch welche dieſelben geſchehen, ſind äußerſt mannichfaltig. Darwin hat dieſelben im elften und zwölf— ten Kapitel ſeines Werks, welche der „geographiſchen Verbreitung“ ausſchließlich gewidmet ſind, vortrefflich erörtert. Die Transport— mittel ſind theils active, theils paſſive; d. h. der Organismus bewerk— ſtelligt ſeine Wanderungen theils durch freie Ortsbewegungen, die von ihm ſelbſt ausgehen, theils durch Bewegungen anderer Natur— körper, an denen er ſich nicht ſelbſtthätig betheiligt. Die activen Wanderungen ſpielen ſelbſtverſtändlich die größte Rolle bei den frei beweglichen Thieren. Je freier die Bewe— gung eines Thieres nach allen Richtungen hin durch ſeine Organi— ſation erlaubt iſt, deſto leichter kann dieſe Thierart wandern, und deſto raſcher ſich über die Erde ausbreiten. Am meiſten begünſtigt ſind in dieſer Beziehung natürlich die fliegenden Thiere, und ins— beſondere unter den Wirbelthieren die Vögel, unter den Gliederthie— ren die Inſecten. Leichter als alle anderen Thiere konnten ſich dieſe beiden Klaſſen alsbald nach ihrer Entſtehung über die ganze Erde verbreiten, und daraus erklärt ſich auch zum Theil die ungemeine innere Einförmigkeit, welche dieſe beiden großen Thierklaſſen vor allen anderen auszeichnet. Denn obwohl dieſelben eine außerordentliche Anzahl von verſchiedenen Arten enthalten, und obwohl die Inſecten— klaſſe allein mehr verſchiedene Species beſitzen ſoll, als alle übrigen Thierklaſſen zuſammengenommen, ſo ſtimmen dennoch alle dieſe un— zähligen Inſectenarten, und ebenſo andererſeits die verſchiedenen Vö— gelarten, in allen weſentlichen Eigenthümlichkeiten ihrer Organiſation ganz auffallend überein. Daher kann man ſowohl in der Klaſſe der Inſecten, als in derjenigen der Vögel, nur eine ſehr geringe Anzahl von größeren natürlichen Gruppen oder „Ordnungen“ unterſcheiden, und dieſe wenigen Ordnungen weichen im innern Bau nur ſehr wenig von einander ab. Die artenreichen Vögelordnungen ſind lange 316 Active Wanderungen der Thiere und Pflanzen. nicht jo weit von einander verſchieden, wie die viel weniger arten- reichen Ordnungen der Säugethierklaſſe; und die an Genera- und Speciesformen äußerſt reichen Inſectenordnungen ſtehen ſich im in— neren Bau viel näher, als die viel kleineren Ordnungen der Krebs— klaſſe. Die durchgehende Parallele zwiſchen den Vögeln und Inſec— ten iſt auch in dieſer ſyſtematiſchen Beziehung ſehr intereſſant; und die größte Bedeutung ihres Formenreichthums für die wiſſenſchaft— liche Morphologie liegt darin, daß ſie uns zeigen, wie innerhalb des engſten anatomiſchen Spielraums, und ohne tiefere Veränderungen der weſentlichen inneren Organiſation, die größte Mannichfaltigkeit der äußeren Körperform erreicht werden kann. Offenbar liegt der Grund dafür in der fliegenden Lebensweiſe und in der freieſten Orts— bewegung. In Folge deſſen haben ſich Vögel ſowohl als Inſecten ſehr raſch über die ganze Erdoberfläche verbreitet, haben an allen möglichen, anderen Thieren unzugänglichen Localitäten ſich angeſie— delt, und nun durch oberflächliche Anpaſſung an beſtimmte Local— verhältniſſe ihre ſpecifiſche Form vielfach modificirt. Nächſt den fliegenden Thieren haben natürlich am raſcheſten und weiteſten ſich diejenigen ausgebreitet, die nächſtdem am beſten wan— dern konnten, die beſten Läufer unter den Landbewohnern, die beſten Schwimmer unter den Waſſerbewohnern. Das Vermögen derartiger activer Wanderungen iſt aber nicht bloß auf diejenigen Thiere be— ſchränkt, welche ihr ganzes Leben hindurch ſich freier Ortsbewegung erfreuen. Denn auch die feſtſitzenden Thiere, wie z. B. die Korallen, die Röhrenwürmer, die Seeſcheiden, die Seelilien, die Taſcheln, die Rankenkrebſe und viele andere niedere Thiere, die auf Seepflanzen, Steinen und dgl. feſtgewachſen ſind, genießen doch in ihrer Jugend we— nigſtens freie Ortsbewegung. Sie alle wandern, ehe ſie ſich feſt— ſetzen. Gewöhnlich iſt der erſte frei bewegliche Jugendzuſtand derſel— ben eine flimmernde Larve, ein rundliches, zelliges Körperchen, wel— ches mittelſt eines Kleides von beweglichen Flimmerhaaren im Waſ— ſer umherſchwärmt und den Namen Planula führt. Aber nicht auf die Thiere allein iſt das Vermögen der freien Paſſive Wanderungen der Thiere und Pflanzen. 317 Ortsbewegung und ſomit auch der activen Wanderung beſchränkt, ſondern ſelbſt viele Pflanzen erfreuen ſich deſſelben. Viele niedere Waſſerpflanzen, insbeſondere aus der Tangklaſſe, ſchwimmen in ihrer erſten Jugend, gleich den eben erwähnten niederen Thieren, mittelſt eines beweglichen Flimmerkleides, einer ſchwingenden Geißel oder eines zitternden Wimperpelzes, frei im Waſſer umher und ſetzen ſich erſt ſpäter feſt. Selbſt bei vielen höheren Pflanzen, die wir als kriechende und kletternde bezeichnen, können wir von einer activen Wanderung ſprechen. Der langgeſtreckte Stengel oder Wurzelſtock derſelben kriecht oder klettert während ſeines langen Wachsthums nach neuen Standorten und erobert ſich mittelſt ſeiner weitverzweigten Aeſte einen neuen Wohnort, in dem er ſich durch Knospen befeſtigt, und neue Kolonien von anderen Individuen ſeiner Art hervorruft. So einflußreich nun aber auch dieſe activen Wanderungen der meiſten Thiere und vieler Pflanzen ſind, ſo würden ſie allein doch bei weitem nicht ausreichen, uns die Chorologie der Organismen zu erklären. Vielmehr ſind bei weitem wichtiger und von ungleich grö— ßerer Wirkung, wenigſtens für die meiſten Pflanzen und für viele Thiere, von jeher die paſſiven Wanderungen geweſen. Solche paſſive Ortsveränderungen werden durch äußerſt mannichfaltige Ur— ſachen hervorgebracht. Luft und Waſſer in ihrer ewigen Bewegung, Wind und Wellen in ihrer mannichfaltigen Strömung ſpielen dabei die größte Rolle. Der Wind hebt allerorten und allerzeiten leichte Organismen, kleine Thiere und Pflanzen, namentlich aber die jugend— lichen Keime derſelben, Thiereier und Pflanzenſamen, in die Höhe, und führt ſie weithin über Land und Meer. Wo dieſelben in das Waſſer fallen, werden ſie von Strömungen oder Wellen erfaßt und nach anderen Orten hingeführt. Wie weit in vielen Fällen Baum- ſtämme, hartſchalige Früchte und andere ſchwer verwesliche Pflan- zentheile durch den Lauf der Flüſſe und durch die Strömungen des Meeres von ihrer urſprünglichen Heimath weggeführt werden, iſt aus zahlreichen Beiſpielen bekannt. Palmenſtämme aus Weſtindien werden durch den Golfſtrom nach den britiſchen und norwegiſchen 318 Transport durch Waſſer und ſchwimmende Eisberge. Küſten gebracht. Alle großen Ströme führen Treibholz aus den Ge— birgen und oft Alpenpflanzen aus ihrer Quellen Heimath in die Ebe— nen hinab und weiter bis zu ihrer Ausmündung in das Meer. Zwiſchen dem Wurzelwerk dieſer fortgetriebenen Pflanzen, zwiſchen dem Gezweige der fortgeſchwemmten Baumſtämme ſitzen oft zahl— reiche Bewohner derſelben, welche an der paſſiven Wanderung Theil nehmen müſſen. Die Baumrinde iſt mit Moos, Flechten und pa— raſitiſchen Inſecten bedeckt. Andere Inſecten, Spinnen u. dergl., ſelbſt kleine Reptilien und Säugethiere, ſitzen geborgen in dem hohlen Stamme oder halten ſich feſt an den Zweigen. In der Erde, die zwiſchen die Wurzelfaſern eingeklemmt iſt, in dem Staube, welcher in den Rindenſpalten feſtſitzt, befinden ſich zahlloſe Keime von kleine— ren Thieren und Pflanzen. Landet nun der fortgetriebene Stamm glücklich an einer fremden Küſte oder einer fernen Inſel, ſo können die Gäſte, welche an der unfreiwilligen Reiſe Theil nehmen mußten, ihr Fahrzeug verlaſſen und ſich in dem neuen Vaterlande anſiedeln. Eine ſeltſame beſondere Form dieſes Waſſertransports vermitteln die ſchwimmenden Eisberge, die ſich alljährlich von dem ewigen Eiſe der Polarmeere ablöſen. Obwohl jene kalten Zonen im Ganzen ſehr ſpärlich bevölkert ſind, ſo können doch manche von ihren Bewohnern, die ſich zufällig auf einem Eisberge während ſeiner Ablöſung befan— den, mit demſelben von den Strömungen fortgeführt und an wärme— ren Küſten gelandet werden. So iſt ſchon oft mit abgelöſten Eis— blöcken des nördlichen Eismeeres eine ganz kleine Bevölkerung von Thieren und Pflanzen nach den nördlichen Küſten von Europa und Amerika geführt worden. Ja ſogar einzelne Eisfüchſe und Eisbären ſind ſo nach Island und den britiſchen Inſeln gelangt. Keine geringere Bedeutung als der Waſſertransport, beſitzt für die paſſiven Wanderungen der Lufttransport. Der Staub, der unſere Straßen und Dächer bedeckt, die Erdkruſte, welche auf trockenen Fel— dern und ausgetrockneten Waſſerbecken ſich findet, die leichte Humus— decke des Waldbodens, kurz die ganze Oberfläche des trockenen Landes enthält Millionen von kleinen Organismen und von Keimen derſelben. „ — Transport durch Wirbelwinde und Stürme. 319 Viele von dieſen kleinen Thieren und Pflanzen können ohne Schaden vollſtändig austrocknen und erwachen wieder zum Leben, ſobald ſie befeuchtet werden. Jeder Windſtoß hebt mit dem Staube unzählige ſolche kleine Lebeweſen in die Höhe und führt ſie oft meilenweit nach anderen Orten hin. Aber auch größere Organismen, und namentlich Keime von ſolchen, können oft weite paſſive Luftreiſen machen. Bei vielen Pflanzen ſind die Samenkörner mit leichten Federkronen ver— ſehen, die wie Fallſchirme wirken und ihr Schweben in der Luft er— leichtern, ihr Niederfallen erſchweren. Spinnen machen auf ihrem leich— ten Fadengeſpinnſte, dem ſogenannten „fliegenden Weiber-Sommer“, meilenweite Luftreiſen. Junge Fröſche werden durch Wirbelwinde oft zu Tauſenden in die Luft erhoben und fallen als ſogenannter „Froſch— regen“ an einem entfernten Orte nieder. Vögel und Inſecten können durch Stürme über den halben Erdkreis weggeführt werden. Sie fal— len in den vereinigten Staaten nieder, nachdem ſie ſich in England er— hoben hatten. In Kalifornien aufgeflogen, kommen ſie in China erſt wieder zur Ruhe. Mit den Vögeln und Inſecten können aber wieder viele andere Organismen die Reiſe von einem Kontinent zum andern machen. Selbſtverſtändlich wandern mit allen Organismen die auf ihnen wohnenden Paraſiten, deren Zahl Legion iſt, die Flöhe, Läuſe, Milben, Pilze u. ſ. w. In der Erde, die oft zwiſchen den Zehen der Vögel beim Auffliegen hängen bleibt, ſitzen wiederum kleine Thiere und Pflanzen oder Keime von ſolchen. Und ſo kann die freiwillige oder unfreiwillige Wanderung eines einzigen größeren Organismus eine ganze kleine Flora oder Fauna aus einem Welttheil in den andern hinüber führen. Außer den angegebenen Transportmitteln gibt es nun auch noch viele andere, die die Verbreitung der Thier- und Pflanzen-Arten über weite Strecken der Erdoberfläche, und insbeſondere die allgemeine Ver— breitung der ſogenannten kosmopolitiſchen Species erklären. Doch würden wir uns hieraus allein bei weitem nicht alle chorologiſchen Thatſachen erklären können. Wie kommt es z. B., daß viele Süßwaſ— ſerbewohner in zahlreichen weit von einander getrennten und ganz ge— 320 Chorologiſche Bedeutung der geologiſchen Vorgänge. ſonderten Flußgebieten oder Seen leben. Wie kommt es, daß viele Gebirgsbewohner, die in der Ebene gar nicht exiſtiren können, auf gänzlich getrennten und weit entfernten Gebirgsketten gefunden wor— den? Daß jene Süßwaſſerbewohner die zwiſchen ihren Waſſergebie— ten liegenden Landſtrecken, daß dieſe Gebirgsbewohner die zwiſchen ihren Gebirgsheimathen liegenden Ebenen in irgend einer Weiſe activ oder paſſiv durchwandert hätten, iſt ſchwer anzunehmen und in vielen Fällen gar nicht denkbar. Hier kommt uns nun als mächtiger Bun— desgenoſſe die Geologie zur Hülfe. Sie löſt uns jene ſchwierigen Räthſel vollſtändig. Die Entwickelungsgeſchichte der Erde zeigt uns, daß die Verthei— lung von Land und Waſſer an ihrer Oberfläche ſich in ewigem und un— unterbrochenem Wechſel befindet. Ueberall finden in Folge von geolo— giſchen Veränderungen des Erdinnern, bald hier bald dort ſtärker vor— tretend oder nachlaſſend, Hebungen und Senkungen des Bodens ſtatt. Wenn dieſelben auch ſo langſam geſchehen, daß ſie im Laufe des Jahrhunderts die Meeresküſte nur um wenige Zolle, oder ſelbſt nur um ein paar Linien heben oder ſenken, ſo bewirken ſie doch im Laufe langer Zeiträume erſtaunliche Reſultate. Und an langen, an unermeßlich langen Zeiträumen hat es in der Erdgeſchichte niemals gefehlt. Im Laufe der vielen Millionen Jahre, ſeit ſchon organi— ſches Leben auf der Erde exiſtirt, haben Land und Meer ſich beſtän— dig um die Herrſchaft geſtritten. Continente und Inſeln ſind unter Meer verſunken, und neue ſind aus ſeinem Schooße emporgeſtiegen. Seen und Meere ſind langſam gehoben worden und ausgetrocknet, und neue Waſſerbecken ſind durch Senkung des Bodens entſtanden. Halbinſeln wurden zu Inſeln, indem die ſchmale Landzunge, die ſie mit dem Feſtlande verband, unter Waſſer ſank. Die Inſeln eines Archipelagus wurden zu Spitzen einer zuſammenhängenden Gebirgs— kette, wenn der ganze Boden ihres Meeres bedeutend gehoben wurde. So war einſt das Mittelmeer ein Binnenſee, als noch an Stelle der Gibraltarſtraße Afrika durch eine Landenge mit Spanien zuſam— menhing. England hat mit dem europäiſchen Feſtlande ſelbſt wäh— Geologiſche Veränderung der geographifchen Grenzen. 321 rend der neueren Erdgeſchichte, als ſchon Menſchen exiſtirten, wieder— holt zuſammen gehangen und iſt wiederholt davon getrennt worden. Ja ſogar Europa und Nordamerika haben unmittelbar in Zuſam— menhang geſtanden. Die Südſee bildete einſt einen großen paci— fiſchen Continent, und die zahlloſen kleinen Inſeln, die heute in der— ſelben zerſtreut liegen, waren bloß die höchſten Kuppen der Gebirge, die jenen Continent bedeckten. Der indiſche Ocean exiſtirte in Form eines Continents, der von den Sunda-Inſeln längs des ſüdlichen Aſiens ſich bis zur Oſtküſte von Africa erſtreckte. Dieſer einſtige große Continent, den der Engländer Sclater wegen der für ihn charak— teriſtiſchen Halbaffen Lemuria genannt hat, iſt zugleich von großer Bedeutung als die wahrſcheinliche Wiege des Menſchengeſchlechts, das hier ſich vermuthlich zuerſt aus anthropoiden Affen hervorbil— dete. Ganz beſonders intereſſant iſt aber der wichtige Nachweis, welchen Alfred Wallace sé) mit Hülfe chorologiſcher Thatſachen geführt hat, daß der heutige malayiſche Archipel eigentlich aus zwei ganz verſchiedenen Abtheilungen beſteht. Die weſtliche Abtheilung, der indo-malayiſche Archipel, umfaßt die großen Inſeln Borneo, Java und Sumatra, und hing früher durch Malakka mit dem aſia— tiſchen Feſtland und wahrſcheinlich auch mit dem eben genannten Lemurien zuſammen. Die öſtliche Abtheilung dagegen, der auſtral— malayiſche Archipel, Celebes, die Molukken, Neuguinea, die Salo— mons-⸗Inſeln u. ſ. w. umfaſſend, ſtand früherhin mit Auſtralien in unmittelbarem Zuſammenhang. Beide Abtheilungen waren vormals zwei durch eine Meerenge getrennte Continente, ſind aber jetzt größten— theils unter den Meeresſpiegel verſunken. Die Lage jener früheren Meerenge, deren Südende zwiſchen Bali und Lombok hindurch geht, hat Wallace bloß auf Grund feiner genauen chorologiſchen Beob— achtungen in der ſcharfſinnigſten Weiſe feſt zu beſtimmen vermocht. So haben, ſeitdem tropfbar flüſſiges Waſſer auf der Erde exiſtirt, die Grenzen von Waſſer und Land ſich in ewigem Wechſel verändert, und man kann behaupten, daß die Umriſſe der Continente und In— ſeln nicht eine Stunde, ja nicht eine Minute hindurch ſich jemals gleich Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 21 322 Chorologiſche Bedeutung der geologischen Vorgänge. geblieben ſind. Denn ewig und ununterbrochen nagt die Brandung an dem Saume der Küſten; und was das Land an dieſen Stellen beſtändig an Ausdehnung verliert, das gewinnt es an anderen Stellen durch Anhäufung von Schlamm, der ſich zu feſtem Geſtein verdichtet, und wieder über den Meeresſpiegel als neues Land ſich erhebt. Nichts kann irriger ſein, als die Vorſtellung von einem feſten und unverän— derlichen Umriſſe unſerer Continente, wie ſie uns in früher Jugend ſchon durch unſeren mangelhaften, der geologiſchen Baſis entbehrenden geographiſchen Unterricht eingeprägt wird. Nun brauche ich Sie wohl kaum noch darauf aufmerkſam zu machen, wie äußerſt wichtig von jeher dieſe geologiſchen Veränderun— gen der Erdoberfläche für die Wanderungen der Organismen und in Folge deſſen für ihre Chorologie geweſen ſein müſſen. Wir lernen dadurch begreifen, wie dieſelben oder ganz nahe verwandte Thier- und Pflanzen-Arten auf verſchiedenen Inſeln vorkommen können, obwohl ſie nicht das Waſſer zwiſchen denſelben durchwandern können, und wie andere, das Süßwaſſer bewohnende Arten in verſchiedenen geſchloſ— ſenen Seebecken wohnen können, obgleich ſie nicht das Land zwiſchen denſelben zu überſchreiten vermögen. Jene Inſeln waren früher Berg— ſpitzen eines zuſammenhängenden Feſtlandes, und dieſe Seen ſtanden einſtmals in unmittelbarem Zuſammenhang. Durch geologiſche Sen- kung wurden die erſteren, durch Hebung die letzteren getrennt. Wenn wir nun ferner bedenken, wie oft und wie ungleichmäßig an den ver— ſchiedenen Stellen der Erde ſolche wechſelnde Hebungen und Senkun— gen ſtattfanden und in Folge deſſen die Grenzen der geographiſchen Verbreitungsbezirke der Arten ſich veränderten, wenn wir bedenken, wie außerordentlich mannichfaltig dadurch die activen und paſſiven Wanderungen der Organismen beeinflußt werden mußten, ſo lernen wir vollſtändig die bunte Mannichfaltigkeit des Bildes begreifen, wel— ches uns gegenwärtig die Vertheilung der Thier- und Pflanzen - Ar- ten darbietet. Noch ein anderer wichtiger Factor iſt aber hier hervorzuheben, der ebenfalls für die volle Erklärung jenes bunten geographiſchen Bil Chorologiſche Bedeutung des irdiſchen Klimawechſels. 323 des von großer Bedeutung iſt, und manche ſehr dunkle Thatſachen aufhellt, die wir ohne ihn nicht begreifen würden. Das iſt nämlich der allmähliche Klima-Wechſel, welcher während des langen Ver— laufs der organiſchen Erdgeſchichte ſtattgefunden hat. Wie wir ſchon im vorhergehenden Vortrage geſehen haben, muß beim Beginne des organiſchen Lebens auf der Erde allgemein eine viel höhere und gleich— mäßigere Temperatur geherrſcht haben, als gegenwärtig ſtattfindet. Die Zonen⸗Unterſchiede, die jetzt ſehr auffallend hervortreten, fehlten da— mals noch gänzlich. Wahrſcheinlich viele Millionen Jahre hindurch herrſchte auf der ganzen Erde ein Klima, welches dem heißeſten Tro— penklima der Jetztzeit nahe ſtand oder daſſelbe noch übertraf. Der höchſte Norden, bis zu welchem der Menſch jetzt vorgedrungen iſt, war damals mit Palmen und anderen Tropengewächſen bedeckt, de— ren verſteinerte Reſte wir noch jetzt dort finden. Sehr langſam und allmählich nahm ſpäterhin dieſes Klima ab; aber immer noch blie— ben die Pole ſo warm, daß die ganze Erdoberfläche für Organis— men bewohnbar war. Erſt in einer verhältnißmäßig ſehr jungen Periode der Erdgeſchichte, nämlich im Beginn der Tertiärzeit, er— folgte, wie es ſcheint, die erſte wahrnehmbare Abkühlung der Erd— rinde von den beiden Polen her, und ſomit die erſte Differenzirung oder Sonderung verſchiedener Temperatur-Gürtel oder klimatiſcher Zonen. Die langſame und allmähliche Abnahme der Temperatur bildete ſich nun innerhalb der Tertiärperiode immer weiter aus, bis zuletzt an beiden Polen der Erde das erſte Eis entſtand. Wie wichtig dieſer Klima-Wechſel für die geographiſche Verbrei— tung der Organismen und für die Entſtehung zahlreicher neuer Arten werden mußte, braucht kaum ausgeführt zu werden. Die Thier- und Pflanzen-Arten, die bis zur Tertiärzeit hin überall auf der Erde bis zu den Polen ein angenehmes tropiſches Klima gefunden hatten, wa— ren nunmehr gezwungen, entweder ſich der eindringenden Kälte an— zupaſſen oder vor derſelben zu fliehen. Diejenigen Species, welche ſich anpaßten und an die ſinkende Temperatur gewöhnten, wurden durch dieſe Acclimatiſation ſelbſt unter dem Einfluſſe der natürlichen 2 324 Die Eiszeit oder Glacialperiode. Züchtung in neue Arten umgewandelt. Die anderen Arten, welche vor der Kälte flohen, mußten auswandern und in niederen Breiten ein milderes Klima ſuchen. Dadurch mußten die bisherigen Ver— breitungs-Bezirke der Arten gewaltig verändert werden. Nun blieb aber in dem letzten großen Abſchnitte der Erdgeſchichte, in der auf die Tertiärzeit folgenden Quartär-Periode (oder in der Diluvial-Zeit) die Wärme-Abnahme der Erde von den Polen her keineswegs ſtehen. Vielmehr ſank die Temperatur nun tiefer und tie- fer, ja ſelbſt weit unter den heutigen Grad herab. Das nördliche und mittlere Aſien, Europa und Nord-Amerika bedeckte ſich vom Nord— pol her in großer Ausdehnung mit einer zuſammenhängenden Eis— decke, welche in unſerem Erdtheile bis gegen die Alpen gereicht zu haben ſcheint. In ähnlicher Weiſe drang auch vom Südpol her die Kälte vor, und überzog einen großen, jetzt eisfreien Theil der ſüdlichen Halbkugel mit einer ſtarren Eisdecke. So blieb zwiſchen dieſen gewal— tigen, lebentödtenden Erscontinenten nur noch ein ſchmaler Gürtel übrig, auf welchen das Leben der organiſchen Welt ſich zurückziehen konnte. Dieſe Periode, während welcher der Menſch oder wenigſtens der Affenmenſch bereits exiſtirte, und welche den erſten Hauptabſchnitt der ſogenannten Diluvialzeit bildet, iſt jetzt allgemein unter dem Namen der Eiszeit oder Glacialperiode bekannt und berühmt. Der erſte Naturforſcher, der den Gedanken der Eiszeit klar er— faßte und mit Hülfe der ſogenannten Wanderblöcke oder erratiſchen Steinblöcke, ſowie der „Gletſcher-Schliffe“ die große Ausdehnung der früheren Vergletſcherung von Mittel-Europa nachwies, war der geiſt— volle Karl Schimper. Von ihm angeregt, und durch die ſelbſtſtän— digen Unterſuchungen des ausgezeichneten Geologen Charpentier bedeutend gefördert, unternahm es ſpäter der Schweizer Naturforſcher Louis Agaſſiz, die Theorie von der Eiszeit weiter auszuführen. In England machte ſich beſonders der Geologe Forbes um ſie ver— dient, und verwerthete ſie auch bereits für die Theorie von den Wan— derungen und der dadurch bedingten geographiſchen Verbreitung der Arten. Agaſſidz hingegen ſchadete ſpäterhin der Theorie durch einſei— Chorologiſche Bedeutung der Glacialperiode. 325 tige Uebertreibung, indem er, der Kataſtrophen-Theorie Cu vier's zu Liebe, durch die plötzlich hereinbrechende Kälte der Eiszeit und die da— mit verbundene „Revolution“ den gänzlichen Untergang der damals lebenden Schöpfung erklären wollte. Auf die Eiszeit ſelbſt und die ſcharfſinnigen Unterſuchungen über ihre Grenzen näher einzugehen, habe ich hier keine Veranlaſſung, und kann um ſo mehr darauf verzichten, als die ganze neuere geologiſche Literatur davon voll iſt. Sie finden eine ausführliche Erörterung der— ſelben vorzüglich in den Werken von Cotta !), Lyellso), Vogt ?“), Zittel 2) u. ſ. w. Für uns iſt hier nur das hohe Gewicht von Be— deutung, welches ſie für die Erklärung der ſchwierigſten chorologiſchen Probleme beſitzt, und welches von Darwin ſehr richtig erkannt wurde. Es kann nämlich keinem Zweifel unterliegen, daß dieſe Verglet— ſcherung der heutzutage gemäßigten Zonen einen außerordentlich be— deutenden Einfluß auf die geographiſche und topographiſche Verthei— lung der Organismen ausüben und dieſelbe gänzlich umgeſtalten mußte. Während die Kälte langſam von den Polen her gegen den Aequator vorrückte und Land und Meer mit einer zuſammenhängen— den Eisdecke überzog, mußte fie natürlich die ganze lebende Organis- men⸗Welt vor ſich her treiben. Thiere und Pflanzen mußten aus— wandern, wenn ſie nicht erfrieren wollten. Da nun aber zu jener Zeit vermuthlich die gemäßigte und die Tropenzone bereits nicht we— niger dicht als gegenwärtig mit Pflanzen und Thieren bevölkert gewe— ſen ſein wird, ſo muß ſich zwiſchen dieſen und den von den Polen her kommenden Eindringlingen ein furchtbarer Kampf um's Daſein erhoben haben. In dieſem Kampfe, der jedenfalls viele Jahrtauſende dauerte, werden viele Arten zu Grunde gegangen, viele Arten abge— ändert und zu neuen Species umgebildet worden fein. Die bisheri— gen Verbreitungsbezirke der Arten aber mußten völlig verändert wer— den. Und dieſer Kampf muß auch dann noch fortgedauert haben, ja er muß von Neuem entbrannt, und in neuen Formen weiter geführt worden ſein, als die Eiszeit ihren Höhenpunkt erreicht und überſchrit— ten hatte, und als nunmehr in der poſtglacialen Periode die Tempe— 326 Chorologiſche Bedeutung der Glacialperiode. ratur wieder zunahm und die Organismen nach den Polen hin zurück— zuwandern begannen. Jedenfalls iſt dieſer gewaltige Klimawechſel, mag man ſonſt dem— ſelben eine größere oder eine geringere Bedeutung zuſchreiben, eines derjenigen Ereigniſſe in der Erdgeſchichte, die am bedeutendſten auf die Vertheilung der organiſchen Formen eingewirkt haben. Nament- lich wird aber ein ſehr wichtiges und ſchwieriges chorologiſches Ver— hältniß dadurch in der einfachſten Weiſe erklärt: das iſt die ſpecifiſche Uebereinſtimmung vieler unſerer Alpenbewohner mit vielen Bewoh— nern der Polarländer. Es giebt eine große Anzahl von ausgezeichne— ten Thier- und Pflanzen-Formen, die dieſen beiden, weit getrenn— ten Erdgegenden gemeinſam ſind und nirgends in dem weiten, ebenen Zwiſchenraume zwiſchen Beiden gefunden werden. Eine Wanderung derſelben von den Polarländern nach den Alpenhöhen oder umgekehrt wäre unter den gegenwärtigen klimatiſchen Verhältniſſen undenkbar oder doch höchſtens nur in wenigen ſeltenen Fällen anzunehmen. Eine ſolche Wanderung konnte aber ſtattfinden, ja ſie mußte ſtattfinden während des allmählichen Eintrittes und Rückzuges der Eiszeit. Da die Vergletſcherung von Nord-Europa bis gegen unſere Alpenkette vor— drang, ſo werden die davor zurückweichenden Polarbewohner, Gen— tianen und Saxifragen, Eisfüchſe und Schneehaſen, damals unſer deutſches Vaterland und überhaupt Mitteleuropa bevölkert haben. Als nun die Temperatur wieder zunahm, zog ſich nur ein Theil die— ſer arktiſchen Bevölkerung mit dem zurückweichenden Eiſe in die Po— larzone wieder zurück. Ein anderer Theil derſelben ſtieg ſtatt deſſen an den Bergen der Alpenkette in die Höhe und fand hier das ihm zu— ſagende kalte Klima. So erklärt ſich ganz einfach jenes Problem. Wir haben die Lehre von den Wanderungen der Organismen oder die Migrationstheorie bisher vorzüglich inſofern verfolgt, als ſie uns die Ausſtrahlung jeder Thier- und Pflanzenart von einer einzigen Urheimath, von einem „Schöpfungsmittelpunkte“ aus erklärt, und ihre Ausbreitung über einen größeren oder geringeren Theil der Erdoberfläche erläutert. Nun ſind aber die Wanderungen der Thiere Entſtehung neuer Arten durch Wanderung. 327 und Pflanzen für die Entwickelungstheorie auch noch außerdem deß— halb von großer Bedeutung, weil wir darin ein ſehr wichtiges Hülfs— mittel für die Entſtehung neuer Arten erblicken müſſen. Wenn Thiere und Pflanzen auswandern, ſo treffen ſie, ebenſo wie aus— wandernde Menſchen, in der neuen Heimath Verhältniſſe an, die mehr oder weniger von den gewohnten, Generationen hindurch er— erbten Exiſtenzbedingungen verſchieden ſind. Dieſen neuen, unge— wohnten Lebensbedingungen müſſen ſich die Auswanderer entweder fügen und anpaſſen, oder ſie gehen zu Grunde. Durch die Anpaſ— ſung ſelbſt wird aber ihr eigenthümlicher, ſpecifiſcher Charakter ver— ändert, um ſo mehr, je größer der Unterſchied zwiſchen der neuen und der alten Heimath iſt. Das neue Klima, die neue Nahrung, vor allen aber die neue Nachbarſchaft der Thiere und Pflanzen wirkt auf den ererbten Charakter der eingewanderten Species umbildend ein, und wenn dieſelbe nicht zäh genug iſt, dieſen Einflüſſen zu widerſtehen, fo muß früher oder ſpäter eine neue Art daraus her- vorgehen. In den meiſten Fällen wird dieſe Umformung der ein— gewanderten Species unter dem Einfluſſe des veränderten Kampfes um's Daſein ſo raſch vor ſich gehen, daß ſchon nach e Ge⸗ nerationen eine neue Art daraus entſtanden iſt. Von beſonderer Bedeutung iſt in dieſer Beziehung die Wande— rung für alle Organismen mit getrennten Geſchlechtern. Denn bei dieſen wird die Entſtehung neuer Arten durch natürliche Züchtung immer dadurch erſchwert oder verzögert, daß ſich die variirenden Ab— kömmlinge gelegentlich wieder mit der unveränderten Stammform geſchlechtlich vermiſchen, und ſo durch Kreuzung in die urſprüngliche Form zurückſchlagen. Wenn dagegen ſolche Abarten ausgewandert ſind, wenn ſie durch weite Entfernungen oder durch Schranken der Wanderung, durch Meere, Gebirge u. ſ. w. von der alten Heimath getrennt ſind, ſo iſt die Gefahr einer Vermiſchung mit der Stamm— form aufgehoben, und die Iſolirung der ausgewanderten Form, die durch Anpaſſung in eine neue Art übergeht, verhindert ihre Kreu— zung und dadurch ihren Rückſchlag in die Stammform. n 328 Entſtehung neuer Arten durch Wanderung. Dieſe Bedeutung der Wanderung für die Iſolirung der neu ent— ſtehenden Arten und die Verhütung baldiger Rückkehr in die Stamm— formen iſt vorzüglich von dem geiſtreichen Reiſenden Moritz Wag— ner in München hervorgehoben worden. In einem beſonderen Schrift— chen über „Die Darwin'ſche Theorie und das Migrationsgeſetz der Or— ganismen“ #9) führt Wagner aus feiner eigenen reichen Erfahrung eine große Anzahl von treffenden Beiſpielen an, welche die von Dar— win im elften und zwölften Capitel ſeines Buches gegebene Migra— tionstheorie beſtätigen, und welche ganz beſonders den Nutzen der völligen Iſolirung der ausgewanderten Organismen für die Entſtehung neuer Species erörtern. Wagner faßt die einfachen Urſachen, welche „die Form räumlich abgegrenzt und in ihrer typiſchen Verſchiedenheit begründet haben“ in folgenden drei Sätzen zuſammen: „1. Je größer die Summe der Veränderungen in den bisherigen Lebensbedingungen iſt, welche emigrirende Individuen bei Einwanderung in einem neuen Gebiete finden, deſto intenſiver muß die jedem Organismus inne wohnende Variabilität ſich äußern. 2. Je weniger dieſe geſteigerte individuelle Veränderlichkeit der Organismen im ruhigen Fortbildungs— prozeß durch die Vermiſchung zahlreicher nachrückender Einwanderer der gleichen Art geſtört wird, deſto häufiger wird der Natur durch Summirung und Vererbung der neuen Merkmale die Bildung einer neuen Varietät (Abart oder Raſſe) d. i. einer beginnenden Art ge— lingen. 3. Je vortheilhafter für die Abart die in den einzelnen Or— ganen erlittenen Veränderungen ſind, je beſſer letztere den umgeben— den Verhältniſſen ſich anpaſſen, und je länger die ungeſtörte Züch— tung einer beginnenden Varietät von Coloniſten in einem neuen Ter— ritorium ohne Miſchung mit nachrückenden Einwanderern derſelben Art fortdauert, deſto häufiger wird aus der Abart eine neue Art entſtehen.“ Dieſen drei Sätzen von Moritz Wagner kann Jeder beiſtim— men. Für vollkommen irrig müſſen wir dagegen ſeine Vorſtellung halten, daß die Wanderung und die darauf folgende Iſolirung der ausgewanderten Individuen eine nothwendige Bedingung für die Moritz Wagner's Migrationsgeſetz. 329 Entſtehung neuer Arten ſei. Wagner ſagt: „Ohne eine lange Zeit dauernde Trennung der Coloniſten von ihren früheren Artgenoſſen kann die Bildung einer neuen Raſſe nicht gelingen, kann die Zucht— wahl überhaupt nicht ſtattfinden. Unbeſchränkte Kreuzung, ungehin— derte geſchlechtliche Vermiſchung aller Individuen einer Species wird ſtets Gleichförmigkeit erzeugen und Varietäten, deren Merkmale nicht durch eine Reihe von Generationen fixirt worden ſind, wieder in den Urſchlag zurückſtoßen.“ Dieſen Satz, in welchem Wagner ſelbſt das Hauptreſultat ſei— ner Arbeit zuſammenfaßt, würde er nur in dem Falle überhaupt vertheidigen können, wenn alle Organismen getrennten Geſchlechts wären, wenn jede Entſtehung neuer Individuen nur durch Vermi— ſchung männlicher und weiblicher Individuen möglich wäre. Das iſt nun aber durchaus nicht der Fall. Merkwürdiger Weiſe ſagt Wagner gar Nichts von den zahlreichen Zwittern, die im Beſitz von beiderlei Geſchlechtsorganen, der Selbſtbefruchtung fähig ſind, und ebenſo Nichts von den zahlloſen Organismen, die überhaupt noch nicht geſchlechtlich differenzirt ſind. Nun hat es aber ſeit früheſter Zeit der organiſchen Erdgeſchichte tauſende von Organismenarten gegeben, und giebt deren tauſende noch heute, bei denen noch gar kein Geſchlechtsunterſchied, überhaupt noch gar keine geſchlechtliche Fortpflanzung vorkömmt, und die ſich ausſchließlich auf ungeſchlechtlichem Wege, durch Theilung, Knospung, Sporenbildung u. ſ. w. fortpflanzen. Die ganze große Maſſe der Protiſten, die Moneren, Amoeboiden, Myxomyeceten, Rhizopo— den u. ſ. w., kurz alle die niederen Organismen, die wir in dem zwi— ſchen Thier- und Pflanzenreich ſtehenden Protiſtenreich aufführen wer⸗ den, pflanzen ſich ausſchließlich auf ungeſchlechtlichem Wege fort! Und zu dieſen gehört eine der formenreichſten Organismen— klaſſen, ja ſogar in gewiſſer Beziehung die formenreichſte von allen, indem alle möglichen geometriſchen Grundformen in ihr verkörpert ſind. Das iſt die wunderbare Klaſſe der Rhizopoden oder Wurzel— 330 Moritz Wagner's Migrationsgeſetz. füßer, zu welcher die kalkſchaligen Acyttarien und die kieſelſchaligen Radiolarien gehören. (Vergl. den XVI. Vortrag.) Auf dieſe alle ungeſchlechtlichen Organismen würde alſo ſelbſt— verſtändlich die Wagner'ſche Theorie gar nicht anwendbar ſein. Daſ— ſelbe würde aber ferner auch von allen jenen Zwittern oder Herma— phroditen gelten, bei denen jedes Individuum, im Beſitze von männ— lichen und weiblichen Organen, der Selbſtbefruchtung fähig iſt. Das iſt z. B. bei den Strudelwürmern, Saugwürmern und Bandwür⸗ mern, wie überhaupt bei ſehr vielen Würmern der Fall, ferner bei den wichtigen Mantelthieren, den wirbelloſen Verwandten der Wir— belthiere, und bei ſehr vielen anderen Organismen aus verſchiedenen Gruppen. Viele von dieſen Arten ſind durch natürliche Züchtung entſtanden, ohne daß eine „Kreuzung“ der entſtehenden Species mit ihrer Stammform überhaupt möglich war. Wie ich ſchon im achten Vortrage Ihnen zeigte, iſt die Ent- ſtehung der beiden Geſchlechter und ſomit die ganze geſchlechtliche Fortpflanzung überhaupt als ein Vorgang aufzufaſſen, der erſt in ſpäterer Zeit der organiſchen Erdgeſchichte in Folge von Differenzi— rung oder Arbeitstheilung eingetreten iſt. Die älteſten Orga— nismen der Erde können ſich jedenfalls nur auf dem einfachſten un— geſchlechtlichen Wege fortgepflanzt haben. Selbſt jetzt noch vermehren ſich alle Protiſten, ebenſo wie alle die zahlloſen Zellenformen, welche den Körper der höheren Organismen zuſammenſetzen, nur durch un— geſchlechtliche Zeugung. Und doch entſtehen hier überall durch Dif— ferenzirung in Folge von natürlicher Züchtung „neue Arten“. Aber ſelbſt wenn wir bloß die Thier- und Pflanzenarten mit getrennten Geſchlechtern hier in Betracht ziehen wollten, ſo würden wir doch auch für dieſe Wagner's Hauptſatz, daß „die Migra— tion der Organismen und deren Coloniebildung die nothwen— dige Bedingung der natürlichen Zuchtwahl ſeien“, be— ſtreiten müſſen. Schon Auguſt Weismann hat in ſeiner Schrift „Ueber den Einfluß der Iſolirung auf die Artbildung“ 2) jenen Satz hinreichend widerlegt und gezeigt, daß auch in einem und Moritz Wagner's Migrationsgeſetz. 331 demſelben Wohnbezirke eine Species ſich in mehrere Arten durch natürliche Züchtung ſpalten kann. Indem ich mich dieſen Bemerkun— gen anſchließe, möchte ich aber noch beſonders den hohen Werth noch— mals hervorheben, den die Arbeitstheilung oder Differen— zirung, als die nothwendige Folge der natürlichen Züchtung befist. Alle die verſchiedenen Zellenarten, die den Körper der höheren Or— ganismen zuſammenſetzen, die Nervenzellen, Muskelzellen, Drüfen- zellen u. ſ. w., alle dieſe „guten Arten“, dieſe „bonae species“ von Elementarorganismen, ſind bloß durch Arbeitstheilung in Folge von natürlicher Züchtung entſtanden, trotzdem ſie nicht nur niemals räum— lich iſolirt, ſondern ſogar ſeit ihrer Entſtehung immer im engſten räumlichen Verbande neben einander exiſtirt haben. Daſſelbe aber, was von dieſen Elementarorganismen oder „Individuen erſter Ord— nung“ gilt, das gilt auch von den vielzelligen Organismen höherer Ordnung, die als „gute Arten“ erſt ſpäter aus ihrer Zuſammen— ſetzung entſtanden find 37). Wir ſind demnach zwar mit Darwin und Wallace der An— ſicht, daß die Wanderung der Organismen und ihre Iſolirung in der neuen Heimath eine ſehr günſtige und vortheilhafte Bedin— gung für die Entſtehung neuer Arten iſt. Daß ſie aber dafür eine nothwendige Bedingung ſei, und daß ohne dieſelbe keine neuen Arten entſtehen können, wie Wagner behauptet, können wir nicht zugeben. Wenn Wagner dieſe Anſicht, „daß die Migration die nothwendige Bedingung der natürlichen Zuchtwahl ſei“, als ein be— ſonderes „Migrationsgeſetz“ aufſtellt, ſo halten wir daſſelbe durch die angeführten Thatſachen für widerlegt. Wir haben überdies ſchon früher gezeigt, daß eigentlich die Entſtehung neuer Arten durch na— türliche Züchtung eine mathematiſche und logiſche Nothwen— digkeit iſt, welche ohne Weiteres aus der einfachen Verbindung von drei großen Thatſachen folgt. Dieſe drei fundamentalen Thatſachen find: der Kampf um's Daſein, die Anpaſſungsfähigkeit und die Ver— erbungsfähigkeit der Organismen (vergl. S. 151). Auf die zahlreichen intereſſanten Erſcheinungen, welche die geo— 332 Bedeutung der Chorologie für die Deſcendenztheorie. praphiſche und topographiſche Verbreitung der Organismenarten im Einzelnen darbietet, und welche ſich alle wunderſchön aus der Theorie der Selection und Migration erklären, können wir hier nicht ein— gehen. Ich verweiſe Sie in dieſer Beziehung auf die angeführten Schriften von Darwin !), Wallace ss) und Moritz Wagner), in denen die wichtige Lehre von den Verbreitungsſchranken, den Flüſſen, Meeren und Gebirgen, vortrefflich erörtert und durch zahlreiche Beiſpiele erläutert iſt. Nur drei Erſcheinungen mögen noch wegen ihrer beſonderen Bedeutung hier namentlich hervorgehoben werden. Das iſt erſtens die nahe Formverwandtſchaft, die auffal— lende „Familienähnlichkeit“, welche zwiſchen den charakteriſtiſchen Lo— calformen jedes Erdtheils und ihren ausgeſtorbenen, foſſilen Vor— fahren in demſelben Erdtheil exiſtirt, — zweitens die nicht minder auf— fallende „Familienähnlichkeit“ zwiſchen den Bewohnern von Inſel— gruppen und denjenigen des nächſt angrenzenden Feſtlandes, von welchem aus die Inſeln bevölkert wurden; — und endlich drittens der ganz eigenthümliche Charakter, welchen die Flora und Fauna der Inſeln überhaupt in ihrer Zuſammenſetzung zeigt. Alle dieſe von Darwin, Wallace und Wagner angeführten chorologiſchen Thatſachen, namentlich die merkwürdigen Erſcheinun— gen der beſchränkten Local-Faunen und Floren, die Verhältniſſe der Inſelbewohner zu den Feſtlandbevölkerungen, die weite Verbreitung der ſogenannten „kosmopolitiſchen Species“, die nahe Verwandtſchaft localer Species der Gegenwart mit den ausgeſtorbenen Arten deſſel— ben beſchränkten Gebietes, die nachweisliche Ausſtrahlung jeder Art von einem einzigen Schöpfungsmittelpunkte — alle dieſe und alle übrigen Erſcheinungen, welche uns die geographiſche und topographi— ſche Verbreitung der Organismen darbietet, erklären ſich einfach und vollſtändig aus der Selections- und Migrationstheorie, während ſie ohne dieſelbe überhaupt nicht zu begreifen ſind. Wir erblicken daher in allen dieſen Erſcheinungsreihen einen neuen gewichtigen Beweis für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. Fünfzehnter Vortrag. Schöpfungsperioden und Schöpfungsurkunden. Reform der Syſtematik durch die Deſcendenztheorie. Das natürliche Syſtem als Stammbaum. Paläontologiſche Urkunden des Stammbaumes. Die Verſtei— nerungen als Denkmünzen der Schöpfung. Ablagerung der neptuniſchen Schichten und Einſchluß der organiſchen Reſte. Eintheilung der organiſchen Erdgeſchichte in fünf Hauptperioden: Zeitalter der Tangwälder, Farnwälder, Nadelwälder, Laub- wälder und Culturwälder. Syſtem der neptuniſchen Schichten. Unermeßliche Dauer der während ihrer Bildung verfloſſenen Zeiträume. Ablagerung der Schichten nur während der Senkung, nicht während der Hebung des Bodens. Andere Lücken der Schöpfungsurkunde. Metamorphiſcher Zuſtand der älteſten neptuniſchen Schich- ten. Geringe Ausdehnung der paläontologiſchen Erfahrungen. Geringer Brud)- theil der verſteinerungsfähigen Organismen und organiſchen Körpertheile. Selten— heit vieler verſteinerten Arten. Mangel foſſiler Zwiſchenformen. Die Schöpfungs⸗ urkunden der Ontogenie und der vergleichenden Anatomie. Meine Herren! Von dem umgeſtaltenden Einfluß, welchen die Ab— ſtammungslehre auf alle Wiſſenſchaften ausüben muß, wird wahrſchein— lich nächſt der Anthropologie kein anderer Wiſſenſchaftszweig ſo ſehr betroffen werden, als der beſchreibende Theil der Naturgeſchichte, die ſyſtematiſche Zoologie und Botanik. Die meiſten Naturforſcher, die ſich bisher mit der Syſtematik der Thiere und Pflanzen beſchäftigten, ſammelten, benannten und ordneten die verſchiedenen Arten dieſer Naturkörper mit einem ähnlichen Intereſſe, wie die Alterthumsforſcher und Ethnographen die Waffen und Geräthſchaften der verſchiedenen Völker ſammeln. Viele erhoben ſich ſelbſt nicht über denjenigen Grad 334 Das natürliche Syſtem als Stammbaum der Organismen. der Wißbegierde, mit dem man Wappen, Briefmarken und ähnliche Curioſitäten zu ſammeln, zu etikettiren und zu ordnen pflegt. In ähnlicher Weiſe wie dieſe Sammler an der Formenmannichfaltigkeit, Schönheit oder Seltſamkeit der Wappen, Briefmarken u. ſ. w. ihre Freude finden, und dabei die erfinderiſche Bildungskunſt der Men— ſchen bewundern, in ähnlicher Weiſe ergötzen ſich die meiſten Natur— forſcher an den mannichfaltigen Formen der Thiere und Pflanzen, und erſtaunen über die reiche Phantaſie des Schöpfers, über ſeine uner— müdliche Schöpfungsthätigkeit und über die ſeltſame Laune, in wel— cher er neben ſo vielen ſchönen und nützlichen Organismen auch eine Anzahl häßlicher und unnützer Formen gebildet habe. Dieſe kindliche Behandlung der ſyſtematiſchen Zoologie und Bo— tanik wird durch die Abſtammungslehre gründlich vernichtet. An die Stelle des oberflächlichen und ſpielenden Intereſſes, mit welchem die Meiſten bisher die organiſchen Geſtalten betrachteten, tritt das weit höhere Intereſſe des erkennenden Verſtandes, welcher in der Form- verwandtſchaft der Organismen ihre wahre Blutsverwandt— ſchaft erblickt. Das natürliche Syſtem der Thiere und Pflanzen, welches man früher entweder nur als Namenregifter zur überſichtlichen Ordnung der verſchiedenen Formen oder als Sach— regiſter zum kurzen Ausdruck ihres Aehnlichkeitsgrades ſchätzte, erhält durch die Abſtammungslehre den ungleich höheren Werth eines wah— ren Stammbaumes der Organismen. Dieſe Stammtafel ſoll uns den genealogiſchen Zuſammenhang der kleineren und größeren Gruppen enthüllen. Sie ſoll zu zeigen verſuchen, in welcher Weiſe die verſchiedenen Klaſſen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Ar— ten des Thier- und Pflanzenreichs, den verſchiedenen Zweigen, Aeſten und Aſtgruppen ihres Stammbaums entſprechen. Jede wei— tere und höher ſtehende Kategorie oder Gruppenſtufe des Syſtems (4. B. Klaſſe, Ordnung) umfaßt eine Anzahl von größeren und ſtär— keren Zweigen des Stammbaums, jede engere und tiefer ſtehende Kategorie (z. B. Gattung, Art) nur eine kleinere und ſchwächere Gruppe von Aeſtchen. Nur wenn wir in dieſer Weiſe das natür- Paläontologiſche Urkunden des Stammbaumes. 335 liche Syſtem als Stammbaum betrachten, können wir den wahren Werth deſſelben erkennen. (Gen. Morph. II, S. XVII, 397.) Indem wir an dieſer genealogiſchen Auffaſſung des organiſchen Syſtems, welcher ohne Zweifel allein die Zukunft gehört, feſthalten, können wir uns jetzt zu einer der weſentlichſten, aber auch ſchwie— rigſten Aufgaben der „natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ wenden, nämlich zur wirklichen Conſtruction der organiſchen Stammbäume. Laſſen Sie uns ſehen, wie weit wir vielleicht ſchon jetzt im Stande ſind, alle verſchiedenen organiſchen Formen als die divergenten Nach— kommen einer einzigen oder einiger wenigen gemeinſchaftlichen Stamm— formen nachzuweiſen. Wie können wir uns aber den wirklichen Stammbaum der thieriſchen und pflanzlichen Formengruppen aus den dürftigen und fragmentariſchen bis jetzt darüber gewonnenen Erfahrungen conſtruiren? Die Antwort hierauf liegt ſchon zum Theil in demjenigen, was wir früher über den Parallelismus der drei Entwickelungsreihen bemerkt haben, über den wichtigen urſächlichen Zuſammenhang, welcher die paläontologiſche Entwickelung der gan— zen organiſchen Stämme mit der embryologiſchen Entwickelung der Individuen und mit der ſyſtematiſchen Entwickelung der Gruppen— ſtufen verbindet. b Zunächſt werden wir uns zur Löſung dieſer ſchwierigen Auf— gabe an die Paläontologie oder Verſteinerungskunde zu wenden haben. Denn wenn wirklich die Deſcendenztheorie wahr iſt, wenn wirklich die verſteinerten Reſte der vormals lebenden Thiere und Pflanzen von den ausgeſtorbenen Urahnen und Vorfahren der jetzigen Organismen herrühren, ſo müßte uns eigentlich ohne Wei— teres die Kenntniß und Vergleichung der Verſteinerungen den Stamm— baum der Organismen aufdecken. So einfach und einleuchtend nach dem theoretiſch entwickelten Princip Ihnen dies erſcheinen wird, ſo außerordentlich ſchwierig und verwickelt geſtaltet ſich die Aufgabe, wenn man ſie wirklich in Angriff nimmt. Ihre praktiſche Löſung würde ſchon ſehr ſchwierig ſein, wenn die Verſteinerungen einiger— maßen vollſtändig erhalten wären. Das iſt aber keineswegs der 336 Ablagerung der verſteinerungsführenden Erdſchichten. Fall. Vielmehr iſt die handgreifliche Schöpfungsurkunde, welche in den Verſteinerungen begraben liegt, über alle Maaßen unvollſtän— dig. Daher erſcheint es jetzt vor Allem nothwendig, dieſe Urkunde kritiſch zu prüfen, und den Werth, welchen die Verſteinerungen für die Entwickelungsgeſchichte der organiſchen Stämme beſitzen, zu be— ſtimmen. Da ich Ihnen die allgemeine Bedeutung der Verſteine— rungen als „Denkmünzen der Schöpfung“ bereits früher erörtert habe, als wir Cuvier's Verdienſte um die Petrefactenkunde be— trachteten, ſo können wir jetzt ſogleich zur Unterſuchung der Bedin— gungen und Verhältniſſe übergehen, unter denen die organiſchen Körperreſte verſteinert und in mehr oder weniger kenntlicher Form erhalten wurden. In der Regel finden wir Verſteinerungen oder Petrefacten nur in denjenigen Geſteinen eingeſchloſſen, welche ſchichtenweiſe als Schlamm im Waſſer abgelagert wurden, und welche man deshalb neptuniſche, geſchichtete oder ſedimentäre Geſteine nennt. Die Ab— lagerung ſolcher Schichten konnte natürlich erſt beginnen, nachdem im Verlaufe der Erdgeſchichte die Verdichtung des Waſſerdampfes zu tropfbarflüſſigem Waſſer erfolgt war. Seit dieſem Zeitpunkt, welchen wir im letzten Vortrage bereits betrachtet hatten, begann nicht allein das Leben auf der Erde, ſondern auch eine ununterbro— chene und höchſt wichtige Umgeſtaltung der erſtarrten anorganiſchen Erdrinde. Das Waſſer begann ſeitdem jene außerordentlich wichtige mechaniſche Wirkſamkeit, durch welche die Erdoberfläche fortwährend, wenn auch langſam, umgeſtaltet wird. Ich darf wohl als bekannt vorausſetzen, welchen außerordentlich bedeutenden Einfluß in dieſer Beziehung noch jetzt das Waſſer in jedem Augenblick ausübt. In— dem es als Regen niederfällt, die oberſten Schichten der Erdrinde durchſickert und von den Erhöhungen in die Vertiefungen herabfließt, löſt es verſchiedene mineraliſche Beſtandtheile des Bodens chemiſch auf und ſpült mechaniſch die locker zuſammenhängenden Theilchen ab. An den Bergen herabfließend führt das Waſſer den Schutt derſelben in die Ebene oder lagert ihn als Schlamm im ſtehenden Ablagerung der verſteinerungsführenden Erdſchichten. 337 Waſſer ab. So arbeitet es beſtändig an einer Erniedrigung der Berge und Ausfüllung der Thäler. Ebenſo arbeitet die Brandung des Meeres ununterbrochen an der Zerſtörung der Küſten und an der Auffüllung des Meerbodens durch die herabgeſchlämmten Trüm— mer. So würde ſchon die Thätigkeit des Waſſers allein, wenn fie nicht durch andere Umſtände wieder aufgewogen würde, mit der Zeit die ganze Erde nivelliren. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Gebirgsmaſſen, welche alljährlich als Schlamm dem Meere zugeführt werden und ſich auf deſſen Boden abſetzen, ſo bedeutend ſind, daß im Verlauf einer längeren oder kürzeren Periode, viel— leicht von wenigen Millionen Jahren, die Erdoberfläche vollkom⸗ men geebnet und von einer zuſammenhängenden Waſſerſchale um— ihloffen werden würde. Daß dies nicht geſchieht, verdanken wir der fortdauernden vulkaniſchen Gegenwirkung des feurigflüſſigen Erdin— neren. Dieſe Reaction des geſchmolzenen Kerns gegen die feſte Rinde bedingt ununterbrochen wechſelnde Hebungen und Senkungen an den verſchiedenſten Stellen der Erdoberfläche. Meiſtens geſchehen dieſe Hebungen und Senkungen ſehr langſam; allein indem fie Jahrtau- ſende hindurch fortdauern, bringen ſie durch Summirung der klei— nen Einzelwirkungen nicht minder großartige Reſultate hervor, wie die entgegenwirkende und nivellirende Thätigkeit des Waſſers. Indem die Hebungen und Senkungen der verſchiedenen Erdtheile im Laufe von Jahrmillionen vielfach mit einander wechſeln, kömmt bald dieſer bald jener Theil der Erdoberfläche über oder unter den Spiegel des Meeres. Beiſpiele dafür habe ich ſchon in dem vorherge— henden Vortrage angeführt (S. 321). Es giebt wahrſcheinlich keinen Oberflächentheil der Erdrinde, der nicht in Folge deſſen ſchon wieder— holt über oder unter dem Meeresſpiegel geweſen wäre. Durch dieſen vielfachen Wechſel erklärt ſich die Mannichfaltigkeit und die verſchieden— artige Zuſammenſetzung der zahlreichen neptuniſchen Geſteinſchichten, welche ſich an den meiſten Stellen in beträchtlicher Dicke über einander abgelagert haben. In den verſchiedenen Geſchichtsperioden, während deren die Ablagerung ſtatt fand, lebte eine mannichfach verſchiedene Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 22 338 Eintheilung der organischen Erdgeſchichte in geologische Perioden. Bevölkerung von Thieren und Pflanzen. Wenn die Leichen derſelben auf den Boden der Gewäſſer herabſanken, drückten fie ihre Körper- form in dem weichen Schlamme ab, und unverwesliche Theile, harte Knochen, Zähne, Schalen u. ſ. w. wurden unzerſtört in demſelben eingeſchloſſen. Sie blieben in dem Schlamm, der ſich zu neptuniſchen Geſtein verdichtete, erhalten, und dienten nun als Verſteinerungen zur Charakteriſtik der betreffenden Schichten. Durch ſorgfältige Ver— gleichung der verſchiedenen über einander gelagerten Schichten und der in ihnen enthaltenen Verſteinerungen iſt es ſo möglich geworden, ſo— wohl das relative Alter der Schichten und Schichtengruppen zu beſtim— men, als auch die Hauptmomente der Phylogenie oder der Entwicke— lungsgeſchichte der Thier- und Pflanzenſtämme empiriſch feſtzuſtellen. Die verſchiedenen über einander abgelagerten Schichten der nep— tuniſchen Geſteine, welche in ſehr mannichfaltiger Weiſe aus Kalk, Thon und Sand zuſammengeſetzt ſind, haben die Geologen gruppen— weiſe in ein ideales Syſtem zuſammengeſtellt, welches dem ganzen Zuſammenhang der organiſchen Erdgeſchichte entſpricht, d. h. desje— nigen Theiles der Erdgeſchichte, während deſſen organiſches Leben exiſtirte. Wie die ſogenannte „Weltgeſchichte“ in größere oder kleinere Perioden zerfällt, welche durch den zeitweiligen Entwickelungszuſtand der bedeutendſten Völker charakteriſirt und durch hervorragende Ereig— niſſe von einander abgegrenzt werden, ſo theilen wir auch die unend— lich längere organiſche Erdgeſchichte in eine Reihe von größeren oder kleineren Perioden ein. Jede dieſer Perioden iſt durch eine charakte— riſtiſche Flora und Fauna, durch die beſonders ſtarke Entwickelung einer beſtimmten Pflanzen- oder Thiergruppe ausgezeichnet, und jede iſt von der vorhergehenden und folgenden Periode durch einen auffal— lenden theilweiſen Wechſel in der Zuſammenſetzung der Thier- und Pflanzenbevölkerung getrennt. Für die nachfolgende Ueberſicht des hiſtoriſchen Entwickelungs— ganges, den die großen Thier- und Pflanzenſtämme genommen ha— ben, iſt es nothwendig, zunächſt hier die ſyſtematiſche Claſſification der neptuniſchen Schichtengruppen und der denſelben entſprechenden Geologische Claſſification der neptuniſchen Schichtengruppen. 339 größeren und kleineren Geſchichtsperioden anzugeben. Wie Sie ſo— gleich ſehen werden, ſind wir im Stande, die ganze Maſſe der über einanderliegenden Sedimentgeſteine in fünf oberſte Hauptgruppen oder Terrains, jedes Terrain in mehrere untergeordnete Schichtengrup— pen oder Syſteme und jedes Syſtem von Schichten wiederum in noch kleinere Gruppen oder Formationen einzutheilen; endlich kann auch jede Formation wieder in Etagen oder Unterformationen, und jede von dieſen wiederum in noch kleinere Lagen, Bänke u. ſ. w. eingetheilt werden. Jedes der fünf großen Terrains wurde während eines großen Hauptabſchnittes der Erdgeſchichte, während eines Zeit— alters abgelagert; jedes Syſtem während einer kürzeren Periode, jede Formation während einer noch kürzeren Epoche u. ſ. w. Indem wir ſo die Zeiträume der organiſchen Erdgeſchichte und die während derſelben abgelagerten neptuniſchen und verſteinerungsführenden Erd— ſchichten in ein gegliedertes Syſtem bringen, verfahren wir genau wie die Hiſtoriker, welche die Völkergeſchichte in die drei Hauptab— ſchnitte des Alterthums, des Mittelalters und der Neuzeit, und jeden dieſer Abſchnitte wieder in untergeordnete Perioden und Epochen ein— theilen. Wie aber der Hiſtoriker durch dieſe ſcharfe ſyſtematiſche Ein— theilung und durch die beſtimmte Abgrenzung der Perioden durch ein— zelne Jahreszahlen nur die Ueberſicht erleichtern und keineswegs den ununterbrochenen Zuſammenhang der Ereigniſſe und der Völkerent— wickelung leugnen will, ſo gilt ganz daſſelbe auch von unſerer ſyſtema— tiſchen Eintheilung, Specification oder Claſſification der organiſchen Erdgeſchichte. Auch hier geht der rothe Faden der zuſammenhängen— den Entwickelung überall ununterbrochen hindurch. Wir verwahren uns alſo ausdrücklich gegen die Anſchauung, als wollten wir durch unſere ſcharfe Abgrenzung der größeren und kleineren Schichtengrup— pen und der ihnen entſprechenden Zeiträume irgendwie an Cu vier's Lehre von den Erdrevolutionen und von den wiederholten Neuſchö— pfungen der organiſchen Bevölkerung anknüpfen. Daß dieſe irrige Lehre durch Lyell längſt gründlich widerlegt iſt, habe ich Ihnen be— reits früher gezeigt. (Vergl. S. 113.) 22 * 340 Die fünf Zeitalter der organischen Erdgeſchichte. Die fünf großen Hauptabſchnitte der organiſchen Erdgeſchichte oder der paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte bezeichnen wir als primordiales, primäres, ſecundäres, tertiäres und quartäres Zeitalter. Jedes iſt durch die vorwiegende Entwickelung beſtimmter Thier- und Pflanzengruppen in demſelben beſtimmt charakteriſirt, und wir könn— ten demnach auch die fünf Zeitalter einerſeits durch die natürlichen Hauptgruppen des Pflanzenreichs, andererſeits durch die verſchiedenen Klaſſen des Wirbelthierſtammes anſchaulich bezeichnen. Dann wäre das erſte oder primordiale Zeitalter dasjenige der Tange und Schä— delloſen, das zweite oder primäre Zeitalter das der Farne und Fiſche, das dritte oder ſecundäre Zeitalter das der Nadelwälder und Schleicher, das vierte oder tertiäre Zeitalter das der Laubwälder und Säugethiere, endlich das fünfte oder quartäre Zeitalter das— jenige des Menſchen und ſeiner Cultur. Die Abſchnitte oder Perio— den, welche wir in jedem der fünf Zeitalter unterſcheiden (S. 344), werden durch die verſchiedenen Syſteme von Schichten beſtimmt, in die jedes der fünf großen Terrains zerfällt (S. 345). Laſſen Sie uns jetzt noch einen flüchtigen Blick auf die Reihe dieſer Syſteme und zugleich auf die Bevölkerung der fünf großen Zeitalter werfen. Den erſten und längſten Hauptabſchnitt der organiſchen Erd— geſchichte bildet die Primordialzeit oder das Zeitalter der Tangwälder, das auch das archolithiſche oder archozoiſche Zeitalter genannt werden kann. Es umfaßt den ungeheuren Zeitraum von der erſten Urzeugung, von der Entſtehung des erſten irdiſchen Orga— nismus, bis zum Ende der ſiluriſchen Schichtenbildung. Während dieſes unermeßlichen Zeitraums, welcher wahrſcheinlich viel länger war, als alle übrigen vier Zeiträume zuſammengenommen, lagerten ſich die drei mächtigſten von allen neptuniſchen Schichtenſyſtemen ab, nämlich zu unterſt das laurentiſche, darüber das ca mbriſch e und darüber das ſiluriſche Syſtem. Die ungefähre Dicke oder Mäch⸗ tigkeit dieſer drei Syſteme zuſammengenommen beträgt ſiebzigtauſend Fuß. Davon kommen ungefähr 30,000 auf das laurentiſche, 18,000 auf das cambriſche und 22,000 auf das ſiluriſche Syſtem. Die Primordialzeit oder Zeitalter der Tangwälder. 341 durchſchnittliche Mächtigkeit aller vier übrigen Terrains, des primären, ſecundären, tertiären und quartären zuſammengenommen, mag da— gegen etwa höchſtens 60,000 Fuß betragen, und ſchon hieraus, ab— geſehen von vielen anderen Gründen, ergiebt ſich, daß die Dauer der Primordialzeit wahrſcheinlich viel länger war, als die Dauer der fol— genden Zeitalter bis zur Gegenwart zuſammengenommen. Viele Mil— lionen von Jahrtauſenden müſſen zur Ablagerung ſolcher Schichten— maſſen erforderlich geweſen ſein. Leider befindet ſich der bei weitem größte Theil der primordialen Schichtengruppen in dem ſogleich zu erörternden metamorphiſchen Zuſtande, und dadurch ſind die in ihnen enthaltenen Verſteinerungen, die älteſten und wichtigſten von allen, größtentheils zerſtört und unkenntlich geworden. Nur aus einem Theile der cambriſchen und ſiluriſchen Schichten ſind Petrefacten in größerer Menge und in kenntlichem Zuſtande erhalten worden. Die älteſte von allen deutlich erhaltenen Verſteinerungen, das ſpäter noch zu beſchrei— bende „kanadiſche Morgenweſen“ (Eozoon Canadense) iſt in den un⸗ terſten laurentiſchen Schichten (in der Ottawaformation) gefunden worden. Trotzdem die primordialen oder archolithiſchen Verſteinerungen uns nur zum bei weitem kleinſten Theile in kenntlichem Zuſtande er- halten ſind, beſitzen dieſelben dennoch den Werth unſchätzbarer Docu— mente für dieſe älteſte und dunkelſte Zeit der organiſchen Erdgeſchichte. Zunächſt ſcheint daraus hervorzugehen, daß während dieſes ganzen ungeheuren Zeitraums nur Waſſerbewohner exiſtirten. Wenigſtens iſt bis jetzt unter allen archolithiſchen Petrefacten noch kein einziges ge— funden worden, welches man mit Sicherheit auf einen landbewohnen— den Organismus beziehen könnte. Alle Pflanzenreſte, die wir aus der Primordialzeit beſitzen, gehören zu der niedrigſten von allen Pflanzengruppen, zu der im Waſſer lebenden Klaſſe der Tange oder Algen. Dieſe bildeten in dem warmen Urmeere der Primordialzeit mächtige Wälder, von deren Formenreichthum und Dichtigkeit uns noch heutigen Tages ihre Epigonen, die Tangwälder des atlantiſchen Sargaſſomeeres, eine ungefähre Vorſtellung geben mögen. Die co— 342 Primärzeit oder Zeitalter der Farnwälder. loſſalen Tangwälder der archolithiſchen Zeit erſetzten damals die noch gänzlich fehlende Waldvegetation des Feſtlandes. Gleich den Pflan— zen lebten auch alle Thiere, von denen man Reſte in den archolithiſchen Schichten gefunden hat, im Waſſer. Von den Gliederfüßern finden ſich nur Krebsthiere, noch keine Spinnen und Inſecten. Von den Wirbelthieren ſind nur ſehr wenige Fiſchreſte bekannt, welche ſich in den jüngſten von allen primordialen Schichten, in der oberen Si— lurformation vorfinden. Dagegen müſſen die kopfloſen Wirbelthiere, welche wir Schädelloſe oder Akranien nennen, und aus denen ſich die Fiſche erſt entwickeln konnten, maſſenhaft während der Pri— mordialzeit gelebt haben. Daher können wir ſie ſowohl nach den Schädelloſen als nach den Tangen benennen. Die Primärzeit oder das Zeitalter der Farnwälder, der zweite Hauptabſchnitt der organiſchen Erdgeſchichte, welchen man auch das paläolithiſche oder paläozoiſche Zeitalter nennt, dauerte vom Ende der ſiluriſchen Schichtenbildung bis zum Ende der permiſchen Schichtenbildung. Auch dieſer Zeitraum war von ſehr langer Dauer und zerfällt wiederum in drei Perioden, während deren ſich drei mächtige Schichtenſyſteme ablagerten, nämlich zu unterſt das devo— niſche Syſtem oder der alte rothe Sandſtein, darüber das car- bon iſche oder Steinkohlenſyſtem, und darüber das permiſche Syſtem oder der neue rothe Sandſtein und der Zechſtein. Die durch— ſchnittliche Dicke dieſer drei Syſteme zuſammengenommen mag etwa 42,000 Fuß betragen, woraus ſich ſchon die ungeheure Länge der für ihre Bildung erforderlichen Zeiträume ergiebt. Die devoniſchen und permiſchen Formationen ſind vorzüglich reich an Fiſchreſten, ſowohl an Urfiſchen, als an Schmelzfiſchen. Aber noch fehlen in der primären Zeit gänzlich die Knochenfiſche. In der Steinkohle finden ſich die älteſten Reſte von landbewohnenden Thieren, und zwar ſowohl Gliederthieren (Spinnen und Inſecten) als Wirbel- thieren (Amphibien). Im permiſchen Syſtem kommen zu den Am⸗ phibien noch die höher entwickelten Schleicher oder Reptilien, und zwar unſeren Eidechſen nahverwandte Formen (Proterosaurus 2.). Secundärzeit oder Zeitalter der Nadelwälder. 343 Trotzdem können wir das primäre Zeitalter das der Fiſche nennen, weil dieſe wenigen Amphibien und Reptilien ganz gegen die unge— heure Menge der paläolithiſchen Fiſche zurücktreten. Ebenſo wie die Fiſche unter den Wirbelthieren, ſo herrſchten unter den Pflanzen wäh— rend dieſes Zeitraums die Farnpflanzen oder Filicinen vor, und zwar ſowohl echte Farnkräuter und Farnbäume (Laubfarne oder Phyllo— pteriden) als Schaftfarne (Calamophyten) und Schuppenfarne (Lepi— dophyten). Dieſe landbewohnenden Farne oder Filicinen bildeten die Hauptmaſſe der dichten paläolithiſchen Inſelwälder, deren foſſile Reſte uns in den ungeheuer mächtigen Steinkohlenlagern des carbo— niſchen Syſtems, und in den ſchwächeren Kohlenlagern des devoni— ſchen und permiſchen Syſtems erhalten ſind. Sie berechtigen uns, die Primärzeit eben ſowohl das Zeitalter der Farne, als das der Fiſche zu nennen. Der dritte große Hauptabſchnitt der paläontologiſchen Entwicke— lungsgeſchichte wird durch die Secundärzeit oder das Zeitalter der Nadelwälder gebildet, welches auch das meſolithiſche oder meſozoiſche Zeitalter genannt wird. Es reicht vom Ende der per— miſchen Schichtenbildung bis zum Ende der Kreideſchichtenbildung, und zerfällt abermals in drei große Perioden. Die währenddeſſen abgelagerten Schichtenſyſteme find zu unterſt das Trias ſyſtem, in der Mitte das Ju ra ſyſtem, und zu oberſt das Kreide ſyſtem. Die durchſchnittliche Dicke dieſer drei Syſteme zuſammengenommen bleibt ſchon weit hinter derjenigen der primären Syſteme zurück und beträgt im Ganzen nur ungefähr 15,000 Fuß. Die Secundärzeit wird dem— nach wahrſcheinlich nicht halb ſo lang als die Primärzeit geweſen ſein. Wie in der Primärzeit die Fiſche, ſo herrſchen in der Secundär— zeit die Schleicher oder Reptilien über alle übrigen Wirbel- thiere vor. Zwar entſtanden während dieſes Zeitraums die erſten Vögel und Säugethiere; auch lebten damals wichtige Amphibien, nämlich die rieſigen Labyrinthodonten; im Meere ſchwammen die wunderbaren Seedrachen oder Haliſaurier umher, und zu den zahl— reich vorhandenen Urfiſchen und Schmelzfiſchen der älteren Zeit geſell— 344 Aeberſicht der paläontologiſchen Perioden oder der größeren Zeitabſchnitte der organiſchen Erdgeſchichte. I. Erſter Zeitraum: Archolithiſches Zeitalter. Primordial-⸗Zeit. (Zeitalter der Schädelloſen und der Tangwälder.) 1. Aeltere Primordialzeit oder Laurentiſche Periode. 2. Mittlere Primordialzeit - Cambriſche Periode. 3. Neuere Primordialzeit Siluriſche Periode. * II. Zweiter Zeitraum: Paläolithiſches Zeitalter. Primär⸗Zeit. (Zeitalter der Fiſche und der Farnwälder.) 4. Aeltere Primärzeit oder Devoniſche Periode. 5. Mittlere Primärzeit - Steinkohlen-Periode. 6. Neuere Primärzeit = Permiſche Periode. III. Dritter Zeitraum: Meſolithiſches Zeitalter. Secundär⸗Zeit. (Zeitalter der Reptilien und der Nadelwälder.) 7. Aeltere Secundärzeit oder Trias⸗Periode. 8. Mittlere Secundärzeit = Jura⸗Periode. 9. Neuere Secundärzeit = Kreide⸗Periode. IV. Vierter Zeitraum: Cenolithiſches Zeitalter. Tertiär⸗Zeit. (Zeitalter der Säugethiere und der Laubwälder.) 10. Aeltere Tertiärzeit oder Eocene Periode. 11. Mittlere Tertiärzeit - Miocene Periode. 12. Neuere Tertiärzeit - Pliocene Periode. V. Fünfter Zeitraum: Authropolithiſches Zeitalter. Quartär-Zeit. (Zeitalter der Menſchen und der Culturwälder.) 13. Aeltere Quartärzeit oder Eiszeit. Glaciale Periode. 14. Mittlere Quartärzeit = Poſtglaciale Periode 15. Neuere Quartärzeit - Cultur⸗Periode. (Die Culturperiode iſt die hiſtoriſche Zeit oder die Periode der Ueberlieferungen.) Achberfidt der paläontologiſchen Formationen oder der verſteinerungsführenden Schichten der Erdrinde. 345 Terrains v. Quartäre Terrains oder anthropolithiſche (anthropozoiſche) Schichtengruppen IV. Tertiäre Terrains oder cenolithiſche (eenozoiſche) Schichtengruppen III. Secundäre Terrains oder meſolithiſche (fmeſozoiſche) Schichtengruppen II. Primäre Terrains oder paläolithiſche (paläozoiſche) Schichtengruppen 1. Primordiale Terrains oder archolithiſche (archozoiſche) Schichtengruppen Hyſteme | Formationen | Synonyme der Formationen |. | | | | | XIV. Recent (Alluvium) XIII. Pleiſtoce (Diluvium) XII. Pliocen (Neutertiär) XI. Miocen (Mitteltertiär) X. Eocen (Alttertiär) IX. Kreide VIII. Jura VII. Trias VI. Permiſches (Neurothſand) V. Carboniſches (Steinkohle) IV. Devoniſches (Altrothſand) II. Siluriſches 1 2 m | | | | | | | II. Cambriſches | I. Laurentiſches 6. Praeſent 5. Recent „ „ Poftglacial „ Glacſfal . Arvern 1. Subapennin Falun Limburg . Gyps 27. Grobkalk Londonthon . Weißkreide Grünſand . Neocon . Wealden . Portland 20, Oxford Bath Lias Neuper . Muſchelkalk . Buntfand Zechſtein . Henrothfand . Rohlenfand „ Rohlenkalk 10. Pilton . Ilfracombe Linton Ludlow Landovery . Landeilo Potsdam Longmynd Labrador Ottawa Oberalluviale Unteralluviale Oberdiluviale Unterdiluviale Oberpliocene Unterpliocene Obermiocene Untermiocene Obereocene Mitteleocene Untereocene Oberkreide Mittelkreide Unterkreide Wälderformation Oberoolith Mitteloolith Unteroolith Liasformation Obertrias Mitteltrias Untertrias Oberpermiſche Unterpermiſche Obercarboniſche Untercarboniſche Oberdevoniſche Mitteldevoniſche Unterdevoniſche Oberſiluriſche Mittelſiluriſche Unterſiluriſche Obercambriſche Untercambriſche Oberlaurentiſche Unterlaurentiſche 346 Tertiärzeit oder Zeitalter der Laubwälder. ten ſich die erſten Knochenfiſche. Allein die ganz charakteriſtiſche und überwiegende Wirbelthierklaſſe der Secundärzeit bildeten die höchſt mannichfaltig entwickelten Reptilien. Neben ſolchen Schleichern, welche den heute noch lebenden Eidechſen, Krokodilen und Schildkröten ſehr nahe ſtanden, wimmelte es in der meſolithiſchen Zeit überall von abenteuerlich geſtalteten Drachen. Insbeſondere find die merkwürdi— gen fliegenden Eidechſen oder Pteroſaurier und die coloſſalen Land— drachen oder Dinoſaurier der Secundärzeit ganz eigenthümlich, da ſie weder vorher noch nachher lebten. Wie man demgemäß die Secun— därzeit das Zeitalter der Schleicher oder Reptilien nennen könnte, ſo könnte fie andrerſeits auch das Zeitalter der Na delwäl— der, oder genauer der Gymnoſpermen oder Nacktſamen— pflanzen heißen. Denn dieſe Pflanzengruppe, vorzugsweiſe durch die beiden wichtigen Klaſſen der Nadelhölzer oder Coniferen und der Palmfarne oder Cydaceen vertreten, ſetzte während der Se— cundärzeit ganz überwiegend den Beſtand der Wälder zuſammen. Die farnartigen Pflanzen traten dagegen zurück und die Laubhölzer ent— wickelten ſich erſt gegen Ende des Zeitalters, in der Kreidezeit. Viel kürzer und weniger eigenthümlich als dieſe drei erſten Zeit— alter war der vierte Hauptabſchnitt der organiſchen Erdgeſchichte, die Tertiärzeit oder das Zeitalter der Laubwälder. Dieſer Zeitraum, welcher auch cenolithiſches oder cenozoiſches Zeitalter heißt, erſtreckte ſich vom Ende der Kreideſchichtenbildung bis zum Ende der pliocenen Schichtenbildung. Die während deſſen abgelagerten Schich— ten erreichen nur ungefähr eine mittlere Mächtigkeit von 3000 Fuß und bleiben demnach weit hinter den drei erſten Terrains zurück. Auch ſind die drei Syſteme, welche man in dem tertiären Terrain unter⸗ ſcheidet, nur ſchwer von einander zu trennen. Das älteſte derſelben heißt eocenes oder alttertiäres, das mittlere miocenes oder mit— teltertiäres und das jüngſte pliocenes oder neutertiäres Syſtem. Die geſammte Bevölkerung der Tertiärzeit nähert ſich im Gan— zen und im Einzelnen ſchon viel mehr derjenigen der Gegenwart, als es in den vorhergehenden Zeitaltern der Fall war. Unter den Wir⸗ Quartärzeit oder Zeitalter der Culturwälder. 347 belthieren überwiegt von nun an die Klaſſe der Säugethiere bei weitem alle übrigen. Ebenſo herrſcht in der Pflanzenwelt die formen— reiche Gruppe der Deckſamenpflanzen oder Angioſpermen vor, deren Laubhölzer die charakteriſtiſchen Laubwälder der Tertiär- zeit bildeten. Die Abtheilung der Angioſpermen beſteht aus den bei— den Klaſſen der Einkeimblättrigen oder Monocotyledonen und der Zweikeimblättrigen oder Dicotyledonen. Zwar hatten ſich Angioſpermen aus beiden Klaſſen ſchon in der Kreidezeit gezeigt, und Säugethiere traten ſchon in der Jurazeit oder ſelbſt in der Triaszeit auf. Allein beide Gruppen, Säugethiere und Deckſamenpflanzen, er— reichen ihre eigentliche Entwickelung und Oberherrſchaft erſt in der Ter- tiärzeit, ſo daß man dieſe mit vollem Rechte danach benennen kann. Den fünften und letzten Hauptabſchnitt der organiſchen Erdge— ſchichte bildet die Auartärzeit oder Culturzeit, derjenige, gegen die Länge der vier übrigen Zeitalter verſchwindend kurze Zeitraum, den wir gewöhnlich in komiſcher Selbſtüberhebung die „Weltgeſchichte“ zu nennen pflegen. Da die Ausbildung des Menſchen und ſeiner Cultur, welche mächtiger als alle früheren Vorgänge auf die orga— niſche Welt umgeſtaltend einwirkte, dieſes Zeitalter charakteriſirt, ſo könnte man daſſelbe auch die Menſchenzeit, das anthropolithiſche oder anthropozoiſche Zeitalter nennen. Es könnte auch das Zeital— ter der Culturwälder oder der Gärten heißen, weil ſelbſt auf den niedrigeren Stufen der menſchlichen Cultur ihr umgeſtaltender Einfluß ſich bereits in der Benutzung der Wälder und ihrer Erzeugniſſe, und ſomit auch in der Phyſiognomie der Landſchaft bemerkbar macht. Geologiſch wird der Beginn dieſes Zeitalters, welches bis zur Gegen— wart reicht, durch das Ende der pliocenen Schichtenablagerung begrenzt. Die neptuniſchen Schichten, welche während des verhältnißmäßig kurzen quartären Zeitraums abgelagert wurden, ſind an den verſchie— denen Stellen der Erde von ſehr verſchiedener, meiſt aber von ſehr geringer Dicke. Man bringt dieſelben in zwei verſchiedene Syſteme, von denen man das ältere als diluvial oder pleiftocen, das neuere als alluvial oder recent bezeichnet. Das Diluvial-Sy— 348 Glaciale und poftglaciale Periode. ſtem zerfällt ſelbſt wieder in zwei Formationen, in die älteren gla— cialen und die neueren poſtglacialen Bildungen. Während der älteren Diluvialzeit nämlich fand jene außerordentlich merkwürdige Erniedrigung der Erdtemperatur ſtatt, welche zu einer ausgedehnten Vergletſcherung der gemäßigten Zonen führte. Die hohe Bedeutung, welche dieſe „Eiszeit“ oder Glacial-Periode für die geogra— phiſche und topographiſche Verbreitung der Organismen gewonnen hat, iſt bereits im vorhergehenden Vortrage auseinander geſetzt worden (S. 324). Auch die auf die Eiszeit folgende „Nacheiszeit“, die poſt— glaciale Periode oder die neuere Diluvialzeit, während welcher die Temperatur wiederum ſtieg, und das Eis ſich nach den Polen zurückzog, war für die gegenwärtige Geſtaltung der chorologiſchen Ver— hältniſſe höchſt bedeutungsvoll. Der biologiſche Charakter der Quartärzeit liegt weſentlich in der Entwickelung und Ausbreitung des menſchlichen Organismus und ſeiner Cultur. Weit mehr als jeder andere Organismus hat der Menſch umgeſtaltend, zerſtörend und neubildend auf die Thier- und Pflanzenbevölkerung der Erde eingewirkt. Aus dieſem Grunde, — nicht weil wir dem Menſchen im Uebrigen eine privilegirte Aus— nahmeſtellung in der Natur einräumen, — können wir mit vollem Rechte die Ausbreitung des Menſchen mit ſeiner Cultur als Beginn eines beſonderen letzten Hauptabſchnitts der organiſchen Erdgeſchichte bezeichnen. Wahrſcheinlich fand allerdings die körperliche Entwickelung des Urmenſchen aus menſchenähnlichen Affen bereits in der jüngeren oder pliocenen, vielleicht ſogar ſchon in der mittleren oder miocenen Tertiärzeit ſtatt. Allein die eigentliche Entwickelung der menſchli— chen Sprache, welche wir als den wichtigſten Hebel für die Ausbil— dung der eigenthümlichen Vorzüge des Menſchen und ſeiner Herrſchaft über die übrigen Organismen betrachten, fällt wahrſcheinlich erſt in jenen Zeitraum, welchen man aus geologiſchen Gründen als pleiſto— cene oder diluviale Zeit von der vorhergehenden Pliocenperiode trennt. Jedenfalls iſt derjenige Zeitraum, welcher ſeit der Entwickelung der menſchlichen Sprache bis zur Gegenwart verfloß, mag derſelbe auch Relative Dicke der fünf geſchichteten Terrains. 349 viele Jahrtauſende und vielleicht Hunderttauſende von Jahren in An— ſpruch genommen haben, verſchwindend gering gegen die unermeß— liche Länge der Zeiträume, welche vom Beginn des organiſchen Lebens auf der Erde bis zur Entſtehung des Menſchengeſchlechts verfloſſen. Die vorſtehende tabellariſche Ueberſicht zeigt Ihnen rechts (S. 345) die Reihenfolge der paläontologiſchen Terrains, Syſteme und Forma— tionen, d. h. der größeren und kleineren neptuniſchen Schichtengrup— pen, welche Verſteinerungen einſchließen, von den oberſten oder allu— vialen bis zu den unterſten oder laurentiſchen Ablagerungen hinab. Die links gegenüberſtehende Tabelle (S. 344) führt Ihnen die hiſto— riſche Eintheilung der entſprechenden Zeiträume vor, der größeren und kleineren paläontologiſchen Perioden, und zwar in umgekehrter Reihen— folge, von der älteſten laurentiſchen bis auf die jüngſte quartäre Zeit hinauf. (Vergl. auch S. 352.) Man hat viele Verſuche angeſtellt, die Zahl der Jahrtauſende, welche dieſe Zeiträume zuſammenſetzen, annähernd zu berechnen. Man verglich die Dicke der Schlammſchichten, welche erfahrungsgemäß wäh— rend eines Jahrhunderts ſich abſetzen, und welche nur wenige Linien oder Zolle betragen, mit der geſammten Dicke der geſchichteten Ge— ſteinsmaſſen, deren ideales Syſtem wir ſoeben überblickt haben. Dieſe Dicke mag im Ganzen durchſchnittlich ungefähr 130,000 Fuß betra— gen, und hiervon kommen 70,000 auf das primordiale oder archoli— thiſche, 42,000 auf das primäre oder paläolithiſche, 15,000 auf das ſecundäre oder meſolithiſche und endlich nur 3000 auf das tertiäre oder cenolithiſche Terrain. Die ſehr geringe und nicht annähernd be— ſtimmbare durchſchnittliche Dicke des quartären oder anthropolithiſchen Terrains kommt dabei gar nicht in Betracht. Man kann ſie höch— ſtens durchſchnittlich auf 500 — 700 Fuß anſchlagen. Selbſtverſtänd— lich haben aber alle dieſe Maßangaben nur einen ganz durchſchnitt— lichen und annähernden Werth, und ſollen nur dazu dienen, das relative Maßverhältniß der Schichtenſyſteme und der ihnen ent— ſprechenden Zeitabſchnitte ganz ungefähr zu überblicken. Wenn man nun die geſammte Zeit der organiſchen Erdge— 350 Relative Länge der fünf geologiſchen Zeitalter. ſchichte, d. h. den ganzen Zeitraum ſeit Beginn des Lebens auf der Erde, bis auf den heutigen Tag, in hundert gleiche Theile theilt, und wenn man dann, dem angegebenen durchſchnittlichen Dicken— verhältniß der Schichtenſyſteme entſprechend, die relative Zeitdauer der fünf Hauptabſchnitte oder Zeitalter nach Procenten berechnet, ſo ergiebt ſich folgendes Reſultat. (Vergl. S. 352.) I. Archolithiſche oder Primordial zeit... 53,6 II. Paläolithiſche oder Primärzeill t.... 32,1 III. Meſolithiſche oder Secundär zeit. 11,5 IV. Cenolithiſche oder Tertiär zeil 2,3 V. Anthropolithiſche oder Quartärzeiet .. 0,5 Summa 100,0 Es beträgt demnach die Länge des archolithiſchen Zeitraums, während deſſen noch gar keine landbewohnenden Thiere und Pflan- zen exiſtirten, mehr als die Hälfte, mehr als 53 Procent, dagegen die Länge des anthropolitiſchen Zeitraums, während deſſen der Menſch exiſtirte, kaum ein halbes Procent von der ganzen Länge der organiſchen Erdgeſchichte. Es iſt aber ganz unmöglich, die Länge dieſer Zeiträume auch nur annähernd nach Jahren zu berechnen. Die Dicke der Schlammſchichten, welche während eines Jahr— hunderts ſich in der Gegenwart ablagern, und welche man als Baſis für dieſe Berechnung benutzen wollte, iſt an den verſchiedenen Stel— len der Erde unter den ganz verſchiedenen Bedingungen, unter denen überall die Ablagerung ſtattfindet, natürlich ganz verſchieden. Sie iſt ſehr gering auf dem Boden des hohen Meeres, in den Betten breiter Flüſſe mit kurzem Laufe, und in Landſeen, welche ſehr dürftige Zu— flüſſe erhalten. Sie iſt verhältnißmäßig bedeutend an Meeresküſten mit ſtarker Brandung, am Ausfluß großer Ströme mit langem Lauf und in Landſeen mit ſtarken Zuflüſſen. An der Mündung des Mifji- ſippi, welcher ſehr bedeutende Schlammmaſſen mit ſich fortführt, wür— den in 100,000 Jahren nur etwa 600 Fuß abgelagert werden. Auf dem Grunde des offenen Meeres, weit von den Küſten entfernt, wer- den ſich während dieſes langen Zeitraums nur wenige Fuß Schlamm | Unmeßbare Länge der organiſchen Erdgeſchichte. 351 abſetzen. Selbſt an den Küſten, wo verhältnißmäßig viel Schlamm abgelagert wird, mag die Dicke der dadurch während eines Jahrhun— derts gebildeten Schichten, wenn ſie nachher ſich zu feſtem Geſteine verdichtet haben, doch nur wenige Zolle oder Linien betragen. Jeden— falls aber bleiben alle auf dieſe Verhältniſſe gegründeten Berechnun— gen ganz unſicher, und wir können uns auch nicht einmal annähernd die ungeheure Länge der Zeiträume vorſtellen, welche zur Bildung je— ner neptuniſchen Schichtenſyſteme erforderlich waren. Nur relative, nicht abſolute Zeitmaße ſind hier anwendbar. Man würde übrigens auch vollkommen fehlgehen, wenn man die Mächtigkeit jener Schichtenſyſteme allein als Maßſtab für die in— zwiſchen wirklich verfloſſene Zeit der Erdgeſchichte betrachten wollte. Denn Hebungen und Senkungen der Erdrinde haben beſtändig mit einander gewechſelt, und aller Wahrſcheinlichkeit nach entſpricht der mineralogiſche und paläontologiſche Unterſchied, den man zwiſchen je zwei auf einanderfolgenden Schichtenſyſtemen und zwiſchen je zwei For— mationen derſelben wahrnimmt, einem beträchtlichen Zwiſchenraum von vielen Jahrtauſenden, während deſſen die betreffende Stelle der Erdrinde über das Waſſer gehoben war. Erſt nach Ablauf dieſer Zwiſchenzeit, als eine neue Senkung dieſe Stelle wieder unter Waſſer brachte, fand die Ablagerung einer neuen Bodenſchicht ſtatt. Da aber inzwiſchen die anorganiſchen und organiſchen Verhältniſſe an dieſem Orte eine beträchtliche Umbildung erfahren hatten, mußte die neuge⸗ bildete Schlammſchicht aus verſchiedenen Bodenbeſtandtheilen zuſam— mengeſetzt ſein und verſchiedene Verſteinerungen einſchließen. Die auffallenden Unterſchiede, die zwiſchen den Verſteinerungen zweier übereinander liegenden Schichten ſo häufig ſtattfinden, ſind ein— fach und leicht nur durch die Annahme zu erklären, daß derſelbe Punkt der Erdoberfläche wiederholten Senkungen und He— bungen ausgeſetzt wurde. Noch gegenwärtig finden ſolche wechſelnde Hebungen und Senkungen, welche man der Reaction des feuerflüſſi— gen Erdkerns gegen die erſtarrte Rinde zuſchreibt, in weiter Ausdeh— nung ſtatt. So zeigt z. B. die Küſte von Schweden und ein Theil 352 Relative Dicke der fünf geſchichteten Terrains. | | IV. Tertiäre Schichten-Syſteme. III. Meſolithiſche Schichten-Syſteſe . in g Ablagerungen der Secundärzeit. Circa 15,000 Fuß. II. Paläolithiſche Schichten-Syſteme. Ablagerungen der Primärzeit. Circa 42,000 Fuß. Tabelle zur Ueberſicht der neptuniſchen verſteine— rungsführenden Schichten-Syſteme mit Bezug auf ihre verhältnißmäßige durchſchnittliche Dicke. (130,000 Fuß cirea.) Eocen, Miocen, Pliocen. IX. Kreide-Syſtem. 3000 Fuß. VII. Trias⸗Syſtem. VI. Permiſches Syſtem. V. Steinkohlen⸗ Syſtem. IV. Devoniſches Syſtem. Siluriſches | lithiſche | Syſtem. Schichten⸗ Circa 22,000 Fuß. Syſteme. | Ablagerungen Syſtem. | der Circa 18,000 Fuß. N II. Cambriſches Primordial— Circa Syſtem. Circa 30,000 Fuß. eit. A I. Laurentiſches 70,000 Fuß. Wechſel der Senkungszeiträume und Hebungszeiträume. 353 von der Weſtküſte Südamerikas beſtändig langſam empor, während die Küſte von Holland und ein Theil von der Oſtküſte Südamerikas allmählich unterſinkt. Das Steigen wie das Sinken geſchieht nur ſehr langſam und beträgt im Jahrhundert bald nur einige Linien, bald einige Zoll oder höchſtens einige Fuß. Wenn aber dieſe Bewegung hunderte von Jahrtauſenden hindurch ununterbrochen andauert, wird ſie fähig, die höchſten Gebirge zu bilden. Offenbar haben ähnliche Hebungen und Senkungen, wie ſie an jenen Stellen noch heute zu meſſen ſind, während des ganzen Ver— laufs der organiſchen Erdgeſchichte ununterbrochen an verſchiedenen Stellen mit einander gewechſelt. Das ergiebt ſich mit Sicherheit aus der geographiſchen Verbreitung der Organismen (vergl. S. 320). Nun iſt es aber für die Beurtheilung unſerer paläontologiſchen Schöpfungs— urkunde außerordentlich wichtig, ſich klar zu machen, daß bleibende Schichten ſich bloß während langſamer Senkung des Bodens unter Waſſer ablagern können, nicht aber während andauernder Hebung. Wenn der Boden langſam mehr und mehr unter den Meeresſpiegel verſinkt, ſo gelangen die abgelagerten Schlammſchichten in immer tieferes und ruhigeres Waſſer, wo ſie ſich ungeſtört zu Geſtein ver— dichten können. Wenn ſich dagegen umgekehrt der Boden langſam hebt, ſo kommen die ſoeben abgelagerten Schlammſchichten, welche Reſte von Pflanzen und Thieren umſchließen, ſogleich wieder in den Bereich des Wogenſpiels, und werden durch die Kraft der Brandung alsbald nebſt den eingeſchloſſenen organiſchen Reſten zerſtört. Aus dieſem einfachen, aber ſehr gewichtigen Grunde können alſo nur wäh— rend einer andauernden Senkung des Bodens ſich reichlichere Schich— ten ablagern, in denen die organiſchen Reſte erhalten bleiben. Wenn je zwei verſchiedene übereinander liegende Formationen oder Schichten mithin zwei verſchiedenen Senkungsperioden entſprechen, ſo müſſen wir zwiſchen dieſen letzteren einen langen Zeitraum der Hebung an— nehmen, von dem wir gar nichts wiſſen, weil uns keine foſſilen Reſte von den damals lebenden Thieren und Pflanzen aufbewahrt werden konnten. Offenbar verdienen aber dieſe ſpurlos dahingegangenen He— Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 23 354 Verſteinerungsloſe Hebungszeiträume. bungszeiträume nicht geringere Berückſichtigung als die damit abwechſelnden Senkungszeiträume, von deren organiſcher Be— völkerung uns die verſteinerungsführenden Schichten eine ungefähre Vorſtellung geben. Wahrſcheinlich waren die erſteren durchſchnittlich von nicht geringerer Dauer als die letzteren. Schon hieraus wird ſich Ihnen ergeben, wie unvollſtändig un— ſere Urkunde nothwendig ſein muß, um ſo mehr, da ſich theoretiſch erweiſen läßt, daß gerade während der Hebungszeiträume das Thier— und Pflanzenleben an Mannichfaltigkeit zunehmen mußte. Denn in— dem neue Strecken Landes über das Waſſer gehoben werden, bilden ſich neue Inſeln. Jede neue Inſel iſt aber ein neuer Schöpfungs— mittelpunkt, weil die zufällig dorthin verſchlagenen Thiere und Pflan— zen auf dem neuen Boden im Kampf um's Daſein reiche Gelegen— heit finden, ſich eigenthümlich zu entwickeln, und neue Arten zu bil— den. Gerade die Bildung neuer Arten hat offenbar während dieſer Zwiſchenzeiten, aus denen uns leider keine Verſteinerungen erhalten bleiben konnten, vorzugsweiſe ſtattgefunden, während umgekehrt bei der langſamen Senkung des Bodens eher Gelegenheit zum Ausſter— ben zahlreicher Arten, und zu einem Rückſchritt in der Artenbildung gegeben war. Auch die Zwiſchenformen zwiſchen den alten und den neu ſich bildenden Species werden vorzugsweiſe während jener He— bungszeiträume gelebt haben, und konnten daher ebenfalls keine foſ— ſilen Reſte hinterlaſſen. Zu den ſehr bedeutenden und empfindlichen Lücken der paläonto— logiſchen Schöpfungsurkunde, welche durch die Hebungszeiträume be— dingt werden, kommen nun leider noch viele andere Umſtände hinzu, welche den hohen Werth derſelben außerordentlich verringern. Dahin gehört vor Allen der metamorphiſche Zuſtand der älteſten Schichtengruppen, gerade derjenigen, welche die Reſte der älte— ſten Flora und Fauna, der Stammformen aller folgenden Organis— men enthalten, und dadurch von ganz befonderem Intereſſe ſein wür— den. Gerade dieſe Geſteine, und zwar der größere Theil der primor— dialen oder archolithiſchen Schichten, faſt das ganze laurentiſche und Metamorphiſcher Zuftand der älteften neptuniſchen Schichten. 355 ein großer Theil des cambriſchen Syſtems enthalten gar feine fennt- lichen Reſte mehr, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dieſe Schichten durch den Einfluß des feuerflüſſigen Erdinnern nachträglich wieder verändert oder metamorphoſirt worden ſind. Durch die Hitze des glühenden Erdkerns ſind dieſe tiefſten neptuniſchen Rindenſchichten in ihrer urſprünglichen Schichtenſtructur gänzlich umgewandelt und in einen kryſtalliniſchen Zuſtand übergeführt worden. Dabei ging aber die Form der darin eingeſchloſſenen organiſchen Reſte ganz verloren. Nur hie und da wurde ſie durch einen glücklichen Zufall erhalten, wie es bei den älteſten bekannten Petrefacten, bei dem Eozoon canadense aus den unterſten laurentiſchen Schichten der Fall iſt. Jedoch können wir aus den Lagern von kryſtalliniſcher Kohle (Graphit) und kryſtalli— niſchem Kalk (Marmor), welche ſich in den metamorphiſchen Geſteinen eingelagert finden, mit Sicherheit auf die frühere Anweſenheit von verſteinerten Pflanzen- und Thierreſten in denſelben ſchließen. Außerordentlich unvollſtändig wird unſere Schöpfungsurkunde durch den Umſtand, daß erſt ein ſehr kleiner Theil der Erdoberfläche genauer geologiſch unterſucht iſt, vorzugsweiſe England, Deutſchland und Frankreich. Dagegen wiſſen wir nur ſehr Wenig von den übri— gen Theilen Europas, von Rußland, Spanien, Italien, der Türkei. Hier ſind uns nur einzelne Stellen der Erdrinde aufgeſchloſſen; der bei weitem größte Theil derſelben iſt uns unbekannt. Daſſelbe gilt von Nordamerika und von Oſtindien. Hier ſind wenigſtens einzelne Strecken unterſucht. Dagegen vom größten Theil Aſiens, des um— fangreichſten aller Welttheile, wiſſen wir faſt Nichts, — von Afrika faſt Nichts, ausgenommen das Kap der guten Hoffnung und die Mit— telmeerküſte, — von Neuholland faſt Nichts, von Südamerika nur ſehr Wenig. Sie ſehen alſo, daß erſt ein ganz kleines Stück, wohl kaum der tauſendſte Theil von der geſammten Erdoberfläche gründ— lich paläontologiſch erforſcht iſt. Wir können daher wohl hoffen, bei weiterer Ausbreitung der geologiſchen Unterſuchungen, denen namentlich die Anlage von Eiſenbahnen und Bergwerken ſehr zu Hilfe kommen wird, noch einen großen Theil wichtiger Verſteine— 5 356 Geringe Ausdehnung der paläontologiſchen Erfahrungen. rungen aufzufinden. Ein Fingerzeig dafür iſt uns durch die merk— würdigen Verſteinerungen gegeben, die man an den wenigen, ge— nauer unterſuchten Punkten von Afrika und Aſien, in den Kapge— genden und am Himalaya aufgefunden hat. Eine Reihe von ganz neuen und ſehr eigenthümlichen Thierformen iſt uns dadurch bekannt geworden. Freilich müſſen wir andrerſeits erwägen, daß der aus— gedehnte Boden der jetzigen Meere vorläufig für die paläontologi— ſchen Forſchungen ganz unzugänglich iſt, und daß wir den größten Theil der hier ſeit uralten Zeiten begrabenen Verſteinerungen ent— weder niemals oder im beſten Fall erſt nach Verlauf vieler Jahr— tauſende werden kennen lernen, wenn durch allmähliche Hebungen der gegenwärtige Meeresboden mehr zu Tage getreten ſein wird. Wenn Sie bedenken, daß die ganze Erdoberfläche zu ungefähr drei Fünftheilen aus Waſſer und nur zu zwei Fünftheilen aus Feſtland beſteht, ſo können Sie ermeſſen, daß auch in dieſer Beziehung die paläontologiſche Urkunde eine ungeheure Lücke enthält. Nun kommen aber noch eine Reihe von Schwierigkeiten für die Paläontologie hinzu, welche in der Natur der Organismen ſelbſt be— gründet ſind. Vor allen iſt hier hervorzuheben, daß in der Regel nur harte und feſte Körpertheile der Organismen auf den Boden des Mee— res und der ſüßen Gewäſſer gelangen und hier in Schlamm einge— ſchloſſen und verſteinert werden können. Es ſind alſo namentlich die Knochen und Zähne der Wirbelthiere, die Kalkſchalen der Weichthiere, die Chitinſkelete der Gliederthiere, die Kalkſkelete der Sternthiere und Corallen, ferner die holzigen, feſten Theile der Pflanzen, die einer ſolchen Verſteinerung fähig ſind. Die weichen und zarten Theile da— gegen, welche bei den allermeiſten Organismen den bei weitem größ— ten Theil des Körpers bilden, gelangen nur ſehr ſelten unter ſo gün— ſtigen Verhältniſſen in den Schlamm, daß ſie verſteinern, oder daß ihre äußere Form deutlich in dem erhärteten Schlamme ſich abdrückt. Nun bedenken Sie, daß ganze große Klaſſen von Organismen, wie z. B. die Meduſen, die nackten Mollusken, welche keine Schale haben, ein großer Theil der Gliederthiere, faſt alle Würmer und ſelbſt die Geringer Bruchtheil der verſteinerungsfähigen Organismen. 357 niederſten Wirbelthiere gar keine feſten und harten, verſteinerungsfä— higen Körpertheile beſitzen. Ebenſo ſind gerade die wichtigſten Pflan— zentheile, die Blüthen, meiſtens ſo weich und zart, daß ſie ſich nicht in kenntlicher Form conſerviren können. Von allen dieſen wichtigen Organismen werden wir naturgemäß auch gar keine verſteinerten Reſte zu finden erwarten können. Ferner ſind die Jugendzuſtände faſt aller Organismen ſo weich und zart, daß ſie gar nicht verſteinerungsfähig ſind. Was wir alſo von Verſteinerungen in den neptuniſchen Schich— tenſyſtemen der Erdrinde vorfinden, das ſind im Ganzen nur wenige Formen, und meiſtens nur einzelne Bruchſtücke. Sodann iſt zu berückſichtigen, daß die Meerbewohner in einem viel höheren Grade Ausſicht haben, ihre todten Körper in den abgela— gerten Schlammſchichten verſteinert zu erhalten, als die Bewohner der ſüßen Gewäſſer und des Feſtlandes. Die das Land bewohnenden Organismen können in der Regel nur dann verſteinert werden, wenn ihre Leichen zufällig ins Waſſer fallen und auf dem Boden in erhär— tenden Schlammſchichten begraben werden, was von mancherlei Be— dingungen abhängig iſt. Daher kann es uns nicht Wunder nehmen, daß die bei weitem größte Mehrzahl der Verſteinerungen Organismen angehört, die im Meere lebten, und daß von den Landbewohnern verhältnißmäßig nur ſehr wenige im foſſilen Zuſtand erhalten ſind. Welche Zufälligkeiten hierbei in's Spiel kommen, mag Ihnen allein der Umſtand beweiſen, daß man von vielen foſſilen Säugethieren, insbeſondere von faſt allen Säugethieren der Secundärzeit, weiter Nichts kennt, als den Unterkiefer. Dieſer Knochen iſt erſtens verhält— nißmäßig feſt und löſt ſich zweitens ſehr leicht von dem todten Cada— ver, das auf dem Waſſer ſchwimmt, ab. Während die Leiche vom Waſſer fortgetrieben und zerſtört wird, fällt der Unterkiefer auf den Grund des Waſſers hinab und wird hier vom Schlamm umſchloſſen. Daraus erklärt ſich allein die merkwürdige Thatſache, daß in einer Kalkſchicht des Juraſyſtems bei Oxford in England, in den Schiefern von Stonesfield, bis jetzt bloß die Unterkiefer von zahlreichen Beutel— thieren gefunden worden ſind, den älteſten Säugethieren, welche wir 358 Mangelhaftigkeit der paläontologiſchen Schöpfungsurkunde. kennen. Von dem ganzen übrigen Körper derſelben war auch nicht ein Knochen mehr vorhanden. Die Gegner der Entwickelungstheorie würden nach der bei ihnen gebräuchlichen Logik hieraus den Schluß ziehen müſſen, daß der Unterkiefer der einzige Knochen im Leibe je— ner Thiere war. Für die kritiſche Würdigung der vielen unbedeutenden Zufälle, die unſere Verſteinerungserkenntniß in der bedeutendſten Weiſe beein— fluſſen, ſind ferner auch die Fußſpuren ſehr lehrreich, welche ſich in großer Menge in verſchiedenen ausgedehnten Sandſteinlagern, z. B. in dem rothen Sandſtein von Connecticut in Nordamerika, finden. Dieſe Fußtritte rühren offenbar von Wirbelthieren, wahrſcheinlich von Reptilien her, von deren Körper ſelbſt uns nicht die geringſte Spur erhalten geblieben iſt. Die Abdrücke, welche ihre Füße im Schlamm hinterlaſſen haben, verrathen uns allein die vormalige Exiſtenz von dieſen uns ſonſt ganz unbekannten Thieren. Welche Zufälligkeiten außerdem noch die Grenzen unſerer pa— läontologiſchen Kenntniſſe beſtimmen, können Sie daraus ermeſ— ſen, daß man von ſehr vielen wichtigen Verſteinerungen nur ein einziges oder nur ein paar Exemplare kennt. Es iſt kaum zehn Jahre her, ſeit wir mit dem unvollſtändigen Abdruck eines Vogels aus dem Juraſyſtem bekannt wurden, deſſen Kenntniß für die Phy— logenie der ganzen Vögelklaſſe von der allergrößten Wichtigkeit war. Alle bisher bekannten Vögel ſtellten eine ſehr einförmig organiſirte Gruppe dar, und zeigten keine auffallenden Uebergangsbildungen zu anderen Wirbelthierklaſſen, auch nicht zu den nächſtverwandten Reptilien. Jener foſſile Vogel aus dem Jura dagegen beſaß keinen gewöhnlichen Vogelſchwanz, ſondern einen Eidechſenſchwanz, und beſtätigte dadurch die aus anderen Gründen vermuthete Abſtam— mung der Vögel von den Eidechſen. Durch dieſes einzige Petrefact wurde alſo nicht nur unſere Kenntniß von dem Alter der Vogel— klaſſe, ſondern auch von ihrer Blutsverwandtſchaft mit den Repti— lien weſentlich erweitert. Ebenſo ſind unſere Kenntniſſe von ande— ren Thiergruppen oft durch die zufällige Entdeckung einer einzigen Urſachen des Mangels foſſiler Zwiſchenformen. 359 Verſteinerung weſentlich umgeſtaltet worden. Da wir aber wirklich von ſehr vielen wichtigen Petrefacten nur ſehr wenige Exemplare oder nur Bruchſtücke kennen, ſo muß auch aus dieſem Grunde die paläontologiſche Urkunde höchſt unvollſtändig ſein. Eine weitere und ſehr empfindliche Lücke derſelben iſt durch den Umſtand bedingt, daß die Zwiſchenformen, welche die verſchie— denen Arten verbinden, in der Regel nicht erhalten ſind, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dieſelben (nach dem Princip der Divergenz des Charakters) im Kampfe um's Daſein ungünſtiger ge— ſtellt waren, als die am meiſten divergirenden Varietäten, die ſich aus einer und derſelben Stammform entwickelten. Die Zwiſchen— glieder ſind im Ganzen immer raſch ausgeſtorben und haben ſich nur ſelten vollſtändig erhalten. Die am ſtärkſten divergirenden For men dagegen konnten ſich längere Zeit hindurch als ſelbſtſtändige Arten am Leben erhalten, ſich in zahlreichen Individuen ausbreiten und demnach auch leichter verſteinert werden. Dadurch iſt jedoch nicht ausgeſchloſſen, daß nicht in vielen Fällen auch die verbinden— den Zwiſchenformen der Arten ſich ſo vollſtändig verſteinert erhiel— ten, daß ſie noch gegenwärtig die ſyſtematiſchen Paläontologen in die größte Verlegenheit verſetzen und endloſe Streitigkeiten über die ganz willkührlichen Grenzen der Species hervorrufen. Ein ausgezeichnetes Beiſpiel der Art liefert die berühmte viel— geſtaltige Süßwaſſerſchnecke aus dem Stubenthal bei Steinheim in Würtemberg, welche bald als Paludina, bald als Valvata, bald als Planorbis multiformis beſchrieben worden iſt. Die ſchneewei⸗ ßen Schalen dieſer kleinen Schnecke ſetzen mehr als die Hälfte von der ganzen Maſſe eines tertiären Kalkhügels zuſammen, und offen— baren dabei an dieſer einen Localität eine ſolche wunderbare For— men⸗Mannichfaltigkeit, daß man die am meiſten divergirenden Ex— treme als wenigſtens zwanzig ganz verſchiedene Arten beſchreiben und dieſe ſogar in vier ganz verſchiedene Gattungen verſetzen könnte. Aber alle dieſe extremen Formen ſind durch ſo maſſenhafte verbin— dende Zwiſchenformen verknüpft, und dieſe liegen ſo geſetzmäßig 360 Große Bedeutung einzelner Verſteinerungen. über und neben einander, daß Hilgendorf daraus auf das Klarſte den Stammbaum der ganzen Formengruppe entwickeln konnte. Eben— jo finden ſich bei ſehr vielen anderen foſſilen Arten (3. B. vielen Ammoniten, Terebrateln, Seeigeln, Seelilien u. ſ. w.) die ver— knüpfenden Zwiſchenformen in ſolcher Maſſe, daß fie die „foſſilen Specieskrämer“ zur Verzweiflung bringen. Wenn Sie nun alle vorher angeführten Verhältniſſe erwägen, deren Reihe ſich leicht noch vermehren ließe, ſo werden Sie ſich nicht darüber wundern, daß der natürliche Schöpfungsbericht oder die Schöpfungsurkunde, wie ſie durch die Verſteinerungen gebildet wird, ganz außerordentlich lückenhaft und unvollſtändig iſt. Aber dennoch haben die wirklich gefundenen Verſteinerungen den größten Werth. Ihre Bedeutung für die natürliche Schöpfungsgeſchichte iſt nicht ge— ringer als die Bedeutung, welche die berühmte Inſchrift von Ro— ſette und das Decret von Kanopus für die Völkergeſchichte, für die Archäologie und Philologie beſitzen. Wie es durch dieſe beiden ur— alten Inſchriften möglich wurde, die Geſchichte des alten Egyptens außerordentlich zu erweitern, und die ganze Hieroglyphenſchrift zu entziffern, ſo genügen uns in vielen Fällen einzelne Knochen eines Thieres oder unvollſtändige Abdrücke einer niederen Thier- oder Pflanzenform, um die wichtigſten Anhaltspunkte für die Geſchichte einer ganzen Gruppe und die Erkenntniß ihres Stammbaums zu gewinnen. Ein paar kleine Backzähne, die in der Keuper-Forma⸗ tion der Trias gefunden wurden, haben für ſich allein den ſicheren Beweis geliefert, daß ſchon in der Triaszeit Säugethiere exiſtirten. Von der Unvollkommenheit des geologiſchen Schöpfungsberich— tes ſagt Darwin, in Uebereinſtimmung mit Lyell, dem größten aller jetzt lebenden Geologen: „Der natürliche Schöpfungsbericht, wie ihn die Paläontologie liefert, iſt eine Geſchichte der Erde, unvoll— ſtändig erhalten und in wechſelnden Dialecten geſchrieben, wovon aber nur der letzte, bloß auf einige Theile der Erdoberfläche ſich be— ziehende Band bis auf uns gekommen iſt. Doch auch von dieſem Bande iſt nur hie und da ein kurzes Capitel erhalten, und von je— Unvollkommenheit der paläontologiſchen Schöpfungsurkunde. 