t'fnwmwwws^w^wKrsjfflwmiwHwnffwwW' NmiRWISSENSCH WOCHENSCHRIFT ,GE 8 JT I ! HERAUSGEGEBEN VON » \ DI H-PCTTONIE UND D^FKOERBER i Hy3.-VRRL "^ .-■'. i' s r^' rA\- nSCHEK' «MM>fi£s»e»>«us«»w. Bienenvölkern (Orig.l 300/301. Diagramm der Brechungsexponenten der wichtigsten Gase für verschiedene Wellenlängen. 17]. Diagramme zur Wetter -Monatsübersicht (Orig.) 62, 124, 184, 270, 334/335, 398, 477/47«, 540, 606, 683, 749, Sj2, 813. Digitalis purpurea (alte Abb.) 197. Diplodocus. 92, 797. Dretsche. 178. Echiniscoides-Larve (Orig.') 331. Echiniscoidcs Sigismundi (Orig.) 330. Ehrensaal des Deu'.schcn Museums. 647. Eichenblätter, von .Ameisen zerschnitten (Orig.) 824. Regenerierte Eidechsenschwänze. 607/60S. Eisberg von der Belle-lsle-Straße (Orig.) 225. Erbsenstein (Orig.) 692. Enrycorypha. 216. Kärtchen des Erdbebens von Norditalien, Januar 1909 (Orig.) 206. Exkursionsmikroskop. 178. Kernie, eine abgebrannte .Stadt Canadas (Orig.) 226. Feuersteinwerkzeuge von Le Moustier (Orig.) 328. Flechten, nutzbare (Orig.) 67, 69. Forellenauge, Horizontalschnitt, mit Linsen- regeneration. 13. Forellenauge, Frontalschnitt mit voll- ständig regenerierter Linse. 14. Formiconius. 217. Formica sanguinea (Orig.) 401. Frostkrebs an der Kiefer. 31=;. Garten, sein Anfangsstadium im fernen Westen (Orig.) 230. Gasausbruch am Stromboli. 340. Gcschlechtsapparate von Lymantria dispar (Orig.) 546/552. Glycyphagus domesticus. 767. Grashochland Kameruns (Orig.) ^ 16/5 17. Grotte von Le Moustier (Orig.) 324. Halechiniscus-Bein (Orig.) 332. Halcchiniscus Guiteli (Orig.) 331. Halley'scher Komet, seine Bahn (Orig.) 60. Hausmilbe. 783. Heideboden-Kiefer. 315. Holzdrift in Canada (Orig.) 246. Ichthyosauren (Orig.) 89, 90. Karten mit Isogonen, -klincn u. -dynamen (Orig.) 484. Ithyphalius impudicus. 471. Jasminium officinale falte Abb.) 197. Jüttner „Böcklins .Atelier" zum Artikel Baerwald : Selbsttätigkeit u. Icliliebc. 305- Kalkgestcine u. Kristalle (Orig.) 690/693. Kalkspatkristalle (Orig.) 690. Karte der russ. Polarfahrt der Sarja. 649. Karte des nördl. Arizona. 801. „Kohlrabi-Häufchen" aus dem Pilzgarten der Blattschneiderameisen (Orig.) ^825. Komet Morehouse. 73. Kribbelmilbe (Laelaps marg.) 751/752. Küche in einem Camp (Orig.) 2_'9. Landschaft während eines vulkanischen Aschenfalls. 340. Libelle. 5JI. Libellenlarve. 511. Lichenes, nutzbare (Orig.) 67, 69. Lichttelegraphie im 17. Jahrhundert. 616. Lohkranke Wurzel, Anatomisches. 313. Lohkranker Zweig. 313, 314. Luftpumpe mit Motor. 642. Lymantria dispar (Orig.) 545. Mangoblätter, ganz und von Ameisen zer- schnitten (Orig.) 823. Menschenschädcl von Le Moustier in situ (Orig.) 325/327- Menschenschädclteile von Le Moustier (Orig.) 325/328. Meerweibchen. 140/141. Meteorkrater in Arizona. 802/806. Mirperus. 217. Monocütylen der Drachenbaumform , ihre Stamm-Anatomie (Orig.) 493. Monograptus turriculatus (Orig.) 414. Morley, ein Ort in Canada (Orig.) 226. Le Moustier (Orig.) 324. Muschelkalk (Orig.) 693. Myrmecophana. 215/217. Myrmica. 217. Mystriosaurus (Orig.) 91. Nereis. 61. Nicotiana tabacum, alte Abb. 19:;. Numulitenkalk (Orig.) 693. Ohm's Elektrisiermaschine und Flaschen- batterie. 643. Pfahlkratzer. 178. Pflanzenfasern, duktile (Orig.) 345. Phyllocrania. 21 7 Plalanthcra bifolia (Orig.). 544. Planktonkammer. 178. Plantago media (Orig.) 544. Plesiosaurus (Orig.) 89. Polydesmus-Nest (Orig.) 28. Polydesmus- Vulva u. -Fuß (Orig.) 26/27. Polyergus rufesccns (Orig.) 401. Polyporus versicolor. 409. Posidonienschiefei'bruch (Lias f) in Holz- maden (Orig.) 88. Prärie in Canada (Orig.) 243. Profil durch einen Mondkrater. 809. Protil durch einen Schichtvulkan.'* 809. Ricnodon copei, ein Stegocephale. 40. Rogenstein (Orig.) 693. Salamander, Arterienbogen der. 35. Salticus. 217. Sarracenia purpurea (Orig.) ^242/243. Schädel von La Tigra (Orig.) 658. Schema zum Artikel feste Lösg. u. Iso- morphismus (Orig.) 364. Schemat. Darstell, d. Entsteh, d. wichtigst. Körper aus d. Rohstoffen. 645. Schlafkrankheit, Kärtchen^von Afrika mit Verbreitung der (Orig.) 148. j, Schlafzclt in einem'^ Camp in Canada (Orig.) 228. Schlupfwespe Thalessa. 7S4. Schomburgkia (Orig.) 827. Seenprofile (Orig.) 388. Seismometer-Pendel. 29. Seismomcter und Seismograph. 30. Singcikadenlarve. 784. ,, Speisesaal" in einem Camp [in Canada (Orig.) 229. Stereometrische Vermessung. 740. Strongylognathus testaceus (Orig.) 401. Tabak, alte Abb. 195. Tamus (Orig.) 181/183. Tamus-KnoUen (Orig.) 181/183. Tamus-Samen und -Keimlinge (z. T. Orig.) 182. Teleosaurus (Orig.) 91. Telephon von Reis. 644. Temperatur und Niederschlags-Diagramme s. unter Diagr. Wetter-Monatsübersicht. Tillandsia bulbosa (Orig.) 829.'] Tradescantia virginica, alte Abb. 197. Terebratulakalk (Orig.) 693. Tsetse-Fliege , Kärtchen von Afrika mit Verbreitung der (Orig.) 148. Typhlomolge rathbuni. 34. Urwaldbilder aus Canada (Orig.) 241. Valee d'Anisclo (Orig.) 283. Vallee d'Arazas (Orig.) 283/284. Wälder, abgebrannte in Canada (Orig.) 232/233- Wasserharnisch aus dem 17. Jahrhundert. 617- W'hceleriella Santschii (Orig.) 401. Wirbeltierkopf, Schema seines ursprüng- lichen Baues. 109. Zelle, schematisch, zur Veranschaulichung ihres Stoffwechsels. 247. Zu Pferde durch den Kananaskis - Fluß (Orig.) 228. -*:-*I-»:^- r* Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Nene l-\.l};e Vlll. I'.aii,! ; iler 5;:in/eii Reihe XXIV l'iaiul. Sonntag, den 3. Januar igog. Nummer 1. „Die Ernährung der Wassertiere" und „der Stoffhaushalt des Meeres". Zwei Referate über Prof. A. Pütter's gleichnamige Arbeiten (Zeitschr. f. allg. Physiol. Bd. VII, 1907, p. 283 — 368) (Nachdruck vcrboten.l ^'OQ TJr. Friedrich von Möller, Schloß Sommerpahlen, Livland. „Die Ernährung der VVassertiere" und „der Stofthaushalt des Meeres" — unter dieser Bezeich- nung hat Prof. Pütter in Göttingen im siebenten Bande der Zeitschrift für allgemeine Physiologie (1907, p. 283 — 368) zwei Arbeiten veröffentlicht, die für die Planktonforschung und überhaupt für die Biologie der Lebewesen des Meeres vom größten Interesse sind. Sie begründen eine meines Wissens gänzlich neue Ansicht über die Nahrungsquellcn der Tiere und Pflanzen des „Plankton", und wahrscheinlich auch aller übrigen Meerestiere mit Ausnahme der P"isch- säugetiere, Fische und Cephalopoden (Tintenfische und Kraken). Da ich glaube, daß die Biologie des Meeres durch diese beiden Arbeiten Prof. Pütter's um einen großen Schritt vorwärtsgebracht worden ist , und überzeugt bin , daß weiteres Forschen in dieser Richtung auch der Süßwasser- biologie von größtem Nutzen sein wird, so habe ich es versucht über Prof. Pütter's Aufsätze aus- führlich zu berichten, denn in diesem Falle er- scheint mir die Kenntnis der Methoden des Ver- fassers fast so bemerkenswert wie die seiner Resultate. Es wird auffallen, daß ich mich so oft der eigenen Worte des Verfassers bedient habe — mir schienen aber die betreffenden Stellen zu wichtig, um sie zu kürzen, auch hätte die ange- strebte Klarheit der Darstellung darunter gelitten. Das Referat wird hoffentlich viele zum .Studium der Originalarbeit anregen. I. Die Ernährung der Wassertiere. I. Der Kohlenstoffgehalt des Seewassers. F"ür das Meer nimmt man die ernährungsphysio- logische Abhängigkeit der Tiere von den Pflanzen und zwar hauptsächlich den .\lgen an, diese „sollen in ihrer Körpersubstanz die gesamte Menge der organischen Stofife bilden, die den Tieren des Mikroplanktons, besonders den Copepoden als Nahrung dient, welche dann ihrerseits die Nahrung der Fische usw. abgeben. Man muß sich völlig darüber klar werden, daß diese Annahme z. Z. lediglich eine Hypothese ist, denn es liegen keine Versuche vor, den Nahrungsbedarf der niederen Tiere und die Größe der Produktion organischer Substanz durch die Algen in der Zeiteinheit experimentell zu ermitteln". Die vorhandenen ausgedehnten Planktonstudien zeigen nur den Zustand in bestimmten Zeit- momenten an, aber weder die Zeit, welche nötig war, um diesen Organismenbestand zu erneuern (Baustoft'wechsel) noch die Stofl'menge, die in der Zeiteinheit nötig war, um ihn zu ernähren und damit zu erhalten (Belriebsstoffwechsel). — Bisher hielt man die Organismenleiber für die einzige Ouelle der Nahrung der Meerestiere — der Autor will aber nachweisen, daß das Meer in beträcht- licher Menge Nährstoffe in Lösung hält, welche, im Gegensatz zu der bisher vertretenen Anschau- ung, den größten Teil der Nahrung der Meeres- tiere (ausgenommen P'ische und wahrscheinlich auch Cephalopoden) ausmachen. Durch Anwendung von Messinger's Me- thode der C-Bestimmung auf nassem Wege,') die generell alle komplexen C- Verbindungen als CO'- der Bestimmung zugänglich macht, und die sich auf Seewasser ohne jede Vorbehandlung anwenden läßt, wies Verf. nach, daß ein Liter Seewasser aus dem Golf von Neapel, an solchen Stellen ent- nommen, wo Verunreinigungen der Stadt schon unwirksam sind, 92 mg Gesamtkohlenstoff enthält. Davon sind 27 mg (kaum 30 "/g) in Form von CO'- nachgewiesen, so daß 65 mg (70 '7o) kom- plexer C -Verbindung im Liter, oder 65 g im Kubikmeter im Seewasser in Lösung sind. (Die Lösung hat also 0,0065 "l^. D. Ref.) Die chemische Natur dieser komplexen C- Ver- bindungen wurde nur insoweit aufgeklärt, als ge- zeigt werden konnte, daß die flüchtigen Säuren etwa 23 mg von diesen 65 mg C enthalten, also enthalten die flüchtigen Säuren im Seewasser fast ebensoviel C wie die Kohlensäure. Natterer ge- lang der Nachweis von höheren Fettsäuren (Palmitinsäure, Stearinsäure), und aus Proben, die dicht über dem Meeresboden entnommen waren, konnten Kohlenwasserstoffe schon durch den petroleumartigen Geruch des Wassers nachge- wiesen werden. Auch Glyzerin glaubte Natterer identifizieren zu können. Pütter vermutet auch noch die Möglichkeit des \"orkommens von Huminsubstanzen. Es ergibt sich als Sauerstoffkapazität der kom- plexen C-Verbindungen eines Liters Meerwasser 180 mg O'-, während aus 12 Proben ein Sauer- stoffgehalt von durchschnittlich nur 7,6 mg im Liter hervorgeht (0,00076%), also ca. V-ii des Sauerstoffes, der nötig wäre, um allen C zu CO'-, ') Eine Publikation über die Art der .\nwendung der Methode und ihre Fehlergrenzen will der Verfasser in den Publikationen d. Kgl. Ges.. der V/issensch. in (löttingen er- s-heinrn lassf-n. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII Nr. I allen II zu H'-'O zu oxydieren. Das Meer ist also relativ sehr sauerstoffarm, dafür sehr kohlen- stoffreich. 2. Der K ohlenstoffgehal t der Plankton- organisme n. Um nun den C-Gehalt der Planktonorganismen festzustellen, verwendet Verf. die Angaben Loh- mann's über das Plankton von Syrakus: Es ent- hielten looo 1 filtriertes Seewasser 53,63 cbmm an sog. „dichtem Volumen", d. h. bei einem spez. Gew. von 1,030 — 55,60 mg. Nach Brandt ent- halten 66 ccm gut abgesetzte Planktonfänge 0,57 g Trockensubstanz. Die „dichten" Volumina sind ca. 25 mal kleiner, so daß wir rechnen müssen: = 2,64 ccm dichtes Volumen, das sind 25 2,64 1,030 = 2,7192 g Lebendgewicht — geben 0,57 g Trockensubstanz, was 20,9 "/^ ent- spricht.') Der Kohlenstoffgehalt der Trocken- substanz beträgt im Mittel aus 10 Analysen, nach Brandt 33,39",,, so daß die Menge Kohlenstoff, die, nach Lohmann's Untersuchungen bei Syrakus, in P'orm von Organismen in 1000 1 enthalten ist, sich folgendermaßen verteilt: Protophyten: 1,22 mg Protozoen : 0,08 ,, Metazoen : 2,48 „ Bakterien : 0,06 „ Zusammen : 3,84 mg Der Stickstoftgehalt beträgt im Mittel also \|(| der Kohlenstoffmenge, so daß in Meerwasser 0,39 mg Stickstoff in Organismen ge- bunden sind. Da im Eiweiß 3,3 mal soviel C als N enthalten ist, so stammen von dem Ge- samtkohlenstoff der Organismen 1,29 mg aus Pliweiß (3,3 • 0,39= 1,29), folglich 3,84 — 1,29 = 2,55 mg aus Kohlehydraten und P'etten. Ein Liter Seewasser enthält also in Organismen 1. in Form von Eiweiß 0,00 1 29 mg C 2. in Form von Kohlehydra- ten u. Fetten 0,00255 „ , C im ganzen 3.4'',,, 1000 1 0,00384 mg C 0,00039 „ N dagegen in Lösung aller C davon CO'- 92 mg 27,, also an komplexen C-Verbindungen 65 mg Stickstoff'-') 0,74 „ Also 17000 mal soviel komplexe C-Verbin- dungen sind in Lösung wie in Organismen (und 1900 mal soviel ist N in Lösung wie in Organismen. D. Ref.) „Durch diese Gegenüberstellung wird schon '1 \'erf. gibt an = 2,()3 : und 2,"q anstatt 2,7192 g Lebendgewicht, daraus 20,7 "/q. D. Ref. ") Der Slofflianshalt des Meeres, vom gleichen Verfasser. Ebenda S. 329. ein gerechter Zweifel gegen die Annahme be- gründet, daß die Organismen selbst, in letzter Linie also die Algen, die einzige Quelle der Nahrung für die Wassertiere seien, aber der Nach- weis, daß die gelösten Stoft'e eine weit ausgiebigere Quelle der Nahrung für eine große Menge von Tieren sind, als jene, die in Organismen gebunden sind, läßt sich nur erbringen, sobald man quan- titative Daten über den Nahrungsbedarf der Tiere hat." 3. Der Na h r u n gs b e d a r f der Tiere. ,,Eine exakte Kenntnis des Bedarfs an aus- nutzbaren Nährstoffen in der Zeiteinheit ist nur durch vollständige Stoffwechselversuche zu er- langen, und solche liegen zurzeit nur für zwei Tiere vor, für Suberites domuncula und Cucu- maria grubei." (Suberites ist ein Schwamm, Cucumaria — eine Holothurie. D. Ref.) Bei Suberites beträgt der Kohlenstoffumsatz eines mittelgroßen Exemplares von ca. 6o g Lebendgewicht in einer Stunde 0,92 mg. Ein Liter Wasser enthält in Form von Organismen 0,00384 mg C. Suberites müßte also in einer Stunde — „ = 239 1, d. h. annähernd das 0,00384 ^^ 40000 fache seines Volumens vollkommen durch- fischen, um den Bedarf seines Betriebsstoftwechsels zu decken, und zwar unter der nicht sehr wahr- scheinlichen Voraussetzung, daß er den C der er- beuteten Organismen restlos auszunutzen im- stande sei. Verf. meint, in Wirklichkeit könne der Schwamm höchstens das Fünffache des eigenen Volumens, also 300 ccm in einer Stunde durch sein Kanalsystem pumpen, wobei der schwache und langsame Wasserstrom größere Organismen, etwa Copepoden, mitzureißen gar nicht imstande sei, so daß das durchgepumpte Wasser wesentlich nur Diatomeen, Protozoen und Bakterien enthalte, mit 35 "/o des C der Plankton- organismen, so daß der Wasserstrom dem Schwamm 2300 mal weniger (ca. 0,05 %) Kohlenstoff') in ge- formter Nahrung zuführen würde, wie er in der Zeiteinheit verbraucht. ,, Nehmen wir dagegen an, daß die komplexen Verbindungen, die im Seewasser gelöst sind, die Nahrung des Schwammes darstellen, so erhalten bereits 14,2 ccm (m. G. schon 13,3 ccm. D. Ref.) die für eine Stunde notwendigen 0,92 mg Kohlenstoff. Wenn auch viele dieser Kohlenstoffverbindungen für Suberites nicht ausnutzbar sein sollten, so ent- halten doch schon die 300 ccm bereits 19,5 mg C, also 21 mal soviel wie der Schwamm braucht, er würde also auskommen, wenn er auch kaum 5 % der gebotenen C-Verbindung ausnutzen könnte. Außerdem sind die Bedingungen für Aufnahme gelöster Nährstoffe weit günstiger als solche für den Fang geformter Nahrung. Ohne Bewegungen zu machen und Wasserströme zu erzeugen, kann ') M. E. 1965 mal weniger = ca. 0,05 "/„. I). Ref. N. F. VIII Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 3 ein Tier an geformter Nahrung nur das erhalten, was seine Oberfläche zufällig berijhrt, und das wäre sehr wenig, denn trotz der Menge der Planktonorganismen wären in i ccm kaum zwei Diatomeen zu finden. Für die Aufnahme gelöster Nahrung liegen die Bedingungen viel günstiger — ständig mit der Oberfläche der Organismen in Berührung, herandift'undierend wenn resorbiert, fließt sie als ununterbrochener Stoffstrom dem Tiere zu. — Es nähren sich also wohl auch alle übrigen Schwämme von gelöster Nahrung ohne nennenswerten Anteil der geformten, „für Sube- rites domuncula ist jedenfalls der Nachweis er- bracht, daß auch unter den günstigsten Annahmen die geformte Nahrung, die ihm zugänglich ist, weniger als 0,05",, des gesamten Nahrungs- bedarfes zu decken imstande ist." ,,P'ür Cucu- maria grubei beträgt bei einem frisch gefangenen Tiere von ca. 14 g Lebendgewicht der Kohlen- stoffbedarf pro Stunde etwa 0,40 mg. Diese Menge C ist enthalten in den Planktonorganismen von 100 1, dagegen in Lösung in 6,2 ccm." — Cucumaria fängt freilich lebende Organismen auf seinen Tentakelbäumchen, auch nimmt sie Sand, der ja nicht ohne organischen Detritus sein wird, in den Darm auf, doch ergab auch hier der Stoff- wechselversuch eine starke Beteiligung gelöster Nährstoffe. Vernon's Untersuchungen haben für viele niedere Tiere den Sauerstoffverbrauch genügend genau festgestellt. Oxydationen machen aber nur einen Teil des gesamten Stoffwechsels aus, auch sind sie vielfach unvollständig. Wenn wir also ansetzen : .■\ller O, der verbraucht wurde, hat bestimmte Verbindungen vollständig oxydiert, andere Prozesse außer dieser Oxydation sind im Stoffwechsel nicht abgelaufen, so haben wir den Stoffbedarf jedenfalls nicht zu hoch, sondern vielmehr zu niedrig angeschlagen. Eine Reihe von Erfahrungen lehrt, daß die umgesetzten Stoffe hauptsächlich Kohlehydrate sind. Ihre Sauerstoffkapazität ist 1,23, d. h. A-Gramm Sauerstoff sind imstande ' s Zucker 1,23 ^ zu verbrennen, der Zucker hat 40% Kohlenstoff. Berechnet man aus dem Sauerstoffbedarf pro Tier und Stunde die minimale Menge des umge- setzten Zuckers, also auch den minimalen Kohlen- stoffbedarf, so „zeigen sich deutlich die Unmög- lichkeiten, auf die man geführt wird, wenn man an der Annahme festhalten will, daß für die Er- nährung der Wassertiere nur geformte Nahrung in Betracht käme". Von 10 der untersuchten Tiere, die zu vier verschiedenen Tierstämmen (7 verschiedenen Klassen) gehören, müßte ein jedes das Mehrhundertfache bis Mehrtausendfache seines Volumens an Meerwasser auf Piankton- wesen abfischen, um seinen Nahrungsbedarf in einer Stunde zu decken, während der nötige C in Gestalt komplexer Verbindungen in vielen Fällen in ' ,„ des Volumens des Tieres im Meer- wasser enthalten ist. (Tabelle III und IV des Originales.) 4. Der mindeste stündliche Lebensraum der Wassertiere. Das Volumen, Meerwasser, welches den für ein Tier pro Stunde notwendigen Sauerstoff ent- hält, ist sein „minimaler, stündlicher Lebensraum" in bezug auf Sauerstoff. Es zeigte sich, daß die gefundenen Werte hierfür zwischen 0,26 (Salpa tilesii) und 3,18 (Ciona intestinalis) des Tier- volumens schwanken, aber meist ein- oder zwei- mal das Volumen des Tieres betragen. „Es ent- steht die Frage, ob der Lebensraum, wie wir ihn bisher definiert haben, also das Volumen (an Meer- wasser. D. Ref) , das den Sauerstoffbedarf einer Stunde zu decken imstande ist, auch hinreicht, um den übrigen Stoff bedarf des Tieres zu decken." Diese Frage beantwortet Verf seinen Untersuchungen gemäß dahin, daß in dem auf Sauerstoff bezüg- lichen minimalen Lebensraum fast 30 mal mehr komplexe C-Verbindungen in Lösung sind, „als jene, die wir als Kohlenstoffbedarf der Tiere aus ihrem Sauerstoffbedarf berechneten." „Nur für zwei Tiere, für Suberites und Cucumaria können wir auf Grund der Untersuchung des Gesamt- stoffwechsels zeigen, um wieviel zu gering die Annahmen über den Kohlenstoffbedarf der Tiere waren, die oben gemacht wurden, wie sehr also alle Argumente, die dort vorgebracht wurden," hier um so mehr Geltung haben. „Für Suberites würden wir auf Grund seines Sauerstoffbedarfes von 0,67 mg pro Tier und Stunde einen C-Bedarf von 0,22 mg berechnen, während die direkte Be- stimmung einen Umsatz von 0,92 mg, also mehr als viermal soviel ergab. Bei Cucumaria würde aus dem Sauerstoffverbrauch von 0,14 mg pro Tier und Stunde auf 0,05 mg C-Bedarf geschlossen werden, während er in Wirklichkeit 0,4 mg be- trug, also sogar das Achtfache des angesetzten Wertes." „Nehmen wir aber auch für die übrigen Tiere an, daß ihr C-Bedarf um das Fünf- bis Sechs- fache höher wäre als wir angesetzt hatten, so bliebe trotzdem die im „Lebensraum" gebotene C-Menge noch fünf- bis sechsmal größer als nötig, d. h. schon wenn nur 17 — 20"(| der gebotenen Verbindungen von einem bestimmten Tier aus- genutzt werden können, reicht die Kohlenstoff- nienge zur Ernährung hin." 5. Beobachtungen über die geformte Nahrung der Tiere. Die Mehrzahl der nicht parasitisch lebenden Meerestiere nimmt sicherlich bei Gelegenheit ge- formte Nahrung auf — ob diese aber hinreicht, läßt sich mit Sicherheit nur durch Stoff- wechseluntersuchungen zeigen, wie sie für die in dieser Arbeit genannten Tiere vorliegen.') Die ') Es siml die außer den vom \"crr. .iiif ( )- und C-Ver- biauch untersuchten Suberites domuncula und Cucumaria (Jrubei noch folgende von \'erno)i iThe respiratory cxchange Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. I im folgenden angeführten Beobachtungen weisen aber darauf hin, daß die Beispiele dafür, daß die geformte Nahrung zur Deckung des Stoffbedarfes nicht ausreicht, sich noch in den verschiedensten Gruppen des Tierreiches werden vermehren lassen. Bei allen untersuchten Polykladen (mit Ausnahme von Prosthiostomum) fand Lang weder im Haupt- darm noch in den Darmästen Nahrungsstofte, deren Natur hätte erkannt werden können. Bürger fand im Darme der Nemertinen äußerst selten Nahrungsmassen oder Reste, nur einige Male Teile von Krusten (soll wohl heißen : Krustern. D. Ref.). „Am erstaunlichsten sind aber Dohrn's ^) Beob- achtungen am Darme der Pycnogoniden (Panto- poden)". „Im Inneren dieses Darmes, der seine langen Divertikel in die Extremitäten hineinsendet, schwimmen in großer Zahl eigenartige Körper, die nicht von außen aufgenommen sind, sondern offenbar in einer noch nicht ganz aufgeklärten Weise sich vom Darmepithel ableiten. Durch die Kontraktionen der Darmschläuche werden sie in beständigen unregelmäßigen Bewegungen erhalten." S. 57: „Was aber die Verhältnisse vollends sehr schwer verständlich macht, ist die Abwesenheit jedweder Fäkalmasse. Trotz der tausendfachen Beobachtung lebender Pyknogoniden unter dem Mikroskop habe ich nie den Austritt geformter Bestandteile aus dem After gesehen, auch nie ge- färbte Flüssigkeiten im Afterdarme bemerkt." Die Pantopoden haben nun einen ungemein dichten Reusenapparat, der geformten Bestandteilen den Eintritt in den Darm überhaupt verwehrt, so daß Dohrn zur Interpretation seiner Befunde sagt, S. 57 '■ „Es bleibt da eben nur die Vermutung übrig, daß feste Teile überhaupt nicht in den Darm gelangen, sondern von dem Reusenapparat entweder in solcher Weise zerkleinert werden, daß sie für die Verdauungssäfte ohne Rückstand auflösbar werden, oder aber schon vorher wieder entleert werden. Vielleicht auch dienen die Haare und Borsten der Lippen dazu, schon von vornherein derlei Stofte auszusondern." Bei den Wurmmollusken Chaeto- derma wird nach Simroth der Darm oft leer gefunden oder nur mit geringem Inhalt, und es scheinen keine Tatsachen dafür zu sprechen, daß er sich, etwa wie bei einem Seeigel, mit Schlick füllt. Bei den Chitonen fanden sich nur mikro- skopische Algen, besonders Diatomeen, im Darm. Diatomeen enthalten aber nur sehr wenig Nähr- stoffe. Auch im Darme von Dentalium fanden sich hauptsächlich P^oraminiferen und Infusorien. Rauschenplat fand bei nur wenigen Exem- of the lower marine Invertebratcs. Journ. of Physiology \'ol. 19, 1895 — 9ö' P- 18—70') allerdings nur auf iliren Sauer- stoiTverbrauch — aus dem Fütter aber ihren minimalen C-Ver- braucli berechnet — untersuchten Tiere: CoUozoum inernie, Adamsia rondeletii, Khizostoma pulmo, Carmarina hastata, Cestus veneris, Pterotrachea mutica, Tethys leporina, Ciona intestinalis, Salpa pinnata, Salpa tilesii. Also im ganzen liegen StolTwechseluntersuchungcn für zwölf niedere marine Wirbel- tiere vor, die zu sechs Tic-rstämmen gehören. D. Ref. ^) Dohrn, Pantopoden, in ,, Fauna imd Flora des (iolfes von Xeapel", Pd. 3, Leipzig t88i. plaren von Aurelia aurita aus der Kieler Bucht in den Radialkanälen kleine Klumpen, die von Ceratien und anderen Planktonorganismen gebildet waren. Bei sehr vielen Aurelia war die Untersuchung ergebnislos. Bei den Hydroidpolypen CordylophoralacustrisundGonohtyraea lovenii ist die Untersuchung ganz erfolglos ge- wesen. Ebenso bei dem Schwamm Amorphina panicea. „Gerade für diesen Schwamm zeigen die Stoffwechseluntersuchungen (an Subcrites domun- cula, d. Ref) völlig einwandfrei die Bedeutung der gelösten Stoffe für die Ernährung." 6. DieErnährungderTiefseeorganismen. Die Ernährung der überraschend reichen Tier- welt der Tiefsee glaubte man dem gewaltigen, von den Algen der Lichtzone produzierten Über- schuß von organischer Substanz zuschreiben zu müssen. Die absterbenden Algen sollten zur Er- nährung der Tiere der Dunkelzone ausreichen. Nun „ist zunächst durchaus nicht bewiesen, ja nicht einmal wahrscheinlich gemacht, daß die Algen der Licht- zone mehr organische Substanz produzieren, wie die Tiere des Bezirkes brauchen, vielmehr zeigen die vorangegangenen Kapitel, daß die Algen bei weitem nicht ausreichen, um auch nur einen ge- ringen Teil des Nahrungsbedarfes der Tiere ihres Lebensbezirkes durch ihre Leibessubstanz direkt oder indirekt auf dem Umwege über pflanzen- fressende Tiere zu decken." Außerdem würden diese absterbenden Organismen überhaupt in keine sehr große Tiefen kommen, da sie, als mikroskopische Wesen, nur äußerst langsam sinken, und unterwegs längst von Spaltpilzen (und Sproßpilzen), von denen in einem Kubikzentimeter Meerwasser durchschnittlich lOOO Keime sich finden, überwuchert und gelöst sein würden.') Viel plausibler erscheint die Annahme, daß auch die Tiefseeorganismen von gelösten C-Verbindunge'j leben. 7. Die Organe zur Aufnahme gelöster Stoffe. Besondere Organe zur Aufnahme gelöster Nahrung sind offenbar nicht nötig. „Die Fähig- keit gelöste Stofte aufzunehmen und im Stoff- wechsel zu verwerten, ist ja eine ganz allgemeine, die auch den höchst dift'erenzierten Zellen, z. B. im Nervensystem und den Sinnesorganen der Säugetiere ebenso zukommt, wie den primitiven Protozoen oder Bakterien. Freilich entnehmen die ersteren der genannten Zellen ihre Nahrung ') Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. VII, 190S, S. 95 heißt es in F. Römer's Referat über Karsten, das indische Pliyto- plankton, folgendermaßen: „Über die vertikale Verbreitung im Indischen Ozean ergaben die zahlreichen Schließnetzfänge, daß die Hauptmasse in den oberen 200 m enthalten ist; unterhalb von 400 m sind überall nur noch vereinzelt lebende Zellen zu finden, z. B. farblose Peridineen, und schließlicli bleibt nur noch der ständige, nach unten langsam dünner werdende (von mir gesperrt, d. Ref.) Regen von abgestorbenen, zu Boden fallenden Teilen aus der lebenden Pflanzemlerke der oberflächlichen Schichten übrig." I'. Ref. F. N. VIII. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 5 nur aus den umgebenden Körperflüssigkeiten, während Protozoen und Bakterien direkt aus dem umgebenden Medium die Nahrung schöpfen. In dieser letzteren primitiven Weise nehmen ja auch, wie im vorhergehenden gezeigt ist, eine große Menge von Tieren ihre gesamte Nahrung, oder doch deren überwiegenden Teil auf, es bildet für diese Wesen gewissermaßen das Meer die Lymphe, von der sie leben." Von der .Annahme, ,,daß die Aufnahme des Sauerstoftes von der Aufnahme anderer gelöster Stoffe stets getrennt sein müßte, wie es bei den Säugetieren in dem funktionellen Unterschied zwischen Darm- und Lungenresorp- tion der Fall ist, müssen wir uns gründlich frei machen" ') — wenn eine Fläche überhaupt resor- bieren kann, so steht physiologisch nichts im Wege, daß sie sowohl Sauerstoff als auch gelöste Nährstoft'e resorbiert. Solche Flächen müssen zwei Bedingungen erfüllen, erstens: „die Zellen, die in direkter Berührung mit dem Medium stehen, dürfen nicht durch kutikulare Bildungen bedeckt sein, sondern müssen freie, resorptionsfähige Ober- flächen haben," zweitens, ,,die Oberflächen müssen mit einem Wasserstrom in Berührung kommen, der dafür sorgt, daß immer neue Nährlösung zu- geführt wird". Bei den Schwämmen sorgen hier- für die Geißeln der Kragenzellen. Bei der Oktoko- ratte Alcyonium bleibt ,,bei sonst geschlossenem Ingestionsrohr" „dorsal und ventral je eine Öffnung, in denen durch Streifen von Flimmerepithel Strömungen erzeugt werden, deren eine in das Innere gerichtet ist, während die andere Wasser nach außen zurückbefördert." Actinien nehmen bedeutende Wassermengen in ihren Darm auf und entleeren sie bei Reizung. Bei den Rhizostomen können sicher nur wenig geformte Bestandteile die Mündungen des Gastrovaskularapparates passieren, dafür bietet aber die besonders durch die Mundkrause außerordentlich vergrößerte Ober- fläche hinreichend Gelegenheit zur Resorption ge- löster Nahrung. Bei jeder Strobilation der akraspeden Medusen, „wo die dauernde Produktion einer Menge Ephyren sicher sehr große Anforde- rungen an die Stoffzufuhr stellt, wird die sog. ,, Verdauungshöhle" verklebt und durchschnürt, um die Qualle abstoßen zu können. Wie könnte die Strobila sich in dieser Zeit durch Aufnahme ge- formter Nahrung erhalten und die geforderten Mengen organischer Substanz neu bilden, die ihre ursprüngliche Masse wohl um das Mehrfache über- treffen ?" „Bei Polykladen hat Lang im Gastro vaskular- system lebhaften Wasserwechsel beobachtet." „Bei Yungia und Cykloporus fand Lang, daß im Be- reiche des Netzwerkes der Darmäste eine große Anzahl von Darmdivertikeln gegen die Körper- oberfläche treten, wo sie sich frei öffnen" . . . „weshalb auch Lang (wie v. Graff für Rhabdo- ') Einij;c MitgliedL-r der Gruppe der ('ubitis-^Üartgruiidcl-) äliulichen Fische atmen durch Darm und Kiemen. Ilabak und Dedek, lüol. Cbl. 1907, p. 697 ff. D. Ref. coeliden) bei den Polykladen eine ,, respiratorische Funktion" des Darmes annimmt, was ja nur in anderen Worten dasselbe ist wie: der Darm ist hier dazu geeignet, gelöste Stoffe aus dem See- wasser aufzunehmen." Bei Capitella gibt es ein Kanalsystem am Darm, welches durch rhythmische Kontraktionen des Hinterdarmes mit Meerwasser gefüllt wird, so daß im Darm und Nebendarm Strömungen ent- stehen (Eisig). Ahnliche Einrichtungen sieht Eisig bei Gephyreen und Seeigeln. Bei Denta- lium beschreibt Simroth ein Organ am Enddarm, die sog. „Rektaldrüse", das keine Drüse ist, son- dern aus Schläuchen mit Flimmerepithel besteht, ,,das also gute Bedingungen zur Durchströmung mit Wasser bietet." Das verwickelte Kanalsystem des Schneckenfußes, welches z. B. bei Natica etwa das dreifache Volumen dieser Schnecke in wenigen Minuten aufnehmen kann (Schiemenz), könnte vermuten lassen, daß auch hier Resorption einer Nährlösung stattfindet. — Auch Kiemen brauchen natürlich nicht nur Sauerstoft" zu resorbieren. Die Ascidie Ciona, mit enorm entwickelter Kieme, braucht weniger Sauerstoff als die annähernd gleich schwere Ctenophore Forskalia, „die keine besonderen Kiemeneinrichtungen besitzt". „Die Größe des Sauerstoffbedarfes steht bei den Ascidien in gar keinem Verhältnis zu der ge- waltigen Entwicklung der Kiemen dieser Tiere." „Dasselbe gilt für den Vergleich zwischen Rhizo- stoma und Salpa tilesii." „Der Gehalt an Trockensubstanz stimmt bei beiden Tieren sehr nahe überein, und auch hier hat die Qualle ohne Kiemen mit 0,808 mg Sauerstoffverbrauch pro Tier ein wesentlich höheres O Bedürfnis als Salpa tilesii mit 0,159 ^^S O - Verbrauch pro Tier und Stunde." „Wenn wir aber Kiemen" oder kiemenartige Gebilde als Organe der Aufnahme gelöster Nährstoffe ansehen, so ist uns für viele Tiere verständlich, wie sie ihren hohen Stoff- bedarf decken, denn da die Menge gelöster or- ganischer Verbindungen in der Volumeneinheit des Meeres jene des gelösten Sauerstoffes so be- deutend übertrifft ('s. o.), so wird bei genügender Sauerstoffversorgung stets auch die genügende Menge gelöster Nahrung in der Natur geboten werden." 8. Die Bedeutung der geformten Nahrung und der Därme. Für die Ernährung derjenigen Wassertiere, die im allgemeinen von in Wasser gelöster Nahrung leben, könnte doch die Aufnahme geformter Nahrung, wenn auch in geringer Menge, von großer Bedeutung sein, da hierin vielleicht Stoffe in hoher Konzentration enthalten sind, die sich im Meerwasser sonst nur spärlich finden, z. B. N. (Man könnte auch an die Aufnahme von Enzymen denken, die wohl sicherlich in vielen Organismen des Meeres enthalten sind. D. Ref.) Die Därme der Wirbellosen, die vonMikroplankton leben, haben bei der Verdauung dieser Nahrung offenbar nur wenig Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VHI. Nr. i Arbeit, so daß Verf. vermutet, daß die Oberfläche der Därme nicht nur bestimmte Nährstoffe auf- nimmt, sondern auch Stoft'wechselprodukte aus- scheidet. 9. Die Ernährung aus Nährlösungen. Die Behauptung, daß viele wirbellose Tiere sich von den im Wasser des Meeres gelösten Stoften ernähren, verliert viel von ihrem Unge- wohnten, wenn wir uns erinnern, daß „bei den meisten Zellgattungen der Metazoen die Fähig- keit, geformte Nahrung aufzunehmen, überhaupt völlig verloren gegangen" ist und sie von den Nährlösungen der Körperfiüssigkeiten leben, während wir gewohnt sind den Organismus als Ganzes nur geformte Nahrung aufnehmen zu sehen. Aber die große und in den verschiedensten Tier- stämmen vertretene Gruppe der Parasiten hat die geformte Nahrung zugunsten der gelösten aufge- geben. Nahe Verwandte vieler dieser Parasiten leben frei. Sie zeigen, daß der Unterschied der Ernährung mehr graduell als fundamental ist, „indem die Parasiten aus einer konzentrierten, die freilebenden Formen aus einer verdünnten Nähr- lösung leben" . . . ,, womit wohl die außerordent- lich intensive Produktion von Leibessubstanz in Beziehung steht, die bei den Parasiten allgemein zu beobachten ist, und die sich teils in raschem Wachstum, teils in äußerst abundanter Produktion von Geschlechtszellen äußert." „Das Meer stellt also für sehr viele Tiere eine Nährlösung dar, aus deren unerschöpflichem Reservoir sie beständig ihre Nahrung entnehmen." ,.Die Frage, woher die großen Mengen ge- löster Stoft'e im Meere stammen . . . läßt sich nur im Zusammenhange mit der allgemeinen Lehre vom Stoft'haushalt des Meeres erörtern, was in der folgenden Abhandlung geschehen soll." Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in Neues aus der organischen Chemie. ') — I. Die Zerlegung hoch komplizierter chemischer Verbindungen im schwan- kenden magnetischen Kraft felde. Bei Betrachtungen über das Wesen der enzj'matischen Wirkungen war J. Rose nthal - Erlangen zu der Ansicht gelangt, daß zwischen diesen Wirkungen und den photochemischen Prozessen Beziehungen beständen und daß es ferner möglich sein müsse, die durch Enzyme zerlegbaren hochkomplizierten organischen Stoffe wie die Proteine, die Glukoside und die Saccharosen, die bekanntlich, da sie alle asymmetrische Kohlenstoffatome enthalten, die Ebene des polarisierten Lichtes drehen, auch mit Hilfe von elektromagnetischen Schwingungen zu spalten. Er brachte daher die zu prüfenden Stoffe entweder in wäßriger Lösung, oder, falls sie in Wasser unlöslich waren, hierin aufgeschlämmt in ein Solenoid und leitete durch dessen Windungen elektrische Ströme. Wie zu erwarten war, blieben die Stoft'e, solange die Ströme kontinuierlich waren, unverändert; wurden aber die kontinuier- lichen Ströme fortwährend und regelmäßig unter- brochen oder wurden Wechselströme angewandt, so traten Spaltungen ein, und zwar erwiesen sich die Spaltungsprodukte als identisch mit denen, die durch die Tätigkeit der Enzyme erhalten werden. „Hauptbedingung für die Erzielung eines positiven Erfolges ist unter allen Umständen eine ganz bestimmte Zahl der Unterbrechungen oder Rieh tungs Wechsel. Ist diese nicht getroffen, so bleibt der Erfolg aus. Statt dessen tritt als Folge der Absorption der Schwingungen nur Erwärmung ein. Hat man aber die richtige ') Vgl. .\atu] w. Wnchijusclirill, N. F., )!il. \U, S. 27S, l'joS. den einzelnen Disziplinen. Frequenz getroft'en, so fällt bei gleicher Stärke des benutzten Stromes die Erwärmung auffallend gering aus . . . und es wird der größte Teil der zugeführten Energie in diejenige geordnete Be- wegung übergeführt, welche den Effekt hat, die Substanz zu zerlegen . . ." Eine Folge der un- vermeidlichen schwachen Erwärmung kann die Zerlegung, wie Kontrollversuche gezeigt haben, nicht sein; auch primäre oder sekundäre elektro- lytische Vorgänge können zur Erklärung der Er- scheinung nicht herangezogen werden, da „die Zerlegung eben nur bei einer ganz bestimmten Frequenz eintritt". Die aus Mangel an theore- tischen Anhaltspunkten nur experimentell, durch Probieren, festgestellten wirksamen Schwingungs- zahlen lagen bei den Proteinen zwischen 320 und 360, bei der Stärke zwischen 440 und 480 Wechseln in der Sekunde; alle anderen Stoft'e erforderten viel höhere Frequenzen. Die Stromstärken schwankten zwischen 5 und 10 Ampere. Die F"ortsetzung dieser Lhitersuchungen dürfte noch zu wertvollen Ergebnissen führen. (J. Rosenthal, Sitzungsberichte der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften, 1908, S. 20—26. Die Abhand- lung ist auch als Separatabdruck zum Preise von 0,50 Mk. käuflich.) 2. DerThioindigounddie indigoiden P'arbstoffe. Als indigoide P^arbstoffe bezeichnet P. Friedlaender Substanzen mit dem für den Indigo I und das Indirubin II CO. I ^co \ /C=a I I NIF ^NH^X/ Indigo N. F. VIII. Nr. 1 NatLirwisscnschartliiiic Wochenschrift. ./ CO xo. ^c = c MI Indirubin \ _ / charaktcrisüscheü .Atomkomplex CO \ C = C CO der unter anderem auch in dem vor einigen Jah- ren von I.. Knorr entdeckten Pyrazolblau III und dem von Friedländer vor kurzem aufoefundenen Thioindigo IV vorkommt. ,CO, III CO. c,,n.-, -n; c = c I c = c-= I CH3 CH, Pyrazolblau N C„H, ,CO IV ~c=c co^ y \ '\s Tliioiiuligu '\/ Die Zahl der indigoiden Farbstoffe , die in ihrem physikalischen und chemischen \'erhalten dem Indigo nahestehen , ist in neuerer Zeit, dank den .Arbeiten von Friedlaender und seinen Schü- lern sehr wesentlich vermehrt worden , und da manche von ihnen auch technische Bedeutung haben, so ist ein kurzer Bericht über den wichtig- sten Vertreter der (iruppe, den Thioindigo, an dieser Stelle wohl gerechtfertigt. WieFriedländerin Gemeinschaft mit A.C h w a 1 a gefunden hat , vereinigen sich die aromatischen Diazoverbindungen ArN.jCl mit Thioglykolsäure CH.j(SH)-COOH in verdünnter wäßriger Lösung zu Verbindungen von der Zusammensetzung ArN., • S ■ CH.,COOH, die sich beim Erwärmen quan- titativ unter Stickstoffahspaltung in die entsprechen- den Arylthioglykolsäuren Ar-S-CH.j -COOH ver- wandeln. Aus der Anthranilsäure V, dem be- kannten Ausgangspunkt für die Indigogewinnung wird man also durch Diazotierung und Kuppelung mit der Thioglykolsäure die Phenylthioglykol-o- carbonsäure VI erhalten: CODII / ^COOH V -!- VI \ /NH2 \ y— S — CHj — COOH .-\ntliranilsäuie Phcnj'Uhioglykol-o-caibonsäurc. Durch Wasserentziehung geht die Phenylthio- glykol o-carbonsäure VI leicht in die Oxythio- naphtencarbonsäure VII und diese durch Abspal- tung von Kohlensäure in das Oxythionaphten ') VIII über; ') Das Oxythiunaphteii leitet sich vom Tliionaplileu ab, einem Stoffe, der zum Naplitalin in derselben Bezieliung stellt wie das Thiophen zum Benzol. I I \/ Benzol I 1 \s/ Thiophen I 1 I Naphtalin I I I \/\s/ Thionaplitcn / CO OH CH., VI \ ' et liienylthioglykol-o-carbonsäure -COQH — ILO VII C(OH) % "^C— COOK - Ci.i., / \. Oxythionaphtencarbonsäurc VIII "^CH \s/ O.sythionaiihtcii. Das Oxythionaphten VIII ist ganz analog dem tion in Indigo XI übergeht, so liefert jenes den Indoxyl X gebaut, und wie dieses durch Oxyda- Thioindigo IX. VI 11 CO. ,CII., Oxvthiona]ihten .CIL, -^1 NU Indoxyl Die Synthese des Thioindigos verläuft also, wie das Vorstehende zeigt, in ganz ähnlicher Weise wie die des Indigos aus demselben Aus- gangsmaterial, der Anthranilsäure. — Von den Kigenschaften des Thioindigos sei hier nur die Echtheit und Beständigkeit erwähnt, die er mit dem Indigo selbst teilt. Seine l'^arbe ist auffallendcr- co. l.\ ^ \ Thioindigo XI CO \/ ,Co .CO \ C = C, SS37" Indigo, weise rot, während man sonst in der Regel be- obachtet hat, daß bei Ersatz von Ringsauerstoff durch Schwefel eine Verschiebung nach dem violetten Ende des Spektrums hin erfolgt. (Bcr. d. D. Chem. Gesellsch., 39, 1060 1906:; Liebig's Annalen, 351, 390 1906:: Ber. d. D. Chem. Ge- sellsch., 41, 772 1I907]; IVIonatshefte f. Chemie, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. I 29, 285 [1907]; man vgl. auch Schmidt „Jahrbuch der organischen Chemie", I. Jahrgang, S. 285 [1908].) 3. Die Sabatier'schen Reaktionen. Die hohe Bedeutung katalytischer Reaktionen ist jedem Chemiker wohlbekannt, und doch ist die Zahl der auf katalytischen Vorgängen beruhenden Verfahren, die in mehr oder minder großem Maß- stabe zur Gewinnung von Stoffen praktische Ver- wendung finden, nicht allzu groß. Es ist daher von großem Interesse, daß neben die bereits be- kannten katalytischen Methoden, von denen vor allen Dingen die wichtigen Sandmeyer'schen Re- aktionen hier genannt sein mögen, in neuerer Zeit ein von Sabatier in Gemeinschaft mit Sen- derens und Maiihe ausgearbeitetes Verfahren ge- treten ist, das bereits jetzt dank seiner leichten und bequemen Durchführbarkeit und dank den schönen Ergebnissen, zu denen seine Anwendung bisher schon geführt hat, eine außerordentlich wichtige Stelle in der Methodik des organischen Chemikers einnimmt. Sabatier und seine Mitarbeiter haben gefunden, daß gewisse Metalle, in erster Linie das (durch Reduktion aus seinem Oxyd mittels Wasserstoff erhaltene, also sehr fein verteilte) Nickel die Addition von Wasserstoff an ungesättigte Ver- bindungen zu katalysieren imstande sind. So gehen Äthylen, Propylen, Trimethyläthylen usw., wenn man ein Gemisch ihrer Dämpfe mit Wasser- stoff bei nicht zu hohen Temperaturen über den Katalysator leitet, in die entsprechenden gesättigten Kohlenwasserstoffe über, eine bequeme Dar- stellungsmethode dieser Substanzen in reinstem Zustande : I. CH. ; CH., + H., = CH3 -CHg 2. CH.2 : CH — CH; -f H; = CH, • CH, • CH3. Der Allylalkohol liefert den Propylalkohol , ein wichtiger Übergang, der sich vorher nicht hatte verwirklichen lassen : CH., : CH . CH,OH + H, = CH, • CH,CH,OH. Das Benzol, ein Stoff, der nach der Formulierung von Kekule drei doppelte Bindungen hat, addiert sechs Wasserstoffatome unter Bildung von Hexa- methylen oder Cyklohexan : H lieh und vielleicht auch technisch wichtiges Er- gebnis. Die Hydroxylderivate des Benzols führen, sofern sie flüchtig genug sind, um die Leitung ihrer Dämpfe über das erhitzte Nickel zu gestatten, ebenfalls zu den entsprechenden Additionspro- dukten. So ergibt das Phenol I das zu ihm gehörige Cyklohexanol II, aber gleichzeitig entsteht neben dem Alkohol Cyklohexanol noch das Keton Cyklohexanon III H H., Hj ^\. II H.OH \ / lt. H» n/\u H' H H H..I ,Hj, Ih., H, Viele Benzolabkömmlinge, z. B. Toluol und Xylol verhalten sich analog, und es ist daher möglich gewesen, eine große Reihe der redu- zierten Produkte, zu deren Gewinnung man bis- her auf den mühsamen Weg der fraktionierten Destillation aus der kaukasischen Naphta ange- wiesen war und deren Reindarstellung früher viel- fach auf unüberwindliche Schwierigkeiten stieß, ohne große Schwierigkeiten im Zustande voll- kommener Reinheit zu erlangen, ein wissenschaft- H- H •OH H.,l ^H., Ho H, 111 vH, ,0 H H,. Um diesen Übergang zu verstehen, müssen wir uns einen Augenblick dem Verhalten der Alkohole bei der Sabatier'schen Reaktion zuwenden. Daß sich die Alkohole bei höherer Tempe- ratur teils mit, teils ohne katalytische Beteiligung von Metallen (z. B. Zinkstaub, Eisen, Platin usw.) zersetzen, ist eine seit langem bekannte Tatsache. Über den Einfluß feinverteilten Nickels stellten Sabatier und seine Mitarbeiter folgendes fest: Leitet man die Dämpfe eines primären Alkohols, z. B. des Äthylalkohols, bei einer unterhalb 230" gelegenen Temperatur über feinverteiltes Nickel, so findet eine doppelte Reaktion statt: Zunächst wird der Alkohol in Aldehyd und Wasserstoff gespalten : CH, -CH, OH = CH3CHO + H,, und dann wird der Aldehyd weiter in einen ge- sättigten Kohlenwasserstoff und Kohlenoxyd zerlegt : ') CH3.CH0 = CH, +C0. Die anderen primären Alkohole verhalten sich ebenso wie der Äthylalkohol, nur nimmt mit steigendem Molekulargewicht die Leichtigkeit der Wasserstoffabspaltung ab und die der Kohlen- säureabspaltung aus dem Keton zu. Die sekundären Alkohole liefern unter Verlust von Wasserstoff Ketone CH, ■ CH(OH) . CH, = CH, ■ CO • CH, -f- H„ jedoch tritt insofern noch eine Nebenreaktion ein, als der frei werdende Wasserstoff einen Teil des noch nicht verbrauchten Alkohols spaltet, z. B. : CH,-CH(OH).CH3 + 2H2 = CH3.CH, + H,0 + CH,. Die Umwandlung des sekundären Alkohols Methylcyklohexanol in das Keton Methylcyklo- hexanon ist also eine ganz normale Reaktion. Das Verhalten der primären und sekundären Alkohole und noch mehr das der tertiären, welche von Nickel vollkommen zerstört werden, zeigt uns Beispiele für die andere Wirkungsweise des Katalysators, für seine zersetzenden Kräfte. Das ') Oberhalb 230" verwandelt sich bei Anwesenheit von Nickel das Kohlenoxyd unter Abscheidung von Kohle in l-voblensäure : 2CO = C + COj. N. F. VIll. Nr. 1 Niiturwissenschaftlichc Wochenschrift. Nickel kann chemische Stoffe aufbauen und auch zerstören , und welche Reaktion in einem be- stimmten Falle eintritt, hängt von der Temperatur ab. So wird das Äthan, das sich, wie wir wissen, unterhalb 230" aus Wasserstofi' und Äthylen bildet, oberhalb 325" in Methan und Kohlenstoff 2CH,-CH3 = C + 3CH, und bei noch höherer Temperatur das Methan in ähnlicher Weise in Wasserstofif und Kohlenstoff gespalten ; CH, = C + 2H.,. Das Anilin, das sich bei Anwesenheit von Nickel durch Reduktion von Nitrobenzol mit Wasserstoff bei 200" bildet, wird bei 300" bereits in Ammoniak und Benzol — dieses wird unter den Versuchsbedingungen natürlich z. T. hydriert — übergeführt. In diesem F"alle sind also die Bildungs- und die Zersetzungstemperatur noch durch ein Intervall von 100" getrennt; es sind aber auch Fälle bekannt, wo die beiden Tempe- raturen einander sehr viel näher kommen, ja sogar praktisch zusammenfallen, d. h. die in Betracht kommenden Substanzen können nur als labile Zwischenprodukte auftreten. Hin Beispiel für das Gesagte stellen die Nitrile dar. Sie liefern bei der Reduktion, wie ja zu erwarten ist, primäre Amine R.C.N->R.CH..-NHj, aber diese werden unter dem Einflüsse des Kataly- sators sofort weiter umgesetzt, indem unter Ammoniakabspaltung teils sekundäre und tertiäre Amine, teils sogar die Kohlenwasserstoffe selbst entstehen : RCH., • NH., ->(R- CH.,)., NH -> (R • CH,)., N -vR-CHg. Die Reduktion der halogenhaltigen Stoffe nach dem Sabatier'schen Verfahren bietet Schwierig- keiten, da der Katalysator bei niedrigen Tempe- raturen durch Übergang des Nickels in seine Halogenide „vergiftet" wird und bei höheren Temperaturen, wo das Nickelhalogenid wieder zum Metall reduziert wird, in der Regel Zer- setzungen eintreten. Die anderen Metalle, von denen Sabatier und seine Mitarbeiter besonders das Kupfer und das Kobalt in den Kreis ihrer Untersuchungen gezogen haben, wirken im allgemeinen ähnlich , aber schwächer als das Nickel, aber gerade der Umstand, daß sie schwächer wirken, macht ihre Anwen- dung manchmal besonders zweckmäßig; jedoch sei der Leser wegen dieser und aller weiteren Einzelheiten auf die Originalliteratur (Comptes Rendus, von Bd. 124 an) sowie auf die recht vollständige Zusammenstellung von A. Mailhe (Chem. Zeitung, 1907, S. 1083, 1096, 11 17, 1146 und 1158, und 1908, S. 229 und 244) verwiesen. 4. Das Burserazin. Daß das Myrrhenharz im .^Itertume vielfache Verwendung zur Wund- heilung fand und daß es ferner auch bei der Ein- balsamierung der Leichen zur Veriiütung der Fäulnis, also als Sterilisierungsmittel gebraucht wurde, ist bekannt. Der Bestandteil des Harzes, dem diese wertvollen Eigenschaften zukommen, das „Burserazin", das im Myrrhenharz zu 1,5 — 2"',, enthalten ist, ist neuerdings von Werner von Bolton isoliert und genauer untersucht worden. Das Burserazin, ein bei 78" schmelzendes, hell gräulich-braunes, in heißem Wasser ziemlich leicht lösliches Pulver, selbst ein äußerst merkwürdiger Stoff, liefert bei der Oxydation mit Wasserstoff- superoxyd einen rein weißen , im Laufe von Wochen gelb werdenden, an feuchter Luft zer- fließlichen Körper von eigentümlichem Geruch und ohne bestimmten Schmelzpunkt, das Oxy- burserazin, das die sonderbaren Eigenschaften der Muttersubstanz in noch sehr erhöhtem Maße be- sitzt : ') Das Oxyburserazin und , wenn auch schwächer, das Burserazin sind radioaktiv;') beide zeigen rJ- und y-Stralilung. Nach neun Monaten geht das Oxyburserazin in einen anderen Stoff über, der nicht mehr radioaktiv ist, ,,es ist also während etwa •' j Jahren ein Körper mit gewisser- maßen künstlich erzeugter Radioaktivität" (?); Metallfolie wird, so weit bis jetzt bekannt ist, von den Oxyburserazinstrahlen nicht durchdrungen. Wird eine wäßrige Oxyburserazinlösung mit ver- dünntem, frischem Schweineblut vermischt und die Mischung auf Körperwärme gebracht, „so scheiden sich aus dem Blut braune Flocken aus, die, auf einem Filter gesammelt und einige Male ausge- waschen, beim Trocknen an der Luft eine völlig zusammenhängende elastische, durchsichtige, in Wasser unlösliche Membran hinterlassen , die durchaus wie eine porenlose Haut aussieht. Viel- leicht ist das eine besondere Koagulationsform des Eiweiß. Mit keinem anderen koagulierenden Mittel, wie verdünnten Säuren, Wasserstoffsuper- oxyd und Formaldehyd, war ein gleiches Resultat zu erzielen : es schieden sich allerdings stets ähn- liche Plocken, wie durch das Oxyburserazin, aus, sie bildeten aber nach dem Trocknen niemals eine Membran, sondern nur spröde, pulverisierbare Krusten. Ein Stückchen solch einer Haut wurde auf eine kleine Fingerwunde transplantiert und verwuchs vollkommen mit der Haut des Fingers." Bei Abschluß von Luft erzeugt das Oxyburserazin im Blute keine Flockenbildung; Anwesenheit von Luft ist für diesen Vorgang erforderlich. Wird also in den Blutkreislauf Oxyburserazin eingeführt, das bei der subkutanen Injektion keine giftige Wirkung erkennen läßt, so muß es, sowie es auf seinem Wege durch den Körper an eine offene Wunde gelangt, die beschriebene Haut bilden, was besonders bei inneren Wunden, etwa bei der ') Die Gewinnung des Oxyburserazins aus dem Burserazin muß mit größter Vorsicht geschehen, da sonst leicht äußerst heftige E.xplosionen auftreten können. -) Ob und inwieweit es sich hier um wirkliclie Radio- aktivität handelt, mag dahingestellt bleiben, Stralilung allein ist noch keine Radioaktivität, vielmehr haben wir nach Stark nur solche Phänomene als radioaktiv zu bezeichnen, die mit dem Zerfall von Atomen kausal verknüpft sind. lO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. I Lungentuberkulose, von großer Wichtigkeit werden kann. Flechtenerkrankungen werden, wenn die erkrankten Stellen mit Oxyburserazinlösung ge- waschen werden, in kurzer Zeit vollkommen be- hoben. Vielleicht hängen diese medizinischen Eigenschaften des Oxyburserazins mit seiner „Radioaktivität" zusammen (Zeitschr. f. Elektro- chem., Bd. 14, S. 211, 1908). 5. Über kristallisiertes Chlorophyll. Das eingehende Studium des grünen Fflanzenfarb- stoffes, des Chlorophylls, hat Richard Willstätter in Zürich zu seiner Aufgabe gemacht. Einen be- sonders schönen Erfolg hat er nun neuerdings auf diesem Gebiete errungen, indem es ihm, Angaben von J. Borodin und N. A. Monteverde folgend, in Gemeinschaft mit Max Benz gelungen ist, aus ge- trockneten Blättern in einer Ausbeute von 2 bis 2,4 g auf ein Kilogramm des genannten Ausgangs- materials reines Chlorophyll in kristallisiertem Zu- stande zu gewinnen und zu analysieren. Das reine Chlorophyll, das der Formel C.;^Hj.,0;N,Mg entspricht, bildet gewöhnlich scharfbegrenzte, sechseckige und gleichseitig dreieckige Täfelchen von 0,1 bis 0,2 mm Durchmesser. Die Kristalle zeigen blauschwarze oder, bei kleinerer Ausbil- dung, grünschwarze Farbe; im durchfallenden Lichte sind sie grün, jedoch sind nur sehr dünne Blättchen überhaupt durchsichtig. Beim Erhitzen zersetzt sich das Chlorophyll, wobei schwer ver- brennliche Kohle entsteht; beim Glühen hinter- bleibt reine, weiße Magnesia. Es zeigt schwach basische Eigenschaften. Beim Verseifen mit Alkalien bilden sich die Alkahsalze zweier „Chloro- phylline"; ^j ob ein Säureanhydrid oder die Ester eines niedrigen, wasserlöslichen Alkohols vorliegen, ist noch nicht ermittelt. Bei der Einwirkung von Oxalsäure wird das Magnesium eliminiert, und es entsteht ein vollkommen aschefreies, gut kristalli- sierendes Produkt, das Phaeophorbin. Das kristallisierende Chlorophyll ist keineswegs das einzige in den Pflanzen vorkommende grüne Pigment. Von den anderen Komponenten des Gemisches von grünen Pigmenten ist besonders noch eine amorphe Substanz zu nennen , das Phytoleslerchlorophyll, das sich früher von dem kristallisierten Chlorophyll nicht hatte trennen lassen und daher zu der irrigen Ansicht geführt hatte, daß „das Chlorophyll" bei der Verseifung einen Alkohol C.,„II,„0, das Phytol, liefere, während das kristallisierte Chlorophyll, worauf besonders hinzuweisen ist, mit diesem Alkohol nichts zu tun hat (R. Willstätter und Max Benz, Liebig's Annalen, Bd. 358, S. 267; eine gute Übersicht über die äUeren Arbeiten findet sich in Schmidt's „Jahrbuch der organischen Chemie" Bd. I, S. 359 u. f.). 6. Die Waiden 'sehe Umkehrung. Im Jahre 1897 hat I'- Waiden die wichtige Beobach- ') Mit ilcr Kiidunj; „phyllin" worden die magncsiiim- haltigen Produkte der alkalischen Hydrolyse des ChlorciphylN bezeichnet, z. B. Chlorophyllin, (ilaukophyllin usw. tung gemacht, daß es möglich ist, optisch-aktive Substanzen, ohne den Umweg über den Razem- körper einzuschlagen, direkt in ihre optischen Antipoden zu verwandeln. Geht man z. B. von der 1 - Chlorbernsteinsäure aus und behandelt sie mit Silberoxyd, so gelangt man zur 1-Äpfel- säure; diese bildet bei der Einwirkung von Phos- phorpentachlorid wieder Chlorbernsteinsäure, aber nicht die links, sondern die rechtsdrehende F"orm. Die d-Clilorbernsteinsäure liefert ihrerseits mit .Silberoxyd d-Apfelsäure und diese läßt sich mit Phosphorpentachlorid wieder in die als Ausgangs- material des Kreises von Reaktionen dienende 1-Chlorbernsteinsäure überführen. Eliminiert man hingegen das Chlor der 1-Chlorberiisteinsäure an- statt mit Silberoxyd mit Kalilauge, so kommt man zur Rechtsform und in analoger Weise von der d-Chlorbernsteinsäure zur Linksform der Äpfelsäure; es besteht also ein vollkommener Gegensatz in der Wirkung von Silberoxyd und Kalilauge. Das nebenstehende Schema I läßt das Gesagte deutlich hervortreten. (Vgl. Ber. d. Deutsch. Chem. Gesellsch., 30, S151 [1897^ ""^ 32, 1833 u. 1855^1899].) Das Studium dieser eigentümlichen Erschei- nungen, der „Walden'schcn Umkehrung", hat Emil I""ischer neuerdings wiederaufgenommen. Erfand zunächst das nebenstehende Beispiel II der Be- ziehungen zwischen dem Alanin und der Brom- propionsäure. Der Wechsel in derKonfiguration konnte entweder bei der Einwirkung von Ammoniak auf die Brom- fettsäure oder bei der von Nitrosylbromid auf das Alanin erfolgen. Der Versuch entschied zugunsten des Nitrosylbromids. Während nämlich Fischer aus dem Alanin selbst durch Nitrosylbromid die 1-Brompropionsäure erhielt, entstand bei der Ein- wirkung desselben Reagens auf den Ester des Alanins der Ester der d -Brom Propionsäure. In einem Pralle muß also unbedingt eine Umkehrung der Konfiguration eintreten, d. h. dasselbe Reagens kann bei Stoffen, die sich so nahe stehen wie eine Säure und ihr Ester, einmal optisch normal, das andere Mal optisch anomal wirken. Die Umkehrung, die P'ischer ^in analoger Weise auch beim 1-Leucin, beim 1-Phenylalanin und bei der 1-Asparaginsäure beobachtet hat, findet vermutlich bei der freien Säure statt. Je- doch spielt sich die Kreisreaktion nicht bei allen «■Aminosäuren in gleichem Sinne ab. Wird das aktive ,,Valin" (((-Aminoisovaleriansäure) in die ent- sprechende Bromvaleriansäure und diese mit Hilfe von Ammoniak wieder in «-Aminoisovaleriansäure verwandelt, so erhält man nicht den optischen Anti- poden des Valins, sondern dieses selbst. Nach den neuesten Untersuchungen dürfte in diesem Pralle eine doppelte Umkehriing vorliegen (Ber. d. Deutsch. Chem. Gesellsch., 40, 489 [\<)0J\ 41, 889 und 2891 [1908] ; man vgl. auch Schmidt's ,, Jahr- buch der organischen Chemie", Bd. I, S. 7 u. f.). 7. Über A 1 k y 1 i e r u n g s g e s c h w i n d i g - keiten sprach Prof. H. Goldschmidt-Christiania N. F. VIII Nr. 1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 1 1 I > (KOH) I-Chlorbcrnstcinsäurc A y (pn ) -t d-A[)felsäurc A (Ag,0) V (PC\ ) (Ag,0) A lAptelsäurc Y d Chlorbernstein (KOH) < W'alden'sche Umkehrung. II d-.Alaiiin -< (NOBr) Y 1-Bronipropionsäure (NH,) ^- > (NH3) VValden'sche Umkehrung. d-Brompropionsäure (NOBr) Y — >■ r-Alanin auf der diesjährigen Hauptversammlung der Deut- schen Bunsengesellschaft in Wien. Goldschmidts Versuche, die sich hauptsächlich auf die beiden Klassen der stereoisomeren aromatischen Aldoxime, die fetten i\ldoxime, die Ketoxime sowie auf eine Reihe von Thioverbindungen erstrecken, haben zu recht interessanten Ergebnissen geführt. Die .■\lkylierung geschieht bekanntlich durch Behand- lung des betreffenden Stoffes in alkoholischer Lösung mit Natriumalkoholat und Halogenalkyl, z. B. nach der Gleichung QH5CH ; NOH + NaOCoH, + CH-,I = CaHäCH : NOQH5 -f Nal '+ C,H,ÖH. Eine Lösung zur Alkylierung von Benzaldoxim, um bei dem gewählten Beispiele zu bleiben, ent- hält nun das O.vim in drei Formen, als freies Benzaldoxim, als Natriumsalz C|;H-,CH :X0 Na und als Ion C,;H-CH:NO , und es entsteht daher die Frage, welche von diesen drei Formen der rea- gierende Stoff ist. Diese F~rage läßt sich durch Messung der Reaktionsgeschwindigkeit mit syste- matischer \^eränderung der Konzentration des Oxims und des Alkoholats dahin beantworten, daß das Ion der eigentlich wirksame Bestandteil ist. Man könnte sich nun den Alkylicrungsvor- gang so denken, daß das Oximion sich direkt mit dem C.jH-.-Ion des zum kleinen Teile zer- fallenen Jodäthyls vereinige. Diese Auffassung ist iedoch nicht richtig, da die Alkylierungsgeschwin- digkeit der Konzentration des Jodäthyls direkt proportional ist; entspräche nämlich die ange- deutete Hypothese der Wirklichkeit, so müßte die Geschwindigkeit anfänglich der Quadratwurzel der Konzentration und erst nach der Abscheidung von Jodnatrium der Konzentration des Jodäthyls selbst direkt und ferner der Jodionen-Konzentra- tion umgekehrt proi>ortional sein, was nicht der F^all ist. Es muß also zunächst ein Additions- produkt des Oximions und des neutralen Jod- äthylmoleküls, also ein Komplexion entstehen, welches schließlich durch Abspaltung von Jodion das Produkt der Alkylierung liefert. Die Addi- tion des Jodäthyls erfolgt bei den Antialdoximen am Sauerstoff i., bei den Synoximen am Stick- stoff 2., da jene Sauerstoff-, diese Stickstoffestcr liefern. I. C,.H-, CH . ■ II / NO- C,H, 2. C,,H-, CH ' II NO- /\ C,R I Die Alkylierungsgeschwindigkeit, die man bei den Versuchen wirklich mißt, kommt vermutlich dem Zerfall des Komplexions zu, da im allgemeinen die Bildung von Komplexionen mit sehr großer Geschwindigkeit zu verlaufen pflegt. Die Ge- schwindigkeitskonstanten sind für die Stoffgruppen, aber nicht für die einzelnen Glieder charakte- ristisch. Alle Synaldoxime z. B. haben, unter gleichen Bedingungen beobachtet, annähernd die- selbe Konstante, welche von der gemeinsamen Konstante der Antialdoxime beträchtlich abweicht. Analoges gilt für die fetten Aldoxime, die Ketoxime und die Thioverbindungen. (Zeitschrift für Elektrochemie, Bd. 14, S. 581 jiQoS].) 8. F'luoreszenz und Konstitution der organischen Stoffe. Unter Fluoreszenz ver- steht man bekanntlich die Erscheinung, daß ge- wisse Stoffe bei und während der Belichtung ge- wissermaßen selbstleuchtend werden, indem sie das absorbierte Licht nicht vollständig in Wärme umwandeln, sondern zum Teil als Licht anderer Brechbarkeit wieder abgeben. Von der Phospho- reszenz unterscheidet sich die Fluoreszenz dadurch, daß sie nur so lange dauert, wie belichtet wird, während bei jener das Leuchten nach der Be- lichtung auch im Dunkeln noch fortdauert. Bei- 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. I spiele für F'luoreszenz bietet das farblose oder fast farblose Petroleum, das mit blauem, das gelbe Uranglas, das mit grünem, und ein alkoholischer Auszug grüner, d. h. chlorophyllhaltiger Blätter, der mit blutrotem Fluoreszenzlichte leuchtet. Die Beziehungen zwischen dem erregenden und dem Fluoreszenzlicht folgen im allgemeinen der bereits seit mehr als einem halben Jalirhundert bekannten, jedoch nicht in aller Strenge gültigen Stokes'schen Regel, nach der die Wellenlänge des Fluoreszenz- lichtes größer als die des erregenden Lichtes ist. Die Fluoreszenz, die im sichtbaren oder im un- sichtbaren Teile des Spektrums auftreten kann, setzt ähnlich wie jede photochemische Wirkung vorangehende Absorption des erregenden Lichtes voraus, und zwar besitzt, wie Stark gezeigt hat (Physik. Zeitschrift VIII, 8i \\90f) jeder fluores- zierende Stoff Absorpt ion sbande n. Die ein- fachste mögliche Erklärung des Mechanismus der Fluoreszenz, nach der diese auf eine direkte Über- tragung der Energie der erregenden Strahlung auf die fluoreszenzfähigen Moleküle zurückzuführen und somit als einfache Resonanzerscheinung aufzufassen wäre, hat sich bei näherer Untersuchung nicht aufrecht erhalten lassen, da die Wellenlänge maxi- maler Intensität beim Fluoreszenzlicht entgegen den Forderungen der Theorie von der Schwingungs- zahl des erregenden Lichtes unabhängig ist (Ni- chols und Merritt, Phys. Review, 19, 18 [1904]). Die Wirkung des erregenden Lichtes muß somit eine indirekte sein , indem durch das erregende Licht zunächst eine chemische Substanz erzeugt wird, die spontan unter Abgabe der empfangenen Energie in Form von Fluoreszenzlicht unter Rückbildung des Ausgangsstofi'es wieder zerfällt. Für die Fluoreszenz würde also dasselbe Schema gelten, das Luther und Percy Waentig (Zeitschr. f physikal. Chemie, 51, 435, oder Percy Waentig, Zum Chemismus phosphoreszierender Erdalkalisnlfide, Dissertation, Leipzig 1905J für die Erscheinungen der Phosphoreszenz aufgestellt haben : Stoff A -j- erregendes Licht = StoffB Stoff B = Stoff A -\- Phosphoreszenz od. Fluoreszenz, und in der Tat hat Wiedemann (Wiedem. .^nna- len, 34, 448) durch Einbettung fluoreszierender Stoffe in Gelatine die Abgabe des Fluoreszenz- lichtes so verlangsamen können, daß das Leuch- ten, auch nachdem die Wirkung des erregenden Lichtes aufgehört hatte, noch sichtbar war, d. h. er hat die Fluoreszenz in Phosphoreszenz verwan- delt und damit die prinzipielle Gleicliheit beider Erscheinungen dargetan. Unsere Kenntnisse über die Beziehungen zwi- schen der Fluoreszenz und der chemischen Kon- stitution der organischen Verbindungen ist durch eine Reihe von neueren Untersuchungen, von denen in erster Linie diejenigen von J o h. Stark zu nennen sind, beträchtlich erweitert und vertieft worden. Stark hat gezeigt, daß (sichtbare oder unsichtbare) Muoreszenz besonders bei dem Benzol und allen seinen Derivaten mit nichtreduziertem Kern auftritt. Das Benzol selbst besitzt kräftige Fluoreszenz im Ultraviolett; durch Kondensation mehrerer Benzolkerne wird die Fluoreszenz immer mehr in der Richtung zum sichtbaren Teile des Spektrums hin verschoben. Diese Verschiebung kann auch durch Einführung von auxofloren, d. h. von gewissen substituierenden Gruppen in den Benzolkern bewirkt werden. ,,Die Verschiebung wächst mit der Zahl der Substitutionen , aber langsamer, als die Proportionalität ergeben würde. Die ver- schiebende Wirkung verschiedener substituierender Atome oder Atomgruppen ist ungleich groß. Von den untersuchten Gruppen verschiebt am wenig- sten die Methylgruppe, am meisten die Amido- gruppe, in der Mitte zwischen beiden steht die Hydroxylgruppe. Die drei Halogene Cl, Br und J verschieben das Fluoreszenzspektrum des Benzol- ringes um so weiter, je größer ihr .«Atomgewicht ist". Außer den auxofloren kennt man auch ,,hypsoflore" Gruppen, durch die die Fluoreszenz geschwächt oder vernichtet werden kann ; hypsoflor wirken z. B. die Nitro- und die Acylgruppen. .Auch hängt die Fluoreszenz, wie leicht begreiflich, von der Natur des Lösungsmittels sowie von der Temperatur ab. Die Absorptionsbanden der fluoreszenzfähigen aromatischen Verbindungen sind ausnahmslos ,,in der Richtung von kürzeren nach längeren Wellen abschattiert". Stark hat nun gefunden, daß auch Stoffe, die den Benzolkern nicht enthalten, fluores- zenzfähig sind, sobald sie einen Chromophor ent- halten und ihre Absorptionsbanden ebenfalls nach den längeren Wellen hin abschattiert sind. So fluoreszieren Aceton, Methyläthylketon und Kam- pher blau- violett, Brenztraubensäure, Kampher- chinon,Diacetyl u.a. blaugrün bisgelbgrün. Enthalten Stoffe gleichzeitig den Benzolring und einen frem- den Chromophor, so treten je nach der relativen Lage der .Absorptions- und der Fluoreszenzbanden verschiedene Erscheinungen ein. „Schon seit ziemlich langer Zeit," schreibt Stark am Schlüsse seines Berichtes über den von ihm auf der diesjährigen Naturforscherversammlung gehaltenen Vortrages „Über die Fluoreszenz orga- nischer Substanzen" (Chem.-Zcit. 1908, S. 953 — 954), „nimmt man an, daß die Chromophore und auch der Benzolring ungesättigte Valenzen ent- halten. Die Valenzkräfte des Chemikers sind nun als identisch mit den elektrischen Kraftlinien an- zusehen, welche von negativen Elektronen an der Atomoberflächc ausgehen. Andererseits hat man heutzutage erkannt, daß die Zentren der Absorp- tion und Emission des Lichtes negative Elektronen sind. Beide Anschauungen kombinierend, kann man theoretisch folgern, daß die Lichtwellen, wenn sie die ungesättigten oder gelockerten Valenzelektronen der Chromophore zum syn- chronen Mitschwingen veranlassen und an sie Energie abgeben, sie zum Teil von ihrem Molekül lossprengen und in P'orm langsamer Kathoden- strahlen aus der belichteten fluoreszierenden Sub- stanz herausschleudern werden. Die Theorie for- N. F. VIII. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 13 dert also, daß die Fluoreszenz organischer Sub- stanzen von einem lichtelektrischen Eftekt be- gleitet sei, denn dieser besteht ja in der Emission langsamer Kathodenstrahlen. In der Tat zeigten nun alle Substanzen, welche den Benzolring ent- halten und somit entweder nachweisbar oder latent fluoreszieren, den lichtelektrischcn Eftekt in einer Stärke, die annähernd parallel geht der Intensität der Fluoreszenz". Diesem kurzen Bericht ist im wesentlichen die Stark'sche Theorie (I.e.) zugrunde gelegt. Wegen alles Weiteren seien unsere Leser auf die ausge- zeichnete Übersicht von H. Ley Leipzig „Beziehun- gen zwischen Fluoreszenz und organischer Chemie" (Zcitschr. (. angew. Chemie 1908, S. 2027 — 2038), sowie auf die Abhandlung von Kauffmann „Die Beziehungen zwischen Fluoreszenz und chemischer Konstitution" (Ahrens' Sammlung chemischer und chemisch-technischer Vorträge, Stuttgart 1902) hingewiesen. Werner Mecklenburg. Kleinere Mitteilungen. Jan G r och m a 1 ic k i , Über die Linsen- regeneration bei den Knochenfischen. (Zeitschr. f wiss. Zoologie Bd. 89, Heft i, ausführl. poln. Archivum naukowe 1908). — Das Problem der Linsenregeneration ist von so großem theoreti- schem Interesse, daß v. Kupffer als Vorsitzen- der auf der X. X'ersammlung der anatomischen Gesellschaft im Jahre 1896 die Ergebnisse von G.Wolf für die bedeutsamste auf experimentellem Wege gewonnene Entdeckung bezeichnete. Die Versuche Wolfs sowie zahlreicher anderer For- scher beziehen sich fast ausschließlich auf Triton- und Salamandralarven, zum Teile auf erwachsene Tritonen und Kaulquappen. Über die Regenera- tion der Linse bei den Plschen , die in entwick- lungsgeschichtlicher Hinsicht von den Tritonen und Salamandern niedriger stehen , sind bisher keine überzeugenden Beweise erbracht worden. Es liegen nur sehr unbefriedigende Resultate von Röthig vor, da R. nur in einem F'alle „ein kleines linsenförmiges Gebilde bemerkte". Seine Befunde machen, wie er sich selbst ausdrückt, ,,die Rege- neration der Linse (bei den Fischen) zwar wahr- scheinlich, aber nicht sicher". In der vorliegenden Arbeit von G. haben wir daher eigentlich den ersten Beweis, daß die exstir- pierte Linse auch bei den Fischen wieder ansetzt und im Bau sowie im Aussehen der bei normalem Entwicklungsgang entstandenen Linse gleicht. Die Versuche hat Verf an 500 Forellen 5 — 15 Tage nach dem Ausschlüpfen aus der Eihülle angestellt. „Durch einen Linearschnitt an der Cornea wurde das Auge geöffnet und durch einen leichten seit- lichen Druck auf den Bulbus die Linse hervor- zugleiten gezwungen." Die mikroskopische Unter- suchung von Zeit zu Zeit fixierter Tiere ergab, daß der Regenerationsprozeß der Linse bei den r'ischen dem bei anderen Tieren konstatierten sehr ähnlich ist; schon am 5. — 7. Tage nach der Operation trat die Wundheilung ein und erst am 20. — 30. Tage erschienen die ersten Anzeichen der Regeneration: die Entpigmentierung der Iris durch Leukocyten, Spaltung ihrer beiden Lamellen und Wucherung ihrer Zellen am Pupillarrande. An einer Stelle des Pupillarrandes ordnen sich die Zellen der Iris faltenförmig und bilden eine in die Pupille hineinragende Verdickung (Fig. i). Diese knospenförmige Verdickung entsteht meisten- teils wie bei anderen Tieren am oberen Irisrande, manchmal aber, was der Verfasser besonders her- vorhebt, ,,auch irgendwo seitlich am Pupillarrande". In manchen Fällen bilden sich die Linsenanlagen weit von der Pupillaröfifnung, ja selbst aus den Zellen der Basis der Pars ciliaris, wenn die Iris gänzlich ausgerissen wurde, was schon Fischel in seinen Arbeiten beschrieben hat. Die ver- schiedenen Arten der Entstehung der Linsen- anlage werden sehr genau vom Verf beschrieben und durch photographischc Aufnahmen mikro- skopischer Präparate illustriert. Unter den bei- liegenden Bildern der regenerierten Linse fällt be- sonders ein Gebilde auf, welches an die Zwillings- linse der Salamanderlarve von Fischel erinnert; neben der regenerierten Linse ist eine in Verbin- dung mit derselben stehende Zellmasse von spindelförmigen Zellen durch(]uert zu sehen, wel- che G. aber wegen des Mangels der Linsenkapsel als eine Ansammlung in Degeneration begriffener Zellen deutet. Fig. 1. Ein Horizontalschnitt durch ein Forellenauge 6S Tage nach der Operation. Photographische /Vufnahme. (Nach Grochmalicki.) L Linsenanlage. Nach größerer Beschädigung des Auges ent- stehen auch in der Netzhaut kugelförmige oder ovale Gebilde von konzentrisch gelagerten Zellen, welche der Verf im Anhange der polnischen Arbeit sehr genau beschreibt. Diese Neubildungen erinnern an die Lentomen oder Lentoiden Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VKI. Nr. i F"ischel's, da sie auch von der verwundeten Retina stammen, weisen aber im Bau keine Über- gänge von Zellen in I'^asern auf. Ein anderes cystenartiges Gebilde in der vorderen Kammer des .Auges, welches allseits von der Cornea um- schlossen war, betrachtet der Verf. für ein patho- logisches Gebilde, das durch eine Gruppe von der Cornea abgelöster Zellen entstanden ist. Eine vollständig regenerierte Linse hat G. in drei l'^ällen , in sehr verschiedenen Zeitabständen 70, 106, 187 Tage nach der Operation erhalten. Die Linse erreichte gegen -',\j der normalen Größe, sonst wies sie keine Unterschiede im Bau auf (Fipr- 2). Kig. 2. Frontalschuilt durch ein Auge mit vollständig regene- rierter Linse nach 1S7 Tagen. Photographische Aufnahme. (Nach Grochmalicki.) Den langsamen Verlauf des Regenerations- prozesses der Linse bei den Fischen erklärt der Verf. durch die geringe Regenerationsfähigkeit der Fische im allgemeinen und das Verweilen der Fische im Wasser, welches der Wundheilung im Wege steht. Wie aus dem Vorausgegangenen zu ersehen ist, bildet sich die Linse während der Regenera- tion aus der Iris, also aus einem Gewebe, aus welchem sie embr\-onal nicht entsteht, da sie in der Ontogenie aus dem ektodermalen Teile der Haut sich bildet. Zahlreiche Forscher haben diese merkwürdige Erscheinung zu erklären ver- sucht, wie uns G. im geschichtlichen Teile am Anfang seiner Arbeit schildert. Wolf, auf dem teleologischen Standpunkt stehend, sieht in der Linsenregeneration den Beweis, daß der Organis- mus auf eine künstliche Veränderung imstande ist, in zweckmäßiger Weise zu reagieren. R e i n k e und Schimke witsch sehen in der Linsenregene- ration nur eine atavistische Rückkehr zum blasen- förmigen Auge, wo die Linse sich \om Rande der Augenblase bildet. Fisch el und andere Forscher, denen sich auch der Verf. anschließt, halten die Reizung der Irisränder für die Haupt- ursache der Linsenregeneration, da in allen Fällen die Entfärbung der Iris und eine Wucherung ihrer Zellen zu beobachten ist. Karoline Reis. Speisezettel des Frosches. — Gelegentlich einer Sektionsübung fiel mir der ungemein stark und straff gefüllte Magen eines über 9 cm großen Exemplares des Seefrosches (Varietät vom grünen Teichfrosche, Rana escu- lenta) auf. Als auf mein Geheiß der Magen ge- öffnet wurde, zog der betreffende Schüler eine Maus hervor, die ausgestreckt rund 8 cm lang (ohne Schwanz) war. Es ist mir beinahe uner- klärlich, wie der Frosch diesen gewalligen Bissen hat hinunterwürgen können. Die Maus war noch sehr wenig verändert, also wohl kurz vor dem Fang am Nachmittage vom Frosche aufgenommen. Ob er sie lebend verspeist hat, läßt sich natürlich nicht entscheiden , obgleich gerade diese F"rage sehr interessant ist, doch erinnere ich mich noch nirgends gelesen zu haben, daß ein Frosch Mäuse fängt oder auch nur frißt. \'erdächtigend für ähnliche Räubereien ist aber noch der Befund in einem anderen F"roschmagen , der einige Vogel- federn betrifft. — Eine weitere Revision der übri- gen Froschmagen ergab noch eine bunte Folge von Kerbtieren und Schnecken, nämlich: Spanner- raupen, Wasserskorpione, Wespen, Libellen, Flie- gen, Blattkäfer, 2 Nacktschnecken. Alle diese Tiere waren vollständig verschluckt, auch die ziemlich großen, langbauchigen Libellen. Magdeburg. Dr. O. Rabes. Bücherbesprechungen. E. Zschimmer, Eine Untersuchung über Raum, Zeit und Begriffe vom Stand- punkte des Positivismus. Leipzig, Verlag von W. Engelmann, 1906. 54 S. — Preis 1,20 Mk. Es ist erfreulich , daß sich die Versuche , die Dinge und Vorgänge von positivistischem Standpunkte aus zu betrachten und das Vorgefundene eingehend zu beschreiben, trotz starker Gegenströmungen mehren. Auch die vorliegende Schrift ist in kritisch - empiri- schem Sinne gehalten und behandelt das Wesentliche des Gestalt- und des Zeittatsächlichen, insbesondere den Begrifl^ der Zeit und der .\nderung, hebt die Eigentümlichkeiten von Sinnlichkeit, Erinnerung und Vorstellung und deren Verknüpfungen hervor, um zum Schlüsse das Charakteristische des Begriffes und der Begriffsbildung zu untersuchen. Im Gegensatze zu F. Dreyer, der die drei- dimensionale Gestalttatsächlichkeit durch eine zwei- fach-mannigfaltige Gesichtstatsächlichkeit und durch eine hinzutretende hypothetische, metageometrische Auffassung zustande kommen läßt, sucht Zschimmer nachzuweisen, daß man auch direkt zum Begrift' einer Dreidimensionalität geführt werde. Indes dürfte der Verfasser die Dreyer'sche Auffassung nicht wider- legt haben. Auch mit der Einteilung der Tatsäch- lichkeit als eines Ganzen in das , .gegebene Sein", das „Neue" und die „.Änderung" wird man schwerlich sich befreunden. Der zweite Teil des Werkchens, der sich auf Sinnlichkeit, Erinnerung, Vorstellung und deren Ver- N. F. VHI. Nr. i Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 15 knUpfung, sowie auf das Eigentümliche des liegriffes und der Hegriftsbildung bezieht, verdient volle An- crkenninig. Gut sind ferner die eingeflochtenen kri- tischen Bemerkungen, in denen sich Z schimnuM- rait Kant auseinandersetzt. .^ngersbacll. Dannenberg, (". eologie der Steinkohlen- lager. ]. Teil. Gebr. Bornträger in IIlmIIu. kioS. — Preis 6,50 Mk. Es ist sehr verdienstlich, daß sich Verfasser der Mühe unterzogen hat, eine Geologie der Steinkohlen- lager zu sclirelben, und zwar sei gleich von vornherein betont , daß es sich im wesentlichen um eine rein stratigraphische Steinkohlengeologie handelt. In bciiuemer und zuverlässiger Weise findet man dies- bezüglich alles zusammengestellt, und zwar werden in dem vorliegenden I. Teil besprochen : das Ruhrkohlen- revier, die .Ablagerungen von Ibbenbüren und Osna- brück, das Aachener Revier 1 natürlich mit Einschluß der neuerdings bekannt gewordenen Fortsetzungen desselben z. B. bei Limburg), das Pfalz-Saarbrücken- i,othringer Revier, das niederschlesisch- böhmische Revier und das oberschlesisch - mährisch - polnische Revier. Verfasser hat sich bei der Fülle von Tat- sachen, die in Frage kommen und bei der auch hier, wie in den meisten anderen Disziplinen unermeßlichen Literatur, eine ganz gewaltige Aufgabe gestellt und, wie gesagt, hinsichtlich der rein stratigraphischen Dar- stellung ist das Buch, soweit es bis jetzt vorliegt, sehr wertvoll. Es ist für den Einzelnen gar nicht mehr möglich alles das, was für die Behandlung einer Geologie der Steinkohlenlager in Betracht kommt, vollständig zu beherrschen. Das zeigt sich namentlich in der Einleitung des Buches, die sich mit der Klassifikation der Steinkohlen und ihrer Bildung und mit damit Zusammenhängendem beschäftigt. Die Paleobotanik, die hierbei mit in Rücksicht zu ziehen ist, ist eine dermaßen schreibfreudige Disziplin, daß es da wahrhaftig kein Wunder ist, wenn selbst ein gewissenhafter .Autor wie Dannenberg hier gelegentlich die wichtigsten und wertvollsten Literaturerscheinungen nicht kennt, die ja auch leicht in der Fülle der wert- losen Masse untergehen, jedoch äußerlich bemerkens- werterere Erscheinungen von Dilettanten auf paleo- botanischem Gebiet zitiert, vor denen man geradezu warnen müßte. Wir befinden uns jetzt in der Periode der Kompendien, d. h. der Zusammenfassung wichtiger Wissensgebiete, und wer ein solches Kompendium hefert, wie dies Dannenberg durch seine Geologie der Steinkohlenlager tut, der erwirbt sich den Dank derjenigen, die diese Disziplin zu berücksichtigen haben und dadurch viele Zeit, die beim Studium von Spezial- literatur darauf gehen würde , ersparen. Ich glaube aber, daß wir in einer späteren Zukunft doch bei der Bearbeitung solcher Kompendien, soweit es sich um so schwierige Gebiete handelt wie das vorliegende, dazu kommen werden, eine gemeinsame Bearbeitung verschiedener in Betracht kommender Fachleute zu erreichen. Da hierbei eine sehr kenntnisreiche, ver- ständige, ausfeilende Redaktion notwendig wird, be- gegnet solch ein Plan allerdings recht großen Schwierig- keiten, und vorläufig wird es d.iher wohl noch lange dabei bleiben, daß Einzelne sich der Mühe unterziehen und das Wagnis unternehmen, die Gesamtgegenstände in zusammenfassender Form zu behandeln. Was da- bei einem Einzelnen möglich ist, das hat Dannenberg in dem ersten Teile seines Werkes erreicht. P. Prof Dr. Konrad Keilhack, Lehrbuch der prak- tisch e n Geologie. .Arbeits- und Untersuchungs- nuthoden auf dem Gebiete der Geologie, Minera- logie und Paläontologie. 2. völlig neu bearbeitete .Auflage. Mit 2 Doppeltafeln und 348 Abbildungen im Text. Stuttgart, Ferdinand Encke, 1908. — Preis 20 Mk. Die zweite Auflage enthält Beiträge verschiedener anderer Autoren, so von E. v. Drygalski, E. Kaiser, P. Krusch, S. Passarge, Ä. Rothpletz, K. Sapper und A. Sieberg. Das Werk ist inhaltlich um etwa die Hälfte um- fangreicher geworden als die erste Auflage. Wir haben seinerzeit auf das Buch hingewiesen und die Wichtigkeit desselben für jeden , der mit der Praxis der Geologie zu tun hat, hervorgehoben ; aber auch derjenige, den wesentlich nur die theoretische Geo- logie interessiert, muß in dem Falle, daß er sich ein Urteil über die Zuverlässigkeit gewonnener Resultate bilden will , von der Methodik , durch welche die Resultate gewonnen wurden, Kenntnis nehmen. Auch nach dieser Richtung hin hat das vorliegende Buch einen Wert. Es ist so ausführlich und umfassend, daß derjenige, der in ihm einen Rat sucht, sich wohl kaum vergebens an das Buch wenden wird. Es zer- fällt in 3 große Teile, nämlich in I. Arbeiten im Felde, II. Arbeiten im Hause, III. Paläontologische Methoden. Jeder dieser Abschnitte zerfällt in eine Anzahl Kapitel, die in den beiden ersten Abschnitten unter folgende Gruppen zusammengefaßt sind : I. A. Die geologische Kartenaufnahme , B. Besondere geo- logische Beobachtungen , C. Aufsuchung und Unter- suchung technisch nutzbarer Ablagerungen, D. Unter- suchungsmethoden das Wasser betreftend. Der II. Ab- schnitt zerfällt in : A. Methoden der Bodenunter- suchung, und B. Mineralogisch-petrographische Me- thoden. i) Prof H. Klingelhöffer, Leitfaden der Phy- sik. 187 Seiten mit 334 Abbildgn. Gießen, E. Roth, 1908. — Preis geb. 2 Mk. 2) K. Fufs und G. Hensold, Lehrbuch der Physik. 55S S. mit 448 .Abbild, und Spektral- tafel. Freiburg i. B., Herder, 1908. — Preis 5,30 Mk., geb. 6 Mk. 3) Prof Dr. Breitfeld, L e i t f a d e n für den Unter- richt in der Xat urlehre. 128 Seiten. Dazu I Heft mit Abbildungen (29 Seiten). Leipzig, Degener, 1908. — Preis 1,50 Mk. -|- i Mk. i) Dieser Leitfaden enthält nur das Wichtigste, er ist für die Unterstufe bestimmt. Die Figuren sind vielfach nicht ganz einwandfrei. So fehlt bei der Feuerspritze der Stützpunkt des Hebels, ebenso der Scheibe der Elektrisiermaschine das Achsenlager, bei den Thermometern sind die Lumina der Röhren fast so dick wie die Kugeln, der gezeichnete Phonograph i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. vin. N. I könnte nie funktionieren, die perspektivischen Ellipsen sind durchgängig viel zu spitz gezeichnet. Im Text sind uns keine Stellen aufgefallen, die zu beanstanden wären. 2 ) Das klar und elementar geschriebene Buch von Fuß und Hensold ist sehr reichhaltig und eignet sich namentlich für Seminare und höhere Töchter- schulen. Die neue Auflage tragt dem Fortschritt der Wissenschaft im allgemeinen Rechnung, doch sollte unseres F.rachtens die Radioaktivität ausführlicher be- sprochen werden. 3) Der kurze I-eitfaden von Breitfeld faßt die wichtigsten Unterrichtsergebnisse der Physik und Chemie mit wenigen Worten zusammen und ist daher für Wiederholungen seitens des Schülers "gut geeignet. Ursprünglich war diese Ausarbeitung für die Bau- gewerkschule in .Münster bestimmt, demgemäß ist die Auswahl den Bedürfnissen dieser Schulgattung ange- paßt. So wird z. B. die Spektralanalyse nicht er- wähnt. In dem Leitfaden befinden sich keine Ab- bildungen. Das die Abbildungen enthaltende Heft gibt eine Reihe von Vorlagen zu Tafelzeichnungen, die zumeist von Oberlehrer Wohlgeboren stammen. Auch diese geschickt entworfenen Zeichnungen können dem Schüler einen guten Anhalt für Wiederholungen bieten. Kbr. Anregungen und Ant\vorten. Zur Nachricht an die Leser. — Um mehr Platz zu gewinnen, wurde der Titelkopl' des redaktionellen Teiles durch VVeglassung der Vignette usw. wesentlich verkleinert, während der Umschlag diesbezüglich seine bisherige Form bewahrt liat. — Red. Herrn Seh. in Kr. — Rotfärbung der Hölzer kommt wiederholt vor. Unter unseren einheimischen Hölzern zeichnet sich das Erlenholz (von Aliiiis glutiiwsn L.) da- durch aus, daß es im frischen Zustande gelbrot, nach dem 'i'rocknen hell rostrot wird. Auch das Kirschbaumholz zeigt im Splint eine rötliche Färbung. — In den Tropen gibt es eine ganze Reihe von Rothölzern, die eine mehr oder minder intensive rötliche Farbe zeigen. Sic stammen gröl3ten- leils von Arten der Leguminosen-Gattung Caesalpinia ab, und dienen zum Färben, zur Fabrikation von Lack und Tinte oder werden in der Kunsttischlerei verwendet. Solche Hölzer sind z.B. das Fe r nam b uk-H olz (von C ifc/(/»(7.'rt aus Brasilien), das Sappan-Holz (von C. sappan L, aus dem tropischen Asien), von hellroter Farbe. Die Rotfärbung rührt in diesem . Falle von dem sogenannten Brasil in her, das sich in dem inneren älteren Teile des HolzUörpers (dem Kernholz) ab- lagert. Außer Caesalpinia gibt es noch einige andere Gattungen der Leguminosen , die rote Hölzer liefern. So besonders .■\rten der Gattung Pterocat pus ; Pt. lialbcrgioides Ro.\b. von den -Xndamanen liefert das sog. Andaman-Rotholz (oder An da man Padouk). Mehrere afrikanische Arten der Gattung besitzen rotes Holz. Von Bapliia nitida , einer in Westafrika (Sierra Leone) heimischen Leguminose, stammt das Cam-Wood (afrikanisches Rotholz); es soll ursprüng- lich weiß sein und erst an der Luft die rote Färbung anneh- men. Es ist eine weit verbeitete Erscheinung, daß die Fär- bungen bei Einwirkung von Licht und Luft sich verliefen oder überhaupt erst dann auftreten. 11. Harms. Herrn H. — Geologische Anfänger- Literatur und geologische Vereine. — Ein sehr empfehlenswertes Buch, das wohl allen lliren .Ansprüchen genügen dürfte, ist die , .Vorschule der Geologie" von Joh. Wallher, die kürzlich in 3. Auflage (Jena 190S) zum Preise von 2,50 Mk. erschienen ist. Dort finden Sie auch eine Zusammenstellung aller guten geologischen Führer und Karten. Eine wesentliche Förderung in Ihrem geologi- schen Interesse würden Sie sicherlich durch den Anschluß an einen der bestehenden geologischen \'ereine gewinnen. Es sind deren im Deutschen Reiche zurzeit vier vorhanden : I)ic Deutsche geologische Gesellschaft, der Oberrheinische geologische Verein, der iN'iederrheinische geologische Verein, der Niedersächsische geologische Verein. A^on allen vier Gesellschaften werden namentlich die geologischen Exkur- sionen lebhaft gepflegt. Die Deutsche geologische Gesell- schaft mit dem Sitze in Berlin , eine Vereinigung aller deut- schen Fachgenossen , hält regelmäßige Monalsversanmilungen in Berlin und jährlich eine große allgemeine Versammlung an wechselnden Orten ab. An die letztere schließen sich etwa 14 Tage dauernde Exkursionen an. Jedes Mitglied erhält die wissenschaftlich bedeutende Zeitschrift, jährlich einen starken Band. Die drei anderen V'ereine besitzen entsprechend ihrem wesentlich geringeren Jahresbeiträge kleinere Publikations- organe. Alle il>re jährlich niehrfacli wiederholten Tagungen wechseln mit dem Orte und sind stets mit ein- oder mehr- tägigen E.\kursionen unter fachmännischer Leitung verbunden. Die derzeitigen Vorsitzenden der vier Vereine sind der Reihe nach : Prof. Dr. H. Rauff, Berlin (Bergakademie) ; Geh. Ober- bergrat Prof. Dr. Lepsius, Darmstadt ; Geheimrat Prof. Dr. Seinmann, Bonn ; Prof Dr. H. Stille, Hannover. Str. Herrn K. L., llalver i. W. — Ihr Ofenrohr ist in diesem Sommer stark gerostet. Sie schreiben, durch den Lack seien viele mehr oder weniger große, rotbraune Tropfen durchge- brochen. Es scheint sich, soweit man dies nach Ihren Schil- derungen zu beurteilen vermag, lediglich um eigentümliche Kosterscheinungen zu handeln. Ist der Lacküberzug an einer Stelle, die nicht größer zu sein braucht, als eine Stecknadel- spitze, beschädigt, sei es nun infolge ungenügenden Anstrichs oder durch Abspringen — stets wird sich unter den hierzu günstigen Bedingungen (Luft und Feuchtigkeit) Rost bilden. Nach der Gleichung Fe. -f O3 + HjO = Fe2(OH)„ ent- stehen aus 56 g Eisen 107 g Oxydhydrat (Rost), also rund das doppelle Gewicht Rost. Da nun außerdem das spezifische Volumen der letzteren größer ist als das des Eisens, so nimmt der aus einer gewissen Menge Eisen entstehende Rost einen viel größeren Raum ein. Nun kann sich diese entstehende Rostmasse nur rückwärts durch die kleine Öffnung hindurch ausbreiten , wächst also hier heraus und setzt sich an der Oberfläche des Lacks rund um die Öffnung in Form eines Tropfens an. Hat die Einwirkung lange genug stattgefunden, ist das Eisen an der betreffenden Stelle durchgefressen , so bricht natürlich auch der Rost im Inneren des Ofenrohrs durch. Von einer Einwirkung im Heizstoff enthaltenen Schwefels kann nicht die Rede sein, da nur glühendes Metall Gase diffundieren läßt, und der Angriff, wie Sie schreiben, von außen vor sich geht. Je nach dem Grade der Luftfeuchtigkeit ent- hält der Rost natürlich mehr oder weniger Wasser. Heizen Sie also den Ofen, so verdampft dieses und der Rost bäckt fest an. Wenn Sie die Tropfen mit einem feuchten Lappen abwischen, werden Sie ebenfalls die schadhafte Stelle im Lacküberzug sehen. Sie haben beobachtet, daß der An- griff dann wieder beginnt, wenn Sie das Rohr einsetzten. Das ist ganz richtig. Durch den Zug wird durch bereits schad- hafte Stellen des Eisens die Luft angesaugt, und mit ihr Feuchtigkeit, und so geht die Rosterscheinung weiter. Auch wenn das Rohr unten nicht verstopft war, findet dies statt, weil dann besonders innen viel Feuchtigkeit mitgerissen wird. Lb. Inhalt: Prof .\. Pütt er: ,,Die Ernährung der Wasserticre" und ,,der Stoffhaushall des Meeres". — Sammelreferate und Übersichten: Werner Mecklenburg: Neues aus der organischen Chemie. — Kleinere Mitteilungen: Jan G r o r h ra ali c ki: Über die Linsenregeneration bei den Knochenfischen. — Dr. O. Rabcs: Speisezettel des Frosches. — Bücherbesprecbungen : E. Zschimmer; Eine LTntersuchung über Raum, Zeit und Begriffe vom Stand- punkte des Positivisnius. — fiannenberg; Geologie der Steinkohlenlager. — Prof. Dr. Konrad Keilhark: Lehr- IukIi der praktischen Geologie. — Sammel-Referat über physikalische Lehrbücher. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Polo nie, Groß-LichterfeldeWest b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pälz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Nene h'uli;e VIII. Hau,!; der gan/eii Reihe XXIV li.md. Sonntag, den lo. Januar igog. Nummer 3. ,,Die Ernährung der Wassertiere" und „der Stoffhaushalt des Meeres". Zwei Referate über Prof. A. Püttei's gleichnamige Arbeiten (Zeitschr. f. allg. Physiol. Bd. VlI, 1907, p. 283—368) [Nachdruck veiboten.] von Dr. Friedrich von Möller, Schlofl Sommerpahlen, Livland. nämlich die im Meervvasser gelösten komplexen C- Verbindungen, von denen bereits in Pütter's „Ernährung der Wassertiere" (a. a. O.) die Rede war, und die hier sehr ausführlich behandelt wer- den, nachdem zuvor die chemische Zusammen- II. Der Stoffhaushalt des Meeres. Vom „Haushalt der Natur", von dem so oft in der biologischen Literatur die Rede ist, können uns nur quantitative Untersuchungen einen rich- tigen Begriff verschaffen. Mensen und seiner Schule verdanken wir eine generelle Orientierung über den Organismenbestand der verschiedensten Meere zu den verschiedensten Jahreszeiten. ,,Was dagegen noch vollständig fehlt, ist die Kenntnis des Stoffumsatzes dieser Organismen in der Z e i t e i n h e i t." I. Der Stoffbestand des Meeres. Über die geformten Stoffe der Meere haben wir also eine zur allgemeinen Übersicht genügende Kunde, über eine Reihe der gelösten Stoffe gleichfalls, aber eine höchst wichtige Stoffgruppe ist der Bestimmung bisher völlig entgangen, Setzung der Meeresorganismen erörtert worden ist. a) Die Meeresorganismen. Die folgenden Angaben sind umgerechnet aus Lohmann's Zahlen für das Plankton von Syrakus, welche, da L o h m a n n das Wasser durch Papier oder Seide filtrierte, auch die dem Plank- tonnetz entgehenden winzigen Organismen be- treffen. „Von dem Volumen ist auf das Lebend- gewicht geschlossen unter Annahme eines spezifi- schen Gewichtes von 1,030." Die (aschehaltige d. Ref.) Trockensubstanz wurde zu 20,7"/,, des Lebendgewichtes angesetzt. „Tabelle I (auf 1000 1 Meerwasser bezogen d. Ref.) Zalil der Volumen Lebendgewicht Trockensubstanz mg Individuen cmm mg (aschehaltig d. Ref.) Diatomeen i,ioo,;oo 10,2 10,60 2,20 i Pyrocysteen 65 0,9 0,93 0,19 Peridineen Gymnodineen 404,250 0,66 0,68 0,14 Peridiniaceen 37,450 0,7 0,72 0,1.5 .andere Flagellaten 38,680 0,04 0,04 0,08 0,00828 d. Ref.) Halosphacra 7,760 0,7 0,72 0,15 Protophyten unsiclicrer Stellung 494,100 3,8 3,92 0,81 Rhizopoden 5.9S5 0,8 0,83 0,17 Flagellaten 264,400 0,27 0,28 0,06 ( Tintinnen Cihaten [ [ andere Ciliaten 19,830 0,06 0,06 0,01 35.295 ) — — -Metazoen 17,325 34,7 36,00 7,50 (7,45 d. Ref.) Bakterien 785,000,000 0,8 0,83 0,17" „Es beträgt dann die Menge der Trockensubstanz (aschehaltig d. Ref.) in 1000 1 aus Protophyten 3,70 mg ( 3,648 mg d. Ref.) ,, Protozoen 0,24 ,, ( 0,24 ,, ,, ,, ) ,, Bakterien o, 17 ,, (0,17 ,, ,, ,, ) ,, Metazoen 7,48 ,, ( 7,45 ,, ,, ,, j Summa: 11,59 mg (11,508 mg d. Ref.)" „Für die Hauptvertreter der großen Gruppen der Planktonorganismen gibt" Brandt ,, zusammen- fassend den Gehalt der Trockensubstanz an Eiweiß, Kohlehydraten, Fetten, Chitin und Asche. Von Diatomeen wurde Chaetoceras, von den Peridineen Ceratium tripos untersucht, als Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 2 Vertreter der Metazoen gelangten Copepoden zur Analyse." „Tabelle II. ■) Zusammensetzung der häufigsten Planktonorga- nismen nach Brandt. a) auf loo Teile (aschehaltige d. Ref.) Trockensubstanz Diatomeae I'eridineae Copepoda Chaetoceras Ceratium Iripos spec. Eiweiß 10,7 '3.° 59'° Kohlehydrate 21,5 So,6 20,o Fette 7,0 1,5 7i7 Chitin — — 5>3 Asche 6^,3 5,0 9,3 Summa: 100,0 100,0 100,0 bl auf 100 Teile aschefreie Trockensubstanz C ; N = I : 9,5 C : N = I ; 20,0 C : N ^ i : 4,8 (N : C = I : 9,6 (N : C = I : 20,5 (N : C = I : 4,8 d. Ref) d. Ref.) d. Ref.) Eiweiß 31,0 13,5 65,0 Kohle- hydrate 62,0 85,0 22,0 Fette 7,0 1,5 7,7 Chitin -— — 5,3 Summa: 100,0 100,0 100,0" Aus Tabelle II und der vorhin angegebenen Menge der aschehaltigen Trockensubstanz in 1000 1 berechnet Verf. annähernd die Zusammensetzung der aschefreien Trockensubstanz aus 1000 1 Meer- wasser und ihre Verteilung auf die Gruppen des Plankton und erhält : „Tabelle III.-) Die Flanktonorganismen aus 1000 Litern ent- halten : ') Am Kopfe der Tabelle IIb, wie auch auf p. 330 und 331, sind m. E. die Symbole C und N verwechselt worden, ich erhalte außerdem bei Diatomeen und Peridineen ein etwas anderes Verhältnis von N und C. Bei dieser Kontrollberech- nung ergab sich folgende prozentische Zusammensetzung der aschefreien Trockensubstanz der Diatomeen Peridineen Copepoden C SP °/o C 47,2 o/„ c 53,8 «/„ H 6,7 „ H 6,2 „ H 7,1 „ N i;,2 „ N 2,3 „ N 11,4 ,, O 38.9 .. O 45,5 „ O 29,5 ,. S 0,7 ,, S 0,3 „ S 1,6 „ 101,5 »/o 101,5 7o 103,4 "/o Die Fehler in der Prozentberechnung sind absichtlich nicht ausgeglichen. Zugrunde gelegt wurden dieser Berechnung folgende Werte und Formeln : Eiweiß enthält 55 »/„ C, 7 »/„ H, 17 »/„ N, 24% O, 2,4 <•/„ S (Summa: 105,4) (Landois Physiologie, 9. Aufl., 1896, p. 12) mit Fortlassung der ersten Dezimalstelle bei H und N.) — Die Kolilehydrate von der Zusammensetzung CoHioOs enthalten: 45.5% C, 6% H, 49,5"/,, O (Summa: 101,0). — Die Fette enthalten 76,5 "/„ C, 12,0% H, 11,5% O (Summa: 100,0) (Landois, a. a. O.). — Das Chitin, ein N- haltiges Glykosid von der Formel C,5 Hog N.^ 0,„ enthält 45,6 »/„ C, 6,5''/„ H, 7,3 7o N, 40,6 o/„ O" (Summa: 100,0.) (Landois, a. a. O. p. 491). D. Ref. ^) Ich bemerke hierzu, dali die Summe der in Tabelle 111 verteilten Stoffe 9,84 mg beträgt, während vorhin für die Menge der aschehaltigen Trockensubstanz aus looo 1 11,59 mg an- gegeben war. Die Differenz beträgt 1,75 mg und stellt offenbar den Aschengehalt dar. Davon haben dann die Pro- tophyten 1,03 mg, Protozoen und Bakterien 0,01 mg und die Metazoen 0,71 mg .Aschengehalt. D. Ref. mg mg mg mg Protophylen 0,40 2,20 0,07 — Protozoen u. Bakterien 0,05 0,34 0,01 — Metazoen 4.40 1,50 0,52 0,35 Summa 4,^5 4,04 0,60 0,35' ... ... Kühle- „ ,, ,,,.,. C:N(N:C Liweiß , , . Fette Lhitin , „ /■% hvdrate d. Ref.) 1:4,6 b) Die gelösten Stoffe. I. Der Sauerstoffgehalt. DerSauerstoft'gehaltdesMeerwassersimGolfvon Neapel unterliegt sehr bedeutenden Schwankungen. ,,Bei gleicher Temperatur wurden an derselben Stelle im Meere zu gleicher Tageszeit an verschiedenen Tagen" folgende Werte beobachtet (im Liter): bei 12,8" — 6,8 mg; 7,0 mg; 8,0 mg, „also Unterschiede von 17— iS^n des ganzen Wertes. Bei 13,1" fanden sich folgende Zahlen: 5,8; 7,3; 7,8; 7,8; also noch bedeutendere Schwankungen (34 "/^ !)" ,,Es wurde stets Oberflächenwasser untersucht." (Mittelzahlen , Der Kohlenstoffgehalt. „Tabelle VI. pro Liter Meerwasser. D. Ref.) Kohlensäure flüchtige Säuren andere höhere Säuren, Kohlen- wasserstoffe usw. Menge Kolilenstoff- Sauerstoffkapazität gehalt in mg in mg in mg 99 27 o 36 23 43 70 4-' 137 (Summa : 205 92 iSod. Ref.y 3. Der Stickstoffgehalt. ,,Bei den geringen Mengen, in denen der Stickstoff im Meerwasser enthalten ist, liegen die Werte, die man erhält, gerade an der Grenze des Bestimmbaren und können daher nur die Kenntnis der Größenordnung vermitteln, während der prozentuale Fehler sehr hoch ist." Es beträgt in einem Liter Meerwasser der Stickstoffgehalt: Kjeldahl-Stickstoff . 0,56 mg Nitrit- und Xitrat-Stickstoff 0,1 !S mg Gesamtstickstoff 0,74 mg Es kann aber nach Ansicht des Verf dieser Wert um etwa die Hälfte zu niedrig sein. 4. Das Verhältnis von Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff im Meerwasser. Im Liter Meerwasser ist das Verhältnis von N: C :0 ^ 0,74 : 92 : 7,6 (= i : 125 : 10,25 d. Ref.). Dagegen ist im Plankton C : N (N : C d. Ref.) = I : 10 (bei Diatomeen i :9,6, bei Peridineen 1:20,5, bei Copepoden 1:4,8, vgl. Tabelle IIb d. Ref). „In höchst auffälligem Mißverhältnis zur Menge des Kohlenstoffs steht jene des gelösten Sauerstoffs, der im Mittel der Bestimmungen 7,6 mg beträgt (pro Liter d. Ref)." Die Zahlen der angeführten Tabelle VI zeigen, „daß die Mengen Sauerstoff, die die organischen Verbin- dungen eines Liters zur vollständigen Oxydation N. F. VIII. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 19 verbrauchen würden , viel größer sind als der disponible Sauerstoff". „Die Sauerstoffkapazität der unvollständig oxydierten Verbindungen beträgt pro I 1 180 mg, während nur 7,6 mg oder nur wenig über 4 "'„ dieser Menge verfügbar sind." c) Vergleich dergelösten und geformten Stoffe im Meere. „Kin Vergleich der Stoffmengen, die im Meere gelöst sind, mit jenen, die in Form von Organis- men darin leben, zeigt, wie außerordentlich ge- ring die Masse der geformten Stoffe denen der ungeformten gegenüber ist." „In looo 1 sind an gelöstem C 92,000 mg, an gebundenem in Orga- nismen nur 4 mg, d. h. in Lösung befindet sich 23,000 mal mehr wie in den Leibern der Plankton- wcsen. Für den .Stickstoff beträgt die Menge in Lösung, 740 mg, in Organismen 0,4 (ca. ' jq der C-Menge d. Ref.), so daß 1850 mal mehr" im Meerwasser gelöst ist als in den Organismen vor- handen. „Es wird also auch für C und N nicht be- hauptet werden können, daß sie im gewöhnlichen Sinne ,im Minimum' vorhanden wären, und damit wird die Frage von den Grenzen der Produktion im Meere von neuem einer Diskussion bedürftig, nachdem Brandt sie dadurch zu lösen versuchte, daß er annahm, der Stickstoff wäre im Minimum vorhanden." „Die Planktonmengen, mit denen hier gerechnet wird, beziehen sich auf einen relativ sehr planktonarmen Meeresteil, die Fänge der Ostsee sind um das Vielfache reicher, und hier würden die Zahlen des Überschusses der gelösten über die geformten Stoffe sehr viel ge- ringer ausfallen, aber auch hier würden die Plank- tonorganismen insgesamt immer noch viel weniger Stickstoff enthalten, als in Form von NH., und Nitrat (im Meerwasser d. Ref) vorhanden ist. Die Menge des Kjeldahl -Stickstoffes ist für die Ostsee unbekannt, und ebenso jene des komplex gebundenen Kohlenstoffs. Es ist- daher nicht zweckmäßig , die Planktonmengen der Kieler Bucht mit den Mengen gelöster Stoffe im Golf von Neapel zu vergleichen, während das Plankton von Syrakus als gut zum Vergleich brauchbar erscheint." II. Der Stoffumsatz im Meere. „Die bisher gegebenen Daten bezogen sich nur auf den Stoffbestand in einem gegebenen Augenblick, oder auf die Änderung von Tag zu Tag oder mit den Jahreszeiten bei ungehindertem Stoffaiistausch des untersuchten Wasservolumens mit dem übrigen Meerwasser und mit der Atmo- sphäre. Was wir auf diesem Wege kennen lernen", „sind die Schwankungen um einen Gleich- gewichtszustand", „in dem die Summe' aller Prozesse, die im entgegengesetzten Sinne verlaufen, etwa gleich Null wird, oder doch nur sehr gering und zwar periodisch wechselnd, bald positiv bald negativ ist, so daß der Zustand in einem gegebenen Moment sich nur wenig ändert." Bei Erhaltung dieser natürlichen Bedingungen des Gleichgewichtes lassen sich Schlüsse nur auf das Verhältnis der einzelnen Partialprozesse ziehen, nicht aber auf die absolute Intensität eines jeden von ihnen. Um nun einen Einblick in die Umsatzgeschwindigkeit zu erhalten, muß man die Bedingungen für das Gleichgewicht stören, „und nun die Änderung des Zustandes in der Zeiteinheit beobachten", „wobei für das unter- suchte Wasserquantum der Austausch mit der Umgebung ausgeschlossen werden muß". Nachl, ohmann kann man durch ein Papier- filter, das von den Bakterien fast quantitativ passiert wird, diese vom übrigen Plankton trennen. „In einer mit dem Glase von der Oberfläche ge- schöpften Wasserprobe sind Metazoen meist über- haupt nicht vorhanden, so daß der Organismen- bestand zusammengesetzt ist aus Algen, Protozoen und Bakterien. Da die Protozoen, wie gezeigt werden wird, nur einen sehr geringen Anteil am Gesamtumsatz nehmen, so können wir sagen: In den beiden Proben haben wir 1. unfiltriert: Algen -}- Bakterien 2. filtriert: Bakterien." „Von jeder Probe werden zwei Versuche an- gesetzt um den Sauerstoffverbrauch zu ermitteln, von denen der eine im Dunkeln, der andere im Licht gehalten wird." „Während in der Probe, die unfiltriert im Licht aufgehoben wird, die Bedingungen für ein Gleich- gewicht nicht prinzipiell gestört sind, ist in den beiden filtrierten Proben durch Entfernung der Algen die Hauptbedingung des Gleichgewichtes aufgehoben. In der unfiltrierten Probe im Dunkeln ist durch den Lichtabschluß ein zweifellos für das Stoffwechselgleichgewicht im Meere sehr bedeu- tungsvoller Faktor ausgeschaltet." a) Die Größe der Sauerstoffzehrung im Meerwasser. I. Sauerstoffverbrauch der Planktonbakterien. Aus 12 Beobachtungen erhält Verf. folgende Werte für den Sauerstoffverbrauch der Bakterien in einem Liter Meerwasser in 24 Stunden im Dunkeln: bei 11,0° (Mittel aus 0,15 mg bis 1,20 mg, fünf Bestimmungen) — 0,87 mg bei 13,2" (^Mittel aus 0,30 mg bis 1,42 mg, fünf Bestimmungen) — 1,38 mg bei 14,1" (Mittel aus 1,24 mg bis 2,15 mg, zwei Bestimmungen) — I.7S "lg (1.695 d. Ref.). Trotz großer Schwankungen ergibt sich also hier eine bedeutende Steigerung des Sauerstoff- verbrauches mit der Temperatur. Die Wirkung des Bakterienstoffwechsels in den Tropen wird also bedeutend größer sein als in kühleren oder gar kalten Meeren. Im Lichte beträgt der Sauer- stoffverbrauch der Bakterien weniger. — Verf. fand schließlich folgende Werte für den 0-Verbrauch der Bakterien unabhängig vom Licht: 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 2 bei 11,6° - 0,78 mg „ 12,2« — 1,17 „ „ 13,2° — 1,22 „ also im Mittel: bei 13,1 verbrauch. bei 13,3» — 1,23 mg „ I3>9" — i>74 .. „ 14,1° — i,5.S „ 1,29 mg- Sauerstoff- 2. Der Sauerstoffumsatz der Planktonalgen. .,Um die Größe der Sauerstoffproduktion der Planktonalgen kennen zu lernen, muß man die Sauerstoffzehrung (m. E. wäre Sauerstoff u m s a t z richtiger d. Ref) des unfiltrierten Wassers im Licht untersuchen, und mit dem gleichzeitigen Sauerstoff konsum der Planktonbakterien vergleichen. Es ist in allen Fällen eine deutliche Sauerstofif- produktion zu konstatieren, die mit steigender Temperatur steigt." „Die Werte schwanken zu sehr, als daß es Zweck hätte, die Einzelheiten zu verfolgen, es ist vielmehr das Beste, lediglich den Mittelwert aus allen vierzehn Bestimmungen zu ziehen und zu sagen: bei 13,0" beträgt die Pro- duktion von Sauerstoff pro Liter und Tag 0,98 mg." „Es stellt diese Sauerstoffmenge das Maß für die Überproduktion der Algen dar, denn sie (und die Bakterien d. Ref.) verbrauchen in ihrem Stoff- wechsel Sauerstoff, decken nicht nur diesen ganzen Bedarf, sondern liefern noch die angegebene Menge mehr." Aber auch „im Dunkeln haben die Planktonalgen nicht nur ihren Sauerstoffbedarf gedeckt", sondern es sind pro Liter in 24 Stunden noch 0,18 mg freigemacht worden. Dieser Prozeß ist seiner Natur nach unbekannt, ist aber wahr- scheinlich auf die zahlreichen Bakterien zurück- zuführen, welche in der Schleimhülle der Diato- meen ihren Sitz haben, und auf keine Art von den Diatomeen getrennt werden können. Es ist ja bekannt, daß z. B. Nitrobakterien CO'- im Dun- keln zu spalten vermögen. 3. Methodische Fehler in der Bestimmung des Sauerstoffumsatzes. Die der Titrationsmethode zur Last zu legen- den Fehler sind sehr gering, etwa i "/„. Trotzdem ist der Sauerstoffgehalt bei gleicher Temperatur an verschiedenen Stellen sehr verschieden, z. B. betrug der Sauerstoff verbrauch der Bak- terien im Dunkeln am 1 8. F'eb. 06 — 1,24 mg, am 28. nur 0,30 mg — im Licht am 18. 0,94 mg, am 28. 0,53 mg; die Sauerstoffproduktion der Algen im Licht am 18. 0,19 mg, am 28. 0,87 mg — im Dunkeln am 18. 0,75 mg, am 28. nur 0,04 mg. Solche bedeutende Unterschiede können mit der Verschiedenheit der Zusammen- setzung des Plankton an diesen Tagen zusammen- hängen, ,, besonders die Menge der Bakterien, die einen so bedeutenden Anteil am Stoffumsatz im Meere nehmen, kann sicher in kurzer Zeit enormen Schwankungen unterliegen, wenn aus irgend- welchen Gründen die Vermehrung plötzlich an- steigt oder absinkt." „Es ist aber auch gar nicht notwendig, daß der Planktonbestand eines be- stimmten Raumteiles des Meeres sich derart ver- ändert hat, denn infolge der permanenten Meeres- strömungen untersucht man je an zwei aufein- anderfolgenden Tagen niemals Proben aus dem- selben Kubikmeter Wasser, sondern es sind stets Proben von anderen Stellen, die am nächsten Tage schon wieder irgendwo andershin transportiert sind." „Den vollen Nutzen wird man aus derartigen Be- stimmungen des Stoffwechsels erst ziehen können, wenn stets gleichzeitig die Menge und Art der Planktonorganismen gezählt, und vor allem auch der Bakteriengehalt festgestellt wird, eine Aufgabe, die allerdings die Kräfte eines einzelnen über- steigt." b) Die Intensität des Stoffumsatzes der einzelnen Komponenten des Planktons. Bei 13, 1 " verbrauchen die Bakterien aus einem Liter am Tage (innerhalb 24 Stunden) 1,29 mg Sauerstoff. Diese Leistung vollbringen etwa 1,000,000,000 Bakterien, welche 0,00016 mg asche- freie Trockensubstanz besitzen. In 24 Stunden wird 1,29 mg Sauerstoff verbraucht von 0,00016 mg aschefreier organischer Trockensubstanz, um also in einer Stunde die gleiche Menge Sauerstoff (1,29 mg) zu verbrauchen, dazu gehören 0,00016 X 24 =^ 0,0039 nig aschefreier organischer Trockensubstanz. Die aschefreie organische Trockensubstanz der Bakterien verbraucht also in einer Stunde mehr als das 300 fache ihres eigenen Gewichtes für ihren Stoffwechsel und zwar ist das nur ihr Sauerstoffverbrauch. Das heißt pro kg aschefreier organischer Trockensubstanz und Stunde mehr wie 300,000,000 mg. Der Mensch ver- braucht für I kg aschefreier organischer Trocken- substanz und Stunde ca. 1400 mg, d. h. die Bak- terien verbrauchen relativ 200,000 mal mehr. Dies erscheint nicht mehr so sehr erstaunlich, wenn wir nicht nach Gewichtseinheiten, sondern nach Oberflächeneinheiten vergleichen. „Die Oberfläche, mit der ein Organismus an sein umgebendes Medium grenzt, nimmt bei abnehmender Größe mit dem Quadrat des Radius ab, während die Masse nach der dritten Potenz (des Radius d. Ref) abnimmt, so daß das Verhältnis von Oberfläche zur Masse" sich mit abnehmendem Radius immer mehr zugunsten der Oberfläche verschiebt. „Es r'^ I handelt sich ja um das Verhältnis von -^ = - ." Wenn die Oberfläche eines einzelnen (als kugelförmig mit 0,282 /( Radius angenommenen d. Ref.) Bakteriums zu 10 ,<('' gesetzt wird, so be- trägt die Oberfläche der Bakterieimienge, deren aschefreie organische Trockensubstanz gleich 1 kg ist, 62,500 qml I^eini Menschen kommt auf 1 kg aschefreie organische Trockensubstanz eine Ober- fläche von 0,168 qm, d. h. die Oberflächenent- wicklung der Bakterien ist eine 370,000 mal so starke als die des Menschen.') ') Der Referent möclite hierzu bemerlien, daß es ihm richtiger erscheint, nicht nur die Flächenentwicklung der äußeren Haut des Menschen (ca. 1,59 qm) hier zum Vergleiche heranzuziehen, sondern auch seine sonstigen, Gase und Nähr- N. F. VIII. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 21 In gewissem Sinne ist also die Intensität des Stoffwechsels der Oberfläche proportional. „Eine derartige Erkenntnis ist, wie ohne weiteres ein- zusehen, von grundlegender Bedeutung bei der Beurteilung des Anteils, den irgendwelche Organis- men am Gesamtumsatz einer Biocönose nehmen. Wenn wirklich die Intensität des Stoffwechsels nicht der Masse, sondern der Oberfläche propor- tional ist, so liegt gerade in der Erforschung der winzigsten und meist in größler Menge vorhan- denen Organismen die Hauptaufgabe der Plankton- forschung, da diese vermöge ihrer immensen Oberfläche viel mehr bedeuten, als die größeren, der Erforschung leichter zugänglichen Wesen, deren Oberfläche sehr viel geringer ist." Immerhin ist maß- gebend für die Intensität des Umsatzes stets die spezifische Eigenart der untersuchten Organismen. Nach welchem Gesetz ändert sich nun die Zu- nahme der Intensität des Stoffwechsels (d. h. die in der Zeiteinheit von der Flächeneinheit ver- brauchte Menge von Nährstoffen) bei abnehmender Masse, oder, was dasselbe ist, bei zunehmender relativer Größe der Oberfläche? Theoretisch be- trachtet wahrscheinlich proportional der Abnahme des Radius, d. h. also : nur soviel mal wie der zweite Radius kleiner ist als der erste, um soviel mehr Masse des Organismus kommt mit dessen Oberfläche in Berührung und um soviel mal ist daher die zweite Intensität des Stoffwechsels größer als die erste. Die Erfahrungen, welche Driesch mit isolierten Blastomeren von Seeigeln machte, deutet Verf. in diesem Sinne. „Die zwei Halbblastomeren liefern zwei Blastulae, die zu- sammen nicht das Volumen der Vollblastula haben, sondern kleiner sind (Driesch). Es ist also bei den Halbblastomeren, die eine relativ größere freie Oberfläche haben, mehr Material in gleicher Zeit umgesetzt worden." ,,Man kann sich nach den Zahlen, die Driesch gibt, leicht überzeugen, daß das Mehr an Substanz, das die kleineren Blastomeren verarbeitet haben, proportional der Abnahme des Radius ist, was Driesch auch ge- funden, aber nicht in dieser Weise ausgedrückt hat." ,,Daß in diesem Falle die Steigerung des Umsatzes gerade so groß ist, wie wir theoretisch postulieren müssen , nämlich umgekehrt propor- tional dem Radius, gibt uns einen sicheren Hin- weis, daß wir mit der Annahme auf dem richtigen Wege sind, und daß für die Vergleichung der lösungen resorbierenden Oberflächen, vor allem die Oberfläche der Lungenbläschen (ca. 8l qm, Landois, Physiol., 9. Aufl., 1896, p. 206) und des Darmes; für letztere nehme ich, da mir Angaben fehlen, nur I qm an. Es ergeben sich dann 83,5 qm resorbierender Oberflächen. Das macht (bei 8,9 kg aschefreier organischer Trockensubstanz) 9,38 qm auf das kg aschefreier organischer Trockensubstanz — anstatt 0,168 qm wie der Verf. will. Die Oberflächenentwicklung der Bakterien, bezogen auf das Kilogramm aschefreier organischer Trocken- substanz, wäre dann nicht mehr 370000 mal stärker als die des Menschen, sondern nur 6663 mal. Es will mir aber scheinen, daß auch dieses Größenverhältnis schon vollkommen ausreicht, um die furchtbaren Wirkungen der winzigen patho- genen Bakterien auf den Menschen dem Verständnis näher zu rücken. D. Ref. Stoffwechselintensitäten verschiedener Organismen als Maß der Umsatz pro Flächeneinheit gewählt werden muß." ,, Unter der ersten rohen Voraus- setzung", daß alle Planktonorganismen Kugel- gestalt hätten, berechnet Verf die Gesamtober- fläche aller in looo 1 enthaltenen Glieder der Schwebefauna zu 9030 qmm, also pro Liter 9 qmm. Die einzelnen Gruppen des Plankton zeigen nun folgende Anteile an der Oberflächenentwicklung, also nach unserer Annahme auch am Stoffumsatz: „Tabelle X. Volumen Oberfläche \'olunien , '" |? Oberfläche in "/„ der des Gc- . „ "• in cmm , m qmm Gesamt- samt- ' i, j- u , obernache Volumens in Prulophyla 17,0 31.8 3>^2" 42,3 Protozoa 1,1 2,1 263 2,9 Bakteria 0,8 I■^ 3600 40,0 Metazoa 34,7 64,6 1340 14,8 Summa: 53,6 100,0 9030 100,0" „Das ist eine ganz andere Verteilung der Be- deutung, als diesen Gruppen auf Grund der Volumbestimmung zuerkannt werden konnte." „Die Bakterien machen nur etwa 1,5 "/(, des Ge Samtvolumens, aber 40"/,, der Gesamtoberfläche aus, dagegen beträgt das Volumen der Metazoen 64,6 "/ij des Gesamtvolumens, die Oberfläche nur 14,8%! III. Der Stoffwechsel des Plankton in den Seewasseraquarien der Zoologischen Station zu Neapel. Die Seewasseraquarien haben 120 mg Gesamt- kohlenstoff im Liter (gegen 92 mg C des Wassers im Golfl. Davon sind 38 mg CO'- (27 mg im Golf), 10 mg flüchtige Säuren (23 mg im Golf), und ganze 72 mg Kohlenstoffe in anderen Bin- dungen (gegen 42 im Golf). Das „Mehr an organischen Stoffen kommt vor allem in der Frak- tion jener Kohlenstoffverbindungen zum Ausdruck, die nicht CO^ und nicht flüchtige Säuren, also höhere Säuren und wohl Huminsubstanzen usw. sind, d. h. typische Fäulnisprodukte." „In bezug auf den Sauerstoffgehalt war kein Unterschied des Wassers im Aquarium und im Golf festzustellen, woraus allerdings bei den geringen Werten und hohen Fehlern der Bestimmung nichts geschlossen werden kann. Infolge der guten Durchlüftungs- einrichtungen ist das Aquarienwasser stets sehr reich an Sauerstoff, bei 10,9" betrug der Gehalt pro Liter etwa 8,5 mg, also jedenfalls nicht weniger wie im Golf." „Wir haben also eine mit Sauer- stoff stets sehr reichlich versehene Wassermenge, die in bezug auf Licht wohl einer Probe aus 50 oder mehr Metern Tiefe entspricht und reich an Fäulnisprodukten ist." ,,Der Sauerstoffumsatz dieser Biocönose ergänzt in interessanter Weise das Bild vom Umsatz im Meere, das wir uns auf Grund von Studien am Wasser des Golfes ge- macht haben." Die Sauerstoffzehrung der Bak- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 2 terien betrug im Mittel aus 8 Bestimmungen — im Licht bei 10,9" — 0,79 mg, im Dunkeln bei 11,0" — 0,87 mg, also durchschnittlich bei 11,0" pro Tag und Liter , .unabhängig vom Licht ge- dacht" 0,83 mg. „Für den Golf betrug bei 11,6" der entsprechende Wert 0,78 mg und wenn man mit den Werten für Temperaturein Wirkung, die oben ermittelt wurden, von 1 1,6" auf 11, o" extra- poliert beträgt der Verbrauch etwa 0,53 g. Die Sauerstoffzehrung der Bakterien ist also im Aquarium um ".^ höher (öo"/,,) als im Golf" Die Algen des Aquariums produzierten im Licht bei 10,9'^ im Mittel 0,33 mg Sauerstoff und im Dunkeln bei 11,0 im Mittel 0,13 mg. Merkwürdigerweise produzieren die Algen des Golfes (ebenfalls auf 11" umgerechnet) im Lichte 0,66 mg, also doppelt soviel wie die des Aquariums, während sie im Dunkeln gleichfalls 0,13 mg produzieren.') IV. Die Sauerstoffzehrung bei längerem Verweilen im Dunkeln. Trotz der bedeutenden Sauerstoffzehrung in den ersten 24 Stunden der Verdunkelung gelingt es nicht einmal mit dem Wasser des Aquariums ein wirkliches Ausfaulen zu erzielen. In einem Falle wurden nach 16 Tagen 5,8 mg Sauerstoff gefunden, während die Anfangsmenge 8,5 mg betrug, „und daß noch Prozesse abliefen, die Sauerstoff ohne Beihilfe des Lichtes freimachten, zeigten die Veränderungen zwischen dem 12. und 14. Tage, wo der Sauerstoffgehalt von 5,6 mg auf 6,3 mg zunahm." Auch im filtrierten Golfwasser trat nach dem Sauerstoffminimum des dritten Tages wieder ein steigender Sauerstoffgehalt auf. Es kommen also Prozesse vor, „die ohne Hilfe von Licht Sauerstoff freimachen, Prozesse, für die wir Bakterien verantwortlich machen müssen." Diese Prozesse sind aber offenbar sehr verwickelt und es zeigt sich, „daß eine große Zahl von Variabein zusammenwirken, die man durch einen Indikator", den Sauerstoff, „nicht voneinander differenzieren kann". Übrigens ergab sich das für die Versuchs- technik wichtige Resultat, daß es einerlei ist, ob man 2 1 oder 250 ccm Wasser untersucht, die Werte für den Sauerstoffumsatz, die man erhält, sind in beiden Fällen dieselben, nämlich gute Mittelwerte, wie auch Loh mann es für die Er- mittlung der Zahl der Planktonorganismen betonte. V. Die Herkunft der gelösten organischen Stoffe im Meere. „Die Entdeckung der erstaunlichen Kohlenstoff- mengen, die gelöst im Meere vorhanden sind und durch Messin ger's Kohlenstoffbestimmung auf nassem Wege der Untersuchung zugänglich wurden, hat das ganze Bild, das wir uns von den Stoffwechsel- prozessen im Meere zu machen gewohnt waren, in fundamentaler Weise umgestaltet." Diese gelösten ') Der Versuch einer Erklärung hierfür ist im Original nachzulesen (S. 352). D. Ref. komplexen C-Verbindungen wurden vom Verfasser als Nahrungsquelle der Wassertiere erkannt und nach- gewiesen („Die Ernährung der Wassertiere"). „Aber es blieb die F"rage offen, woher die große Masse der bezeichneten Nährstoffe stammt." „Man kann nun einmal nicht über die Tatsache hinweg, daß für die Verluste an verwertbarer Energie, die bei jedem Lebensbetrieb unvermeidlich sind, in letzter Linie nur die Sonnenenergie genügenden Ersatz schaffen kann" und „daß nicht mehr or- ganische Verbindungen umgesetzt werden können, als in photosynthetischen Prozessen entstehen". Eine ausschlaggebende Rolle bei der Photosyn- these organischer Verbindungen spielen im Meere jedenfalls nur die Planktonalgen. Die Planktonforschung nahm bisher an, daß ,,die Leibessubstanz der Plankton- pflanzen, die in der Zeiteinheit produ- ziert wird, denselben (oder einen höheren) Nährwert repräsentieren müsse, wie die Leibessubstanz der sämtlichen Konsumenten." (Vom Ref gesperrt.) Verf. dagegen weist diese übermäßige Betonung des Baustoffwechsels, als prinzipiell jeder Begründung entbehrend zurück, und stellt seinerseits folgendes Postulat auf: ,,Daß in der Zeiteinheit (Zeitiichkeit ist wohl ein Druckfehler d. Ref) im Stoffwechsel der Produzenten soviel organische Verbindungen (gelöst oder in Organismen gebunden) produziert werden sollen, wie die Konsumenten brauchen, um einerseits ihren Bedarf an Nahrung zu decken (Betriebsstoffwechsel) und anderer- seits ihre Leibessubstanz aufzubauen (Bau Stoff- wechsel)" (vgl. Pütter's „Ernährung der Wasser- tiere" d. Ref.). Die Planktonalgen liefern im Licht 0,8 mg Sauerstoffüberschuß pro Tag und Liter, was der Zerlegung von 1,1 mg CO., mit 0,3 mg C entspricht (p. 384 des Originales). Ihre aschefreie organische Trockensubstanz beträgt pro Liter 0,003 mg, mit etwa 4270 C- Gehalt = 0,0013 ^S Kohlenstoff. Aus dem Sauerstoffüberschuß von 0,8 mg pro Tag und Liter entsprechend der Zerlegung von 03 nig C ist also auf einen Betriebsstoffwechsel 0,3 zu schließen von — ' =230 mal so groß wie 0,0013 ' die Leibessubstanz, soweit sie aus Kohlenstoff besteht. Nehmen wir als Teilungsgeschwindigkeit 12 Stun- den an, also vervierfachte Algenmasse am Ende der 24. Stunde (d. h. 4 >, 0,0013 mg C = 0,0052 mg C), so bleibt der Betriebsstoffwechsel immer noch ca. 60 mal größer als der Baustoffwechsel. (Für diesen haben wir aber hiermit stillschweigend die ganz unwahrscheinliche Annahme gemacht, daß ihm von einer Teilung bis zur anderen die gesamte Leibessubstanz der Algen unterliegt. D. Ref.) Für die Bakterien erhält Verfasser bei Annahme noch größerer Teilungsgeschwindigkeit, 8 Stun- den von einer Teilung bis zur nächsten, also in 24 Stunden 3 Generationen (d. h. 2'' = 8 fache Massenvermehrung) und bei gleich unwahrschein- N. F. VIII. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 23 lieh hoch antrenommenem Bausloffwechsel sogar den Wert : Betriebsstoffwechsel = Baustoffwechsel X 780. Nun ist aber der Betriebsstoffwechsel auch noch aus dem Grunde viel zu niedrig an- gesetzt, weil nur der Sauerstoffverbrauch als Maß für den Stoffumsatz verwertet worden ist. Der vorhandene Sauerstoff (7,6 mg im Liter) steht aber einer Sauerstoffkapazität der noch oxydierbaren Substanzen von 180 mg im Liter gegenüber. Wenn also wirklich, wie an- genommen wird, alle Stoffe sich am Stoffumsatz beteiligen, „so muß dieser ca. 24 mal so groß sein wie er aus dem Sauerstoffverbrauch erschlossen wurde". Verf gelangt schließlich dazu, das mittlere Verhältnis von Bau- und Betriebsstoffwechsel im Meere auf i : 6000 bis i : 27000 zu schätzen, und er schließt diesen Abschnitt mit den folgenden Worten : „Wenn wir berücksichtigen, daß der Betriebsstoff- wechsel (im Meere d. Ref.) als mehrtausendmal intensiver wie der Baustofifwechsel angesehen werden muß ... so können wir die Frage, wo- her die gelösten organischen Stoffe im Meere stammen, mit großer Wahrscheinlichkeit dahin beantworten : die gelösten Kohlenstoffverbindungen des Meeres sind die Produkte des Betriebsstoff- wechsels der Meeresorganismen, speziell der Algen und Bakterien." VI. Die Grenzen der Produktion des Meeres an Organismen. Für die Grenze der Produktion der Erde an Pflanzen fand Liebig im sogenannten Gesetz des Minimum den folgenden Ausdruck: die Produktion an Pfianzensubstanz kann nur bis zu dem Punkt gehen, an dem irgendein notwendiger Stoff völlig aufgebraucht ist, d. h. völlig in Verbindungen im Pflan- zenkörper übergeführt ist. Hierbei ist das Material des Betriebsstoffwechsels der Pflanze, nämlich der CO., der Luft, nicht berücksichtigt. Brandt versucht dieses Gesetz des Minimum auch auf die Produk- tion von Meeresorganismen anzuwenden und zu zeigen, daß der Stickstoff, als im Minimum vor- handen, die Produktion regele. Aber abgesehen davon, daß er den sogenannten Kjeldahl-Stickstoff (außer NH.;) unberücksichtigt läßt und daher die Menge Stickstoff im Meerwasser prinzipiell unter- schätzt, geht nach Ansicht des Verf auch aus Brand t 's eigenen Zahlen hervor, „daß noch mehr Stickstoff im Wasser gelöst enthalten, wie in Form von Organismen gebunden ist." Verf. gibt nun nach seinen Untersuchungen das Verhältnis von dem im Meere gelösten Stickstoff zu dem in den Meeresorganismen gebundenen als 1850: i an, (auf 740 mg gelösten Stickstoff in looo 1 Meer- wasser nur etwa 0,4 mg Stickstoff in Organismen) — der Stickstoff ist also nicht in Brandts Sinne im Minimum vorhanden. Verf. stellt nun den Satz auf, daß „alle Fragen des Stoffhaushaltes im Meere in erster Linie als Fragen des Betriebs- stoffwechsels behandelt werden" müssen. Er findet, daß das 1850 fache der Stickstoffmenge und das 20,000 fache der Kohlenstoffmenge der Or- ganismen im Meerwasser gelöst sind, und zeigte ferner, daß höchstwahrscheinlich die Plankton- organismen diese gelösten Kohlenstofifverbindungen und Stickstoffverbindungen produzieren „da ihr Betriebsstofifwechsel auf etwa das 16,000 fache (6000—27,000) des Baustoffwechsels angeschlagen werden mußte". „So unsicher diese Zahlen sind, zeigen sie doch die Möglichkeit, daß der Betriebs- stofifwechsel so außerordentlich den Baustofif- wechsel an Intensität übertrifft, wie es der Fall sein müßte, wenn das Verhältnis von gelösten zu geformten Stoffen im Meere einen Ausdruck für einen Gleichgewichtszustand darstellt." Dieser Gleichgewichtszustand regelt den Anteil ,,der in Form von Organismen gebunden werden kann , während der Rest für den Betriebsstofif- wechsel übrig bleiben muß" — mit der Er- reichung dieses Gleichgewichtszu- standes ist also zugleich auch die Grenze der Produktionsfähigkeit des Meeres erreicht.^) VII. Zusammenfassung. ,,Nach allem dem gestaltet sich das Bild der Stoffumsetzungen im Meere folgendermaßen: Im Stoffwechsel der Algen werden in großer Menge lösliche Kohlenstofifverbindungen gebildet und an das Meerwasser abgegeben, vielleicht nachdem ein erheblicher Teil schon durch die den Algen an- haftenden Bakterien Veränderungen erfahren hat. Bedeutende Mengen Sauerstoff werden hierbei im Lichte frei, während die Bakterien (vielleicht Nitro- bakterien) auch im Dunkeln Sauerstoff entbinden können. Von den gelösten Kohlenstofifverbin- dungen, sowie zum sehr geringen Teil von den Leibern der Planktonalgen lebt die ganze Masse der Meerestiere, d. h. sie baut einerseits ihre ge- samte Körpersubstanz aus diesen Stoffen auf, und verwendet sie außerdem als Nahrung im Betriebs- stofifwechsel, und diese letztere Verwendung stellt vieltausendmal höhere Anforderungen an die Stofif- zufuhr als der Baustofifwechsel." ') Was die Frage nach der Ursache der Armut der 'l'ropenmeere an Planktonorganismen anlangt, will Verf. zu ihrer Erklärung annehmen, daß mit steigender Temperatur der Betriebsstofl'wechsel eine stärkere Zunahme erfährt wie der Baustoffwechsel, für diesen also weniger Material verfügbar bleibt. Kleinere Mitteilungen. Irrlichter. — Das „närrische F'euer", der „ignis fatuus", wie die mittelalterlichen Physiker das Irrlicht nannten, hat seinem Namen alle Ehre gemacht. Man hätte in der Tat keinen besseren lateinischen Ausdruck wählen können. Hat doch jahrhundertelang dieses ,, einfältige" Licht höhn- 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 2 lachend sein Spiel mit dem Menschen getrieben. Im Volke waren diese gespensterhaften ,, Tücke- boten" nicht wenig gefürchtet. Für verwünschte oder unselige Seelen hielt man sie, die weder im Himmel noch in der Hölle ihren Platz finden könnten, weil sie eines unnatürlichen Todes ge- storben wären. Hier und da erblickte man auch in ihnen höllische Geister, tückische Abgesandte des Teufels (wie noch Daniel Sennertus um 1650 in seiner „Fpitome Naturalis Scientiae", Bd. 14, Kap. 2). Solche Unholde suchte man dann nicht etwa durch Gebete, wie die anderen Geister, son- dern durch dreistes Fluchen und Schimpfen zu vertreiben: „denn der Donner der Flüche treibt die Luft ungemein schnell vom Munde fort und bringt die Irrlichter so zum Erlischen", wie die drastische Erklärung der ,, ökonomischen Ency- klopädie" (von Dr. Krünitz, Berlin 1784) hierfür lautet. Auch in vielen gruseligen Spukgeschichten, die den Irrlichtern so manche Schandtaten nach- sagten, bekundet sich deutlich die Furcht des Volkes vor dieser geheimnisvollen Lichterscheinung. Und wie ist es heute? Nichts von alledem. Es scheint, als wollten die Irrlichter dem Men- schen zum Ärger von der Erde gänzlich ver- schwinden, bevor man noch mit Bestimmtheit über ihre wahre Natur etwas erfahren hat; und durch ihr immer selteneres und spärlicheres Auf- treten haben sie es verstanden, den Menschen von neuem in die Irre zu führen — diesmal aber nicht den müden Wanderer, sondern so manchen eifrigen Forscher, der da glaubt, es hätte „eigent- liche" Irrlichter niemals gegeben. Nun ist freilich nicht zu leugnen, daß das Wort ,, Irrlicht" im Laufe der Zeit zu einem Sammelbegriff für die verschiedenartigsten nächt- lichen Leuchtphänomene geworden ist. Die zahl- reichen Berichte über Irrlichter-Beobachtungen (H. Steinvorth bringt ein sehr umfangreiches Material in den ,, Jahresheften des naturwissen- schaftlichen Vereins für das Fürstentum Lüne- burg", Heft 13 u. 14) beweisen deutlich, daß viel- fach nur eine Verwechslung mit bekannten Er- scheinungen der Luftelektrizität vorliegt, so namentlich mit dem St. Elmsfeuer, bisweilen auch wohl mit dem Kugelblitz, dessen Entstehungs- weise freilich bis auf den heutigen Tag nicht mit Sicherheit aufgeklärt ist. Sehr oft waren auch die „Irrlichter" nichts anderes als eine Phosphores- zenzerscheinung an verwesenden organischen Stoffen, an Fleisch- oder Fischüberresten, an faulenden Pflanzen oder Baumstämmen u. dgl. Ebenso häufig entpuppten sich auch die selt- samen „Elflichter" als harmlose Insekten mit Leuchtorganen, wie die bekannten Johannis- würmchen (Lampyris noctiluca u. splendidula). Wie oft mag auch das Irrlicht, die „Trugfackel" nur ein „Trugbild" einer allzu leicht erregbaren Phantasie, eines allzu furchtsamen oder aber- gläubischen Gemüts gewesen sein ! All dies muß ohne weiteres zugegeben werden. Nur darf man nicht so weit gehen, daß man die Existenz aller anderen sog. Irrlichter, die nicht auf die eben angeführten oder andere bekannte Tatsachen zurückzuführen sind, schlechthin be- streitet. Obwohl die Zahl derer nicht gering ist, denen es trotz wiederholter, sorgfältiger Nach- forschungen niemals gelungen ist, ein Irrlicht zu beobachten, so muß es doch heute als ganz sicher erwiesen gelten und es ist hinreichend verbürgt, daß es neben diesen ,,Pseudoirrlichtern" auch ,, eigentliche" Irrlichter gibt, die eine beson- dere, für sich bestehende Gruppe der nächtlichen Lichterscheinungen bilden. Wenn man das kurz zusammenfaßt, worin die Aussagen glaubwürdiger und urteilsfähiger Zeugen (so in erster Linie des Astronomen Fr. Wilhelm Bessel in Poggendorfs Annalen Bd. 44, pag 366) übereinstimmen, so ergibt sich folgendes Bild. Irrlichter sind kleine, etwa der Größe einer Kerzenflamme entsprechende Flämmchen von relativ niedriger Temperatur und geringer Licht- stärke. Ihre Farbe wird — zum Teil wohl wegen der verschiedenen Beleuchtung und des verschie- denen Hintergrundes bei den einzelnen Beob- achtungen — verschieden angegeben: meist er- scheint sie bläulich rot, selten grünlichgelb, aber nie rein weiß. Sie schweben in einiger Entfer- nung über dem Erdboden (bzw. der Wasserfläche), scheinen auf jeden Lufthauch zu reagieren und zeigen in der Regel eine unruhige, hüpfende Be- wegung. Es ist aber anzunehmen, daß diese Ortsveränderung nur eine scheinbare ist, daß in Wahrheit das plötzliche Erlöschen eines Irrlichts und das gleichzeitige Aufleuchten eines anderen in nächster Nähe jenen Eindruck der Bewegung hervorruft (dies stimmt u. a. mit Vogel's Beob- achtung überein, Pogg. Ann., Bd. 82, pag. 595). Der eigentliche ,, Tanzplatz", die eigentliche Heim- stätte des Irrlichts ist jedes an stehenden Wassern reiches, modriges Sumpfgeläiide, vornehmlich das teilweise abgetorfte, aber noch nicht entwässerte Hochmoor. Nicht selten zeigen sie sich auch auf feuchten Wiesen oder bruchigem Waldboden. Hier und da sollen sie auch auf Kirchhöfen zum Vorschein kommen, doch bleibt es sehr zweifel- haft, ob die hier wahrgenommenen Irrlichter nicht durchweg mit Eimslichteiitladungen zu identifi- zieren sind, was keineswegs unwahrscheinlich ist, da sich hier an den vielen eisernen Grabum- zäunungen und Grabkreuzen die Spitzenaus- strahlung in hohem Grade geltend machen kann. Zu allen Jahreszeiten hat man Irrlichter beob- achtet : am häufigsten im Spätsommer und Herbst, auch im Winter hat man sie oft gesehen, dagegen treten sie im I'rühjahr in Deutschland so gut wie gar nicht in die Erscheinung. Daß man sie nur zur Dämmerungs- oder, wie meistens, zur Nacht- zeit aufleuchten sieht, ist leicht erklärlich, da sie eben nur schwaches Licht aussenden. Voll- kommene oder doch annähernd vollkommene Windstille scheint in allen Fällen die conditio sine qua non zu sein. Außerdem pflegen sie nebliges, und vor allem schwüles Wetter zu be- N. F. Viri. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 25 Vorzügen. Hiermit dürfte die Hesclireibung der charakteristischen Merkmale der eigentlichen Irr- lichter erschöpft sein. Eine solche war vielleicht um so mehr am Platze, da die allgemeinen An- sichten über das Irrlicht sich oft in den wesent- lichsten Punkten nicht wenig widerstreiten, was einer definitiven Lösung der ganzen heikleti Frage natürlich sehr im Wege war. Nun existiert aber noch eine zweite, viel seltenere Gruppe von Irrlichtern, die bisher ab- sichtlich unerwähnt blieb, die „großen Irrlichter", wie wir sie nennen wollen. Von ihnen gilt ganz das nämliche wie von den oben beschriebenen, nur durch ihre Größe sind sie von ihnen unter- schieden. Denn haben jene annähernd die Größe einer Kerzenflamme, so sind diese etwa manns- hoch. Von glaubwürdiger Seite werden sogar einige von ihnen erwähnt (vgl. H. Steinvorth a.a.O., Heft 13, S. 32, 36, 47), deren Höhe durchschnitt- lich gar auf 4 — 5 m geschätzt wird. Diese „großen Irrlichter" sind es, die im Volke „Irr- wische", ,,gleunige Keerls", ,, feurige Männer", „Lüchtemänneken" und ähnlich genannt werden, was aus der oben genannten Krünitz'schen Ency- klopädie hervorgeht. Hier heißt es (30. Teil, pag. 792) ;,,... Daher nimmt man sehr oft sehr große F"lammen auf den Wiesen wahr, welche zuweilen die Größe einer Schütte Stroh und eines Mannes erreichen. Ein solches großes Licht nennt der gemeine Mann den großen Leuchter, die brennende Schütte, den Feuermann usw. . . ." Es sind demnach alle diese Namen nicht, wie man gewöhnlich liest, Bezeichnungen für das Irr- licht y.aT lt,oyJ]Y. Heutzutage gehört diese Art von Irrlichtern zu den größten Seltenheiten. Früher ist sie jedenfalls häufiger gewesen; zu Musschenbroek's Zeiten (um 1750) soll der Bolonnais, das steinkohlenreiche Gebiet in der Nähe von Boulogne surMer (der ehemalige pagus Bononiensis) an diesen „großen Irrlichtern" so reich gewesen sein, daß sie das ganze Jahr hin- durch in jeder dunklen Nacht sichtbar gewesen sind (vgl. M.'s „Introductio ad Philos. nat." Vol. 2, pag. 1061, Leyden 1762). Musschenbroek war wohl der erste Natur- forscher, der eine wissenschaftliche, heute aller- dings nicht mehr haltbare, Erklärung des Irrlicht- phänomens zu geben versuchte, die sich frei hielt von den abergläubischen Vorstellungen jener Zeit. Viele Theorien sind seitdem über die Entstehung der Irrlichter aufgestellt, aber noch heute ver- mögen wir keine befriedigende Antwort auf die Frage zu geben. Die Erscheinung ist eben so selten; und Zeit, Ort und Umstände lassen in den meisten Fällen eine eingehende wissenschaftliche Untersuchung nicht zu. Zwei Ansichten stehen sich heute gegenüber. Nach der einen liegt eine elektrische Lichterschei- nung vor, die andere behauptet, man hätte es hier mit irgendeinem Gase oder Gasgemisch zu tun. Für die letzte Annahme spricht die Wahrschein- lichkeit in hohem Maße. Denn die Irrlichter sind, wie schon erwähnt, stets auf solchem Boden beobachtet worden, in dem viele organische Sub- stanzen aufgespeichert sind. Wenn diese nun durch die Vermittlung von Mikroorganismen in Fäulnis übergehen, finden die verschiedensten chemischen Reaktionen statt, bei denen nachweis- lich mehrere Gase entstehen, z. B. Wasserstoff, Schwefelwasserstoff und andere. Man hat hier aber vor allem an zwei Gase gedacht : an das brennbare Sumpfgas (Methan, CH,) und den selbstentzündlichen flüssigen Phosphorwasserstoft' (P2H4). Doch wie es einerseits rätselhaft ist, wo- durch das Sumpfgas sollte entzündet werden, müßte andererseits bei der Verbrennung von Phosphorwasserstoff ein weißer, meist ringförmiger Rauch, sowie ein widriger, an faule Fische er- innernder Geruch entstehen, was man jedoch bei Irrlichtern niemals wahrgenommen hat. Auch kennen wir bisher keinen, in der Natur sich ab- spielenden, chemischen Vorgang, bei dem der in Frage kommende Phosphorwasserstoff gebildet wird. Die zweite, neuere Ansicht, daß das Irrlicht eine besondere Erscheinungsform der Luftelektri- zität ist, wird dadurch gerechtfertigt, daß es mit Vorliebe sich zeigt, wenn die Luft mit Elektri- zität außergewöhnlich stark geschwängert ist, so vor allem bei nebligem Wetter oder an schwülen Abenden vor Gewitterausbrüchen. Im übrigen ist die elektrische Natur der Irrlichter noch zu wenig erwiesen, als daß man berechtigt wäre, sichere Schlüsse daraus zu ziehen. Einstweilen hat sicher- lich die „Gastheorie" den größeren Anspruch auf Wahrscheinlichkeit, auch aus folgendem Grunde. Bekanntlich hat die fortgesetzt in großem Maß- stabe betriebene Drainage und Moordammkultur des Sumpf- und Moorgeländes, des Haupttummel- platzes der Irrlichter, bewirkt, daß diese von Jahr zu Jahr seltener werden. Der tiefere Grund hier- für ist nun darin zu suchen, daß infolge der Ur- barmachung entweder die chemischen oder die elektrischen Bedingungen für die Entstehung des Irrlichts nicht mehr in dem Maße wie früher vor- handen sind. Das erstere ist aber weit einleuchten- der, denn es ist nicht recht einzusehen, inwiefern eine Änderung der Bodenbeschaft'enheit die Luft- elektrizität so empfindlich beeinflussen könnte. Und daß die Lufielektrizität als solche nicht im Abnehmen begriffen ist, beweist die jährliche Zu- nahme der Gewitter. Mehr Aussicht auf Be- stätigung hätte vielleicht noch eine Vereinigung beider Theorien. Danach hätte man sich die Entstehung des Irrlichts so vorzustellen, daß das erfahrungsmäßig sich bildende Sumpfgas durch eine dem St. Elmsfeuer verwandte elektrische Er- scheinung zur Entzündung gebracht wird. Immer- hin ist es fraglich, ob bei der, unseres Wissens noch nicht festgestellten, aber allem Anscheine nach sehr niedrigen Normaltemperatur des Elms- lichtes eine solche Entzündung möglich ist. Es mangelt nicht an Vorschlägen für Irrlicht- Untersuchungen: man solle die Lichtstärke, sowie 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 2 den Wärmezustand bestimmen, man solle die etwaigen, das Licht ausstrahlenden Gase in Reagenzgläsern aufsammeln, man solle versuchen, das Irrlicht auf die photographische Platte zu bannen; doch alle diese Untersuchungsmethoden dürften — falls sie überhaupt zu einwandfreien Resultaten führen — wenig aussichtsvoll sein. Ein anderer, so nahe liegender Weg, auf den merkwürdigerweise nur selten hingewiesen worden ist, könnte schon eher zum Ziele führen : die spektroskopische Untersuchung. Jener Wunder- apparat, dem die Wissenschaft schon soviele wichtige Entdeckungen verdankt, das Spektroskop, würde auch hier vortreftliche Dienste leisten. Dureh eine einzige exakte Analyse des Irrlicht- spektrums würde die Streitfrage so gut wie ge- löst sein. Und eine solche wäre um so mehr zu wünschen, als man schon heute mit Gewißheit sagen kann, daß, wenn die nächsten Jahrzehnte keine wissenschaftlich unwiderlegbare Erklärung des Irrlichts bringen, auch der Glaube an ihre jemalige Existenz gänzlich dahinschwinden wird. Und wenn der alte Kampf mit dieser Niederlage der Wissenschaft endigen sollte, dann hätte der „ignis fatuus" seine Narrenrolle wahrlich vortreft- lich ausgespielt. Hjalmae Sander. Biologische Beobachtungen an einem deutschen Myriapoden, Polydesmus com- planatus. — Die Lebensgeschichte der deutschen Myriapoden ist bisher nur sehr wenig zum Gegen- stande eingehenderer Untersuchungen gemacht worden. Es liegen zwar eine Reihe von Beob- achtungen vor, so die von Fahre (1855), vomRath, Verhoeff, von Schlecht endal u. a., aber eine systematische Durcharbeitung ist bisher noch nicht geliefert worden. Vielleicht regen diese Zeilen zu weiteren Studien in dieser Richtung an. Ich habe mich selbst längere Zeit mit vorwiegend anatomisch-histologischen Unter- suchungen an Polydesmus befaßt, dabei aber auch vielfach biologische Beobachtungen gemacht, von denen hier einige mitgeteilt seien. Die Gattung Polydesmus gehört zu den Diplopoden, ist also verwandt mit den be- kanntesten Tausendfüßern lul us und Gl omeris (= Rollassel); auch der merkwürdige kleine Polyxenus gehört hierher. Polydesmus er- reicht im erwachsenen Zustande eine Länge von ungefähr 2 cm. Sein Körper besteht aus dem Kopfe und 20 hintereinander liegenden Segmenten, von denen die mittleren, vom 5. bis zum iS. Seg- ment, sich fast vollkommen gleichen und sich durch den Besitz von je zwei Beinpaaren aus- zeichnen, während die vier vorderen und die beiden letzten Segmente von ihnen mehr oder weniger verschieden sind. Während wir am I. Segment ein Beinpaar vorfinden, ist das 2. Segment ein einfacher beinloser Ring. Am 3. und 4. Segment finden wir dann wieder nur je ein Beinpaar angebracht. Das 3. Segment trägt in beiden Geschlechtern die Genitalöfifnung. Beim Männchen sind es zwei Löcher, die an der Unter- seite der Coxen der Beine liegen. Beim Weibchen finden wir einen sehr komplizierten Apparat vor, die paarigen sog. ,, Vulven", die in einer tiefen Grube des 3. Segmentes liegen. Sie können weit über die Körperoberfläche vorgestreckt werden und dienen bei der Kopulation zur Aufnahme der männlichen Begattungsorgane und weiterhin auch zur Eiablage (s. Fig. i). Neben den weib- lichen .'\usführungsgängen befinden sich in den Vulven auch noch je ein Receptaculum seminis. cht' Fig. I. Polydesmus spcc. Vulva in der Ansicht von vorn- oben. (Original.^ chl = Chilinleisten, recs = Receptaculum seminis. Die Männchen besitzen besondere Kopulations- organe am 7. Segment ihres Körpers und zwar sind dies umgewandelte Beine, die aus zwei Ästen an einem gemeinsamen Stamm bestehen. Daran befindet sich auch ein kleines Bläschen, dessen Eingang von zarten Borsten umstellt ist. Das Bläschen dient zur Aufnahme des Spermas (s. Fig. 2). Erwähnt sei, daß die Spermatozoen nicht die all- bekannte Form haben, sondern einfache, kugelige Zellen sind. — Es wurde schon gesagt, daß die beiden letzten Segmente des Körpers, das 19. und 20., abweichend gebaut sind. Das 19. Seg- ment nämlich ist ein beinloser Ring und das 20. ebenfalls beinlose „Analsegment" ist durch zwei Klappen ausgezeichnet, die den After seitlich be- grenzen, die „Analklappen". Bemerkenswert ist am Analsegment noch ein mit feinen Sinnesborsten versehenes Schwänzchen. — Nach dieser kurzen anatomischen Einleitung können wir zu den Lebenserscheinungen übergehen. Polydesmus complanatus führt einsehr verstecktes Leben. Man findet das blinde Tier- chen unter feuchtem Laub, Steinchen, Holz, in alten hohlen Weiden usf Hauptbedingungen für F. N. VIII. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 27 sein Gedeihen sind Dunkelheit und kühle, feuchte Beschaffenheit seines Wohnortes. Vor hellem Lichte zieht sich das Tierchen sofort zurück, in- dem es lebhaft rückwärts kriecht. Dabei machen die 31 (resp. 30 beim S) Beinpaare eine wellen- förmige Bewegung-, indem sie nacheinander in Tätigkeit treten. Gelingt es dem Tierchen nicht, sich aus dem Bereiche der Sonnenstrahlen zu retten oder hält man es so in Gefangenschaft, daß es der Besonnung ausgesetzt bleibt, so geht es in sehr kurzer Zeit zugrunde und zwar an voll- ständiger Austrocknung des Körpers. Kälte und Feuchtigkeit sind unserem Polydesmus sehr zuträglich, sogar im Winter kann man die Tier- chen an geschützten Stellen unter altem, modern- den Laube usf. mit ziemlicher Sicherheit finden iy-^^--,- nha Fig. 2. Polydesmus spec. Kopuhitioiisfuß. (Origioal.) m = Muskulatur, hk = Chitinliakcn, hpt = Hauptast, nba = Nebenast, sbl = Samenblase, cisbl = Eingang zur Samcnblase. Der Myriapode kann weiter nur an solchen Stellen sein Leben fristen, wo sich kohlensaurer Kalk in reichlichen Mengen findet. Die chemische Untersuchung des Chitinpanzers gibt uns die Er- klärung dafür, er enthält nämlich ganz beträcht- liche Mengen von Kalksalz eingelagert. Die Nahrung des Poly desmiden ist rein vegetarisch. Wenn man den Darminhalt einer mikroskopischen Untersuchung unterzieht, so findet man darin neben zahlreichen feinen Erd- teilchen Reste von allerhand pflanzlichen Produkten — Blättern, Holzstückchen usf. Die versteckte Lebensweise der Poly des- miden sichert sie in hohem Maße vor Nach- stellungen vonseiten größerer Tiere, ja, man weiß noch gar nicht einmal, ob sie überhaupt von irgendwelchen Tieren gefressen werden. Wenn man auf den Fang von Polydesmus ausgeht und das feuchte Laub umwendet, unter dem er lebt, so sieht man ihn sich fluchtartig in dunklere Regionen zurückziehen. Und wenn man das Tierchen mit den Plngern fassen will, so rollt es sich meist spiralig zusammen und verbleibt längere Zeit in dieser Stellung, die man als Totstellen auffassen kann. Aber noch eine andere Einrich- tung sichert die Polydesmiden vor Feinden. Wir finden nämlich in einer Anzahl von Segmenten in den Seitenkielen Drüsen, die sog. Stink- oder Wehrdrüsen, Glandulae odoriferae, die einen übel- riechenden Saft ausscheiden, der wahrscheinlich ein wirksames Schreckmittel ist. Die Drüsen selbst habe ich genau untersucht und fand sie aus einem ansehnlichen Säckchen bestehend, das sich nach der Peripherie des Körpers zu flaschen- halsförmig verengt. Der Hals ist von ganz zarten Muskelchen sphinkterartig umgeben und mündet dann in einen Vorraum, in dem das Sekret, be- vor es durch die Saftlöcher (Foramina repugna- toria) ausfließt, gesammelt wird. Die chemische Untersuchung des Saftes ergab bei Paradesmus gracilis, daß es sich dort um Blausäure handelt (Guldensteeden-Egeling). Während man, wie erwähnt, von äußeren Feinden von Polydesmus nichts Bestimmtes weiß, kennt man hingegen eine Reihe von Para- siten, die ihn befallen. Von Ektoparasiten sei eine kleine Milbe erwähnt, die nicht einmal die Größe der Kuppe einer Insektennadel erreicht. Das Tierchen klammert sich an die Beine seines Wirtes fest und erscheint bei der Betrachtung als Beulchen. Von Entoparasiten kennt man beson- ders G r e g a r i n e n , die im Darmkanal schmarotzen, einige Nematoden und endlich Mer'mis (vom Rath). Pflanzliche Parasiten, die das befallene Tier fast stets zugrunde richten, sind die Schimmelpilze. Besonders interessant sind die Fortpflanzungs- erscheinungen, die ich mehrfach zu beobachten Gelegenheit hatte, wenn auch nicht lückenlos in ihrem ganzen Verlaufe. Es liegen aber mehrfach Beobachtungen der Autoren vor, so daß sich un- gefähr folgendes Bild ergibt. — Zweimal im Jahre findet die Begattung statt, im Frühling und im Herbste. Auch dieser Vorgang spielt sich wie das ganze Leben des Tieres überhaupt im Dunkeln ab. — Wie wir erwähnten, münden die männ- lichen Geschlechtsdrüsen an der Basis der Beine des 3. Segmentes nach außen ohne einen Penis zu bilden. Dagegen finden wir am 7. Segment die merkwürdigen Kopulationsfüße, deren Samen- bläschen vor der Begattung mit Sperma gefüllt werden müssen. Diesen Vorgang und die darauf folgende Kopulation schildert uns Fabre mit folgenden Worten: „Bevor das Männchen zu einer Paarung schreitet, erhebt es den vorderen Teil seines Körpers und indem es ihn S-förmig krümmt, nähert es das 2. Segment (das 3. Segment! — d. Verf.) dem 7., d. h. es stellt eine Verbindung her zwischen seinen Geschlechtsöffnungen und dem Kopulationsorgane. Ich habe sogar bei Polydesmus, wo die Beobachtung leichter ist. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 2 den Augenblick erfassen können , in dem ein Spermatröpfchen aus jeder Geschlechtsöft'nung austrat und alsbald von den Chitinpinselchen auf- genommen wurde, welche die inneren Aste der Kopulationsfüße tragen. Alsdann dringt ohne Zweifel das durch das Kürstchen festgehaltene Tröpfchen durch die in der Mitte des Haarkranzes liegende Öffnung und gelangt so in den darunter- liegenden bläschenförmigen Hohlraum. Dieser Hohlraum spielt also die Rolle eines Recepta- culum seminis. Nach diesen unerläßlichen Vor- bereitungen begibt sich das Männchen auf die Suche nach einem Weibchen. Die Vorbereitungen werden wahrscheinlich nicht 7,u jeder Paarung von neuem getroffen. Nach mehreren vergeh liehen Versuchen des Männchens, auf den Rücken des Weibchens zu steigen, gelingt dies schließlich doch. Das Männchen ergreift das Weibchen mit seinen Kiefern beim Nacken. Es kippt dann seit- lich um und läßt sich so herabgleiten, daß es Bauch gegen Bauch mit dem Weibchen zu liegen kommt. In dieser Stellung ragt es dann ein wenig über das Weibchen hervor, sein Mund liegt über dem Nacken des Weibchens, während dieses das Männchen mit seinen Kiefern erfaßt. Der Zwischenraum zwischen dem 6. und 7. Segment des Männchens schwillt dann an, läßt den Apparat, den es birgt, hervortreten und stellt ihn den Vulven gegenüber, die endlich die Kopulations- füße aufnehmen. Während dieses Aktes ist das Hinterende des Körpers in vollständiger Ruhe, während die Antennen und die den Kopulations- organen benachbarten Beine in fortwährender Be- wegung sich befinden, so daß man sich über die Wichtigkeit des Vorganges, der sich da abspielt, nicht täuschen kann." — Über die Dauer der Kopulation gehen die Beobachtungen auseinander. Während vom Rath angibt, sie dauere zwei Tage, sagt Fahre, sie sei schon nach einer Viertelstunde beendet. Fr fügt noch hinzu : ,,Peu apres la Separation le male se met ä la recherche d'une autre femelle, en meme temps sa premiere compagne est loin d'etre insensible aux caresses d'un second male." Nach etwa 30 Tagen legt das Weibchen seine Fier ab und zwar in ein eigens zu diesem Zwecke verfertigtes kunstvolles Nestchen, dessen Bau ich in diesem Frühjahr beobachtet habe. Das Nest hat etwa die Gestalt eines Kohlenmeilers, dem oben ein zierlicher Hohlzj'linder aufgesetzt ist, durch den der Luftwechsel stattfinden kann (s. Fig. 3). Kurz vor der Eiablage beginnt das Weibchen mit dem Bau. Es fertigt zunächst einen feinen Ringwall an, auf dem es zusammen- gerollt liegt so, daß der Kopf das Hinterende be- rührt. Der Umfang des Ringwalles entspricht also der Länge des Tierchens, d. h. beträgt ungefähr 2 cm. Wenn man sich Zeit und Mühe nimmt, das Bauen weiter zu verfolgen, so macht man eine merkwürdige Entdeckung. Das Hinterende des Tierchens bleibt beständig auf dem Ringwall, während Kopf und Vorderkörper die Umgebung des Nestchens absuchen. Das Weibchen befühlt dabei mit seinen Antennen lebhaft das Material und man kann deutlich wahrnehmen, wie es davon mit dem Munde aufnimmt. Wenn es sich ge- nügende Mengen von Erde usf. einverleibt hat, so steigt es wieder vollständig auf sein Nestchen und haut weiter. Man sieht dann ab und zu, wie der Endahschnitt des Enddarmes zwischen den chitinigen Analklappen ausgestülpt wird und wie kugelige Kotbailen aus ihm austreten, untermischt mit einem glashellen Sekret. Die Kotballen dienen zum Nestbau, während das Sekret den Mörtel darstellt, der das Baumaterial, die Erd- und Holzteilchen in den Kotballen, bindet. Mit der Lupe kann man deutlich sehen, wie Stück für Stück dem Rande der Glocke angefügt wird, wie das Tierchen die Stelle des Bauens mit dem aus- gestülpten Enddarm betupft, wie es diesen dann wieder zurückzieht, einige Male auf dem Nestchen herumkreist und das Fertige mit den Antennen befühlt, wie um die Güte des Nestes zu prüfen. Das genannte Sekret wird aus einer Drüse ab- geschieden, die im Hinterende des Tieres über und zu den Seiten des Enddarmes sich ausdehnt und vermittels paariger Gänge in die Afterhöhle mündet. Meine Beobachtungen stimmen mit denen überein, die von Schlechtendal über den Nestbau veröffentlicht hat. — Wenn das Nest eine gewisse Größe, etwa 7.. der Höhe erreicht hat, legt das Weibchen seine Eier hinein, etwa 100 an der Zahl, was ^ ^ Stunden dauert. Die Fig- 3- ^cst von Polydesmus complanatus. (Originat) Eier treten durch die Vulven nach außen und werden durch ein klebriges Sekret zusammen- gehalten, das wahrscheinlich einer drüsigen Masse in den Vulven entstammt. Sicherheit darüber konnte ich leider nicht erzielen. Wenn die Eier abgelegt sind, wird das Häuschen geschlossen und durch den schon genannten Schornstein gekrönt. Den Bau dieses zierlichen Gebildes konnte ich nicht beobachten. Wird das Tierchen beim Nest- hau oder der Eiablage gestört, so zieht es sich zurück, um bald darauf wieder zur Stelle seiner Tätigkeit zurückzukehren und das unterbrochene Werk fortzuführen. Sicherlich wird es dabei durch seinen Geruchssinn geleitet, der an die Antennen gebunden ist. Eine Zeitlang nach der Fertigstellung des Nestes hält das Weibchen hei N. F. VIII. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 29 diesem Wache, um es dann seinem Schicksale zu überlassen. Nach etwa 12 — 15 Tagen schUipfen die jungen Polydesmiden aus. Es sind kleine weiße Larven mit nur drei Beinpaaren und 7 Segmenten. Wenn sie die Eihüllen durchbrochen haben, so fressen sie sich vermöge ihrer kräftigen Mandibeln durch die Wand des Nestchens durch, um eine Zeillang sich in seiner Nähe aufzuhalten und dann ihre eigenen Pfade zu wandeln. Bis zum ausgebildeten Zustande durchlaufen die Tiere sieben vorbereitende Stadien, während welcher die Zahl der Segmente und Reinpaare allmählich ergänzt wird. Die Kopulationsfüße kommen erst mit der letzten Häutung zum Vorschein. Die neugebildeten Ringe schieben sich stets zwischen dem vorletzten (19.) und dem Analsegment (20.) ein. — Wenn Polydesmus sich zur Häutung anschickt, so verkriecht er sich in die Erde, macht sich dort ein kunstloses Nestchen und verharrt darin lo— 12 Tage mit starr abstehenden Beinen und vorne umgeschlagenem Kopfe Endlich wird die Haut abgestreift. An der Exuvie kann man alle Chitiiiteile erkennen: die Ringe, Beine, An- tennen, Mundwerkzeuge, Kopulationsfüße, Vulven, die Auskleidungen von Vorder- und Enddarm usw. Pliysiologische Angaben über den Häutungsvor- gang verdanken wir Verhoefif. Es sei nur sein Autoreferat darüber wiedergegeben (Zool. Cen- tralblatt 1901, 89): „Betrachten wir eine abgelegte Exuvie mikroskopisch, so zeigt sie sich verdünnt im Verhältnis zum gewöhnlichen Hautskelett und dicht besetzt mit Körnern verschiedener Größe. Diese Körner sind ein Salz, das durch die Wirkung der Harnsäure erzeugt wird, indem dieselbe, auf das Hautskelett wirkend, das Chitin nicht, wohl aber den Kalk aufzulösen vermochte. Dieser Kalk bildet die Innenschicht, die Säure macht dieselbe verschwinden und erzeugt die Salzkörner. Das Hautskelett wird aber dadurch so geschmeidig gemacht, daß es von dem häutungsbedürftigen Tiere verlassen werden kann. Aus dem starren Panzer wird ein geschmeidiges Hemd." Dr. phil. W. Effenberger, Jena. Die Seismometer. — Einem aus dem Leser- kreise geäußerten Wunsche nachkommend geben wir heute in Ergänzung zu dem Aufsatz von A. Sieberg über Erdbeben (Bd. VI, Seite 785) eine Beschreibung der Prinzipien, welche dem Bau der Seismometer zugrunde liegen, wobei wir uns den lichtvollen Auseinandersetzungen anschließen, wel- che Prof Wiechert auf der Dresdener Natur- forscherversammlung 1907 zu diesem Thema ge- geben hat. „Die vollständige Bestimmung der Erdboden- bewegungen verlangt die Kenntnis von drei Kom- ponenten: zweier horizontaler (etwa Nord-Süd und Ost-West) und der vertikalen Komponente. So ergibt sich eine natürliche Scheidung der Seismo- graphen in Horizontal- und in Vertikal-Seismo- grapheii. Die Seismologen pflegen die schwere Masse, deren Relativbewegungen gegen das Gestell durch das Schreibwerk aufgezeichnet werden, die „sta- tionäre Masse" zu nennen. — Bei den Horizontal- seismometern sind zur Aufhängung der sta- tionären Masse vornehmlich drei Prinzipien in Gebrauch (Fig. l): i. Das Prinzip des verti- kalen Pendels. Die stationäre Masse bildet dann den Körper eines gewöhnlichen, herabhängen- den Pendels. Je länger das Pendel gemacht wird, Vertikales HoiizonUilpendel. Verkehrtes Pendel. Pendel. Fig. 1. Horizontalseismometer. um SO empfindlicher wird die Aufhängung, denn um SO geringer wird die Kraft, welche die statio- näre Masse bei Ablenkungen in die Ruhelage zu- rückführt; man merkt die wachsende Empfindlich- keit an dem Größerwerden der Eigenperiode. — 2. Das Prinzip des Horizontalpendels. Den- ken Sie sich, um dessen Wesen einzusehen, ein gewöhnliches Pendel mit recht kräftiger, zunächst horizontal gelagerter Achse. Nun werde die Achse aufgerichtet. Je steiler man sie stellt, um so geringer wird die Kraft, mit der die Pendelmasse in die Ruhelage zurückgeführt wird, um so größer wird damit auch die Schwingungsperiode. Schließ- lich, wenn man die Achse hinten überneigt, kann man das Pendel sogar labil machen. In der Praxis der Erdbebenpendel wird die Achse nahezu ver- tikal gestellt, um die Empfindlichkeit recht hoch zu machen , so daß das Pendel in einer nahezu horizontalen Ebene schwingt; so erklärt sich der Name „Horizontalpendel". — 3. Das Prinzip des „umgekehrten Pendels". Hier ist das Pen- del sozusagen auf den Kopf gestellt, so daß es zunächst labil ist. Durch passend angebrachte Paedem wird es dann stabil gemacht. Indem man die Federkraft reguliert, hat man es in der Hand, die Eigenperiode, also die Empfindlichkeit, mehr oder weniger hoch zu legen. Bei Vertikalseismometern muß man die stationäre Masse von Federn tragen lassen, um die vertikale Beweglichkeit zu erzielen (Fig. 2). Da man die p-edern in der Regel nicht nachgiebig genug machen kann , um den Anforderungen an Empfindlichkeit der Aufhängung zu genügen, so sieht man sich genötigt, irgend einen Kunstgriff 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vni. Nr. 2 anzuwenden, um die Empfindlichkeit zu erhöhen, man muß ,,as lasieren". Das geschieht z. B., wenn man die stationäre Masse von der Feder nicht direkt, sondern durch Vermittlung eines hori- zontalen Hebels tragen läßt. Die Achse des Hebels sitzt dann an einem Ende des Hebels, das andere trägt die stationäre Masse; die Feder greift da- zwischen an. Noch mehr und beliebig hoch läßt sich die Empfindlichkeit steigern, wenn der An- griffspunkt der Feder nach unten, unter die Ebene durch Achse und Schwerpunkt gerückt wird. Es gibt noch eine Reihe anderer Methoden der Asta- sierung, doch ist es nicht nötig und nicht angäng- lich, hier näher darauf einzugehen. Für die Empfindlichkeit des Seismo- met ers ist die Empfindlichkeit der Aufhängung, die sich an der Höhe der Eigenperiode beurteilen Direkte Aufhängung. Einfacher Hebel. Hebel mit tiefgelegenem Angriffspunkt. Fig. 2. Vertikalseismometer. läßt, noch nicht allein entscheidend. Offenbar kommt es noch darauf an, in welcher Vergröße- rung die Bewegungen der stationären Masse auf- gezeichnet werden. Dies hat zur Folge, daß für die Empfindlichkeit eines Seismometers 2 Größen maßgebend sind. Als eine davon können wir die Vergrößerung annehmen, in der der Apparat Erd- erschütterungen aufzeichnet, die im Verhältnis zu seiner Eigenperiode sehr schnell verlaufen. Ich nenne sie die „I n d i k a t o r v e r g r ö ß e r u n g" und will sie mit V bezeichnen. Bei Erdbebenbewegun- gen, die langsam gegenüber der Eigenperiode verlaufen, kommt es auch auf diese Eigenperiode an, und zwar ergibt die mathematische Theorie, daß bei sehr langsamen Erdbodenbewegungen die Größe der Aufzeichnungen proportional mit dem Produkt VT'- ist, wenn 7" die Eigenperiode kennzeichnet. Statt T- kann man auch die Länge L eines mathematischen Pendels nehmen, welches die gleiche Eigenperiode haben würde, denn die Länge eines solchen Pendels ist proportional mit T-. Es gilt nämlich die P'ormel : /.: 47r- 7'-, in der g die F"allbeschleunigung bedeutet. Als Maß für die Empfindlichkeit bei sehr langsamen Bodenbewegungen hätten wir hiernach auch das Produkt VL. Es bedeutet eine Länge — ich will sie mit / bezeichnen : T-=VL und „In d i ka t o r 1 ä n ge" nennen — , die bei Horizontalseismometern eine sehr anschauliche Bedeutung hat: sie gibt die Länge eines einfach herabhängenden Zeigers an , der bei Neigungen des Gestelles eben dieselben Ausschläge geben würde wie das Seismometer. Demgemäß ist 7?= 1/206000 / der Ausschlag des Instrumentes für eine Bogensekunde Neigung. Ich möchte hier noch die Bemerkung einschal- ten , daß ein jedes Horizontalseismo- meter, wie kompliziert immer auch seine Ko nstrukt ion sein mag, sichdoch den Erdbodenbewegungen gegenüber geradeso wie ein einfaches Pendel von der Länge L verhält, das einen Zeiger von der Länge / besitzt (Fig. 3). — Sie werden vielleicht fragen, warum man dann die = Pendellänge. y I ^= Indikatorlänge. ^ = V ^ Indikatorvergrößerung. Achse, vom Uhrwerk gedreht und verschoben. Papierband für die Registrierung. Spannrolle. ^n^ Fig. 3. .Schema der Horizontalseismographen. komplizierten Konstruktionen überhaupt anwendet und nicht stets ein einfaches Pendel als Vorbild nimmt. Darauf ist zu antworten, daß dieses aus praktischen Gründen nicht angeht. Mein Hori- zontalseismograph mit einer stationären Masse von 1000 kg entspricht in der gewöhnlichen Re- gulierung einem einfachen Pendel von 36 Meter Länge mit einem Pendelkörper von lOOO kg und einem Zeiger von 7200 Meter Länge. Sie werden leicht begreifen, daß es unmöglich wäre, ein sol- ches Instrument herzustellen und mit ihm zu arbeiten, so einfach auch der zugrunde liegende mathematische Gedanke ist. Das Einfache ist eben nicht in allen Fällen auch das Praktische. Sind V und 7 oder — was auf dasselbe hin- ausläuft — V und /, oder V und E bekannt, und weiß man , wie groß die Reibung im Gehänge und wie groß die Dämpfung der Schwingungen ist, so sind alle Daten beisammen, um aus den Ausschlägen des Instrumentes durch die Rechnung auf die Bewegung des Bodens zu schließen. Der Zusammenhang wird durch eine Differential- gleichung 2. Ordnung vermittelt. Nach dem Ge- N. F. VIII. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 31 sagten werden Sie erkennen, daß für sehr schnell verlaufende Bodenbewegungen die Indikatorver- größerung F, bei sehr langsamem Verlauf die Indikatorlänge / entscheidend ist; dazwischen kommen beide Größen zur Geltung. „Schnell" und „langsam" sind hier gegenüber der Eigen- periode des Instrumentes zu beurteilen. So wird verständlich , daß je nach der Lage der Eigen- periode das Instrument mehr die kleinen Perioden in dem Erdbeben oder mehr die großen bevor- zugt. Schwingt das Instrument ungedämpft, und liegt seine Eigenperiode im Bereich der Perioden bei dem Erdbeben, so wird es durch Resonanz besonders stark auf seine Eigenperiode reagieren. Das erhöht zwar unter Umständen sehr seine Empfindlichkeit, ist aber höchst störend, wenn ein klares Urteil über den Verlauf der Erderschütte- rungen gewünscht wird, denn das übermächtige Auftreten der Eigenperiode läßt nichts anderes deutlich zur Geltung kommen. Die Instrumente, welche zum Studium der Erdbebenwellen dienen sollen, müssen daher eine starke Dämpfung erhalten, wenn man nicht die Periode sehr hoch (i Minute und darüber) oder sehr niedrig (i Se- kunde und darunter) legen kann, was meist aus technischen Schwierigkeiten nicht angängig ist. — Ich sagte vorhin, daß die Registrierung der Erdbebenwellen sehr hohe instrumentelle Anfor- derungen stellt. Dies wird hervortreten, wenn ich nun einige Angaben über die Empfindlichkeit der Instrumente mache, die für den praktischen Gebrauch in Betracht kommen. Handelt es sich um die Aufzeichnung der großen V\' eltbeben, so ist eine Neigungsempfind- lichkeit £ = 1 mm für I Bogensekunde , ent- sprechend einer Indikatorlänge / von 200 Meter, nur noch in besonderen F"ällen hinreichend, man muß i; :=: 5 — 50 mm, entsprechend / ^= 1000 bis 10 000 Meter erstreben. Eine Indikatorver- größerung V von nur 10 ist nur noch bei ganz großen oder verhältnismäßig nahen Beben zu- reichend, man muß 50 oder lOO oder 200 erstre- ben. In den kleinen Erdbeben, wie sie in Mittel- europa auftreten, zeigen sich hauptsächlich sehr kurze Perioden (höchstens ein paar Sekunden) und sehr geringe Bewegungen. Will man diese in einigen Hundert Kilometer Entfernung noch re- gistrieren, so findet man, daß selbst eine 200 fache Vergrößerung noch wenig befriedigend oder ganz ungenügend ist. Ich habe deshalb in Göttingen für diese Erdbeben noch ein besonderes Instrument aufgestellt, das 2100 mal vergrößert." Natürlich ist bei photographischer Registrierung die Erzielung hoher Empfindlichkeit sehr viel leichter zu erreichen, als bei mechanischer, da der Lichtstrahl, auch wenn er noch so lang ist, nichts wiegt und beim Auftreffen auf photographisches Papier keine Reibung erzeugt. Ein photographieren- des Horizontalpendel kann daher in kleinen Di- mensionen und im Gewicht von 20 — lOO Gramm hergestellt werden; nur stellt sich der Betrieb sehr teuer und daher bleibt man auf den meisten Stationen auf die mechanische Registrierung an- gewiesen, bei der zur sicheren Überwindung der Reibungen die stationäre Masse sehr groß gemacht werden muß. Die Wiechert'schen Pendel haben Massen von 1000 kg bzw. 17000 kg. Die letztere, gewaltige Masse, welche durch einen mit Schwer- spat gefüllten Eisenzylinder von 2 m Höhe und 2 m Durchmesser dargestellt wird, gehört zu dem oben erwähnten Instrument mit 2 100 maliger Ver- größerung. Mit diesem Instrument konnte aber auch z. B. am 16. September 1906 die Explosion eines Forts in Besangon zu Göttingen deutlich wahrgenommen werden und die Maschinen des Göttinger Elektrizitätswerkes , das 2 V2 ^^ von der Erdbebenwarte entfernt liegt, bedingen eine feine Wellung der Seismogramme, vermöge deren der Betrieb des Elektrizitätswerkes genau kontrol- liert werden kann. Selbst in den unterirdischen Befestigungen der Insel Helgoland, wo das Instru- ment zeitweilig aufgestellt war und eine sonst nirgends erreichbare Ruhe zeigte, traten doch hin und wieder nervöse Zuckungen des Lichtpunktes und fortwährende leichte Bewegungen auf. Bis Mitte 1907 gab es auf der Erde im ganzen 126 Stationen mit registrierenden Erdbebenmessern. Fast die Hälfte davon entfällt auf das über die ganze Erde ausgedehnte englische Netz. Deutsch- land hat 15 inländische Stationen, denen sich neuerdings je eine in Apia (Samoa-Inseln), Dar- es - salam und Kiautschau zugesellt hat. Die meisten Stationen sind mit Horizontalpendeln aus- gestattet, während die Zahl der Vertikalseismo- meter noch sehr gering ist. — Mit Hilfe der Potsdamer, in 25 m Tiefe unter dem Erdboden aufgestellten Horizontalpendel hat O. Heck er kürzlich auch die Deformationen des Erdkörpers unter dem Einfluß von Sonne und Mond sehr deutlich nachweisen können. Aus dem Betrage dieser Gezeitenerscheinung am festen Erdkörper ergibt sich, daß diesem etwa die Starrheit des Stahles zukommt. Kbr. Bücherbesprechungen. Otto zur Strassen, Die neuere Tierpsycho- logie. Vortrag in der zweiten allgemeinen Sitzung der 79. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Dresden. Druck und Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin, 1908. Der Verfasser macht uns in geschickter Weise mit den verbreitetLten Anschauungen der modernen Tierpsychologie bekannt. Als Vertreter des psycho- physischen Parallelismus behandelt er in erster Linie das rein ins Gebiet der Physik und Chemie fallende Problem des tierischen Bewegungsmechanismus, erst ganz am Schlüsse spricht er sich über die Zuordnung des Psychischen aus. Das für alle Wissenschaft obligatorische Prinzip der Ökonomie veranlaßt ihn, nicht nur dem Menschen, sondern auch den Tieren ein Bewußtsein zuzuschreiben. Bis zu welcher Stufe N.itur\vissonsoluirtlk"ho WooluMischrift. \. K. VUI Nr iti der Tierreihe er die F.iiilegung des Psychischen ausgodohnt wissen will, erfahren wir nicht. Ansicrsbach. Sammlung naturwissenschaftlich pädagogischer Abhandlungen. Hor.iusgegeben von Trof. Dr. l\ Sohnicil in M.irlnirg ;\. l,. und Trof. Or. W. B. Schmidt in l.eip/ig, /.weiter Hand. Mit .\b- hildungen im Texte. Leiprig und Berlin. Druck und Verlag von B. G. Teubner, looS. — Preis 13 Mk. Der umfangreiche Rmd, der eine reiche (Quelle nicht nur fvir die Methodik des Unterrichts ist. son- dern auch viel .tweckdienliches L'nterrichtsniaterial bringt. enthSlt die folgenden Abhandlungen : 1. Die Bedeutung des F.xpcr:mentes tiir den Ihiter- richt in der Chemie (von M. Wehner"!, 11. Sind Tiere und rtlan^en beseelt? Lehrstort" für den Unterricht in Prima im Anschluß an die philosophische Propä- deutik (^F. HiiokK 111. Beiträge lur Metliodik des botanischen l'nterrichts ^F. Schleichertl, IV. Der dy- niuuologische 1 ehrg-ang. Versuch einer geschlossenen Naturkunde ^K.. Renuisl, V. Beiträge zur Geschichte und Methode des chemischen Unterrichts in der Volksschule ^^R. Böttgert. VI. Die meteorologischen Elemente und ihre Beobachtung mit Ausblicken auf Witterungskunde und Klimalehre. Unterlagen tür schulgemäiSe Behandlung sowie nun Selbstunterricht l^O. Meit.Mier\ Vll. Der Lehrplan tur den Unterricht in Xaturkur.de, historisch und kritisch betrachtet (^P. HenklerK \"1U. Ph\-siologie und Anatomie des Menschen nüt Ausblicken auf den ganzen Kreis der Wirbeltiere in methodischer Behandlung (^F. Kienitz- Gerloftl Anregungen und Antworten. Herrn W. Z. u\ B. — i. Oie wicliügslen Werke über Pflantenbiologie siuJ folgende. .-Vn erster S'.cUe muli Siels das kUissische Werk A. von Kerner"s genannt »erden: Ptlantcnicben : 1 Bde. Leipiig iSoo — ot (antiq, clw.i 15 Mk.V — Zur F.inluhrung in d»s Studium dieses Wissenscliatlsiweiges sind folgende Lehrbüelier craptehlenswerl : Fr. Ludwig, Lelirbuoh der Biologie der Prtanien (Stuttgart 1805); und J. Wiesner, Biologie der Pflanien ^W\en 1SS9 und 1902, 2, .-Kutl. ; bildet Bd. HI von desselben Verf. Elemente der \vissenscliat\liolien Botanik ; mit vielen l.iter.itunitalenl ; ferner W. M i g u 1 a, riUnienbiologie 1 t^uelle v"ic Meyer, Leipzig ; S Mk.). — Ein g.mt ausgeicichneles Werk über Biologie der Blüten ist: E, L o e w . Einführung in die Blütenbiologie auf historischer Grundlage ^Berlin, K. Dümmlers Verl. lS95'>; dieses ist un- entbehrlich tvir jeden, der speziell in dieses reich entwickelte Gebiet eindringen will. Derselbe Verl", tchrivb: Blütenbio- logische Kloristik d, miulcrcn und nördlichen Eurojxx ^Stult- gatt 18041, und in IVlonio's Naturvv. Wochenschrift iSSo eine „.Vnleitnng «u bliitenbiologischen Beobachtungen", die jeder lesen muB. der selbst solche Studien treiben will. Ein kleineres Werk über Blütenbiologie ist: R. Knulh, Grund- rifi der Blütenbiologie (Kiel und Leipzig, l.ipsius u, Tischer, 1S94I. K. Knuth begrüiulele das umt'angreiche, verdienstvoUo Handbuch der Blütenbiologie (4 Bde., W. Engelmann, Leiptig, iSoS — tooö), das nach seinem Tode von O. .\ppel und E. U o e w vollendet wurde. Ein gutei .\bschnilt über Blüten- biologie tindet sich in W. 1. Behrens, l.ehibuch der .Mlg. Botanik, 5. .Xutl. iSo4. Hie Beziehungen »wischen Blumen und Insekten wird behandeln: O. Kirchner, Blumen und Insekten ^wird 1000 bei reubner-l.eiprig erscheinen!. — Es gibt natürlich wahllose -Vbhandhingeu über biologische The- mata ; von wichtigeren seien hier noch genannt ; (.>. K i r c h - ner, Bestäubungseinrichtungen der Blüten (Stuttgart, 1900 — IftOl) ; viele .\rbeiten von K, G oebel, besonders seine Pflanzen- biologischen Schilderungen (Marburg, iSSo— o,;; 3 Peile; etwa 15 Mk. antiii V — Die Beziehungen der Pflanzen Mittel- europas in ihrer l'mgebung behandelt das großangelegte, im Erscheinen begritVene Werk : Kirchner, L o e w und Schröter, Lcbensgcschichle der Blütenpflanien Mitteleuropas (Stuttgart, E. l'lmerV i. Da die Blütezeit tur jeden Ort eines größeren Gebietes wie Deutschland sehr verschieden ist. so ist es schwierig, tur ein so großes llebict einen sog, B 1 ü t e n k a 1 e n d e r auf- zustellen, d. h. ein chronologisches Verzeichnis, in dem die Pflanzen nach ihrer BUihperiode, dem Beginn und l'nde ihres Blühens angeordnet sind (E. Beiche, Blütenkaleuder der deutschen Phaaerogamenllora, J Bde., 1S73. 3Mk.l Dagegen kann man recht wohl für einen einzelnen Bezirk die verschie- denen Phasen des Blühens durch jahrelange Beobachtungen ermitteln und einen gewissen konstanten .Mi ttel t ermin lur einen bestimmten Beobaehtungsort festlegen. Der Blüten- kalender wird lur jeden Ort ein anderer sein (z. B. L. Beisse nberger, Beitrag tu einem Kalender der Elora von llermannsladt, in .\rohiv för Siebenbürgische Landeskunde, N. K. XXVI, 1S95. ^- 57^^- "• Hoffmann hat liir Gießen die Mittelwerte der Hauptphasen von über lioo Prtanzenarten in alphabetischer .\nordnung der .Vrten mitgeteilt (Berichte der Deutsch. Bot. Gesellschalt IV iiSSo] p. JiSo— 300I. E. Gohn schildert ^Dic Pflanze, 1SS2, S. 142) einen Pflanzen- kalender liir Breslau (vgl. Ludwig, Lehrbuch der Biologie der Pflanze, S. 147V — Man bezeichnet die Wissenschaft, die sieh mit der zeitliehen Entwicklung des Pflanzenlebens im Laufe eines Jahres (vornehiulich mit der Belaubung, dem .\uf- blühen, der Eruchtreife, der Laubvert^rbung, dem Laubfall^ und ihrer Beziehung zum Klima beschäftigt, als P h ä n o 1 o g i e. Untersuchungen dieser .\rt gehen bis auf Linne zurück. In seiner ,,Philosophia botanica" 1,1751! findet man p. 2'2 einen Blütenkaleuder für l'psala (beginnt mit 17 -Vpril: Hepatica). Ein eifriger Förderer phänologischer Bcoliachtungen aus neuerer Zeit ist besonders 11. Hoffmann in Gießen gewesen (vgl, seine ,,Phänologischen Mitteilungen" in den „Berichten der Oberhessischen Gesellschaft lur Xatur- und Heilkunde" und von 1000 an in den „.Abhandlungen der Naturforschen- den Gesellschall in Nürnberg"!. Seine Studien wurden auf- genommen und fortge>etzt von Ihne (vgl, dessen Geschichte der phänologischen Beobachtungen, in H o f f m a n n und Ihne, Beitr;ige zur Phänologie. Gießen 1SS4!. Drude (Deutschlands Pflanzengeographie. Stuttgart 1S95!, Knuth (für Holstein) u. a. Ihne l-li<-ii. Noch nicht ganz fünfzig Jahre sind vergangen, seit Darwin und Wallacc uns ihre Begrün- dung der Abstammungslehre gegeben haben. Jetzt erst fing diese Lehre an unsere Anschauungen über die lebende Welt zu beherrschen. Sic lehrte uns, daß jeder Organismus seine an Umbildungen oft reiche Stammesgeschichtc hat. So wie die Gesamtheit der Gesetze eines Staates sich erst verstehen und würdigen läßt, wenn man sich auf geschichtlichen Hoden stellt und die Verhältnisse und Bedürfnisse der Zeit berücksichtigt, in welcher jedes Gesetz entstanden i.st, so wird auch der Körperbau eines Tieres uns erst verständlich sein können, wenn wir seine Bildungsgcschichtc in den 1 lauptzügen ermittelt haben. Vieles im Bau der ricre, was uns sonst befremdend erscheinen müßte, hat schon dadurch eine Krklärung gefunden. h.s hat sich denn auch seit der .Mitte des vorigen Jahrhunderts eine Keihc hervorragender Forscher darum bemüht, den Bau des men.sch- lichen Körpers, seine F!,ntwicklung und seine individuellen Abweichungen aus der Vergangen- heit zu erklären. Dieses Streben führte zur Auf- stellung einer Reihe von hypothetischen .Stamm- formen, deren Bau sich demjenigen bekannter Tiere mehr oder weniger genau anschloß. Man hat versucht, den Bau unserer Stammformen bis in die weiteste Vergangenheit zu rekonstruieren. Schien auch die Lösung dieses Problems im .Anfang nicht sehr schwierig, so hat doch eine mehr eingehende I'rüfung gezeigt, daß wir von der endgültigen Beantwortung vieler Fragen noch weit entfernt sind, (jar zu viele wichtige Tier- formen sind ausgestorben und uns entweder nicht oder nur unvollständig als I""ossiIien bekannt. F^s bleiben große Lücken im Stammbaum der Wirbel- tiere, zu deren Ausfüllung die Tatsachen nicht ausreichen. Da kann man vorläufig nur durch hypothetische F'ormen den .Stammbaum ergänzen, dadurch die verschiedenen Möglichkeiten be- leuchten und Anhaltspunkte finden für neue Untersuchungen. Es hat nun in der Entstehungsgeschichte der höheren Wirbeltiere eine sehr wichtige Zeit ge- geben, da unsere Stammformen vom Wasserleben zum Leben auf dem Lande übergegangen sind. Da wurde der Bauplan ausgebildet, der den Aus- gang gegeben hat für die Organisation aller höheren Landwirbeltiere. Manches schwierige Problem würde bei Kenntnis dieses Bauplans seiner Lösung näher gebracht werden. Es ist eine unserer wichtigsten Aufgaben den Bau dieser ersten vierbeinigen I^ndwirbeltiere , der ersten Tetrapoden, zu ermitteln. Vergleichende Anatomen, F^mbryologen und Zoologen haben sich denn auch vielfach dem .Studium jener lebenden 'I'icrc zugewendet, welche den ersten Ictrapoden am näch-Stcn stehen. Das sind die Amphibien. Dabei hat man im Anfang bei stammes- gcschichtlichen Untersuchungen ziemlich allgemein angenommen, daß unter den lebenden Amphibien die Salamander oder Sc;hwanzlurche jenen ältesten Tetrapoden so nahe ständen, daß sie selbst wohl als Ausgangspunkt für den Bau aller anderen Land Wirbeltiere, besonders auch der Säugetiere, gelten dürften. Dieser Standpunkt hat viele Untersuchungen beherrscht. Ist er nicht richtig, dann ist Nachprüfung in mancher FVage erwünscht. Darin liegt die große Bedeutung einer richtigen Beurteilung der Organisation der Schwanzlurche. Ihre Ähnlichkeit mit den ersten Tetrapoden abzu- wägen, ihren Charakter als ursprüngliche Tiere zu prüfen, das ist eine wichtige Aufgabe. .Meine eigene Meinung geht dahin, daß die .Salamander in mancher Hin.sicht umgebildete Tiere sind, die weder den ersten 'Tetrapoden noch den .Stammformen der Reptilien und Säugetiere in jeder Hinsicht nahe stehen. Bei ihnen auf- tretende Organisationszustände dürfen erst nach sorgfältiger Prüfung als Ausgangspunkt für die Zustände höherer Wirbeltiere verwertet werden. Von diesem Gesichtspunkte aus möchte ich hier einige Betrachtungen über die Organisation der Schwanzlurche oder Salamander geben. Dabei gliedert sich das 'Thema in zwei Abschnitte. F,rstens gibt es unter den .Salamandern einige Arten, die F'Lschlurche, welche so vollständig Wassertiere sind und einen so einfachen Bau auf- weisen, daß sie namentlich früher als sehr ur- sprüngliche Tiere betrachtet wurden, welche den Fischen noch sehr nahe ständen. Dies muß erst geprüft werden, denn wäre es richtig, so brauchten wir den Grundplan der ersten I^ndwirbeltiere nicht weiter zu suchen; er wäre uns in jenen Arten gegeben. Wir werden sehen, daß diese Ansicht nicht richtig ist. Die zweite Aufgabe meiner Aus- führungen wird es sein, darzulegen, daß auch die typischen Salamander, die Salamandrinen, in mancher Hinsicht umgebildete 'Tetrapoden sind. F'angen wir mit den Fischlurchen an, .Man unterscheidet dabei zwei kleine Gruppen von Arten, die Kiemenlurche oder Perenni- branchiata und die JJerotremen. Erstere ver- danken ihren Namen dem Besitze von äußeren Kiemen, welche in einem Büschel auf beiden -Seiten hinter dem Kopfe hervorragen ^Fig. i;. Es 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 3 gehört dazu der ziemlich bekannte 01m oder Proteus, der in einigen Höhlenseen Östeireichs lebt, dann Necturus und die Armmolche S i r e n und Pseudobranchus, alle aus Nord- Amerika. Erst 1894 wurde dann in Texas noch eine fünfte Gattung der Kiemenmolche entdeckt, Typhlo- molge rathbuni, die wie der 01m unterirdisch lebt. Alle bekannten Exemplare der Typhlo- molge, etwa ein Dutzend, wurden merkwürdiger- weise mit dem Wasser eines 188 Fuß tiefen artesischen Brunnens lebend heraufbefördert. Die Figur 1 bringt eine Abbildung dieser noch nicht allgemein bekannten Art. Fig. I. 'I'y p h lo m olge rathbuni, nach Black ford ,,Nature": ^j^ nat. Größe. Fig. 2. Amphiuma means, Aalmolch, nach Brehm's Tierleben; '/a nat. Größe. Der dunkle Fleck etwas nach vorne vom Vorderbeine ist der Kicmenspalt, der hier zeit- lebens offen bleibt. Den typischen Salamandern oder Salamandrinen etwas ähnlicher sind die Derotremen. Dazu ge- hören der japanische Riesensalamander (Mega- lobatrachus), der Hellbender (Crypto- branchus oder Menopoma) und der in Figur 2 abgebildete Aalmolch (Amphiuma). Es seien nun zuerst einige Merkmale der Kiemenlurche und Derotremen hervorgehoben, welche als ursprünglich gedeutet worden sind, indem diese Tiere hierin eine von den Fischen zu den Salamandrinen hinüberleitende Organisation zeigen sollten. Erstens besitzen alle Fischlurche, mit alleiniger Ausnahme des Riesensalamanders, zeitlebens offene Kiemenspalten wie die Fische (vgl. Fig. 2). Bei den übrigen Amphibien, auch bei den Salaman- drinen. kommen offene Kiemenspalten nur den Larven zu ; bei den Reptilien, Vögeln und Säugern treten dieselben nur während der Entwicklung auf. In der Kiemenregion liegen bei allen Fischen einige aus Knorpel oder Knochen bestehende paarige Skeletspangen, die Kiemenbogen ; es sind wenigstens 5 solche Spangen beiderseits vorhan- den. Die Salamandrinen besitzen nur 2 solche Bogen. Bei den Fischlurchen sind sowohl 4 wie 3 und 2 Bogen gefunden worden, also Zahlen, welche von den Fischen zu den Salamandrinen überleiten. Einen ähnlichen Übergang zeigen nach C. Rabl die Gliedmaßen. Es sollen die Fischlurche besonders in der geringen Zahl ihrer Zehen (es gibt Arten mit nur 2 und 3 Zehen) Zustände darbieten, welche von den Flossen der Lungenfische zu den 4- und 5 -zehigen Füßen der Salamandrinen ^ , überleiten. Auch das Geruchsorgan einiger Kiemen- TfT- molche zeigt einen sehr einfachen Bau. =^~ Namentlich fehlt beim Olm und bei ~ Necturus ein Jacobson'sches Organ, die- ses rätselhafte Nebensinnesorgan der Nasen- höhle, welches den anderenSchwanzlurchen zukommt, allen Fischen aber fehlt und welches sich, soweit jetzt ersichtlich, erst bei den Stammformen der Landwirbeltiere entwickelt haben muß. Da die Tatsachen darauf hinweisen, daß Larven oft ursprünglichere Verhältnisse aufweisen als die erwachsenen Tiere, so war es wichtig, als für ver- schiedene Organe der Fischlurche nachgewiesen wurde, daß ihr Bau demjenigen der Larven der Salamandrinen ähnlich ist. Dies konnte damals nur als ein Zeichen der primitiven Organisation der Fischlurche gedeutet werden. Wir sehen aus diesen Beispielen, die ich noch vermehren könnte, daß die Fischlurche wirklich im Bau verschiedener Organe sich mehr als die Salamandrinen den F"ischen nähern. Und es ist sehr erklärlich, daß im Anfang der von der Ab- stammungslehre beherrschten Untersuchungs- periode den Fischlurchen eine sehr tiefe Stellung im Stammbaum der Tetrapoden zugewiesen wurde ; diese Auffassung schien sehr gut begründet. Und dennoch kommt diese tiefe Stellung im System den Fischlurchen nicht zu. Die Fisch- lurche sind nicht die ursprünglichsten Salamander, welche auf niedrigerer Entwicklungshöhe stehen geblieben sind, während die typischen Salamander eine höhere Entwicklungsstufe erreichten und jetzt nur noch als Larven das ursprüngliche Fisch- lurchstadium durchleben. Die sehr große Ähn- lichkeit namentlich der Kiemenlurche mit den Salamanderlarven ist nur eine Folge davon, daß erstere auch Larven sind, aber Larven, die sich nicht mehr, wie ihre Stammformen das getan haben müssen, zu vollkommenen Salamandriden entwickeln. Der Übergang der Larve zum er- N. F. VIII. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 35 wachsenen Salamander, die Verwandlung oder Metamorphose, ist bei ihnen unvollständig ge- worden oder unterbleibt gänzlich. Boas hat zuerst betont, daß die Kiemenlurche Salamandcrlarven sind, welche die Fähigkeit, sich umzuwandeln, verloren haben, aber dennoch ge- schlechtsreif wurden und sich dann im Laufe der Zeit in Anpassung an ihr beständiges VVasserleben in mehrfacher Hinsicht umbildeten. Die Dero- tremen sind nach Boas Salamander, die im Übergangsstadium von der Larve zum Erwachsenen, also in der Verwandlung, stehen geblieben sind. Der Gedankengang der von Boas gegebenen Beweisführung ist etwa folgender; Während die erwachsenen Salamander nach dem Grundplan eines Landtieres gebaut sind, leben ihre Larven im Wasser und haben sich im An einem Beispiele, welches ich Unter- suchungen von Boas entlehne, möchte ich dies erläutern. Die erwachsenen Salamander atmen durch Lungen, wenigstens soweit nicht Verkümmerung derselben eingetreten ist. Die gut entwickelten Lungenarterien (Fig. 3A: 4 und /) führen den Lungen aus dem Herzen (durch den aus letzterem hervorgehenden Arterienstamm st) sauerstoffarmes Blut zu, welches in den Lungen aus der Luft Sauerstoff aufnimmt. Der Salamanderzustand schließt an denjenigen der Lungenfische, beson- ders Ceratodus, an und dürfte demjenigen der Stammformen der Tetrapoden nahe stehen. Fig. 3. Arterienbogen der Salamander, schematisch, aus Boas, Lehrbuch der Zoologie, 4. Auflage. A erwachsenes Tier, B Larve, ao Aorta, br Kieme (abgeschnitten, am zweiten und dritten Bogen fortgelassen ; der vierte Bogen hat keine Kieme), ca Kopfarterie, / Lungenarterie, sl aus dem Herzen nach vorne führender Arterienstamm; I — '' erster, 2 — 2' zweiter, 3 — 3' dritter, 4 — 4' vierter Arterienbogen; la — 3« erste bis dritte zuführende Kiemenarterie; ib—Z/i erste bis dritte abführende Kiemenarterie. Das Blut strömt vom Herzen durch das Gefäß st und die Arterienbogen (1-3 Fig. A) oder die zu- und abführenden Kiemengefäße (1(7-30 und id—zb Fig. B) zur großen Körperarterie, zur AorV^iio. Laufe der Zeit dem Wasserleben immer mehr angepaßt. So haben sie Unterschiede gegenüber den erwachsenen Tieren erworben, welche bei der Verwandlung ausgeglichen werden. Es haben sich larvale Organisationszustände ausgebildet, von denen sich nachweisen läßt, daß sie keine ursprünglichen sind und daß sie den erwachsenen Stammformen der Salamander nicht zukamen. Es zeigen nun die Fischlurche auch solche larvale Anpassungen; ja, diese Anpassungen gehen noch weiter. Es bleiben die Tiere ja zeitlebens Wasserbewohner, es entwickelt sich aus ihnen kein Landtier mehr. Und dadurch ist es möglich geworden, daß einige Organe Llmbildungen zeigen, welche derart sind, daß sich niemals mehr ein erwachsener, landbewohnender Salamander aus ihnen entwickeln könnte. Die Anlage des Baues der erwachsenen Salamander, die den Larven immer zukommen muß, zeigt bei den Fisch- lurchen Verkümmerungen. Während des Larvenlebens aber herrschen in Anpassung an das Wasserleben andere Zustände. Die Lungen funktionieren dann nicht als Atmungs- organe, denn die Larven sind Wasserbewohner, welche durch Kiemen atmen (Fig. 3 B, br). Wenn die Lungen nun durch die Lungenarterien (4 und/) wie bei den Erwachsenen sauerstoffarmes Blut zugeführt bekämen, so würde in den Lungen, da jene noch nicht funktionieren , Sauerstoffmangel eintreten. Diese Schwierigkeit, eine Folge des Fehlens einer Kieme im Verlauf des 4. Arterien- bogens (Fig. 3B: 4), ist durch eine Änderung des Kreislaufs während des Larvenlebens in folgender Weise beseitigt. Durch ein Verbindungs- gefäß jeder Lungenarierie mit einem der abführen- den Kiemengefäße (Fig. 3B: 4' mit ib) wird den Lungen sauerstoffreiches Blut aus einer der äußeren Kiemen der Larve zugeführt. Das Blut strömt also vom Herzen durch das Gefäß 3 a zur Kieme und dann durch 3/', 4' und / zur Lunge. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 3 Das Verbindungsgefäß 4' kommt auch den er- wachsenen Salamandrinen (Fig. 3 A) und dem Lungenfisch Ceratodus zu, aber bei diesen Tieren strömt das Blut darin von der Lunge ab, indem ein kleiner Teil des durch Gefäß 4 aus dem Herzen kommenden Blutes nicht durch p zur Lunge, sondern durch 4' zur Aorta geht. Bei den Larven folgt das Blut in Gefäß 4' nicht dieser ursprüng- lichen Richtung, sondern strömt der Lunge zu. Der Abschnitt der Lungenarterien aber, der sich vom Herzen bis zu diesem Verbindungsgefäß er- streckt (Fig. 3B: 4) ist bei den Larven sehr zart, so daß nur sehr wenig oder kein sauerstoffarmes Blut aus dem Herzen unmittelbar den Lungen zu- geführt wird. Wir haben hier also eine An- passung der Larve an ihre Lebensbedingungen. Die Kiemenlurche nun schließen sich im Bau dieser Gefäße (4, 4' und p) entweder ganz den Salamandrinenlarven an , oder es ist bei ihnen Rückbildung eingetreten. So fehlt bei einigen Arten der Anfangsabschnitt der Lungenarterien (4 der Figur 3), der bei den Larven wegen der späteren Lungenatmung der Erwachsenen vorhan- den sein muß. Schon dadurch kann bei diesen Kiemenlurchen sich niemals mehr der Kreislauf der erwachsenen Salamandrinen ausbilden. Die Kreislaufzustände der Kiemenlurche entfernen sich weiter vom ursprünglicheren Zustande des Lungen- fisches Gerat odus , als dies beim typischen Zu- stande der erwachsenen Salamandrinen der Fall ist. Es kann der Kreislauf der Kiemenlurche nur von dem der Salamandrinenlarven abgeleitet werden; die Kiemenlurche zeigen in dieser Be- ziehung keine ursprünglichen Verhältnisse, aus denen sich die Kreislaufszustände der erwachsenen Salamandrinen entwickelt haben könnten. Von den Derotremen zeigt der Hellbender (Cryptobranchus oder Menopoma) durch- aus larvale Verhältnisse der Lungenarterien (wie in Figur 3 B ist Gefäß 4 sehr schwach ; das Blut geht durch 4' und p zur Lunge) ; Riesensalamander und Aalmolch schließen sich mit ihrer gut ent- wickelten Lungenarterie (Fig. 3 A, 4 und p) mehr den erwachsenen Salamandrinen an. Die vor- liegenden Zustände sind nicht leicht zu deuten; ich kann hier darauf nicht näher eingehen. Auch andere Organe der Fischlurche, beson- ders der Kiemenlurche, zeigen einen Bau, der demjenigen der Salamandrinenlarven ähnlich ist, der aber in mehreren F"ällen den Stammformen der Salamandrinen anscheinend nicht zukam. Die ganze Organisation der Kiemenlurche ist eine larvale. Dies läßt sich nur erklären durch die Annahme, daß die Kiemenlurche sich entwickelt haben aus Salamandrinenlarven, deren Verwandlung ausblieb. Daß dies möglich ist, läßt sich sicher begründen, denn man kennt bei den typischen Salamandern alle Übergänge einer etwas unvollkommenen Ver- wandlung bis zu einer vollständigen Unterdrückung derselben. Man nennt diese Erscheinung Neotenie und spricht von neotenischen Larven, wenn das Larvenleben sich über die normale Zeitdauer aus- dehnt, so daß die Verwandlung viel später als gewöhnlich stattfindet oder gänzlich unterbleibt. Solche Larven, welche man auch von den in Deutschland einheimischen Wassermolchen her kennt, können sich fortpflanzen. Bei der Sala- mandrinengattung Amblystoma pflanzen bei- nahe alle Arten sich nur in der gewöhnlichen Weise als erwachsene Tiere fort. Bei einer Art aber, Amblystoma tigrinum, nähert sich die Geschlechtsreife bei vielen Arten sehr der Ver- wandlung und kann unmittelbar nach derselben eintreten. Nicht selten aber pflanzen schon die Larven dieser Art sich fort, und dann findet die Verwandlung, jedenfalls oft, nicht mehr statt. In bestimmten Gegenden findet man Larven, die Axolotl, die regelmäßig als solche geschlechtsreif werden und bei denen die Verwandlung so selten ist, daß man die Larven als einen Kiemenlurch unter dem Namen Siredon beschrieben hat. Genau so muß man sich die Stammformen der Kiemenlurche entstanden denken. Eine will- kommene Bestätigung dieser von Boas zuerst vertretenen Ableitung der Kiemenlurche hat die Untersuchung des Kiemenlurches Typhlomolge rathbuni durch Fräulein E. T. Emerson ge- bracht. Dieselbe hat ergeben, daß diese Art sich in ihrem Bau, auch in einigen Details, den Larven eines nordamerikanischen Salamandrinen, Speler- pes ruber, sehr nahe anschließt. Daneben zeigt sie schon einige Anpassung an ihr unter- irdisches Wasserleben. Es ist demnach kaum zweifelhaft, daß dieser Kiemenlurch sich entwickelt hat aus der neotenischen Larve eines Salamanders der F"amilie Plethodontidae , der auch Speler- pes ruber angehört. Denkt man sich Salamandrinen, bei denen die Neotenie fixiert wurde, wie das ja beim Axolotl nahezu schon der Fall ist, so würden diese Tiere allen Anforderungen entsprechen, die an die Stamm- formen der Kiemenlurche gestellt werden müssen. Seit ihrer Entstehung haben dieselben sich dem Wasserleben mehr anpassen können, als es sonst die Salamandrinenlarven tun können. Denn sie brauchten sich niemals mehr zu Landtieren um- zuändern, während bei den Larven die Anpassung ans Wasserleben doch immer in gewissen Grenzen gehalten wird durch die Anforderungen des späteren Landlebens und die beschränkte Um- bildungsmöglichkeit bei der im Freien stattfinden- den IVIetamorphose. So zeigen einige Kiemen- lurche eine erhebliche Streckung des Körpers, auch des Rumpfes, wodurch die Gestalt mehr aalartig wird. Diese Streckung ist eine Anpassung ans Wasserleben. Aber aus einem Tiere mit er- heblich verlängertem Rumpfe konnte bei der Verwandlung kaum mehr ein Tier sich entwickeln, das imstande wäre, wie die typischen Salamander, sich mit seinen Gliedmaßen auf dem Lande fort- zubewegen; dazu wäre die Entfernung von vor- deren und hinteren Gliedmaßen zu groß. Ob- gleich dieselbe Streckung des Körpers auch für N. F. Vin. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 37 die Larven der Salamandrinen vorteilhaft sein dürfte, da ja die Lebensweise ähnlich ist, findet diese Streckung dennoch nicht statt; durch die Bedingungen des späteren Landlebens erscheint sie ausgeschlossen. Ich hoffe, daß es jetzt klar sein wird, wie wir die Organisation der Kiemenlurche beurteilen und weshalb wir das so tun. Sie sind aus neoteni- schen Larven entstanden \ denn ihre Organisation ist annähernd dieselbe wie diejenige der Larven und kann nur aus dieser abgeleitet werden, nicht umgekehrt. Ein direkter .Anschluß der Kiemen- lurche an die Fische besteht nicht, und anderer- seits können die Salamandrinen sich nicht aus den Kiemenlurchen entwickelt haben. Über den Bau der ursprünglichsten Tetrapoden lehren die Kiemenlurche uns also nicht mehr, als die typischen Salamander und deren Larven. Etwas anders, als die Organisation der Kiemen- lurche, muß diejenige der Derotremen beurteilt werden. Auch sie sind keine ursprünglichen Salamander. Aber von typischen Larven kann man sie nicht ableiten, denn sie zeigen eine Mischung von Charakteren erwachsener Salaman- der und Larven. Die einfachste Erklärung dieser eigentümlichen Erscheinung ist wohl folgende. Die Deortremen stammen ab von typischen Sala- mandern, welche vollständig zum Wasserleben zu- rückgekehrt waren. Die Verwandlung, welche dazu dient, im Bau der Larven die für das Land- leben notwendigen LTmänderungen herzustellen, verlor dabei größtenteils ihre Bedeutung, sie dehnte sich über eine immer längere Zeit aus, und schließlich trat dann bei den noch unvoll- kommen umgebildeten Tieren schon Geschlechts- reife ein. Einige Organe behielten die ursprüng- liche Umwandlung beinahe vollständig bei, andere gaben sie ganz oder größtenteils auf, behielten den larvalen Bau. So schließt M e n o p o m a sich im Schädel den erwachsenen Salamandern an, in seinem Kreislauf herrschen aber noch larvale Ver- hältnisse vor. Größtenteils vollendet wird die X'erwandlung beim Riesensalamander. Dagegen bleibt Meno- p o m a auf mehr larvaler Entwicklungshöhe stehen ; der Riesensalamander ist also von diesen nahe verwandten Gattungen diejenige, die den gemein- samen Stammformen am nächsten steht. Eine ähnliche Rückbildung der Verwandlung dürfte der Aalmolch durchgemacht haben. Für die Kiemenlurche Siren und Pseudo- branchus wird vielleicht die Ableitung von neotenischen Larven zur Erklärung ihres Baues nicht ganz ausreichen: auch für sie muß möglicher- weise eine allmähliche Verkümmerung der Ver- wandlung, wie für Riesensalamander und Meno- p o m a , angenommen werden. Aber wie steht es dann mit den vielen Merk- malen der Fischlurche, welche von so manchem Forscher als sehr ursprünglich gedeutet wurden, welche an die Stammformen der Tetrapoden er- innern sollten ? Darauf muß an erster Stelle geantwortet werden, daß zwar ein Organisationszustand, der bei den Fischlurchen auftritt, nicht mehr deshalb als ursprünglich betrachtet werden darf, daß aber doch bei Larven so oft während der Entwicklung primitive Zustände mehr oder weniger vollkommen wiederholt werden, daß diese auch bei den Sala- mandrinenlarven und dann auch bei den Fisch- lurchen auftreten können. Der eigentümliche Ur- sprung der Fischlurche schließt also das Auftreten sehr ursprünglicher Verhältnisse nicht aus, läßt diese im Gegenteil erwarten, aber nur insoweit diese auch den Larven der Salamandrinen, deren Organisation sie ja wieder erworben haben, zu- kommen. Vielleicht stammen die Fischlurche auch teilweise von sehr ursprünglichen Salaman- dern ab, und können dadurch ursprüngliche Merk- male zeigen, welche bei allen anderen Salaman- dern und auch bei deren Larven verloren ge- gangen sind. Allein es stellt sich doch heraus, daß mit dem neu erworbenen Einblick in die Stammesgeschichte der Fischlurche mehrere der- jenigen Eigenschaften, welche als ursprüngliche betrachtet worden sind, das nicht sein können. So wird es klar, daß die schon erwähnte, von Rabl versuchte Ableitung der Szehigen Glied- maßen der Tetrapoden aus den Flossen der Lungenfische, wobei er die 2- und 3-zehigen Gliedmaßen einiger Fischlurche als Etappen des Entwicklungsganges verwertet hat, nicht haltbar ist. Sie ist schon von M. Fürbringer wider- legt worden, und auch ich kann die geringe Ent- wicklung der Extremitäten und die niedrigere Zehenzahl bei einigen Fischlurchen nur einer Ver- kümmerung zuschreiben. Mir scheint, daß hier zweifellos die Folgen einer Rückkehr zum Wasser- leben hervortreten. Während bei den Larven der Salamandrinen im allgemeinen die Gliedmaßen, wenn auch spät, eine kräftige Ausbildung erreichen, da ja die erwachsenen Tiere beinahe immer ans Land gehen, ist bei den Fischlurchen im An- schluß an ihr ständiges Wasserleben eine Rück- bildung der Gliedmaßen möglich geworden und bei allen auch eingetreten. Denn im Wasser ist das Körpergewicht äußerst gering; es genügen viel weniger kräftige Gliedmaßen, es zu tragen. Wollen die Tiere sich schneller fortbewegen, dann schwimmen sie, ohne sich dazu ihrer Glied- maßen zu bedienen. Dabei finden wir die am wenigsten entwickelten Gliedmaßen bei denjenigen .Arten, welche sich in der Streckung des Rumpfes am meisten der schwimmenden und gleitenden F'ortbewegung angepaßt haben. Auch tritt bei verschiedenen Exemplaren derselben Art eine große Variabilität auf, wie man das öfters findet, wenn Rückbildung vorliegt. Bei ein und derselben Art, dem .Aalmolch, kennt man Exemplare, deren Füße I, 2 und 3 Zehen besitzen; es kommt sogar vor, daß bei einem Tiere die Zahl der Zehen links und rechts verschieden ist. Schwieriger ist es, für die einfachen Zustände der Nasenhöhle, namentlich für das Fehlen des 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 3 Jacobson'schen Organes beiNecturus und beim Olm EU entscheiden, ob Rückbildung vorliegt und ob sich diese dann mit dem VVasserleben in Zu- sammenhang bringen läßt. Seydel, dem wir wesentlich unsere Kenntnisse auf diesem Gebiete verdanken, glaubt letzteres nicht annehmen zu dürfen. Er weist darauf hin, daß das Jacobson'sche Organ sich bei den Larven der Salamandrinen schon ziemlich frühzeitig anlegt und noch vor der Verwandlung seine vollkommene Ausbildung er- reicht. Seydel schließt hieraus, daß dieses Organ schon funktioniert bei den älteren Larven, welche doch ausschließlich Wasserbewohner sind, und dann kann auch, meint er, im Wasserleben des 01ms und Necturus kein Grund für eine Verkümmerung liegen. Demgegenüber möchte ich nun aber hervor- heben, daß ein Organ, auch wenn es erst beim erwachsenen Tiere in Tätigkeit tritt, bei der Larve doch schon gut entwickelt sein kann. Es er- scheint durchaus nicht notwendig, daß die voll- kommene Ausbildung aller derjenigen Organe, welche nur beim Landleben von Bedeutung sind, bis zur Verwandlung aufgeschoben wird. Letzteres erscheint nur notwendig für diejenigen Organe, deren vollkommener Zustand für das Wasserleben der Larven nicht geeignet ist, wie z. B. die Kreis- laufsorgane. Aber für andere Organe darf man das nicht immer erwarten. Denn es läßt sich verstehen, daß die Verwandlung, wegen der Ge- fahr, welche sie für das Leben der Tiere mit sich bringt, eine so geringe ist, wie die Verhältnisse es nur erlauben. Dementsprechend ist es nicht befremdend, wenn einige Organe schon während des Larvenlebens, wenn auch spät, die voll- kommene Ausbildung erreichen, welche erst für die höheren Ansprüche des Landlebens notwendig ist. So sind ja die Gliedmaßen bei den Larven doch auch schon einige Zeit vor der Verwand- lung viel besser ausgebildet, als für ihre geringen Leistungen während des Wasserlebens erforderlich ist; diese Entwicklung wird wohl nur erreicht, weil sie später notwendig ist für die Fortbe- wegung auf dem Lande, welche ja an die Glied- maßen viel höhere Ansprüche stellt. Die vollständige Ausbildung eines Organes bei den Larven einige Zeit vor der Verwandlung bedeutet also nicht, daß dieses Organ schon beim Wasserleben in vollem Maße funktioniert. Ich kann denn auch dem von Seydel hervorge- hobenen Grund für den ursprünglichen Charakter der Nasenhöhle beim Olm und Necturus nicht beipflichten und glaube, daß Rückbildung vor- liegen muß. Nachdem wir über die Fischlurche erfahren haben, daß sie von Salamanderlarven ab- stammen, könnte das Fehlen des Jacobson'schen Organes hier nur ursprünglich sein, wenn dieses Organ auch den Larven der Salamander abginge, oder doch, als neu entstanden, bei diesen Larven erst sehr spät angelegt wurde. Wir haben aber gesehen, daß es dort, so weit bekannt, schon früh auftritt und gut entwickelt ist. Auch hier dürfte also bei den Fischlurchen, namentlich beim Olm und Necturus, kein ursprünglicher Zustand vorliegen, und Seydel's Anschauung, daß das Jacobson'sche Organ sich bei den Kiemenlurchen zu bilden anfängt, scheint mir nicht mehr haltbar. Wir sehen aus diesen Betrachtungen, wie der richtigere Einblick in die Stammesgeschichte der Fischlurche von großer Bedeutung sein kann für unsere Anschauungen über die Entstehung ver- schiedener Organisationsverhältnisse der Tetra- poden. Sie zeigen uns, wie die Fischlurche von typischen Salamandern abstammen, den Fischen nicht näher stehen als diese und uns also über den Bau der ersten Landwirbeltiere oder Tetra- poden nicht mehr Auskunft geben können, als die übrigen Salamander. Bevor ich von den Fischlurchen Abschied nehme, möchte ich noch kurz einiges hervorheben. Bei der neuen Boas 'sehen Ansicht über die Stammesgeschichte der Kiemenlurche ist es klar, daß die dazu gehörigen Arten sich unabhängig voneinander aus neotenischen Larven verschiedener Salamanderarten entwickelt haben können. Das scheint auch wirklich der Fall gewesen zu sein. Denn die Kiemenlurche weisen untereinander so viele Unterschiede auf, daß eine allen gemeinsame Entwicklung nicht wahrscheinlich ist. Und das- selbe trifft auch für die Derotremen zu, wo der Aalmolch sich unabhängig von den untereinander näher verwandten Formen, dem Riesensalamander und Menopoma, also aus einer anderen Sala- manderform, entwickelt haben dürfte. Nur für wenige der zugehörigen Arten können wir die nächsten Verwandten unter den Sala- mandrinen schon jetzt angeben. Für Typhlo- molge ist die Abstammung von einer Art aus der Familie Plethodontidae näher begründet worden. Für den Riesensalamander und Meno- poma glaube ich eine Entstehung aus den Amblystomatidae annehmen zu müssen und zwar aus Formen, welche mit den Gattungen Raniceps undHynobius verwandt waren, mit denen nach Wiedersheim und Drüner im Kopfskelett und Kiemenbogenapparat auffallende Ähnlichkeiten vorliegen. Diese Formen müssen demnach der Familie Amblystomatidae an- geschlossen werden. Dagegen darf man sie nicht, wie dies vielfach noch geschieht, mit dem Aal- molch (Amphiuma) in einer Familie .^m- phiumidae vereinigen, denn die gemeinsamen Derotremen-Charaktere haben sie wahrscheinlich unabhängig voneinander erworben. Ich komme jetzt zum zweiten Teil meines Themas, auf die Frage, inwieweit die Organisation der typischen Salamander denjenigen der Stamm- formen der Tetrapoden nahe stehen diirfte. Solange man die Fischlurche als Übergangs- formen von den Fischen zu den Tetrapoden be- trachten konnte, erschien auch eine sehr tiefe Stellung der Salamandrinen wahrscheinlich. Jetzt, N. F. Vin. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 39 wo wir über die Abstammung der P'ischlurche genauer unterrichtet sind, ist aber einer der wich- tigsten Gründe hinfällig geworden, welcher für die Deutung der Salamander als F"ormen, die den Stammformen der übrigen Tetrapoden sehr nahe stehen, herangezogen werden könnte. Aber hier- aus geht nicht hervor, daß die typischen Sala- mander keine ursprünglichen Tiere sind. Denn wir haben nur erfahren, daß die Fischlurche uns über die Stammesgeschichte der Salamandrinen nicht unterrichten können . weil sie nicht die ur- sprünglichsten Salamander sind. Es bleibt demnach möglich, daß die Sala- mander doch den Stammformen der anderen Tetrapoden sehr nahe stehen. Dafür spricht ihre sehr einfache Organisation, die für viele Organe einen Bau aufweist, der ursprünglicher sein kann als bei irgendeinem anderen lebenden Tetrapoden. Es muß noch ermittelt werden, inwieweit die Salamander sich den ursprünglichsten Tetrapoden nähern und inwieweit ihre Organe als Ausgang genommen werden dürfen für unsere stammes- geschichtlichen Betrachtungen über die Organ- systeme der höheren Wirbeltiere. Dazu verfügen wir über mehrere Hilfsmittel, welche es uns ermöglichen, uns vom Bau der Stammformen der Landwirbeltiere ein Bild zu entwerfen. So kennen wir viele Skelette ausge- storbener Landwirbeltiere aus der Steinkohlen- formation und der sich anschließenden permischen Periode, das ist aus einer Zeit, wo die Entstehung der Tetrapoden aus Fischen noch nicht weit zu- rücklag. Diese Skelette erlauben auch Schlüsse auf den Bau des Muskelsystems sowie auf die Lebensweise jener ausgestorbenen Tiere. Aber es läßt sich nicht ohne weiteres ablesen, welche Arten darunter den Stammformen aller Tetra- poden am nächsten stehen und ob es überhaupt darunter Arten gibt, welche diesen Stammformen so nahe kommen, daß sie mit diesen vereinigt werden dürfen. Hier kann nur ein sorgfliltiger Vergleich uns den Weg zeigen. Wenn ein Orga- nisationszustand auftritt, der ungezwungen die .Ableitung anderer Zustände desselben Organes bei verschiedenen Abteilungen der Tetrapoden erlaubt , wenn Anschluß an den Bau der Fische möglich ist, dann kann ein ursprünglicher Zustand vorliegen. Namentlich auch eine weite Verbreitung eines Organisationszustandes kann wichtige An- deutungen geben. Wenn wir z. B. bei denjenigen Fischen, welche für die Ableitung der Tetrapoden am ersten in Betracht kommen, den Kopf bedeckt finden mit einer ziemlichen Zahl von Knochen- platten, welche nur Öffnungen für die Sinnes- organe lassen, sonst aber eine geschlossene Decke des Kopfes bilden, und wir finden diese Knochen in ähnlicher Anordnung auch bei karbonischen und permischen Amphibien, bei den sogenannten Stegocephalcn, und dann wieder bei den ältesten bekannten fossilen Reptilien, dann wird es wahr- scheinlich, daß diese geschlossene Schädeldecke auch den Stammformen der Landwirbeltiere zu- gekommen ist. Und da sich herausgestellt hat, daß die in dieser Beziehung sehr wechselnden Zustände der Reptilien sich ungezwungen auf jenen Zustand, und nur auf jenen , zurückführen lassen, so wird dies beinahe zur Gewißheit. So sehen wir, daß es doch möglich ist, man- ches über den Bau der allerersten Tetrapoden zu ermitteln, über den Bau von Tieren, die wir nie- mals lebend gesehen haben und auch fossil viel- leicht niemals finden werden. Dann können wir versuchen, die ältesten Tetrapoden zu rekonstru- ieren. Und wenn wir dann die Salamander mit diesen ältesten Tetrapoden vergleichen, so können wir wenigstens mit einiger Wahrscheinlichkeit an- geben, inwieweit erstere von den Stammformen aller Landwirbeltiere abweichen und ob sie sich davon entfernt haben in einer Richtung, welche zu den höheren Landwirbeltieren überleitet, oder ob sie einen selbständigen, eigenen Entwicklungs- weg gegangen sind. Und dann glaube ich, daß wir tatsächlich bei den Salamandern wichtige Abweichungen gegen- über den ersten Tetrapoden konstatieren können. Ich will mich wieder auf einige Beispiele be- schränken. Den Salamandern fehlt jene vollständige knöcherne Kopfbedeckung, von der wir soeben erfahren haben, daß sie den ältesten Tetrapoden zukam. Hier müssen wir den Verlust vieler Knochen bei den Salamandern annehmen. Auch sonst dürfte ihr Schädel noch wesentlich abweichen von jenem ursprünglichen Schädeltypus, von dem wir den Reptilienschädel ableiten können. Mit großer Wahrscheinlichkeit läßt sich auch nachweisen, daß den ersten Tetrapoden eine voll- ständige Hautbedeckung von kleinen, in regel- mäßigen Reihen angeordneten Knochenschuppen zukam. Diese Hautbedeckung zeigen diejenigen Fische, an welche wir die Landwirbeltiere an- knüpfen müssen; und einige der ältesten Stego- cephalcn zeigen diesen Panzer noch in vollkom- mener Ausbildung. In Figur 4 ist ein beinahe vollständig beschuppter Stegocephale abgebildet. Bei den meisten ausgestorbenen Amphibien war der Panzer nur an der Bauchseite erhalten und dort findet man auch noch Überbleibsel jener Körperbedeckung bei vielen Reptilien. Die Bauch- rippen der Crocodilier, des altertümlichen Reptils Sphenodon, einiger vereinzelten Eidechsen (Tili- (|ua und Trachysaurus), sowie der Bauch- schild der Schildkröten sind aus jenem Haut- skelette hervorgegangen. Bei den jetzt lebenden Amphibien kommt nur unter den Blindwühlen dieser Hautpanzer noch vor, und zwar in ver- kümmertem Zustande. Die Salamander müssen diese Körperbedeckung verloren haben. Ich wage es nicht zu versuchen, eine Erklärung für die Rückbildung dieses Hautpanzers bei den Amphibien zu geben. Es läßt sich aber wenig- stens der Nutzen der Erhaltung des Panzers an der Bauchseite vieler Stegocephalcn angeben. Bei den älteren Tetrapoden, mit ihren nur kurzen 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vin. Nr. 3 Gliedmaßen (vgl. Fig. 4) und ziemlich langem Rumpfe, war bei der kriechenden Fortbewegung auf dem Lande zweifellos die Bauchseite in fort- währender Berührung mit dem Boden. Eine be- sondere Hautbedeckung muß hier wichtig gewesen sein. Der Schuppenpanzer bedeckt denn auch noch manchmal teilweise die nach unten gewen- dete Haut der Oberarme und Schenkel, wie z. B. bei dem in Fig. 5 abgebildeten Panzer von Bran- chiosaurus, einem permischen Stegocephalen, der keinen Rückenpanzer mehr besitzt. Bei der Kriechbewegung dürfte auch die Bauchmuskulatur mitgearbeitet haben, und diese mag dann am Hautskelett einen erwünschten Ansatz gefunden haben. Beim Leben im Wasser aber besteht eine be- sondere Bedeutung des Bauchpanzers nicht. Denn Fig. 4. Ricnodoncopei, ein Stegocephale der peimischen Periode, vom Rücken gesehen, restauriert nach Fritsch, etwas umgeändert ; '^/^ nat. Gröfle. Die Bedeckung des Kopfes mit Knochenplatten ist bei dieser Art ungenügend bekannt und deshalb nicht vollständig angegeben. 3?- Fig. 5. Bauchpanzer von Bran chi os aurus, au; liegenden von Sachsen; aus Smi th Wood ward , Palaeontology, nach Credner; nat. Gröl aus dem Rot- . Vertebrate Größe. erstens können die Beine dann viel leichter das Körpergewicht tragen und den Rumpf heben, und zweitens sind die Tiere dann gar nicht an den Boden gebunden , sondern bewegen sich vielfach auch schwimmend und kriechend zwischen Wasser- pflanzen umher. Wenn also bei den meisten Stegocephalen der Schuppenpanzer auf dem Rücken und den Seitenflächen des Körpers verloren geht, aber an der Hauchfläche gut erhalten bleibt, so deutet dies darauf hin, daß alle diese Stegocephalen nicht ausschließlich Wasserbewohner waren, son- dern daß für sie das Landleben sehr wichtig war; denn nur dann könnte diese Lebensweise die Er- haltung des Bauchpanzers bedingen. Eine Bestätigung findet diese Ansicht, daß zwischen Erhaltung des Bauchpanzers und dem Landleben ein Zusammenhang besteht , in dem, was über den Bauchpanzer des Stegocephalen Branchiosaurus durch Credner bekannt geworden ist. Bei diesem Tiere tritt der gut entwickelte Bauchpanzer erst kurz vor oder wäh- rend der Verwandlung auf. Seinen Larven, welche als ausschließliche Wasserbewohner nach obiger Auffassung den Bauchpanzer nicht brauchen, kommt derselbe noch nicht zu. — Daß den Fröschen ein Bauchpanzer abgeht, kann uns in- soweit nicht wundern . als bei der hüpfenden Fortbewegung eine Reibung der Bauchfläche mit dem Boden weniger häufig ist und diese Fläche daher eines besonderen Schutzes nicht bedarf. Daß den Salamandern der Bauchpanzer auch fehlt , verdient aber besondere Beachtung. Für sehr viele Salamander, welche sich vorwiegend kriechend auf dem Lande fortbewegen , müßte diese Schutzvorrichtung doch anscheinend ihren Nutzen haben. So kommt die Frage auf, inwie- weit sich bei ihnen der Verlust des Bauchpanzers mit der Lebensweise in Verbindung bringen läßt. Ich glaube, daß dieser Verlust für eine abnehmende Bedeutung des Landlebens bei den nächsten Stammformen der Salamander spricht. Jetzt könnte dann bei einem Teil der Salamander das Landleben wieder von größerer Wichtigkeit ge- worden sein. Der Nachweis, daß den ersten Tetrapoden ein gut entwickeltes knöchernes Hautskelett zukam, erlaubt uns noch einen Schluß zu ziehen. Es darf daraus nämlich gefolgert werden , daß bei diesen Tieren die Hautatmung nicht von großer Bedeutung gewesen ist. Wenn wir jetzt bei den Fröschen und Salamandern eine sehr entwickelte Hautatmung finden, so kann dies nur etwas neu erworbenes sein, und zwar etwas äußerst wichtiges. Sie übt auf die Mischung von sauerstoftVeichem und sauerstoffarmem Blut einen großen Einfluß aus. Die Trennung des Körper- und Lungen- kreislaufs verlor durch die Hautatmung an Be- deutung. Zusammen mit der Schlundatmung mag die Hautatmung die vollständige Verkümmerung der Lungen und die damit Hand in Hand gehen- den Rückbildungen am Herzen ermöglicht haben, welche viele Salamander aufweisen. Die neu er- worbene Hautatmung übt einen umgestaltenden Einfluß auf die anderen Atmungsorgane und auf die Kreislaufsorgane aus, der das Ende seiner Wirkung noch nicht erreicht haben dürfte. Die- selben Umbildungen und Verkümmerungen der Atmungs- und Kreislaufsorgane finden wir inner- halb verschiedener Familien der Salamander, bei denen sie dann aber unabhängig voneinander er- worben sind und fortschreiten. Nicht nahe ver- wandte Gattungen bilden hier gemeinsame neue Merkmale und Organisationszustände an wichtigen Organsystemen aus, welche nur scheinbar ein Zeichen engerer Verwandtschaft sind. Aber bei einer so eingreifenden L^mbildung muß man sich fragen, welche Einflüsse hier tätig gewesen sein können. Weshalb verkümmert hier F. N. VIII. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 41 die Lungenatniung, welche sich bei den höheren Tetrapoden so vorzüglich bewährt hat ' Und dann glaube ich, daß auch hier ein Grund in der Lebensweise gesucht werden muß. Denn für Tiere, welche sowohl im Wasser wie auf dem Lande leben, hat die Hautatmung einen sehr großen Wert. Weder die Kiemen- noch die Lungenatmung sind im Wasser und auf dem Lande gleich brauchbar, die Hautatmung aber leistet ihre Dienste unter allen Umständen. Ihre kräftige Ausbildung bei den Amphibien schreibe ich dem Einfluß des Wasserlebens zu. Hier liegt eine Anpassung an diese Lebensweise vor, welche den ältesten, vollständig beschuppten Tetrapoden nicht zugekommen und erst innerhalb der Klasse der Amphibien, vielleicht schon bei den Stegocephalen, erworben worden ist. Fassen wir zusammen, was wir jetzt über den Bau der Salamander und der ersten Tetrapoden erfahren haben , so geht aus den Beispielen her- vor, daß sehr wesentliche Unterschiede im Kopf- skelett, in der Haut, in den Kreislaufsorganen und in der Atmung vorliegen. Dieselben sprechen dafür, daß wichtige Differenzierungen die jetzt lebenden Salamander von den ersten Landwirbel- tieren trennen. Die Organisation der Salamander gibt uns nur ein unvollkommenes Bild vom Bau der ältesten Tetrapoden. Aber diese Beispiele lehren uns noch etwas mehr. Die erörterten Unterschiede weisen nach einer bestimmten Richtung. Das Fehlen eines Bauchpanzers, die geringe Bedeutung der Lungen- atmung, die in den Vordergrund gerückte Haut- atmung, sie weisen darauf hin, daß bei den Stammformen der • Salamander das Wasserleben von neuem das Übergewicht über das Landleben errungen hat. Während die von den ältesten Tetrapoden ab immer fortschreitende Anpassung ans Landleben in der Ausbildung der Eidechsen, Vögel und Säuger gipfelt, haben die Salamander diesen Weg frühzeitig verlassen. Ihre Stamm- formen haben wieder mehr und mehr das Wasser aufgesucht, und ihre Organisation ist davon wesent- lich beeinflußt worden. Die Umbildung der Salamander hat doppelten Charakter. Sie äußert sich erstens in der Aus- bildung neuer Zustände, andererseits in der Ver- kümmerung von Vorrichtungen , welche für das Wasserleben weniger geeignet waren oder doch dabei ihre Bedeutung verloren. Es scheint mir sehr erwünscht, daß wir ver- suchen, uns über die Ausdehnung dieser Ver- kümmerungen und neuen Anpassungen Klaiheit zu schaffen. Wenn wir bei unseren vergleichend- anatomischen Untersuchungen immer wieder auf den Bau der Salamander, als in mancher Hinsicht ursprünglich, zurückgreifen, dann müssen wir diesen ursprünglichen Charakter genau abwägen. Namentlich für die Sinnesorgane, welche von den Unterschieden in den Bedingungen des Land- und Wasserlebens so sehr beeinflußt werden, scheinen mir neue Untersuchungen er- wünscht. Mir ist es wahrscheinlich, daß in den herrschenden Auffassungen über den schalleitenden Apparat, Trommelfell und Gehörknöchelchen, vieles nicht richtig ist, weil sie mit Unrecht davon ausgehen, daß hierin die Verhältnisse der Sala- mander ursprünglichen Zuständen nahe stehen. Ich glaube vielmehr, daß auch hierin der Bau der Salamander sich nur durch weitgehende Ver- kümmerung erklären läßt. Und dabei verdient besondere Beachtung, daß ein schalleitender Apparat beim Wasserleben ohne jede Bedeutung ist, so daß auch hier die Rückbildung eine ein- fache Erklärung finden würde in einem Zurück- treten des Landlebens bei den Stammformen der jetzigen Salamander. Bei der großen Bedeutung aber, welche man dem schalleitenden Apparate bei stammesgeschichtlichen Betrachtungen über die Säugetiere zugeschrieben hat, liegt hier eine Frage von großer Tragweite vor. Wenn ich aber auf die Umbildungen bei den Salamandern einen besonderen Nachdruck gelegt habe, so soll damit nicht behauptet sein, daß daneben bei diesen Tieren nicht recht ursprüng- liche Verhältnisse auftreten. Im Gegenteil ! Wenn die Salamander wieder mehr zum Wasserleben zurückgekehrt sind, dann mag dies für viele Or- gane die weitere Entwicklung gehemmt haben, so daß sie auf ursprünglicher Entwicklungsstufe stehen geblieben sind. Denn diese genügte oft den vom Wasserleben gestellten Anforderungen, während bei den typischen Landwirbeltieren die- selben Organe immer höheren Ansprüchen ge- nügen mußten und sich dementsprechend immer mehr vom ursprünglichen Zustande entfernt haben. Die Ausbildung der Rumpfmuskulatur und des Gliedmaßenskeietts bei den typischen Salamandern einerseits, den Reptilien und Säugetieren anderer- seits gibt hierfür gute Beispiele. Allerdings muß auch hier auf Rückbildung, wenn auch nur in geringem Maße, geachtet werden, wie sie ja das Gliedmaßenskelett mehrerer Fischlurche und der Schultergürtel der Salamander aufweisen. Ich habe versucht, in diesen Ausführungen zu zeigen, wie sich gewichtige Gründe beibringen lassen für die Auffassung, daß die Salamander, wenn sie auch den ersten Landwirbeltieren unter allen lebenden Tetrapoden am nächsten kommen dürften, doch in mancher Hinsicht stark umge- bildete Landtiere sind. Ich habe versucht, dar- zulegen, in welcher Richtung sich die stammes- geschichtliche Entwicklung der Salamander, so- wohl der mehr typischen Salamandrinen als der Fischlurche, bewegt hat. Aber ich hoffe in diesen Erörterungen noch mehr gezeigt zu haben. Wenn ich hier versucht habe, eines unserer stammesgeschichtlichen Pro- bleme zu behandeln, so lag mir daneben auch daran, einen Einblick zu geben in die Art, wie der Zoologe oder Anatom in diesen stammes- geschichtlichen Fragen arbeitet, wie er versucht, weiter zu kommen. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 3 Der Widerspruch der Meinungen in diesen Fragen mag zeigen, wie verwickelt sie sind, und eine Entschuldigung bieten für manchen Fehler, der uns im Lichte seiner Zeit sehr begreiflich wird. Kann es uns wundern, wenn man sich im .'\nfang der vielen Schwierigkeiten noch nicht be- wußt gewesen ist. Wer hätte erwarten dürfen, daß uns in den offenen Kiemenspalten der Fisch- lurche von neuem bei erwachsenen Tieren Bildun- gen vorgeführt worden sind, welche während langer Reihen von Generationen ihren erwachsenen Stammformen nicht mehr zukamen? Schon bei den permischen Tetrapoden dürften die Kiemen- spalten bei den erwachsenen Tieren alle ge- schlossen gewesen sein. Wie schwierig muß es dann aber sein, bei nur fossil erhaltenen Arten immer Klarheit zu bringen ! So dürfen wir überzeugt sein, daß das Tatsachenmaterial noch nicht ausreicht, um den Stammbaum der Landwirbeltiere zu rekonstruieren. Unsere Kenntnisse müssen noch nach mancher Richtung vermehrt werden; dann erst können wir mit mehr Aussicht auf eine richtige Antwort manchen phylogenetischen Fragen nähertreten. Doch dürfen wir deshalb diese Fragen nicht ruhen lassen. Denn, wie so oft, zeigt auch hier erst mancher verfehlte Versuch den richtigen Weg zur Beantwortung. — Und was in 50 Jahren er- reicht worden ist, gibt uns schöne Hoffnung für die Zukunft. Kleinere Mitteilungen. Gerücht und Wunder. — In der vorurteils- losen Wissenschaft ist es seit langer Zeit bekannt, daß eine Legion von Wundergeschichten und mystischen Erlebnissen aller Art ihre Entstehung lediglich den Übertreibungen und Entstellungen des Gerüchts verdankt, jener Fama, die schon dem Altertum als größte aller Lügnerinnen er- schien. Angesichts des nicht unbedenklichen Un- heils, das eine kritiklos weitergegebene und dann auch vielfach bedingungslos geglaubte, sensationelle Wundererzählung in vielen Köpfen anzurichten vermag, erscheint es dringend geboten, besonders eklatante Fälle dieser Art aufzuklären und dann als warnendes Beispiel für die Unzuverlässigkeit der im Volk umgehenden mystischen Geschichten vor der breiten Öffentlichkeit in ihrem wahren Zusammenhang darzulegen. — So sei es mir ge- stattet, auch heute wieder ein Schulbeispiel dieser Art, das vor einigen Monaten ziemliches .'\ufsehen erregte, zu diskutieren. Am 26. September 1908, mittags etwa um 2 Uhr, ereignete sich in Berlin das furchtbare Hochbahnunglück auf dem Gleisdreieck. In dem Bericht, den der Berliner Lokal- Anzeiger am Morgen des 27. September darüber brachte, fand sich nun u. a. folgender aufsehenerregende Passus: ,,Ein Herr, Bruder des schwerverletzten Tape- zierers Schumacher, erzählte uns: ,Ich bin Reisen- der für ein hiesiges Haus, und befand mich seit vierzehn Tagen auf der Tour. Heute war ich in Swinemünde und wollte nach Kolberg. Da, es ist so etwa gegen 2 Uhr, überkommt mich eine namenlose Unruhe. Etwas in mir sagt mir un- ablässig, daß etwas geschehen sei. Kurz ent- schlossen gebe ich die Fahrt nach Kolberg auf und fahre nach Berlin zurück. Bei meiner An- kunft auf dem Stettiner Bahnhof sagen mir die Extrablätter, was vorgefallen ist, und jetzt finde ich hier meinen Bruder schwer verletzt.'" Hatte der Fall sich wirklich so zugetragen, wie es hier behauptet wurde, so lag eine ein- wandfreie Fernahnung vor, wie deren Hunderte und Tausende immer wieder und wieder von den verschiedensten Seiten berichtet werden, ohne daß es bisher gelungen wäre, einen absolut einwand- freien und wissenschaftlich unangreifbaren Beweis für das wirkliche Vorkommen solcher Ferngefühle, Ahnungen, hellseherischer Begabungen usw. zu erbringen. Der Fall schien daher einer sorgsamen Nachprüfung wert zu sein; durfte man doch von einer solchen unter allen Umständen, wie auch das schließliche Resultat sein mochte, wertvolle Aufklärungen für die psychologische Wissenschaft erhoffen. Da ich überdies Mitglied der Kom- mission war, welche die ,, Psychologische Gesell- schaft" in Berlin zur Veranstaltung ihrer „Okkul- tismus-Enquete" eingesetzt hatte, mußte ich um so lebhafter den Wunsch hegen, volles Licht über einen Fall von Ahnung zu verbreiten, der auf den ersten Moment von einer geradezu frappanten Beweiskraft zu sein schien , der überdies in weiten Teilen der Berliner Bevölkerung bekannt geworden war und viel besprochen wurde. Nachdem ich die Zustimmung der beiden an- deren Mitglieder unserer Okkultismus-Kommission eingeholt hatte, suchte ich mich mit dem Herrn, der die Ahnung gehabt haben sollte, in Verbin- dung zu setzen. Es war dies nicht ganz einfach, da der Name und die Wohnung des verunglückten Tapezierers in den verschiedenen Tageszeitungen ganz verschieden angegeben worden waren. Schließlich gelang es mir, den Gesuchten aus- findig zu machen: es war der Kaufmann Johannes Schumann (nicht Schumacher), Berlin, Bromberger Straße 12, wohnhaft. Ich richtete an Herrn Schumann einen eingehenden Brief, in dem ich ihn über die Bedeutung einer genauen Fest- stellung der Tatsachen und über das Interesse, das unsere Okkultismus-Enquete an dem Fall nahm, aufklärte. Im Anschluß daran richtete ich eine größere Reihe von genau präzisierten Fragen an ihn, die ich nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten bat. Herr Schumann hatte die große Liebenswürdigkeit, auf meine Anregung ein- zugehen, und richtete am 16. Oktober 1908 aus Königsberg i. Fr., wohin er wieder verreist war, N. F. VIII. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 43 einen 4 Seiten langen Brief an mich, für den ich ihm auch an dieser Stelle herzlichen Dank sagen möchte. Ich kann es mir versagen, hier die von mir gestellten Fragen und den Schumann'schen Brief im ganzen Umfang ungekürzt wiederzugeben. Für die Beurteilung des Vorfalls genügt voll- kommen der nachfolgende, dem Brief entnommene Abschnitt : „Sonnabend den 26. September Vormittag er- ledigte ich meine geschäftlichen Angelegenheiten in Swinemünde. Hierauf überlegte ich, ob ich den kommenden Sonntag in Swinemünde ver- bleiben soll oder noch denselben Tag nach Kol- berg fahre. Bald darauf erwog ich auch, ob ich wohl meine Frau in Berlin mit meinem Besuch überraschen soll; ich verwarf jedoch letzteren Plan, da er mir zu kostspielig und zeitraubend erschien. Ich beschloß nun, Nachmittag nach Kolberg zu fahren. Bevor ich mich noch zur Weiterreise nach Kolberg rüstete, sagte mir plötz- lich etwas unbestimmtes, fahre sofort nach Berlin. Ich bekam eine ungewöhnliche Unruhe, dachte an meine Frau und Kind (i Jahr alt) und nichts hätte mich von der Reise mehr abhalten können. Nachmittag I Uhr 18 Minuten fuhr ich von Swinemünde nach Berlin, also bereits vor der Katastrophe. Während der Fahrt verlor sich die innere Unruhe, wozu jedenfalls die Zeitungslektüre beitrug. Erst beim Eintreffen in Berlin erfuhr ich von der furchtbaren Katastrophe." Das Wunderbare , das dem Ereignis in der Schilderung des „Berliner Lokal-Anzeigers" an- haftete, zerfließt also — wieder einmal ! — bei näherer Betrachtung in wesenlosen Schein. Wir sehen, daß Herr Schumann schon am Vormittag des verhängnisvollen Tages in Swinemünde ernst- haft den Gedanken erwog, den darauffolgenden Sonntag in Berlin in Gesellschaft von Frau und Kind zu verbringen, die er für mehrere Wochen nicht wieder sehen sollte. Er verwarf zwar zu- nächst den Plan wegen der damit verbundenen Kosten, nahm ihn aber auf, weil er einen Anfall von jener weitverbreiteten und wohlbekannten Unruhe erlitt, die einen von seinen Lieben ge- trennten Menschen gelegentlich beim Gedanken an die Entfernten ergreift und ihn nicht selten dazu treibt, sich rasch in irgendeiner Weise, durch telegraphische oder telephonische Anfrage oder auch durch persönlichen Augenschein, von ihrem Wohlbefinden zu überzeugen. Herr Schu- mann nun entschloß sich, im Hinblick auf den bevorstehenden freien Tag, zur Reise nach Berlin, worin wahrlich niemand etwas Wunderbares sehen kann. Da er schon um i Uhr 18 Minuten, also zu einer Zeit, wo das Hochbahn-Unglück noch gar nicht geschehen war, von Swinemünde abfuhr, ist deutlich bewiesen, daß keine psychische Fern- wirkung des verunglückten Bruders das Gefühl der Unruhe auslöste, daß also von einer Ahnung in die Ferne unter keinen Um- ständen die Rede sein konnte! Es kommt hinzu, daß Herr Schumann ausdrücklich betont, seine Unruhe habe sich nur auf Frau und Kind — also nicht auf den Bruder! — bezogen, und das unbehagliche Gefühl sei während der Fahrt — also gerade zur Zeit der Katastrophe! — wieder verloren gegangen. Lag hier, wie mystisch veranlagte Gemüter natürlich nach wie vor als erwiesen erachten werden, wirklich eine Ahnung vor, so stimmte sie demnach weder in bezug auf die Zeit, zu der sie eintrat, noch in bezug auf das Objekt. Die F"ahrt nach Berlin, die in der Schilderung des Berliner Lokal-Anzeigers als etwas ganz Unvorher- gesehenes und als eine ausschließliche Folge der inneren Unruhe erscheint, war mehrfach und gründlich vorher erwogen worden, und die „innere Unruhe" war weder ,, namenlos" noch trat sie „gegen 2 Uhr" ein ; vielmehr stellte sie sich über eine Stunde früher ein und beruhte auf ganz all- täglichen und wohlbekannten psychischen Vor- gängen, als F'olge eines zu besonderer Lebhaftig- keit gesteigerten Gedankens an Frau und Kind, die in der Ferne weilen. Der Fall selbst wie auch seine Aufklärung sind typisch in ihrer Art. Sie enthalten für die wissenschaftliche F'orschung wie auch für jeden, der sich ein unbefangenes und ungetrübtes Urteil zu bewahren wünscht, aufs neue die eindringliche Mahnung, jede scheinbar noch so gut beglaubigte, angebliche Wundergeschichte nicht eher für bare Münze zu nehmen, bis nicht alle in Erwägung zu ziehenden Fehlerquellen zuverlässig ausgeschaltet und alle vom Gerücht aufgestellten Behauptungen bis in die kleinsten Einzelheiten hinein gründlich nachgeprüft worden sind. Dr. Richard Hennig. Auftreten der Raupe von Aglossa pinqui- nalis im Darm. — Vielen Krankheiten ist so- wohl der tierische wie menschliche Körper unter- worfen, deren Ursachen in erster Linie auf das Vorhandensein tierischer oder pflanzlicher Organis- men zurückzuführen sind. Unter letzteren sind es besonders die Bakterien, die zu den gefürch- tetsten Epidemien Veranlassung geben können. Von den tierischen Lebewesen finden wir unter den Protozoen, Würmern und Gliedertieren zahl- reiche Vertreter, welche teils auf, teils in dem Menschen ihre Nahrung suchen. In letzterem Falle kommt es hierbei zu mehr oder minder schweren Erkrankungen des heimgesuchten Or- ganismus. Während die genaue Kenntnis der- artiger Erkrankungen erst neueren Datums ist, so das Malariafieber, die Schlafkrankheit u. a. m., reicht die Kenntnis mancher durch Insekten oder Würmer hervorgerufenen Krankheiten auf viel frühere Zeiten zurück. Durch weitgehende Unter- suchungen sind wir heutzutage über die meisten Erkrankungen, welche sich auf die Anwesenheit von Würmern bei dem Menschen — sei es im Darm, oder anderen Körperteilen — zurückführen 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 3 lassen, vollständig im klaren. Neben den Würmern sind es die Gliedertiere, und unter diesen wieder die Dipteren, welche in mannigfacher Weise dem Menschen gefährlich werden können. So die Larven der ()striden (Biesfliegen) und Museiden (Fliegen), welche als gelegentliche Schmarotzer sich auf und unter der Haut des Menschen, im Gehörgang, in der Conjunctiva, in der Urethra und Vagina, im Magen und Darm aufhalten können. Nicht häufig sind bis jetzt die Fälle , wo Museiden im Darme gefunden wurden. Und doch wird das Auftreten derselben im Darme ein viel häufigeres sein müssen, als bis jetzt bekannt ist. Denken wir nur an die Gewohnheit zahlreicher Fliegen, ihre Eier auch auf Eßwaren wie Fleisch, Brot, Käse usw. abzulegen, so ist es leicht ver- ständlich, wie oft wir nicht nur Übertragungen schädlicher Krankheitskeime, sondern auch Infek- tionen durch die Larven selbst ausgesetzt sind. Im Magen oder Darm geben diese Larven bei zahlreicher Einwanderung Veranlassung zum Er- brechen, zur Übelkeit und Kolik. Viele kolik- artige Fälle dürften wohl mitunter- auf die Gegen- wart von Fliegenlarven im Darme zurückzuführen sein. Fig. I. Die Raupe von Aglossa pinquinalis in l'/a" Fächer Vergrößerung. Am Vorder- und Hinterende ist bei der Konservierung der Darm etwas herausgetreten. Abkürzungen: v Vorderende; h Hinterende. Aber auch andere Larvenformen als gerade Muscidenlarven können gelegentlich in den Darm des Menschen gelangen. So wurde mir vor kurzem von einem befreundeten Arzte ein Tier zur Be- stimmung zugesandt, mit der Angabe, daß sich dasselbe im Stuhlgange seines 3V'., -jährigen Jungen befunden hätte. Es wäre nicht tot, sondern noch lebend gewesen, was durch Zuckungen des Tieres kenntlich gemacht worden sei. Die Zustellung geschah in Alkohol. Meine erste Vermutung, daß es eine Muscidenlarve sei, wurde bei genauerer Untersuchung des Tieres dahin berichtigt, daß es sich um die Raupe des Schmetterlinges Aglossa pinquinalis handelte. In Fig. 1 ist das Tier in i'/.^-facher Vergrößerung photographisch wieder- gegeben. Man erkennt die den Schmetterlings- raupen eigentümlichen vorderen und die fünf hinteren sog. falschen Beinpaare. Während die vorderen Beinpaare keinen wesentlichen Unter- schied mit denen der übrigen Raupen aufweisen (s. Fig. 2 b), lassen die falschen Beinpaare in der Nähe der Fußsohle einen deutlichen Kranz von Chitinhaken erkennen, deren Spitzen nach außen gerichtet sind (s. Fig. 2 a). Man wird unwillkür- lich an den Hakenkranz bei Taenia solium (Haken- bandwurm) erinnert, wo die Stellung und Form der Haken fast eine ähnliche ist. Schon diese eigentümliche Bewaft'nung der falschen Beinpaare läßt darauf schließen, daß die Raupe von A. p. auf einem schlüpfrigen Substrate leben muß, wo- bei ihr die Beine als gute Haftorgane vortreffliche Dienste leisten müssen. Was weiterhin das Tier als Raupe kenntlich macht, ist das Auftreten von Stigmen an jedem Leibesringe, während bei den Muscidenlarven nur 2 Stigmen am hinteren Körper- ende vorhanden sind. Die Farbe des Tieres war schmutzigweiß mit häufig auftretender bräunlicher Punktierung. Der Kopf war dunkelbraun. Fig. 2. a Hinterfuß mit Hakenkranz ; b Vorderes Bein. Es lag nun die Frage nahe, auf welche Weise die Raupe in den Darm des Kindes gelangte. Es sei zunächst vorweggenommen, daß weitere Raupen bis jetzt nicht mehr in dem angeführten Falle zutage traten, wir es also nur mit einem vereinzelten und daher ausnahmsweisen Auftreten der Raupen zu tun haben müssen. Ferner sei zugleich an dieser Stelle bemerkt, daß ein Irrtum in bezug auf den Befund völlig auszuschließen ist, da der betreffende Arzt jeden Morgen den Stuhl des Knaben genau untersuchte, weil in letzter Zeit der Junge an der bekannten Kinderwurm- krankheit (Oxyuris vermicularis) litt. Sehen wir uns einmal in der Literatur um, was über A. p. angegeben wird. Dieser Schmetterling gehört zu der Familie der Kleinschmetterlinge und unter diesen wieder zu der Gruppe der Pyraliden, der Zünsler oder Lichtmotten. Zünsler ist ein bayri- scher Provinzialname für Lichtmotten. In Spuler's Schmetterlingswerk finden wir ferner folgende Angabe : „Die Raupe von A. p. ist dunkelgrau mit schwarzem Kopf. Sie lebt besonders in Ställen in seidenen Röhren unter Streu und er- nährt sich von vegetabilischen .Abfällen." In der Synopsis von Leunis wird die Raupe als dunkel- braun angegeben, in bezug auf ihre Lebensweise gesagt, daß sie sich von Fett, Schmalz nnd ähn- lichen Stoffen ernährt. Demnach haben wir uns N. F. VIII. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 45 von der Lebensweise des Tieres folgende Vor- stellung zu machen : Die Falter setzen ihre Eier an den Stellen ab, wo die jungen Raupen sofort entsprechende Nahrung finden werden. Solcher Stellen gibt es viele, besonders auf dem Lande, so z. B. Holzgefäße zum Aufbewahren von Butter, Fett u. a. m. Den Raupen dienen hierbei die Haken der Beine in geeigneter Weise zum Fest- halten und Fortbewegen an den eingefetteten Wänden der Gefäße. Hat die Raupe ihre volle Größe erreicht, so verläßt sie ihren ursprünglichen ."Xufenthaltsort, um sich in passenden Schlupf- winkeln zu verpuppen. In unserem Falle wird sich nun vielleicht in der Butter eine noch junge Raupe von A. p. be- funden haben — ungefähr 2 bis 3 mm groß — und mit dem Essen in den Magen, bzw. Darm des Kindes gelangt sein. Trotz des außergewöhn- lichen Aufenthaltes entwickelte sich die Raupe weiter, wobei sie in ihren Beinen passende Werk- zeuge zum F"esthalten an der glatten Darmwand besaß. Die Ausbildung des Pigmentes wurde nunmehr bei der Raupe gehemmt, oder schon vorhandenes Pigment zerstört , daher die ab- weichende helle Färbung des Tieres. Der ev. Einwand, daß der Magen- und Darmsaft das Tier zum Absterben hätte bringen müssen, läßt sich dadurch beseitigen, daß wir an zahlreichen an- deren Beispielen eine große Lebenszähigkeit von im Darm lebenden Larven beobachtet haben. Unsere in Fig. i abgebildete Raupe ist fast aus- gewachsen, ihr Alter auf 8 bis 10 Tage zu be- messen, von der Zeit des Auskriechens ab ge- rechnet. Es ergibt sich daher im Darm ein Aufenthalt von 6 Tagen, wenn wir annehmen, daß die Raupe bei ihrer Einwanderung 3 mm groß war. Es könnte aber die Raupe in ihrer abgebildeten Größe eingewandert sein ! Dagegen spricht wohl aber der Umstand, daß das Tier ab- gesehen von dem ev-. ,, Gesehenwerden", durch die kauende Tätigkeit des Kindes hätte getötet oder wenigstens gequetscht werden müssen. Wie schon eingangs erwähnt, lebte jedoch das Tier beim Austritt aus dem Darm. Es war auch sonst an der Raupe nichts zu bemerken, was auf voraus- gegangene Verletzungen hätte hinweisen können. Ferner hätte ein kurzes Verweilen im Darm das Pigment nicht so zum Verschwinden bringen können, wie es bei dem gefundenen Tiere zu be- obachten war. Der ganze Befund spricht demnach dafür, daß wir es hier mit einem zufälligen Auftreten und zeitweiligen Verweilen einer Schmetterlingsraupe im Darme des Menschen zu tun haben, bedingt durch die eigenartige Lebensweise der Raupe von A. p. Zu besonderen Erkrankungen scheint eine solche Einwanderung keine Veranlassung zu geben. Vielleicht sind derartige rasch vorübergehende Infektionen viel häufiger, als man denkt, entziehen sich aber wohl in den meisten Fällen den Beob- achtungen. Mögen daher beigegebene Abbildungen dazu dienen , dem Arzte gelegentlich die Er- kennung solcher zutage tretenden Larven zu er- leichtern, dann wäre der Zweck dieser kurzen Abhandlung vollständig erfüllt. Dr. August Ackermann, Bonn. Bücherbesprechungen. Ernst Haeckel, Unsere Ahnenreihe (Progo- nota.xis Hominis). Kritische Studien über ])hyletische Anthropologie. Festschrift zur 350- jährigen Jubelfeier der Thüringer Universität Jena und der damit verbundenen Übergabe des phyle- tischen Museums am 30. Juli 1 908. Mit 6 Tafeln. Jena. Gustav Fischer. 1908. — Preis 7 Mk. Vor 50 Jahren, am i. Juli 1S58, machte Darwin die ersten Mitteilungen über seine neue Entwicklungs- lehre. Ihre wichtigste Konsei|uenz, nämlich die Ab- stammung des Menschen von -Säugetieren, zog 1863 Thomas Huxley in seinen drei berühmten Abhand- handlungen: I. Über die Naturgeschichte der menschen- ähnlichen Affen, 2. Über die Beziehungen des Menschen zu den nächstniederen Tieren und 3. Über einige fossile menschliche Überreste. In diesen Schriften wird der Nachweis erbracht, daß der Mensch zu- sammen mit den .Affen und Halbaffen, zu den Herren- tieren (Primates) gehört. Übrigens finden wir schon bei Carl von Linne (1735) den Menschen mit den Affen und Halbaffen vereinigt zur Ordnung der Anthropomorpha. In Deutschland fand Darwin's Lehre Eingang durch Carl Vogt (1S63) und besonders durch Haeckel. Er versuchte schon 1866 in seiner „Gene- rellen Morphologie" den Stammbaum des Tierreiches aufzustellen und die Keimesgeschichte der Organismen aus ihrer Stammesgeschichte heraus zu erklären (biogenetisches Grundgesetz). Später, 1872, zeigte der Verfasser in seiner Gastraea-Theorie, daß alle Metazoen von einem einfachen, zweischichtigen, becherförmigen Urdarmtier, seiner ,,Gastraea", abzuleiten sind. Erst 1895 fand Monticelli in Neapel das Urbild der hypo- thetischen Gastraea, das er Pemmatodiscus gastrulaceus nannte. — Die wichtigste Aufgabe der Phylogenie, die Abstammung des Menschen bis hinab zu den Protozoen zu verfolgen, suchte Haeckel 1874 in seiner „Anthropogenie" zu lösen. Trotzdem diese Wissen- schaft der Anthropogenie die historische Grundlage für die Anthropologie bildet, ist sie doch von dieser lange Zeit — besonders unter Virchow's großem Ein- fluß — bekämpft worden. Erst in neuester Zeit bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß die „Anthropo- genie das Fundament der Anthropologie ist". Das Interesse der Forscher, die sich mit der Ahnenreihe des Menschen befaßten, wandte sich zunächst seinen nächsten Verwandten, den Affen, zu. Von großer Wichtigkeit wurde hier die Auffindung des „missing link", des fehlenden Gliedes zwischen Affen und Mensch. Eugen Dubois fand es 1891 auf Java und nannte es Pithecanthropus erectus. — Nachdem nun durch die Auffindung des „missing link" die Ab- stammung des Menschen von den Affen als bewiesen zu betrachten ist, wendet sich die Forschung neuer- dings zu den älteren Ahnen des Menschen. Die ge- 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vin. Nr. 3 samte Vorfahrenreihe des iMenschen sicher festzustellen, dürfte niemals gelingen. Aber eine ganze Anzahl typischer und wichtiger Stammformen läßt sich fest- stellen, die zwischen ihnen liegende „phyletische Strecken" begrenzen. — Die Progonotaxis des Menschen zerfällt in zwei große Abschnitte. Der erste .Abschnitt umfaßt die Ahnen, die fossil nicht bekannt sind. Die ältere Hälfte ist vom historisch geologischen Gesichts- punkte aus betrachtet präsilurisch, die jüngere Hälfte reicht vom Silur bis zur Gegenwart. Wenn also in der ersten Hälfte unserer Progonota.xis fossile Doku- mente fehlen, so können die dahingehörigen Ahnen nur durch die Methoden der vergleichenden Anatomie und der Ontogenie erschlossen werden, wobei uns das biogenetische Grundgesetz die wichtigsten Direk- tiven gibt. Was die Urkunden unserer Progonotaxis anbetrifft, so lassen sie sich aus dem Vorhergehenden z. T. schon ersehen. Sie sind i. die Paläontologie, die uns in den Fossilien wertvollste positive Kennt- nisse vermittelt, aber auch zahlreiche störende Lücken aufweist, 2. die Ontogenie, die insofern sehr wichtig ist, als sie ja eine kurze Rekapitulation der Phylogenie ist, und endlich 3. die Morphologie, die, vergleichend betrieben, wichtige Aufschlüsse über Verwandtschafts- verhältnisse u. s. f. gibt. Diese drei Wissenszweige müssen bei den Studien über unsere Progonotaxis in gleicher Weise berücksichtigt und kritisch angewendet werden. — Die erste der sechs Strecken unserer Progonotaxis umfaßt die Protisten-Ahnen. Der Lehrsatz, daß alle Wirbeltiere, somit auch der Mensch, wie überhaupt alle Histonen {=^ Gewebetiere) von Protisten ab- stammen, ist jetzt wohl allgemein angenommen. Es ist sichergestellt, daß jedes Individuum von einer Stammzelle aus, der Cytula, seinen Ursprung nimmt. Nach dem biogenetischen Grundgesetz muß daher jede Tierform mit einer Urstammzelle in seiner Ahnenreihe beginnen , der Cytaea. Unter den Protisten sind wiederum die Piasmodomen , die Protophyten , die älteren Formen , aus denen erst später die plas- mophagen Protozoen hervorgegangen sind. Die Proto- zoen gingen aus den Protophyten durch Umkehr des Stoffwechsels, durch „Metasitismus" hervor. Bei den Protisten unterscheidet man zwischen Urzellen oder Archicyten und Kernzellen. Zu den Urzellen , die kernlos sind, rechnet man die Moneren. Zu diesen gehören die Chromaceen und Bakterien, die keine Kerne , manchmal nur Chromidien besitzen. Die Chromaceae (^ Cyanophyceae) sieht Haeckel als die „Urorganismen" an, die den Übergang von der an- organischen zur organischen Welt vermitteln. Ihre einfachsten Formen, z. B. Chroococcus, Gloeocapsa etc. sind mit den Chromatophoren der Metaphyten ver- gleichbar. Das Protoplasmakügelchen dieser Organis- men ist von einer Gallerthülle umgeben, einem Schutz- organ des nackten Zellleibes. Denken wir uns diese Hülle weg, so haben wir die einfachsten Organismen vor uns, die hypothetischen „Probionten" des lauren- tinischen Zeitalters. Diese müssen wir uns als durch Urzeugung entstanden denken. — Die nächste Ahnen- stufe sind die „Algarien", besonders die Palmellaceen und Xanthellaceen. Diese sind einzellige Algen mit Zellkernen, aber noch ohne Flimmerbewegung. Aus diesen .'\lgarien entstanden durch Metasitismus die Amöben, die die älteste Stammform der Protozoen bilden. Die einfache Organisation der Amöben und die Tatsache, daß amöboide Zellen im Tierreich viel- fach vorkommen (z. B. Leukocyten) sprechen dafür, daß sie .Ahnen der Menschen sind. Auf die Amöben folgen in der Progonotaxis durch Vermittlung der Mastigamöba die Flagellata, bestimmt geformte, mit einer oder mehreren Geißeln schwimmende , teils plasmodome, teils plasmophage Formen. Besonders die einfachen Zoomonaden und Monadinen geben uns ein ungefähres Bild dieser Progonen. Die 5. Stufe unserer Progonen bilden die Blastaeaden, die Über- gangsgruppe zu den Metazoen. Es sind dies Hohl- kugeln, aus einer Schicht gleichartiger Zellen gebildet. In der Ontogenie der Histonen entspricht diese Ahnen- form der wichtigen Blastula. Noch heute gibt es einige Organismen, die auf der Stufe der Blastula stehen, so die plasmodomen Volvocineen | Volvox, Pandorina) und die plasmophagen Catalacten (z. B. Magosphaera ). Die zweite Strecke unserer Progonotaxis umfaßt die Invertebraten-Ahnen. Unter diesen Metazoa invertebrata unterscheidet man zwei große Gruppen, die Niedertiere oder Cölenteria und die Obertiere oder Cölomaria nach dem Fehlen oder Vorhandensein einer Leibeshöhle (= Cölom). Die gemeinsame Ausgangsform der Cölenterien ist die hypothetische Gastraea, die sich als Abbild infolge strenger Ver- erbung noch heute bei allen Metazoen in Gestalt der Gastrula erhält. Von der Gastraea leiten sich ab : I. die Spongien, 2. die Cnidarier und 3. die Platoden. Nur die letzteren finden sich unter den Progonen des Menschen. Von den Gastraeaden- Ahnen leben in der heutigen Fauna Olynthus und Hydra. Dem Urbilde der Gastraea soll der von Monticelli entdeckte Pemmatodiscus gastrulaceus vöUig entsprechen. Aus den beiden Keimblättern der Gastraea haben sich alle Gewebe entwickelt. An diese Gastraeaden schließen sich die Piatodarien, eine kleine Gruppe einfach gebauter Tiere, die von den Platoden ab- getrennt werden. Hypothetisch sind unter ihnen die Archelminthes, denen sich die .'\coela, die niedrigsten Turbellarien anschließen. Sie besitzen an Stelle des Urdarmes der Archelminthes ein verdauendes Paren- chym. Haeckel faßt sie als Reste der Übergangs- formen von den Gastraeaden zu den Rhabdocölen auf. An diese einfachen, diploblastischen Cryptocölen schließen sich in unserer .■\hnenreihe die triploblasti- schen Platodinien an, deren Nachkommen die heute lebenden Rhabdocölen sind und die sich auch durch ein Exkretionssystem und die Sonderung des Gehirnes von den Cryptocöliern unterscheiden. Mit diesen Rhabdocölen-Vorfahren, eben den Platodinien, ver- lassen wir die Niedertiere oder Cölenterien und ge- langen zu den Cölomarien, den Tieren, die sich durch den Besitz einer Leibeshöhle auszeichnen. Mit dem Erwerb der Leibeshöhle gehen Hand in Hand die Entstehung einer zweiten Darmöfthung und des Blut- gefäßsystems. Damit kommen wir zu den Vermalien Haeckel's, jener Gruppe, die übrig bleibt, wenn wir N. F. Vtll. Nr. Naturwissenschaflliche Wochenschrift. 47 von den „Würmern" (im alten Sinne) die Platoden und .'\nneliden abziehen. Am klarsten treten uns die hypothetischen Provermalien in den Gastrotrichen ent- gegen, die noch zahlreiche Pladoten-Merkmale zeigen, aber einen After besitzen. Von der 9. Etappe unserer Progonotaxis, den Provermalien, bis zu den Pro- chordoniern führt der allerdunkelste Weg. Als Ziel des Weges sieht man nur die „Chordaea", eine ebenso wichtige Stammform wie die Gastraea. Sie ist die gemeinsame Stammform der Tunicaten und der Vertebrata. Wie sie aus den Frontoniern entstanden ist, darüber läßt sich nichts Bestimmtes angeben. Die Chordaea ist längst ausgestorben und dürfte in der präsilurischen Zeit gelebt haben. Näheres über die Chordaea- Theorie findet man in : Haeckel, Anthropo- genie, Kap. 10. Die dritte Strecke unserer Progonotaxis umfaßt die Monorrhinen-Ahnen. Zu diesen gehören vor allem die Acranier, die heute nur durch den Amphioxus (Branchiostoma) vertreten sind, den einzigen Über- lebenden einer großen Gruppe aus dem präsilurischen Zeitalter. Die große Bedeutung dieses Tieres ist durch die klassischen Untersuchungen von Johannes Müller, Kowalevsky und Hatschek klargelegt worden. So sehr einfach auch der Bau und die Entwicklungs- geschichte dieses niedersten rezenten Vertebraten sein mögen, so zeigt er doch eine Reihe sekundärer, erst später erworbener Merkmale. Daraus ergibt sich, daß er nicht als direkter Vorfahre des Menschen auf- zufassen ist. Dagegen dürften seine präsilurischen Stammformen, die hypothetischen „Urwirbeltiere" oder Prospondylia, in die Ahnenreihe des Menschen zu rechnen sein. Auf diese uralten Prospondylien-Ahnen folgt ein dunkles Wegestück in unserer Progonotaxis, wo wir nur auf mehr oder minder wahrscheinliche Schlüsse angewiesen sind. Festen Boden gewinnen wir erst wieder, wenn wir zu den Cyclostomen ge- langen. Diese Tiere sind schon Schädeltiere (Cranioten) und als solche weit höher organisiert als der schädel- lose Amphioxus. Die beiden sehr voneinander ab- weichenden Ordnungen der C}clostomen, die Myxi- noiden und die Petromyzonten , sind höchst wahr- scheinlich divergente Abkömmlinge einer älteren Stammgrappe, die Haeckel als Urschädeltiere (= Archi- crania) bezeichnet. Von ihnen sind fossile Reste nicht erhalten und wir können uns nur durch das Studium der Larve von Petromyzon ein ungefähres Bild jener alten Urschädeltiere machen. Diese „Archicranier" nun sind in unserer Ahnenreihe sicherlich vertreten ge- wesen. — Mit diesen Archicranier-Ahnen schließt der erste große Abschnitt unserer Progonotaxis ab und wir gelangen nun in ein Gebiet, wo wir infolge des Vorhandenseins paläontologischer Urkunden sicherer gehen. Die hier beginnende vierte Strecke unserer Progonotaxis umfaßt die Anamnien-Ahnen, also solche Tierformen, denen im embryonalen Leben ein Amnion noch fehlt. Sie beginnen mit den Fischen , der untersten Abteilung der Gnathostomen. Von den Fischen (Pisces) kommen nur die Selachier und Ganoiden für unsere Ahnenreihe in Betracht, während die Teleostier oder Knochenfische nicht als Vorfahren des Menschen zu betrachten sind. Die Selachier werden als Stammform aller Gnathostomen ange- sprochen. Die heute lebenden Selachier freilich zeigen auch wieder sekundäre Merkmale. Nach deren Ab- zug gelangte Haeckel zu seinem hypothetischen ältesten Stammfisch, dem Ichthygonus primordialis, dem die fossilen obersilurischen Proselachier sehr nahe ge- standen haben dürften. Diese Proselachier dürften also zu unseren Progonen zu rechnen sein. An die Selachier, und mit ihnen durch Übergänge verbunden, schließen sich die Ganoiden oder Schmelzschupper. Die ältesten Ganoiden sind die Proganoiden, von denen spärliche Reste schon im oberen Silur vertreten sind. Von diesen Proganoiden führt die Entwick- lungslinie zu den noch heute in Afrika lebenden Crossopterygiern und weiter zu den Dipneusten oder Lurchfischen. Diese Dipneusten sind besonders in- sofern höher organisiert als sie neben den Kiemen bereits Lungen besitzen , die ihnen den Aufenthalt außerhalb des Wassers gestatten. Sie bilden aus diesem Grunde den Übergang zu den Amphibien und eine besondere Stufe unserer Ahnenreihe. Die ältesten Dipneusten sind die Paladipneusten des Devon und Carbon, aus denen sich die Progonamphibien ent- wickelten , die Ausgangsformen aller Vierfüßer. — Es folgen nun die Amphibien-Ahnen, die eine sehr wichtige und durch alle drei Urkunden gestützte Vor- fahrengruppe bilden. Die Paläontologie lehrt uns die uralten, sehr primitiven Stegocephalen kennen. Dann zeigt uns die vergleichende Anatomie, daß die Am- phibien in der Mitte zwischen den älteren Fischen und den Amnioten stehen und endlich zeigt uns die Ontogenie, wie sich der Übergang vom Wasser- zum Landleben gestaltet hat. Diese alten Stegocephalen waren noch mit dem pentadactylen Kriechbein ver- sehen. Ihr salamanderähnlicher Körper war mit einem festen Panzer bedeckt. Die rezenten Nacktlurche (Lissamphibia) gehören nicht in die Ahnenreihe. Von den Stegocephalen gelargen wir zu den Proreptilien, den Ausgangsformen der Amnioten, deren Hauptmerk- male Amnion und Allantois sind. Die Amnioten um- fassen die Sauropsiden (Reptilien -f- Vögel) und die Säugetiere. Zuerst treten primitive Reptilien auf, die permischen Tocosaurier, Proreptilien, die einen letzten Überrest in der Hatteria punctata hinterlassen haben. Zwischen den Reptilien-Ahnen und den niedersten Säugern sind uns gar keine fossilen Reste erhalten. Man hat daher eine Übergangsgruppe angenommen, die Sauromammalien. Aus dieser hypothetischen Gruppe entwickelten sich parallel die riesigen Thero- morphen und die Säugetiere. — Somit betreten wir die fünfte Strecke unserer Ahnenreihe, die der Säuge- tiere. Die Säugetiere bilden eine morphologisch wie phyletisch einheitliche Gruppe, die durch 8 sehr wichtige Merkmale charakterisiert ist. Deshalb müssen die gesamten Säugetiere eine einzige Stammform haben, die eines unbekannten Promammale. Von diesem hypothetischen Promammale führt der Weg zu den Monotremen. Wahrscheinlich haben wir in den mesozoischen Pantotherien Progonen des Menschen zu suchen. Sicher sind auch unter den Marsupialiern oder Beuteltieren verschiedene Stufen unserer Pro- gonotaxis zu suchen , besonders ihre gemeinsame 48 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 3 Stammform, die Prodidelphier. Die höchst entwickeUe Subklasse der Säugetiere ist die der Zottentiere = Placentalia. An der Wurzel hängen alle die ver- schiedenen, weit auseinandergehenden Placentalier zu- sammen. Sie haben die gemeinsame Stammform der Urzottentiere. Im Tertiär fand die große EntfaUung der Säugetiere statt. Aus den IMallotherien (Urzotten- tieren) entwickelten sich wahrscheinlich in der Kreide die Lemuraviden, die älteren Halbaffen, mit der Zalin- formel ^ ' ' ' -^ An sie schließen sich die jüngeren 3 ■ I • 4- 3 Halbaffen an, unter denen Tarsius sehr primitive Merkmale zeigt. Mit diesen Prosimien-Ahnen haben wir übrigens die sechste Strecke unserer Progonotaxis beschritten. An die Prosimien schließen sich die pithekoiden Ahnen an. Da sind zu nennen i. Platyr- rhinen und 2. Katarrhinen. Unter den letzteren Ost- affen treffen wir heute die niederen Hundsaffen und die höheren Menschenaffen oder Anthropomorpha, die den unmittelbaren Übergang zum Menschen bilden. Nach dem Pithecometra-Satz Huxley's sind wir zu der Annahme berechtigt, daß der Mensch zusammen mit dem Gibbon, Orang, Schimpansen und Gorilla von geschwänzten Hundsaft'en abstammt. Wir haben also in der letzten Strecke unserer Progonotaxis folgende Stufen: i. ältere Hundsaffen, 2. jüngere Hundsaffen, 3. ältere Menschenaffen, 4. jüngere Menschenaffen, 5. Affenmenschen (den Pithecanthropus erectus), 6. Urmenschen (Homo primigenius) und 7. Vernunfts- menschen (Homo sapiens). Darüber findet man näheres in Haeckel: Syst. Phylogenie III, ^;^ 444 — 460. In der vorliegenden Schrift Haeckel's finden sich noch 2 Abschnitte über i. phyletische Beiträge zur Kraniologie und 2. phyletische Studien über Menschen- rassen. Die Besprechung dieser Abschnitte würde hier zu weit führen und es muß daher auf das Original verwiesen werden. Dr. phil. Effenberger, Jena. Afrika und die Charakterpflanzen Afrikas. II. Bd." Cha- rakterpfianzcn .\frikas {insbesondere des trop.). Die Fami- lien der afrikan. Pflanzenwelt u. ilire Bedeutg. in derselben. I. Die Pteridophyten, Gymnospermen u. monokotyledonen Angiospermen. iVIit 16 Vollbildern u. 316 Textfig. ;(XI, 460 S.) Leipzig '08, W. Engelmann. — Subskr.-Pr. 18 Mk., geb. in Leinw. 19,50 Mk., Einzelpr. 27 Mk., geb. in Leinw. 28,50 Mk. Der I. Band ist noch nicht erschienen. Fischer, Prof. Emil : Anleitung zur Darstellung organischer Präparate. 8. neu durc-hgeseh. Aufl. (XVI, 98 S. ra. 19 Ab- bildgn.) 8". Braunschweig '08 , F. Vieweg & Sohn. — Geb. in Leinw. 3,20 Mk., u. durchsch. 3,60 Mk. Klein , F. ; Elementarmatiiematik vom höheren Standpunkte aus. I. Tl.: .Arithmetik, Algebra, Analysis. Vorlesung, geh. im Wintersem. 1907 — 08. Ausgearb. v. E. Hellinger. (VIII S. u. 590 autogr. S. m. Fig.) gr. 8 ". Leipzig '08 , B. G. Teubner. ~ 7,50 Mk. Klut, Dr. Hartwig: Untersuchung des Wassers an Ort und Stelle. (VII, 159 S. m. 29 Fig.) 8°. Berlin '08, J.Springer. — Geb. in Leinw. 3,60 Mk. Ratr.say, Prof. Sir William: Die edlen u. die radioaktiven Gase. Vortrag. (39 S. m. Abbildgn ) gr. 8". Leipzig '08, Akadem. Verlagsgesellschaft. — 1,40 Mk., kart. 1,80 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn Sl. R. in Krakau. — Nur allgemein interessierende Fragen können wir an dieser Stelle beantworten. Einen An- spruch auf ."Antwort können wir daher unseren Lesern nicht immer gewähren, es sei denn, dal3 sie das Porto für briefliche Ant- wort mitsenden. — Die Geschäftsstelle des deutschen Monisten- bundes befindet sich in Berlin W, Kurfiirstenstr. 167. In Nr. 46 (1908) der Naturw. Wochenschr. erschien ein Artikel von Dr. S. Killermann über den ,,K ann ibal is mus bei Menschen und Tieren". Dazu kann ich nach per- sönlicher Beobachtung hinzufügen, daß auch bei den Kanarien- vögeln, also nicht Fleischfressern, dieselbe Erscheinung zu konstatieren ist. Ich habe mehrmals beobachtet, daß die Eltern, besonders oder ausschließlich junge Eltern, ihren kaum gefederten Jungen erst die Federn auszogen und dann schlieiSlich die Brust durchstachen , wobei sie die Eingeweide verzehrten. Ob sie dabei nach einer weichen Unterlage für ein neues Nest suchten, ist fraglich ; sie haben wenigstens zu dieser Zeit keinen Mangel an den von den Kanarienvögel- züchtern verwendeten weichen Spinnfasern gehabt. Dr. E. V. Budkewicz. Literatur. Bartels, Dr. Walth. : Die Gestalt der deutschen Ustseeküste. (XI, 12S S.) Stuttgart 'oS, Strecker & Schröder. — 4,50 Mk. Cook, des Kapit. James, Weltumseglungsfahrten Ein Auszug aus seinen Tagebüchern. Bearb. u. übers, v. Dr. Edwin Hennig. Mit 8 Bildern u. i (färb.) Karte, i.— 4. Taus. (554 S.) Hamburg '08, Gutenberg-Verlag. — 6 Mk. , geb. 7 Mk. Darmstaedter's Ludw., Handbuch zur Geschichte der Natur- wissenschaften u. der Technik. In chronolog. Darstellung. 2., umgearb. u. verm. Aufl. Unter Mitwirkg. v. Prof. Dr. R. du Bois-Reymond u. Oberst z. D. C. Schaefer hrsg. v. Prof. Dr. L. Datmstaedter. (X, 1263 S.) gr. 8". Berlin '08, J. Springer. — Geb. in Leinw. 16 Mk. Dircks, Gust. : Das moderne Spanien. (III, 376 S. m. 96 Ab. bildgn.) Le.\. S». Berlin 'oS, H. Pactel. — 9 Mk., geb. in Leinw. 10 Mk. Engler, A.: Die Pflanzenwelt Afrikas, insbesondere seiner tropischen Gebiete. Grundzüge der Pflanzenverbreitung in Berichtigung zu der Antwort betreffend ,,v er- kannte Fremde" (Nr. 47, Seite 752). — Herr Dr. Graebner macht mich darauf aufmerksam, daß die bisher als Bidens frondosus L. angesehene Adventivpflanze jetzt zu Bidens melanocarpus Wiegand gerechnet wird; Wiegand hat (in Bull. Torrey Bot. Club X.KVI. (1899) 405) die Unterschiede seiner neuen Art gegenüber dem echten B. frondosus L. festgelegt. Vgl. auch .Ascherson in Verh. Bot. Vereins d. Prov. Brandenburg XLII. (1900) 293. — Die ausführlichste Zusammenstellung über Adventivpflanzen gab F. Hock I Ankömmlinge in der Pflanzenwelt Mitteleuropas während des letzten halben Jahrhunderts) in: Beihefte zum Botan. Central- blatt IX. (1900) 241, X. (1901) 284, XI. (1902) 261, XII. (1902) 41, XIII. (1902) 211, XV. (igoj) 387, XVIII. (1905) 79; 1. c. XI. (1902) 277 findet man Literatur über Bidens melanocarpus. H. Harms. Herrn Dr. E. B. in Wien. — Wir kennen nur das Buch von Ebert, ,, .Anleitung zum Glasblasen". Leipzig, J. A. Barth, 2. Aufl. 1895. Preis 2 Mk. Inhalt: Dr. J. Versluys: Die Salamander und die ursprünglichsten vierbeinigen Landwirbeltiere. — Kleinere Mitteilungen : Dr. Richard Hennig: Gerücht und Wunder. — Dr. August Ackermann: Auftreten der Raupe von Aglossa pinquinalis im Darm. — Bücherbesprechungen: Ernst Haeckel: Unsere Ahnenreihe (Progonotaxis Hominis). — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buclidr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Koli;e VIII. Band ; der ganzen Reihe XXIV. B.-ind. Sonntag, den 24. Januar 1909. Nummer 4. [Nachdruck verboten.] Vogelschutz in den Vereinigten Staaten. \'on Dr. Ernst Schultze, Hamburg-Großborstel. Die ungeheuren Naturschätze, die noch vor hundert Jahren auf dem Gebiete der heutigen Vereinigten Staaten vorhanden waren, sind durch unkluge und unvorsichtige Maßnahmen auf ein zum Teil recht bescheidenes Maß zurückgeführt worden. Es gibt wenige Länder, in denen man mit den Schätzen der Natur so große Verschwendung getrieben hat wie in Nord- amerika. Am bekanntesten ist die unsägliche Waldverwüstung, die riesige Waldungen nicht nur dort ohne weiteres vernichtet hat, wo an Stelle der niedergebrannten Wälder Ackerbau möglich ist, sondern die sogar weite Strecken Landes jedes Baumwuchses beraubt hat, selbst wenn sie von der Natur gar nicht zum Ackerbau, sondern eben zum Waldbestand bestimmt sind. Man hat berechnet, daß in manchen Jahren der Schaden durch Waldbrände mehr als 100 Millionen Dollars (400 Millionen Mk.) betragen hat. Der Raubbau, den ein großer Teil der amerikanischen Farmer treibt, bringt ähnliche Folgen mit sich ; ohne dem Boden durch zeitweiligen Anbau von Hackfrüchten oder durch anderen F"ruchtwechsel Erholung zu gönnen, wird Jahr für Jahr dasselbe Getreide oder dieselbe Frucht darauf gezogen. Die gewaltigen Kohlenlager, die unter der Erdoberfläche in den Vereinigten Staaten liegen, sind bereits so stark angegriffen worden, daß be- rechnet worden ist, dal3 z. B. der Anthrazit nur noch höchstens 75 Jahre ausreichen wird. Und obwohl die übrigen Kohlenlager der Vereinigten Staaten noch gegen 1500 Milliarden Tonnen aus- machen, so warnt doch das Geologische Landes- amt in Washington ernstlich davor, den Abbau der Kohlenfelder in so verschwenderischer Art weiter zu betreiben wie bis jetzt: so nämlich, daß den Kohlenbergwerken vielfach nur der vierte Teil der Mächtigkeit eines Kohlelagers entnommen wird. Und ebenso geht es mit der Tierwelt. Die prächtigen Büffelherden der Vereinigten Staaten sind vernichtet — nicht durch allmähliches Ab- schießen der Büfifel, um ihr Fleisch als Nahrung zu verwenden, vielmehr weil sich in den 1870 er Jahren Aktiengesellschaften bildeten, die lediglich die Häute und Hörner der Büfifel verwenden wollten und die den echten amerikanischen Groß- betrieb einführten. Die Büfifel wurden nicht ein- zeln mit dem Gewehr erlegt, sondern die Büfifel- herden wurden mit Kugelspritzen beschossen, und den gefallenen Tieren wurden nur die Häute ab- gezogen, während man das Fleisch größtenteils verwesen ließ, so daß die Luft meilenweit ver- pestet war. 4V0 Millionen Büffel sind in den Jahren 1872 — 1874 getötet worden, über 3 Millionen nur der Häute wegen. Auch die V o g e 1 w e 1 1 der Vereinigten Staaten ist von dieser unsäglichen Verschwendung be- troffen worden, obwohl sie sich wirtschaftlich viel weniger ausnutzen läßt wie etwa die Säugetiere. Im Gegenteil ist das Bestehen zahlreicher Vogel- arten für den Menschen von größtem Nutzen, soweit diese Vögel zu den Insektenvertilgern ge- hören — von den ästhetischen Reizen, die die gefiederten Sänger der Luft auf uns ausüben, ganz zu schweigen. Dennoch ist man in den Ver- einigten Staaten selbst gegen die Vögel mit einer Zerstörungswut vorgegangen, die sich zum Teil schon bitter gerächt hat. Klagen doch die Farmer schon seit langem über die geringe Zahl der in- sektenfressenden Vögel. Ein Beispiel für den riesigen Vogelreichtum früherer Zeiten : es gab in den Vereinigten Staaten so ungeheure Mengen der Wandertaube, die in jedem Frühjahr in großen Schwärmen erschien, daß diese Vögel an ihren Brutstätten in den Wäldern nicht zu Tausenden, sondern zu Hunderttausenden beieinander saßen. Damals mästeten die Farmer ihre Schweine mit den Eiern und den jungen Vögeln, die aus den Nestern der Wandertauben fielen. Der Mensch hätte in den Vereinigten Staaten um so mehr Anlaß gehabt, die Vogelwelt zu schonen und zu schützen, als ihr neben den über- all vorhandenen Vogelfeinden, als da sind Katzen, Marder usw., Tod und Vernichtung durch die großen Stürme drolien, denen die gewaltige Flach- mulde zwischen den .'Mleghanies und dem Felsen- gebirge so häufig ausgesetzt ist. Unzählige kleine Vögel finden bei diesen heftigen Stürmen ihren Tod. Auch hat die Vernichtung der Wälder in den Vereinigten Staaten natürlich in hohem Maße dazu beigetragen, daß die Zahl der Vögel reißend schnell abnahm. Das Waldgebiet der Vereinigten Staaten umfaßt heute nur noch einen kleinen Bruchteil der großen Landfläche , die vor hundert Jahren mit Wäldern bedeckt war, und noch immer schmilzt das Waldgebiet weiter zusammen. Der größte Feind der Vogelwelt ist indessen doch wohl menschlicher Unverstand und Eigen- nutz. Gegen diese aber hat eine gemein- nützige Gesellschaft einen lebhaften und tatkräftigen Kampf eröffnet, die im Jahre 1886 in New York begründet wurde, schon 2 Jahre später fast 25000 iVIitglieder besaß und sich in der Zwischenzeit zu einer der größten gemeinnützigen Gesellschaften in den Vereinigten Staaten ausge- so Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 4 wachsen hat. Der Mitgliedsbeitrag zu der „Audubon Society" beträgt 5 Dollars (20 Mk.) jährlich. Sie verwendet ihre IVIitgliedsbeiträge und die Zinsen eines ihr durch die letztwillige Verfügung von Mr. Albert Wilcox zugeflossenen Kapitals von etwa i 200 000 Mk. dazu, die Vogel- schutz-Bestrebungen in den Vereinigten Staaten nach allen Kräften zu fördern. Nur 9 Staaten der nordamerikanischen Union besitzen keine Zweig- vereine der Audubon Society. Alle anderen ziehen aus ihrer Tätigkeit Nutzen. In zwei Staaten haben sogar die Parlamente in Übereinstimmung mit dem Gouverneur beschlossen, daß die dortigen Zweigvereine der Audubon Society als Staats- organe anzusehen seien; man hat ihnen dort klugerweise die Aufgaben und die Befugnisse der Ausschüsse für Wildschutz (State Game Commissions) übertragen. Übrigens beschränkt sich die Audubon Society nicht auf den Vogelschutz allein, sondern nimmt sich der Erhaltung der Tierwelt der Ver- einigten Staaten und ihrer Kolonien ganz im allgemeinen an. So hat sie z. B. die Vögel der Sandwichinseln vor den japanischen Federjägern gerettet. Das Abschießen der Elche, nur um ihre Geweihe als Schmuckstücke ver- wenden zu können , wird von ihr verhindert. Wildschützen, die trotz der bestehenden Gesetze Wildarten abschießen, die nicht geschossen wer- den dürfen, werden von ihr unbarmherzig ver- folgt und vor die Gerichte gezogen. Die Audubon Society hat dazu beigetragen, daß die Union Ge- setze zum Schutze der letzten Büffel erließ, ferner daß bessere Wildschutzgesetze für Alaska ge- schaffen wurden. Auf den Bahamainseln hat die Audubon Society die Flamingos vor der Vernich- tung bewahrt, indem sie den Erlaß eines beson- deren Gesetzes veranlaßte. Sie hat den weißen Reiher, den schönsten Watvogel Amerikas, vor Vernichtung bewahrt, und sie hat den Schutz auch der anderen Vogelarten, wie wir noch sehen werden, in erfolgreichster Weise betrieben. Der Name der Audubon Society konnte nicht schöner und ^treffender gewählt werden. John James Audubon war der bedeutendste Orni- thologe Nordamerikas. Trotz seines französischen Blutes war er, wie schon seine Vornamen zeigen, ganz amerikanisiert. Er wurde am 4. Mai 1780 in der Nähe von New Orleans geboren, ging in sehr jungen Jahren nach Paris, um sich dort unter David in der Malerei auszubilden, und lebte seit 1798 als Farmer an den Ufern des Schuylkill in Pennsylvanien. Zwölf Jahre später ging er nach Kentucky, damals noch eine völlige Wildnis, und durchstreifte hier die Wälder und befuhr die Ströme, um das Leben der Vögel zu erforschen und ihre Arten zu zeichnen. 1826 begab ersieh nach Europa, um hier die Herausgabe eines vier- bändigen Werkes über die Vögel Amerikas zu beginnen, das sich durch außerordentlich sorg- fältige Beobachtungen, durch die lebensvollsten Schilderungen und durch vorzügliche Abbildungen auszeichnete. Drei Jahre später kehrte Audubon wieder nach Amerika zurück. Hier schrieb er noch eine ganze Reihe von Büchern über die amerikanische Vogelwelt. In den letzten Jahren seines Lebens arbeitete er viel mit einem deutsch- amerikanischen Pfarrer und Naturforscher, John Bachmann, zusammen. Mit ihm gemeinschaftlich schrieb er zwei Werke über die Vierfüßer Amerikas, von denen das eine, wie sein großes Vogelwerk, mehrfache Auflagen erlebte. Audubon starb am 27. Januar 185 1 in New "\'ork. Über die gegenwärtige Wirksamkeit der Audubon Society gibt ein Aufsatz von Mr. T. Gilbert Pearson in der amerikanischen Zeitschrift ,,The Worlds Work" Näheres an, aus dem die wichtigsten Tatsachen im folgenden berichtet seien. Die Audubon Society sucht die Vernichtung; der Sing- vögel und ebenso das massenhafte Abschießen wilder Vögel zu verhindern. Wo Gesetze für den Vogelschutz noch fehlen, sucht sie sie vorzubereiten und durchzusetzen. Wo sie dagegen schon geschaffen sind, bemüht sie sich — was in den Vereinigten Staaten noch wichtiger ist wie in manchem anderen Lande — zu veranlassen, daß sie auch wirklich durchgeführt werden. Ferner strebt sie dahin, daß in jedem einzelnen Staate der amerikanischen Union ein Ausschuß für Wild- schutz eingesetzt werde und daß dieser Ausschuß möglichst ein sog. unpolitischer sei, d. h. daß er nicht ausschließlich mit den Anhängern und Günstlingen der gegenwärtig gerade am Ruder befindlichen Partei besetzt werde. Ihre wichtigste Aufgabe sieht die Audubon Society in der Erziehung des Publikums und in der Einwirkung auf die öffentliche Meinung. Schon die Schulkinder sollen lernen, daß der Mensch den Vögeln Schutz gewähren soll. Der Junge soll dahin gebracht werden, ein- zusehen, daß der Vogel für uns auch dann Inter- esse haben kann, wenn wir ihm sein Nest nicht fortnehmen. Und das Mädchen soll erkennen lernen, daß ein lebender Vogel schöner ist, als sein Flügelpaar, wenn es zum Schmucke eines Damenhutes verwendet ist. Da die Amerikaner ihre Kinder fast wie erwachsene Leute behandeln, hat die Audubon Society Hunderte von „Junior Secretaries" (was erheblich respektvoller klingt, als wenn man es einfach mit „Kindersekretäre" übersetzt) ernannt, die unter ihren Kameraden, also unter der Schuljugend, die Vogelschutz- bestrebungen fördern. Auch auf die Schulbehörden und die Lehrer und Lehrerinnen wirkt die Audubon Society ein, und ihre Broschüren werden Jahr für Jahr in Zehntausenden von Exemplaren verteilt und verkauft. Sie sind mit farbigen Abbildungen versehen, die die Amerikaner ja prächtig herzu- stellen wissen. Außerdem veröffentlicht die Audubon Society eine Zeitschrift „Bird Lore", die von Mr. Frank M. Chapman von dem amerikani- schen Museum für Naturgeschichte herausgegeben wird. In den landwirtschaftlichen Unterrichts- anstalten treibt die Audubon Society eine aus- N. F. VIII. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 51 gedehnte Propaganda. Die Jägerklubs werden von ihr beeinflußt und aufgeklärt. Ihre Vortragen- den durchziehen das Land, um Lehrerversamm- lungen, P'armerkongresse usw. zu besuchen und dort die Wichtigkeit des Vogelschutzes darzutun. Die Presse wird beständig mit Nachrichten ver- sehen. Natürlich wird auch von der Kunst der Interviews ein reichlicher Gebrauch gemacht; insbesondere hochstehende Beamte und offizielle Persönlichkeiten müssen daran glauben. Wenn ein Vogelschutzgesetz in Vorbereitung ist, so stehen ein oder mehrere Vertreter der Gesell- schaft stets zur Verfügung, um das Gesetz zu vertreten. Häufig hat sich schon der Fall er- eignet, daß die gesetzgebenden Körperschaften die betreffenden Vertreter ersucht haben, ihnen einen größeren Vortrag über Vogelschutz zu halten. Übrigens hat sich die Audubon Society ge- sagt, daß es unmöglich sein würde, die Vogel- Schutzbestrebungen in Nordamerika erfolgreich durchzuführen, wenn die Vögel zwar in be- stimmten Staaten der Union geschützt sind, in anderen aber nicht. Das würde nur bedeuten, daß die Schutzmaßnahmen des einen Staates den Vogeljägern des anderen zugute kommen. Keine Tierklasse wandert ja so gern und regelmäßig und über so große Gebiete wie gerade die Vögel. Die Audubon Society hat daher den brennen- den Wunsch, daß ein einheitliches Vogel- schutzgesetz für die ganzen Vereinigten Staaten geschaffen werde, das den Vögeln, die als Jagd- wild betrachtet werden, in allen Jahreszeiten und in allen Staaten der Union Schutz verleiht. Über 200 Arten solcher Vögel sind gegenwärtig noch in jedem Staate der Union zu finden, und sie machen mehr als vier Fünftel aller nordameri- kanischen Vögel aus. Aber die Verfassung der Vereinigten Staaten wird allgemein so ausgelegt, daß nur diejenigen Dinge, die ausdrücklich darin genannt sind, der amerikanischen Bundesregierung zustehen, während alle anderen zur Machtvoll- kommenheit der Kinzelstaaten gehören. Da die Begründer der nordamerikanischen Union nicht daran gedacht haben, daß das Wild eines beson- deren Schutzes bedürfen könnte, und auch nicht daran zu denken brauchten — denn zu ihrer Zeit war es außerordentlich zahlreich und sie gingen nicht so verschwenderisch damit um, wie dies später ihre Nachkommen taten — , so ist in der amerikanischen Verfassung nicht von Wildschutz die Rede. Die strenge Auslegung der Verfassung macht es daher unmöglich, daß von der Bundes- regierung ein entsprechendes Gesetz geschaffen wird. So hat die Audubon Society denn die riesige Arbeit in Angriff nehmen müssen, die Gesetzgebungsmaschinen aller Einzelstaaten in Be- wegung zu setzen, soweit sie sich in Bewegung setzen ließen ! In nicht weniger als 37 unter den 46 Staaten der Union hat sie das erwähnte Vogel- schutzgesetz durchgesetzt, das allgemein unter dem Namen ,, Audubon Law" bekannt ist. Auch die Mehr- zahl der 9 Provinzen Kanadas haben es angenommen. Am erfolgreichsten ist das Vorgehen der Audubon Society im Staate Nordkarolina ge- wesen. Dort haben die gesetzgebenden Körper- schaften im März 1903 beschlossen, den Zweig- verein der Audubon Society mit allen Rechten eines Regierungsamtes für Wildschutz auszustatten. Und da dieser Zweigverein sich ebenso wie die Hauptgesellschaft von rein politischen Einflüssen freihält, so ist seine Wirksamkeit besonders er- folgreich gewesen. Von allen Seiten wird ihr große Achtung entgegengebracht. Im Jahre 1907 brachten im Staate Nordkarolina die Angestellten der Audubon Society 245 Fälle der Verletzung der Wildschutzgesetze vor Gericht, und durch diese strenge Verfolgung sind natürlich viele an- dere Versuche, sie zu verletzen, im Keime er- stickt worden. Das Wildschutzgesetz, das in Nordkarolina am meisten verletzt wird, ist das Verbot der Verschickung von Wachteln. Die amerikanische Wachtel , Quail genannt (Ortyx virginianus), ist als Delikatesse gerade in den Nord- staaten besonders geschätzt ; sie ist kleiner als das europäische Rebhuhn, aber größer als unsere Wachtel und besitzt ein vorzügliches Fleisch. Um die Versendung von Wachteln nach Norden zu verhindern, ist in der Jagdzeit einer der Inspek- toren der Audubon Society beständig auf den Beinen, und er fängt namentlich in Greensboro immer wieder solche Sendungen ab. Die wich- tigste Hilfe leistet ihm dabei sein Hund, der mit untrüglicher Sicherheit festzustellen vermag, ob in dem Inhalt eines großen Koffers oder eines Hutkoffers, eines Korbes oder eines Whiskeyfasses Wachteln versteckt sind. In all diesen und anderen Behältern werden sie mit Vorliebe ge- schmuggelt. Die Tätigkeit der Audubon Society nach dieser Richtung hin wird nicht nur von all den Tausen- den gern unterstützt, denen die Erhaltung der Singvögel am Herzen liegt, sondern auch von den Besitzern und Pächtern vieler großer Jagdgebiete. Dem Staate Nordkarolina folgte im P'ebruar 1907 der Nachbarstaat Südkarolina, indem er den dortigen Zweigverein der Audubon Society mit den Pflichten und Rechten eines Fischerei- und Wildschutz-Ausschusses bekleidete. Verlassene Reisfelder dieses Staates werden nun in große Entenbrutstätten umgewandelt. Besonderen Schutzes bedarf das Rotkehlchen. In den Südstaaten gilt es allgemein als jagdbarer Vogel. Wenn das Rotkehlchen im Winter nach Süden wandert, findet man in den Städten der nordamerikanischen Südstaaten große Reihen von toten Rotkehlchen zum Verkauf ausgestellt. Ins- besondere des Nachts werden sie abgeschossen oder anders getötet. Sie pflegen auf den Asten einer Zeder oder Fichte zu schlafen. Dort sitzen die Rotkehlchen so dicht auf den Zweigen, daß das Abschießen einer einzigen Schrotladung zu- weilen 20 — 30 tote Vögelchen herunterbringt. Die dortigen Neger und ebenso die bösen Buben von weißer Hautfarbe brauchen indessen nicht 52 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 4 einmal ein Gewehr, um die Vögel zu töten, da sie eine noch einfachere Jagdart befolgen. Sie gehen nachts zu zweien in die Wälder. Einer von ihnen trägt ein Licht und klettert auf einen Baum, während der andere auf die Zweige der umstehenden Bäume mit einer Stange losschlägt. Die erschreckten Vögel fliegen dann dem Lichte zu, und der Neger oder der weiße Junge, der das Licht trägt, ergreift die Vögel, die ängstlich um das Licht flattern, drückt ihnen den Kopf ein und wirft sie zu Boden. Zuweilen soll man in den Südstaaten nachts bis zu 20 solcher Lichter auf kleinem Räume nebeneinander sehen können. Die Zahl der Rotkehlchen, die dann ihr Leben lassen müssen, geht in die Tausende. Durch die Be- mühungen der Audubon Society sind nun in den verschiedenen Staaten Schutzgesetze für das Rot- kehlchen angenommen worden. In Nordkarolina hat man nur ihre Tötung zwischen Sonnenunter- gang und Sonnenaufgang verboten, in Südkarolina, in Alabama und Texas z. B. ist es dagegen über- haupt strafbar, ein Rotkehlchen zu töten. Die ärgsten Feinde der Vogelwelt sind aber vielleicht nicht die Leidenschaften der Lecker- mäuler, die sich an dem zarten Fleisch von Sing- vögeln gütlich tun wollen, sondern die Mode- torheiten, die das weibliche Geschlecht von Zeit zu Zeit befallen. Vor einigen Jahren wurde es bei den Damen wieder einmal modern, auf den Hüten statt der sonst so beliebten hängen- den Gärten einen riesigen Aufbau von Federn von Meerschwalben, Möwen oder anderen See- vögeln zu führen. Die Folge war — da für die Mode nichts zu teuer ist — daß überall auf den kleinen Inseln an der Ostküste Nordamerikas die Federjäger abschössen, was sie von Seevögeln nur erreichen konnten, natürlich ohne Rücksicht auf die Erhaltung der betreffenden Vogelarten. Man rüstete Schiffe aus, die Vorräte für mehrere Monate an Bord führten, und betrieb das Ab- tötungsgeschäft als Großbetrieb. Um die in den Nestern liegenden Eier und kleinen Vögel kümmerte man sich nicht. Diese unmenschlichen Vogel- jagden haben damals die Atlantische Küste der Vereinigten Staaten und ihre Golfküste einer un- geheuren Zahl von Seevögeln beraubt. Allein in den beiden Staaten Nordkarolina und .Südkarolina wurden damals im Laufe von 8 Jahren eine halbe Million Flügelpaare an die Modegeschäfte verkauft. Und auf Cobbs Island im Staate Virginia wurden in einem einzigen Jahre loooo Vögel abgeschossen. Die Audubon Society hat auch diesem Unfug einen Riegel vorgeschoben. Sie hat für die Verbesse- rung der Gesetzgebung gesorgt, und sie besoldet eine Anzahl von Wärtern, die eine große Zahl von Brutstätten der Seevögel an der ganzen öst- lichen und südlichen Küste, also auf der riesigen Strecke zwischen dem Staate Maine und dem Rio Grande, regelmäßig überwachen. Ebenso wird die ganze Küste des Stillen Meeres, soweit sie den Vereinigten Staaten gehört, überwacht. Infolgedessen nimmt die Zahl der Seevögel wieder stark zu, und man hoft't, daß sie die Zahl wieder erreichen, die sie vor 20 Jahren aufwiesen. Ins- besondere ist die Zunahme der Möwen bemerkens- wert, wie man in den Seestädten beobachten kann. Die Seevögel sind auch nicht mehr so scheu wie in den Jahren, in denen sie so erbarmungslos ab- geschossen wurden. Präsident Roosevelt, der große Naturfreund, hat seinerseits dazu beigetragen, den Vogelschutz zu pflegen. Er hat durch eine Exekutivorder eine Anzahl kleiner Inseln an den Küsten und im Inneren dazu bestimmt, den Vögeln als Brutstätten und Ruheplätze zu dienen. Sie dürfen daher von Menschen ohne besondere Erlaubnis nicht betreten werden. Nur die Beamten der Audubon Society haben dort Zutritt, um die Vermehrung der Vögel zu beobachten und ihnen Schutz gegen die Unbilden der Witterung zu ver.schaffen. Die bedeutendsten dieser Vogelbrut- stätten liegen in den Staaten Louisiana und Florida (je vier), ferner zwei in Michigan, eine in Norddakota, eine in Oregon, eine in Nebraska (wo man überhaupt dem Vogelschutz große Auf- merksamkeit zuwendet) und endlich drei an der Küste des nordwestlichsten Staates, Washington. Aber auch in den anderen Staaten finden sich manche Vogelbrutstätten, die von der Audubon Society überwacht werden. Man hofft, daß infolge dieser Maßnahmen auch solche Abarten, deren Zahl bereits arg zusammen- geschmolzen war, sich wieder vermeliren werden. So waren z. B. einige .Abarten der Meerschwalbe bereits soweit abgeschossen, daß nur noch weniger als looo Vögel davon am Leben waren. Jetzt hat sich ihre Zahl bereits wieder gehoben. Die Tätigkeit der Audubon Society ist somit von unschätzbarem Werte für die ganzen Vereinigten Staaten. Ein Land ohne Vögel entbehrt eines der schönsten Reize, mit denen die Natur uns umgibt. Der Wälder haben sich die Vereinigten Staaten bereits zum größten Teile beraubt. Ließen sie nun auch noch die .Singvögel aussterben, so würden die Nachkommen des heutigen Geschlechtes es diesem niemals ver- geben können, daß es mit dem von der Natur verschwenderisch gespendeten Reichtum so un- bedacht umging. Die Audubon Society hat der öffentlichen Meinung Amerikas diese schlimmen Folgen klar vor Augen geführt, und sie hat dafür gesorgt, daß man der Gefahr mit tatkräftigen Maßnahmen begegnete. Ihr gebührt hoher Dank, und ihrer Tätigkeit ist auch für die Zukunft der allerbeste F>folg zu wünschen. N. F. VIII. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 53 Sammelreferate und Übersichten tische m en" recht über die Fortschritte in Neues aus der Bakteriologie. — Seit der Erfindung des Ultramikroskopes ist auch hier und da die Behauptung von der Exi- stenz bestimmter Ultramikroorganismen aufge- taucht. So hatten namentlich E. Raehlmann (Münch. medizin. Wochenschr. 51. Jg., 1904, und Berliner klin. Wochenschr. 41. Jg., 1905) sowie N. Gaiduko w (Centralbl. f Bakteriol, IL Abtlg., Bd. 16, 1906, und Verhandl. Deutsch. Zool. Gesellsch., 1906) solche ultramikroskopische Wesen als leicht zu beobachtende, überaus häufige Erscheinung be- schrieben; ja der letztgenannte spricht sogar von solchen, die er teils außer-, teils innerhalb(!) von Algen-, Pilz- u. a. Zellen gesehen haben wollte. Nun veröfi"entlicht H. IMol isch in Botan. Zeitg. 66. Jg, 1908, I. Abtlg., S. 131, eine kri- Studie „Über Ultramikroorgan is - nach welcher das Vorkommen solcher doch zweifelhaft erscheint. Mo lisch hat mit der gleichen optischen .Ausrüstung und an dem gleichen Material wie jene, in Faulflüssigkeiten, in algenhaltigem Teich- und Grabenwasser usw., nach Ultramikroben gesucht, aber durchweg mit nega- tivem Resultat, und das vier Monate lang fast täglich ! Was an nachweislichen Mikroorganismen in der Dunkelfeldbeleuchtung erschien, konnte bei genauem Zusehen mit stärksten Objektiven (Zeiß hom. Imm. 2 mm, Oc. 18) auch im durchfallenden Licht wahrgenommen werden. In siebzehnjähriger Praxis als Bakteriologe hat M. (wie sehr viele Andere mit ihm) niemals auf irgendwelcher Kultur- platte eine Kolonie gefunden, die nicht aus mikroskopisch definierbaren Organismen bestanden hätte. Ultramikroskopische Krankheits- erreger hatte man vermutet für die Lungen- seuche der Rinder, für die Maul- und Klauen- seuche, für die „Mosaikkrankheit" des Tabaks, für die „infektiöse Chlorose" der Malvaceen. Die Erreger der erstgenannten Krankheit stehen eben noch diesseits der Grenze gewöhnlicher mikro- skopischer Sichtbarkeit, für die Maul- und Klauen- seuche ist ein organischer Erreger nicht nach- gewiesen, und daß ein solcher nicht mit Not- wendigkeit durch indirekten Beweis gefolgert werden kann, das lehren die beiden erwähnten Pflanzenphänomene (vgl. über die Mosaikkrankheit F. W. Hunger, Ber. Deutsch. Botan. Gesellsch. 23. Bd., 1905, über die infektiöse Chlorose E. Baur, Sitzber. d. k. preuß. Akad. d. Wissensch. Bot. Gesellsch. 22. Bd., 1904, von welchen beiden wohl mit daß sie, trotz ihres infektiösen durch Organismen , sondern durch Stoffwechselprodukte hervorgerufen werden, die autokatalytisch die Krankheit übertragen. Durch die durchweg negativen Befunde von M o 1 i s c h verliert auch die X ä g e 1 i 'sehe Hypothese^) von den Probien, primitiven Organismen von 1906, Ber. Deutsch, und 24. Bd., 1906), Sicherheit feststeht, Charakters nicht den einzelnen Disziplinen. kleinsten Dimensionen, die noch in der Gegen- wart jederzeit durch Urzeugung sollten entstehen können, sehr an Glaubhaftigkeit — da die mole- kulare Größe gewisser Eiweißkörper schon inner- halb der ultramikroskopischen Sichtbarkeit liegt, so ist die Existenz weit verbreiteter Organismen, die im Ultramikroskop nicht sichtbar sein sollten, recht unwahrscheinlich geworden. Über Fortbewegungsgeschwindigkeit und Bewegungskurven einiger Bakterien veröffentlicht R. Stigell im Centralbl. f. Bakteriol., I. Abt., 45, einige interessante Berechnungen und Skizzen. Die bei 1500-facher Vergrößerung beobachteten Höchstmaße der Geschwindigkeit, auf /t in i Sek. bezogen, waren für: Bac. subtiüs 5,55 Bac. typhi 2,50 „ proteus 2,90 „ megatherium 2,08 „ butyricus 4,47 Vibrio cholerae 4,38 mesentericus 4,08 „ proteus 3,34 „ pyocyaneus 2,70 „ aquatilis 6,66 Diese Höchstmaße dürften charakteristischer sein als die von St. aus je 10 Messungen berech- neten Durchschnittswerte; die lo Parallelbestim- mungen zeigen sehr starke Differenzen, augen- scheinlich beruhen sie z. T. auf Beobachtungen an Individuen, deren Beweglichkeit schon im Ab- nehmen begriffen war. Recht eigenartig sind die Skizzen von Be- wegungskurven; während die einen sich annähernd geradlinig oder in schwacher Schlängelung fort- bewegen, beschreiben andere ziemlich enge Win- dungen, die bei Bac. pyocyaneus etwa an orien- talische Schriftzeichen erinnern. Die Nitrifikation ist eine der interessantesten Erscheinungen in der ganzen belebten Natur, als die absonderliche Lebensäußerung von Organismen, die nicht Kohlenstoffverbindungen veratmen, son- dern an deren Stelle Ammoniakverbindungen zu Nitriten und Nitraten oxydieren. Nach Wino- gradsky's grundlegenden Arbeiten wissen wir, daß es zweierlei Gruppen von Organismen sind, deren die einen (Nitrosobakterien) aus Ammoniaksalzen Nitrite, die anderen (Nitrobakterien i. e. S.) aus Nitriten Nitrate bilden, stets unter Verbrauch von atmosphärischem Sauerstoff. Während nun die Oxydation der salpetrigen Säure zu Salpetersäure ein exothermischer Vorgang ist, würde die Oxy- dation von Stickstoff zu salpetriger Säure einen Energieverbrauch bedingen; da aber einerseits auch der Wasserstoff des Ammoniaks zu Wasser verbrannt wird, andererseits die Nitritation nur in Gegenwart freier Basen oder kohlensaurer Salze stattfindet, welch letztere die entstehende freie Säure binden, so ist ein Energiegewinn der Er- folg auch dieses Vorganges. Der chemische Prozeß, der bei der Nitritbildung aus schwefel- ') C. V. Nägeli, Mechanisch physiologische Theorie der .Abstammungslehre. München-Leipzig 1884. 54 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 4 saurem Ammoniak in kalkhaltigem Boden sich abspielt, findet also etwa in folgender F'ormel seinen Ausdruck: (NHJ„SO, + 2CaC03 + 3O, - Ca(NO,)., + Ca SO^ -f 2 CO., + 4 H.,0. Bezüglich der Art, wie die betreffenden Vor- gänge sich im normalen Boden abspielen, ist noch vieles dunkel; erst in neuester Zeit ist es ge- lungen, einige schwerwiegende Irrtümer zu be- richtigen, welche sich an die sonst so überaus wichtigen Arbeiten von Winogradsky an- knüpften. Seine Untersuchungen waren nämlich durchweg in Lösungen angestellt, und es hat sich hier, wie anderwärts, wieder gezeigt, daß es grundfalsch sein kann, Ergebnisse dieser Her- kunft auf die Vorgänge im Erdboden zu über- tragen. Nach Winogradsky sollten die Nitroso- und Nitrobakterien äußerst empfindlich sein gegen lösliche organische Substanzen, sie sollten durch mehr als 0,2 % Ammonsulfat bereits in ihrer Tätigkeit gehemmt werden, auch sollte Nitrit- und Nitratbildung niemals gleichzeitig nebeneinander erfolgen können, vielmehr die Nitratbakterien selbst durch Spuren von Ammoniaksalz gehindert werden, ihre Tätigkeit zu entfalten, die erst be- ginnen könnte, nachdem alles Ammoniak in Nitrit umgewandelt wäre. Wenn nun auch an der Richtigkeit jener Beobachtungen an sich nicht zu zweifeln ist, so liegen denn doch im natürlichen Boden ') die Dinge wesentlich anders, und müssen obige Sätze als durchaus ungültig bezeichnet werden. Daß dem so ist, dafür bringt eine Arbeit von L. C. Coleman, Untersuchungen über Nitrifikation (in Centralbl. f. Bakteriol., II. Abt., 20, S. 401 ff., 1908), eine Reihe von Beweisen, durch zahlreiche analytische Belege unterstützt. Die auffallendsten und auch am besten durch- geführten Resultate erhielt C. bei Verwendung von Dextrose, die bis zu 0,5 "j^ des Bodenge- wichtes nicht nur ertragen wurde, sondern sogar eine deutliche und regelmäßige Beschleunigung der Nitrifikation bewirkte; auch war die Nitrifikation keineswegs dadurch verhindert, daß an Ammonsulfat i "i„ des Bodengewichtes gegeben wurde, was, auf die beigefügte Wassermenge be- rechnet, eine 7,5-prozentige Lösung ergab — also das 37V2-fache der von Winogradsky ange- gebenen Höchstkonzentration. Eine später, nach der dritten Woche, eintretende scheinbare Hemmung ist auf Rechnung einer Denitrifikation zu setzen, welche durch die Anwesenheit organi- scher Substanz im Boden naturgemäß begünstigt wurde. Rohrzucker, Milchzucker, Glyzerin wirkten kaum merklich, ebenso buttersaurer Kalk, während ') Hierin verhalten sich nun verschiedenartige Böden durchaus verschieden : ganz leichter Sand ändert wenig an den für wäflrige Lösungen gültigen Thesen Winogradsky's; je reicher ein Boden aber an absorptionsfähiger Sub- stanz, an Humus- und Tonpartikelchen ist, um so weiter entfernen sich die tatsächlichen Vorgänge von jenen Sätzen. essigsaurer Kalk hemmend wirkte; sehr stark war letzteres der Fall mit Pepton und Harnstoft'. Das Feuchtigkeitsoptimum für die Nitrifikation liegt um i6°/|, herum; stärkere Befeuchtung hemmt mehr als größere Trockenheit, weil sie den unbedingt notwendigen Luftzutritt erschwert. In zu feuchtem Boden wirkt auch Dextrose nicht fördernd, sondern hemmend auf die Nitrifikation. Das Optimum der Temperatur liegt nach früheren Untersuchungen, die Verfasser bestätigt fand, bei etwa 26" C. Sehr auffallend erscheint das weitere Schicksal der beigefügten Dextrose, die in reinem sterilen Sand, in Mengen von 0,02 bis 0,05 "/oi i" Rein- kulturen ebenfalls vielleicht eine Beschleunigung bewirken kann; dabei verschwindet aber die Dextrose allmählich, und wenn die Kulturen des Verfassers wirklich rein waren (für den Nitrit- bildner gibt er selbst Unreinheit zu), dann würden wir das überraschende Ergebnis vor uns sehen, daß — wieder entgegen Winogradsky — die Nitrobakterien nicht so ausgesprochen prototroph wären, wie man lange angenommen hat. Zur Assimilation von Kohlensäure sind Nitrit- wie Nitratbildner befähigt, auch ist die Dextrose nicht imstande, fehlende Kohlensäure zu ersetzen, auch eine Reizwirkung kommt kaum in Frage, die Rolle des Zuckers ist also noch recht fraglich und der Aufklärung bedürftig. Über Anaerobiose liegt eine neue Arbeit vor: Ein experimenteller Beitrag zur Kenntnis der Bedeutung des Sauerstoff- entzuges für die Entwicklung obligat anaerober Bakterien, von R. Burri und J. Kürsteiner, in Centralbl. f Bakteriol. usw., II. Abtlg., 21, 1908, S. 289. An Kulturen von Bacillus putrificus, eines obligat anaeroben Spalt- pilzes, wurde die neue und auffallende Tatsache beobachtet, daß nach der von Kürst einer (vgl. Naturw. Wochenschr., Bd. 8, S. 406 u. S. 551) früher beschriebenen Methode streng anaerob ver- schlossene Bouillonröhrchen auch dann lebhaftes Wachstum zeigten, wenn nach relativ kurzer Zeit der Verschluß geöfthet und die Zuchten bei vollem (d. h. nur durch den gewöhnlichen Watte- pfropfbehindertem) Lu ft zu t ritt gehalten wurden. Das gelang ganz besonders auch bei solchen Röhrchen, die bisher noch keine Spur von Trübung hatten erkennen lassen, aber trotzdem unter genannten Bedingungen nach kurzer Zeit, infolge lebhafter Bakterienvermehrung, sich stark trübten. Ja. die Trübung war ganz regelmäßig in den geöffneten Röhrchen stärker, als in den verschlossen gebliebenen, vielleicht infolge einer Reizwirkung des eindringenden Sauerstoffes. Die Grenze der Entwicklungsmöglichkeit lag ziemlich genau bei 13 — 14 Stunden anaeroben Aufent- haltes im Thermostaten bei 37". Zuweilen ent- wickelten sich aber im Luftzutritt auch Kulturen, die nach kürzerer Zeit, bis herab zu 6 Stunden, geöffnet wurden, andererseits blieben ältere manch- mal im Wachstum zurück, zeigten erst nach N. F. VIII. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 5S mehreren Tagen langsame Zunahme der Trübung, welche nun entweder doch noch normale Inten- sität erreichte, oder aber wieder unter anaeroben Verschluß gebracht werden mußte, um sich nor- mal zu entwickeln ; das Kxtrem stellten solche Zuchten dar, deren bereits sehr merkliche Trübung nach Entfernen des Verschlusses keine Spur von Zunahme mehr zeigte, und erst nach Neumon- tierung des Burri 'sehen Verschlusses normal weiterwuchsen. Die Erklärung des Hauptergebnisses ist im folgen- den zu suchen: Die bereits entwickelte Anaeroben- kultur ist imstande, zutretenden Sauerstoff un- schädlich zu machen; doch ist ausgeschlossen, daß letzterer etwa veratme t würde; Anaerobier können eben nicht normal atmen. Vielmehr müssen es reduzierende Substanzen sein (Anaerobier entbinden z. B. fast durchgehends freien Wasserstoff), welche den Sauerstoff so weit absorbieren, daß er an die Spaltspitze nicht mehr herantreten kann, außer in minimaler Menge, in welcher er nun vielleicht sogar als Reizstoff wirkt (vgl. o.). Die sog. anaeroben Züchtungs- verfahren würden nur der Bestimmung dienen, den allerersten Generationen das im Sauerstoft liegende Entwicklungshemmnis zu beseitigen. Dann geht eine normal kräftige Kultur auch bei Luftzutritt ihren Weg, selbst wenn (vgl. o.) im Beginn des Luftzutrittes die Bakterienvermehrung noch zu keiner sichtbaren Trübung fortgeschritten war. Die oben kurz skizzierten Ausnahmefälle schwächeren Wachstums, bzw. geringerer Wider- standsfähigkeit gegen molekularen Sauerstoft deuten einerseits auf eine gewisse Variabilität der Bakterien auch in dieser Hinsicht, andererseits aut einen Existenzkampf, der nicht von allen Zuchten glücklich bestanden wird. Die Untersuchungen erstreckten sich nur auf die eine, obengenannte Art; ob das Ergebnis — was an sich nicht un- wahrscheinlich ist — zu verallgemeinern sein wird, mag die Zukunft lehren. Übrigens hat schon vor 2 Jahren Hans Pringsheim (Über ein Stickstoff assimi- lierendes Clostridium, in Centralbl. f. Bak- teriol., II. Abtlg.. 16, 1906, S. 795) ein dem Clostridium butyricum Prazmowski und dem Cl. Pasteurianum Winogradsky naheverwandtes Butter- säurebakterium beschrieben , das „im offenen Kolben Zuckerlösung vergärt", unter gleichzeitiger Bindung von Luftstickstoft", wenn eine geringe, unzureichende Menge Stickstoff als Ammonsulfat gegeben wird. Es dürfte sich auch hier um eine von Haus aus anaerobische Form handeln, welche leichter als andere in hoher Schicht zu kultivieren ist. Man kann sich den Vorgang wohl so vor- stellen, daß die Bakterienvermehrung zuerst in der -j- sauerstofffreien Bodenschicht einsetzt, und daß die hier alsbald erzeugten reduzierenden Stoffe die weitere Entwicklung durch die ganze Flüssigkeitssäule ermöglichen. Über einen extrem verkürzten Ent- wicklungsgang bei zwei Bakterien- spezies ist eine Arbeit von L. Garbowskiim Biolog. Centralbl. 27, 1907, S. 717 betitelt. Der Verfasser beobachtete an frisch isoliertem Bacillus tumescens Zopf eine überaus rasche Auskeimung der soeben aus den Mutterzellen freigewordenen Sporen, andererseits eine sehr rasche Sporen- bildung in den soeben der Spore entkeimten Stäbchen, die sich gar nicht erst teilten, sondern sofort zur .Sporu lation schritten, wobei bisweilen die neue Spore das Keimstäbchen vollständig ausfüllt. (Bei Bac. asterosporus A. Meyer wurde Sporenbildung im Keimstäbchen ebenfalls beobachtet.) Die Sporen werden unter solchen Bedingungen immer kleiner, von durch- schnittlich 2,2 /< ging ihre Länge in drei Monaten bis auf 1,4 bis 1,6 // zurück. Die Erscheinung kam nur auf einem mit i "/„ Dextrose versetzten Nähragar zum Vorschein, auf einer Mischung von i Teil dieses Agars mit 2 Teilen wäßriger Agarlösung trat sie sehr vereinzelt auf, und behielten die Sporen auch ihre Größe bei. Andere Nährböden ergaben ebenfalls teils sehr zahlreiche, teils sehr spärliche Beispiele dieser Abkürzung des Ent- wicklungsganges. Ein halbes Jahr später, nach weiterer Kultur des Stammes, hatte sich die Sporengröße auf 1,6 /( verringert, jedoch trat die oben beschriebene Erscheinung bei weitem weniger charakteristisch zutage. Über Entwicklungszyklen bei Bakterien schreibt F". Fuhrmann in den Beiheften zum Botan. Centralbl., Bd. 23, 1. Abt., 1907. Eine von ihm aus Flaschenbier isolierte Art, Pseudo- monas cerevisiae, ein durch ein endständiges Geißelbüschel lebhaft bewegliches Stäbchen, war im wesentlichen der Gegenstand seiner Unter- suchungen. Interessant und nachahmenswert ist die Methode, deren er sich bediente, um einzelne Zellen in ihrer Entwicklung einige Zeit zu ver- folgen : er fing die Zellen in den Maschen von dünn geschnittenen Scheiben (die selbstredend sterilisiert wurden) von Sambucus- oder Helian- thus-Mark, die dann in die feuchte Kammer und mit dieser unters Mikroskop gebracht wurden. Hier spielten sich die zu beschreibenden Er- scheinungen sogar sehr rasch ab , beschleunigt wohl durch beginnenden Sauerstoft'mangel. Das lebhafte Schwärmen der Stäbchen ver- langsamt sich vor jeder Zweiteilung, allmählich wird aber überhaupt die Bewegung träger und hört zuletzt ganz auf, während zugleich die Zellen sich niclit mehr trennen, sondern zu P'äden ver- einigt bleiben; die kürzeren Fäden führen noch schlängelnde Bewegungen aus, die längeren sind unbeweglich und zeigen kaum noch eine Gliede- rung in Zellen. Innerhalb der Zellen treten unter- dessen winzige, stark lichtbrechende Körnchen auf, welche mehr und mehr zu größeren verschmelzen, die Konturen 'der" Fäden beginnen zu verschwin- den, und zuletzt findet man nur einen ,, Detritus", aus jenen Körnchen bestehend, die, mit alter Methylenblaulösung tingiert, die charakteristische „metachromatische", d, h. rote Färbung annehmen. 56 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vni. Nr. 4 und den jene Bei erhöhter Temperatur findet diese Entwicklung unter einer geringen Vergrößerung der Zellen statt, die sich z. T. kolbig aufgetrieben zeigen; das ist noch mehr der Fall in Lösungen mit I — 2 Ammoniumchlorid als Stickstoftquelle 0,5% Saccharose als Kohlenstoffquelle;') in kolbigen Anschwellungen sind hauptsächlich Körnchen enthalten. Dieselben sind nun sicherlich keine Sporen, trotzdem aber noch lebensfähige Dauer- zustände, die zu neuen Kulturen aus- keimen können — ein höchst auffallender, wohl aber nicht für alle analogen Bildungen all- gemeingültiger Befund. (Ref. wenigstens hat sehr oft vergeblich versucht, solche Bakterienkolonien weiterzuzüchten, die, auf Agarplatten aufgegangen, der Weiterzüchtung wert schienen, sich aber unter dem Mikroskop nur noch als aus Körnchen bestehend erwiesen; obwohl die Platten oft nur 8 — 14 Tage alt waren, ist in keinem Fall die Aussaat von Erfolg gewesen — verschiedene Arten verhalten sich also wohl verschieden.) Werden kolbige Zellen mit Körncheninhalt in frisches Nährsubstrat gebracht, so treten die Körn- chen zu kurzen Ketten geordnet heraus, ein jedes wächst zu einem Stäbchen heran, und nun erst trennen sich die Zellen, um jetzt selbstbeweglich davon zu schwärmen. Zwischenstufen, die erst auf dem Wege zum Kolbenstadium waren, gehen dagegen den beschriebenen Gang zu- rück, in gleicher, nur umgekehrter Reihenfolge: die Körnchen verteilen sich zu immer winziger werdenden Pünktchen, dadurch wird der Zellen- inhalt immer homogener, und die Fäden teilen sich in schwärmende Kurzstäbchen. (Diese Er- scheinung ist eine interessante Illustration zu der Behauptung mancher Vitalisten , es bestehe zwischen Lebensvorgängen und solchen in unbe- lebter Substanz ein fundamentaler Unterschied darin, daß die ersteren nur in einer Richtung verlaufen könnten, die letzteren aber reversibel wären. Hier haben wir wieder einmal ein Beispiel für Umkehrung eines unleugbaren Lebens- vorganges; ebenso gibt es zur Genüge Vorgänge in der unbelebten Weh, die nicht umkehrbar sind: Gewitter, Wasserfälle und vieles andere.) Bringt man die Dauerzustände in konzentrier- tere, 5 — lo-prozentige Chlorammoniumlösung, so findet zwar keine Entwicklung statt, die Aus- keimung erfolgt aber prompt nach Übertragung in eine normale Nährlösung; frischlebende Kulturen aber ertragen die konzentrierte Lösung nicht, son- dern gehen zugrunde. Die beschriebene Körn- chenbildung ist also als eine der Sporulation analoge Bildung von Dauerzuständen, zur Über- windung ungünstiger Außenbedingungen, anzu- ') Als ,,Nähr"lösung enthält dieselbe übrigens viel zu viel Stickstoff. Dem natürlichen Bedürfnis der Bakterien an Kolilenstoff und Stickstoff würde es ungefähr entsprechen, wenn man Kohlenhydrat und Ammoniaksalz im Verhältnis von 20 : I darreichte. Die übergroße Salmiakgabe erklärt wohl hinreichend die Deformation (Anm. d. Ref.). sehen. Die Körnchen sind, gleich den Sporen, austrocknungsfähig, aber bei weitem nicht im gleichen Grade hitzebeständig. Vom Diphtherie- Bazillus ist es lange bekannt, daß er Austrock- nung überdauert, obwohl auch er keine Sporen erzeugt; doch bildet gerade er sehr leicht und intensiv die „metachromatischen" Körnchen aus. Es sind höchst auffallende Gebilde bakterieller Herkunft, die Herm. IVIüller-Thurgau (Cen- trale, f. Bakteriol., IL Abt., 20. Bd., S. 353 ff.) als Bakterienblasen oder Bacteriocysten beschreibt. .Ähnliche, aber meist weit weniger charakteristische Bildungen haben so manchen Autor veranlaßt, wunderliche Theorien aufzustellen, wonach die Spaltpilze gar keine selbständigen Zellen bzw. Organismen, sondern nur Bestandteile, Bruch- stücke bzw. Bausteine höherer Zellen sein sollten, welch letztere aus Bakterien entstehen und wieder in solche zerfallen könnten. Müller-Thurgau steht auf diesem Standpunkte nicht, er beschreibt die Dinge als das , was sie sind, als Gebilde eigener Art, die mit Zellen wohl einige Ähnlich- keiten aufweisen, aber selbst etwas ganz anderes sind. In Obst-, besonders Birnweinen fand Verfasser nach abgelaufener Hauptgärung oft zahlreiche blasenförmige Gebilde, von mikroskopischer Klein- heit bis zu mehreren mm, in Ausnahmefällen selbst von 10 — 20 mm Durchmesser. Den ein- zigen Inhalt der Blasen bildeten Bakterien, niemals wurden Fremdkörper darin gefunden; junge Blasen sind mit Bakterien innerlich ganz erfüllt, ältere nur noch teilweise, die Bakterienmasse bildet dann ungefähr ein Kugelsegment, der übrige, oft weit größere Raum ist mit Flüssigkeit gefüllt. Die Blasen entwickelten sich nur in Birnsäften von einem mittleren Gerbstoffgehalt; ein solcher dürfte für die Entstehung der Blasenhaut von Wichtigkeit sein, ein Mehr an Gerbstoff hemmt die Entwicklung derselben. Die Haut ist an normalen Blasen durchaus glatt, von mäßiger F"estigkeit, sie kann durch Wasserverlust schrumpfen, um bei Wasserzutritt wieder ganz das vorige Aussehen anzunehmen. Häufig fanden sich entleerte Häute; die Bakterien hatten , obwohl nicht selbstbeweglich , die schützende Hülle wohl durch einen Spalt verlassen. Die Bakterien sind in den Cysten bald mehr in Form von Kurzstäbchen oder selbst Kokken, bald als Langstäbchen oder als lange Fäden ent- halten , die alle als Entwicklungsstufen einer Art auftreten können, insofern die Fäden zu kokken- artigen Kurzstäbchen zerfallen. Es sind durchweg Milchsäurebakterien, die als neue Arten: Bacterium mannitopoeum, B. gracile, Micrococcus cystipoeus, beschrieben werden. In günstigen Fällen konnten in Obstmosten schon in der vierten Woche mit bloßem Auge sichtbare Bacteriocysten auftreten ; da sie sich erst nach der Hauptgärung entwickelten, und diese 14 Tage beanspruchte, so bleiben also 10 — 14 Tage N. F. VIII. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 57 für die Entwicklung der Blasen. Die Entstehung der Blasen konnte einwandfrei an Reinkulturen verfolgt werden. Es bilden sich zunächst Fäden der in Frage kommenden Bakterien aus, die sich zu kleinen Knäueln verschlingen, deren oft mehrere, zuweilen viele aus einem Faden hervorgehen und so miteinander zusammenhängen, woraus dann auch Gruppen von Blasen entstehen. Die Knäuel nämlich werden durch reichliche Absonderung von Schleim, der die Zellen auch dann noch zu- sammenhält, wenn sie als Zellen sich voneinander getrennt haben, zu Zoogloeen geballt, und diese Zoogloeen sind es, die durch Abscheidung einer leidlich resistenten Haut zu den Bacterio- cysten werden. Die gruppenweise Entstehung führt zur Bildung eines kleinen Nabels, der an den Blasen auch dann noch wahrnehmbar ist, wenn sie sich voneinander losgelöst haben. Wie in der Entstehungsweise, so zeigt sich auch in der Beschaffenheit der Zoogloeen in den Obst- weinen eine große MannigfaUigkeit. Oft finden sich in einem Obstweintrub fast nur einzelne Zoogloeen verschiedener Größe, während in an- deren Fällen die meisten in mehr oder weniger losen Gruppen, von oft bis über loo Stück, zu- sammenhängen. Die größte der beobachteten Zoogloeen besaß einen Durchmesser von 2,6 mm. Die Zoogloeen können sich nun mit einer Membran umgeben, sie tun dies aber nur in gerb- stoffreicheren Medien; so konnten unbehäutete Zoogloeen, die in einem gerbstoffarmen Birnsaft gewachsen waren, durch Übertragung in gerbstoff- reicheres Substrat zur Blasenbildung übergehen. Die Haut zeigt manche Ähnlichkeiten mit einer Zellmembran, aber auch wichtige Unterschiede : sie ist nicht doppelbrechend, unlöslich in Kupfer- oxydammoniak, färbt sich nicht mit Jod -\- Schwefelsäure. Auch Pilzcellulose dürfte nicht in Frage kommen. Die Haut löst sich in gesättigter Kalilauge in i — 2 Tagen vollständig auf, in 25-prozentiger Chromsäure schon in 30 — 60 Min.; in starker Salzsäure unlöslich, färbt sie sich beim Kochen in dieser rötlich, was auf Gerbstoff schließen läßt. Sie dürfte ihrem Wesen nach eine echte Niederschlagsmembran sein, ent- standen infolge der Berührung der kolloidalen Kittmasse der Zoogloeen mit dem Gerbstoff des Nährmediums, wenn sie auch mit den nach Pfeffer's Anweisung aus Leim und Tannin- lösung erzeugten „künstlichen Zellen" nicht in allen Punkten übereinstimmt. Letztere nämlich zeigen unter dem Mikroskop eine Menge Unregel- mäßigkeiten, entstanden durch Risse, welche durch erneute Niederschläge verschlossen wurden ; solche fanden sich nicht in den Häuten der Bacterio- cysten, die vielmehr stets glatt und gleichmäßig erschienen, was auf ein sehr langsames und regel- mäßiges Wachstum schließen läßt. Die ,, künst- lichen Zellen" sind in heißem Wasser leicht lös- lich, die Bakterienblasen aber unlöslich. Zuweilen fanden sich an den Blasen oder an sonst unbe- häuteten Zoogloeen lange Schläuche, manchmal schraubig gewunden, meist von unregelmäßiger Form, von dergleichen Membransubstanz gebildet; solche Schläuche (wohl an Rißstellen der Cyste gebildet) konnten während ihres Wachstums be- obachtet werden, es zeigte sich dann der Schlauch an der Spitze offen, an der Öffnung stets von einem feinen Gerinnsel umgeben, und verlängerte sich rasch, indem am freien Ende stets neue Wandpartien sich ansetzten. Bei starker Ver- größerung erschienen die Schläuche wie aus lauter kleinen Ansatzstücken aufgebaut. (Ganz dieselben Erscheinungen kann man beobachten, wenn man die Entstehung der bekannten Perrocyankupfer- membranen unter Deckglas mit dem Mikroskop verfolgt; Ref.) Die Blasenhaut zeigt übrigens nachweislich Flächenwachstum und scheint auch in die Dicke wachsen zu können; jedenfalls be- ruht das allmähliche Größerwerden der Blasen nicht auf bloßer Dehnung der Membran. Die „biologische Bedeutung" der Bak- terienblasen sieht Verfasser darin, daß sie eine Schutzhaut darstellen. Da sie aber, wie der Ver- fasser ausdrücklich feststellt, nur unter den künst- lichen Bedingungen der Mostgärung überhaupt zustande kommen, in natürlichem Substrat, in faulenden Birnen, aber gar nicht zur Entwicklung gelangen, so dürfte wohl die rein kausale Auffassung die zu treffendere sein. Viel- leicht haben wir gerade hier wieder einmal ein Beispiel dafür, daß recht eigenartige Gebilde ent- stehen können, obwohl sie keine biolo- gische Bedeutung haben. Wichtige Untersuchungen über Bienenkrank- heiten veröffentlicht A. Maassen: Zur Ätio- logie der sog. Faulbrut der Honig- bienen, in Heft i, p. 53 des 6. Bandes der Arbeiten der Kaiserl. Biolog. Anstalt für Land- und Forstwirtschaft. Seit Jahrzehnten haben die Imker zweierlei Seuchen ihrer Pfleglinge beobachtet: die „gut- artige" und die „bösartige P'aulbrut" oder „Brutpest". Die gutartige Faulbrut befällt die unge- deckelten Larven, die nach dem Tode breiartige Beschaftenheit und einen starken Geruch nach Kapronsäure annehmen, übrigens aber rasch ein- trocknen. Die Bienen können die vertrockneten Kadaver fortschaffen, worauf oft die Seuche von selbst zurückgeht. Der bösartigen Faulbrut erliegen die gedeckelten Larven, die eine stark schleimige Konsistenz annehmen, bei schwachem Faulgeruch; die Krankheit ist nur durch energisches Eingreifen zu bekämpfen, meist geht das ganze Volk oder gar der ganze Bienenstand zugrunde. Als Erreger der ersteren Infektion ist der seit 1885 bekannte Bacillus alvei anzusehen, der sehr widerstandsfähige, jahrzehntelang keimkräftige Sporen bildet, in Kulturen aber leicht degeneriert. Sein Hauptsitz ist der Darmkanal der Bienen- larven. Mit dem B. alvei gemeinsam findet sich oft ein Streptokokkus von lanzettförmiger Gestalt, 58 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 4 Str.'apis, dem Str. pneumoniae und Str. lactis verwandt, mit einem Temperaturoptimum von 36—39''. In den toten Maden sterben sie rasch ab, wohl infolge selbst erzeugter freier Säure. Die gegenseitigen Beziehungen der beiden Spalt- pilze sind noch nicht völlig aufgeklärt; der Streptokokkus scheint für sich allein zur Infektion untauglich zu sein. Die bösartige Erkrankung, die in fast 90 "/(, der beobachteten Fälle festgestellt wurde . wird durch Bacillus Brandenburgiensis n. sp., einen beweglichen, sporenbildenden Spaltpilz, her- vorgerufen. Er findet seine üppigste Entwicklung nicht im Darm, sondern im Fettkörper der Larven. Seine Sporen sind über 20 Jahre lang haltbar, aber weniger hitzebeständig als die von B. alvei. Sehr charakteristisch und darum diagnostisch ver- wertbar ist seine Eigenschaft, die Geißeln in Menge abzuwerfen und dieselben zu ,, Geißel- zöpfen" zu verflechten, die mit größter Ähnlich- keit das Bild einer Spi roch acte (!) vortäuschen. Bekanntlich ist von den Pathologen schon für eine ganze Reihe sog. Spirochaeten nachgewiesen worden, daß es sich nicht um solche , sondern um Kunstprodukte oder Gebilde anderweiten Ursprungs handelte. In zahlreichen Fällen wurden auch Misch- infektionen von Bac. alvei und Brandenbur- giensis gefunden; dann war aber der erstere durch den letzteren in seiner Entwicklung stark gehemmt oder unterdrückt, und das Krankheitsbild war ganz das der bösartigen Epidemie. Nur durch ein besonderes Verfahren war es dann möglich, neben dem Bac. Brandenburgiensis auch den Bac. alvei herauszuzüchten. Dr. Hugo Fischer. Kleinere Mitteilungen. Die Wiederkehr des Halley'schen Kometen. — Der erste Komet, dessen Umlaufszeit erkannt wurde und der daher einen Wendepunkt in der Erforschung dieser Himmelskörper brachte, ist der Halley'sche Komet. Er ist zugleich derjenige, dessen Periodizität am weitesten zurückverfolgt werden kann und von dem, obwohl seine Um- laufszeit größer als die der übrigen periodischen Kometen ist, die meisten Erscheinungen vorliegen. Dies kommt wohl hauptsächlich daher, daß dieser Komet bei jeder Wiederkehr eine außergewöhn- liche Helligkeit hatte und daher stets die allge- meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, so daß es selbst für sehr frühe Zeiten gelingt, sein Auftreten nachzuweisen. Freilich wird dieser Nachweis immer schwieriger, je weiter die Erscheinung zurückliegt, weil man im Altertum und auch noch lange Zeit im Mittelalter die Kometen nicht für Himmelskörper, sondern für irdische Lichterschei- nungen hielt, die von Ausdünstungen der Erde herrühren und daher nur ganz oberflächliche An- gaben über ihren Ort und ihre Bewegungen am Himmel machte. Erst der Astronom Johann Müller genannt Regiomontan beobachtete mit seinem Schüler Walther den 1472 erschienenen Kometen syste- matisch. Seinem Beispiel folgten in anerkennens- werter Weise andere Astronomen, wodurch in der Folgezeit ein viel sichereres und brauchbareres Beobachtungsmaterial als bisher hinterlassen wurde. Kepler, der zwar noch nicht an die kosmische Natur der Kometen glaubte, nahm 1608 an, daß sie eine geradlinige Bahn durchlaufen, während der Danziger Astronom Joh. Hevel durch die Beobachtungen des Kometen vom Jahre 1664 ver- anlaßt wurde, sich dahin auszusprechen, daß sich alle Kometen in krummlinigen Bahnen bewegen, die von der geraden Linie nur sehr wenig ab- weichen und deren konkave Seite sich gegen die Sonne richtet. Am 4. November 1681 entdeckte Gottfried Kirch in Koburg einen großen Kometen, den auch G. S. Dörffel in Plauen eifrig beobachtete. Dieser machte nun zum erstenmal den Versuch, die Bahn eines Kometen zu bestimmen. Er be- stätigte dadurch die Hevel'sche Idee und ergänzte und erweiterte sie dahin, daß die Bewegungslinie wohl eine Parabel sein möge, in deren Fokus die Sonne stehe. Die Untersuchungen DörfTel's waren nur auf graphischem Wege ausgeführt worden. Bald darauf entwickelte aber J. Newton eine erste Methode einer rechnerischen Bahnbestimmung und erprobte sie auch an dem Kometen des Jahres 1680. E. Halley wendete sie dann auf alle ihm zugänglichen Kometenbeobachtungen an und konnte 1705 bereits 24 Bahnen mitteilen. Ein Vergleich seiner Rechnungen ließ nun die große Ähnlichkeit der Bahnen des von Peter Apian, des 1607 von J. Kepler des 1681 von G. Kirch entdeckten Kometen er kennen, deren Elemente die folgenden waren: ihm 1531 und Periheldurchgang 1531 1607 1682 Neigung der Länge des Länge des Bahn Knoten Perihels I7«56' 49''2S' 301 »39' 17 2 50 21 302 16 17 56 51 16 302 53 Periheldistanz o,S7 o,S9 0,58 Bewegung [ rückläufig Er schloß daraus, daß der Komet in etwa Bahn keine Parabel, sondern eine geschlossene 76 Jahren die Sonne umkreise und daß daher die Ellipse sei. Auch glaubte er, daß der im Jahre N. F. VIII. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschriit. 59 1456 erschienene Komet mit diesem identisch sei, wenn er auch aus Mangel an guten Beobachtungen dafür keine Bahn berechnen koonte. Ja so sehr war sein Vertrauen auf seine Rechnungen, daß er die Wiederkehr des Kometen für das Jahr 17 58, also "jG Jahre später ansagte. Diese erste Vorhersage ging auch wirklich in Erfüllung, wenn er sie auch nicht mehr selbst er- leben sollte, da er bereits 16 Jahre vorher im Jahre 1742 im 87. Lebensjahre sein taten- und er- folgreiches Leben abgeschlossen hatte. Seit dieser Zeit ist der Name Halley's mit diesem Kometen verknüpft. Wie man schon aus der obigen Zusammen- stellung sieht, sind die Perioden der Rückkehr nicht ganz gleich, wodurch die Zeit der Wieder- kehr auch entsprechend unsicher wird. A. Cl. Clairaut unternahm daher neue Untersuchungen, wobei er den Einfluß der Störungen durch Jupiter und Saturn berücksichtigte, aus welchen hervor- ging, daß dadurch eine Verzögerung von 618 Tagen eintrete, weshalb er die Rückkehr des Kometen in sein Perihel auf Mitte April 1759 ansagte, wobei er eine Unsicherheit in der Zeit von einem Monat angab. Der Komet wurde am 25. Dezember 1758 wieder aufgefunden, während er sein Perihel am 13. März 1759 passierte, also 32 Tage früher, als die Rechnungen Clairauts ergeben hatten, wobei aber zu berücksichtigen ist, daß dieser Termin noch innerhalb der Unsicherheitsgrenze der Rechnung liegt. Die Unsicherheit wird noch ver- ständlicher, wenn man bedenkt, daß der Komet jeweilen nur einige Hundert Tage beobachtet werden kann, während die ganze Umlaufszeit 86006 Tage beträgt, so daß dieser F"ehler erst ein Tausendstel der Umlaufszeit ist. Überdies muß man berücksichtigen, daß damals noch nicht die zwei äußersten Planeten, Uranus und Neptun, entdeckt waren. Die nächste Rückkehr zum Perihel hatte G. D. Pontecoulant für den 13. November 1835 be- rechnet, während sie nur drei Tage später, am 16. November eintrat. Bei dieser Berechnung war der Einfluß des 1781 von Herschel entdeckten Uranus schon berücksichtigt worden. Die englischen Astronomen P. H. Co well und A. C. D. Crommelin unternahmen, nun in den letzten Jahren eine neue und genaue Unter- suchung der Bahn des Kometen, wobei sie seinen Laufauch soweit wie möglich rückwärts verfolgten. Schon früher hatte Pontecoulant die Erschei- nungen seit 1531 untersucht und durch die Rechnungen von G. Celoria, der die Beobach- tungen von Toscanelli aus dem Jahre 1456 wiedergefunden hatte, stand fest, daß der Halley- sche Komet auch in diesem Jahre erschienen war. Die weitere Rückwärtsrechnung, die mit großen Schwierigkeiten verknüpft ist, hat nun den beiden genannten englischen Astronomen die Gewißheit gebracht, daß bis zum Jahre 1066 die Erschei- nungen sicher gestellt und daß wohl auch die beiden Kometen vom Jahre 451 und 760 mit ihm identisch sind. Nach ihren weiteren Llntersuchun- gen gehört auch der im Jahre 87 v. Chr. in Italien beobachtete Komet hierher und wahrscheinlich der nach den chinesischen Berichten 240 v. Chr. erschienene Komet, der also noch um zwei weitere Umläufe zurückliegt. Von den dazwischen liegen- den Erscheinungen fehlen bisher die nötigen An- gaben, doch lassen sich wahrscheinlich noch einige weitere namentlich in China beobachtete Kometen identifizieren. Man hat daher die folgenden sicheren Er- scheinungen des Halley 'sehen Kometen : Sonnennähe Umlaufszeit 87 V. Chr. 451 Juli 3. a. St. 760 Juni II. 1066 April I. 1145 April 29. 1222 September 15. 1301 Oktober 22. 1378 November 8. 1456 Juni 8. 1531 August 25. 1607 Oktober 27. n. St. 1682 September 14. 1759 März 12. 1835 November 16. 1910 April 13. Man kann diesen Zahlen entnehmen, daß die Umlaufszeit des Halley'schen Kometen innerhalb mehrerer Jahre hin- und herschwankt und im Mittel etwa 76 '/.j Jahre ist, daß sie aber infolge der Störungen, die der Komet durch die Planeten erfährt, bald längere, bald kürzere Zeit beträgt. Seine Bahn (Fig. i) ist äußerst langgestreckt, wes- halb der Komet im Perihel bis innerhalb der Venus- bahn gelangt, während er im Aphel noch um 767 Millionen Kilometer weiter von der Sonne absteht, als der äußerste Planet Neptun, der in fast 4500 Millionen Kilometer Entfernung von der Sonne seine Bahn hat. Er kann daher sich der Sonne bis auf 102 Millionen Kilometer, gegen 58 des Merkur und 108 der Venus, nähern, während er über 6200 Millionen Kilometer sich wieder ent- fernt. Da seine Bahn aber gegen die Erdbahn um 17^ geneigt ist, so erhebt er sich im Perihel um 27 Millionen Kilometer über (nach der Nord- seite) und im Aphel um 740 Millionen Kilometer unter (nach Süden) der Erdbahn. Es leuchtet aber unmittelbar ein, daß seine Bahn, je nach der Stellung der Planeten mehr oder minder stark verändert werden kann, woher auch die großen Schwankungen der Umlaufszeiten rühren, die ja bei den Planeten so regelmäßig sind. Der Halley'sche Komet ist bei allen seinen Erscheinungen ein prachtvolles Beobachtungs- objekt gewesen, so zeigte er z. B. 1758 einen "]"] Jahre 77-2 „ 76,5 .. 79 Jahre i Monat •]•] „ 4 Monate 79 - I n ., — n n 7 75 -, 2 76 „ 2 74 „ 9 1^ „ 5 76 „ 7 ,. 74 „ 5 6o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 4 Schweif bis 30" Länge. Besonders interessante Wahrnehmungen machte F. W. Bessel 1835. Am 2. Oktober sah er eine fächerförmige Licht- ausströmung in der Richtung gegen die Sonne, die sich in den folgenden Tagen rasch änderte und teilweise eine pendelartige Bewegung annahm, für welche Bessel eine Periode von 2 Tagen 9 Stunden berechnete, während der Schwingungsbogen den dritten Teil des Kreisumfangs umfaßte. Alle diese und ähnliche Beobachtungen von der D. F. A r a g o , J. Herschel u. a. zeigen, daß der Komet in fort- währenden Wandlungen begriffen ist, die auf das Aussehen und unter Umständen auch auf den Lauf des Kometen von Einfluß und Bedeutung sind. Die bevorstehende Rückkehr des Halley 'sehen und daher auch nahe in der gleichen Ebene mit den übrigen Planeten ist. Die mit römischen Ziffern bezeichneten Punkte der Erd- und Venusbahn bezeichnen den Ort dieser Gestirne je am Anfange des betreffen- den Monats. Anfangs März 1910 tritt der Komet in Erdbahnentfernung, die Erde selbst ist aber dann recht weit entfernt. Rasch aber nähern sich beide Gestirne. Am 13. April findet der Periheldurchgang des Kometen statt und im Mai, kurz nachdem er den absteigenden Knoten passiert hat, wird er in Erdnähe stehen, worauf er sich wieder rasch entfernt. Am günstigsten ist wohl die Erscheinung, wenn der Komet sich im Juni und Juli der Erde nähert, da dann die Beobachtung in der Entwick- l'ig. I. Die Bahn des llalley'schen Kometen imPlaneten- system. Flg. 2. Der Lauf des Kometen Halley bei seiner nächsten Wiederkunft. Kometen findet die Astronomen mit neuen Hilfs- mitteln ausgerüstet, nämlich dem Spektroskop und der Photographie. Mit Hilfe der letzteren hofft man auf eine frühzeitige Entdeckung, was für seine Bahnberechnung besonders wichtig ist. Die beistehende Figur 2 gibt nach den Rechnungen von Cowell und Crommelin einen Anhaltspunkt über die zu erwartende Erscheinung, indem der Weg vom I. Januar 1909 bis i. Juli 1911 ange- deutet ist. Während dieser Zeit bleibt der Komet immer ziemlich weit vom Jupiter entfernt, dessen Ort für den i. Januar 1908 und 1909 eingezeichnet ist. Die beiden folgenden Jahre wird er ent- sprechend weiter außerhalb der Bahn stehen. Recht nahe kommt dagegen der Komet dem Mars insbesondere zu Beginn des Jahres 1910, wo er durch seinen aufsteigenden Knoten geht lung seines Schweifes am leichtesten ist. Trifft er die Erdnähe in den folgenden Monaten, so ist die Schweifentwicklung noch nicht so weit vorge- schritten, daß günstige Beobachtungen möglich wären. Aber auch dieses Mal steht der Komet recht günstig. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Komet in der nächsten Zeit mit Hilfe der Photographie gefunden wird, also zu einer Zeit, wo er sich noch in der Nähe der Jupiterbahn be- findet. Er wird dann nur eine unscheinbare runde Nebelmasse ohne Schweif sein, da dieser, falls er schon vorhanden, in entgegengesetzter Richtung von der Erde aus steht. Sein schein- barer Ort war bis im November 19Q8 in den Zwillingen, nördlich vom Orion, von wo er langsam nach Westen weiter rückte. Mit der Annäherung an die Marsbahn wird auch sein F. N. VIII. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 6i Lauf am Himmel schneller. Er bewegt sich durch den Stier bis zu den Fischen in den nächsten beiden Monaten, wo er Mitte April stationär wird und dann im raschen Lauf nach Osten eilt. Zur Zeit seiner größten Erdnähe am lO. Mai 1910 ist seine scheinbare Bewegung so rasch wie die des Mondes, also 15" bis 20" in einem Tage. Zur gleichen Zeit erreicht er seine größte Helligkeit. Je nachdem der Komet früher oder später, als den 13. April, nach den Rechnungen von Cowell und Crommelin, in sein Perihel (Sonnen- nähe) gelangt, ist seine Stellung zur Erde ver- schieden. In diesem Falle ist er im Mai der Erde am nächsten, aber da er dann sehr nahe bei der Sonne steht, kann man ihn dann nur einige Tage vorher, anfangs Mai am Morgen und Ende Mai am Abend sehen. ') Prof. Messerschmitt-München. ') Eine ausführliche Aufsuchungsephemeride des Kometen wurde im Dezember 1908 in den .Astronomischen Nachrichten publiziert. Ked. J. Nusbaum, Beitrag zur Frage über die Abhängigkeit der Regeneration vom Nerven- system bei Nereis diversicolor O. F. Müll. (Arch. f. Entwicklungsmechanik der Organismen Bd. XXV, 1908). — Trotz der zahlreichen Ar- beiten über die Regeneration verschiedener Tiere ist die wichtige Frage, ob die Regenerationsvor- gänge von dem Zentralnervensystem beeinflußt werden, bisher nicht endgültig gelöst. Es liegen zweierlei Ansichten vor : Die einen Forscher (Jost, Rabes, Morgan) haben die Abhängigkeit der Re- generationsprozesse vom Nervensystem konstatiert, die Beobachtungen anderer (Carriere, Barfurth, Loeb) sprechen gegen den Einfluß desselben auf die Regenerationsvorgänge. In der vorliegenden Arbeit sehen wir einen Versuch, diese Frage zu ergründen und gleichzeitig dieselbe theoretisch zu erklären. Die Experimente hat Verf. an Nereis diversicolor und zwar folgendermaßen ausgeführt (Fig. i). Es wurden dem Wurme die letzten Segmente (7 — 15) abgeschnitten und von den übrigen an 4 — 10 Segmenten das Bauchmark aus- geschnitten oder mit einer glühenden Nadel zer- stört. Durch Autotomie warfen die Würmer ein- zelne von den operierten Segmenten ab, es blie- ben aber immer i — 3 Segmente mit zerstörtem Bauchnervenstrang. Die Wundheilung ging ganz normal vonstatten. Bei den auf diese Weise operierten Tieren trat aber eine Verzögerung im Regenerations- prozesse ein , erst in der 6. — 7. Woche konnte man einen kleinen Regenerationskegel konstatieren, während bei den Tieren, denen bloß das Hinter- ende abgeschnitten wurde, schon in der 3. — 4. Woche der Regenerationskegel erschien. Die Ursache dieser Verzögerung zeigt die mikroskopische Untersuchung der operierten Wür- mer; es wird nämlich zwischen dem Prozeß der Wundheilung und der eigentlichen Regeneration des Hinterendes (der Neubildung neuer Segmente) ein ganz besonderer Prozeß eingeschaltet, die Neubildung des Nervensystems in denjenigen Seg- menten , in denen es zerstört wurde. Sagittal- schnitte durch die operierten Tiere zeigen einige Tage nach der Zerstörung des Bauchmarkes (Fig. 2), daß von dem intakt gebliebenen Bauch- marke Nerven gegen das Hinterende des Wurm- körpers wachsen und an denjenigen Stellen, wo die Bündel derselben mit dem Epithel in Berüh- rung kommen eine Proliferation des letzteren be- ginnt, welche die zur Regeneration des Bauch- markes dienenden Zellen liefert. Außer dieser Zellanhäufung am hinteren Ende hat der Verf. an der Grenze zweier Segmente ebenfalls eine Fig. I. Der hintere Körperteil von Nereis diversicolor dem einige Segmente abgeschnitten und in den drei weiteren das Bauchmark zerstört wurde. Vergrößert. (Nach Nusbaum.) Fig. 2. Ein Teil eines Sagittalschnittes durch die V'entralwand einer Nereide einige Zeil nach der Operation. a Analöffnung, d Darmepithel, b Blutgefäße, e Epithel, n Bauchmark. (Nach Nusbaum.) Proliferation des Hauptepithels konstatiert und vermutet daher, daß fast an der ganzen Bauch- fläche, wo das Nervensystem zerstört wurde, seg- mentweise vom Epithel zelliges Material zur Regeneration des Bauchmarkes zugeführt wird. Erst, nachdem der zerstörte Teil des Bauch- markes vollständig regeneriert, beginnt der eigent- liche Regenerationsprozeß, d. h. die Bildung einer Proliferationszone vor dem Analsegment, in wel- cher median die Anlage des Bauchmarkes und lateral die Anlagen für das Cölomgewebe und die longitudinale Muskulatur liegen. Aus obigen Experimenten zieht N. den Schluß, daß die Wundheilung von der Anwesenheit des Nervensystems nicht abhängt, dagegen der Rege- 62 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 4 nerationsprozeß von demselben beeinflußt wird. Für den Einfluß des Nervensystems auf die Re- generation 'spricht die Verzögerung des Regenera- tionsprozesses sowie das stetige Vorausgehen der Reparation des Bauchstranges der Ausbildung des Analsegmentes. Bei der ontogenetischen Ent- wicklung ist dagegen der Einfluß des Nerven- systems von keiner Bedeutung, was aus zahlreichen Versuchen anderer Forscher zu ersehen ist. Diesen Unterschied zwischen dem ontogenetischen und dem Regenerationsprozesse hebt der Verf beson- ders hervor und sucht ihn dadurch zu erklären, daß bei der ontogenetischen Entwicklung die Auslösung von Erbpotenzen vor der Differenzierung des Nervensystems stattfindet und daher von dem- selben nicht beeinflußt werden kann, dagegen bei der Regeneration, wo eine Rückdifferenzierung der sonst passiven und nur ihresgleichen produ- zierenden Elemente stattfindet, „liefert das Nerven- system einen der wichtigsten formativen inneren Reize, welche die Auslösung von Erbtendenzen in den Elementen der Wunde bedingen". Diese Reize werden wahrscheinlich beim Zusammen- treffen der Nervenfasern mit den Elementen der Wunde denselben übermittelt. Während der Re- generationsprozeß durch formative Reize des Zentralnervensystems bedingt ist, genügen zur Heilung der Wunde traumatische Reize, der erstere Prozeß kann daher ohne Nervensystem nicht zu- stande kommen, während der letztere, auch wenn das Nervensystem im betreffenden Segmente zerstört wurde, sich in ganz normaler Weise vollzieht. Karoline Reis. Wetter-Monatsübersicht. Bis gegen Ende des vergangenen Dezember war es in der westlichen Hälfte Deutschlands mild , aber größtenteils T[5mj5eralur-5t&inima oini^si* ürlc im DciombsrlSOS I OBXe.nb.. 8 BwlinerWelferburftau. trübe, während im Osten etwas liälteres und gleichzeitig freundlicheres Wetter vorherrschte. Besonders warm für die Jahreszeit waren die ersten Tage des Monats, in denen, wie aus der beistehenden Zeichnung ersichtlich, sogar die Tem- peraturminima in verschiedenen Gegenden 5 oder mehr Grad über dem Gefrierpunkte lagen. Das wiederholte sich später noch um die Monatsmitte ; an vielen Orten des Rhein- und Wesergebictes ging das Thermometer in der Nacht zum 15. nicht unter 8" herab und stieg an diesem und dem folgenden Tage bis auf 12 oder 13, iu Aachen bis 14° C. In Ostdeutschland sanken die Temperaturen bald nach .Anfang Dezember ziemlich bedeutend, in der Nacht zum 7. zu Osterode bis auf — 10, zu Bromberg bis — 9, zu Posen, Breslau und an anderen Orten bis — S" C, ohne daß der Erdboden durch eine hinreichende Schneedecke vor dem tieleren Eindringen des Frostes geschützt war. Kurz darauf trat hier etwas milderes Wetter ein und hielt auch während der zweiten Hälfte des Monats noch an, nachdem im Westen bereits eine langsame Abkühlung begonnen hatte, die bis fast zum Schlüsse des Jahres mehr und mehr zunahm. Im Osten aber erfolgte mitten wäTirend des Weihnachtsfestes ein schroffer Übergang zu strengerem Froste, der sich am meisten in Westpreußen, Hinterpommern und Posen steigerte. In der klaren Nacht zum 28. brachten es daselbst Marienburg bis auf 31, Graudenz auf 28, Lauenburg auf 25, Bromberg auf 24, Schivelbein auf 23, Konitz und Tremessen auf 21" C Kälte. Auch zu Berlin gehörten der 28., 29. und 30. mit Mittellemperaturen von — 13,4, — 14,7 und — 13. ■" C fast zu den kältesten Dezembertagen, die man nach lang- jährigen Aufzeichnungen hier erwarten kann. Die mittleren Temperaturen des Monats waren demgemäß östlich der Elbe um I bis 1 Va Grad zu niedrig, während sie in Nordwest- und Süddeutscliland ihren normalen Werten nahezu ent- sprachen. Die in unserer zweiten Zeichnung dargestellten Nieder- schläge waren zwar sehr häufig, ihre Mengen aber im allge- meinen gering. .Anfangs fanden an der östlichen Ostseeküste i,r Ü-l .N .Si 3-13^ J =Hl.Ji:Hi>l11|ii1ii ■ 1 1 1 1 ' 1 ! J-Il i 1 i 1 1 LibIIII .1 lll .. 111 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M 1 ~i 1 , n i r (O.bisZO. iJezember. 4: 1 ---1. ■ -I~l 1 I 1 ^1 t |_ 1 -iL EdEEil^l iUl ~l T -■- ■ziliM _ki-iitbt ^ifflcpcr Werl" für DeuFscMand Monatesummc im DezcmD. .07, QB. 05. 01. 03. ßerJire. WtfTtfbureou. zahlreiche Regenfälle statt, die sich allmählich weiter nach Westen und Süden ausbreiteten und im Osten mehr und mehr in Schneefälle übergingen. Zwischen dem 10. und 20. De- zember regnete es am stärksten an der Nordseeküste, am Rhein und in seiner weiteren Umgebung sowie in ganz Süd- deutschland, wo es bis dahin fast völlig trocken geblieben war. N. F. VIII. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 63 Wahrend der nächsten fünf Tage, in manchen Gegenden auch schon früher, higerle über dem Frdboden bestandig ein aufierordcntlich starker Nebel, durch den der Verkehr, be- sonders in West- und Mittcldcutschhind, nicht unerheblich erschwert wurde, doch kamen wesentliche Niederschläge in dieser Zeit nur vereinzelt vor. Dann stellten sich nordöstlich der F.lbe zahlreiche Schneefälle ein, die sicli bis zum Kndc des Monats fast täglich wiederholten und allmählich auf ganz Deutschland ausdehnten. Am stärksten waren sie an der pommerschen und westpreußischen Küste, wo der Schnee zu- letzt durchschnittlich I '/j Dezimeter hoch lag. Die gesamte Xiedersclilagshöhe des Monats aber betrug für den Durcli- schnilt aller berichtenden Stationen nicht mehr als 20, g mm, während die gleichen Stationen im Mittel der früheren De- zembermonale seit beginn des vorigen Jahrzehnts 49,9 mm und im Dezember 1907 sogar 67,6 mm Niederschlag geliefert haben. In der allgemeinen Anordnung des Luftdruclvcs traten von einem Tage zum anderen meistens nur langsame Ände- rungen ein. In den ersten Tagen des Dezember befand sich in Kußland eine umfangreiche Barometerdepression, von der verschiedene Teilminima mit milden, feuchten Südwestwinden nach der Ostseeküste gelangten , während Südwest- und Mitteleuropa von einem Hochdruckgebiet eingenommen wur- den. Nachdem sich dieses am 4. mit einem zweiten , aus Nordwesten neu herangekommenen Ma.ximum vereinigt hatte, wurde es durch mehrere außerordentlich tiefe atlantische Minima, die rasch hintereinander bei Island auftraten und nordostwärts fortzogen, weiter und weiter nach Osten gedrängt. In Ostdeutschland herrschten daher jetzt längere Zeit hindurch ziemlich kalte, trockene südöstliche Winde vor, während im Westen etwas mildere Südwinde wehten. Erst am 20. Dezember vermochte das barometrische Ma.\imum, das inzwischen in Rußland an Umfang und Höhe noch zugenommen hatte, sein Gebiet wieder auf den größten Teil des europäisciien Festlandes auszudehnen. Bald darauf zerfiel es in mehrere Teile, von denen sich der eine nord- westwärts verschob, und am 25. Dezember abermals mit einem neuen Barometermaximum in Verbindung trat, das vom nördlichen Eismeer nach Nordskandinavien vorrückte. Dort erreichte das Maximum in den nächsten Tagen 785 mm Höhe und die von ihm ausgehenden eisig kalten, scharfen Nordostwinde führten in beinahe ganz Nord- und Mitteleuropa außerordentlich strenge Kälte lierbei. Auf den britischen Inseln aber und im westlichen Mittelmeergebiete hielten sich gegen Ende des Monats ziemlich tiefe Depressionen auf, die dort lange anhaltende starke Niederschläge verbreiteten und von denen auch einzelne , jedoch sehr flache Teilminima auf das Festland gelangten. Dr. E. Leß. Bücherbesprechungen. Alois Sigmund, Die Minerale Niederöster- reichs. 194 Seiten mit 8 Original-Abbildungen und 3 Profilen nach Grubenkarten im Texte. Wien und Leipzig, Fr. Deuticke. 1909. — Preis 6 Mk. In dem eingehenden Werke wird das Vorkommen von 1 1 2 verschiedenen aus Niederösterreich bislang bekannt gewordenen Mineralien beschrieben ; eine Auf- zählung der zu diesem Zwecke durchgesehenen Mine- raliensammlungen und ein ausführliches Literatur- verzeichnis ist der Arbeit vorangeschickt. Die Mine- ralien werden, nach chemischem Grundsatz geordnet, eins nach dem andern behandelt. Diese Art der An- einanderreihung von Wichtigem und weniger Wichtigem besitzt leider den Nachteil einer etwas geringen Über- sichtlichkeit ; man erhält nur schwer ein anschauliches Bild über die ganze Mineralverteilung im Lande; die Einleitung des Buches genügt hierfür nicht. Wenn man auch die Bedeutung gewisser Örtlichkeiten als Mineralfundpunkte aus der Ausführlichkeit, mit der sie behandelt sind, oder aus der Häufigkeit, mit der einige von ihnen bei den einzelnen Mineralien wieder- kehren, abnehmen kann, so würde doch ein Kapitel, in dem die wichtigen und klassischen Fundpunkte und zusammengehörige Gebiete in scharfumrissenen Zügen ihrer Bedeutung entsi>rechend herausgehoben sind, für den Leser außerordentlich anregend wirken. Etwas wird dieser Nachteil durch eine Aufzählung aller in Betracht kommenden ( )rtlichkeiten mit je- weiliger Angabe aller dort gefundenen Mineralspezies ausgeglichen. Im übrigen bietet aber das Werk eine Fülle wert- vollen Materials; eine solche Inventuraufnahme ist gleich wichtig für den Mineralogen und den Sammler, wie für den Techniker und Industriellen, der Aus- kunft über das .auftreten dieses oder jenes Stoftes im Lande wünscht, wie endlich für den, der auf einer Studienreise begriffen, die wichtigsten Fundstellen be- suchen will : aber gerade für diesen letzteren dürfte oben genannter Nachteil fühlbar werden. Der \Vert der vorliegenden Arbeit wird dadurch erhöht, daß der Verfasser sich nicht auf die Mine- ralien als solche beschränkt, sondern sie auch in ihrer Verbreitung als Gesteine, wie Kalk, Dolomit, Marmor, Gips, Magnesit, Kaolin, Kohle, Torf usw. bespricht. Bei den technisch wichtigen IMineralien wird auch ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Geschichte des örtlichen Bergbaus in kurzen Zügen behandelt, wodurch der Bergmann mancherlei Aufschluß über noch vorhandene und früher nicht abgebaute Erze erhalten wird. Namentlich dem Gold, Silber, Blei, Eisen wird ein breiterer Raum gewährt. Die letzten Kapitel über die Silikate, bei denen gleichzeitig auf die Gesteine, in denen sie aufsetzen, übergegriffen wird, werden weniger für den Praktiker als den wissen- schaftlichen Mineralogen von Wert sein. O. Schneider. i) Pahde- Lindemann, Leitfaden der Erd- kunde für höhere Lehranstalten. 6 Hefte kart., ä 60 Pf Berlin und Glogau, C. Flemming, 1907. 2) Dr. M. Geistbeck, Leitfaden der mathe- matischen und ph\sikalischen Geogra- phie. 30. u. 31. Auflage. 1S6 Seiten mit 116 Abb. Freiburg i. B., Herder, 190S. — Preis geb. 2 Mk. 1) Der Leitfaden von Pahde-Lindemann ist eine von Dr. Lindemann besorgte, verkürzte Ausgabe des größeren Lehrbuchs von Prof Dr. Pahde, das bereits in zweiter Auflage vorliegt und viel Anerkennung gefunden hat. Die Gliederung des Leitfadens in ein- zelne Klassenhefte ist ein dankenswertes Entgegen- kommen gegenüber dem Wunsche nach Erleichterung der Schulmappe. Auch mit Rücksicht auf das „Zer- lernen" der Schulbücher im Laufe des Schuljahrs ver- dient diese Trennung Nachahmung. Die Darstellung ist schlicht und klar, die Stoffauswahl wohlgelungen. Besonders gut gefällt uns die im vierten und fünften Heft an der Hand einiger lehrreicher Profile durch- geführte Berücksichtigung der Geologie. Auch die astronomischen und meteorologischen Teile des fünf- 64 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 4 teil Heftes zeichnen sich durch sehr sachgemäße, klare Darstellung und saubere, instruktive Figuren aus. Das sechste Heft ist eine sehr schön gedruckte Zusammenstellung verkleinerter Abbildungen der be- kannten Hölzel'schen geographischen Charakterbilder, die wohl zu den beliebtesten Anschauungsmitteln jeder Schule gehören. Hiermit wird dem Schüler zu einem recht niedrigen Preise eine ihm sicherlich viel Freude gewährende und förderliche Gabe angeboten. 2) Wenn es ein Werk bis zur 31. Auflage (aller- dings wohl meist doppelt zählende) gebracht hat, so bedarf es kaum noch einer Empfehlung. Es genüge daher die Angabe, daß wir bei aufmerksamer Durch- sicht nirgends auf veraltete Angaben gestoßen sind. Die Figuren 20 und 21, welche irreale Stellungen der Erdachse veranschaulichen sollen, halten wir für entbehrlich, sie können in flüchtigen Schülern sogar falsche Begriffe erwecken. Dagegen scheint uns eine Besprechung der Methoden zur Bestimmung der Sonnenentfernung recht wünschenswert. Bei den neuen Sternen sollte als Beispiel lieber die Nova Persei von igoi genannt werden. Unter den Doppel- sternen sollten auch die durch Spektralanalyse als solche erkannten Erwähnung finden. Im recht reich- haltigen Literaturanhang verdiente unter A I auch Newcomb's „Astronomie für jedermann" (Jena, G. Fischer) Erwähnung , unter B III Koerber's Trans- formator für sphärische Koordinaten (Berlin, D. Reimer) und Schmidt's Sonnenzeiger (Wien, Freytag u. Berndt). Prof. Dr. R. Fitzner, Die Regenverteilung in den deutschen Kolonien. 115 Seiten. Berlin, H. Paetel, 1907. — Preis 4 Mk. Für den wirtschaftlichen Wert unserer Kolonial- gebiete ist die Regenmenge an erster Stelle maßgebend. Demgemäß sind in allen Kolonien eine größere An- zahl von Regenstationen eingerichtet worden, die zum Teil unter dankenswerter Unterstützung seitens der Farmer arbeiten und bereits einen Überblick gewinnen lassen. Die erste Zusammenstellung der Ergebnisse dieser Messungen wird daher in Kolonialkreisen ebenso interessieren, wie in dem der Fachmeteorologen. Wir heben hier einige besonders markante Zahlen heraus: In Kamerun schwankt die jährliche Regen- höhe von 3 m (Küste) bis 10 m (Debundscha), in Togo von 0,6 m (Lome) bis 1,6 m 1 Amedschowe). Für Südwestafrika konnte bereits eine Regenkarte entworfen werden , die Seite 40 wiedergegeben ist, einen Küstenstreifen mit unter 100 mm jährlicher Regenhöhe zeigt, nach dem Inneren zu eine allmäh- liche Steigerung erkennen läßt , die jedoch im Süd- osten des Gebietes (Warmbad) nicht über 200 mm hinausgeht, während sie im Nordosten (Grootfontein) 500 mm überschreitet. Auch für Deutsch Ostafrika finden wir Seite 72 eine Regenkarte. Hier liegt das trockenste Gebiet (unter 750 mm) im Binnenlande, südöstlich vom Viktoria Nyansa , während an der Küste Regenhohen von 800 (im Süden) bis 1400 mm (im Norden) beobachtet wurden. Im Kilimandjaro- gebiet finden wir ca. 1500 mm, '^an einzelnen Punkten der Kolonie aber (z. B. in Herkiüu und Rutenganio) 2 bis 3 Meter. In Neu-Guinea und den ozeanischen Kolonien sind die Regenhöhen naturgemäß wieder wesentlich höher. In Tsingtau fallen jährlich 600 bis 700 mm Regen, also etwa ebensoviel wie in Deutschland. Hinsichtlich jahreszeitlicher Verschieden- heiten müssen wir auf die Schrift selbst verweisen. Kbr. Literatur. Lassar-Cohn, Prof. Dr.: Die Chemie im täglichen Leben. Gemeinverständliche Vorträge. 6. verb. Aufl. (VIII, 344 S. m. 24 Abbüdgn ) S". Hamburg '08, L. Voß. — Geb. in Leinw. 4 Mk. Nielsen, Doz. Dr. Niels: Lehrbuch der unendlichen Reihen. Vorlesungen , geh. an der Universität Kopenhagen. (VIII, 287 S.) Lex. 8°. Leipzig '09, B. G. Teubner. — 11 Mk., geb. 12 Mk. Schenck, Prof. Dr. Rud.: Physikalische Chemie der Metalle. 0 Vorträge üb. die wissenschaftl. Grundlagen d. Metallurgie. (V, 193 S. m. 114 Abbildgn.) Lex. 8". Halle '09, W. ivnapp. — 7 Mk., geb. in Leinw. 7,75 Mk. Schneider, Prof Dr. Karl Camillo : Histologisches Praktikum der Tiere f. Studenten u. Forscher. (IX, 615 S. m. 434 Abbildgn.) Lex. 8«. Jena '08, G. Fischer. — 15 Mk., geb. ib Mk. Strasburger, Prof. Dr. F.duard : Das kleine botanische Prak- tikum {. Anfänger. Anleitung zum Selbststudium der mikro- skopischen Botanik u. Einführg. in die mikroskop. Technik. 6. umgearb. Aufl. (VIII, 258 S. m. 128 Holzschn.) Le.K. 8». Jena '08, G. Fischer. — 6 Mk., geb. 7 Mk. Thonner, Frz.: Die Blütenpflanzen Afrikas. Eine Anleitung /um Bestimmen der Gattungen der afrikan. Siphonogamen. (XVI, 673 S. m. I Karte u. 150 Taf) Lex. 8». Berlin '08, R. Friedländer & Sohn. — 10 Mk., geb. in Halbfrz. 12 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn Dr. G. A. in Greifswald. — Über die Technik des Torfschlämmens linden Sie eine gute Zusammen- stellung in Keil hack, Praktische Geologie, 2. Auflage. Eine durch Abbildungen unterstützte Anleitung zum Bestimmen der Pflanzenteile (namentlich Früchte usw., überhaupt Phanero- gamenreste) gibt : I. Andersso n, Studier öfver Finlands Torf- mossar (mit 4 Tafeln) ; Helsingfors 1S98 (leider schAvedisch ge- schrieben, mit kurzem deutschen Auszug); ferner 2. M üll er , G. und Webe r, C. A., Über eine frühdiluviale und vorglaziale Flora bei Lüneburg. Abhandl. k. Pr. Geol. Landesanst. 1904 (mit Tafeln). 3. Keid, Cl,, and M. Reid; The fossil Flora of Tegelen-sur-Meuse, near Venloo , in the Provinz of Limburg (mit 3 Tafeln). Verh.andelingen der kon. Akad. van Weten- schappen te Amsterdam. II. Sektion. Amsterdam , September 1907. 4. Reid, Cl., and M. Reid, On the preglacial Flora of Britain. Linnean Society's Journal, Botany, vol. XXXVIII. igoS (^mit 5 Tafeln). Es ist aber dringend zu raten, die Be- stimmungen nicht nur auf .\bbildungen zu gründen, sondern unter allen Umständen rezentes Vcrgleichsmaterial zu Rate zu ziehen. Eine diesbezügliche Sammlung legt man am besten selbst an, da erfahrungsgemäß in den meisten Herbarien der Museen und Institute Samen und Früchte der Pflanzen ent- weder fehlen oder, in unreifem Zustand gesammelt, als Ver- gleichsmaterial nicht brauchbar sind. Dr. J. Stoller. Inhalt: Dr. Ernst Schultze: Vogelschutz in den Vereinigten Staaten. — Sammelreferate und tjbersichten : Dr. Hugo Fischer: Neues aus der Bakteriologie. -- Kleinere Mitteilungen: Prof. Messerschmitt: Die Wiederkehr des Halley'schen Kometen. — J. Nusbaum: Beitrag zur Frage über die Abhängigkeit der Regeneration vom Nervensystem bei Nereis diversieolor. — Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: Alois .Sigmund: Die Minerale Niederösterreichs. — i) Pahd e-Lind emann: Leitfaden der Erdkunde. 2) Dr. M. Geistbeck: Leitfaden der mathematischen und physikalischen Geographie. — Prof. Dr. R. Fitz n er: Die Regenverteilung in den deutschen Ko- lonien. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-VVest b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.j, Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue folge VIII. Band ; der ganzen Keihe XXIV. Band. Sonntag, den 31. Januar 1909. Nummer 5. Die Nutzpflanzen unter den Flechten. [Nachdruck verholen.] Von Prof. Dr. Victor Schiffner, Wien. (Mit 25 Figuren.) Die unscheinbaren Flechten werden von den letztere zu entfernen wird die Flechte in reinem Laien gewöhnlich nur wenig beachtet und ge- Wasser mazeriert, dann getrocknet und gemahlen, meiniglich für ein recht unnützes Produkt der Das Mehl wird abermals gewässert, um die Bitter- schafifenden Natur angesehen, und doch finden keit ganz zu benehmen, und dann zu Brot ver- sieh unter ihnen eine Menge von recht nützlichen backen oder zu einem Gelee in süßer oder saurer Pflanzen, die sich der Mensch zu seinen Zwecken Milch zubereitet. Nach Thenard hat dieses dienstbar gemacht hat, aber freilich sind die Mehl halb soviel Nährwert als Weizenmehl, mannigfachen Nutzanwendungen der Flechten Daß diese Hechte dem Menschen durch nicht so allgemein verbreitet, und so allgemein längere Zeit ausschließlich als Nahrung zu dienen bekannt, wie die der meisten Nähr- und Nutz- vermag, ist durch die Tatsache erhärtet, daß John pflanzen unter den höheren Gewächsen, und ich Franklin und die Teilnehmer an seiner Nord- glaubte daher, daß es vielleicht nicht ohne Inter- polexpedition im Jahre 1821 wochenlang aus- esse wäre, diesen Gegenstand in Kürze zusammen- schließlich von dieser Flechte lebten, zufassen und über die Nutzpflanzen unter den In gleicher Weise wird gelegentlich das Flechten zu berichten. ,, Renntier Moos" {Cladonia rangiferina] verwendet Die Nutzanwendungen der Flechten lassen sich (Fig. 3, 4), welches eine ähnliche Verbreitung hat, in drei Kategorien scheiden und möge nach wie Cetraria islaudica. Im nördlichen Finnland diesem Gesichtspunkte der reiche Stoff, den ich hat man diese Flechte in Zeiten der Not, gemi.>cht hier zu behandeln habe, eingeteilt werden : mit etwas Roggenmehl, zu Brot verbacken und I. Die Flechten als Nährpflanzen für den nach Bosc gibt sie mit Milch ein nahrhaftes Menschen und die Nutztiere. 2. Die Flechten als Heilmittel. 3. Die F"lechten in ihrer Verwendung zu tech- nischen Zwecken (vorzüglich zur Erzeugung von Alkohol und Farbstoffen). I. Die Flechten als Nährpflanzen für den Menschen und die Nutztiere. Gelee. Ebenso könnten Evernicn und Sticta piilino- naria verwendet werden, letztere ist aber sehr bitter durch das in ihr enthaltene Stictin; welches extrahiert werden muß. Gyrophora proboscidea (Fig. 10, 11) und G. cylindrica {F"ig. 5, 6) werden von den Pelzjägern im arktischen Amerika als Nahrungsmittel ver- wendet und erstere, sowie Gyr. erosa werden in Die Verwendbarkeit gewisser Flechten als Kanada gegessen und heißen dort „tripe de röche" Nahrungsmittel beruht auf ihrem größeren oder (nach Lindsay). geringeren Gehalt an Lichenin und Isolichenin In Japan und China spielt Gyrophora esciilenta (Flechienstärkej. Dieser Stoff ist freilich in den Miyoshi (Flg. 7, 8) eine bedeutende Rolle; sie Flechten stets gepaart mit Bitterstoffen (Cetrar- soll sehr wohlschmeckend sein und gilt als säure u. a), welche die Flechten für den Menschen Delikatesse; sie wird in Wasser aufgekocht und als Nahrungsmittel problematisch machen würden, meistens mit Shoju (d. i eine Sauce aus den wenn sie sich nicht auslaugen und durch reich- Bohnen von Soja hispidd) gegessen. Sie wächst liches Auswaschen bis zu einem hohen Grade in den Gebirgen Japans an feuchten Granitwänden entfernen ließen. und wird von Krämern überall feilgehalten, auch Besonders in Zeiten der Not und in den von bildet sie einen bedeutenden Exportartikel. Im der Natur spärlich bedachten arktischen Ländern Japanischen heißt sie ,,Iwatake". und in den Wüsten sind Flechten als Nahrungs- In Japan wird noch eine andere Flechte ge- mittel verwendet worden. gessen : Alectoria sulcata (Lev.) Nyl., die dort In dieser Beziehung kommen besonders folgende ,,Bandai-no-kinori" heißt (Fig. 9). Sie soll nach Arten in Betracht. Miyoshi sehr wohlschmeckend sein. Cetraria islandica („Isländisches Moos") ist F'ür die Wüsten Vorderasiens und Afrikas ist nicht nur in Island und dem arktischen Gebiete von Bedeutung als Nahrungsmittel die merk- rings um den Pol, sondern durch ganz Mittel- und würdige Krustenflechte Lecaiiora [Spaerotkid/ia) Südeuropa verbreitet und bildet auf sandigen csculenta Evers., die überdies auch in den Wüsten Böden oft Massenvegetation (Fig. I, 2). Nach Amerikas vorkommt und auch als Seltenheit auf Berzeli US enthält sie 44% Lichenin, i "/^ Liehe- europäischem Boden (in Giechenland) gefunden nostearin und daneben bittere Cetrarsäure. Um wurde. Die dicke hellbraune Kruste wächst auf 66 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 5 Felsen, wird aber vom Winde abgebröckelt und in der Wüste hin und her gerollt, wodurch sie zu ringsum gleich ausgebildeten, etwa erbsen- großen Körnern auswächst, die oft in erheblicher Masse in Mulden und Tälchen zusammengeweht werden (Fig. 12). Es ist kein Zweifel, daß diese Flechte das im alten Testament erwähnte „Manna" sei, von dem die Juden in der Wüste lebten. Daß die Körner dieser Flechte von den Wüsten- stürmen weit verweht werden und stellenweise als „Mannaregen" niederfallen, ist vielfach beob- achtet (durch Parrot 1826, 1845 im Distrikt Jenischehir usw.). Nach einer Analyse von Goebel enthält die F"lechte 65.91 "/„ Kalkoxalat, 23 "/o Lichenin, 2,5"/,, Inulin, sie ist also viel weniger nahrhaft als Cetraria islandica. Die Tartaren bereiten daraus eine Art Brot. Nahe verwandte eßbare Arten, vielleicht von L. esat- Iciita nicht spezifisch verschieden, sind: Lecanora desertornui Kremi^elh., L. affiiiis und L.friiticubsa. Schließlich sei noch darauf verwiesen, daß Forskäl berichtet, daß aus dem griechischen Archipel ganze Schiffsladungen der auch bei uns an Räumen gemeinen Evernia prunastri nach Ägypten eingeführt werden, wo sie vermählen und dem Mehl zugesetzt wird, um das Brot nach dortiger Ansicht wohlschmeckender zu machen. Fast noch wichtiger für gewisse Gegenden sind die Flechten als Nahrungsmittel für die dem Menschen unentbehrlichen Nutziiere, wodurch diese Länderstrecken für den Menschen überhaupt bewohnbar gemacht werden. Dies gilt besonders von den Polargegenden, wo eine Flechte : Cladonia raiigifcrina (das „Renntiermoos") (Fig. 3, 4), nahezu die ausschließliche Nahrung des Renntieres bildet, welches dem Bewohner dieser armseligen Gegenden nicht nur unentbehrliches Zugtier ist, sondern ihn auch mit allem zu seinem Leben notwendigen, mit Nahrung, Kleidung, und mit Knochen und Gehörn zu seinen Gerätschaften versorgt. Die Wichtigkeit dieser Flechte kann nicht besser charakterisiert werden als durch folgenden Ausspruch Linne's, des großen Refor- mators der deskriptiven Naturwi.ssenschaften, in seiner Flora suecica: „Huic licheni innititur oecono- mia et salus totius Lapponiae, hoc enim hyeme toto sustentantur rangiferi, Lapponum pecora; Lap- pones enim pastores sine Haccho et Cerere viventes" (Auf dieser Flechte beruht die Volkswirtschaft und Volkswohlfahrt von ganz Lappland, mit ihr werden während des Winters die Renntiere, d. i. der Viehstand der Lappländer unterhalten; die Lappländer sind nämlich ein Hirtenvolk ohne Wein- und Ackerbau). Außerhalb der arktischen Zone ist diese Flechte als Viehfutter freilich von geringerer Bedeutung; in Norwegen und Jütland wird sie als Winterfütterung für Schafe und in Krain für Schweine, Pferde und Ochsen verwendet. Schulrat Steiner teilt mir mit, daß im Vintsch- gau Usnca barbata als Notfutter für das Klein- vieh eingesammelt wird und dann unter den „Schab" (Laubholzzweige) gemischt wird. II. Die Flechten als Heilmittel. Eine tatsächliche Heilwirkung dürfte nur der bereits erwähnten Cetraria islandica (Fig. i, 2) zukommen, welche noch gegenwärtig gegen Er- krankungen der Respirationsorgane als Tee an- gewendet wird und wegen ihres Bitterstoffes wohl auch gleichzeitig appetitanregend wirkt. ') Ihre medizinischen Eigenschaften waren zuerst den Bewohnern Islands bekannt. 1670 berichtet Olaus Borrichius (Ole Borrich) über die- selbe in der Schrift: De musco cathartico Islandiae in Acta Havniensia und 1672 Breyne unter dem Namen : Muscus Eryngii folio im III. Bande der Miscellanea naturae curiosorum. Definitiv wurde sie erst in den Arzneischatz aufgenommen über Empfehlung von Linne (1737) und Scopoli (1700). — Die Drogue kommt nicht aus Island in den Handel, sondern vorzüglich aus Schweden, der Schweiz (Kanton Luzern), Spanien, Deutschland (besonders Fichtel- und Riesengebirge). In- vorlinneischen Zeiten waren mehrere Flechten (zumeist „per signaturam", d. h. wegen äußerer Ähnlichkeiten) offizineil, so : Sticta pitlmo- naria seit Beginn des 16. Jahrhunderts gegen Lungenkrankheiten (Caesal pi n , Boer haveusw.), Xaiithoria parietiiia gegen Gelbsucht, '-') Usiiea barbata (als Muscus s. ajga arborum) auch als Haarwuchsmittel und anderweitig (nach Theo- phrast, Üioscorides, Plinius, Avicenna u. a.), Cladonia pyxidata gegen Keuchhusten. 1697 kam in England der Pulvis antilyssns (ein Heilmittel gegen Hundswut) durch Dampier auf, welcher aus Pcltiger a canina (daher der Name) und gleichen Teilen schwarzen Pfeffers bestand. Auch Pcltigera aphthosa wurde als Heilmittel (besonders als Anthelminthicum) angewendet. Eines großen Rufes gegen Epilepsie erfreute sich die Tolcnkopfsflechte, welche einst mit horrenden Preisen bezahlt wurde. Es ist die ge- meine Parnielia saxatilis, welche gelegentlich auf alten Menschenschädeln wuchs. Pcrtusaria amara (Fig. 19) wurde während der napoleonischen Kontinentalsperre als Ersatz für die Chinarinde empfohlen. Ctilorea vulpina (Fig. 20) wird mit zerstoßenem Glas von den norwegischen Bauern als Gift gegen Füchse verwendet, ob das Glas oder die Flechte verderblich auf die Füchse wirken, ist nicht sicher; für Hunde soll sie giftig sein. Von den Alpenbewohnern wird in manchen Gegenden Thamnolia vermiciilaris als Mittel gegen die Lungenseuche der Schweine angewendet (nach persönlicher Mitteilung des Herrn Schulrates Steiner). III. Technische Verwertung der Flechten. Es mögen hier vorweg die Nutzanwendungen verschiedener Flechten genannt werden, welche von minderem Belang sind. '1 Ehedem wurde sie auch gegen Wechselfieber ange- vendct (Müller und Cazin). -) Auch als Fiebermittel und Adstringens. F. N. VIII. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 67 Linne erzählt, daß die Kauern in Smaland (Schweden) Hellen eandelariiis (Xanthoria Can delarid) gepulvert zu Talglichtern mischen, um sie gelb zu färben und sie den an Festtagen ver- wendeten Wachskerzen ähnlich zu machen. Nach Gmelin (Sibir. Reise III, p. 426) wird in Sibirien in einem Kloster Stieta pulnionaria statt des Hopfens zum Hierbrauen verwendet. Es finden sich Angaben, daß dieselbe Flechte ge- legentlich auch zum Gerben Verwendung fand. findet in der Parfumerie vielfach Anwendung, da sie (jerüche aufsaugt und festhält. Weitaus wichtiger als die genannten, nur ge- legentlichen Verwendungen ist die F~abrikation von .Alkohol aus Flechten. Es wird zu diesem Zwecke besonders Cladonia nrngi/'eriiia [V\g. 3, 4), minder häufig auch Cetraria islaiidica (Fig. i, 2) verwendet. Das Verfahren dieser Alkoholgewinnung wurde etwa 1826 in Frankreich von Roy entdeckt, aber Nutzbare Flechten I. ( i'hotograpliie von J. Brunnthaler. ) Fig. I. Cetraria islanitica, steril (aus Böhmen). — 2. ('. islaiidica var. plafi/loha, mit Apothecien (Böhmerwald). — 3. Cladonia rangiferinu var. spongiosa Mort., ist eine auf der Tundra häufige Form |^j illand, Igt. Mortensenl. — 4. Cladonia rantjif-rina t. vulgaris, mit .Apothecien. — 5. Gyro/ihora cißindrica, mit .Apoth. | Böhmen). — 6. Dieselbe, von der Unterseite. — 7. Gi/ropliora esculenia, IJberseite (Japan, Orig.-lix. von Miyoshi). — 8. Dieselbe, Unterseite. — g. Alectoria sutcata (Japan, Niklung ist mit Alkalien violett, mit Säuren schön rot. 2. Das Cudbear (so in England genannt) oder der Persio (in Deutschland) ist ein rot- violettes Pulver, bestehend aus der getrockneten und zerriebenen Orseille. Dieser Stoff wird auch ,, roter Indigo" genannt und besonders in Kanada, England und Schottland erzeugt. Der Orseilleextrakt kommt in verschie- denen Formen in den Handel als: ,, einfach". Nutzbare Flechten II. (Photographie von J. B r u n n t h al e r.) Fig. 14. Roccella phj/copsis, mit Soredien (Nrapel, Camaldoli). — 15- ß- phycopsis, mit Sor.dien (Madeira, Igt. J. Born- müller). — i6. Ä. .Vuntiigiiei (hus M.idajjaskarJ. — 17. Ochrulechia tartarea, mit Apothecien (^Schweden, Öt', Risinge). — 18. 0. tartarea, sterile Krusie (Schweden, Södermanland). — 19. Pertusaria amara (Aus Korfu). — 20. C'hlorea vvlpina, mit Apoihec. (Tirol, Windisch -Matrei). — 21. Iloccella hypomecha (Teneriff--, Igt. Hory). — 22. R. ßicifurmis (Ma.li-iia. Igt. J. Born- müller). — 23. DenJrographa leucophaea, mit Apoihec (Kalifornien, Igt. H. \V i 1 1 e y). — 24. Perittsaria tlealhala var. laevigata (Bei Heidelberg, Igt. Zwackh). — 25. l'mbilicaria pustulata, mit Apothec. (.•\us Nied. -Österreich). Weise. ') Die Flechten werden gekocht unter Zusatz von 2 — 3 kg Kalk auf 100 kg Flechten. Der Saft wird etwas eingedickt, die Flechten- masse gereinigt und in 3 m langen Kesseln (die man ,,barques" nennt) mit einem Teile des Saftes und .Ammoniak (oder Gaswasser) täglich 3 — 4 mal umgerührt, indem man die Temperatur auf 25 — 30" C erhält, nach 2 — 3 Monaten ist das Produkt fertig. Dieses ist eine teigige Masse von dunkelrotvioletter Farbe, die unter dem Mikroskop ') Verfahren der Fabrik Lucien, Picard & Co. ,, doppelt", „konzentriert", und als ,,Orseille- karmin". Er wird aus dem ausgekochten Safte der H'lechten (siehe bei Orseille) bereitet durch Zusatz von Ammoniak und unter Durchlüftung unter einer konstanten Temperatur von 25 — 30" C. 4. Der französische Purpur (pourpre frangaise, pourpre de Guinon) ist eine sehr schöne rotviolette Farbe, deren komplizierte Herstellung Persoz ausführlich mitteilt. Es ist im wesentlichen eine ammoniakalische Orzein- lösung, gefällt mit Chlorkalcium. 5. Der Lackmus ist eine holländische Er- 70 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 5 findung; er wird aus RocccUa oder Ochrolechia tartarea (Fig. 17, 18) hergestellt, ähnlich wie die Orseille, aber durch sehr lange Gärung unter Anwendung von Kalk oder Pottasche u. Ammoniak. Es ist im freien Zustande rot, seine Salze sind blau. Mit Gips oder Kreide gemischt, kommt er in Stücken oder Täfelchen in den Handel, wird aber nur mehr als Reagens, zum Färben der Wäsche und des Weines verwendet. Er wird in Holland, Frankreich und einigen Orten West- deutschlands hergotellt. Die ,,Parelle" ist eine Orseille aus Ochro- lechia parella, die nicht mehr in den Handel kommt. Obwohl man schon lange praktische Methoden zur Bereitung der Farbstoffe kannte, war über deren Entstehung wi>senschaftlich nichts be- kannt; man wußte nur, daß die F'lechten selbst keinen gefärbten Stoff enthalten, sondern daß dieser erst durch gewisse Behandlung derselben entstehe. Angebahnt wurde die wissenschaftliche Er- kenntnis dieser Vorgänge durch die Entdeckung, daß die Orseille durch Umwandlung bestimmter in der Flechte enthaltenen Stoffe entstanden sei, die auch isoliert wurden, wobei aber leider wenig Rücksicht genommen wurde auf sichere Bestimmung des untersuchten Materiales, wodurch diese Re- sultate nahezu wertlos wurden. Rob'iquet entdeckte 1829 das Orcin in Pertiisaria dcalbata, welches sich unter Einfluß von Licht, Wasser und Ammoniak in Orseille umwandelt. 1830 entdeckte Heeren andere chromogene Substanzen: das Erythrin, Pseudo- erythrin und die Roccellsäure. Schunck entdeckt 1847 die Lecanorsäure (C"'H'''0') und nennt das Erythrin passender: Erylhrinsäure (C' H'-O'") ') Wir wissen jetzt, daß die in den Färbeflechten, verschiedene Flechtensäuren enthalten: Erylhrinsäure, Lecanors., Parells., Roccells. usw., die farblos und meist Körper aus der Benzolreihe sind. -; Durch Alkalien werden sie gespalten in Kohlensäure und Orcin (C'H^O^), einen farblosen, in Wasser löblichen Körper, welcher mit Sauerstoff und Ammoniak das Orcein (C'H'NO'') gibt, einen braunen, amorphen Körper, in Alkalien und Alkohol lös- lich und violett werdend. Das Orcein ist der wesentliche Bestandteil der Orseille, das nahe verwandte braunrote Azolitmin (C'H'NO') ist der wesentliche Bestandteil des Lackmus. Über den wichtigen Prozeß der Entstehung des Orcei'ns (resp. der Orseille) sind drei ver- schiedene .Ansichten aufgetaucht. I. Amoreux (1787), Robiquet (1829) erblicken darin einen rein chemischen Prozeß. Das Orcin soll ') Eine Methode zur Herstellung reinen Erythrins gibt Ronceray, Contrih. ä l'etude des Lichens a Orseille. 1904. ^) Nach Ronceray (1. c. 1904) sind die i'lechtensäurcn Ausscheidungsprodukte des Flechtenpilzes; sie finden sich aus- kristallisiert äußerlich an den Hyphen. unter Einwirkung von Luft, Wasser und Ammoniak ohne jedwede Fermentation Orcein geben. 2. Nach Czapek, Über Orseillegärung (in Centn f Bakter. 1898) geschieht dies nur unter Einwirkung eines Mikroben (eines Bacillus, ähnlich dem B. subtilis), der von ihm auch rein gezüchtet wurde. Derselbe entstammt dem zur Bereitung verwen- deten faulen Urin.') 3. Ronceray (1. c. 1904) betont, daß Czapek dabei das in den Flechten enthaltene freie Orcin nicht berücksichtigt habe und daß Cz. selbst an- gibt, daß mit Chlorofoi mzusatz dennoch eine Violettfärbung (wenn auch verlangsamt) eintritt. Ronceray weist nach, daß bei der Orseille- bildung eine Mikrobe nicht unbedingt mittätig sein müsse, daß aber dieselbe auch sicher nicht ein rein chemischer Prozeß sei, sondern auf der Wirkung einer in der Flechte enthaltenen Diastase beruhe. Solches wurde schon früher von Du- claux vermutet (Traite de microbiologie 1901). Handelssorten. Orseille nennt man nicht nur den F'arbstoff, sondern im Handel wird auch das Rohprodukt, die Farbstoff liefernden Flechten selbst, mit diesem Namen bezeichnet. Seit langer Zeit unterscheidet man im Handel zwei Hauptsorten von Flechtenwaare : Die eine ist die Orseille de terra (oder Or. de monta- gne), durchwegs dorsiventral gebaute Flechten, zumeist Krustenfiechten. Pertiisaria dcalbata Nyl. var. variolaria liefert die ,,Ors. der Pyrenaeen, Alpen und Sevennen" '-) (vgl. Fig 24). Lccauora (Ochrolechia) tartarea Ach. (Fig. 17, 18) wird in Schweden (und Kanada) zu Persio ver- arbeitet. Sie ist die „Ors. de Suede". '') Umbilicaria pjistnlata DC. (Fig. 25) bildet den Hauptbestandteil der ,,Ors. de Norwege". In Schweden sollen auch Eveniia, Parmelia, Gyropliora vellea u. a. zum Färben verwendet werden. Die Orseille de terre war einst von großer Wichtigkeit; gegenwärtig spielt sie keine nennenswerte Rolle. Von wirklicher Bedeutung in der Farbenindustrie ist nur noch die zweite Hauptsorte: Orseille de mer oder Ors. de herbe (auch ,,Orchal" genannt). Sie besteht fast ausschließlich aus Roccella- Arten, ansehnlichen Strauchflechten, zumeist Felsen der wärmeren Meeresstrände bewohnend. Im Laufe der Zeit kamen über ein Dutzend Sorten von Orseille de mer in den Handel, die nach dem ') Czapek faßt die Orseillegärung als einen Entgiftungs- Ijrozeß auf. Der Bacillus spaltet aus den Flechtensäuren das für ihn giftige Orcin ab, das Orcein ist für ihn unschädlich. -') Nach F. Henneguy, Les Lichens utiles, (Paris 1883) soll aber Ptrtusaiia dealbata an und für sich wertlos sein, ebenso wie andere Flechtenarten, die als Gemisch in dieser Orseille vorkommen. Sie verdanke ihre Anwendung als Farb- stoff geringen Mengen von beigemischter Lecanoia. ^) In Schweden wird daraus auch eine braune Farbe hergestellt, die dort „Boeltelet" heißt. N. F. VIII. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 71 Ursprungslande oder Stapelplatze benannt waren, wie z. B. „Orseilie des Canaries", ,,Ors. de Moga- dor", „Ors. de Valparaiso", „Ors. de Manille" usw. Diese Sorten enthielten nur selten eine einzige Spezies, meistens Gemische von mehreren, was ja auch natürlich ist, da oft mehrere von den habituell nur schwer unterscheidbaren Arten ge- meinsam wachsen. Systematisch wurden die Arten von Roccella erst gründlich festgelegt in Darbishires, Monographia Roccellarum (in Bibl. botan. 1898), weswegen ältere Angaben über die Zusammensetzung der Sorten der Orseilie de mar ganz unsicher sind. Von den 17 Spezies der genannten Mono- graphie wurden, soweit dies aus der Literatur hervorgeht, folgende als Orseilie verwendet: 1. Roccella fiiciformis (L.) DC. — Küsten des Mittelmeers, des atlant. Ozeans von England bis Senegal und Kongo, auch auf den atlantischen Inseln. — Steinbewohnend (Fig. 22). 2. R. tinctoria DC. — Wie vorige, aber bis zum Kap und auf Socotra und Neuseeland. — Steinbewohnend. 3. A'. phycopsis Ach. — Verbreitet wie die vorigen, aber weniger weit südlich an der atlant. Küste; ist aber auch aus Madagaskar, Australien und Neu-Kaledonien bekannt. — Steinbewohnend. (Fig. 14, 15)- 4. R- hypoiHccha Ach. — Cap der Guten Hoff- nung, Kanaren (Fig. 21). 5. R. portentosa Mont. — Chile und Peru. — Steinbewohnend. 6. R.perucnsis Kremplh. — Kalifornien bis Chile und auf St. Domingo. — Holzbewohnend. 7. R. difficilis Darbish. — Vielleicht nur stein- bewohnende Form der vorigen; auch in Brasilien. 8. R. canaricnsis Darbish. — Kanarische Inseln. Steinbewohnend. 9. A'. Montagnei Bei. — Trop. Afrika, Ost- Indien, Ceylon, Ind. Archipel, China, Philippinen. — Kommt auch im Binnenlande vor. — Holz- bewohnend (Fig. 16). 10. DendrcgrapJia Icucopliaea Darbish. — Habituell der Roccella fucifonnis ganz ähnlich und früher mit ihr verwechselt. Wächst an Steinen und Bäumen (Fig. 23). Nach der Angabe von R o n ceray (1904), die sich auf Mitteilungen eines Großhändlers in Orseilie stützt, kommen gegenwärtig im Handel nur noch folgende 4 Handelssorten in Betracht : 1. „Orseilie de Mozambique". 2. ,,Ors. de Madagascar" beide bestehend aus Rocc. Montagnei. 3. „Ors. du Cap. Vert", angeblich aus A'. tinctoria (wohl aber auch aus R. fiiciformis, R. canariensis .- und R phycopsis .-). 4. „Ors. de Californie", bestehend aus Dendro- grapha leucopliaea. In letzter Zeit soll noch eine Sorte als „Orseilie des colonies" in den Handel kommen, die aus einem Gemisch von Usnea Arten besteht. (Eine Probe enthielt U. plicata F>. und U. angu- lata Ach.) — Erstere ist nahezu kosmopolitisch, letztere in Nord- und Südamerika, Madagaskar, Tasmanien, Neu -Seeland. Ich will mit zwei statistischen Daten schließen, welche ein beredtes Zeugnis abgeben von der Wichtigkeit der Farbflechten und ihrer Produkte im Welthandel. 1881 wurden in Frankreich im- portiert an F^arbflechten 1486677 kg im Werte von 2004793 F"r., im selben Jahre wurden ex- portiert aus Frankreich an Flechtenfarbstoffen I 018931 kg. Anhang, betreffend die Literatur über den Nutzen der Flechten. Es liegt mir ferne, an dieser Stelle alle die Werke und Abhandlungen aufzuzählen, welche sich mit unserem Gegen- stande befaßt haben. l-ür den Zeitraum von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1870 exi-tieit übrigens bereits eine solche (nahezu vollständige) Zusamnien-tellung, auf die ich hier verweisen kann, da sich das betreffende wertvolle Werk in jeder grödren Bibliothek findet; es ist: A. v. Krerapel- huber, Geschichte und Literatur der Lichen P- 202 — 217. Teesdale, M. 1., The ,, Manna" of the Israelites, Science- Gossip 1897, P- 229 — 232, with 5 fig. Wagner et Gauti er, Nouveau Traite de chimie industriel II, Paris 1879. Wiesner, Die Rohstoffe des Pflanzenreiches, 11. Aufl., Flechten von Fr. Krasser, I. Bd., p. 664 — 673, 1900. — , Mikroskopische Unt<'rsuchung alter ostturkestanischer und anderer asiatischer Papiere, Denkschr. d. kais. ,\kad. d. Wiss. Wien, LX.XII, 1902, p. 583 — 632. Enthält den Nachweis, daß F'lechten bei der Herstellung alter indischer Papiere verwendet wurden. Zopf, Über den Nutzen der Flechten, Die Natur 1S96, p. 185 — 187. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Astronomie. Eine neue Auffassung der Sonnen Corona glaubt R. W. Wood auf Grund der von ihm experimentell festgestellten Emission polarisierten [Jchts seitens fluoreszierender Gase verfechten zu können. Das Licht der Corona ist bis auf etwa 1 1 "/,, in radialer Richtung polarisiert, zeigt dabei ein kontinuier- liches Spektrum mit einigen hellen Linien, vor allem der grünen Coroniumiinie (^=5303), und gibt am Bolometer keine auf Wärmestrahlung deutende Ausschläge. Gerade dieses Felilen der Wärmestrahlung ist nicht gut mit der meist ge- machten Annahme vereinbar, daß das kontinuier- liche Spektrum von weißglühenden, festen Teil- chen herrühre. Dagegen bietet sich nach Wood's Experimenten der Auffassung keine Schwierigkeit, daß die Corona aus gemischten Metalldämpfen bestehe, die unter dem Einfluß der Sonnenstrahlung fluoreszieren. Die hellen Coronalinien könnten einfacli Fluoreszenzlinien bekannter Elemente sein, denn beim Natrium besteht, wie Wood gleichfalls nachgewiesen, keinerlei Beziehung zwischen den Fluoreszenzlinien und den auf andere Weise er- regten, bisher bekannten Linien. (Phys. Zeitschr. vom 15. September 1908.) Die Aufnahme von Wass erst o f f wol k e n (sog. Flocculi) in der Soniienatmosphäre erfolgte bisher zumeist im Lichte der Linie Hj- Neuerdings konnten solche Gebilde jedoch unter Anwendung farbenempfindlicher Platten durch Haie auf Mt. Wilson auch mit Hilfe der roten H„ - Linie photographiert werden, wobei sich be- merkenswerte Unterschiede gegen Bilder, die im H,i - Licht aufgenommen waren, ergaben. Vor allem zeigen sich am Sonnenrande die Protube- ranzen im H„-Licht weit ausgedehnter, ja selbst auf die Scheibe projizierte Protuberanzen wurden in diesem Lichte abgebildet. Die Aufnahmen machen den Eindruck ausgedehnter Wirbel, wie sie von der Fleckentheorie Faye's bereits seit langer Zeit angenommen wurden. Da die H„- Wolken auch ein anderes Rotationsgesetz befolgen, wie die vermutlich tiefer liegenden H<) -Flocculi, so wären solche Wirbel auch nach der Helmholtz- schen Luftwogentheorie an der Grenze ungleich bewegter Schichten der Sonnenatmosphäre leicht erklärbar. Gerade die Entstehung von Wirbeln aus Luftwogen ist von Emden kürzlich näher untersucht worden. Es scheint, daß diese theo- retischen Entwicklungen durch die Fortschritte in der Photographie der Flocculi eine treffliche Bestätigung finden. - Besonders die im September- heft (1908) des Astrophysical Journal reprodu- zierten Aufnahmen zeigen die Wasserstoffwirbel N. F. Vm. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 73 sehr deutlich. Durch Aufnahmen, die in kurzen Gestalt von Protuberanzen wieder zu erscheinen. Intervallen aufeinander folgten, konnte direkt ver- Die Geschwindigkeit dieser ,, Stürme" in der folgt werden, wie die Wasserstoffmassen der Sonnenatmosphäre erreichte Werte von mehr als . s ^\ ^ - ^^^^ " XX ^■ü^^-^ X' ,v ~ . ^^ xx^\^ f^^Hb^V N \x, .^ ^^■1 -xS> > ~ X . ^ X . X ^ XX v^ ^%\ X ■ ' ^^^^^^^^^^Bk^— ^ X ' , \ ^^^^^^^^Bi ^ \ \ X ^^^^^m-^ :....V \ ^^^^^^^^^^^^^Rk \ ^^^^^^^^^^^^K' -■^v^.^t: 9Hk^'^^ ^^9^ ' ' "v \ , x\ \ *^ "• , : ^^^t-jT \ -^ \\ A^ ' 1^ - ' . .^' "\ V X "^ ■ -^ > "- \ X ' Der Komet Morchouse (1908 c) am 30. September 1908, um 14'' 22™ Cal. Z. Expositionsdauer i''50ii 1 cm = 0,24°. X^ X \ . • Vj^^N^ --^^ ;xn:^^So^ x:i: N .x^\\. -:s ^ -■^^s^^nSv. ^ \. ,\x- \ V ^ : ^^ , \ \- V\ ^^\' ^X-. Der Komet Morehouse (1908c) am 1. Olttober igoS um I,V'43"i Cal. Z Expositionsdauer 2'' I cm ^= 0,24". Sonnenatmosphäre von den hlecken angezogen und sozusagen verschlungen werden, um gelegent- lich später in der Umgebung der Flecken in 100 km in der Sekunde. IVIerkwürdig ist dabei, daß nur größere Wolken nach den Flecken hin strömen, während die kleineren, vermutlich weil 74 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII Nr. 5 sie in einem anderen Niveau schweben, wohl auch durch ihr Aussehen Strömungen andeuten, aber keine so schnell erkennbaren Positionsänderungen zeigten. Ihre Bewegung muß also eine wesent- lich langsamere sein. Aus Spektralaufnahmen von Sonnenflecken, welche Haie unter Vorschaltung eines Fresnel- schen Rhombus und eines Nicol'schen Prismas in verschiedenen Stellungen des letzteren aufgenom- men, zeigten sich in den verbreiterten und ver- doppelten Linien gewisse Intensitätsunterschiede, die nach Zeemann fast mit Sicherheit anzeigen, daß es sich hier um die ersten kosmischen Fest- stellungen des Zeeman n - Effekt s, d. h. des Einflusses starker magnetischer Kraft auf die Licht- schwingungen handelt. Die Sonnenflecken sind danach, wie ja auch ihr Einfluß auf den Erdmag- netismus erwarten ließ, starke magnetische Kraft- felder, deren Kraftlinien auf der Sonnenoberfläche nahezu senkrecht stehen. (Nature vom 20. August 1908.) Näheres hierüber teilte Zeemann auf der Kölner Naturforscherversammlung mit. Während man früher die verdoppelten Linien im Sonnen- fleckenspektrum für durch Druck verbreiterte dunkle Linien hielt, die von einer feinen, hellen Emissionslinie überlagert und so nur scheinbar in zwei Teile geteilt werden, ist durch Hale's neueste Feststellungen erwiesen worden, daß es sich hier in der Tat um einen von der Natur im größten Maßstabe hervorgerufenen Zeemann-Effekt handelt. Der Longitudinal-Zeemann-Effekt, d. h. die Beein- flussung der Lichtschwingungen bei Betrachtung in der Richtung der Kraftlinien, besteht in der Zerteilung einer Linie in zwei entgegengesetzt zirkulär polarisierte Komponenten. Ist aber das magnetische Feld nicht gleichförmig oder die Lichtquelle nicht homogen, so zeigen nur die Ränder der verbreiterten Linie die Zirkularpolari- sation. Haie konnte nun die Zirkularpolarisation an den Linien 6302,7 und 6363,1 im Flecken- spektrum vortrefflich nachweisen. Die Linien zeigen sich je nach der Stellung des vorgeschal- teten Nicol bald nach rechts, bald nach links ver- breitert, während dicht dabei liegende atmosphä- rische Linien keinerlei derartige Deformation auf- weisen. Zeemann hat die betreffenden Aufnahmen in Köln vorgezeigt und in der physikalischen Zeitschrift vom 15. November 1908 veröft'entlicht. Nach der neuesten Veröft'entlichung (Astrophys. Journal, November 1908) hat Haie die Sicherheit der hier wiedergegebenen Auffassung noch da- durch wesentlich erhöhen können, daß er bei entgegengesetzten Rotationsrichtungen der Sonnen- wirbel auch umgekehrt gerichtete magnetische Felder nachweisen konnte, wie man nach den Beobachtungen an Solenoiden erwarten mußte. Auch gelang es bereits, nahe dem Sonneiirande lineare Polarisation in den Sonnenflecken nachzu- weisen, also auch den TransversalZeemann-Effekt (quer zu den Kraftlinien) zu beobachten. Die Stärke des magnetischen Feldes, auf das diese P"or- schungen schließen lassen, beträgt etwa 3000 Gauß. Eine erhebliche Förderung haben Hale's Sonnen- forschungen durch ein neues, auf Mount Wilson aufgestelltes Instrument, das Turm-Teleskop, erfahren, das nunmehr neben dem Snow-Teleskop den spektrographischen Forschungen dient. Auf einem 65 P'uß hohen Stahlgerüstturm ist ein mit zwei sehr dicken (30 cm) Spiegeln versehener Coelostat montiert, der die Sonnenstrahlen im Innern des Turmes durch ein Objektivglas von 30 cm Öffnung und 18 m Brennweite vertikal nach unten sendet. Am Grunde des Turmes be- findet sich der Spalt eines Spektrographen Littrow- scher Konstruktion und durch diesen fällt das Licht in eine 9 m tiefe Untergrundkammer ein, in deren Grunde das Kollimationsobjektiv und darunter ein Rowland'sches Gitter angeordnet sind, von dem das in ein Spektrum aufgelöste Licht wieder heraufreflektiert wird, um hier die photo- graphische Platte zu erreichen. Diese neue, durch Beihilfen Carnegies ermöglichte Konstruktion hat den Zweck, Störungen in der Bildschärfe zu ver- meiden, die bei dünneren Spiegeln durch Gestalt- änderungen infolge der Erwärmung auftreten, und die andererseits bei horizontalem Strahlengang durch vertikale Luftströmungen entstehen. In der Tat sind mit dem Turm-Teleskop bereits ausge- zeiclnnete Erfolge erzielt worden sowohl hinsicht- lich der Fleckenspektra, als auch in bezug auf die Rotationsbestimmungen aus der Ver-chiebung der Wasserstofflinien. Während das Snow-Teleskop nur etwa eine Stunde lang bei niedrigem Sonnen- stande benutzbar ist, kann das Turm -Teleskop fast den ganzen Tag über mit gutem Erfolge ge- braucht werden. Prof. M a r t u s hat seine Studien über die Mondkrater, über die wir Seite 294 des vorigen Jahrgangs berichteten, unter Benutzung der Pariser photographischen Mondaufnahmen fortgesetzt (Weltall, 8. Jahrg., Heft 21—24, 9. Jahrg., Heft i u. f.). Die Grundrisse einiger Ringgebirge wurden nach einem einfachen Verfahren ermittelt, wobei sich wiederum, besonders bei größeren Kraterlöchern in der Umgebung von Ringgebirgen, die nach dem Mondrande zu langgestreckte Form einzelner dieser Krater herausstellte, namentlich in hohen nördlichen und südlichen Breiten. Das früher aus Neison's Mondkarten abgeleite Ergebnis wurde also durch die Ausmessung der Photographien im ganzen bestätigt, wenn auch, wie zu erwarten war, erhebliche Ungenauigkeiten der Zeichnungen zu- tage traten. Der Betrag der Abweichung der Mondkrater von der Kreisform ist in Wahrheit erheblich geringer , als nach den Neison'schen Zeichnungen gefunden war. Demnach hält M. an der Aufsturztheorie fest. Aus den Mondphoto- graphien konnte auch die Ortsveränderung der Erde am Himmel des Mondes ermittelt werden. Für einen Beobachter auf dem Monde würde die Erde während jedes Monats eine länglich runde, breit liegende Bahn von 13 — 15 Grad Durchmesser im Sinne der Uhrzeigerbewegung beschreiben. Die mögliche Breite des Nebelringes, aus dem N. F. VIII. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 75 unser Mond hervorging, dürfte nach den Rech- nungen von Martus weniger als 12 Erdhalbmcsser betragen haben. Im Anscliluß an diese Betrach- tungen wurden auch die Salurnringe , sowie die Monde Saturns und Jupiters rechnerisch unter- sucht. Martus kommt dabei zu dem Ergebnis, daß die große Anziehungskraft des Saturn das Aufrollen seiner Ringe zu Trabanten verhindert, da die einzelnen Ringteilchen infolge der großen Saturnnähe sehr erhebliche Geschwindigkeitsunter- schiede aufweisen müssen und daher einander nicht lange genug nahe bleiben, um sich vereinigen zu können. Vm den Marsmond Phobos und die vier seit 1892 entdeckten Jupitermonde hält Martus die Entstehung aus Dunstringen für unmöglich, da hier die Geschwindigkeitsunterschiede noch größer als in den Saturnringen sein müssen. Diese Trabanten müssen demnach als eingefangene Planetoiden angesehen werden, während der Mars- mond Deinios noch aus einem Ringe hervorge- gangen sein kann. Der Komet Morehouse (1908c) war eine der hellsten Erscheinungen der letzten Jahre und konnte bei der hohen, nördlichen Deklination im Oktober und November in unseren Gegenden zeitweilig mit bloßem .Auge wahrgenommen wer- den. Besonders intensiv war die Wirkung des Kometenlichtes auf die photographische Platte, so daß eine große Reihe schöner Photographien gewonnen werden konnten. Barnard hatte bis zum 26. Oktober bereits 190 Aufnahmen gemacht, über die er im Novemberheft des Astrophysical Journal berichtete. Durch diese Aufnahmen sind sehr schnell sich vollziehende, wesentliche Ver- änderungen im Aussehen des Kometen festgehalten worden. Die stärkste Änderung ereignete sich zwischen dem 30. September und i. Oktober und wird durch die hier wiedergegebenen Bilder ver- anschaulicht. .Am 30. September wurde eine un- gewöhnlich hell leuchtende Materie vom Kopf ausgeschleudert, die am darauffolgenden 1 age nur noch in sehr aufgelöstem Zustande weitab vom Kopfe im Schweif zu erkennen ist. Dicht am Kopf zeigt der Schweif am i. Oktober deutlich eine Zerspaltung in mehrere, unter verschiedenen Winkeln ausströmende Strahlen. Barnard hat in beiden Nächten mehrere .Aufnahmen gemacht, und wenn diese noch durch europäische, in die Zwischenzeit fallende Aufnahmen ergänzt werden könnten, würde man alle Stadien der großen Ver- änderung scharf verfolgen können. Spätere Auf- nahmen desselben Kometen, über die Barnard im Dezemberheft des Astrophys. Journal berichtet, zeigten nochmals am 15. Oktober ein explosions- artiges Anschleudern von .Schweifmaterie, die sich bis zum 16. mit der gleichbleibenden Geschwin- digkeit von 3,3' pro Stunde vom Kopf entfernte. Im ganzen hatten bei diesem Kometen die Kräfte, welche die Bewegung der Schweifteilchen be- stimmten, ihren Sitz mehr im Kometen selbst und nicht, wie es die verschiedenen Theorien annehmen, in der Sonne. Eine in kurzen Zeitintervallen sich wiederholende Pulsation der Helligkeit des Kopfes glaubt Barnard mit dem A\ige übrigens sowohl bei diesem wie bei dem Daniel'schen Kometen mit Sicherheit beobachtet zu haben. — Die photo- graphisch besonders hohe Wirksamkeit des Lichtes von Komet Morehouse spricht sich auch darin aus, daß am 5. November der dem Auge infolge des Mondlichts völlig unsichtbare Schweif gleich- wohl in einer Ausdehnung von 8 — 9 Grad photo- graphiert werden konnte. Eine umfassende spektrographische Durch- musterung des Himmels in bezug auf radiale Geschwindigkeiten ist in den Jahren 1903 bis 1907 in Bonn durch F. Küstner und Zur hellen für die Sterne des zweiten und dritten Spektraltypus bis herab zur vierten Größen- klasse ausgeführt worden. Die Geschwindigkeits- werte, die aus der Verschiebung der Spektrallinien im Vergleich mit einem mitphotographierten Eisenspektrum sich ergaben, finden sich im Juni- heft des Astrophysical Journal veröffentlicht. Unter den 99 Sternen, die in Bonn beobachtet wurden, befinden sich 15, von denen bereits die Veränder- lichkeit der Geschwindigkeit bekannt war und drei weitere (d Tauri, i Bootis und ,» Pegasi), bei denen eine solche Veränderlichkeit auf Grund der Bonner Bestimmungen vermutet werden muß. Der wahrscheinliche Fehler des aus einer Platte sich ergebenden Geschwindigkeitswertes beträgt + 0,64 km , die Messungen zeichnen sich also durch eine hohe Genauigkeit aus. Die Bahnelemente des Algol haben durch Curtiss auf Grund der bis jetzt vorliegen- den Messungen der radialen Geschwindigkeit die- ses Sterns eine erneute Behandlung erfahren, durch welche festgestellt wurde, daß Algol samt seinem dunklen Begleiter sich auf einer Bahn von nicht weniger als 89 Millionen Kilometer Radius in 1,9 Jahren um einen dritten, ebenfalls nicht sichtbaren Stern bewegt. Die radialen Geschwin- digkeiten zeigen nämlich eine entsprechende periodische Schwankung (Amplitude 9,4 km). Es ist zu vermuten, daß die gegenseitigen Anziehungen zwischen den drei das Algol-System zusammen- setzenden Himmelskörpern alle Abweichungen erklären , welche die Beobachtungen der Minima gegen die Vorausberechnung zeigen, der die An- nahme einer einfachen Doppelsternbahn zugrunde liegt. (Astrophys. Journal, September 1908.) Auf dem Gebiete der Himmelsphotogra- phie wird besonders eifrig am Harvard-Obser- vatorium unter Pickering's Leitung gearbeitet. Man hat hier in Verbindung mit der peruanischen Filiale zu Arequipa kürzlich eine Aufnahme des gesamten Himmels auf nur 55 Platten vollendet, die sich durch einen außerordentlichen Reichtum an Sternen (vielfach bis herab zur 12. Größe) aus- zeichnet und sich namentlich für das Studium der veränderlichen und neuen Sterne sehr nutzbringend erweisen wird , zumal Glasnegativkopien käuflich abgegeben werden. Exakte Positionsbestimmungen lassen dagegen diese Platten bei der Ausdehnung 1^ Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 5 des auf einer jeden abgebildeten Himmelsgebietes graphischen Himmelskarte (vgl. Naturw. Wochen- naturgemäß nicht zu, wie ja auch gar nicht be- Schrift Bd. 5, S. 753 f-) irgendwie Konkurrenz zu absichtigt war, der großen, internationalen photo- machen. Kleinere Mitteilungen. Die Sinnesempfindungen des Amphioxus untersucht G. H. Parker in einer ausführlichen Arbeit (Proceedings of the .American Academy of Arts and Sciences, Vol. XLIII, 1908). Das Material bestand aus Branchiostoma caribaeum Sunde- vall, einer westindischen Art, die unserem B. lanceolatum nahe verwandt ist. Die erwähnte Art kam in der Nähe der Bermuda Biological Station sehr häufig vor. Es konnten daher täg- lich frische Exemplare beschafft werden, die sich mehrere Tage im Aquarium hielten. Parker untersuchte die Wirkungen von Licht, Hitze, me- chanischen und chemischen Reizen auf die Tiere. Durch verschiedene Beobachter (wie Willey, Nagel und Hesse), war angegeben worden, daß Amphioxus sehr empfindlich gegen Licht sei. Wenn nämlich Licht plötzlich in das Aquarium fällt, so schwimmen alle Exemplare wild durch- einander. Parker konnte durch sorgfältiges Ex- perimentieren feststellen, daß diese Erscheinung nicht auf das Licht direkt zurückzuführen ist. Durch das Licht veranlaßt, schwammen nur einige Tiere umher; durch Berührung reizten sie ihre Nachbarn, so daß auch diese unruhig umher- schwammen. Das erregte Schwimmen ist also mehr durch den Reiz der Berührung, als durch den Einfluß des Lichtes veranlaßt. Amphioxus ist also nach Parker nur wenig gegen Licht empfindlich. Eine Veränderung des Verhaltens der Tiere konnte nie bei einer plötzlichen Ab- nahme des Lichts beobachtet werden, aber immer bei einer schnellen Steigerung. Man hat sich seit langem über die Organe der Lichtempfindung bei Amphioxus gestritten. So wurde der ansehnhche Pigmentfleck am Vorder- ende des Nervenrohrs von joh. Müller, Retzius u. a. für ein primitives Auge gehalten. Hesse glaubte, daß das Licht durch zwei seillich liegende Gruppen von Integumentzellen am Vorderende des Tieres aufgenommen würde. Nüßlin war der Meinung, daß das Vorderende der Rücken- flosse lichtempfindlich wäre, während Nagel diese Eigenschaft der gesamten Haut zuschrieb. Hesse vertrat dagegen die Ansicht, daß die zahlreichen kleinen Pigmentflecken des Rückenmarks einfache Augen wären, die man mit denen der Planarien vergleichen könne. Durch verschiedene Experi- mente, besonders durch Exstirpation des einen oder anderen Organs wurde Parker zur Bestäti- gung der Hesse 'sehen Theorie geführt. Es dürften demnach wohl die „Rückenmarksaugen" die wirklichen Aufnahmeorgane des Lichtes dar- stellen. Der Teil des Körpers von Amphioxus, der durch Licht gereizt werden kann, breitet sich von einem Punkte etwas hinter dem Vorderende bis zur Schwanzspitze aus. Wie W. Müller schon 1874 gezeigt hat, ist Branchiostoma lanceolatum negativ phototropisch; die gleiche Eigenschaft zeigt auch B. caribaeum. Amphio-xus schwimmt also von einer Lichtquelle weg. Da er sich bei Belichtung bewegt und erst in dunklen Gebieten ruht, bezeichnet man ihn als photokinetisch (photodynamisch). Einige Beobachter haben gemeint, der Amphi- oxus grabe sich so in den Sand ein , daß das Hinterende hervorrage. Man hat aber gefunden, daß dies nicht der Fall ist, sondern daß das Vorder- ende frei hervorsteht. Auch dieses wird bei Be- lichtung noch eingezogen, eine Wirkung, die wahr- scheinlich auf die vordersten Rückenmarksaugen zurückzuführen ist. Es ist aber eine irrtümliche Meinung, daß der Amphioxus nur am Tage in den Sand eingegraben sei und eine näclnliche Lebensweise führe. Parker konnte beobachten, daß die Tiere auch während der Dunkelheit in ihrer Lage im Sande verharren. Wahrscheinlich verändert Branchiostoma caribaeum seinen Wohn- platz nur, wenn es dazu gezwungen wird. Parker untersuchte ferner den Einfluß der Hitze auf Amphioxus. Das Seewasser, in wel- chem die Tiere lebten, hatte eine Temperatur von 31" C. Dieser Wärmegrad wurde als der normale angenommen. Schon bei 40" C starben die Tiere. Durch längeren Aufenthalt in Wasser von 4" C werden die Tiere ebenfalls getötet. Von Gebieten warmen Wassers schwimmt Amphioxus hinweg; er gehört also zu den negativ thermo- tropischen Tieren. Wie schon oben dargelegt ist , beruht die augenblickliche große Empfindlichkeit des Amphi- oxus gegen Licht hauptsächlich auf der leichten Reaktion mechanischen Reizen gegen- über. Die empfindlichsten Teile sind die Mund- kapsel und die Mundeirren. Auf eine Berührung derselben reagiert das Tier stets durch eine Rück- wärtsbewegung. Der „c he m ische Sin n" des Amphioxus hat seinen Sitz in der ganzen Körperoberfläche und besonders in der Mundregion. Jedenfalls dient dieser Sinn dazu, den Amphioxus vor ungünstigen chemischen Umgebungen zu schützen. Nagel hat bereits gezeigt, daß die Tiere gegen Chloro- form usw. empfindlich sind; er sagt, daß jeder Teil des Körpers ungefähr gleich empfindlich gegen chemische Reize ist, ja, daß das Hinterende emp- findlicher als irgendein anderer Körperteil sei. Parker verwandte zu seinen Experimenten Säuren, süße, bittere und alkalische Substanzen, sowie Mischungen von Öl und anderen Stoßen. Er konnte feststellen, daß die Körperoberfläche des N. F. Vm Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. n Amphioxus empfindlich ist gegen Lösungen von Salpetersäure, Pottasche, Pikrinsäure, Alkohol, gegen starken Äther, Chloroform, Terpentin, Ber- gamotöl, Rosmarinöl, aber nicht gegen Zucker- lösungen. Ebenfalls reagiert er auf verdünntes Seevvasser und auf Süßwasser. Da Amphiojtus die oben genannten chemischen Substanzen flieht, kann man ihn als negetativ chemotropisch be- zeichnen. Den Experimenten , die wohl als einwandfrei bezeichnet werden können, schließt der Verfasser noch einige Betrachtungen über das Nervensystem und die Sinnesorgane des Amphioxus an. Wir wollen auf diesen Teil der Arbeit nicht näher eingehen, da es noch eingehender Untersuchungen bedarf, ehe alle diese Probleme geklärt sind. Man erkennt aber aus Park er 's Beobachtungen, daß es von großem Wert ist, immer wieder die Le- bensweise auch häufig vorkommender Tiere zu studieren. Erst eine vergleichende Zusammen- stellung aller Lebenserscheinungen kann uns ein völliges Verständnis des Tierlebens ermöglichen. Dr. Brohmer, Jena. Ein Meteorkrater. — Immer wieder lenkt das Colorado Plateau im südwestlichen Anteil der Vereinigten Staaten von Nordamerika die Augen der Geologen und Geographen auf sich : die sehr eigenartigen Beziehungen zu den jungen tektoni- schen Störungen, die diesem intramontanen Ge- biet in weitem Bogen ausweichen, die Entwicklung der paläozoischen Schichten, die ungeheuer groß- artigen Erosionsformen der sog. Caiion's, schließ- lich auch die vielgerühmte Farbenpracht haben von jeher die .'\ufmerksamkeit des Gelehrten und des Reisenden gefesselt. Es kommt nunmehr eine neue, ganz einzigartige Erscheinung hinzu, über die uns eine interessante kleine Abhandlung von Merrill ■) belehrt. Etwa 2 Meilen vom Canon Diablo im Staate Arizona, südlich der St» Fe- Bahn befindet sich in das Plateau eingesenkt eine krater förmige Vertiefung von etwa kreisrunden Umrissen (Durchmesser II 70 — 1200 m). Ihr Boden liegt 134 m unter der Hochfläche und rings um sie läuft ein Wall von etwa 48 m Höhe. Der Wall besteht aus groben Gesteinsblöcken und kleinerem Material bis zu ganz mürbem Gesteinsmehl und ist offenbar aus der Masse erbaut, die einst im Schichtenzusammenhang jene Vertiefung ausgefüllt hat, d. h. aus Sandsteinen und Kalken der zu oberst gelegenen karbonischen, zum geringen Teil auch permischen Schichten. In weitem Umkreise um den „Krater" aber finden sich zahlreiche Meteorsteine und zwar der Zusammensetzung nach Mesosiderite. Da diese Diamanten führen, wurden sie sehr schnell ausgebeutet und so konnte leider nicht der ganze Fund der Wissenschaft dienstbar gemacht werden. Immerhin ließ sich Smithsonian miscellaneous colleclions, Vol. 50. erweisen, daß es sich hier um den größten bisher bekannten Meteorfall handelt. Was nämlich die Zahl der gefundenen Einzelstücke an- betrifft, so kann sich nur der berühmte Steinfall von L'Aigle im Jahre 1S03 mit seinen 2000 — 3000 Exemplaren dem hiesigen an die Seite stellen, dagegen ist das Gesamtgewicht größer als je zu- vor: der in Ensisheim am 7. November 1492 ge- fallene Stein wog 150 kg, derartige Stücke sind auch an unserem Krater sogar mehrfach vorhan- den; in Tucuman, Argentinien, fielen 17S3 über 1500 kg, in Bemdego, Brasilien, 1784 ca. 8700. Hier aber wird die Gesamtschwere auf 20 tons, also das 2 — 3 fache, geschätzt. Bei so außerordentlichen Mengen wird man auch ungewöhnliche Wirkungen vorauszusetzen berechtigt sein und die Frage drängt sich unwill- kürlich auf, ob der Krater das Werk des Meteor falls sei. Vulkanische Kräfte und heiße Quellen sind nicht in der Nähe und nichts deutet auf ihre Anwesenheit an der fraglichen Stelle hin. Wohl sind große Mengen des lockeren Sandes eingeschmolzen, doch erhält man nicht den Ein- druck eines vulkanischen Glases oder eines zu Vergleichszwecken im Carnegie - Institut herge- stellten künstlichen Quarzflusses, vielmehr wird man an die Erscheinungen bei Blitzröhren erinnert. Auch hört diese Metamorphose der sandi- gen Lagen nach der Tiefe hin auf, die Ursache muß also von oben, d. h. von außen herange- treten sein. Neben hohen Hitzegraden müssen aber ferner gewaltige mechanische Kräfte wirksam gewesen sein. Nicht nur zeigen die Sandkörnchen unter dem Mikroskop starke Zertrümmerungsspuren, sondern auch große Fels- blöcke sind 7-2 "i'lc weit, feineres Material bis auf 30 km im Umkreis geschleudert worden und auch in senkrechter Richtung haben Verlagerungen um 90 m aufwärts stattgefunden. Andererseits fehlt es nicht an Einwendungs- möglichkeiten : Im Krater selbst hat man nur 3 oder 4 Meteorsteine auflesen können, dafür zeigten aber die lockeren sandigen Lagen bis zu 200 m Tiefe chemisch nachweisbare Spuren von Eisen und Nickel, den Hauptbestandteilen der Meteorite. Nach Analogie der Wirkungen, die in dem Boden einschlagende Geschosse hervorbringen, sollte man ferner dem Durchmesser von 1200 m entsprechend einen Einschlagskörper von ca. 150 m Durchmesser vermuten,dann wäre aber eine Gesamtmasse zu erwar- ten, von der die gefundene kaum ein Tausendstel darstellt. Es könnte freilich noch in der Tiefe ver- borgenes Material den Nachforschungen entgangen sein, doch besteht gerade auch in dieser Hinsicht ohnehin eine beträchtliche Abweichung von allem, was wir bisher bei Meteorfällen zu finden gewohnt sind. Das tiefste Eindringen in den Erdboden wurde bei dem Meteor von Knyahinya in Ungarn durch Haidinger beobachtet und betrug nur — 3 "3 m. Selbst der 150 kg schwere Ensisheimer Stein bohrte sich nur i '/.j m tief ein, die meisten bleiben oberflächlich liegen oder versinken nur gerade 78 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 5 um ihren eigenen Durchmesser in die Erde. Und hier besteht ein weites und durch Bohrungen als etwa 330 m tief ermitteltes Kraterloch! Machen wir uns klar, wovon das Eindringen abhängt: Es wird im allgemeinen angenommen, daß die Me- teore durch den Widerstand der Luft ihre ganze Eigengeschwindigkeit einbüßen und mit der Ge- schwindigkeit eines einfach fallenden Körpers die feste Erdrinde erreichen. Der Eintritt in die At- mosphäre erfolgt dagegen nach zahlreichen Be- obachtungen mit ungemein wechselnder Geschwin- digkeit und das ist sehr erklärlich; überholt nämlich ein Meteor die Erde bei ihrer Bewegung um die Sonne von hinten her, so ist seine scheinbare Geschwin- digkeit gleich der Dift'erenz, trifft er sie von vorn, gleich der Summe der Eigengeschwindigkeiten beider Himmelskörper. Trifft nun eine hohe Ge- schwindigkeit zusammen mit so großer Menge, wie sie in unserem Falle zweifellos vorliegt, so ist es wohl denkbar, daß die Wirkung des Auf- pralls ungewöhnliche Dimensionen annimmt. Man kann daher Merrill's Annahme zustimmen, es sei die Masse des Meteors sowie ein großer Teil der betroffenen Sandsteine und Kalke im Augenblick des Aufpralls durch die dabei entwickelte Hitze eingeschmolzen und sofort vergast worden und die Expansionskraft der Gase habe zu einer ge- waltigen Explosion geführt, bei der nun das ganze Material in weitem Umkreise verspratzt worden sei. Damit ist zugleich auch eine weitere auffällige Erscheinung erklärt, daß nämlich die Oberfläche der einzelnen Stücke nicht die üblichen vom Luftdruck hervorgerufenen Eindrücke auf- weist, es sind eben Bruchstücke. Daß der Fall nicht ganz jugendlichen .alters sein kann, beweisen die bei den Bohrungen angetroffenen, Mollusken- schalen und Gips enthaltenden Ablagerungen eines Sees, der einst den Krater erfüllt hat. Ihre Mächtigkeit beträgt 20 m und überlagert werden sie von 7 m Aufschüttungsmaterial. Wenn Merrill den Fallwinkel des Meteors zu etwa 70" aus NW angibt, so hat diese Berechnung keineGrundlage.fallsseine Annahme einer Explosion richtig ist, die einzelnen Meteorite also nicht ur- sprüngliche Lagerung einnehmen. Doch diese Frage ist für das eigentliche Problem ohne Bedeutung. Man wird — unbeschadet einiger noch offenbleibender Fragen — einstweilen daran fest- halten dürfen, daß ein gewaltiger Meteor- fall hier eine kraterähnliche Öffnung in ein altes Plateau der Erdoberfläche geschlagen hat. Damit wird die alte Frage wieder aufgerollt, ob viele ähnliche Erscheinungen der Mondoberfläche (wo die physikalischen Ver- hältnisse dafür etwas günstiger liegen würden) in gleicher Weise zu erklären sind. Gewiß werden auch die Anhänger der noch reichlich phantasti- schen „Aufsturztheorie",') nach welcher die Wclt- körper sich überhaupt aus kleineren aufeinander- stürzenden Meteormassen im Laufe langer Zeiten aufgebaut hätten, dieses Vorkommen als willkom- menen Beweis für die Richtigkeit ihrer Anschau- ungen ergreifen. Man kann aber ebensowohl das Gegenteil daraus herleiten, denn nach allem, was wir bisher auf der Erde kennen, handelt es sich hier um eine ganz einzig dastehende Aus- nahmeerscheinung. Dr. Edw. Hennig. Himmelserscheinungen im Februar 1909. Stellung der Planeten: Merkur und Venus sind un- sichtbar, Mars ist morgens in der Schlange, Saturn abends in den Fischen etwa I ','2 Stunden lang sichtbar. Nur Jupiter, der am 28. in Opposition kommt, kann die ganze Nacht hin- durch gesehen werden. Verfinsterungen der Jupitertrabanten: Am I. um n Uhr 55,7 Min. ab. M.E.Z. Eintr. d. 111. Trab. >. 6. „ II „ 53,9 „ „ „ „ „ 11. „ ., 13- ,. 9 „ 10,7 „ „ „ „ „ I. „ .. 20. ,, 1 1 ,, 4,3 „ „ ,, ,, „ I. ,, Algol - Mininna können beobachtet werden am I ^. um 8 Uhr 45 Min. und am iS. um 5 Uhr 34 Min. abends. ') Es wurde darüber in Nr. 45 des V. Bandes der ,, Natur wissensch. Wochenschrift" (4. November 1906) berichtet. Bücherbesprechungen. K. Brunner v. Wattenwyl, k. k. Hofrat und Jos. Redtenbacher, Prof. am k. k. Elisabeth-Gymnasium in Wien, Die Insekten familie der Phas- miden, mit Unterstützung der hohen k. k. Aka- demie der Wissenschaften in Wien aus der Treitl- Stiftung. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelniann, 1906 — 1908, 589 S. gr. 4" mit 27 Taf. — Preis 65 Mk., geb. 70 Mk. Die Stab- und Blattheuschrecken sind, obgleich sie fast ausschließlich in den Tropen vor- kommen , jedem Lehrer , ja , man darf wohl sagen, jedem Gebildeten in einzelnen ihrer Vertreter bekannt. Wohl keine Schulsammlung ist so klein, daß sie nicht einzelne Stücke dieser äußerst interessanten Tiere enthielte. — Die Artnamen derartiger Vertreter fest- zustellen, war bisher keine leichte Aufgabe, und des- halb können wir den Verfassern des vorliegenden Werkes nicht dankbar genug sein , daß sie uns von den sämtlichen bisher bekannten (etwa 2000) Arten nicht nur gute Beschreibungen, sondern auch zur leichten Orientierung Bestimmungsschlüssel und von den wichtigsten Gattungsvertretern vorzügliche Ab- bildungen geliefert haben. Es bedarf keiner weiteren Worte auf die Wichtigkeit des Werkes hinzuweisen. Jeder, der eine Schulsammlung oder Privatsammlung zu verwalten hat, wird aus eigener Erfahrung wissen, wie notwendig ein solches Buch war. — Es sei mir gestattet, von den einleitenden Worten des Werkes einiges in gekürzter Form hier wiederzugeben und dann einige Ergänzungen bzw. Berichtigungen folgen zu lassen. — Die Familie der Phasmiden enthält die größten Formen unter den lebenden Insekten ; einige Arten erreichen im weiblichen Geschlechte die Länge von ' ,, — '/., m. — Die ziemlich gleichförmige Lebensweise der Phasmiden läßt eine gewisse Ein- förmigkeit im Körperbau derselben erwarten, die je- doch in Wirklichkeit keineswegs vorhanden ist. Zwar N. F. VIII. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 79 kommt allen Phasmiden die Eigentümlichkeit zu, verscniedene Ptlanzenteile, insbesondere Stengel und Blätter nachzuahmen, worauf schon die Bezeichnungen Stabheuschrecke, wandelnde Blätter usw. hindeuten; im einzelnen aber herrscht eine erstaunliche .Mannig- faltigkeit. Zwischen dem spindeldürren , schlanken Leib, durch den die -Männchen von Bacillus usw. an Gras- oder Binsenhalme erinnern und dem kräf- tigen, dicken walzenförmigen Körper von EuryciDitlia usw. finden sich alle möglichen Übergänge; dabei ist der Körper glatt oder rauh , mit Dornen und Stacheln bekleidet {Ohrimus etc.) oder mit flachen zackigen Fortsätzen , Schuppen u. dgl. besetzt , wo- durch derselbe an die mit Moosen und Flechten bewachsene Borke von Baumzweigen erinnert [Lam- poiiius etc.). Seltener als die Nachahmung von Stengeln und Zweigen ist jene von frischen oder abgestorbenen Bläitt-rn, wie man sie in der voll- kommensten F'orm bei PhylUum und Chitoniscus fin- det; liat ja doch diese vollendete Nachäfifung bei den Eingeborenen Ostindiens den Glauben hervorgerufen, daß diese Tiere ursprünglich Blätter waren. — Es ist festgestellt, daß der grüne Farbstoff von Phylliiim spektroskopisch große Ähnlichkeit mit Chlorophyll besitzt, wodurch allerdings die Identität der beiden Stoffe nicht erwiesen ist. Unhaltbar ist auch die Annahme , daß die grüne Farbe von dem Genüsse grüner Pflanzenteile herrühre oder daß mit dem Welken der Blätter die grüne Farbe durch Braun ersetzt würde. — Am Seitenrand des Metathorax von Leosthenes, JVisyrus und Prisopus treten zarte, beweg- liche am Rande bewimperte Blättchen auf, welche wegen ihrer Ähnlichkeit mit den bekannten Organen der Ephemeridi-nlarven für Tracheenkiemen gehalten wurden. Neuere Autoren bezweifeln mit Recht diese Deutung, da z. B. Nisyrus gar nicht im Wasser lebt. Die Arten der Gattung Prisopus leben freilich nach Murray mit dem Kopfe gegen den Strom gerichtet, die ausgehöhlte, am Rande bewimperte Unterseite des Körpers an Steinen förmlich festgeklebt , in den Bergwässern Brasiliens. Selbst bei diesen ist übrigens die Kiemennatur jener Blättchen keineswegs festge- stellt und die hornige Beschaffenheit derselben macht dies wenig wahrscheinlich. — Eine weitere Eigen- tümlichkeit sind die bei vielen Phasmiden vorkom- menden Stinkdrüsen , lange schlauchförmige Organe, die vor den Voiderhüften mit einer stigmenartigen Öffnung münden. — Wie die Imagines an Zweige und Blätter erinnern, so gleichen die Eier derselben auf das Täuschendste verschiedenen Samen , so daß sie wiederholt als solche angesehen und sogar ver- sendet wurden. — Merkwürdig ist , daß die äußere derbe Eischale nicht bloß das Aussehen , sondern mitunter auch die Struktur eines Pflanzengewebes zeigt. Ein dünner Schnitt durch die Eischale von PhylUum bietet ein ähnliches Bild , wie das Rinden- gewebe mancher Pflanzen und diese Ähnlichkeit wird noch dadurch erhöht, daß jenes Gewebe zahlreiche grüne Körner enthält , welche an Chlorophyllkörner erinnern. — Die Zahl der Eier scheint bevrächt- lichen Schwankungen zu unterliegen; 20 — 50 dürfte als die häufigste Durchschnittszahl gelten, doch sollen manche Arten mehr als 100 Eier ablegen. — Die Zahl der Häutungen ist nur bei wenigen Arten be- kannt , dürfte aber durchweg gegen vier oder fünf betragen. — Als eine Eigentümlichkeit der Larven wird angegeben, daß Stachel- und lappenförmige F"ortsätze des Körpers und der Beine bei ihnen stärker ausgebildet seien als bei der Imago und mit- unter selbst bei solchen F'ormen auftreten , die im vollkommenen Zustande derlei Auszeichnungen gar nicht besitzen. — Dagegen kann man bei verschie- denen Arten auch den entgegengesetzten Fall be- obachten, daß derlei Lappen an den Beinen der Larven schwächer ausgebildet sind als beim voll- kommenen Insekt oder ganz fehlen. — Sehr bekannt ist die Reproduktionsfähigkeit der Phasmiden. Schneidet man ein Bein unterhalb des Schenkelgelenkes ab, so fällt der Rest noch vor der nächsten Häutung ab, wird aber bei der Häutung selbst als ein kurzer gerader Stumpf mit bereits erkennbarer Gliederung oder als verkümmertes Bein (mit geradem Schenkel, aber fast kreisförmig gekrümmten Schienen und Tarsen) erneuert. Im ersteren Falle nimmt das Bein erst bei der nächsten Häutung das Aussehen an, das es im zweiten Falle hat. In beiden Fällen aber geht dasselbe bei der nächstfolgenden Häutung in ein Bein von normaler Bildung über, welches nur durch geringere Größe und viergliedrige Tarsen ausgezeich- net ist. — Die Phasmiden sind durchwegs Pflanzen- fresser von trägem, stumpfsinnigem Charakter ; gleich den Faultieren Südamerikas klettern sie langsam und schwerfällig von Zweig zu Zweig, aber nur, wenn das Bedürfnis nach Nahrung sie hierzu antreibt. — Ihr Flug wird al'gemein als ein schwerfälliger bezeichnet, da die Hinteiflügel mehr als Fallschirm verwendet werden. — Das F"utter nehmen sie hauptsächlich in der Nachtzeit zu sich und sind dabei sehr gefräßig. — Das wichtigste natürliche Schutzmittel der Phas- miden gegenüber den Feinden besteht vor allem in ihrer frappanten Ähnlichkeit mit Pflanzengebilden der verschiedensten Art. Bei vielen Arten wurde ferner beobachtet, daß sie sich bei Gefahr totstellen, indem sie den Körper vollkommen unbeweglich halten, die Vorderbeine dicht neben dem Kopfe gerade nach vorn , das eine oder andere der vier hinteren Beine aber starr nach der Seite strecken, wodurch die Ähn- lichkeit mit Zweigen noch erhöht wird. Eine weitere sehr verbreitete und ausgiebige Schutzwafife besteht in den schon erwähnten Stinkdrüsen. — Während bei der großen Mehrzahl der Phasmiden Männchen und Weibchen nahezu in gleicher Menge auftreten, besteht bei einigen Gattungen {Bacillus etc.) ein ab- normes Verhältnis, indem die Männchen außerordent- lich selten sind. Diese Erscheinung hat die Ver- mutung angeregt , daß bei diesen Tieren wenigstens gelegentlich parthenogenetische Fortpflanzung statt- finden dürfte und tatsächlich gelang es im Laufe der letzten Jahre , bei verschiedenen Spezies dies festzu- stellen. — In den neueren Lehrbüchern der Zoologie werden die Phasmiden wegen der fünfgliedrigen Tarsen noch immer mit den Mantiden und Blattiden vereinigt. — Tatsächlich haben sie mit den beiden genannten Gruppen außer den fünfgliedrigen Tarsen 80 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. VIII. Nr. 5 noch den Mangel der Sprungbeine und Zirporgane, sowie die normale Lage der Flügelscheiden bei den Larven, sonst aber auch nichts gemeinsam. — Von Handlirsch ist ein für allemal festgestellt, daß die Phasmiden eine relativ junge Insektengruppe sind und vermutlich zusammen mit den heutigen Saltatorien von den paläozoischen Protolocustiden abstammen. — — Damit hätte ich einige der vielen Punkte, welche die Einleitung des Werkes behandelt, in Form eines kurzen A-uszuges berührt. — Was die Feinde der Phasmiden anbetrifft , so habe ich im Bismarck- Archipel durch eine umfangreiche Untersuchung der Mageninhalte aller dort vorkommenden Vögel fest- stellen können , daß Teile von Phasmiden sich nur bei einer einzigen Vogelart fanden. Der Spornkuckuck (Centropus ateralhus) ist es, der die Phasmiden trotz ihrer großen Ähnlichkeit mit Zweigen und Blättern zu finden weiß. Er sucht die Pflanzen aber auch, wie ich mich überzeugen konnte , mit einer außer- ordentlichen Gründlichkeit ab. Meine Untersuchung der Vogelmägen beweist also , daß die Phasmiden vor den übrigen insektenfressenden Vögeln des Bismarck-Archipels einigermaßen sicher sind, daß ihnen also ihre oben genannten Eigenschaften einen weitgehenden (wenn auch nicht absoluten) Schutz und damit große Vorteile im Kampfe ums Dasein ge- währen (vgl. Mitt. zool. Mus. Berlin, Bd. i, Heft 3, S. 171). — Wenn die Verfasser des Werkes, gestützt auf eine Mitteilung M on t ro uziers, die verdickten Hinterl)eine des Männchens von Eurycantha horrida als Waffe auffassen, die „gewaltig verwunden" soll, so entspricht das meiner Erfahrung nicht. Ich habe das Tier sehr oft lebend in Händen gehabt, ohne etwas von dieser geiährlichen Waffe zu verspüren. Ich habe nur gefunden, daß es sich mit den Hinter- beinen vorzüglich festhalten kann und da die Hinter- beine nur beim Männchen stark verdickt sind, glaube ich annehmen zu dürfen , daß dieselben besonders zum Festhalten des Weibchens dienen, obgleich ich die Paarung nicht beobachtete. Dahl. Heinrich Kirchmayr, Die analytische Be- rechnung regulärer Kristalle, für Stu- dierende der Kristallographie. 47 Seiten mit 31 Figuren im Text. Verlag von W. Junk in Berlin. 1908. — Preis 1,50 Mk. Eine sehr sachliche .'\bwä.;ung des Wertes des vorliegenden kurzen Werkes gibt der Verfasser selbst, indem er sagt, daß sich die angewendete analytische Methode nur für gewisse Fälle des regulären Systems gut eignet, namentlich, um aus den Indices die Flächen- und Kantenwinkel sowie die Kantenlängen zu be- rechnen. Für den Studierenden, wenigstens den An- fänger, dürfte daher das im übrigen einfach und klar gefaßte Buch weniger in Frage kommen, da dieser sich zunächst in einen einzigen, bestimmten, allge- mein gültigen Weg der Kristallberechnung, der ihm doch nicht erspart bleibt, wird einarbeiten müssen. In der Hand des fertigen Kristallographen und nament- lich bei der Anfertigung von Kristallmodellen wird es aber vielfach gute Dienste leisten. O. Schneider. Anregungen und Antworten. Herrn P. J. Bg. in Ka. — LUe Reste von Pithecan- thropus sind von Dubois nicht so gefunden worden, daß man von vornhereia ohne Zweifel anzunehmen hätte, sie stammten auch von einem und demselben Tiere. Sie lagen in einer knochenreichen Flußablagerung unter zahlrciclien Resten von Stegodon, Axis , Bubalus, Bibns, Sus usw. Im September 1891 wurde der rechte dritte obere Molar gefun- den, in etwa I m Entfernung dann das Schädeldach. Im Jahre darauf wurde ganz nahe dem Fundplal^e des ersten Jahres der linke zweite obere Molar und in 15 m Entfernung das linke Femur entdeckt. Trotz dieser so weit auseinander- liegenden Fundstätten der einzelnen Teile ist dennoch Duhois davon überzeugt, daß sie nicht nur zu derselben Tierart, sondern sogar zu einem und demselben Skelette gehören ; einerseits weil die anatomischen Merkmaie der KopUeile mindestens für den menschenähnlichsten der menschenähnlichen Affen sprechen, diejenigen des Femur vielleicht sogar für einen Men- schen ; andererseits aber trotz des fünfjährigen Grabens nicht ein einziger Skelettrest der gleichen Tierart, auch nicht einer ähnlichen, zu der die Knochen z. T. gerechnet werden könn- ten, gefunden wurde, obwohl die R'-ste der genannten ande- ren Tiere so massenhaft vorhanden waren, daß sie in etwa 115 zentnerschweren Kisten nach Leyden transportiert wurden und dort, obwohl nur z. T. ausgepackt, ein ganzes Haus an- füllen. — Inzwischen hat nun 1907 eine neue Ausgrabung in denselben .Schichten stattgefunden , die von Frau Selenka mit Unterstützung der Berliner Akademie der Wissenschaften unternommen worden ist. Aber auch diese Ausgrabung hat kein neues Material von Pithecanthropus zutage gefördert. Dennoch sind hierbei Beobachtungen gemacht worden, die geeignet sind, Dubois' -Ansicht zu stützen. Die Ausgrabungen wurden mit der größten Sorgfalt überwacht und jedes Stück sogleich mit Nummer und Etilcett versehen, die Nummer gleich mit genauester .i^ngabe des Fundortes sowohl bezüglich der Tiefe wie der seitlichen Entfernung von bestimmten Stellen in ein Fundbuch eingetragen. Da hat sich nun gezeigt, daß Reste eines und desselben Tieres in der Tat meterweit sowohl in horizontaler wie vertikaler Erstreckung gefunden sind. So tragen z, B. die z. T. in den Nähten, z. T. durch Bruch ge- trennten Stirnbeine eines jungen männlichen Hirsches, die un- zweifelhaft aneinanderpassen , andere Bezeichnung des Fund- ortes wie sogar der Schicht. Der B'uch ist mit Sicherheit alt und vor der Ablagerung beider Knochen erfolgt. — Der Verfasser dieser Notiz, der die Bearbeitung der Säugetiere übernommen hat, ist nach solchen Feststellungen von der Zu- sammengehörigkeit der Skeletteile des Pithecanthropus über- zeugt. Str. Das Oxyburserazin (vgl. Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. Vlll, S. 10) ist meines Wissens nicht im Handel. Nähere .Auskunft über seine Verwendung gegen Flechtenerkrankungen dürfte der Entdecker der Substanz Herr Dr. Werner von Bolton (Charlottenburg-Nonnendamm, Physikalisch-Chemisches Laboratorium von Siemens & Halske) geben. Mg. Inhalt: Prof. Dr. Victor Sehiffner: Die Nutzpflanzen unter den Flechten. — Sammelreferate und Übersichten: F. Koerber: Neues aus der .Astronomie. — Kleinere Mitteilungen: G. H. Parker: Die Sinnesempfindungen des Am- phio.tus. — Dr. Edw. Hennig: Ein Meteorkratcr. — Hinimelserscheinungen im Februar 1909. — Büctierbesprechun- gen : K. Brunner v. Wattenwyl und Jos. R e d te n b ac h er : Die Insektenfamilie der Phasmiden. — Heinrich Kirchmayr: Die analytische Berechnung regulärer Kristalle, für Studierende der Kristallographie. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur; Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lirhterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue holge Vlll. Band ■ der ganzen Keihe XXIV. Band. Sonntag, den 7. Februar igog. Nummer 6. Über örtlich getrenntes oder geselliges Vorkommen verwandter Pflanzenformen. [Nachdruck verboten, i Der amerikanische Botaniker Robert Green- leaf Leavitt hat im American Naturalist (Vol. XLI, 207 — 240) eine Studie über die geo- graphische Verbreitung nahe ver- wandter Arten veröffentlicht. Er geht von der .Auffassung aus, daß sich aus der Verteilung nahe verwandter Formenkreise erkennen lassen müsse, ob sie durch allmähliche Entwicklung oder durch Mutation im Sinne von deVries entstan- den seien. Von besonderer Wichtigkeit ist die F"rage, inwieweit Isolierung der neu entstehenden Arten notwendig ist, um eine Vermischung aus- zuschließen und eine selbständige Entwicklung der einzelnen neuen Formenkreise zu ermöglichen. Der Verfasser hat mir nun die Frage vorgelegt, welcher Art meine Erfahrungen über die Ver- breitung nahe verwandter Pflanzenarten seien. Es ist mir unmöglich, mich darüber ganz kurz, also etwa in einem gewöhnlichen Briefe, auszusprechen. Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen und Vor- gänge in der Natur ist viel zu groß, um eine Zu- rückführung der Tatsachen auf wenige allgemeine Gesichtspunkte zu gestatten. Ich möchte daher versuchen, in den folgenden Betrachtungen meine Ansichten über die Bedeutungderisolierung und der freien Kreuzung für die Artenbil- dung darzulegen und zwar mit besonderer Bezug- nahme auf die geographische Verbreitung der nahe verwandten Formen. Ich bin der Ansicht, daß die Beobachtung in der freien Natur viele Vorstellungen berichtigen muß, die man sich in der Studierstube gebildet hat. Der Freifeld- botaniker muß, wie auch Leavitt betont, die Brauchbarkeit der von den Gelehrten theoretisch gefundenen und im Anschluß an bestimmte Schul- meinungen formulierten Lehren an der wilden Pflanzenwelt prüfen. Variation. Es würde viel zu weit führen, wenn ich auf die mit den besprochenen Fragen zusammenhängenden Vorstellungen über Ursachen der Abänderungen, über Variation und Mutation (plötzlich auftretende erbliche Abänderung) usw. eingehen wollte. Ich muß indes von vornherein betonen, daß ich die gegenwärtig üblichen Unter- scheidungen zwischen den Wirkungen der Varia- tion und der Mutation nicht für glücklich halte. Die unter dem Namen der Variation zusammen- gefaßten Erscheinungen sind von äußerst mannig- faltiger Art. Mit vollem Rechte sagt de Vries: „nichts ist variabler als das Wort Variabilität". Eine besondere Klasse von Variationen sollen die Mutationen sein ; es ist nun aber offenbar nicht sachgemäß, in jedem Einzelfalle nur zwei ver- meintliche Möglichkeiten, Variation in engerem \on W. O. Pocke. Sinne oder Mutation, in Betracht zu ziehen. Im Jahre 1875 habe ich in ausführlicher Begründung vorgeschlagen (Jen. Zeitschr. f. Naturwissensch. IX), statt des unbestimmten Begriffes der Variation zunächst wenige versciiiedene Stufen oder Formen von Varietäten zu unterscheiden; 1877 habe ich in meiner Synopsis Rubor. Germ, 6 verschiedene Stufen des Artvvertes angenommen, nachdem ich 1866 die Ungleich Wertigkeit behauptet hatte. Schon 1872 hatte Engler (Monogr. Saxifraga) in einzelnen Fällen auf eine vollständige Gliede- rung in Spezies verzichtet und hatte Schwärme von allzu nahe verwandten Arten zu einem Typus polymorphus zusammengefaßt. Christ sprach sich 1873 über die Ungleich Wertigkeit der Rosen- arten aus. Es hat aber lange Zeit gedauert, bis entsprechende Anschauungen in den floristischen Werken zum Ausdruck gelangt sind; neuerdings ist dies z. B. von Ascherson und Graebner versucht. Die Kompromisse, die man zwischen der mannigfaltigen lebendigen Natur und dem toten systematischen Schema zu schließen sucht, werden niemals befriedigen, aber sie sind doch unentbehrlich, um formale Näherungswerte zu er- halten, an die sich die Vorstellungen anlehnen können. Man pfropft immer noch in die Begriffe von Mutationen und Varietätsstufen ganz ver- schiedenartige Eigenschaften hinein, die in gar keiner festen Beziehung zueinander stehen. Man wird bei neuen Formen nach den Vorfahren und dem Ursprünge (plötzliche oder allmähliche Aus- prägung), dem Grade der Verschiedenheit von der Stammform, dem erfahrungsmäßigen syste- matischen Werte der Unterschiede (z. B. geringe Bedeutung der auffallenden Pelorien und Varietates monopliyllac, dissectae, discoidcae usw.), der Erb- lichkeit der Merkmale, der Anpassung an die mannigfaltigen Lebensbedingungen usw. forschen. Die Kenntnis dieser Eigenschaften dürfte ein besseres Bild von der Bedeutung einer be- stimmten Abänderung geben, als eine Unter- suchung darüber, ob diese Abänderung eine Varietät oder eine Mutation ist. Es ist nur ein einziges Verfahren bekannt, durch welches man mit einiger Sicherheit solche wesentliche Abänderungen erzielen kann, die ,, sprungweise", also unvermittelt, entstehen und sich unverändert fortpflanzen, die sich also ver- halten wie die Mutationen von Oenotliera Lamarckiana. Jenes bis zu einem gewissen Grade bewährte Verfahren besteht in der Kreuzung ver- wandter Arten oder ausgeprägter Rassen. Unsere Kulturgewächse sind größtenteils aus Rassen- oder Arten-Kreuzungen hervorgegangen; man findet 82 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIIl. Nr. 6 daher bei ihnen außerordentlich zahlreiche der- artige unvermittelt auftretende Abänderungen. Es ist nicht zu verstehen, weshalb de Vries unter der Nachkommenschaft von Hybriden keine Muta- tionen und keine daraus hervorgehenden neuen Arten anerkennen will, während er doch die zweifellos aus Hybriden entstandenen Kulturrassen als wirkliche Mutationen betrachtet. Dies eine Beispiel mag nur zeigen, welchen Schwierigkeiten man begegnet, wenn man den Mutationsbegriff für die tatsächliche Beurteilung bestimmter Ab- änderungen zu verwerten sucht. Ein näheres Eingehen auf diese Vorstellungen würde ausführ- liche Auseinandersetzungen erfordern. Isolierung und Wanderungen. Als man anfing, sich eingehend mit den Anschau- ungen zu beschäftigen, welche sich als Folge- rungen aus der Darwin'schen Entwick- lungslehre ergaben, legte man sich notwendig auch die Frage vor, wie es möglich sei, daß Ab- änderungen von Tier- und Pflanzenarten zu Varie- täten und selbständigen neuen Arten umgeprägt werden könnten, obgleich sie durch freie Kreu- zung mit der Stammform stets wieder zu dieser zurückgeführt werden müßten. Es schien kaum denkbar, daß die natürliche Auslese die neuen Formen in ausreichender Weise begünstigen könnte, um sie zu einer Verdrängung der Stamm- art zu befähigen. Ohne Ausschluß der Kreuzungen schien es auch nicht möglich, daß eine Abände- rung sich im Wettbewerb mit dem alten Typus einen gesicherten Platz erobern könne. Als das beste Mittel, um der neuen Form die Möglichkeit einer selbständigen Entwicklung zu gewähren, er- schien die Auswanderung, die örtliche Trennung. Auf diesen Gedanken baute sich die Wag n er- sehe Migrationstheorie auf, nach welcher Wan- derungen den Anstoß zu einer je nach den neuen Heimatsgegenden verschiedenartigen Ent- wicklung der Tiere und Pflanzen gegeben haben sollten. Örtliche Trennung bewirkt aber an sich keine Variation; viele Pflanzen der subarktischen Gegenden Europas finden sich in den Alpen und anderen Gebirgen in unveränderter Gestalt wieder, obgleich sie hier seit der Eiszeit durch einen breiten Zwischenraum von ihren nordischen Art- genossen getrennt sind. Noch viel älter ist die Sonderung Nordeuropas von Amerika; trotzdem aber gibt es in beiden Erdteilen viele überein- stimmende Arten. Zeit und Ort sind in diesen Fällen ohne Einfluß auf den Arttypus geblieben. Andererseits schien die Migrationstheorie eine gewisse Stütze in der Auffindung von zahlreichen „Schöpfungszentren" zu gewinnen. Man fand, daß bestimmte systematische Gruppen von Tieren oder Pflanzen vorzugsweise in bestimmten Gegen- den vertreten sind; daraus schloß man, daß an diesen Stellen die Urheimat der Gruppe (Ord- nung, Gattung oder Sammelart) zu suchen sei und daß sich die Einzelglieder der Gruppe von dort aus längs der Bergketten oder der Ebenen oder der Flüsse nach verschiedenen Richtungen ausgebreitet hätten. In manchen Fällen schienen derartige Vorstellungen die Tatsachen ganz gut zu erklären. Aber die geologischen Unter- suchungen zeigten bald, daß aus der jetzigen Ver- breitung der Organismen nicht geradezu auf die ehemalige geschlossen werden darf. Pferde gab es in Amerika vor Ankunft der Europäer nicht; trotzdem machen die beobachteten paläontolo- gischen Tatsachen es wahrscheinlich, daß die ur- sprüngliche Heimat dieser ganzen Tiergruppe in Amerika lag. Im Miozän Europas hat man mancherlei amerikanische Baumarten gefunden, so daß man in jedem Falle fragen muß : ist der Typus im Osten oder im Westen des Atlantischen Ozeans entstanden oder ist er nach beiden Ländern aus einer arktischen oder sonstigen Urheimat ein- gewandert? So sehr auch derartige Erfahrungen zur Vor- sicht mahnen, so gibt doch für die nördliche ge- mäßigte Zone die Annahme eines ehemaligen Zusammenhangs zwischen den Verbreitungs- bezirken ähnlicher Arten eine gute Erklärung. Aus einem arktischen oder zirkumpolaren Lande zogen sich Pflanzen und Tiere während der kühler werdenden Pliozänzeit und Eiszeit südwärts zurück. Viele Arten werden zugrunde gegangen sein; viele der widerstandsfähigsten und für Wande- rungen gut ausgerüsteten Formen konnten später einen Teil ihres ehemaligen Wohngebietes von neuem besiedeln, andere Arten erhielten sich hie und da an einzelnen geeigneten Standorten, die in der Gegenwart durch weite Zwischenräume getrennt sein können. Die Annahme, daß in ver- gangenen Zeiten auch die Lücken in der Ver- breitung für die betreffende Art bewohnbar ge- wesen seien, ist in vielen Fällen durchaus wahr- scheinlich und gibt eine weit bessere Erklärung der Tatsachen, als die Vorstellung, daß Stürme oder Vögel die Samen an neuen Standorten aus- gestreut hätten. Die Möglichkeit einer derartigen Verbreitungsweise soll übrigens durchaus nicht bestritten werden. Das Vorkommen übereinstimmender oder sehr ähnlicher Pflanzen an weit voneinander getrennten Standorten, die ähnliche Lebensbedingungen bieten, ist längst bekannt. Berühmt ist das Beispiel der drei nahe verwandten Cedern-Formen vom Atlas, Libanon und Himalaya. Echte Hochgebirgs- pflanzen, wie das Edelweiß {Leontopodiuin) treten in den weit getrennten höheren Bergketten Amerikas, Asiens und Europas auf Erwähnt wurde bereits die Übereinstimmung mancher sub- arktischer mit alpinen, sowie nordamerikanischer mit europäischen Arten. Der ostwestliche Ver- lauf der wichtigsten Bergketten in Europa sowie im westlichen und mittleren Asien läßt die scharfe Absonderung der Gebirgsbewohner von den nor- dischen Arten deutlich hervortreten, während in Amerika und Ostasien die mehr nordsüdliche Richtung der Gebirge als günstiger für Wande- rungen und für die Erhaltung eines Zusammen- hanges zwischen den Gliedern der einzelnen N. F. Vm- Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 83 Formenkreise erscheint. Als Beispiel einer geo- graphischen Trennung von charakteristischen Pflanzentypen seien hier die in einem vielfach unterbrochenen Gürtel der nördlichen Halbkugel auftretenden Gewächsformen erwähnt. In den einzelnen geographischen Abschnitten, in welche dieser Gürtel zerfällt, haben sich die Typen in etwas verschiedener Weise entwickelt, so daß sie als Varietäten, Rassen oder ähnliche Arten unter- schieden werden. Zu diesen Typen gehören z. B. die echten Kastanien, die in Nordamerika und Mittelasien vorkommen, die nahe verwandten Ebereschen {Sc'/-/'t(s) Europas, Ostasiens, West- und Ostamerikas, die Steinhimbeeren, von denen die europäische Art, Ritbits saxatilis, auch durch Nordasien verbreitet ist, während zwei ähnliche, früher als Varietäten betrachtete Arten in Japan und in Nordamerika wachsen. Noch ähnlicher sind sich die echten Himbeeren, Riibus idaciis, ' zwischen deren Rassen sich keinerlei haltbare Artgrenzen ziehen lassen. Merkwürdig sind einige amerikanische Potentillen, P. fruticosa und P. peniisilvanka, die in Nordasien und Europa ganz zerstreut an einzelnen Orten in wenig abweichen- den Rassen auftreten. Alle diese Tatsachen erklären sich ungezwungen aus der tertiären Verbreitung und aus den eiszeit- lichen Wanderungen der Arten, sowie aus einer verschieden gestalteten Weiterentwicklung der- selben innerhalb der jetzigen vollständig geson- derten Verbreitungsbezirke. Bis soweit genügt zur Erklärung der Artenbildung die Migrations- lehre in Verbindung mit den bekannten Tatsachen der gewöhnlichen Variation. Man erkennt aber leicht, daß auf diesem Wege keine allzugroßen Veränderungen erfolgt zu sein scheinen. Seit der Eiszeit hat sich in der Gestalt der Arten kaum etwas verändert, ja selbst der Betrag der Ände- rungen seit der Miozänzeit ist nicht groß genug, um die Ausprägung ganzer Pflanzenfamilien während eines den üblichen Schätzungen ent- sprechenden Zeitraums zu ermöglichen. Noch viel weniger läßt sich durch die Migrationstheorie die große Mannigfaltigkeit einzelner Gruppen von Pflanzen und Tieren innerhalb eng umgrenzter Räume verständlich machen. Um nur ganz be- sonders ausgezeichnete Beispiele zu erwähnen, sei an die Landschnecken der Hawaischen Inseln und an die zahlreichen, ungewöhnlich artenreichen Pflanzengattungen einzelner Teile Südafrikas und Westaustraliens erinnert. Man sieht in derartigen Fällen allerdings Schöpfungszentren, aber die von diesen ausgehenden Ausstrahlungen sind bei der geographischen Isolierung der Herde sehr spärlich geblieben oder fehlen gänzlich. Untersucht man nun andere, weniger abgeschlossene Schöpfungs- zentren, so findet man allerdings in manchen Fällen zahlreiche Ausstrahlungen, man findet auch in diesen Ausstrahlungen Arten, die allen Anforde- rungen an geographisch und systematisch gut um- grenzte „Spezies" entsprechen, aber diese Arten oder nahe verwandten Formen häufen sich in dem Zentrum so sehr, daß an eine Isolierung, welche die freie Kreuzung hindern würde, nicht gedacht werden kann. Freie Kreuzung. Die Fülle derartiger Tatsachen, von denen hier nur beispielsweise wenige einzelne Fälle erwähnt werden konnten, ist so groß, daß eine Erklärung derselben durch die Migrationstheorie völlig aussichtslos ist. Es muß, wie man sich längst klar gemacht hat, not- wendig eine Unrichtigkeit in dem Gedankengange stecken, der zu der Migrationstheorie geführt hat. Es liegt nahe, zu glauben, daß der Fehler in der Vorstellung von der Allgemeinheit der freien Kreuzung liegt. Bei den höheren Gewächsen ist es leicht, zu erkennen, daß örtliche Trennungen, wie sie überall vorkommen, genügen, um Kreuzungen zwischen gleichartigen Pflanzen verschiedener Standorte außerordentlich zu erschweren. Weder der Wind noch die Insekten werden den Blüten- staub der Bergpflanzen häufig zu einem 100 oder selbst nur 20 km entfernten anderen Berge hin- überführen ; manche Samen mögen leichter auf derartige Entfernungen transportiert werden, aber im allgemeinen muß die Zuwanderung neuer An- kömmlinge derselben Art an einen einigermaßen isolierten Standort einer bestimmten Pflanze ein verhältnismäßig recht seltenes Ereignis sein. Die Charakterpflanzen solcher Standorte, die sich nur zerstreut finden, wie es höhere Berge, Sümpfe, Salzstellen, Kalkhügel, Sanddünen usw. sind, werden, wenn sie irgendwo zu Abänderungen neigen, darin durch an anderen Stellen wohnende Artgenossen kaum gestört werden. Ihre Isolierung ist tatsächlich fast ebenso vollständig, wie die der durch weite Entfernungen und breite Meere ge- trennten verwandten Arten, deren Verhalten be- reits vorstehend erörtert worden ist. Bei den Pflanzen ist weder die Individualität noch die Trennung der Geschlechter so ausge- prägt wie bei den Tieren. Gerade die voll- kommensten Pflanzen sind in überwiegender Zahl zweigeschlechtig. Ihre Fortpflanzungsverhältnisse sind außerordentlich mannigfaltig. Vegetative, also völlig ungeschlechtliche Vermehrung ist bei vielen Gewächsen in großem Maßstabe mög- lich. Die Wasserpest [Elodcä) hat sich seit 50 oder 60 Jahren in Europa außerordentlich ausge- breitet und ist stellenweise zur Plage geworden, ohne je einen Samen gereift zu haben. Noch weit länger ist der Kalmus [Acorus) in Europa eingebürgert, bringt hier aber niemals F"rüchte. Arten von Hcmcrocallis und einige Zwiebel- gewächse verhalten sich ähnlich; manche Arten von Allium und Liliuni, Dentaria bulbifera usw. bringen selten Früchte, vermehren sich aber durch besondere Organe (Brutzwiebeln). Bei den Moosen ist die häufige oder ausschließliche Vermehrung durch Brutkörner etwas ganz Gewöhnliches. — In einer anderen Reihe von Fällen entwickeln sich Samen aus den weiblichen Knospen ohne jede Befruchtung, also parthenogenetisch {AI- 84 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 6 cliimilla, Antennaria, Taraxacnm usw.). Endlich sind kleistogamische Blüten, in denen die Befruchtung ausschließlich durch Blütenstaub der in der nämlichen Hülle eingeschlossenen männ- lichen Organe erfolgt, gar nicht selten. In allen diesen F'ällen ist Kreuzung verschiedener Stöcke vollständig unmöglich, während eine sehr wirk- same Vermehrung und Ausbreitung stattfinden kann. Die für die Artenbildung als erforderlich erachtete Isolierung ist somit in diesen Fällen vorhanden, aber es fehlt eine andere Vorbedin- gung, nämlich die Variabilität. Die auf vegeta- tivem Wege oder durch engste Inzucht erzeugte Nachkommenschaft ist außerordentlich gleichförmig. Individuelle Eigentümlichkeiten können bei den Abkömmlingen eines einzigen Exemplars für völlig konstante Rassenmerkmale gehalten werden. Aus diesen Erfahrungen und Überlegungen muß man den Schluß ziehen, daß die freie Kreu- zung eine Vorbedingung der Variabilität und damit der Artenbildung ist. Es ist daher eine durchaus einseitige Betrachtungsweise, wenn man nur von dem Gesichtspunkte ausgeht, daß die freie Kreuzung die Weiterentwicklung der Varie- täten zu selbständigen Arten hindere. Für die biologische Würdigung der partheno- genetischen und der damit biologisch ziemlich gleichwertigen kleistogamischen Fortpflanzung werden die Erfahrungen als maßgebend gelten können, welche man bei gewissen Tieren (Blatt- läusen, Rädertieren) gemacht hat. Unter den günstigsten äußeren Verhältnissen erscheint die geschlechtliche Zeugung als entbehrlich; die Ver- mehrung erfolgt in einfachster Weise nur aus den weiblichen Keimen. Sowie aber die Lebensbe- dingungen mißlicher werden, tritt die geschlecht- liche ZeuCTung wieder in ihre Rechte ein ; es werden dann mittels derselben widerstandsfähigere Individuen oder Dauereier erzeugt. Ganz ähnlich verhalten sich viele niedere Pflanzen (Algen, Pilze). Es ist wahrscheinlich, daß die parthenogenetisch und kleistogamisch fortgepflanzten höheren Ge- wächse unter bestimmten Bedingungen wieder zur geschlechtlichen Kreuzbefruchtung übergehen; sind sie nicht dazu imstande, so werden sie ge- legentlich ungünstigen Verhältnissen (Witterung, Wettbewerb, Parasiten) erliegen. Wenn man die Gewächse, welche sich regel- mäßig ohne Kreuzung fortpflanzen, in eine besondere biologische Abteilung stellt, so kann man eine zweite aus denjenigen Arten bilden, bei welchen sowohl Kreuzung als Selbst- bestäubung möglich ist, eine dritte aus den ausschließlich aufKreuzung der Individuen (Stöcke) angewiesenen Formenkreisen. Die zweite Abteilung ist durch sehr zaiilreiche Arten ver- treten, von denen jede Pflanze bei Isolierung ohne Nachhilfe oder doch bei Bestäubung mit eigenem Pollen reichlich Samen bringt. Zugleich sind ihre Blüten entweder für Bestäubung durch Wind oder durch Tiere, namentlich Insekten, eingerichtet. Manche Arten erhalten selten, andere sehr häufig Insektenbesuche; bei manchen ist Fremdbestäubung, bei anderen Selbstbestäubung der häufigere Fall. Diese Verhältnisse sind während der letzten Jahr- zehnte ziemlich allgemein bekannt geworden. Es wird nicht erforderlich sein, an dieser Stelle näher darauf einzugehen, weil es sich hier nur darum handelt, zu untersuchen, ob nahe verwandte Formen nebeneinander wachsen können, ohne durch die. freie Kreuzung gemischt zu werden. Es zeigt sich nun eine überraschende Mannigfaltig- keit der Möglichkeiten. In manchen Fällen hat sich ein Arttypus unter dem Einflüsse standört- licher Verhältnisse in verschiedene Rassen ge- sondert. Bekannt sind in den .'Mpen die Formen- kreise, welche in einer kristallinisches Gestein und einer Kalkfels bewohnenden Varietät, Rasse oder verwandten Art vorkommen. Diese Parallelformen sind auch auf anderem Boden samenbeständig, aber sie sind hier weniger widerstandsfähig; es sind keine großen Entfernungen erforderlich, um sie rein zu erhalten, wenn auch gelegentlich beim Zusammentreffen Kreuzungen vorkommen. In entsprechender Weise wirken auch sonstige ver- änderte Lebensbedingungen. So z. B. wird Juncns ' covipressus, der oft an Flußufern wächst, an den Seeküsten und an salzreichen Stellen sofort durch J. Gerardi ersetzt; nach Übergangsfoimen sucht man meistens vergeblich. Es gibt in Mitteleuropa drei verbreitete nahe verwandte Arten von Aniit'ria\ eine derselben, die A. elongata, wächst im ebenen und hügeligen Binnenlande, eine andere {A. alpiner) auf Hochgebirgswiesen, die dritte {A. viarithna) am Seestrande. Außerdem kommen noch einige mehr lokalisierte Formen vor. An trockenen sandigen Stellen am Weserufer z. B. wächst A. elongata häufig; im Unterlaufe des Flusses fehlen solche sandige Stellen und damit auch die Armerien, bis sie plötzlich unter der Einwirkung des Salzwassers in großer Masse in den Wiesen wiedererscheinen, aber in einer etwas abgeänderten Gestalt. Es ist nicht etwa die A. maritima, welche hier auftritt, sondern eine Mittel- rasse, die an der deutschen südlichen Nordseeküste eine große Verbreitung hat, während weder A. elongata noch A. maritima daselbst vorkommen. An anderen Stellen, z. B. schon an der nahen Eibmündung, finden sich die genannten beiden Hauptarten nebeneinander. — Ein ferneres Bei- spiel, wie zwei nahe verwandte Formen einander vertreten, ist folgendes. Von Synipliyttint officinale wächst an der mittleren Weser eine blaßgelb blühende, an dem Nebenflusse Aller eine dunkel- violette Form. Von der Vereinigung der beiden Flüsse an abwärts findet sich regelmäßig nur die violette Form, aber mit Einmischung einzelner mehr oder minder rosa blühender Exemplare, die wohl als Kreuzungen zu deuten sind und weiter stromabwärts seltener werden. In ähnlicher Weise pflegen die blaßgelbe Scabiosa ocJiroleuca und die hellblaue Sc. columbaria einander auszuschließen; auch das gelblich weiße Phyteuma spicatum und das schwarzviolette Ph. niirrum bewohnen im all- N. F. Vin Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 85 gemeinen getrennte Standorte, doch entstehen da, wo beide Rassen zusammcntreft'en, stets zahlreiche Kreuzungsformen. Caf'sc/lir nihclla ist eine süd- europäische, sehr beständige Pflanze, die sich indes von der viel weiter verbreiteten, formen- reichen C. Bursa pasloris nur durcii geringfügige Merkmale untersciieidet. Beide F'ormen wachsen häufig nebeneinander, ohne daß Übergänge vor- kommen, doch treten zuweilen anscheinende Kreuzungen auf, die merkwürdigerweise so gut wie vollkommen unfruchtbar zu sein pflegen. Auch andere nahe verwandte Arten wachsen häufig gemischt, ohne sich gegenseitig zu beein- flussen, wenn auch hie und da Mischlinge vor- kommen. Solche trotz ihrer Aiinliciikeit gut ge- trennte, nahe verwandle Arten oder Rassen sind z. B. Festitca elatior und F. arundinacca, Scirpus lacuster und ^i:. Tabernaciitontani, Luzula campestris und L. midtiflora, Viola silvatica und V. Rivhiiaita, Alcctorolopliiis major und A. minor. Der Ähnlichkeit wegen mag hier noch ein Fall erwähnt werden, der einen zweihäusigen Formen- kreis betrifft , also eigentlich an anderer Stelle besprochen werden müßte. Mclandryum rubrum und M. album sind zwei nahe verwandte Arten, von denen jede ihrem besonderen Standorte, dem Walde und dem oflenen Felde, vorzüglich ange- paßt ist. Die beiden Arten trefi'en oft zusammen und werden dann stets gekreuzt; die Mischlinge sind fast vollkommen fruchtbar, aber sie sind beim Wettbewerb mit den Stammarten an jedem Standorte im Nachteil. Die beiden echten Arten werden somit durch derartige Kreuzungen so gut wie gar nicht beeinflußt ; sie fließen selbst an einzelnen Stellen kaum irgendwo zusammen. Sind einmal ähnliche Arten gut an verschiedene Lebens- bedingungen angepaßt, so führen selbst häufige Kreuzungen zu keiner Beeinflussung der Stamm- arten. Die angeführten Beispiele zeigen, daß gar keine großen Entfernungen nötig sind, um zwei nahe verwandte Arten und Rassen in genügender Weise getrennt zu halten, so daß sie einander trotz gelegentlicher Kreuzungen kaum beeinflussen. In einigen Fällen (z. B. Alectoroloplius, Festuca) vermögen wir noch keinen Grund einzusehen, weshalb keine Vermischung eintritt; wir können bis jetzt nur die Tatsache verzeichnen. Auch gibt es Fälle, in denen das wirkliche Verhältnis zweier Formenkreise zueinander zweifelhaft ist, z. B. Ranunculus Flannnula und A'. reptans, Carex flava und C. OcJeri. Ein besonderer Fall ist es, wenn durch den Menschen zusammengebrachte, verwandte Arten zusammentreffen. In einigen Phallen fehlen an den neuen Standorten die Kreuzungsvermittler; man kann daher die verschiedenen Arten und Rassen aus den Formenkreisen der Datura Straiumonium und des Pisum sativum nebeneinander kultivieren, ohne daß irgendwelche Kreuzungen eintreten, obgleich man mit Leichtigkeit Mischlinge durch künstliche Bestäubung erzeugen kann. In anderen Fällen findet dagegen eine so wirksame Mischung statt, daß die ursprünglichen Formen in der Nach- kommenschaft vollständig verschwinden. Die in Amerika standörtlich getrennten, eng verwandten Arten oder Rassen aus dem F"ormenkreisc von Bcrberis Aquifolium sind in europäischen Gärten, in denen sie kultiviert wurden, zu einer formen- reichen Sammelart verschmolzen. In diesem Falle haben die Gärtner nur wenig zu den Kreuzungen beigetragen, dagegen sind durch ihre Bemühungen viele Arten von Ziergewächsen so gemischt worden, daß die echten Stammformen kaum wieder zu finden sind. Ein großer Teil unserer Nutzpflanzen ist im Laufe langer Kultur aus unabsichtlichen Kreuzungen hervorgegangen. Man darf diese Beispiele, in denen die freie Kreuzung ihre mächtige Wirkung ausgeübt hat, nicht außer acht lassen, wenn man sich mit den zahlreichen Fällen beschäftigt, in denen sie offenbar völlig bedeutungslos ist. Es wird nun notwendig sein, diejenigen Fälle zu erörtern, in denen es sich nicht um die Ver- gesellschaftung zweier oder weniger nahe ver- wandter Rassen, sondern um ganze Rasse n- oder Artensch wärme handelt, die gleichsam in einem Schöpfungszentrum vereinigt sind. Der französische Botaniker Alexis Joidan hat nach- drücklich darauf aufmerksam gemacht, daß die meisten sog. Spezies der Floristen keineswegs aus gleichwertigen und wirklich gleichartigen Individuen, sondern aus mehr oder minder zahlreichen engeren Formenkreisen, die er „especes affines" nannte, zusammengesetzt sind. Wir würden diese samenbeständigen Formen, die große Analogie mit vielen sog. „Varietäten" unserer Kulturge- wächse zeigen, heute als Rassen oder Kleinarten bezeichnen. Jordan, der in kirchlichen Vor- urteilen befangen war, hat sich zwar als sorg- fältiger Beobachter erwiesen, aber es lag ihm jedes Nachdenken über naturwissenschaftliche Tatsachen völlig fern. Er gab keine Deutung seiner Er- fahrungen, aber andere Botaniker, welche die Richtigkeit seiner Beobachtungen anerkannten, haben wohl allgemein seine meisten especes affines für unmittelbar entstandene erbliche Varietäten gehalten; wenn sie gut ausgeprägt wären, würde man sie heute wohl „Mutationen" nennen. Es fehlt indessen bis jetzt die Beweisführung für diese Auffassung der Bildungsweise der Kleinarten ; es fragt sich auch, ob und inwieweit Rassenkreuzungen an der pLntstehung der Kleinarten beteiligt sind. Beispielsweise unterschied Jordan in der früher als formenreiche Art betrachteten ein- jährigen Draba verna etwa 200 especes affines, die sich nebeneinander im Garten kultivieren ließen und sich nach Jordan 's Behauptung als streng samenbeständig erwiesen. Wie diese Tat- sache kontrolliert werden konnte, ist freilich schwer zu verstehen; möglich wäre der sichere Nachweis nur durch Aussaat an entfernter Stelle. Kreuzungen beobachtete Jordan nicht. In ent- sprechender Weise prüfte oder beurteilte er andere 86 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 6 Sammelarten. L. Reichenbach hat später die Gattung Scleravtlius in ähnlicher Weise behandelt, wie es Jordan mit Draba venia gemacht hat. Gandoger und andere haben Jordan 's Werk fortgesetzt, aber es ist ihnen nicht gelungen, das Auffassungsvermögen anderer Botaniker so zu schärfen, daß dieselben viele der especes affines wiedererkennen. Blickt man indessen in die neueren floristischen Spezialarbeiten , z. B. in Ascherson und Graebner's Synopsis der mitteleuropäischen Flora, so erkennt man bald, daß von einem einheitlichen Anbegriff keine Rede mehr sein kann, daß vielmehr die Hauptarten meistens aus Unterarten, Rassen, Leitarten, Ab- arten usw. zusammengesetzt sind. Es steht jeden- falls fest, daß in vielen Fällen zahlreiche ausgeprägte Kleinarten oder especes affines gesellig vorkommen und sich unter diesen Umständen beständig zeigen, anscheinend ohne einen merklichen Einfluß der freien Kreuzungsmöglichkeit. Allerdings gibt es auch Fälle, in denen sich das Schwanken des Arttypus leichter durch die Annahme vorhandener Rassen, die stets wieder gekreuzt werden, verstehen läßt. Nun gibt es aber auch Artenschwärme, deren Glieder durch wesentlichere Unterschiede, als die der especes affines zu sein pfiegen, ge- trennt sind. In Mitteleuropa trifft man sehr häufig kleine Waldungen oder Gebüsche an, in denen Dutzende von Arten aus den Gattungen Rabiis, Rosa oder Hieraciiim nebeneinander wachsen. In einer Entfernung von wenigen Kilometern kann man einen anderen Wald untersuchen, der einige übereinstimmende, aber außerdem auch mehr oder weniger zahlreiche andere Arten enthält. Um sich die Entstehung von ,, Schöpfungsherden" an einem Beispiel in kleinstem Maßstabe klar zu machen, sei hier an Le vi er 's Schilderung der italienischen Tulpenfundorte erinnert. In Getreide- feldern Mittelitaliens haben sich an zerstreuten Stellen Tulpen eingebürgert, die anscheinend ver- änderte Abkömmlinge orientalischer wilder Arten sind. Sie sind an jedem Standorte sehr gleich- förmig, erhalten sich durch Zwiebelvermehrung, bringen aber sehr selten P'rüchie. Von Zeit zu Zeit erscheinen nun neue Tulpenarten, aber fast immer an den Stellen, an denen schon von jeher das Vorkommen von Tulpen bekannt war. Bei der Augenfälligkeit der Blumen und bei dem Interesse, das sie bei Botanikern und Liebhabern erregen, ist es unmöglich, anzunehmen, daß die neuen Arten früher übersehen sind. Sie sind offenbar wirklich neu entstanden. Der Schöpfungs- herd liegt ohne Zweifel in einer der seit langer Zeit eingebürgerten und bekannten Tulpen, die mit eigenem Blütenstäube völlig unfruchtbar sind. Wird nun einmal durch irgendeinen Zufall Pollen einer Gartentnlpe auf eine Feldtulpennarbe ge- führt, so werden Samen erzeugt, die ausgestreut werden und Mischlinge entstehen lassen, welche sich ohne Samen durch Zwiebeln vermehren. Solche Mischlinge sind die in dem Schöpfungs- herde gebildeten neuen Arten. Die zahlreichen gesellig wachsenden Arten von Rtlbus, Rosa und Hieraciiim haben nun eine gemeinsame Eigentümlichkeit: in ihrem Blüten- stäube findet man mehr oder minder zahlreiche mißgebildete oder verkümmerte Körner. Der- artigen ,, mischkörnigen" Blütenstaub trifft man fast regelmäßig bei Bastarden an. — Bei Riibiis liegen nun die Verhältnisse folgendermaßen. Es gibt in Mitteleuropa unter den schwarzfrüchtigen Brom- beeren drei weit verbreitete, allerdings variable Arten, die einen gleichkörnigen Blütenstaub be- sitzen. Wo sie zusammentreffen, bilden sie sehr häufig lebenskräftige, wuchernde aber wenig fruchtbare Bastarde. Zwei der Arten, R. caesius und R. toiiicntosits, liefern auch häufig Kreuzungen mit den übrigen Ritbiis-¥ormex\\ die dritte Art (R. iilmifolius oder R. rusticaniis) tut es ebenfalls, aber seltener. Unter den zahlreichen misch- körnigen Riibiis-Voxvc\tx\ sind manche gut abge- grenzte und recht beständige Arten vorhanden, die auch eine ansehnliche Verbreitung besitzen (z. B. R. stiberectiis, siilcatiis, Qiiesticrii, Sprcngelii, rii'iis, scaber Bellardii usw.). Solche Arten wachsen gewöhnlich zu mehreren oder vielen ge- sellig; Bastarde zwischen ihnen sind selten. Aller- dings gibt es einzelne Arten, z. B. R. vestilns und R. bifroiis, die in ähnlicher Weise wie R. caesius und R. tomentosus, leicht Verbindungen mit an- deren Arten eingehen. Auch wenn man die Schwierigkeit der Erkennung von Mischlingen zwischen ähnlichen Arten sorgfältig berücksichtigt, kann man sich nicht der Wahrnehmung entziehen, daß die nahe verwandten Riibus-Krxtn sich selten fruchtbar kreuzen. Es ist vollkommen unrichtig, wenn man allgemeingültige Behauptungen über Kreuzungsmöglichkeiten aufstellen will. Etwas veränderte Umstände bedingen manchmal ein vollständig verschiedenes Verhalten. Wo z. B. in Norddeutschland Potentilla procumbcns mit P. Tornientilla zusammentrifft, entstehen zahlreiche Mischlinge, die meistens viel häufiger sind als die P. prociinibens selbst, welche von ihnen an vielen Stellen ganz verdrängt worden ist. In England dagegen kommen zwar Kreuzungen der beiden Potentillcn vor, aber man muß danach suchen, da die echte P. procunibens unverhältnismäßig viel häufiger ist als die Mischlinge. Die Entstehung beständiger gekreuzter Rassen in den Gärten, sowie mancherlei einzelne Tat- sachen bestätigen die Ansicht, daß die Rubi mit mischkörnigem Blütenstaub aus Kreuzungen her- vorgegangen sind, die z. T. schon vor der Eiszeit erfolgt sein mögen. Zu weiteren Kreuzungen sind viele der Mischrassen wenig geneigt. — Mehr oder minder analoge Verhältnisse wie bei Ridnis finden sich bei Rosa und Hieraciiim, sowie bei manchen Potcntillen, Centaurcen und zahlreichen anderen Pflanzen. Die in die dritte Abteilung gestellten Pflanzen, bei welchen die Bestäubung durch Pollen eines anderen Stockes für die Fruchtbildung notwendig, Selbstbestäubung also ausgeschlossen N. F. Vin. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 87 ist, bieten viele außerordentlich interessante Ver- schiedenheiten, aus denen sich mancherlei Finger- zeige für die Entstehungsgeschichte der Arten entnehmen lassen. Die gesellig wachsenden ver- wandten Rassen scheinen indessen nicht zahlreich zu sein. Die durch Kreuzung zweier einander nahestehenden Arten entstandenen Stöcke be- dürfen zur Samenbildung Fremdbestäubung, haben aber sehr geringe .Aussicht von einer ihnen selbst ähnlichen Pflanze gleichen Ursprungs bestäubt zu werden oder dieselbe ihrerseits zu befruchten. Jede Kreuzung hat also fast immer weitere Kreuzungen ungleicher Stöcke zur Folge; die Entwicklung neuer Rassen aus den Kreuzungen ist im allge- meinen erst dann möglich, wenn zwei Formen- kreise nahezu vollständig verschmolzen sind und darauf Isolierungen eintreten, die an jedem Orte das Gedeihen der den dortigen Verhältnissen am besten angepaßten Formen des veränderlichen Sammeltypus begünstigen. Unter den zweihäusigen Gewächsen ist allein die Gattung Salix in Europa durch zahlreiche, zum Teil vergesellschaftet vorkommende Arten vertreten. Bei Salix sind Artenkreuzungen sehr häufig, scheinen aber auf die Stammarten kaum einen abändernden Einfluß auszuüben. Beachtens- wert für die in diesen Betrachtungen erörterten Verhältnisse sind namentlich zwei Reihen von! Salix- h.x\.en. Eine derselben besteht aus den ein-J ander nahe verwandten Arten der Caprea-Grup^e:] {Salix caprea, grandifolia, silcsiaca, aurita, cinerea)]-^ von denen oft mehrere standörtlich gemischt vor-,- kommen. Trotz ihrer Ähnlichkeit, ihres örtlichen Zusammenwohnens und der Trennung der Ge- schlechter findet man Kreuzungen zwischen ihnen nicht häufig. Jede Art bewahrt ihren Charakter und es ist keine Isolierung notwendig, um jeder Art ihre Selbständigkeit zu erhalten. Die zweite Reihe wird aus völlig verschiedenen Arten ge- bildet, die nur in ihrer großen Veränderlichkeit übereinstimmen. Die ausgeprägtesten Glieder ihrer Formenkreise sind untereinander so ungleich, daß man an ihrer spezifischen Verschiedenheit niemals zweifeln würde, wenn nicht alle Mittel- formen vorkämen, ohne irgendwelche Zeichen von Hybridität aufzuweisen. Zu diesen veränderlichen Arten gehören Salix repens, S. triandra {ainyg- dalind), S. nigricans. Ihre Formenkreise sehen so aus, als ob in ihnen je zwei oder mehrere ver- wandte Arten oder Rassen durch fortgesetzte Kreuzungen verschmolzen seien. Man kann sie mit manchen gekreuzten Kulturpflanzen ver- gleichen. Es scheint mir, als ob die geographische Ver- breitung der zweihäusigen und der mit eigenem Blütenstaub unfruchtbaren Gewächse viel mehr Ähnlichkeit mit den bei den Tieren beobachteten Verhältnissen hat. Trennung der Geschlechter erfordert bei Pflanzen wie bei Tieren wirksame Mittel zur Verhütung von Mischungen, wenn man selbständige reine Rassen züchten oder entstehen lassen will. Schlußbetrachtungen. Aus den ange- führten Tatsachen läßt sich keine allgemeine Regel darüber ableiten, ob verwandte Arten und Rassen getrennt oder gesellig vorzukommen pflegen. Man denke einerseits an die Parallelformen des Kalks und des kristallinischen Gesteins, andererseits an die Artenschwärme der Rubi und der especes affines. — Eine ganz allgemeine Fragestellung nach dem örtlichen (geographischen) Verhalten der verwandten Formen dürfte ziemlich unfrucht- bar sein. Über die Folgen der Isolierung und über ihre Wichtigkeit für die Entstehung neuer Arten macht man sich ebenso häufig unrichtige Vorstellungen, wie über die Allgemeinheit der Wirkungen freier Kreuzung. — Geschlechtliche Vermischung und Kreuzung verschiedener Stöcke sind notwendig für die Erhaltung der Biegsam- keit, der Veränderlichkeit, der Anpassungsfähig- keit und Widerstandskraft. Sollen sich aus Ab- änderungen neue Arten entwickeln, so ist aller- dings eine Beschränkung der freien Kreuzung, ein gewisser Grad von Inzucht, notwendig. Die Ab- sonderung der beginnenden Arien kann eine I räumliche oder zeitliche (Blütezeit) sein; bei der räumlichen Trennung braucht man aber nicht ' notwendig an weite Abstände zu denken ; vielmehr ' genügt eine Anpassung an verschiedene stand- örtliche Verhältnisse (Chemismus, Wasser- oder Lichtbedürfnis) vollkommen. Es wird ferner häufig beobachtet, daß verwandte Arten und Rassen geringe Neigung zeigen, Kreuzungen mit- einander einzugehen, ohne daß sich jedesmal ein äußerer Grund für dies Verhalten vermuten läßt. Es kommen sowohl allmähliche (Pedigree- Züchtungen) wie plötzliche (Mutationenj Abände- rungen vor. Auf die Unterscheidung, ob Variation, ob Mutation, vermag ich keinen erheblichen Wert zu legen. Wir müssen uns darüber klar werden, daß unsere ganze Merkmalsystematik nur ein vorläufiger Notbehelf ist, durch den wir uns einen allgemeinen Überblick über die Pflanzengestalten verschaffen wollen. Der wirkliche Gegenstand unserer Untersuchungen ist die lebende Pflanze mit ihrer verwickelten chemisch-physikalischen Tätigkeit, durch welche die spezifischen Albumosen gebildet und der spezifische Auf- bau der Organe sowie die äußere Gestalt be- stimmt werden. Nicht in den einzelnen Merk- malen, nicht in den Formschwankungen der Laub- und Blütenblätter oder in der Behaarung und Färbung, sondern in den inneren Stoff- wechselvorgängen liegen die wirklichen Ur- sachen der spezifischen Verschiedenheiten. 88 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 6 Kleinere Mitteilungen. Die neuesten Forschungen über die fossilen Saurier bildeten den Gegenstand einer Vorlesung, die der Direktor des Berliner zoolo^jischen Mu- seums, Prof. Dr. Brauer, für den Oberlehrer- Ferien- kursus am 3. Oktober 1908 hielt und aus deren interessantem Inhalt hier einiges berichtet werden soll. Die Hauptentwicklung der Saurier fällt in das Mesozoikum, jene etwa vier bis fünf Millionen Jahre zurückliegende Epoche der Erdgeschichte, da Europa infolge einer starken Meerestransgression in ein System von Inseln aufgelöst war und die eruptive Tätigkeit so gut wie völlig pausierte, so daß die Ablagerung der Schichten sehr gleich- mäßig und ungestört stattfand, ein Umstand, der den Reichtum der mesozoischen Ablagerungen an gut erhaltenen fossilen Resten bedingte. Größe bis hinauf zu jenen riesenhaften Formen, von denen nachher gesprochen werden soll. Wir unterscheiden unter den mesozoischen Reptilien vier Gruppen, die Ichthyopterygii, Sauropterygii, Patagiosaurier (Flugsaurier) und die Dinosaurier. Die besten Fundstätten der Ichthyosaurier und Plesiosauren sind Lyme Regis in England und Holzmaden bei Stuttgart. Die betreffenden Schichten liegen in Holzmaden nahe der Erdober- fläche (vgl. Fig. 1) und sind nur wenige Zenti- meter dick. Eine ausgebrochene Platte zeigt zu- nächst nur dem kundigen Auge, ob sie einen Tierrest einschließt und daher eine Präparation lohnt. Da das Gestein sehr brüchig ist, muß mit größter Vorsicht bei der Bloßlegung der fossilen Reste gearbeitet werden, so daß jede Präparation für mehrere Monate Arbeit gibt und oftmals eine künstliche Zusammensetzung aus vielen Bruch- Fig. I. Ein Posidonienschieferbruch (Lias «) in Holzmaden. Neben den massenhaft die damaligen Meere bevölkernden Ammoniten war die Fauna jener Zeit in erster Linie durch die zahlreichen Arten der Reptilien gekennzeichnet. Die Reptilien des Mesozoikums sind bereits ebenso wie die heut lebenden Ordnungen in zwei Gruppen geteilt, bei deren einer das Quadratbein beweglich eingelenkt ist, während es bei der anderen fest mit den Schädelknochen verbunden ist. Die gemeinsame Wurzel dieser beiden Gruppen ist demnach in früherer Zeit zu suchen , doch ist darüber wegen der weniger guten Erhaltung der älteren fossilen Reste nichts näheres bekannt. Im Mesozoikum beherrschen die Reptilien das Land, das Meer und sogar auch die Luft und zeigen sich uns in Arten der verschiedensten stücken erfordert. ') In Holzmaden werden all- jährlich über hundert Tiere gefunden und unter der umsichtigen Leitung von Herrn B. Hauff kunstgemäß präpariert. Der Freundlichkeit dieses Herrn verdanken wir die Vorlagen zu den Ab- bildungen I — 6. Aller Wahrscheinlichkeit nach war in dem Jura Meer hier in Holzmaden eine Meeresbucht, in welcher die Fischsaurier in großen Scharen lebten und nach ihrem Absterben durch eine schnelle Schlammeinbettung vor gänzlicher Zerstörung geschützt wurden. Beim Plesiosaurus (Fig. 3) sind die Körper- regionen scharf abgegrenzt, das Tier zeigt also ') Vgl. den in Fig. 2 abgebildeten Fund , bei dem eben erst mit der Präparation begonnen worden. N. F. VIII. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 89 i£? 90 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 6 F. N. Vin. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 91 noch seine Abstammung von Landtieren. Auch ist noch nicht der Schwanz das Hauptbewegungs- organ, sondern die Extremitäten. Der lange, aus 41 Wirbeln bestehende Hals gab dem Tiere die Möglichkeit, große Flächen abzufischen. Der Ichthyosaurus (Fig. 4) zeigt eine große .Ähnlichkeit mit den Zahnwalen der Gegen- wart. Der Körper ist nicht mehr in seine Haupt- regionen abgegliedert, das Gebiß besteht aus lauter gleichen, spitzen Zähnen, der Schwanz ist das Hauptbewegungsorgan ; die hinteren Extremitäten sind zwar noch vorhanden, aber kleiner als die vorderen, die eine typische F"losse darstellen. Auch Rücken- und Schwanzflosse sind nach neueren Pfunden vorhanden gewesen, letztere allerdings wie bei den Fischen vertikal stehend, nicht hori- zontal wie bei Walen. Das Ende der Wirbelsäule biegt nicht wie bei Knorpelfischen nach der dor- salen Seite in die Schwanzflosse ab, sondern nach der ventralen Seite. Zuerst hielt man diese plötz- liche Abbiegung nach abwärts für eine zufällige Verdrückung. Da aber sämtliche F"unde die gleiche Erscheinung zeigen, muß die ventrale Ab- knickung der Wirbelsäule bereits allgemein im Leben vorhanden gewesen sein. — Trotz aller Ähnlichkeiten können die Wale nicht vom Ichthyo- saurus abstammen, wie man eine Zeitlang wohl angenommen hat. Das Studium der Wale ergibt mit voller Sicherheit, daß sie von Landsäuge- tieren abstammen müssen. Dies zeigt nament- lich der Walembryo. Ebenso sind die Ichthyo- sauren nicht etwa direkt von Fischen , sondern von Landreptilien abzuleiten. Die Ähnlichkeiten zwischen Fischen, Ichthyosaurus und Walen sind also lediglich als Konvergenzerscheinungen auf- zufassen, die durch Anpassung an das flüssige Element zu erklären sind. Bei 14 Exemplaren hat man im Innern der Ichthyosauren junge Tiere gefunden, und zwar i bis 1 1 in einem Exemplar. Auch unsere Abbil- dung Figur 5 läßt ein solches Junges erkennen. Es ist lange darüber gestritten worden, ob es sich hier um Embryonen oder von den Alten aufge- fressene Junge handelt. Fraas hält die jungen Tiere für Embryonen, zumal sie keine Spuren der Verdauung aufweisen und eines eine für Embryonen charakteristische Krümmung zeigt. Branca ist gegenteiliger Ansicht, da die Lage der jungen Tierchen eine sehr verschiedene ist. Viele liegen im Halse und von den 36 aufgefundenen Jungen zeigen nur 6 die normale Geburtslage (Kopf nach hinten), alle übrigen haben Steißgeburtlage, die nirgends im Tierreich normal ist. Auch die un- gleiche Anzahl der in einem Tier gefundenen Jungen muß Bedenken gegen die Embryonen- theorie erregen. Vielleicht sind beide Ansichten für je einen Teil der Funde zutreffend. Die Ichthyosauren müßten dann also lebendig gebärend gewesen sein. Einen auffallenden Gegensatz zu den Fisch- sauriern, die durch ihre Flossen und nackte Haut eine weitgehende Anpassung an den Aufenthalt im Meere zeigen, [bilden die namentlich in den Schiefern von BoU bei Göppingen vorkommenden 92 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vin. Nr. 6 Teleosaurier, die mit diclfolg ver- sprechen. Und dennoch habe ich darin nachge- sehen, habe auch zu meiner Freude den Namen Onosma gefunden, konnte aber weder aus der Abbildung, noch aus dem Texte etwas Sicheres entnehmen. Erstere (S. 321) zeigt eine Wurzel mit einem Blätterschopf, der zwar mit dem der erstjährigen Pflanze von Onosma arenarium etwas Ähnlichkeit hat, aber ebensogut auchden von Echium vulgare darstellen könnte. Dazu schreibt er: „. . . hat vil rauhe, dicke bletter, welche auf dee erden ringsumb gespreytet ligen, hat kein Stengel, auch kein blüet oder samen. Die wurtzel ist lang, dünn unnd rotfarbig. Wechßt an rauhen orten." Hieraus konnte ich unmöglich mit nur einiger Wahrscheinlichkeit auf unsere Pflanze schließen. Scheint auch die rote Wurzel auf sie hinzudeuten, so kann man doch bei einer so all- gemeinen Standortsbezeichnung nicht an eine Pflanze denken, die bei uns nur in einem so be- schränkten Gebiet vorkommt. Bei der vorhin erwähnten Gelegenheit fallen nun heut meine Blicke auf eine Abbildung, die mich sofort an Onosma arenarium erinnert. Zu meiner Überraschung finde ich auch in dem dazu gehörigen Texte eine Ausnahme von der Regel, nämlich die ganz bestimmte Angabe eines Fundortes, und zwar ist dieser die Sandgegend zwischen Mainz und Mombach, also das umstrittene Steppenüberbleibsel ! Lonitzer führt diese Pflanze unter den Ochsenzungen auf, unter denen er mehrere Geschlechter unterscheidet: ,,die gemeyne zame und wilde Ochsenzung, die Welsch Ochsenzung, die Wald Ochsenzung, die Hundszung und der Borrich." Außerdem behan- delt er aber noch die in der Übersicht fehlende „Rot Ochsenzung", die diesen Namen „von dem rotfarben saft'c der wurtzeln" führt. Von dieser Gruppe zählt er ,,nach Dioscorides" drei Ge- schlechter auf, bildet sie auch ab, aber nur eins beschreibt er genau, offenbar, weil er nur dies eine genau kennt, die anderen aber wenig oder gar nicht. Diese sorgfältig beschriebene Pflanze ist nun aber offenbar unser heutiges Onosma arenarium. Er sagt von ihr folgendes: „Das erst (Geschlecht) ist, so da wechßt in sandechten orten und sehr gemeyn ist in dem sandechten feld bei Mentz auff Mumbach zu . , . Sie wechßt buschecht mit vielen nebenzincklin, welche mit vielen äschfarb grauen blettern besetzt sind ; die gstalt der bletter ist wie an der gemeynen Ochsenzung, ') Bringt weisse blumen; unden auf dem erdtreich bei der wurtzel bringt es etliche lange, schmale, feyßte, schwartzgrüne rauhe bletter wie lange, schmale Zungen. Die wurt?el ist fingers dick, hat ein rote schelen , welche die finger ferbet. Und hat die natur, daß sie nit ferbet, so sie in wasser gesotten wird sonder allein mit öl oder anderm feyßt, Wie ich solches selbs bewert habe." ') Die dazu gehörige Abbildung nun ist in bezugauf Blätter, Stengel und Blütenstand unverkennbar Onosma arenarium, wenn auch die schönen, großen Blüten der Pflanze wenig kenntlich sind. Aber mit der Blütenform nimmt es der alte Herr Doktor nicht immer allzu genau. Und doch sind ein Paar Merkmale der Natur richtig abgesehen. Höchst- wahrscheinlich ist die Zeichnung nach einem ge- trockneten Exemplare gemacht. Denn einmal sind zwei rotbraungefärbte Blüten abgebildet; das sind vertrocknete, wie sie bisweilen im Kelche stecken bleiben. Und zweitens zeigt der eine Blütenstand drei hervorstehende, geknöpfte Fäden; das sind die nach dem Abfallen der Blumenkrone weit aus dem Kelche hervorragenden Griffel, deren Narben allerdings etwas zu dick geraten sind. Daß bei den Abbildungen eine Verwechse- lung der Überschriften stattgefunden hat — An- chusa tertia statt prima — kann den nicht be- irren, der die Pflanze kennt. Zum Überfluß habe ich noch das letzte Merkmal, die Löslichkeit der Wurzelfarbe betreffend, untersucht und gefunden, was Lonitzer darüber bemerkt. Ein kleines Stück in Wasser gesotten gab diesem kaum einen röt- lichen Anflug, ein ebensogroßes in Öl färbt es aber wundervoll dunkelrot. Nach alledem kann es wohl nicht mehr im geringsten zweifelhaft sein, daß Onosma arenarium, schon vor der Mitte des 16. Jahrhunderts als ,,sehr gemein" bei Mainz bekannt, zu den uralten pflanzlichen Bewohnern der Gegend gehört und als Steppenrelikt angesehen werden muß. L. Geisenheyner. Aus dem ^vissenschaftlichen Leben. Ein III. Ferienkurs für wissenschaftliche Mi- kroskopie findet statt vom 8. — 13. März 1909 in dem unter Leitung von Prof, Th, Liebisch stehenden mineralog,- petrogr, Institut der Kgl, Universität Berlin N, 4 (Invaliden- straße 43). Die Apparate und Mikroskope werden von der optischen Werkstätte von Carl Zeiß (Jena) zur Verfügung ge- stellt, .\Is Dozenten werden wirken Prof, Dr. H, Ambronn, Dr, A, Köhler, Dr, H, Siedentopf. — Die Anmeldungen zur Teilnahme sind zu richten an den Kustos des mineral-petrogr, Museums Prof, Dr, Belowsky, Die Zahl der Teilnehmer an den Übungen und Demonstrationen ist auf 30, an den Vor- trägen auf etwa 60 beschränkt. ') Echium vulgare. -) Seite 222, Bücherbesprechungen. Archiv für die Geschichte der Naturwissen- schaften und der Technik (F. C, W. Vogel in Leipzig) nennt sich ein neues Periodikum, dessen erstes Heft vorliegt. Als Herausgeber sind angegeben die Professoren v. Buchka, Stadler und S u d h o f f und der Oberst z. D. C, Schaefer. Die Zeitschrift soll in zwanglosen Heften erscheinen, von denen fünf einen Band zum Preise von 20 Mk, bilden. Die Zeitschrift will die Kenntnis der Vergangenheit auf den Gebieten der Naturwissenschaft und Technik pflegen : sicherlich ein wichtiges Unternehmen. In der Anzeige wird mit Recht darauf hingewiesen, daß N. F. VIII. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 95 die Erfassung des Werdens allein ein volles Verständ- nis des (Gewordenen verbürgt. Das erste Heft bringt nach einer Einführung von v. Buchica 8 Artikel in fran/iösischer, italienischer, meist aber in deutscher Sprache und unter kleineren Mitteilungen noch eine Notiz aus der Feder Sudhoff's, die größeren Ar- tikel (das ganze Heft umfaßt 86 Seiten) haben zu Verfassern: Loria, Haas, Vailati, Stadler, Wiedemann, Erdmann, v. Meyer. Dr. J. E. V. Boas, Prof. der Zoologie an der Kgl. Landw. Hochschule zu Kopenhagen, Lehrbuch der Zoologie für Studierende. 5. verm. und verbesserte .Auflage. Mit 603 Abbildungen. Verlag von Gustav Fischer in Jena, 1Q08. — Preis 12 Mk. Die 4. Auflage des bewährten Buches erschien erst 1906 und schon wieder zeigen wir eine Neu- auflage an. Auch an dieser sieht man die liebevoll verbessernde Hand. Kleine Zusätze betreffen das Mendel'sche Gesetz, die Rhizostomen und Lucernarien usw. .\uch die mustergültigen Abbildungen hat der Autor sorgsam in Aufsicht gehalten und auch hier Neues hinzugefügt, resp. ältere durch bessere ersetzt. Im übrigen ist das Buch das gleiche geblieben. Kulturpflanzen der Weltwirtschaft. Unter Mit- wirkung erster Fachleute herausgegeben von Otto Warburg, Berlin, und J. E. von Someren Brand, Amsterdam. Mit 653 schwarzen und 12 farbigen Abbildungen nach Photographien. R. Voigtländer's Verlag in Leipzig (ohne Jahreszahl: 1908). — Preis geb. 14 Mk. Das prächtig ausgestattete Werk ist sehr geeignet, in die von ihm gebrachten Gegenstände einzuführen. Die einzelnen .Abschnitte werden von verschiedenen Autoren behandelt, so derjenige über den Reis von Eduard van Tsoe Meiren, über den Weizen von Pierre Nicolas, über den Mais von F. W. Morren, über den Zucker von den beiden Letzt- genannten, über den Weinstock von Nicolas, über den Kaftee und den Tee von A. J. Resink, über den Kakao und den Tabak von C. S. Kokke und endlich über die Baumwolle von War bürg. Die immer mehr und mehr um sich greifende und gegen- wärtig schon so weit vorgeschrittene Arbeitsteilung in der Gewinnung unserer Nahrungsmittel bringt es mit sich, daß der einzelne heutzutage über die Her- kunft und Entstehung und die Art der Dinge, die er zu seinem Lebensunterhalt gebraucht, wenig, schlecht oder gar nicht unterrichtet ist. „Ein 14 jähriger Junge — heißt es in der Vorrede — wollte einmal wissen, was Graupen seien. Niemand wußte es ihm zu sagen. Graupen sind etwas, was man essen kann, gab man ihm zur .Antwort. Da machte er sich daran, Graupen zu säen, und zwar säte er sie in einen Treibkasten. Die Körner verfaulten, denn Graupen sind geschältes Korn, das durch die Bearbeitung die Keimkraft ver- loren hat. Da studierte der Junge in allerhand Büchern über Pflanzenkunde — aber was Graupen waren, vermochte er nicht daraus zu erfahren." Nun solche und viele andere alltägliche und naheliegende Dinge zu beantworten ist das vorliegende Buch treff- lich geeignet und wird sicherlich bei Alt und Jung das größte Interesse finden, da es auch durch die sehr weitgehende Illustrierung die Anschauung außer- ordentlich unterstützt. „Dieses Buch — sagen die Herausgeber — möchte in die Dunkelheit, die uns so viel von dem Räderwerk verbirgt, das unser eigenes Dasein in Gang hält, einen kleinen Lichtschein wer- fen. Es wird nur ganz wenige Gegenstände behan- deln und von diesen Gegenständen nur einen geringen Teil." Es sind nur jene Kulturpflanzen vorgeführt, die, wie die obige Aufzählung zeigt, auf der ganzen Erde gebraucht werden. Die Verfasser haben es sehr gut verstanden, das Allgemein-Interessante aus den Gegenständen herauszuheben. G. Linck, Grundriß der Kristallographie für Studierende und zum Selbstunter- richt. II. umgearbeitete Auflage. Verlag von G. Fischer in Jena. 1908. 254 Seiten mit 3 Tafeln. — Preis II Mk. Die Eigenart des Linck'schen Grundrisses beruht vor allem in der Art des Vortrages, der auf leichte Faßlichkeit und Anschaulichkeit hinzielt, mathematische Herleitungen nach Möglichkeit ausschaltet, und die Richtigkeit eines Gesetzes lieber durch ein heraus- gegriffenes Beispiel, statt durch einen allgemeinen Beweis dartut, eine Art, die gut dazu angetan ist, das Interesse des Anfängers wachzurufen. So wird z. B. die Möglichkeit von nur 32 Symmetrieklassen dadurch klargemacht, daß etwa eine 12-zählige Symmetrieachse des hexagonalen Systems auf irrationale Indices führen würde, und das Gesetz der rationalen Indices läßt der Verfasser den Leser gewissermaßen selbst finden, indem er einen bestimmten, gemessenen Kristall zugrunde legt. Die vorliegende zweite Auflage unterscheidet sich von der im Jahre 1896 erschienenen ersten weniger durch die Menge des hinzugekommenen Stoffs, als durch dessen Behandlung. Neu hinzugefügt ist am .Anfang eine sehr erwünschte kurze Auseinandersetzung des Wesens der flüssigen Kristalle, und am Ende ist den Beziehungen zwischen den physikalischen Eigen- schaften der Mineralien und ihrer chemischen Zu- sammensetzung ein breiterer Raum gewährt als früher. Die Abbildungen haben eine ganz erhebliche Ver- mehrung erfahren, namentlich durch das Hinzutreten der schon viel besprochenen Photographien von Kri- stallmodellen, die bis auf die der Seiten 27 und 47 gut gelungen sind, und sicher die Anschaulichkeit er- höhen. Eine Tafel der Interferenzfarben bildet eine willkommene Bereicherung. Vor allem hat aber der vorhandene Text, namentlich im morphologischen Teil, eine derartige Durcharbeitung erfahren, daß wohl kein Kapitel ganz dem früheren gleicht, und es den hier verfügbaren Raum weit überschreiten würde, auch nur annähernd die Änderungen aufzuzählen. Ob indessen hiermit schon das gesteckte Ziel und die größtmög- liche Klarheit erreicht ist, mag dahingestellt sein. 96 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. Vni. Nr. 6 So ist, um nur einige Punkte herauszugreifen, frag- lich, ob dem Anfänger der Übergang von den Sym- metrieklassen zu den Kristallsystemen (Seite 13) ganz klar wird, und man vermißt hier eine an etwa zwei, drei Beispielen durchgeführte Darlegung, warum nach dem Gesetz, daß gleiche Flächen gleiche Symbole be- kommen sollen , immer eine Reihe verschiedene Gruppen auf ein und dasselbe Kristallsystem führt. Bedauerlich geradezu erscheint es, wenn (auf Seite 21) noch die Begriffe der einzelnen Kristallformen, wie Pyramiden, Prismen, Domen usw. von den Kristall- achsen hergeleitet werden, mit denen diese, lediglich aus den Symmetrieeigenschaften sich ergebenden Ge- bilde nichts zu tun haben. Ob man sodann z. B. die Symmetrieebenen des rhombischen und monoklinen Systems als Neben-Symmetrieebenen bezeichnen soll, denen doch logischerweise Hauptsymmetrieebenen gegenüberstehen müßten, ist auch zweifelhaft. Ver- wirrend muß fernerhin die Nomenklatur der ver- schiedenen Kristallformen des monoklinen und triklinen Systems wirken, in denen die überlebten Begriffe: Hemi- und Tetartodomen, Hemi- und Tetartopyrami- den angewendet, und echte Domen bald als Prismen, bald als Hemidomen, bald als Tetartopyramiden be- zeichnet werden. Trotzdem aber bedeutet die Neuauflage mit ihrer schärferen und klareren Fassung vieler Sätze und der Ausmerzung von Fehlern (vgl. z. B. Seite 7 der I. und Seite 13 der II. Auflage) der früheren gegenüber einen ganz wesentlichen Fortschritt. O. Schneider O. Lesser, Lehr- und Übungsbuch für den Unterricht in der Arithmetik und Al- gebra. I. Teil. 203 Seiten mit 15 Figuren. Wien, F. Tempsky, 1909. — Preis geb. 2,80 Mk. Das Buch bildet den ersten Teil eines von Schwab und Lesser herausgegebenen mathematischen Unter- richtswerkes und enthält einen sehr beachtenswerten, vielfach auf neuem Wege vorgehenden Lehrgang. Der Funktionsbegriff steht, wie es die Meraner Lehr- pläne wünschen, im Mittelpunkt des Unterrichts und die graphische Darstellung von Funktionen wird von Anfang an geläufig gemacht. Bei der Auflösung der Gleichungen mit mehreren Unbekannten, bei der Berechnung der Quadratwurzeln und der Logarithmen wird in sehr sinnreicher Weise das graphische Ver- fahren herangezogen. Die Herstellung eines logarith- mischen Rechenstabes wird gelehrt und so in höchst zweckmäßiger Weise dieses immer mehr Boden ge- winnende Werkzeug von Grund aus dem Verständnis erschlossen. Mit einer größeren Zahl noch weniger bekannter Kurven wird der Schüler durch graphische Darstellung einfacher Funktionen bekannt gemacht. Das Buch enthält auch zahlreiche historische Hinweise. Bei den eingekleideten Gleichungen zeigt Verf. eine vielleicht übertriebene Vorliebe für alte Aufgaben, namentlich solche des Inders Bhäskara und aus der griechischen Anthologie. — Die Fortsetzungen dieses originellen Unterrichtswerkes, die im Laufe des Jahres 1909 erscheinen sollen, werden die Fachkreise mit freudiger Spannung erwarten. Kbr. Literatur. Abderhalden, Prof. F.mil: Lehrbuch der physiologischen Chemie in 32 Vorlesungen. 2., vollständig umgearb. Aufl. (VH, 984 S. m. 19 Fig.) Lex. 8». Wien '09, Urban & Schwarzenbcrg. — 24 IMk., geb. 26,50 Mk. Boas, Prof. Dr. J. E. V.: Lehrbuch der Zoologie f. Studie- rende. 5. verm. u. verb. Aufl. (X, 66S S. m. 603 Abbild.) Lex. 8". Jena '08, ü. Fischer. — 12 Mk., geb. 14 Mk. Diesing, Stabsarzt a. D. Dr.: Das Licht als biologischer Faktor. (Eine Physiologie und Pathologie des F'arbstoff- wechsels.) (113 S.) 8". Freiburg i. B. '09, Speyer & Kaerner. — 3 Mk. Gänner, Prof. Dir. Dr. Aug : Leitfaden der Hygiene. Für Studierende, Arzte, Architekten, Ingenieure u. Verwaltungs- beamte. 5. verm. u. verb. Aufl. (XV, 634 S. m. 190 Ab- bildgn.) Lex. 8". Berlin '09, S. Karger. — 7,60 Mk., geb. 8,60 Mk. Graebner, Kust. Dr. Paul : Die Pflanzenwelt Deutschlands. Lehrbuch der Formationsbiologie. Eine Darstellung der Lebensgeschichte der wildwachs. Pflanzenvereine und der Kulturflächen. Mit zoolog. Beiträgen v. Oberlehrer F. G. Meyer. (XI, 374 S. m. 129 Abbildgn.) Lex. 8°. Leipzig '09, Quelle & Meyer. — 7 Mk., geb. in Leinw. 7,80 Mk. Henle, fr. Priv.-Doz. Dr. Frz. Wilh.: Anleitung für das orga- nisch präparative Praktikum. Mit e. Vorrede v. Prof. Dr. J. Thiele. Mit zahlreichen Skizzen. iXVI, 176 S.) gr. 8». Leipzig '09, Akadem. \'erlagsgesellschaft. — 4,60 Mk., geb. in Leinw. 5,20 Mk. Henrich, Prof. Dr. Ferd. : Neuere theoretische Anschauungen auf dem Gebiete der organischen Chemie. (XIV, 294 S. m. 7 Abbildgn.) 8". Braunschweig '08, F. Vieweg & Sohn. — 7 Mk., geb. 8 Mk. Kerl's Bruno : Probierbuch. Kurzgefaßte Anleitung z. Unter- suchung V. Erzen u. Hüttenproduklen. Bearb. v. Bergakad.- Privatdoz. Dr. Carl Krug. 3. Aufl. (VIII, 197 S. m. 71 Abbildgn.) gr. 8°. Leipzig '08, A. Felix. — 7 Mk., geb. 8 Mk. Mansfeld , Dr. Alfr. : Urwald-Dokumente. Vier fahre unter den Croßflußnegern Kameruns, Mit 32 Lichtdr.-Taf. , 165 Abbildungen im Text, 2 Karten und Tab. (XVI, 310 S.) Lex. 8". Berlin '08, D. Keimer. — Geb. in Leinw. 12 Mk. Pax, Prof. r)ir. Dr. F.: Grundzüge der Ptlanzenverbreilung in den Karpathen. II. Bd. Mit 29 Texifig. u. I Karte. (VIII, 332 S.) Leipzig 'oS, W. Engelmann. — Subskr.-Pr. 17 Mk., geb. in Leinw. 18,50 Mk., Einzelpr. 25 Mk., geb. in Leinw. 26,50 Mk. Potonie, Landesgeol. Prof. Dr. H. : Die rezenten Kaustobio- lithe u. ihre Lagerstätten. I. Bd.: Die Sapropclite. Eine Erläuterg. zu der v. den deutschen geolog. Landesanstalten angewendeten Terminologie u. Klassifikation. 2., sehr stark erweit. Aufl. v. desselben Verf. ., Klassifikation u. Termino- logie der rezenten brennbaren Biolithe u. ihrer Lagerstätten" (Berlin 1906). (XV, 251 S. m. Abbildgn.) Berlin (NW 40, Platz vor dem Neuen Tore 3) 'oS, Vertriebsstelle der kgl. geolog. Laodesanstalt. — 8 Mk. Reye, Prof. Dr. Thdr. : Die Geometrie der Lage. Vorträge. I. .-\bllg. 5., verb. u. verm. Aufl. (VIU, 255 S. m. 98 Ab- bildgn.) gr. 8°. Leipzig '09, A. Kröner. — 8 Mk. , geb. in Halbfrz. lo Mk. Inhalt: W. O. Pocke: Über örtlich getrenntes oder geselliges Vorkommen verwandter Pflanzenformen. - Kleinere Mit- teilungen: Prof. Dr. Brauer: Die neuesten Forschungen über die fossilen Saurier. — L. Geisenheyner; Onosma der Mainzer Sandflora Adventivpflanze? — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik. — Dr. J. li. V. Boas: Lehrbuch der Zoologie für Stu- dierende. — Kulturpflanzen der Weltwirtschaft — G. Linck: Grundriß der Kristallographie für Studierende und zum Selbstunterricht. — O. Lesser: Lehr- und Übungsbuch für den Unterricht in der Arithmetik und Algebra. — Lite- ratur: Liste. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue folge VIII. Band; der ganren Kcihe XXIV. Band. Sonntag, den 14. Februar 1909. Nummer 7. fNachdruck verboten.] Charles Darwin wurde vor genau 100 Jahren, am 12. Februar 1809, in Shrewsbury in England geboren. Die naturwissenschaftliche Welt benutzt diese Gelegenheit, sich auf den Mann zu besinnen, dessen wissenschaftliche Werke eine neue Epoche im Bereiche der Biontologie ein- geleitet haben. Die Xaturw. Wochenschr. hat be- reits am 10 jährigen Todestag, das war der 19. April 1892, die sympathische Persönlichkeit Darwins den Lesern vorgeführt; aber es wird das Bedürfnis empfunden werden, auch bei der diesmaligen Feier etwas Näheres zu hören. So wollen wir denn im folgenden noch einmal auf den Lebenslauf des heute am meisten ge- nannten Biontologen eingehen und die nächste Nummer wird eine der mannigfaltigen Seiten des großen Naturforschers näher behandeln durch einen Aufsatz aus der Feder von Herrn Prof. Detmer-Jena: .Charles Darwin als Botaniker." Charles Darwin's Haupttat aber ist die Be- gründung der Deszendenzlehre. Hatte man einmal erkannt, daß die Organismen in ihren ,, Zellen" die gleiche Grundlage im Auf- bau besitzen, so mußte das bei der eingehenden und allgemeinen Beschäftigung der Naturforscher mit der Zellenlehre die beste Vorbereitung sein, nunmehr mit mehr Verständnis als früher eine durch ihr Alter ehrwürdige Theorie aufzunehmen, welche weitergehend als die Zellenlehre den ge- meinsamen Zusammenhang aller Organismen überhaupt aufzuzeigen trachtete: die xAbstam- mungslehre. Schon im Anfang des 19. Jahr- hunderts hat diese Lehre, welche zur Verbindung von einer Fülle durch die Lebewelt gebotener Tatsachen die Herkunft aller, auch der jetzt ver- schiedensten Lebewesen von gemeinsamen \'or- fahren behauptete, durch Jean Bapiiste de Lamarck eine treffliche naturwissenschaftliche Grundlegung erfahren; aber erst seit Charles Darwin 1859 die Lehre nochmals neu und eingehender begründete, fand sie die meisten Naturforscher genügend vor- bereitet. Diese Lehre ist heute einer der wichtigsten Ausgangspunkte der biontologischen Forschungen: erklärt sich doch durch die Annahme der gemein- samen .Abstammung aller Lebewesen durch ,,Bluts"- Verwandtschaft eine Unzahl von Einzeltatsachen, die vorher zusammenhangslos hingenommen werden mußten. Durch die gemachte Annahme ist der Vorteil einer bedeutenden Vereinfachung in un- serem Denken gegeben. Besonders sind es Tat- sachen der Morphologie, die mit einem Schlage in hellstes Licht gerückt wurden. Es ist nämlich bemerkenswert, daß nicht nur die Zellen, sondern Charles Darwin zu seinem hundertsten Geburtstage. \'on H. Potonie. auch die Teile höherer Ordnung bei den Lebewesen, z. B. die Blätter der Pflanzen untereinander, trotz ihrer Mannigfaltigkeit, ferner z. B. die Fortbewegungswerk- zeuge der Tiere, wie die Flossen, Flügel und Beine, untereinander in ihrem Bau- Typus gewisse auffällige Übereinstimmungen zeigen, deren Betrachtung seit Goethe (1817) die „morphologische" heißt. Alle die morphologischen Tatsachen nun, die sich ge- waltig gehäuft hatten, waren durch die Annahme der gemeinsamen Abstammung der Lebewesen verstanden, erklärt. Man glaube nun aber nicht etwa, daß eine neue, vereinfachende Theorie wie die Abstammungslehre nun auch sofort überall alte Ansichten, die mit der neuen, besseren An- sicht im Widerspruch stehen, auszurotten ver- möchte; vielmehr sind die Nachwirkungen ein- gewurzelten älteren Denkens auch nach seinem Ersatz durch Besseres lange, oft noch sehr lange zu verspüren. Die Ausrottung einer Denkrichtung, sofern sie eine gewohnheitsmäßige ist, ist auch dann schwierig, wenn die Einsicht vorhanden ist, daß sie sich in falscher Bahn befindet und eine bessere gefunden ist. Um eine Erklärung der Entstehung der ver- schiedenen Tier- und Pflanzenarten anzubahnen, nahm Lamarck eine direkte Anpassung an neue Umgebungsverhältnisse an: ein Wiederkäuer, etwa aus der Verwandtschaft der Kamele, der genötigt wird, vorwiegend in hohen Baumkronen seine Nahrung zu suchen, wird nach ihm allmählich, d. h. im Verlaufe der Generationen zur Giraffe werden; nach Darwin jedoch ist es die ,, natürliche Zuchtwahl" (die „Selektion") durch den Kampf ums Dasein, welche aus einer vorhandenen, nach allen möglichen Richtungen hin abändernden (variierenden) Art, die zufällig den äußeren Um- ständen am besten angepaßten Individuen aus- wählt und durch Vererbung der nützlichen Eigen- schaften zur Entstehung einer neuen Art Ver- anlassung gibt. Es ist zweifellos, daß die Zucht- wahl eine große Rolle spielt, aber die Biontologen haben sich am Ende des 19. Jahrhunderts, nach- dem die Selektionstheorie, das ist der eigentliche Darwinismus, zunächst die vi'eiteste Anerkennung gefunden hatte, doch mehr der Lamarck'schen Ansicht von der direkten Anpassung als dem wesentlich Ausschlaggebenden für die Entstehung neuer Arten zugewendet. Nach der verbreitetsten jetzigen Anschauung sind es also die Einwirkungen der .Außenwelt in Verbindung mit dem durch die Lebewesen Gegebenen — wie man zu sagen pflegt, in Verbindung mit den inneren Verhält- nissen — , welche zusammenwirkend neue Arten 98 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. hervorbringen; die Zuchtwahl beseitigt nur das in der augenblicklichen Umgebung nicht Lebens- fähige und schafit Platz für die anpassungsfähigen Lebewesen: nur diejenigen unter iiincn, die auf neue Reize der Umgebung erlialtungsgemäß ant- worten, bleiben auch erhalten, die anderen gehen zugrunde. Die Anfeindungen, welche die Abstammungs- lehre erfahren hat, ergeben sich aus der Größe ihier Abweichung von dem Denken der Allge- meinheit. Der Alltagsmensch nimmt gern die praktischen Resultate der Naturwissenschaft in Empfang und benutzt sie; die Frage, ob sein Denken über die Welt mit demjenigen der Natur- forschung übereinstimmt, das diese Resultate ge- zeitigt hat, kümmert ihn wenig, weil er zu dieser Frage nicht geführt wird, die nur auftauchen könnte, wenn er Störungen erleidet, wenn ihm die Widersprüche des .Alltagslebens mit dem naturwissenschaftlichen Denken entgegentreten und bewußt würden. Bei dem Naturforscher aber ist dies der Fall: er hat in dieser Hinsicht unter den ,, Vitaldifferenzen", die sich aus seiner Tätigkeit ergeben, zu leiden, und er sucht sie durch Be- seitigung der Widersprüche zu lösen; hierbei muß freilich Vieles aus dem \'olksdcnken als unhaltbar fallen. Wer aber mit unlösbaren Fesseln an dem Überkommenen festhaftet, der kann nicht Natur- forscher sein : er bliebe denn ein ausschließlicher Kärrner in der Wissenschaft, wobei eine Gefahr, die Widersprüche zu sehen, nicht groß ist. Wer die teilweise Unvereinbarkeit zwischen dem wissen- schaftlichen und dem Alltagsdenken aber dennoch sieht und doch nicht von dem durch Erziehung und freundliche Erinnerung im Denken Gewor- denen loskommt, der sucht sich durch ohn- mächtigen Kampf Zeit seines Lebens gegen die Naturwissenschaft abzumühen oder aber — er gibt freimütig zu, daß er nicht wissen will, son- dern daß er es vorzieht, wo Gefühle und Wunsche in Frage kommen, bei dem Liebgewordenen zu bleiben, — — auch wenn die Logik entgegen- steht. Grundsätzlich ist dieses Verhalten freilich durchaus nicht verschieden von dem des Natur- forschers: jeder pflegt sich diejenige Lösung zu suchen , bei welcher der Bestand seines Ichs am wenigsten gefährdet ist. Es gellt aus dem X'orangehenden hervor, daß die Bedeutung der Deszendenztheorie für die For- schung darin liegt, ein .•\riadnefaden in dem Laby- rinth der erdrückenden P'ülle von Einzeltatsachen zu sein, die das organische Reich bietet. Es ist aber merkwürdig genug, daß die Frage, warum uns gerade die Kenntnisnahme der Entwick- lung, der Entstehung der Organismen von besonderer Wichtigkeit erscheint, kaum auf- geworfen und zu beantworten gesucht wird. Die hohe Wichtigkeit einer Erforschung der Entwick- lung mit der Annahme, daß dabei im allge- meinen ein Fortschreiten von einfacheren(„niederen") zu komplizierteren („höheren") Verhältnissen statt- finde, wird einfach als Prinzip angenommen. Um den Wert eines Prinzipes zu erkennen, zu erfahren, was denn bei Befolgung desselben höchstenfalls für unsere Erkenntnis zu erwarten sei, ist aber die Beantwortung der gestellten Frage nicht zu umgehen, und daß es sich dabei gewiß nicht um etwas Nebensächliches handelt, braucht in unserer in Entwicklungsgedanken geradezu schwelgenden und zum Teil fast darin untergehen- den Biontologie nicht besonders hervorgehoben zu werden. Wenn ein Kind ein mechanisches, ihm so, wie es ihm entgegentritt, unverständliches Spielzeug zerstört, wenn ein Neger die ihm unbegreiflich erscheinende Uhr in ihre Bestandteile zerlegt, wenn der Forscher anatomische Untersuchungen anstellt, so handelt es sich durchgehends um den- selben Trieb, nämlich den, sich das ihm vorläufig noch Unerklärliche dadurch zu klären, daß der Untersucher die einzelnen Bestandteile kennen lernt in der Hoffnung, daß diese für ihn einfachere, bereits bekannte sein werden und ihm so als Brücke dienen können, das Zusammengesetzte zu verstehen, namentlich wenn er dieses nun aus den Einzelheiten werden, entstehen sieht. Jedes Werkzeug des Menschen, Alles was er schafft, entsteht in der Zeit, wird entwickelt, und wer sich das Fertige verständlich machen will, fühlt sich hin- reichend befriedigt, wenn er Kenntnis von dem Werden desselben hat. Das Streben nach dieser Kenntnis entspringt also rein und ausschließlich aus dem Bedürfnis, sich etwas F'ertiges, Unver- standenes verständlicher zu machen: es abzuleiten oder bedingt zu seilen aus Einfacherem, dessen weitere Erklärung daher weniger schwierig er- scheint, bis man dann zu „Elementen" gelangt, deren weitere ,, Erklärung" von den meisten nicht mehr als Bedürfnis empfunden wird. Hierin sind freilich die verschiedenen Menschen ganz ver- schieden veranlagt, indem der eine schon sehr frühe, zuweilen von vornherein Halt macht, der andere später und schließlich eine kleinere Ge- meinde auch die „einfachsten Elemente" ebenso ,, unerklärlich" findet wie die kompliziertesten Ge- bilde. Aber da doch die ,, rohen", von der Natur ohne weiteres gebotenen Materialien den meisten Menschen als diejenigen, an die sie gewöhnt sind, auch hinreichend ,, erklärt" sind, so ist es erst das aus diesem Rohmaterial Hergestellte , was ihnen Fragen nach seiner Entstehung abnötigt. Das rein Menschliche ist es demnach, das Ent- wicklungs-, Entstehungsfragen gebiert, und wer über den engeren Kreis hinaustretend nun die Natur notgedrungen von dem einzig möglichen Standpunkte aus, d. h. mit menschlichem Maß- stabe gemessen, ansieht, der muß auch da, sobald ihm das Bewußtsein des auch in der Natur vor- handenen Komplizierteren neben Einfacherem auf- geht, nach einer ,, Erklärung" dieses Komplizierteren verlangen. Insbesondere sind es die Organismen, die notwendig dem Versuch sie entv^'icklungs- geschichtlich zu „verstehen" unterliegen müssen, sei es in ihrer individuellen Entwicklung, sei es — N. F. Vin. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 99 da ihre Gesamtheit eine Reihe von „Niederem" zu „Höherem" bildet — in der theoretischen An- nahme, daß diese Reilie über die Entstehung der komplizierteren Organismen aus ursprünglich ein- facheren Auskunft gibt. Der Sinn der starken Bevorzugung cntwicklungsgeschichtlicherForschun- gen bedeutet demnach nur und allein eines von den Mitteln, Komplizierteres aus Einfacherem bereits „Verstande- nem" herzuleiten. Mehr dahinter zu suchen wäre Mystizismus, aber keine Naturforschung mehr. Bereits im Alter von acht Jahren verlor Charles Darwin seine Mutter, deren er sich über- haupt nur noch ganz dunkel erinnerte; so mußte denn sein Vater, der ein sehr beschäftigter Arzt war, die Erziehung allein überneinnen. In der Sammelschule, die Charles seit dem Frühjahr 1817 besuchte, machte er geringe Fortschritte, er lernte weit langsamer als seine jüngere Schwester Catharine und gehörte nicht zu den Musterschülern. Aber schon jetzt zeigte Darwin einen ausge- sprochenen Sinn für Naturgeschichte und eine sehr lebhafte Neigung -zum Sammeln. Er ver- suchte die Namen der Pflanzen aufzufinden und sammelte alle möglichen Sachen, Muscheln, Siegel, Briefmarken, Münzen und Mineralien: eine Leiden- schaft, die sich bei Knaben ja oftmals findet und daher nichts Auffälliges hat. Auch in anderen Beziehungen unterschied sich Darwin nicht wesent- lich von seinen Mitschülern. ,,Ich will bekennen — sagt er selbst — , daß ich als kleiner Junge sehr geneigt war, unwahre Geschichten zu er- finden, und zwar geschah dies immer zu dem Zwecke, Aufregung hervorzurufen." Im Jahre 1S18 kam Darwin auf die große Schule von Dr. Butler in Shrewsbury und blieb dort bis zu seinem 16. Lebensjahre. Er sagt: „Nichts hätte für die Entwicklung meines Geistes schlimmer sein können, als Dr. Butlers Schule, da sie ausschließlich klassisch war und nichts anderes gelehrt wurde, ausgenommen ein wenig alte Geographie und Geschichte." Und in einem Briefe Darwins lesen wir: ,, Niemand kann die alte stereotype, einfältige, klassische Erziehung aufrichtiger verachten, als ich es tue." Da Darwin für Sprachen keine Begabung hatte, so hielten ihn die Leiirer und sein Vater für ziemlich beschränkt, und dieser tadelte den Sohn denn auch einmal mit den Worten: „Du wirst Dir selbst und der ganzen Familie zur Schande." Er beschäftigte sich aber weiter mit natur- wissenschaftlichen Dingen, wenn auch meist nur sehr oberflächlich. So sammelte er zwar mit großem Eifer Mineralien, aber kümmerte sich dabei nur um solche mit neuen Namen und ver- suchte kaum, sie zu klassifizieren. Durch seinen älteren Bruder wurde er zu einer Beschäftigung mit der Chemie angeregt und der Direktor der Schule, Dr. Butler, wies ihn dafür, daß er seine Zeit mit derartigen „nutzlosen" Sachen verschwende, öffentlich zurecht. ,,Da ich — sagt Ch. Darwin — auf der Schule nichts Rechtes zu Wege brachte, nahm mich mein Vater sehr weise in einem im ganzen früheren .^Iter als gewöhnlich zurück und schickte mich (Oktober 1825) zu meinem Bruder auf die Universität Edinburg." Hier sollte Charles Medizin studieren, was ihm aber nicht behagte. Übrigens wußte er, daß er einst genügend Vermögen haben würde, um davon zu leben, und so beschäftigte er sich mehr und mehr mit rein naturwissen- schaftlichen Dingen. Der Verkehr mit bedeuten- den Gelehrten hat ihn besonders angeregt. Die meisten der von ihm gehörten Vorlesungen nennt er langweilig. Der Vater Darwins, der wohl sah, daß er keinen Arzt aus ihm machen würde, schlug ihm nunmehr vor, sich dem geistlichen Stande zu widmen. Darwin bat sich, von vornherein keines- wegs abgeneigt, den Vorschlag unbeachtet zu lassen, Bedenkzeit aus und beschäftigte sich mit theologischen Büchern. Er bezog die Universität Cambridge, füllte aber hier als leidenschaftlicher Jäger, der er damals war, die Zeit meist mit Jagen, auch mit Reiten und sonstigen Zerstreu- ungen, wie Gelagen, aus. Mit knapper Not machte er aber doch ein Examen, welches ihm den Titel eines Magister artium eintrug. Von naturwissenschaftlichen Studien sind es namentlich Botanik unter Henslow's und Geologie unter Sedgwick's Leitung, und namentlich Entomologie, welche ihn nun beschäftigten. Die beiden genannten Gelehrten erkannten in Darwin den scharfsinnigen Kopf und haben be- stimmend auf seine Lebensbahn eingewirkt. Die Erkenntnis der vollen Befriedigung, welche eine Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gewährt, war Darwin jetzt aufgegangen; auch sein Streben war nunmehr, einen wenn auch noch so bescheidenen Baustein zu liefern zu dem er- habenen Gebäude der Naturwissenschaft. Nach seiner Rückkehr nach Shrewsbury wurde Darwin von Henslow ein Vorschlag gemacht, der Darwin's Wünschen nicht besser entsprechen konnte. Die englische Regierung rüstete nämlich ein Kriegsschiff, den „Beagle", aus, das die Küsten von Patagonien, Feuerland, Chili, Peru und einigen Inseln des Stillen Meeres aufnehmen und chrono- metrische Beobachtungen zur Bestimmung der Länge verschiedener Punkte der Erde machen sollte. Ein freiwilliger Naturforscher sollte mit- gehen und Henslow empfahl Darwin. Henslow schreibt an Darwin : Ich habe ausgesprochen, daß ich Sie für die bestqualifizierte Person unter denen, die ich kenne, halte . . . Ich spreche dies aus, nicht in der Voraussetzung, daß Sie ein fertiger Naturforscher, sondern reichlich dazu qualifiziert sind, zu sammeln, zu beobachten und alles, was einer Aufzeichnung auf dem Gebiete der Naturgeschichte wert ist, zu notieren." . . . ,, Tragen Sie sich nicht mit irgendwelchen Zweifeln lOO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 7 oder Befürchtungen über Ihre Untüchtigkeit, denn ich versichere Ihnen, ich meine, Sie sind gerade der Mann, welchen sie suchen. . . ." Der Vater Darwins machte aber ernstliche Einwendungen gegen die Mitreise seines Sohnes: ,,Wenn Du irgendeinen Mann von gesundem Menschenverstände finden kannst — sagte er ihm — der Dir den Rat gibt, zu gehen, so will ich meine Zustimmung geben." Darwins Onkel, Josua Wedgwood, gelang es, die Bedenken des Vaters zu beschwichtigen, und im Dezember 1831 schiffte sich Darwin auf dem von dem erst 24 jährigen F'itzRoy kommandierten „Beagle" ein, um erst Ende 1836 zurückzukehren. Die Reise nennt Darwin das bedeutungsvollste Ereignis seines Lebens, das seine ganze Laufbahn bestimmt habe. ,,lch habe stets gefühlt — sagt er • — daß ich der Reise die erste wirkliche Zucht oder Erziehung meines Geistes verdanke." Daß Darwin seine Unfähigkeit zu zeichnen sehr be- dauerte, ist nur zu begreiflich. Schon die Reisebriefe Darwins machten ge- rechtes Aufsehen bei den Gelehrten und der be- rühmte Geologe Sedgwick äußerte dem Vater Darwins gegenüber, daß der Sohn einst ein her- vorragender Gelehrter werden würde. Die Reisebeschreibung Darwin's, ,, Reise eines Naturforschers um die Welt", muß ein heutiger Naturforscher gelesen haben und wird auch jeden, der sich für Naturwissenschaften interessiert, ohne Gelehrter zu sein, hohe Befriedigung gewähren. Nach seiner Rückkehr erschien Darwin wesent- lich verändert. Seine Gesundiieit hatte stark ge- litten, vielleicht infolge der Seekrankheit, an der er auf dem Wasser fast beständig litt; seine Kränklichkeit kann aber auch eine Form der Gicht gewesen sein, die in der Familie schon seit dem Jahre 1600 erwähnt wird. Es verging kein Tag mehr, ohne daß er mehrere Stunden unpäß- lich gewesen wäre. Häufig war er tage-, ja auch wochenlang ganz arbeitsunfähig und er besuchte wiederholt eine Kaltwasserheilanstalt. Sein Schlaf dauerte selten länger als einige Stunden. Durch die Reise war aber Darwin ein Forscher ersten Ranges geworden. Die 2'/4 Jahre nach der Rückkehr von der Reise waren die täligsten, die Darwin je verlebt hat. In Cambridge, wo sich seine Sammlungen unter Henslow's Obhut befanden, arbeitete er 3 Monate; 2 Jahre blieb er in London. Er stellte seine Reisebeschreibung fertig, hielt mehrere Vor- träge in der geologischen Gesellschaft usw. Im Juli 1837 begann er sein erstes Notizenbuch für Tatsachen in bezug auf den Ursprung der Arten, worüber er lange nachgedacht hatte; er hörte während der nächsten 20 Jahre nicht auf, daran zu arbeiten. Am 29. Januar 1839 heiratete er in London seine Niciite Emma Wedgwood. Der gesellschaft- liche Verkehr nahm ihn aber derartig in Anspruch, daß er sich, um nachhaltiger seinen Forschungen leben zu können, im Jahre 1842 nach Down in Kent zurückzog, wo er sich ein Landhaus kaufte, das er später nur noch selten verließ. Das tägliche Leben in Down gestaltete sich in der späteren Zeit in der folgenden Weise. Darwin stand früh auf und machte vor dem Frühstück einen Spaziergang. Nachdem er allein gefrühstückt hatte, begab er sich gegen 8 Uhr an die Arbeit und blieb dabei bis 9^'., Uhr; in diesen I '/., Stunden war er zum Arbeiten am besten aufgelegt. Um ^l^io Uhr ging er ins Wohn- zimmer, ließ sich bis Vo 1 1 Uhr Familienbriefe oder einen Roman vorlesen und ging darauf in sein Zimmer, wo er wieder bis 12 oder i2'/.2 Uhr arbeitete. Hiermit war sein Tagewerk eigentlich vollbracht. Zunächst ging er dann spazieren, mochte das Wetter gut oder schlecht sein. Er wandelte gewöhnlich erst durch die Gewächs- häuser, sah sich die keimenden Samen und die Versuchspflanzen an, ohne jedoch genauere Be- obachtungen anzustellen, und ging dann ins F"reie. Wenn er allein war, blieb er oft stehen und sah sich die Vögel und Tiere an. Bei einer solchen Gelegenheit liefen ihm einmal junge Eichhörnchen die Beine und den Rücken hinauf, während die Mutter ihre Jungen mit Angstgeschrei vom Baume aus zurückrief. Nach dem MittagsSpaziergange kam das zweite Frühstück. Darwin war äußerst mäßig im Essen und Trinken ; er aß gern Süßigkeiten, obgleich sie ihm schlecht bekamen. Nach dem zweiten Frühstück legte er sich aufs Sofa und las die Zeitung. Außer dieser las er selbst nichts Unter- haltendes. Alles übrige: Romane, Reisebe- schreibungen usw. ließ er sich vorlesen. Mit Politik beschäftigte er sich nicht, verfolgte sie aber. Nun- mehr ging er an die Beantwortung der Briefe, von denen kein einziger unberücksichtigt blieb. In Geld- und Geschäftssachen war Darwin sehr sorgfältig. Wenn die Briefe erledigt waren, legte er sich in seinem Schlafzimmer aufs Sofa, ließ sich aus einem unterhaltenden Werke vorlesen und rauchte eine Zigarette. Beim Arbeiten schnupfte er gern, um sich aber nicht zu sehr daran zu gewöhnen, stand der Topf mit Schnupf- tabak im Hausgange. Punkt 4 Uhr mit außerordentlicher Regel- mäßigkeit kam er die Treppe herunter, um sich zum Spaziergange anzukleiden. Von '/,,5 bis \'26 Uhr arbeitete er wohl noch, dann kam er aber ins Wohnzimmer und nahm an der Unterhaltung teil, bis er um 6 Uhr sich aufs Sofa legte, um sich aus einem Roman vorlesen zu lassen. Gegen V28 Uhr aß er zu Abend. Nach dem Essen blieb er nie im Wohnzimmer, sondern verkehrte mit den Damen. Mit seiner Frau spielte er dann Tricktrack, und war ärgerlich, wenn er kein Glück hatte. Nachher las er im Wohnzimmer oder, wenn zuviel gesprochen wurde, in seinem Studierzimmer etwas Wissenschaftliches, so lange, bis er sich müde fühlte; dann hatte er gern, wenn ihm seine Frau etwas auf dem Klavier vorspielte. N. F. VIII. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. lOI Um lo Uhr ging er hinauf und gegen '/., ii Uiir zu Belt. Darwin hat viel geschrieben. Kine große Anzahl Aufsätze finden sich in Zeitschriften, größere Arbeiten erschienen in Buchform; seine Hauptwerke sind alle ins Deutsche übersetzt worden und bilden in der bekanntesten Ausgabe i6 stattliche Bände. Sein epochemachendes Buch „Die Entstehung der Arten", das am 24. November 1859 erschien, war im Geiste Darwins bereits 1844 fertig. Er schrieb seine Gedanken nieder und übergab seiner Frau die schriftlich aufge- zeichneten genauen Bestimmungen darüber, was in dem Falle, daß er vor Vollendung seines Werkes stürbe, geschehen solle. Das Werk schwoll immer mehr an und wäre in der jetzigen, so günstigen Fassung überhaupt nicht erschienen, wenn nicht 1S58 ein bemerkenswerter Zwischen- fall eingetreten wäre. Der Naturforscher Wallace, welcher sich da- mals im malayischen Archipel aufhielt, schickte nämlich an Darwin eine Abhandlung ,,Über das Bestreben der Abarten, immer mehr von der Stammart abzuweichen". Diese Abhandlung ent- hielt fast die ganze Darwin'sche Lehre; nur fehlten die Begründungen und die Anwendungen. Zunächst war Darwin ratlos, was er nun tun sollte. Auf den Rat von Lyell entschloß er sich nun endlich, einen Überblick über die bisherigen Ergebnisse seiner Forschung zu geben, den er zugleich mit der Abhandlung von Wallace der Linnean Society vorlegte. Darwin verzichtete nunmehr darauf, seine Lehre mit allen Beobach- tungen, Versuchen und Belegen zu veröft'entlichen, die er gesammelt hatte, und entschloß sicli zur Abfassung eines alles Wesentliche enthaltenden Auszuges. Diese Arbeit ist „Die Entstehung der Arten": „The origin of species." Am Schluß seiner Autobiographie versucht Darwin die geistigen Eigenschaften und die Be- dingungen, von welchen sein Erfolg abgehangen habe, zu zergliedern, obwohl er sich — wie er sagt — sehr wohl bewußt sei, daß dies niemand ganz korrekt tun könne. Er sagt unter anderem: „Ich besitze keine große Schnelligkeit der Auf- fassung oder des Witzes . . . Meine F"ähigkeit, einem langen und rein abstrakten Gedankengange zu folgen, ist sehr beschränkt . . . Mein Gedächtnis ist ausgedehnt, aber nebelig." Den Kritikern, die von Darwin gesagt haben, daß er zwar ein guter Beobachter sei, aber nicht die Fähigkeit besitze, Schlüsse zu ziehen, erwidert er: „Ich glaube nicht, daß dies richtig sein kann, denn die „Entstehung der Arten" ist von Anfang bis zum Ende nur eine lange Beweisführung." „Ich habe ein ordentliches Teil Erfindungsgabe — sagt er ferner — und gesunden Sinnes oder Urteils, so viel ein Jeder erfolgreiche Sachwalter oder Arzt besitzen muß, aber, wie ich glaube, in keinem höheren Maße. Was die günstigere Seite der Wage betrifft, so glaube ich, daß ich der gewöhnlichen Art Men- schen darin überlegen bin, daß ich Dinge, welche der Aufmerksamkeit leicht entgehen, bemerke und dieselben sorgfältig beobachte. Mein Fleiß im Beobachten und im Sammeln von Tatsachen ist so groß gewesen, wie er nur hat sein können. Was aber von weit größerer Bedeutung ist: meine Liebe zur Naturwissenschaft ist beständig und heiß gewesen." Am 19. April 1882 ist Charles Darwin ge- storben. Die wenigen seiner wirklich wissenschaftlichen Gegner aus dem Kreise seiner Zeitgenossen, die es noch gab, sind längst ins Grab gesunken, und unter der neuen Generation der Naturforscher ist ein Gegner der Deszendenztheorie kaum noch möglich. Die Kenntnis der Prinzipien dieser Theorie gehört heute zu dem elementaren Wissen jedes Natur- forschers. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. „Neues aus der Pharmazie". „Die Spal- tung des Amygdalins unter dem Ein- fluß von Emulsin." Von L. Rosenthaler. Mitteilung aus dem pharmazeutischen Institut der Universität Straßburg i. E. Arch. f. Pharm. Bd. 246 (1908), 365 -366. K. Feist (Arch. d. Pharm. Bd. 246, S. 206. Vgl. auch das Referat in Naturw. Wochenschr. N. F. VIL Bd. Nr. 27 „Neues aus der Pharmazie") kommt zu dem Resultat, daß bei der Spaltung des Amygdalins durch Emulsin primär Benz- aldehydcyanhydrin entsteht, weil er letzteres dabei in optisch aktivem Zustande isolieren kormte. Nach Verf. hat Feist aber einen Umstand nicht berücksichtigt, nämlich den, daß aus primär abgespaltenem Benzaldehyd und Blausäure unter dem Einfluß des Emulsins sekundär ein optisch aktives Benzaldehydcyanhydrin entstehen konnte. Verf erhielt durch Einwirkung von Emulsin auf Benzaldehyd und Blausäure d-Benzaldehydcyan- hydrin und durch dessen Verseifung IMandcIsäure. Verf hält den Beweis für erbracht, daß Benzal- dehyd und Blausäure unter dem Einfluß des Emulsins zu optisch aktivem Benzaldehydcyan- hydrin zusammentreten. .Angesichts der Bedeu- tung, die derartigen ,, asymmetrischen Synthesen" zukommt, will Verf die Reaktion Emulsin Blau- säure-Benzaldehyd in quantitativer Hinsicht unter- suchen; außerdem will Verf. noch weitere Ver- suche darüber anstellen, in welcher Weise Emulsin und andere Enzyme zu Synthesen optisch aktiver Körper dienen können. Demgegenüber kann I02 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 7 K. Feist (Arch. d. Pharm. Bd. 246, S. 509—510) in der Beobachtung von L. Rosen thaler nur eine Bestätigung seiner Annahme (K. Feist, Arch. d. Pharm. Bd. 246, S. 206) erblicken. Feist sagt: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß im Amygdalin das asymmetrische Kohlenstoffatom, das zur Bildung von d- Benzaldehydcyanhydrin führte, präformiert vorhanden ist, denn sonst würde keine optisch aktive Mandelsäure entstehen können, wenn man Amygdalin mit Salzsäure er- hitzt." Das optisch aktive Zwischenprodukt hat Feist isoliert, allerdings war es nicht ausschließlich entstanden, bzw. es war bereits zum Teil ver- ändert unter Bildung der razemischen Form und unter Spaltung in Benzaldehyd und Cyanwasser- stoff. Rosenthaler fand, daß Emulsin sogar die Bildung von d-Benzaldehydcyanhydrin aus Benzaldehyd und Cyanwasserstoff veranlaßt, des- halb glaubt Feist nicht annehmen zu können, daß es vorher dessen vollständige Spaltung her- beiführt. Nach Feist spielt das Emulsin hier die Rolle eines Katalysators, der einerseits einen Zerfall, andererseits eine Bildung bis zum Gleich- gewicht hervorruft ; d-Benzaldehydcyanhydrin -f- Emulsin ~^ Benzaldehyd -\- Cyanwasserstoff-]- Emulsin. Wer sich für die von L. Rosenthaler zuerst beobachtete asymmetrische Beeinflussung von Syntliesen durch Enzyme interessiert, versäume nicht, die schöne Arbeit von L. Rosenthaler ,,Durch Enzyme bewirkte asymmetri- sche Synthesen" in der ,, Biochemische Zeit- schrift" 1908, Bd. 14, 238 — 253 zu lesen. „Ein Beitrag zur Kenntnis der im Safran vorkommenden Stoffe." Von Dr. B. Pfyl in Berlin und Dr. W. Scheitz in Meerane. Zeilschr. f. Unt. d. Nahrg. u. Gen. 1908, I61 337 — 346- ^'1 neuerer Zeit scheint es vielfach üblich geworden zu sein, daß man die wertvollen Safrannarben aus dem Rohsafran sorgfältig aus- liest und zu hohen Preisen verkauft, während man die wertlosen hellgelben Griffel, unverändert oder aufgefärbt, mit geringen Mengen von Narben ge- mischt (insbesondere im gepulverten Zustande) in den Handel bringt. Schon Hilger suchte diese Art der Fälschung zu bekämpfen. Verff. stellten erneute Versuche an, um zu einem brauchbaren Verfahren zur Wertbcstinimung des mit Griffeln verfälschten Safrans zu gelangen. Hierzu gehört eine gründliche Kenntnis der im Safran vorkom- menden Stoffe. Verff. haben sich deshalb damit beschäftigt, besonders typische, d. h. dem Safran eigentümliche Stoffe näher zu charakterisieren und zu isolieren; am Schlüsse ihrer interessanten Arbeit fassen sie die Ergebnisse zusammen : I. Das Verfahren von Quadrat [Gmelin, Handbuch d. organ. Chemie 1866, 4, 1409; Journ. f. prakt. Chemie 1866, 56, 68; Jahresber. 1851, 532] und Weiß [Journ. f. prakt. Chemie 1867, 101, 65; Jahresber. 1867, 733] führt zu keinem reinen Crocin , weil dabei die Abtrennung der von den Verff. nachgewiesenen Glykoside vom Safranfarbstoff nicht erzielt wird. Der von K a y s e r mit Tierkohle abgetrennte Farbstoff [Ben d. d. ehem. Ges. 1884, 17, 2228] wird durch Einwir- kung von Alkohol verändert. Es ist nicht ge- lungen, das Crocin zu kristallisieren. 2. Ebenso- wenig konnte das Crocetin als solches rein oder kristallinisch erhalten werden; hingegen gelang es, davon kristallisierte Salze darzustellen. 3. Bei der Spaltung des Crocins tritt Glykose auf, welche als Glykose - /i - Naphtylhydrazon nachgewiesen wurde. 4. Der von Schüler [Inaugural-Disser- tation, München 1899] beschriebene, aus dem Petrolätherextrakt erhaltene Kohlenwasserstoff war nicht rein. Nach völliger Reinigung schmilzt dieser bei 63" und scheint datm identisch zu sein mit einigen anderen Kohlenwasserstoffen, die in ebenfalls rotgelben Pflanzenfarbstoffen gefunden wurden [Wirth, Dissertation Erlangen 1891; Born er, Dissertation Erlangen 1891 ; Eh ring, Dissertation München 1896]. Das von Kays er [Ben d. d. ehem. Ges. 1884, 17, 2228] beschrie- bene Pikrocrocin konnte nicht kristallinisch er- halten werden. Nach der vonKayser angegebe- nen Vorschrift wurde einmal eine weiße Substanz vom Schmelzpunkt 67" erhalten, die nicht redu- zierte. 6. Die eingehende Untersuchung des Pelroläther- und Cliloroformextraktes führte zur Auffindung von drei kristallisierten Substanzen. Die in Chloroform übergehende Substanz hat Ähnlichkeiten mit dem Kays er 'sehen Pikro- crocin, indem als Spaltungsprodukte ätherisches Öl mit Safrangeruch und Zucker auftreten. Dieser Zucker aber ist linksdrehend, gibt kein Glykose-/i- Naphtylhydrazon, wohl aber das der Glykose oder Fruktose entsprechende Osazon und die Fruktose- reaktion. 7. In dem absolut alkoholischen Extrakt (nach erschöpfender Behandlung mit Petroläther und Chloroform) wurde ein freier Zucker nach- gewiesen , der ebenfalls kein Glykose-/i-Naphtyl- hydrazon, wohl aber das der Glykose oder Fruk- tose entsprechende Osazon und die Fruktose- reaküon gibt. Neben diesem freien Zucker konnte ferner ein Glykosid festgestellt werden, das bei der Spaltung ätherisches Safranöl und einen Zucker von den eben erwähnten Eigenschaften liefert. Da die Lösung der Gemenge von freiem Zucker und Glykosid vor und nach der Hydrolyse links dreht, so handelt es sich zweifellos in beiden Fällen um Fruktose. ,,Über ein Verfahren zur Wertbestim- mung des Safrans." Von Dr. B. Pfyl in Berlin und Dr. W. Scheitz in Meerane. Zeitschn f. Unters, d. Nahrgs. u. Gen. 1908, 16, 347—352. Hierzu eignen sich nach Verff. besonders die Zuckerarten, welche sie im Chloroformextrakte feststeilen konnten (vgl. vorstehendes Referat). Da die Zucker des Handels nicht in Chloroform übejgehen, so können sie daher niemals als Ersatz dieser Substanzen gebraucht werden. Da Verff. qualitativ festgestellt hatten, daß weder die Griffel noch die üblichen Verfälschungsmittel (Lign. San- tali, Rhiz. Curcumae, Lignum Campechianum, N. F. VIII. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 103 Flores Rhoeados, Flores Paeoniae, Honig, Calen- dula officinalis und Carthamus tinctorius) einen Stoft" eiuhallen, der in Chloroform löslich ist und nach der Einwirkung \-on Säuren Fehlin g'schc Lösung reduziert, so haben Vcrft'. die dem Zucker des Chloroformextraktes entsprechende Menge des reduzierten Kupfers als Maßstab zur Bestim- mung des Reinsafrans herangezogen: Der scharf getrocknete, fein zerriebene Safran (5,0 g) wird mit Petroläther im Soxhlet entfettet. Nach Ver- dunsten des Petroläthers wird 2 Stunden lang im .Soxhlet mit Chloroform extrahiert. Der nach dem Abdestillieren des Lösungsmittels verbleibende Rückstand wird mit heißem Aceton aufgenommen, die Lösung in ein Becherglas gespült, mit 25 ccm Wasser versetzt und das Aceton über kleiner Flamme auf dem Drahtnetz weggekocht. Nach Zusatz von 5 ccm Normal -Salzsäure wird die l'^lüssigkeit unter Ersatz des verdampfenden Wassers etwa I 5 Minuten im Kochen erhalten. Das Gly- kosid wird gespalten. Nach dem Erkalten wird filtriert und nachgewaschen, das Filtrat mit Normal- Alkalilauge neutralisiert und zu einer AUihn'schen Zuckerbestimmung benutzt. Das Kupfer wird als solches gewogen und ergibt die Kupferzahl. Zur Berechnung des in einem Falsifikate enthaltenen reinen Safrans benutzt man eine von Verff. auf- gestellte Interpolationstabelle, die Rücksicht auf die Tatsache nimmt, daß die Abscheidung des Kupferoxyduls aus Fehlin g'scher Lösung nicht proportional der vorhandenen Zuckermenge vor sich geht. ,,Überdie Alkaloide der chinesischen C ory dal iskn ol 1 en." Von Dr. K. Makoshi aus Osaka (Japan). Mitteilung aus dem pharma- zeutischchemischem Institut der Universität Mar- burg. (Arch. d. Pharm. Bd. 246, 381 — 400.) Nach Yokusai, einem bekannten japanischen P'loristen, stammen die chinesischen Corydalisknollen von Corj'dalis bulbosa var. rotundifolia ab, wogegen dieselben nach Shimoyama von C o r y- dalis ambigua herrühren. Nach B red e m a n n stammen die chinesischen Corydalisknollen von Corydalis ambigua, die japanischen Corydalis- knollen von Corydalis Vernyi ab. Verf isolierte aus chinesischen Corydalisknollen: Cory- dalin vom Schmelzpunkt 134 — 135", Corybul- bin vom Fp. 237 — 239", Protopin vom Fp. 202 — 207". Ferner isolierte Verf. noch zwei Al- kaloide, die er mit Alkaloid I und II bezeichnet. Nach seinem Gesamtverhaiten trägt das Alkaloid I, ebenso wie das Berberin, den Charakter einer .•\mmoniumbase. Die analytischen Daten, welche bei der Analyse des Chlorids und Golddoppel- salzes dieser Base gefunden wurden, stimmen mit denen überein, welche das Berberinchlorid bzw. dessen Golddoppelsalz verlangt. Auch läßt sich das Chlorid des Alkaloids I durch Reduktion in eine farblose Base verwandeln , die jedoch nicht mit dem Hydroberberin identisch ist. Das Alka- loid II war eine bei 197 — 199" schmelzende Base, welche in kompakten, grauweißen Nadeln kristalli- sierte. Die geringe Menge, in welcher dieses Alkaloid vorlag, gestattete eine weitere Unter- suchung nicht. ,,Uber das Protopin der japanischen Corydalisknollen: Corydalis Vernyi." Von Dr. K. Makoshi aus Osaka (Japan). Mit- teilg. aus d. pharm. -ehem. Inst. d. Univers. Mar- burg. Arch. d. Pharm. Bd. 246, S. 401 — 402. Verf. untersuchte zwei von Professor Uyeno in Tokio erhaltene Rohalkaloide, welche aus den japanischen Corydalisknollen nacli dem X'erfahren von E. Schmidt isoliert waren. Die als Alkaloid A be- zeichnete Base war aus dem alkalisch gemachten P'.xtrakt durch Ausschütteln mit Äther gewonnen, die als Alkaloid B bezeichnete Base dagegen aus dem mit Äther behandelten Extrakt durch Aus- schütteln mit Chloroform isoliert. Durch Um- kristallisieren gelang es Verf das Alkaloid A in die typischen Formen des Protopins von Fp. 207" überzuführen. Auch in den Reaktionen stimmten diese Kristalle mit Protopin vollkommen überein; ferner wurde es noch durch das Hydrochlorid und das Platindoppelsalz identifiziert. Das Alka- loid B bildete eine gelbe, kristallinische Masse, welche in ihrem Verhalten und in ihrem Äußeren große Ähnlichkeit mit Dehydrocorydalin bzw. Berberinchlorid zeigte. Wegen der geringen Menge konnte das Alkaloid nicht näher identifiziert werden. „Zur Kenntnis des Pim pinellins." Von J. Herzog und V. Ha neu. Arbeiten aus dem Pharmazeutischen Institut der Universität Berlin. .Arch. d. Pharm. Bd. 246 (1908) S. 402 — 414. Über das Pimpinellin, einen in der Wurzel von Pimpinella Saxifraga L. enthaltenen kristalli- sierten Stoff, lagen bisher zwei kurze Mitteilungen von Buch heim (Arch. d. Pathologie 1872, S. 37) und von G. Heut (Arch. d. Pharm., Bd. 236 (1898) S. 162) vor. Zur Darstellung des Pimpi- nellins extrahierten Herzog und Häncu die Biber- nellwurzel mit Benzol und versetzten die Lösung zur Abscheidung des Pimpinellins mit Petroläther. Das Auskochen von Vegetabilien mit Benzol emp- fehlen Verff. sehr, da das Benzol die in Wasser löslichen Extraktivstoffe fast vollständig zurück- läßt, während es die meisten auch in Alkohol löslichen Stoffe reichlich löst; ferner siedet es sehr gleichmäßig in mit überhitzten Wasserdämpfen betriebenen Apparaten und bedeutet schließlich auch durch seinen geringen Preis einen Vorteil gegenüber dem Alkohol. Die Ergebnisse ihrer Arbeit fassen Verff. in folgendem zusammen : I. Die Wurzel von Pimpinella Saxifraga L. liefert in einer Menge von etwa 0,5 " „ einen kristalli- sierten Rohstoff, dessen hauptsächlichster, wenn nicht einziger Bestandteil das Pimpinellin ist. Ein zweiter einheitlicher Stoff konnte von Verff. (im Gegensatz zu Heut) aus dem Rohprodukt nicht isoliert werden. II. Das reine Pimpinellin stellt lange, glänzende, weiße Nadeln vom P'p. 119" dar; es besitzt nach Analyse und Molekulargewichtsbestimmung die I04 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. Vni. Nr. 7 Formel CjgH,,^^ und zersetzt sich bereits durch die Einwirkung des lichtes unter Gelbfärbung. III. Das Pimpinellin ist mit größter Wahr- scheinlichkeit als ein Lakton anzusehen; es ent- hält zwei Methoxylgruppen in dem oben ange- nommenen Molekül. (Demnach würde die Formel des Pimpinellins weiter aufgelöst werden können in Ci„H,0.C0.0-(0CH3).,.) IV. Durch Oxydation entsteht aus dem Pim- pinellin eine Säure, die bei 212 bis 220" schmilzt, eine dreibasische Säure zu sein scheint und ge- wisse Ähnlichkeit mit der Phtalsäure zeigt. — Dieses Oxydationsprodukt des Pimpinellins CgHgO., (C00H)3 bildet mit Pyridin ein schön kristalli- sierendes Salz, das mit Diphenylharnstoffchlorid unter Bildung eines diphenylierten Säureamids zusammentritt; Cf-HgO., ■ [CONlC^HJ.j],,. V. Die Zusammensetzung der Pimpinellinformel und die Überführung des Pimpinellins in eine der Phtalsäure in mancher Beziehung ähnliche Säure führt zur Vermutung, daß das Pimpinellin ein Naphtalinderivat ist, das durch Oxydation in eine substituierte Phtalsäure umgewandelt wird. „Über die Inhaltstoffe der Rhizoma Imperatoriae." Von J. Herzog. Arbeiten aus dem Pharmazeutischen Institut der Universität Berlin. Arch. d. Pharm. Bd. 246 (1908), S. 414 bis 417. Wie bei der Biberneil wurzel (vgl. vor- stehendes Referat) erfolgte die Erschöpfung der Droge durch siedendes Benzol, die Abscheidung durch Petroläther. Verf. erhielt in einer Ausbeute von etwa i "Jq rein weiße Kristalle vom Schmp. 140 — 141", die als Oxypeucedanin angesehen wer- den müssen; in kleineren Mengen isolierte Verf. aus der Petrolätherlösung Ostruthin. Vielleicht läßt sich ein chemischer Zusammenhang zwischen den beiden Stoffen nachweisen. Verf. hofft hier- über in einiger Zeit berichten zu können. „Über das Verhalten des Chinins im Organismus." Von Dr. Paul Grosser. (Aus der II. inneren Abteilung des städtischen Kranken- hauses am Urban in Berlin.) Biochem. Zeitschr. Bd. VIII. (1908) S. 98 — 117. Zur quantitativen Bestimmung des Chinins wandte Verf. Phosphor- wolframsäure als Fällungsmittel an. „Ein Teil, meist 50 ccm, des bei großen Mengen auf ein kleines Volumen eingedampften Harnes wurde mit Salzsäure angesäuert und mit konzentrierter Phosphorwolframsäurelösuiig so lange versetzt, bis bei weiterem Zusatz keine Trübung mehr eintrat. Daneben wurde mit der gleichen Menge eine Kontrollprobe gemacht. Nach 24 -stündigem Stehen wurde abfiltriert; es war unbedingt nötig, den Niederschlag so lange absetzen zu lassen, da sonst die Flüssigkeit häufig trübe durchging. Der Filterrückstand wurde sodann quantitativ in eine Abdampfschale gespritzt, in dieser zu dem weiß- lichen Brei auf dem Wasserbade Barythydrat in Substanz gefügt, bis die Reaktion stark alkalisch wurde." Es wurde zur Entfärbung Tierkohle zu- gesetzt und zur Trockne verdampft. Der Rück- stand wurde im Soxhlet 12 Stunden mit Chloro- form extrahiert. Die nach Abdampfen des Chloro- forms verbleibende braune Schmiere wurde in Äther gelöst, vom Unlöslichen abfiltriert, der Äther verdunstet, der bräunliche Rückstand bei 115" getrocknet und gewogen. Der Rückstand gab die bekannten Identitätsreaktionen. Zur Iso- lation des Chinins aus dem Harn war die Methode gut anwendbar; aus eiweißhaltigen Flüssigkeiten und aus Organen konnte das Chinin auf diese Weise nicht wiedergewonnen werden. Die Eiweiß- rückstände konnten trotz tagelangen Auswaschens nicht chininfrei erhalten werden. Auch die quan- titative Chininbestimmung aus der Leber bereitete zuerst große Schwierigkeiten ; Verf. gelangte schließlich zu folgender Methode: Die zerkleinerte und bei 80" getrocknete Leber wurde mit Seesand verrieben, mit etwa 100,0 ccm 25 "/o iger Schwefel- säure vermengt und im Schüttelapparat 3 Stunden kräftig geschüttelt, sodann getrocknet und der Rückstand im Soxhlet mit Chloroform extrahiert, bis das ablaufende Chloroform klar war. Das in Chloroform unlösliche schwefelsaure Chinin blieb, von einem Teil der Farbstoffe befreit, in der Filterpatrone zurück. „Das so gereinigte Pulver wurde nunmehr bis zur stark alkalischen Reaktion mit Natronlauge versetzt und wiederum im Schüttel- apparat 3 Stunden kräftig geschüttelt; der Brei nunmehr unter Zusatz von Tierkohle zur Trockne eingedampft, bei 80" völlig getrocknet, das Pulver wiederum im Soxhlet mit Chloroform extrahiert. . . . Das Chloroform wurde verdunstet, der braune Rückstand getrocknet und in verdünnter Schwefel- säure gelöst. Durch ein kleines Filter wurde vom ungelösten Rückstande abfiltriert und so lange mit verdünnter Schwefelsäure gewaschen, bis daß das Filtrat chininfrei war. Der nach Abdunsten des Äthers zurückgebliebene leicht gelbliche Rück- stand wurde getrocknet und gewogen." Der Rückstand gab die bekannten Chininreaktionen. „Über diabetische Lävulosorie und den qualitativen Nachweis der Lävu- lose im Harn." Von L. Borchardt. (Aus dem Institut für med. Chemie und exper. Pharma- kologie zu Königsberg. Direktor Gehr. Jaffe.) Zeitschr. f. physiolog. Chemie, Bd. 55 (1908), 241 — 259. Verf. verwirft die Seli wanof f'sche Probe für Urin (Kochen mit gleichen Teilen Salz- säure und einigen Körnchen Resorzin : Rotfärbung bei Anwesenheit von Lävulose), denn außer Lävu- lose gibt eine Reihe anderer Körper, die im Urin vorkommen, eine ähnliche Rotfärbung, teils beim Kochen mit Salzsäure allein, teils beim Kochen mit Resorzin und Salzsäure. Die S el iwa n off ' sehe Probe ist in verschiedener Weise modifiziert worden; Verf führt die be- treffenden Modifikationen an. Die Methode von Rosin (Zeitschr. f physiol. Chemie, Bd. 38, 1903, S. 555), in der von ihm verbesserten folgenden Form, hält Verf. für den Nachweis der Lävulose im Urin für geeignet: „Einige Kubikzentimeter Harn werden im Reagenzglas mit der gleichen Menge 25 prozentiger (offizineller) Salzsäure und N. F. VIII. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrilt. 105 einigen Körnchen Resorzin einmal kurz aufgekocht; tritt Rotfärbung ein, so külilt man unter der Wasserleitung, gießt die Flüssigkeit in eine Schale oder ein Becherglas, macht mit Soda in Substanz alkalisch, gießt in das Reagenzglas zurück und schüttelt mit Kssigäthcr aus. Bei Anwesenheit von Lävulose färbt sich der Essigäther gelb." Die Probe ist nur dann beweisend, wenn nicht gleich- zeitig Nitrite und Indikan in deutlich nachweis- barer Menge vorhanden sind. Das gleichzeitige Vorhandensein beider Stoffe gibt nämlich auch eine positive Reaktion, während weder Nitrit noch Indikan allein die Probe geben. In einem solchen Falle entfernt Verf vorher die salpetrige Säure, indem er den mit Essigsäure angesäuerten Harn I Minute kocht. Ist der Indikangehalt sehr groß, so geht mitunter in den Essigäther ein blauer Farbstoft' über, der eventuell den gelben für Lävu- lose charakteristischen verdecken kann. In diesem Falle muß das Indikan vorher entfernt werden indem man gleiche Teile Urin und Obermeyer- sches Reagens mit Chloroform mehrmals aus- schüttelt. Da das Oberm eye r' sehe Reagens aber rauchende Salzsäure enthält, muß man nach Abgießen des Chloroforms erst mit ^1^ des Volumens Wasser verdünnen, wodurch die Kon- zentration der Flüssigkeit an HCl auf 12 — 13 "/„ herabgesetzt wird, dann gibt man einige Körnchen Resorzin zu, kocht auf und verfährt weiter wie oben. Der Urin von Patienten, die Santonin oder Rhabarber genommen haben, gibt eine ähn- liche Reaktion; diese Verwechslung wird leicht zu vermeiden sein, wenn man diese Fehlerquelle kennt. Aus Urinen, die Uroroscin enthalten, muß dieses vorher entfernt werden, da der P'arb- Stoff, der beim Ansäuern mancher Urine mit Salzsäure schon in der Kälte entsteht, bei An- stellung der angegebenen Reaktion mit rotvioletter Farbe in den Essigäther übergeht und den Nach- weis der Lävulose dadurch vereitelt. Die Ent- fernung dieses Farbstoffes gelingt leicht, wenn man gleiche Teile Urin und 25 prozentige Salz- säure 2 — 3 mal mit Amylalkohol auschüttelt, im Scheidetrichter trennt, dann mit Resorzin kocht und weiter wie oben verfährt. Da aber der Ver- wendung des käuflichen Amylalkohols, wie Verf gezeigt hat, erhebliche Bedenken entgegenstehen, so ist ein danach auftretendes positives Resultat nicht als absolut bewei'^end anzusehen. Nach den weiteren Untersuchungen des Verf., auf die ich hier nur verweisen kann, liegt für die Annahme einer Ausscheidung von Lävulose im Diabetiker- urin kein Grund vor. „Über den Wert der zur Bestimmung des Harnzuckers verwendbaren Metho- den." Von Casimir Funk. (Aus dem ehem. Laborator. der inneren Abteilung des Stadt. Krankenhauses in Wiesbaden.) Zeitschr. f physiol. Chemie, Bd. 56, S. 507-511. Auf Grund seiner Untersuchungen kommt Verf zu dem Resultate, daß die Bertrand'sche Zuckertitrationsmethode wegen ihrer Genauigkeit und scharfen Umschlags für Zuckerbestimmungen empfohlen werden kann, auch für die Bestimmung des Harnzuckers. Die Bertrand'sche Methode (Bull, de la Soc. chim. de F"rance, Bd. XXXV, S. 1285, 1906) skizziert Verf kurz wie folgt: Bertrand läßt die zu untersuchende zuckerhaltige Flüssigkeit mit einer Fe hl in g 'sehen Lösung von bestimmtem Gehalt 3 Minuten lang kochen. Der CugO-Niederschlag wird auf einem Asbestfilter abfiltriert und mit heißem Wasser nachgewaschen. Der imErlen- mey er -Kolben zurückgebliebene Cu.^O Nieder- schlag wie auch der auf dem Asbestfilter zurück- gebliebene werden in einer Lösung von Fe.,(S04)3 in H.jSO^ gelöst, wobei sich die beiden Verbin- dungen nach folgender Formel umsetzen : Cu.,0 + Fe.,(SOJ, + HjSO, = 2 CuSO^ + HoÖ + 2FeS04. Das entstandene Ferrosalz wird mit einer auf Ammoniumoxalat eingestellten KMnOj-Lösung titriert. Der Umschlag ist äußerst scharf. „Über eine neue Gallensäurenreak- tion und über denNachweis derGalletl^ säuren im Harn." Von Adolf Jolles. (Aus dem chemisch-mikroskopischen Laboratorium von Dr. M. und Dr. Ad. Jolles in Wien.) Zeitschr. f physiol. Chemie, Bd. 57 (1908), S. 30 — 34. Verf versetzt 50 ccm Harn mit 15 ccm einer 3 prozentigen Caseinlösung, mischt gut durch und setzt hierauf tropfenweise von einer 10 prozentigen Schwefelsäure unter fortlaufendem Umrühren so- lange hinzu, bis das Casein vollständig ausgefällt ist. Es darf nicht mehr Schwefelsäure zugesetzt werden, als zur Ausfällung des Caseins nötig ist. Sodann wird filtriert und der auf dem Filter be- findliche Niederschlag in ein Becherglas gebracht, worauf 10 ccm absoluter Alkohol hinzugesetzt wird; nun läßt man etwa 1 Stunde unter wieder- holtem Digerieren bei gewöhnlicher Temperatur stehen. Jetzt wird filtriert und etwa 4 — 5 ccm des Filtrates werden in einem Reagenzglas mit I Tropfen einer 5 prozentigen Rhamnoselösung und 4 — 5 ccm konzentrierter Salzsäure versetzt, zum Kochen erhitzt und etwa i — 2 Minuten in schwachem Kochen erhalten. Nach dem Erkalten der Probe fügt man zu dem Inhalte des Reagenz- glases ca. 2 ccm Äther hinzu und schüttelt um. Bei Anwesenheit von Gallensäuren ist eine charak- teristische grüne Fluorescenz schön wahrzunehmen. „Über den Nachweis organischer Basen im Harn." Von R. Engel and. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Mar- burg.) Zeitschr. f physiol. Chemie, Bd. 57 (1908), S. 49 — 64. Loh mann und Kutscher, Kut- scher und Achelis haben in einer Reihe von Arbeiten gezeigt, daß im Harn eine Anzahl or- ganischer Basen stecken, die bisher der Beobach- tung entgangen waren. Verf hat diese Unter- suchungen mit Methoden fortgesetzt, die von den genannten Forschern nicht angewandt wurden, und zwar fällte er i. mit kaltgesättigter Queck- silberchlorid- und Natriumacetatlösung den nicht io6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 7 eingeengten Harn, 2. fällte er den Harn mit den- selben Lösungen nach vorheriger Konzentration und Reinigung mit Tannin, 3. fällte er den Harn unmittelbar mit heiß gesättigter Quecksilberchlorid- und Natriumacetatlösung. Verf hat nachgewiesen, daß sowohl Methyl- als auch Dimethylguanidin präformiert im Harn vorhanden sind. Ferner konnte er Histidin nachweisen, welches er nach den Angaben von Steudel in das Pikrolonat überführte, welches bei 220" schmolz. [Die Knorr'sche Pikrolonsäure, das Dinitrophenyl- methylpyrazolon, wurde von L. K n o r r (Ber. d. CfiH.-NO.^ N N C-O I ■C-NO.,H CH3 d. ehem. Ges. 30, I, 917) als ausgezeichnetes Fällungsmittel empfohlen, sie ist in der letzten Zeit zur erfolgreichen Charakterisierung organischer Basen angewandt worden, besonders solcher, die sonst kaum kristallinische Salze liefern. D. Ref] „Über VVacholdermus." Von H. Matt h es und F. Streitberge r. (Mitteilg. aus d. Inst, f. Pharm, u. Nahrungsmittelchemie der Universität Jena.) Pharmaz. Zeitg. 1908, Nr. 54. Verff. teilen zunächst die Analysen dreier Wacholderextrakte mit. Probe i war von einer Behörde bei einer in Thüringen umherziehenden Händlerin entnom- men worden. Die Untersuchung gab folgende Werte: Spez. Gew. der Lösung (i -|-2) bei 15'' 1,0941 Daraus Extrakt nach Windisch 67,20 % Wasser 32,80 „ Polarisation der loproz. Lösung im 200 mm-Rohr nach der Inversion -|-I3,5'* Der Polarisation nach lag also ein mit Stärke- sirup versetztes Präparat vor. Eine zweite Probe Wacholderextrakt, die den Anforderungen des D. A.-B. IV entsprechen sollte, war den Verff. von einer Fabrik von Koniferenpräparaten in Thüringen zur Verfügung gestellt worden. Das betr. Extrakt stellte einen dunkelbraunen, dicken Sirup dar, besaß süßen, aber zugleich herben Ge- schmack, und zeigte den charakteristischen Geruch des Wacholderöls. Es entsprach in bezug auf Löslichkeit den Anforderungen des D. A.-B. IV: mit gleichen Teilen Wasser vermischt, blieb eine starke Trübung bestehen. Die Asche enthielt geringe Mengen Kupfer, das Extrakt war nämlich in einem kupfernen Kessel eingedampft worden. Auf Veranlassung der Verff. hat der betr. Fabri- kant den zur Fabrikation dienenden Apparat im Innern mit einem gegen Säuren indifferenten Über- zug versehen lassen. Die weitere Untersuchung ergab folgende Werte: Spez. Gew. d. Lösg. i -|- 2 bei 15" 1,1082 Daraus Extrakt nach Windisch 76,76 "/g Trockensubstanz gewichtsanalytisch 73,47 */o Wasser 26,53% Gesamtsäure in ccm Normalsäure 13,00 Polarisation der lOproz. Lösung im 200 mm-Rohr a) vor der Inversion — 0,41" b) nach der Inversion — 0,25" Zucker als Invertzucker berechnet: a) vor der Inversion 41,36% b) nach der Inversion 42,24 % Daraus Rohrzucker berechnet 0,84 % Eine dritte Probe stammte aus einer Drogen- handlung Leipzigs. Nach Angabe des Fabrikanten sollte das Extrakt „rein und unverfälscht" sein; es schmeckte süß, wenig gewürzhaft und besaß durchaus nicht den kräftigen Geruch des Wacholder- beeröles. Die Asche war frei von durch H.3S in salzsaurer Lösung fällbaren Metallen. Mit gleichen Teilen Wasser gemischt resultierte eine klare Lö- sung, während das D. A.B. IV eine stark trübe Lösung verlangt. Matt lies und Streitberger konnten durch Versuche im großen nachweisen, daß diese klare Löslichkeit nicht daher rührt, wie in der ,,Real-Enzyklopädie der gesamten Phar- mazie" Bd. IX, S. 526 (1890) angegeben ist, daß das ätherische Öl abdestilliert ist [ — dies ist bei allen Wacholderbeersäften zum größten Teil durch das Eindampfen verflüchtigt. Die trübe Löslich- keit rührt von natürlichen harzigen Bestandteilen der Beeren her — | , sondern daß die klare Lös- lichkeit durch zugesetzten Invertzucker bewirkt wird. Durch Zugabe von Invertzucker konnten Verff. auch trüblösliche Wacholderextrakte zur klaren Lösung bringen. ,,Es ist also in der klaren Löslichkeit von Wacholder- extrakt ein wichtiger Hinweis gegeben, daß zur Vermehrung der Masse ein Zu- satz von Invertzucker oder ähnlichen Stoffen stattgefunden hat." [Ref fiel es auf, daß auch in dem soeben erschienenen XI. Band der neuesten Auflage der gen. „Real-Enzyklopädie der ges. Pharmazie" die oben erwähnte alte, falsche Angabe stehen geblieben ist. Eine sehr wohl- wollende, ausführliche Besprechung der Arbeit von Matthes und Streitberger brachte s. Z. die ,, Süddeutsche Apotheker-Zeitung".] Verff. kommen zu folgenden Schlußfolgerungen: „Ein als Wacholderextrakt bezeichnetes Präparat muß den Anforderungen des D. A.-B. IV ent- sprechen. Unter Wacholder mus verstehen wir ein dem Wacholder ex trakt in bezug auf Dar- stelUmg und Beschaffenheit gleichwertiges Produkt, denn Wacholdermus stellt das eingedickte Dekokt von Wacholderbeeren dar. Wacholder saft braucht in bezug auf Löslichkeit nicht den Anforderungen des D. A.B. IV zu entsprechen. Das Arzneibuch IV kennt auch nur die Bezeichnung: Succus Juniperi inspissatus = Wacholdermus." Gegen den indu- striellen Brauch, im Handel als Wacholdersaft N. F. VIII. Nr. Naturwisenschaftliche Wochenschrift. 107 ein stets mehr oder weniger versüßtes Wacholder- extrakt zu verkaufen, haben Veiff. nichts ein- zuwenden. Zum Versüßen dient meistens Stärke- sirup oder Zucker, auch Rübensaft. „Eine Dekla- ration solcher Zusätze halten wir für unbedingt erforderlich, da sonst Irrtümern und Preisunter- bietungen Tür und Tor geöffnet sind. Für den Apotheker wird es von Wichtigkeit sein, bei Be- stellungen stets sich der richtigen Bezeichnung Succus Juniperi inspissatus (Wacholdermus) zu bedienen, da er sonst bei Reklamationen nach dem jetzt üblichen Handelsbrauch leicht Schwierigkeiten haben kann. Bestellt er aber Wacholder saft Ph. G. IV, so müßte der Grossist oder Fabrikant auch vorschriftsmäßige Ware liefern, da sich diese Bezeichnung in Anlage VII des Arzneibuches S. 483 als synonym findet." „Über künstliches kristallisiertes Karlsbader Salz" haben H. Matthes und H. Serge r berichtet („Apoth.-Zeitg." 1908, Nr. 27, Nr. 41 u. Nr. 70), ferner H. Matthes in der „Balneologischen Zeitung" 1908, Nr. 11. G. Fre- richs untersuchte Sal Carolin, fact. Ph. G. IV (Apoth.-Zeitg. 1908, 135—136). Diese Arbeiten haben in pharmazeutischen Kreisen so allgemeines Interesse erregt, daß ich sie als bekannt hier nur erwähnen brauche; sie gipfeln in der sehr berech- tigten Forderung, daß sowohl das Sal. Carol. fact. crist., als auch das Sal. Carol. fact. Ph. G. IV in den Apotheken selbst dargestellt werden. Die Selbstdarstellung der galenischen Präparate wird jetzt wieder mehr angestrebt. In letzter Zeit fordeite sie auch Dr. Richter- Groitzsch i. S. (Pharm. Zeitg. 1908, Nr. 98 und 1909, Nr. 4), es kann ihm nur zugestimmt werden; leider will Richter die eingehende chemische Untersuchung der Chemikalien, Drogen usw., wie sie das D. .■\.-B. IV verlangt, fast ganz eingeschränkt wissen ; diesem Wunsche Rieh ter's wird hoffentlich von maßgebender Stelje nicht entsprochen werden. H. Thoms, „Über französisches Peter- silienöl und einen darin entdeckten neuen Phenoläther, ein i-Allyl-2. 3. 4. 5- Tetramethoxy-benzol. Aus dem Pharmaz. Institut der Universität Berlin. Ber. d. deutsch. ehem. Ges. 41, 2753 — 2761 (1908). Schon im Jahre 1903 (Ber. d. d. ehem. Ges. 36, 3451 [1903] und Arbeiten aus dem Pharmaz. Instit. d. Univers. Berlin, 1, 23) berichtete Verf über ein französi- sches Petersilienöl , in welchem er neben großen Mengen von Myris ticin, nur kleine Mengen Apiol nachweisen konnte, während deutsches Petersilienöl große Mengen des letztgenannten Phenoläthers enthält. Da die französischen Peter- silienfrüchte, aus denen das Ol gewonnen wurde, nur geringfügige anatomische Unterschiede von den deutschen Petersilienfrüchten zeigten, so führte Thoms obigen Unterschied auf verschiedene Kulturbedingungen oder klimatische Einflüsse zu- rück und führte Kulturversuche in dem Garten des Berliner pharmazeutischen Instituts aus. Verf. bemerkt im voraus, daß er sich von einer Kulturperiode nicht sehr viel versprochen habe. Für diese Annahme spricht auch der Ausfall der Versuche. Es haben sich zwar Verschiedenheilen gezeigt in der Zusammensetzung der ätherischen Öle, die von auf deutschem und auf französischem Bo- den aus gleicher französischer Saat erzielten Samen gewonnen wurden, jedoch sind diese Unterschiede nur unwesentlicher Art. Im Verlaufe dieser Unter- suchungen hat Verf. in den Hauptfraktionen des französischen Petersilienöles sowie des aus in Dahlem kultivierter französischer Saat erhaltenen Öles neben kleinen Mengen Apiol und Myristicin auch einen bisher unbekannten Phenoläther, ein i-Allyl-2. 3. 4. 5-Tetramethoxy-benzol: CH.2 . CH : CHj OCH3 CHaOl J0CH3 OCH3 vom Schmp. 25" entdeckt. ,, Weitere Untersuchungen über die Glycyrrhizinsäure." Von A. Tschirch und S. Gauch mann. (Arbeiten aus dem phar- maz. Inst. d. Univers. Bern.) Arch. d. Pharm. 1908, 246, 545 — 558. Die ersten, welche das Glycyrrhizin rein darstellten und die Substanz genau untersuchten, waren Tschirch und Cederberg (Arch. d. Pharm. Bd. 245, 97 (1907). Dort auch die ältere Literatur). Ihnen gelang es, farblose Kristalle der Glycyrrhizinsäure und ihrer Salze zu erhalten und auch den chemischen Cha- rakter des Glycyrrhizins zu ermitteln. Als Spal- tungsprodukte erhielten sie Glycyrrhetinsäure und vermutlich Glukuronsäure. A. Tschirch und S. Gauch mann kommen auf Grund der Reak- tionen der vermutlichen Glukuronsäure zu dem Schluß, daß der zweite Spaltung der Glycyrrhizin- säure tatsächlich Glukuronsäure ist. Die Glukuron- säure kommt also nicht nur im tierischen Organis- mus vor, wie man es bis jetzt glaubte, sondern sie findet sich auch in Pflanzen, und zwar ist sie hier, wie im Tierkörper, mit hydroxylhaltigen Substanzen zu glykosidartigen , aber nicht echt glykosidischen Verbindungen gepaart. Die Unter- suchungen über die Glycyrrhetinsäure sind noch nicht abgeschlossen. Interessant ist auch die Angabe der Verfasser, daß im Gouvernement Astrachan, welches die Hauptmenge des russischen Süßholzes liefert, zwei von Engländern gegründete Fabriken bestehen, welche den Succus Liquiritiae in großen Mengen darstellen und diesen nach London ex- portieren, wo er besonders bei der Fabri- kation des Porterbieres X'^erwendung find et. ,,Über das Vorkommen von Glycyr- rhizinsäure in anderen Pflanzen." Von A. Tschirch und S. Gauchmann. Arch. d. Pharm. 1908, 246, 558—565. Verff. kommen zu dem Schluß, daß der aus Periandra dulcis Mart. erhaltene Süßstoff und der aus der Monesia-Rinde lOS Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 7 (Pradosia lactescens Radlk.) erhaltene mit Gly- cyrrhizinsäure identisch sind. E. Rupp und R. Loose, „Über einen alkalihochemp find liehen, zur Titration mit Hundertstelnormallösungen geeig- neten Indikator." Marburg, Pharm. -ehem. Institut. Ber. d. d. ehem. Ges. 41, 3905 (igo8). Verfif. verwenden einen Indikator, den sie anläß- lich einer Arbeit über den planmäßigen syntheti- schen Aufbau von Indikatoren erhalten haben. Seiner Konstitution nach repräsentiert er eine Azokombination aus o-Amidobenzoesäure und D i m e t hy 1 anil i n und ist dementsprechend zu formulieren als .•N:N. COOH p-Dimethylamino-azobenzol-o-carbon- säure Über die zur Ammoniaktitration üblichen Indika- toren erhebt sich der neue Indikator insofern, als n , , , n er nicht allein auf 10 sondern auch auf Lösung mit Schärfe anspricht. Ebenso übertrifft er das Hämotoxylin. Auch das Jodeosin glauben VerfF. durch ihn ersetzen zu können , zumal er außer Schärfe den nicht zu unterschätzenden Vor- teil bietet, die Äther- Wasser-Schicht nicht zu be- dürfen. Auch ist er zur Titration der Chinabasen tauglich , wo Jodeosin bekanntlich versagt. Vor allen Dingen erfordert er keine farblosen Titrations- lösungen. Der Umschlag vollzieht sich von schwacligelblich in alkalischer und neutraler Lö- sung zu violettrot in saurer Lösung, ähnelt also dem Umschlag von Methylorange, jedoch kommt die eigentümlich gelbrote Übergangsfarbe des letzteren gänzlich in Wegfall; wegen dieser Ähn- lichkeit nennen VerfF. ihren neuen Indikator Methylrot. Man benutzt die 0,2 proz. alkoho- lische Lösung des kristallisierten Präparates. Die Klärung der Pyrenol-Frage ist das Ver- dienst von Prof. Thoms, Dr. Zernick und Prof. Frerichs. Als Tragikomödie wirkte der Ver- such, das Verhalten des Pyrenols als einen Beweis für die Richtigkeit der van t'Hoff'schen Theorie der festen Lösungen hinzustellen. Dr. Otto Rammstedt, Dresden. 100 Kleinere Mitteilungen. Die phylogenetische Entstehung des Kopfes der Wirbeltiere hat Prof H. E. Z i e g 1 e r aufs Neue einer Untersuchung unterworfen. (Jenaische Zeitschr. f. Naturwissensch. 1908, 43. Bd. Auch separatim bei G. Fischer, Jena.) Bekanntlich hat dieses Problem die Naturforscher seit mehr als 100 Jahren be- schäftigt. Ich nenne nur die Namen Goethe und Oken, Huxley und Gegenbaur, um an die früheren Auffassungen zu erinnern. Diese älteren Autoren gingen in erster Linie von dem Kopfskelett aus. Erst durch Balfour und van Wijhe (1883) wurden auch die embryologischen Tatsachen in Betracht gezogen und die Aufmerk- samkeit auf die Ursegmente gelenkt, in denen sich die Gliederung des Kopfes zuerst ausspricht. Verschiedene Beobachter haben sich neuerdings wieder mit Erfolg an der Lösung des Problems beteiligt, so Froriep, Dohrn, Braus, Kolt- zoff u. a. Fast stets bauten die F"orscher ihre Folgerungen auf Beobachtungen an einem Organ- system auf. Das Ergebnis dieser einseitigen Be- handlung ist ein Auseinandergehen der Meinungen, wie sie kaum ein anderes Gebiet aufzuweisen hat. Die erste Frage bei unserem Problem lautet jetzt: „Wie viele Ursegmente (Somiie) sind in die Bildung des Kopfes eingegangen ?" Man hat näm- lich erkannt, daß die Ursegmente die phylogene- tisch ältesten Teile sind , was aus den Verhält- nissen beim Amphioxus deutlich hervorgeht, da hier weder Gehirn noch Schädel differenziert sind. Bei diesem einfachsten aller Wirbeltiere gehen die Ursegmente bis zum vorderen Körperende. Jedoch zeigt sich die Gliederung des Kopfes nicht allein in den Ursegmenten sondern auch in der Anordnung der Kopfnerven und in der Lage der Kiemenspaltcn. Ziegler geht von Selachierembryonen in den Stadien H — K (nach Balfour) aus. In diesen Entwicklungsphasen ist eine deutliche Zuordnung der Kopfnerven zu den Ursegmenten zu erkennen; außerdem besitzen die Nerven ektodermale Ver- bindungen an den zugehörigen Kiemenspalten. Die Segmente, welche Ziegler für die ursprüng- lichen hält, sind die Prämandibular-, die Mandi- bular- und die Hyoidhöhle, ein Glossopharyngeus- und drei Vagussegmente. Zu ihnen gehören die primären Kopfganglien und Nerven , nämlich Ciliar-, Trigeminus- und P'acialis- AcusticusGang- lion, der -Glossopharyngeus und der Vagus. Letz- terer ist durch Verschmelzung von drei Wurzeln entstanden , entspricht also einer gleichen Zahl von Segmenten. Außerdem sind noch vier Somite in den Bereich des Kopfes einbezogen worden, die ursprünglich zu Spinalnerven gehörten. Im ganzen stellt sich die Zahl der Segmente somit auf 12. Die Kiemenspalten liegen intersegmental, was aus den Rekonstruktionen deutlich ersicht- lich ist. Ziegler stellt sich die phylogenetische Ent- stehung des Wirbeltierkopfes nun folgendermaßen vor, wobei er besonders die palingenetischen Elemente in der Entwicklung des .Amphioxus be- rücksichtigt. Die Gastrula ernährte sich ursprüng- lich durch den Blastoporus; zu ihm wimperte die N. F. VIII. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 109 Medullarplatte die Nahrung. Als sich das Me- dullarrohr gebildet hatte, strömte das Wasser mit den Nahrungsbestandteilen durch den vorderen Neuroporus ein und kam dann durch das Medullar- rohr, das mit einem Sinnesepithel zur Prüfung des durchströmenden Wassers ausgekleidet war, in den Darm. Diesen Weg zeigt uns die sche- matische Figur I. Ein eigentlicher Mund und ein After existieren noch nicht, wohl aber eine An- Fig. I. AraphioNUS-Larve im Stadium der Neurula (Gastrula mit Me- dullarrolir), nach Hatschek scliemalisiert (aus Ziegler). zahl Muskelsegmente, welche die Bewegung er- möglichten. Einen ganz ähnlichen Entwicklungs- zusland durchläuft die Amphioxuslarve , bei der ja noch viele ursprüngliche Charaktere erhalten sind (siehe Figur 2). In diesem primitiven Zu- stande mußte das Wasser den Körper wieder auf demselben Wege verlassen, den es genommen hatte. Diese unpraktische Einrichtung führte not- wendigerweise zur Bildung des Afters, durch wel- chen ein Abfluß für das Wasser geschaffen wurde. Eine höhere Stufe wurde erreicht, als Mund und Kiemenspalten durchbrachen. Der Mund ist ein unpaares, medianes Gebilde, das nicht durch Verschmelzung zweier Kiemenspalten entstanden ist, wie einige Forscher annahmen. Die Kiemen- spalten entstanden an den Stellen des geringsten Widerstandes, also zwischen den Segmenten. Die Kiemenspalten beider Seiten mußten sich also entsprechen ; auch beim Amphioxus sind die zu- erst entstehenden Kiemenspalten metamer ange- ordnet. Als sich der Mund gebildet hatte, obli- terierte der Canalis neurentericus (die Verbindung "P "f US Fig. 2. Embryo von Amphio.vus mit 9 Ursegmenten. (Nach Hat- schek aus Korscheit und Hei der), dv vorderes Ento- dermdivertikel (linkes Entodermsäckchen Hatschek's), ec Ektodetm, en Entoderm, m vorderer Fortsatz des sog. I. Ur- segments (us'), raf ungegliederter Teil des Mesoderms , mp Hatschek's Mesodermpolzellen, mz Muskelbildungszellen, np vorderer Neuroporus.. des Medullarrohres mit dem Darmrohr) ; das Me- dullarrohr, welches bisher nebenbei eine Sinnes- funktion gehabt hatte, um das durchströmende Wasser zu prüfen, wurde nun zum Zentralorgan des Nervensystems. Wichtig für unser Problem ist es also, daß ursprünglich der ganze Kopf eine Gliederung be- saß. Z i e g 1 e r entwirft ein Schema des Ursprung- ?c K. Fig. 3. Schema des ursprünglichen Baues des Wirbeltierkopfes (nach Ziegler). C. Ciliarganglion. O. Ohrbläschen. P. Prämandibularhöhle. M. Mandibularsegment. H. Hyoid- segment. l.R. Erstes aufsteigendes Ursegmcnt. K. Kicmen- spaltcn. Fe. Pericardialhöhle , die mit den Ursegmenten in Kommunikation steht. liehen Zustandes, das ich in Figur 3 verkleinert wiedergegeben habe. Es zeigt uns vor allem die Zuordnung der Kopfnerven zu den Ursegmenten sowie die intersegmentale Lage der Kiemenspalten. P. Brohmer, Jena. Über die Farbe des Schwefels und das Farbproblem des Ultramarins. — Der Schwefel ist ein in mancher Beziehung merkwürdiger Grund- stoff; besonders eine Eigenschaft verdient mehr als bisher hervorgehoben zu werden ; sein Ver- E hältnis zur Temperatur und zum Quotienten -^, wo E die Lichtemission und A die Licht- absorption bedeutet. Die Farbe des Schwefels ist um so blasser, je tiefer die Temperatur ist. Schönbein hat schon beobachtet, daß der Schwefel bei — 50" fast farblos ist; bei der Temperatur der flüssigen Luft erscheint er weiß; bei gewöhnlicher Tem- peratur gelb, wird er erhitzt bis ca. 340° braun bis braunschwarz. Mit steigender Temperatur wächst also seine Absorptionsfähigkeit für das Licht, während sie mit sinkender Temperatur ab- nimmt. Außerdem hat der Schwefel aber die Fähig- keit, mit anderen Substanzen auf höhere Tempe- ratur gebracht, die verschiedensten Färbungen anzunehmen. Zunächst mögen einige ältere Be- obachtungen folgen : E. Mitscherlich ^) beobachtete, Pogg- Ann. 99, 145. 1S56. HO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 7 daß Schwefel mit ^3000 Teilen Tal g längere Zeit erhitzt, eine rote Masse ergab. Nach G. Magnus ') verfärben den Schwefel bei ca. 300" Stearin- säure, Paraffin, Wachs, Walrat, Ozokerit, Kolo- phonium, Mastix, Guttapercha, Bernstein, Zucker, Stärkemehl, Baumwolle, nach Dietzenbacher und Moutier '') Kampher bei 230 ", Naphthalin und Terpentinöl bei noch hölierer Temperatur, bei Zusatz von ';4iio ~ ','«1111 Substanz, Ruß von der Zucker- oder Holzkohle, bei Zusatz von Vi 000 Substanz bei 270", Jod auf Zusatz von '/^u,, Teilen bei 180''. Bemerkenswert ist hierbei, daß der Schwefel nunmehr in Schwefelkohlenstoff unlös- lich geworden ist, wie er auch unlöslich wird, wenn er schnell z. B. in kaltem Wasser abge- schreckt wird. Ahnlich verhält sich der Schwefel, nachdem er mit Soda, Glaubersalz, hydrat- und wasserhaltigem Ton und Kohle die verschiedenen Ultramarine gebildet hat. Nach einer weiteren, älteren Beobachtung 'M wird beim Schmelzen von Rhodankalium im Porzellantiegel dieser blau gefärbt. Goethe*) bemerkte auf seiner italienischen Reise die Bildung von blauen Massen in sizilianischen Kalköfen, in denen jedenfalls tonhaltiger Marmor und außerdem Schwefel gebrannt worden war. Nach Weber '') besitzt eine Auflösung von Schwefel in Schwefelsäureanhydrid eine blaue Farbe. Bei Vermischen von Ferrichlorid- und Seh wefel Wassers t offlöSLingen tritt eine voriibergehende Blaufärbung ein; nach einiger Zeit scheidet sich weißer Schwefel im feinverteilten Zustande ab. Diese Blaufärbung wird durch die gebildete Salzsäure bzw. Wasserstoffionen wieder zerstört; ebenso wie Ultramarin durch Säuren entfärbt wird. Beim Zusammenbringen von Hisenchlorid- mit Schwefelleberlösung bildet sich ein anfäng- lich gelbgrüner, dann dunkelblau werdender Niederschlag, der diese Farbe ca. eine Stunde beibehält, bis Schwefel ausgeschieden wird.") Alkohole und Acetone werden durch Poly- sulfide blau gefärbt. Tonerde wird beim Glühen in Schwefel- wasserstoff gelblich, dann bläulich schwarz, beim längeren Erhitzen wird sie wieder weiß. Hierher gehören auch einige neuere Beobach- tungen, die teilweise die alten bestätigen.") Auf Zusatz von AI kal i p o ly SU 1 f i d e n zu siedendem Alkohol oder Aceton tritt die blaue P'arbe auf, dieser Vorgang wird die CanavesGil-Reaktion genannt. E. Paternö und A. Mazzuchelli sind der Ansicht, daß die blaue Farbe durch unvollständige ') Pogg. Ann. 99, 145. iSsO. ") 1. c. 3) Ann. Chem. Pharm. lOS, 19. 1858. *) Italienische Reise 1787. '') Journ. prakt. Chem. 6, 178. 1835. ^) Gmeiin-Kraut , Hantlbuch der anorganischen Chemie. ^) E. Paternö und A. Mazzuchelli, Gazz. chim. 38, 129. 1908, Über die blaue Farbe des Schwefels und einiger Ver- bindungen desselben. Dissoziation des Alkalipolysulfides vermutlich er- zeugt wird, aber nicht von freien Schwefel her- rührt; da überhaupt die Kenntnisse über die blaue Varietät des Schwefels sehr unsicher wären. Dagegen erwiesen sich die Absorptions- spektren der Polysulfidlösungen, des geschmol- zenen blauen Kali umsulfo Cyanids und der blauen Lösung von Schwefel in Schwefel- säureanhydrid sehr ähnlich untereinander. Auch wird noch die Beobachtung mitgeteilt, daß Schwefeldampf, in einem Quarzgefäß er- hitzt, bei etwa 1400" blaßblau erscheint, was durch die Luminiscenz des Dampfes erzeugt wird. F. Knapp ') erhielt ferner durch Mischungen von Borax, Natriu m seh wefe lieber, Borsäure eine blaue Masse. H. Puchner -) glühte die Rückstände von wässrigen Auszügen aus Kalk- humus, Gips, Tonerde, Silikaten, Kochsalz und erhielt blau, grün und rot gefärbte Produkte. Ver- mutlich ist der im Gips enthaltene Schwefel die Ursache dieser Farbbildungen gewesen. Plscher ") beobachtete blaue Ahiminiumverbindungen, die aus Aluminiumoxyd, Siliziumoxyd, Schwefel- säure bestanden. Endlich nimmt der Schwefel mit Soda, Glauber- salz, Kohle, Ton, je nach der Höhe der Tempe- ratur, fast alle Töne der F'arbenskala an, vom hellen Rot bis zum tiefen Violett; die Ultramarine. Man muß diese Phänomene im Zusammen- hang betrachten , wenn man die Ursachen der P'arbbildung der Ultramarine erforschen will. Schon aus der Tatsache, daß der Schwefel mit den verschiedensten Stoffen und auch mit ein und denselben Substanzen variable Färbungen liefert, geht hervor, daß schwerlich diese Ursache in der Entstehung einer stets einfarbigen, stöchiometrischen, bestimmten Verbin- dung gesucht werden muß. Hätte man diese Erkenntnis früher gehabt, so wäre manche Unter- suchung, die dieses bezweckte, unterblieben. Von diesem Gesichtspunkt aus verliert das P^arbproblem viel von dem Geheimnisvollen, das es bisher umgab. Nehmen wir zunächst an, daß , wie sich Jod in Äther mit roter, in Schwefel- kohlenstoff mit violetter Farbe auflöst, so der schmelzende Schwefel und Dampf die Fähigkeit besitzt, sich in den er- wähnten Substanzen mit verschiedener Farbe aufzulösen oder adsorbiert zu werden. Dieses Analogon läßt sich noch weiter ver- folgen; man kann Jod in großer Menge in Äther oder Schwefelkohlenstoff auflösen, und umgekehrt wenig Jod in einer großen Menge dieser Lösungs- mittel; eine Färb Verschiebung ist die Folge. Ebenso kann man eine große Menge Schwefel in wenig Jod, Talg usw. auflösen, oder wenig Schwefel in einer großen Menge Ton, Soda, Glaubersalz, ') Diegl. polytechn. Journ. 233, 479. 1S79. ■-) Zt. f. angew. Chem. 9, 196. 1896. ') Zt. f. anorg. Chem. 43, 944. 1905. N. F. Vin. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 1 1 1 Kohle. Auch hier wird eine Farbände- rung dadurch hervorgerufen. Die Löslichkeit, bzw. die Fähigkeit adsorbiert zu werden, des Jods sowie des Scliwefels wird erhöht, wenn sich beide in möglichst gefeintem Zustand befinden. Endlich werfen einige meiner Versuche auf das Farbproblem einiges Licht; da sich die Talke ')^j in bezug auf Abspaltung kolloidaler Stoffe durch Hydrolyse und damit verbundene plasti- sche Eigenschaften ähnlich wie die Tone ver- halten, auch ihrer Konstitution nach diesen ähn- lich zusammengesetzt sind, nur daß an Stelle des Aluminiums Magnesium substituiert ist, so war die Vermutung nahe gerückt, daß auch Talk, mit Soda und Schwefel erhitzt, eine gefärbte Substanz liefern könnte. Dieses ist in der Tat der Fall. Erhitzt man Talk, Soda, Schwefel zu gleichen Teilen etwa bis zur Sinterung, so erhält man eine grün gefärbte Substanz, die sich ähnlich wie Ultramarin verhält; gegen Alkalien ist sie beständig, durch verdünnte Säuren wird sie unter Bildung von H^,S entfärbt; und hierbei läßt sich, im Gegensatz zum Ultra- marin, der farbtragende Stoff von den Bestand- teilen trennen ; er ist mit gelbgrüner F"arbe in Wasser löslich, beim Eindampfen wird er rot- braun, oxydiert an der Luft zu Sulfat; offenbar ist es ein Polysulf id des Natriums. Auf das Farbproblem des Ultramarins zurück- schließend, kann man vermuten, daß auch der Farbbildung des Ultramarins ein Doppel poly- sulfid des Natriums und Aluminiums zu- grunde liegt, das sich mit den siliziumhaltigen Bestandteilen der Grundmasse im Zustande der verdünnten, festen Lösung oder einer Adsorptions- verbindung befindet.^) Dr. Rohland. ') conf. P. Rohland, über die Talke. Sprechsaal, Zt. für die keramischen, Glas- und verwandte Industrien. 39, 19. 1906. -) P. Rohland über das Farbproblcm des Ultramarins. Phys.-chem. Centralblatt 5, 513. 190S. ') conf. R. Abegg, Handbuch der anorganischen Chemie. Bd. III, Abt. 1. P. Rohland, Ultramarin. Bücherbesprechungen. Max Kleinschmidt, Obedehrer an der Realschule zu Rostock i. !M. , Grammatik und Wissen- schaft. Eine psychiatrische Studie. Hannover, Dr. Ma.x Jänecke, 1908. — Preis 1,50 Mk. Der Inhalt des Heftes ist für jeden, der über Verknöchertes, Unhaltbares hinaus möchte, geradezu herzerquickend. Verfasser deckt — und zwar so schonungslos, wie es sich für einen wahrhaft wissen- schafdichen Sinn geziemt — die großen Mängel des bisherigen grammatikalischen Denkens auf. Wenn nun auch die Psychiatrie (siehe den Untertitel) dort gelegentlich von krankhaften Geisteszuständen spricht, wo es sich um das Verlassen des Bodens der Logik handelt, so wird man zweckmäßig logische Fehler, die in der Wissenschaft vorkommen , nicht gut als krankhafte bezeichnen können , da es sich um eine ganz allgemein verbreitete Anlage handelt, die durch die menschliche Natur gegeben ist. Der Referent hat das seinerzeit einmal etwas näher darzulegen versucht in seinem Artikel „über die Entstehung der Denkformen" in der Naturwissenschaftlichen Wochen- schrift vom 12. .^pril 1891. Ich zitiere daraus nur den einen Satz : „Werden die Denkweisen im allge- meinen dann notwendig übereinstimmen, wenn Hand- lungen aus ihnen folgen, die das Leben hindern oder gefährden , so werden sie andererseits oft dann bei den verschiedenen Individuen keine Übereinstimmung zeigen, wenn der Kampf ums Dasein keine Veran- lassung hatte, klärend zu wirken, weil diese Denk- weisen nicht zu lebengefährdenden Handlungen führen." Anders ausgedrückt, weü „der Irrtum ... in praktisch gleichgültigen Dingen unschädlich" (E. Dühring) ist. Kleinschmidt schließt mit den Worten : „Meine Ar- beit unterscheidet sich dadurch von sehr vielen ähn- lichen, daß sie einen Beweis für ihre Behauptungen erbringt, wie er strenger selbst in der Geometrie nicht denkbar ist, so daß jede Möglichkeit eines Einwandes ausgeschlossen ist. Da aus sachlichen Gründen niemand mehr für die Beibehaltung des grammatischen LTnterrichts eintreten kann, so können es nur persönliche sein, die ihn dazu bestimmen. Vielleicht ist er an der Erhaltung der bestehenden Verhältnisse finanziell interessiert; vielleicht bringt er es nicht über sich zuzugeben, daß er sich jahrelang in einem — sehr verzeihlichen — Irrtum befunden hat. — Ich bin gespannt darauf, ob jemand den Mut haben wird oftentlich zu fordern , daß eine als schädlich erwiesene, in ihren Folgen gar nicht über- sehbare Einwirkung auf unsere Schuljugend fortge- setzt werde — nur weil er so oder so seine Rech- nung dabei findet. — Eins halte ich jedoch für aus- geschlossen — daß die Behörden die Fortsetzung dieses Unterrichts gestatten werden. Der bloße Zweifel, daß die maßgebenden Stellen auch nur einen Augen- blick zwischen sachlichen und persönlichen Erwägungen schwanken könnten, würde eine schwere Beleidigung für sie bedeuten. Und daher, obwohl das Prophezeien von allen Arten geistiger Betätigung diejenige ist, der ich am wenigsten Sympathie entgegenbringe, möchte ich jetzt doch eine Prophezeiung wagen : binnen Jahresfrist wird an deutschen Schulen kein Unterricht im pathologischen Denken mehr erteilt werden." Verfasser verspricht an Beispielen zu zeigen , wie nach einer wirklich wissenschaftlichen Methode die Erlernung fremder Sprachen zu gestalten sei: er will u. a. eine wissenschaftliche Grammatik der englischen Sprache herausgeben. Man darf gespannt sein , wie er seine Aufgabe lösen wird. Sicherlich muß man dem Verfasser dankbar sein, daß er fest in das Wespennest gegriffen hat. Trotzdem wird er sicher gestochen werden ! P. Prof. Dr. Bernh. Hoffmann, Kunst und Vogel- gesang. 230 Seifen. Leipzig, Quelle & Meyer, 1908. — Preis 3,80 Mk., geb. 4,20 Mk. 112 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 7 Das vorliegende Buch ist unseres Wissens die erste Monographie des Vogelgesangs, die diesen vom musilcaUschen Standpunkte aus würdigt. Jeder musi- kalische Naturfreund wird den Versuchen des Verf, die Hauptthemen des Gesanges unserer einheimischen Vögel in Notenschrift zu fixieren, mit Interesse folgen, wenn auch die Schwierigkeit dieses Unterfangens nur eine unvollkommene Wiedergabe der Naturiaute ermög- licht, fühlen sich doch die befiederten Sänger weder an unsere Tonskala, noch an die in unserer Musik üb- lichen Rhythmen gebunden. So leicht sich auch z. B. der Ruf des Kuckuck oder Pirol in der Noten- schrift wiedergeben läßt, so schwer ist dies bei vielen anderen Vogelmelodien. Wir glauben z. B. kaum, daß in den auf Seite 182 gegebenen Tonfolgen irgendein Uneingeweihter das Gackern der Henne und das Kickeriki des Hahnes wiedererkennen würde. — Das Buch gliedert sich in zwei Hauptteile : „Die Kunst im Vogelgesang" und „Der Vogelgesang in der Kunst". Der erste Teil setzt beim Leser eine ge- naue Bekanntschaft mit der Vogehvelt und ihren Stimmen voraus, eine Bekanntschaft, wie sie etwa durch Voigt's Exkursionsbuch zum Studium der Vogelstimmen , besser aber durch persönliche Beleh- rung seitens eines guten Vogelkenners gewonnen werden kann. Allgemeineres Interesse wird der zweite Teil wachrufen, in welchem die Nachahmung der Vogelstimmen vom Volkslied (Kuckuck, Kuckuck rufts aus dem Wald) und der Kindersymphonie an bis zur Beethoven'schen Szene am Bach und Wagner's Waldvöglein an der Hand einfacher Notenskizzen verfolgt wird. Wir zweifeln nicht, daß das Studium dieser hübschen Zusammenstellung Musikkenner dazu anregen wird, auch noch weitere, dem Verf vielleicht unbekannt gebliebene Verwendungen von Vogelmotiven in der Musik ausfindig zu machen. Für den Refe- renten war besonders überraschend , daß die ersten Takte der Szene am Bach dem Gesänge des Roth- kehlchens entlehnt sind, ohne daß Beethoven dies wohl selbst gewußt , und daß zum Abschiedsmotiv des Lohengrin „Nun sei bedankt, mein lieber Schwan" die Zippe (Singdrossel) Modell gesungen haben soll. Ein kleiner naturwissenschaftlicher Irrtum möge hier übrigens nicht unerwähnt bleiben. Seite 186 wird nämlich gesagt, daß die Nachtigall nur in später Nacht oder am frühesten Morgen singe und deshalb „von den wenigsten Menschen wirklich einmal ver- nommen wird". Wenn dem so wäre , würde gerade dieser Vogel wohl nicht so populär und als Sänger- könig anerkannt sein. Die Nachtigall schlägt eben auch in den Vormittagsstunden und gegen Abend und war z. B. vor einigen Jahren in Gr.-Lichterfelde so häufig, daß man ihretwegen im Mai nicht bei offenen Fenstern schlafen konnte. Kbr. A. V. -Ihering, Die Wasserkraftmaschinen und die Ausnutzung der Wasserkräfte. 120 Seiten mit 73 Abb. Nr. 228 der Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt". Leipzig, B. G. Teubner, 1908. — Preis geb. 1,25 Wk. Die Ausnutzung der natürlichen Wasserkräfte ist bekanntlich seit einiger Zeit in einem außerordent- lichen Aufschwünge begrift'en. Es muß daher für jeden Gebildeten von hohem Interesse sein, aus der Feder eines namhaften Fachmanns Genaueres zu erfahren über die verschiedenen Formen der Wasser- räder und namentlich der Turbinen , sowie über die großartigen Anlagen , welche zum Teil mit Hilfe imposanter Stauwerke die Wasserkraft in geregelter Weise dem Menschen nutzbar machen. Das reich illustrierte Heft wird diesem Zwecke trefflich dienen können und gewährt dem Wißbegierigeren auch Ein- blick in die theoretischen Fragen, welche den Hydrau- liker beschäftigen. Kbr. Literatur. Beiträge aus der Geschichte der Chemie. Dem Gedächtnis V. Georg W. A. Kahlbaum, weil. o. ö. Professor der phy- sikal. Chemie an der Universität Basel, geb. 1S53 in Berlin, gest. 1905 in Basel, gewidmet v. R. Abegg, W. 1. Baragiola, A. Bauer u. a. Hrsg. v. Paul Diergart. Mit einem Porträt Georg W. A. Kahlbaums, zahlreichen Abbildgn. u. e. färb. Doppeltaf. (XV, 652 S.) gr. 8». Wien '09, F. Deulicke. — 24 Mk. Czuber, Prof. Eman. f Einführung in die höhere Mathematik. (X, 3S2 S. m. 114 Fig.) gr. 8". Leipzig '09, B. G. Teubner. — Geb. in Leinw. 12 Mk. Deegener, Dr. P. : Die Metamorphose der Insekten. (IV, 56 S.) gr. 8". Leipzig '09, B. G. Teubner. — 2 Mk. Formänek, Prof. Insp. Jaroslav : Untersuchung und Nachweis organischer Farbstoffe auf spektroskopischem Wege. Unter Mitwirkg. V. Prof. Dr. Eug. Grandmougin. 2., vollständig umgearb. u. verm. Aufl. I. Tl. (VIII, 258 S. m 19 Fig. u. 2 Taf.) gr. 8». Berlin '08, J. SpringeV. — 12 Mk. Pasch, Mor. : Grundlagen der Analysis. Ausgearbeitet unter Mitwirkg. V. Clem. Thaer. (V, 140 S.) gr. 8°. Leipzig '09, B. G. Teubner. — 3,60 Mk., geb. 4 Mk. Ricbthofen's, Ferd. v , Vorlesungen üb. .allgemeine Siedlungs- u. Verkehrsgeographie. Bearb. u. hrsg. v. Priv.-Doz. Dr. Otto Schlüter. (16, 352 S. m. 4 Lichtdr.-Tafeln.) gr. 8". Berlin '08, D. Reimer. — Geb. in Leinw. 10 Mk. Schulz, Paul F. F.: Unsere Zierpflanzen. Eine zwanglose Auswahl biolog. Betrachtgn. v. Garten- und Zimmerpflanzen, sowie Parkgeholzen. .Mit 5 färb. Taf. nach C)rig. -Aquarellen V. Kunstmaler Wollif-Maage, 7 Taf. in photograph. Kunstdr. nach Orig. -.Aufnahmen v. Geo. E. F. Schulz, 68 photograph. Textbildern gleichfalls nach Orig. -Aufnahmen v. Geo. E F. Schulz, sowie zahlreichen Textbildern in Federzeichnungs- manier zumeist nach Orig. -Skizzen des Verf. (VllI, 216 S.) gr. 8". Leipzig '09, Quelle & Meyer. — 4,40 Mk., geb. in Leinw. 4,80 Mk. Stewart, Dr. A. W. ; Stereochemie. Deutsche Bearbeitg. v. Priv.-Doz. Dr. Karl Löffler. (XVI, 479 S. m. 87 Fig.) gr. Berlin '08, J. Springer. 12 Mk., geb. in Halb- Idr. 14,^0 Mk. Treadwell, Prof. Dr. F. P. ; Kurzes Lehrbuch der analytischen Chemie in 2 Bdn. I. Bd. Qualitative Analyse. Mit 23 Abbildgn. u, 3 Spektrallaf. 6., verm. u. verb. Aufl. (XIII, 4S3 S.) 8». Wien '08, F. Deuticke. — 9 Mk. Volhard, Jak.: Justus v. Liebig. 2 Bde. (XII, 456 u. VIII, 438 S. m. Fksms. u. 2 Bildnissen.) gr. 8°. Leipzig '09, J. A. Barth. — 22 Mk., geb. in Leinw. 24 Mk. Inhalt: 11. Potonie: Charles Darwin zu seinem hundertsten Geburtstage. — Sammelreferate und Übersichten: Dr. 1,1 tto Rammstedt: Neues aus der Pharmazie. — Kleinere Mitteilungen: Prof. H. E. Ziegler: Die phylo- genetische Entstehung des Kopfes der Wirbeltiere. — Dr. Rohland: Über die Farbe des Schwefels und das Farb- problem des Ultramarins. — Bücherbesprechungen: Max Kleinschmidl: Grammatik und Wissenschaft. — Prof. Dr. Beruh. Hoffmann: Kunst und Vogelgesang. — A. v. Ihering: Die Wasserkraftmaschineu. — Literatur: Liste. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofi-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Falscher in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Kulge Vlll. Haiul ; der ganzen Keihe XXIV. Hanil, Sonntag, den 2i. Februar 1909. Nummer 8. Charles Darwin als Botaniker. Vortrag, gehalten am 14. Februar 1900 zu Hamburg bei der Feier des hundertsten Geburtstages Darwin? [Nachdruck verboten.] Von Dr. W. Detmer, Prof. an der Universität Jena. Hochansehnliche Festversammlung ! Der wissenschaftlichen Botanik gereicht es zu besonderem Vorteil , daß in ihrem Bereiche die Disziplinen der Morphologie, Anatomie, Physio- logie, Ökologie und Systematik im Laufe der letzten Jahrzehnte eine weit engere Verknüpfung gefunden haben, als es in der Zoologie der Fall ist. Eine der wesentlichsten Ursachen dieser glücklichen und für die Entwicklung der Botanik so überaus wertvollen Verkettung muß auf das Wirken unseres großen Meisters Charles Dar- win zurückgeführt werden. Charles Darwin, neben Newton, Lavoi- sier, Liebig und Helmholtz einer der größ- ten Naturforscher aller Zeiten, hat nicht nur durch seine bewunderungswürdigen theoretischen Unter- suchungen die Welt erschüttert und unserem Denken auf naturwissenschaftlichem, sozialem, metaphysischem und religionsphilosophischem Ge- biet ganz neue Bahnen gewiesen, sondern es ist ihm auch vergönnt gewesen, was freilich in weiteren Kreisen weniger bekannt zu sein scheint, manche Einzelwissenschaften durch scharfsinnig angestellte Beobachtungen und Experimente gewaltig zu fördern. Darwin war ein Botaniker ersten Ranges. Als Spezialforscher betätigte er sich ganz beson- ders auf botanischem Gebiet und hat die Resultate seiner Studien nicht in kleinen Abhandlungen, sondern in einer Reihe stattlicher Werke nieder- gelegt. Durchdrungen von dem Geiste wahrer Naturforschung, der sich der ungeheuren Bedeu- tung der induktiven Methode stets bewußt bleibt, ist D a r w i n dennoch weit entfernt gewesen von jedem unfruchtbaren reinen Empirismus und von sterilem Agnostizismus. Sein Geist war immer auf umfassendere, allgemeinere Gesichtspunkte gerichtet; er war der Mann dazu, mit genialem Blick die Fülle des von ihm ermittelten Tatsachen- materials zu beherrschen und für die Wissenschaft fruchtbringend zu verwerten. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die sämtlichen botanischen Arbeiten Darwins zu erwähnen ; wir müssen uns auf die allerwichtigsten derselben beschränken : i. Insektenfressende Pflan- zen; 2. Die Wirkung der Kreuz- und Selbstbe- fruchtung im Pflanzenreich; 3. Das Bewegungs- vermögen der Pflanzen. Der größte Teil des zuerst genannten Werkes (251 Seiten) ist dem Studium der wunderbaren Drosera rotundifolia (Sonnentau) gewidmet. An- dere Insektivoren erfahren eine viel knappere Behandlung. Vor allen Dingen legt Darwin viel Gewicht darauf, die übereinstimmenden Züge im Verhalten der verschiedenen hier in Betracht kommenden Organismen zu betonen, ohne dabei freilich die tatsächlich bestehenden Differenzen zu übersehen. Bei Drosera wird das feinste Detail in meisterhafter Weise studiert, die theoretisch überaus wichtige Tatsache einer räumlichen Tren- nung zwischen perzipierender und motorisch tätiger Zone an den Tentakeln der Blätter fest- gestellt, die Bewegung der Tentakelstiele genau verfolgt, die Sekretion von Säure sowie Enzymen seitens der Tentakeldrüsen untersucht, die Eiweiß- verdauung durch die Sekrete und anderes ermittelt. Der außerordentliche prinzipielle Wert der allbe- kannten Studien Darwin's über die insektenfressen- den Pflanzen besteht, wie man wohl sagen darf, darin , daß durch dieselben in einer so exakten und zugleich umfassenden Weise wie niemals zu- vor auf dem Gebiete der Pflanzenphysiologie der Nachweis dafür erbracht worden ist, wie unter Umständen eine für den Organismus sehr wichtige Leistungsfähigkeit eines kleinen Organs (hier Ge- winnung stickstoffhaltiger Substanz für die Pflanze) nur durch das ungemein komplizierte Zusammen- wirken mannigfaltigster Prozesse in demselben erzielt werden kann. Gehen wir zur Besprechung der zweiten der erwähnten Schriften Darwins über, so seien zunächst folgende Vorbemerkungen gestattet. Im 17. Jahrhundert entdeckte Camerarius die Sexualität der Pflanzen. In den 60 er Jahren des 18. Jahrhunderts wies Koelreuter die Möglich- keit der Erzeugung von Pflanzenbastarden wissen- schaftlich genau nach und sprach zugleich die Ansicht aus, daß es sich bei der Sexualität um die Verwischung zweier verschiedener Substanzen handle. Konrad Sprengel konstatierte dann weiter die sehr allgemeine Verbreitung der Kreu- zung im Pflanzenreich (auch bei Gewächsen mit Zwitterblüten) und erkannte die Bedeutung der Insekten als Überträger des Pollens sowie die Anpassungen im Bau der Blüten an die pollen- übertragenden Tiere. (Näheres findet man in sehr anziehender Form dargestellt in der Geschichte der Botanik von Sachs.) Darwin hat die ungemeine Wichtigkeit der Arbeiten Sprengeis voll und ganz gewürdigt. Er hat unsere Kenntnisse über die Beziehungen zwischen Blumen und Insekten , besonders in seinem Werke über Orchideenbefruchtung, selbst 114 Naturwissenschaftliche Wocnenschrift. N. VIU. Nr. 8 sehr gefördert, aber der Kernpunkt seiner Leistung auf dem uns hier interessierenden Gebiet ist im folgenden zu suchen. Wenngleich man wußte, daß in der weit über- wiegenden Mehrzahl der Fälle Kreuzung bei den Pflanzen erfolgt und die Selbstbefruchtung aus- geschlossen oder beschränkt wird, so waren doch Sinn und Bedeutung dieser merkwürdigen Er- scheinungen nicht bekannt; Darwin blieb es vorbehalten, hier Entdeckungen von großer Trag- weite zu machen. Die mühsamen und jahrelang mit unendlicher Geduld durchgeführten Studien ergaben für zahlreiche Arten von Blütenpflanzen, daß solche Individuen, welche einer Kreuzung mit einem neuen Stamm ihr Dasein verdanken, sich durch weit bedeutendere Höhe, Fruchtbarkeit und erheblicheres Gewicht anderen Individuen gegenüber auszeichneten, die durch Selbstbefruch- tung oder durch Kreuzung der Pflanzen des näm- lichen alten Stammes entstanden waren. Selbst- befruchtung, namentlich mehrere Generationen hintereinander vollzogene, wirkt in der Regel (freilich nicht in allen Fällen) nachteilig, Kreuzung fördernd auf die Organismen ein. Für die ge- deihliche Entwicklung der Organismenwelt ist eine gewisse Qualitätsdifferenz der kopulieren- den Sexualzellen von außerordentlicher Wichtig- keit. Besitzen die Geschlechtszellen fast genau die gleichen konstitutionellen Eigenschaften (männ- liche und weibliche Zellen einer Blüte), so resul- tieren infolge der Befruchtung minderwertige In- dividuen. Es leuchtet auch nach dem Gesagten ohne weiteres ein, wie wichtig die Resultate der Arbeiten Darwins für die Beurteilung der Frage nach dem biologischen Wert der Sexualität überhaupt im Verhältnis zu demjenigen der unge- schlechtlichen Fortpflanzung und vegetativen Ver- mehrung sind. Es erübrigt hier noch, zur Charakteristik der biologischen Wichtigkeit der Kreuzung wenigstens einige Beispiele aus Darwins Werken anzu- führen : Petunia violacea wurde während 5 Generationen durch Selbstbefruchtung vermehrt. Zudem sind Exemplare der vierten Generation dieser Pflanzen mit solchen eines ganz neuen Stammes der Spezies gekreuzt worden. Die entwickelten Kreuzungs- produkte verhielten sich in bezug auf Höhe zu den durch Selbstbefruchtung entstandenen Individuen wie 100 zu 66. Dem Gewicht nach verhielten sich die ersteren zu den letzteren wie 100 zu 22. Jene produzierten auch ungefähr doppelt so viel Früchte als diese. Viele Primeln, z. B. P. officinalis, zeichnen sich durch Heterostylie in der Form des Dimorphismus aus. Die einzelnen Individuen gleichen einander hier insofern nicht, als manche (a) Blüten mit hochstehenden Narben, also langen Griffeln und tiefstehenden Antheren , andere (b) aber Blüten mit tiefstehenden Narben (kurzen Griffeln) sowie hochstehenden Antheren produzieren. Darwin (Verschiedene Blütenformen bei Pflanzen der näm- lichen Art) zeigte, daß die Pollenkörner jener ersteren Form bedeutend kleiner als diejenigen der letzteren sind. Findet nun Selbstbefruchtung (illegitime Verbindung) bei a oder auch bei b statt, so ist der Erfolg, gemessen an der Zahl der produzierten Kapseln und dem Gewicht der Samen, bei weitem nicht so günstig wie bei legitimer Verbindung, d. h. bei eingetretener Kreuzung zwischen a und b oder b und a. Indirekt wird der biologische Wert der Kreu- zung auch dadurch erwiesen, daß bei zahlreichen Blüten, z. B. solchen mancher Orchideen, Selbst- befruchtung unter natürlichen Umständen über- haupt unmöglich ist, während die bewunderungs- würdigsten Flinrichtungen zur Sicherung der Kreuzung realisiert sind. Vom Standpunkte der Selektionstheorie aus betrachtet, müssen solche Organisationsverhältnisse und physiologische P"unk- tionen der Blütenteile von vornherein als Ökologis- men angesehen werden, eine Anschauung, deren Richtigkeit Darwins Studien durchaus bestätigen. In dem Werke über das Bewegungsvermögen der Pflanzen, zu welchem auch sein Buch ,, Be- wegungen und Lebensweise der kletternden Pflan- zen" in nahen Beziehungen steht, behandelt Dar- win zuerst die Erscheinungen der Zirkumnutation. Er hat durch sehr genaue Beobachtungen den Nachweis geliefert, daß die Spitzen vieler wach- sender Pflanzenteile keine geradlinigen Bahnen einschlagen, sondern im allgemeinen bald nach dieser, bald nach jener Richtung hin von der Geraden abweichen. Dies Phänomen kommt durch Ungleichmäßigkeiten im Längenwachstum verschiedener Längslinien der Organe zustande. Weiter studierte der britische Naturforscher dann zahlreiche andere Bewegungserscheinungen der Gewächse, namentlich auch die heliotropischen sowie geotropischen Nutationen. Es ist bekannt, daß viele Pflanzenorgane, wenn sie einseitig beleuchtet werden, ein positiv heliotropisches Verhalten erkennen lassen. Der- artig reagieren z. B. auch die oberirdischen Teile der Paniceenkeimlinge. Das Merkwürdige ist nun aber in diesem speziellen Falle, wie Darwin nachwies, daß die heliotropische Krümmung nur dann eintritt, wenn das an der Spitze des Keim- lings sitzende Scheidenblatt einseitig beleuchtet wird. Dies Blatt ist allein zur Perzeption des Lichtreizes befähigt. Das Protoplasma seiner Zellen wird erregt, und nun erfolgt Reiztrans- mission bis in die Gewebe des unter dem Scheiden- blatt liegenden Epicotyls. Dieses führt, wenn die Paniceenkeimlinge ein gewisses Entwicklungs- stadium erreicht haben, die heliotropische Nutation allein aus, vermag aber keineswegs den Lichtreiz selbst zu perzipieren. Bei den Paniceenkeimlingen (andere Keimlinge zeigen nicht das analoge Ver- halten) ist ganz sicher Sonderung einer den Licht- reiz perzipierenden und einer allein motorisch tätigen Region gegeben. Letztere reagiert nur auf zugeleitete Erregung. Wenn daher das Scheiden- blatt durch aufgesetzte leichte Kappen verdunkelt M. F. Vin. Xr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 115 wird, so krümmt sich das Epicotyl, auch bei ein- seitiger Beleuchtung desselben, gar nicht helio- tropisch. Nach Darwin spielt ebenso bei den geotro- pischen Notationen der Wurzeln die Spitze dieser Organe die Rolle eines Perzeptionsapparates, so daß die hinter der Spitze liegende motorische Zone ihre Aktion nur unter dem Einfluß zuge- leiteten Reizes geltend macht. Freilich ist diese Auffassung höchstwahrscheinlich für viele Fälle richtig, aber doch noch nicht ganz streng als zutreffend erwiesen. Die außerordentliche Bedeutung des Buches Darwins über das Bewegungsvermögen der Pflanzen ist, ganz abgesehen davon, daß es uns mit vielen neuen Tatsachen bekannt gemacht hat, in erster Linie in der Inangriffnahme seither kaum beachteter Probleme zu erblicken. Im Anschluß an Darwins Werk hat sich denn auch in der Tat eine große Literatur entwickelt, die haupt- sächlich die Fragen nach der Natur der die Reize perzipierenden Organe (Sinnesorgane der Ge- wächse), den Prozessen bei der Erregung des Protoplasmas und nach der Reiztransmission be- handelt. Darwin ist als Begründer der modernen Sinnesphysiologie der Pflanzen anzusehen. Im vorstehenden wurde Darwin als Spezial- forscher gewürdigt. Seine größten Leistungen fanden aber noch keine Berücksichtigung, nämlich diejenigen, durch welche er das gesamte Geistes- leben der Menschheit so gewaltig beeinflußte und zugleich zahlreichen Gebieten praktischer Be- tätigung ganz neue Bahnen wies. Wir haben hier natürlich die tiefe Begründung der Deszendenz- lehre durch den großen Briten sowie dessen Selektionstheorie im Auge. Linne und viele seiner Nachfolger vertraten die Ansicht von der Konstanz der Spezies im Pflanzen- und Tierreich. Sie nahmen an, daß dieselben, jede für sich, durch einen Schöpfungs- akt entstanden wären, sich dann ihrer Art gemäß vermehrt und unverändert (abgesehen von Varie- tätenbildung) erhalten hätten. Bei mehr philo- sophischer Behandlung naturwissenschaftlicher Probleme, wie eine solche z. B. von Herder in seinem schönen Werk „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" durchgeführt wurde, kamen noch andere Vorstellungen zur Ausprägung. Allen Organismen, den Pflanzen, Tieren und Menschen, liegt ein Urtypus zugrunde. Die ein- zelnen Arten sind nicht neben-, sondern nach- einander entstanden, zuerst einfache Formen, dann immer komplizierter gebaute. Die gesamte Stufen- folge in der Organismenwelt wird als Ausdruck der Wirksamkeit einer Idee (Weltseele) betrachtet, welche, indem sie den Lebewesen eine immer mehr den äußeren Verhältnissen angepaßte Aus- gestaltung verlieh, eine fortschreitende Entwick- lung derselben vermittelte. Ahnlich wie H erde r hat auch Goethe in seinen jüngeren Jahren ge- dacht. Wir haben es hier nicht mit einer wi rk - liehen, sondern nur mit einer scheinbaren Deszendenz zu tun. Die einzelnen Arten weiden nicht als Blutsverwandte aufgefaßt, sind niclit auseinander hervorgegangen, sondern nur nach- einander entstanden. Die echte Deszendenzlehre klar und deutlich zum Ausdruck gebracht zu haben, ist das große Verdienst anderer Männer gewesen, namentlich Lamarcks und auch Goethes, der sie, besonders in seinen späteren Lebensjahren, freudig, ja begeistert vertrat. Und nun Charles Darwin! Ihm gebührt das unermeßlich große Verdienst, der Lehre von einer realen Deszendenz aller Organismen (also auch des Menschen) und über- haupt dem Entwicklungsgedanken zu voller, machtvoller Wirkung verholfen zu haben. Unter Berücksichtigung zahlloser Tatsachen aus den Gebieten der vergleichenden Anatomie und Morphologie, der Embryologie sowie Paläontologie führt er den Nachweis, daß die Lehre von der Konstanz der Arten ein Dogma darstellt, und allein die Anschauung von der Veränderlichkeit der Spezies sowie der allmählich vollzogenen stammesgeschichtlichen (phylogenetischen) Ent- wicklung der Organismenwelt wissenschaftlich be- gründet werden kann. Von gewisser Seite wird immer wieder be- tont, um Darwins Verdienste herabzusetzen, er habe die Deszendenzlehre ja schon vorgefunden. Das letztere ist unzweifelhaft richtig. Aber es kommt auch in der Wissenschaft nicht allein dar- auf an, eine Idee auszusprechen, sondern man muß es ebenso verstehen, dieselbe zur Geltung zu bringen, d. h. den Gedanken energisch unter Heranziehung eines die Geister bezwingenden Tatsachenmaterials zu vertreten. Die ungeheure Wirkung des Buches Dar- wins über die Entstehung der Arten ist denn auch nicht ausgeblieben. Der Morphologie und Systematik sind durch Darwin ganz neue Bahnen gewiesen worden. Man erkannte auf einmal klar und deutlich, daß das natürliche System ein „Bild" der stammes- geschichtlichen (phylogenetischen) Entwicklung der Organismenwelt zu geben habe. Aber damit war der Forschung zunächst nur ein Ziel vorge- schrieben. Indem man sich bestrebte, dasselbe zu erreichen, stellten sich aus zahlreichen in der Natur der Sache liegenden Gründen den wissen- schaftlichen Bemühungen gerade auf botanischem Gebiete sehr bedeutende Schwierigkeiten entgegen. Manche Einsicht ist freilich bereits in bezug auf die Kryptogamen gewonnen worden. Auch konnten viele Beziehungen zwischen höheren Kryptogamen und Gymnospermen sowie zwischen diesen letzteren und den Angiospermen fest- gestellt werden; indessen läßt das System noch gar vieles zu wünschen übrig. Ganz besonders gilt dies auch mit Rücksicht auf die höheren Pflanzen. Wo zweigen z. B. die Monocotylen von den Dicotylen ab? Ist die Entwicklung der Sympetalen eine mono- oder polyphyletische ge- ii6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIIF. Nr. 8 wesen ? Diese und viele andere Fragen bedürfen dringend der Erledigung. Vor der Hand haben wir noch kein System, welches den groß artigen Prinzipien der Deszendenzlehre gerecht werden könnte. Nur die ganz allgemeinen Grund- linien zu einem solchen sind vorgezeichnet, und es bleibt einer fernen Zukunft vorbehalten, den begonnenen Bau im Sinne Darwins, der uns den allein gangbaren Weg gewiesen hat, zu vollenden. Nun taucht aber sofort das unendlich schwierige Problem auf, welche Ursachen die Deszendenz überhaupt ermöglichten. Lamarck suchte die von ganz einfachen Formen ausgehende, bis zu den höchsten Gestaltungen fortschreitende Evolu- tion in der Organismenwelt durch die Annahme eines den Lebewesen immanenten Vervollkomm- nungstriebes und dadurch zu begreifen, daß er den Pflanzen und Tieren das Vermögen zuschrieb, unter dem Einflute veränderter äußerer Umstände sofort zweckmäßig zu reagieren. Diese Einflüsse sowie auch Gebrauch der Organe rufen nach Lamarck im Organismus das teleologische Prinzip des Bedürfnisses hervor, welches, einmal wirksam, ohne weiteres direkte und auch funk- tionelle Anpassungen vermittelt. Und dazu gesellt sich bei Lamarck noch die Lehre von der Erb- lichkeit erworbener Eigenschaften. Eine den Lebewesen eigentümliche, bestimmt gerichtete Evolutionstendenz wird auch heute noch von manchen Forschern, namentlich den Neo- vitalisten, postuliert, um die Deszendenz verständ- lich zu machen. Darwin hingegen steht offenbar auf mecha- nistischem Boden. Die Deszendenz muß kausal- mechanisch erklärt werden können. Das ist ohne Zweifel, wenn man alle Bemühungen des großen britischen Naturforschers überblickt, die Hypothese, von welcher derselbe ausgeht, und die ihn zur Aufstellung seiner Selektionstheorie führte. Anknüpfend an die Erfahrungen , die an domestizierten Pflanzen und Tieren gewonnen worden sind, welche Darwin übrigens in einem besonderen Buch sehr eingehend behandelt hat, zeigt er, daß die Organismen auch im Naturzustande ganz allgemein zumeist richtungslose Ab- änderungen erleiden, die man, ohne näherauf deren Charakter einzugehen, ganz gut als Varia- tionen und Mutationen unterscheiden kann. Die Ursachen, welche diese übrigens schwierig scharf gegeneinander abzugrenzenden Abände- rungsformen bedingen, sind äußerst mannigfaltiger Art, und es steht hier der eben erst begonnenen experimentellen Forschung ein weites Feld der fruchtbarsten Betätigung offen. Durch das konservative Prinzip der Ver- erbung können die Abänderungen von einer Generation auf andere übertragen werden, aber neue Modifikationen bei den Individuen dieser letzteren sind selbstverständlich nicht ausge- schlossen und machen sich tatsächlich auch geltend. So befindet sich die Lebewelt also nicht im starren, unveränderlichen Zustande, sondern vielmehr in einem freilich nur dem genauen Be- obachter erkennbaren, ununterbrochenen Wechsel und Muß. Die Abänderungen sind das Primäre für die Deszendenz; sie bieten allen weiteren ein- greifenden Faktoren das zu bearbeitende Material dar. Und solche Faktoren sind nicht minder wichtig für die Phylogenie wie die Abänderungen selbst, denn kämen nur diese in Verbindung mit der Vererbung zur Geltung, so müßte die Or- ganismenwelt geradezu ein Chaos von Formen darstellen, während uns doch die Erfahrung lehrt, daß dies keineswegs der Fall ist. Wir wissen, daß in den Lebewesen eine un- geheure Reproduktionskraft ruht. Zahllose Keime entstehen; überaus viele Individuen jeder Art werden geboren. Aber relativ nur sehr wenige Individuen gelangen zur vollen Entwicklung und vermögen sich fortzupflanzen. Der Grund für diese Tatsache liegt in dem erbitterten Kampf ums Dasein, den die Organismen mit ihren nächsten Verwandten, ganz anderen Lebewesen und unter der Herrschaft der durch die anor- ganische Natur gegebenen Bedingungen führen müssen. In diesem Kampfe können nur die sich infolge ihres besonderen Charakters bewährenden Individuen erhalten bleiben; weitaus die meisten gehen zugrunde und sind dadurch vom ferneren Wettbewerb ausgeschlossen. Damit ist, zunächst ganz im allgemeinen, der Sinn bezeichnet, den es hat, wenn man mit Darwin von Selektion oder Auslese spricht. Vielfach wurde freilich gegen Darwin die An- sicht vertreten, daß kleine Abänderungen, welche die Organismen erfahren, nicht zur Entstehung scharf ausgeprägter Differenzierungen der Arten führen könnten, weil sie keinen Selektionswert hätten. Wer aber die Pflanzen und Tiere nicht nur im Museum und Laboratorium, sondern an der Quelle, d. h. in der freien Natur, studiert, wird sich einer solchen Auffassung gegenüber gewiß ablehnend verhalten. Man hat auch zu bedenken, was gar nicht ge- nügend gewürdigt wird, daß, wenn es sich um einen Wettbewerb bei eintretender Veränderung der Lebensbedingungen handelt, diese letzteren zumeist ganz allmählich im Laufe langer Zeit- perioden modifiziert werden, und die zunächst relativ geringfügige, aber doch schon wertvolle Variationsbreite der Organismen daher nach vielen Generationen ein bedeutendes Ausmaß gewinnen kann. Ist nämlich einmal eine bestimmte, für die Art vorteilhafte Abänderung zustande gekommen, so wird häufig mindestens die Tendenz zur \'er- folgung des eingeschlagenen Weges erblich auf die Nachkommen übertragen, und damit eine Akkumulationsbedingung gegeben, die von höchster Wichtigkeit für die Differenzierung der Spezies oder Varietäten werden muß. Das Chaos der Formen, von dem oben die Rede war, ver- schwindet. Diejenigen Individuen, welche in ihrem Bau und ihren Lebensäußerungen keinen er- haltungsgemäßen Charakter tragen, gehen N. !■. Vlll. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 117 zuj^runde. Die Selektion weist der Entwicklung der Organismen gewisse Bahnen an, die natürlich, wenn neue Umstände wirksam werden, auch wieder durch neue Evolutionsrichtungen ersetzt werden können. Es ist nun eine sehr wichtige Tatsache, daß die im Kampf ums Dasein zustande kommende Selektion, welche neben dem auf Variation und Mutation beruhenden Abänderungsvermögen der Organismen und neben der Vererbung eine so überaus große Rolle bei der Artbildung sowie Phylogenie spielt, zur Erhaltung solcher Individuen führt, die den gegebenen Lebensverhältnissen zu- meist in geradezu bewunderungswürdiger Weise angepaßt erscheinen, d. h. genau diejenigen Eigentümlichkeiten in ihrem Hau und Lebens- betätigungen aufweisen, die es ihnen ermöglichen, sich zu voller Blüte auszugestalten und zahlreiche Nachkommen zu erzeugen. Das Zustandekommen und nicht minder auch das Bestehenbleiben dieser Anpassungen oder, wie man auch sagen kann, erhaltungsgemäßen Organisationen, ist vom Standpunkte der Naturwissenschaft aus, welche immer die kausal-mechanische Betrachtungsweise festzuhalten hat, allein selektionstheoretisch zu begreifen. Andererseits ist es aber auch durchaus zulässig, wie nur ganz kurz angedeutet werden möge, jene Anpassungen als Zweckmäßig- keitseinrichtungen zu charakterisieren, in- dem man die Erscheinungen von metaphysischer Perspektive aus beleuchtet, und danach das un- geheure Getriebe des kausal-mechanischen Ge- schehens in der Natur als Mittel zur Realisie- rung gewisser Weltziele ansieht. Doch lassen wir solche Gedanken , die Darwin fernlagen, hier beiseite. Es genügt für uns, zu konstatieren, daß er der Wissenschaft durch Aufstellung seiner Selektionstheorie einen unermeßlich großen Dienst geleistet hat. Es ist bewunderungswürdig, mit welcher tiefen biolo- gischen Einsicht er die schwierigsten Probleme durchdrang und wie vielseitig er dieselben behandelte, während selbst hervorragende Forscher unter seinen Nachfolgern von dem Fehler ein- seitiger Betrachtungsweise nicht frei gesprochen werden können. Gewiß sind zahlreiche Fragen, die sich auf die Entstehung der Arten beziehen, wie auch Darwin selbst immer wieder betont, noch keines- wegs gelöst. Es sind die Umstände auf experi- mentellem Wege zu prüfen , die Abänderungen der Arten bedingen. Man hat die Bedeutung der Mutationen , der Korrelationen und direkten .-Xn- passungen näher zu studieren. Das Problem von der Erblichkeit erworbener Eigenschaften ist neu zu bearbeiten. Es ist ferner z. ß. zu untersuchen, welchen Wert solche Abänderungen, die weder schädlich noch nützlich für den Organismus sind, und deshalb auch keiner Selektion unterworfen sein können, für die Artbildung besitzen. Von mancher Seite werden die tatsäch- lich bestehenden Schwierigkeiten, welche uns augenblicklich noch ein volles Verständnis be- züglich des Zustandekommens der Deszendenz unmöglich machen, in eine ganz übertriebene Beleuchtung versetzt. Es wird auch der prinzi- pielle Standpunkt vertreten, daß jene Schwierig- keiten überhaupt nicht durch rein naturwissen- schaftliche, d. h. allein auf das kausal-mechanische Geschehen gerichtete Forschung, überwunden werden könnten. Dazu gesellen sicli oft mancherlei Mißverständnisse, Vorurteile aller .Art und unzu- lässige Bestrebungen, die Probleme verschiedener Wissenschaften (Naturwissenschaft und Meta- physik) von vornherein ineinander fließen zu lassen, während es doch durchaus erforderlich ist, die in Betracht kommenden P^ragen zunächst ge- sondert zu behandeln, um die gewonnenen Re- sultate dann freilich schließlich von einem allge- meineren Standpunkte aus miteinander zu ver- knüpfen. Man vergißt, daß wir auf naturwissen- schaftlichem Gebiet doch eigentlich am Anfang der Erkenntnis stehen, daß höchstens Teilwahr- heiten gegeben sind, die volle Einsicht aber erst eine ferne Zukunft bringen kann. Andererseits unterschätzt man den tiefen Wahrheitsgehalt des Darwinschen Selektionsprinzips für das Problem der Artbildung gar sehr, der sich doch gerade durch neuere Forschungen so stark bewährt hat. Denn durch diese konnte gezeigt werden, daß viele selbst unscheinbare Eigentüm- lichkeiten der Organismen, von deren Selektions- wert man früher keine Ahnung- hatte, denselben im höchsten Maße besitzen. Solche Fortschritte sind aber nur möglich ge- worden durch die Ausgestaltung der Ökologie zu einem besonderen Gebiete der Wissenschaft. Diese Ökologie oder Biologie im engeren Sinne, die heute von hervorragenden Botanikern mit Vor- liebe getrieben wird, hat die Aufgabe, uns mit den Anpassungen der Organismen in ihrem Bau und LebensäuiSerungen an die Umgebung (andere Lebewesen und unbelebte Natur im weitesten Umfange) vertraut zu machen. Wertvolle Resul- tate sind hier freilich nicht leicht zu erzielen, denn es gehört die Gabe einer feinsinnigen Naturbe- trachtung und viel experimentelle Geschicklichkeit dazu, das wunderbare Wechselspiel der Lebens- beziehungen zu entwirren. Ganz ohne jeden Zweifel ist es kein Zufall, daß die Ökologie erst zu immer wachsender Blüte gelangte, nachdem Darwin mit seinem Selektionsprinzip hervorgetreten war. Er hat uns auch hier die Augen geöffnet, eine Fülle nach- haltigster Anregung geboten und selbst durch jene botanischen Meisterwerke, die im ersten Teil dieses Vortrages Erwähnung fanden, gewaltig zur Förde- rung des jungen Wissensgebietes beigetragen. Darwin ist als Begründer der modernen Öko- logie anzusehen! Und diese Disziplin hat nicht allein für die reine Wissenschaft, sondern auch für die Schule höchste Bedeutung gewonnen. Früher herrschte in dieser letzteren der sog. systematische Unter- ii8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 8 rieht fast ausschHeßlich. Die Pflanzen wurden beschrieben und vielleicht auch noch bestimmt. Wer wollte es wagen, die Wichtigkeit der Syste- matik für die Schule zu leugnen ! Durch sie wer- den ja nützliche Kenntnisse verbreitet; sie kann den Sinn für ästhetischen Naturgenuß lebhaft fördern; das genaue Beschreiben der Pflanzen ist höchst wichtig für Entwicklung des Beobachtungs- vermögens, und das Bestimmen hat sicher in for- maler Hinsicht Wert. Zudem können, wie es für jede Schule zu fordern ist, die Grundprinzipien der Deszendenzlehre durch den Unterricht in der Systematik klargelegt werden. Aber die Allein- herrschaft darf die Systematik im Lehrgang nicht haben. Seine gewaltige geistesbildende Kraft kann der botanische Schulunterricht erst durch sachgemäße und in den verschiedenen Schulgattungen recht mannigfaltig zu gestaltende Verknüpfung der Systematik mit der Anatomie, Physiologie und Ökologie gewinnen. Das ist eine Forderung, von der man ebensowenig wie von jener anderen abgehen darf und kann, nach wel- cher der biologische Unterricht in allen Schulen bis zur Oberklasse fortzuführen ist. Als höchst erfreulich muß man es daher bezeichnen, daß die Bedeutung der Ökologie für die Schule heute sehr allgemein hohe Würdigung seitens der Lehrer- schaft und ganz besonders auch seitens der Volks- schullehrer gefunden hat, in deren Kreisen über- haupt ein gar nicht genug zu schätzendes wissen- schaftliches Streben, eine leidenschaftliche Sehn- sucht nach tieferer Erkenntnis und ein bewunde- rungswürdiger Idealismus angetroffen wird. So flutet der Strom wissenschaftlicher Einsicht, den Darwin uns erschlossen, durch alle Welt, und die Strahlen, welche von seinem Geiste aus- gingen, werden auch fernerhin überall mächtige Wirkungen verspüren lassen. Darwin war gleich groß als Spezialforscher wie als Denker. Und dazu steht er überaus hoch als Charakter da, wie jeder leicht aus seiner „Reise eines Naturforschers um die Welt", seiner Autobiographie und seinen Briefen entnehmen kann. Bescheidenheit, Lauterkeit der Gesinnung sowie Strenge der moralischen Anschauungen, die an diejenige Kants erinnert, sind dem unver- gleichlichen britischen Naturforscher namentlich nachzurühmen. Wir neigen uns in bewundernder Verehrung und tiefster Dankbarkeit vor dem gewaltigen Genius Charles Darwin. Kleinere Mitteilungen. Die Beschuppung der Reptilien hat Hans Otto zum Gegenstande einer erneuten Unter- suchung gemacht (Jenaische Ztschr. f Naturwiss. 44. Bd. 1908). Die Kalkeinlagerungen in der Reptilienhaut wurden zuerst von Pallas (1801) bemerkt. Von späteren Forschern haben nur Heusinger (1822), Dumeril und Bibron (1837), Natale (1852), Blanchard (1861) und de Filippi (1863) Bezug auf die Hautossifikationen der Reptilien genommen. Eine sonderbare Theorie stellte Blanchard über den Zweck dieser Gebilde auf, in- dem er angab, daß sie eine wichtige Rolle bei der Atmung spielen. Diese Ansicht suchte er durch die Anwesenheit ,,des espaces a^riferes" zu begründen. L e y d i g gab dann (1868 — 1876) die ersten wichtigen Arbeiten über die Haut- knochen der Reptilien. Er war auch der erste, der den Knochen- schuppen der Reptilien eine systematische Bedeutung zuge- sprochen hat. Er verwarf mit Entschiedenheit die oben erwähnte Theorie Blanch ard 's, indem er zeigte, daß die „tubes aeriferes" nicht hohl, sondern mit dichtem Bindegewebe angefüllt sind. Cartier hat (1873J die Gruppe der Geckotiden untersucht und auch bei ihnen Hautknochen gefunden. An diese For- scher reihen sich dann eine Anzahl späterer, die sich besonders mit der P>age der Entstehung der Knochenschuppen beschäftigten. Otto hat sich hauptsächlich mit den Brevi- Fig. 1 kns Kn Schuppe aus der Körpermitte von Anguis fragilis. ochenschuppe. hns Hornschuppe. mk Markkanäle, g Grenze der Cutis. (Nach Otto.) linguiern und Ascalaboten befaßt. Bei meiireren Vertretern der erstgenannten Familie, nämlich bei Anguis, Pseudopus und Zonurus, besteht die. N. F. VIII. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 119 Knochenschuppe nur aus einer einzigen, mächtigen Knochentafcl , die an allen Körperstelien immer einer sie iiberdcckendeii Hornschuppe entspricht. Bei den anderen Brevilinguierarten (Scincus, Gon- gylus, Seps, L)-i;osoma, Mabuia und Acontias) finden wir dagegen , daß Knochenplättchen von verschiedener, für jede Spezies charakteristischer Gestalt zu einem Knochenkomplex zusammen- gclagert sind. Eine solche zusammengesetzte Knochenschuppe entspricht auch bei diesen Arten stets der sie überdeckenden Hornschuppe. Als Beispiel für die erste Gruppe, also für Bre vil i n gu i er mit einfacher Knochenschuppe, diene unsere Blindschleiche (Anguis fragilis). Fig. i stellt Knochen- und Hornschuppe dieses Reptils dar. Das Präparat war einem erwachsenen Exem- plar aus der Mitte des Rückens entnommen. der typischen Form, wie wir sie am Rücken fin- den, weichen die Schuppen anderer Körpergegen- den bedeutend ab. Wir übergehen die mannigfaltigen Variationen, der die Schuppen der verwandten Formen unter- liegen und kommen nun zu der Familie der As- caloboten. Bei den ihm zur Verfügung stehen- den Vertretern dieser Gruppe fand Otto nur bei dem Mauergecko (Tarentola mauritanica L.) Cutis- verknöcherungen. Merkwürdigerweise bestand hier jedoch keine Beziehung zwischen Hörn- und Knochengebilden ; nur am regenerierten Schwanz ließen sich ursprüngliche Verhältnisse feststellen. Seine Befunde, die auch durch histologische Untersuchung an Schnitten vervollständigt wur- den, verwertet Otto für die Systematik und Phylogenie der genannten Formen. Er hält die einheitliche Knochenschuppe für die ursprünglichste Form, aus der die Schuppen der Scincoiden durch sekundäre Spaltung der einfachen Knochenschuppe entstanden sind. Er unterscheidet bei den Brevilinguiern die beiden Familien der Scincoiden und Zonuriden (Zonurus und Pseudopus), zwischen denen Anguis steht. Der Verf. hält es für sehr wohl mög- lich, daß die Knochen- schuppe, wie sie uns bei Anguis und den Zonuriden entgegentritt, ein altes Erb- stück von den Amphibien ist. Dr. P. Brohmer, Jena. Fig. 2. Die typische Scincus-Schuppe. übrigen Bezeichnungen wie in Fig. I tsp Teilspa (Nach Otto Von der zweiten Gruppe, bei der die Knochen- schuppen aus einem Mosaik von Knochenplatten bestehen, wählen wir den Apothekerskink (Scin- cus officinalis). der im nördlichen und östlichen Ökologie der pflanz- lichen Saprobien. Von K o 1 k w i t z und M a r s s o n. (Berichte der deutschen bota- nisciien Gesellschaft. Jahrg. 1908, Bd. 26 a, Heft 7.) Immer mehr bricht sich die Kenntnis der Be- deutung, welche Fauna und Flora für die Beur- teilung eines Wassers haben, Bahn. Früher zog man zur Wasseranalyse vorwiegend den chemi- Afrika vorkommt und eine Größe von 23 — 25 cm sehen und bakteriologischen Befund heran. Als erreicht. Die typische Scincusschuppe ist in es sich jedoch immer mehr herausstellte, daß Fig. 2 abgebildet. Wir erkennen, daß die Knochen- diese Methoden gerade dort leicht versagen, wo schuppe aus zwei verschiedenen Plattenformen zusammengesetzt ist, nämlich immer aus zwei Eckplatten und aus mehreren Längsplatten, von denen eine wechselnde Zahl vorhanden ist. Auf den Längsplatten bemerken wir eine Anzahl von Markkanälen (Ha ve rs' sehe Kanäle I, wäiirend die lieiden Eckplatten in allen Körperschuppen keine hochmolekulare, organische Verbindungen im Wasser gelöst vorhanden sind, so entschloß man sich, die Abhängigkeit dieser im Wasser gelösten Stoffe von Tier- und Pflanzenwelt zu studieren. Gerade sie sind es nämlich, welche als wichtige Nährstoffe für Tiere wie Pflanzen in Betracht kommen. — Besonders dort, wo organische, zer- solchen besitzen. Die Hornschuppe bedeckt nur setzliche Bestandteile ins Wasser gelangen, siedeln das freistehende Ende der Knochenschuppe. Von sich Lebensgemeinschaften von Organismen an, 120 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 8 welche zu Quantität wie Qualität dieser Stoffe in direkter Abhängigkeit sich befinden. Es handelt sich hier vorwiegend um mikrosko- pische Wasserbewohner. Ist die Lebensweise, sind die Ernährungsbedingungen, unter denen solche Organismen leben, bekannt, so wird es möglich, aus ihrem Auftreten als solchem be- stimmte Rückschlüsse auf den Reinheits- resp. Yerunreinigungsgrad eines Wassers zu ziehen. Kolkwitz und Marsson haben eine Liste von ca. 300 pflanzlichen Organismen zusammengestellt (eine Zusammenstellung der tierischen soll folgen), welche sich für eine derartige Beurteilung von Gewässern als geeignet erwiesen haben. Bei starker Verschmutzung eines Wassers in einer Zone, in welcher das Wasser sauerstoffarm, kohlensäurereich, einen hohen Gehalt an stickstoff- haltigen Nährstoft'en aufweist, sind es zunächst Schizomyceten und Schizophyceen, welche auftreten. Bakterien und Pilze sind be- kanntlich imstande, aus fäulnisfähigen, organischen Verbindungen ihre Leibessubstanz aufzubauen. Dabei werden diese mineralisiert, d. h. in Ammoniak, Schwefelwasserstoff, Kohlensäure und Wasser übergeführt. Der Boden dieser Zone besteht aus Faulstoffen und Schwefeleisen. Haben die als Entfäuler dienenden Pilze dem Wasser durch ihre Tätigkeit organische Sub- stanzen entzogen, und ist die Mineralisierung weiter fortgeschritten, so treten neben Schizomy- ceten und Schizophyceen große Mengen fressender Tiere und durchlüftender Pflanzen auf. Von letzteren ist besonders die reiche Flora von Kieselalgen für diese Zone charakteristisch, welche in der zitierten Arbeit näher aufgeführt sind. Ferner P hy tof lagellat e n und eine Reihe verschiedener Algenarten wie z. B. be- stimmte Conjugaten, Confervalen und Florideen. Ich möchte hier besonders be- tonen, daß man aus dem Auftreten einer einzelnen Art niemals einen sicheren Rückschluß auf den Reinheitsgrad eines Wassers ziehen kann, sondern, daß für die Diagnose besonders der V e r g e s e 1 1 - Schaft ung nicht nur der Pflanzen miteinander, sondern besonders derjenigen von Pflanze und Tier eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Alle Organismengruppen reagieren erstaunlich schnell auf Änderungen des sie umgebenden Mediums. Sie vermehren sich schnell oder ver- mindern ihre Individuenzahl; wie auch ihr Auf- treten überhaupt oder ihr Verschwinden vom je- weihgen Zustand des sie umgebenden Mediums abhängt. — Es kann mitunter vorkommen, daß durch die Strömung einzelne Individuen fortge- schwemmt werden und diese dann vorübergehend unter solchen Umständen und in einer Vergesell- schaftung leben, welche nicht ganz ihren natürlichen Zuständen entspricht; doch sind solch einzelne Vorkommnisse wohl nur imstande, die Diagnose etwas zu erschweren. Dem Kenner wird es auch in solchen Fällen möglich sein, aus der charak- teristischen P"auna und Flora den Verunreini- gungsgrad zu erkennen. In der oben geschilderten Zone, in welcher die Mineralisation schon erheblich fortgeschritten ist, hat auch der Schlamm des Bodens ein er- heblich anderes Ansehen gewonnen, als der der Abwasserzone. Eine Reihe tierischer Organismen ist hier lebhaft an der biologischen Reinigung beteiligt : schlammbewohnende Kleinkrebschcn, Insektenlarven, verschiedene Würmer, unter ihnen der wohlbekannte Tubifex durchackern den Schlamm; verschiedene Schnecken und unsere all- bekannte Wasserassel leben hier als Schlickfresser. Durch die gemeinsame Tätigkeit dieser Organis- men wird der Sauerstoff des Wassers energisch mit dem schwarzen Schwefeleisen der Abwasser- schlammzone in Berührung gebracht. Dadurch oxydiert sich dieses zu Eisenoxydhydrat und all- mählich entsteht so ein normaler Schlamm. Im Wasser findet sich bei der fortschreitenden Reinigung organischer Stickstoff nur noch in Spuren. Die Sauerstoffzehrung ist gering, der Permanganatverbrauch niedrig. Auch in dieser Zone finden sich reichhaltige biologische Lebens- gemeinschaften. Neben Protozoen und Räder- tieren finden sich auch in dieser Zone wieder bestimmte S c h i z o m y c e t e n und S c h i z o p h y - ceen; aber natürlich andere Arten als in den vorher erwähnten Zonen. Daneben finden sich auch hier wieder verschiedene Kieselalgen, und zwar sowohl planktonische als auch schlamm- bewohnende; ferner Phyto flagellaten, Con- jugaten, Confervalen usw.; auch höhere Pflanzen, Monocotyledonen sowie Dicotyle- donen sind in dieser Zone anzutreffen. Ebenso wie die Landflora ist auch die Wasser- flora vom Wechsel der Jahreszeiten abhängig. So erreichen gewisse Abwasserpilze im Winter den Höhepunkt ihrer Vegetationsperiode. Gewisse blaugrüne Algen pflegen sich im Sommer am üppigsten zu entwickeln. Bei den Kieselalgen fällt das Maximum ihrer Vegetationsperiode in F"rühling und Herbst, während im Sommer die Kurve ihrer Lebensintensität tällt. Es sind dies Tatsachen, welche bei jeder biologischen Wasser- beurteilung zu berücksichtigen sind. Wie aus vorstehendem hervorgeht, sind Bak- terien und Protozoen bis stufenweise hinauf zu den übrigen Vertretern von Fauna und Flora für die Beurteilung eines Wassers gleich wichtig. Die im Titel angeführte Arbeit von Marsson und Kolkwitz ist deshalb von Wichtigkeit für unsere Kenntnis der biologischen Wasserbeurteilung, weil in ihr zum ersten Male eine größere Anzahl un- serer bekanntesten, weitverbreitetsten pflanzlichen Süßwasserbewohner, mit einer ganz präzisen bio- logischen Diagnose versehen sind. Hierdurch ist die Möglichkeit geboten, dieselben jederzeit in der Praxis für die biologische Wasserbeurteilung zu verwenden. M. Zuelzer. N. F. VIII. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 121 Über das Verhalten von suspendierten Stoffen im Kristalloid- und Kolloidzustand. — F"rühere Forsclier, '~') die beobachtet hatten, daß f e i n verteilte Stoffe im suspendierten Zustande auf Zusatz von Elektrolyten und auch Nichtleitern sich rasch sedimentieren, haben nicht erkannt, daß nur solche Stoffe darauf reagieren, die kollo- ider Natur überhaupt sind, oder in Berührung mit Wasser Stoffe im Kolloidzustand zu bilden vermögen. Im folgenden sollen einige Versuche beschrie- ben werden, die dieses dokumentieren. Die Natur kristalloider und kolloider Stoffe wird nämlich sehr gut durch ihr Verhalten als Suspensionen in Wasser +ind auf Zusatz von Elektrolyten charakterisiert. Folgender Unterschied ist zu beobachten; Sus- pensionen kristalloider Stoffe, wie von Kalzium- karbonat, Kalzium sulfat, Eariumsulfat usw. halten sich schwebend nur kurze Zeit, allen- falls eine Stunde, während solche von kolloid ver- anlagten Stoßen, wie von kieselsaurem Alu- minium, kieselsaurem Magnesium, Ultra- marin, Zement stundenlang, ja Tage diese l'^ähigkeit besitzen. Zweitens wird die Sedi me n tat ion kristal- loider Stoffe durch Zusatz von Elektrolyten nicht beschleunigt, während dies bei den Kolloiden der Fall ist. Suspensionen von Ultramarin werden durch folgende Zusätze sedimentiert: NaOH, NH4(OH), NaCl, NH^Cl, CaCI.,, Na._,SOj , CaSO, , CuSO,, (NH^lCOj, Na.jCOg, NaNO^; sehr wenig wirksam ist dagegen Na.jHPO^, ohne jede Wirkung Borax. Eine Ultramarinsuspension erhält sich ca. lo Stunden schwebend; durch Zusatz von NH4(0H) ist sie in 6 Minuten, durch NaNO^ in lo', durch NaCl in 25', durch (NHJXO., in 90' sedimentiert. Tonsuspensionen''') werden rasch durch Zusätze sedimentiert, die OH'-ionen enthalten; NaOH, KOH, Na.,C03, Na.^SiOg. Suspensionen von Talk werden durch Zusatz von (NH|).,CO;(, CaCI,,, CaSO^ sedimentiert; wir- kungslos ist z. B. K.,Cr.,Oj. Zementsuspensionen werden durch Zu- satz von NaOH, CaCI.,, Na.,HPOi, (NH4).,C03, AICI3, FeCl.j sedimentiert; NaCl, Na.XO,,, CaSO^, Borax verhalten sich indifferent. Eine sehr starke Wirkung üben AICI3 und FeCl., aus; Zement- suspensionen, die sich 6 — 7 Stunden schwebend halten, werden in 2 — 3 Minuten sedimentiert. Auf Suspensionen von Kalifeldspat wirkt sedimentationsbeschleunigend besonders CaCI.,. Die Stoffe nun, die im Gegensatz zu den Kristalloiden, Gips, Kalkspat, dieses Ver- halten im suspendierten Zustand gegen Wasser und Elektrolytzusatz zeigen, sind kolloid ver- anlagt; sie bilden in Berührung mit Wasser Stoffe im Kolloidzustand , Kieselsäure-Tonerde- Eisenoxydhydrat; je mehr Kolloidstoffe eine Sub- stanz dabei zu bilden vermag, umso deutlicher tritt das Phänomen der langandauernden Schwe- bung auf. Dieses Verhalten kann geradezu als Reagens daraufhin betrachtet werden, ob ein solcher, ge- feinter Stoff in Berührung mit Wasser kristalloid oder kolloid veranlagt ist. Die Ursachen dieser Vorgänge sind die fol- genden: die schwebenden Teilchen sind von einer kolloidalen Hülle der erwähnten Hydrate umgeben; bestimmte Elektrolyte haben nun die F"ähigkeit, diese kolloidale Hülle, die als Ursache des andauernden Schwebens anzusehen ist, zu zerstören, worauf die Sedimentierung erfolgen muß. Auf die Frage, wie die Wirkung der Elektro- lyte zustande kommt, scheint folgende Antwort die richtige zu sein; es handelt sich schließlich um die Ausfällung von Kolloidstoffen; diese kommt wahrscheinlich auch hier dadurch zustande, daß die Kolloidteilchen, welche die kolloidale Hülle bilden, die mit der entgegen- gesetzten elektrischen Ladung behafteten Ionen der Elektrolyte an sich ziehen ') und Stoffkom- plexe bilden; dadurch erfolgt die Zerstörung der kolloidalen Hülle und die Sedimentierung. Beachtenswert ist noch, daß diejenigen Elek- trolyte, die am stärksten die Sedimentation be- schleunigen, wie Eisenchlorid, Aluminium- chlorid die wasseranziehende Fähigkeit be- sitzen. Indem diese Stofte das Wasser, welches den kolloid veranlagten Stoffen erst die kolloidale Hülle ermöglicht, an sich zieht, wird diese zer- stört, so daß die Sedimentierung erfolgen muß. Möglicherweise liegen beide Ursachen, die elektrostatische Anziehung zwischen Kolloidteil- chen und den Ionen der Elektrolyte und die Ent- ziehung des Kolloidalwassers, der Sedimentations- beschleunigung zugrunde. Als kolloid veranlagte Stoße sind Ultra- marin, Ton, Zement, Talk, Feldspate und ähn- liche Mineralien anzusehen. Dr. Rohland. ') Th. Scheerer, Pogg. Ann. S2, 419. 1851. *) Fr. Schulze, ibidem 129, 366. 1866. ') Ch. Schlösing, (^ompt. read. 70, 1345. 1870 usw. *) G. Quinke, .\nn. d. Physik. 7, 94. 1902 u. folg. ^) conf. H. .Seger, Tonindustrie-Ztg. 1.5, 813. (189 II. P. Rohland, Zt. anorg. Chcm. 41, 325. (1904). ') conf. Zt. phys. Chem. 45, 307. (1903). 51, 129. (1905). Vereinswesen. Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde (E.V.). — Nach den Sommerferien nahm die Gesellschaft am Dienstag, den 13. Ok- tober, abends 8 Uhr ihre .'\rbeit mit einer Sitzung im Hörsaal des Kgl. Instituts für Meereskunde wieder auf. Seitens des Vorstandes begrüßte zu- nächst der Schriftführer in Vertretung des an dem Abend behinderten Herrn Vorsitzenden die 122 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 8 zahlreich erschienenen Mitglieder und erteilte dar- auf das Wort Herrn Kustos Base hin vom Geo- graphischen Institut der Kgl. Universität zu seinem angekündigten Vortrage über das Thema: „Die Wellen des Meeres". Da das Meer 72 " (, der Erdkugel bedeckt und eine absolute Ruhe der Meeresoberfläche wohl nur ganz lokal und vorübergehend vorhanden ist, so ist von allen Oberflächenformen unseres Erd- balles die der Meereswellen sicher die verbreitetste, und doch ist über die Form und Entstehung dieser Naturerscheinung unser Wissen noch sehr unvollkommen. Um zu einem gründlichen Ver- ständnis dieser Vorgänge zu gelangen, müssen wir uns zunächst die Gesetze ins Gedächtnis zurück- rufen, die für Wasserwellen überhaupt gelten. Das stabile Gleichgewicht einer homogenen Wasser- masse hört auf, sobald an irgendeiner Stelle ihrer Oberfläche die horizontale Lage des Wasserspiegels gestört wird. Von dieser Stelle breiten sich Wellen aus, die, im allgemeinen mit gleichförmiger Geschwindigkeit auf der Wasseroberfläche sich fortbewegend und aus abwechselnden Bergen und Tälern bestehend, von dem Störungszentrum aus in kreisförmiger Form nach außen hin fortschreiten, wobei sie an Höhe allmählich abnehmen. Die Wellenbewegung ist also eine im Räume fort- schreitende, während die Wasserteilchen selbst an Ort und Stelle bleiben und nur eine oszillierende Bewegung ausführen, die bei ganz regelmäßigen Wellenformen eine Kreisbahn ist, welche in der gleichen Zeit durchlaufen wird, in der die Welle um eine Wellenlänge vorgerückt ist. Will man die Formen und Bewegungen der Wellen ein- gehender studieren , so ist in erster Linie eine genaue Messung der Wellendimensionen nach Höhe. Länge und Geschwindigkeit erforderlich. Am günstigsten werden solche Messungen mög- lichst fern vom Lande an Stellen von größerer Meerestiefe vorgenommen; allerdings bieten die Schwankungen des Schiffes dabei ein recht stören- des Hindernis. Am einfachsten ist noch die Wellengeschwindigkeit festzustellen. Man braucht nur, während das Schiff mit der Kiellinie in der Fortpflanzungsrichtung der Wellen still liegt, die Anzahl von Sekunden zu zählen, welche vergehen, bis ein Wellenberg von einem Ende des Schiffes zum anderen gelangt, und diese in die Länge des Schiffes in Metern zu dividieren. In ähnlicher Weise läßt sich die Wellenlänge ermitteln. Größere Schwierigkeiten hat bisher die Messung der Wellenhöhen, zumal bei höheren Wellen ge- macht. Sowohl die geometrische Messung, die darauf beruht, daß man am Mast des Schiffes so hoch hinaufsteigt, daß das Auge den nächsten Wellenberg gerade bis zum Horizont emporsteigen sieht, während das Schiff selbst im Wellental sich befindet, und dann die Höhe des Auges über dem Wasserspiegel feststellt, wie auch die barometri- sche mit Hilfe feinster Aneroidbarometer, die noch Luftdruckdifferenzen von Vioo r""i. entsprechend einem Höhenunterschied von etwa 11 cm, zu schätzen gestatten, liefern nicht immer zuverlässige Resultate. Erst in neuester Zeit ist es gelungen, eine Methode anzuwenden, die nicht nur dieHöhe, sondern auch die Länge der Wellen und ihre sonstigen Formen gleichzeitig in exakter Weise zu messen ermöglicht, die photogrammetrische, die auch bei Messungen auf dem Lande schon seit Jahren erfolgreich verwendet worden ist und die im wesentlichen darin besteht, daß man an zwei in einer bestimmten Entfernung voneinander gelegenen Punkten mit besonders eingerichteten Apparaten photographische Aufnahmen nach der- selben Richtung hin macht. Durch genaue Aus- messungen der photographischen Platten kann man dann nachträglich die Lage aller auf beiden Bildern sichtbaren Punkte im Räume genau fest- stellen. Im Jahre 1904 hat die kaiserliche Marine in der Kieler Bucht zum ersten Male derartige Aufnahmen von IJ/leereswellen machen lassen, auf Grund deren mit Hilfe des sog. Stereokompara- tors Herr Dr. Kohlschütter die erste überhaupt existierende, genaue kartographische Darstellung der Meereswellen geliefert hat. Durch diese ge- naueren Messungen ist die alte übertriebene Vor- stellung von turmhohen Wellen gründlich beseitigt worden. Wellen von mehr als 12 m Höhe dürften darnach zu den größten Seltenheiten gehören. Die Überschätzung der Wellenhöhen beruht ein- fach darauf, daß man das Deck des Schiffes als eine horizontale Ebene anzusehen pflegt, auch wenn das Schiff unter dem Einfluß der in der Kiellinie verlaufenden Wellen „stampft" oder unter dem Einfluß der seitwärts kommenden Wellen „rollt". Viel weniger als über ihre Höhen wissen wir nun über die Formen der Wellen, die den Messun- gen überaus große Schwierigkeiten entgegenstellen. Die Angabe der meisten Lehrbücher, wonach die Oberfläche der Meereswellen durch eine Kurve, die man als Trochoide bezeichnet, begrenzt wird, findet durch die genaueren photogrammetrischen Aufnahmen keine Bestätigung. Diese mangelnde Übereinstimmung zwischen Theorie und Wirklich- keit findet ihre Erklärung in den zahlreichen Interferenzerscheinungen, die in der Natur auf- treten und die die Meeresfläche oft in ein wildes Chaos verwandeln, das die Kunst der Schiffsführung auf die schwersten Proben stellt. Daß der Wind die Ursache der Meereswellen ist. ist allgemein bekannt; nur über das Wie gingen bis vor wenigen Jahren noch die Ansichten auseinander. Die wirkliche Ursache jener Natur- erscheinung fand erst ihre wissenschaftliche Be- gründung durch Helmholtz, der in den Jahren 1888 bis 1890 nachwies, daß überall an der Grenz- fläche zweier beweglicher Stoffe, die sich mit ver- schiedener Geschwindigkeit übereinander hin be- wegen, eine Wogenbildung eintreten müsse. Die beiden Stoffe, um die es sich in unserem Falle handelt, sind das ruhende Wasser und die be- wegte Luft. Ein stationäres Wogensystem kann aber nur dann entstehen und Bestand haben, wenn N. F. VIII. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 123 der Wind eine geraume Zeit hindurch in genau der gleichen Stärke und aus derselben Richtung weht, was aber fast nie der Fall ist. Jede plötz- liche Zunahme der Windgeschwindigkeit und jede Änderung der Windrichtung werden neue Wogen- systeme erzeugen, so daß vielfache Interferenzen entstehen müssen, die gelegentlich imstande sind, das ursprüngliche zu verwischen. Leider fehlt es noch sehr an guten photographischen Aufnahmen von Wellen; hier wäre für Amateurphotographen ein dankbares Feld gegeben zur praktischen Mitarbeit an den Aufgaben der Wissenschaft. Zumal kine- matographische Aufnahmen wären sehr erwünscht. Die Formen der Wellen sind so mannigfaltig, daß es unmöglich ist , auch nur die Haupttypen zu be- schreiben. Die Formveränderung der VVelle steigert sich bis zur völligen Lösung des Zusammenhanges der Wassermasse, wenn die Welle auf ein festes Hindernis stößt; sie zerstäubt alsdann in Gischt. Wenn der obere Teil der Wellenkämme auch auf hoher See Schaumkronen trägt, so rührt dies daher, daß die Wellen noch nicht die dem herr- schenden Winde entsprechende Geschwindigkeit erreicht haben. Ebenso muß ein Aufschäumen der Wellen eintreten , wenn der untere Teil in seiner Bewegung verlangsamt wird, wie es bei Untiefen oder in der Nähe der Küste der Fall ist. Auffällig erscheint uns zuerst die Tatsache, daß an einem flachen Ufer die Wellen fast stets von der See her ziemlich direkt auf die Küste zukommen, so daß die Wellenkämme in langen, zum Strande parallelen Linien auf diesen zueilen, gleichgültig, aus welcher Richtung der Wind weht; er darf nur nicht längere Zeit hindurch vom Lande her wehen. Während bereits in geringer Entfernung vom Strande draußen auf dem offenen Meere die Bewegungsrichtung der Wellen allein durch den Wind bestimmt wird, ist die am Strande beobachtete Abweichung von dieser Richtung lediglich bedingt durch die bei der Annäherung der Wellen an die Küste stetig zunehmende Verminderung der Geschwindigkeit der Wellen in dem immer seichter werdenden Wasser. Hier- auf beruht auch die reizvolle Erscheinung der Küstenbrandung. Eine Verzögerung der unteren Teile der Meereswellen kann aber auch auf hoher See eintreten, wenn nämlich unterseeische Sand- bänke oder Klippen bis nahe an die Oberfläche hinaufragen, und ,, Brandung voraus!" ist immer ein Schreckensruf für die Schiffsbesatzung. Außer durch ungleich schnelle Bewegung der einzelnen Teile der Welle entsteht ein Aufschäumen auch dann, wenn die Wellenhöhe übermäßig groß wird, wie dies bei mehrfachen Interferenzen der Fall sein kann. Am häufigsten kommen solche mehr- fachen Interferenzen da vor, wo auf verhältnis- mäßig kleinem Raum starke Winde aus verschie- denen Richtungen wehen. Dies ist der Fall im Zentrum eines Sturmfeldes. Eine Folgeerscheinung der Windwellen sind die Dünungen. Diese entstehen, wenn der zum Sturm angewachsene Wind schnell abflaut und schließlich ganz aufhört, während die nicht in dem gleichen Tempo sich beruhigenden Sturm- wellen über den Ozean weiterwandern. Viel größer aber als alle Windwellen sind solche Wellen, die ihre Ursache in plötzlichen Störungen des Gleichgewichts haben, wie sie ein- treten durch untermeerische vulkanische Aus- brüche und in noch gewaltigeren Dimensionen bei Seebeben. Von gewaltigem Umfang war die F'lutwelle, die am 27. August 1883 durch den furchtbaren Ausbruch des Krakatau hervorgerufen wurde. Auch an der deutschen Ostseeküsle treten mitunter eigentümliche, ihrer Entstehung nach noch nicht völlig aufgeklärte Stoßwellen auf, die Höhen bis zu 2 m erreichen können. Ebensowenig erklärt sind die am flachen Strande der West- küste Südfrankreichs gelegentlich beobachteten, plötzlich heranrollenden großen Einzelwellen. Viel bedeutsamer als die Wirkungen solcher gewaltigen Einzelwellen sind aber die Wirkungen der kleinen alltäglichen Windwellen, deren ge- ringe Einzelleistung mehr als wettgemacht wird durch die fast unausgesetzte rhythmische Wieder- holung desselben Vorgangs. Unter ihrer Wirkung vollzieht sich die gesteigerte Tätigkeit der riff- bauenden Korallen in der Brandungszone. Eine zweite Wirkung der Meereswellen ist der Wasser- transport, zu dem die oft so verheerenden Sturm- fluten gehören ebenso wie die mächtigen Meeres- strömungen, darunter der für Europa so segens- reiche Golfstrom. Eine dritte Wirkung schließlich ist der gewaltige, nimmer rastende Kampf zwi- schen dem festen und dem flüssigen Element, zwischen Festland und Meer, wie er sich abspielt in der Brandungszone der Steilküsten. Lernen wir so die Wellen des Meeres als die gewaltigste Macht kennen, die auf der Erde wirk- sam ist, als eine Macht, die zerstörend und ver- nichtend wirkt, so muß es als eine besonders lockende Aufgabe erscheinen, diese gewaltigen Kräfte der Menschheit nutzbar zu machen. Leise Anfänge sind gemacht worden, wie z. B. in den Glockenbojen oder den Wellenmotoren, aber diese Versuche stecken noch in den Kinderschuhen. Vielleicht daß es unserer rastlos vorwärts streben- den Technik einmal gelingt, die Schwierigkeiten, die sich der Verwirklichung dieses Gedankens in den Weg stellen, wegzuräumen. Im Anschluß an den Vortrag fand am Sonn- tag, den 18. Oktober, vormittags 10 Uhr, eine Besichtigung des Kgl. Instituts für Meereskunde statt, wobei außer Herrn Kustos Baschin noch Herr Kustos Dr. Dinse die nötigen Erläuterungen gab. I. A. : Prof. Dr. W. Greif, I. Schriftfdhrer. Berlin SO 16, Köpenickerstrafle 142. Aus dem wissenschaftlichen Leben. Wir erfahreu, daß die Vorbereitungen zu einer Expedi- tion zum Zwecke der Ausbeutung der reichen D i n osauri e r fu ndstätt e am Berge Tendaguru im Hinter- 124 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 8 lande von Lindi in D culsch - 1' s t iifr ik a vom paläontolo- gischcD Museum zu Berlin getroffen werden, dem ein Teil der erforderlichen Mittel von der Preuß. Akademie der Wissen- scliaften und der Gesellschaft naturforschender Freunde zur \'erfügung gestellt werden wird, i'^s wäre sehr zu wünschen, daß das Unternehmen nach dem Vorbilde der amerikanischen Förderer vorwcltücher Sammlungen auch bei hiesigen Freun- den dcrNaturwissenschafien die tatkriiftige Unterstützung findet, die die .Ausführung des aussichlsvollen l'lancs ermöglichen würde. Am 22. September igoS wurde auf Jder^ Naturforscher- Versammlung in Köln eine Deutsche Mineralogische Gesellschaft gegründet. Sie hat den Zweck, die Minera- logie und Petrogra])hie in Lehre und Forschung zu fördern, sowie die persönlichen Beziehungi-n der Mitglieder zu pflegen. .\ls I. Vorsitzender wurde Prof. Bauer- Marburg, als dessen Stellvertreter Berwerth - Wien und Brauns -Bonn, als Schatzmeister Kommerzieurat Seligmann - Koblenz und als Schrillführer Prof. Linck-Jena, gewühlt. Die Jahresversammlung für IQog wird in Salzburg abge- halten werden und mit der geschäftlichen Sitzung am i8. Seji- tember beginnen. Mitglied kann jeder werden, der sich für die genannten Wissenschaften interessiert; er hat sich zu diesem Zwecke bei einem der Vorstandsmitglieder anzumelden; der Jahresbeitrag beträgt 5 Mk. Es ist auch beabsichtigt , in größeren *.)rten • irtsgruppen zu bilden. (x) Wetter-Monatsübersicht. Nachdem das neue Jahr überall mit strengem F'roste be- gonnen hatte, trat schon an seinem zweiten Morgen an der Nordseeküste sowie im Gebiete des Niederrheins trübes, neb- liges Tauwetter ein und breitete sich mit mäßigen südwest- lichen Winden bis zum 4. über fast ganz Norddcutschland iem^erafur-SiGinima cinmcr Orts im 3^anuarl909. WctltF!>l.rt.U. aus. Dann blieb es daselbst während des größeren Teiles des Januar beinahe ohne Unterbrechung milde. .\m 5. oder 6., ebenso um die Mitte des Monats gingen an vielen Orten, wie aus der beistehenden Zeichnung ersichtlich ist, die Tem- peraturen^nicht unter 2 oder 3 (_irad herab. In Süddeutsch- iand iingen sie erst seit dem 1 2. Januar zu steigen an, er- reichten hier aber am 15. in Stuttgart und Karlsruhe 12" C. An der Oder und weiter östlich klärte sich gleich nach Milte des Monats das Wetter auf unil erfolgte wieder eine rasche Abkühlung. In den übrigen Landesteilen wechselten noch mehrmals milde Tage und kalte Nächte ziemlich regel- mäßig miteinander ab, am 21. Januar setzten jedoch überall schärfere östliche Winde ein und einen Tag später herrschte in ganz Deutschland F'rost, der in den meisten Gegenden bis gegen Ende des Monats an Strenge langsam zunahm. Marg- grabowa braclite es an mehreren Tagen auf 20° C Kälte. Während wenigstens dort wie in der ganzen Provinz Ost- preußen eine .Schneedecke von ungefähr 1 Dezimeter Höhe lag, war der Boden im größten Teile des Reiches von Schnee entblößt. .Auch in den westlichen Flüssen bildete sich von neuem Grundeis , so daß z. B. die Weserschift'ahrt am 22. abermals eingestellt werden mußte. Kurz vor Schluß des Januar wurde es wiederum viel ge- linder. Seine mittleren Temperaturen lagen daher in Nord- deutschland nur ungefähr einen halben, im Süden aber fast 1 Vi Grad unter ihren normalen Werten , wogegen die Zahl der Sonnenscheinstunden iti den meisten Gegenden etwas größer als gewöhnlich war. Wie schon seit Beginn des Herbstes, herrschte auch im ersten Monate des neuen Jahres in ganz Deutschland ein empfindlicher Mangel an Niederschlägen. Während seiner ersten 7 Tage fanden zwar ziemlich zalilreiche, aber fast Hicdfen^c^ra^l^ö^sn im Sanuar 1909 taicoc^sitn^s: -cSxiccaco SicitihcaS mm 20 1. bisT Januar. 'Ulli 1 J J 1 1 " _■ . _ 8. bis17. Januar, H 1 ■ r i 11 ihl bliiiii h IHM 20 IB.bis 31. Januar. 1 1 [lLIhViW.^ ■■ MilllererWei^Fur Peulschland. Monalssummfl im Jan. M. 07. OB. 05. 01. ^ Berliner Wctteftureau. immer nur geringe Kegen- und Schneefälle statt, die sich am häufigsten in Schlesien wiederholten. Erst am S. nahmen die Niederschläge, im Westen im allgemeinen Kegen, im Osten überwiegend Schneefälle, an Stärke bedeutend zu und es folgte eine längere Zeit mit sehr veränderlicher, windiger, an der Küste vielfach stürmischer Witterung, in der in Nordwest- und Mitteldeutschland auch wiederliolentlich Gewitter mit Hagel-, Graupel- und Schneeschaueru herniedergingen. Am l8. Januar trat im größten Teile Deutschlands trocke- nes Wetter ein und hielt an vielen Orten bis zu den letzten Tagen des Monats fast ununterbrochen an. In der Nacht zum 30. fanden zunächst an der Nordseeküste starke Schneefälle statt, die sich innerhalb 24 Stunden bis an die Grenzen Deutschlands nach Osten und Süden fortpflanzten und endlich über den Boden eine zusammenhängende Schneedecke breiteten. Die gesamte Niederschlagshöhe des Monats betrug durch- schnittlich 30,2 mm, während die gleichen Stationen im Mittel der früheren Januarmonate seit Beginn des vorigen Jahrzehnts 44,9 mm Niederschlag geliefert haben. Die allgemeine Anordnung des Luftdruckes in Europa wies von einem Tage zum anderen bedeutende Schwankungen auf, wobei sich aber die früheren Verhältnisse olt rasch wiederherstellten. Am Anfang wurden die mittleren Breiten h'uropas von einem lan;7gestreckten Hochdruckgebiete bedeckt, während im Norden liefe, im Süden flache Depressionen lagen, .\lier schon am 4. drang ein Minimum vom nördlichen N. F. VIII. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 125 Eismeer in Rußland ein und teilte das Hochdruckgebiet in zwei Hiilften, deren eine durch nachfolgende Depressionen mehr und mehr nach Westen geschoben wurde. Zwar rüclde am 9. Januar das Maximum vom biskayischen Meere wieder gegen Mitteleuropa vor, wurde aber durch immer neue, sehr tiefe Minima, die ra5cli hintereinander bei Island auftraten und ostwärts weilcreillen, bald nach Südwesten zurückgedrängt. Am 17. Januar drang das barometrische Maximum eilends von Sudwesteuropa nordostwäits vor und vereinigte sich am folgenden Tage mit einem zweiten, das ihm von Ostrußland her entgegenkam. Dann verweilte das Hochdruckgebiet dauernd in Westrußland, wo am 21. noch ein anderes Baro- metermaximum aus Westen zu ihm stieß, und sandte nach ganz Mitteleuropa trockene, kalte Ostwinde hin, die erst zwi- schen dem 29. und 30. Januar, beim Herannahen einer liefen atlantischen Depression, durch feuchte südwestliche Winde verdrängt wurden. Dr. E. Leß. Bücherbesprechungen. 1 ) Dr. Konrad Günther, Privatdozent an der Uni- versität Freiburg i. B., Vom Urtier zum Men- schen. Ein Bilderatlas zur Abstammung und Entwicklungsgeschichte des Men- schen. 2 Bände. Stuttgart , Deutsche Verlags- anstalt, 190g. — Preis geb. 26 Mk. 2) Dr. Ludwig Reinhardt, Vom Nebelfleck zum Menschen. Eine gemeinverständ- liche Entwicklungsgeschichte des Natur- ganzen nach den neuesten Forschungs- ergebnissen. Die Geschichte der Erde. Mit 194 Abbildungen, 17 Vollbildern und 3 geo- logischen Profiltafeln nebst einem farbigen Titel- bilde. Ernst Reinhardt Verlag in München, 1907. — Preis 8,50 Mk. 3) Dr. Ludwig Reinhardt, \ o m Nebelfleck zum Menschen. Das Leben der Erde. Mit 380 .Abbildungen im Te.xt, 21 Vollbildern und einem farbigen Titelbild. Verlag wie oben. 1908. — Preis 8,50 Mk. 4) Dr. Altert Gockel, Universitätsprofessor in Frei- burg (Schweiz), Schöpfungsgeschichtliche Theorien. Köln, J. F. Bachern, 1908. — Preis 2 Mk. i) Das Günther'sche Werk ist bei der außer- ordentlich üppigen Ausstattung in Folio erstaunlich billig. Es ist so reich illustriert, daß es in der Tat sehr geeignet ist, jeden, der sich für die „Natürliche Schöpfungsgeschichte" interessiert, leicht eingehender zu orientieren. Verfasser hat sich betuüht sachlich und ruhig zu sein , und er ist auch allgemein-ver- ständlich ; sein Text ist gut lesbar. Er geht soweit auf den Bau des Menschen ein, daß das Werk auch für denjenigen von Wert ist, der sich über seinen Körperbau und die Funktionen der Organe unter- richten möchte: nur daß eben alles von dem einen, nämlich dem deszendenztheoretischen Standpunkte aus betrachtet wird, der ja auch bei dem derzeitigen Stand der Wissenschaft der gegebene ist. Will man die Tatsachen in Beziehung zueinander setzen, d. h. nichts anderes, als sie wissenschaftlich betrachten, so ist eben auch die Deszendenztheorie weitgehend zu berücksichtigen. Nicht nur der Text , sondern auch die .Abbildungen sind zuverlässig und klar. Verfasser disponiert sein Material in die wie folgt überschrie- benen Kapitel: i. Wesen und Bedeutung der .Abstammungslehre — Quellen für die .Ahnen- reihe des Menschen — Einführung in die wissen- schaftliche Arbeitsweise. — 2. Die Zelle und ihre Entstehung — Lebenserscheinungen in der einfachsten Form — Entstehung des Lebens auf der Erde. — 3. Vom Einzelligen zum Vielzelli- gen — Grundlagen für die Lebensfunktionen der höheren Tiere — Entwicklung der Fortpflanzung. Herausbildung und Trennung der Geschlechter. — 4. Der Be fr uchtungs Vorgang — Fortpflanzung, Befruchtung, Vererbung. — 5. Die Hohltiere und die Entstehung der Organe — Nerven, Muskeln, Knochen in ihren ersten Anfängen. — 6. Die Würmer und die Ausbildung der Körpergliederung, der Leibeshöhle und der Blutgefäße. — 7. DieEinheit der Ent- wicklung bei den Wirbeltieren und dem Menschen. — 8. Die Ahnen formen des ;\Ien sehen unter den kiemenatmenden Wirbeltieren und die weitere Ausbildung desDarmsystems und der Haut. — 9. Wer- den und Vergehen tinter den Amphibien und Reptilien. — 10. Die Herausbildung der Säugetiermerkmale des Menschen. — 11. Affe und Mensch. Das Problem der Menschwerdung und der Urmensch. — 12. Die Ausbildung der wichtigsten Organ- systeme bei den Wirbeltieren. — 13. Rück- schläge aufTierahnen. Körper und Geist. 2/3) Das Reinhardt'sche Werk erinnert äußer- lich und auch sonst an das bekannte Werk von Carus Sterne „Werden und Vergehen", jedoch ist die illustrative Ausstattung bei Reinhardt sehr viel üppiger, und naturgemäß nimmt es auch auf neuere Dinge Rücksicht, die die vor mehreren Jahren er- schienene letzte Auflage von Carus Sterne noch nicht bringen konnte. Bei der Beurteilung solcher um- fassenden Werke muß der Ref. stets sehr nachsichtig sein. Es ist ja für den einzelnen heutzutage gar nicht mehr möglich, den gesamten Wissensstoff', der in einer Darstellung der Entwicklung des Weltalls und der Lebewesen in Betracht kommt, irgendwie zu beherrschen oder zu verfolgen. Wir werden doch in Zukunft für solche Unternehmungen eine Anzahl von Fachleuten verlangen müssen, die sich zu gemein- samer Arbeit zusammentun. Die Schwierigkeit fest- gehalten, die die Abfassung eines solchen umfassen- den Werkes mit sich bringt, ist aber die Reinhardt- sehe Arbeit als eine fleißige und den Umständen nach brauchbare anzuerkennen. In dem oben unter 2) aufgeführten Bande haben wir eine populäre all- gemeine Geologie zu sehen , wobei Verf. aber auch auf die Sternenwelt, insbesondere und natürlich unser Sonnensystem und dann wieder enger auf die Erde und den Mond eingeht, sowie auf diejenigen astro- nomischen Erscheinungen , die die Erde besonders angehen, wie die Kometen und Meteore. — Zur Be- gründung unserer Bemerkung, wie schwierig es sei, die in Betracht kommenden Spezialfächer angemessen zu übersehen, sei nur erwähnt, daß Verf auf S. 572 126 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 8 eine Gel an de form mit einem Gestein ver- wechselt. Er stellt nämlich dort die „Heidemoor- bildungen" dem „Torf gegenüber, er sagt u. a. : „Es sind beide Gebilde sehr nahe miteinander ver- wandt. Heidemoor entsteht auf trockenem Lande, Torf dagegen unter Wasser oder auf feuchtem Boden." Die hier hervorgehoben gedruckten Worte hat Verf selbst gesperrt drucken lassen. Auch sonst zeugt das , was er über Moore und ihre Bildung sagt, davon (es sei hier wieder ein- mal betont, daß Moore Gelände mit Torfboden sind ; Moore sind Geländeformen, Torfe hingegen Gesteine, die zu den Kaustobiolithen gehören) , daß er hier nicht eingedrungen ist. Aber es muß billig hinzu- gefügt werden, daß auch sonst die Geologien gerade in diesem Punkte beträchtliche Mängel erkennen lassen. — Der unter 3) erwähnte Band beschäftigt sich mit den Lebewesen in ihren Erscheinungen, ihrer Entwicklung, Ausbildung, ihrer Herkunft und Abstammung. 4") Das oben unter Nr. 4 genannte Heft möchte „den zahlreichen populären Darstellungen der Schöpfungsgeschichte gegenüber, die fast alle mit einer erstaunlichen Sicherheit noch unbewiesene Dinge als Resultate moderner Naturwissenschaft hinstellen" zeigen, „wie viel, oder besser gesagt, wie wenig wir über die Entstehung unseres Erdballes oder gar des W'eltgebäudes Sicheres wissen, und darlegen, daß alle schöpfungsgeschichtlichen Theorien, angefangen von der Kant'schen bis zu den neuesten Meteoriten- theorien nichts anderes sind, als mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothesen". Arnold Lang, 0. Prof. der Zoologie und vergleichen- den Anatomie an der Universität und am eidge- nössischen Polytechnikum in Zürich, Über die Bastarde von Helix hortensis Müller und Helix nemoralis L. , mit Beiträgen von Prof Dr. H. Boßhard in Zürich, Paul Hesse in Venedig und Elisabeth Kleiner in Zürich. 118 S. gr. 4" mit 4 lithographischen Tafeln, Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1908. — Preis 15 Mk. Es liegt uns hier eine Arbeit vor, die in zweierlei Hinsicht gleich wichtig ist. Sie liefert uns ein sicheres, schwer zu beschaffendes Beobachtungsmaterial, das einerseits in bezug auf die Vererbungsfrage und an- dererseits in bezug auf die Artfrage von größtem Werte ist. Wer sich mit allgemeinen biologischen Fragen und mit Deszendenztheorie beschäftigt, der wird künftig die Lang'sche Arbeit nicht unberück- sichtigt lassen dürfen. Ich möchte hier besonders auf die Bedeutung der Arbeit in deszendenztheoreti- scher Beziehung etwas näher eingehen, da diese Seite der Arbeit für die Leser der Natur w. Wochenschrift von ganz besonderem Interesse sein dürfte. — Der Verfasser hat für seine Untersuchung zwei Formen gewählt, die einander so nahe stehen, daß man sogar an der Artberechtigung derselben gezweifelt hat. Die unterscheidenden Charaktere, mit denen sich der Verfasser zunächst eingehend beschäftigt, sind in der Tat zum größten Teil sehr stark transgressiv. Zu diesen transgressiven Charakteren gehören die Größe und die Wölbung des Gehäuses, die Form der Mün- dung, die Zahl der Kieferleisten und die Form der inneren Geschlechtsorgane. Nur die Statistik ergibt an der Hand dieser Merkmale sichere Unterschiede. Zu den wenig oder nicht transgressiven und des- halb zur sicheren Erkennung verwendbaren Artmerk- malen gehören die Färbung des Mundsaums und die Form des sog. Liebespfeils. — Die Untersuchung ergab zunächst, daß trotz der nahen Verwandtschaft beider Arten und trotz der großen Fruchtbarkeit, mit welcher beide in reiner Zucht sich fortpflanzen, in 61 Kreuzungsversuchen , die einzeln ausführlich mitgeteilt worden sind, 30 gänzlich resultatlos blieben. Nur bei 13 Versuchen wurden im ganzen 35 Ba- starde bis zur Reife gebracht. — Durch Kreuzung der Bastarde untereinander wurde bisher eine Nach- kommenschaft nicht zur Reife gebracht. Da aber die Fruchtbarkeit bei den ersten Kreuzungen sehr verschieden groß ist, hält der Verfasser es nicht für ausgeschlossen , daß bei einer glücklichen Wahl der beiden Eltern die Fruchtbarkeit sich auf weitere Generationen erstrecken wird. — Die bisherigen Ver- suche lassen mit aller Klarheit erkennen, daß zwi- schen den beiden Arten, trotz ihrer nahen Verwandt- schaft , eine trennende physiologische Barriere vor- handen ist, mit anderen Worten, daß es sich um gute Arten handelt. Es ist dieses Resultat sehr wichtig, da es immer noch Forscher gibt (namentlich Protozoen-, Schwamm-, Korallenforscher usw.), die an der Tatsächlichkeit solcher Barrieren zweifeln, weil sie selbst auf ihrem engeren Untersuchungsgebiet keine scharfen Grenzen zwischen den Arten fanden. — Obgleich die beiden zur Untersuchung gewählten Schneckenarten oft miteinander vorkommen , dürften nach des Verfassers Untersuchungsresultaten Bastarde in der Natur äußerst selten sein. Er konnte nämlich nachweisen, ,,]), daß das von einer Copula herrührende Sperma im Receptaculum seminis unserer Hain- und Gartenschnecken jahrelang lebenskräftig bleiben kann und 2) daß, wenn eine von früher her schon mit Sperma der eigenen Art ausgestattete Schnecke mit einem Individuum der anderen Art kopuliert , aus- schließlich das ältere Sperma der eigenen ."^rt die Eier befruchtet und nicht das jüngere Sperma der fremden Art". — Nur wenn ein einzelnes Stück der einen Art durch Verschleppung in eine Kolonie der anderen Art hineingerät, ist also die Möglichkeit einer Bastardierung in der freien Natur gegeben. — Stücke, die man bisher für Bastarde gehalten hat, können nach des Verfassers Untersuchungsresultaten fast durchweg nicht als solche in Betracht kommen, da sie hinsichtlich der Charaktere nicht den künstlich erzeugten Bastarden entsprechen. Die Charaktere der echten Bastarde neigen nämlich in ganz bestimmter Weise entweder denen von Helix hortensis oder denen von H. nemoralis zu. Nur einzelne sind genau oder ziemlich genau intermediär. Eine starke An- näherung an Helix hortensis zeigen die Bastarde in bezug auf die Breite und Form der Mündung und die Form der Glandulae mucosae, eine starke An- näherung an H. nemoralis in bezug auf den Wölbungs- N. F. Vlll. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 127 index des Gehäuses, die Farbe der Mündung und die allgemeine Form des Pfeiles. Ziemlich genau in der Mitte zwischen beiden stehen sie in bezug auf die Gesamtgröße des Gehäuses, die Länge des Pfeiles und das Profil der vier longitudinalen Kreiizleisten des Pfeils. — Für die Vererbung geben auch die Farbe und die Bänderung des Gehäuses vorzügliche Anhaltspunkte; doch würde es zu weit führen, hier auf alle diese Punkte einzugehen. — Ich hoffe jeden- falls mit diesen kurzen Angaben die hohe Bedeutung der Arbeit hinreichend hervorgehoben zu haben. Dahl. Anton Handlirsch, k. u. k. Kustos am K. K. Natur- historischen Hüfmuseum in Wien, Die fossilen Insekten uwd diePhylogenie der rezen- ten Formen. Ein Handbuch für Paläontologen und Zodlogen. Mit 51 Tafeln, sowie 14 Figuren und 7 Stammbäumen. Leipzig, Wilhelm Engel- mann, 1006 — IQoS. Wir haben die ersten 8 Lieferungen dieses um- fangreichen Werkes bereits früher lobend besprochen. Heute liegt die 9. Lieferung vor (Preis 8 Mk.), die das Werk abschließt, das nunmehr einschließlich des umfangreichen Registers nicht weniger als 1430 Seiten in Groß-Lexikonformat umfaßt. Das Werk geht nach einer Beschreibung der rezenten Insektengruppen in zeitlicher Folge der geologischen Formationen , also von den paläozoischen Insekten durch die meso- zoischen und tertiären zu den quartären über, um sodann eine Zusammenfassung der paläontologischen Resultate zu bieten. Ein weiterer Abschnitt gibt eine chronologische Übersicht der wichtigsten Systeme und Stammbäume der rezenten Insekten, woran sich phylogenetische Schlußfolgerungen und die Begrün- dung eines neuen Systems schließen. Am Schluß macht der Verfasser auf einige für die Deszendenz- theorie wichtige Ergebnisse seiner Arbeit aufmerksam. Auch die fossilen Insekten zeigen eine schrittweise Entwicklung der heute lebenden Formen aus weniger spezialisierten Vorfahren. Besonders betont der Ver- fasser, daß die Abänderung äußerer Einflüsse eine Abänderung der Organismen bewirke. Maximilian Weber, Einführung in die Kri- stal 1 o p t i k. München 1 908, Verlag der J. Lindauer- schen Buchhandlung. 1 7 Seiten mit vielen Text- figuren. — Preis 80 Pf Weber's Einführung gibt in kurzer, gedrängter Form den Inhalt des Kollegs wieder. Für den , der sich erst in die Materie einarbeiten will, oder der der Vorlesung nicht hat genügend folgen können, und bestrebt ist, sich eingehender zu unterrichten, für den ist das Buch wegen seiner Kürze nicht faß- lich genug. Jeder, der weiß, wie schwer dem An- fänger z. B. allein die Vorstellung des Hauptschnittes und der dazu Senkrechten beim Kalkspat wird, wie- viel verzweifelte Mühe es macht, die Voreilung der einen W^elle und das Zustandekommen der Inter- ferenzfarben im anisotropen Blättchen zu verstehen, wird empfinden, daß in dem vorliegenden Buch die Darstellung zu knapp ist, um dies schwierige Gebiet dem Verständnis zu erschließen. Dem Studierenden aber, der die Sache im wesentlichen verstanden hat, und der sie kurz repetieren will, wird diese Vor- führung der wichtigsten Momente in einigen Leit- sätzen sehr nützlich sein. O. Schneider. Die Weltumseglungsfahrten des Kapitäns James Cook, ein Auszug aus seinen Tagebüchern. Be- arbeitet und übersetzt von Dr. Edw. Hennig. 554 Seiten, 8 Bilder und i Karte. Gutenberg- Verlag, Hamburg 1908. — Preis geh. 6 Mk., geb. 7 Mk. Der Band leitet eine Sammlung geographischer Reisewerke ein, die von Dr. Ernst Schnitze unter dem Titel „Bibliothek denkwürdiger Reisen" herausgegeben wird und ein Schwesterunternehmen zu der schon seit 1906 im Erscheinen begriftenen, geschichtlichen „Bibliothek wertvoller Memoiren" darstellt. Dem eigenhändigen Bericht eines Teilnehmers oder Augen- zeugen über Land, Leute, Zeitverhältnisse und Be- gebenheiten wohnt ja bekanntlich eine ganz andere Ursprünglichkeit und Lebendigkeit inne als der bloßen Beschreibung durch den Unbeteiligten. Und wer da weiß, welch eine Fülle trefflichen Beobachtungsmaterials in guten Reiseerinnerungen liegt, muß dem Heraus- geber Dank dafür wissen , daß er solche Schätze wieder ans Licht zieht. Im vorliegenden Bande führt uns Kant's Liebling, der große Entdecker der Südsee James Cook auf seine drei in den Jahren 1768^1779/80 ausgeführten Weltumseglungen, auf deren letzter er bekanntlich den Eingeborenen der Insel Hawaii zum Opfer fiel. In voller LTnmittelbarkeit spielen sich seine in der Ge- schichte der Entdeckungen einen ersten Platz bean- spruchenden Erfolge vor unseren Augen ab. Sein rastloser Siegeszug eroberte in wenig mehr denn einem Jahrzehnt die Südhemisphäre für das Wissen, legte den gesamten Stillen Ozean in den Hauptzügen klar, drang kühn gegen den Südpol wie den Nordpol vor und greift so selbst in die uns noch heut be- schäftigenden Probleme hinein. In dieser großartigen Umrahmung sehen wir nun mit anspruchsloser Be- scheidenheit aufgezeichnet, aber unter dem frischesten Eindruck des Geschehenen niedergeschrieben und mit dem warmen Herzen des stolzen, edlen Leiters empfunden, die Schicksale der mutig und begeistert durchgeführten drei Expeditionen. Darüber hinaus sind es aber wissenschaftliche Dokumente von sehr bedeutendem Werte, die Cook's seltene Beobachtungsgabe und Gewissenhaftigkeit uns hier hinterlassen hat. Den Urzuständen eines Landes und aller seiner Bewohner wird durch die erste Be- rührung mit der Kultur notwendig eine Jungfräulich- keit und Reinheit genommen, die niemand nach dem Entdecker mehr vorfindet. Die Forschung kann da- her eine zuverlässige Wiedergabe seitens der ersten Besucher kaum entbehren und Cook's .Augen waren überall und sahen kritisch ! Die englischen Originalausgaben der Tagebücher I2S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. I'". VIII. Nr. 8 umfassen nicht weniger als 6 Foliobände mit insge- samt fast 2 000 Seiten und sind schon dieses Um- fanges wegen dem deutschen Publikum schwer zu- gänglich. In der hier gegebenen Bearbeitung ist nun unter Ausschaltung vor allem der zahlreichen nauti- schen Angaben das Wesentliche als einheitlich fort- laufende Darstellung in getreuer Übersetzung zusammen- gefaßt worden ; was durch die Kürzung sonst an Einzelheiten geopfert werden mußte, ist dem raschen Fortgang der Ereignisse zugute gekommen. Der Verlag ist durch die geschmackvolle Aus- stattung des Werkes (der Buchschmuck stammt von Ernst Liebermann's Künstlerhand !) dem Bedürfnis des heutigen Publikums gerecht geworden, das zu einem guten Gemälde einen würdigen Rahmen liebt. E. H. Literatur. Escbericb, Prof. Dr. K.: Die Termiten od. weißen Ameisen. Kinc biolog. Studie. (XII, 19S S. ni. Abbildgn. u. i färb. Taf.) gr. 8". Leipzig '09, Dr. \V, Klinkhardt. — 6 Mk., geb. 7 Mk. Kanngießer, Dr. Frdr. : Die Etymologie der Plianerogamen- nomenklatur. Eine Erklärg. d. wissensciiaftl., d. deutschen, französ., engl. u. holländ. Pflanzenramen. (XII, 191 S.) gr. 8". Gera 'oS, F. v. Zezschwitz. — 3,85 Mk. , geb. in Leinw. 5 Mk. Kowalewski, Prof. Dr. Gerli. : Grundzüge der DilTerential- u. Integralrechnung. (VI, 452 S. m. 31 Fig.) 8". I^eipzig '09, B. G. Teubner. — Geb. in Leinw. 12 Mk. Marlotb, Dr. Rud.: Das Kapland, insonderheit das Reich der Kaptlora, das Waldgebiet und die Karroo, pflanzengeogra- phisch dargestellt. Mit Einfügung hinterlassener Schriften A. F. \V. Schimper's. Mit 8 Karten, 28 Taf. und 192 Ab- bildgn. im Text. (436 S. m, 20 Bl. Erklärgn.) Jena '08, i'r. Fischer. — Subskr.-Pr. 81,50 Mk., Einzelpr. 100 Mk. Ostwald, Wa.: Schule der Elektrizität. Gemeinverständliche Darstellg. der Elektrik u. ihrer Anwendgn. nacli den mo- dernen Anschaugn. u. Plaudereien üb. die neuen Strahlgn. Nach G. Claude, l'Electricite pour tout le mondc f. Deutsch- land bearb. Mit üb. 400 Abbildgn. u. Taf. (X[, 579 S.) Le.\. 8". Leipzig '09, Dr, \V. Klinkhardt. — 8 Mk"., geb. 10 Mk. Poincare, H. : Die Ma.\well'sche Theorie u. die Hertz'schen Schwingungen. Die Telegraphie ohne Draht. .\us dem Franz, v. Max Ikle. (199 S. m. Fig.) S". Leipzig '09, J. A. Barth. ~ Geb. 3,20 Mk. Schwendener's Vorlesungen üb. mechanische Probleme der Botanik, geh. an der Universität Berlin. Bearb. u. hrsg. V Prof. Dr. Carl Holtcrmann, (VI, 134 S. m. 90 Fig. u. Bildnis.) Lex. S". Leipzig '09, \V. Engelmann. — 3,60 Mk. Serret, J. A.: Lehrbuch der Dilferential- u. Integralrechnung. Nach Axel Harnack's Übersetzg. 4. u. 5. .\ufl., bearb. v. Geo. Scheffers. I. Bd. Differentialrechnung. (.XVI, 626 S. ni. 70 Fig.) gr. 8". Leipzig '08, B. Cr. Teubner. — Geb. in Leinw. 13 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn H. in B. — Agnostizismus bedeutet Nicht- Wissen- Können. — Bedingungen sind die ruhenden, änderungs- losen, die Wirkung nur ermöglichenden, sie nicht selbst her- beiführenden umstände. — l^rklären heißt etwas Unbe- kanntes auf Bekanntes zurückführen, sich dieses zunächst Un- bekannte dadurch vertraut, bekannt machen. — Gesetze fassen das zusammen, was stets geschieht. — Psycho- physischer Parallelismus. Dieser Ausdruck will be- sagen, daß jeder, aber auch jeder geistigen Regung ein physischer Vorgang im Gehirn entspreche. — Regeln fassen das zusammen, was meist geschieht. — Ursachen sind die sich ändernden, die wirkenden, die tätigen Umstände. — Vitalreihe I. Ordnung nennt R. .\vcnarius einen Lebensvorgang, der völlig im Sinne vorangegangener häufiger Übung abläuft, und er spricht von einer Vitalreihe höhe- rer Ordnung, wenn deren Verlauf von der bisherigen Übung abweicht. P. Herrn S. in N. — Eine bakteriologische Zeitschrift außer dem Zentralblatt für Bakteriologie existiert in Deutschland nicht; Referate über wichtigere bakteriologische Fragen bringt die Chemiker- Zeitung sowie die pharmazeutischen Zeitschriften. — Arbeiten über Bacillus bulgaricus und Yoghurt sind u. a. im 20. und 2t. Band des Zentralbl. f. Bakteriol., IL Abtlg., erschienen; andere sind mir nicht liekannt geworden, doch weiß ich durch die Zeitung, daß sich das Pharmaz. Institut der Berliner Universität (Direktor Prof. Dr. Thoms) ein- gehend mit der Frage beschäftigt hat. Hugo Fischer. Herrn J. S. in Aachen. — Diapositive für Projektions- apparate können Sie u. a. beziehen bei E. Liesegang, Düssel- dorf-Bilk, bei Unger & Hoffmann, Dresden-A. 16, sowie bei Dr. Stödtncr, Berlin NW 7, L'niversitätsstraße 3 b. Die Preise betragen für schwarze Bilder 0,85 bis 1,25 Mk., für kolorierte Bilder 2 bis 3 Mk. — Nach dem Lumiere'schen Verfahren hergestellte Projektionsbilder in natürlichen Farben gibt es gleichfalls, doch wissen wir nicht, ob solche von den ge- nannten Eirmen sclion geführt werden. Herrn P. Seh in Wien. — Die eingesandte Flechte (Südamerika, Smith-Kanal, an Bäumen, die auf sehr feuchtem Boden stehen) ist nach freundlicher Bestimmung von Herrn Prof. Dr. G. Lindau eine Sticta-.\rt aus der Gruppe Stictina, und zwar Sticta endochrysa Del., offenbar benannt nach dem goldgelben Inneren des Thallus. H. Harms. Herrn Prof. Seh. i)i Kr. — Bezüglich Rotfärbung des Holzes durch Pilze ist außer P. Hennings (in Naturw. Wochenschr. 1903, S. 62) noch folgende Literalurstelle von Interesse, die gerade auch von Acer negundo handelt. Sorauer (Pflanzcnkr. 2. Auli. II. (1886) 269) schreibt: „Von der Rotfäule ist die Blut faule zu unterscheiden, welche das Holz in größeren Streifen oder Flächen karminrot oder blutrot erscheinen läßt. Eidam beobachtete die Färbung an Ahorn und Buchenholz; das von Acer negundo stammende Stück war massenhaft von farblosem Mycel durch- zogen und zeigte Fruchtkörper von einem Polyporus." Nach Sorauer dürfte der Färbungsprozeß auf eine durch das farblose Mycel vcianlaßte chemisclie Zersetzung der Holz- faser zurückzuführen sein ; in anderen Fällen ist es wahr- scheinlich der Pilz selbst, der die Färbung veranlaßt. — Ge- nauere Untersuchung ist nur an Ort und Stelle möglich. Übrigens könnten wohl auch Bakterien die Rötung des Holzes veranlaßt haben. H. Harms. Inhalt: Dr. W. Detmer: Charles Darwin als Botaniker. — Kleinere Mitteilungen: Hans Otto: Die Beschuppung der Reptilien. — Kolk witz u.Marsson: Ökologie der pflanzlichen Saprobien. — Dr. Rohland: Über das Verhalten von suspendierten Stoffen im Kristalloid- und KoUoid/.ustand. — Vereinswesen. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: Sammel-Referat. — Arnold Lang: Über die Bastarde von Helix horlensis Müller und Helix nemoralis L. - .\ n t o n Ilandlirsch: Die fossilen Insekten und die Phylogenie der rezenten Formen. — Maximilian Weber; Eintulnung in die Kristalloptik. — Die Weltumseglungsfahrten des Kapitäns James Cook. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortliclier Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofl-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge VIII. BanJ; der gan7en Keihe XXIV. Band. Sonntag, den 28. Februar igog. Nummer i). Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Philosophie. (Konformismus; Pragmatismus. iVIythenbildung und Erkenntnis.) Freiherr v. d. Pfordten behandelt in seinen „Vorfragen der Naturphilosophie" (verlegt von Carl Winters Universitätsbuchhand- lung in Heidelberg 1907) eine Reihe wichtiger Probleme. Die Erörterungen sind von hohem Interesse und werden F"reunde erkenntnistheore- tischer Fragen zum Nachdenken veranlassen. Eine bedenkliche Erscheinung ist nach der Ansicht des Verfassers ein Phänomenalismus, dem das Wesen der Dinge unerkennbar ist, dem alle Naturgesetze nur psychische Gesetze, näm- lich Gesetze von Vorstellungsverläufen sind, dem sich die Ergebnisse der Wissenschaft in ein System der ,, Beziehungen zwischen Einbildungen" zu verflüchtigen drohen, ein Phänomenalismus, der in Skeptizismus, Relativismus und Psycholo- gismus ausartet. Demgegenüber müsse man feststellen, welchen Erkenntniswert die einzelnen naturwissen- schaftlichen Theorien besitzen und wie der sich ergebende Erkenntnisstand am besten zu formu- lieren ist. Besonders handele es sich um die Frage, ob es eine erkennbare Außenwelt gibt und wie die Art, in der sich ein Erkennen derselben vollzieht, erklärbar ist. Im Gegensatze zum Phänomenalismus sollte die Erkenntnistheorie gerade auf die Erkenntnis der Dinge oder, schärfer ausgedrückt, auf die Er- kennbarkeit des „Dinges an sich" gerichtet sein. Über das Wesen der Dinge glaubt der Ver- fasser von der Chemie am ehesten Aufschlüsse zu erhalten. Hier sind es vor allem die Tatsachen der Synthese, die uns davon überzeugen, daß die Atome und Moleküle nicht nur begriffliche Bildungen sind, sondern daß sie vielmehr auf Faktoren einer unabhängig von den menschlichen Sinnen existierenden Außenwelt hinweisen. Von phänomenalistischem Standpunkte aus ist, wie dfer Verfasser meint, das Eintreffen eines auf Grund von Strukturformeln erwarteten Er- gebnisses der Synthese entweder jedesmal Zufall, was dem Grundaxiom von der Gesetzmäßigkeit des Geschehens zuwiderläuft, oder ein richtiges Wunder. Im Gegensatze zum Phänomenalismus müsse demnach eine an sich bestehende Außenwelt an- genommen werden, deren Wesen freilich nicht ohne Einschränkung und Vorbehalt zu erkennen sei. Aber soviel leuchte ein , daß die natur- wissenschaftlichen Begriffe und Gesetze eine be- stimmte Beziehung zu ihr haben, daß sie ihr entsprechen, daß sie ihr ko n form sind. Der Verfasser gibt seinem Standpunkte durch die Be- zeichnung „Konformismus" einen scharfen Ausdruck. Nach dem Grade von experimenteller Richtigkeit, die die den Begriffen zugrunde liegenden Aufstellungen besitzen, sind Konformitäten verschiedener Ordnung zu unterscheiden. Außer der Außenwelt, wie wir sie in ihrer Mannigfaltigkeit sinnlich unmittelbar wahr- nehmen, gibt es also noch diejenige Außenwelt, die ohne Bezug auf uns und unsere Sinne existiert. Jene, die eigentliche Realität, die wir ohne weiteres besitzen, bedarf der Wissen- schaft flicht; diese ist zwar Gegenstand der Metaphysik, aber trotzdem vermögen wir durch die Konformitäten, deren Ermittlung der Wissen- schaft zukommt, eine sichere und bestimmte Ver- bindung oder Annäherung zwischen dem Reiche der wahrnehmbaren Dinge und dem Reiche der ,, Dinge an sich" herzustellen. So einleuchtend auch die Ausführungen des Verfassers sind, so dürfte sein Konformismus nicht den Wert einer gesicherten Erkennt- nis, sondern nur den Wert eines Glaubens haben. Zunächst drängt sich uns die oft gestellte F"rage auf: Was ist das Wesen eines mir irgend- wie gegebenen Dinges? Zwei Antworten pflegt man zu erhalten. Die eine lautet: Das Wesen eines Dinges ist ein der qualitativen und quantitativen Bestimmung unzugängliches X, das man als Voraussetzung des „Phänomens" zu denken hat. Die andere lautet : Das Wesen eines Dinges ist eine gedankliche Bildung, die durch Abstrak- tion aus den an dem Dinge wahrgenommenen Tatsachen gewonnen wird und diejenigen Merk- male ausdrückt, die dem betreffenden Objekte als eigentümlich zukommen und ohne die es nicht mehr als ,, dasselbe Ding" charakterisiert wäre. Die Abstraktion beschränkt sich dabei vielfach auf die sog. ,, primären Qualitäten", die der quan- titativen Bestimmung besonders zugänglich sind. Der Begriff des Wesens, wie er zuletzt be- stimmt worden ist, hat durchaus wissenschaftlichen Wert, er bedeutet eine ganz in der Erfahrung wurzelnde Abstraktion. Dagegen ist es im höchsten Grade bedenklich, von irgendwelchen vorgefundenen oder vermuteten Tatsachen zu behaupten, sie seien einem abso- lutenWesen konform. „Der Begriff reiner, bloß intelligibeler Gegenstände", sagt selbst Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft, „ist gänzlich 130 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VITT. Nr. 9 leer von allen Grundsätzen ihrer Anwendung, weil man keine Art ersinnen kann, wie sie gegeben werden sollten." Der Begrifl" „Materie" umfaßt offenbar die- jenigen sinnlich wahrnehmbaren Merkmale, die allen uns bekannten „körperlichen Dingen'' eigen sind. Nach V. d Pfordten soll nun dieser Begriff eine Konformität erster Ordnung sein, d. h. er soll mit voller Sicherheit einer ,,an und für sich existierenden Materie" entsprechen. Wo liegt in einer derartigen Annahme, die ein in der Er- fahrung ruhendes Begriffliches mit einem prinzi- piell unvergleichbaren Unbekannten vergleicht, der Erkenntniswert? Wie sollen gar die Konformi- täten eine sichere und bestimmte Verbindung zwischen dem Reiche der Realität und dem Reiche der „Dinge an sich" herstellen oder eine Annähe- rung an dieses Reich bedeuten? Wenn der in- haltsleere Begriff eines „absoluten Seins" in keiner Weise bestimmte, das absolute Sein charakteri- sierende Vorstellungen zu wecken vermag, so fehlt damit auch jeder Maßstab, mit dem man eine Annäherung des Denkens an das unbekannte Wesen der Dinge zu bestimmen vermöchte. Auch wir huldigen einem Konformismus, aber nur einem solchen, der die Begriffe den vorgefun- denen Tatsachen entsprechen läßt. Wenn wir ebenso wie v. d. Pfordten einen idealistischen Phänomenalismus verwerfen, der dadurch, daß er alles Vorgefundene zu Psychischem stempelt, den ohne den Gegenbegriff' des Physischen gebildeten Begriff des Psychischen zu einem leeren Worte erniedrigt, so erkennen wir doch einem metho- dologischen Phänomenalismus Berechtigung zu, einer Richtung, die nur solche Begriffe zuläßt, die der Erfahrung oder doch einer möglichen Er- fahrung konform sind. Ferner nehmen wir an — praktisch tun es selbst die Solipsisten, ohne sich freilich des Widerspruchs zu ihrem theore- tischen Verhalten bewußt zu sein — , daß die Dinge unabhängig von unserer Person existieren ; sobald wir jedoch eben über die Dinge urteilen, mögen wir sie nun selbst wahrgenommen haben oder mögen uns die Mitmenschen von ihnen Kunde gebracht haben oder mögen uns irgendwelche Spuren auf sie hinweisen, dann denken wir sie unserem phänomenalistischen Weltbilde einge- reiht; allen Urteilen über prinzipiell unerfahrbare „Dinge an sich" schreiben wir hingegen nicht den geringsten Erkenntniswert zu. Nach Freih. v. d. Pfordten soll uns die Chemie davon überzeugen können, daß die Atome und Moleküle Konformitäten zweiter Ordnung, ihre räumliche Anordnung eine Konformität dritter Ordnung sei. In der Tat macht es das Gesetz der multiplen Proportionen wahrscheinlich, daß die Materie nichts Kontinuierliches ist, sondern aus diskreten elementaren Teilen besteht; die cliemische Isomerie drängt zur Vorstellung, daß für jede Substanz sich die elementaren Teilchen in fester stereo- metrischer Anordnung gruppieren. Der experi- mentierende Forscher ist von der Existenz der Atome und Moleküle um so mehr überzeugt, als ihm die Theorie vom atomistischen Gefüge der Materie nicht nur gestattet, bekannte Erscheinungen abzuleiten, sondern auch neue Tat.sachen voraus- zusehen. Dabei gewährt die Theorie ein außer- ordentlich anschauliches Bild der Vorgänge, namentlich derjenigen der chemischen Synthese. Leisten die hypostasierten Atome und Mole- küle dem Chemiker und Physiker treffliche Dienste, so bereiten sie dem Erkenntnistheoretiker uner- wartete Schwierigkeiten. Diese sämtlich hervor- zuheben, würde uns zu weit führen; wir verweisen daher auf die treffliche Kritik, die Stallo in seinen von Kleinpeter übersetzten „Begriffen und Theorien der modernen Physik" ge- geben hat und die auch jetzt noch kaum an Wert eingebüßt hat. Ist es unmöglich, sich eine einwandfreie Anschauung von den Atomen der älteren Physik und Chemie zu bilden , die als äußerst kleine, absolut harte, durch leere Zwischen- räume getrennte, in bestimmter räumlicher Ord- nung zu Molekülen sich gruppierende, mit dem Parameter der Masse behaftete Körperchen galten, so erscheinen uns nicht minder rätselhaft diejenigen der modernen Wissenschaft, die gewissermaßen Sonnensysteme sind, in denen um den von einem positiven Jon gebildeten Zentralkörper zahllose Elektronen kreisen. Sehen wir also in der Atomistik mehr als eine aus den Tatsachen erwachsene gedankliche Kon- struktion, so geraten wir in eine unleidliche Lage, aus der wir uns nicht zu befreien wissen. Wer will es daher einem kritischen Geiste verargen, wenn er die Lehre von den Atomen und Mole- külen zwar als eine höchst fruchtbare Hypothese ansieht, vor einer Hypostasie- rung aber zurückschreckt? Wie will man über- haupt eine Hypostasierung logisch rechtfertigen ? Doch wäre es ebenso verwegen, wollten wir die metaphysische Behauptung der absoluten Kontinuität der Materie aufstellen. Auch Stallo erklärt: „Welches die wirkliche Beschaffenheit besonderer Körper ist, ist eine Frage, die in jedem einzelnen Falle durch Experiment und Beobach- tung zu entscheiden ist. Es gibt ohne Zweifel eine große Klasse von Körpern, die eine mole- kulare Konstitution besitzen." Poincare hat in einem seiner zuletzt erschienenen Werke, „die moderne Physik" (übertragen von Dr. M. Brahm und Dr. B. Brahm, verlegt 1908 bei Quelle und Meyer in Leipzig) eine Reihe von Tatsachen angefüiirt, die mit Sicherheit auf eine Diskontinuität der Materie hinweisen. In gemein- verständlicher Weise zeigt auch G. Mie in seinem bei Teubner erschienenen Büchlein über „Mole- küle, Atome und Weltäther", daß die Materie eine körnige Struktur hat. Bei den außer- ordentlichen F'ortschritten der modernen Physik dürfen wir noch bedeutsame Aufklärungen er- warten. Immerhin ist es gut, mit größter Vorsicht N. F. VIII. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. t3i über die Struktur der Materie zu urteilen. Man denke immer daran, daß unser Denken von Haus aus zu einer atomistischen Auffassung hinneigt, selbst in der Geometrie und Phoronomie, wo ge- rade die Kontinuität eine besondere Rolle spielt. Schon die Geometer des Altertums ge- langten zu wichtigen Eigenschaften des Kreises dadurch, daß sie ihn als Polygon mit außerordent- lich vielen und kleinen Seiten auffaßten. Diffe- rential- und Integralrechnung sind eben- falls Beispiele für unsere Ansicht. Noch inter- essanter ist Krön ecke r 's Versuch, die gesamte Mathematik zu arithmetisieren, auf den Begriff der ganzen Zahl zu gründen. Die Mechanik sieht aus rein formalen Gründen im festen Körper ein System materieller Punkte, die mit physi- kalischen Gebilden nicht das Geringste zu tun haben. (Siehe darüber TheodorKörner„Der Begriff des materiellen Punktes in der Mechanik des 18. Jahrhunderts" in der Biblio- theca mathematica, 3. Folge, 5. Bandl) Zur Er- reichung von Erkenntnissen bedarf es, wie Stallo sagt, „einer Reihe logischer Fiktionen, die bei den Operationen des Denkens ebenso berechtigt wie unvermeidlich sind, deren Beziehungen zu den Erscheinungen, von denen sie nur eine teilweise und nicht selten bloß symbolische Darstellung bilden, nie aus den Augen gelassen werden dürfen." Wer will einen unwiderlegbaren Beweis dafür bringen, daß das Verfahren des Chemikers, die Gewichtsverhältnisse, in denen sich die Substanzen verbinden, zu Atomen von bestimmten Gewichten und zu Atomgruppen in Beziehung zu bringen, mehr als eine Fiktion sei? Nun meint freilich v. d. Pfordten, daß die chemische Synthese doch einen zwingenden Be- weis für die Existenz der Atome liefere. Wer die Tatsachen der Synthese phänomenalistisch er- klären wolle, müsse das Eintreffen der Syn- these jedesmal als Zufall auffassen, was dem Grundaxiom von der Gesetzmäßigkeit des Ge- schehens zuwiderlaufe, oder gar als ein echtes Wunder. Hierzu ist folgendes zu bemerken : ,, Zufall ist", wie Windelband sagt, „in allen Fällen ein Prinzip unserer Betrachtung, nicht ein Prinzip des Geschehens." Das Kriterium, ob ein Ereignis zu- fällig ist oder nicht, hat also lediglich subjek- tiven Wert. Wir verlangen geradezu von der Natur, daß, wenn sie überhaupt ein Gegenstand unseres Denkens sein soll , sich die Vorgänge unter gleichen Umständen wiederholen, daß die Natur also gesetzmäßigen Charakter habe. Wenn wir auch nicht begründen können, weshalb die Natur unserem Verlangen nachkommt, so pflegen wir doch im Eintreffen erwarteter Ereignisse nichts Zufälliges oder Wunderbares, sondern im Gegenteil das Selbstverständlichste von der Welt zu sehen. Nur wenn wir uns auf den Standpunkt derjenigen Philosophen stellen, die alles das für zufällig halten, was sich aus den formalen Be- stimmungen des Intellekts nicht ableiten läßt, müssen wir anders urteilen; dann aber gäben wir dem Begriffe Zufall einen Umfang, der ihm von Haus aus keineswegs zukommt. Auch darin sehen wir weder etwas Zufälliges oder Wunderbares, daß sich Gruppen von Tatsachen in mathema- tischer Form beschreiben lassen. Wenn sich die Vorgänge der chemischen Synthese nach einem festen Schema vollziehen, so hat dieses gleichfalls den Wert einer Gleichung. Wenn ein solches Schema nun auch durch eine Beziehung zwischen räumlichen Modellen ersetzt werden kann, so ist damit noch keineswegs gesagt, daß es nicht auch eine andere Symbolisierung zuläßt. Ich erinnere nur an die merkwürdigen von Max- well beachteten physikalischen Analogien. Eine Nötigung also, das Eintreffen einer erwarteten chemischen Reaktion als Zufall oder Wunder zu betrachten, liegt nicht vor. Freilich soll nicht verhehlt werden, daß, wenn wir uns in Tatsachen grübelnd vertiefen, wir oft in eine Stimmung geraten, wie wir sie wunderbaren Ereignissen gegenüber haben könnten. Mancher, dem die Vorgänge des Stoßes vertraut und selbstverständ- lich sind, bemüht sich vergeblich, die Erschei- nungen der Fernwirkung auf jene zurückzuführen. Die der Fernwirkung zugeschriebenen Tatsachen werden ihm dann leicht als etwas abseits Stehen- des, als etwas Rätselhaftes, ja als etwas Zufälliges oder gar Wunderbares charakterisiert sein. Der in der Potentialtheorie bewanderte Mathematiker wird anderseits den Vorgängen des Stoßes gegen- über in eine ähnliche Lage geraten können. Ganz besonders aber werden demj en i ge n Zufall und Wunder entgegentreten, der um jeden Preis die Tatsachen auf letzte Prinzipien zurückführen will, und zwar wird das jedesmal da geschehen, wo die Erklärungsversuche die vorgefundenen Schranken überspringen und zur Schöpfung von Kräften, Fähigkeiten, Entelechien führen. Wer solchen, der wissenschaftlichen Forschung nach- teiligen Stimmungen entgehen will, dem bleibt nichts anderes übrig als die Tatsachen im Sinne von Kirch hoff und Mach zu beschreiben. „Wie könnten wir auch erklären!" sagt Nietz- sche in seiner „fröhlichen Wissenschaft". „Wir operieren mit lauter Dingen", die es nicht gibt, mit Linien, Flächen, Körpern, Atomen, teilbaren Zeiten, teilbaren Räumen — , wie soll Erklärung auch möglich sein, wenn wir alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde! Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmensch- lichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben." Wenn wir also auch noch so überzeugt sein mögen , daß die wunderbare Ordnung in der Chemie „nicht nur ein rein künstliches System," sondern der „Reflex einer realen Ordnung" sei, so fehlt uns doch jedes Mittel, unsere Überzeugung zu einer Erkenntnis zu erheben. Wir überspringen die auf die Theorie des Konformismus folgenden Kapitel, die neben An- 132 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 9 fechtbarem eine Reihe trefflicher Gedanken ent- halten, um uns noch mit dem Abschnitte über „die Philosophie der Empfindung zu be- schäftigen. Zuvor wendet sich Freih. v. d. Pferd ten gegen dieOstwald'sche Energetik. Seinen Ausführungen dürfte man in den meisten Punkten zustimmen können. Wohl aber müssen sich Be- denken erheben, wenn er die Philosophie des all- bekannten Physikers und Psychologen Ernst Mach gewissermaßen als Modifikation der Ostwald'schen Energetik betrachtet. Es ist nicht richtig, daß Mach die gegebene Welt in letzte psychologische Elemente auf- lösen will. Zu einer solchen Auffassung gibt lediglich der Umstand Anlaß, daß er die zurzeit letzten Elemente des Vorgefundenen als „Emp- findungen" bezeichnet.') Mach stellt sich zunächst auf den Standpunkt eines objektiven Beobachters und Berichterstatters, dem es nur darauf ankommt, Tatsächliches fest- zustellen und aufzuzeichnen, nicht aber, darüber zu urteilen. Er geht von derjenigen Welt- ansicht aus, die man bei vollem Bewußtsein fertig vor sich findet, und zu deren Bildung man ab- sichtlich nichts beigetragen hat. Er findet sich von mannigfaltigen, beweglichen Körpern um- geben, von Körpern, die teils „leblos" sind, teils Pflanzen, Tiere und Menschen ; außerdem unter- scheidet er den eigenen Leib, der in optischer, haptischer, akustischer und anderer Hinsicht von den Leibern der Mitmenschen abweicht, der durch eigentümliche, vielfach sich abstufende Empfin- dungen, Gefühle, Stimmungen, Willensregungen eigenartig bereichert erscheint. Eine weitere Analyse, durch die sich der Be- obachter freilich vom „naiven Realismus" — im Sinne v. d. Pfordten's — schon wesentlich entfernt, entdeckt an jenen Inhalten eine Reihe von Merkmalen, z. B. Farben, Töne, Drucke, Wärmen, Düfte, Räume, Zeiten usw., die zur- zeit als ursprüngliche, als letzte gelten können, gewissermaßen als Elemente. Diese Elemente sind zwar durch Abstraktion gefunden, da sie niemals isoliert vorkommen, aber sie treten doch stets in mannigfachen Komplexen wirklich auf; sie sind auch durchaus nicht letzte Einheiten in absolutem Sinne, sondern nur Einheiten von relativer, provisorischer Gültigkeit. So wäre es durchaus nicht unmöglich, daß mit einer weiteren Entwicklung unserer Sinneswerkzeuge oder gar mit der Ausbildung neuer Sinneswerk- zeuge die Zahl derTatsächlichkeitselemente wachse. Mach bezeichnet nun jene Elemente als „Emp- findungen". Auf Seite 8 der bedeutsamen Schrift über „Erkenntnis und Irrtum" (verlegt bei J. A. Barth, Leipzig, 1905) sagt er: „Diese Elemente zeigen sich sowohl von außer- ') Es darf freilich nicht unerwähnt bleiben, daß erst Mach's letzte Schrift „Erkenntnis und Irrtum" volle Klarheit über den Empfindungsbegriff gibt. halb U" (wo U die Umgrenzung des Leibes be- deuten soll) „als von innerhalb U liegenden Um- ständen abhängig. Insofern und nur insofern letzteres der Fall ist, nennen wir diese Elemente auch Empfindungen." Nur deshalb also, weil die Elemente im Akte des Vorgefundenwerdens Ob- jekte der psychologischen Betrach- tungsweise zu sein pflegen, sind sie als Empfindungen bezeichnet worden. Soweit nun die Elemente in Relation zum Vorfindenden stehen, werden sie als psychische bezeichnet; sofern sie, unabhängig vom Vorfinden- den, unter sich selbst Beziehungen bilden, als physische. Für Mach kann ein und dasselbe Element, je nach der Beziehung, in der es auf- tritt, bald als physisch, bald als psychisch charakterisiert sein. Das Physische und Psychische enthalten also gemeinsame Elemente, sie stehen somit ,, keineswegs in dem gemeinhin ange- nommenen" schroffen Gegensatze. ,,Das wird noch klarer, wenn sich zeigen läßt, daß Erinne- rungen, Vorstellungen, Gefühle, Willen, Begriffe sich aus zurückgelassenen Spuren von Empfin- dungen aufbauen, mit letzteren also keineswegs unvergleichbar sind." Hätte Mach scharf hervorgehoben, daß in der oben entwickelten Weltansicht des ,, naiven Realismus" die Dinge mit ihren Eigenschaften weder als physisch noch als psychisch charak- terisiert sind, sondern es erst dann werden, wenn man analysiert und die Beziehungen des Vor- gefundenen ins Auge faßt, so hätte er manches Mißverständnis vermeidlich machen können ; es wäre das um so wichtiger gewesen, als schon der nicht sehr glücklich gewählte Name „Empfindung" meist unrichtig gedeutet worden ist. Das Vor- gefundene ist also zunächst weder als physisch noch als psychisch zu kennzeichnen ; es geschieht erst dann, wenn der Vorfindende einen festen methodologischen Standpunkt einnimmt, wenn er auf die Verknüpfung der Elemente unter sich oder auf die Verknüpfung der Elemente mit dem Ichbezeichneten seine Aufmerksamkeit lenkt. Wenn auch Mach vom Idealismus aus zu seinen Anschauungen gekommen sein mag, so ist er doch nichts weniger als Idealist. Man darf ihn weder als Monisten im Sinne Ostwald's noch als Monisten im Sinne Verworn's be- zeichnen. Für ihn ist die Welt weder ein rein Physisches noch ein rein Psychisches, weder ein Materielles oder Energetisches noch ein rein im Bewußtsein Existierendes. Niemand unterscheidet so bestimmt wie er zwischen Physischem und Psychischem. Mach ist höchstens im methodo- logischen Sinne Monist. Derjenige ist im strengen Sinne Monist, dem die Welt nicht lediglich ein Summenbegriff ist, eine in infinitum vermehrbare Zahl vorgefundener und vorfindbarer Inhalte, sondern der auf die Frage: Was ist das All ? was ist die Gesamtheit des Gegebenen .' ein einziges, das Ganze charakterisierendes Merk- mal zu geben pflegt. N. F. VIII. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 133 Ostwald weicht trotz seiner Verehrung Mach 's in erkenntnistheoretischer Beziehung ganz entschieden von ihm ab. Obwohl Ostwald antimetaphysischc Bestrebungen hat, so vermag ersieh doch nicht vom metaphysischen Substanz- begriffe zu befreien. Dagegen steht er durch seinen ausgesprochenen Relativismus . besonders auch durch die , .pragmatische" Auffassung vom Denken (im Sinne des amerikanischen Philosophen James) Mach wieder seiir nahe. Mach ist weit entfernt davon, die ,, Empfin- dungen" zu einem Erkenntnisprinzip zu machen. Seine Empfindungen sind die durch die Analyse vorgefundenen Elemente der Tatsächlich- keit. Er will mit ihnen durchaus nichts erklären, er legt seinen Elementen keine Eigenscliaften und Vermögen ein, um das Geschehen begreifbar zu machen. Seine Elemente sind nicht Weltelemente im Sinne der metaphysischen Schulen, sie sind zu jeder Erklärung durchaus unbrauch- bar. Sie sind nichts anderes als die relativ einfachsten Begriffe, die zurzeit in eine Be- schreibung des Tatsächlichen eingehen können. Es heißt daher Mach's Standpunkt verkennen, wenn man von ihm verlangt, er solle durch seine ,, Weltelemente" das Ich, das Gedächtnis, die Assoziation erklären. Man kann nicht sagen, Mach leugne das „Ich", er leugnet es nur als eine Substanz, sei es als geistige Substanz sei es als transzendentales oder erkenntnistheoretisches Ich, er erkennt das Ich lediglich als praktische Einheit von freilich recht hoher Wichtigkeit an. Mach hat es auch nicht nötig ,,zu erläutern, wie es ein Bündel von Empfindungen fertig bringt, in einem Gehirn die Illusion eines denkenden Ich zu erzeugen, und weshalb gerade eine Empfindung.=gruppe auf die seltsame Idee kommt, alle anderen Emp- findungen erkennen zu wollen;" denn er verzichtet ja prinzipiell auf Erklärungsversuche, er er- blickt die Aufgabe der Wissenschaft einzig darin, die Welt des Tatsächlichen zu beschreiben, besonders die funktionalen Beziehungen zwischen den Elementen festzustellen, mögen die letzteren nun ein Ich (im Mach'schen Sinne) oder dessen Umgebung zusammensetzen. Aucii Mach würde ebensowenig wie Freili. V. d. Pfordten in dem direkt gegebenen realisti- schen Weltbilde Energie oder Empfindungen ent- decken wollen; auch dürfte er schwerlich da- gegen etwas einzuwenden haben, daß die Analy- sierung der Eindrücke zunächst den Dingbe- griff vorbereite. Nur ist ihm das Ding etwas weiter noch zu analysierendes, ein Komplex aus noch einfacheren Elementen. Und gerade diese Elemente sollen ihm als ABC der Beschreibung wichtiger physikalischer und psychologischer Tat- sachen dienen. Da seine ,, Empfindungen" nur einem methodologischen Zwecke dienen , nicht aber einer Erklärung der Erscheinungen, so haben sie auch keine Spur von Metaphysischem an sicii. Freih. V. d. Pfordten wirft unserem Physiker Rückfälle in den Materialismus und den extremen Realismus vor, weil er auch den „Elementar- organismen" Gedächtnis zuschreibe und die Asso- ziation chemisch zu begreifen hoffe. Mach, der entschiedener Anhänger des psychophysi- schen Parallelismus ist, meint aber nichts anderes, als daß denjenigen nervenphysiologischen, also rein physischen Vorgängen, von denen man Gedächtnis und Assoziation funktional abhängig zu denken hat, auch analoge Vorgänge im Reiche der Elementarorganismen und im Reiche des Un- organisierten entsprechen dürften, Vorgänge, denen eine psychische Seite durchaus nicht zuzukommen braucht. Es würde uns zu weit führen, auch noch den zweiten Teil der „Vorfragen der Naturphilosophie" zu besprechen. Von den interessierenden Ab- schnitten desselben dürften besonders die über die „Causae fiendi" und über das „Problem der Form" zur Diskussion herausfordern. Im Konformismus haben wir eine Rich- tung kennen gelernt, die sich dem nie völlig ge- fundenen Letzten, „das der Realität der Einzel- erscheinungen zugrunde liegt," in bestimmten Be- griffen, den Konformitäten, stufenweise nähern will. Der Konformismus versucht eine Brücke zu schlagen zwischen der Welt der gegebenen Tat- sachen und der jenseits der Erfahrung liegenden „Welt an sich". Er stellt somit eine Vermittlung zwischen Empirismus und Rationalismus dar. Eine Vermittlung zwischen Empirismus und Rationalismus wird auch von einer anderen neuen Richtung angestrebt, vom Pragmatismus. Frei- lich ist hier die Vermittlung von derjenigen des Konformismus wesentlich verschieden. Der stark positivistisclie Pragmatismus verwirft jede Hypostasierung und hat durcliaus kein Ver- langen, das ,, Wesen der Dinge" zu ermitteln, er legt nur auf diejenigen Bcgrifte und Tiieorien Gewicht, die in enger Beziehung zum Leben des Menschen stehen; aber er möchte auch nicht auf gewisse, gerade dem Rationalismus eigentümliche Werte verzichten, namentlich nicht auf dessen Optimismus und religiöse Stimmung. William James, Professor an der ameri- kanischen Harvard-Universität in Cam- bridge bei Boston, ist in Deutschland nicht unbekannt. Seine unter dem Titel „der Wille zum Glauben" bei Frommann in Stuttgart herausgegebenen, von Dr. Tli. Loren z übersetzten popularphilosophischen Abhandlungen haben einigermaßen Verbreitung gefunden; noch größeres Ansehen genießt er in Gelehrtenkreisen durch sein vortreffliches, leider noch nicht übersetztes Werk über Psychologie. Mit einer glücklichen, herzerfrischenden Mischung von Ernst und Humor, aber ohne die Oberflächlichkeit eines schönreden- den P^uilletonismus, in jener frischen Weise, wie sie amerikanischen Schriften häufig eigen ist, mit ungewöhnlichem Geschick, die Gedanken klar auszudrücken, hat James in den Jahren 1906 und 134 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 9 1907 an der Harvard - Universität vor einer größeren Zuhörerschaft eine Reihe von Vor- lesungen gehalten und nachher unter dem Titel „der Pragmatismus, ein neuer Name für alte Denkmethoden" veröffentlicht. VV. Jerusalem, der unabhängig von James zu ähn- lichen Ansichten gekommen ist, hat uns eine treffliche, bei Dr. W. Klinkhardt in Leipzig erschienene Übersetzung gegeben. Die merkwürdige Bezeichnung „Pragmatis- mus" mag uns an den „historischen Pragmatis- mus" denken lassen, an diejenige historische Dar- stellungsweise, die den Zusammenhang der Hand- lungen ins Auge faßt, die die Begebenheiten nach ihrer ursächlichen Verknüpfung entwickelt.') Je- doch hat Charles Pierce, der das Wort im Januarheft der ,, Populär Science Monthly" vom Jahre 1878 („Wie wir unsere Ideen klar machen können") geprägt hat, nichts anderes ausdrücken wollen, als daß unsere Überzeugungen Regeln für unser Handeln sind, und daß wir, um den Sinn eines Gedankens herauszubekommen, nichts an- deres tun müssen, als die Handlungsweise be- stimmen, die dieser Gedanke hervorzurufen ge- eignet ist. Wollen wir in unsere Gedanken über einen (legenstand vollkommene Klarheit bringen, so müssen wir erwägen, welche praktische Wirkungen dieser Gegenstand in sich enthält, was für Wahrnehmungen wir zu erwarten und was für Reaktionen wir vorzubereiten haben. Unwillkürlich erinnert uns das an Mach, für den der Begriff ,, Natrium" nichts anderes ist als ein Wort, das eine Reihe von sinnlichen Merk- malen ins Bewußtsein ruft, die sich auf bestimmte manuelle, instrumentale, technische Operationen einstellen; für den der Begriff keine fertige Vorstellung ist, sondern eine „Anweisung, eine vorliegende Vorstellung auf gewisse Eigenschaften zu prüfen oder eine Vorstellung von bestimmten Eigenschaften herzustellen." Die Bezeichnung ,, Pragmatismus" ward jedoch erst allgemeiner bekannt, als James das Prinzip des Pragmatismus im Jahre 1898 auf die Religion anwandte. Der Pragmatismus ist, wie schon jetzt zu er- kennen, keine neue Philosophie, sondern lediglich eine alte, aber auf neuere Probleme intensiv an- gewandte Methode. Er findet sich schon bei Sokrates und Aristoteles, weit ausge- sprochener bei Locke, Berkeley und H u m e. Er ist besonders der empiristischen Richtung eigen ; er ist die Methode des Naturwissenschaft- lers, besonders die des Physikers, dem nur die- jenigen Begriffe von Wert sind, die zur „über sichtlichen, einheitlichen, widerspruchslosen und mühelosen Erfassung der Tatsachen" führen. Der Pragmatismus wendet sich weg von allen Pro- ') K. Dreycr gebraucht in seinen ,, .Studien zu Methoden- lehre und Erkenntniskritik" das Wort „praj;niatisch" ziemlich oft, und zwar im Sinne von „verbindend", „ursächlich" u. dgl. blemen, die es mit dem ,, Denken an sich" zu tun haben, weg von allen Problemen, die einer Veri- fizierung nicht zugänglich sind. Da der Prag- matismus keine neue erkenntnistheoretische Rich- tung ist, so hat er mit alten philosophischen Richtungen manches gemeinsam. ,,So stimmt er mit dem Nominalismus darin überein, daß er sich überall an das Einzelne hält, mit dem Utilitaris- mus, daß er überall den praktischen Standpunkt betont, mit dem Positivismus in der Verachtung, die er den bloß sprachlichen Problemlösungen, überflüssigen Fragestellungen und metaphysischen Abstiaktionen entgegenbringt." Die Philosophie hat vom Pragmatismus meist nur fragmentarischen Gebrauch gemacht; erst Charles Pierce, William James, John Dewey und F. C. S.Schiller haben die prag- matische Methode konsequent und eingehend geübt. Der in Oxford lehrende Schiller hat eine pragmatische Wahrheitstheorie unter der Bezeichnung „Humanismus" aufge- stellt Italien h.it in Pa p i n i seinen Pragmatisten. In Deutschland stehen jener Richtung nahe Mach, Ost wald, G. Simmel, Eucken, Jerusalem. Die pragmatische Methode ist von hervor- ragendem Werte, um philosophische Streitigkeiten zu schlichten. Als Beispiel stellen wir folgende Frage zur Diskussion: ,,lst es notwendig eine geistige Substanz anzunehmen?" Locke stellt hierauf die Gegenfrage: ,, Angenommen, Gott nähme das Bewußtsein weg; würde uns da das Seelenprinzip etwas nützen ? Nehmen wir an, er knüpfe dasselbe Bewußtsein an verschiedene Seelen ; würden wir dabei etwas verlieren ?" Offenbar nicht. Somit ist durch die Annahme einer geistigen Substanz zum Verständnis der persönlichen Identität nichts gewonnen, diese be- steht allein in pragmatisch verifizierbaren Tat- sachen. Das Problem der geistigen Substanz fällt damit. Auch das Problem, ob Materialismus, ob Spiritualismus, wird durch die pragmatische Methode leicht erledigt. Je nachdem der Ma- terialismus seine „Materie" mit genügend viel „Kräften" und ., Vermögen" ausstattet, gelangt er ganz zu denselben Schlüssen wie der Spiritualis- mus, der seinem geistigen Prinzip ausreichende „Fähigkeiten" und ,,Entelechien" einlegt. Der Streit, ob Stoff, ob Geist, ist also durchaus un- fruchtbar, das Problem selbst kein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Ahnlich steht es mit dem so oft diskutierten Probleme, ob die Welt lediglich Bewußtseinsinhalt ist, oder ob sie, wenn sie auch in Beziehung zu einem Bewußtsein stehe, doch unabhängig davon existiere. Audi hier leisten beide Auffassungen ebensoviel und ebensowenig, beide sind gleich wertlos. Der Pragmatismus schafft so durch Ausschei- dung unfruchtbarer Diskussionen den Boden für eine positivistische Betrachtung der Dinge, für eine Richtung, der es wesentlich darauf an- N. F. VIII. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 135 kommt, Tatsächliclikeiten genau festzustellen und vorurteilslos auf/.u/cichnen, er führt zu einer leb- haften Schätzuni:; aller auf die Krlialtung des Individuums und der Gesellschaft sich beziehenden I'"aktoren, er fördert diejenigen Probleme, die es mit einer positiven Weiterentwicklung der Mensch- heit zu tun haben, er blickt mehr in die Zukunft als in die Vergangenheit. Aber er verkennt auch nicht die Anschauungen der Vergangenheit. Er ist sich klar, daß auch die animistischen Auf- fassungen des primitiven Menschen, die religiösen Überzeugungen eines Mönches aus dem Mittel- alter, die metaphysischen Hirngespinste eines Philosophen biologische Erscheinungen sind, die ihren außerordentlichen Wert haben; er weiß, daß diese Auffassungen nicht ohne weiteres durch neue ersetzt werden können, es sei denn, daß der Träger derselben entwicklungsfähig genug ist. Er schätzt die Begriffe des ,, gesunden Menschen- verstandes", auch wenn sie einer sorgfältigen Kritik nicht standhalten. James sucht seine Methode sogar auf religiöse Probleme anzuwenden, so auf das Problem der Erlösung. Weit entfernt, an eine tatsächliche Weltbcfreiung, an eine vollständige Erlösung, zu glauben, an eine Welt des Absoluten mit Wunsch- kappen, in der jedes Verlangen augenblicklich er- füllt wird, ,,ohne daß umgebende oder dazwischen- tretende Mächte berücksichtigt oder versöhnt werden müßten," will er nur das zum Ausdruck bringen, daß tatsächlich Bedingungen einer Besser- gestaltung der Welt gegeben sind. Als Pragmatist genügt es ihm, ,,eine Welt hinzunehmen, aus der der Ernst des Lebens nicht zu verbannen ist"; „er ist entschlossen, auf Grund ungesicherter Möglichkeiten zu leben, zu denen er Vertrauen hat; er ist bereit, für die Verwirklichung der Ideale, die er sich bildet, wenn es not tut, mit seinem Leben zu zahlen'. Solange James nichts anderes behauptet, als daß das Geschehen eine eigenartige Form zeigt, nämlich eine Richtung hat, die in Zukunft sowohl dem einzelnen Menschen als den höheren und höchsten menschlichen Verbänden günstigere Er- haltungsbcdingungen verspricht, kann man wohl mit ihm übereinstimmen. So hat auch Pctzoldt in seiner Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung (verlegt bei B. G. Teubner in Leipzig, 1900 und 1904) gezeigt, wie das zuerst von Fechner in seinen ,,Tdeen zur Schöpfungs- und Entwick- lungsgeschichte der Organismen" (verlegt bei Breitkopf & Härtel in Leipzig, 1873) aufge- stellte ,,Prinzip der Tendenz zur Stabili- tät", dessen allgemeine Gültigkeit außer Frage steht, bedeutungsvolle Ausblicke in die Zukunft gewährt und nicht nur vielversprechende Schlüsse auf ein dereinstiges theoretisches, sondern auch auf ein dereinstiges praktisches und ästhetisches Verhalten ziehen läßt. So hat Matzat, der vor kurzem einer fruchtbaren wissenschaftlichen Tätig- keit durch den Tod entzogen worden ist , in seinem geistvollen Werke über die „Philosophie der Anpassung mit besonderer Berücksichtigung des Rechtes und des Staates" (verlegt bei G. Fischer in Jena, 1903) gezeigt, daß das von Hertz in seiner berühmten Mechanik aufgestellte Grund- gesetz auch das Grundprinzip aller ,, fortschreiten- den' Entwicklung ist, im besonderen der- jenigen Entwicklung, die in der innerpolitischen Geschichte sich als Abnahme der Vererbung, Zunahme der Anpassung und Verschär- fung der Auslese zu erkennen gibt. Sobald aber James trotz seiner starken Abneigung vor dem Absoluten glaubt, ,,daß es höhere Mächte gibt und daß sie am Werke sind, die Welt in derjenigen idealen Richtung zu erlösen, die un- seren Idealen entspricht," steht er nicht mehr mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsächlichkeit. Hier wird der Pragmatismus dem Positivismus untreu und gibt .'^nlaß zur Befürchtung, daß er auch metaphysische P^aktoren in solche Probleme hineintrage, die einer völligen oder doch ange- näherten Lösung von Haus aus fähig sind. Wenn auch der Pragmatismus ein sehr be- quemes Mittel ist, Streitigkeiten zu schlichten, unfruchtbare Scheinprobleme auszumerzen, so bleibt doch immer noch die Gefahr, daß gelegent- lich auch solche Probleme ausgeschieden werden, deren Fruchtbarkeit zurzeit noch nicht oder noch nicht genügend einleuchtet. Ferner gibt die Ausschaltung eines wirklich unfruchtbaren Problems noch keine Gewähr, daß das Problem nicht doch immer wieder von neuem auflebe. Die pragmatische Methode ist daher so zu verfeinern, daß diese Gefahr möglichst einge- schränkt wird. Sie darf vor allen Dingen — um die mit der Problemlösung funktional verknüpften zentralnervösen Vorgänge ins Auge zu fassen — nicht diejenigen nervenphysiologischen Prozesse höher werten, die unmittelbar zur Auslösung von Orientierungsbewegungen, manuellen, instrumen- talen Tätigkeiten u. dgl. führen, als diejenigen, die überhaupt nicht „ektosystematisch" auslaufen. Der Pragmatismus darf nicht dahin führen, daß er fruchtbare logische Erörterungen in den Hinter- grund drängt. Nehmen wir etwa an, es handle sich um das Problem der Quadratur des Kreises. Eine voreilige pragmatische Methode hätte zu einer Zeit, wo noch keine Entscheidung über dessen Lösbarkeit oder LJnlösbarkeit vorlag, auf die Unfruchtbarkeit der Lösungsversuche hinge- wiesen und das Problem ausgeschaltet: und doch handelte es sich um ein solches, das auf mathe- matischem, also streng logischem Wege auf ewige Zeit zu F"all gebracht werden konnte. Ein ober- flächlicher Pragmatismus dürfte das Problem, ob alles Vorgefundene rein psychisch oder rein physisch sei, deshalb ablehnen, weil die aus beiden Ansichten gezogenen P'olgerungen durchaus gleich- wertig sind; ein tieferer Pragmatismus wird in weit erfolgreicherer Weise das Problem dadurch beseitigen, daß er auf die Sinnlosigkeit eines 136 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 9 ohne Gegenbegriff aufgestellten Begriffes auf- merksam macht. Wir glauben indes, daß ein mit Vorsicht geübter Pragmatismus'.wohl imstande sein dürfte, allen Anforderungen der Wissenschaft und des praktischen Lebens gerecht zu w e r d^e n. Kehren wir wieder zu unserem Buche zurück! Von hervorragendem Werte scheinen mir die- jenigen Abschnitte zu sein, die vom Wahrheits- begriffe des Pragmatismus und von Pragmatismus und Humanismus handeln. Wahrheit ist nach der üblichen Begriffs- bestimmung eine Eigenschaft gewisser _yor- stellungen. Wahrheit bedeutet soviel wie „Über- einstimmung mit der Wirklichkeit". Sobald die PVage aufgeworfen wird, was „Über- einstimmung'' und was „Wirklichkeit" bedeute, beginnt der Streit. Nach der Auffassung der Intellektualisten ist die Wahrheit eine starre Beziehung zwischen einem Absoluten, dem „Wesen" einer Sache oder eines Vorganges, und zwischen der als ,,wahr" gekenn- zeichneten Vorstellung. Anders urteilt der Pragmatismus. Ihm ist die Wahrheit keine unbewegliche Eigenschaft, sondern ein Vorkommnis, ein Sichgeltendmachen. Schiller und Dewey nennen solche Vorstellungen wahr, „die wir uns aneignen, die wir geltend machen, in Kraft setzen und verifizieren können" und solche Vorstellungen falsch, ,,bei denen dies alles nicht möglich ist". Unsere Gedanken stimmen mit der Wirklichkeit überein, wenn sie uns durch Handlungen und durch neue Gedanken, die sie anregen, zu anderen Teilen der Erfahrung führen, mit denen die ursprünglichen Gedanken sich im Einklang befinden. Der Besitz wahrer Gedanken bedeutet zugleich den Besitz wertvoller Mittel zum Handeln. „Unsere Pflicht, Wahrheit zu er- werben, ist also keineswegs ein aus der Luft stammendes Gebot oder eine Last, die der In- stinkt sich selbst auferlegt hat, sie ruht vielmehr auf vortrefflichen praktischen Gründen." Nach Wahrheit suchen bedeutet nichts anderes als den Anpassungswert des nach Wahrheit suchenden Menschen, dessen Erhaltung von äußeren und inneren Umständen fortwährend bedroht ist, er- höhen, ist also eine ungemein wichtige biologische Funktion, der nicht ein rätselhaftes Sollen, son- dern ein zwingendes Müssen zugrunde liegt. Die Verifikation kann direkt und in- direkt sein. Die Wahrheit lebt auf Kredit; es genügt uns in vielen Fällen zu wissen, daß ein Urteil von irgend jemand einmal anschaulich veri- fiziert worden ist. Wenn wir oft auf völlige Verifikation verzichten, so liegt das nicht nur daran, daß wir Zeit ersparen wollen, sondern auch daran, daß die Dinge in Gattungen da sind. Die Wahrheit ist nicht bloß P'ührerin in der Welt der sinnenfälligen Dinge und der Beziehungen des gewöhnlichen Denkens, sondern auch in der Welt der Geisteswissenschaften. Hier dürfen wir sogar von „unbedingten" Wahrheiten sprechen. Da sich die Tatsachen zum Teil in die Systeme der Geisteswissenschaften einordnen lassen, so gelten deren Wahrheiten auch für die wirkliche Welt. Was ist Wirklichkeit? Wirklichkeiten sind nicht nur konkrete Tatsachen, sondern auch abstrakte Dinge und deren Beziehungen, ferner aber die gesamte Masse der in unserem Besitze befindlichen Wahrheiten. Was bedeutet Übereinstimmung mit der Wirklichkeit? Von einer Übereinstimmung im strengen Sinne kann überhaupt nicht die Rede sein; viele Vorstellungen sind keine Abbilder, sondern lediglich Zeichen. „Unsere Ideen stimmen" nach der Auffassung der Pragmatisten nur dann ,,mit der Wirklichkeit überein, wenn sie uns sowohl zu nützlichen Worten und Begriffen als auch unmittelbar zu sinnenfälligen Dingen führen." „Alle Wahrheitsprozesse müssen irgend- wo zu einer anschaulichen Verifikation durch Sinneserfahrung führen, einer Sinneserfahrung, die irgendjemand in seiner Vorstellung abgebildet hat." Diese Auffassung steht natürlich im schroffsten Gegensatze zur rationalistischen, für die die Wahrheit eine einzigartige Beziehung ist und für die die Verifikationsprozesse nur als Zeichen dafür gelten, daß die Wahrheit da ist. Für den Ratio- nalismus ist die Wahrheit bereits „ante rem"; in den Zwischenzeiten, wo sich kein Verifikations- prozeß vollzieht, ist sie eine Disposition unserer Vorstellungen und Überzeugungen. Für den Pragmatismus sind die Wahrheiten nur relativ feste Beziehungen, sie , .streben" erst in der Weiterentwicklung nach einem idealen Punkte hin und nähern sich Wahrheiten, die keine künftige Erfahrung mehr ändern kann. Tatsachen selbst sind weder wahr noch falsch. Wahrheit ist lediglich eine P'unktion unserer Urteile, „die inmitten der Tatsachen entstehen und enden-'. Der Kenner der Werke von Avenarius und Petzoldt wird in dieser Wahrheitstheorie kaum etwas Neues sehen. Ja, da diese Philosophen auf die physiologischen Unterlagen der psychi- schen Vorgänge zurückgehen, haben sie das Pro- blem vielleicht tiefer als James gefaßt. Während nach Rickert die Wahrheit ein System von Sätzen ist, die ein unbedingtes Recht darauf haben, als gültig anerkannt zu werden, und während Wahrheit allen Urteilen zugesprochen wird, die zu fällen wir uns durch eine Art im- perativer Pflicht verbunden fühlen, leitet der Pragmatist das Recht und die Pflicht, die Vor- stellungen mit der Wirklichkeit in Übereinstim- mung zu bringen, nur aus praktischen Gründen ab. Er fühlt sich nur deshalb verpflichtet, sich an die Wahrheit zu halten, weil Wahrheit lohnt, genau wie Reichtum und Gesundheit. Daß eine solche Auffassung die lebhaftesten Stürme gegen Schiller und Dewey wecken mußte, läßt sich begreifen. N. F. VIII. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 137 Schiller hat nun für die Lehre, daß auch unsere Wahrheiten menschliche Erzeugnisse sind, den Namen Humanismus vorgeschlagen. Zu- nächst habe man die Welt als durchaus plastisch anzusehen und dürfe diese Ansicht erst dann fallen lassen, wenn man auf entschiedenen Widerstand treffe. Nach Schiller sind alle unsere Wahrheiten Überzeugungen vom Vorhandensein einer „Wirk- lichkeit", die gefunden und nicht hervorgebracht wird. Die VVirklichkeit besteht aus 3 Teilen: Der erste Teil ist der Strom unserer Sinneswalirnehmungen, die weder wahr noch falsch sind, sondern einfach sind. Der zweite Teil sind die Beziehungen zwischen unseren Wahrnehmungen und den gedanklichen Abbildern. Unter diesen Beziehungen gibt es veränderliche und zu- fällige, z. B. die räumlichen und zeitlichen, und wesentliche, sich immer gleichblei- bende Beziehungen. Die letzteren sind die wichtigeren, von denen das mathematisch-logische Denken immer Rechenschaft geben muß. Der dritte Teil sind die alten Wahr- heiten, auf die jede neue Untersuchung Rück- sicht zu nehmen hat. Mit den Elementen der Wirklichkeit können wir mit einer gewissen Freiheit schalten, wir können sie auswählen. Wenn von einer Unabhängigkeit der Wirklich- keit die Rede ist, so handelt es sich lediglich um den Begriff" dessen, was eben in die Erfahrung eintritt und noch nicht benannt ist, um eine Art ursprünglichen Vorhandenseins in der Erfahrung, bevor sich eine Überzeugung von diesem Vor- handensein gebildet hat und bevor irgendein menschlicher Begriff darauf angewendet wurde. Das klingt fast wie Kant. ,,Aber zwischen Kate- gorien, die aufblitzten, bevor die Natur da war. und Kategorien, die sich im Beisein der Natur allmählich bildeten, gähnt die ganze Kluft zwischen Rationalismus und Empirismus." Die Wahrheit ist nun nicht die Wirklichkeit selbst, sondern nur die Überzeugung von dieser Wirklichkeit. „Unmöglich kann man in unserer Erkenntnisentwicklung die objektiven Faktoren von den vermenschlichenden (subjektiven) Faktoren trennen." Während für den Rationalis- mus die Wirklichkeit von aller Ewigkeit her fertig und vollendet ist, ist sie für den Pragmatis- mus noch im Werden und erwartet ihre Gestal- tung zum Teil erst von der Zukunft. Der Pragmatismus kennt „nur eine einzige Ausgabe der Welt, die unfertig ist und überall größer wird, besonders da, wo denkende Wesen am Werke sind". Der Rationalismus hat „ein Universum in mehreren Ausgaben. Zunächst die wirkliche Welt, die unendliche F"olioausgabe ; dann die verschiedenen endlichen Ausgaben, voll falscher Lesarten, und jede in ihrer Art entstellt und verstümmelt." Während für den Rationalisten das Veränder- liche auf Unveränderlichkeit gegründet ist, sieht der Pragmatist hinter der Erscheinung nichts. Wenn der Rationalist darauf besteht, ,,daß hinter den Tatsachen der Grund der Tatsachen, die Möglichkeit der Tatsachen stehen müsse," so wirft der Empirist ihm vor, „er nehme den bloßen Namen einer Tatsache her und stelle denselben dann hinter die Tatsache als eine zweite Wesen- heit, die die erste erst möglich machen soll". Trotzdem hat der Pragmatist nichts gegen eine „absolute Welt" einzuwenden, wenn dieses Wort nur als ein orientierendes Abstraktum ge- nommen wird. Jederzeit auch gegen rationalisti- sche Auffassungen tolerant, überläßt er die „ab- solute Welt" als Konkretum denjenigen gern, deren religiöses Leben dadurch bestimmt wird. Dies der Inhalt des bedeutsamen Buches. Der Pragmatismus ist, wie wir nochmals hervorheben wollen, lediglich eine Methode. Von der Sorg- falt, mit der die Methode angewandt wird, hängen ihre Erfolge ab. Da die pragmatische Weise alles Denken in Beziehung zum menschlichen Handeln setzt, ist sie dem scholastischen, nur mit Worten spielenden Denken abhold; sie hat ferner die Tendenz alle metaphysischen, der Erfahrung prinzipiell unzugänglichen Elemente auszuschalten. Immerhin ist sie tolerant gegen jede Lehre, die noch irgendwie fruchtbare Arbeit zu leisten ver- mag; so achtet sie die Begriffe des gesunden Menschenverstandes, die zwar einer kritischen Analyse meist nicht standhalten, aber innerhalb bestimmter Grenzen überaus nützlich sind ; sie achtet selbst eine freiere Phantasietätigkeit , falls ohne sie die Lebensfreude eine Einbuße erlitte. Daß der Pragmatismus noch mancher Erweite- rung und mancher Berichtigung fähig ist, hat Jerusalem im Vorworte hervorgehoben. Wenn auch das Temperament des Pragmatisten nicht so ,, grobkörnig" sein mag wie das des strengen Empiristen, so ist es doch noch „grob- körnig" genug, um den Rationalisten in lebhafte Wallung zu bringen. Heftige Kämpfe haben sich in England erhoben, auch bei uns werden sie nicht ausbleiben. Das schadet aber nichts. Um so mehr werden sich die Ansichten auf beiden Seiten klären. Einstweilen wünschen wir, daß recht viele Leser unserer Zeitschrift das köstliche Buch von James in die Hand nehmen mögen. Wir versprechen ihnen nicht nur reiche Belehrung, sondern auch einen hohen ästhetischen Genuß. Die Schrift des amerikanischen Gelehrten ist das temperamentvolle Werk eines auch mitten im Leben stehenden Mannes, sie ist ein Beweis, daß der Tempel der Philosophie nicht ein weltfremdes Heiligtum für wenige Auserwählte ist, sondern jedem offen steht, der sich mit frischen Sinnen im Gewirr der Tatsachen orien- tieren will. Einen mehr esoterischen Charakter hat das von G. F. Lipps unter dem Titel ,,My t he nbildu ng und Erkenntnis" er- schienene Buch, das als dritter Band der Samm- lung ,,Wissensch aft und Hypothese" bei 138 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 9 Teubner in Leipzig im Jalire 1907 verlegt ist. Trotzdem möchten wir den ersten Teil desselben, der über naive und kritisciie Wellbetrachtung handelt und in klarer, knapper und übersichtlicher Form aus der Geschichte der Philosophie die Entwicklung derjenigen Funktionen aufzeigt, in denen die Wirklichkeit erfaßt wird, als eine gute Einführung in die Philosophie empfehlen. Der zweite Teil verrät den mathemalisch geschulten Gelehrten, dem es darauf ankommt, seine Auf- gaben in möglichster Allgemeinheit zu lösen. Aber wenn auch einige Kapitel durch ihren ab- strakten Gehalt eine größere Aufmerksamkeit be- anspruchen, so entschädigen andere wieder reich- lich durch ihre aktuelle Bedeutung. Der Standpunkt des Verfassers ist der des kritischen Empirismus. Seinen Ausführungen werden nicht nur Fhilosopiien von h^ach, sondern auch Naturwissenschaftler und Mathematiker, die erkenntnistheoretischen Problemen nicht aus dem Wege gehen, mit Befriedigung folgen. Für G. F. Lipps besteht die Aufgabe der Philosophie darin, vom ,, Vollziehen der Be- stimmungen" auszugehen und ,, klarzulegen, wie .es zugeht, daß uns in dem Gewebe voll- zogener Bestimmungen die Welt und unser eigenes Sein als eine in sich beruhende Wirklichkeit ent- gegentritt." Die Frage, ,, warum Bestimmungen vorhanden sind und warum es Objekte und eine objektiv bestehende Welt gibt," ist „nicht zu be- antworten, ja sie darf gar nicht gestellt werden. Wir können nur angeben, wie Bestimmungen vollzogen werden, es steht uns hierbei nur der Hinweis auf vollzogene Bestimmungen (nicht auf ein Vermögen sie auszuführen) zu Gebote." Natür- lich muß hierbei auf den Mythus von schöpferisch tätigen Kräften durchaus verzichtet werden. „Der Erfolg einer Bestimmung zeigt sich nun offenbar darin, daß das eine von dem anderen unter- schieden, aber auch zugleich mit ihm verknüpft und so zu ihm in Beziehung gesetzt wird." Das Wesen des Bestimmens besteht im Erfassen des einen im anderen. So gelangt in dem Urteile „diese Rose ist rot" die Unterscheidung des einen vom anderen und die Verknüpfung des einen mit dem anderen, von dem es unterschieden wird, zur Ausführung. „Ich erfahre nämlich in dem durch das Wort ,,dies" angedeuteten Erlebnis die als ,,rot" bezeichneten Inhalte früherer Erlebnisse, und indem ich dies tue, wird das früher Erlebte dem jetzt Erlebten, das ja auch eine andere Be- schaffenheit haben könnte, gegenübergestellt und durch Zuerkennen der roten Farbe mit ihm verknüpft." Wir übergehen die Arten des Zusammenhangs der Bestimmungen und wenden uns zum Kapitel vom „Erfassen der Wirklichkeit". Diese selbst tritt nur in den Bestimmungen des Denkens hervor und besitzt nicht etwa eine vom Denken unabhängige Existenz. Da ein Gegenstand zum Träger eines Vereins zusammen- gehöriger Bestimmungen wird, die nicht insge- samt vollzogen sein müssen, sondern auch bloß als „vollziehbar" in Betracht kommen können, so kann das zur Annahme verleiten, „daß der Gegen- stand schon ohne jede Bestimmung — als Ding an sich — bereits vorhanden sei und darauf warte, durch das Denken aufgefunden und mit Bestim- mungen ausgestattet zu werden". Dann müßte ein Ähnliches auch vom Denken gelten. „In Wahrheit gibt es jedoch weder ein Ding an sich noch ein für sich bestehendes Denken. Denn der einer weiteren Bestimmung fähige Gegenstand ist nur auf Grund der bereits vorliegenden Be- stimmungen talsächlich vorhanden, und auch das Denken existiert nur, sofern es in dem Vollzuge von Bestimmungen zutage tritt. Es ist nur die Möglichkeit im Auge zu behalten, daß zu den bereits vollzogenen Bestimmungen noch weitere hinzutreten können; und man muß neben den einzelnen Bestimmungen auch ihr Zusnnmien- bestehen als maßgebend für die Beschaftenheit der in dem Gewebe der Bestimmungen hervor- tretenden Gegenstände ansehen." . . . ,,Es gibt keine unerkennbare Wirklichkeit; keine Grenzen, jenseits welcher ein dem Erkennen sich entziehendes Sein oder Werden voraussetzbar wäre; keinen Kern, der hinter der allein zu- gänglichen Schale verborgen bliebe. ... Es hat daher auch gar keinen Sinn zu fragen, ob es denn überhaupt eine Wirklichkeit gebe, und ob wir nicht vielmehr einen wesenlosen Schein oder einen bloßen Traum an ihre Stelle setzen, da nur eine mit subjektiven Täuschungen behaftete indi- viduelle Auffassung des wahren Seins möglich sei." ,,Es gibt nur eine einzige, in sich zusammenhängende Wirklichkeit." Es gibt aber für uns weder eine Wirklichkeit, die von vornherein eine bestimmte Beschaffenheit hat, noch auch einen mit Vermögen und Kräften ausgerüsteten Geist. Darum hat die F'rage, wo- her die Formen stammen, aus der Wirklichkeit selbst oder aus dem Geiste, keinen Sinn. Dagegen ist von grundlegender Bedeutung, ,,wie die Wirklichkeit tatsächlich erfaßt wird und erfaßt werden muß." Als beziehungslos kann die Wirklichkeit nicht gedacht werden. Sie ist nur in einem Prozesse des Unterscheidens und Verknüpfe ns erfaßbar, und zwar nur in bestimmten Daseins- weisen, von welchen die eine in der anderen her- vortritt oder in die andere übergeht. Die Daseins- weisen bilden in ihrem Zusammenbestehen die Wirklichkeit, „die als solche selbst nicht wieder in einer Einzelbestimmung erfaßt werden kann." Das Unterscheiden der Bestandteile der Wirklichkeit ist nicht dasselbe wie das Erfassen jener Bestandteile in ihrem Zusammenbestehen. „Ohne den Vollzug von Unterscheidungen ist zwar die Wirklichkeit nicht erfaßbar; sie wird aber durch die Unterscheidungen nicht erschöpft und löst sich nicht in sie auf." Die W i r k 1 i c h - keit ist ein teilbares Ganze, dessen Teile wieder- um teilbar sind und sich in irgendwelchen, durch N. F. VIII. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 139 die Sinnesqualitäten bedingten Abgrenzungen dar- bieten. Sie hat die Form eines K o n t i n u u m s , das als f 1 ä c h e n h a f t oder zweidimensional 7.U bezeichnen ist. In ihm werden die Erstreckungeii, wie der Arithmetiker sich ausdrücken würde, von den beiden Richtuiigsgegensätzen -\~ 1 und — i und -|- i und — i berherrscht. Im flächenhaften Kontinuum sind es nun die Raumkörper, die wir erfassen. Bei ihnen tritt zu jenen Richtungs- gegensätzen noch ein dritter hinzu, der Portgang von innen nacli außen. Ein Körper, der alle irgendwie bestimmten Körper umschließt und den wir sich unbegrenzt ausdehnen lassen, würde als der dreidimensionale Raum zu bezeichnen sein. Alles Naturgeschehen läßt sich auf die Änderung der Bewegung und der Lage, des Volumens und der Anzahl der Raumkörper oder ihrer Teile zurückführen. Es ist keineswegs notwendig, die Veränderung der Körperwelt auf die von der Bewegung kleinster, unveränderlicher und undurchdringlicher Teile zu gründen; man würde sonst ein Vorurteil zur Grundlage der Naturbetrachtung machen. Den Begriff des ,,Besc hre ibens" faßt Lipps zu eng. Es genüge nicht zu wissen, daß die Größen x,, x,, x.,, . . ., welche für einen ge- gebenen Zeitpunkt die Bewegung und Lage, das Volumen und die Anzahl der Körper oder ihrer Teile bestimmen, nach Ablauf einer bestimmten Zeit die Werte y,, y,^, y^, ... angenommen haben, sondern man müsse ,, die tatsächlich sich vollziehende Ände- rung auch begreifen, indem wir den früheren Zustand als den objektiv bestehenden Grund der späteren und den späteren als die objektiv be- stehende Folge des früheren auffassen." Man müsse die von Hausaus unbeschränkt veränderlichen Körper erst mit gewissen, die Zustandsänderungen bedingen- den Merkmalen, mit bestimmten Parametern be- haftet denken, z. B. mit dem Parameter der Masse. Lipps bedenkt nicht, daß die Me- thode des Beschreibens im Sinne von Mach jede Begriffsbildung einschließt, sofern sie ganz in der Erfahrung wurzelt, daß sie also auch die Bil- dung des so wichtigen Parameterbegriffes umfaßt. Mach selbst hat in klassischer Weise einen Weg gezeigt, auf dem man in einwandsfreier Weise zum Massenparameter gelangt. Eine Erfahrungs- tatsachen verwertende, rein in Gedanken sich voll- ziehende Begriffsbildung, deren Wert nachträglich wieder an den Tatsachen geprüft wird, braucht durchaus nicht aus dem Bereich des Beschreibens herauszutreten. Auch Duhem vertritt diese Auffassung in seinem Werke über ,,Ziel und Struktur der physikalischen Theorien". Sehr richtig ist das, was Lipps von den ver- borgenen Qualitäten und Kräften sagt, die für eine kritische Auffassung des Naturgeschehens ebensowenig vorhanden sind, wie ein absolutes mit ursprünglichen Bestimmungen behaftetes Sein. Die Unterscheidung , die er zwischen b e - lebten und unbelebten Körpern macht, hat etwas Bestechendes. Datiach werden die Parameter der lebendigen Körper nicht nur durch „die gegenwärtigen, sondern auch durch die ver- gangenen Zustände beeinflußt und sind darum einer ständigen Veränderung unterworfen". ,,Die Parameter der leblosen Körper sind entweder konstant oder nur von dem augenblicklichen Zu- stand abhängig." Eine derartige Unterscheidung scheint mir nicht ausreichend zu sein. \Vas für lebende Körper gilt, gilt meiner Ansicht nach auch für alle diejenigen leblosen Köper syst e me, die, äußeren Störungen ausgesetzt, sich diesen anzu- passen vermögen und ihre Form nur so langsam ändern, daß sie immer noch als dieselben Systeme angesehen werden dürfen. Als Beispiele können wir die der Entwicklung unterworfene Erde und das Sonnensystem anführen. Es dürfte unsere Auffassung deshalb wichtig sein, als in ihr zum Ausdrucke kommt, daß von einem prinzipiellen Unterschiede zwischen lebendem und leblosem Körper nicht die Rede sein kann, solange man von den etwa vorhandenen psychischen Begleiterscheinungen absieht. Zur- zeit ist es jedoch zweckmäßig, die spezialisierten Bestimmungen des lebendigen Körpers beizube- halten, wie sie z. B. von Roux gegeben sind. Wichtig ist der Satz, daß weder das Empfin- den noch das F"ühlen als Wirkung oder U r - Sache des objektiven Geschehens zu begreifen sei, daß vielmehr die subjektiven Zustände des Fühlens und Empfindens oder des Bewußtseins mit gewissen Größen, welche objektive Zustände und Zustandsänderungen des Leibes bestimmen, verknüpft sind. Mit Recht betont Li pps, daß un- lösbare Widersprüche auftreten, wenn subjek- tive Erlebnisse in den Zusammenhang des ob- jektiven Geschehens eingereiht werden, wenn z. B. psychische Tatsachen in die physiologischen Gehirnvorgänge als bestimmende Faktoren ein- geschaltet werden. Zum Schlüsse stellt der Verfasser noch das die Psychologie in ihrem ganzen Umfange be- herrschende Prinzip derlnhärenz auf, wo- nach die der Vergangenheit aiigehörigeip Er- regungszustände der Pllemente, auf denen das Bewußtsein beruht, insgesamt und in ihrem ganzen Umfange den gegenwärtig erfaßten Zuständen inhärieren. Der Mensch ist in seinem Tun und Lassen vom Aufleben und Nachwirken der Ver- gangenheit abhängig. Er nimmt daher Ge- wöhnungen an, er läßt sich erziehen; er ist einer durch die Vergangenheit bedingten und so in bestimmter Richtung sich vollziehenden Entwick- lung fähig. Wir haben diejenigen Punkte herausgegriffen, die ein allgemeines erkenntnistheoretisches Inter- esse zu wecken vermögen, und überlassen es den mathematisch geschulten Lesern, sich mit einzelnen Abschnitten, in denen Lipps gerade die Er- 140 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 9 gebnisse eigener I'orschung niedergelegt hat, eingehend zu beschäftigen. Es gehören hier- her besonders das 5. Kapitel, das vom Zusammen- hang der Bestimmungen und den Grundlagen der Mathematik handelt, ferner die auf den Seiten 243 — 250 angegebene Methode, einen lebenden Körper auf etwa hervortretende Gesetzmäßigkeiten zu prüfen, sowie endlich die im letzten Kapitel behandelten Probleme der physiologischen Psy- chologie. Angersbach. Kleinere Mitteilungen. Ein Meerweibchen. (Aus der mediko-histo- Tischen Sammlung des Kaiserin Friedrich -Hauses in Berlin). — Dr. \V. Frieboes teilt in der Zeitschrift f. ärztl. Forlbildung folgendes mit. Im Katalog der mediko-historischen Sammlung des Kaiserin Friedrich-Hauses zu Berlin findet sich unter der langen Reihe der Schätze auch ein ,, Meerweibchen" angeführt, eines jener Wesen, mit denen das Altertum Flüsse und Meere be- völkerte und die durch Sagen und Märchen, Skul|)turen und Bilder auch noch heute bei uns lebendig sind. Freilich ist es ein kleiner Sproß dieser Art, ein nur 62 cm langes Gebilde. Kein glattes Kindergesicht lacht uns an , sondern wie die Figur i zeigt, ein in Mienen und Gestaltung Fig. I. des Körpers verhutzeltes altes Weib mit hängen- den Brüsten , fast haarlosem Kopf, gefletschten Zähnen und höhnisch grinsendem Gesicht, so als wollte es spotten über alles, was Sage, Literatur und Kunst über iiir Geschlecht je gefabelt. Jeder der zum ersten Male dies kleine Ungeheuer sieht, muß glauben, daß der Körper eines jämmerlichen Neugeborenen präpariert, ausgestopft und zu die- sem Zerrbild umgeformt worden sei, denn alle Einzelheiten entsprechen in Form und Haltung der anatomischen Wirklichkeit. Eine Röntgen- aufnahme mußte den untrüglichen Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme liefern. Sie wurde gemacht. Die Struktur der Fischflossen in allen Finzelheiten klar und deutlich, das Menschlein — ein Kunstwerk! Kein Knoclien, kein Muskel, alles mit der Hand gearbeitet. Die Herstellungsmasse wird wohl ein Gemisch von Werg, Kreide und Leim sein, das geformt und dann mit einer dicken Firnisschicht über- zogen worden ist. Auf dem Kopfe befinden sich, festhaftend in der Masse des Schädels, einzelne, 3 — 5 cm lange, rotbraune Haare, wohl die Über- reste einer langhaarigen Perrücke, die das groteske Aussehen noch erhöhte; wenigstens stellte man zu der Zeit, aus der auch dieses Meerweibchen stammt (16. bis 17. Jahrh.), diese Wesen mit langen Haaren dar, wie die Abbildungen (Fig. 2) aus dem Buch der Natur von C. v. Megenberg') bezeugen. Interes- sant ist ferner, daß der Künstler entsprechend der Wassernatur des Geschöpfs keine Ohren gebildet hat, sondern daß er an der Stelle des äußeren Gehörganges die oberste Schicht zweimal dicht hintereinander abgestemmt und in die Höhe gehoben liat, so daß es aussieht, als ob die Atmung durch Kiemen stattfindet. Der Zweck, den der Verfertiger des Meerweibchens verfolgt hat, kann nur die absichtliche Täuschung ge- wesen sein , d. h. den Glauben zu erwecken, daß dies Kunstprodukt wirklich ein lebend gefangenes und nachher präpariertes Meerweibchen sei. Dies ist ihm auch vollkommen geglückt, und der Eindruck beim Erblicken eines richtigen Meerweib- chens, über das die grausigsten Er- zählungen im L'mlaufe waren, mußte ein gewaltiger sein, denn zu der Zeit des Hexenwahns und Teufelsglaubens, wo alle Mißgeburten als Strafe des Himmels oder als Beweis verbotener Verbindung mit dem Teufel angesehen wurden, wo Bücher, wie der Hexenhammer, kanonisches Ansehen genossen, wo durch Flugblätter mit Ab- bildungen fabelhafter Wesen und Mißgeburten und deren Beschreibung das Unglaubhafteste als bare Münze aufgetischt werden konnte , glaubte ') C. V. Megenbei'g , Buch der Natur, das lial getruckt Hans Bämler zu Augsburg 1475. (Ausschnitt aus der Pubhliation in: E. Holländer, Die Karrikatur und Satire in der Medizin. Stuttgart 1905.) N. h'. VIII. Nr. 9 Naturwi.ssen.schaftliche W'ochen.schrift. 141 man fest an die Existenz solcher Wesen, und bis weit ins 17. Jahrhundert hinein vertraten auch die streng wissenscliafilichen Handbücher der Naturgeschichte diese Anschauungen und brachten lange Erörterungen und Abbildungen über die vielerlei „Mörwunder". — Die Darstellung der Meerweibchen, der Tritoniden des Altertums, war im Laufe der Jahrhunderte eine mannigfaltige. Während der einfachste Typus der war, daß sich gleich hinter den Schultern ein ganzer Eisch- \jji 'g^ .d^ ^^ j| r.. '' ^w^wPfl W-j^ ^ T pil w j^JTw J f^^j v 1 „ 34.7 ,. ., 1- .. >, 9- ., 11 >. 4,4 .. .. » .. " '"• .. 1: 17- 1- 7 .. 57.4 .. 11 >i !• .. '• .. „ 24. „ 9 „ 51,8 ,, „ „ „ „ I. „ „ 28. „ 8 „ 53,5 „ , II. ,, .. 3'. ..11 .. 46.2 .. .. .. .. .. I- .' Algol -Minima sind beobachtbar am ']. imi 10 Uhr 29 .Min. abends und am 10. um 7 Uhr iS Min. abends. Aus dem v/issenschaftlichen Leben. IC in Internationaler Kongreß für angewandte Photographie in den Wissenschaften und der Technik soll im Juli 1909 anläßlich der Internationalen Pholographischen Ausstellung zu Dresden stattfinden. Wäh- rend des Kongresses sollen von Vertretern der verschiedenen wissenschaftlichen und technischen Kreise zusammenfassende Vorträge über die vielfachen Anwendungsmöglichkeitea der Photographie auf allen Gebieten des ötTenttichen Lebens ge- halten werden. Des weiteren sind Diskussionen unter den Vertretern der einzelnen Kachwissenschaften vorgesehen. Ferner sollen Erörterungen über die Grundlagen der Farbenlehre, binokulares Sehen und Stereoskopie, photographische OptiV, Mikrophotographie usw. gepflogen werden. Dabei sollen auch einige Fragen von allgemein praktischem Interesse verhandelt werden, wie die Einheitlichkeit der Lichtbildformate und der Blendensysteme, die Bezeichnung der Plaltenempfindlichkeit usw. usw. Auch die Gründung einer Auskunftsstelle für Photographie ist ins Auge gefaßt. In einer am 4. Dezember V. J. stattgefundenen Sitzung hat sich der .Arbeitsausschuß, dem u. a. Prof. Dr. Mieth e- Charlottenburg und Prof Dr. Eder-\\'icn angehören, konstituiert. Als A'orsitzender des vorbereitenden Ausschusses wurde Prof Dr. L u t h e r- Dresden, Technische Hochschule, gewählt. Die Geschäfte des Schatz- meisters hat der Direktor der Dresdner Bank, Generalkonsul Klemperer übernommen. Ein Internationaler Photographen- Tag, der in der Zeit vom 7. bis 10. Juli 1909 anläßlich der Internatio- nalen Photographischen Ausstellung in Dresden stattfinden soll, wurde in einer vom Sächsischen Photographen-Bund ein- berufenen, von einer Anzahl Vertreter der größten deutschen Fachvcreinc besuchten Sitzung beschlossen. Se. Majestät der König von Sachsen hat das Prolektorat über die Tagung an- genommen. Es ergehen zu dem Photographen-Tag Einladun- gen an sämtliche Fachpholographen-Vereiue und -Verbände der ganzen Welt. Neben dem Besuch der in großartigem Umfange geplanten Ausstellung werden Vorträge und Ver- handlungen über die neuesten Erfindungen und Fortschritte auf dem Gebiete der Photographie geboten. Die Leitung der Tagung liegt in den Händen von Prof E m m e ri c h - München, R. A. Schlegel- Dresden und Direktor Schultz-Henke- Berlin. Die Vorbereitung der Veranstaltungen hat der Säch- sische Photographen-Bund übernommen ; es sind die Herren R. A. Schlegel-Dresden, Vorsitzender, und Kaufmann Oskar Hohr-Dresden, Vorsitzender des Festausschusses, mit den Vor- arbeiten betraut worden. Bücherbesprechungen. Otto Schoetensack, Der Unterkiefer des Homo H eidelberg e nsis aus den Sanden von Mauer bei Heidelberg. Leipzig, W. Engelmann, 1908. In den Sanden von Mauer bei Heidelberg wurde im Oktober 1907 ein interessanter menschlicher Unter- kiefer gefunden, der jüngst in reich mit schönen Tafeln ausgestatteter Monographie von Schoetensack beschrieben wurde. Bekannt sind aus dieser Ab- lagerung außer zahlreichen Schnecken und Säugetieren noch Elephas antiquus, Rhinoceros etruscus und ein an Equus Stenonis erinnerndes Pferd , die das alt- diluviale Alter des Fundes verbürgen. Schoetensack hat auch nichts unterlassen, um die Fundstelle und die Fundumstände auf das Genaueste festzustellen, so daß Alter und Fundort keinem Zweifel unterliegen können. Lediglich die Zähne lassen den vorzüglich erhal- tenen Unterkiefer als den eines Menschen erkennen. Es fehlt ihm der Kinnvorsprung, und die Dimensionen des Unterkieferkörpers und der Äste sind ungewöhn- lich beträchtlich. Von den Zähnen ragen die Eck- zähne nicht anders hervor wie bei anderen mensch- lichen Gebissen, ebenso sind weder in der Form noch in den Dimensionen der anderen Zähne -Abweichungen zu beobachten. Die Form des Kiefers selbst aber ist so eigentümlich abweichend von der bisher ge- fundener, fossiler Menschenkiefer, daß Schoetensack sich veranlaßt sieht , einen neuen Artnamen , Homo Heidelbergensis, vorzuschlagen. Die LTnterkiefer von La Naulette und Krapina haben einen gedrungeneren Corpus mandibulae. Der ungewöhnlich mächtige Unterkiefer von Spy I ist noch weniger dick als der Heidelberger. So erscheint der Heidelberger Kiefer noch primitiver als die genannten. Gemeinsam aber hat er mit diesen das negative Kinn. — Schoetensack hält übrigens den Unterkiefer in seiner Form nicht nur für präneanderthaloid, sondern auch für präanthro- poid. Er findet Annäht-rungen zu ihm in den Unter- kiefern niederer Affen und Halbaffen. ,,Als Beispiele seien herausgegriffen : Die Ähnlichkeit des Processus coronoideus und der flachen Incisura semilunaris bei Cynocephalus, die Andeutung einer Incisura subcoro- noidea bei Mycetes, die Breite der Äste bei fossilen Lemuriden." Diese Vergleiche legen jedenfalls für die überaus sorgfältige Bearbeitung des Materiales Zeugnis ab. Stremme. Seit dem i. Januar 1909 erscheint im Verlage von Gustav Fischer in Jena eine neue „Zeitschrift für Botanik" unter der Leitung von L. Jost und der bisherigen Redakteure der „Botanischen Zeitung". Diese letzteren , nämlich Friedrich Oltmanns und Graf zu Solms-Laubach erklären : Die von der Redaktion ausgegangene Kündigung des bisherigen Verhältnisses zur B. Z. sei hervorgerufen worden durch sich wiederholende Meinungsverschiedenheiten zwischen der Redaktion und der Verlagshandlung, welche ein gedeihliches Zusammenwirken zwischen den beteiligten Faktoren für die Zukunft nicht erwarten ließen. „Die zahl- reichen persönlichen Beziehungen, welche im Laufe der Jahre von den Unterzeichneten mit den Mit- arbeitern der ,, Botanischen Zeitung" geknüpft worden sind , ließen es ihnen geradezu als eine Pflicht er- 144 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. scheinen, die gemeinsame Arbeit nicht aufzugeben, sondern vielmehr zu erweitern und für die F.ntnick- lung der botanischen Wissenschaft nutzbar zu machen." Die neue „Zeitschrift für Botanik" wird monatlich erscheinen. Den Inhalt eines Heftes werden Original- arbeiten eröffnen ; kritische Besprechungen werden folgen, und eine Übersicht der neu erschienenen Lite- ratur wird den Abschluß eines jeden Heftes bilden. Es wird das Bestreben der Redaktion sein , gute Arbeiten aus jedem Gebiete der Botanik zu ver- öffentlichen. H. Poincare, Die Max well'sche Theorie und die Hertz'schen Schwingungen. Die Telegraphie ohne Draht. Aus dem Fran- zösischen übersetzt von M. Ikle. 199 Seiten mit 9 Fig. Leipzig, J. A. Barth, 1009. — Preis geb. 3,20 Mk. Trotzdem die deutsche Literatur reich ist an trefflichen Darstellungen des gleichen Gegenstandes, ist das Werk des bedeutendsten französischen Theo- retikers so durchaus eigenartig, daß man es dankbar begrüßen muß, es nunmehr dem deutschen Publikum in der eigenen Sprache zugänglich gemacht zu sehen. Schon der recht niedrig angesetzte Preis dieser Aus- gabe läßt erkennen , daß es sich nicht um eine für Fachleute bestimmte Publikation , sondern um einen für weiteste Kreise berechneten Versuch handelt, die Grundlagen der Gedankengänge gemeinverständlich zu entwickeln , die zu dem glänzenden Triumph der theoretischen Wissenschaft , den die drahtlose Tele- graphie bildet, geführt haben. Verf. zeigt in diesem Buch, daß er nicht nur ein Meister der mathemati- schen Theorie ist, sondern es in gleichem Maße ver- steht, die nicht für jedermann zugänglichen theoreti- schen Ableitungen wenigstens in ihren Ergebnissen durch geschickt gewählte, anschauliche Analogien auch dem Laien faßlich zu machen. An einzelnen Stellen, z. B. bei den Versuchen von Fizeau und Gounelle (S. 83) und denen von Blondlot (S. 88), macht sich das Fehlen einfacher Zeichnungen für den Ungeübten recht störend fühlbar. Der Über- setzer hätte gut getan , hier dem Leser das eigene Entwerfen einer Zeichnung durch Hinzufügung einer solchen zu ersparen. Kbr. Literatur. Besecke, Willi.: Entwickluiigsgcschiclitliche Untersuchungen üb. den anatomischen .\ufbau jiHanzlicher Stacheln. Ge- krönte Preisschrift. (93 S. m. 6 Taf.) Lex. 8". Berlin 'og, R. Iriedländer & Sohn. — 4 Mk. Fischer, Emil ; Untersuchungen über Kohlenhydrate und I'er- menle (1884 — 1908). (VlII, 912 S.) gr. 8°. Berlin '09, J. Springer. — 22 Mk., geb. in Leinw. 24 Mk. Gattermann, Prof. Dir. Dr. I.udw. : Die Praxis des organi- schen Chemikers. 9., verb. Aufl. (XII, 352 S. m. 91 Ab- bildgn. u. 2 Tab.) gr. 8". Leipzig '08, Veit & Co. — Cieb. in Leinw. 8 Mk. Knoevenagel, Prof. Dr. Emil : Praktikum des anorganischen Clieniikers. Einführung in die anorgan. Chemie auf experi- menteller Grundlage. 2., vollständig verändertejAufl., mit- bearb. v. Priv.-Doz. Dr. Erich Ehler. Mit zahlreichen Fig., 4 Tab. u. 9 Taf. (XXIV, 3S6 S.) gr. S«. Leipzig '09, Veit & Co. — Geb. in Leinw. 10 Mk. Meyer, Prof. Dr. Hans: Analyse und Konstitutionsermittlung organischer Verbindungen. 2 , verm. u. unigearb. Aufl. (XXXII, 1003 S. m. 235 Fig.) gr. 8°. Berlin '09, J.Springer. — 2S Mk., geb. in Halbldr. 31 Mk. Smith, Prof. Dir. Dr. Alex.: Einführung in die allgemeine u. anorganische Chemie auf elementarer Grundlage. Unter Mitwirkg. des Veif. übers, u. bearb. v. Material prüfungsamts- Assist. Dr. Ernst Stern. Mit e. Vorwort v. Prof. Dr. Fritz Haber. (XVI, 677 S.) S°. Karlsruhe '09, G. Braun'sche Hofbuchdr. — Geb. in Leinw. 9 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn Dr. C. M. in Zürich. — Über Gartenbau (bes. Ziergärten) gibt es eine umfangreiche Literatur. Ein sehr verbreitetes Werk ist: Seh midi in, Gartrnbuch (4. Aufl. von Nietner und Rümpler; 8 Mk.); außerdem Wredow, Garten- freund 119. \u\\. von II. Gaerdt; 7,50 Mk.). — Ferner sind zu nennen; Th. Lange, Allg. Gartenbuch (3. Aufl., 2Bde); Christ, Gartenbuch (13. Aufl. v. Lucas, Stuttgart 1903); W. Hampel, Gartenbuch für jedermann (3. Aufl. 1902; 5 Mk.i; j. Böttner, Gartenbuch für Anfänger (7. Aufl. igo6; 5 Mk. ; dieses kleine Werk wird von sachverständiger .Seite als praktischer Ratgeber sehr gerühmt). Ein Werk, das die Gartengestaltung ganz vom modernen künstlerischen Stand- punkt aus behandelt, ist das Buch von W. Lange und O. Stahn, Gartengestaltung der Neuzeit (Leipzig 1907; 12 Mk.). — Ein von Gartenfreunden viel benutztes lexikali- sches Werk ist Rümpler 's Gartenbaulexikon (3. Aufl. von Wittmack, 1902). — Die meisten der angeführten Werke fin- det man angezeigt in den Antiquariats-Katalogen der Firma K. F. K Dehler in Leipzig, Kurprinzenstr. 6. H. Harms. Herrn H. H. in Frankfurt a. M. — Adventivsprosse an den Blättern des Kohls, Brassica oleracea. Derartige Bildungen findet man erwähnt bei Penzig, Pflanzenteratolo- gie I. (1890) 261. Danach bringen die Kohlblätter bisweilen an der Wiltelrippe .'\dventivknospen hervor, die meist zu mehreren gesellt längs dieser stehen; sie unterscheiden sich von den gewöhnlichen Adventivknospen durch ihre starke Entwicklung und stabile Insertion im Gewebe der Mittelrippe selber. Duchartre (Bull. Soc. bot. France XXVIIl. (1881) 256) hat den Bau dieser blatlbürtigen Zweige genau beschrie- ben. Danach waren die kleinsten derselben am Grunde der Blattspreite eingefügt, und sie nahmen nach der Blattspitze an Größe zu, eine Erscheinung, die mit der basipetalen Ent- wicklung des Kohlblattes zusammenhängt. — Auf den Kohl- blättern kommen nach Penzig gelegentlich auch Adventiv- wurzeln vor. A'on den Adventivknospen verschieden sind die mannigfaltigen Ex k reszenzen, die auf den Blättern des Kohls vorkommen ; sehr häufig ist die Erscheinung, daß längs der BlaUmittelrippe eine Menge Neubildungen auftreten, die entweder die Gestalt von flachen oder konkaven bandförmigen Blättchen, oder die von röhrigen, trichterförmigen, oben offe- nen, oft lang gestielten Ascidien haben. Solche Gebilde sind oft beschrieben worden , Adventivknospen scheinen dagegen selten zu sein. H. Harms. Inhalt: Sammelreferate und Übersichten: .\ngersbach: Neues aus der Philosophie. — Kleinere Mitteilungen: Dr. W. fricb, S. 270. Deutsche medizinische Wochenschrift 1906, Beilage zu S. II. La Geographie 1903, Bd. VIII, S. 401. Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene I905, S. 268. Johnston, British Central Africa X897, S. 37S. Eigentümlichkeit tritt nicht bei allen Arten gleich hervor, sie mag vorhanden sein bei morsitans und fusca, ist es aber nicht bei palpalis. Die letzteren scheuen das Wasser des Victoria Njansa nicht"') und ebensowenig die Dörfer usw., denn vom Kongo, wo es sich um palpalis handelt, wird be- richtet, daß die Fliege den Piroguen ganze Stun- den lang folgt und daß sie häufig in den Dörfern der Eingeborenen sei."") In gleicher Weise finden wir Ausnahmen bei der Feststelhmg, daß die Fliegen nur bei Tage schwärmen und stechen, so ist z. B. festgestellt, daß fusca auch des Nachts sticht.'") Johnston sagt in bezug auf diesen Punkt: „Eine andere sehr wichtige Tatsache ist, daß die Tsetse nicht in der Nacht sticht, deshalb, wenn ein von der Tsetse beherrschter Strich durchwandert werden muß, geschieht das am besten in der Nacht und zwar während des Mondscheins. Ebenso wie in allen anderen Punkten stehen auch den allgemeinen Regeln über die von der Fliege bevorzugte Temperatur Ausnahmen gegen- über. Im allgemeinen sind die Glossina auf die wärmeren Länder beschränkt, die innerhalb des Wendekreises liegen, also die Tropen, jedoch liegen Ausnahmen vor und diese dürften noch über 14" hinausreichen nach Timbiiktu und zum äußersten Süden von Oran. Welche Arten dies sind, ist nicht berichtet.") Alle Gegenden sind so warm, daß die Tem- peratur auch in den kältesten Nächten noch mehrere Grad über dem Nullpunkt bleibt. '') Die wissenschaftliche Mission von Katanga fand aber Tsetsen bei einer Morgentemperatiir unter o".^®) Was die Jahreszeit anbetrifft, so ist die Zahl der Fliegen in der Trockenzeit erheblich einge- schränkter, als in der Regenzeit.'-) Ja, sie kann in der trockenen Zeit vielerorts ganz verschwinden oder wenigstens so in der Zahl zurückgehen, daß es praktisch einem völligen Verschwinden gleich kommt. Eingehende Angaben erhielt Dr. Sander in Muhera: die Tsetse sei hauptsächlich und in großer Zahl in den Monaten Juni, Juli, August und September in der Umgegend, im Oktober bis November nur in geringer Zahl, im Dezember bis Januar gar nicht, im Februar gäbe es, je nach- dem schon Regen gefallen oder nicht, einige wenige, im März, April und Mai kämen sie mit dem Regen, d. h. also sie fangen an in der Regenzeit aufzutreten, vermehren sich in dieser, halten dann einige Monate aus und verschwinden aus einer noch festzustellenden Ursache mit der steigenden Sonne und Trockenheit.''') Die Tsetsen kommen innerhalb ihres Ver- breitungsgebietes keineswegs überall da vor, wo "') Comptes Rendus de l'Acaderaie des Sciences Paris 1905. II, S. 929. ™') Archiv für Srhiffs- und Tropenhygiene 1906, S. 35. ") Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 1905, S. 265 bis 266. — Dr. Sander, Die Tselscn. ") Ebenda S. 268. '•') Beiträge für Kolonialpolitik 1903/04, Bd. 5, S. 57. 152 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 10 Höhenlage und Temperatur es zulassen, sondern nur an recht eng begrenzten Örtlichkeiten, von den Engländern als fly belts (Fliegengürtel) be- zeichneten größeren oder kleineien, oft wenige hundert Meter breiten Flächen, zwischen denen breite, völlig tsetsefreie, Striche liegen.'-') So berichtet Merensky, daß die Tsetse (morsi- tans) sich am Limpopo immer an bestimmten Orten aufhalte, in gewissen Bergen oder in ge- wissen Tälern. In manchen Gegenden ist sie vorgerückt, seit man sie beobachtet, in anderen hat sie sich zurückgezogen. Im Pedilande war das Tal am Steelportfluß voller Tsetsen, neben diesem Fluß, 2 — 5 Meilen von ihm entfernt, zieht sich das von den Bapedi dicht bewohnte Land am Fuß des Leoluge- birges hin, hier weidet Rinderherde an Rinder- herde, die Tsetse aber bleibt in ihren Büschen, die Viehstationen sind oft dicht am Tsetsestrich, es wird nur den Hirten gesagt, wieweit sie weiden dürfen und das Vieh ist sicher."'') Dr. Sander vermochte jedoch im Hinterland von Tanga der- artige Fliegengürtel nicht festzustellen "') und im östlichen Teil von Britisch - Ostafrika zeigt die Tsetse Neigung zum Wandern, so daß sich auf der Karte keine Grenze angeben läßt, für das Gebiet innerhalb dessen man mit Sicherheit dar- auf rechnen könnte sie anzutreffen."") Schon seit längerer Zeit sind Mittel gesucht worden, um sich gegen die Tsetse zu schützen, einige haben schon Erwähnung gefunden. Living- stone erzählt von einem Chef, nach dessen Be- hauptung man Rinde und Wurzel einer Pflanze nehmen, ein Dutzend Tsetsen hinzufügen und das Ganze zerstam])fen müsse, man verwandle es so in Pulver und reiche es dem Tier. Der Rest der Pflanze dient zur Beräucherung des Tieres. Der Sohn dieses Chefs sagte, daß dieses Mittel verschiedene Rinder gerettet hätte, andere starben, es ist also nicht vollkommen.") In der botanischen Station in Zomba im Tal des Schire sind weitere Ver- suche gemacht worden, vorerst ohne Erfolg. Man kann die Aversion ausnutzen, die die Tsetse gegen starke Gerüche im allgemeinen beweist und gegen Exkremente im besonderen. Man hat beobachtet, daß es nach Erlegung einer Antilope, um sich von der Tsetse zu befreien, die buchstäblich Wild und Jäger bedecken, nur nötig ist, den Bauch des Tieres aufzuschlitzen und die Plingeweide zu öffnen. Die Insekten verschwinden sehr bald. Ebenso soll man die Angrifife der Fliegen völlig verhindern können, indem man die Tiere an- streicht mit einer Mischung von Kuhmist und Petroleum. In Uganda hatten zwei Offiziere die Idee, ihren Pferden beim Durchzug durch die gefährdete Zone eine Strohdecke aufzulegen, über welche ein in Petroleum und Jodoform getauchter StofT ge- breitet wurde. Die Strohdecke sollte nur die Stoft'decke an der Berührung mit der Haut des Pferdes hindern. Auch ein Beschmieren der Tiere, die durch ein von der Tsetse beherrschtes Gebiet hindurchgeführt werden sollen, mit einer Mischung von weichem Kuhmist und Milch wird emp- fohlen.'**) Die Buren suchen ihre Zugochsen da- durch zu schützen, daß sie nur des Nachts reisen und am Tage möglichst auf waldfreien Flächen rasten. Einzelne Elefantenjäger sollen ihre Pferde erfolgreich bewahrt haben, indem sie die Tiere mit einem den ganzen Körper deckenden Überzug versahen, der nur die Beine frei ließ. Erfahrungs- mäßig soll nämlich die Fliege die unteren Ex- tremitäten verschonen. Ein beachtenswertes Ver- fahren wenden die Barotheneger von Zambesi an, um eine Immunität gegen die Tsetse zu erzielen. In einer ihrer Hauptjagdgegenden am Euandofluß existiert die Fliege. Hierhin bringen die Jäger die trächtigen Hündinnen und lassen sie von der Tsetse stechen. Ist die Zeit richtig gewählt, so geht das Muttertier ein, nachdem es geworfen hat und der Wurf ist immun und zur Jagd in Tsetse- gegenden für immer zu gebrauchen.'") Kälber, die noch an der Mutter saugen, sowie Hunde, die ausschließlich mit Wildbret genährt werden, haben nicht unter der F"liege zu leiden; Dr. Sander glaubt jedoch nicht, daß die jungen säugenden Tiere unempfindlich sind.**") Die Masai, die glauben, daß die Tsetse ihren Rindern nur gefährlich sei, wenn sie diese in die Zungenspitze steche, versuchen durch Ausbrennen der gestochenen Stelle Heilung herbeizuführen, jedoch ist der Erfolg sehr fraglich. **!) In Britisch- Ostafrika ist die Zahl der an Nagana eingegangenen Tiere dadurch wesentlich herabgemindert worden, daß die Ugandabahn Viehwagen eingestellt hat, deren sämtliche Öffnungen durch undurchlässige Gazefenster geschlossen sind.*"-) '*) Merensky, Beiträge zur Kenntnis Sudafrikas, S. 23. "■) Beiträge zur Kolonialpolitik 1903/04, Bd. 5. '") Rundschau für Geographie und Statistik 1901, S. 477. '') Le Mouvement geographique 1899, S. 509. "*) Le Cosmos, Bd. 49. — A Travers Le Monde 1899, S. 88. '») Deutsches Kolonialblatt 1901, S. 876. '") Insektenbörse 1903, S. 68. *') Merker, Die Masai 1904. '^^) Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik 1901, S. 477. Gegend bzw. Volk Fulbe Hausa Kaanurisch Mombettu tsillan kudengiwa kiyi komagen nezze Benennung der Tsetse-Fliege. Benennung Quelle Passarge, Adamaua, S. 301. Casati, Zehn Jahre in Aquatoria, 1891, S. 220. N. F. VIII. Nr. lo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 153 Gegend bzw. Vüllv Seiiiiaar Sennaar Galla Niam-Niam Benennung allgemein surreta, mit diesem Na- men wird nicht nur eine Kliegen- art bezeiclinet, sondern deren mehrere. Die größte, gefürch- tetste und am allgemeinsten als Surreta bezeichnete .Art ist eine Pangonia yoharu tseu debau (?) .Am Tsad-Sce bodjene In der Gegend des Fort Lamy (Chari) bodjani In der Gegend von Say taon .An der TogoUUste adjoe Bei den Batoka ndoka Distrikt NouvcUe Anvers etuna In Katanga kisembe, kasembelc Bei den Wa-Bemba und Ba c hira südlich des Moero kisembe Bei Lotoi kazembe Zulu enzueze ana oder isiba Die Magandja im Süden des Nyassa, die Maravis, die Anguins, die Mpeseni kamzemba Die Y.aos meniba Die Magadja des Südens mamba, mzeba oder bubula Die Ufervölker des Zambesi bis hinauf zum 2. Katarakt pepsi In Usagara kipanga .Am Viktoria-See bibu In Muheza, Deutsch-Ostafrika sofuro Quelle Martmann , Reisen des Freiherru von Barnim in Nordostafrika, 1863, Anhang, S. 43. — Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft, Wien 1876, S. 352. Bei Kilwa, Deutsch-Ostafrika kipanga msagabu Globus I8ü8, Bd. 13, S. 168. n Ilartmann , Reisen des Freiherrn von Barnim in Nord- ostafrika, 1S63, Anhang, S. 43. La Geographie 1904, S. 352. Annales d'Hygiene coloniales 1904, S. 278. Ebenda 1905, S. 200. Zentralblatt für Bakteriologie 1901, Bd. 30, S. 551. Le Mouvcment geographique 1 892, S. 27 — 28. Comptes Rendus de l'Academie des Sciences, Paris 1905, II, S. 929. Bulletin de la societe beige de geographie 1905, S. 302. Bulletin de la societe de geographie d'Anvers 1900, S. 454. 11 11 „ S. 462. Foa, Vom Kap zum Njassa. Le Mouvemcnt geographique 189S, S. 480. Insektenbörse 189S, S. 276. Revue scientifique 22. X. 189S. Harlmann, Reisen des Freiherrn von Barnim in Xord- ostafrika 1863, Anhang S. 42. Deutsches Kolonialblatt 1903, S. 554. Beiträge zur Kolonialpolitik 1902/03, Bd. 4, S. 543. Berichte über Land- und Forstwirtschaft in Deutsch- Ostafrika 1903, Bd. I, S. 342. (Senegal) Gegend bzw. Volk In Loanga und Bangala Die Pahouin (Frz. Kongo) Jolüf \ Bambarra I Bei den FuUah Bei den Soussou Bei den Lobis In Rio Nunez In Wolof In Malinke Benennung der Schlafkrankheit. Benennung kulaba auyo netawan sonorhodini leke, sogolo sogore khikolikondi kanguru bole nelavan kuru Quelle Le Mouvement geographique 1903, S. 591. Annales d'Hygiene coloniales 1904, S. 278. Kleinere Mitteilungen. Bastardierung von Flußbarsch (Perca fluvia- tilis L.) und Kaulbarsch (Acerina cernua L.) von Paul Kammerer (Arch. f. EntwickUings- mechanik d. Org. Bd. 23, Heft 4, Leipzig 1907). Nachdem Kammerer bereits durch Experimente und langjährige Züchtungen von Salamandra atra und maculosa (Kammerer: „Beitrag zur Erkennt- nis der Verwandtschaftsverhältnisse von Salamandra atra und maculosa" im Archiv für Entwicklungs- mechanik d. Org. Bd. 17, Heft 2 und 3, Leipzig 1904, und „Vererbung erzwungener F"ortpflanzungs- anpassungen, i. und 2. Mitteilung: Die Nachkom- men der spätgeborenen Salamandra maculosa und der frühgeborenen Salamandra atra" im Arch. für Entwicklungsmechanik der Organismen Bd. 25, Heft I u. 2) unsere Kenntnis von der Vererbung, in diesem Falle speziell erworbener Eigenschaften, erheblich gefördert hat, liegt neuerdings wiederum eine wichtige Arbeit aus dem Gebiete der Ver- erbung von ihm vor. Es waren mehrfach in der Donau Fische be- obachtet worden, welche in ihrem Habitus sowohl dem Fluß- als auch dem Kaulbarsch ähnlich waren, so daß die Vermutung nahe lag, es möchte sich um Bastarde der beiden Arten handeln. Um dies sicher zu stellen, und um zu erforschen, wie die Verteilung der väterlichen und mütterlichen Eigenschaften, — hier natürlich rein morphologisch — auf die Kinder sich verhalte, wurde künstliche Bastardierung von Fluß- und Kaulbarsch erfolg- reich versucht. Es gelingt die künstliche Be- samung bei diesen Formen leicht; man streift den 154 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. lo geschlechtsreifen Tieren die Genitalprodukte ab und vermischt sie in einer Schale miteinander. Es ließ sich so die künstliclie Besamung sowohl bei Flußbarsch i und Kaulbarsch ? als auch bei Kaulbarsch 5" und Flußbarsch 5 leicht erreichen, und auch der .Aufzucht der jungen Brut stellten sich keine erheblichen Schwierigkeiten in den Weg. Die Mischlinge zeigten dieselben Formen wie die im Freien eingefangenen Tiere. Die Kreuzung ergibt fruchtbare Bastarde: die Bastardweibchen lassen sich jederzeit mit den Männchen beider Stammarten wiederum fruchtbar kreuzen. Fi ußbarsch weibch en, mit Kaulbarsch- männchen gekreuzt, ergeben Bastarde, bei denen väterliche und mütterliche Eigenschaften im äußeren Habitus etwa gleichstark vertreten sind. Kreuzt man dagegen Kaulbarsch Weib- chen mit Flußbarschmännchen, so resul- tieren daraus Formen, welche zwar auch die ge- mischten Charaktere der Stammeltern aufweisen ; doch prävalieren bei diesen Bastarden häufig die mütterlichen, also die Kaulbarsch Charak- tere. Werden diese so entstandenen Formen dann wieder mit Kaulbarsch männchen gekreuzt, so entstehen Tiere, welche dem Kaulbarsch gleich sind. Bei Rückkreuzung jedoch mit Elußbarschmännchen werden die Fluß- barschcharaktere wieder deutlicher. Die Mischlinge zeigten eine höhere Variabilität als die Stammformen ; auch wuchsen sie schneller als diese. Die VVachstumsgeschwindigkeit im ganzen hängt von der Temperatur ab: die jungen Pereiden wachsen bei höherer Temperatur schneller, bei niedrigerer Temperatur langsamer. M. Zuelzer. Eine Entgiftung des Leuchtgases könnte durch Beseitigung des in ihm zu 8 bis lO"/,, enthaltenen Kohlenoxyds erreicht werden. Es wäre gewiß erfreulich und von hoher praktischer Wichtigkeit, wenn es gelänge ein zu diesem Ziele führendes Verfahren technisch so weit durchzu- bilden, daß es ohne wesentliche Verteuerung im großen gleich in der Gasanstalt vorgenommen werden könnte. Vorläufig ist dazu der erste Schritt getan, indem Vignon nach einer der Pariser Akademie gemachten Mitteilung drei Me- thoden angegeben hat, durch die das Leuchtgas vom Kohlenoxyd befreit werden kann. Die erste dieser Methoden, über die wir nach der Zeitschrift ,, Neueste Erfindungen und Erfahrungen" (1909, Heft 2) berichten, besteht darin, daß man nach einem Vorschlage von Sabatier und Lenderens das Leuchtgas bei 250** C über fein verteiltes, frisch reduziertes Nickel leitet, nachdem man es zuvor vom Benzol und Schwefelverbindungen be- freit hat. Das Kohlenoxyd verwandelt unter kata- lytischer Einwirkung des Nickel sich dann in Methan nach der Gleichung CO -\- 3 H., = CH^ -\- HjO. Es könnte bei diesem Prozeß vor der Nickeleinwirkung dem Leuchtgas sogar noch etwa ein Fünftel Wassergas beigemischt werden, das durch die Umwandlung seines COGehalts gleich- falls seine Giftigkeit verlieren würde. Eine zweite Methode besteht darin, daß das von Benzol gereinigte Gas bei hoher Temperatur (ca. looo") über verschiedene Eisenoxyde streicht, wobei das CO größtenteils in CO., verwandelt wird. Endlich gestattet eine dritte Methode, das Kohlenoxyd bei gewöhnlicher Temperatur durch eine salzsaure oder ammoniakalische Kupferchlorür- lösung zu absorbieren. Kbr. Vereinswesen. Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Na- turkunde (E.V.). — Am Mittwoch, den 28. Ok- tober, sprach im Hörsaal VI der Königl. Land- wirtschaftlichen Hochschule Herr Dr. M. Grüner über: Island, Erinnerungen von einer naturwissenschaft liehen Studienreise. Er behandelte, unterstützt durch zahlreiche farbige Lichtbilder nach eigenen Aufnahmen, in seinem Vortrag eine gemeinsam mit dem Dänischen Orni- thologen R. Hörring in Begleitung eines Präpara- tors zu botanisch-zoologischen, sowie boden- kundlich-landwirtschaftlichen Studien unternom- mene, viermonatliche Studienreise durch das Nord-, Ost- und gesamte Südland Islands. Der Vortr. gab als Einleitung eine geographi- sche Übersicht über Island, die große Nachbarinsel Grönlands. Island ist mit seinen rund lOOOOO qkm = 1900 Quadratmeilen = etwa dem Areal Süd- deutschlands die zweitgrößte Insel Europas, besitzt jedoch eine im Verhältnis zu seiner Ausdehnung sehr geringe Bevölkerungsdichte: 80000 E. gegenüber rund 8 Mill. des etwa gleicharealigen Süddeutsch- land. Die Ursache hierfür liegt außer in der Rauheit des Klimas in der ziemlich geringen Ausdehnung des als Weideland für das Vieh nutzungsfähigen Landes = rund höchstens ''3 der Gesamtfläche. Die beiden anderen Drittel sind nämlich Gletscher, öde Lavagebiete und unfruchtbare Sand- und Ge- röllflächen. Das Klima ist jedoch in Anbetracht der hohen nördl. Breite (unter dem 65 * n. Br.) und der Nähe Grönlands (300 km) noch verhältnismäßig mild und ohne die spezifischen Eigentümlichkeiten des ark- tischen Klimas. Das Jahresmittel, in unseren Gegenden etwa 9" C, ist in Südisland rund 3", in Nordisland etwa + V," C. Klimatisch und bio- logisch (Baumwuchs, Insektenarmut !) besonders wichtig ist die sehr geringe Sommerwärme (Deutschland im Juli zwischen 17 und 19", Island ca. 10"). Die Niederschlagsmengen sind sehr beträchtlich, doch für die einzelnen Gegenden verschieden: im Ostland (Berufjord) 11 15 mm, im Nordland erheblich geringer. Auf der Insel Grimsey nur 373 mm. Bei uns in Deutschland N. F. VIII. Nr. 10 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 155 rund 500 mm. Nordisland ist wegen des bestän- digen Klimas im Sommer für Expeditionen ge- eigneter als das bis jetzt bevorzugte regen- und nebelreiche Südwestland. Der isländische Sommer (Juni bis Ende August) entspricht etwa unserem deutschen Mai. In Hochgebieten hat man jedoch auch im Sommer Schneefälle bzw. -Stürme und Fröste zu erwarten. Die reichlichen Niederschläge bedingen und erklären die gewaltigen Gletscher Islands. Der Niederschlagshöhe entsprechend liegen die be- deutendsten im Süden, z. B. der rund 8000 qkm große VatnajökuU (= VVassergletscher, wegen der zahlreichen von ihm gespeisten, durch Gletscher- delritus milchig getrübten Schmelzwasserströme, Flüsse und Rinnsale). Im Gegensatz zu den alpinen Gletschern, deren Firnfeld klein ist und deren Hauptteil der in die Täler herunterreichende Eisstrom darstellt, ist das Firnfeld der isländischen Gletscher analog der grönländischen Inlandeisbedeckung mächtig ent- wickelt. Dagegen sind die den alpinen Gletschern entsprechenden Gletscherzungen (isl. pl. Skrid- jöklar = Schreitgletscher, da sie vom ruhenden Firnfeld vorwärtsschreiten) der Zahl und Mächtig- keit nach unbedeutend. Die Milde des isländischen Klimas beruht auf dem, besonders das West- und Nordland im Sinne des Uhrzeigers umfließenden Golfstrom, der die Insel bekanntlich auch mit dem ihren Bewohnern nützlichen Treibholz versorgt und für Island eine Art Warmwasserheizung darstellt. Andererseits führt ein an der Ostküste Grönlands in südwest- licher Richtung ziehender kalter Polarstrom in den Monaten Februar bis April fast regelmäßig grönländisches Treibeis in die Buchten des Nord- landes. Nur jedes fünfte Jahr ist eisfrei. Meist schwindet und schmilzt dieses „hafis" gegen Juni, bleibt jedoch in ungünstigen Jahren einen großen Teil des Sommers in den Pprden liegen und blockiert dann die Nordküste. Dann kann das Gras nicht wachsen. Die Heuernte schlägt fehl, es gibt ein hallaerisär (spr. haddleirisär = Not- standsjahr). Viele Schafe müssen aus Futter- mangel geschlachtet werden. Gibt auch der Fischfang unbefriedigende Erträge, der besonders in Westisland einen Haupterwerbs- und -Nähr- zweig darstellt, so tritt gelegentlich bei unserem germanischen kleinen Brudervolk dort oben im hohen Norden bitterste Hungersnot ein. Die Reise des Vortr. erfolgte ab Kopenhagen via Edinburg-Leith mit Station auf den Faröern. Sie dauert auf den kleinen, aber seetüchtigen und gut eingerichteten Dampfern der Hauptlinie (Forenede-Dampskibs-Selskab) 10 Tage. (Einfache Fahrt 1. Klasse 65 Kr., Verpflegung ä Tag 4 Kr., I Krone = 1,10 Mk.) Erster angelaufener Hafen auf Island war Fäskrudsfjord im Ostland. Über Eskifjord (Doppelspatmine; Walstation, deren Island 12 besitzt, meist im Besitz von Norwegern), Seydisfjord (atlantischer Telegraph und großer Fischerplatz) wurde Akureyri (1200 E.), die Hauptstadt des Nordlandes erreicht. Sie liegt im Innern des Eyjatjordes, der nach der Richtung überall bemerkbarer Gletscherschrammen durch Glazialerosion entstanden ist. Akureyri ist Zentrale für die in den nordisländischen Gewässern von Norwegern betriebene bedeutende Heringsfischerei. An den Fjordufern sind verschiedene wichtige Warpen = Brutplätze der Eiderente (Somateria moUissima L.), eines halbzahmen, gesetzlich streng geschonten Vogels. Sie brütet am liebsten in Flußdeltas auf buschbewachsenen Inseln (Schutz vor dem auf Island häufigen und namentlich den Schafen gefährlichen Polarfuchs). Die Eiderente bevorzugt besonders die F"lüsse, die in seichte Meeresbuchten münden, da die auf dem Bucht- grund sich findende Miesmuschel ihre Haupt- nahrung bildet. Die Eiderente ist Lieferant der wertvollen Dunen, die sich das Weibchen zur Nest- bereitung auszupft und die ein wichtiges isländisches Handelsprodukt darstellen. Nach beendeter Brut werden die Dunen gesammelt. 30 Nester liefern I Pfd. Dunen ä 10 — 16 Kr. Unter den vielen Feinden der Eier und Jungen seien besonders ge- nannt Larus marinus L. = Mantelmöve (isl. svartbakur ^^ Schwarzrücken), Haliaetus albicilla = Seeadler (daher auf Island fast ausgerottet) und der isländische Falk (Wappentier des Landes), deren Vernichtung systematisch befördert wurde durch die Aedarraektartjelag (spr. Eisarreiktarfjelag) = EiderentenzuchtGesellschaft, jetzt leider ein- gegangen. Erstes und längstes Standquartier wurde am Myvatn (Mückensee) genommen, 2 Tagereisen zu Pferd östlich vom Akureyrider Weg zum Mücken- see führt vorbei an dem Walde zu Hals (spr. Hauls), dessen Bäume höchstens 7 — 8 m Höhe erreichen. Charaktervögel des Waldes sind Anthus pratensis, der Wiesenpieper, und Linaria linota, der Birkenzeisig. Vor der Besiedelung Islands durch die Nor- mannen 874 war die Insel an der Küste und be- sonders in geschützten Fjordtälern mit dichtem Buschwald bedeckt, in dem sich das Vieh der Ansiedler oft genug verirrte und mit Mühe oder gar nicht wiedergefunden wurde. Die jetzigen „Wälder" Islands sind im Vergleich zur früheren Ausdehnung winzig. Gründe des Waldunterganges sind in erster Linie Schafverbiß, Brennholzschlag, Schmiedefeuer für Eisengewinnung und Werk- zeugreparatur (Sensenschneiden in Schmiedefeuer gerade geschmiedet), gelegentlich auch Raupen- fraß. Unter den 33 isländischen Schmetterlings- arten findet sich übrigens kein Tagfalter. Be- mühungen der isländischen Regierung um Erhal- tung der Waldreste anerkennenswert. Der Zug zum Mückensee führt durch ausgedehnte Heideflächen vom Typus etwa der nordwestdeutschen Heid- flächen. Hauptgewächse Betula nana und polaris, Em- petrum nigrum. An Berghalden Silene acaulis, isl. Lambagras, da Blüte in die Lämmerwurfzeit fällt und Dryas octopetala, isl. Rjüpnalauf = Schneehuhn- laub, da Laub im Winter wichtigste Nahrung der 156 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. lo Schneehühner. Charaktervögcl der isländischen Heiden (isl. Mor; Flächen vom Charakter unserer Moore heißen isl. Myri) außer Schneehuhn beson- ders Goldregenpfeifer, isl. 16a, und Brachvogel Numenius phieopus, isl. spüi. Der Myvatn = Mückensee, 24 qkm, zweit- größter See Islands, ist sehr flach. Sein Grund, aus grauem, zähem, tonigem Schlick bestehend, ist überall zu sehen (3 — 7 m, an vielen Stellen besonders im Nordteil viel seichter). Der See, früher von größerer Ausdehnung, wurde durch Lavaströme stark eingeengt. Fr rechtfertigt seinen Namen am Nordende speziell in Reykjahlicl (Bauerngehöft, wo der Vortr. sehr freundliche Aufnahme fand), dem Standquartier des Vortr., wenig. In den westlich und südlich des Sees ge- legenen Sümpfen werden dagegen Mensch und Tier durch Myriaden von Mücken und kleinen Stechfliegen belästigt, die Jagdausflüge (Verein- barung mit den jagdberechtigten Hofbesitzern zur Vermeidung von Unannehmlichkeiten nötig I) ohne Schleier zur Qual machen. Das reiche Limnoplankton des Sees ernährt zahlreiche Forellen, isl. Silungur, denen in Netzen eifrig nachgestellt wird. Hauptrepräsentanten der Tierwelt des Myvatn sind mehrere Kntenarten. Die zahlreichste und gemeinste Art ist Harelda glacialis (isl. Hävella, spr. Hauweddia ^= die in die Höhe Singende, Paarungsruf des S)- Demnächst zahlreich sind Anas penelope, niger, boscas, crecca u. a. Gemein, aber weniger zahlreich als harelda ist Aetya marila, Fuligula cristata, Clangula islan- dica, Mergus merganser und M. serrator u. a. Im Juncus-Röhricht nistet Podiceps auritus, in kleineren Teichen am Hauptsee Colymbus septentrionalis. Der Schwan erscheint besonders im Winter. Die Brutplätze der Enten befinden sich vorwiegend auf den zahlreichen kleinen vulkanischen Inseln der Mj'vatn. Alle Gehöfte um den See besitzen eine Anzahl solcher Fntenbrutinseln, die im Juni und Juli reichen Ertrag an Eiern gewähren. Die Stengel hoher Archangelica Stauden auf den Inseln liefern ein geschätztes, roh verzehrtes Ge- müse, das um so höher geschätzt wird, als Vege- tabilien auf dem Tisch des Isländers selten sind. (Isländisch Moos = Cetraria islandica mit Milch zu dicker nahrhafter Grütze gekocht) Eigentlicher Ackerbau kann aus klimatischen Gründen auf Island nicht mehr getrieben werden, wenngleich der Boden allein sich recht wohl dazu eignen würde (abnorm hoher Fe.jOg - Gehalt, reichlich K.,0, viel TioO.;, wenig CO., und CaO). In Notstandsjahren sammelt man die Äiiren des Strandhafers, isl. melur ^ Flymus arenarius, beson- ders im Süden Islands, und bereitet aus den Körnern eine Art Gebäck. Viele Gehöfte besitzen ein umhegtes Gärtchen, in dem Kartoffeln, Rüben u. a. m. gezogen werden. Ribes- Arten erreichten 1907, in einem recht kühlen Jahr, auch im Sep- tember noch nicht die Reife der Früciite. Die Rüben werden in Mistbeeten „vorgezogen", im Juni ausgepflanzt. Verdient hat sich in dieser Hinsicht gemacht die isländische Gardyrkjufelag = Gartenbaugesellschaft. Noch größere Erfolge hat die Kultur der Wiesen, isl. = tun, aufzuweisen. Rühriges Vorgehen der Raektünarfjelag „Nord- urland", geleitet durch ihren wissenschaftlich und organisatorisch hochverdienten Sekretär Sigurd Sigurdson, zugleich Vorsteher der trefflichen Ver- suchsstation zu Akureyri und der Bünadarsköta zu Hölar, die sich neben analogen Anstalten Deutsch- lands wohl sehen lassen könnten. Island befindet sich, wie auf wirtschaftlichem Gebiet überhaupt, besonders auch landwirtschaftlich auf einem auf- steigenden Ast der Entwicklung, der zu schönen Hoffnungen berechtigt. Der Hauptzweig der islän- dischen Landwirtschaft ist die Viehzucht, nament- lich die Schafzucht. 