361 der Seite ſind nur da und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort der langſam wechſelnden Sprache dieſer Beſchreibung, mehr oder weniger verſchieden in der ununterbrochenen Reihenfolge der einzel— nen Abſchnitte, mag den anſcheinend plötzlich wechſelnden Lebensfor— men entſprechen, welche in den unmittelbar auf einander liegenden Schichten unſerer weit von einander getrennten Formationen begra— ben liegen.“ Wenn Sie dieſe außerordentliche Unvollſtändigkeit der paläon— tologiſchen Urkunde ſich beſtändig vor Augen halten, ſo wird es Ihnen nicht wunderbar erſcheinen, daß wir noch auf ſo viele un— ſichere Hypotheſen angewieſen ſind, wenn wir wirklich den Stamm— baum der verſchiedenen organiſchen Gruppen entwerfen wollen. Je— doch beſitzen wir glücklicher Weiſe außer den Verſteinerungen auch noch andere Urkunden für die Stammesgeſchichte der Organismen, welche in vielen Fällen von nicht geringerem und in manchen ſogar von viel höherem Werthe ſind als die Petrefacten. Die bei wei— tem wichtigſte von dieſen anderen Schöpfungsurkunden iſt ohne Zwei— fel die Ontogenie oder die Entwickelungsgeſchichte des organiſchen Individuums (Embryologie und Metamorphologie). Dieſe wieder⸗ holt uns kurz in großen, markigen Zügen das Bild der Formenreihe, welche die Vorfahren des betreffenden Individuums von der Wur— zel ihres Stammes an durchlaufen haben. Indem wir dieſe palä— ontologiſche Entwickelungsgeſchichte der Vorfahren als Stammesge— ſchichte oder Phylogenie bezeichneten, konnten wir das höchſt wich— tige biogenetiſche Grundgeſetz ausſprechen: „Die Ontogenie iſt eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Verer— bung und Anpaſſung bedingte Wiederholung oder Re— capitulation der Phylogenie.“ Indem jedes Thier und jedes Gewächs vom Beginn ſeiner individuellen Exiſtenz an eine Reihe von ganz verſchiedenen Formzuſtänden durchläuft, deutet es uns in ſchneller Folge und in allgemeinen Umriſſen die lange und langſam wechſelnde Reihe von Formzuſtänden an, welche ſeine Ahnen ſeit den älteſten Zeiten durchlaufen haben (Gen. Morph. II, 6, 110, 300). 362 Das biogenetiſche Grundgeſetz. Allerdings iſt die Skizze, welche uns die Ontogenie der Orga— nismen von ihrer Phylogenie giebt, in den meiſten Fällen mehr oder weniger verwiſcht, und zwar um ſo mehr, je mehr die Anpaſ— jung im Laufe der Zeit das Uebergewicht über die Vererbung er— langt hat, und je mächtiger das Geſetz der abgekürzten Vererbung und das Geſetz der wechſelbezüglichen Anpaſſung eingewirkt hat. Allein dadurch wird der hohe Werth nicht vermindert, welchen die wirklich treu erhaltenen Züge jener Skizze beſitzen. Beſonders für die Erkenntniß der früheſten paläontologiſchen Ent— wickelungszuſtände iſt die Ontogenie von ganz unſchätz— barem Werthe, weil gerade von den älteſten Entwickelungszuſtän— den der Stämme und Klaſſen uns gar keine verſteinerten Reſte er— halten worden ſind und auch ſchon wegen der weichen und zarten Körperbeſchaffenheit derſelben nicht erhalten bleiben konnten. Keine Verſteinerung könnte uns von der unſchätzbar wichtigen Thatſache be— richten, welche die Ontogenie uns erzählt, daß die älteſten gemeinſa— men Vorfahren aller verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten ganz ein- fache Zellen, gleich den Eiern waren. Keine Verſteinerung könnte uns die unendlich werthvolle, durch die Ontogenie feſtgeſtellte Thatſache beweiſen, daß durch einfache Vermehrung, Gemeindebildung und Ar— beitstheilung jener Zellen die unendlich mannichfaltigen Körperformen der vielzelligen Organismen entſtanden. So hilft uns die Ontogenie über viele und große Lücken der Paläontologie hinweg. Zu den unſchätzbaren Schöpfungsurkunden der Paläontologie und Ontogenie geſellen ſich nun drittens die nicht minder wichtigen Zeugniſſe für die Blutsverwandtſchaft der Organismen, welche uns die vergleichende Anatomie liefert. Wenn äußerlich ſehr ver- ſchiedene Organismen in ihrem inneren Bau nahezu übereinſtimmen, fo können Sie daraus mit Sicherheit ſchließen, daß dieſe Ueberein⸗ ſtimmung ihren Grund in der Vererbung, jene Ungleichheit dagegen ihren Grund in der Anpaſſung hat. Betrachten Sie z. B. vergleichend die Hände oder Vorderpfoten der neun verſchiedenen Säugethiere, welche auf der gegenüberſtehenden Tafel IV abgebildet ſind, und bei N W-Oro, 77 rang. 4.Hund. 5.Seehund. C Delnhin. , 6. Maulwurf. 3 Schnabelthier: la.3.( 0 7. Fledermau 1 0 J. Uu g cb, N, ei, f Die Schöpfungsurkunde der vergleichenden Anatomie. 363 denen das knöcherne Skelet-Gerüſt im Innern der Hand und der fünf Finger ſichtbar iſt. Ueberall finden ſich bei der verſchiedenſten äußeren Form dieſelben Knochen, in derſelben Zahl, Lagerung und Verbindung wieder. Daß die Hand des Menſchen (Fig. 1) von derjenigen feiner nächſten Verwandten, des Gorilla (Fig. 2) und des Orang (Fig. 3) ſehr wenig verſchieden iſt, wird vielleicht ſehr natürlich erſcheinen. Wenn aber auch die Vorderpfote des Hundes (Fig. 4), ſowie die Bruſtfloſſe (die Hand) des Seehundes (Fig. 5) und des Delphins (Fig. 6) ganz denſelben weſentlichen Bau zeigt, ſo wird dies ſchon mehr überraſchen. Und noch wunderbarer wird es Ihnen vorkommen, daß auch der Flügel der Fledermaus (Fig. 7), die Grabſchaufel des Maulwurfs (Fig. S) und der Vorderfuß des unvollkommenſten aller Säugethiere, des Schnabelthiers (Fig. 9) ganz aus denſelben Knochen zuſammengeſetzt iſt. Nur die Größe und Form der Knochen iſt vielfach geändert. Die Zahl und die Art ihrer Anordnung und Verbindung iſt dieſelbe geblieben. (Vergl. auch die Erklärung der Taf. IV im Anhang.) Es iſt ganz undenkbar, daß irgend eine andere Urſache als die gemeinſchaftliche Vererbung von gemeinſamen Stammeltern dieſe wunderbare Homologie oder Gleichheit im weſentlichen inneren Bau bei ſo verſchiedener äußerer Form verurſacht habe. Und wenn Sie nun im Syſtem von den Säugethieren weiter hinunterſteigen, und finden, daß ſogar bei den Vögeln die Flügel, bei den Reptilien und Amphibien die Vorder— füße, weſentlich in derſelben Weiſe aus denſelben Knochen zuſammen— geſetzt ſind, wie die Arme des Menſchen und die Vorderbeine der übrigen Säugethiere, ſo können Sie ſchon daraus auf die gemeinſame Abſtammung aller dieſer Wirbelthiere mit voller Sicherheit ſchließen. Der Grad der inneren Formverwandtſchaft enthüllt Ihnen hier, wie überall, den Grad der Blutsverwandtſchaft. Sechzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Protiſtenreichs. Specielle Durchführung der Deſcendenztheorie in dem natürlichen Syſtem der Organismen. Conſtruction der Stammbäume. Abſtammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen. Abſtammung der Zellen von Moneren. Begriff der organiſchen Stämme oder Phylen. Zahl der Stämme des Thierreichs und des Pflanzenreichs. Einheitliche oder monophyletiſche und vielheitliche oder polyphyle— tiſche Deſcendenzhypotheſe. Das Reich der Protiſten oder Urweſen. Acht Klaſſen des Protiſtenreichs. Moneren. Amöboiden oder Protoplaſten. Geißelſchwärmer oder Flagellaten. Flimmerkugeln oder Katallakten. Labyrinthläufer oder Laby⸗ rinthuleen. Kieſelzellen oder Diatomeen. Schleimpilze oder Myxomyeeten. Wur⸗ zelfüßer oder Rhizopoden. Bemerkungen zur allgemeinen Naturgeſchichte der Pro— tiſten: Ihre Lebenserſcheinungen, chemiſche Zuſammenſetzung und Formbildung (Individualität und Grundform). Phylogenie des Protiſtenreichs. Meine Herren! Durch die denkende Vergleichung der individuel— len und paläontologiſchen Entwickelung, ſowie durch die vergleichende Anatomie der Organismen, durch die vergleichende Betrachtung ihrer entwickelten Formverhältniſſe, gelangen wir zur Erkenntniß ihrer ſtu— fenweis verſchiedenen Formverwandtſchaft. Dadurch gewinnen wir aber zugleich einen Einblick in ihre wahre Blutsverwandt— ſchaft, welche nach der Deſcendenztheorie der eigentliche Grund der Formverwandtſchaft iſt. Wir gelangen alſo, indem wir die empiri— ſchen Reſultate der Embryologie, Paläontologie und Anatomie zuſam— menſtellen, vergleichen, und zur gegenſeitigen Ergänzung benutzen, zur annähernden Erkenntniß des natürlichen Syſtems, welches nach Specielle Durchführung der Deſcendenztheorie. 365 unſerer Anſicht der Stammbaum der Organismen iſt. Allerdings bleibt unſer menſchliches Weſen, wie überall, ſo ganz beſonders hier, nur Stückwerk, ſchon wegen der außerordentlichen Unvollſtändigkeit und Lückenhaftigkeit der empiriſchen Schöpfungsurkunden. Indeſſen dürfen wir uns dadurch nicht abſchrecken laſſen, jene höchſte Aufgabe der Biologie in Angriff zu nehmen. Laſſen Sie uns vielmehr ſehen, wie weit es ſchon jetzt möglich iſt, trotz des unvollkommenen Zuſtan— des unſerer embryologiſchen, paläontologiſchen und anatomiſchen Kenntniſſe, eine annähernde Hypotheſe von dem verwandtfchaftlichen Zuſammenhang der Organismen aufzuſtellen. Darwin giebt uns in ſeinen Werken auf dieſe ſpeciellen Fra— gen der Deſcendenztheorie keine Antwort. Er äußert nur gelegent— lich ſeine Vermuthung, „daß die Thiere von höchſtens vier oder fünf, und die Pflanzen von eben fo vielen oder noch weniger Stamm- arten herrühren.“ Da aber auch dieſe wenigen Hauptformen noch Spuren von verwandtſchaftlicher Verkettung zeigen, und da ſelbſt Pflanzen- und Thierreich durch vermittelnde Uebergangsformen ver— bunden ſind, ſo gelangt er weiterhin zu der Annahme, „daß wahr— ſcheinlich alle organiſchen Weſen, die jemals auf dieſer Erde gelebt, von irgend einer Urform abſtammen.“ Gleich Darwin haben auch alle anderen Anhänger der Deſcendenztheorie dieſelbe bloß im Allge— meinen behandelt, und nicht den Verſuch gemacht, ſie auch ſpeciell durchzuführen, und das „natürliche Syſtem“ wirklich als „Stamm— baum der Organismen“ zu behandeln. Wenn wir daher hier dieſes ſchwierige Unternehmen wagen, ſo müſſen wir uns ganz auf unſere eigenen Füße ſtellen. Ich habe 1866 in der ſyſtematiſchen Einleitung zu meiner all— gemeinen Entwickelungsgeſchichte (kim zweiten Bande der generellen Morphologie) eine Anzahl von hypothetiſchen Stammtafeln für die größeren Organismengruppen aufgeſtellt, und damit thatſächlich den erſten Verſuch gemacht, die Stammbäume der Organismen in der Weiſe, wie es die Entwickelungstheorie erfordert, wirklich zu con- ſtruiren. Dabei war ich mir der außerordentlichen Schwierigkeiten 366 Eonftruction der Stammbäume. dieſer Aufgabe vollkommen bewußt. Indem ich trotz aller abſchrek— kenden Hinderniſſe dieſelbe dennoch in Angriff nahm, beanſpruchte ich weiter Nichts als den erſten Verſuch gemacht und zu weiteren und beſſeren Verſuchen angeregt zu haben. Vermuthlich werden die meiſten Zoologen und Botaniker von dieſem Anfang ſehr wenig be— friedigt geweſen fein, und am wenigſten 'in dem engen Special— gebiete, in welchem ein Jeder beſonders arbeitet. Allein wenn ir— gendwo, ſo iſt gewiß hier das Tadeln viel leichter als das Beſſer— machen, und daß bisher noch kein Naturforſcher meine Stammbäume durch beſſere oder überhaupt durch andere erſetzt hat, beweiſt am beſten die ungeheure Schwierigkeit der unendlich verwickelten Aufgabe. Aber gleich allen anderen wiſſenſchaftlichen Hypotheſen, welche zur Erklärung der Thatſachen dienen, werden auch meine genealogiſchen Hypotheſen fo lange auf Berückſichtigung Anſpruch machen dürfen, bis ſie durch beſſere erſetzt werden. Hoffentlich wird dieſer Erſatz recht bald geſchehen, und ich wünſchte Nichts mehr, als daß mein erſter Verſuch recht viele Natur— forſcher anregen möchte, wenigſtens auf dem engen, ihnen genau be— kannten Specialgebiete des Thier- oder Pflanzenreichs die genaueren Stammbäume für einzelne Gruppen aufzuſtellen. Durch zahlreiche derartige Verſuche wird unſere genealogiſche Erkenntniß im Laufe der Zeit langſam fortſchreiten, und mehr und mehr der Vollendung näher kommen, obwohl mit Beſtimmtheit vorauszuſehen iſt, daß ein vollen— deter Stammbaum niemals wird erreicht werden. Es fehlen uns und werden uns immer fehlen die unerläßlichen paläontologiſchen Grund— lagen. Die älteſten Urkunden werden uns ewig verſchloſſen bleiben aus den früher bereits angeführten Urſachen. Die älteſten, durch Ur— zeugung entſtandenen Organismen, die Stammeltern aller folgenden, müſſen wir uns nothwendig als Moneren denken, als einfache weiche ſtructurloſe Eiweißklümpchen, ohne jede beſtimmte Form, ohne irgend welche harte und geformte Theile. Dieſe und ihre nächſten Abkömm— linge waren daher der Erhaltung im verſteinerten Zuſtande durchaus nicht fähig. Ebenſo fehlt uns aber aus den im letzten Vortrage aus— Abſtammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen. 367 führlich erörterten Gründen der bei weitem größte Theil von den zahlloſen paläontologiſchen Dokumenten, die zur ſicheren Durchfüh— rung der Stammesgeſchichte oder Phylogenie, und zur wahren Er— kenntniß der organiſchen Stammbäume eigentlich erforderlich wären. Wenn wir daher das Wagniß ihrer hypothetiſchen Conſtruction den— noch unternehmen, ſo ſind wir vor Allem auf die Unterſtützung der beiden anderen Urkundenreihen hingewieſen, welche das paläontolo— giſche Archiv in weſentlichſter Weiſe ergänzen, der Ontogenie und der vergleichenden Anatomie. Ziehen wir dieſe höchſt werth vollen Urkunden gehörig denkend und vergleichend zu Rathe, ſo machen wir zunächſt die außerordentlich bedeutungsvolle Wahrnehmung, daß die allermeiſten Organismen, insbeſondere alle höheren Thiere und Pflanzen, aus einer Vielzahl von Zellen zuſammengeſetzt find, ihren Urſprung aber aus einem Ei neh— men, und daß dieſes Ei bei den Thieren ebenſo wie bei den Pflanzen eine einzige ganz einfache Zelle iſt: ein Klümpchen einer Eiweißver— bindung, in welchem ein anderer eiweißartiger Körper, der Zellkern, eingeſchloſſen iſt. Dieſe kernhaltige Zelle wächſt und vergrößert ſich. Durch Theilung bildet ſich ein Zellenhäufchen, und aus dieſem entſtehen durch Arbeitstheilung in der früher beſchriebenen Weiſe die vielfach verſchiedenen Formen, welche die ausgebildeten Thier- und Pflanzen— arten uns vor Augen führen. Dieſer unendlich wichtige Vorgang, welchen wir alltäglich bei der embryologiſchen Entwickelung jedes thie— riſchen und pflanzlichen Individuums mit unſeren Augen Schritt für Schritt unmittelbar verfolgen können, und welchen wir in der Regel durchaus nicht mit der verdienten Ehrfurcht betrachten, belehrt uns ſicherer und vollſtändiger, als alle Verſteinerungen es thun könnten, über die urſprüngliche paläontologiſche Entwickelung aller mehrzelligen Organismen, aller höheren Thiere und Pflanzen. Denn da die On— togenie oder die embryologiſche Entwickelung jedes einzelnen Indivi— duums nichts weiter iſt, als ein kurzer Auszug der Phylogenie, eine Recapitulation der paläontologiſchen Entwickelung ſeiner Vorfahren— kette, ſo können wir daraus zunächſt mit voller Sicherheit den ebenſo 368 Abſtammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen. einfachen als bedeutenden Schluß ziehen, daß alle mehrzelligen Thiere und Pflanzen urſprünglich von einzelligen Or— ganismen abſtammen. Die uralten primordialen Vorfahren des Menſchen ſo gut wie aller anderen Thiere und aller aus vielen Zellen zuſammengeſetzten Pflanzen waren einfache, iſolirt lebende Zellen. Die— ſes unſchätzbare Geheimniß des organiſchen Stammbaumes wird uns durch das Ei der Thiere und durch die wahre Eizelle der Pflanzen mit untrüglicher Sicherheit verrathen. Wenn die Gegner der Deſcendenz— theorie uns entgegenhalten, es ſei wunderbar und unbegreiflich, daß ein äußerſt complicirter vielzelliger Organismus aus einem einfachen einzelligen Organismus im Laufe der Zeit hervorgegangen ſei, fo ent- gegnen wir einfach, daß wir dieſes unglaubliche Wunder jeden Augen— blick vor uns ſehen und mit unſeren Augen verfolgen können. Denn die Embryologie der Thiere und Pflanzen führt uns in kürzeſter Zeit denſelben Vorgang greifbar vor Augen, welcher im Laufe ungeheurer Zeiträume bei der Entſtehung des ganzen Stammes ſtattgefunden hat. Auf Grund der embryologiſchen Urkunden können wir alſo mit voller Sicherheit behaupten, daß alle mehrzelligen Organismen eben ſo gut wie alle einzelligen urſprünglich von einfachen Zellen abſtam— men; hieran würde ſich ſehr natürlich der Schluß reihen, daß die äl— teſte Wurzel des Thier- und Pflanzenreichs gemeinſam iſt. Denn die verſchiedenen uralten „Stammzellen“, aus denen ſich die wenigen verſchiedenen Hauptgruppen oder „Stämme“ (Phylen) des Thier— und Pflanzenreichs entwickelt haben, könnten ihre Verſchiedenheit ſelbſt erſt erworben haben, und könnten ſelbſt von einer gemeinſamen „Ur— ſtammzelle“ abſtammen. Wo kommen aber jene wenigen „Stamm— zellen“ oder dieſe eine „Urſtammzelle“ her? Zur Beantwortung die— ſer genealogiſchen Grundfrage müſſen wir auf die früher erörterte Pla— ſtidentheorie und die Urzeugungshypotheſe zurückgreifen. (S. 309.) Wie wir damals zeigten, können wir uns durch Urzeugung un— mittelbar nicht Zellen entſtanden denken, ſondern nur Moneren, Urweſen der denkbar einfachſten Art, gleich den noch jetzt lebenden Protamoeben, Protomyrxen u. |. w. (S. 167, Fig. 1). Nur ſolche Abſtammung der Zellen von Moneren. 369 ſtructurloſe Schleimkörperchen, deren ganzer eiweißartiger Leib ſo gleich— artig in ſich wie ein anorganiſcher Kryſtall iſt, und die dennoch die beiden organiſchen Grundfunctionen der Ernährung und Fortpflanzung voll— ziehen, konnten unmittelbar im Beginn der laurentiſchen Zeit aus anorganiſcher Materie durch Autogonie entſtehen. Während einige Moneren auf der urſprünglichen einfachen Bildungsſtufe verharrten, bildeten ſich andere allmählich zu Zellen um, indem der innere Kern des Eiweißleibes ſich von dem äußeren Zellſtoff ſonderte. Andererſeits bildete ſich durch Differenzirung der äußerſten Zellſtoffſchicht ſowohl um einfache (kernloſe) Cytoden, als um nackte (aber kernhaltige) Zel— len eine äußere Hülle (Membran oder Schale). Durch dieſe beiden Sonderungsvorgänge in dem einfachen Urſchleim des Monerenleibes, durch die Bildung eines Kerns im Inneren, einer Hülle an der äuße— ren Oberfläche des Plasmakörpers, entſtanden aus den urſprünglichen einfachſten Cytoden, den Moneren, jene vier verſchiedenen Arten von Plaſtiden oder Individuen erſter Ordnung, aus denen weiterhin alle übrigen Organismen durch Differenzirung und Zuſammenſetzung ſich entwickeln konnten. (Vergl. oben S. 308.) a Hier wird ſich Ihnen nun zunächſt die Frage aufdrängen: Stam— men alle organiſchen Cytoden und Zellen, und mithin auch jene Stammzellen, welche wir vorher als die Stammeltern der wenigen großen Hauptgruppen des Thier- und Pflanzenreichs betrachtet haben, von einer einzigen urſprünglichen Monerenform ab, oder giebt es mehrere verſchiedene organiſche Stämme, deren jeder von einer eigen— thümlichen, ſelbſtſtändig durch Urzeugung entſtandenen Monerenart abzuleiten iſt. Mit anderen Worten: Iſt die ganze organiſche Welt gemeinſamen Urſprungs, oder verdankt ſie mehr— fachen Urzeugungsakten ihre Entſtehung? Dieſe genealo— giſche Grundfrage ſcheint auf den erſten Blick ein außerordentliches Ge— wicht zu haben. Indeſſen werden Sie bei näherer Betrachtung bald ſehen, daß ſie daſſelbe nicht beſitzt, vielmehr im Grunde von ſehr un— tergeordneter Bedeutung iſt. Laſſen Sie uns hier zunächſt den Begriff des organiſchen Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 24 370 Begriff der organiſchen Stämme oder Phylen. Stammes näher in's Auge fallen und feſt begrenzen. Wir ver- ſtehen unter Stamm oder Phylum die Geſammtheit aller derjeni— gen Organismen, deren Blutsverwandtſchaft, deren Abſtammung von einer gemeinſamen Stammform aus anatomiſchen und entwickelungs— geſchichtlichen Gründen nicht zweifelhaft ſein kann, oder doch wenig— ſtens in hohem Maße wahrſcheinlich iſt. Unſere Stämme oder Phy⸗ len fallen alſo weſentlich dem Begriffe nach zuſammen mit jenen we— nigen „großen Klaſſen“ oder „Hauptklaſſen“, von denen auch Dar— win glaubt, daß eine jede nur blutsverwandte Organismen enthält, und von denen er ſowohl im Thierreich als im Pflanzenreich nur ſehr wenige, in jedem Reiche etwa vier bis fünf annimmt. Im Thierreich würden dieſe Stämme im Weſentlichen mit jenen vier bis ſieben Hauptabtheilungen zuſammenfallen, welche die Zoologen ſeit Bär und Cuvier als „Hauptformen, Generalpläne, Zweige oder Kreiſe“ des Thierreichs unterſcheiden. (Vergl. S. 48.) Bär und Cuvier un⸗ terſchieden deren nur vier, nämlich 1. die Wirbelthiere (Vertebrata); 2. die Gliederthiere (Articulata); 3. die Weichthiere (Mol- lusca) und 4. die Strahlthiere (Radiata). Gegenwärtig unter⸗ ſcheidet man gewöhnlich ſieben, indem man den Stamm der Glieder— thiere in die beiden Stämme der Gliederfüßer (Arthropoda) und der Würmer (Vermes) trennt, und ebenſo den Stamm der Strahl⸗ thiere in die drei Stämme der Sternthiere (Echinoderma), der Pflanzenthiere (Zoophyta) und der Urthiere (Protozoa) zerlegt. Innerhalb jedes dieſer ſieben Stämme zeigen alle dazu gehörigen Thiere trotz großer Mannichfaltigkeit in der äußeren Form und im innern Bau dennoch ſo zahlreiche und wichtige gemeinſame Grundzüge, daß wir an ihrer Blutsverwandtſchaft nicht zweifeln können. Daſſelbe gilt auch von den ſechs großen Hauptklaſſen, welche die neuere Botanik im Pflanzenreiche unterſcheidet, nämlich 1. die Blumenpflanzen (Pha- nerogamae); 2. die Farne (Filicinae); 3. die Moſe (Muscinae); 4.die Flechten (Lichenes); 5. die Pilze (Fungi) und 6. die Tange (Algae). Die letzten drei Gruppen zeigen ſelbſt wiederum unter ſich jo nahe Beziehungen, daß man fie als Thalluspflanzen (Thallo- Zahl der Stämme des Thierreichs und des Pflanzenreichs. 371 phyta) den drei erſten Hauptklaſſen gegenüber ſtellen, und ſomit die Zahl der Phylen oder Hauptgruppen des Pflanzenreichs auf vier be— ſchränken könnte. Auch Moſe und Farne könnte man als Pro- thalluspflanzen (Prothallota) zuſammenfaſſen und dadurch die Zahl der Pflanzenſtämme auf drei erniedrigen: Blumenpflanzen, Pro⸗ thalluspflanzen und Thalluspflanzen. Nun ſprechen aber ſehr gewichtige Thatſachen der Anatomie und der Entwickelungsgeſchichte ſowohl im Thierreich als im Pflanzenreich für die Vermuthung, daß auch dieſe wenigen Hauptklaſſen oder Stämme noch an ihrer Wurzel zuſammenhängen, d. h. daß ihre nie- derſten und älteſten Stammformen unter ſich wiederum blutsverwandt ſind. Ja bei weiter gehender Unterſuchung werden wir noch einen Schritt weiter und zu Darwin's Annahme hingedrängt, daß auch die beiden Stammbäume des Thier- und Pflanzenreichs an ihrer tief- ſten Wurzel zuſammenhängen, daß auch die niederſten und älteſten Thiere und Pflanzen von einem einzigen gemeinſamen Urweſen ab— ſtammen. Natürlich könnte nach unſerer Anſicht dieſer gemeinſame Urorganismus nur ein durch Urzeugung entſtandenes Moner ſein. Vorſichtiger werden wir vorläufig jedenfalls verfahren, wenn wir dieſen letzten Schritt noch vermeiden, und wahre Blutsverwandtſchaft nur innerhalb jedes Stammes oder Phylum annehmen, wo ſie durch die Thatſachen der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Phylo- genie unzweifelhaft ſicher geſtellt wird. Aber ſchon jetzt können wir bei dieſer Gelegenheit darauf hinweiſen, daß zwei verſchiedene Grund— formen der genealogiſchen Hypotheſen möglich ſind, und daß alle ver— ſchiedenen Unterſuchungen der Deſcendenztheorie über den Urſprung der organiſchen Formengruppen ſich künftig entweder mehr in der einen oder mehr in der andern von dieſen beiden Richtungen bewegen wer⸗ den. Die einheitliche (einſtämmige oder monophyletiſche) Abſtammungshypotheſe wird beſtrebt ſein, den erſten Urſprung fo- wohl aller einzelnen Organismengruppen als auch der Geſammtheit derſelben auf eine einzige gemeinſame, durch Urzeugung entſtandene Monerenart zurückzuführen (S. 398). Die vielheitliche (iel- 24 * 372 Gegenſatz der monophyletiſchen und polyphyletiſchen Hypotheſen. ſtämmige oder polyphyletiſche) Deſcendenzhypotheſe dagegen wird annehmen, daß mehrere verſchiedene Monerenarten durch Urzeu— gung entſtanden ſind, und daß dieſe mehreren verſchiedenen Haupt— klaſſen (Stämmen oder Phylen) den Urſprung gegeben haben (S. 399). Im Grunde iſt der ſcheinbar ſehr bedeutende Gegenſatz zwiſchen dieſen beiden Hypotheſen von ſehr geringer Wichtigkeit. Dieſe beide, ſowohl die einheitliche oder monophyletiſche, als die vielheitliche oder polyphy— letiſche Deſcendenzhypotheſe, müſſen nothwendig auf Moneren als auf die älteſte Wurzel des einen oder der vielen organiſchen Stämme zurückgehen. Da aber der ganze Körper aller Moneren nur aus einer einfachen, ſtructurloſen und formloſen Maſſe, einer eiweißartigen Kohlenſtoffverbindung beſteht, ſo können die Unterſchiede der verſchie— denen Moneren nur chemiſcher Natur fein und nur in einer verſchie— denen anatomiſchen Zuſammenſetzung jener ſchleimartigen Eiweißver— bindung beſtehen. Dieſe feinen und verwickelten Miſchungsverſchie— denheiten der unendlich mannichfaltig zuſammengeſetzten Eiweißverbin— dungen ſind aber vorläufig für die rohen und groben Erkenntnißmittel des Menſchen gar nicht erkennbar, und daher auch für unſere vorlie— gende Aufgabe zunächſt von weiter keinem Intereſſe. Die Frage von dem einheitlichen oder vielheitlichen Urſprung wird ſich auch innerhalb jedes einzelnen Stammes immer wiederholen, wo es ſich um den Urſprung einer kleineren oder größeren Gruppe han⸗ delt. Im Pflanzenreiche z. B. werden die einen Botaniker mehr ge— neigt fein, die ſämmtlichen Blumenpflanzen von einer einzigen Farn— form abzuleiten, während die andern die Vorſtellung vorziehen wer— den, daß mehrere verſchiedene Phanerogamengruppen aus mehreren verſchiedenen Farngruppen hervorgegangen ſind. Ebenſo werden im Thierreiche die einen Zoologen mehr zu Gunſten der Annahme ſein, daß ſämmtliche placentalen Säugethiere von einer einzigen Beutelthier- form abſtammen, die andern dagegen mehr zu Gunſten der entgegen geſetzten Annahme, daß mehrere verſchiedene Gruppen von Placental⸗ thieren aus mehreren verſchiedenen Beutelthiergruppen hervorgegangen ſind. Was das Menſchengeſchlecht ſelbſt betrifft, ſo werden die Einen Vorzug der monophyletiſchen vor den polyphyletiſchen Hypotheſen. 373 den Urſprung deſſelben aus einer einzigen Affenform vorziehen, wäh— rend die Andern ſich mehr zu der Vorſtellung neigen werden, daß mehrere verſchiedene Menſchenarten unabhängig von einander aus meh- reren verſchiedenen Affenarten entſtanden ſind. Ohne uns hier ſchon beſtimmt für die eine oder die andere Auffaſſung auszuſprechen, wol— len wir dennoch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß im Allgemei- nen die einſtämmigen oder monophyletiſchen Deſcen— denzhypotheſen mehr innere Wahrſcheinlichkeit beſitzen, als die vielſtämmigen oder polyphyletiſchen Abſtam— mungshypotheſen. Der früher erörterte chorologiſche Satz von dem einfachen „Schöpfungsmittelpunkte“ oder der einzigen Urhei— math der meiſten Species führt zu der Annahme, daß auch die Stamm⸗ form einer jeden größeren und kleineren natürlichen Gruppe nur ein- mal im Laufe der Zeit und nur an einem Orte der Erde ent— ſtanden iſt. Insbeſondere darf man für alle einigermaßen differen- zirten und höher entwickelten Gruppen des Thier- und Pflanzenreichs dieſe einfache Stammeswurzel, dieſen monophyletiſchen Urſprung als geſichert annehmen (vergl. S. 313). Dagegen iſt es ſehr wohl mög— lich, daß die entwickeltere Deſcendenztheorie der Zukunft den poly- phyletiſchen Urſprung für viele ſehr niedere und unvollkommene Grup— pen der beiden organiſchen Reiche nachweiſen wird. Aus dieſem Grunde nehme ich gegenwärtig für das Thierreich einerſeits, für das Pflanzenreich andrerſeits eine ein ſtämmige oder monophyletiſche Deſcendenz an. Hiernach würden alſo die oben genannten ſieben Stämme oder Phylen des Thierreichs an ihrer unterſten Wurzel zuſammenhängen, und ebenſo die erwähnten drei bis ſechs Hauptklaſſen oder Phylen des Pflanzenreichs von einer gemein— ſamen älteſten Stammform abzuleiten ſein. Wie der Zuſammenhang dieſer Stämme zu denken iſt, werde ich in den nächſten Vorträgen erläutern. Zunächſt aber müſſen wir uns hier noch mit einer ſehr merkwürdigen Gruppe von Organismen beſchäftigen, welche weder in den Stammbaum des Pflanzenreichs, noch in den Stammbaum des 374 Das Reich der Protiſten oder Urweſen. Thierreichs ohne künſtlichen Zwang eingereiht werden können. Dieſe intereſſanten und wichtigen Organismen ſind die Urweſen oder Protiſten. Sämmtliche Organismen, welche wir als Protiſten zuſammen⸗ faſſen, zeigen in ihrer äußeren Form, in ihrem inneren Bau und in ihren geſammten Lebenserſcheinungen eine ſo merkwürdige Miſchung von thieriſchen und pflanzlichen Eigenſchaften, daß ſie mit klarem Rechte weder dem Thierreiche, noch dem Pflanzenreiche zugetheilt wer— den können, und daß ſeit mehr als zwanzig Jahren ein endloſer und fruchtloſer Streit darüber geführt wird, ob ſie in jenes oder in dieſes einzuordnen ſeien. Die meiſten Protiſten oder Urweſen ſind von ſo geringer Größe, daß man ſie mit bloßem Auge gar nicht wahr— nehmen kann. Daher iſt die Mehrzahl derſelben erſt im Laufe der letzten fünfzig Jahre bekannt geworden, ſeit man mit Hülfe der verbeſſerten und allgemein verbreiteten Mikroſkope dieſe winzigen Organismen häufiger beobachtete und genauer unterſuchte. Aber ſo— bald man dadurch näher mit ihnen vertraut wurde, erhoben ſich auch alsbald unaufhörliche Streitigkeiten über ihre eigentliche Natur und ihre Stellung im natürlichen Syſteme der Organismen. Viele von dieſen zweifelhaften Urweſen wurden von den Botanikern für Thiere, von den Zoologen für Pflanzen erklärt; es wollte ſie keiner von Beiden haben. Andere wurden umgekehrt ſowohl von den Botanikern für Pflanzen, als von den Zoologen für Thiere erklärt; jeder wollte ſie haben. Dieſe Widerſprüche ſind nicht etwa durch unſere unvollkommene Kenntniß der Protiſten, ſondern wirklich durch ihre wahre Natur bedingt. In der That zeigen die meiſten Protiſten eine ſo bunte Vermiſchung von mancherlei thieriſchen und pflanzlichen Charakteren, daß es lediglich der Willkür des einzelnen Beobachters überlaſſen bleibt, ob er ſie dem Thier⸗ oder Pflanzenreich einreihen will. Je nachdem er dieſe beiden Reiche definirt, je nachdem er dieſen oder jenen Charakter als beſtim⸗ mend für die Thiernatur oder für die Pflanzennatur anſieht, wird er die einzelnen Protiſtenklaſſen bald dem Thierreiche bald dem Pflanzen reiche zuertheilen. Dieſe ſyſtematiſche Schwierigkeit iſt aber dadurch Acht Klaſſen des Protiſtenreichs. 376 zu einem ganz unauflöslichen Knoten geworden, daß alle neueren Un— terſuchungen über die niederſten Organismen die bisher übliche ſcharfe Grenze zwiſchen Thier- und Pflanzenreich völlig verwiſcht, oder wenig— ſtens dergeſtalt zerſtört haben, daß ihre Wiederherſtellung nur mittelſt einer ganz künſtlichen Definition beider Reiche möglich iſt. Aber auch in dieſe Definition wollen viele Protiſten durchaus nicht hineinpaſſen. Aus dieſen und vielen andern Gründen iſt es jedenfalls, wenig— ſtens vorläufig das Beſte, die zweifelhaften Zwitterweſen ſowohl aus dem Thierreiche als aus dem Pflanzenreiche auszuweiſen, und in einem zwiſchen beiden mitten inneſtehenden dritten organiſchen Reiche zu ver— einigen. Dieſes vermittelnde Zwiſchenreich habe ich als Reich der Urweſen (Protista) in meiner allgemeinen Anatomie (im erſten Bande der generellen Morphologie) ausführlich begründet (Gen. Morph. I, S. 191— 238). In meiner Monographie der Moneren!s) habe ich kürzlich daſſelbe in etwas veränderter Begrenzung und in ſchärferer Definition erläutert. Als ſelbſtſtändige Klaſſen des Protiften- reichs kann man gegenwärtig etwa folgende acht Gruppen anſehen: 1. die noch gegenwärtig lebenden Moneren; 2. die Amoeboiden oder Loboſen; 3. die Geißelſchwärmer oder Flagellaten; 4. die Flim— merkugeln oder Katallakten; 5. die Labyrinthläufer oder Labyrinthu⸗ leen; 6. die Kieſelzellen oder Diatomeen; 7. die Schleimpilze oder Myxomyceten; 8. die Wurzelfüßer oder Rhizopoden. Die wichtigſten Gruppen, welche gegenwärtig in dieſen acht Pro— tiſtenklaſſen unterſchieden werden können, ſind in der nachſtehenden ſyſtematiſchen Tabelle (S. 377) namentlich angeführt. Wahrſcheinlich wird die Anzahl dieſer Protiſten durch die fortſchreitenden Unterfuchun- gen über die Ontogenie der einfachſten Lebensformen, die erſt ſeit kurzer Zeit mit größerem Eifer betrieben werden, in Zukunft noch be— trächtlich vermehrt werden. Mit den meiſten der genannten Klaſſen iſt man erſt in den letzten zehn Jahren genauer bekannt geworden. Die hoͤchſt intereſſanten Moneren und Labyrinthuleen, ſowie die Katallakten, ſind ſogar erſt vor wenigen Jahren überhaupt entdeckt worden. Wahr⸗ ſcheinlich ſind auch ſehr zahlreiche Protiſtengruppen in früheren Perio— 376 Der Stammbaum des Protiſtenreichs. den ausgeſtorben, ohne uns bei ihrer größtentheils ſehr weichen Kör— perbeſchaffenheit foſſile Reſte hinterlaſſen zu haben. Einen ſehr be— trächtlichen Zuwachs würde unſer Protiſtenreich erhalten, wenn wir auch die formenreiche Klaſſe der Pilze (Fungi) an daſſelbe annecti⸗ ren wollten. In der That weichen die Pilze durch ſo wichtige Eigenthümlichkeiten von den echten Pflanzen ab, daß man ſie ſchon mehrmals von dieſen letzteren ganz hat trennen wollen (vergl. S. 415). Nur proviſoriſch laſſen wir ſie hier im Pflanzenreich ſtehen. Der Stammbaum des Protiſtenreichs iſt noch in das tiefſte Dunkel gehüllt. Die eigenthümliche Verbindung von thieriſchen und pflanzlichen Eigenſchaften, der indifferente und unbeſtimmte Cha- rakter ihrer Formverhältniſſe und Lebenserſcheinungen, dabei andrer— ſeits eine Anzahl von mehreren, ganz eigenthümlichen Merkmalen, welche die meiſten der genannten Klaſſen ſcharf von den anderen tren⸗ nen, vereiteln vorläufig noch jeden Verſuch, ihre Blutsverwandtſchaft untereinander, oder mit den niederſten Thieren einerſeits, mit den nie— derſten Pflanzen andrerſeits, beſtimmter zu erkennen. Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß die genannten und noch viele andere uns unbe— kannte Protiſtenklaſſen ganz ſelbſtſtändige organiſche Stämme oder Phylen darſtellen, deren jeder ſich aus einem, vielleicht ſogar aus meh⸗ reren, durch Urzeugung entſtandenen Moneren unabhängig entwickelt hat. Will man dieſer vielſtämmigen oder polyphyletiſchen Deſcendenz— hypotheſe nicht beipflichten, und zieht man die einſtämmige oder mo- nophyletiſche Annahme von der Blutsverwandtſchaft aller Organismen vor, jo wird man die verſchiedenen Protiſtenklaſſen als niedere Wurzel— ſchößlinge zu betrachten haben, aus derſelben einfachen Monerenwurzel herausſproſſend, aus welcher die beiden mächtigen und vielverzweigten Stammbäume einerſeits des Thierreichs, andrerſeits des Pflanzenreichs entſtanden ſind. (Vergl. S. 398 und 399.) Bevor ich Ihnen dieſe ſchwierige Frage näher erläutere, wird es wohl paſſend ſein, noch Einiges über den Inhalt der vorſtehend angeführten Protiſtenklaſſen und ihre allgemeine Naturgeſchichte vorauszuſchicken. Syſtematiſche Aeberſicht über die 377 größeren und kleineren Gruppen des Protiſtenreichs. Klaſſen Hyſtematiſcher des Brotiſten- Name der reichs. Klaſſen. 1 1. Moneren Monera 2 1 2. Loboſen | Amoeboida 3. Geißelſchwär⸗ ) Flagellata | mer | x 3 4. Flimmerkugeln Catallacta 1 5. Labyrinthläufer Labyrinthuleae 1 1 6. Kieſelzellen 2 = 3 1 * Schleimpilze — 4 3. 4. Le. 8. Wurzelfüßer | I. Acyttaria oder 1 II. Heliozoa 1. 0 Radiolaria ; . Lepomonera . Striata . Physareae Ordnungen oder Familien der Klaſſen. Gymnomonera .. . Gymnamoebae ... . Lepamoebae . . Nudiflagellata Cilioflagellata Cystoflagellata . . Catallactä ... . . Labyrinthuleae Vıltatart oa. var . Stemoniteae ... Trichiaceae Lycogaleae Monothalamia ... . 2. Polythalamia Hel102034. . an. 1. Monoeyttaria Polyeyttaria . . wre a Tale Jette In | ‚m dere Fin Hattungs- name als Beiſpiel. . Protogenes 2 Protomyxa Amoeba .. Arcella Euglena Peridinium . Noctiluca . Magosphaera . Labyrinthula . Navicula . Tabellaria . Coscinodiscus . Aethalium . Stemonitis . Areyria . Retieularia . Gromia . Nummulina . Actinosphaerium .. Cyrtidosphaera . Collosphaera. 378 Die neutralen Moneren der Gegenwart. Daß ich hier wieder mit den merkwürdigen Moneren (Monera) als erſter Klaſſe des Protiſtenreichs beginne, wird Ihnen vielleicht ſelt— ſam vorkommen, da ich ja Moneren als die älteſten Stammformen aller Organismen ohne Ausnahme anſehe. Allein was ſollen wir ſonſt mit den gegenwärtig noch lebenden Moneren anfangen? Wir wiſſen Nichts von ihrem paläontologiſchen Urſprung, wir wiſſen Nichts von irgend welchen Beziehungen derſelben zu niederen Thieren oder Pflanzen, wir wiſſen Nichts von ihrer möglichen Entwickelungs— fähigkeit zu höheren Organismen. Das ſtrukturloſe und homogene Schleimklümpchen, welches ihren ganzen Körper bildet (Fig. 8), iſt Fig. 8. Protamoeba primitiva, ein Moner des ſüßen Waſſers, ſtark vergrös ßert. 4. Das ganze Moner mit ſeinen formwechſelnden Fortſätzen. 2. Daſſelbe beginnt ſich in zwei Hälften zu theilen. C. Die Trennung der beiden Hälften iſt vollſtändig geworden und jede ſtellt nun ein ſelbſtſtändiges Individuum dar. a ebenſo die älteſte und urſprünglichſte Grundlage der thieriſchen wie der pflanzlichen Plaſtiden. Offenbar würde es daher ebenſo willkürlich und grundlos ſein, wenn man ſie dem Thierreiche, als wenn man ſie dem Pflanzenreiche anſchließen wollte. Jedenfalls verfahren wir vorläufig am vorſichtigſten und am meiſten kritiſch, wenn wir die gegenwärtig noch lebenden Moneren, deren Zahl und Verbreitung vielleicht ſehr groß iſt, als eine ganz beſondere ſelbſtſtändige Klaſſe zuſammenfaſſen, welche wir allen übrigen Klaſſen ſowohl des Protiſtenreichs, als des Pflanzenreichs und des Thierreichs gegenüber ſtellen. Durch die voll— kommene Gleichartigkeit ihrer ganzen eiweißartigen Körpermaſſe, durch den völligen Mangel einer Zuſammenſetzung aus ungleichartigen Theil— chen ſchließen ſich, rein morphologiſch betrachtet, die Moneren näher an die Anorgane als an die Organismen an, und vermitteln offenbar Die neutralen Moneren und Amoeben der Gegenwart. 379 den Uebergang zwiſchen anorganiſcher und organiſcher Körperwelt, wie ihn die Hypotheſe der Urzeugung annimmt. Die Formen und die Le— benserſcheinungen der jetzt noch lebenden Moneren (Protamoeba, Pro- togenes, Protomyxa etc.) habe ich in meiner „Morphologie der Moneren“ 15) ausführlich beſchrieben und abgebildet, auch das Wich- tigſte davon kurz im achten Vortrage angeführt (S. 164167). Da⸗ her wiederhole ich hier nur als Beiſpiel die Abbildung der ſüßwaſſer⸗ bewohnenden Protamoeba (Fig. 8). Die Lebensgeſchichte der orange⸗ rothen Proto myxa aurantiaca, welche ich auf der canariſchen Inſel Lanzerote beobachtet habe, iſt auf Tafel 1 (S. 168) abgebildet (vergl. die Erklärung deſſelben im Anhang). Außerdem füge ich hier noch die Abbildung einer Form des Bathybius hinzu, jenes werkwürdigen von Huxley entdeckten Moneres, das in Geſtalt von nackten Protoplasma-Klumpen und Schleimnetzen die größten Mee- restiefen bewohnt (S. 165). Fig. 9. Bathybius Haeckelii, das „Urſchleim-Weſen“ der größten Meeres- tiefen. Die Figur zeigt in ſtarker Ver⸗ 8 größerung bloß jene Form des Bathy- bius, welche ein nacktes Protoplasma⸗ Netzwerk darſtellt, ohne die Diskolithen und Cyatholithen, welche in anderen Formen deſſelben Moneres gefunden werden, und welche wahrſcheinlich als Ausſcheidungs-Producte deſſelben anzu⸗ ſehen ſind. Nicht weniger genealogiſche Schwierigkeiten, als die Moneren, bieten uns die Amoeben der Gegenwart, und die ihnen nächſt⸗ verwandten Organismen (Arcelliden und Gregarinen), welche wir hier als eine zweite Protiſtenklaſſe unter dem Namen der Amoe— boiden (Lobosa) zuſammenfaſſen. Man ſtellt dieſe Urweſen jetzt gewöhnlich in das Thierreich, ohne daß man eigentlich einſieht, wa— rum? Denn einfache nackte Zellen, d. h. hüllenloſe und kernfüh⸗ 380 Die neutralen Amoeben der Gegenwart. rende Plaſtiden, kommen eben ſowohl bei echten Pflanzen, als bei echten Thieren vor. Die Fortpflanzungszellen z. B. von vielen Al gen (Sporen und Eier) exiſtiren längere oder kürzere Zeit im Waſſer in Form von nackten, kernhaltigen Zellen, die von den nackten Eiern mancher Thiere (4. B. der Siphonophoren-Meduſen) geradezu nicht zu unterſcheiden ſind. (Vergl. die Abbildung vom nackten Ei des Blaſentangs im XVII. Vortrag, S. 412.) Eigentlich iſt jede nackte einfache Zelle, gleichviel ob ſie aus dem Thier- oder Pflanzenkörper kömmt, von einer ſelbſtſtändigen Amoebe nicht weſentlich verſchieden. Denn dieſe letztere iſt ſelbſt Nichts weiter als eine einfache Urzelle, ein nacktes Klümpchen von Zellſtoff oder Plasma, welches einen Kern enthält. Die Zuſammenziehungsfähigkeit oder Contractilität dieſes Plasma aber, welche die freie Amoebe im Ausſtrecken und Einziehen formwechſelnder Fortſätze zeigt, iſt eine allgemeine Lebens⸗ eigenſchaft des organiſchen Plasma eben ſowohl in den thieriſchen wie in den pflanzlichen Plaſtiden. Wenn eine frei bewegliche, ihre Form beſtändig ändernde Amoebe in den Ruhezuſtand übergeht, ſo zieht ſie ſich kugelig zuſammen und umgiebt ſich mit einer ausge⸗ ſchwitzten Membran. Dann iſt ſie der Form nach ebenſo wenig von einem thieriſchen Ei als von einer einfachen kugeligen Pflan⸗ zenzelle zu unterſcheiden (Fig. 10 A). Fig. 10. Amoeba sphaerococeus (eine Amoebenform des ſüßen Waſſers ohne contractile Blaſe) ſtark vergrößert. 4. Die eingekapſelte Amoebe im Ruhezuſtand, beſtehend aus einem kugeligen Plasmaklumpen /e), welcher einen Kern (6) nebſt Kernkörperchen fa) einſchließt. Die einfache Zelle ift von einer Cyſte oder Zellen⸗ membran /) umſchloſſen. B. Die freie Amoebe, welche die Cyſte oder Zellhaut geſprengt und verlaſſen hat. C. Dieſelbe beginnt ſich zu theilen, indem ihr Kern Amoeboiden oder Protoplaſten. 381 in zwei Kerne zerfällt und der Zellſtoff zwiſchen beiden ſich einſchnürt. D. Die Theilung iſt vollendet, indem auch der Zellſtoff vollſtändig in zwei Hälften zer— fallen iſt (Da und DB). Nackte kernhaltige Zellen, gleich den in Fig. 10 B abgebildeten, welche in beſtändigem Wechſel formloſe fingerähnliche Fortſätze aus— ſtrecken und wieder einziehen, und welche man deshalb als Amoeben bezeichnet, finden ſich vielfach und ſehr weit verbreitet im ſüßen Waſſer und im Meere, ja ſogar auf dem Lande kriechend vor. Dieſelben nehmen ihre Nahrung in derſelben Weiſe auf, wie es früher (S. 166) von den Protamoeben beſchrieben wurde. Bisweilen kann man ihre Fortpflanzung durch Theilung (Fig. 100, P) beobochten, die ich be— reits in einem früheren Vortrage Ihnen geſchildert habe (S. 169). Viele von dieſen formloſen Amoeben ſind neuerdings als jugendliche Entwickelungszuſtände von anderen Protiſten (namentlich den Myxo— myceten) oder als abgelöſte Zellen von niederen Thieren und Pflan— zen erkannt worden. Die farbloſen Blutzellen der Thiere z. B., auch die im menſchlichen Blute, ſind von Amoeben nicht zu unterſcheiden. Sie können gleich dieſen feſte Körperchen in ihr Inneres aufnehmen, wie ich zuerſt durch Fütterung derſelben mit feinzertheilten Farbſtof⸗ fen nachgewieſen habe (Gen. Morph. I, 271). Andere Amoeben da— gegen (wie die in Fig. 10 abgebildete) ſcheinen ſelbſtſtändige „gute Species“ zu ſein, indem ſie ſich viele Generationen hindurch unver⸗ ändert fortpflanzen. Außer den eigentlichen oder nackten Amoeben (Gymnamoebae) finden wir weitverbreitet, beſonders im fügen Waſ⸗ fer, auch beſchalte Amoeben (Lepamoebae), deren nackter Plasma⸗ leib theilweis durch eine feſte Schale (Arcella) oder ſelbſt ein aus Steinchen zuſammengeklebtes Gehäuſe Oikflugia) geſchützt iſt. Ob- gleich dieſe Schale mannichfaltige Formen annimmt, entſpricht den— noch ihr lebendiger Inhalt nur einer einzigen einfachen Zelle, die ſich wie eine nackte Amoebe verhält. Die einfachen nackten Amoeben ſind für die geſammte Biologie, und insbeſondere für die allgemeine Genealogie, nächſt den Mone— ren die wichtigſten von allen Organismen. Denn offenbar entſtanden 382 Bedeutung der Amoeben für die allgemeine Genealogie. die Amoeben urſprünglich aus einfachen Moneren (Protamoeba) da⸗ durch, daß der erſte wichtige Sonderungsvorgang in ihrem homo— genen Schleimkörper ſtattfand, die Differenzirung des inneren Kerns von dem umgebenden Plasma. Dadurch war der große Fortſchritt von einer einfachen (kernloſen) Cytode zu einer echten (kernhaltigen) Zelle geſchehen (vergl. Fig. SA und Fig. 10 B). Indem einige von dieſen Zellen ſich frühzeitig durch Ausſchwitzung einer erſtarrenden Membran abkapſelten, bildeten ſie die erſten Pflanzenzellen, wäh⸗ rend andere, nackt bleibende, ſich zu den erſten Zellen des Thierkör⸗ pers entwickeln konnten. In der Anweſenheit oder dem Mangel einer umhüllenden ſtarren Membran liegt der wichtigſte, obwohl keines— wegs durchgreifende Formunterſchied der pflanzlichen und der thieri- ſchen Zellen. Indem die Pflanzenzellen ſich ſchon frühzeitig durch Ein— ſchließung in ihre ſtarre, dicke und feſte Celluloſe-Schale abkapſeln, gleich der ruhenden Amoebe, Fig. 10 A, bleiben fie ſelbſtſtändiger und den Einflüſſen der Außenwelt weniger zugänglich, als die wei- chen, meiſtens nackten oder nur von einer dünnen und biegſamen Haut umhüllten Thierzellen. Daher vermögen aber auch die erſteren nicht fo wie die letzteren zur Bildung höherer, zuſammengeſetzter Ge⸗ webstheile, z. B. Nervenfaſern, Muskelfaſern zuſammenzutreten. Zu⸗ gleich wird ſich bei den älteſten einzelligen Organismen ſchon früh— zeitig der wichtigſte Unterſchied in der thieriſchen und pflanzlichen Nahrungsaufnahme ausgebildet haben. Die älteſten einzelligen Thiere konnten als nackte Zellen, jo gut wie die freien Amoeben (Fig. 10 B) und die farbloſen Blutzellen, feſte Körperchen in das Innere ihres weichen Leibes aufnehmen, während die älteſten einzelligen Pflan⸗ zen, durch ihre Membran abgekapſelt, hierzu nicht mehr fähig wa- ren und bloß flüſſige Nahrung (mittelſt Diffuſion) durch dieſelbe durchtreten laſſen konnten. Nicht minder zweifelhaft als die Natur der Amoeben iſt dieje⸗ nige der Geißelſchwärmer (Flagellata), welche wir als eine dritte Klaſſe des Protiſtenreichs betrachten. Auch dieſe zeigt gleich nahe und wichtige Beziehungen zum Pflanzenreich wie zum Thierreich. Einige Geißelſchwärmer oder Flagellaten. 383 Flagellaten ſind von den frei beweglichen Jugendzuſtänden echter Pflanzen, namentlich den Schwärmſporen vieler Tange, nicht zu unterſcheiden, während andere ſich unmittelbar den echten Thieren, Fig. 11. Ein einzelner Geißelſchwärmer (Euglena striata) ſtark vergrößert. Oben iſt die fadenförmige ſchwingende Geißel ſichtbar, in der Mitte der runde Zellenkern mit ſeinem Kernkörperchen. und zwar den bewimperten Infuſorien (Ciliata) anſchlie⸗ ßen. Die Geißelſchwärmer ſind einfache Zellen, welche entweder einzeln (Fig. 11) oder zu Colonien vereinigt im ſüßen und ſalzigen Waſſer leben. Ihr charakteriſtiſcher Körpertheil iſt ein ſehr beweglicher, einfacher oder mehr— facher, peitſchenförmiger Anhang (Geißel oder Flagellum), mittelſt deſſen ſie lebhaft im Waſſer umherſchwärmen. Die Klaſſe zerfällt in drei Ordnungen: die erſte Ordnung (Nudiflagellata) wird vorzüglich durch die grünen Euglenen und Volvorinen gebildet; die zweite Ordnung (Cilioflagellata) durch die kieſelſchaligen Peridinien; die dritte Ordnung (Cystoflagellata) durch die pfirſichförmigen Noctiluken. Die beiden letzteren Ordnungen ge— hören zu den Haupturſachen des Meerleuchtens. Die grünen Eugle— nen erſcheinen oft im Frühjahr zu Milliarden in unſeren Teichen und färben durch ihre ungeheuren Maſſen das Waſſer ganz grün. Eine ſehr merkwürdige neue Protiſtenform, welche ich Flim— merkugel (Magosphaera) genannt habe, iſt im September 1869 von mir an der norwegiſchen Küſte entdeckt und in meinen biologi⸗ ſchen Studien 15) eingehend geſchildert worden (S. 137, Taf. V). Bei der Inſel Gis-Oe in der Nähe von Bergen fing ich an der Oberfläche des Meeres ſchwimmend äußerſt zierliche kleine Kugeln (Fig. 12), zuſammengeſetzt aus einer Anzahl von (ungefähr 30—40) wimpernden birnförmigen Zellen, die mit ihren ſpitzen Enden ſtrah— lenartig im Mittelpunkt der Kugel vereinigt waren. Nach einiger Zeit löſte ſich die Kugel auf. Die einzelnen Zellen ſchwammen 384 Flimmerkugeln oder Katallakten. Fig. 12. Die norwegiſche Flimmer⸗ kugel (Magosphaera planula) mittelſt ihres Flimmerkleides umherſchwim⸗ mend, von der Oberfläche geſehen. ſelbſtſtändig im Waſſer umher, ähnlich gewiſſen bewimperten Infuſorien oder Ciliaten. Dieſe ſenkten ſich nachher zu Boden, zogen ihre Wimperhaare in ih⸗ ren Leib zurück und gingen all⸗ mählich in die Form einer krie⸗ chenden Amoebe über (ähnlich Fig. 10 B). Die letztere kapſelte ſich ſpäter ein (wie in Fig. 10 A) und zerfiel dann durch fortgeſetzte Zweitheilung in eine große Anzahl von Zellen (ganz wie bei der Eifurchung, Fig. 6, S. 266). Die Zellen bedeckten ſich mit Flim⸗ merhärchen, durchbrachen die Kapſelhülle und ſchwammen nun wie- der in der Form einer wimpernden Kugel umher (Fig. 12). Offen⸗ bar läßt ſich dieſer wunderbare Organismus, der bald als einfache Amoebe, bald als einzelne bewimperte Zelle, bald als vielzellige Wimperkugel erſcheint, in keiner der anderen Protiſtenklaſſen un⸗ terbringen und muß als Repräſentant einer neuen ſelbſtſtändigen Gruppe angeſehen werden. Da dieſelbe zwiſchen mehreren Protiſten in der Mitte ſteht uud dieſelben mit einander verknüpft, kann fie den Namen der Vermittler oder Katallakten führen. Nicht weniger räthſelhafter Natur ſind die Protiſten der fünften Klaſſe, die Labyrinthläufer (Labyrinthuleae), welche erſt kürz⸗ lich von Cienkowski an Pfählen im Seewaſſer entdeckt wurden (Fig. 13). Es ſind ſpindelförmige, meiſtens dottergelb gefärbte Zel— len, welche bald in dichten Haufen zu Klumpen vereinigt ſitzen, bald in höchſt eigenthümlicher Weiſe ſich umherbewegen. Sie bilden dann in noch unerklärter Weiſe ein netzförmiges Gerüſt von labyrinthiſch verſchlungenen Strängen, und in der ſtarren „Fadenbahn“ dieſes Gerüſtes rutſchen ſie umher. Der Geſtalt nach würde man die Labyrinthuleen und Diatomeen. 385 Fig. 13. Labyrinthula macro- eystis (ſtark vergrößert). Unten eine Gruppe von zuſammengehäuften Zel⸗ len, von denen ſich links eine ſo eben abtrennt; oben zwei einzelne Zellen, welche in dem ſtarren netzförmigen Ge⸗ rüſte ihrer „Fadenbahn“ umherrutſchen. Zellen der Labyrinthuleen für einfachſte Pflanzen, der Bewe⸗ gung nach für einfachſte Thiere halten. In der That ſind ſie weder Thiere noch Pflanzen. Fig. 14. Navieula hippocampus (ſtark vergrößert). In der Mitte der kieſelſchaligen Zelle iſt der Zellenkern (Nukleus) nebſt ſeinem Kernkörperchen (Nukleolus) ſichtbar. Den Labyrinthuleen vielleicht nahverwandt ſind die Kieſelzellen (Diatomeae), eine ſechſte Proti⸗ ſtenklaſſe. Dieſe Urweſen, welche jetzt meiſtens für Pflanzen, aber von einigen berühmten Naturfor⸗ ſchern noch heute für Thiere gehalten werden, be— völkern in ungeheuren Maſſen und in einer unend— lichen Mannichfaltigkeit der zierlichſten Formen das Meer und die ſüßen Gewäſſer. Meiſt find es mi- kroſkopiſch kleine Zellen, welche entweder einzeln (Fig. 14) oder in großer Menge vereinigt leben, und entweder feſtgewachſen ſind oder ſich in eigenthümlicher Weiſe rutſchend, ſchwimmend oder kriechend, umherbewegen. Ihr weicher Zellenleib, der durch einen charakteri— ſtiſchen Farbſtoff bräunlich gelb gefärbt iſt, wird ſtets von einer feſten und ſtarren Kieſelſchale umſchloſſen, welche die zierlichſten und mannichfaltigſten Formen beſitzt. Dieſe Kieſelhülle iſt nur durch eine oder ein paar Spalten nach außen geöffnet und läßt dadurch den eingeſchloſſenen weichen Plasmaleib mit der Außenwelt communici⸗ Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 25 386 Schleimpilze oder Myxomyeeten. ren. Die Kieſelſchalen finden ſich maſſenhaft verſteinert vor und ſetzen manche Geſteine, z. B. den Biliner Polirſchiefer, das ſchwe⸗ diſche Bergmehl u. ſ. w. vorwiegend zuſammen. FR Fig. 15. Ein geſtielter Fruchtkörper (Sporenblaſe, mit Sporen angefüllt) von einem Myxomyceten (Physarum al- bipes), ſchwach vergrößert. Eine ſiebente Protiſtenklaſſe bilden die merkwür⸗ digen Schleimpilze (Myxomycetes). Dieſe galten früher allgemein für Pflanzen, für echte Pilze, bis vor zehn Jahren der Botaniker de Bary durch Entdeckung ihrer Ontogenie nachwies, daß 5 dieſelben gänzlich von den Pilzen verſchieden, und eher als niedere Thiere zu betrachten ſeien. Allerdings iſt der reife Fruchtkörper derſelben eine rundliche, oft mehrere Zoll große, mit feinem Sporenpulver und weichen Flocken gefüllte Blaſe (Fig. 15), wie bei den bekannten Boviſten oder Bauchpilzen (Gastromycetes). Allein aus den Keimkörnern oder Sporen derſelben kommen nicht die charakteriſtiſchen Fadenzellen oder Hyphen der echten Pilze her⸗ vor, ſondern nackte Zellen, welche anfangs in Form von Geißel— ſchwärmern umherſchwimmen (Fig. 11), ſpäter nach Art der Amoe⸗ ben umherkriechen (Fig. 10 B) und endlich mit anderen ihresgleichen zu großen Schleimkörpern oder „Plasmodien“ zuſammenfließen. Aus dieſen entſteht dann unmittelbar der blaſenförmige Fruchtkörper. Wahrſcheinlich kennen Sie Alle eines von jenen Plasmodien, das⸗ jenige von Aethalium septicum, welches im Sommer als ſoge— nannte „Lohblüthe“ in Form einer ſchöngelben, oft mehrere Fuß brei⸗ ten, ſalbenartigen Schleimmaſſe netzförmig die Lohhaufen und Loh— beete der Gerber durchzieht. Die ſchleimigen frei kriechenden Ju— gendzuſtände dieſer Myxomyceten, welche meiſtens auf faulenden Pflanzenſtoffen, Baumrinden u. ſ. w. in feuchten Wäldern leben, wer⸗ den mit gleichem Recht oder Unrecht von den Zoologen für Thiere, wie die reifen und ruhenden blaſenförmigen Fruchtzuſtände von den Botanikern für Pflanzen erklärt. i Wurzelfüßer oder Rhizopoden. 387 Ebenſo zweifelhaft iſt auch die Natur der achten und letzten Klaſſe des Protiſtenreichs, der Wurzelfüßer (Rhizopoda). Dieſe merk— würdigen Organismen bevölkern das Meer ſeit den älteſten Zeiten der organiſchen Erdgeſchichte in einer außerordentlichen Formenmannich— faltigkeit, theils auf dem Meeresboden kriechend, theils an der Ober— fläche ſchwimmend. Nur ſehr wenige leben im ſüßen Waller G. B. Gromia, Actinosphaerium). Die meiſten beſitzen feſte, aus Kalk— erde oder Kieſelerde beſtehende und höchſt zierlich zuſammengeſetzte Schalen, welche in verſteinertem Zuſtande ſich vortrefflich erhalten. Oft find dieſelben zu dicken Gebirgsmaſſen angehäuft, obwohl die ein- zelnen Individuen ſehr klein und häufig für das bloße Auge kaum oder gar nicht ſichtbar ſind. Nur wenige erreichen einen Durchmeſſer von einigen Linien oder ſelbſt von ein paar Zollen. Ihren Namen führt die ganze Klaſſe davon, daß ihr nackter ſchleimiger Leib an der ganzen Oberfläche tauſende von äußerſt feinen Schleimfäden ausſtrahlt, fal- ſchen Füßchen, Scheinfüßchen oder Pſeudopodien, welche ſich wurzel— förmig veräfteln, netzförmig verbinden, und in beſtändigem Form wechſel gleich den einfacheren Schleimfüßchen der Amoeboiden oder Protoplaſten befindlich ſind. Dieſe veränderlichen Scheinfüßchen die— nen ſowohl zur Ortsbewegung, als zur Nahrungsaufnahme. Die Klaſſe der Wurzelfüßer zerfällt in drei verſchiedene Legionen, die Kammerweſen oder Acyttarien, die Sonnenweſen oder Heliozoen und die Strahlweſen oder Radiolarien. Die erſte und niederſte von dieſen drei Legionen bilden die Kammerweſen (Acyttaria). Hier beſteht nämlich der ganze weiche Leib noch aus einfachem ſchleimigem Zellſtoff oder Protoplasma, das nicht in Zellen differenzirt iſt. Allein trotz dieſer höchſt primitiven Leibesbeſchaffenheit ſchwitzen die Kammer— weſen dennoch meiſtens eine feſte, aus Kalkerde beſtehende Schale aus, welche eine große Mannichfaltigkeit zierlicher Formbildung zeigt. Bei den älteren und einfacheren Acyttarien iſt dieſe Schale eine einfache, glockenförmige, röhrenförmige oder ſchneckenhausförmige Kammer, aus deren Mündung ein Bündel von Schleimfäden hervortritt. Im Ge— genſatz zu dieſen Einkammerweſen (Monothalamia) beſitzen die 25% 388 Kammerweſen oder Aeyttarien. Vielkammerweſen (Polythalamia), zu denen die große Mehrzahl der Acyttarien gehört, ein Gehäuſe, welches aus zahlreichen Kam— mern in ſehr künſtlicher Weiſe zuſammengeſetzt iſt. Bald liegen dieſe Kammern in einer Reihe hinter einander, bald in concentriſchen Krei- ſen oder Spiralen ringförmig um einen Mittelpunkt herum, und dann oft in vielen Etagen übereinander, gleich den Logen eines großen Am— phitheaters. Dieſe Bildung beſitzen z. B. die Nummuliten, deren lin⸗ ſengroße Kalkſchalen, zu Milliarden angehäuft, an der Mittelmeer— küſte ganze Gebirge zuſammenſetzen. Die Steine, aus denen die egyp— tiſchen Pyramiden aufgebaut ſind, beſtehen aus ſolchem Nummuliten— kalk. In den meiſten Fällen ſind die Schalenkammern der Polytha— lamien in einer Spirallinie um einander gewunden. Die Kammern ſtehen mit einander durch Gänge und Thüren in Verbindung, gleich den Zimmern eines großen Palaſtes, und ſind nach außen gewöhnlich durch zahlreiche kleine Fenſter geöffnet, aus denen der ſchleimige Kör— per formwechſelnde Scheinfüßchen ausſtrecken kann. Und dennoch, trotz des außerordentlich verwickelten und zierlichen Baues dieſes Kalfla- byrinthes, trotz der unendlichen Mannichfaltigkeit in dem Bau und der Verzierung ſeiner zahlreichen Kammern, trotz der Regelmäßigkeit und Eleganz ihrer Ausführung, iſt dieſer ganze künſtliche Palaſt das ausgeſchwitzte Product einer vollkommen formloſen und ſtructurloſen Schleimmaſſe! Fürwahr, wenn nicht ſchon die ganze neuere Anato— mie der thieriſchen und pflanzlichen Gewebe unſere Plaſtidentheorie ſtützte, wenn nicht alle allgemeinen Reſultate derſelben übereinſtimmend bekräftigten, daß das ganze Wunder der Lebenserſcheinungen und Le— bensformen auf die active Thätigkeit der formloſen Eiweißverbindungen des Protoplasma zurückzuführen iſt, die Polythalamien allein ſchon müßten unſerer Theorie den Sieg verleihen. Denn hier können wir in jedem Augenblick die wunderbare, aber unleugbare und zuerſt von Dujardin und Max Schultze feſtgeſtellte Thatſache durch das Mi— kroſkop nachweiſen, daß der formloſe Schleim des weichen Plasma⸗ körpers, dieſer wahre „Lebensſtoff“, die zierlichſten, regelmäßigſten und verwickeltſten Bildungen auszuſcheiden vermag. Dies iſt einfach Sonnenweſen oder Heliozoen. 389 eine Folge von vererbter Anpaſſung, und wir lernen dadurch verſtehen, wie derſelbe „Urſchleim“, daſſelbe Protoplasma, im Kör⸗ per der Thiere und Pflanzen die verſchiedenſten und complieirteſten Zellenformen erzeugen kann. Von ganz beſonderem Intereſſe iſt es noch, daß zu den Poly⸗ thalamien auch der älteſte Organismus gehört, deſſen Reſte uns in verſteinertem Zuſtande erhalten ſind. Dies iſt das früher bereits er— wähnte „kanadiſche Morgenweſen“, Eozoon canadense, welches vor wenigen Jahren in der Ottawaformation (in den tiefſten Schichten des laurentiſchen Syſtems) am Ottawafluſſe in Canada gefunden worden iſt. In der That, durften wir überhaupt erwarten, in dieſen älteſten Ablagerungen der Primordialzeit noch organiſche Reſte zu fin⸗ den, ſo konnten wir vor Allen auf dieſe einfachſten und doch mit einer feſten Schale bedeckten Protiſten hoffen, in deren Organiſation der Unterſchied zwiſchen Thier und Pflanze noch nicht ausgeprägt iſt. Von der zweiten Klaſſe der Wurzelfüßer, von den Sonnenwe— ſen (Heliozoa), kennen wir nur wenige Arten. Eine Art, das ſoge— nannte „Sonnenthierchen“, findet ſich in unſeren ſüßen Gewäſſern ſehr häufig. Schon im vorigen Jahrhundert wurde daſſelbe von Paſtor Eichhorn in Danzig beobachtet und nach ihm Actinosphaerium Eichhornii getauft. Es erſcheint dem bloßen Auge als ein gallerti⸗ ges graues Schleimkügelchen von der Größe eines Stecknadelknopfes. Unter dem Mikroskope ſieht man Tauſende feiner Schleimfäden von dem centralen Plasmakörper ausſtrahlen, und bemerkt, daß ſeine innere zellige Markſchicht von der äußeren blaſigen Rindenſchicht verſchieden iſt. Dadurch erhebt ſich das kleine Sonnenweſen, trotz des Mangels einer Schale, bereits über die ftructurlofen Acyttarien und bildet den Uebergang von dieſen zu den Radiolarien. Ver⸗ wandter Natur iſt die Gattung Cystophrys. Die Strahlweſen (Radiolaria) bilden die dritte und letzte Klaſſe der Rhizopoden. In ihren niederen Formen ſchließen ſie ſich eng an die Sonnenweſen und Kammerweſen an, während ſie ſich in ihren höheren Formen weit über dieſe erheben. Von beiden unter— 390 Strahlweſen oder Radiolarien. ſcheiden ſie ſich weſentlich dadurch, daß der centrale Theil des Kör— pers aus vielen Zellen zuſammengeſetzt und von einer feſten Mem— bran umhüllt iſt. Dieſe geſchloſſene, meiſtens kugelige „Centralkap— ſel“ iſt in eine ſchleimige Plasmaſchicht eingehüllt, von welcher über— all Tauſende von höchſt feinen Fäden, die veräſtelten und zuſam⸗ menfließenden Scheinfüßchen, ausſtrahlen. Dazwiſchen ſind zahlreiche gelbe Zellen von räthſelhafter Bedeutung zerſtreut, welche Stärke— mehlkörner enthalten. Die meiſten Radiolarien zeichnen ſich durch ein ſehr entwickeltes Skelet aus, welches aus Kieſelerde beſteht, und eine wunderbare Fülle der zierlichſten und ſeltſamſten Formen zeigt. Bald bildet dieſes Kieſelſkelet eine einfache Gitterkugel (Fig. 16 8), bald ein künſtliches Syſtem von mehreren concentriſchen Gitterkugeln, welche in einander geſchachtelt und durch radiale Stäbe verbunden ſind. Meiſtens ſtrahlen zierliche, oft baumförmig verzweigte Stacheln von der Oberfläche der Kugeln aus. Anderemale beſteht das ganze Skelet bloß aus einem Kieſelſtern und iſt dann meiſtens aus zwan— zig, nach einem beſtimmten mathematiſchen Geſetze vertheilten und in einem gemeinſamen Mittelpunkte vereinigten Stacheln zuſammen⸗ geſetzt. Bei noch anderen Radiolarien bildet das Skelet zierliche wiel- kammerige Gehäuſe wie bei den Polythalamien. Es giebt wohl keine andere Gruppe von Organismen, welche eine ſolche Fülle der verſchiedenartigſten Grundformen und eine fo geometriſche Regelmä— ßigkeit, verbunden mit der zierlichſten Architektonik, in ihren Skelet⸗ bildungen entwickelte. Die meiſten der bis jetzt bekannt gewordenen Formen habe ich in dem Atlas abgebildet, der meine Monographie der Radiolarien begleitet? s). Hier gebe ich Ihnen als Beiſpiel nur die Abbildung von einer der einfachſten Geſtalten, der Cyrtido- sphaera echinoides von Nizza. Das Skelet beſteht hier bloß aus einer einfachen Gitterkugel (s), welche kurze radiale Stacheln (a) trägt, und welche die Centralkapſel (e) locker umſchließt. Von der Schleimhülle, die letztere umgiebt, ſtrahlen ſehr zahlreiche und feine Scheinfüßchen (p) aus, welche unten zum Theil zurückgezogen Strahlweſen oder Radiolarien. 391 und in eine klumpige Schleimmaſſe verſchmolzen ſind. Dazwiſchen find vielegalbe Zellen (J) zerſtreut. Fig. 16. Cyrtidosphaera echinoides, 400mal vergrößert. e. Kugelige Cen⸗ tralkapſel. s. Gitterförmig durchbrochene Kieſelſchale. a. Radiale Stacheln, welche von derſelben ausſtrahlen. p. Pſeudopodien oder Scheinfüßchen, welche von der die Centralkapſel umgebenden Schleimhülle ausſtrahlen. 1. Gelbe kugelige Zellen, welche dazwiſchen zerſtreut ſind, und Amylumkörner enthalten. Während die Acyttarien meiſtens nur auf dem Grunde des Meeres leben, auf Steinen und Seepflanzen, zwiſchen Sand und Schlamm mittelſt ihrer Scheinfüßchen umherkriechend, ſchwimmen dagegen die Radiolarien meiſtens an der Oberfläche des Meeres, mit rings ausgeſtreckten Pſeudopodien flottirend. Sie finden ſich hier in ungeheuren Mengen beiſammen, ſind aber meiſtens ſo klein, daß man ſie faſt völlig überſah und erſt ſeit vierzehn Jahren ge— 392 Lebenserſcheinungen der Protiſten. nauer kennen lernte. Faſt nur diejenigen Radiolarien, welche in Geſellſchaften beiſammen leben (Polycyttarien) bilden Gallertklumpen von einigen Linien Durchmeſſer. Dagegen die meiſten iſolirt le— benden (Monocyttarien) kann man mit bloßem Auge nicht ſehen. Trotzdem finden ſich ihre verſteinerten Schalen in ſolchen Maſſen angehäuft, daß ſie an manchen Stellen ganze Berge zuſammenſetzen, z. B. die Nikobareninſeln bei Hinterindien und die Inſel Barbados in den Antillen. Da die Meiſten von Ihnen mit den eben angeführten acht Pro- tiſtenklaſſen vermuthlich nur ſehr wenig oder vielleicht gar nicht ge— nauer bekannt ſein werden, ſo will ich jetzt zunächſt noch einiges All— gemeine über ihre Naturgeſchichte bemerken. Die große Mehrzahl aller Protiſten lebt im Meere, theils freiſchwimmend an der Oberfläche der See, theils auf dem Meeresboden kriechend, oder an Steinen, Mu- ſcheln, Pflanzen u. ſ. w. feſtgewachſen. Sehr viele Arten von Pro- tiſten leben auch im ſüßen Waſſer, aber nur eine ſehr geringe Anzahl auf dem feſten Lande 4. B. die Myxomyeeten, einige Protoplaſten). Die meiſten können nur durch das Mikroſkop wahrgenommen werden, ausgenommen, wenn ſie zu Millionen von Individuen zuſammenge— häuft vorkommen. Nur Wenige erreichen einen Durchmeſſer von meh— reren Linien oder ſelbſt einigen Zollen. Was ihnen aber an Körper⸗ größe abgeht, erſetzen ſie durch die Production erſtaunlicher Maſſen von Individuen, und greifen dadurch oft ſehr bedeutend in die Oeko— nomie der Natur ein. Die unverweslichen Ueberreſte der geſtorbenen Protiſten, wie die Kieſelſchalen der Diatomeen und Radiolarien, die, Kalkſchalen der Acyttarien, ſetzen oft dicke Gebirgsmaſſen zuſammen. In ihren Lebenserſcheinungen, insbeſondere in Bezug auf Ernährung und Fortpflanzung, ſchließen ſich die einen Protiſten mehr den Pflanzen, die anderen mehr den Thieren an. Die Nahrungsauf- nahme ſowohl als der Stoffwechſel gleicht bald mehr denjenigen der niederen Thiere, bald mehr denjenigen der niederen Pflanzen. Freie Ortsbewegung kommt vielen Protiſten zu, während ſie anderen fehlt; allein hierin liegt gar kein entſcheidender Charakter, da wir auch Lebenserſcheinungen der Protiſten. 393 unzweifelhafte Thiere kennen, denen die freie Ortsbewegung ganz ab— geht, und echte Pflanzen, welche dieſelbe beſitzen. Eine Seele be— ſitzen alle Protiſten, ſo gut wie alle Thiere und wie alle Pflanzen. Die Seelenthätigkeit der Protiſten äußert ſich in ihrer Reizbarkeit, d. h. in den Bewegungen und anderen Veränderungen, welche in Folge von mechaniſchen, elektriſchen, chemiſchen Reizen u. ſ. w. in ihrem contractilen Protoplasma eintreten. Bewußtſein, Willens- und Denk⸗Vermögen ſind vielleicht in demſelben geringen Grade vor— handen, wie bei vielen niederen Thieren, während manche von den höheren Thieren in dieſen Beziehungen nicht hinter den niederen Menſchen zurückſtehen. Wie bei allen übrigen Organismen, ſo ſind auch bei den Protiſten die Seelenthätigkeiten zurückzuführen auf Molekular⸗Bewegungen im Protoplasma. Der wichtigſte phyſiologiſche Charakter des Protiſten— reichs liegt in der ausſchließlich ungeſchlechtlichen Fort— pflanzung aller hierher gehörigen Organismen. Die höheren Thiere und Pflanzen vermehren ſich faſt ausſchließlich nur auf geſchlechtlichem Wege. Die niederen Thiere und Pflanzen vermehren ſich zwar auch vielfach auf ungeſchlechtlichem Wege, durch Theilung, Knospenbildung, Keimbildung u. ſ. w. Allein daneben findet ſich bei denſelben doch faft immer noch die geſchlechtliche Fortpflanzung, oft mit erſterer regel— mäßig in Generationen abwechſelnd (Metageneſis S. 185). Sämmt⸗ liche Protiſten dagegen pflanzen ſich ausſchließlich nur auf dem un— geſchlechtlichen Wege fort und der Gegenſatz der beiden Geſchlechter iſt bei ihnen überhaupt noch nicht durch Differenzirung entſtanden. Es giebt weder männliche noch weibliche Protiſten. Wie die Protiſten in ihren Lebenserſcheinungen zwiſchen Thieren und Pflanzen (und zwar vorzüglich zwiſchen den niederſten Formen derſelben) mitten inne ſtehen, ſo gilt daſſelbe auch von der chemi— ſchen Zuſammenſetzung ihres Körpers. Einer der wichtigſten Un— terſchiede in der chemiſchen Zuſammenſetzung des Thier- und Pflan- zenkörpers beſteht in ſeiner charakteriſtiſchen Skeletbildung. Das Skelet oder das feſte Gerüſte des Körpers beſteht bei den meiſten echten 394 Individualität der Protiften. Pflanzen aus der ſtickſtofffreien Celluloſe, welche ein Ausſchwitzungs⸗ produkt des ſtickſtoffhaltigen Zellſtoffs oder Protoplasma iſt. Bei den meiſten echten Thieren dagegen beſteht das Skelet gewöhnlich entweder aus ſtickſtoffhaltigen Verbindungen (Chitin u. ſ. w.), oder aus Kalk— erde. In dieſer Beziehung verhalten ſich die einen Protiſten mehr wie Pflanzen, die anderen mehr wie Thiere. Bei Vielen iſt das Skelet vorzugsweiſe oder ganz aus Kieſelerde gebildet, welche ſowohl im Thier⸗ als Pflanzenkörper vorkommt. Der active Lebensſtoff iſt aber in allen Fällen das ſchleimige Protoplasma. In Bezug auf die Formbildung der Protiſten iſt insbeſon— dere hervorzuheben, daß die Individualität ihres Körpers faſt immer auf einer außerordentlich tiefen Stufe der Entwickelung ſtehen bleibt. Sehr viele Protiſten bleiben zeitlebens einfache Plaſtiden oder Individuen erſter Ordnung. Andere bilden zwar durch Vereinigung von mehreren Individuen Colonien oder Staaten von Plaſtiden. Al⸗ lein auch dieſe höheren Individuen zweiter Ordnung verharren mei— ſtens auf einer ſehr niedrigen Ausbildungsſtufe. Die Bürger dieſer Plaſtidengemeinden bleiben ſehr gleichartig, gehen gar nicht oder nur in ſehr geringem Grade Arbeitstheilung ein, und vermögen daher ebenſo wenig ihren ſtaatlichen Organismus zu höheren Lei— ſtungen zu befähigen, als etwa die Wilden Neuhollands dies im Stande find. Der Zuſammenhang der Plaſtiden bleibt auch mei- ſtens ſehr locker, und jede einzelne bewahrt in hohem Maße ihre individuelle Selbſtſtändigkeit. Ein zweiter Formcharakter, welcher nächſt der niederen Indivi⸗ dualitätsſtufe die Protiſten beſonders auszeichnet, iſt der niedere Aus⸗ bildungsgrad ihrer ſtereometriſchen Grundform. Wie ich in meiner Grundformenlehre (im vierten Buche der generellen Morphologie) ge- zeigt habe, iſt bei den meiſten Organismen ſowohl in der Geſammt⸗ bildung des Körpers als in der Form der einzelnen Theile eine be— ſtimmte geometriſche Grundform nachzuweiſen. Dieſe ideale Grund— form, welche durch die Zahl, Lagerung, Verbindung und Differen- zirung der zuſammenſetzenden Theile beſtimmt iſt, verhält ſich zu der Grundformen der Protiſten. 395 realen organiſchen Form ganz ähnlich, wie ſich die ideale geometriſche Grundform der Kryſtalle zu ihrer unvollkommenen realen Form ver— hält. Bei den meiſten Körpern und Körpertheilen von Thieren und Pflanzen iſt dieſe Grundform eine Pyramide, und zwar bei den ſo— genannten „ſtrahlig-regulären“ Formen eine reguläre Pyramide, bei den höher differenzirten, ſogenannten „bilateral-ſymmetriſchen“ For— men eine irreguläre Pyramide. Vergl. die Tabellen S. 556—558 im erften Bande der gen. Morph.). Bei den Protiſten iſt dieſe Pyrami- denform, welche im Thier- und Pflanzenreiche vorherrſcht, im Gan— zen ſelten, und ſtatt deſſen iſt die Form entweder ganz unregelmäßig (amorph oder irregulär) oder es iſt die Grundform eine einfachere, reguläre, geometriſche Form; insbeſondere ſehr häufig die Kugel, der Cylinder, das Ellipſoid, das Sphäroid, der Doppelkegel, der Kegel, das reguläre Vieleck (Tetraeder, Hexaeder, Octaeder, Dodekaeder, Icoſaeder) u. ſ. w. Alle dieſe niederen Grundformen des promor— phologiſchen Syſtems ſind bei den Protiſten vorherrſchend. Jedoch kommen daneben bei vielen Protiſten auch noch die höheren regu— lären und bilateralen Grundformen vor, welche im Thier- und Pflanzenreich überwiegen. Auch in dieſer Hinſicht ſchließen ſich oft von nächſtverwandten Protiſten die einen (3. B. die Aeyttarien) mehr den Thieren, die anderen (z. B. die Radiolarien) mehr den Pflanzen an. Was nun die paläontologiſche Entwickelung des Pro— tiſtenreichs betrifft, ſo kann man ſich darüber ſehr verſchiedene, aber immer nur höchſt unſichere genealogiſche Hypotheſen machen. Vielleicht ſind die einzelnen Klaſſen deſſelben ſelbſtſtändige Stämme oder Phylen, die ſich ſowohl unabhängig von einander als von dem Thierreich und von dem Pflanzenreich entwickelt haben. Selbſt wenn wir die monophyletiſche Deſcendenzhypotheſe annehmen, und für alle Organismen ohne Ausnahme, die jemals auf der Erde gelebt haben und noch jetzt leben, die gemeinſame Abſtammung von einer einzigen Monerenform behaupten, ſelbſt in dieſem Falle iſt der Zuſammen⸗ hang der neutralen Protiſten einerſeits mit dem Pflanzenſtamm, andrer⸗ 396 Einſtämmige oder monophyletiſche Deſcendenz-Hypotheſe. ſeits mit dem Thierſtamm nur ſehr locker. Wir hätten ſie dann (vergl. S. 398) als niedere Wurzelſchößlinge anzuſehen, welche ſich unmit- telbar aus der Wurzel jenes zweiſtämmigen organiſchen Stammbaums entwickelt haben, oder vielleicht als tief unten abgehende Zweige eines gemeinſamen niederen Protiſtenſtammes, welcher in der Mitte zwi— ſchen den beiden divergirenden hohen und mächtigen Stämmen des Thier- und Pflanzenreichs aufgeſchoſſen iſt. Die einzelnen Protiften- klaſſen, mögen ſie nun an ihrer Wurzel gruppenweiſe enger zuſam⸗ menhängen oder nur ein lockeres Büſchel von Wurzelſchößlingen bil- den, würden in dieſem Falle weder mit den rechts nach dem Thier— reiche, noch mit den links nach dem Pflanzenreiche einſeitig abgehen— den Organismengruppen Etwas zu thun haben. Nehmen wir dagegen die vielheitliche oder polyphyletiſche De— ſcendenzhypotheſe an, ſo würden wir uns eine mehr oder minder große Anzahl von organiſchen Stämmen oder Phylen vorzuſtellen haben, welche alle neben und unabhängig von einander aus dem ge— meinſamen Boden der Urzeugung aufſchießen. (Vergl. S. 399.) Es würden dann zahlreiche verſchiedene Moneren durch Urzeugung ent— ſtanden fein, deren Unterſchiede nur in geringen, für uns nicht er= kennbaren Differenzen ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung und in Folge deſſen auch ihrer Entwickelungsfähigkeit beruhen. Eine geringe An- zahl von Moneren würde dem Pflanzenreich, und ebenſo andrerſeits eine geringe Anzahl von Moneren dem Thierreich den Urſprung gege— ben haben. Zwiſchen dieſen beiden Gruppen aber würde ſich, unab— hängig davon, eine größere Anzahl von ſelbſtſtändigen Stämmen ent—⸗ wickelt haben, die auf einer tieferen Organiſationsſtufe ſtehen blieben, und ſich weder zu echten Pflanzen, noch zu echten Thieren entwickelten. Eine ſichere Entſcheidung zwiſchen der monophyletiſchen und po= lyphyletiſchen Hypotheſe iſt bei dem gegenwärtigen unvollkommenen Zuſtande unſerer phylogenetiſchen Erkenntniß noch ganz unmöglich. Die verſchiedenen Protiſtengruppen und die von ihnen kaum trenn- baren niederſten Formen einerſeits des Thierreichs, andrerſeits des Pflanzenreichs, zeigen unter einander einen ſo innigen Zuſammenhang Vielſtämmige oder polyphyletiſche Deſcendenz-Hypotheſe. 397 und eine ſo bunte Miſchung der maßgebenden Eigenthümlichkeiten, daß gegenwärtig noch jede ſyſtematiſche Abtheilung und Anordnung der Formengruppen mehr oder weniger künſtlich und gezwungen er— ſcheint. Daher gilt auch der hier Ihnen vorgeführte Verſuch nur als ein ganz proviſoriſcher. Je tiefer man jedoch in die genealogi— ſchen Geheimniſſe dieſes dunkeln Forſchungsgebietes eindringt, deſto mehr Wahrſcheinlichkeit gewinnt die Anſchauung, daß einerſeits das Pflanzenreich, anderſeits das Thierreich einheitlichen Urſprungs iſt, daß aber in der Mitte zwiſchen dieſen beiden großen Stammbäumen noch eine Anzahl von unabhängigen kleinen Organismengruppen durch vielfach wiederholte Urzeugungsakte entſtanden iſt, welche durch ihren indifferenten, neutralen Charakter, und ihre Miſchung von thie— riſchen und pflanzlichen Eigenſchaften auf die Bezeichnung von ſelbſt— ſtändigen Protiſten Anſpruch machen können. Wenn wir alſo auch einen ganz ſelbſtſtändigen Stamm für das Pflanzenreich, einen zweiten für das Thierreich annehmen, wür— den wir zwiſchen beiden doch eine Anzahl von ſelbſtſtändigen Pro— tiſtenſtämmen aufſtellen können, deren jeder ganz unabhängig von jenen aus einer eigenen archigonen Monerenform ſich entwickelt hat. Um ſich dieſes Verhältniß zu veranſchaulichen, kann man ſich die ganze Organismenwelt als eine ungeheure Wieſe vorſtellen, welche größtentheils verdorrt iſt, und auf welcher zwei vielverzweigte mäch— tige Bäume ſtehen, die ebenfalls größtentheils abgeſtorben ſind. Dieſe letzteren mögen das Thierreich und das Pflanzenreich vorſtellen, ihre friſchen noch grünenden Zweige die lebenden Thiere und Pflanzen, die verdorrten Zweige mit welkem Laube dagegen die ausgeſtorbenen Gruppen. Das dürre Gras der Wieſe entſpricht den wahrſcheinlich zahlreichen, ausgeſtorbenen Stämmen, die wenigen noch grünen Halme dagegen den jetzt noch lebenden Phylen des Protiſtenreichs. Den gemeinſamen Boden der Wieſe aber, aus dem alle hervorge— ſproßt ſind, bildet das Protoplasma. 398 Einſtämmiger oder monophyletiſcher Stammbaum der Organismen. II. III. Pflanzenreich Thierreich Plantae Animalia 1 . Blumenpflanzen Wirbelthiere Phanerogamae Vertebrata Gliederthiere | Arthropoda N | Weichthiere Farne Sternthiere Mollusca Filieinae Echinoderma Moſe | 2 ———— —ů— ͤ— Museinae Würmer | Flechten Vermes Lichenes Pflanzenthiere | Zoophyta Tange Pilze 55 Algae Fungi | T: | m — Neeutrale —— Urpflanzen Urwejen Urthiere Protophyta Protista Protozoa — — A — — I. llllÄJI Begetabile Neutrale Animale Moneren Moneren Moneren Archigone Moneren (Protoplasmaſtücke, durch Urzeugung entſtanden). . — — — — vltw . —-— ——— ä iällͥññĩñl:æ ——̃̃ !—v—ᷣ— — — ——— — Vielſtämmiger oder polyphyletiſcher Stammbaum der Organismen. 399 II. E III. Pflanzenreich Protiſtenreich Thierreich Vegetabilia Protista Animalia — — — — t | a Wurzelfüßer Rhizopoda Schleimpilze lie ucit Myxomycetes | —ů— — Kieſelzellen Flimmerkugeln Diatomea Catallacta a Geißel⸗ ſchwärmer Labyrinth⸗ Flagellata läufer Labyrin- thulea Urpflanzen Urthiere Protophyta . 8 Protoplasta TI | | | | | = 1 Neutrale Animale Moneren Moneren Moneren 7 rt 7 * 7 7 + Te 1 1 41 117 | A ET It 1 47 | f T + | 1 7 Ar 5 | 7 a e a il NB. Die mit einem f bezeichneten Linien bedeuten ausgeſtorbene Pro- tiſten⸗Stämme, welche durch wiederholte Urzeugungs⸗Akte ſelbſt⸗ ſtändig entſtanden ſind. Siebenzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Pflanzeureichs. Das natürliche Syſtem des Pflanzenreichs. Eintheilung des Pflanzenreichs in ſechs Hauptklaſſen und neunzehn Klaſſen. Unterreich der Blumenloſen (Crypto⸗ gamen). Stammgruppe der Thalluspflanzen. Tange oder Algen (Urtange, Grün⸗ tange, Brauntange, Rothtange, Mostange. Fadenpflanzen oder Inophyten (Flech⸗ ten und Pilze). Stammgruppe der Prothalluspflanzen. Moſe oder Museinen (Lebermoſe, Laubmoſe). Farne oder Filicinen (Laubfarne, Schaftfarne, Waſſerfarne, Zungenfarne, Schuppenfarne). Unterreich der Blumenpflanzen (Phanerogamen). Nacktſamige oder Gymnoſpermen. (Palmfarne (Cycadeen). Nadelhölzer (Coniferen). Meningos (Gnetaceen). Deckſamige oder Angioſpermen. Monocotylen. Dicotylen. Kelchblüthige (Apetalen). Sternblüthige (Diapetalen). Glockenblüthige (Gamopetalen). Meine Herren! Jeder Verſuch, den wir zur Erkenntniß des Stammbaumzs irgend einer kleineren oder größeren Gruppe von bluts— verwandten Organismen unternehmen, hat ſich zunächſt an das be— ſtehende „natürliche Syſtem“ dieſer Gruppe anzulehnen. Denn obgleich das natürliche Syſtem der Thiere, Protiſten und Pflanzen niemals endgültig feſtgeſtellt werden, vielmehr immer nur einen mehr oder weniger annähernden Grad von Erkenntniß der wahren Bluts— verwandtſchaft darſtellen wird, fo wird es nichts deſto weniger jeder- zeit die hohe Bedeutung eines hypothetiſchen Stammbaums behalten. Allerdings wollen die meiſten Zoologen, Protiſtiker und Botaniker durch ihr „natürliches Syſtem“ nur im Lapidarſtyl die ſubjectiven Anſchauungen ausdrücken, die ein jeder von Ihnen von der objectiven Das natürliche Syſtem des Pflanzenreichs. 401 „Formverwandtſchaft“ der Organismen beſitzt. Allein dieſe Formverwandtſchaft iſt ja im Grunde, wie Sie geſehen haben, nur die nothwendige Folge der wahren Blutsverwandtſchaft. Da— her wird jeder Morphologe, welcher unſere Erkenntniß des natürlichen Syſtems fördert, gleichzeitig, er mag wollen oder nicht, auch unſere Erkenntniß des Stammbaumes fördern. Je mehr das natürliche Sy— ſtem ſeinen Namen wirklich verdient, je feſter es ſich auf die überein— ſtimmenden Reſultate der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Paläontologie gründet, deſto ſicherer dürfen wir daſſelbe als den an— nähernden Ausdruck des wahren Stammbaums betrachten. Indem wir uns nun zu unſerer heutigen Aufgabe die Genealogie des Pflanzenreichs ſtecken, werden wir, jenem Grundſatze gemäß, zu— nächſt einen Blick auf das natürliche Syſtem des Pflanzen— reichs zu werfen haben, wie daſſelbe heutzutage von den meiſten Bo— tanikern mit mehr oder minder unbedeutenden Abänderungen ange— nommen wird. Danach zerfällt zunächſt die ganze Maſſe aller Pflan— zenformen in zwei Hauptgruppen. Dieſe oberſten Hauptabtheilungen oder Unterreiche ſind noch dieſelben, welche bereits vor mehr als einem Jahrhundert Carl Linné, der Begründer der ſyſtematiſchen Natur— geſchichte unterſchied, und welche er Cryptogamen oder Geheim— blühende und Phanerogamen oder Offenblühende nannte. Die letzteren theilte Linné in ſeinem künſtlichen Pflanzenſyſtem nach der verſchiedenen Zahl, Bildung und Verbindung der Staubgefäße, ſo— wie nach der Vertheilung der Geſchlechtsorgane, in 23 verſchiedene Klaſſen, und dieſen fügte er dann als 24ſte und letzte Klaſſe die Cryptogamen an. Die Cryptogamen, die geheimblühenden oder blumenloſen Pflanzen, welche früherhin nur wenig beobachtet wurden, haben durch die eingehenden Forſchungen der Neuzeit eine ſo große Man— nichfaltigkeit der Formen, und eine ſo tiefe Verſchiedenheit im grö— beren und feineren Bau offenbart, daß wir unter denſelben nicht weniger als vierzehn verſchiedene Klaſſen unterſcheiden müſſen, während wir die Zahl der Klaſſen unter den Blüthenpflanzen oder Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 26 402 Sechs Hauptklaſſen und neunzehn Klaſſen des Pflanzenreichs. Phanerogamen auf fünf beſchränken können. Dieſe neun— zehn Klaſſen des Pflanzenreichs aber gruppiren ſich naturge— mäß wiederum dergeſtalt, daß wir im Ganzen ſechs Hauptklaſſen (oder Kladen, d. h. Aeſte) des Pflanzenreichs unterſcheiden können. Zwei von dieſen ſechs Hauptklaſſen fallen auf die Blüthenpflanzen, vier dagegen auf die Blüthenloſen. Wie ſich jene 19 Klaſſen auf dieſe ſechs Hauptklaſſen, und die letzteren auf die Hauptabtheilungen des Pflanzenreichs vertheilen, zeigt die nachſtehende Tabelle (S. 404). Das Unterreich der Cryptogamen oder Blumenloſen kann man zunächſt naturgemäß in zwei Hauptabtheilungen oder Stammgruppen zerlegen, welche ſich in ihrem inneren Bau und in ihrer äußeren Form ſehr weſentlich unterſcheiden, nämlich die Thal— luspflanzen und die Prothalluspflanzen. Die Stammgruppe der Thalluspflanzen umfaßt die beiden großen Hauptklaſſen der Tange oder Algen, welche im Waſſer leben, und der Fa den— pflanzen oder Inophyten (Flechten und Pilze), welche außer— halb des Waſſers, auf der Erde, auf Steinen, Baumrinden, auf ver— weſenden organiſchen Körpern u. ſ. w. wachſen. Die Stammgruppe der Prothalluspflanzen dagegen enthält die beiden formen— reichen Hauptklaſſen der Moſe und Farne. Alle Thalluspflanzen oder Thallophyten ſind ſofort daran zu erkennen, daß man an ihrem Körper die beiden morpho— logiſchen Grundorgane der übrigen Pflanzen, Stengel und Blätter, noch nicht unterſcheiden kann. Vielmehr iſt der ganze Leib aller Tange und aller Fadenpflanzen eine aus einfachen Zellen zuſammen⸗ geſetzte Maſſe, welche man als Laubkörper oder Thallus bezeich— net. Dieſer Thallus iſt noch nicht in Axorgane (Stengel und Wur- zel) und Blattorgane differenzirt. Hierdurch, ſowie durch viele an— dere Eigenthümlichkeiten ſtellen ſich die Thallophyten allen übrigen Pflanzen, nämlich den beiden Hauptgruppen der Prothalluspflanzen und der Blüthenpflanzen gegenüber und man hat deshalb auch häufig die letzteren beiden als Stockpflanzen oder Cormophyten zuſammengefaßt. Das Verhältniß dieſer drei Stammgruppen zu Thalluspflanzen und Stockpflanzen. 403 einander, entſprechend jenen beiden verſchiedenen Auffaſſungen, macht Ihnen nachſtehende Ueberſicht deutlich: A. Thalluspflanzen J. Thalluspflanzen I. Blumenloſe (Thallophyta). (Thallophyta). (Cryptogamae). B. Prothalluspflanzen (Prothallota). II. Stockpflanzen II. Blumenpflanzen C. Blumenpflanzen eee (Phanerogamae). (Phanerogamae). Die Stockpflanzen oder Cormophyten, in deren Organiſation be- reits der Unterſchied von Axorganen (Stengel und Wurzel) und Blatt— organen entwickelt iſt, bilden gegenwärtig und ſchon ſeit ſehr langer Zeit die Hauptmaſſe der Pflanzenwelt. Allein ſo war es nicht im— mer. Vielmehr fehlten die Stockpflanzen, und zwar nicht allein die Blumenpflanzen, ſondern auch die Prothalluspflanzen, noch gänzlich während jenes unermeßlich langen Zeitraums, welcher als das archo- lithiſche oder primordiale Zeitalter den Beginn und den erſten Haupt— abſchnitt der organiſchen Erdgeſchichte bildet. Sie erinnern ſich, daß während dieſes Zeitraums ſich die laurentiſchen, cambriſchen und ſiluriſchen Schichtenſyſteme ablagerten, deren Dicke zuſammengenom— men ungefähr 70,000 Fuß beträgt. Da nun die Dicke aller dar— über liegenden jüngeren Schichten, von den devoniſchen bis zu den Ablagerungen der Gegenwart, zuſammen nur ungefähr 60,000 Fuß erreicht, ſo konnten wir hieraus allein den auch aus anderen Grün— den wahrſcheinlichen Schluß ziehen, daß jenes archolithiſche oder primordiale Zeitalter eine längere Dauer beſaß, als die ganze dar— auf folgende Zeit bis zur Gegenwart. Während dieſes ganzen un— ermeßlichen Zeitraums, der vielleicht viele Millionen von Jahrhun— derten umſchloß, ſcheint das Pflanzenleben auf unſerer Erde aus— ſchließlich durch die Stammgruppe der Thalluspflanzen, und zwar nur durch die Hauptklaſſe der waſſerbewohnenden Thalluspflanzen, durch die Tange oder Algen, vertreten geweſen zu ſein. Wenigſtens gehören alle verſteinerten Pflanzenreſte, welche wir mit Sicherheit aus der Primordialzeit kennen, ausſchließlich dieſer Hauptklaſſe an. 26 * 404 Syſtematiſche Ueberſicht der ſechs Hauptklaſſen und neunzehn Klaſſen des Pflanzenreichs. “ Se | - — Stammgruppen | . oder Anterreiche en Klaſſen des HPyſtematiſcher 8 Pſtanzenreichs Bflanzenreichs Name der Klaſſen 8 Be: | 1, Urpflanzen 1. Protophyta 4 2. Grüntange 2. Confervinae Thallus⸗ Tange 3. Brauntange 3. Fucoideae Pflanzen Algae 4. Rothtange 4. Florideae Thallo- 5. Mostange 5. Characeae phyta 8 \ 6. Pilze 6. Fungi eG \ Inophyta { 7. Flechten 7. Lichenes 8. Lebermoſe 8. Hepaticae Thallobrya Moſe 0 ya) 1 9. Laubmoſe 9. Frondosae 18 1 nae (Phyllobrya) B. 8 10. Laubfarne 10. Pterideae Prothallus⸗ ¶ Kilices Pflanzen 11. Schaftfarne 11. Calamariae Prothal- (Calamophyta) Farne 12. Waſſerfarne 12. Rhizocarpeae 5 (Hydropterides) Re 13. Zungenfarne 13. Ophioglosseae (@lossopterides) 14. Schuppenfarne 14. Lepidophyta (Selagines) 15. Palmfarne 15. Cycadeae C. Blumen⸗ Nack tj ami ge 16, Nadelhölzer 16. Coniferae Pflanzen Gymnospermae 17, Meningos 17. Gnetaceae Phanero- 2 18. Einkeimblättrige 18. Monocotylae r i \ 4 ng io spermae D 9. Zweikeimblättrige 19. Dicotylae Monophyletiſcher Stammbaum des Pflanzenreich®. Gamopetalae | Diapetalae MoNOCOTYLAE Dichlamydeae | | Monochlamydeae DICOTYLAE Angiospermae Abietineae | | Taxodineae Cupressineae | | GNETACEAE i | | | CYCADEAE ——— —— I a Araucariae Taxaceae | | | —— m CONIFERAE Gymnospermae | Lepidophyta Calamariae Rhizocarpeae ) Ophioglosseae ] | | Pterideae Filicinae Frondosae „ Hepaticae Muscinae CHARACEAE Fucoideae Lichenes Confervinae | | | | Fungi | RR | Algae Inophyta | Florideae Protophyta 1 | Monera 405 406 Hauptklaſſe der Tange oder Algen. Da auch alle Thierreſte dieſes ungeheueren Zeitraums nur waſſer— bewohnenden Thieren angehören, fo ſchließen wir daraus, daß land— bewohnende Organismen damals noch gar nicht exiſtirten. Schon aus dieſen Gründen muß die erſte und unvollkommenſte Hauptklaſſe des Pflanzenreichs, die Abtheilung der Tange oder Algen für uns von ganz beſonderer Bedeutung ſein. Dazu kommt noch das hohe Intereſſe, welches uns dieſe Hauptklaſſe, auch an ſich betrachtet, gewährt. Trotz ihrer höchſt einfachen Zuſammenſetzung aus gleichartigen oder nur wenig differenzirten Zellen zeigen die Tange dennoch eine außerordentliche Mannichfaltigkeit verſchiedener Formen. Einerſeits gehören dazu die einfachſten und unvollkommenſten aller Gewächſe, andrerſeits ſehr entwickelte und eigenthümliche Geſtalten. Ebenſo wie in der Vollkommenheit und Mannichfaltigkeit ihrer äuße— ren Formbildung unterſcheiden ſich die verſchiedenen Algengruppen auch in der Körpergröße. Auf der tiefſten Stufe finden wir die winzig kleinen Protococcus-Arten, von denen mehrere Hunderttauſend auf den Raum eines Stecknadelknopfs gehen. Auf der höchſten Stufe bewundern wir in den rieſenmäßigen Makrocyſten, welche eine Länge von 300—400 Fuß erreichen, die längſten von allen Geſtalten des Pflanzenreichs. Vielleicht iſt auch ein großer Theil der Steinkohlen aus Tangen entſtanden. Und wenn nicht aus dieſen Gründen, ſo müßten die Algen ſchon deshalb unſere beſondere Aufmerkſamkeit erregen, weil ſie die Anfänge des Pflanzenlebens bilden und die Stammformen aller übrigen Pflanzengruppen enthalten, vorausge— ſetzt daß unſere monophyletiſche Hypotheſe von einem gemeinſamen Urſprung aller Pflanzengruppen richtig iſt (vergl. S. 405). Die meiſten Bewohner des Binnenlandes können ſich nur eine ſehr unvollkommene Vorſtellung von dieſer höchſt intereſſanten Haupt— klaſſe des Pflanzenreichs machen, weil ſie davon nur die verhältniß— mäßig kleinen und einfachen Vertreter kennen, welche das ſüße Waſſer bewohnen. Die ſchleimigen grünen Waſſerfäden und Waſſerflocken in unſeren Teichen und Brunnentrogen, die hellgrünen Schleimüber- züge auf allerlei Holzwerk, welches längere Zeit mit Waſſer in Be— Ausdehnung der untermeeriſchen Tangwälder. 407 rührung war, die gelbgrünen ſchaumigen Schleimdecken auf den Tümpeln unſerer Dörfer, die grünen Haarbüſcheln gleichenden Faden— maſſen, welche überall im ſtehenden und fließenden Süßwaſſer vor— kommen, ſind größtentheils aus verſchiedenen Tangarten zuſammen— geſetzt. Aber nur Diejenigen, welche die Meeresküſte beſucht haben, welche an den Küſten von Helgoland und von Schleswig-Holſtein die ungeheuren Maſſen ausgeworfenen Seetangs bewundert, oder an den Felſenufern des Mittelmeeres die zierlich geſtaltete und leb— haft gefärbte Tangvegetation auf dem Meeresboden ſelbſt durch die klare blaue Fluth hindurch erblickt haben, wiſſen die Bedeutung der Tangklaſſe annähernd zu würdigen. Und dennoch geben ſelbſt dieſe formenreichen untermeeriſchen Algenwälder der europäiſchen Küſten nur eine ſchwache Vorſtellung von den coloſſalen Sargaſſowäldern des atlantiſchen Oceans, jenen ungeheuren Tangbänken, welche einen Flächenraum von ungefähr 40,000 Quadratmeilen bedecken, und welche dem Columbus auf ſeiner Entdeckungsreiſe die Nähe des Feſt— landes vorſpiegelten. Aehnliche, aber weit ausgedehntere Tangwälder wuchſen in dem primordialen Urmeere wahrſcheinlich in dichten Maſ— ſen, und wie zahlloſe Generationen dieſer archolithiſchen Tange über einander hinſtarben, bezeugen unter Anderen die mächtigen ſiluriſchen Alaunſchiefer Schwedens, deren eigenthümliche Zuſammenſetzung we⸗ ſentlich von jenen untermeeriſchen Algenmaſſen herrührt. Nach der neueren Anſicht des Bonner Geologen Friedrich Mohr iſt ſogar der größte Theil der Steinkohlenflötze aus den zuſammengehäuften Pflanzenleichen der Tangwälder im Meere entſtanden. Wir unterſcheiden in der Hauptklaſſe der Tange oder Algen fünf verſchiedene Klaſſen, nämlich: 1. Urtange oder Protophyten, 2. Grün— tange oder Confervinen, 3. Brauntange oder Fucoideen, 4. Rothtange oder Florideen, und 5. Mostange oder Characeen. Die erſte Klaſſe der Tange, die Urtange (Archephyceae) fünn- ten auch Urpflanzen (Protophyta) genannt werden, weil dieſelben die einfachſten und unvollkommenſten von allen Pflanzen enthalten, und insbeſondere jene älteſten aller pflanzlichen Organismen, welche 408 Urtange Archephyceen oder Protophyten . allen übrigen Pflanzen den Urſprung gegeben haben. Es gehören hierher alſo zunächſt jene allerälteſten vegetabiliſchen Moneren, welche im Beginne der laurentiſchen Periode durch Urzeugung entſtanden ſind. Ferner müſſen wir dahin alle jene Pflanzenformen von einfachſter Organiſation rechnen, welche aus jenen ſich zunächſt in laurentiſcher Zeit entwickelt haben, und welche den Formwerth einer einzigen Plaſtide beſaßen. Zunächſt waren dies ſolche Urpflänzchen, deren ganzer Körper eine einfachſte Cytode (eine kernloſe Plaſtide) bildete, und weiterhin ſolche, die bereits durch Sonderung eines Kernes im Plasma den höheren Formwerth einer einfachen Zelle erreicht hatten (vergl. oben S. 308). Noch in der Gegenwart leben verſchiedene ein— fachſte Tangformen, welche von dieſen urſprünglichen Urpflanzen ſich nur wenig entfernt haben. Dahin gehören die Tangfamilien der Codiolaceen, Protococcaceen, Desmidiaceen, Palmellaceen, Hydro— dictyeen, und noch manche Andere. Auch die merkwürdige Gruppe der Phycochromaceen (Chroococcaceen und Oſcillarineen) würde hier— her zu ziehen ſein, falls man dieſe nicht lieber als einen ſelbſtſtändigen Stamm des Protiſtenreichs anſehen will (vergl. S. 376). Die monoplaſtiden Protophyten, d. h. die aus einer ein— zigen Plaſtide beſtehenden Urtange, ſind vom größten Intereſſe, weil hier der pflanzliche Organismus ſeinen ganzen Lebenslauf als ein ein— fachſtes „Individuum erſter Ordnung“ vollendet, entweder als kern— loſe Cytode, oder als kernhaltige Zelle. Vorzüglich die Unterſuchun— gen von Alexander Braun und von Carl Nägeli, zwei um die Entwickelungs-Theorie ſehr verdienten Botanikern, haben uns näher mit denſelben bekannt gemacht. Zu den monocytoden Ur— pflanzen gehören die höchſt merkwürdigen Schlauchalgen oder Si— phoneen, deren anſehnlicher Körper in wunderbarer Weiſe die For— men höherer Pflanzen nachahmt („Mimicry“). Manche von dieſen Siphoneen erreichen eine Größe von mehreren Fußen und gleichen einem zierlichen Moſe (Bryopsis) oder einem Bärlappe oder gar einer vollkommenen Blüthenpflanze mit Stengel, Wurzeln und Blättern (Caulerpa, Fig. 17). Und dennoch beſteht dieſer ganze große und Die monoplaſtiden Protophyten. 409 Fig. 17. Caulerpa denticulata, eine monoplaſtide Siphonee in natürlicher Größe. Die ganze verzweigte Urpflanze, welche aus einem kriechenden Stengel mit Wurzelfaſer-Büſcheln und gezähnten Laubblättern zu beſtehen ſcheint, iſt in Wirklichkeit nur eine einzige Plaſtide, und zwar eine (kernloſe) Cytode, noch nicht einmal von dem Formwerth einer (kernhaltigen) Zelle. vielfach äußerlich differenzirte Körper innerlich aus einem ganz einfachen Schlauche, der nur den Formwerth einer einzigen Cytode beſitzt. Dieſe wunderbaren Siphoneen, Vaucherien und Caulerpen zeigen uns, wie weit es die einzelne Cytode als ein einfachſtes Individuum erſter Ord— nung durch fortgeſetzte Anpaſſung an die Verhältniſſe der Außenwelt bringen kann. Auch die einzelligen Urpflanzen, welche ſich durch den Beſitz eines Kernes von den monoeytoden unterſcheiden, bil— den durch vielſeitige Anpaſſung eine große Mannichfaltigkeit von zier— lichen Formen, beſonders die reizenden Desmidiaceen, von denen als Beiſpiel in Fig. 18 eine Art von Euaſtrum abgebildet iſt. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß ähnliche Urpflanzen, deren weicher Körper aber 410 Grüntauge (Confervinen oder Chlorophyceen). Fig. 18. Euastrum rota, eine einzellige Desmidiacee, ſtark vergrößert. Der ganze zierliche ſternförmige Körper der Urpflanze hat den Form⸗ werth einer einzigen Zelle. In der Mitte derſelben liegt der Kern nebſt Kernkörperchen. nicht der foſſilen Erhal⸗ tung fähig war, in großer Maſſe und Mannichfal- tigkeit einſt das lauren⸗ tiſche Urmeer bevölkerten und einen großen Formen⸗ reichthum entfalteten, ohne doch die Individualitätsſtufe einer einfachen Plaſtide zu überſchreiten. An die Urpflanzen oder Urtange ſchließt ſich als zweite Klaſſe der Algen zunächſt die Gruppe der Grüntange oder Grünalgen an (Confervinae oder Chlorophyceae). Gleich der Mehrzahl der erſteren ſind auch ſämmtliche Grüntange grün gefärbt, und zwar durch den— ſelben Farbſtoff, das Blattgrün oder Chlorophyll, welches auch die Blätter aller höheren Gewächſe grün färbt. Zu dieſer Klaſſe gehören außer einer großen Anzahl von niederen Seetangen die allermeiſten Tange des ſüßen Waſſers, die gemeinen Waſſerfäden oder Conferven, die grünen Schleimkugeln oder Glöoſphären, der hellgrüne Waſſerſalat oder die Ulven, welche einem ſehr dünnen und langen Salatblatte gleichen, ferner zahlreiche mikroſkopiſch kleine Tange, welche in dichter Maſſe zuſammengehäuft einen hellgrünen ſchleimigen Ueberzug über allerlei im Waſſer liegende Gegenſtände, Holz, Steine u. ſ. w. bilden, ſich aber durch die Zuſammenſetzung und Differenzirung ihres Körpers bereits über die einfachen Urtange erheben. Da die Grüntange, gleich den Urtangen, meiſtens einen ſehr weichen Körper beſitzen, waren ſie nur ſehr ſelten der Verſteinerung fähig. Es kann aber wohl nicht be— zweifelt werden, daß auch dieſe Algenklaſſe, welche ſich zunächſt aus Brauntange (Fucoideen oder Phäophyceen). 411 der vorhergehenden entwickelt hat, gleich jener bereits während der laurentiſchen Zeit die fügen und ſalzigen Gewäſſer der Erde in der größten Ausdehnung und Mannichfaltigkeit bevölkerte. In der dritten Klaſſe, derjenigen der Brauntange oder Schwarztange (Fucoideae oder Phaeophyceae) erreicht die Haupt— klaſſe der Algen ihren höchſten Entwickelungsgrad, wenigſtens in Be— zug auf die körperliche Größe. Die charakteriſtiſche Farbe der Fucoi— deen iſt meiſt ein mehr oder minder dunkles Braun, bald mehr in Olivengrün und Gelbgrün, bald mehr in Braunroth und Schwarz übergehend. Hierher gehören die größten aller Tange, welche zugleich die längſten von allen Pflanzen ſind, die coloſſalen Rieſentange, unter denen Macrocystis pyrifera an der californiſchen Küſte eine Länge von 400 Fuß erreicht. Aber auch unter unſeren einheimiſchen Tangen gehören die anſehnlichſten Formen zu dieſer Gruppe, ſo namentlich der ſtattliche Zuckertang (Laminaria), deſſen ſchleimige olivengrüne Thalluskörper, rieſigen Blättern von 10—15 Fuß Länge, 2—1 Fuß Breite gleichend, in großen Maſſen an der Küſte der Nord- und Oſt— ſee ausgeworfen werden. Auch der in unſeren Meeren gemeine Bla- ſentang (Fucus vesiculosus), deſſen mehrfach gabelförmig geſpalte— nes Laub durch viele eingeſchloſſene Luftblaſen, (wie bei vielen ande— ren Brauntangen) auf dem Waſſer ſchwimmend erhalten wird, gehört zu dieſer Klaſſe; ebenſo der freiſchwimmende Sargaſſotang (Sargas- sum bacciferum), welcher die ſchwimmenden Wieſen oder Bänke des Sargaſſomeeres bildet. Obwohl jedes Individuum von dieſen gro— ßen Tangbäumen aus vielen Millionen von Zellen zuſammengeſetzt iſt, beſteht es dennoch im Beginne ſeiner Exiſtenz, gleich allen höheren Pflanzen, aus einer einzigen Zelle, einem einfachen Ei. Dieſes Ei iſt z. B. bei unſerm gemeinen Blaſentang eine nackte, hüllenloſe Zelle, und iſt als ſolche den nackten Eiern niederer Seethiere, z. B. der Me— duſen, zum Verwechſeln ähnlich (Fig. 19). Fucoideen oder Braun— tange ſind es wahrſcheinlich zum größten Theile geweſen, welche wäh— rend der Primordialzeit die charakteriſtiſchen Tangwälder dieſes end— loſen Zeitraums zuſammengeſetzt haben. Die verſteinerten Reſte, welche 412 Rothtange (Florideen oder Rhodophyceen). Fig. 19. Das Ei des gemeinen Blaſentang (Fueus vesiculosus), eine einfache nackte Zelle, ftarf vergrößert. In der Mitte der nackten Protoplasma— Kugel ſchimmert der helle Kern hindurch. uns von denſelben (vorzüglich aus der ſilu— riſchen Zeit) erhalten ſind, können uns aller— dings nur eine ſchwache Vorſtellung davon geben, weil die Formen dieſer Tange, gleich den meiſten anderen, ſich nur ſchlecht zur Erhaltung im foſſilen Zu— ſtande eignen. Jedoch iſt vielleicht, wie ſchon bemerkt, ein großer Theil der Steinkohle aus denſelben zuſammengeſetzt. Weniger bedeutend iſt die vierte Klaſſe der Tange, diejenige der Roſentange oder Rothtange (Florideae oder Rhodophyceae). Zwar entfaltet auch dieſe Klaſſe einen großen Reichthum verſchiedener Formen. Allein die meiſten derſelben ſind von viel geringerer Größe als die Brauntange. Uebrigens ſtehen ſie den letzteren an Vollkom— menheit und Differenzirung der äußeren Form keineswegs nach, über— treffen dieſelben vielmehr in mancher Beziehung. Hierher gehören die ſchönſten und zierlichſten aller Tange, welche ſowohl durch die feine Fiederung und Zertheilung ihres Laubkörpers, wie durch reine und zarte rothe Färbung zu den reizendſten Pflanzen gehören. Die cha— rakteriſtiſche rothe Farbe iſt bald ein tiefes Purpur-, bald ein brennen⸗ des Scharlach-, bald ein zartes Roſenroth, und geht einerſeits in violette und purpurblaue, andrerſeits in braune und grüne Tinten in bewunderungswürdiger Pracht über. Wer einmal eines unſerer nor— diſchen Seebäder beſucht hat, wird gewiß ſchon mit Staunen die reizenden Formen dieſer Florideen betrachtet haben, welche auf weißem Papier, zierlich angetrocknet, vielfach zum Verkaufe geboten werden. Die meiſten Rothtange ſind leider ſo zart, daß ſie gar nicht der Ver— ſteinerung fähig ſind, ſo die prachtvollen Ptiloten, Plokamien, Deleſ— ferien u. ſ. w. Doch giebt es einzelne Formen, wie die Chondrien und Sphärokokken, welche einen härteren, oft faſt knorpelharten Thal- lus beſitzen, und von dieſen ſind uns auch manche verſteinerte Reſte, Stammbaum der Tange oder Algen, 413 namentlich aus den ſiluriſchen, devoniſchen und Kohlenſchichten, ſpä— ter beſonders aus dem Jura erhalten worden. Wahrſcheinlich nahm auch dieſe Klaſſe an der Zuſammenſetzung der archolithiſchen Tang— flora weſentlichen Antheil. Die fünfte und letzte Klaſſe unter den Algen bilden die Mos— tange (Characeae). Hierher gehören die tangartigen Armleuchter— pflanzen (Chara) und Glanzmoſe (Nitella), welche mit ihren grünen, fadenförmigen, quirlartig von gabelſpaltigen Aeſten umſtellten Sten— geln in unſeren Teichen und Tümpeln oft dichte Bänke bilden. Einer— ſeits nähern ſich die Characeen im anatomiſchen Bau, beſonders der Fortpflanzungsorgane, den Moſen und werden dieſen neuerdings un— mittelbar angereiht. Andrerſeits ſtehen ſie durch viele Eigenſchaften tief unter den übrigen Moſen und ſchließen ſich vielmehr den Grüntan— gen oder Confervinen an. Man könnte ſie daher wohl als übrig ge— bliebene und eigenthümlich ausgebildete Abkömmlinge von jenen Grün— tangen betrachten, aus denen ſich die übrigen Moſe entwickelt haben. Durch manche Eigenthümlichkeiten ſind übrigens die Characeen ſo ſehr von allen übrigen Pflanzen verſchieden, daß viele Botaniker ſie als eine beſondere Hauptabtheilung des Pflanzenreichs betrachten. Was die Verwandtſchaftsverhältniſſe der verſchiedenen Tangklaſ— ſen zu einander und zu den übrigen Pflanzen betrifft, ſo bilden höchſt wahrſcheinlich, wie ſchon bemerkt, die Urtange oder Archephyceen die gemeinſame Wurzel des Stammbaums, nicht allein für die verſchie— denen Tangklaſſen, ſondern für das ganze Pflanzenreich. Deshalb können ſie auch mit Recht als Urpflanzen oder Protophyten bezeich— net werden. Aus den nackten vegetabiliſchen Moneren, welche ſich im erſten Beginn der laurentiſchen Periode entwickelten, werden zunächſt Hülleytoden entſtanden ſein (S. 308), indem der nackte, ſtrukturloſe Eiweißleib der Moneren ſich an der Oberfläche kruſtenartig verdichtete oder eine Hülle ausſchwitzte. Späterhin werden dann aus dieſen Hüllcytoden echte Pflanzenzellen geworden ſein, indem im Innern ſich ein Kern oder Nucleus von dem umgebenden Zellſtoff oder Plasma ſonderte. Die drei Klaſſen der Grüntange, Brauntange und Roth— 414 Hauptklaſſe der Fadenpflanzen oder Inophyten. tange ſind vielleicht drei geſonderte Stämme, welche unabhängig von einander aus der gemeinſamen Wurzelgruppe der Urtange entſtanden ſind und ſich dann (ein jeder in ſeiner Art) weiter entwickelt und viel— fach in Ordnungen und Familien verzweigt haben. Die Brauntange und Rothtange haben keine nähere Blutsverwandtſchaft zu den übri— gen Klaſſen des Pflanzenreichs. Dieſe letzteren ſind vielmehr aus den Urtangen entſtanden, und zwar entweder direkt oder durch Vermitt— lung der Grüntange. Wahrſcheinlich ſind einerſeits die Moſe (aus welchen ſpäter die Farne ſich entwickelten) aus einer Gruppe der Grüntange, andrerſeits die Pilze und Flechten aus einer Gruppe der Urtange hervorgegangen. Die Phanerogamen haben ſich jeden— falls erſt viel ſpäter aus den Farnen entwickelt. Als zweite Hauptklaſſe des Pflanzenreichs haben wir oben die Fadenpflanzen (Inophyta) angeführt. Wir verſtanden darunter die beiden naheverwandten Klaſſen der Flechten und Pilze. Es iſt möglich, daß dieſe Thalluspflanzen nicht aus den Urtangen entſtan— den ſind, ſondern aus einem oder mehreren Moneren, die unabhängig von letzteren durch Urzeugung entſtanden. Insbeſondere erſcheint es denkbar, daß manche von den niederſten Pilzen, wie z. B. manche Gährungspilze, Mikrokokkus-Formen u. ſ. w. einer Anzahl von ver— ſchiedenen archigonen (d. h. durch Urzeugung entſtandenen) Mo— neren ihren Urſprung verdanken. Jedenfalls ſind die Fadenpflanzen nicht als Stammeltern der höheren Pflanzenklaſſen zu betrachten. Sowohl die Flechten als die Pilze unterſcheiden ſich von dieſen durch die Zuſammenſetzung ihres weichen Körpers aus einem dichten Ge— flecht von ſehr langen, vielfach verſchlungenen, eigenthümlichen Fa— denzellen, den ſogenannten Hyphen, weshalb wir ſie eben in der Hauptklaſſe der Fadenpflanzen zuſammenfaſſen. Irgend bedeutende foſſile Reſte konnten dieſelben wegen ihrer eigenthümlichen Beſchaf— fenheit nicht hinterlaſſen, und jo können wir denn die paläontolo— giſche Entwickelung derſelben nur ſehr unſicher errathen. Die erſte Klaſſe der Fadenpflanzen, die Pilze (Fungi), werden irrthümlich oft Schwämme genannt und daher mit den echten thieri— Pilze (Fungi). 415 ſchen Schwämmen oder Spongien verwechſelt. Sie zeigen einerſeits ſehr nahe Verwandtſchaftsbeziehungen zu den niederſten Algen; ins— beſondere ſind die Tang pilze oder Phycomyceten (die Sapro— legnieen und Peronoſporeen) eigentlich nur durch den Mangel des Blatt— grüns oder Chlorophylls von den vorher genannten Schlauchalgen oder Siphoneen (den Vaucherien und Caulerpen) verſchieden. An— drerſeits aber haben alle eigentlichen Pilze ſo viel Eigenthümliches und weichen namentlich durch ihre Ernährungsweiſe ſo ſehr von allen übri— gen Pflanzen ab, daß man ſie als eine ganz beſondere Hauptgruppe des Pflanzenreichs betrachten könnte. Die übrigen Pflanzen leben größtentheils von anorganiſcher Nahrung, von einfachen Verbindun— gen, welche ſie zu verwickelteren zuſammenſetzen. Sie erzeugen Proto— plasma durch Zuſammenſetzung von Waſſer, Kohlenſäure und Am— moniak. Sie athmen Kohlenſäure ein und Sauerſtoff aus. Die Pilze dagegen leben, gleich den Thieren, von organiſcher Nahrung, von verwickelten und lockeren Kohlenſtoffverbindungen, welche ſie von anderen Organismen erhalten und zerſetzen. Sie athmen Sauer— ſtoff ein und Kohlenſäure aus, wie die Thiere. Auch bilden ſie niemals das Blattgrün oder Chlorophyll, welches für die meiſten übrigen Pflanzen ſo charakteriſtiſch iſt. Ebenſo erzeugen ſie niemals Stärkemehl oder Amylum. Daher haben ſchon wiederholt hervor— ragende Botaniker den Vorſchlag gemacht, die Pilze ganz aus dem Pflanzenreiche zu entfernen und als ein beſonderes drittes Reich zwiſchen Thier- und Pflanzenreich zu ſetzen. Dadurch würde unſer Protiſtenreich einen ſehr bedeutenden Zuwachs erhalten. Die Pilze würden ſich hier den ſogenannten „Schleimpilzen“ oder Myxomyee— ten (die jedoch gar keine Hyphen bilden) zunächſt anſchließen. Da aber viele Pilze ſich auf geſchlechtlichem Wege fortpflanzen, und da die meiſten Botaniker, der herkömmlichen Anſchauung gemäß, die Pilze als echte Pflanzen betrachten, laſſen wir ſie hier im Pflanzen— reiche ſtehen, und verbinden ſie mit den Flechten, denen ſie jedenfalls am nächſten verwandt ſind. Der phyletiſche Urſprung der Pilze wird wohl noch lange im Dunkeln bleiben. Die bereits angedeutete nahe 416 Flechten (Lichenes). Verwandtſchaft der Phykomyceten und Siphoneen (beſonders der Saprolegnieen und Vaucherier) läßt daran denken, daß ſie von letzte— ren abſtammen. Die Pilze würden dann als Algen zu betrachten ſein, die durch Anpaſſung an das Schmarotzerleben ganz eigenthüm— lich umgebildet ſind. Andrerſeits ſprechen jedoch auch manche That— ſachen für die Vermuthung, daß die niederſten Pilze ſelbſtſtändig aus archigonen Moneren entſprungen ſind. Die zweite Klaſſe der Inophyten, die Flechten (Lichenes), ſind in phylogenetiſcher Beziehung ſehr merkwürdig. Die überraſchen— den Entdeckungen der letzten Jahre haben nämlich gelehrt, daß jede Flechte eigentlich aus zwei ganz verſchiedenen Pflanzen zuſammen— geſetzt iſt, aus einer niederen Algenform (Nostochaceen, Chroococ- caceen) und aus einer paraſitiſchen Pilzform (Ascomyceten), welche auf der erſteren ſchmarotzt, und von den aſſimilirten Stoffen lebt, die dieſe bereitet. Die grünen, chlorophyllhaltigen Zellen (Go— nidien), welche man in jeder Flechte findet, gehören der Alge an. Die farbloſen Fäden (Hyphen) dagegen, welche dicht verwebt die Hauptmaſſe des Flechtenkörpers bilden, gehören dem ſchmarotzenden Pilze an. Immer aber ſind beide Pflanzenformen, Pilz und Alge, die man doch als Angehörige zweier ganz verſchiedener Hauptklaſſen be— trachtet, ſo feſt mit einander verbunden und ſo innig durchwachſen, daß Jedermann die Flechte als einen einheitlichen Organismus betrach- tet. Die meiſten Flechten bilden mehr oder weniger unanſehnliche, formloſe oder unregelmäßig zerriſſene, kruſtenartige Ueberzüge auf Steinen, Baumrinden u. ſ. w. Die Farbe derſelben wechſelt in allen möglichen Abſtufungen vom reinſten Weiß, durch Gelb, Roth, Grün, Braun, bis zum dunkelſten Schwarz. Wichtig ſind viele Flechten in der Oekonomie der Natur dadurch, daß ſie ſich auf den trockenſten und unfruchtbarſten Orten, insbeſondere auf dem nackten Geſtein anſiedeln können, auf welchem keine andere Pflanze leben kann. Die harte ſchwarze Lava, welche in vulkaniſchen Gegenden viele Quadratmeilen Boden bedeckt, und welche oft Jahrhunderte lang jeder Pflanzenan— ſiedelung den hartnäckigſten Widerſtand leiſtet, wird zuerſt immer von Prothalluspflanzen (Moſe und Farne). 417 Flechten bewältigt. Weiße oder graue Steinflechten (Stereocaulon) ſind es, welche auf den ödeſten und todteſten Lavafeldern mit der Urbarmachung des nackten Felſenbodens beginnen und denſelben für die nachfolgende höhere Vegetation erobern. Ihre abſterbenden Leiber bilden die erſte Dammerde, in welcher nachher Moſe, Farne und Blüthenpflanzen feſten Fuß faſſen können. Auch gegen klimatiſche Unbilden ſind die zähen Flechten unempfindlicher als alle anderen Pflanzen. Daher überziehen ihre trockenen Kruſten die nackten Felſen noch in den höchſten, großentheils mit ewigem Schnee bedeckten Ge— birgshöhen, in denen keine andere Pflanze mehr ausdauern kann. Indem wir nun die Pilze, Flechten und Tange, welche gewöhn— lich als Thalluspflanzen zuſammengefaßt werden, verlaſſen, betreten wir das Gebiet der zweiten großen Hauptabtheilung des Pflanzen— reichs, der Prothalluspflanzen (Prothallota oder Prothallo- phyta), welche von Anderen als phyllogoniſche Kryptogamen bezeich— net werden (im Gegenſatz zu den Thalluspflanzen oder thallogoni— ſchen Kryptogamen). Dieſes Gebiet umfaßt die beiden Hauptklaſſen der Moſe und Farne. Hier begegnen wir bereits allgemein (we— nige der unterſten Stufen ausgenommen) der Sonderung des Pflan— zenkörpers in zwei verſchiedene Grundorgane: Axenorgane (oder Sten— gel und Wurzel), und Blätter (oder Seitenorgane). Hierin glei— chen die Prothalluspflanzen bereits den Blumenpflanzen, und daher faßt man ſie neuerdings auch häufig mit dieſen als Stockpflanzen oder Cormophyten zuſammen. Andrerſeits aber gleichen die Moſe und Farne den Thalluspflanzen durch den Mangel der Blumenbil— dung und der Samenbildung, und daher ſtellte ſie ſchon Linné mit dieſen als Kryptogamen zuſammen, im Gegenſatz zu den ſamen— bildenden Pflanzen oder Blumenpflanzen (den Anthophyten oder Pha— nerogamen). Unter dem Namen „Prothalluspflanzen“ vereinigen wir die nächſt— verwandten Moſe und Farne deshalb, weil bei Beiden ſich ein ſehr eigenthümlicher und charakteriſtiſcher Generationswechſel in der indivi— duellen Entwickelung findet. Jede Art nämlich tritt in zwei verſchie— Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 27 448 Charakteriſtiſcher Generationswechſel der Prothalluspflanzen. denen Generationen auf, von denen man die eine gewöhnlich als Vor— keim oder Prothallium bezeichnet, die andere dagegen als den eigentlichen Stock oder Cormus des Moſes oder des Farns betrach— tet. Die erſte und urſprüngliche Generation, der Vorkeim oder Prothallus, auch das Prothallium oder Protonema genannt, ſteht noch auf jener niederen Stufe der Formbildung, welche alle Thallus— pflanzen zeitlebens zeigen, d. h. es ſind Stengel und Blattorgane noch nicht geſondert, und der ganze zellige Körper des Vorkeims ſtellt einen einfachen Thallus dar. Die zweite und vollkommenere Ge— neration der Moſe und Farne dagegen, der Stock oder Cormus, bil— det einen viel höher organiſirten Körper, welcher wie bei den Blu— menpflanzen in Stengel und Blatt geſondert iſt, ausgenommen bei den niederſten Moſen, bei welchen auch dieſe Generation noch auf der niederen Stufe der urſprünglichen Thallusbildung ſtehen bleibt. Mit Ausnahme dieſer letzteren erzeugt allgemein bei den Moſen und Farnen die erſte Generation, der thallusförmige Vorkeim, eine ſtock— förmige zweite Generation mit Stengel und Blättern; dieſe erzeugt wiederum den Thallus der erſten Generation u. ſ. w. Es iſt alſo, wie bei dem gewöhnlichen einfachen Generationswechſel der Thiere, die erſte Generation der dritten, fünften u. ſ. w., die zweite dagegen der vierten, ſechſten u. ſ. w. gleich. (Vergl. oben S. 185.) Von den beiden Hauptklaſſen der Prothalluspflanzen ſtehen die Moſe im Allgemeinen auf einer viel tieferen Stufe der Ausbildung, als die Farne, und vermitteln durch ihre niederſten Formen (nament⸗ lich in anatomiſcher Beziehung) den Uebergang von den Thallus— pflanzen und ſpeciell von den Tangen zu den Farnen. Der genea— logiſche Zuſammenhang der Moſe und Farne, welcher dadurch an— gedeutet wird, läßt ſich jedoch nur zwiſchen den unvollkommenſten Formen beider Hauptklaſſen nachweiſen. Die vollkommneren und höheren Gruppen der Moſe und Farne ſtehen in gar keiner nähe— ren Beziehung zu einander und entwickeln ſich nach ganz entgegen— geſetzten Richtungen hin. Jedenfalls find die Moſe direkt aus Thal— luspflanzen und zwar wahrſcheinlich aus Grüntangen entſtanden. Hauptklaſſe der Moſe oder Muscinen. Lebermoſe und Laubmoſe. 419 Die Farne dagegen ſtammen wahrſcheinlich von ausgeſtorbenen un— bekannten Museinen ab, die den niederſten der heutigen Lebermoſe ſehr nahe ſtanden. Für die Schöpfungsgeſchichte ſind die Farne von weit höherer Bedeutung als die Moſe. Die Hauptklaſſe der Moſe (Muscinae, auch Musci oder Bryo— phyta genannt) enthält die niederen und unvollkommneren Pflanzen der Prothalloten-Gruppe, welche noch gefäßlos ſind. Meiſtens iſt ihr Körper ſo zart und vergänglich, daß er ſich nur ſehr ſchlecht zur kenntlichen Erhaltung in verſteinertem Zuſtande eignet. Daher ſind die foſſilen Reſte von allen Mosklaſſen ſelten und unbedeutend. Ver— muthlich haben ſich die Moſe ſchon in ſehr früher Zeit aus den Thal— luspflanzen, und zwar aus den Grüntangen entwickelt. Waſſerbe— wohnende Uebergangsformen von letzteren zu den Moſen gab es wahrſcheinlich ſchon in der Primordialzeit und landbewohnende in der Primärzeit. Die Moſe der Gegenwart, aus deren ſtufenweis ver— ſchiedener Ausbildung die vergleichende Anatomie Einiges auf ihre Genealogie ſchließen kann, zerfallen in zwei verſchiedene Klaſſen, näm— lich 1. die Lebermoſe und 2. die Laubmoſe. Die erſte und ältere Klaſſe der Moſe, welche ſich unmittelbar an die Grüntange oder Confervinen anreiht, bilden die Lebermoſe (Hepaticae oder Thallobrya). Die hierher gehörigen Moſe ſind meiſtens wenig bekannte, kleine und unanſehnliche Formen. Die niederſten Formen derſelben beſitzen noch in beiden Generationen einen einfachen Thallus, wie die Thalluspflanzen, ſo z. B. die Niecien und Marchantien. Die höheren Lebermoſe dagegen, die Jungermannien und Verwandte, beginnen allmählich Stengel und Blatt zu ſondern, und die höchſten ſchließen ſich unmittelbar an die Laubmoſe an. Die Lebermoſe zeigen durch dieſe Uebergangsbildung ihre direkte Abſtam— mung von den Thallophyten, und zwar von den Grüntangen an. Diejenigen Moſe, welche der Laie gewöhnlich allein kennt, und welche auch in der That den hauptſächlichſten Beſtandtheil der gan— zen Hauptklaſſe bilden, gehören zur zweiten Klaſſe, den Laubmo— ſen (Musci frondosi, Musci im engeren Sinne oder Phyllobrya). 27 * 420 Laubmoſe. Unter die Laubmoſe gehören die meiſten jener zierlichen Pflänzchen, die zu dichten Gruppen vereinigt den ſeidenglänzenden Mosteppich un— ſerer Wälder bilden, oder auch in Gemeinſchaft mit Lebermoſen und Flechten die Rinde der Bäume überziehen. Als die Waſſerbehälter, welche die Feuchtigkeit ſorgfältig aufbewahren, ſind ſie für die Oeko— nomie der Natur von der größten Wichtigkeit. Wo der Menſch ſcho— nungslos die Wälder abholzt und ausrodet, da verſchwinden mit den Bäumen auch die Laubmoſe, welche ihre Rinde bedecken oder im Schutze ihres Schattens den Boden bekleiden und die Lücken zwiſchen den größeren Gewächſen ausfüllen. Mit den Laubmoſen verſchwinden aber die nützlichen Waſſerbehälter, welche Regen und Thau ſammeln und für die Zeiten der Trockniß aufbewahren. So entſteht eine troſtloſe Dürre des Bodens, welche das Aufkommen jeder ergiebigen Vegetation vereitelt. In dem größten Theile Süd— Europas, in Griechenland, Italien, Sicilien, Spanien find durch die rückſichtsloſe Ausrodung der Wälder die Moſe vernichtet und da— durch der Boden ſeiner nützlichſten Feuchtigkeitsvorräthe beraubt wor— den; die vormals blühendſten und üppichſten Landſtriche find in dürre, öde Wüſten verwandelt. Leider nimmt auch in Deutſchland neuer— dings dieſe rohe Barbarei immer mehr überhand. Wahrſcheinlich ha- ben die kleinen Laubmoſe jene außerordentlich wichtige Rolle ſchon ſeit ſehr langer Zeit, vielleicht ſeit Beginn der Primärzeit geſpielt. Da aber ihre zarten Leiber ebenſo wenig wie die der übrigen Moſe für die deutliche Erhaltung im foſſilen Zuſtande geeignet ſind, ſo kann uns hierüber die Paläontologie keine Auskunft geben. Weit mehr als von den Moſen wiſſen wir durch die Verſteine— rungskunde von der außerordentlichen Bedeutung, welche die zweite Hauptklaſſe der Prothalluspflanzen, die der Farne, für die Geſchichte der Pflanzenwelt gehabt hat. Die Farne, oder genauer ausgedrückt, die „farnartigen Pflanzen“ (Filicinae oder Pteridoidae, auch Pteri- dophyta oder Gefäßkryptogamen genannt) bildeten während eines außerordentlich langen Zeitraums, nämlich während des ganzen pri- mären oder paläolithiſchen Zeitalters, die Hauptmaſſe der Pflanzen— Hauptklaſſe der Farne oder Filieinen. 421 welt, ſo daß wir dasſelbe geradezu als das Zeitalter der Farn— wälder bezeichnen konnten. Seit Anbeginn der devoniſchen Zeit, in welcher zum erſten Male landbewohnende Organismen auftraten, während der Ablagerung der devoniſchen, carboniſchen und permiſchen Schichten, überwogen die farnartigen Pflanzen ſo ſehr alle übrigen, daß jene Benennung dieſes Zeitalters in der That gerechtfertigt iſt. In den genannten Schichtenſyſtemen, vor allen aber in den ungeheuer mächtigen Steinkohlenflötzen der carboniſchen oder Steinkohlenzeit, fin— den wir ſo zahlreiche und zum Theil wohl erhaltene Reſte von Farnen, daß wir uns daraus ein ziemlich lebendiges Bild von der ganz eigen— thümlichen Landflora des paläolithiſchen Zeitalters machen können. Im Jahre 1855 betrug die Geſammtzahl der damals bekannten pa— läolithiſchen Pflanzenarten ungefähr Eintauſend, und unter dieſen befanden ſich nicht weniger als 872 farnartige Pflanzen. Unter den übrigen 128 Arten befanden ſich 77 Gymnoſpermen (Nadelhölzer und Palmfarne), 40 Thalluspflanzen (größtentheils Tange) und ge— gen 20 nicht ſicher beſtimmbare Cormophyten. Wie ſchon vorher bemerkt, haben ſich die Farne wahrſcheinlich aus niederen Lebermoſen hervorgebildet, und zwar ſchon im Beginn der Primärzeit, in der devoniſchen Periode. In ihrer Organiſation er— heben ſich die Farne bereits bedeutend über die Moſe und ſchließen ſich in ihren höheren Formen ſchon an die Blumenpflanzen an. Während bei den Moſen noch ebenſo wie bei den Thalluspflanzen der ganze Kör— per aus ziemlich gleichartigen, wenig oder nicht differenzirten Zellen zuſammengeſetzt iſt, entwickeln ſich im Gewebe der Farne bereits jene eigenthümlich differenzirten Zellenſtränge, welche man als Pflanzenge— fäße und Gefäßbündel bezeichnet, und welche auch bei den Blumen— pflanzen allgemein vorkommen. Daher vereinigt man wohl auch die Farne als „Gefäßkryptogamen“ mit den Phanerogamen, und ſtellt dieſe „Gefäßpflanzen“ den „Zellenpflanzen“ gegenüber, d. h. den „Zel— lenkryptogamen“ (Moſen und Thalluspflanzen). Dieſer hochwichtige Fortſchritt in der Pflanzenorganiſation, die Bildung der Gefäße und Gefäßbündel, fand demnach erſt in der devoniſchen Zeit ſtatt, alſo 422 Hauptklaſſe der Farne oder Filieinen. im Beginn der zweiten und kleineren Hälfte der organiſchen Erdge— ſchichte. 0 Die Hauptklaſſe der Farne oder Filieinen zerfällt in fünf ver— ſchiedene Klaſſen, nämlich 1. die Laubfarne oder Pterideen, 2. die Schaftfarne oder Calamarien, 3. die Waſſerfarne oder Rhizokarpeen, 4. die Zungenfarne oder Ophiogloſſeen, und 5. die Schuppenfarne oder Lepidophyten. Die bei weitem wichtigſte und formenreichſte von dieſen fünf Klaſſen, welche den Hauptbeſtandtheil der paläolithiſchen Wälder bildete, waren die Laubfarne und demnächſt die Schuppenfarne. Dagegen traten die Schaftfarne und Zungenfarne ſchon damals mehr zurück, und von den Waſſerfarnen wiſſen wir nicht einmal mit Be— ſtimmtheit, ob fie damals ſchon lebten. Es muß uns ſchwer fallen, uns eine Vorſtellung von dem ganz eigenthümlichen Charakter jener düſteren paläolithiſchen Farnwälder zu bilden, in denen der ganze bunte Blumenreichthum unſerer gegenwärtigen Flora noch völlig fehlte, und welche noch von keinem Vogel belebt wurden. Von Blu- menpflanzen exiſtirten damals nur die beiden niederſten Klaſſen, die nacktſamigen Nadelhölzer und Palmfarne, deren einfache und unſchein— bare Blüthen kaum den Namen der Blumen verdienen. Ueber die Phylogenie der Farne und der aus ihnen entſtande— nen Gymnoſpermen ſind wir vorzüglich durch die ausgezeichneten Unterſuchungen aufgeklärt worden, welche 1872 Eduard Stras— burger über „die Coniferen und die Gnetaceen“, ſowie „über Azolla“ u. ſ. w. veröffentlicht hat. Dieſer denkende Naturforſcher ge— hört, wie Charles Martins in Montpellier, zu der ſehr gerin— gen Zahl von Botanikern, welche den fundamentalen Werth der Deſcendenz-Theorie vollſtändig begriffen und den mechanischen Cau⸗ ſal-Zuſammenhang zwiſchen Ontogenie und Phylogenie verſtanden haben. Während die große Mehrzahl der Botaniker noch heute die in der Zoologie längſt eingebürgerte wichtige Unterſcheidung zwiſchen Homologie und Analogie, zwiſchen der morphologiſchen und phyſio— logiſchen Vergleichung der Theile nicht kennt, hat Strasburger in ſeiner „vergleichenden Anatomie“ der Gymnoſpermen dieſe Unterſchei— Laubfarne oder Filices. 423 dung und das biogenetiſche Grundgeſetz benützt, um die Grundzüge der Blutsverwandtſchaft dieſer wichtigen Pflanzengruppe feſtzuſtellen. Als die Stammgruppe der Farne, die ſich zunächſt aus den Le— bermoſen entwickelt hat, erſcheint die Klaſſe der eigentlichen Farne im engeren Sinne, der Laubfarne oder Wedelfarne (Filices oder Phyllopterides, auch Pterideae genannt). In der gegenwärtigen Flora unſerer gemäßigten Zonen ſpielt dieſe Klaſſe nur eine unterge— ordnete Rolle, da ſie hier meiſtens nur durch die niedrigen ſtammloſen Farnkräuter vertreten iſt. In der heißen Zone dagegen, nament— lich in den feuchten, dampfenden Wäldern der Tropengegenden erhebt ſie ſich noch heutigentags zur Bildung der hochſtämmigen, palmenähn— lichen Farnbäume. Dieſe ſchönen Baumfarne der Gegenwart, wel— che zu den Hauptzierden unſerer Gewächshäuſer gehören, können uns aber nur eine ſchwache Vorſtellung von den ſtattlichen und prachtvollen Laubfarnen der Primärzeit geben, deren mächtige Stämme damals dichtgedrängt ganze Wälder zuſammenſetzten. Man findet dieſe Stäm— me namentlich in den Steinkohlenflötzen der Carbonzeit maſſenhaft über einander gehäuft, und dazwiſchen vortrefflich erhaltene Abdrücke von den zierlichen Wedeln oder Blättern, welche in ſchirmartig ausge— breitetem Buſche den Gipfel des Stammes krönten. Die einfache oder mehrfache Zuſammenſetzung und Fiederung dieſer Wedel, der zierliche Verlauf der veräſtelten Nerven oder Gefäßbündel in ihrem zarten Laube iſt an den Abdrücken der paläolithiſchen Farnwedel noch ſo deut— lich zu erkennen, wie an den Farnwedeln der Jetztzeit. Bei Vielen ſind ſelbſt die Fruchthäufchen, welche auf der Unterfläche der Wedel vertheilt ſind, ganz deutlich erhalten. Nach der Steinkohlenzeit nahm das Uebergewicht der Laubfarne bereits ab und ſchon gegen Ende der Secundärzeit ſpielten ſie eine faſt ſo untergeordnete Rolle wie in der Gegenwart. Aus den Laubfarnen oder Pterideen ſcheinen ſich als drei diver— girende Aeſte die Calamarien, Ophiogloſſeen und Rhizokarpeen ent— wickelt zu haben. Von dieſen drei Klaſſen ſind auf der niederſten Stufe die Schaftfarne ſtehen geblieben (Calamariae oder Calamo- 424 Schaftfarne oder Calamarien. Waſſerfarne oder Rhizokarpeen. phyta). Sie umfaſſen drei verſchiedene Ordnungen, von denen nur eine noch gegenwärtig lebt, nämlich die Schafthalme oder Schach— telhalme (Equisetaceae). Die beiden anderen Ordnungen, die Rieſenhalme (Calamiteae) und die Sternblatthalme (Aste— rophylliteae) ſind längſt ausgeſtorben. Alle Schaftfarne zeichnen ſich durch einen hohlen und gegliederten Schaft, Stengel oder Stamm aus, an welchem Aeſte und Blätter, wenn ſie vorhanden ſind, quirlförmig um die Stengelglieder herumſtehen. Die hohlen Sten— gelglieder ſind durch Querſcheidewände von einander getrennt. Bei den Schafthalmen und Calamiten iſt die Oberfläche von längsver— laufenden parallelen Rippen durchzogen, wie bei einer cannelirten Säule, und die Oberhaut enthält ſo viel Kieſelerde, daß ſie zum Scheuern und Poliren verwendet werden kann. Bei den Sternblatt— halmen oder Aſterophylliten waren die ſternförmig in Quirle geſtell— ten Blätter ſtärker entwickelt als bei den beiden anderen Ordnungen. In der Gegenwart leben von den Schaftfarnen nur noch die unan— ſehnlichen Schafthalme oder Equiſetum-Arten unſerer Sümpfe und Moore, welche während der ganzen Primär- und Secundärzeit durch mächtige Bäume aus der Gattung Equisetites vertreten waren. Zur ſelben Zeit lebte auch die nächſtverwandte Ordnung der Rieſenhalme (Calamites), deren ſtarke Stämme gegen 50 Fuß Höhe erreichten. Die Ordnung der Sternblatthalme (Asterophyllites) dagegen ent⸗ hielt kleinere, zierliche Pflanzen von ſehr eigenthümlicher Form, und blieb ausſchließlich auf die Primärzeit beſchränkt. Am wenigſten bekannt von allen Farnen iſt uns die Geſchichte der dritten Klaſſe, der Wurzelfarne oder Waſſerfarne (Rhizocar- peae oder Hydropterides). In ihrem Bau ſchließen ſich dieſe, im ſüßen Waſſer lebenden Farne einerſeits an die Laubfarne, andrerſeits an die Schuppenfarne an. Es gehören hierher die wenig bekannten Mosfarne (Salvinia), Kleefarne (Marsilea) und Pillenfarne (Pilu- laria) in den ſüßen Gewäſſern unſerer Heimath, ferner die größere ſchwimmende Azolla der Tropenteiche. Die meiſten Waſſerfarne ſind von zarter Beſchaffenheit und deshalb wenig zur Verſteinerung ge— Zungenfarne oder Ophiogloſſeen. Schuppenfarne oder Lepidophyten. 425 eignet. Daher mag es wohl rühren, daß ihre foſſilen Reſte ſo ſel— ten ſind, und daß die älteſten derſelben, die wir kennen, im Jura gefunden wurden. Wahrſcheinlich iſt aber die Klaſſe viel älter und hat ſich bereits während der paläolithiſchen Zeit aus anderen Far— nen durch Anpaſſung an das Waſſerleben entwickelt. Die vierte Farnklaſſe wird durch die Zungenfarne (Ophio- glosseae oder Glossopterides) gebildet. Früher wurden dieſe Farne, zu welchen von unſeren einheimiſchen Gattungen außer dem Ophio— gloſſum auch das Botrychium gehört, nur als eine kleine Unterab— theilung der Laubfarne betrachtet. Sie verdienen aber deshalb den Rang einer beſonderen Klaſſe, weil ſie eine wichtige, phylogenetiſch vermittelnde Zwiſchenform zwiſchen den Pterideen und Lepidophyten darſtellen und demnach auch zu den directen Vorfahren der Blumen— pflanzen zu rechnen ſind. Die fünfte und letzte Farnklaſſe bilden die Schuppenfarne (Lepidophyta oder Selagines). Wie die Zungenfarne aus den Laubfarnen, ſo ſind ſpäter die Schuppenfarne aus den Zungenfar— nen entſtanden. Die Lepidophyten entwickelten ſich höher als alle übrigen Farne und bilden bereits den Uebergang zu den Blumen— pflanzen, die ſich aus ihnen zunächſt hervorgebildet haben. Nächſt den Wedelfarnen waren ſie am meiſten an der Zuſammenſetzung der paläolithiſchen Farnwälder betheiligt. Auch dieſe Klaſſe enthält, gleich— wie die Klaſſe der Schaftfarne, drei nahe verwandte, aber doch mehr— fach verſchiedene Ordnungen, von denen nur noch eine am Leben, die beiden anderen aber bereits gegen Ende der Steinkohlenzeit aus— geſtorben ſind. Die heute noch lebenden Schuppenfarne gehören zur Ordnung der Bärlappe (Lycopodiaceae). Es ſind meiſtens kleine und zierliche, mosähnliche Pflänzchen, deren zarter, in vielen Win— dungen ſchlangenartig auf dem Boden kriechender und vielveräſtelter Stengel dicht von ſchuppenähnlichen und ſich deckenden Blättchen eingehüllt iſt. Die zierlichen Lycopodium-Ranken unſerer Wälder, welche die Gebirgsreiſenden um ihre Hüte winden, werden Ihnen Allen bekannt ſein, ebenſo die noch zartere Selaginella, welche als 7 Schuppenfarne oder Lepidophyten. 426 ſogenanntes „Rankenmoos“ den Boden unſerer Gewächshäuſer mit dichtem Teppich ziert. Die größten Bärlappe der Gegenwart leben auf den Sundainſeln und erheben ſich dort zu Stämmen von einem halben Fuß Dicke und 25 Fuß Höhe. Aber in der Primärzeit und Secundärzeit waren noch größere Bäume dieſer Gruppe weit verbrei— tet, von denen die älteſten vielleicht zu den Stammeltern der Na— delhölzer gehören (Lycopodites). Die mächtigſte Entwickelung er⸗ reichte jedoch die Klaſſe der Schuppenfarne während der Primärzeit nicht in den Bärlappbäumen, ſondern in den beiden Ordnungen der Schuppenbäume (Lepidodendreae) und der Siegelbäume (Sigillarieae). Dieſe beiden Ordnungen treten ſchon in der Devon— zeit mit einzelnen Arten auf, erreichen jedoch ihre maſſenhafte und erſtaunliche Ausbildung erſt in der Steinkohlenzeit, und ſterben bereits gegen Ende derſelben oder in der darauf folgenden permiſchen Pe— riode wieder aus. Die Schuppenbäume oder Lepidodendren waren wahrſcheinlich den Bärlappen noch näher verwandt, als die Siegel— bäume. Sie erhoben ſich zu prachtvollen, unveräſtelten und gerade aufſteigenden Stämmen, die ſich am Gipfel nach Art eines Kron— leuchters gabelſpaltig in zahlreiche Aeſte theilten. Dieſe trugen eine mächtige Krone von Schuppenblättern und waren gleich dem Stamm in zierlichen Spirallinien von den Narben oder Anſatzſtellen der ab— gefallenen Blätter bedeckt. Man kennt Schuppenbäume von 40 — 60 Fuß Länge und 12 — 15 Fuß Durchmeſſer am Wurzelende. Ein: zelne Stämme ſollen ſelbſt mehr als hundert Fuß lang ſein. Noch viel maſſenhafter finden ſich in der Steinkohle die nicht minder ho— hen, aber ſchlankeren Stämme der merkwürdigen Siegelbäume oder Sigillarien angehäuft, die an manchen Orten hauptſächlich die Stein— kohlenflötze zuſammenſetzen. Ihre Wurzelſtöcke hat man früher als eine ganz beſondere Pflanzenform (Stigmaria) beſchrieben. Die Sie⸗ gelbäume ſind in vieler Beziehung den Schuppenbäumen ſehr ähn— lich, weichen jedoch durch ihren anatomiſchen Bau ſchon mehrfach von dieſen und von den Farnen überhaupt ab. Vielleicht waren ſie den ausgeſtorbenen devoniſchen Lycopterideen nahe verwandt, Blumenpflanzen oder Phanerogamen. 427 welche charakteriſtiſche Eigenſchaften der Bärlappe und der Laubfarne in ſich vereinigten, und welche Strasburger als die hypothe— tiſche Stammform der Blumenpflanzen (zunächſt der Nadelhölzer) be— trachtet. Indem wir nun die dichten Farnwälder der Primärzeit verlaſſen, welche vorzugsweiſe aus den Laubfarnen, aus den Schuppenbäumen und Siegelbäumen zuſammengeſetzt ſind, treten wir in die nicht min— der charakteriſtiſchen Nadelwälder der Secundärzeit hinüber. Damit treten wir aber zugleich aus dem Bereiche der blumenloſen und ſa— menloſen Pflanzen oder Kryptogamen in die zweite Hauptabtheilung des Pflanzenreichs, in das Unterreich der ſamenbildenden Pflanzen, der Blumenpflanzen oder Phanerogamen hinein. Dieſe formenreiche Abtheilung, welche die Hauptmaſſe der jetzt lebenden Pflanzenwelt, und namentlich die große Mehrzahl der landbewohnen— den Pflanzen enthält, iſt jedenfalls viel jüngeren Alters, als die Ab— theilung der Kryptogamen. Denn ſie kann erſt im Laufe des paläo— lithiſchen Zeitalters aus dieſer letzteren ſich entwickelt haben. Mit voller Gewißheit können wir behaupten, daß während des ganzen archolithiſchen Zeitalters, alſo während der erſten und längeren Hälfte der organischen Erdgeſchichte, noch gar keine Blumenpflanzen exiſtir— ten, und daß ſie ſich erſt während der Primärzeit aus farnartigen Kryptogamen entwickelten. Die anatomiſche und embryologiſche Ver— wandtſchaft der Phanerogamen mit dieſen letzteren iſt ſo innig, daß wir daraus mit Sicherheit auch auf ihren genealogiſchen Zuſammen— hang, ihre wirkliche Blutsverwandtſchaft ſchließen können. Die Blu— menpflanzen können unmittelbar weder aus Thalluspflanzen noch aus Moſen, ſondern nur aus Farnen oder Filieinen entſtanden fein. Höchſt wahrſcheinlich ſind die Schuppenfarne oder Lepidophyten, und zwar die vorher genannten Lycopterideen, welche der heutigen Selaginella ſehr nahe verwandt waren, die unmittelbaren Vorfahren der Phanerogamen geweſen. Schon ſeit langer Zeit hat man auf Grund des inneren anato— miſchen Baues und der embryologiſchen Entwickelung das Unterreich 428 Nacktſamige oder Gymnoſpermen. Palmfarne oder Cycadeen. der Phanerogamen in zwei große Hauptklaſſen eingetheilt, in die Nacktſamigen oder Gymnoſpermen und in die Deckſami— gen oder Angioſpermen. Dieſe letzteren ſind in jeder Beziehung vollkommener und höher organiſirt als die erſteren, und haben ſich erſt ſpäter, im Laufe der Secundärzeit, aus jenen entwickelt. Die Gymnoſpermen bilden ſowohl anatomiſch als embryologiſch die ver— mittelnde Uebergangsgruppe von den Farnen zu den Angioſpermen. Die niedere, unvollkommnere und ältere von den beiden Haupt— klaſſen der Blumenpflanzen, die der Nacktſamigen (Gymnosper- mae oder Archispermae) erreichte ihre mannichfaltigſte Ausbildung und ihre weiteſte Verbreitung während der meſolithiſchen oder Se— cundärzeit. Sie iſt für dieſes Zeitalter nicht minder charakteriſtiſch, wie die Farngruppe für das vorhergehende primäre, und wie die Angioſpermengruppe für das nachfolgende tertiäre Zeitalter. Wir konnten daher die Secundärzeit auch als den Zeitraum der Gymno— ſpermen, oder nach ihren bedeutendſten Vertretern als das Zeitalter der Nadelhölzer bezeichnen. Die Nacktſamigen zerfallen in drei Klaſ— ſen, die Coniferen, Cycadeen und Gnetaceen. Wir finden verſtei— nerte Reſte derſelben bereits in der Steinkohle vor, und müſſen dar— aus ſchließen, daß der Uebergang von Schuppenfarnen in Gymno— ſpermen bereits während der Steinkohlenzeit, oder vielleicht ſelbſt ſchon in der devoniſchen Zeit erfolgt iſt. Immerhin ſpielen die Nacktſamigen während der ganzen folgenden Primärzeit nur eine ſehr untergeordnete Rolle und gewinnen die Herrſchaft über die Farne erſt im Beginn der Secundärzeit. Von den drei Klaſſen der Gymnoſpermen ſteht diejenige der Palmfarne oder Zamien (Cycadeae) auf der niederſten Stufe und ſchließt ſich, wie ſchon der Name jagt, unmittelbar an die Farne an, ſo daß ſie ſelbſt von manchen Botanikern wirklich mit dieſer Gruppe in Syſteme vereinigt wurde. In der äußeren Geſtalt glei— chen fie ſowohl den Palmen, als den Farnbäumen oder baumartigen Laubfarnen und tragen eine aus Fiederblättern zuſammengeſetzte Krone, welche entweder auf einem dicken niedrigen Strunke oder auf Nadelhölzer oder Coniferen. 429 einem ſchlanken, einfachen, ſäulenförmigen Stamme ſitzt. In der Gegenwart iſt dieſe einſt formenreiche Klaſſe nur noch durch wenige, in der heißen Zone lebende Formen dürftig vertreten, durch die nie— drigen Zapfenfarne (Zamia), die dickſtämmigen Brodfarne (Encephal- artos), und die ſchlankſtämmigen Rollfarne (Cycas). Man findet ſie häufig in unſeren Treibhäuſern, wo ſie gewöhnlich mit Palmen verwechſelt werden. Eine viel größere Formenmannichfaltigkeit als die lebenden, bieten uns die ausgeſtorbenen und verſteinerten Zapfen— farne, welche namentlich in der Mitte der Secundärzeit, während der Juraperiode in größter Maſſe auftraten und damals vorzugsweiſe den Charakter der Wälder beſtimmten. In größerer Formenmannichfaltigkeit als die Klaſſe der Palm— farne hat ſich bis auf unſere Zeit der andere Zweig der Gymnoſper— mengruppe erhalten, die Klaſſe der Nadelhölzer oder Zapfen— bäume (Coniferae). Noch gegenwärtig ſpielen die dazu gehörigen Cypreſſen, Wachholder und Lebensbäume (Thuja), die Taxus und Ginkobäume (Salisburya), die Araucarien und Cedern, vor allen aber die formenreiche Gattung Pinus mit ihren zahlreichen und be— deutenden Arten, den verſchiedenen Kiefern, Pinien, Tannen, Fich— ten, Lärchen u. ſ. w. in den verſchiedenſten Gegenden der Erde eine ſehr bedeutende Rolle, und ſetzen ausgedehnte Waldgebiete faſt allein zuſammen. Doch erſcheint dieſe Entwickelung der Nadelhölzer ſchwach im Vergleiche zu der ganz überwiegenden Herrſchaft, welche ſich dieſe Klaſſe während der älteren Secundärzeit, in der Triasperiode, über die übrigen Pflanzen erworben hatte. Damals bildeten mächtige Zapfen— bäume in verhältnißmäßig wenigen Gattungen und Arten, aber in un— geheuren Maſſen von Individuen beiſammen ſtehend, den Hauptbe— ſtandtheil der meſolithiſchen Wälder. Sie rechtfertigen die Benennung der Secundärzeit als des „Zeitalters der Nadelwälder“, obwohl die Coniferen ſchon in der Jurazeit von den Cycadeen überflügelt wurden. Die Stammgruppe der Coniferen ſpaltete ſich ſchon frühzeitig in zwei Aeſte, in die Araucarien einerſeits, die Taxaceen oder Tarbäume andererſeits. Von den erſteren ſtammt die Hauptmaſſe der Nadelhöl— 430 Deckſamige oder Angioſpermen. zer ab. Aus den letzteren hingegen entwickelte ſich die dritte Klaſſe der Gymnoſpermen, die Mening os oder Gnetaceae. Dieſe kleine, aber ſehr intereſſante Klaſſe enthält nur drei verſchiedene Gattungen: Gnetum, Welwitschia und Ephedra; ſie iſt aber von großer Be— deutung als die unmittelbare Uebergangsgruppe von den Coniferen zu den Angioſpermen, und zwar ſpeciell zu den Dicotylen. Aus den Nadelwäldern der meſolithiſchen oder Secundärzeit treten wir in die Laubwälder der cenolithiſchen oder Tertiärzeit hin— über und gelangen dadurch zur Betrachtung der ſechsten und letzten Hauptklaſſe des Pflanzenreichs, der Deckſamigen (Angiospermae oder Metaspermae). Die erſten ſicheren Verſteinerungen von Deckſa— migen finden wir in den Schichten des Kreideſyſtems, und zwar kom— men hier neben einander Reſte von den beiden Klaſſen vor, in welche man die Hauptklaſſe der Angioſpermen allgemein eintheilt, nämlich Einkeimblättrige oder Monocotylen und Zweikeimblätt— rige oder Dicotylen. Indeſſen iſt die ganze Gruppe wahrſchein— lich älteren Urſprungs und ſchon während der Trias-Periode entſtan— den. Wir kennen nämlich eine Anzahl von zweifelhaften und nicht ſicher beſtimmbaren foſſilen Pflanzenreſten aus der Jurazeit und aus der Triaszeit, welche von manchen Botanikern bereits für Angiofper- men, von anderen dagegen für Gymnoſpermen gehalten werden. Was die beiden Klaſſen der Deckſamigen betrifft, Monocotylen und Dicotylen, ſo haben ſich höchſt wahrſcheinlich zunächſt aus den Gne— taceen die Dicotylen, hingegen die Monocotylen erſt ſpäter aus einem Zweige der Dicotylen entwickelt. Die Klaſſe der Einkeimblättrigen oder Einſamen— lappigen (Monocotylae oder Monocotyledones, auch Endogenae genannt) umfaßt diejenigen Blumenpflanzen, deren Samen nur ein einziges Keimblatt oder einen ſogenannten Samenlappen (Cotyledon) beſitzt. Jeder Blattkreis ihrer Blume enthält in der großen Mehrzahl der Fälle drei Blätter, und es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die ge— meinſame Mutterpflanze aller Monocotylen eine regelmäßige und drei— zählige Blüthe beſaß. Die Blätter ſind meiſtens einfach, von ein— Einkeimblättrige oder Monocotylen. 431 fachen, graden Gefäßbündeln oder ſogenannten „Nerven“ durchzogen. Zu dieſer Klaſſe gehören die umfangreichen Familien der Binſen und Gräſer, Lilien und Schwertlilien, Orchideen und Dioscoreen, ferner eine Anzahl einheimiſcher Waſſerpflanzen, die Waſſerlinſen, Rohr— kolben, Seegräſer u. ſ. w., und endlich die prachtvollen, höchſt ent— wickelten Familien der Aroideen und Pandaneen, der Bananen und Palmen. Im Ganzen iſt die Monocotylenklaſſe trotz aller Formen— mannichfaltigkeit, die ſie in der Tertiärzeit und in der Gegenwart ent— wickelt hat, viel einförmiger organiſirt, als die Dicotylenklaſſe, und— auch ihre geſchichtliche Entwickelung bietet ein viel geringeres Intereſſe. Da ihre verſteinerten Reſte meiſtens ſchwer zu erkennen ſind, ſo bleibt die Frage vorläufig noch offen, in welchem der drei großen ſecundä— ren Zeiträume, Trias-, Jura- oder Kreidezeit, die Monocotylen aus den Dicotylen entſtanden ſind. Jedenfalls exiſtirten ſie bereits in der Kreidezeit. Viel größeres hiſtoriſches und anatomiſches Intereſſe bietet in der Entwickelung ihrer untergeordneten Gruppen die zweite Klaſſe der Deckſamigen, die Zweikeimblättrigen oder Zweiſamen— lappigen (Dicotylae oder Dicotyledones, auch Exogenae be— nannt). Die Blumenpflanzen dieſer Klaſſe beſitzen, wie ihr Name jagt, gewöhnlich zwei Samenlappen oder Keimblätter (Cotyledonen). Die Grundzahl in der Zuſammenſetzung ihrer Blüthe iſt gewöhnlich nicht drei, wie bei den meiſten Monocotylen, ſondern vier oder fünf, oder ein Vielfaches davon. Ferner ſind ihre Blätter gewöhnlich höher differenzirt und mehr zuſammengeſetzt, als die der Monocotylen, und von gekrümmten, veräſtelten Gefäßbündeln oder „Adern“ durchzogen. Zu dieſer Klaſſe gehören die meiſten Laubbäume, und da dieſelbe in der Tertiärzeit ſchon ebenſo wie in der Gegenwart das Uebergewicht über die Gymnoſpermen und Farne beſaß, ſo konnten wir das ceno— lithiſche Zeitalter auch als das der Laubwälder bezeichnen. Obwohl die Mehrzahl der Dicotylen zu den höchſten und voll— kommenſten Pflanzen gehört, ſo ſchließt ſich doch die niederſte Ab— theilung derſelben unmittelbar an die Gymnoſpermen, und zwar an 432 Zweileimblättrige oder Dicotylen. die Gnetaceen an. Bei den niederen Dicotylen iſt, wie bei den Monocotylen, Kelch und Blumenkrone noch nicht geſondert. Man nennt fie daher Kelchblüthige (Monochlamydeae oder Apetalae). Dieſe Unterklaſſe iſt ohne Zweifel als die Stammgruppe der Angio— ſpermen anzuſehen, und exiſtirte wahrſcheinlich ſchon während der Trias- oder Jura-Zeit. Es gehören dahin die meiſten kätzchentra— genden Laubbäume, die Birken und Erlen, Weiden und Pappeln, Buchen und Eichen, ferner die neſſelartigen Pflanzen, Neſſeln, Hanf und Hopfen, Feigen, Maulbeeren und Rüſtern, endlich die wolfs— milchartigen, lorbeerartigen, amaranthartigen Pflanzen u. ſ. w. Erſt ſpäter, in der Kreidezeit, erſcheint die zweite und voll— kommnere Unterklaſſe der Dicotylen, die Gruppe der Kronen blü— thigen (Dichlamydeae oder Corolliflorae). Dieſe entſtanden aus den Kelchblüthigen dadurch, daß ſich die einfache Blüthenhülle der letzteren in Kelch und Krone differenzirte. Die Unterklaſſe der Kro— nenblüthigen zerfällt wiederum in zwei große Hauptabtheilungen oder Legionen, deren jede eine große Menge von verſchiedenen Ordnun— gen, Familien, Gattungen und Arten enthält. Die erſte Legion führt den Namen der Sternblüthigen oder Diapetalen, die zweite den Namen der Glockenblüthigen oder Gamopetalen. Die tiefer ſtehende und unvollkommnere von den beiden Legio— nen der Kronenblüthigen find die Sternblüthigen (Diapetalae, auch Polypetalae oder Dialypetalae genannt). Hierher gehören die umfangreichen Familien der Doldenblüthigen oder Umbelliferen, der Kreuzblüthigen oder Cruciferen, ferner die Ranunculaceen und Graf- ſulaceen, Waſſerroſen und Ciſtroſen, Malven und Geranien, und neben vielen anderen namentlich noch die großen Abtheilungen der Roſenblüthigen (welche außer den Roſen die meiſten unſerer Obſt— bäume umfaſſen), und der Schmetterlingsblüthigen (welche unter an— deren die Wicken, Bohnen, Klee, Ginſter, Akacien und Mimoſen ent- halten). Bei allen dieſen Diapetalen bleiben die Blumenblätter ge— trennt und verwachſen nicht mit einander, wie es bei den Gamope— talen der Fall iſt. Die letzteren haben ſich erſt in der Tertiärzeit aus Huck el, Natürl Schöpfungsgesch.4. Aufl. m 27 Y Haupt Abtheilungen See Blumenlose Pflanzen, Cryptogamae Blumen-Pflanzen, Phanero«a Samae. | Thalluspflanzen, Thallophyta. Mose Farne, Filieinae. Nacktsamige Muse e 3 e eee | Fadenpflanzen| Leber- Laub- ae. nose. Tange. A 1 1 Mreut 1 . aa . ceae. er } Midi ae Monochlamıya en a En IV Lů5, . . ſatolitit. Tertiaer-Z . F;; td 8 = N ;;, A % ••FViIX;ꝑ IN N Ni ZEN e e TAN 5 0 1 1% N 2 02 1 | A Au 55 185 BE Steinkohlen- Periode. IE 5 N . 00 % N N 5 1 0 10 % e V — u . 5 0 1 Na ran NIZARNN 4% | 000 0 NL Y nn 0 1 * 22222 rs 5 , 0 1 N 90 % Primeeres Zeitalter. Palaeolithisches oder Periode. Silurische 166% 18 Relative Länge de- . a . e VVV Einheitlicher 28 INN MM | Omartär leit , , oder monophyletischer Is Cambrische 1 % Tertiär-Zet 2 3 x 2 dien, Seundär- Zeit 5 Flammbaum des l lanzenreichs J 9 5 3 Primär leit 42 J N 1 J S ee Primordial Heis 58,6 palaeontologisch begründet. SZ ‚Laurentische — ee periode. Summa 700 0 | ai | > . 2 ae Zweikeimblättrige oder Dieotylen. 433 den Diapetalen entwickelt, während dieſe ſchon in der Kreidezeit neben den Kelchblüthigen auftraten. Die höchſte und vollkommenſte Gruppe des Pflanzenreichs bildet die zweite Abtheilung der Kronenblüthigen, die Legion der Glocken— blüthigen (Gamopetalae, auch Monopetalae oder Sympetalae genannt). Hier verwachſen die Blumenblätter, welche bei den übri— gen Blumenpflanzen meiſtens ganz getrennt bleiben, regelmäßig zu einer mehr oder weniger glocken-, trichter-oder röhrenförmigen Krone. Es gehören hierher unter anderen die Glockenblumen und Winden, Primeln und Haidekräuter, Gentiane und Gaisblatt, ferner die Fa— milie der Oelbaumartigen (Oelbaum, Liguſter, Flieder und Eſche) und endlich neben vielen anderen Familien die umfangreichen Abthei— lungen der Lippenblüthigen (Labiaten) und der Zuſammengeſetztblü— thigen (Compoſiten). In dieſen letzteren erreicht die Differenzirung und Vervollkommnung der Phanerogamenblüthe ihren höchſten Grad, und wir müſſen ſie daher als die Vollkommenſten von allen an die Spitze des Pflanzenreichs ſtellen. Dem entſprechend tritt die Legion der Glockenblüthigen oder Gamopetalen am ſpäteſten von allen Haupt— gruppen des Pflanzenreichs in der organiſchen Erdgeſchichte auf, näm— lich erſt in der cenolithiſchen oder Tertiärzeit. Selbſt in der älteren Tertiärzeit iſt ſie noch ſehr ſelten, nimmt erſt in der mittleren langſam zu und erreicht erſt in der neueren Tertiärzeit und in der Quartärzeit ihre volle Ausbildung. N Wenn Sie nun, in der Gegenwart angelangt, nochmals die ganze geſchichtliche Entwickelung des Pflanzenreichs überblicken, ſo werden ſie nicht umhin können, darin lediglich eine großartige Beſtätigung der Deſcendenztheorie zu finden. Die beiden großen Grundgeſetze der organiſchen Entwickelung, die wir als die nothwendigen Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Daſein nachgewieſen haben, die Geſetze der Differenzirung und der Vervollkommnung, machen ſich in der Entwickelung der größeren und kleineren Gruppen des natürlichen Pflanzenſyſtems überall geltend. In jeder größeren und kleineren Periode der organi— Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 28 434 Rückblick auf die geſchichtliche Entwickelung des Pflanzenreichs. ſchen Erdgeſchichte nimmt das Pflanzenreich ſowohl an Mannichfal— tigkeit, als an Vollkommenheit zu, wie Ihnen ſchon ein Blick auf Taf. IV deutlich zeigt. Während der ganzen langen Primordial— zeit exiſtirt nur die niederſte und unvollkommenſte Hauptklaſſe der Tange. Zu dieſen geſellen ſich in der Primärzeit die höheren und vollkommneren Kryptogamen, insbeſondere die Hauptklaſſe der Farne. Schon während der Steinkohlenzeit beginnen ſich aus dieſen die Pha— nerogamen zu entwickeln, anfänglich jedoch nur durch die niedere Hauptklaſſe der Nacktſamigen oder Gymnoſpermen repräſentirt. Erſt während der Secundärzeit geht aus dieſen die höhere Hauptklaſſe der Deckſamigen oder Angioſpermen hervor. Auch von dieſen ſind anfänglich nur die niederen, kronenloſen Gruppen, die Monocoty— len und die Apetalen vorhanden. Erſt während der Kreidezeit entwickeln ſich aus letzteren die höheren Kronenbüthigen. Aber auch dieſe höchſte Abtheilung iſt in der Kreidezeit nur durch die tiefer ſte— henden Sternblüthigen oder Diapetalen vertreten, und ganz zuletzt erſt, in der Tertiärzeit, gehen aus dieſen die höher ſtehenden Glocken— blüthigen oder Gamopetalen hervor, die vollkommenſten von allen Blumenpflanzen. So erhob ſich in jedem jüngeren Abſchnitt der or— ganiſchen Erdgeſchichte das Pflanzenreich ſtufenweiſe zu einem höheren Grade der Vollkommenheit und der Mannichfaltigkeit. Achtzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. J. Urthiere, Pflanzenthiere, Wurmthiere. Das natürliche Syſtem des Thierreichs. Syſtem von Linné und Lamarck. Die vier Typen von Bär und Cuvier. Vermehrung derſelben auf ſieben Typen. Genealogiſche Bedeutung der ſieben Typen als ſelbſtſtändiger Stämme des Thier— reichs. Monophyletiſche und polyphyletiſche Deſcendenzhypotheſe des Thierreichs. Abſtammung der Pflanzenthiere und Würmer von den Urthieren. Gemeinſamer Urſprung der vier höheren Thierſtämme aus dem Würmerſtamm. Eintheilung der ſieben Thierſtämme in 16 Hauptklaſſen und 38 Klaſſen. Stamm der Ur— thiere. Urahnthiere (Moneren, Amoeben, Synamoeben). Gregarinen. Infu— ſionsthiere. Planäaden und Gaſträaden (Planula und Gaſtrula). Stamm der Pflanzenthiere. Schwämme oder Spongien (Schleimſchwämme, Faſerſchwämme, Kalkſchwämme). Neſſelthiere oder Akalephen (Korallen, Schirmquallen, Kamm— quallen). Stamm der Wurmthiere. Plattwürmer. Rundwürmer. Mosthiere. Mantelthiere. Rüſſelwürmer. Sternwürmer. Räderthiere. Ringelwürmer. Meine Herren! Das natürliche Syſtem der Organismen, wel— ches wir ebenſo im Thierreich wie im Pflanzenreich zunächſt als Leit— faden für unſere genealogiſchen Unterſuchungen benutzen müſſen, iſt hier wie dort erſt neueren Urſprungs, und weſentlich durch die Fort— ſchritte unſeres Jahrhunderts in der vergleichenden Anatomie und Ontogenie bedingt. Die Klaſſificationsverſuche des vorigen Jahr— hunderts bewegten ſich faſt ſämmtlich noch in der Bahn des künſt— lichen Syſtems, welches zuerſt Carl Linné in ſtrengerer Form aufgeſtellt hatte. Das künſtliche Syſtem unterſcheidet ſich von dem 28 * 436 Natürliches und künſtliches Syſtem des Thierreichs. natürlichen weſentlich dadurch, daß es nicht die geſammte Organi— ſation und die innere, auf der Blutsverwandtſchaft beruhende Form— verwandtſchaft zur Grundlage der Eintheilung macht, ſondern nur einzelne und dazu meiſt noch äußerliche, leicht in die Augen fallende Merkmale. So unterſchied Linné feine 24 Klaſſen des Pflanzen— reichs weſentlich nach der Zahl, Bildung und Verbindung der Staub— gefäße. Ebenſo unterſchied derſelbe im Thierreiche ſechs Klaſſen we— ſentlich nach der Beſchaffenheit des Herzens und des Blutes. Dieſe ſechs Klaſſen waren: 1. die Säugethiere; 2. die Vögel; 3. die Am- phibien; 4. die Fiſche; 5. die Inſecten und 6. die Würmer. Dieſe ſechs Thierklaſſen Linné's ſind aber keineswegs von gleichem Werthe, und es war ſchon ein wichtiger Fortſchritt, als Lamarck zu Ende des vorigen Jahrhunderts die vier erſten Klaſſen als Wirbelthiere (Vertebrata) zuſammenfaßte, und dieſen die übrigen Thiere, die Inſecten und Würmer Linn é's, als eine zweite Hauptabtheilung, als Wirbelloſe (Invertebrata) gegenüberſtellte. Eigentlich griff Lamarck damit auf den Vater der Naturgeſchichte, auf Ariſtoteles zurück, welcher dieſe beiden großen Hauptgruppen bereits unterſchieden, und die erſteren Blutthiere, die letzteren Blutloſe genannt hatte. Den nächſten großen Fortſchritt zum natürlichen Syſtem des Thierreichs thaten einige Decennien ſpäter zwei der verdienſtvollſten Zoologen, Carl Ernſt Bär und George Cuvier. Wie ſchon früher erwähnt wurde, ſtellten dieſelben faſt gleichzeitig, und unab— hängig von einander, die Behauptung auf, daß mehrere grundver— ſchiedene Hauptgruppen im Thierreich zu unterſcheiden ſeien, von de— nen jede einen ganz eigenthümlichen Bauplan oder Typus beſitze. (Vergl. oben S. 48.) In jeder dieſer Hauptabtheilungen giebt es eine baumförmig verzweigte Stufenleiter von ſehr einfachen und unvollkommenen bis zu höchſt zuſammengeſetzten und entwickelten Formen. Der Ausbildungsgrad innerhalb eines jeden Typus iſt ganz unabhängig von dem eigenthümlichen Bauplan, der dem Typus als beſonderer Charakter zu Grunde liegt. Dieſer „Typus“ Die vier Typen des Thierreichs von Bär und Cuvier. 437 wird durch das eigenthümliche Lagerungsverhältniß der wichtigſten Körpertheile und die Verbindungsweiſe der Organe beſtimmt. Der Ausbildungsgrad dagegen iſt abhängig von der mehr oder weniger weitgehenden Arbeitstheilung oder Differenzirung der Plaſtiden und Organe. Dieſe außerordentlich wichtige und fruchtbare Idee begrün— dete Bär, welcher ſich auf die individuelle Entwickelungsgeſchichte der Thiere ſtützte, viel klarer und tiefer als Cuvier, welcher ſich bloß an die Reſultate der vergleichenden Anatomie hielt. Doch er— kannte weder dieſer noch jener die wahre Urſache jenes merkwürdi— gen Verhältniſſes. Dieſe wird uns erſt durch die Deſcendenztheorie enthüllt. Sie zeigt uns, daß der gemeinſame Typus oder Bauplan durch die Vererbung, der Grad der Ausbildung oder Sonderung dagegen durch die Anpaſſung bedingt iſt. (Gen. Morph. II, 10.) Sowohl Bär als Cuvier unterſcheiden im Thierreich vier ver— ſchiedene Typen oder Baupläne und theilten daſſelbe dem entſprechend in vier große Hauptabtheilungen (Zweige oder Kreiſe) ein. Die erſte von dieſen wird durch die Wirbelthiere (Vertebrata) gebildet, welche die vier erſten Klaſſen Linné's umfaſſen: die Säugethiere, Vögel, Amphibien und Fiſche. Den zweiten Typus bilden die Glie— derthiere (Articulata), welche die Inſecten Linné's, alſo die eigentlichen Inſecten, die Tauſendfüße, Spinnen und Krebſe, außer— dem aber auch einen großen Theil der Würmer, insbeſondere die ge— gliederten Würmer enthalten. Die dritte Hauptabtheilung umfaßt die Weichthiere (Mollusca): die Kracken, Schnecken, Muſcheln, und einige verwandte Gruppen. Der vierte und letzte Kreis des Thier— reichs endlich iſt aus den verſchiedenenen Strahlthieren (Radiata) zuſammengeſetzt, welche ſich auf den erſten Blick von den drei vorher— gehenden Typen durch ihre „ſtrahlige“, blumenähnliche Körperform unterſcheiden. Während nämlich bei den Weichthieren, Gliederthie— ren und Wirbelthieren der Körper aus zwei ſymmetriſch-gleichen Sei— tenhälften beſteht, aus zwei Gegenſtücken oder Antimeren, von denen das eine das Spiegelbild des anderen darſtellt, ſo iſt dagegen bei den ſogenannten Strahlthieren der Körper aus mehr als zwei, gewöhnlich 438 Die ſieben thieriſchen Typen der neueren Zoologie. vier, fünf oder ſechs Gegenſtücken zuſammengeſetzt, welche wie bei einer Blume um eine gemeinſame Hauptaxe gruppirt ſind. So auf— fallend dieſer Unterſchied zunächſt auch erſcheint, ſo iſt er doch im Grunde nur untergeordnet, und keineswegs hat die Strahlform bei allen „Strahlthieren“ dieſelbe Bedeutung. Die Aufſtellung dieſer natürlichen Hauptgruppen, Typen oder Kreiſe des Thierreichs, durch Bär und Cuvier war der größte Fort— ſchritt in der Klaſſification der Thiere ſeit Linné. Die drei Gruppen der Wirbelthiere, Gliederthiere und Weichthiere ſind ſo naturgemäß, daß ſie noch heutzutage in wenig verändertem Umfang beibehalten wer— den. Dagegen mußte die ganz unnatürliche Vereinigung der Strahl— thiere bei genauerer Erkenntniß alsbald aufgelöſt werden. Zuerſt wies Leuckart 1848 nach, daß darunter zwei grundverſchiedene Typen vermiſcht ſeien, nämlich einerſeits die Sternthiere (Echinoderma): die Seeſterne, Seelilien, Seeigel und Seegurken; andrerſeits die Pflanzenthiere (Coelenterata oder Zoophyta): die Schwämme, Korallen, Schirmquallen und Kammquallen. Gleichzeitig wurden durch Siebold die Infuſionsthierchen oder Infuſorien mit den Wur— zelfüßern oder Rhizopoden in einer beſonderen Hauptabtheilung des Thierreichs als Urthiere (Protozoa) vereinigt. Dadurch ſtieg die Zahl der thieriſchen Typen oder Kreiſe auf ſechs. Endlich wurde die— ſelbe noch dadurch um einen ſiebenten Typus vermehrt, daß die mei— ſten neueren Zoologen die Hauptabtheilung der Gliederthiere oder Articulaten in zwei Gruppen trennten, einerſeits die mit gegliederten Beinen verſehenen Gliederfüßer (Arthropoda), welche den In— ſecten im Sinne Linné's entſprechen, nämlich die eigentlichen (ſechs— beinigen) Inſecten, die Tauſendfüße, Spinnen und Krebſe; andrerſeits die fußloſen oder mit ungegliederten Füßen verfehenen Würmer (Vermes). Dieſe letzteren umfaſſen nur die eigentlichen oder echten Würmer (die Ringelwürmer, Rundwürmer, Plattwürmer u. ſ. w.) und entſprechen daher keineswegs den Würmern in Linné's Sinne, welcher dazu auch noch die Weichthiere, Strahlthiere und viele andere niedere Thiere gerechnet hatte. Stammesurkunden des Thierreichs. 439 So wäre denn nach der Anſchauung der neueren Zoologen, welche Sie faſt in allen Hand- und Lehrbüchern der gegenwärtigen Thierkunde vertreten finden, das Thierreich aus ſieben ganz verſchie— denen Hauptabtheilungen oder Typen zuſammengeſetzt, deren jede durch einen charakteriſtiſchen, ihr ganz eigenthümlichen ſogenannten Bauplan ausgezeichnet, und von jeder der anderen völlig verſchieden iſt. In dem natürlichen Syſtem des Thierreichs, welches ich Ihnen jetzt als den wahrſcheinlichen Stammbaum deſſelben entwickeln werde, ſchließe ich mich im Großen und Ganzen dieſer üblichen Eintheilung an, jedoch nicht ohne einige Modificationen, welche ich in Betreff der Genealogie für ſehr wichtig halte, und welche unmittelbar durch un— ſere hiſtoriſche Auffaſſung der thieriſchen Formbildung bedingt ſind. Ueber den Stammbaum des Thierreichs erhalten wir (ebenſo wie über denjenigen des Prlanzenreiches) offenbar die ſicher— ſten Aufſchlüſſe durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie. Außerdem giebt uns auch über die hiſtoriſche Aufeinanderfolge vieler Gruppen die Paläontologie höchſt ſchätzbare Auskunft. Zunächſt kön— nen wir aus den zahlreichen Thatſachen der vergleichenden Anatomie und Ontogenie auf die gemeinſame Abſtammung aller derjenigen Thiere ſchließen, die zu einem der ſieben genannten „Typen“ gehören. Denn trotz aller Mannichfaltigkeit in der äußeren Form, welche inner— halb jedes dieſer Typen ſich entwickelt, iſt dennoch die Grundlage des inneren Baues, das weſentliche Lagerungsverhältniß der Körpertheile, welches den Typus beſtimmt, ſo conſtant, bei allen Gliedern jedes Typus ſo übereinſtimmend, daß man dieſelben eben wegen dieſer in— neren Formverwandtſchaft im natürlichen Syſtem in einer einzigen Hauptgruppe vereinigen muß. Daraus folgt aber unmittelbar, daß dieſe Vereinigung auch im Stammbaum des Thierreichs ſtattfinden muß. Denn die wahre Urſache jener innigen Formverwandtſchaft kann uur die wirkliche Blutsverwandtſchaft ſein. Wir können alſo ohne Weiteres den wichtigen Satz aufſtellen, daß alle Thiere, welche zu einem und demſelben Kreis oder Typus gehören, von einer und derſelben urſprünglichen Stammform abſtammen müſſen. Mit ande— 440 Polyphyletiſche und monophyletiſche Abſtammung. ren Worten, der Begriff des Kreiſes oder Typus, wie er in der Zoologie ſeit Bär und Cuvier für die wenigen oberſten Haupt— gruppen oder „Unterreiche“ des Thierreichs gebräuchlich iſt, fällt zu— ſammen mit dem Begriffe des Stammes oder Phylum, wie ihn die Deſcendenztheorie für die Geſammtheit derjenigen Organismen anwendet, welche ohne Zweifel blutsverwandt ſind, und eine ge— meinſame Wurzel beſitzen. Wenn wir demgemäß die ganze Mannichfaltigkeit der thieriſchen Formen auf dieſe ſieben Grundformen zurückführen können, ſo tritt uns als zweites phylogenetiſches Problem die Frage entgegen: Wo kommen dieſe ſieben Thierſtämme her? Sind die ſieben urſprünglichen Stammformen derſelben ganz ſelbſtſtändigen Urſprungs, oder ſind auch ſie unter einander in entfernterem Grade blutsverwandt? Anfänglich könnte man geneigt ſein, dieſe Frage in polyphy— letiſchem Sinne dahin zu beantworten, daß für jeden der ſieben großen Thierſtämme mindeſtens eine ſelbſtſtändige und von den an— deren gänzlich unabhängige Stammform angenommen werden muß. Allein bei eingehendem Nachdenken über dieſes ſchwierige Problem ge— langt man doch ſchließlich zu der monophyletiſchen Ueberzeugung, daß auch dieſe ſieben Stammformen ganz unten an der Wurzel zu— ſammenhängen, daß auch ſie wieder von einer einzigen, gemeinſamen Urform abzuleiten ſind. Auch im Thierreich, wie im Pflan— zenreich, gewinnt bei näherer und eingehenderer Be— trachtung die einſtämmige oder monophyletiſche De— ſcendenz-Hypotheſe das Uebergewicht über die entgegen— geſetzte, vielſtämmige oder polyphyletiſche Hypotheſe. Vor Allem und in erſter Linie iſt es die vergleichende On— togenie, welche uns zu dieſer monophyletiſchen Ueberzeugung von dem einheitlichen Urſprunge des ganzen Thierreichs (nach Ausſchluß der Protiſten natürlich!) führt. Der Zoologe, welcher die individuelle Entwickelungsgeſchichte der Thierſtämme denkend vergleicht und die Be— deutung des biogenetiſchen Grundgeſetzes begriffen hat (S. 361), kann ſich der Ueberzeugung nicht verſchließen, daß auch für die ſieben ange— mM£ IT Haeckel, Nat. Schöntungsgeschichte, HA. af 8 „7 5 e N N Wirbelthiere \ ade] A WW, =\ Vertebrata.) 5 Zuαα ee, ' Periode. 8 — 7 Schadelthiere Craniota. 9 N 1 NN | 0 E „„ \ Würmer 1 * /’ermes. Urdarmithiere, Gastraeada. Archolithische oder primordiale Periode «x Thierische Amoeben. u Tierische Moneren. Historisches Wachsthum der sechs Thierstämme. Siche die Erklärung. \ Aelteſte Thierformen: Moneren, Amoeben. 441 führten Thierſtämme eine gemeinſame Wurzelform angenommen wer— den muß, und daß alle Thiere mit Inbegriff des Menſchen von einer einzigen gemeinſamen Stammform abſtammen. Aus jenen ontogene— tiſchen Thatſachen ergiebt ſich die nachſtehende phylogenetiſche Hypo⸗ theſe, welche ich in meiner „Philoſophie der Kalkſchwämme“ näher begründet und erläutert habe (Monographie der Kalkſchwämme 50), Band I, S. 464, 465 u. ſ. w. „Die Keimblätter-Theorie und der Stammbaum des Thierreichs“). Die erſte Stufe des organiſchen Lebens bildeten auch im Thier— reiche (wie im Pflanzenreiche und Protiſtenreiche) ganz einfache Mo— neren, durch Urzeugung entſtanden. Noch jetzt wird die einſtmalige Exiſtenz dieſes denkbar einfachſten thieriſchen Formzuſtandes dadurch bezeugt, daß die Eizelle vieler Thiere nach eingetretener Befruchtung zunächſt ihren Kern verliert, und ſomit auf die niedere Bildungsſtufe einer kernloſen Cytode, gleich einem Monere, zurückſinkt. Dieſen merkwürdigen Vorgang habe ich nach dem Geſetze der latenten Ver— erbung (S. 184) als einen phylogenetiſchen Rückſchlag der Zellen— form in die urſprüngliche Cytodenform gedeutet. Die Monerula, wie wir dieſe kernloſe Ei-Cytode nennen können, wiederholt nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze (S. 361) die älteſte aller Thierformen, die gemeinſame Stammform des Thierreichs, das Moner. Der zweite ontogenetiſche Vorgang beſteht darin, daß ſich in der Monerula ein neuer Kern bildet, und ſomit die kernloſe Ei-Cytode auf's Neue zu dem Form-Werthe einer wahren Ei-Zelle erhebt. Dem entſprechend haben wir als die zweite phylogenetiſche Stamm— form des Thierreichs die einfache kernhaltige thieriſche Zelle, oder das einzellige Urthier anzuſehen, welches noch heute in den Amoeben der Gegenwart uns lebendig vor Augen tritt. Gleich dieſen noch jetzt lebenden einfachen Amoeben, und gleich den nackten, davon nicht zu unterſcheidenden Eizellen vieler niederen Thiere (3. B. Schwämme, Meduſen u. ſ. w.), waren auch jene uralten phyletiſchen Stamm-Amoeben ganz einfache nackte Zellen, die ſich mittelſt form— wechſelnder Fortſätze kriechend in dem laurentiſchen Urmeere umherbe— 442 Aelteſte Thierſormen: Synamoeben, Planäen. wegten und auf dieſelbe Weiſe, wie die heutigen Amoeben, ernährten und fortpflanzten (vergl. S. 169 und 380). Die Exiſtenz dieſer ein— zelligen, einer Amoeba gleichen Stammform des ganzen Thier— reichs wird unwiderleglich durch die höchſt wichtige Thatſache be— wieſen, daß das Ei aller Thiere, vom Schwamm und vom Wurm bis zur Ameiſe und zum Menſchen hinauf eine einfache Zelle iſt. Aus dem einzelligen Zuſtande entwickelte ſich in dritter Linie der einfachſte vielzellige Zuſtand, nämlich ein Haufen oder eine kleine Gemeinde von einfachen, gleichartigen Zellen. Noch jetzt ent— ſteht bei der ontogenetiſchen Entwickelung jeder thieriſchen Eizelle durch wiederholte Theilung derſelben zunächſt ein kugeliger Haufen von lau— ter gleichartigen nackten Zellen (vergl. S. 170 und Titelbild Fig. 3). Wir nannten dieſen Zellenhaufen wegen ſeiner Aehnlichkeit mit einer Maulbeere oder Brombeere das Maulbeer-Stadium (Morula). In allen verſchiedenen Thierſtämmen kehrt dieſer Morula-Körper in derſelben einfachen Geſtalt wieder, und gerade aus dieſem äußerſt wichtigen Umſtande können wir nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze mit der größten Sicherheit ſchließen, daß auch die älteſte vielzel— lige Stammform des Thierreichs einer ſolchen Morula glich, und einen einfachen Haufen von lauter amoebenartigen, unter ſich gleichen Urzellen darſtellte. Wir wollen dieſe älteſte Amoeben-Geſell— ſchaft, dieſe einfachſten Thierzellen-Gemeinde, welche durch die Morula rekapitulirt wird, Synamoeba nennen. Aus der Synamoeba entwickelte ſich weiterhin in früher lau— rentiſcher Urzeit eine vierte Stammform des Thierreichs, welche wir Flimmerſchwärmer (Planaea) nennen wollen. Dieſe letztere entſtand aus der erſteren dadurch, daß die äußeren, an der Oberfläche der Zellengemeinde liegenden Zellen bewegliche Flimmerhaare auszu— ſtrecken begannen, ſich in „Flimmerzellen“ verwandelten, und ſich ſo— mit von den inneren, unveränderten Zellen ſonderten oder differenzir— ten. Die Synamoeba beſtand aus lauter gleichartigen nackten Zellen, und kroch vermittelſt der amoebenartigen Bewegungen derſelben lang— ſam auf dem Boden des laurentiſchen Urmeeres einher. Die Planda Aelteſte Thierſormen: Planäa, Gaſträa. 443 hingegen beſtand ſchon aus zweierlei verſchiedenen Zellen, inneren amoebenartigen und äußeren flimmernden Zellen. Durch die Flim— merbewegung dieſer letzteren wurde der ganze vielzellige Körper in kräftigere und ſchnellere Bewegung verſetzt, und ging aus der kriechen— den in die ſchwimmende Ortsbewegung über. In ganz derſelben Weiſe geht noch gegenwärtig in der Ontogeneſe niederer Thiere aus den verſchiedenſten Thierſtämmen die Morula in eine flimmernde Larvenform über, welche ſchon ſeit dem Jahre 1847 unter dem Namen der Planula bekannt iſt. Dieſe Planula iſt ein bald kugeliger, bald eiförmiger oder länglich runder Körper, welcher mittelſt Flimmerbe— wegung im Waſſer umherſchwimmt; die flimmernden, kleineren Zellen der Oberfläche ſind verſchieden von den größeren, nicht flimmernden Zellen des Inneren (Fig. 4 des Titelbildes). Aus dieſer Planula oder Flimmerlarve entwickelt ſich bei Thie— ren aller Stämme weiterhin zunächſt eine außerordentlich wichtige und intereſſante Thierform, welche ich in meiner Monographie der Kalkſchwämme mit den Namen Gastrula (d. h. Magenlarve oder Darmlarve) belegt habe (Titelbild, Fig. 5, 6). Dieſe Gaſtrula gleicht äußerlich der Planula, unterſcheidet ſich aber weſentlich dadurch von ihr, daß ſie einen Hohlraum umſchließt, der ſich durch eine Mün— dung nach außen öffnet. Der Hohlraum iſt der „Urdarm“ oder „Urmagen“ (Progaster), die erſte Anlage des ernährenden Darm— canals; feine Oeffnung iſt der „Urmund“ (Prostoma), die erſte Mundöffnung. Die Wand des Urdarms, welche zugleich die Kör— perwand der hohlen Gaſtrula iſt, beſteht aus zwei Zellenſchichten: einer äußeren Schicht von kleineren flimmernden Zellen (Außenhaut oder Exoderm) und einer inneren Schicht von größeren, nicht flim— mernden Zellen (Innenhaut oder Entoderm). Die höchſt wichtige Larvenform der Gaſtrula kehrt in derſelben Geſtalt in der Ontogeneſe von Thieren aller Stämme wieder: bei den Schwämmen, Medu— ſen, Korallen, Würmern, Mantelthieren, Sternthieren, Weich— thieren, ja ſogar bei den niederſten Wirbelthieren (Amphioxus, vergl. S. 510, Taf. XII, Fig. B4; Ascidia, ebendaſelbſt Fig. AA). 444 Formwerth der fünf erſten Entwickelungsſtufen des Thierkörpers, verglichen in der individuellen und phyletiſchen Entwickelung | Parallelismus der Ontogenefe und Phylogeneſe Ontogenesis. Die fünf erſten Stufen der indivi— duellen Entwickelung Phylogenesis. Die fünf erſten Stufen der phyle⸗ tiſchen Entwickelung Erxrſtes Entwidelungs- | Stadium Eine einfachſte Cytode (Eine kernloſe Plaſtide) | Zweites Entwidelnngs- Stadium Eine einfache Zelle (Eine kernhaltige Plaſtide) Drittes Sutwidelungs- | Stadium | Eine Gemeinde (ein Aggregat) von gleichartigen einfachen Zellen Viertes Entwicklungs- Stadium Ein ſolider oder blaſen— förmiger, kugeliger oder eiförmiger Körper, aus zweierlei verſchiedenen Zellen zuſammengeſetzt: außen flimmernde, innen nicht flimmernde Zellen Fünftes Entwickelungs- Hladium Ein kugeliger oder eiförmiger Körper mit einfacher Darmhöhle und Mund⸗ öffnung: Darmwand aus zwei Blättern zuſammen⸗ geſetzt: außen flimmerndes Exoderm (Dermalblatt); innen flimmerloſes Entoderm (Gaſtralblatt) 1. Monerula Kernloſes Thier-Ei (wenn der Eikern nach der Befruchtung verſchwunden ift) | 2. Ovulum Kernhaltiges Thier-Ei (einfache Eizelle) 3. Morula (Maulbeerform) Kugeliger Haufen von gleichartigen „Furchungskugeln“ | 4. Planula (Flimmerlarve) Vielzellige Larve ohne Mund, aus zweierlei verſchiedenen Zellen zuſammengeſetzt | 5. Gastrula (Darmlarve) Vielzellige Larve mit Darm und Mund; Darmwand zweiblättrig 12 Moneres Aelteſte animale Moneren durch Ur⸗ zeugung entſtanden 2. Amoeba Animale Amoeben 3. Synamoeba (Amoebenſtock) Haufen von geſelligen gleichartigen „Amoeben“ 4. Planaea (Flimmerſchwärmer) Vielzelliges Urthier ohne Mund, aus zweierlei verſchiedenen Zellen zuſammen⸗ geſetzt 5. Gastraea Vielzelliges Urthier mit Darm und Mund; Darmwand zweiblättrig (Stammform der Pflanzenthiere und Würmer) Aelteſte Thierformen: Gaſträa. 445 Aus der ontogenetiſchen Verbreitung der Gaſtrula bei den ver— ſchiedenſten Thierklaſſen, von den Pflanzenthieren bis zu den Wirbel— thieren hinauf, können wir nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß während der laurentiſchen Pe— riode eine gemeinſame Stammform der ſechs höheren Thierſtämme exiſtirte, welche im Weſentlichen der Gaſtrula gleich gebildet war, und welche wir Gastraea nennen wollen. Dieſe Gaſträa beſaß einen ganz einfachen, kugeligen, eiförmigen oder länglich runden Körper, der eine einfache Höhle von gleicher Geſtalt, den Urdarm, umſchloß; an einem Pole der Längsaxe öffnete ſich der Urdarm durch einen Mund, der zur Nahrungsaufnahme diente. Die Kör— perwand (zugleich Darmwand) beſtand aus zwei Zellenſchichten, dem flimmerloſen Entoderm oder Darmblatt, und dem flimmernden Exo— derm oder Hautblatt; durch die Flimmerbewegung des letzteren ſchwamm die Gaſträa im laurentiſchen Urmeere frei umher. Auch bei denjenigen höheren Thieren, bei denen die urſprüngliche Gaſtrula— Form in der Ontogeneſe nach dem Geſetze der abgekürzten Verer— bung (S. 190) verloren gegangen iſt, hat ſich dennoch die Zuſam— menſetzung des Gaſträa-Körpers auf diejenige Keimform vererbt, die zunächſt aus der Morula entſteht. Dieſe Keimform iſt eine länglich runde Scheibe, die aus zwei Zellenlagen oder Blättern beſteht: die äußere Zellenſchicht, das animale oder dermale Keimblatt, entſpricht dem EXo derm der Gaſträa; aus ihr entwickelt ſich die äußere Oberhaut (Epidermis) mit ihren Drüſen und Anhängen, ſo— wie das Centralnervenſyſtem. Die innere Zellenſchicht, das vege— tative oder gaſtrale Keimblatt, iſt urſprünglich das Ento— derm der Gaſträa; aus ihr entwickelt ſich die ernährende innere Haut (Epithelium) des Darmcanals und feiner Drüſen. (Vergl. meine Monographie der Kalkſchwämme, Bd. I, ©. 466 ꝛc.) Wir hätten demnach für unſere Hypotheſe von der monophyle— tiſchen Deſcendenz des Thierreichs durch die Ontogenie bereits fünf primordiale Entwickelungsſtufen gewonnen: 1) das Moner; 2) die Amoebe; 3) die Synamoebe; 4) die Planäa und 5) die Gaſträg. 446 Aelteſte Thierformen: Protaseus, Prothelmis. Die einſtmalige Exiſtenz dieſer fünf älteſten, auf einander folgenden Stammformen, welche im laurentiſchen Zeitalter gelebt haben müſſen, folgt unmittelbar aus dem biogenetiſchen Grundgeſetz, aus dem Paralle— lismus und dem mechaniſchen Cauſalzuſammenhang der Ontogeneſis und der Phylogeneſis (vergl. S. 444). Wir können in unſerem ge— nealogiſchen Syſtem des Thierreichs alle dieſe längſt ausgeſtorbenen Thierformen, die wegen ihrer weichen Leibesbeſchaffenheit keine foſſi— len Reſte hinterlaſſen konnten, in dem Stamme der Urthiere (Pro— tozoa) unterbringen, der außerdem auch die heute noch lebenden Infuſorien und Gregarinen enthält. Die phyletiſche Entwickelung der ſechs höheren Thierſtämme, welche ſämmtlich von der Gaſträa abſtammen, ſchlug von dieſem gemeinſamen Ausgangspunkte aus einen zweifach verſchiedenen Weg ein. Mit anderen Worten: die Gaſträaden (wie wir die durch den Gaſträa-Typus charakteriſirte Formen-Gruppe nennen können) ſpalteten ſich in zwei divergirende Linien oder Zweige. Der eine Zweig der Gaſträaden gab die freie Ortsbewegung auf, ſetzte ſich auf dem Meeresboden feſt, und wurde ſo durch Anpaſſung an feſt— ſitzende Lebensweiſe zum Protascus, zu der gemeinſamen Stamm— form der Pflanzenthiere (Zoophyta). Der andere Zweig der Gaſträaden behielt die freie Ortsbewegung bei, ſetzte ſich nicht feſt, und entwickelte ſich weiterhin zur Prothelmis, der gemeinſamen Stammform der Würmer (Vermes). (Vgl. S. 449.) Dieſer letztere Stamm (in dem Umfang, wie ihn heutzutage die moderne Zoologie begrenzt) iſt phylogenetiſch vom höchſten Intereſſe. Unter den Würmern nämlich finden ſich, wie wir nachher ſehen wer— den, neben ſehr zahlreichen eigenthümlichen Thierfamilien und neben vielen ſelbſtſtändigen Klaſſen auch einzelne ſehr merkwürdige Thier— formen, welche als unmittelbare Uebergangsformen zu den vier höheren Thierſtämmen betrachtet werden können. Sowohl die vergleichende Anatomie als die Ontogenie dieſer Würmer läßt uns in ihnen die nächſten Blutsverwandten derjenigen ausgeſtorbenen Thier— formen erkennen, welche die urſprünglichen Stammformen der vier Monophyletiſcher Stammbaum des Thierreichs. 447 höheren Thierſtämme waren. Dieſe letzteren, die Weichthiere, Stern— thiere, Gliederthiere und Wirbelthiere ſtehen mithin unter einander in keiner näheren Blutsverwandtſchaft, ſondern haben an vier verſchie— denen Stellen aus dem Stamme der Würmer ihren ſelbſtſtändigen Urſprung genommen. Wir gelangen demnach auf Grund der vergleichenden Anatomie und Ontogenie zu demjenigen monophyletiſchen Stammbaum des Thierreichs, deſſen Grundzüge auf S. 449 dargeſtellt ſind. Hiernach ſind die ſieben Phylen oder Stämme des Thierreichs genea— logiſch von ſehr verſchiedenem Werthe. Die urſprüngliche Stamm— gruppe des ganzen Thierreichs bilden die Urthiere (Protozoa), mit Inbegriff der Infuſorien und Gaſträaden. Aus dieſen letzteren ent— ſprangen als zwei divergirende Aeſte die beiden Stämme der Pflan— zenthiere (Zoophyta) und der Würmer (Vermes). Aus vier ver— ſchiedenen Gruppen des Würmerſtammes entwickelten ſich die vier höheren Thierſtämme: einerſeits die Sternthiere (Echinoderma) und Gliederthiere (Arthropoda), andrerſeits die Weichthiere (Mollusca) und Wirbelthiere (Vertebrata). Nachdem wir ſo den monophyletiſchen Stammbaum des Thier— reichs in ſeinen wichtigſten Grundzügen feſtgeſtellt haben, wenden wir uns zu einer näheren Betrachtung der hiſtoriſchen Entwickelung, welche die ſieben Stämme des Thierreichs und die darin zu unter— ſcheidenden Klaſſen (S. 448) eingeſchlagen haben. Die Zahl dieſer Klaſſen iſt im Thierreiche viel größer als im Pflanzenreiche, ſchon aus dem einfachen Grunde, weil der Thierkörper, entſprechend ſeiner viel mannichfaltigeren und vollkommneren Lebensthätigkeit, ſich in viel mehr verſchiedenen Richtungen differenziren und vervollkommnen konnte. Während wir daher das ganze Pflanzenreich in ſechs Haupt— klaſſen und neunzehn Klaſſen eintheilen konnten, müſſen wir im Thier— reiche wenigſtens ſechszehn Hauptklaſſen und acht und dreißig Klaſſen unterſcheiden. Dieſe vertheilen ſich in der Art, wie es die nach— ſtehende ſyſtematiſche Ueberſicht zeigt, auf die ſieben verſchiedenen Stämme des Thierreichs (S. 448, 449). 448 Syſtematiſche Ueberſicht der 16 W und 38 nis des Thierreichs. —— — 2 Stämme er | Sanptälafen | Klaſſen u Phylen des oder Kladen des des Name der Thierreichs Thierreichs Thierreichs Klaſſen in; 1. Urahnthiere 1. Archezoa 11 5 1 | 2. Gregarinen 2. Gregarinae en | 3. Infuſionsthiere 3. Infusoria Protozoa II. Keimthiere 4. Planäaden 4. Planaeada Blastularia 5. Gaſträaden 5. Gastraeada III. S ier = = 5 1 eee 7 6. Schwämme 6. Porifera Pan Ber zeſſelthiere 7. Korallen 7. Coralla Zoophyta 5 8. Schirmquallen 8. Hydromedusae Acalephae = 9. Kammquallen 9. Ctenophora V. Blutloſe Würmer 10. Plattwürmer 10. Platyhelminthes Acoelomi 11. Rundwürmer 11. Nemathelminthes PR \ 12. Mosthiere 12. Bryozoa Vermes VI. 9 nemer 113. Mantelthiere 13. Tunicata a 1 MIETEN Rüſſelwürmer 14. Rhynchocoela 15. Sternwürmer 15. Gephyrea 16. Räderthiere 16. Rotatoria 17. Ringelwürmer 17. Annelida VII. Kopfloſe 18. Taſcheln 18. Spirobranchia e Acephala 419. Muſcheln 19. Lamellibranchia Mollusca VIII. Kopfträger 1 Schnecken 20. Cochlides Eucephala 21. Kracken 21. Cephalopoda IX. Gliederarmigef22. Seeſterne 22. Asterida gi 1 10 Colobrachia 23, Seelilien 23. Crinoida 3 X. Armloſe 24. Seeigel 24. Echinida Echinoderma Lipobrachia 25. Seegurken 25. Holothuriae RI Ri 2 Aim fe 20. Krebsthiere 26. Crustacea ai 27. Spinnen 27. Arachnida XII. Tracheenker 5 ; Arthropoda Tr TR; fe 28. Tauſendfüßer 28. Myriapoda 29. Inſecten 29. Inseeta XIII. e 0. Rohrherzen 30. Leptocardia XIV. Unpaarnafen 5 f a 31. Rundmäuler 31. Cyelostoma a 1 32. Fiſche 32. Pisces Wirbelthiere . Amnionloſe )33. Lurchfiſche 33. Dipneusta Vertebrata Anamnia 34. Seedrachen 34. Halisauria 35. Lurche 35. Amphibia XVI. Amnionthiere 36. Schleicher 36. Reptilia Bla Art 37. Vögel 37. Aves 38. Süngethiere 38. Mammalia Monophyletiſcher Stammbaum des Thierreichs. Vertebraten (Wirbelthiere) Cranioten Arthropoden Mollusken (Gliederthiere) (Weichthiere) Tracheaten | Eucephalen | | Echinodermen . | (Sternthiere) Crustaceen Acranien Lipobrachien | I Anneliden a | Bryozoen Colobrachien | — — ö Gephyreen | | | | | | | I I I } I 1 —— — —— nn ln | Vermes | | Würmer Coelomaten (Würmer mit Leibeshöhle) Platyhelminthen Zoophyten | (Pflanzenthiere) Acoelomen Spongien Acalephen (Würmer ohne Leibeshöhle) | | IL | Protascus Prothelmis | | — —, — Protozoen | (Urthiere) GASTRAEA | Infusorien | | Gregarinen i PLANAEA \ | | SYNAMOEBEN ve | I N nn AMOEBEN MONEREN | Tunicaten Acephalen Rotatorien | — Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 29 450 Stamm der Urthiere oder Protozoen. Die Gruppe der Urthiere (Protozoa) in dem Umfange, wel— chen wir hier dieſem Stamme geben, umfaßt die älteſten und ein— fachſten Stammformen des Thierreichs, insbeſondere die fünf vorher aufgeführten älteſten phyletiſchen Entwickelungsſtufen, und außerdem die Infuſorien und Gregarinen, ſowie alle diejenigen unvollkommen— ſten Thierformen, welche wegen ihrer einfachen und indifferenten Or— ganiſation in keinem der ſechs übrigen Thierſtämme untergebracht wer— den können. Die meiſten Zoologen rechnen außerdem zu den Urthieren noch einen größeren oder geringeren Theil von jenen niederſten Orga— nismen, welche wir in unſerem neutralen Protiſtenreiche (im ſechs— zehnten Vortrage) aufgeführt haben. Dieſe Protiſten aber, nament— lich die große und formenreiche Abtheilung der Rhizopoden, können wir aus den oben mitgetheilten Gründen nicht als echte Thiere be— trachten. Wenn wir demnach von dieſen hier ganz abſehen, können wir als echte Protozoen zwei verſchiedene Hauptklaſſen betrachten: Eithiere (Ovularia) und Keimthiere (Blastularia). Zu den erſteren gehören die drei Klaſſen der Archezoen, Gregarinen und In— fuſorien, zu den letzteren die beiden Klaſſen der Planäaden und Gaſträaden. Die erſte Hauptklaſſe der Urthiere bilden die Eithiere (Ovula- ria). Dahin rechnen wir alle einzelligen Thiere, alle Thiere, deren Körper in vollkommen ausgebildetem Zuſtande den Formwerth einer einfachen Plaſtide (einer Cytode oder einer Zelle) beſitzt, ferner auch diejenigen einfachen Thierformen, deren Körper bloß ein Aggregat von mehreren ganz gleichartigen Zellen bildet. Die Reihe der Eithiere eröffnet die Klaſſe der Urahnthiere (Archezoa). Sie enthält bloß die älteſten und einfachſten Stamm— formen des Thierreichs, deren einſtmalige Exiſtenz wir mittelſt des biogenetiſchen Grundgeſetzes vorſtehend nachgewieſen haben, alſo 1) die thieriſchen Moneren; 2) die thieriſchen Amoeben; 3) die thie— riſchen Synamoeben. Wenn man will, kann man auch einen Theil der noch gegenwärtig lebenden Moneren und Amoeben dahin rechnen, während ein anderer Theil derſelben (nach den Erörterungen des Eithiere (Urahnthiere, Gregarinen, Infuſorien). 451 XVI. Vortrags) wegen ſeiner neutralen Natur zu den Protiſten, ein dritter Theil wegen ſeiner vegetabilen Natur zu den Pflanzen gerechnet werden muß. Eine zweite Klaſſe der Eithiere würden die Gregarinen (Gre— garinae) bilden, welche im Darme und in der Leibeshöhle vieler Thiere ſchmarotzend leben. Dieſe Gregarinen ſind theils ganz ein— fache Zellen, wie die Amoeben; theils Ketten von zwei oder drei hinter einander liegenden gleichartigen Zellen. Von den nackten Amoeben unterſcheiden ſie ſich durch eine dicke ſtructurloſe Mem— bran, welche ihren Zellenkörper umhüllt. Man kann ſie als thie— riſche Amoeben auffaſſen, welche ſich an paraſitiſche Lebensweiſe ge— wöhnt, und in Folge deſſen mit einer ausgeſchwitzten Hülle um— geben haben. | Als eine dritte Klaſſe der Eithiere führen wir die echten In— fuſionsthiere (Infusoria) auf, in demjenigen Umfange, auf wel: chen die heutige Zoologie faſt allgemein dieſe Thierklaſſe beſchränkt. Die Hauptmaſſe derſelben wird durch die kleinen Wimper-Infu— jorien (Giliata) gebildet, die in großen Mengen alle ſüßen und ſalzigen Gewäſſer der Erde bevölkern und mittelſt eines zarten Wim— perkleides umherſchwimmen. Eine zweite kleinere Abtheilung bilden die feſtſitzenden Saug-Infuſorien (Acinetae), die ſich mittelſt feiner Saugröhren ernähren. Obgleich über dieſe kleinen, dem blo— ßen Auge meiſtens unſichtbaren Thierchen in den letzten dreißig Jah— ren zahlreiche und ſehr genaue Unterſuchungen angeſtellt worden ſind, befinden wir uns dennoch ſelbſt heute über ihre Entwickelung und ihren Formwerth ſehr im Unklaren. Wir wiſſen noch heute nicht einmal, ob die Infuſorien einzellig oder vielzellig ſind. Da noch kein Beobachter eine Zuſammenſetzung aus Zellen an ihrem Körper nachgewieſen hat, werden wir ſie vorläufig mit größerem Rechte für einzellig halten, wie die Gregarinen und Amoeben. Die zweite Hauptklaſſe der Urthiere wird durch die Keim— thiere (Blastularia) gebildet. So nennen wir diejenigen ausge— ſtorbenen Protozoen, welche den beiden ontogenetiſchen Keimformen 29 * 452 Keimthiere (Planäaden und Gaſträaden). der ſechs höheren Thierſtämme, Planula und Gaſtrula, entſprechen. Der Körper dieſer Blaſtularien war in vollkommen ausgebildetem Zuſtande aus vielen Zellen zuſammengeſetzt, und zwar waren dieſe Zellen mindeſtens zweifach differenzirt, in eine äußere (animale oder dermale) und eine innere (vegetative oder gaftrale) Maſſe. Ob von dieſer Abtheilung gegenwärtig noch Repräſentanten leben, iſt ungewiß. Ihre frühere Exiſtenz wird unzweifelhaft bewieſen durch die außeror— dentlich wichtigen beiden ontogenetiſchen Thierformen, welche wir vor— ſtehend als Planula und Gaſtrula geſchildert haben, und welche noch heute als vorübergehende Entwickelungs-Zuſtände in der Onto— geneſe der verſchiedenſten Thierſtämme vorkommen. Dieſen entſpre— chend können wir nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze unter den Bla— ſtularien die frühere Exiſtenz von zwei verſchiedenen Klaſſen annehmen, Planäaden und Gaſträaden. Der Typus der Planäaden iſt die längſt ausgeſtorbene Planaea, deren hiſtoriſches Porträt uns noch heute die weit verbreitete Flimmerlarve (Planula) liefert. (Titel⸗ bild, Fig. 4). Der Typus der Gaſträaden iſt die Gastraea, von deren einſtmaliger Beſchaffenheit uns noch heute die Magenlarve (Gastrula), welche in den verſchiedenſten Thierſtämmen wiederkehrt, ein treues Abbild giebt (Titelbild, Fig. 5, 6). Aus dieſer Gaſträa entwickelten ſich, wie vorher gezeigt wurde, einſtmals zwei verſchiedene Stammformen, Protascus und Prothelmis, von denen erſtere als Stammform der Pflanzenthiere, letztere als Stammform der Würmer zu betrachten iſt. (Vergl. die Begründung dieſer Hypotheſe in meiner Monographie der Kalkſchwämme, Band I, S. 464.) Die Pflanzenthiere (Zoophyta oder Coelenterata), welche den zweiten Stamm des Thierreichs bilden, erheben ſich durch ihre geſammte Organiſation bereits bedeutend über die Urthiere, während ſie noch tief unter den meiſten höheren Thieren ſtehen bleiben. Bei den letzteren werden nämlich allgemein (nur die niedrigſten Formen ausgenommen) die vier verſchiedenen Functionen der Ernährungs— thätigkeit: Verdauung, Blutumlauf, Athmung und Ausſcheidung durch vier ganz verſchiedene Organſyſteme bewerkſtelligt, durch den Stamm der Pflanzenthiere oder Zoophyten. 453 Darm, das Blutgefäßſyſtem, die Athmungsorgane und die Harn— apparate. Bei den Pflanzenthieren dagegen ſind dieſe Functionen und ihre Organe noch nicht getrennt, und ſie werden ſämmtlich durch ein einziges Syſtem von Ernährungskanälen vertreten, durch das ſoge— nannte Gaſtrovascularſyſtem oder den coelenteriſchen Darmgefäßap— parat. Der Mund, welcher zugleich After iſt, führt in einen Ma— gen, in welchen die übrigen Hohlräume des Körpers offen einmünden. Die Leibeshöhle oder das Coelom, welches den höheren vier Thierſtämmen zukömmt, fehlt den Zoophyten noch völlig, ebenſo das Blutgefäßſyſtem und das Blut, ebenſo Athmungsorgane u. ſ. w. Alle Pflanzenthiere leben im Waſſer, die meiſten im Meere. Nur ſehr wenige leben im ſüßen Waſſer, nämlich die Süßwaſſer— ſchwämme (Spongilla) und einige Urpolypen (Hydra, Cordylophora). Eine Probe von den zierlichen blumenähnlichen Formen, welche bei den Pflanzenthieren in größter Mannichfaltigkeit vorkommen, giebt Tafel V. (Vergl. die Erklärung derſelben im Anhang.) Der Stamm der Pflanzenthiere zerfällt in zwei verſchiedene Haupt— klaſſen, in die Schwämme oder Spongien und die Neſſel— thiere oder Akalephen (©. 461). Die letztere iſt viel formenrei— cher und höher organiſirt, als die erſtere. Bei den Schwämmen find allgemein die ganze Körperform ſowohl als die einzelnen Organe viel weniger differenzirt und vervollkommnet als bei den Neſſelthieren. Insbeſondere fehlen den Schwämmen allgemein die charakteriſtiſchen Neſſelorgane, welche ſämmtliche Neſſelthiere beſitzen. Als die gemeinſame Stammform aller Pflanzenthiere haben wir den Protascus zu betrachten, eine längſt ausgeſtorbene Thierform, deren frühere Exiſtenz nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze durch die Ascula bewieſen wird. Dieſe Ascula iſt eine ontogenetiſche Entwik— kelungs-Form, welche ſowohl bei den Schwämmen wie bei den Neſſelthieren zunächſt aus der Gaſtrula hervorgeht (vergl. die Ascula eines Kalkſchwammes auf dem Titelbilde, Fig. 7, 8). Nachdem nämlich die Gaſtrula der Pflanzenthiere eine Zeitlang im Waſſer umhergeſchwommen iſt, ſinkt ſie zu Boden und ſetzt ſich daſelbſt feſt 454 Ascula und Protascus. Protascaden. mit demjenigen Pole ihrer Axe, welcher der Mundöffnung entgegen— geſetzt iſt. Die äußeren Zellen des Exoderm ziehen ihre ſchwingen— den Flimmerhaare ein, während umgekehrt die inneren Zellen des Entoderm dergleichen zu bilden beginnen. Die Ascula, wie wir die ſo verwandelte Larvenform nennen, iſt demnach ein einfacher Schlauch, deſſen Höhle (die Magenhöhle oder Darmhöhle) ſich an dem oberen (der baſalen Anſatzſtelle entgegengeſetzten) Pole der Längsaxe durch einen Mund nach außen öffnet. Der ganze Körper iſt hier gewiſſer— maßen noch Magen oder Darm, wie bei der Gaſtrula. Die Wand des Schlauches, die Körperwand und zugleich Darmwand der As— cula, beſteht aus zwei Zellenſchichten oder Blättern, einem flimmern— den Entoderm oder Gaſtralblatt (entſprechend dem inneren oder vegetativen Keimblatt der höheren Thiere) und einem nicht flimmern— den Exoderm oder Dermalblatt lentſprechend dem äußeren oder animalen Keimblatt der höheren Thiere). Der urſprüngliche Pro— tascus, deſſen getreues Porträt uns noch heute die Ascula liefert, wird aus ſeinem Gaſtralblatt vermuthlich bereits Eizellen und Sper— mazellen gebildet haben. Die Protascaden, wie wir die älteſte, durch den Protas— cus-Typus repräſentirte Gruppe von Pflanzenthieren nennen wollen, ſpalteten ſich in zwei Linien oder Zweige: einerſeits die Schwämme oder Spongien, andrerſeits die Neſſelthiere oder Akalephen. Wie nahe dieſe beiden Hauptklaſſen der Pflanzenthiere verwandt ſind, und wie ſie beide als zwei divergente Formen aus der Protascus-Form abzuleiten ſind, habe ich in meiner Monographie der Kalkſchwämme gezeigt (Bd. I, S. 485). Die Stammform der Schwämme, welche ich dort Archispongia nannte, entſtand aus dem Protascus durch Bildung von Hautporen. Die Stammform der Neſſelthiere, welche ich ebendaſelbſt als Archydra bezeichnete, entwickelte ſich aus dem Protascus durch Bildung von Neſſelorganen, ſowie von Fühlfäden oder Tentakeln. Die Hauptklaſſe der Schwämme, Spongiae oder Porifera genannt (ja nicht zu verwechſeln mit dem zum Pflanzenreiche gehö— Schwämme oder Spongien. 459 rigen Pilzen, S. 415) lebt im Meere, mit einziger Ausnahme des grünen Süßwaſſer-Schwammes (Spongilla). Lange Zeit galten dieſe Thiere für Pflanzen, ſpäter für Protiſten; in den meiſten Lehr— büchern werden ſie noch jetzt zu den Urthieren gerechnet. Seitdem ich jedoch die Entwickelung derſelben aus der Gaſtrula und den Aufbau ihres Körpers aus zwei Keimblättern (wie bei allen höheren Thieren) nachgewieſen habe, erſcheint ihre nahe Verwandtſchaft mit den Neſ— ſelthieren, und zunächſt mit den Hydrapolypen, endgültig begrün— det. Insbeſondere hat der Olynthus, den ich als die gemeinſame Stammform der Kalkſchwämme betrachte, hierüber vollſtändigen und ſicheren Aufſchluß gegeben (Titelbild, Fig. 9). Die mannichfaltigen, aber noch wenig unterſuchten Thierformen, welche in der Spongien-Klaſſe vereinigt ſind, laſſen ſich auf drei Legio— nen und acht Ordnungen vertheilen. Die erſte Legion bilden die wei— chen, gallertigen Schleim ſchwämme (Myxospongiae), welche ſich durch den Mangel aller harten Skelet-Theile auszeichnen. Dahin gehö— ren einerſeits die längſt ausgeſtorbenen Stammformen der ganzen Klaſſe, als deren Typus uns Archispongia gilt, andrerſeits die noch le— benden Gallertſchwämme, von denen Halisarca am beſten bekannt iſt. Das Porträt der Archiſpongia, des älteſten Urſchwammes, erhalten wir, wenn wir uns aus dem Olynthus (Titelbild, Fig. 11) die drei- ſtrahligen Kalknadeln entfernt denken. Die zweite Legion der Spongien enthält die Faſer ſchwämme (Fibrospoiciae), deren weicher Körper durch ein feſtes, faſeriges Skelet geſtützt wird. Dieſes Faſer-Skelet beſteht oft bloß aus ſo— genannter „Hornfaſer“, d. h. aus einer ſchwer zerſtörbaren und ſehr elaſtiſchen organiſchen Subſtanz, jo namentlich bei unſerem gewöhn— lichen Badeſchwamme (Euspongia officinalis), deſſen gereinigtes Skelet wir jeden Morgen zum Waſchen benutzen. Bei vielen Faſer— ſchwämmen ſind in dieſes hornähnliche Faſer-Skelet viele Kieſelna— deln eingelagert, jo z. B. bei dem Süßwaſſerſchwamme (Spongilla). Bei noch anderen beſteht das ganze Skelet bloß aus Kieſelnadeln, welche oft zu einem äußerſt zierlichen Gitterwerke verflochten ſind, 456 Schleimſchwämme, Faſerſchwämme, Kalkſchwämme. ſo namentlich bei dem berühmten „Venusblumenkorb“ (Euplectella). Nach der verſchiedenen Bildung der Nadeln kann man unter den Faſerſchwämmen drei Ordnungen unterſcheiden, die Chalynthina, Geodina und Hexactinella. Die Naturgeſchichte der Faſerſchwämme iſt von beſonderem Intereſſe für die Deſcendenz-Theorie, wie zuerſt Oscar Schmidt, der beſte Kenner dieſer Thiergruppe, nachgewie— ſen hat. Kaum irgendwo läßt ſich die unbegrenzte Biegſamkeit der Species-Form und ihr Verhältniß zur Anpaſſung und Vererbung ſo einleuchtend Schritt für Schritt verfolgen, kaum irgendwo läßt ſich die Species ſo ſchwer abgrenzen und definiren. In noch höheren Maaße als von der großen Legion der Faſer— ſchwämme, gilt dieſer Satz von der kleinen, aber höchſt intereſſanten Legion der Kalkſchwämme (Calcispongiae), über welche ich 1872 nach ſehr eingehenden fünfjährigen Unterſuchungen eine ausführliche Monographie veröffentlicht habe s“). Die ſechzig Tafeln Abbildungen, welche dieſe Monographie begleiten, erläutern die außerordentliche Formbiegſamkeit dieſer kleinen Spongien, bei denen man von „gu— ten Arten“ im Sinne der gewöhnlichen Syſtematik überhaupt nicht ſprechen kann. Hier giebt es nur ſchwankende Formen-Reihen, welche ihre Species-Form nicht einmal auf die nächſten Nachkommen rein vererben, ſondern durch Anpaſſung an untergeordnete äußere Exiſtenz-Bedingungen unaufhörlich abändern. Hier kommt es ſogar häufig vor, daß aus einem und demſelben Stocke verſchiedene Arten hervorwachſen, welche in dem üblichen Syſteme zu mehreren ganz verſchiedenen Gattungen gehören; fo z. B. bei der merkwürdigen As— cometra (Titelbild, Fig. 10). Die ganze äußere Körper-Geſtalt iſt bei den Kalkſchwämmen noch viel biegſamer und flüſſiger als bei den Kieſelſchwämmen, von denen fie ſich durch den Beſitz von Kalk— nadeln unterſcheiden, die ein zierliches Skelet bilden. Mit der größ- ten Sicherheit läßt ſich aus der vergleichenden Anatomie und Onto— genie der Kalkſchwämme die gemeinſame Stammform der ganzen Gruppe erkennen, der ſchlauchförmige Olynthus, deſſen Entwik⸗ kelung auf dem Titelbilde dargeſtellt iſt (vergl. deſſen Erklärung im ff rar Neſſelthiere oder Akalephen. 