2 große Landwirtschafts- gesellschaften, 4 Landwirtschaftsschulen. Zu jeder Farm (Ba?, spr. Bei) gehören einige 100 bis 1000 Schafe. Manche Kaufleute und Großbauern be- sitzen bis zu 30 solcher Höfe. (Ausbildung eines „Landdrolf'-Standes im Gegensatz zu einem im Entstehen begriffenen, auf Pachtgütern sitzenden Bauern Proletariat.) Gefahr auf Island nicht genug gewürdigt. Die Schafe weiden im Sommer auf Gemeinde- bergweiden (afrjettir). Im Herbst (Ende Septem- ber) finden Bergfahrten zur Schafsuche (isl. pl. fjallgöngur) sowie die Eintreibung in Steingehege und die Verteilung der an den Ohren durch Schnitte und Kerben , .gemerkten" Schafe an die Besitzer statt. (Gedrucktes Merkbuch (Markaskrä).) Fremde Schafe werden verkauft und der Erlös wird dem aus dem Merkbuch ersichtlichen Besitzer übermittelt. Eventuell wird der Besitzer durch Zeitungsinserat (17 isländische Zeitungen und Zeitschriften) gesucht. Ein erheblicher Schaf- export fand nach England statt, besonders vor dem den Import beschränkenden Gesetz von 1894. Die Rindviehzucht ist nur gering. Durch- schnittliche Zahl pro Hof 2 — 6. Das Vieh ist vielfach hornlos, von kleiner Rasse, aber sehr reichlich milchend. Während es im Sommer auf den Weiden, oft auf den Mjri seine Nahrung sucht, wird es im Winter mit dem Heu (tada) gefüttert, das aus dem umhegten, im Frühling reichlich mit Stalldünger überfahrenen Wiesenland (tun), ge- wonnen wird. Die Außenwiesen und Außen- weiden dagegen werden nicht gedüngt. (Ütengi und üthagi ; daher gehen die Erträgnisse immer mehr zurück ) Die isländische Viehzucht ist also ein Raubwirtschaftsverfahren. Die Pferde weiden auf dem dürftigsten Weide- land außerhalb des von den Hunden vor dem Abweiden durch einbrechende Schafe bewachten Tuns. Ihre Zahl auf den Höfen ist sehr groß (20 — 30 Stück), ihre Rasse sehr klein, von Esels- größe, aber ihre Leistungsfähigkeit unverhältnis- mäßig groß. Die Küstenanwohner Islands nützen die riesigen Vogelberge aus. Einer der größten befindet sich auf Grimsey, einer Insel nördl. von Island, doppelt so groß wie Helgoland, mit etwa 80 E., die vom N. F. VIII. Nr. 10 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 157 Uschfang unJ der Ausbeutuiicr der Vogelberge leben. Die Insel besteht aus regelmäßig ge- schichteten Basaltbänken mit dazwischenliegenden weicheren Tutischichten, durch deren Verwittern die zum Brüten benutzten Gesimse entstanden sind. Der Hauptvogel ist Ritsa tridaclyla. Die übrigen Arten bewohnen je nach .Art bestimmte Horizonte des Vogelberges. Mormon fratercula brütet in selbstgegrabenen Löchern in der dem Basaltgestein auflagernden Rasendecke. Etwas tiefer nisten die .Alken, dann folgen die Lummen (Uria lomvia, etwa 4 — 5 mal so zahlreich als Uria troile, unsere Helgolandsbewohnerin). Unten am Strand unter Steinen leben die Theistlummen. Zwisclien allen gleichmäßig verteilt findet sich Procellaria glacialis. .An der Westküste unter großen Felsblöcken trift't man eine kleine Kolonie des hocharktischen Krabbentauchers Mergulus allee, auf einigen Felspartien am Nordende Kolo- nien von Sula bassana. Die Leute lassen sich angeseilt am Felsen hinab und nehmen die Eier aller .Arten und die Jungen, besonders von Pro- cellaria glacialis, die sehr fett sind. Die Jungen speien erschreckt ihren Mageninhalt aus, ein aus verdauten Crustaceen hervorgegangenes klares, gelbliches Öl, das aufgefangen wird und als Speise- fett dient. Eines der interessantesten Kapitel der Natur- geschiclite Islands ist das der vulkanischen Er- scheinungen. Das Gebiet des IVlückensees ist gerade für diese Studien hervorragend günstig. Hinter dem Liparitkegel des am Nordende ge- legenen Hlidarfell liegt der Kraterberg Krafla, aus dessen Nähe (Rücken des Leirhnügr) 1725 — 29 gewallige Lavenergüsse z. T. bis in den See statt- fanden. Dabei bildete sich auf dem „Lavaschild" der Stora Viii (große Hölle) der „Einbruchs- kessel" der Lilla Viii (kleine Hölle). Am Ostrande des IVlj'vatn liegt der gewaltige, in vorhistorischer Zeit entstandene „Explosionskrater" des Hverfjall (Thermenberg), aus losen .Aschen und Schlacken aufgebaut. Interessante, 10 — 20 m hohe Schlacken- vulkane , deren Inneres durch Absturz großer Partien nach dem See wie ein halbierter Napf- kuchen freigelegt erscheint, finden sich auf den Inseln des Myvatn. Auch zu Lavastudien bietet die „M^'vasveit" (Gegend des Mückensees) gute Gelegenheit. Die Ausbildungsform der Plattenlava, der sogenannten Helluhraun, wiegt in der unmittelbaren Nachbar- schaft des Sees vor. Sie ähnelt cum grano salis den Eisschollen eines im Eisgang befindlichen Stroms. Ihre Schollen liegen also nie horizontal, sondern sind in wildem Gewirr kreuz und quer oft dachförmig gegeneinander gestellt. An kühlen ."Abenden ge- währt ein solches Lavenfeld, besonders das öst- lich von Reykjahlid, einen sehr seltsamen Anblick. Aus Rissen, die das Lavagebiet durchsetzen, steigen dann zarte Rauchsäulen auf, der Dampf heißer Quellen. Am Tage verrät sich ihre Lage oft da- durch, daß einzelne Seeschwalben (Sterna macrura) über ihnen „rütteln", um auf die Mücken und Fliegen Jagd zu machen, die sich die üppige Vegetation an diesen Quellen zum Aufenthaltsorte aussuchten. An manchen Stellen befinden sich unter den dachartig gegeneinander aufgerichteten Lava- schollen auf längere Erstreckungen hin Höhlen, entstanden durch VVeiterfluß des Magmas unter dem schon verfestigten Schollendach. Sie sind gelegentlich die sicheren Zufluchtsorte des viel- gehaßten Fuchses (töa). In einer solchen nahe der Siöra gjä bei Reykjahlid gelegenen Höhle entdeckte Verf die Reste von mindestens 20 Schafen (Lämmern). Erscheinungsformen des rezenten Vulkanismus der Umgegend des Myvatn sind schließlich die Solfataren, d. h. Schwefelwasserstoffgasquellen des Nämufell (= Bergwerksberg wegen der früher in dieser Gegend abgebauten Schwefellager) und die sogenannten Schlammvulkane an seiner östlichen Senke zur Mjvatns Orsefi. Der weitere Zug ging durch Myvatnsörsefi = Myvatnswüste (Flugsandgebiete mit Elymus arenarius und Salix glauca, daher gute Bedingungen für Schafzucht l) über die Jökulsa ä fjöllum nach Grimstadir und durch eine neue weitausgedehnte Wüste nach Mödrudalur, einem der höchsten und am weitesten im Innern Islands gelegenen Höfe. Im Hintergrund ragte das wie eine Pickelhaube geformte Schneehaupt des Heidubreid, und hinter ihm in grauem Dunstschleier das Massiv der Dyngjufjöll mit der Askja empor. Ein zarter weißer Horizontstrich kündigte den Vatnajökule an. Durch das Jökuldalur über die Hröarstünga, am Lagarfljöt hinauf erreichte die Karawane den Halldormstadir-Wald, wo längere Rast gemacht wurde. Durch Skriddalur und Breiddalur über die Berufjardarskaid gelangte man endlich an die Osiküste Islands zum Berufjord. Beim Kauforte Djüpivogr in der Nähe des Gehöftes Teigarhorn liegt ein Fundort prächtiger Zeolithe. Sie finden sich in Hohlräumen eines melaphyrmandelstein- artigen Basaltes von schwarzbrauner F'arbe und großer Dichte und Härte. Das stellenweise pechsteinartig ausgebildete und dann in dicht nebeneinanderliegenden Partien rot und grün gefärbte Gestein hat durch Basaltgänge, die, in großer Zahl, längs der Küste streichend, die horizontalen Basaltlagen durchsetzen, kontakt- metamorphische Veränderungen erfahren. Der abnorme Reichtum des Teigarhorner Basaltes (der isländische Basalt enthält übrigens fast allerorts kleinere Zeolithdrusen) an ausgeschiedenen Mine- ralien steht wahrscheinlich mit diesen Basalt- gängen in Beziehung. Es überwiegen in Teigarhorn die Zeolithe. Die untersten Partien des Teigarhorner Basaltes dicht am Gehöft enthalten Apophyllit, der jedoch selten ist, eine etwa mannshoch über dem Strand gelegene Partie Desmin in der üb- lichen Zwillingsausbildung, diamantglänzenden, weißen Stilbit, seltener fleischroten matten Heu- landit und Skolezit. 158 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. lo Die obersten Partien am Strande bergen flach- gedrüclor Studium jener alten Schriften nicht nur dem (Äpfel der Mandragora) übersetzt. Naturforscher, sondern auch dem Kulturhistoriker Das, wenn man so sagen darf, populärste so interessant macht, und der Altmeister der Zauberkraut der Alten ist die Pflanze M o 1 y (/(wAd), deutschen Sprachwissenschaft und Mythologie, die der Götterbote Hermes dem Odysseus gab, Jakob Grimm, beklagt sich bitter über die daß dieser sich vor den Hexenkünsten der Circe heutigen Naturforscher, die derartige Dinge nicht schützen könne. Homer gedenkt dieser Pflanze mehr in ihre Werke aufnähmen. „Plinius", so in folgenden Versen : meint er, ,,hat über seine Naturgeschichte dadurch eigenen Reiz gebreitet, daß er auch die aber- gläubischen Meinungen des Volkes von Tieren und Pflanzen umständlich anzuführen nicht ver- schmäht. Wie stechen seine Ehrfurcht vor dem Altertum, seine sprachgewandte Darstellung ab von dem trockenen Ernst unserer heutigen Natur- forscher, die keinen Blick auf den Brauch der Heimat verwenden. . . ." *) Und in der Tat, es wäre zu bedauern, wenn dieses von Grimm an- gedeutete Gebiet von selten des Naturforschers, der doch neben dem Kulturhistoriker und Folkloristen in erster Linie zu seiner Bebauung berufen ist, ganz und gar vernachlässigt würde. Insbesonders gilt dies vom Pflanzenaberglauben, klar über dies Kraut gewesen zu sein, denn also dem Teil des Aberglaubens, der sich an ge- Theophrast, der Schüler des Aristoteles, sagt in wisse Kräuter oder Bäume knüpft. Wenn ich es seiner „Naturgeschichte der Gewächse" {üegl in folgenden Zeilen versucht habe, eine kleine (fvrCüV larogiag ßißlia): „Das Moly soll am Auslese von „Zauberpflanzen", wie sie seit den Pheneus und bei Kyllene wachsen, und dem ältesten Zeiten bis auf unsere Tage im Volks- gleich sein, von dem Homer spricht, indem die glauben eine Rolle gespielt haben, zu geben, so Wurzel rund und zwiebelartig, das Blatt der Meer- bewege ich mich auf einem Gebiete, das in den zwiebel ähnlich ist. Man benutzt es als gift- letzten Jahrzehnten mannigfache — zum Teil widriges Mittel und zu Zaubereien. Indessen ist allerdings recht oberflächliche — Bearbeitungen es schwer auszugraben, wie schon Homer sagt" erfahren hat. Trotzdem darf ich vielleicht hoffen, (Hist. plant. IX, 15). Auch Plinius und Dioskorides ,,Air auch will ich dir nennen, die furchtbaren Ränke der Kirke. Weinmus menget sie dir und mischt in die Speise den Zauber. Gleichwohl nicht vermag sie dich einzunehmen; die Tugend Dieses heilsamen Krautes verwehrt's. Also sprach, und reichte das heilsame Kraut Hermeias, Das er dem Boden entriß, und zeigte mir seine Natur an : Schwarz war die Wurzel zu schauen, und milchweiß blühte die Blume. Moly wird's von den Göttern genannt. Schwer aber zu graben Ist es den sterblichen Menschen ; doch alles ja können die Götter." (Odyssee, X. Gesang, Vers 289 ff.) Bereits die Alten scheinen sich nicht recht dem reichen Stoff, der in botanischen und folkloristi- schen Schriften sehr zerstreut ist, einige neue Ge- sichtspunkte abgewonnen zu haben. berichten ziemlich ausführlich über dieses Zauber- kraut. Die Botaniker der Neuzeit vor Linne er- kennen in dem „Moly" ziemlich einstimmig eine Bereits in den ältesten Literaturdenkmälern der Alliumart, wenn auch ihre Meinungen über die Menschheit, die uns erhalten geblieben sind, wird Spezies geteilt sind. So sehen z. B. Dodonaeus der geheimnisvollen, magischen Kräfte von ge- und Caesalpinus in ihm Allium magicum L., wissen Pflanzen Erwähnung getan. In den heiligen Matthiolus und Clusius dagegen A. subhirsutum L. Büchern der Inder, den Veden, die ungefähr um Linne selbst scheint die homerische Pflanze für 1 500 V. Chr. ihre Entstehung gehabt haben mögen, eine Lauchart zu halten , der er den Namen werden an vielen Stellen heilige Bäume oder Allium Moly (Spec. plant, ed. I, p. 301 [1753]) Kräuter, die mit Zauberkräften ausgestattet sind, gegeben hat. Von den Botanikern des 19. Jahr- genannt. Auch im Alten Testamente finden wir hunderts entscheidet sich Sprengel für Allium l62 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. II nigrum L., Fraas*) dagegen für AUium magicum L., bemerkt jedoch, daß die Beschreibung Homers, der das Moly weißblühend schildere, nicht passe. Diese Deutungsversuche wären allerdings sämtlich gegenstandslos, wenn man mit A. de Gubernatis") das Kraut Moly lediglich für eine „fiction mytho- logique" halten wollte. Etwas eingehender wollen wir uns mit einer Zauberwurzel befassen, nicht nur, weil sie in der Kulturgeschichte früherer Jahrhunderte eine große Rolle spielte, sondern auch deshalb, weil sich der Glaube an deren magische Eigenschaften in manchen Ländern bis auf den heutigen Tag ent- weder ungeschwächt oder doch wenigstens in Rudimenten erhalten hat. Ich meine hier die geheimnsvolle Alraunwurzel, die Mandragora. All der Aberglaube, der sich an diese Wurzel knüpft, hat wohl seinen Ausgangspunkt in der entfernt menschenähnlichen Gestalt derselben. Dazu kommt, daß die Mandragorapflanze gewisse toxische Eigenschaften zeigt, wie ja von jeher Giftpflanzen im Zauberglauben eine hervorragende Rolle spielten. Dies führt uns auf die Stellung der Mandragora im Systeme des Botanikers. Wenn auch, wie wir unten sehen werden, in ver- schiedenen Gegenden die Wurzeln verschiedener Pflanzen als „Alraune" Verwendung fanden, so stammt doch der ursprüngliche und an den Orten, wo der ganze Mandragorakultus seine Entstehung genommen, gebräuchliche Alraun, von einer be- stimmten Pflanze, der Mandragora officinalis L. Die Gattung Mandragora gehört zu den Solaneen, einer Pflanzenfamilie, die ja wegen der giftigen Eigenschaften vieler ihrer Vertreter noch manch anderes Zauberkraut — ich erinnere an Stech- apfel (Datura Stramonium), Bilsenkraut (Hyos- cyamus niger), Tollkirsche (Atropa Belladonna) — zu den ihren zählt. Die Gattung umfaßt vier Arten, die im Mittelmeergebiet ihre Hauptver- breitung besitzen. Mandragora officinalis, die wir hier im Auge haben, ist stengellos, hat grünlich gelbe Blüten und eine dicke, fleischige Wurzel, die häufig gespalten ist und so einer lebhaften Phan- tasie Anlaß zum Vergleich mit den zwei Beinen des Menschen gibt. Daß bereits im klassischen Altertum die menschenähnliche Gestalt der Mandragorawurzel wohl bekannt war, beweisen Bezeichnungen wie ch'0-QCüyr6j.ioQ(fog (= von Men- schengestalt) in einer verloren gegangenen Schrift desPseudo-Pythagorasundsemihomo(Halb-Mensch) bei dem römischen Schriftsteller Columella ■') (um 60 n. Chr.). Die Präparation der Mandragora- wurzeln und ihre vermeintlichen Zauberkräfte mögen bereits in den ältesten Zeiten dieselben gewesen sein, wie sie v. Luschan *} mit Bezug auf die Jetzzeit folgendermaßen schildert: „Die Wurzel der Mandragorapflanze wird heute besonders in der Nachbarschaft von Mersina und von Antiochia von bestimmten ,, Künstlern" fast gewerbsmäßig in menschliche Form gebracht. Das einfachste Synopsis plantarum (lorae classicae, 1S45, p, 291. hierzu angewandte Mittel besteht darin, die frische, ausgerissene sukkulente Wurzel durch vorsichtiges Schneiden und Drücken umzuformen und die- selbe gelegentlich während des Austrocknens noch weiter zu beeinflussen. Solche Alräunchen sind aber „nicht nur selten und unter größter Lebensgefahr auszugraben", sondern sie bilden auch wertvolle Talismane. Einige machen ihren Eigentümer hieb-, stich- und kugelfest, andere sind unfehlbare Aphrodisiaca, andere machen un- sichtbar. Fast alle zeigen Stellen an, wo unter- irdische Schätze vergraben sind, und haben die Eigenschaft die Krankheit eines Menschen aufzu- nehmen." Es ist klar, daß man eine Wurzel, die so wunderbare Eigenschaften in sich birgt , nicht ohne weiteres aus der Erde zieht und nach Hause trägt, und so sagt schon Theophrast (Bist, plant. IX, 8): „Den Mandragoras soll man dreimal mit einem Schwert umschreiben, und ihn graben, in- dem man das Antlitz gegen Abend wendet. Ein anderer aber soll im Kreise umhertanzen und viel vom Liebeswerk sprechen." Viel bekannter jedoch als diese Vorschrift des Theophrast ist eine andere Art, die Mandragorawurzel zu graben, wie sie fast in allen alten Kräuter- und Zauberbüchern beschrieben ist. Sie lautet ziemlich überein- stimmend ungefähr folgendermaßen : Man geht am Freitag vor Sonnenaufgang mit einem schwarzen Hund an den Platz, wo eine Mandragora steht, macht drei Kreuze über die Pflanze und lockert den Boden um sie herum. Hierauf bindet man den Hund mit dem Schwänze an die Mandragora an und wirft ihm dann ein Stück Fleisch vor. Der Hund gierig nach dem Bissen springt herbei und reißt natürlich dadurch die Pflanze, an die er ja gebunden ist, aus dem Boden. In diesem Augenblick stößt die Wurzel ein Geschrei aus und der Hund fällt tot zu Boden. Jedes lebende Wesen nämlich, sei es Mensch oder Tier, an dessen Ohr der Weheruf der ausgerissenen Mandragorawurzel dringt, muß auf der Stelle sterben. Deshalb hat sich der Wurzelgräber vor- her die Ohren mit Wachs zu verstopfen oder in ein großes Hörn zu stoßen, um das Geschrei der Zauberpflanze zu übertönen. Ist sie einmal aus der Erde gerissen, dann kann er den kostbaren Schatz getrost aufheben und nach Hause nehmen. Diese abenteuerliche Art, die Mandragora- wurzel zu graben, geht auf eine Erzählung des jüdischen Geschichtsschreibers Flavius Josephus '') (gest. um 95 n. Chr.) zurück, in der er das Aus- graben einer Wurzel, „Baaras" mit Namen, be- schreibt. Vom Orient her drang der Mandragorakult wahrscheinlich über Griechenland zu den Rumänen nach Galizien, Südwest-Rußland, Oberschlesien und Ostpreußen. Aber auch durch Vermittlung Italiens wird er nach Deutschland gekommen sein. Da die echte Mandragora jedoch nur im Süden vorkommt, half man sich dadurch, daß man andere Pflanzen mit dicker, fleischiger N. F. VIII. Nr. II Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 163 Wurzel an ihre Stelle setzte. So vertrat in den Karpathenläiidern eine andere Solanee , Scopolia carniolica, die Mandragora. In Deutschland war es in erster Linie die Zaunrübe (Bryonia), die sich wegen der fleischigen Beschaffenheit ihrer Wurzel ganz besonders gut dazu eignet. Aber auch Wurzeln resp. Rhizome anderer Pflanzen wie der Schwertlilie (Iris), des Allermannsharnisch (AUium victoriale), der Tormentill (Potentilla tormentilla) und des Enzian (besonders wohl Gentiana lutea) fan- den ab und zu Verwendung zu „Alraunen". Mit diesem Worte (althochdeutsch alruna = die all- wissende) bezeichnete man nämlich in Deutsch- land die aus solchen Wurzeln geschnitzten Men- schenfiguren, ein Name, der ursprünglich wohl für die germanischen Zauberinnen, die Idisen und ähnliche übernatürliche Wesen gegolten haben mochte. Eine andere Bezeichnung lautete Galgen- männchen, weil die Pflanze unter dem Galgen, an dem ein unschuldig Gehängter baumelte, wuchs. Die abendländischen Alraune unter- schieden sich jedoch in einigen Punkten von den orientalischen. Während nämlich die letzteren unbekleidet sind, galt in Deutschland die Vorschrift, die Alraunwurzel mit einem Hemdlein aus weißer oder roter Seide zu umhüllen. Alle Freitage mußte ein solches Alraunmännchen in reinem unverfälschtem Wein gebadet werden und beim Neumonde bekam es ein neues seidenes Hemd. Überhaupt mußte es sorgfältig gepflegt werden, beinahe wie ein kleines Kind. Zum Danke dafür brachte dieser Hausgeist, — Spiritus familiaris,") wie er in alten Büchern genannt wird — dem Besitzer Glück und Segen. Gewiß eine schätzenswerte Eigenschaft ist es, daß ein Geld- stück, das man abends neben den Alraun gelegt hat, sich am nächsten Morgen verdoppelt vor- findet. Außerdem ist er von günstigem Einfluß auf den Viehstand, hilft gegen mancherlei Krank- heiten und macht gefeit gegen Schuß und Stich. Allerdings darf man ihm auch nicht zuviel zu- muten, denn sonst wird er erschöpft und taugt nichts mehr. Daß schon sehr früh aufgeklärte Leute dem Aberglauben, der mit der Alraunwurzel getrieben wurde, entgegentraten, sehen wir daraus, daß bereits im 14. Jahrhundert die Pariser Behörden den Verkauf von Alraunwurzeln als Betrug strengstens untersagten.') Interessant nicht nur in dieser Beziehung, sondern auch deshalb, weil hier Aufschluß über die Präparation der Alraune gegeben wird, ist eine Stelle aus der deutschen Übersetzung des bekannten Kräuterbuches des Italieners P. A. Matthioli (gest. 1577 zu Trient). Sie lautet : „Die Theriackkrämer und Landstreicher haben ein wurtzel feyl getragen, die ist formieret wie ein männle oder weible, haben die leut vber- redet, sie sey schwerlich zu bekommen, müsse vnter dem galgen mit sorglicher Mühe ausge- graben werden, dartzu mus man einen schwartzen Hund haben, der sie an einem stricke ausreisse, der Gräber aber soll die Ohren mit Wachs ver- stopffen, dann so er die wurtzel höret schreien, stehe er in gefhar seines lebens. Was ist das anders dann wie man vom Farn sagt, wer den Farnsamen will holen, der muss keck sein vnnd den Teuffei können zwingen. Solch 'narrenspil vnd spectra muss man den Leuten machen, quia vulgus vult decipi darumb bin ich hie, spricht der Landtstreicher, das haben sie auch meysterlich aussgerichtet, gcmelle wurtzel thewer verkaufft als machen sie die Leute vnd sonderlich die be- zauberten gluckselig, die vnberhafften [= steriles] weiber fruchtbar, habens alle sambstag mit wein vnd wasser baden müssen , sauber einwickeln vnd heymlich halten. Vnd soll nun der güttige Leser wissen, daß solche Alraunwurtzlen ein lauter Fabclwerk vnd gemacht ding sein, dann sie schneiden die Brionienwurtz oder Rhorwurtzlen, dieweil sie noch frisch sindt, in eines menschen gestalt, stecken gersten oder Hirsenkörnlen an die stellen, da sie wollen haar haben, darnach ver- scharren sie diese geschnitzte wurtzel in sandt biss aus gemelten körnlen zäserlen (= Fasern) wachsen, welches gemeiniglich in dreyen wochen geschieht, alsdann graben sie es wiederumb aus, beschaben die angewachsenen zäserlen mit einem scharffen messer und machen sie allso fein subtil als werens haare an dem haupt, bart und bcy der schäm, darmit werden die einfältigen betrogen. — Diese büberey hat mir selbs ein Theriacks- schreyer offenbaret, der zu Rom schwerlich krank lag, vnd in meiner cura war, zeigte mir ettliche solche geschnitzte wurtzlen vnd sagte er hette bissweilen den Reichen eine allein für dreissig Dukaten verkaufft."*) In historischen oder auch in botanischen Museen sind uns noch eine Anzahl solcher Alraune aufbewahrt. Bekannt sind die Alraune der k. k. Bibliothek zu Wien, die Perger") aus- führlich besprochen hat. Sie sind dortselbst seit 1680 aufbewahrt und stammen aus der Zeit Kaiser Rudolfs II. (1576 — 1612), des hohen Gönners der magischen Wissenschaften. Nach Perger sind sie aus den Rhizomen des Allermannsharnisches geschnitzt. Auch das märkische Museum zu Berlin besitzt eine Anzahl solcher Alraune.^*) Daß der Alraunglaube auch heutzutage bei uns noch lange nicht ganz verschwunden ist, be- weist eine Mitteilung von Schultz,^') die sich auf das Jahr 1891 bezieht. Nach derselben wird in Goldap in Ostpreußen (Regierungsbezirk Gum- binnen) der Wurzelstock des Wasserschwerteis (Iris pseudacorus) in großer Menge unter der Be- zeichnung „Glückswurzel" verkauft. Der Preis dafür ist 10, 30 oder 50 Pfg. Sie bringt dem Hause, in dem sie aufbewahrt wird, Glück und Segen. Der Handel damit scheint sich übrigens zu lohnen, denn diese ,, Glückswurzeln" werden sogar bis nach Berlin verkauft. Eine große Rolle spielt die Alraunwurzel noch in unseren Tagen im Volksglauben der Südrussen. Hier ist es die Zaunrübe (Bryonia alba) — ihr russischer Volksname lautet perestupenj — der 164 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. II man die übernatürlichen EiCTenschaften des Alrauns zuschreibt. Von großem Interesse sind in dieser Beziehung die Arbeiten von J. Jaworky in Czerno- witz „Über die Mandragora im südrussischen Volksglauben."^-) „Perestupenj," erzählte diesem Forscher ein galizischer Bauer, „wächst, wenn ihm der Ort lieb isi, hinter dem Hause oder im Garten, so beiläufig einen halben Meter tief in der Erde. Seine Blätter sind denen des Hopfens ähnlich und ganz mit schwarzen Beeren bedeckt. Die Wurzel ist ganz so wie ein kleines Kind, hat Kopf Hände und Füße. Denn er entsteht aus den ungetauft ermordeten Kindern. Wer von der Pflanze nichts weiß und sie schneidet oder ausreißt, dem schadet sie sofort, verwundet ihn am ganzen Körper, so daß Blut rinnt, lähmt dem Schuldigen Hände, Füße oder den Verstand. Und aus der verwundeten Wurzel der Pflanze fließt weißes Blut. Dann liegt dieser Mensch krank und kann auch einige Zeit krank bleiben; erst wenn er irgendwie erfährt, daß perestupenj daran schuld ist, dann soll er ein ßrotscherzl, ein Stück geweihter Butter und einen Kreuzer nehmen, dies alles neben die Pflanze legen, damit die verwun- dete Stelle der Pflanze berühren und schmieren und dann den perestupenj um Verzeihung bitten. Dann soll er ihn mit der Erde umgraben und es wird ihm besser werden." An die Mandragora reiht sich eine große Menge anderer Zauberkräuter; solche freilich, die so klar und deutlich als beseelte Wesen behan- delt werden, wie wir es von der Alraunwurzel gesehen haben, gibt es nicht viele. Immerhin tritt uns auch bei allen übrigen Kräutern, denen eine magische Wirkung zugeschrieben wurde, wenn auch vielleicht weniger auffällig, der naive Volksglaube entgegen, daß ein Dämon, sei es nun ein guter oder ein böser, in der Pflanze seinen Sitz habe. Ja, so tief wurzelt diese Anschauung im Volke, daß der Haselstrauch noch immer im Volkslied als „Frau Haselin", der Hollunder in Krankheitsbeschwörungen als „Frau Holder" an- geredet wird. Diese Eigenschaft der Zauber- kräuter, gleichsam als beseelte Wesen zu gelten, tritt uns wohl am deutlichsten in den mannig- fachen Beschwörungsformeln, die beim Ausgraben oder auch beim Anrufen solcher magischer Pflanzen gesprochen werden mußten, entgegen. Uralt mögen wohl die Beschwörungsworte sein, mit denen nach einer Mitteilung des Plinius (Hist. nat. XXVII, 12) die Bewohner der umbrischen Stadt Ariminum eine Heilpflanze, Reseda'-*) ge- nannt, anriefen. Sie lautet : „Reseda, morbos reseda, scisne, scisne, quis hie pullus egerit radices? nee Caput nee pedes habeat."'-') Dazu bemerkt Plinius: Haec ter dicunt, totiensque despuunt.^') Nicht viel anders wie der Römer im Süden, beschwor hoch oben im Norden der Angelsachse seine Heilpflanzen. Ich habe hier einen in seinen Grundzügen wohl urehrwürdigen angelsächsischen Kräutersegen im Auge, der in der englischen Literaturgeschichte als „The song of the nine magic herbs" bekannt ist. Nicht nur dem Ger- manisten ist dieser Zaubersegen als Sprachdenk- mal des bis ins 16. Jahrhundert reichenden Angel- sächsischen von höchstem Interesse, nein auch der Kulturforscher und nicht zum mindesten der Botaniker kann aus ihm viel Anregung schöpfen. Wie die eben angeführten Beschwörungsworte der „Reseda", ist auch hier der Rede Sinn dunkel, was allerdings in beiden Fällen zum Teil in der schlechten Überlieferung seinen Grund haben kann. Andererseits dürfen wir jedoch nicht vergessen, daß gerade die mystischen, unverständlichen Worte eines solchen Zaubersegens dessen Ansehen im Volke heben. Wie schon der englische Titel sagt, handelt es sich um neun Zauberkräuter; ihre botanische F'eststellung ist jedoch in den meisten Fällen sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, da eine Be- schreibung der Pflanzen fehlt und aus den Namen allein, die noch dazu oft arg verstümmelt zu sein scheinen, keine sicheren Schlüsse gezogen werden können. Der „Neunkräutersegen" lautet in der deutschen Übersetzung, wie sie J. Hoops in seiner äußerst anregend geschriebenen Disser- tation ,,Über die altenglischen Pflanzennamen" gibt, (Freiburg i. B. 1889) folgendermaßen: Erinnere du dich, Beifuß, was du verkündetest was du anordnetest in feierlicher Kundgebung. Una heißest du, das älteste der Kräuter; du hast Macht gegen 3 und gegen 30, du hast Macht gegen Gift und gegen Ansteckung, da hast Macht gegen das Übel, das über das Land dahinfährt. Und du Wegerich, Mutter der Pflanzen, offen nach eisten, mächtig im Innern : über dich knarrten Wagen, über dich ritten Frauen, über dich schrieen Bräute, über dich schnaubten Farren; allen widerstandest du und setztest dich entgegen : so widerstehe du auch dem Gift und der Ansteckung und dem Übel, das über das Land dahinfährt. Stune heißt diese Pflanze, sie wuchs auf dem Steine; sie widersteht dem Gift, sie widersetzt sich der Krankheit die Starre heißt sie, sie widersteht dem Gift, sie verjagt den Bösen, treibt aus das Gift. Dies ist das Kraut, das gegen den Wurm focht : das hat Macht gegen Gift, es hat Macht gegen .Ansteckung, es hat Macht gegen das Übel, das über das Land dahinfährt. Fliehe du nun, .Att orla the, die kleinere vor der größeren, die größere vor der kleineren, bis daß Hilfe gegen beide ist. Erinnere dich, Kamille, was du verkündetest, was du vollendetest in Alorford : daß nimmer mehr (ein Mann) durcli Ansteckung sein Leben verlor, seit man ihm Kamillen zu essen gab. Dies ist die Pflanze, die Wergulu heißt; diese entsandte der Seehund über den Rücken der See als Hilfe gegen die Bosheit anderen Giftes. Diese 9 mögen gehen gegen neun Gifte. Eine Schlange kam gekrochen, sie zerriß einen Menschen : Da nahm Wodan 9 Wunderzweige, Erschlug da die Schlange, daß sie in 9 Stücke zerfloh. Da vollbrachte der .Apfel und sein Gift, Daß sie nie mehr zu einem Hause kommen wollte. Kerbel und Fenchel, zwei gar mächtige, die Kräuter erschuf der weise Herr, der heilige im Himmel, als er (am Kreuze) hing ; er setzte und sandte sie in die 7 Welten, den Armen und den Reichen allen zur Hilfe. N. F. VIII. Nr. 1 1 Naturwissenschaftliche Wochenschriit. i6s Sie widersteht der Krankheit, sie widersetzt sich dem Gift, sie hat Macht gegen 3 und gegen 30, gegen des Keindes Hand .... gegen die He.\erei kleiner Wichte. Nun haben diese 9 Kräuter Macht gegen neun böse Geister, Gegen 9 Gifte und gegen neun ansteckende Krankheiten : Am Schluß dieses eigentlichen Zaubersegens folgt gleichsam eine Gebrauchsanweisung, die mit der nochmaligen Aufzählung der in demselben genannten neun Kräuter beginnt. Sie lautet unter Anführung der angelsächsischen Pflanzenbezeich- nungen : Mugcwyrt ( = Beifuß), wegbräde (= Wege- rich), die nach Osten offen ist,'^) lombescyrse (= stune des Zaubersegens?), attor lathan = Über- setzung des lat. venenifuga). magethan (r= Kamille), netalan (= Nessel, anscheinend im Zaubersegen als wergulu bezeichnet), Wudusüraeppel (= Holz- apfel), fille (= Kerbel, aus griech.-lat. Chaero- phyllum)und finul (^Fenchel, aus lat. Foeniculum), alte Seife : stoße die Kräuter zu Staub, menge sie mit der Seife und mit des Apfels Saft. Mache einen Brei aus Wasser und aus Asche, nimm Fenchel, koche ihn in dem Brei und bade es mit einer Einmischung, wenn er die Salbe auftut, entweder vorher oder nachher. Singe den Zauber- spruch über jedem der Kräuter dreimal, bevor er sie aufstreicht, und über dem Apfel ebenso; und sing dem Mann in den Mund und in die beiden Ohren und auf die Wunde den gleichen Zauber- spruch, bevor er die Salbe aufstreicht." Man würde unrecht tun, wollte man diesen Xeunkräutersegen ohne weiteres einen heidnisch- germanischen nennen; denn seine Pflanzennamen allein (z. B. fille aus griech. xaigäpiiloi', finul aus lat. foeniculum) lassen erkennen, daß er teilweise unter dem Einfluß der antiken Schriftsteller steht. Daß jedoch sein Grundstock wohl altgermanisch ist, das beweist nicht nur die Mehrzahl der übrigen Pflanzennamen, sondern auch ganz besonders die Anrufung des heidnischen Wotan. Dazu gesellt sich dann noch ein drittes Element, das christliche, das uns in der Erwähnung des „weisen Herrn, der die Kräuter erschuf", entgegentritt. ''^) „Der Verfasser des Segens war jedenfalls einer jener Wunderdoktoren oder Kräutersammler, welcher Bruchstücke volkstümlicher Zaubersegen durch Zutaten aus der antiken Arzneikunde erweiterte, das Ganze in das übliche christliche Gewand kleidete und auf diese Weise einen neuen Segen zusammenschrieb, der nun als Universalmittel gegen alle möglichen Krankheiten angepriesen wurde." ^") Daß dieses christliche Element auch ganz in den Vordergrund treten kann, will ich an einem Kräutersegen zeigen, den der fromme Tiroler betet, wenn er den heil- und zauber- kräftigen „Widerthon"^*) pflückt. Er lautet: „Grüß Dich Gott, Du edler Widerthon! Weisst nit, was unser lieb Frau zu Dir sprach, da sie Dich abbrach für alles das, so dem Menschen schadet? Durch dieselben Wort' und durch das göttliche Wort brech ich Dich ab in dem Namen des Vaters, im Namen des Sohnes und im Namen des heiligen Geistes, daß Du Vieh und Leuten heilsam seiest für alle Unthat und alles, was Vieh und Leuten schad't. Amen." Dann sprich noch fünf Vaterunser, fünf Ave Maria, ein Credo und wiederhole dieses noch zweimal.'") Man wird jedoch kaum fehlgehen, wenn man den Ursprung dieses ,, Bannsegens" trotz seiner christlichen Form in das Heidentum zurücksetzt, denn die zierlichen Farne (oder Moose), die den Namen Widerthon tragen, waren bereits im klassischen Altertum der Venus (vgl. Adiantum capillus Veneris, ital. capel ven er e!), bei unseren Vorfahren der ger- manischen Liebesgöttin, der F"reja, geweiht. Bei der Ausbreitung des Christentums wurde diese Göttin verdrängt und an ihre Stelle trat die heilige Maria, die in unserem Segen vorzüglich angerufen wird. Heißt doch noch jetzt das Widerthonmoos auf Island Freyju-har '-") (==: Haar der Freyja) und bei Göttingen „Use leiven Fruen Haar" {= Unserer lieben Frau Haar). Bei dieser Gelegenheit will ich einen Aber- glauben nicht unerwähnt lassen, der, wie man gelegentlich aus Zeitungsberichten sieht, im Volke noch lange nicht ganz verschwunden ist. Ich meine das „Übertragen" von Krankheiten auf Pflanzen, von denen hier fast ausschließlich Bäume oder Sträucher in Betracht kommen. Diesem Aberglauben liegt die Anschaung zugrunde, daß der persönlich gedachte Krankheitsdämon durch besondere Beschwörungen und bei Beobachtung gewisser Förmlichkeiten in den Baum oder in den Strauch gebannt werden könne. Durch eifrige Sammelarbeit auf dem Gebiet der Volks- kunde sind in den letzten Jahrzehnten eine große Anzahl solcher Krankheitsbeschwörungen bekannt geworden. In großem Ansehen steht in dieser Beziehung der H o 1 1 u n d e r (Sambucus nigra), wie wohl auch andere Sträucher (z. B. der Wacholder, Johannis- beerstrauch) oder Bäume (Obstbäume, Fichte, Esche, Nußbaum) der wunderbaren Fähigkeit, Krankheiten in sich aufzunehmen, nach dem Volks- glauben teilhaftig sind. Es ist vielleicht nicht un- interessant, einige solche Beschwörungsformeln kennen zu lernen. Aus Zechlin (Kr. Ost-Prignitz, Rgbz. Potsdam) stammt die folgende,'-) die zu- gleich für eine Anzahl anderer typisch ist: „Um das Fieber zu vertreiben. Man bindet in der Nacht bei abnehmendem Mond einen Bindfaden um einen Fliederbaum, der auf der Scheid' {^= Grenze) steht und spricht: ,, Guten Morgen, Herr Flieder Ich bringe dir mein Fieber Ich binde dich an Nun gehe ich in Gottes Namen davon." Dreimal. Weniger höflich dagegen verfährt der Sieben- bürger Sachse.-"-) Wenn nämlich ein Kind die „Schol" (eine Mundkrankheit) hat, so geht der Vater zu einem Hollunderstrauch und spricht: ,,Hollunderstrauch, du elender Hund! Mein Kind hat die Schol im Mund ; i66 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. II Nimmst du sie ihm bis Morgen nicht weg, So verreck ! Im Namen Gottes usw. Auf eine originelle Weise wird man nach einem mecklenburgischen Aberglauben, der in anderen Gegenden in derselben Weise vom Hollunder -■') gilt, das Zahnweh los: „Man spaltet die Rinde eines jungen Obstbaumes, biegt die- selbe zurück und schneidet dahinter ein Splitter- chen weg, stochert mit diesem so lange an dem schmerzenden Zahn, bis er blutet, und spricht: Avtbom, ik klag di, Dat Tenweilidag plagt mi. Nimm düsse Pin von mi, Den irsten Vagel di. -*) Im Namen Gottes usw. Inzwischen bringt man das blutige Splitterchen wieder an seinen Ort hinter der Rinde und geht dann weg. So bekommt man nie wieder Zahn- weh." -^) Kehren wir jedoch zu unserem eigentlichen Thema zurück! Beim Ausgraben der Zauber- pflanzen waren eine ganze Menge Vorschriften — schon bei der Mandragorawurzel haben wir ja einige kennen gelernt — zu beachten, die natür- lich von Fall zu Fall je nach der Pflanzenart ver- schieden waren. So durften gewisse Pflanzen nur mit edlen Metallen, mit Gold oder Silber, ausge- graben werden. Zu diesen gehörte das Eisen- kraut (Verbena officinalis), von dem der alte Thur- neißer'"") sagt: „verbeen, agrimoria, modeiger charfreytags graben hilfft dich sehr, das dir die frawen werden holdt, doch brauch kein eisen, grabs mit goldt.""') Das Kraut modeiger, das in diesem Spruche genannt wird, ist der Kreuzenzian (Gentiana cruciata), eine uralte germanische Zauberpflanze, welcher der Spruch galt : „Madelger aller würzen ein er." Dieser Name bezieht sich, ebenso wie die Bezeichnung „Sperenstich", die die Pflanze in alten Kräuterbüchern führt, auf die Erscheinung, daß die Wurzel wie kreuzweis durch- stochen scheint. In einer alten zu Gießen auf- bewahrten Handschrift, die die Jahreszahl 1400 trägt, findet sich folgender auf dieses Kraut be- zügliche Wurzelgräberspruch: „ich beswer dich madelger ain wurtz so her, ich mannen dich dez gehaisz, den dir sant Petter gehiez, do er einen Stab drist durch dich stiez, der dich usgruob ond dich haimtrug. wen er mit dir vmbfankt, ez sy frau oder mann, der müg ez in lieb oder in minn nimmer gelän. in gotz namen. amen.-") Die Stelle „ich mannen (^ mahne) dich dez gehaisz" erinnert einigermaßen an den Bannsegen des Tirolers (vgl. oben), wo der Widerthon „gemahnt" wird („Weisst nit, was unser lieb P'rau zu Dir sprach . . ."). Die Sage, daß der heilige Petrus seinen Stab durch die Wurzel stieß, geht natür- lich gleichfalls auf das eben erwähnte Aussehen derselben. Wie auch in dem Spruche Thurneißers, so ist auch hier von der Minnewirkung des Model- gers die Rede. Von großer, ja oft von ausschlaggebender Be- deutung war ferner die Zeit, in der man die Zauberkräuter ausgrub. Nicht zu jeder Stunde konnte man sie aus der Erde reißen, nein, der meisten und der wirksamsten Zauberpflanzen konnte man nur zu bestimmten Zeiten des Jahres teilhaftig werden. Einer von diesen Tagen war, wie wir eben aus dem Spruche Thurneißer's ge- sehen haben, der Charfreitag. Dem Botaniker wird dabei allerdings auffallen, daß die drei ge- nannten Pflanzen (Verbena officinalis, Agrimonia eupatorium, Gentiana cruciata) in unseren Gegen- den zu dieser Jahreszeit — der Charfreitag fällt ja nie über den April hinaus • — wohl recht schwer zu bekommen sein werden. ■'") Außer diesem Tage war noch besonders der Johannistag, resp. dessen Vorabend (24. Juni) ganz besonders geeignet, um den sich ja überhaupt ein großer Teil des ganzen Kräuteraberglaubens gruppiert.^^) In den katholischen Ländern, z. B. in Tirol, müssen alle zauberkräftigen Kräuter oder solche, die zu Heilzwecken benutzt werden, im sog. „Dreisgen" (Dreißiger) geholt werden. Darunter versteht man die Zeit von Maria Himmelfahrt (15. August) bis Maria Geburt (8. September), dem „großen und dem kleinen Frauentag", wie der Tiroler sagt. In vielen tirolerischen Dörfern findet noch heute an diesen Tagen — meist an dem erstgenannten — in den Kirchen die sog. „Büschel- oder Wurzweihe" statt, die darin be- steht, daß die Landbevölkerung Sträuße von ge- wissen Pflanzen — in der Mehrzahl sind es solche, die seit alter Zeit im Aberglauben eine Rolle spielen — beim vormittägigen Gottesdienst ,, weihen" läßt. Auch betreffs der Tageszeit, an welchem magische Kräuter eingebracht werden müssen, existieren bestimmte Vorschriften: vor Sonnenaufgang ''-) oder unmittelbar nach Sonnen- untergang, mittags zwischen 11 und 12 oder beim 12 Uhr-Läuten, manchmal auch um Mitternacht, in der Geisterstunde. Die Konstellation des Mondes und gewisser Sternbilder ist ebenfalls nach dem Volksglauben von Einfluß auf das Graben der Zauberkräuter. Wie bei allem zauberischen Tun hat man endlich auch bei diesem Geschäfte un- verbrüchliches Stillschweigen zu beachten. Der Aberglaube, daß man beim Einsammeln von Heil- oder Zauberkräutern nicht gesehen werden dürfe, findet sich schon bei Plinius,^-) der auch die meisten der übrigen besprochenen „Ausgrabe- vorschriften" kennt. ^^) Diese Erscheinung findet darin ihre einfachste Erklärung, daß eben ein großer Teil des deutschen Kräuterglaubens auf die antiken Schriftsteller zurückgeht. Gleichsam zur Erläuterung all dieser Vor- schriften will ich ein konkretes Beispiel anführen, das sich auf das Ausgraben einer Pflanze bezieht, die beim Volke seit langer Zeit in abergläubi- schem Ansehen steht, die Wegwarte (Cichorium Intybus). In den alten geschriebenen oder auch gedruckten Heftchen, die man noch ab und zu auf dem Lande in Bauernhäusern findet und deren Beliebtheit die oft nur zu deutlichen „Lese- N. F. VIII. Nr. 1 1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 167 spuren" zeigen, sucht man selten vergebens nach einer „Anweisung, die Wegwartwurzel zu graben". Eine derartige, die aus Schwaben stammt, will ich hier wiedergeben und vorher bemerken, daß sie sich auf die manchmal vorkommende Varietät mit weißer Blütenfarbe bezieht: „Am Maria- Ilimmelfahrtstag vor Sonnenaufgang geht man, ohne daß man ein Wort reden oder von jemanden angeredet werden darf, an den Fundort einer weißen Wegwarte, tritt mit dem rechten Fuß auf den Stock (nach dem Volksglauben muß man sie, wenn man sie findet, sofort an einen Stock an- binden, weil sie sonst verschwindet !), ergreift mit der rechten-'') Hand die Wegwarte und spricht (das Gesicht gegen Sonnenaufgang gewendet): „Gott grüß euch, ihr lieben Wegwarten allzumal, die ihr hint und vor mir seid, stillt Blut und heilt Wunden und alles insgesamt und behaltet eure Kraft, die euch Gott und die heilige IVIaria ge- geben hat", macht dreimal das Kreuzzeichen und gräbt sodann den Stock mit der Wurzel aus, je- doch nicht mit Eisen ; auch darf die Wurzel mit der bloßen Hand nicht berührt werden.''"') Eine wenn auch nur gedrängte Aufzählung der Zauberpflanzen, wäre nicht vollständig, wenn man nicht den „Farnsamen" erwähnen wollte. In den meisten der alten Zauber- und Kräuter- bücher, in vielen Hexenprozeßakten, kurz überall, wo von dem übernatürlichen Wirken gewisser Naturobjekte die Rede ist, finden wir ihn genannt. Unter dem „Farnsamen" verstand man in früheren Jahrhunderten die Sporen der Farnkräuter; in der Mehrzahl der Fälle wird es sich wohl um den Wurm- farn (Aspidium filix mas) gehandelt haben, wie- wohl kein Zweifel sein kann, daß je nach der Gegend auch andere ihm einigermaßen ähnliche Farnkräuter an seine Stelle treten konnten. Ein ganz besonderes Interesse beansprucht meiner Ansicht nach der ganze Zauberglaube vom Farne dadurch, daß er in Europa eine geradezu universelle Verbreitung zeigt. Denn nicht nur in Deutschland von Norden (z. B. Mecklenburg'^'^)) bis nach Süden (z. B. Tirol''')), nein auch in den romanischen Ländern (Frankreich ■''*), Italien ^^)) und ganz be- sonders bei den Slawen treften wir ihn an. Es ist dies um so auffallender, als der Aberglaube vom Farn durch keine Belege aus dem klassischen Altertum ge- stützt wird, so daß man beinah seinen Ursprung als germanisch (vielleicht aber auch als slawisch) vermuten möchte. Jedenfalls besteht die Tatsache, daß er sehr alt ist; denn die heilige Hildegard, die im Jahre H79 als Äbtissin in einem Kloster bei Bingen starb, erwähnt in ihrer Schrift, die den Titel „Physica" führt, daß mit dem Farn der Teufel gebannt und Blitz und Donner abgehalten werden könne. ^") Wenn auch hier nicht vom „Farn Samen" und seinen Wirkungen die Rede ist, so zeigt diese Stelle aus der Schrift der heil. Hildegard doch, daß die Farne mit dem Aber- glauben in Beziehung standen. Als Grundzug in dem ganzen Farnaberglauben finden wir die An- schauung, daß der Farn (eine Kryptogame !) während des ganzen Jahres nur in einer einzigen Nacht und zwar in der Mitternachtsstunde „blühe", wie man sich ausdrückte und nur in diesem Zeitpunkte der „Same" zu gewinnen sei. In den meisten Fällen wird die Johannisnacht genannt, die ja, wie wir schon oben gesehen haben, im Zauberglauben eine große Rolle spielt, manchmal aber auch die Christnacht. Wer den Farnsamen holen will, der muß in dieser Nacht an den Standort des Farns gehen und unter mancherlei Beschwörungen am Boden einen bestimmten Gegenstand (auf den der Farnsame fallen soll), als Unterlage ausbreiten. Dieser ist je nach der Gegend verschieden: bald ist es das Fell eines kohlrabenschwarzen Bockes, bald ein Hemd oder eine Windel*') und im katholischen Tirol ist es das Tüchlein, das der Priester beim Meßopfer über den Kelch deckt.'-) Manchmal genügt je- doch ein weißes Leinentuch oder ein Papierbogen, während der sagenumwobene Theophrastus Bom- bastus Paracelsus die Blätter der Wollblume (Verbascum) dazu benutzt haben soll. In anderen Fällen war es sogar nötig den Teufel in höchst- eigener Person zu beschwören, um sich in den Besitz des zauberkräftigen Farnsamens zu bringen. Allerdings war dies ein gar gefährliches Beginnen, denn man konnte sich leicht den Hals dabei brechen. Unter den vielen geheimnisvollen Kräften des Farnsamens steht die des Unsichtbarmachens obenan. In verschiedenen Gegenden erzählt sich das Volk Sagen, die diese Eigenschaft des Farnsamens demonstrieren sollen. Eine derselben — sie stammt aus Niederösterreich — will ich hier wiedergeben: „Am Johannestag in der Frühe vor Sonnenaufgang kann man den unsichtbar machen- den Farnsamen abstreifen. Andere sagen, der Farnsamen habe nur dann unsichtbar machende Kraft, wenn er dem Menschen in jener Zeit zu- fällig in die Schuhe oder in die „aufgestrikte" (wohl = aufgekrempelte) Hose „reise" (riesele). Als einst ein Knecht des Bauernhofes Großbichl in Wobach an einem Früh-Johannismorgen heim kam, hörten ihn die Leute zwar reden, sahen ihn aber nicht. Sie fragten ihn daher verwundert: ,.Wo bist du denn, daß wir dich nicht sehen?" — „Ich bin doch da bei euch !" erwiderte er. ... End- lich begriff einer die wunderbare Sache und sagte zum Knechte: „Ziehe deine Schuhe aus, vielleicht ist der Farnsamen hineingereist!" Er zog die Schuhe aus, der Same reiste heraus und der Bursche stand sichtbar vor ihnen."*'') Ganz ähn- lich erzählt man sich diese Sage in der Uker- mark.**) Auch in der modernen Literatur spielt diese Eigenschaft des Farnsamens eine gewisse Rolle. So beschreibt Robert Hamerling in seinem Epos „Der König von Sion" das Treiben im Lager des Bischofs von Münster u. a. mit den Worten : „Auch Theriakhändler gab es und andere dazwischen, die Farnkraulsamen verkauften, welcher um unsichtbar sich zu machen als Mittel geschätzt ist."*^) i68 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. II In einem der folgenden Verse rät ein alter Landsknecht einem Rekruten : „Steckst vor die Brust nur ein Päckchen mit Farnkrautsamen, so bist du Unsichtbar für den Feind."*") Ferner bewirkt der Farnsame in den Geld- beutel gelegt, daß dieser das ganze Jahr nicht leer wird, macht hieb- und stichfest und dient beim Ausgraben von Schätzen. Nach einem Glauben der Tiroler ist er auch zum Gießen der nie fehlenden „Freikugeln" nötig, ^'j Daß die Zeit, in der man noch allgemein an die Zauber- wirkungen des Farnsamens glaubte, noch nicht allzuweit zurückliegt, sehen wir aus den Hexen- prozeß-Akten betr. einen gewissen Michael Pusper von Rothenburg (in Schwaben), der in dem Ver- dachte „Fahrnsamen" geholt zu haben stand. Als er betreffs dieses Punktes vom Hexenrichter ver- nommen wurde, gestand er : „Er selbst habe den Fahrsamen nie geholt, aber er wisse, daß man ihn des Jahres zweimal am St. Johannisabend holen könne. Man nehme eine Haselstockwurzel, ziehe mit dieser auf einem Kreuzweg einen Ring, in diesen Ring bringt man ein weißen VVegwarts- stock [vgl. oben I] , soll des Nachts zwischen 1 1 und 12 Uhr geschnitten sein, dabei dürfe man aber nichts reden. Jetzt werden sich allerlei Er- scheinungen: Vater, Mutter und andere Personen, Hunde und dergleichen mehr zeigen. Um 12 Uhr müsse man den Wegwartsstock, unter dem man ein Tierfell ausgebreitet, schlagen, es sei unter- dessen aus demselben ein Stengel hervorgewachsen und sogleich falle der Same aufs Fell. Diesen (Farnsamen) faßt man dann in ein Federröhrlein und verschließt dasselbe mittels eines Hölzchen und nun sei man in Besitz des glücklich machen- den Farnsamens." '"*) Man scheint jedoch dem unglücklichen Pusper nicht geglaubt zu haben, denn er wurde Mitte September 1650 enthauptet. Einen wie großen Umfang übrigens der Zauber- glaube vom Farnsamen gehabt haben muß, wird wohl dadurch am schlagendsten bewiesen, daß selbst die Kirche ausdrücklich gegen denselben einschreiten mußte. Erließ doch die Synode von Ferrara (im Jahre 16 12) folgendes Verbot : Prohi- bemus ac vetamus ne quis ea nocte, quae diem S. Johannis Baptistae nativitatis sacrum praeit, filices filicumve semina colligat. '"') Zum Schluß des ganzen Farnaberglaubens kann ich mir nicht versagen die Worte des alten Brunfels (geb. 1488 in Mainz), den Linne den Vater der Botanik nennt, anzuführen. In seinem „Contrafayt Kreuterbuch" (Straßburg bey Hans Schotten 1532) sagt er „von dem Faren": ,,Hye mussz ich mit Vergilio sagen / hie nihil nisi carmina desunt / hye mangelt mir nicht / dann das ich nit auch zaubern / vnnd teuftel beschwören kan. ich weyssz wol / das vil ein aug vff dises kraut geschlagen / vnd verhoffen / ich werde etwas daruon sagen werden, kein kraut ist / da meer hexenwerk / vnd teuffels gespenst mit getrieben wird. Ich mussz mit gewalt mich lassen bereden wie disses kraut ein somen trage welchen es uff S. Johanns- nacht würfft / so doch Dioscorides Plinius vnd alle die daruon geschriben / keins somens geden- cken. Und disser somen würt auch nit jedermann zu theyl, sonder mussz man zuuor das kraut be- schwören vnd den teuffei darüber anruffen vnnd alsdann so schwitzet es wie ein gummitröpflin / welche gleich uff stund hart werden / vnnd zu einem schwartzen somen welcher mir auch von etlichen ist gezeygt worden. Mag war sein / mag auch wol ein teuffels gespenst sein. Es mag et ye solicher somen nyemals gedeyen (wie sye sagen) dann allein off S. Johanns nacht / vnnd auch nicht / dann mit vorgangener coniuration / doch hye hör ich / das auch einer nit braucht handt gebärd wie der ander. Halt es für ein lauter gauckelwerck. Dann / ist es ein natürlich Ding mit dissen somen / was bedarff es solicher coniuration / vnd den teuffei darüber anzuruffen ' oder auch daruon zu treiben / so würt die natur ire würckung selber thuon ' on beschwören vnd vngesägnet. Ist es dann kein natürlich ding so ist es gewisszlich ein gespenst vnd betrügnuss. Vber das / wie kompt es / das man jn allein vff sanct Johannsnacht mussz sammlen / vnd nit vff einen andern tag vor / oder nach? Was hat S. Johanns damit zu schaffen. — — — — Solichs hab ich hye müssen anzeygen von dem Faren / damit ich nit gar nichts daruon sagte. Es wer- den aber die Farnbeschwörer / vileicht über mich zürnen / da ligt nicht vil an." Mit diesen wenigen Beispielen aus dem Reiche der Zauberpflanzen wäre natürlich der Gegenstand noch lange nicht erschöpft. Ich erinnere nur an die geheimnisvolle Spring wurzel, deren man sich nur durch Vermittlung eines Vogels, des Spechtes, bemächtigen kann und die überall Tor und Tür öffnet, oder an die neun Kräuter, deren sich nach dem Volksglauben die Hexen zur Bereitung einer Salbe bedienten, mit der sie sich einschmierten, bevor sie zu ihren Zusammenkünften mit dem Teufel durch den Schornstein flogen. Ein Kapitel für sich wäre die Aufzählung der sog. „Beschrei- oder Berufskräuter", die nach dem Volksglauben vor dem Beschreien und Berufen (so lauten die volkstümlichen Ausdrücke für das Behexen) schützten. All dieser Pflanzenaberglaube ist wohl mehr wert als eine bloße Kuriositätensammlung, die man zwar mit Neugier und Vergnügen be- schaut, ohne ihr aber einen höheren Wert bei- zumessen. Wenn wir bedenken, welch große Rolle der Pflanzenaberglauben zu den verschieden- sten Zeiten und bei den verschiedensten Völkern gespielt hat, werden v^^ir wohl nicht umhin können, ihm eine gewisse kulturhistorische und ethnologi- sche Bedeutung zuzuerkennen. Wir werden ihn dann nicht als eine Verirrung des menschlichen Geistes bezeichnen, sondern vielmehr als den Ausdruck einer gemütsvollen Naturbetrachtung, die allerdings in der äußeren Form manchen kindlich naiven Zug trägt, aber doch auch Zeug- N. F. VIII. Nr. II Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 169 nis gibt von dem innigen Verhältnis der Natur- menschen zu den Bäumen, Sträuchern und Kräu- tern seiner Umgebung. ') J. Grimm, Deutsche Mythologie. 4. Ausg. v. E.H. iVIeyer, Berlin 1875— 78. II, 996. '■') Mythologie des planles ou les legendes du rogne ve- getal. Paris 1882. Tom. II, p. 230. ') De re rustica. X, 19, 20. ■*) Zeitschrift für Ethnologie. Band XXIII (1891), p. 726 ff. 'j De bcUo Judaico. Vll, 6, 3. ") K. Bartsch, Sagen, Märchen u. Gebräuche aus Mecklen- burg. Wien 1880. II, 39. ") Lippmann, Über einen naturwissenschaftl. Aber- glauben. .Abhandlungen der nalurf. Ges. zu Halle. XX. Bd. (1894I, p. 264. ") New Kreuterbuch von dem Hochgelcrten vnd weit- berühmten Doctor Petro .Andrea M a 1 1 h i o 1 o. Erstlich in Latein gestellt. Folgendts durch Georgium Handsch verdeutscht. Prag 1563. ") Schriften des Wiener .Mtertums-Vereins. Wien 1862. '") Zeitschrift des Vereins f. Volkskunde. Berlin. Bd. XIII (1903), p. 126. ") Zeitschrift f. Ethnologie. Band XXIII (1891), p. 745. '■*) Zeitschrift f. Österreich. Volkskunde. Wien. Bd. II (1896), p. 352—361 und III I1897), p. 63 ff. "") Natürlich handelt es sich hier kaum um eine der Gattung Reseda L. angehörige Pflanze. '^J ,, Heile, heile die Krankheiten; weißt du nicht, welcher Dämon hier Wurzeln getrieben hat? Nicht Kopf noch Füße möge er haben." ''') ,,Dies sagt man dreimal und ebenso oft spuckt man aus." ^''*) Dieser Zusatz deutet auf die Wegwarte (Cichorium Intybus), die ja im mittelalterl. Latein solsequium (die Blüte sollte dem Lauf der Sonne folgen) genannt wurde , während die Stelle ,,über dich knarrten Wagen" auf eine Plantago-Art (PI. maior daher in Braunschweig ,,WaüntransbIauine" = Wagenspurblume genannt) hinweist. '") An einer anderen, in der vorstehenden Wiedergabe des Neunkräutersegens nicht angeführten Stelle , wird sogar Christus selbst genannt. ■') Hoops, 1. c. p. 64. "") Wohl ein Farn ; vielleicht Adiantum capillus Veneris oder Asplenium ruta muraria (oder A. trichomanes) ; auch ein Moos, Polytiichum commune, führt diese Bezeichnung. '^) V. .\lpenburg, Mythen und Sagen Tirols. Zürich 1857, p. 408. '■"*) Jenssen-Tusch , Nordiske Plantenavne. Kopen- hagen 1867, p. 179. '-') Haase, Volksmedizin in der Grafschaft Ruppin und Umgegend. In: Zeitschr. d. Ver. f. Volkskunde VII (1897), p. 7°- ^-) Bartels, Über Krankheitsbeschwörungen. Ebenda Band V (1895), p. 8. ^') Montanus, Die deutschen Volksfeste. Elberfeld 1854, p. 149. ^*) Ins Hochdeutsche übersetzt: Obstbaum, ich klag dir, Das Zahnweh plagt mir. Nimm diese Pein von mir. Den ersten Vogel dir (d. h. der erste Vogel, der über den Obst- baum hinwegfiiegt, soll das Zahnweh mitnehmen). '"') Bartsch, 1. c. Band II, p. 429. ^'') Thurneißer L., Th. zum Thurn, Alchimist des 16. Jahrhunderts, lebte eine Zeitlang am Hofe des Kurlürsten Johann Georg in Berlin. -'J Diese Stelle ist in Grimm's Mythol. 4. Ausg. II, 1003 zitiert. -*) D.as Wort ist ursprünglich ein Personenname und be- deutet ,, Versammlungsspeer" (ahd. madel = Versammlung und ahd. ger ^= Speer). '-") Dieser Spruch ist von Weigand in der „Zeitschrift für Deutsche Mythologie und Sittenkunde" hrsg. v. J. W. Wolff Band II (1854), p. 170 mitgeteilt worden. ^"1 Vgl. auch V. Alpenburg, 1. c. p. 397. ■") ^'g'- ^- B- unten die Gewinnung des ,, Farnsamens". ^2) Hist. nat. XXIV, cap. 19. ,,Herba quaecunque e rivis aut fluminibus ante Solls ortum coUecta , ita, ut nemo colligentemvideat, adalligata laevo bracchio ita, ut aeger quid sit illud ignoret, tertianas arcere traditur." '^) Zum Teil zusammengestellt bei Grimm, Mythologie. 4. Ausg. II, p. 1000. •■") Bei Plinius dagegen (z. B. Hist. nat. XXIII, 6) werden ZauberkrUuter ,,manu sinistra" [mit der linken Hand] aus der Erde gezogen. ■"') Neidhart, Die Pflanzen in religiöser, abergläubischer und volkstüml. Beziehung. Ein Beitr. z. Volksbotanik Schwa- bens. In: 19. Bericht des Naturhist. Ver. in Augsburg (1 867), p. 41. ^») Bartsch, 1. c. Band II, p. 2S8. '•) Ign. Vinz. Zingerle in Zeitschr. f. Deutsche Myth. und Sittenkunde I (1S53), p. 330; Alpenburg I. c. p. 407 ff. ■■"') Gubernatis, I. c. Bd. I, p. 143 ff. '") Botanica popolare Abruzzese, in : Archivio per lo studio delle tradizioni popolari VIII (1889), p. 36. ■"') Physica S. Hildegardis 2, 92: in loco illo, ubi [seil, fili.xj crescit, diabolus illusiones suas raro e.xercet et domum et locum in quo est, diabolus devitat et abhorret et fulgura et tonitrua et gnando ibi raro cadunt. — Bei Grimm, Myth. 4. .\usg. II, 1012. ■") Birlinger, Aus Schwaben, Sagen, Legenden, Aber- glauben usw. Wiesbaden 1S74. Band I, p. 158 (Hexen- prozeßakten gegen Michael Pusper v. Rothenburg). *') Alpenburg, 1. c. p. 408. *ä) P. Willebald Leeb. Zum Johannesfest. In: Zeit- schrift f. Volkskunde IV (1892), p. 283—288. ■''') Kuhn, A., Märkische Sagen und Märchen. Berlin 1843, P- 206. ■''') Hamerling, Robert, Der König von Sion. 8. Aufl. Hamburg 1S79, p. 160. *^) Ebenda p. 168. *') Alpenburg, 1. c. p. 407. **) Birlinger, I. c. p. 164. ■*') „Wir verbieten aufs strengste, daß jemand in der Nacht, die dem Johannisfest vorhergeht, Farne oder Farn- sam en sammle." Mannhardt, Germanische Mythen. Berlin 1858, p. 32. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Physik. — Versuche, auf me- chanischem Wege in anisotropen Flüssig- keiten richtungsgeordnete Zustände nachzuweisen, sind mit Erfolg am Anisaldazin von E. Böse ausgeführt worden (Physik. Zeit- schrift X, Nr. i). Die Flüssigkeit, deren Klärungs- punkt bei 181,2" liegt, wurde bei etwas niedrigeren und höheren Temperaturen unter verschiedenen Drucken durch ein Reibungsröhrchen geleitet und aus der Durchflußzeit beurteilt, ob der Poiseuillc- sehe Zustand (geordnete Bewegung der Teilchen) oder der durch Wirbelbewegung komplizierte hydraulische Zustand sich ausbildete. Die trüben, kristallinischen Flüssigkeitszustände stellen nach Böse ,,ein Durcheinander von Molekül- schwärmen dar, deren jeder mit einer gewissen Vorzugsrichtung versehen ist, um welche sich ganz überwiegend die Längsrichtungen der Mole- I/o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. XI küle anordnen. Ein derartiger Schwärm wird in Richtung seiner Vorzugsrichtung erheblich leichter deformierbar sein, als in den Richtungen senk- recht dazu und beim Durchfließen einer Kapillaren im Poiseuille'schen Zustande werden daher die Schwarmachsen sich möglichst parallel zur Rohr- achse einstellen. In dieser Weise erklären sich ungezwungen die \'iskositätsanomalien der dünn- flüssigen, anisotropen Flüssigkeiten. Haben wir dagegen an Stelle des Poiseuille'schen den hydrau- lischen Strömungszustand, so wird die Ausnutzung der Vorzugsrichtung nicht mehr in dem Maße erfolgen können, als es in dem geordneten Poiseu- ille'schen Zustande möglich war, und zwar um so weniger, je intensiver die Durchwirbelung wird, d. h. in je höherem Grade das Druckgefäile den Grenzwert überschreitet, bei dem der Poisenille- sche Zustand labil wird". Die kristallinische Flüssigkeit zeigt daher vor der Klärungstemperatur eine wesentlich kleinere Ausflußzeit im Poiseuille'schen Zustand, als über derselben, nachdem sie isotrop geworden. Wurde nun höherer Druck angewendet, so ergab sich folgendes. Bei loo mm Druck zeigte sich eine Abweichung im Sinne des hydraulischen Zustandes, also Vergrößerung der Ausflußzeit, nur kurz vor der Klärungstemperatur. Bei 600 mm Druck dagegen erstreckt sich der Effekt über mehr als 12 Grad. ,,Im Sinne der kinetischen Schwarm- theorie der anisotropen Flüssigkeiten ist dies Ver- halten ohne weiteres verständlich. Bei der Klä- rungstemperatur ist die Intensität der Wärme- bewegung gerade ausreichend, um die richtungs- geordneten Zustände des anisotrop - flüssigen Zustandes zu zerstören. Unterhalb der Klärungs- temperatur werden diese Zustände also um so stabiler sein, je weniger intensiv die auf ihre Zerstörung hinarbeitende Wärmebewegung ist, d. h. je weiter wir uns von der Klärungstempe- ratur entfernen. Eine Durchwirbelung der Flüssig- keit innerhalb sehr kleiner Bezirke wird um so mehr die richtungsgeordneten Zustände zu stören in der Lage sein, je mehr sie von der Wärme- bewegung unterstützt wird, also in erster Linie in der Nähe der Klärungstemperatur." • — „Es dürfte hier zum ersten Male der direkte Einfluß eines Formfaktors der Moleküle mechanisch zum Nachweis gebracht sein." Eine Bestimmung der Schwerkraft auf dem Indischen und Großen Ozean ist durch O. Hecker mit Hilfe von Siedethermo- metern und photographisch registrierenden Oueck- silberbarometern ') ausgeführt worden (Veröffentl. des Zentralbureaus der Internat. Erdmessung, N. F. Nr. 78). Diese Bestimmungen auf hoher See, die an zahlreichen Küstenstationen durch Beobach- tungen mit einem Pendelapparat ergänzt und ') Beide Arten von Instrumenten gestatten eine Bestim- mung des Luftdrucks , jedocii geht bei den Barometern aucli die Schwere in das Resultat. Ein Vergleich der mit den ver- schiedenen Instrumenten erhaltenen Luftdruckwerte gestaltet daher Rückschlüsse auf die Intensität der Schwere. kontrolliert wurden, ergaben übereinstimmend mit früher auf dem Atlantischen Ozean nach der gleichen Methode ausgeführten Messungen , daß die Schwere auf dem Ozean durchaus normale Werte besitzt. Demnach kann die PrattHelmert- sche Hypothese, nach welcher die Massen der Erdkruste isostatisch gelagert sind, als vollauf be- stätigt gelten. Die Massenerhebungen der Konti- nente müssen demnach durch Massendefekte im Erdinnern ausgeglichen sein und ebenso die Ozeane durch entsprechend größere Dichtigkeit unter dem Meeresgrunde. Ein Ballonvariometer, das aus dem v.Hefner-Alteneck'schenVariometer hervorgegangen ist, wurde auf der Cölner Naturforscherversamm- lung von A. Bestelmeyer vorgeführt. Die den Druckausgleich bewirkende Kapillare hat bei die- sem Instrument eine bestimmte, wohl definierte Weite und Länge, so daß sie der durchströmen- den Luft einen ganz bestimmten Reibungswider- stand darbietet. Steigt oder sinkt nun der ein solches Instrument mitführende Ballon, so wird der innere Luftdruck gegenüber dem äußeren einen um so größeren Unterschied aufweisen, je schneller das Steigen bzw. Sinken stattfindet. Das in geeigneter Weise zur Messung dieses Druck- unterschiedes zurecht gemachte Manometer ge- stattet daher, unmittelbar die Geschwindigkeit der vertikalen Bewegung des Ballons zu beobachten. Als Gefäß benützt Bestelmeyer eine Dewar'sche Flasche und erzielte damit, daß die durch die Temperatur bedingten Fehler der Angaben nur selten 10 "/o erreichten, was die praktische Brauch- barkeit des Instrumentes dartut. Die Frage nach der Ursache der von Blaas zuerst in dieser Zeitschrift (N. F. Bd. III, S. 200, 316) bekannt gemachten Erscheinung der Pho- techie ist immer noch strittig, da zwar eine größere Zahl von Forschern die Einwirkung der Metalle und anderer Stoffe auf photographische Platten mit Russell, Blaas und Czermak auf eine Diffusion sich bildenden Wasserstoffsuperoxyds zurückführten, aber andere, wie Streintz und Strohschneider, Melander, Graetz besondere Strah- lungen annehmen zu müssen glauben. Neuer- dings ist die Frage von Saeland durch eine Reihe von Versuchen, welche alle zu gegenteiligen Ergebnissen führende P"älle hinreichend aufklären, wohl definitiv entschieden worden (Annalen der Physik, 1908, Bd. 26, S. 899). Es handelt sich in der Tat um Diffusion von H.^O., in die emp- findliche Schicht und um eine rein chemische Einwirkung. Wird H2O.3 während der Einwande- rung in die Schicht zersetzt , so hört die photo- graphische Wirkung auf. Noch nicht aufgeklärt ist allerdings die Urache der H.3 0._,- Bildung an Metalloberflächen, besonders wenn dieselben frisch abgeschmirgelt sind. Allerdings ist E. B. Andersen wieder zu einer anderen Erklärung der Photechie gelangt, die er in der physik. Zeitschrift vom 15. Januar 1909 bekannt gibt. Die Entstehung der Strahlung \. F. VIII. Xr. II Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 171 fülirt dieser Forscher mit Streinz und Rohschneider auf galvanische Wirkung zwischen den Körpern zurück, welche die Oxydation der Metalle be- schleunigt und so auch die Strahlung befördert, die bei den elektropositivsten Metallen (Nickel, Kobalt, Blei, Zinn, Zink) am stärksten ist. Wenn eine Oxydation verhindert wird, läßt sich auch keine Strahlung beobachten. Nach Andersens Meinung wird nun bei der Oxydation eine diffuse Strahlung von geringem Durchdringungsvermögen entwickelt, die Sauerstoff in Ozon umwandelt. Da nun das Ozon erst die photographische Platte beeinflußt, ist es nicht wunderbar, daß es nicht gelingt, scharfe Schattenbilder durch die Metall- strahlung zu erhalten. Über die photographischeSolarisation hat B. Walter Untersuchungen angestellt (An- nalen der Physik). Bekanntlich versteht man unter Solarisation die Tatsache, daß eine über- mäßig starke Belichtung einer Bromsilberplatte kein negatives, sondern ein positives Bild gibt, was eben zuerst bei Landschaftsaufnahmen be- merkt wurde, wenn dieselben die Sonnenscheibe enthielten. Walter hat nun folgendes festgestellt: Im Anfangsgebiete der Solarisation liefern die verschiedenen Entwickler zwar sehr verschiedene Schwärzungen , aber die maximale Schwärzung tritt bei allen nahezu für die gleiche Belichtung ein. Platten verschiedener Herkunft verhalten sich hinsichtlich ihrer Solarisierbarkeit oft sehr ver- schieden, ein Zusammenhang mit der Empfind- lichkeit besteht jedoch nicht. Die Reihenfolge der Plattensorten in dieser Beziehung ist für Röntgenstrahlen eine andere als für Lichtstrahlen, und wieder eine andere für den Clayden- Effekt (worunter man die Tatsache versteht, daß eine Blitzaufnahme durch Nachbelichtung in ein Positiv verwandelt werden kann , so daß das Blitzbild beim Entwickeln auf der Platte hell anstatt dunkel erscheint). Alle diese Versuche sprechen zu- gunsten einer Theorie der Solarisation, welche zwei voneinander verschiedene Zerfallsstoffe des Bromsilbers annimmt. Dabei bleibt aber noch fraglich , ob es sich um ein Subbromid und ein Oxybromid handelt, wie Abney meint. Beobachtungen von J. Stuhr mit dem Flim- merphotometer (vgl. N. W. V, S. 781) im Vergleich mit anderen photometrischen Messungen ergaben bei Spektralfarben eine mit zunehmender Farbendifferenz wachsende Abweichung der Flim- meräquivalenzwerte von den nach der Methode des direkten Vergleichs gefundenen Zahlen. Hält man an dem Siemens'schen Grundsatz fest, daß der für technische Beleuchtungsfragen gültige Maßstab der auf die Sehschärfe bezogene sein soll, so muß daher die Flimmermethode als weni- ger geeignet bezeichnet werden wie die Methode der Flächenhelligkeit, wie sie L. Weber für sein Photometer ausgebildet hat (J. Stuhr, Bestimmung des Äquivalenzwertes verschiedenfarbiger Licht- quellen, Inaug.-Diss., Kiel 1908). Eine Bestimmung der Brechungsquotien- ten verschiedener Gase ist von R e n t s c h- 1er mit Hilfe des F"abry-Perot'schen Interferometers und eines Konkavgitters ausgeführt worden (Astro- physical Journal, Dezember 1908). Die Resultate dieser Arbeit sind in unserer Figur graphisch wiedergegeben. Sie stellen insofern eine wesent- liche Bereicherung unserer Kenntnisse dar, als bisher der Brechungsquotient für kleinere Wellen- längen als /. = 4800 nur für Luft bestimmt war. Gerade die starke Absorption vieler Gase im Ultraviolett macht aber die Untersuchung des Dispersionsverlaufs in diesem Spektralgebiet sehr 1,000 43 4(? ■33 SO /1--3000 L^ COz Luft N »*- ^iM) ÖUOO 6OOO1LU. Die Brechungsexponenten der wichtigsten Gase für verschiedene Wellenlängen. wichtig. Die bisher bekannten Gesetze, nämlich daß (n — i) für ein bestimmtes Gas der Dichtig- keit direkt proportional ist 1 — - — =const.|, und daß die durch Temperaturänderungen bedingten Änderungen des Brechung.sindex genau propor- tional den Dichteänderungen sind, wurden durch Rentschier bestätigt. Mit der Cauchy'schen Dis- R C persionsformel n = A + ; 2 + -, 4 ergaben die Be- obachtungen bei den Luftgasen gute Überein- stimmung, während bei Kohlenoxyd und Kohlen- dioxyd größere Abweichungen auftraten. Die Dispersion der 5 untersuchten Gase wird durch folgende F"ormeln am besten dargestellt: Luft: (n— i)- 10" = 2903,1 -|-3,8oA-=-f 1,23 iL--» Stickstoff: (n — i ) • 10 ' = 2941 + 3,8 1 A-= -f 1,2 1 1-* Sauerstoff: (n — i)- 10' = 2697,4 -|~ 3,72 ;i-^ + i,26A-4 Kohlenoxyd: (n — i)-io' = 3241,2 -f 17,01 '/-' + o,58A-t Kohlendioxyd: (n — i)- 10' = 4490,4 — 16,55 ''•"'" 4- 4.03 ''--'■ Der Brechungsindex des Heliums wurde von Scheel und Schmidt mit Hilfe des Fizeau'schen Dilatometers zu 1,000034 (bei o" 1/2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. II und 760 mm Druck). Das Brechungsvermögen des Heliums ist demnach kleiner als das aller übrigen Gase. Auch Herrmann und einige englische Forscher bestimmten nach Interferenz- methoden die Brechung des Heliums und fanden den gleichen Wert. Herrmann fand auch für die Dispersion zwischen den beiden Wasserstofiflinien C und F : np— nc = 0,000 000 86. Für Argon ergab , 1,6- IQ-''» sich nach Burton n = 1,0002792 H p- . Die vollständigste Balmer'sche Linien- serie, die bisher beobachtet werden konnte, wurde jüngst beim Natriumdampf von Wood beobachtet (Phys. Zeitschr. vom i. Febr. 1909). Die Linien einer Balmer'schen Serie sind bekannt- lich derart miteinander verknüpft, daß ihre Wellen- längen aus einer und derselben Formel J =A + B.m-=-f C-m-4 sich ergeben, wenn man in derselben an Stelle der darin vorkommenden Zahl m der Reihe nach die natürlichen Zahlen von 3 ab einsetzt. Die Anzahl der einer Serie angehörigen Linien ist demnach eigentlich unendlich groß, jedoch drängen sich die Linien für höhere Werte von m mehr und mehr zusammen und werden daher in der Nähe des theoretischen Endes (für m ^ 00) für die Beobachtung zu schwierig. Beim Wasserstofif- spektrum waren bislang 29 Linien der Haupt- serie aus dem Sonnenspektrum bekannt, aber nur 12 davon im Laboratorium wirklich beobachtet. Wood gelang es dagegen, bei Benutzung des Kadmiumfunkens als Lichtquelle mit einem Quarz- spektrographen im Natriumabsorptionsspektrum, in dem bisher nur 7 Linien der Hauptserie ent- deckt waren, 48 Linien derselben Serie zu photo- graphieren und ihre Wellenlängen, für die letzten Linien allerdings nur mit Benutzung des Mikro- skops, zu messen. Wie dicht die letzten dieser Linien bereits stehen, geht aus den folgenden Wellenlängen derselben hervor. Es ist: für m = 48 A = 241,478 ,((,(( m = 49 A = 241,465 |((|K m = 50 Ä = 241,450 /(/( Nimmt man die Grenze des sichtbaren Spek- trums bei 300 ftfi an, so liegen die meisten dieser Natriumlinien im Ultraviolett. Nur die erste, die D-Linie, und allenfalls noch die zweite ß = 330,2 nf-t) können mit dem Auge wahrgenommen werden. Wood hat übrigens auch in der Nach- barschaft der zweiten und dritten Linie zu beiden Seiten ein kanneliertes Spektrum entdeckt, analog dem früher bei den D-Linien gefundenen. Ver- mutlich sind auch die übrigen Glieder der Serie von kannelierten Spektren umgeben. Studien über Lippmann's F'arbenphoto- graphie, die H. E. Ives im Juniheft 1908 des Astrophysical Journal veröffentlicht hat, haben einige recht interessante Ergebnisse gezeitigt. So erzielte Ives mit geringeren Bromsilbcrmengen als üblich reinere Farben, die besonders schön wur- den , wenn er mit Hydrochinon entwickelte und dann mit Quecksilberchlorid die geschwärzte Schicht bleichte. Da bei der Entwicklung mit Hydrochinon die ganze Schichtdicke mit den den stehenden Lichtwellen entsprechenden Lamellen durchsetzt war, konnte auf diese Weise ein außer- ordentlich reiner Farbenton im reflektierten Lichte erzielt werden. Auch Mischfarben ließen sich auf diesem Wege recht gut wiedergeben. Für weißes Licht erwies ebenso wie für natürliche Objekte sich ein etwas gröberes Silberkorn als vorteilhaft, während bei einfarbigem Licht feineres Korn die besten Resultate gibt. Besonders wichtig für die weitere Ausbreitung des Lippmann'schen Verfahrens wird vermutlich der von Ives gefundene Ersatz des Quecksilber- spiegels durch einen mit dem Film in optischen Kontakt gebrachten Silberspiegel werden. Der auf einer Glasplatte niedergeschlagene Silber- spiegel wird durch eine darüber aus Amylacetat- lösung abgeschiedene Zelluloidschicht unter Wasser abgelöst und dieser biegsame Silberspiegel wird mit der Silberfläche auf eine noch feuchte Lipp- mann-Platte aufgequetscht. Die Möglichkeit, nach dem Lippmann'schen Verfahren reine Farben des Spektrums zu repro- duzieren, wird auch bei der Dreifarbenphotographie nützlich werden, da ja hierbei monochromatische Lichtfilter benötigt werden. Ives benutzt zur Herstellung dieser Filter die rote Cadmium-Linie (/. 6439), die grüne Magnesium-Linie (5170) und die blaue Lithium-Linie (4602). Die absolut höchste Temperatur ist nach einer von O. Lehmann in der physikali- schen Zeitschrift (vom 15. April 1908) veröffent- lichten Notiz diejenige, welche der größten Ge- schwindigkeit entspricht, die einem materiellen Atom von größter Masse, also größtem Atom- gewicht erteilt werden kann. Diese größte Ge- schwindigkeit ist aber gleich der Lichtgeschwindig- keit, da in diesem Falle der nach der Lehre vom Strahlungsdruck sich ergebende Widerstand un- endlich wird, und weil auch das durch eine be- wegte elektrische Ladung erzeugte magnetische F'eld in diesem Falle einen unendlich hohen Widerstand bedingt. Schöne, den Schneekristallen ähnliche, sechs- strahlige Kristallisationsformen des unter- kühlten Wassers lassen sich nach B. Wein- berg demonstrieren, wenn man ein Stückchen Eis in das unterkühlte Wasser durch eine eng ausgezogene Röhre einbringt. Der Versuch eignet sich gut zur Projektion, namentlich zwischen ge- kreuzten Nicols, da dann chromatische Polarisation beobachtet wird und die optische Einachsigkeit des Eises gezeigt werden kann: Wenn das Rohr so weit um seine Achse gedreht wird, daß die Lichtstrahlen senkrecht auf die Sternfläche auf- treffen, so verschwindet das Sternbild (Physikal. Zeitschr. v. i. Okt. 08). Über das Verhalten des elektrischen Funkens im magnetischen Felde hat H. N. F. VIII. Nr. 1 1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 173 E. Schaeffer Ver.suche angestellt, die zu der Annahme führten, daß bei der unter Atmosphären- druck stattfindenden Entladimg im magnetischen Felde negative Teilchen leuchtende Bahnen in Form von Spiralen und Kreisen (je nach der Richtung des P'eldes) beschreiben, die denen ähn- lich sind , welche die von einer heißen Kathode bei im Vakuum erfolgender Entladung emit- tierten negativen Teilchen beschreiben. Die Ge- schwindigkeit der Teilchen ist bei Atmosphären- druck von der Ordnung 5 . lo' cm pro Sekunde, während im \'akuum von Wehnelt Geschwindig- keiten von 1,6 . 10" bis 1,07 . 10" cm beobachtet wurden. Das Spektrum der leuchtenden Spiralen und Kreise ist identisch mit den Stickstoffbanden, bei Einschaltung hoher Kapazität und Selbst- induktion in den sekundären Stromkreis treten auch Bogenlinicn auf, die darauf hindeuten, daß in diesem Falle die emittierten Teilchen nicht nur das Gas , durch das sie sich bewegen , zum Leuchten bringen, sondern auch selbstleuchtend sind. Durch elektrische Funkenentladung und Licht- bogen hervorgerufene Leitfähigkeit von Gasen hat v. Traubenberg zum Gegenstand genauen Studiums gemacht (Physik. Zeitschr. vom 25. Okt. 08). Beim Leuchtgas und Acetylen blieb starke, auf diesem Wege hervorgerufene Leit- fähigkeit noch stundenlang nach Abstellung der Ursache bestehen, während sie bei Luft, Wasser- stoff, Sauerstoff und Kohlensäure bald wieder ver- schwand. Beim Leuchtgas war die Remanenz der Leitfähigkeit in hohem Maße von dem Mate- rial der Elektroden und der Art der Entladung abhängig. Bei Filtration des leitend gemachten Gases durch Watte oder beim Durchgang durch starke elektrische Felder konnte bei bestimmter Strömungsgeschwindigkeit die Leitfähigkeit völlig vernichtet werden. Im leitenden Gase erkannte man mit bloßem Auge einen sehr feinen Staub, der im elektrischen Felde Brücken bildete, deren Zerstörung einen Rückgang der Leitfähigkeit zur F"olge hatte. Aber auch in durch Stehen über Wasser staubfrei gemachtem Gase wurde Leit- fähigkeit beobachtet, v. T. nimmt zur Erklärung seiner Beobachtungen an, daß der Elektrizitäts- transport im künstlich leitfähig gemachten Gase sich auf drei Wegen vollzieht: erstens durch sehr schwer bewegliche Ionen, zweitens durch geladene Staubteilchen (elektrische Konvektion), drittens durch Staubbrücken, die eine sehr hohe, mit dem Spiegelgalvanometer meßbare, dem Ohm'schen Gesetz folgende Leitfähigkeit erzeugen , bei der der sonst beobachtete unipolare Charakter nicht beobachtet wird. Ein durch elektrostatische Kräfte be- triebenes Relais beschreibt K. Bergwitz in der physik. Zeitschr. vom 15. Feb. 1909. Eine photoelektrische Zelle läßt einen Strom zustande kommen, sobald ihre Alkalifläche von einem schwachen Lichtschein getroffen wird. Durch diesen photoelektrischen Strom wird ein Qua- drantenelektrometer aufgeladen und durch die hier- mit zustande kommende Bewegung ein weiterer Kontakt hergestellt, der einen Telegraphenapparat betätigt. Die mit diesem Relais erzielte Flmpfind- lichkeit ist so groß, daß es auf direktes und reflektiertes Mondlicht anspricht, auf eine Stearin- kerze in 5 m Entfernung und auf eine 5 Ampere- Bogenlampe auf 200 m. Das Relais spricht auch ohne lichtelektrische Zelle an, wenn ein ionisiertes Gas dem Elektrometer eine Ladung übermittelt, es kann also z. B. auch zu Untersuchungen über Radioaktivität der Erdbodenluft benutzt werden. Eine im Göttinger Institut für angewandte Elektrizität durch Roschansky ausgeführte Untersuchung des Funkenwiderstandes mittels der Braun'schen Röhre führte zu Ergeb- nissen, die in sehr befriedigender Übereinstimmung sind mit dem nach der Simon'schen dynamischen Lichtbogentheorie abgeleiteten Spannungsverlauf. Auch die Abhängigkeit der Spannungskurve von der Frequenz der elektrischen Schwingungen wurde der Theorie entsprechend gefunden. Für Wellenlängen über 2000 m ist die Elektroden- spannung bei kleiner Funkenstrecke (i mml fast unabhängig von den verschiedenen Versuchs- bedingungen gleich 30 bis 40 Volt. Es liegt aber die Tendenz vor, daß bei höheren Schwingungs- zahlen der Funkenwiderstand einem konstanten Werte zustrebt. Die Spannungskurve, die bei kleinen Schwingungszahlen von positiven kon- stanten Werten ziemlich plötzlich zu ebensolchen negativen überspringt , nähert sich bei großen Frequenzen (über 10") einer gedämpften Sinuskurve. Im allgemeinen kann also von einem Funken- widerstand ebensowenig wie von einem Wider- stände des Lichtbogens schlechthin jetzt nicht mehr gesprochen werden. Nur bei hohen Fre- quenzen darf die F'unkenstrecke wie ein gewöhn- licher Leiter betrachtet werden. (Phys. Zeitschr. vom I. Okt. 09.) Die Frage der Umwandlung von Ele- menten ist nach einer neueren Veröffentlichung von Soddy (Phys. Zeitschr. vom 15. Januar 09) einen Schritt weiter gelangt. Dieser zuverlässige Forscher erklärt nunmehr die Produktion von Helium aus Uranium für sicher festgestellt, und zwar werden jährlich aus lOOO Tonnen Uranium etwa 2 Milligramm Helium gebildet. Aus Radium dagegen bilden sich nach Rutherford's Mit- teilung am gleichen Orte bedeutend größere Helium- mengen, die aus der Zahl der ausgeschleuderten «-Partikel ermittelt wurden, die ja nichts anderes als mit positiver Ladung versehene Heliumatome sind. Ein Gramm Radium liefert nämlich im Jahre be- reits 158 cmm Helium, wobei pro Stunde 113 Grammkalorien Wärme entwickelt werden. Die ,, Lebensdauer" des Radiums berechnet sich daraus auf 1760 Jahre. Auch De war gelang es, mit Hilfe des Radiometers die Menge des aus Radium entstehenden Heliums zu messen (Proc. of the Royal Soc. 1908). Er fand pro Tag eine Bildung von 0,37 cmm Helium, was mit dem oben an- gegebenen Werte leidlich zusammenstimmt. 174 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. II Kleinere Mitteilungen. Zur Beantwortung der 2. Frage des II. Ein- wandes gegen den Darwinismus, nach L. Plate. Als zweite Frage des II. Einwandes gegen den Darwinismus gibt Plate (Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung; III. Aufl., Engel- mann 1908) an: Ist die Zuchtwahl nur als nega- tiver Faktor anzusehen oder schafft sie auch positiv? Wie Plate betont, wird dieser Einwand be- sonders auch von Philosophen erhoben. Eine Analyse dieses Einwandes scheint mir die Gründe dieses Gegensatzes zwischen praktischen Natur- forschern und kritischen Philosophen aufzuklären. Bezeichnen wir mit a, b, c, d, e, f, g, h ver- schiedene Merkmale und Eigenschaften, welche in einer stark variierenden Art — etwa nach einer Änderung der Faktoren in der Außenwelt; z. B. nach einer Klimaschwankung (Eiszeit) — vor- handen sind. Diese Eigenschaften lassen wir — zur Ver- einfachung der Untersuchung — stets zu dreien vereint in einer Variation vorhanden sein: 1 ä :i 4 .T e abc, bcd, ade; bcd, bde, bef; 7 8 9 10 U lä cdc, cef, cfg; def, dfg, dgh . . . In diesem Schema erscheinen die Eigenschaften derart gemischt, daß die ersten Variationen die zuerst genannten Eigenschaften enthalten, die letzten Variationen, die zuletzt genannten. Als nützliche Merkmale oder Eigenschaften nehmen wir an: a, d, g. Somit werden bei gleichen Kampfverhältnissen erhalten bleiben die- jenigen Variationen welche zwei, wohl auch solche, die eine nützliche Eigenschaft enthalten. Wir betrachten diejenigen, die zwei Eigenschaften enthalten. Dies sind unter obigen 12 Variationen 4 u. zw.: 2 :! 11 12 acd, ade; dfg, dgh. Ist der Sclektionswcrt von a d, von d g, so ist klar, daß 2 und 3 die begünstigten Typen darstellen. Durch weitere Selektion wird eine Ab- schwächung und Unterdrückung der Eigenschaften c, e, f, h zu erwarten sein, wir erhalten dadurch: ad-, ad-', dg^', dg''-. Also 2 Doppeltypen, 2 Arten , welche diphy- letisch entstanden sind, wenn man die nächste Abstammung beachtet. Es ist nun anzunehmen, daß ad'- und ad'', wie auch dg" und dg'" — da sie unter gleichen Verhältnissen leben — durch Konvergenz und Kreuzung zu je einem Typus verschmelzen. Der Verlust der Eigenschaften c, e, f, h muß aber ausgeglichen werden, nach den angenommenen Verhältnissen ist dies voraussichtlich in der Weise zu erwarten, daß die von ad'-' und ad-\ bzw. dg", dg'- stammenden Eigenschaften a und d, als die (in 2 u. 3 einerseits, in 11 u. I2 anderseits) höher bewerteten,*) den Sieg davontragen und sich ver- stärken, so daß ihre Summe gewissermaßen wieder- um den Wert von 3 ursprünglichen Eigenschaften erhält. Die Typen ad'-' und ad'' werden somit zu Ad, die Typen dg" und dg^'- zu Dg. Eine weitere Kreuzung und Selektion wird nun eine Vereinigung dieser Typen voraussetzen lassen. Trotzdem A höher wertig ist als D, ist aber anzunehmen, daß d 4" D A noch übertrifft. Wir erhahen als Endtypus eine Form, die wir mit J bezeichnen wollen, um zu versinnbildlichen, daß eine neue Steigerung eingetreten ist. Die Form J stellt die durch Isolation ge- 1 2 12 wonnene Art vor, welche aus abc, acd . . . dgh sich entwickelt hat. Unser Schema zeigt also: 1. Die Selektion führte zu einer S teiger u ng der Eigenschaften (a - A, d — D, D — J). ^ 1 12 2. Diese Eigenschaften waren in abc — dgh bereits angelegt, sie wurden isoliert. 3. Aus J läßt sich durch Selektion nichts mehr herausholen, es sei denn, daß wir durch Atavismus verlorene bzw. unterdrückte Eigen- schaften neu auftreten ließen. Indem nun der deskriptive Naturforscher 1 12 zwischen abc — dgh und Ad, Dg, J einerseits, ferner zwischen Ad, Dg, z/ anderseits genaue Unterschiede findet, diese Formen also genau differenziert, ist er berechtigt zu sagen: Die Selektion wirkte positiv um- formend. Indem der kritische F'orscher in A nur ein gesteigertes a, in J ein gesteigertes D erkennt und sagt, J ist in D bereits entwickelt, in allen d enthaltenden Formen der Variationsreihe 1 12 abc — dgh bereits angelegt, ist er auch gewiß berechtigt zu erklären: Die Selektion schuf negativ, sie erklärt uns das Verschwinden der anderen Typen, das Er- haltenbleiben der die Komponente d enthaltenden. Hier liegen also Unterschiede in der Be- trachtungsweise vor, logisch sind beide Urteile richtig. Die gegensätzlichen Urteile beruhen also nicht in dem Irrtum des einen oder anderen Beur- teilers, sondern in der verschiedenartigen Betrach- tungsweise. Beide sind psychologisch erklärt, logisch korrekt; dasjenige Urteil nun wird sich in der Folge — vulgär gesprochen — als richtig erhalten, das für die Anwendung in der Wissenschaft praktischer ist. Unser Schema gestattet noch eine andere Be- *) a ist ja > als d, muß also im 2. und 3. Falle über- wiegen; d ist > als g, muß also im 11. und 12. Falle über- wiegen. N. F. VIII. Nr. II Naturwissensrhaftlichc Wochenschrift. 175 trachtung, die zu ganz interessanten Überlegungen führt. Wir haben den Typus J gewonnen. Wollen wir weiterbauen , so muß entweder Atavismus oder direkte Anpasssung zu Hilfe genommen werden. Tritt eine Änderung der Außenfaktoren ein, so ist der Typus J vor drei Möglichkeiten gestellt : 1. Er stirbt aus. 2. Er erwirbt durch direkte Anpassung eine neue Eigenschaft. 3. Er erwirbt durch Atavismus (hierzu rechne ich in diesem Falle auch die Mutation, da wir wohl annehmen können, daß bei derselben Atavis- mus eine Rolle spielt) eine in der ersten Varia- tionsreihe enthaltene Eigenschaft wieder.*) Betrachten wir den 2. Fall. Zu J treten neue Eigenschaften , erworben durch direkte Anpassung, wir bezeichnen sie mit 1, p, s und gewinnen nun -/Ip', -/ps", -/Is''. 1 sei höher bewertet als p, dieses höher als s. Wir gewinnen jetzt -/Ip*, -/Is"' als bevorzugte Typen. Eine neue Vereinigung muß einerseits zu einer Abschwächung von J und einer Stärkung von 1 führen : (5L ist der nun wiederum zweimal ent- stehende Typus, der durch Kreuzung und Selek- tion zu dem Endtypus / führen muß; da ö unter- drückt wird, ebenso p, s und L-f-I- sich zu -/ summieren. Wir sehen daraus wiederum — und dies ist für den Kampf zwischen Darwinismus und Lamarekismus von Wert — , daß beide Theo- rien vereint sich am ungezwungensten ver- wenden lassen, daß nicht eine die andere zu ersetzen, sondern zu ergänzen hat. Es bleibt uns noch die Mutationstheorie übrig. Nehmen wir an, daß durch sie in der Aszen- denz noch nicht vorhandene Eigenschaften auch auftreten können, dann ist sie im Schema identisch mit dem F"alle 2. Die Eigenschaften 1, p, s werden dann eben nicht durch direkte Anpassung er- worben. Betrachten wir den 3. Fall, so ergibt sich folgendes : Zu J treten etwa b, c, e, also daß wir gewinnen: Jhc, Jht, Jet. Die Fortführung geht gleichartig wie im 2. Falle und wir gewinnen das Resultat : Selektionstheorie und Mutations- theorie können sich genau so ergänzen wie Selektionstheorie und Lamarekismus. Man hat dann im speziellen Falle nur zu ent- scheiden, ob die neu auftretende Eigenschaft als auf die eine oder andere Art erworben anzu- sehen ist. Karl Cornelius Rothe, Wien. Ein eigenartiger Doppelbaum steht in Thü- ringen an der von Erfurt nach Arnstadt führenden Landstraße bei dem Dorfe Gügleben. Es ist eine alte Weide, in deren Innern ein Samen der Eber- esche Wurzel geschlagen hat. Über der geköpften Krone der Weide erhebt die aus ihrer Höhlung gewachsene Eberesche als stattlicher Baum ihre Krone, die im Herbst mit zahllosen Beerendolden behangen ist, deren rote Färbung sich recht wir- kungsvoll von dem Laube der beiden Bäume ab- hebt. Interessant ist es, zu beobachten, wie der Stamm der Eberesche sich in dem Innern der Weide hinabschlängelt und wie unten in der letzteren sich die Wurzeln verzweigen und nahrung- suchend in die Erde greifen. Die beiden Bäume scheinen sich bei ihrem innigen Verhältnis sehr wohl zu fühlen, denn beide grünen und treiben zahlreiche Zweige, die noch auf eine recht lange Lebensdauer hoffen lassen. E. W. Rohde, Gotha. Bücherbesprechungen. Prof. John Perry , Angewandte Mechanik. Deutsch von R. Schick. 666 Seiten mit 371 Fi- guren. Leipzig, B. G. Teubner, 1908. — Preis geb. 18 Mk. Perry ist einer der besten englischen Lehrer der Mechanik. Sein Buch ist, wie das Titelblatt besagt, bestimmt für Studierende, die Versuche anstellen und numerische und graphische Beispiele durcharbeiten wollen. Es gibt den am Finsbury Technical College seit vielen Jahren in Gebrauch befindlichen Lehrgang der angewandten Mechanik, der hauptsächlich in der Durchführung zahlreicher Beispiele besteht. Bei den nicht durchgerechneten Übungen werden die Resul- tate angegeben. Der Übersetzer hat durchweg das englische Maß in metrisches umgerechnet. Außer- dem sind durch Dr. Rüdenberg zahlreiche Literatur- hinweise eingefügt worden. So dürfte das Buch auch an deutschen technischen Bildungsanstalten mit großem Vorteü zu gebrauchen sein. Kbr. *) Wir können die noch nicht verbrauchten Eigen- schaften b, c, e, f usw. durch Atavismus v?ieder gewinnen, hin- gegen können wir nicht wieder gewinnen a, d. Prof. E. Warburg, Die physikalisch -techni- sche Reichsanstalt in Charlottenburg. Vortrag. 28 Seiten mit 7 Abbildungen. Tübingen, Mohr, 1908. — Preis 90 Pf. In äußerst fesselnder Weise gibt der derzeitige Präsident der Reichsanstalt durch diesen im öster- reichischen Ingenieurverein gehaltenen Vortrag Auf- schluß über die Entstehung, Organisation, Aufgaben und bisherigen Erfolge des ihm unterstellten Instituts. Die Abbildungen dienen vorzugsweise dazu, die Ent- wicklung der an der Reichsanstalt vorgenommenen Prüfungen von Meßinstrumenten graphisch zu veran- schaulichen. Kbr. Prof. Dr. A. Bernthsen, Kurzes Lehrbuch der Organischen Chemie. Zehnte Auflage be- arbeitet in Gemeinschaft mit Dr. Ernst Mohr, 176 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. II a. 0. Prof. a. d. Universität Heidelberg. Braun- schweig, Friedrich Vieweg & Sohn, 1909. - — Preis 12 iMk. Das Lehrbuch von Bernthsen ist mit Recht sehr beliebt: es ist zuverlässig und trotz gedrängter Form inhaltreich, also ein wichtiges Nachschlagebuch für jeden Chemiker, Physiker und Biontologen. Die seit dem Erscheinen der 9. Auflage im Jahre 1905 erfolgten zahlreichen Fortschritte sind in der vor- liegenden Auflage gewissenhaft berücksichtigt worden, so daß sich das Buch seine alten Freunde bewahren wird. Auf 40 Seiten bietet Verf. eine Auseinander- setzung über die prinzipiellen Punkte. Dann folgt der spezielle Teil, in welchem die Verbindungen in 3 Klassen besprochen werden, nämlich i. Klasse: Methanderivate, 2. Klasse: Chemie der isozyklischen Verbindungen und 3. Klasse: heterozyklische Ver- bindungen. Das Register ist gewissenhaft bearbeitet und umfangreich. Emil Abderhalden, 0. Prof für Physiologie an der Kgl. Tierärztlichen Hochschule , Berlin , Neuere Ergebnisse aus dem Gebiete der spe- ziellen Ei we i ß ch em ie. Jena, Gustav Fischer, 1909. — Preis 3,50 Mk. Über denselben Gegenstand, den das vorliegende, einschließlich Register 128 Seiten umfassende Heft behandelt, hat der Herr Autor bereits ausführlich selbst in der Naturw. Wochenschr. berichtet , so daß den Lesern der Gegenstand bekannt ist. Es handelt sich in der vorliegenden Arbeit um eine Sonder- ausgabe des erweiterten und ergänzten Beitrages für das Handbuch der Biochemie (herausgegeben von Karl Oppenheimer). Diese Sonderherausgabe wird bei der Wichtigkeit der Eiweißchemie auch für die Biontologie vielen sehr genehm kommen. Verf ver- spricht später eine umfassende Darstellung der Eiweiß- chemie und Physiologie zu liefern. Das Werk zerfällt nach einer Einleitung in 4 Kapitel, nämlich i. totale Hydrolyse von Proteinen durch Säuren, 2. Beschrei- bung der einzelnen Spaltprodukte, 3. Überblick über den Gehalt einiger Protenie an Aminosäuren, 4. par- tielle Hydrolyse und Polypeptide. Anregungen und Antworten. Herrn V. — Samen eines ,, Gu mm i baumes" au.s Mexiko (semillas de Guayule). — Die in letzter Zeit viel besprochene mexikanische Kautschukpflanze ,, Guayule" ist eine Art aus der Familie der Compositae und heißt: Partheniura argentatum Gray. Kndlich hat (Tropen- pflanzer IX (1905) 223 u. XI (1907) 449) eingebend über Verbreitung der Guayulepflanze und ihre Verwendung zur Kautschuktabrikation berichtet. Der anatomische Bau wurde von H. Roß (inBerichteder Deutsch. Bot. Gesellschaft XXVI a (1908) 248) geschildert, der die Pflanze im Norden Mexikos beobachtet hat. Seinen Angaben sei folgendes entnommen : Diese Komposite ist über weite Strecken des mexikanischen Hochlandes verbreitet und bildet ein etwa 60 cm hohes, reich verzweigtes Zwergbäümchen von schirmartigem Wuchs. Die Pflanze hat 2 — 4 cm lange lanzettliche, meist buchtig- gezähnte, silbergraue Blätter, und langgestielte, sehr kleine gelbe Blütenköpfchen in Rispen; sie bevorzugt Gegenden von aus- gesprochener Trockenheit. Die Eigenschaft des Guayule, Kautschuk zu liefern , ist den Eingeborenen mancher Gegen- den seit langer Zeit bekannt; man fertigte Spielbälle aus dem Produkt. Die ersten Versuche, im großen Mafistabe Kautschuk aus der Pflanze herzustellen, begannen infolge der Unter- suchungen und Vorschläge deutscher Chemiker um 1890. Vor 7 — S Jahren begann die Ausbeutung in ausgedehntem Maß- stabe. Der Guayule-Kautscbuk ist von mittlerer Qualität, die aber bei hohen Preisen des Rohkautschuks geeignet ist, als Zusatz zu besseren Qualitäten verwendet zu werden. Neuer- dings scheint eine .Stockung in der Gewinnung des Produkts eingetreten zu sein infolge der zurzeit herrschenden niedrigen Kautschuk-Preise. Das Produkt wird nicht durch Anzapfen in lebendem Zustande, sondern aus trockenem .Material ge- wonnen. Die Pflanzen werden gewöhnlich herausgerissen, getrocknet und fein zermahlen ; der Kautschuk wird dann entweder auf chemischem (Extraktion durch Alkalien) oder mechanischem Wege gewonnen. Einzelheiten der Herstellungs- weise werden geheim gehalten, Mitte 1907 bestanden über 140 Patente für die Extrahierung des Produkts. Natürlich ist die Pflanze in leicht zugänglichen Gegenden bei der starken Nachfrage schon vielfach ausgerottet. Bisher verarbeitete man auf Kautschuk nur wildwachsende Pflanzen; ob kultivierte Exemplare sich ebenfalls verwerten lassen, darüber scheint noch nichts bekannt zu sein. Sehr kalkreicher Boden und ein subtropisches, trockenes Klima sind die Haupterfordernisse für günstiges Gedeihen; vielleicht eignet sich Südwest-Afrika für die Kultur des Guayule. — Die den Kautschuk liefernde Substanz findet sich bei Partheniura argentatum in fast allen Zellen des Grundgewebes, also in denen des Markes, der Markstrahlen und der primären Rinde, sowie im Holz- parenchym. Die Pflanze zeichnet sich außerdem durch den Besitz primärer und sekundärer Sekretkanäle aus, deren Ent- wicklung und Verteilung H. Roß genau studiert hat. H Harms. Herrn W. Br. in E. — Die von Ihnen treffend beschrie- benen Früchte , denen Sie den Namen ,,Kaguis" geben , ge- hören zu Diospyros Kaki L. f., einer Art aus der Familie der Ebenaceae. Es ist dies ein kleiner Baum oder Strauch mit unterseits behaarten, breit-elliptischen, zugespitzten Blättern und ziemlich großen, gelblichweißen Blüten. Die rötlichgelben oder rötlichen, apfelähnlichen Früchte werden bis o,^ kg schwer und haben einen süßen, angenehmen, schwach zusam- menziehenden Geschmack. Man bezeichnet die Früchte als Kaki feigen oder kurzweg „Kaki"; dieses ist die richtige Schreibweise. Der Baum ist in Japan und China heimisch; er ist durch Kultur über das ganze südöstliche Asien ver- breitet, und wird jetzt auch in Kalifornien und im Miltelmeer- gebiet angebaut. Einen großen Teil der bei uns in den Han- del kommenden Kakis dürfte wohl die Kiviera liefern. Es gibt mehrere D i ospyr os- Arten mit eßbaren Früchten, ge- nannt sei noch D. lotus L. , ein Baum des tropischen und subtropischen .Asiens, dessen 2 — 3 cm im Durchmesser hal- tende, bläulichschwarze, zuletzt gelbbraune Beeren unter dem Namen schwarze Datteln oder Karachurma bekannt sind; auch dieser Baum wird im Mittelmeergebiet kultiviert. Von D. virginiana L. aus dem östlichen Nordamerika stammen die sog. Persimonen, Früchte von der Größe der Mispeln, die sehr zusammenziehend schmecken, aber gefroren einen milden Geschmack annehmen und auf verschiedene Weise zubereitet werden. Andere Arten derselben Gattung liefern wertvolles Ebenholz, das sich bekanntlich durch seine schwarze oder schwarzbraune Farbe auszeichnet (z. B. D. eben um Reiz., im trop. Asien). H. Harms. Inhalt: Heinrich Marzcll: Über Zauberpflanzen in alter und neuer Zeit. — Sammelreferate und Übersichten : Neues aus der Physik. — Kleinere Mitteilungen: Karl Cornelius Rot he; Zur Beantwortung der 2. Frage des II. Ein- wandes gegen den Darwinismus, nach L. Plate. — E. W. Rohde: Doppelbaum. — Bücherbesprechungen: Prof. John Perry: Angewandte Mechanik. — Prof. E. Warburg: Die physikalisch- technische Reichsanstalt in Char- lottenburg.— Prof. Dr. A. Bernthsen: Kurzes Lehrbuch der organischen Chemie. — Emil Abderhalden: Neuere Ergebnisse aus dem Gebiete der speziellen Eiweißchemie. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge Vlll. Hand; lier ganzen Keihe XXIV. Band, Sonntag, den 21. März 190g. Nummer 12. Entnahme- und Beobachtungsinstrumente für biologische Wasseruntersuchungen. Nach Prof. Dr. R. Kolkwitz, Trivatdüzenten der Botanik und Wissenschaftlichem Mitglied der Kgl. Prüfungsanstalt für Wasserversorgung und Abwiisserbeseitigung. (Mitteilungen aus der Kgl. Prüfungsanstalt lür Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung. Heft 9. 1907.) [Nachdruck verboten. Die Zusammenstellung der Entnahme- und Be- obachtungsinstrumente für biologische Wasser- untersuchung, welche Kolkwitz herausgegeben hat, wird dem Fachbotaniker und Zoologen ebenso willkommen sein, wie dem sich mit praktischen hydrobiologischen Fragen Beschäf- tigenden oder dem Aquariumsfreunde. Kolkwitz veröffentlicht das Instrumentarium, dessen sich die kgl. Versuchs- und Prüfungsanstalt für Wasser- versorgung und Abwässerbeseitigung bei ihren bio- logischen Untersuchungen bedient. Diese Anstalt hat es sich zur Aufgabe gemacht, zur Lösung kultu- reller Fragen einen vertieften Einblick in den Zustand unserer heimischen Gewässer zu gewinnen. Bei den hierzu erforderlichen Studien auf dem Gebiete der angewandten Hydrobiologie wurden Instru- mente benutzt, welche teilweise schon jahrzehnte- lang in Gebrauch waren ; ein Teil derselben wurde umkonstruiert, wo sich dieses im Gebrauche als notwendig herausstellte, ein anderer Teil neu konstruiert. Die beschriebenen Instrumente dienen der Untersuchung des freien Wassers, des Ufers und des Grundes. Als prinzipiell neu möchte ich zunächst auf die Instrumente hinweisen, welche der schnell auszuführenden quantitativen Plaiiktonunter- suchung dienen sollen. Zur richtigen Beurteilung der selbstreinigenden Kraft eines Gewässers gibt die quantitative Planktonbestimmung einen tieferen Einblick in das Zusammenarbeiten von Entfäulern, Durchlüftern und Bakterienfressern als die quali- tative, und es sind deshalb die Instrumente mit Freuden zu begrüßen, welche eine solche schnelle quantitative Beurteilung am lebenden Material an Ort und Stelle ermöglichen. Von allgemeinen Instrumenten ist zuerst der Ausziehstock beschrieben (Fig. i), an dessen Spitze das Planktonnetz, der Pfahlkratzer, der Schlammheber usw. befestigt werden sollen. Es ist praktisch, einen vielgliedrigen, etwa 6-gliedrigen Stock zu benutzen; das äußerste Glied ist 25 — 35 cm lang. Alle Metallglieder sind aus Messing gefertigt. Es genügt, wenn bei vollem Auszug eine Länge von 1,5 — 2 m erreicht wird. Die Spitze hat einen Durchmesser von 8 mm, eine Länge von 30 mm und für den mittels Messingkette befestigten Stift eine Lochweite von 4 mm. Das Loch ist in der Mitte der Spitze angebracht. Das äußerste Stockglied, dessen Durch- messer 2,5 cm beträgt, ist zweckmäßig mit ge- firnißter Schnur bewickelt oder mit Leder be- zogen. Um ein Schlottern der Auszüge gegen- einander zu vermeiden, ist jedes Glied in das vor- hergehende mit einer 2 cm langen Führung ein- gelassen. Der in Fig. i abgebildete Ausziehstock wiegt 450 g. Zur Durchmusterung mancher Proben an Ort und Stelle dienen: für schwache Vergrößerungen 3 — 4 mal vergrößernde Lupen, welche mit 1,4 cm hoher runder Hornfassung umgeben sind und 2,5 cm Durchmesser haben, für mittlere Ver- größerungen aplanatische Einschlaglupen von 14 — 16 facher Vergrößerung in Nickel- fassung; für stärkere Vergrößerungen die 27 fach vergrößernden Anastigmatlupen ; für stärkste Ver- größerungen die 40 fach vergrößernde, erst im Jahre 1 906 konstruierte Anastigmatlupe von Carl Zeiß-Jena. Die numerische Apertur beträgt 0,27 — 0,28; der Durchmesser des Seh- feldes mißt 2 mm. Da man z. B. Leptomitus, Sphaerotilus, größere Gattungen von Süßwasser- algen und viele Planktonorganismen mit dieser als ,, Planktonlupe" bezeichneten Lupe erkennen kann, kann dieselbe auf Exkursionen ein schwach ver- größerndes Mikroskop wohl ersetzen. Der Algensucher ist eine etwa 100 fach vergrößernde, nur für durchfallendes Licht benutz- bare Lupe, unterhalb welcher das Präparat fest- geklemmt wird. Zur scharfen Einstellung kann der in einem Gewinde drehbare Knopf auf und nieder geschraubt werden. Das Exkursionsmikroskop (Fig. 2) ist ein mit beliebigen Objektiven ausgestattetes kleines und leichtes Instrument, die Vergrößerungen betragen 100 — 400. Es wird mittels eiserner Klammer auf der Unterlage befestigt. Fuß, Säule und Objekt- tisch bestehen aus einer Legierung von Aluminium und Nickel; Tubus und Schiebehülse aus blankem Messing; Revolver, Einstell- und Objekttisch- schrauben aus Stahl. Die Grobeinstellung ge- schieht durch Schieben des Tubus in federnder Hülse, die Feineinstellung durch Bewegen des Objekttisches. Zum Verpacken wird das Instru- ment abgeschraubt, und der Tubus samt Objek- tiven durch einen Ausschnitt des Objekttisches bis zum Spiegel herabgedrückt; es paßt nun in eine VVachstuchtasche von ca. 24 cm Höhe und 12 — 15 cm Breite; diese wiegt dann inklusive 178 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vra. Nr. 12 Klamniern 600 g, während ein normales Reise- mikroskop mit Kasten 2,9 kg wiegt. Instrumente zur Untersucliung des freien Wassers. Das Planktonnetz kleinsten Formates besteht aus einem 35 cm langen Beutel aus Müllergaze (Nr. 16 — 20); für Benutzung während Das Netz kann entweder mit der Aufsteckhülse am Ausziehstock befestigt werden ; oder falls das Netz hinter dem Boot gezogen oder geworfen werden soll, so wird es mittels des Ringes, welcher die 3 Aufhängeschnüre vereinigt, mit einer gewachsten Schnur verbunden. Für quantitative Planktonfänge schöpft man Wasser mit einem gewöhnlichen Litermaß und Fig. I. Fig. 4. Fig. 2. Fig. 5. Fig- 3- Dampferfahrten dient ein Netz von 60 cm Länge und einer etwa 5*2 cm breiten Eintrittsöffnung; für sehr große Planktonfänge hat das Netz ca. i m Länge. Am unteren Ende trägt das Netz einen mit einem verschließbaren Ausflußrohr versehenen Metallbecher. Derselbe kann mittels Metall- oder Quetschhahn geöffnet und geschlossen werden. ermittelt die Planktonmenge von 50 Litern ; der Netzrückstand wird volumetrisch gemessen; durch Multiplikation mit 20 erhält man die Menge pro cbm. Um eine Orientierung an Ort und Stelle zur Bestimmung der ungefähren Menge und Zusammen- setzung der Planktonorganismen zu ermöglichen, wurde die Planktonkammer (Fig. 3) neu konstruiert. Dieselbe faßt einen Raum von i ccm; in diesen wird das Wasser geschöpft. Der Durch- messer der Bohrung beträgt 20 oder 22 mm, die Hölie 3,18 resp. 2,63 mm. Die Dicke der plan- parallel geschliffenen Deckscheibe mißt 0,7 resp. 0,5 mm. Ist die Kammer gefüllt, so hält die Deckplatte durch Adhäsion fest. Die gefüllte Planktonkammer wird dann mit den Lupen be- trachtet und der Beobachter kann sich nun an N. F. Vlir Nr. 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 179 Ort und Stelle sehr schnell einen Begriff von der Zusammensetzung des Planktons machen. Kleinkrebschen dürften wohl dem F'angen durch die Planktonkammern leicht entgehen. Dahingegen ist zu betonen, daß viele kleine, oft massenhaft auftretende, Organismen, wie z. B. Chlorellen und Moiiadiiien , welche stets die Maschen des Planktonnetzes passieren, in der Planktonkammer leicht beobachtet werden können. Zum Aufbewahren des erbeuteten Plankton- materials dienen reagensglasartige, mit flachem Boden versehene Planktongläser aus ca. i mm dickem Glas, welche durchschnittlich 27 ccm Inhalt fassen. Zum Konservieren benutzt man meist Formalin, höchstens i ccm pro Glas. Zur Ermittlung der Farbe oder zur quantita- tiven Messung der Durchsichtigkeit eines Wassers dient die weiße Sichtscheibe. Sie ist 15:20 cm groß und ist in der Mitte an einer 2 m langen Messingkette befestigt, welche in Ab- ständen von ^/^ m quer zur Kette stehende, als Marken dienende Metallscheiben trägt, die ab- wechselnd aus Messing und Kupfer bestehen. Die Sichttiefe wird direkt an der Aufhängekette der weißen Scheibe abgelesen; die Tiefe, bis zu der das Licht für das menschliche Auge eindringt, ist dagegen doppelt so groß, weil jeder Lichtstrahl den Weg zur Platte hin und zurück nehmen muß. Bei Verwendung des Wassergu ckers sieht man die weiße Sichtscheibe etwa 2 m tiefer als ohne denselben. Der Wassergucker ist eine etwa 65 cm hohe Blechkanne, mit Glasboden, deren Durchmesser ca. 23 cm am Boden beträgt und sich nach oben zu verjüngt. Zur Benutzung wird das Instrument auf die Wasseroberfläche auf- gesetzt; das Gesicht wird oben an den Rand aufgelegt, so daß nur die Lichtstrahlen aus dem Wasser in das Auge gelangen können. Da der Wassergucker aber 2 kg oder noch mehr wiegt und nur vom Boote aus benutzbar ist, muß von seiner Verwendung oft abgesehen werden. Instrumente zur Untersuchung des Ufers. Der Pfahlkratzer (Fig. 4) oder Schraper dient zum Abkratzen von bewachsenen Pfählen, Steinen usw., oder zum Herausfangen treibender Flocken von z. B. Pilzen, zum Herausfangen größerer Planktonkrustaceen, zum Herausziehen von Kraut- massen usw.; als nützliches und vielseitig zu ver- wendendes Instrument ist er dem Biologen un- entbehrlich. Es ist ein kräftig gebauter Käscher mit einem kurzen, bisweilen auch beuteiförmigen, längeren Netz aus Kongreßstoff. Der Bügel ist an dem der Ansatzhülse gegenüber befindlichen Teil gerade gestreckt und mit einer Schneide von etwa 12 cm Länge versehen. Im unteren Teil der Schneide befinden sich ca. 10 Löcher, um an dieser Stelle das Netz besser befestigen zu können. Der Becher mit verstellbarer An- satzhülse (Fig. 5) dient dazu, Wasserproben — auch chemische — zu schöpfen und Schlamm und Sandproben heraufzuholen. Der Becher ist aus Messing, innen und außen schwarz lackiert; er faßt loo ccm. Der Rand des Gefäßes ist nach außen umgebogen und zugeschärft. An der Basis der Steckliülse ist ein Gelenk angebracht, um den Becher in verschiedener Stellung zum Auszieh- stock befestigen zu können. Um in der Luft oder unter Wasser Wasser- pflanzen schnell und sicher abzutrennen, dient das am Ausziehstock zu befestigende Schilf- messer. Der Hauptteil besteht aus einer kräftigen Stahlklingc, deren ungefähr rechtwinklig zueinander gestellte Hälften fest miteinander verbunden sind. Das Messer kann also nicht zusammengeklappt werden. Instrumente zur Untersuchung des Grundes. Grundproben werden mit der Dretsche ent- nommen. Die dreieckige Dretsche besteht aus einem starken Eisenrahmen mit einem Netz aus Kongreßstoff. Die oberen Kanten des an drei Eisenketten aufgehängten Rahmens sind zu- geschärft, um die Grundproben leichter aufzu- nehmen : jede derselben ist 20 cm lang und 5 cm hoch. Die Dretsche wird an einer langen, ge- wachsten, festen Leine von 5 — 8 mm Durchmesser in etwa 18 Löchern der unteren Kanten befestigt und am Boden des Wassers langsam hingezogen. Sie wiegt ca. 1,5 kg. Die viereckige Dretsche besitzt im Gegensatz zur dreieckigen nur zwei Schneiden. Die Größe einer Längsseite beträgt 30 cm, einer Querseite 10 cm, die Höhe des Metallrahmens 5 cm. Sie wird durch ca. 40 Löcher befestigt und wiegt ca. 3,8 kg. Die zusammenklappbare Dretsche (Fig. 6) ist handlicher als die starren drei- und viereckigen und erfüllt dabei dieselben Zwecke wie diese. Sie besitzt eine ähnliche Ge- stalt wie die viereckige Dretsche, wiegt aber nur 2,6 kg. Zur Befestigung des Beutels sind 44 Löcher angebracht. Der eiserne Rahmen ist 25 cm lang, 10 cm breit, 4,5 cm hoch und 3 mm stark. Da jedoch Schneiden wie Gleitbügel um- legbar sind, so läßt sich die Dretsche dann auf einen Raum von 25: 10:6 cm bringen. Die Dretschesiebe, auch Schlammsiebe genannt, sind flach oder laternenförmig. Von den beiden aus Messinggewebe gefertigten Bodensieben der flachen Form ist das obere fest mit dem Holzrand verbunden und besitzt eine Maschenweite von ca. i mm ; das untere Sieb ist herausziehbar und die Maschenweite beträgt etwa ■•/j mm. Die Dimensionen eines flachen Siebes von mittlerer Größe betrugen 37:25:9 cm, die eines großen 55 : 38 : 10 cm, das Gewicht 1,2 — 3 kg. Zum Einsammeln kleiner Schlammengen wird mit Vorteil der Schlamm heber benützt, ein zylindrisch gestaltetes Metallgefäß von 4,5 cm Durchmesser, 15,5 cm Länge und etwa 250 ccm Inhalt, welches an zwei Messingketten befestigt i8o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 12 ist; diese treffen in einer eisernen, lackierten Kugel zusammen. Darüber befindet sich ein Ring zur Aufnahme der gewachsten Zugschnur. Sollen rasch hintereinander Schlammproben an verschiedenen Stellen entnommen werden, so wird das Schlammlot benutzt. An einer 35 cm langen Stange befindet sich ein Hohlkegel mit der Spitze nach unten; dieser ist mit einem Deckel bedeckt; darüber befindet sich eine Kugel aus Blei. Der Deckel bleibt beim Eindringen des Hohlkegels in den Schlamm meist auf der Schlammoberfläche liegen und verschließt den Konus erst, wenn das Lot beim Hochziehen wie- der aus dem Schlamm gezogen wird. Der Schlammstecher besteht aus einem etwa 55 cm langen und 2 cm im lichten Durchmesser weiten Messingrohr von 1,5 — 1,7 mm Wandstärke mit abgeschrägtem Ende und von etwa 0,9 kg Gewicht. Wenn die Dicke des Schlammes es erfordert, so kann man bis 5 — 6 Meterstücke aus Messingrohr zur Verlängerung anschrauben. Es wird langsam in den Schlamm gestoßen, bis man auf eine Sand- oder Ton- schicht stößt, welche meist vorhanden zu sein pflegt. Hebt man nun das Röhrensystem, so bleibt der herausgestoßene Schlampfropf durch die das Ende verschließende Sand- oder Ton- schicht im Rohr; das Wasser fließt durch ein seitliches Loch aus. Nun wird der untere Teil des Rohres zur Seite gestoßen und mittels des Schiebers der Pfropf auf einen Blechspatel ge- bracht. Nötigenfalls wird er dann in gläsernen Röhren aufbewahrt. Solche Röhren haben einen lichten Durchmesser von 2,3 cm und werden in Zinkblechkästen untergebracht. Die mit dem Schlammstecher gewonnenen Profilstiche des Schlammes lassen die Höhe der Schlammschicht erkennen , liefern also zugleich auch quantitative Schlammbestimmungen. Zuelzer. Kleinere Mitteilungen. Das Vorkommen echter Höhlen- und Grund- wassertiere in oberirdischen Gewässern. Ein Erklärungsversuch von Dr. A. Thieneman. (Archiv für Hydrobiologie und Planktonkunde, Bd. 4, 1908.) Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß in jüngeren geologischen Epochen in Europa ver- schiedene Glazial- und Interglazialzeiten geherrscht haben und es sind in letzter Zeit eine ganze Reihe echter tierischer Glazialrelikte beschrie- ben worden. Nun herrscht unter vielen Ge- lehrten die durch eine Reihe von Tatsachen wohlbegründete Meinung, daß heutzutage in Europa wieder eine Periode der Wärmeabnahme herrsche. Sie beträgt seit der Litorinazeit 2,5 Grad. Diese Tatsachen der Geologie zieht Thieneman zur Erklärung einiger sehr interessanter biolo- gischer Befunde heran. Eine Reihe echter Höhlen- und Grundwassertiere sind neuerdings regelmäßig in oberirdischen Gewässern aufgefunden worden. Es sind dies der blinde Brunnenkrebs Niphargus = Gammarus puteanus in Quellen der schwäbischen Alp, des Schwarzwaldes, des Jura und Graubündens. Ferner der blinde Niphargus tatrensis in Quellen und Weihern von Rhätikon, vergesellschaftet mit Planaria alpina. Derblinde Niphargus tritt auch zusammen mit Planaria alpina in Quellen des Thüringer Waldes auf Auch blinde Planarien (Würmer), echte Höhlen- bewohner, wurden in oberirdischen Gewässern gefunden: Planaria Mrazekii Wejd. in böhmi- schen Bächen, Planaria cavatica Fries., Planaria anophthalma. Diese Planarien sind ebenso wie die oben an- geführten blinden Niphargus echte Glazialrelikte. Es sind stenotherme Kaltwassertiere, also Tiere, welche gewohnt sind in konstanten. tiefen Temperaturen zu leben. In der Postglazial- zeit mögen die Tiere diese Bedingungen wohl in gewissen Quellen gefunden haben. Planaria alpina hat sich dauernd und unverändert in solchen Quellen erhalten. Niphargus und die Höhlen- planarien dagegen zogen sich bei zunehmender Wärme des europäischen Klimas in unterirdische Gewässer zurück, in denen die Temperatur niederer und konstanter ist. Hier fanden sie die ihnen nötigen Lebensbedingungen, paßten sich an ihre Umgebung an und wurden so zu blinden Arten. In der, wie oben angeführt, heutzutage wieder in Europa herrschenden Periode der Wärmeabnahme sieht Thieneman den Grund für die Besiedelung oberirdischer Gewässer mit echten Dunkeltieren; denn die Tiere finden jetzt auch wieder in ober- irdischen Gewässern tiefere Temperaturen als da- mals, wo zunehmende Wärme sie zwang in die Tiefe zu wandern. Daher ist es ihnen möglich, auch in diesen Gewässern jetzt wieder zu leben und sich fortzupflanzen. M. Zuelzer. Tamus communis, eine fremdartige Er- scheinung unserer Flora. — Eine der eigen- artigsten Erscheinungen unseres süddeutschen und schweizerischen Buchenwaldes ist unstreitig die Schmerwurz, Tamus communis. Im Herbst, wenn aus dem sich verfärbenden Laub der den Wald umsäumenden Sträucher ihre korallenroten Beeren hervorleuchten, zieht sie sogar die Blicke des ge- wöhnlichen Spaziergängers auf sich, aber wer nur einigermaßen mit dem Habitus unserer Pflanzen- welt vertraut ist, der wird auch im Sommer stets wieder von dem prachtvollen Schnitt ihres Blattes, der ganz an tropische Typen erinnernden Ade- rung, dem Glanz der dünnen Spreite und von der gesamten lianenartigen Wuchsform der Pflanze überrascht werden. In der Tat, es ist ein merk- N. F. VIII. Nr. 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. i»i würdiger tropischer Findling, der sich mit ihr in unsere rauheren Gegenden verirrt hat. Die Familie der Dioscoreaceen, eine Sippe der Liliifloren, zu der sie gehört, bewohnt sonst mit ca. 1 50 Arten fast ausschließlich die Tropen der alten und neuen Welt. Einige ihrer Vertreter haben dort besondere Berühmtheit erlangt durch ihre nährstoffreichen Knollen; ich erinnere an die chinesische Kartoffel oder Yamswurzel Dioscorea Batatas und an die auch in deutschen Kolonien kultivierten Dioscorea abyssinica, alata u. bulbifera. Mehrere dieser Arten treffen wir auch fast regel- mäßig als Gäste in unseren Gewächshäusern und botanischen Gärten, da ihre sich jährlich rasch entwickelnden oberirdischen Organe ein vorzüg- liches und durch die schmucken, oft rot geäderten Blätter zierliches Verkleidungsmaterial abgeben. Eine Dioscoree, Testudinaria, bildet auch wegen ihrer ungeheueren Knollen, die, teilweise aus der Erde hervorragend, gefelderten Schildkrötenschalen nicht unähnlich sind, ein beliebtes Schaustück der wissenschaftlichen Sammlungen. Das Verbreitungsgebiet der Schmerwurz da- gegen zieht sich von der Krim durch Südeuropa IdIs Spanien, wobei sie die feuchtere montane Region der trockenen Ebene vorzieht. Nur an einer Stelle hat sie sich nördlich der Alpen ge- wagt, indem sie, offenbar durch das Rhonetal aufwärts, einerseits nach dem schweizerischen Mittelland und andererseits in das Gebiet der Mosel eindrang. Nach Osten hin den Rhein nirgends überschreitend, strahlt sie nur in spär- lichen Ausläufern bis Baden und nach Garcke auch bis Baj-ern (Lindau) aus. Ihre Wanderung vollzog sich also, wie Christ in seiner Flora der Schweiz betont, unter dem Schutz des ozeanischen Klimas; hat sie doch so- gar Belgien und Südengland auf diese Weise zu erreichen vermocht. Dabei hebt dieser Autor als besonders einzigartig hervor, daß die fremd- artige Pflanze sich so sehr an unser Klima ge- wöhnt hat, daß sie sich ganz allgemein durch unsere gesamte untere Buchenzone verbreiten konnte. Wohl ist es begreiflich, daß sie auch hier noch ihre Lieblingsplätze hat; besonders üppig gedeiht sie in den warmen Föhnzonen und unter dem temperierenden Einfluß großer Wasser- flächen. Nirgends sah ich sie so mächtig ent- wickelt wie am Genfersee oberhalb Montreux; aber auch die Gestade d^r übrigen Alpenrand- seen zeichnen sich durch häufiges Vorkommen des Tamus aus. Außer ihm beherbergt Europa nur noch einen Vertreter der Dioscoreaceae, Dioscorea pyrenaica in den Pyrenäen. Trotz der räumlichen Trennung von der Mehr- zahl ihrer nächsten Verwandten verleugnet aber unsere Schmerwurz in keiner Weise ihre Familien- zugehörigkeit. Auch sie besitzt als auftäliigstes, allerdings selten beobachtetes Organ eine ge- waltige Wurzel- oder Stammknolle — wie wir sehen werden ist die morphologische Deutung zweifelhaft. Diese befindet sich in ca. 30 cm Tiefe und dauert jähre-, wohl jahrzehntelang aus, um jährlich neue Lianentriebe zu erzeugen. Fig. I. Zwei Knollen von Tamus in '/a "°d Vi °^'' '^''• Bei b abgebrochene Spitze, Regeneration neuer Vegetations- punkte. Die Form der Knolle ist sehr verschieden, da sie sich in ihrem Wachstum ganz den jeweiligen Bodenverhältnissen anpaßt: oft pfahlartig, kopf- förmig, beliebig verzweigt oder abgeplattet, wo sie auf Hindernisse stieß. Ich habe mehrfach Knollen von 20 — 30 cm Länge und 5 — 10 cm Dicke ausgegraben (Fig. i). Die Oberfläche des Organs ist stets rissig gefeldert und mit einer dicken braunen Korkschicht von 6 — 1 5 Zellagen umgeben. Überall ist sie durchbrochen von zähen und kräftigen aber wenig verzweigten Wurzeln. Unter dem Korkcambium findet sich (Fig. 2) eine 3 — 6 schichtige, primäre Rinde, deren äußere Partien häufig Anthocyan enthalten und mit großen Interzellularen versehen sind. In be- sonderen, zerstreut liegenden, größeren Zellen be- Fig. 2. Teil eines Querschnittes durch eine alte Knolle. Vergr. 2. a Periderm. b Primäre Rinde, c Stärkescheide. d Cambiumzone. c Sekundäres Mark. finden sich mächtige Rhaphidenbündel. Auf eine deutliche Stärkescheide folgt der mit zahlreichen, dem Monocotylentypus entsprechenden Gefäß- bündeln durchzogene Zentralzylinder. In den äußeren Zellagen desselben läßt sich deutlich eine Cambiumzone erkennen, welche zwar in etwas wechselnder Tiefe verläuft, aber doch einen ge- schlossenen Ring darstellt. Sie erzeugt nach innen stärkehaltiges Parenchym und sekundäre kollaterale Gefäßbündel, wie dies in ähnlicher Weise auch l82 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 12 bei Dracaena, Yucca und Aloe geschieht. Auch hier finden sich zerstreut große Rhaphidenzellen. Die Elemente dieses Zuwachsgewebes sind deut- lich radial angeordnet, zuerst tangential gestreckt, später isodiametral und endlich radial verlängert. Sie sind außen mit kleinen, innen mit größeren Stärkekörnern angefüllt, welche in Gruppen von 2 — 8 und mehr dicht aneinandergepreßt liegen und daher infolge der Abplattung verschiedene Gestalt aufweisen. Schnitte durch die Knollen erscheinen weiß oder gelblichweiß, sie erinnern darin und auch durch ihre schleimige Oberfläche an die Kartoffel. Ich vermute, daß der Name Schmerwurz — der übrigens auch dem Fichten- spargel Monotrapa Hypopitys beigelegt wird — daher nicht als Fettwurz, sondern vielmehr als Schmierwurz zu deuten ist, da Fette oder Öle in der Knolle fehlen. Die Entstehungsgeschichte dieses Speicher- organs ist eine ziemlich komplizierte und bildete daher schon mehrfach den Gegenstand eingehender Untersuchungen, so von Bucherer, Queva, Leclerc du Sablon und Goebel. Ich möchte sie hier nach meinen eigenen Beobachtungen darstellen ohne mich näher auf die Streitfrage einzulassen, welchem morphologischen Element sie ihre Entstehung verdankt, da absolute Klarheit wohl doch nicht darüber zu erlangen ist. Die einen fassen sie als Anschwellung der epicotylen Achse des Keim- lings auf, andere als aus den zwei ersten Inter- nodien des Pflänzchens entstanden, andere wieder, nach meiner Ansicht mit mehr Recht, als hypo- cotyles Gebilde. Das richtigste ist wohl, sie mit Goebel als Organ sui generis, zwischen Wurzel und Sproß stehend, zu bezeichnen. Fig. 3. a Same von außen. Vergr. 2^5. b Same im Quer- schnitt, c Keimling (nach Solms-Laubach). Vergr. ca. 30. Die Samen der dreifächerigen Beere sind 3^/2 — 4 mm dick, vollkommen kugelig und röt- lichbraun gefärbt (F"ig. 3) Eine feine, halbkreis- förmige Nath verläuft vom Funicularpol zum gegen- überliegenden, wo ein kleiner schwarzer Punkt die Stelle bezeichnet, unter der, in einem fast bein- harten Nährgewebe eingebettet, der winzige Keim- ling liegt. Die Entstehung des Embryos ist von Solms-Laubach genau studiert worden. Die Samen keimen sehr langsam. Ich hatte sie im Oktober zwischen feucht gehaltenes Fließ- papier gebracht, und an einen warmen Ort ge- stellt, aber erst nach 3".2 Monaten zeigten sich die Würzelchen (Fig. 4 a). Offenbar braucht der Same eine bestimmte, längere Ruheperiode. Das Keimblatt bleibt zum größten Teil in der Samen- schale eingeschlossen und funktioniert als Hau- storium zur Aufnahme der aufgespeicherten Nah- rung. Außerhalb des Samens erscheint also nur die Radicula, später auch das Hypocotyl und die Cotyledonarscheide (Fig. 4 b), aus der nach kurzer Zeit die ersten Blattanlagen sichtbar hervortreten (Fig. 4 c), während die primäre Wurzel in ihrer Fig. 4. Entwicklung der Keimpflanze (etwas schematisch). Vergr. 2'/2. I Nährgewebe, von der Samenschale umgeben. 2 Cotyledon. 3 Halsteil. 4 Cotyledonarscheide. 5 Blatt- anlagen. 6 Knollenanlage (Hypocotyl). 7 Primäre Wurzel. obersten Partie 2 — 3 kräftige Seitenwurzeln zur allseitigen Verankerung des Keimlings aussendet. Die erste Blattspreite, die als deckelartiger Zipfel lange Zeit schon über ihrer Scheide sichtbar war, entwickelt sich erst im Verlauf von ca. 4 Monaten vollständig (Fig. 5). Sie gleicht in ihrer ganzen Ausbildung derjenigen der späteren Blätter, doch Fig. 5. Weiterentwicklung der Keimpflanze. (Same quer durchschnitten.) sind alle im ersten Jahr entstehenden, es sind in der Regel nur 2 (Fig. 6), in ihrem Umriß ein- facher, rundlich herzförmig, ohne die schöne Linien- führung, welche wir an den späteren bewundern (Fig. 7). Gleichzeitig mit der Ausbildung der Blätter geht eine wichtige Veränderung mit dem Hypocotyl, wie wir das fragliche Organ kurz nennen wollen, vor sich. Es beginnt nämlich N. F. VIII. Nr. 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 183 rasch anzuschwellen und in dem Maße, als die Blätter in Assimilationstätigkeit treten, die ziio;e- führten Nahrungsstoft'e aufzuspeichern. Eine kleine, kugelige Knolle entsteht (Fig. 4—6), welche auf ihrem Querschnitt schon alle Teile der ausge- bildeten erkennen läßt: Periderm, primäre Rinde, Zentralz}-linder mit Cambiumzone. Die Gefäß- bündel sind allerdings noch die primären, ihrer Fig. 6. Pflanze gegen Ende des ersten Jahres. (Nat. Gr.) (Junge Knolle unter der dunkleren Samenhülle.) 10 — 12, die in einem ziemlich regelmäßigen Kreise angeordnet erscheinen. Bald entwickeln sich auch aus diesem Organ neue kräftige Wurzeln, welche, wohl durch nachträgliche Verkürzung, auch dazu beitragen, es tiefer in den Boden zu ziehen. Die primären Wurzeln werden inzwischen durch die sich ausdehnende Knolle auf die Seite gedrängt. Samenschale und Knolle sind im .August ziemlich von gleicher Größe und bieten, da sie dicht auf- einandersitzen, einen eigenartigen Anblick (Fig. 6). Leider gingen mir im Winter die Keimpflanzen zugrunde, so daß ich über die Weiterentwick- lung keine sichere Auskunft geben kann. Es scheint mir jedoch ausgeschlossen, daß schon im zweiten Jahr ein größerer Trieb entsteht ; ich ver- mute vielmehr, daß erst nach einigen Jahren die Pflanze genügend Nahrung aufgespeichert hat, um zum luftigen Leben einer Liane übergehen zu können. Jedenfalls bedarf es einer Reihe von Sommern, um eine Knolle von der anfangs be- schriebenen Größe zu erzeugen. Dann aber klimmt und windet sich auch der Tamus mit vielen meterlangen Trieben durch das Busch- werk und an den Bäumen in die Höhe, wobei die nötige Zugfestigkeit durch Verdickung der Mark- Zellen erreicht wird, und entfaltet eine Fülle saftig grüner Blätter und ganze Thyrsusstäbe von Blüten und lockenden Früchten. Die Blätter, deren F'orm aus der Abbildung zu ersehen ist, zeichnen sich durch eine dunklere, glänzende Oberseite aus und enthalten zahlreiche Rhaphidenzellen. An der Basis des langen, nach unten stark verdickten Blattstiels steht jederseits ein ca. 5 — 7 mm langes, fast wachsartig erschei- nendes derbes ÜDrn, dessen Funktion nicht ganz klar ist. Da die Blätter sehr stark auf Licht- wirkung reagieren und sich nach relativ kurzer Zeit in eine geeignete Richtung zur Beleuchtung stellen, wobei das Polster des Blattstiels oft kräftige Torsionen ausführt, könnte man an licht- perzipierende Organe denken. Versuche die ich in dieser Richtung anstellte, bestätigten jedoch diese Vermutung nicht. Um als eigentliche Klimmhacken angesprochen zu werden, müßten sie andererseits wohl größer sein, wenn ich auch mehrfach beobachtete, daß sie das durch Winden des Stengels erfolgende Anklammern der Pflanze wirksam unterstützen können. Besonders bemer- kenswert ist an den Blättern noch, daß sie trotz Fig. 7. Blatt einer jungen (a) und einer ausgewachsenen Pflanze (b) nat. Gr. Bei k ,,K.limmhacken". /^^ Fig. 8. Stück einer Knolle mit abgebrochener Spitze. Regeneration zweier Vegetationspunkte. Vgl. Fig. 1 b. ihrer geringen Dicke und trotzdem keine beson- ders starke Cuticula an ihnen nachzuweisen ist, gegen Verwelken ungeheuer widerstandsfähig sind. Eine abgebrochene Ranke, welche ich im Oktober, dicht mit roten Beeren behangen, zum Schmucke auf einem Balkon befestigte, war bei teilweise sonniger und windiger Witterung noch nach 8 Tagen vollkommen frisch. Man erinnere sich dabei zum Vergleich an die Hinfälligkeit unserer übrigen Lianen, Clematis und Humulus. Die Blüten der Schmerwurz sind unscheinbar. Die Pflanze ist dioecisch. Eine sechsteilige grün- liche Blütenhülle umschließt hier 6 Staubblätter i84 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 12 und einen rudimentären Griffel, dort einen Stempel mit dreifächerigem Fruchtknoten. Hie und da sind Staminodien in den vveibliclien Blüten vor- handen. Der männliche Blütenstand, eine Traube oder Rispe, ist reichhaltiger als der weibliche, der oft nur I — 2, häufig aber auch 5 — 8 F'rüchte entwickelt. Im Herbste sterben die oberirdischen Organe vollständig ab, so daß schon nach kurzer Zeit gar nichts mehr von der Pflanze zu sehen ist. Ein erfolgreiches Verpflanzen der Knolle ist mir bisher nicht gelungen; sie scheint an den Boden ganz bestimmte Ansprüche zu stellen, was ja schon aus ihrer ausschließlichen Bevorzugung des Buchenwaldes hervorgeht. Auch im botani- schen Garten in Basel ist ein eingepflanztes Exemplar nach wenigen Jahren eingegangen. Würde sie sich leichter ziehen lassen, so wäre sie gewiß schon lange als willkommene Zierpflanze verwendet worden. Gegen Verletzung und Verstümmelung ist die Knolle dagegen wenig empfindlich , sie regeneriert sehr leicht verloren gegangene Stücke. Sachs hat schon an Dioscorea dar- über Versuche angestellt und konstatiert, daß am ursprünglichen Sproßende neue Sprosse ent- stehen, die sofort an ihre Basis zu neuer Knollen- bildung übergehen. Auch ich beobachtete an einer Knolle, deren Spitze abgebrochen war, schon nach 3 Wochen 2 regenerierte Vegetationspunkte (Fig. 8 u. I b), während am untern Ende einer abgebrochenen Partie eine neue Wurzel hervortrat. Auffällig war, daß auch das unverletzte untere Ende einer der Sprosse beraubten Knolle sich in 3 Wochen um ca. 12 mm gestreckt hatte. Die bizarre Form mancher Knollen dürfte daher wohl auch z. T. auf Regeneration infolge von Verletzun- gen zurückzuführen sein. Kurz erwähnen möchte ich zum Schluß, daß bei vielen Dioscoreaceen auch eine ungeschlecht- liche Vermehrung vorkommt, indem sich den ur- sprünglichen Knöllchen ähnliche Gebilde in den Achseln der Laubblätter entwickeln, welche nach- her ebenfalls durch sekundäres Dickenwachstum sich vergrößern, oder indem entferntere Stellen der Wurzeln zu neuen Knollen anschwellen. Bei Tamus wurde dergleichen nie beobachtet. Dr. Wilh. Brenner. Wetter-Monatsübersicht. Während des vergangenen Februar herrschte in Deutsch- land größtenteils kaltes, winterliches Wetter mit häufigen Schneefällen. Zwar erfolgte bald nach Anfang des Monats, wie aus der beistehenden Zeichnung ersichtlich ist, überall eine rasche Erwärmung, so daß am 4. und 5. selbst die Nachttemperaturen an verschiedenen Orten im Westen über 5 Grad lagen; zu Geisenheim erhob sich das Thermometer an beiden Tagen bis auf 10" C. Bald darauf aber stellte sich wiederum Frost ein , der im östlichen Ostseegebict seit dem 10. in ungewöhnlichem Maß an Strenge zunahm. In der Pro- vinz Ostpreußen bracliten es in der Nacht zum ii. Könii>s- berg und Memel auf 25, Tilsit und Orteisburg auf 27, Insterburg auf 28, Marggrabowa auf 31" C Kälte. Mit scharfen östlichen , später nordöstlichen Winden pflanzte sich der strenge Frost bald auch weiter nach Westen und Süden fort, ließ jedoch nach wenigen Tagen , gleichfalls zuerst an der östlichen Oslseeküste, wieder sehr schnell nach. Auch in der zweiten Hälfte des Monats fanden in Ost- und Suddeutschland starke Schwankungen der Temperaturen statt, die daselbst in den meisten Gegenden wiederholentlich unter — lo** C herabgingen: in der Nacht zum ig. z. B. hatten Oppeln und München 18" C Kälte. Dagegen blieb X8ni^6ralur-5ßinima einiger 0rTs imJstr'JarlOOS. 6. ti. -A.n. Fh'"^-^' -<• ■ 8 ;v7T^ Neuiahpwasser ~ N.-» iMünchen. ^_ V V ^ \/ VT -18°— 1 I I T— ?S V> -ir Berliner Wefferbureau. Hiailor^e^a^^i^cn im Faß 33>C3:«Oa=2 SJcorcDOCQ SSsriimS puar 1909 Mitherer Wert für Deulschland . Monatssumme .mfebr 1909.08.07.06.05.04. tnin 60 40 1. bis 6- Februar mm 60 II ■ ■ dih - 1 1 - 1 ■ J-l 1 1 j '°Uir -■■ ' nimmm .■Uli ■ 40 mm "1 1 1 7. bis 18. Februar. 1 _ll 1 1 1 ll II 1 1 _n 1^.111 nun am. 20 mm r I9.bis28.felirujr. II i. 1 '-■Ji 1_ 1 c Be_ liner VM trbi. rcau j es jetzt im Nordwesten im allgemeinen gelinder. Dort lagen daher auch die mittleren Temperaturen im diesjährigen Fe- bruar nur ungefähr einen Grad unter ihren normalen Werten, während sie östlich der Elbe und im Süden um volle 3 Grad zu niedrig waren. N. F. VIII. Nr. 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 185 Bei weitem die stärksten Niederschläge ticlen während der ersten sechs Tage des Monats, .anfangs landen in allen Gegenden öfter wiederholte Schneefälle statt, die von starken, an der Küste vielfach stürmischen West- und .N'ordwestwindcn begleitet waren. Aber schon am Abende des 2. Februar setzte im Westen regnerisches Tauwetter ein und breitete sich innerhalb 24 Stunden bis fast an die ostdeutsche Grenze aus. Namentlich in Nordwest- und Mitteldeutschland gingen dann mehrere Tage lang anhaltende , ungewöhnlich starke Regen- güsse hernieder, durch die die vorher gefallenen Schneeniengen äußerst schnell zum Schmelzen gebracht wurden; beispiels- weise betrug die Niederschlagshöhe vom 3. bis 5. früh in Weilburg 67, in Essen 85, in Arnsberg 103 und in Fran- kenheim an der Rhön sogar 117 mm. Da die gewaltigen Wasserniassen in den noch gefrorenen Boden nicht einzu- dringen vermochten , so traten in den meisten Flußgebieten starke Überschwemmungen ein, die an vielen Stellen Damm- brüche, Brückeneinslürze und zahlreiche andere Unglücksfälle zur Folge hatten und auch eine nicht geringe Zahl von Men- schenleben kosteten. Am verderblichsten waren die Hoch- wässer im Gebiet der oberen und mittleren Weser sowie an der rechten Seite des Mittel- und Niederrheins. Vom 3. zum 0. stieg die Weser bei Münden um 6',.j, vom 3. bis zum 7. der Rhein bei Köln um fast 5 Meter. Von ähnlich verhängnisvollen , hauptsächlich durch Eisverstopfungen ver- ursachten Überschwemmungen wurde später die Altmark be- trofTen. Seit dem 7. Februar ließen die Niederschläge in Nord- westdeutschland wesentlich nach. Im Osten und Süden gingen sie mehr und mehr in Schneefälle über, die sich in nächster Zeit häutig wiederholten und besonders im östlichen Ostsee- gebiete sehr ergiebig waren. Dort wuchs die Schneedecke allmählich auf 2 bis 4 Dezimeter an, während sie sonst in der Niederung im allgemeinen nur dünn war. In den letzten to Tagen des Monats waren die Scimeefälle auch an der Ostseeküste selten, im Binnenlande hingegen wiederholten sie sich noch vielmals, wenn auch meistens in geringen Mengen. Die Niederschlagshöhe des ganzen Monats belief sich für den Durchschnitt aller berichtenden Stationen auf 36,1 mm und blieb nur um 1,8 mm hinter der mittleren Niederschlagshöhe zurück, die die gleichen Stationen in den früheren Februar- monaten seit 1891 ergeben haben. In den ersten Tagen des Monats zogen verschiedene tiefe barometrische Minima mit weit verbreiteten, sehr ergiebigen Niederschlägen durch die skandinavische Halbinsel ins Innere Rußlands, während in Südwesteuropa ein umfangreiches Hoch- druckgebiet verweilte. Seit dem 6. rückte das Ma.ximum nord- ostwärts vor, worauf sich die Winde in Deutschland über Nord nach Osten drehten und eine starke Abkühlung herbei- führten. Nachdem am 14. Februar eine neue tiefe Depression vom Nordpolarmeer her in das Hochdruckgebiet eingedrungen war, zerfiel es in eine östliche und eine westliche Hälfte, die sich beide langsam weiter nach Osten verschoben. Allmählich gelangte das westlichere Barometerma.ximum bis in die Mitte Europas , wo daher die Niederschläge immer spärlicher wur- den. Von da zog es aber am 21. Februar rasch zu einem höheren, im Innern Rußlands neu erschienenen Maximum hin und bedeckte mit ihm gemeinsam bis zum Schlüsse des Mo- nats den größten Teil des europäischen Festlandes, während das Mittelmeergebiet von flachen Depressionen eingenommen wurde. Dr. E. Leß. Vereinsw^esen. Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde (E.V.). — Über „Tierehe und Brutpflege" sprach am Mittwoch, den 11. No- vember, im Hörsaal VI der Kgl. Landwirtschaft). Hochschule Herr Prosektor Dr. W. C. Berndt. Nachdem der Vortragende mit einigen ein- leitenden Worten den Ursprung des Begriffes „Ehe" im Sinne von „Ein-Ehe" im menschlichen Staatenwesen erläutert hatte, ging er dazu über, das Wesen des sexuellen Zusammenschlusses im Reiche der ,, unvernünftigen" Kreatur zu schildern. Zunächst machte er darauf aufmerksam, daß man sich bei allen Tierbeobachtungen nicht genug da- vor hüten könne, menschliche Verhältnisse, mensch- liche Ideengänge auf die Tiere zu übertragen. Der anthropozentrische Standpunkt, wie er von vielen Beobachtern, wie Brehm, Marshall, Girod u. a. m. eingenommen wird, wird von dem Vor- tragenden nicht geteilt, da diese Beobachtungs- weise nur zu leicht zu einer allzu optimistischen Auffassung der einschlägigen Verhältnisse führt. Wenn derartige Verfasser von „rührender" Mutter- und Kindesliebe, unumstößlicher Gattentreue, hin- gebender Aufopferung und dergleichen reden, so liegt zu allermeist nichts vor als rein reflexmäßige, instinktive Handlungsweisen , die häufig in be- stimmten Vorgängen im Organismus (Schwellung der Milchdrüsen und Druck der sich ansammeln- den Milch, Größerwerden der Geschlechtsdrüsen, entzündliche Veränderungen der Haut — Brut- flecke — ) begründet liegen, häufig auf den sexu- ellen Egoismus des Individuums sich gründen; Leistungen, die die Natur dem Individuum nur im Interesse der Arterhaltung auferlegt, und die sofort in Fortfall kommen, wenn die Erhaltung der Art sie nicht mehr erheischt. Als Beispiele führte er die Katzenmutter an, die begierig junge Kaninchen, Hunde, ja selbst Ratten säugt: dies ist wenig „rührend" wenn man den Vorgang wissenschaftlich so auffaßt, daß das instinktive Bedürfnis nach Linderung des Druckes in den gefüllten Zitzen den Raub- und Mord- instinkt der Katze überwiegt. — Der stolze Heldenmut des Hirsches ist von Größe und Schwellung der Testikel abhängig und schwindet recht bald nach deren Extirpation. — Die Henne brütet begierig auf runden Kieseln; der durch das Aufhören des Brutakts ausgelöste Instinkt, Junge zu führen, macht das hoch organisierte Tier so zu seinem Werkzeug, daß es ihm voll- kommen fremde , verwandtschaftlich sehr fern stehende junge Vögel nicht mehr erkennt, und es zur unglücklichen Stiefmutter der plätschernden Entchen wird. — Über die unumstößliche Gatten- treue und -liebe unserer kleinen Sittiche hatte Vortragender selbst einige Beobachtungen mitzu- teilen: in Unkenntnis über die äußeren Unter- schiede der Geschlechter, war er nicht wenig er- staunt , folgende Lebensgeschichte eines Sittich- ,, Pärchens" sich abspielen zu sehen : die Tierchen ,, liebten" sich zärtlich, in jeder Hinsicht. Als eines starb, dessen Sektion es als Männchen erwies, übertrug das andere seine ,, Liebe" zunächst auf einen Stieglitz, dann einen zahmen Spatzen; nach dem Tode dieses anderen Sittichs ergab der Leibeshöhlenbefund große Hoden: beide waren Männchen gewesen! Eine weitere große Irrtums- und Fehlerquelle bei Beurteilung der hier vorliegenden Fragen ist i86 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 12 der Umstand , daß der Beobachter das Tier in der Brunstzeit nicht genügend von dem sexuell sich nicht betätigenden Tier unterscheidet. Auch hier kommen Verwechslungen mit dem Menschen vor, dessen sexuelles Leben bekanntlich nicht auf bestimmte Zeitfolgen im Jahre beschränkt ist. — Das brünstige Tier ist ein ganz fundamental an- deres Wesen als das asexuelle; wir werden z. B. nie und nimmer von ehelicher Untreue reden können, wenn sich der in der Brutzeit streng monogam lebende Vogel im Herbst zu seinen Artgenossen und Verwandten schart und wenn er in den sich bildenden Vogelherden, wo kaum geschlechtliche Betätigungen stattfinden dürften, sein treues Weibchen ,, vergißt". Nach diesen prinzipiellen Auseinandersetzungen schilderte der Vortragende das sexuelle Leben einiger Tiergruppen. Unsere nächsten Verwandten, die Affen, deren Liebesleben in der Gefangenschaft so widerwärtig erscheint, bieten auch als freilebende Herden ein wenig anziehendes Bild, was das Sexualleben be- trifft. Wir finden, daß die Herden im wesent- lichen durch das Band der „sexuellen Tyrannei" zusammengehalten werden, durch die absolute Herrschaft, die sich das kräftigste Männchen einem Sultan gleich über sämtliche Weiber der Herde anmaßt und die er in grausamster Weise jüngeren Männchen gegenüber aufrechtzuerhalten weiß. Auch die großen, Herden bildenden Wieder- käuer bieten ein ähnliches Bild; während die Raubtiere wenigstens während der Begattungszeit mehr monogame Neigungen zeigen. Gute ,, Väter" sind die Säugetiere durchgehends nicht, vielmehr muß häufig die Mutter ihren Nachwuchs vor den Freßgelüsten des Männchens schützen. Das sehr anmutende Liebesleben und die Elternfreuden und -sorgen der Vögel wurden einer eingehenden Schilderung unterworfen. Auch hier finden wir neben der weitaus häufigsten, manch- mal (große Raubvögel) sich über mehrere Brut- zeiten hin erstreckenden Monogamie einige Sultans- neigungen bekundende Gruppen (Haushühner u. a. m.) und endlich gar Männchen, die ihre Weibchen nach der Begattung nicht mehr kennen (Waldhühner usw.). Auf die ausgeprägte, rein instinktive Betätigung gelegentlich der Fortpflan- zung der Vögel wurde hingewiesen (Nestbau auch jung gefangener Vögel, das „Glucken" der Trut- hühner usw.). Nachdem das wenig ,, ereignisreiche" Fortpflan- zungs- und Brutgeschäft der Reptilien kurz dar- gestellt war, gelangte Verfasser zu interessanteren, teils tierpsychologisch außerordentlich wichtigen Verhältnissen bei Amphibien und Fischen. Bei diesen niederen, kaltblütigen Wirbeltieren muß bald die Mutter, weitaus häufiger aber der Vater für die heranwachsende Nachkommenschaft sorgen, soweit eben überhaupt nicht der häufigste Fall eintritt, daß die Nachkommensciiaft sich selbst überlassen bleibt. Bei den Froschlurchen Alytes und Rhinoderma ist der Vater der Brutversorger, indem er einmal die Eierschnüre um seine Hinter- beine wickelt und sich bis zum Auskommen der Jungen in die Erde vergräbt, ein andermal die Eier bis zu ihrem Auskommen im Kehlsacke trägt. Bei der Wabenkröte, Pipa , trägt die Mutter ihren Kindersegen gar in geschwürartigen Wuche- rungen der Rückenhaut, wohin ihr vom Männchen die Eier praktiziert werden. Wo Brutpflege bei Fischen beobachtet wird, ist fast immer der Vater damit beauftragt. Der Nestbau des Stichlings, die außerordentlich an- mutende ,, Vaterliebe" von Chromis und Geophagus, die Brutentwicklung der Seepferdchen im Brut- beutel des Männchens und andere, biologisch noch nicht ganz aufgeklärte Vorgänge gehören hierher. Erwähnt wurde noch die äußerst inter- essante ,, Perversion des Elterninstinktes" bei un- seren allbekannten lebendiggebärenden Zahnkärpf- lingen, bei denen Männchen und Weibchen keine liebere Speise kennen als ihre eigenen Jungen. Der Vortragende bedauerte zum Schlüsse, wegen der Kürze der zu Gebote stehenden Zeit die ebenso interessanten, teils noch viel verwickei- teren sexuellen Zustände und Lebensvorgänge der niederen Tiere unberücksichtigt lassen zu müssen. Am Mittwoch, den 25. November, sprach an dem nämlichen Orte Herr Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Ziehen über das Thema: „Gehirn und Seele". Als Sitz der seelischen Gefühlsvorgänge galt dem Altertum ganz allgemein das Herz. Diese Ansicht war ebenso der Bibel eigen wie dem griechisch-römischen Altertum und fast dem gan- zen Mittelalter. Noch bei Melanchthon finden wir sie vertreten, während Luther schon das Gehirn als Sitz der Seelentätigkeit betrachtete. Eine Ahnung hiervon hatte allerdings schon Hippo- krates; überhaupt muß diese Vorstellung zeit- weilig populär gewesen sein, wie auch eine Stelle in einem Lustspiel des Aristophanes beweist, dann aber ging diese Wahrheit wieder verloren, besonders durch Aristoteles, durch den die Lehre vom Gehirn auf eine Irrbahn geführt wurde. Vom Menschengehirn selbst und seinem Bau hatte man damals noch keine genauere Kenntnis; man betrachtete es als eine Drüse, die Flüssigkeit absondere, wie z. B. beim Schnup- fen, und als ein Abküiilungsorgan für das Herz, wohl infolge der relativen Blutarmut, die man bei den sezierten Gehirnen — zu solchen Untersuchungen bediente man sich der Gehirne von Schweinen und Affen — feststellen konnte. Eine Reaktion machte sich zuerst bemerkbar bei Galenus, dem berühmtesten Arzt der späteren Kaiserzeit, der in den Gladiatorenschulen hin- reichend Gelegenheit fand, seelische Störungen als Folge von Schädelverletzungen zu beobachten. Allein die Lehre des Aristoteles blieb auch das ganze Mittelalter hindurch in unumschränkter Geltung. Erst seit dem 14. bzw. 1 5. Jahrhundert trat ein Umschwung ein. Freilich stellten sich auch bald neue Irrtümer ein. Man merkte, daß das N. F. VIII. Nr. 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 187 Gehirn nicht eine Einheit bilde, sondern aus zwei Hälften bestehe. Wie sollte sich dies mit der Einheit der Seele in Einklang bringen lassen? Da entdeckte man gerade in der Mitte zwischen den Großiiirnhcmisphären ein kleines, einem Pinien- apfel ähnliches Organ, das man seiner drüsenähn- lichen Zusammensetzung wegen Zirbeldrüse nannte. In diesem Organ glaubte Cartesius den Sitz der Seele erkennen zu müssen. Alle irrtümlichen Grundanschauungen mußten aber fallen, als man im 18. Jahrhundert die genauere Anatomie des Gehirns kennen lernte und darüber belehrt wurde, daß letzteres im wesentlichen aus zahllosen, dicht aneinander gelagerten feinsten Nervenfasern und aus den sogenannten Ganglienzellen besteht, die zwischen diesen eingelagert sind, und als weiterhin im Laufe des 19. Jahrhunderts festgestellt werden konnte, daß alle Nervenfasern aus Ganglienzellen des Gehirn entspringen (die zentrifugalen oder mo- torischen) oder darin enden (die zentripetalen oder sensiblen F"asern). Durch erstere werden die willkürlichen Bewegungen, durch letztere die Empfindungen hervorgerufen. Bald lernte man noch andere Fasern kennen , die von der einen zur anderen Ganglienzelle ziehen, also im Gehirn bleiben , die sogenannten Assoziationsfasern oder verknüpfenden Fasern, die die Zusammenfassung einzelner Sinnesvorstellungen zu Vorstellungs- komplexen vermitteln. Hatte man bis dahin geglaubt, daß das Gehirn im ganzen als der Sitz der Seelentätigkeit anzu- sprechen sei, so lernte man bei weiterer Forschung bald einsehen , daß nur gewisse Partien des Ge- hirns hierbei in Frage kommen. Auf der ganzen Oberfläche des Großhirns, die aus der sog. grauen oder Rindensubstanz besteht, befindet sich nämlich eine große Reihe von Furchen und Windungen. Bei niedrig organisierten Tieren findet man von diesen Furchen nichts oder sehr wenig, und schon ein Schüler des Aristoteles hatte die Beobachtung gemacht, daß je höher ein Tier organisiert ist, desto zahlreichere F"urchen und desto komplizier- tere Windungen sich auf seiner Gehirnoberfläche zeigen. Im 18. Jahrhundert vermutete Hißmann bereits eine Beziehung dieser Windungen zu den seelischen Prozessen, und um i8co stellten französische Forscher, wie Gall, Foville u. a., fest, daß jedesmal bei schweren Seelen- störungen gerade diese Schicht starke Verände- rungen aufweise. Man erkannte, daß jene Furchen einen ganz gesetzmäßigen Verlauf nehmen, so daß es sogar möglich ist, nahestehende Tierarten dadurch zu unterscheiden. Es galt daher zunächst als feststehende Tatsache, daß die Großhirnrinde im ganzen die seelischen Funktionen verrichte. Dieser Standpunkt blieb im 19. Jahrhundert lange maßgebend, bis um das Jahr 1870 durch Ver- suche zuerst an Hunden und Affen, dann' auch an Menschen zur Evidenz erwiesen wurde, daß bestimmte körperliche Verrichtungen an ganz be- stimmte Partien der Großhirnrinde geknüpft sind, und daß, sobald eine solche Partie zerstört ist, ganz regelmäßig Lähmungen von ganz bestimmtem Charakter auftreten, indem zwar die Reflexe er- halten bleiben, die bewußten willkürlichen Be- wegungen dagegen verloren gehen. So gelang es, die motorische Region auf der Großhirnrinde fest- zustellen, ebenso auch das Bewegungszentrum für die Sprache, dessen Zerstörung zwar die groben Mundbewegungen nicht beeinträchtigt, wohl aber die kombinierten Sprechbewegungen der Lippen, der Zunge, des Gaumens und des Kehlkopfes auf- hebt. Beachtenswert ist , daß diese Stelle beim Affengehirn fehlt, woraus sich ergibt, daß nur beim Menschen sich ein solches Sprachzentrum entwickelt hat. Heutzutage ist man in dieser Lokalisierung der körperlichen Funktionen auf der Großhirnrinde außerordentlich weit vorge- schritten und hat sie vielfach zu Heilzwecken ver- werten können. In zahlreichen Operationen ist es gelungen, nach genauer Feststellung des Sitzes einer Geschwulst diese durch Schädelöffnung zu entfernen und so eine bestimmte Lähmungs- erscheinung zu beheben. Als man diese Beobachtungen zuerst machte, sprach man sich mit aller Entschiedenheit da- gegen aus, daß auch seelische Tätigkeiten wie Sehen und Hören in gleicher Weise lokalisiert werden könnten. Und doch wurde man durch Tierexperimente und weitere Beobachtungen am Krankenbett darüber belehrt, daß es mit diesen Seelenfunktionen sich nicht anders verhält. Auch für sie haben sich auf der Großhirnrinde und zwar z. B. für das Sehen im Hinterhauptslappen, ganz bestimmte Sphären feststellen lassen und zwar in derselben kreuzweisen Beziehung, wie sie in dem anderen Falle besteht, wonach rechtsseitige Zerstörung linksseitige Lähmung im Gefolge hat und umgekehrt. Der hef- tige Streit, der hierüber in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts tobte, muß daher heute als beigelegt gelten. Sehr bald setzten nun Versuche ein, die ergaben, daß noch ein drittes großes Gebiet seelischer Funktionen in inniger Beziehung zur Großhirnrinde steht. Munk von der Tierarzneischule war es, der zuerst nachwies, daß die an das Empfindungs- leben anknüpfenden Erinnerungsbilder, das Wiedererkennen und Wiedervorstellenkönnen von Objekten, nicht jenseits des Gehirnes liegen, son- dern an eine bestimmte Stelle der Hirnrinde gebunden sind. Wird diese Stelle z. B. bei einem Hunde zerstört, so sieht er zwar noch, aber er hat die Fähigkeit eingebüßt, das Gesehene wieder- zuerkennen, z. B. seinen Herrn oder ein Stück Fleisch. F"rüher glaubte man, mit der Zerstörung jener Partie gehe eine allgemeine seelische Stumpf- heit Hand in Hand, aber der Versuch hat gelehrt, daß, wenn z. B. das Geruchszentrum intakt ge- blieben|ist, der betreffende Hund ebenso lebhaft wie früher auf seinen Herrn oder das Stück Fleisch zuspringt. Dieselbe Beobachtung hat man dann auch am Menschen machen können. Man hat beobachten können, daß ein Mensch bei ana- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 12 logen Zerstörungen zwar noch alles genau sieht, daß er selbst dies auch bestätigt, daß er aber die Gegenstände nicht wiedererkennt, es sei denn , daß er sie betasten kann. So kommt es vor, daß er sich in seinen eigenen Zimmern verläuft. Und der Sektionsbefund ergab schließ- lich in solchen Fällen von Seelenblindheit, wie man es genannt hat , daß jene betreffende Stelle des Gehirns tatsächlich zerstört war. Weitere Beobachtungen dieser Art sind von dem französi- schen Nervenarzt Charcot gemacht worden. So können sich solche Kranke zwar noch vorstellen, daß es donnert, aber nicht, daß es blitzt, daß eine Rose sticht, aber nicht, daß sie rote Blätter hat. Selbst bei Träumen kann der optische Anteil fehlen. Dasselbe gilt auch für andere Erinnerungsbilder. Freilich ist man noch weit davon entfernt, für sie alle die Sphären auf der Großhirnrinde genau lokalisieren zu können; bei manchen allerdings ist es fast bis auf den Zentimeter gelungen, so bei den Gehörserinnerungsbildern der Sprache. Das Kind hört erst die Worte, ehe es sie versteht ; es hört erst das Wort „Rose", und dieses Klangbild bleibt in seiner Erinnerung zurück. Wenn nun bei einem Menschen diese Erinnerung verloren geht, so hört er zwar noch das Wort „Rose", aber es mutet ihn an wie ein Wort einer ihm unbekannten Fremdsprache. Haben wir so schon für drei große Regionen unserer Seelentätigkeit, die motorische Region, die Empfindungsregion und die Erinnerungssphären, die Lokalisierung auf der Großhirnrinde feststellen können , so vermögen wir ein gleiches auch mit Bezug auf komplizierte Vorstellungen, auf die Ver- arbeitungen der Erinnerungsbilder zu allgemeinen Vorstellungen, seien diesekonkreter Art wie„Pflanze" oder abstrakter Art wie ,, Vaterland", „Pflicht". Die Psychologie ist ja heutzutage darüber einig, daß es angeborene Vorstellungen nicht gibt , daß vielmehr alle in letzter Linie auf Empfindungen zurückgehen. Wenn es nun gelungen ist, die Empfindungen zu lokalisieren, dann steht nichts der Annahme im Wege, daß auch die komplizier- ten Vorstellungen sich ebenso verhalten müssen, daß auch sie in Beziehung zur Großhirnrinde stehen. Und in der Tat haben Beobachtungen an Geisteskranken dies erwiesen. Neben den Fällen, wo zwar komplizierte Vorstellungen noch vorhanden sind, aber eine falsche Richtung ein- schlagen, gibt es solche, wo die komplizierten Vorstellungen vollständig zugrunde gegangen sind wie bei der sog. Gehirnerweichung. Im Gegensatz zu jenen sind in den letzteren Fällen bei der Sektion erhebliche , über die ganze Großhirnrinde ausge- streute Zerstörungen zu konstatieren. Sind also z. B. die bezügl. Ganglienzellenkomplexe in der Gesichtssphäre, in der Riechsphäre und in der Gefühlssphäre zerstört, dann ist auch die kom- plizierte Vorstellung der Rose verschwunden. Die Einheit zwischen diesen verschiedenen Sphären wird nun hergestellt durch die verschie- idene Ganglienzellen verknüpfenden Fasern. Gehen diese gelegentlich zugrunde, dann geht auch der Zusammenhalt der einzelnen Vorgänge verloren. Diese sogenannten Assoziationsfasern sind also für unser Seelenleben von größter Wichtigkeit. Daß auch die Gefühlsvorgänge, die nicht selb- ständige Vorgänge, sondern Begleitvorgänge un- serer Empfindungen und Vorstellungen sind, eine Lokalisierung auf der Großhirnrinde gestatten müssen, geht aus dem Gesagten mit hoher Wahr- scheinlichkeit hervor; wenigstens ist es eine ganz regelmäßig beobachtete Erscheinung, daß bei Zerstörungen der letzteren auch die Gefühlstöne des Taktes, der Sittlichkeit u. dgl. verloren gehen. Nicht anders wird es sich verhalten mit den Denkvorgängen , die aus Erinnerungsbildern und Vorstellungen entstehen, und dadurch zustande kommen dürften, daß im Gehirn ein materieller Erregungsprozeß von Vorstellung zu Vorstellung fortwandert. Jedenfalls haben Tierversuche und Be- obachtungen am Krankenbette vielfach den Nachweis geliefert, daß, wenn ein bestimmter Faserzug zerstört ist, auch auf einem ganz bestimmten Ge- biet die Denkvorgänge vernichtet sind. Nach alledem läßt sich also heutzutage mit voller Sicher- heit der Satz aufstellen, daß alle unsere seelischen Vorgänge in ganz bestimmten Beziehungen zur Groiähirnrinde stehen, an ganz bestimmte Stellen dieser letzteren gebunden sind. Wie die Entwicklung der letzten 30 Jahre ge- zeigt hat , ist mit dieser Feststellung die außer- ordentlich große Gefahr verbunden, daß ihre Lehren einseitig im Sinne des Materialismus aus- gebeutet werden, daß man die an das Gehirn ge- bundenen Empfindungen und Gedanken auf die gleiche Stufe stellt mit den Ausscheidungen der Nieren oder der Leber. Ein solches Vorgehen ist unwissenschaftlich im höchsten Grade. Nach- gewiesen ist durch jene Feststellungen nur, daß zwischen den physischen und seelischen Vor- gängen ein Parallelismus besteht, weiter aber auch nichts. Viel eher ließe sich daraus ein dem Ma- terialismus direkt entgegengesetzter Schluß ziehen, denn für unser Bewußtsein sind in erster Linie nur die seelischen Vorgänge gegeben, nicht die Dinge der realen Welt; diese konstruiert unser Denken erst hinzu. Die Veranstaltungen des Monats November schlössen mit einer Erklärung der Schausammlung der Käfer und Schmetterlinge im Kgl. Museum für Naturkunde durch den Kustos der Abteilung, Herrn Prof H. Kolbe. In der Zeit vom 6. November bis 11. Dezember fand in den Räumen der Kgl. Landwirtschaftlichen Hochschule ein Vortragszyklus über die ,, Deut- schen Kolonien" statt, der wohl insofern einzig in seiner Art gewesen sein dürfte , als die verschie- denen Kolonialgebiete von verschiedenen Vor- tragenden behandelt wurden , die als gründliche Kenner derselben sich einen Namen gemacht haben. So sprach Herr Hauptmann a.D. R a m s a y über „Kamerun", Herr Reg.-Rat Dr. Busse über ,,Togo", Herr Dr. Hartmann über „Deutsch- N. F. VIII. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 189 Süd vvestafrika, Herr Prof. Dr. U h 1 i g über „Deutsch- Ostafrika" und Herr Prof Dr. Preuß über die „deutsche Südsee". I. A. : Prof. Dr. W. Greif, 1. Schriftführer. Berlin SO 16, Köpcnickerstraße 142. Bücherbesprechungen. i) Wilhelm Bölsche, Ernst Haeckel, Ein Lebensbild. Berlin und Leipzig , Verlag von Hermann Seemann Nachf. — Preis i Mk. 2) Walter May, Privatdozent an der Techn. Hoch- schule zu Karlsruhe, Goethe — Humboldt — Darwin — Haeckel. Vier Vorträge. Verlag von Enno Quehl in Berlin-Steglitz, 1904. 3) Dr. Wilhelm Breitenbach, Odenkirchen, Ernst Haeckel, ein Bild seines Lebens und seiner Arbeit. Mit einem Porträt Haeckel's und einer Handschriftenprobe. (Gemeinverständ- liche Darwinistische Vorträge und Abhandlungen). Herausgegeben und verlegt von Dr. Wilhelm Breitenbach, Odenkirchen. 1904. — Preis 2 Mk. 4) Prof. Dr. Conrad Keller und Prof Dr. Arnold Lang, Ernst Haeckel als Forscher und M e n s c h. Reden , gehalten bei der Feier des 70. Geburtstages Ernst Haeckel's am 15. Februar 1904 in Zürich. Albert Müller's Verlag. Zürich 1904. — Preis 1,50 Mk. 5) Ernst Haeckel, Monismus und Natur- gesetz. Erstes Heft der „Flugschriften des Deutschen Monistenbundes". Verlag von Dr. W. Breitenbach in Brackwede i. W. 1906. — Preis 80 Pf 6) Heinrich von Marillac, Ein neuer Blick in das Leben der Schöpfung. i. Teil: Die Mechanik des Magnetismus. Selbstverlag des Ver- fassers. Wiesbaden 1907. 7) A. Kick, Lehrer in Biberach, Ernst Haeckel und die Schule. Darlegung der pädagogischen Ideen Haeckel's und Versuch ihrer Verwertung für die Volksschule. Verlag von Alfred Kröner. Stuttgart 1907. 8) O. D. Chwolson, ord. Prof an der Kaiserlichen Lfniversität zu St. Petersburg, Hegel, Haeckel, Kossuth und das zwölfte Gebot. Eine kritische Studie. Zweite durchgesehene und er- gänzte Auflage. Braunschweig, Druck und Verlag von Friedrich Vieweg & Sohn. 1908. — Preis 1,50 Mk. 9) Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemein- verständliche Siudien über monistische Philosophie. Neu bearbeitete Taschenausgabe. Leipzig, Verlag von Alfred Kröner. 1909. — Preis i Mk. 10) Ernst Haeckel, Alte und neue Naturge- schichte. Festrede zur Übergabe des Phyletischen Museums an die Universität Jena bei Gelegenheit ihres 350jährigen Jubiläums am 30. Juni 1908. Verlag von Gustav Fischer in Jena. 1908. — Preis 60 Pf 1 1 ) Oliver Lodge, Lebenund Materie. Haeckel's Welträtsel kritisiert von dem Genannten. Berlin, Karl Curtius, 1908. — Preis 2,40 Mk. In all den genannten Schriften ist ausschließlich oder hervorragend von Ernst Haeckel die Rede, der es wie kaum einer verstanden hat, die im Menschen steckende Sehnsucht nach Erkenntnis seiner selbst zu locken und zum großen Teil zu befriedigen. Er kam nach Darwin zur rechten Zeit für Viele, die sich in dessen wissenschaftliche Werke , die freilich nicht funkeln , nicht zu vertiefen vermochten oder sie als Laien nicht verstanden. Ganz anders sind die in die breite Masse hinausgegangenen Werke Haeckel's. Was der kritische Darwin vorsichtig offen läßt, das schließt Haeckel lückenlos zu, freilich nicht so, daß es diejenigen Gelehrten zu befriedigen vermöchte, die das vorliegende naturwissenschaftliche Material noch nicht für hinreichend halten, das Letzte zu erkennen, aber doch so, daß es doch diejenigen berückt, die nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt sind, d. h. keine Kritik zu üben vermögen in den höchsten und letzten Dingen. Ist es doch etwas Schönes, Be- sonders für einen Laien, Bücher zu haben, die ihm und seinem Verständnis genügen, die so geschrieben sind, daß er die Schwierigkeiten nicht sieht, die der Verfasser selbst nicht anerkennt, Bücher, die infolge- dessen mit Gedankengängen operieren, die jenen, welche noch nichts wissen aus dem Gebiet, gewisser- maßen spielend eine Einführung geben. Ein Gelehrter, der sich auch in Philosophisches gründlicher vertieft hat, ist dadurch befangen, wenn man so sagen will: der Laie aber wir durch gar nichts gestört. Er nimmt nur auf, und assimiliert sich die Gedanken, wenn sie ihm nur bequem verständlich sind. Darin liegt die Macht , die Haeckel bei der großen Masse ausgeübt hat, und es kommt seine persönliche Liebenswürdig- keit hinzu , die freilich aus seinen Schriften für den Fernerstehenden nicht hervorleuchtet, in denen er im Gegenteil oft etwas mehr wie energisch hervortritt. 1. Seine Persönlichkeit führt uns sein Schüler Bölsche in der unter i) genannten Schrift vor. Einem Bewunderer Haeckel's, wie es Bölsche ist, wird man nicht verargen , wenn er nur Glänzendes sieht. 2. May beschäftigt sich in seinem Buch in dem letzten seiner vier gebotenen Aufsätze mit Haeckel in seiner Beziehung zu Darwin. Er schließt mit den Worten : „Fanatische Gegner Haeckel's haben nicht nur die tatsächliche Wahrheit, sondern auch die per- sönliche Wahrhaftigkeit seiner Überzeugungen in Zweifel gezogen. Ihnen vor allen sollte sein Ver- hältnis zu Darwin zu denken geben" usw. — Man sieht hier wieder, wie die Haeckelverehrer, oder besser gesagt, die Haeckelfanatiker — denn man kann Haeckel verehren , aber doch meinen , daß er nur ein irrender Naturforscher sei — einfach alles für gut und richtig halten, was von ihm kommt, denn seine persönliche Wahrhaftigkeit und sein guter Wille dürfte nicht zu bezweifeln sein, deshalb aber brauchen doch seine Überzeugungen durchaus nicht alle tat- sächlich wahr zu sein. — Die anderen drei Abhand- lungen in dem Buche sind zum Teil umgearbeitete Vorträge des Verfassers. 3. Breitenbach steht mit seiner Haeckel- Biographie prinzipiell auf demselben Standpunkt wie IQO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 12 Bölsche. Ein Satz in dem Buch , den Ref. ganz be- liebig herausgreift (p. 1 5 ) zeigt, wie Haeckel be- obachtet oder das Beobachtete festhält. Er sagt nämlich: „Auf einer der ersten E.xkursionen, die ich mit .Alexander Braun unternahm , galt es , aus einem Teich eine schwimmende Chara herauszuholen " Referent kann sich nun einmal durchaus nicht damit befreunden , auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und der Wissenschaft überhaupt eine sachlich unrich- tige Angabe zu machen. Charen schwimmen nicht, sondern sind dem Boden der Gewässer aufgewachsen ; auch losgerissen bleiben die Chara- .Arten am Boden Hegen, weil sie spezifisch zu schwer sind. Aber solche aus dem Gedächtnis gemachten ungenauen Angaben erklären Vieles in Haeckel's Schriften. Denn wie hier im Unbedeutenden verfährt er auch mit Dingen , die die Menschheit nun einmal bewegen. Ref. benutzt nur die Gelegenheit, das zu betonen, weil er damit zeigen will, daß Haeckel durchaus nicht, um es noch einmal zu sagen, absichtlich fälscht, wie ihm das vorgeworfen worden ist. In unserem Falle hätte eine angebliche Fälschung keinen rechten Sinn und für die Haeckel'schen Anschauungen gar keinen Wert. 4. Keller und Lang bringen zwei Reden, ge- halten bei der Feier des 70. Geburtstages ihres Hel- den. Sie sind flott geschrieben und geben dem- jenigen, der Haeckel's Wesen und Taten noch nicht kennen sollte, in Kürze einen Einblick. 5. Haeckel's Schrift, Monismus und Natur- gesetz, ist eine Erwiderung auf die scharfe, in man- chen Punkten übers Ziel schießende Kritik Chwolson's, die dieser an Haeckel's naturphilosophischen An- sichten übt. Wir haben Chwolson's Schrift, die den Titel „Hegel, Haeckel, Kossuth . . ." führt, in der Nummer vom 8. April igo6 besprochen. Sie ist insofern sehr beachtenswert, als sie kritisch eine Reihe wesentlicher Punkte aus Haeckel's Argumenten, ins- besondere soweit die physikalische Seite (Äther, Kraft, Energie, Entropie) in Betracht kommt, beleuchtet und für jeden ruhig Denkenden zeigt, daß Haeckel ohne hinreichende Sachkenntnis verfährt. H. erwiedert nun hierauf, indem er die von ihm schon so oft wieder- holten Ideen noch einmal in der üblichen feuille- tonistisch-journalistischen Weise vorbringt, bei der es nicht so genau auf exakte Darstellung ankommt, weil man nicht auf kritische , sich in den Gegenstand wissenschaftlich vertiefende Leser reflektiert. Hier kommt es nur auf das Tages-Massenpublikum an und das ist ja — wie gesagt — das Geheimnis des großen Erfolges Haeckel'scher Schriften (p. 33). 6. Soweit sich Marillac mit Haeckel beschäf- tigt, sagt er diesem: er glaube, „daß die Wissenschaft noch nicht weit genug gediehen sei, um in der Schöpfungsfrage bereits eine entschiedene Stellung nehmen zu dürfen". Auf den Hauptgegenstand des Heftes werden wir event. eingehen, wenn der Schluß vorliegen wird. In dem Vorwort beschäftigt sich Verf. mit den unsicheren Grundanschauungen der Physik , dem Monismus Haeckel's und dem Wesen und Walten des göttlichen Geistes. 7. Der Inhalt der Schrift von Kick charakterisiert sich durch 2 Sätze Haeckel's, die ihr als Motto vor- gesetzt sind. Sie lauten : „Schutz der Schulen gegen die Übergriffe des Klerus ist eine der wichtigsten Forderungen, welche die gebildete Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts an den modernen Rechts- staat stellen muß." Ferner: „Nicht die Qualität der empirischen Kenntnisse , sondern die Qualität ihres ursächlichen Verständnisses ist der wahre Maßstab geistiger Bildung." 8. Chwolson's Schrift, die wir oben schon bei der Besprechung der Haeckel'schen Schrift über Monismus und Naturgesetz und früher gekennzeichnet haben, liegt hier in zweiter Auflage vor, und das ist gut, wenn auch zu bedauern ist, daß die früher be- anstandete Form der Schrift sich nicht geändert hat. Aber es ist ja möglich, daß sie sonst in größeren Kreisen nicht den gebührenden Anklang gefunden hätte. Liebt es doch der Mensch, zuzusehen, sobald für ihn heilige Interessen in Frage kommen , wenn diese energisch und echt menschlich verfochten wer- den. Ein naturwissenschaftliches Verfahren ist das freilich nicht; das wird aber Chwolson selber wissen. Auf alle Fälle ist sein Hinweis auf die stiefmütter- liche Behandlung physikalischer Erkenntnisse durch Haeckel verdienstlich. g. Haeckel's Welträtsel werden in der vorliegen- den Taschenausgabe in bequemer Form geboten. Der Verfasser hat sich in dieser „Taschenaus- gabe" bestrebt, „den Inhalt einem größeren Kreise durch leichtere Darstellung und gefälligere Form zu- gänglich zu machen , überflüssige Zugaben zu ent- fernen und Wiederholungen auszuschalten, sowie viele Fremdwörter und verwickelte Ausführungen durch leichter verständliche zu ersetzen" usw. Wichtig ist dieses Buch insofern, als es das Facit dessen bringt, was ein Naturforscher über das Höchste und Letzte denkt; es charakterisiert eine bestimmte Zeit der Naturphilosophie , die wir freilich nicht kritische Naturphilosophie nennen können. Jedenfalls ist es ein Literaturstück, das zukünftigen Geschlechtern ein Maßstab sein wird für die philosophische Bildung des Durchschnittsnaturforschers vom Anfang des 20. Jahrhunderts: jenes glücklichen Forschers, dem es beschieden ist , an dem werdenden Zeitalter der Naturwissenschaften mitzuarbeiten, der aber anderer- seits unglücklich zu nennen ist, daß ihm bei seinen fast mit Fieberspannung betriebenen Spezialstudien keine Zeit übrig bleibt, sich beschaulich und ruhig in die philosophischen Grundlagen zu vertiefen. 10. In der oben unter Nr. 10 genannten Schrift Haeckel's wird auf 24 Seiten ein Überblick über das Historische geboten, was mit dem Haeckelism\is zusam- menhängt, wie es in den anderen Schriften Haeckel's wie- derholt geschehen ist , nur daß vorliegend hier und da auch neuere Autoren genannt werden, wie z. B. Semon. Am Schluß gibt der Verf. ein Verzeichnis seiner Druckschriften. Mit Staunen erfährt man aus dieser Liste, daß die Welträtsel 1899 zunächst in 10 Auf- lagen erschienen, sodann 1903 80 000 Exemplare als Volksausgabe heiausgingen ; 1908 wird dann eine neue Volksausgabe in 240000 Exemplaren angegeben. Die oben zitierte Taschenausgabe ist wiederum eine N. F. Vin. Nr. 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 191 neue! Welches Bedürfnis nach Erkenntnis des All- gemeinen ist doch gegenwärtig vorhanden! Wie schade ist es, daß es so schwierig ist, dem nicht wissenschaftlich vorgebildeten Volk eine ordentliche Vorstellung von den Grenzen unserer Denkiähigkeiten und damit von der Unnahbarkeit der „letzten Pro- bleme" zu geben ! II. Die vorliegende Schrift des Sir Oliver Lodge, Professors an der Universität von Birmingham, gehört zu den Anti-Haeckel-Schriften und ist vor rund 4 Jahren in England erschienen ; sie liegt mit vorliegendem kleinen Buch in einer deutschen Aus- gabe vor. Lodge ist ein hervorragender physikali- scher Forscher , und es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn er sich ebensowenig wie Chwolson mit der Lösung der Welträtselfrage durch Haeckel be- freunden kann. Er sagt im Vorwort, sein Buch solle sich in Gegensatz setzen zu gewissen spekulativen und destruktiven Partien von Haeckel's Welträtseln. „In anderen Hinsichten aber soll es zugleich nicht sowohl als ein feindlicher Angriff, als vielmehr als eine Ergänzung, als eine Ausdehnung seiner natur- wissenschaftlichen Partien in höhere und fruchtbarere Bereiche der Forschung angesehen werden." Der Text unterscheidet sich angenehm durch seine sach- liche Form von demjenigen Chwolson's Freilich sagt er einmal bei der Besprechung gewisser physikalischer Vorstellungen Haeckel's: „Ich habe mir vorgenommen, bei meiner Kritik höflich zu bleiben, und darum ver- zichte ich darauf, einen solchen Ausspruch so zu charakterisieren, wie man als Physiker eigentlich müßte." P. Dr. W. Detmer, Prof. an der Universität Jena, Das kleine pflanzenphysiologische Prakti- kum. Anleitung zu pflanzenphysiologischen Ex- perimenten für Studierende und Lehrer der Natur- wissenschaften. 3. vielfach veränderte Auflage. Mit 179 Abb., XX., 319 S. Jena, Gustav Fischer, 1 909. — Preis 7 Mk. Daß sich schon nach Verlauf von 4 Jahren wiederum eine Neuauflage von Detmer's Praktikum nötig machte, beweist, daß dieses Werk bereits Stu- dierenden und Lehrern zu einem unentbehrlichen Ratgeber und Führer beim experimentellen Studium der Pflanzenphysiologie geworden ist. Die reiche wissenschaftliche und praktische Erfahrung des Ver- fassers, der seit vielen Jahren im Anschluß an seine Vorlesungen über Pflanzenphysiologie ein physiologi- sches Praktikum an der Universität und in den Ferienkursen leitet, bürgt dafür, daß es sowohl theo- retisch als praktisch das Beste bietet. Das Werk behandelt in übersichtlicher Gliederung die einzelnen Teile der Pflanzenphysiologie. Jedem kleineren Ab- schnitt ist eine kurze, klare Darstellung des Theore- tischen unter Berücksichtigung des augenblicklichen Standes der wissenschaftlichen Forschung voraus- geschickt. Die zahlreich eingestreuten Literaturnach- weise geben wertvolle Fingerzeige für weitere Studien. Die einzelnen Experimente und Apparate sind äußerst sorgfältig beschrieben und zugleich unter Benutzung der geeignetsten Versuchsobjekte meist vom Verfasser selbst oder seinen Schülern praktisch erprobt, so daß man bei gewissenhafter Beachtung aller Vorschriften auf sicheres Gelingen der Versuche rechnen darf. Für den Studierenden der Botanik ist der Stoff in 2 Semester - Kurse eingeteilt (vgl. Vorwort). Der I. Kursus dient zur allgemeinen Orientierung über das Gesamtgebiet der Pflanzenphysiologie, während es sich im 2. um genauere quantitative Verfolgung der Lebensprozesse der Gewächse handelt. Dem Lehrer der Naturwissenschaften bietet das Werk nicht nur eine große Zahl auch im Schulunterricht leicht anzustellender Versuche, sondern regt zugleich lebendig an zum selbständigen Studium der Lebens- prozesse, die sich im Reich der Gewächse abspielen. Die Neuauflage, die um eine größere Zahl neuer Experimente vermehrt worden ist, sei Studierenden und Lehrern der Naturwissenschaften als der beste Wegweiser auf dem Gebiete der Experimentalphysio- logie dringend empfohlen. Jena. F. Schleichert. Anregungen und Antworten. Im .'Anschluß an den Artikel ,,Irrli c hter" von Hjalmae Sander in Nr. 2 1909 erhalten wir die folgenden Zuschriften: I. Ich erinnere mich eines E.xperimentes , welches ich vor ca. 4 Tahren in der Umgebung Bremens gemacht habe. Beim Schlittschuhlaufen bemerkte ich im Eise die jedem bekannten, sogenannten Luftblasen. Als ich nun eine solche von ziem- lich großem Durchmesser durcli Hineinschlagen eines Nagels mit einer kleinen Öffnung versah und ein brennendes Zünd- hölzchen an das Loch hielt, entzündeten sich die ausströmen- den Gase und brannten mit matter, blauer Flamme. Sollten diese Blasen gewissermaßen eingefrorene Irrlichter sein ? Be- merken möchte ich noch, d.aß nicht jede geöffnete Blase Feuer fing, sondern daß die meisten brennenden Blasen sich in einer Eisfläche befanden, die eine typisch sumpfige Stelle bedeckte. Hugo Hülsen, Ingenieur in St. Petersburg. In dem brennenden Gas handelt es sich zweifellos um Methan (CHj), das Faulschlamm- und Torfbildungen während ihrer Zersetzung entweicht. Red. II. Unter Bezugnahme auf die Mitteilung über Irrlichter möchte ich als kleinen Beitrag zu dieser Frage einige Irrlicht- beobachtungen zur Kenntnis bringen , die ich seinerzeit bei Büdingen (in Oberhessen) mit einem Vetter von mir gemacht habe. An einem warmen Herbstabend sahen wir nicht weit vom Orte entfernt auf einer Wiese in der Nähe eines alten Kirchhofes unmittelbar neben dem Wege in der Höhe der Grasspitzen, ca. 10 — 12 cm über dem Erdboden, zahlreiche kleine etwa 2 — 3 cm hohe grünliche Flämmchen, gleichzeitig vielleicht 30 — 40, in Abständen von ca. 10 — 30 cm vonein- ander. Bei unserer Annäherung flogen die Flämmchen weiter, ganz unverkennbar vom Luftzuge fortgetrieben ; sie erloschen, nachdem sie ungefähr I m weit fortgeschwebt waren; in ihrer ursprunglichen Gegend kamen aber sofort neue Flämm- chen zum Vorschein. Lange wollte es uns nicht gelingen, die Hand an die Flämmchen heranzubringen, um sie auf ihre Temperatur zu prüfen, denn es genügte die leiseste Annähe- rung, die geringste dabei erzeugte Luftbewegung, um die Flämmchen zur entsprechenden Fortbewegung , scheinbar zur Flucht, zu veranlassen. Endlich gelang es mir, fast auf dem (nicht sumpfigen) Boden liegend, mit schneckenartiger Lang- samkeit mich an ein Flämmchen heranzuschleichen und den rechten Zeigefinger unmittelbar an und dann in das Hämm- chen zu bringen. Nicht die geringste Wärme war zu fühlen; das Flämmchen leuchtete auch, während der Finger sich un- mittelbar daran befand, unverändert weiter. Wenn sich der Wind erhob, trieben die Flämmchen mit dem Winde in die Wiese hinein und verschwanden ; wenn die Luft wieder ruhig 192 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 12 geworden war, kamen neue Flammchen zum Vorschein. Die ganze Erscheinung hatte gar nichts Unheimliches an sich und sah zeitweise recht hübsch aus, wie eine kleine Illumination ; ich fühlte mich etwas an den Christbaum erinnert, nur leuch- teten die Flämmchen nicht so hell wie Kerzenlicht und waren unverkennbar blaßgrünlich gefärbt. Wenn die Flämmchen vom Luftzug über die Wiese weitergetrieben wurden, erschien wiederholt genau an der Stelle, wo vorher ein Flämmchen ruhig geleuchtet hatte, ein neues Flämmchen. Geruch oder Geräusch besonderer Art war nicht wahrzunehmen. Der Himmel war bedeckt, das Wetter fast schwül. Eine zweite Beobachtung war anderer Art. F^benfalls an einem warmen Herbstabend bemerkten wir von einem Spazier- gange heimkehrend auf einer einsamen, rings von Wald um- schlossenen \\'iese bei beginnender Abenddämmerung in ziem- licher Entfernung vom Wege ein rötliches Licht wie von einer Laterne. Mein Vetter meinte , vielleicht habe sich eine Kuh aus dem Orte verlaufen und werde hier gesucht: neugierig bogen wir vom Wege ab und gingen in die Wiese hinein auf das Licht zu. Als wir in die Nähe gekommen waren, sahen wir staunend (aber auch schaudernd , wie ich ehrlich bekennen muß) eine große rötliche Flamme , die frei in der Luft zu schweben schien , von Menschen aber keine Spur. Doch bald siegten Neugierde und vernünftige Überlegung in uns (wir waren damals 18 Jahre alt) über den ersten Schreck und wir brachten es fertig, die seltsame Erscheinung etwas genauer zu betrachten. Eine eingehende längere Beobachtung war uns freilich nicht möglich , da wir wegen der stark zu- nehmenden Dunkelheit und des ziemlich weiten Weges bald weitermarschieren mußten. Jedoch konnten wir folgendes feststellen: Das untere Ende der Flamme schien etwa i — 1,4 m vom Boden entfernt zu sein, die Flamme schien also frei in der Luft zu schweben. Die Flamme selbst war etwa I m lang, ihr oberes Ende also ungefähr 2 m über der Erde : sie war nach oben etwas zugespitzt, ihre Breite mochte 20 — 30 cm betragen, die Farbe war deutlich rötlich. Die Flamme schien unbeweglich an ein und derselben Stelle zu schweben; Ein- fluß etwaiger Luftbewegung konnte nicht beobachtet werden, denn die Wiese, rings von waldigen Hügeln umschlossen, war völlig windstill; auch sonst regte sich an diesem .\bend fast kein Lüftchen; es war ziemlich warm, der Himmel war bedeckt, etwa eine Stunde nach der Beobachtung begann es zu regnen. Ob Annäherung an die Flamme und der dadurch hervorgerufene Luftzug eine Bewegung der Flamme verursacht hätte, kann ich nicht sagen, da wir uns in einer gewissen respektvollen Entfernung von ungefähr 3 — 4 m hielten; ein unüberwindliches Gefühl des Unbehagens über die rätselhafte Erscheinung sowie auch die Empfindung, daß vielleicht eine Schädigung durch Verbrennung oder Explosion (wir dachten auch an Kugelblitzerschcinung) erfolgen könne, hielt uns von allzu- starker .Annäherung ab. Nachdem wir die Erscheinung in tiefem Schweigen und starr vor Staunen einige Zeit betrachtet hatten, ohne daß sich, abgesehen von kleinen Zuckungen, eine Veränderung im Aussehen oder im Ort der Flamme gezeigt hätte, machten wir uns auf den Heimweg. Jedoch stieß ich noch an der .Stelle, wo ich während der Beobachtung der Flamme gestanden hatte, meinen Spazierstock in den ziemlich weichen, jedoch nicht gerade sumpfig zu nennenden Boden, den Griff nach der Flamme hin gerichtet, um am nächsten Tage die Stelle bei Tageslicht genau zu untersuchen. Als wir am Nachmittag des nächsten Tages an die Stelle kamen, stand der Stock unverändert, wie ich ihn eingestoßen, an seinem Platze ; hiernach konnten wir den Ort der Flamme genau bestimmen. An der betreffenden Stelle zeigte sich nichts Besonderes, der Boden war feucht, aber nicht sumpfig. Anscheinend genau unter der Gegend, wo die Flamme zu sehen gewesen war , befand sich ein ziemlich frischer Maul- wurfshügel mit einem kleinen Loche. Vielleicht war aus den Maulwurfsgängen durch dieses Loch phosphoreszierendes Gas reichlich ausgeströmt? Bei der Beobachtung der Flamme war es uns auch vorgekommen, als ob ein leises Rauschen ver- nehmbar sei ; jedoch kann dies eine Täuschung gewesen sein, denn bei der großen Stille ringsum haben wir möglicherweise die eigenen Blutstromgcräusche im Ohr vernommen ; dieser Punkt erscheint mir daher zweifelhaft; unser Eindruck ging aber dahin, als ob das Geräusch objektiv gewesen sei. Diese Beobachtungen lassen wohl folgende Schlüsse zu: 1. An der Realität der Irrlichter, der großen und der kleinen Flammen, kann gar nicht gezweifelt werden. 2. Mit Elmsfeuer haben diese Flammen nichts zu tun. (Die kleinen Flämmchen saßen nicht auf den Spitzen der Grashalme, sondern schwebten in der Luft.) 3. Die Irrlichter sind wohl überhaupt nicht elektrischer Natur, sondern beruhen auf Ausströmungen phosphoreszieren- der Gase aus dem Boden. 4. Für das Auftreten von Irrlichtern ist fallender Baro- meterstand, aufsteigende Bewegung der Bodenluft, günstig, vielleicht sogar eine der notwendigen Bedingungen. Angebracht wäre es wohl, an geeigneten Lokalitäten bei dieser Wetterlage nach Irrlichtern zu forschen; besonders günstig scheinen warme Spätsommer- und Herbstabende, wenn Regen bevorsteht. Prof. Dr. Wagner, Idar a. d. Nahe. III. Ich reiste von Station Houtkraal nach Philipstown während der Nacht vom 24. — 25. November 1908 in Beglei- tung eines eingeborenen Kutschers mit Wagen und Pferden. — Wir näherten uns dem Dorfe Philipstown gegen 3 Uhr morgens. Obwohl Sterne sichtbar waren , lagen mehrere schwere Gewitterwolken in der Luft. Die Nacht war wind- still, schwül und dunkel, kein Regen war seit Wochen ge- fallen; auch in dieser Nacht hatte es noch nicht geregnet. Meine Aufmerksamkeit wurde plötzlich auf ein weißgelbes Lichtflämmchen gelenkt , welches ungefähr 50 m vor uns meterhoch über den Erdboden hinschwebte. — Anfangs dachte ich, daß es die Lampe eines Radfahrers wäre, doch bald merkte ich, daß es über einen Drahtzaun , welchem wir uns näherten, hinwegflog. Mein Begleiter hatte es auch bemerkt und war etwas erschrocken darüber. Ich stieg ab, um das Tor des Drahtzaunes zu öffnen; die Erscheinung hatte sich indessen auf etwa hundert Schritte entfernt und kam nun in einem Bogen zurück, flog ungefähr dreißig Schritte trotz der Windstille mit einer ziemlichen Geschwindigkeit an uns vorbei und in einer Entfernung von zweihundert Schritten aufwärts. — Als die Flamme uns am nächsten war, konnten wir deut- lich ein einer brennenden Gasflamme ähnliches Geräusch hören. Unsere Pferde waren auch aufmerksam geworden und spitzten furchtsam und unruhig die Ohren. — Der beschriebene Vorgang spielte sich in etwa 5 Minuten ab ; jetzt fuhren wir ins Dorf hinein und sahen, wie die Flamme weit hinter uns immer entfernter aufwärts schwebte. — Die hiesige Gegend ist über 1200 m über dem Meere gelegen und ungefähr 500 km von der Küste entfernt. Es ist eine steinige, trockene Gegend fast ohne Baumwuchs ; steppenartiges Gras und fußhohes heideartiges Buschwerk bedeckt den Erdboden. Eine Tele- graphenleitung läuft hundert Schritte vom Schauplatz des Ereignisses. B. Bättenhaufien, Philipstown (Kap-Kolonie in Süd-Afrika). Herrn L. Schm. in Bansin. — Ein Buch, in dem Sie Angaben über den Aizneiwert der Pflanzen finden, ist z. B. E. Gilg, Schule der Pharmazie, IV. Abteilung, Botanischer Teil (Berlin, J. Springer 1904; 3. Aufl., antiq. 6—7 Mk.) ; das Werk wird von Studierenden viel benutzt. — Ein be- währtes Lehrbuch der Zoologie ist J. E. V. Boas, Lehrbuch der Zoologie für Studierende ; 5. Aufl. (G.Fischer, Jena 1908; 12 Mk.); siehe Anzeige in Nr. 6 der Naturw. Wochenschrift. H. Harms. Inhalt: Prof, 1 )r. K. K o 1 k wi tz: Entnahme- und Beobachtungsinstrumente für biologische Wasseruntersuchungen. — Kleinere Mitteilungen: Dr. A. Thiencmann: Das Vorkommen echter Höhlen- und Grundwassertiere in oberirdischen Ge- wässern. — Dr. Wilh. Brenner: Tamus communis, eine fremdartige Erscheinung unserer Flora. — Wetter-Monats- übersicht. — Vereinswesen. — Bücberbesprechungen : Sammel-Referat über Haeckel-Literatur. — Dr. W. Dctmer: Das kleine ptianzenphysiologische Praktikum. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofl-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue F..lge VUI. llaiul ; der ganzen Keihe XXIV. Band, Sonntag, den 28. März 1909. Nummer 13. Zur ersten Einführung amerikanischer Pflanzen im 16. Jahrhundert. [Nachdruck verboten. Von Dr. Seb. Killermann, Die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus hat nicht bloß eine neue Völkerwanderung ver- anlaßt, sondern auch einen ungeheuren Umtausch in der Pflanzenwelt bewirkt. ..Amerika", sagt Kohl 'j sehr schön in seiner Geschichte der Entdeckung Amerikas (Bremen 1861, S. 412), „tauchte auf, wie ein unserem Planeten angehängter neuer Stern. Was Amerikas Tropen- und gemäßigte Zone lieferten, war nicht ein Nachtrag, von Phöniziern, Kleinasiaten, Griechen und Römern nur zufällig versäumt, sondern Gaben und Erzeugnisse einer ganz neuen Welt — und es begann die zweite große Periode der Geschichte, die des Verkehrs beider Hemisphären, da die erste nur die Ent- wicklung der einen aus sich und in sich gewesen war. VVir stehen noch am Anfang dieser Elpoche, die der große Genuese eröffnet hat, und Trans- plantation und Akklimatisation sind bis jetzt nur das zufällige Geleite des Handels und der Schiff- fahrt gewesen." Viktor Hehn, der sich mit der Wanderung der Pflanzen viel beschäftigte, hat leider diesen Abschnitt nicht mehr ausführlich behandelt. Den Reigen in dem bunten Kranze ameri- kanischer Pflanzen, die unseren Weltteil beglückten, eröffnete der Mais (Zea mais L.). Daß er bei uns nicht einheimisch ist, sagt sein obiger Name und die beim Volke vielfach noch übliche Be- zeichnung „türkischer Weizen". Er muß schon in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts aus Südamerika, welches seine eigentliche Heimat bildet, nach Spanien und die anderen Länder Pluropas gekommen sein. Denn ich finde sein außerordentlich gut gelungenes Bild in dem be- rühmten Kräuterbuche des Tübinger Botanikers Leonhard Fuchs,-) das 1543 zu Basel erschien. Er ist nach ihm „aus der Türkei gekommen, wächst gerne und ist schon ganz gemein". Es ist danach die Bemerkung von Leunis, daß der Mais 1560 erst in Italien und hernach in Deutschland auftauche, unrichtig. Spätere Autoren, wie der Nürnberger Joh. Joachim Camerarius '') um 1590 und der Regens burger J. W. Weinmann*) um 1750 halten dafür, ') V. Hehn, Kulturpflanzen und Haustiere. 6. Autl. Berlin 1894. S. :;oi. ■^) L. Fuchs, New Kreuterbuch, Basel 1543. Tafel 473. ^) Kreutterbuch des hochgelehrten und weltberühmten Hrn. Dr. Petri .\ndreas Matthioli usw. durch Joachimum Camerarium. Frankfurt a. M. 1590. Blatt 114 v. u. 115. ■*) Phvtanthoza-lconographia oder eigentliche Vorstellung etlicher Tausend sowohl einheimischer als ausländischer . . . von J. Wilh. Weinmann . . . Apothekern in Regenspurg ge- sammelter Pflanzen ... In Kupfer gestochen. Regensburg bei Hier. Lenz. 4 Foliobde. 1737 — '745- rrofcssor in Kegensburg. daß der Mais trotz seiner weiteren Verbreitung in unseren Gegenden aus Amerika stamme. ,, Dieses Korn", so äußert sich der erstere, „wird unbillich Türkisch genannt; denn es wächst nicht in Asia in der Türkei, sondern in India, so gegen Mitternacht liegt, von dannen man es zu uns ge- bracht und gewehnet. Die Indianer nennen dies Korn in ihrer Sprache Maiz. Sie machen Gruben mit dem Pfahl und werfen 4—5 Körner hinein und machen es wieder zu, um es vor den Papa- geien zu schützen. Die Samen werden vorher in Wasser gequellt. In wenigen Tagen schießt es auf und ist in 4 Monaten zeitig." Diese Beob- achtungen sind auch lieute noch interessant und in Geltung. Camerarius nennt bereits vier Varie- täten, darunter die buntscheckige (diversicolor). Wer jemals an den Küsten des Mittelmeeres, an der Riviera oder in Griechenland wanderte, kennt die üppig wuchernden Agaven und Opun- tien, die den Charakter der Landschaft beherrschen. Sie scheinen hier wie zu Hause zu sein. Und doch sind sie Fremdlinge, die über den Atlan- tischen Ozean eingewandert sind. Es ist ein starker Anachronismus, den sich in der Pflanzen- kunde schlecht beratene Künstler leisten, wenn sie (^dysseelandschaften oder biblische Szenen mit den genannten Pflanzen charakterisieren wollen. Die Alten reden von kaktusähnlichen Pflanzen gar wohl; aber nirgends, auch nicht in Pompeji hat man Abbildungen des Feigenkaktus und der Agave entdeckt. Im sog. neapolitanischen Dios- korideskodex ^) der Wiener Hofbibliothek, der aus dem 7. Jahrhundert stammt, erscheint auf Blatt 149 eine dicke kakteengleiche Pflanze mit, wenn ich nicht irre, roten Blüten und Dornen. Ich glaubte auf den ersten Blick, Opuntia Ficus indica L. in der Zeichnung vor mir zu haben. Auch in der römischen Handschrift des Dios- korides (Blatt 192 v.) ist eine ähnliche Pflanze zur Darstellung gebracht und von O. Penzig-j als „Euphorbia a fusto cactoide, carnoso" aus der Sektion der offizineilen, abessinischen Euphorbien bestimmt worden. Ich vermute, daß die beiden alten Bilder, deren genauere Erklärung fast immer mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, in Zusammenhang stehen. Ferner finde ich bei Gesner eine Bemerkung, wonach C. Clusius den Gedanken ausgesprochen, daß die Alten mit ihrem „Kaktus" eine afrikanische Euphorbie im Auge hatten. ') Wiener Hofbibliothek. Suppl. graec. 28, Dioscorides. ") O. Penzig, Contribuzioni alla storia della botanica. Mediolani 1905- 194 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 13 De Candolle ^) erklärt, daß der Feigenkaktus eine der ersten Pflanzen gewesen sei, welche die Spanier nach der alten Welt gebracht haben. Ihr eigentümlicher Habitus erregte um so mehr Aufsehen, als man noch keine Art aus dieser Familie bis dahin gesehen hatte. Die spanischen Chronisten sollen schon von ihr bericfiten und Hernandez unterschied auf den Hochebenen von Mexiko, wo die Pflanze ursprünglich wächst, 9 Varietäten. C. Gesner -) ist wohl der erste, der sie in seinem 1561 erschienenen Werke „Über die Gärten Deutschlands" als Bürgerin Europas erwähnt. Er widmet ihr eine ganze Folioseite und nennt sie bereits Ficus indica, ein Beiname, der ihr ge- blieben ist. Andere heißen sie, fügt er hinzu, die lächerliche Opuntie (Opuntia ridicula) oder die indianische Distel (Carduus Indiens). Wir ersehen daraus, daß er, der kein Bild von ihr bringt, doch unsere Pflanze im Auge hat. Sie muß schon allgemein verbreitet gewesen sein, da sie, wie er hörte, in Italien und Südfrankreich eine Höhe von mehreren Fuß unter freiem Himmel erreichte, in Rom und Griechenland sogar F"rüchte zeitigte. Er ließ sich von G. K. Rurpodius ein Blatt schicken und hatte bald die Freude, zu sehen, wie es in einen Topf gebracht mehrere andere Blätter ansetzte. Auch in Breslau, bemerkt er, wurde die Pflanze in Gärten gezogen. Nachdem der Feigenkaktus aus Amerika her- übergebracht war, machen sich die Verfasser der Kräuterbücher auch bald daran, Bilder von ihm zu bringen. In den Pflanzenbildern des Hieron. Bock '') und des J. Camerarius ') tritt er auf als ,, stachlicht indianische P'eige". Drei Jahre vorher (1587) weist J. Dalechamps ausdrücklich auf den amerikanischen Ursprung des seltsamen Gewächses hin, das sich mit einem einzigen in die Erde ge- legten Blatte fortpflanzt. Er beruft sich auf P. Pena , der „zuerst" an den in Spanien gesäten Blättern Blüten sich entwickeln sah und reife Feigen pflückte. Trotzdem vermutet Dalechamps , .nicht ohne Grund", daß die Opuntia des Theo- phrast und Plinius (Naturgeschichte XXI, 17) diese Pflanze sei. Betreft' der Agave (Agave americana L.) wissen wir von dem tüchtigen Botaniker Cesalpin,') daß sie um 1561 aus Südamerika zu uns herüber- wanderte. In seinem botanischen Garten zu Pisa bemerkte er mit Verwunderung, wie sie auf einmal einen meterhohen Stengel trieb und Tausende von Blüten ansetzte, um dann zugrunde zu gehen. J. Camerarius,") sein Schüler, sah 1567 ') De Candolle, Ursprung der Kulturpllanzcn ü. v. Göze. Leipzig 1884. S. 343 f. ^) C. Gesner, de hortis Germaniae. In Commentar. Val. Cordi ad Dioscoridem 1561. p. 258 v. et 292 v. ■') Hieron. Tragus : Plantarum icones. Frankfurt. \. Bassaeus 1590. S. 958. *) J. Dalechamps: Historia generalis plantarum. Lugduni Rovill 1587. S. 1795. '') A. C'esalpini de planus libri XVF. Florentiae 1583. ») a. a. O, Bl. 231 V. eine Agave im schönen Garten des Grafen Torna- bona 1 1 Ellen hoch aufschießen und blühen. Er brachte die erste Kunde von diesem wunderbaren Gewächs nach Deutschland, und erfreute seine Leser mit der ersten farbigen Abbildung, wie er sich rühmt. Wichtiger, als diese beiden Pflanzen, die zum Schmucke öder, felsiger Plätze und als Hecken einigen Wert haben, sind ohne Zweifel die Solaneen, Nachtschattengewächse, von denen uns Amerika eine erkleckliche Anzahl geschenkt hat. Die erste Pflanze dieser Familie, welche in Europa auftaucht, ist der ,, spanische Pfeffer" (Capsicum annuum L.), der in Südamerika zu Hause ist. Schon L. Fuchs ^) bildet 1543 ihn dreimal aufs prächtigste ab: den ,,Calechutischen Pfeffer", „den langen und breiten indianischen Pfeffer" mit längeren, resp. breiteren zinnoberroten Beeren, und bemerkt dazu, daß er sei ein „frembdes gewechß newlich in vnser Teutschland gebracht. VVürdt in Scherben vnd wurtzgärten gezilet. IVIag keinen Frost leiden, muß ausgesetzt oder über winter in der Stuben gehalten werden, so bringt es im folgenden summer wlederumb Fracht, wie es mir gethon hat." Da Capsicum annuum auch in Ostindien vorkommt, so ist es nach Leunis wohl möglich, daß die Kenntnis der Alten von dorther stamme; der Beiname „calechu- tischer" spricht dafür. In den späteren Kräuter- büchern begegnet uns Capsicum annuum immer. Sehr gut sind wir orientiert über die Einführung des Tabaks (Nicotiana tabacum L.) und die Einbürgerung des Tabakrauchens in Europa. Der spanische Pater Roman Pane, des Kolumbus Begleiter, sah mit Verwunderung, wie die Be- wohner der Insel S. Domingo aufgerollte Blätter in den Mund nahmen und Rauch (Tabako) machten, um die Mosquitos zu vertreiben. Die Spanier befreundeten sich bald mit dieser Sitte und begannen auf der genannten Insel, Tabak zu bauen. Die Portugiesen in Brasilien und die Eng- länder in Virginien folgten ihrem Beispiele. Im Jahre 1560 schickte der französische Ge- sandte in Lissabon, Jean Nicot, Tabaksamen nach Paris an die Königin Katharina v. Medici. Er soll ihn nach Leunis von einem flandrischen Kaufmann aus Florida erhalten haben. Indes be- hauptet der spanische Arzt Nikolaus Monardes,") wohl eine der ersten Quellen über die Geschichte des Tabaks, ausdrücklich, daß der erste Samen dieses Krautes aus Brasilien nach Portugal ge- bracht worden sei. Er bespricht ausführlich die angenehmen und unangenehmen Wirkungen des Tabaks, zählt die verschiedenen Namen desselben auf: Perebecune bei den Indianern nach Oviedo, Petum, Tabaco und herba Nicotiana bei den Franzosen, wozu dann noch die italienische Be- zeichnung h. Tornabonae käme, nach dem Namen ') a. a. O. Cap. 281 u. Tafeln 318—320. ^) N. Monardis, Simplicium niedicamentorum ex novo orbe delatorum, (juorum in medicina usus est, historia ed. altera. Antverpiae 1579. S. iS — 27. N. F. VIII. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. *95 eines italienischen Gesandten am französischen Hofe (s. 0.1. Überhaupt scheinen die Höfe und die vornehme Welt sich zuerst für diese Pflanze inter- essiert zu haben. C. Gesner hatte 1561 noch keine Kenntnis von der neuen exotischen Pflanze erlangt; ich finde wenigstens bei ihm unter keinem der ge- nannten Stichwörter einen Hinweis. A. Cesalpin') bemerkt 1583, daß das erst vor kurzem aus West- indien nach Spanien und durch Tornabona nach Italien gebrachte Tabakkraut in ganz Etrurien verbreitet sei. Er findet, daß es mit dem Ver- bascum Ähnlichkeit habe und gute Wirkungen äußere, insbesondere auf ermiadenden Reisen er- frische. Dalechamps -) gibt von Nicotiana rustica L., dem Bauerntabak, ein leidlich gutes Bild. Viel besser gefällt mir die künstlerische Darstellung des Tabaks in einem später zu besprechenden Gebetbuche der Münchener Hof- und Staats- bibliothek aus den Jahren 1560—74. Die Art ist wahrscheinlich Nicotiana tabacum L. Die fünf- zipfelige Blumenkrone ist rosarot gefärbt und steht in einem kleinen gelbgrünen Kelche. Die Blätter fehlen leider bis auf einige lanzettliche Hochblätter (s. Fig. i). Hieron. Tragus '') und Camerarius zeichnen um 1590 den Tabak sehr hübsch und deutlich. Ersterer führt beide Hauptarten vor: auf S. 576 „Hyoscyamus Peruvianus, Petum, Bilsenkraut oder Stechäpfel" (eine schwankende Bezeichnung) ist der breitblätterige Bauerntabak (N. rustica L.) und auf S. 577 Nicotiana tabacum, „Indianische Bein- welle", ist der durch längliche Blätter ausgezeich- nete sog. virginische Tabak (N. tabacum L.). Camerarius ') bringt eine farbige Darstellung der ersteren Art und bemerkt: „Dieses frembde Ge- wechs ist nun bei uns in Gärten gemein ge- worden welches vor wenigen Jahren auß Frank- reich erstlich zu uns kommen. Es sind zweierlei Geschlecht, die eine mit größeren und dicken, die anderen mit kleineren und spitzigen Blättern. Lobelius kennt noch eine kleinere Art. Dieses Kraut wächst wohl anderthalb Mannshoch bei uns im ersten Jahr, wiewohl man es auch etliche Jahre über Winter behalten kann. Es hat oben fleischfarbene und zuweilen schöne rote Blumen. (N. Monardes de rebus Indicis fol. 14.) Die In- dianer lassen den Rauch von den Blättern in sich gehen und erquicken sich damit in großer Arbeit, solches macht sie fröhlich; ist deswegen nicht von allen und sonderlich müssigen Leuten zu ge- brauchen; denn ich gesehen habe, daß es mehr geschadet als genütztet hat. Die Indianer nennen es Petum, das indianische Wunderkraut; lateinisch Tabacum, von der Insel Herba sancti. Welsch heißt es Tornabona, von dem Autore, der sie erstlich in das Welschland gebracht hat." Über die Einführung der Tomate (Solanum ') a. a. O. Lib. VIII, Cap. XI.III, S. i.u- «) a. a. O. II. Bd., S. 1S95. ») a. a. O. S. 576 u. 577. «1 a. .1. O. S. -,7?. Lycopersicum L.) ist erst vor kurzem aus der Feder W. Dürkop's ') eine gediegene und ein- gehende Abhandlung erschienen. L. Anguillara und der uns schon bekannte C. Gesner sind, wie er findet, die ersten, welche im Jahre 1561 gleich- zeitig auf die herrliche Frucht aufmerksam machen. Sie muß also in den 50 er Jahren aus Peru und Mexiko herübergebracht worden sein, wie wir das auch von anderen amerikanischen Pflanzen sagen konnten. Noch größere Bedeutung erlangte die Kar- toffel (Solanum tuberosum \..), von der man vor Aürsiiicbii.^ in;'"' ..I : 1 ■^\j Fig. I. Abbildung des Tabaks (Nicotiana tabacum L.) rechts. Miniatur-Gebetbuch Albrechts 'V'. von Bayern 1574, fol. 80. einigen Jahren die 350. Jubelfeier ihrer Einführung beging. Sie wird nämlich 1553 in einer in Sevilla gedruckten und von Petrus Ciga verfaßten Chronik von Peru erwähnt als eine trüffelartige Erdfrucht. Nach A.V.Humboldt ') fand sie aber schon Quesada 1537 in der Prov. Velez in Neu-Granada im kulti- vierten Zustande. Er äußert sich dann weiter: „In der leider noch immer sehr dunklen Geschichte von der ersten Einführung der Kartoffeln in Europa wird noch sehr allgemein das Verdienst ') Naturw. Wochenschrift N. F. 'VI I1907). Nr. 35. Ein Beitrag zur Geschichte der Tomate. 2) A. V. Humboldt, Ansichten der Xatur. 2. Bd. S. 377. 196 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 13 der Einführung dem Seehelden Sir John Hawkins zugeschrieben, der sie 1563 oder 1565 von Santa Fe erhalten haben soll; gewisser scheint, daß Sir Walter Ralaigh die ersten Kartofteln auf seinem Landgute Yonghal in Irland pflanzte, von wo sie nach Lancashire kamen." Im 18. Jahr- hundert herrschte die Ansicht,^) daß sie aus Vir- ginien nach England, Frankreich und andere Orte gekommen wären. Aber der italienische Name tartufolo, woraus unsere ,, Kartoffel" entstanden, spricht dafür, daß sie schon frühzeitig im Süden unseres Weltteiles erschien. Sichere Kunde erhalten wir von der Kartoffel erst durch Clusius,'") der von ihr vielleicht das erste Bild bringt und sie unter dem Einflüsse der alten Terminologie Theophrast's arachidna tauft. ,,Die erste Kenntnis dieses Stengels (stirpis)", lauten seine Worte, ,,habe ich von Philipp de Sivry de Walhain in Berg in Hannonia in Belgien erhalten, der je zwei Knollen mit Früchten zu mir nach Wien sandte anfangs 1588. Im folgen- den Jahre auch die Zweige mit der Blüte. Er schrieb, daß er sie von einem Freunde des päpst- lichen Legaten in Belgien erhalten habe einige Jahre vorher unter dem Namen Tartouffi. Woher sie die Italiener zuerst erhalten, weiß man nicht. Wahrscheinlich aber aus Spanien und Amerika. Seltsam aber ist es, daß sie in Italien so gemein und häufig sei. Daß man sie wie Rüben und Pastinak zum Fleisch genießt und daß wir so spät Kenntnis erlangt haben; merkwürdig auch, daß die IVIediziner und Naturforscher in Padua nichts von ihr wissen." Clusius weiß also von der Einführung der Kartoffel durch den Engländer Franz Drake, ') dem man sie bisher zuschrieb und 1853 deswegen zu Oftenburg in Baden ein Denkmal setzte, nichts. Er selbst hat sich um die Verbreitung dieser Volksnahrutig verdient gemacht, indem er sie in botanischen und Klostergärten einbürgerte und das Volk mit ihrer Kultur bekannt machte. Welch großen Widerstand dieselbe bei dem konservativen Bauernvolke fand, ist bekannt. Friedrich d. Gr. ließ, als die Körnerfrüchte mißraten waren, den Kartofifelbau zwangsweise in Pommern und Schlesien einführen. In Frankreich grift' man, wie Carus Sterne in seinen ,, Sommerblumen" erzählt, zur List. Der Apotheker versah große, mit Kar- toffeln bestellte Felder mit Warnungstafeln, auf denen große Strafen denen angedroht wurden, welche es wagen sollten, die kostbaren Feldfrüchte zu stehlen. Was durch freundliches Anraten nicht ') ^gl- J- VVeinmann, Phytanthoza. IV. Bd. Kegensburg, Lenz 1745. S. 34S. ^) C. Clusius, Rariorum plantarum historia. Antverpiae apud Moretura 1601—46. .S. LXXIX etc. ') Vielleicht ist Franz Drake zu dieser Ehre dadurch ge- kommen, daß er einige der früher so geschätzten ,,Bezoar- steine", welche nichts anderes als Darmsteine von Pflanzen- fressern waren, aus Peru mitbrachte. Er hat solche dem N. Monardes geschenkt, der sie abbildet. Ihr Bild gleicht fast dem der Kartoft'el, jedoch stimmt der Text nicht. a. a. I ). I.ib, III, I5S2. hatte erreicht werden können, wurde durch diesen Kunstgriff erzielt. Die Bauern der Umgegend stahlen die verbotene Frucht, und Ludwig XVI. sagte dem klugen Apotheker: Sie haben das Brot der Armen gefunden. Der König, die Königin und bald der ganze Hof begannen die Kartoffelblüte im Knopfloch zu tragen. Johann Heinrich Voß hat die Beziehung zwischen Amerika und der Kartoffel in einem Liede verherrlicht : . . . ein Mann ward ausgesandt Der die neue Welt erfand. Reiche nennen's Land des Goldes. Doch der Arme nennt's sein holdes. Nährendes Kartofteiland. Die mit der Kartoffel an Nährstoffgehalt wett- eifernden, ja sie übertreft'enden Bohnen sind eben- falls zu einem Teile wenigstens ein Geschenk Amerikas. Die Gattung Phaseolus L., welche sich von ähnlichen Leguminosen durch den schnecken- förmig eingerollten Griffel unterscheidet, ist in Südamerika zu Hause. Es sind insbesondere ihre Arten vulgaris L., die gemeine Schminkbohne mit kurzen Blütentrauben, multiflorus W., die türkische oder vielblumige Feuerbohne mit längeren Blüten- trauben als das dreizählige Blatt, sowie lunatus L., die Mondbohne, hier zu erwähnen. Was die Alten von Bohnen erzählen, ist entweder Dolichos melanophthalmus Pet. Th., die schwarzäugige Lubiabohne, oder Lablab L., welche in Ägypten oder Indien beheimatet sind. Die Bohnenfrage wurde bekanntlich durch Wittmack') in den 80 er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgerollt und entschieden. Die in peruanischen Gräbern gefundenen Samen gehören zur Phaseolus-Gattung, welche oftenbar in Amerika gebürtig ist. Eine Durchsicht der großen bota- nischen Werke des 16. Jahrhunderts ergibt, daß man damals schon zwischen amerikanischen und ägyptischen Bohnen unterschied. Es muß die Kunde von der Einführung der ersteren erst im Laufe der letzten Jahrhunderte verloren gegangen sein. Während L. F"uchs nur „welsche Bohnen" kennt, bringt C. Gesner -) über eine ,, Phaseolus Turcicus" eine wunderliche Märe. Diese „türkische Bohne" trage in ihrer Blume ein Bild des mensch- lichen Gesichtes mit Stirne, Augen, Nasen usw. Man könnte an Phaseolus multiflorus L., die Feuer- bohne, denken. M. Lobelius ■') (1576) redet von Phaseoli noviorbis, Bohnen des neuen Weltteiles, und zeichnet 2 brasilianische Arten ab (Phaseolus Brasilianus und alter Brasilianusl, sowie auch Hülsen und Samen. Die alte einheimische Bohne bezeichnet er als Dolichos. Unter Berufung auf Clusius erzählt er uns, daß Phaseolus auf der Insel St. Thomas wachse und ihre Samen ,, Herzen des heil. Thomas" ge- ') Naturw. Wochenschrift V. Bd. I1890), S. 337 — 339. 2) a. a. O. fol. 272. ^) M. Lobelius, Stirpium nbservationes. Antverpiae Chr. Plantin 1576. S. 511 — 513. N. V. VIII. Nr. 13 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 197 nannt werden. Ihrer gedenke vorübergehend Petrus Cica im I. Teil seiner Chronik Cap. 112. Clusius sah die zweite Art mit purpurnen Blüten in einem Kloster zu Lissabon und bekam daselbst auch Bohnen aus Brasilien zum Geschenke. Sie waren noch frisch, daumenslark, fett, rötlich und mit großem Nabel versehen. Ihrer 4—5 lagen in einer Schote. Frisch und grün zerstoßen und aufgelegt heilen sie die Bubones venereos (Syphilis). Die Blüten sind blaßrot. Junge aus Samen ge- zogene Pflänzchen, die er gesehen, hatten zarte, auf der Unterseite behaarte Blättchen; auch die oberen Teile waren mit einem weichen, bräun- lichen Wollhaar bedeckt. Wir erfahren weiter, daß Clusius diese Bohnen zuerst gezeichnet und sie zur Einführung in den Gärten gebracht habe. „Bald darauf wuchsen die Bohnen im Garten des Castellan sei. And., des k. Leibarztes kurz vor der schrecklichen und traurigen Epidemie. Die Zeichnung der Hülse stammt von Dr. 1'". Bancioni. Gesehen haben wir sie zuerst unter den Schätzen des Naturalienkabinettes des gelehrten Arztes und Chirurgen Severin in Paris." In einem anderen Werke Lobeis ') findet sich die interessante Bemerkung, daß an der Südküste Englands in Cornwallis fremdartige Bohnen durch das Meer angeschwemmt werden. Da kein Schift dortselbst seit Menschengedenken gestrandet oder versunken wäre, glauben die Bewohner, daß die Bohnen durch den Süd- oder Westwind aus der Neuen Welt herübergeweht würden. Lobelius verdankte diese Mitteilung der Güte einer sehr belesenen und in England angesehenen Dame, der Frau Katharina Killegre. Eine zufällig in Deutschland in einem alten Akte aufgefundene Notiz gehört ebenfalls hierher: Um jene Zeit (1579) hat nämlich ein gewisser Nathan Chytraeus ein Gericht „Stangenbohnen" an seinen Gevatter Samuel Schönemann in Mecklenburg als Seltenheit geschickt und als Kochrezept einige Hexameter der Sendung bei- gelegt.-) Ich vermute in denselben wohl Exem- plare der amerikanischen Schminkbohne. N.Monardes,-') J.Camerarius,') H.Bock'') bringen uns in ihren Holzschnitten Bilder von „brasi- lianischen Bohnen oder Bresilgen" (Phaseolus brasilianus) und ,, welschen Bohnen" oder, wie es in dem letzten Werke heißt, Phaseolus aegyptiacus. Auch Abbildungen von Früchten und Samen aller Varietäten fehlen nicht. W. Weinmann '') erfreut uns ebenfalls in seinem riesigen Werke mit prächtigen Kupfertafeln verschiedener Bohnen- sorten; er unterscheidet genau zwischen sog. amerikanischen, brasilianischen und ägyptischen Arten (Phaseolus americanus purgans, brasilianus •) Nova Stirpium adversaria Auct. Petro Pena et Mattlüa de Lobel, Antverpiae 1576. S. 395. '') Naturw. Wochenschrift wie oben. ') a. a. O. S. 62—64. *) a. a. O. fol. 272. ») a. a. O. S. 480—492. «) a. a. O. IV. Bd., Tafel S07— S09. und aegyptiacus seu Lablab), betont jedoch nicht direkt, daß die ersteren eingeführt worden wären. .Aus all dem dürfen wir schließen, daß die ge- meine Schminkbohne und die P'euerbohne bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Europa auf- getreten ist, und daß die alten Botaniker ihrer Fremdartigkeit sich bewußt waren. Die in den südlichen Ländern unseres Welt- teiles beliebte Erdmandel (Arachis hypogaea L.) taucht ebenfalls um jene Zeit in den Schriften der Botaniker auf N. Monardes ') redet nämlich von einer merkwürdigen Frucht (de fructu sub terra nascente), die in Peru zu Hause sei und Mtkinui» AiicH.mtii, n-iiiniriirtcri ffiiPr» •|"'iliri!t»biiMliiriifr rii^o.B». ühfni.rl l*trmiliiiil.-,.iiui P- 216. '•') Dictionary of National lüography cd. Sidncy Lee. London 1889. Vol. 57, S. 145. ') Parkinson, Paradisus terrestris ed. 1029. S. i^2. *) a. a. O. IL Bd., S. j86. N. F. VIII. N'r. 13 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 199 blätterigen Kelche, und sind entweder größere oder kleinere; die größeren sitzen in einer zahl- reichen Reihe gleichsam in einer umbella, die kleineren kommen aus den Winkeln der Blätter einschichtig oder beysammen vor." Diese Beschrei- bung .bezieht sich offenbar auf das fiphemerum virginianum oder die Tradescantia. In dem großen Werke stellen auch zwei Kupfertafeln 477 u. 478 die damals bekannten vier Varietäten dar: Ephe- merum africanum flore bipetalo, soll nach Wein- mann vom Kap der guten Hoffnung kommen, worin er sich irren dürfte. Die zweiblättrige ist überhaupt eine gewöhnliche Tradescantia, bei der nur ein Blumenblatt abgefallen ist. Dann führt er noch auf Ephemerum virginianum flore tripe- talo in 3 Farbenvarietäten; flore coeruleo, pur- pureo und albo. Vor Weinmann hat Ruppe, ') der Herausgeber der Flora Jenensis, 17 iS beobachtet, daß die Tradescantia, wie er sie bereits heißt, in der Blütenfarbe sehr veränderlich ist, daß sie bald schneeweiße, bald bläuliche Blumen hervorbringt und ruft zu Zeugen noch an Hoft'mann, den Be- schreiber des Altdorfer Botanischen Gartens, sowie den jüngeren Tournefort. Im F'ürsten -Garten zu Jena, bemerkt er außerdem, blühe die Pflanze im Mai und Juli. Die Tradescantia ist nun schon früher, als ge- wöhnlich angenommen wird, in den Gärten Europas aufgetreten. In einem Gebetbuch '-') der Münchener Hof- und Staatsbibliothek, das für Karl Albrecht V. von Bayern auf Pergament geschrieben und mit außerordentlich fein gemalten Blumen verziert wurde, erscheint unsere Blume auf zwei Blättern (fol. 68 und 130), und zwar auf der Vorder- und Rückseite. An erster Stelle ist die Farbe der Blumenblätter blau, die der Staubfäden weiß, an der zweiten rot bzw. goldgelb. Von der Dolde ist nur eine Blume aufgeblüht, die übrigen befinden sich im Knospenzustande. Die Blätter sind 9 — 10 nervig, breitlich und das oberste länger als die Blütenstielchen. Es ist augenschein- lich Tradescantia virginica L. mit den zwei Garten- formen f lilacina und f rosea Vilmorins. Eine weitere amerikanische Seltenheit, welche uns unter den vielen auf den Rand des Buches gemalten Gartenblumen überrascht, ist die Kapu- zinerkresse (Tropaeolum spec). Die Art, welche auf dem Blatte 69 zum erstenmal zur Darstellung gebracht ist, kann schwer bestimmt werden. Daß die Kapuzinerkresse damals schon aus Südamerika, wo sie zu Hause ist, in den europäischen Gärten Eingang gefunden, bezeugen Lobelius und Monardes. M. Lobelius'') bringt in seinen 1576 gedruckten Stirpium observationes das Bild einer an Stäben ') Flora Jenensis v. J. B. Kuppe. Krankfurt 1718. S. 5,. '') Münchener Hof- und Staatsbibliothek, Code.x lat. 23 640, deutsches oder niederländisches Gebetbuch von Hans Lenker aus dem Jahre 1550 (?i für Karl Albrecht V., Herzog von Bayern. ') M. Lobelius, Stirpium observationes Antverpiae Chr. Plantin 1576. S. 338. einige Meter hoch kletternden Kapuzinerkresse I Tropaeolum majus L. wahrscheinlich). Er nennt sie Nasturtium Indicum und hält sie mit Dodonäus für eine windenartige Pflanze, betont aber die Verschiedenheit der Blüten, welche einen Sporn besitzen und mit dem Rittersporn (Delphinium) Ähnlichkeit haben. „Diese Pflanze", erzählt er dann weiter, ,,hat der fleißige und ausgezeichnete Arzt Jakob Plateau im vergangenen Jahre zu Nervi in hängenden Gärten gesät und aufgezogen. Er schickte auch eine von ihr schlecht gelungene Zeichnung an Dodonäus. Die Blätter sind schild- förmig (peltata), leicht gebuchtet, sonst kreisrund, in der Mitte nabelartig engezogen und mit dem Stiel verbunden. Der Stengel ist 3 — 4 Ellen hoch. Die Samen haben Ähnlichkeit mit der der Runkel- rüben, wie sie mir der genannte Plateau gezeigt hat." N. Monardes^) redet ebenfalls (1582) von dieser Pflanze und heißt sie Nasturtium peruvianum. Die Blume ist nach seiner Schilderung von gold- gelber Farbe und gespornt, so daß sie mit dem bekannten Nolitangere, dem Rührmichnichtan, Ähnlichkeit habe. Die Blätter sind denen der Haselwurz gleich, doch nicht so rund. Monardes ist also ganz unabhängig von Lobelius, obwohl er diesen zitiert. Er hat die Pflanze selbst gesehen, indem er von Busbeque, dem Palalastpräfekten der Königin Elisabeth, der Witwe Karls IX. von Frankreich, ein in Spanien gesammeltes und ge- trocknetes Exemplar erhielt. Von „Johann de Hollebeque, dem Vater des Franz, des Gärtners der Königin von Spanien", bekam er auch Samen, mit deren Aufzucht er jedoch kein Glück hatte. Vielleicht waren dieselben, welche 4 Jahre lang keimkräftig sind, schon zu alt. .Später erscheint unsere Kapuzinerkresse öfters auf den Bildern des berühmten Blumenmalers J. Brueghel. Er stellt sie in dem Münchener Bilde ..Flora im Blumengarten"-) dar, wie sie in Töpfen gezogen wird. Sie und die Passionsblume sind die einzigen amerikanischen Pflanzen, welche die Maler des 17. Jahrhunderts auf ihren Werken verewigt haben, Tradescantia fand keine Gnade vor ihren Augen. Im Pflanzenverzeichnis des Museum Trades- cantianum '^) aus dem Jahre 1656 steht auch der Name Nasturtium indicum, der bis Linne Geltung besaß. Weinmann ') heißt sie noch so und be- tont ausdrücklich, daß sie, die jetzt so häufig sei, aus Peru und Westindien stamme. Nach diesen Ausführungen ist die Angabe von Leunis-FVank,**) daß die Kapuzinerkresse erst 1684 eingeführt worden sei, nicht mehr haltbar. Das Büchlein, auf welches wir uns bezüglich der Tradescantia und der Kapuzinerkresse stützen, ist sicherlich vor 1574 entstanden. Leider ist ') a. a. O. l.ib. 111, Antverpiae 15S2. S. 26. -) Münchener k. ä. Pinakothek, Nr. 705. ') Museum Tradescantianum. London, Grismond 1656. S. S46. *) a. a. O. 111. Bd., Tafel y^j. ■•) a. a. < I. II. Bd., S. 340. 200 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. i^ weder der Ort noch der Meister, der es geschaffen hat, bekannt. Es war wirkHch ein Künstler, der mit wunderbarer Treue und Feinheit die Farben und Formen der Gartenblumen des 16. Jahrhunderts und verschiedener Tierlein auf das Pergament ge- bannt hat. Ein Botaniker war er nicht, denn er zeichnet niemals eine Pflanze ganz und beschränkt sich bloß auf eine „Blütenlese". Niemals ergeht er sich aber auch, wie frühere Miniaturisten, in Spielereien, niemals verzerrt er die F"ormen in neckischer, phantastischer Weise. Die Blumen und die Tiere sind mit sorgfältigstem Naturstudium wie in keinem der früheren Werke ausgeführt. Es sind Dutzende an Arten dargestellt, deren Behandlung an einer anderen Stelle versucht werden soll. Ein Anhaltspunkt für die Entstehung des köst- lichen Werkes ist uns in dem kostbaren silbernen Einband gegeben. Derselbe stammt aus der Werkstätte des berühmten Nürnberger Gold- schmiedes Hans Lencker. Wie Dr. H. Leidinger,') Kustos der Münchener Hof- und Staatsbibliothek, im Januar 1906 beim Abschrauben der Deckel gefunden hat, tragen dieselben innen die Marke ihres Meisters. „Außerdem steht unter den aus- schraubbaren vier Nägeln des Vorderdeckels und den zwei oberen des Rückdeckels die Inschrift: Hans Lencker Nornberg 1574." So ist also das Büchlein mit den herrlichen Malereien ohne Zweifel in den 70 er Jahren des 16. Jahrhunderts geschaffen worden. Alle sind von einer Hand und wie aus einem Gusse. Die Vermutung, daß einige ausländische Pflanzen, ins- besondere Tradescantia, von einem späteren Künstler in entsprechende Lücken eingetragen worden sei, halte ich für völlig ausgeschlossen. Wären dann nicht eher einige Blumen wieder- holt worden? Übrigens sind die meisten wenigstens zweimal und dann, um Abwechslung zu bringen, in verschiedenen Farben gemalt. Aus dem Umstände, daß fast nur feine Garten- sorten und sogar einige neue, damals gerade moderne Blumen vom Künstler in sein Werk auf- genommen wurden, läßt sich schließen, daß er in ') Auf Grund gütiger mündlicher Mitteilung. den besten Gärten Studien gemacht hat. Man möchte nach den vorangegangenen Ausführungen über die Kaj)uzinerkresse, namentlich an Paris, Wien oder Italien denken. Albrecht V. unterhielt mit Wien, auch Paris, gerade um 1570 wegen Heiratsangelegenheiten freundliche Beziehungen. Er zog auch viele Ausländer, Italiener, Belgier — ich erinnere an Orlando Lasso — an seinen Hof. Es bestanden aber damals auch in Bayern schon ausgezeichnete Gärten, so zu Augsburg bei den Welsern, die mit Venezuela Handelsbe- ziehungen hatten und besonders in Nürnberg, wo der ältere J. Camerarius einen prächtigen bota- nischen Garten anlegte. C. Gesner preist einen gewissen O. Ge. Ollinger, Apotheker in Nürnberg, als fleißigen Gärtner und Fflanzenmaler. Vielleicht haben wir in ihm oder seinen Söhnen, welche Gesner ebenfalls rühmen hörte, die Autoren, die wir suchen. Das Blumenwerk imd Gebetbuch Albrechts V. bietet uns nicht bloß einen hohen ästhetischen Genuß, sondern bildet auch ein wertvolles Doku- ment für die Pflanzengeschichte des 16. Jahrhunderts. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind : 1. Der Mais (Zea mais L.), der spanische Pfeffer (Capsicum annuum L.), der Kürbis (Ciccurbita niaxima Duch.) und die Sammetblume (Tagetes patulus L.) erscheinen als die ersten amerikani- schen Pflanzen in Europa, schon vor 1543. 2. In der Mitte des 16. Jahrhunderts treten auf: der Tabak (Nicotiana tabacum L. und rustica L. ), die Kaktusfeige (Opuntia ficus indica L.), die Agave (Agave americana L.), die Tomate (Solanum Lycopersicum L.), erwähnt zum erstenmal im Jahre 1560 bzw. 61. 3. In der zweiten Hälfte sind eingeführt worden: die Bohnenarten (Phaseolus vulgaris L. und multi- florus W.), die P>dmandel (Arachis hypogaea L.), die Bataten (Helianthus tuberosus L.); die Trades- kantie (Tradescantia virginica L. mit zwei Garten- formen) und die Kapuzinerkresse (Tropaeolum spec), letztere zwei zuerst abgebildet um 1574 in dem Miniatur - Gebetbuch Herzog Albrechts V. von Bayern. Endlich erscheint die Kartoffel (Solanum tuberosum L.) um 1553.', sicher 1588. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in Neues aus der Sinnesphysiologie. — i.Uber den Simultankontrast. Allbekannt sind die Erscheinungen der induzierten Empfindung (Bruecke) oder des Simultankontrastes (Che- vreul) beim Lichtsinne. Es sei nur erinnert an die farbigen Schatten, die schon Goethe so ein- gehend beschrieb, sowie an die Tatsache, daß ein graues Papierstückchen auf farbigem Untergrunde besonders deutlich bei Bedecken mit einem Seiden- papiere (Flor) in der Komplementärfarbe des Untergrundes erscheint. den einzelnen Disziplinen. Hering hat in seinem neuesten noch unvoll- ständigen Werke (Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn. Graefe- Saemisch 's Handbuch der Augenheilkunde, erschienen 2 Lieferungen 1905 und 1907), auf das wegen seiner Fülle neuer Tat- sachen und Gedanken noch mehrfach zurückzu- kommen sein wird, mehr denn je auf die große Bedeutung des Simultankontrastes für unser Sehen und unsere Auffassung der Außendinge hinge- wiesen. Von größerer Wichtigkeit sind nach Hering N. F. VIII. Nr. n Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 201 nicht die Krsclieinungcn, bei denen uns der Kon- trast als etwas Merkwürdiges in die Augen fällt, sondern die, bei denen wir nichts von ihm zu be- merken scheinen. In der Tat ist der simultane Kontrast ein äußerst wichtiger Faktor für die Interpretation aller unsere Retina treffenden Reize. Frst durch ihn werden dieselben geklärt, verschärft, gereinigt, ehe sie der psychopliysischen Sphäre des Gehirnes zugeführt werden, d. h. als Empfindung zum Bewußtsein kommen. Die diop- trischen Fehler des Auges werden ausgeglichen, die Grenzlinien werden schärfer. .-^uch unsere Sehschärfe verdanken wir vor allem dieser Ein- richtung. Ja, um mit v. Tschermak (s. u.) zu sprechen: „Wohl erst durch die Kontrastfunktion unseres Auges vermögen wir überhaupt zu lesen und erhalten wir das Empfindungssubstrat des Nichtdimensionalen und Eindimensionalen, des Punktes und der Linie." Doch nicht darin allein liegt die große Be- deutung dieser Einrichtung für unser Sehen. Hering wies nach, daß der Kontrast auch die simultane Anpassung des .Auges vermittelt und uns dadurch unabhängiger macht von raschen Wechseln der Gesamtbeleuchtung. Bei den großen qualitativen und quantitativen Verschieden- heiten der natürlichen und künstlichen Beleuchtung ist es überraschend, daß wir bestimmten Dingen immer gleiche Farben zuschreiben, obwohl sie je nach der Art des auffallenden Lichtes ganz ver- schieden aussehen. Diese angenäherte Kon- stanz der Farben ist eine sehr merkwürdige Tatsache. Zur Erklärung derselben dienen nach Hering folgende Einrichtungen: i. eine äußere .Anpassung, die Verengerung und Erweiterung der Pupille je nach der Stärke der Beleuchtung; 2. eine simultane innere .Anpassung durch Wechselwirkung der ,, somatischen Sehfeldstellen" aufeinander (simultaner Kontrast); 3. eine suk- zessive innere Anpassung, die Adaptation (suk- zessiver Kontrast I; 4. eine psychologische .An- passung, die Gedächtnisfarben der Dinge. Die Rolle, welche speziell der Simultankontrast dabei spielt, sei kurz durch ein Beispiel erläutert. Bei schneller Steigerung der Gesamtbeleuchtung in einem Zimmer werden nicht alle Farben der in demselben befindlichen Gegenstände weißlicher, sondern viele Dinge ändern ihre Farbe gar nicht, andere werden sogar schwärzlicher. So erscheinen bei Steigerung der Intensität einer bestimmten Lichtquelle nicht nur alle den Lichtstrahlen direkt ausgesetzten Stellen heller, sondern auch die Schatten um soviel dunkler. Eine andere Feststellung Hering's sei schließlich noch kurz erwähnt, da sie von großem Interesse ist (a. a. O. S. 125). Da es sich bei den in Rede stehenden Erscheinungen um eine allgemeine Wirkung der einzelnen Sehfeldstellen aufeinander handelt, so muß eine solche Wirkung auch bei gleichmäßig gefärbten Flächen anzu- nehmen sein. Bei einer weißen F"läche werden also z. B. die einzelnen Teile gegenseitig eine verdunkelnde Wirkung aufeinander ausüben und somit wird die ganze Fläche dunkler er- scheinen als es ohne ,, Kontrast" der Fall wäre. Daß der Simultankontrast nicht nur beim Liciitsinne, sondern auch bei den meisten anderen Sinnen eine Rolle spielt, legt v. Tschermak dar (Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 122, 1908, S. 98). Es seien kurz die hierher gehörigen Erscheinungen aufgezählt: 1. Bewegungssinn des Auges. Bei Fixation sich bewegender Objekte scheinen diese oft in Ruhe zu sein und in ihrer Umgebung befind- liche Gegenstände in Bewegung, oder es scheinen sich sowohl diese als jene in entgegengesetzter Richtung zu bewegen (z. K. der Mond hinter ziehenden Wolken). 2. Optischer Größensinn. Ein Gegenstand wird verkleinert durch die Nachbarschaft eines anderen größeren und vergrößert durch die Nach- barschaft eines anderen kleineren (vgl. J. Loeb 1895). ^ 3. Kontrast zwischen dem Bewegungssinne des Auges und dem des Gesamtkörpers. Beispiele: Man glaubt schnell stromauf zu schwimmen, wenn man unter Festhalten des Blickes am Brücken- geländer von einer Brücke die Wasserfläche eines Flusses beobachtet. Bei Betrachtung eines fahren- den Eisenbahnzuges aus dem Fenster eines stehen- den glaubt man in entgegengesetzter Richtung zu fahren. 4. Geschmacksinn. Hier sind die Erschei- nungen zwar weniger auffallend, indes auch deut- lich vorhanden. Die Behandlung eines Zungen- randes mit Kochsalzlösung macht den anderen empfindlicher für Süß (Kiesow). 5. Tastsinn. Auch im Gebiete des haptischen Bewegungs- und Größensinnes lassen sich einige nur durch Kontrast zu erklärende Erscheinungen anführen. 6. Temperatursinn. Hier bringt v. Tscher- mak als erster einen einwandfreien systematischen Nachweis eines thermischen Simultankontrastes. Er setzte auf die Haut Ringe verschiedener Tem- peratur und beobachtete auf der inmitten der Ringe befindlichen Hautstelle die entgegengesetzte Temperaturempfindung. Am deutlichsten trat der Thermokontrast als Wärmekontrast bei einer Ringtemperatur von 10 — 25", als Kältekontrast bei einer solchen von 35 — 40" in Erscheinung. Bei all diesen Tatsachen haben wir es mit einer gegensinnigen verändernden Wirkung der Gewebszellen aufeinander zu tun. Der Kontrast bewirkt eine „physiologische Stigmatik", d. h. er führt zur Einschränkung und schärferen Begrenzung der Endeffekte, wie es oben für den Lichtsinn ausgeführt wurde. Auf die Theorien des Simultankontrastes möchte ich deshalb jetzt nicht genauer eingehen, weil in nächster Zeit eine eingehende Bearbeitung derselben durch Hering zu erwarten steht, die zur Klärung beitragen dürfte. Bis vor kurzem standen sich die physiologische und psychologische 202 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 13 Theorie schroff gegenüber, die erstere von Goethe schon angedeutet, von Mach und Hering ein- gehend begründet, die letztere durch Männer wie Bruecke, Helmholtz und Exner vertreten. Erst neuerdings macht v. Kries (Nagel 's Hand- buch der Physiologie, Bd. III, 1905, S. 287). seinen alten Standpunkt modifizierend, der physiologischen Theorie größere Konzessionen. Anknüpfend hieran sei eine Beobachtung von Bauer (Zentralbl. f. Physiol. 19, 1905, S. 453) erwähnt, nach der auch im Tierreich der Simul- tankontrast eine Rolle spielt. Die objektiven Tatsachen, über die Bauer berichtet, sind auch deshalb von so großem Interesse, weil sie eine starke Stütze der physiologischen Kontrasttheorie bilden. Bekannt ist, daß viele Tiere ihre Haut- farbe je nach ihrer Umgebung ändern und daß es sich dabei um einen Reflex vom Auge auf die Chromatophoren der Haut handelt. Bauer wies nun zunächst bei der kleinen Isopodenart Idotea tricuspidata Desm., die er bei seinen Versuchen verwandte, nach, daß auch die Chromatophoren dieses Tieres gegen direkte Lichtwirkung un- empfindlich sind und die P'arbenveränderung auf eine Reizung des Auges zurückzuführen ist. Er fand nun, daß diese Tiere, die im Lichte hellgrau aussehen, bei Beleuchtung einer Seite und Dunkel- heit der anderen viel dunklere Färbung annehmen, als wenn man sie ganz der Dunkelheit aussetzt. Auch durch Lackierung der einen Hälfte des Auges mit einem lichtundurchlässigen Lack wird im Lichte intensive Dunkelfärbung herbeigeführt. Zur Erklärung dieser Tatsachen muß man einen „Weißreiz" und einen ,, Schwarzreiz" an- nehmen, die in entgegengesetztem Sinne wirken und von denen der eine (der Schwarzreiz) durch gleichzeitiges Vorhandensein des anderen auf dem Wege des Kontrastes in seiner Wirkung bedeutend verstärkt wird. 2. Messende Untersuchung der abso- luten Schwelle des Lichtsinnes. Eine theoretisch sehr interessante Untersuchung unter- nahm v. Kries zusammen mit Eyster „Über die zur Erregung des Sehorganes erforderlichen Energiemengen" (Zeitschr. (. Sinnesphysiologie 41, 1907, S. 373). Er wählte zu seinen wohl ein- wandfreien Versuchen diejenige homogene Licht- strahlung, die mit relativ geringstem Energiewert zu einer merklichen Erregung des Sehorganes führt, nämlich die mit einer Wellenlänge von durchschnittlich 507 /(/(. Selbstverständlich war Bedingung hochgradige Dunkeladaptation und Beobachtung mit einer peripheren Netzliautstelle, da ja bekanntlich für das Sehen geringer Hellig- keiten (Dämmerungssehen) die P'ovea centralis von der Peripherie der Retina an Leistungsfähig- keit übertroffen wird. V. Kries stellte nun unter Wahrnehmung der weiteren Bedingungen einer Feldgröße von 2' und einer Beobachtungszeit von weniger als 1250" die Grenze der Sichtbarkeit einer von Strahlen besagter Wellenlänge erleuchteten. mit Magnesiumoxyd gleichmäßig bedeckten Blech- platte fest. Auf die genauere Anordnung der interessanten Versuche einzugehen, würde hier zu weit führen. Bestimmt wurde stets abwechselnd bei zunehmen- der Spaltweite der Punkt des Sichtbarwerdens und bei abnehmender der des Unsichtbarwerdens; die erhaltenen Mittelwerte dienten zur Berechnung. Zur rechnerisclien Feststellung der Energie- mengen stützt sich V. Kries auf Ermitt- lungen K. Angström's über die Verteilung der Energie im Spektrum der Hefner-Lampe (Nova Acta Soc. scient. Upsala III, 1903). Nach ihnen repräsentiert die Summe der sichtbaren Strahlen von 760 iiii und darunter, die I m von der Licht- quelle entfernt auf eine Fläche von i cm- auf- trift't, eine Energie von E = 20,6-iO-* cal pro sec. Die Energie bestimmter Bereiche der Wellen- längen berechnet sich hieraus nach Angström gemäß der Formel , 7.8s . J; ^ 0,0160 1^'' e^ -;- J /-, wobei J /. einen kleinen Bereich von Wellenlängen mit dem durchschnittlichen Betrage /. bedeutet. J'l betrug bei den Versuchen 1,7 /.tft, '/. wie ge- sagt 507 /(/(, woraus sich nach obiger Formel eine Energiemenge von F= 1,5012 • 10^^'^ ergab. Nahm v. Kries schließlich die Albedo der MgO-Platte mit 0,9 an bei einem einfallenden Winkel von 45" und führte er noch folgende Be- nennungen ein: (^ für die Expositionszeit in Sekun- den, L für die Stärke der Beleuchtung in Meter- kerzeii, S' für das Produkt aus Spaltbreite und derjenigen Höhe, deren Bild am okularen Spalt der Pupillenweite gleichkommt. O für die Größe des erleuchteten Diaphragmas und .>-4,2'' für den körperlichen Winkel, den die vom Objektiv- spalt ausgehende und O passierende Strahlung einnimmt und schließlich f für die Schwächung der Strahlen durch Lichtzerstreuung und Absorp- tion, so erhielt er für die kleinste zur Perzeption gelangende Energiemenge die Formel O ,:a.L-cos45".S' 970^ 4,2- TT • 0,Q-E- 1,501 • IQ- Einsetzung der gefundenen Werte ergab für die eben merkliche Erregung unter den oben ange- führten Bedingungen den Wert 1,3- 10" '" bis 2,6- io~"' erg, für die Sichtbarkeit dauernd exponierter Objekte einen solchen von ca. 5,6- 10^"' erg pro sec. Vergleichen wir diese Werte mit den kleinsten perzipierbaren Energiemengen eines normalen Ge- hörsinnes, die besonders durch Lord Rayleigh (1878) und später von Wien (1S88 und neuerdings Pflüger 's Arch. f d. ges. Physiol. 97, 1903, S. i) festgestelh wurden, nämlich 2,5 -lO-'- für Töne mit einer .Schwingungszahl von 1600 — 3200, so finden wir die auf den ersten Blick überraschende N. F. VIII. Nr. 17, Naturwissen.schaftliche Wochenschrift. 203 Tatsache, daß unser Ciehörsinn absolut genommen unseren Gesichtssinn etwa um das Vierzi^fache an Empfindlichkeit übertrifft. 3. Neues zu den Höriheorien. Eine physiologische Hörtheorie darf sich nicht damit begnügen, das gesonderte Hören bestimmter Töne zu erklären, sie muß sich insbesondere auch aus- einandersetzen mit den Tatsachen, die wir als sekundäre Klangerscheinungen bezeichnen. Er- wähnt seien vor allem Konsonanz und Dissonanz, Schwebungen, Unterbrechungs- oder Intermittenz- töne, Kombinationstöne und Geräusche. Keine Theorie hat sich mit den meisten dieser Tatsachen in so vollkommener und eindeutiger Weise abgefunden, wie die Resonanztheorie von Helmholtz. Dieser nimmt bekanntlich ebenso wie Hensen an, daß die einzelnen Fasern der Membrana basilaris auf verschiedene Töne an- sprechen und bei ihren Schwingungen die Här- chen der Haarzellen der Corti'schen Bögen gegen die Membrana tectoria stoßen. Ein Haupt- einwand gegen diese Theorie ist der, daß Saiten von so geringer Länge (0,041—0,498 mm) nicht auf so tiefe Töne, wie wir sie noch zu hören vermögen, abgestimmt sein können. Neuerdings wird von Zwaardemaker (Über den Schalldruck im Corti'schen Organe als der eigentliche Gehörreiz. Arch. f. Anat. und Physiol. Supplementbd. 1905) diese Anschauung Helm- holtz' bedeutend modifiziert. Zwaardemaker hält die Corti'schen Bögen für eine zu schwere Belastung des zentraleren Teiles der Basilarmem- bran und glaubt, daß dieser oder die Zona tecta fast ruhig bleibt, während die Zona pectinata. also der nur mit Epithelzellen bedeckte äußere Teil, allein schwingt. Durch die Schwingungen dieses Teiles entstehe ein Schalldruck, der sich den inneren und äußeren Haarzellen mitteilt. Die Energie der Schwingungen wird in Druckenergie umgesetzt und dadurch in Analogie zum Tastsinne gebracht. Eine Gruppe von Tatsachen, die man gegen die Hei m holt z 'sehe Theorie vielfach auszu- nutzen versucht hat, sind die Kombinationstöne, die bekanntlich wieder in Summations- und Diffe- renztöne zerfallen. Helmholtz hielt das Trommelfell für ihren Ursprungsort, stieß aber auf vielfachen Widerspruch. Daß er aber hierin wohl das Richtige getroffen, hat neuerdings K. L. Schaefer gezeigt (Vorl. Mitteilung in Nagel's Handbuch der Physiologie III, S. 568). Schaefer machte seine Versuche an Telephonmembranen und Membranen von der F'orm des Trommelfelles, die von zwei Primärtönen zugleich in Schwingungen versetzt wurden, und konnte dadurch objektive Kombinationstöne hervorbringen. Fälle von F^ehlen des Trommelfelles mit erhaltener Perzep- tion der Kombinationstöne erklärt er durch die Wirkung der elastischen Membran des runden I-'ensters. Damit dürften die anderen Theorien der Kombinationstöne von W u n d t , p; b b i n g - haus und Hermann bedeutend an Wahrschein- lichkeit verlieren. Nur für Helmholtz sind auch die Unter- suchungen von Wittmaack (Zeitschr. f. Ohren- heilk. 54, 1907, S. 37) zu verwerten, welcher durch starke Reize lokale Degenerationen im Corti- schen Organe herbeiführte. Er ließ vier Wochen hindurch fast täglich über einem kleinen in den Gehörgang von Meerschweinchen eingeführten Glastrichter immer denselben lauten Pfeifenton er- schallen. Es entstand dadurch eine Degeneration im peripheren Neuron des Hörneiven und ein streng lokalisierter Schwund des Corti'schen Organes. Über die Bedeutung der Membrana tectoria für die Perzeption akustischer Reize bei Säuge- tieren geben einige interessante Tatsachen Auf- schluß, die Kreidl und Yanase (Zentralbl. f. Physiologie 21, 1907, S. 507) bei Ratten feststellten. Bei diesen Tieren findet in den ersten 12 — 14 Lebenstagen keinerlei Reaktion auf akustische Reize statt; diese tritt erst und zwar ganz plötz- lich am 13. Tage auf. Die beiden Forscher unter- suchten nun mikroskopisch die Gehörorgane ver- schiedener Tiere dieser kritischen Altersstufen. Sie fanden, daß auch bei den Tieren, die noch nicht reagierten, die Corti'schen Organe schon im wesentlichen fertig entwickelt und insbesondere die äußeren und inneren Haarzellen schon vor- handen waren. Der auffälligste und anscheinend einzige Unterschied zwischen einem Tiere, das den Reflex eben noch nicht hat und einem solchen, das ihn eben hat, besteht darin, daß ,,bei ersterem noch ein Zusammenhang zwischen Corti'schem Organ und Cor ti 'scher Membran besteht, bei letzterem dagegen dieser Zusammenhang bereits gelöst oder gelockert ist". Es ist also wohl an- zunehmen, daß das Corti'sche Organ erst in Funktion treten kann, wenn die Membrana tec- toria gelöst ist; diese Annahme macht auch, wie wir oben sahen, die Resonanztheorie. Weitere wichtige Aufschlüsse geben uns die eingehenden Untersuchungen, die J. Breuer (Sitzungsber. d. Kaiserl. Akademie d. Wissensch. zu Wien; mathem.-naturw. Klasse 116, Abt. III, 1907, S. 249) über das Gehörorgan der Vögel anstellte und welche die frühere Darstellung von Retzius ergänzt. Auch die Schnecke der Vögel besitzt eine Basilarmembran, deren auf der Seite des Nerveneintritts gelegene Zona pectinata aus schrägen, parallelen F'asern zusammengesetzt ist und zu den Haar- und Stützzellen in enger Be- ziehung steht. Die letzteren sind schräg und so gebogen, daß die F'ußenden auf der Membran immer weiter lateral liegen als die oberen Teile; die Haarzellen besitzen lange Haare, die — im Gegensatz zu den Säugern — mit der Deck- membran fest verbunden sind. Die Saitenfasern verlaufen auf der tympanalen Grenzschicht der Basilarmembran, und sind an der Lagena etwa 3 mal länger als am Vestibulum. Breuer findet in dieser Anordnung große 204 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. I-, Ähnlichkeit mit dem Otolithenapparate; nur ist bei diesem ebenso wie bei der Schnecke der Säuger die deckende Membran verschiebbar. Bei der Schnecke der Vögel scheint hingegen eine beschränkte Beweglichkeit der Nevenendstelle für die Übertragung des Reizes von Wichtigkeit zu sein. Es werden nämlich durch die Dehnung der Saitenfasern die in die Deckmembran eingewebten Haare der Hörzellen zur Seite gezogen und ge- spannt. Gegen die Resonanztheorie läßt sich von diesen Tatsachen nur die geringe Längendifferenz der Saitenfasern anführen. Für die Ewald'sche I'heorie (s. u.) kann nach Breuer nur die Zona non pectinata in Betracht kommen, doch auch diese entspreche nicht den zu fordernden Be- dingungen. Daß auch Tiere, welche menschliche Sprach- laute erlernen, mit einem solch einfachen Gehör- organe auskommen, bei dem der ganze kompli- zierte Stützapparat des Corti'schen Organes fehlt, geht aus den eigehenden Untersuchungen A. Denke r's über „Das Gehörorgan und die Sprach Werkzeuge der Papageien" (Wiesbaden, Bergmann, 1907) hervor. Von den Theorien des Hörens, die auf ganz anderen Grundlagen wie die von Helmholtz aufgestellt wurden, seien die von M. Meyer 1 1898), J. R. Ewald (1899), E. ter Kuile (1900) und K. Kishi (1907) erwähnt. Keine von ihnen ist bis jetzt den Tatsachen der physiologischen Akustik so gerecht geworden wie die Resonanz- theorie, doch verdient zweifellos die E wald' sehe Schallbildertheorie die meiste Beachtung. Sie sei deshalb noch einmal kurz dargelegt. Nicht die Saiten der Basilarmembran werden nach Ewald in Schwingungen versetzt, sondern diese schwingt im ganzen und zwar unter Bildung von stehenden Wellen, die sich den Cochlearisfasern mitteilen. Die Gesamtheit dieser Wellen in einem bestimmten Augenblicke nennt Ewald das Schallbiid. Jedem Tone entspricht ein ganz bestimmtes Schallbild; Schallbilder verschiedener Töne können sich superponieren. Ewald gelang es, diese stehenden Wellen in schöner Weise im Experiment zu demonstrieren. Gegen Helmholtz erhebt er vor allem drei Einwände: I. erscheint es ihm unwahrscheinlich, daß ein Ton nur einen oder nur wenige benach- barte Resonatoren in Schwingungen versetzte; kugelförmige Resonatoren sprachen bei stärkeren Intensitäten auf Töne sehr verschiedener Schwin- gungszahl an (Sitzungsber. d. naturw.-mediz. Ver- eins zu Straßburg, Münch. Med. Wochenschr. 56, 1909, S. 211). 2. Die subjektive Tonhöhe wird durch objektive Steigerung der Intensität herab- gesetzt. Ein sehr lauter Ton klingt wenigstens um ' ., Ton tiefer als wenn man ihn sehr leise hört. Die Schallbildertheorie fordere dieses ge- radezu. Durch die größere Amplitude der Wellen werde die Membran stärker gespannt, wodurch die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Wellen wachse und die Knotenpunkte weiter auseinander rückten, was einem tieferen Tone entspreche. 3. vermöge die Resonanztheorie die Intermittenz- töne nicht genügend zu erklären, besonders die Tatsache, daß auch alle Geräusche von solchen Tönen begleitet sein können (Ewald und Jäderholm, Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. 115, 1906, S. S55). Hat auch die Helm hol tz'sche Theorie des Hörens gegenwärtig die meisten Anhänger, so darf man doch mit Recht auf den weiteren Aus- bau der Ewald 'sehen Anschauungen gespannt sein. Sehr viele Arbeiten der physiologischen Akustik der letzten Jahre lassen sich nur von diesem Kampfe der Meinungen aus verstehen; derselbe wirkt befruchtend hier wie überall. Dr. Richard Cords. Kleinere Mitteilungen. Über einen symbiotisch lebenden Fisch (Apogonichthys strombi n. sp.) berichtet Prof. L. Plate im Zoolog. Anzeiger 1908, Heft 12. Man kannte bereits früher eine .Anzahl Fische, die symbiotisch (oder besser „raumparasitisch") mit anderen Tieren zusammenleben. So hält sich Plerasfer im Enddarm von Holothurien auf, ohne für das gewährte Obdach seinem Wirt in irgend einer Weise zu nützen. Zwischen den Mund- armen und Tentakeln von Quallen halten sich junge Carangiden auf, die durch die Nesselzellen der Meduse gegen alle Feinde geschützt werden. Sie begleiten die Qualle auf allen ihren Wande- rungen und treten aus der Glocke hervor, wenn keine Gefahr zu befürchten ist; bei der Annähe- rung eines F'eindes ziehen sie sich aber schleunigst in ihren Schlupfwinkel zurück. Am Roten Meer leben zwischen den Stacheln eines Seeigels (Dia- dema saxatile) oft i —2 Dutzend kleiner Usche die durch die Bewaffnung ihres Wirtes ebenfalls geschützt werden. Dort lebt auch eine große Actinie (Crambactis arabica), zwischen deren Tentakeln sich ein schöngefärbtes Fischchen (Amphiprion bicinctusl aufhält. Wenn sich die Seerose einstülpt, so läßt sich der Fisch ruhig von den Tentakeln bedecken, muß also gegen die Nesselkapseln unempfindlich sein. Plate konnte während seines Aufenthaltes auf den Bahama-Inseln einen neuen Fall von Raum- parasitismus beobachten. Dort kommt die Riesen- schnecke Strombus gigas häufig vor; sie wird von den Fischern auf den Markt gebracht, da ihr Fuß ein Nationalgericht der Bahamesen bildet. Plate fand nun, daß in der Mantelhöhle von Strombus gigas, aber nur bei großen Exemplaren in 2 — 5 m Wassertiefe, ein kleines braunes Fisch- chen von 3 — 6 cm Länge lebt. Plate nennt den Usch Apogonichthys strombi. Wahr- N. F. \'III. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 205 scheinlich verläßt der Einmieter seinen Wirt nur Nachts, um seine Nahrung, die aus Garneelen, Asseln und anderen Krebsen besteht, zu fangen. Gewöhnlich lebt in einer Schnecke nur ein Fisch, höchstens aber zwei. Jedenfalls hat die Schnecke .von dem F'isch keinen Nutzen. Das größte Exemplar von Apogonichthys strombi, dasPlate beobachten konnte, hatte eine Gesamtlänge von 62 mm. Der Fisch zeigt auf gelblichem Grunde zahlreiche schmutzigbraune Punkte, die durch dichtstehende sternförmige Chromatophoren gebildet werden. Die Schuppen sind Cycloidschuppen. Der Mageninhalt bestand aus Resten von Krebsen. Die Schwimmblase besitzt keinen Luftgang. Dr. Brohmer, Jena. Erdbeben im mediterranen Gebirgssystem zu Anfang des Jahres 1909. — Kaum zwei Wochen nach der Katastrophe in Kalabrien- Sizilien ist Italien von einem neuen Erdbeben betrotten worden, welches zwar an Stärke sehr weit hinter dem ersten zuiücksteht, an Größe des Schüttergebietes aber diesem gleichkommt. Diesmal war der Schauplatz Norditalien, sowie das anstoßende Gebiet der Ostalpen und des Nordappennin. Das norditalienische Erdbeben fand statt am 13. Januar 1909 gegen i Uhr 45 Min. in der Frühe des Morgens. Den bisher vorliegenden Nachrichten zufolge umschließt die äußerste Grenze seines Schüttergebietes im Süden Umbrien, im Westen Ligurien und die Lombardei, im Norden Graubünden und den äußersten Süden Oberbayerns, sowie im Osten Steiermark, Krain und Istrien. Wie ein Blick auf die Karte lehrt, ist der Ausgang des Erdbebens in der Südostecke der Poebene, am Nordrande des Appennin zu suchen. Hier finden sich die am stärksten er- schütterten Orte Imola, Lugi, Forli, Bagnocavallo, Medicina, Budrio, Molinella, Cento, sowie die Stadt Bologna. Die maximale Bebenstärke ent- spricht dem 6. Grade der Mercalli'schen Stärke- skala, welche in der Hauptsache durch schwache Gebäudeschäden, wie die Entstehung unbedeuten- der Mauerrisse und das Herabfallen von Bewurf, gekennzeichnet ist. Allerdings werden aus einer Reihe der genannten Ortschaften etwas stärkere Beschädigungen gemeldet; aber für deren richtige Würdigung muß man die schlechte Bauart und den oft sehr bedenklichen Erhaltungszustand der Gebäude in den italienischen Dörfern und Land- städten in Betracht ziehen. Um dieses Gebiet lagert sich eine verhältnis- mäßig wenig ausgebreitete Zone vom 5. Stärke- grade, wo die Erschütterung Türen zum Knarren, Hausglocken zum Anschlagen, hängende Gegen- stände zum Schwingen, Uhren zum Stillstehen brachte usw. In der Hauptsache umfaßt diese Zone das Küstengebiet der Adria zwischen Venedig und etwa Rimini, landeinwärts entsendet sie Ausläufer bis Florenz utid Urbino. Ein zweites, sehr langgestrecktes, aber schmales Gebiet gleicher Bebenstärke befindet sich, durch eine breite Zone erheblich schwächerer Beben- wirkung getrennt, im Norden ; es reicht etwa von Trient bis Innsbruck. Die weitaus größte Zahl von Nachrichten meldet Rasseln und Klirren von Geräten und Krachen des Hausgebälks, entsprechend dem 4. Stärkegrade. Allerdings wird fast stets hinzu- gefügt, daß zahlreiche Leute infolge des Erdbebens erschreckt auf die Straße eilten, was sonst nur bei erheblich stärkeren Rirschütterungen der Fall zu sein pflegt; dies hat man aber selbstverständlich auf das Konto der nervösen Erregung zu setzen, welche die süditalienische Katastrophe verur- sacht hat. In dem ganzen übrigen Teile des Schütter- gebietes ist das Beben nur an mehr vereinzelten Orten und von einzelnen Personen gefühlt worden, welche sich im wachenden Zustande und unter sonst für die Beobachtung so schwacher Boden- bewegungen günstigen Verhältnissen befanden. Die nächstliegende und auch häufig gestellte Frage ist nun diejenige nach einem etwaigen Zu- sammenhange beider Erdbeben, ob etwa das- jenige vom 13. Februar eine P'olgeerscheinung der süditalienischen Katastrophe vom 28. Dezember wäre. Wir wollen versuchen, uns darüber, sowie über die Entstehung des Erdbebens im allge- meinen, an der Hand des geologischen Aufbaues und der geologischen Entwicklung des Gebietes ein Urteil zu bilden. Das Adriatische Meer ist ein durch Nieder- sinken großer Erdschollen gebildetes Becken. Aber das Bruch- und Einsturzgebiet reicht er- heblich weiter als das eigentliche Meeresbecken; es greift im Osten, Norden und Nordwesten weit auf das Festland hinüber. So ist das ganze Ge- birgssystem an der Oslküste, die sog. Dinarischen Alpen, von mächtigen, der Küste parallel ver- laufenden Brüchen durchzogen, an denen die Schollen staffelartig zur Tiefe gesunken sind. In den südlichen Kalkalpen finden diese Brüche ihre Fortsetzung mit ost-westlichem Verlauf. Die West- grenze des adriatischen Senkungsfeldes durch- setzt quer die Alpenkette und bildet zugleich die geologische Scheide zwischen West- und Ost- alpen; sie fällt zusammen mit der großen Disloka- tionslinie des Judikarienbruches, welche vom Idrosee zunächst in nordöstlicher Richtung an Meran vorbei zieht und dann west-östlich das Tal der Drau aufnimmt. Nach Osten hin schließt sich an den meridional verlaufenden Westflügel des Judikarienbruches eine große Grabensenkung an, das sog. Etschbuchtgebirge, dessen Verlauf im großen und ganzen durch das Tal der Etsch von Bozen bis zum Gardasee gekennzeichnet ist. Im Süden bildet der Nordrand des Appennin die Grenze für den festländischen Teil des adriatischen Senkungsfeldes. Wie nun die Kartenskizze F'ig. i erkennen läßt, nahm das Erdbeben seinen Ausgang an der 206 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 13 Siidgrenze des adriatischen Senkungsfeldes. Für die Auslösung des Erdbebens wird man wohl weniger ein Vorrücken der von Südwesten her drängenden F"altenbögen des Nordappennin verant- wortlich machen wollen als vielmehr eine ein- seitige Senkung der adriatischen Scholle. Für diese Annahme spricht die bedeutungsi^olle Tat- sache, daß einmal die Ausbreitung der Zone maximalster Erschütterung vorwiegend gegen Norden gerichtet ist, und daß andererseits eine Zunahme der Intensität weitab vom Ausgangs- gebiete, im Grabenbruche des Etschbuchtgebirges und in seiner Verlängerung bis Innsbruck hin, die Weiterleitung der seismischen Energie er- schwert. Für einen ursächlichen Zusammenhang dieses Erdbebens mit dem süditalienischen vom 28. Dezember 1908 spricht folgende Überlegung. Das süditalienische Reben ist nicht allein durch seine Einwirkungen auf den Menschen und dessen Werke den Katastrophen zuzurechnen. Im Gegenteil ; wenn auch der Grad der bei einem Erdbeben angerichteten Verheerungen und Schäden fast stets von einer Reihe mannigfachster Faktoren sekundärer Art, als da sind geologische Beschaffenheit der oberflächlichen Das Erdbetert in NORDSTALIEN am 13. Januar 1909 Stärlle des Betenä: sbarK ;_ o j ziemlich, starh o I leicht A S1EBER6 unabweislich in die Erscheinung tritt. Die Senkungsvorgänge in der .Südostecke des Senkungs- feldes haben sogleich eine entsprechende, nur wenig schwächere Schollenbewegung in dem die Nordwestgrenze bildenden Bruchgebiete ausgelöst, eine sehr interessante Erscheinung, welche auch gelegentlich der letzten Erdbebenkatastrophe in San Franzisko mit vollster Sicherheit nachgewiesen ist. Zwischen beide Gebiete schiebt sich eine Zone geringerer Bebenstärke ein; namentlich bei Schio erleidet die Bebenstärke lokal eine bemerkens- werte Abschwächung, weil eine der Stadt in SE-NW Richtung vorgelagerte große Bruchlinie Erdschichten, Bauart und Erhaltungszustand der Gebäude usw., bestimmt wird, so daß selbst mittelstarke Beben verhängnisvoll zu werden ver- mögen, so haben wir es im vorliegenden Falle doch mit einem, rein physikalisch gesprochen, äußerst schweren Erdbeben zu tun gehabt. Ein derartiges Erdbeben setzt aber ' ganz bedeutende Verlagerungen der in der Tiefe gelegenen Erd- schollen voraus. Da drängt sich nun von selbst die allerdings nicht beweisbare, aber auch nicht widerlegbare Ansicht auf daß diese lokale Störung des Gleichgewichtszustandes zwischen den Erd- schollen, die noch längere Zeit fortbesteht und in N. F. Ylir Nr. 13 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 207 den sog. Nachstößen innerhalb des primären Schüttergebieies ihren Ausdruck findet, allmählich auch die Ruhe der benachbarten Schollen stört. Innerhalb welcher Zeit, ob nach Stunden, Tagen oder gar erst nach Wochen, ferner wo und in welchem Ausmaße die so geschaffene Schollen- störung ihren Ausgleich in Erdbeben findet, ent- zieht sich selbstverständlich jeglicher Beurteilung. So erscheint es gar nicht ausgeschlossen, daß die Störung des Gleichgewichtes in den Schollen von Sizilien-Kalabrien Spannungen erzeugt haben, die mehr und mehr zunahmen, bis sie schließlich in der adriatischen Senkung am 13. Januar 1909 zur .Auslösung kamen. Welche Stärke ein derartiges Beben besitzt, ist gar nicht abzusehen, jedenfalls aber unabhängig von der Stärke des den ersten Impuls abgebenden Erdbebens. Denn die Wir- kung des primären Bebens ist vergleichbar der Wirkung des Funkens im Pulverfasse. Wenn die vorentwickelte Anschauung das Richtige trifft, dann liegt es nahe, daß die nun einmal hervorgerufene Schollenstörung nach und nach auf immer ferner liegende Teile des be- treffenden tektonischen Gebietes übergreift, bis sie durch irgendeinen unkontrollierbaren, aber vom geologischen Aufbau bedingten Umstand zur Ruhe kommt. Italien gehört einem Störungs- gebiet der Erdrinde an, welches sich in W-E Rich- tung von Westeuropa gegen Ostasien hinzieht. So sind das ganze Mittelmeerbecken, das Rote Meer, der Persische Meerbusen und die ganze nördliche Hälfte des Indischen Ozeans gewaltige Einbruchsbecken der Erdrinde, die, z. T. recht weit, in das Festland hineingreifen. Nach Norden hin schließen sich an diese Einbruchsbecken lange Stränge von Faltengebirgen an. Diese verhältnis- mäßig schmale Zone der Bewegung, welche durch das Wirken recht jugendlicher und z. T. heute noch fortdauernder gebirgsbildender Kräfte ge- schaffen wurden, sind eingeklemmt zwischen aus- gedehnten starren Gesteinstafeln, welche schon seit frühen geologischen Epochen den gebirgs- bildenden Kräften erfolgreich Widerstand leisten. Es ist nun bemerkenswert, daß die Mehrzahl der bisher bekannten Erdbeben, namentlich fast alle an den europäischen Stationen instrumentell registrierte, dieser mediterranen Erdbebenzone an- gehören. In chronologischer Reihenfolge haben wir nachstehende Beben zu verzeichnen ; 19. Januar zerstörendes Erdbeben an der West- küste von Kleinasien in der Gegend von Smyrna, welches auch auf der Insel Chios verspürt wurde. Der Herd dieses Bebens lag nordöstlich von der Stadt Phokea in den Bergen Tsakmukti; die am Fuße des Berges gelegenen Ortschaften Kiospakton, L.umpunar, Bakmakti, Issikioi, Kadja-Mechmeder, Sugiuksona, Kereukioi, sind ganz oder teilweise zerstört worden. Während der nächsten Tage machten sich im gleichen Gebiete schwächere Stöße bemerkbar. 20. Januar mäßig starkes Beben in Volo, Griechenland,welchesganzThessalien erschüttert hat. 23. Januar im Laufe des frühen Morgens drei schwache Beben in Wodena, Mazedonien. 23. Januar sehr heftiges Beben in der per- sischen Provinz Luristan. Im Epizentralgebiete, welches in der Gegend von Burudjird gelegen zu haben scheint, sollen zahlreiche Dörfer mehr oder minder vollständig zerstört und zahlreiche Men- schen getötet worden sein. Aus dem oberen Tale des Euphrat liegt die Nachricht vor, daß das Beben in der Stadt Harpoot noch schwere Gegen- stände erschütterte, was etwa dem 5. Grade der Mercalli'schen Stärkeskala entspricht. Nach Osten hin reichte das Beben bis nach Surabad, südöst- lich vom Kaspischen Meer. Mithin muß man dem Schüttergebiet in west-östlicher Richtung eine Ausdehnung von weit mehr als 1500 km bei- messen. Dieses ganz ungewöhnlich weit reichende Erdbeben hat die Aufmerksamkeit weitester Kreise auf sich gelenkt. Denn seine Registrie- rungen an den europäischen Stationen ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es sich in diesem Falle um eine der süditalienischen mindestens ebenbürtige (physikalisch gesprochen) Katastrophe handelte. Aber jegliche bestätigende Nachricht blieb zunächst aus. Die Kaiserliche Hauptstation für Erdbebenforschung in Straßburg gab in der am gleichen X'ormittage der Fresse übermittelten Nachricht als wahrscheinlichen Bebenherd in 3400 km Entfernung die persische Provinz Aserbeidjan an, aus der verheerende Erd- beben bekannt sind. Die infolge der persischen Unruhen erst in der zweiten Februarhälfte nach Europa gelangten Nachrichten über den Ort des Erdbebens haben dann gezeigt, daß diese Herd- bestimmung der Wirklichkeit so nahe gekommen ist, als es nach dem heutigen Stande der Wissen- schaft aus den Beobachtungen einer einzigen Station überhaupt nur möglich ist. Unter Zu- grundelegung der Registrierungen mehrerer Stationen ist von russischer Seite versucht worden, rechnerisch den Bebenherd zu bestimmen, aber mit wenig Glück : die eine Berechnung führte auf den Punkt 54" östl. Länge (Greenw.), 36" nördl. in das Grenzgebiet von Chorasan und Turkestan, die anderen 32" nördl., 40" östl. mitten in die syrische Wüste, wo erfahrungsgemäß keine Erd- beben vorkommen. Der Grund dieses Mißerfolges muß darin liegen, daß das eine oder andere Seis- mogramm, auf dessen Angaben die Rechnung sich stützt, bezüglich der Eintrittszeiten seiner Phasen nicht richtig gedeutet worden ist. Interessant ist diese Registrierung noch aus dem Grunde, weil aus Luristan bisher die Literatur so gut wie keine Erdbeben aufführt; sie hat uns also mit einem bisher unbekannten Epizentrum bekannt gemacht, von dem man leider kaum wird in Erfahrung bringen können, ob es schon seit Langem tätig ist, oder ob es jetzt erst seine Tätigkeit begonnen hat, und zwar sogleich mit einer so folgenschweren Katastrophe. 7. Februar leichtes Erdbeben in Tiflis. 9. Februar leichtes Erdbeben in Samsun und 208 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 13 Tirebolu an der kleinasiatischen Küste des Schwarzen Meeres. 15. Februar mehrere, darunter ziemlich starke Erdstöße im östlichen Teile des Balkan ; das Epi- zentrum scheint im oberen Tale der Tumdsclia. am Südabhange des Balkan zu liegen, wo Ge- bäudebeschädigungen leichter .i^rt vorkamen. Weitere, schwächere Stöße folgten in den nächsten Tagen. 17. Februar Erdbeben in der Gegend von Smyrna. August Sieberg, Sekretär d. Kaiserl. Hauptstation für Erdbeben- forschung in Straßburg i. E. Himmelserscheinungen im April 1909. Stellung der Planeten: Merkur, Venus und Saturn sind unsichtbar. Mars steht im Steinbock und kann morgens etwa eine Stunde lang im SO gesehen werden. Jupiter ist noch den größten Teil der Nacht hindurch im Löwen zu be- obachten. Verfinsterungen der Jupitermonde: Am 4. um II Uhr 29,1 Min. ab. M.E.Z. Austr. 9- Kl. 21. 23- 24. 24. 28. 29. S 10 10 II 7 1 1 II S 9,5 4.2 54,6 59,1 15,8 3,8 4i>4 33>2 Algol - Minima finden abends und am 22. um 7 tJ II. Trab. I- „ - „ „ „ „ I- „ , ,. „ „ „ 111- „ , „ „ ,. „ I. „ , „ „ Eintr. „ IV. „ , „ „ .\ustr. „ IV. ,, , „ „ Eintr. „ III. „ , „ „ Austr. ,, II. statt am ig. um lo Uhr 43 Min. hr 32 Min. abends. Bücherbesprechungen. A. Gutzmer, Die Tätigkeit der Unterrichts- kommission der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte. Gesamtbericht. 322 Seiten. Leipzig, B. G. Teubner, 1908. — Preis geb. 7 Mk. Wiederholt haben wir auf die Bestrebungen und Erfolge der Unterrichtskommission der Naturforscher- Gesellschaft aufmerksam gemacht. Nachdem sich diese Kommission 1907 nach siebenjähriger, reich- verzweigter Tätigkeit aufgelöst hat, bietet ihr Vor- sitzender in dem stattlichen, vorliegenden Bande einen chronologisch geordneten Gesamtbericht, der mit den ausführlichen Reformvorschlägen abschließt, die 1907 in Dresden allgemeine Zustimmung fanden. Diese gipfeln bekanntlich nicht nur in gewünschten Ände- rungen des Lehrplans, sondern auch in solchen des Studiums und der Prüfungsbestimmungen. Vor allem wird eine konsequente Trennung der mathematischen und biologischen Hochschulstudien erstrebt. Ein dem Buche angefügtes Literaturver- zeichnis der in der Zeit 1900 — 1907 erschienenen, sich in der Richtung der Reformvorschläge bewegen- den Bücher und Aufsätze zeigt durch seinen Umfang (13 Seiten), welch lebhafte Bewegung in interessierten Kreisen durch die von der Naturforscherversainmlung ausgegangene Anregung hervorgerufen wurde. Hoffen tt'ir, daß diese Bewegung bleibende Fortschritte und greifbare Resultate , die nicht nur als pia desideria auf dem Papier stehen, zeitigen wird ! Kbr. Otto Sackur, Die chemische Affinität und ihre Messung. Verlag von Friedrich Vieweg & Sohn („Die Wissenschaft", Heft 24), Braunschweig 1908. VIII u. 129 Seiten und 5 Textabbildungen. — Preis geh. 4 Mk., geb. 4,80 Mk. Die vorliegende Arbeit, in der Sackur das Wich- tigste, was wir bis jetzt über die chemische .Affinität und ihre Messung wissen, klar und übersichtlich zusammen- gefaßt hat , ist als eine recht wertvolle Bereicherung der chemischen Literatur freudig zu begrüßen und dürfte zweifellos sehr viel zum Verständnis des Haupt- problenies der Chemie und des Weges beitragen, der zu seiner Lösung eingeschlagen ist. Nach einer historischen Einleitung und nachdem im Anschluß an van't Hoff als Maß für die chemische Affinität die bei der Umsetzung der Mengeneinheit gewinnbare maximale Arbeit eingeführt ist, wird der Begriff der maximalen Arbeit selbst und mit ihm der zweite Hauptsatz der Thermodynamik eingehend erörtert. Dann wird gezeigt, wie die chemische Affinität bei umkehrbaren Reaktionen aus dem Be- trage der Umsetzung berechnet und wie sie nach elektrischen Methoden gemessen werden kann. In einem weiteren Kapitel wird die Abhängigkeit der Affinität von der Temperatur behandelt und im Schlußkapitel eine kurze Übersicht über die Ergebnisse der Affinitätsmessung gegeben. Die Lektüre des Büchleins kann allen denen, die für die Entwicklung der modernen Chemie Interesse haben, dringend empfohlen werden. Werner Mecklenburg. Anregungen und Antworten. Herrn R. Kr. in Fr. — Knutli (Mcnogr. der Primu- laceae, in Engler, Pflanzenreich, 22. Heft, 1905, p. 322) unterscheidet bei der wohlbekannten .\rt Anagallis arven- sis L. drei Varietäten: n phocnicea mit rötlicher Blumen- krone; ;d' coerulea mit blauer Blumenkrone; y latifolia, robustere Form mit blauen Blüten. Zwischen den beiden Varietäten « und ß gibt es den Bastard phoenicea X coerulea, der zwischen den beiden Stammvarietäten auftritt, jedoch viel seltener ist. Demnach gibt es Bastarde zwischen arvensis X coerulea, wobei man natürlich dann unter arvensis die rotblUhende Form versteht, die Knuth mit der blaublühenden zu einer einzigen Art vereinigt. Die Glie- derung in 2 Formen nach der Blütenfarbe findet sich bereits bei Asche rson, Fl. Prov. Brandenburg (1S64) 550, ebenso in Ascherson-Graebner, Fl. nordostd. Flachl. (1S98) 54S , wo auch eine Bastardform zwischen beiden erwähnt wird. — Die eingesandte Pflanze hat Herr Dr. E. Ulbrich ■ ils eine Horbstform vonGenista g e r m a n i c a L. bestimmt. 11. Harms. Inhalt: Dr. Seb. Killermann: Zur ersten Einführung amerikanischer Pflanzen im 16. Jahrhundert. — Sammelreferate und Übersichten : Neues aus der Sinnesphysiologie. — Kleinere Mitteilungen: Prof. L. Plate: Über einen symbio- tisch lebenden Fisch. — August Sieberg: Erdbeben im mediterranen Gebirgssystem zu Anfang des Jahres 1909. — Himmelserscheinungen im April 1909. — Bücherbesprechungen: Otto Sackur: Die chemische Affinität und ihre Messung. — A. Gutzmer: Die Tätigkeit der Unterrichtskommission der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: I. V. : Prof Dr. F. Koerber, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Kolge VUl. Hand; der ganzen Krilie XXIV, Band. Sonntag, den 4. April 190g. Nummer 14. [Nachdrvick verboten.] Die Chemie im Dienste der Archäologie. Sammelreferat von Dr. pliil. Otto Rammstedt. „Bei der Geschichtsforschung auf allen natur- wissenschaftlichen Gebieten, soweit es die Ge- schichte der Alten betrifft — sagt Prof. Dr. Bern h. N e u m a n n - Darmstadt in der „Zeitschrift für an- gewandte Chemie" 1907, S. 2020 — , macht sich allgemein der Übelstand bemerkbar, daß bisher meist .Archäologen und Philologen als Bearbeiter der einschlägigen Fragen auftraten, die ihr Urteil mehr oder weniger auf rein äußere Merkmale bzw. willkürliche Deutung von Schriftstellen gründeten, ohne die technische Seite des Gebietes genügend zu beherrschen." In neuerer Zeit hat sich dies erfreulicherweise geändert; der Archäo- loge lernt die Kenntnisse des Naturwissenschaftlers immer mehr schätzen und sucht, mit ihm Hand in Hand arbeitend, die Wissenschaft zu bereichern. Besonders gute Dienste hat hier die Chemie ge- leistet, von denen ich in folgenden Zeilen einige schildern möchte. Prof. H. Le Ch at euer- Paris (Zeitschr. f. ang. Chem. 1907, 517 — 523. Autor. Übersetzg. von FritzSalmen) hat derartige Untersuchungen ausgeführt, welche sich auf folgende Gegenstände erstrecken : Griechische, sog. etruskische Tonwaren, gebrannte, schwarze Tonwaren von Dänemark, ägyptisches Porzellan, emaillierte ägyptische Steine, ägyptische Statuetten aus Sandmasse mit blauer Glasur, antikes Blau und künstliche Lasursteine. Die Analyse der Tonmasse verschiedener Scherben von Vasen aus dem fünften und sechsten Jahrhundert ergab folgendes Resultat: Kieselsäure Aluminium- u. Eisenoxyd Kalk Magnesia Alkali Glühverlust Dicke Dünne Fußpartie Wände 55 59 30 31,4 9,7 4,6 1,6 0,2 2,2 4,2 1 ,0 1 ,0 99-5 100,4 Die Hauptfrage bei Anwendung einer Töpfer- glasur ist die Temperatur des Brennens. I^e Chatelier bestimmte die Brenntemperatur (der bereits fertigen Gegenstände), indem er sie in den Ofen brachte und unter allmählicher Temperatur- steigerung beobachtete, bei welchem Grade sich eine Volumverminderung zeigte. Bei verschiedenen Probestücken trat die Umfangsverminderung bei folgenden Wärmegraden ein: 950", 1000^', looo", 1050, 1000", 950", im Mittel 1000". „Man kann somit 950" als Brenntemperatur der griechischen Töpferwaren annehmen. Noch heute werden unsere Tonwaren und das zinnhaltige Steingut bei dieser Temperatur gebrannt." Im Laufe seiner Untersuchungen kam Le Chatelier einer Fälschung auf die Spur, dessen Bekanntgabe interes.sant sein dürfte. Eins der Probestücke, welches Le Chatelier zur Ver- fügung gestellt war, erregte seine besondere Auf- merksamkeit, da es der Dekorationsart nach einer sehr frühen Epoche angehören mußte, aus der nur noch wenige Proben zu finden sind. „Man hatte dieses Stück aus Mangel an authentischen Nachweisen über seine Herkunft nicht in die Sammlung des Louvre aufgenommen. Auf den ersten Blick zeigte es keinen Unterschied im Aus- sehen von den anderen Bruchstücken, nur schien seine Oberfläche mit Erde beschmutzt. Um es zu reinigen, wusch ich es mit kaltem Wasser, was ohne Resultat blieb; aber eine zweite Waschung mit kochendem Wasser ließ den größten Teil der Farben verschwinden und eine solche mit Alkohol genügte, um jede Spur von Färbung zu entfernen. Ein grauer Scherben blieb übrig, der mit griechischen Tonwaren weder dem Korne der Masse, noch der Farbe nach etwas ge- mein hatte." Das gefälschte Stück dürfte wohl durch Bemalen eines mit Alkohollack wasserdicht gemachten Tones mit Anilinfarben erhalten worden sein. Eine leichte Glasur war durch eine dünne Schicht von Gummi oder Gelatine erzeugt. Da die Nachahmung von außerordentlicher Genauig- keit war, so wäre dem Archäologen der Nach- weis einer Fälschung ohne die Hilfe des Chemikers wohl schwerlich gelungen. Le Chatelier hatte auch Gelegenheit, echtes ägyptisches Porzellan untersuchen zu können, wie er sich bescheidenerweise ausdrückt. Besser ge- sagt: Le Chatelier war der erste, welcher durch chemische Analj'se nachgewiesen hat, daß die alten Ägypter wirkliches Porzellan erzeugt haben. Man hat wohl früher schon Porzellan in Ägypten gefunden, doch konnte man immer leicht feststellen, daß es chinesischen Ursprungs war. Das Probestück, welches Le Chatelier unter- suchte, wurde ihm von Herrn de Morgan zur Verfügung gestellt — in den Sammlungen des Louvre war nichts gleiches zu finden. — Es war das Bruchstück einer mit Hieroglyphen bedeckten Miniaturbildsäule, dessen Bruch vollkommen dem jener Statuetten glich, die man in so großer Zahl in den Gräbern findet. Die Analyse ergab folgende Zusammensetzung : 210 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 14 Kieselsäure 88,6 Aluminiumoxyd 1,4 Eisenoxyd 0,4 Kalk 2,1 Natron 5,8 Kupferoxyd 1,7 100,0 Die Zusammensetzung war also genau die des weichen Porzellans, wie es in Sevres noch heute fabriziert wird. Prof Dr. Bernh. Ne um an n - Darmstadt (Zeitschr. f. angew. Chem. 1907, 2019 — 2027) er- läutert an der Hand eines konkreten Beispiels, wie sich die chemische Analyse unter sachge- mäßer Berücksichtigung der metallurgischen Kennt- nisse und Fertigkeit der Alten verwenden läßt, um bei Beurteilung antiker Kunstgegenstände Auskunft zu geben. Als Beispiel dient ihm ein prächtiger, etwas über lebensgroßer Frauenkopf aus Bronze, der am Main gefunden wurde. „Das praktische Interesse konzentriert sich in solchen Fällen immer auf die Frage : Ist das Stück echt r Damit soll ausgedrückt sein : Liegt ein antikes Kunstwerk vor? Welcher Zeit gehört es an? Welchen Ursprungs kann es sein? Handelt es sich vielleicht nur um eine Nachbildung oder um einen Guß aus neuerer Zeit ?" Die Analyse der Bronze ergab folgendes Resultat: Kupfer 66,00% Zink 26,55 „ Zinn 3,89 „ Blei 2,64 „ Eisen 0,93 „ Gold 0,06 „ Die Legierung ist also eine sehr stark zink- haltige Bronze. Außer dem bedeutenden Zink- gehalt ist bemerkenswert der Gehalt an Blei und der Goldgehalt, welch letzterer bisher nicht be- obachtet wurde. Diese Bronzemischung hat mit der Zusammensetzung der neueren Statuenbronze gar nichts zu tun, dagegen hat sie Ähnlichkeit mit den Bronzemischungen von jüngeren römi- schen Gegenständen, die in Hessen, am Rhein, gefunden worden sind. Die derbe grüne, starke Patina machte den Eindruck der langsamen, natürlichen Entstehung; an verschiedenen Stellen waren auch die rotbraunen Oxydulbeschläge sicht- bar. Der Nachweis einer künstlichen Patinierung auf chemischem Wege verlief vollständig negativ. Einer Imitation würde man auch kaum Gold in relativ erheblicher Menge zusetzen. „Da der Bronzekopf in einer Gegend gefunden wurde, wo lange Zeit ein großes römisches Kastell bestand, und da wir auch sonst aus Funden usw. wissen, daß sich im Taunus, namentlich im zweiten und der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts, römi- sches Leben und römische Kunst in voller Pracht entfalteten, so ist um so weniger auffällig, daß dieses römische Kunstwerk sich in deutschem Boden fand. Was also durch chemische Analyse der Legierung und der Patina und durch Betrach- tung der Gießmethode wahrscheinlich gemacht wurde, bestätigen hier die Nebenumstände: es handelte sich um eine echte römische Bronze aus der Kaiserzeit." ,,Uber die Untersuchung eines an- tiken Blei roh res", welches gelegentlich einer im Jahre 1907 auf Brioni, der größten zur Brioni- schen Inselgruppe gehörigen, an der Westküste von Istrien, vor der Einfahrt in den Hafen von Pola gelegenen Insel, durchgeführten Wasserleitung bei den Erdarbeiten gefunden wurde, berichtet Ing.-Chem. Rudolf Fieber in der Chemiker- Zeitung 190S, Nr. 13, S. 149. Durch die che- mische Analyse konnte er nachweisen, daß das Bleirohr aus zwei Teilen bestand, die durch ein Lot (Blei-Zinn) zusammengefügt waren. „Inter- essant ist der Querschnitt des Bleirohres, jener Querschnitt, den wir heutigen Tages aus statischen Gründen für Zementrohre bei Kanalbauten in Anwendung bringen, der aber schon vor etwa 2OGO Jahren den alten Römern bekannt war und der sich durch die Herstellungsweise der da- maligen Rohre ganz von selbst ergab." „Über eine aus der Erde gegrabene Tinte aus der Römerzeit" berichtet uns im „Archiv der Pharmazie" 1908, Bd. 246, Heft 5, S. 329 — 338 Professor Dr. Georg Kaßn er- Münster i. W. ; er faßt die interessanten Resultate seiner Untersuchungen in folgenden Sätzen zu- sammen : „I. Die im Römerlager bei Haltern i. W., in welchem viele das von Drusus im Jahre 11 vor Christus gegründete Kastell Aliso erblicken, in einem Bronzegefäß gefundene schwarze Masse ist eingetrocknete Tinte bzw. Tusche, deren Plaupt- bestandteile seinerzeit Ruß und gerbsaures Eisen waren. 2. Der in der Tinte gefundene aromatische Körper ist wahrscheinlich weniger ein absicht- lich etwa als Bindemittel zugesetzter Stoff', als wie ein Begleitstoff des zur Herstellung der Tinte benützten Rußes, welcher durch Verbrennen wohlriechender Spezereien erhalten zu sein scheint. 3. Auf jeden Fall läßt sich aus dem Vorhan- densein eines aromatischen Stoffes weiter schließen, daß die betreffende Tinte, welche mit dem Bronze- gefäß nachweislich vor neunzehn Jahrhunderten unter den Boden gelangt war, nicht im Römer- lager selbst hergestellt wurde, sondern dorthin aus südlichen Ländern, vermutlich Italien, impor- tiert wurde, wo man über die hier etwa in Be- tracht kommenden aromatischen Drogen verfügte. 4. Die außer den in i. genannten Stoffe in der Tinte noch gefundenen Körper sind Kupferoxyd, Gips, Eisenoxyd, Tonerde, Magnesia, Phosphor- säure, Kohlensäure, Alkalien und Sand, und stammen einerseits aus dem Material des Auf- bewahrungsgefäßes (z. B. das Kupfer) andererseits sind sie Verunreinigungen, welche durch grob- N. F. VIII. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. !n mechanisches Eindringen (Sand) oder durch In- filtration von Bodenfiüssigkeit (Gips) aus der Um- gebung in das Objekt hineingekommen sind." „Einiges über die Verpflegung der römischen Soldaten in Deutschland" erzählt uns Prof. Dr. H. D ragen dor ff -Frank- furt a. M. in der „Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel" 1907, 14, ii — 17. Reste von Speisen sind uns aus römischer Zeit, wie es in der Natur der Sache liegt, nur selten und unter besonders günstigen Umständen er- halten; so z. B. Abfälle und Überbleibsel, Knochen, Gräten, Muschel- und Schneckenschalen, Kerne und Obststeine, verkohltes Getreide, Brot und ähnliches. Während der Archäologe bei den auf- geführten Resten meist auf die Hilfe des Natur- forschers angewiesen ist , so kann er aus den Geräten und Gefäßen durch seine eigene Be- obachtung und Arbeit Material zur Lösung der Fragen beibringen. Für die Verpflegung kommt es natürlich sehr in Betracht, ob sie in einem Kastell in dauernd besetztem Gebiet, etwa einem der Lager am Rhein oder einem Limeskastell, stattfindet, oder ob es sich um die Verpflegung in einem gelegentlich kriegerischer Operationen in Feindesland vorgeschobenen Lager handelt. „Die ersteren haben ein bebautes, befriedetes Hinterland, von dem aus die gewöhnlichen Lebens- bedürfnisse befriedigt werden können. Korn, Fleisch , in vielen Fällen auch Wein , wird hier von der nächsten Nachbarschaft geliefert. Auf gut gebahnten Straßen wird, was etwa fehlt, leicht herbeigeschaftt. Anders in Feindesland I Bei den Operationen ins Innere Germaniens, wie sie namentlich in der Frühzeit, unter Augustus und Tiberius, unternommen wurden, war es eine der wichtigsten und schwersten Aufgaben, für eine geregelte Verproviantierung des Heeres zu sorgen. Man versteht den Plan und den Verlauf dieser Feldzüge zum Teil erst richtig, wenn man sich die ungeheuren Schwierigkeiten vergegenwärtigt, die zu überwinden waren, um die großen Truppen- massen regelmäßig mit dem Nötigen zu versorgen. Eine langgestreckte Marschlinie, die leicht unter- brochen werden konnte, während die Ernte lieber vernichtet wurde, als daß man sie den Römern dienen ließ. Dazu die Gefahr des Fouragierens in einem Lande, in dem man selbst fremd war, in dem ein leicht beweglicher Feind Weg und Steg kannte. Hierin liegt sicher ein Grund dafür, daß die Römer in dieser Zeit mit Vorliebe an den Flüssen entlang operierten. Der Wasserweg erleichterte das Nachsenden der Kriegsvorräte und am Flusse konnte man dann große Vorrats- plätze anlegen. Einen solchen Stapelplatz dieser Zeit glauben wir in den letzten Jahren bei Haltern an der Lippe gefunden zu haben. Ein durch Kastelle geschützter Landeplatz wurde hier nach- gewiesen, Gebäudereste, Gruben mit Massen römischen Geschirres, namentlich von Vorrats- gefaßen, endlich ein von einem besonderen Graben umgebener Raum, wo Millionen verkohlter Weizen- körner lagen, Spuren eines Getreidespeichers." Die in Haltern zutage geförderten Gefaßreste sind nicht nur für den Archäologen von großer Wich- tigkeit , sondern bieten auch dem Naturwissen- schaftler interessante Ausblicke. Die Massen der Amphoren- und Dolienscherben , der großen Transport- und Vorratsgefäße, in denen man Ol und VVein, aber auch Getreide, Hülsenfrüchte und vieles andere aufbewahrte und versandte, beweisen uns nicht nur, daß man dem Heere große Vor- räte hierher nachgesandt hatte, sondern sie lehren uns auch, woher diese Vorräte kamen. Ein großer Teil des in Haltern gefundenen römischen Geschirrs, besonders von den Amphoren, wurde schon damals bei Castra Vetera (Xanten am Niederrhein) angefertigt. Daraus kann man mit ziemlicher Sicherheit schließen, daß das in diesen Gefäßen verpackte Getreide auch zum guten Teil am Niederrhein gewachsen ist. In Castra Vetera wurde es verpackt und auf die Kähne gebracht, welche es lippeaufwärts führten. Andere nicht in Castra Vetera verfertigte Gefäße werden wahr- scheinlich Ol und Wein u. a. enthalten haben. Das Hauptgetreide des Altertums ist bekannt- lich der Weizen ; Gerste wurde auch genossen, jedoch galt sie für Soldaten, die starke Strapazen aushalten mußten, für zu wenig nahrhaft. Diese Ansicht der Römer war übrigens sehr richtig; die Gerste enthält inn Durchschnitt nur 9,68 "/o Stickstoffsubstanz, während der Roggen und der Weizen durchschnittlich 12 "i,, enthalten. Es ist übrigens nicht nachzuweisen, daß der Gerstenbau in unseren Gegenden älter sei als der Weizenbau, wie man wohl gemeint hat. Als die Römer ihre ersten Streifzüge nach Germanien machten, fanden sie den Weizenbau schon vor. „Es wäre ein Irrtum , wollte man sich den Ackerbau bei uns in damaliger Zeit auf niederster Stufe und nur in geringem Umfange geübt vorstellen. Wo der Boden die natürlichen Voraussetzungen bot, haben wir in Deutschland schon in der jüngeren Stein- zeit einen ganz intensiven Ackerbau, der ein enges Zusammenwohnen der Menschen erlaubte. An fruchtbaren Lößhängen, wie z. B. in der Wetterau , liegen die steinzeitlichen Dörfer so dicht beieinander, wie heute noch. Andererseits haben natürlich Gegenden wie z. B. die Heide- gegend von Haltern im Altertum so wenig wie heute eine sehr ergiebige Feldwirtschaft gehabt." Ursprünglich zerquetschte man das Getreide in primitivster Art zwischen Steinen, darauf zer- rieb man es zwischen zwei Steinen mit glatt ge- arbeiteter Oberfläche. Schon die letzte vorrömi- sche Periode kennt bei uns die Handmühle, bei der zwei Steinscheiben sich aufeinander drehen. „Hierfür geeignete Steinarten wurden weit ver- sandt. Bis tief nach Westfalen hinein findet man z. B. schon in prähistorischer Zeit solche Mühl- steine aus Brohler Lava. In Italien war zur Zeit des Augustus das Müllereigewerbe schon gut ausgebildet. Neben den kleinen Handmühlen für den Hausbetrieb 212 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 14 gibt es schon große vollkommenere Mühlsteine. Beim Militär dagegen geht der alte Brauch noch weiter. In großen Mengen hat man in Haltern die 1 landmühlsteine gefunden, die auf den Mär- schen mitgeführt werden — eine schlimme Be- lastung der Gepäckkolonnen. „Trefflich erhaltene Exemplare dieser Handmühlen, die die Einrichtung noch bis in alte Einzelheiten zeigen, finden sich auf der Saalburg." Der Bäckereibetrieb war in Italien hochentwickelt; es gab eine Menge Brot- sorten vom reinen Kleiebrot bis zum feinsten Weizenbrot und Kuchen. Es gab sogar schon Knetmaschinen, wie eine solche noch heute in Pompeji steht. In den Marschlagern werden sich die Soldaten wohl ohne Backofen beholfen haben, auch in Haltern ist ein solcher bislang nicht auf- zufinden gewesen. ,,Man backte dann wohl , wie auch heute noch vielfach im Süden, indem man den Teig auf eine Schüssel tat, eine zweite dar- über deckte und dann die Kohlen darüberhäufte. Bei den Standlagern gab es natürlich Backöfen, wie ein solcher in der bürgerlichen Niederlassung bei der Saalburg gefunden ist. ... Zu den häufig- sten Gefäßresten, die kaum in einem Wachtturm am Limes fehlen und also einem ganz besonders allgemeinem Bedürfnis gedient haben müssen, gehören große tiefe Schalen mit einem ausladen- den oder kragenförmig nach unten gekrümmtem Rand und einem flachen Ausguß am oberen Rande. Besonders charakteristisch ist , daß die Innenseite der Schale künstlich gerauht ist, indem man scharfe Quarzkörner in die noch weiche Oberfläche des Tones gedrückt hat. Das Gefäß in seiner Eigenart verkörpert einen doppelten Zweck : es sollte etwas darin zerrieben werden und es sollte vorsichtig etwas abgeschüttelt wer- den. Es kann sich kaum um etwas anderes handeln als um die Herstellung des Breies, der Polenta oder richtiger der Puls, des Nationalge- richtes der Italiker. Die Körner wurden gestoßen und dann in der Schüssel weiter zerrieben; darauf wurde durch Wasseraufguß die Kleie herausge- schlemmt und mit dem Wasser vorsichtig oben abgeschüttet. Der Brei wurde dann gekocht. Viele .Schüsseln sind durch den langen Gebrauch ganz abgerieben. Dann waren sie untauglich und wurden weggeworfen." Neben Brot und Brei war ein starker Fleischkonsum zu verzeichnen , denn im Norden ist auch dem Südländer die Fleisch- nahrung ein Bedürfnis, dann muß man aber auch berücksichtigen, daß ein großer Teil der bei uns verwendeten Soldaten keine Südländer waren. Neben der Saalburg existiert ein Abfallhaufen, in dem sich durch günstige Verhältnisse alle organi- schen Stoffe, Knochen, Holz, Kerne, Leder, Zeug usw. vorzüglich erhalten haben. Schweinefleisch wurde am meisten genossen und zwar in den verschiedensten Formen, auch als Wurst. Schin- ken aus Belgien waren im Altertum berühmt. Daneben fanden sich Knochen von Rind , Schaf und Ziege. Auch das Pferd wurde gegessen, seine Knochen fanden sich an verscliiedenen Orten und zwar immer zwischen den Knochen sicheren Schlachtviehs. Ferner fand man die Knochen von Hasen, Rehen, Hirschen und Wildschweinen. In Windisch kommen auch noch die Knochen des Steinbocks hinzu. Ferner wurden gegessen Geflügel, Fische, Schneeken, Muscheln und Austern. Groß und reichhaltig war nach den Ausgrabungen der Obstkonsum. Äpfel, Birnen, Pflaumen, Zwetschgen, Wal- und Haselnüsse, Kastanien, besonders viel Kirschen und Pfirsiche. Gerade letztere werden häufig in den Aufschriften von Transportgefäßen genannt. „Durch die Sitte, nicht nur das Gewicht oder das Maß, sondern häufig auch den Inhalt selbst auf den Töpfen zu verzeichnen, lernen wir überhaupt mancherlei für unsere Zwecke." Urnenförmige, mit einem wage- rechten, zum Zubinden geeigneten Rande ver- sehene Gefäße sind die Honigtöpfe; Essigsaucen, eingemachte Fische, eingemachte Trauben wurden in Krügen und Töpfen versandt. „Vor allem lernen wir über den Weinhandel mancherlei aus den Inschriften, in denen nicht nur Ort des Wachstums, sondern auch Kreszenz und Jahrgang angegeben wird. Ungemein verbreitet und raffi- niert war damals schon Weinbau und -handel. Eine Masse Marken unterschied man." Für die alltäglichen .'\nspruche genügte der gallische Wein. Verwöhnt war der gemeine Mann wohl nicht in bezug auf Wein. Für das Volk spielt der Tresterwein in allen möglichen Verdünnungen eine große Rolle, ,,und man hat den Eindruck, daß die Gaumen dieser Leute ein gutes Quantum Säure vertragen konnten. Da braucht man noch gar nicht einmal bis zu dem Rezepte des alten Cato zu gehen, das er sehr empfiehlt, auch wegen seiner Haltbarkeit, und von dem er zum Schluß selbst sagt: Was du dann noch übrig hast, wird der schärfste und schönste Essig sein". Der Italiker verwahrt den Wein in Tongefäßen, die ausgepicht und mit Tonpfropfen verschlossen werden. Das Holzfaß ist nordischen Ursprungs. Nach dem Zeugnis der Denkmäler wurde schon im dritten Jahrhundert der Moselwein in Holz- fässern aufbewahrt und versandt. Metallgeschirr war mehr oder weniger Luxus- geschirr. Bronzekessel und Kasserolen hat der gemeine Mann so wenig gebraucht, wie er von silbernen Platten gegessen hat. Er koclit im irdenen Topf und ißt von irdenen Tellern , die meist unglasiert sind. Verfasser kommt zu dem Schluß, daß der bekannte römische Luxus sich also nur auf einen kleinen Kreis erstreckte; die große Masse des Volkes lebte sehr einfach , für unsere Begriffe, selbst an den Verhältnissen unserer ärmlichsten Bevölkerung gemessen, sehr primitiv. N. F. VIII. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 213 Kleinere Mitteilungen. Über die Ursachen der körperlichen Ent- artung der Bevölkerung Indiens. — In der neuen Ausgabe des Werkes „The Indian Empire" macht A. E. Roberts bemerkenswerte Mit- teilungen über die Rassenhygiene der Bevölkerung des britisch-indischen Reiches.') Er weist darauf hin, daß der allgemeine Zustand der Volksgesund- heit in jedem Lande von dem Maße der Anpassung des Individuums und der Rasse an die Umgebung abhängt: Je vollständiger die Anpassung ist, desto geringer ist die Gefährdung des Lebens. Die Tendenz der europäischen Zivilisation geht dahin, dem Menschen eine nahezu vollkommene Herr- schaft über die Einflüsse der Umgebung zu sichern, wogegen diese in Indien überhaupt sowie ver- hältnismäßig stärker und wechselvoller, die Men- schen aber weniger Widerstands- und anpassungs- fähig sind als im Abendlande. Die Folgen der indischen Heiratsgewohnheiten sind die, welche von der Aufhebung der geschlechtlichen Zucht- wahl und von der endogamen Beschränkung erwartet werden müssen, nämlich leichtere Übertragbarkeit von Eigenschaften, körperliche Entartung und wohl auch eine Schwächung der Fruchtbarkeit. Reli- giöse Vorschriften machen dem Hindu die Fort- pflanzung !zur Pflicht und es ist fast allgemein Sitte, daß mit der Erlangung der Reife die sexuelle Aktivität beginnt, wobei ohne Rücksicht auf ihre Tauglichkeit jeder Person die gleiche Möglichkeit zur Fortpflanzung gegeben wird. In dem frühen Beginn des Geschlechtslebens erblickt Roberts schon deshalb einen Nachteil, weil dadurch der Eintritt des Klimakteriums und des körperlichen Verfalls vorgerückt wird. Der Generationswechsel ist rascher als bei den Europäern. Die Ernährung der großen Masse des indischen Volkes läßt quantitativ und qualitativ viel zu wünschen übrig, was die Widerstandskraft arg beeinträchtigt. Schwankungen der vorhandenen Nahrungsmenge drücken sich deutlich in der Ge- burten- und Sterblichkeitshäufigkeit, sowie in Änderungen der Altersgliederung aus. Gebrechen und Krankheit, die durch wahllose Fortpflanzung ungemein gehäuft werden, sind ihrerseits wieder die Ursache verringerter Erwerbsmöglichkeit und eines niedrigen ,, Standard" der Lebenshaltung. Für das Wohlbefinden der Rasse sind ferner noch religiöse, gesellschaftliche und geographische Einflüsse von hoher Bedeutung. Die herrschende Religion — der Hinduismus — mit ihrer Philo- sophie des Fatalismus, richtet sich gegen die Selbstbehauptung des Individuums, die im Kampf ums Dasein so notwendig ist, gegen ein Zu- sammenwirken zur Erreichung bürgerlicher Ideale, und sie fördert die Gleichgültigkeit gegen das Leben. Beweise dafür sind die nun unterdrückten 'j ,,The Indian Empire", 4 Bde., Oxford, 1907 — 1908. Clarendon Press. (Bd. I, 10. Abschnitt: A.E.Roberts, „Public Health and Vital Slaüstics".) Bräuche der Witwenopferung, der Tötung neu- geborener Mädchen und die schlechte Behandlung der niederkommenden Frauen. Die Pilgerzüge nach den geheiligten Stätten haben oftmals die furchtbarsten F"olgen, da sie dichtes Zusammen- drängen von Menschenmassen, das Aussetzen gegen wechselnde klimatische Einflüsse, den Genuß verdorbener Nahrung und verdorbenen Wassers ■ mit sich bringen. — Die Ausführung der Pflichten des täglichen Lebens, die auf die Person und die Familie beschränkt sind, entzieht sich des Ein- greifens der britischen Regierung, so lange nicht gegen die Sittlichkeit verstoßen wird : denn diese Pflichten werden als religiöse Riten angeordnet und ausgeführt. Das bringt mit sich, daß die in der jüngsten Zeit erlassenen Vorschriften betreffend die Gesundheitspflege zum größten Teil unbe- achtet bleiben und das Überhandnehmen von Krankheiten und Gebrechen nicht zu hindern vermögen. An eine umfassende Asylisierung der mit Gebrechen behafteten Personen, die eine Ein- schränkung ihrer F'ortpflanzung zur Folge hätte, kann unter den bestehenden Verhältnissen kaum gedacht werden. Die Unsicherheit des Lebens und Eigentums in der Zeit vor der britischen Herrschaft gab Anlaß zu starker Konzentration der Bevölkerung an bestimmten Plätzen, wo die Wohnungszustände äußerst widrige wurden. Klimatische Faktoren, die Bevölkerungszunahme in den letzten Jahr- zehnten und die Entwicklung der Industrie trugen noch dazu bei, diese Konzentration zu steigern ; sie ist deshalb gefährlich, weil sie die Ausbreitung übertragbarer Krankheiten begünstigt, die einen erheblichen Teil der Gesamtsterblichkeit ver- ursachen. Von den mannigfachen Einflüssen der physi- schen Umgebung ist jener der Niederschlagsmenge am auffallendsten. Neun Zehntel der 294 Millionen Einwohner Indiens sind ganz auf die Landwirt- schaft angewiesen und die notwendigsten Voraus- setzungen der Existenz, die Versorgung mit Nahrung und Wasser, hängen in den meisten Landesgebieten vom Charakter des Sommer- monsuns ab, d. h. vom Regenfall, der während dreier oder vier Monate eintritt und im Boden oder auf dem Boden zum Verbrauch für den Rest des Jahres aufgespeichert wird. In der Dauer der Regen- und Trockenzeit, wie in ihrer Inten- sität, bestehen schon in normalen Jahren be- trächtliche regionale Verschiedenheiten. Bleibt aber irgendwo der Regenfall aus, oder ist er zu ausgiebig, so zieht das schwere Folgen nach sich. Es ist zu beachten, daß der Wasserversorgung Quellen, Teiche und Flüsse dienen. Nur etwa 90 Gemeinden mit zusammen 6'., Millionen Ein- wohnern haben eine moderne Wasserversorgung. Mit Ausnahme der größten Städte werden überall die Kloakenwasser sowie Abfälle jeder Art dem Boden zugeführt: entweder an der Oberfläche abgesetzt oder vergraben, und zwar zumeist in un- mittelbarer Nähe der Ansiedlungen. Das Ergebnis 214 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 14 eines andauernden und ausgiebigen Regenfalls ist, daß die Fäulnisprodukte des an der Oberfläche oder im Boden angehäuften Unrats in die der Wasserversorgung dienenden Flüsse und Teiche gelangen, und daß dort, wo das Abflußsystem mangelhaft ist, stagnierende Wasser lange Zeit hindurch zurückbleiben. In den Quellen steigt das Wasser sehr rasch, ohne daß eine genügende Filtration erfolgt. Mittlerweile sind alle Lebens' bedingungen umgewandelt. Wasser ist im Über- fluß vorhanden, wenn auch vorläufig in unreinem Zustande. Roh genossene Gemüse verdrängen die bisherige Kornnahrung. Beides führt zur Zunahme von Magen- und Darmkrankheiten. Zu- gleich treten oft plötzliche Temperaturänderungen ein, gegen welche kein zureichender Schutz vor- handen ist. Insekten und Mikroorganismen ent- falten ein reges Leben und tragen in dieser Jahreszeit mehr wie sonst zur Erhöhung der Er- krankungs- und Sterblichkeitshäufigkeit bei. Die Sterblichkeitskurve, die im Juni den niedrigsten Punkt erreicht, steigt während des Monsuns an, bis sie im August das Maximum erlangt, um dann wieder langsam abzufallen. — Weit schlimmer ist es, wenn der Regen ausbleibt oder wenn die Regenzeit von zu kurzer Dauer ist. Abgesehen von den Gebieten mit künstlichen Bewässerungsanlagen tritt in solchen Fällen un- fehlbar Nahrungsmangel oder Hungersnot ein. Ein anderes Beispiel der Abhängigkeit der Bevölkerung vom Klima bieten die Temperatur- unterschiede. Der Bereich der Temperatur- schwankungen difieriert in den verschiedenen Gegenden in hohem Maße. Die Extreme sind aber allgemein größer als in West- und Mittel- europa. Wo die Schwankungen am geringsten sind, werden die Wohnstätten der Menschen aus leichtem Material erbaut, wie die Rohrhütten der typischen Dörfer Bengalens; dort hingegen, wo Hitze und Kälte rasch wechseln, werden feste Bauten errichtet, wie die Lehm- und Ziegelhäuser in den zentralen Teilen und im Nordwesten Indiens, deren sanitärer Zustand sehr mangelhaft ist. Der Kampf des Menschen gegen die Natur- gewalten tritt in Indien deutlich in Erscheinung, viel mehr als der Existenzkampf der Menschen gegeneinander, der durch das eigenartige gesell- schaftliche System fast aufgehoben ist, das jeden zwingt, an dem Platze zu bleiben, an den er durch die Geburt gesetzt wurde. Soziale Ein- flüsse und widerwärtige Lebensverhältnisse an- derer Art scheinen auf eine allgemeine konstitu- tive Schwächung der Bevölkerung hinzuwirken; es herrscht fortschreitende Entartung, obzwar, wie aus den hier erwähnten Tatsachen hervorgeht, die Ausmerzung Untüchtiger durch Krankheiten usw. nicht in nennenswertem Maße eingeschränkt wird. Bei dem Umstände, daß nur verhältnismäßig wenige Personen unverehelicht bleiben, sollte man eine sehr große Geburtenhäufigkeit erwarten. In Wirklichkeit ist sie nicht viel größer als in den Staaten Ost-Europas. Auf je 1000 Einwohner kamen im Jahresdurchschnitt von 1881 — 1890 in den Vereinigten Provinzen Agra und Oudh 39,5 Geburten, im Pandschab 39,2, in den Zentral- provinzen 41,4, in Berar 40,8, in Bombay 34,3, in Madras 29,2, in Assam 28,5, in Unter-Birma 22,6. Die niedrigen Zahlen der drei letztgenannten Provinzen sind wohl zum Teil auf besonders mangelhafte Verzeichnung der Geburten zurück- zuführen. Von 1891 — 1900 betrug die einfache Geburtenhäufigkeit im Jahresdurchschnitt: In den Vereinigten Provinzen 37,7, im Pandschab 41,9, in den Zentralprovinzen 35,9, in Berar 38,4, in Bombay 34,1, in Madras 29,0, in Bengalen 35,9, in Assam 31,8 und in Unter-Birma 30,1. Der Rückgang der Geburtenhäufigkeit in den Provinzen Agra-Oudh, den Zentralprovinzen, in Berar, Bom- bay und Madras, ist vornehmlich die Folge der Hungersnot in den Jahren 1896— igoo. Auf 1000 verheiratete Frauen im Alter von 15 — 45 Jahren kamen im Jahresdurchschnitt des letzten Dezenni- ums in Madras die wenigsten (164) und im Pand- schab die meisten Geburten (237). Von Inter- esse ist die F"eststellung, daß die Geburtenhäufig- keit durch den Ausfall der Ernten merklich be- einflußt wird. Das Fallen der Preise ist regel- mäßig von einer Herabminderung der Sterblich- keit begleitet und es wird von einem Steigen der Geburtenziffer gefolgt. Bei Preiserhöhungen in- folge ungünstiger Ernten steigt die Sterblichkeit und die Geburtenhäufigkeit nimmt ab. Auch die jahreszeitlichen Unterschiede in der Geburten- häufigkeit sind bezeichnend. Wo z. B. die Massen- Nahrungsmittel im Oktober geerntet werden, tritt im folgenden Juli eine plötzliche Steigerung der Geburtenziffer ein, die bis zum Oktober hoch bleibt, aber doch langsam zurückgeht, bis sie im Januar dem Jahresmittel gleich kommt und im Juni am tiefsten steht. Wo die Massen- Nahrungsmittel früher oder später geerntet werden, treten auch entsprechende Verschiedenheiten in den Geburtenkurven auf. — Am beständigsten ist die Geburtenhäufigkeit in den künstlich be- wässerten Gebieten; den größten Schwankungen ist sie dort ausgesetzt, wo der Wohlstand der Bevölkerung von dem regelmäßigen Eintreffen und dem normalen Quantum des Niederschlags am meisten abhängt. — Zu bemerken ist auch, daß die Zahl der Totgeburten ungewöhnlich groß und die Säuglingssterblichkeit außerordentlich hoch ist. In Calcutta waren z. B. im letzten Jahrzehnt 8 "/,, aller Geburten Totgeburten, in Rangun sogar ii,6''/o. in Bombay (1895 — 1899) i2,9''/j| usw. Die Schuld daran tragen die schwache Körperkonstitution der Mütter und ihre Behandlung bei der Niederkunft, besonders die barbarischen Methoden der Geburtshelferinnen. Ungefähr ein Viertel der Geborenen stirbt inner- halb des ersten Lebensjahres; im Jahresdurch- schnitt von 1891 — 1900 kamen auf 1000 Lebend- geborene des betreffenden Geschlechts Sterbefälle von Kindern unter einem Jahr: In den Zentral- provinzen bei den Knaben 294, bei den Mäd- N. F. VIII. \r. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 215 chen 273, in Berar bei den Knaben 258, bei den Mädchen 244, im Pandschab bei den Knaben 232, bei den Mädchen 246, in den Vereinigten Pro- vinzen bei den Knaben 231, bei den Mädchen 22S, in Bengalen (1893 — 1900) bei den Knaben 202, bei den Mädchen 183, in Bombay bei den Knaben 199, bei den Mädchen 157 usw. Vor Vollendung des fünften Lebensjahres starben von 1000 Kindern beider Geschlechter: In den Zentralprovinzen 434, in Berar 516, im Pand- schab 397, in den Vereinigten Provinzen 378, in Bengalen 319, in Bombay 390, in Madras 274, in Assam 351 und in Unter-Birma 297. Im all- gemeinen ist die Kindersterblichkeit dort am größten, wo das Kastensystem am besten ausge- bildet ist, und wo der Hinduismus den stärksten Einfluß auf die Bevölkerung ausübt. Madras, wo das Kastenwesen erst in die Volksmassen einzu- dringen beginnt, weist von allen Provinzen des indischen Hauptlandes die geringste Kindersterb- lichkeit auf. Assam und Birma sind vom Kasten- wesen noch frei. Die allgemeine Sterblichkeitsziffer ist hoch und sie stieg in der jüngsten Vergangenheit nahezu überall an, was die folgenden Zahlen zeigen. Auf je 1000 Einwohner kamen Sterbefälle: In der Provinz Im Jahresdurchschnitt der Periode iSSi — 1890 1891 — 1S95 1896 — 1900 Bengalen 22,1 30,7 30,8 Assam 26,7 30,2 36,9 Vereinigte Provinzen 32,8 32.2 33,1 'J Pandschab 3i>3 34,5 32,4') Zentralprovinzeii 33,0 33,« 45,6') Berar 33,2 38,8 48,5') Madras 20,2 20,7 22,1 Bombay 26,2 , 29,0 41,3') Unter-Birma 17.5 20,7 26,0 *) In den bezeiclineten Provinzen herrschte während der Periode 1896 — 1900 Hungersnot; die Pest herrschte in Ben- galen, den Vereinigten Provinzen, im Pandschab, in Madras und Bombay. In allen Provinzen, mit Ausnahme von Madras und Unter-Birma, war in einigen der 20 Beob- achtungsjahre die Sterblichkeitshäufigkeit größer als die Geburtenhäufigkeit. Infolge der großen Sterblichkeit während der Kindheit ist die Alters- gliederung der Bevölkerung Indiens eine andere als in Europa. In England waren nach der Zählung von 1901 unter je 1000 männlichen Per- sonen 126 weniger als 5 Jahre, •]■]■] 5 — 55 Jahre und 97 über 55 Jahre alt, in Indien sind die ent- sprechenden Zahlen für dasselbe Jahr 126, Bio und 64. Beim weiblichen Geschlecht ist die Differenz noch größer. Im ganzen bekräftigt die Vitalstatistik die aus anderen Beobachtungen gewonnene Überzeugung, daß das indische Volk in physischem Niedergang begriffen ist. Die Ursachen, welche dies bewirken sind besonders die gesellschaftlichen Einrichtungen, deren Änderung nur schwer durchgesetzt werden kann. Beschleunigt wird der Niedergang durch ungünstige Einwirkungen der umgebenden Natur. Fehlinger. Die Gattung Myrmecophana Brunner. Ihre hypertelische und Ameisen-Nachahmung. Von Prof. Dr. J. Vosseier in Amani (Deutsch Ost- Afrika). (Zoolog. Jahrb., Abteilung f. Systematik, Bd. 27, Heft 2, 1908.) Im Jahre 1883 veröffentlichte Brunner von Wattenwyl ein hervorragendes Beispiel ,,hypertelischer" Nachahmung, nämlich die Imitation einer Ameise durch eine Heuschrecke. Die Form stammte aus dem Sudan, wurde in die Familie der Phaneropteriden gestellt und erhielt den Namen Myrmecophana fallax. In neuester Zeit hat Vosseier diese merkwürdige Heuschrecke in Amani in Deutsch Ostafrika aufgefunden und hat zugleich festgestellt, daß Myrmecophana eine Larvenform der lange bekannten Eurycorypha Stäl ist. Die vorliegende Arbeit macht uns mit der interessanten Lebensgeschichte des merk- würdigen Insekts genauer bekannt. Der Ver- fasser hat die von ihm erbeuteten Larven ge- züchtet und stellte fest, daß ungefähr zwei Wochen, nachdem das $ zur Imago geworden ist, die Be- gattung stattfindet und zwar bei Nacht. Nach 2 — 3 Tagen beginnt die Eiablage. Nach Eintritt der Dämmerung begeben sich die Weibchen auf die Blätter der P^utterpflanzen und ergreifen eine Fig. I. Kopf und Pronotum eines fast reifen Embryos. St Stirnsäge. .'V Nackenblase. Py Pronotum. 16 : I. (Aus Vosseier.) Stelle des Blattrandes mit den Mandibeln. Dar- auf wird der Hinterleib nach vorn umgebogen, so daß der Legestachel am Kinn vorbeigleitet. Er bohrt sich nun in die Blattfläche ein und läßt das Ei mit einem klebrigen Saft in die entstandene Höhle eintreten. Mehr als 2 — 3 Eier werden nicht auf einmal abgelegt. Die mattglänzenden schwarzen Eier sind stark abgeflacht, so daß sie fast keine Ausbuchtung des Blattes erzeugen. 6 — 8 Wochen liegt das Ei nun in Ruhe, dann setzt die Embryonalentwicklung ein. Das Ei wird 2l6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 14 durch Wasseraufnahme durch die poröse Schale hindurch dicker und dicker, bis nach ca. 3 Monaten das Junge ausschlüpft. Bemerkenswert ist ein Embryonalorgan, ein sägenartiges Gebilde am Kopf, das zum Offnen der Eischale benutzt] wird. Beim Auskriechen selbst tritt die Nackenblase in Funktion (s. Fig. i). Das ausgekrochene Tierchen, das I. Larvenstadium, bringt aus dem Ei noch Bestandteile des Exoskelettes mit, die sogleich nach dem Auskriechen abgeworfen werden. Die erste Häutung findet also sehr früh statt, wenige Minuten nach dem Ausschlüpfen aus dem Ei. Nach dieser Häutung erhält der früher im Ver- hältnis zum Abdomen zu kleine Kopf seine defini- tive, ameisenähnliche Gestalt. Nach dieser frühen ersten Häutung tritt die Eurycoryphalarve (= Myr- mecophana) in das erste springende Stadium ein. Täuschend in Form und Färbung ist jetzt die Ähnlichkeit mit einer Ameise, wie Figur 2 deut- lich erkennen läßt. Während die Larven des 2. a—^ die 4 ersten Larvenstadien von £i i weibliche Imago. 1,45 : i. (Wus V I. springenden Stadiums tief schwarz sind, werden die späteren Larvenstadien saftbraun. Im 4. Stadium beginnen sich die Flugorgane anzulegen. Im 4. Stadium ist die Vortäuschung einer Ameise nicht mehr vollkommen wegen der Größe der Larve. Zur Wiedergabe einer Blattfläche wiederum ist sie zu klein, so daß sie eine Mittelstellung ein- nimmt. Auch die farbigen Zeichnungen des Körpers, die nun ausgebildete Dreiecksform des Kopfes und das Schwinden der Sattelform des Pronotums vermindern die Ameisenähnlichkeit er- heblich. Nachdem noch das 5. und 6. Stadium durchlaufen sind, erscheint endlich die Imago, wie sie auf Figur 2 bei e zu sehen ist, die ein Pflanzenblatt nachahmt. Wenn das Tierchen zur Häutung schreitet, sucht es einen senkrechten Ort auf Es setzt sich, den Kopf nach unten gebogen, fest und streckt die Hinterbeine. Der Körper bläht sich auf, die Vorderbeine rücken ein wenig nach hinten, die Flügelwurzeln weichen ausein- ander, die Fühler legen sich parallel dem Leib über die Femora. Nun platzt die Cuticula in der Mittellinie des Scheitels und der Brust, der Kopf mit den Mundwerkzeugen und das i. Beinpaar treten rasch aus der alten Haut, dann folgen das 2. Beinpaar und die Flügel. Die freien Beinpaare ergreifen nun die Unterlage und mit großer An- strengung werden dann die Springbeine heraus- gezogen. Endlich werden die Antennen mit Hilfe der Vorderbeine befreit. Nach 7 — 8 Minuten ist die Häutung beendet. Das Chitin erhärtet rasch und schon nach einer halben Stunde eilt das Tier davon, nachdem es noch die Exuvie aufgefressen hat. Die Häutung findet nie am Tage statt, sondern wahrscheinlich am Abend und in der Frühe. Die Myrmecophanalarve lebt stets auf Blättern und Blüten buschartiger Gewächse. Dort klettert das Tierchen nach Art von Ameisen herum und nährt sich hauptsächlich von zarten Blattgebilden als Staubgefäßen, Blütenblättern, Knospen usw. Die Exkremente wer- den durch die Hinter- tibien fortgeschnellt, da sie nicht von selbst abfallen. Werden die Larven irgendwie be- unruhigt, so führen sie mit ihren Fühlern so rasche Bewegungen aus, daß nur die grund- ständigen Glieder sichtbar bleiben. Da- durch erscheint der Fühler verkürzt und wird dem einer Ameise noch viel ähnlicher dadurch, daß das 5. Glied hell zwischen den übrigen Gliedern hervorsticht. Bei zu starkem Sonnenschein verkriechen sich die Larven unter den Blät- tern. — Mit dem 4. Stadium ändert die Larve ihr Verhalten. Sie sitzt am Tage an den verschiedenen Teilen der Blätter und ist dann wegen ihrer grünen Farbe sehr leicht zu über- sehen. Sie hat eine merkwürdige Gewohnheit angenommen. Bei nahender Gefahr streckt sie die Hinterbeine nach hinten, bringt die vorderen Beine in dieselbe Richtung und neigt den Körper seitlich so, daß er eine Blattähnlichkeit annimmt, welche durch die Beine, die die Mittelrippe markieren, noch erhöht wird. In den folgenden Stadien bildet sich die Blattähnlichkeit noch mehr aus. — Das Tier macht von seinem Flugver- mögen nur selten Gebrauch, scheint sich vielmehr auf seine Schutzeinrichtungen zu verlassen. Während die ameisenähnlichen Stadien Tagtiere waren, spielt sich das Leben der letzten Larvenstadien und der Imago bei Nacht ab. Die Eiablage ist schon beschrieben worden. Gegen ^/„ö Uhr am Abend lockt das Männchen das Weibchen durch urycorypha osseler.) N. F. VIII. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 217 ein Liedchen: Tschitsch-Tschrä, Tschrä, Tschrä- Tschrä. Die Laute sind sehr zart und nur inner- halb eines Abstandes von 2 m für den Beobachter zu hören. Andere Männchen beginnen auch mit ihrem Zirpen, bis es einem gelingt, das Weibchen zu gewinnen. Die nun folgende Paarung findet bei Nacht statt. Wenn auch in keinem Stadium der Entwick- lungsreihe die Heuschrecke ihrem Vorbild (der Ameise resp. dem Blatte) völlig gleicht, wenn vielmehr nur der allgemeine Habitus wieder- gegeben wird, so ist doch die Täuschung sehr vollkommen nicht zum mindesten durch die passenden Lebensgewohnheiten. Die beiden Ameisenarten, welche unserer Heu- schreckenlarve als Vorbilder dienen, werden selten von Amani finden sich einige weitere Beispiele der Ameisennachahmung. Eine Mantide, wahr- scheinlich Phyllocrania insignis Westw., gleicht im I. Larvenstadium einer Ameise ganz auffällig. — Weiter ahmt eine Spinne, wahrscheinlich Salticus Ichneumon Smi., die Ameisen täuschend nach. Die Achtbeinigkeit wird so verdeckt, daß die Spinne ihre Vorderbeine so in die Höhe hebt, daß sie wie P'ühler am Kopfe zu entspringen scheinen. Sie gebahrt sich gerade wie eine Formicide und täuscht die Schlankheit der Ameisen- beine wie bei den Orthopterenlarven durch weiße Längslinien vor. Der Zweck der Mimikry dieser Spinne ließ sich noch nicht feststellen. — Auch unter den Wanzen fanden sich zwei Beispiele von Ameisennachahmung. Somit leben um Amani ' '>* \^ j^ Fig. 3. Ameisen und ihre Nachahmer aus Amani. (Aus Vosseier.) a Catitponolus ru/oglatinis Jord. b Myrmua cumciwidcs Gerst. (Vorbilder.) c c' Salticus ichneumon? Arancide. Larve. Hemiptere. e Larven von Ktirycorypha-Myrmecophana (Locustide.) f Phyllocrania, Mantide. g t'ormiconius. (Nachahmer.) 1,6 : I ; c' = 2,25 : I. d Mirperus- Coleoptere. von Feinden verfolgt, wenn sie auf den Blättern herumklettern. Auf dem Boden und in ihrem Neste dagegen wurden sie gelegentlich von einigen Reptilien, Hymenopteren u. a. verzehrt. Insektenfressende Vögel verschmähten die Ameisen ebenfalls und somit auch die sie nachahmenden Larven. Spinnen stellten den Ameisen nach, so- mit auch den Heuschreckenlarven. Doch sind diese ja durch ihr feines Vermögen geschützt, drohende Gefahr zu erkennen. Gegen die Schmarotzer, besonders solche unter den Hexa- poden, sind die Larven weniger geschützt. Ver- fasser beobachtete einige Larven der Heuschrecke, aus denen dicke Dipterenlarven der Gattung Tachine auskrochen. Nicht nur die Larven der Gattung Eurycorypha ahmen Ameisen nach, sondern in der Umgebung 5 Nachahmer von Ameisen, nämlich 2 Ortho- pteren, 2 Hemipteren und eine Spinne. Dazu kommt vielleicht noch ein kleines Käferchen (Formiconius), das seinen Wohnort mit einer kleinen Ameise teilt , sich unter diesen bewegt und auch ameisenähnlich aussieht. Die Figur 3 zeigt Beispiele von Ameisen und ihrer Nach- ahmer aus der Umgebung von Amani. Auch in anderen Ländern hat man vielfach Nachahmungen von Ameisen beobachtet. Der Verfasser zählt die Beispiele dafür auf. — Was die Entstehung des Ameisenmimikry anbelangt, so ist sie vielleicht aus biologischen Beziehungen zu erklären. Dr. phil. Effenberger, Jena. 2U Naturwissenschaftliche \\'ochenschrift. N. F. VIII. Nr. 14 Aus dem wissenschaftlichen Leben. Kin XVII. Deutscher Geograph entag findet in Lübecli vom i. bis 6. Juni 1909 statt. — Als Hauplberatungs- gegenstände für die Sitzungstage am I., 2. und 3. Juni sind in Aussicht genommen: I. Morphologie der Wüstenbildungen; 2. Die neueren Theorien der Meeresströmungen ; 3. Landes- kunde der nordelbischen Tiefebene; 4. Geographischer Unter- richt; 5. Neueste Forschungsreisen. Die Geschäftsstelle des Ortsausschusses befindet sich in Lübeck, Königstraße ^. Eine geographische Ausstellung, die ausschließlich das Lübeckische Gebiet und von Lübeck ausgegangene geographische Bestre- bungen betreffen soll, wird vom Ortsausschuß vorbereitet. Auch wird die laut Beschluß des XVI. Deutschen Geographen- tages von der ständigen Kommission für den erdkundlichen Unterricht abzufassende ,, Denkschrift über die gesamten zu einer zeitgemäßen Neugestaltung des geographischen Unter- richts an den höheren Scliulen erforderlichen Reformvorschläge" zur Ausgabe gelangen. Seitens des Ortsausschusses wird eine Festschrift geographischen, geologischen und nautischen Inhalts herausgegeben. An die Tagung werden sich wissen- schaftliche Ausflüge vom 4. bis 6. Juni anschließen. Geplant sind solche ins Lauenburgische, nach Travemünde zur dortigen Steilküste, in das Seen- und Föhrdengebiet Ost -Holsteins tind Schleswigs, evtl. Rückfahrt durch die Marsch und eine kurze Demonstrationsfahrt mit dem Dampfer ,, Poseidon" der Internationalen Meeresforschung von Travemünde aus. Bücherbesprechungen. J. Göscheii'sche Preis des Bänd- I) Sammlung Göschen. G. Verlagshandlung in Leipzig. — chens geb. 80 Pf. Bd. 381: Prof. Heinrich Fischer, Oberlehrer am Luisenstädtischen Realgymnasium in Berlin, Landeskunde der Vereinigten Staaten von Amerika. I. Mit 2 2 Karten und Figuren, 14 Tafeln. igo8. Das vorliegende Bändchen ist gut zusammengestellt und bringt sehr schöne Abbildungen. Es ist sehr gut geeignet einen allgemeinen Überblick über die Ver. Staaten zu geben, über die Oberflächenform, Mineralschätze, Klima, Lebewelt u. dgl. des Landes. Bd. 3S9: Prof Dr. Ludwig Diels, Pflanzen- geographie igo8. Das Büchelchen ist zur Gewinnung einer Über- sicht über den Gegenstand sehr zu empfehlen. Verf steht nicht — wie z. B. Schimper in seinem sonst so trefflichen Buch — auf einseitigem Standpunkt, sondern behandelt die verschiedenen Zweige der Pflanzen- geographie gleichmäßig. Er bringt 4 Kapitel: i. flo- ristische, 2. ökologische, 3. genetische Pflanzengeo- graphie und gibt 4. eine Übersicht der Florenreiche, wobei zur Erläuterung derselben ein kleines Kärtchen beigegeben ist. Bd. 393 : Dr. R. Pilger, Assistent und Dozent, Das System der Blüten pflanzen mit Aus- schluß de r Gy mnosp erm en. Mit 34 Figuren. 1908. Das empfehlenswerte Büchelchen bringt eine Über- sicht über das System der Angiospermen, aber vorher bietet es auf 1 6 Seiten sehr zweckdienlich eine Be- trachtung über die geschichtliche Entwicklung des Systems und über die Grundlage des Systems. Bd. 406: Dr. Franz Kossmat, Paläogeo- graphie. Geologische Geschichte der Meere und Festländer. Mit 6 Kärtchen. 1908. Die vorliegende Schrift hat den Zweck, in Kürze den Entwicklungsgang der Meere und Kontinente durch die Reihe der geologischen Zeiträume zu ver- folgen und mit Hilfe von besonders entworfenen Übersichtskarten auch graphisch zu veranschaulichen. II) Bibliothek der gesamten Technik. Dr. Max Jänicke Verlagsbuchhandlung in Hannover. Dr. Johannes Brode, Elemente der phy- sikalischen Chemie. Mit 15 .'Abbildungen. 1908. — Preis 2,20 Mk. Das kleine Buch behandelt i. Die Grundgesetze. 2. Das physikalische Gleichgewicht. 3. Lehre vom chemischen Gleichgewicht. 4. Die Reaktionsgeschwin- digkeiten. 5. Lösungen und physikalische Gemische. 6. Die verdünnten Lösungen. 7. Die elektrolytische Dissoziation. 8. Chemische und elektrische Energie. 9. Chemische Energie und Wärme, i o. Elektronen- theorie und Radioaktivität. III) Aus Natur und Geisteswelt. Sammlung wissenschaftlich gemeinverständlicher Darstellungen. Verlag von B. G. Teubner in Leipzig. — Preis des Bändchens geb. 1,25 Mk. Bd. 201 — 204: Prof Dr. Karl v. Bardeleben in Jena, Die Anatomie des Menschen. I. Teil: Allgemeine Anatomie und Ent- wicklungsgeschichte. Mit 69 Abb. 1908. IL Teil: Das Skelett. Mit 53 Abb. 1908. III. Teil : Das Muskel- und Gefäßsystem. Mit 68 Abb. 1908. IV. Teil: Die Eingeweide. Mit 38 Abb. Die von Bardeleben verfaßten Hefte über die Anatomie des Menschen helfen einem wirklichen Be- dürfnis ab. Wer sich bisher aus dem Kreise der- jenigen, die der Medizin oder Zoologie etwas ferner stehen, über seinen eigenen Bau zu belehren wünschte, mußte entweder zu umfangreiche Werke zu Hilfe nehmen oder sich mit kleinen, für die Schule zurecht gemachten Auseinandersetzungen über den Gegenstand begnügen, in denen sehr wichtige Abschnitte, wie die über die Geschlechtsorgane, fehlen. In den vorliegen- den Bändchen handelt es sich um eine das ganze Gebiet umfassende Darstellung, die unseres Erachtens hinsichtlich ihres L'mfanges durchaus den richtigen Mittelweg gefunden hat. Es ist sehr erfreulich , daß es ein kenntnisreicher Gelehrter ist, der uns diese Gabe beschert; er wurde zu der Veröftentlichung veranlaßt durch eine Vorlesung über .Anatomie für Nichtmediziner , die er an der Universität Jena für Studierende aller Fakultäten abhält. Die Abbildungen lassen nichts zu wünschen übrig und der Text ent- spricht durchaus den Bedürfnissen eines großen Publikums. P. Bd. 223: Prof. M. B. Weinstein, Geh. Regie- rungsrat, Entstehung der Welt und der Erde nach Sage und Wissenschaft. 1908. Diese kleine Monographie über die Ansichten, die die Menschen von der Entstehung der Welt und der Erde geäußert haben , wird gewiß vielfach bei der Zuverlässigkeit, die das Buch auszeichnet, gern zur Hand genommen werden. Hier sind einmal die wissenschaftlichen mit den sagenhaften und mythi- N. F. Vlll. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 219 sehen Ansichten verträglich nebeneinander vorgeführt und verknüpft. Bd. 233: Dr. Ernst Gutzeit, Prof. an der Univ. Königsberg i. Pr. , Die Baltterien im Kreis- lauf des Stoffes in der Natur und im Haushalt des Menschen. Mit 13 Abb. 1909. Das Buch zeichnet sich vor vielen anderen populär- wissenschaftlichen Darstellungen dadurcli aus, daß der Verfasser eine Fülle von Material in wirklich volks- tümlicher Weise abhandelt, ohne den Leser zu er- müden oder zu langweilen. Das liegt besonders daran, daß kaum die Elemente naturwissenschaftlicher Kenntnisse vorausgesetzt werden , daß sich der Stil freihält von gelehrter Ausdrucksweise wie von feuille- tonistischer Geistreichelei und daß allgemeine Gesetze in einer Weise aus Einzelbeschreibungen abgeleitet werden, die den guten Pädagogen verraten, der sich frei weiß von schulmeisterlicher Pedanterie und Trocken- heit. Den Lehrern der Naturwissenschaft empfehle ich zur Beachtung besonders das 4. Kapitel, in dem gelegentlich der Behandlung des Kreislaufes des Stoffes und Gewinnung der Energie der Pflanzen und Tiere nicht nur die Grundlagen der Stoffwechsel- physiologie in anschaulicher Weise dargestellt werden, sondern in ganz mustergültiger Art die chemische Formel erläutert und entwickelt wird, — bekanntlich ein Kapitel, das nicht ganz leicht zu behandeln ist. — Dem Referenten haben besonders die Kapitel ge- fallen, die sich speziell auf die Bakteriologie im täg- lichen Leben beziehen. Der Verf hat sich in seiner Darstellung nicht ganz an den Titel gehalten, insofern er auch die Hefe- und die Schimmelpilze in den Kreis seiner Betrachtung zieht. Wir erfahren also nicht nur etwas über Milchsäurebakterien, Rahmge- winnung, Butterbereitung, ranzige Butter, Käserei, sondern lernen in ebenso leicht verständlicher Form das Wesen der Brauerei, der Weinbereitung und der Konservierung unserer Nahrungsmittel kennen. Wie im 4. Kapitel die chemischen Formeln dem Ver- ständnis der Laien näher gebracht werden, so ist im 9. Kapitel , das die Mikroorganismen in der Küche behandelt, ein Abschnitt über Osmose und Plasmolyse eingeschaltet , der an Klarheit und Einfachheit der Darstellung derjenigen der chemischen Verbindungen und ihrer Formeln nichts nachgibt. — Der Städter wird seine besondere Freude an dem 6. Kapitel, der Agrikulturbakteriologie haben. Das Wesen der Düngung, der Brache usw. sind besonders dem Groß- städter ein Buch mit sieben Siegeln und er wird hier einen Begrifl' bekommen von der Wichtigkeit und Nützlichkeit der Mikroorganismen , die ihm zumeist nur als Erreger der verheerendsten und scheußlich- sten Krankheiten bekannt sind. — Kurz — wer sich über die Bedeutung der Mikroorganismen für unser tägliches Leben unterrichten will , wird auch dann mit Erfolg und Genuß an die Lektüre des Gutzeit- schen Buches herantreten, wenn er mit den Anschau- ungen des Verfassers über die großen Lebensfragen nicht ganz einer "Meinung ist. Die Ausführungen über die Urzeugung können leicht zu Mißverständ- nissen Veranlassung geben und die kurzen Andeu- tungen über die Weltanschauungen des Verfassers im ersten Kapitel , sein Bekenntnis zur Idealität von Raum und Zeit und zum Ding an sich sind nach Ansicht des Referenten eigentlich kein zureichender Grund, um von einer sog. monistischen Weltan- schauung zu sprechen. — Zum Schluß sei noch der originellen Veranschaulichung des Kreislaufes des Stoffes (p. 60) und der Wanderung des Stickstoffes im besonderen (p. 73) gedacht. Die Abbildungen sind leider etwas zu klein geraten , um sofort ver- ständlich zu wirken ; sie sollten wenigstens den Raum einer Seite füllen. Wächter. Bd. 235: H. Brick, Telegrapheninspektor, Die Telegraphen- und Fernsprechtechnik in ihrer Entwicklung. Mit 58 Abbildungen. 1908. Das Interesse, das unbedingt jetzt von jedem Ge- bildeten der Technik entgegenzubringen ist, da wir alle Tage mit ihren Erscheinungen zu tun haben, hat eine dem Verständnis des großen Publikums an- gepaßte Literatur geschaffen , zu der auch das vor- liegende Bändchen gehört. Verf. bemüht sich, den Laien über das grundsätzliche und wichtigste der Telegraphen- und Fernsprechtechnik in ihrer Ent- wicklung zu unterrichten. IV) Wissenschaft und Bildung. Einzeldarstel- lungen aus allen Gebieten des Wissens. Heraus- gegeben von Privatdozent Dr. Paul He rre. Ver- lag von Quelle & Meyer in Leipzig. — Preis pro Bändchen geb. 1,25 Mk. Bd. 57: Dr. Heinrich Schnee, Wirklicher Le- gationsrat, LTnsere Kolonien. 1908. Die vorliegende Arbeit bietet eine gute Auskunft über unsere Schutzgebiete und zwar nach der wirt- schaftlichen Seite hin. Die zuverlässigen diesbezüg- lichen Zusammenstellungen werden besonders dem politisch Interessierten genehm sein. Bd. 58: P. Dannenberg, Städtischer Garten- inspektor in Breslau, Zimmer- und Balkon- pflanzen. Mit einem Titelbilde und 35 Abbil- dungen. 1908, Zur Pflege von Zimmer- und Balkonpflanzen sind besondere Verhältnisse zu beachten, wenn man Freude und Erfolg an seinen Pflanzen haben will. Dies zu erreichen sind die Winke, die der Verf. gibt, be- achtenswert. V) Naturwissenschaftliche Bibliothek für Jugend und Volk. Herausgegeben von Kon- rad Höller und Georg Ulmer. Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig. — Preis geb. pro Band 1,80 Mk. Prof. Dr. M. Buesgen, Der Deutsche Wald. Mit zahlreichen Abbildungen und 2 Tafeln. 1908. Der Verfasser ist ein guter Kenner des Waldes und der Waldbäume, daher sein Buch allen denen zu empfehlen ist, die bei der Erholung, die sie im Walde suchen, auch Anregungen aus ihm zu schöpfen wünschen, oder die auf Fragen, die der Wald ab- nötigt, eine Antwort suchen. (Den Spreewald, von dem Verfasser p. 142 selbst sagt, daß sein Haupt- baum die Erle sei, behandelt er im Kapitel Misch- wälder. Wer den Spreewald kennt, weiß, daß andere 220 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 14 Bäume, wie Quercus pedunculata usw. wie in allen größeren Erlenbrüchen nur ganz untergeordet neben der Erle vorkommen). C. Heller, DasSüßwasser-Aijuarium, ein Stück Natur im Hause. Mit zahlreichen Ab- bildungen und einer farbigen Tafel. 1908. Das, wie alle bisher erschienenen Bücher dieser Sammlung , hübsch ausgestattete Bändchen ist wohl geeignet dem Aquariumliebhaber die ersten notwen- digen Winke zu geben und Liebe für die Natur zu erwecken. Es beschäftigt sich mit der Herstellung eines Aquariums , seiner Füllung und Instandhaltung, mit der Fütterung der Insassen und den im .Aquarium vorkommenden Krankheiten ; sodann geht es auf die in Betracht kommenden Pflanzen und Tiere ein. Dr. P. Krefft, Reptilien- und Amphibien- pflege. Mit Abbildungen. Ohne Jahreszahl. Das vorliegende Heft dient demselben Zweck wie das vorher genannte, nur daß es sich mit Reptilien und Amphibien beschäftigt. Demgemäß werden hier, wenn auch nur sehr kurz, die Behälter für die Tiere (Terrarium und Aquarium) besprochen. Wesentlich geht der Autor auf die Tiere selbst ein. G. Schwantes, Aus Deutschlands Ur- geschichte. Mit Zeichnungen von C. Schwantes und zahlreichen anderen Abbildungen. 1908. Das Büchelchen will eine erste Einführung in die Prähistorie Deutschlands sein und hat seinen Zweck erreicht. Besonders empfehlenswert ist es zum Stu- dium der Sammlungen unserer Museen. J. F. Herding, Beleuchtung und Heizung. Mit Abbildungen. 1908. Das Studium des Beleuchtungs- und Heizungs- wesens ist ganz besonders geeignet, die Wichtigkeit chemischer und physikalischer Erkenntnis für unser Kulturleben ins Licht zu setzen. Verfasser hat es verstanden, das gegenwärtig sehr umfangreich gewor- dene Gebiet dem seinem Buch gewünschten Leser- kreise entsprechend zu behandeln. VI) Die Natur. EineSammlung naturwissen- schaftlicher IMonographien. Herausgegeben von Dr. Walter Schönichen. Verlag von A. W. Zickfeldt, Osterwieck (Harz). — Preis pro Bändchen 1,75 Mk. Bd. 4: Dr. Ludwig Diels, Die Orchideen. Mit 4 farbigen, 4 schwarzen Tafeln, sowie 30 Text- abbildungen. Ohne Jahreszahl. Die als Schmuck- und Zierpflanzen bei der Geld- aristokratie so beliebten Orchideen finden in dem vorliegenden Heft eine ausgezeichnete übersichtliche Behandlung, aber nicht in gärtnerischer, sondern in wissenschaftlicher Hinsicht. Nicht nur die Liebhaber der anziehenden Pflanzengruppe, sondern auch weitere Kreise finden daher in dem Büchelchen einen treff- lichen Leitfaden. Im Vordergrunde der Betrachtung stehen die Lebensbeziehungen der Orchideen, aber auch Bau und System der vielgestaltigen Familie fin- den genügende Berücksichtigung; so wird am Schlüsse das System von E. Pfitzer geboten. Die Abbildungen verdienen alles Lob. Bd. 5 : Dr. Friedrich Frech , Professor , Aus dem Tierleben der Urzeit. Mit 8 Tafeln und 36 Textabbildungen. Ohne Jahreszahl. Verfasser wünscht einem weiteren Kreise „einige Ergebnisse von allgemeinerer Bedeutung" aus den Arbeitsstätten der Zoopaläontologie zu vermitteln. VII) Die Wissenschaft. Sammlung natur- wissenschaftlicher und mathematischer Monographien. Braunschweig, Friedrich Vieweg & Sohn. Heft 22: Prof. Dr. Edm. König, Sondershausen, Kant und die Natur wi ss e nsc h aft. 1907. — Preis 6 Mk. Verfasser sucht zu zeigen, daß die erkenntnis- theoretischen .Anschauungen Kant's mit den Resultaten der naturwissenschaftlichen Forschung vereinbar und geeignet sind, als Grundlage für eine einheitliche Lösung der naturphilosophischen Probleme zu dienen. König geht auf die Naturwissenschaft der Kant'schen Zeit ein , auf die Einwirkung Kant's auf die Natur- wissenschaft des ig. Jahrhunderts, auf das Problem des Raumes und der Bewegung , auf „Erscheinung und Wesen — Erfahrung und Theorie", auf das physikalische Problem und auf das biologische und das psycho-physische Problem. — Wie wir selbst zu Kant stehen, ist wiederholt in der Naturw. Wochen- schrift zum Ausdruck gebracht worden, in letzter Zeit besonders in Besprechungen von Prof Angersbach. Heft Dr. Julius Schmidt, a. o. Prof der Kgl. Technischen Hochschule, Stuttgart, Syn- thetisch-Organische Chemie der Neu- zeit. 1908. — Preis 5,20 Mk. Seitdem Wöhler 1828 Harnstoft' synthetisch dar- stellte und dadurch eine große Aufregung in der wissenschaftlichen Welt verursachte , hat die syn- thetisch-organische Chemie sehr große Fortschritte gemacht und wir haben uns so sehr daran gewöhnt, sonst nur aus der organischen Natur bekannte Ver- bindungen im Laboratorium synthetisch hergestellt zu sehen , daß die Fortschritte im einzelnen von den Fernerstehenden nicht mehr verfolgt werden. So hat denn auch Verfasser nicht die Absicht eine Schrift zu liefern , die auf Vollständigkeit Anspruch macht, sondern er hat die Errungenschaften auf dem Gebiet so zusammengefaßt , daß alles das deutlich hervortritt, was größere Bedeutung hat , oder zu ge- winnen verspricht. VIII) Natur- und kultur philosophische Bi- bliothek. Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig. Dr. Friedrich Ratzel, weil. Prof der Geographie zu Leipzig, Raum und Zeit in Geographie und Geologie. Naturphilosophische Betrach- tungen. Herausgegeben von Dr. Paul Barth, a. o. Prof. an der Universität zu Leipzig. 1907. — Preis 3,60 Mk. Das vorliegende Buch des treft'lichen Ratzel scheint uns besondere Beachtung zu verdienen. Wie wichtig ist es nicht für jeden , der sich mit Geologie und Biontologie, insbesondere Paläontologie und damit der Deszendenz der Organismen beschäftigt, über Zeit und Raum bestimmtere Vorstellungen zu verknüpfen. Paul Barth hat mit großer Geschicklichkeit die dies- N. F. VIII. Nr. 14 Natiirwissen-schaftliche Wochenschrift. ;2i bezüglichen Anschauungen Ratzel's vereinigt und zwar waren es dreierlei Materialien, die ihm gedient haben, I. die Abhandlungen Ratzel's über die Zeitforderung in den Entwicklungswissenschaften, 3. seine Aufzeich- nungen für eine Vorlesung und 3. eine sorgfältige Nachschrift dieser Vorlesung. 1) A. Geikie , Prof. an der Universität Edinburg, Kurzes Lehrbuch der physikalischen Geographie. Autorisierte deutsche Ausgabe von Prof. Dr. Bruno W e i g a n d. Mit 7 7 Holz- schnitten , 5 Vollbildern und 13 Karten. 2. ver- besserte und vermehrte Auflage. Straßburg, Karl ]. Trübner, 1908. 2) Dr. Michael Geistbeck, Leitfaden der ma- thematischen und physikalischen Geo- graphie für höhere Schulen und Lehrer- bildungsanstalten. 28. verbesserte und zu- gleich 29. Auflage. Mit 116 Abbildungen. Frei- burg i. B., Herdersche Verlagshandlung, 1907. — Preis 1,60 IMk. 3) Prof. Wilhelm Pütz , Leitfaden der gleichenden Erdbeschreibung. 27 zugleich 28. völlig umgearbeitete Auflage, beitet von Dr. Ludwig Neu mann, Prof ver- und bear- der Geographie an der Universität Freiburg i. B. Herder- sche Verlagshandlung in Freiburg i. B., 1 908. — Preis 2 Mk. 4) O. Krümmel, Prof. in Kiel und M. Eckert, Prof. in Aachen , Geographisches Prakti- kum für den Gebrauch in den geogra- phischen Übungen an Hochschulen. Leipzig, H. Wagner und E. Debes, 1908. — Preis 7,50 Mk. i) Das Geikie 'sehe Buch ist sehr empfehlens- wert, sehr geeignet, um sich über alle irgendwie ins Gebiet der Geographie gehörenden allgemeinen Er- scheinungen eine Rechenschaft zu geben. Obwohl es ein richtiges Lehrbuch ist , so ist doch der Text mehr zusammenhängend und bequem lesbar gehalten, auch für anders als englisch sprechende Nationen dadurch, daß statt englischer Meilen, Faden, Zoll, Fahrenheitgrade, die in Deutschland, oder sagen wir lieber, die sonst in der wissenschaftlichen Welt be- nutzten üblichen Maße Anwendung finden. Es ist doch gewiß sehr bedauerlich , daß sich die großen englisch redenden Nationen bei der Bedeutung, die sie haben, noch immer nicht zu der sachgemäßeren Benutzung der besseren Maße bekannt haben. Geikie behandelt seinen Gegenstand in 5 großen Kapiteln: I. Die Erde als Planet, 2. Die Luft, 3. Das Meer, 4. Das Festland und 5. Das Leben. Erich von Drygalski sagt in der Einführung, die er der deutschen Ausgabe mitgegeben hat : „Die großzügige Betrachtungsweise eines wahren Naturforschers und die fesselnde Form, in welcher er uns mitsehen und mitdenken läßt, bilden den Wert und den unvergän- lichen Reiz des Buches . . . das Buch ist ein Kosmos im unscheinbaren Gewand, doch mit vertieftem Ge- halt, denn es steht auf der Grundlage exakter Natur- betrachtung." 2) Das Geistbeck'sche Buch ist für eine grundlegende Übersicht über den von ihm behandel- ten Gegenstand brauchbar. Es ist ein richtiges, lehr- buchmäßig disponiertes Schulbuch. 3) Auch das Pütz- Neumann 'sehe Buch ist • ganz lehrbuchmäßig disponiert. Es ist ein Leitfaden für die Unter- und Mittelstufe verschiedener Lehr- anstalten. Auf 28 Seiten werden die Grundbegriffe der allgemeinen Erdkunde auseinandergesetzt; der größte Abschnitt bis Seite 2 1 5 bringt die besondere Erdkunde. Alles kurz und bündig. Anhänge bieten Übersichten über die wichtigsten Verkehrs- und Han- delswege und statistische Tabellen. 4) Das Quartheft von Krümmel und Eckert ist für geographische Übungen bestimmt. Es mangelte bisher ein kurz gefaßter , auch dem Anfänger ver- ständlicher Leitfaden für die praktischen, oft hand- werksmäßigen Arbeiten , die der künftige Lehrer an den höheren Schulen und jeder selbständige Forscher auf dem Gebiet der Geographie beherrschen muß. Es handelt sich nicht bloß um das Entvverfen ein- facher Kartenskizzen etc., sondern auch um die Kon- struktion von Isohypsen, Isobaren etc., kurz von Iso- rithmen, wie die Kenntnis gewisser Kunstgriffe, die beim Ausmessen von Strecken-, Flächen- und Volumen- größen mit und ohne Instrument anzuwenden sind. Die Herausgabe des vorliegenden Unterrichtsmittels ist sehr verdienstlich. Es bringt nur wichtige Dinge von grundlegender Bedeutung, die ein Studierender der Geographie sich aneignen muß, ganz gleich von welchem Spezialstudium er an die Geographie heran- treten mag. Die beigefügten Karten und Tafeln sind sehr sauber ausgeführt. Die Überschriften der Haupt- teile sind die folgenden; i. Vorbereitung für das Kartenzeichnen im höheren Schulunterricht, 2. An- leitung zum Entwerfen von Kartennetzen, 3. Einfüh- rung in die Lehre vom Karteninhalt, 4. Anleitung zu kartometrischen Arbeiten und 5. Übungen am Globus. Müller -Pouillet's Lehrbuch der Physik und Meteorologie. Herausgegeben von L. P f a u n d - 1 e r. IL Bd., 3. Buch : Die Lehre von der strahlen- den Energie (Optik), 2. Abt. (Schluß) von O. Lummer. (Seite 883 — 1189, Fig. 755 — 915 und Tafel 9 — 21). Braunschweig, F. Vieweg & Sohn, 1909. — Preis 9 Mk. Mit dieser Lieferung ist die von Prof. Lummer bearbeitete Optik in der wesentlich umgearbeiteten Neuauflage komplett geworden. Am Schlüsse der- selben sind als völlig neu hinzugekommen die Ka- pitel 21 (Reflexionstheorie), 22 (Theorie der anomalen Dispersion, Resonanzerscheinungen) und 23 (Magneto- optische Erscheinungen). In diesen Kapiteln werden unter anderem dargestellt die neuen Versuche von Hagen und Rubens, die eine optische Bestimmung der elektrischen Leitfähigkeit mit Hilfe der Spiege- lung der sogenannten Reststrahlen ermöglichen, ferner die aus der Elektronentheorie folgenden Dispersions- theorien von Planck, Lorentz und Natanson und deren experimentelle Prüfungen , sowie schließlich das Zeemann-Phänomen mit Voigt's Theorie der magneto- 222 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 14 optischen und elektrooptischen Erscheinungen. Trotz aller dieser, die neuesten großen Fortschritte der Wissenschaft klarlegenden Hinzufiigungen ist der Umfang des Bandes nicht gestiegen, was durch Kür- zung und teilweise Fortlassung weniger wichtiger oder früher etwas zu breit dargestellter Kapitel (na- mentlich der Abbildungslehre) möglich wurde. Auch äußerlich gibt sich die sehr erhebliche Umgestaltung des Buches dadurch zu erkennen, daß die Zahl der Textabbildungen von 861 auf 915, die der bei- gefügten, prächtigen Tafeln von 1 2 auf 2 1 gestiegen ist. Dankbar zu begrüßen ist auch der bei den Tafeln angefügte Hinweis auf die Seiten des Textes, zu denen sie gehören. — Bei der Fülle der wichtigen neueren Arbeiten auf optischem Gebiete muß diese treffliche Zusammenfassung geradezu für jeden ernster mit physikalischen Studien sich Befassenden als un- entbehrlich bezeichnet werden. Kbr. Literatur. Abraham, Dr. M. : Theorie der Elektrizität. 2. Bd. Elektro- magnetische Theorie der Strahlung. 2. Auti. {XII, 404 S. m. 6 Fig.) gr. 8°. Leipzig '08, B. G. Teubner. — Geb. in Leinw. 10 Mk. Avenarius, Rieh.: Kritik der reinen Erfahrung. 2., nament- lich nach hinterlassenen Aufzeichnungen de.s Verf. verb. Aufl. 2. Bd. (XII, 536 S.) gr. 8". Leipzig '08, 0. R. Reisland. — 14 Mk. Brendler, Dr. Wolfg. : Mineralien-Sammlungen. Ein Hand- u. Hilfsbuch f. Anlage u. Instandhaltung mineralog. Samm- lungen. I. Tl. Mit 314 Fig. im Te.xt, z. T. nach Orig.- Zeichngn. des Verf. (VIII, 220 S.) Lex. 8°. Leipzig 'oS, VV. Engelmann. — Geb. in Leinw. 7 Mk. Dannemann, Dr. Frdr. : Aus der Werkstatt großer Forscher. Allgemeinverständliche erläuterte Abschnitte aus den Wer- ken hervorragender Naturforscher aller Völker und Zeiten. 3. .Vutl. des I. Bds. des ,,(;rundriß e. Geschichte d. Natur- wissenschaften". Mit 62 Abbildgn. im Text, größtenteils in Wiedergabe nach den Orig. -Werken u. 1 (färb.) Spektraltaf. (XII, 430 S.) gr. 8». Leipzig '08, W. Engelmann. — 6 Mk., geb. in Leinw. 7 Mk. Höffding-, Prof. Dr. Harald : Psychologie in Umrissen auf (Grundlage der Erfahrung. 4. deutsche, nach der vielfach geänderten 5. dän. bearb. Ausg. (VIII, 4S5 S.) gr. 8". Leipzig '08, O. R. Reisland. — g Mk., geb. 10,20 Mk Külpe, Osw. ; Immanuel Kant. Darstellung und Würdigung. Mit einem Bildnisse Kant's. 2., verb. Aufl. (VIII, 163 S.) Leipzig '08 , B. G. Teubner. — I Mk. , geb. in Leinw. 1,25 Mk. Penck, A., u. E. Brückner: Die Alpen im Eiszeitalter. 10. Lfg. 2 Hälften. Leipzig, Ch. H. Tauchnitz. — 2,=;o Mk. Plate, Prof. Dr. L. ; Der gegenwärtige Stand der Abstam- mungslehre. Ein populär-wissenschaftl. Vortrag u. zugleich ein Wort gegen Joh. Reinke. (57 S. ra. 14 Fig.) gr. 8". Leipzig '09, B. G. Teubner. — 1,60 Mk. Richert, Hans; Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, seine Bedeutung. 6 Vorträge. Mit dem Bildnis Schopenhauers. 2. durchges. Aufl. (VI, 117 S.) Leipzig 'og, B. G. Teubner. — I Mk., geb. in Leinw. 1,25 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn G. in R. — Über den Widerstand von Karpfen gegen Kälte teilt H e y k i n g (Groß-Lichterfelde- Ost) in der Fischerei-Zeitung (Neudamm igog) folgendes mit: Im Winter 1SS8 erhielt ich aus der Gegend von Warschau ein Faß Karpfen. Es war bitter kalt, und das Thermometer zeigte 20" unter Null. Da mir die Fische nicht ordentlich avisiert waren , blieb das Faß noch eine lange Winternacht auf unserem zugigen Eiscnbahn-GUterboden stehen. Am an- deren Morgen schickte ich meinen Fischer Marrach zur Ab- holung der Fische. M. brachte mir außer den Fischen einen Zettel mit, der also lautete: „Hätte Ihnen die Fische schon heute nacht durch Boten avisiert, aber dieselben sind hier schon tot.al ein- gefroren angekommen, also doch schon hinüber. Schmidt, Königl. Eisenbahnassistent." Der ganze Inhalt des Fasses war auch richtig ein Eis- klumpcn. Zum .\uftauen wurde das Faß in ein Bassin meines Forellen-Bruthauses getan. Innerhalb dreier Tage war end- lich der Inhalt aufgetaut, und die Insassen hatten ihr kaltes Gefängnis bis auf zwei verlassen, welche tot am Boden lagen. Da mich der Fall interessierte , beschloß ich , die Fische so lange zu behalten, wie nur irgend möglich, evtl. bis zum Frühjahr, und sie dann auszusetzen. Da aber in den nächsten zehn Tagen weitere drei Fische matt wurden und eingingen, beschloß ich, sie doch als Speisefische zu verwerten. Am Tage darauf traf ich in Posen Herrn von W. , wel- cher selbst eine größere Fischzucht besaß, und erzählte ihm die Geschichte von den eingefrorenen Fischen. Von W. bat mich , die Fische noch länger zu behalten und ihm der Wissenschaft halber zehn Stück davon zu senden, gefielen ihm dieselben nicht, so sollten sie als Speisefische in der Küche verwandt werden. Um ihre Zähigkeit im Versand zu erproben , wurde beschlossen , die Fische trocken zu senden. Bei 3 " Wärme wurden die Fische in feuchtes Moos gepackt und per Expreßgut von mir an Herrn von W. abgesandt. Der von W.sche Fischmeister , welchen ich rechtzeitig benachrich- tigte, holte die Fische selbst ab und setzte sie sofort in ein Bassin des herrschaftlichen Forellen-Bruthauses. Alle lebten und zeigten große Munterkeit, obgleich sie zehn Stunden unterwegs gewesen waren. Im Frühjahr wurden die Fische gezeichnet und mit zweisömmerigen ausgesetzt, gediehen prächtig und wurde die Mehrzahl davon im nächsten Jahre als Streicher verwandt. Die Nachkommenschaft war reichlich und fehlerfrei. In B. ließ ich im Herbst einen Hälter abfischen ; da diesen eine dichte Grasnarbe umgab, warfen einfach die Fischer die Karpfen auf diese, und dort wurden sie von Jungen aufgesammelt und in Körben fortgetragen. Da die Abfischung am Spätnachmittag stattfand , überraschte uns die Abenddämmerung. Am anderen Morgen ging ich früh an den Hälter, der übrigens dicht hinter meinem Hause lag. Im Grase fand ich einen am Abend vorher vergessenen Karpfen, welcher infolge des starken Nachtfrostes auf der einen Seite ganz steif gefroren war. Ich nahm ihn behutsam auf und legte ihn im Forellenbruthaus in ein Bassin ohne DurchHuß. Zehn Stunden lag das Tier auf der Seite, dann erholte es sich und lebte noch mehrere Tage, bis ihn der Händler mit den anderen Fischen beim nächsten Transport abnahm. Wenn bei Fall I durch das allmähliche Auftauen das Lebenbleiben der Karpfen erklärlich ist, so muß andererseits bei Fall II der Fisch doch durch den Frost außerordentlich gelitten haben, zumal weil letzterer einseitig auf den Körper wirkte. Erhebliche Zerrungen im Bindegewebe der Haut, im Fleisch und im Gehirn können nicht ausgeblieben sein. Trotz- dem hat der Fisch gelebt. Jedenfalls geben diese beiden Vorgänge Zeugnis von der großen Lebenskraft speziell des Karpfens. Ich halte daher den Karpfen namentlich gegen niedrige Temperaturen für äußerst widerstandsfähig, ja am widerstandsfähigsten von allen unseren Fischen, selbst den Aal nicht ausgenommen. Herrn Dr. Fr. R. in O. — Literatur über Aquarien: E. Bade, Das SUßwasseraquarium (Berlin, 2. Aufl. i8g9); E. Zernecke, Leitfaden für Aquarien- und Terr.arienfreunde (Berlin 1897); Mönkemeyer, Aquarienpflanzen (Berlin igoo). — iKähere Auskunft über einschlägige Literatur ist am besten zu erhalten durch den Verein ,,Triton" ^Verein für Aquarien- und Terrarienkunde in Berlin; Vorsitzender: E. Herold, Friesenstr. ig, Geschäftsstelle: R. Lentz, Alexandrinen- straße i). H. Harms. Herrn Ph. W. in Jerusalem. — Ein Besümmungsbuch für die in Palästina vorkommenden Pilze und Flechten gibt es nicht; es gibt nur gelegentliche Aufzählungen dort gesam- N. F. VIII. Nr. 14 Natiirvvis.senschaftliche Wochenschrift. 223 meltcr Kryptogamcn. Eine Erforscliung der Kryploguniea der Umgegend Jerusalems wäre sehr wünschenswert, da über die dort vorkommenden Pilze und Flechten noch wenig be- kannt ist. Herr Prof. Dr. G. Lindau (Kgl. Rotanisches Museum, Dahlem-Steglitz bei Berlin, Königin-Luisestr. 6 — S) ist gern bereit, Ihnen Material aus diesen Pflanzengruppen zu bestimmen , das sie ihm zusenden würden ; auch würde er Ihnen weitere .\uskunft über Literatur und Sammlungsmetho- den erteilen. Die Präparationsmethoden lernen Sie am besten aus folgendem Buche kennen: G. Lindau, Ililfsbuch für das Sammeln und Präparieren der niederen Kryptogamcn mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in den Tropen (G. Borntracger, Berlin S\V 1 1, Großbeerenstr. 2; Preis i,5oMk.). H. Harms. Herrn Prof. Fr. S. in T. ■ — (Parth en og e nes is bei Bl Uten pf lan zen). — Dieses Thema wird behandelt in der ausgezeichneten zusammenfassenden Arbeit: Hans Winkler , Parthenogenesis und Apogamie im Pflanzenreiche (ausLotsy, Progress. rei bot. II. 3. Heft; Gustav Fischer 190S; Preis 4,50 Mk.). Von früheren Arbeiten, die sich speziell auch mit der biologischen Bedeutung der Parthenogenese beschäf- tigen, sind in erster Linie zu nennen: O. Kirchner, Par- thenogenesis bei Blutenpflanzen (in Bericht. Deutsch. Bot. Ge- sellsch. X.Xll. (1904) p. [83]— [97J, und: E. Strasburger, Die .-Kpogamie der Eu alchimillen und allgemeine Gesichts- punkte, die sich aus ihr ergeben (Pringsheira's Jahrbuch, für wissensch. Bot. XLI. I1904) 88 — 164) und sein .Artikel „Un- serer lieben Frauen Mantel" (Xaturwiss. Wochenschrift vom 22. Jan. 1905). — Der Begriff Parthenogenesis wird von H. Winkler, dem wir uns hier anschließen wollen, in fol- gender Weise gefaßt: Er nennt Parthenogenesis die apomik- lische Entstehung eines Sporophyten aus einem Ei, wobei unter .-^pomixis der Ersatz der geschlechtlichen Fortpflan- zung durch einen anderen , ungeschlechtlichen Vermehrungs- prozeß verstanden wird. Winkler unterscheidet weiter ; a) so- matische Parthenogenesis, wenn das Ei einen Kern mit der diploiden unreduzierten Chromosomenzahl besitzt; b) generative Parthenogenesis, wenn der Kern des Eies mit der haploiden Chromosomenzahl ausgestattet ist. Für das Verständnis der Vorgänge ist es sehr wichtig, sich diese Definitionen gegenwärtig zu halten. Strasburger will von echter Parthenogenesis nur dann reden, wenn ein haploides, somit auf Befruchtung eingerichtetes Ei mit seiner einfachen Chromosomenzahl in die Keimbildung ein- tritt. Xach ihm fallen Vorkommnisse wie die von Aichemilhi, Antennaiia etc. unter den Begriff der .Apogamie. Er faßt diesen Begriff der .Apogamie sehr weit, ihm ist das Ei der Alchemillen nichts weiter als eine vegetative, nur wie ein Ei geformte Zelle des Sporophyten, und die als parthenogenctisch angesehenen Vorgänge bei AlchemiUa sind nicht wesentlich verschieden von den .\dventivlieimbildungen aus Nucellus- zellen bei Codeboi^yne, die man früher allerdings auch als parthenogenetische Erscheinungen ansah, jetzt aber, nach Strasburger 's Untersuchungen, als Apogamie oder (nach Winkler) als vegetative Propagation auffaßt. Für Strasburger verdiente nur die generative Partheno- genesis Winkler's den Namen Parthenogenesis. Xehmen wir nun den Begriff P. im Sinne Winkler's , so gibt es jetzt eine ganze Reihe von Blütenpflanzen, bei denen P. beobachtet ist ; es handelt sich dabei stets um somatische P. Der erste genauer untersuchte Fall betraf die Komposite Antennaria alpina R. Br. , für die Kerner bereits 1S76 P. angegeben hatte ; J u e 1 (Bot. Centralblatt Bd. 74 (1898) 369) wies nach, daß bei dieser -Art Bestäubung und Befruchtung überhaupt niemals vorkommt, sondern daß regel- mäßig Parthenogenesis stattfindet. Die gleichzeitig untersuchte Antenunria dioica verhält sich dagegen ganz normal und be- sitzt die Fähigkeit der Parthenogenesis nicht. Neuerdings haben Leavitt und Spalding bei amerikanischen Arten, wie Antftinaria fallax und A. neodioica Parthenogenesis ge- funden (Bot. Centralblatt XCIX. (1905 1 p. 291). Sodann ge- lang es Sv. Murbeck (in Lunds Universitets-Arsskrift Bd. 36, Afd. 2, Nr. 7, 190I), bei acht Arten der Gattung AlchemiUa die Erscheinung festzustellen ; andere Arten der Gattung, z. B. A. arvensis , werden normal befruchtet. Bei den partheno- genetischen Arten von AlchemiUa kann Befruchtung überhaupt nicht eintreten, weil die Pollenkörner nicht keimen, in der Regel sogar in noch ganz unreifem Entwicklungsstadium ab- sterben. Strasburger hat die .Angaben von Murbeck nach- untersucht (siehe oben zitierte Arbeit), im wesentlichen be- stätigt und in verschiedener Richtung erweitert. Ein dritter Fall von Parthenogenese bezieht sich auf das nordamerikani- sche Thaiictrtim purpurascens L. , das Ü v e r t o n untersuchte I Bericht. Deutsch. Bot. Gescllsch. XXII. (1904) 274). Bei dieser dioecischen .Art ist Parthenogenesis keine ausschließlich Stattlindende Erscheinung, sondern sie tritt neben normaler Befruchtung auf. Vielleicht noch überraschender als die bis- her angeführten Erscheinungen sind die Ergebnisse der Unter- suchungen von Raunkiaer über Taraxacum (Bot. Tidsskr. XXV. (1903) 109; Bot. Centralblatt XCIII. (1903J 81) und Osten feld und Raunkiaer über Hieraciiim (Bericht. Deutsch. Bot. Gesellsch. XXII. (1904) 376 u. 537). Osten- feld sagt über llieyaciiwt: Die Befruchtungsverhältnisse in der (_ialtung //., wenigstens in der Gruppe der Piloselloiden, scheinen vollständig labil zu sein ; es findet Embryoentwick- lung nach Befruchtung statt, sogar nach l'estäubung mit Pollen einer fremden Art, und dasselbe geschieht ohne Befruchtung — und endlich gibt es Arten, die bald fruktifizieren, bald sterile Individuen erzeugen, die sich nur auf vegetativem Wege fort- pflanzen. Raunkiaer nimmt auf Grund seiner Kastrierungs- versuche an, daß vermutlich alle Taraxacitvi-k.x^.^'Ci ihre Samen auf patthenogenetischem Wege bilden. Kirchner hat an kastrierten Köpfen von Ilici acitint aiirantiacitm festgestellt, daß die unbefruchtete Eizelle den Embryo liefert. Auch der Entdecker der Parthenogenese he\ AlcliemiUa, Sv. Murbeck, konstatierte die Erscheinung für Taraxacum und llicraciinii (Bot. Centralblatt XCVIIl. (1905) 290). Rosenberg hat die komplizierten cytologischen Vorkommnisse bei Hieracium studiert (Bot. Tidsskr. XXVIII. (1907) 143). H. Winkler untersuchte auf Java die dort kultivierte Thymelaeacee Wiks- troemia indica und fand , daß bei ihr der Embryo aus der unbefruchteten Eizelle entsteht, also echte Parthenogenesis vorliegt ; zahlreiche Kastrationsversuche erwiesen , daß die Fruchtbildung ohne Mitwirkung des männlichen Elements er- folgen kann. Sicher festgestellte somatische Parthenogenese findet sich (nach Win kl er) bei folgenden Gruppen: Polypodiaceae [Athyrium filis femina var. clarissima und var. imco-glomera- tiim; Scolopeiidrium vulgare var. crispum Drummondae), Mar- siliaceac (Marsilia Drtimmondii R. Br.) , Ranunculaceae ( Tha- lictrum piirpwascens , Th. Fendlert), Rosaceae (AlchemiUa § Etialchemilla), Thymelaeaceae ( IViksIroemia indica), Compositac (Antennaria alpina, fallax, neodioica; Taraxacum; Hieracium § Archieracium und i; Pilosella). Aus der Liste geht hervor, daß somatische P. auch bei Pleridophyten auftritt [Polypodia- ceac. A/arsi/iaceae). Es gibt außer den angeführten Fällen von P. bei Blütenpflanzen noch eine große .Anzahl anderer, die nicht genauer untersucht sind; so sollen z. B. die Gurken parthenogenctisch sein , ferner Mercurialis annua u. a. Die Parthenogenese scheint danach verbreiteter zu sein , als man bisher vermutete. Was die Ausbildung der männlichen Or- gane bei den parthenogenetischen Blütenpflanzen anlangt, so finden wir (nach Kirchner) eine Stufenleiter von anschei- nend normalen , aber keimungsunfähigen Pollenkörnern (Hieracium, 7'araxaciim], und von keimfähigen, aber spärlich vorhandenen Pollenkörnern bis zum völligen Fehlschlagen derselben oder sogar bis zur fast vollkommenen Unterdrückung der männlichen Organe. Bei Antennaria alpina sind männ- liche Pflanzen sehr selten; der männliche Typus ist ausge- storben, nur zuweilen tritt ein Rückschlag ein, und es wird wie- der ein männliches Individuum erzeugt, dessen Antheren dann der Pollenkörner ganz entbehren oder nur schlecht entwickelte funktionslose Pollenkörner enthalten. Bei AlchemiUa findet man zwar zwitterige und männliche Blüten , aber der Pollen keimt nicht, ja er stirbt sogar oft bereits im unreifen Zustande ab. Es läßt sich also in vielen Fällen von einer Befruchtungs- erschwerung oder Unmöglichkeit der Befruchtung sprechen. Die Parthenogenesis ermöglicht es den Pflanzen, sich hin- sichtlich reichlicher Samenproduktion unabhängig von den- jenigen äußeren Faktoren zu machen, auf die bestäubungs- bedürftige Pflanzen angewiesen sind. Bei mangelhafter Pollen- entwicklung oder ausbleibendem Insektenbesuch können die parthenogenetischen Pflanzen reife Samen bilden. Dioecische 224 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 14 Pflanzen haben den \'ortcil ^ daß weibiiclic Stöcke auch an Lokalitäten fruchten können, wo männliche Individuen fehlen oder sehr selten sind. Kirchner äußert sich über die Art, wie sich Parthenogenese herausbilden kann, in folgender Weise. Es scheinen ihm die Beobachtungen von O verton an Thalictriim ptirpnrasccns einen wichtigen Anhaltspunkt zu gewähren, wonach diese Pflanze Eizellen von somatischem (Charakter bildet, die sich wahrscheinlich allein parthenogene- tisch entwickeln können, und daneben solche mit geschlecht- lich difterenziertem Kern, die sich wahrscheinlich ohne Be- fruchtung nicht weiterbilden. Danach möchte K. annehmen, daß ursprünglich sehr allgemein in einer Anzahl von Samen- anlagen, die gewissermaßen als Reserve für den Fall des Ausbleibens der Befruchtung dienten, bei der Entstehung des Embryosackes die Keduktionsteilung unterblieb , und die Ei- zelle einen vegetativen Charakter behielt. Bei Arten mit ge- sicherter Befruchtung ist von dieser Einrichtung kein Gebrauch mehr gemacht und sie selbst unterdrückt worden ; bei andern, bei denen die Befruchtung etwa infolge von Diklinie (Monoe- cie, Dioecie) oder von übermäßig komplizierter Blütencinrich- tung unsicher wurde, ist die Möglichkeit der Parthenogenese gewahrt geblieben, und kann nun entweder, wie bei Thalic- triiin, nur im Notfalle in die Erscheinung treten, oder end- lich, wie bei den übrigen als parthenogenetisch nachgewiesenen Arten, die geschlechtliche Fortpflanzung ganz ersetzen , wenn die Befruchtung unmöglich geworden ist. H. Wink 1er dis- kutiert sehr ausführlich diese und andere Theorien über die Entstehung der Parlhenogenesis, Er verwirft die Anschauung, daß Befruchtungserschwerung oder die durch irgendwelche unbekannten äußeren Faktoren eingetretene Sterilität des Pollens das Moment abgegeben habe, das im Verlaufe der Phylo- genese zur Einführung von P. gefülirt habe. Nach dem gegen- wärtigen Stande unserer Kenntnisse können wir über die Faktoren, die phylogenetisch die Einführung der habituellen P. bewirkt haben , ebensowenig etwas Sicheres aussagen wie über die Natur der Reizvorgänge, die jeweils im Verlaufe der Ontogenese sie auslösen. Über experimentelle Parthenogenesis besonders bei Algen (nach Klebs) vgl. man Winkler 's .\rbeit. — Für generative P. finden sich Beispiele unter den Algen, vielleicht auch den Pilzen. Der vielbesprochene Fall von Chnra crhiilu , wo A. Braun 1857 Parthenogenese ent- deckte, ist nach Strasburger's Untersuchungen hierher zu rechnen. H. Harms. schmilzt der Schnee aut ihnen fori, während er auf den hellen Steinen liegen bleibt. Str. Herrn Prof. Fr. S. in T. — Blütenbiologische Handbücher. — Knuth, Appel und Loew, Handbuch der Blütenbiologie, 3 Bände (Leipzig, W. Engelmann 1S98 bis 1905; Preis etwa 60 — 80 Mk.). — E. Loew, Einführung in die Blütenbiologie auf historischer Grundlage (Berlin 1895). — Im Frühjahr 1909 wird im Verlage von B. G. Teubner in Leipzig das Werk erscheinen: O. Kirchner, Blumen und Insekten ; dieses Werk soll einen Überblick über den gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse von der Tätigkeit der Insekten bei der Bestäubung der Blumen und von den gegenseitigen .Anpassungen der Blumen und Insekten geben. .\n die Schilderung der Blumenklassen und Bestäubungs- gruppen schließt sich eine Darstellung der bisher gewonnenen allgemeinen Ergebnisse und der Folgerungen daraus , sowie Ausblicke auf die weiteren Aufgaben der Blütenökologie. Umfang des Werkes etwa 25 Bogen 8". — Vgl. auch die Naturw. Wochenschr. (1909) Nr. 2, S. 32 angegebene Lite- ratur. H. Harms. Herrn M. A. in Schöneberg. — Ihre Erklärung der von Ihnen gemachten Beobachtung ist durchaus richtig. Die dunk- len .Steine erwärmen sich stärker als die hellen; infolgedessen Herrn R. Kr., Friedrichroda. — Daß die Uratmosphäre keinen Sauerstoff enthalten haben sollte, ist ausgeschlossen. Ihre Frage, wie in sauerstoffloser Atmosphäre Organismen entstehen konnten, ist die beste Widerlegung. Str. Herrn Dr. F. St., Luzern. — Eine Zusammenstellung der neuesten Literatur über die Geologie Norwegens finden Sie im XXXI. Band des ,, Geographischen Jahrbuchs" von 1908. Die letzten Erscheinungen sind in den Publikationen von ,,Norges Geologiska Undersökning" (Kristiania) enthalten. Str. Herrn K., Sydow. — Über Fjordbildung finden Sie eine interessante neuere Abhandlung von O. Nordenskjöld im Bulletin of the Geological Institution of the University of Upsala. Bd. IV, 1899. Auch im letzten Bande der Ver- öffentlichungen über die Ergebnisse der Deutschen Südpolar- Expedition 1901 03, in dem E. Werth über die Forschungen auf Kerguelen berichtet , sind neue Studien über die Fjord- bildung enthalten. Str. Herrn F. M., Cöln. — Zur Geologie der Eifel und des Bergischen Landes finden Sie die Materialien zusammenge- tragen im II. Bande der ,, Erläuterungen zur geol. Karte der Rheinprovinz u. d. Prov. Westfalen" von Dechen (Bonn 1584), den Sie ebenso wie die zugehörigen Kartenblätter evtl. anti- quarisch erhalten können. Außerdem hat Dechen einen ..Führer zu der Vulkanreihe der Vordereifel" (Bonn 1886) und einen ,,Geogn. Führer zum Laacher See" (Bonn 1864) geschrieben. Über das Siebengebirge ist 1901 ein Buch von Laspeyres in Bonn erschienen. Die ganze Literatur ist 1896 von Rauft", 1903 u. 1904 von Kaiser in den ,, Verhandlungen des Naturhist. Vereins der preuß. Rheinlande und Westfalens" zusammengestellt. Str. Herrn Dr. Fr. L. in Regen (Bayr. Wald). — Der „Pfahl" im Bayrischen Walde ist eine aus Quarz bestehende Spaltenausfüllung, die durch Erosion freigelegt ist. Dem Bayrischen und Böhmer Walde hat Gümbel die II. Abteilung seiner gcognost. Beschreibung des Königreichs Bayern „Geo- gnostische Beschreibung des Ostbayr. Grenzgebirges" (Gotha 1868) gewidmet. Sie werden dieses Werk vielleicht nur noch antiquarisch bekommen können. Str Herrn M. L. in Aschersleben. — In Deutschland er- scheinen zwei Zeitschriften ausschließlich meteorolo- gischen Inhalts. Die eine ,,Das Wetter" ist für weitere Kreise bestimmt und wird von Prof Aßmann, dem Direktor des kgl. preuß. aeronautischen Observatoriums, redigiert. Ver- lag von O. Salle , Berlin W 30, monatlich ein Heft, Preis jährlich 6 Mk. Die Zeitschrift steht bereits im 26. Jahrgang. — Die meteorologische Fachzeitschrift ist die im Verlage von Vieweg & Sohn in Braunschweig erscheinende ,, Meteorologi- sche Zeitschrift", die zugleich das Organ der österreichischen und der deutschen meteorologischen Gesellschaft ist. Redigiert wird diese gleichfalls monatlich erscheinende Zeitschrift von J. Hann-Wien und G. Hellmann- Berlin. Jährlicher .Abonne- mentspreis 20 Mk. Inhalt: Dr. phil. Otto Rammstedt: Die Chemie im Dienste der .Archäologie. — Kleinere Mitteilungen: A. E. Ro- berts: Über die Ursachen der körperlichen Entartung der Bevölkerung Indiens. — Prof. Dr. J. Vosseier: Die Gattung Myrmecophana Brunner. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen : Sammlung Göschen. — Samniel-Referat. — Müller- Pouillet's Lehrbuch der Physik und Meteorologie. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof Dr. H. l'otonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena, Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.J, Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue bolge VIU. r.aiul ; der gan7en Keihe XXIV. Band. Sonntag, den ii. April 1909. Nummer 15. Eine naturwissenschaftliche Exkursion durch Süd-Kanada. fNachdruck verboteo. Von H. Potonie. Einer Einladung von seilen des Canadian Mining Institute, eine von dieser Privat- Vereinigung ver- anstaltete und durch die kanadische Regierung unterstützte Sommer - Exkursion zu begleiten, folgte ich um so lieber, als es schon lange im Interesse meiner gegenwärtigen Studien mein Wunsch war, gerade Kanada kennen zu lernen, denjenigen Teil der neuen Welt, der naturhistorisch die meisten Beziehungen zu der gemäßigten Zone der alten Welt zu erkennen gibt und dadurch den Vergleich besonders für denjenigen heraus- fordert, der hier seine naturwissenschaftliclie Be- rufstätigkeit gefunden hat. Mein besonderes Interesse galt dem Studium der Genesis der Kaustobiolithe, d. h. der Entstehung der brennbaren, von Lebewesen her- stammenden Gesteine, also insbeson- dere der Kohlen, des Torfes usw. und ihrer Lagerstätten. Vor allem war ich begierig, die Torfgelände (die Moore) Kanadas mit denen Zentraleuropas zu vergleichen , weil gerade diese mich augenblicklich für die Veröffentlichung des 2. Bandes meiner Arbeit über die rezenten Kaustobiolithe hervorragender be- schäftigen. In diesem Werk werde ich auf die Moore Kanadas, soweit ich sie kennen lernte, näher eingehen, während in dem folgenden kurzen Bericht nur ganz Allgemein-Inter- essantes gestreift, über die Moore demnach nur eine Andeutung ge- macht werden soll. Ich spreche dabei nur von Süd-Kanada, das ich in seiner ganzen Ausdehnung von Ost nach West, vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean bereist habe. Es konnte freilich das, was ich ge- sehen habe, bei der Kürze der Zeit, die mir zur Verfügung stand, und der Größe des Landes nur sehr kursorisch erfaßt werden; aber die vielen guten Beziehungen, die ich gehabt habe, das weitgehende Entgegen- kommen, das mir zuteil wurde, die großen Länder- strecken, die ich kennen gelernt habe, ferner end- lich der Vorteil, daß ich meine Zeit ganz aus- schließlich der Betrachtung des Landes widmen konnte, hat es doch ermöglicht, wenigstens einen ersten allgemeinen Eindruck zu erhalten und einige für mich wichtige Dinge zu sehen. Reise weg. — Ich reiste vor Mitte August 1908 — und zwar um mich etwas im Gebrauch des Englischen zu üben — über London nach Liver- pool mit einem englischen Dampfer (der Allan- Line). Es ist dies der nördlichste Dampfer- Passagier-Verkehr des Atlantischen Ozeans, und so nimmt es denn kein Wunder, daß wir vor der Einfahrt in die Belle-Isle-Straße vom Norden her- unterkommende mächtige Eisberge zu Gesicht bekamen. Wir wurden zuerst dadurch aufmerk- sam, daß der Dampfer stoppte, da ein, wenn auch nur schwacher Nebel es doch zur Vermei- dung eines gefahrbringenden Zusammenstoßes mit einem solchen Berge geraten erscheinen ließ, vorsichtig zu sein. Eisberg vor der Einfahrt in die Belle-Isle-Straße. Phot. von Herrn H. Zinsst.ig in Montreal. Auch prachtvolle Nordlicht - Erscheinungen waren zu sehen : auf der Hinfahrt strahlig vom Norden ausgehend, auf der Rückfahrt auch ein- mal in Gardinenform schräg über unseren Häuptern, fast von dem einen Horizont zum anderen. Wie eine ungeheure Schlange wogte die Gardine in langsamer Bewegung schlangenähnlich hin und her, in der Schnelligkeit etwa gleich einer ge- mächlich dahinziehenden Wolke. Schließlich zer- floß die Gardine in einzelne Teile, die nur noch etwa wie helleuchtende Wolken aussahen. Am 21. August morgens traf der Dampfer in 226 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 15 Quebec ein und am 24. war in dieser Stadt das Stelldichein der Exkursions-Teilnehmer, so daß ich also Zeit hatte, in Ruhe für mich allein einen Ausflug in die Umgebung zu unternehmen. Der tiefe Reiz, den es für den Biontologen hat, einen von seinem Arbeitsfelde entfernteren Teil ^^^ ■1 1 ^^^^^^^^^^^^^^^^^^■H '' >■■ ,. .-- . . Stadt Fernie nach dem Brand. Morley: Pferdestand der Indianer. Im Hintergrunde links die Rocky Mountains, Phot. von Herrn Dr. Wupperman. der Erde zu betreten, dessen Naturgeschichte er nur aus Büchern kennt, ist nur für den gleich- gesinnten F"achmaiin verständlich. Was ist doch Bücherweisheit, wie ohnmächtig ist nicht unsere Sprache gegenüber der packenden Wirklichkeit I Nicht immer bin ich der Gesamt-Exkursion ge- folgt, sondern ich habe mich — wo es angängig und möglich war und es meine wissenschaftlichen Absichten wünschenswert erscheinen ließen — auf eigene Pfade begeben. So ist denn der im folgen- den angegebene Reiseweg nur in seinen großen Zügen auch derjenige der „Sommer-Exkursion". Von Quebec aus ging es zunächst nach Osten durch die Provinzen New Brun- swick und Nova Scotia nach der Stadt Sydney auf Cape Breton be- sonders zur Besichtigung der dor- tigen Steinkohlengruben des prod. Karbons. Obwohl man, um dort- hin zu gelangen, 2 Tage und 2 Nächte im Eisenbahnwagen ver- harren muß, wirkt doch eine solche Reise hier nicht sonderlich be- schwerlich. Die großen und schö- nen „Pullmann" -Wagen mit ihren bequem hergerichteten großen Betten sind für lange Reisen treff- lich eingerichtet. Die Wagen ge- statten möglichste Bewegungsfrei- heit. Gleich bei Sydney habe ich für mich eine schöne Exkursion in die Umgebung machen können. Um nun die große Reise durch ganz Süd Kanada, nach Westen bis zum Stillen Ozean ausführen zu können, mußten wir wieder nach Quebec zurück, von wo aus nun- mehr weiter nach Westen vordrin- gend die Asbestgruben bei Thetford besucht wurden. Dann ging es über Sherbroke nach Montreal, so- dann nach Toronto und mit dem Dampfer über den Lake Ontario nach den Niagarafällen. Bis hier- her hat mich meine Frau begleitet, die dann nach Europa zurückkehrte. Ich selbst machte von dort aus mit Herrn Deputy-Minister Gibson einen Abstecher nach Weiland, um ein in der Nähe vorhandenes Hochmoor zu besuchen. Wo ordentliche Wege vorhanden sind, pflegt man eisen- bahnlose größere Strecken in kleinen Wagen zurückzulegen , die vier Räder mit sehr schmalen Felgen besitzen. Diese meist nur zwei- sitzigen Wagen sind bei dem meist trockenen Wetter sehr geeignet schnell vorwärts zu bringen und auch wir mußten uns, um noch vor Dunkelwerden das 8 engl. Meilen von Weiland abliegende Moor zu erreichen , eines solchen Wagens bedienen. Am anderen Tage traf ich wieder mit der Ex- kursions-Gesellschaft in Toronto zusammen, die mittlerweile dorthin zurückgekehrt war. Von hier aus ging es zur Besichtigung von Silber- gruben nach Cobalt, sodann nach der Station Temagami und mit dem Dampfer nach der N. F. Vm. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift 227 Temagami-Insel in dem gleichnamigen See. Von der genannten Station aus fuhren wir dann nach Sudbury, von wo aus sowohl die Eisenerz-Minen von Moose-Mountain als auch Copper Cliff be sucht wurden. Auf der weiteren Fahrt nach Westen wurde unvermutet in White River langer Halt gemacht. Wir erfuhren endlich die Ursache; eine Fisenbahnbrücke am Lake Superior war mit einem Eisenbahnzuge, der als Passagiere Chinesen führte, in die Tiefe gegangen und zum Teil ver- brannt. Am anderen Morgen fuhren wir bis zu der der Brücke nächstliegenden Station Namens Schreiber, um die Wiederherstellung der Brücke abzuwarten. Für die Gesamt- Exkursion bedeutete das einen Verlust von ca. 38 Stunden; ich selbst aber hatte dadurch Gelegenheit, einige kleine Ausflüge zu unternehmen. Auch bei Winnipeg, wohin wir nunmehr gelangten, konnte ich die Umgebung besuchen, und dann ging die Fahrt durch die Prärie bis Medicine Hat zur Besich- tigung natürlicher Gasquellen, die u. a. das Be- leuchtungsmaterial für die Stadt hergeben. Nach Durchquerung der Prärie drangen wir in das westliche Gebirge ein, in die Kordilleren, zum Besuch eines gewaltigen, vor einigen Jahren er- folgten Bergsturzes bei Frank, sodann der Stein- kohlengruben in der Kreideformation, wie alle Kohlen der kanadischen Kordilleren (Dakota- Gruppe), bei Coleman und endlich der — abge- sehen von zwei freistehenden Steinhäusern — An- fang August 1908 niedergebrannten Stadt Fernie und der nahe beiliegenden Kohlengrube Goal Creek. Dann ging es nach Moyie, wo ich mit dem Boot eine Exkursion auf und am See machen konnte, von hier aus nach Kootenay Landing, von wo aus Nelson mit dem Dampfer durch den Kootenay Lake erreicht wurde. Auch Kaslo, Proctor und Crawford Bay, alle an dem genannten See gelegen, habe ich besucht und besonders von Crawford Bay aus eine größere Exkursion ins Land gemacht zum Besuch eines Urwaldes. Bei der Pilot Bay wurden wir (ich habe einen Teil der Sonder-Exkursionen in Gemeinschaft mit Herrn Prof. Fernow aus Toronto unternommen) wieder von dem die Haupt-Exkursion führenden Dampfer aufgenommen, der zur Besichtigung der Blue Bell mine unterwegs war. Nach Nelson zurückgekehrt ging es nach Robson und sodann mit dem Dampfer durch die Arrow Lakes des Columbia River nach Arrowhead, um von hier aus mit der Bahn (unsere Pullmannwagen, in denen wir als wanderndes Hotel meist übernachtet haben, er- warteten uns dort) über Revelstoke, wo wir wiederum, diesmal aber nur einige Stunden, un- freiwilligen Aufenthalt hatten, nach der Stadt Vancouver zu kommen, behufs Erreichung des Dampfers zur Überfahrt nach der Stadt Victoria auf der Vancouver-lnsel. In der Umgebung dieser Stadt habe ich den Lost Lake besucht, ferner die Küste bei Esquimalt, den Elk und Beaver Lake und schließlich die Gegend bei Duncan auf dem Wege nach Nanaimo, wo ich wiederum mit der Haupt-Exkursion zusammentraf, um von hier aus mit dem Dampfer nach der Stadt Vancouver zurückzufahren. Hier wurde der ,, Stanley Park", ein herrliches Urwald-Reservat, besichtigt, um so- dann die lange Rückfahrt nach Osten zu beginnen. Über Glacier ging es nach Banff zum Besuch der Kreidekohlengrube bei Bankhead, und hier ver- abschiedete ich mich vollständig von der großen, nunmehr beendigten Exkursion, die nach Osten zurückkehrte, während ich selbst und Herr Dr. H. Wupperman zurückblieben , der meinem Wunsch, mich auf einem mehrtägigen Ausflug in abge- legenes Gebiet zu begleiten, freundlichst nachkam. Es lag mir daran, einen neuen Kohlenaufschluß etwa 27 engl. Meilen südl. von Morley zu sehen. Ich blieb daher in Banff, um hier zunächst die Umgegend zu untersuchen, und fuhr später nach Morley östl. von Banff. Die zu unternehmende Exkursion wurde von dem Geologen Herrn Mc Evoy, dem ich zu großem Dank verpflichtet bin, organisiert und geleitet. Schon das, was wir in Morley, einer sehr unbedeutenden kleinen Station der Canadian Pacific Railway (C. P. R.) sahen, war von großem Interesse. Morley liegt mitten in einem Indianer- Reservat. Es ist ein Ort, der aus einigen wenigen Holz- häusern besteht, unter denen für die Bevölkerung des Reservates der Laden die allergrößte An- ziehung hat. Eine Anzahl der Sioux sprechenden, zur Rasse der Stoney Indians gehörigen Bevölke- rung, lungerte in ihrer, noch großenteils indiani- schen, vielfach aber durch die Einflüsse der Klei- dung des weißen Mannes veränderten Tracht — Männer, Frauen und Kinder — vor und in dem Laden herum, vielleicht zur Erholung von dem Ritt von ihrer fernen Behausung. Alle, auch die Frauen und Kinder, sind im Umgang mit Pferden wohl vertraut; sie sind mit ihnen, sozusagen, halb- verwachsen. Die Frauen, sehr oft noch dazu mit einem kleinen Kinde in einem festgebundenen Tuch auf dem Rücken, reiten ebenfalls in Männersitz. Manche — auch Männer — trugen große Ohr- ringe mit je einer großen Muschel oder einem großen, kreisrunden, muschelförmigen Stück Perl- mutter. Die prächtigen glänzend-schwarzen, langen Haare sind bei den Männern nach rechts und links in der Mitte bis zum Nacken gescheitelt und in zwei Zöpfe geflochten, die vorn an den Seiten herabhängen. In der Kleidung, die immer noch indianischen Schnitt aufweist, tritt aber das früher allein verwendete Leder und Fell jetzt sehr zu- rück, außer in den Mokassins, dem Gürtel u. dgl. ; sonst werden jetzt Stoffe in indianischem Ge- schmack in Schnitt, Muster und Farbe getragen, die vom Weißen bezogen werden, und einige hervorragendere Individuen tragen uniformähnliche Phantasiekostüme, die ihnen die kanad. Regierung liefert, die überhaupt manches für die Indianer tut. Einzelne sind etwa wie weiße Arbeiter angezogen. Auch die Indianerzelte, die ich am Kootonay Lake und in dem genannten Reservat gesehen habe, waren nicht mehr mit Fellen, sondern mit un- 228 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. !■; serem Zeltstoff bedeckt. Unsere Indianer handeln mit Pferden, Vieh, Holz u. dgl. und mit spezifisch indianischen Gegenständen, wie z. B. IVlokassins; andere Stämme, die noch mehr Wild und sonstiges wildes Getier zur Verfügung haben, auch mit Pelzen, die die ,, Hudson Bay Com- pany" eintauscht und kauft. Man sieht denn auch hier und da eine „Hudson Bay Post", ein Haus oder einige Gebäude an geeigneten Ver- mittlungsstellen — wie z. B. auf Bear Island im Temagami Lake — , wo die Indianer einen ihre jetzigen Be- dürfnisse befriedigenden , von der Company gehaltenen Laden vorfinden. Das Indianervolk, das ich sah, war zutraulich. Es bot uns gern, wenn wir gelegentlich einzelne Reiter antrafen, einen Gruß, den Frauen oft mit einer verlegenen Gebärde erwiederten. Es erinnert diese An- näherung durch Gruß an dieselben Verhältnisse in Deutschland, wo eine spärliche Bevölkerung vorhan- den ist. Von der Trefflichkeit ihrer an die Wildnis gewöhnten Pferde, die in keiner Weise geschont werden, konnten wir uns selbst überzeugen. Wir wollten und mußten, um nicht unterwegs von der Dunkelheit über- rascht zu werden, an einem Tage das kleine Zeltlager (den „Camp") eines Kohlen-Prospectors am Ribbon- Creek (einem Nebenflüßchen des Kananaskis River, der in den Bow River mündet) erreichen. Unsere kleine Expedition bestand aus 5 Reit- pferden: je eines für Herrn Mc Evoy, Herrn Dr. Wupperman und für mich, eines für unser Gepäck und eines für den uns begleitenden treft'lichen älteren Indianer, der die Pferde und das Gepäck zu hüten hatte. Bevor die richtige Wahl der Pferde ge- troffen war, wurde es ^2 ' ' Öiir vormittags (am 29. September). Das erste Gepäckpferd ging durch und warf das Gepäck ab, wurde aber von einem behenden Indianer sehr schnell mit großer Geschicklichkeit wieder eingefangen. Endlich kamen wir davon. Es war ein Ritt über Stock und Stein in des Wortes ver- wegendster Bedeutung. Solange wir uns durch die nur sanft-hügelige, nur hier und da schwach und dann meist mit kleineren Bäumen und Strauch- werk bewaldete Zwischenzone zwischen der reinen Prärie und dem Hochgebirge, d. h. dem östlichen Zuge der Kordilleren (den Rocky Mountains) be- fanden, nämlich in der Region der am Ostfuße des Gebirges befindlichen Hügel, den ,,Fußliügeln" (Foot Hills), ging der Ritt glatt und mühelos von- statten. Nach Maßgabe der Annäherung an das Hochgebirge aber wurde der Reiter zu immer größerer Aufmerksamkeit genötigt und es wurde Zu Pferde durch den Kananaskis-Fluß. — l'liot. von Herrn O. I,. Spencer. .- ,' /' % .Jj^ ,.,, ^ :^ C- ' <-i ■ ..\ :\ V :. ^^ % V*>-F- ^^1" " :\vB' ^ i -U tjm's ■"- ■ X" 'M iV, \--j ,. t-- / in 4 i^. "^ 'v-'-^^ ?* wH t mm '%■: 'S . ii'ft k:Y^^\'^%\ '\-- ,• EiPH • 4 mr^i^S m'^'^hI ir' t^'"A'jv ^> 'IM - ^^^T^k ^^ ' 1 l^lBi"'^' iilVW ,_f;x;v- f^.-,r Schlafzeh im Camp. — Phut. Dr. Wuppermun. für die Pferde beschwerlich. Es ging schmale Saumwege („trails") entlang, Böschungen hinauf und hinab, durch Wälder engstehender Bäume mit großen Strecken , die mit umgestürzten N. F. VIII. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 229 Baumstämmen besät waren , über Bergehalden in der Nähe zu besuchen beabsichtigte, mit ihren kantigen, eckigen Gesteinsbrocken Meine liebenswürdigen Begleiter waren der Bo- und durch trockene oder mit schnellfließendem taniker der Geol. Landesanstalt Herr Prof. Macoun und Sohn, Herr A. Zimmermann, der Herrn Macoun jun. zurzeit Assistentendienste leistet und Herr Josef Keele, der freundlichst mitgekommen war, um von mir gewünschte Photographien auf- zunehmen.') Am 8. Oktober morgens sollte mich ein Dampfer von Montreal aus wieder nach Europa befördern ; allein wegen zu starken Nebels konnte die Abfahrt erst in der Frühe des darauffolgenden Tages erfolgen. — Auf Reisen über große Strecken läßt sich auch mit unseren heutigen besten Ver- kehrsmitteln nicht über jede Stunde im voraus disponieren: das habe ich auf der kanadischen Exkursion reichlich erfahren und daher Manches, was noch in meinem Programm stand, zu meinem Leidwesen aufgeben müssen : hoffentlich ist es nur aufgeschoben ! Nur noch ein Wort über die teuren Preise. — Gewiß: wer mit seinen Mitteln einigermaßen haus- halten muß, wird zu seinem V^ergnügen oder zur Erholung nicht nach Kanada oder überhaupt in ein noch in wesentlicher Erweiterung bewohn- Küche im Camp. — Phot. Spencer. Wasser versehene Bach- und]|Flußbetten mit teils bis über kopfgroßen abgerundeten Geschieben. Es ist erstaunlich, wie die Pferde es verstehen, diese schwierigen Verhältnisse mit ihren unbeschlagenen Hufen zu be- wältigen und mit welch unendlicher Geduld sie immer wieder die ge- stürzten Baumstämme überschreiten. Todmüde kamen wir endlich nach etwa 8 - stündigem Ritt im Camp an, wo ich mich möglichst schnell in das Zelt zurückzog, um auf moosi- gem Waldboden in Decken gehüllt bis zum nächsten Morgen zu ruhen. Den folgenden Tag wurden die neuen Kohlenaufschlüsse besichtigt und am 3. Tage, diesmal früh morgens aufbrechend, stiegen wir wiederum in den Sattel gen Morley. Nunmehr ging es mit der C. P. R., wenn auch mit einer 14^'., stündigen Verspätung, in 4 Tagen und nicht ganz 3 Nächten das Präriegebiet wie- der durchijuerend nach Osten, nach Ottawa, wo ich mit gütiger Unter- stützung der kanadischen Geologi- schen Landesanstalt (Direktor Brock) ein Hochmoor namens Mer bleue ^) Ich war nämlich in Deutscliland schlecht beraten worden und konnte das Filmsformat für meinen Apparat in Kanada nirgends erhalten; zu meinem allergrößten Be- dauern vermochte ich daher nur sehr wenige .aufnahmen selbst zu machen, was mir um so schmerzlicher ist, als eines meiner Filmspakete sich hinterher als schlecht erwies und ein anderes, das ich in Britisch-Kolumbien entwickeln ließ, dort vollständig verdorben wurde. Ich habe so 24 wertvolle .'\ufnahmen verloren. Auf die Abzüge wichtiger Aufnahmen, die ein Photograph von Beruf anfertigte, mit dem ich im öst- lichen Teil des Gebietes, nur um für meine Zwecke zu photo- graphieren, einige Ausflüge machte , habe ich vergeblich ge- wartet, um sie in dem vorliegenden Bericht zu verwerten. Das ist der Grund, warum er erst jetzt erscheint. ,, Speisesaal" im Camp. Links vorn unser Indianer ,,Hektor" Phot. Spencer. 230 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 15 barer Strecken befindliches Land reisen. Wenn ein solches Land sein Emporkommen beschleu- nigen will, so wird es rechtzeitig die sich ent- wickelnde Industrie durch hohe Schutzzölle zu sichern suchen; alle Waren, die aus Europa kommen, sind daher sehr teuer und natürlich um so teurer, je neuer eine der Kultur zu unter- werfende Strecke ist und je ferner sie von den Ursprungsorten der Waren abliegt, wie z. B. Britisch Kolumbien. Wo Neues geschaffen wird, da braucht man auch Arbeiter und die Nachfrage ist in werdendem Kulturland größer als das Angebot. Was wunder, daß da alle Menschenarbeit sehr kostspielig isti Volk und Kultur. — „The possibilities of Canada are immense". Dieses im Lande oft ge- hörte Wort, ist in Ansehung des im Verhältnis Anfangssladiuni eines Garteos im fernen Westen. ZU der möglichen Bevölkerungszahl noch sehr schwach besetzten großen Landes in der Tat sehr begreiflich, wenn ich auch lieber mit anderen sagen würde „the possibilities of Canada are great". Denn wenn man auch z. B. noch jetzt mit der C. P. R. durch gewaltige, keinerlei Kulturzwecken dienende, aber gut ausnutzbare Strecken fährt, so wird doch auch später — soweit unsere jetzigen Erfahrungen reichen — vieles sog. Ödland bleiben, namentlich im felsigen Osten und Westen, sowie — wegen des zu rauhen Klimas — ein recht großes Gebiet im Norden des Landes, wenn nicht auch vielleicht wegen zu schwieriger Bewässerung ein Teil derjenigen südlichen Prärie, die zum Kornbau nicht Regen genug empfängt. Es ist von hohem Interesse zu sehen, wie mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln neue Kulturgebiete erschlossen werden. Waren es früher in erster Linie die von der Natur gebotenen geographischen Verhältnisse, die den Ausschlag für die Anlage von Ansiedlungen abgaben, so spielt heute das Verkehrsmittel, auf dem Lande die Eisenbahn, die, um ein bestimmtes fernes Ziel mit einem Ausgangspunkt zu verbinden , durch zunächst unkultivierte Strecken geführt werden muß, eine ganz hervorragende Rolle. Dement- sprechend verdankt denn eine große Zahl kana- discher Ort.schaften ausschließlich dem Vorhanden- sein von Eisenbahnlinien ihre Entstehung. An vielen Punkten der noch wenigen, aber bedeutenden Eisenbahnen, aber auch dort, wo auf den vielen Seen regelmäßig Dampfer verkehren, sieht man Pioniere der Kultur an ihrer schweren Arbeit, im Begriff, Waldstrecken zu roden oder die baumlose Prärie vorzubereiten. Die alte Natur wird mit ungeheurer Schnellig- keit vernichtet, und nur die zähen und schwer gänzlich niederzubrennenden, mächtigen Baum- stubben bieten größere Hindernisse und erfordern zu ihrer gänzlichen Vernichtung anstrengendste, oft jahrelange Arbeit oder ihre Beseitigung durch Pulver und Dynamit. Hier ver- steht man den Ausspruch : der Wald ist der Feind der Kultur. Aber es ist doch sehr zu wünschen, daß wenigstens die ,, Reservate", die großen ,, National Parks", auch wirk- lich dauernd geschont werden. Noch sind fast überall die Stümpfe der beseitigten Wälder auf den Weiden und zwischen den Häusern neuerer Gemeinden zu sehen, oft von gewaltiger Größe der gefalle- nen Bäume zeugend; aber diese traurigen, meist angekohlten Reste werden verschwinden und vielleicht schon den Enkeln der heutigen Generation wird es sagenhaft klingen, daß die entstehenden großen freien Flächen noch vor kurzer Zeit mit Urwald bedeckt ge- wesen sein sollen. Wenn man über- sieht, was im letzten Jahrzehnt — namentlich seit vollständiger Fertigstellung der das ganze Land von Ost nach West durchkreuzenden C. P. R. seit etwa 20 JahrenErstaunlichesgeleistet worden ist, wie in dieser Zeit viele neue Gemeinden von neumodischer An- lage entstanden sind, so läßt das einen Blick in die Zukunft tun, der kein prophetischer ist, wenn er dem Beschauer ein sich schnell reich bevölkern- des Land zeigt, das in der Weiterentwicklung der Menschheit eine hervorragende Rolle spielen wird. Es ist gewiß berufen, wesentliche Verände- rungen, vielleicht Umwälzungen in der Bilanz der Völker hervorzurufen. In der Tat: Alles ist hin- sichtlich der Kultur und Zivilisation neu in Mittel- und West-Kanada und auch die endgültige Ge- winnung Ost- Kanadas für die europäische Kultur, der allererste kleine Beginn derselben ist bekannt- lich nur 300 Jahre alt. Von hier aus ist die Kolonisation und Kultur dann allmählich nach Westen vorgedrungen und die am Stillen Ozean liegende westlichste kanadische Provinz — Britisch Kolumbien — ist trotz ihrer günstigen Lage am Meere erst seit rund 50 Jahren ordentlich in An- griff genommen worden. N. F. VIII. Nr. IS Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 231 Mit Spannung werden die alten und älteren KuUuren auf die Umgestaltungen blicken, die sich in Kanada vollziehen, und gezwungen werden, auf sie zu achten. Noch handelt es sich in ganz Kanada derartig um neues Land, daß sein Holzreich- tum noch zu keiner Forstkultur genötigt hat. Wenn die Kraft und Energie, die in den heimischen und zuziehenden Kolonisatoren steckt, dieselbe bleibt wie jetzt, so wird Europa in absehbarer Zeit auch diesen jüngeren Bruder so groß und reich werden sehen, daß seine Stimme im Zu- sammenklang der Völker schweres Gewicht er- halten wird. — Das ist der Eindruck, der sich demjenigen unfehlbar aufdrängt, der die emsige und erfolgreiche Arbeit und das Volk hier zu be- wundern Gelegenheit hatte. Der historisch erklärliche, alte und verknöcherte europäische Kastengeist ist bei der Besiedlung nicht mitgewandert; wenigstens hat sich bis jetzt noch keine ordentliche Gruppierung nach Rang- ständen wieder entwickelt und wird hoffentlich ganz ausbleiben. Dafür tritt freilich auch manche gesellschaftliche Blüte noch etwas zurück, die nur alte Kultur zeitigt. Aber die gegenseitige Er Ziehung wird das ausgleichen, die Kinderkrank- heiten werden verschwinden. Der Kanadier hat im allgemeinen noch zuviel mit den Elemen- targewalten der Natur zu kämpfen, deren Urzu- stände zu überwinden schwieriger ist, als dort weiterzuarbeiten, wo die ersten großen Schritte bereits getan sind. Es ist ein hastiges Vorwärts- schreiten, das wir erblicken, und es ist im ganzen noch nicht die hinreichende Ruhe zu einer Be- schaulichkeit gewonnen, die eine allgemeinere Be- schäftigung mit rein geistigen Dingen gestattet. Aber einen gewaltigen Schritt ist uns die neue Welt doch voraus. Die Verschiedenheit der historischen Entwicklung der alten und neuen Welt bringt verschiedene Menschen hervor, und der Amerikaner hat mancherlei ohne Umstände und ohne kampfvoll zu überwindende Durch- gangsstadien bereits erreicht, was dem an das Herkommen gebundenen Europäer erst als Ziel vorschwebt; denn die Selbstherrlichkeit und den Dünkel, die beim Zentral-Europäer mehr oder minder regelmäßig hervortreten, wird er erst durch allmähliche Einsicht veranlaßt oder ge- zwungen aufzugeben. Man sieht an den neuweltlichen Verhältnissen, daß ein geordnetes Gemeinschaftsleben möglich ist, auch wenn die unteren Kreise anständig und gleichmäßig be- handelt werden. Freilich stößt das Urteil über diese Dinge auf ein schwieriges und weites Feld, denn es ist nicht zu *leugnen , daß unser un- bemitteltes Volk viel mehr die grundlegende Be- dingung zu einer gleichmäßigen Behandlung ver- missen läßt, als im allgemeinen die in die neue Welt ausgewanderte Bevölkerung. Es hat hier entschieden eine Auslese des besseren Menschenmaterials statt- gefunden, denn nur der Mutige,]^nur das Volk mit Unternehmungsgeist geht in die F'remde und ver- sucht sich ungegängelt allein durchzukämpfen. Wenig durchsichtig ist der Mensch älterer, reich bevölkerter Kulturen in seinen vielfältigen Strebungen. Dieser verwickelte Zug ist eine Folge des engeren Kampfes mit seinesgleichen, mit dem er weit gespannter in Konkurrenz tritt: aber der Kanadier, der noch Ellenbogenfreiheit in seinem großen Lande hat, ist offen und zu- gänglich; er kennt im allgemeinen diese „Fein- heiten" noch nicht. Die Erreichung eines ge- ordneten Daseins kostet eben im großen und ganzen noch nicht den Kampf um den schon besetzten oder eben frei werdenden Platz wie in über- völkerten europäischen Ländern. Glücklich das ungeknechtete Land, das jedem, der nur ar- beiten will und kann, noch einen ordent- lichen Platz an der Sonne zu bieten vermag! In Europa sind so gut wie alle bewohnbaren Plätze besetzt; es haben sich mitbedingt durch den früher schwereren und langsameren Verkehr mannigfaltigere Lebensweisen und Bevölkerungs- typen herausgebildet, die alle eine besondere Ge- schichte haben, und so entsteht beim Zusammen- treffen mit Andersgearteten, z. B. des Landbe- wohners mit dem Städter, nur allmählich ein Ausgleich der alteingefleischten Eigentümlichkeiten mit dem städtisch Neumodischen. Draußen im Westen jedoch nimmt von vornherein der neu- modische Mensch den Platz ein. Der spärlich gesäte Eingeborene steht ihm zu fern und wird einfach verdrängt, wenn er als Hindernis erscheint. So haben denn die entstehenden Gemeinwesen — und mögen sie noch so klein sein — sofort städtischen Anstrich. Nach einer Richtung hin ist aber auch in Kanada eine einflußreiche Scheidung in zwei große Parteien vorhanden. Denn die vor nun- mehr ca. 3 Jahrhunderten erfolgte erste Besetzung des östlichen Kanada durch Franzosen und die dann vor rund 150 Jahren erfolgte Eroberung des Landes durch die Engländer hat eine historisch gegebene, innere Verschiedenheit der weißen Be- völkerung geschaffen : das ältere französische Wesen im Gegensatz zum neueren britischen. Im Osten, namentlich in den Provinzen Quebec undOntario wird noch sehr viel französisch gesprochen, ja in einem recht großen Teil der Bevölkerung — beeinflußt durch die katholischen Priester — ausschließlich, und es ist bei der Macht, die das vorstellt, in Ansehung der der britischen nachgebildeten Regierungsform, die den Volksmächten großen Einfluß gestattet, nicht recht abzusehen, ob nicht einst die Wag- schale des französischen Wesens diejenige des eng- lischen niederziehen könnte. Nur freilich wird der Zuzug so gut wie ganz allein von den anderen Nationen gedeckt. Geographisches und Geologisches. — Kanada, dieses vom Kulturstandpunkt aus noch sehr unfertige Land, ist von einer Ausdehnung, die man sich gemeinhin nicht recht klar macht: es ist fast so groß wie ganz Europa. Um mit dem Schnellzuge hintereinander Tag und Nacht fahrend^^in dem^südlichen, mit einer guten Quer- bahn versehenen Teil von dem einen Ende etwa im Osten von Sydney oder Halifax bis nach der 232 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 15 Stadt Vancouver im Westen zu gelangen , ge- braucht man eine volle Woche. Diese Strecke — von Halifax über Montreal nach Vancouver — ist 3655 engl. Meilen lang. Und dieses gewaltige Land hat gegenwärtig nur zwischen 6 und 7 Millionen Einwohner. Deutschland allein hat deren 62 Mill. und ganz Europa über 437 Mill., wobei freilich zu berücksichtigen bleibt, daß in Kanada weit größere Gebiete über- haupt unbewohnbar sind als in Europa, das auch in seiner Ausge- staltung, in seinem Klima und der Verschiedenheit seiner Gelände für Kulturzwecke unvergleichlich gün- stigere Bedingungen bietet. Einen höchst bemerkenswerten natür- lichen Verkehrsweg besitzt Kanada besonders in seinem mächtigen St. Lawrenz-Strom, der Ozeandampfern die Einfahrt tief ins Land hinein weit über Quebec hinaus bis nach Montreal gestattet. Sehr eindrucksvoll wirkt auf den Naturforscher, der in dem auf klei- nen Erstreckungen hin so mannig- faltigen Europa zu beobachten ge- wöhnt ist, die landschaftliche und floristische Übereinstimmung so gewaltiger Länderstrecken, wie das in Süd-Kanada der Fall ist. Es sind hier — wenn man nur die großen Züge berücksichtigt — drei Regionen zu unterscheiden : i. Die sehr breite östliche Wald-(wesentlich Nadelwald-jRegion als hügeliges, felsiges Gelände entwickelt , um- fassend die „Provinzen" Nova Scotia (N. S.), New Brunswick (N. B.), die in geologischer Hinsicht von einem alten , daher niedrig abgetragenen Gebirge (als Fortsetzung der Appa- lachien der östl. Vereinigten Staaten) mit nur geringen Erhebungen ein- genommen werden, ferner Quebec (Q.) und Ontario (Ont.) wesentlich mit felsigem Boden der kambrischen Formation, deren Schichten ziem- lich horizontal liegen. 2. Im Zen- trum das Steppengebiet (die ,, Prä- rie"), die Provinz Manitoba (Man.), das südliche Saskatchewan (Sask,) und den Südzipfel von Alberta (Alta.) umfassend und 3. die kana- dischen Kordilleren, die Südwest- Alberta und den ganz überwiegen- den Teil von Britisch- Kolumbien (B. C.) einnehmen. Die kanadischen Kordilleren setzen sich aus mehr oder minder deutlich indi- vidualisierten, längsverlaufenden Gebirgszügen zu- sammen, von denen die östliche Kette von den Rocky Mountains gebildet wird. Diese Gebirgs- masse erhebt sich in einzelnen Bergspitzen bis über die Schneegrenze; es handelt sich um ein alpines, junges Gebirge, dessen Jugendkraft sich dem Beschauer durch hier und da frisch aufge- rissene, abgerutschte Berghänge, unten mit der frischen Halde und durch stark gespitzte Gipfel mit Eis-, Schneefeldern und Gletschern bemerkbar macht. Die starke Abtragung, die tätig ist, wird Abgebrannter und wieder erstehender Wald am Grohman-Creek vis-ä-vis Nelson (B. C.) Abgebrannter Wald. Im Hintergrunde die Crawford-Bay (B. C.) mit ihrem Delta. auch dem bloßen Eisenbahnreisenden dadurch in Erinnerung gebracht, daß die Bahnlinie strecken- weise durch starke Überdachungen in der Form von Holztunnels möglichst gegen Steinschlag ge- sichert ist. Das Klima Süd-Kanadas ist, mit Deutschland N. F. VIII. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 233 verglichen, im Sommer ganz wesentlich wärmer und trockener, im Winter sehr viel kälter und schneereicher; es ist also ein typisch kontinentales Klima. Die Sommernächte sind aber wegen des meist klaren Himmels kühl und es ist infolge- dessen Taubildung die Regel. In der Zeit meines .Aufenthaltes habe ich nur 2 mäßige Tagesregen erlebt: einen im Osten und einen im Westen bei Victoria auf Vancouver Island. Es soll der ver- gangene allerdings ein besonders trockener Sommer gewesen sein. Die Trockenheit der Luft trat für mich auch dadurch angenehm in die Erscheinung, daß die gesammelten Pflanzen sehr schnell trock- neten und im Präriegebiet überhaupt nicht um- gelegt zu werden brauchten. Waldbrände. — Die Trok- kenheit des Sommers ist eine Grundbedingung der für Kanada typischen Waldbrände. Sie spielen eine viel größere Rolle, als man sich dies mit europäischen Begriffen auch nur entfernt auszumalen im- stande ist. Im alten Erdteil hört man durch die Zeitungen nur dann etwas davon , wenn gerade einmal eine größere Ortschaft dabei in wesentliche Mitleidenschaft gezogen worden ist; sonst aber kümmert man sich , auch wenn ganz große Waldflächen zugrundegehen, nicht viel um diese Erscheinung. Veranlassung zu Bränden ist reichlich gegeben. Es kommen in Betracht die Lokomotiven -Sprüh- feuer, die Entschlüpfung des Feuers, das sich Ausflügler und andere im Walde anlegen, besonders aber bei der Rodung zur Gewinnung von Weide-, Ackerflächen und Obst- gärten. Denn überall wird zur möglichsten Beseitigung der sehr hinderlichen Baumstubben und des sonst störenden Holzes gebrannt. Ferner trägt der hier in Kanada sehr tätige Erz- und Kohlensucher, der ,, Prospector", eine beträchtliche Schuld. Er brennt ganze Berg- hänge mit den herrlichsten alten Waldungen nieder, um eine bessere Übersicht zu haben. Auch zündende Blitze sind schließlich noch zu nennen. Bei der Einfahrt in das Herz Kanadas mit dem Dampfer durch die Belle-Isle-Straße, dann den Golf und den St. Lawrenzstrom hinauf sieht man viel- fältig auf den Hängen und Höhen und überhaupt in dem das Gelände bildenden, sehr niedrigen Ge- birgslande von dem Schifi" aus schöne, grüne Nadel- wälder; sobald man aber das Fernglas zur Hand nimmt, tauchen überall große Strecken mit kahlen, abgebrannten, emporragenden Baumstämmen auf, zwischen denen eine neue, jüngere Vegetations- decke Platz gegriffen hat. Dieser Anblick von ganz jungem (wenn das Feuer erst kürzlich an der Stelle war) oder mehrjährigem Wald (wenn das F"euer vor mehr oder minder längerer Zeit hauste) überragt von den nackten, kahlen Baumstämmen des alten, zugrunde gegangenen Waldes; das ist das charakteristische Landschaftsbild sowohl der östlichen als auch der westlichen Wald- region Süd-Kanadas überall dort, wo Eisenbahn- linien vorhanden sind und leider sehr vielfach auch dort, wo das nicht der P"all ist! Die unendlich traurig aussehenden Reste ab- gebrannter Wälder sind daher ein Anblick, der den Reisenden auf irgend einer kanadischen Eisen- bahnstrecke nicht verläßt, und jeder, der durch Kanada im Sommer, namentlich im Juli und August, eine größere Reise macht, kennt diese Brände aus eigener Anschauung; ich mußte auf Abgebrannter Wald einige engl. Meilen aufwärts von Crawford Bay. einer allein unternommenen Exkursion in der Nähe von Cobalt vor einem dieser Waldbrände kehrtmachen. Besonders eindrucksvoll sahen wir Brände am 5. September bei der Fahrt von Cobalt nach Liskeard in der Umgebung dieser Ortschaft. An vielen Orten im Walde glühte und brannte es hier zum Teil in hell und hoch auf- lodernden Flammen: ein machtvoller, fürchter- licher Anblick in der Nacht, den ich vielleicht schön gefunden hätte, wenn es nicht nieder- drückend gewesen wäre, die Pracht und Wunder- barkeit der Urnatur unersetzlich so schnell unter- gehen zu sehen. Als wenn es neblig wäre, scheint bei ausgedehnten Bränden am Tage die Sonne als deutliche, glühend rote Kugel durch den Rauch, so daß man in sie hineinsehen kann ohne ge- blendet zu werden. Der Rauch beißt in die Augen; die Luft ist verdorben. 234 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. IS Wüst sieht es besonders in manchen Minen- distrikten aus, aber das furchtbarste war mir die Gegend um Creighton und Copper Cliff bei Sudbury, wo auch noch die schweflige Säure der Werke die Luft fast unerträglich macht und jede neu- erwachende Vegetation gänzlich unterdrückt wird. Kahl und öde, ohne jedes kleinste Grashäimchen liegt die staubende Fläche vor uns, nur durch die noch verbliebenen, schwer zu beseitigenden Baum- stubben davon zeugend, daß kürzlich hier ein Urwald gestanden hat. „Trampelpflanzen" wie Polygonum aviculare, Plantago maior und wenige andere kleine , meist ursprünglich europäische Ruderalpfianzen stellen die einzige Vegetation an geschützten Stellen des gegen die vorherrschende Windrichtung vom Werk aus (in Luv) angelegten Ortes dar, während in Lee aber auch alles und jedes Leben vernichtet ist. Dem Kanadier sind solche Anblicke vertraut. Wie schnell gewöhnt sich nicht der Mensch namentlich an das Unver- meidliche, an das, was durch ihn als einzelnen nicht zu ändern ist I Wiederholt habe ich brennende Waldteile in der Nähe von Häusern gesehen, die wie die überwiegende Zahl in Kanada aus Holz erbaut waren. Die Einwohner erschienen und waren wohl auch ziemlich sorglos. Sie rechnen auf einen der seltenen Regen, der dem Feuer ganz oder zum Teil Einhalt gebietet und schließlich kommt ja auch der Winter mit seinem vielen Schnee, der die Feuerplage für Monate unterdrückt. Fern von den Eisenbahnen und den Gemein- den gibt es noch große Urwaldstrecken, aber nur noch gelegentlich in der Xähe derselben. Es ist daher durchaus nicht mehr ohne weiteres erreich- bar, an oder in nächster Nähe von größeren Ver- kehrswegen noch die volle Urnatur zu sehen, und ich habe daher in dieser Absicht mehrtägige Ex- kursionen ins Land hinein machen müssen. Oft wird man durch den äußeren Anblick getäuscht. So trat ich — um nur ein Beispiel zu nennen — in den von Moyie (B. C.) aus unberührt aussehen- den Wald am anderen Ufer des Sees, der sich als ein alter Lärchenbestand erwies mit jungen, bis etwa 15 Jahre altem Anflug; alles ältere war mit Ausnahme der stärksten Bäume ausgebrannt. Es ist merkwürdig zu sehen, daß hohe, alte Bäume mit ihrer sehr dicken Rinde durch diese geschützt ein durch das Unterholz gehendes Feuer ver- tragen; nur die Rinde am Fuße der Bäume ist angekohlt. Die neu aufwachsende Unterflora ist trotzdem überraschend wechselvoll, aber manche seltene Art mag doch für immer in solchen Wäldern verschwunden sein. Sehr viele Flächen, groß wie europäische Königreiche, sind abgebrannt. Im ganzen sollen vielleicht in ganz Kanada etwa 60 "/,, der ur- sprünglichen Wälder nach Herrn Fernow ver- brannt oder einmal abgebrannt sein, und es ist verbürgt, daß die Prärie an Ausdehnung durch Brände an ihrem Ostrande zugenommen hat. Hier dürfte die eventuelle Wiederaufforstung stellen- weise bedeutenden Schwierigkeiten begegnen. Denn nur sehr langsam und allmählich vermag unter klimatischen Bedingungen, wie denen der Prärie, der Wald sich vom Walde aus auszubreiten im Schutze eines bereits vorhandenen Bestandes. Sicher hat der heutige Wald ursprünglich nur sehr langsam vorrückend allmählich vom Boden am Rande der Prärie Besitz ergrififen. Auch die Wiederbewaldung mancher abge- brannten Strecken auf Felsboden wird dort un- gemein lange Zeit in Anspruch nehmen, wo der allmählich entstandene Humus (der in Kanada fast in allen Wäldern vorhandene Trockentorf) mitverbrannt und verweht ist, so daß die Wurzeln keinen lockeren Boden mehr vorfinden. Nun wird zur C. P. R. weiter nördlich zur Er- schließung neuer Gelände eine mächtige Parallel- bahn gebaut und dann wird auch dort das Brennen an der Tagesordnung sein, wo jetzt noch etwas mehr natürliche Verhältnisse herrschen als weiter im Süden. (Schluß folgt.) Kleinere Mitteilungen. Die Plastizität der Menschenrassen, ihre Abänderungsfähigkeit unter den Einwirkungen der Umwelt, in erster Linie geographischer und wirt- schaftlicher P'aktoren, ist eine noch viel umstrittene Frage. Manche Autoren nehmen an, daß sich Anatomie und Psychologie der Rassen veränderten Bedingungen der Umwelt mit großer Geschwin- digkeit anpassen, wie z. B. F". Oppheimer in seinen „Modernen Rassentheorien". Mit Vorliebe werden die Bewohner der Vereinigten Staaten von Amerika genannt — sowohl Pluropäer als Neger — um die große Plastizität der Rassen unter äußeren Einwirkungen zu beweisen. Auch Charles Darwin sagt in seinem Werke über die „Abstammung des Menschen", es werde allgemein angenommen, daß „die europäischen Ansiedler in den Vereinigten Staaten eine geringe, aber außerordentlich rasch eintretende Veränderung ihres Aussehens" erleiden, besonders eine Zunahme der Körperlänge, und weiter, daß eine beträchtliche Menge von Be- weisen da ist, ,, welche dartun, daß in den süd- lichen Staaten die Haussklauen der dritten Gene- ration in ihrer äußeren Erscheinung von den Feldsklaven deutlich verschieden sind". Gleich darauf wird freilich bemerkt: „Wenn wir indessen die Menschenrassen betrachten, wie sie über die Erde verteilt sind, so müssen wir zu dem Schlüsse gelangen, daß ihre charakteristischen Verschieden- heiten durch die direkte Wirkung verschiedener Lebensbedingungen, selbst wenn sie solchen eine enorme Zeit hindurch dauernd ausgesetzt gewesen sind, nicht erklärt werden können." Darwin weist N. F. VIII. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 235 auf die Eskimo hin; sie „leben ausschließlich von animaler Kost, sie sind mit dicken Pelzen be- kleidet und sind einer intensiven Kälte und lange dauernder Dunkelheit ausgesetzt; und doch weichen sie in keinem außerordentlichen Grade von den Einwohnern des südlichen China ab, welche gänz- lich von vegetabilischer Kost leben und beinahe nackt einem heißen, ja glühenden Klima ausgesetzt sind. Die unbekleideten Feuerländer leben von den Meereserzeugnissen ihrer unwirtlichen Küste, die Botokuden wandern in den heißen Wäldern des Innern (Südamerikas) umher und leben haupt- sächlich von vegetabilischen Erzeugnissen ; und doch sind beide Stämme einander so ähnlich, daß die Feuerländer an Bord des ,Beagle' von mehreren Brasilianern für Botokuden gehalten wurden." ') Solche Beispiele könnten viele ange- führt werden. Die Lebensbedingungen, welche die europäi- schen Kolonisten in Nordamerika vorfanden, waren keineswegs von den in der Heimat herrschenden sehr verschieden. Bei den Negern ist andererseits die Differenz unstreitig groß gewesen. Dennoch sind auffallende V^eränderungen bei allen heute in den Vereinigten Staaten nebeneinander wohnenden Rassen nur zum wenigsten auf geänderte äußere Lebensbedingungen zurückzuführen — auf die stärkere F'ortpflaiizung von Personen, die mit ge- wissen diesen Bedingungen besser angepaßten Eigenschaften ausgestattet waren — vorwiegend hingegen auf Rassenkreuzung. Das wird in an- deren Ländern mit gemischter Bevölkerung wohl gleichfalls zutreffen. Häufig hat man eine Wechselbeziehung zwischen der F'ärbung der Haut und dem Klima des Wohn- gebietes einer menschlichen Varietät nachweisen wollen; daß hierin kein allgemeiner ursächlicher Zusammenhang besteht, zeigt Dr. L. Sofer im „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie" (1908, Heft 5 — 6) an einer Reihe von Beispielen: Die Völkerschaften in der Nähe des Nordpols, wie die Lappen, Samojeden, Eskimo, sind dunkel pigmentiert, weiter im Süden folgen ihnen in Europa wie in Asien Angehörige heller pigmen- tierter Rassen. ,,In Amerika waren die alten Indianer Kaliforniens unter 42" n. Br. geradeso schwarz wie die Neger Guineas, während sich südlich von ihnen Stämme mit olivenfarbenem oder rötlichem, d. h. relativ hellem Teint an- schlössen. In Afrika wohnen die dunkelsten Neger unter 12" oder 15'' n. Br., während die Hautfarbe weiter nach dem Äquator zu heller wird", usw. — Die Höhenlage eines Gebiets über dem Meeresspiegel wurde ebenfalls als Erklärungs- grund von Differenzen der Hautfarbe genannt; vorzugsweise finden sich „die helleren Färbungen auf den Bergen, die dunkleren in den Ebenen". Eine ausnahmslos gültige Regel ist das nicht. So kann man leicht beobachten, daß in Deutsch- ') Darwin, Die Abstammung des Menschen. (Dr. 11. Schraidl's Übersetzung.) S. 140— 141. Leipzig, Kröner's Verlag. land die Pigmentierung der Bevölkerung der Ebenen im Nordwesten weit heller ist als die der Alpen- oder der Schwarzwaldbewohner. Die Abessinier sind umso schwärzer, je höher sie wohnen, und Humboldt fand, daß die Indianer der Kordillerenhochländer der tropischen Zone dieselbe Hautfarbe haben wie die auf den St. Chinc-Inseln unter 45'^ s. Br. — Die Natur des Haares, ob schlicht oder kraus, differiert unter denselben äußeren Lebensbedingungen stark, eben- sosehr wie die Körperlänge, die Kopfform und andere Merkmale. Bedeutend rascher als durch geographische Einflüsse treten Veränderungen der menschlichen Rassen infolge der Kreuzungen und der sozialen Verhältnisse ein. Dr. Sofer bemerkt richtig, die Kreuzung habe nicht den Erfolg, „daß die neu- entstehende Mischrasse den Mittelweg zwischen den divergierenden Merkmalen einschlagen muß, sondern daß nach Mendel sich die einzelnen Merkmale selbständig vererben können". Die Juden sind „hauptsächlich durch Kreuzung einer langköpfigen Rasse mit einer breitköpfigen ent- standen. Die Folge davon war nicht etwa Meso- cephalie, sondern im allgemeinen erwies sich die Brachycephalie als dominierend." Wie sehr soziale Verhältnisse das Aussehen der Rassen ändern können, dafür sieht Dr. Sofer wieder in den Juden einen Beweis. Er sagt, unter einer blonden nicht- jüdischen Bevölkerung genießt der blonde Jude Vorteile ; ,,er findet leichter sein Fortkommen, erlangt leichter Anstellungen und kommt daher leichter zur Gründung eines Haushalts und zur Fortpflanzung. Dazu kommt, daß der weibliche Teil der jüdischen Bevölkerung unwillkürlich das Schönheitsideal der in großer Mehrheit vorhan- denen Nicht-Juden annimmt, so daß nicht nur der Kampf ums Dasein, sondern auch die ge- schlechtliche Zuchtwahl die Blonden begünstigt, und sie sich hier als die Passendsten erweisen." Unter einer brünetten Bevölkerung gilt das Ent- gegengesetzte, der blonde Jude wird bei ihr ,,als fremder, spezifisch jüdischer Typus empfunden werden". Der gleiche Grundsatz gilt für jede Minorität ; überall benutzt die schwächere Rasse solche Möglichkeiten , um sich der stärkeren anzunähern. Derselbe Vorgang ist bei der Akklimatisation zu beobachten. Wandert eine Rasse etwa vom Norden nach den Tropen oder Subtropen, „so werden die Brünetten günstigere Verhältnisse finden, sowohl um erstens überhaupt zu leben, zweitens um sich fortzupflanzen. Die Blonden werden entweder Krankheiten zum Opfer fallen, oder zur Rückkehr in die Heimat sich ge- zwungen sehen, oder jedenfalls sehr schwer sich fortpflanzen. Dadurch wird sich natürlich das Bild einer eingewanderten, z. B. deutschen Be- völkerung in den Tropen in wenigen Generationen sehr ändern, da das Gleichgewicht zwischen Blonden und Brünetten, das in der Heimat im allgemeinen besteht, entschieden gestört werden und in ein sehr starkes Übergewicht der Brünetten >36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 15 umgewandelt wird." — Hier könnte man die deutschen Kolonisten in Südbrasilien erwähnen, unter welchen der blonde Typus nur mehr schwach vertreten ist. Aber auch bei ihnen haben Mischehen mit den umwohnenden Portu- giesen und Italienern nicht gerade wenig zu dem Ergebnis beigetragen. Fehlinger. Die Fortpflanzung von Arcella vulgaris Ehrbg. ist neuerdings wieder durch Elpatiewsky (Archiv für Protistenkunde, Bd. 10, 1907) und Swarczewsky (Archiv für Protistenkunde, Bd. 12, 1908) studiert worden. R. Hertwig undE. Lesser hatten bereits 1874 entdeckt, daß das Tier sich fortpflanzt, indem es eine Tochter- schale bildet, in welche die Hälfte des Plasma- leibes fließt; 1875 hatte Bütschli gefunden, daß im Körper von Arcella amöboide Gebilde auf- treten, nachdem zwei oder drei Individuen einige Zeit durch plasmatische Brücken verbunden waren. Gruber wies 1892 nach, daß der Übergang vom einkernigen zum zweikernigen Zustande durch mitotische Teilung staltfindet. In einer neueren Arbeit (1899) zeigte R. Hertwig, daß außer den Kernen noch das sog. Chromidium, eine Sphäre kleiner Kcrnkörperchen , vorhanden ist; aus dieser Substanz bilden sich Sekundärkerne, nachdem die Primärkerne degeneriert sind. Awerinzew fand 1906, daß es zur Bildung von zwei Arten amöboider Körper, zu Macro- und Microamöben, kommt; die Kerne derselben sind Sekundärkerne. Wir können bei Arcella eine vegetative und eine geschlechtliche Fortpflanzung unterscheiden. Die vegetative Fortpflanzung kann auf dreierlei Weise erfolgen: i. durch Zweiteilung, 2. durch Knospenbildung und 3. durch Zerfall des ganzen Plasmaleibes in Agameten oder Pseu- dopodiosporen. Direkt vor der Teilung scheidet das Tier alle Nahrungsreste aus. Die Chromidien ver- breiten sich gleichmäßig im ganzen Körper. Die Teilung erfolgt dann in der von Hertwig und Lesser beschriebenen Weise; etwa die Hälfte des Plasmas tritt aus der Schalenmündung und bildet an ihrer Oberfläche sofort eine dünne, strukturlose, durchsichtige Membran, die der inneren Schicht der Schale des erwachsenen Tieres entspricht. Das Plasma des Tochtertieres fließt wieder in das Muttertier zurück, um dann wieder hervorzuströmen. Dieser Vorgang wieder- holt sich etwa 3 — 4 mal; dann hat das Tochter- tier ebensoviel Plasma und Chromidium wie das Muttertier. Die beiden Kerne beginnen vom ersten Ausströmen an, sich mitotisch zu teilen, wobei die Kernmembran erhalten bleibt. Sie teilen sich etwa gleichzeitig, doch bestehen nach Swarczewsky Ausnahmen. Von jedem der beiden Kerne wandert eine Hälfte auf der Plasma- brücke in das Tochterticr, während die Kerne der Mutter näher an die Körperoberfläche rücken. Die Teilung erfolgt meist in der Nacht. Man trifft in dem Material, das man am Tage fixiert, nur äußerst selten Tiere, die sich in Teilung be- finden, dagegen häufig in dem Material, das spät abends fixiert wurde. Häufig, aber niclit immer, sind die Tochtertiere größer als die Muttertiere. Die Knospenbildung kann bei Arcella während des ganzen Lebens vor sich gehen. Zu- erst trennen sich von der Chromidiummasse Teile ab, die in der oberflächlichsten Schicht des Plasmas liegen. Die innere Struktur der Chromi- dialteile ist anfangs normal, d. h. man erkennt ein Netz, in dessen Maschen eine Menge von Chromatinkörnchen eingelagert sind. Die Netz- struktur verschwindet dann, der Umfang des Chromidiumklümpchens nimmt ab, weil es sich abrundet und kompakter wird. So entstehen die Anlagen der Sekundärkerne, die später zu den Kernen der amöboiden Knospen werden. Die Zahl der entstehenden Sekundärkerne ist sehr verschieden ; sie schwankt nach den Beobachtungen von Swarczewsky zwischen eins bis sechs und mehr. Auch ihre Größe ist verschieden ; sie be- trug 3 — 5 !"• Um die entstandenen Chromatinkugeln bildet sich nun ein Plasmahof, und die Knospe trennt sich dann vom Körper des Muttertieres los. Sie tritt in Form einer kleinen Amöbe aus der Schalenöffnung heraus. In dem Körper der freien Amöbe geht dann die Differenzierung des Kerns noch weiter, bis sich eine deutliche Kernmembran gebildet hat. Das weitere Schicksal der Knospen ist bis jetzt noch unbekannt. Fig. I. Als dritte Form der vegetativen Fortpflanzung besitzt Arcella die Pseudopodiosporenbil- dung oder — wie sie Swarczewsky be- zeichnet — die Agamogonie. Hierzu wird nicht der ganze Körper des Muttertieres ver- wendet, sondern ein Teil des Plasmaleibes bleibt in der Schale zurück. In diesem Restkörper liegen stets zwei Primärkerne. Die Pseudopodio- sporen (Agameten) sind von ungleicher Größe und entstehen unter normalen Verhältnissen nach- einander. Man kann aber manchmal eine Art von „Agametenbildungsepidemie" beobachten, ein Vorgang, der sehr schnell verläuft, so daß fast alle neugebildeten amöboiden Körper die Schale der Mutter gleichzeitig verlassen. Wenn sich die Amöben ein Stück von dem Muttertier entfernt haben, wandeln sie ihre kurzen, breiten Pseudo- podien in dünne, radial angeordnete um. Sie N. F. VIII. Nr. IS Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 237 haben dann eine gewisse Ähnlichkeit mit Helio- zoen. Sie rollen in diesem Zustande etwa 2 — 3 Stunden auf dem Boden des Kulturgefäßes umher und nehmen hierauf wieder die amöboide Form an. Es beginnt nun ein starker Ernährungs- prozeß, der ein schnelles W'achstum bedingt. Zu dieser Zeit bildet die Amöbe eine dünne, struk- turlose Schale, die gelblich gefärbt ist und — wie der Körper — eine unregelmäßige Form zeigt. Das Plasma quillt jetzt stärker auf und rundet sich ab; die Schale erhärtet dann und bildet sich allmäh- lich zu der Arcellaschale mit ihrer Mündung um. Fig- 3- A. Das erwachsene Tier (l) vermehrt sich durch Zweiteilung. — ß. Die geschlechtliche Fortpflanzung beginnt mit der Bildung in verschiedenen Individuen verschieden großer Se- kundärkerne (2 a, 2 b), worauf die Bildung von Makro- und Mikrogameten erfolgt (3 a, 3 b); diese kopulieren (4); die Kopula wächst an, scheidet eine Schale aus (5); der Kern teilt sich und wir haben das erwachsene Individuum (i) vor uns. — . C. Die Agamogonie kann zwei Wege einschlagen : — Ca. Im Sommer entstehen im Chromidium Sekundärkerne (6) und es folgt darauf entweder der Austritt des ganzen Plasmakörpers (7 a) oder einzelner junger Amöben (7 b) aus der Schale. Der eine wie der andere Vorgang führen zur Ent- stehung .\ ««-/Mr/d-ähnlicher Individuen (8) , die durch spätere Schalenausscheidung (9) und Kernteilung zur typischen Arcella werden (i). — Cß. Im Herbst geht der Bildung der Aga- meten die Chromidiogamie (10) voraus, worauf Sekundärkerne entstehen (l i). T)\t ^'uclem■ia- ähnlichen Tiere (12) verlassen die Schale usw. (13, 14) bis zur Arcella (l). Der Kern des jungen Tieres teilt sich jetzt mitotisch, womit die Umwandlung zur zwei-, kernigen Form abgeschlossen ist. Swarczewsky beschreibt noch einen gleich- wertigen Prozeß, der parallel zu dem eben be- schriebenen verläuft. Der ganze Plasmaleib tritt heraus und schwillt stark an. Dieser Körper bildet eine Anzahl Knospen, die 5—25 u groß sind. In dem Plasma der Knospen treten dann Vakuolen auf, und die Kerne werden sichtbar; meistens liegt in jeder Knospe ein Kern. Die neugebildeten Knospen trennen sich nun vom übrigen Körper und teilen sich. In anderen Fällen tritt nur ein Teil des Protoplasmas aus der Schale und besitzt derselbe entweder nur einen großen oder auch noch eine Anzahl kleinerer Sekundär- kerne. In frischen Kulturen zerfällt die Plasma- masse schon wenige Minuten nach Verlassen der Schale in einzelne amöboide Körper. Wir kommen jetzt zu der geschlecht- lichen Fortpflanzung von Arcella, die in der Bildung von Macro- und Microamöben be- steht. R. Hertwig entdeckte 1899, daß sich aus Verdichtungen von einzelnen Stellen des Chromidiums Kerne bil- deten, die er Sekundär- kerne nannte. Aus solchen Sekundärkernen gehen bei verschiedenen Proto- zoen, so auch bei den verschiedenen Arten von Arcella, die Macro- und Microamöben hervor. Die genaueren Vorgänge können wir hier nicht beschreiben. Der Rest- körper des Tieres geht nach der Bildung dieser Produkte zugrunde, in selteneren Fällen regene- riert er. Elpatiewsky konnte feststellen , daß die Zahl der von einem Individuum erzeugten Microamöben 39 betrug, während meist nur 8 — 9 Macroamöben gebildet werden. Auch diese bei- den Formen nehmen ein heliozoenähnliches Aus- sehen an. In diesem Zu- stande kopulieren sie ; danach erlangen sie ihre amöboide Gestalt wieder. Ihre weitere Entwicklung ist unbekannt. Swarczewsky konnte noch einen neuen Vorgang bei Arcella beobachten, den er Chromidiogamie nennt. Die Kulturen waren 5 — 7 Tage lang einer Temperatur von 6 — 8" C ausgesetzt worden, als die Arcellen in paarweise Verbindung traten. Eine Arcella kriecht zu diesem Zwecke an eine andere heran, heftet sich an ihr mit ihren Pseudopodien an und nimmt eine vertikale Lage zu ihr ein, indem sie sich auf den Rand ihrer Schale stellt (s. Fig. i). Nach einiger Zeit stellt sich die andere Arcella eben- falls senkrecht hin, so daß die Schalenöffnungen beider Tiere einander zugewandt sind. Ihre Pseudopodien verschmelzen dann, und die Schalen- 238 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. Vm. Nr. 15 Öffnungen fügen sich fest aneinander. In diesem Zustande verharren die Tiere 2 — 24 Stunden. Fast das gesamte Plasma der einen Arcella tritt währenddessen in die Schale der anderen (s. Fig. 2). Das Plasma verteilt sich dann wieder gleichmäßig, und die Tiere kriechen auseinander. Bütschli hat den gleichen Vorgang, der normal im Herbst stattzufinden scheint, auch beobachtet und als Conjugalion beschrieben. Swarczewsky glaubt, daß die beobachtete Erscheinung nicht unter den Begrift" der Conjuga- tion falle, weil keine Caryogamie stattfindet. Hier beginnt nämlich kurze Zeit nach der Verschmel- zung eine Kerndegeneration, die auf verschiedene Weise vor sich gehen kann. Ungefähr gleich- zeitig mit der Kerndegeneration beginnen auch in den Chromidien Veränderungen. Die Netzstruktur verwischt sich, sie zerfallen in Stücke, verlieren an Umfang und scheinen ihr Chromatin an das Plasma abzugeben. Auch andere Arten des Zer- falls der Chromidien führen schließlich dazu, daß wir Tiere vor uns sehen, die kein geformtes Chromatin mehr enthalten. Wahrscheinlich findet beim Übertritt des Plasmas eine Vereinigung der chromatischen Substanz beider Tiere statt. Schon Bütschli hatte bei der Vereinigung der Arcellen den Austritt amöboider Körper be- obachtet; S. kann diesen Befund bestätigen. Man findet schon zur Zeit der Verbindung beider Tiere in ihrem Plasma Chromatinanhäufungen in Form von Klümpchen; sie stellen die Anlage der Sekun- därkerne dar. Dann erfolgt die Bildung der amöboiden Körper. Fassen wir die einzelnen Phasen der Chromidiogamie noch einmal zu- sammen, so erhalten wir i. Degeneration der Primärkerne, 2. Verteilung des Chromidiums im Plasma, 3. Austausch der chromatischen Sub- stanzen zweier Tiere, 4. Neubildung der Sekundär- kerne aus dem im Plasma verteilten Chromidium. Ein anderer Vereinigungsvorgang, der schon oft beschrieben worden ist, der aber von der Chromidiogamie getrennt werden muß, ist die Piasmogami e. Es vereinigen sich hier nicht nur zwei, sondern sogar bis 15 und mehr Tiere. Swarczewsky glaubt, die Plasmogamie auf chemotaktische Wirkung, die von Nahrungs- teilchen auf die Tiere ausgeübt wird, zurückführen zu müssen. Arcella hat gewöhnlich zwei große Primär- kerne, manchmal wächst aber ihre Zahl bis auf 6 an. Elpatiewsky erklärt die Zunahme da- durch , daß die Teilung der Kerne nicht zu gleicher Zeit eintritt und darauf keine Zweiteilung der Tiere erfolgt. Fassen wir alle Fortpflanzungserscheinungen von Arcella vulgaris zusammen, so erhalten wir folgenden Lebenslauf: Die erwachsenen P"ormen vermehren sich von Zeit zu Zeit durch gewöhn- liche Zweiteilung. Das Tier kann außerdem in einzelne oder in eine Menge von Knospen zer- fallen, die sich durch Wachstum und Ausschei- dung einer Schale zur Grundform heranbilden (Agamogonie). Nach einer Reihe von Teilungen tritt eine neue Fortpflanzungsperiode ein, die Gamogonie. Es werden Anisogameten gebildet, welche kopulieren. Die Copula wird wieder zur Grundform. Im Herbst findet ein zweiter ge- schlechtlicher Prozeß statt, die Chromidiogamie. Es ist also ein ziemlich komplizierter Generations- wechsel bei Arcella vorhanden, der am besten durch das beistehende Schema (Fig. 3) erläutert wird. Dr. P. Brohmer, Jena. Der Riesenhirsch. — Für die Sammlungen des Polytechnikums in Zürich ist als Prachtstück ein Riesenhirsch erworben worden, was Veran- lassung war, daß Prof Dr. Hescheler im Neujahrs- blatt der dortigen Naturforsch. Gesellschaft für 1909 dieses Tier behandelt. Der Riesenhirsch, von dem die meisten Reste in Irland gefunden werden, ist ausgestorben. Schon 1697 wurde von Molyneux eine Beschreibung des Skelettes gegeben , und einem hirschartigen Tier zugeschrieben, während seine Zeitgenossen solche Knochen als Naturspiele betrachteten. Cuvier waren keine geweihlosen Schädel bekannt, weshalb er annahm, daß beide Geschlechter den stolzen Schmuck getragen haben; er benennt ihn als Cervus megaceros, Oven als Megaceros hibernicos. Dieser Forscher stellte auch fest, daß dem Weib- chen das Geweih abging. An die irischen Funde schlössen sich daim solche aus Frankreich, der Lombardei, Deutschland, dem untern Donau- und Wolgagebiet, dem übrigen Rußland und östlichen Sibirien, so daß Pohlig 1892 mehrere Rassen dieses von ihm Cervus euryceros genaimten Hirsches unterscheiden kann, von denen der irische sich durch das größte Geweih auszeichnet, da seine Spannweite 3 — 4 m beträgt. Es ist zweifelhaft, ob der Mensch ein Zeit- genosse des Riesenhirsches war, dessen Reste im Diluvium gefunden werden. Die geologische Verbreitung ist ebenfalls nicht sicher gestellt. Doch scheint er sich von Süd- und Westeuropa nach Norden und Osten ausgebreitet zu haben. Pohlig sucht seinen Ursprung in obertertiären Cerviden. Der außerordentliche Reichtum Irlands an Resten wird durch den Mangel an größeren Raub- tieren erklärt, die gleichzeitig mit dem Riesen- hirsch daselbst lebten. Daß die männlichen Skelette bei weitem die Mehrzahl ausmachen, ist auf das schwere Geweih zurückzuführen; im morastigen Seegrund sanken die Männchen ein und vermochten sich nicht herauszuarbeiten. Beträgt doch das Gewicht ihrer Kopfzier und -Waffe bis 45 kg. An Größe übertrifft der Riesenhirsch das Elen nur wenig, dagegen sind die Halswirbel des schweren Geweihes wegen weit massiger. Die Höhe des Züricher Skelettes beträgt bis zur obersten Stelle des Rückens 185, bis zur obersten Spitze des Geweihes 309 und dessen Spannweite N. F. VIII. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 239 374 cm. Der C. euryceros trug ähnlich dem Damhirsch ein Schaufelgeweih mit nach dem Alter wechselnder Spitzenzahl, die im Maximum 10— II beträgt. Die Variabilität der Geweihform ist groß. Sicher wechselte der Riesenhirsch das Gehörne alijährlich. Da dessen Jugendstadien einfachere Verhältnisse aufweisen und seine geo- logisch älteren Vorfahren kleinere Geweihe be- saßen, hat sich offenbar der Riesenhirsch aus F"ormen mit einfacheren Geweihen herausent- wickelt; die Funde liefern also einen weitern Be- weis für die Richtigkeit des biogenetischen Grund- gesetzes. Dr. K. Bretscher. Aus dem wissenschaftlichen Leben. Ein radiologisclies Institut wird, wie die ,, Deutsche Kevue" vom März 1909 berichtet, in Heidelberg unter Prof. Lenard's Leitung mit großen, durch eine Stiftung dargebotenen Mitteln bereits zu Ostern igog eröffnet werden. Es wird dies das erste reichsdeutsche Institut sein, daß speziell für die Krforschung der neueren Strahlungen, namentlich der- jenigen des Radiums, ausgerüstet ist und es sind bedeutsame Fortschritte in der Erkenntnis dieses gegenwärtig im Mittel- punkte des Interesses stehenden Gebietes von ihm zu erwarten, zumal der Name seines Leiters Gewähr bietet für volle Aus- nutzung der dargebotenen Gelegenheit zu ernster Forschung. Auch die praktischen .Anwendungen der Radiologie, nament- lich auf medizinischem Gebiete, werden gebührende Pflege finden, die im benachbarten Kreuznach aus Quellensedimenten hergestellten Radiumpräparate werden von dort zur Verfügung gestellt werden und zu klinischen Beobachtungen hat eine von namhaften .Ärzten geleitete Klinik ihre Mitwirkung zugesagt. Bücherbesprechungen. Prof. Dr. J. B. Messerschmitt, Die Erde als Himmelskörper. Serie B Band i der von Prof. Lampert herausgegebenen Sammlung „Natur- wissenschaftliche Wegweiser". 2 1 7 Seiten mit 5 Tafeln und 140 .\bbild. Stuttgart, Strecker & Schroeder, 1909. — Preis 2 Mk., geb. 2,80 Mk. Das Buch stellt eine anregend geschriebene astro- nomische Geographie dar. Die reiche Illustrierung wird zur Erleichterung des Verständnisses wesentlich beitragen. Originelle Darstellungen finden sich z. B. für die Osterdaten , für die Ableitung der Erdkrüm- mung aus Spiegelbildern im Wasser, das Geoid in der Schweiz, die Bahn der Sonne und Erde im Welt- raum, die Verschiebung des Pols infolge der Prä- zession, die Wiederkehr der Finsternisse und Venus- durchgänge, .Azimute und Entfernungen von München usw. Besonders hervorgehoben sei der im Vergleich zu dem Gebotenen äußerst niedrige Preis des Buches, der eine weite Verbreitung desselben ermöglichen wird. Kbr. Prof Dr. D. Hilbert, Grundlagen der Geo- metrie. 3. Auflage. 279 Seiten mit zahlreichen Figuren. Bd. VII der Sammlung „Wissenschaft und Hypothese". Leipzig, B. G. Teubner, 1909. — Preis geb. 6 Mk. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß diese Mono- graphie über die Grundlagen der Geometrie nichts weniger als elementar ist, sondern einen hohen Grad von Abstraktionsvermögen und logischer Schulung bei dem Leser voraussetzt. H. versucht hier auf einem neuen Wege , für die Geometrie ein vollstän- diges und möglichst einfaches System von Axiomen aufzustellen und aus denselben die wichtigsten geo- metrischen Sätze abzuleiten. Im ersten Kapitel wer- den „die fünf Axiomgruppen" dargelegt, im zweiten wird deren Widerspruchslosigkeit und gegenseitige Unabhängigkeit untersucht und dann werden in weiteren Kapiteln die Proportionen, die Flächeninhalte, der Satz von Desargues, der Pascal'sche Satz und die geometrischen Konstruktionen behandelt. Mehr als die Hälfte des Bandes füllen jedoch die bei dieser Neuauflage hinzugekommenen sieben Anhänge, die z. B. die gerade Linie, den Satz von der Gleichheit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck, Flächen von konstanter Gauß'scher Krümmung usw. behandeln. Die beiden letzten Anhänge handeln vom Zahlbegriff und von den Grundlagen der Logik und Arithmetik. Kbr. Oberstleutnant Schuster, Der Einfluß des Mon- des auf unsere Atmosphäre. 31 Seiten mit 2 Tafeln. Karlsruhe, F. Gutsch , 1908. — Preis 1,40 Mk. Verf glaubt durch graphische Darstellung des Barometerverlaufs in Karlsruhe von 1873 bis 1907 einen Zusammenhang mit dem Mondutnlauf gefunden zu haben. Wir konnten uns von dem deutlichen Vorhandensein einer solchen Periode gleichwohl nicht überzeugen, denn die vom Verf gefundene „Ver- schiebung" der Luftdruckminima bei Anordnung der Beobachtungen nach der Erdferne scheint uns nichts Gesetzmäßiges zu enthalten. Übrigens täuscht sich der Verf, wenn er meint, seine nicht durch Unter- schriften erklärten Kurven könnten „jedem Gebildeten leicht faßlich" sein. Es ist vielleicht nicht überflüssig hinzuzufügen, daß Verf in seiner Arbeit eine Stütze für die Falb'sche Theorie sehen zu dürfen glaubt. Kbr. Literatur. Bütscbli, O. : Untersuchungen üb. organische Kalkgebilde, nebst Bemerkungen üb. organische Kieselgebilde, insbeson- dere über das spezifische Gewicht in Beziehung zu der Struktur, die chemische Zusammensetzung u. Anderes. Mit 4 Taf. u. 3 Textfig. (IV, 177 S.) Berlin '08, Weidmann. — 19 Mk. Detmer, Prof. Dr. W. : Das kleine pflanzenphysiologische Praktikum. .Anleitung zu pflanzenphysiolog. Experimenten f. Studierende u. Lehrer der Naturwissenschaft. 3 , vielfach veränd. Aufl. IXX, 319 S. m. 1 79 Abbildgn.) Lex. 8". Jena '07, G. Fischer. — 7 Mk., geb. 8 Mk, Diesterweg's populäre Himmelskunde u. mathematische Geo- graphie. Neu bearb. v. vorm. Dir. Dr. M. Wilh. Meyer u. Mitwirkg. v. weil. Real. -Gymn. -Dir. Prof. Dr. B. Schwalbe. 21., verb. Aufl. Von Dr. M. Wilh. Meyer. Mit 2 Stern- karten und 2 zu diesen gehörig. Pausekarten, 2 Ubersichts- karlen des Planeten .Mars, e. farbig ausgeführten Darstellg. e. .Sonnenfinsternis, e. Heliograv., 2 färb. Spekiraltafeln, 8 Vollbildern, über 100 in den Text gedr. Abbildgn., sowie dem Bildnis des Verf. in Kupferstich. (X, 458 S.) gr. S". Hamburg '09, H. Grand. — 7 Mk., geb. in Leinw. 8 Mk. Dost, Chem. Karl, u. Kreisarzt Verst. Rob. Hilgermann, DD.; 240 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 15 Taschenbuch f. d. chemische Untersuchung v. Wasser und Abwasser. (X, 100 S. ni. 17 Abbildgn.) kl. 8". Jena '08, G. Fischer. — Geb. in Leinw. 2 Mk. Fuhrmann, Priv.-Doz. Dr. Frz.: Leitfaden der Mikrophoto- graphie in der Mykologie. (V, 8S S. m. 33 Abbildgn. u. 3 Taf.) gr. 8". Jena '09, G. Fischer. — 3'Mk. Komorowicz, Maurice v. : Quer durch Island. Reiseschilde- rungen. Mit färb. u. schwarzen Bildern nach Orig. -Gemäl- den von Cecile v. Komorowicz u. Kurt Albrecht, sowie eigenen Aufnahmen. (139 S.) S". Charlottenburg 'oS, Schillcr-Buchh. — 2 Mk., geb. 3 MU. Polowzow, Warwara: Untersuchungen üb. Reizerscheinungen bei den Pflanzen. Mit Beriicksicht. der F.inwirkg. v. Gasen u. der geotrop. Reizerschein. Mit 11 Abbildgn. u. 12 Kur- ven im Text. (IV, 229 S.) gr. 8". Jena '09, G. Fischer. — 6 Mk. Stöckhardt's, .Ad., Schule der Chemie oder erster Unterricht in der Chemie, versinnlicht durch einfache Experimente. Zum Schulgebrauch u. zur Selbstbelehrg. insbesondere für angehende Apotheker, Landwirte, Gewerbetreibende usw. 21. Aufl. Bearb. v. Prof. Dr. Lassar-Cohn. Mit 204 ein- gedr. Abbildgn. u. i färb. Spektraltaf. (XXXV, 797 S.) 8°. Braunschweig '08, F. Vieweg & Sohn. — 7 Mk., geb. 8 Mk. Wagner, Herrn.: Lehrbuch der Geographie. 8. Aufl. Zu- gleich 3. Aufl. der Neubearbeitg. des Lehrbuchs der Geo- graphie V. Guthe -Wagner. I. Bd. Allgemeine Erdkunde. (XVIll, 990 S. m. 93 Fig.) gr. 8". Hannover '08, Hahn. — 14 Mk., geb. 16 Mk. Zeller, Dr. Eduard: Grundriß der Geschichte der griechischen Philosophie. 9. Aufl., bearb. v. Dr. Frz. Lortzing. (XII, 348 S.) gr. S». Leipzig '08, O. R. Reisland. — 5,40 Mk., geb. 6,20 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn Schi, in R. — Vom zoologischen Standpunkte (siehe S. 160) ist zur vermeintlichen Sternschnuppen- gallerte u. a. zu erwähnen, daß uns in Süßwasserseen die verschiedenartigsten, durch niedere Tiere (Rotatorien, Wasser- flöhe usw.) erzeugten Gallertmassen bekannt sind , z. B. von den koloniebildenden Rädertieren der Gattung Conochilus Ehr. oder von der Daphnidenart Holopedium gibberum Zad. Faustgroße glashelle Gallertkugeln werden ferner von einem koloniebildenden Urtier, Ophrydium versatile Müller, gebildet, das man nicht selten in größeren Teichen in ver- schiedenen Tiefen und auch am Ufer findet. Beim Planktonfischen erhält man hin und wieder das ganze Netz mit diesen Gallertmengen gefüllt. v. Buttel-Reepen. Als ,,SternschDuppengallerte" bezeichnet das Volk jedoch die Gallertklumpen nur, wenn sie sich auf dem Lande be- finden wie Kolonien von Nostocaceen. Ophrydium versatile findet sich z. B. alljährlich in Massen in den Seen der Seen- kette des Grunewaldes bei Berlin: im Schlachtensee usw. P. Herrn Lehrer E., Bonn. — 1. Die von der Crone- sehe Nährlösung ist nach neueren Erfahrungen die weitaus beste. Eine geringe Spur Kochsalz wird als Zusatz empfohlen. Für Schulversuche ist diese Lösung natürlich ebensogut zu ver- wenden wie die Knop'sche usw. 2. Zu Wasserkulluren ist es nicht notwendig, destilliertes Wasser zu nehmen; auch in reinem Leitungs- oder Brunnenwasser gezogene Pflanzen bleiben nach Aufzehrung der Reservestoffe des Samens sehr bald hinter den in Nährlösung kultivierten zurück. Nur dann muß man destilliertes Wasser verwenden, wenn man die Wirkung von Nährlösungen demonstrieren will, denen ein bestimmter not- wendiger Bestandteil fehlt. Die Wurzeln in den Gläsern mit Nährlösung sind natürlich zu verdunkeln, um Algenvegetation zu verhindern. Bakterien in äußerlich sichtbaren Mengen kommen eigentlich sehr selten vor. Sollten aber gelegentlich Bakterien auftreten, erneuert man die Lösung vollständig und setzt die Pflanzen erst nach gründlicher Reinigung des Wurzel- syslems in die Gläser zurück. Im übrigen braucht die Nähr- lösung gar nicht oder ein- bis zweimal während der Vegeta- tionsperiode erneuert zu werden, wenn man dafür sorgt, daß stets Wasser nachgefüllt wird. Es empfiehlt sich, gelegentlich das Wasser zu durchlüften oder die ganzen Pflanzen ab und zu einmal ein paar Tage lang aus der Nährlösung herauszu- nehmen und in Wasser zu setzen. — Die Versuche gelingen am besten im Sommer und zwar im Freien ; indessen lassen sich Wasserkulturen auch im Winter demonstrieren, wenn ge- nügend Luft und Sonne vorbanden ist. Mais ist kein sonder- lich günstiges Versuchsobjekt, besser eignen sich Vicia Faba, Phaseolus und Pisum, die man ohne große Schwierigkeit zum Blühen und Fruchtansatz bringen kann. Wächter. Herrn J. E. in Bonn. — Sie wünschen eine wissenschaftliche Erklärung dafür, daß im Bleikeller zu Bremen Leich- name un verwest bleiben. Eine solche ist vorläufig noch nicht einwandfrei gegeben. Wie mir Herr Prof. Stavenhagen mitteilt, erklärt man sich jene Tatsache durch Ionisation der Luft. Man hat auch in solchen Räumen (auch auf dem Kreuzberg bei Bonn findet sich diese Erscheinung) kupferne Drähte ausgespannt , sie nach einiger Zeit mit Papier abge- rieben und fand dieses danach radioaktiv. Möglicherweise spielt also die radioaktive Natur der Luft in den betr. Räumen eine Rolle. Vielleicht — wenigstens ist das auf dem großen St. Bernhard der Fall — ist auch nur die große Trockenheit der Luft die Ursache. In der Tat sind die Leichname einge- trocknet. Wenn man aber berücksichtigt, daß speziell im Bleikeller vielleicht noch mehr oder weniger große Mengen von Blei, infolgedessen auch Bleidämpfe vorhanden sind und daß Blei bis zu einem gewissen Grade radioaktiv ist, so muß die Möglichkeit zugegeben werden, daß radioaktive Wirkungen vorliegen. Lb. Seite 48 und 288 Bd. 1908 der Naturwiss. Wochenschrift las ich, wie man sich billige Lichtbilder (Diaposi- tive) machen könne. Ich hatte damals schon mehrere Versuche gemacht, u. a. hatte ich auf mattem Glas mit Tusche gezeichnet. Kein Versuch befriedigte mich recht. Da fiel mir eines Tages beim Experimentieren mit dem matten Glas ein Tropfen Gummilösung auf die Platte und ich machte die Beobachtung, daß das Glas wieder hinlänglich durchlässig wurde für ein Lichtbild; denn das Glas bleibt auch durch- sichtig wenn der Gummi wieder trocken wird. Ich hielt mit meiner Beobachtung zurück, weil ich erst erfahren wollte, ob die Bilder auch dauerhaft wären. Seitdem (ca. 2 bis 3 Jahre) habe ich mir viele Bilder, namentlich geologische, gezeichnet, und sie halten vortrefflich. Ich bestreiche eine matte Glasplatte mit einer Lösung von echtem Gummi arabi- cum (die käuflichen Lösungen kann ich nicht empfehlen — da sie gewöhnlich Dextrin sind, und das taugt nicht), gleiche Gewichtsteile Gummi und destilliertes Wasser. Je dünner die Schicht, desto besser. Ich nehme einen feinen Schulpinscl zum Auftragen des Gummis, für eine Platte 8,5X8,5 ist ge- wöhnlich ein Pinsel voll Gummi zureichend. In wenigen Miauten ist die Platte trocken , und man hat nun das treff- lichste Zeichenmaterial für Tusche, farbige Tinten, weichen Bleistift (Nr. l). Letzterer hat den Fehler verwischbar zu sein, und fixieren darf man nicht, da die Gummischicht fleckig wird, indem der Kalk im Gummi sich als kohlensaurer Kalk ausscheidet. A. Müller, Oberlehrer in .Aarhus (Dänemark). Inhalt: H. Potonie: Eine naturwissenschaftliche Exkursion durch Süd-Kanada. — Kleinere Mitteilungen: Fehlinger: Die Plastizität der Menschenrassen. — Elpatiewsky und Swarczewsky: Die Fortpflanzung von .\rcella vulgaris Ehrbg. — Dr. Hescheler: Der Riesenhirsch. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Prof. Dr. J. B. Messerschmitt: Die Erde als Himmelskörper. — Prof. Dr. D. H il ber l; Grundlagen der Geometrie. — Oberstleutnant Schuster: Der Einfluß des Mondes auf unsere Atmosphäre. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Kolge Vlll. liaml ■ der ganzen Reihe XXIV. Band. Sonntag, den i8. April 1909. Nummer IC. Eine naturwissenschaftliche Exkursion durch Süd-Kanada. [Nachdruck verboten.] Von H. Potonie Floristisches. — Schon bei der Betrach- tung der Ufer von den Dampfern aus sieht man, in den VValdregionen des östlichen und westlichen Süd-Kanada, d. h. diesseits und jenseits der Prärie, reinere Laubwälder — wie solche z. B. auf den alluvialen Niederungen des St. Lawrence Stromes zwischen Montreal und Quebec und an bei- den Seiten darüber hinaus vorhan- den sind — gegenüber der flächen- haft gewaltigen Ausdehnung von Nadelwald sehr zurücktreten. Die- sen sind freilich fast immer Laub- holzarten beigemengt, unter denen die Gattungen Betula, Populus und Acer sehr hervortreten. Die Gattungen Picea, Pinu.«, Abies, Tsuga und Thuja, Juniperus nur als Gesträuch, sind teils ge- mischt, teils in reineren Beständen vorhanden. Nur nach dem voll- ständigen Abbrennen pflegen meist Birken und Pappeln — besonders Betula papyrifera und Populus tre- muloides — die kahl gewordenen Stellen zunächst zu besetzen. In dem einen Urwald — der im näch- sten Jahre der Axt zum Opfer fallen soll — etwa 7 — 10 engl. Meilen im Tal aufwärts von Craw- ford Bay (B. C), fanden sich z. B. vorwiegend die namentlich in ihrer Jugend durch die flächenhaft wie große feinzerteilte Farnwedel aus- sehenden Zweige wundervolleThuja plicata gemischt mit Exemplaren von Tsuga und Pinus monticola in Bäumen mit zum Teil 2 m in Brust- höhe Durchmesser. Am Ribbon- Creek und den dortigen Rocky Mountains tritt fast ausschließlich Picea Engelmanni zusammen mit der ihr sehr ähnlichen und vielleicht besser nur als Varietät der genann- ten anzusehenden P. Macounii ent- gegen. Bei Quebec notierte ich einen Mischwald bestehend aus Pinus Strobus, Thuja occidentalis, Betula papyrifera usw. Der Waldraubbau, der in Kanada umgeht, ist eine Folge des großen Holzreichtums, ferner der Trans- port-Schwierigkeiten und der ge- ringen Bevölkerungszahl. Wo die (Schluß.) Wälder nur einigermaßen zugänglich sind, wurden fast überall die großen Bäume herausgenommen. Ich höre, daß im Durchschnitt für die Ausbeutung im Großen die Minimaldicke eines Stammes an Idyll aus Ucm Urwald 7 — lo engl. Meilen talaufwärts von Crawford Bay. Panax horridum, links oben Taxus brevifolia, rechts unten Phegopteris Dryopteris, links unten Aspidium spinulosum. Urwald südl. Kaslo am Kootenay Lake, links vorn mit ,, Skunk Cabbage" (Symplocarpus foetidusj. 242 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. i6 seinem schmalen Ende 14 Zoll sein muß bei einer ausnutzbaren Stammlänge von 32 Fuß. Was darun- ter ist, bleibt gegenwärtig meist ungenutzt. Unter den Bäumen befinden sich viele, die aus unseren Gärten und Parks jedem Gartenfreunde bekannt sind ; auch viele kanadische Sträucher Urwald südlich Kaslo. Sarracenia purpurea im Sphagnum-Polster, dahinter Ledum Hochmoor (Mer bleuej bei Ottawa. — Phot. von Herrn und Stauden sind zu uns gelangt: es sei nur erinnert an Berberis (Mahonia) aquifolium, Sym- phoricarpus racemosus, Solidago- und Asterarten. Das erste, was dem aus Mitteleuropa kommen- den Botaniker auffällt, wenn er seinen Fuß an Land setzt, ist aber das starke Vorwiegen euro- päischer Ankömmlinge dort, wo ein größerer Menschenverkehr statthat. Viel benutzte Land- wege und Plätze sind überall mit eingewanderten Pflanzen besetzt, stellenweise so stark, daß man oft glauben könnte in Deutschland zu sein. Zunächst sei der ,,Fuß des weißen" Mannes" erwähnt: Plantago maior. Von Gräsern seien diesbe- züglich genannt : Aira caryophyllea und praecox, Dactylis glomerata, Holcus lanatus, Nardus stricta, Pani- cum crus Galli und Setaria viridis, von Dicotyledonen (Calluna vulgaris), Capsella bursa pastoris, Chelidonium majus, Cichorium Intybus, Lactuca Scariola, Lappa officinalis, Lycopus europaeus, Lythrum Salicaria, Poly- gonum aviculare, Potentilla Anserina, die drei deutschen Sonchus- Arten, Spartium scoparium, in sehr großen Sträuchern bei Victoria (B. C.) massen- haft vorhanden, und endlich Taraxa- cum officinale. Weit weniger Arten wurden da- gegen aus Nordamerika zu uns ver- schleppt. Es sei nur erinnert an die für unsere Schiffahrt unangenehme Elodea canadensis, die sich bei uns wohler zu fühlen scheint als in Ka- nada, an Erigeron canadense, von dem man dasselbe sagen könnte, ferner an Ambrosia artemisiaeoides, die freilich bei uns nur unterge- ordnet und gelegentlich gefunden wird, dann aber an Oenothera bien- nis und Oxalis stricta und an die zuweilen aus unseren Gärten ver- wildernde Solidago canadensis. Es hieße für einen Botaniker fast vergeblich in Kanada gewesen sein , wenn er es versäumt hätte, dort die merkwürdige Kannen- pflanze, die ,,Pitcher plant" (Sarracenia purpurea) in ihrem natürlichen Vor- kommen zu beobachten. Auch ich war begierig, diese so charakteristi- sche Insekten verdauende Pflanzenart in der Natur zu sehen. Gleich die allererste Exkursion, die ich von Sydney (N. S.) aus zu diesem Zwecke unternahm , brachte mir die Freude sie zu finden, und ich habe dann noch in Hochmooren bei Schreiber (Ont.) und Ottawa (Ont.) Gelegenheit gehabt ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Diese große ,,Insektivore" ist überhaupt im östlichen Waldgebiet häufig. Sie kommt an wenig nahrungsreichen, nassen Stellen zwischen Sphagnum vor, so ins- besondere auf den Hochmooren, aber auch in lalifolium Keele. N. F. VIII. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 343 Sphagnumpolstern am Rande nahrungsschwacher Seen. Die krugförmigen Blätter der Sarracenia ent- halten in ihrer Höhlung eine sehr schwachsaure Flüssigkeit, in jedem Kruge etwa soviel wie in einem kleinen Weinglase. In dieser F'lüssigkeit findet man oft zahlreiche Insekten ertrunken, da die Krüge wie trefi'liche Fallen eingerichtet sind. Abgesehen von der F"ähigkeit, die gelösten VVeichteile der Tiere durch die Wände der Kannen aufnehmen zu können, muß unzweifelhaft für die Pflanze ein gewisser Vorteil auch darin gefunden werden, daß sie durch den Zerfall der alten Krüge, in welchen sich die Insektenreste befinden , vermöge der Wurzeln die von den Tierresten gebotene Stickstoffnahrung zu benutzen im- stande sind, wobei dann das Fangen der Tiere zur Erzeugung von Dung in Beziehung steht. Wird die Mooroberfläche, um sie in Kultur zu nehmen, abgebrannt, so sieht man auf dem zurückge- lassenen, schwarzverkohlten Boden überall die zum Teil noch grünen oder roten, vom Brande stark ange- griffenen Rosetten der Pitcher plant. Das habe ich sehr auffällig bei Ottawa beobachtet. Erst dann nimmt man wahr, wie häufig die Pflanze ist, die im lebenden Moore oft fast ganz im Sphagnumrasen versteckt lebt, so daß die Röhren oft wahre Fallgruben in der von Sphagnum gebildeten Bodenober- fläche darstellen. Daß die Pflanze nach dem Moorbrennen so auffällig stehen bleibt, während alles andere verbrennt oder sich schwärzt, wird in dem großen Flüssigkeitsgehalt der krugförmigen Blätter begründet sein. Die verdauende Flüssigkeit wird von Leuten, die ein Moor durchkreuzen, gelegentlich getrun- ken , daher wohl auch der Name Soldier's Drinking Cup , den man gelegentlich hört. Das Steppengebiet: die Prärie. — Das den ganz über- wiegenden Teil Kanadas wegen seiner Kompaktheit beherrschende kontinentale Klima bringt es mit sich, daß, je mehr wir in das Innere des Landes vordringen, je weiter wir von den größerenWasserflächenabrücken, der Regen- fall immer geringer und demzufolge der Boden allmählich um so trockner wird. Hand in Hand damit wird der Wald immer spärlicher und in seiner Ausbildung kläglicher. Allmählich löst er sich auf in einzelne geschützter liegende, bewaldete oder auch nur mit Strauchwerk besetzte Oasen, bis wir in die gänzlich größerer Gehölze ent- behrende reine Prärie gelangen. Wie die Wasser- fläche inmitten eines Ozeans, so erstreckt sich hier die Steppe schier endlos und ohne anders begrenzten Horizont um den Beschauer. Die Prärie läßt sich — sie steigt allmählich nach Westen an — in einen höher gelegenen. Sarracenia purpurea aus großer Nähe photographiert. Hochmoor bei Schreiber. Prärie bei Medicine Hat mit .-Xrtemisien etc. mehr hügeligen, trockenen und windigen west- lichen, und einen wesentlich ebenen, etwas feuch- teren und weniger windigen, östlichen Teil son- dern. Der Boden besteht aus Geschiebemergel, der namentlich im Osten, insbesondere in seinen Senken, von einem geschiebefreien, staubfeinen und 244 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. i6 gewöhnlich lockeren, kalkig-tonigen Feinsand, d. h. mit Löß bedeckt ist. Wie das häufig in anderen Steppengebieten der Fall ist, so z. B. im euro- päischen Süd-Rußland, so ist auch die oberste Bodenschicht der Prärie allermeist „Schwarzerde" (black soll), d. h. der Boden ist wie ein guter humoser Ackerboden braun- bis schwarzgefärbt durch beigemengte, sehr feine Humusteile. Ich habe mir über die viel umstrittene Frage nach der Entstehung der Schwarzerde in Kanada die folgende Ansicht gebildet. Schwarzerde entsteht überall da, wo eine hin- reichend dichte Vegetation vorhanden ist — ab- hängig von einer genügenden Feuchtigkeit, wenigstens zu einer für das Gedeihen der Pflanzen günstigen Jahreszeit — und wo andererseits ge- nügende Trockenheit herrscht, um die vollständige Zersetzung des abgestorbenen organischen Materials zu verhindern. Das ist im Präriegebiet Kanadas der Fall sowohl auf den alluvialen Absätzen der fließenden Gewässer, als auch auf dem Grund- moränengelände, ebenso wie auf demjenigen mit Löß, auf denen fast überall — nicht allein auf dem Löß 1 — Schwarzerde vorhanden ist. Freilich ist damit die außerordentlich innige Mischung des Humus mit der anorganisch-mineralischen Erde noch nicht erklärt, denn unter den angegebenen Bedingungen müßte sich nach unseren sonstigen Erfahrungen eine besondere, reine Humuslage an der Oberfläche, als Hangendes des anorganisch- mineralischen Bodens bilden: es müßte eine Be- deckung des Bodens mit „Trockentorf' (mit sog. Rohhumus) stattfinden. Die Mischung der beiden Bodenarten kommt durch das Tierleben der Steppe zuwege. Hier sind die Tiere vor Verfolgung und auch sonst nicht so geschützt wie im Walde. Die Steppe birgt daher auch unter den größeren, den Säugetieren besonders viele grabende Arten. Sie durchwühlen ständig den Boden und ver- hindern, daß sich eine reine Humusdecke der sich zersetzenden Vegetation, daß sich ein Trocken- torf bilden kann. Wo deshalb die wühlenden und grabenden Tiere wegen ungeeigneter Bodenverhältnisse fehlen, wie solche auf denjenigen alluvialen Böden (river deposits) vorhanden sind, die ausschließlich aus gröberen Geschieben oder gröberem Kies bestehen, da haben wir denn auch in der Tat, wo die Überschwemmungswasser die nötige Ruhe be- lassen, Trockentorfbildungen. Das habe ich sehr schön in der Region der Fott-Hills bei Morley sehen können, wo sich Schwarzerde im locke- ren, fürdieTiere leichtzugänglichen Boden befindet, daneben Trockentorf hingegen, d.h. nicht mit dem Untergrunde gemischter Humus, dort, wo wegen ausschließlich steinigen Untergrundes die grabende Tätig- keit unmöglich gemacht ist. Trotz der Hindernisse, die bei uns durch die weitgehende Kultur des Bodens gegeben sind, die eine Erkennung des geschilderten Vorganges er- schweren, erhält man doch einen Wink durch die Tatsache, daß noch oft genug Wühlmäuse in un- seren Schwarzerde-Lößböden zur Plage werden, wie auch die Landwirtschaft auf dem Löß des Magdeburgischen von den früheren Hamsterplagen viel gelitten hat. Wo der Wind Staub herzuführt, der die ab- sterbenden Pflanzenteile stetig bedeckt, wird die Entstehung von Schwarzerde wesentlich unterstützt. Kurz und bündig: es findet in den erdigen Böden der Prärie eine ständige Durchwühlung der abgestorbenen Teile der Vegetation mit dem anorganisch-mineralischen Boden statt, und wir erhalten so an solchen Stellen, die die vollständige Zersetzung (die Verwesung) zurückhalten, die für viele Steppen so charakteristische Schwarzerde. Jetzt setzt dort, wo Ackerbau herrscht, der Pflug die Tätigkeit der vertriebenen Tiere fort; wo dieser aber noch fehlt, da sieht man überall durch grabende Säugetiere ausgeworfene schwarze Erde und auch Insekten, wie Ameisen, helfen den Boden durchwühlen — und dem Winde preisgeben. Damit gelangen wir zu der vielleicht noch energischer umstrittenen Frage nach der Entstehung des Löß. Wenn ich im folgenden kurz auf diese Frage eingehe, so geschieht dies nur, um einen vorläufigen Eindruck wiederzugeben, der sich mir zwar aufdrängte, der aber noch auf seine Halt- barkeit zu prüfen ist, da ich selbst leider nicht die Zeit dazu hatte. Ich habe in Kanada nichts sehen können, was der Richthofen'schen Annahme von der äolischen Entstehung des Löß widerspräche. Löß ist besonders ausgedehnt und in mäch- tigerer Lage in der östlichen Prärie vorhanden, während im westlichen Teil — wenigstens an der Strecke der C. P. R., die ich allein beobachten konnte — der Geschiebemergel reichlicher als im Osten der Prärie zutage tritt. Dieser sowohl als auch die feineren Flußabsätze (river deposits) sind in der Gegend bei Morley z. B., wie wir das schon gesehen haben, in ihrer obersten Schicht, trotz der vorhandenen Geschiebe, Schwarzerde, wenn auch der Löß der sehr bevorzugte Wohnort wühlender und grabender Tiere ist. Im westlichen Teile der Prärie nun bläst der meist trockene Wind und rast der Sturm von Westen kommend, wo er dem vorgelagerten Gebirge sein Wasser abgegeben hat , besonders stark. Die leichten Bestandteile zunächst des Gebirgsschuttes — mag dieser durch Insolation, Wasser, Stein- schlag usw. entstanden sein — sodann der von den Tieren aufgeworfenen Erde und überhaupt von freien, dem Winde preisgegebenen Stellen werden aufgenommen und in mehr oder minder zahl- reichen Etappen nach Osten geführt, bis sie in der windstilleren östlichen Prärie zu verhältnis- mäßiger Ruhe gelangen. Namentlich im Westen sind demnach auch Lößdünen und Dünen über- haupt vorhanden, aber im ruhigeren Osten findet eine Einebnung statt nicht nur durch den Wind, sondern auch durch den Regen, wie denn der Löß natürlich oftmals die Einwirkungen des Wassers N. F. VIII. Nr. \6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 245 zeigt. Bemerkenswert ist diesbezüglich auch im Löß Kanadas als Auslaugungsprodukte des Regen- wassers das Vorhandensein von Kalkkonkretionen, die kleine Geschiebe vortäuschen. Unter den an- gegebenen Umständen wird der Löß auch als Schwarzerde verfrachtet, meist dahin, wo sie auch reichlich in situ entsteht. Profile wie das folgende, das ich u. a. durch die Bahn angeschnitten östlich von Colley östlich Maple Creek sah, wo sich wechsellagernd mit humusfreiem Löß mehrere Horizonte von Schwarzerde fanden, lassen sich daher vor der näheren Untersuchung in verschie- dener Weise erklären. Entweder hat zuerst eine Windablagerung von bloßem Löß, sodann von Schwarzerde, dann wieder von humusfreiem Löß und endlich darüber nochmals von Schwarzerde stattgefunden (in den beiden oberen Schichten waren auch Kalkkonkretionen vorhanden), oder aber das angegebene Profil ist ein Ausdruck für eine einmal schnellere, dann wieder langsamere Ablagerung. In diesem Falle könnte die ganze Zeit hindurch bloßer, reiner Löß herzugebracht worden sein, aber in den Zeiten schnellerer Ab- lagerung fehlte es an Zeit zur Bildung einer hin- reichenden Menge von Humus an Ort und Stelle. Ein solches Profil würde dann auf periodisch etwas wechselnde klimatische Verhältnisse hinweisen. Nun soll aber nach Ansicht kanadischer Geologen ein großer See, der im Osten der heu- tigen Prärie angenommene ,,Lake Agassiz", von welchem u. a. der heutige Lake Winnipeg ein letzter Rest wäre, den Löß der östlichen Prärie zur Ablagerung gebracht haben. Allein es ist klar, daß der aeolische Löß ebenso wie auf trockenen Boden so auch in die Gewässer ge- langt. Ich konnte diese Erscheinung im Kleinen in der Fott-Hill-Region südlich Morley beobachten, wo torfbildende Stellen am Ufer von kleinen Seen wegen des eingeblasenen Staubes einen Halbtorf, einen lößhaltigen Torf, erzeugen. Daß der Löß, einmal ins Wasser gelangt, ganz beson- ders leicht von diesem verfrachtet wird, darf über seine wahre Natur nicht täuschen. Immerhin bedarf die Lößfrage doch noch einer speziellen Untersuchung. Vielleicht gibt es zwei Arten desselben, deren Merkmale noch festzustellen wären. Es ist nämlich noch nicht darauf geachtet worden; daß auch Sapropelite mit vielen anor- ganischen Zutaten nach der Trocknung die lockere Beschaffenheit von Staubabsätzen erkennen lassen, aus Gründen, die ich in dem I. Bande meines am Eingang angegebenen Werkes auseinandergesetzt habe. Auch habe ich in zwei Proben eines mittel- deutschen Löß Spongillennadeln gefunden. Viel- leicht gibt es also äolischen Löß und Sapropelit- Löß. Moore und andere kaustobiolithische Ablagerungen. — Unter den Kaustobiolithen, die aus den sich zersetzenden Resten der Pflanzen- welt hervorgehen, spielen wie in Europa so auch in Kanada die an Ort und Stelle entstan- denen, wo auch die Organismen lebten (die „autochthonen"), gegenüber den nach einem Transport der Urmaterialien entstandenen (den „allochthonen") die erste Rolle. Von autochthonen Bildungen wurden bereits der Trockentorf genannt und zum Teil gehört auch die Schwarzerde hierher. Die üblichen Begriftsbestimmungen für Trocken- torf einerseits und Moortorf andererseits erleiden durch gewisse Tatsachen, die in Kanada auffälliger zu beobachten sind als bei uns, einen ziemlichen Stoß. Die Gegensätzlichkeit zwischen beiden Torfarten ist nicht in dem Maße vorhanden, wie sie uns nach europäischen Erfahrungen erscheint. In Kanada sind fließendste Übergänge zwischen beiden zu beobachten, so daß man (bei der ohne- dies geringen Unterschiedlichkeit der beiden Torf- gruppen) in Kanada an vielen Stellen um so zweifelhafter ist, ob man noch von Trockentorf oder schon von Moortorf reden soll. Trockentorf entsteht auf dem Trocknen und tritt nur in schwachen Lagen auf, Moortorf hingegen unter Wasser — sei dieses tellurisches oder atmosphä- risches — und ist oft sehr mächtig; allein in Kanada liegen sehr ausgedehnte und mächtige Moore im Sommer in ihrer oberen Lage regel- mäßig trocken. Zunächst aber ein Wort über die kanadischen Moortypen überhaupt. Wie in der gemäßigten Zone in Europa sind auch hier zu unterscheiden I. Flach moore, die durch Vermittlung von nahrungsreichem Grundwasser entstehen unter klimatischen Umständen, die die Ausnutzung der vorhandenen Nahrung gestattet, 2. Zwischen- moore, bei denen die für die Pflanzen ausnutz- bare Nahrung geringer ist und 3. Hochmoore, deren Vegetationsbestand nur atmosphärisches Wasser empfängt oder fast nahrungsfreies tellurisches. Über die Flachmoore kann ich nicht viel sagen ; ich habe nur Andeutungen davon gesehen. Während bei uns in den Flachmooren die Schwarz- erle (Alnus glutinosa) der Hauptbaum ist, sind es in Kanada in erster Linie P'raxinusarten, die diesem Moortypus den Charakter aufdrücken. Zwischenmoor gebiete sind im felsigen Ost- und West Kanada sehr häufig. Es handelt sich in den Pflanzenarten, die sie charakterisieren, wie in der gemäßigten Zone Europas, um solche, die besonders die Nadelholzwälder auszeichnen. Wir haben es also im wesentlichen mit Nadel- holzwäldern zu tun. Was endlich die Hoch- moore anbetrifft, so gleichen auch diese im Prinzip denjenigen in der entsprechenden Zone Europas hinsichtlich der sie charakterisierenden Pflanzentypen, nur daß es sich auch hier, wie in den beiden vorausgehenden Fällen vielfach um stellvertretende Pflanzenarten handelt. In Deutschland lassen sich Küstenklima- und Landklima-Hochmoore unterscheiden. Über diese beiden Typen habe ich mich in meiner Ab- handlung ,,Eine Klassifikation der Kaustobiolithe" in den Sitzungsberichten der Kgl. Preuß. Akad. d. Wissenschaften vom 6. Februar 1908 dahin 246 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 16 geäußert,') daß die ersteren Sphagnetummoore seien, überwiegend mit Sphagnum bestanden und außer Krüppelkiefern usw. wenige kleinere an- dere Pflanzenarten dazwischen. „Dieser Typus ist für regenreiche oder luftfeuchte Gebiete charakteristisch." „In Gebieten geringerer Luft- feuchtigkeit bzw. wo die Niederschlagshöhe niedriger ist, neigen die Hochmoore zum Heide- Holzdrift auf dem Delta der Crawford-Bay. moortypus", d. h. der Sphagnumteppich der See- klima-Hochmoore tritt hier für das Auge wesent- lich zurück; er befindet sich im Schutze von Sträuchern, die die Oberfläche oft dicht bekleiden ') Eingehenderes hierüber und über das Folgende in dem zweiten Bande meines Werkes über die rezenten Kaustobiolithe. und zwar spielen hier Sträucher aus der Familie der Ericaceen , der Heidepflanzen, die erste Rolle, sowie Arten, die diesen in ihrer Tracht ähnlich sehen. In Kanada habe ich fast nur Landklima- Hochmoore gesehen, die daher gegenwärtig eine größere regionale Verbreitung besitzen, als die Seeklima-Hochmoore. Nun ist es bemerkenswert, daß die kanadischen Hochmoore, die ich daraufhin unter- suchte, bis z. B. 75 cm Tiefe im Sommer ausgetrocknet sind; nur die Sphagnum - Decke speichert das Regen- und Tauwasser und erhält die Oberfläche in lebensfähiger Nässe. Wir haben daher hier gewissermaßen — wenigstens während der Sommer- monate — 2 Wasserhorizonte. Bei der Fülle des vorhandenen Holzes hat man in Kanada vielfach Gelegenheit, kaustobiolithische Ab- lagerungen zu finden, die durch Drif- tung von Gehölzteilen entstanden sind. Man braucht nur einmal einen durch waldreiches Gebiet fließenden Strom in einem noch weniger kulti- vierten Gebiet streckenweise zu be- fahren, z. B. den Columbia River in Britisch - Kolumbien , um eine Vor- stellung von der großen Menge von Baumstämmen zu gewinnen, die ständig, namentlich von Steilufern aus, bei ihrer Aufarbeitung durch den Fluß ins Wasser gelangen, um dann in Etappen gedriftet zu wer- den. So sind denn überall unglaub- liche Mengen von Driftholz vor- handen, die man am Ufer, nament- lich im Gebiet der Kordilleren, aber auch in Ost-Kanada an den Ufern der Flüsse und Seen angeschwemmt findet , zuweilen zu „Holzbergen" so angehäuft, daß gelegentlich, wie ich das im Illecilliwaet River östlich Revelstoke (B. C.) sah, das fließende Wasser auf einer Strecke vollkommen den Blicken entschwindet. Wenn ver- schwemmte Baumstämme mit schwe- rem, vielleicht noch mit umklam- merten Steinen belastetem Wurzel- werk in tiefere Wasser gelangen, so sinken sie gern schließlich mit dem schwereren Teil unter und weisen schräg aufwärts strebend die Richtung des fließenden Wassers an. Solche „Lanzen" (snags), die bei hohem Wasserstande unsichtbar sein und dann der Schiffahrt gefährlich werden können, wie das aus älterer Zeit u. a. vom Mississippi her bekannt ist, waren im Upper Arrow Lake (einer breiteren Stelle des Columbia River) bei Arrowhead in großer Zahl aus dem Wasser ragend zu sehen. Zur Erzeugung und Erhaltung von Humus- N. F. VIII. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 247 lagern durch solches Driftmaterial sind aber die Transportwege und die Ablagerungsstellen zu be- wegt : es wird gewöhnlich alles mit der Zeit voll- ständig zersetzt. Nur gelegentlich finden hin- reichend ständige und mächtigere Anhäufungen an ruhigeren Stellen statt, wo dann ein Humus- lager entsteht. Dies ist z. B. der Fall am NO.- Ufer des Moyie Lake (B. C). Hier ist ein in der angedeuteten Weise entstandener, pulveriger Humus in ziemlicher Mächtigkeit vorhanden; er ist von schwarzer Farbe und durch das zerfallende Holz und die Rindenbestandteile etwa von der Be- schaffenheit des Holzmulms auf alten Holzhöfen. Als ich dort war, wurde das weit aufs Land ge- worfene Driftholz gerade in mächtigen Haufen verbrannt, um die dort ebene Landfläche als Weide zu gewinnen. Außer Holz kommen hier und sonst, an Volumen freilich ungeordnet, auch gedriftete Blätter und Sprosse, besonders von \(Vasserpflanzen wie Nymphaeaceen, Potamogeten, Früchte und Samen u. dgl. hinzu. Solchen allochthonen, an Vorkommen und Ausdehnung nur geringfügigen Ablagerungen gegenüber spielen nun aber die autochthonen Humusbildungen eine große Rolle. Fast überall ist der Boden der Wälder durch eine mehr oder minder mächtige Schicht von reinem Humus (Trockentorfj bedeckt als dem Resultat der nicht vollständigen Zersetzung der abgestorbenen Pflanzenteile. Dieser Trockentorf kann dicht und mehr oder minder verfilzt sein, etwa wie derjenige aus unserer Lüneburger Heide, und dann bildet er z. B. an abstürzenden Ufern — wie an den Arrow Lakes des Columbia River • — überhängende Decken, die diese Beschaffenheit veranschaulichen, oder aber er ist mehr pulverig- bröcklig, besonders wenn gefallenes Holz, das vollständig zu „Mulm" wird, reichlichere Beiträge geliefert hat. So war es am Ribbon Creek süd- lich Morley (Alta), wo überdies viele Nadeln den Humus vermehren helfen und eine dicke Hypna- ceendecke den schwarzen Torfboden bekleidet. An geeigneten Hängen kann der Trockentorf in die Tiefe geschwemmt werden und dort wie „Alpenhumus" in die Erscheinung treten, der natur^^emäß dieselbe, mehr pulverige Beschaffen- heit hat, wie der zuletzt erwähnte Trockentorf. Kleinere Mitteilungen. Neues zur Physiologie des Zellkernes. — Seit der zusammenfassenden Studie Korse helt's ,, Beiträge zur Morphologie und Physiologie des Zellkernes" (1889) ist die große Bedeutung, die der Kern für das Leben der Zelle besitzt, immer klarer hervorgetreten. Schon 1876 war Rieh. Hertwig für eine einheitliche Auffassung der verschiedenen Kernformen eingetreten, so daß nun der Kern nicht mehr im Sinne von Schieiden (1838) und Schwann (1839) als ein kleines Bläschen in der Zelle, sondern dem Protoplasma- körper gleichwertig erscheinen mußte. Diese Ansicht wurde besonders durch die Beobachtungen an zerteilten Protozoen und Eiern (also auch ein- zelligen Organismen !) befestigt, die zeigten, daß kernlose Teilstücke nicht existenzfähig sind, son- dern bald zugrunde gehen. Doch nicht nur bei der Ernährung, sondern besonders auffällig tritt die Bedeutung des Zellkernes bei der P'ortpflan- zung hervor, hier spielt er die Hauptrolle, denn von ihm aus geht der Anstoß zur Teilung auch des Protoplasmas. Verworn entwirft in seiner „Physiologie" folgendes Schema der Tätigkeit der Zelle und ihres Kernes; die Zelle nimmt gewisse Stoffe von außen auf, von denen ein Teil Ca) bereits im Protoplasma beim Zusammentreffen mit den im Protoplasma vorhandenen Stoffen Spaltungen und Synthesen erfährt. Von den aus diesen Um- setzungen hervorgehenden Stoffen wird ein Teil (bj als unbrauchbar alsbald wieder ausgeschieden; ein anderer Teil (c) bleibt im Protoplasma und wird hier weiter verwendet; ein dritter Teil (d) wird dagegen dem Kerne zugeführt. Der Kern erhält außerdem noch einen Teil der von außen auf- genommenen und unverändert durch das Proto- plasma gegangenen Stoffe (e). Die in den Kern eintretenden Stoffe (d + e) erfahren ihrerseits wieder im Kern gewisse Umsetzungen, aus denen Fig. I. Schema des Stoffwechsels nach Verworn. a Ein- tretende Xahrungsstoffe, von denen ein Teil als unbrauchbar bald ausgeschieden wird (b1, ein anderer (c) im Protoplasma bleibt und der Rest (d) dem Kerne zugeführt wird, der außer- dem noch N'ahrungsstoffe (e) erhält, die unverändert durchs Protoplasma gehen. Im Kern werden die Stoffe umgesetzt; dadurch entstehen Stoffe, die entweder (g) im Kern bleiben, oder (h) ins Protoplasma übertreten, oder endlich (f) als un- brauchbar verändert abgegeben werden. wieder Stoffe resultieren, die zum Teil nach außen abgegeben werden, ohne vom Protoplasma ver- ändert zu sein (f), zum Teil in das Protoplasma gelangen, um hier weitere Verwendung zu finden (h), 248 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. i6 und zum Teil im Kern selbst bleiben (g) (S. 547, 3. Aufl.). Jedenfalls ist Verworn bestrebt, die un- endlich vielseitigen Beziehungen, durch die Kern und Protoplasma untereinander verknüpft sind, genügend hervorzuheben. Hier werden Protoplasma und Zellkern als völlig gleichbedeutend angesehen, doch aus den obigen Hinweisen — sowie vielen neueren Beob- achtungen — scheint immer mehr hervorzugehen, daß der Kern die Hauptrolle im Leben der Zelle spielt. Freilich bleibt manches darauf Bezügliche noch hypothetisch, was ja ohne weiteres aus der großen Schwierigkeit solcher Untersuchungen er- klärlich ist; denn im allgemeinen sind die Kerne sehr klein, und nur ausnahmsweise liegen bei be- vorzugten Objekten die Verhältnisse günstiger. Solche Objekte bieten in erster Linie manche Ur- tiere, und um ein solches handelt es sich auch bei den Untersuchungen, auf die ich hier auf- merksam machen möchte, die in der fast unüber- sehbaren Fülle von Einzelbeobachtungen mehr auf das Allgemeine gerichtet sind und zu sehr weit- gehenden Schlüssen über das Wesen und die Be- deutung des Zellkernes geführt haben: Dr. Th. Moroff, Die bei den Cephalopoden vorkommen- den Aggregata Arten als Grundlage einer kriti- schen Studie über die Physiologie des Zellkerns (Archiv für Protistenkunde XI, 1908). Aggregata ist eine Sporozoe, die in der Nähe der Coccidien und Gregarinen gehört; sicher ist ihre systematische Stellung noch nicht bestimmt. Es sind Parasiten, die ihre Entwicklung teils in Cephalopoden, teils in Krabben durchmachen. Der Zeugungskreis der Aggregata hat große Ähn- lichkeit mit dem der berüchtigten Malariaparasiten. Die jungen Tiere entwickeln sich in der Darm- wand von Krabben (z. B. Portunus dcpurator), wo sie zu gewaltigen Dimensionen heranwachsen und sich durch mitotische Teilung zu vielen Mero- zoiten entwickeln, die dann in den Darm eines Octopus oder einer Sepia gelangen, wenn diese die infizierte Krabbe frißt. In den Cephalopoden machen die Aggregata in ähnlicher Weise wie die Malariaparasiten in der Mücke ihre geschlechtliche Entwicklung durch: es entstehen weibliche, birn- förmige „Sporoblasten", die von den kleinen, männlichen Mikrogameten befruchtet werden. Nach der Befruchtung umgibt sich jeder Sporo- blast mit einer Hülle; es entsteht so eine Cyste, in der 3 — 24 sichelförmige Keime (Sporozoiten) entstehen. Die Cysten fallen in den Darm der sie beherbergenden Cephalopoden, von dort ins Wasser und brauchen nun nur von Krabben ge- fressen zu werden, um ihren Entwicklungskreis von neuem zu beginnen. In der Wachstums- und Fortpflanzungszeit der Aggregata spielen sich am Kerne sehr auffällige Veränderungen ab, auf die wir kurz eingehen müssen, um den späteren, allgemeinen Deduktionen Moroff's folgen zu können. In den jüngsten Stadien (Fig. 2) bilden die Parasiten länglich-ovale Zellen mit einem großen Kerne, der viele Chromatin - körnchen und in der Mitte ein sehr deutliches Karyosom (Nebenkern, Nucleolus) enthält, das einen stark färbbaren Rand aufweist. Während des Wachstums konnte deutlich eine Absonderung von Chromatin durch das Karyosom festgestellt Fig. 2. Junger Parasit von Aygreijala leijeri; im Kern Karyosom und Chromalin, letzteres sehr deutlich an der Kernperipherie. 1 500 : I . werden, wie es Fig. 3 sehr deutlich zeigt. Hier ist nur der Kern abgebildet; das Karyosom hat sich stark vergrößert und scheidetChromatin in größeren und kleineren Brocken von seiner Randpartie aus ab. Der Inhalt des Karyo- soms breitet sich in gelös tem Zustande überall im Kerne aus, von wo er auch in das Plasma überwandert. Das Karyosom steht also hier und in den folgenden Stadien in gesteigerter vegetativer Tätigkeit, so daß es M. direkt als ,,f u n kt i o n e 1 1 es Chromatin" be- trachtet. Der Kern wächst zu geradezu riesen- haften Dimensionen aus und füllt reichlich die Hälfte des 130 — 200 f.i großen Parasiten. Das Fig. 3. Der Kern allein eines etwa halberwachsenen Para- siten , an welchem die Tätigkeit des Karyosoms ersehen werden kann. 1000: i. austretende Chromatin wird in Reservestoffe für die folgenden geschlechtlichen Prozesse umge- arbeitet. Nach früheren Annahmen sollten die Nukleolen (hier Karyosom) durch Ablagerung überschüssigen Chromatins entstehen und dieses aus ihrer Um- gebung (Plasma) aufnehmen. Nach M. ist es um- gekehrt: Die Nukleolen verarbeiten die von außen aufgenommenen Nahrungs- stoffe zu Chromatin, geben dieses an den Kern ab, von wo aus es in das Plasma übertritt, N. F. VIII. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 249 um sich dort mit anderen Stoften in Verbindung zu setzen und die verschiedensten Protoplasma- bestandleile zu bilden. Das Protoplasma vergrößert sich aufKosten des Kernes, der ihm alles zu seiner vegetativen Tätigkeit nötige Material liefert. /.i Kig. 4. Kern eines erwachsenen Parasiten, bei dem die Diffe- renzierung der Geschlechtssubslanz begonnen hat. 800 : I. In einem folgenden Stadium (Fig. 4) treten im Kerne neben homogenen Kugeln selbständige P'äden auf, die sich später zu kurzen, dicken Chromatinstäbchen verkürzen und so die Chromo- somen der ersten Spindel darstellen. Deswegen werden sie als Idiochro matin bezeichnet und dem Trophochromatin (der übrige Kern nebst Karyosom) gegenübergestellt. Von letzterem wird das Karyosom infolge der enormen Chro- matinauswanderung immer kleiner, da sich einzelne Stücke loslösen und zerfallen, bis endlich auch die letzten Reste ins Protoplasma ausgestoßen und aufgelöst werden. Auch der Kern beginnt hierauf zu schwinden; größere und kleinere Brocken gehen ins Protoplasma, wo sie sich auflösen. In dieser Zeit bildet sich aus den oben erwähnten F"äden die erste Spindel am Rande des zerfallenden Kernes , die schließlich nach seiner Auflösung vollständig frei im Protoplasma liegt. „Es drängt sich geradezu unwillkürlich ein Vergleich mit den Metazoeneiern auf, wo ebenfalls der große Kern vollkommen zugrunde geht. Es' bleibt von ihm nur eine geringe Chromatinmenge, die zur Bildung der Chromosomen der ersten Spindel verwendet wird." Hier wollen wir die weiteren speziellen Dar- legungen verlassen und uns den allgemeinen Ergebnissen Morofif's zuwenden: 1. Das Karyosom wird in der jungen Zelle in der Weise gebildet, daß Chromatinkörnchen sich an einer Stelle des Kernes zusammenziehen und miteinander (durch Plastin) verbinden. Entspricht so das Karyosom dem Makronucleus, so sind die übrigen Chromatinkörnchen des Kernes dem Mikronucleus gleichzusetzen. Der ganze Kern wäre demnach ein Doppelkern: „in der Mitte der Makronucleus oder Trophochromatin (Karyosom) und um ihn herum das Idiochromatin entsprechend dem Mikronucleus" der Infusorien. 2. Das Karyosom scheidet während seines Wachstums Chromatinsubstanz aus, ernährt das Protoplasma und ist zugleich die Bildungsstätte derReserve- s toffe. a) Wenn bei den übrigen Protozoen (und Meta- zoen) diese Verhältnisse nicht so klar zutage treten wie bei den Aggregataarten, so liegt das wohl nur daran, daß sich dort die funktionellen Prozesse langsamer und darum weniger deutlich abspielen. Manche Angaben der neueren Literatur — so z. B. die eingangs erwähnte, daß kernlose Teil- stücke von Infusorien und Eiern absterben — sprechen dafür, daß „der Kern die Alleinherrschaft im Leben der Zelle besitzt". b) Ähnlich liegen die Verhältnisse bei der Dotterbildung der Metazoeneier; wahrscheinlich wird zur Dotterbildung (Reservestoff, s. o. !) haupt- sächlich Chromatin verwendet, das vom Kerne verarbeitet werden muß, weshalb das Keimbläschen der unreifen Eier so groß ausgebildet ist. Lebt aber das Ei später auf Kosten seiner Schwester- zellen — wie bei der Reifung vieler Insekteneier — so gibt das Keimbläschen seine formative Auf- gabe, ReservestofFe zu bilden, auf. c) Auch die sekretorische Tätigkeit der Drüsen- zellen ist eine Leistung des Zellkernes, wie schon aus seiner dabei oft gelappten Form zu schließen ist. Überall treten aus dem Kerne Chromatin- substanzen, die sich im Plasma auflösen, während gleichzeitig oder unmittelbar darauf sich die Sekrete bilden. d) Auch Muskel- und Nervensubstanz, sowie andere Zellbestandteile „sind Umwandlungspro- dukte des Chromatins, dessen Bildungsstätte in den Nukleolen, vielleicht auch im Kern zu suchen ist". 3. Die Lehre von der Duplizität des Chromatins (Idio- und Trophochromatin (s. o.)) sucht M. von den Protozoen auch auf die Meta- zoen zu übertragen, indem er das Metazoenindivi- duum mit einem Bienenstaate vergleicht, dessen Arbeiterinnen die soinatischen Zellen, die Königin die Geschlechtszellen des Metazoenkörpers reprä- 250 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. i6 sentieren. In den somatischen Zellen ist „das Idiochromatin verkümmert oder besser gesagt vollkommen in Trophochromatin verwandelt. Damit ist die hohe sekretorische (funktionelle) Leistungsfähigkeit der somatischen Zellen zu er- klären." 4. Die Lehre von der Kernplasmarelation (Rieh. Hertwig) nimmt an, daß der Kern auf Kosten des Protoplasmas wächst. Alle bisherigen Darlegungen Moroff's sprechen dagegen und suchen das Umgekehrte — das Protoplasma mit seinen Einschlüssen ist ein Umwandlungsprodukt des aus dem Kern herausgetretenen Chromatins — glaubhaft zu machen. 5. Bei der Befruchtung ist dieChro- matinreduktion der wichtigste Vor- gang (Rieh. Hertwig). „Bei allen Metazoeneiern wird aus dem riesigen Keimbläschen eine winzige Spindel gebildet; weitaus der größte Teil des Kernes, d. h. des Chromatins wird jedoch in das Plasma ausgestoßen." Der zügrunde gehende, ab- genutzte , somatische Kern wird durch die Be- fruchtung neu gebildet, das ist ihr Zweck. Wir müssen uns hier versagen noch näher auf die mit Geschick herangezogenen Beispiele ein- zugehen, besonders auch auf die über Partheno- genesis. Die ganze Art und Weise der Behand- lung des Problems des Zellkernes aber ist so interessant, daß diese Arbeit, auch wenn sie nicht in allen Ergebnissen absolute Zustimmung findet, sicherlich nicht ohne Einfluß auf die Weiterent- wicklung der FVage nach der Funktion und Be- deutung des Zellkernes bleiben kann. Dr. O. Rabes. Zwitterbildung bei Schmetterlingen konnte ich an einem Exemplare des Schwammspinners (Ocneria dispar L.) beobachten, das mir Mitte August ein Kollege schenkte. Das Tier, welches offenbar eben erst ausgekrochen war, ist an den Obstbäumen der hiesigen Landwehr gefangen worden. Es zeigt den bei diesem Schmetterling ja so stark ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus in seinen beiden Körperhälften aufs deutlichste. Die linke Seite ist in Färbung der Flügel, Aus- bildung der Fühler und Größe der Beine männ- lich, die rechte Seite ebenso weiblich. Der Hinter- leib ist infolge der stärkeren Ausbildung der rechten weiblichen Hälfte etwas nach links ge- krümmt. In Brehm's Tierleben Bd. IX, S. 423, ist ebenfalls ein Zwitter dieses Spinners abgebildet, dessen Aussehen im wesentlichen mit dem in meinem Besitze befindlichen Tiere übereinstimmt. Ob das Tier auch in bezug auf die inneren Organe ein Zwitter ist, konnte ich nicht mehr gut unter- suchen , da es bereits getötet in meine Hände kam und infolgedessen schon etwas eingetrocknet war. Anzunehmen ist dies nach der äußeren Ausbildung des Hinterleibes aber wohl auch. Eisleben. E. Zieprecht. Rinneit, ein neues Salzmineral. — Im Zentralblatt für Mineralogie, Geologie und Paläon- tologie 1909 Nr. 3 beschreibt H. E. Boeke ein neues eisenchlorürhaltiges Salzmineral , das er Rinneit nennt. Der Rinneit wurde zuerst im Hartsalz der Nordhäuser Kaliwerke beobachtet; er bildet dort linsenförmige, der Schichtung parallel gelagerte Massen von meist 25 cm Dicke und 80 cm Länge. Aus dieser Lagerung geht mit Sicherheit hervor, daß der Rinneit in bezug auf das Hartsalz primärer Entstehung ist. An- fangs ist er wasserklar, färbt sich aber sehr bald braun. Die Verbindung enthält das Eisen nur in Oxydulform; das Eisen oxydiert sich aber so- fort an der Luft, wobei die Braunfärbung eintritt. Die chemische Untersuchung ergab, daß der Rinneit ein Tripel salz von der F"ormel FeClg • 3 KCl • NaCI darstellt. Das Mineral ist grobkörnig und besitzt einen stark tintenartigen Geschmack und geringe Härte (3). Nach seinem optischen Verhalten und seiner Spaltbarkeit gehört es wahr- scheinlich zum hexagonalen System. F. Meinecke, Halle a. S. Der gegenwärtige Stand der Unterwasser- Schallsignale, über deren Einführung wir N. F., Bd. VI, S. 286 berichteten, wird von Baurat Peck in den Analen der Hydrographie (1909, III) er- örtert. Es hat sich nach den bisherigen Er- fahrungen gezeigt, daß diese Signale unter günstigen Umständen außerordentlich weit (26 See- meilen) wahrnehmbar sein können, daß aber Un- tiefen, Brandungen, sowie die Störung der Wasser- ruhe durch starken Schiffsverkehr die Reichweite sehr beeinträchtigen. Es bedarf noch weiterer Untersuchungen, wie die Wirkung der Beugung, Ablenkung, Reflexion und Konzentration der Schallwellen im Wasser sich geltend macht, namentlich wird es wichtig sein, sich vor irre- führenden Reflexionen zu sichern. Gleichwohl hat man im Laufe der letzten Jahre alle wichtigeren Feuerschiffe der deutschen Küste mit UnterwasserSchalisignalen ausgerüstet, die nunmehr bei nebligem Wetter ein wichtiges Hilfsmittel der Navigierung darstellen. Inter- essieren wird vielleicht die Nachricht, daß insbe- sondere auch die neue Fährverbindung Saßnitz- Trelleborg durch Auslegung einer Unterwasser- Glockentonne vor Jasmund gesichert werden soll. Die Glockensignale sollen hier durch den Druck des das Leuchtfeuer speisenden Fettgases alle 7^/2 Sekunden ausgelöst werden. In Frankreich werden neuerdings z. B. bei Cherbourg und Ouessant, Unterwassersignale ein- gerichtet, deren Betrieb auf elektrischem Wege von Land aus geleitet und kontrolliert wird. Interessant ist , daß auch ähnliche Einrich- tungen schon für Fischereizwecke sich nützlich er- weisen: Norwegische Fischer sollen durch ein in wasserdichtem Gehäuse ins Meer versenktes Mikrophon vom Boote aus mit einem telephoni- N. F. VIII. Nr. 16 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 251 sehen Empfänger sich über die Annäherung großer Fischschwärme Aufschluß verschaffen. Kbr. Vereinsw^esen. Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde (E.V.). — Am IVIittwoch, den 2. Dezember sprach im Hörsaal VI der Kgl. Landwirtschaftlichen Hochschule unter Vorführung zahlreicher Lichtbilder Herr Hauptmann a. D. C. von Krogh über: „Die neueren Fort- schritte der Motorluftschiffahrt." Herr Prof. Dr. S c h e i n e r vom Kgl. Astro- physikalischen Observatorium in Potsdam be- richtete in der Sitzung vom Mittwoch, den 16. Dezember, über: ,,Die Ergebnisse der Himmeisp hotograp hie in bezug auf die Sonne und die übrigen Fixsterne und über die Temperatur der Sonne." Nicht nur ist die Sonne, so führte der Vor- tragende aus, für uns das wichtigste aller Gestirne, der Massenmittelpunkt unseres Systems, dessen Anziehung die Planeten in ihren Bahnen erhält, die Erzeugerin unserer Erde mit allem Leben auf derselben und die Erhalterin dieses Lebens und aller der Kräfte, die sich die Menschheit nutzbar gemacht hat, sondern sie ist auch für den Astro- physiker darum ganz besonders wichtig, weil sie unter den unzähligen Fixsternen, die nachts am Firmament blinken und uns wegen ihrer unge- heuren Entfernung nur als Punkte erscheinen, uns der nächste ist • — nur 20 Millionen Meilen von uns entfernt — und, dem Auge schon als eine große Scheibe erscheinend, mit Hilfe des Fern- rohrs ein eingehendes Studium der zahlreichen Phänomene, die sich auf ihrer Oberfläche ab- spielen, ermöglicht. Freilich ist dabei zu bedenken, daß das kleinste, im mächtigen Fernrohr noch eben wahrnehmbare Fleckchen in Wirklichkeit ein Gebiet umfaßt von nahezu looo km Durch- messer, also etwa von der Größe Spaniens. Wor- auf es nun dem Herrn Vortragenden in seinen Ausführungen besonders ankam, war, seinen Zu- hörern einen Einblick zu gewähren in die von ihm kürzlich zum Abschluß gebrachten umfang- reichen Untersuchungen über die Bestimmung der Temperatur der Sonne. Zum besseren Verständ- nis seiner Ausführungen zeigte er zunächst im Bilde die Einrichtungen des Potsdamer Astro- physikalischen Observatoriums und im Anschluß daran eine Anzahl mit Hilfe des Fernrohrs her- gestellter photographischer Aufnahmen der Sonnen- oberfläche zur Veranschaulichung der Granulation, der Flecken, Fackeln, Calciumwolken, der Corona bei totalen Sonnenfinsternissen und der dabei in ungeheurer Ausdehnung am Rande der Sonne auftretenden Protuberanzen. Die Temperatur- bestimmung der Sonne gehört nun zu den schwierigsten Problemen der Astrophysik. Noch vor 20 Jahren schwankten die erhaltenen Resultate zwischen 2000 und 10 Millionen Grad. Heut- zutage ist eine befriedigende Lösung durch die von den Physikern auf dem Gebiete der Strahlungs- lehre theoretisch wieT praktisch erzielten Fort- schritte angebahnt worden. Die Aufgabe zerfällt in folgende Teile: i. Die experimentelle Messung der Sonnenstrahlung in einem beliebigen Momente, 2. Die Ermittlung der^ Strahlung hieraus beim Zenitstande der Sonne, 3. Die Ermittlung der Strahlung der Sonne außerhalb unserer Atmo- sphäre (Solarkonstante), 4. Die; Berechnung der effektiven Sonnentemperatur aus der Solarkon- stanten. — Zur Messung der Intensität der Sonnen- strahlung bedient man sich verschiedener Arten von Instrumenten, Pyrheliometer genannt; das von dem Vortragenden benutzte war das elektrische Kompensationspyrheliometer von Angström. Mißt man nun während eines Tages mit einem der- artigen Apparat die Strahlungsenergie der Sonne innerhalb kurzer Intervalle, so sieht man mit großer Deutlichkeit, wie die Werte vom Morgen bis Mittag zunehmen, vom Mittag bis Abend ab- nehmen, da die Strahlung auf dem Wege durch unsere Atmosphäre infolge Absorption und Reflexion um so stärkere Verluste erleidet, je länger dieser Weg ist, also je tiefer die Sonne steht. Da man diese Wegelänge aus dem Stand der Sonne berechnen kann, so läßt sich schließ- lich die Sonnenstrahlung als Kurve darstellen mit der Weglänge als Argument. Hat man an einem Ort beobachtet, wo die Sonne den Zenit nicht erreicht, so kann man durch Fortführung der Kurve den Strahlungswert für die Zenitstellung der Sonne erhalten.^ Freilich", ist dieser Teil der Aufgabe recht schwierig, und wir müssen erst über die Art und Weise des Strahlungsverlustes in der Atmosphäre ins klare kommen. Die Hauptbestandteile der Luft, Stickstoff und Sauer- stoff, absorbieren nur wenig; am stärksten wirken Kohlensäure, Wasserdampf und Ozon, letzteres im Ultraviolett. Dazu kommt ein steter Verlust durch Reflexion. Beim Durchgang von Strahlen durch ein Gas findet eine Diffraktion derselben direkt an den Gasmolekülen statt, so daß das Gas scheinbar selbst leuchtend wird, und zwar ge- schieht dies für die Strahlen kleinerer Wellen, also die blauen und violetten, in sehr viel stärkerem Maße als für die große Wellen. Daher rührt die schöne blaue Farbe des Himmels. Sind gröbere Teilchen wie Staub oder Wassertröpfchen in der Luft suspendiert, so trifft die Lichtreflexion alle Strahlen in nahezu gleichem Maße; wir erhalten also weißes Licht : der Himmel erscheint weißlich, dunstig. Alle diese Faktoren wirken in unseren Gegenden überaus störend für die Aufstellung der Strahlungskurve und die Ermittlung des Wertes für die Zenitstrahlung. Daher beschloß Vortragen- der seine Untersuchungen von Potsdam nach einem Ort zu verlegen, der eine reinere Luft und konstantere meteorologische Verhältnisse besitzt. Er wählte die Spitze des Gorner Grats, wo er in 3136 m Höhe~während der Monate Juni und Juli 1903 3 Wochen lang zahlreiche Messungen vor- 252 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 16 nahm. Es handelt sich nunmehr darum, aus den Beobachtungen die Strahlung außerhalb der Atmosphäre zu berechnen; hierzu bedarf es einer mathematischen Untersuchung der Beobachtungs- kurve und einer mathematisch durchgeführten Extrapolation auf die Schichtendicke Null. Der auf diese Weise abgeleitete Strahlungswert beträgt 2,0 Kalorien. Aber dieser Wert ist noch nicht die gesuchte Solarkonstante, sondern nur die Strahlungskonstante. Es ist noch die Tatsache zu berücksichtigen, daß Kohlensäure, Wasserdampf und andere Gase schon in sehr dünnen Schichten sehr stark absorbieren und daß mit zunehmender Dicke die Absorption zunächst schnell wächst, um dann nur noch sehr langsam zuzunehmen. Diese starken Absorptionen, die also gleich beim Eintritt der Strahlung in die Atmosphäre vor sich gehen, entziehen sich aber gänzlich der Wahr- nehmung. Wieviel diese Restabsorptionen aus- machen, kann demnach nur im Laboratorium an dünnen Schichten der betreffenden Gase unter- sucht werden. Während man nun im Labora- torium nicht über 1850" der Strahlungsi]uelle, elektrisch geglühtes Platin, hinausgehen kann, be- trägt die Temperatur der Sonne etwa 6000". Nachdem aber jetzt die mathematische Form der sog. Kirchhoft'schen F"unktion oder der Strahlungs- kurve durch die Physiker Wien und Planck ent deckt worden ist, lassen sich auch derartige Reduktionen ausführen. So ergaben die Versuche des Vortragenden als Betrag der Restabsorptionen von Kohlensäure und Wasserdampf sV-i'Vo resp. 30 "/o. die nach Reduktion auf die Sonnen- temperatur auf I "ii, resp. 7 "/^ zurückgehen. Dazu kommt noch ein Verlust der Strahlung in Ultra- violett von I 7.1 "01 so daß also der Gesamtbetrag der Restabsorptionen 9^,, % ist. Um so viel ist die Strahlungskonstante zu vergrößern, um zur Solarkonstante zu werden, die hiernach und nach Reduktion auf die mittlere Entfernung der Sonne zu 2,25 Kalorien resultiert. Die Berechnung der Sonnentemperatur kann, nunmehr nach dem ein- fachen Stefan'schen Gesetze vorgenommen werden, nach welchem die Strahlungsenergie proportional ist der 4. Potenz der absoluten Temperatur. Allerdings traten auch hierbei noch experimen- telle Schwierigkeiten auf, insofern es nötig war, die Konstante dieses Gesetzes für den bei der Sonnenstrahlung benutzten Apparat aus den Strahlungen eines sog. schwarzen Körpers von bekannter hoher Temperatur zu ermitteln. Dieser Teil der Arbeiten wurde auf der Technischen Reichsanstalt in Charlottenburg ausgeführt. Hier- nach resultierte nun endlich als vorläufiges End- ziel die effektive Temperatur der Sonne zu 6200". Abgeschlossen wäre aber die Untersuchung erst durch die Ermittlung der wahren Temperatur der lichtaussendenden Schicht der Sonne, der Photo- sphäre, deren Temperatur höher sein muß, da ein Strahlungsverlust bereits in der Sonnenatmosphäre stattfindet, wie schon aus der geringeren Hellig- keit des Sonnenrandes sich ergibt. Gerade aus dem Helligkeitsunterschied zwischen Mitte und Rand der Sonnenscheibe läßt sich der Strahlungs- verlust ermitteln und damit auch die Temperatur der Photosphäre. Letztere besteht nun aber wahrscheinlich aus Schichten von sehr verschie- dener Temperatur. Führt man den etwas un- klaren Begriff einer mittleren Temperatur der Photosphäre ein, so erhält man als solche schließ- lich den Betrag von 7060, ein Wert, der nicht um mehr als etwa 200" unsicher sein dürfte. Den Fortschritten der modernen Physik haben wir es zu verdanken, daß wir von der Unsicherheit, die sich zwischen 2000" und 10 Millionen Grad bewegte, zu diesem erstaunlich sicheren Wert gelangt sind. Nun ist unsere Sonne nur ein Pünktchen unter den vielen Millionen Sternen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß auch deren Temperaturen mit derjenigen unserer Sonne vergleichbar sind. Dem Vortragenden ist es im Verein mit Wilsing neuerdings nach einer gänzlich anderen Methode gelungen, auch die Temperatur der um viele Lichtjahre von uns entfernten helleren Fixsterne zu ermitteln, und da resultiert für die gelblichen Sterne, deren Spektrum mit dem der Sonne identisch ist, auch sehr nahe derselbe Temperatur- wert. Bei den roten Sternen liegt die Temperatur beträchtlich tiefer; bei den weißen Sternen erhebt sie sich bis zu 1 1 000". Die Vielgestaliigkeit der Welt dieser glühenden Sonnen wurde an einer Reihe von Aufnahmen mit Hilfe der modernen Himmelsphotographie zur Anschauung gebracht. Aber neben unserem Fixsternsystem mit seinen unzähligen Sonnen, das in dem unendlichen All nur eine Insel bildet, bestehend aus einem inneren Sternhaufen und dem darum gelegenen, höchst- wahrscheinlich in einzelnen Spiralen von jenem ausgehenden System der Milchstraße, hat die Himmelsphotographie uns noch andere Fixstern- systeme ähnlicher Art kennen gelehrt, die wiederum aus Millionen einzelner Sonnen bestehen, und nichts hindert uns anzunehmen, daß um jede dieser Sonnen wiederum Planeten kreisen, auf denen sich Leben in irgendeiner P'orm, vielleicht in viel höherer Weise als auf unserem Planeten entwickelt haben mag. — Die Veranstaltungen des Vereinsjahres 1908 fanden einen höchst stimmungsvollen Abschluß unmittelbar vor dem Weihnachtsfeste durch einen Vortrag des Kgl. Musikdirektors und Organisten Herrn Bernhard Irrgang in der ehrwürdigen St. Marienkirche am Neuen Markt am Freitag, den 18. Dezember, abends 8 Uhr. Nach einem einleitenden Vortrag über das Thema: „Der Orgelbau und seine historische Ent- wicklung" wurde das herrliche, kürzlich reno- vierte Orgelwerk der Kirche, eines der größten Deutschlands, in seinen einzelnen Teilen, darunter eine vox humana, vorgeführt und zum Schluß der andächtig lauschenden Gemeinde einige Kompo- sitionen in vollendeter Meisterschaft zum Gehör gebracht. j a.-. Prof. Dr. W. Greif, 1. Schriftführer, Berlin SO 16, Köpenickerstraße 142. N. F. Vm. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 253 Bücherbesprechungen. Deutsche Südpolar-Expedition 1901 — 1903. Bd. X, Zoologie 2. Bd., Heft i: i. L. Plate, Die Sca- phopoden, mit 12 .'\bbild. im Text ; 2. J.Thiele, Die arktischen und subantarktischen Chitonen, mit Taf I; 3. E. Vanhöffen, Die Lucernariden und Scyphomedusen, mit Taf. II — III u. 12 Abbild, im Text. Einzelpreis 13 Mk., Subskriptionspreis 11 Mk. — Heft 2: G. W. Müller, Die Ostracoden, mit Taf IV— XIX u. 45 Abbild, im Text. Einzelpreis 29 Mk., Subskriptionspreis 24 Mk. — Heft 3: I. A. Popofsky, Die Radiolarien, mit Taf XX bis XXXVI u. 2Q Abbild, im Text; 2. O. Schröder, Unbekaimte treibende Eier und Cysten , mit Taf XXXVII— XXX VIII; 3. O. Schröder, Sticho- lonche zanclea (R. Hertwig) und Wagnerella borealis (Mereschkowsky), mit 4 Abbild, im Text. Einzel- preis 36 Mk., Subskriptionspreis 30 Mk. In rascher Folge sind seit dem Schluß des i. Ban- des der Zoologie Heft i — 3 des 2. Bandes gefolgt. In der i. Lieferung werden Coelenteraten und Mol- lusken von Plate , Thiele und Vanhöffen behandelt, die 2. Lieferung wird ganz durch die Bearbeitung der Ostracoden von Müller ausgefüllt, die 3. Lieferung bringt Protozoen, Cysten und Eier von Popofsky und Schröder. Was zunächst die IM olluske n betrifft, so kamen bis jetzt nur zwei kleine Abteilungen: Scaphopoden und Chitonen zur Bearbeitung. Von den ersteren fand Plate in dem Expeditionsmateriale 5 Arten, von denen zwei neu waren (Cadulus thielei und Si- phonodentalium minimum). Die drei bereits von anderen Expeditionen gefundenen Arten sind auch an den patagonischen Küsten und der Magellanstraße verbreitet, so daß das gesamte Material typisch ant- arktisch und über das ganze antarktische Gebiet ver- breitet zu sein scheint. Da nur 2 Schalen noch Tiere enthielten , schließt Plate , daß die lebenden Tiere sich in den tieferen Schlammschichten aufhalten und daher schwer gefangen werden. Die ganze Aus- beute stammte von der Winterstation oder aus deren unmittelbarer Nähe. Thiele wies unter den 4 Chitoniden-Arten eine neue nach ; 2 Arten stammten von den Kerguelen (Lepidopleurus kerguelensis, Hemiarthrum setulosum), 2 von der Winterstation (Xotochiton mirandus, Callo- chiton gaussi n. sp.) ; alle 4 sind bisher nur in dem antarktischen Gebiete gefunden. Die Zahl der über- haupt im antarktischen Meere beobachteten Chitonen, von denen Thiele eine Zusammenstellung gibt , be- läuft sich auf nicht weniger als 27 Arten. Fast alle diese .'\rten sind auf den äußersten Süden beschränkt, nur wenige gehen an der südamerikanischen West- küste etwas weiter nach Norden hinauf und nur Acanthochites hirudiniformis ist noch bei Peru und den Galapagos-Inseln gefunden. Sehr merkwürdig ist die Verbreitung von Ischnochiton exaratus, der im Feuer- land und außerdem an der atlantischen Küste Nord- amerikas und Norwegens nachgewiesen werden konnte; es ist das um so auffälliger als die übrigen Arten dieser Gattung auf die südliche Halbkugel beschränkt sind. Die Lucernariden und Scyphomedusen behandelt Vanhöffen. Von den 18 Arten waren 2 Lucer- nariden (Haliclystus kerguelensis und Lucernaria australis) und i Meduse (L'lmaropsis drygalskiij neu. Die festsitzenden Lucernariden bieten ein ausgezeich- netes Beispiel für bipolare Verbreitung, denn während sie im ganzen Warmwassergebiet zwischen 30'' nördl. und südl. Breite vollständig fehlen, sind sie in den kalten Meeren der nördlichen und südlichen Hemi- sphäre weit verbreitet und zwar entspricht jeder nor- dischen Art eine nächstverwandte südliche Art, wie nachstehende Zusammenstellung zeigt. Nördl. Gebiet. Südl. Gebiet. i)CraterolophusmacrocystisLendf Cr. tethys Clark. 2) Haliclystus kerguelensis n. sp. H. octoradiatus Clark. 3) „ antarcticus Pfeff, „ auricula Clark. 4) Lucernaria von Borchgrevink L. pyramidalis Haek. 5) „ australis n. sp. ,, bethyphila. Haek. Unter den Scyphomedusen beanspruchen die bei- den Gattungen Atolla und Periphylla als echte Tiefsee- bewohner und Ulmaropsis und Desmonema als die Charakterformen der antarktischen Küsten ein be- deres Interesse. Die ersteren waren in der Tiefsee der subantarktischen und arktischen Gebiete ausge- sprochen häufiger als in anderen Meeresteilen ; bei der Winterstation , die bereits auf dem Kontinental- sockel gelegen war und nur 385 m tiefes Wasser hatte, fehlten sie ganz. Hier wurden dann aber bei den zahlreichen Planktonfängen 2 Arten von Jugend- stadien (Ephyren) gefunden , deren eine der bereits bekannten Riesenmeduse Desmonema chierchiana Vanh. angehörte, während für die andere eine neue, Aurelia nahestehende Gattung Ulmaropsis geschaffen werden mußte. Geschlechtstiere wurden von Desmo- nema bei den Kerguelen und Heard Island beobachtet; von Ulmaropsis wurde nur ein Bruchstück an der Winterstation erbeutet. Offenbar waren beide Arten auch hier im antarktischen Küstengebiet nicht selten, aber die Eisdecke verhinderte ihre Beobachtung und die Netze waren für ihren Fang zu klein. Jedoch wurden Tentakeln von Desmonema wiederholt am Lotdraht heraufgebracht; der dickste derselben hatte 1 1 mm Durchmesser und mindestens 2 m Länge. Da Borchgrevink bei Kap Adare ein Exemplar von Desmonema fing, das 75 cm Durchmesser und 90 Pfund Gewicht hatte, können diese Tentakeln nicht überraschen. Von der schottischen und englischen Südpolar-Expedition sind solche Tentakel als Sipho- nophorententakel beschrieben ; doch unterscheidet sie ihr Bau, wie Vanhöffen durch Schnitte von Batthy- physa und Desmonema-Tentakel nachweisen konnte, sehr wesentlich. Außer Desmonema und Ulmaropsis wurden keine acraspeden Medusen in der Antarktis selbst gefangen; beide Arten sind auf das antarktische Meer beschränkt. Die südlichen Atolla- und Peri- phylla-Arten sind zwar auch im antarktischen Gebiete am häufigsten , gehen aber mehr oder weniger weit nach Norden hinauf; so ist Periphylla regina noch bei Panama , P. dodecabostrycha sogar noch bei den Sandwich-Inseln gefunden. Den beiden antarktischen acraspeden Medusen ( Desmonema chierchiana und 254 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. i6 Ulmaropsis drygalskii) stehen im arktischen Meere die 3 Arten : Nausithoe polaris, Cyanea arctica und Aurelia limbata gegenüber. Hier sind also die stellvertreten- den Arten durchweg generisch verschieden und die betreftenden Gattungen fehlen im anderen Gebiete überhaupt gänzlich. Die Arbeit enthält auch eine an systematischen und biologischen Bemerkungen reiche Schilderung der während der Ausreise und Heimfahrt von Bord aus beobachteten Medusen , wobei vor allem auf die Artunterscheidung bei Cyanea und Pelagia hinge- wiesen werden mag. Außer einer farbigen Tafel mit Desmonema und Haliclystus kerguelensis ist noch eine Verbreitungskarte der wichtigsten Arten gegeben. Die Ausbeute der Expedition an Ostracoden ist eine außerordentlich reiche und ist von Müller in systematischer Hinsicht außerordentlich sorgfältig durchgearbeitet. Zahlreiche Textfiguren und i6 Tafeln illustrieren die Arbeit, in der 141 Arten beschrieben werden. 1 6 Arten sind Süßwasserostracoden, die bis auf eine Art von St. Helena, bei Simonstown erbeutet wurden; von den 125 Meeresostracoden waren 53 Arten Grundbewohner von Simonstown , St. Paul, Kerguelen und der VVinterstation ; 7 3 Arten waren pelagische. Wie wenig bisher die Ostracodenfauna bekannt ist, geht überzeugend daraus hervor, daß 44 "/q, also beinahe die Hälfte der Arten neu waren. Am besten bekannt sind die Planktonformen , von denen nur 3 Spezies oder 4 " „ unbekannt waren, während von den benthonischen Meeresformen 93 "/j und von den Süßwasserarten 87 "/q (49 resp. 14 Arten) neu waren. Es zeigt das sehr schön, wie viel schneller die Forschung die pelagische Organismenwelt wird beherrschen können, als die von Ort zu Ort ver- schieden entwickelte Boden- und Süßwasser-Lebewelt. Bei der Schwierigkeit einer sicheren Artunterscheidung und der großen Lückenhaftigkeit unserer bisherigen faunistischen Kenntnisse ist wenig über die Verbrei- tung der Ostracoden auszusagen : doch gibt Müller auf Seite 140 — 145 einige kurze Zusammenstellungen und Bemerkungen in dieser Hinsicht. Von den Planktonformen sind auf die Region südlich 60" südl. Breite beschränkt nur Conchoecia belgica und Euconchoecia lacunosa; erstere ist sehr häufig, letztere dagegen nur in i Individuum gefunden. Typische Bewohner des antarktischen Gebietes sind ferner Conchoecia hettacra , isocheira und plactolycos var. major , die aber sich weiter nordwärts verbreiten. Über Beziehungen zwischen arktischen und antarkti- schen Arten zueinander läßt sich zurzeit nichts Sicheres aussagen. Die den Meeresboden bewohnen- den Ostracoden waren an der Winterstation in er- staunlicher Artenfülle vertreten (48 Arten), so daß Müller meint , dieselbe stände kaum hinter der der Neapeler Bucht zurück. Biologisches Interesse bieten noch 2 Beobachtun- gen Müller's. Cypridina vanhöffeni wurde bei Simons- town in mehreren Tausend E.xemplaren in toten See- tieren gesammelt (Rochen, Trigla, Sepien), die bis auf die Haut völlig ausgefressen waren. Die Art ist also ein Aasfresser und wahrscheinlich schließen sich ihr andere Cypridiniden an (p. 83). Ferner fand Müller bei Philomedes assimilis, die an der Winterstation nicht selten war, daß fast alle geschlechtsreifen Weib- chen an ihren Extremitäten die SchwimmborstenMicht über der Basis abgebrochen hatten. ' Müller vermutet daher, daß bei dieser antarktischen Art'^die Weibchen ebenso wie bei der nahe verwandten Ph. brenda der arktischen Meere nach der Begattung das pelagische Leben aufgeben und im Sand und Schlamm grabend sich ihre Nahrung suchen. Hierbei würdenT; ihnen"" die langen Schwimmborsten nur hinderlich sein und daher werden sie abgebrochen (Müller vermutet, daß sie mit der 2. Maxille abgebissen werden). Es istjsehr bemerkenswert, daß dieser eigentümliche Vorgang bisher nur von einer arktischen und einer antarkti- schen Art bekannt geworden ist. Ein gleichfalls sehr reiches Material stand P o - pofsky in der Radiolarien- Ausbeute der Expedition zur Verfügung. In der vorliegenden Arbeit werden nur die in der Antarktis gefundenen Ra- diolarien, die daher zum weitaus größten Teil von der Winterstation stammen , bearbeitet. Ausge- schlossen sind außerdem die Tripyleen, die von Schröder untersucht werden. Popofsky fand nun in dem eiskalten Wasser unmittelbar an dem Küsten- rande des antarktischen Kontinents noch 85 Radio- larien-Arten und zwar 56 Spumellarien, 17 Acantharien und 47 Nasseilarien; neu waren davon weit über die Hälfte (59 Arten); von diesen ist die merkwürdigste Form, die gestielte, festsitzende Acanthometride : Po- dactinelius sessilis (Bd. i, Heft 4) bereits früher von Schröder und Bütschli beschrieben (Referat siehe diese Zeitschrift 1907, p. 430). Sie ist bekanntlich die einzige nicht planktonische Radiolarie, die man bisher beobachtet hat. Im übrigen begründet Pro- pofsky eine neue Familie : Lithacanthidae, die anhangs- weise zu den Spumellarien gestellt wird. Ausführ- licher wird der Bau der Astrocapsidae besprochen, deren Zentralkapselmembran im Gegensatz zu den übrigen Radiolarien in die Skeiettbildung mit einbe- zogen und durch Strontiumsulfat verhärtet ist. Auf 1 7 Tafeln und in einer Reihe von Textfiguren wer- den die Arten abgebildet. Von allgemeinerem Inter- esse sind die faunistischen Ergebnisse, zu denen Popofsky gelangt und die einmal das jahreszeitliche Auftreten der Radiolarien an der Winterstation sowie ferner die Beziehungen der antarktischen Formen zu denen der übrigen Meeresgebiete betreffen. Van- höffen hatte an 20 Tagen während 11 Monaten ver- tikale Züge mit einem mittleren quantitativen Plankton- netze an der Winterstation ausgeführt; zwei weitere Fänge wurden nach dem Verlassen der Station im Februar und März 1903 in der Antarktis gewonnen, so daß im ganzen 2 2 Fangtage aus 1 3 Monaten vorliegen. Die Züge wurden aus 200 — 400 m Tiefe bis zur Oberfläche des Meeres vollzogen und daneben Stufenfänge aus geringeren Tiefen gemacht. Das Netzzeug war leider nicht die feinste Müllergaze Nr. 20, sondern eine beträchtlich gröbere Nummer (Nr. 12), so daß die quantitativen Ergebnisse nur untereinander, aber nicht mit den Ergebnissen anderer Forscher vergleichbar sind. Für die Radiolarien er- gab die quantitative Verarbeitung dieser Fänge, die N. F. VIII. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 2S5 von Vanhöffen selbst ausgeführt wvirde, nach Popofsky's als Gäste zu betrachten sind. Über die Hälfte der- Zusammenstellungen folgende Maximalwerte für die jenigen antarktischen Radiolarien, die auch aus ande- einzelnen Monate : ren Gebieten bekannt sind , ist ferner auch in den Mittler. Quantitativ. Xetz mit Müllergaze Nr. 12 III»- IV Winters V tation VI (22. 11. 02 liis 8. 11. 03 Vll Vlll l.\ 385 m Meerestiefe) X XI XU 1 ()■! Nördlich der Station auf tiefem Wasser II m I) Radiolarien alle SlOO 70.50 2 375 150 300 250 1000 650 1875 2400 7000 2900 Acantliaria 7500 6075 — 125 V V 125 50 1000 2000 5000 900 Andere Formen tlOO 375 2 250 150 300 250 875 600 875 400 2000 2000 2) S e t z V 0 1 u Uli n a der ganzen Fänge (Volum, für VI— XII) = 1 gesetzt)») 50 20 weniger als 5 1 I I I I I I 5—7 25 30 Nach: Vanhöffen, Verhandl. Deutsch. Geographenlag Danzig, 1905, p. 17. Es zeigt sich also eine ausgesprochene Periodizität im Auftreten der Radiolarien , die im großen und ganzen mit derjenigen der Planktonvolumina überein- stimmt. Im Südsommer und Südherbst, wenn die Diatomeen, die hauptsächlichen Planktonpflanzen wuchern , steigt auch die Zahl der Radiolarien am höchsten , während des Polarwinters geht ihre Zahl tief hinunter. Während der wärmeren Jahreszeit überwiegen ferner die Acantharien über alle anderen Radiolarien ganz erheblich, im Winter dagegen schwin- den jene fast vollständig, während diese sich immer in gewisser Stärke halten. Nur im Mai waren alle Radiolarien äußerst selten. Das gewaltige Ansteigen der Individuenmenge in der warmen Jahreszeit ist also vor allem durch eine Zunahme der Acantharien bedingt und die Arten , die alsdann auftreten, sind sehr interessanterweise solche, die eigentlich im Warm- wassergebiet ihre Heimat haben und im antarktischen Meere nur als Gäste betrachtet werden können. Von den 85 Arten sind indessen nur 7 Arten überhaupt in großer Individuenzahl gefangen, nämlich 2 Spu- mellarien (Stylotrochus arachnius, Lithelius nautiloides), 2 Nassellarien (Lithonielissa jörgenseni, Helotholus histricosa) und 3 Acantharien (Podactinelius sessilis, Acantharia tetracopa, Astrocapsa tritonis). Die Spu- mellarien und Nassellarien sowie natürlich der fest- sitzende Podactinelius treten das ganze Jahr hindurch an der Winterstation auf, die beiden pelagischen Acantharien aber waren auf die warme Zeit beschränkt und fehlen sonst. Popofsky kommt daher auch für die Radiolarien zu demselben Ergebnis wie Meisen- heimer für die Pteropoden (siehe Referat in dieser Zeitschrift, 1906, p. 479) und Lohmann für die Appendicularien (Schriften naturwissenschaftl. Vereins Schleswig-Holsteins, Bd. 14, p. 3 — 4 u. 207), daß in ähnlicher Weise wie auf der nördlichen Hemisphäre durch den Golfstrom Warmwasserformen bis nach Spitzbergen hinausgeführt werden, so auch in der Antarktis polwärts gerichtete Warmwasserströme solche Arten bis an die Küste der Antarktis führen. Indem diese Ströme während der warmen Jahreszeit weiter vordringen als während des übrigen Jahres, bedingen sie das periodische Auftreten dieser Spezies, die sich in dem antarktischen Wasser selbst nicht dauernd zu halten vermögen und daher an der Winterstation nur nordischen Gebieten kalten Wassers heimisch ; freilich fehlen von diesen in dem dazwischen liegenden Warmwassergebiete nur 4 (2 Spumellarien : Rhizo- plegma boreale, Spongodiscus favus ; 2 Nassellarien : Lithomelissa setosa , Helotholus histricosa) , die also als bipolare Arten anzusehen wären. Popofsky ist geneigt anzunehmen, daß dieselben in den tiefen, niedrig temperierten Wasserschichten kosmopolitische Verbreitung haben und schließt sich also Chun's Auffassung an. Auch die Acantharien des nordischen und des südlichen Kaltwassergebietes zeigen große Übereinstimmung, indem dort wie hier nachstehende 5 Arten vorkommen : Acanthochiasma krohnii, Acan- thometron pellucidum, Zygacanthidium echinoides und pallidum, Acanthonia tetracopa; dies sind jedoch sämtlich Bewohner des ganzen Warmwassergebietes, deren große Eurythermie ihnen aber, im Gegensatz zu den anderen Acanthometriden , ermöglicht , nach beiden Polen hin weiter als die anderen Arten vor- zudringen. Hier besteht also keine Bipolarität. In demselben Hefte gibt Schröder noch eine kurze Schilderung von Sticholonche zanclea und Wagnerella borealis, zwei Protozoen, die nach den Ergebnissen der Expedition offenbar kosmopolitische Verbreitung haben, während man die erstere bis vor kurzem als eine Warmwasserform, letztere als eine nordische Form ansah. Die pelagisch lebende, mit Kieselnadeln ausgerüstete Sticholonche trat an der Winterstation das ganze Jahr hindurch auf und wurde im Dezember in 45 000 Individuen in einem Fange aus 350 m Tiefe erbeutet (das Maximum für die Summe aller Radiolarien betrug nur 8100, also 5 — 6 mal weniger!). Wagnerella borealis, eine festsitzende Heliozoe war bisher nur aus dem weißen Meere und dem Mittelmeere bekannt. Ferner hat Schröder in gleicher Weise, wie Lohmann für die Plankton-Expedition, die von der Südpolar-Expedition gefangenen „Eier und Cysten" bearbeitet. Es liegt in der Natur des Materiales, daß eine solche Arbeit sich im wesentlichen auf eine Abbildung und einfache Charakterisierung dieser Ent- wicklungszustände von Planktonorganismen beschrän- ken muß , da ohne Kulturen die Natur der Objekte sich nicht feststellen läßt, solche Untersuchungen aber nur an lebendem Materiale ausführbar sind. 256 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 16 Dennoch ist es wichtig, daß die regelmäßiger vor- kommenden Formen gekennzeichnet werden , damit auf sie geachtet und unter günstigen Umständen ihre Natur aufgeklärt wird. So ist es gelungen , durch Kulturen im hängenden Tropfen wenigstens für eine, früher als „dornige Cyste" bezeichnete Form nach- zuweisen, daß sie das Ei eines Copepoden (Centropages) ist. Schröder beschreibt und bildet auf Tafel j6 und 37 im ganzen 17 Formen ab. Bemerkenswert sind insbesondere 3 zu der Gruppe „Ovum hispidum" gestellte, eiähnliche Formen (Ov. hispid. radiosum., variabile und giganteum n. sp.) , die alle 3 nur im antarktischen Eismeere angetroffen wurden; Ov. his- pid. giganteum hatte einen Durchmesser von i mm. Durch seine höchst eigenartige Form zeichnet sich Ov. hispid. tetrabrachiolatum aus. Der Mehrzahl nach dürfte es sich um Eier wirbelloser Tiere han- deln, die in Anpassung an das pelagische Leben abnorme Formen, seltsame Schalenfortsätze und eigen- artige Hüllbildungen aufweisen. Es ist zu hoffen, daß Forscher, die an den Meeresküsten lebendes Plankton untersuchen , gelegentlich auch diesen For- men ihre Aufmerksamkeit zuwenden und sie durch Kulturversuche aufzuklären versuchen. H. Lohmann. Anregungen und Antworten. Zu der in Xr. 9 der N'aturwiss. Wocliensclir. gebrachten Notiz über das Meerweib ia der mediko - historischen Sammlung des Kaiserin Friedrich-Hauses zu Berlin kann ich mitteilen, daß ein genau gleiches Exemplar sich im Be- sitz des Gastwirtes .'\. Stümpel , Gasthof zur Doppel-Eiche in Neukirchen , Kreis Oldenburg in Holstein , befindet. Die auffallende Ähnlichkeit der beiden Exemplare läßt ver- muten, daß beide aus der Hand desselben ,, Künstlers" hervor- gegangen sind. .Auch dieses Exemplar ,,hat noch einige sehr wenig lange vermorschte Haare", wie Herr Stümpel mir freundlichst mitteilt. Herr St. hat es in Ki-li ung-hing-tan einige Stationen hinter VVei-ha-wei von einem Mandarinen ge- kauft. ,, Derselbe hatte es wie eine Ampel unter der Decke hängen. Richtig zu erkennen war es erst, als ich es von Staub und Schmutz gereinigt hatte. Wie lange es auf dem Platze gehangen, wußte weder er noch sein alter Vater." So schreibt Herr St. mir und teilt mir auf meine diesbezüg- liche Anfrage mit, daß er während seines langen Aufenthaltes in China kein zweites Exemplar gesehen und über den Ver- fertiger nichts weiß. Virchow hat 1S98 dieses Exemplar in einer Broschüre beschrieben, wie Herr St. schreibt. R. Ortmann, Lehrer. Anläßlich desselben Aufsatzes erlaube ich mir die Auf- merksamkeit auf die Keiseskizzen von Josef Lehnert ,,Um die Erde" (Wien 187S bei Alfred Holder) zu lenken, welche in Bd. II, p. 536, ein Seitenstück zum Meervveibchen bringen. Lehnert sah und zeichnete dasselbe in einem ,, Kuriositäten- geschäft" in Yokohama. ,, ,,Es war ein mumienhaft eingetrock- netes Monstrum, halb Fisch halb Mensch von ca. 30 cm Länge . . . ein Erzeugnis der japanischen Industrie. . . . Die Arbeit ist meisterhaft und korrekt durchgeführt und konnte recht gut Täuschungen herbcifüliren. ... In dieser Art sah ich später andere Gebilde. . . . Diese Arbeiten finden in lapan viel .-\bsatz." " Berghauptmann Pfeift'er v. Inberg in Wien. Herrn Dr. E. in Fürth i. B. — Wie Sie richtig erkannt haben, gehört die fragliche Kladozere in die Daphniden- Gattung Swwcephalus; es ist die häufigste Art der Gattung, .S". veiiilus (O. F. Müller), kenntlich an dem langgestreckten Naupliusauge. Die charakteristische, von der der Daphnien abweichende Bewegungsart haben Sie richtig beobachtet und geschildert. Die Tiere heften sich mit den Kuderantennen, an denen eine der neun Schwimmboisten zu einem Haken umgebildet ist, an Pflanzen oder an den Glaswänden des Aquariums fest. Wenn sie frei schwimmen, so haben sie dabei den Rücken nach unten gekehrt, während die Arten der nahe verwandten Gat- tungen Daphne und Ceriodaphnia aufrecht hüpfend schwimmen. Mit der vorliegenden Art ist vor kurzem ein Experiment angestellt worden, das die Bedeutung der eigentümlichen Fort- pflanzungsweise der Kladozeren klarstellen sollte. Die Klado- zcren haben zwei Arten der Fortpflanzung; sie erzeugen auf dem Wege der Parthenogenese Eier, die sich im Brutraum des Muttertiers sofort entwickeln, sogenannte Subilaneier, und auf dem Wege der geschlechtlichen Fortpflanzung die soge- nannten Dauereier, die sich erst nach einer längeren Ruhe- periode entwickeln, während deren sie Frost und Trockenheit schadlos überstehen können. Bei den Daphniden werden diese Dauereier in einer Umbildung der Schale, dem soge- nannten Ephippium, abgelegt , das durch ein Lager prismati- scher Lufikammern zum Schwimmen befähigt ist und so gleichzeitig die Verbreitung der Art begünstigt. Die Dauereibildung tritt besonders im Herbst ein, bei vielen Arten, besonders bei den Bewohnern kleiner Tümpel und Gräben können jedoch im Laufe eines Jahres mehrmals Dauereier gebildet werden. Bisher hat allgemein die von Weismann begründete An- sicht gegolten, daß die Anzahl parthcnogenetischer (Generationen von einer Dauereibildung zur nächsten für die einzelnen Arten annähernd normiert sei und von den jeweiligen Einflüssen der Außenwelt nur wenig beeinflußt werde; da hat 1906 Issakö- witsch auf Grund von Kulturversuchen mit der vorliegenden Art eine grundsätzlich hiervon verschiedene Auffassung ver- treten : er fand , daß Siiii. vetuliis monatelang sich partheno- genetisch fortpflanzt, wenn er bei reichlicher Nahrung in der gleichmäßigen Wärme von 24" C gehalten wird, daß er aber sofort mit Dauereibildung beginnt, wenn er in Kulturen von 8^ C versetzt wird. Issaköwitsch schloß hieraus, daß die An- zahl voraufgegangener parthcnogenetischer Generationen ohne Einfluß auf den Eintritt der Dauereibildung sei, daß dieser vielmehr ausschließlich von den im Augenblick herrschenden Temperatur- und Ernährungsverhältnissen abhänge. Da gegen diese .Auffassung einige Beobachtungen an freilebenden Klado- zcren-Kolonien und die Kulturversuche von Weismann sprechen, so habe ich einen Vermitilungsvorschlag gemacht : Der Ein- tritt der Dauereibildung kann durch Hunger oder Kälte jeder- zeit veranlaßt werden; nach einer für jede einzelne Art nor- mierten Höchstzahl parthcnogenetischer Generationen muß aber die Dauereibildung auch unabhängig von den jeweiligen Außenbedingungen eintreten. Wenn diese Auffassung richlig ist, so muß es beispielsweise unmöglich sein, die gemeine Daphne puitw, den Wasscrfloh, 6 Monate lang in der Wärme- kultur bei parthcnogenetischer Fortpflanzung zu erhalten; die .Art lebt polyzyklisch, d. h. sie macht im Laufe eines Jahres den ,, Zyklus" von einer Dauereibildung zur nächsten mehr- mals durch. Danach wäre bei ihr die Höchstzahl möglicher parthcnogenetischer Generationen so eng begrenzt, daß eine sechsmonatige parthenogenetische Fortpflanzung , die an den Simoifp/uilu!.-\\u\^\\\en beobachtet ist, ausgeschlossen erscheint. Dies wäre durch das Experiment zu bestätigen. Ich bin gern bereit, mit den genauen Literaturangaben und sonstiger Aus- kunft dem Unternehmer eines derartigen Versuchs zu helfen und bemerke, daß auch genaue Kontrolle freilebender Kolo- nien l)rauchbares Material zur vorliegenden Frage liefern kann. Dr. Ludwig Keilhack, Wilmersdorf-Berlin. Inhalt: H. Potonie: Eine naturwissenschaftliche Exkursion durch Süd - Kanada. (Schluß.) — Kleinere Mitteilungen: Dr. T h. Moroff: Neues zur Physiologie des Zellkerns. — E. Zieprecht: Zwitterbildung bei Schmetterlingen. — H. E. Boeke: Rinneit, ein neues .Salzmineral. — Peck: Unterwasser-Schallsignale. — Vereinswesen. — Bücher- besprechungen: Deutsche Südpolar-Eüpedition 1901 — 1903. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue folge Vlll. Hainl , der ganzen Keihc XXIV. Band, Sonntag, den 25. April 1909. Nummer 17. Die sogenannten ,. echten Versteinerungen" (Intuskrustate) *) der Pflanzen und die Konkretionen (Inkrustate). Nach einer Rede, gehalten zur Habihtation a. d. Königl. Bergakademie zu Berlin am 2g. Juni 1908 von Dr. W. Gothan. [Nachdruck verboten.] Wiewohl die folgenden Ausführungen vielfach eben.sowohl die Paläozoologie und besonders auch die allgemeine Geologie angehen als die Paläo- botanik, so ist doch insbesondere der Paläobota- niker gezwungen, sich einesteils mit den Gebilden der Inkrustation — zu denen, wie vorweg bemerkt sei, z. 13. die sogenannten Konkretionen gehören — , anderenteils und besonders mit denen der Intus- krustation*), worunter der Vorgang der sogenannten ,, echten Versteinerung" verstanden ist, zu beschäf- tigen, und zwar dies aus mehreren Gründen. Die Inkrustation liefert vielfach Gebilde, die mit pflanz- lichen Fossilien eine gewisse Ähnlichkeit haben und oft genug für solche gehalten wurden; so z. B. wurden rundliche Konkretionen öfter für Pflanzensamen angesehen, überhaupt liefert der Inkrustationsprozeß häufigGebilde, die in dasKapitel der zweifelhaften und vermeintlichen Fossilien, der Pseudofossilien, gehören, die nian großenteils als paläobotanische Objekte bezeichnen kann, insofern ein großer Teil solcher zweif^' haften Gebilde — vielfach anorganischer Entstehung — als Pflanzen- fossilien angesehen wurden, mit Vorliebe als Algen. Wie wir nachher sehen werden, kommt die ,, echte X^ersteinerung", die wir oben aus später zu er- läuternden Gründen ,,Intuskrustation" nannten, überhaupt fast nur bei Pflanzenfossilien vor; ein Grund mehr, der der Paläobotanik die Beschäfti- gung mit den Gesamterscheinungen des hier zu betrachtenden Gebiets nahelegt, dessen Erschei- nungen man zusammenfassend als „Ausscheidungs- vorgänge in oder an heterogenen Bestandteilen in homogenen Gesteinsmedien" bezeichnen könnte. Wir wollen zunächst, von einigen bekannten Analogien einfacher Natur ausgehend, diese Pro- zesse und ihre Produkte betrachten, und dann an unsere eigentliche Aufgabe herangehen, nämlich eine Klassifikation dieser Vorgänge (und ihrer Produkte) auf Grund ihrer Genesis versuchen. Bereiten wir eine Lösung eines Salzes, z. B. von Alaun, um daraus Kristalle sich abscheiden zu lassen, so können wir deren Abscheidung ge- wissermaßen dirigieren, wir können den Kristallen bis zu gewissem Grade den Ort vorschreiben, wo sie sich auszuscheiden haben, indem wir einen heterogenen Gegenstand, gewöhnlich einen Bind- *) Vgl. hierüber; \aturw. Wochenschrift \. F., Bd. V vom 20. Mai 1906, S. 330, besonders die Fußnote, wo sich der obige Name erstmalig findet; wie sich aus dem Folgen- den ergeben wird, soll aber In(tus)krustation nur den Prozeß bezeichnen, Inftusikrustate werden die Produkte genannt. faden, in die Lösung hineinbringen, an dem sich dann das gelöste Material ausscheidet. Nehmen wir statt des Bindfadens einen Kristall von der in Lösung befindlichen Materie, so scheidet sich an diesem das Salz aus : der Kristall wächst. Be- nutzen wir eine Lösung verschiedener Salze, die untereinander nicht reagieren, z. B. von Kalisal- peter, Alaun und Kochsalz und legen Kristalle dieser Stoffe in die Lösung ein, so scheidet sich an jedem Kristall die ihm gleiche Materie, am Kalisalpeter also wieder Kalisalpeter, am Koch- salz wieder Kochsalz, usw. ab. Dicken wir die Lösung ein, indem wir sie etwa mit Gelatine oder Gipspulver versetzen, so gehen diese Attraktions- und Konzentrationsvorgänge ebenfalls, nur viel langsamer vor sich. Die in Lösung befindliche Materie wandert — wenn man so sagen darf — nach den heterogenen Punkten hin, die als Attrak- tionszentra fungieren. Nehmen wir als ,,Ein- dickungsmittel", um bei diesem Ausdruck zu bleiben, Sand oder Ton, so ahmen wir dadurch Bedingungen mehr oder weniger genau nach, wie sie in der Natur ungeheuer oft in Gesteinen — oder besser gesagt — in zukünftigen Gesteinen vorkommen. Wir haben sozusagen ein künstliches Sedimentärgestein geschaffen , in dem Mineral- lösung vorhanden ist, die ihre in Lösung befind- lichen Bestandteile abzugeben imstande ist. Ent- ziehen wir unserem künstlichen Sedimentärgestein das Wasser, so hören natürlich alle Attraktions- und Konzentrationsvorgänge auf, indem die ge- lösten Bestandteile in mehr oder minder gleich- mäßiger Verteilung durch das ganze Gestein hin ausfallen ; daher gehen analoge Ausscheidungs- vorgänge wie in den Kristallösungen in Sedimen- tärgesteinen nur so lange vor sich, als einerseits genügender Wassergehalt in dem Gestein vor- handen ist, andererseits dieses selbst noch nicht steinfeste Beschaffenheit angenommen hat; ist die Festwerdung des Gesteins soweit vorgeschritten, daß eine hinreichend ausgiebige Zirkulation und Diffusion von Minerallösungen nicht mehr statt- finden kann, so hören diese Vorgänge auf. Mineralische Bestandteile in Lösung sind ja in Sedimentärgesteinen außerordentlich oft, man kann sogar sagen — gewöhnlich vorhanden, ob- wohl in der Natur die Lösungen sehr verdünnt zu sein pflegen ; dafür steht aber in der Natur die Zeit in beliebiger Länge zur Verfügung, in bezug auf die keinerlei Beschränkung nötig ist wie im Laboratorium. Ferner finden sich in diesen Ge- 258 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 17 steinen gewöhnlich irgendwelche heterogenen Be- standteile, sei es mineralischer, pflanzlicher oder tierischer Natur. An diesen und um diese herum oder in diesen schlägt sich genau nach Analogie der aus künstlichen Lösungen sich ausscheidenden Kristalle die in Lösung befindliche Materie nieder, die in chemischer Hinsicht außerordentlich ver- schiedener Natur sein kann. Es kommt auch vor, daß zunächst keine merklichen heterogenen Be- standteile nachweisbar sind, die die Ausfällung des gelösten Stoffes bewirkt haben. Wir werden hierauf gleich zurückkommen. Die Endprodukte dieser Konzentrationsvor- gänge sind äußerlich sehr verschiedenen Aus- sehens; es gehören dahin die Inkrustate im alier- weitesten Sinne, für die man in der Geologie auch den recht unglücklichen Namen Konkretionen hat. Diese Inkrustate sind ja allbekannt. Bald sind es knollige Gebilde wie die Lößkindel, ferner Toneisensteinknollen , wie die Lebacher Knollen usw. Besonders bei den letzteren sieht man den heterogenen Bestandteil, der die Ausscheidung des Knollenminerals veranlaßte, noch gewöhnlich; bald ist es eine Pflanze, bald ein Stegocephalen- rest u. a. In anderen Fällen sind die ersten Ver- anlasser der Inkrustatbildung leicht zersetzliche IMikroorganismen, von denen in dem fertigen Inkrustat natürlich nichts mehr zu sehen ist (See- erze u. a. ; vgl. Naturwiss. Wochenschrift vom II. März 1906). Zu den Inkrustaten gehören auch kristallinische oder Kristallausscheidungen in Ton, Kalk und anderen Gesteinen; ich erinnere an Coelestin- kristalle, Gypskristalle, Pyritpentagondodekaeder in Ton usw. Hier scheint ein heterogener Be- standteil, der die Ausscheidung veranlaßte, nicht nachweisbar ; dennoch war natürlich ein solcher vorhanden, und zwar war es in diesem Falle ein zuerst sich ausscheidendes, minimales Kriställchen dieser Substanz, an dem sich dann als hetero- genem Bestandteil weitere Masse gleicher Natur abschied. Geradeso wie sich in dem vorn ange- führten Beispiel einer Mischlösung von Kalisal- peter, Kochsalz und Alaun Gleiches an Gleichem niederschlug, so können sich in demselben Gestein Inkrustate verschiedener Zusammensetzung bilden, wie z. B. im Posidonienschiefer solche von Pyrit und Kalkspat. Um noch ein Beispiel aufzuführen, das die Wirksamkeit heterogener Bestandteile als Niederschlagszentra zeigt, seien die Osteokollen angeführt; es sind dies Hüllen, Hosen von Kalk oder Brauneisen oder Toneisenstein um Pflanzen- wurzeln, die z. B. in unserem Geschiebemergel vorkommen (vgl. Naturw. Wochenschrift vom 24. Mai 1908, S. 336). Es erhellt, daß der Name Inkrustation die eben besprochenen Prozesse in doppelter Beziehung rich- tig trifft. Er bedeutet einerseits : Ankrustung, Bil- dung einer festen Kruste an den heterogenen Be- standteilen, einer Kruste, insofern jene Bestand- teile durch die an ihnen niedergeschlagenen Sub- stanzen eine Zone höherer Festigkeit um sich haben als das umgebende Gestein, aus dem die Inkrustate deshalb leicht herauszugewinnen sind. Inkrustation bedeutet aber auch Einkrustung, Einhüllung in eine Kruste, und bezeichnet den Prozeß also zugleich von dem eingehüllten — inkrustierten — Bestandteil aus gesehen. Man kann also sowohl sagen : ein heterogener Bestand- teil wird inkrustiert, als auch: eine (in Lösung befindliche und ausscheidbare) Mineralsubstanz wird inkrustiert. In der Botanik bedeutet „Inkrustation" etwas anderes als in der Geologie. .Als „inkrustierende Substanzen" bezeichnet man dort gewisse Stoffe, die die Pflanzen in ihre Zellmembranen, in die Zellwände selbst aufnehmen. Solche Stoffe sind Lignin (bei verholzten Wänden), Gerbstoff, Holz- gummi, Kernstoff, der sich im Kernholz findet u. a. Obwohl es bedauerlich ist, daß in zwei verwandten Disziplinen derselbe Terminus für Verschiedenes vorkommt, ist die Sache in diesem Falle nicht so schlimm, da der Ausdruck in der Botanik gegen früher seltener geworden zu sein scheint; in der Geologie dafür einen anderen Ausdruck, etwa „Akkrustation" setzen zu wollen, würde vergebens sein, da „Inkrustation" im geologischen Sinne nicht mehr auszumerzen und, wie oben dargelegt, eine bessere Bezeichnung als ."Akkrustation ist. Die Inkrustation im Sinne der Botanik nähert sich dem, was wir oben als „echte Versteinerung", als „Intuskrustation" erwähnt haben. Mit dem Ver- legenheitsausdruck „echte Versteinerung" bezeichnet man einen Prozeß, bei dem die organische Sub- stanz selbst ganz oder teilweise durch ver- steinerndes Mineral ersetzt wird, so daß man an dem fertigen Produkt die anatomische Struktur des Organismus — je nach der Vollkommenheit der Erhaltung mehr oder weniger genau — mit dem Mikroskop studieren kann, natürlich nach Vornahme der nötigen Präparation, meist in der Herstellung von Dünnschliffen bestehend. Diese echte Versteinerung kommt, soviel bisher be- kannt, fast nur bei Pflanzenresten vor; es gehören dahin z. B. die bekannten versteinten Hölzer. Die „echte Versteinerung" hat mit der Inkrustation das Gemeinsame, daß die Ausscheidung der die Versteinerung bewirkenden Mineralsubstanz, eben- falls an, genauer hier: in heterogenen Bestand- teilen geschieht, als welche die Hölzer fungieren: sie unterscheidet sich aber dadurch, daß die Ver- steinerungssubstanz, wie schon erwähnt, die Zellwände ganz oder teilweise ersetzt, nebenbei selbstverständlich auch allermeist — nicht immer — die Zellhohlräume ausfüllt. Letzteres ist aber hier das Unwesentlichere. Ein Holz, bei dem bloß die Zellhohlräume mit Versteinerungssub- stanz au.sgefüllt sind — wie solche ausnahmsweise auch vorkommen — , ist nicht als „echt versteinert" zu bezeichnen. In diesem Zustande scheinen sich die so oft besprochenen „versteinerten" aufrechten Stämme in der Nähe der Geysirs im Yellowstone- park zu befinden. Diese wären daher noch nicht als „echte Versteinerungen" zu bezeichnen. Es hat seinerzeit die Hypothese O. Kuntze's, daß N. F. VIII. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 259 nach Analogie der von den Geysirwässern ,,ver- kieselten" Kaumstünipfe am \'ellowstonepark die Entstehung der „verkieselten Hölzer" überhaupt 7,u erklären sei, viel von sich reden gemacht und hat noch heute wohl Anhänger, doch ist — wenn überhaupt — sicher nur ein verschwindend kleiner Teil der ,,echt versteinerten" Hölzer so entstanden. S ol ms-Laubac h iPaläophytologie 1887, S. 3031) hat mit konz. Schwefelsäure ein Yellowstoneparkholz behandelt und behielt nur Zellhohlraumausfüllungen (,,spiculae") übrig, wäh- rend die Zellmembranen aufgelöst waren, also jedenfalls noch unversteint waren. Hiernach liegt die Sache so, daß der Nachweis, daß „echt ver- steinte" (intuskrustierte) Hölzer auf die von O. Kuntze angegebene Weise entstehen können, überhaupt noch aussteht. Solms bemerkt mit Recht — unter Hinweis z. B. auf die Bildung der Inkrustate im Karlsbader Sprudel — , daß konzen- triertere Lösungen die Entstehung von versteinerten Hölzern eher unmöglich machen als bewirken, indem bei schneller Ausscheidung einfach In- krustate entstehen. Es ist wahrscheinlich, daß aus den stark kieselhaltigen Geysirwassern die Ausscheidung der Kieselsäure so rasch vor sich geht, daß die gebildeten Zellausfüllungen („spiculae") die Minerallösung von den eigentlichen Zellwänden fernhalten, also die wirkliche Versteinerung eher hindern als bewirken mögen. (Vgl. meine Be- merkungen in dieser Zeitschr. vom 20. Mai 1906, s. 331.) Es liegt in der Natur der Sache, daß bei dem Prozeß der „echten Versteinerung" oft nicht die sämtliche organische Substanz der Zellwände von dem Versteinerungsmaterial ersetzt wird, sondern daß von jener oft noch Reste bleiben, die dann im Laufe der Zeit den Inkohlungsprozeß durch- machen und die Zellmembranen dunkel färben; wir sehen dies z. B. regelmäßig in den sogenannten Dolomitknollen, den coal-balls der Engländer, aber auch sonst ist die Erscheinung, daß Inkohlungsprozeß und Versteinerungsprozeß nebeneinander hergehen, ganz gewöhnlich, nicht etwa etwas Besonderes, wie E. Weiß einmal in bezug auf die Dolomitknollen meinte; übrigens überschätzt man die Menge der verbliebenen or- ganischen Substanz leicht, wenn man nicht be- rücksichtigt, daß schon geringe Mengen davon als Kohlesubstanz sehr stark färben. Wir hatten eben gesagt, daß „echte Versteine- rung" ein Verlegenheitsausdruck sei; dem ist in der Tat so. Der Gegensatz von „echte Versteine- rung" wäre „falsche Versteinerung", worunter man schlechterdings nur ein „Pseudofossil" verstehen kann. Demgegenüber aber wäre jeder organi- sche Fossilrest eine „echte Versteinerung". Es wird und auch wir haben aber hierunter etwas ganz anderes, Spezielles verstanden. Wir sehen, daß es für den Prozeß der „echten Versteinerung" im obigen Sinne also noch gar keine passende Bezeichnung gibt, insbesondere keine, die der internationalen Annahme fähig wäre. Der Name „Versteinerung" hat überhaupt das Leidige, daß er zugleich Prozeß und Produkt bezeichnet, wes- halb man oft zu dem Pleonasmus Versteinerungs- prozeß oder dgl. greifen muß. Wir haben daher schon oben statt „echter Versteinerung" den Namen „Intuskrustation" gebraucht, der einerseits den Vorgang ganz gut bezeichnet und gleichzeitig an Inkrustation anklingt, andererseits auf den in der Botanik gebräuchlichen Nägel i 'sehen Namen ,,Intussuszeption" anspielt ; man sagt, die Zell- wände wachsen durch „Intussuszeption", d. h. durch Aufnahme von Substanz ins Innere; der Gegensatz ist: Apposition, die sich — mutatis mutandis — bis zu gewissem Grade mit Inkrusta- tion deckt. Es ist leider üblich, mit Inkrustation — ebenso wie mit Versteinerung — sowohl Prozeß wie Produkt zu bezeichnen; wir wollen diesem Ge- brauch nicht folgen. Wir verstehen unter In- krustation nur den Prozeß, das Produkt heißt Inkrustat; ebenso unterscheiden sich Intus- krustation und Intuskrustat. Als Anhang zu den Intuskrustaten seien noch einige Besonderheiten besprochen, die, wie wir gleich sehen werden, als Pseudo-Intuskrustate be- zeichnet werden könnten. Wir hatten oben schon erwähnt, daß die versteinerten Hölzer im Yellow- stonepark und analoge fossile Stücke, wenn die Versteinerung bei diesen lediglich darin besteht, daß fast nur die Zell h ohl räume mit Versteine- rungssubstanz ausgefüllt sind, nicht als In- tuskrustate bezeichnet werden dürfen, da das wesentliche Charakteristikum dieser, der Ersatz der pflanzlichen Membran durch Versteinerungs- mineral, fehlen würde. Nun gibt es fossile Hölzer, bei denen man nachweisen kann, daß sie vor ihrer Versteinerung Holzkohle waren. Die Holz- kohle ist chemisch — als fast reiner Kohlenstoff — außerordentlich schwer zerstörbar, und wir kennen daher solche aus allen Formationen, durchaus von dem Aussehen künstlicher, rezenter Holzkohle. Der Anblick dieser unter dem Mikroskop, den man sich ja jederzeit mit einem angebrannten Streich- holz verschaffen kann, ist auch so charakteristisch, daß sie sehr leicht zu erkennen ist. Es kommt nun vor, daß die Hohlräume solcher Holzkohle mit Versteinerungsmineral — Kiesel, Kalk oder dgl. — angefüllt werden ; solche ,, versteinerten Holzkohlenstücke" sehen äußerlich oft genau so aus wie echte Intuskrustate. Es sind jedoch keine solchen, wir können sie nicht als solche bezeichnen, da die pflanzliche Membran bereits vor Eintreten des Versteinerungsprozesses eine endgültige Form angenommen hatte und nicht mehr durch Ver- steinerungsmineral ersetzt wurde. Solche Stücke sind daher mehr Inkrustate, gewissermaßen inner- liche Inkrustate; sie sind in gewissem Sinne mit Steinkernen von Muscheln u. a. in Parallele zu setzen, bei denen die Inkrustation eine Rolle ge- spielt hat. Da sie aber doch durch ihre äußere Beschaffenheit, ferner dadurch, daß sie noch mikroskopisch untersuchbare Details zeigen, sich 26o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 17 wiederum Intuskrustaten zuneigen, so kann man sie als Mittelgruppe zwischen beiden betrachten und als Pseudo-Intuskrustate bezeichnen. Wenden wir uns nunmehr der Aufgabe zu, die Gebilde, die die besprochenen Prozesse liefern, und die Prozesse selbst unter Berücksichtigung ihrer Entstehungsweise zu klassifizieren. Aus dem Gesagten ergibt sich zunächst sofort, daß wir zwei große Gruppen der besprochenen Konzentrations- vorgänge und ihrer Produkte zu unterscheiden haben, die Intuskrustation (bzw. Intuskrustate) und Inkrus- tation (Inkrustate), zwischen denen die Pseudo Intus- krustate vermitteln. Innerhalb der erstgenannten Gruppe ist eine Klassifikation nicht mehr mög- lich, wohl aber bei den Inkrustaten. In der Literatur habe ich darüber nicht viel gefunden. Credner (Lehrbuch d. Geologie, 8. Aufl., S. 20) teilt die Inkrustate in Kristallgruppen, kugelige, traubige usw., also nach rein äußerlichen Ge- sichtspunkten ein. Diese Einteilung soll offenbar nur eine Art Aufzählung sein; sie kann wissen- schaftlich um so weniger befriedigen, als dadurch genetiscli Verschiedenes in dieselbe Rubrik kommt, überhaupt die Entstehungsweise ungenügende Be- rücksichtigung erfährt. Um hier ein Klassifika- tionsprinzip zu gewinnen , betrachten wir z. B. den Unterschied der Entstehung einer Toneisen- steinknolle (mit viel Ton) und eines Aggregats kristallischen oder kristallinischen Pyrits. In dem ersten Fall ist der Ton des Gesteins durch die hinzugekommene Eisenverbindung verkittet worden, wodurch das feste Iiikrustat entstand; dieses be- steht also aus einer Mischung des Muttergesteins und des diesem entzogenen, an der Stelle der jetzigen Knolle konzentrierten Eisenminerals, das etwa akzessorisch in dem Ton vorhanden war. In dem anderen Fall aber ist eine Ausscheidung eines reinen Minerals — Pyrit — erfolgt, ohne Verkittung des Muttergesteins. Das Inkrustat ist in diesem Falle dem Hüllgestein gegenüber, in dem es akzessorisch und homogen verteilt vor- handen war und noch sein kann, gewissermaßen heterogen, in demselben Sinne, wie wir von ,, heterogenen Bestandteilen in homogenen Ge- steinsmedien" sprachen. Der an der Stelle der jetzigen Pyritmasse vorhanden gewesene Ton ist mit dem Wachsen des Aggregats beiseite ge- drängt worden, während er bei der Bildung des Toneisensteins wesentlich an derselben Stelle blieb und verkittet wurde. Dieser Verkittungsvorgang ist noch weit augenfälliger, wo es sich um grob- körnigeres, lockereres Muttergestein handelt, z. B. Sand; als besonders typisch möchte ich hier das Vorkommen des ganz losen Tertiärsandes der Braunkohlengrube Volpriehausen bei Dellichausen (Prov. Hannover) erwähnen; in dem Sand finden sich häufig dikotyle Blattabdrücke, und jeder Blattabdruck hat um sich eine Zone festerer Konsistenz, eine Knolle, entstanden durch nieder- geschlagenes Ferrihydroxyd, das den Sand ver- kittete ; bei einiger Vorsicht kann man Knolle und Blattabdruck leicht aus dem dünensandähn- lichen ,, Muttergestein" herausnehmen. Derartige Inkrustate sind gewissermaßen dem Muttergestein gegenüber nur halb heterogen, insofern wirklich heterogen an dem entstandenen Inkrustat nur das niedergeschlagene, verkittende Mineral ist. Man könnte hiernach solche Inkrustate wie die genannten kristallinischen Pyritausscheidungen als heterogene Inkrustate, solche wie den Toneisenstein als semi heterogene Inkrustate bezeichnen. Hiermit ist ein auf die Genesis Be- zug nehmendes Einteilungsprinzip für die Inkrustate gewonnen, dem sich — wie sich am besten an einer Tabelle wie der folgenden erkennen läßt — die in dieses Gebiet fallenden Produkte leicht einordnen und natürlich die sie erzeugenden Pro- zesse ebenfalls. Bei den einzelnen Rubriken sind in Klammern eine Anzahl bekannterer Beispiele angeführt, die die vorhergehenden Ausführungen noch deutlicher machen werden. Die im vorigen noch nicht erwähnte Rubrik II c ist in gewissem Sinne theoretisch zu fordern, wenn man die Reihe heterogene — semihetero- gene Inkrustate weiter denkt; obwohl nun zunächst homogenes Inkrustat eine contradictio in adjecto zu sein scheint, indem die bisher betrachteten Inkrustate gerade durch eine Heterogenität dem Hüllgestein gegenüber in Beziehung auf Festigkeit und Zusammensetzung auffielen, ergibt sich bei näherem Zusehen doch, daß es Materialien gibt, die wenigstens teilweise in diese Kategorie ge- hören könnten ; es wäre zu untersuchen, ob und inwieweit gewisse Oolithgesteine (Eisen- und Kalkoolithe besonders) hier untergebracht werden könnten, bei denen Hüllgestein und Inkrustat, in diesem F"all die Oolithkörner, der Zusammen- setzung nach übereinstimmen. Die oben vorgeschlagene Terminologie ge- stattet, mit wenigen Worten die Entstehungsweise der in das Gebiet fallenden Produkte zu präzi- sieren. Z. B. ist mit der Bezeichnung einer Gips- druse aus Ton als ,, heterogenes Inkrustat in Kristallform" dasselbe gesagt, was man ohne Zu- hilfenahme unserer Klassifizierung und Termino- logie in wenigstens mehreren umständlichen Sätzen ausdrücken müßte. Wie aus der Tabelle ersicht- lich, ist bei der Gruppe II b eine Zweiteilung wie unter II a nicht gemacht worden ; prinzipiell be- steht diese natürlich genau wie bei II a, jedoch tritt sie weniger in die Erscheinung, insofern z. B. auch ein semiheterogenes Inkrustat von Ton und kristallinischem Pyrit infolge der innigen Mengung beider Bestandteile kaum viel kristallinischer aus- sieht als ein solches von Toneisenstein, wenn nicht etwa der Pyrit so sehr überwiegt, daß es sich mehr um ein heterogenes Inkrustat handelt. Es sei schließlich noch hinzugefügt, daß selbst- redend zwischen den einzelnen als heterogene, semiheterogene und homogene Inkrustate be- zeichneten Produkten alle möglichen Übergänge existieren, indem z. B. ein Toneisenstein mit wenig Tongehalt praktisch einer reinen Eisen- verbindung sich nähert. Man würde in solchem N. F. VIII. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 261 Klassifikation der durch Mineralausscheidungen in Sedimentärgesteinen entstehenden Produkte. I. hituskruslutc (z. B. fossile Hölzer). II- Inkrustate. I. X II- Pseudointuskrustate (z. B. „versteinerte Holzkohle"). ' c) H o m o g e n e 1 n k r u s t a t c. (? Eisen-, Kalk-, Manganoolilh z. T. ?) a) Heterogene Inkrustate. I. Kristall- oder wenigstens deutlich kristalli- nische .Ausscheidungen ; heterogener Bestand- teil meist nicht sichtbar, (Pyrit, Coelestin, Gi]is usw. in Ton oder Tonschiefer usw.) b) Semi- heterogene Inkrustate, hetero- gener Bestandteil oft noch sichtbar (Lebacher Knollen, Brauneisen-Sandsteinknollen usw.). ~~ 2. Nicht oder undeutlich kristallinische .\us- scheidungen, heterogener Bestandteil oft noch sichtbar (Kalk- oder Brauneisenosteokollcn, LöÜkindel, MenilitknoUen usw.). Falle beschränkende Zusätze zu den Termini zu nehmen haben, wie z. B. vorwiegend heterogenes Inkrustat, mehr semiheterogen usw. Demunge- achtet bleibt natürlich die oben gegebene Klassi- fikation prinzipiell richtig und bestehen, wie ja eine solche Klassifikation naturgemäß mit ihren Termini oft nur gewisse Haltepunkte im viel- fachen F'luß der Erscheinungen aufgreifen und festnageln kann, um die sich die Einzelobjekte und Prozesse gruppieren. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der allgemeinen Chemie. ') — Im Anschlüsse an unseren letzten Bericht möge hier zunächst über drei interessante Arbeiten zur Chemie der Strahlungen berichtet werden. I. Auf der vorjährigen Hauptversammlung der Bunsengesellschaft sprach Dr. FritzWeigert- Berlin über die photochemische Zer- setzung von Ozon. Im Jahre 1907 hatte Weigert beobachtet (ürude's Annalen , Band 24, S. 243), daß beliebige Gasreaktionen durch Zusatz von Halogenen, besonders von Chlor, für sicht- bares Licht sensibilisiert werden können. Er hat nunmehr die Zersetzung des Ozons durch Licht bei .»Xnwesenheit von Chlor quantitativ untersucht und ist dabei zu folgenden Ergebnissen gekoinmen : Wurde die Menge des Chlors in dem ozonisierten Sauerstoff erhöht, so nahm auch die Zersetzungs- geschwindigkeit des Ozons zu, aber diese stieg bei weitem nicht in dem Maße an wie die Kon- zentration des Halogens. Erhöhung der Licht- stärke hat eine proportionale Änderung der Reaktionsgeschwindigkeit zur F'olge, und zwar verläuft die photochemische Reaktion proportional 190S. '1 Vgl. Naturwiss. Wochenschrift, N. F. Bd. VU, S. 725 der vom Chlor absorbierten Lichtmenge. Der bestrahlten Oberfläche ist die Desozonisierungs- geschwindigkeit direkt, dem Volumen umgekehrt proportional. Die Temperatur übt nur einen ver- hältnismäßig geringen Einfluß aus. Auffallend ist die Erscheinung, daß die Ge- schwindigkeit, mit der das Ozon zerfällt, von seiner Konzentration praktisch völlig unabhängig ist. Ob dies auf die photochemische Bildung eines Zwischenproduktes aus dem Chlor und dem Ozon zurückzuführen ist, das rein chemisch sehr schnell zerfällt, oder ob durch das Licht im Chlor ~ etwa nach Art des Hallwachsphänomens — ,, Kerne" erzeugt werden , die die Zersetzung des Ozons katalytisch beschleunigen , das läßt sich mit dem vorliegenden Beobachtungsmaterial nicht entscheiden, jedoch spricht der Umstand, daß sich die Reaktionsgeschwindigkeit in einem elektri- schen Felde sprungweise änderte, für die Annahme von katalytisch wirksamen Ionen (Zeitschrift für Elektrochemie, Bd. 14, S. 591—597 [1908]). 2. Die vieldiskutierte Frage nach der Exi- stenz der sogenannten Metallstrahlung ist im Lenard'schen Institut in Heidelberg neuer- dings von SemSaeland noch einmal experimen- tell untersucht worden und dürfte niuimehr woh 202 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N, F. VIII. Nr. 17 in wesentlichen Punkten als geklärt gelten. Wird ein frisch abgeschmirgeltes Stück Magnesium, Alu- minium oder Zink auf die lichtempfindliche Schicht einer photographischen Platte gelegt, so erzeugt es auf ihr einen entwickel- und fixierbaren Ein- druck. Bei unmittelbarer Berührung zeichnen sich die Umrisse des Metallstückes auf der Platte scharf ab, bei wachsender Entfernung werden die Um- risse immer diffuser. Nach J. W. Rüssel , der diese Erscheinung zuerst genauer studiert hat (Proc. Roy. Soc, 61, 424 [1897]; 63, 102 [1898] und 64, 409 [1899]), ist sie auf die Entstehung von Wasserstoffsuperoxyd am Metall und darauf folgende Diffusion zur Platte zurückzuführen, Streintz und Strohschneider (Drude's Annalen, 18, 198 [1905]) aber schreiben die Wirkung dem Vor- handensein einer besonderen „Metallstrahlung-' zu. Die Intensität der photographischen Wirkung ist am stärksten gleich nach dem Abschmirgeln der Metalle; besonders kräftig treten auf den Photogrammen die Schmirgelstreifen hervor. Die Wirkung, die bei sehr tiefer Temperatur über- haupt ausbleibt, verschwindet nach einiger Zeit und zwar um so schneller, je stärker sie gleich nach dem .abschmirgeln war. Vorherige Belichtung der Metalle ist ohne Belang. Ein elektrisches Feld übt auf die Erscheinung keinen Einfluß aus. Die Ausbreitung der Wirkung geschieht nicht geradlinig, sondern durch Diffusion. Durch Metall- folie geht die ,, Strahlung" entgegen den Angaben von Graetz (Physika!. Zeitschrift, Bd. 4, S. 271 [1902]) nicht hindurch. Durch einen starken Luftstrom kann die „Wirkung weggesaugt" wer- den. Alle diese Erscheinungen lassen sich am besten nach der Wasserstofifsuperoxydtheorie er- klären, und daß diese Theorie in der Tat die rich- tige ist, geht aus folgender von Saeland gemachten Beobachtung besonders deutlich hervor. Saeland hat nämlich gefunden, „daß die Schwärzung der Platte unter sonst gleichen Umständen bedeutend stärker wird, wenn die Entwicklung nicht gleich nach der Exposition erfolgt. Dasselbe erreicht man auch, wenn die Platte nach der Exponierung eine Zeitlang vor der Entwicklung erwärmt wird. . . . Dies Verhalten tritt sowohl bei Platten als bei Films hervor und bildet einen ganz wesentlichen Unterscliied mit der Wirkung des Lichts oder der schon bekannten Strahlungsarten auf die photographische Platte". Nach der Wasserstoff- superoxydthcoric ist die Erklärung der wichtigen Beobachtung leicht: Das Wasserstoffsuperoxyd wird während der Exposition auf der Platte auf- gespeichert und wirkt daher auch nach der Ex- position auf der Platte noch nach , eine Nach- wirkung, die durch Erwärmen natürlich sehr be- günstigt wird. Auch zwei weitere Folgerungen aus der Wasserstoffsuperoxydtheorie haben sich, das sei zum Schluß noch bemerkt, experimentell bestätigen lassen : erstens tritt die photographische Wirkung nur dann auf, wenn nach den Versuchs- bedingungen die Entstehung von Wasserstoffsuper- oxyd möglich ist — bei .'\bwcscnheit jeder Spur von Wasser fallen die Versuche negativ aus — , und zweitens zeigen Wasserstoffsuperoxydlösungen mit einer Ausnahme genau dieselben Erscheinun- gen. Diese .'\usnahme , die darin besteht , daß photographisch wirksame Metalle im frisch abge- schmirgelten Zustande übersättigten Wasserdampf kondensieren (Bildung von Kondensationskernen),') wozu Wasserstoffsuperoxyd nicht imstande ist, ist nach Saeland dadurch zu erklären , daß bei Verwendung von Wasserstoffsuperoxydlösungen das photographische Agens fertig ist, während es sich bei den anderen Versuchen unter gleich- zeitiger Oxydation der Metalle erst bildet (Drude's Annalen, Bd. 26, S. 899—917 [1908]). 3. ,,Über chemisch wirkende elektri- sche Strahlen" war das Thema eines Vortrages, den Prof. Remele- Eberswalde vor der 80. Ver- sammlung Deutscher Naturforscher und Arzte in Cöln a. Rh. gehalten hat. Remele hat beobachtet, daß vom Borstickstoff, einer weißen, feinpulverigen Substanz, die durch heftiges Glühen von ent- wässertem Borax mit der doppelten Menge trocke- nen Ammoniumchlorids gewonnen wird, Strahlen ausgehen, die durch photographisches Schleier- papier, durch Leder, Kautschuk und Glas, aber nicht durch Metalle, auch nicht durch dünne Metallfolie hindurch die photographische Platte zu beeinflussen vermögen. Bei gewöhnlicher Tem- peratur ist die Intensität der Strahlung recht ge- ring; bringt man den Borstickstoff aber in brennende Gase, in denen er schon etwas oberhalb 100" mit schönem grünlichweißen Lichte zu leuchten beginnt, so nimmt die Wirkung beträchtlich zu. Erregt wird die Strahlung ferner noch durch Ra- dium und durch elektrische Funken, aber nicht durch Röntgenstrahlen. Die Erscheinung beruht, wie Elektrometerversuche ergeben haben, auf der Aussendung negativ-elektrischer Teilchen, denn „bringt man an einem Elektrometer in leitender Verbindung mit den .... Aluminiumblättchen eine Metalltrommel an und schüttet in dieses (erhitztes) Borstickstoffpulver, so nimmt das — Instrument in kurzer Zeit eine rasch zunehmende negative La- dung an"; ist das Instrument positiv geladen, so wird es bei dem Versuche natürlich entladen. Die photographische und elektroskopische Wirk- samkeit, die Remele als „Elektroaktivitäi" be- zeichnet, findet sich bei keiner anderen , natür- lichen oder künstlichen, Borverbindung, sie ist vielmehr an den Stickstoff gebunden, denn auch andere Nitride, z. B. das Magnesiumnitrid MgjN.,, das Lithiumnitrid Li.jN und in besonders hohem Maße das Urannitrid UgN^ zeigen sie. ') Bekanntlich tritt bei übersättigtem Wasserdampl die Kondensation zu flüssigem Wasser nur dann ein, wenn gleich- zeitig ,, Kondensationskerne" vorhanden sind, und zwar dienen als Kondensationskerne besonders Ionen und Elektronen. In der Mitte eines jeden kondensierten Wassertröpfchens sitzt ein Kondensationskern; daher kann man aus der Zahl der Wassertröpfchen, die sich bei der Kondensation des Dampfes bilden, auf die Zahl der vorhandenen Ionen oder Elektronen schließen, ein Schluß, der für gewisse wichtige Fragen der Elektronik von großer Bedeutung geworden ist. N. F. VIII. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 263 4. Die Stellung der Elemente der seltenen Erden im periodischen System ist ein wegen seiner großen Wichtigkeit vielbe- arbeitetes, aber noch immer nicht vollkommen befriedigend gelöstes Problem. Nach der Ansicht von Brauner, der dem Studium des periodischen Systems mit besonderer Berücksichtigung der Frage der Einreihung der Elemente der seltenen Erden einen sehr großen, wenn nicht den größten Teil seiner Arbeitskraft gewidmet hat, sind sie in folgender Weise in das System einzuschieben: 6. ,,Zur Theorie der binären Gemische und konzentrierten Lösungen" ist eine höchst interessante Arbeit von F. Dolezalek betitelt, in der das alte Problem der Spannkraft und der Zusammensetzung der Dämpfe binärer P^lüssigkeitsgemische in sehr einfacher und klarer Form gelöst ist. Bei den Partialspannungskurven flüssiger Gemische lassen sich , worauf Ostwald schon in seinem Lehrbuch der allgemeinen Chemie (Bd. II, S. 617) aufmerksam gemacht hat und was von V. Zawidzki durch außerordentlich genaue Reihe Gruppen 0 I II III IV V VI VII VIII '—7 8 Xe 12S . Cs 132.9 Ba 137,4 La 139 Ce 140 Pr 141 Nd 144 Sm 150 Eu 152 — . — i.) — — Gd 157 Tb ■59 Dy 162 Ho 165 Er 167 Tm i6g NYb 171,7 — 10 — — i 1 Lu 173,8 177 Ta W 184 — Os 191 Ir 193 Pt 195 periodischen Elektronen- Wien m einem In der nächsten Reihe folgen dann wie üblich Au, Hg, Tl, Pb und Bi, während die letzte Reihe den — vielleicht zum Teil schon ,, ausgestorbenen" — radioaktiven Elementen vorbehalten ist. (Vor- trag auf der XV. Hauptversammlung der Deut- schen Bunsengesellschaft , Zeitschrift für Elektro- chemie, Bd. 14, S. 525 [1908]). Eine „Erklärung des Systems mit Hilfe der theorie" suchte 'H. St räche • Vortrage auf der 80. Naturforscherversammlung in Cöln zu geben (vgl. Chem. Zeitung, 1908, S. 931; Zeitschr. f. angew. Chemie, 1908, S. 2076). Viel- leicht kommen wir auf die Ideen Strache's zurück, sobald die in Aussicht gestellte ausführliche Publi- kation vorliegt. 5. Auf pyrophore Legierungen lenkte Dr. Bruno W e i ß - Treibach auf der Wiener Hauptversammlung der Bunsengesellschaft das allgemeine Interesse. Auer von Welsbach hat gefunden, daß Legierungen von Metallen der Cer- oder der Lanthangruppe mit Eisen die merk- würdige Eigenschaft haben, bei leichtem Reiben Funken abzugeben, mit deren Hilfe brennbare Gase und andere leicht entzündliche Stoffe zur Entflammung gebracht werden können. Das Maximum der pyrophoren Empfindlichkeit liegt ^^ Eisen. Das Eisen kann durch Metalle," wie Nickel, Cobalt oder Mangan, ersetzt werden. Am leichtesten zünden die von den Cerlegierungen abgegebenen F"unken, während sich die Lanthanlegierungen am besten zu intensiver Lichtentwicklung eignen. Vielleicht werden diese pyrophoren Stoffe auch technische Bedeutung als Zündungsmittel erlangen (Zeitschr. f. F.lektroch., XIV, S. 5 50; 1908). bei etwa 30 einige andere Messungen (Zeitschr. f. physik. Chem. 35, 129 I1900]) bestätigt worden ist, drei verschiedene Typen unterscheiden. In der beifolgenden Figur gibt die Ordinate die Partialdrucke der Kompo- nenten A und B des Systems und die Abszisse die Konzentration der Komponente B im Flüssig- keitsgemische und zwar in der Form des Molen- bruches an, wobei unter Molenbruch das Verhältnis zwischen der Zahl der Moleküle B zur Zahl der überhaupt vorhandenen Moleküle von A und B zusammen bedeutet. Die Kurven i, 2 und 3 ent- sprechen dem Partialdampfdruck von B, die Kur- ven 4, 5 und 6 demjenigen von A; die Punkte A' und B' stellen die Dampfdrucke der reinen Flüssigkeiten A und B dar. Die Figur zeigt nun, daß der Dampfdruck jeder der beiden Kompo- nenten entweder I linear mit der Konzentration der betreffenden Komponente (Kurve i und 4) oder II schneller (Kurve 2 und 5) oder III lang- samer (Kurve 3 und 6) steigt. Am häufigsten, nämlich bei etwa 80 "/„ der binären Gemische, wird Fall II beobachtet, während Fall I und III nur etwa je lo",, der gesamten Fälle ausmachen. Faßt man den P'all der geradlinigen Abhängigkeit des Partialdruckcs von der Konzentration als das eigentliche, wahre Dampfdruckgesetz, als Normal- fall, auf, so läßt sich, wie leicht ersichtlich ist, Fall II durch die Annahme der Existenz von polymeren Molekülen und Fall III durch die An- nahme erklären, daß beide Flüssigkeiten sich mit- einander verbinden. Enthält nämlich die Müssig- keit A außer den einfachen auch Doppelmoleküle, so werden diese bei Hinzufügung der zweiten Flüssigkeit B infolge der Verdünnung, wie sich aus dem Massenwirkungsgesetz ableiten läßt, wenigstens zum Teil in einfache Moleküle zcr- 264 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 17 fallen , d. h. die Zahl der einfachen Moleküle A und damit auch der von ihnen ausgeübte Druck sinkt weniger rasch , als sich nach dem Verlaufe der Kurve i berechnen würde; es läge hier also Fall II vor. Verbinden sich hingegen beide Flüssig- keiten miteinander , so sind von beiden weniger Moleküle vorhanden, als berechnet wird; der von •Gehalt tm B A und von B ausgeübte wahre Partialdruck muß hinter dem nach dem Normalfall berechneten Normaldruck zurückbleiben, wie es die Kurven 3 und 6 auch tatsächlich zeigen. Bezeichnet nun p den Partialdruck von A , /r den Partialdruck von B, enthält das Gemisch ferner pro Molekül A c Moleküle B, so läßt sich der Normalfall I durch die beiden Gleichungen ^-1 und ;T = z Z -\- V darstellen , deren Konstanten k und /. eine sehr einfache Bedeutung haben. Lassen wir in der ersten Gleichung r sehr klein, in der zweiten sehr groß werden, so nähern sich die beiden Gleichun- gen den Grenzen p = k und ,r = z ; p und TT sind also die Sättigungsdrucke der (nicht assoziierten) reinen F'lüssigkeiten A und B. Benzol- Tetrachlork Der Normalfall I findet sich bei den Mischun- gen von Benzol und Äthylenchlorid oder von Benzol und Propylenbromid verwirklicht. Die nachfolgende Tabelle zeigt, wie genau die von V. Zawidzki beobachteten und nach den oben- stehenden Gleichungen berechneten Werte der Partiaidrucke bei dem willkürlich herausgegriffenen Gemische Benzol-Athylenchlorid übereinstimmen. Benzol und Äthylenchlorid bei 49,99". Molbruch des Partialdruck Partiald ruck des Athylenchlorids des Benzols Äthylen Chlorids gemessen berechnet gemessen berechne t 0 268,0 — 0 0 0,150 230,2 228,0 33,6 35.4 0,295 188,8 iSS,8 70,4 69,6 0,657 92,4 91,9 154,9 155,0 0,920 21,3 21,5 216,7 216,8 1,00 0 0 236,2 — Als Beispiel für eine binäre Flüssigkeit, deren eine Komponente nur aus einfachen Molekülen besteht, während die zweite Komponente zum Teil assoziiert ist, mag eine Mischung von mono- molekularem Benzol und partiell dimolekularem Tetrachlorkohlenstoft' dienen. Enthält das Gemisch pro Molekül Benzol )■ Moleküle Tetrachlorkohlen- stoff, so berechnet sich der Partialdruck p des Benzols nach der Gleichung in der Zj die Zahl der einfachen, Z., die der Doppelmoleküle des Tetrachlorkohlenstoffs dar- stellt. Durch Kombination dieser Gleichung mit der Gleichung der Assoziationskonstanten K des Tetrachlorkohlenstoffs, die sich mit Hilfe des Massenwirkungsgesetzes ableiten läßt ^ Z.2(i+Z, +Z.,) K = -^ L. ■ i - = 0,207 (bei 49,99") und der selbstverständlichen Gleichung 2 Z, + Zj = )' folgt für den Partialdruck des Benzols p = k 4K(. + 2) + »-+ i-y4(,-|-2)(4K+i)]+i 2K>-f 2p Wie gut die berechneten Partiaidrucke des Ben- zols mit den experimentell ermittelten überein- stimmen, zeigt die folgende (abgekürzte) Tabelle. ohlen Stoff bei 49,99". r = Moleküle CCI4 pro Molekül Benzol Partialdruc gemessen t von QHu beobachtet / = Moleküle CCI4 pro Molekül C(,Ho Partialdruc geraessen £ von QHe beobachtet 0,000 268,0 — 0,6537 165,8 166,3 0.0534 253.4 254,5 1,2727 124,6 123,8 0,1325 237,1 237.3 2,082 93.4 93,1 0,2133 221,8 221,1 3,259 68,3 68,5 0,3360 202,5 202,8 00 ° 0 N. F. VIII. Nr. i; Naturwissenschaftliche Wochenschritt. 265 Auch die für den Partialdruck des Tetrachlor- kohlenstoffs berechneten Werte koiiizidiercn bestens mit den experimentellen Ergebnissen. Ein Beispiel für den dritten Fall endlich bilden Gemische von Chloroform CCiaH und Azeton CH,, -CO-CIl. ; beide Komponenten sind mono- molckular, bilden aber eine Verbindung CC1,,H • CH3COCH.,. Wie 7.U erwarten ist, wird auch hier die Theorie durch die Praxis vollkommen be- stätigt. Durch Umkehrung natürlich aus den man der Rechnungen kann Partialdrucken in Fall II den .\ssoziationsgrad einer binären Flüssigkeit, in Fall III die Bildung einer Verbindung und deren Formel feststellen. Zum Schluß sei noch darauf hingewiesen, daß die Dolezalek'schen Betrachtungen auch zur Be- stimmung der Dichte binärer Flüssigkeitsgemische dienen können. Bereits S. Young (,,P"ractional DistiUation", London 1903) und J. P. Kuenen („Theorie der Verdampiung und Verflüssigung von Gemischen", Leipzig 1906) haben erkannt, daß Gemische, deren Dampfdrucke nach Fall I lineare Funktionen der Zusammensetzung sind, sich ohne weiteres mit Hilfe der Mischungsregel aus der Dichte der reinen Komponenten berechnen lassen, daß assoziierte Flüssigkeiten eine Dilation, eine Verbindung liefernde Flüssigkeiten eine Kon- traktion zeigen. Da nun nach Dolezalek der Betrag der Assoziation und die Menge der ent- standenen Verbindung genau ermittelt werden kann, so läßt sich mit den so erworbenen Kennt- nissen begreiflicherweise auch der Betrag der Dilation und der Kontraktion berechnen. Die folgende Tabelle dient als Beleg für das Gesagte. Dichte von Azeton-Chloroformgemischen. 20" Molbruch Cliloroform Dichte der Mischung bei — -. 6 15» gemessen berechnet 0,000 0.7932 — 0,1835 0.931 0,930 0,2630 0,988 0.987 0,3613 1,058 1,057 0,4240 1,102 1,101 0,5083 1,161 1,161 0,5812 1,208 1,208 1,000 ',479 — (Dolezalek, Zeitschr. f physik. Chem., 64, 727 — 747; 1908). 7. Die Atomgewichtstabelle für das Jahr 1909. Bekanntlich gibt der internationale Atomgewichtsausschuß, dem gegenwärtig F. W. Clarke, W. Ostwald, T. E. Thorpe und G. Urbain angehören, jährlich eine Tabelle heraus, in der die nach dem augenblicklichen Stande der Unter- suchungen zuverlässigsten Werte der Atomge- wichte zusammengestellt sind. Durch die neueren Arbeiten, besonders durch die glänzenden Studien von Richards und seinen Mitarbeitern, hat sich nun herausgestellt , daß gerade einige der. Atom- gewichte, die die experimentelle Grundlage des Atomgewichtssystems bilden , nicht so korrekt sind, als man allgemein dachte, l^nter Berück- sichtigung der neuen Werte mußten daher die bisher angenommenen Werte einer Revision unterzogen werden, und diese Revision findet sich zum ersten Male in der Atomgewichtstabelle für das Jahr 1909 durchgeführt. Unter diesen Um- ständen dürfte daher die neue Tabelle der Atom- gewichte, die ja zu den allerwichtigsten Natur- konstanten gehören , von großem Interesse sein. Außer den Atomgewichten für das Jahr 1909 enthält die folgende Tabelle auch die von BernouUi in Aachen theoretisch berechneten Atomgewichte. Im Anschluß an die Hypothese von Lockyer, daß die chemischen Elemente Kondensationsprodukte eines Urelenientes, des Wasserstoffes oder eines „Vorwasserstoffes" seien , hat Bernoulli auf kine- tischen Betrachtungen fußend auf ziemlich kom- pliziertem Wege eine Atomgewichtsformel abge- leitet, „welche die sämtlichen bis jetzt bekannten Atomgewichte mit bemerkenswerter Genauigkeit reproduziert und zwar mit Hilfe einer einzigen universellen Konstante und zweier ganzzahliger Parameter p und q." 1,0104 (---^r ( - i+y3^ Symbol Ag AI Ar As Au B Ba Be Bi Br C Ca Cd Ce Cl Co Cr Cs Cu Dy Er Eu F Fe (;a Gd Ge H He Hg In Ir T K Kr La Li Lu Mg Name des Elements Silber Aluminium Argon Arsen Gold Bor Baryum Beryllium Wismut Brom Kohlenstoff Calcium Cadmium Cerium Chlor Kobalt Chrom Caesium Kupfer Dysprosium Erbium Europium Fluor Eisen Gallium Gadolinium Germanium Wasserstoff Helium Quecksilber Indium Iridium Jod Kalium Krypton Lanthan Lilliium Lutetium Magnesium Atomgewicht für 1909 107,88 27,1 39.9 75.0 197,2 1 1,0 '37.37 9.1 208,0 79,92 12,00 40,09 112,40 140,25 35.46 58,97 52,1 132,81 63,57 162,5 167.4 152,0 19,0 55,85 69,9 157,3 72.5 1,008 4.0 200,0 114,8 193.1 126,92 39.10 8i,S 139.0 7,0 174,0 24,32 Atomgewicht berechnet von Bernoulli 107,617 27,190 39.390 75,323 196,000 1 1 ,042 137,160 9.094 207,523 79,600 12,000 39,822 112,583 140.554 35,505 59,086 51,981 132,501 63,328 163,139 167,103 152,210 19,026 55,713 70,261 155,942 72,478 1,010 3,959 200,817 "5,344 192,000 126,656 38,986 81.569 138,586 7,03s 24,249 266 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 17 Symbol Mn Mo N Na Nb Nd Ne Ni O Os P Pb Pd Pr Pt Ra Rb Rh Ru S Sb Sc Se Si Sm Sn Name des Elements Magan Molybdän Stickstoff Natrium Niobium Neodynium Neon Nickel Sauerstoff Osmium Phosphor Blei Perlladium Praseodymium Platin Radium Rubidium Rhodium Ruthenium Schwefel Antimon Scandium Selen Silicium Samarium Zinn Atomgewicht für 1909 54,93 96,0 14,01 23,00 93.5 ■44,3 20,0 58,68 16,00 190,9 31.0 207,10 106,7 140,6 195,0 226,4 8545 102,9 101,7 32,7 120,2 44,1 79,2 28,3 150,4 119,0 Atomgewicht bereclinet von Bernoulli 55,139 96,000 13.928 22,860 93>b8i 143.490 19,911 58,271 16,000 189,352 30,906 205,741 106,51 1 142,014 193,995 225,167 ■^5.315 102,893 101,452 32,000 120,666 44,167 78,781 28,539 150,613 119,464 Symbol Sr Ta Tb Te Th Ti Tl Tu U V w X Y Yb Zn Zr Name des Elements Strontium Tantal Terbium Tellur Thorium Titan Thallium Thulium Uran Vanadium Wolfram Xenon Yttrium Ytterbium (Ncoytterbium) Zink Zirkonium Atomgewicht lür 1909 87,62 181,0 159,2 127,5 232,42 48,1 204,0 168,5 238,5 51,2 184,0 128,0 89,0 172,0 65,37 90,6 Atomgewicht berechnet von Bernoulli 87.425 1 S 1 ,000 159,200 128,000 233,085 48,000 202,903 170,630 238,800 51.446 185.438 129,330 89,578 173,016 65,569 90,500 (Bernoulli, Zeitschr. f. Elektroch., 13, 551 [1907] und Physikal. Zeitschr. IX, S. 745 [1908]; beson- ders sei auch auf die vor kurzem veröffentlichte zusammenfassende Darstellung in der Zeitschr. f physik. Chemie, Bd. 65, S. 391—427 [1907] ver- wiesen). Werner Mecklenburg. Kleinere Mitteilungen. Sind die männlichen und weiblichen Pflanzen von Bryonia dioeca Jcq. an ihrer Blattform zu erkennen ? — In Nr. 22 des VII. Bandes der Naturw. Wochenschrift, S. 345 findet sich eine kurze Mitteilung von Professor Dr. Hein eck, Alzey, in der als neues Unter- Fig. D'.-\umerie phot. I. Bryonia dioeca; Blätter weiblicher Pflanzen. wagerecht von der Anheftungsstelle des Blatt- stieles nach außen gehen, solle es bei den Blättern der weiblichen Pflanze zur Lappenbildung kommen, „indem die Blatthälften sich nach unten umbiegen, eine Strecke weit parallel mit dem Blattstiel ziehen und dann erst sich nach außen wenden. In manchen F"ällen gehen sogar die Lappen nach dem Blattstiel zu und legen sich hier übereinander. i'ig. D'.Vumeric phot. Bryonia dioeca; Blätter weiblicher Pflanren. Scheidungsmerkmal der männlichen und weiblichen Meistens ist auch das Blatt der männlichen Pflanze Pflanzen von Bryonia dioica Jci]. die Form der einfacher gebaut als das der weiblichen." Blätter erwähnt wird. Während nämlich bei der Da mir ein derartiger Unterschied niemals auf- m.itinlirhen Pflanze die beiden Blatthälften fast gefallen war, sammelte ich an verschiedenen N. F. VIII. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 267 Lokalitäten in der Umgebung von Haag (Holland), wo die Pflanze an der Landseitc der Nordsee- dünen ziemlich verbreitet ist, Blätter von mehreren Pflanzen beiderlei Geschlechts. Meine Beobach- tungen bestätigten aber die Behauptung Professor H e i n e c k ' s keineswegs. Die Blätter der weib- lichen Pflanzen (Fig. i u. 2) haben zwar aus- nahmslos die starkgelappte unregelmäßige Form, mit an der Insertionsstelle des Blattstieles einem großen, bisweilen fast rechtwinkligen Ausschnitt, die Blätter der männlichen Individuen sind aber weder durch einen minder tief herzförmigen Blattgrund, noch durch einen im allgemeinen einfacheren Bau von denjenigen der weiblichen Pflanzen zu unterscheiden (Fig. 3 u. 4). Ich habe Blätter von der einfachen Gestalt, welche Verhalten der Pflanze der Ausdruck einer Rassen- verschiedenheit oder durch irgendwelche ökolo- logischen Faktoren bedingt sein. Es wäre daher wünschenswert, wenn diese Mitteilung auch Andere zur Beobachtung an möglichst vielen verschiedenen Stellen anregte. Es sei mir gestattet auf noch eine andere Eigentümlichkeit der Bryonia dioeca die Aufmerk- samkeit hinzulenken. Im Frühjahr 1906 ver- pflanzte ich ein kleines Exemplar, aber mit einer schon sehr ansehnlichen Knolle, in meinen Garten, wo es sich alsbald sehr schön entwickelte, indem es eine kleine Laube mit seinem saftigen Grün fast gänzlich überwucherte. In diesem ersten Jahre kam es zwar nicht zur Blütenbildung, viel- leicht infolge der bei der Umpflanzung trotz aller Vorsicht nicht ganz umgangenen Verletzungen, im nächsten Jahre aber war nicht nur die Ent- wicklung der vegetativen Teile noch weit üppiger, sondern es wurde auch eine überreiche Menge D'Aumerie phot. Kig. 3. Bryonia dioeca; Blätter männlicher Pflanzen. D'Aumerie phot. Fig. 4. Bryonia dioeca; Blätter männlicher Pflanzen. nach Prof. Hein eck für die männlichen Pflanzen charakteristisch sein soll, bisher überhaupt nicht auffinden können. Damit soll natürlich nicht ge- sagt sein, daß sie auch hier in Holland nicht da und dort vorkommen dürften; da aber zwischen dem Blattbau der männlichen und der weiblichen Pflanzen kein durchgängiger Unterschied besteht, ist die Blattform als Unterscheidungsmerkmal nicht brauchbar. Wenn daher die Beobachtung von Prof. Heineck für die Umgegend von Alzey, bzw. für ein größeres Gebiet richtig ist, und daran zweifle ich in Anbetracht der durch seine aus- gezeichneten blütenbiologischen Mitteilungen er- wiesenen Beobachtungsgabe des Mitteilenden, dessen Name auch schon anderweitig auf natur- iiistorischem Gebiet einen guten Klang hat, keineswegs, so dürfte vielleicht das abweichende von Blüten gebildet. Da die Pflanze ein weibliches Individuum war, männliche aber in der nächsten Umgebung gar nicht anzutreffen waren, setzte, wie ich auch von vornherein vermutete, keine einzige Blüte F"rucht an. Nach längerer Blütezeit ver- welkte die Krone, der Fruchtknoten vertrocknete und fiel schließlich ab. Gegen das Ende der Blütezeit aber, im Oktober, vergrößerten sich ein- zelne der Fruchtknoten, schon ehe die Krone ab- gefallen war, als ob es doch zum Fruchtansatz kommen würde. Obgleich nun der nächste mir bekannte Fundort der Pflanze mindestens eine Stunde nach der Luftlinie von meinem Garten entfernt und das Vorkommen eines zweiten Indi- viduums in einem engeren Umkreis mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausge- schlossen war, dachte ich anfänglich doch an die 268 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 17 Möglichkeit einer Bestäubung. Da es auch bei Bryonia gelegentlich vorkommen soll, daß zwischen den weiblichen Blüten einzelne männliche ent- stehen , prüfte ich während längerer Zeit die Pflanze auf das Vorkommen letzterer, traf sie aber niemals an. Außerdem ließ eine genaue mikroskopische Untersuchung auch nicht die ge- ringste Spur von Blütenstaub auf den Narben er- kennen. Auch nach dem Verwelken und Ab- fallen der Krone ging die Entwicklung der an- gesetzten Früchte weiter, und Ende Oktober, während die Blätter schon zu vergilben anfingen, leuchteten zwischen dem welkenden Grün eine kleine Zahl hellroter Beeren von normaler Größe hervor, von denen aber keine einzige einen Samen enthielt. Im Frühjahr 1908 wurde die Pflanze behufs Umzug in eine neue Wohnung wieder umgepflanzt, hat sich im Sommer wieder gut entwickelt und reich geblüht, es aber nicht zur Fruchtbildung gebracht. Zwar vergrößerten sich auch nun einzelne Fruchtknoten, sie wurden aber bald gelb, verschrumpften und fielen ab, ohne die gewöhnliche Größe erreicht zu haben. In der mir zugänglichen Literatur finde ich nur an einer einzigen Stelle eine Mitteilung über derartige Beobachtungen an Bryonia, nämlich in dem Aufsatz von G. Bitter; Parthenogenesis und Variabilität der Bryonia dioica.') Da dessen Aus- führungen auch die Blattform in Betracht ziehen, sei einiges daraus hier mitgeteilt. Weil Versuche im Freien wegen der unge- nügenden Isolation keine befriedigende Resultate lieferten, kultivierte Bitter eine weibliche Pflanze im Gewächshaus. Die ersten Fruchtknoten fielen ohne eine Vergrößerung erkennen zu lassen ab, gegen Mitte September wurden einige etwas größer und färbten sich schwach rötlich; erst gegen Ende der Vegetationsperiode (Oktober) lieferten einzelne Fruchtknoten voll ausgebildete Beeren mit je i — 3 Samen, von denen allerdings nur ein kleiner Teil keimfähig war. Im nächsten Jahre hat Bitter auch wohlentwickelte Beeren ohne Samen erhalten (1. c, S. lOi, Fußnote i). Aus den ausgesäten Samen entwickelten sich 9 Pflanzen, die sämtlich männlichen Ge- schlechts waren. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zu dem Resultat der Versuche von W. O. Pocke, der aus den Beeren einer iso- lierten weiblichen Pflanze nur weibliche Exemplare erziehen konnte; zur Lösung dieser Frage sind offenbar weitere Versuche erforderlich. „Mein Resultat", sagt Bitter, „ist das erste bota- nische Analogon zur Drohnenbrütigkeit der Honig- biene, allerdings mit dem Unterschiede, daß bei Bryonia wohl auch aus befruchteten Eizellen teil- weise Männchen hervorgehen dürften. Das Zahlen- verhältnis der Männchen zu den Weibchen scheint nach meinen bisherigen geringen Zählungen ziem- lich das von i : l zu sein." ') Abhandlungen des naturwissenschaftlichen Vereins zu Prem-n, XVIII, 1905, S. 99—107, Taf. IX und X. Was nun die Blattform betrifft, macht Bitter darauf aufmerksam, daß schon in der Form der Blätter der weiblichen Pflanzen besonders auf- fällige Differenzen bestehen, wovon Beispiele auf seiner Tafel IX abgebildet sind. Die Form des Blattgrundes bei den 7 abgebildeten, also nur weiblichen Blättern ist tatsächlich außerordent- lich verschieden. Während einige Figuren am Blattstiel tief ausgeschnittene Formen darstellen, haben die Blätter der übrigen Figuren einen gerade so flachen Bl attgru nd wie sie in den Hei neck' sehen Abbildungen la und 2a dargestellt sind. Eskommen also an weiblichen Pflanzen zweifels- ohne Blätter mit flachem Grunde vor, ebensogut wie an männlichen Pflanzen Blätter mit tief ausgeschnittenem Grunde anzutreffen sind. Die Blattform ist daher für die Unterscheidung der Geschlechter wertlos. Übrigens macht Bitter eine Anspielung dar- auf, daß vielleicht doch im Habitus der männlichen und weiblichen Pflanzen gewisse Differenzen be- stehen dürften. Wenn dies wirklich der Fall wäre, würde es ein neuer Gegenstand sein im interessanten, aber wie es scheint bisher wenig bearbeiteten Kapitel der sekundären Geschlechts- charaktere der Pflanzen. H. R. Hoogenraad, Ryswik (Holland). Tertiäre Kalisalzlager im Oberelsa§. — Die aus Deutschland bisher bekannten Kalisalzlager, die zu den wertvollsten Schätzen des deutschen Bodens gehören, finden sich ausschließlich im oberen Zechstein, so daß die Verbreitung der Kalisalze naturgemäß von dem Auftreten der Zechsteinformation abhängig ist. Die im Laufe der letzten Jahrzehnte so außerordentlich zahlreich ausgeführten Tiefbohrungen haben die Verbreitung der Kalisalzlager über fast ganz Mittel- und Nord- deutschland in meist erheblicher Mächtigkeit fest- gestellt. Erst südlich der Mainlinie etwa fehlen die Ablagerungen der Zechsteinformation und somit auch die Kalisalzlager. Ganz besonders bemerkenswert ist nun die Auffindung eines abbauwürdigen Kali- salzlagers im Oberelsaß, das nach dem eben Gesagten nicht dem Zechstein angehören kann. Schon im Jahre 1904 verlautete gerücht- weise, daß bei Mülhausen i. E. durch eine Tief- bohrung Kalisalze erschlossen worden seien. Da aber bis vor kurzem die Ergebnisse der seitdem in größerer Zahl vorgenommenen Tiefbohrungen von den Unternehmern geheim gehalten wurden, so konnte man nur Mutmaßungen über die geo- logischen Verhältnisse dieser Kalisalzlagerstätte hegen. Im Auftrage der Geologischen Landesanstalt von Elsaß-Lothringen und der die Aufschluß- arbeiten leitenden I'ersönlichkeiten hat nun Prof. Förster in Mülhausen i. E. die geologische Unter- N. F. VIII. Nr. \^ Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 269 suchung der Bohrungen unternommen. Hierüber sowie über eine von J. Vogt und M. Micg im Bulletin de la Societe Industrielle de Mulhouse 1908, Sept. -Okt. gegebene Notiz „Note sur la decouverte des sels de potasse en Hautc-Alsace" berichtet Prof. Förster im Dezemberheft der Zeit- schrift für praktische Geologie 1908. Die erste Bohrung, welche das Kalilager auf- fand, lag etwa 3,5 km südlich von VVittclsheim ; sie wurde vom 13. Juni bis i. November 1904 bis zu einer Tiefe von mg m niedergebracht. Anfangs wurden keine Kerne gezogen ; erst von 467 m an wurde mit dem Diamantbohrer gebohrt, so daß zusammenhängende Bohrkerne erhalten wurden; die letzten waren noch 8 cm stark. Folgende Schichten wurden nach Förster durch- bohrt : 1. Humus 0—0,5 "^ 0,50m mächtig 2. Schotter und Sand 0,5-39 m 38,50 m ,, 3. Geschiclitelcr Mergel, Ton, dann Kalksandsteine 39 — 358 m 319 m ,, 4. Erstes Salzlager (Anhydrit, Dolomit, Steinsalz, Kalisalz) 35S — 512 m 154 m ,, 5. Harter schiefriger Mergel 512 — 620 m 108 m ,, b. Zweites Salzlagcr (salzhaltige Tone mit zahlreichen Salz- und .Xnhydritschichten mit Mächtigkeiten von 0,5 — I3m)620— 947 m 327 m 7. Geschichteter graugrünlicher Mergel 947 — 1119m 172 m ,, Die 38,5 m mächtigen Schotter und Sande unter der dünnen alluvialen Humusdecke gehören zum Diluvium, das aus Vogesengeröllen, -kiesen und Sauden besteht. In den Bohrungen im Süden und Westen wird es bis 42 m, im Norden und Nordosten bis zu 125 m mächtig. Unter dem Diluvium folgt Tertiär. Die bei Witteisheim in 39 — 358 m Tiefe lagernden tonigen Mergel und Kalksandsteine rechnet Förster zum Mittel- und obersten Unteroligozän. In der oberen salzführenden Schichtenfolge von 358 — 512 m wurden bis 2,75 m mächtige Schichten von Anhydrit und Steinsalz und von 473 — 478 m Kalisalze getroffen, die demnach 5 m mächtig sind. Zwei dünne, 20 — 25 cm starke, blättrig geschichtete Tonlagen waren dem Kali- salzhorizont eingeschaltet. Unter dem von 512 — 620 m erbohrten harten schiefrigen Mergel lagerte eine zweite salzführende Schichtenfolge mit 0,5 — 13 m mächtigen Stein- salzflözen. Durch 103 Tiefbohrungen wurde die Verbrei- tung des Kalisalzlagers über ein Gebiet von über 200 qkm Umfang nachgewiesen, das durch die Orte Heimsbrunn, Sausheim, Ensisheim, Regisheim, Ungersheim, Sulz, Sennheim und Schweighausen begrenzt wird. Die gesamte Schichtenfolge vom oberen Salz- horizont ab einschließlich desselben wird von Prof. Förster ins Unteroligozän gestellt, dessen Liegendes durch keine der Bohrungen erreicht wurde. Das obere Salzlager tritt nach den Bohrungen in Tiefen von 200 — 800 m auf Stellenweise sind in ihm zwei Kalilager vorhanden: ein oberes bis 1,5 m mächtiges, dann nach einem Zwischen- mittel von 19 — 20 m ein unteres von 3 — 5 m Mächtigkeit. Beide führen S y 1 v i n i t (Na Cl + KCl) mit 30 — 35 "/„ Chlorkalium. Geologisch sehr be- merkenswert ist das P"ehlen von Magnesia- salzen, im Gegensatz zu allen Kalilagern des Zechsteins. Bei Witteisheim wird z. Z. ein 600 m tiefer Schacht mit einem Durchmesser von 5'., m ab- geteuft; bis zu einer Tiefe von 75 m wurde das Gefrierverfahren in Anwendung gebracht. Die eingehenden Untersuchungen von Prof. F"örster werden noch weitere Aufschlüsse über dieses erste tertiäre Vorkommen von Kali- salzen in Deutschland ergeben, dessen geologische Verhältnisse für die Frage nach der Entstehung der Kalisalzlager zweifellos von großer Bedeutung werden dürften. Beiläufig sei erwähnt, daß im östlichen Europa aus tertiären Schichten schon seit längerer Zeit Steinsalz und auch Kalisalze bekannt sind und mehrfach abgebaut werden. Nach Teisseyre und Mrazec kommen in Rumänien im Oligozän und Miozän Steinsalzlager vor, die bis 340 m mächtig erbohrt worden sind, ohne daß das Liegende erreicht wurde. Kalisalze fehlen in Rumänien gänzlich. Dagegen enthalten die untcrmiozänen Steinsalzlager Galiziens, die bei Wieliczka, Bochnia und Kalusz seit Jahrhunderten ausge- beutet werden, bei Kalusz auch Kalisalze. Dort treten Sylvin und besonders Kainit auf, der ein im Mittel 10 — 12 m mächtiges Lager bildet, das aber im Streichen auszukeilen scheint. Jedenfalls ist auch dieses Vorkommen so gering- fügig, daß es im Welthandel keine Rolle spielt und man mit Recht sagen kann, daß Deutschland das Monopol auf Kali besitzt. F. Meinecke, Halle a. S. Die größte Binnenseentiefe der Erde findet sich im Baikalsee und beträgt nach einer neuen Messung des Oberst Drischenko 1523 m, reicht also 1047 m unter den Meeresspiegel herab. Diese tiefste Stelle des Sees liegt nur 2,5 km vom mittleren Teile seiner Westküste entfernt, so daß der Abfall des Seebodens hier den enormen Be- trag von 60 "/o erreicht. Im Vergleich hierzu ist von Interesse zu hören, daß das tiefste Bohrloch der Erde, das sich zu Czuchow in Oberschlesien befindet, eine Tiefe von rund 2240 m besitzt. Wetter-Monatsübersicht. Der diesjährige März hatte während seiner ersten Hälfte noch in ganz Deutschland einen völlig winterlichen Charakter, wogegen er mit sehr mildem , obwohl recht veränderlichem Frühlingswetter endigte. In einigen klaren Nächten herrschte, namentlich im Nordosten, außerordentlich strenger Frost, der 2/0 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vni. Nr. 17 durch Irockene östliche Winde noch verschärft wurde: z. H. brachten es in der Nacht zum 8. März Marienburg auf 20, Osterode und Schivelbein auf 17" C Kälte. Auch die in 5Riincrc lam^erafiiren ciniacr 0iTc im 5Räri 1909. "Mi! MI! Willielmshaven. j I I I I I I I I I I I I I I I MM BBrlrnBrWe^rerWsau . der vorstehenden Zeichnung wiedergegebenen mittleren Werte zwischen den höchsten und tiefsten Tenijjeraturen der einzel- nen Tage lagen bis zum 15. meistens unter Null. Dann gingen sie langsam und mit einigen Unterbrechungen in die Höhe. Am 20. wurden im westlichen Binnenlande zum ersten Male 15° C überschritten und am 29. stieg das Thermometer in Halle und Bamberg bis auf 20, am 30. in Kotlbus so- gar bis 22" C. Bald nach dem 20. März erfolgte auf den meisten ostdeutschen Flüssen der Eisaufbruch und nach mehr- tägigen , zum Teil mit starkem Hochwasser verbundenen Eis- gängen konnte noch vor Schluß des Monats auf der Elbe, Oder und Weichsel die Schiffahrt wieder eröffnet worden. -§ I.« ' ^J c!=^/yiiftlerer Werf für Deutschland. (flonafssumme ,m März 1903.08. 07. 06. ÜS.Of. BcH,nerW«rrerbi,f Im Monatsmittel lagen die Temperaturen ungefähr 2 Grad unter ihren normalen Werten. Ebenso fehlte es in den meisten Gegenden beträchtlich an Sonnenschein ; beispielsweise hat zu Berlin die Sonne an nicht mehr als 88 Stunden geschienen, während hier in den früheren Märzmonaten durchschnittlich loS Sonnenscheinstunden aufgezeichnet worden sind. Der starken Bewölkung entsprach überall eine große Zahl von Tagen mit .Niederschlägen, die bis zum 20. fast ausschließlich in fester Form fielen. Besonders während der ersten Märzwoche fanden auf der ganzen Strecke zwischen Weser und Weichsel oft wiederholte, lange anhaltende Schnee- fälle statt, die sich bisweilen auch auf Bayern und Württem- berg ausdehnten und in manchen Gegenden sehr ergiebig waren. Am 3- morgens betrug die Niederschlagshöhe in Swinemünde 33 mm und lag dort, ebenso wie in Stral- sund, der Schnee reichlich 4 Dezimeter, in Berlin und vielen anderen Orten 3 Dezimeter hoch. Seit dem 7. nahmen die Schneefälle an Häufigkeit und namentlich an Stärke bedeutend ab. Bei fast regelmäßigem Wechsel zwischen gelindem Frost während der Nacht und Tauwetter in den Mittagsstunden wurde die Schneedecke all- mählich dünner; jedoch blieb der Boden im Westen noch etwa bis zur Mitte des Monats, im Osten weit über die Mitte hinaus mit Schnee bedeckt und in der Provinz Ostpreußen war die Schneedecke erst kurz vor Ende des Monats völlig geschmolzen. Zwischen dem 13. und 17. gingen zunächst an einzelnen Orten des nordwestlichen Binnenlandes, dann im f)der- und Weichselgebiete wieder recht große Schneemengen nieder. Nachdem darauf vier im allgemeinen trockene Tage gefolgt waren, stellten sich in der Umgebung des Rheins und ganz Süddeutschland Kegtnfälle ein, die sich langsam nord- ostwärts weiterverbreiteten und häufig wiedeiholten. Die Niederschlagshöhe des ganzen Monats betrug im Mittel für alle berichtenden Stationen 39,3 mm und blieb, weil auch sehr starke Schneefälle in der Regel geringere Niederschlags- höhen als Regengüsse zu ergeben pflegen, hinter dem allge- meinen Durchschnitte der früheren Märzraonate seit Beginn des vorletzten Jahrzehntes um 6,3 mm zurück. Außerordentlich zahlreich waren die mehr oder weniger liefen barometrischen Minima, die größtenteils vom atlantischen Ozean , teilweise aber auch vom wesilichcn Mittelmeere her im Laufe des März in Europa erschienen. Während der ersten Hälfte des Monats drangen viele von ihnen mitten in das westeuropäische Festland ein, wo sie, da ihnen der Weg nach Osten durch ein beständig in Rußland lagerndes hohes Barometermaximum versperrt war, sehr wechselnde Bahnen einschlugen und sich allmählich verflachten. Seit dem 18. März verweilten die atlantischen Depressio- nen länger in der Nähe der britischen Inseln, rückten dann jedoch über die Nordsee nach der Ostsee vor. Dabei schoben sie das russische Hochdruckgebiet allmählich weiter nach Osten und breiteten über Deutschland statt der hier bisher meist wehenden kalten, östlichen Winde eine mildere, aber dampfgesättigte, oft sehr starke Südwestströmung aus. Dr. E. Leß. Himmelserscheinungen im Mai 1909. Stellung der Planeten: Merkur ist abends im NW sichtbar, um die Mitte des Monats fast eine Stunde lang. Auch Venus wird gegen Ende des Monats abends im NW sichtbar. Mars ist nur morgens etwa eine Stunde lang im Wassermann sichtbar, während Jupiter abends im Löwen zuletzt noch 3'/i Stunden lang beobachtet werden kann. Sa- turn bleibt noch unsichtbar. Verfinsterungen der Jupitermonde: Am 2. um S Uhr 22,9 Min. ab. M.E.Z. Austr. d. „ 6. ,, II „ 8,5 „ „ 9- n 10 1, n<9 ,. .. „ 25. „ 8 „ 36,9 „ „ Algol-Minima lassen sich im Mai wegen der Sonnennähe des Algol nicht beobachten. 1. Trab. IL „ I- „ I. „ Aus dem wissenschaftlichen Leben. Ferienkurse in Hydrobiologie und Plankton- kunde. — Nachdem anerkannte Autoritäten auf biologischem Gebiete (wie C. Chun, E. Korscheit, H. Molisch, R. v. Wett- N. F. Vm. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 271 stein und F. Zschokkc) das Programm und die Tendenz der von mir projektierten Ferienkurse — die in den Monaten Juli und .August d. J. stattfinden sollen — begutachtet und im Interesse der gesamten Lehrerschaft für ersprietilich erklärt haben, gestatte ich mir, auch an dieser Stelle auf mein Vor- haben aufmerksam zu machen und teile mit , was ich in den betreffenden Kursen zu behandeln gedenke. Dies wird fol- gendes sein : 1. Kurzer Abriß der Geschichte der Süßwasserbiologie in Form eines einleitenden Vortrag^;. Schilderung der Lebens- bedingungen, die ein Binnensee innerhalb seiner Uferzone, am Grunde und im Bereiche der übrigen Wassermasse darbietet. Hinweis auf die verschiedenartigen Mittel, womit die Organis- men dem freien Schweben in ihrem Elemente angepaßt sind. 2. Vorzeigung und Erklärung der gebräuchlichen Fang- instrumente (Käscher, Schlaramsauger, Grundschöpfer, Plankton- nctz, Schließnetz usw.). 