457 Anhang). Aus dem Olynthus (Fig. 9 des Titelbildes) hat ſich zu— nächſt die Stamm-Ordnung der Asconen entwickelt, aus welchen die beiden anderen Ordnungen der Kalkſchwämme, die Leuconen und Syconen, erſt ſpäter als divergirende Zweige hervorgegangen ſind. Innerhalb dieſer Ordnungen läßt ſich wiederum die Deſcen— denz der einzelnen Formen Schritt für Schritt verfolgen. So beſtä— tigen die Kalkſchwämme in jeder Beziehung den ſchon früher von mir ausgeſprochenen Satz: „Die ganze Naturgeſchichte der Spongien iſt eine zuſammenhängende uud ſchlagende Beweisführung für Darwin.“ Die zweite Hauptklaſſe im Stamme der Pflanzenthiere bilden die Neſſelthiere (Acalephae oder Cnidae). Dieſe formenreiche und intereſſante Thiergruppe ſetzt ſich aus drei verſchiedenen Klaſſen zuſammen, aus den Schirmquallen (Hydromedusae), den Kammquallen (Ctenophora), und den Korallen (Coralla). Als die gemeinſame Stammform der ganzen Gruppe iſt die längſt ausgeſtorbene Archydra zu betrachten, welche in den beiden noch heute lebenden Süßwaſſer-Polypen (Hydra und Cordylophora) zwei nahe Verwandte hinterlaſſen hat. Die Archydra war den einfach ſten Spongien-Formen (Archispongia und Olynthus) ſehr nahe verwandt, und unterſchied ſich von ihnen weſentlich wohl nur durch den Beſitz der Neſſelorgane und den Mangel der Hautporen. Aus der Archydra entwickelten ſich zunächſt die verſchiedenen Hydroid— Polypen, von denen einige zu den Stammformen der Corallen, andere zu den Stammformen der Hydromeduſen wurden. Aus einem Zweige der letzteren entwickelten ſich ſpäter die Ctenophoren. Die Neſſelthiere unterſcheiden ſich von den Schwämmen, mit denen ſie in der charakteriſtiſchen Bildung des ernährenden Kanal— ſyſtems weſentlich übereinſtimmen, insbeſondere durch den conſtanten Beſitz der Neſſelorgane. Das ſind kleine, mit Gift gefüllte Bläs— chen, welche in großer Anzahl, meiſt zu vielen Millionen, in der Haut der Neſſelthiere vertheilt ſind, und bei Berührung derſelben hervortreten und ihren Inhalt entleeren. Kleinere Thiere werden dadurch getödtet; bei größeren bringt das Neſſelgift, ganz ähnlich dem 458 Korallen. Polypen. Gift unſerer Brennneſſeln, eine leichte Entzündung in der Haut hervor. Diejenigen von Ihnen, welche öfter in der See gebadet haben, werden dabei wohl ſchon bisweilen mit größeren Schirmquallen in Berührung gekommen ſein und das unangenehme brennende Gefühl kennen gelernt haben, das die Neſſelorgane derſelben hervorbringen. Bei den pracht— vollen blauen Seeblaſen oder Phyſalien wirkt das Gift ſo heftig, daß es den Tod des Menſchen zur Folge haben kann. Die Klaſſe der Korallen (Coralla) lebt ausſchließlich im Meere und iſt namentlich in den wärmeren Meeren durch eine Fülle von zierlichen und bunten blumenähnlichen Geſtalten vertreten. Sie heißen daher auch Blumenthiere (Anthozoa). Die meiſten ſind auf dem Meeresboden feſtgewachſen und enthalten ein inneres Kalkgerüſte. Viele von ihnen erzeugen durch fortgeſetztes Wachsthum ſo gewal— tige Stöcke, daß ihre Kalkgerüſte die Grundlage ganzer Inſeln bil— den; ſo die berühmten Korallen-Riffe und Atolle der Südſee, über deren merkwürdige Formen wir erſt durch Darwin 13) aufgeklärt worden ſind. Die Gegenſtücke oder Antimeren, d. h. die gleichar— tigen Hauptabſchnitte des Körpers, welche ſtrahlenförmig vertheilt um die mittlere Hauptaxe des Körpers herumſtehen, ſind bei den Korallen bald zu vier, bald zu ſechs, bald zu acht vorhanden. Da— nach unterſcheiden wir als drei Legionen die vierzähligen (Te- tracoralla), die ſechszähligen (Hexacoralla) und die achtzäh— ligen Korallen (Octocoralla). Die vierzähligen Korallen bilden die gemeinſame Stammgruppe der Klaſſe, aus welcher ſich die ſechszäh— ligen und achtzähligen als zwei divergirende Aeſte entwickelt haben. Die zweite Klaſſe der Neſſelthiere bilden die Schirmquallen (Medusae) oder Polypenquallen (Hydromedusae). Während die Korallen meiſtens pflanzenähnliche Stöcke bilden, die auf dem Meeresboden feſtſitzen, ſchwimmen die Schirmquallen meiſtens in Form gallertiger Glocken frei im Meere umher. Jedoch giebt es auch unter ihnen zahlreiche, namentlich niedere Formen, welche auf dem Meeresboden feſtgewachſen ſind und zierlichen Bäumchen gleichen. Die niederſten und einfachſten Angehörigen dieſer Klaſſe ſind die kleinen Schirmquallen. Kammquallen. 459 Süßwaſſerpolypen (Hydra und Cordylophora). Wir können ſie als die wenig veränderten Nachkommen jener uralten Urpolypen (Archy- drae) anſehen, welche während der Primordialzeit der ganzen Abthei— lung der Neſſelthiere den Urſprung gaben. Von der Hydra kaum zu trennen find diejenigen feſtſitzenden Hydroidpolypen (Campanula- ria, Tubularia), welche durch Knospenbildung frei ſchwimmende Me— duſen erzeugen, aus deren Eiern wiederum feſtſitzende Polypen entſte— hen. Dieſe frei ſchwimmenden Schirmquallen haben meiſtens die Form eines Hutpilzes oder eines Regenſchirms, von deſſen Rand viele zarte und lange Fangfäden herabhängen. Sie gehören zu den ſchönſten und intereſſanteſten Bewohnern des Meeres. Ihre merkwürdige Le— bensgeſchichte aber, insbeſondere der verwickelte Generationswechſel der Polypen und Meduſen, gehört zu den ſtärkſten Zeugniſſen für die Wahrheit der Abſtammungslehre. Denn wie noch jetzt täglich Meduſen aus Hydroiden entſtehen, fo iſt auch urſprünglich phyloge— netiſch die frei ſchwimmende Meduſenform aus der feſtſitzenden Po— lypenform hervorgegangen. Ebenſo wichtig für die Deſcendenz-Theo— rie iſt auch die merkwürdige Arbeitstheilung der Individuen, welche namentlich bei den herrlichen Siphonophoren zu einem er— ſtaunlich hohen Grade entwickelt iſt?7). (Taf. VII, Fig. 13.) Aus einem Zweige der Schirmquallen hat ſich wahrſcheinlich die dritte Klaſſe der Neſſelthiere, die eigenthümliche Abtheilung der Kammquallen (Ctenophora) entwickelt. Dieſe Quallen, welche oft auch Rippenquallen oder Gurkenquallen genannt werden, beſitzen einen gurkenförmigen Körper, welcher, gleich dem Körper der meiſten Schirmquallen, kryſtallhell und durchſichtig wie geſchliffenes Glas iſt. Ausgezeichnet ſind die Kammquallen oder Rippenquallen durch ihre eigenthümlichen Bewegungsorgane, nämlich acht Reihen von rudern— den Wimperblättchen, die wie acht Rippen von einem Ende der Längs— axe (vom Munde) zum entgegengeſetzten Ende verlaufen. Von den beiden Hauptabtheilungen derſelben haben ſich die Engmündigen (Stenostoma) wohl erſt ſpäter aus den Weitmündigen (Eury— stoma) entwickelt. (Vergl. Taf. VII, Fig. 16). 460 Syſtematiſche Ueberſicht der 4 Klaſſen und 30 Ordnungen der Pflanzenthiere. Klaſſen Legionen Ordnungen | Lin Hattungs⸗ der der | der Bflanzenthiere WVflanzenthiere | Bflanzenthiere 13T: Myxospongiae 1. Archispongina T. Schleimſchwämme'! 2. Halisareina Schwämm . Chalynthi 5 5 5 II. Fibrospongiae & pongiae ä e = eodına oder DT 5. Hexactinella Porifera ee ee ee = = 7. Leucones Kalkſchwämme F 8. Sycones IV. Tetracoralla | 9. Rugosa II. Vierzählige (10. Paranemata Korallen 11. Cauliculat en V. Hexacoralla 5 ER 92 Oralla = 5 3511 Madreporaria 115 SEHEN Age. lis net 4. Aleyonid: Anthozoa VI. Octocoralla hi 6 Kr Een . Gorgonida Achtzählige 16. Pennatulida VII. Archydrae 8 . Urpolypen 1 N . Vesieulat: II VII. Leptomedusae e l Zartquallen 19. Ocellata Polypenquallen 9 5 20. Siphonophora Hydromedusae a RE 21. Marsiporchida . rachyn us oder nl I Phyllorchida Schirmquallen 9 a 23. Elasmorchida Medusae X. Calycozoa 8 5 2 Haftquallen j24. Podactinaria XI. Discomedusae 25. Semaeostomeae Scheibenquallen los. Rhizostomeae * 75 an RR 2. dn j Weitmündige Rammquallen SUR 88 San N FR 8 29. Lobata gman beg 30. Taeniata | | I | name als Beiſpiel Archispongia Halisarca Spongilla Ancorina Euplectella Olynthus Dyssyeus Sycurus Cyathophyllum Cereanthus Antipathes Astraea Actinia Lobularia Isis Veretillum Hydra Sertularia Tubularia Physophora Trachynema Geryonia Charybdea Lucernaria Aurelia Crambessa Beroe Cydippe Eucharis Cestum Stammbaum der Pflanzenthiere. —ü—ä— 449 — Taeniata Lobata | — — — Hydromedusae Rhizostomeae Semaeostomeae 461 Saccata STENOSTOMA Ctenophora - DISCOMEDUSAE Trachymedusae | | | Lucernaria | | N | Siphonophora | | EURYSTOMA | Calycozoa | LEPTOMEDUSAE Coralla Octocoralla Hexacoralla | | men. — Tetracoralla | Spongiae Fibrospongiae Chalynthina Leucones Sycones | | | Hydroida | Syeurus Calcispongiae | * Geodina Dyssyeus Cordylophora | | Hexactinella | | | | Hydra | | | | Ascones — — | 8 | HYDROIDA | Myxospongiae | h | Procorallum Halisareina OLYNTHUS — PR | | Hydroida | —— — — | Archispongia Archydra | | | I DT —H—: — ——— Protascus CHALYNTHUS Gastraea 462 Stamm der Würmer. Der dritte Stamm des Thierreichs, das Phylum der Würmer oder Wurmthiere (Vermes oder Helminthes) enthält eine Maſſe von divergenten Aeſten. Dieſe zahlreichen Aeſte haben ſich theils zu ſehr verſchiedenen und ganz ſelbſtſtändigen Würmerklaſſen entwickelt, theils aber in die urſprünglichen Wurzelformen der vier höheren Phy— len umgebildet. Jedes der letzteren (und ebenſo auch der Stamm der Pflanzenthiere) können wir uns bildlich als einen hochſtämmigen Baum vorſtellen, deſſen Stamm uns in ſeiner Verzweigung die verſchiede— nen Klaſſen, Ordnungen, Familien u. |. w. repräſentirt. Das Phy- lum der Würmer dagegen würden wir uns als einen niedrigen Buſch oder Strauch zu denken haben, aus deſſen Wurzel eine Maſſe von ſelbſtſtändigen Zweigen nach verſchiedenen Richtungen hin empor— ſchießen. Aus dieſem dicht verzweigten niedrigen Buſche, deſſen meiſte Zweige abgeſtorben ſind, erheben ſich vier hohe, viel verzweigte Stämme. Das ſind die vier höheren Phylen, die Sternthiere und Gliederthiere, Weichthiere und Wirbelthiere. Nur unten an der Wurzel ſtehen dieſe vier Stämme durch die gemeinſame Stamm— gruppe des Würmerſtammes mit einander in indirecter Verbindung. Die außerordentlichen Schwierigkeiten, welche die Syſtematik der Würmer ſchon aus dieſem Grunde darbietet, werden nun aber dadurch noch ſehr geſteigert, daß wir faſt gar keine verſteinerten Reſte von ihnen beſitzen. Die allermeiſten Würmer beſaßen und beſitzen noch heute einen ſo weichen Leib, daß ſie keine charakteriſtiſchen Spuren in den neptuniſchen Erdſchichten hinterlaſſen konnten. Wir ſind daher auch hier wieder vorzugsweiſe auf die Schöpfungsurkunden der On— togenie und der vergleichenden Anatomie angewieſen, wenn wir den äußerſt ſchwierigen Verſuch unternehmen wollen, in das Dunkel des Würmer-Stammbaums einige hypothetiſche Streiflichter fallen zu laſſen. Ich will jedoch ausdrücklich hervorheben, daß dieſe Skizze, wie alle ähnlichen Verſuche, nur einen ganz proviſoriſchen Werth beſitzt. Die zahlreichen Klaſſen, welche man im Stamme der Würmer unterſcheiden kann, und welche faſt jeder Zoologe in anderer Weiſe nach ſeinen ſubjektiven Anſchauungen gruppirt und umſchreibt, zerfal— Acoelomen. Würmer ohne Leibeshöhle. 463 len zunächſt in zwei weſentlich verſchiedene Gruppen oder Hauptklaſſen, welche ich (in meiner Monographie der Kalkſchwämme 5 e)) als Acoe— lomen und Coelomaten unterſchieden habe. Alle die niederen Würmer nämlich, welche man in der Klaſſe der Plattwürmer (Pla— tyhelminthes) zuſammenfaßt (die Strudelwürmer, Saugwürmer, Bandwürmer) unterſcheiden ſich ſehr auffallend von den übrigen Wür— mern dadurch, daß ſie noch gar kein Blut und keine Leibeshöhle (kein Cölom) beſitzen. Wir nennen fie deshalb Acoelomi. Die wahre Leibeshöhle oder das Coelom fehlt ihnen noch eben ſo vollſtändig, wie den ſämmtlichen Pflanzenthieren; ſie ſchließen ſich in dieſer wichtigen Beziehung unmittelbar an letztere an. Hingegen beſitzen alle übri— gen Würmer (gleich den vier höheren Thierſtämmen) eine wahre Leibeshöhle und ein damit zuſammenhängendes Blutgefäß-Syſtem, mit Blut gefüllt; wir faſſen fie daher als Coelomati zuſammen. Die Hauptabtheilung der blutloſen Würmer (Acoelomi) enthält nach unſerer phylogenetiſchen Auffaſſung außer den heute noch lebenden Plattwürmern auch die unbekannten ausgeſtorbenen Stammformen des ganzen Würmerſtammes, welche wir Urwürmer (Archelminthes) nennen wollen. Der Typus dieſer Urwürmer, die uralte Prothelmis, läßt ſich unmittelbar von der Gaſträa ableiten (S. 449). Noch heute kehrt die Gaſtrula-Form, das getreue hiſto— riſche Porträt der Gaſträa, als vorübergehende Larvenform in der Ontogeneſe der verſchiedenſten Würmer wieder. Unter den heute noch lebenden Würmern ſtehen den Urwürmern am nächſten die flimmern— den Strudelwürmer (Turbellaria), die Stammgruppe der heu— tigen Plattwürmer (Platyhelminthes). Aus den frei im Waſ— ſer lebenden Strudelwürmern find durch Anpaſſung an paraſttiſche Lebensweiſe die ſchmarotzenden Saugwürmer (Trematoda) ent— ſtanden, und aus dieſen durch noch weiter gehenden Paraſitismus die Bandwürmer (Cestoda). Aus einem Zweige der Acoelomen hat ſich die zweite Hauptab— theilung des Würmerſtammes entwickelt, die Würmer mit Blut und mit Leibes höhle (Coelomati): ſieben verſchiedene Klaſſen. 464 Syſtematiſche Ueberſicht der 8 Klaſſen und 22 Ordnungen des Würmerſtammes. (Vergl. Gen. Morph. II, Taf. V, S. LXXVII—LXXV.) Ordnungen | Hyſtematiſcher Tin Gattungs- | Klaſſen | des | des | Name der name als Würmerſtammes | Würmerſtammes | Würmerordnungen Beiſpiel 1. Urwürmer 1. Archelminthes | Prothelmis 1. Plattwürmer | 2. Strudelwürmer 2. Turbellaria | Planaria Platyhelminthes | 3. Saugwürmer 3. Trematoda | Distoma 4. Bandwürmer 4. Cestoda | Taenia 5. Pfeilwürmer 5. Chaetognathi | Sagitta 2, Rundwürmer > 6. Fadenwürmer 6. Nematoda | Trichina Nemathelminthes F 3 7, Kratzwürmer 7. Acanthocephala Echinorhynchus | 3. Mosthiere 8. Armwirbler 8. Lophopoda Aleyonella Bryozoa 9. Kreiswirbler 9. Stelmopoda | Retepora 4. Mantelthiere 55 Seeſcheiden 10. Ascidiae Phallusia Tunicata 11. Seetonnen 11. Thaliaceae | Salpa 5. Rüſſelwürmer ' 12. Eichelwürmer 12. Enteropneusta | Balanoglossus Borlasia 13. Schnurwürmer 13. Nemertina Rhynchocoela . Borjtenloje — 7 14. Sipuneulida Sipuneulus Sternwürmer 14 6. gan | @ephyrea 15. Borſtentragende 2 a m N 15. Echiurida Echiurus \ Sternwürmer | 7. Räderthiere 88 | j | 16, Räderwürmer 16. Rotatoria | Hydatina Rotifera 17. Bärwürmer 17. Aretisca Macrobiotus 18. Krallenwürmer 18. Onychophora | Peripatus 8. Ringelwürmer )19. Egel 19. Hirudinea Hirudo Annelida 20. Kahlwürmer 20. Drilomorpha | Lumbricus 21. Panzerwürmer 21. Phracthelminthes Crossopodia 22. Borſtenwürmer 22. Chaetopoda Aphrodite Echiurida Sipunculida | | Gephyrea | | | Chaetognathi Nematoda | u Acantho- cephala — — Nemathelminthes Stammbaum der Würmer. Chaetopoda Drilomorpha Phractelminthes | 1 1 g Hirudinea | Onychophora | Arctisca — — Annelida Stelmopoda | Enteropneusta Aseidiae Nemertina 8 | Thaliacea | | ! — — Lophopoda Bryozoa | Rotifera | | Rhynchocoela — — Tunicata I | | ö | | I | — — —t—i Coelomati (Würmer mit Leibeshöhle) Cestoda Trematoda | Turbellaria Platyhelminthes | en — Acoelomi (Würmer ohne Leibeshöhle) Archelminthes Prothelmis Gastraea Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 30 466 Coelomaten (Würmer mit Yeibeshöhle). Wie man ſich die dunkle Phylogenie der ſieben Coelomaten— Klaſſen annähernd etwa vorſtellen kann, zeigt der Stammbaum auf Seite 465. Wir wollen dieſelben aber hier nur ganz kurz namhaft machen, da ihre Verwandtſchaft und Abſtammung uns heutzutage noch ſehr verwickelt und unbekannt erſcheint. Erſt zahlreichere und genauere Unterſuchungen über die Ontogeneſe der verſchiedenen Coelo— maten werden uns künftig einmal auch über ihre Phylogeneſe aufklären. Die Rundwürmer (Nemathelminthes), die wir als erſte Klaſſe unter den Coelomaten aufführen, und die ſich durch ihre dreh— runde cylindriſche Geſtalt auszeichnen, enthalten zum größten Theile paraſitiſche Würmer, welche im Innern anderer Thiere leben. Von menſchlichen Paraſiten gehören dahin namentlich die berühmten Trichi— nen, die Spulwürmer, Peitſchenwürmer u. ſ. w. An die Rundwür— mer ſchließen ſich die nur im Meere lebenden Stern würmer (Ge- phyrea) an, und an dieſe die umfangreiche Klaſſe der Ringelwür— mer (Annelida). Zu dieſen letzteren, deren langgeſtreckter Körper aus vielen gleichartigen Gliedern zuſammengeſetzt iſt, gehören die Blutegel (Hirudinea), die Regenwürmer (Lumbricina) und die große Maſſe der marinen Borſtenwürmer (Chaetopoda). Ihnen ſehr nahe ſtehen die Rüſſelwürmer (Rhynchocoela) und die mikroſkopiſch kleinen Räderthiere (Rotifera). Den Ringelwürmern nächſt ver— wandt waren jedenfalls auch die unbekannten ausgeſtorbenen Stamm— formen der Sternthiere und der Gliederthiere. Hingegen haben wir die Stammformen der Weichthiere wahrſcheinlich in ausgeſtorbenen Würmern zu ſuchen, welche den heutigen Mosthieren (Bryozoa) nahe ſtanden, und die Stammformen der Wirbelthiere in unbekann— ten Coelomaten, deren nächſte Verwandte in der Gegenwart die Mantelthiere, insbeſondere die Aseidien find. Zu den merkwürdigſten Thieren gehört die Würmer-Klaſſe der Mantelthiere (Tunicata). Sie leben alle im Meere, wo die einen (die Seeſcheiden oder Ascidien) auf dem Boden feſtſitzen, die anderen (die Seetonnen oder Thaliaceen) frei umherſchwimmen. Bei allen beſitzt der ungegliederte Körper die Geſtalt eines einfachen tonnenför— Mantelthiere oder Tunicaten. 467 migen Sackes, welcher von einem dicken knorpelähnlichen Mantel eng umſchloſſen iſt. Dieſer Mantel beſteht aus derſelben ſtickſtoffloſen Kohlenſtoffverbindung, welche im Pflanzenreich als „Celluloſe“ eine ſo große Rolle ſpielt und den größten Theil der pflanzlichen Zellmem— branen und ſomit auch des Holzes bildet. Gewöhnlich beſitzt der ton— nenförmige Körper keinerlei äußere Anhänge. Niemand würde darin irgend eine Spur von Verwandtſchaft mit den hoch differenzirten Wirbelthieren erkennen. Und doch kann dieſe nicht mehr zweifelhaft ſein, ſeitdem im Jahre 1867 die Unterſuchungen von Kowalewski darüber plötzlich ein höchſt überraſchendes und merkwürdiges Licht verbreitet haben. Aus dieſen hat ſich nämlich ergeben, daß die indi— viduelle Entwickelung der feſtſitzenden einfachen Seeſcheiden (Ascidia, Phallusia) in den wichtigſten Beziehungen mit derjenigen des nieder— ſten Wirbelthieres, des Lanzetthieres (Amphioxus lanceolatus) über- einſtimmt. Insbeſondere beſitzen die Jugendzuſtände der Aseidien die Anlage des Rückenmarks und des darunter gelegenen Rücken— ſtrangs (Chorda dorsalis), d. h. die beiden wichtigſten und am mei— ſten charakteriſtiſchen Organe des Wirbelthierkörpers. Unter allen uns bekannten wirbelloſen Thieren beſitzen demnach die Mantelthiere zweifelsohne die nächſte Blutsverwandtſchaft mit den Wirbelthieren, und ſind als nächſte Verwandte derjenigen Wür— mer zu betrachten, aus denen ſich dieſer letztere Stamm entwickelt hat. (Vergl. Taf. X und XL) Während ſo verſchiedene Coelomaten-Zweige des vielgeſtaltigen Würmer⸗Stammes uns mehrfache genealogiſche Anknüpfungspunkte an die vier höheren Thierſtämme bieten und wichtige phylogenetiſche Andeutungen über deren Urſprung geben, zeigen anderſeits die niede— ren acoelomen Würmer nahe Verwandtſchafts-Beziehungen zu den Pflanzenthieren und zu den Urthieren. Auf dieſer eigenthümlichen Mittelſtellung beruht das hohe phylogenetiſche Intereſſe des Würmer— Stammes. Weunzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. II. Weichthiere, Sternthiere, Gliederthiere. Stamm der Weichthiere oder Mollusken. Vier Klaſſen der Weichthiere: Ta- ſcheln (Spirobranchien). Muſcheln (Lamellibranchien). Schnecken (Cochliden). Kracken (Cephalopoden). Stamm der Sternthiere oder Echinodermen. Abſtam— mung derſelben von den gegliederten Würmern (Panzerwürmern oder Phraktel— minthen). Generationswechſel der Echinodermen. Vier Klaſſen der Sternthiere: Seeſterne (Aſteriden). Seelilien (Krinoiden). Seeigel (Echiniden). Seegurken (Holothurien). Stamm der Gliederthiere oder Arthropoden. Vier Klaſſen der Gliederthiere. Kiemenathmende Gliederthiere oder Cruſtaceen. (Gliederkrebſe. Pan⸗ zerkrebſe). Luftröhrenathmende Gliederthiere oder Tracheaten. Spinnen (Stred- ſpinnen, Rundſpinnen). Tauſendfüßer. Inſecten. Kauende und ſaugende Infecten, Stammbaum und Geſchichte der acht Inſecten-Ordnungen. Meine Herren! Die großen natürlichen Hauptgruppen des Thier— reichs, welche wir als Stämme oder Phylen unterſchieden haben (die „Typen“ von Bär und Cuvie') find nicht alle von gleicher ſyſte- matiſcher Bedeutung für unſere Phylogenie oder Stammesgeſchichte. Dieſelben laſſen ſich weder in eine einzige Stufenreihe über einander ordnen, noch als ganz unabhängige Phylen, noch als gleichwerthige Zweige eines einzigen Stammbaums betrachten. Vielmehr ſtellt ſich, wie wir im letzten Vortrag geſehen haben, der Stamm der Urthiere als die gemeinſame Wurzelgruppe des ganzen Thierreichs heraus. Stamm der Weichthieve oder Mollusken. 169 Aus den Gaſträaden, welche wir zu den Urthieren rechnen müſſen, haben ſich als zwei divergente Aeſte einerſeits die Pflanzenthiere, anderſeits die Würmer entwickelt. Den vielgeſtaltigen und weit— verzweigten Stamm der Würmer müſſen wir aber wiederum als die gemeinſame Stammgruppe betrachten, aus welcher (an ganz ver— ſchiedenen Zweigen) die übrigen Stämme, die vier höheren Phylen des Thierreichs hervorgeſproßt find (vergl. den Stammbaum S. 449). Laſſen Sie uns nun einen genealogiſchen Blick auf dieſe vier höheren Thierſtämme werfen und verſuchen, ob wir nicht ſchon jetzt die wichtigſten Grundzüge ihres Stammbaums zu erkennen im Stande ſind. Wenn auch dieſer Verſuch noch ſehr mangelhaft und unvoll— kommen ausfällt, ſo werden wir damit doch wenigſtens einen erſten Anfang gemacht, und den Weg für ſpätere eingehendere Verſuche geebnet haben. Welche Reihenfolge wir bei Betrachtung der vier höheren Stämme des Thierreichs einſchlagen, iſt an ſich ganz gleichgültig. Denn un— ter ſich haben dieſe vier Phylen gar keine näheren verwandtſchaft— lichen Beziehungen, und haben ſich vielmehr von ganz verſchiedenen Aeſten der Würmergruppe abgezweigt (S. 447). Als den unvoll— kommenſten und tiefſtehenden von dieſen Stämmen, wenigſtens in Bezug auf die morphologiſche Ausbildung, kann man den Stamm der Weichthiere (Mollusca) betrachten. Nirgends begegnen wir hier der charakteriſtiſchen Gliederung (Artikulation oder Metameren— bildung) des Körpers, welche ſchon die Ringelwürmer auszeichnet, und welche bei den übrigen drei Stämmen, den Sternthieren, Glie— derthieren und Wirbelthieren, die weſentlichſte Urſache der höheren Formentwickelung, Differenzirung und Vervollkommnung wird. Viel— mehr ſtellt bei allen Weichthieren, bei allen Muſcheln, Schnecken u. |. w. der ganze Körper einen einfachen ungegliederten Sack dar, in deſſen Höhle die Eingeweide liegen. Das Nervenſyſtem beſteht aus meh— reren einzelnen (gewöhnlich drei), nur locker mit einander verbunde— nen Knotenpaaren, und nicht aus einem gegliederten Strang. Aus dieſen und vielen anderen anatomiſchen Gründen halte ich den Weich— 470 Kopfloje und kopftragende Weichthiere. thierſtamm (trotz der höheren phyſiologiſchen Ausbildung feiner vollkommenſten Formen) für den morphologiſch niederſten unter den vier höheren Thierſtämmen. Wenn wir die Mosthiere und Mantelthiere, die bisher ge— wöhnlich mit dem Weichthierſtamm vereinigt wurden, aus den an— geführten Gründen ausſchließen, ſo behalten wir als echte Mollus— ken folgende vier Klaſſen: die Taſcheln, Muſcheln, Schnecken und Kracken. Die beiden niederen Molluskenklaſſen, Taſcheln und Mu— ſcheln, beſitzen weder Kopf noch Zähne, und man kann ſie daher als Kopfloſe (Acephala) oder Zahnloſe (Anodontoda) in einer Hauptklaſſe vereinigen. Dieſe Hauptklaſſe wird auch häufig als die der Schalthiere (Conchifera) oder Zweiklappigen (Bivalva) be⸗ zeichnet, weil alle Mitglieder derſelben eine zweiklappige Kalkſchale be— ſitzen. Dieſen gegenüber kann man die beiden höheren Weichthierklaſ— ſen, Schnecken und Kracken, als Kopfträger (Cephalophora) oder Zahnträger (Odontophora) in einer zweiten Hauptklaſſe zuſammen— faſſen, weil ſowohl Kopf als Zähne bei ihnen ausgebildet find. Bei der großen Mehrzahl der Weichthiere iſt der weiche ſack— förmige Körper von einer Kalkſchale oder einem Kalkgehäuſe geſchützt, welches bei den Kopfloſen (Taſcheln und Muſcheln) aus zwei Klap⸗ pen, bei den Kopfträgern dagegen (Schnecken und Kracken) aus einer meiſt gewundenen Röhre (dem ſogenannten „Schneckenhaus“) beſteht. Trotzdem dieſe harten Skelete maſſenhaft in allen neptuniſchen Schich— ten ſich verſteinert finden, ſagen uns dieſelben dennoch nur ſehr wenig über die geſchichtliche Entwickelung des Stammes aus. Denn dieſe fällt größtentheils in die Primordialzeit. Selbſt ſchon in den ſilu— riſchen Schichten finden wir alle vier Klaſſen der Weichthiere neben einander verſteinert vor, und dies beweiſt deutlich, in Uebereinſtim— mung mit vielen anderen Zeugniſſen, daß der Weichthierſtamm da— mals ſchon eine mächtige Ausbildung erreicht hatte, als die höheren Stämme, namentlich Gliederthiere und Wirbelthiere, kaum über den Beginn ihrer hiſtoriſchen Entwickelung hinaus waren. In den dar— auf folgenden Zeitaltern, beſonders zunächſt im primären und weiter— Geſchichte des Weichthierſtammes. 471 hin im ſecundären Zeitraum, dehnten fich dieſe höheren Stämme mehr und mehr auf Koſten der Mollusken und Würmer aus, welche ihnen im Kampfe um das Daſein nicht gewachſen waren, und dem entſprechend mehr und mehr abnahmen. Die jetzt noch lebenden Weichthiere und Würmer ſind nur als ein verhältnißmäßig ſchwacher Reſt von der mächtigen Fauna zu betrachten, welche in primordia— ler und primärer Zeit über die anderen Stämme ganz überwiegend herrſchte. (Vergl. Taf. VI, S. 440, nebſt Erklärung im Anhang.) In keinem Thierſtamm zeigt ſich deutlicher, als in dem der Mollusken, wie verſchieden der Werth iſt, welchen die Verſteinerun— gen für die Geologie und für die Phylogenie beſitzen. Für die Geo— logie ſind die verſchiedenen Arten der verſteinerten Weichthierſchalen von der größten Bedeutung, weil dieſelben als „Leitmuſcheln“ vor— treffliche Dienſte zur Charakteriſtik der verſchiedenen Schichtengruppen und ihres relativen Alters leiſten. Für die Genealogie der Mollus— ken dagegen beſitzen ſie nur ſehr geringen Werth, weil ſie einerſeits Körpertheile von ganz untergeordneter morphologiſcher Bedeutung ſind, und weil andererſeits die eigentliche Entwickelung des Stam— mes in die ältere Primordialzeit fällt, aus welcher uns keine deut— lichen Verſteinerungen erhalten ſind. Wenn wir daher den Stamm— baum der Mollusken conſtruiren wollen, ſo ſind wir vorzugsweiſe auf die Urkunden der Ontogenie und der vergleichenden Anatomie angewieſen, aus denen ſich etwa Folgendes ergiebt. (Gen. Morph. II, Taf. VI, S. CH bis (XVI.) Von den vier uns bekannten Klaſſen der echten Weichthiere ſte— hen auf der niederſten Stufe die in der Tiefe des Meeres feſtgewachſe— nen Taſcheln oder Spiralkiemer (Spirobranchia), oft auch un- paſſend als Armfüßer (Brachiopoda) bezeichnet. Von dieſer Klaſſe leben gegenwärtig nur noch wenige Formen, einige Arten von Lingula, Terebratula und Verwandte; ſchwache Ueberbleibſel von der mächtigen und formenreichen Gruppe, welche die Taſcheln in älteren Zeiten der Erdgeſchichte darſtellten. In der Silurzeit bildeten ſie die Hauptmaſſe des ganzen Weichthierſtammes. Aus der Uebereinſtimmung, welche 472 Taſcheln (Spirobranchien). Muſcheln (Lamellibrandien). in mancher Beziehung ihre Jugendzuſtände mit denjenigen der Mos— thiere darbieten, hat man geſchloſſen, daß ſie ſich aus Würmern ent— wickelt haben, welche dieſer Klaſſe nahe ſtanden. Von den beiden Unterklaſſen der Taſcheln ſind die Angelloſen (Ecardines) als die niederen und unvollkommneren, die Angelſchaligen (Testicardines) als die höheren und weiter entwickelten Taſcheln zu betrachten. Der anatomiſche Abſtand zwiſchen den Taſcheln und den drei übrigen Weichthier-Klaſſen iſt ſo beträchtlich, daß man die letzteren als Otocardier den erſteren gegenüberſtellen kann. Die Otocar— dier haben alle ein Herz mit Kammer und Vorkammer, während den Taſcheln die Vorkammer fehlt. Auch iſt das Centralnerven— ſyſtem nur bei den erſteren, nicht bei den letzteren, in Geſtalt eines vollſtändigen Schlundringes entwickelt. Es laſſen ſich daher die vier Mollusken-Klaſſen folgendermaßen gruppiren: Er 1. Taſcheln I. Haplocardia I. Weichthiere 1 ſch N Sa n hne Kopf (Spirobranchia) (mit einfachem Herzen) ohne Ko a 5 2. Muſcheln Acephala g N (Lamellibranchia) II. Otocardia A f 3. Schnecken (mit Kammer II. Weichthiere a ER (Cochlides) und Vorkammer mit Kopf 4. Kraden am Herzen) Cephalophora (Cephalopoda) Für die Stammesgeſchichte der Mollusken ergiebt ſich hieraus, was auch die Paläontologie beſtätigt, daß die Taſcheln den uralten Wurzeln des ganzen Molluskenſtammes viel näher ſtehen, als die Otocardier. Aus Mollusken, welche den Taſcheln nahe verwandt waren, haben ſich wahrſcheinlich als zwei divergente Zweige die Muſcheln und Schnecken entwickelt. Die Muſcheln oder Blattkiemer (Lamellibranchia oder Phyllobranchia) beſitzen eine zweiklappige Schale wie die Taſcheln. Während aber bei den letzteren die eine Schalenklappe den Rücken, die andere den Bauch der Taſchel deckt, ſitzen bei den Muſcheln die beiden Klappen ſymmetriſch auf der rechten und linken Seite des © Schnecken Cochliden). Kracken (Cephalopoden). 473 Körpers. Die meiſten Muſchelthiere leben im Meere, nur wenige im ſüßen Waſſer. Die Klaſſe zerfällt in zwei Unterklaſſen, Aſipho— nien und Siphoniaten, von denen ſich die letzteren erſt ſpäter aus den erſteren entwickelt haben. Zu den Aſiphonien gehören die Auſtern, Perlmuttermuſcheln und Teichmuſcheln, zu den Siphoni— aten, die ſich durch eine Athemröhre auszeichnen, die Venusmu— ſcheln, Meſſermuſcheln und Bohrmuſcheln. Aus den kopfloſen und zahnloſen Weichthieren ſcheinen ſich erſt ſpäter die höheren Mollusken entwickelt zu haben, welche ſich durch die deutliche Ausbildung eines Kopfes und namentlich durch ein eigenthümliches Gebiß vor jenen auszeichnen. Die Zunge trägt hier eine beſondere Platte, welche mit ſehr zahlreichen Zähnen bewaffnet iſt. Bei unſerer gemeinen Weinbergsſchnecke (Helix pomatia) beträgt die Zahl dieſer Zähne 21,000 und bei der großen Gartenſchnecke (Limax maximus) ſogar 26,800. Unter den Schnecken (Cochlides oder Gasteropoda) unterſchei— den wir wieder zwei Unterklaſſen, Stummelköpfe und Kopfſchnecken. Die Stummelköpfe (Perocephala) ſchließen ſich einerſeits ſehr eng an die Muſcheln an (durch die Schaufelſchnecken), anderſeits aber an die Kracken (durch die Floſſenſchnecken)ß. Die höher entwickelten Kopfſchnecken (Delocephala) kann man in Kiemenſchnecken (Bran- chiata) und Lungenſchnecken (Pulmonata) eintheilen. Zu den letz— teren gehören die Landſchnecken, die einzigen unter allen Mollusken, welche das Waſſer verlaſſen und ſich an das Landleben angepaßt ha— ben. Die große Mehrzahl der Schnecken lebt im Meere, nur wenige im ſüßen Waſſer. Einige Flußſchnecken der Tropen (die Ampullarien) leben amphibiſch, bald auf dem Lande, bald im Waſſer. Im letzte— ren Falle athmen ſie durch Kiemen, im erſteren durch Lungen. Sie vereinigen beiderlei Athmungsorgane, wie die Lurchfiſche und Kiemen— lurche unter den Wirbelthieren. Die vierte und letzte, und zugleich die höchſt entwickelte Klaſſe der Mollusken bilden die Kracken oder Pulpen, auch Tinten— fiſche oder Kopffüßer genannt (Cephalopoda). Sie leben alle 474 Klaſſen N der Weichthiere Syſtematiſche Ueberſicht der 4 N S Unterklaſſen und 21 Ordnungen der Weichthiere. N Anterklaffen der Weichthiere Be der Weichthiere I. Weichthiere ohne Kopf und ohne Jähne: Hyſtematiſcher Name der Ordnungen Acephala oder Anodontoda. I. Taſcheln oder Spiralkiemer Spirobranchia oder Brachiopoda II. Muſcheln oder Blattkiemer Lamellibranchia oder Phyllobranchia Muſcheln ohne I. Ecardines ji Angellofe 2 II. Testicardines 3 Angelſchalige ö 4 III. Asiphonia | \ Athemröhre IV. Siphoniata Athemröhre II. Weichthiere mit CECT und mit Zähnen: III. Schnecken Cochlides oder Gasteropoda IV. Kracken oder Pulpen Cephalopoda Ice Jen eee er 0 1. Schaufelſchnecken 11. ee 12. Floſſenſchnecken 12. 13. Hinterkiemer 13. VI. Kopf⸗ . Vorderkiemer 14. ſchnecken 15. Kielſchnecken 15. Delocephala I Käferſchnecken 16. 17. Lungenſchnecken 17. (uu. Kammer- kracken 18. Perlboote (Vierkiemige) ö 19. Ammonsboote Tetrabranchia VIII. Tinten⸗ kracken 20. Zehnarmige 20. (Zweikiemige) 21. Achtarmige 21: Dibranchia 8 Muſcheln mit | 9, 0 .Zungentaſcheln 1. . Scheibentaſcheln 2. „Fleiſcharmige 8: . Kalfarmige 4 . Einmußsfler 5 . Ungleichmusfler 6. . Gleichmuskler 7; . Rundmäntel 8. Buchtmäntel 9. 10. Röhrenmuſcheln 10. Cephalophora oder Lingulida Craniada Sarcobrachia . Sclerobrachia Monomya Heteromya Isomya Integripalliata Sinupalliata Inclusa Odontophora. Scaphopoda Pteropoda Opistobranchia Prosobranchia Heteropoda Chitonida Pulmonata 18. Nautilida 19. Ammonitida Decabrachiones Octobrachiones Stammbaum der Weichthiere oder Mollusken. 4 Dibranchien Heteropoden Pulmonaten | Prosobranchien | Tetrabranchien Cephalopoden (Kracken) Lipobranchien | Gymnobranchien | | I Pleurobranchien Opistobranchien | Chitoniden Delocephaleu —ſ — 010 | Pteropoden :lusen | | I — — Sinupalliaten Scaphopoden Integripalliaten Perocephalen Sclerobrachien Siphoniaten Cochliden | (Schnecken) | Asiphonien Sarecobrachien Lamellibranchien | Testicardinen (Muſcheln) | | | | Ecardinen Otocardier Spirobrachien (Mollusken mit Kammer und (Taſcheln) Vorkammer am Herzen) —— —— Promollusken (Urweichthiere) Mollusken mit einfachem Herzen | Würmer I — | Gastraea 476 Stamm der Sternthiere oder Echinodermen. im Meere und zeichnen ſich vor den Schnecken durch acht, zehn oder mehr lange Arme aus, welche im Kranze den Mund umgeben. Die Kracken, welche noch jetzt in unſeren Meeren leben, die Sepien, Kal— mare, Argonautenboote und Perlboote, ſind gleich den wenigen Spi— ralkiemern der Gegenwart nur dürftige Reſte von der formenreichen Schaar, welche dieſe Klaſſe in den Meeren der primordialen, primä— ren und ſecundären Zeit bildete. Die zahlreichen verſteinerten Am— monshörner (Ammonites), Perlboote (Nautilus) und Donnerkeile (Belemnites) legen noch heutzutage von jenem längſt erloſchenen Glanze des Stammes Zeugniß ab. Wahrſcheinlich haben ſich die Pulpen aus einem niederen Zweige der Schneckenklaſſe, aus den Floſ— ſenſchnecken (Pteropoden) oder Verwandten derſelben entwickelt. Die verſchiedenen Unterklaſſen und Ordnungen, welche man in den vier Molluskenklaſſen unterſcheidet, und deren ſyſtematiſche Rei— henfolge Ihnen die vorſtehende Tabelle (S. 474) anführt, liefern in ihrer hiſtoriſchen und ihrer entſprechenden ſyſtematiſchen Entwickelung mannichfache Beweiſe für die Gültigkeit des Fortſchrittsgeſetzes. Da jedoch dieſe untergeordneten Molluskengruppen an ſich weiter von kei— nem beſonderen Intereſſe ſind, verweiſe ich Sie auf die gegenüberſte— hende Skizze ihres Stammbaums (S. 475) und auf den ausführlichen Stammbaum der Weichthiere, welchen ich in meiner generellen Mor— phologie gegeben habe, und wende mich ſogleich weiter zur Betrach— tung des Sternthierſtammes. Die Sternthiere (Echinoderma oder Estrellae), zu welchen die vier Klaſſen der Seeſterne, Seelilien, Seeigel und Seegurken ge— hören, ſind eine der intereſſanteſten, und dennoch wenigſt bekannten Abtheilungen des Thierreichs. Alle leben im Meere. Jeder von Ih— nen, der einmal an der See war, wird wenigſtens zwei Formen der— ſelben, die Seeſterne und Seeigel, geſehen haben. Wegen ihrer ſehr eigenthümlichen Organiſation ſind die Sternthiere als ein ganz ſelbſt— ſtändiger Stamm des Thierreichs zu betrachten, und namentlich gänz— lich von den Pflanzenthieren, den Zoophyten oder Cölenteraten zu tren— nen, mit denen ſie noch jetzt oft irrthümlich als Strahlthiere oder Radia— Entſtehung der Sternthiere aus Stöcken von Gliederwürmern. 477 ten zuſammengefaßt werden (ſo z. B. von Agaſſiz, welcher auch dieſen Irrthum Cuvier's neben manchen anderen noch heute vertheidigt). Alle Echinodermen ſind ausgezeichnet und zugleich von allen an— deren Thieren verſchieden durch einen ſehr merkwürdigen Bewegungs— apparat. Dieſer beſteht in einem verwickelten Syſtem von Canälen oder Röhren, die von außen mit Seewaſſer gefüllt werden. Das Seewaſſer wird in dieſer Waſſerleitung theils durch ſchlagende Wim— perhaare, theils durch Zuſammenziehungen der muskulöſen Röhren— wände ſelbſt, die Gummiſchläuchen vergleichbar ſind, fortbewegt. Aus den Röhren wird das Waſſer in ſehr zahlreiche hohle Füßchen hinein gepreßt, welche dadurch prall ausgedehnt und nun zum Gehen und zum Anſaugen benutzt werden. Außerdem ſind die Sternthiere auch durch eine eigenthümliche Verkalkung der Haut ausgezeichnet, welche bei den meiſten zur Bildung eines feſten, geſchloſſenen, aus vielen Platten zuſammengeſetzten Panzers führt. Bei fait allen Echinoder⸗ men iſt der Körper aus fünf Strahltheilen (Gegenſtücken oder Anti— meren) zuſammengeſetzt, welche rings um die Hauptaxe des Körpers ſternförmig herum ſtehen und ſich in dieſer Axe berühren. Nur bei einigen Seeſternarten ſteigt die Zahl dieſer Strahltheile über fünf hin— aus, auf 6—9, 10—12, oder ſelbſt 20—40; und in dieſem Falle iſt die Zahl der Strahltheile bei den verſchiedenen Individuen der Spe— cieg meiſt nicht beſtändig, ſondern wechſelnd. Die geſchichtliche Entwickelung und der Stammbaum der Echi— nodermen werden uns durch ihre zahlreichen und meiſt vortrefflich er— haltenen Verſteinerungen, durch ihre ſehr merkwürdige individuelle Entwickelungsgeſchichte und durch ihre intereſſante vergleichende Ana— tomie ſo vollſtändig enthüllt, wie es außerdem bei keinem anderen Thierſtamme, ſelbſt die Wirbelthiere vielleicht nicht ausgenommen, der Fall iſt. Durch eine kritiſche Benutzung jener drei Archive und eine denkende Vergleichung ihrer Reſultate gelangen wir zu folgender Ge— nealogie der Sternthiere, die ich in meiner generellen Morphologie begründet habe (Gen. Morph. II, Taf. IV, S. LXII— LXXVII). Die älteſte und urſprüngliche Gruppe der Sternthiere, die 478 Entſtehung der Sternthiere aus Stöcken von Gliederwürmern. Stammform des ganzen Phylum, iſt die Klaſſe der Seeſterne (Asterida). Dafür ſpricht außer zahlreichen und wichtigen Beweis— gründen der Anatomie und Entwickelungsgeſchichte vor allen die hier noch unbeſtändige und wechſelnde Zahl der Strahltheile oder Antime— ren, welche bei allen übrigen Echinodermen ausnahmslos auf fünf fixirt iſt. Jeder Seeſtern beſteht aus einer mittleren kleinen Körper— ſcheibe, an deren Umkreis in einer Ebene fünf oder mehr lange geglie— derte Arme befeſtigt ſind. Jeder Arm des Seeſterns entſpricht in ſeiner ganzen Organiſation weſentlich einem geglie— derten Wurme aus der Klaſſe der Ringelwürmer oder Anneliden (S. 466). Ich betrachte daher den Seeſtern als einen echten Stock oder Cormus von fünf oder mehr gegliederten Würmern, welche durch ſternförmige Keimknospenbildung aus einem centralen Mutter-Wurme entſtanden ſind. Von dieſem letzteren ha— ben die ſternförmig verbundenen Geſchwiſter die gemeinſchaftliche Mundöffnung und die gemeinſame Verdauungshöhle (Magen) über— nommen, die in der mittleren Körperſcheibe liegen. Das verwachſene Ende, welches in die gemeinſame Mittelſcheibe mündet, iſt wahr— ſcheinlich das Hinterende der urſprünglichen ſelbſtſtändigen Würmer. In ganz ähnlicher Weiſe ſind auch bei den ungegliederten Wür— mern bisweilen mehrere Individuen zur Bildung eines ſternförmigen Stockes vereinigt. Das iſt namentlich bei den Botrylliden der Fall, zuſammengeſetzten Seeſcheiden oder Aſeidien, welche zur Klaſſe der Mantelthiere (Tunicaten) gehören. Auch hier ſind die einzelnen Würmer mit ihrem hinteren Ende, wie ein Rattenkönig, verwachſen, und haben ſich hier eine gemeinſame Auswurfsöffnung, eine Central— kloake gebildet, während am vorderen Ende noch jeder Wurm ſeine eigene Mundöffnung beſitzt. Bei den Seeſternen würde die letztere im Laufe der hiſtoriſchen Stockentwickelung zugewachſen ſein, wäh— rend ſich die Centralkloake zu einem gemeinſamen Mund für den ganzen Stock ausbildete. Die Seeſterne würden demnach Würmerſtöcke ſein, welche ſich durch ſternförmige Knospenbildung aus echten gegliederten Würmern Die Seeſterne als ſternförmige Würmerſtöcke. 479 oder Colelminthen entwickelt haben. Dieſe Hypotheſe wird auf das Stärkſte durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie der geglie— derten Seeſterne (Colastra) und der gegliederten Würmer geſtützt. Unter den letzteren ſtehen in Bezug auf den inneren Bau die viel— gliedrigen Ringelwürmer (Annelida) den einzelnen Armen oder Strahltheilen der Seeſterne, d. h. den urſprünglichen Einzelwürmern, ganz nahe. Jeder der fünf Arme des Seeſterns iſt aus einer gro— ßen Anzahl hinter einander liegender gleichartiger Glieder oder Me— tameren kettenartig zuſammengeſetzt, ebenſo wie jeder gegliederte Wurm und jedes Arthropod. Wie bei dieſen letzteren, ſo verläuft auch bei den erſteren in der Mittellinie des Bauchtheils ein centra— ler Nervenſtrang, das Bauchmark. An jedem Metamere ſind ein paar ungegliederte Füße und außerdem meiſtens ein oder mehrere ſtarre Stacheln angebracht, ähnlich wie bei den Ringelwürmern. Auch vermag der abgetrennte Seeſtern-Arm ein ſelbſtſtändiges Leben zu führen und kann ſich dann durch ſternförmige Knospenbildung an einem Ende wieder zu einem fünfſtrahligen Seeſterne ergänzen. Die wichtigſten Beweiſe aber für die Wahrheit meiner Hypo— theſe liefert die Ontogenie oder die individuelle Entwickelungsge— ſchichte der Echinodermen. Die höchſt merkwürdigen Thatſachen die— ſer Ontogenie ſind erſt im Jahre 1848 durch den großen Berliner Zoologen Johannes Müller entdeckt worden. Einige ihrer wich— tigſten Verhältniſſe ſind auf Taf. VIII und IX vergleichend dargeſtellt. (Vergl. die nähere Erklärung derſelben unten im Anhang.) Fig. A auf Taf. IX zeigt Ihnen einen gewöhnlichen Seeſtern (Uraster), Fig. B eine Seelilie (Comatula), Fig. C einen Seeigel (Echinus) und Fig. D eine Seegurke (Synapta). Trotz der außerordentlichen Formverſchiedenheit, welche dieſe vier Vertreter der verſchiedenen Sternthier-Klaſſen zeigen, iſt dennoch der Anfang der Entwickelung bei allen ganz gleich. Aus dem Ei entwickelt ſich eine Thierform, welche gänzlich von dem ausgebildeten Sternthiere verſchieden, dagegen den bewimperten Larven gewiſſer Gliederwürmer (Sternwürmer und Ringelwürmer) höchſt ähnlich iſt. Die ſonderbare Thierform wird 480 Syſtematiſche Ueberſicht der 4 Klaſſen, 9 Unterklaſſen und 20 Ordnungen der Sternthiere. (Vergl. Gen. Morph. II, Taf. IV, S. LXII-LXXVII) Klaſſen Annterklaſſen Ordnungen Hyſtematiſcher der der der Name der Sternthiere Sternthiere Sternthiere Ordnungen , Se 15 f 1. Stammſterne 1. Tocastra magen \ 2. Gliederſterne 2. Colastra 8 2 Myrift * D Se 5 ee re 3. Briſingaſterne 3. Brisingastra Ane e Asterida mit Scheiben- 4, Schlangenſterne 4. Ophiastra magen 5. Baumſterne 5. Phytastra H Lin . - Discogastra 6, Lilienſterne 6. Crinastra 7. Getäfelte Arm- 7. Phatnocrinida III. Armlilien lilien Brachiata 8. Gegliederte 8. Coloerinida Armlilien II. 9. 9. Regelmäßige 9. Pentremitida W ili pen: Knospenlilien Seelilien u 0. Zweiſeitige 10. Eleutheroerina Crinoida Zeit gi * . 14.3 R Sttelloſe a. Agelacrinida er ee ſenlilien Pe 2. Geſtielte Bla- 12. Sphaeronitida x 3 ſenlilien 3. Palechiniden 13. Melonitida mit mehr als 10 9 Seei . 5 f ; 1 1 ambulakralen en eng 91 A Plattenreihen MEIN, 14. Palechiniden 14. Eoeidarida III. Be mt 10 ombır atechinida : lakralen Plat- Seeigel tenreihen Echinida e 15. Autechiniden 15. Desmosticha ne mit Bandambu⸗ Seeigel (mit lakren Aa ben 16. Autechiniden 16. Petalosticha Wer ER 4 mit Blattambu⸗ lakren 17. Eupodien mit 17. Aspidochirota VIII. Seegur- ſchildförmigen ken mit Fühlern Iv Waſſerfüßchen | 18. Eupodien mit 18. Dendrochirota Eupodia baumförmigen Seegurfen 15 Dahlem „ KB j a: 19, Apodien mit Liodermatida 2 ken ohne Kiemen Waſſ e n Apodien ohne 20. Synaptida Apodia Kiemen Stammbaum der Sternthiere oder Echinodermen. 481 Clypeastriden Spatangiden | | a | Dysasteriden | | | — — Aspidochiroten Cassiduliden Synaptiden | Petalostichen | | | | | Echinoniden — — | Liodermatiden Galeritiden | | Apodien Eehinometriden | | — m rn mi Latistellen Dendrochiroten Saleniden | | \ | N Eupodien | | Holothurien — ——— — — nr Angustistellen Desmostichen Autechiniden Colocrinen | 1 | Sphaeronitiden | N | | | Eocidariden ' Eleutheroerinen | Agelaerinen | 2 | | Phytastren ‚ Eystideen | Melonitiden Phatnoerinen | Ophiastren | Palechiniden Brachiaten Pentremiten | Discogastren Echiniden | Blastoideen 7 | 1 Brisi | — — . EN 1 u a en | Brachisten | | Crinoiden | Colastren Crinastren | | — —— — Tocastren Actinogastren Asteriden | | Phractelminthen Coelomaten | | Gastraea — u — 2. I Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl 3 482 Generationswechſel der Sternthiere. gewöhnlich als „Larve“, richtiger aber als „Amme“ der Sternthiere bezeichnet. Sie iſt ſehr klein, durchſichtig, ſchwimmt mittelſt einer Wimperſchnur im Meere umher, und iſt ſtets aus zwei ſymmetriſch gleichen Körperhälften zuſammengeſetzt. Das erwachſene Sternthier dagegen, welches vielmals (oft mehr als hundertmal) größer und ganz undurchſichtig iſt, kriecht auf dem Grunde des Meeres und iſt ſtets aus mindeſtens fünf gleichen Stücken (Gegenſtücken oder Anti— meren) ſtrahlig zuſammengeſetzt. Taf. VIII zeigt die Entwickelung der Ammen von den auf Taf. IX abgebildeten vier Sternthieren. Das ausgebildete Sternthier entſteht nun durch einen ſehr merk— würdigen Knospungs-Proceß im Innern der Amme, von welcher daſſelbe wenig mehr als den Magen beibehält. Die Amme oder die fälſchlich ſogenannte „Larve“ der Echinodermen iſt demnach als ein folitärer Wurm aufzufaſſen, welcher durch innere Knospenbildung eine zweite Generation in Form eines Stockes von ſternförmig ver— bundenen Würmern erzeugt. Dieſer ganze Prozeß iſt echter Gene— rationswechſel oder Metageneſis, keine „Metamorphoſe“, wie ge— wöhnlich unrichtig geſagt wird. Ein ähnlicher Generationswechſel findet ſich auch noch bei anderen Würmern, nämlich bei einigen Sternwürmern (Sipunculiden) und Schnurwürmern (Nemertinen). Erinnern wir uns nun des biogenetiſchen Grundgeſetzes (S. 361) und beziehen wir die Ontogenie der Echinodermen auf ihre Phylo- genie, ſo wird uns auf einmal die ganze hiſtoriſche Entwickelung der Sternthiere klar und verſtändlich, während ſie ohne jene Hypotheſe ein unlösbares Räthſel bleibt (vergl. Gen. Morph. II, S. 95 - 99). Außer den angeführten Gründen legen auch noch viele andere Thatſachen (beſonders aus der vergleichenden Anatomie der Echino⸗ dermen) das deutlichſte Zeugniß für die Richtigkeit meiner Hypotheſe ab. Ich habe dieſe Stammhypotheſe 1866 aufgeſtellt, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß auch noch verſteinerte Glied— würmer exiſtiren, welche jenen hypothetiſch vorausgeſetzten Stamm— formen zu entſprechen ſcheinen. Solche ſind aber inzwiſchen wirk⸗ lich bekannt geworden. In einer Abhandlung „über ein Aequiva⸗ Sternthiere. Erste Generation: Wurm_Ferseon Ju IM Sernthiere. Zweite Generation: Würmer. Storl: Jas, A A. Uraster. g. Comatula. 2. Eckhinus. D. Synapta. RI IN Hacckel del ff = A 7 . u ‚ ’ 2 7 5 er * 7A. 1 D f [2 2 3 . — 1 Abſtammung der Seeſterne von gegliederten Panzerwürmern. 483 lent der takoniſchen Schiefer Nordamerikas in Deutſchland“ beſchrie— ben 1867 Geinitz und Liebe eine Anzahl von gegliederten ſiluriſchen Würmern, welche vollkommen den von mir gemach— ten Vorausſetzungen entſprechen. Dieſe höchſt merkwürdigen Wür— mer kommen in den Dachſchiefern von Wurzbach im reußiſchen Ober— lande zahlreich in vortrefflich erhaltenem Zuſtande vor. Sie haben den Bau eines gegliederten Seeſternarms, und müſſen offenbar einen feſten Hautpanzer, ein viel härteres und feſteres Hautſkelet beſeſſen haben, als es ſonſt bei den Würmern vorkommt. Die Zahl der Körperglieder oder Metameren iſt ſehr beträchtlich, ſo daß die Wür— mer bei einer Breite von 4— 4 Zoll eine Länge von 2— 3 Fuß und mehr erreichten. Die vortrefflich erhaltenen Abdrücke, namentlich von Phyllodoeites thuringiacus und Crossopodia Henrici, gleichen auffallend den ſkeletirten Armen mancher gegliederten Seeſterne (Col- astra). Ich bezeichne dieſe uralte Würmergruppe, zu welcher ver— muthlich die Stammväter der Seeſterne gehört haben, als Pan— zerwürmer (Phractelminthes, S. 460). Aus der Klaſſe der Seeſterne, welche die urſprüngliche Form des ſternförmigen Wurmſtockes am getreueſten erhalten hat, haben ſich die drei anderen Klaſſen der Echinodermen offenbar erſt ſpäter entwickelt. Am wenigſten von ihnen entfernt haben ſich die See— lilien (Crinoida), welche aber die freie Ortsbewegung der übrigen Sternthiere aufgegeben, ſich feſtgeſetzt, und dann einen mehr oder minder langen Stiel entwickelt haben. Einige Seelilien (3. B. die Comateln, Fig. B auf Taf. VIII und IX) löſen ſich jedoch ſpäterhin von ihrem Stiele wieder ab. Die urſprünglichen Wurmindividuen ſind zwar bei den Crinoiden nicht mehr ſo ſelbſtſtändig und ausge— bildet erhalten, wie bei den Seeſternen; aber dennoch bilden ſie ſtets mehr oder minder gegliederte, von der gemeinſamen Mittelſcheibe abgeſetzte Arme. Wir können daher die Seelilien mit den Seeſter— nen zuſammen in der Hauptklaſſe der Gliederarmigen (Colo— brachia) vereinigen. In den beiden anderen Echinodermenklaſſen, bei den Seeigeln 3 484 Seeigel (Ehiniden). Seegurken (Holothurien). und Seegurken, ſind die gegliederten Arme nicht mehr als ſelbſt— ſtändige Körpertheile erkennbar, vielmehr durch weitgehende Centra— liſation des Stockes vollkommen in der Bildung der gemeinſamen, aufgeblaſenen Mittelſcheibe aufgegangen, ſo daß dieſe jetzt als eine einfache armloſe Büchſe oder Kapſel erſcheint. Der urſprüngliche In— dividuenſtock iſt ſcheinbar dadurch wieder zum Formwerth eines ein— fachen Individuums, einer einzelnen Perſon, herabgeſunken. Wir können daher dieſe beiden Klaſſen als Armloſe (Lipobrachia) den Gliederarmigen gegenüberſetzen. Die erſte Klaſſe derſelben, die See— igel (Echinida) führen ihren Namen von den zahlreichen, oft ſehr großen Stacheln, welche die feſte, aus Kalkplatten ſehr künſtlich zu— ſammengeſetzte Schale bedecken (Fig. C, Taf. VIII und IX). Die Schale ſelbſt hat die Grundform einer fünfſeitigen Pyramide. Wahr— ſcheinlich haben ſich die Seeigel unmittelbar aus einem Zweige der Seeſterne entwickelt. Die einzelnen Abtheilungen der Seeigel beſtä— tigen in ihrer hiſtoriſchen Aufeinanderfolge ebenſo wie die Ordnun— gen der Seelilien und Seeſterne, welche Ihnen die nebenſtehende Tabelle aufführt, in ausgezeichneter Weiſe die Geſetze des Fortſchritts und der Differenzirung. (Gen. Morph. II, Taf. IV.) Während uns die Geſchichte dieſer drei Sternthierklaſſen durch die zahlreichen und vortrefflich erhaltenen Verſteinerungen ſehr genau erzählt wird, wiſſen wir dagegen von der geſchichtlichen Entwicke— lung der vierten Klaſſe, der Seegurken (Holothuriae), faſt Nichts. Aeußerlich zeigen die ſonderbaren gurfenförmigen Sternthiere eine trügeriſche Aehnlichkeit mit Würmern (Fig. D, Taf. VIII und IX). Die Skeletbildung der Haut iſt hier ſehr unvollkommen und daher konnten keine deutlichen Reſte von ihrem langgeſtreckten walzenför— migen wurmähnlichen Körper in foſſilem Zuſtande erhalten bleiben. Dagegen läßt ſich aus der vergleichenden Anatomie der Holothurien erſchließen, daß dieſelben wahrſcheinlich aus einer Abtheilung der Seeigel durch Erweichung des Hautſkelets entſtanden ſind. Von den Sternthieren wenden wir uns zu dem ſechſten und höchſt entwickelten Stamm unter den wirbelloſen Thieren, zu dem Stamm der Glüedfüßer oder Arthropoden. 485 Phylum der Gliederthiere oder Gliedfüßer (Arthropoda). Wie ſchon vorher bemerkt wurde, entſpricht dieſer Stamm der Klaſſe der Kerfe oder Inſecten im urſprünglichen Sinne Linné's. Er enthält wiederum vier Klaſſen, nämlich 1. die echten ſechsbeinigen Inſecten; 2. die achtbeinigen Spinnen; 3. die mit zahlreichen Bein— paaren verſehenen Tauſendfüße und 4. die mit einer wechſelnden Beinzahl verſehenen Krebſe oder Kruſtenthiere. Die letzte Klaſſe ath— met Waſſer durch Kiemen und kann daher als Hauptklaſſe Ber kie— menathmenden Arthropoden oder Kiemenkerfe (Carides) den drei erſten Klaſſen entgegengeſetzt werden. Dieſe athmen Luft durch eigen— thümliche Luftröhren oder Tracheen, und können daher paſſend in der Hauptklaſſe der tracheenathmenden Arthropoden oder Tracheen— kerfe (Tracheata) vereinigt werden. Bei allen Gliedfüßern ſind, wie der Name ſagt, die Beine deut— lich gegliedert, und dadurch, ſowie durch die ſtärkere Differenzirung der getrennten Körperabſchnitte oder Metameren unterſcheiden ſie ſich weſentlich von den geringelten Würmern, mit denen ſie Bär und Cuvier in ihrem Typus der Articulaten vereinigten. Uebrigens ſtehen ſie den gegliederten Würmern in jeder Beziehung ſo nahe, daß ſie kaum ſcharf von ihnen zu trennen ſind. Insbeſondere thei— len ſie mit den Ringelwürmern die ſehr charakteriſtiſche Form des centralen Nervenſyſtems, das ſogenannte Bauchmark, welches vorn mit einem den Mund umgebenden Schlundring beginnt. Auch aus anderen Thatſachen geht hervor, daß die Arthropoden ſich jedenfalls aus Gliedwürmern erſt ſpäter entwickelt haben. Wahrſcheinlich ſind entweder die Räderthiere oder die Ringelwürmer ihre nächſten Blutsverwandten im Würmerſtamme (Gen. Morph. II, Taf. V, S. LXXXV — CI). Wenn nun auch die Abſtammung der Arthropoden von geglies derten Würmern als ſicher gelten darf, ſo kann man doch nicht mit gleicher Sicherheit behaupten, daß der ganze Stamm der erſteren nur aus einem Zweige der letzteren entſtanden ſei. Es ſcheinen nämlich manche Gründe dafür zu ſprechen, daß die Kiemenkerfe ſich aus 486 Krebſe (Cariden) oder Kruſtenthiere (Cruſtaceen). einem anderen Zweige der gegliederten Würmer entwickelt haben, als die Tracheenkerfe. Wahrſcheinlicher aber bleibt es vorläufig noch, daß beide Hauptklaſſen aus einer und derſelben Würmergruppe entſtanden ſind. In dieſem Falle können ſich die tracheenathmenden Inſecten, Spinnen und Tauſendfüßer erſt ſpäter von den kiemenathmenden Kruſtenthieren abgezweigt haben. Der Stammbaum der Arthropoden läßt ſich im Ganzen aus der Paläontologie, vergleichenden Anatomie und Ontogenie ſeiner vier Klaſſen vortrefflich erkennen, obwohl auch hier, wie überall, im Einzelnen noch ſehr vieles dunkel bleibt. Wenn man erſt die indivi- duelle Entwickelungsgeſchichte aller einzelnen Gruppen genauer kennen wird, als es jetzt der Fall iſt, wird jene Dunkelheit mehr und mehr ſchwinden. Am beſten kennt man dieſelbe bis jetzt von der Klaſſe der Kiemenkerfe oder Krebſe (Carides) , wegen ihrer harten kru— ſtenartigen Körperbedeckung auch Kruſtenthiere (Crustacea) ge— nannt. Die Ontogenie dieſer Thiere iſt außerordentlich intereſſant, und verräth uns, ebenſo wie diejenige der Wirbelthiere, deutlich die we— ſentlichen Grundzüge ihrer Stammesgeſchichte oder Phylogenie. Fritz Müller hat in ſeiner ausgezeichneten, bereits angeführten Schrift „Für Darwin“ 16) dieſes merkwürdige Verhältniß vortrefflich erläutert. Die gemeinſchaftliche Stammform aller Krebſe, welche ſich bei den meiſten noch heutzutage zunächſt aus dem Ei entwickelt, iſt ur⸗ ſprünglich eine und dieſelbe: der ſogenannte Nauplius. Dieſer merk— würdige Urkrebs ſtellt eine ſehr einfache gegliederte Thierform dar, de— ren Körper meiſtens die Geſtalt einer rundlichen, ovalen oder birnför— migen Scheibe hat, und auf ſeiner Bauchſeite nur drei Beinpaare trägt. Von dieſen iſt das erſte ungeſpalten, die beiden folgenden Paare gabelſpaltig. Vorn über dem Munde ſitzt ein einfaches unpaa= res Auge. Trotzdem die verſchiedenen Ordnungen der Cruſtaceen— Klaſſe in dem Bau ihres Körpers und ſeiner Anhänge ſich ſehr weit von einander entfernen, bleibt dennoch ihre jugendliche Naupliusform immer im Weſentlichen dieſelbe. Werfen Sie, um ſich hiervon zu überzeugen, einen vergleichenden Blick auf Taf. X und XI, deren nä— Narplius- ee cuir vor sechs Rrebsthieren. Heckel del Erwachsene Her A. Dimnetlis 2. Gyclops l Lernaeocera- D Lepas #3 Suaccrlina FF Peneiuts art Bel. A DR ge- L ff Gemeinſame Abſtammung aller Krebſe vom Nauplius. 487 here Erklärung unten im Anhang gegeben wird. Auf Taf. XI ſehen Sie die ausgebildeten Repräſentanten von ſechs verſchiedenen Krebs— ordnungen, einen Blattfüßer (Limnetis, Fig. Ac), einen Rankenkrebs (Lepas, Fig. De), einen Wurzelkrebs (Sacculina, Fig. Ec), einen Ru— derkrebs (Cyclops, Fig. Be), eine Fiſchlaus (Lernaeocera, Fig. Co) und endlich eine hoch organiſirte Garnele (Peneus, Fig. Fe). Dieſe ſechs Krebſe weichen in der ganzen Körperform, in der Zahl und Bil— dung der Beine u. ſ. w., wie Sie ſehen, ſehr ſtark von einander ab. Wenn Sie dagegen die aus dem Ei geſchlüpften früheſten Jugendfor— men oder „Nauplius“ dieſer ſechs verſchiedenen Krebſe betrachten, die auf Taf. X mit entſprechenden Buchſtaben bezeichnet ſind (Fig. An — Tn), jo werden Sie durch die große Uebereinſtimmung dieſer letz— teren überraſcht ſein. Die verſchiedenen Nauplius-Formen jener ſechs Ordnungen unterſcheiden ſich nicht ſtärker, wie etwa ſechs verſchiedene „gute Species“ einer Gattung. Wir können daher mit Sicherheit auf eine gemeinſame Abſtammung aller jener Ordnungen von einem gemeinſamen Urkrebſe ſchließen, der dem heutigen Nauplius im We— ſentlichen gleich gebildet war. Wie man ſich ungefähr die Abſtammung der auf S. 488 aufge— zählten 20 Cruſtaceen-Ordnungen von der gemeinſamen Stammform des Nauplius gegenwärtig vorſtellen kann, zeigt Ihnen der gegenüber— ſtehende Stammbaum (S. 489). Aus der urſprünglich als ſelbſtſtän— dige Gattung exiſtirenden Nauplius-Form haben ſich als divergente Zweige nach verſchiedenen Richtungen hin die fünf Legionen der nie— deren Krebſe entwickelt, welche in der nachſtehenden ſyſtematiſchen Ueberſicht der Klaſſe als Gliederkrebſe (Entomostraca) zuſam— mengefaßt ſind. Aber auch die höhere Abtheilung der Panzerkrebſe Olalacostraca) hat aus der gemeinſamen Naupliusform ihren Ur— ſprung genommen. Noch heute bildet die Nebalia eine unmittelbare Uebergangsform von den Phyllopoden zu den Schizopoden, d. h. zu der Stammform der ſtieläugigen und ſitzäugigen Panzerkrebſe. Je— doch hat ſich hier der Nauplius zunächſt in eine andere Larvenform, die ſogenannte Zo&a, umgewandelt, welche eine hohe Bedeutung beſitzt. 488 Syſtematiſche leberſicht der 7 Legionen und 20 Ordnungen der Krebſe oder Cruſtaceen. Tegionen | Ordnungen | Pyſtematiſcher | Fin der der Name der Gattungsname Eruſtaceen Cruſtaceen Ordnungen als Beiſpiel I. Entomostraca. Hiedere Cruſtaceen oder Gliederkrebſe (ohne eigentliche Zoza-Jugendform). 1. Urkrebſe 1. Archicarida Nauplius I. Branchiopoda 2. Blattfüßer 2. Phyllopoda Limnetis Kiemenfüßige „ 3. Paläaden 3. Trilobita Paradoxides Krebſe 4. Waſſerflöhe 4. Cladocera Daphnia 5. Muſchelkrebſe 5. Ostracoda Cypris II. Pectostraca 6. Rankenkrebſe 6. Cirripedia Lepas Haftkrebſe 7. Wurzelkrebſe 7. Rhizocephala Sacculina III. Copepoda Rud ei r \ 8. Ruderkrebſe 8. Eucopepoda Cyelops erfußi * 2 9 ! 9. Fiſchläuſe 9. Siphonostoma Lernaeocera Krebſe IV. Pantopoda 10 1 . Spinnenfrebfe 10. Pyenogonida Nymphon Spinnenkrebſe V. Poecilopoda ö 11. Pfeilſchwänzer 11. Xiphosura Limulus Schildkrebſe 12. Rieſenkrebſe 12. Gigantostraca Eurypterus II. Malacostraca. Höhere Cruſtaceen oder Panzerkrebſe (mit wahrer Zosa-Jugendform). 13. Zosa-Krebſe 13. Zoëpoda Zoëa VI. Podophthalma . F j Stielännine 14. Spaltfüßer 14. Schizopoda Mysis N e 19 15. Maulfüßer 15. Stomatopoda Squilla ein il 16. Zehnfüßer 16. Decapoda Peneus 17. Kuma⸗Krebſe 17. Cumacea Cuma VII. Edriophthalma e Eiche 18. Flohkrebſe 18. Amphipoda Gammarus 11 19. Kehlfüßer 19. Laemodipoda Caprella 20. Aſſeln 20. Isopoda Oniseus Aare > Stammbaum der Krebſe oder Cruſtaceen. 489 — i. rt5— ß —f—— — — | Brachyuren Isopoden | Laemodipoden | | | Anomuren | | | Amphipoden | Macruren | — — I Decapoden Stomatopoden Gee | x | | Edriophthalmen nn. — | | | Aa EB a En ti a en Schizopoden Podophthalmen Zoöpoden Malakostraken Gigantostraken | Rhizocephalen I Xiphosuren Siphonostomen Zoea „ | Cirripedien — ö Peectostraken | Nebalien | 1 1 | . — Ba | Pyenogoniden | Copepoden | Pantopoden Hl | | Ostra- Trilobiten | den N | Cladoceren Phyllopoden | | Branchiopoden I | I | | | | 2 » ͤͤ ee — in Nauplius Archicariden | ö Coelomaten Gastraea 490 Stammbaum der Krebſe. Dieſe ſeltſame Zoda hat wahrſcheinlich zunächſt der Ordnung der Spaltfüßer oder Schizopoden (Mysis etc.) den Urſprung gegeben, welche noch heutigen Tages durch die Nebalien unmittelbar mit den Blattfüßern oder Phyllopoden zuſammenhängen. Dieſe letzteren aber ſtehen von allen lebenden Krebſen der urſprünglichen Stammform des Nauplius am nächſten. Aus den Spaltfüßern haben ſich als zwei di— vergente Zweige nach verſchiedenen Richtungen hin die ſtieläugigen und die ſitzäugigen Panzerkrebſe oder Malokoſtraken entwickelt, die erſteren durch die Garneelen (Peneus etc.), die letzteren durch die Ku— maceen (Cuma etc.) noch heute mit den Schizopoden zuſammenhän— gend. Zu den Stieläugigen gehört der Flußkrebs, der Hummer und die übrigen Langſchwänze oder Makruren, aus denen ſich erſt ſpäter in der Kreidezeit durch Rückbildung des Schwanzes die kurzſchwän— zigen Krabben oder Brachyuren entwickelt haben. Die Sitzäugigen ſpalten ſich in die beiden Zweige der Flohkrebſe (Amphipoden) und der Aſſeln (Iſopoden), zu welchen letzteren unſere gemeine Maueraſſel und Kelleraſſel gehört. Die zweite Hauptklaſſe der Gliederthiere, die Tracheaten oder die luftathmenden Tracheenkerfe (die Spinnen, Tauſendfüßer und In— ſecten) ſind jedenfalls erſt im Anfang der paläolithiſchen Zeit, nach Abſchluß des archolithiſchen Zeitraums entſtanden, weil alle dieſe Thiere (im Gegenſatz zu den meiſt waſſerbewohnenden Krebſen) ur— ſprünglich Landbewohner ſind. Offenbar können ſich dieſe Luftathmer erſt entwickelt haben, als nach Verfluß der ſiluriſchen Zeit das Land— leben begann. Da nun aber foſſile Reſte von Spinnen und Inſecten bereits in den Steinkohlenſchichten gefunden werden, ſo können wir ziemlich genau den Zeitpunkt ihrer Entſtehung feſtſtellen. Es muß die Entwickelung der erſten Tracheenkerfe aus kiemenathmenden Zosa— krebſen oder aus Würmern zwiſchen das Ende der Silurzeit und den Beginn der Steinkohlenzeit fallen, alſo in die devoniſche Periode. Die Entſtehung der Tracheaten hat kürzlich Gegenbaur durch eine geiſtreiche Hypotheſe zu erklären verſucht, in ſeinen ausgezeichne— ten „Grundzügen der vergleichenden Anatomie“ 26). Das Tracheen- Entſtehung der Tracheaten. 491 ſyſtem oder Luftröhrenſyſtem und die durch daſſelbe bedingten Modifi— cationen der Organiſation zeichnen die Inſecten, Tauſendfüßer und Spinnen ſo ſehr vor den übrigen Thieren aus, daß die Vorſtellung von ſeiner erſten Entſtehung der Phylogenie keine geringen Schwierig— keiten bereitet. Nach Gegenbaurs Anſicht ſtehen der gemeinſamen Stammform der Tracheaten unter allen jetzt lebenden Tracheenkerfen die Urflügler oder Archipteren am nächſten. Dieſe Inſecten, zu denen namentlich die zarten Eintagsfliegen (Ephemeren) und die flin— ken Waſſerjungfern (Libellen) gehören, beſitzen in ihrer erſten Jugend als Larven zum Theil äußere Tracheenkiemen, welche in Geſtalt von blattförmigen oder pinſelförmigen Anhängen in zwei Reihen auf der Rückenſeite des Leibes ſitzen. Aehnliche blattförmige oder pinſel— förmige Organe treffen wir als echte Waſſerathmungsorgane oder Kie— men bei vielen Krebſen und Ringelwürmern (Anneliden) an, und zwar bei den letzteren als wirkliche Rückengliedmaßen. Wahrſcheinlich find die „Tracheenkiemen“, welche wir bei den Larven von vielen Urflüglern antreffen, als ſolche „Rücken-Extremitäten“ zu deuten und aus den entſprechenden Anhängen von Anneliden oder vielleicht auch von längſt ausgeſtorbenen Cruſtaceen wirklich entſtanden. Aus der Ath— mung durch „Tracheenkiemen“ hat ſich erſt ſpäter die gewöhnliche Tracheen⸗Athmung der Tracheaten hervorgebildet. Die Tracheenkiemen ſelbſt aber ſind theilweiſe verloren gegangen, theilweiſe zu den Flü— geln der Inſecten umgebildet worden. Gänzlich verloren gegangen ſind ſie in den beiden Klaſſen der Spinnen und Tauſendfüßer. Dieſe ſind demgemäß als rückgebildete oder eigenthümlich entwickelte Seiten— zweige der Inſectenklaſſe aufzufaſſen, welche ſich ſchon frühzeitig von der gemeinſamen Inſecten-Stammgruppe abgezweigt haben, und zwar die Spinnen früher als die Tauſendfüßer. Ob jene gemeinſame Stammform aller Tracheaten, die ich in der generellen Morphologie als Protracheata bezeichnet habe, ſich direct aus echten Ringel— würmern oder zunächſt aus Zoea-fürmigen Cruſtaceen („Zoëpoden“, S. 489) entwickelt hat, das wird ſich ſpäterhin wahrſcheinlich noch durch genauere Erkenntniß und Vergleichung der Ontogeneſe der Tra— 492 Spinnen (Arachniden). cheaten, Cruſtaceen und Anneliden feſtſtellen laſſen. Auf jeden Fall iſt die Wurzel der Tracheaten ebenſo wie der Cruſtaceen in der Gruppe der gegliederten Würmer zu ſuchen. Die echten Spinnen (Arachnida) ſind durch den Mangel der Flügel und durch vier Beinpaare von den Inſecten unterſchieden. Wie jedoch die Skorpionſpinnen und die Taranteln deutlich zeigen, ſind eigentlich auch bei ihnen, wie bei den Inſecten, nur drei echte Bein⸗ paare vorhanden. Das ſcheinbare vierte Beinpaar der Spinnen (das vorderſte) iſt eigentlich ein Kieferpaar. Unter den heute noch leben— den Spinnen giebt es eine kleine Gruppe, welche wahrſcheinlich der gemeinſamen Stammform der ganzen Klaſſe ſehr nahe ſteht. Das iſt die Ordnung der Skorpionſpinnen oder Solifugen (Solpuga, Galeodes), von der mehrere große, wegen ihres giftigen Biſſes ſehr gefürchtete Arten in Afrika und Aſien leben. Der Körper beſteht hier, wie wir es bei dem gemeinſamen Stammvater der Tracheaten voraus— ſetzen müſſen, aus drei getrennten Abſchnitten, einem Kopfe, welcher mehrere Kieferpaare trägt, einer Bruſt, an deren drei Ringen drei Beinpaare befeſtigt ſind, und einem vielgliederigen Hinterleibe. In der Gliederung des Leibes ſtehen demnach die Solifugen eigentlich den Inſecten näher, als den übrigen Spinnen. Aus den devoniſchen Urſpinnen, welche den heutigen Solifugen nahe verwandt waren, haben ſich wahrſcheinlich als drei divergente Zweige die Streckſpinnen, Schneiderſpinnen und Rundſpinnen entwickelt. (S. 495). Die Streckſpinnen (Arthrogastres) erſcheinen als die älteren und urſprünglicheren Formen, bei denen ſich die frühere Leibesgliede— rung beſſer erhalten hat, als bei den Rundſpinnen. Die wichtigſten Formen dieſer Unterklaſſe ſind die Skorpione, welche durch die Taranteln (oder Phryniden) mit den Solifugen verbunden werden. Als ein rückgebildeter Seitenzweig erſcheinen die kleinen Bücherſkor— pione, welche unſere Bibliotheken und Herbarien bewohnen. In der Mitte zwiſchen den Skorpionen und den Rundſpinnen ſtehen die lang— beinigen Schneiderſpinnen (Opiliones), welche vielleicht aus einem be— ſonderen Zweige der Solifugen entſtanden find. Die Pyenogoni— Spinnen (Arachniden). 493 den oder Spinnenkrebſe und die Arktisken oder Bärwürmer, welche man gewöhnlich noch jetzt unter den Streckſpinnen aufführt, ſind von den Spinnen ganz auszuſchließen. Die erſteren ſind unter die Cru— ſtaceen, die letzteren unter die Gliederwürmer zu ſtellen. Verſteinerte Reſte von Streckſpinnen finden ſich bereits in der Steinkohle. Dagegen kommt die zweite Unterklaſſe der Arachniden, die Rundſpinnen (Sphaerogastres) verſteinert zuerſt im Jura, alſo ſehr viel fpäter vor. Sie haben ſich aus einem Zweige der So— lifugen dadurch entwickelt, daß die Leibesringe mehr oder weniger mit einander verſchmolzen. Bei den eigentlichen Weberſpinnen (Araneae), welche wir wegen ihrer feinen Webekünſte bewundern, geht die Verſchmelzung der Rumpfglieder oder Metameren ſo weit, daß der Rumpf nur noch aus zwei Stücken beſteht, einer Kopfbruſt, welche die Kiefer und die vier Beinpaare trägt, und einem anhangs— loſen Hinterleib, an welchem die Spinnwarzen ſitzen. Bei den Mil— ben (Acarida), welche wahrſcheinlich aus einem verkümmerten Seitenzweige der Weberſpinnen durch Entartung (insbeſondere durch Schmarotzerleben) entſtanden ſind, verſchmelzen ſogar noch dieſe bei— den Rumpfſtücke mit einander zu einer ungegliederten Maſſe. Die Klaſſe der Tauſendfüßer (Myriapoda), die kleinſte und formenärmſte unter den vier Arthropodenklaſſen, zeichnet ſich durch den ſehr verlängerten Leib aus, welcher einem gegliederten Ringel— wurme ſehr ähnlich iſt und oft mehr als hundert Beinpaare trägt. Aber auch ſie hat ſich urſprünglich aus einer ſechsbeinigen Tracheaten— form entwickelt, wie die individuelle Entwickelung der Tauſendfüßer im Eie deutlich beweiſt. Ihre Embryonen haben zuerſt nur drei Beinpaare, gleich den echten Inſecten, und erſt ſpäter knospen Stück für Stück die folgenden Beinpaare aus den wuchernden Hinterleibs— ringen hervor. Von den beiden Ordnungen der Tauſendfüßer (welche bei uns unter Baumrinden, im Moſe u. |. w. leben), haben ſich wahr- ſcheinlich die runden Doppelfüßer (Diplopoda) erſt ſpäter aus den älteren platten Einfachfüßern (Chilopoda) entwickelt, indem je 494 Syftematifche Ueberſicht der 3 Klaſſen und 17 Ordnungen der Tracheaten. Klaſſen Anterklaſſen | Ordnungen | Zwei Gattungs⸗ der der der namen als Tracheaten Dracſeaken Tracheaten BVBeiſpiele 1. Skorpionſpinnen (NE Solifugae Galeodes 2. Taranteln we Phrynida Thelyphonus 3. Skorpione * (Scorpio NE s Scorpioda Buthus I. Spinnen Arthrogastres 0 \ ’ iM 4. Bücherſkorpione Obisium eds Pseudoscorpioda ! Chelifer 5. Schneiderſpinnen b Opilionida Opilio 6. Weberfpinnen (Epeira Araneae Mygale 900 innen ip 7. Milben Sarcoptes Sphaerogastres Acarida Demodex 22 Chilopod. Chilopod Geophilus Tauſendfüßer dopoda ıllopoda eoph Myriapoda IV. Doppelfüßer Diplopoda 9. Doppelfüßer Julus Diplopoda Polydesmus 10. Urflügler Ephemera Archiptera Libellula 11. Netzflügler e Neuroptera 'Phryganea Wande In⸗ 12 * Gradflügler er Orthoptera Käfer Cicindela Coleoptera !Melolontha ‘ III. ſeeten Forfieula Juſecten Insecta oder Masticantia 13 « 14. Hautflügler Apis Hymenoptera Formica Hexapoda 15 Halbflügler i Hemiptera Cimex 29 In 46: Fliegen Culex jecten Diptera Musca Sugentia 17. Schmetterlinge Bombyx Lepidoptera rapilio | 1 = Einfachf - 8. Einfachfüffer $Scolopendra = | Stammbaum der Tracheaten oder Tracheenkerfe. Schmetterlinge Lepidoptera Immen ; Fliegen Hymenoptera NR Ei, | | Halbflügler ; | Hemiptera | | ae N. | Netzflügler | | Gradflügler Neuroptera 3 Orthoptera | Urflügler Archiptera f 8 Skorpione Scorpioda | Doppelfüßer Schneiderſpinnen Deloped Opiliones | Bücherſkorpione | Milben ‚ Pseudoscorpioda | | | Acarida | | | —̃ Einfachfüßer 1 0 Taranteln Ele Weberſpinnen Phrynida 2 Me ae | Tauſendfüßer | Myriapoda Skorpionſpinnen Solifugae Spinnen Arachnid as Juſecten | | Insecta | | — Stamminſecten Protracheata Coelomati Gastraea 496 Tauſendfüßer (Myriapoden). Inſecten (Hexapoden). zwei Ringe des Leibes paarweiſe mit einander verſchmolzen. Von den Chilopoden finden ſich foſſile Reſte zuerſt im Jura vor. Die dritte und letzte Klaſſe unter den tracheenathmenden Arthro— poden iſt die der Inſecten (Insecta oder Hexapoda), die umfang- reichſte von allen Thierklaſſen, und nächſt derjenigen der Säugethiere auch die wichtigſte von allen. Trotzdem die Inſecten eine größere Mannichfaltigkeit von Gattungen und Arten entwickeln, als die übri— gen Thiere zuſammengenommen, ſind das alles doch im Grunde nur oberflächliche Variationen eines einzigen Themas, welches in ſeinen weſentlichen Charakteren ſich ganz beſtändig erhält. Bei allen In— ſecten ſind die drei Abſchnitte des Rumpfes, Kopf, Bruſt und Hinter— leib deutlich getrennt. Der Hinterleib oder das Abdomen trägt, wie bei den Spinnen, gar keine gegliederten Anhänge. Der mittlere Abſchnitt, die Bruſt oder der Thorax, trägt auf der Bauchſeite die drei Beinpaare, auf der Rückenſeite urſprünglich zwei Flügel— paare. Freilich find bei ſehr vielen Inſecten eines oder beide Flügel— paare verkümmert, oder ſelbſt ganz verſchwunden. Allein die ver— gleichende Anatomie der Inſeeten zeigt uns deutlich, daß dieſer Mangel erſt nachträglich durch Verkümmerung der Flügel entſtanden iſt, und daß alle jetzt lebenden Inſecten von einem gemeinſamen Stamm— inſect abſtammen, welches drei Beinpaare und zwei Flügelpaare be⸗ ſaß (vergl. S. 256). Dieſe Flügel, welche die Infecten fo auffal- lend vor den übrigen Gliedfüßern auszeichnen, entſtanden, wie ſchon vorher gezeigt wurde, wahrſcheinlich aus den Tracheenkiemen, welche wir noch heute an den im Waſſer lebenden Larven der Eintagsfliegen (Ephemera) beobachten. Der Kopf der Inſecten trägt allgemein außer den Augen ein Paar gegliederte Fühlhörner oder Antennen, und außerdem auf jeder Seite des Mundes drei Kiefer. Dieſe drei Kieferpaare, obgleich bei allen Inſecten aus derſelben urſprünglichen Grundlage entſtan— den, haben ſich durch verſchiedenartige Anpaſſung bei den verſchiede— nen Ordnungen zu höchſt mannichfaltigen und merkwürdigen Formen . umgebildet, fo daß man ſie hauptſächlich zur Unterſcheidung und Bedeutung der Mundtheile bei den Inſecten. 597 Charakteriſtik der Hauptabtheilungen der Klaſſe verwendet. Zunächſt kann man als zwei Hauptabtheilungen Inſecten mit kauenden Mundtheilen (Masticantia) und Inſecten mit ſaugenden Mund— werkzeugen (Sugentia) unterſcheiden. Bei genauerer Betrachtung kann man noch ſchärfer jede dieſer beiden Abtheilungen in zwei Untergruppen vertheilen. Unter den Kauinſecten oder Maſticantien können wir die beißenden und die leckenden unterſcheiden. Zu den Beißenden (Mordentia) gehören die älteſten und urſprünglichſten Inſecten, die vier Ordnungen der Urflügler, Netzflügler, Gradflügler und Käfer. Die Leckenden (Lambentia) werden bloß durch die eine Ordnung der Hautflügler gebildet. Unter den Sauginſecten oder Sugentien können wir die beiden Gruppen der ſtechenden und ſchlürfenden unterſcheiden. Zu den Stechenden (Pungentia) ge— hören die beiden Ordnungen der Halbflügler und Fliegen, zu den Schlürfenden (Sorbentia) bloß die Schmetterlinge. Den älteſten Inſecten, welche die Stammformen der ganzen Klaſſe (und ſomit wahrſcheinlich auch aller Tracheaten) enthalten, ſtehen von den heute noch lebenden Inſecten am nächſten die beißen— den, und zwar die Ordnung der Urflügler (Archiptera oder Pseudo- neuroptera). Dahin gehören vor allen die Eintagsfliegen (Ephe— mera), deren im Waſſer lebende Larven uns wahrſcheinlich noch heute in ihren Tracheenkiemen die Organe zeigen, aus denen die Inſecten— flügel urſprünglich entſtanden. Ferner gehören in dieſe Ordnung die bekannten Waſſerjungfern oder Libellen, die flügelloſen Zuckergäſte (Lepisma), die ſpringenden Blaſenfüßer (Physopoda), und die ge— fürchteten Termiten, von denen ſich verſteinerte Reſte ſchon in der Steinkohle finden. Unmittelbar hat ſich wahrſcheinlich aus den Ur— flüglern die Ordnung der Netzflügler (Neuroptera) entwickelt, welche ſich von ihnen weſentlich nur durch die vollkommene Verwand— lung unterſcheiden. Es gehören dahin die Florfliegen (Planipennia), die Schmetterlingsfliegen (Phryganida), und die Fächerfliegen (Strepsiptera). Foſſile Inſecten, welche den Uebergang von den Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 32 498 Stammbaum und Geſchichte der Inſecten. Urflüglern (Libellen) zu den Netzflüglern (Sialiden) machen, kommen ſchon in der Steinkohle vor (Dictyophlebia). Aus einem anderen Zweige der Urflügler hat ſich durch Diffe— renzirung der beiden Flügelpaare ſchon frühzeitig die Ordnung der Gradflügler (Orthoptera) entwickelt. Dieſe Abtheilung beſteht aus der formenreichen Gruppe der Schaben, Heuſchrecken, Gryllen u. ſ. w. (Ulonata), und aus der kleinen Gruppe der bekannten Ohr— würmer (Labidura), welche durch die Kneifzange am hinteren Körper— ende ausgezeichnet ſind. Sowohl von Schaben als von Gryllen und Heuſchrecken kennt man Verſteinerungen aus der Steinkohle. Auch die vierte Ordnung der beißenden Inſecten, die Käfer (Coleoptera) kommen bereits in der Steinkohle verſteinert vor. Dieſe außerordentlich umfangreiche Ordnung, der bevorzugte Liebling der Inſectenliebhaber und Sammler, zeigt am deutlichſten von allen, welche unendliche Formenmannichfaltigkeit ſich durch Anpaſſung an verſchiedene Lebensverhältniſſe äußerlich entwickeln kann, ohne daß deshalb der innere Bau und die Grundform des Körpers irgendwie weſentlich umgebildet wird. Wahrſcheinlich haben ſich die Käfer aus einem Zweige der Gradflügler entwickelt, von denen ſie ſich weſent— lich nur durch ihre vollkommene Verwandlung unterſcheiden. An dieſe vier Ordnungen der beißenden Inſecten ſchließt ſich nun zunächſt die eine Ordnung der leckenden Inſecten an, die inter— eſſante Gruppe der Immen oder Hautflügler (Hymenoptera). Dahin gehören diejenigen Inſecten, welche ſich durch ihre entwickelten Culturzuſtände, durch ihre weitgehende Arbeitsteilung, Gemeinde- bildung und Staatenbildung zu bewunderungswürdiger Höhe der Geiſtesbildung, der intellectuellen Vervollkommnung und der Charak— terſtärke erhoben haben und dadurch nicht allein die meiſten Wirbel— loſen, ſondern überhaupt die meiſten Thiere übertreffen. Es ſind das vor allen die Ameiſen und die Bienen, ſodann die Wespen, Blatt⸗ wespen, Holzwespen, Schlupfwespen, Gallwespen u. ſ. w. Sie kommen zuerſt verſteinert im Jura vor, in größerer Menge jedoch erſt Stammbaum und Geſchichte der Inſecten. 499 in den Tertiärſchichten. Wahrſcheinlich haben ſich die Hautflügler aus einem Zweige entweder der Urflügler oder der Netzflügler entwickelt. Von den beiden Ordnungen der ſtechenden Inſecten, den Hemipteren und Dipteren, iſt die ältere diejenige der Halbflügler (Hemiptera), auch Schnabelkerfe (Rhynchota) genannt. Dahin gehören die drei Unterordnungen der Blattläuſe (Homoptera), der Wanzen (Heteroptera), und der Läuſe (Pediculina). Von erſteren beiden finden ſich foſſile Reſte ſchon im Jura. Aber ſchon im permiſchen Syſtem kommt ein altes Inſect vor (Eugereon), wel— ches auf die Abſtammung der Hemipteren von den Neuropteren hin— zudeuten ſcheint. Wahrſcheinlich ſind von den drei Unterordnungen der Hemipteren die älteſten die Homopteren, zu denen außer den eigentlichen Blattläuſen auch noch die Schildläuſe, die Blattflöhe und die Zirpen oder Cicaden gehören. Aus zwei verſchiedenen Zweigen der Homopteren werden ſich die Läuſe durch weitgehende Entartung (vorzüglich Verluſt der Flügel), die Wanzen dagegen durch Vervoll— kommnung (Sonderung der beiden Flügelpaare) entwickelt haben. Die zweite Ordnung der ſtechenden Inſecten, die Fliegen oder Zweiflügler (Diptera) findet ſich zwar auch ſchon im Jura ver— ſteinert neben den Halbflüglern vor. Allein dieſelben haben ſich doch wahrſcheinlich erſt nachträglich aus den Hemipteren durch Rückbildung der Hinterflügel entwickelt. Nur die Vorderflügel ſind bei den Di— pteren vollſtändig geblieben. Die Hauptmaſſe dieſer Ordnung bilden die langgeſtreckten Mücken (Nemocera) und die gedrungenen eigent— lichen Fliegen (Brachycera), von denen die erſteren wohl älter ſind. Doch finden ſich von Beiden ſchon Reſte im Jura vor. Durch Dege— neration in Folge von Paraſitismus haben ſich aus ihnen wahrſchein— lich die beiden kleinen Gruppen der puppengebärenden Lausfliegen (Pupipara) und der ſpringenden Flöhe (Aphaniptera) entwickelt. Die achte und letzte Inſeetenordnung, und zugleich die einzige mit wirklich ſchlürfenden Mundtheilen ſind die Schmetterlinge (Lepidoptera). Dieſe Ordnung erſcheint in mehreren morphologi— ſchen Beziehungen als die vollkommenſte Abtheilung der Inſecten und 82. 500 Stammbaum und Geſchichte der Inſecten. hat ſich demgemäß auch am ſpäteſten erſt entwickelt. Man kennt nämlich von dieſer Ordnung Verſteinerungen nur aus der Tertiärzeit, während die drei vorhergehenden Ordnungen bis zum Jura, die vier beißenden Ordnungen dagegen ſogar bis zur Steinkohle hinaufreichen. Die nahe Verwandtſchaft einiger Motten (Tinea) und Eulen (Noctua) mit einigen Schmetterlingsfliegen (Phryganida) macht es wahrſchein— lich, daß ſich die Schmetterlinge aus dieſer Gruppe, alſo aus der Ordnung der Netzflügler oder Neuropteren entwickelt haben. Wie Sie ſehen, beſtätigt Ihnen die ganze Geſchichte der In— ſectenklaſſe und weiterhin auch die Geſchichte des ganzen Arthropoden— ſtammes weſentlich die großen Geſetze der Differenzirung und Ver— vollkommnung, welche wir nach Darwin's Selectionstheorie als die nothwendigen Folgen der natürlichen Züchtung anerkennen müſſen. Der ganze formenreiche Stamm beginnt in archolithiſcher Zeit mit der kiemenathmenden Klaſſe der Krebſe, und zwar mit den niederſten Urkrebſen oder Archicariden. Die Geſtalt dieſer Urkrebſe, die ſich jedenfalls aus Gliedwürmern entwickelten, iſt uns noch heute. in der gemeinſamen Jugendform der verſchiedenen Krebſe, in dem merkwür— digen Nauplius, annähernd erhalten. Aus dem Nauplius ent— wickelte ſich weiterhin die ſeltſame Zoéa, die gemeinſame Jugendform aller höheren oder Panzerkrebſe (Malacostraca) und zugleich vielleicht desjenigen, zuerſt durch Tracheen luftathmenden Arthropoden, wel— cher der gemeinſame Stammvater aller Tracheaten wurde. Dieſer devoniſche Stammvater, der zwiſchen dem Ende der Silurzeit und dem Beginn der Steinkohlenzeit entſtanden ſein muß, ſtand wahr— ſcheinlich von allen jetzt noch lebenden Inſecten den Urflüglern oder Archipteren am nächſten. Aus ihm entwickelte ſich als Haupt— ſtamm der Tracheaten die Inſectenklaſſe, von deren tieferen Stu- fen ſich frühzeitig als zwei divergente Zweige die Spinnen und Tauſendfüßer ablöſten. Von den Inſecten eriftirten lange Zeit hindurch nur die vier beißenden Ordnungen, Urflügler, Netzflügler, Gradflügler und Käfer, von denen die erſte wahrſcheinlich die ger - meinſame Stammform der drei anderen iſt. Erſt viel ſpäter ent— Stammbaum und Geſchichte der Inſecten. 501 wickelten ſich aus den beißenden Inſecten, welche die urſprüngliche Form der drei Kieferpaare am reinſten bewahrten, als drei divergente Zweige die leckenden, ſtechenden und ſchlürfenden Inſecten. Wie dieſe Ordnungen in der Erdgeſchichte auf einander folgen, zeigt Ihnen nochmals überſichtlich die nachſtehende Tabelle. „1. Urflügler I: I. Archiptera A.A N 2. Netzflügler M. C uerſt A. 1. Beißende eidg 3 Juſect 3 N Neuroptera A. A. J verſteinert U Inſecten Fi a un 75 5 5 3. Gradflügler Ya I. in der -Ientt.d . f 0 5 Orthoptera A. D Steinkohle —.— we Bee \ Coleoptera A.D Masticantia IL Leckend . zede e 3 t 5. Hautflügler 15 C. 1 Hymenoptera A. A. Lambentia Zuerſt ie 5 6. Halbflügler | M. I. „ verſteinert 3 a : Hemiptera A. A. im Jura njecten 5 Juſecten 5 j + 3 ja 0. mit en . Diptera A.D. ſaugenden IV. Schlür 4 N Schlür⸗ Zuerſt i 8. Schmetterlinge (M. C. ee fende Inſecten. e verſteinert sugentia : Lepidoptera A. A. , ei Sorbentia im Tertiär Anmerkung: Bei den acht einzelnen Ordnungen der Inſecten iſt zugleich der Unterſchied in der Metamorphoſe oder Verwandlung und in der Flügelbildung durch folgende Buchſtaben angegeben: M. I. — Unvollſtändige Metamorphoſe. M. C. = Bollftändige Metamorphoſe (Vergl. Gen. Morph. II, S. XCIX). A. A. — Gleichartige Flügel (Vorder- und Hinterflügel im Bau und Gewebe nicht oder nur wenig verſchieden). A. D. Ungleichartige Flügel (Vorder- und Hinter- flügel durch ſtarke Differenzirung im Bau und Gewebe ſehr verſchieden). Zwanzigſter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. III. Wirbelthiere. Die Schöpfungsurkunden der Wirbelthiere. (Vergleichende Anatomie, Embryo— logie und Paläontologie.) Das natürliche Syſtem der Wirbelthiere. Die vier Klaſſen der Wirbelthiere von Linné und Lamarck. Vermehrung derſelben auf neun Klaſſen. Hauptklaſſe der Rohrherzen oder Schädelloſen (Lanzetthiere). Blutsver⸗ wandtſchaft der Schädelloſen mit den Mantelthieren. Uebereinſtimmung der em— bryonalen Entwickelung von Amphioxus und von den Ascidien. Urſprung des Wirbelthierſtammes aus der Würmergruppe. Hauptklaſſe der Unpaarnaſen oder Rundmäuler (Inger und Lampreten). Hauptklaſſe der Anamnien oder Amnion⸗ loſen. Fiſche (Urfiſche, Schmelzfiſche, Knochenfiſche). Lurchfiſche oder Dipneuſten. Seedrachen oder Haliſaurier. Lurche oder Amphibien (Panzerlurche, Nacktlurche). Hauptklaſſe der Amnionthiere oder Amnioten. Reptilien (Stammreptilien, Eidech⸗ jen, Schlangen, Crocodile, Schildkröten, Flugreptilien, Drachen, Schnabelrepti⸗ lien). Vögel (Fiederſchwänzige, Fächerſchwänzige, Büſchelſchwänzige). Meine Herren! Unter den natürlichen Hauptgruppen der Orga— nismen, welche wir wegen der Blutsverwandtſchaft aller darin ver— einigten Arten als Stämme oder Phylen bezeichnen, iſt keine ein— zige von ſo hervorragender und überwiegender Bedeutung, als der Stamm der Wirbelthiere. Denn nach dem übereinſtimmenden Ur— theil aller Zoologen iſt auch der Menſch ein Glied dieſes Stammes, und kann ſeiner ganzen Organiſation und Entwickelung nach un— möglich von den übrigen Wirbelthieren getrennt werden. Wie wir aber aus der individuellen Entwickelungsgeſchichte des Menſchen ſchon Die Schöpfungsurkunden der Wirbelthiere. 503 früher die unbeſtreitbare Thatſache erkannt haben, daß derſelbe in ſeiner Entwickelung aus dem Ei anfänglich nicht von den übrigen Wirbelthieren, und namentlich den Säugethieren verſchieden iſt, ſo müſſen wir nothwendig mit Beziehung auf ſeine paläontologiſche Entwickelungsgeſchichte ſchließen, daß das Menſchengeſchlecht ſich hiſto— riſch wirklich aus niederen Wirbelthieren entwickelt hat, und daß daſſelbe zunächſt von den Säugethieren abſtammt. Dieſer Umſtand einerſeits, anderſeits aber das vielſeitige höhere Intereſſe, das auch in anderer Beziehung die Wirbelthiere vor den übrigen Organismen in Anſpruch nehmen, wird es rechtfertigen, daß wir den Stamm— baum der Wirbelthiere und deſſen Ausdruck, das natürliche Syſtem, hier beſonders genau unterſuchen. Glücklicherweiſe ſind die Schöpfungsurkunden, welche uns bei der Aufſtellung der Stammbäume immer leiten müſſen, grade für dieſen wichtigen Thierſtamm, aus dem unſer eigenes Geſchlecht ent— ſproſſen iſt, beſonders vollſtändig. Durch Cuvier iſt ſchon im An— fange unſeres Jahrhunderts die vergleichende Anatomie und Paläon— tologie, durch Bär die Ontogenie der Wirbelthiere zu einer ſehr hohen Ausbildung gelangt. Späterhin haben vorzüglich die ver— gleichend-anatomiſchen Unterſuchungen von Johannes Müller und Rathke, und in neuefter Zeit diejenigen von Gegenbaur und Huxley unſere Erkenntniß von den natürlichen Verwandtſchafts— verhältniſſen der verſchiedenen Wirbelthiergruppen bedeutend geför— dert. Insbeſondere haben die claſſiſchen Arbeiten von Gegenbaur, welche überall von dem Grundgedanken der Deſcendenztheorie durch— drungen ſind, den Beweis geführt, daß das vergleichend-anatomiſche Material, wie bei allen übrigen Thieren, ſo ganz beſonders im Wirbelthierſtamm, erſt durch die Anwendung der Abſtammungslehre ſeine wahre Bedeutung und Geltung erhält. Auch hier, wie überall, ſind die Analogien auf die Anpaſſung, die Homologien auf die Vererbung zurückzuführen. Wenn wir ſehen, daß die Gliedmaßen der verſchiedenſten Wirbelthiere trotz ihrer außerordent— lich verſchiedenen äußeren Form dennoch weſentlich denſelben inneren 504 Die Schöpfungsurkunden der Wirbelthiere. Bau beſitzen, wenn wir ſehen, daß dem Arme des Menſchen und des Affen, dem Flügel der Fledermaus und des Vogels, der Bruſt— floſſe der Walfiſche und der Seedrachen, den Vorderbeinen der Huf— thiere und der Fröſche immer dieſelben Knochen in derſelben charakte— riſtiſchen Lagerung, Gliederung und Verbindung zu Grunde liegen, ſo können wir dieſe wunderbare Uebereinſtimmung und Homologie nur durch die gemeinſame Vererbung von einer einzigen Stamm: form erklären. Die auffallenden Unterſchiede dieſer homologen Kör— pertheile dagegen rühren von der Anpaſſung an verſchiedene Exi— ſtenzbedingungen her (vergl. Taf. IV, S. 363). Ebenſo wie die vergleichende Anatomie iſt auch die Ontogenie oder die individuelle Entwickelungsgeſchichte fün den Stammbaum der Wirbelthiere von ganz beſonderer Wichtigkeit. Die erſten aus dem Ei entſtehenden Entwickelungszuſtände find bei allen Wirbel- thieren im Weſentlichen ganz gleich, und behalten um ſo länger ihre Uebereinſtimmung, je näher ſich die betreffenden ausgebildeten Wir— belthierformen im natürlichen Syſtem, d. h. im Stammbaum ſtehen. Wie weit dieſe Uebereinſtimmung der Keimformen oder Embryonen ſelbſt bei den höchſt entwickelten Wirbelthieren noch jetzt geht, das habe ich Ihnen ſchon früher gelegentlich erläutert (vergl. S. 264 — 276). Die völlige Uebereinſtimmung in Form und Bau, welche z. B. zwiſchen den Embryonen des Menſchen und des Hundes, des Vogels und der Schildkröte ſelbſt noch in den auf Taf. II und III darge— ſtellten Entwickelungszuſtänden beſteht, iſt eine Thatſache von uner— meßlicher Bedeutung und liefert uns die wichtigſten Anhaltspunkte zur Conſtruction ihres Stammbaums. Endlich ſind auch die paläontologiſchen Schöpfungsurkunden grade bei den Wirbelthieren von ganz beſonderem Werthe. Denn die verſteinerten Wirbelthierreſte gehören größtentheils dem knöchernen Skelete dieſer Thiere an, einem Organſyſteme, welches für das Ver— ſtändniß ihres Organismus von der größten Bedeutung iſt. Aller- dings iſt auch hier, wie überall, die Verſteinerungsurkunde äußerſt unvollſtändig und lückenhaft. Allein immerhin ſind uns von den Die vier Klaſſen der Wirbelthiere von Linné. 505 ausgeſtorbenen Wirbelthieren wichtigere Reſte im verſteinerten Zu— ſtande erhalten, als von den meiſten anderen Thiergruppen, und einzelne Trümmer geben oft die bedeutendſten Fingerzeige über das Verwandtſchaftsverhältniß und die hiſtoriſche Aufeinanderfolge der Gruppen. + Die Bezeichnung Wirbelthiere (Vertebrata) rührt, wie ich ſchon früher erwähnte, von dem großen Lamarck her, welcher zu— erſt gegen Ende des vorigen Jahrhunderts unter dieſem Namen die vier oberen Thierklaſſen Linné's zuſammenfaßte: die Säugethiere, Vögel, Amphibien und Fiſche. Die beiden niederen Klaſſen Linné's, die Inſecten und Würmer, ſtellte Lamarck den Wirbelthieren ge— genüber als Wirbelloſe (Invertebrata, ſpäter auch Evertebrata genannt). Die Eintheilung der Wirbelthiere in die vier genannten Klaſſen wurde auch von Cuvier und ſeinen Nachfolgern, und in Folge deſſen von vielen Zoologen noch bis auf die Gegenwart feſtgehalten. Aber ſchon 1822 erkannte der ausgezeichnete Anatom Blain ville aus der vergleichenden Anatomie, und faſt gleichzeitig unſer großer Em— bryologe Bär aus der Ontogenie der Wirbelthiere, daß Linné's Klaſſe der Amphibien eine unnatürliche Vereinigung von zwei ganz verſchiedenen Klaſſen ſei. Dieſe beiden Klaſſen hatte ſchon 1820 Merrem als zwei Hauptgruppen der Amphibien unter dem Namen der Pholidoten und Batrachier getrennt. Die Batrachier, welche heutzutage gewöhnlich als Amphibien (im engeren Sinne!) bezeichnet werden, umfaſſen die Fröſche, Salamander, Kiemenmolche, Cäcilien und die ausgeſtorbenen Labyrinthodonten. Sie ſchließen ſich in ihrer ganzen Organiſation eng an die Fiſche an. Die Pholi— doten oder Reptilien dagegen ſind viel näher den Vögeln ver— wandt. Es gehören dahin die Eidechſen, Schlangen, Krokodile und Schildkröten und die vielgeſtaltige Formengruppe der meſolithiſchen Drachen, der fliegenden Reptilien u. ſ. w. Im Anſchluß an dieſe naturgemäße Scheidung der Amphibien in zwei Klaſſen theilte man nun den ganzen Stamm der Wirbelthiere 506 Eintheilung der Wirbelthiere in neun Klaſſen. in zwei Hauptgruppen. Die erſte Hauptgruppe, die Fiſche und Am— phibien, athmen entweder zeitlebens oder doch in der Jugend durch Kiemen, und werden daher als Kiemenwirbelthiere bezeichnet (Branchiata oder Anallantoidia). Die zweite Hauptgruppe dagegen, Reptilien, Vögel und Säugethiere, athmen zu keiner Zeit ihres Le— bens durch Kiemen, ſondern ausſchließlich durch Lungen, und hei— ßen deshalb auch paſſend kiemenloſe oder Lungen wirbelthiere (Ebranchiata oder Allantoidia). So richtig dieſe Unterſcheidung auch iſt, ſo können wir doch bei derſelben nicht ſtehen bleiben, wenn wir zu einem wahren natürlichen Syſtem des Wirbelthierſtammes, und zu einem naturgemäßen Verſtändniß ſeines Stammbaums ge— langen wollen. Vielmehr müſſen wir dann, wie ich in meiner gene— rellen Morphologie gezeigt habe, noch drei weitere Wirbelthierklaſſen unterſcheiden, indem wir die bisherige Fiſchklaſſe in vier verſchiedene Klaſſen auflöſen (Gen. Morph. Bd. II, Taf. VII, S. CXVI—CLX). Die erſte und niederſte von dieſen Klaſſen wird durch die Schä— delloſen (Acrania) oder Rohrherzen (Leptocardia) gebildet, von denen heutzutage nur noch ein einziger Repräſentant lebt, das merkwürdige Lanzetthierchen (Amphioxus lanceolatus). Als zweite Klaſſe ſchließen ſich an dieſe zunächſt die Unpaarnafen (Mo- norrhina) oder Rundmäuler (Cyclostoma) an, zu denen die Inger (Myxrinoiden) und die Lampreten (Petromyzonten) gehören. Die dritte Klaſſe erſt würden die echten Fiſche (Pisces) bilden und an dieſe wür— den ſich als vierte Klaſſe die Lurchfiſche (Dipneusta) anſchließen: Uebergangsformen von den Fiſchen zu den Amphibien. Durch dieſe Unterſcheidung, welche, wie Sie gleich ſehen werden, für die Genea— logie der Wirbelthiere ſehr wichtig iſt, wird die urſprüngliche Vierzahl der Wirbelthierklaſſen auf das Doppelte geſteigert. In neueſter Zeit endlich iſt noch eine neunte Wirbelthierklaſſe zu dieſen acht Klaſſen hinzugekommen. Durch die kürzlich veröffent— lichten vergleichend-anatomiſchen Unterſuchungen von Gegenbaur nämlich hat ſich herausgeſtellt, daß die merkwürdige Abtheilung der Seedrachen (Halisauria), welche man bisher unter den Reptilien Neun Klaſſen und vier Hauptklaſſen der Wirbelthiere. 507 aufführte, weit von dieſen verſchieden und als eine beſondere Klaſſe anzuſehen iſt, welche ſich noch vor den Amphibien von dem Wir— belthierſtamme abgezweigt hat. Es gehören dahin die berühmten großen Ichthyoſauren und Pleſioſauren der Jura- und Kreidezeit, und die älteren Simoſauren der Triaszeit, welche ſich alle näher an die Fiſche als an die Amphibien anſchließen. Dieſe neun Klaſſen der Wirbelthiere ſind aber keineswegs von gleichem genealogiſchen Werthe. Vielmehr müſſen wir dieſelben in der Weiſe, wie es Ihnen bereits die ſyſtematiſche Ueberſicht auf S. 448 zeigte, auf vier verſchiedene Hauptklaſſen vertheilen. Zu— nächſt können wir die drei höchſten Klaſſen, die Säugethiere, Vögel und Schleicher als eine natürliche Hauptklaſſe unter dem Namen der Amnionthiere (Amnjota) zuſammenfaſſen. Dieſen ſtellen ſich naturgemäß als eine zweite Hauptklaſſe die Amnionloſen (Anam- nia) gegenüber, nämlich die vier Klaſſen der Lurche, Seedrachen, Lurchfiſche und Fiſche. Die genannten ſieben Klaſſen, ſowohl die Amnionloſen als die Amnionthiere, ſtimmen unter ſich in zahlreichen Merkmalen überein, durch welche ſie ſich von den beiden niederſten Klaſſen (den Unpaarnaſen und Rohrherzen) unterſcheiden. Wir fün- nen ſie daher in der natürlichen Hauptgruppe der Paarnaſen (Amphirrhina) vereinigen. Endlich ſind dieſe Paarnaſen wiederum viel näher den Rundmäulern oder Unpaarnaſen, als den Schädel— loſen oder Rohrherzen verwandt. Wir können daher mit vollem Rechte die Paarnaſen mit den Unpaarnaſen in einer oberſten Haupt— gruppe zuſammenſtellen und dieſe als Schädelthiere (Craniota) oder Centralherzen (Pachycardia) der einzigen Klaſſe der Schä— delloſen oder Rohrherzen gegenüberſtellen. Durch dieſe, von mir vorgeſchlagene Claſſification der Wirbelthiere wird es möglich, die wichtigſten genealogiſchen Beziehungen ihrer neun Klaſſen klar zu über— ſehen. Das ſyſtematiſche Verhältniß dieſer Gruppen zu einander läßt ſich durch folgende Ueberſicht kurz ausdrücken. 508 Syſtematiſche Ueberſicht der neun Wirbelthierklaſſen. A. Schädelloſe (Acrania) 1. Rohrherzen 1. Leptocardia a. Unpaarnaſen 0 F 2. Rundmäuler 2. Cyelostoma B Monorrhina ! ee N 3. Fiſche 3. Pisces Schädelthiere I. Amnion⸗ Fisch . ö 4 5 4. Lurchfiſche 4. Dipneusta (Craniota) b. Baar- loſe 8 8 0 5. Seedrachen 5. Halisauria oder naſen Anamnia 37 Centralherzen 6. Lurche 6. Amphibia \ er - g x J pe, II. Amnion— 7. Schleicher 7. Reptilia (Pachycardia) nn 5 thiere 8. Vögel 8. Aves Amniota 9. Säugethiere 9. Mammalia Auf der niedrigſten Organiſationsſtufe von allen uns bekannten Wirbelthieren ſteht der einzige noch lebende Vertreter der erſten Klaſſe, das Lanzetfiſchchen oder Lanzetthierchen (Amphioxus lan- ceolatus) (Taf. XIII, Fig. B). Dieſes höchſt intereſſante und wichtige Thierchen, welches über die älteren Wurzeln unſeres Stammbaumes ein überraſchendes Licht verbreitet, iſt offenbar der letzte Mohikaner, der letzte überlebende Repräſentant einer formenreichen niederen Wir— belthierklaſſe, welche während der Primordialzeit ſehr entwickelt war, uns aber leider wegen des Mangels aller feſten Skelettheile gar keine verſteinerten Reſte hinterlaſſen konnte. Das kleine Lanzetfiſchchen lebt heute noch weitverbreitet in verſchiedenen Meeren, z. B. in der Oſt⸗ ſee, Nordſee, im Mittelmeere, gewöhnlich auf flachem Strande im Sand vergraben. Der Körper hat, wie der Name ſagt, die Geſtalt eines ſchmalen, an beiden Enden zugeſpitzten, lanzetförmigen Blattes. Erwachſen iſt daſſelbe etwa zwei Zoll lang, und röthlich ſchimmernd, halb durchſichtig. Aeußerlich hat das Lanzetthierchen ſo wenig Aehn— lichkeit mit einem Wirbelthier, daß ſein erſter Entdecker, Pallas, es für eine unvollkommene Nacktſchnecke hielt. Beine beſitzt es nicht, und ebenſowenig Kopf, Schädel und Gehirn. Das vordere Körper- ende iſt äußerlich von dem hinteren faſt nur durch die Mundöffnung zu unterſcheiden. Aber dennoch beſitzt der Amphioxus in ſeinem in— neren Bau die wichtigſten Merkmale, durch welche ſich alle Wirbel— thiere von allen Wirbelloſen unterſcheiden, vor allen den Rückenſtrang Schädelloſe oder Rohrherzen. Lanzetthierchen oder Amphiorus. 509 und das Rückenmark. Der Rückenſtrang (Chorda dorsalis) iſt ein cylindriſcher, vorn und hinten zugeſpitzter, grader Knorpelſtab, welcher die centrale Axe des inneren Skelets, und die Grundlage der Wirbelſäule bildet. Unmittelbar über dieſem Rückenſtrang, auf der Rückenſeite deſſelben, liegt das Rückenmark (Medulla spinalis), ebenfalls urſprünglich ein grader, vorn und hinten zugeſpitzter, in— wendig aber hohler Strang, welcher das Hauptſtück und Centrum des dervenſyſtems bei allen Wirbelthieren bildet (vergl. oben S. 270). Bei allen Wirbelthieren ohne Ausnahme, auch den Menſchen mit in— begriffen, werden dieſe wichtigſten Körpertheile während der embryo— nalen Entwickelung aus dem Ei urſprünglich in derſelben einfachſten Form angelegt, welche fie beim Amphioxus zeitlebens behalten. Erſt ſpäter entwickelt ſich durch Auftreibung des vorderen Endes aus dem Rückenmark das Gehirn, und aus dem Rückenſtrang der das Gehirn umſchließende Schädel. Da bei dem Amphiorus dieſe beiden wichti— gen Organe gar nicht zur Entwickelung gelangen, ſo können wir die durch ihn vertretene Thierklaſſe mit Recht als Schädelloſe (Acrania) bezeichnen, im Gegenſatz zu allen übrigen, den Schädelthieren (Craniota). Gewöhnlich werden die Schädelloſen Rohrherzen oder Röhrenherzen (Leptocardia) genannt, weil ein centraliſirtes Herz noch fehlt, und das Blut durch die Zuſammenziehungen der röhren— förmigen Blutgefäße ſelbſt im Körper umhergetrieben wird. Die Schä— delthiere, welche dagegen ein centraliſirtes, beutelförmiges Herz be— ſitzen, müßten dann im Gegenſatz dazu Beutelherzen oder Cen— tralherzen (Pachycardia) genannt werden. Offenbar haben ſich die Schädelthiere oder Centralherzen erſt in ſpäterer Primordialzeit aus Schädelloſen oder Rohrherzen, welche dem Amphioxus nahe ſtanden, allmählich entwickelt. Darüber läßt uns die Ontogenie der Schädelthiere nicht in Zweifel. Wo ſtammen nun aber dieſe Schädelloſen ſelbſt her? Auf dieſe wichtige Frage hat uns, wie ich ſchon im vorletzten Vortrage erwähnte, erſt die jüngſte Zeit eine höchſt überraſchende Antwort gegeben. Aus den 1867 veröffent— lichten Unterſuchungen von Kowalewski ſüber die individuelle Ent- 510 Blutsverwandtſchaft der Schädelloſen und Seeſcheiden. wickelung des Amphioxus und der feſtſitzenden Seeſcheiden (Ascidiae) aus der Klaſſe der Mantelthiere (Tunicata)] hat ſich ergeben, daß die Ontogenie dieſer beiden ganz verſchiedenen Thierformen in ihrer erſten Jugend merkwürdig übereinſtimmt. Die frei umherſchwimmen— den Larven der Ascidien (Taf. XII, Fig. A) entwickeln die ungwei- felhafte Anlage zum Rückenmark (Fig. 5g) und zum Rückenſtrang (Fig. 5e) und zwar ganz in derſelben Weiſe, wie der Amphioxus (Taf. XII, Fig. B). Allerdings bilden ſie dieſe wichtigſten Organe des Wirbelthierkörpers ſpäterhin nicht weiter aus. Vielmehr gehen ſie eine rückſchreitende Verwandlung ein, ſetzen ſich auf dem Meeres— boden feſt, und wachſen zu unförmlichen Klumpen aus, in denen man kaum noch bei äußerer Betrachtung ein Thier vermuthet (Taf. XIII, Fig. A). Allein das Rückenmark, als die Anlage des Centralnerven— ſyſtems, und der Rückenſtrang, als die erſte Grundlage der Wirbel— jäule, find fo wichtige, den Wirbelthieren fo ausſchließlich eigenthüm— liche Organe, daß wir daraus ſicher auf die wirkliche Blutsverwandt— ſchaft der Wirbelthiere guit den Mantelthieren ſchließen können. Na— türlich wollen wir damit nicht ſagen, daß die Wirbelthiere von den Mantelthieren abſtammen, ſondern nur, daß beide Gruppen aus ge— meinſamer Wurzel entſproſſen ſind, und daß die Mantelthiere von allen Wirbelloſen diejenigen ſind, welche die nächſte Blutsverwandt— ſchaft zu den Wirbelthieren beſitzen. Offenbar haben ſich während der Primordialzeit die echten Wirbelthiere (und zwar zunächſt die Schädelloſen) aus einer Würmergruppe fortſchreitend entwickelt, aus welcher nach einer anderen, rückſchreitenden Richtung hin die degene— rirten Mantelthiere hervorgingen. (Vergl. die nähere Erklärung von Taf. XII und XIII im Anhang.) Aus den Schädelloſen hat ſich zunächſt eine zweite niedere Klaſſe von Wirbelthieren entwickelt, welche noch tief unter den Fiſchen ſteht, und welche in der Gegenwart nur durch die Inger (Myxinoiden) und Lampreten (Petromyzonten) vertreten wird. Auch dieſe Klaſſe konnte wegen des Mangels aller feſten Körpertheile leider eben ſo wenig als die Schädelloſen verſteinerte Reſte hinterlaſſen. Aus ihrer = De mar pie an we Wee ae a De N ee BE „ e u td A N ar Pe) i N NU u * „ 1 A 4 E STE RAT Care * 4 * Re 2 nad 12 4 4 2 * ‘ ’s u e 24 * r * 1 N n „%ͤ ER ART TORBORERAEN N e en ER = 7 EN 8 Di e eee en n VVV / Re SANS * An WER er A A he Mg ER NR, We Tay. A. Ascidia Vl und Imphiexus H. 1 ur a“ una.” Re 13 genschteber Has > 2 — . 2 IT? N S Unpaarnaſen oder Rundmäuler (Inger und Lampreten). 511 ganzen Organiſation und Ontogenie geht aber deutlich hervor, daß ſie eine ſehr wichtige Mittelſtufe zwiſchen den Schädelloſen und den Fiſchen darſtellt, und daß die wenigen noch lebenden Glieder derſelben nur die letzten überlebenden Reſte von einer gegen Ende der Primor— dialzeit vermuthlich reich entwickelten Thiergruppe ſind. Wegen des kreisrunden, zum Saugen verwendeten Maules, das die Inger und Lampreten beſitzen, wird die ganze Klaſſe gewöhnlich Rund m äuler (Cyclostoma) genannt. Bezeichnender noch iſt der Name Unpaar— naſen (Monorrhina). Denn alle Cycloſtomen beſitzen ein einfaches unpaares Naſenrohr, während bei allen übrigen Wirbelthieren (wie— der mit Ausnahme des Amphioxus) die Naſe aus zwei paarigen Seitenhälften, einer rechten und linken Naſe beſteht. Wir konnten deshalb dieſe letzteren (Anamnien und Amnioten) auch als Paar— naſen (Amphirrhina) zuſammenfaſſen. Die Paarnaſen beſitzen ſämmtlich ein ausgebildetes Kieferſkelet (Oberkiefer und Unterkiefer), während dieſes den Unpaarnaſen gänzlich fehlt. Auch abgeſehen von der eigenthümlichen Naſenbildung und dem Mangel der Kieferbildung unterſcheiden ſich die Unpaarnaſen von den Paarnaſen noch durch viele andere Eigenthümlichkeiten. So fehlt ihnen namentlich ganz das wichtige ſympathiſche Nervennetz und die Milz der letzteren. Von der Schwimmblaſe und den beiden Beinpaa— ren, welche bei allen Paarnaſen wenigſtens in der erſten Anlage vor— handen find, fehlt den Unpaarnaſen (ebenfo wie den Schädelloſen) noch jede Spur. Es iſt daher gewiß ganz gerechtfertigt, wenn wir ſowohl die Monorrhinen als die Schädelloſen gänzlich von den Fiſchen trennen, mit denen ſie bis jetzt in herkömmlicher, aber irrthümlicher Weiſe vereinigt waren. Die erſte genauere Kenntniß der Monorrhinen oder Cyeloſtomen verdanken wir dem großen Berliner Zoologen Johannes Müller, deſſen klaſſiſches Werk über die „vergleichende Anatomie der Myxri— noiden“ die Grundlage unſerer neueren Anſichten über den Bau der Wirbelthiere bildet. Er unterſchied unter den Cycloſtomen zwei ver— ſchiedene Gruppen, welchen wir den Werth von Unterklaſſen geben. 512 Syſtematiſche Ueberſicht der 4 Hauptklaſſen, 9 Klaſſen und 26 Unterklaſſen der Wirbelthiere. Gen. Morph. Bd. II, Taf. VII, S. CXVI—CLX. I. Schädelloſe (Acrania) oder Rohrherzen (Leptocardia) Wirbelthiere ohne Kopf, ohne Schädel und Gehirn, ohne eentraliſirtes Herz 1. Schädelloſe J. Rohrherzen 5 > ER Lehbasla 1. Lanzetthiere 1. Ah II. Schädelthiere (Craniota) oder Bene (Pachycardia) Wirbelthiere mit bf, mit Schädel und Gehirn, mit i Herzen Hauptflaſſen 8 Ken. | Anterklaffen | Suflematifdier. der der | der Name der Schädelthiere Schädelthiere gelle Schädelthiere Anterklaſſen 2. Inger N 2. Hyperotreta 2. eee; II. Runduäuler Schleimfiſche (Myxinoida) Monorrhina Oyelostoma 3. Yampreten oder 3. Hyperoartia Pricken (Petromyzontia) 4. Urfiſche 4. Selachii 5 ee | 5. Schmelzfiſche 5. Ganoides 6. Knochenfiſche 6. Teleostei Lurchfiſche | ; a Umnienliſ [nn 7. Molchfiſche 7. Protopteri % Pi . i \ 8. Urdrachen 8. Simosauria NN Seedrachen ) 9. Schlangendra- 9. Plesiosauria Halisauria | chen 10. Fiſchdrachen 10. Ichthyosauria VI. Lurche (11. Panzerlurche 11. Phractamphibia Amphibia 412. Nacktlurche 12. Lissamphibia 13. Stammreptilien 13. Tocosauria 14. Eidechſen 14. Lacertilia 15. Schlangen 15. Ophidia 16. Crocodile 16. Crocodilia VII. Schleier „17. Schildkröten 17. Chelonia Belle 18. Flugreptilien 18. Pterosauria 19. Drachen 19. Dinosauria 20. Schnabelrepti⸗ 20. Anomodontia 4. Amniouthiere lien h Amniota kin? . 21. Saururae VIII. Vögel 22. Fächerſchwän⸗ 22. Carinatae Aves zige 23. Büſchelſchwän⸗ 23. Ratitae zige Kloakenthiere 24. Monotrema . Süugerhiere ſeg. Beutelthiere 25. Marsupialia RER 620. Placentalthiere 26. Placentalia Stammbaum der Wirbelthiere. 9. Säugethiere Mammalia 8. Vögel Aves hr 7. Schleicher Reptilia 5. Seedrachen | Halisauria | Knochenfiſche D Teleostei Amnionthiere | 4. Lurchfiſche Amniota Dipneusta Schmelzfiſche Ganoidei 6. Lurche | | Amphibia | | Lungenathmende Wirbelthiere Amphipneumones —ů—ůůůů äA diüũ¼ Urfiſche. Selachii 3. Fiſche. Pisces Paarnaſen. Amphirrhina 2. Rundmäuler | Cyelostoma | | Unpaarnaſen. Monorrhina Schädelthiere. Craniota 1. Rohrherzen | Leptocardia | Seejcheiden | Aseidiae | | Seetonnen — — Thaliacea Schädelloſe | Acrania | Wirbelthiere 8 . Vertebrata Mantelthiere | Tunicata I | | | — | Würmer Vermes Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 33 518 514 Unpaarnafen (Monorrhinen). Paarnaſen (Amphirrhinen). Die erſte Unterklaſſe ſind die Inger oder Schleimfiſche (Hyperotreta oder Myxinoida). Sie leben im Meere ſchmarotzend auf Fiſchen, in deren Haut fie ſich einbohren (Myxine, Bdellostoma). Im Gehörorgan beſitzen fie nur einen Ringcanal, und ihr unpaares Naſenrohr durchbohrt den Gaumen. Höher entwickelt iſt die zweite Unterklaſſe, die Lampreten oder Pricken (Hyperoartia oder Petromyzontia). Hierher gehören die allbekannten Flußpricken oder Neunaugen unſerer Flüſſe (Petromyzon fluviatilis), deren Bekannt— ſchaft Sie wohl Alle im marinirten Zuſtande ſchon gemacht haben. Im Meere werden dieſelben durch die mehrmals größeren Seepricken oder die eigentlichen Lampreten (Pretomyzon marinus) vertreten. Bei dieſen Unpaarnaſen durchbohrt das Naſenrohr den Gaumen nicht, und im Gehörorgan finden ſich zwei Ringcanäle. a Alle Wirbelthiere, welche jetzt noch leben, mit Ausnahme der eben betrachteten Monorrhinen und des Amphioxus, gehören zu der— jenigen Hauptgruppe, welche wir als Paarnaſen (Amphirrhina) bezeichneten. Alle dieſe Thiere beſitzen eine aus zwei paarigen Sei— tenhälften beſtehende Naſe, ein Kieferſkelet, ein ſympathiſches Nerven— netz, drei Ringeanäle im Gehörorgan und eine Milz. Alle Paarnaſen beſitzen ferner eine blaſenförmige Ausſtülpung des Schlundes, welche ſich bei den Fiſchen zur Schwimmblaſe, bei den übrigen Paarnaſen zur Lunge entwickelt hat. Endlich iſt urſprünglich bei allen Paar— naſen die Anlage zu zwei paar Extremitäten oder Gliedmaßen vor— handen, ein paar Vorderbeine oder Bruſtfloſſen, und ein paar Hinter— beine oder Bauchfloſſen. Allerdings iſt bisweilen das eine Beinpaar (3. B. bei den Aalen und Walfiſchen) oder beide Beinpaare (3. B. bei den Caecilien und Schlangen) verkümmert oder gänzlich verloren ge— gangen; aber ſelbſt in dieſen Fällen iſt wenigſtens die Spur ihrer urſprünglichen Anlage in früher Embryonalzeit zu finden, oder es blei— ben unnütze Reſte derſelben als rudimentäre Organe durch das ganze Leben beſtehen (vergl. oben S. 13). Aus allen dieſen wichtigen Anzeichen können wir mit voller Sicherheit ſchließen, daß ſämmtliche Paarnaſen von einer einzigen Vorfiſche und Fiſche. 515 gemeinſchaftlichen Stammform abſtammen, welche während der Pri— mordialzeit direct oder indirect ſich aus den Monorrhinen entwickelt hatte. Dieſe Stammform muß die eben angeführten Organe, na— mentlich auch die Anlage zur Schwimmblaſe und zu zwei Beinpaaren oder Floſſenpaaren beſeſſen haben. Von allen jetzt lebenden Paar— naſen ſtehen offenbar die niederſten Formen der Haifiſche dieſer längſt ausgeſtorbenen, unbekannten, hypothetiſchen Stammform, welche wir als Stammpaarnaſen oder Vorfiſche (Proselachii) be— zeichnen können, am nächſten (vergl. Taf. XII). Wir dürfen daher die Gruppe der Urfiſche oder Selachier, in deren Rahmen dieſe Proſelachier hineingepaßt haben, als die Stammgruppe nicht allein für die Fiſchklaſſe, ſondern für die ganze Hauptklaſſe der Paarnaſen betrachten. Den ſicheren Beweis dafür liefern die „Unterſuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbelthiere“ von Carl Gegen— baur, welche ſich ebenſo durch die ſorgfältigſte Beobachtung, wie durch die ſcharfſinnigſte Reflexion auszeichnen. Die Klaſſe der Fiſche (Pisces), mit welcher wir demgemäß die Reihe der Paarnaſen beginnen, unterſcheidet ſich von den übrigen ſechs Klaſſen dieſer Reihe vorzüglich dadurch, daß die Schwimmblaſe niemals zur Lunge entwickelt, vielmehr nur als hydroſtatiſcher Apparat thätig iſt. In Uebereinſtimmung damit finden wir den Umſtand, daß die Naſe bei den Fiſchen durch zwei blinde Gruben vorn auf der Schnauze gebildet wird, welche niemals den Gaumen durchbohren und in die Rachenhoͤhle münden. Dagegen ſind die beiden Naſen— höhlen bei den übrigen ſechs Klaſſen der Paarnaſen zu Luftwegen umgebildet, welche den Gaumen durchbohren, und ſo den Lungen Luft zuführen. Die echten Fiſche (nach Ausſchluß der Dipneuſten) ſind demnach die einzigen Paarnaſen, welche ausſchließlich durch Kie— men, und niemals durch Lungen athmen. Sie leben dem entſprechend alle im Waſſer und ihre beiden Beinpaare haben die urſprüngliche Form von rudernden Floſſen beibehalten. Die echten Fiſche werden in drei verſchiedene Unterklaſſen einge— theilt, in die Urfiſche, Schmelzfiſche und Knochenfiſche. Die älteſte 922 * vo 516 Syſtematiſche Ueberſicht der ſieben Legionen und fünfzehn Ordnungen der Fiſchklaſſe. Anterklaffen der Jiſchſlaſſe A. Urfiſche Selachii B. Schmelzſiſche Ganoides 6 Knochenfiſche Teleostei N IV. Eckſchuppige Schmelzfiſche V. Rundſchuppige Sch melzfiſche VI. Knochenfiſche mit Luftgang der Schwimmblaſe VII. Knochenfiſche ohne Luftgang der Schwimmblaſe Rhombiferi Cyeliferi — D — — — d Physostomi je «} ler) Physoelisti — N — = 14, 15, Fegionen | Ordnungen der | der Jiſchklaſſe | Jiſchſilaſſe 1. Haifiſche I Quermäuler Squalacei Plagiostomi 2. Rochen Rajacei Seekatzen 3. Seekatzen W Chimaeracei 4. Schildkröten⸗ III. Gepanzerte fiſche Schmelzfiſche Pamphracti Tabuliferi 5. Störfiſche Sturiones . Schindelloje Efuleri 7. Schindelfloſſige Fulerati . Fahnenfloſſige Semaeopteri . Hohlgrätenfiſche Coeloscolopes . Dichtgrätenfiſche Pyenoscolopes . Häringsartige Thrissogenes . Aalartige Enchelygenes . Reihenfiemer Stichobranchii Heftkiefer Pleetognathi Büſchelkiemer Lophobranchii | | Beiſpiele aus den Ordnungen Stachelhai, Men⸗ ſchenhai, u. ſ. w. Stachelrochen, Zit- terrochen, u. ſ. w. Chimären, Kalor- rhynchen, u. ſ. w. Cephalaspiden, Placodermen, u. ſ. w. Löffelſtör, Stör, Hauſen, u. ſ. w. Doppelfloſſer, Pfla⸗ ſterzähner, u.ſ. w. Paläonisken, Kno⸗ chenhechte, u. ſ.w. Afrikaniſcher Flöſ— ſelhecht, u. ſ. w. Holoptychier, Coe- lacanthiden, u. ſ. w. Coccolepiden, Ami- aden, u. ſ. w. Häringe, Lachſe, Karpfen, Welſe, u. ſ. w. Aale, Schlangen- aale, Zitteraale, u fe Barſche, Lippfiſche, Dorſche, Schol⸗ len, u. ſ. w. Kofferfiſche, Igel- fiſche, u. ſ. w. Seenadeln, See- pferdchen, u. ſ. w. Stammbaum der amnionloſen Schädelthiere. Anuren Plectognathen Dame ' Lophobranchier en | | Sozuren Labyrinthodonten | Stichobranchier | | Physoclisten Sozobranchien Ganocephalen Lissamphibien Enchelygenen Phractamphibien —— . Thrissogenen Amphibien Physostomen Semaeopteren Teleostier | Protopteren | Fuleraten | | ee | saurier Pyenoscolopen | Ichthyo- | | | | saurier | Coeloscolopen | | | | Cycliferen Efuleren | | | (Cyeloganoiden) Rhombiferen | | | | (Rhomboganoiden) | | — — Dipneusten Simosaurier Placodermen Halisaurier | | | Sturionen | | | Rajaceen | | \ 1 — — — ER | Amphipneumonen ! — — | Pamphracten | Tabuliferen ı Chimaeren | (Placoganoiden) | Holocephalen | Ganoiden | | | e Squalaceen | ö I | | | | | } — nn | Plagiostomen | | She pen —— Selachier Fische Amphirrhinen Cyelostomen Monorrhinen 1 —rðrQ — — Cranioten * 518 Urfiſche oder Selachier. von dieſen, welche die urſprüngliche Form am getreueſten bewahrt hat, iſt diejenige der Urfiſche (Selachii). Davon leben heutzutage 1 die Haifiſche (Squali) und Rochen (Rajae), welche man als Quermäuler (Plagiostomi) zuſammenfaßt, ſowie die ſeltſame Fiſchform der abenteuerlich geſtalteten Seekatzen oder Chimären (Holocephali oder Chimaeracei). Aber dieſe Urfiſche der Gegenwart, welche in allen Meeren vorkommen, ſind nur ſchwache Reſte von der geſtaltenreichen und herrſchenden Thiergruppe, welche die Selachier in früheren Zeiten der Erdgeſchichte, und namentlich während der pa— läolithiſchen Zeit bildeten. Leider beſitzen alle Urfiſche ein knorpeliges, niemals vollſtändig verknöchertes Skelet, welches der Verſteinerung nur wenig oder gar nicht fähig iſt. Die einzigen harten Körpertheile, welche in foſſilem Zuſtande ſich erhalten konnten, ſind die Zähne und die Floſſenſtacheln. Dieſe finden ſich aber in ſolcher Menge, Formen— mannichfaltigkeit und Größe in den älteren Formationen vor, daß wir daraus mit Sicherheit auf eine höchſt beträchtliche Entwickelung der Urfiſche in jener altersgrauen Vorzeit ſchließen können. Sie finden ſich ſogar ſchon in den ſiluriſchen Schichten, welche von anderen Wirbel— thieren nur ſchwache Reſte von Schmelzfiſchen (und dieſe erſt in den jüngſten Schichten, im oberen Silur) einſchließen. Von den drei Ordnungen der Urfiſche ſind die bei weitem wichtigſten und intereſſan— teſten die Haifiſche, welche wahrſcheinlich unter allen lebenden Paar— naſen der urſprünglichen Stammform der ganzen Gruppe, den Proſe— lachiern, am nächſten ſtehen. Aus dieſen Proſelachiern, welche von echten Haifiſchen wohl nur wenig verſchieden waren, haben ſich wahr— ſcheinlich nach einer Richtung hin die Schmelzfiſche und die heutigen Urfiſche, nach einer anderen Richtung hin die Dipneuſten, ER und Amphibien entwickelt. Die Schmelzfiſche (Ganoides) ſtehen in anatomiſcher Be— ziehung vollſtändig in der Mitte zwiſchen den Urfiſchen einerſeits und den Knochenfiſchen andrerſeits. In vielen Merkmalen ſtimmen ſie mit jenen, in vielen anderen mit dieſen überein. Wir ziehen daraus den Schluß, daß ſie auch genealogiſch den Uebergang von den Ur⸗ Schmelzfiſche oder Ganoiden. 519 fiſchen zu den Knochenfiſchen vermittelten. In noch höherem Maaße, als die Urfiſche, ſind auch die Ganoiden heutzutage größtentheils aus— geſtorben, wogegen ſie während der ganzen paläolitiſchen und meſo— lithiſchen Zeit in großer Mannichfaltigkeit und Maſſe entwickelt waren. Nach der verſchiedenen Form der äußeren Hautbedeckung theilt man die Schmelzfiſche in drei Legionen: Gepanzerte, Eckſchuppige und Rundſchuppige. Die gepanzerten Schmelzfiſche (Tabuliferi) ſind die älteſten und ſchließen ſich unmittelbar an die Selachier an, aus denen ſie entſprungen ſind. Foſſile Reſte von ihnen finden ſich, obwohl ſelten, bereits im oberen Silur vor (Pteraspis ludensis aus den Ludlowſchichten). Rieſige, gegen 30 Fuß lange Arten derſelben, mit mächtigen Knochentafeln gepanzert, finden ſich namentlich im devoniſchen Syſtem. Heute aber lebt von dieſer Legion nur noch die kleine Ordnung der Störfiſche (Sturiones), nämlich die Löffelſtöre (Spatularides), und die Störe (Accipenserides), zu denen u. A. der Hauſen gehört, welcher uns den Fiſchleim oder die Hauſenblaſe liefert, der Stör und Sterlett, deren Eier wir als Caviar verzehren u. ſ. w. Aus den gepanzerten Schmelzfiſchen haben ſich wahrſcheinlich als zwei divergente Zweige die eckſchuppigen und die rundſchuppigen entwickelt. Die eckſchuppigen Schmelzfiſche (Rhombiferi), welche man durch ihre viereckigen oder rhombiſchen Schuppen auf den erſten Blick von allen anderen Fiſchen unterſcheiden kann, ſind heutzutage nur noch durch wenige Ueberbleibſel vertreten, nämlich durch den Flöſſel— hecht (Polypterus) in afrikaniſchen Flüſſen (vorzüglich im Nil), und durch den Knochenhecht (Lepidosteus) in amerikaniſchen Flüſſen. Aber während der paläolithiſchen und der erſten Hälfte der meſoli— thiſchen Zeit bildete dieſe Legion die Hauptmaſſe der Fiſche. Weniger formenreich war die dritte Legion, die rundſchuppigen Schmelz— fiſche (Cyeliferi), welche vorzugsweiſe während der Devonzeit und Steinkohlenzeit lebten. Jedoch war dieſe Legion, von der heute nur noch der Kahlhecht (Amia) in nordamerikaniſchen Flüſſen übrig iſt, inſofern viel wichtiger, als ſich aus ihr die dritte Unterklaſſe der Fiſche, die Knochenfiſche, entwickelten. 520 Knochenfiſche oder Teleoſtier. Die Knochenfiſche (Teleostei) bilden in der Gegenwart die Hauptmaſſe der Fiſchklaſſe. Es gehören dahin die allermeiſten See— fiſche, und alle unſere Süßwaſſerfiſche, mit Ausnahme der eben er— wähnten Schmelzfiſche. Wie zahlreiche Verſteinerungen deutlich be— weiſen, iſt dieſe Klaſſe erſt um die Mitte des meſolithiſchen Zeitalters aus den Schmelzfiſchen, und zwar aus den rundſchuppigen oder Cy— cliferen entſtanden. Die Thriſſopiden der Jurazeit (Thrissops, Lep- tolepis, Tharsis), welche unſeren heutigen Häringen am nächſten ſtehen, ſind wahrſcheinlich die älteſten von allen Knochenfiſchen, und unmittelbar aus den rundſchuppigen Schmelzfiſchen, welche der heuti— gen Amia nahe ſtanden, hervorgegangen. Bei den älteren Knochen— fiſchen, den Phyſoſtomen war, ebenſo wie bei den Ganoiden, die Schwimmblaſe noch zeitlebens durch einen bleibenden Luftgang (eine Art Luftröhre) mit dem Schlunde in Verbindung. Das iſt auch heute noch bei den zu dieſer Gruppe gehörigen Häringen, Lachſen, Karpfen, Welſen, Aalen u. ſ. w. der Fall. Während der Kreidezeit trat aber bei einigen Phyſoſtomen eine Verwachſung, ein Verſchluß jenes Luftganges ein, und dadurch wurde die Schwimmblaſe völlig von dem Schlunde abgeſchnürt. So entſtand die zweite Legion der Knochenfiſche, die der Phyſokliſten, welche erſt während der Ter— tiärzeit ihre eigentliche Ausbildung erreichte, und bald an Mannich— faltigkeit bei weitem die Phyſoſtomen übertraf. Es gehören hierher die meiſten Seefiſche der Gegenwart, namentlich die umfangreichen Familien der Dorſche, Schollen, Thunfiſche, Lippfiſche, Umberfiſche u. ſ. w., ferner die Heftkiefer (Kofferfiſche und Igelfiſche) und die Büſchelkiemer (Seenadeln und Seepferdchen). Dagegen ſind unter unſeren Flußfiſchen nur wenige Phyſokliſten, z. B. der Barſch und der Stichling; die große Mehrzahl der Flußfiſche ſind Phyſoſtomen. Zwiſchen den echten Fiſchen und den Amphibien mitten inne ſteht die merkwürdige Klaſſe der Lurchfiſche oder Molchfiſche (Dipneusta oder Protopteri). Davon leben heute nur noch wenige Repräſentanten, nämlich der amerikaniſche Molchfiſch (Lepidosiren paradoxa) im Gebiete des Amazonenſtroms, und der afrikaniſche Lurchfiſche oder Dipneuſten. 521 Molchfiſch (Protopterus annectens) in verſchiedenen Gegenden Afri— kas. Ein dritter großer Molchfiſch (Ceratodus Forsteri) iſt kürzlich in Auſtralien entdeckt worden. Während der trocknen Jahreszeit, im Sommer, vergraben ſich dieſe ſeltſamen Thiere in den eintrocknenden Schlamm, in ein Neſt von Blättern, und athmen dann Luft durch Lungen, wie die Amphibien. Während der naſſen Jahreszeit aber, im Winter, leben ſie in Flüſſen und Sümpfen, und athmen Waſſer durch Kiemen, gleich den Fiſchen. Aeußerlich gleichen ſie aalförmigen Fiſchen, und ſind wie dieſe mit Schuppen bedeckt; auch in manchen Eigenthümlichkeiten ihres inneren Baues, des Skelets, der Extremi— täten ꝛc. gleichen fie mehr den Fiſchen, als den Amphibien. In ans deren Merkmalen dagegen ſtimmen ſie mehr mit den letzteren überein, vor allen in der Bildung der Lungen, der Naſe und des Herzens. Aus dieſen Gründen herrſcht unter den Zoologen ein ewiger Streit darüber, ob die Lurchfiſche eigentlich Fiſche oder Amphibien ſeien. Ebenſo ausgezeichnete Zoologen haben ſich für die eine, wie für die andere Anſicht ausgeſprochen. In der That ſind ſie wegen der voll— ſtändigen Miſchung des Charakters weder das eine noch das andere, und werden wohl am richtigſten als eine beſondere Wirbelthierklaſſe aufgefaßt, welche den Uebergang zwiſchen jenen beiden Klaſſen ver— mittelt. Die heute noch lebenden Dipneuſten ſind wahrſcheinlich die letzten überlebenden Reſte einer vormals formenreichen Gruppe, welche aber wegen Mangels feſter Skelettheile keine verſteinerten Spuren hinterlaſſen konnte. Sie verhalten ſich in dieſer Beziehung ganz ähn— lich den Monorrhinen und den Leptocardiern, mit denen ſie gewöhnlich zu den Fiſchen gerechnet werden. Jedoch finden ſich Zähne, welche denen des Ceratodus gleichen, in der Trias. Vielleicht ſind ausge— Atorbene Dipneuſten der paläolithiſchen Periode, welche ſich in devoni— ſcher Zeit aus Urfiſchen entwickelt hatten, als die Stammformen der Amphibien, und ſomit auch aller höheren Wirbelthiere zu betrachten. Mindeſtens werden die unbekannten Uebergangsformen von den Ur— fiſchen zu den Amphibien, welche wir als Stammgruppe der letzteren zu betrachten haben, den Dipneuſten wohl ſehr ähnlich geweſen ſein. 522 Seedrachen oder Haliſaurier. Eine ganz eigenthümliche Wirbelthierklaſſe, welche ſchon längſt ausgeſtorben iſt und bloß während der Sekundärzeit gelebt zu haben ſcheint, bilden die merkwürdigen Seedrachen (Halisauria oder Ena- liosauria, auch wohl Schwimmfüßer oder Neripoden genannt). Dieſe furchtbaren Raubthiere bevölkerten die meſolithiſchen Meere in großen Mengen und in höchſt ſonderbaren Formen, zum Theil von 30 — 40 Fuß Länge. Sehr zahlreiche und vortrefflich erhaltene Verſteinerungen und Abdrücke ſowohl von ganzen Seedrachen als von einzelnen Thei— len derſelben, haben uns mit ihrem Körperbau jetzt ſehr genau be— kannt gemacht. Gewöhnlich werden dieſelben zu den Reptilien oder Schleichern geſtellt, während einige Anatomen ihnen einen viel tiefe— ren Rang, in unmittelbarem Anſchluß an die Fiſche, anweiſen. Die kürzlich veröffentlichten Unterſuchungen von Gegenbaur, welche vor allen die maßgebende Bildung der Gliedmaßen in das rechte Licht ſetzen, haben dagegen zu dem überraſchenden Reſultate geführt, daß die Seedrachen eine ganz iſolirt ſtehende Gruppe bilden, weit entfernt ſowohl von den Reptilien und Amphibien, als von den eigentlichen Fiſchen. Die Skeletbildung ihrer vier Beine, welche zu kurzen, brei— ten Ruderfloſſen umgeformt ſind (ähnlich wie bei den Fiſchen und Walfiſchen), liefert den klaren Beweis, daß ſich die Haliſaurier früher als die Amphibien von dem Wirbelthierſtamme abgezweigt haben. Denn die Amphibien ſowohl als die drei höheren Wirbelthierklaſſen ſtammen alle von einer gemeinſamen Stammform ab, welche an je— dem Beine nur fünf Zehen oder Finger beſaß. Die Seedrachen da— gegen beſitzen (entweder deutlich entwickelt oder doch in der Anlage des Fußſkelets ausgeprägt) mehr als fünf Finger, wie die Urfiſche. Andrerſeits haben ſie Luft durch Lungen, wie die Dipneuſten geath— met, trotzdem fie beſtändig im Meere umherſchwammen. Sie haben ſich daher, vielleicht im Zuſammenhang mit den Lurchfiſchen, von den Selachiern abgezweigt, aber nicht weiter in höhere Wirbelthiere fortgeſetzt. Sie bilden eine ausgeſtorbene Seitenlinie. Die genauer bekannten Seedrachen vertheilen ſich auf drei, ziem— lich ſtark von einander ſich entfernende Ordnungen, die Urdrachen, Simoſaurier, Pleſioſaurier, Ichthyoſaurier. 523 Fiſchdrachen und Schlangendrachen. Die Urdrachen (Simosauria) ſind die älteſten Seedrachen und lebten bloß während der Triasperiode. Beſonders häufig findet man ihre Skelete im Muſchelkalk, und zwar zahlreiche verſchiedene Gattungen. Sie ſcheinen im Ganzen den Pleſio— ſauren ſehr ähnlich geweſen zu ſein und werden daher wohl auch mit dieſen zu einer Ordnung (Sauropterygia) vereinigt. Die Schlan— gendrachen (Plesiosauria) lebten zuſammen mit den Ichthyoſauren in der Jura- und Kreidezeit. Sie zeichneten ſich durch einen unge— mein langen und ſchlanken Hals aus, welcher oft länger als der ganze Körper war und einen kleinen Kopf mit kurzer Schnauze trug. Wenn ſie den Hals gebogen aufrecht trugen, werden ſie einem Schwane ähnlich geweſen ſein; aber ſtatt der Flügel und Beine hatten ſie zwei paar kurze, platte, ovale Ruderfloſſen. Ganz anders war die Körperform der Fiſchdrachen (Ichthyo- sauria), welche auch wohl als Fiſchfloſſer (Ichthyopterygia) den bei— den vorigen Ordnungen entgegengeſetzt werden. Sie beſaßen einen ſehr langgeſtreckten Fiſchrumpf und einen ſchweren Kopf mit verlänger— ter platter Schnauze, dagegen einen ſehr kurzen Hals. Sie werden. äußerlich gewiſſen Delphinen ſehr ähnlich geweſen ſein. Der Schwanz iſt bei ihnen ſehr lang, bei den vorigen dagegen ſehr kurz. Auch die beiden Paar Ruderfloſſen ſind breiter und zeigen einen weſentlich anderen Bau. Vielleicht haben ſich die Fiſchdrachen und die Schlan— gendrachen als zwei divergente Zweige aus den Urdrachen entwickelt. Vielleicht haben aber auch die Simoſaurier bloß den Pleſioſauriern den Urſprung gegeben, während die Ichthyoſaurier ſich tiefer von dem gemeinſamen Stamme abgezweigt haben. Jedenfalls ſind ſie alle direct oder indirect von den Selachiern abzuleiten. Die nun folgenden Wirbelthierklaſſen, nämlich die Amphibien und die Amnioten (Reptilien, Vögel und Säugethiere) laſſen ſich alle auf Grund ihrer charakteriſtiſchen fünfzehigen Fußbildung (Pentadactylie) von einer gemeinſamen, aus den Selachiern entſprungenen Stammform ableiten, welche an jeder der vier Glied— maßen fünf Zehen beſaß. Wenn hier weniger als fünf Zehen ausge— 524 Panzerlurche oder Phraktamphibien. bildet ſind, ſo müſſen die fehlenden im Laufe der Zeit durch Anpaſ— ſung verloren gegangen ſein. Die älteſten uns bekannten von dieſen fünfzehigen Vertebraten ſind die Lurche (Amphibia). Wir theilen dieſe Klaſſe in zwei Unterklaſſen ein, in die Panzerlurche und Nackt— lurche, von denen die erſteren durch die Bedeckung des Körpers mit Knochentafeln oder Schuppen ausgezeichnet ſind. e Die erſte und ältere Unterklaſſe der Amphibien bilden die Pan— zerlurche (Phractamphibia), die älteſten landbewohnenden Wirbel— thiere, von denen uns foſſile Reſte erhalten ſind. Wohlerhaltene Ver— ſteinerungen derſelben finden ſich ſchon in der Steinkohle vor, nämlich die den Fiſchen noch am nächſten ſtehenden Schmelzköpfe (Gano— cephala), der Archegoſaurus von Saarbrücken, und das Dendrerpe— ton aus Nordamerika. Auf dieſe folgen dann ſpäter die rieſigen Wickelzähner (Labyrinthodonta), ſchon im permiſchen Syſtem durch Zygoſaurus, ſpäter aber vorzüglich in der Trias durch Maſto— donſaurus, Trematoſaurus, Kapitoſaurus u. ſ. w. vertreten. Dieſe furchtbaren Raubthiere ſcheinen in der Körperform zwiſchen den Kro— kodilen, Salamandern und Fröſchen in der Mitte geſtanden zu haben, waren aber den beiden letzteren mehr durch ihren inneren Bau ver— wandt, während ſie durch die feſte Panzerbedeckung mit ſtarken Kno— chentafeln den erſteren glichen. Schon gegen Ende der Triaszeit ſcheinen dieſe gepanzerten Rieſenlurche ausgeſtorben zu ſein. Aus der ganzen folgenden Zeit kennen wir keine Verſteinerungen von Panzerlurchen. Daß dieſe Unterklaſſe jedoch während deſſen noch lebte und niemals ganz ausſtarb, beweiſen die heute noch lebenden Blindwühlen oder Caecilien (Peromela), kleine beſchuppte Phrakt— amphibien von der Form und Lebensweiſe des Regenwurms. Die zweite Unterklaſſe der Amphibien, die Nacktlurche (Liss- amphibia), entſtanden wahrſcheinlich ſchon während der primären oder ſecundären Zeit, obgleich wir foſſile Reſte derſelben erſt aus der Tertiärzeit kennen. Sie unterſcheiden ſich von den Panzerlurchen durch ihre nackte, glatte, ſchlüpfrige Haut, welche jeder Schuppen- oder Panzerbedeckung entbehrt. Sie entwickelten ſich vermuthlich entwe— Nacktlurche oder Liſſamphibien. 525 der aus einem Zweige der Phraktamphibien oder aus gemeinſamer Wurzel mit dieſen. Die drei Ordnungen von Nacktlurchen, welche noch jetzt leben, die Kiemenlurche, Schwanzlurche und Froſchlurche, wiederholen uns noch heutzutage in ihrer individuellen Entwickelung ſehr deutlich den hiſtoriſchen Entwickelungsgang der ganzen Unterklaſſe. Die älteſten Formen find die Kiemenlurche (Sozobranchia), welche zeitlebens auf der urſprünglichen Stammform der Nacktlurche ſtehen bleiben und einen langen Schwanz nebſt waſſerathmenden Kiemen beibehalten. Sie ſtehen am nächſten den Dipneuſten, von denen ſie ſich aber ſchon äußerlich durch den Mangel des Schuppenkleides unter— ſcheiden. Die meiſten Kiemenlurche leben in Nordamerika, unter an— deren der früher erwähnte Axolotl oder Siredon (vergl. oben S. 215). In Europa iſt dieſe Ordnung nur durch eine Form vertreten, durch den berühmten Olm (Proteus anguineus), welcher die Adelsberger Grotte und andere Höhlen Krains bewohnt, und durch den Aufent— halt im Dunkeln rudimentäre Augen bekommen hat, die nicht mehr ſehen können (ſ. oben S. 13). Aus den Kiemenlurchen hat ſich durch Verluſt der äußeren Kiemen die Ordnung der Schwanzlurche (So- zura) entwickelt, zu welcher unſer ſchwarzer, gelbgefleckter Landſala— mander (Salamandra maculata) und unſere flinken Waſſermolche (Triton) gehören. Manche von ihnen, z. B. der berühmte Rieſen— molch von Japan (Cryptobranchus japonicus) haben noch die Kie— menſpalte beibehalten, trotzdem ſie die Kiemen ſelbſt verloren haben. Alle aber behalten den Schwanz zeitlebens. Bisweilen conſerviren die Tritonen auch die Kiemen und bleiben ſo ganz auf der Stufe der Kiemenlurche ſtehen, wenn man ſie nämlich zwingt, beſtändig im Waſſer zu bleiben (vergl. oben S. 215). Die dritte Ordnung, die Schwanzloſen oder Froſchlurche (Anura), verlieren bei der Meta— morphoſe nicht nur die Kiemen, durch welche ſie in früher Jugend (als ſogenannte „Kaulquappen“) Wäſſer athmen, ſondern auch den Schwanz, mit dem ſie umherſchwimmen. Sie durchlaufen alſo wäh— rend ihrer Ontogenie den Entwickelungsgang der ganzen Unterklaſſe, indem ſie zuerſt Kiemenlurche, ſpäter Schwanzlurche, und zuletzt 526 Amnionthiere (Amnioten) und Amnionloſe (Anamnien). Froſchlurche ſind. Offenbar ergiebt ſich daraus, daß die Froſchlurche ſich erſt jpäter aus den Schwanzlurchen, wie dieſe ſelbſt aus den ur— ſprünglich allein vorhandenen Kiemenlurchen entwickelt haben. Indem wir nun von den Amphibien zu der nächſten Wirbelthier— klaſſe, den Reptilien übergehen, bemerken wir eine ſehr bedeutende Vervollkommnung in der ſtufenweiſe fortſchreitenden Organiſation der Wirbelthiere. Alle bisher betrachteten Paarnaſen oder Amphirrhinen, und namentlich die beiden großen Klaſſen der Fiſche und Lurche, ſtim— men in einer Anzahl von wichtigen Charakteren überein, durch welche ſie ſich von den drei noch übrigen Wirbelthierklaſſen, den Reptilien, Vögeln und Säugethieren, ſehr weſentlich unterſcheiden. Bei dieſen letzteren bildet ſich während der embryonalen Entwicke— lung rings um den Embryo eine von ſeinem Nabel auswachſende beſondere zarte Hülle, die Fruchthaut oder das Amnion, welche mit dem Fruchtwaſſer oder Amnionwaſſer gefüllt iſt, und in dieſem das Embryon oder den Keim blaſenförmig umſchließt. Wegen dieſer ſehr wichtigen und charakteriſtiſchen Bildung können wir jene drei höchſt entwickelten Wirbelthierklaſſen als Amnionthiere (Amniota) zuſammenfaſſen. Die vier ſoeben betrachteten Klaſſen der Paarnaſen dagegen, denen das Amnion, ebenſo wie allen niederen Wirbel— thieren (Unpaarnaſen und Schädelloſen) fehlt, können wir jenen als Amnionloſe (Anamnia) entgegenſetzen. Die Bildung der Fruchthaut oder des Amnion, durch welche ſich die Reptilien, Vögel und Säugethiere von allen anderen Wirbelthie— ren unterſcheiden, iſt offenbar ein höchſt wichtiger Vorgang in der Ontogenie und der ihr entſprechenden Phylogenie der Wirbelthiere. Er fällt zuſammen mit einer Reihe von anderen Vorgängen, welche weſentlich die höhere Entwickelung der Amnionthiere beſtimmten. Dahin gehört vor allen der gänzliche Verluſt der Kiemen, deſſenwegen man ſchon früher die Amnioten als Kiemenloſe (Ebranchiata) allen übrigen Wirbelthieren als Kiemenathmenden (Branchiata) entgegengeſetzt hatte. Bei allen bisher betrachteten Wir— belthieren fanden ſich athmende Kiemen entweder zeitlebens, oder doch Entſtehung der Amnionthiere aus Ammionloſen. 527 wenigſtens, wie bei Fröſchen und Molchen, in früher Jugend. Bei den Reptilien, Vögeln und Säugethieren dagegen kommen zu keiner Zeit des Lebens wirklich athmende Kiemen vor, und die auch hier vorhandenen Kiemenbogen geſtalten ſich im Laufe der Ontogenie zu ganz anderen Gebilden, zu Theilen des Kieferapparats und des Ge— hörorgans (vergl. oben S. 274). Alle Amnionthiere beſitzen im Ge— hörorgan eine ſogenannte „Schnecke“ und ein dieſer entſprechendes „rundes Fenſter“. Dieſe Theile fehlen dagegen den Amnionloſen. Bei dieſen letzteren liegt der Schädel des Embryon in der gradlinigen Fortſetzung der Wirbelſäule. Bei den Amnionthieren dagegen erſcheint die Schädelbaſis von der Bauchſeite her eingeknickt, ſo daß der Kopf auf die Bruſt herabſinkt (Taf. III, Fig. C, D, G, I). Auch ent— wickeln ſich erſt bei den Amnioten die Thränenorgane im Auge. Wann fand nun im Laufe der organiſchen Erdgeſchichte dieſer wichtige Vorgang ſtatt? Wann entwickelte ſich aus einem Zweige der Amnionloſen (und zwar jedenfalls aus einem Zweige der Am— phibien) der gemeinſame Stammvater aller Amnionthiere? Auf dieſe Frage geben uns die verſteinerten Wirbelthierreſte zwar keine ganz beſtimmte, aber doch eine annähernde Antwort. Mit Ausnahme nämlich von zwei im permiſchen Syſteme gefundenen eidech— ſenähnlichen Thieren (dem Proteroſaurus und Rhopalodon) gehören alle übrigen verſteinerten Reſte, welche wir bis jetzt von Amnion— thieren kennen, der Secundärzeit, Tertiärzeit und Quar— tärzeit an. Von jenen beiden Wirbelthieren aber iſt es noch zweifel— haft, ob ſie ſchon wirkliche Reptilien und nicht vielleicht ſalamander— ähnliche Amphibien ſind. Wir kennen von ihnen allein das Skelet, und dies nicht einmal vollſtändig. Da wir nun von den entſchei— denden Merkmalen der Weichthiere gar Nichts wiſſen, ſo iſt es wohl möglich, daß der Proteroſaurus und der Rhopalodon noch amnion— loſe Thiere waren, welche den Amphibien näher als den Reptilien ſtanden, vielleicht auch zu den Uebergangsformen zwiſchen beiden Klaſſen gehörten. Da aber andrerſeits unzweifelhafte Amnionthiere bereits in der Trias verſteinert vorgefunden werden, ſo iſt es wahr— 528 Wahrſcheinliche Entſtehungszeit der Amnioten. ſcheinlich, daß die Hauptklaſſe der Amnioten ſich erſt in der Triaszeit, im Beginn des meſolithiſchen Zeitalters, entwickelte. Wie wir ſchon früher ſahen, iſt offenbar gerade die— ſer Zeitraum einer der wichtigſten Wendepunkte in der organiſchen Erdgeſchichte. An die Stelle der paläolithiſchen Farnwälder traten damals die Nadelwälder der Trias. In vielen Abtheilungen der wirbelloſen Thiere traten wichtige Umgeſtaltungen ein: Aus den ge— täfelten Seelilien Phatnocrina) entwickelten ſich die gegliederten (Co— locrina). Die Autechiniden oder die Seeigel mit zwanzig Platten— reihen traten an die Stelle der paläolithiſchen Palechiniden, der See— igel mit mehr als zwanzig Plattenreihen. Die Cyſtideen, Blaſtoi— deen, Trilobiten und andere charakteriſtiſche wirbelloſe Thiergruppen der Primärzeit waren ſo eben ausgeſtorben. Kein Wunder, wenn die umgeſtaltenden Anpaſſungsverhältniſſe im Beginn der Triaszeit auch auf den Wirbelthierſtamm mächtig einwirkten, und die Entſtehung der Amnionthiere veranlaßten. Wenn man dagegen die beiden eidechſen- oder falamanderähn- lichen Thiere der Permzeit, den Proteroſaurus und den Rhopalodon, als echte Reptilien, mithin als die älteſten Amnioten betrachtet, ſo würde die Entſtehung dieſer Hauptklaſſe bereits um eine Periode früher, gegen das Ende der Primärzeit fallen, in die permiſche Pe— riode. Alle übrigen Reptilienreſte aber, welche man früher im per— miſchen, im Steinkohlenſyſtem oder gar im devoniſchen Syſteme ge— funden zu haben glaubte, haben ſich entweder nicht als Reptilien— reſte, oder als viel jüngeren Alters (meiſtens der Trias angehörig) herausgeſtellt. (Vergl. Taf. XIV.) Die gemeinſame hypothetiſche Stammform aller Amnionthiere, welche wir als Protamnion bezeichnen können, und welche mög— licherweiſe dem Proteroſaurus nahe verwandt war, ſtand vermuthlich im Ganzen hinſichtlich ihrer Körperbildung in der Mitte zwiſchen den Salamandern und Eidechſen. Ihre Nachkommenſchaft ſpaltete ſich | ſchon frühzeitig in zwei verſchiedene Linien, von denen die eine die . en — Ar, Schönfiingsgesch. Atti. Tu / 5 UST . laupfklassen 0 = — . ane Unpaar- | Amnionlose | Paarnasen oder Amphirrhinen Amnionthiere. ] Paarnasen oder Amphirrhinen ’ [Krochordalal(Acrania)| nasen | Anammia.) mit Kiemen, ohne Amnion. Amniota Klassen oder (Monorrhina' mit Amnion, ohne Kiemen. ıdUnterklassen| Vorfahren Rohr- | oder Perm- Periode. . S ff!!! | See Schleicher. Reptilia. Feier Fe Be 75 Yünche)Sehmer- ER fische. drachen, Anl - er ER Schlangen read 1 1 e, e. 1 N En. , cardia) Cyclostoma. Selachit. Ganoides, Teleostei., yneusta. Halisanri e 75 ‚. \Onhidia.\| (ia. relonin. 5 1 1 8 | 8 f m N m ul | m INN u WU x M So 0 N ö 1 N | I | 9 \ 0 0 8 Al. IN la) 12 8 | = A un 5 IN | 1 N 00 0 \ 5 ö ö 0 AI 0 10% 107% \ 75 N 0 UN) . N IM x 0 00 0 Ai) \ 00 ; ir 160% %%%, IN 1 10 a f . 8 Trias- wi | ) 2 :S| Periode. - 122 Steinkohlen“ Periode. un a ne Frünaeres Devon- Periode. 41 WW Ve ng Silurische || Relative Länge der 3 Ss Periode. 0 Einheitlicher t Zeitalter in Frocenten: De ya oder monophyletischer . Auartär-Zeit d N i 0 0% %%% 85 W Tertiär-Zet 33 8 e % i z Sin mmbaum M. SceundärZett fe rode. . f f f U Frünär- Zeit 331 J — N % Hull N « 5 3 INN! ) 1 | 5 | ee f S Laurentische 11 | palaeontologisch begründet. Seren AR 3 | | | ‚Periode. | % | | | 7 2 R 55 1 b. hie Sn Da GENE Schleicher (Reptilien oder Saurier). 529 gemeinſame Stammform der Reptilien und Vögel, die andere die Stammform der Säugethiere wurde. Die Schleicher (Reptilia oder Pholidota, auch Sauria im weiteſten Sinne genannt) bleiben von allen drei Klaſſen der Amnion— thiere auf der tiefſten Bildungsſtufe ſtehen und entfernen ſich am we— nigſten von ihren Stammvätern, den Amphibien. Daher wurden ſie früher allgemein zu dieſen gerechnet, obwohl ſie in ihrer ganzen Organiſation viel näher den Vögeln als den Amphibien verwandt ſind. Gegenwärtig leben von den Reptilien nur noch vier Ordnun— gen, nämlich die Eidechſen, Schlangen, Krokodile und Schildkröten. Dieſe bilden aber nur noch einen ſchwachen Reſt von der ungemein mannichfaltig und bedeutend entwickelten Reptilienſchaar, welche wäh— rend der meſolithiſchen oder Secundärzeit lebte und damals alle an— deren Wirbelthierklaſſen beherrſchte. Die ausnehmende Entwickelung der Reptilien während der Secundärzeit iſt ſo charakteriſtiſch, daß wir dieſe danach eben ſo gut, wie nach den Gymnoſpermen benennen konnten (S. 343). Von den 27 Unterordnungen, welche die nach— ſtehende Tabelle Ihnen vorführt, gehören 12, und von den acht Ord— nungen gehören vier ausſchließlich der Secundärzeit an. Dieſe meſo— lithiſchen Gruppen find durch ein F bezeichnet. Mit einziger Aus— nahme der Schlangen finden ſich alle Ordnungen ſchon im Jura oder der Trias verſteinert vor. In der erſten Ordnung, den Stammreptilien oder Stamm— ſchleichern (Tocosauria), faſſen wir die ausgeſtorbenen Fach— zähner (Thecodontia) der Triaszeit mit denjenigen Reptilien zuſam— men, welche wir als die gemeinſame Stammform der ganzen Klaſſe betrachten können. Zu dieſen letzteren, welche wir als Urſchleicher (Proreptilia) bezeichnen können, gehört möglicherweiſe der Protero— ſaurus des permiſchen Syſtems. Die ſieben übrigen Ordnungen ſind als divergente Zweige aufzufaſſen, welche ſich aus jener gemeinſamen Stammform nach verſchiedenen Richtungen hin entwickelt haben. Die Thecodonten der Trias, die einzigen ſicher bekannten foſſilen Reſte von Tocoſauriern, waren Eidechſen, welche den heute noch lebenden Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 34 530 Schleicher (Reptilien oder Saurier). Monitoren oder Warneidechſen (Monitor, en ziemlich ähnlich geweſen zu ſein ſcheinen. Unter den vier Schleicherordnungen, welche gegenwärtig noch leben, und welche ſchon ſeit Beginn der Tertiärzeit allein die Klaſſe vertreten haben, ſchließen ſich die Eidechſen (Lacertilia) wahr⸗ ſcheinlich am nächſten an die ausgeſtorbenen Stammreptilien an, be— ſonders durch die ſchon genannten Monitoren. Aus einem Zweige der Eidechſenordnung hat ſich die Abtheilung der Schlangen (Ophi— dia) entwickelt, und zwar wahrſcheinlich erſt im Beginn der Tertiär— zeit. Wenigſtens kennt man verſteinerte Schlangen bis jetzt bloß aus tertiären Schichten. Viel früher find die Krokodile (Crocodilia) entſtanden, von denen die Teleoſaurier und Steneoſaurier maſſen— haft verſteinert ſchon im Jura gefunden werden; die jetzt allein noch lebenden Alligatoren dagegen kommen erſt in den Kreide- und Ter— tiärſchichten foſſil vor. Am meiſten iſolirt unter den vier lebenden Reptilienordnungen ſteht die merkwürdige Gruppe der Schildkrö— ten (Chelonia). Dieſe ſonderbaren Thiere kommen zuerſt verſteinert im Jura vor. Sie nähern ſich durch einige Charaktere den Amphi bien, durch andere den Krokodilen, und durch gewiſſe Eigenthüm— lichkeiten ſogar den Vögeln, ſo daß ihr wahrer Platz im Stamm— baum der Reptilien wahrſcheinlich tief unten an der Wurzel liegt. Höchſt auffallend iſt die außerordentliche Aehnlichkeit, welche ihre Em— bryonen ſelbſt noch in ſpäteren Stadien der Ontogeneſis mit den Vögeln zeigen (vergl. Taf. II und III). Die vier ausgeſtorbenen Reptilienordnungen zeigen unter ein— ander und mit den eben angeführten vier lebenden Ordnungen ſo mannichfaltige und verwickelte Verwandtſchaftsbeziehungen, daß wir bei dem gegenwärtigen Zuſtande unſerer Kenntniß noch gänzlich auf die Aufſtellung eines Stammbaums verzichten müſſen. Eine der ab— weichendſten und merkwürdigſten Formen bilden die berühmten Flug— reptilien (Pterosauria); fliegende Eidechſen, bei denen der außer— ordentlich verlängerte fünfte Finger der Hand als Stütze einer ge— waltigen Flughaut diente. Sie flogen in der Secundärzeit wahr⸗ Syſtematiſche Ueberſicht der 8 Ordnungen und 27 Unterordnungen der Reptilien. 531 34 (Die mit einem 7 bezeichneten Gruppen find ſchon während der Secundärzeit ausgeſtorben.) Ordnungen | Anterordnungen Hyſtematiſcher in Gat- der der Name der fungsname Meptilin | Reptilien Anterordnungen als Beifpiel Stan tepten 1. Urſchleicher 1. Proreptilia + Se Tocosauri Ri 2, Fachzähner 2. Thecodontia + Palaeosaurus 3. Spaltzüngler 3. Fissilingues Monitor Il. Eidechsen 4. Dickzüngler 4. Crassilirigues Iguana Lacertilia 5. Kurzzüngler 5. Brevilingues Anguis 6. Ringeleidechſen 6. Glyptodermata Amphisbaena 7. Chamaeleonen 7. Vermilingues Chamaeleo 8. Nattern 8. Aglyphodonta Coluber UI. Schlangen 95 Baumſchlangen 9. Opisthoglypha Dipsas f ophidia 10. Giftnattern 10. Proteroglypha Hydrophis £ 11. Ottern 11. Solenoglypha Vipera 12. Wurmſchlangen 12. Opoterodonta Typhlops IV. Crocodile 13. Amphicoelen 13. Teleosauria ' Teleosaurus Crocodilia 14. Opiſthocoelen 14. Steneosauria + Steneosaurus 15. Proſthocoelen 15. Alligatores Alligator 16. Seeſchildkröten 16. Thalassita Chelone V. Schildkröten 17. Flußſchildkröten 17. Potamita Trionyx Chelonia 805 Sumpfſchildkröten 18. Elodita Emys 19. Landſchildkröten 19. Chersita Testudo 20. Langſchwänzige 20. Rbamphorhynchi + Rhampho- VI. Flugreptilien Flugeidechſen rhynchus Pterosauria + 21. Kurzſchwänzige 21. Pterodactyli + Pterodaetylus Flugeidechſen VII. Drachen 585 Rieſendrachen 22. Harpagosauria + Megalosaurus Dinosauria + 23. Elephantendrachen 23. Therosauria + Iguanodon 24. Hundszähner 24. Cynodontia + Dieynodon VIII. Schnabel \25. Fehlzähner 25. Cryptodontia + Udenodon reptilien 26. Känguruhſchleicher 26. Hypsosauria + Compsogna- Anomodontia + thus 27. Vogelſchleicher 27. Tocornithes + (Tocornis) 532 Schleicher (Reptilien oder Saurier). ſcheinlich in ähnlicher Weile umher, wie jetzt die Fledermäuſe. Die kleinſten Flugeidechſen hatten ungefähr die Größe eines Sperlings. Die größten Pteroſaurier aber, mit einer Klafterweite der Flügel von mehr als 16 Fuß, übertrafen die größten jetzt lebenden fliegenden Vögel (Condor und Albatros) an Umfang. Ihre verſteinerten Reſte, die langſchwänzigen Rhamphorhynchen und die kurzſchwänzigen Ptero— dactylen, finden ſich zahlreich verſteinert in allen Schichten der Jura— und Kreidezeit, aber nur in dieſen vor. f Nicht minder merkwürdig und für das meſolithiſche Zeitalter charakteriſtiſch war die Gruppe der Drachen oder Lindwürmer (Dinosauria oder Pachypoda). Dieſe koloſſalen Reptilien, welche eine Länge von mehr als 50 Fuß erreichten, ſind die größten Land— bewohner, welche jemals unſer Erdball getragen hat. Sie lebten ausſchließlich in der Secundärzeit. Die meiſten Reſte derſelben fin— den ſich in der unteren Kreide, namentlich in der Wälderformation Englands. Die Mehrzahl waren furchtbare Raubthiere (Megalo— ſaurus von 20—30, Peloroſaurus von 40—60 Fuß Länge). Igua⸗ nodon jedoch und einige andere lebten von Pflanzennahrung und ſpielten in den Wäldern der Kreidezeit wahrſcheinlich eine ähnliche Rolle, wie die ebenſo ſchwerfälligen, aber kleineren Elephanten, Fluß— pferde und Nashörner der Gegenwart. Vielleicht den Drachen nahe verwandt waren die ebenfalls längſt ausgeſtorbenen Schnabelreptilien (Anomodontia), von denen ſich viele merkwürdige Reſte in der Trias und im Jura finden. Die Kiefer waren bei ihnen, ähnlich wie bei den meiſten Flugreptilien und Schildkröten, zu einem Schnabel umgebildet, der entweder nur verkümmerte Zahnrudimente oder gar keine Zähne mehr trug. In dieſer Ordnung (wenn nicht in der vorhergehenden) müſſen wir die Stammeltern der Vögelklaſſe ſuchen, die wir mit dem Namen der Vogelreptilien (Tocornithes) bezeichnen können. Dieſen letzteren wahr— ſcheinlich ſehr nahe verwandt war der ſonderbare, känguruhähnliche Kompſognathus aus dem Jura, der in ſehr wichtigen Charakteren bereits eine Annäherung an den Vogelkörperbau zeigt. Abſtammung der Vögel von den Reptilien. 533 Die Klaſſe der Vögel (Aves) iſt, wie ſchon bemerkt, durch ihren inneren Bau und durch ihre embryonale Entwickelung den Reptilien ſo nahe verwandt, daß ſie ohne allen Zweifel aus einem Zweige dieſer Klaſſe wirklich ihren Urſprung genommen hat. Wie Ihnen allein ſchon ein Blick auf Taf. II und III zeigt, find die Em- bryonen der Vögel zu einer Zeit, in der ſie bereits ſehr weſentlich von den Embryonen der Säugethiere verſchieden erſcheinen, von denen der Schildkröten und anderer Reptilien noch kaum zu unterſcheiden. Die Dotterfurchung iſt bei den Vögeln und Reptilien partiell, bei den Säugethieren total. Die rothen Blutzellen der erſteren beſitzen einen Kern, die der letzteren dagegen nicht. Die Haare der Säugethiere entwickeln ſich in anderer Weiſe, als die Federn der Vögel und die Schuppen der Reptilien. Der Unterkiefer der letzteren iſt viel ver— wickelter zuſammengeſetzt, als derjenige der Säugethiere. Auch fehlt dieſen letzteren das Quadratbein der erſteren. Während bei den Säugethieren (wie bei den Amphibien) die Verbindung zwiſchen dem Schädel und dem erſten Halswirbel durch zwei Gelenkhöcker oder Con— dylen geſchieht, ſind dieſe dagegen bei den Vögeln und Reptilien zu einem einzigen verſchmolzen. Man kann die beiden letzteren Klaſſen daher mit vollem Rechte in einer Gruppe als Monocondylia zufam- menfaſſen und dieſer die Säugethiere als Dicondylia gegenüber ſetzen. Die Abzweigung der Vögel von den Reptilien fand jedenfalls erſt während der meſolithiſchen Zeit, und zwar wahrſcheinlich wäh— rend der Triaszeit ſtatt. Die älteſten foſſilen Vogelreſte ſind im obe— ren Jura gefunden worden (Archaeopteryx). Aber ſchon in der Triaszeit lebten verſchiedene Saurier (Anomodonten), die in mehr— facher Hinſicht den Uebergang von den Tocoſauriern zu den Stamm— vätern der Vögel, den hypothetiſchen Tocornithen, zu bilden ſcheinen. Wahrſcheinlich waren dieſe Tocornithen von anderen Schnabeleidechſen im Syſteme kaum zu trennen, und namentlich dem känguruhartigen Compsognathus aus dem Jura von Solenhofen nächſt verwandt. Huxley ſtellt dieſen letzteren zu den Dinoſauriern, und glaubt, daß dieſe die nächſten Verwandten der Tocornithen ſeien. 534 Fiederſchwänzige Vögel (Archäopteryr). Die große Mehrzahl der Vögel erſcheint, trotz aller Mannichfal— tigkeit in der Färbung des ſchönen Federkleides und in der Bildung des Schnabels und der Füße, höchſt einförmig organiſirt, in ähn— licher Weiſe, wie die Inſectenklaſſe. Den äußeren Exiſtenzbedingun— gen hat ſich die Vogelform auf das Vielfältigſte angepaßt, ohne dabei irgend weſentlich von dem ſtreng erblichen Typus der charakte— riſtiſchen inneren Bildung abzuweichen. Nur zwei kleine Gruppen, einerſeits die fiederſchwänzigen Vögel (Saururae), andrerſeits die ſtraußartigen (Ratitae), entfernen ſich erheblich von dem gewöhn— lichen Vogeltypus, dem der kielbrüſtigen (Carinatae), und demnach kann man die ganze Klaſſe in drei Unterklaſſen eintheilen. Die erſte Unterklaſſe, die reptilienſchwänzigen oder fie— derſchwänzigen Vögel (Saururae) find bis jetzt bloß durch einen einzigen und noch dazu unvollſtändigen foſſilen Abdruck bekannt, wel— cher aber als die älteſte und dabei ſehr eigenthümliche Vogelverſteine— rung eine hohe Bedeutung beanſprucht. Das iſt der Urgreif oder die Archaeopteryx lithographica, welche bis jetzt erſt in einem Exem— plar in dem lithographiſchen Schiefer von Solenhofen, im oberen Jura von Baiern, gefunden wurde. Dieſer merkwürdige Vogel ſcheint im Ganzen Größe und Wuchs eines ſtarken Raben gehabt zu haben, namentlich was die wohl erhaltenen Beine betrifft; Kopf und Bruſt fehlen leider. Die Flügelbildung weicht ſchon etwas von der— jenigen der anderen Vögel ab, noch viel mehr aber der Schwanz. Bei allen übrigen Vögeln iſt der Schwanz ſehr kurz, aus wenigen kurzen Wirbeln zuſammengeſetzt. Die letzten derſelben ſind zu einer dünnen, ſenkrecht ſtehenden Knochenplatte verwachſen, an welcher ſich die Steuerfedern des Schwanzes fächerförmig anſetzen. Die Ar— chäopteryx dagegen hat einen langen Schwanz, wie die Eidechſen, aus zahlreichen (20) langen und dünnen Wirbeln zuſammengeſetzt, und an jedem Wirbel ſitzen zweizeilig ein paar ſtarke Steuerfedern, ſo daß der ganze Schwanz regelmäßig gefiedert erſcheint. Dieſelbe Bildung der Schwanzwirbelſäule zeigt ſich bei den Embryonen der übrigen Vögel vorübergehend, ſo daß offenbar der Schwanz der Fächerſchwänzige und büſchelſchwänzige Vögel. 535 Archäopteryx die urſprüngliche, von den Reptilien ererbte Form des Vogelſchwanzes darſtellt. Wahrſcheinlich lebten ähnliche Vögel mit Eidechſenſchwanz um die mittlere Secundärzeit in großer Menge; der Zufall hat uns aber erſt dieſen einen Reſt bis jetzt enthüllt. Zu den fächerſchwänzigen oder kielbrüſtigen Vögeln (Carinatae), welche die zweite Unterklaſſe bilden, gehören alle jetzt lebenden Vögel, mit Ausnahme der ſtraußartigen oder Ratiten. Sie haben ſich wahrſcheinlich in der zweiten Hälfte der Secundärzeit, in der Jurazeit oder in der Kreidezeit, aus den fiederſchwänzigen durch Ver— wachſung der hinteren Schwanzwirbel und Verkürzung des Schwan— zes entwickelt. Aus der Secundärzeit kennt man von ihnen nur ſehr wenige Reſte, und zwar nur aus dem letzten Abſchnitt derſelben, aus der Kreide. Dieſe Reſte gehören einem albatrosartigen Schwimmvogel und einem ſchnepfenartigen Stelzvogel an. Alle übrigen bis jetzt be— kannten verſteinerten Vogelreſte ſind in den Tertiärſchichten gefunden. Die ſtraußartigen oder büſchelſchwänzigen Vögel (Ra— titae), auch Laufvögel (Cursores) genannt, die dritte und letzte Unterklaſſe, iſt gegenwärtig nur noch durch wenige lebende Arten ver— treten, durch den zweizehigen afrikaniſchen Strauß, den dreizehigen amerikaniſchen und neuholländiſchen Strauß, den indiſchen Caſuar, und den vierzehigen Kiwi oder Apteryx von Neuſeeland. Auch die ausgeſtorbenen Rieſenvögel von Madagaskar (Aepyornis) und von Neuſeeland (Dinornis), welche viel größer waren als die jetzt lebenden größten Strauße, gehören zu dieſer Gruppe. Wahrſcheinlich ſind die ſtraußartigen Vögel durch Abgewöhnung des Fliegens, durch die da— mit verbundene Rückbildung der Flugmuskeln und des denſelben zum Anſatz dienenden Bruſtbeinkammes, und durch entſprechend ſtärkere Ausbildung der Hinterbeine zum Laufen, aus einem Zweige der kiel— brüſtigen Vögel entſtanden. Vielleicht ſind dieſelben jedoch auch, wie Huxley meint, nächſte Verwandte der Dinoſaurier, und der dieſen naheſtehenden Reptilien, namentlich des Kompſognathus. Je— denfalls iſt die gemeinſame Stammform aller Vögel unter den aus— geſtorbenen Reptilien zu ſuchen. Einundzwanzigſter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. IV. Sängethiere. Syſtem der Säugethiere nach Linns und nach Blainville. Drei Unterklaſſen der Säugethiere (Ornithodelphien, Didelphien, Monodelphien). Ornithodelphien oder Monotremen. Schnabelthiere (Ornithoſtomen). Didelphien oder Marſupialien. Pflanzenfreſſende und fleiſchfreſſende Beutelthiere. Monodelphien oder Placentalien (Placentalthiere). Bedeutung der Placenta. Zottenplacentner. Gürtelplacentner. Scheibenplacentner. Deeidualoſe oder Indeeiduen. Hufthiere. Unpaarhufer und Paarhufer. Walthiere. Zahnarme. Deciduathiere oder Deciduaten. Halbaffen. Nagethiere. Scheinhufer. Inſectenfreſſer. Raubthiere. Flederthiere. Affen. Meine Herren! Es giebt nur wenige Anſichten in der Syſte— matik der Organismen, über welche die Naturforſcher von jeher einig geweſen ſind. Zu dieſen wenigen unbeſtrittenen Punkten gehört die bevorzugte Stellung der Säugethierklaſſe an der Spitze des Thier— reichs. Der Grund dieſes Privilegiums liegt theils in dem beſon— deren Intereſſe, dem mannichfaltigen Nutzen und dem vielen Ver— gnügen, das in der That die Säugethiere mehr als alle anderen Thiere dem Menſchen darbieten, theils und noch mehr aber in dem Umſtande, daß der Menſch ſelbſt ein Glied dieſer Klaſſe iſt. Denn wie verſchie— denartig auch ſonſt die Stellung des Menſchen in der Natur und im Syſtem der Thiere beurtheilt worden iſt, niemals iſt je ein Natur- forſcher darüber in Zweifel geweſen, daß der Menſch, mindeſtens rein morphologiſch betrachtet, zur Klaſſe der Säugethiere gehöre. Syſtem der Säugethiere nach Linné und nach Blainville. 537 Daraus folgt aber für uns ohne Weiteres der höchſt bedeutende Schluß, daß der Menſch auch ſeiner Blutsverwandtſchaft nach ein Glied dieſer Thierklaſſe iſt, und aus längſt ausgeſtorbenen Säuge— thierformen ſich hiſtoriſch entwickelt hat. Dieſer Umſtand allein ſchon wird es rechtfertigen, daß wir hier der Geſchichte und dem Stamm— baum der Säugethiere unſere beſondere Aufmerkſamkeit zuwenden. Laſſen Sie uns zu dieſem Zwecke wieder zunächſt das Syſtem dieſer Thierklaſſe unterſuchen. Von den älteren Naturforſchern wurde die Klaſſe der Säuge— thiere mit vorzüglicher Rückſicht auf die Bildung des Gebiſſes und der Füße in eine Reihe von S— 16 Ordnungen eingetheilt. Auf der tiefften Stufe dieſer Reihe ſtanden die Walfiſche, welche durch ihre fiſchähnliche Körpergeſtalt ſich am meiſten vom Menſchen, der höch— ſten Stufe zu entfernen ſchienen. So unterſchied Linné folgende acht Ordnungen: 1. Cete (Wale); 2. Belluae (Flußpferde und Pferde); 3. Pecora (Wiederkäuer); 4. Glires (Nagethiere und Nashorn); 5. Be- stiae (Inſectenfreſſer, Beutelthiere und verſchiedene Andere); 6. Ferae (Raubthiere); 7. Bruta (Zahnarme und Elephanten); S. Primates (Fledermäuſe, Halbaffen, Affen und Menſchen). Nicht viel über dieſe Klaſſifikation von Linné erhob ſich diejenige von Cuvier, welche für die meiſten folgenden Zoologen maßgebend wurde. Cuvier un— terſchied folgende acht Ordnungen: 1. Cetacea (Wale); 2. Rumi- nantia (Wiederkäuer); 3. Pachyderma (Hufthiere nach Ausſchluß der Wiederkäuer); 4. Edentata (Zahnarme); 5. Rodentia (Nage— thiere); 6. Carnassia (Beutelthiere, Raubthiere, Inſectenfreſſer und Flederthiere); 7. Quadrumana (Halbaffen und Affen); 8. Bimana (Menſchen). ö Den bedeutendſten Fortſchritt in der Klaſſification der Säuge— thiere that ſchon 1816 der ausgezeichnete, bereits vorher erwähnte Anatom Blainville, welcher zuerſt mit tiefem Blick die drei natür— lichen Hauptgruppen oder Unterklaſſen der Säugethiere erkannte, und ſie nach der Bildung ihrer Fortpflanzungsorgane als Ornithodel— phien, Didelphien und Monodelphien unterſchied. Da dieſe 538 Schnabelthiere (Ornithoftomen). Stammſäuger (Promammalien). Eintheilung heutzutage mit Recht bei allen wiſſenſchaftlichen Zoologen wegen ihrer tiefen Begründung durch die Entwickelungsgeſchichte als die beſte gilt, ſo laſſen Sie uns derſelben auch hier folgen. Die erſte Unterklaſſe bilden die Kloakenthiere oder Bruſt— loſen, auch Gabler oder Gabelthiere genannt (Monotrema oder Ornithodelphia). Sie ſind heute nur noch durch zwei lebende Säugethierarten vertreten, die beide auf Neuholland und das benach— barte Vandiemensland beſchränkt find: das wegen ſeines Vogelſchna— bels ſehr bekannte Waſſerſchnabelthier (Ornithorhynchus para- doxus) und das weniger bekannte, igelähnliche Landſchnabelthier (Echidna hystrix). Dieſe beiden ſeltſamen Thiere, welche man in der Ordnung der Schnabelthiere (Ornithostoma) zuſammenfaßt, ſind offenbar die letzten überlebenden Reſte einer vormals formenrei— chen Thiergruppe, welche in der älteren Secundärzeit allein die Säu— gethierklaſſe vertrat, und aus der ſich erſt ſpäter, wahrſcheinlich in der Jurazeit, die zweite Unterklaſſe, die Didelphien entwickelten. Leider ſind uns von dieſer älteſten Stammgruppe der Säugethiere, welche wir als Stammſäuger (Promammalia) bezeichnen wollen, bis jetzt noch keine foſſilen Reſte mit voller Sicherheit bekannt. Doch ge— hören dazu möglicherweiſe die älteſten bekannten von allen verſteiner— ten Säugethieren, nämlich der Microlestes antiquus, von dem man bis jetzt allerdings nur einige kleine Backzähne kennt. Dieſe ſind in den oberſten Schichten der Trias, im Keuper, und zwar zuerſt (1847) in Deutſchland (bei Degerloch unweit Stuttgart), ſpäter auch (1858) in England (bei Frome) gefunden worden. Aehnliche Zähne ſind neuerdings auch in der nordamerikaniſchen Trias gefunden und als Dromatherium sylvestre beſchrieben. Dieſe merkwürdigen Zähne, aus deren charakteriſtiſcher Form man auf ein inſectenfreſſendes Säuge— thier ſchließen kann, ſind die einzigen Reſte von Säugethieren, welche man bis jetzt in den älteren Secundärſchichten, in der Trias gefunden hat. Vielleicht gehören aber außer dieſen auch noch manche andere, im Jura und in der Kreide gefundene Säugethierzähne, welche jetzt gewöhnlich Beutelthieren zugeſchrieben werden, eigentlich Kloaken— Kloafenthiere Monotremen oder Ornithodelphien). 539 thieren an. Bei dem Mangel der charakteriſtiſchen Weichthiere läßt ſich dies nicht ſicher entſcheiden. Jedenfalls müſſen dem Auftreten der Beutelthiere zahlreiche, mit entwickeltem Gebiß und mit einer Kloake verſehene Gabelthiere vorausgegangen ſein. Die Bezeichnung: „Kloakenthiere“ (Monotrema) im wei— teren Sinne haben die Ornithodelphien wegen der Kloake erhalten, durch deren Beſitz ſie ſich von allen übrigen Säugethieren unterſchei— den, und dagegen mit den Vögeln, Reptilien, Amphibien, überhaupt mit den niederen Wirbelthieren übereinſtimmen. Die Kloakenbildung beſteht darin, daß der letzte Abſchnitt des Darmkanals die Mündungen des Urogenitalapparates, d. h. der vereinigten Harn- und Geſchlechts— organe aufnimmt, während dieſe bei allen übrigen Säugethieren (Didelphien ſowohl als Monodelphien) getrennt vom Maſtdarm aus- münden. Jedoch iſt auch bei dieſen in der erſten Zeit des Embryo— lebens die Kloakenbildung vorhanden, und erſt ſpäter (beim Menſchen gegen die zwölfte Woche der Entwickelung) tritt die Trennung der beiden Mündungsöffnungen ein. „Gabelthiere“ hat man die Kloakenthiere auch wohl genannt, weil die vorderen Schlüſſelbeine mittelſt des Bruſtbeines mit einander in der Mitte zu einem Knochen— ſtück verwachſen ſind, ähnlich dem bekannten „Gabelbein“ der Vögel. Bei den übrigen Säugethieren bleiben die beiden Schlüſſelbeine vorn völlig getrennt, und verwachſen nicht mit dem Bruſtbein. Ebenſo ſind die hinteren Schlüſſelbeine oder Coracoidknochen bei den Gabel— thieren viel ſtärker als bei den übrigen Säugethieren entwickelt und verbinden ſich mit dem Bruſtbein. Auch in vielen anderen Charakteren, namentlich in der Bildung der inneren Geſchlechtsorgane, des Gehörlabyrinthes und des Gehirns, ſchließen ſich die Schnabelthiere näher den übrigen Wirbelthieren als den Säugethieren an, ſo daß man ſie ſelbſt als eine beſondere Klaſſe von dieſen hat trennen wollen. Jedoch gebären ſie, gleich allen an— deren Säugethieren, lebendige Junge, welche eine Zeit lang von der Mutter mit ihrer Milch ernährt werden. Während aber bei allen übrigen die Milch durch die Saugwarzen oder Zitzen der Milchdrüſe 540 Kloakenthiere oder Monotremen. entleert wird, fehlen dieſe den Schnabelthieren gänzlich, und die Milch tritt einfach aus einer ebenen, ſiebförmig durchlöcherten Hautſtelle hervor. Man kann ſie daher auch als Bruſtloſe oder Zitzenloſe (Amasta) bezeichnen. Die auffallende Schnabelbildung der beiden noch lebenden Schna— belthiere, welche mit Verkümmerung der Zähne verbunden iſt, muß offenbar nicht als weſentliches Merkmal der ganzen Unterklaſſe der Kloakenthiere, ſondern als ein zufälliger Anpaſſungscharakter ange— ſehen werden, welcher die letzten Reſte der Klaſſe von der ausgeſtor— benen Hauptgruppe ebenſo unterſcheidet, wie die Bildung eines ähn— lichen zahnloſen Rüſſels manche Zahnarme (3. B. die Ameiſenfreſſer) vor den übrigen Placentalthieren auszeichnet. Die unbekannten aus— geſtorbenen Stammſäugethiere oder Promammalien, die in der Trias— zeit lebten, und von denen die beiden heutigen Schnabelthiere nur einen einzelnen, verkümmerten und einſeitig ausgebildeten Aſt dar— ſtellen, beſaßen wahrſcheinlich ein ſehr entwickeltes Gebiß, gleich den Beutelthieren, die ſich zunächſt aus ihnen entwickelten. Die Beutelthiere oder Beutler (Didelphia oder Mar- supialia), die zweite von den drei Unterklaſſen der Säugethiere, vermittelt in jeder Hinſicht, ſowohl in anatomiſcher und embryologi— ſcher, als in genealogiſcher und hiſtoriſcher Beziehung, den Uebergang zwiſchen den beiden anderen, den Kloakenthieren und Placentalthie— ren. Zwar leben von dieſer Gruppe noch jetzt zahlreiche Vertreter, namentlich die allbekannten Känguruhs, Beutelratten und Beutel- hunde. Allein im Ganzen geht offenbar auch dieſe Unterklaſſe, gleich der vorhergehenden, ihrem völligen Ausſterben entgegen, und die noch lebenden Glieder derſelben ſind die letzten überlebenden Reſte einer großen und formenreichen Gruppe, welche während der jüngeren Secundärzeit und während der älteren Tertiärzeit vorzugsweiſe die Säugethierklaſſe vertrat. Wahrſcheinlich haben ſich die Beutelthiere um die Mitte der meſolithiſchen Zeit (während der Juraperiode?) aus einem Zweige der Kloakenthiere entwickelt, und im Beginn der Tertiärzeit ging wiederum aus den Beutelthieren die Gruppe der 4 Beutelthiere oder Marſupialien. 541 Placentalthiere hervor, welcher die erſteren dann bald im Kampfe um's Daſein unterlagen. Alle foſſilen Reſte von Säugethieren, welche wir aus der Secundärzeit kennen, gehören entweder ausſchließlich Beutelthieren, oder (zum Theil vielleicht?) Kloakenthieren an. Da— mals ſcheinen Beutelthiere über die ganze Erde verbreitet geweſen zu ſein. Selbſt in Europa (England, Frankreich) finden wir wohl erhaltene Reſte derſelben. Dagegen ſind die letzten Ausläufer der Un— terklaſſe, welche jetzt noch leben, auf ein ſehr enges Verbreitungsge— biet beſchränkt, nämlich auf Neuholland, auf den auſtraliſchen und einen kleinen Theil des aſiatiſchen Archipelagus. Einige wenige Arten leben auch noch in Amerika; hingegen lebt in der Gegenwart kein ein— ziges Beutelthier mehr auf dem Feſtlande von Aſien, Afrika und Europa. Die Beutelthiere führen ihren Namen von der bei den meiſten wohl entwickelten beutelförmigen Taſche (Marsupium), welche ſich an der Bauchſeite der weiblichen Thiere vorfindet, und in welcher die Mutter ihre Jungen noch eine geraume Zeit lang nach der Geburt umherträgt. Dieſer Beutel wird durch zwei charakteriſtiſche Beutel— knochen geſtützt, welche auch den Schnabelthieren zukommen, den Placentalthieren dagegen fehlen. Das junge Beutelthier wird in viel unvollkommnerer Geſtalt geboren, als das junge Placentalthier, und erreicht erſt, nachdem es einige Zeit im Beutel ſich entwickelt hat, denjenigen Grad der Ausbildung, welchen das letztere ſchon gleich bei ſeiner Geburt beſitzt. Bei dem Rieſenkänguruh, welches Mannshöhe erreicht, iſt das neugeborene Junge, welches nicht viel über fünf Wochen von der Mutter im Fruchtbehälter getragen wurde, nicht mehr als zolllang, und erreicht ſeine weſentliche Ausbildung erſt nachher in dem Beutel der Mutter, wo es gegen neun Monate, an der Zitze der Milchdrüſe feſtgeſaugt, hängen bleibt. Die verſchiedenen Abtheilungen, welche man gewöhnlich als ſo— genannte Familien in der Unterklaſſe der Beutelthiere unterſcheidet, verdienen eigentlich den Rang von ſelbſtſtändigen Ordnungen, da ſie ſich in der mannichfaltigen Differenzirung des Gebiſſes und der Glied— maßen in ähnlicher Weiſe, wenn auch nicht ſo ſcharf, von einander 542 Pflanzenfreſſende Beutelthiere. unterſcheiden, wie die verſchiedenen Ordnungen der Placentalthiere. Zum Theil entſprechen ſie den letzteren vollkommen. Offenbar hat die Anpaſſung an ähnliche Lebensverhältniſſe in den beiden Unterklaſſen der Marſupialien und Placentalien ganz entſprechende oder analoge Umbildungen der urſprünglichen Grundform bewirkt. Man kann in dieſer Hinſicht ungefähr acht Ordnungen von Beutelthieren unterſchei— den, von denen die eine Hälfte die Hauptgruppe oder Legion der pflanzenfreſſenden, die andere Hälfte die Legion der fleiſchfreſſenden Marſupialien bildet. Von beiden Legionen finden ſich (falls man nicht auch den vorher erwähnten Mikroleſtes und das Dromatherium der Trias hierher ziehen will) die älteſten foſſilen Reſte im Jura vor, und zwar in den Schiefern von Stonesfield, bei Oxford in England. Dieſe Schiefer gehören der Bathformation oder dem unteren Oolith an, derjenigen Schichtengruppe, welche unmittelbar über dem Lias, der älteſten Jurabildung liegt (vergl. S. 345). Allerdings beſtehen die Beutelthierreſte, welche in den Schiefern von Stonesfield gefun— den wurden, und ebenſo diejenigen, welche man ſpäter in den Pur⸗ beckſchichten fand, nur aus Unterkiefern (vergl. S. 358). Allein glüd- licherweiſe gehört gerade der Unterkiefer zu den am meiſten charakteri— ſtiſchen Skelettheilen der Beutelthiere. Er zeichnet ſich nämlich durch einen hakenförmigen Fortſatz des nach unten und hinten gekehrten Un— terkieferwinkels aus, welcher weder den Placentalthieren, noch den (heute lebenden) Schnabelthieren zukömmt, und wir können aus der Anweſenheit dieſes Fortſatzes an den Unterkiefern von Stonesfield ſchließen, daß ſie Beutelthieren angehört haben. Von den pflanzenfreſſenden Beutelthieren (Botano- phaga) kennt man bis jetzt aus dem Jura nur zwei Verſteinerungen, nämlich den Stereognathus oolithieus aus den Schiefern von Sto— nesfield (unterer Oolith) und den Plagiaulax Becklesii aus den mitt- leren Purbeckſchichten (oberer Oolith). Dagegen finden ſich in Neu— holland rieſige verſteinerte Reſte von ausgeſtorbenen pflanzenfreſſenden Beutelthieren der Diluvialzeit (Diprotodon und Nototherium), welche weit größer als die größten, jetzt noch lebenden Marſupialien waren. der Regionen, 543 Syſtematiſche Ueberſicht Ordnungen und Unterordnungen der eee I. Erſte Unterklaſſe der Sängethiere: Gabler oder Aloakenthiere (Monotrema oder Ornithodelphia). I. Stamm⸗ jünger Promammalia II. Schnabel⸗ thiere Ornithostoma Säugethiere mit Kloake, ohne Placenta, mit Beutelknochen. (Microlestes ?) (Dromatherium ?) Unbekannte ausgeftorbene Säuge— thiere der Triaszeit 1. Waſſer 1. Ornithorhyn- | 1. Ornithorhynchus Schnabelthiere chida paradoxus 2. Land⸗ 2 2. Echidnid 2. Echidna hystri: Schnabelthiere sem ! er II. Zweite Unterklaſſe der Säugethiere: Beutler oder Bentelthiere (Marsupialia oder Didelphia). Säugethiere ohne Kloake, ohne Placenta, mit Beutelkuochen. = De — 8 Tegionen Ordnungen Hyſtematiſcher Familien der g der Name der der Beutelthiere Weutelthiere Ordnungen Beuteltiere 1. Huf⸗ 1. Barypoda 1. Ster he a Beutelthiere 2. Nototherida (Hufbeutler) 3. Diprotodontia 2. Känguruh⸗ 2. Macropoda 4. Plagiaulacida * Pflanzeu⸗ B bei 1 5 | 5. Halmaturida freſſende (Springbeutler) 6. Dendrolagida Fa 3. Wurzelfreſſende 3. Rhizophaga \ e Beutelthiere N 7. Phascolomyida (Nagebeutler) 4. Früchtefreſſende 4. Carpophaga 8. Phaseolaretida Beutelthiere | 9. Phalangistida (Kletterbeutler) 10. Petaurida 5. Infecten- 5. Cantharophaga 11. Thylacotherida freſſende i Spalacotherida Beutelthiere 13. Myrmecobida (Urbeutler) 14. Peramelida IV. Fleiſch⸗ 6. Zahnarme 6. Edentula freſſende Beutelthiere | 15. Tarsipedina Beutelthiere (Rüſſelbeutler) Marsupialia 7. Raub⸗ 7. Creophaga 16. Dasyurida Zoophaga Beutelthiere | 17. Thylaeinida (Raubbeutler) 18. Thylacoleonida Fi Aren egen 19. Chironectida eutelthiere 3 ? (Handbeutler) 20. Didelphyida 544 n Ueberſicht der Materialen III. Dritte Unterklaſſe der Sängethiere: Placentner oder Placentalthiere: Placentalia oder Monodelphia. Säugethiere mit Kloake, mit Placenta, ohne Beutelknochen. Legionen Drdmungen Anterordnungen | Sufematifder a 2 g der Name der Blacentalthiere Placenfaltſpiere Placentalthiere Au III, 1. Indecidua. Placentalthiere ohne Decidua. I. Unpaarhufer | 1. Tapirartige 1. Tapiromorpha V. Hufthiere Perissodactyla 2. Pferdeartige 2. Solidungula Ungulata II. Paarhufer 3. Schweineartige 3. Choeromorpha Artiodactyla 4. Wiederkäuer 4. Ruminantia III. Ta 1 3 vI. Walthiere enen 5. Seerinder 5. Sirenia Cetacea 7. Fleiſchwale 6. Walfiſche 6. Autoceta Sarcoceta 7. Zeuglodonten 7. Zeugloceta V. Scharrthiere | 8. Ameiſenfreſſer 8. Vermilinguia 9 ure 5 s 4 2 e 5 VI. Faulthiere 510. Rieſenfaulthiere 10. Gravigrada VII. Zahn⸗ ö 30 | Effodientia . Gürtelthiere 9. Cingulata Edendata “| Bradypoda 11. Zwergf faulthiere 11. Tardigrada u, 2. Deciduata. placentalthiere mit Decidua. VII. Rau bthiere 12. Landraubthiere 12. Carnivora VIII. Gürtel⸗ Carnaria 13. Seeraubthiere 13. Pinnipedia placentner 14. Klippdaſſe 14. Lamnungia VIII. 5 Zonoplacen- 19 5 Naß 15. Toxodonten 15. Toxodontia talia 5 16. Dinotherien 16. Gonyognatha . Chelophora 5 17. Elephanten 17. Proboseidea 18. Fingerthiere 18. Leptodactyla IX. Halbaffen 19. Pelzflatterer 19. Ptenopleura Prosimiae 20. Langfüßer 20. Macrotarsi 21. Kurzfüßer 21. Brachytarsi 22. Eichhornartige 22. Sciuromorpha X. Nagethiere 23. Mäuſeartige 23. Myomorpha IX. Scheiben⸗ Rodentia 24. Stachelſchweinartige 24. Hystrichomorpha placentner 25. Haſenartige 25. Lagomorpha Discoplacen- ) XI. Inſecten⸗ ö x nn f a fer 26. Blinddarmträger 26. Menotyphla i . Lipot Insectivora 27. Blinddarmloſe e XII. Flederthiere 28. Flederhunde 28. Pterocynes Chiroptera = Fledermäuſe 29. Nyeterides Kral! BR itheei XIII. Affen 30. Krallenaffen 30. Aretopi heci Simine 31. Plattnaſen 31. Platyrrhinae 32. Schmalnaſen 32. Catarrhinae Stammbaum der Säugethiere. 54 Menſchen Homines Elephanten Proboseidea Fledermäuſe Klippdaſſe | Nycterides Lamnungia | Schmalnaſen g | | Catarrhinae Seeraubthiere A ee | Plattnaſen Pinnipedia — Platyrrhinae lederhunde Scheinhufer 1 | Chelophora Flederthiere ö | er Chiroptera Yandraubthiere N Affen | Carnivora Nagethiere Simiae | Raubthiere Rodentia Carnaria 0 Fingerthiere | | Walfiſche Leptodactyla Lemuren 1 Sareoceta | | Brachytarsi = A | | Inſectenfreſſer 8 | | Inseetivora | | | Seerinder | | Sirenia „„! T. Walthiere Halbaffen Cetacea Prosimiae | Deciduathiere | Deciduata | Zahnarme Hufthiere Edentata Ungulata | — in — Decidualoſe | Indecidua — ͤͤQ— Placentalthiere „ Placentalia Pflanzenfreſſende Beutelthiere | Fleiſchfreſſende Beutelthiere Marsupialia botanophaga Marsupialia zoophaga | | eV ————᷑ òꝓg Beutelthiere Schnabelthiere Marsupialia Ornithostoma Stammſäuger Promammalia Kloakenthiere Monotrema Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 35 546 Pflanzenfreſſende Beutelthiere. Diprotodon australis, deſſen Schädel allein drei Fuß lang iſt, übertraf das Flußpferd oder den Hippopotamus, dem es im Ganzen an ſchwer— fälligem und plumpem Körperbau glich, noch an Größe. Man kann dieſe ausgeſtorbene Gruppe, welche wahrſcheinlich den rieſigen placen— talen Hufthieren der Gegenwart, den Flußpferden und Rhinoceros, entſpricht, wohl als Hufbeutler (Barypoda) bezeichnen. Dieſen ſehr nahe ſteht die Ordnung der Känguruhs oder Springbeutler (Macropoda). Sie entſprechen durch die ſehr verkürzten Vorder— beine, die ſehr verlängerten Hinterbeine und den ſehr ſtarken Schwanz, der als Springſtange dient, den Springmäuſen unter den Nagethieren. Durch ihr Gebiß erinnern ſie dagegen an die Pferde, und durch ihre zuſammengeſetzte Magenbildung an die Wiederkäuer. Eine dritte Ordnung von pflanzenfreſſenden Beutelthieren entſpricht durch ihr Ge— biß den Nagethieren, und durch ihre unterirdiſche Lebensweiſe noch beſonders den Wühlmäuſen. Wir können dieſelben daher als Nage— beutler oder wurzelfreſſende Beutelthiere (Rhizophaga) bezeichnen. Sie find gegenwärtig nur noch durch das auſtraliſche Wombat (Phas- colomys) vertreten. Eine vierte und letzte Ordnung von pflanzenfreſ— ſenden Beutelthieren endlich bilden die Kletterbeutler oder früchte— freſſenden Beutelthiere (Carpophaga), welche in ihrer Lebensweiſe und Geſtalt theils den Eichhörnchen, theils den Affen entſprechen (Phalangista, Phascolarctus). Die zweite Legion der Marſupialien, die fleiſchfreſſenden Beutelthiere (Zoophaga), zerfallen ebenfalls in vier Hauptgrup— pen oder Ordnungen. Die älteſte von dieſen iſt die der Urbeutler oder inſectenfreſſenden Beutelthiere (Cantharophaga). Zu dieſer ge— hören wahrſcheinlich die Stammformen der ganzen Legion, und viel— leicht auch der ganzen Unterklaſſe. Wenigſtens gehören alle ſtones— fielder Unterkiefer (mit Ausnahme des erwähnten Stereognathus) inſectenfreſſenden Beutelthieren an, welche in dem jetzt noch lebenden Myrmecobius ihren nächſten Verwandten beſitzen. Doch war bei einem Theile jener boolithiſchen Urbeutler die Zahl der Zähne größer, als bei allen übrigen bekannten Säugethieren, indem jede Unterkiefer— Fleiſchfreſſende Beutelthiere. 547 hälfte von Thylacotherium 16 Zähne enthielt (3 Schneidezähne, 1 Eckzahn, 6 falſche und 6 wahre Backzähne). Wenn in dem unbe— kannten Oberkiefer eben jo viel Zähne ſaßen, jo hatte Thylacothe- rium nicht weniger als 64 Zähne, gerade doppelt ſo viel als der Menſch. Die Urbeutler entſprechen im Ganzen den Inſectenfreſſern unter den Placentalthieren, zu denen Igel, Maulwurf und Spitzmaus gehören. Eine zweite Ordnung, die ſich wahrſcheinlich aus einem Zweige der erſteren entwickelt hat, ſind die Rüſſelbeutler oder zahnarmen Beutelthiere (Edentula), welche durch die rüſſelförmig ver— längerte Schnauze, das verkümmerte Gebiß und die demſelben ent— ſprechende Lebensweiſe an die Zahnarmen oder Edentaten unter den Placentalien, insbeſondere an die Ameiſenfreſſer erinnern. Andrer— ſeits entſprechen die Raubbeutler oder Raubbeutelthiere (Creo- phaga) durch Lebensweiſe und Bildung des Gebiſſes den eigentlichen Raubthieren oder Carnivoren unter den Placentalthieren. Es gehören dahin der Beutelmarder (Dasyurus) und der Beutelwolf (Thylacinus) von Neuholland. Obwohl letzterer die Größe des Wolfes erreicht, iſt er doch ein Zwerg gegen die ausgeſtorbenen Beutellöwen Auſtraliens (Thylacoleo), welche mindeſtens von der Größe des Löwen waren und Reißzähne von mehr als zwei Zoll Länge beſaßen. Die achte und letzte Ordnung endlich bilden die Handbeutler oder die affen— füßigen Beutelthiere (Pedimana), welche ſowohl in Auſtralien als in Amerika leben. Sie finden ſich häufig in zoologiſchen Gärten, na— mentlich verſchiedene Arten der Gattung Didelphys, unter dem Na— men der Beutelratten, Buſchratten oder Opoſſum bekannt. An ihren Hinterfüßen kann der Daumen unmittelbar den vier übrigen Zehen entgegengeſetzt werden, wie bei einer Hand, und ſie ſchließen ſich da— durch unmittelbar an die Halbaffen oder Proſimien unter den Pla— centalthieren an. Es wäre möglich, daß dieſe letzteren wirklich den Handbeutlern nächſtverwandt ſind und aus längſt ausgeſtorbenen Vorfahren derſelben ſich entwickelt haben. Die Genealogie der Beutelthiere iſt ſehr ſchwierig zu errathen, vorzüglich deshalb, weil wir die ganze Unterklaſſe nur höchſt unvoll— ax * 3 548 Placentalthiere oder Placentalien. ſtändig kennen, und die jetzt lebenden Marſupialien offenbar nur die letzten Reſte des früheren Formenreichthums darſtellen. Vielleicht haben ſich die Handbeutler, Raubbeutler, und Rüſſelbeutler als drei divergente Aeſte aus der gemeinſamen Stammgruppe der Urbeutler entwickelt. In ähnlicher Weiſe ſind vielleicht andrerſeits die Nage— beutler, Springbeutler und Hufbeutler als drei auseinandergehende Zweige aus der gemeinſamen pflanzenfreſſenden Stammgruppe, den Kletterbeutlern hervorgegangen. Kletterbeutler aber und Urbeutler könnten zwei divergente Aeſte der gemeinſamen Stammformen aller Beutelthiere ſein, der Stammbeutler (Prodidelphia), welche wäh— rend der älteren Secundärzeit aus den Kloakenthieren entſtanden. Die dritte und letzte Unterklaſſe der Säugethiere bilden die Pla— centalthiere oder Placentner (Monodelphia oder Placentalia). Sie iſt bei weitem die wichtigſte, umfangreichſte und vollkommenſte von den drei Unterklaſſen. Denn zu ihr gehören alle bekannten Säugethiere nach Ausſchluß der Beutelthiere und Schnabelthiere. Auch der Menſch gehört dieſer Unterklaſſe an und hat ſich aus nie— deren Stufen derſelben entwickelt. Die Placentalthiere unterſcheiden ſich, wie ihr Name ſagt, von den übrigen Säugethieren vor Allem durch den Beſitz eines ſogenann— ten Mutterkuchens oder Aderkuchens (Placenta). Das iſt ein ſehr eigenthümliches und merkwürdiges Organ, welches bei der Ernährung des im Mutterleibe ſich entwickelnden Jungen eine höchſt wichtige Rolle ſpielt. Die Placenta oder der Mutterkuchen (auch Nachgeburt genannt) iſt ein weicher, ſchwammiger, rother Körper von ſehr verſchiedener Form und Größe, welcher zum größten Theile aus einem unentwirrbaren Geflecht von Adern oder Blutgefäßen beſteht.“ Seine Bedeutung beruht auf dem Stoffaustauſch des ernährenden Blu— tes zwiſchen dem mütterlichen Fruchtbehälter oder Uterus und dem Leibe des Keimes oder Embryon (ſ. oben S. 266). Weder bei den Beutelthieren, noch bei den Schnabelthieren iſt dieſes höchſt wichtige Organ entwickelt. Von dieſen beiden Unterklaſſen unterſcheiden ſich aber auch außerdem die Placentalthiere noch durch manche andere N N Unterſchiede der drei Hauptklaſſen der Säugethiere. 549 Eigenthümlichkeiten, fo namentlich durch den Mangel der Beutelfno- chen, durch die höhere Ausbildung der inneren Geſchlechtsorgane und durch die vollkommnere Entwickelung des Gehirns, namentlich des ſogenannten Schwielenkörpers oder Balkens (corpus callosum), wel— cher als mittlere Commiſſur oder Querbrücke die beiden Halbkugeln des großen Gehirns mit einander verbindet. Auch fehlt den Placen⸗ talien der eigenthümliche Hakenfortſatz das Unterkiefers, welcher die Beutelthiere auszeichnet. Wie in dieſen anatomiſchen Beziehungen die Beutelthiere zwiſchen den Gabelthieren und Placentalthieren in der Mitte ſtehen, wird Ihnen am beſten durch nachfolgende Zuſammen— ſtellung der wichtigſten Charaktere der drei Unterklaſſen klar werden. Kloakenthiere Beutelthiere | Placentalthiere Drei Unterklaffen der Monotrema Marsupialia | Placentalia Säugethiere ö oder | oder oder Ornithodelphia Didelphia Monodelphia 1. Kloakenbildung bleibend embryonal embryonal 2. Zitzen der Bruſtdrüſe oder fehlend vorhanden vorhanden Milchwarzen 3. Vordere Schlüſſelbeine oder verwachſen nicht nicht Claviculae in der Mitte mit verwachſen verwachſen dem Bruſtbein zu einem Gabelbein verwachſen 4. Beutelknochen | vorhanden vorhanden fehlend 5. Schwielenkörper des Gehirns nicht entwickelt nicht entwickelt ſtark entwickelt 6. Placenta oder Mutterkuchen | fehlend fehlend | vorhanden Die Placentalthiere ſind in weit höherem Maaße mannichfaltig differenzirt und vervollkommnet, als die Beutelthiere, und man hat daher dieſelben längſt in eine Anzahl von Ordnungen gebracht, die ſich hauptſächlich durch die Bildung des Gebiſſes und der Füße unter— ſcheiden. Noch wichtiger aber, als dieſe, iſt die verſchiedenartige Aus— bildung der Placenta und die Art ihres Zuſammenhanges mit dem mütterlichen Fruchtbehälter. Bei den niederen drei Hauptordnungen der Placentalthiere nämlich, bei den Hufthieren, Walthieren und Zahnarmen, entwickelt ſich zwiſchen dem mütterlichen und kindlichen 550 Placentalthiere ohne und mit Decidua. Theil der Placenta nicht jene eigenthümliche ſchwammige Haut, welche man als hinfällige Haut oder Decidua bezeichnet. Dieſe findet ſich ausſchließlich bei den ſieben höher ſtehenden Ordnungen der Pla— centalthiere, und wir können dieſe letzteren daher nach Huxley in der Hauptgruppe der Deciduathiere (Deciduata) vereinigen. Dieſen ſtehen die drei erſtgenannten Legionen als Decidualoſe (Indeci- dua) gegenüber. f Die Placenta unterſcheidet ſich bei den verſchiedenen Ordnungen der Placentalthiere aber nicht allein durch die wichtigen inneren Struc- turverſchiedenheiten, welche mit dem Mangel oder der Abweſenheit einer Decidua verbunden ſind, ſondern auch durch die äußere Form des Mutterkuchens ſelbſt. Bei den Indeeiduen beſteht derſelbe mei— ſtens aus zahlreichen einzelnen, zerſtreuten Gefäßknöpfen oder Zotten, und man kann daher dieſe Gruppe auch als Zottenplacentner (Villiplacentalia) bezeichnen. Bei den Deciduaten dagegen find die einzelnen Gefäßzotten zu einem zuſammenhängenden Kuchen vereinigt, und dieſer erſcheint in zweierlei verſchiedener Geſtalt. In den einen nämlich umgiebt er den Embryo in Form eines geſchloſſenen Gürtels oder Ringes, ſo daß nur die beiden Pole der länglichrunden Eiblaſe von Zotten frei bleiben. Das iſt der Fall bei den Raubthieren (Car— naria) und den Scheinhufern (Chelophora), die man deshalb als Gürtelplacentner (Zonoplacentalia) zuſammenfaſſen kann. In den anderen Deciduathieren dagegen, zu welchen auch der Menſch ge— hört, bildet die Placenta eine einfache runde Scheibe, und wir nennen fie daher Scheibenplacentner (Discoplacentalia). Das find die fünf Ordnungen der Halbaffen, Nagethiere, Inſectenfreſſer, Fleder— thiere und Affen, von welchen letzteren auch der Menſch im zoologi— ſchen Syſteme nicht zu trennen iſt. Daß die Placentalthiere erſt aus den Beutelthieren ſich entwickelt haben, darf auf Grund ihrer vergleichenden Anatomie und Entwicke— lungsgeſchichte als ganz ſicher angeſehen werden, und wahrſcheinlich fand dieſe höchſt wichtige Entwickelung, die erſte Entſtehung der Pla— centa, erſt im Beginn der Tertiärzeit, während der Eocen-Periode, Abſtammung der Placentalthiere von den Beutelthieren. 551 ſtatt. Dagegen gehört zu den ſchwierigſten Fragen der thieriſchen Ge— nealogie die wichtige Unterſuchung, ob alle Placentalthiere aus einem oder aus mehreren getrennten Zweigen der Beutlergruppe entſtanden ſind, mit anderen Worten, ob die Entſtehung der Placenta einmal oder mehrmal ſtatt hatte. Als ich in meiner generellen Morphologie zum erſten Male den Stammbaum der Säugethiere zu begründen verſuchte, zog ich auch hier, wie meiſtens, die monophyletiſche oder einwurzelige Deſcendenzhypotheſe der polyphyletiſchen oder vielwurze— ligen vor. Ich nahm an, daß alle Placentner von einer einzigen Beutelthierform abſtammten, die zum erſten Male eine Placenta zu bilden begann. Dann wären die Villiplacentalien, Zonoplacentalien und Discoplacentalien vielleicht als drei divergente Aeſte jener gemein— ſamen placentalen Stammform aufzufaſſen, oder man könnte auch denken, daß die beiden letzteren, die Deciduaten, ſich erſt ſpäter aus den Indeciduen entwickelt hätten, die ihrerſeits unmittelbar aus den Beutlern entſtanden ſeien. Jedoch giebt es andrerſeits auch gewichtige Gründe für die andere Alternative, daß nämlich mehrere von Anfang verſchiedene Placentnergruppen aus mehreren verſchiedenen Beutler— gruppen entſtanden ſeien, daß alſo die Placenta ſelbſt ſich mehrmals unabhängig von einander gebildet habe. Dies iſt unter anderen die Anſicht des ausgezeichnetſten engliſchen Zoologen, Huxley's. In dieſem Falle wären zunächſt als zwei ganz getrennte Gruppen die Indeeiduen und Deciduaten aufzufaſſen. Von den Indeciduen wäre möglicherweiſe die Ordnung der Hufthiere, als die Stammgruppe, aus den pflanzenfreſſenden Hufbeutlern oder Barypoden entſtanden. Unter den Deciduaten dagegen würde vielleicht die Ordnung der Halb— affen, als gemeinſame Stammgruppe der übrigen Ordnungen, aus den Handbeutlern oder Pedimanen entſtanden fein. Es wäre aber auch denkbar, daß die Deciduaten ſelbſt wieder aus mehreren verſchie— denen Beutler-Ordnungen entſtanden ſeien, die Raubthiere z. B. aus den Raubbeutlern, die Nagethiere aus den Nagebeutlern, die Halb— affen aus den Handbeutlern u. ſ. w. Da wir zur Zeit noch kein ge— nügendes Erfahrungsmaterial beſitzen, um dieſe äußerſt ſchwierige 552 Hufthiere oder Ungulaten. Frage zu löſen, ſo laſſen wir dieſelbe auf ſich beruhen, und wenden uns zur Geſchichte der verſchiedenen Placentne-Ordnungen, deren Stammbaum ſich im Einzelnen oft in großer Vollſtändigkeit feſt— ſtellen läßt. Als die Stammgruppe der Deeidualoſen oder Zottenplacentner müſſen wir, wie ſchon bemerkt, die Ordnung der Hufthiere (Un— gulata) auffaſſen, aus welcher ſich die beiden anderen Ordnungen, Walthiere und Zahnarme, wahrſcheinlich erſt ſpäter als zwei diver— gente Gruppen durch Anpaſſung an ſehr verſchiedene Lebensweiſe ent— wickelt haben. Doch ſind die Zahnarmen oder Edentaten vielleicht auch ganz anderen Urſprungs. Die Hufthiere gehören in vieler Beziehung zu den wichtigsten und intereſſanteſten Säugethieren. Sie zeigen deutlich, wie uns das wahre Verſtändniß der natürlichen Verwandtſchaft der Thiere niemals allein aus dem Studium der noch lebenden Formen, ſondern ſtets nur durch gleichmäßige Berückſichtigung ihrer ausgeſtorbenen und ver— ſteinerten Blutsverwandten und Vorfahren erſchloſſen werden kann. Wenn man in herkömmlicher Weiſe allein die lebenden Hufthiere be— rückſichtigt, ſo erſcheint es ganz naturgemäß, dieſelben in drei gänz— lich verſchiedene Ordnungen einzutheilen, nämlich 1. die Pferde oder Einhufer (Solidungula oder Equina); 2. die Wiederkäuer oder Zweihufer (Bisulca oder Ruminantia); und 3. die Dickhäuter oder Vielhufer (Multungula oder Pachyderma). Sobald man aber die ausgeſtorbenen Hufthiere der Tertiärzeit mit in Betracht zieht, von denen wir ſehr zahlreiche und wichtige Reſte beſitzen, ſo zeigt ſich bald, daß jene Eintheilung, namentlich aber die Begrenzung der Dick— häuter, eine ganz künſtliche iſt, und daß dieſe drei Gruppen nur ab— geſchnittene Aeſte des Hufthierſtammbaums ſind, welche durch ausge— ſtorbene Zwiſchenformen auf das engſte verbunden ſind. Die eine Hälfte der Dickhäuter, Nashorn, Tapir und Paläotherien zeigen ſich auf das nächſte mit den Pferden verwandt, und beſitzen gleich dieſen unpaarzehige Füße. Die andere Hälfte der Dickhäuter dagegen, Schweine, Flußpferde und Anoplotherien, ſind durch ihre paarzehigen Hufthiere oder Ungulaten. 553 Füße viel enger mit den Wiederkäuern, als mit jenen erſteren ver— bunden. Wir müſſen daher zunächſt als zwei natürliche Hauptgrup— pen unter den Hufthieren die beiden Ordnungen der Paarhufer und der Unpaarhufer unterſcheiden, welche ſich als zwei divergente Aeſte aus der alttertiären Stammgruppe der Stammhufer oder Prochelen entwickelt haben. Die Ordnung der Unpaarhufer (Perissodactyla) umfaßt diejenigen Ungulaten, bei denen die mittlere (oder dritte) Zehe des Fußes viel ſtärker als die übrigen entwickelt iſt, ſo daß ſie die eigent— liche Mitte des Hufes bildet. Es gehört hierher zunächſt die uralte gemeinſame Stammgruppe aller Hufthiere, die Stammhufer (Prochela), welche ſchon in den älteſten eocenen Schichten verſteinert vorkommen (Lophiodon, Coryphodon, Pliolophus). An dieſe ſchließt ſich unmittelbar derjenige Zweig derſelben an, welcher die eigentliche Stammform der Unpaarhufer iſt, die Paläotherien, welche foſſil im oberen Eocen und unteren Miocen vorkommen. Aus den Paläotherien haben ſich ſpäter als zwei divergente Zweige einer— ſeits die Nashörner (Nasicornia) und Nashornpferde (Elasmothe— rida), andrerſeits die Tapire, Lamatapire und Urpferde entwickelt. Die längſt ausgeſtorbenen Urpferde oder Anchitherien vermittelten den Uebergang von den Paläotherien und Tapiren zu den Mittel— pferden oder Hipparionen, die den noch lebenden echten Pferden ſchon ganz nahe ſtehen. Die zweite Hauptgruppe der Hufthiere, die Ordnung der Paar— hufer (Artiodactyla) enthält diejenigen Hufthiere, bei denen die mittlere (dritte) und die vierte Zehe des Fußes nahezu gleich ſtark ent— wickelt ſind, ſo daß die Theilungsebene zwiſchen Beiden die Mitte des ganzen Fußes bildet. Sie zerfällt in die beiden Unterordnungen der Schweineförmigen und der Wiederkäuer. Zu den Schweineförmi— gen (Choeromorpha) gehört zunächſt der andere Zweig der Stamm— hufer, die Anoplotherien, welche wir als die gemeinſame Stamm— form aller Paarhufer oder Artiodactylen betrachten (Dichobune etc.). Aus den Anoplotheriden entſprangen als zwei divergente Zweige einer— 554 Syſtematiſche Ueberſicht der Sectionen und Familien der Hufthiere oder Ungulaten. (N. B. Die ausgeſtorbenen Familien find durch ein 5 bezeichnet.) Ordnungen | Hectionen | Familien Hyſtematiſcher der der | der Name der Hufthiere Huftßiere | Hufthiere Familien I. Stammhufer dr: Lophiodonten 1. Lophiodontia 7 Prochela 2. Pliolophiden 2. Pliolophida + I. 3. Stammunpaar- 3. Palaeotherida + Unpaarzehige EN u 1 8155 II. Tapirförmige 4. Lamatapire 4. Macrauchenida} Ungulata Tapiromorpha 5. Tapire 5. Tapirida perissodactyla 6. Nashörner 6. Nasicornia 7. Nashornpferde 7. Elasmotherida III. Einhufer 13 Urpferde 8. Anchitherida + Solidungula 9. Pferde 9. Equina 10. Stammpaar- 10. Anoplothe- hufer rida * * OR EUER 11. Urſchwei 11. Anthracothe- IV. Schweineförmige Urſchweine n IR 1 Choeromorpha 23 l Te 12. Schweine 12. Setigera 13. Flußpferde 13. Obesa 14. Urwiederkäuer 14. Xiphodontia + 192 Urhirſche 15. Dremotherida} /a. hs. Scheinmo- 16. Tragulida IE 8 ſchusthiere 90 ; A. Hirſch— ‚chi Paarzehige förmige 15 Moſchus⸗ 17. Moschida Hufthiere Ei DA. thiere Ungulata P. . In Hirſche 18. Cervina artiodactyla RM 105 Urgiraffen 19. Sivatherida 7 TUE { 5 Giraffen 20. Devexa äuer & 8 N H 21. Urgazellen 21. Antilocaprinar tia B. Hohl⸗ 79 Gazellen 22. Antilopina hörner 23. Ziegen 23. Caprina ra lm (avicornia 15 Schafe 24. Ovina 25. Rinder 25. Bovina ir Sies 26. Lamas 26. Auchenida enfüßer 7. Kamele 27. Camelida Tylopoda Stammbaum der Hufthiere oder Ungulaten. 555 Rinder Giraffen Schafe Hirſche f | | | Moſchusthiere Pferde ! | Equi | Ziegen | | | | | N | | Bauer | | Mittelpferde Antilopen | 8 . | | ae | — Hirſchförmige und Lamas Hohlhörner Elaphia Tylopoda Urpferde Cavicornia f | Anchitherida | | | ER | ä Einhufer Urhirſche | Solidungula Dremotherida | | | | Wiederkäuer Ruminantia Tapire N Seerinder Tapirida Lamatapire Sirenia Macrauchenida e | Flußpferde 5 | | Obesa Schweine mern un | | Setigera | | | Nashornpferde | | | Elasmotherida | | I | — — Nashörner | | Urſchweine | Nasicornia | Anthraco- Urwieder— Ds therida fäuer | | | Xiphodontia ne | | — — Stamm paarhnfer Stammunpaarhufer Anoplotherida Palaeotherida —— ———᷑ Prochela Stammhufer (Lophiodontia und Pliolophida) 1 (Hufbeutelthiere? Barypoda ?) _ 556 Walthiere (Cetaceen). ſeits die Urſchweine oder Anthrakotherien, welche zu den Schweinen und Flußpferden, andrerſeits die Kiphodonten, welche zu den Wieder— käuern hinüberführten. Die älteſten Wiederkäuer (Ruminantia) ſind die Urhirſche oder Dremotherien, aus denen vielleicht als drei divergente Zweige die Hirſchförmigen (Elaphia), die Hohlhörnigen (Cavicornia) und die Kamele (Tylopoda) ſich entwickelt haben. Doch ſind die letzteren in mancher Beziehung mehr den Unpaarhufern als den echten Paarhufern verwandt. Wie ſich die zahlreichen Familien der Hufthiere dieſer genealogiſchen Hypotheſe entſprechend gruppiren, zeigt Ihnen vorſtehende ſyſtematiſche Ueberſicht (S. 554). Aus Hufthieren, welche ſich an das ausſchließliche Leben im Waſ— ſer gewöhnten, und dadurch fiſchähnlich umbildeten, iſt wahrſchein— lich die merkwürdige Legion der Walthiere (Cetacea) entſprungen. Obwohl dieſe Thiere äußerlich manchen echten Fiſchen ſehr ähnlich erſcheinen, find fie dennoch, wie ſchon Ariſtoteles erkannte, echte Säugethiere. Durch ihren geſammten inneren Bau, ſofern derſelbe nicht durch Anpaſſung an das Waſſerleben verändert iſt, ſtehen ſie den Hufthieren von allen übrigen bekannten Säugethieren am näch— ſten, und theilen namentlich mit ihnen den Mangel der Decidua und die zottenförmige Placenta. Noch heute bildet das Flußpferd (Hippo— potamus) eine Art von Uebergangsform zu den Seerindern (Sirenia), und es iſt demnach das wahrſcheinlichſte, daß die ausgeſtorbenen Stammformen der Cetaceen den heutigen Seerindern am nächſten ſtanden, und ſich aus Paarhufern entwickelten, welche dem Flußpferd verwandt waren. Aus der Ordnung der pflanzenfreſſenden Walthiere (Phycoceta), zu welcher die Seerinder gehören, und welche demnach wahrſcheinlich die Stammformen der Legion enthält, ſcheint ſich ſpäterhin die andere Ordnung der fleiſchfreſſenden Walthiere (Sarcoceta) entwickelt zu haben. Doch nimmt Hux— ley an, daß dieſe letzteren ganz anderen Urſprungs und aus den Raubthieren Gunächſt aus den Pinnipedien) entſtanden ſeien. Von den Sarkoceten ſind die ausgeſtorbenen rieſigen Zeuglodonten (Zeugloceta), deren foſſile Skelete vor einiger Zeit als angebliche Zahnarme (Edentaten). 557 „Seeſchlangen“ (Hydrarchus) großes Aufſehen erregten, vermuthlich nur ein eigenthümlich entwickelter Seitenzweig der eigentlichen Wal— fiſche (Autoceta), zu denen außer den coloſſalen Bartenwalen auch die Potwale, Delphine, Narwale, Seeſchweine u. ſ. w. gehören. Die dritte und letzte Legion der Indeeiduen oder Sparſiplacenta— lien bildet die ſeltſame Gruppe der Zahnarmen (Edentata). Sie iſt aus den beiden Ordnungen der Scharrthiere und der Faulthiere zuſammengeſetzt. Die Ordnung der Scharrthiere (Effodientia) beſteht aus den beiden Unterordnungen der Ameiſenfreſſer (Ver— milinguia), zu denen auch die Schuppenthiere gehören, und der Gürtelthiere (Cingulata), die früher durch die rieſigen Glypto— donten vertreten waren. Die Ordnung der Faulthiere (Tardi- grada) beſteht aus den beiden Unterordnungen der kleinen jetzt noch lebenden Zwergfaulthiere (Pradypoda) und der ausgeſtorbe— nen ſchwerfälligen Rieſenfaulthiere (Gravigrada). Die unge— heuren verſteinerten Reſte dieſer coloſſalen Pflanzenfreſſer deuten dar— auf hin, daß die ganze Legion im Ausſterben begriffen und die heuti— gen Zahnarmen nur ein dürftiger Reſt von den gewaltigen Edentaten der Diluvialzeit ſind. Die nahen Beziehungen der noch heute leben— den Edentaten Südamerikas zu den ausgeſtorbenen Rieſenformen, die ſich neben jenen in demſelben Erdtheil finden, machten auf Darwin bei ſeinem erſten Beſuche Südamerikas einen ſolchen Eindruck, daß fie ſchon damals den Grundgedanken der Deſcendenztheorie in ihm anregten (ſ. oben S. 119). Uebrigens iſt die Genealogie gerade die— ſer Legion ſehr ſchwierig. Vielleicht ſind die Edentaten den Nagethie— ren näher verwandt, als den Ungulaten; vielleicht liegt aber auch ihre Wurzel ganz wo anders. Wir verlaſſen nun die erſte Hauptgruppe der Placentner, die Decidualoſen, und wenden uns zur zweiten Hauptgruppe, den De— eiduathieren (Deciduata), welche ſich von jenen jo weſentlich durch den Beſitz einer hinfälligen Haut oder Decidua während des Embryolebens unterſcheiden. Hier begegnen wir zuerſt einer ſehr merkwürdigen kleinen Thiergruppe, welche zum größten Theile aus— 558 Halbaffen oder Proſimien. geſtorben iſt, und zu welcher wahrſcheinlich die alttertiären (oder eocenen) Vorfahren des Menſchen gehört haben. Das ſind die Halbaffen oder Lemuren (Prosimiae). Dieſe ſonderbaren Thiere ſind wahrſcheinlich wenig veränderte Nachkommen von der uralten Placentnergruppe, die wir als die gemeinſame Stammform aller Deciduathiere zu betrachten haben. Sie wurden bisher mit den Affen in einer und derſelben Ordnung, die Blumenbach als Vierhänder (Quadrumana) bezeichnete, vereinigt. Indeſſen trenne ich ſie von dieſen gänzlich, nicht allein deshalb, weil ſie von allen Affen viel mehr abweichen, als die verſchiedenſten Affen von ein— ander, ſondern auch, weil ſie die intereſſanteſten Uebergangsformen zu den übrigen Ordnungen der Deciduaten enthalten. Ich ſchließe dar— aus, daß die wenigen jetzt noch lebenden Halbaffen, welche überdies unter ſich ſehr verſchieden ſind, die letzten überlebenden Reſte von einer faſt ausgeſtorbenen, einſtmals formenreichen Stammgruppe dar— ſtellen, aus welcher ſich alle übrigen Deciduaten (vielleicht mit der einzigen Ausnahme der Raubthiere und der Scheinhufer) als diver— gente Zweige entwickelt haben. Die alte Stammgruppe der Halb— affen ſelbſt hat ſich vermuthlich aus den Handbeutlern oder affenfüßi— gen Beutelthieren (Pedimana) entwickelt, welche in der Umbildung ihrer Hinterfüße zu einer Greifhand ihnen auffallend gleichen. Die uralten (wahrſcheinlich in der Eocen-Periode entſtandenen) Stamm- formen ſelbſt ſind natürlich längſt ausgeſtorben, ebenſo die allermei— ſten Uebergangsformen zwiſchen denſelben und den übrigen Deci- duaten-Ordnungen. Aber einzelne Reſte der letzteren haben ſich in den noch heute lebenden Halbaffen erhalten. Unter dieſen bildet das merkwürdige Fingerthier von Madagaskar (Chiromys madagasca- riensis) den Reſt der Leptodactylen-Gruppe und den Uebergang zu den Nagethieren. Der ſeltſame Pelzflatterer der Südſee-Inſeln und Sunda-Inſeln (Galeopithecus), das einzige Ueberbleibſel der Pte— nopleuren-Gruppe, iſt eine vollkommene Zwiſchenſtufe zwiſchen den Halbaffen und Flederthieren. Die Langfüßer (Tarsius, Otolicnus) bilden den letzten Reſt desjenigen Stammzweiges (Macrotarsi), aus Nagethiere oder Rodentien. 559 dem ſich die Inſectenfreſſer entwickelten. Die Kurzfüßer endlich (Bra— chytarsi) vermitteln den Anſchluß an die echten Affen. Zu den Kurz— füßern gehören die langſchwänzigen Maki (Lemur), und die kurz— ſchwänzigen Indri (Lichanotus) und Lori (Stenops), von denen na— mentlich die letzteren ſich den vermuthlichen Vorfahren des Menſchen unter den Halbaffen ſehr nahe anzuſchließen ſcheinen. Sowohl die Kürzfüßer als die Langfüßer leben weit zerſtreut auf den Inſeln des ſüdlichen Aſiens und Afrikas, namentlich auf Madagaskar, einige auch auf dem afrikaniſchen Feſtlande. Kein Halbaffe iſt bisher lebend oder foſſil in Amerika gefunden. Alle führen eine einſame, nächtliche Le— bensweiſe und klettern auf Bäumen umher (vergl. S. 321). Unter den ſechs übrigen Deciduaten - Ordnungen, welche wahr— ſcheinlich alle von längſt ausgeſtorbenen Halbaffen abſtammen, iſt auf der niedrigſten Stufe die formenreiche Ordnung der Nagethiere (Rodentia) ſtehen geblieben. Unter dieſen ſtehen die Eichhornar— tigen (Sciuromorpha) den Fingerthieren am nächſten. Aus dieſer Stammgruppe haben ſich wahrſcheinlich als zwei divergente Zweige die Mäuſeartigen (Myomorpha) und die Stachelſchwein— artigen (Hystrichomorpha) entwickelt, von denen jene durch eocene Myoxriden, dieſe durch eocene Pſammoryetiden unmittelbar mit den Eichhornartigen zuſammenhängen. Die vierte Unterordnung, die Haſenartigen (Lagomorpha), haben ſich wohl erſt ſpäter aus einer von jenen drei Unterordnungen entwickelt. An die Nagethiere ſchließt ſich ſehr eng die merkwürdige Ordnung der Scheinhufer (Chelophora) an. Von dieſen leben heutzutage nur noch zwei, in Aſien und Afrika einheimiſche Gattungen, näm— lich die Elephanten (Elephas) und die Klippdaſſe (Hyrax). Beide wurden bisher gewöhnlich zu den echten Hufthieren oder Un— gulaten geſtellt, mit denen ſie in der Hufbildung der Füße überein— ſtimmen. Allein eine gleiche Umbildung der urſprünglichen Nägel oder Krallen zu Hufen findet ſich auch bei echten Nagethieren, und gerade unter dieſen Hufnagethieren (Subungulata), welche ausſchließ— lich Südamerika bewohnen, finden ſich neben kleineren Thieren (J. B. 560 Scheinhufer oder Chelophoren. Meerſchweinchen und Goldhaſen) auch die größten aller Nagethiere, die gegen vier Fuß langen Waſſerſchweine (Hydrochoerus capy- bara). Die Klippdaſſe, welche auch äußerlich den Nagethieren, na— mentlich den Hufnagern ſehr ähnlich ſind, wurden bereits früher von einigen berühmten Zoologen als eine beſondere Unterordnung (Lamnungia) wirklich zu den Nagethieren geſtellt. Dagegen be— trachtete man die Elephanten, falls man ſie nicht zu den Hufthie— ren rechnete, gewöhnlich als Vertreter einer beſonderen Ordnung, welche man Rüſſelthiere (Proboscidea) nannte. Nun ſtimmen aber die Elephanten und Klippdaſſe merkwürdig in der Bildung ihrer Placenta überein, und entfernen ſich dadurch jedenfalls gänzlich von den Hufthieren. Dieſe letzteren beſitzen niemals eine Decidua, wäh— rend Elephant und Hyrax echte Deciduaten ſind. Allerdings iſt die Placenta derſelben nicht ſcheibenförmig, ſondern gürtelförmig, wie bei den Raubthieren. Allein es iſt leicht möglich, daß ſich die gür— telförmige Placenta erſt ſecundär aus der ſcheibenförmigen entwickelt hat. In dieſem Falle könnte man daran denken, daß die Schein— hufer aus einem Zweige der Nagethiere, und ähnlich vielleicht die Raubthiere aus einem Zweige der Inſectenfreſſer ſich entwickelt ha— ben. Jedenfalls ſtehen die Elephanten und die Klippdaſſe auch in anderen Beziehungen, namentlich in der Bildung wichtiger Skelet— theile, der Gliedmaßen u. ſ. w., den Nagethieren, und namentlich den Hufnagern, näher als den echten Hufthieren. Dazu kommt noch, daß mehrere ausgeſtorbene Formen, namentlich die merkwürdigen ſüdamerikaniſchen Pfeilzähner (Toxodontia) in mancher Beziehung zwiſchen Elephanten und Nagethieren in der Mitte ſtehen. Daß die noch jetzt lebenden Elephanten und Klippdaſſe nur die letzten Aus— läufer von einer einſtmals formenreichen Gruppe von Scheinhufern ſind, wird nicht allein durch die ſehr zahlreichen verſteinerten Arten von Elephant und Maſtodon bewieſen (unter denen manche noch größer, manche aber auch viel kleiner, als die jetzt lebenden Ele— phanten ſind), ſondern auch durch die merkwürdigen miocenen Di— notherien (Gonyognatha), zwiſchen denen und den nächſtver— Inſectenfreſſer und Raubthiere. 561 wandten Elephanten noch eine lange Reihe von unbekannten ver— bindenden Zwiſchenformen liegen muß. Alles zuſammengenommen iſt heutzutage die wahrſcheinlichſte von allen Hypotheſen, die man ſich über die Entſtehung und die Verwandtſchaft der Elephanten, Dinotherien, Toxodonten und Klippdaſſe bilden kann, daß dieſelben die letzten Ueberbleibſel einer formenreichen Gruppe von Scheinhufern ſind, die ſich aus den Nagethieren, und zwar wahrſcheinlich aus Verwandten der Subungulaten, entwickelt hatte. Die Ordnung der Inſectenfreſſer (Insectivora) iſt eine ſehr alte Gruppe, welche der gemeinſamen ausgeſtorbenen Stammform der Deciduaten, und alſo auch den heutigen Halbaffen nächſtverwandt iſt. Sie hat ſich wahrſcheinlich aus Halbaffen entwickelt, welche den heute noch lebenden Langfüßern (Macrotarsi) nahe ſtanden. Sie ſpaltet ſich in zwei Ordnungen, Menotyphla und Lipothyphla. Von dieſen ſind die älteren wahrſcheinlich die Menotyphlen, welche ſich durch den Beſitz eines Blinddarms oder Typhlon von den Lypotyphlen unterſcheiden. Zu den Menotyphlen gehören die kletternden Tupajas der Sunda-Inſeln und die ſpringenden Makroſcelides Afrikas. Die Lipotyphlen ſind bei uns durch die Spitzmäuſe, Maulwürfe und Igel vertreten. Durch Gebiß und Lebensweiſe ſchließen ſich die Inſecten— freſſer mehr den Raubthieren, durch die ſcheibenförmige Placenta und die großen Samenblaſen dagegen mehr den Nagethieren an. Wahrſcheinlich aus einem längſt ausgeſtorbenen Zweige der In— ſectenfreſſer hat ſich ſchon im Beginn der Eocen-Zeit die Ordnung der Raubthiere (Carnaria) entwickelt. Das iſt eine ſehr formenreiche, aber doch ſehr einheitlich organiſirte und natürliche Gruppe. Die Raub— thiere werden wohl auch Gürtelplacentner (Zonoplacentalia) im engeren Sinne genannt, obwohl eigentlich gleicherweiſe die Schein— hufer oder Chelophoren dieſe Bezeichnung verdienen. Da aber dieſe letzteren im Uebrigen näher den Nagethieren als den Raubthieren ver— wandt ſind, haben wir ſie ſchon dort beſprochen. Die Raubthiere zerfallen in zwei, äußerlich ſehr verſchiedene, aber innerlich nächſt verwandte Unterordnungen, die Landraubthiere und die Seeraub— Häckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 36 562 Landraubthiere und Seeraubthiere. thiere. Zu den Landraubthieren (Carnivora) gehören die Bä— ren, Hunde, Katzen u. ſ. w., deren Stammbaum ſich mit Hülfe vieler ausgeſtorbener Zwiſchenformen annähernd errathen läßt. Zu den Seeraubthieren oder Robben (Pinnipedia) gehören die See— bären, Seehunde, Seelöwen, und als eigenthümlich angepaßte Sei— tenlinie die Walroſſe oder Walrobben. Obwohl die Seeraubthiere äußerlich den Landraubthieren ſehr unähnlich erſcheinen, ſind ſie den— ſelben dennoch durch ihren inneren Bau, ihr Gebiß und ihre eigen— thümliche, gürtelförmige Placenta nächſt verwandt und offenbar aus einem Zweige derſelben, vermuthlich den Marderartigen (Mustelina) hervorgegangen. Noch heute bilden unter den letzteren die Fiſchottern (Lutra) und noch mehr die Seeottern (Enhydris) eine unmittelbare Uebergangsform zu den Robben, und zeigen uns deutlich, wie der Körper der Landraubthiere durch Anpaſſung an das Leben im Waſſer robbenähnlich umgebildet wird, und wie aus den Gangbeinen der erſteren die Ruderfloſſen der Seeraubthiere entſtanden ſind. Die letz— teren verhalten ſich demnach zu den erſteren ganz ähnlich, wie un— ter den Indeciduen die Walthiere zu den Hufthieren. In gleicher Weiſe wie das Flußpferd noch heute zwiſchen den extremen Zweigen der Rinder und der Seerinder in der Mitte ſteht, bildet die See— otter noch heute eine übriggebliebene Zwiſchenſtufe zwiſchen den weit entfernten Zweigen der Hunde und der Seehunde. Hier wie dort hat die gänzliche Umgeſtaltung der äußeren Körperform, welche durch Anpaſſung an ganz verſchiedene Lebensbedingungen bewirkt wurde, die tiefe Grundlage der erblichen inneren Eigenthümlichkeiten nicht zu verwiſchen vermocht. Nach der vorher erwähnten Anſicht von Huxley würden übri— gens bloß die pflanzenfreſſenden Walthiere (Sirenia) von den Huf— thieren abſtammen, die fleiſchfreſſenden Cetaceen (Sarcoceta) dagegen von den Seeraubthieren; zwiſchen den beiden letzteren ſollen die Zeuglo— donten einen Uebergang herſtellen. In dieſem Falle würde aber die ſehr nahe anatomiſche Verwandtſchaft zwiſchen den pflanzenfreſſenden und fleiſchfreſſenden Cetaceen ſchwer zu begreifen ſein. Die ſonderbaren . ee Se u — Fliegende Säugethiere oder Flederthiere. 563 Eigenthümlichkeiten, durch welche ſich beide Gruppen von den übri— gen Säugethieren im inneren und äußeren Bau ſo auffallend unter— ſcheiden, würden dann bloß als Analogien (durch gleichartige An— paſſung bedingt), nicht als Homologien (von einer gemeinſamen Stammform vererbt) aufzufaſſen ſein. Das letztere kommt mir aber wahrſcheinlich vor, und daher habe ich auch alle Cetaceen als eine ſtammverwandte Gruppe unter den deeidualoſen ſtehen laſſen. Ebenſo wie die Raubthiere, ſteht den Inſectenfreſſern ſehr nahe die merkwürdige Ordnung der fliegenden Säugethiere oder Flederthiere (Chiroptera). Sie hat ſich durch Anpaſſung an flie— gende Lebensweiſe in ähnlicher Weiſe auffallend umgebildet, wie die Seeraubthiere durch Anpaſſung an ſchwimmende Lebensweiſe. Wahr— ſcheinlich hat auch dieſe Ordnung ihre Wurzel in den Halbaffen, mit denen ſie noch heute durch die Pelzflatterer (Galeopithecus) eng ver— bunden iſt. Von den beiden Unterordnungen der Flederthiere haben ſich wahrſcheinlich die inſectenfreſſenden oder Fledermäuſe (Nycte— rides) erſt ſpäter aus den früchtefreſſenden oder Flederhunden (Pterocynes) entwickelt, denn die letzteren ſtehen in mancher Bezie— hung den Halbaffen doch näher als die erſteren. Als letzte Säugethierordnung hätten wir nun endlich noch die echten Affen (Simiae) zu beſprechen. Da aber im zoologiſchen Syſteme zu dieſer Ordnung auch das Menſchengeſchlecht gehört, und da daſſelbe ſich aus einem Zweige dieſer Ordnung ohne allen Zweifel hiſtoriſch entwickelt hat, ſo wollen wir die genauere Unterſuchung ihres Stammbaumes und ihrer Geſchichte einem beſonderen Vor— trage vorbehalten. 36 * Zweiundzwanzigſter Vortrag. Urſprung und Stammbaum des Menſchen. Die Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Menſchen. Unermeßliche Be— deutung und logiſche Nothwendigkeit derſelben. Stellung des Menſchen im natür- lichen Syſtem der Thiere, insbeſondere unter den discoplacentalen Säugethieren. Unberechtigte Trennung der Vierhänder und Zweihänder. Berechtigte Trennung der Halbaffen von den Affen. Stellung des Menſchen in der Ordnung der Affen. Schmalnaſen (Affen der alten Welt) und Plattnaſen (amerikanische Affen). Unter⸗ ſchiede beider Gruppen. Entſtehung des Menſchen aus Schmalnaſen. Menſchen⸗ affen oder Anthropoiden. Afrikaniſche Menſchenaffen (Gorilla und Schimpanſe). Aſiatiſche Menſchenaffen (Orang und Gibbon). Vergleichung der verſchiedenen Men⸗ ſchenaffen und der verſchiedenen Menſchenraſſen. Ueberſicht der Ahnenreihe des Menſchen. Wirbelloſe Ahnen (Prochordaten) und Wirbelthier-Ahnen. Meine Herren! Von allen einzelnen Fragen, welche durch die Abſtammungslehre beantwortet werden, von allen beſonderen Folge— rungen, die wir aus derſelben ziehen müſſen, iſt keine einzige von ſolcher Bedeutung, als die Anwendung dieſer Lehre auf den Men— ſchen ſelbſt. Wie ich ſchon im Beginn dieſer Vorträge (S. 6) her— vorgehoben habe, müſſen wir aus dem allgemeinen Inductionsge— ſetze der Deſcendenztheorie mit der unerbittlichen Nothwendigkeit ſtreng— ſter Logik den beſonderen Deductionsſchluß ziehen, daß der Menſch ſich aus niederen Wirbelthieren, und zunächſt aus affenartigen Säu— gethieren allmählich und ſchrittweiſe entwickelt hat. Daß dieſe Lehre ein unzertrennlicher Beſtandtheil der Abſtammungslehre, und ſomit auch der allgemeinen Entwickelungstheorie überhaupt iſt, das wird Die Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Menſchen. 565 ebenſo von allen denkenden Anhängern, wie von allen folgerichtig ſchließenden Gegnern derſelben anerkannt. Wenn dieſe Lehre aber wahr iſt, ſo wird die Erkenntniß vom thieriſchen Urſprung und Stammbaum des Menſchengeſchlechts noth— wendig tiefer, als jeder andere Fortſchritt des menſchlichen Geiſtes, in die Beurtheilung aller menſchlichen Verhältniſſe und zunächſt in das Getriebe Aller menſchlichen Wiſſenſchaften eingreifen. Sie muß früher oder ſpäter eine vollſtändige Umwälzung in der ganzen Welt— anſchauung der Menſchheit hervorbringen. Ich bin der feſten Ueber— zeugung, daß man in Zukunft dieſen unermeßlichen Fortſchritt in der Erkenntniß als Beginn einer neuen Entwickelungsperiode der Menſch— heit feiern wird. Er läßt ſich nur vergleichen mit dem Schritte des Copernicus, der zum erſten Male klar auszuſprechen wagte, daß die Sonne ſich nicht um die Erde bewege, ſondern die Erde um die Sonne. Ebenſo wie durch das Weltſyſtem des Copernicus und feiner Nachfolger die geocentriſche Weltanſchauung des Menſchen umgeſtoßen wurde, die falſche Anſicht, daß die Erde der Mittelpunkt der Welt ſei, und daß ſich die ganze übrige Welt um die Erde drehe, ebenſo wird durch die, ſchon von Lamarck ver— ſuchte Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Menſchen die an- thropocentriſche Weltanſchauung umgeſtoßen, der eitle Wahn, daß der Menſch der Mittelpunkt der irdiſchen Natur und das ganze Getriebe derſelben nur dazu da ſei, um dem Menſchen zu dienen. In gleicher Weiſe, wie das Weltſyſtem des Copernicus durch Newton's Gravitationstheorie mechaniſch begründet wurde, ſehen wir ſpäter die Deſcendenztheorie des Lamarck durch Darwin's Selectionstheorie ihre urſächliche Begründung erlangen. Ich habe dieſen in mehrfacher Hinſicht lehrreichen Vergleich in meinen Vorftä- gen „über die Entſtehung und den Stammbaum des Menſchenge— ſchlechts“ weiter ausgeführt. Um nun dieſe äußerſt wichtige Anwendung der Abſtammungs— lehre auf den Menſchen mit der unentbehrlichen Unparteilichkeit und Objectivität durchzuführen, muß ich Sie vor Allem bitten, ſich (für 566 Vorurtheilsfreie Unterſuchung des Menſchen. kurze Zeit wenigſtens) aller hergebrachten und allgemein üblichen Vor— ſtellungen über die „Schöpfung des Menſchen“ zu entäußern, und die tief eingewurzelten Vorurtheile abzuſtreifen, welche uns über dieſen Punkt ſchon in früheſter Jugend eingepflanzt werden. Wenn Sie dies nicht thun, können Sie nicht objectiv das Gewicht der wiſſen— ſchaftlichen Beweisgründe würdigen, welche ich Ihnen für die thie— riſche Abſtammung des Menſchen, für ſeine Entſtehung aus affen— ähnlichen Säugethieren anführen werde. Wir können hierbei nichts beſſeres thun, als mit Huxley uns vorzuſtellen, daß wir Bewohner eines anderen Planeten wären, die bei Gelegenheit einer wiſſenſchaft— lichen Weltreiſe auf die Erde gekommen wären, und da ein ſonder— bares zweibeiniges Säugethier, Menſch genannt, in großer Anzahl über die ganze Erde verbreitet, angetroffen hätten. Um daſſelbe zoo— logiſch zu unterſuchen, hätten wir eine Anzahl von Individuen deſ— ſelben, in verſchiedenem Alter und aus verſchiedenen Ländern, gleich den anderen auf der Erde geſammelten Thieren, in ein großes Faß mit Weingeiſt gepackt, und nähmen nun nach unſerer Rückkehr auf den heimiſchen Planeten ganz objectiv die vergleichende Anatomie aller dieſer erdbewohnenden Thiere vor. Da wir gar kein perſön— liches Intereſſe an dem, von uns ſelbſt gänzlich verſchiedenen Men— ſchen hätten, jo würden wir ihn ebenſo unbefangen und objectiv wie die übrigen Thiere der Erde unterſuchen und beurtheilen. Dabei würden wir uns ſelbſtverſtändlich zunächſt aller Anſichten und Muth- maßungen über die Natur ſeiner Seele enthalten oder über die geiſtige Seite ſeines Weſens, wie man es gewöhnlich nennt. Wir befchäfti- gen uns vielmehr zunächſt nur mit der körperlichen Seite und der— jenigen natürlichen Auffaſſung derſelben, welche uns durch die Ent— wickelungsgeſchichte an die Hand gegeben wird. Offenbar müſſen wir hier zunächſt, um die Stellung des Men— ſchen unter den übrigen Organismen der Erde richtig zu beſtimmen, wieder den unentbehrlichen Leitfaden des natürlichen Syſtems in die Hand nehmen. Wir müſſen möglichſt ſcharf und genau die Stellung zu beſtimmen ſuchen, welche dem Menſchen im natürlichen Syſtem der Stellung des Menſchen im Syſtem der Wirbelthiere. 567 Thiere zukömmt. Dann können wir, wenn überhaupt die Deſcendenz— theorie richtig iſt, aus der Stellung im Syſtem wiederum auf die wirk— liche Stammverwandtſchaft zurückſchließen und den Grad der Blutsver— wandtſchaft beſtimmen, durch welchen der Menſch mit den men— ſchenähnlichſten Thieren zuſammenhängt. Der hypothetiſche Stamm— baum des Menſchengeſchlechts wird ſich uns dann als das Endreſultat dieſer vergleichend anatomiſchen und ſyſtematiſchen Unterſuchung ganz von ſelbſt ergeben. Wenn Sie nun auf Grund der vergleichenden Anatomie und Ontogenie die Stellung des Menſchen in dem natürlichen Syſtem der Thiere aufſuchen, mit welchem wir uns in den beiden letzten Vorträgen beſchäftigten, ſo tritt Ihnen zunächſt die unumſtößliche Thatſache entgegen, daß der Menſch dem Stamm oder Phylum der Wirbelthiere angehört. Alle körperlichen Eigenthümlichkeiten, durch welche ſich alle Wirbelthiere ſo auffallend von allen Wirbelloſen un— terſcheiden, beſitzt auch der Menſch. Eben ſo wenig iſt es jemals zweifelhaft geweſen, daß unter allen Wirbelthieren die Säuge— thiere dem Menſchen am nächſten ſtehen, und daß er alle charakte— riſtiſchen Merkmale beſitzt, durch welche ſich die Säugethiere vor allen übrigen Wirbelthieren auszeichnen. Wenn Sie dann weiterhin die drei verſchiedenen Hauptgruppen oder Unterklaſſen der Säuge— thiere in's Auge faſſen, deren gegenſeitiges Verhältniß wir im letzten Vortrage erörterten, ſo kann nicht der geringſte Zweifel darüber ob— walten, daß der Menſch zu den Placentalthieren gehört, und alle die wichtigen Eigenthümlichkeiten mit den übrigen Placentalien theilt, durch welche ſich dieſe von den Beutelthieren und von den Kloakenthieren unterſcheiden. Endlich iſt von den beiden Haupt— gruppen der Placentalthiere, Deciduaten und Indeciduen, die Gruppe der Deciduaten zweifelsohne diejenige, welche auch den Menſchen umfaßt. Denn der menſchliche Embryo entwickelt ſich mit einer ech— ten Decidua, und unterſcheidet ſich dadurch weſentlich von allen De— eidualoſen. Unter den Deciduathieren haben wir als zwei Legionen die Zonoplacentalien mit gürtelförmiger Placenta (Raubthiere und 568 Stellung des Menſchen im Syſtem der Säugethiere. Scheinhufer) und die Discoplacentalien mit ſcheibenförmiger Placenta (alle übrigen Deciduaten) unterſchieden. Der Menſch beſitzt eine ſcheibenförmige Placenta, gleich allen anderen Discoplacenta— lien, und wir würden nun alſo zunächſt die Frage zu beantworten haben, welche Stellung der Menſch in dieſer Gruppe einnimmt. Im letzten Vortrage hatten wir folgende fünf Ordnungen von Discoplacentalien unterſchieden: 1) die Halbaffen; 2) die Nagethiere; 3) die Inſectenfreſſer, 4) die Flederthiere; 5) die Affen. Wie Jeder von Ihnen weiß, ſteht von dieſen fünf Ordnungen die letzte, dieje— nige der Affen, dem Menſchen in jeder körperlichen Beziehung weit näher, als die vier übrigen. Es kann ſich daher nur noch um die Frage handeln, ob man im Syſtem der Säugethiere den Menſchen geradezu in die Ordnung der echten Affen einreihen, oder ob man ihn neben und über derſelben als Vertreter einer beſonderen ſechſten Ordnung der Discoplacentalien betrachten ſoll. Linnö vereinigte in feinem Syſtem den Menſchen mit den echten Affen, den Halbaffen und den Fledermäuſen in einer und derſelben Ordnung, welche er Primates nannte, d. h. Oberherrn, gleichſam die höchſten Würdenträger des Thierreichs. Der Göttinger Anatom Blumenbach dagegen trennte den Menſchen als eine beſondere Ordnung unter dem Namen Bimana oder Zweihänder, indem er ihm die vereinigten Affen und Halbaffen unter dem Namen Quadru— mana oder Vierhänder entgegenſetzte. Dieſe Eintheilung wurde auch von Cuvier und demnach von den allermeiſten folgenden Zoo— logen angenommen. Erſt 1863 zeigte Huxley in feinen vortreffli— chen „Zeugniſſen für die Stellung des Menſchen in der Natur“ 26), daß dieſelbe auf falſchen Anſichten beruhe, und daß die angeblichen „Vierhänder“ (Affen und Halbaffen) eben ſo gut „Zweihänder“ ſind, wie der Menſch ſelbſt. Der Unterſchied des Fußes von der Hand beruht nicht auf der phyſiologiſchen Eigenthümlichkeit, daß die erſte Zehe oder der Daumen den vier übrigen Fingern oder Zehen an der Hand entgegenſtellbar iſt, am Fuße dagegen nicht. Denn es giebt wilde Völkerſtämme, welche die erſte oder Stellung des Menſchen im Syſtem der Affen. 569 große Zehe den vier übrigen am Fuße ebenſo gegenüber ſtellen kön— nen, wie an der Hand. Sie können alſo ihren „Greiffuß“ ebenſo gut als eine ſogenannte „Hinterhand“ benutzen, wie die Affen. Die chineſiſchen Bootsleute rudern, die bengaliſchen Handwerker weben mit dieſer Hinterhand. Die Neger, bei denen die große Zehe beſon— ders ſtark und frei beweglich iſt, umfaſſen damit die Zweige, wenn ſie auf Bäume klettern, gerade wie die „vierhändigen“ Affen. Ja ſelbſt die neugeborenen Kinder der höchſtentwickelten Menſchenraſſen greifen in den erſten Monaten ihres Lebens noch eben ſo geſchickt mit der „Hinterhand“, wie mit der „Vorderhand“, und halten einen hingereichten Löffel ebenſo feſt mit der großen Zehe, wie mit dem Daumen! Auf der anderen Seite differenziren ſich aber bei den höheren Affen, namentlich beim Gorilla, Hand und Fuß ſchon ganz ähnlich wie beim Menſchen (vergl. Taf. IV, S. 363). Der weſentliche Unterſchied von Hand und Fuß iſt alſo nicht ein phyſiologiſcher, ſondern ein morphologiſcher, und iſt durch den charakteriſtiſchen Bau des knöchernen Skelets und der ſich daran an— ſetzenden Muskeln bedingt. Die Fußwurzelknochen ſind weſentlich anders angeordnet, als die Handwurzelknochen, und der Fuß beſitzt drei beſondere Muskeln, welche der Hand fehlen (ein kurzer Beuge— muskel, ein kurzer Streckmuskel und ein langer Wadenbeinmuskel). In allen dieſen Beziehungen verhalten ſich die Affen und Halbaffen genau ſo wie der Menſch, und es war daher vollkommen unrichtig, wenn man den Menſchen von den erſteren als eine beſondere Ord— nung auf Grund ſeiner ſtärkeren Differenzirung von Hand und Fuß trennen wollte. Ebenſo verhält es ſich aber auch mit allen übrigen körperlichen Merkmalen, durch welche man etwa verſuchen wollte, den Menſchen von den Affen zu trennen, mit der relativen Länge der Gliedmaßen, dem Bau des Schädels, des Gehirns u. ſ. w. In allen dieſen Beziehungen ohne Ausnahme ſind die Unterſchiede zwi— ſchen dem Menſchen und den höheren Affen geringer, als die ent— ſprechenden Unterſchiede zwiſchen den höheren und den niederen Affen. 570 Syſtematiſche Ueberſicht der Familien und 1 der Affen. Sectionen 1 . | Suffematifder der der oder Genera der Name der Affen Affen Affen Genera I: A en der neuen Bunde Sr oder ER anne a 4 A. lat rrhinen 5 ’ . 1 0 ei I. Seidenaffen 1. Pinſelaffe 1. Midas mit Krallen I 8 Hapalida 2. Löwenaffe 2. Jacchus Arctopitheci mit Greifihwanz ‘ 3. Eichhornaffe 3. Chrysothrix II. Blattnajen 5 = ” f 0 I / 1 Schlappſchwanz 4. Springaffe 4. Callithrix mi Ei B. Platyrrhinen 5. Nachtaffe 5. Nyetipithecus x Aphyocerca & BEER g X mit 6. Schweifaffe 6. Pithecia Kuppennägeln 7. Rollaffe 7. Cebus 10 8 - 2 III. Plattnaſen A f Dysmopitheci 8. Klammeraffe 8. Ateles / 9. Wollaffe 9. Lagothrix 10. Brüllaffe 10. Mycetes Labidocerca n. aan der alten well (Heopitheci) oder fämalnafge Afen REED IV eihwä 9 = . 95 5 (11. Pavian 11. Cynocephalus ‚atarrhinen mit 6 12. Makako 12. Inuus ie Backentaſchen 2 C. Geſchwänzte il: 13. Meerkatze 13. Cercopithecus 5 Ascoparea Katarrhinen x Menocerca v. Gefhmwänzte 8 14. Schlankaffe 14. Semnopithecus atarrhinen ohne Br . Au: h 0 ö 15. Stummelaffe 15. Colobus Backentaſchen ö Menſch 22. Sprechender 22. Homo Menſch Hrecti (Anthropi) RR 16. Naſenaffe 16. Nasalis 17. Gibbon 17. Hylobates VI. Menſchenaffen J18. Orang 18. Satyrus Anthropoides = Schimpanſe 19. Engeco D. Schwanzloſe 20. Gorilla 20. Gorilla Katarrhinen 21. Affenmenſch 21. Pithecanthro- Lipocerca VII. Menſchen | oder ſprachloſer pus (Alalus)- Stammbaum der Affen mit Inbegriff der Menfchen. 5 Schlichthaarige Menſchen Lissotriches Wollhaarige Menſchen | Ulotriches | 5 EEE Sprachloſe Menſchen (Alali) oder Affenmenſchen (Pithecanthropi) Gorilla Gorilla Orang Schimpanſe | R 15 Engeco | Gibbon Hylobates I | | 1 | 1 Afrikaniſche F Menſchenaffen Aſiatiſche Menſchenaffen | | 1 — ä — Naſenaffe Menſchenaffen Nasalis 1 Anthropoides Schlankaffe | Semnopithecus | Seidenaffen | Aretopitheci N | Greifſchwänzer Meerlatze | | Labidocerca Cercopithecus | Pavian | | | Cynocephalus Schlappſchwänzer A. Aphyocerca Geſchwänzte Schmalnaſen Plattnaſen Catarrhina menocerca Platyrrhinae Schmalnaſen Catarrhinae Halbaffen Prosimiae 572 Berechtigte Trennung der Halbaffen von den Affen. Auf Grund der ſorgfältigſten und genaueſten anatomiſchen Ver— gleichungen kam demnach Huxley zu folgendem, äußerſt wichtigem Schluſſe: „Wir mögen daher ein Syſtem von Organen vornehmen, welches wir wollen, die Vergleichung ihrer Modificationen in der Affen- reihe führt uns zu einem und demſelben Reſultate: daß die anato— miſchen Verſchiedenheiten, welche den Menſchen vom Gorilla und Schimpanſe ſcheiden, nicht fo groß find, als die, welche den Gorilla von den niedrigeren Affen tren— nen“. Demgemäß vereinigt Huxley, ſtreng der ſyſtematiſchen Logik folgend, Menſchen, Affen und Halbaffen in einer einzigen Ordnung, Primates, und theilt dieſe in folgende ſieben Familien von ungefähr gleichem ſyſtematiſchen Werthe: 1. Anthropini (der Menſch). 2. Ca- tarrhini (echte Affen der alten Welt). 3. Platyrrhini (echte Affen Amerikas). 4. Arctopitheci (Krallenaffen Amerikas). 5. Lemurini (kurzfüßige und langfüßige Halbaffen, S. 559). 6. Chiromyini (Fingerthiere, ©. 558). 7. Galeopithecini (Pelzflatterer, S. 563). Wenn wir aber das natürliche Syſtem und demgemäß den Stammbaum der Primaten ganz naturgemäß auffaſſen wollen, ſo müſſen wir noch einen Schritt weiter gehen, und die Halbaffen oder Proſimien (die drei letzten Familien Huxley's) gänzlich von den echten Affen oder Simien (den vier erſten Familien) trennen. Denn wie ich ſchon in meiner generellen Morphologie zeigte, und Ihnen bereits im letzten Vortrage erläuterte, unterſcheiden ſich die Halbaffen in vielen und wichtigen Beziehungen von den echten Affen und ſchließen ſich in ihren einzelnen Formen vielmehr den ver— ſchiedenen anderen Ordnungen der Discoplacentalien an. Die Halbaf— fen ſind daher wahrſcheinlich als Reſte der gemeinſamen Stammgruppe zu betrachten, aus welcher ſich die anderen Ordnungen des Discopla— centalien, und vielleicht alle Deciduaten, als divergente Zweige entwik— kelt haben. (Gen. Morph. II, S. CXLVIII und CLIII.) Der Menſch aber kann nicht von der Ordnung der echten Affen oder Simien getrennt werden, da er den höheren echten Affen in jeder Beziehung näher ſteht, als dieſe den niederen echten Affen. Schmalnaſige und plattnaſige Affen. 573 Die echten Affen (Simiae) werden allgemein in zwei ganz natürliche Hauptgruppen getheilt, nämlich in die Affen der neuen Welt (amerikaniſche Affen) und in die Affen der alten Welt, welche in Aſien und Afrika einheimiſch ſind, und früher auch in Europa vertreten wa— ren. Dieſe beiden Abtheilungen unterſcheiden ſich namentlich in der Bildung der Naſe und man hat ſie darnach benannt. Die ameri— kaniſchen Affen haben plattgedrückte Naſen, ſo daß die Naſen— löcher nach außen ſtehen, nicht nach unten; ſie heißen deshalb Platt— naſen (Platyrrhinae). Dagegen haben die Affen der alten Welt eine ſchmale Naſenſcheidewand und die Naſenlöcher ſehen nach unten, wie beim Menſchen; man nennt ſie deshalb Schmalnaſen (Catarrhinae). Ferner iſt das Gebiß, welches bekanntlich bei der Klaſſifikation der Säugethiere eine hervorragende Rolle ſpielt, bei bei— den Gruppen charakteriſtiſch verſchieden. Alle Katarrhinen oder Affen der alten Welt haben ganz daſſelbe Gebiß, wie der Menſch, nämlich in jedem Kiefer, oben und unten, vier Schneidezähne, dann jederſeits einen Eckzahn und fünf Backzähne, von denen zwei Lückenzähne und drei Mahlzähne ſind, zuſammen 32 Zähne. Dagegen alle Affen der neuen Welt, alle Platyrrhinen, beſitzen vier Backzähne mehr, nämlich drei Lückenzähne und drei Mahlzähne jederſeits oben und unten. Sie haben alſo zuſammen 36 Zähne. Nur eine kleine Gruppe bildet da— von eine Ausnahme, nämlich die Krallenaffen (Arctopitheci), bei denen der dritte Mahlzahn verkümmert, und die demnach in jeder Kieferhälfte drei Lückenzähne und zwei Mahlzähne haben. Sie unter— ſcheiden ſich von den übrigen Platyrrhinen auch dadurch, daß ſie an den Fingern der Hände und den Zehen der Füße Krallen tragen, und keine Nägel, wie der Menſch und die übrigen Affen. Dieſe kleine Gruppe ſüdamerikaniſcher Affen, zu welcher unter anderen die bekann— ten niedlichen Pinſeläffchen (Midas) und Löwenäffchen (Jacchus) ge— hören, iſt wohl nur als ein eigenthümlich entwickelter Seitenzweig der Platyrrhinen aufzufaſſen. Fragen wir nun, welche Reſultate aus dieſem Syſtem der Affen für den Stammbaum derſelben folgen, ſo ergiebt ſich daraus unmit— 574 Entſtehung des Menſchen aus ſchmalnaſigen Affen. telbar, daß ſich alle Affen der neuen Welt aus einem Stamme ent— wickelt haben, weil ſie alle das charakteriſtiſche Gebiß und die Naſen— bildung der Platyrrhinen beſitzen. Ebenſo folgt daraus, daß alle Affen der alten Welt abſtammen müſſen von einer und derſelben gemein— ſchaftlichen Stammform, welche die Naſenbildung und das Gebiß aller jetzt lebenden Katarrhinen beſaß. Ferner kann es kaum zweifel— haft ſein, daß die Affen der neuen Welt, als ganzer Stamm genom— men, entweder von denen der alten Welt abſtammen, oder (unbe- ſtimmter und vorſichtiger ausgedrückt) daß Beide divergente Aeſte eines und deſſelben Affenſtammes ſind. Für die Abſtammung des Menſchen folgt hieraus der unendlich wichtige Schluß, welcher auch für die Ver— breitung des Menſchen auf der Erdoberfläche die größte Bedeutung be— ſitzt, daß der Menſch ſich aus den Katarrhinen entwickelt hat. Denn wir ſind nicht im Stande, einen zoologiſchen Charakter aufzufinden, der den Menſchen von den nächſtverwandten Affen der alten Welt in einem höheren Grade unterſchiede, als die entfernteſten Formen dieſer Gruppe unter ſich verſchieden ſind. Es iſt dies das wichtigſte Reſultat der ſehr genauen vergleichend-anatomiſchen Unter— ſuchungen Huxley's, welches nicht genug berückſichtigt werden kann. In jeder Beziehung ſind die anatomiſchen Unterſchiede zwiſchen dem Menſchen und den menſchenähnlichſten Katarrhinen (Orang, Gorilla, Schimpanſe) geringer, als die anatomiſchen Unterſchiede zwiſchen dieſen und den niedrigſten, tiefſt ſtehenden Katarrhinen, insbeſondere den hundeähnlichen Pavianen. Dieſes höchſt bedeutſame Reſultat er— giebt ſich aus einer unbefangenen anatomiſchen Vergleichung der ver— ſchiedenen Formen von Katarrhinen als unzweifelhaft. Wenn wir alſo überhaupt, der Deſcendenztheorie entſprechend, das natürliche Syſtem der Thiere als Leitfaden unſerer Betrachtung anerkennen, und darauf unſeren Stammbaum begründen, ſo müſſen wir nothwendig zu dem unabweislichen Schluſſe kommen, daß das Menſchengeſchlecht ein Aeſtchen der Katarrhineng ruppe iſt, und ſich aus längſt ausgeſtorbenen Affen dieſer Gruppe in der alten Welt entwickelt hat. Einige An— Menſchenaffen oder Authropoiden. 575 hänger der Deſcendenztheorie haben gemeint, daß die amerikaniſchen Menſchen ſich unabhängig von denen der alten Welt aus amerika— niſchen Affen entwickelt hätten. Dieſe Hypotheſe halte ich für ganz irrig. Denn die völlige Uebereinſtimmung aller Men— ſchen mit den Katarrhinen in Bezug auf die charakteri— ſtiſche Bildung der Naſe und des Gebiſſes beweiſt deutlich, daß ſie eines Urſprungs ſind, und ſich aus einer gemeinſamen Wurzel erſt entwickelt haben, nachdem die Platyrrhinen oder amerikaniſchen Affen ſich bereits von dieſer abgezweigt hatten. Die amerikaniſchen Ureinwohner ſind vielmehr, wie auch zahlreiche ethnographiſche That— ſachen beweiſen, aus Aſien, und theilweiſe vielleicht auch aus Poly— neſien (oder ſelbſt aus Europa) eingewandert. Einer genaueren Feſtſtellung des menſchlichen Stammbaums ſte— hen gegenwärtig noch große Schwierigkeiten entgegen. Nur das läßt ſich noch weiterhin behaupten, daß die nächſten Stammeltern des Menſchengeſchlechts ſchwanzloſe Katarrhinen (Lipocerca) wa— ren, ähnlich den heute noch lebenden Menſchenaffen, die ſich offen— bar erſt ſpäter aus den geſchwänzten Katarrhinen (Meno— cerca), als der urſprünglicheren Affenform, entwickelt haben. Von jenen ſchwanzloſen Katarrhinen, die jetzt auch häufig Menſchen— affen oder Anthropoiden genannt werden, leben heutzutage noch vier verſchiedene Gattungen mit ungefähr einem Dutzend ver— ſchiedener Arten. Der größte Menſchenaffe iſt der berühmte Gorilla (Gorilla engena oder Pongo gorilla genannt), welcher in der Tro— penzone des weſtlichen Afrika einheimiſch iſt und am Fluſſe Gaboon erſt 1847 von dem Miſſionär Savage entdeckt wurde. Dieſem ſchließt ſich als nächſter Verwandter der längſt bekannte Schimpanſe an (Engeco troglodytes oder Pongo troglodytes), ebenfalls im weit- lichen Afrika einheimiſch, aber bedeutend kleiner als der Gorilla, wel— cher den Menſchen an Größe und Stärke übertrifft. Der dritte von den drei großen menſchenähnlichen Affen iſt der auf Borneo und an— deren Sunda-Inſeln einheimiſche Orang oder Orang-Utang, von welchem man neuerdings zwei nahe verwandte Arten unterſcheidet, 576 Vergleichung der Menſchenaffen und der Menſchen. den großen Orang (Satyrus orang oder Pithecus satyrus) und den kleinen Orang (Satyrus morio oder Pithecus morio). End— lich lebt noch im ſüdlichen Aſien die Gattung Gibbon (Hylobates), von welcher man 4—s verſchiedene Arten unterſcheidet. Sie find bedeutend kleiner als die drei erſtgenannten Anthropoiden und ent— fernen ſich in den meiſten Merkmalen ſchon weiter vom Menſchen. Die ſchwanzloſen Menſchenaffen haben neuerdings, namentlich ſeit der genaueren Bekanntſchaft mit dem Gorilla und ſeit ihrer Ver— knüpfung mit der Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Men— ſchen ein ſo allgemeines Intereſſe erregt, und eine ſolche Fluth von Schriften hervorgerufen, daß ich hier keine Veranlaſſung finde, näher auf dieſelben einzugehen. Was ihre Beziehungen zum Menſchen betrifft, ſo finden Sie dieſelben in den trefflichen Schriften von Huxley 26), Carl Vogt ?:), Büchners) und Rolle?“) ausführlich erörtert. Ich beſchränke mich daher auf die Mittheilung des wichtigſten allge— meinen Reſultates, welches ihre allſeitige Vergleichung mit dem Men— ſchen ergeben hat, daß nämlich jeder von den vier Menſchenaffen dem Menſchen in einer oder einigen Beziehungen näher ſteht, als die übrigen, daß aber keiner als der abſolut in jeder Beziehung menſchen— ähnlichſte bezeichnet werden kann. Der Orang ſteht dem Menſchen am nächſten in Bezug auf die Gehirnbildung, der Schimpanſe durch wichtige Eigenthümlichkeiten der Schädelbildung, der Gorilla hinſicht— lich der Ausbildung der Füße und Hände, und der Gibbon endlich in der Bildung des Bruſtkaſtens. Es ergiebt ſich alſo aus der ſorgfältigen vergleichenden Anato- . mie der Anthropoiden ein ganz ähnliches Reſultat, wie es Weis— bach aus der ſtatiſtiſchen Zuſammenſtellung und denkenden Verglei— chung der ſehr zahlreichen und ſorgfältigen Körpermeſſungen erhalten hat, die Scherzer und Schwarz während der Reiſe der öſterrei— chiſchen Fregatte Novara um die Erde an Individuen verſchiedener Menſchenraſſen angeſtellt haben. Weis bach faßt das Endreſultat ſeiner gründlichen Unterſuchungen in folgenden Worten zuſammen: „Die Affenähnlichkeit des Menſchen concentrirt ſich keineswegs bei Abſtammung der Menſchen von Menſchenaffen. 577 8 einem oder dem anderen Volke, ſondern vertheilt ſich derart auf die einzelnen Körperabſchnitte bei den verſchiedenen Völkern, daß jedes mit irgend einem Erbſtücke dieſer Verwandtſchaft, freilich das eine mehr, das andere weniger bedacht iſt, und ſelbſt wir Euro— päer durchaus nicht beanſpruchen dürfen, dieſer Verwandtſchaft voll— ſtändig fremd zu ſein“. (Novara-Reiſe, Anthropholog. Theil.) Ausdrücklich will ich hier noch hervorheben, was eigentlich frei— lich ſelbſtverſtändlich iſt, daß kein einziger von allen jetzt le— benden Affen, und alſo auch keiner von den genannten Menſchenaffen der Stammvater des Menſchengeſchlechts jein kann. Von denkenden Anhängern der Deſcendenztheorie iſt dieſe Meinung auch niemals behauptet, wohl aber von ihren gedan— kenloſen Gegnern ihnen untergeſchoben worden. Die affenartigen Stammeltern des Menſchengeſchlechts ſind längſt aus— geſtorben. Vielleicht werden wir ihre verſteinerten Gebeine noch dereinſt theilweis in Tertiärgeſteinen des ſüdlichen Aſiens oder Afrikas auffinden. Jedenfalls werden dieſelben im zoologiſchen Syſtem in der Gruppe der ſchwanzloſen Schmalnaſen (Catarrhina lipo— cerca) oder Anthropoiden untergebracht werden müſſen. Die genealogiſchen Hypotheſen, zu welchen uns die Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Menſchen in den letzten Vorträgen bis hierher geführt hat, ergeben ſich für jeden klar und conſequent denken— den Menſchen unmittelbar aus den Thatſachen der vergleichenden Ana— tomie, Ontogenie und Paläontologie. Natürlich kann unſere Phylo— genie nur ganz im Allgemeinen die Grundzüge des menſchlichen Stammbaums andeuten, und ſie läuft um ſo mehr Gefahr des Irr— thums, je ſtrenger ſie im Einzelnen auf die uns bekannten beſonderen Thierformen bezogen wird. Indeſſen laſſen ſich doch ſchon jetzt min— deſtens die nachſtehend aufgeführten zweiundzwanzig Ahnenſtufen des Menſchen mit annähernder Sicherheit unterſcheiden. Von dieſen ge— hören vierzehn Stufen zu den Wirbelthieren (Vertebrata), acht Sufen zu den wirbelloſen Vorfahren des Menſchen (Prochordata). Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. cs =T Thieriſche Vorfahrenkette oder Ahnenreihe des Menſchen. (Vergl. den XX. und XXI. Vortrag, ſowie Taf. XIV und S. 352.) Erſte Hälfte der menſchlichen Vorfahrenkette: Wirbellofe Ahnen des Menſchen (Prochordata.) Erſte Stufe: Moneren (Monera). Die älteſten Vorfahren des Menſchen wie aller anderen Orga— nismen waren lebendige Weſen der denkbar einfachſten Art, Orga— nismen ohne Organe, gleich den heute noch lebenden Mone— ren. Sie beſtanden aus einem ganz einfachen, durch und durch gleichartigen, ſtructurloſen und formloſen Klümpchen einer ſchleimarti— gen oder eiweißartigen Materie (Protoplasma), wie die heute noch lebende Protamoeba primitiva (vergl. S. 167, Fig. 1). Der Form— werth dieſer älteſten menſchlichen Urahnen war noch nicht einmal demjenigen einer Zelle gleich, ſondern nur einer Cytode (vergl. S. 308). Denn wie bei allen Moneren war das Protoplasma— Stückchen noch ohne Zellenkern. Die erſten von dieſen Moneren entſtanden im Beginn der laurentiſchen Periode durch Urzeugung oder Archigonie aus ſogenannten „anorganiſchen Verbindungen“, aus einfachen Verbindungen von Kohlenſtoff, Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Stickſtoff. Die Annahme einer ſolchen Urzeugung, einer mechani— ſchen Entſtehung der erſten Organismen aus anorganiſcher Materie, haben wir im dreizehnten Vortrage als eine nothwendige Hypotheſe nachgewieſen (vergl. S. 301). Den directen, auf das biogenetiſche Grundgeſetz (S. 361) geſtützten Beweis für die frühere Exiſtenz die— ſer älteſten Ahnenſtufe liefert möglicherweiſe noch heute der Umſtand, Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 579 daß nach den Angaben vieler Beobachter im Beginn der Ei-Entwicke— lung der Zellenkern verſchwindet und ſomit die Eizelle auf die nie— dere Stufe der Cytode zurückſinkt (Monerula, S. 441; Rückſchlag der kernhaltigen Plaſtide in die kernloſe). Aus den wichtigſten allge— meinen Gründen iſt die Annahme dieſer erſten Stufe nothwendig. Zweite Stufe: Amoeben (Amoebae). Die zweite Ahnenſtufe des Menſchen, wie aller höheren Thiere und Pflanzen, wird durch eine einfache Zelle gebildet, d. h. ein Stückchen Protoplasma, das einen Kern umſchließt. Aehnliche „ein— zellige Organismen“ leben noch heute in großer Menge. Unter die— ſen werden die gewöhnlichen, einfachen Amoeben (S. 169, Fig. 2) von jenen Urahnen nicht weſentlich verſchieden geweſen ſein. Der Formwerth jeder Amoebe iſt weſentlich gleich demjenigen, welchen das Ei des Menſchen, wie das Ei aller anderen Thiere, noch heute beſitzt (vergl. S. 170, Fig. 3). Die nackten Eizellen der Schwämme, welche ganz wie Amoeben umherkriechen, ſind von dieſen nicht zu unterſcheiden. Die Eizelle des Menſchen, welche gleich der der mei— ſten anderen Thiere von einer Membran umſchloſſen iſt, gleicht einer eingekapſelten Amoebe. Die erſten einzelligen Thiere dieſer Art ent— ſtanden aus Moneren durch Differenzirung des inneren Kerns und des äußeren Protoplasma, und lebten ſchon in früher Primordial— zeit. Den unumſtößlichen Beweis, daß ſolche einzellige Urthiere als directe Vorfahren des Menſchen wirklich exiſtirten, liefert gemäß des biogenetiſchen Grundge— ſetzes (S. 276) die Thatſache, daß das Ei des Menſchen weiter nichts als eine einfache Zelle iſt. (Vergl. S. 441.) Dritte Stufe: Synamoeben (Synamoebae). Um uns von der Organiſation derjenigen Vorfahren des Men— ſchen, die ſich zunächſt aus den einzelligen Urthieren entwickelten, eine ungefähre Vorſtellung zu machen, müſſen wir diejenigen Veränderun— gen verfolgen, welche das menſchliche Ei im Beginn der individuellen 327 * 34 580 Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. Entwickelung erleidet. Gerade hier leitet uns die Ontogeneſe mit größter Sicherheit auf die Spur der Phylogeneſe. Nun haben wir ſchon früher geſehen, daß das Ei des Menſchen (ebenſo wie das aller anderen Säugethiere) nach erfolgter Befruchtung durch wiederholte Selbſttheilung in einen Haufen von einfachen und gleichartigen, amoebenähnlichen Zellen zerfällt (S. 170, Fig. 40). Alle dieſe „Fur— chungskugeln“ ſind anfänglich einander ganz gleich, ohne Hülle, nackte, kernhaltige Zellen. Bei vielen Thieren führen dieſelben Bewegungen nach Art der Amoeben aus. Dieſer ontogenetiſche Entwickelungszu— ſtand, den wir wegen ſeiner Maulbeerform Morula nannten (S. 442), führt den ſicheren Beweis, daß in früher Primordialzeit Vorfah— ren des Menſchen exiſtirten, welche den Formwerth eines Haufens von gleichartigen, locker verbundenen Zellen beſaßen. Man kann die— ſelben als Amoeben-Gemeinden (Synamoebae) bezeichnen (vgl. S. 444). Sie entſtanden aus den einzelligen Urthieren der zwei— ten Stufe durch wiederholte Selbſttheilung und bleibende Vereinigung dieſer Theilungsproducte. Vierte Stufe: Flimmerſchwärmer (Planaeada). Aus der Morula (Titelbild Fig. 3) entwickelt ſich im Laufe der Ontogeneſe bei den meiſten niederen Thieren, und namentlich auch bei dem niederſten Wirbelthiere, dem Lanzetthiere oder Amphioxus, zu— nächſt eine Flimmerlarve oder ein Flimmerſchwärmer (Planula). Diejenigen Zellen nämlich, welche an der Oberfläche des gleichartigen Zellenhaufens liegen, ſtrecken haarfeine Fortſätze oder Flimmerhaare aus, welche ſich ſchlagend im Waſſer bewegen, und dadurch den gan— zen Körper rotirend umhertreiben. So erſcheint nun der rundliche vielzellige Körper bereits differenzirt, indem ſich die äußere Flimmer— zellendecke von den nicht flimmernden Zellen im Innern unterſcheidet (Titelbild, Fig. 4). Beim Menſchen und bei allen anderen Wirbel— thieren (mit Ausnahme des Amphioxus), ebenſo bei allen Arthropo— den, iſt dieſer Zuſtand der Flimmerlarve im Laufe der Zeit durch ab— gekürzte Vererbung verloren gegangen. Dennoch müſſen in früher Thieriſche Ahnenreihe des Menschen. 581 Primordialzeit Vorfahren des Menſchen von dem Formwerth einer ſolchen Flimmerlarve exiſtirt haben (Planaea, S. 442). Den ſicheren Beweis dafür liefert der Amphioxus, welcher einerſeits dem Menſchen blutsverwandt iſt, andrerſeits aber noch das Stadium der Planula bis heute conſervirt hat. Fünfte Stufe: Urdarmthiere (Gastraeada). Im Laufe der individuellen Entwickelung entſteht ſowohl beim Amphioxus, wie bei den verſchiedenſten niederen Thieren aus der Pla— nula zunächſt die äußerſt wichtige Larvenform, welche wir Darm— larve oder Gaſtrula genannt haben (S. 443; Titelbild, Fig. 5, 6). Nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze beweiſt dieſe Gaſtrula die frühere Exiſtenz einer ebenſo gebauten ſelbſtſtändigen Urthier-Form, welche wir Urdarmthier oder Gaſträa nannten (S. 444, 445). Solche Gaſträaden müſſen ſchon während der älteren Primordialzeit exiſtirt und unter ihnen müſſen ſich auch Vorfahren des Menſchen befunden haben. Den ſicheren Beweis dafür liefert der Amphioxus, wel— cher trotz ſeiner Blutsverwandtſchaft mit dem Menſchen noch heute das Stadium der Gaſtrula mit einfacher Darmanlage und zweiblättriger Darmwand durchläuft (vergl. Taf. X, Fig. B). Sechſte Stufe: Strudelwürmer (Turbellaria). Die menſchlichen Vorfahren der ſechſten Stufe, die aus den Gaſträaden der fünften Stufe hervorgingen, waren niedere Würmer, welche unter allen uns bekannten Wurmformen den Strudelwür— mern oder Turbellarien am nächſten ſtanden, oder doch wenig— ſtens im Ganzen deren Formwerth beſaßen. Sie waren gleich den heutigen Strudelwürmern auf der ganzen Körperoberfläche mit Wim— pern überzogen und beſaßen einen einfachen Körper von länglichrun— der Geſtalt, ohne alle Anhänge. Eine wahre Leibeshöhle (Coelom) und Blut war bei dieſen acoelomen Würmern noch nicht vorhanden. Sie entſtanden ſchon in früher Primordialzeit aus den Gaſträaden durch Bildung eines mittleren Keimblattes oder Muskelblattes, ſo— 582 Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. wie durch weitere Differenzirung der inneren Körpertheile zu ver— ſchiedenen Organen; insbeſondere die erſte Bildung eines Nervenſy— ſtems, der einfachſten Sinnesorgane, der einfachſten Organe für Ausſcheidung (Nieren) und Fortpflanzung (Geſchlechtsorgane). Der Beweis dafür, daß auch menſchliche Vorfahren von ähnlicher Bil- dung exiſtirten, iſt in dem Umſtande zu ſuchen, daß uns die ver— gleichende Anatomie und Ontogenie auf niedere acoelome Würmer, als auf die gemeinſame Stammform nicht nur aller höheren Wür— mer, ſondern auch der vier höheren Thierſtämme hinweiſt. Dieſen uralten acoelomen Stammwürmern ſtehen aber von allen uns be— kannten Thieren die Turbellarien am nächſten, welche noch keine Leibeshöhle und kein Blut beſitzen. Siebente Stufe: Weichwürmer (Scolecida). Zwiſchen den Strudelwürmern der vorigen Stufe und den Sack— würmern der nächſten Stufe müſſen wir mindeſtens noch eine verbin— dende Zwiſchenſtufe nothwendig annehmen. Denn die Tunicaten, welche unter allen uns bekannten Thieren der achten Stufe am nächſten ſtehen, und die Turbellarien, welche der ſechſten Stufe zu— nächſt gleichen, ſind zwar beide der niederen Abtheilung der unge— gliederten Würmer angehörig. Aber dennoch entfernen ſich dieſe bei— den Abtheilungen in ihrer Organiſation ſo weit von einander, daß wir nothwendig die frühere Exiſtenz von ausgeſtorbenen Zwiſchenformen zwiſchen beiden annehmen müſſen. Wir können dieſe Verbindungs⸗ glieder, von denen uns wegen ihrer weichen Körperbeſchaffenheit keine foſſilen Reſte übrig blieben, als Weichwürmer oder Scoleciden zu— ſammenfaſſen. Sie entwickelten ſich aus den Strudelwürmern der ſechſten Stufe dadurch, daß ſich eine wahre Leibeshöhle (ein Coe— lom) und Blut im Inneren ausbildete. Welche von den heutigen Coelomaten dieſen ausgeſtorbenen Scoleciden am nächſten ſtehen, it ſchwer zu jagen, vielleicht die Eichelwürmer (Balanoglossus). Den Beweis, daß auch directe Vorfahren des Menſchen zu dieſen Scoleciden gehörten, liefert die vergleichende Anatomie und Onto— Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 583 genie der Würmer und des Amphioxus. Der Formwerth dieſer Stufe wird übrigens in der weiten Lücke zwiſchen Strudelwürmern und Mantelthieren durch mehrere ſehr verſchiedene Zwiſchenſtufen vertreten geweſen ſein. Achte Stufe: Sackwürmer (Himatega). Als Sackwürmer oder Himategen führen wir hier an achter Stelle diejenigen Coelomaten auf, aus denen ſich unmittelbar die älteſten ſchädelloſen Wirbelthiere entwickelten. Unter den Coeloma— ten der Gegenwart ſind die Ascidien die nächſten Verwandten dieſer höchſt merkwürdigen Würmer, welche die tiefe Kluft zwiſchen Wirbelloſen und Wirbelthieren überbrückten. Daß ſolche Himategen— Vorfahren des Menſchen während der Primordialzeit wirklich exiſtir— ten, dafür liefert den ſicheren Beweis die höchſt merkwürdige und wichtige Uebereinſtimmung, welche die Ontogenie des Amphioxus und der Aseidien darbietet. (Vergl. Taf. XII und XIII, ferner S. 466, 510 x.) Aus dieſer Thatſache läßt ſich die frühere Exiſtenz von Sackwürmern erſchließen, welche von allen heute uns bekann— ten Würmern den Mantelthieren (Tunicata) am nächſten ftan- den, und zwar den frei umherſchwimmenden Jugendformen oder Larven der einfachen Seeſcheiden (Ascidia, Phallusia). Sie ent- ſtanden aus den Würmern der ſiebenten Stufe durch Ausbildung eines Rückenmarks (Medullarrohrs) und durch Bildung eines darun— ter gelegenen Rückenſtrangs (Chorda dorſalis). Gerade die Lagerung dieſes centralen Rückenſtranges oder Axen-Skelets, zwiſchen dem Rückenmark auf der Rückenſeite und dem Darmrohr auf der Bauch— ſeite, iſt für ſämmtliche Wirbelthiere mit Inbegriff des Menſchen höchſt charakteriſtiſch, ebenſo aber auch für die Aeidien- Larven. Der Formwerth dieſer Stufe entſpricht ungefähr demjenigen, wel— chen die genannten Larven der einfachen Seeſcheiden zu der Zeit be— ſitzen, wo ſie die Anlage des Rückenmarks und des Rückenſtranges zeigen. (Taf. XII, Fig. A5; vergl. die Erklärung dieſer Figuren unten im Anhang.) 584 Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. Zweite Hälfte der menſchlichen Ahnenreihe: Wirbelthier-Ahnen des Menſchen (Vertebrata). Neunte Stufe: Schädelloſe (Acrania). Die Reihe der menſchlichen Vorfahren, welche wir ihrer ganzen Organiſation nach bereits als Wirbelthiere betrachten müſſen, be— ginnt mit Schädelloſen oder Acxanien, von deren Beſchaffenheit uns das heute noch lebende Lanzetthierchen (Amphioxus lanceolatus, Taf. XII B, XIII B) eine entfernte Vorſtellung giebt. Indem dieſes Thierchen durch ſeine früheſten Embryon-Zuſtände ganz mit den Ascidien übereinſtimmt, durch feine weitere Entwickelung ſich aber als echtes Wirbelthier zeigt, vermittelt es von Seiten der Wirbel— thiere den unmittelbaren Uebergang zu den Wirbelloſen. Wenn auch die menſchlichen Vorfahren der neunten Stufe in vielen Beziehungen von dem Amphiorus, als dem letzten überlebenden Reſte der Schädel— loſen, ſehr verſchieden waren, ſo müſſen ſie ihm doch in den weſent— lichſten Eigenthümlichkeiten, in dem Mangel von Kopf, Schädel und Gehirn geglichen haben. Schädelloſe von ſolcher Bildung, aus denen die Schädelthiere erſt ſpäter ſich entwickelten, lebten während der Primordialzeit und entſtanden aus den Himategen der achten Stufe durch die Bildung von Metameren oder Rumpfſegmenten, ſowie durch weitere Differenzirung aller Organe, namentlich vollſtändigere Ent— wickelung des Rückenmarks und des darunter gelegenen Rückenſtrangs. Wahrſcheinlich begann mit dieſer Stufe auch die Trennung der beiden Geſchlechter (Gonochorismus), während alle vorher genannten wir— belloſen Ahnen (abgeſehen von den 3—4 erſten geſchlechtsloſen Stufen) noch Zwitterbildung (Hermaphroditismus) zeigten (vergl. S. 176). Den ſicheren Beweis für die frühere Exiſtenz ſolcher ſchädelloſen und gehirnloſen Ahnen des Menſchen liefert die vergleichende Anato— mie und Ontogenie des Amphioxus und der Cranioten. Zehnte Stufe: Unpaarnaſen (Monorrhina). Aus den ſchädelloſen Vorfahren des Menſchen gingen zunächſt Schädelthiere oder Cranioten von der unvollkommenſten Beſchaffen— Thieriſche Ahnenreihe des Menschen. 585 heit hervor. Unter allen heute noch lebenden Schädelthieren nimmt die tiefſte Stufe die Klaſſe der Rundmäuler oder Cycloſtomen ein, die Inger (Myxinoiden) und Lampreten (Petromyzonten). Aus der inneren Organiſation dieſer Unpaarnaſen oder Monorrhinen kön— nen wir uns ein ungefähres Bild von der Beſchaffenheit der menſch— lichen Ahnen der zehnten Stufe machen. Wie bei jenen erſteren, ſo wird auch bei dieſen letzteren Schädel und Gehirn noch von der ein— fachſten Form geweſen ſein, und viele wichtige Organe, wie z. B. Schwimmblaſe, ſympathiſcher Nerv, Milz, Kieferſkelet und beide Beinpaare, noch völlig gefehlt haben. Jedoch ſind die Beutelkiemen und das runde Saugmaul der Cycloſtomen wohl als reine Anpaſ— ſungscharaktere zu betrachten, welche bei der entſprechenden Ahnen— ſtufe nicht vorhanden waren. Die Unpaarnaſen entſtanden wäh— rend der Primordialzeit aus den Schädelloſen dadurch, daß das vor— dere Ende des Rückenmarks ſich zum Gehirn und dasjenige des Rückenſtrangs zum Schädel entwickelte. Der ſichere Beweis, daß ſolche unpaarnaſige und kieferloſe Vorfahren des Menſchen exiſtirten, liegt in der „vergleichenden Anatomie der Myxinoiden“. Elfte Stufe: Urfiſche (Selachii). Die Urfiſch-Ahnen zeigten unter allen uns bekannten Wirbel— thieren wahrſcheinlich die meiſte Aehnlichkeit mit den heute noch leben— den Haifiſchen (Squalacei) (S. 518). Sie entſtanden aus Unpaarnaſen durch Theilung der unpaaren Naſe in zwei paarige Sei— tenhälften, durch Bildung eines ſympathiſchen Nervennetzes, eines Kieferſkelets, einer Schwimmblaſe und zweier Beinpaare (Bruſtfloſſen oder Vorderbeine, und Bauchfloſſen oder Hinterbeine). Die innere Organiſation dieſer Stufe wird im Ganzen derjenigen der niederſten uns bekannten Haifiſche entſprochen haben; doch war die Schwimm— blaſe, die bei dieſen nur als Rudiment noch exiſtirt, ſtärker entwickelt. Sie lebten bereits in der Silurzeit, wie ſich aus den foſſilen ſiluriſchen Haifiſch⸗Reſten (Zähnen und Floſſenſtacheln) ergiebt. Den ſicheren Beweis, daß die ſiluriſchen Ahnen des Menſchen und aller anderen 586 Thieriſche Ahnenreihe des Menschen. Paarnaſen den Selachiern nächſt verwandt waren, liefert die ver— gleichende Anatomie der letzteren. Sie zeigt, daß die Organiſations— Verhältniſſe aller Amphirrhinen ſich aus denjenigen der Selachier ab— leiten laſſen. Zwölfte Stufe: Lurchfiſche (Dipneusta). Unſere zwölfte Ahnenſtufe wird durch Wirbelthiere gebildet, welche wahrſcheinlich eine entfernte Aehnlichkeit mit den heute noch lebenden Molchfiſchen (Ceratodus, Protopterus, Lepidosiren, S. 521) beſaßen. Sie entſtanden aus den Urfiſchen (wahrſchein— lich im Beginn der paläolithiſchen oder Primärzeit) durch Anpaſſung an das Landleben und Umbildung der Schwimmblaſe zu einer luft— athmenden Lunge, ſowie der Naſengruben (welche nunmehr in die Mundhöhle mündeten) zu Luftwegen. Mit dieſer Stufe begann die Reihe der durch Lungen luftathmenden Vorfahren des Menſchen. Ihre Organiſation wird in mancher Hinſicht derjenigen des heutigen Ceratodus und Protopterus entſprochen haben, jedoch auch mannich— fach verſchieden geweſen ſein. Sie lebten wohl ſchon im Beginn der devoniſchen Zeit. Den Beweis für ihre Exiſtenz führt die ver— gleichende Anatomie, indem ſie in den Dipneuſten ein Mittelglied zwiſchen den Selachiern und Amphibien erblickt. Dreizehnte Stufe: Kiemenlurche (Sozobranchia). Aus denjenigen Lurchfiſchen, welche wir als die Stammformen aller lungenathmenden Wirbelthiere betrachten, entwickelte ſich als wichtigſte Hauptlinie die Klaſſe der Lurche oder Amphibien (S. 513, 523). Mit ihnen begann die fünfzehige Fußbildung (die Pentadac- tylie), die ſich von da auf die höheren Wirbelthiere und zuletzt auch auf den Menſchen vererbte. Als unſere älteſten Vorfahren aus der Amphibien-Klaſſe ſind die Kiemenlurche zu betrachten. Sie behiel— ten neben den Lungen noch zeitlebens bleibende Kiemen, ähnlich dem heute noch lebenden Proteus und Axolotl (S. 525). Sie ent- ſtanden aus den Dipneuſten durch Umbildung der rudernden Fiſch— floſſen zu fünfzehigen Beinen, und durch höhere Differenzirung ver— Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 587 ſchiedener Organe, namentlich der Wirbelſäule. Jedenfalls exiſtirten ſie um die Mitte der paläolithiſchen oder Primärzeit, vielleicht ſchon vor der Steinkohlenzeit. Denn foſſile Amphibien finden ſich ſchon in der Steinkohle. Den Beweis dafür, daß derartige Kiemen— lurche zu unſern directen Vorfahren gehörten, liefert die vergleichende Anatomie und Ontogenie der Amphibien und Säugethiere. Vierzehnte Stufe: Schwanzlurche (Sozura). Auf unſere amphibiſchen Vorfahren, die zeitlebens ihre Kiemen behielten, folgten ſpäterhin andere Amphibien, welche durch Meta— morphoſe in ſpäterem Alter die in der Jugend noch vorhandenen Kiemen verloren, aber den Schwanz behielten, ähnlich den heutigen Salamandern und Molchen (Tritonen, vergl. S. 525). Sie ent- ſtanden aus den Kiemenlurchen dadurch, daß ſie ſich daran ge— wöhnten, nur noch in der Jugend durch Kiemen, im ſpäteren Alter aber bloß durch Lungen zu athmen. Wahrſcheinlich lebten ſie ſchon in der zweiten Hälfte der Primärzeit, während der permiſchen Pe— riode, vielleicht ſchon während der Steinkohlenzeit. Der Beweis für ihre Exiſtenz liegt darin, daß die Schwanzlurche ein nothwendi— ges Mittelglied zwiſchen der vorigen und der folgenden Stufe bilden. Fünfzehnte Stufe: Uramnioten (Protamnia). Als Protamnion haben wir früher die gemeinſame Stammform der drei höheren Wirbelthierklaſſen bezeichnet, aus welcher als zwei divergente Zweige die Proreptilien einerſeits, die Promammalien andrerſeits ſich entwickelten (S. 528). Sie entſtand aus unbe— kannten Schwanzlurchen durch gänzlichen Verluſt der Kiemen, Bil— dung des Amnion, der Schnecke und des runden Fenſters im Ge— hörorgan, und der Thränenorgane. Ihre Entſtehung fällt wahr: ſcheinlich in den Beginn der meſolithiſchen oder Secundärzeit, viel— leicht ſchon gegen das Ende der Primärzeit in die permiſche Periode. Der ſichere Beweis für ihre einſtmalige Exiſtenz liegt in der ver— gleichenden Anatomie und Ontogenie der Amnionthiere. Denn alle Reptilien, Vögel und Säugethiere mit Inbegriff des Menſchen ſtim— 588 Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. men in ſo zahlreichen wichtigen Eigenthümlichkeiten überein, daß ſie mit voller Sicherheit als Deſcendenten einer einzigen gemeinſamen Stammform, des Protamnion, zu erkennen ſind. Sechszehnte Stufe: Stammſäuger (Promammalia). Unter unſeren Vorfahren von der ſechszehnten bis zur zwei und zwanzigſten Stufe wird uns bereits heimiſcher zu Muthe. Sie ge— hören alle der großen und wohlbekannten Klaſſe der Säugethiere an, deren Grenzen auch wir ſelbſt bis jetzt noch nicht überſchritten haben. Die gemeinſame, längſt ausgeſtorbene und unbekannte Stammform aller Säugethiere, die wir als Promammale bezeichneten, ſtand jedenfalls unter allen jetzt noch lebenden Thieren dieſer Klaſſe den Schnabelthieren oder Ornithoſtomen am nächſten (Ornitho- rhynchus, Echidna, S. 538). Jedoch war ſie von letzteren durch vollſtändige Bezahnung des Gebiſſes verſchieden. Die Schnabelbil— dung der heutigen Schnabelthiere iſt jedenfalls als ein ſpäter ent— ſtandener Anpaſſungscharakter zu betrachten. Die Promammalien entſtanden aus den Protamnien (wahrſcheinlich erſt im Beginn der Secundärzeit, in der Trias-Periode) durch mancherlei Fortſchritte in der inneren Organiſation, ſowie durch Umbildung der Epidermis— ſchuppen zu Haaren und Bildung einer Milchdrüſe, welche Milch zur Ernährung der Jungen lieferte. Der ſichere Beweis dafür, daß die Promammalien, als die gemeinſame Stammform aller Säugethiere, auch zu unſeren Ahnen gehörten, liegt in der verglei— chenden Anatomie und Ontogenie der Säugethiere und des Menſchen. Siebzehnte Stufe: Bentelthiere (Marsupialia). Die drei Unterklaſſen der Säugethiere ſtehen, wie wir früher ſahen, der Art im Zuſammenhang, daß die Beutelthiere ſowohl in anatomiſcher, als auch in ontogenetiſcher und phylogenetiſcher Be— ziehung den unmittelbaren Uebergang zwiſchen den Monotremen und Placentalthieren vermitteln (S. 549). Daher müſſen ſich auch Vor— fahren des Menſchen unter den Beutelthieren befunden haben. Sie entſtanden aus den Monotremen, zu denen auch die Stammſäu— Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 589 ger oder Promammalien gehörten, durch Trennung der Kloake in Maſtdarm und Urogenitalſinus, durch Bildung einer Bruſtwarze an der Milchdrüſe, und durch theilweiſe Rückbildung der Schlüſſelbeine. Die älteſten Beutelthiere lebten jedenfalls bereits in der Jura-Periode (vielleicht ſchon in der Trias-Zeit) und durchliefen während der Kreide— zeit eine Reihe von Stufen, welche die Entſtehung der Placentalien vorbereiteten. Den ſicheren Beweis für unſere Abſtammung von Beutelthieren, welche den heute noch lebenden Opoſſum und Kän— guruh im weſentlichen inneren Bau nahe ſtanden, liefert die ver— gleichende Anatomie und Ontogenie der Säugethiere. Achtzehnte Stufe: Halbaffen (Prosimiae). Eine der wichtigſten und intereſſanteſten Ordnungen unter den Säugethieren bildet, wie wir ſchon früher ſahen, die kleine Gruppe der Halbaffen. Sie enthält die unmittelbaren Stammformen der echten Affen, und ſomit auch des Menſchen. Unſere Halbaffen-Ahnen beſaßen vermuthlich nur ziemlich entfernte äußere Aehnlichkeit mit den heute noch lebenden kurzfüßigen Halbaffen (Brachytarsi), namentlich den Maki, Indri und Lori (S. 558). Sie entſtanden (wahrſchein— lich im Beginn der eenolithiſchen oder Tertiärzeit) aus unbekannten, den Beutelratten verwandten Beutelthieren durch Bildung einer Pla— centa, Verluſt des Beutels und der Beutelknochen, und ſtärkere Ent— wickelung des Schwielenkörpers im Gehirn. Der ſichere Beweis, daß die echten Affen, und ſomit auch unſer eigenes Geſchlecht, direct von den Halbaffen herkommen, iſt in der vergleichenden Anatomie und Ontogenie der Placentalthiere zu ſuchen. Neunzehnte Stufe: Schwanzaffen (Menocerca). Unter den beiden Abtheilungen der echten Affen, die ſich aus den Halbaffen entwickelten, beſitzt nur diejenige der Schmalnaſen oder Katarrhinen nähere Blutsverwandtſchaft mit dem Menſchen. Unſere älteren Vorfahren aus dieſer Gruppe waren vielleicht ähnlich den heute noch lebenden Naſenaffen und Schlankaffen (Semnopithecus), mit demſelben Gebiß und derſelben Schmalnaſe wie der Menſch; 590 Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. aber noch mit dichtbehaartem Körper und einem langen Schwanze (S. 571). Dieſe geſchwänzten ſchmalnaſigen Affen (Catar— rhina menocerca) entſtanden aus den Halbaffen durch Umbildung des Gebiſſes und Verwandlung der Krallen an den Zehen in Nägel, wahrſcheinlich ſchon in der älteren Tertiärzeit. Der ſichere Beweis für unſere Abſtammung von geſchwänzten Katarrhinen liegt in der vergleichenden Anatomie und Ontogenie der Affen und Menſchen. Zwanzigſte Stufe: Menſchenaffen (Anthropoides). Unter allen heute noch lebenden Affen ſtehen dem Menſchen am nächſten die großen ſchwanzloſen Schmalnaſen, der Orang und Gibbon in Aſien, der Gorilla und Schimpanſe in Afrika. Dieſe Menſchenaffen oder Anthropoiden entſtanden wahrſcheinlich während der mittleren Tertiärzeit, in der miocenen Periode. Sie entwickel— ten ſich aus den geſchwänzten Katarrhinen der vorigen Stufe, mit denen ſie im Weſentlichen übereinſtimmen, durch Verluſt des Schwan— zes, theilweiſen Verluſt der Behaarung und überwiegende Entwicke— lung des Gehirntheiles über dem Geſichtstheil des Schädels. Directe Vorfahren des Menſchen ſind unter den heutigen Anthropoiden nicht mehr zu ſuchen, wohl aber unter den unbekannten ausgeſtorbenen Menſchenaffen der Miocenzeit. Den ſicheren Beweis für die frü⸗ here Exiſtenz derſelben liefert die vergleichende Anatomie der Men— ſchenaffen und der Menſchen. Einundzwanzigſte Stufe: Affenmenſchen (Pithecanthropi). Obwohl die vorhergehende Ahnenſtufe den echten Menſchen be— reits ſo nahe ſteht, daß man kaum noch eine vermittelnde Zwiſchen— ſtufe anzunehmen braucht, können wir als eine ſolche dennoch die ſprachloſen Urmenſchen (Alali) betrachten. Dieſe Affenmenſchen oder Pithekanthropen lebten wahrſcheinlich erſt gegen Ende der Ter— tiärzeit. Sie entſtanden aus den Menſchenaffen oder Anthropoiden durch die vollſtändige Angewöhnung an den aufrechten Gang und die dem entſprechende ſtärkere Differenzirung der beiden Beinpaare. Die Vorderhand der Anthropoiden wurde bei ihnen zur Menſchen— Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 591 hand, die Hinterhand dagegen zum Gangfuß. Obgleich dieſe Affen— menſchen ſo nicht bloß durch ihre äußere Körperbildung, ſondern auch durch ihre innere Geiſtesentwickelung dem eigentlichen Menſchen ſchon viel näher, als die Menſchenaffen geſtanden haben werden, fehlte ihnen dennoch das eigentliche Hauptmerkmal des Menſchen, die articulirte menſchliche Wortſprache und die damit verbundene Entwickelung des höheren Selbſtbewußtſeins und der Begriffsbil— dung. Der ſichere Beweis, daß ſolche ſprachloſe Urmenſchen oder Affenmenſchen dem ſprechenden Menſchen vorausgegangen fein müſ— ſen, ergiebt ſich für den denkenden Menſchen aus der vergleichenden Sprachforſchung (aus der „vergleichenden Anatomie“ der Sprache), und namentlich aus der Entwickelungsgeſchichte der Sprache, ſowohl bei jedem Kinde („glottiſche Ontogeneſe“), als bei jedem Volke ( glottiſche Phylogeneſe“). 8 Zweiundzwanzigſte Stufe: Menſchen (Homines). Die echten Menſchen entwickelten ſich aus den Affenmen— ſchen der vorhergehenden Stufe durch die allmählige Ausbildung der thieriſchen Lautſprache zur gegliederten oder articulirten Wort— ſprache. Mit der Entwickelung dieſer Function ging natürlich die— jenige ihrer Organe, die höhere Differenzirung des Kehlkopfs und des Gehirns, Hand in Hand. Der Uebergang von den ſprachloſen Affenmenſchen zu den echten oder ſprechenden Menſchen erfolgte wahr— ſcheinlich erſt im Beginn der Quartärzeit oder der Diluvial-Periode, vielleicht aber auch ſchon früher, in der jüngeren Tertiärzeit. Da nach der übereinſtimmenden Anſicht der meiſten bedeutenden Sprach— forſcher nicht alle menſchlichen Sprachen von einer gemeinſamen Ur— ſprache abzuleiten ſind, ſo müſſen wir einen mehrfachen Urſprung der Sprache und dem entſprechend auch einen mehrfachen Uebergang von den ſprachloſen Affenmenſchen zu den echten, ſprechenden Men— ſchen annehmen. 592 Ahnenreihe des menſchlichen Stammbaums. MN — Grenze zwiſchen den wirbelloſen bee, und den Wirbelthier-Ahnen. Zeitalter der Heologiſche Perioden | Tdhieriſche Tebende nächſte organiſchen | der Ahnenſtufen des Verwandte der Erdgeſchichte organiſchen Erdgeſcichte Menſchen Aehnenſtufen 4 1. Moneren Protogenes (Monera) \ Protamoeba 2. Einzellige Ur- | Einfache Amoeben thiere (Autamoebae) 3. Vielzellige Ur- Amoebengemeinden thiere (Synamoebae) 4. Flimmerſchwär⸗ Planula⸗ mer (Planaeada) Larven 5. Urdarmthiere BES j en (Gastraeada) arven I. Archo⸗ 1 Er entiſche Pe 6. Strudelmürmer) Rhabdocoela lithiſche oder] „ ode g e Dendrocoela ar N 2. Cambriſche Pe— 2 zwiſchen den Primordial⸗ riode . Weichwürmer Seeſcheiden 12 5 Zeit 3. Siluriſche Periode Gcoleeids) Strudelwürmern 8. Sackwürmer 4 Seeeſcheiden (Himatega) (Aseidiae) 2„„%„% R ĩðVZ =, 2.2.2 N 2 Schädelloſe Lanzetthiere (Acrania) (Amphioxi) 10, Unpaarnajen | Lampreten A (Petromyzontes) (Vergl. S. 352 und Urfiſche Haifiſche Taf. XIV nebſt Erklärung "(Selachi) (Squalacei) (Dipneusta) | (Protoptera) 13. Kiemenlurche | Olm (Proteus) (Sozobranchia) Axolotl (Siredon) 14. ee "| Waſſermolche II. Balaeo- 4. Devon⸗Periode Pala 1 Steinkohlen-Pe— lithiſche oder |: 0 07 12. Lurchfiſche ) Molchfiſche Primär⸗Zeit | 6. Permiſche 2 (Sozura) a (Tritones) D ? zwiſchen den ur. Mefo- | 1, ame | ange u lithiſche oder 7. Trias-Periode Stammſäugern = > 8. Jura=- Periode 16. Stammſäuger ] Schnabelthiere Secundär⸗ 9. Kreide-Periode (Promammalia) ] (Monotrema) Zeit 17. Beutelthiere | Beutelratten 8 (Marsupialia) (Didelphyes) 18. Halbaffen Lori (Stenops) (Prosimiae) Maki (Lemur) 19. Geſchwänzte Naſenaffen, IV. Ceuo⸗ 10. Eocen⸗ Periode 20 Shenſchenaffen Goll S lithiſche oder 111. Miocen- Periode 3 oder f chwanzlöſe \ Re ee Tertiär⸗Zeit [12- Pliocen-Periode Schmalnaſen Gibbon 21. Sprachloſe | Tri a Menſchen oder tinen un Affenmenſchen Microcephalen V. Quartär⸗ 13. Dilmvial-Periodef 22. Sprechende Auſtralier und Zeit 14. Alluvial-Periode Menſchen Papuas Dreiundzwanzigſter Vortrag. Wanderung und Verbreitung des Menſchengeſchlechts. Menſchenarten und Menſchenraſſen. Alter des Menſchengeſchlechts. Urſachen der Entſtehung deſſelben. Der Ur— ſprung der menſchlichen Sprache. Einſtämmiger (monophyletiſcher) und vielſtämmi— ger (polyphyletiſcher) Urſprung des Menſchengeſchlechts. Abſtammung der Menſchen von vielen Paaren. Claſſification der Menſchenraſſen. Syſtem der zwölf Men— ſchenarten. Wollhaarige Menſchen oder Ulotrichen. Büſchelhaarige (Papuas, Hot- tentotten). Vließhaarige (Kaffern, Neger). Schlichthaarige Menſchen oder Liſſotri— chen. Straffhaarige (Auſtralier, Malayen, Mongolen, Arktiker, Amerikaner). Lockenhaarige (Dravidas, Nubier, Mittelländer). Bevölkerungszahlen. Urheimath des Menſchen (Südaſien oder Lemurien). Beſchaffenheit des Urmenſchen. Zahl der Urſprachen (Monoglottonen und Polyglottonen). Divergenz und Wanderung des Menſchengeſchlechts. Geographiſche Verbreitung der Menſchenarten. Meine Herren! Der reiche Schatz von Kenntniſſen, welchen wir in der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeſchichte der Wir— belthiere beſitzen, geſtattet uns ſchon jetzt, die wichtigſten Grundzüge des menſchlichen Stammbaums in der Weiſe feſtzuſtellen, wie es in den letzten Vorträgen geſchehen iſt. Deſſen ungeachtet dürfen Sie aber nicht erwarten, die menſchliche Stammesgeſchichte oder Phylo— genie, die fortan die Grundlage der Anthropologie und ſomit auch aller anderen Wiſſenſchaften bilden wird, in allen Einzelnheiten jetzt ſchon befriedigend überſehen zu können. Vielmehr muß der Ausbau dieſer wichtigſten Wiſſenſchaft, zu der wir nur den erſten Grund le— Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 38 594 Zeitraum der Entſtehung des Menſchengeſchlechts. gen können, den genaueren und eingehenderen Forſchungen der Zu— kunft vorbehalten bleiben. Das gilt auch von denjenigen ſpecielle— ren Verhältniſſen der menſchlichen Phylogenie, auf welche wir jetzt ſchließlich noch einen flüchtigen Blick werfen wollen, nämlich von den Fragen nach Zeit und Ort der Entſtehung des Menſchenge— ſchlechts, ſowie der verſchiedenen Arten und Raſſen, in welche ſich daſſelbe differenzirt hat. Was zunächſt den Zeitraum der Erdgeſchichte betrifft, inner⸗ halb deſſen langſam und allmählich die Umbildung der menſchen— ähnlichſten Affen zu den affenähnlichſten Menſchen ſtatt fand, jo läßt ſich dieſer natürlich nicht nach Jahren, auch nicht nach Jahr— hunderten beſtimmen. Nur das können wir aus den, in den letzten Vorträgen angeführten Gründen mit voller Sicherheit behaupten, daß der Menſch jedenfalls von placentalen Säugethieren abſtammt. Da aber von dieſen Placentalthieren verſteinerte Reſte nur in den tertiären Geſteinen gefunden werden, ſo kann auch das Menſchen— geſchlecht früheſtens innerhalb der Tertiärzeit aus den vervollkomm— neten Menſchenaffen ſich entwickelt haben. Das Wahrſcheinlichſte iſt, daß dieſer wichtigſte Vorgang in der irdiſchen Schöpfungsgeſchichte gegen Ende der Tertiärzeit ſtattſtand, alſo in der pliocenen, vielleicht ſchon in der miocenen Periode, vielleicht aber auch erſt im Beginn der Diluvialzeit. Jedenfalls lebte der Menſch als ſolcher in Mittel— europa ſchon während der Diluvialzeit, gleichzeitig mit vielen gro— ßen, längſt ausgeſtorbenen Säugethieren, namentlich dem diluvialen Elephanten oder Mammuth (Elephas primigenius), dem wollhaari— gen Nashorn (Rhinoceros tichorrhinus), dem Rieſenhirſch (Cervus euryceros), dem Höhlenbär (Ursus spelaeus), der Höhlenhyäne (Hyaena spelaea), dem Höhlentiger (Felis spelaea) x. Die Re— ſultate, welche die neuere Geologie und Archäologie über dieſen foſ— ſilen Menſchen der Diluvialzeit und ſeine thieriſchen Zeitgenoſſen an das Licht gefördert hat, ſind vom höchſten Intereſſe. Da aber eine eingehende Betrachtung derſelben den uns geſteckten Raum bei wei— tem überſchreiten würde, ſo begnüge ich mich hier damit, ihre hohe Zeitraum der Entſtehung des Menſchengeſchlechts. 595 Bedeutung im Allgemeinen hervorzuheben, und verweiſe Sie bezüg— lich des Beſonderen auf die zahlreichen Schriften, welche in neueſter Zeit über die Urgeſchichte des Menſchen erſchienen ſind, namentlich auf die vortrefflichen Werke von Charles Lyell s“), Carl Vogt?“), Friedrich Rolle ss), John Lubbock ts), L. Büchner 3) u. ſ. w. Die zahlreichen intereſſanten Entdeckungen, mit denen uns dieſe ausgedehnten Unterſuchungen der letzten Jahre über die Urgeſchichte des Menſchengeſchlechts beſchenkt haben, ſtellen die wichtige (auch aus vielen anderen Gründen ſchon längſt wahrſcheinliche) Thatſache außer Zweifel, daß die Exiſtenz des Menſchengeſchlechts als ſolchen jeden— falls auf mehr als zwanzigtauſend Jahre zurückgeht. Wahrſcheinlich ſind aber ſeitdem mehr als hunderttauſend Jahre, vielleicht viele Hun— derte von Jahrtauſenden verfloſſen, und es muß im Gegenſatz dazu ſehr komiſch erſcheinen, wenn noch heute unſere Kalender die „Erſchaf— fung der Welt nach Calviſius“ vor 5822 Jahren geſchehen laſſen. Mögen Sie nun den Zeitraum, während deſſen das Menſchen— geſchlecht bereits als ſolches exiſtirte und ſich über die Erde verbrei— tete, auf zwanzigtauſend, oder auf hunderttauſend, oder auf viele hunderttauſend Jahre anſchlagen, jedenfalls iſt derſelbe verſchwin— dend gering gegen die unfaßbare Länge der Zeiträume, welche für die ſtufenweiſe Entwickelung der langen Ahnenkette des Menſchen erforderlich waren. Das geht ſchon hervor aus der ſehr geringen Dicke, welche alle diluvialen Ablagerungen im Verhältniß zu den tertiären, und dieſe wiederum im Verhältniß zu den vorhergegange— nen beſitzen (vergl. S. 352). Aber auch die unendlich lange Reihe der ſchrittweiſe ſich langſam entwickelnden Thiergeſtalten, von dem einfachſten Moner bis zum Amphioxus, von dieſem bis zum Urfiſch, vom Urfiſch bis zum erſten Säugethiere und von dieſem wiederum bis zum Menſchen, erheiſcht zu ihrer hiſtoriſchen Entwickelung eine Reihenfolge von Zeiträumen, die wahrſcheinlich viele Millionen von Jahrtauſenden umfaſſen (vergl. S. 115). Diejenigen Entwickelungsvorgänge, welche zunächſt die Entſte— hung der affenähnlichſten Menſchen aus den menſchenähnlichſten Affen 38 * da 596 Entwickelung des Menſchen aus dem Affen. veranlaßten, ſind in zwei Anpaſſungsthätigkeiten der letzteren zu ſuchen, welche vor allen anderen die Hebel zur Menſchwerdung waren: der aufrechte Gang und die gegliederte Sprache. Dieſe beiden phyſiologiſchen Functionen entſtanden nothwendig zugleich mit zwei entſprechenden morphologiſchen Umbildungen, mit denen ſie in der engſten Wechſelwirkung ſtehen, nämlich Diffe— renzirung der beiden Gliedmaßenpaare und Differenzi— rung des Kehlkopfs. Die wichtige Vervollkommnung dieſer Or— gane und ihrer Functionen mußte aber drittens nothwendig auf die Differenzirung des Gehirns und der davon abhängi— gen Seelenthätigkeiten mächtig zurückwirken, und damit war der Weg für die unendliche Laufbahn eröffnet, in welcher ſich ſeitdem der Menſch fortſchreitend entwickelt, und ſeine thieriſchen Vorfahren ſo weit überflügelt hat. (Gen. Morph. II, 430.) Als den erſten und älteſten Fortſchritt von dieſen drei mächtigen Entwickelungsbewegungen des menſchlichen Organismus haben wir wohl die höhere Differenzirung und Vervollkommnung der Extremitäten hervorzuheben, welche durch die Gewöh— nung an den aufrechten Gang herbeigeführt wurde. Indem die Vorderfüße immer ausſchließlicher die Function des Greifens und Betaſtens, die Hinterfüße dagegen immer ausſchließlicher die Function des Auftretens und Gehens übernahmen und beibehielten, bildete ſich jener Gegenſatz zwiſchen Hand und Fuß aus, welcher zwar dem Menſchen nicht ausſchließlich eigenthümlich, aber doch viel ſtärker bei ihm entwickelt iſt, als bei den menſchenähnlichſten Affen. Dieſe Differenzirung der vorderen und hinteren Extremität war aber nicht allein für ihre eigene Ausbildung und Vervollkommnung höchſt vor— theilhaft, ſondern ſie hatte zugleich eine ganze Reihe von ſehr wich— tigen Veränderungen in der übrigen Körperbildung im Gefolge. Die ganze Wirbelſäule, namentlich aber Beckengürtel und Schultergürtel, ſowie die dazu gehörige Muskulatur, erlitten dadurch diejenigen Um bildungen, durch welche ſich der menſchliche Körper von demjenigen der menſchenähnlichſten Affen unterſcheidet. Wahrſcheinlich vollzogen Entwickelung des Menschen aus dem Affen. 597 ſich dieſe Umbildungen ſchon lange vor Entſtehung der gegliederten Sprache, und es exiſtirte das Menſchengeſchlecht ſchon geraume Zeit mit ſeinem aufrechten Gange und der dadurch herbeigeführten cha— rakteriſtiſchen menſchlichen Körperform, ehe ſich die eigentliche Aus— bildung der menſchlichen Sprache und damit der zweite und wichti— gere Theil der Menſchwerdung vollzog. Wir können daher wohl mit Recht als eine beſondere (21ſte) Stufe unſerer menſchlichen Ahnen— reihe den ſprachloſen Menſchen (Alalus) oder Affenmenſchen (Pithec- anthropus) unterſcheiden, welcher zwar körperlich dem Menſchen in allen weſentlichen Merkmalen ſchon gleichgebildet, aber noch ohne den Beſitz der gegliederten Wortſprache war. Die Entſtehung der gegliederten Wortſprache, und die damit verbundene höhere Differenzirung und Vervoll— kommnung des Kehlkopfs haben wir erſt als die ſpätere, zweite und wichtigſte Stufe in dem Entwickelungsvorgang der Menſchwer— dung zu betrachten. Sie war es ohne Zweifel, welche vor allem die tiefe Kluft zwiſchen Menſch nnd Thier ſchaffen half, und welche zunächſt auch die bedeutendſten Fortſchritte in der Seelenthätigkeit und der damit verbundenen Vervollkommnung des Gehirns veranlaßte. Allerdings exiſtirt eine Sprache als Mittheilung von Empfindungen, Beſtrebungen und Gedanken auch bei ſehr vielen Thieren, theils als Gebärdenſprache oder Zeichenſprache, theils als Taſtſprache oder Be— rührungsſprache, theils als Lautſprache oder Tonſprache. Allein eine wirkliche Wortſprache oder Begriffsſprache, eine ſogenannte „geglie— derte oder artikulirte“ Sprache, welche die Laute durch Abſtraction zu Worten umbildet und die Worte zu Sätzen verbindet, iſt, ſo viel wir wiſſen, ausſchließliches Eigenthum des Menſchen. Mehr als alles Andere mußte die Entſtehung der menſchlichen Sprache veredelnd und umbildend auf das menſchliche Seelenleben und ſomit auf das Gehirn einwirken. Die höhere Differenzi— rung und Vervollkommnung des Gehirns, und des Gei— ſteslebens als der höchſten Function des Gehirns, entwickelte ſich in unmittelbarer Wechſelwirkung mit ſeiner Aeußerung durch die 598 Vielheitlicher Urſprung der menschlichen Sprache. Sprache. Daher konnten die bedeutendſten Vertreter der vergleichen— den Sprachforſchung in der Entwickelung der menſchlichen Sprache mit Recht den wichtigſten Scheidungsprozeß des Menſchen von ſei— nen thieriſchen Vorfahren erblicken. Dies hat namentlich Auguſt Schleicher in ſeinem Schriftchen „Ueber die Bedeutung der Sprache für die Naturgeſchichte des Menſchen“ hervorgehoben 3). In dieſem Verhältniß iſt einer der engſten Berührungspunkte zwiſchen der ver— gleichenden Zoologie und der vergleichenden Sprachkunde gegeben, und hier ſtellt die Entwickelungstheorie für die letztere die Aufgabe, den Urſprung der Sprache Schritt für Schritt zu verfolgen. Dieſe ebenſo intereſſante als wichtige Aufgabe iſt in neueſter Zeit von mehreren Seiten mit Glück in Angriff genommen worden, ſo ins— beſondere von Wilhelm Bleek, welcher ſeit 17 Jahren in Süd— afrika mit dem Studium der Sprachen der niederſten Menſchenraſſen beſchäftigt und dadurch beſonders zur Löſung dieſer Frage befähigt iſt. Wie ſich die verſchiedenen Sprachformen, gleich allen anderen organiſchen Formen und Functionen, durch den Prozeß der natür— lichen Züchtung entwickelt, und in viele Arten und Abarten zerſplit— tert haben, hat namentlich Au guſt Schleicher der Selections— theorie entſprechend erörtert 6). Den Prozeß der Sprachbildung ſelbſt hier weiter zu verfolgen, haben wir keinen Raum, und ich verweiſe Sie in dieſer Beziehung namentlich auf die wichtige, eben erwähnte Schrift von Wilhelm Bleek „über den Urſprung der Sprache“ 35). Dagegen müſſen wir noch eines der wichtigſten hierauf bezüglichen Reſultate der verglei— chenden Sprachforſchung hervorheben, welches für den Stammbaum der Menſchenarten von höchſter Bedeutung iſt, daß nämlich die menſchliche Sprache wahrſcheinlich einen vielheitlichen oder polyphyletiſchen Urſprung hat. Die menſchliche Sprache als ſolche entwickelte ſich wahrſcheinlich erſt, nachdem die Gattung des ſprachloſen Urmenſchen oder Affenmenſchen in mehrere Arten oder Species auseinander gegangen war. Bei jeder von dieſen Menſchen— arten, und vielleicht ſelbſt bei verſchiedenen Unterarten und Abarten Einheitlicher oder vielheitlicher Urſprung des Menſchengeſchlechts. 599 dieſer Species, entwickelte ſich die Sprache ſelbſtſtändig und unab— hängig von den andern. Wenigſtens giebt Schleicher, eine der erſten Autoritäten auf dieſem Gebiete, an, daß „ſchon die erſten An— fänge der Sprache, im Laute ſowohl als nach den Begriffen und Anſchauungen, welche lautlich veflectirt wurden, und ferner nach ihrer Entwickelungsfähigkeit, verſchieden geweſen ſein müſſen. Denn es iſt poſitiv unmöglich, alle Sprachen auf eine und dieſelbe Urſprache zurückzuführen. Vielmehr ergeben ſich der vorurtheilsfreien Forſchung fo viele Urſprachen, als ſich Sprachſtämme unterſcheiden laſſen“ 34). Ebenſo nehmen auch Friedrich Müller “?) und andere bedeutende Linguiſten eine ſelbſtſtändige und unabhängige Entſtehung der Sprach— ſtämme und ihrer Urſprachen an. Bekanntlich entſprechen aber die Grenzen dieſer Sprachſtämme und ihrer Verzweigungen keineswegs immer den Grenzen der verſchiedenen Menſchenarten oder ſogenann— ten „Raſſen“, welche wir auf Grund körperlicher Charaktere im Menſchengeſchlecht unterſcheiden. Hierin, ſowie in den verwickelten Verhältniſſen der Raſſenmiſchung und der vielfältigen Baſtardbildung, liegt die große Schwierigkeit, welche die weitere Verfolgung des menſch— lichen Stammbaums in ſeine einzelnen Zweige, die Arten, Raſſen, Abarten u. ſ. w. darbietet. Trotz dieſer großen und bedenklichen Schwierigkeiten können wir nicht umhin, hier noch einen flüchtigen Blick auf dieſe weitere Ver— zweigung des menſchlichen Stammbaums zu werfen und dabei die viel beſprochene Frage vom einheitlichen oder vielheitlichen Urſprung des Menſchengeſchlechts, ſeinen Arten oder Raſſen, vom Standpunkte der Deſcendenztheorie aus zu beleuchten. Bekanntlich ſtehen ſich in dieſer Frage ſeit langer Zeit zwei große Parteien gegenüber, die Monophyleten und Polyphyleten. Die Monophyleten (oder Mo— nogeniſten) behaupten den einheitlichen Urſprung und die Blutsver— wandtſchaft aller Menſchenarten. Die Polyphyleten (oder Po— lygeniſten) dagegen ſind der Anſicht, daß die verſchiedenen Menſchen— arten oder Raſſen ſelbſtſtändigen Urſprungs ſind. Nach den vorher— gehenden genealogiſchen Unterſuchungen kann es Ihnen nicht zweifel— 600 Abſtammung der Menfchen von einem Paare. haft ſein, daß im weiteren Sinne jedenfalls die monophy— letiſche Anſicht die richtige iſt. Denn vorausgeſetzt auch, daß die Umbildung menſchenähnlicher Affen zu Menſchen mehrmals ſtattge— funden hätte, ſo würden doch jene Affen ſelbſt durch den einheit— lichen Stammbaum der ganzen Affenordnung wiederum zuſammen⸗ hängen. Es könnte ſich daher immer nur um einen näheren oder entfernteren Grad der eigentlichen Blutsverwandtſchaft handeln. Im engeren Sinne dagegen wird wahrſcheinlich die polyphyle— tiſche Anſchauung inſofern Recht behalten, als die verſchiedenen Ur— ſprachen ſich ganz unabhängig von einander entwickelt haben. Wenn man alſo die Entſtehung der gegliederten Wortſprache als den eigent— lichen Hauptakt der Menſchwerdung anſieht, und die Arten des Men— ſchengeſchlechts nach ihrem Sprachſtamme unterſcheiden will, ſo könnte man ſagen, daß die verſchiedenen Menſchenarten unabhängig von einander entſtanden ſeien, indem verſchiedene Zweige der aus den Affen unmittelbar entſtandenen ſprachloſen Urmenſchen ſich ſelbſtſtändig ihre Urſprache bildeten. Immerhin würden natürlich auch dieſe an ihrer Wurzel entweder weiter oben oder tiefer unten wieder zuſam— menhängen und alſo doch ſchließlich alle von einem gemeinſamen Urſtamme abzuleiten ſein. Wenn wir nun an dieſer letzteren Ueberzeugung allerdings feſt— halten, und wenn wir aus vielen Gründen der Anſicht ſind, daß die verſchiedenen Species der ſprachloſen Urmenſchen alle von einer ge— meinſamen Affenmenſchen-Form abſtammen, ſo wollen wir damit na— türlich nicht ſagen, daß „alle Menſchen von einem Paare abſtammen.“ Dieſe letztere Annahme, welche unſere moderne indo— germaniſche Bildung aus dem ſemitiſchen Mythus der moſaiſchen Schö— pfungsgeſchichte herübergenommen hat, iſt auf keinen Fall haltbar. Der ganze berühmte Streit, ob das Menſchengeſchlecht von einem Paar abſtammt oder nicht, beruht auf einer vollkommen falſchen Frage— ſtellung. Er iſt ebenſo ſinnlos, wie der Streit, ob alle Jagdhunde oder alle Rennpferde von einem Paare abſtammen. Mit demſelben Rechte könnte man fragen, ob alle Deutſchen oder alle Engländer Abſtammung der Menſchen von vielen Paaren. 601 „von einem Paare abſtammen“ u. ſ. w. Ein „erſtes Menſchespaar“ oder ein „erſter Menſch“ hat überhaupt niemals exiſtirt, fo wenig es jemals ein erſtes Paar oder ein erſtes Individuum von Engländern, Deutſchen, Rennpferden oder Jagdhunden gegeben hat. Immer er— folgt natürlich die Entſtehung einer neuen Art aus einer beſtehenden Art in der Weiſe, daß eine lange Kette von vielen verſchiedenen In— dividuen an dem langſamen Umbildungsprozeß betheiligt iſt. Ange— nommen, daß wir alle die verſchiedenen Paare von Menſchenaffen und Affenmenſchen neben einander vor uns hätten, die zu den wahren Vorfahren des Menſchengeſchlechts gehören, ſo würde es doch ganz unmöglich ſein, ohne die größte Willkür eines von dieſen Affen— menſchen-Paaren als „das erſte Paar“ zu bezeichnen. Ebenſowenig kann man auch jede der zwölf Menſchenraſſen oder Species, die wir ſogleich betrachten wollen, von einem „erſten Paare“ ableiten. Die Schwierigkeiten, denen wir bei der Claſſification der ver— ſchiedenen Menſchenraſſen oder Menſchenarten begegnen, ſind ganz dieſelben, welche uns die Syſtematik der Thier- und Pflanzenarten bereitet. Hier wie dort ſind die ſcheinbar ganz verſchiedenen Formen doch meiſtens durch eine Kette von vermittelnden Uebergangsformen mit einander verknüpft. Hier wie dort kann der Streit, was Art oder Species, und was Raſſe oder Varietät iſt, niemals entſchieden wer— den. Bekanntlich nahm man ſeit Blumenbach an, daß das Men— ſchengeſchlecht in fünf Raſſen oder Varietäten zerfalle, nämlich: 1) die äthiopiſche oder ſchwarze Raſſe (afrikaniſche Neger); 2) die malayiſche oder braune Raſſe (Malayen, Polyneſier und Auſtralier); 3) die mongoliſche oder gelbe Raſſe (die Hauptbevölkerung Aſiens und die Eskimos Nordamerikas); 4) die amerikaniſche oder rothe Raſſe (die Ureinwohner Amerikas), und 5) die kaukaſiſche oder weiße Raſſe (Euro- päer, Nordafrikaner und Südweſt-Aſiaten). Dieſe fünf Menſchen— raſſen ſollten alle, der jüdiſchen Schöpfungsſage entſprechend, „von einem Paare“, Adam und Eva abſtammen, und demgemäß nur Varietäten einer Art oder Species ſein. Indeſſen kann bei unbefange— ner Vergleichung kein Zweifel darüber exiſtiren, daß die Unterſchiede 602 Langköpfige und kurzköpfige Menfchen. dieſer fünf Raſſen eben ſo groß und noch größer ſind, als die „ſpe— cifiſchen Unterſchiede“, auf deren Grund die Zoologen und Bota— niker anerkannt gute Thier- und Pflanzenarten („bonae species“) unterſcheiden. Mit Recht behauptet daher der treffliche Paläontologe Quenſtedt: „Wenn Neger und Kaukaſier Schnecken wären, ſo würden die Zoologen mit allgemeiner Uebereinſtimmung ſie für zwei ganz vortreffliche Species ausgeben, die nimmermehr durch allmäh— liche Abweichung von einem Paare entſtanden ſein könnten.“ Die Merkmale, durch welche man gewöhnlich die Menſchenraſſen unterſcheidet, ſind theils der Haarbildung, theils der Hautfarbe, theils der Schädelbildung entnommen. In letzterer Beziehung unterſcheidet man als zwei extreme Formen Langköpfe und Kurzköpfe. Bei den Langköpfen (Dolichocephali), deren ſtärkſte Ausbildung ſich bei den Negern und Auſtraliern findet, iſt der Schädel langgeſtreckt, ſchmal, von rechts nach links zuſammengedrückt. Bei den Kurzköpfen (Brachycephali) dagegen iſt der Schädel umgekehrt von vorn nach hinten zuſammengedrückt, kurz und breit, wie es namentlich bei den Mongolen in die Augen ſpringt. Die zwiſchen beiden Extremen in der Mitte ſtehenden Mittelköpfe (Mesocephali) ſind namentlich bei den Amerikanern vorherrſchend. In jeder dieſer drei Gruppen kom— men Schiefzähnige (Prognathi) vor, bei denen die Kiefer, wie bei der thieriſchen Schnauze, ſtark vorſpringen und die Vorderzähne daher ſchief nach vorn gerichtet find, und Gradzähnige (Orthogna- thi), bei denen die Kiefer wenig vorſpringen und die Vorderzähne ſenkrecht ſtehen. Man hat in den letzten zehn Jahren ſehr viel Mühe und Zeit an die genaueſte Unterſuchung und Meſſung der Schädel— formen gewendet, ohne daß dieſe durch entſprechende Reſultate be— lohnt worden wären. Denn innerhalb einer einzigen Species, wie z. B. der mittelländiſchen, kann die Schädelform fo variiren, daß man in derſelben extreme Gegenſätze findet. Viel beſſere Anhalt— punkte für die Claſſification der menſchlichen Species liefert die Be— ſchaffenheit der Behaarung und der Sprache, weil dieſe ſich viel ſtrenger als die Schädelform vererben. Wollhaarige und ſchlichthaarige Menſchen. 603 Insbeſondere ſcheint die vergleichende Sprachforſchung hier maß— gebend zu werden. In der neueſten vortrefflichen Bearbeitung der Menſchenraſſen, welche der Wiener Sprachforſcher Friedrich Mül— ler in ſeiner ausgezeichneten Ethnographie 12) gegeben hat, iſt die Sprache mit Recht in den Vordergrund geſtellt. Demnächſt iſt die Beſchaffenheit des Kopfhaares von großer Bedeutung. An ſich aller— dings ein untergeordneter morphologiſcher Charakter, ſcheint ſich die— ſelbe dennoch ſtreng innerhalb der Raſſe zu vererben. Von den zwölf Menſchen-Species, die wir im Folgenden unterſcheiden (S. 604), zeichnen ſich die vier niederen Arten durch die wollige Beſchaffenheit der Kopfhaare aus; jedes Haar iſt bandartig abgeplattet und er— ſcheint daher auf dem Querſchnitt länglich rund. Wir können dieſe vier Arten von Wollhaarigen (Ulotriches) in zwei Gruppen bringen, in Büſchelhaarige und Vließhaarige. Bei den Büſchel— haarigen (Lophocomi), den Papuas und Hottentotten, wachen die Kopfhaare, ungleichmäßig vertheilt, in kleinen Büſcheln. Bei den Vließhaarigen (Eriocomi) dagegen, den Kaffern und Negern, ſind die Wollhaare gleichmäßig über die ganze Kopfhaut vertheilt. Alle Ulotrichen oder Wollhaarigen ſind ſchiefzähnig und langköpfig. Die Farbe der Haut, des Haares und der Augen iſt ſtets ſehr dunkel. Alle ſind Bewohner der ſüdlichen Erdhälfte; nur in Afrika über— ſchreiten ſie den Aequator. Im Allgemeinen ſtehen ſie auf einer viel tieferen Entwickelungsſtufe und den Affen viel näher, als die meiſten Liſſotrichen oder Schlichthaarigen. Einer wahren inneren Cultur und einer höheren geiſtigen Durchbildung ſind die Ulotrichen unfähig, auch unter ſo günſtigen Anpaſſungsbedingungen, wie ſie ihnen jetzt in den vereinigten Staaten Nordamerikas geboten werden. Kein kraus— haariges Volk hat jemals eine bedeutende „Geſchichte“ gehabt. Bei den acht höheren Menſchenraſſen, die wir als Schlicht— haarige (Lissotriches) zuſammenfaſſen, iſt das Kopfhaar niemals eigentlich wollig, auch wenn es bei einzelnen Individuen ſich ſtark kräuſelt. Jedes einzelne Haar iſt nämlich cylindriſch (nicht bandför— mig) und daher auf dem Querſchnit kreisrund (nicht länglich rund). 604 Syftematifche Ueberſicht der 12 Menſchen-Arten und ihrer 36 Raſſen. (Vergl. Taf. XV.) Species Naſſe Heimath 1. Papua Homo papua 2. Hottentotte H. hottentottus Homo 1. Negritos 2. Neoguineer 3. Melaneſier 4. Tasmanier 5. Hottentotten 6. Buſchmänner 7. Zulufaffern 8. Beſchuanen 9. Congokaffern 10. Tibu⸗Neger 11. Sudan-Neger 12. Senegambier 13. Nigritier Malacca, Philippinen Neuguinea Melaneſien Vandiemensland Capland Capland Oeſtliches Südafrika Centrales Südafrika Weſtliches Südafrika Tibu⸗Land Sudan Senegambien Nigritien Linwande⸗ rung von Weſten Weſten Nordweſten Nordoſten Nordoſten Nordoſten Norden Nordoſten Oſten Südoſten H. arcticus 9. Amerikaner Homo americanus 10. Dravidas H. dravida 11. Nubier H. nuba 12. Mittel⸗ länder Homo mediterraneus 5. Auſtralier H. australis 6. Malaye Homo malayus 7. Mongole Homo mongolus 8. Arktiker 14. Nordauſtralier 15. Südauſtralier 16. Sundaneſier 17. Polyneſier 18. Madagaſſen 19. Indochineſen 20. Coreo-Japaner Ka Altajer 22. Uralier 23. Hyperboräer 24. Eskimos 25. Nordamerikaner 26. Mittelamerikaner 27. Südamerikaner 28. Patagonier 29. Dekaner 30. Singaleſen 31. Dongoleſen 32. Fulater 33. Kaukaſier 34. Basken 35. Semiten 36. Indogermanen Nordauſtralien Südauſtralien Sunda Archipel Pacifiſcher Archipel Madagascar Tibet, China Corea, Japan Mittelaſien, Nordaſien Nordweſtaſien, Nord- europa, Ungarn Nordöſtlichſtes Aſien Nördlichſtes Amerika Nordamerika Mittelamerika Südamerika Südlichſtes Amerika Vorder-Indien Ceylon Nubien Fula⸗Land (Mittelafrika) Kaukaſus Nördlichſtes Spanien Arabien, Nordafrika ꝛc. Norden Norden Weſten Weſten Oſten Süden Südweſten Süden Südoſten Südweſten Weſten Nordweſten Norden Norden Norden Oſten? Norden? Oſten Oſten Südoſten Süden? Oſten Südweſtaſien, Europa ꝛc. Südoſten Stammbaum der zwölf Menſchen-Arten. 605 Indogermanen Semiten 9. Amerikauer Kaukaſier | Magyaren Basfen Eskimos | | i we I — | Hyperboräer Finnen | | 8. Arktiker Tataren Eee | | | | Samojeden 5 Mittelländer 5 | Singaleſen | —— Kalmücken | 8 4 | Tunguſen | | a 7 | | | | Defaner r eee = 10, Dravidas a Altajer Uralier | en | a kꝛ —e— Chineſen Ural⸗Altajer er Koreaner Siameſen Madagaſſen | Tibetaner Polyneſier I | | Koreojapaner | | | | Indochineſen Sundaneſier 4. Neger | 3. Kaffern I | 1 8 6. Malayen 7. Mongolen Eriocomen | PP | Promalayen | 2. Hottentotten 1. Papuas 5. Auſtralier | | | | Lophocomen Euthycomen | | Schlichthaarige Wollhaarige Lissotrichen Ulotrichen | —— — — Urmenſchen Menſchenaffen — 606 Schlichthaarige und wollhaarige Menſchen. Auch die acht liſſotrichen Species können wir auf zwei Gruppen vertheilen: Straffhaarige und Lockenhaarige. Zu den Straffhaa— rigen (Euthycomi), bei denen das Kopfhaar ganz glatt und ſtraff, nicht gekräuſelt iſt, gehören die Auſtralier, Malayen, Mongolen, Arktiker und Amerikaner. Zu den Lockenhaarigen dagegen, bei denen das Kopfhaar mehr oder weniger lockig und auch der Bart mehr als bei allen anderen Arten entwickelt iſt, gehören die Dravidas, Nubier und Mittelländer. (Vergl. Taf. XV am Ende.) Bevor wir nun den Verſuch wagen, die phyletiſche Divergenz des Menſchengeſchlechts und den genealogiſchen Zuſammenhang ſeiner verſchiedenen Arten hypothetiſch zu beleuchten, wollen wir eine kurze Schilderung der zwölf genannten Species und ihrer Verbreitung vor— ausſchicken. Um die geographiſche Verbreitung derſelben klar zu über— ſehen, müſſen wir uns um drei oder vier Jahrhunderte zurückverſetzen, in die Zeit, wo die indiſche Inſelwelt und Amerika eben erſt entdeckt war, und wo die gegenwärtige vielfache Miſchung der Species, ins— beſondere die Ueberfluthung durch die indogermaniſche Raſſe, noch nicht ſo vorgeſchritten war. Wir beginnen, von den niederſten Stufen aufſteigend, mit den wollhaarigen Menſchen (Ulotriches), welche ſämmtlich prognathe Dolichocephalen find. Unter den jetzt noch lebenden Menſchenarten ſteht der urſprüng— lichen Stammform der wollhaarigen Menſchen am nächſten vielleicht der Papua (Homo papua). Dieſe Species bewohnt gegenwärtig nur noch die große Inſel Neuguinea und den öſtlich davon gelege— nen Archipel von Melaneſien (die Salomons-Inſeln, Neu-Kaledo— nien, die neuen Hebriden u. ſ. w.) Zerſtreute Reſte derſelben finden ſich aber auch noch im Innern der Halbinſel Malacca, ſowie auf vie— len anderen Inſeln des großen pacifiſchen Archipels; meiſtens in den unzugänglichen gebirgigen Theilen des Innern, ſo namentlich auf den Phillippinen. Auch die kürzlich ausgeſtorbenen Tasmanier oder die Bevölkerung von Vandiemsland gehörte zu dieſer Art. Aus dieſen und anderen Umſtänden geht hervor, daß die Papuas früher einen viel weiteren Verbreitungsbezirk im Südoſten Aſiens beſaßen. Papuas und Hottentotten. 607 Sie wurden aus dieſem durch die Malayen verdrängt, und nach Oſten fortgeſchoben. Alle Papuas ſind von ſchwarzer Hautfarbe, die bald mehr in das Bräunliche, bald mehr in das Bläuliche ſpielt. Die krauſen Haare wachſen in Büſcheln, ſind ſpiralig gewun— den, und oft über einen Fuß lang, ſo daß ſie eine mächtige, weit abſtehende wollige Perücke bilden. Das Geſicht zeigt unter einer ſchmalen, eingedrückten Stirn eine große aufgeſtülpte Naſe und dicke, aufgeworfene Lippen. Durch ihre eigenthümliche Haarbildung und Sprache unterſcheiden ſich die Papuas von ihren ſchlichthaarigen Nach— barn, ſowohl von den Malayen, als von den Auſtraliern ſo weſent— lich, daß man ſie als eine ganz beſondere Species betrachten muß. Den Papuas durch den büſcheligen Haarwuchs nahe verwandt, obwohl räumlich weit von ihnen geſchieden, ſind die Hottentotten (Homo hottentottus). Sie bewohnen ausſchließlich das ſüdlichſte Afrika, das Kapland und die nächſtangrenzenden Theile, und ſind hier von Nordoſten her eingewandert. Gleich ihren Stammesge— noſſen, den Papuas, nahmen auch die Hottentotten früher viel grö— ßeren Raum (wahrſcheinlich das ganze öſtliche Afrika) ein und gehen jetzt ihrem Ausſterben entgegen. Außer den eigentlichen Hottentotten, von denen jetzt nur noch die beiden Stämme der Koraka (im öſt— lichen Kapland) und der Namaka (im weſtlichen Kapland) exiſtiren, gehören hierher auch die Buſchmänner (im gebirgigen Inneren des Kaplandes). Bei allen dieſen Hottentotten wächſt das krauſe Haar ebenſo in Büſcheln, wie bei den Papuas, ähnlich einer Bürſte. Beide Species ſtimmen auch darin überein, daß ſich im Geſäß des weiblichen Geſchlechts eine beſondere Neigung zur Anhäufung gro— ßer Fettmaſſen zeigt (Steatopygia). Die Hautfarbe der Hottentotten iſt aber viel heller, gelblich braun. Das ſehr platte Geſicht zeich— net ſich durch kleine Stirn und Naſe, aber große Naſenlöcher aus. Der Mund iſt ſehr breit, mit großen Lippen, das Kinn ſchmal und ſpitz. Die Sprache iſt durch viele ganz eigenthümliche Schnalz— laute ausgezeichnet. Die nächſten Nachbarn und Verwandten der Hottentotten ſind 608 Kaffern und Neger. die Kaffern (Homo cafer). Dieſe kraushaarige Menſchenart unter— ſcheidet ſich jedoch, ebenſo wie die folgende (die echten Neger) von den Hottentotten und Papuas dadurch, daß das wollige Haar nicht büſchelweiſe vertheilt iſt, ſondern als dichtes Vließ den Kopf bedeckt. Die Farbe der Haut durchläuft alle Abſtufungen von dem gelbli— chen Braun der Hottentotten bis zu dem Braunſchwarz oder reinen Schwarz des echten Negers. Während man früher der Kaffernraſſe einen ſehr engen Verbreitungsbezirk anwies und ſie meiſt nur als eine Varietät des echten Negers betrachtete, zählt man dagegen jetzt zu dieſer Species faſt die geſammte Bevölkerung des äquatorialen Afrika von 20 Grad ſüdlicher bis 4 Grad nördlicher Breite, mithin alle Südafrikaner mit Ausſchluß der Hottentotten. Insbeſondere gehören dahin an der Oſtküſte die Zulu-, Zambeſi- und Moſambik-Völker, im Inneren die große Völkerfamilie der Beſchuanen oder Setſchuanen, und an der Weſtküſte die Herrero- und Congo-Stämme. Auch ſie ſind, wie die Hottentotten, von Nordoſten her eingewandert. Von den Negern, mit denen man die Kaffern gewöhnlich vereinigte, unter— ſcheiden ſie ſich ſehr weſentlich durch die Schädelbildung und die Sprache. Das Geſicht iſt lang und ſchmal, die Stirn hoch und ge— wölbt, die Naſe vorſpringend, oft gebogen, die Lippen nicht ſo ſtark aufgeworfen und das Kinn ſpitz. Die mannichfaltigen Sprachen der verſchiedenen Kaffern-Stämme laſſen ſich alle von einer ausgeſtorbe— nen Urſprache, der Bantu-Sprache, ableiten. Der echte Neger (Homo niger) bildet gegenwärtig, nachdem man Kaffern, Hottentotten und Nubier von ihm abgetrennt hat, eine viel weniger umfangreiche Menſchen-Art, als man früher annahm. Es gehören dahin jetzt nur noch die Tibus im öſtlichen Theile der Sa— hara, die Sudan-Völker oder Sudaner, welche zunächſt im Süden dieſer großen Wüſte wohnen, und die Bevölkerung der weſtafrikani— ſchen Küſtenländer, von der Mündung des Senegal im Norden, bis unterhalb der Niger-Mündung im Süden (Senegambier und Nigri— tier). Die echten Neger ſind demnach zwiſchen den Aequator und den nördlichen Wendekreis eingeſchloſſen, und haben dieſen letzteren nur Schlichthaarige Menschen. Auſtralneger. 609 mit einem kleinen Theile der Tibu-Raſſe im Oſten überſchritten. In— nerhalb dieſer Zone hat die Neger-Art ſich von Oſten her ausgebreitet. Die Hautfarbe der echten Neger iſt ſtets ein mehr oder minder reines Schwarz. Die Haut iſt ſammetartig anzufühlen, und durch eine eigenthümliche übelriechende Ausdünſtung ausgezeichnet. Während die Neger in der wolligen Behaarung des Kopfes mit den Kaffern übereinſtimmen, unterſcheiden ſie ſich von ihnen nicht unweſentlich durch die Geſichtsbildung. Die Stirn iſt flacher und niedriger, die Naſe breit und dick, nicht vorſpringend, die Lippen ſtark wulſtig auf— getrieben, und das Kinn ſehr kurz. Ausgezeichnet ſind ferner die ech— ten Neger durch ſehr dünne Waden und ſehr lange Arme. Schon ſehr frühzeitig muß ſich dieſe Menſchen-Species in viele einzelne Stämme zerſplittert haben, da ihre zahlreichen und ganz verſchie— denen Sprachen ſich durchaus nicht auf eine Urſprache zurückfüh— ren laſſen. Den vier eben betrachteten wollhaarigen Menſchen-Arten ſtehen nun als anderer Hauptzweig der Gattung die ſchlichthaarigen Menſchen (Homines lissotriches) gegenüber. Von den acht Arten dieſer letzteren laſſen ſich, wie wir ſahen, fünf Species als Straff— haarige (Euthycomi) und drei Species als Lockenhaarige (Eu- plocami) zuſammenfaſſen. Wir betrachten zunächſt die erſteren, zu denen die Urbevölkerung von dem größten Theile Aſiens und von ganz Amerika gehört. Auf der tiefſten Stufe unter allen ſchlichthaarigen Menſchen, und im Ganzen vielleicht unter allen noch lebenden Menſchen-Arten ſtehen die Auſtralier oder Auſtralneger (Homo australis). Dieſe Species ſcheint ausſchließlich auf die große Inſel Auſtralien beſchränkt zu ſein. Sie gleicht dem echten afrikaniſchen Neger durch die ſchwarze oder ſchwarzbraune und übelriechende Haut, durch die ſtark ſchiefzäh— nige und langköpfige Schädelform, die zurücktretende Stirn, breite Naſe und dick aufgeworfene Lippen, ſowie durch den faſt gänzlichen Mangel der Waden. Dagegen unterſcheiden ſich die Auſtralneger ſowohl von den echten Negern, als von ihren nächſten Nachbarn, den Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 4 39 610 Malayen (Sundaneſier und Polßyneſier). Papuas, durch viel ſchwächeren, feineren Knochenbau, und namentlich durch die Bildung des Kopfhaars, welches nicht wollig-kraus, ſondern entweder ganz ſchlicht oder nur ſchwach gelockt iſt. Die ſehr tiefe, kör— perliche und geiſtige Ausbildungsſtufe der Auſtralier iſt zum Theil vielleicht nicht urſprünglich, ſondern durch Rückbildung, durch An— paſſung an die ſehr ungünſtigen Exiſtenzbedingungen Auſtraliens ent— ſtanden. Wahrſcheinlich ſind die Auſtralneger, als ein ſehr früh ab— gezweigter Aſt der Euthykomen, von Norden oder Nordweſten her in ihre gegenwärtige Heimath eingewandert. Vielleicht ſind ſie den Dravidas, und mithin den Euplokamen, näher verwandt als den übrigen Euthykomen. Die ganz eigenthümliche Sprache der Auſtra— lier zerſplittert ſich in ſehr zahlreiche kleine Zweige, die in eine nörd— liche und eine ſüdliche Abtheilung ſich gruppiren. Eine genealogiſch wichtige, obwohl nicht umfangreiche Menſchen— Species bilden die Malayen (Homo malayus), die braune Men— ſchenraſſe der früheren Ethnographie. Eine ausgeſtorbene, ſüdaſiati— ſche Menſchen-Art, welche den heutigen Malayen ſehr nahe ſtand, iſt wahrſcheinlich als die gemeinſame Stammform dieſer und der folgenden, höheren Menſchen-Arten anzuſehen. Wir wollen dieſe hypothetiſche Stammart als Urmalayen oder Promalayen bezeichnen. Die heutigen Malayen zerfallen in zwei weit zerſtreute Raſſen, in die Sundaneſier, welche Malakka und die Sunda-Inſeln (Su— matra, Java, Borneo ꝛc.) ſowie die Philippinen bevölkern, und die Polyneſier, welche über den größten Theil des pacifiſchen Archi— pels ausgebreitet ſind. Die nördliche Grenze ihres weiten Verbrei— tungsbezirks wird öſtlich von den Sandwich-Inſeln (Hawai), weſt— lich von den Marianen-Inſeln (Ladronen) gebildet; die ſüdliche Grenze dagegen öſtlich von dem Mangareva-Archipel, weſtlich von Neuſeeland. Ein weit nach Weſten verſchlagener einzelner Zweig der Sundaneſier find die Bewohner von Madagascar. Dieſe weite pe— lagiſche Verbreitung der Malayen erklärt ſich aus ihrer beſonderen Neigung für das Schifferleben. Als ihre Urheimath iſt der ſüdöſtliche Theil des aſiatiſchen Feſtlandes zu betrachten, von wo aus fie fi. Malayen. Mongolen. 611 nach Oſten und Süden verbreiteten und die Papuas vor ſich her drängten. In der körperlichen Bildung ſtehen die Malayen unter den übrigen Arten den Mongolen am nächſten, ziemlich nahe aber auch den lockigen Mittelländern. Der Schädel iſt meiſt kurzköpfig, ſelte— ner mittelköpfig, und ſehr ſelten langköpfig. Das Haar iſt ſchlicht und ſtraff, oft jedoch etwas gelockt. Die Hautfarbe iſt braun, bald mehr gelblich oder zimmtbraun, bald mehr röthlich oder kupferbraun, ſeltener dunkelbraun. In der Geſichtsbildung ſtehen die Malayen zum großen Theil in der Mitte zwiſchen den Mongolen und Mittel— ländern. Oft ſind ſie von letzteren kaum zu unterſcheiden. Das Geſicht iſt meiſt breit, mit vorſpringender Naſe und dicken Lippen, die Augen nicht ſo enggeſchlitzt und ſchief, wie bei den Mongolen. Alle Malayen und Polyneſier bezeugen ihre nahe Stammesver— wandtſchaft durch ihre Sprache, welche ſich zwar ſchon frühzeitig in viele kleine Zweige zerſplitterte, aber doch immer von einer gemein— ſamen, ganz eigenthümlichen Urſprache ableitbar iſt. Die individuenreichſte von allen Menſchen-Arten bildet neben dem mittelländiſchen der mongoliſche Menſch (Homo mongoli— cus). Dahin gehören alle Bewohner des aſiatiſchen Feſtlandes, mit Ausnahme der Hyperboräer im Norden, der wenigen Malayen im Südoſten (Malakka), der Dravidas in Vorderindien, und der Mittelländer im Südweſten. In Europa iſt dieſe Menſchen-Art durch die Finnen und Lappen im Norden, die Osmanen in der Tür— kei und die Magyaren in Ungarn vertreten. Die Hautfarbe der Mon— golen iſt ſtets durch den gelben Grundton ausgezeichnet, bald heller erbſengelb oder ſelbſt weißlich, bald dunkler braungelb. Das Haar iſt immer ſtraff und ſchwarz. Die Schädelform iſt bei der großen Nehrzahl entſchieden kurzköpfig (namentlich bei den Kalmücken, Baſch— kiren u. ſ. w.), häufig auch mittelköpfig (Tataren, Chineſen u. ſ. w.). Dagegen kommen echte Langköpfe unter ihnen gar nicht vor. In der runden Geſichtsbildung ſind die enggeſchlitzten, oft ſchief geneig— ten Augen auffallend, die ſtark vorſtehenden Backenknochen, breite Naſe und dicken Lippen. Die Sprache aller Mongolen läßt ſich 39 * 612 Mongolen. Arktiker. Amerikauer. wahrſcheinlich auf eine gemeinſame Urſprache zurückführen. Doch ſtehen ſich als zwei früh getrennte Hauptzweige die einſilbigen Spra— chen der indo-chineſiſchen Raſſe und die mehrſilbigen Sprachen der übrigen mongolifhen Raſſen gegenüber. Zu dem einſilbigen oder monoſyllaben Stamme der Indochineſen gehören die Tibetaner, Bir— manen, Siameſen und Chineſen. Die übrigen, die vielſilbigen oder polyſyllaben Mongolen zerfallen in drei Raſſen, nämlich 1) die Ko— reo-Japaner (Koreaner und Japaneſen); 2) die Altajer (Tataren, Türken, Kirgiſen, Kalmücken, Burjäten, Tunguſen); und 3) die Uralier (Samojeden, Finnen). Von den Finnen ſtammt auch die magyariſche Bevölkerung Ungarns ab. Als eine Abzweigung der mongoliſchen Menſchen-Art iſt der Polarmenſch (Homo arcticus) zu betrachten. Wir fallen unter dieſer Bezeichnung die Bewohner der arktiſchen Polarländer in bei— den Hemiſphären zuſammen, die Eskimos (und Grönländer) in Nord— amerika, und die Hyperboräer im nordöſtlichen Aſien (Jukagiren, Tſchuktſchen, Kurjäken und Kamtſchadalen). Durch Anpaſſung an das Polarklima iſt dieſe Menſchenform ſo eigenthümlich umgebildet, daß man ſie wohl als Vertreter einer beſonderen Species betrachten kann. Ihre Statur iſt niedrig und unterſetzt, die Schädelform mit— telköpfig oder ſogar langköpfig, die Augen eng und ſchief geſchlitzt, wie bei den Mongolen, auch die Backenkgochen vorſtehend und der Mund breit. Das Haar iſt ſtraff und ſchwarz. Die Hautfarbe iſt heller oder dunkler bräunlich, bald faſt weißlich oder mehr gelb, wie bei den Mongolen, bald mehr röthlich, wie bei den Amerikanern. Die Sprachen der Polarmenſchen ſind noch wenig bekannt, jedoch ſowohl von den mongoliſchen, als von den amerikaniſchen verſchie— den. Wahrſcheinlich ſind die Arktiker als zurückgebliebene und eigen— thümlich angepaßte Zweige jenes Mongolen-Stammes zu betrachten, der aus dem nordöſtlichen Aſien nach Nordamerika hinüberwanderte und dieſen Erdtheil bevölkerte. Zur Zeit der Entdeckung Amerikas war dieſer Erdtheil (von den Eskimos abgeſehen) nur von einer einzigen Menſchenart bevöl— Amerikaner. 613 kert, den Rothhäuten oder Amerikanern (Homo americanus). Unter allen übrigen Menſchenarten ſind ihr die beiden vorigen am nächſten verwandt. Insbeſondere iſt die Schädelform meiſtens der Mittelkopf, ſelten Kurzkopf oder Langkopf. Die Stirn iſt breit und ſehr niedrig, die Naſe groß, vortretend und oft gebogen, die Bak— kenknochen vortretend, die Lippen eher dünn, als dick. Das Haar iſt ſchwarz und ſtraff. Die Hautfarbe iſt durch rothen Grundton ausgezeichnet, welcher jedoch bald rein kupferroth oder heller röthlich, bald mehr dunkler rothbraun, gelbbraun oder olivenbraun wird. Die zahlreichen Sprachen der verſchiedenen amerikaniſchen Raſſen und Stämme ſind außerordentlich verſchieden, aber doch in der ur— ſprünglichen Anlage weſentlich übereinſtimmend. Wahrſcheinlich iſt Amerika zuerſt vom nordöſtlichen Aſien her bevölkert worden, von demſelben Mongolen-Stamme, von dem auch die Arktiker (Hyper— boräer und Eskimos) ſich abgezweigt haben. Zuerſt breitete ſich dieſer Stamm in Nordamerika aus und wanderte erſt von da aus über die Landenge von Central-Amerika hinunter nach Südamerika, in deſſen ſüdlichſter Spitze die Species durch Anpaſſung an ſehr un— günſtige Exiſtenz-Bedingungen eine ſtarke Rückbildung erfuhr. Mög— licher Weiſe ſind aber von Weſten her außer Mongolen auch Poly— neſier in Amerika eingewandert und haben ſich mit dieſen vermiſcht. Jedenfalls ſind die Ureinwohner Amerikas aus der alten Welt her— übergekommen, und keineswegs, wie Einige meinten, aus amerika— niſchen Affen entſtanden. Katarrhinen oder ſchmalnaſige Affen ha— ben zu keiner Zeit in Amerika exiſtirt. Die drei Menſchen-Species, welche wir nun noch unterſcheiden, die Dravidas, Nubier und Mittelländer, ſtimmen in mancherlei Eigen— thümlichkeiten überein, welche eine nähere Verwandtſchaft derſelben zu begründen ſcheinen und ſie von den vorhergehenden unterſcheiden. Dahin gehört vor Allen die Entwickelung eines ſtarken Barthaares, welches allen übrigen Species entweder ganz fehlt oder nur ſehr ſpär— lich auftritt. Das Haupthaar iſt gewöhnlich nicht ſo ſtraff und glatt, wie bei den fünf vorhergehenden Arten, ſondern meiſtens mehr oder 614 Dravidas. Nubier. weniger gelockt. Auch andere Charaktere ſcheinen dafür zu ſprechen, daß wir dieſelben in einer Hauptgruppe, den Lockenhaarigen (Euplocami) vereinigen können. Der gemeinſamen Stammform der Euplokamen, und vielleicht aller Liſſotrichen, ſehr nahe ſcheint der Dravida-Menſch zu ſtehen (Homo dravida). Gegenwärtig iſt dieſe uralte Species nur noch durch die Dekhan-Völker im ſüdlichen Theile Vorder-Indiens und durch die benachbarten Bewohner der Gebirge des nordöſtlichen Ceylon ver— treten. Früher aber ſcheint dieſelbe ganz Vorderindien eingenommen und auch noch weiter ſich ausgedehnt zu haben. Sie zeigt einerſeits Verwandtſchafts-Beziehungen zu den Auſtraliern und Malayen, ander— ſeits zu den Mongolen und Mittelländern. Die Hautfarbe iſt ein lich— teres oder dunkleres Braun, bei einigen Stämmen mehr gelbbraun, bei anderen faſt ſchwarzbraun. Das Haupthaar iſt, wie bei den Mittelländern, mehr oder weniger gelockt, weder ganz glatt, wie bei den Euthykomen, noch eigentlich wollig, wie bei den Ulotrichen. Auch durch den ausgezeichnet ſtarken Bartwuchs gleichen ſie den Mittellän— dern. Ihre ovale Geſichtsbildung ſcheint theils derjenigen der Ma— layen, theils derjenigen der Mittelländer am nächſten verwandt zu ſein. Gewöhnlich iſt die Stirn hoch, die Naſe vorſpringend, ſchmal, die Lippen wenig aufgeworfen. Ihre Sprache iſt gegenwärtig ſtark mit indogermaniſchen Elementen vermiſcht, ſcheint aber urſprünglich von einer ganz eigenthümlichen Urſprache abzuſtammen. Nicht weniger Schwierigkeiten, als die Dravida-Species, hat den Ethnographen der Nubier (Homo nuba) verurſacht, unter welchem Namen wir nicht nur die eigentlichen Nubier (Schangallas oder Don— goleſen), ſondern auch die ganz nahe verwandten Fulas oder Fellatas begreifen. Die eigentlichen Nubier bewohnen die oberen Nil-Länder (Dongola, Schangalla, Barabra, Kordofan); die Fulas oder Fella— tas dagegen ſind von da aus weit nach Weſten gewandert und be— wohnen jetzt einen breiten Strich im Süden der weſtlichen Sahara, eingekeilt zwiſchen die Sudaner im Norden und die Nigritier im Süden. Gewöhnlich werden die Nuba- und Fula-Völker entweder Mittelländer oder Kaukaſier. 615 zu den Negern, oder zu den hamitiſchen Völkern (alſo Mittelländern) gerechnet, unterſcheiden ſich aber von Beiden ſo weſentlich, daß man ſie als eine beſondere Art betrachten muß. Wahrſcheinlich nahm dieſelbe früher einen großen Theil des nordöſtlichen Afrika ein. Die Hautfarbe der Nuba- und Fula-Völker iſt gelbbraun oder rothbraun, ſeltener dunkelbraun bis ſchwarz. Das Haar iſt nicht wollig, ſon— dern nur lockig, oft ſogar faſt ganz ſchlicht; die Haarfarbe iſt dun— kelbraun oder ſchwarz. Der Bartwuchs iſt viel ſtärker als bei den Negern entwickelt. Die ovale Geſichtsbildung nähert ſich mehr dem mittelländiſchen als dem Neger-Typus. Die Stirn iſt hoch und breit, die Naſe vorſpringend und nicht platt gedrückt, die Lippen nicht ſo ſtark aufgeworfen wie beim Neger. Die Sprachen der Nu— biſchen Völker ſcheinen mit denjenigen der echten Neger gar keine Verwandtſchaft zu beſitzen. An die Spitze aller Menſchenarten hat man von jeher als die höchſt entwickelte und vollkommenſte den kaukaſiſchen oder mittel— ländiſchen Menſchen (Homo mediterraneus) geſtellt. Gewöhn— lich wird dieſe Form als „kaukaſiſche Raſſe“ bezeichnet. Da jedoch grade der kaukaſiſche Zweig unter allen Raſſen dieſer Species die wenigſt bedeutende iſt, ſo ziehen wir die von Friedrich Müller vorgeſchlagene, viel paſſendere Bezeichnung des Mediterran-Menſchen oder Mittelländers vor. Denn die wichtigſten Raſſen diefer Spe— cies, welche zugleich die bedeutendſten Factoren der ſogenannten „Weltgeſchichte“ find, haben ſich an den Geſtaden des Mittelmeeres zu ihrer erſten Blüthe entwickelt. Der frühere Verbreitungsbezirk dieſer Art wird durch die Bezeichnung der „indo-atlantiſchen“ Species aus— gedrückt, während dieſelbe gegenwärtig ſich über die ganze Erde ver— breitet und die meiſten übrigen Menſchen-Species im Kampfe ums Da— ſein überwindet. In körperlicher, wie in geiſtiger Beziehung, kann ſich keine andere Menſchenart mit der mittelländiſchen meſſen. Sie allein hat (abgeſehen von der mongoliſchen Species) eigentlich „Geſchichte“ gemacht. Sie allein hat jene Blüthe der Cultur entwickelt, welche den Menſchen über die ganze übrige Natur zu erheben ſcheint. 616 Basken und Kaufafter. Die Charaktere, durch welche ſich der mittelländiſche Menſch von den anderen Arten des Geſchlechts unterſcheidet, ſind allbekannt. Unter den äußeren Kennzeichen tritt die helle Hautfarbe in den Vor— dergrund, welche jedoch alle Abſtufungen von reinem Weiß oder röthlich Weiß, durch Gelb und Gelbbraun, bis zum Dunkelbraunen oder ſelbſt Schwarzbraunen zeigt. Der Haarwuchs iſt meiſtens ſtark, das Haupthaar mehr oder weniger lockig, das Barthaar ſtärker, als bei allen übrigen Arten. Die Schädelform zeigt einen großen Brei— tengrad der Entwickelung; überwiegend ſind im Ganzen wohl die Mittelköpfe; aber auch Langköpfe und Kurzköpfe ſind weit verbreitet. Der Körperbau im Ganzen erreicht nur bei dieſer einzigen Menſchen— art jenes Ebenmaß aller Theile, und jene gleichmäßige Entwickelung, welche wir als den Typus vollendeter menſchlicher Schönheit bezeich— nen. Die Sprachen aller Raſſen dieſer Species laſſen ſich keines— wegs auf eine einzige gemeinſame Urſprache zurückführen; vielmehr ſind mindeſtens vier ſolche, von Grund aus verſchiedene Urſpra— chen anzunehmen. Dem entſprechend muß man auch vier verſchie— dene, nur unten an der Wurzel zuſammenhängende Raſſen inner— halb dieſer einen Species annehmen. Zwei von dieſen Raſſen, die Basken und Kaukaſier, exiſtiren nur noch in geringen Ueberbleibſeln. Die Basken, welche früher ganz Spanien und Südfrankreich bevöl— kerten, leben jetzt nur noch in einem ſchmalen Striche an der nörd— lichen Küſte Spaniens, im Grunde der Bucht von Biscaya. Die Reſte der kaukaſiſchen Raſſe (die Dagheſtaner, Tſcherkeſſen, Mingre— lier und Georgier) ſind jetzt auf das Gebirgsland des Kaukaſus zu— rückgedrängt. Sowohl die Sprache der Kaukaſier als der Basken iſt durchaus eigenthümlich, und läßt ſich weder auf die ſemitiſche noch auf die indogermaniſche Urſprache zurückführen. Auch die Sprachen der beiden Hauptraſſen der mediterranen Spe— cies, die ſemitiſche und indogermaniſche, laſſen ſich nicht auf einen gemeinſamen Stamm zurückführen, und es müſſen daher dieſe beiden Raſſen ſchon ſehr frühzeitig ſich von einander getrennt haben. Semi— ten und Indogermanen ſtammen von verſchiedenen Affenmenſchen ab. Semiten und Indogermanen. 617 Die ſemitiſche Raſſe ſpaltete ſich ebenfalls ſchon ſehr früh in zwei divergirende Zweige, den egyptiſchen und den arabiſchen Zweig. Der egyptiſche oder afrikaniſche Zweig, die Dyſſemiten, welche wohl auch als Hamiten gänzlich von den Semiten getrennt wer— den, umfaßt die alte Bevölkerung Egyptens, ferner die große Gruppe der Berber, welche ganz Nordafrika inne haben und früher auch die canariſchen Inſeln bewohnten, und endlich die Gruppe der Aethio— pier (Bedſcha, Galla, Danakil, Somali und andere Völker, welche das ganze nordöſtliche Küſtenland von Afrika bis zum Aequator herab inne haben). Der arabiſche oder aſiatiſche Zweig dagegen, die Euſemiten, auch wohl Semiten im engeren Sinne genannt, umfaßt die Bewohner der großen arabiſchen Halbinſel, die uralte Familie der eigentlichen Araber („Urtypus des Semiten“), und ſodann die höchſt entwickelte Semiten-Gruppe, die Juden oder Hebräer und die Ara— mäer (Syrier und Chaldäer). Eine Colonie der ſüdlichen Araber (der Himjariten), welche über die Bab-el-Mandeb-Enge ſetzte, hat Abeſſinien bevölkert (vergl. S. 624). Die indogermaniſche Raſſe endlich, welche alle übrigen Men— ſchenraſſen in der geiſtigen Entwickelung weit überflügelt hat, ſpaltete ſich gleich der ſemitiſchen ſehr früh ſchon in zwei divergente Zweige, den ario-romaniſchen und ſlavo-germaniſchen Zweig. Aus dem erſteren gingen einerſeits die Arier (Inder und Iraner), andrer— ſeits die Gräcoromanen (Griechen und Albaneſen, Italer und Kel— ten) hervor. Aus dem ſlavo-germaniſchen Zweige entwickelten ſich einerſeits die Slaven (ruſſiſche und bulgarische, cechiſche und baltiſche Stämme), andrerſeits die Germanen (Scandinavier und Deutſche, Niederländer und Angelſachſen). Wie ſich die weitere Verzweigung der indogermaniſchen Raſſe auf Grund der vergleichenden Sprachforſchung im Einzelnen genau verfolgen läßt, hat Aug uſt Schleicher in ſehr anſchaulicher Form genealogiſch entwickelt“) (vergl. S. 625). Die Geſammtzahl der menſchlichen Individuen, welche gegenwär— tig leben, beträgt zwiſchen 1300 und 1400 Millionen. Auf unſerer tabellariſchen Ueberſicht (S. 626) ſind 1350 Millionen als Mittel an— 618 Die Menfchenarten im Kampf ums Daſein. genommen. Davon kommen nach ungefährer Schätzung, ſoweit ſolche überhaupt möglich iſt, nur etwa 150 Millionen auf die wollhaarigen, dagegen 1200 Millionen auf die ſchlichthaarigen Menſchen. Die bei— den höchſt entwickelten Species, Mongolen und Mittelländer, über— treffen an Individuenmaſſe bei weitem alle übrigen Menſchenarten, indem auf jede derſelben allein ungefähr 550 Millionen kommen (vgl. Friedrich Müller Ethnographie S. XXY. Natürlich wechſelt das Zahlenverhältniß der zwölf Species mit jedem Jahre, und zwar nach dem von Darwin entwickelten Geſetze, daß im Kampfe ums Daſein die höher entwickelten, begünſtigteren und größeren Formengruppen die beſtimmte Neigung und die ſichere Ausſicht haben, ſich immer mehr auf Koſten der niederen, zurückgebliebenen und kleineren Gruppen aus— zubreiten. So hat die mittelländiſche Species, und innerhalb derſel— ben die indogermaniſche Raſſe, vermöge ihrer höheren Gehirnentwicke— lung alle übrigen Raſſen und Arten im Kampf ums Daſein überflü— gelt, und ſpannt ſchon jetzt das Netz ihrer Herrſchaft über die ganze Erdkugel aus. Erfolgreich concurriren kann mit den Mittelländern, wenigſtens in gewiſſer Beziehung, nur die mongoliſche Species. In— nerhalb der Tropengegenden ſind die Neger, Kaffern und Nubier, die Malayen und Dravidas durch ihre beſſere Anpaſſungsfähigkeit an das heiße Klima, ebenſo in den Polargegenden die Arktiker durch ihr kaltes Klima, vor dem Andringen der Indogermanen einigermaßen geſchützt. Dagegen werden die übrigen Raſſen, die ohnehin ſehr zuſammenge— ſchmolzen ſind, den übermächtigen Mittelländern im Kampf ums Da— ſein früher oder ſpäter gänzlich erliegen. Schon jetzt gehen die Ameri— kaner und Auſtralier mit raſchen Schritten ihrer völligen Ausrottung entgegen, und daſſelbe gilt auch von den Papuas und Hottentotten. Indem wir uns nun zu der eben ſo intereſſanten als ſchwierigen Frage von dem verwandtſchaftlichen Zuſammenhang, den Wan— derungen und der Urheimath der 12 Menſchenarten wenden, will ich im Voraus bemerken, daß bei dem gegenwärtigen Zuſtande unſe— rer anthropologiſchen Kenntniſſe jede Antwort auf dieſe Frage nur als eine proviſoriſche Hypotheſe gelten kann. Es ver— Urheimath des Menſchen (Paradies). 619 hält ſich damit nicht anders, als mit jeder genealogiſchen Hypotheſe, die wir uns auf Grund des „natürlichen Syſtems“ von dem Ur— ſprung verwandter Thier- und Pflanzenarten machen können. Durch die nothwendige Unſicherheit dieſer ſpeciellen Deſcendenz-Hypothe— ſen wird aber die abſolute Sicherheit der generellen Deſcendenz— Theorie in keinem Falle erſchüttert. Der Menſch ſtammt jeden— falls von Katarrhinen oder ſchmalnaſigen Affen ab, mag man nun mit den Polyphyleten jede Menſchenart in ihrer Urheimath aus einer beſonderen Affenart entſtanden ſein laſſen, oder mag man mit den Monophyleten annehmen, daß alle Menſchenarten erſt durch Differenzirung aus einer einzigen Species von Urmenſch (Homo primigenius) entſtanden ſind. Aus vielen und wichtigen Gründen halten wir dieſe letztere, monophyletiſche Hypotheſe für die richtigere, und nehmen demnach für das Menſchengeſchlecht eine einzige Urheimath an, in der daſſelbe ſich aus einer längſt ausgeſtorbenen anthropoiden Affenart entwickelt hat. Von den jetzt exiſtirenden fünf Welttheilen kann we— der Auſtralien, noch Amerika, noch Europa dieſe Urheimath oder das ſogenannte „Paradies“, die „Wiege des Menſchengeſchlechts“ fein. Viel- mehr deuten die meiſten Anzeichen auf das ſüdliche Aſien. Außer dem ſüdlichen Aſien konnte von den gegenwärtigen Feſtländern nur noch Afrika in Frage kommen. Es giebt aber eine Menge von Anzeichen (beſonders chorologiſche Thatſachen), welche darauf hindeuten, daß die Urheimath des Menſchen ein jetzt unter den Spiegel des indi— ſchen Oceans verſunkener Kontinent war, welcher ſich im Süden des jetzigen Aſiens (und wahrſcheinlich mit ihm in directem Zuſammen— hang) einerſeits öſtlich bis nach Hinterindien und den Sunda-In— ſeln, andrerſeits weſtlich bis nach Madagascar und dem ſüdöſtlichen Afrika erſtreckte. Wir haben ſchon früher erwähnt, daß viele That— ſachen der Thier- und Pflanzengeographie die frühere Exiſtenz eines ſolchen ſüdindiſchen Kontinents ſehr wahrſcheinlich machen (vergl. S. 321). Derſelbe iſt von dem Engländer Sclater wegen der für ihn charakteriſtiſchen Halbaffen Lemuria genannt worden. Wenn 620 Der Urmenſch von Südaſien oder Lemurien. wir dieſes Lemurien als Urheimath annehmen, ſo läßt ſich daraus am leichteſten die geographiſche Verbreitung der divergirenden Men— ſchenarten durch Wanderung erklären. (Vergl. die Migrations-Ta⸗ fel XV, am Ende, und deren Erklärung.) Von dem hypothetiſchen Urmenſchen (Homo primigenius), welcher ſich entweder in Lemurien oder in Südaſien (vielleicht auch im öſtlichen Afrika) während der Tertiärzeit aus anthropoiden Affen ent— wickelte, kennen wir noch keine foſſilen Reſte. Aber bei der außer— ordentlichen Aehnlichkeit, welche ſich zwiſchen den niederſten wollhaa— rigen Menſchen und den höchſten Menſchenaffen ſelbſt jetzt noch er— halten hat, bedarf es nur geringer Einbildungskraft, um ſich zwi— ſchen Beiden eine vermittelnde Zwiſchenform und in dieſer ein un— gefähres Bild von dem uuthmaßlichen Urmenſchen oder Affenmen— ſchen vorzuſtellen. Die Schädelform deſſelben wird ſehr langköpfig und ſchiefzähnig geweſen ſein, das Haar wollig, die Hautfarbe dun— kel, bräunlich. Die Behaarung des ganzen Körpers wird dichter als bei allen jetzt lebenden Menſchenarten geweſen ſein, die Arme im Verhältniß länger und ſtärker, die Beine dagegen kürzer und dünner, mit ganz unentwickelten Waden; der Gang nur halb aufrecht, mit ſtark eingebogenen Knieen. Eine eigentlich menſchliche Sprache, d. h. eine artikulirte Begriffs— ſprache, wird dieſer Affenmenſch noch nicht beſeſſen haben. Vielmehr entſtand die menſchliche Sprache, wie ſchon vorher bemerkt, erſt nach— dem die Divergenz der Urmenſchenart in verſchiedene Species erfolgt war. Die Zahl der Urſprachen iſt aber noch beträchtlich größer, als die Zahl der vorher betrachteten Menſchenarten. Denn es iſt noch nicht gelungen, die vier Urſprachen der mittelländiſchen Species, das Baskiſche, Kaukaſiſche, Semitiſche und Indogermaniſche, auf eine einzige Urſprache zurückzuführen. Ebenſowenig laſſen ſich die ver— ſchiedenen Negerſprachen von einer gemeinſamen Urſprache ableiten. Dieſe beiden Species, Mittelländer und Neger, ſind daher jedenfalls polyglottoniſch, d. h. ihre zahlreichen menſchlichen Sprachen ſind erſt entſtanden, nachdem bereits die Divergenz der ſprachloſen Stamm— * Polyglottone und monoglottone Menſchenarten. 621 art in mehrere Raſſen erfolgt war. Vielleicht ſind auch die Mongo— len, Arktiker und Amerikaner polyglottoniſch. Monoglottoniſch dagegen iſt die malayiſche Menſchenart. Alle ihre polyneſiſchen und ſundaneſiſchen Dialekte und Sprachen laſſen ſich von einer gemein— ſamen, längſt untergegangenen Urſprache ableiten, die mit keiner an— dern Sprache der Erde verwandt iſt. Ebenſo monoglottoniſch ſind die übrigen Menſchenarten: Nubier, Dravidas, Auſtralier, Papuas, Hottentotten und Kaffern (vergl. S. 626). Aus dem ſprachloſen Urmenſchen, den wir als die gemeinſame Stammart aller übrigen Species anſehen, entwickelten ſich zunächſt wahrſcheinlich durch natürliche Züchtung verſchiedene uns unbekannte, jetzt längſt ausgeſtorbene Menſchenarten, die noch auf der Stufe des ſprachloſen Affenmenſchen (Alalus oder Pithecanthropus) ſtehen blie⸗ ben. Zwei von dieſen Species, eine wollhaarige und eine ſchlicht— haarige Art, welche am ſtärkſten divergirten und daher im Kampfe ums Daſein über die andern den Sieg davon trugen, wurden die Stammformen der übrigen Menſchenarten. Der Hauptzweig der wollhaarigen Menſchen (Ulotri- ches) breitete ſich zunächſt bloß auf der ſüdlichen Erdhälfte aus, und wanderte hier theils nach Oſten, theils nach Weſten. Ueber— reſte des öſtlichen Zweiges ſind die Papuas in Neuguinea und Me— laneſien, welche früher viel weiter weſtlich (in Hinterindien und Sun— daneſien) verbreitet waren, und erſt ſpäter durch die Malayen nach Oſten gedrängt wurden. Wenig veränderte Ueberreſte des weſtlichen Zweiges ſind die Hottentotten, welche in ihre jetzige Heimath von Nordoſten aus eingewandert ſind. Vielleicht während dieſer Wande— rung zweigten ſich von ihnen die beiden nahe verwandten Species der Kaffern und Neger ab, die aber vielleicht auch einem beſonderen Zweige von Affenmenſchen ihren Urſprung verdanken. Der zweite und entwickelungsfähigere Hauptzweig der Urmen— ſchen-Art, die ſchlichthaarigen Menſchen (Lissotriches), ha— ben uns vielleicht einen wenig veränderten, nach Südoſten geflüch— teten Reſt ihrer gemeinſamen Stammform in den affenartigen Auſtra— 622 Wanderung und Ausbreitung der Menſchenarten. liern hinterlaſſen. Dieſen letzteren ſehr nahe ſtanden vielleicht die ſüdaſiatiſchen Urmalayen oder Promalayen, mit welchem Na— men wir vorher die ausgeſtorbene, hypothetiſche Stammform der übrigen ſechs Menſchenarten bezeichnet haben. Aus dieſer unbe— kannten gemeinſamen Stammform ſcheinen ſich als drei divergirende Zweige die eigentlichen Malayen, die Mongolen und die Euploka— men entwickelt zu haben. Die erſten breiteten ſich nach Oſten, die zweiten nach Norden, die dritten nach Weſten hin aus. Die Urheimath oder der „Schöpfungsmittelpunkt“ der Ma— layen iſt im ſüdöſtlichen Theile des aſiatiſchen Feſtlandes zu ſuchen oder vielleicht in dem ausgedehnteren Continent, der früher beſtand, als noch Hinterindien mit dem Sunda-Archipel und dem öſtlichen Lemurien unmittelbar zuſammenhing. Von da aus breiteten ſich die Malayen nach Südoſten über den Sunda-Archipel bis Buro hin aus, ſtreiften dann, die Papuas vor ſich hertreibend, nach Oſten zu den Samoa- und Tonga -Inſeln hin, und zerſtreuten ſich endlich von hier aus nach und nach über die ganze Inſelwelt des ſüdlichen pa— cifiſchen Oceans, bis nach den Sandwich-Inſeln im Norden, den Mangareven im Oſten und Neuſeeland im Süden. Ein einzelner Zweig des malayiſchen Stammes wurde weit nach Weſten verſchla— gen und bevölkerte Madagaskar. Der zweite Hauptzweig der Urmalayen, die Mongolen, brei— teten ſich zunächſt ebenfalls in Südaſien aus und bevölkerten all— mählig, von da aus nach Oſten, Norden und Nordweſten ausſtrah— lend, den größten Theil des aſiatiſchen Feſtlandes. Von den vier Hauptraſſen der mongoliſchen Species find wahrſcheinlich die Indo— chineſen als die Stammgruppe zu betrachten, aus der ſich erſt als divergirende Zweige die übrigen Raſſen, Coreo-Japaner und Ural— Altajer ſpäter entwickelten. Aus dem Weſten Aſiens wanderten die Mongolen vielfach nach Europa hinüber, wo noch jetzt die Finnen und Lappen im nördlichen Rußland und Skandinavien, die nahe verwandten Magyaren in Ungarn und die Osmanen in der Türkei die mongoliſche Species vertreten. Geographische Verbreitung der Menſchenarten. 623 Andrerſeits wanderte aus dem nordöſtlichen Aſien, welches vor— mals vermuthlich durch eine breite Landbrücke mit Nordamerika zu— ſammenhing, ein Zweig der Mongolen in dieſen Erdtheil hinüber. Als ein Aſt dieſes Zweiges, welcher durch Anpaſſung an die un— günſtigen Exiſtenzbedingungen des Polarklimas eigenthümlich rückge— bildet wurde, ſind die Arktiker oder Polarmenſchen zu betrachten, die Hyperboräer im nordöſtlichen Aſien, die Eskimos im nördlichſten Amerika. Die Hauptmaſſe der mongoliſchen Einwanderer aber wan— derte nach Süden, und breitete ſich allmählig über ganz Amerika aus, zunächſt über das nördliche, ſpäter über das ſüdliche Amerika. Der dritte und wichtigſte Hauptzweig der Urmalayen, die Locken— völker oder Euplokamen, haben uns vielleicht in den heutigen Dravidas (in Vorderindien und Ceylon) diejenige Menſchenart hin— terlaſſen, die ſich am wenigſten von der gemeinſamen Stammform der Euplokamen entfernt hat. Die Hauptmaſſe der letzteren, die mittelländiſche Species, wanderte von ihrer Urheimath (Hindoſtan?) aus nach Weſten und bevölkerte die Küſtenländer des Mittelmeeres, das ſüdweſtliche Aſien, Nordafrika und Europa. Als eine Abzwei— gung der ſemitiſchen Urvölker im nordöſtlichen Afrika ſind möglicher— weiſe die Nubier zu betrachten, welche weit durch Mittelafrika hin— durch bis faſt zu deſſen Weſtküſte hinüberwanderten. Die divergi— renden Zweige der indogermaniſchen Raſſe haben ſich am weiteſten von der gemeinſamen Stammform des Affenmenſchen entfernt. Von den beiden Hauptzweigen dieſer Raſſe hat im claſſiſchen Alterthum und im Mittelalter der romaniſche Zweig (die graeco-italo-keltiſche Gruppe), in der Gegenwart aber der germaniſche Zweig im Wettlaufe der Culturentwickelung die anderen Zweige überflügelt. Obenan ſte— hen die Engländer und die Deutſchen, welche vorzugsweiſe gegenwär— tig in der Erkenntniß und dem Ausbau der Deſcendenztheorie das Fundament für eine neue Periode der höheren geiſtigen Entwickelung legen. Die Empfänglichkeit für die Entwickelungstheorie und für die darauf gegründete moniſtiſche Philoſophie bildet den beſten Maßſtab für den geiſtigen Entwickelungsgrad des Menſchen. 624 Stammbaum der ſemitiſchen Raſſe. Mauren Juden Amharen (Koraner) Samariter (Hebräer) Tigrer Harraren Phönicier | | Chaldäer | Sprier | | — — | | Erl Abeſſinier | | | ilier — a | x Kanaaniten | Aramüer n | Himjariten Paläſtiner) | | | | | | — — 5 Nordaraber : Südaraber Urjuden N | (Nordjemiten) | | —— — Araber (Südſemiten) | | — — — — — Guauchen Euſemiten (Urſemiten) Schuluhs Algerier Semiten im engeren Sinne) Tuneſen — | Marokkaner — — Tripolitaner | Kabylen Tuarik | Imoſcharh) | ee TEE HERT FH | Berber (Amazirh) | | | Galla | | BR. | Somali — ͤ Tr Euſemiten | Libyer — — Boedſcha | Danakil Neuegypter Babylonier 1 Kopten Urphöuicier — — | Aſſyrier Aethiopier | | | 1 — — mn Meſopotamier | Altegypter (ausgeſtorben) f | | E | Hamiten (Dyſſemiten) | — — Semiten 9 Stammbaum der indogermaniſchen Kaffe. 625 Angelſachſen Hochdeutſche | Plattdeutſche ſc Litauer Altpreußen Niederländer | Letten | | | u | Altſachſen | Baltiker — — | | Sachſen Frieſen Sorben | | 105 Polen | echen N n — — N | Niederdeutſche 55 — Skandinavier | eſtſlaven | „„ M Ruſſen Goten Deutſche Sudſlaben | | | Urgermanen Altbritten | Siüdoftjlaven | Altſchotten | | Srländer | | | | Romanen „ Gallier Slaven Lateiner . . | | | Spk Britannier u Italer Kelten | | | — nn — — —ʒ̃2ĩ Slavogermanen Italotelten Albaueſen Griechen | — — Urthracier | Juder aner 3 — — 5 Arier Gräcoromanen — Arioromanen Indogermanen Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 40 626 Inſtematiſche Ueberſicht der 12 Menfchen-Species. NB. Die Columne A giebt die ungefähre Bevölkerungszahl in Millionen an. Die Columne B deutet das phyletiſche Entwickelungsſtadium der Species an, und zwar bedeutet: ben; Re = Rückbildung und Ausſterben. Pr — Fortſchreitende Ausbreitung; Co — Ungefähres Gleichblei— Die Columne O giebt das Verhältniß der Urſprache an; Mn (Monoglottoniſch) bedeutet eine einfache Urſprache; PI (Po- lèyglottoniſch) eine mehrfache Urſprache der Species. | Büſchelhaa⸗ sc S 4 1. Papua Lophocomi (ca. 2 Millio- 1110 2. Hottentotte Vließhaarige 3. Kaffer Eriocomi (ea. 150 Mil⸗ lionen) 4. Neger 5. Auſtralier 6. Malaye Straffhaarige Euthycomi 7. Mongole (gegen 600 Millionen) 8. Arktiker 9. Amerikaner 10. Dravida Lockenhaarige 11. Nubier Euplocomi (gegen 600 Millionen) . Mittelländer 13, Baftarde der Arten Summa Tribus Menſchen-Species 4 | SKeimath | | | 1350 | Pr | Neuguinea und Mela- Malen ohtliphinen, beige Afrika (Capland) Südafrika (zwiſchen 300 S. Br. und 50 N. Br.) Mittelafrika (zwiſchen Pl dem Aequator und 30% N. Br.) | Mn | luftratien Malakka, Sundane- Mn ſien, Polyneſien u. Madagascar Aſien zum größten Theile, und nörd- liches Europa e Aſien Bl? | und nördlichſtes Amerika Ganz Amerika mit Ausnahme des nörd— lichſten Theiles Südaſien (Vorderin⸗ dien und Ceylon) Mittelafrika (Nubien und Fulaland) In allen Welttheilen, ö von Südaſien aus Pl ) zunächſt nach Nord- ı Pi afrika und Siideuro- pa gewandert In allen Welttheilen, vorwiegend jedoch in Amerika und Aſien Vierundzwanzigſter Vortrag. Einwände gegen und Beweiſe für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. Einwände gegen die Abſtammungslehre. Einwände des Glaubens und der Ver— nunft. Unermeßliche Länge der geologiſchen Zeiträume. Uebergangsformen zwiſchen den verwandten Species. Abhängigkeit der Formbeſtändigkeit von der Vererbung, und des Formwechſels von der Anpaſſung. Entſtehung ſehr zuſammengeſetzter Organiſationseinrichtungen. Stufenweiſe Entwickelung der Inſtinkte und Seelen— thätigkeiten. Entſtehung der aprioriſchen Erkenntniſſe aus apoſterioriſchen. Erfor- derniſſe für das richtige Verſtändniß der Abſtammungslehre. Nothwendige Wechſel— wirkung der Empirie und Philoſophie. Beweiſe für die Deſcendenztheorie. Innerer urſächlicher Zuſammenhang aller biologiſchen Erſcheinungsreihen. Der directe Be— weis der Selectionstheorie. Verhältniß der Deſcendenztheorie zur Anthropologie. Beweiſe für den thieriſchen Urſprung des Menſchen. Die Pithekoidentheorie als untrennbarer Beſtandtheil der Deſcendenztheorie. Induetion und Deduction. Stu— fenweiſe Entwickelung des menſchlichen Geiſtes. Körper und Geiſt. Menſcheuſeele und Thierſeele. Blick in die Zukunft. Meine Herren! Wenn ich einerſeits vielleicht hoffen darf, Ihnen durch dieſe Vorträge die Abſtammungslehre mehr oder weniger wahr— ſcheinlich gemacht, und einige von Ihnen ſelbſt von ihrer unerſchütter— lichen Wahrheit überzeugt zu haben, ſo verhehle ich mir andrerſeits keineswegs, daß die Meiſten von Ihnen im Laufe meiner Erörterun— gen eine Maſſe von mehr oder weniger begründeten Einwürfen gegen dieſelbe erhoben haben werden. Es erſcheint mir daher jetzt, am Schluſſe unſerer Betrachtungen, durchaus nothwendig, wenigſtens 40 * d 628 Kiffen und Glauben. die wichtigſten derſelben zu widerlegen, und zugleich auf der anderen Seite die überzeugenden Beweisgründe nochmals hervorzuheben, welche für die Wahrheit der Entwickelungslehre Zeugniß ablegen. Die Einwürfe, welche man gegen die Abſtammungslehre über— haupt erhebt, zerfallen in zwei große Gruppen, Einwände des Glau— bens und Einwände der Vernunft. Mit den Einwendungen der erſten Gruppe, die in den unendlich mannichfaltigen Glaubensvorſtellungen der menſchlichen Individuen ihren Urſprung haben, brauche ich mich hier durchaus nicht zu befaſſen. Denn, wie ich bereits im Anfang dieſer Vorträge bemerkte, hat die Wiſſenſchaft, als das objective Er— gebniß der ſinnlichen Erfahrung und des Erkenntnißſtrebens der menſch— lichen Vernunft, gar Nichts mit den ſubjectiven Vorſtellungen des Glaubens zu thun, welche von einzelnen Menſchen als unmittelbare Eingebungen oder Offenbarungen des Schöpfers gepredigt, und dann von der unſelbſtſtändigen Menge geglaubt werden. Dieſer bei den verſchiedenen Völkern höchſt verſchiedenartige Glaube, der vom „Aber— glauben“ nicht verſchieden iſt, fängt bekanntlich erſt da an, wo die Wiſſenſchaft aufhört. Die Naturwiſſenſchaft betrachtet denſelben nach. dem Grundſatze Friedrich's des Großen, „daß jeder auf feine Fagon ſelig werden kann“, und nur da tritt ſie nothwendig in Konflikt mit beſonderen Glaubensvorſtellungen, wo dieſelben der freien For— ſchung eine Grenze, und der menſchlichen Erkenntniß ein Ziel ſetzen wollen, über welches dieſelbe nicht hinaus dürfe. Das iſt nun al— lerdings gewiß hier im ſtärkſten Maße der Fall, da die Entwicke— lungslehre ſich zur Aufgabe das höchſte wiſſenſchaftliche Problem ge— ſetzt hat, das wir uns ſetzen können: das Problem der Schöpfung, des Werdens der Dinge, und insbeſondere des Werdens der orga— niſchen Formen, an ihrer Spitze des Menſchen. Hier iſt es nun jedenfalls eben ſo das gute Recht, wie die heilige Pflicht der freien Forſchung, keinerlei menſchliche Autorität zu ſcheuen, und muthig den Schleier vom Bilde des Schöpfers zu lüften, unbekümmert, welche natürliche Wahrheit darunter verborgen ſein mag. Die gött⸗ liche Offenbarung, welche wir als die einzig wahre anerkennen, ſteht Unermeßlich lange Zeiträume der organischen Erdgeichichte. 629 überall in der Natur geſchrieben, und jedem Menſchen mit geſunden Sinnen und geſunder Vernunft ſteht es frei, in dieſem heiligen Tempel der Natur durch eigenes Forſchen und ſelbſtſtändiges Er— kennen der untrüglichen Offenbarung theilhaftig zu werden. Wenn wir demgemäß hier alle Einwürfe gegen die Abſtammungs— lehre unberückſichtigt laſſen können, die etwa von den Prieſtern der verſchiedenen Glaubensreligionen erhoben werden könnten, fo werden wir dagegen nicht umhin können, die wichtigſten von denjenigen Ein— wänden zu widerlegen, welche mehr oder weniger wiſſenſchaftlich be— gründet erſcheinen, und von denen man zugeſtehen muß, daß man durch ſie auf den erſten Blick in gewiſſem Grade eingenommen und von der Annahme der Abſtammungslehre zurückgeſchreckt werden kann. Unter dieſen Einwänden erſcheint Vielen als der wichtigſte derjenige, welcher die Zeitlänge betrifft. Wir ſind nicht gewohnt, mit ſo ungeheuren Zeitmaßen umzugehen, wie ſie für die Schöpfungsge— ſchichte erforderlich ſind. Es wurde früher bereits erwähnt, daß wir die Zeiträume, in welchen die Arten durch allmähliche Umbildung entſtanden ſind, nicht nach einzelnen Jahrtauſenden berechnen müſſen, ſondern nach Hunderten und nach Millionen von Jahrtauſenden. Al— lein ſchon die Dicke der geſchichteten Erdrinde, die Erwägung der ungeheuern Zeiträume, welche zu ihrer Ablagerung aus dem Waſſer erforderlich waren, und der zwiſchen dieſen Senkungszeiträumen ver— floſſenen Hebungszeiträume beweiſen uns eine Zeitdauer der organi— ſchen Erdgeſchichte, welche unſer menſchliches Faſſungsvermögen gänzlich überſteigt. Wir ſind hier in derſelben Lage, wie in der Aſtronomie betreffs des unendlichen Raums. Wie wir die Entfernungen der ver— ſchiedenen Planetenſyſteme nicht nach Meilen, ſondern nach Sirius— weiten berechnen, von denen jede wieder Millionen Meilen einſchließt, ſo müſſen wir in der organiſchen Erdgeſchichte nicht nach Jahrtau— ſenden, ſondern nach paläontologiſchen oder geologiſchen Perioden rechnen, von denen jede viele Jahrtauſende, und manche vielleicht Millionen oder ſelbſt Milliarden von Jahrtauſenden umfaßt. Es iſt ſehr gleichgültig, wie hoch man annähernd die unermeßliche Länge 630 Unermeßlich lange Zeiträume der organischen Erdgeichichte. dieſer Zeiträume ſchätzen mag, weil wir in der That nicht im Stande ſind, mittelſt unſerer beſchränkten Einbildungskraft uns eine wirkliche Anſchauung von dieſen Zeiträumen zu bilden, und weil wir auch keine ſichere mathematiſche Baſis, wie in der Aſtronomie beſitzen, um nur die ungefähre Länge des Maaßſtabes irgendwie in Zahlen feſtzuſtellen. Nur dagegen müſſen wir uns auf das beſtimmteſte verwahren, daß wir in dieſer außerordentlichen, unſere Vorſtellungskraft vollſtändig überſteigenden Länge der Zeiträume irgend einen Grund gegen die Entwickelungslehre ſehen könnten. Wie ich Ihnen bereits in einem früheren Vortrage auseinanderſetzte, iſt es im Gegentheil vom Stand— punkte der ſtrengſten Philoſophie das Gerathenſte, dieſe Schöpfungs— perioden möglichſt lang vorauszuſetzen, und wir laufen um ſo weniger Gefahr, uns in dieſer Beziehung in unwahrſcheinliche Hypotheſen zu verlieren, je größer wir die Zeiträume für die organiſchen Entwicke⸗ lungsvorgänge annehmen. Je länger wir z. B. die Permiſche Periode annehmen, deſto eher können wir begreifen, wie innerhalb derſelben die wichtigen Umbildungen erfolgten, welche die Fauna und Flora der Steinkohlenzeit ſo ſcharf von derjenigen der Triaszeit trennen. Die große Abneigung, welche die meiſten Menſchen gegen die An— nahme ſo unermeßlicher Zeiträume haben, rührt größtentheils davon her, daß wir in der Jugend mit der Vorſtellung groß gezogen werden, die ganze Erde ſei nur einige tauſend Jahre alt. Außerdem iſt das Menſchenleben, welches höchſtens den Werth eines Jahrhunderts er— reicht, eine außerordentlich kurze Zeitſpanne, welche ſich am wenigſten eignet, als Maaßeinheit für jene geologiſchen Perioden zu gelten. Unſer Leben iſt ein einzelner Tropfen im Meere der Ewigkeit. Den⸗ ken Sie nur im Vergleiche damit an die fünfzig mal längere Lebens— dauer mancher Bäume, z. B. der Drachenbäume Dracaena) und Affenbrodbäume (Adansonia), deren individuelles Leben einen Zeit— raum von fünftauſend Jahren überſteigt; und denken Sie andrer— ſeits an die Kürze des individuellen Lebens bei manchen niederen Thieren, z. B. bei den Infuſorien, wo das Individuum als ſolches nur wenige Tage, oder ſelbſt nur wenige Stunden lebt. Dieſe Ver— 48 Uebergangsformen zwiſchen den organischen Arten. 631 gleichung ſtellt uns die Relativität alles Zeitmaaßes auf das Un— mittelbarſte vor Augen. Ganz gewiß müſſen ungeheure, uns gar nicht vorſtellbare Zeiträume verfloſſen ſein, während die ſtufen⸗ weiſe hiſtoriſche Entwickelung des Thier- und Pflanzenreichs durch allmähliche Umbildung der Arten vor ſich ging. Es liegt aber auch nicht ein einziger Grund vor, irgend eine beſtimmte Grenze für die Länge jener phyletiſchen Entwickelungsperioden anzunehmen. Ein zweiter Haupteinwand, der von vielen, namentlich ſyſtema— tiſchen Zoologen und Botanikern, gegen die Abſtammungslehre erho— ben wird, iſt der, daß man keine Uebergangsformen zwiſchen den verſchiedenen Arten finden könne, während man dieſe doch nach der Abſtammungslehre in Menge finden müßte. Dieſer Einwurf iſt zum Theil begründet, zum Theil aber auch nicht. Denn es exiſtiren Uebergangsformen ſowohl zwiſchen lebenden, als auch zwiſchen aus— geſtorbenen Arten in außerordentlicher Menge, überall nämlich da, wo wir Gelegenheit haben, ſehr zahlreiche Individuen von verwandten Arten vergleichend ins Auge zu faſſen. Grade diejenigen ſorgfältig— ſten Unterſucher der einzelnen Species, von denen man jenen Einwurf häufig hört, grade dieſe finden wir in ihren ſpeciellen Unterſuchungs— reihen beſtändig durch die in der That unlösbare Schwierigkeit aufge— halten, die einzelnen Arten ſcharf zu unterſcheiden. In allen ſyſtema— tiſchen Werken, welche einigermaßen gründlich ſind, begegnen Sie endloſen Klagen darüber, daß man hier und dort die Arten nicht un— terſcheiden könne, weil zu viele Uebergangsformen vorhanden ſeien. Daher beſtimmt auch jeder Naturforſcher den Umfang und die Zahl der einzelnen Arten anders, als die übrigen. Wie ich ſchon früher erwähnte (S. 246), nehmen in einer und derſelben Organismengruppe die einen Zoologen und Botaniker 10 Arten an, andere 20, andere hundert oder mehr, während noch andere Syſtematiker alle dieſe ver— ſchiedenen Formen nur als Spielarten oder Varietäten einer einzigen „guten Species“ betrachten. Man findet in der That bei den mei— ſten Formengruppen Uebergangsformen und Zwiſchenſtufen zwiſchen den einzelnen Species in Hülle und Fülle. 632 Uebergangsformen zwifchen den organischen Arten. Bei vielen Arten fehlen freilich die Uebergangsformen wirklich. Dies erklärt ſich indeſſen ganz einfach durch das Princip der Diver— genz oder Sonderung, deſſen Bedeutung ich Ihnen früher erläutert habe. Der Umſtand, daß der Kampf um das Daſein um ſo heftiger zwiſchen zwei verwandten Formen iſt, je näher ſie ſich ſtehen, muß nothwendig das baldige Erlöſchen der verbindenden Zwiſchenformen zwiſchen zwei divergenten Arten begünſtigen. Wenn eine und die— ſelbe Species nach verſchiedenen Richtungen auseinandergehende Va— rietäten hervorbringt, die ſich zu neuen Arten geſtalten, ſo muß der Kampf zwiſchen dieſen neuen Formen und der gemeinſamen Stamm— form um ſo lebhafter ſein, je weniger ſie ſich von einander entfer— nen, dagegen um ſo weniger gefährlich, je ſtärker die Divergenz iſt. Naturgemäß werden alſo die verbindenden Zwiſchenformen vorzugs— weiſe und meiſtens ſehr ſchnell ausſterben, während die am meiſten divergenten Formen als getrennte „neue Arten“ übrig bleiben und ſich. fortpflanzen. Dem entſprechend finden wir auch keine Uebergangs— formen mehr in ſolchen Gruppen, welche ganz im Ausſterben be— griffen ſind, wie z. B. unter den Vögeln die Strauße, unter den Säugethieren die Elephanten, Giraffen, Halbaffen, Zahnarmen und Schnabelthiere. Dieſe im Erlöſchen begriffenen Formgruppen erzeu— gen keine neue Varietäten mehr, und naturgemäß ſind hier die Arten ſogenannte „gute“, d. h. ſcharf von einander geſchiedene Species. In denjenigen Thiergruppen dagegen, wo noch die Entfaltung und der Fortſchritt ſich geltend macht, wo die exiſtirenden Arten durch Bildung neuer Varietäten in viele neue Arten auseinandergehen, finden wir überall maſſenhaft Uebergangsformen vor, welche der Syſtematik die größten Schwierigkeiten bereiten. Das iſt z. B. unter den Vögeln bei den Finken der Fall, unter den Säugethieren bei den meiſten Nage— thieren (beſonders den mäuſe- und rattenartigen), bei einer Anzahl von Wiederkäuern und von echten Affen, insbeſondere bei den ſüd— amerikaniſchen Rollaffen (Cebus) und vielen Anderen. Die fortwäh— rende Entfaltung der Species durch Bildung neuer Varietäten erzeugt hier eine Maſſe von Zwiſchenformen, welche die ſogenannten guten GPP Beſtändigkeit und Veränderlichkeit der organiſchen Species. 633 Arten verbinden, ihre Grenzen verwiſchen und ihre ſcharfe ſpecifiſche Unterſcheidung ganz illuſoriſch machen. Daß dennoch keine vollſtändige Verwirrung der Formen, kein allgemeines Chaos, in der Bildung der Thier- und Pflanzengeſtalten entſteht, hat einfach ſeinen Grund in dem Gegengewicht, welches ge— genüber der Entſtehung neuer Formen durch fortſchreitende Anpaſ— ſung, die erhaltende Macht der Vererbung ausübt. Der Grad von Beharrlichkeit und Veränderlichkeit, den jede organiſche Form zeigt, iſt lediglich bedingt durch den jeweiligen Zuſtand des Gleichge— wichts zwiſchen dieſen beiden ſich entgegenſtehenden Functionen. Die Vererbung iſt die Urſache der Beſtändigkeit der Spe— cies; die Anpaſſung iſt die Urſache der Abänderung der Art. Wenn alſo einige Naturforſcher ſagen, offenbar müßte nach der Abſtammungslehre eine noch viel größere Mannichfaltigkeit der Formen ſtattfinden, und andere umgekehrt, es müßte eine viel ſtren— gere Gleichheit der Formen ſich zeigen, ſo unterſchätzen die erſteren das Gewicht der Vererbung und die letzteren das Gewicht der Anpaſ— jung. Der Grad der Wechſelwirkung zwiſchen der Ver- erbung und Anpaſſung beſtimmt den Grad der Beſtän— digkeit und Veränderlichkeit der organiſchen Species, den dieſelbe in jedem gegebenen Zeitabſchnitt beſitzt. Ein weiterer Einwand gegen die Deſcendenztheorie, welcher in den Augen vieler Naturforſcher und Philoſophen ein großes Gewicht beſitzt, beſteht darin, daß dieſelbe die Entſtehung zweckmäßig wirkender Organe durch zwecklos oder mechaniſch wir— kende Urſachen behauptet. Dieſer Einwurf erſcheint namentlich von Bedeutung bei Betrachtung derjenigen Organe, welche offenbar für einen ganz beſtimmten Zweck ſo vortrefflich angepaßt erſcheinen, daß die ſcharfſinnigſten Mechaniker nicht im Stande ſein würden, ein vollkommneres Organ für dieſen Zweck zu erfinden. Solche Organe ſind vor allen die höheren Sinnesorgane der Thiere, Auge und Ohr. Wenn man bloß die Augen und Gehörwerkzeuge der höheren Thiere kennte, ſo würden dieſelben uns in der That große und vielleicht un— 5 634 Mechanische Entſtehung zweckmäßiger Organiſationseinrichtungen. überſteigliche Schwierigkeiten verurſachen. Wie könnte man ſich er— klären, daß allein durch die natürliche Züchtung jener außerordentlich hohe und höchſt bewundernswürdige Grad der Vollkommenheit und der Zweckmäßigkeit in jeder Beziehung erreicht wird, welchen wir bei den Augen und Ohren der höheren Thiere wahrnehmen? Zum Glück hilft uns aber hier die vergleichende Anatomie und Ent— wickelungsgeſchichte über alle Hinderniſſe hinweg. Denn wenn wir die ſtufenweiſe Vervollkommnung der Augen und Ohren Schritt für Schritt im Thierreich verfolgen, ſo finden wir eine ſolche allmäh— liche Stufenleiter der Ausbildung vor, daß wir auf das ſchönſte die Entwickelung der höchſt verwickelten Organe durch alle Grade der Vollkommenheit hindurch verfolgen können. So erſcheint z. B. das Auge bei den niederſten Thieren als ein einfacher Farbſtofffleck, der noch kein Bild von äußeren Gegenſtänden entwerfen, ſondern höchſtens den Unterſchied der verſchiedenen Lichtſtrahlen wahrnehmen kann. Dann tritt zu dieſem ein empfindender Nerv hinzu. Später entwickelt ſich all— mählich innerhalb jenes Pigmentflecks die erſte Anlage der Linſe, ein lichtbrechender Körper, der ſchon im Stande iſt, die Lichtſtrahlen zu concentriren und ein beſtimmtes Bild zu entwerfen. Aber es fehlen noch alle die zuſammengeſetzten Apparate für Akkommodation und Be— wegung des Auges, die verſchieden lichtbrechenden Medien, die hoch differenzirte Sehnervenhaut u. ſ. w., welche bei den höheren Thieren dieſes Werkzeug ſo vollkommen geſtalten. Von jenem einfachſten Or— gan bis zu dieſem höchſt vollkommenen Apparat zeigt uns die ver— gleichende Anatomie in ununterbrochener Stufenleiter alle möglichen Uebergänge, ſo daß wir uns die ſtufenweiſe, allmähliche Bildung auch eines ſolchen höchſt complicirten Organes wohl anſchaulich machen kön— nen. Ebenſo wie wir im Laufe der individuellen Entwickelung einen gleichen ſtufenweiſen Fortſchritt in der Ausbildung des Organs unmit— telbar verfolgen können, ebenſo muß derſelbe auch in der geſchicht— lichen (phyletiſchen) Entſtehung des Organs ſtattgefunden haben. Bei Betrachtung ſolcher höchſt vollkommenen Organe, die ſchein— bar von einem künſtleriſchen Schöpfer für ihre beſtimmte Thätigkeit Mechanische Entſtehung zweckmäßiger Organiſationseinrichtungen. 635 zweckmäßig erfunden und conſtruirt, in der That aber durch die zweck— loſe Thätigkeit der natürlichen Züchtung mechaniſch entſtanden ſind, empfinden viele Menſchen ähnliche Schwierigkeiten des naturgemäßen Verſtändniſſes, wie die rohen Naturvölker gegenüber den verwickelten Erzeugniſſen unſerer neueſten Maſchinenkunſt. Die Wilden, welche zum erſtenmal ein Linienſchiff oder eine Locomotive ſehen, halten dieſe Gegenſtände für die Erzeugniſſe übernatürlicher Weſen, und können nicht begreifen, daß der Menſch, ein Organismus ihres Gleichen, eine ſolche Maſchine hervorgebracht habe. Auch die ungebildeten Menſchen unſerer eigenen Raſſe ſind nicht im Stande, einen ſo ver— wickelten Apparat in ſeiner eigentlichen Wirkſamkeit zu begreifen, und die rein mechaniſche Natur deſſelben zu verſtehen. Die meiſten Na— turforſcher verhalten ſich aber, wie Darwin ſehr richtig bemerkt, gegenüber den Formen der Organismen nicht anders, als jene Wil— den dem Linienſchiff oder der Locomotive gegenüber. Das naturge— mäße Verſtändniß von der rein mechaniſchen Entſtehung der orga— niſchen Formen kann hier nur durch eine gründliche allgemeine bio— logiſche Bildung, und durch die ſpecielle Bekanntſchaft mit der ver— gleichenden Anatomie und Entwickelungsgeſchichte gewonnen werden. Unter den übrigen gegen die Abſtammungslehre erhobenen Ein— würfen will ich hier endlich noch einen hervorheben und widerlegen, der namentlich in den Augen vieler Laien ein großes Gewicht beſitzt: Wie ſoll man ſich aus der Deſcendenztheorie die Geiſtesthätig— keiten der Thiere und namentlich die ſpecifiſchen Aeußerungen derſelben, die ſogenannten Inſtinkte entſtanden denken? Dieſen ſchwierigen Gegenſtand hat Darwin in einem beſonderen Capitel ſeines Hauptwerkes (im ſiebenten) ſo ausführlich behandelt, daß ich Sie hier darauf verweiſen kann. Wir müſſen die Inſtinkte weſentlich als Gewohnheiten der Seele auffaſſen, welche durch Anpaſſung erworben und durch Vererbung auf viele Generationen übertragen und befeſtigt worden ſind. Die Inſtinkte verhalten ſich demgemäß ganz wie andere Ge— wohnheiten, welche nach den Geſetzen der gehäuften Anpaſſung 636 Entſtehung der Inſtinkte durch Vererbung von Anpaſſungen. (S. 209) und der befeſtigten Vererbung (S. 194) zur Entſtehung neuer Functionen und ſomit auch neuer Formen ihrer Organe füh— ren. Hier wie überall geht die Wechſelwirkung zwiſchen Function und Organ Hand in Hand. Ebenſo wie die Geiſtesfähigkeiten des Menſchen ſtufenweiſe durch fortſchreitende Anpaſſung des Gehirns er— worben und durch dauernde Vererbung befeſtigt wurden, ſo ſind auch die Inſtinkte der Thiere, welche nur quantitativ, nicht qualitativ von jenen verſchieden ſind, durch ſtufenweiſe Vervollkommnung ihres Seelenorgans, des Centralnervenſyſtems, durch Wechſelwirkung der Anpaſſung und Vererbung, entſtanden. Die Inſtinkte werden be— kanntermaßen vererbt; allein auch die Erfahrungen, alſo neue An— paſſungen der Thierſeele, werden vererbt; und die Abrichtung der Hausthiere zu verſchiedenen Seelenthätigkeiten, welche die wilden Thiere nicht im Stande ſind auszuführen, beruht auf der Möglich— keit der Seelenanpaſſung. Wir kennen jetzt ſchon eine Reihe von Beiſpielen, in denen ſolche Anpaſſungen, nachdem ſie erblich durch eine Reihe von Generationen ſich übertragen hatten, ſchließlich als angeborene Inſtinkte erſchienen, und doch waren ſie von den Vor— eltern der Thiere erſt erworben. Hier iſt die Dreſſur durch Verer— bung in Inſtinkt übergegangen. Die charakteriſtiſchen Inſtinkte der Jagdhunde, Schäferhunde und anderer Hausthiere, welche ſie mit auf die Welt bringen, ſind ebenſo wie die Naturinſtinkte der wilden Thiere, von ihren Voreltern erſt durch Anpaſſung erworben worden. Sie find in dieſer Beziehung den angeblichen „Erkenntniſſen a priori“ des Menſchen zu vergleichen, die urſprünglich von unſeren uralten Vorfahren (gleich allen anderen Erkenntniſſen) „a posteriori“, durch ſinnliche Erfahrung, erworben wurden. Wie ich ſchon früher bemerkte, ſind offenbar die „Erkenntniſſe a priori* erſt durch lange andauernde Vererbung von erworbenen Gehirnanpaſ— ſungen aus urſprünglich empiriſchen „Erkenntniſſen a posteriori“ entſtanden (S. 29). Die ſo eben beſprochenen und widerlegten Einwände gegen die Deſcendenztheorie dürften wohl die wichtigſten ſein, welche ihr ent— * Erforderniſſe für das Verſtändniß der Abſtammungslehre. 637 gegengehalten worden ſind. Ich glaube Ihnen deren Grundloſigkeit genügend dargethan zu haben. Die zahlreichen übrigen Einwürfe, welche außerdem noch gegen die Entwickelungslehre im Allgemeinen oder gegen den biologiſchen Theil derſelben, die Abſtammungslehre, im Beſonderen erhoben worden ſind, beruhen entweder auf einer ſol— chen Unkenntniß der empiriſch feſtgeſtellten Thatſachen, oder auf einem ſolchen Mangel an richtigem Verſtändniß derſelben, und an Fähigkeit, die daraus nothwendig ſich ergebenden Folgeſchlüſſe zu ziehen, daß es wirklich nicht der Mühe lohnen würde, hier näher auf ihre Widerle— gung einzugehen. Nur einige allgemeine Geſichtspunkte möchte ich Ihnen in dieſer Beziehung noch mit einigen Worten nahe legen. Zunächſt iſt hinſichtlich des erſterwähnten Punktes zu bemerken, daß, um die Abſtammungslehre vollſtändig zu verſtehen, und ſich ganz von ihrer unerſchütterlichen Wahrheit zu überzeugen, ein allge— meiner Ueberblick über die Geſammtheit des biologiſchen Erſcheinungs— gebietes unerläßlich iſt. Die Deſcendenztheorie iſt eine bio— logiſche Theorie, und man darf daher mit Fug und Recht ver— langen, daß diejenigen Leute, welche darüber ein gültiges Urtheil fällen wollen, den erforderlichen Grad biologiſcher Bildung beſitzen. Dazu genügt es nicht, daß ſie in dieſem oder jenem Gebiete der Zoologie, Botanik und Protiſtik ſpecielle Erfahrungskenntniſſe beſitzen. Vielmehr müſſen ſie nothwendig eine allgemeine Ueberſicht der geſammten Erſcheinungsreihen wenigſtens in einem der drei organiſchen Reiche beſitzen. Sie müſſen wiſſen, welche allgemeinen Geſetze aus der vergleichenden Morphologie und Phyſiologie der Or— ganismen, insbeſondere aus der vergleichenden Anatomie, aus der individuellen und paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte u. ſ. w. ſich ergeben, und ſie müſſen eine Vorſtellung von dem tiefen mechani— ſchen, urſächlichen Zuſammenhang haben, in dem alle jene Erſcheinungsreihen ſtehen. Selbſtverſtändlich iſt dazu ein gewiſſer Grad allgemeiner Bildung und namentlich philoſophiſcher Erziehung erforderlich, den leider heutzutage nicht viele Leute für nöthig halten. Ohne die nothwendige Verbindung von empiriſchen 638 Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie. Kenntniſſen und von philoſophiſchem Verſtändniß der biologiſchen Erſcheinungen kann die unerſchütterliche Ueberzeugung von der Wahrheit der Deſcendenztheorie nicht gewonnen werden. Nun bitte ich Sie, gegenüber dieſer erſten Vorbedingung für das wahre Verſtändniß der Deſcendenztheorie, die bunte Menge von Leuten zu betrachten, die ſich herausgenommen haben, über dieſelbe mündlich oder ſchriftlich ein vernichtendes Urtheil zu fällen! Die meiſten derſelben ſind Laien, welche die wichtigſten biologiſchen Er— ſcheinungen entweder gar nicht kennen, oder doch keine Vorſtellung von ihrer tieferen Bedeutung beſitzen. Was würden Sie von einem Laien ſagen, der über die Zellentheorie urtheilen wollte, ohne je— mals Zellen geſehen zu haben, oder über die Wirbeltheorie, ohne jemals vergleichende Anatomie getrieben zu haben? Und doch begeg— nen Sie ſolchen lächerlichen Anmaßungen in der Geſchichte der bio— logiſchen Deſcendenztheorie alle Tage! Sie hören Tauſende von Laien und von Halbgebildeten darüber ein entſcheidendes Urtheil fällen, die weder von Botanik noch von Zoologie, weder von vergleichender Anatomie noch von Gewebelehre, weder von Paläontologie noch von Embryologie Etwas wiſſen. Daher kömmt es, daß, wie Huxley treffend ſagt, die allermeiſten gegen Darwin veröffentlichten Schrif— ten das Papier nicht werth ſind, auf dem ſie geſchrieben wurden. Sie könnten mir einwenden, daß ja unter den Gegnern der Deſcendenztheorie doch auch viele Naturforſcher, und ſelbſt manche berühmte Zoologen und Botaniker ſind. Die letzteren ſind jedoch meiſt ältere Gelehrte, die in ganz entgegengeſetzten Anſchauungen alt geworden ſind, und denen man nicht zumuthen kann, noch am Abend ihres Lebens ſich einer Reform ihrer, zur feſten Gewohnheit gewor— denen Weltanſchauung zu unterziehen. Sodann muß aber auch aus— drücklich hervorgehoben werden, daß nicht nur eine allgemeine Ueber— ſicht des ganzen biologiſchen Erſcheinungsgebiets, ſondern auch ein philoſophiſches Verſtändniß deſſelben nothwendige Vorbedin— gungen für die überzeugte Annahme der Deſcendenztheorie ſind. Nun r Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie. 639 finden Sie aber grade dieſe unerläßlichen Vorbedingungen bei dem größten Theile der heutigen Naturforſcher leider keineswegs erfüllt. Die Unmaſſe von neuen empiriſchen Thatſachen, mit denen uns die rieſigen Fortſchritte der neueren Naturwiſſenſchaft bekannt gemacht haben, hat eine vorherrſchende Neigung für das ſpecielle Studium einzelner Erſcheinungen und kleiner engbegrenzter Erfahrungsgebiete herbeigeführt. Darüber wird die Erkenntniß der übrigen Theile und namentlich des großen umfaſſenden Naturganzen meiſt völlig vernach— läſſigt. Jeder, der geſunde Augen und ein Mikroſkop zum Beob— achten, Fleiß und Geduld zum Sitzen hat, kann heutzutage durch mikroſkopiſche „Entdeckungen“ eine gewiſſe Berühmtheit erlangen, ohne doch den Namen eines Naturforſchers zu verdienen. Dieſer ge— bührt nur dem, der nicht bloß die einzelnen Erſcheinungen zu ken— nen, ſondern auch deren urſächlichen Zuſammenhang zu erkennen ſtrebt. Noch heute unterſuchen und beſchreiben die meiſten Paläon— tologen die Verſteinerungen, ohne die wichtigſten Thatſachen der Em— bryologie zu kennen. Andrerſeits verfolgen die Embryologen die Ent— wickelungsgeſchichte des einzelnen organiſchen Individuums, ohne eine Ahnung von der paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte des ganzen zugehörigen Stammes zu haben, von welcher die Verſteinerungen be— richten. Und doch ſtehen dieſe beiden Zweige der organiſchen Ent— wickelungsgeſchichte, die Ontogenie oder die Geſchichte des Indivi— duums, und die Phylogenie oder die Geſchichte des Stammes, im engſten urſächlichen Zuſammenhang, und die eine iſt ohne die an— dere gar nicht zu verſtehen. Aehnlich ſteht es mit dem ſyſtemati— ſchen und dem anatomiſchen Theile der Biologie. Noch heute giebt es in der Zoologie und Botanik zahlreiche Syſtematiker, welche in dem Irrthum arbeiten, durch bloße ſorgfältige Unterſuchung der äuße— ren und leicht zugänglichen Körperformen, ohne die tiefere Kenntniß ihres inneren Baues, das natürliche Syſtem der Thiere und Pflan— zen conſtruiren zu können. Andrerſeits giebt es Anatomen und Hi— ſtologen, welche das eigentliche Verſtändniß des Thier- und Pflanzen— körpers bloß durch die genaueſte Erforſchung des inneren Körperbaues 640 Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie. einer einzelnen Species, ohne die vergleichende Betrachtung der ge— ſammten Körperform bei allen verwandten Organismen, gewinnen zu können meinen. Und doch ſteht auch hier, wie überall, Inneres und Aeußeres, Vererbung und Anpaſſung in der engſten Wechſelbe— ziehung, und das Einzelne kann nie ohne Vergleichung mit dem zu— gehörigen Ganzen wirklich verſtanden werden. Jenen einſeitigen Facharbeitern möchten wir daher mit Goethe zurufen: „Müſſet im Naturbetrachten „Immer Eins wie Alles achten. „Nichts iſt drinnen, Nichts iſt draußen, „Denn was innen, das iſt außen.“ und weiterhin: „Natur hat weder Kern noch Schale, „Alles iſt ſie mit einem Male.“ Noch viel nachtheiliger aber, als jene einſeitige Richtung, iſt für das allgemeine Verſtändniß des Naturganzen der Mangel an phi— loſophiſcher Bildung, durch welchen ſich die meiſten Naturfor— ſcher der Gegenwart auszeichnen. Die vielfachen Verirrungen der früheren ſpeculativen Naturphiloſophie, aus dem erſten Drittel un— ſeres Jahrhunderts, haben bei den exacten empiriſchen Naturforſchern die ganze Philoſophie in einen ſolchen Mißeredit gebracht, daß die— ſelben in dem ſonderbaren Wahne leben, das Gebäude der Natur— wiſſenſchaft aus bloßen Thatſachen, ohne philoſophiſche Verknüpfung derſelben, aus bloßen Kenntniſſen, ohne Verſtändniß derſelben, auf— bauen zu können. Während aber ein rein ſpeculatives, abſolut phi— loſophiſches Lehrgebäude, welches ſich nicht um die unerläßliche Grund— lage der empiriſchen Thatſachen kümmert, ein Luftſchloß wird, das die erſte beſte Erfahrung über den Haufen wirft, ſo bleibt andrer— ſeits ein rein empiriſches, abſolut aus Thatſachen zuſammengeſetztes Lehrgebäude ein wüſter Steinhaufen, der nimmermehr den Namen eines Gebäudes verdienen wird. Die nackten, durch die Erfahrung feſtgeſtellten Thatſachen ſind immer nur die rohen Bauſteine, und ohne die denkende Verwerthung, ohne die philoſophiſche Verknüpfung 1 i Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie. 641 derſelben kann keine Wiſſenſchaft ſich aufbauen. Wie ich Ihnen ſchon früher eindringlich vorzuſtellen verſuchte, entſteht nur durch die innigſte Wechſelwirkung und gegenſeitige Durchdrin— gung von Philoſophie und Empirie das unerſchütter— liche Gebäude der wahren, moniſtiſchen Wiſſenſchaft, oder was daſſelbe iſt, der Naturwiſſenſchaft. Aus dieſer beklagenswerthen Entfremdung der Naturforſchung von der Philoſophie, und aus dem rohen Empirismus, der heut— zutage leider von den meiſten Naturforſchern als „exacte Wiſſenſchaft“ geprieſen wird, entſpringen jene ſeltſamen Querſprünge des Verſtan— des, jene groben Verſtöße gegen die elementare Logik, jenes Unver— mögen zu den einfachſten Schlußfolgerungen, denen Sie heutzutage auf allen Wegen der Naturwiſſenſchaft, ganz beſonders aber in der Zoologie und Botanik begegnen können. Hier rächt ſich die Ver— nachläſſigung der philoſophiſchen Bildung und Schulung des Geiſtes unmittelbar auf das Empfindlichſte. Es iſt daher nicht zu verwun— dern, wenn jenen rohen Empirikern auch die tiefere innere Wahrheit der Deſcendenztheorie gänzlich verſchloſſen bleibt. Wie das triviale Sprichwort ſehr treffend ſagt, „ſehen ſie den Wald vor lauter Bäu— men nicht.“ Nur durch allgemeinere philoſophiſche Studien und na— mentlich durch ſtrengere logiſche Erziehung des Geiſtes kann dieſem ſchlimmen Uebelſtande auf die Dauer abgeholfen werden (vergl. Gen. Morph. I, 63; II, 447). Wenn Sie dieſes Verhältniß recht erwägen, und mit Bezug auf die empiriſche Begründung der philoſophiſchen Entwickelungstheorie weiter darüber nachdenken, ſo wird es Ihnen auch alsbald klar wer— den, wie es ſich mit den vielfach geforderten Beweiſen für die Deſcendenztheorie verhält. Je mehr ſich die Abſtammungs— lehre in den letzten Jahren allgemein Bahn gebrochen hat, je mehr ſich alle wirklich denkenden jüngeren Naturforſcher und alle wirklich biologiſch gebildeten Philoſophen von ihrer inneren Wahrheit und Unentbehrlichkeit überzeugt haben, deſto lauter haben die Gegner der- ſelben nach thatſächlichen Beweiſen dafür gerufen. Dieſelben Leute, Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 41 642 Beweiſe für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. welche kurz nach dem Erſcheinen von Darwin's Werke daſſelbe für ein „bodenloſes Phantaſiegebäude“, für eine „willkührliche Specu- lation“, für einen „geiſtreichen Traum“ erklärten, dieſelben laſſen ſich jetzt gütig zu der Erklärung herab, daß die Deſcendenztheorie allerdings eine wiſſenſchaftliche „Hypotheſe“ ſei, daß dieſelbe aber erſt noch „bewieſen“ werden müſſe. Wenn dieſe Aeußerungen von Leuten geſchehen, die nicht die erforderliche empiriſch-philoſophiſche Bildung, die nicht die nöthigen Kenntniſſe in der vergleichenden Ana— tomie, Embryologie und Paläontologie beſitzen, ſo läßt man ſich das gefallen, und verweiſt ſie auf die in jenen Wiſſenſchaften nieder— gelegten Argumente. Wenn aber die gleichen Aeußerungen von an— erkannten Fachmännern geſchehen, von Lehrern der Zoologie und Bo— tanik, die doch von Rechtswegen einen Ueberblick über das Geſammt— gebiet ihrer Wiſſenſchaft beſitzen ſollten, oder die wirklich mit den Thatſachen jener genannten Wiſſenſchaftsgebiete vertraut ſind, dann weiß man in der That nicht, was man dazu ſagen ſoll. Diejeni— gen, denen ſelbſt der jetzt bereits gewonnene Schatz an empiriſcher Naturkenntniß nicht genügt, um darauf die Deſcendenztheorie ſicher zu begründen, die werden auch durch keine andere, etwa noch ſpäter zu entdeckende Thatſache von ihrer Wahrheit überzeugt werden. Denn man kann ſich keine Verhältniſſe vorſtellen, welche ſtärkeres und voll— gültigeres Zeugniß für die Wahrheit der Abſtammungslehre ablegen könnten, als es z. B. die bekannten Thatſachen der vergleichenden Anatomie und Ontogenie ſchon jetzt thun. Ich muß Sie hier wie⸗ derholt darauf hinweiſen, daß alle großen, allgemeinen Ge— ſetze und alle umfaſſenden Erſcheinungsreihen der ver— ſchiedenſten biologiſchen Gebiete einzig und allein durch die Entwickelungstheorie (und ſpeciell durch den biologiſchen Theil derſelben, die Deſcendenztheorie) erklärt und verſtanden werden können, und daß ſie ohne dieſelbe gänzlich unerklärt und unbegriffen bleiben. Sie alle begründen in ihrem inneren ur— ſächlichen Zuſammenhang die Deſcendenztheorie als das größte biologiſche Induetionsgeſetz. Erlauben Sie mir, Ihnen ſchließ⸗ eee euch Beweiſe für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. 643 lich nochmals alle jene Inductionsreihen, alle jene allgemeinen bio— logiſchen Geſetze, auf welchen dieſes umfaſſende Enttwcehungsgeſez unumſtößlich feſt ruht, im Zuſammenhange zu nennen: I) Die paläontologiſche Entwickelungsgeſchichte der Organismen, das ſtufenweiſe Auftreten und die hiſtoriſche Reihenfolge der verſchiedenen Arten und Artengruppen, die empiri— ſchen Geſetze des paläontologiſchen Artenwechſels, wie ſie uns durch die Verſteinerungskunde geliefert werden, insbeſondere die fort- ſchreitende Differenzirung und Vervollkommnung der i Thier- und Pflanzengruppen in den auf einander folgenden Perioden der Erdgeſchichte. 2) Die individuelle Entwickelungsgeſchichte der Or— ganismen, die Embryologie und Metamorphologie, die ſtufen— weiſen Veränderungen in der allmählichen Ausbildung des Körpers und feiner einzelnen Organe, namentlich die fortſchreitende Dif— ferenzirung und Vervollkommnung der Organe und Kör— pertheile in den auf einander folgenden Perioden der individuellen Entwickelung. ö 3) Der innere urſächliche Zuſammenhang zwiſchen der Ontogenie und Phylogenie, der Parallelismus zwiſchen der individuellen Entwickelungsgeſchichte der Organismen und der pa— läontologiſchen Entwickelungsgeſchichte ihrer Vorfahren, ein Cauſal— nexus, der durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung thatſächlich begründet wird, und der ſich in den Worten zuſammen— faſſen läßt: Die Ontogenie wiederholt in großen Zügen nach den Ge— ſetzen der Vererbung und Anpaſſung das Geſammtbild der Phylogenie. 4) Die vergleichende Anatomie der Organismen, der Nachweis von der weſentlichen Uebereinſtimmung des inneren Baues der verwandten Organismen, trotz der größten Verſchiedenheit der äußeren Form bei den verſchiedenen Arten; die Erklärung derſelben durch die urſächliche Abhängigkeit der inneren Uebereinſtimmung des Baues von der Vererbung, der äußeren Ungleichheit der Körper— form von der Anpaſſung. 4] * 644 Beweiſe für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. 5) Der innere urſächliche Zuſammenhang zwiſchen der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsge— ſchichte, die harmoniſche Uebereinſtimmung zwiſchen den Geſetzen der ſtufenweiſen Ausbildung, der fortſchreitenden Differenzi— rung und Vervollkommnung, wie ſie uns durch die verglei— chende Anatomie auf der einen Seite, durch die Ontogenie und Palä— ontologie auf der anderen Seite klar vor Augen gelegt werden. 6) Die Unzweckmäßigkeitslehre oder Dysteleologie, wie ich früher die Wiſſenſchaft von den rudimentären Or— ganen, von den verkümmerten und entarteten, zweckloſen und un— thätigen Körpertheilen genannt habe; einer der wichtigſten und in— tereſſanteſten Theile der vergleichenden Anatomie, welcher, richtig ge— würdigt, für ſich allein ſchon im Stande iſt, den Grundirrthum der teleologiſchen und dualiſtiſchen Naturbetrachtung zu widerlegen, und die alleinige Begründung der mechaniſchen und moniſtiſchen Welt— anſchauung zu beweiſen. 7) Das natürliche Syſtem der Organismen, die na— türlihe Gruppirung aller verſchiedenen Formen von Thieren, Pflan— zen und Protiſten in zahlreiche, kleinere und größere, neben und über einander geordnete Gruppen; der verwandtſchaftliche Zuſammenhang der Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen, Klaſſen, Stämme u. ſ. w.; ganz beſonders aber die baumförmig verzweigte Geſtalt des natürlichen Syſtems, welche aus einer naturge— mäßen Anordnung und Zuſammenſtellung aller dieſer Gruppenſtufen oder Kategorien ſich von ſelbſt ergiebt. Die ſtufenweis verſchiedene Formverwandtſchaft derſelben iſt nur dann erklärlich, wenn man fie als Ausdruck der wirklichen Blutsverwandtſchaft betrachtet; die Baumform des natürlichen Syſtems kann nur als wirk— licher Stammbaum der Organismen verſtanden werden. 8) Die Chorologie der Organismen, die Wiſſenſchaft von der räumlichen Verbreitung der organiſchen Species, von ihrer geographiſchen und topographiſchen Vertheilung über die Erdoberfläche, über die Höhen der Gebirge und die Tiefen Beweiſe für die Wahrheit der Defcendenztheorie. 645 des Meeres, insbeſondere die wichtige Erſcheinung, daß jede Orga— nismenart von einem ſogenannten „Schöpfungsmittelpunkte“ (richtiger „Urheimath“ oder „Ausbreitungscentrum“ genannt) ausgeht, d. h. von einem einzigen Orte, an welchem dieſelbe einmal entſtand, und von dem aus ſie ſich verbreitete. 9) Die Oecologie der Organismen, die Wiſſenſchaft von den geſammten Beziehungen der Organismen zur um— gebenden Außenwelt, zu den organiſchen und anorganiſchen Exiſtenzbedingungen; die ſogenannte „Oekonomie der Natur“, die Wechſelbeziehungen aller Organismen, welche an einem und dem— ſelben Orte mit einander leben, ihre Anpaſſung an die Umgebung, ihre Umbildung durch den Kampf um's Daſein, insbeſondere die Verhältniſſe des Paraſitismus u. ſ. w. Gerade dieſe Erſcheinungen der „Naturökonomie“, welche der Laie bei oberflächlicher Betrachtung als die weiſen Einrichtungen eines planmäßig wirkenden Schöpfers anzuſehen pflegt, zeigen ſich bei tieferem Eingehen als die nothwen— digen Folgen mechaniſcher Urſachen. 10) Die Einheit der geſammten Biologie, der tiefe in— nere Zuſammenhang, welcher zwiſchen allen genannten und allen übri— gen Erſcheinungsreihen in der Zoologie, Protiſtik und Botanik beſteht, und welcher ſich einfach und natürlich aus einem einzigen gemein— ſamen Grunde derſelben erklärt. Dieſer Grund kann kein anderer ſein, als die gemeinſame Abſtammung aller verſchiedenartigen Orga— nismen von einer einzigen, oder mehreren, abſolut einfachen Stamm— formen, gleich den organloſen Moneren. Indem die Deſcendenztheorie dieſe gemeinſame Abſtammung annimmt, wirft ſie ſowohl auf jene einzelnen Erſcheinungsreihen, als auf die Geſammtheit derſelben ein erklärendes Licht, ohne welches ſie uns in ihrem inneren urſächlichen Zuſammenhang ganz unverſtändlich bleiben. Die Gegner der Deſcen— denztheorie vermögen uns weder eine einzige von jenen Erſcheinungs— reihen, noch ihren inneren Zuſammenhang unter einander irgendwie zu erklären. So lange fie dies nicht vermögen, bleibt die Abſtam— mungslehre die unentbehrlichſte biologiſche Theorie. 646 Begründung der Deſcendenztheorie durch die Selectionstheorie. Auf Grund der angeführten großartigen Zeugniſſe wurden wir Lamarck's Deſcendenztheorie zur Erklärung der biologiſchen Phäno— mene ſelbſt dann annehmen müſſen, wenn wir nicht Darwin's Se— lectionstheorie beſäßen. Nun kommt aber dazu, daß die erſtere durch die letztere ſo vollſtändig direct bewieſen und durch mechaniſche Urſachen begründet wird, wie wir es nur verlangen können. Die Ge— ſetze der Vererbung und der Anpaſſung ſind allgemein anerkannte phyſiologiſche Thatſachen, jene auf die Fortpflanzung, dieſe auf die Ernährung der Organismen zurückführbar. Andrerſeits iſt der Kampf um's Daſein eine biologiſche Thatſache, welche mit mathematiſcher Nothwendigkeit aus dem allgemeinen Mißverhältniß zwiſchen der Durchſchnittszahl der organiſchen Individuen und der Ueberzahl ihrer Keime folgt. Indem aber Anpaſſung und Vererbung im Kampf um's Daſein ſich in beſtändiger Wechſelwirkung befinden, folgt daraus unvermeidlich die natürliche Züchtung, welche überall und beſtändig umbildend auf die organiſchen Arten einwirkt, und neue Arten durch Divergenz des Charakters erzeugt. Beſonders be— günſtigt wird ihre Wirkſamkeit noch durch die überall ſtattfindenden activen und paſſiven Wanderungen der Organismen. Wenn wir dieſe Umſtände recht in Erwägung ziehen, ſo erſcheint uns die beſtän— dige und allmähliche Umbildung oder Transmutation der organiſchen Species als ein biologiſcher Proceß, welcher nach dem Cauſalgeſetz mit Nothwendigkeit aus der eigenen Natur der Organismen und ihren gegenſeitigen Wechſelbeziehungen folgen muß. Daß auch der Urſprung des Menſchen aus dieſem allge— meinen organiſchen Umbildungsvorgang erklärt werden muß, und daß er ſich aus dieſem ebenſo einfach als natürlich erklärt, glaube ich Ihnen im vorletzten Vortrage hinreichend bewieſen zu haben. Ich kann aber hier nicht umhin, Sie nochmals auf den ganz unzertrennlichen Zuſam— menhang dieſer ſogenannten „Affenlehre“ oder „Pithekoidentheorie“ mit der geſammten Deſcendenztheorie hinzuweiſen. Wenn die letztere das größte Inductionsgeſetz der Biologie iſt, ſo folgt daraus die erſtere mit Nothwendigkeit, als das wichtigſte Deductionsgeſetz Inductionsſchlüſſe und Deductionsſchlüſſe. 647 derſelben. Beide ſtehen und fallen mit einander. Da auf das richtige Verſtändniß dieſes Satzes, den ich für höchſt wichtig halte und deshalb ſchon mehrmals hervorgehoben habe, hier Alles ankommt, ſo erlauben Sie mir, denſelben jetzt noch an einem Beiſpiele zu erläutern. Bei allen Säugethieren, die wir kennen, iſt der Centraltheil des Nervenſyſtems das Rückenmark und das Gehirn, und der Centraltheil des Blutkreislaufs ein vierfächeriges, aus zwei Kammern und zwei Vorkammern zuſammengeſetztes Herz. Wir ziehen daraus den allge— meinen Inductionsſchluß, daß alle Säugethiere ohne Ausnahme, die ausgeſtorbenen und die uns noch unbekannten lebenden Arten, eben fo gut wie die von uns unterſuchten Species, die gleiche Organiſation, ein gleiches Herz, Gehirn und Rückenmark beſitzen. Wenn nun in irgend einem Erdtheile, wie es noch jetzt alljährlich vorkömmt, irgend eine neue Säugethierart entdeckt wird, z. B. eine neue Beutelthierart, oder eine neue Hirſchart, oder eine neue Affenart, ſo weiß jeder Zoolog von vornherein, ohne den inneren Bau derſelben unterſucht zu haben, ganz beſtimmt, daß dieſe Species, eben ſo wie alle übrigen Säuge— thiere, ein vierfächeriges Herz, ein Gehirn und ein Rückenmark be— ſitzen muß. Keinem einzigen Naturforſcher fällt es ein, daran zu zwei— feln, und etwa zu denken, daß das Centralnervenſyſtem bei dieſer neuen Säugethierart möglicherweiſe aus einem Bauchmark mit Schlundring, wie bei den Gliederthieren, oder aus zerſtreuten Knotenpaaren, wie bei den Weichthieren beſtehen könnte; oder daß das Herz vielkammerig, wie bei den Inſecten, oder einkammerig, wie bei den Mantelthieren ſein könnte. Jener ganz beſtimmte und ſichere Schluß, welcher doch auf gar keiner unmittelbaren Erfahrung beruht, iſt ein Deductions- ſchluß. Ebenſo begründete Goethe, wie ich in einem früheren Vor— trage zeigte, aus der vergleichenden Anatomie der Säugethiere den allgemeinen Inductionsſchluß, daß dieſelben ſämmtlich einen Zwiſchen— kiefer beſitzen, und zog daraus ſpäter den beſonderen Deductionsſchluß, daß auch der Menſch, der in allen übrigen Beziehungen nicht weſent— lich von den anderen Säugethieren verſchieden ſei, einen ſolchen Zwi— ſchenkiefer beſitzen müſſe. Er behauptete dieſen Schluß, ohne den Zwi— 648 Induction und Deduction. ſchenkiefer des Menſchen wirklich geſehen zu haben, und bewies deſſen Exiſtenz erſt nachträglich durch die wirkliche Beobachtung (S. 76). Die Induction iſt alſo ein logiſches Schlußverfahren aus dem Beſonderen auf das Allgemeine, aus vielen einzelnen Erfah— rungen auf ein allgemeines Geſetz; die Deduction dagegen ſchließt aus dem Allgemeinen auf das Beſondere, aus einem allge— meinen Naturgeſetze auf einen einzelnen Fall. So iſt nun auch ohne allen Zweifel die Deſcendenztheorie ein durch alle genannten biologiſchen Erfahrungen empiriſch begründetes großes Inductions— geſetz; die Pithekoidentheorie dagegen, die Behauptung, daß der Menſch ſich aus niederen, und zunächſt aus affenartigen Säuge— thieren entwickelt habe, ein einzelnes Deductionsgeſetz, welches mit jenem allgemeinen Inductionsgeſetze unzertrennlich verbunden iſt. Der Stammbaum des Menſchengeſchlechts, deſſen ungefähre Um— riſſe ich Ihnen im vorletzten Vortrage gegeben habe, bleibt natürlich (gleich allen vorher erörterten Stammbäumen der Thiere und Pflanzen) in allen ſeinen Einzelheiten nur eine mehr oder weniger annähernde genealogiſche Hypotheſe. Dies thut aber der Anwendung der Deſcen— denztheorie auf den Menſchen im Ganzen keinen Eintrag. Hier, wie bei allen Unterſuchungen über die Abſtammungsverhältniſſe der Orga— nismen, müſſen Sie wohl unterſcheiden zwiſchen der allgemeinen oder generellen Deſeendenz-Theorie, und der beſonderen oder ſpeciellen Deſcendenz-Hypotheſe. Die allgemeine Abſtammungs-Theo rie beanſprucht volle und bleibende Geltung, weil ſie durch alle vorher ge— nannten allgemeinen biologiſchen Erſcheinungsreihen, und durch deren inneren urſächlichen Zuſammenhang inductiv begründet wird. Jede beſondere Abſtammungs-Hypotheſe dagegen iſt in ihrer ſpeciellen Geltung durch den jeweiligen Zuſtand unſerer biologiſchen Erkenntniß bedingt, und durch die Ausdehnung der objectiven empiriſchen Grund— lage, auf welche wir durch ſubjective Schlüſſe dieſe Hypotheſe deductiv gründen. Daher beſitzen alle einzelnen Verſuche zur Erkenntniß des Stammbaums irgend einer Organismengruppe immer nur einen zeit— weiligen und bedingten Werth, und unſere ſpecielle Hypotheſe darüber Deſcendenztheorie und Deſcendenzhypotheſe. 649 wird immer mehr vervollkommnet werden, je weiter wir in der ver— gleichenden Anatomie, Ontogenie und Paläontologie der betreffenden Gruppe fortſchreiten. Je mehr wir uns dabei aber in genealogiſche Einzelheiten verlieren, je weiter wir die einzelnen Aeſte und Zweige des Stammbaumes verfolgen, deſto unſicherer und fubjectiver wird wegen der Unvollſtändigkeit der empiriſchen Grundlagen unſere ſpecielle Abſtammungs-Hypotheſe. Dies thut jedoch der Sicherheit der generellen Abſtammungs-Theorie, welche das unentbehrliche Fun— dament für jedes tiefere Verſtändniß der biologiſchen Erſcheinungen iſt, keinen Abbruch. So erleidet es denn auch keinen Zweifel, daß wir die Abſtammung des Menſchen zunächſt aus affenartigen, weiterhin aus niederen Säugethieren, und ſo immer weiter aus immer tieferen Stu— fen des Wirbelthierſtammes, bis zu deſſen tiefſten wirbelloſen Wurzeln, ja bis zu einer einfachen Plaſtide herunter, als allgemeine Theorie mit voller Sicherheit behaupten können und müſſen. Dagegen wird die ſpecielle Verfolgung des menſchlichen Stammbaums, die nähere Beſtimmung der uns bekannten Thierformen, welche entweder wirklich zu den Vorfahren des Menſchen gehörten oder dieſen wenigſtens nächſt— ſtehende Blutsverwandte waren, ſtets eine mehr oder minder an— nähernde Deſcendenz-Hypotheſe bleiben, welche um ſo mehr Gefahr läuft, ſich von dem wirklichen Stammbaum zu entfernen, je näher ſie demſelben durch Aufſuchung der einzelnen Ahnenformen zu kommen ſucht. Dies iſt mit Nothwendigkeit durch die ungeheure Lückenhaftig— keit unſerer paläontologiſchen Kenntniſſe bedingt, welche unter keinen Umſtänden jemals eine annähernde Vollſtändigkeit erreichen werden. Aus der denkenden Erwägung dieſes wichtigen Verhältniſſes er— giebt ſich auch bereits die Antwort auf eine Frage, welche gewöhnlich zunächſt bei Beſprechung dieſes Gegenſtandes aufgeworfen wird, näm— lich die Frage nach den wiſſenſchaftlichen Beweiſen für den thie— riſchen Urſprung des Menſchengeſchlechts. Nicht allein die Gegner der Deſcendenztheorie, ſondern auch viele Anhänger derfelben, denen die gehörige philoſophiſche Bildung mangelt, pflegen dabei vor— zugsweiſe an einzelne Erfahrungen, an ſpecielle empiriſche Fortſchritte 650 Beweiſe für den thieriſchen Urſprung des Menſchen. der Naturwiſſenſchaft zu denken. Man erwartet, daß p¾lötzlich die Ent⸗ deckung einer geſchwänzten Menſchenraſſe oder einer ſprechenden Affen— art, oder einer anderen lebenden oder foſſilen Uebergangsform zwiſchen Menſchen und Affen, die zwiſchen beiden beſtehende enge Kluft noch mehr ausfüllen, und ſomit die Abſtammung des Menſchen vom Affen empiriſch „beweiſen“ ſoll. Derartige einzelne Erfahrungen, und wären ſie anſcheinend noch ſo überzeugend und beweiskräftig, können aber niemals den gewünſchten Beweis liefern. Gedankenloſe oder mit den biologiſchen Erſcheinungsreihen unbekannte Leute werden jenen einzel— nen Zeugniſſen immer dieſelben Einwände entgegen halten können, die ſie unſerer Theorie auch jetzt entgegen halten. Die unumſtößliche Sicherheit der Deſeendenz-Theorie, auch in ihrer Anwendung auf den Menſchen, liegt vielmehr viel tiefer, und kann niemals bloß durch einzelne empiriſche Erfahrungen, ſondern nur durch philoſophiſche Vergleichung und Verwerthung unſeres geſammten biologiſchen Erfahrungsſchatzes in ihrem wahren inneren Werthe er— kannt werden. Sie liegt eben darin, daß die Deſcendenztheorie als ein allgemeines Inductionsgeſetz aus der vergleichenden Syntheſe aller organiſchen Naturerſcheinungen, und insbeſondere aus der dreifachen Parallele der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Phylogenie mit Nothwendigkeit folgt; und die Pithekoidentheorie bleibt unter allen Umſtänden (ganz abgeſehen von allen Einzelbeweiſen) ein ſpecieller Deductionsſchluß, welcher wieder aus dem generellen Inductionsgeſetz der Deſcendenztheorie mit Nothwendigkeit gefolgert werden muß. Auf das richtige Verſtändniß dieſer philoſophiſchen Begrün— dung der Deſcendenztheorie und der mit ihr unzertrennlich verbundenen Pithekoidentheorie kömmt meiner Anſicht nach Alles an. Viele von Ihnen werden mir dies vielleicht zugeben, aber mir zugleich entgegen halten, daß das Alles nur von der körperlichen, nicht von der geiſtigen Entwickelung des Menſchen gelte. Da wir nun bisher uns bloß mit der erſteren beſchäftigt haben, ſo iſt es wohl nothwendig, hier auch noch auf die letztere einen Blick zu werfen, und zu zeigen, daß auch ſie jenem großen allgemeinen Entwickelungsgeſetze Stufenweiſe Entwickelung des menſchlichen Seelenlebens. 651 unterworfen iſt. Dabei iſt es vor Allem nothwendig, ſich in's Ge— dächtniß zurückzurufen, wie überhaupt das Geiſtige vom Körperlichen nie völlig geſchieden werden kann, beide Seiten der Natur vielmehr unzertrennlich verbunden ſind, und in der innigſten Wechſelwirkung mit einander ſtehen. Wie ſchon Goethe klar ausſprach, „kann die Materie nie ohne Geiſt, der Geiſt nie ohne Materie exiſtiren und wirk— ſam ſein“. Der künſtliche Zwieſpalt, welchen die falſche dualiſtiſche und teleologiſche Philoſophie der Vergangenheit zwiſchen Geiſt und Körper, zwiſchen Kraft und Stoff aufrecht erhielt, iſt durch die Fort— ſchritte der Naturerkenntniß und namentlich der Entwickelungslehre auf— gelöſt, und kann gegenüber der ſiegreichen mechaniſchen und moniſti— ſchen Philoſophie unſerer Zeit nicht mehr beſtehen. Wie demgemäß die Menſchennatur in ihrer Stellung zur übrigen Welt aufgefaßt wer— den muß, hat in neuerer Zeit beſonders Radenhauſen in ſeiner vortrefflichen „Iſis 3°) und Hartmann in feiner berühmten „Phi— loſophie des Unbewußten“ ausführlich erörtert. Was nun ſpeciell den Urſprung des menſchlichen Geiſtes oder der Seele des Menſchen betrifft, ſo nehmen wir zunächſt an jedem menſch— lichen Individuum wahr, daß ſich derſelbe von Anfang an ſchrittweiſe und allmählich entwickelt, ebenſo wie der Körper. Wir ſehen am neu— geborenen Kinde, daß daſſelbe weder ſelbſtſtändiges Bewußtſein, noch überhaupt klare Vorſtellungen beſitzt. Dieſe entſtehen erſt allmählich, wenn mittelſt der ſinnlichen Erfahrung die Erſcheinungen der Außen— welt auf das Centralnervenſyſtem einwirken. Aber noch entbehrt das kleine Kind aller jener differenzirten Seelenbewegungen, welche der er— wachſene Menſch erſt durch langjährige Erfahrung erwirbt. Aus dieſer ſtufenweiſen Entwickelung der Menſchenſeele in jedem einzelnen Indivi— duum können wir nun, gemäß dem innigen urſächlichen Zuſammen— hang zwiſchen Ontogenie und Phylogenie, unmittelbar auf die ſtufen— weiſe Entwickelung der Menſchenſeele in der ganzen Menſchheit und weiterhin in dem ganzen Wirbelthierſtamme zurückſchließen. In un— zertrennlicher Verbindung mit dem Körper hat auch der Geiſt des Men— ſchen alle jene langſamen Stufen der Entwickelung, alle jene einzelnen 652 Vergleichung des thieriſchen und menſchlichen Seelenlebens. Schritte der Differenzirung und Vervollkommnung durchmeſſen müſſen, von welchen Ihnen die hypothetiſche Ahnenreihe des Menſchen im vorletzten Vortrage ein ungefähres Bild gegeben hat. Allerdings pflegt gerade dieſe Vorſtellung bei den meiſten Men— ſchen, wenn ſie zuerſt mit der Entwickelungslehre bekannt werden, den größten Anſtoß zu erregen, weil ſie am meiſten den hergebrachten my— thologiſchen Anſchauungen und den durch ein Alter von Jahrtauſenden geheiligten Vorurtheilen widerſpricht. Allein eben ſo gut wie alle an— deren Funktionen der Organismen muß nothwendig auch die Menſchen— ſeele ſich hiſtoriſch entwickelt haben, und die vergleichende Seelenlehre oder die empiriſche Pſychologie der Thiere zeigt uns klar, daß dieſe Entwickelung nur gedacht werden kann als eine ſtufenweiſe Hervorbil— dung aus der Wirbelthierſeele, als eine allmähliche Differenzirung und Vervollkommnung, welche erſt im Laufe vieler Jahrtauſende zu dem herrlichen Triumph des Menſchengeiſtes über ſeine niederen thieriſchen Ahnenſtufen geführt hat. Hier, wie überall, iſt die Unterſuchung der Entwickelung und die Vergleichung der verwandten Erſcheinungen der einzige Weg, um zur Erkenntniß der natürlichen Wahrheit zu gelangen. Wir müſſen alſo vor Allem, wie wir es auch bei Unterſuchung der körperlichen Entwickelung thaten, die höchſten thieriſchen Erſcheinungen einerſeits mit den niederſten thieriſchen, andrerſeits mit den niederſten menſchlichen Erſcheinungen vergleichen. Das Endreſultat dieſer Ver— gleichung iſt, daß zwiſchen den höchſtentwickelten Thier— ſeelen und den tiefſtentwickelten Menſchenſeelen nur ein geringer quantitativer, aber kein qualitativer Unter— ſchied exiſtirt, und daß dieſer Unterſchied viel geringer iſt, als der Unterſchied zwiſchen den niederſten und höchſten Menſchenſeelen, oder als der Unterſchied zwiſchen den höchſten und niederſten Thierſeelen. Um ſich von der Begründung dieſes wichtigen Reſultates zu über— zeugen, muß man vor Allem das Geiſtesleben der wilden Naturvölker und der Kinder vergleichend ſtudiren 32). Auf der tiefſten Stufe menſch— licher Geiſtesbildung ſtehen die Auſtralier, einige Stämme der poly— neſiſchen Papuas, und in Afrika die Buſchmänner, die Hottentotten Thieriſcher Zuſtand der niederſten Völker. 653 und einige Stämme der Neger. Die Sprache, der wichtigſte Charakter des echten Menſchen, iſt bei ihnen auf der tiefſten Stufe der Ausbil— dung ſtehen geblieben, und damit natürlich auch die Begriffsbildung. Manche dieſer wilden Stämme haben nicht einmal eine Bezeichnung für Thier, Pflanze, Ton, Farbe und dergleichen einfachſte Begriffe, wogegen ſie für jede einzelne auffallende Thier- oder Pflanzenform, für jeden einzelnen Ton oder Farbe ein Wort beſitzen. Es fehlen alſo ſelbſt die nächſtliegenden Abſtractionen. In vielen ſolcher Sprachen giebt es bloß Zahlwörter für Eins, Zwei und Drei; keine auſtraliſche Sprache zählt über Vier. Sehr viele wilde Völker können nur bis zehn oder zwanzig zählen, während man einzelne ſehr geſcheide Hunde dazu gebracht hat, bis vierzig und ſelbſt über ſechzig zu zählen. Und doch iſt die Zahl der Anfang der Mathematik! Einzelne von den wil— deſten Stämmen im ſüdlichen Aſien und öſtlichen Afrika haben von der erſten Grundlage aller menſchlichen Geſittung, vom Familienleben und der Ehe, noch gar keinen Begriff. Sie leben in umherſchweifenden Heerden beiſammen, welche in ihrer ganzen Lebensweiſe mehr Aehn— lichkeit mit wilden Affenheerden, als mit civiliſirten Menſchen-Staaten beſitzen. Alle Verſuche, dieſe und viele andere Stämme der niederen Menſchenarten der Kultur zugänglich zu machen, ſind bisher geſcheitert; es iſt unmöglich, da menſchliche Bildung pflanzen zu wollen, wo der nöthige Boden dazu, die menſchliche Gehirnvervollkommnung, noch fehlt. Noch keiner von jenen Stämmen iſt durch die Kultur veredelt worden; ſie gehen nur raſcher dadurch zu Grunde. Sie haben ſich kaum über jene tiefſte Stufe des Uebergangs vom Menſchenaffen zum Affenmenſchen erhoben, welche die Stammeltern der höheren Menſchen— arten ſchon ſeit Jahrtauſenden überſchritten haben 44). Betrachten Sie nun auf der anderen Seite die höchſten Entwicke— lungsſtufen des Seelenlebens bei den höheren Wirbelthieren, nament— lich Vögeln und Säugethieren. Wenn Sie in herkömmlicher Weiſe als die drei Hauptgruppen der verſchiedenen Seelenbewegungen das Empfinden, Wollen und Denken unterſcheiden, ſo finden Sie, daß in jeder dieſer Beziehungen die höchſt entwickelten Vögel und Säugethiere 654 Seelenleben der höheren Wirbelthiere. jenen niederſten Menſchenformen ſich an die Seite ſtellen, oder ſie ſelbſt entſchieden überflügeln. Der Wille iſt bei den höheren Thieren ebenſo entſchieden und ſtark, wie bei charaktervollen Menſchen entwickelt. Hier wie dort iſt er eigentlich niemals frei, ſondern ſtets durch eine Kette von urſächlichen Vorſtellungen bedingt (vergl. S. 212). Auch ſtufen ſich die verſchiedenen Grade des Willens, der Energie und der Leiden— ſchaft bei den höheren Thieren ebenſo mannichfaltig, als bei den Men— ſchen ab. Die Empfindungen der höheren Thiere ſind nicht weni— ger zart und warm, als die der Menſchen. Die Treue und Anhäng— lichkeit des Hundes, die Mutterliebe der Löwin, die Gattenliebe und eheliche Treue der Tauben und der Inſeparables iſt ſprichwörtlich, und wie vielen Menſchen könnte ſie zum Muſter dienen! Wenn man hier die Tugenden als „Inſtinkte“ zu bezeichnen pflegt, ſo verdienen ſie beim Menſchen ganz dieſelbe Bezeichnung. Was endlich das Denken betrifft, deſſen vergleichende Betrachtung zweifelsohne die meiſten Schwierigkeiten bietet, ſo läßt ſich doch ſchon aus der vergleichenden pſychologiſchen Unterſuchung, namentlich der kultivirten Hausthiere, ſo viel mit Sicherheit entnehmen, daß die Vorgänge des Denkens hier nach denſelben Geſetzen, wie bei uns, erfolgen. Ueberall liegen Er— fahrungen den Vorſtellungen zu Grunde und vermitteln die Erkenntniß des Zuſammenhangs zwiſchen Urſache und Wirkung. Ueberall iſt es, wie beim Menſchen, der Weg der Induction und Deduction, welcher die Thiere zur Bildung der Schlüſſe führt. Offenbar ſtehen in allen dieſen Beziehungen die höchſt entwickelten Thiere dem Menſchen viel näher als den niederen Thieren, obgleich ſie durch eine lange Kette von allmählichen Zwiſchenſtufen auch mit den letzteren verbunden ſind. In Wundts trefflichen Vorleſungen über die Menſchen- und Thier— ſeele 46) finden ſich dafür eine Menge von Belegen. Wenn Sie nun, nach beiden Richtungen hin vergleichend, die niederſten affenähnlichſten Menſchen, die Auſtralneger, Buſchmänner, Andamanen u. ſ. w. einerſeits mit dieſen höchſtentwickelten Thieren, z. B. Affen, Hunden, Elephanten, andrerſeits mit den höchſtentwickelten Menſchen, einem Ariſtoteles, Newton, Spinoza, Kant, La— Seelenleben der niederſten Thiere. 655 marck, Goethe zuſammenſtellen, ſo wird Ihnen die Behauptung nicht mehr übertrieben erſcheinen, daß das Seelenleben der höheren Säugethiere ſich ſtufenweiſe zu demjenigen des Menſchen entwickelt hat. Wenn Sie hier eine ſcharfe Grenze ziehen wollten, ſo müßten Sie dieſelbe geradezu zwiſchen den höchſtentwickelten Kulturmenſchen einerſeits und den roheſten Naturmenſchen andrerſeits ziehen, und letztere mit den Thieren vereinigen. Das iſt in der That die Anſicht vieler Reiſender, welche jene niederſten Menſchenraſſen in ihrem Va— terlande andauernd beobachtet haben. So ſagt z. B. ein vielgereiſter Engländer, welcher längere Zeit an der afrikaniſchen Weſtküſte lebte: „den Neger halte ich für eine niedere Menſchenart (Species) und kann mich nicht entſchließen, als „Menſch und Bruder“ auf ihn herab— zuſchauen, man müßte denn auch den Gorilla in die Familie auf— nehmen“. Selbſt viele chriſtliche Miſſionäre, welche nach jahrelanger vergeblicher Arbeit von ihren fruchtloſen Civiliſationsbeſtrebungen bei den niederſten Völkern abſtanden, fällen daſſelbe harte Urtheil, und behaupten, daß man eher die bildungsfähigen Hausthiere, als dieſe unvernünftigen viehiſchen Menſchen zu einem geſitteten Kulturleben erziehen könne. Der tüchtige öſterreichiſche Miſſionär Morlang z. B., welcher ohne allen Erfolg viele Jahre hindurch die affenartigen Neger— ſtämme am oberen Nil zu civiliſiren ſuchte, ſagt ausdrücklich, „daß unter ſolchen Wilden jede Miſſion durchaus nutzlos ſei. Sie ſtänden weit unter den unvernünftigen Thieren; dieſe letzteren legten doch we— nigſtens Zeichen der Zuneigung gegen Diejenigen an den Tag, die freundlich gegen ſie ſind; während jene viehiſchen Eingeborenen allen Gefühlen der Dankbarkeit völlig unzugänglich ſeien.“ Wenn nun aus dieſen und vielen anderen Zeugniſſen zuverläſſig hervorgeht, daß die geiſtigen Unterſchiede zwiſchen den niederſten Men— ſchen und den höchſten Thieren geringer ſind, als diejenigen zwiſchen den niederſten und den höchſten Menſchen, und wenn Sie damit die Thatſache zuſammenhalten, daß bei jedem einzelnen Menſchenkinde ſich das Geiſtesleben aus dem tiefſten Zuſtande thieriſcher Bewußtloſigkeit heraus langſam, ſtufenweiſe und allmählich entwickelt, ſollen wir dann 656 Fortſchreitende Entwidelung des Menſchengeſchlechts. noch daran Anſtoß nehmen, daß auch der Geiſt des ganzen Menſchen— geſchlechts ſich in gleicher Art langſam und ſtufenweiſe hiſtoriſch ent— wickelt hat? Und ſollen wir in dieſer Thatſache, daß die Menſchenſeele durch einen langen und langſamen Proceß der Differenzirung und Ver— vollkommnung ſich ganz allmählich aus der Wirbelthierſeele hervorge— bildet hat, eine „Entwürdigung“ des menſchlichen Geiſtes finden? Ich geſtehe Ihnen offen, daß dieſe letztere Anſchauung, welche gegenwärtig von vielen Menſchen der Pithekoidentheorie entgegengehalten wird, mir ganz unbegreiflich iſt. Sehr richtig ſagt darüber Bernhard Cotta in ſeiner trefflichen Geologie der Gegenwart: „Unſere Vor— fahren können uns ſehr zur Ehre gereichen; viel beſſer noch aber iſt es, wenn wir ihnen zur Ehre gereichen“ 31). Unſere Entwickelungslehre erklärt den Urſprung des Menſchen und den Lauf ſeiner hiſtoriſchen Entwickelung in der einzig natürlichen Weiſe. Wir erblicken in ſeiner ſtufenweiſe aufſteigenden Entwickelung aus den niederen Wirbelthieren den höchſten Triumph der Menſchen— natur über die geſammte übrige Natur. Wir ſind ſtolz darauf, unſere niederen thieriſchen Vorfahren ſo unendlich weit überflügelt zu haben, und entnehmen daraus die tröſtliche Gewißheit, daß auch in Zukunft das Menſchengeſchlecht im Großen und Ganzen die ruhmvolle Bahn fortſchreitender Entwickelung verfolgen, und eine immer höhere Stufe geiſtiger Vollkommenheit erklimmen wird. In dieſem Sinne betrachtet, eröffnet uns die Deſcendenztheorie in ihrer Anwendung auf den Men— ſchen die ermuthigendſte Ausſicht in die Zukunft, und entkräftet alle Befürchtungen, welche man ihrer Verbreitung entgegen gehalten hat. Schon jetzt läßt ſich mit Beſtimmtheit vorausſehen, daß der voll— ſtändige Sieg unſerer Entwickelungslehre unermeßlich reiche Früchte tragen wird, Früchte, die in der ganzen Kulturgeſchichte der Menſch— heit ohne Gleichen ſind. Die nächſte und unmittelbarſte Folge deſ— ſelben, die gänzliche Reform der Biologie, wird nothwendig die noch wichtigere und folgenreichere Reform der Anthropologie nach ſich ziehen. Aus dieſer neuen Menſchenlehre wird ſich eine neue Phi— loſophie entwickeln, nicht gleich den meiſten der bisherigen luftigen Blick in die Zukunft. 657 Syſteme auf metaphyſiſche Speculationen, ſondern auf den realen Boden der vergleichenden Zoologie gegründet. Schon jetzt hat der geiſtvolle engliſche Philoſoph Herbert Spencers) dazu einen An— fang gemacht. Wie aber dieſe neue moniſtiſche Philoſophie uns einer— ſeits erſt das wahre Verſtändniß der wirklichen Welt eröffnet, ſo wird ſie andrerſeits in ihrer ſegensreichen Anwendung auf das prak— tiſche Menſchenleben uns einen neuen Weg der moraliſchen Vervoll— kommnung eröffnen. Mit ihrer Hülfe werden wir endlich anfangen, uns aus dem traurigen Zuſtande ſocialer Barbarei emporzuarbeiten, in welchen wir, trotz der vielgerühmten Civiliſation unſeres Jahr— hunderts, immer noch verſunken ſind. Denn leider iſt nur zu wahr, was der berühmte Alfred Wallace in dieſer Beziehung am Schluſſe ſeines Reiſewerks ?“) bemerkt: „Verglichen mit unſeren erſtaunlichen Fortſchritten in den phyſikaliſchen Wiſſenſchaften und in ihrer prak— tiſchen Anwendung bleibt unſer Syſtem der Regierung, der admini— ſtrativen Juſtiz, der Nationalerziehung, und unſere ganze ſociale und moraliſche Organiſation in einem Zuſtande der Barbarei.“ Dieſe ſociale und moraliſche Barbarei werden wir nimmermehr durch die gekünſtelte und geſchraubte Erziehung, durch den einſeitigen und mangelhaften Unterricht, durch die innere Unwahrheit und den äußeren Aufputz unſerer heutigen Civiliſation überwinden. Vielmehr iſt dazu vor allem eine vollſtändige und aufrichtige Umkehr zur Natur und zu natürlichen Verhältniſſen nothwendig. Dieſe Umkehr wird aber erſt möglich, wenn der Menſch ſeine wahre „Stellung in der Natur“ erkennt und begreift. Dann wird ſich der Menſch, wie Fritz Nagel !“) treffend bemerkt, „nicht länger als eine Ausnahme von den Naturgeſetzen betrachten, ſondern wird endlich anfangen, das Ge— ſetzmäßige in ſeinen eigenen Handlungen und Gedanken aufzuſuchen, und ſtreben, ſein Leben den Naturgeſetzen gemäß zu führen. Er wird dahin kommen, das Zuſammenleben mit Seinesgleichen, d. h. die Fa— milie und den Staat, nicht nach den Satzungen ferner Jahrhunderte, ſondern nach den vernünftigen Principien einer naturgemäßen Erkennt— niß einzurichten. Politik, Moral, Rechtsgrundſätze, welche jetzt noch Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 42 658 Blick in die Zukunft. aus allen möglichen Quellen geſpeiſt werden, werden nur den Natur- geſetzen entſprechend zu geſtalten ſein. Das menſchenwürdige Daſein, von welchem ſeit Jahrtauſenden gefabelt wird, wird endlich zur Wahrheit werden.“ Die höchſte Leiſtung des menſchlichen Geiſtes iſt die vollkom— mene Erkenntniß, das entwickelte Menſchenbewußtſein, und die daraus entſpringende ſittliche Thatkraft. „Erkenne Dich ſelbſt“! So riefen ſchon die Philoſophen des Alterthums dem nach Veredelung ſtreben— den Menſchen zu. „Erkenne Dich ſelbſt“! So ruft die Entwicke— lungslehre nicht allein dem einzelnen menſchlichen Individuum, ſon— dern der ganzen Menſchheit zu. Und wie die fortſchreitende Selbſt— erkenntniß für jeden einzelnen Menſchen der mächtigſte Hebel zur ſitt— lichen Vervollkommnung wird, ſo wird auch die Menſchheit als Gan— zes durch die Erkenntniß ihres wahren Urſprungs und ihrer wirklichen Stellung in der Natur auf eine höhere Bahn der moralifchen Voll— endung geleitet werden. Die einfache Naturreligion, welche ſich auf das klare Wiſſen von der Natur und ihren unerſchöpflichen Offen— barungsſchatz gründet, wird zukünftig in weit höherem Maße ver— edelnd und vervollkommnend auf den Entwickelungsgang der Menſch— heit einwirken, als die mannichfaltigen Kirchenreligionen der verſchie— denen Völker, welche auf dem blinden Glauben an die dunkeln Ge— heimniſſe einer Prieſterkaſte und ihre mythologiſchen Offenbarungen beruhen. Kommende Jahrhunderte werden unſere Zeit, welcher mit der wiſſenſchaftlichen Begründung der Abſtammungslehre der höchſte Preis menſchlicher Erkenntniß beſchieden war, als den Zeitpunkt feiern, mit welchem ein neues ſegensreiches Zeitalter der menſchlichen Ent— wickelung beginnt, charakteriſirt durch den Sieg des freien erkennen— den Geiſtes über die Gewaltherrſchaft der Autorität, und durch den mächtig veredelnden Einfluß der moniſtiſchen Philoſophie. 1 Verzeichniß der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften, deren Studium dem Leſer zu empfehlen iſt. 1. Charles Darwin, On the Origin of Species by means of natural selection (or the preservation of favoured races in the struggle for life). London 1859. (VI Edition: 1872.) Ins Deutſche überſetzt von H. G. Bron n unter dem Titel: Charles Darwin, über die Entſtehung der Arten im Thier⸗ und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Raſſen im Kampfe um's Daſein. Stuttgart 1860 (V. Auflage durchgeſehen und berichtigt von Vietor Carus: 1872). 2. Jean Lamarck, Philosophie zoologique, ou Exposition des Considerations relatives à l’histoire naturelle des animaux; à la diversite de leur organisation et des facultes, qu'ils en obtiennent; aux causes physiques, qui maintiennent en eux la vie et donnent lieu aux mouvemens, qu’ils exécutent; enfin, A celles qui produisent, les unes le sentiment, et les autres Vintelligence de ceux qui en sont doues. II Tomes. Paris 1809, Nouvelle edition, revue et precedee d'une Introduction biographique par Charles Martius. Paris 1873. 3. Wolfgang Goethe, Zur Morphologie: Bildung und Um⸗ bildung organiſcher Naturen. Die Metamorphoſe der Pflanzen (1790). Oſteologie (1786). Vorträge über die drei erſten Capitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Oſteo— logie (1786). Zur Naturwiſſenſchaft im Allgemeinen (17801832). 4. Ernſt Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen: Allgemeine Grundzüge der organiſchen Formenwiſſenſchaft, mechaniſch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Deſcendenztheorie. I. Band: All⸗ gemeine Anatomie der Organismen oder Wiſſenſchaft von den entwickelten orga- niſchen Formen. II. Band: Allgemeine Entwickelungsgeſchichte der Organismen oder Wiſſenſchaft von den entſtehenden organiſchen Formen. Berlin 1866. 5. Louis Agassiz, An Essay on elassification. Contributions to the natural history of the united States. Boston. Vol. I. 1857. 6. Au guſt Schleicher, Die Darwin'ſche Theorie und die Sprachwiſſen⸗ ſchaft. Weimar 1863. 42 * 660 Verzeichniß der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften. 7. M. J. Schleiden, Grundzüge der wiſſenſchaftlichen Botanik (die Bo⸗ tanik als inductive Wiffenfchaft). 2 Bände. Leipzig 1849. 8. Franz Unger, Verſuch einer Geſchichte der Pflanzenwelt. Wien 1852. 9. Victor Carus, Syſtem der thieriſchen Morphologie. Leipzig 1853. 10. Louis Büchner, Kraft und Stoff. Empiriſch-naturphiloſophiſche Studien in allgemein verſtändlicher Darſtellung. Frankfurt 1855 (III. Auflage). 1867 (IX. Auflage). 11. Charles Lyell, Principles of Geology. London 1830. (X Edit. 1868.) 12. Albert Lange, Geſchichte des Materialismus und Kritik feiner Be- deutung in der Gegenwart. Iſerlohn 1866. 13. Charles Darwin, Naturwiſſenſchaftliche Reifen. Deutſch von Er nſt Dieffenbach. 2 Thle. Braunſchweig 1844. 14. Charles Darwin, the variation of animals and plants under do- mestication. 2 Vol. London 1868. Ins Deutſche überſetzt von Vietor Carus unter dem Titel: Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zuſtande der Do- meſtikation. 2 Bde. Stuttgart 1868. 15. Ernſt Haeckel, Studien über Moneren und andere Protiſten, nebſt einer Rede über Entwickelungsgang und Aufgabe der Zoologie. Mit 6 Kupfer⸗ tafeln. Leipzig 1870. 16. Fritz Müller, Für Darwin. Leipzig 1864. 17. Thomas Huxley, Ueber unſere Kenntniß von den Urſachen der Erſcheinungen in der organiſchen Natur. Sechs Vorleſungen für Laien. Ueber- ſetzt von Carl Vogt. Braunſchweig 1865. 18. H. G. Bronn, Morphologiſche Studien über die Geſtaltungsgeſetze der Naturkörper überhaupt, und der organiſchen insbeſondere. Leipz. u. Heidelb. 1858. 19. H. G. Bronn, Unterſuchungen über die Entwickelungsgeſetze der orga⸗ niſchen Welt während der Bildungszeit unſerer Erdoberfläche. Stuttgart 1858. 20. Carl Ernſt Bär, Ueber Entwickelungsgeſchichte der Thiere. Beob- achtung und Reflexion. 2 Bde. 1828. 21. Carl Gegenbaur, Grundzüge der vergleichenden Anatomie. Leip⸗ zig 1859 (II. umgearbeitete Auflage 1870). 22. Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeſchichte und Theorie des Him⸗ mels, oder Verſuch von der Verfaſſung und dem mechaniſchen Urſprunge des gan⸗ zen Weltgebäudes nach Newton'ſchen Grundſätzen abgehandelt. Königsberg 1755. 23. Ernſt Haeckel, Die Radiolarien. Eine Monographie. Mit einem Atlas von 35 Kupfertafeln. Berlin 1862. 24. Auguſt Weismann, Ueber den IR der Iſolirung auf die Artbildung. Leipzig 1872. Verzeichniß der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften. 661 25. Ernſt Haeckel, Ueber die Entſtehung und den Stammbaum des Menſchengeſchlechts. Zwei Vorträge in der Sammlung gemeinverſtändlicher wiſ— ſenſchaftlicher Vorträge, herausgegeben von Virchow und Holtzendorff. Berlin 1868. (III. Auflage, 1872.) 26. Thomas Huxley, Zeugniſſe für die Stellung des Menſchen in der Natur. Drei Abhandlungen: Ueber die Naturgeſchichte der menſchenähnlichen Affen. Ueber die Beziehungen des Menſchen zu den nächſtniederen Thieren. Ueber einige foſſile menſchliche Ueberreſte. Ueberſetzt von Vietor Carus. Braunſchweig 1863. 27. Carl Vogt, Vorleſungen über den Menſchen, ſeine Stellung in der Schöpfung und in der Geſchichte der Erde. 2 Bde. Gießen 1863. 28. Friedrich Rolle, Der Menſch, ſeine Abſtammung und Geſittung im Lichte der Darwin'ſchen Lehre von der Art-Entſtehung und auf Grund der neueren geologischen Entdeckungen dargeſtellt. Frankfurt a. M. 1866. 29. Eduard Reich, Die allgemeine Naturlehre des Menſchen. Gießen 1865. 30. Charles Lyell, Das Alter des Menſchengeſchlechts auf der Erde und der Urſprung der Arten durch Abänderung, nebſt einer Beſchreibung der Eiszeit in Europa und Amerika. Ueberſetzt mit Zuſätzen von Louis Büchner. Leip⸗ zig 1864. 31. Bernhard Cotta, Die Geologie der Gegenwart. Leipzig 1866. 32. Karl Zittel, Aus der Urzeit. Bilder aus der Schöpfungsgeſchichte. München 1872. 33. C. Raden hauſen, Iſis. Der Menſch und die Welt. 4 Bde. Ham⸗ burg 1863. (II. Auflage 1871.) 34. Auguſt Schleicher, Ueber die Bedeutung der Sprache für die Na⸗ turgeſchichte des Menſchen. Weimar 1865. 35. Wilhelm Bleek, Ueber den Urſprung der Sprache. Herausgegeben mit einem Vorwort von Ernſt Haeckel. Weimar 1868. 36. Alfred Ruſſel Wallace, Der malayiſche Archipel. Deutſch von A. B. Meyer. 2 Bde. Braunſchweig 1869. 37. Ernſt Haeckel, Ueber Arbeitstheilung in Natur- und Menſchenleben. Sammlung gemeinverſtändlicher wiſſenſchaftlicher Vorträge, herausgegeben von Virchow und Holtzendorff. IV. Serie. 1869. Heft 78. II. Auflage. 38. Hermann Helmholtz, Populäre wiſſenſchaftliche Vorträge. Braun⸗ ſchweig 1871. e 39. Alexander Humboldt, Anfichten der Natur. Stuttgart 1826. 40. Moritz Wagner, Die Darwinſche Theorie und das Migrationsgeſetz der Organismen. Leipzig 1868. 41. Rudolf Virchow, Vier Reden über Leben und Krankſein. Berlin 1862. 662 Verzeichniß der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften. 42. Friedrich Müller, Ethnographie (Reiſe der öſterreichiſchen Fregatte Novara. Anthropologiſcher Theil. III. Abtheilung) Wien 1868. 43. Ludwig Büchner, Die Stellung des Menſchen in der Natur, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Leipzig 1870. 44. John Lubboek, Prehistorie Times. London 1867. 45. Herbert Spencer, A System of Philosophy (1. First Principles. 2. Prineiples of Biology. 3. Prineiples of Psychology etc.). London 1867. II. Edition. 46. Wilhelm Wundt, Vorleſungen über die Menſchen- und Thierſeele. Leipzig 1863. 47. Fritz Ratzel, Sein und Werden der organiſchen Welt. Eine popu⸗ läre Schöpfungsgeſchichte. Leipzig 1869. 48. Charles Darwin, The descent of man, and selection in relation to sex. 2 Voll. London 1871. Ins Deutſche überſetzt von Vietor Carus unter dem Titel: „Die Abſtammung des Menſchen und die geſchlechtliche Zucht- wahl“. 2 Bde. Stuttgart 1871. 49. Charles Darwin, The expression of the emotions in man and ani- mals. London 1872. Ins Deutſche überſetzt von Victor Carus unter dem Titel: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei den Menſchen und den Thie- ren. Stuttgart 1872. 50. Ernſt Häckel, Die Kalkſchwämme (Calciſpongien oder Grantien). Eine Monographie in zwei Bänden Text und einem Atlas mit 60 Tafeln Ab- bildungen. I. Band (Genereller Theil). Biologie der Kalkſchwämme. II. Band (Specieller Theil). Syſtem der Kalkſchwämme. III. Band (Illuſtrativer Theil). Atlas der Kalkſchwämme. Berlin 1872. 51. Friedrich Müller, Allgemeine Ethnographie. Wien 1873. 52. Friedrich Zöllner, Über die Natur der Kometen. Beiträge zur Geſchichte und Theorie der Erkenntniß. Leipzig 1872. 53. Das Unbewußte vom Standpunkt der Phyſiologie und Defcendenz- Theorie. Berlin 1872. 54. Ernſt Häckel, Das Leben in den größten Meerestiefen; Sammlung von Virchow und Holtzendorff. V. Serie. 1870. 55. David Friedrich Strauß, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß. Leipzig 1872. Vierte Auflage. Anhang. Erklärung der Tafeln. Titelbild. Entwickelungsgeſchichte eines Kalkſchwammes (Olynthus). Vergl. S. 456. Das Ei des Olynthus (Fig. 9), welcher die gemeinſame Stammform aller Kalk⸗ ſchwämme darſtellt, iſt eine einfache Zelle (Fig. 1). Aus dieſer entſteht durch wiederholte Theilung (Fig. 2) ein kugeliger, maulbeerförmiger Haufen von lauter gleichartigen Zellen (Morula, Fig. 3; S. 442). Indem ſich die letzteren in äu⸗ ßere, helle flimmernde Zellen (Exoderm) und innere, dunkle flimmerloſe Zellen (Entoderm) ſondern, entſteht die Flimmerlarve oder Planula (Fig. 4). Dieſe wird eiförmig und im Inneren bildet ſich eine Höhle (Magenhöhle oder Urdarm, Fig. 6 8), mit einer Offnung (Mundöffnung oder Urmund, Fig. 60); die Wand der Magenhöhle beſteht aus zwei Zellenſchichten oder Keimblättern, dem äußeren flimmernden Exoderm (e) und dem inneren flimmerloſen Entoderm (). So ent⸗ ſteht die äußerſt wichtige Darmlarve oder Gaſtrula, welche bei den verſchieden— ſten Thierſtämmen als gemeinſame Jugendform wiederkehrt (Fig. 5 von außen, Fig. 6 im Längsſchnitt geſehen; vergl. S. 443 und 581). Nachdem die Gaſtrula eine Zeitlang im Meere umher geſchwommen iſt, ſetzt fie ſich auf dem Meeres⸗ boden feſt, verliert die äußeren Flimmerhaare und verwandelt ſich in die Ascula (Fig. 7 von außen, Fig. 8 im Längsſchnitt geſehen; Buchſtaben wie in Fig. 6). Dieſe Ascula wiederholt nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze die gemeinſame Stammform aller Pflanzenthiere, den Protascus (S. 446, 449). Indem in ihrer Magenwand Hauptporen (p) und dreiſtrahlige Kalknadeln entſtehen, ver- wandelt ſie ſich in den Olynthus (Fig. 9). Aus der vorderen Magenwand des Olynthus iſt in Fig. 9 ein Stück herausgeſchnitten, um die innere Magen- höhle und die in der Magenfläche ſich bildenden Eier (g) zu zeigen. Aus dem Olynthus können ſich die verſchiedenſten Formen von Kalkſchwämmen entwickeln. 664 Anhang. Erklärung der Tafeln. Eine der merkwürdigſten iſt die Ascometra (Fig. 10), ein Stock, aus welchem verſchiedene Species und ſogar verſchiedene Gattungsformen hervorwachſen (links Olynthus, in der Mitte Nardorus, rechts Soleniscus u. ſ. w.). Das Nähere über dieſe höchſt intereſſanten Formen und ihre hohe Bedeutung für die Deſcendenz— Theorie vergl. in meiner Monographie der Kalkſchwämme (1872), beſonders im erſten Bande, S. 474, 481. Taf. I Gwiſchen S. 168 und 169). Lebensgeſchichte eines einfachſten Organismus, eines Moneres (Proto- myxa aurantiaca). Vergl. S. 165 und S. 379. Das Titelbild iſt eine verklei⸗ nerte Copie der Abbildungen, welche ich in meiner „Monographie der Moneren“ (Biologiſche Studien, I. Heft, 1870; Taf. I) von der Entwickelungsgeſchichte der Protomyxa aurantiaca gegeben habe. Dort findet ſich auch die ausführliche Be— ſchreibung dieſes merkwürdigen Moneres (S. 11 — 30). Ich habe dieſen einfach- ſten Organismus im Januar 1867 während meines Aufenthaltes auf der cana- riſchen Inſel Lanzarote entdeckt; und zwar fand ich ihn feſtſitzend oder umher— kriechend auf den weißen Kalkſchalen eines kleinen Cephalopoden (S. 473), der Spirula Peronii, welche daſelbſt maſſenhaft auf der Meeresoberfläche ſchwimmen und an den Strand geworfen werden. Protomyxa aurantiaca zeichnet ſich vor den übrigen Moneren durch die ſchöne und lebhafte orangerothe Farbe ihres ganz einfachen Körpers aus, der lediglich aus Urſchleim oder Protoplasma beſteht. Das vollkommen entwickelte Moner iſt in Fig. 11 und 12 ſtark vergrößert dargeſtellt. Wenn daſſelbe hungert (Fig. 11), ſtrahlen von der Oberfläche des kugeligen Schleim- körperchens ringsum Maſſen von baumförmig veräftelten beweglichen Schleim- fäden (Scheinfüßchen oder Pſeudopodien) aus, welche ſich nicht netzförmig verbin- den. Wenn aber das Moner frißt (Fig. 12), treten dieſe Schleimfäden vielfach mit einander in Verbindung, bilden veränderliche Netze und umſpinnen die zur Nahrung dienenden fremden Körperchen, welche fie nachher in die Mitte des Pro- tomyxa⸗Körpers hineinziehen. So wird eben in Fig. 12 (oben rechts) ein kieſel⸗ ſchaliger bewimperter Geißelſchwärmer (Peridinium, S. 377, 383) von den aus⸗ geſtreckten Schleimfäden gefangen und nach der Mitte des Schleimkügelchens hin— gezogen, in welchem bereits mehrere halbverdaute kieſelſchalige Infuſorien (Tintin⸗ noiden) und Diatomeen (Iſthmien) liegen. Wenn nun die Protomyxa genug ge⸗ freſſen hat und gewachſen iſt, zieht ſie ihre Schleimfäden alle ein (Fig. 15) und zieht ſich kugelig zuſammen (Fig. 16 und Fig. 1). In dieſem Ruhezuſtande ſchwitzt die Kugel eine gallertige ſtructurloſe Hülle aus (Fig. 2) und zerfällt nach einiger Zeit in eine große Anzahl kleiner Schleimkügelchen (Fig. 3). Dieſe fangen bald an, ſich zu bewegen, nehmen Birnform an (Fig. 4), durchbrechen die gemeinſame Hülle (Fig. 5) und ſchwimmen nun mittelſt eines haarfeinen, geißelförmigen Fort⸗ Anhang. Erklärung der Tafeln. 665 ſatzes frei im Meere umher, wie Geißelſchwärmer oder Flagellaten (S. 383, Fig. 11). Wenn fie nun eine Spivula-Schale oder einen anderen paſſenden Gegenftand an⸗ treffen, laſſen fie ſich auf dieſem nieder, ziehen ihre Geißel ein und kriechen mit⸗ telſt formwechſelnder Fortſätze langſam auf demſelben umher (Fig. 6, 7, 8), wie Protamoeben (S. 167, 378). Dieſe kleinen Schleimkörperchen nehmen Nahrung auf (Fig. 9, 10) und gehen entweder durch einfaches Wachsthum oder, indem meh⸗ rere zu einem größeren Schleimkörper (Plasmodium) verſchmelzen (Fig. 13, 14), in die erwachſene Form über (Fig. 11, 12). Taf. II und III (zwiſchen S. 272 und 273). Keime oder Embryen von vier verſchiedenen Wirbelthieren, nämlich Schildkröte (A und E), Huhn (B und F), Hund (C und 6), Menſch (D und I)). Fig. A—D ſtellt ein früheres, Fig. E—H ein ſpäteres Stadium der Entwickelung dar. Alle acht Embryen ſind von der rechten Seite geſehen, den gewölbten Rücken nach links gewendet. Fig. A und B find ſiebenmal, Fig. O und D fünfmal, Fig. E — H viermal vergrößert. Taf. II erläutert die ganz nahe Blutsverwandtſchaft der Reptilien und Vögel, Taf. III dagegen diejenige des Menſchen und der übri⸗ gen Säugethiere (vergl. auch S. 513, 530 u. ſ. w.). Taf. IV (zwiſchen S. 362 und 363). Hand oder Vorderfuß von neun verſchiedenen Säugethieren. Dieſe Ta⸗ fel ſoll die Bedeutung der vergleichenden Anatomie für die Phylogenie erläutern, indem ſie nachweiſt, wie ſich die innere Skeletform der Gliedmaßen durch Vererbung beſtändig erhält, trotzdem die äußere Form durch An paſ⸗ fung außerordentlich verändert wird. Die Knochen des Hand-Skelets find weiß in das braune Fleiſch und die Haut eingezeichnet, von denen fie umſchloſſen wer⸗ den. Alle neun Hände find genau in derſelben Lage dargeſtellt, nämlich die Hand- wurzel (an welche ſich oben der Arm anſetzen würde) nach oben gerichtet, die Fin- gerſpitzen oder Zehenſpitzen nach unten. Der Daumen oder die erſte (große) Vor⸗ derzehe iſt in jeder Figur links, der kleine Finger oder die fünfte Zehe dagegen rechts am Rande der Hand fichtbar. Jede Hand beſteht aus drei Theilen, näm- lich I. der Handwurzel (Carpus), welche aus zwei Querreihen von kurzen Kno⸗ chen zuſammengeſetzt iſt (am oberen Rande der Hand); II. der Mittelh and (Metacarpus), welche aus fünf langen und ſtarken Knochen zuſammengeſetzt iſt (in der Mitte der Hand, durch die Ziffern 1 — 5 bezeichnet); und III. den fünf Fingern oder Vorderzehen (Digiti), von denen jede wieder aus mehreren (meiſt 2—3) Zehengliedern (Phalanges) beſteht. Die Hand des Menſchen (Fig. 1) ſteht ihrer ganzen Bildung nach in der Mitte zwiſchen derjenigen der bei— den nächſtverwandten großen Menſchenaffen, nämlich des Gorilla (Fig. 2) und 666 Anhang. Erklärung der Tafeln. des Orang (Fig. 3). Weiter entfernt ſich davon ſchon die Vorderpfote des Hun⸗ des (Fig. 4) und noch vielmehr die Hand oder die Bruſtfloſſe des Seeh undes (Fig. 5). Noch vollſtändiger als bei letzterem wird die Anpaſſung der Hand an die Schwimm -Bewegung und ihre Umbildung zur Ruderfloſſe beim Delphin (Ziphius, Fig. 6). Während hier die in der Schwimmhaut ganz verſteckten Fin⸗ ger und Mittelhandknochen kurz und ſtark bleiben, werden ſie dagegen außeror⸗ dentlich lang und dünn bei der Fledermaus (Fig. 7), wo ſich die Hand zum Flügel ausbildet. Den äußerſten Gegenſatz dazu bildet die Hand des Maul⸗ wurfs (Fig. 8), welche ſich in eine kräftige Grabſchaufel umgewandelt hat, mit außerordentlich verkürzten und verdickten Fingern. Viel ähnlicher als dieſe letz⸗ teren Formen (Fig. 5—8) iſt der menſchlichen Hand die Vorderpfote des niedrig⸗ ſten und unvollkommenſten aller Säugethiere, des auſtraliſchen Schnabelthiers (Ornithorhynchus, Fig. 9), welches in ſeinem ganzen Bau unter allen bekannten Säugethieren der gemeinſamen ausgeſtorbenen Stammform dieſer Klaſſe am näch⸗ ſten ſteht. Es hat ſich alſo der Menſch in der Umbildung ſeiner Hand durch An⸗ paſſung weniger von dieſer gemeinſamen Stammform entfernt, als die Fleder⸗ maus, der Maulwurf, der Delphin, der Seehund und viele andere Säugethiere. Taf. V (zwiſchen S. 432 und 433). Einſtämmiger oder monophyletiſcher Stammbaum des Pflanzenreichs, darſtellend die Hypotheſe von der gemeinſamen Abſtammung aller Pflanzen, und die geſchichtliche Entwickelung der Pflanzengruppen während der paläontologiſchen Perioden der Erdgeſchichte. Durch die horizontalen Linien ſind die verſchiedenen (auf S. 344 angeführten) kleineren und größeren Perioden der organiſchen Erd⸗ geſchichte angedeutet, während deren ſich die verſteinerungsführenden Erdſchichten ablagerten. Durch die vertikalen Linien ſind die verſchiedenen Hauptklaſſen und Klaſſen des Pflanzenreichs von einander getrennt. Die baumförmig verzweigten Linien geben ungefähr den Grad der Entwickelung an, den jede Klaſſe in jeder geologiſchen Periode vermuthlich erreicht hatte (vergl. S. 404 und 405). Taf. VI (zwiſchen S. 440 und 441). Einſtämmiger oder monophyletiſcher Stammbaum des Thierreichs, dar⸗ ſtellend das geſchichtliche Wachsthum der ſechs Thierſtämme in den paläontologiſchen Perioden der organiſchen Erdgeſchichte. Durch die horizontalen Linien g h, ik, Im und no find die fünf großen Zeitalter der organiſchen Erd⸗ geſchichte von einander getrennt. Das Feld gabh umfaßt den archolithiſchen, das Feld ig h k den paläolithiſchen, das Feld Ii k m den meſolithiſchen und das Feld n Im o den eenolithiſchen Zeitraum. Der kurze anthropolithiſche Zeitraum iſt durch die Linie n o angedeutet (vergl. S. 344). Die Höhe der einzelnen Fel⸗ Anhang. Erklärung der Tafeln. 667 der entſpricht der relativen Länge der dadurch bezeichneten Zeiträume, wie ſie ſich ungefähr aus dem Dickenverhältniß der inzwiſchen abgelagerten neptuniſchen Schichten abſchätzen läßt (vergl. S. 352). Der archolithiſche und primordiale Zeit⸗ raum allein für ſich, während deſſen die laurentiſchen, cambriſchen und ſiluriſchen Schichten abgelagert wurden, war vermuthlich bedeutend länger, als die vier fol- genden Zeiträume zuſammengenommen (vergl. S. 341, 350). Aller Wahrſchein⸗ lichkeit nach erreichten die beiden Stämme der Würmer und Pflanzenthiere ihre Blüthezeit ſchon während der mittleren Primordialzeit (in der cambriſchen Pe⸗ riode ?), die Sternthiere und Weichthiere vielleicht etwas ſpäter, während die Glie⸗ derthiere und Wirbelthiere bis zur Gegenwart an Mannichfaltigkeit und Vollkom⸗ menheit zunehmen. Taf. VII (zwiſchen S. 456 und 457). Gruppe von Pflanzenthieren (Zoophyten oder Coelenteraten) im Mittel⸗ meere. In der oberen Hälfte zeigt ſich ein Schwarm von ſchwimmenden Medu— ſen und Ctenophoren, in der unteren Hälfte einige Büſche von Korallen und Hy⸗ droidpolypen, auf dem Boden des Meeres feſtgewachſen (vergl. das Syſtem der Pflanzenthiere, S. 452, und gegenüber den Stammbaum derſelben, S. 453). Unter den feſtſitzenden Pflanzenthieren auf dem Meeresboden tritt rechts unten ein großer Korallenſtock hervor (1), welcher der rothen Edelkoralle (Eucoral- lium) nahe verwandt iſt und gleich dieſer zur Gruppe der achtzähligen Rinden⸗ korallen (Oetocoralla Gorgonida) gehört; die einzelnen Individuen (oder Perſonen) des verzweigten Stockes haben die Form eines achtſtrahligen Sterns, gebildet aus acht Fangarmen, die den Mund umgeben (Octocorallen, S. 455). Unmittelbar darunter und davor ſitzt (ganz rechts unten) ein kleiner Buſch von Hydroidpo— lypen (2) aus der Gruppe der Glockenpolypen oder Campanularien (S. 456). Ein größerer Stock der Hydroidpolypen (3), aus der Gruppe der Röhrenpolypen oder Tubularien, erhebt ſich mit ſeinen langen dünnen Zweigen links gegen— über. An feiner Baſis breitet ſich ein Stock von Kieſelſchwämmen (Hali- chondria) aus (4), mit ſtumpfen fingerförmigen Aeſten (S. 454). Dahinter ſitzt, links unten (5), eine ſehr große Seeroſe (Actinia), eine einzelne Perſon aus der Abtheilung der ſechszähligen Korallen (Hexacoralla, S. 455). Ihr niedriger cylindriſcher Körper trägt eine Krone von ſehr zahlreichen und großen, blattförmi⸗ gen Fangarmen. Unten in der Mitte des Bodens (6) ſitzt eine Seeanemone (Cereanthus), aus der Gruppe der vierzähligen Korallen (Tetracoralla). Endlich erhebt ſich auf einem kleinen Hügel des Meeresbodens, rechts oberhalb der Ko— ralle (1) ein Kelchpolyp (Lucernaria), als Repräſentant der Haftquallen (Po⸗ dactinarien oder Calycozoen, S. 452). Sein becherförmiger geſtielter Körper (7) trägt am Rande acht kugelige Büſchel von kleinen, geknöpften Fangarmen. 668 Anhang. Erklärung der Tafeln. Unter den ſchwimmenden Pflanzeuthieren, welche die obere Hälfte der Tafel VII einnehmen, ſind vorzüglich die Hydromeduſen wegen ihres Ge— nerationswechſels bemerkenswerth (vergl. S. 185). Unmittelbar über der Lucer⸗ naria (7) ſchwimmt eine kleine Tiara-Qualle (Oceania), deren glockenförmiger Körper einen kuppelartigen Aufſatz von der Form einer päpſtlichen Tiara trägt (8). Von der Glockenmündung hängt unten ein Kranz von ſehr feinen und langen Fangfäden herab. Dieſe Oceanie ſtammt ab von Röhrenpolypen, welche der links unten ſitzenden Tubularia (3) gleichen. Links neben dieſer letzteren ſchwimmt eine große, aber ſehr zarte Haarqualle (Aequorea). Ihr ſcheibenförmiger, flach ge- wölbter Körper zieht ſich eben zuſammen und preßt Waſſer aus der unten befind- lichen Schirmhöhle aus (9). Die ſehr zahlreichen, langen und feinen, haarähn⸗ lichen Fangfäden, welche vom Rande des Schirms herabhängen, werden durch das ausgeſtoßene Waſſer in einen kegelförmigen Buſch zuſammengedrängt, der ſich ungefähr in der Mitte kragenartig nach oben umbiegt und faltet. Oben in der Mitte der Schirmhöhle hängt der Magen herab, deſſen Mundöffnung von vier Mundlappen umgeben ift. Dieſe Aequorea ſtammt von einem kleinen Glocken⸗ polypen ab, welcher der Campanularia (2) gleicht. Von einem ähnlichen Glocken⸗ polypen ſtammt auch die kleine, flach gewölbte Mützenqualle (Eucope) ab, welche oben in der Mitte ſchwimmt (10). In dieſen drei Fällen (8, 9, 10), wie bei der Mehrzahl der Hydromeduſen, beſteht der Generationswechſel darin, daß die frei ſchwimmenden Meduſen (8, 9, 10) durch Knospenbildung (alſo durch un⸗ geſchlechtliche Zeugung, S. 172), aus feſtſitzenden Hydroidpolypen (2, 3) entſtehen. Dieſe letzteren aber entſtehen aus den befruchteten Eiern der Meduſen (alſo durch geſchlechtliche eugung, S. 175). Es wechſelt mithin regelmäßig die ungeſchlecht⸗ liche, feſtſitzende Polypen - Generation (I, III, V u. ſ. w.) mit der geſchlechtlichen, frei ſchwimmenden Meduſen- Generation ab (II, IV, VI u. ſ. w.). Auch dieſer Generationswechſel iſt nur durch die Deſcendenztheorie erklärbar. Daſſelbe gilt auch von einer nahe verwandten, aber noch auffallenderen Form der Fortpflanzung, welche ich 1864 bei Nizza an den Rüſſelquallen (Geryo- nida) entdeckt und Alloeogonie oder Alloeogeneſis genannt habe. Hier ſtammen nämlich zwei ganz verſchiedene Meduſenformen von einander ab, welche auf Tafel VII in Fig. 11 und 12 abgebildet find. Die größere und höher ent⸗ wickelte Generation (11), Geryonia oder Carmarina, iſt ſechszählig, mit 6 blatt⸗ förmigen Geſchlechtsorganen und 6 langen, ſehr beweglichen Randfäden verſehen. Aus der Mitte ihres glockenförmigen Schirms hängt (wie der Klöppel der Glocke) ein langer Rüſſel frei herab, an deſſen Ende ſich Magen und Mundöffnung be- findet. In der Magenhöhle ſitzt ein langer, zungenförmiger Knospenzapfen (der auf Tafel VII. 11, wie eine Zunge nach links aus dem Munde vorgeſtreckt iſt). Auf dieſer Zunge knospen an der geſchlechtsreifen Geryonia eine Menge von Elei= Anhang. Erklärung der Tafeln. 669 nen Meduſen hervor. Dieſe ſind aber keine Geryonien, ſondern gehören einer ganz anderen und ſehr verſchiedenen Meduſenform an, nämlich der Gattung Cu— nina, aus der Familie der Aeginiden. Dieſe Cunina (12) iſt ganz anders gebaut; ſie hat einen flach halbkugeligen Schirm ohne Rüſſel, iſt in der Jugend achtzählig, ſpäter ſechzehnzählig, hat 16 taſchenförmige Geſchlechtsorgane und 16 kurze, ſtarre, ſteif gekrümmte Randfäden. Das Nähere über dieſe wunderbare Alloeogeneſis iſt in meinen „Beiträgen zur Naturgeſchichte der Hydromeduſen“ (Leipzig, Engelmann, 1865) nachzuſehen, deren erſtes Heft eine Monographie der Rüſſelquallen oder Geryoniden mit ſechs Kupfertafeln enthält. Noch intereſſanter und lehrreicher, als dieſe merkwürdigen Verhältniſſe, ſind die Lebenserſcheinungen der Siphonophoren, deren wunderbaren Polymorphis- mus ich ſchon mehrmals erwähnt und in meinem Vortrage über „Arbeitsthei— lung in Natur und Menſchenleben“ 37) gemeinverſtändlich dargeſtellt habe (vergl. S. 241 und 456). Als ein Beiſpiel derſelben iſt auf Tafel VII die ſchöne Phy- sophora (13) abgebildet. Dieſer ſchwimmende Hydromeduſenſtock wird an der Oberfläche des Meeres ſchwebend erhalten durch eine kleine, mit Luft gefüllte Schwimmblaſe, welche in der Abbildung über den Waſſerſpiegel vorragt. Unter- halb derſelben iſt eine Säule von vier Paar Schwimmgloden ſichtbar, welche Waſ— ſer ausſtoßen und dadurch die ganze Kolonie fortbewegen. Am unteren Ende die— fer Schwimmglockenſäule ſitzt ein kronenförmiger Kranz von gekrümmten ſpindel⸗ förmigen Taſtpolypen, welche zugleich die Deckſtücke bilden, unter deren Schutze die übrigen Individuen des Stockes (freſſende, fangende und zeugende Perſonen) verſteckt ſind. Die Ontogen ie der Siphonophoren (und namentlich auch dieſer Physophora) habe ich zuerſt 1866 auf der canariſchen Inſel Lanzerote beobachtet und in meiner „Entwickelungsgeſchichte der Siphonophoren“ beſchrieben und durch 14 Tafeln Abbildungen erläutert (Utrecht 1869). Sie iſt reich an intereſſanten Thatſachen, die ſich nur durch die Deſcendenztheorie erklären laſſen. Ebenfalls nur durch die Abſtammungslehre zu verſtehen iſt der merkwürdige Generationswechſel der höheren Meduſen, der Scheibenquallen (Discomedu- sae, S. 452), als deren Repräſentant oben in der Mitte der Tafel VII (etwas zurücktretend) eine Pelagia abgebildet iſt (14). Aus dem Grunde des ſtark ge— wölbten glockenförmigen Schirmes, deſſen Rand zierlich gezackt iſt, hängen vier ſehr lange und ſtarke Arme herab. Die ungeſchlechtlichen Polypen, von denen dieſe Scheibenquallen abſtammen, ſind höchſt einfache Urpolypen, von dem gewöhn⸗ lichen Süßwaſſerpolypen (Hydra) nur wenig verſchieden. Auch den Generations⸗ wechſel dieſer Discomeduſen habe ich in meinem Vortrage über Arbeitstheilung 3”) beſchrieben und durch das Beiſpiel der Aurelia erläutert. Endlich iſt auch die letzte Klaſſe der Pflanzenthiere, die Gruppe der Kamm- quallen (Ctenophora, S. 456) auf Tafel VII durch zwei Repräſentanten ver⸗ 670 Anhang. Erklärung der Tafeln. treten. Links in der Mitte, zwiſchen der Aequorea (9), der Phyſophora (13) und der Cunina (12) windet ſich ſchlangenartig ein breites, langes und dünnes Band, wie ein Gürtel (15). Das iſt der herrliche große Venus gürtel des Mittel- meeres (Cestum), der in allen Regenbogenfarben ſchillert. Der eigentliche, in der Mitte des langen Bandes gelegene Körper des Thiers iſt nur ſehr klein, und ebenſo gebaut, wie die Melonenqualle (Cydippe), welche links oben ſchwebt (16). An dieſer ſind die acht charakteriſtiſchen Wimperrippen oder Flimmerkämme der Ctenophoren ſichtbar, ſowie zwei lange Fangfäden. Taf. VIII und IX (zwiſchen S. 482 und 483). Entwickelungsgeſchichte der Sternthiere (Echinodermen oder Estrellen). Die beiden Tafeln erläutern den Generationswechſel derſelben (S. 482) an einem Beiſpiele aus jeder der vier Klaſſen von Sternthieren. Die Seefterne (Aste- rida) ſind durch Uraster (A), die Seelilien (Crinoida) durch Comatula (B), die Seeigel (Echinida) durch Echinus (C) und endlich die Seegurken (Ho— lothuriae) durch Synapta (D) vertreten (vergl. S. 480 und 481). Die auf ein⸗ ander folgenden Stadien der Entwickelung find durch die Ziffern 1—5 bezeichnet. Taf. VIII ſtellt die individuelle Entwickelung der erſten, ungeſchlechtlichen Ge- neration der Sternthiere dar oder der Ammen (gewöhnlich unrichtig Larven ge⸗ nannt). Dieſe Ammen haben den Formwerth einer einfachen, ungegliederten Wurm⸗ perſon. Fig. 1 zeigt das Ei der vier Sternthiere, das in allen weſentlichen Be⸗ ziehungen mit dem Ei des Menſchen und der anderen Thiere übereinſtimmt (vergl. S. 265, Fig. 5). Wie beim Menſchen iſt das Protoplasma der Eizelle (der Dotter) von einer dicken, ſtructurloſen Membran (Zona pellueida) umſchloſſen, und ent⸗ hält einen glashellen, kugeligen Zellenkern (Nucleus), der einen Nucleolus um⸗ ſchließt. Aus dem befruchteten Ei der Sternthiere (Fig. 1) entwickelt ſich zunächſt durch wiederholte Zellentheilung ein kugeliger Haufen von gleichartigen Zellen (Fig. 6, S. 266), und dieſer verwandelt ſich in eine ſehr einfache Amme, welche ungefähr die Geſtalt eines einfachen Holzpantoffels hat (Fig. A 2 — D 2). Der Rand der Pantoffelöffnung iſt von einer flimmernden Wimperſchnur umſäumt, durch deren Wimperbewegung die mikroſkopiſch kleine, durchſichtige Amme im Meere frei um- herſchwimmt. Dieſe Wimperſchnur iſt in Fig. 2—4 auf Taf. VI durch den ſchma⸗ len, abwechſelnd hell und dunkel geſtreiften Saum angedeutet. Die Amme bildet ſich nun zunächſt einen ganz einfachen Darmkanal zur Ernährung, mit Mund (0), Magen (m) und After (a). Späterhin werden die Windungen der Wimperſchnur complicirter und es entſtehen armartige Fortſätze (Fig. A3 — D3). Bei den See⸗ ſternen (A 4) und den Seeigeln (C4) werden dieſe armartigen, von der Wimper⸗ ſchnur umſäumten Fortſätze ſpäterhin ſehr lang. Bei den Seelilien dagegen (B3) und den Seewalzen (D4) verwandelt ſich ſtatt deſſen die geſchloſſene, anfangs in Anhang. Erklärung der Tafeln. 671 ſich ſelbſt ringförmig zurücklaufende Wimperſchnur in eine Reihe von (4—5) hin⸗ ter einander gelegenen, getrennten Wimpergürteln. Im Inneren dieſer ſonderbaren Amme nun entwickelt ſich durch einen un⸗ geſchlechtlichen Zeugungsprozeß, nämlich durch innere Knospenbildung oder Keim- knospenbildung (rings um den Magen herum), die zweite Generation der Stern⸗ thiere, welche ſpäterhin geſchlechtsreif wird. Dieſe zweite Generation, welche in entwickeltem Zuſtande auf Taf. IX abgebildet iſt, entſteht urſprünglich als ein Stock (Cormus) von fünf, ſternförmig mit einem Ende verbundenen Würmern, wie am klarſten bei den Seeſternen, der älteſten und urſprünglichſten Form der Sternthiere, zu erkennen iſt. Die zweite Generation eignet ſich von der erſten, auf deren Koften fie wächſt, nur den Magen und einen kleinen Theil der übrigen Organe an, während Mund und After neu ſich bilden. Die Wimperſchnur und der Reſt des Ammenkörpers gehen ſpäterhin verloren. Anfänglich iſt die zweite Generation (45— 55) kleiner oder nicht viel größer als die Amme, während fie ſpäterhin durch Wachsthum mehr als hundertmal oder ſelbſt tauſendmal größer wird. Wenn man die Ontogenie der typiſchen Repräſentanten der vier Sternthier⸗ Klaſſen mit einander vergleicht, ſo wird man leicht gewahr, daß ſich die urſprüng⸗ liche Art der Entwickelung bei den Seeſternen (A) und Seeigeln (C) am beſten durch Vererbung conſervirt hat, während ſie dagegen bei den Seelilien (B) und Seegurken (D) nach dem Geſetze der abgekürzten Vererbung (S. 190) ſtark zuſam⸗ mengezogen worden iſt. Taf. IX zeigt die entwickelten und geſchlechtsreifen Thiere der zweiten Gene⸗ ration von der Mundſeite, welche in natürlicher Stellung der Sternthiere (wenn fie auf dem Meeresboden kriechen) bei den Seeſternen (46) und Seeigeln (Cs) nach unten, bei den Seelilien (86) nach oben, und bei den Seegurken (D6) nach vorn gerichtet iſt. In der Mitte gewahrt man bei allen vier Sternthieren die ſternförmige, fünfſtrahlige Mundöffnung. Bei den Seeſternen (A6) geht von deren Ecken eine mehrfache Reihe von Saugfüßchen in der Mitte der Unterſeite jedes Armes bis zur Spitze hin. Bei den Seelilien (B6) iſt jeder Arm von der Baſis an geſpalten und gefiedert. Bei den Seeigeln (C6) find die fünf Reihen der Saugfüßchen durch breitere Felder von Stacheln getrennt. Bei den Seegur⸗ ken endlich (D6) find äußerlich an dem ſcheinbar wurmähnlichen Körper bald die fünf Füßchenreihen, bald nur die den Mund umgebenden 5—15 (hier 10) gefie⸗ derten Mundarme ſichtbar. 8 Taf. X und XI (zwiſchen S. 486 und 487). Entwickelungsgeſchichte der Krebsthiere (Crustacea). Die beiden Tafeln erläutern die Entwickelung der verſchiedenen Cruſtaceen aus der gemeinſamen Stammform des Nauplius. Auf Taf. XI ſind ſechs Krebsthiere aus ſechs ver⸗ 672 Anhang. Erklärung der Tafeln. ſchiedenen Ordnungen in vollkommen entwickeltem Zuſtande dargeſtellt, während auf Taf. X die naupliusartigen Jugendformen derſelben abgebildet ſind. Aus der weſentlichen Uebereinſtimmung dieſer letzteren läßt ſich mit voller Sicherheit auf Grund des biogenetiſchen Grundgeſetzes (S. 361) die Abſtammung aller ver- ſchiedenen Cruſtaceen von einer einzigen gemeinſamen Stammform, einem längſt ausgeſtorbenen Nauplius behaupten, wie zuerſt Fritz Müller !s) in feiner vor- züglichen Schrift „Für Darwin“ dargethan hat. Taf. X zeigt die Nauplius-Jugendformen von der Bauchſeite, fo daß die drei Beinpaare deutlich hervortreten, welche an dem kurzen dreigliederigen Rumpfe anſitzen. Das erſte von dieſen Beinpaaren iſt einfach und ungeſpalten, während das zweite und dritte Beinpaar gabelſpaltig ſind. Alle drei Paare ſind mit ſteifen Borſten beſetzt, welche bei der Ruderbewegung der Beine als Schwimm- werkzeuge dienen. In der Mitte des Körpers iſt der ganz einfache, gerade Darm⸗ kanal ſichtbar, welcher vorn einen Mund, hinten eine Afteröffnung beſitzt. Vorn über dem Munde ſitzt ein einfaches unpaares Auge. In allen dieſen weſentlichen Eigenſchaften der Organiſation ſtimmen die ſechs Nauplius-Formen ganz überein, während die ſechs zugehörigen ausgebildeten Krebsformen (Taf. IX) äußerſt ver- ſchiedenartig organiſirt ſind. Die Unterſchiede der ſechs Nauplius-Formen beſchrän⸗ ken ſich auf ganz untergeordnete und unweſentliche Verhältniſſe in der Körpergröße und der Bildung der Hautdecke. Wenn man dieſelben in geſchlechtsreifem Zuſtande in dieſer Form im Meere antreffen würde, ſo würde jeder Zoologe ſie als ſechs verſchiedene Species eines Genus betrachten (vergl. S. 487). Taf. XI ſtellt die ausgebildeten und geſchlechtsreifen Krebsformen, die ſich aus jenen ſechs Nauplius-Arten ontogenetiſch (— und alſo auch phylogenetiſch! —) entwickelt haben, von der rechten Seite geſehen dar. Fig. Ae zeigt einen frei ſchwimmenden Süßwaſſerkrebs (Limnetis brachyurus) aus der Ordnung der Blatt- füßer (Phyllopoda) ſchwach vergrößert. Unter allen jetzt noch lebenden Erufta- ceen ſteht dieſe Ordnung, welche zur Legion der Kiemenfüßer (Branchiopoda) gehört, der urſprünglichen gemeinſamen Stammform des Nauplius am nächſte n. Die Limnetis iſt in eine zweiklappige Schale (wie eine Muſchel) eingeſchloſſen. In unferer Figur (welche nach Grube copirt iſt), ſieht man den Körper eines weib- lichen Thieres in der linken Schale liegend; die rechte Schalenhälfte iſt wegge- nommen. Vorn hinter dem Auge ſieht man die zwei Fühlhörner (Antennen) und dahinter die zwölf blattartigen Füße der rechten Körperſeite, hinten auf dem Rücken (unter der Schale) die Eier. Vorn oben iſt das Thier mit der Schale verwachſen. Fig. Be ftellt einen gemeinen, frei ſchwimmenden Süßwaſſerkrebs (Cyelops quadricornis) aus der Ordnung der Ruderkrebſe (Eucopepoda) ſtark vergrö⸗ ßert dar. Vorn unter dem Auge ſieht man die beiden Fühlhörner der rechten Seite, von denen das vordere viel länger als das hintere iſt. Dahinter folgen die Anhang. Erklärung der Tafeln. 5 673 Kiefer, und dann die vier Ruderbeine der rechten Seite, welche gabelſpaltig ſind. Hinter dieſen ſind die beiden großen Eierſäcke am Grunde des Hinterleibes ſichtbar. Fig. Ce iſt ein ſchmarotzender Ruderkrebs (Lernaeocera esocina) aus der Ordnung der Fiſchläuſe (Siphonostoma). Dieſe ſonderbaren Krebſe, welche man früher für Würmer hielt, ſind durch Anpaſſung an das Schmarotzerleben aus den frei ſchwimmenden Ruderkrebſen (Eucopepoda) entſtanden und gehören mit ihnen zu derſelben Legion (Copepoda, S. 488). Indem fie ſich an den Kiemen oder der Haut von Fiſchen, oder an andern Krebſen feftfetsten und von deren Körperſchaft ernährten, büßten ſie ihre Augen, Beine und andere Organe ein, und wuchſen zu unförmlichen ungegliederten Säcken aus, in denen man bei äußerer Betrach- tung kaum noch ein Thier vermuthet. Nur die letzten Ueberbleibſel der faſt ganz verloren gegangenen Beine erhalten ſich noch auf der Bauchſeite in Form von kurzen ſpitzen Borſten. Zwei von dieſen vier rudimentären Beinpaaren (das dritte und vierte) find in unſerer Figur (rechts) ſichtbar. Oben am Kopf ſieht man dicke, unförmliche Anhänge, von denen die unteren geſpalten ſind. In der Mitte des Körpers ſieht man den Darmkanal durchſchimmern, der von einer dunkeln Fetthülle umgeben iſt. Neben ſeinem hinteren Ende ſieht man den Eileiter und die Kittdrüſen des weiblichen Geſchlechtsapparats. Aeußerlich hängen die beiden großen Eierſäcke (wie bei Cyelops, Fig. B). Unſere Lernaeocera ift halb vom Rü⸗ cken, halb von der rechten Seite geſehen, ſchwach vergrößert, und copirt nach Elaus. (Vergl. Claus, die Copepoden-Fauna von Nizza. Ein Beitrag zur Charakteriſtik der Formen und deren Abänderungen „im Sinne Darwins“. 1866.) Fig. De zeigt eine feſtſitzende ſogenannte „Entenmuſchel“ (Lepas anatifera), aus der Ordnung der Rankenkrebſe (Cirripedia). Die Krebſe, über welche Dar win eine höchſt ſorgfältige Monographie geliefert hat, find in eine zweiklap—⸗ pige Kalkſchale, gleich den Muſcheln, eingeſchloſſen, und wurden daher früher all— gemein (ſogar noch von Cuvier) für muſchelartige Weichthiere oder Mollusken ge- halten. Erſt durch die Kenntmiß ihrer Ontogenie und ihrer Nauplius-Jugendform (Dn, Taf. VIII) wurde ihre Cruſtaceen-Natur feſtgeſtellt. Unſere Figur zeigt eine „Entenmuſchel“ in natürlicher Größe, von der rechten Seite. Die rechte Hälfte der zweiklappigen Schale iſt entfernt, fo daß man den Körper in der linken Scha- lenhälfte liegen ſieht. Von dem rudimentären Kopfe der Lepas geht ein langer fleiſchiger Stiel aus (in unſerer Figur nach oben gekrümmt), mittelſt deſſen der Rankenkrebs an Felſen, Schiffen u. ſ. w. feſtgewachſen iſt. Auf der Bauchſeite ſitzen ſechs Fußpaare. Jeder Fuß iſt gabelig in zwei lange, mit Borſten beſetzte, gekrümmte oder aufgerollte „Ranken“ geſpalten. Oberhalb des letzten Fußpaares ragt nach hinten der dünne, cylindrifche Schwanz vor. Fig. Ee ſtellt einen ſchmarotzenden Sackkrebs (Sacculina purpurea) aus der Ordnung der Wurzelkrebſe (Khizocephala) dar. Dieſe Paraſiten haben ſich Haeckel, Natürl. Schöpfungsgeſch. 4. Aufl. 43 674 Anhang. Erklärung der Tafeln. durch Anpaſſung an das Schmarotzerleben in ähnlicher Weiſe aus den Ranken⸗ krebſen (Fig. De) entwickelt, wie die Fiſchläuſe (Oe) aus den frei ſchwimmenden Ruderkrebſen (Be). Jedoch iſt die Verkümmerung durch die ſchmarotzende Lebens— weiſe und die dadurch bedingte Rückbildung aller Organe hier noch viel weiter ge— gangen, als bei den meiſten Fiſchläuſen. Aus dem gegliederten, mit Beinen, Darm und Auge verſehenen Krebſe, der in ſeiner Jugend als Nauplius (En, Taf. VIII) munter umherſchwamm, iſt ein unförmlicher ungegliederter Sack, eine rothe Wurſt geworden, welche nur noch Geſchlechtsorgane (Eier und Sperma) und ein Darm— rudiment enthält. Die Beine und das Auge ſind völlig verloren gegangen. Am hinteren Ende iſt die Geſchlechtsöffnung (die Mündung der Bruthöhle). Aus dem Munde aber iſt ein dichtes Büſchel von zahlreichen, baumförmig verzweigten Wurzelfaſern hervorgewachſen. Dieſe breiten ſich (wie die Wurzeln einer Pflanze im Erdboden) in dem weichen Hinterleibe des Einſiedlerkrebſes (Pagurus) aus, an dem der Wurzelkrebs ſchmarotzend feſtſitzt, und aus welchem er ſeine Nahrung ſaugt. Unſere Figur (Ee), eine Copie nach Fritz Müller, iſt ſchwach vergrößert und zeigt den ganzen wurſtförmigen Sackkrebs mit allen Wurzelfaſern, die aus dem Leibe des Wohnthieres herausgezogen ſind. 8 Fig. Fe iſt eine Garneele (Peneus Mülleri), aus der Ordnung der Zehn- füßer (Decapoda), zu welcher auch unſer Flußkrebs und ſein nächſter Verwandter, der Hummer, ſowie die kurzſchwänzigen Krabben gehören. Dieſe Ordnung enthält die größten und gaſtronomiſch wichtigſten Krebſe, und gehört ſammt den Maul⸗ füßern und Spaltfüßern zur Legion der ftieläugigen Panzerkrebſe (Podophthalma). Unſere Garneele zeigt, ebenſo wie unſer Flußkrebs, auf jeder Seite unterhalb des Auges vorn zwei lange Fühlhörner (das erſte viel kürzer wie das zweite), dann drei Kiefer und drei Kieferfüße, dann fünf ſehr lange Beine (von denen bei Pe- neus die drei vorderen mit Scheeren verſehen und das dritte das längſte iſt). Endlich ſitzen an den 5 erſten Gliedern des Hinterleibes noch 5 Paar Afterfüße, Auch dieſe Garneele, welche zu den höchſt entwickelten und vollkommenſten Krebſen gehört, entſteht nach Fritz Müller's wichtiger Entdeckung aus einem Nauplius (Fn, Taf. VIII), und beweiſt ſomit, daß auch die höheren Cruſtaceen ſich aus derſelben Nauplius⸗Form, wie die niederen entwickelt haben (vergl. S. 487). Taf. XII und XIII (zwiſchen S. 510 und 511). Die Blutsverwandtſchaft der Wirbelthiere und der Wirbelloſen (vergl. S. 466 und 510). Dieſe wird definitiv begründet durch Kowalewski 's wichtige, von Kupffer beſtätigte Entdeckung, daß die Ontogenie des niederſten Wirbelthieres, des Lanzetthieres oder Amphioxus, in ihren weſentlichen Grundzügen völlig über⸗ einſtimmt mit derjenigen der wirbelloſen Seeſcheiden oder Aseidien, aus der Klaſſe der Mantelthiere oder Tunicaten. Auf unſern beiden Tafeln ift die Aseidie mit A, Anhang. Erklärung der Tafeln. 675 der Amphioxus mit B bezeichnet. Taf. XIII ſtellt dieſe beiden ſehr verſchiedenen Thierformen völlig entwickelt dar, und zwar von der linken Seite ge— ſehen, das Mundende nach oben, das entgegengeſetzte Ende nach unten gerichtet. Daher iſt in beiden Figuren die Rückenſeite nach rechts, die Bauchſeite nach links gerichtet. Beide Figuren ſind ſchwach vergrößert, und die innere Organiſation der Thiere iſt durch die durchſichtige Haut hindurch deutlich ſichtbar. Die erwachſene Seeſcheide (Fig. A6) ſitzt unbeweglich auf dem Meeresboden feſtgewachſen auf, und klammert ſich an Steinen und dergl. mittelſt beſonderer Wurzeln (w) an, wie eine Pflanze. Der erwachſene Amphioxus dagegen (Fig. B6) ſchwimmt frei um- her, wie ein Fiſchchen. Die Buchſtaben bedeuten in beiden Figuren daſſelbe, und zwar: a Mundöffnung. b Leibesöffnung oder Porus abdominalis. e Rückenſtrang oder Chorda dorſalis. d Darm. e Eierſtock. k Eileiter (vereinigt mit dem Sa— menleiter). g Rückenmark. h Herz. i Blinddarm. k Kiemenkorb (Athemhöhle). 1 Leibeshöhle. m Muskeln. u Teſtikel (bei der Seeſcheide mit dem Eierſtock zu einer Zwitterdrüſe vereinigt). o After. p Geſchlechtsöffnung. q Reife entwickelte Embryen in der Leibeshöhle der Ascidie. r Floſſenſtrahlen der Rückenfloſſe von Amphioxus. s Schwanzfloſſe des Lanzetthieres. w Wurzeln der Aseidie. Taf. XII ſtellt die Ontogeneſis oder die individuelle Entwickelung der Asei— die (A) und des Amphioxus (B) in fünf verſchiedenen Stadien dar (1—5). Fig. 1 iſt das Ei, eine einfache Zelle wie das Ei des Menſchen und aller anderen Thiere (Fig. A 1 das Ei der Seeſcheide, Fig. B 1 das Ei des Lanzetthieres). Die eigentliche Zellſubſtanz oder das Protoplasma der Eizelle (2), der ſogenannte Ei— dotter, iſt von einer Hülle (Zellmembran oder Dotterhaut) umgeben, und ſchließt einen kugeligen Zellkern oder Nucleus (y), dieſer wiederum ein Kernkörperchen oder Nucleolus (x) ein. Wenn ſich das Ei zu entwickeln beginnt, zerfällt die Ei- zelle zunächſt in zwei Zellen. Indem ſich dieſe wiederum theilen, entſtehen zu— nächſt vier Zellen (Fig. A 2, B 2), und aus dieſen durch wiederholte Theilung acht Zellen (Fig. A 3, B 3). Zuletzt entſteht fo aus dem einfachen Ei ein kugeliger Haufe von Zellen (S. 170, Fig. 40, PD). Indem ſich im Inneren deſſelben Flüſſigkeit anſammelt, entſteht eine kugelige, von einer Zellenſchicht umſchloſſene Blaſe. An einer Stelle ihrer Oberfläche ſtülpt ſich dieſe Blaſe taſchenförmig ein (Fig. A 4, BA). Dieſe Einſtülpung iſt die Anlage des Darms, deſſen Höhle (d) ſich durch den proviſoriſchen Larvenmund (44) nach außen öffnet. Die Darmwand, welche zugleich Körperwand iſt, beſteht jetzt aus zwei Zellenſchichten („Keimblät⸗ tern“). Nun wächſt die kugelige Larve („Gaſtrula“, S. 443) in die Länge. Fig. 45 zeigt die Larve der Aseidie, Fig. B 5 diejenige des Amphioxus, von der linken Seite geſehen, in etwas weiterer Entwickelung. Die Darmhöhle (d 1) hat ſich ge- ſchloſſen. Die Rückenwand des Darms (d 2) iſt concav, die Bauchwand (d 3) cover gekrümmt. Oberhalb des Darmrohrs, auf deſſen Rückenſeite, hat ſich das 43 8 676 Anhang. Erklärung der Tafeln. Medullarrohr (g1), die Anlage des Rückenmarks, gebildet, deſſen Hohlraum jetzt noch vorn nach außen müdet (8 2). Zwiſchen Rückenmark und Darm iſt der Rückenſtrang oder die Chorda dorſalis (e) entftanden, die Axe des inneren Ske⸗ lets. Bei der Larve der Aseidie ſetzt ſich dieſe Chorda (e) in den langen Ruder- ſchwanz fort, ein Larvenorgan, welches ſpäter bei der Verwandlung abgeworfen wird. Jedoch giebt es auch jetzt noch einige ſehr kleine Ascidien (Appendieularia), welche ſich nicht verwandeln und feſtſetzen, ſondern zeitlebens mittelſt ihres Ruderſchwanzes frei im Meere umherſchwimmen. Die ontogenetiſchen Thatſachen, welche auf Taf. XII ſchematiſch dargeſtellt ſind, und welche erſt 1867 bekannt wurden, beanſpruchen die allergrößte Bedeutung und können in der That nicht hoch genug geſchätzt werden. Sie füllen die tiefe Kluft aus, welche in der Anſchauung der bisherigen Zoologie zwiſchen den Wirbelthieren und den ſogenannten „Wirbelloſen“ beſtand. Dieſe Kluft wurde allgemein für ſo bedeutend und für jo unausfüllbar gehalten, daß ſogar angeſehene und der Ent- wickelungstheorie nicht abgeneigte Zoologen darin eines der größten Hinderniſſe für dieſelbe erblickten. Indem nun die Ontogenie des Amphioxus und der Aseidie dieſes Hinderniß gänzlich aus dem Wege räumt, macht ſie es uns zum erſten Male möglich, den Stammbaum des Menſchen unter den Amphioxus hinab in den vielverzweigten Stamm der „wirbelloſen“ Würmer zu verfolgen, aus welchem auch die übrigen höheren Thierſtämme entſprungen ſind. Taf. XIV Gwiſchen S. 528 und 529). Einſtämmiger oder monophyletiſcher Stammbaum des Wirbelthierſtam⸗ mes, darſtellend die Hypotheſe von der gemeinſamen Abſtammung aller Wirbel- thiere und die geſchichtliche Entwickelung ihrer verſchiedenen Klaſſen während der paläontologiſchen Perioden der Erdgeſchichte (vergl. den XX. Vortrag, S. 502). Durch die horizontalen Linien ſind die (auf S. 344 angeführten) Perioden der or⸗ ganiſchen Erdgeſchichte angedeutet, während deren ſich die verſteinerungsführenden Erdſchichten ablagerten. Durch die vertikalen Linien ſind die Klaſſen und Unter⸗ klaſſen der Wirbelthiere von einander getrennt. Die baumförmig verzweigten Li⸗ nien geben durch ihre größere oder geringere Zahl und Dichtigkeit ungefähr den größeren oder geringeren Grad der Entwickelung, der Mannichfaltigkeit und Voll⸗ kommenheit an, den jede Klaſſe in jeder geologiſchen Periode vermuthlich erreicht hatte. Bei denjenigen Klaſſen, welche wegen der weichen Beſchaffenheit ihres Kör- pers keine verſteinerten Reſte hinterlaſſen konnten (namentlich bei den Prochordaten, Acranien, Monorrhinen und Dipneuſten) iſt der Lauf der Entwickelung hypothe⸗ tiſch angedeutet auf Grund derjenigen Beziehungen, welche zwiſchen den drei Schö⸗ pfungsurkunden der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Paläontologie exi⸗ ſtiren. Die wichtigſten Anhaltspunkte zur hypothetiſchen Ergänzung der paläonto⸗ Anhang. Erklärung der Tafeln. 677 logiſchen Lücken liefert hier, wie überall, das bio genetiſche Grundgeſetz, welches ſich auf den innigen Cauſalnexus zwiſchen der Ontogenie und Phylogenie ſtützt (vergl. S. 276 und 361, ſowie Taf. VIII XIII). Ueberall müſſen wir die individuelle Entwickelung als eine kurze und ſchnelle (durch die Geſetze der Vererbung verurſachte, durch die Geſetze der Anpaſſung aber abgeän⸗ derte) Wiederholung der paläontologiſchen Stammesentwickelung betrachten. Dieſer Satz iſt das „Ceterum censeo“ unſerer Entwickelungslehre. Die Angaben über das erſte Erſcheinen oder den Entſtehungszeitraum der ein⸗ zelnen Klaſſen und Unterklaſſen der Wirbelthiere find auf Taf. XIV (abgeſehen von den angeführten hypothetiſchen Ergänzungen) möglichſt ſtreng den paläontolo⸗ giſchen Thatſachen entnommen. Jedoch iſt zu bemerken, daß in Wirklichkeit die Entſtehung der meiſten Gruppen wahrſcheinlich um eine oder einige Perioden früher fällt, als uns heute die Verſteinerungen anzeigen. Ich ſtimme hierin mit den Anſichten Hurley 's überein, habe jedoch auf Taf. v und XIV hiervon abgeſe⸗ hen, um mich nicht zu ſehr von den paläontologiſchen Thatſachen zu entfernen. Die Zahlen haben folgende Bedeutung (vergl. dazu den XX. Vortrag und S. 512, 513). 1. Thieriſche Moneren. 2. Thieriſche Amoeben. 3. Amoeben⸗ gemeinden (Synamoebae). 4. Flimmerſchwärmer (Planaea). 5. Urdarmthiere (Gastraea). 6. Strudelwürmer (Tubellaria). 7. Mantelthiere (Tunicata). 8. Lan⸗ zetthier (Amphioxus). 9. Inger (Myxinoida). 10, Lampreten (Petromyzontia). 11. Unbekannte Uebergangsformen von den Unpaarnaſen zu den Urfiſchen. 12. Si⸗ luriſche Urfiſche (Onchus ete.). 13. Lebende Urfiſche (Haifiſche, Rochen, Chimären). 14. Aelteſte (ſiluriſche) Schmelzfiſche (Pteraspis). 15. Schildkrötenfiſche (Pamphracti). 16. Störfiſche (Sturiones). 17. Eckſchuppige Schmelzfiſche (Rhombiferi). 18. Kno⸗ chenhecht (Lepidosteus). 19. Flöſſelhecht (Polypterus). 20. Hohlgrätenfiſche (Coe- loscolopes). 21. Dichtgrätenfiſche Pyenoscolopes). 22. Kahlhecht (Amia). 23. Ur⸗ knochenfiſche (Thrissopida). 24. Knochenfiſche mit Luftgang der Schwimmblaſe (Physostomi). 25. Knochenfiſche ohne Luftgang der Schwimmblaſe (Physoclisti). 26. Unbekannte Zwiſchenformen zwiſchen Urfiſchen und Lurchfiſchen. 27. Cerato- dus. 27a. Ausgeſtorbener Ceratodus der Trias. 27b. Lebender auſtraliſcher Ce⸗ ratodus. 28. Afrikaniſche Lurchfiſche (Protopterus) und Amerikaniſche Lurchfiſche (Lepidosiren). 29. Unbekannte Zwiſchenformen zwiſchen Urfiſchen und Amphi⸗ bien. 30. Schmelzköpfe (Ganocephala). 31. Wickelzähner (Labyrinthodonta). 32. Blindwühlen (Caeciliae). 33. Kiemenlurche (Sozobranchia). 34. Schwanz⸗ lurche (Sozura). 35. Froſchlurche (Anura). 36. Gabeldorner oder Dichthakanthen (Proterosaurus). 37. Unbekannte Zwiſchenformen zwiſchen Amphibien und Protam⸗ nien. 38. Protamnien (gemeinſame Stammform aller Amnionthiere). 39. Stamm⸗ ſäuger (Promammalia). 40. Urſchleicher Proreptilia). 41. Fachzähner (Thecodon- tia). 42. Urdrachen (Simosauria). 43. Schlangendrachen (Plesiosauria). 44. Fiſch⸗ drachen (Ichtbyosauria). 45. Teleoſaurier (Amphicoela), 46. Steneoſaurier (Opi- 678 Anhang. Erklärung der Tafeln. sthocoela). 47. Alligatoren (Prosthocoela). 48. Fleiſchfreſſende Dinoſaurier (Har- pagosauria). 49. Pflanzenfreſſende Dinoſaurier (Therosauria). 50. Moſeleidechſen (Mosasauria). 51. Gemeinſame Stammform der Schlangen (Ophidia). 52. Hunds⸗ zähnige Schnabeleidechſen (Cynodontia). 53. Zahnloſe Schnabeleidechſen (Crypto- dontia). 54. Langſchwänzige Flugeidechſen (Rhamphorhynchi). 55. Kurzſchwän⸗ zige Flugeidechſen (Pterodactyli). 56. Landſchildkröten (Chersita). 57. Vogelſchlei⸗ cher (Tocornithes): Zwiſchenformen zwiſchen Reptilien und Vögeln. 58. Urgreif (Archaeopteryx), 59. Waſſerſchnabelthier (Ornithorhynchus). 60. Landſchnabel⸗ thier (Echidna).. 61. Unbekannte Zwiſchenformen zwiſchen Gabelthieren und Beu— telthieren. 62. Unbekannte Zwiſchenformen zwiſchen Beutelthieren und Placental⸗ thieren. 63. Zottenplacentner (Villiplacentalia). 64. Gürtelplacentner (Zonopla- centalia). 65. Scheibenplacentner (Discoplacentalia). 66. Der Menſch (Homo pithecogenes, von Linné irrthümlich Homo sapiens genannt). Taf. XV (am Ende des Buches). Hypothetiſche Skizze des monophyletiſchen Urſprungs und der Verbrei⸗ tung der zwölf Menſchen-Species von Lemurien aus über die Erde. Selbſt⸗ verſtändlich beanſprucht die hier graphiſch ſkizzirte Hypotheſe nur einen ganz proviſoriſchen Werth und hat lediglich den Zweck, zu zeigen, wie man ſich bei dem gegenwärtigen unvollkommenen Zuſtande unſerer anthropologiſchen Kennt⸗ niſſe die Ausſtrahlung der Menſchenarten von einer einzigen Urheimath aus un- gefähr denken kann. Als wahrſcheinliche Urheimath oder „Paradies“ iſt hier Lemurien angenommen, ein gegenwärtig unter den Spiegel des indiſchen Oceans verſunkener tropiſcher Continent, deſſen frühere Exiſtenz in der Tertiärzeit durch zahlreiche Thatſachen der Thier- und Pflanzengeographie ſehr wahrſcheinlich gemacht wird (vergl. S. 321 und 619). Indeſſen iſt es auch ſehr möglich, daß die hypo- thetiſche „Wiege des Menſchengeſchlechts“ weiter öſtlich (in Hinter- oder Vorder⸗ Indien) oder weiter weſtlich (im öſtlichen Afrika) lag. Künftige, namentlich ver- gleichend-anthropologiſche und paläontologiſche Forſchungen werden uns hoffentlich in den Stand ſetzen, die vermuthliche Lage der menſchlichen Urheimath genauer zu beſtimmen, als es gegenwärtig möglich iſt. f Wenn man unſerer monophyletiſchen Hypotheſe die polyphyletiſche vorzieht und annimmt, daß die verſchiedenen Menſchenarten aus mehreren verſchiedenen anthropoiden Affenarten durch allmähliche Vervollkommnung entſtanden ſind, ſo ſcheint unter den vielen, hier möglichen Hypotheſen am meiſten Vertrauen dieje⸗ nige zu verdienen, welche eine zweifache pithekoide Wurzel des Men- ſchengeſchlechts annimmt, eine aſiatiſche und eine afrikaniſche Wurzel. Es iſt nämlich eine ſehr bemerkenswerthe Thatſache, daß die afrikaniſchen Men- ſchenaffen (Gorilla und Schimpanſe) ſich durch eine entſchieden langköpfige oder dolichocephale Schädelform auszeichnen, ebenſo wie die Afrika eigen- Anhang. Erklärung der Tafeln. 679 thümlichen Menſchenarten (Hottentotten, Kaffern, Neger, Nubier). Auf der anderen Seite ftimmen die aſiatiſchen Menſchenaffen linsbeſondere der kleine und große Orang) durch ihre deutlich kurzköpfige oder brachycephale Schädelform mit den vorzugsweiſe für Aſien bezeichnenden Menſchen— arten (Mongolen und Malayen) überein. Man könnte daher wohl verſucht ſein, dieſe letzteren (aſiatiſche Menſchenaffen und Urmenſchen) von einer gemeinſamen brachycephalen Affenform, die erſteren dagegen (afrikaniſche Menſchenaffen und Ur- menſchen) von einer gemeinſamen dolichocephalen Affenform abzuleiten. Auf jeden Fall bleiben das tropiſche Afrika und das ſüdliche Aſien (und zwi— ſchen beiden möglicherweiſe das ſie früher verbindende Lemurien?) diejenigen Theile der Erde, welche bei der Frage von der Urheimath des Menſchengeſchlechts vor allen anderen in Betracht kommen. Entſchieden ausgeſchloſſen ſind bei dieſer Frage dagegen Amerika und Auſtralien. Auch Europa (welches übrigens nur eine be- günſtigte weſtliche Halbinſel von Aſien iſt) beſitzt ſchwerlich für die „Paradies⸗ Frage“ Bedeutung. Daß die Wanderungen der verſchiedenen Menſchenarten von ihrer Urheimath aus und ihre geographiſche Verbreitung auf unſerer Taf. XV nur ganz im Allge- meinen und in den gröbſten Zügen angedeutet werden konnten, verſteht ſich von ſelbſt. Die zahlreichen Kreuz- und Querwanderungen der vielen Zweige und Stämme, ſowie ihre oft ſehr einflußreichen Rückwanderungen mußten dabei gänzlich unberückſichtigt bleiben. Um dieſe einigermaßen klar darzuſtellen, müßten erſtens unſere Kenntniſſe viel vollſtändiger ſein und zweitens ein ganzer Atlas mit vielen verſchiedenen Migrations-Tafeln angewendet werden. Unſere Taf. XV beanſprucht weiter Nichts, als ganz im Allgemeinen die ungefähre geographiſche Verbreitung der 12 Menſchenarten ſo anzudeuten, wie ſie im fünfzehnten Jahrhundert (vor der allgemeinen Ausbreitung der indogermaniſchen Raſſe) beſtand, und wie ſie ſich ungefähr mit unſerer Deſcendenzhypotheſe in Einklang bringen läßt. Auf die geo- graphiſchen Verbreitungsſchranken (Gebirge, Wüſten, Flüſſe, Meerengen u. ſ. w.) brauchte bei dieſer allgemeinen Migrationsſkizze im Einzelnen um ſo weniger ängſt⸗ liche Rückſicht genommen zu werden, als dieſe in früheren Perioden der Erdge- ſchichte ganz andere Größen und Formen hatten. Wenn die allmähliche Umbil⸗ dung von katarrhinen Affen in pithekoide Menſchen während der Tertiärzeit wirk⸗ lich in dem hypothetiſchen Lemurien ſtattfand, ſo müſſen auch zu jener Zeit die Grenzen und Formen der heutigen Continente und Meere ganz andere geweſen fein. Auch der ſehr mächtige Einfluß der Eiszeit wird für die chorologiſchen Fra- gen von der Wanderung und Verbreitung der Menſchenarten große Bedeutung bean⸗ ſpruchen, obwohl er ſich im Einzelnen noch nicht näher beſtimmen läßt. Ich ver⸗ wahre mich alſo hier, wie bei meinen anderen Entwickelungshypotheſen, ausdrück⸗ lich gegen jede dogmatiſche Deutung; ſie ſind weiter nichts als erſte Verſuche. Rewer Abänderung 197. Abeſſinier 617, 624. Acoelomen 463, 465. Acranien 506, 512, 584. Acyttarien 377, 387. Adaptation 197. Aethiopier 617, 624. Affen 545, 570. Affenmenſchen 590, 597. Agaſſiz (Louis) 56, 62, 64. Ahnenreihe des Menſchen 578, 592. Akalephen 457, 460. Algen 404, 406. Altajer 605, 612. Alluvial-Syſtem 345. Amerikaner 604, 613. Amnionloſe 512, 517. Amnionthiere 512, 526. Amnioten 512, 526. Amoeben 379, 579. Amoeboiden 379. Amphibien 517, 523. Amphioxen 508, 584. Amphirrhinen 511, 513. Anamnien 512, 517. Angioſpermen 404, 430. Anneliden 465, 466. Anorgane 5, 291. Anorganologie 5. Anpaſſung 81, 139, 197. — abweichende 221. — actuelle 202, 207. — allgemeine 207. Anpaſſung, correlative 216. — cumulative 209. — directe 202, 207. — divergente 221. — gehäufte 209. — geſchlechtliche 205. — indirecte 201, 204. — individuelle 204. — mittelbare 201, 204. — monſtröſe 205. — potentielle 201, 204. — ſexuelle 205. — ſprungweiſe 205. — unbeſchränkte 223. — unendliche 223. — univerſelle 207. — unmittelbare 202, 207. — wechſelbezügliche 216. Anpaſſungsgeſetze 203. Anthozoen 458. Anthropocentriſche Weltanſchauung 35. Anthropoiden 571, 575, 590. Anthropolithiſches Zeitalter 344, 347. Anthropologie 7. Anthropomorphismus 17, 60. Araber 617, 624. Arachniden 492, 494. Arbeitstheilung 241, 251, 456. Archezoen 448, 450. Archigonie 164, 301. Archolithiſches Zeitalter 340, 344. Arier 617, 625. Ariſtoteles 50, 69. Art 37, 244, 601. Arthropoden 448, 484, Articulaten 437. Ascidien 466, 510. Asconen 457. Aſteriden 478, 480. Atavismus 186. Auſtralier 604, 609. Autogonie 302. Bär (Carl Ernſt) 96. Bär's Abſtammungslehre 97. — Entwickelungsgeſchichte 262. — Thiertypen 48, 436. Basken 616. Baſtarde 130, 189, 245. Baſtardzeugung 41, 189, 245. Bathybius 165, 306, 379. Berber 617, 624. Beutelherzen 509. Beutelthiere 540, 543, 588. Beutler 540. Bevölkerungszahlen 626. Bildnerinnen 308. Bildungstriebe 80, 226, 300. Biogenetiſches Grundgeſetz 276, 361. Biologie 5. Blumenloſe 402, 404. Blumenpflanzen 404, 427. Blumenthiere 458. Brachiopoden 471. Bruno (Giordano) 21, 64. Bruſtloſe 538, 540. Bryozoen 464, 466. Buch (Leopold) 95. Büchner (Louis) 98. Büſchelhaarige Menſchen 603, 626. Ealcifpongien 456, 460. Cambriſches Syſtem 340, 345. Carboniſches Syſtem 342, 345. Carus (Victor) 97. Cauſale Weltanſchauung 16, 67. Chamiſſo (Adalbert) 185. Chineſen 605, 611. Chorologie 312. Cenolithiſches Zeitalter 344, 346. Regiſter. Cephalopoden 473, 474. Cochliden 473, 474. Coelenteraten 452, 460. Coelomaten 463, 465. Coniferen 404, 429. Cormophyten 403. Correlation der Theile 196. Crinoiden 480, 483. Cruſtaceen 486, 488. Ctenophoren 452, 456. Cuvier (George) 46. Cuvier's Kataklysmentheorie 53. — Paläontologie 49. — Revolutionslehre 53. — Schöpfungsgeſchichte 54. — Speciesbegriff 46. — Streit mit Geoffroy 78. — Thierſyſtem 48. — Thiertypen 48, 436. Cycadeen 404, 429. Cycloſtomen 511, 512. Cytoden 308. Darwin (Charles) 117. Darwinismus 133. Darwin's Korallentheorie 118. — Leben 117. — Reiſe 117. — Gelectionstheorie 133. — Taubenſtudium 125. — Züchtungslehre 133. Darwin (Erasmus) 105. Deciduathiere 544, 557. Decidualoſe 544, 550. Deckſamige 404, 430. Deduction 77, 647. Demokritus 21. Denken 654. Devoniſches Syſtem 342, 345. Diatomeen 377, 385. Dicke der Erdrinde 349. Dicotylen 404, 431. Differenzirung 241, 253. Diluvial⸗Syſtem 345. Dipneuſten 512, 520. Divergenz 241. . Drachen 532. 681 682 Dravida 604, 614. Dualiſtiſche Weltanſchauung 19, 67. Dysteleologie 14, 644. Echiniden 480, 484. Echinodermen 476, 480. Egypter 617, 624. Ei des Menſchen 170, 265, 579. Eidechſen 530. Eier 170, 178. Eifurchung (Eitheilung) 170, 266, 580. Einheit der Natur 20, 301. Einheitliche Abſtammungshypotheſe 371. Einkeimblättrige 404, 431. Eiszeit 324, 348. Eithiere 448, 450. Eiweiskörper 294. Elephant 559. Empirie 71, 640. Endurſache 20, 31. Eocen-Syſtem 345, 346. Erbadel 161. Erblichkeit 158. Erbſünde 161. Erbweisheit 161. Erkenntniſſe apoſteriori 29, 636. — apriori 29, 636. Erklärung der Erſcheinungen 28. Ernährung 199. Eſtrellen 476. Fadenpflanzen 404, 414. Farne 420, 464. Filieinen 404, 421. Finnen 605, 612. Fiſche 515, 516. Flagellaten 377, 382. Flechten 404, 416. Flederthiere 544, 563. Flimmerkugeln 383. Flimmerſchwärmer 442, 444. Flugeidechſen 530, 531. Fortpflanzung 164. amphigone 175. geſchlechtliche 175. jungfräuliche 177. monogone 164. Regiſter. Fortpflanzung, ſexuelle 175. — ungeſchlechtliche 164. Fortſchritt 247, 252. Freke 106. Fulater 604, 615. Gaſträa 444, 445. Gaſträaden 452, 581. Gaſtrula 443, 444, Gattung 37. Gegenbaur 278, 491, 503. Gehirnentwickelung 270. Geiſt 20, 650. Geiſtige Entwickelung 635, 650. Geißelſchwärmer 377, 382. Gemmation 172. Generationswechſel 187, 482. Genus 37. Geocentriſche Weltanſchauung 35. Geoffroy S. Hilaire 77, 103. Germanen 617, 625. Geſchlechtstrennung 176. Geſtaltungskräfte 80, 300. Gibbon 570, 576. Glauben 8, 628. Gliederthiere 448, 484. Gliedfüßer 485. Goethe (Wolfgang) 73. Goethe's Abſtammungslehre 82. — Bildungstriebe 82, 226. — Biologie 80. — Entwickelungslehre 82. — Gottesidee 64. k — Materialismus 20, 651, — Metamorphoſe 81. — Naturanſchauung 20. — Naturforſchung 73. — Naturphiloſophie 73. — Pflanzenmetamorphoſe 74. — Specifikationstrieb 81. — Wirbeltheorie 75. — Zdwiſchenkieferfund 76. Gonochorismus 176. Gonochoriſtus 176. Gorilla 570, 575. Gottesvorſtellung 64. Grant 106. Regiſter. 683 Gregarinen 448, 451. Kaut's Abſtammungslehre 93. Griechen 617, 625. — Erdbildungstheorie 92. Gymnoſpermen 404, 428. — Entwickelungstheorie 285. — Kritik der Urtheilskraft 91. Halbaffen 544, 558, 589. — Mechanismus 34, 91. Haliſaurier 512, 521. — Naturphiloſophie 90. Haſenkaninchen 131, 245. Katallakten 377, 384. Hausthiere 122. Katarrhinen 570, 573. Heliozoen 389. 5 Kaukaſier 615, 616. Herbert 105. Keimknospenbildung 173. Heredität 158. Keimzellenbildung 174. Hermaphroditismus 176. Kiemenbogen des Menſchen 274. Hermaphroditus 176. Kiemenkerfe 486, 488. Herſchel's Kosmogenie 285. Kieſelzellen 377, 385. Himategen 583, 592. Klima⸗Wechſel 323. Hirnblaſen des Menjchen 271. Kloakenthiere 539, 543. Holothurien 480, 484. Hooker 106. Knochenfiſche 516, 519. Knospenbildung 172. Hottentotten 607, 626. Kohlenſtoff 293, 299. Hülleytoden 308. Kohlenſtofftheorie 298. Hüllzellen 308. Koreo-Sapaner 605, 612. Hufthiere 552, 554. Kosmogenie 285. ; Huxley 106, 130, 568. Kosmologiſche Gastheorie 287. Hybridismus 189, 245. Kopernikus 35. Hydromeduſen 458, 460. Korallen 458, 460. Kracken 473, 474. Japaneſen 605, 612. Krebſe 486, 488. Individuelle Entwickelung 261. Kreide-Syſtem 343, 345. Indochineſen 605, 612. Krocodile 530. Indogermanen 617, 625. Kruſtenthiere 486, 488. Induction 77, 647. Kryptogamen 402, 404. Infuſionsthiere 448, 451. Kulturpflanzen 122. Infuſorien 448, 451. Inophyten 404, 414. Labyrinthläufer 377, 384. Inſekten 494, 496. Labyrinthuleen 377, 384. Inſektenfreſſer 545, 561. Lamarck (Jean) 98. Inſtinkt 635. Lamarck's Abſtammungslehre 100. Iraner 617, 624. — Anthropologie 102, 565. Juden 617, 624. — Naturphiloſophie 99. Jura-Syſtem 343, 345. Lamarckismus 134. Lamellibranchien 472, 474. Kaffern 607, 626. Lanzetthiere 508, 512. Kalkſchwämme 456, 460. Laplace's Kosmogenie 285. Kammerweſen 387. Laurentiſches Syſtem 340, 345. Kammquallen 459, 460. Lebenskraft 20, 297. Kampf um's Daſein 143, 225. Lemurien 321, 619. Kant (Immanuel) 89. Leonardo da Vinci 51, 684 Regiſter. Leptocardier 506, 512. Leuconen 457. Linne (Carl) 36. Linné's Artenbenennung 37. — Pflanzenklaſſen 401. — Schöpfungsgeſchichte 40. — Speciesbegriff 37. — Syſtem 36. — Thierklaſſen 436. Lockenhaarige Menſchen 606, 626. Lurche 512, 523. Lurchfiſche 512, 520. Lyell (Charles) 112. Lyell's Schöpfungsgeſchichte 114. Magyaren 605, 612. Malayen 604, 610. Malthus' Bevölkerungstheorie 143. Mammalien 536, 545. Mantelthiere 466, 510. Marſupialien 540, 543, 588. Materialismus 32. Materie 20, 651. Mechaniſche Urſachen 31, 67. Mechaniſche Weltanſchauung 16, 67. Mechanismus 34, 91. Meduſen 458, 460. Menſchenaffen 571, 575. Menſchenarten 593, 604. Menſchenraſſen 593, 601, 604. Menſchenſeele 651. Menſchenſpecies 593, 604. Meſolithiſches Zeitalter 344, 350. Metageneſis 185. Metamorphismus der Erdſchichten 354. Metamorphoſe 81. Migrationsgeſetz 331. Migrationstheorie 326. Miocen-Syſtem 345, 346. Mittelländer 604, 615. Mollusken 469, 474. Moneren 165, 305, 378, 578. Monerula 441, 444. Mongolen 604, 611. Monismus 32. Moniſtiſche Weltanſchauung 19, 67. Monocotylen 404, 431. Monoglottonen 621, 626. Monogonie 164. Monophyleten 371, 599. Monophyletiſche Deſcendenzhypotheſe 371. Monorrhinen 511, 512. Monoſporogonie 174. Monotremen 539, 543. Morphologie 20. Morula 442, 444. Moſe 404, 419. Moſes' Schöpfungsgeſchichte 34. Mosthiere 464, 466. Muſcheln 472, 474. Müller (Fritz) 45, 66, 486. Müller (Johannes) 278, 511. Muscinen 404, 419. Myriapoden 493, 494. Myxomyceten 377, 385. Nacktſamige 404, 428. Nadelhölzer 404, 429. Nagethiere 545, 559. Naturphiloſophie 70. Neger 608, 626. Nematelminthen 464, 466. Neſſelthiere 457, 460. Newton 23, 94. Nichtzwitter 176. Nubier 604, 614. Oecologie 645. Oken (Lorenz) 86. Oken's Entwickelungsgeſchichte 262. — Infuſorientheorie 87. — Naturphiloſophie 86. — Urſchleimtheorie 86. Olynthus 456. Ontogeneſis 261. Ontogenie 9, 361. Orang 571, 576. Organe 5. Organismen 5, 291. Ovularien 448, 450. Paarnaſen 511, 513. Paläolithiſches Zeitalter 342, 344. Paläontologie 49. Regiſter. Paliſſy 52. Palmfarne 404, 429. Pander (Chriſtian) 262. Papua 606, 626. Paradies 619. Parallelismus der Entwickelung 279. Parthenogeneſis 177. Permiſches Syſtem 342, 345. Petrefacten 50. Pflanzenthiere 460. Phanerogamen 404, 427. Philoſophie 71, 640. Phylogenie 10, 361. Phylogeneſis 261. Phylum 370. Phyſiologie 20. Pilze 404, 415. Pithekoidentheorie 646. Placentalien 544, 548. Placentalthiere 544, 548. Placentner 544, 548. Planäa 442, 444, Planäaden 452, 580. Planula 443, 452, 580. Plasma 166, 294. Plasmogonie 302. Plaſtiden 308. Plaſtidentheorie 294, 309. Plattnaſige Affen 570, 573. Plattwürmer 463, 464. Platyelminthen 463, 464. Platyrrhinen 570, 573. Pleiſtocen⸗-Syſtem 345, 346. Pliocen⸗Syſtem 345, 346. Polarmenſchen 604, 612. Polyglottonen 620, 626. Polypenquallen 458, 460. Polyſporogonie 173. Polyphyleten 371, 599. Polyphyletiſche Deſcendenzhypotheſe 372. Polypen 459. Polyneſier 604, 610. Poriferen 454, 460. Primärzeit 342, 344. Primordialzeit 340, 344. Prochordaten 578. Promammalien 543, 588. Protamnien 587, 592. Protamoeben 378. Prothallophyten 403, 417. Prothalluspflanzen 403, 417. Protiſten 375. Protophyten 404, 407. Protoplasma 166, 294. Protoplaſten 377, 379. Protozoen 438, 448, 450. Radiaten 437, 438. Radiolarien 296, 329, 389. Räderthiere 464, 466. Raſſen 247. Raubthiere 544, 461. Recent⸗Syſtem 345. Reptilien 529, 531. Rhizopoden 377, 385. Ringelwürmer 464, 466. Rohrherzen 506, 512. Romanen 617, 625. Rotatorien 464, 466. Rudimentäre Augen 13, 255. — Beine 13. — Flügel 256. — Griffel 14. — Lungen 257. — Milchdrüſen 258. — Muskeln 12. — Nickhaut 12. — Organe 11, 255. — Schwänze 258. — Staubfäden 14. — Zähne 11. Rückſchlag 186, 441, 579. Rundmäuler 511, 512. Rundwürmer 464, 466. Sackwürmer 583, 592. Säugethiere 536, 545. Saurier 529. Schaaffhauſen 98. Schädelloſe 506, 512, 584. Schädelthiere 507, 512. Scheinhufthiere 544, 559. Schildkröten 530. Schimpanſe 570, 575. 686 Schirmquallen 458, 460. Schlangen 530. Schleicher 529, 531. Schleicher (Auguſt) 96, 598. Schleiden (J. M.) 97. Schleimpilze 377, 385. Schlichthaarige Menſchen 605, 609. Schmalnaſige Affen 570, 573. Schmelzfiſche 516, 518. Schnabelreptilien 531, 532. Schnabelthiere 538, 543. Schnecken 473, 474. Schöpfer 58, 64. Schöpfung 7. Schöpfungsmittelpunkt 313. Schwämme 454, 460. Schwanz des Menſchen 258, 274. Scoleciden 582, 592, Secundärzeit 344, 350. Seedrachen 512, 521. Seeigel 480, 494. Seele 64, 635, 652. Seelilien 480, 483. Seeſterne 478, 480. Seewalzen 480, 484. Selbſttheilung 171. Semiten 617, 624. Sexualcharaktere 188, 237. Siluriſches Syſtem 340, 345. Slaven 617, 625. Sonnenweſen 389. Species 37, 244, 601. Specifiſche Entwickelung 277. Spencer (Herbert) 106, 657. Sperma 176, Spielarten 247. Spirobranchien 471, 474. Spinnen 492, 494. Spongien 454, 460. Sporenbildung 174. Sporogonie 174. Stamm 370. Stammbaum der — Affen 571. — Amphibien 517. — Anamnien 517. — Araber 624. Regiſter. Stammbaum der — Arachniden 495. — Arier 625. — Arthropoden 489, 495. — Catarrhinen 571. — Coelenteraten 461. — Cruſtaceen 489. — Echinodermen 481, — Egypter 624. — Fiſche 517. — Germanen 625. — Gliederthiere 489, 495. — Gräcoromanen 625. — Hamiten 624. — Hufthiere 555. — Indogermanen 625. — Inſecten 495. — Juden 624. — Krebſe 489. — Mammalien 545. — Menſchenarten 605, 626, — Menſchengeſchlechts 571, 578. — Menſchenraſſen 605. — Mollusken 475. — Organismus 398, 399. — Pflanzen 405. — Pflanzenthiere 461. — Platyrrhinen 571. — Säugethiere 545. — Semiten 624. — Slaven 625. — Spinnen 495. — Sternthiere 481. — Thiere 449. — Tracheaten 495. — Ungulaten 555. — Vertebraten 513. — Weichthiere 475. — Wirbelthiere 513. — Würmer 465. — Zoophyten 461. Stammſäuger 538, 543. Steinkohlen-Syſtem 342, 345. Sternthiere 476, 480. Sternwürmer 464, 466. Stockpflanzen 403. Straffhaarige Menſchen 606, 626. Strahlthiere 437, 438. Strahlweſen 389. Strudelwürmer 463, 581. Syconen 457. Synamoeben 442, 579. Syſtem der — Affen 570. — Arachniden 494. — Arthropoden 488, 494. — Beutelthiere 543. — Catarrhinen 570. — Coelenteraten 460. — Cruſtaceen 488. — Didelphien 543. — Echinodermen 480. — Erdſchichten 345. — Fiſche 516. — Formationen 345. — Geſchichtsperioden 344. — Gliederthiere 488, 494. — Hufthiere 554. — Inſecten 494, 501. — Krebſe 488. — Mammalien 543, 544. — Marſupialien 543. — Menſchenarten 604. — Menſchenraſſen 604. — Menſchenvorfahren 592. — Monodelphien 544. — Mollusken 474. — Pflanzen 404. — Pflanzenthiere 460. — Placentalthiere 544. — Placentner 544. — Platyrrhinen 570. — Protiſten 377. — Reptilien 531. — Säugethiere 543, 544. — Schleicher 531. — Spinnen 494. — Sternthiere 480. — Thiere 448. — Tracheaten 494. — Ungulaten 554. — Vertebraten 512. — Weichthiere 474. — Wirbelthiere 512. Regiſter. Syſtem der — Würmer 464, — Zeiträume 344. — Zoophyten 460. Syſtematiſche Entwickelung 277. Taſcheln 471, 474. Tange 404, 406. Tataren 605, 612. Tauſendfüßer 493, 494. Teleologie 89, 259. 687 Teleologiſche Weltanſchauung 19, 67. Tertiärzeit 344, 346. Thallophyten 403, 404. Thalluspflanzen 403, 404. Thierſeele 635, 652. Tokogonie 164. Tracheaten 490, 494. Transmutationstheorie 4. Treviranus 83. Trias⸗Syſtem 343, 345. Turbellarien 463, 581. Türken 605, 612. Tunicaten 466, 510. Uebergangsformen 631. Umbildungslehre 4. Unger (Franz) 97. Ungulaten 552, 554. Unpaarnaſen 511, 512, 584. Unzweckmäßigkeit der Natur 18. Unzweckmäßigkeitslehre 14, 644. Uralier 605, 612. Uramnioten 587, 592. Urcytoden 308. Urfiſche 515, 585. Urgeſchichte des Menſchen 595. Urmenſchen 620. Urpflanzen 404, 407. Urſprung der Sprache 598, 620. Urtange 404, 407. Urthiere 438, 448, 450. Urweſen 375. Urzellen 308. Urzeugung 301, 369. Variabilität 197. 688 Bariation 197. Varietäten 247. Veränderlichkeit 197. Vererbung 157, 182. — abgekürzte 190. — amphigone 188. — angepaßte 191. — befeſtigte 194. — beiderſeitige 18. — conſervative 183. — conſtituirte 194. — continuirliche 184. — erhaltende 183. — erworbene 191. — fortſchreitende 191. — gemiſchte 188. — geſchlechtliche 187. — gleichörtliche 195. — gleichzeitliche 194. — homochrone 194. — homotope 195. — latente 184. — progreſſive 191. — ſexuelle 187. — unterbrochene 184. — ununterbrochene 184. — vereinfachte 190. Vererbungsgeſetze 182. Vermenſchlichung 17, 60. Verſteinerungen 50. Vertebraten 505, 512. Vervollkommnung 247, 253. Vielheitliche Abſtammungshypotheſe 372. Vitaliſtiſche Weltanſchauung 16, 67. Vließhaarige Menſchen 603, 626. Vögel 512, 532. Vorfahren des Menſchen 578, 592. Wagner (Moritz) 328. Wagner (Andreas) 123. Wallace (Alfred) 121. Wallace's Chorologie 321, 332. Wallace's Selectionstheorie 121. Walthiere 544, 556. Regiſter. Wanderungen der Menſchenarten 618. Wanderungen der Organismen 314. Wechſelbeziehung der Theile 216, 220. Weichthiere 469, 474. Weichwürmer 582, 592. Wells’ Selectionstheorie 134. Willensfreiheit 100, 212, 654. Wimperinfuſorien 451. Wirbelloſe 436, 505. Wirbelthiere 500, 512. Wiſſen 8, 628. Wolff's Entwickelungstheorie 262. Wollhaarige Menſchen 603, 605. Wunder 20. Wurzelfüßer 377, 385. Würmer 462, 464. Zahl der Bevölkerung 626. Zahnarme 544, 557. Zellen 168. Zellenbildung 307. Zellenkern 168. Zellentheilung 169. Zellentheorie 307. Zellhaut 168. Zellſtoff 168. Zeugung 164, 301. Zoophyten 452, 460. Züchtung, äſthetiſche 240. — geſchlechtliche 236. — gleichfarbige 235. — künſtliche 136, 152, 227. — mediciniſche 155. — militäriſche 153. — muſikaliſche 238. — natürliche 151, 225. — pſychiſche 240. — ſexuelle 236. — ſpartaniſche 152. Zweckmäßigkeit der Natur 17. Zweckthätige Urſachen 31, 67. Zweikeimblättrige 404, 431. Zwitter 176. Zwitterbildung 176. Druck von Fr. Fromm ann in Jena. % „ a 1 Pr” a 0 8 - RE „ i v . Em ns Et 7 * 4 9 * E = — — 4 . * Haeckel, Nat Schopfungsgeschichte 4. Aufl. VATER + i A m 8 * — - | g 2 5 Erste herrschende Menschen Art: ER _ Zweite herrschende Menschen-Art : Mittelländer (12 %m vier Rassen: 10 50750 ; N Mongolen (T) nut vier Rassen: 12% Semiten, 127 Basken, TeJndochinesen, I Koregjapaner, 12. Aaukasier 1Bindogermanen.. T° Altajer, I Uralier. 3 Finnen SH 1 | N 100 | S 0 Er 7 il 90 25 N ilbperboracer Norllicher EN D cp ee A Naar 8 | INA SER 1 7 1 Arlutiker \ 7 . v } ee - \ 175 \ 0% e \ ede ö ⸗ lantı 5 \ TUE ERROR SSL 1109 all) N 7 DE Atlantischer : III RR N © | er Dean. N RÄT 5 N N UN 000 ” e N 8 2 N \ \ N il IN bee. __Wendekreis Nes Nebses , 3 . N 2% A 2 2 N arianen-J. 2 6 e 9 98 9 RR 8 2 Sl h Er * e J BIZER — a 55 6755 e Me ? (entral-Amerikaner CarolinenJ. = Marschalls-J. ER . N NEN 3 Auinea-Neger. 2 N =: ER 2 . — ; Mulgraves . E J. Neddxox Ze Phoenix J = = Narguesas . Süud-Pacifischer Ocean. Hypothetische Skizze des monophyletischen Ursprungs und der Verbreitung der 12 Menschen -Spectes von Lemurten. aus über dis Erde . ei 1 * 7 > \ 3 5 1 £ Er 1 . 5 — 8 1 u * v a 5 * 9 ? / N 12 5 / * r — } „ > . 1 0 ER a . 1 1 8 * n. 2 4 . & 05 3 4 . — en ne „ 8 . N 1 5 « U * 2 88 . 5 4 W « a Pe NETT VA nnn Nenner r - 2 h — = > — a — je 5) N a 110 1 1 5 N IT. „ FE = ai = =: I I — — . 0.00 909