3. Demonstration der hauptsächlichsten Uferformen und der Planklonwesen unter dem Mikroskop, sowie Anleitung zum Studium des feineren Baues derselben unter Zuhilfenahme von Abbildungen und Lehrbüchern. Anfertigung eigenhändiger Skizzen und Zeichnungen von den beobachteten Objekten, weil hierdurch erfahrungsgemäß die Erinnerung unterstüzt wird. 4. .Anleitung zum Konservieren und Präparieren von Einzel- objekten und ganzen Planktonfängen. Praktische Ausübung der F'ärbetechnik nach verschiedenen Methoden. Herstellung von Dauerpräparaten, welche den Kursisten als Eigentum verbleiben. =;. Mikroskopische Durchmusterung derartiger Präparate, um die konservierten Objekte, welche vielfach ein verändertes .Aussehen zeigen, identifizieren zu lernen. Vergleichende Unter- suchungen an Material aus einer Sammlung von Plankton- langen anderweitiger Herkunft. Rekapitulation des Gelernten und Bekanntschaft mit der neuesten Fachliteratur. Hierzu bemerke ich noch, daß die Kurse nicht im Ge- bäude der Biologischen Station selbst, welches viel zu eng für einen solchen Zweck ist, sondern in einem geräumigen, speziell als Laboratorium eingerichteten Holzpavillon statt- finden werden, welcher 24 m lang, 5 m breit und 3,5 m hoch ist. Dieser Pavillon steht neben der Biologischen Station und in unmittelbarer Nähe des Gr. Plöner Sees, der während des Sommers ein sehr reiches Material für die mikroskopischen Untersuchungen und Demonstrationen zu liefern vermag. Jener Pavillon enthält 30 Arbeitsplätze. Die Hälfte von diesen ist bereits jetzt belegt. Für den Fall einer sehr lebhaften Be- teiligung sollen mehrere Kurse (jeder zu 3 Wochen bemessen) veranstaltet werden. — Das ausführliche Programm wird jedem Reflektanten auf den kundgegebenen Wunsch zugesandt. Prof. Dr. Otto Zacharias (Plön). Bücherbesprechungen. Max Verworn, Dr. med. et phil., Prof. der Physio- logie und Dir. d. Physiol. Instituts der Universität Göttingen, Allgemeine Physiologie. Ein Grundriß der Lehre vom Leben. Fünfte, voll- ständig neu bearbeitete Aufhige. Mit 31g Abbil- dungen. Verlag von Gustav Fischer, Jena 1909. — Preis 16 Mk. Das schnell bekannt gewordene Buch ist in seiner ersten Auflage erst 1894 erschienen. Daß das um- fangreiche wissenschaftliche Werk schon eine fünfte Auflage erlebt , ist ein Zeichen für das weitgehende Interesse , das ihm entgegengebracht wird. Es um- faßt jetzt einschließlich des Registers 742 Seiten. Es ist bekannt , daß Verf. sich bestrebt, die Physio- logie auf die Lebenserscheinungen der Zelle zu gründen , denn , sagt er , „es gibt keine lebendige Substanz, die nicht zu Zellen angeordnet wäre , und es gibt keine Funktion der lebendigen Substanz, die nicht im Lebensprozeß der Zelle ihren L^rsprung hätte. Wenn daher die Physiologie in der Erklärung der Lebensäußerungen ihre Aufgabe sieht , so kann die allgemeine Physiologie nur eine Zellular- Physiologie sein". Verf. hat sich genötigt gesehen, das Buch weit- gehend umzuarbeiten. Es ist gewiß erfreulich, daß Verf. sich in seinem ersten Kaiiitel ,,Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung" auch in die philosophische Grundlage des Forschens zu vertiefen sucht. Die Biontologen sind auf diesem Gebiete noch nicht weit und daher noch immer zu sehr auf der Bahn, müssige Probleme zu behandeln. Aber das wird besser wer- den, wenn wir doch sehen, daß die Verfasser von Lehrbüchern von Spezialwissenschaften , wie das vor- liegende eines ist, sich jetzt öfter darauf besinnen, daß eine Klarlegung der wissenschaftlichen Haupt- begrifife auf erkenntnistheoretischer Grundlage nicht zu umgehen ist. Die folgenden fünf großen Kapitel sind überschrieben : Von der lebendigen Substanz, Von den elementaren Lebensäußerungen, Von den allgemeinen Lebensbedingungen, Von den Reizen und ihren Wirkungen und Vom Mechanismus des Lebens. Dr. Otto Taschenberg, a. o. Prof. d. Zoologie in Halle a. S., Die giftigen Tiere. Ein Lehrbuch für Zoologen , Mediziner und Pharmazeuten. Mit 63 Abbildungen. Ferdinand Enke, Stuttgart, 1909. — Preis 7 Mk. Verf. hat mit Fleiß alles zusaminengesteUt, was wir über die giftigen Tiere wissen; er liefert ein lesbares Buch, das über die im Titel genannten Kreise hinaus Interesse finden kann. Die zoologische Be- handlung des Stofies steht im Vordergrunde. Der Begrifi' des giftigen Tieres wurde verständigerweise ziemlich weit gefaßt. In der Einleitung wird eine vorbereitende Auseinandersetzung geboten, um sodann ausführlich auf die Tiere selbst einzugehen , und zwar werden diese der Tendenz des Buches ent- sprechend nach den folgenden Gesichtspunkten be- handelt. Zunächst finden diejenigen eine nähere Betrachtung, die durch vitale Stoffwechselprodukte oder Zerfallsprodukte giftig wirken, wie die Band- würmer und andere Würmer; sodann werden die Tiere mit Giftapparaten besprochen , nämlich die Nesseltiere und die Drüsentiere, wie der Autor die beiden Unterabteilungen dieses Kapitels überschreibt. Der dritte große Abschnitt beschäftigt sich mit den Tieren, die giftige Stoffe in allen Teilen des Körpers oder in einzelnen ihrer Organe haben , ohne sie zu sezernieren , wie das von gewissen Schmetterlings- raupen, Regenwürmern, Kanthariden etc. bekannt ist, auch vom Blutserum der Aale. Der vierte Ab- schnitt bespricht die Tiere, die giftige Eigenschaften durch ihre Nahrung annehmen. Wer dächte dabei nicht an die Vergiftungen durch Miesmuscheln, Austern etc.? Der letzte Abschnitt endlich behandelt das, was übrig bleibt, was nämlich in einem der vier vorausgehenden Abschnitte nicht untergebracht wer- den konnte, d. h. die Tiere, die in bisher unerklärter Weise giftig wirken können. So kennt man eine Knochenentzündung der Perlmutterdrechsler, ohne 272 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 17 daß man eine Einsicht hätte, in welchem Zusammen- hange sie mit der Perlmuttermuschel steht. Literatur. May, Prof. Dr. Walth.: Korallen und andere gesteinsbildende Tiere. Mit 45 Abbildgn. im Te.>ct. (IV, 122 S.) 8". Leipzig '09, B. G. Teubner. — 1 Mk., geb. in Leinw. 1,25 Mk. Peter, Prof. Dr. Bruno ; Die Planeten. Mit 18 Fig. im Te.\t. (IV, 131 S.l S". Leipzig '09, B. G. Teubner. — I Mk., geb. in Leinw. 1,2:; Mk. Stahl, Ernst: Zur Biologie des Chlorophylls, Laubfarbe und liimmelslicht, Vergilbg. u. Etiolement. (V, 154S. m. 4 Ab- bildgn. u. I lith. Taf.) gr. 8°. Jena '09, G. Fischer. — 4 Mk. Verworn, Prof. Dir. Dr. Max: Allgemeine Physiologie. F.in Grundriß der Lehre vom Leben. 5., vollständig neu bearb. Aufl. (XVI, 742 S. m. 319 Abbildgn.) Lex. 8». Jena '09, G. Fischer. — 16 Mk., geb. 18 Mk. Volksseuchen. 14 Vorträge, geh. v. DD. Geh. Med.-R. W. Dönitz, Geh. Ob. -Med.-R. M. Kirchner, VV. KoUe, W. Kruse, Marine-Oberstabsarzt F. Martini , A. Moeller, Hjfenarzt B. Nocht, Proff., Oberstabsarzt Schüder , Proff. G. Sticker und Geh. Med.-R. A. Wassermann. Hrsg. vom Zentralkomitee f. das ärztl. Fortbildungswesen in Preußen, in dessen Auf- trage red. V. Prof. Dr. R. Kutner. (III, 390 S. m. 74 Ab- bildgn.) gr. 8". Jena '09, G. Fischer. — 6 Mk. , geb. 7 Mk. Anregungen und Antworten. In dem sehr beziehungsreichen Aufsatz des Herrn H. Marzell über Zauberpflanzen ist auf Seite 164 ein uralter Neunkräftesegen abgedruckt, in dem es in den letzten Zeilen heißt: Kerbel und Fenchel, zwei gar mächtige, die Kräuter erschuf der weise Herr, der heilige im Himmel, als er hing . . . Der Herr Verf. hat in der letzten Zeile in Klammer ein- geschaltet: am Kreuze, so daß die Zeile lautet: der heilige im Himmel, als er (am Kreuze) hing . . . Mir scheint aber, daß die Worte nicht notwendig auf den gekreuzigten Christus bezogen zu werden brauchen, son- dern daß auch Wodan gemeint sein kann, der bekanntlich 9 Tage und Nächte an der Weltesche hing, wobei ihm allerlei Weisheit kund wurde. Zu dieser .\nnahme berechtigt nicht nur das Beiwort „der weise", sondern auch die unmittelbare Nennung Wodans einige Zeilen vorher: Da nahm Wodan neun Wunderzweige . . . Im H.ivam:il erzählt Wodan von sich: Ich weiß wie ich hing am windkalten Baum neun ewige Nächte Vom Speere verwundet, dem Wodan geweiht: ,,ich selber geweiht mir selber — " Die Bezugnahme auf Wodan würde für ein viel höheres Alter jenes Neunkräftesegens sprechen, als die auf Christus. Dr. C>tto Ammon. Herrn H. in Flunlern. — Die Literatur finden Sie in Verworn's Allgemeiner Physiologie (Gustav Fischer in Jena). Herrn W. in Lemgo, tiacum. — Der Pilz ist Scleroderma auran- Zu dem interessanten Aufsalze von Herrn Prof. Killer- mann (Zur ersten Einführung amerikanischer Pflanzen im 16. Jahrhundert, in Nr. 13) seien mir einige Bemerkungen ge- stattet, die sich auf die Kapuzinerkresse (Tropiieolnm- Arten) beziehen. Der Verf. weist nach, daß in dem etwa auf das Jahr 1574 anzusetzenden Miniatur- Gebetbuch Herzog Albrechts V. von Bayern sich bereits ein Trofaeoliim abge- bildet findet. Diese Angabe ist deshalb von Wichtigkeit, als sie einen weiteren Beleg bildet für das ungefähre Datum der Einführung der Kapuzinerkresse in die europäischen Gärten; leider scheint es nicht möglich zu sein, die Art in dem eben genannten Falle genauer festzulegen , was, wie aus dem Fol- genden erhellen dürfte, von einigem Interesse wäre. Buchenau hat in seinen von Prof. K. nicht erwähnten Arbeiten über Tropaeolaceae (Englcr's Bot. Jahrb. .\V , 1S93, S. 1S3, und Pflanzenreich 10. Heft, 1902, S. 1 1 ) nachgewiesen, daß Tropct/olutn minus L. spätestens im Jahre 1575 kultiviert worden ist. Die auch vom Verf. zitierte Abbildung aus M. L o b e 1 i u s (Plant, seu stirp. bist. 157(1, p. 33S) bezieht sich nach Buchenau auf 'fr. minus: die Pflanze ging damals unter der Bezeichnung Nasturtium iiuiicum. Killermann deutet dieses Zitat von Lobelius auf „'/'rof-aeolum majiis L. wahrscheinlich". Um dieselbe Zeit (1574) finden wir bei Dodonaeus bereits eine andere Art (Tr. perigrinum) abgebildet. Diese Art verschwin- det dann aus der Literatur, nachdem sie noch einmal bei M. Lobelius (1576) und R. Dodonaeus (1583) aufge- taucht ist, und kehrt erst bei FeuiUee (1725) wieder; in den europäischen Gärten erschien sie erst um das Jahr 1790. Die von Kill er mann angezogene Stelle aus Monardes (Nasturtium psruvianuiii\ 1582) bezieht sich wohl auf Tr. minus. — Unsere gewöhnliche Kapuzinerkresse ( Tr. majtis) wurde erst hundert Jahre später als Tr. minus in Europa be- kannt; sie wurde zuerst von P. Hermann (Hort. acad. lugd. bat. Catal. (1687) 628) beschrieben und abgebildet. Hierauf bezieht sich auch die Bemerkung bei Frank-Leunis (Synops. 3. Aufl. II. 340I, daß die Kapuzinerkresse erst 1684 bei uns eingeführt worden sei. Hermann schildert in leb- haften Farben das Entzücken der Blumentreunde jener Zeit über die neue Pflanze. Er selbst gibt als Jahr der Einführung (nach Belgien) 16S4 an, in England wurde die Pflanze 16S6 gezogen. Nach Buchenau war der botanischen Wissen- schaft vom Jahre 1574 an über ein Jahrhundert lang nur eine Art Tropaeolum bekannt [Tr. minus); denn von Tr. pcregri- num (bei uns olt als aduncum gezogen) müssen wir absehen, da die Art nicht klar erkannt war. Es wäre gewiß von Interesse, zu ermitteln, ob es sich bei der Abbildung in dem erwähnten Gebelbuche vom Jahre 1574 auch um Tr. minus handelt; diese Art ist hei uns jetzt recht selten in Kultur und fast gänzlich durch Tr. mojus und seine Formen und Bastarde verdrängt. Von majvs weicht minus dadurch ab, daß bei den kreisförmig-nierenförmigen Blättern die Nerven in kleine Spitz- chen auslaufen, während sie bei majus stumpf endigen. — Bei Tournefort 1719, der übrigens für die Kapuzinerkresse den neuen Gattungsnamen Cai tinmindum aufstellte, finden wir zuerst den Namen ,,capucine"; schon damals muß also diese Bezeichnung (und entsprechend wohl auch der deutsche Name Kapuzinerkresse) in den Gärten üblich gewesen sein. Der jetzt gebräuchliche Gattungsname Tropaeolum wurde von Linne geschafi'en. — Es sei mir noch der Hinweis ge- stattet, daß sich die erste Nachricht über die Erdnuß oder Erdmandel {.4rachis hypogaea) nach F. Kurtz (in Verh. Bot. Ver. Provinz Brandenburg XVII. (1875) 45) schon bei Oviedo (Coronica de las Indias 1547) findet. Dieser Autor hielt sich 1513-1524 auf Cuba auf, er gibt an, daß die Pflanze in den Gärten der Indianer sehr gemein sei, und nennt sie mani, ein Name, den die Erdnuß noch jetzt dort führt. H. Harms. Herrn N. in .\delsdorf. — Der Verlagsort ist Cassel. Inhalt: Dr. W. Gothan: Die sogenannten ,, echten Versteinerungen" (Intuskrustate) der Pflanzen und die Konkretionen (Inkrustate). — Sammelreferate und Übersichten : Werner Mecklenburg: Neues aus der allgemeinen Chemie. — Kleinere Mitteilungen: Dr. He in eck: Sind die männlichen und weiblichen Pflanzen von Bryonia dioica Jcq. an ihrer Blattform zu erkennen. — Förster: Tertiäre Kalisalzlagen im Oberelsaß. — Drisch enko: Größte Binnen- seetiefe. — Wetter-Monatsübersicht. — Himmelserscheinungcn im Mai 1909. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Dr. Max Verworn: .-Mlgemeine Physiologie. — Dr. Otto Taschenberg; Die giftigen Tiere. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Fulge VUl. Band; der ganzen Reihe XXIV. Band. Sonntag, den 2. Mai 1909. Nummer 18. Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung. 1 Nachdruck verboten. Von Dr. phil. P. Ites. Helmholtz unterscheidet zwei Arten von Theorien der Raumvorstellung, die na ti vis ti- schen, welche allerdings den Einfluß der Er- fahrung für eine gewisse Reihe von Wahr- nehmungen zugeben, aber für gewisse bei allen Beobachtern gleichförmig eintretende elementare Erscheinungen ein System von angebornen und nicht auf Erfahrung begründeten Vorstellungen voraussetzen zu müssen glauben, und die empi- ristischen, welche dem Einfluß der Erfahrung einen möglichst breiten Spielraum gewähren, ohne dabei die nativistischen Elemente ganz ent- behren zu können. Da aber nicht jede der nati- vistischen Ansicht widerstrebende Theorie empi- ristisch genannt werden kann, so hat Wund t die vorhandenen Gegensätze schärfer gekennzeichnet, indem er zwischen nativistischen und gene- tischen Theorien unterschied. Die genetische Ansicht zerfällt dann wieder in zwei Unterab- teilungen, die empiristische und die Asso- ziations- oder Verschmelzungstheorie, welche durch psychologische Analyse die Emp- findungselemente zu bestimmen sucht, aus denen auf Grund der angebornen Organisationsbedin- gungen nach physiologischen und psychologischen Gesetzen die Raumvorstellung entsteht. Diese Theorie verdankt ihren Namen dem Umstände, daß hauptsächlich das Gesetz der assoziativen Verschmelzung von ihr zur Erklärung der Tat- sachen benutzt wird. Wundt bezeichnet sie wohl auch nach ihren hypothetischen Elementen als die Theorie der komplexen Lokalzeichen, während er an anderen Orten im Gegensatze zum Nativismus und Empirismus kurz den Namen „genetische Theorie" gebraucht. Als Hauptvertreter der nativistischen Theorie gilt Ewald Hering, der klassische Repräsentant des Empirismus ist Helmholtz und als maßgebend für die genetische Ansicht kann wohl Wundt an- gesehen werden. Es sollen daher im folgenden nur diese drei Theorien kurz dargestellt und kriti- siert werden. I. Theorie von Hering. Die Hering'sche Theorie geht aus von der Tatsache, daß unsere Gesichtswahrnehmungen stets räumliche Eigenschaften haben. Wir schreiben ihnen stets eine mehr oder minder bestimmte Form oder wenigstens eine Ausdehnung und einen bestimmten Ort zu und zwar liegt dieser Ort stets außerhalb unserer Augen. Hering hält es sogar für nötig, zu betonen, daß wir eine Ge- sichtsempfindung stets vor unsern Augen und vor unserm Kopfe und niemals i n demselben haben, weshalb alle Erklärungen, die letzteres be- haupten, sich auf Reflexionen und nicht auf Tat- sachen stützen. In der Tat schreiben wir der einfachsten Gesichtswahrnehmung, einem leuchten- den Punkt, bereits sämtliche räumlichen Eigen- schaften, die der Ausdehnung, Richtung und Ent- fernung zu. Daraus folgt, daß die Netzhaut, die doch der gereizte periphere Teil ist, den Raum unmittelbar empfindet und jeden Reiz in eine be- stimmte Richtung in den äußeren Sehraum ver- legt. Da man aber doch die Qualität einer Ge- sichtsempfindung von ihren räumlichen Eigen- schaften unterscheiden kann, so schreibt Hering jedem Eindruck auf die Netzhaut drei verschiedene Arten von ,, Raumgefühlen" zu. Ein erstes ent- spricht dem Höhenwert der betreffenden Netz- hautstelle, ein zweites dem Breitenwert, beide zu- sammen ergeben das Richtungsgefühl für den Ort im Sehfelde. Außerdem existiert ein drittes Raumgefühl, das Tiefengefühl, welches aber nur beim binokularen Sehen von Bedeutung ist. Damit ist die Lokalisierung bei monokularem Sehen erklärt. Die Verteilung der gesehenen Punkte im Sehraum entspricht wenigstens in der Anordnung der Verteilung der Punkte im wirk- lichen Raum, die einzelnen linearen Distanzen sind dagegen noch vielfach nach der Erfahrung zu korrigieren. Die Lokalisierung nach der Tiefe beruht bei monokularem Sehen fast ganz auf Er- fahrung. Nur die Akkommodationsempfindung gibt einen schwachen Anhalt über die größere oder geringere Entfernung der Sehdinge. Die Beziehung auf den Körper des Beobachters wird dadurch erklärt, daß derselbe mit in den Seh- raum fällt, während wir von seiner Stellung im Raum hauptsächlich durch die sogenannten Gleich- gewichtsgefühle unterrichtet sind. Die Bewegung eines Auges dient nur zur Änderung der Richtung des Sehens und ist von Nutzen bei der genaueren Auffasung eines bestimmten Komplexes im Seh- raum und bei der bestimmteren Tiefenwahr- nehmung, sie erfolgt jedoch stets so, daß die Anordnung der Dinge im Sehraum dieselbe bleibt wie bei ruhendem Blick. Wie kommt es nun, daß wir mit zwei Augen einfach sehen ? Diese Frage erledigt sich nach Hering dadurch, daß immer je zwei Netzhaut- punkten nur ein bestimmter Punkt im Sehraum entspricht, nämlich der Punkt des Außenraumes, der auf den beiden Netzhautpunkten abgebildet wird. Nennt man diese Stellen beider Netzhäute korrespondierende Stellen oder Deck- stellen, so ist jedes Paar solcher Deckstellen dadurch charakterisiert, daß beiden in einem ge- 274 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. i8 gebenen Sehfelde ein und derselbe Ort entspricht, an welchem die von ihnen ausgelöste Empfindung erscheint und zwar gleichviel, ob diese Empfindung von beiden Stellen zugleich, oder nur von einer ausgelöst wurde. Daher kann die eine Stelle durch die andere vertreten werden, ohne daß dadurch am scheinbaren Orte der zugehörigen Empfindung im Sehfelde etwas geändert wird, oder anders aus- gedrückt, die Höhen- und Breitengefühle sind für korrespondierende Netzhautpunkte gleich. Da die Stellen des direkten Sehens, die stets miteinander korrespondieren, nicht mit den geometrischen Netzhautzentren zusammenfallen, vielmehr die Netz- haut sich von jenen physiologischen Netzhaut- zentren weiter nach der Nasenseite erstreckt als nach der Schläfenseite, so wird nur der mittlere Teil des Sehfeldes auf korrespondierenden Stellen beider Netzhäute abgebildet, die nach rechts und links anstoßenden Teile dagegen bilden sich nur je in einem Auge ab. Nur in bezug auf den mittleren Teil des Sehfeldes kann daher bei Parallelstellung der Augen eins das andere ver- treten, die monokulare Gesichtswahrnehmung die- selbe sein wie die binokulare. Die anatomische Lage der Deckpunkte ist dadurch bestimmt, daß sie auf beiden Netzhäuten gleiche Breite und Höhe haben, wo unter Breite die Abweichung vom scheinbar vertikalen Meri- dian, unter Höhe die Abweichung vom Netzhaut- horizont verstanden ist. Die Korrespondenz der Netzhäute beruht auf anatomischer Grundlage, wie die partielle Kreuzung der Sehnerven im Chiasma und das oft mit Sicherheit beobachtete Vorkommen korrespondierender partieller Läh- mungen der Netzhaut beweist. Wenn auf korrespondierende Teile der Netz- häute verschieden gestaltete Bilder fallen, so ge- raten dieselben miteinander in einen Wettstreit der Farben und Konturen, wobei die Konturen einem gleichmäßig gefärbten Grunde überlegen sind. Netzhautpunkte, welche nicht miteinander korrespondieren, heißen disparat. Punkte, welche auf korrespondierenden Längsschnitten, dagegen auf disparaten Querschnitten liegen, heißen längsdisparat; Punkte, welche auf korrespondierenden Querschnitten, aber auf dis- paraten Längsschnitten liegen, heißen ^Nt . --, j^l- -t-r-T-f -f- ~^~-r-i- / ■ ' 4 5, '■ r-t--H-t - ^^ + 1,0,1111(1 T . ]^'i-nt€i:schlu^ ... j/, ■ Ä SXOlXi -I -m/ r (^ \ S" r# \r -4- ' ^-1 t .+...., J-tlTi 1 'Aom / ■ \ 1 ,!* / Ulli •> hihW.' 1 1 Fig. I. Gewichtsveränderung eines Bienenvolkes innerhalb 9 Monaten. ^•2 kg). Man sieht also daraus, die Zeit der Ernte beträgt für die Bienen etwa i' ., Monate. Während das Volk im August so stark flog wie im Juni und Juli, so war der Ertrag gegenüber der vor- angehenden Zeit gleich Null. Ja das Volk ver- zehrte sogar mehr als es sammelte und wurde darum leichter. Ähnlich den Jahreskurven gestalten sich die Tageskurven. Fig. 2 zeigt uns die Gewichtsbewegung am 27. und 28. Juni 1907. Diese beiden Tage waren für die Tracht besonders günstig, es wurden an jedem dieser Tage 2,00 kg Honig ge- sammelt. Gemessen wurde stündlich von 6 resp. 5 Uhr morgens bis 7 resp. 8 Uhr abends. Die Kurven sind zunächst absteigend. Das hat seinen Grund in dem Ausflug der Bienen. Am 27. Juni früh nach 6 Uhr flogen die Bienen dermaßen aus, daß schon um 7 Uhr der Stock um 0,500 kg leichter war. Nach 7 Uhr kommen die ersten Bienen schon zurück, die Kurve steigt, anfangs nur 0,100 kg in i Std., später 0,400 kg in i Std. Um 9 Uhr hatte die Wage den Nullpunkt des Tages, den man durch Tarieren vor dem Ausflug erhält, erreicht. Es deckte sich also das Gewicht der ausgeflogenen Bienen mit dem des neu ein- gesammelten Honigs beinahe. Abends 7 Uhr wurde der Höhepunkt des betreffenden Tages erreicht, 2,000 kg über Null. Um 5 Uhr springt die Kurve etwas zu zeitig nach oben, weil ein aufsteigendes Gewitter die Bienen in den Stock drängte. Nach 5 Uhr flogen die Bienen wieder aus, und die Kurve fällt, um bis 7 Uhr durch wieder heimkehrende Bienen nochmals zu steigen. Die absteigende Linie von abends 7 Uhr bis früh 5 Uhr des folgenden Tages zeigt uns die Ver- N. F. VIII. Nr. 19 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 301 dunstung des neu eingesammelten Honigs. Sie betrug für diesen Tag 0,500 kg, für den folgenden 0,600 kg. Nachdem am 28. früh 5 Uhr der Ge- wichtsverlust der Nacht festgestellt worden war, wurde die Wage von neuem tariert, um für diesen Tag den Nullpunkt zu erhalten. Es lag dieser, wie aus Fig. 2 ersichtlich ist, 1,500 kg höher. Mithin hat das \'olk am 27. Juni 1,500 kg Honig eingetragen (der eingesammelte Pollen zur Fütte- rung der Jungen ist so klein, daß er gar nicht ins Gewicht fällt). Selbstverständlich ist die Ver- dunstung des Honigs nicht an einem Tage be- endet. Es verdunstet auch in den späteren Tagen noch ein gewisser Teil, welcher aber zu dem ersten Verdunstungsverlust verschwindend klein ist. Zt-Juni. 2^ Juni. (ieu'Otftn wurde sltindluh von nionfenAöOhf k.i aie/uis Tlltr. Ofwoi]fn uiitdc sUi h im fUhr 1 •■ = - f , / / L - "TiTT';^^ =r- T / ~ "rT*T/n^ T^ / ' ! /^ ' M / - - ■n / "H>^^ — - \ / ' Jr- ^ ~ T^rvr^ ■y ' 1 1 ■ 1 1 r \ \\\ I ■ ! y ■ ; ; I i . \ / 'MI; \ 11 ,- ■ ' J :. 1 1 UMM) 6Ti In. ZI tSiSt <^ffm j5_ ' U l U ^ „ iL ji_ "1 h _ Olli Fig. 2. Gewichtsveränderung eines Bienenvolkes während zweier Tage. Bemerkt sei, daß die Bienen oft bei schönstem Wetter und starkem Fluge wenig eintragen, während sie zuweilen bei weniger starkem P'luge und teilweise bedecktem Himmel den Honig förmlich kiloweise schleppen (die größte Honig- menge, welche an einem Tage eingetragen wurde, betrug bei einem anderen Wagevolk desselben Standes 3,500 kg). Man begründet diese Er- scheinung mit dem wechselnden Feuchtigkeits- gehalt der Luft, daß also die Blumen bei hohem VVassergehalt der Luft mehr honigen als sonst oder umgekehrt. Um diesen Zusammenhang von Luftfeuchtigkeit und Honigen der Blumen genauer untersuchen zu können, erhalten, wie schon er- wähnt, in diesem Jahre die Wagestationen noch Hygrometer und Barometer. Ich wäre nun mit meinen Ausführungen am Ende und hoffe, daß sie in weiteren Kreisen Interesse für die Wagestation erwecken möchten, und daß die Ergebnisse aus den Beobachtungen unserer heimischen Bienenzucht und der Wissen- schaft dienstbar gemacht werden könnten. Er- wähnen möchte ich noch, daß mir bei obiger Arbeit die Listen der Wagestation meines Vaters in Wangten zugrunde lagen. Er besitzt auf seinem Bienenstande drei Wagevölker und zwar einen für den Provinzialverein und zwei für private Beob- achtungen. Der erste Wagestock ist der sog. ,, Thüringer". Der Plug steht nach S und be- herbergt die reine deutsche Rasse. Er ist, und das hat das tägliche zweijährige Wiegen fest- gestellt, der ertragreichste, während der zweite „Thüringer", nach N gerichtet und mit der Krainer Rasse besetzt, der schlechteste ist. Das Mittel hält der dritte Wagestock mit deutscher Rasse in einer nach W gerichteten Berlepsch-Beute. Für Ratschläge und Hinweisungen auf neue Gesichtspunkte, die Wagestation betreffend, wäre Verf dankbar. Lehrer C. Nordheim, Adelsdorf. Über Saisondimorphismus und Amphichro- nismus. — Saisondimorphismus habe ich zuerst als Schmetterlingssammler kennen gelernt. Das bekannteste Beispiel für diese Erscheinung ist, daß die Kinder der im F"rühlinge fliegenden Vanessa levana im Sommer als V. prorsa er- scheinen, deren Kinder im nächsten Frühlinge wieder als levana usw. Derartige Vorgänge scheinen im Pflanzenreiche sehr selten zu sein, ich kenne nur einen, und auch den nur unvollkommen. Im Frühjahr 1878 säte mein Vater frischen Samen von Montia minor in seinen Garten zu Rostock; die Pflanzen liefen bald auf, kamen anfang September zur Blüte und trugen Samen. Eine weitere Aussaat unterblieb, weil der Versuch nur gemacht war, um Keim- pflanzen für eine Sammlung zu erzielen. Diese Hochsommerpflanzen von Montia minor sehen erheblich anders aus als die, welche man im Frühjahr im freien Lande findet. Ascherson (Fl. nordostd. Flachl.) hat dieselbe Hochsommerform bei Neuhaldensleben wild beobachtet und als „aestivalis" beschrieben. Ich habe später vergeb- lich versucht, diese Form wiederzugewinnen, in den Vogesen gesammelter Same keimte nicht im Sommer, und am natürlichen Standorte fand sich um diese Zeit auch keine Pflanze. Man liest in den neueren Lehrbüchern der Pflanzenkunde im Kapitel Biologie zwar viel von Saisondimorphismus, aber damit ist etwas ganz anderes gemeint. R. v. Wettstein hat wahrge- nommen, daß die meisten Arten des Augentrostes (Euphrasia) und auch Vertreter anderer Gattungen in je zwei Formen vorkommen, einer frühblühen- den und einer spätblühenden. Aus den Samen der frühblühenden Individuen gehen wiederum frühblühende, aus denen der spätblühenden wieder- um spätblühende hervor. An sich ist diese Er- scheinung nicht auffallend. Jeder Forscher weiß, daß gelegentlich einmal eine Anemone (nemorosa) im September oder Oktober zur Blüte kommt, daß man hin und wieder im März oder April eine blühende Herbstzeitlose findet. In jeder größeren Allee kann man unter vielen Bäumen gleicher Art einzelne finden, die alljährlich besonders früh oder besonders spät ausschlagen oder blühen; einzelne Kastanienbäume (Aesculus) blühen alljährlich zweimal. Ferner weiß man, daß in Saaten eigent- lich zweijähriger Pflanzen (z. B. der Zuckerrübe) fast immer einzelne Individuen im ersten Jahre 302 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 19 zur Blüte kommen. Es gibt auch ausdauernde und einjährige Formen von ein und derselben Art (Roggen, Zuckerrübe). Am bekanntesten ist, daß unsere Getreidearten von alters her in zwei Formen existierten, die man Sommer- und Winter- korn nennt. Lange Zeit zog man als Winter- weizen nur eine grannenlose Rasse (Triticum hybernumLinne), als Sommerweizen eine begrannte (T. aestivum Linne). Es unterliegt heute gar keinem Zweifel, daß es einem Gärtner möglich wäre, spätblühende Anemonen, frühblühende Herbstzeitlosen, kurz alle dergleichen Formen, die man draußen einzeln findet, zu samenbeständigen Rassen auszubilden. Warum soll eine derartige Rassenzüchtung in der Natur nicht vorkommen? Wettstein gibt für den sog. Saisondimorphismus des Augentrostes eine sehr ansprechende Erklä- rung. Die Pflanzen wachsen auf Wiesen, die ge- mäht werden. Im Kampfe ums Dasein sind die- jenigen Individuen im Nachteil, denen die Blüten oder unreifen Früchte abgehauen werden, im Vor- teile sind dagegen einerseits solche, welche zur Zeit des Heuhiebs bereits ihren Samen gereift haben und andererseits solche, welche erst nach dem Heuhieb blühen. Die menschliche Wirt- schaft hat aus der ursprünglich in der Blütezeit veränderlichen Art zwei beständige Rassen un- willkürlich gezüchtet. Das wäre ein prächtiger Fall zur Unterstützung der Deszendenzlehre, wenn er nur richtig wäre. Ich sammle seit 1877 plan- mäßig deutsche Phanerogamen, achte seit zehn Jahren besonders auf Wettstein'schen Saisondimor- phismus, nicht um ihn zu bestreiten, sondern um ihn zu bestätigen, aber das Ergebnis meiner For- schung ist ein anderes. Zunächst gilt es für den Westen und Norden Deutschlands als Regel, daß Euphrasia auf Wiesen in der Blüte gemäht wird. Die Pflanzen verzweigen sich dann meist aus den unteren Blattwinkeln, blühen wieder und bringen vor der Ohmternte auch Samen zur Reife. Nur einmal habe ich in einem Juratale beobachtet, daß die Augentrostpflanzen der Wiese im üppigen dichten Grase völlig verkümmert waren, sie wären unfraglich eingegangen, wenn nicht die Sense sie erlöst hätte. Nach der Mäht entwickelten sie sich alsbald kräftiger. Viele Euphrasien wachsen auf nie gemähten Triften, wo das Vieh sie nicht frißt, so daß sie ungestört blühen und fruchten können. Die Blütezeit der Euphrasien fällt allgemein in die Zeit von Ende Juni bis September. Ganz vereinzelt habe ich in den Mittelgebirgen und der Ebene früherblühende Individuen gefunden, aber auch die nicht vor Anfang Juni. Die Standorte solcher Frühblüher waren derart, daß neben dem einzelnen Exemplar noch viele andere Platz ge- habt hätten. Warum waren sie nicht da? Viel- leicht fliegen die bestäubenden Insekten noch nicht, so daß die Frühblüher keine Früchte bringen ; meine Beobachtungen sind zu vereinzelt, um hier- über zu entscheiden. Es könnte auch sein, daß früh gereifte Samen zu einer für die Keimpflanze verderblichen Zeit keimen. Auf Heuwiesen habe ich solche Frühblüher nie gesehen, dort wären sie ganz im Nachteil, weil die Sense die unreifen Früchte abschneiden würde. Während so in der Ebene und im Mittel- gebirge von einer Anpassung des Augentrostes an die Landwirtschaft gar keine Rede sein kann, der sog. Saisondimorphismus nicht existiert, und alle Formen Sommerblüher sind, gibt es in den Alpentälern Formen der in Rede stehenden Gattung, die schon im April zur Blüte kommen. Nun ist es sehr wohl möglich, daß in bestimmten Gegenden die Heuernte so fällt, daß diese Frühlingsformen des Augentrostes schon reife Samen haben, während die Somnierformen kaum in die Blütezeit eingetreten sind. Dadurch können die spätblühenden Exemplare der Frühlingsformen und die frühblühenden der Sommerformen stark geschädigt, und kann infolgedessen die Kreuzung beider Formen verhindert werden. Aber die beiden F'ormenreihen müssen sich unabhängig von der Wiesenwirtschaft gebildet haben. Die Sommer- formen existieren in dem ganzen weiten West- und Norddeutschland allein, und zwar auch in den Landschaften, in welchen die Sense ihnen alljährlich durch die Blütenstände fährt. Die Frühlingsformen kommen dort nirgends vor, denn die einzelnen Exemplare, welche im Junianfang gefunden werden, lassen sich nicht neben die Aprilblüher der Alpen stellen, und nie kann der Heuhieb aus ihnen Frühlingsrassen züchten. Meine Meinung geht dahin, daß die frühblühenden Euphrasien der Alpentäler nichts anderes sind, als talwärts verschlagene Individuen hochalpiner Sippen, Sippen, die dort oben im Sommer blühen. Die Tatsache ist ja allbekannt, daß hohen Lagen angepaßte Pflanzen in der Tiefe im Frühlinge blühen, ich erinnere an das Verhalten der Alpen- pflanzen in unseren Gärten, an Saxifraga opposi- tifolia, die am Bodenseeufer im März zur Blüte kommt u. dgl. Wie kommt Euphrasia dazu, alpine Rassen zu bilden? Ich erwähnte, daß in den Mittelgebirgen einzelne Individuen Anfang Juni blühen. Kommt nun an einem hohen Berge ein Same, in dem ein solcher Juniblüher steckt, über den gewöhn- lichen Standort seiner Sippe hinauf, so ist er im Vorteil. Die aus ihm hervorgehende Pflanze kann in dieser kälteren Lage wenigstens im Juli oder August zur Blüte kommen. Individuen aber, die unten erst im August blühbar geworden wären, müssen dort oben verkümmern. So kann sich durch Auslese allmählich eine Hochgebirgsrasse bilden, und wenn deren Samen wieder ins Tal gelangen, bringen sie Frühlingsblumen hervor. Erscheinen solche PVühlingsblumen in Gegenden, in welchen eine Talrasse derselben Art im Sommer blüht, so tritt die Erscheinung ein, welche Wett- stein Saisondimorphismus nennt. Man sollte diesen Ausdruck in diesem Sinne nicht gebrauchen, da er nun einmal von den Zoologen längst in einem anderen festgelegt und in eben diesem N. F. VIII. Nr. 19 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 303 Sinne auch im Pflanzenreiche anwendbar ist. IVIan könnte beim Augentrost von Zweizeitigkeit oder Amphichronismus sprechen. Eine Märzblüte der Herbstzeitlose als Einzelerscheinung könnte Un- zeitigkeit, Anachronismus oder Heterochronismus heißen — am treffendsten wäre die Bezeichnung als Epilepsie, aber dieses Wort ist von der Medizin in anderer Weise festgelegt. Ernst H. L. Krause. Aus dem wissenschaftlichen Leben. Der Verein für Vogelschutz in Bayern, E. V., Sitz München, der unter dem Protektorat der Frau Prinzessin Ludwig von Bayern steht, hat ein ,,Büro für Vogelschutz" er- richtet, das als ,, Zentralstelle für alle Fragen des Vogel- schutzes" ausgestaltet werden wird. Das Büro erteilt kosten- los Auskunft über alle Fragen dieses Gebietes, als da sind Winterfülterung , Schaffung von Nistgelegenheit für Höhlen- brüter, richtiges Anbringen von Nisthöhlen, Anlagen von Vogelschutzgchölzen, Schneiden und Binden der Sträucher und Bäume für P'reibrüter. Der Verein hat eine eigene Nisthöhlen- fabrik gegründet, eine ,, Zentralfabrik für Vogelschutzgeräte", die unter seiner strengen Kontrolle wissenschaftlich erprobte billige Höhlen ab Herbst dieses Jahres liefert. Vereinsnüt- glieder erhalten noch besonderen Rabatt. Um aber die Auf- klärung in Fragen des Vogelschutzes an den richtigen Stellen zu betreiben, bittet der Verein einerseits die Jugend um Bei- tritt in seine neu gegründete Jugendsektion , andererseits die Behörden, Magistrate, Forstämter, Obstbauvereine, Schulen, Schulbehörden usw. um Beitritt zum Verein. Der Mitglieds- beitrag beträgt pro Person mindestens I Mk., jedes Mehr ist der guten Sache wegen willkommen. Der einmalige Beitrag auf Lebenszeit beträgt mindestens 30 Mk. Der Beitrag zur Jugendseklion 30 Pfg. Behörden und Vereine wollen sich wegen der Höhe des Beitrags direkt an den Verein wenden. Verwandte Vereine können sich anschließen, so z. B. haben schon viele Tierschutz-, Vogelzucht-, Obstbau- und Lehrer- vereine Ortsausschüsse gebildet, und zahlreiche Ortsgruppen sind im Entstehen begriffen. Der Verein ernennt allenthalben Ortsvertreter. Alles Nähere durch das Büro für Vogelschutz, München, Kaufingerstraße 23/II. Bücherbesprechungen. Dr. Wilhelm Bersch , k. k. Inspektor, Leiter der Moorwirtschaft Admont der k. k. landwirtschaftlich- chemischen Versuchsstation, Dozent für Rloorkultur und Torfvervvertung an der k. k. Hochschule fiir Bodenkultur in Wien, Handbuch der Moor- kultur. Fiir Landwirte , Kulturtechniker und Studierende. Mit 8 Tafeln und 41 Abbildungen. Verlag von Wilhelm Frick, Wien und Leipzig. 1909. — Preis geb. 12 K ^ 10 Mk. Seit dem Jahre 1892 ist keine zusammenfassende Darstellung des Gesamtgebietes der Moorkultur er- schienen , obwohl seither geradezu eine wesentliche Veränderung der Anschauungen und Verfahren zu verzeichnen ist. Der Verf. hat es unternommen, diese Lücke auszufüllen ; sein Buch unterrichtet in klarer, leichtfaßlicher Darstellung über den gegen- wärtigen Stand der Moorkultur, wobei ebensosehr die Theorie wie die rein praktische Seite erörtert wird. Das 288 Seiten umfassende Werk zerfällt in folgende Abschnitte: Entstehung und .4ufbau der Moore, die Moore im Urzustände, Chemie und Physik des Moorbodens, die Kultivierung der Moore mit den Kapiteln : Technische Vorarbeiten , Entwässerung, Bodenbearbeitung, Düngung , Verfahren der Moor- kultur (Fehnkultur, Brandkultur, Deutsche Hochmoor- kultur, Mischkultur, Kultivierung unbedeckter Dämme, Rimpau'sche Dammkultur), Ackerbau auf Moorboden, Forstnutzung der Moore, Wiesen und Weiden auf Moorboden , Bekämpfung des Unkrautes, Bauten auf Moorboden, Kosten und Rentabilität der Moorkultur. Prof. Dr. Felix Wahnschaffe, Die Oberflächen- gestaltung des norddeutschen Flach- landes, auf geologischer Grundlage dargestellt. Mit 24 Beilagen und 39 Text- bildern. Dritte, neu bearbeitete und vermehrte Auflage. Zugleich dritte Auflage von „Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde". Bd. VI, Heft I. Stuttgart, Verlag von J. Engelhorn, 1909. — Preis 10 Mk. Die erste Auflage des vorliegenden Buches er- schien 1891 und umfaßte nur 166 Seiten. Schon die zweite Auflage war wesentlich umfangreicher und die vorliegende dritte bietet nicht weniger als 405 Seiten. Der Standpunkt , möglichst vollständig zu sein, jedenfalls alles Wesentlichere in genügender Ausführung zu bringen, muß dankbar hervorgehoben werden. An dem Umfang, den das Buch genommen hat , ist schon rein äußerlich die weitgehende Um- gestaltung des Textes wahrzunehmen. „Die ein- gehenden geologischen Untersuchungen und Auf- nahmen — sagt Verf. im Vorwort — die in den letzten Jahren im unteren Saalegebiete , in Süd- Hannover und am Niederrhein ausgeführt worden sind, veranlaßten ein besonderes Kapitel über die Präglazial- , Interglazial- und Glazialbildungen im Randgebiete des norddeutschen Flachlandes." Anderes ist wesentlich vollständiger als bisher berücksichtigt worden. Bei der großen Ausdehnung, welche das Diluvium bei uns hat, ist das Interesse, etwas Näheres darüber zu wissen , naturgemäß besonders allgemein, nicht nur bei Geologen , sondern auch bei den Ge- lehrten anderer Disziplinen, sowie auch bei Praktikern, denen die Kenntnis unseres Bodens wichtig sein muß, wie bei den Forstleuten usw. Es ist zu begrüßen, daß das Buch verhältnismäßig billiger geworden ist, als es früher war (die erste Auflage kostete trotz des damaligen geringen Umfanges 7,50 Mk.) und so ist zu hoffen, daß es auch in den nichtgeologischen Kreisen die verdiente Verbreitung findet. Daß es dem Geographen eine wichtige Quelle ist , braucht nicht erst besonders hervorgehoben zu werden. — Zwei bunte Karten, die beigegeben sind, betreffen ein Seengebiet Ostpreußens mit Höhenkurven und Tiefenlinien und besonders eine Karte der Haupt- moränenzüge, Urstromtäler und Fundorte der Glazial- schrammen. 1 ) Dr. K. Norden , Elektrolytische Zähler. 166 Seiten mit 150 Abbild. Halle, W. Knapp, 1908. — Preis 9 Mk. 2) Dr. A. Schwaiger, Das Regulierproblem 304 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 19 in der Elektrotechnik. 102 Seiten mit 28 Abbild. Leipzig, B. G. Teubner, 1Q09. — Preis 2,80 Mk. 1) Die bei der Elektrolyse geleistete, chemische Arbeit gibt bekanntlich das beste Mittel, eine Strom- stärke scharf zu messen, bzw. die Einheit der Strom- stärke für die Praxis genau zu definieren. Der Ge- danke, elektrolytische Prozesse auch den in der Elektro- technik zu benutzenden Elektrizitätszählern zugrunde zu legen, ist daher schon von vielen Seiten verfolgt worden , wie die zahlreichen einschlägigen Patente beweisen. Das vorliegende Buch gibt eine treffliche Zusammenstellung der verschiedenen Konstruktionen elektrolytischer Zähler. Nach einleitenden Kapiteln über aligemeine Anforderungen , welche ein Elektri- zitätszähler zu erfüllen hat, werden die elektrochemi- schen Bedingungen erörtert und dann im zweiten Hauptteil des Buches die verschiedenen Vokameter durchgesprochen. Der dritte Teil beschäftigt sich nun mit den verschiedenen Versuchen , aus dem Laboratoriumsvoltameter einen für die Technik brauch- baren Zähler zu gestalten. Zahheiche Abbildungen führen die verschiedenen Konstruktionstypen vor. Das Endergebnis dieser Revue ist allerdings kein sehr ermunterndes , da das elektrolytische System nur für ein begrenztes Gebiet und unter bestimmten Bedingungen als brauchbar erkannt wird. Natur- gemäß können elektrolytisch nur die Amperestunden gezählt werden, nicht, wie bei Motorzählern, auch Wattstunden. Doch gibt man in der letzten Zeit wegen des geringeren Eigenverbrauchs vielfach wieder den Amperestundenzählern vor den Wattzählern den Vorzug. Das gründliche Buch wird auch in nicht- technischen Kreisen in vieler Beziehung großem Interesse begegnen. 2) Das Schwaiger'sche Buch behandelt diejenigen elektrischen Regulatoren , die durch die elektrisch beeinflußten Bewegungen mechanischer Einrichtungen (Relais") wirken. Diese mechanischen Regulatoren elektrischer Maschinen können nun entweder von der zu regulierenden Größe, z. B. der Spannung , betätigt werden und als direkt oder indirekt wirkende aus- gebildet sein , oder aber sie werden von einer von der zu regulierenden unabhängigen Größe, z. B. dem Belastungsstrom, beeinflußt. Besonders die erstere Klasse der mechanischen Spannungsregulatoren wird im vorliegenden Buche theoretisch durchgearbeitet. Auf Grund analytischer und graphischer Untersuchun- gen werden die Bedingungen untersucht, unter denen der Regulator den praktischen Anforderungen genügt. Eine besonders ausführhche Behandlung erfährt der Tirrill'sche Schnellregulator, an dem ebenso wie an den anderen Systemen die aufgestellten Theorien mit Hilfe eines Oszillographen geprüft wurden. Kbr. Literatur. Berg, Dr. Alfr. : Kinführung in die Beschäftigung ni. d. Geo- logie. Ein Wegweiser f. Freunde der geolog. Wissenschaft u. der Heimatskunde. (VII, 19g S. m. 3 .\bbildgn.) 8". Jena '09, G. Fischer. — 1,80 Mk., geb. 2,40 Mk. Brauer, Prof. Dr. Aug. ; Die Ticfseefische. II. Anatomischer Teil. Mit 26 Taf. u. II Fig. im Text. (266 S. u. 26 Bl. Erklärgn.i Jena '08, G. Fischer. — Subskr.-Pr. 59 Mk., Einzelpr. 70 Mk. Dahl, F'rdr. : Die Lycosiden oder Wolfspinnen Deutschlands u. ihre Stellung im Haushalte der Natur. Nach statistischen Untersuchgn. dargestellt. Mit i Karte. (504 S.) Leipzig '08, W. Engelmann. — Kart. 33 Mk. Eichhorn, Konservat. Dr. Gust. : Die paläolilhischen Funde V. Taubach in den Museen zu Jena u. Weimar. Festschrift zum 350Jähr. Jubiläum der Universität Jena. (VII, 84 S. m. 301 Abbildgn. u. 39 Taf.) gr. 8". Jena '09, G. Fischer. - Kart. 18 Mk. Gaebler, Oberbergamtsmarksch. a. D. C: Das oberschlesische Steinkohlenbecken. Mit 4 Taf. , 3 Textfig. u. 2 Anlagen. (VI, 300 S.) Lex. 8». KaUowitz 09, Gebr. Böhm. — 15 Mk., geb. 20 Mk. Linck, Prof. Dr. G.: Tabellen f. Gesteinskunde, f. Geologen, Mineralogen, Bergleute, Chemiker, Landwirte u. Techniker zusammengestellt. 3. verb. Aufl. (12 Tab., 4 Taf., I Bl, Erklärungen und IV, I S. Text.) Lex. 8°. Jena 09, G. Fisclier. — 2 Mk. Mache, H., u. E. v. Schweidler, Proff. ; Die atmosphärische Elektrizität. Methoden u. Ergebnisse der modernen luft- elektr. Forschg. Mit 20 eingedr. Abbildgn. (XI, 247 S.) Braunschweig '09, F. Vieweg ^.^ Sohn. — 6 .Mk., geb. in Leinw. 6,80 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn H. in Skien. — \\'ir nehmen an, daß Sie unter Entwicklungslehre speziell die Abstammungslehre meinen. Objektiv, sehr kurz gehalten und billig sind I. Hesse, ,, Ab- stammungslehre und Darwinismus". B. G. Teubner in Leip- zig, Preis I Mk. — 2. Potonie, „Abstammungslehre und Darwinismus". Berlin, Ferdinand Dümmler's Verlag, Preis So Pfg. Herrn H. Dr. in Halle. — In den beiden von Ihnen angegebenen Fällen wäre die Salpeterbildung auf die Tätig- keit der Salpeterbaktericn zurückzuführen. Das Rohmaterial braucht nur stark stickstoffhaltig zu sein. Sie linden Angaben über die Salpeterbildung z. B. in Roth's Allgem. u. Chem. Geologie Bd. I, S. 603. Neuere Arbeiten finden Sie referiert im Neuen Jahrbuch f. Mineral., ferner in Keilhack's Geologi- schem Zentralblatt. Die beste mir bekannte Übersicht gibt Clarke in ,,The Data of Geoctemistry" Bull. U. S. Geol. Survey Nr. 330, S. 205 — 211. Ein zusammenfassendes Buch darüber ist mir nicht bekannt. Str. Herrn Bö. in Leipzig. — Der Salzige See ist auf den Blättern Teutschenthal und Schraplau der Geologischen Spezial- karte des Königreichs Preußen, ig. Lfg. , dargestellt. Abge- lassen wurde er, da seine unterirdischen Abflüsse den dortigen Kupfererzbergbau schädigten. Eine Übersicht über die geo- logischen Veränderungen der dortigen Gegend gibt die ,, Heimatkunde des Saalkreises, einschließlich des Stadtkreises Halle, und des Mansfelder Seekreises", herausgegeben von Prof. Dr. W. Ule. Darin hat E. Wüst ,,die erdgeschichtliche Entwicklung und den geologischen Bau des östlichen Harz- vorlandes" behandelt. Str. Inhalt: Dr. phil. P. Ites: Über den psychologischen Ursprung der Kaumvorstellung. (Schluß.) — Sammelreferate und Übersichten: Dr. Carl: Neues aus der Veterinärmedizin. — Kleinere Mitteilungen: Prof. Dr. K. Weule: Zur Kenntnis der ostafrikanischen Negervölker. — C. Nordheim: Beobachtungen am Bienenstande. — Ernst H. L. Krause: Über Saisondimorphismus und .Amphichronismus. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücher- besprechungen: Dr. Wilhelm Bersch: Handbuch der Moorkultur. — Prof. Dr. Felix Wahnschaffe: Die Dberflächengestaltung des norddeutschen FTachlandes, auf geologischer Grundlage dargestellt. — l) Dr. K. Norden: Elektrolytische Zähler. 2) Dr. A. Schwaiger; Das Regulierproblem in der Elektrotechnik. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofi-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge VUl. Uaiul ; der gan/en Keihe XXIV, Band. Sonntag, den i6. Mai 190g. Nummer 20. Selbsttätigkeit und Ichliebe. Vou Dr. [Nachdruck verboten.] Innerhalb der experimentellen Psychologie hat In den letzten Jahren der von W. Stern einge- führte „Bildversuch" eine besondere Bedeutung gewonnen ; denn während die meisten psycho- logischen Versuche den elementaren F'unktionen des Seelenlebens gelten und an der Grenze des Psychologischen und Physiologischen haften, kommt der Bildversuch dem Leben näher und lüftet das Geheimnis ver- wickelterer und höherer Seelentätig- keiten, die ehedem dem Experiment völlig unzugänglich erschienen. Das Verfahren des Bildversuches besteht darin, daß der Versuchsperson eine bestimmte Zeit, sagen wir, eine Minute lang ein Bild gezeigt wird, wo- bei ihr zugleich bewußt sein muß, daß sie es später aus der Erinnerung werde zu beschreiben haben. Dieser nach- trägliche „Bericht", der nach Tagen, Wochen, ja Monaten verfaßt werden kann , wird von der Versuchsperson niedergeschrieben oder nach ihrer mündlichen Erzählung stenographiert. In der Zwischenzeit darf sie mit Nie- mandem über das Bild reden, um sug- gestive Einflüsse und Verschiebungen des Erinnerungsbildes zu vermeiden. Bei den so gewonnenen Berichten können Aussagen, Fehler und manche andere Momente gezählt werden , und es haben sich dabei statistische Fest- stellungen über Umfang, Treue usw. der Erinnerung ergeben, die für den Juristen bereits ein erhebliches Interesse gewonnen haben. Psychologische Vorlesungen , die ich seit einigen Jahren an der Hum- boldt-Akademie und im Lyceum des Westens halte, habe ich benutzt, um eine Reihe solcher Bildversuche zu veranstalten. Ich verwendete dabei eine satirische Zeichnung Jültner's aus den Lustigen Blättern, die sich auf den Böcklin-Mutherprozeß bezog. Sie stellte eine Bilderfabrik dar, in der mehrere Per- Jüitaer sonen, unterBeteiligung von Köchin, Lakai und .'\ufwartefrau, das „Schweigen im Walde" vielfältig kopierten ; vor verschiedenen Staffe- leien stand da ein junger Maler mit runder, roter Mütze, ein vergnittertaussehender, penibel pinselnder Bedienter in Hemdärmeln, eine ordinäre, dicke, ältere Frau und hinter ihr ein kleines rundliches Dienstmädchen in blauem, weißgepunktetem Kleid, Richard Baerwald. und alle hatten sie Palette und Pinsel in der Hand. Im Vordergrunde saß in einem Lehnstuhl der alte Meister Böcklin, in sich zusammen- gesunken und geistesabwesend vor sich hin- dämmernd, den Stift in der Hand, um alle Bilder mit seinem Namen zu unterzeichnen, die man ihm vorlegen würde. Zu seiner Linken saß auf einer Böcklin's Atelier". Aus den „Lustigen Blättern" Jahrg. 1902, Nr. 50. (Verkleinerte Wiedergabe eines farbigen Bildes.) niederen Truhe ein kahlköpfiger italienischer Kunst- händler, mehrere Geldrollen neben sich und ein Päckchen Tausendlirescheine in der Hand, um sofort alle auf so einfache Weise ,,echt" ge- wordenen Bilder anzukaufen. Man sieht, der Inhalt des Bildes war verwickelt und für jeman- 3o6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 20 den, dem der Schlüssel fehlte, schwer verständlich; Konjekturen, mehr oder minder gelungene Deu- tungsversuche konnten in den aus der Erinnerung niedergeschriebenen Berichten nicht ausbleiben. Dabei ergaben sich nun psychische Zusammen- hänge, die ich an anderer Stelle ausführlich ge- schildert habe -") und deren einen ich hier einem weiteren Leserkreise zugänglich machen möchte. Der Trieb nach Deutung, Erklärung, logischem Zusammenhang veranlaßt bei den das Bild betrachtenden Versuchspersonen Fehler, Verschiebungen der Beobachtung und Erinnerung. Dabei ist die Person, die sie begeht, sich meist durchaus nicht bewußt, daß sie auslegen und er- klären will, das logische Bedürfnis arbeitet völlig unbewußt und unwillkürlich in ihr. Die erwähnten ,, Deutungsfehler" haben die Wirkung, daß sie eine Beziehung herstellen zwischen Teilen des Bildes, die an sich unverbunden sind. Hier einige Beispiele aus unseren Versuchen. Eine Versuchsperson glaubt, der Mann mit den Tausendlirescheinen (der Kunsthändler) sei im Begriffe, sie dem Alten (Böcklin) zu überreichen — eine Auslegung, zu der die Haltung der beiden Bildfiguren keinen Anlaß gibt. Der den Bericht schreibende Herr ist Kaufmann, und so deutet er sich den Alten als Chef und den das Geld Über- reichenden als Schatzmeister. Jetzt verfälscht diese Auslegung zuerst die Beobachtung. Die Truhe (die tatsächlich geschlossen ist und auf der der Kunsthändler sitzt) soll offen stehen, da der Kassierer soeben das Geld aus ihr entnommen habe. Weiterhin verschiebt die Deutung aber auch die Erinnerung; der Schatzmeister soll vor dem Alten stehen, denn auf der offenen Truhe könnte er ja nicht sitzen, und wenn er mit dem Chef abrechnet, verlangt es wohl der Respekt, daß er steht. — In einem anderen Berichte wird das Dienstmädchen mit dem blauen Kleid für ein Kind gehalten. An diesem Ausgangspunkt setzt nun der Deutungstrieb ein und verfälscht wiederum sowohl Wahrnehmung wie Erinnerung. Pinsel und Palette, die das Mädchen in der Hand hat, werden als Spielzeug ausgelegt, und sie soll der alten dicken Frau, die tatsächlich ganz von ihr getrennt steht, auf dem Schöße sitzen. — Man sieht, der Irrtum ist hier kein planlos arbeitender Zerstörer, sondern ist im Gegenteil eifrig beschäftigt, sinnvolle Zusammenhänge zu stiften, die geeignet sind, dem menschlichen Er- klärungs- und Systemtriebe Genüge zu tun. Eine besondere Verkettung erregte bei der Durchsicht der Berichte meine Aufmerksamkeit: Solche Personen, die von sich selbst sprachen, in deren Berichten Worte wie „Ich, mir, mich, mein" sich häuften, zeigten eine Neigung, Deutungs- fehler zu begehen. Begann etwa ein Bericht mit den Worten : ,,Im Anfang erkannte ich gar nichts, ') ,, Experimentelle Untersuchungen über Urteilsvorsicht und Selbsttätigkeit." Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung 1908, Bd. 11, Heft 4. allmählich aber gewahrte ich auf dem Bilde usw.", so konnte ich mit leidlicher Sicherheit voraus- sagen, daß, wenn er überhaupt wesentliche Fehler enthielt, auch Deutungsfehler darunter sein würden. Ichsagen und Erklärungstrieb schienen bis zu einem gewissen Grade solidarisch zu sein. Für diese Beziehung sprachen aber noch manche andere Momente. Die Ichsager begnügten sich fast niemals damit, das Bild einfach zu schildern, zti konstatieren, was sie wahrgenommen hatten, sondern sie brachten Konjekturen vor, entwickelten Hypothesen, Erklärungsversuche über die Bedeutung des, wie gezeigt, ziemlich unver- ständlichen Bildes. Und wem von ihnen eine plausible Auslegung nicht gelingen wollte, der sprach sein Bedauern darüber aus oder äußerte Fragen, in welcher Richtung wohl die Erklärung zu suchen sei, oder stellte fest, daß diese oder jene Deutung jedenfalls nicht die richtige sein könne. Der Trieb nach logischem Zusammen- hang, nach kausalem Verständnis zeigte sich, je nach Vorwissen und Begabung, bald in der einen, bald in einer anderen dieser Formen. Man vergleiche etwa folgende Stellen aus dem Berichte einer Künstlerin : „Böcklin hat ausge- arbeitet." „Da sind all die Schmierer und Kleckser, die sich auf des Meisters Werke stürzen, um ihr Streichholz an der hellen F"lamme des Genies zu entzünden." „Malen die wirklich nur aus Be- geisterung?" ,,Nur einer hinten in der Ecke (der Bediente) scheint nicht ganz stumpf zu sein. Er hat ein vergrämtes Gesicht. Vielleicht hat er selber höheren Flug gewagt und eingesehen, daß seine Kräfte nicht reichen, da geht er lieber bei dem großen Meister in die Schule und bleibt ein Schüler sein Leben lang." Der ,, Makler" (Kunst- händler) neigt seinen Glatzkopf, „als hätte er Ehrhircht vor der Masse Kopien vor ihm. Ist der Mann so dumm und kauft einige davon, oder ist er nur ein Symbol für die enormen Preise, die heute für Böcklingemälde und -kopien gezahlt werden ?" ,,M i r fiel bei dem Bilde die Fabel ein, wie die Krähen stolz hinter dem Stier her- spaziereii, der mit der Pflugschar den Boden auf- wühlt, und die Krähen bilden sich ein, daß er sie bediene." Man erkennt in diesen Ausführungen den allgegenwärtigen Trieb nach Deutung und Auslegung. Andererseits tritt das Vorliegen großer Subjektivität, lebhafter Neigung, von sich selbst zu reden und an sich selbst zu denken, nicht bloß in dem einen Schlußsatze zutage, wo die Versuchsperson über ihre Gedanken und inneren Vorgänge berichtet, sie zeigt sich eben- sosehr in der durchgehenden Tendenz, das eigene Künstlerstreben, die eigenen Berufserfahrungen in alles Gesehene hineinzudeuten. Eine derartige egozentrische Gedankenrichtung habe ich bei den Konjekturenbildnern noch öfter gefunden. In manchen Berichten aber, die reich an Ich- worten sind, finden sich gehäufte Denkzusätze zum Wahrgenommenen, die nicht mehr als Aus- flüsse des Deutungs- und Erklärungstriebes auf- N. F. VIII. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 307 gefaßt werden können. Manche Ichsager neigen zum Kritisieren, finden das Bild salopp gemalt, den Vorgang und seine Darstellung täppisch, bemängeln die Veranstaltung des Experiments. Manchmal werden auch, wie in dem soeben an- geführten Beispiel, Parallelen und Analogien aus anderen Gedankenkreisen herangezogen, Gleich- nisse und Vergleiche hergestellt. Und hier er- kennen wir, daß der Erklärungstrieb der Ich- sager nur der wichtigste Einzelfall einer viel all- gemeineren geistigen Eigenschaft ist, nämlich der Selbsttätigkeit, der Gewohnheit, sich nicht mit dem Konstatieren des rein Tatsächlichen, mit der passiven Rezeption zu begnügen, sondern über das Gegebene hinauszugehen. Dieses schöpferische Hinzutun und eigenmächtige Ver- arbeiten kann sich im Nachdenken über den tieferen Sinn des wahrgenommenen Gegenstandes, im systematischen Zusammenfassen des Gegen- standes zu einer logisch verknüpften Einheit be- tätigen, aber auch im Kritisieren und Vergleichen. Wie man die Ichworte zählen kann, so auch die „Selbsttätigkeitszeichen", d. h. Deutungsfehler, Konjekturen, Fragen über die Bedeutung des Bildes, kritische Bemerkungen und Vergleiche. Es lassen sich also zahlenmäßige Ausdrücke ge- winnen sowohl für die Tendenz, vom eigenen Ich zu reden, wie für die Selbsttätigkeit. Daher lag es nahe zu versuchen, ob jener Zusammenhang, der der unmittelbaren Beobachtung entgegen- getreten war, sich auch durch eine exaktere statistische Methode feststellen ließ, ob Berichte mit relativ vielen Ichworten auch eine verhältnis- mäßig große Zahl von Selbsttätigkeitszeichen ent- hielten. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auf die verschiedenen Versuchsreihen und Berechnungs- arten, durch die ich diesen Zusammenhang zu er- härten und mögliche Einwände zu entkräften suchte, spezialisierend einzugehen; es ist das be- reits in der früher erwähnten fachlichen Arbeit geschehen. Den Nichtpsychologen wird nur das Gesamtergebnis interessieren. Es wies einen merkwürdigen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Versuchspersonen auf. Bei den am Experiment beteiligten Damen zeigte sich die Solidarität der Ichworte und Selbsttätigkeits- zeichen stets, bei den Herren niemals, ja es kam vor, daß bei den letzteren die meisten Konjek- turen und F'ragen gerade in den Berichten solcher Personen zu finden waren, die gar nicht von sich selbst sprachen. Die beiden festgestellten Tatsachen, nämlich erstens die Übereinstimmung von Ichworten und Selbsttätigkeitszeichen bei den Frauen , und zweitens ihre Nichtübereinstimmung bei den Männern, haben ganz verschiedene Ursachen und bedürfen daher einer gesonderten Besprechung. Halten wir uns also zunächst an das Verhalten der weiblichen Versuchspersonen und fragen wir: Wie ist es zu verstehen, daß der selbsttätige, nicht bloß reproduktive, sondern schöpferische, das Wahrgenommene frei verarbeitende Mensch die Neigung zeigt, viel von sich selbst zu reden ? Da gewahren wir denn bald, daß die Ver- kettung dieser beiden Momente eine doppelseitige ist, daß zwischen ihnen Wechselwirkung herrscht. Zunächst erzeugt nämlich Selbsttätigkeit geistige Situationen, die zum Gebrauch von Ich- worten nötigen. Der Selbsttätige geht über das Gegebene, Tatsächliche hinaus und beschreitet damit das Gebiet des Meinens. Jede Konjektur, jede Hypothese ist im Vergleich zu ihrer Tat- sachengrundlage unsicher, und wer diese Frag- würdigkeit in Worte kleiden will, sagt „ich glaube, es scheint mir", er greift zum Ichwort, das man in solchen Fällen als „Zweifelsich" bezeichnen könnte. Wenn man ferner in anderer Weise seine Selbsttätigkeit beweist, kritisiert, Gleichnisse und Analogien heranzieht und diese Betrachtung mit den Worten beginnnt: „Ich möchte übrigens hierzu bemerken", so ist auch dieses Ichwort zu- nächst ein Zweifelsich, markiert den Übergang vom Wahrnehmen zum Meinen ; zweitens aber liegt darin das Bewußtsein enthalten, daß man jetzt nicht mehr einfach das Konterfei der Außen- welt zeichne, sondern etwas Eigenes hinzutun, dem Objektiven etwas Subjektives gegenüberstelle; das Ichwort der Kritik ist ein „Oppositionsich". Der Zusammenhang, den wir hier erkennen, scheint nur ein formeller, sprachlicher zu sein, weist aber viel tiefer. Selbsttätigkeit zwingt nicht nur zu verstärktem Ichsagen, sondern auch zum vermehrten Denken an die eigene Person, denn je umfangreicher, divergenter, origineller die Gefühls- und Gedankenwelt wird, die wir uns selbst neben dem Bilde der Außenwelt in uns er- bauen, desto mehr Aufmerksamkeit wird sie ver- langen, in einen desto bewußteren Gegensatz zur äußeren Welt wird sie treten. Wem es an Selbsttätigkeit gebricht, wer nur denkt, was er sieht und liest, nachempfindet, was andere ihm vorgefühlt haben, der hat wenig Veranlassung, an sich zu denken, weil er nur ein sehr inhaltsarmes Ich besitzt. Viel wichtiger ist aber die umgekehrte Seite der Wechselwirkung. Das Ichsagen, oder besser, die geistige Eigentümlichkeit, die zum häufigen Gebrauch der Ichworte drängt, ist die Grundlage aller Selbsttätigkeit. Was uns veranlaßt, viel an uns zu denken und von uns zu reden, ist die „Ichliebe". Ich verstehe darunter das Lustgefühl, das sich ohne weiteres an jedes zum Vorstellungskreis des Ich gehörige Element kettet. Es berührt uns ange- nehm, wenn wir unser Bild im Spiegel sehen, wir freuen uns, wenn wir in unser Haus zurück- kehren, bloß weil es unser Heim ist und zu uns gehört, wir hängen an unserer Heimat, unsere Erinnerungen sind uns heilig, es durchzuckt uns freudig, wenn wir unseren Namen gedruckt lesen oder aussprechen hören oder wenn die deutsche Muttersprache im Auslande an unser Ohr klingt. Lesen wir ein Buch oder arbeiten wir uns in eine 3o8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 20 neue Materie ein und stoßen wir dabei auf einen uns schon geläufigen Gedanken, so wird uns so fort wohl dabei, denn die.se ältere, in unserem Geiste schon heimisch gewordene Vorstellung gehört zu uns, ist ein Stück unseres Ich. Und wie freudig sind wir erst erregt, wenn wir wichtige Teile unserer Weltanschauung oder Gedanken- produktion von anderen aussprechen und billigen hören. Was ich hier Ichliebe nenne, ist nicht identisch mit dem Egoismus, d. h. mit der Lust an der Förderung des Ich; auch nicht mit der Eitel- keit, dem Stolz, der Eigenliebe, d. h. der Lust an der Vollkommenheit des Ich oder der guten Meinung Anderer über das Ich. Alle diese Selbstgefühle sind, wie man leicht erkennt, komplexer als die Ichliebe, besitzen eine umfang- reichere Vorstellungsgrundlage, enthalten aber natürlich die Ichliebe als Element in sich und können als ihre Spezialfälle gelten. Keineswegs aber kommt die Ichliebe immer nur in jenen weit bekannteren und von den Kultursprachen besser bezeichneten Zusammensetzungen vor ; unser Bild im Spiegel berührt uns auch dann sympathisch, wenn wir es selbst nicht hübsch finden und nicht erwarten können, daß es anderen gefällt, wenn es also keineswegs geeignet ist, Stolz und Eitelkeit zu erregen. Rege Ichliebe führt mit Notwendigkeit dazu, daß man häufig an sich selbst denkt, denn im Kampfe der Vorstellungen um den Bewußtseins- raum siegen fast immer die gefühlsstärksten. Wir werden nun zwar weiterhin sehen, daß man viel an sich denken und doch sehr wenig von sich sprechen kann, sobald konventionelle Rücksichten und Gewohnheiten das Band zwischen Gedanken und Rede zerreißen. Es gibt aber hochgebildete Personen, deren Ichliebe so stark und vorwiegend ist, daß sie allen Kulturfirnis abstreift, dai3 sie beständig von sich, von ihren Interessen, ihren Arbeiten, ihren Zwecken, Aussichten und Pro- jekten reden, während ihre Teilnahme sofort er- lahmt und sie kaum noch hinhören, sobald der andere nun auch seine Angelegenheiten zu be- sprechen beginnt. Man blicke sich nur in seinem Bekanntenkreise um, jeder wird wohl einige Bei- spiele dieses Typus finden, und stets werden es Personen von großer Unabhängigkeit — wenn auch nicht immer von großer Fähigkeit — im Denken und Handeln sein, so daß man die Solidarität von Ichliebe und Selbsttätigkeit bei ihnen bewährt finden wird. Häufig nimmt starke Ichliebe die Form eines Kultus an, den man mit sich und seiner inneren Welt treibt. So hatte die Aufklärungszeit ihre pietistische Selbstschau, ihre Pflege des Tage- buches und gefühlsanalysierenden Briefes, und auch bei ihr bewährte sich jene Solidarität, denn sie war eine der kritischsten und revolutionärsten Epochen, die sich zu allem historisch Gegebenen in Gegensatz stellte. Kultus des eigenen Ich er- kennen wir in den Werken jener Philosophen und Künstler, die stets ihre eigenen Schicksale und Kämpfe symbolisieren wie Richard Wagner, oder beständig über sich selbst zu Gericht sitzen und an sich meißeln wie Ibsen, oder, als zwiespältige Naturen, die unterdrückte Seite ihres Trieblebens wider die siegreiche und vorherrschende als Ideal auf den Schild heben wie Schopenhauer und Nietzsche. Es ist aber kein Zufall, daß gerade die Ge- nannten die großen Eigenbrödler der modernen Literatur sind, die mit Fleiß ihren Weg so weit als möglich von der großen Heerstraße abbiegen und das bevorzugen, was die Menge verachtet. Denn wer sein Ich liebt, dem wird besonders das wertvoll sein, was dieses Ich für sich allein hat, worin es sich von der übrigen Welt unterscheidet, was es als sein persönlichstes Eigentum erkennt. Starke Ichliebe ist die Wurzel aller Originalität und Individualität. Sie drängt hierzu, wie wieder- um das Beispiel der erwähnten großen Denker und Dichter zeigt, auch dann, wenn das Ich da- durch in schroffen Gegensatz zur Außenwelt gerät, während die Eitelkeit, in dieser Hinsicht wieder von der Ichliebe unterschieden, das Plazet der Welt sucht und deshalb öfter nivellierend als individualisierend wirkt. Die Selbstgefühle der romanischen Völker neigen mehr zur Eitelkeit, die der germanischen zum Innenweltskultus; kein Wunder also, daß man mehr originelle und von der Schablone abweichende Personen in England, Deutschland und Skandinavien findet als in F"rankreich und Italien. Wie die Ichliebe alles, was zur eigenen Person gehört, mit Lustgefühlen umgibt, so auch die eigene Tätigkeit und deren Ergebnis. „Allein machen !'' sagt schon das Kind, wenn man ihm beim Spiele helfen will, und sein Kartenhaus ist ihm doppelt wertvoll, wenn es durch eigene Kunst entstand. Auch bei der Arbeit aber treibt die Ichliebe zur Originalität, zum Abweichen von der Außenwelt. Was wir denken, fühlen, reden, schreiben, gestalten, ausführen, soll nicht nur möglichst ausschließlich unser Werk sein, es soll zugleich den Stempel unseres Ich, unserer Indi- vidualität tragen, es soll anders sein als die übrige Welt, nicht bloß ihr nachgetan, nachge- dacht, nachempfunden, nicht bloß passiv von ihr hingenommen, sondern selbsttätig geschaffen. „Hinausgehen über das Gegebene" war unsere Definition der Selbsttätigkeit, und die Ichliebe treibt zu solchem ,, Hinausgehen", in ihr haben wir den psychischen Ursprung jener Eigenschaft zu suchen, die die leitenden und reformierenden Geister trennt von den subalternen und konser- vierenden. Warum muß der Selbsttätige bei un- seren Versuchen Konjekturen, Auslegungen, kritische Bemerkungen einflechten, warum begnügt er sich nicht mit einfacher konstatierender Schilderung des Bildes .- Nun deshalb, weil er im letzteren Falle wie ein passives Gefäß sich vor- käme, in das die Welt ihren Inhalt hineinschüttete, so daß das Produkt nicht eigentlich iiim selber N. F. Vm. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 309 gehörte. Statt dessen will er, von starker Ichliebe beseelt, sich selbst bei der Arbeit fühlen, sich in ihr wiederfinden, und das erreicht er, wenn er den gegebenen Stoff in freier Weise verarbeitet. Es ist eins der verstecktesten und wichtigsten Kausalverhältnisse der differentiellen Psychologie, auf die die Solidarität der Ichworte und Selbst- tätigkeitszeichen im Bildversuche uns geführt hat. Bis hierher besprachen wir diese Solidarität, die uns bei den weiblichen Versuchspersonen entgegengetreten war. Entsinnen wir uns nun, daß sie bei den Männern gar nicht bestand, daß bei ihnen die Ichsager nicht durch besondere Selbsttätigkeit sich auszeichneten. Wie sollen wir das verstehen? Beruht etwa die Selbsttätigkeit des Mannes auf anderer Grund- lage als die der Frau r Und das Rätsel erscheint noch dunkler und schwieriger, wenn wir gewahren, daß die Tendenz des Mannes zum Ichsagen sich vielfach als geringer erweist wie diejenige der Frau. Welche psychologische Perspektive tut sich da vor uns auf? Der Mann hätte also weniger Ichliebe als das Weib, verlöre sich leichter an die Welt oder an andere Persönlichkeiten, die Frau verträte das egoistischere oder wenigstens egozentrischer denkende Geschlecht I Und wenn dann Ichliebe und Selbsttätigkeit wirklich zu- sammengehören, so müßte die Frau auch schöp- ferischer, im Denken und Urteilen unabhängiger und unbeeinflußbarer sein als der Mann. Ist das richtig, so können wir unsere gesamte Welt- und Menschenkenntnis ad acta legen, oder aber die Kunst des experimentellen Psychologen taugt nichts, wenigstens nicht in ihrer Anwendung auf höhere geistige Probleme, und wie man den Schuster auf seinen Leisten verweist, könnte man ihm zurufen : Psychologe, bleib bei deinem Kymo- graphion ! Indessen die Schwierigkeit löst sich ziemlich einfach. Der Mann ist wohl tatsächlich durch- schnittlich selbsttätiger als das Weib und besitzt auch mehr Ichliebe, ja gerade die uns geläufige Differenz in der geistigen Anlage der Geschlechter bestätigt uns aufs neue den gefundenen Zusammen- hang beider Momente. Aber die Neigung, an sich selbst zu denken, findet beim Manne nicht so sicher wie bei der Frau ihren Ausdruck in einer entsprechenden Zahl von Ichworten. Dieser überraschende Unterschied der Ge- schlechter dürfte sich auf Verschiedenheiten ihrer gesellschaftlichen Stellung zurückführen lassen. Ob wir viel oder wenig von uns reden, hängt nicht allein davon ab, wie oft wir in unseren Gedanken mit uns selbst beschäftigt sind, und der alte Rat : „Willst du sehen, ob jemand Egoist oder Idealist ist, so beobachte, wie häufig er das Wort Ich gebraucht" ist mehr witzig als korrekt. Schon die Erziehung greift hier komplizierend ein, der Gebildete scheut sich, zu viel von sich selbst zu reden, um den anderen nicht zu lang- weilen und sein Selbstgefühl nicht zu verletzen, und was er im Hinblick auf sich denkt, hat man zwischen den Zeilen und Worten zu lesen. Un- ausgesprochene egozentrische Hintergedanken zu erraten, das ist eigentlich Zweck und Aufgabe des kleinen Versteck- und Intriguenspiels, als das jedes Gespräch von Personen der gebildeten Ge- sellschaft sich darstellt. Noch mehr aber wird das Band zwischen Denken und Reden, sofern es sich um das eigene Ich handelt, zerrissen durch die Berufsschulung. Der Geschäftsmann, der Beamte, der Gelehrte, überhaupt jeder im offi- ziellen Berufsleben Stehende gewöhnt sich in Wort und Schrift an unbedingte Sachlichkeit, ab- strahiert vom Ich, hat nur noch das Objekt der Arbeit oder Verhandlung im Auge. Zu dieser Sachlichkeit wird aber durchschnittlich die Frau weniger erzogen als der Mann, denn sie steht weniger im öffentlichen Berufsleben, wirkt mehr in F"amilie und Geselligkeit und erscheint dort nicht als bloße Arbeitsmaschine, sondern als Per- sönlichkeit. Im geselligen Verkehr mit der Frau fragen wir uns, ob sie selber schön, liebenswürdig, geistvoll ist, in geschäftlicher und beruflicher Unterhandlung mit dem Manne, ob seine Ware gut, seine Arbeit brauchbar, sein Gedanke richtig ist. Kein Wunder also, daß das Weib sich ge- wöhnt hat, naiver von sich selbst zu reden, und daß bei unseren Versuchen die Frauen, welche am häufigsten an sich denken — und das ist gerade bei den selbsttätigsten der Fall — auch die meisten Ichworte benutzen, während bei den Männern diese Solidarität geistiger Tätigkeiten durch Gegengewöhnungen äußerlich verwischt wird. Es stimmt mit dieser Deutung überein, daß unter meinen Versuchspersonen diejenigen Frauen, die in kaufmännischen Betrieben tätig waren, sich gleichfalls sehr sparsam im Gebrauch von Ichworten erwiesen. Bei ihnen wie bei den Männern verhüllt sich das Symptom der Ichliebe, das Ichsagen, und wird dadurch das Hand- in- Hand -Gehen von Selbsttätigkeit und Ichliebe für Beobachtung und zählende Statistik unerkennbar. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Geophysik.') — Die An- schauungen und Lehren der Geologie betreffen ') J. Koenigsberger, Über den Temperaturgradienlen der Erde bei Annahme radioaktivt-r und chemischer Prozesse. Physik. Zeitschr. VII, 1906, S. 297 — 300. — H. Benndorf, Über die physikalische Beschaffenheit des Erdinnern. Mitt. d. gcol. Ges. in Wien, 190S, Heft 3, S. 323 — 343. — F. von Wolff, Die vulkanische Kraft und die radioaktiven Vor- gänge in der Erde. Zeilschr. d. deutsch, geol. Ges. igo8, Heft 4, S. 431 — 465. — Heinrich Wehner, Das Innere der Erde und der Planeten (math.-phys. Untersuch.) Freiberg i. S. 1908, Graz ^c Gerlach (Joh. Stettner). — G. Tarn mann. Kristallisieren und Schmelzen. Leipzig 1903. 310 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 20 meist nur die äußerste Gesteinskruste und be- stehen als solche selbständig für sich. Im letzten Grunde fußt aber das ganze Gebäude auf der Entwicklung und dem Wesen des Erdganzen. Zu- mal in die Fragen der allgemeinen Geologie spielt die Frage nach dem Aussehen des Erdinnern allenthalben bedeutsam hinein. Die Vorstellungs- kraft hat sich denn auch frühzeitig dieses Stoffes bemächtigt und ein Bild von den Verhältnissen in der Tiefe zu entwerfen versucht. Im allge- meinen darf die Kant-Laplace'sche Hypothese als allen derartigen Theorien gemeinsame Grundlage gelten. Außer den in ihr sich aussprechenden Vergleichen zu anderen Weltkörpern bestand aber das ganze Wissen über den Gegenstand lediglich darin, daß wir hohe Temperaturen, hohen Druck und hohen Dichtigkeitsgrad in der Erde annehmen durften. Vulkanismus, Pendelmessungen und theoretische Erwägungen lieferten das Material. Auf diesem wenig im einzelnen ausgebauten Standpunkt drohte die Wissenschaft eine Zeitlang zu beharren, und Unterschiede in den Angaben über die Temperatur im Erdmittelpunkt von 5000" bis zu 100 000" waren dabei nicht einmal Seltenheiten. Ein gebieterisches ,,Bis hierher und nicht weiter!" schien der Forschung bereits in der größten durch Bohrungen praktisch erreich- baren Tiefe von ca. 2 km entgegenzustehen, die ja angesichts eines Erdradius von 6378 km fast gleich Null zu achten sind. Aber wie dereinst von unerwarteter Seite dem Astronomen eine Hilfe kam, als die Spektral- analyse das anscheinend unüberbrückbare Hemm- nis des unendlichen Raumes überwand, so ist auch der Geologie in der Physik ein unschätz- barer Bundesgenosse erwachsen. Scheiterten bis- her die Versuche, endgültige Gewißheit über die Ursachen des Vulkanismus und der Erdbeben zu erlangen, an der Unmöglichkeit einer annähernd genügenden Vorstellung vom inneren Bau des Erdballs, so sollten gerade die seismischen Be- wegungen selbst es sein, die uns auf ihrem Wege Kunde brachten von dem, was sie in der Tiefe gesehen hatten. Wiechert und Benndorf waren die P'"ührer in dem Bestreben, die Seismogramme reden zu machen, und bewunderungswürdige Er- folge sind bereits zu verzeichnen. Tam man n's schnell bekannt gewordeneSchmelz- versuche mit hohen Drucken und hohen Tempe- raturen förderten auf andere Weise die begriffliche Klarheit über die im Erdinnern herrschenden Be- dingungen. Von einer dritten Seite aus gelingt es nunmehr Königsberger, dem Problem näher zu kommen ; das junge Gebiet der Radiumerforschung muß ihm neue Perspektiven eröffnen. Je vielseitiger die unternommenen Versuche sind, desto eher ermöglichen sie eine gegenseitige Kontrolle ihrer Ergebnisse, desto sichereren Boden fühlen wir unter den Füßen. Es regt sich daher schon jetzt ein lebhaftes Bedürfnis nach Zusammen- fassungen, wie es die in derFußnote genannten Arbei- ten Benndorf s und v. Wolff's sind ; die Wehner'sche Broschüre mag demgegenüber noch als typischer Vertreter der spekulativen *) Richtung gelten, wie- wohl sie sich einen äußerst exakten Anstrich gibt. Charakteristisch ist, daß gerade Benndorf das Hypothetische seines Unternehmens betonen zu müssen glaubte, während Wehner's Behauptungen mit ungewöhnlicher Siegesgewißheit auftreten. Wehner's Ausgangspunkt ist der in der Tat größerer Beachtung würdige Erdmagnetismus, die Hauptargumente der vorliegenden Arbeit sind der Gravitationslehre entnommen. Seine früheren Vorstellungen gipfelten in der „Annahme der Existenz zweier distinkter, konzen- trisch ineinander geschachtelter Erd- massen, die sich berühren mochten oder auch nicht, von denen aber jeder Teil, der äußere sowohl wie der innere, eigene Rotation mit ein wenig unterschiedener Winkelgeschwindigkeit be- sitzen mußte, . . . derartig daß der äußere Teil (Rinde) schneller rotiert als der innere." Sie werden nunmehr dahin ausgearbeitet bzw. ergänzt, „daß es wohl keine Frage mehr sein kann, son- dern als bewiesen wird gelten müssen, alle Weltkörper seien mehr oder minder Hohlkörper mit innerem Druckaus- gleich". Beispielsweise wird für die Erde die „Schalendicke" auf 2206,56 km (34,6 "/n des Äquatorialradius), die „Rindendicke" auf 881,03 ,, berechnet". Der höchste absolute Druck (bis zu 80000 Atmosphären) wird „in der Tiefe von rund 880 km" angenommen. Die Ausführungen geschehen nicht ohne reiches rechnerisches Beiwerk, können aber bei dem hohen Prozentsatz an eingestreuten willkür- lichen Voraussetzungen nicht zwingend erscheinen. Behauptungen auf rein hypothetischem Gebiete haben ja oft den bedenklichen Vorteil, daß der Gegenbeweis auf ebenso schwachen Füßen stehen müßte, wie die Begründung, daß sie sich also bestreiten, aber schwer widerlegen lassen. An- dererseits können sie wohl dazu angetan sein ein Problem aufzustellen, d. h. als Fragestellung und somit als Ansporn zur Gewinnung fester begrün- deter Erkenntnis zu wirken. Es gilt also Tatsachen zu beschaffen, und das eben ist — natürlich nicht abschließend — von physikalischer Seite aus bereits geschehen : Das wesentlichste Ergebnis der Tammann'schen Versuche war der Nachweis eines ,, maximalen Schmelzpunktes". Während nämlich Wärme dar- auf abzielt, Gesteine einzuschmelzen und unter den an der Erdoberfläche herrschenden Verhält- nissen ihr Volumen zu vergrößern, wirkt Druck im entgegengesetzten Sinne. Erhöhter Druck be- dingt erhöhte Temperatur, setzt den Schmelzpunkt herauf. Indessen besteht hierin eine Grenze: überschreitet sie der Druck, so sinkt der Schmelz- punkt wieder. Der Schmelzpunkt bedeutet aber ') Mit diesem Ausdruck sollen nicht seine begrüiäens- werlen Voruntersuchungen erkenntniskritischer Art getroffen werden. N. F. VIII. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 3" ebenso wie die Übergangsstelle aus festem zu flüssigem Zustande auch den rückwärtigen Schritt, die Kristallisation. Tritt also unterhalb des maximalen Schmelzpunktes bei der Kristallisation Volumenverminderung auf, so ist jenseits des- selben Volumenvergrößerung damit verbunden, eine für das Verständnis des Vulkanismus sehr bedeutungsvolle Erkenntnis. Übertragen wir das auf die Erde, so können wir aussagen: Nach der Tiefe hin wird der sich ständig steigernde Druck eine Grenze antreffen, bis zu welcher er die Ver- flüssigung der Gesteine durch die Erdwärme hintanhält, darüber hinaus aber würden bereits geringere Temperaturen zur Einschmelzung ge- nügen. Da wir aber mit weiterem Ansteigen der Wärme zu rechnen gewöhnt sind, sehen wir uns zur Annahme magmatischen Glutflusses unterhalb jener Grenze genötigt. Es sind nun die Wärme- verhältnisse genauer zu ermitteln. Das in Bohrlöchern und Bergwerken ge- wonnene Maß bezüglich der sog. geothermischen Tiefenstufe, d. h. die Annahme, bei einem Vor- dringen gegen den Erdmittelpunkt um je 33 m im Durchschnitt steige die Temperatur um je 1", ist nur für die der Messung unterworfenen äußer- sten Erdschichten verbindlich; in größeren Tiefen könnte der Wärmegrad schneller oder langsamer steigen, gleichbleiben oder gar wieder sinken. Hier setzt die Radiumforschung ein: „Bei dem Zerfall radioaktiver Elemente^) werden recht be- trächtliche Wärmemengen erzeugt, die im Wärme- haushalt der Erde nicht vernachlässigt werden können" (v. Wolfif). Wäre die Radioaktivität im ganzen Erdkörper in dem gleichen Maße ver- breitet wie allenthalben auf der Erdoberfläche, müßte sogar erwartet werden, daß die Wärme- produzierung die Wärmeabgabe überträfe, daß also nicht nur keine Abkühlung, sondern sogar ein ständiges Wärmerwerden unseres Planeten stattfände. Für eine solche Annahme liegt aber aus der Erfahrung keinerlei Veranlassung vor. (Freilich ist auch eine ständig fortschreitende Ab- kühlung geologisch nicht nachweisbar ; die Dar- stellung v. Wolfif 's ist in diesem Punkte recht anfechtbar.) Demnach muß eine Anreicherung radioaktiver Kräfte in den obersten Erdschichten gegenüber dem Erdinnern angenommen werden : „Die Mächtigkeit der aktiven Schale ist von dem mittleren Radiumgehalt der Gesteine abhängig und ist zwischen 20 und 300 km einzugrenzen" (v. Wolff). Die Aktivität der Schale kann daher rühren, daß radioaktive Substanzen entweder nur in der äußeren Schale vorhanden oder aber nur dort „aktiv" sind, d. h. bei dem größeren Druck der Tiefe stabil werden und nicht zerfallen. Die stark aktiven Eruptive würden im letzteren Falle den ständigen Nachschub an frischem Material besorgen. Diese Frage ist für unsere Untersuchung ohne Belang. ') Neben dem Radium kommt auch noch das Thorium mit seiner -Aktivität in Betracht. Zu rechnen ist jedenfalls nach den bisherigen Ergebnissen damit, daß in der radioaktiven Außen- schale eine niciit unbeträclitliche Menge ständig entwickelt wird. Damit werden aber die Folge- rungen aus der „geothermischen Tiefenstufe" wesentlich modifiziert. Je nach der Mächtigkeit der radioaktiven Außenschale wäre die Maximal- temperatur an ihrer Untergrenze zu 350" — 5000" zu berechnen. Weiter abwärts wäre zunächst wieder ein Absinken des Wärmegrades recht wahrscheinlich. Vulkanische Laven haben nun etwa Temperaturen von lOOO'^. Von den sie speisenden Magmaherden dürfte man also bei Abzug der auf dem Wege nach der Erdober- fläche verloren gehenden Wärme vielleicht 2000" Hitze annehmen — wenn nicht, wie wir sahen, der herrschende Druck bis zu einer gewissen Grenze hin den Schmelzpunkt aufwärts rücken ließe. Die ohnehin bei graphischer Darstellung nicht gradlinige Schmelzkurve erfährt somit eine neue starke Komplikation. Es würde nämlich nach V. Wolfif vor Erreichung des „maximalen Schmelzpunkte s", den er in etwa 1 50 — 200 km Tiefe annimmt, schon einmal zur Einschmelzung der Gesteine, zur Ausbildung einer Magma- sch i c h t (in ca. 50 km Tiefe) kommen, zwischen beiden Zonen aber wäre ein fester, kristallisierter Gürtel anzunehmen. Eine vielleicht rein zufällige und nicht voll- ständige, doch immerhin merkwürdige Analogie besteht bis hierher mit den zwei festen inein- andergeschachtelten Kugelschalen Wehner's oder aber, wenn man lokale Unterschiede ins Auge faßt und annehmen will, daß die erstere Magma- schicht nicht überall zur Ausbildung gelangt, auch mit der Stübel'schen Lehre von einer Panzerdecke und peripherischen Magmaherden. Ebenso unter- schied Hergesell zwei Erdschalen, eine innere mit vorwiegenden Druck und eine äußere mit vor- wiegenden Zugkräften. Eine fernere Überein- stimmung ergibt sich aus den von Hecker an- gestellten, sehr beachtenswerten Schwermessungen, die eine äußere Erdkruste von 40 — 100 km ver- langen, und Wiechert's aus gewissen Boden- schwingungen abgeleiteter Annahme einer solchen Kruste von 30 — 40 km. Damit werden wir zu den seismometrischen Beobachtungen geführt, die das Bild wesentlich zu vervollständigen gestatten. Denn noch bewegen wir uns ja in verhältnis- mäßig geringen Tiefen angesichts des Erdradius von 6378 km. Das scheinbar wirre Gekritzel der Erdbeben- registrierapparate löst sich vor dem Auge des Seismologen in eine sinnvolle, wenn auch noch nicht in allen Teilen entzüTerbare Hieroglyphen- Schrift. Es ist hier nicht der Ort ausführlicher auf diese schwierigen Probleme einzugehen; nur das sei hervorgehoben: Von einem Bebenzentrum dringen auf den verschiedensten Wegen Erschütte- rungswellen aller .Arten bis zu den Seismographen, wo sie je nach Fortpflanzungs Geschwindigkeit 312 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 20 und Länge des zurückgelegten Weges nachein- ander eintreffen. Umgekehrt kann also aus der Zeitdifferenz zwischen den einzelnen Phasen des Seismogramms auf Art und Herkunft der sie her- vorrufenden Wellen, aus der Länge des Weges und der Geschwindigkeit aber weiter auf die durchlaufenen Medien geschlossen werden. Durch scharfsinnige Methoden sind Wiechert, Benndorf, Läska und Anderen dahin zielende Untersuchungen geglückt.^) Wiechert hatte schon früher-) auf anderem Wege die Überzeugung gewonnen, die sich nunmehr bestätigen und ergänzen ließ, daß im Erdmittelpunkte ein aus Nickeleisen und an- deren schweren Metallen bestehender Erdkern an- zunehmen sei, dessen Radius er auf ca. 5000 km (Vs Erdradius) abschätzt, dessen Dichte auf einen Mittelwert von 8,5 berechnet wird, im übrigen von innen nach außen abnimmt, dessen Kom- pressibilität viermal geringer, dessen „Ringheit" (ein Ausdruck für den Elastizitätsgrad) viermal größer ist als die des Stahls. Dieser Wiechert- sche Eisenkern gestattet wieder einen Hinweis auf die ähnlich zusammengesetzten Meteoriten, denen nach Untersuchungen von Strutt eine Radioaktivität abgeht, was ja auch oben vom Erdinnern vorausgesetzt wurde! Benndorf endlich gelang der vorläufige Nach- weis, daß die Geschwindigkeit der Bebenwellen vom Erdmittelpunkte aus nach außen hin ständig abnimmt (der immer geringeren Dichte entsprechend), daß aber bei % des Erdradius eine ') Läska, ,, Über die Verwendung der Erdbebenbeobach- tungen zur Erforschung des Erdinneren." Mitt. d. Erdbeben- Kommission in Wien. K. Ak. Wiss. N. F. Nr, 23, 1904. — Benndorf, ,,Cber die Art der Fortpflanzung der Erdbeben- wellen im Erdinneren," Ebenda Nr. 29 und 31, 1905/06, — Wiechert u. Zoeppritz, ,,L!ber Erdbebenwellen." Göttin- ger Nachr. 1907, Heft 4. — Wiechert, ,,Was wissen wir von der Erde unter uns?" Deutsche Rundschau, Sept. 1907. ^) Wiechert, ,,Über die Massenverteilung im Inneren der Erde," Nachr. v. d. Kgl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, 1897- Kleinere Mitteilungen. Über nichtparasitärc Pflanzenkrankheiten. 2. Lohkrankheit. — In Nr. 49 des Jahr- gangs 1906 wurde bereits auf einige interessante nichtparasitäre Pflanzenkrankheiten hingewiesen, die in Sorauer's trefflichem Handbuche der Pflanzenkrankheiten '), welches eine außerordent- liche Fülle biologisch hochinteressanten wie prak- tisch wichtigen Materials enthält, ausführlich ab- gehandelt und in ihren Ursachen und Wirkungen klargelegt sind. Es sei heute hier eine Krank- heitsgruppe und ihr ähnliche verwandte Erschei- nungen besprochen, auf die gleichfalls Sorauer zuerst gebührend aufmerksam machte und die, so häufig sie auch schädigend auftritt, übersehen seltsame Abbiegung der Geschwindigkeitskurve eintritt, um bei ^"/o,, in ein beschleunigtes Ab- sinken der Geschwindigkeit auf den Oberflächen- wert überzugehen. Die beiden Veränderungen müssen mit dem Bau der Erde in irgendeinem Zusammenhang stehen, und es liegt der Gedanke nahe, die beiden Hauptmagmazonen damit in Verbindung zu bringen. Da aber über deren Mächtigkeit nur vorsichtige Vermutungen vor- liegen, wird es gut sein, sich zunächst eines Ur- teils über die Ursachen noch zu enthalten. Er- wähnenswert aber ist, daß die im ganzen gleich- mäßige Abnahme bis auf *j^ des Erdradius durch- aus auf Seiten der Wiechert'schen Ergebnisse hin- sichtlich des Erdkernes steht und daß Milne und Läska eine äußere Erdkruste von ^/.^u Erdradius (ca. 320 km) annahmen, womit zwar die Benn- dorf'schen Werte vortreft'lich, nicht aber die oben angeführten erheblich niedrigeren übereinstimmen. Wenn also v. Wolff sagt: „Es ist zwar bisher noch nicht gelungen, Anzeichen von Reflexionen oder Brechungen der Erdbebenwellen an tiefer gelegenen Unstetigkeitsschichten in der Erde auf- zufinden, die über etwaige Änderungen des Zu- standes Auskunft geben würden", so ist das nur sehr bedingt richtig : Nicht die Richtung, aber die Geschwindigkeit der Wellen hat diese Änderungen bereits zur Voraussetzung erhoben. Andererseits erfahren Benndorf's Anschauungen über die Tem- peratur des Erdinnern durch v. Wolff's Darstellung bereits wieder eine wesentliche Modifizierung. Überhaupt ist hier alles noch im Werden be- griffen. Aber nicht in den Ergebnissen beruht der Hauptwert der hier genannten Arbeiten, son- dern darin, daß sie das Eis gebrochen haben. Gewisse Übereinstimmungen deuten auf gefundene Tatsachen hin, die Abweichungen vermögen nicht irrezumachen an den beschrittenen Wegen — denn nicht einer, sondern viele führen uns fortan ins Erdinnere! Dr. Ed. Hennig. oder doch vernachlässigt wurde. Es ist die Loh- krankheit. Der Name wurde von den Praktikern, die sie beobachteten , gemacht und ist von Sorauer übernommen, weil das bei Obstbäumen, die an dieser Krankheit leiden, abgestoßene krank- hafte Rindengewebe an frische Lohe erinnert. An den betreftenden Bäumen sieht man an den Wur- zeln oder an den Zweigen, öfter an beiden, wul- stige Anschwellungen, wie sie auf Fig. i ') darge- stellt sind. Fig. 2 zeigt einen Querschnitt durch eine solche Schwiele. Im mikroskopischen Bilde zeigt sich, daß der Holzkörper einen ziemlich normalen Bau aufweist , er ist von Markstrahlen durchzogen, von denen aber einige, namentlich der bei m' sich nach außen zu verbreitern be- ginnen, also auch hier eine Andeutung der in der ') Dritte Auflage. Berlin, Paul Parey, 1906 — 1909. Band I und II vollendet. ') Die Abbildungen wurden von der Verlagsbuchhandlung P. Parey freundlichst zur Verfügung gestellt. N. F. VIII. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 313 Rinde so ausgeprägten Lockerungserscheinungen. Dort weichen die Reihen der Markstrahlenzellen deutlich voneinander, dadurch wird der Markstrahl dort fast ösenartig. [In der jungen Rinde mit den Hartbaststrängen sind wenig Änderungen vom normalen Kau zu finden , in der älteren Rinde aber werden anomale Streckungen deutlich sicht- bar. Bei k' sind die Zellen stark radial gestreckt, je stärker, je mehr sie nach außen liegen, bei den äußersten (s) geht die Streckung so weit, daß die Zellen völlig schlauchartig erscheinen und nur noch ganz lose im Verbände miteinander bleiben. schwunden, sondern der Streckungsvorgang setzt sich weiter in das Innere der Rinde fort; auch rechts im Bilde sind solche gelockerten Zellen zu sehen. Allmählich wiederholt sich an all diesen Stellen dann die schlauchartige Verlängerung der Zellen und die Bildung des lohartigen Pulvers. — Außer beim Apfelbaum, bei dem die Erscheinung nicht selten ist, sieht man sie öfter an angepflanz- ten (besonders fremdländischen) Kiefern. Ganz ähnlich sind die Bilder am Stamm. — Man findet die Krankheit fast stets auf nassem bis feuchtem Boden, gerade die Stammerkrankungen werden leicht übersehen und selbst von Sachver- ständigen oft nicht beachtet. Am auffälligsten ist, daß meist kleine Rindenstücke und Lappen weit vom Baum abstehen ; hebt man sie ab , was außerordentlich leicht ist, so sieht man im Rinden- Fig. I. Stück eines lohkranken Zweiges. Fig. 2. Querschnitt durch eine Schwiele einer lohkranken Wurzel. Bei einer eintretenden trockneren Jahreszeit schrumpfen diese weichen Zellen natürlich sofort zusammen und bilden die vorhin erwähnte lohe- artige pulverige Masse. Auch die Lamelle des Tafelkorkes (t), die sich an der betreffenden Stelle hätte einschieben sollen, ist, wie die Abbildung zeigt, mit in den Lockerungsprozeß hineingezogen worden. Sind die Wucherzellen außen ausgebildet, so schiebt sich innerhalb uhrglasförmig in sehr charakteristischer Form (bei t') der Tafelkork vor und trennt so die kranke Stelle zunächst ab, sie zu einem Bestandteil der Borkeiischuppe machend. Damit ist die Krankheit aber keineswegs ver- gewebe unregelmäßige blasige bis beulenartige Er- hebungen, die, wenn sie ein gewisses Alter er- reicht haben, aufreißen und das schon beschriebene Pulver entlassen. Die schwielenartigen Erhebungen auf der Rinde können eine sehr verschiedene Größe erreichen, je nach der Ausdehnung der Krankheit, auch solche an Kiefern, die bis über I cm Durchmesser besaßen. Fig. 3 zeigt wieder die anatomischen Verhältnisse in der äußeren lebenden Rinde (das übrige ist fortgelassen), sie zeigt die große Ähnlichkeit mit denen der Wurzel. Im unteren Teile ist das Rindenparen- chym mit 3 Hartbaststrängen noch normal aus- 314 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 20 gebildet , aber schon dicht darüber beginnen die Störungen; die tangential gestreckten, chlorophyll- reichen Rindenzellen fangen an sich radial zu ver- längern (bei r), sich zu teilen und sich in Längs- reihen anzuordnen. Dabei lockert sich das ganze Gewebe, die Zellwände treten deutlich auseinander und lassen zwischen sich Interzellularräume (bei i), es entsteht also ein lockeres schwammiges Ge- webe. Daß diese Beeinflussung schon im jugend- lichen Zustande begonnen hat, beweist u. a. das nur einschichtig ausgebildete Collenchym (cl). Den Hauptanteil an der .'\uftreibung aber haben die peripherischen Schichten, die sich zu Polstern (w). des Bodens stattgefunden haben. Das Auftreten der I.ohkrankheit hat eine allgemeine Schwäche zur Folge und damit auch die leicht zu beobach- tende Tatsache der geringen Widerstandskraft gegen Parasiten bei den betreffenden Pflanzen, geringe Widerstandskraft insofern, als die Infek- tionen zahlreich erfolgen und dann auch, daß die Wirkungen und Folgeerscheinungen der Infek- tionen bei der befallenen Pflanze außerordentlich starke sind. Wie schon bemerkt, findet sich die Krankheit viel häufiger als man angenommen hat; nicht nur bei den Obstbäumen, bei denen sie Sorauer Fig Querschnitt durch eine Schwiele eines lohkranlicn Zweiges. langgestreckten, schließlich schlauchförmigen (s) Zellen ausgebildet und die tafelkorkartigen Zell- lager (t) in die Höhe gehoben und schließlich zersprengt haben. Die hier eingehend geschilderte Krankheit bietet ein hohes biologisches Interesse, da sie stets als Folge einer für die betreffende Pflanze un- günstigen Bodenstruktur auftritt, d. h. also, daß bei Kulturpflanzen aus ihrem Auftreten gefolgert werden kann, daß die betreffende Pflanze entweder auf eine ihr nicht zusagende, zu dichte oder zu nasse Bodenart gestellt worden ist , oder daß nachträgliche Veränderungen und Verdichtungen mit großer Gründlichkeit untersucht hat, ist sie verbreitet, sondern auch bei anderen Kulturpflanzen, so namentlich bei den einheimischen und fremden Waldbäumen (hier hat sie beispielsweise Tubeuf an den Weymouths-Kiefern beschrieben) und auch an anderen kultivierten Holzgewächsen, so sah ich sie z. B. an getriebenen Exemplaren der Camellie und der gewöhnlichen Azalee {Rhododendron indicunt). Beide zeigten die charakteristischen Pusteln, die einen abwischbaren Staub entließen. Bei den Waldbäumen handelt es sich fast stets um künstlich angepflanzte resp. aufgeforstete Bäume, besonders in den feuchten Gebieten des N. F. Vm. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift 31S nordvvestdeutschen Flachlandes, in denen die Rohhumusbiidung in den reinen Nadelwaldungen erheblich ist. Ich habe schon früher solche Bil- dungen im Moose der Kiefernwälder beschrieben und sie auch bei verschiedenen anderen Gehölzen gesehen. Was die Folgeerscheinungen der Erkrankung betrifft, so ist schon auf die allgemeine Schwäche, die wieder als Krankheitsdisposition wirksam wird, hingewiesen. Der Saftabtrieb, die Ableitung des plastischen Materials, muß notwendig durch die Lockerung des ganzen Rindengewebes, die starke Boden oft unter der Oberfläche krankhaft lang- gestreckten Wurzeln dazukommt, wird die Tätig- keit der Wurzeln beeinträchtigt und damit wieder die Nahrungsaufnahme beschränkt. Diese Wir- kungen treten selbst da ein, wo die Krankheit nur eine lokale ist, wo z. B. durch Moosansamm- lungen am Grunde der Stämme nur dort die Deformationen vorhanden sind; ist aber die Krank- heit längs des Stammes oder der Zweige ver- breitet, so hat sie noch andere Folgeerscheinungen. Zunächst ist ein Einwandern von Fäulnispilzen und Parasiten, besonders in feuchten Zeiten, wo Fast 50jährige Kiefer aus nassern schlechtem Heideboden. l"'g- 5- Frostkrebs an der Kiefer Fig. 4. Ausbildung der Markstrahlverlängerung und damit der Einschränkung der Leitungsbahnen, gehemmt und verlangsamt werden. An den Orten ungün- stiger Bodenbeschaffenheit (Bodenstruktur) muß nun natürlich besonderes Gewicht auf die kräftige Ernährung des unter ungünstigen Verhältnissen atmenden Wurzelkörpers gelegt werden ; wenn nun eine mangelhafte Ernährung der im luftarmen die Feuchtigkeit tief in die erkrankten Stellen eindringt, erleichtert, ich nehme dies auch für die lokalen Erkrankungen an , dann aber wird die ganze Rindenbildung, besonders die Borkenbildung, eine anomale. Während ein Teil der Borken- schuppen, mitunter nur kleinere Stücke, leicht ab- fallen, sitzen andere besonders fest. Die ganze Rinde erhält ein sehr unregelmäßiges, zerklüftetes 3'6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 20 und löcheriges Aussehen. In den Rissen siedeln sich iVIoose und Flechten an und können oft den Stamm ganz bedecken. Durch ihre Ansiedlung verlangsamen sie nun wieder die Atmung des Stammes und tragen dadurch wieder zur weiteren Vergrößerung der Atmungsorgane und zur Ver- stärkung der Lohkrankheit bei. Entfernt man die Moos- oder Flechtenmäntel von den Bäumen, so wird eine oft ganz buckelige Rinde freigelegt. Eine weitere Folge solcher Wucherungen der Atmungsorgane, sowie überhaupt von Wirkungen des Luftabschlusses (an Wurzeln oder Stammteilen) scheint, wohl als Wirkung der Verlangsamung der Saftströmung und damit der Wachstumstätigkeit, die Verzögerung des Abschlusses der Jahrespro- duktion zu sein. An den oberirdischen Teilen läßt sich dies im ganzen schlecht konstatieren, aber bei den Nadelhölzern z. B. lassen sich, wie ich schon in meiner Pflanzenwelt Deutschlands erwähnt habe, deutliche Abweichungen von der normalen Entwicklung konstatieren. Arnold Engler hat bekanntlich in seinen Arbeiten über das Wurzelwachstum der Laubbäume und der Nadelhölzer gezeigt, daß abweichend von den Laubgehölzen die Nadelbäume im Herbste ihr Wurzelwachstum einstellen und erst im Frühjahr, etwa Ende März bis Mitte April, beginnen sie wieder damit. Die Wurzeln der Laubbäume wachsen dagegen, soweit die Bodentemperatur es gestattet, während des ganzen Winters. Während nach meinen Beobachtungen im Märkischen Sande das Verhalten der Kiefer und Fichte Engl er 's Beobachtungen entspricht, zeigen die Wurzeln beider Bäume in schlecht durchlüftetem Humus- boden der Heide noch bis gegen Ende November deutlich wachsende Spitzen. Es muß also hier eine Wachstumsverzögerung eingetreten sein. Be- sonders gut sah ich solche Wurzeln an solchen Beständen, die durch Moos und Rohhumus am Stammgrunde die geschilderten Rindenerkran- kungen in starkem Maße zeigten. Wie aus dem Kapitel bei S o r a u e r (es muß hier auf das Original verwiesen werden) hervorgeht, welches über die mannigfachen Kälte- und Frostwirkungen handelt, ist es von höchster Wichtigkeit, in wel- chem Zustande der Reife resp. der Winterruhe eine Pflanze sich zur Zeit der Frosteinwirkung befindet. Je mehr sich ein Gehölz in Ruhe befindet, d. h. je mehr alles vorhandene plastische Material sich im wasserunlöslichen Zustande der Reservesubstanz befindet, desto weniger wirken die Fröste und desto weniger schwer sind ihre etwaigen Wirkungen und deren Folgen; je mehr aber der Baum ,,im Saft steht", wie die Gärtner sagen, desto gefährlicher sind alle F"röste, desto leichter entstehen aus den P'rostwunden gefährliche Erkrankungen , wie z. B. der gefürchtete Obst- baumfrostkrebs (nicht mit den ,, Pilzkrebsen" zu verwechseln). Wie sehr solche ungünstigen Boden- verhältnisse und die daraus hervorgehenden Wachs- tumshemmungen die ganze Widerstandsfähigkeit der Pflanzen verändern können, geht z. B. aus dem Verhalten der Kiefern hervor. Ich habe mich in den letzten Jahren mehrfach mit den Wirkungen unzeitiger Fröste beschäftigt (vgl. Gartenflora 1908, Zeitschrift für Forst- und Jagd- wesen, und Pflanzenwelt Deutschlands 1909); aus all den Beobachtungen geht hervor, daß von allen heimischen Laubbäumen die Kiefer bei weitem die widerstandsfähigste ist, daß selbst Fruhjahrs- fröste die jungen Triebe fast nie erheblich schädigen. Sorauer bringt aber in seinem Handbuch die Abbildung einer Kiefer von schlechtem, nassem Heideboden (Fig. 4), die ich ihm zur Abbildung liefern konnte und die sich jetzt im Dahlemer botanischen Museum befindet. Die Kiefer wie der ganze Bestand (in der Nähe von Lübberstedt bei Bremen) von fast 50 Jahren hatten nur eine Höhe von etwa ^/j m erreicht und der Stamm zeigte starke Krebswunden, ganz ähnlich wie wir sie an unseren frostempfindlichen Obstbäumen, die ja Kinder wärmerer Länder sind, beobachten. Also selbst die Kiefer kann in solchen schlechten Lagen am Stamme frostemp- findlich werden. Das verschiedene Verhalten mancher Pflanzen in wärmeren Ländern gegen- über den Kältegraden und bei uns gegenüber denselben Temperaturen ist schon mehrfach her- vorgehoben worden. Bäume wie Tamarisken, Papiermaulbeerbaum, gem. Maulbeerbaum u. a. leiden bei uns häufig an Frost, meist verkrüppeln sie durch die vielen Frostschäden oder bleiben nur strauchartig, in Südosteuropa (Ungarn usw.), wo im langen warmen Herbst das Holz völlig „ausreift", bilden sie selbst in Lagen, die mindestens dieselben Kältegrade aufweisen, prächtige Bäume ohne Schäden. Weiter ist bekannt, daß Myrte und Lorbeer, Oleander- und Ölbäume usw. z. B. im nördlichen Miitelmeergebiet öfter Kältegrade bis zu — 5 oder gar bis — 7 ertragen müssen und doch sterben sie nicht ab, bei uns wird es wohl niemand wagen, die genannten Pflanzen auch nur bei wenig unter o" draußen zu lassen, sie würden unrettbar erfrieren. Dr. P. Graebner. Aus dem wissenschaftlichen Leben. Aufruf zur Schonung der Pflanzenwelt. — Wer mit aufmerksamem Blick am Abend eines schönen Früh- lingstages die heimkehrende Menge betrachtet und die Fülle von z. T. großen Sträußen sieht, die mitgebracht werden, wer außerdem iDcdenkt, daß erfahrungsgemäß noch viel mehr Blu- mensträuße vorzeitig fortgeworfen oder achtlos liegen gelassen werden, der wird zugeben müssen, daß an jedem solchen Tage ganze Wagenladungen von Pflanzen aus der Pflanzen- decke geraubt werden. Und er wird verstehen, was jeder Pflanzenkundige bestätigen kann, daß besonders in der Um- gegend der Städte die Pflanzenwelt immer mehr und mehr verödet, und daß seltenere, durch große Blüten ausgezeichnete Pflanzen allmählich ganz verschwinden. .■\n alle diejenigen, welche beim Wiedererwachen der Natur ins Freie eilen, um sich an buntfarbigen Frühlingsblumen, am frischen Grün des Waldes, am zarten Weiß der Obstblüte zu erfreuen, richtet das Westpreußische Provinzialkomitee für Xaturdenkmalspflege daher die dringende Bitte, nachstehende Mahnungen sorgfältig zu beacliten und nach Kräften dafür einzutreten, daß sie überall befolgt werden. N. F. VIII. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 317 1. Scholle die rn.ui/cii , sclioiic vor ulkiu dii.- Früliliiigs- blumen. Bedenke stets , dafi jede Pllanzc am schönsten in ihrer natürlichen Umgebung, an ihrem Standort, ist, und dati die Blumen am besten dort ihren Lebenszweck, die Krhaltuiif; und Vermehrung der Art, erfüllen können. 2. Willst Du aber etwas davon mitnehmen, um Dein Heim zu schmücken, so beherzige des Dichters Wort : ,, Brichst Du Blumen, sei bescheiden, nimm nicht gar so viele fort ! . . . Nimm ein paar und laß die andern in dem Gr.ase, an dem Strauch, .\ndere , die vorüber wandern , frcu'n sich an den Blumen auch" (Trojan), l'.in „Sträußlein am Ihitc" ziert den Wanderer, aber nicht ein Riesenbusch von Blumen, welche in der Hand zerdrückt werden und bald verwelken. 3. Pflücke die Blumen behutsam von der Pflanze ab, oder noch besser schneide sie vorsichtig mit einem scharfen Messer ab. Dadurch leidet die Pflanze am wenigsten, und die übrig- bleibenden Teile können sich weiter entwickeln. Hingegen werden bei heftigem und rücksichtslosem .\breißen von Blüten oder Blütenzweigen gewöhnlich auch die benaclibarten Zweige beschädigt und vielfach die ganzen Pflanzen geknickt und zugrunde gerichtet. 4. Reiße oder grabe nie Pflanzen mit Wurzeln aus. Gerade die Frühlingsblumen geboren fast alle zu den aus- dauernden Gewächsen. Wenn nur die Blütenzweige sorgfältig abgeschnitten werden, kann der Stamm weiterwachsen und sich langsam wieder erholen , wogegen beim Herausnehmen auch der unterirdischen Teile die ganze Pflanze verloren geht. Bei vielen selteneren Pflanzen , z. B. den meisten Orchideen (Knabenkräutern), ist das Ausgraben mit den Knollen um so schädlicher, als sie sich meist nur durch die Knollen, weniger durch Samen vermehren. 5. Reiße auch keine Zweige von den Bäumen ab. Wenn Du Dir ein paar grüne Zweige behutsam mit dem Messer ab- schneidest, wird wohl niemand etwas dagegen sagen, anders aber, wenn ganze Gesellschaften den Wald rücksichtslos plün- dern. Beim gewaltsamen .Abreißen \ on Zweigen werden nicht nur diese, sondern oft auch größere Äste abgebrochen, so daß dem Waldbesitrer ein erheblicher Schaden entstehen kann. Bedenke auch , dafi alle später an solch eine geplün- derte Stelle Kommenden die geknickten Äste und kahlen Ast- slümpfe vorfinden und dadurch ebensosehr in ihrem Natur genuß gestört werden, wie durch hingeworfene Reste der Mahlzeit, als da sind Krülistückspapier, Eierschalen und leere Flaschen. 6. Benütze nicht die Rinde der Bäume als Stammbuch. Das Einschneiden von Buchstaben und Zeichen schädigt nicht nur den Baum, ein über und über mit Narben und frischen Wunden bedeckter Stamm muß auf jeden Naturfreund ver- letzend wirken. Danzig, den 30. März 1909. Westpreußisches Provinzialkomitee für Naturdenkmalpflege, von Jagow, Oberpräsident. Bücherbesprechungen. Dr. phil. Ernst Jänecke, Gesättigte Salzlösun- gen vom Standpunkt der Phasenlehre. X -^- 188 Seiten mit 83 Tabellen und 153 Ab- bildungen im Text. Halle a. S. 1908, Verlag von Wilhelm Knapp. — Preis geh. 9 Mk. Den Zweck des Buches erläutern folgende, dem Vorworte entnommenen Sätze : „Die vorliegende Be- arbeitung der gesättigten Salzlösungen soll systematisch einen Überblick geben über die Lösungen der ver- schiedensten Salze in Wasser, in dem als Einteilungs- grund die Phasenlehre benutzt wird. . . . Für die- jenigen Lösungen , welche zwei Salze und mehr im Wasser gelöst enthalten, ist neben den sonst üblichen Arten der Darstellung eine Darstellungsfonn benutzt, welche in einiger Hinsicht einfacher sein dürfte. Verschiedene Untersuchungen sind auf diese umge- rechnet. Die sonst üblichen Darstellungsformen treten gegen diese zurück, besonders auch deshalb, weil es verschiedene ausgezeichnete kleinere Bücher gibt, welche ein ähnliches Thema behandeln." Das Buch richtet sich , wie aus dem Gesagten hervorgeht, in erster Linie an die Fachwelt, der es auch manches Interessante bietet. Weiteren Kreisen hingegen dürfte die Lektüre , ebenso wie wohl die der meisten anderen Werke, die sich mit der Phasen- lehre und ihren Anwendungen beschäftigen, nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten bieten. Werner Mecklenburg. P. Graebner, Die Pflanzenwelt Deutsch- lands. Lehrbuch der Formationsbiologie. Eine Darstellung der Lebensgeschichte der wildwachsen- den Pflanzenvereine und der Kulturflächen. Mit zoologischen Beiträgen von F.G.Meyer. Leipzig 1909, Quelle & Meyer. — Preis 7,80 Mk. Verfasser beabsichtigt in seinem Buche in jedem gebildeten Laien verständlicher F'orm die Lebens- geschichte der Deutschen Pflanzenvereine , also von Wiese und Wald, Heide und Moor, Düne und Steppe, zu schildern. Aber nicht nur die natürlichen selb- ständig entstehenden Formationen werden berück- sichtigt, auch das Leben der Pflanzen in der Kultur, der Bäume auf den Straßen , der Kräuter auf dem Acker und im Garten, der Obstgehölze usw. wird in allen Einzelheiten erörtert. — Der biologische Unter- richt beschränkte sich bisher auf den meisten An- stalten, seien es Schulen oder Hochschulen, fast lediglich auf die Behandlung der Blütenbiologie oder der rein anatomisch-physiologischen Dinge. Der Verf. steht auf dem Standpunkt, daß man der Botanik nur dadurch die ihr gebührende Wichtigkeit unter den Wissenschaften, speziell unter den Naturwissenschaften, im Schatze des allgemein Gebildeten gegeben werden kann, wenn ihre Errungenschaften der Praxis nutzbar gemacht werden. Man trifft heute nicht nur in den Kreisen der Lehrenden und anderer allgemein Ge- bildeten, sondern auch in denjenigen, denen Pflege und Eigentum von Wald oder Wiese, Acker und Garten anvertraut ist, auf einen völligen Mangel auch nur der Elemente der für die Praxis so wichtigen Kenntnisse vom Leben der Pflanzen, von den gesun- den und kranken Pflanzen, die sie tagtäglich umgeben. Das muß unter allen Umständen anders werden. Ebenso wie die Grundbegriffe der Physik und Che- mie, wie die Ernährung der Tiere usw., müssen auch die des Pflanzenlebens zum nötigen Wissensstoft" ge- hören. Durch die Studien der Pflanzengeographen, die sich die Untersuchung der heimischen Vegetations- formationen zur Aufgabe gemacht haben, ich nenne hier nur Ascherson und Warming, und durch die Arbeiten zur Erforschung der nicht durch Para- siten, sondern durch Boden- und Witterungseinflüsse usw. hervorgerufenen Pflanzenkrankheiten, um die in allererster Linie Sorauer sich verdient gemacht hat, sind wir in die Lage versetzt, das Verhalten der wildwachsenden Pflanzen ebenso wie der Kultur- 3i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 20 pflanzen gegenüber der Eigenart von Boden und Khma, der Eigenart der durch Straßenpflaster, Rauch, Gas und viele andere Dinge veränderten Vegetations- bedingungen zu studieren und in den wichtigsten Zügen zu erfassen. Das vorliegende Buch ist das erste, welches (wie schon oben bemerkt in allgemein verständlicher Form) an der Hand dieser Kenntnisse das Leben der Deutschen Pflanzenwelt in der Ebene sowohl wie im Hochgebirge, auf dem platten Lande wie in den Städten schildert. Um ein deutliches Bild der Art der Behandlung des schwierigen Stoffes zu geben , werden wir später einige Abschnitte aus dem Buche (mit Abbildungen) folgen lassen. — Bei jeder Vegetationsformation sind durch Meyer die wichtigsten ihr eigenen Tiere in ihren Lebensbe- dingungen und in ihrer Abhängigkeit von der be- trefl^enden Pflanzengesellschaft (Parasiten usw.) be- handelt, eine Zugabe, die namentlich dem Lehrer willkommen sein dürfte. (x.) Prof. Dr. W. Migula , Biologie der Pflanzen (Pflanzenbiologie). Schilderungen aus dem Leben der Pflanzen. Mit 133 Textfiguren und 8 Tafeln. Buchschmuck von Gadro Weiland. Verlag von Quelle & Meyer, Leipzig, 1909. — Preis geb. 8,80 Mk. Nach einer kurzen Einleitung über die Entwick- lung der Pflanzenwelt, über die Gründe der Entstehung der Arten und vielgestaltigen Formenkreise, teilt der Verf. seinen Stoff in 7 Abschnitte, die in eine größere oder geringere Zahl von Kapiteln zerlegt werden. Der erste umfangreiche Abschnitt behandelt die Fort- pflanzung der Gewächse. Ausgehend von der bei den niedersten Organismen allein vorkommenden vegetativen Vermehrung verfolgt Verf diese zunächst an der einfachen Teilung bis zu den kompliziertesten Organen der Blütenpflanzen hinauf. Ebenso bei der geschlechtlichen Vermehrung , dort werden in sehr übersichtlicher Weise alle die wichtigsten Formen der Befruchtung auch der niederen Pflanzen besprochen und das ist ein entschiedener Vorzug des Buches, den es vor den jetzt verbreiteten populären Biologien voraus hat. Anschließend folgt dann ein kurzes Kapitel über die Bedeutung der geschlechtlichen Fort- pflanzung überhaupt. Die nächsten Kapitel (3 — 12) sind dann den Befruchtungseinrichtungen im allge- meinen gewidmet, sie geben eine Übersicht der wichtigsten Dinge der Blütenbiologie, wie sie ja aus- führlich in groß angelegten Werken über die Pflanzen- welt oft für den gebildeten Laien geschildert wurden. Der zweite Abschnitt bespricht dann die Verbrei- tung der Pflanzen ; zunächst die Verbreitung der Pflanzen in vegetativem Zustande, ein Kapitel, dem bisher noch zu wenig Gewicht beigelegt wurde. Zahl- lose Pflanzen, von den durch den Wind verbreiteten Bakterien bis zu den Wasserpflanzen usw., werden durch Sproßteile, nicht durch Samen oder Früchte, auf weite Strecken verschleppt und verbreiten sich so über große Länderstrecken. Am Standorte selbst werden die Pflanzen verbreitet durch .Ausläufer, Brutknospen usw. und bedecken so bald einen großen Teil passenden Substrates. Ka[)itel 3 bis 6 handelt dann von der Fruchtbiologie, der Verbreitung der Sporen oder Samen durch Wasser , klebrige und schleimige, fleischige, nußartige oder klettende, durch Tiere, Ausschleudern von Samen, F'ortbewegung der ausgefallenen Samen und Früchte und Einbohren der- selben in den Boden und schließlich geokarpe Früchte, auch diese Dinge sind ja ausführlich auch in den oben erwähnten Werken behandelt. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit speziellen Schutzeinrichtungen der Pflanzen und zwar ebenso ausführlich mit den gut gegen die Unbilden der Witterung geschützten Dauerzuständen der niederen Organismen, der Bakterien, Algen, Pilze usw. als den höheren Pflanzen, dabei namentlich in einem beson- deren Kapitel mit den Schutzeinrichtungen der höheren Pflanzen gegen die Angrifte parasitischer Pilze, Wund- korkbildungen, Harz- und Guramifluß usw. Im dritten Kapitel werden dann ziemlich ausführlich die Seh utzmittel der Pflanzen gegen Tierfraß erörtert , Stachel- oder Dornbildung, Brennhaare in verschiedenen Pflanzen- familien, stark riechende, oft übel schmeckende Stoffe und auch Gifte. Abschnitt IV heißt Anpassung der Pflanzen an Klima und Boden. Hier sind in Kürze die Einflüsse der verschiedenen ökologischen Faktoren abgehandelt, wie ihnen hauptsächlich W a r m i n g durch seine Studien Nachdruck verliehen hat, so also der Einfluß des Windes und der Stürme auf die Gestalt der Ge- hölze und auf die Auswahl der Pflanzenarten, die Anpassung bestimmter Pflanzenformen an bestimmte Medien, also besonders an das Wasserleben, An- passungen an trockene , regenlose oder regenarme Gebiete , der Einfluß großer Feuchtigkeit auf die Pflanzen, der Einfluß verschiedener Lichtmengen, der Temperatur, der Höhenlage, dann die Ausnutzung der Raumverhältnisse und schließlich der Einfluß der chemischen und physikalischen Beschaffenheit des Bodens auf die Pflanzen. Im vorletzt genannten Kapitel sind besonders die zahlreichen Formen der Lianen und Epiphyten besprochen, die die Lufträume zwischen den Stämmen und Ästen der Bäume durch die oft merkwürdigen Anpassungen sich nutzbar zu machen bestrebt sind. Im fünften Abschnitt „die Pflanzengesellschaften" gibt Verf. alsdann der Vollständigkeit halber eine kurze Darstellung der Pflanzengesellschaften , er be- handelt zunächst die Bedingungen für das Gesell- schaftsleben der Pflanzen und greift dann einige der biologisch interessantesten Vegetationsformationen aus der großen Zahl heraus , er erwähnt den Wald in seinen verschiedenen Formen und seinen Ausstrah- lungen zu den Strauch- und Buschformationen , die Grasvegetationen , also die baumlosen Steppen und die Wiesen, die Heide und die Moore. Der sechste Abschnitt betrifft die Biologie der Ernährung, also im wesentlichen anatomisch - physio- logische Dinge, die Nährstoffe und die Ernährung der Pflanzen, den Parasitismus, die Saprophyten, die Mykorrhiza und insektenfangenden Pflanzen. Beson- deres Interesse beansprucht das Kapitel über die Mykorrhiza, in dem Verf. auch zu dem Resultat N. F. VIII. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 319 der großen UnkUirlieit kommt, die nücli jetzt über diese sicher für das Leben wilder Pflanzen so wich- tigen Pilze herrscht. Der Schlußabschnitt YIl beschcäftigt sich mit der Symbiose und dem Genossenschaftsleben, zunächst mit den merkwürdigen Doppehvesen aus Pilz und Alge, den Hechten, dann mit den stickstoffsammeln- den Bakterien in den Knöllchen der Schmetterlings- blütler, schlie(31ich den Symbiosen zwischen Algen und niederen Tieren und zwischen Pflanzen und .\meisen. P. Graebner, Gr.-Lichterfelde. Kr. Birkeland, The n orweg ian au rora pola- ris expedition 1902 — 1903. Vol. I. Ün the cause of magnetic storms and the origin of terres- trial magnetism. First section. 3 1 5 Seiten Gr. Quart mit vielen Abbildungen und 2 1 Tafeln. Leipzig, I. A. Barth, 1909. — Preis 22 Mk. Drei Expeditionen hat Birkeland in den Jahren 1896 bis 1903 ausgeführt, um Material zu sammeln zur Stütze der Theorie, daß die Nordlichter und magnetischen Störungen hervorgerufen werden durch korpuskulare, von der Sonne ausgehende Strahlungen. Außerdem hat Verf. aber auch E.xperimentalunter- suchungen mit einer in einer großen Entladungsröhre eingeschlossenen, kleinen, magnetischen, von Kathoden- strahlen getroffenen „Terrella" angestellt , die den gleichen Zweck verfolgten. Der vorliegende, vortreff- lich ausgestattete Band enthält zunächst eine Ein- leitung, welche die beiden ersten Expeditionen und die Tätigkeit auf den vier norwegischen Stationen der dritten Expedition (in Kaafjord bei Bossekop, Dyrafjord auf Island, Matotchkin Schar auf Novaya Zemlya und Axelöen auf Spitzbergen) schildert. Als- dann folgt die ausführliche Behandlung der magneti- schen Störungen von 1902 — 1903. Die auf den Expeditionsstationen gewonnenen Beobachtungen konnten durch Registrierungen der magnetischen Ele- mente an 25 über die ganze Erde verbreiteten Obser- vatorien ergänzt werden. Um einen schnellen Über- blick zu gewähren, wurden für jeden der 31 Störungs- tage mehrere, verschiedenen Zeiten entsprechende Mercatorkarten wiedergegeben, in welche bei den Stationen Strömungspfeile angegeben sind , deren Richtung und Größe die beobachtete störende Kraft an der betreffenden Station bestimmen würde. Außer- dem sind für jede Störung Reproduktionen der voll- ständigen Magnetogramme aller Stationen untereinan- der auf je einer Tafel wiedergegeben, so daß der Ablauf der Störung bei[uem von Station zu Station verfolgt werden kann. Während die Kurven an äquatorialen Stationen ziemlich flach verlaufen und Störungen sich meist selbst bei weit voneinander entfernten Stationen fast gleichzeitig einstellen, sind die Kurven an den polaren Stationen von außer- ordentlich starken Ausschlägen gestört, die schon bei nahe benachbarten Stationen eine deutliche Phasen- verschiebung zeigen. Dies erklärt sich daraus, daß für niedrige Breiten die wirkenden Stromsysteme in weiter Entfernung gelegen sind, während sie an den ijolaren Stationen in unmittelbarer Nähe der Stationen verlaufen und daher der Stöiinig einen mehr lokalen Charakter verleihen. Die zuerst studierten magnetischen Elementar- stürme, d. h. die einfachsten Störungstypen , werden in fünf Klassen geteilt : positive und negative polare sowohl wie äquatoriale und zyklonenartige. Die Ur- sachen dieser verschiedenen Formen sucht Verf durch Versuche mit dem magnetischen Erdkugelmodell zu ergründen. Die Entladungserscheinungen an dieser im Vakuum befindlichen Kugel werden nach Photo- graphien im Bilde vor Augen geführt und zeigen überraschende künstliche Nachahmungen der ver- schiedenen Störungstypen. Das dritte Kapitel behandelt die zusammen- gesetzteren magnetischen Stürme, das vierte und letzte die Intensität der Korpuskularstrahlung , welche die Erde in den arktischen Gebieten trifft. Durch diese letzten Betrachtungen knüpft Verf an die von Ruther- ford und Soddy ausgesprochene Ansicht an, daß die Energiequelle für alle von der Sonne ausgehenden Strahlungen in einem atomistischen Zerfallsprozeß zu suchen sein könnte , wie wir ihn auf Erden an den radioaktiven Elementen beobachten. Das von großen Gesichtspunkten aus mit außer- ordentlicher Sorgfalt ausgearbeitete Werk, auf dessen Vervollständigung man gespannt sein darf, wird sicher- lich erheblich zur Klärung unseres Wissens von den Nordlichtern und magnetischen Störungen beitragen. Kbr. Literatur. Planck, Prof. Ma.\; Die Einheit des physikalischen Weltbildes. Vortrag. (38 S.) 8". Leipzig '09, S. Hirzel. — 1,25 Ml{. Taschenberg, Prof. Dr. Otto : Die giftigen Tiere. Ein Lehr- buch f. Zoologen, Mediziner u. Pharmazeuten. (XV, 325 S. m. 68 Abbildgn.) gr. 8". Stuttgart '09, F. Enke. — 7 Mk., geb. in Leinw. 8 Mk. Wahnschaffe, Geh. Bergr. Doz. Priv.-Doz. Prof. Dr. Fei.: Die Oberflächengestaltung des norddeutschen Flachlandes. Auf geolog. Grundlage dargestellt. Mit 24 Beilagen und 39 Textabbildgn. 3., neu bearb. u. verm. Aufl. v. „For- schungen zur deutschen Landes- u. Volkskunde" Bd. VI, Heft I. (VllI, 405 S.) gr. 8". Stuttgart '09, J. Engelhorn. — 10 Mk., geb. II Mk. Anregungen und Antworten. Herrn Dr. F. — Der Artikel in der Zeitschrift des Allge- meinen deutschen Sprachvereins vom Januar 1909 1 der die Überschrift trägt: „Die Naturwissenschaftliche Wochenschrift und der Allgemeine deut- sche Sprachverein", war uns bereits bekannt. Es liegt aber keine Veranlassung für uns vor, auf den Inhalt einzugehen, da er sich nicht sachlich, ruhig und wissenschaftlich mit seinem Gegenstande beschäftigt, sondern leider ein Ausflui3 des Fanatismus ist, der bekanntlich blind macht. So ist es der Redaktion der Naturw. Wochenschrift auch nicht entfernt eingefallen, bei ihrer Zusammenstellung bemerkenswerter Äufierungen zur Fremdwörterfrage an den .•\llgem. deutsch. Sprachverein zu denken, der dem Gedanken- kreise der Redaktion viel zu fern liegt. Trotzdem findet sich gleich in der dritten und vierten Zeile der Auslassung in der genannten Zeitschrift die Bemerkung : die Naturwissenschaft- liche Wochenschrift enthielte in Nr. 5 (2. Februar 1908, Seite 77 ff.) einen scharfen, in mehr als einer Hinsicht be- merkenswerten Ausfall gegen den deutschen Sprachverein. Die Naturw. Wochenschr. hat sich aber in Wahrheit gar nicht über den genannten Verein geäußert, sondern es ist — wie wir bei nochmaligem Durchlesen unserer damaligen Zusammen- 320 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 20 Stellung seilen — in einer vuii Männer. 1 wie Eiiibl L'urlius, Dilthey, Fontane, G. Freytag, Erich Schmidt, H. v. Sybel, H. V. Treitschke , E. Zeller usw. unterschriebenen Erklärung gegen die ,, Puristen" der Sprache, ,,die nach Jacob Grimm's Wort in der OberHäche der Sprache herumreuten und wühlen", als Beispiel hierfür des ,,Allg. deutschen Sprachvereins" ge- dacht. Bei solchen beträchtlichen Ungenauigkeiten in dem Puristen-Artikel gegen die Naturw. Wochenschr. können wir uns, wie gesagt, auf eine Polemik nicht einlassen. Doch sei wenigstens die Gelegenheit benutzt, mit einem ,, Campe der Übersetzer" überschriebenen Satz Schiller's auf die in Rede stehende Auslassung zu antworten , zugleich als Nach- trag zu unserer damaligen Zusammenstellung. Unser Dichter sagt: Sinnreich bist du, die Sprache von gallischen Wörtern zu säubern, Nun so sage doch, Freund, wie man Pedant uns verdeutscht. So steht in einer mir vorliegenden Handschrift Schiller's, während in den gedruckten Xenien das Wort ,, gallischen" in ,, fremden" verändert wurde und die Überschrift ,,Der Purist" lautet. P- Herrn C. K. in F. — Über seine vielgenannten stachel- losen Opuntien hat der bekannte amerikanische Pflanzen- züchter L. Burbank selbst eine kleine Arbeit herausgegeben unter dem Titel: The New Agricultural-Horticultural Opuntias ; gr. 8°. 28 pp. Santa Rosa, Californ. Juni 1907. Es wer- den hier (nach einem engl. Referat in Botanisch. Centralbl. Bd. 105, 1907, S. 201) sieben Neuschöpfungen zum ersten Male beschrieben. Von ihnen sind vier Formen von Opuntia ficus indica^ zwei sind Formen von 0. ittna^ und eine Form ist nicht klassifiziert. Drei der neuen Kakteen sind völlig ohne Stacheln und Spiculae, zwei sind nahezu ohne solche Gebilde, die übrigen besitzen nur unbedeutende Stacheln und Spiculae. Nach Burbank eignen sich diese Formen ausgezeichnet für die Kultur in regenarmen Gebieten; sie sind als Futterpflanzen für das Vieh von größter Bedeutung, und auch ihre Früchte sollen von besserer Qualität sein. Man kannte schon lange von 0. ficus indica stachellose Formen, und in Tunesien sind große dürre Strecken mit solchen Kak- teen bebaut, die ein gutes Viehfutter liefern (Journ. d'Agric. tropic. 1905, Nr. 49). Manche haben geglaubt, Burbank habe bei seinen durch viele Jahre forlgesetzten Kulturen nichts weiter erzielt, als diese längst bekannten und im Mittel- meergebiet auch angebauten stachellosen Formen. Nach obi- gem Referat soll er jedoch neue und viel brauchbarere Pflanzen erzielt haben, von schnellerem Wachstum und stärkerer Aus- dauer. Ob nun diese wirlilich von so epochemachender Be- deutung für die Viehzucht in Wüsten- und Steppengebieten sind, wo kein besseres Futter zu Gebote steht, das mögen die Landwirte beurteilen. Von amerikanischer Seite ist wohl die landwirtschaftliche Bedeutung dieser neuen stachcllosen Opun- tien übertrieben dargestellt worden. Eine Freilandkultur der- selben bei uns ist aus klimatischen Gründen aussichtslos. — De Vries (in Biolog. Centralbl. XXVI (1906) 616), der die Kulturen Burbank's selbst gesehen hat, schreibt folgendes: ,,Es ist eine Opuntia, deren große Scheibtn ganz unbewaffnet sind, eine nahezu 2 m hohe, reich verzweigte Staude. Man ist erstaunt, wenn man ohne irgendwelche Unannehmlichkeit sich die Scheiben über die Wangen reibt. Der Verlust ist aber dennoch kein vollständiger, und es gelang mir, ganz vereinzelte Stacheln aufzufinden. Die Stacheln sind bei den Opuntien bekanntlich häufig von zweierlei Art, jede von bei- den Arten kann gelegentlich fehlen, und es kommen auch Arten ohne .Stacheln vor. Durch die Kreuzung dieser seltenen Formen mit den gewöhnlichen großscheibigen Sorten wurde Burbank's stachelloser Kaktus erhalten. Der Zweck dabei war, eine Pflanze zu züchten, welche in den dürren Wüsten Südkaliforniens auch ohne Irrigation eine Kultur er- niüglichen würde, denn die <_)j)ULticn sind, abgesehen von den Stacheln, ein vorzügliches Viehfutter." In seinem Werke „Pflanzenzüchtung" (P. Parey, Berlin 1908) behandelt De Vries die stachelloscn Kakteen ebenfalls (S. 164 und 192); dort findet man auch Abbildungen einjähriger und zweijähriger Sämlinge. — Burbank 's Verdienste als Pflanzenzüchter sind von amerikanischen Autoren vielfach in unschöner Weise auf- gebauscht worden. So z. B. von Harwood in dessen Buch : New Creations in Plant Life. Authorised Account of the life and work of L. Burbank (New York, 1907. 2 ed. 8"); nach Gardener's Chronicle (1906) II. 443 sind die'Gärt- ner von manchen ,, Wunderschöpfungen" des Züchters ent- täuscht. Zweifellos steckt aber vieles wertvolle auch für die Wissenschaft in diesen Züchtungen, wie das Urteil von be- rufener .Seite (De Vries) lehrt. Das Prinzip von Burbank's Methode (nach De Vries) besteht hauptsächlich in Erhöhung der Variabilität durch Kreuzung im Interesse einer Selektion aus möglichst reichhaltigem Material. Er arbeitet teilweise mit einem ganz kolossalen Pflanzenmaterial (z. B. seine Pflaumen hat er aus 300000 Hybriden, seine Brombeeren aus 60000 Bastarden ausgewählt usw.). Burbank selbst soll (nach De Vries) ein Mann von ungewöhnlichem Geschick im Züchten von Pflanzen und von idealen .'\bsichten sein, der besonders bestrebt ist, Varietäten zu gewinnen, durch die bisher unbe- baute Gegenden der Kultur zugänglich gemacht werden kön- nen ; und darauf zielen gerade seine Kaktuszüchtungen. H. Harms. Herrn C. L. in N. — Die eingesandten kleinen ,,Knöll- chen" aus dem Fichtelgebirge sind vielleicht junge Frucht- körperstücke eines Pilzes aus der Gruppe der Helvellaceac\ näheres ist nicht zu ermitteln. H. Harms. Herrn Prof. Fr. S. in T. — Im Anschluß an die Mit- teilung über Parthenogenesis bei Blütenpflanzen in Nr. 14 (Seite 223) muß noch darauf hingewiesen werden, daß Strasburger in seinem neuesten Werke (Zeitpunkt der Be- stimmung des Geschlechts, Apogamie, Parthenogenesis und Reduktionsteilung, Jena, G. Fischer, 1909; S. 82) an dem von ihm festgelegten Begriff der P. festhält. Nachdem er hervorgehoben hat, daß in neuerer Zeit wiederholt die Neigung sich geltend gemacht hat, abweichend von ihm bei der zu wählenden Bezeichnung des Vorganges nur darauf Wert zu legen, daß ein entwicklungsgeschichllich als Ei anzusehendes Gebilde sich ohne Befruchtungsakt zum Keim entwickelt, wirft er die Frage auf, ob es sich nicht empfehlen solle, zwischen echter P. aus haploiden und unechter P. aus diploiden Eiern zu unterscheiden, und fährt dann fort: ,, Meine Abgrenzung der apogamen Entwicklungsvorgänge gegen die echte Parthenogenesis auf Grund des haploiden oder diploiden Wesens der Eier ließ sich auf chromosomati- scher Grundlage scharf durchfuhren , und gestattete es auch, der Eiapogamie ihre Stellung unter anderen apogamen Vor- gängen anzuweisen. Aus diesem Grunde halte ich immer noch an meiner Bezeichnungsweise fest, ohne der anderen ihre Berechtigung abzusprechen. Der Fortschritt unserer Erkenntnis auf dem in Frage stehenden Gebiete dürfte zu- nächst in der Mehrung des Tatsachenmaterials liegen, das noch keinesfalls erschöpft ist." In oben genannter Arbeit hat Strasburger die cytologischen Erscheinungen bei M'ikstroe- j/iia indica näher verfolgt, der indischen Thymelaeacee, bei der H. Winkler zuerst parthenogenetische Vorgänge ent- deckt hatte; Str. findet, daß diese Pflanze in der Anlage ihres Gametophyten rein apogam geworden ist; näheres siehe dort. Von besonderem Interesse ist noch, daß Wikslrcie?nia ein weiteres Glied in der Reihe der Fälle bildet, wo Poly- morphismus und Apogamie zusammenfallen. H. Harms. Inhalt: Dr. Richard P. aerwald: .Selbsttätigkeit und Ichliebe. — Sammelreferate und Übersichten : Dr. Ed. Hennig; Neues aus der Geophysik. — Kleinere Mitteilungen: Dr. 1'. Gracbner: Über nichtparasitäre Pflanzenkrankheiten. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Dr. phil. Ernst Jänecke: Gesättigte Salz- lösungen vom Standpunkt der Phasenlehre. — P. Graebner; Die Pflanzenwelt Deutschlands. — Prof. Dr. W. Mi- gula: Biologie der Pflanzen. — K r. Bi rk el an d : The norwcgian aurora polaris e.Npedition 1902 — 1903. — Literatur: Liste, — Anregungen und Ant^vorten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue l-i.lj;c VIII. r.i.ud ; .Ici sanken Reihe XXIV. liand. Sonntag, den 23. Mai igog. Nummer 21. Wie kriechen unsere Wasserschnecken an der Wasseroberfläche? N.ichihuck verbellen. Von Prof. Ur. H. Brockmeier, M. -Gladbach. Diese Frage wurde schon von den ver- schiedensten Beobachtern (Simroth,\) v. Martens,'-) Willem-') usw.) behandelt, aber eine Überein- stimmung in der Auffassung ist immer noch nicht erzielt worden. Bald wird die Luft in der Lunge der VVasserlungenschnecken, bald das von den Schnecken ausgeschiedene Schleimband als das die Tiere an der Wasseroberfläche tragende Element angesprochen. Schon vor 21 Jahren habe ich zur Erklärung dieser Erscheinung auf die oberste, wesentlich zähere Wasserschicht hin- gewiesen, welche von den Physikern Flüssigkeits- häutchen genannt wird. Der Raumersparnis wegen muß ich es mir versagen, die verschiedenen Erklärungsversuche hier einzeln zu behandeln, aber desto ausführlicher möchte ich den Leser mit den Tatsachen bekannt machen, welche zur Gewinnung eines eigenen Urteils notwendig sind. Als zweckmäßig wird es sich erweisen, auch andere Erscheinungen an der Wasseroberfläche in den Kreis der Betrachtungen zu ziehen. In Aquarien, in Teichen und in ruhig fließen- den Gewässern sieht man während der warmen Jahreszeit gar nicht so selten Schnecken, welche mit nach oben gerichteter Kriechsohle an der Wasseroberfläche entlang gleiten. Hat man das Glück, den Übergang der Schnecke von irgend- einem festen Gegenstande zur Wasseroberfläche zu beobachten, so wird das Tier einen Wechsel in der Geschwindigkeit nur dann zeigen, wenn es aus irgendeinem Grunde nicht vorwärts kommen will, oder wenn fließendes Wasser eine Beschleunigung der Reise bewirkt. Dieser letzte Fall kommt gar nicht so selten vor, was bei der Behandlung tiergeographischer oder biologischer Fragen wohl zu berücksichtigen ist. In einem kleinen Wasserlaufe der hiesigen Gegend sah ich einmal an einer durch einen winzigen Wasserfall etwas ausgetieften Stelle wohl mehrere hundert ausgewachsene Schnecken (Limnaea ovata) fried- lich beisammen, und immer neue Artgenossen wurden an der Wasseroberfläche herangetrieben. Die weitere Abwärtsbewegung war durch lebende Pflanzen und andere Hindernisse sehr erschwert. Trotzdem ich diese Beobachtung schon vor vielen Jahren gemacht habe, ist das Erinnerungsbild in ursprünglicher Frische erhalten geblieben. — Die Zahl der zum Kriechen an der Wasseroberfläche befähigten Schnecken kann nicht leicht zu groß angenommen werden. Ich verzichte darauf, die 'j Zeitschrift für wissensch. Zoologie, 1882, S. 2S. -) Xaturw. Wochenschrift, 1894, S. 624 —625. ') Bulletin de L'Academie Royale des Sciences, des Lettres et des Bcaux-Arts de Belgique, 1888, S. 42 1 — 430. lange Reihe der von mir beobachteten Arten hier aufzuführen und bemerke nur, daß neben den Lungenschnecken auch die mit Kiemen versehenen Tiere von den kleinsten bis zu den größten Ver- tretern (Paludina) diese Fähigkeit besitzen. Jugend- liches Alter ist auch kein Hindernis, denn auch die eben abgesetzten Paludinen — es sind dies Tierchen von Erbsengröße — üben diese Kunst mit vollendeter Meisterschaft. Man kann getrost behaupten: alle unsere Wasserschnecken können an der Wasseroberfläche kriechen, aber nicht alle machen von dieser Fähigkeit denselben Gebrauch. Am häufigsten zeigen die Lungenschnecken ihre Künste, weil sie. im Gegensatze zu den Kiemen- schnecken, zum Zwecke der Atmung häufiger die Wasseroberfläche aufzusuchen pflegen ; aber selbst bei ihnen zeigen sich noch Unterschiede, sogar bei Vertretern derselben Art. In einem kleinen, sauerstoffarmen Gewässer wird sich beispielsweise eine Limnaea stagnalis bald an der Oberfläche zeigen, aber ein Artgenosse auf einer Characeen- wiese in einem großen See würde auch den ge- duldigsten Beobachter zur Verzweiflung bringen. Will man ohne Zeitverlust irgendeine Süßwasser- schnecke an der Wasseroberfläche bewundern, so bringt man sie mit der nach oben gerichteten Kriechsohle vorsichtig dorthin, und die kleine Arbeit ist bald belohnt. Im klaren Trinkwasser wird man die Tiere nicht längere Zeit lebend erhalten können, aber es muß hervorgehoben werden, daß auch in solchem Wasser die Bewegungen an der Ober- fläche mit Sicherheit erfolgen. Hieraus folgt, daß irgendeine Schmutzschicht an der Oberfläche des Wassers zur Anheftung der Schnecken nicht herangezogen werden darf Nach einer anderen Erklärung werden die Lungenschnecken durch den Druck des umgeben- den Wassers gegen die in der Atemhöhle ent- haltene Luft an der Oberfläche gehalten, wie ein eisernes Schiff, das unter der Wasserlinie noch Luft enthält. Für die Güte dieser Erklärung spricht nicht gerade der Umstand, daß nun noch für die Kiemenschnecken eine andere Erklärung, auf die ich weiter unten eingehen werde, aufge- stellt werden muß. Die Luft in der Atemhöhle der Lungenschnecken macht es diesen Tieren möglich, vom Grunde des Wassers ziemlich schnell senkrecht nach oben zu steigen. Dort an- gekommen hält aber gerade die Luft die Tiere in der verkehrten Lage: der schwere Fuß hängt nach unten, die Luft enthaltende Schale ist oben. Nun tastet das Tier umher bis es mit dem vor- deren Teile des Fußes die Wasseroberfläche er- 322 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 21 reicht hat. Dann legt es sich herum und kriecht davon. Entfernt man den Fuß wieder vorsichtig von der Oberfläche des Wassers, so kippt die Schnecke wieder um und kann sich, wenn sie zu unsanft behandelt wurde, durch Zusammenpressen und teilweises Ausstoßen der Luft zu Boden fallen lassen. Häufig kommt es vor, daß ein Schleim- faden die aufsteigende Lungenschnecke am Boden verankert. In diesem Falle erreicht das Tier die Wasseroberfläche mit dem vorderen Teile des Fußes zuerst, weil der Faden das Fußende zu- rückhält. Jeder hat gewiß schon auf Wegen, an Bäumen und an alten Mauern glänzende Schleimspuren von Landschnecken gesehen. Auch die Wasser- schnecken sondern ein Schleimband ab, und viele Beobachter halten dieses für das die Schnecken an der Wasseroberfläche tragende Element, welches mit der Luft in Berührung kommen soll. Für die Kiemenschnecken findet man noch eine besondere Erklärung, auf die ich oben schon hin- wies: bei der schwimmenden Schnecke soll der Fuß eine schwache Vertiefung bilden, welche Luft enthält, weil die Fußränder das Wasser abhalten. Beiden Erklärungen gegenüber muß ich hervor- heben, daß die Kriechsohle mit ihrem Schleim- bande unter der obersten Wasserschicht bleibt. Blickt man von der Seite auf klares Trink- wasser, so wird man doch noch mit Leichtigkeit allerlei Staubteilchen an der Oberfläche entdecken, welche sich dadurch verraten, daß an den Stellen der spiegelnde Glanz der Wasseroberfläche unter- brochen ist. Läßt man dann eine Schnecke dort kriechen, so findet man, daß diese Teilchen ganz gleichmäßig über die Kriechsohle hinweggehen, aber nicht an der Seite entlang gleiten, wie man es erwarten sollte, wenn der Fuß mit der Luft in Berührung wäre. Der folgende Versuch ist noch anschaulicher. Taucht man weiße Schreib- kreide in Wasser, so wird sie grau. Schabt man auf die Kriechsohle einer in der Luft befindlichen Wasserschnecke Kreide, so bleibt das Pulver weiß. Macht man denselben Versuch mit einer an der Wasseroberfläche kriechenden Schnecke, so wird das Pulver grau. Eine andere Tatsache sei hier mitgeteilt. In einem Aquarium mit zahlreichen Infusorien war auch Limnaea peregra vertreten. Wiederholt habe ich gesehen, daß eine solche Schnecke an der Wasseroberfläche an derselben Stelle eine Zeitlang verweilte und mit Hilfe der Fußwimpern die Infusorien in dem Oberflächen- wasser von vorn nach hinten schob, bis sich auf dem hinteren Ende der Kriechsohle eine ordent- liche Portion angesammelt hatte, die dann mit Behagen weggeleckt wurde. Auch die große Limnaea stagnalis habe ich dabei beobachtet, daß sie sich an der Wasseroberfläche nicht forlbewegte, sondern das Oberflächenwasser zurück schob. Hiernach dürfte wohl klar sein, wo sich das in den Erklärungen immer wieder auftauchende Schleimband eigentlich befindet. Das Schleimband soll für die Schnecken ein Floß sein, an dem sie entlang kriechen. Prüfen wir aber die Tragkraft dieses Gebildes, so zeigt sich, daß es schwerer als Wasser ist. Schleim- bänder, welche ich vom Boden eines Gefäßes hoch hob, stiegen nicht etwa nach oben, sondern fielen herab, sobald sie sich wieder selbst über- lassen waren. Ein senkrechtes Aufsteigen von Kiemenschnecken habe ich noch nicht beobachten können und ich bin überzeugt, daß auch andere Beobachter dieselbe Erfahrung gemacht haben. Hier könnte man ja einwenden : die Kiemen- schnecken haben gar nicht das Bedürfnis aufzu- steigen, weil sie ihr Atmungsbedürfnis im Wasser befriedigen können. Das ist richtig; aber nun löse man sie vorsichtig von ihrer Unterlage ab, um den Auftrieb des Schleimbandes zu erproben. Man wird finden, daß das Band, welches schon allein nicht aufsteigen kann, erst recht nicht be- fähigt ist, einen schweren Körper emporzuheben. Acera buUata, eine Kiemenschnecke des Meeres, vermag quer durch das Wasser zu schwimmen, aber auch hieran ist das Schleimband unschuldig; es sind die Seitenlappen des Fußes, welche als Schwimmwerkzeuge in Tätigkeit treten. Das senkrechte Aufwärtssteigen der Lungen- schnecken scheint für die hebende Kraft des Schleimbandes zu sprechen; doch ist zu bedenken, daß dieselbe Schnecke auch wieder zu Boden sinkt. Die Luft in der Lunge befähigt diese Schnecken zu beiden Bewegungen. Steigt eine Lungenschnecke im Wasser frei empor, so kann diese Bewegung ganz langsam oder schnell vor sich gehen. Haftet das Schleimband am Boden, so erfolgt die Aufwärtsbewegung langsam — bei Planorbis nitidus z. B. mit einer Geschwindigkeit von 0,67 mm — und gestattet eine bequeme Beobachtung des Tieres. In diesem F"alle sieht man recht deutlich, daß die auf einem festen Körper ausgebreitete Kriechsohle zusammengelegt wird, sobald das Tier ins freie Wasser übergeht. An der Wasseroberfläche erfolgt wieder eine Ausbreitung und hebt man die Schnecke vor- sichtig in die Luft, so wird gewissenhaft der Querdurchmesser der Kriechsohle wieder ver- kürzt. Dementsprechend wird im Wasser ein Schleimfaden, an der Wasseroberfläche aber ein Schleimband gebildet. Das ist doch jedenfalls recht auffällig. Das Tier hat ein feines Gefühl dafür, wo es den nötigen Widerstand für seine Fußmuskulatur findet. Ein Wasserteilchen im Innern des Wassers wird von allen Seiten gleich stark angezogen und ist leicht aus seiner Lage zu bringen. Das ist für die Fortbewegung einer Schnecke trotz des Schleimbandes recht ungünstig. Noch ungünstiger sind die Verhältnisse in der Luft. Die Wasserteilchen in der obersten Wasser- schicht werden besonders stark nach unten an- gezogen ; sie legen sich darum zu einer schwerer beweglichen Schicht, dem Flüssigkeitshäutchen, zusammen. An diesem elastischen Gewölbe breitet die Schnecke wieder ihren Fuß aus, aber nicht in der tieferen Schicht, und nicht in der Luft. N. F. VIII. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 323 Das Ergebnis der bisherigen Betrachtungen würde also sein; das stets vorhandene Schleim- band ist schwerer als Wasser; es befindet sich unter der obersten Wasserschicht und bietet der Schnecke im tieferen Wasser und in der Luft keinen genügenden Widerstand für die Fortbe- wegung. Das Band kann also nicht als das die Schnecken an der Wasseroberfläche tragende Element in Anspruch genommen werden; diese Rolle ist dem Flüssigkeitshäutchen zuzuweisen. — Ist diese Annahme richtig, so wird sich die Zähig- keit und Tragfähigkeit der obersten Wasserschicht auch anderen Körpern gegenüber bewähren, und es käme ganz besonders darauf an, nach solchen Tieren Umschau zu halten, welche auch ohne Schleimband unter dem Flüssigkeitshäutchen ent- lang zu laufen vermögen. Wer einmal einen Springbrunnen aufmerksam beobachtet, wird finden, daß viele der umherspritzenden Tropfen auf der Wasseroberfläche dahinrollen. Die von einem Ruder herabfallenden Tropfen zeigen dasselbe Verhalten. Läßt man tropfenweise Kafi'ee auf Kaffeeflüssigkeit fallen, so wird man gar nicht so selten dasselbe Schauspiel genießen können. Jeder Chemiker unter den Lesern hat gewiß schon ge- sehen, daß große Tropfen von Schwefelkohlen- stoff auf dem Wasser zu schwimmen vermögen. Der Schwefelkohlenstoff ist aber wesentlich schwerer als das Wasser. Auch feste Körper, z. B. Bernstein, Sand, Nähnadeln usw. werden vom Wasser getragen. Die Wolfspinne, die Wasserläufer unter den Schnabelkerfen, gewisse Fliegen und die kleinen Springschwänze laufen und springen auf dem Wasser umher. In allen Fällen wird die Flüssigkeitsoberfläche an den be- lasteten Stellen mehr oder weniger tief eingedrückt. Luftblasen und Öltropfen drängen die oberste Wasserschicht nach oben. Planarien kriechen unter der Wasseroberfläche entlang und können an dem hinterlassenen Schleimfaden zurückgezogen werden; aber ohne Schleim bewegen sich dort Cypris, gewisse Käfer und Käferlarven. Bei dieser Bewegung hält Cypris die Öffnung der Schalen nach oben. Ein kleiner Wasserkäfer von etwa 5 mm Länge läuft gar nicht so selten an der Unterseite der Wasseroberfläche entlang. Bei dieser Gelegenheit schleppt er zuweilen noch Eier am Hinterleibsende mit sich umher, was ich z. B. am 24. Mai 1896 beobachtete. Eine schwärzliche, etwa I cm lange, von oben nach unten abge- plattete Käferlarve (Cyphon) mit langen Fühlern habe ich hier im Frühjahre in kleinen Wasser- gräben häufig angetroffen. Auch dieses Tier ver- mag sich mit Leichtigkeit an der Unterseite des Wassergewölbes fortzubewegen, und hiermit glaube ich genug Beispiele angeführt zu haben, um den Leser von der besonderen Leistungsfähigkeit der obersten Wasserschicht zu überzeugen. Ein anderer Punkt würde jetzt noch zu er- örtern sein : Das Schleimband soll nicht vom Wasser benetzt werden. Wie steht es mit dieser Angabe? Das von den Schnecken an der Wasser- oberfläche zurückgelassene Schleimband ist breiter als man nach der Form der Kriechsohle erwarten sollte. Läßt man Schnecken über ein recht weit- maschiges Drahtnetz kriechen, so erhält man zahlreiche, festgerahmte Schleimhäute. Bringt man auf ein getrocknetes und straff gespanntes Häutchen dieser Art ein wenig Wasser, so zeigt sich sofort eine auffallende Faltenbildung. Will man diese Erscheinung und die Verbreiterung des Schleimbandes in ungezwungener Weise erklären, so wird man schon mit der oben angeführten Behauptung in Widerspruch geraten. Zur Er- gänzung dieser Tatsachen habe ich noch folgen- den Versuch gemacht: Auf den vorderen Teil der Kriechsohle einer dem Wasser entnommenen Schnecke brachte ich einen mit Anilin gefärbten Wassertropfen, der dann von dem Tiere nach hinten geschoben wurde. Erfolgte auf diesem Wege keine Verbindung von Schleim und Wasser, so wäre eine Trennung beider Stoffe leicht aus- führbar gewesen. Das Gegenteil traf ein. Am Fußende war eine gefärbte Masse, die sich zu Fäden ausziehen ließ. Auf Grund der hier gemachten Ausführungen kann ich nur wiederholen, was ich schon vor vielen Jahren betont habe: Die Schnecken kriechen an dem durch be- sondere Zähigkeit ausgezeichneten Oberflächen- wasser, dem sogenannten Flüssigkeitshäutchen entlang. Der Schleim der Kriechsohle bringt durch Aufsaugen von Wasser den Fuß der Schnecke in innige Verbindung mit der obersten Wasserschicht. Bei den Lungenschnecken, die schon durch die Luft gehoben werden, verhindert das Flüssigkeitshäutchen ein Umkippen der Tiere; die Kiemenschnecken aber hängen am Wasser- gewölbe und ziehen es mehr oder weniger nach unten. Hiermit glaube ich in der Hauptsache die in der Überschrift gestellte Frage beantwortet zu haben. Auf die Behandlung von allerlei Neben- erscheinungen habe ich in dieser Arbeit verzichtet. Kleinere Mitteilungen. Die weitaus ältesten bisher gefundenen Menschenreste. — Haben die ältesten Mumien aus dem alten Ägypten der Pyramidenerbauer ein Alter von gegen 5000 Jahren aufzuweisen, so sind das verhältnismäßig junge Überreste im Vergleich zu den allerdings in ganz wenigen Bruchstücken gefundenen körperlichen Überresten der Mammut- und Renntierjäger der frühen Nacheiszeit, die das stattliche Alter von 20 — 25000 Jahren aufweisen. Aber auch diese sind relativ jungen Datums gegenüber den mancherlei Werkzeugen und körperlichen Überresten des eigentlichen Eiszeit- 324 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 21 Fig. 1. Die berühmte paläolithische Fundstelle von La Moustier in Südwestfrankieich. In der Talsohle zwischen den beiden Mausern liegt die Grotte, in welcher das Skelett des Acheuleenjägers gefunden wurde : lo m darüber befindet sich die von Lartet und Christy ausgebeutete Fundstelle, 'die der Stufe des Neandertalers den Namen gab. Fig. 2. Der durch Ausgrabung freigelegte Eingang zur Grotte von Le Moustier, in welcher in i,b m Tiefe beim in den Boden gesteckten Stab das Skelett des Eiszeitjägers gefunden wurde. N. F. VIII. Nr. :i Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 325 menschen, dessen Spuren wir bis weit in die nach den neuesten P'orschungsergebnissen anderthalb Millionen Jahre dauernde Eiszeit mit den wenigstens drei größeren Zwischeneiszeiten mit teilweise wärmerem Klima als heute zurückverfolgen können. So darf der nach dem berühmten vielumstrittenen Funde des Jahres 1S56 im Neandertal bei Düssel- dorf als Neandertaler bezeichnete Träger der sog. Mousterienkultur auf wenigstens 300 ooo Jahre zurückversetzt werden. Und vor kurzem ist noch eine Art \'orläufer desselben in Südwestfrankreich gefunden worden, dessen Alter noch ziemlich viel weiter, bis etwa 400 000 Jahre hinter die Gegen- wart zurückreichen dürfte. Was sind das für ganz unglaublich entfernte Zeiten, in die die frühesten körperlichen Überreste des .Menschen fallen, von seinen aus Feuer- stein kunstlos zugeschlagenen Werk- zeugen ganz zu schweigen, die seine Gegenwart in jedenfalls noch sehr tierischen Formen bis in den Anfang des Oligozäns, d. h. reichlich acht Millionen Jahre zurückverfolgen lassen. Diesen in seiner für jeden denkenden Menschen einzigartigen Bedeutung hoch- wichtigen Fund verdanken wir einem in Basel ansässigen schweizer Archäo- logen, Otto Hauser, der seit einigen Jahren die weltberühmten, meist noch nicht erschöpfend ausgegrabenen Fund- plätze der Eiszeitmenschen und dazu noch einige durch seinen Spürsinn entdeckte neue im Vezeretale in der Dordogne in Südwestfrankreich syste- matisch erforscht. In jenem von steilen Kreidekalkfelsen eingefaßten Tale liegt zu Oberst an einer Talverzweigung die altbekannte paläolithische Station von Le Moustier, deren einer, auf einer Terrasse gelegene Teil schon zu Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahr- hunderts von den beiden Pionieren der prähistorischen Forschung Lartet und Christy ausgegraben wurde. Es ist eben diejenige Fundstelle, welche der Kulturstufe des Neandertalmenschen um die Wende der vorletzten Eiszeit bis in die Waldphase der sehr lange dauernden letzten Zwischeneiszeit hinein, durch den Pariser Forscher Gabriel de Mortillet im Jahre 1869 die Bezeichnung Mousterien eintrug. Der untere Teil aber war bis zum vorigen Jahr durch moderne Bauten der wissen- schaftlichen Erforschung verschlossen, bis Herr Hauser im September 1907 seine Grabung an jener wenig tiefen Höhle, 10 m unter der Fund- stelle von Lartet und Christy, begann. Hier wurden in der Folge in völlig unberührten F"und- schichten eine große Menge von Feuersteinwerk- zeugen und -splittern, w^orunter typische Faust- keile der dem Mousterien vorausgehenden Kultur- stufe des Acheuleen, so genannt nach deren ältester und bedeutendster h'undstelle St. Acheul, einer Vorstadt von Amiens in Nordfrankreich, dann Messern, Schabern, Bohrern, Schlagsteinen usw. gefunden. Da stieß ein Vorarbeiter beim Schaufeln am 7. März vorigen Jahres auf einige Knochenbruch- stücke, die er sofort richtig als menschliche Extremitätenreste erkannte. Der Anweisung ge- mäß ließ er sofort seinen Chef kommen, der als- bald die Grabung unterbrechen und, bis tief in die regnerische Märznacht hinein arbeitend, die geöffnete Stelle in anderthalb Meter Tiefe hoch mit Erde bedecken ließ, um anderweitige Reste des Skeletts vor den für sie verderblichen Witte- ns- lier Schädel bei si-iner pruvisurisclien BltißleguDg am lo. April 1908. rungseinflüssen zu schützen. i\m lO. April wurde der hochwichtige Fund in Gegenwart einer Anzahl französischer Beamter und Ärzte der Umgegend protokollarisch aufgenommen und soweit freigelegt, bis der Schädel heraussah. Dieser aber blieb unberührt im Boden, bis auf Einladung des Herrn Otto Hauser die aus neun namhaften Anthropologen und Prähistorikern be- stehende Gesellschaft, nämlich Prof. Hermann Klaatsch aus Breslau, Geheimrat von Baelz, der bekannte Japanforscher aus Stuttgart, Prof. Karl von den Steinen, der verdiente Erforscher der zentralbrasilischen Stämme am Schingu, Geheimrat Hans Virchow und Prof. Gustav 326 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 21 K o s s i n n a , sämtliche drei aus Berlin, Dr. Hahne aus Hannover, Dr. H a a k e aus Braunschweig, Dr. Wüst aus Halle und Rehlen aus Nürnberg, nach Beendigung des Frankfurter Anthro- pologen-Kongresses am lo. August im Vezeretal eintraf Unter ihnen übernahm nun Professor Klaatsch die heikle Aufgabe, mit Herrn H a u s e r zusammen von den kostbaren Skelett- resten zu bergen, was nur anging. Beim Ver- suche ihrer Hebung zeigte es sich aber bald, daß es ganz unmöglich war, die einzelnen Knochen, besonders den Schädel, als Ganzes herauszube- I'ig. 4. Der beinahe auf dem (iesichl |liegende Schädel bei der Aus- grabung am 12. August 1908. An dessen Unterkiefer ist das linke Schlüsselbein gepreßt; rechts sind unten der rechte Oberarmknochen und darüber die Vorderarmknochen zu sehen. kommen, da diese uralten Knochen viel zu brüchig waren und teilweise bei ihrer Freilegung sofort zu Staub zerfielen. So mußte man sich damit begnügen, in sehr mühsamer anatomischer Präpara- tion Stückchen für Stückchen des Schädels heraus- zulösen unter beständiger Feststellung der Zu- sammengehörigkeit und unter Fixierung des Bildes der gegenseitigen Lage durch photo- graphische Aufnahmen. Nach dreitägiger sorg- fältiger Arbeit gelang die Hebung am 12. August. Dann wurden die Teilstückchen in Watte gehüllt nach Herrn Hauser's Hauptc]uartier Langerie haute gebracht, gehärtet und schließlich in Breslau durch Prof. Klaatsch mit Hilfe von Plastilin zu einem Ganzen zusammengefügt, wie dies die beigefügten Abbildungen zeigen. Die nähere Untersuchung der Skelettreste er- gab, daß man es hier mit einem 16 — 18 jährigen Menschen männlichen Geschlechts von 148 cm Körperlänge zu tun hat, der nach den dabeiliegen- den Feuersteingeräten des Acheuleen der zweiten Hälfte der überaus lange, nämlich ein Vielfaches der übrigen dauernden vorletzten Zwischeneiszeit angehörte, dessen Alter wir nach den Bestim- mungen der Landabtragung in der Mittelschweiz auf gegen 400000 Jahre von der Gegenwart zurückliegend datieren dürfen. Und schon in dieser uralten Zeit tritt uns der Mensch mit ihn weit über das Tier, aus dem er einst zweifellos hervorging, erhebenden religiösen Ideen erfüllt entgegen. Er glaubte schon damals, auf so über- aus niedriger Wildheitsstufe er auch sonst als unsteter Jäger lebte, an ein Fortleben der Einzel- individuen nach dem Tode als Geister. Dem Menschen auf niedriger Erkenntnisstufe ist der Tod unerklärlich, ein verlängerter Schlaf. Und wie das Einzelindividuum im Schlafe, wäh- rend es wie leblos daliegt, alles mögliche träumt, indem sein Geist offenbar den Körper verläßt, um ferne Landstriche und sogar verstorbene Stammesgenossen, mit denen er verkehrte, aufzu- suchen, so ist sein Geist nach dem Urteil aller Primitiven nach den Tode dauernd vom Körper geschieden. Aber er lebt gleichwohl weiter, um unsichtbar die lebenden Hordenmitglieder zu be- gleiten und ihnen je nachdem Glück oder Un- glück zu bringen. Denn auf so tiefer Kulturstufe kennt der Mensch noch keinen Zufall. Alles Geschehen ist für ihn auf natürliche Ursachen zurückzuführen, und da er eben an das Portleben der Seele als Geist glaubt, so sind für ihn die Geister der Verstorbenen an allem schuld, was ihm zustößt. Trifft ihn Heil oder Unheil, so stecken sie, die ihn unsichtbar auf Schritt und Tritt begleiten und mit ihm am Herdfeuer rasten, dahinter. Daher gilt es, sie sich günstig gestimmt zu erhalten, damit sie einem nur Gutes tun, und dazu ist ein Totenkult nötig, der uns hier bei dem allerältesten nachweisbaren Menschenfunde in Südwestfrankreich zum ersten Male handgreiflich entgegentritt. Man begräbt die Toten zur Be- schwichtigung von deren Geist mit allerlei Grab- beigaben und bringt ihnen täglich, und später wenigstens vor allen wichtigen Unternehmungen Opfer an Speise und Trank zu ihrem Unterhalte dar. Schon dieser Ureuropäer von Le Moustier, der von Prof Klaatsch als Homo Mousteriensis Hauseri bezeichnete Eiszeitjäger aus der zweiten Hälfte der vorletzten Zwischeneiszeit, ist, wenn auch einfach genug, so doch tatsächlich von den um ihr künftiges Schicksal bangen Hordengenossen unter einem höhlenartigen Felsenvorsprunge be- N. V. VIII. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 327 stattet worden. Das heißt er wurde nicht in die stillen Winkel vor F"euchtigi 1 ,1,1 oder organischen Säuren in der Kälte oder in der Wärme zu extrahieren; so ist z. B. ein stehender Terminus in der Bewertung der citronensäure- lösliche Anteil an Phosphorsäure. Ein sicheres Kriterium , inwieweit eine dieser Methoden dem Ernährungsbedürfnis und dem Aufnahmevermögen der Pflanzenwurzeln wirl ' r- ::cOQ(=i£EJ . i- rä W ^ R^ I.bis3. April. — B ■■■>■— hM. TT t.bistt.April -■■ !U i üi 1 m I 1 I I 1 1 I — r 13.bis30.April. ili Deufschiancl. /yionatssumme .T. Aprl 1909.08.07.06.05.04. **> Berlinv Wetfcrbupeau sehr ergiebig waren. Darauf stellte sich im größeren Teile des Landes trockenes, vorwiegend heiteres Wetter ein, das im Süden neun Tage lang ohne Unterbrechung fortdauerte. In ganz Ostdeutschland hingegen, bis zur Elbe hin, fiel auch in dieser Zeit bisweilen kräftiger Regen und im äußersten Nord- osten reichlich Schnee. Mitten während des Osterfestes fand die trockene Witte- rung auch in West- und Süddeutschland einen jähen Abschluß. Es folgten oft wiederholte starke Niederschläge, die an vielen Orten von Gewittern eingeleitet wurden. Bei meist sehr hef- tigen , zwischen Süd und West schwankenden Winden blieb dann das Wetter bis zum Ende des Monats immer zu stärke- ren oder schwächeren Regenschauern geneigt. Besonders grofie Regenmengen gingen im Osten und im Rheingebiete hernieder, z. B. fielen am 2i. April zu Görlitz 24, am 27. zu Karlsruhe 22, zu Straßburg i. E. 21 mm Regen. Wäh- rend der zweiten Hälfte des Monats entluden sich auch über ganz Deutschland viele Gewitter, die am 2^. von einzelnen, seit dem 27. aber von sehr zahlreichen Hagelfällen be- gleitet waren. Die gesamte Nicderschlagshöhe des Monats betrug für den Durchschnitt aller berichtenden Stationen 50,4 mm, während die gleichen Stationen' im Mittel der frühe- ren Aprilmonate seit Beginn des vorigen Jahrzehnts 46,7 mm Niederschlag geliefert haben. Die allgemeine Anordnung des Luftdruckes in Europa wies im diesjährigen April keine besonders raschen Verände- rungen und häufige Wiederholungen auf. Einem mäßig tiefen barometrischen Minimum, das zu Beginn des Monats von der Nordseeküste nordostwärts nach Nordwestrußland zog, folgte ein umfangreiches Maximum vom Atlantischen Ozean nach und führte in fast ganz Deutschland trockenes , klares , aber kühles Wetter herbei. Nachdem es am 5. April in der Nähe der Ostseeküste 780 mm Höhe überschritten hatte, kehrte das Hochdruckgebiet langsam nach Westen zurück, so daß in Norddeutschland wie im größten Teile Mitteleuropas eine all- gemeine, anfangs schwache Nordwestströmung eintrat. Ann 10. April erschien bei Island eine tiefere Barometer- depression, von der in der folgenden Zeit mehrere Teilminima hintereinander mit starken westlichen Winden nach der Nord- see und von da weiter ostwärts vorrückten. Dadurch wurde das westliche Hochdruckgebiet allmählich mehr nach Süden verschoben, und als am iS. in Nordskandinavien ein neues hohes Maximum auftrat, drangen die nächsten Teildepressioncn in das Innere des westeuropäischen Festlandes ein, wo sich d.aher die Niederschläge noch vermehrten. Erst gegen Ende des Monats breitete das südwestliche Maximum sein Gebiet wieder über Mitteleuropa aus, doch blieb das Wetter hier außerordentlich unbeständig, da von den britischen Inseln jetzt in rascherer .-Xufeinanderfolge Depressionen längs der deutschen Küste nach Nordrußland hinzogen. Dr. E. Leß. Bücherbesprechungen. Richard Avenarius, Kritik der reinen Erfah- rung. Zweite , namentlich nach hinterlassenen Aufzeichnungen des Verfassers verbesserte Auflage. Zweiter Band. Leipzig, O. R. Reisland, 1909. XII und 536 Seiten. Der gesamten „physiologischen Psychologie'' liegt bekanntlich eine bedeutsame Hypothese zugrunde, nämlich die, daß alle Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle und Willensregungen mit nervenphysiologi- schen Vorgängen innigst verbunden sind. Diese Hypothese wird den Tatsachen derart gerecht, daß sie an Wert einer physikalischen Theorie durchaus nicht nachsteht. Um nicht irgendeiner metaphysi- schen Theorie zu verfallen, ist es freilich notwendig, das Nebeneinanderbestehen von psychischen und physischen Vorgängen lediglich zu konstatieren, ohne etwa das „Wesen" des Psychischen aus der Abhängigkeit „erklären" zu wollen. Die Verhält- nisse liegen aber ferner so, daß Avenarius es wagen durfte , von einer funktionalen Beziehung zwi- schen Physischem und Psychischem — ganz im Sinne der Mathematik — zu sprechen. Haben die Psychophysiker schon lange mancherlei Verknüpfungen zwischen beiden Gruppen des Geschehens nachge- wiesen, so gelang es erst Avenarius, einen ner- vösen Grundprozeß, die Vitalreihe, aufzu- decken , aus der durch eine Art von Superposition sich Vitalreihen zweiter, dritter und höhe- rer Ordnung aufbauen , und zwar Reihen, von denen die psychischen Prozesse selbst als abhängig erscheinen. Da auch die psychischen Vorgänge wieder, wie schon H e r b a r t bemerkt hatte, in eigen- artigen Reihen verlaufen, so konnten diese geradezu als abhängige Vitalreihen bezeichnet werden . An Stelle der üblichen Einteilung der psychischen Grundformen in Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle und Willensregungen setzte Avenarius eine neue Einteilung. Er unterschied Elemente, die alles umfassen , was sonst als Empfindungen bezeichnet wird, jedoch einerlei, ob sie in der Form von Wahr- nehinungen oder Erinnerungsvorstellungen auftreten, und Charaktere, die nicht nur die Gefühle um- fassen, sondern auch alles, was gewisse Inhalte cha- rakterisiert , was ihnen vorübergehend od^* auf die Dauer eine gewisse Färbting verleiht. Von dem jetzt vollständig in zweiter Auflage vor- liegenden Hauptwerke unseres Philosophen , das von Petzoldt nach hinterlassenen Aufzeichnungen ver- bessert worden ist, behandelt der erste Teil die un- abhängige Vitalreihe, während der zweite der ab- hängigen gilt. 336 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 21 Der zweite Band ist nun insofern von besonderer Bedeutung, als er an der Hand eines ungeheuer reichhaltigen Materiales die gesteckte Aufgabe er- ledigt, nämlich, wie Petzoldt es näher bezeichnet hat, die ,, Prüfung der Idee der reinen Erfahrung" und die „Untersuchung der Berechtigung der in dieser Idee gelegenen Forderung und der Aussichten , die sie auf Verwirklichung hat". Ferner wollen wir dar- auf hinweisen , daß gerade die Lehre von den Charakteren, die von der Psychologie nur wenig beachtet, ja von der Erkenntnistheorie meist ganz übersehen worden waren, eine außerordentliche Be- reicherung der psychologischen Wissenschaft bedeutet und ausreichende Mittel enthält, um nicht nur eine weitverbreitete Metaphysik mit real gedachten Prinzi- pien, sondern auch einen auf die Allmacht des Den- kens oder der Vernunft vertrauenden Rationalismus zu überwinden und einen im Banne eines unfrucht- baren Nominalisaius steckenden Empirismus neu und fester zu fundieren. Angersbach. L. Beissner, Königl. Garteninspektor, Handbuch der Nadelholzkunde. Systematik, Beschrei- bung , Verwendung und Kultur der Ginkgoaceen, Freilandkoniferen und Gnetaceen. Für Gärtner, Forstleute und Botaniker. 2., völlig umgearbeitete vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 165 nach der Natur gezeichneten Originalabbildungen. Berlin, Paul Parey, 1909. — Preis geb. 20 Mk. Das nützliche Buch in Großoktav umfaßt jetzt 742 Seiten einschließlich des umfangreichen Registers. Bezüglich der Änderungen, die Verfasser vorgenommen hat, ist darauf hinzuweisen, daß die systematische Einteilung zeitgemäß umgestaltet worden ist ; hinsicht- lich der Nomenklatur ist aber Verfasser so schonend wie nur möglich vorgegangen. Er verfährt nach den Worten Nägeli's: „Die Botanik hat kein historisches, sondern nur naturwissenschaftliches Interesse. Der Name einer Pflanze hat keinen anderen Wert , als daß er zur Verständigung unter den Botanikern dient ; wenn er allgemein bekannt und gebraucht wird, gibt es gar keinen Grund, ihn zu ändern. Das Gesetz der Priorität hat nur den Zweck , diese Einheit der Benennung herbeizuführen, und wenn sie erreicht ist, bringt ein älterer Name ebenso wie ein neuerer Ver- wirrung hervor." Beissner bleibt daher bei den alten, bewährten, fest eingebürgerten Benennungen. Das Buch zerfällt in drei Teile. Nach einer nur 5 Seiten umfassenden Einleitung, welche eine Über- sicht über die systematische Einteilung der im Titel genannten Gruppen bringt, beschäftigt sich der erste Teil etwas eingehender mit der Systematik aller be- kannten Ginkgoaceen, Koniferen und Gnetaceen. Im zweiten Teil folgt die eingehende Beschreibung der .\rten und im dritten wird die Kultur der Freiland- koniferen behandelt. Dr. P. E. Liesegang, Die Projektions-Kunst und die Darstellung von Lichtbildern. XII. Auf- lage. 367 Seiten mit 156 Abbildungen. Leipzig, M. Eger, i^oq. — Preis 5 Mk., geb. 6 Mk. Das Buch enthält eine gedrängte Zusammen- stellung der wichtigsten Hilfsmittel für die Projektion und gibt auch .'\nleitung zur Herstellung der Bilder und Anstellung mannigfacher Versuche. Leider wer- den keine Bezugsquellen angegeben, so daß der Leser vielfach nicht in der Lage sein wird, die Ver- suche ohne weiteres auszuführen. Die physikalischen Versuche, deren Beschreibung oft nicht klar genug ist, sind ziemlich willkürlich ausgewählt. Hier hätte größere Vollständigkeit erstrebt werden sollen , wäh- rend den bloßen Spielereien ein weniger breiter Raum genügt hätte. Kbr. Literatur. Wallach, raunschweig, Vieweg, 1904. (Geb. 20 Mk.l. Herrn M. R. in O. — Sie teilen uns mit, daß sich in dem Buche ,, Natur und Gesetz" von K. Bettex (Bielefeld und Leipzig, Velhagen & Klasing, 190O auf S. 162 folgende selt- same Angabe lindet: ,,Ja, in Nicaragua wächst die PhylnUuca electrica, welche auf 7 — 8 Schritte die Magnetnadel ablenkt und die Hand elektrisch ebenso statk erschüttert wie ein Ruhmkorff'scher Apparat. Merkwürdiger noch, daß diese ihre elektrische Kraft während der Nacht gleich Null ist, gegen 2 Uhr nachmittags aber am stärksten. Demnach ver- mag diese Pflanze Sonnenlicht und Wärme in Elektrizität um- zusetzen." .Ähnliche Angaben finden sich, wie Sie sagen, in ,, Chronik der Zeit", Jahrg. 1896, S. 715. — Leider konnte bisher der Ursprung der ganz unglaubwürdig klingenden .-\n- gaben nicht ermittelt werden. Vielleicht gelingt es einem mit der physiologischen Literatur besser vertrauten Botaniker aus dem Leserkreise zu ermitteln, welcher phantasievolle Beobachter jene Tatsachen zuerst festgestellt haben will. In seiner Pflanzenphysiologie (1904) sagt Pfeffer (S. 861): „Pflanzen, denen, wie gewissen Fischen, die Fähigkeit zukäme , einen direkt wahrnehmbaren elektrischen Schlag zu erteilen, sind nicht bekannt." H. Harms. Inhalt: Prof Dr. H. Brockmeier: Wie kriechen unsere Wasserschnecken an der Wasseroberfläche? — Kleinere Mit- teilungen: Dr. Ludwig Reinhardt: Die weitaus ältesten bisher gefundenen Menschenreste. — Prof. Dr. R i c h t e rs : Meer-Bärtierchen. — Hugo Fischer: Neuere Methoden in der chemischen Bodenanalyse. — R. Paladino: Über die schwarze Kephalopodentinle. — Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: Richard .Avena- rius: Kritik der reinen Erfahrung. — L. Beissner: Handbuch der Nadelholzkundc. — Dr. P. E. Liesegang: Die Projektions-Kunst. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofi-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert h Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue folge VIU. Liaiul ; der ganzen Keihe XXIV. Band. Sonntag, den 30. Mai 1909. Nummer 32. Neuere Beobachtungen über vulkanische Gasexhalationen. Vortrag, gehalten im geologisch-paläontologischen CoUoquium der Universität zu Berlin. (Nachdruck verboten.] Von Dr. Ernst Schon in früheren Zeiten haben sich viele be- rühmte F'orscher mit einem der fesselndsten Natur- ereignisse, mit dem \'ulkanismus, befaßt. Aber trotz des reichen Beobachtungsmaterials, das vor- zugsweise im Laufe des letzten Jahrzehntes ge- sammelt vi/urde, ist für viele wichtige Fragen, besonders für die, welche die Ursachen und Ent- stehung des Vulkanismus betreffen, keine allge- mein anerkannte Lösung gefunden. Es sind viele Theorien aufgestellt, um den Sitz und die Beschaffenheit der Kräfte zu er- klären, die so ungeheure Wirkungen hervorbringen. Man nahm zuerst an, daß der Tangential- druck, den die Erdrinde bei ihrer Erkaltung und der damit verbundenen Schrumpfung ihrer äußeren Teile erleide, zu P'altungen und Zerreißungen der peripherischen Rinde führte, — tektonische Vor- gänge, die eine solche Erhitzung der dabei be- troffenen Gesteinsmassen herbeiführen, daß sie Anlaß geben zur Schmelzung und zum Empor- quellen der Gesteinsmassen an diesen tektonisch schwachen Stellen. Diese Theorie erklärt jedoch nicht die im großen und ganzen gleichartige Zusammensetzung der Laven, — eine Gleichartigkeit, die bei einer Schmelzung der verschiedenen und mannigfaltigen Gesteinsarten, aus denen sich die Erdrinde zu- sammensetzt, gar nicht vorhanden sein könnte. Ferner sind auch nicht überall, wo sehr große Faltungen und andere gewaltige tektonische Störungen stattfanden, vulkanische Eruptionen erfolgt. Im Gegensatz zu dieser mechanischen Er- klärung der Vulkanerscheinungen nehmen die späteren Theorien einen glühend flüssigen Kern der Erde an und schreiben dem Magma selbst die Fähigkeit zu, aus eigener Kraft infolge chemi- scher Reaktionen sich den Weg durch die Erd- rinde zu bahnen. Man nahm zwar auch an, daß der Druck der infolge der Abkühlung sich immer mehr zu- sammenziehenden Erde von entscheidendem Ein- fluß auf die vulkanischen Erscheinungen sei. Aber die gewaltigen Eruptionen, mit denen ein solcher Vorgang meistens verbunden ist, ließen diese Er- klärung nicht ausreichend erscheinen, sondern man sah in den ausbrechenden Gasen den wesent- lichsten Faktor bei einer Eruption. Jetzt erhob sich aber die Frage: Sind diese Gase, unter denen der Wasserdampf am auf- fallendsten in die Erscheinung tritt, juvenilen Ursprungs, stammen sie aus dem Erdinnern, oder Zimmermann. sind sie vados, d. h. gehörten sie schon unserer Hydrosphäre an ? Zwar weist die Lage der meisten tätigen Vul- kane in der Nähe der Meeresküsten auf eine un- mittelbare Verbindung mit dem Meereswasser hin. Diese Vermutung findet anscheinend durch die Sublimationsprodukte, durch die Salzaus- hauchungen der Vulkane, eine Bestätigung. Aber es sind auch Vulkane bekannt, deren Entfernung vom Meere so viel beträgt, daß eine Verbindung mit dem Meere undenkbar ist. Dazu kommt noch, daß in den Sublimationspro- dukten der Vulkane die Jod- und Bromsalze nicht vorkommen, die im Meereswasser verhältnismäßig reich vertreten sind, während Kohlensäure und Borsäure in großer Menge in den Vulkanen auf- treten , aber im Meereswasser nicht in diesem Maße zu finden sind. Diese Beobachtungen deuten auf den juvenilen Ursprung der Gase hin; aber um eine allgemein gültige Lösung dieser Frage wird heute noch heftig gestritten. Die Ansichten gehen haupt- sächlich in der F"rage nach der Herkunft des Wassers bzw. des Wasserdampfes weit auseinander. Während vor kurzem die herrschende Ansicht war, daß alle Gase mit dem Wasserdampf in der Hauptsache juvenil sind, mehren sich in der letzten Zeit die Stimmen, die das Gegenteil behaupten. Aus der reichen Fülle der einschlägigen modernen Literatur sind zwei Forscher besonders zu erwähnen, da sie sich mit diesen Fragen ein- gehend beschäftigt haben, aber dabei zu ver- schiedenen Schlußfolgerungen gekommen sind. Auf der einen Seite steht Sueß. In seinem berühmt gewordenen Vortrag: „Über heiße Quellen", den Sueß 1902 im Verlag der Gesell- schaft deutscher Naturforscher und Ärzte zur weiteren Veröffentlichung brachte, hat er u. a. auch diese Frage berührt. Er geht dabei von der Ansicht aus, daß, um diese Frage zu ent- scheiden, zwei Gesichtspunkte von großer Bedeu- tung sind: 1. Die Temperatur der Laven, 2. Die Natur und Beschaffenheit der begleiten- den Gase. Nach Dölter ist die Vesuvlava bei einer Tem- peratur von 1090" C dünnflüssig. In den Schlackenfetzen , die vom Vesuv ausgestoßen wurden, waren Leucitkörner vorhanden, deren Schmelztemperatur 1 3 10" beträgt. Zwischen diesen beiden Temperaturgrenzen lag damals die Tempe- 338 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 22 ratur der Lava und zwar muß die Temperatur nur wenig über 1090" gelegen haben, weil die Wände des Kraters „aus ausgerissenen Schollen der- selben Lava bestanden, die nach Monaten noch nicht aufgeschmolzen waren". Dieser Umstand veranlaßte Sueß, in den Gas- blasen, die beständig aus dem Krater aufstiegen, die Wärmebringer selbst zu sehen, analog den heißen in das Ausbruchsrohr des Geysirs eintretenden Dampfblasen. In dieser Ansicht wurde er noch durch den Umstand bestärkt, „daß größeren vulkanischen Ausbrüchen unterirdische Kanonenschläge voranzugehen pflegen, welche allgemein für das Zeichen des Eintretens sehr heißer Dampfblasen in eine kü h 1 er e Umgebung gehaUen werden. Die dumpfen Schläge werden häufiger, bis endlich der erste weiße Dampf- ballen aus dem Krater hervorschießt. Später erst steigt die siedende Lava auf, die innigst mit Wasserdampf gemengt ist." Die Gase, unter ihnen der Wasserdampf, ent- stammen also einer Temperaturzone, „welche dem Schmelzpunkt der meisten Felsarten gleichsteht oder ihn übertrifft, „in der daher von porösem und zerklüftetem Gestein und schon aus diesem Grunde von vadoser Infiltration nicht die Rede sein kann." In Hinsicht auf den zweiten leitenden Gesichts- punkt, auf die Natur der begleitenden Gase, ist es ja bekannt, daß sich bei der Abkühlung eine gewisse Regelmäßigkeit in dem Auftreten der Gase bemerkbar macht, die zwar nicht scharf voneinander getrennt sind, sondern durch allmähliche Übergänge, durch das Vorherrschen einer bestimmten Gasart sich auszeichnen. Die heißesten Fumarolen, deren Temperatur 500'^' noch übersteigt, und die sich ja auf den erkalten- den Laven einwandsfrei haben beobachten lassen, sind trocken. In diesem Zustande treten Chlor- verbindungen auf, vergesellschaftet mit Fluor, Bor und Phosphor. Bei zunehmender Abkühlung ver- schwinden diese Elemente; schwefelhaltige Dämpfe erscheinen nebst Spuren von Arsen, ebenso Wasserdämpfe, und schliei31ich gewinnt die Kohlen- säure, die schon in der heißesten Fumarole vor- handen ist, die Vorherrschaft. Aus allem zieht Sueß den Schluß, daß die Gase, darunter der Wasserdampf, juvenilen Ur- sprungs sind, dem Magma selbst ihre Elntstehung verdanken, das ja bei der zunehmenden Abkühlung der Erde die ursprünglich in großer Menge ab- sorbierten Gase allmählich wieder abscheiden müsse. Die vulkanischen Eruptionen stellen also „die Äußerungen einer Entgasung des Erdkörpers dar, welche seit der beginnenden Flrstarrung des- selben begonnen hat und heute, wenn auch auf einzelne Punkte und Linien beschränkt, noch nicht völlig abgeschlossen ist. Auf diese Weise sind die Ozeane und ist die gesamte vadose Hydro- sphäre von dem Erdkörper abgeschieden worden. Nicht die Vulkane werden von Infiltrationen des Meeres gespeist, sondern die Meere erhalten durch jede Eruption Vermehrung." Dieser Auffassung stehen nun die Ansichten Brun's gegenüber, der den juvenilen Ursprung des Wassers in Abrede stellt und überhaupt dem Wasser bzw. dem Wasserdampf, wenn dieses Gas bei den vulkanischen Eruptionen auftritt, eine untergeordnete Rolle zuschreibt. Er stützt seine Ansicht auf zahlreiche Untersuchungen, die er so- wohl im Felde wie auch im Laboratorium aus- führte. Mit der Veröffentlichung begann er im Jahre 1905 in der Zeitschrift Archives des sciences physiques et naturelles.^) In betreff der Temperatur gelangt er zu dem- selben Resultat wie Sueß, nämlich zu der An- nahme einer durchschnittlichen Wärme von iioo". Bei der Untersuchung der begleitenden Gase aber gelang es ihm, außer den bekannten Gasen das Vorhandensein von Kohlenwasserstoff festzu- stellen. Er ging dabei von dem Gesichtspunkt aus: wenn die Gase im allgemeinen juvenilen Ur- sprungs sind, so müssen sich diese, wenn auch in geringerer Menge, in den Laven und in den vul- kanischen Gläsern nachweisen lassen. Bei seinen zahlreichen Analysen hat Brun seine Ansicht be- stätigt gefunden, daß nämlich die Laven, trotz- dem sie schon eine vulkanische Eruption bestanden hatten, bei ihrer Erhitzung und anderen chemi- schen Prozessen noch verhältnismäßig sehr reiche Mengen von Gasen lieferten, eine Reaktion, die man z. B. durch Abkühlung zum Stillstand bringen konnte. Diese Tatsache ist darauf zurückzuführen, daß die Laven und vulkanischen Gläser bei der Eruption vor der völligen Erschöpfung ihrer Gase abgekühlt wurden. Trieb man künstlich die Erhitzung bis zur Verflüssigungstemperatur des Gesteins, so war in diesem Augenblick die Bildung und das Ausströmen der Gase am lebhaftesten. Dieses machte sich durch eine kleine Explosion und durch den Zerfall in Bimsstein bemerkbar, ein Vorgang, der vielfach eine bis 20 fache Volum- vermehrung bewirkt. Den Kohlenwasserstoff erhielt Brun durch Auslaugung von Obsidiangesteinen von den liparischen Inseln und von Vesuvaschen mit Chloroform und darauf folgender Destillation zwecks Beseitigung des Chloroforms. Dieser Kohlenwasserstoff glich der Vaseline und zeigte auch sonst alle Eigenschaften eines Kohlenwasserstoffs. Durch andere physikalisch-chemische Prozesse gelang es Brun, auch Stickstoff, der entweder an Eisen oder an Silicium gebunden ist, ferner Ammoniak, Chlorammonium -) und Chlorsilicium in den vulkanischen Gesteinen nachzuweisen. ') Arch. d. sc. ph. et nat. 1905, XIX, 6; 1906, XXII, 11; 1908, XXV, 2. Geneve. -) Daß Chlorammonium vadosen Ursprungs sich bei Laven auch beobachten läßt, ist in der letzten Zeit noch von Dr. Th. Wegner (Centralblatt f. Min. Geol. u. Pal. 1907, S. 662) nachgewiesen. Dieses Gas entsteht durch die Bedeckung von stickstoffhaltigen Substanzen mit Lava. N. F. Vin. Nr. 22 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 339 Alle diese Gase, die juvenil sind und sich in größerer Menge nachweisen lassen, werden haupt- sächlich erst bei der Verflüssigungstemperatur der Laven infolge von chemischen Umsetzungen frei. Indem erst in diesem Augenblick die IVlöglichkeit, gegenseitig auf sich einzuwirken, am größten ist, erzeugen diese erwähnten Gase die vulkani- schen Explosionen. Mit einem derartigen Ausbruch gehen nur geringe Gewichtsveränderungen des Magmas bei der gleichzeitigen Erzeugung von gewaltigen Gasmassen vor sich. So gibt erhitzter Obsidian bei einer Gewichtsverminderung von nur 2*/,, bis 3 Tausendstel das zehnfache seines Volumens an Gasen ab. i cbkm liefert also theoretisch lo cbkm Gas. Um sich eine Vorstellung von diesen Gas- mengen zu machen, braucht man nur die Zeit zu berechnen, in der ein solcher Gasausbruch beendet sein würde. Bei einem Vulkanschlot von dem sehr großen Querschnitt von looo qm würde das Gas bei einer Geschwindigkeit von 500 m in der Sekunde noch etwas mehr als S', Stunden ge- brauchen, um zutage zu kommen. Versuche im Laboratorium, die mit den er- wähnten Gasen angestellt wurden, bewiesen die schon in früheren Zeiten aufgekommene Ansicht, daß die Gase reduzierend aufeinander einwirken. Vulkane sind mithin Punkte, wo sich Reduktions- prozesse im großen abspielen. Diese Reaktionen sind mit einer gewaltigen Druckentfaltung verbunden. Versuche im Labora- torium, die mit Stickstoff, Ammoniak, Chlor- ammonium und Chlorsilicium bei Gegenwart von Kohlenwasserstoff", den Hauptfaktoren bei einer vulkanischen Eruption, angestellt wurden, ergaben, daß der Druck gleichwertig ist dem des Knall- quecksilbers, das einen Druck von 27000 kg auf I qcm ausübt, ebensoviel wie eine Basaltsäule von ICD km Höhe mit einem Durchmesser von i qcm. Dieser Druck genügt, um die gewaltigsten Erup- tionen hervorzurufen. Bei diesen Reaktionen spielt der Wasserdampf selbst gar keine Rolle; denn er fehlt hierbei vollständig. Brun führt hierfür folgende Hauptgründe an : 1. Die ganz frischen Laven am Stromboli wie am Vesuv haben im Verhältnis zu den anderen Gasen nur unbedeutende Spuren Wasser ergeben. Als zu diesem Zweck die Lava erhitzt wurde, entwich das Wasser bei einer Temperatur, die mehrere hundert Grad unter der Verflüssigungs- temperatur der Lava lag. 2. Dann hat Brun die Beobachtung machen können, daß bei mäßiger Tätigkeit der Vulkane an den Kraterrändern, die meist kühl waren, keine Kondensation des Wassers stattfand; vielmehr wiesen die Innenwände des Kraters Salze auf, die bei Gegenwart von Wasser zerflossen wären, unter derEinwirkung von Wasserdampf aber sich hätten sofort zersetzen müssen. So beobachtete Brun Steinsalz (NaCl), Sylvin (KCl) imprägniert mit Salmiak (NH.Cl), Molysit (Fe.,Cle), Magnesium- chlorid (MgCI.,), Lawrenzit (I*'eCl.,) und verschiedene Sulfate; immer war aber Chlorkalium, Aluminium- chlorid mit Fluoriden und Chloride von Eisen und Magnesium vorhanden, also alles Salze von sehr hygroskopischem Charakter. Bei Gegenwart von Wasserdampf wären schon bei 250" aus den letzten drei sehr unbeständigen Metallchloriden die Oxyde entstanden, also Korund (ALO3), Hämatit (Fe„0.j) und Periklas (MgO). 3. Steigerte sich die Tätigkeit eines Vulkans bis zu einem Ausbruch, so fanden sich in den frisch ausgeworfenen Aschen ebenso die hygro- skopischen Salze, wie sie im Innern des Kraters vorhanden waren, und zwar besaßen sie kurz nach ihrem Niederfall 0,9 — i Tausendstel Wasser; dieser Wassergehalt nahm infolge des Einflusses der äußeren Luft schnell zu und betrug bei 20" 2,7 bis 3 Tausendstel, also das 3 fache seiner ersten Messung. Hieraus geht schon hervor, daß der Wassergehalt der Explosionsgase geringer sein muß als der der atmosphärischen Luft bei 20". Selbst nach der physikalischen Seite hin macht sich der Wassergehalt der Aschen bemerkbar. Ist die Asche trocken, kann sie wie eine Flüssigkeit fließen ; bei einem Wassergehalt von 2 Tausend- stel hat sie nicht nur ihre Beweglichkeit einge- büßt, sondern es tritt auch eine Körnelung ein, die Anlaß zu größeren Kugelbildungen gibt. Ebenso ist die graue Farbe der Asche charak- teristisch für die Abwesenheit von Wasser. Feuchte Luft bewirkt nach kurzer Zeit, zuweilen schon nach einigen Stunden, eine Rotfärbung der Asche infolge der Oxydation des Eisens. Versuche im Laboratorium bewiesen, daß schwach angesäuerter Wasserdampf je nach dem Verhältnis der ange- wandten Temperatur eine mehr oder weniger schnelle Rotfärbung der Aschen bewirkt. Bei 700" tritt die Farbenänderung augenblicklich ein. 4. Bei der näheren Untersuchung von Ob- sidiang esteinen hat sich herausgestellt, daß alles Wasser sich schon bei 300" verflüchtigte, und das ist etwa lOOo'' unter der Temperatur, bei der das Gestein unter Explosionserscheinung seine anderen absorbierten, trockenen Gase hergab. Jetzt hat der größte Teil der Chemiker ') sich schon mit der Tatsache abgefunden, daß Wasser bzw. Wasserdampf bei der Temperatur der flüssigen Lava nicht existieren kann; denn ob- gleich Wasser eine sehr beständige Verbindung ist, so beginnt doch seine Dissoziation schon bei 1000" und ist vollständig bei 2500". 5. Brun hat, obwohl er sich 8 Tage am Stromboli, dieselbe Zeit am Vesuv und an den drei gerade in Tätigkeit getretenen Kratern im Tal von Inferno, deren ganze Entwicklung er also verfolgen konnte, aufhielt und Beobachtungen sammelte, keinen Wasserdampf an der Lava ge- sehen. ^) ^?\- Stavenhagen, Lehrbucli der anorganischen Chemie. 340 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 22 Auch andere Forscher beobachteten ebenso wie Brun das Auftreten des weißen Rauches, hielten ihn aber irrtümlicherweise ohne weiteres für VVasserdampf, während er sich nach den Untersuchungen von Brun lediglich als ein trockenes chlorhaltiges Gas herausstellte (vgl. Fig. i). Fig. I. Trockener Gasausbruch am Stromboli. 4. März 1901. Photogr. V. H. Albert Brun ; mit Genelimigung des Bureau des Archives hier abgedruckt. Den Angaben, daß meist Regengüsse sich gleichzeitig mit den Aschenfällen einstellen, stimmt Brun bei, führt aber diesen Vorgang auf folgen- des zurück. Infolge der gesteigerten Vulkantätigkeit und der damit verbundenen gesteigerten Erhitzung entweicht an den Vulkanen das atmosphäri- sche Wasser. Ferner ist die Tatsache ja be- kannt, daß feine Staubteilchen in einer Luft, die nicht ganz mit Wasserdampf gesättigt ist, schon Anlaß zur Kondensation des Wassers geben; dann, daß die ungeheuren ausgeworfenen Aschenmengen sehr viel Licht absorbieren, ein Vorgang, der er- fahrungsgemäß eine bedeutende Temperatur- erniedrigung zur Folge hat, die reichhaltige Regen- güsse hervorbringen kann. Diese Erfahrung konnte Brun wie andere Forscher wiederholt am Vesuv machen (vgl. F"ig. 2). Ist durch diese Vorgänge die Entstehung von größerenWassermengen bei Vulkanen erklärt, so gibt Bnm zu, daß geringe Mengen von Wasserdämpfen, die jedoch gar keine wesentliche Rolle bei Vulkan- explosionen spielen, entstehen können durch die Oxydation, durch die Verbrennung der juvenilen Gase Ammoniak und der Kohlenwasserstoffe, viel- leicht auch durch die Oxydation des Wasserstoffs, der ja zweifellos den Vulkanen entweicht, mit dem Sauerstoff der Silikate. Zur Erklärung von geringen Wasserdampfmengen infolge der Oxydation des Wasserstoffs kann meines Erachtens weniger die Oxydation des vor- handenen Wasserstoffs durch die Silikate dienen, als die Oxydationswirkungen durch die frei werdende Kohlensäure (CO.,). Diese zerfällt be- kanntlich schon bei ungefähr 400" in Kohlen- oxyd (CO) und Sauerstoff (O), und dieser Sauer- stoff könnte wohl eine stark oxydierende Wirkung ausüben, zumal er sich in statu nascendi befindet und seine Vereinigung mit Wasserstoff durch die meist sehr zahlreich vorhandenen katalytisch wirkenden Kontaktsubstanzen nur noch befördert werden kann. Infolge der Reaktion dieser Gase ist die IVIöglichkeit für die Entstehung von geringen Wassermengen in den oberen Teilen eines Vul- kans denkbar, aber das Auftreten anderer Gase, z. B. des Schwefelwasserstoffs, beweist keineswegs, wie es früher vielfach angenommen wurde, das Vorhandensein von juvenilem Wasser. Daß die Gegenwart von Schwefelwasserstoff nicht auf juveniles Wasser hindeutet, zeigt die Beobachtung, daß schon bei 400" Calcium- sulfat (CaSOj) durch Kohlenwasserstoffe reduziert Fig. 2. Aussehen des Himmels wahrend eines Aschenfalls und ein in Lava eingeschlossenes Haus. 15. April 1906. Bosca Ire Gase. Photogr. V. H. Albert Brun; mit Genehmigung des Bureau des Archives hier abgedruckt. wird, indem größere Mengen von Schwefelwasser- stoff (H.,S) entstehen und ein Gemenge von Karbonat und Schwefel zurückbleibt. CaSO^ ist nun ein wichtiger Bestandteil der vulkanischen .'\schen, und auftretender Schwefelwasserstoff würde deshalb nur eine Temperaturerniedrigung N. F. VIII. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 341 bedingen, da durch Reduktionsvorgänge meist große Wärmemengen gebunden werden. AucirSchwefelsäure entsteht sehr leicht, ohne daß Wasser vorhanden zu sein braucht, bei einer Temperatur von 900 — looo" durch das Einwirken von Kieselsäure auf irgendein Sulfat unter Ab- schluß von Luft und diese Reaktion geht schon bei ungefiihr 750" vor sich, wenn Spuren von Kohlenwasserstoffverbindungen zugegen sind, wie Brun sie beobachtete. Ferner beweist das Auftreten von Chlorwasser- stoff nicht das V^orhandensein von juvenilem Wasser. Vielmehr ist reines Chlor, dessen Vor- handensein in reicherer Menge sich bei der Unter- suchung der Laven herausstellte, imstande, Kohlen- wasserstoffe unter Bildung von Chlorwasserstoff und Kohle zu zersetzen. Dieser Zerfall wird u. a. auch durch die Gegenwart von dem katalytisch wirkenden Magnesiumchlorid beschleunigt. Daher kommt es, dal3 Chlorwasserstoffgas sich auch bei niedriger Temperatur, die durch das Auftreten von Schwefelwasserstoff charakteristisch ist, bildet, ein Vorgang, der das gleichzeitige Ausströmen dieser Gase bei den Fumarolen erklärt. Ferner ist es sehr bemerkenswert, daß es Brun durch Experimente gelungen ist, auch kieselsäure- reiche Magmen ohne Druck und ohne die Gegen- wart von VVasser zum Kristallisieren zu bringen, wenn nur die Bedingungen, gleich hohe Tempe- ratur und gleiche chemische Zusammensetzung wie die der flüssigen Laven, vorhanden sind. Zwar erbrachten auch die Versuche, die schon im Jahre 1878 Fouque und Michel-Levy ') zuerst in dieser Richtung anstellten und die als End- ergebnis ein wohl auskristallisiertes basisches Gestein hatten, den sicheren Beweis, daß Druck und Wasser bei einem solchen Prozeß gar nicht vor- handen sein brauchen; aber trotzdem galt es bis vor kurzem noch als ein Dogma bei den meisten Mineralogen, daß Druck, hohe Temperaturen und Gegenwart von Wasser notwendige Faktoren bei der Auskristallisation des Magmas seien. Um schließlich den direkten Nachweis für die Richtigkeit seiner Auffassung, für den vadosen Ursprung des Wassers, zu bringen, rüstete Brun eine Expedition aus, um den Wasser- dampfgehalt an den Vulkanen direkt zu messen. Zur genaueren und einwandsfreieren Durch- führung seiner Absicht suchte er Vulkane auf, die in einem regenlosen bzw. regenarmen Klima lagen, um möglichst ganz den F"aktor der atmosphäri- sciien Niederschläge aufzuheben. Für diesen Zweck kamen die kanarischen Inseln in Betracht. Zwar ist der Pik von Teyde bei seiner Höhe von 3700 m im Winter mit Schnee bedeckt. Aber Brun stellte seine Unter- ') Fouque K. et Michel-Levy: Reproduktion des Keld- spats par fusiou et par maiutien prolonge ä une temperature voisine u celle de la fusion. Comptes rendus 1878, t. 87. Production artiticielle de la Nepheline et Amphicrene etc. ibid. 1878. suchungen in der trockenen Zeit, im August, an. Nach seiner Schätzung fiel während der Zeit seines Aufenthaltes 6 — 8 mm Wasser, ein Niederschlag, der im Vergleich zu anderen Gegenden sehr ge- ring ist. Die Trockenheit der Insel ist so groß, daß die Einwohner zu ihrem Lebensunterhalt den Winterregen in Zisternen sammeln müssen. In dem Krater, der nur wenig tief ist, und an den Abhängen des Vulkans befanden sich viele Fumarolen , die bei schönem und trockenem Wetter kaum sichtbar, bei feuchtem Wetter und im Winter mit Wasserdampf bedeckt waren. Durch genaue Beobachtungen unter Zuhilfe- nahme von Apparaten, mit denen die Gase direkt aus einer gewissen Tiefe des Erdbodens heraus- gesaugt wurden, fand Brun, daß der Sättigungs- punkt der Fumarolen in bezug auf Wasser nie er- reicht wurde. So maß er an einer Fumarole bei einer Temperatur von 83" bei trockenem Wetter 39i3 "/o Wasser, nach einem kleinen Regenfall 57 "/o, nach einem Gewitter 59,3 "/o Wasser, während das Ausströmen der Kohlensäure fast keiner Veränderung unterworfen war. Die Schwankungen im Wassergehalt zeigen die Abhängigkeit von atmosphärischen Nieder- schlägen, und Brun zieht hieraus den Schluß, daß höchstwahrscheinlich alles Wasser dieser Fuma- rolen vadosen Ursprungs ist. Zu einem sicheren positiven Ergebnis gelangte Brun, als er auf der Insel Lanzarote auf dem Vulkan Timanfaya, der sich ebenso wie der Pik von Teyde im Zustande der Solfatarentätigkeit befindet, Beobachtungen anstellte. Es regnet dort nur einmal im Jahre. Brun stellte seine Unter- suchungen mitten im September an, während der Regen, der 4 Stunden dauerte, Ende April ein- getreten war. Auf dem Vulkan ist die Temperatur des Erd- bodens bei einer Tiefe von 60 cm schon gegen 360", übertrifft also den Siedepunkt des Queck- silbers. Hier auf diesem Vulkan fand Brun gar keine Ausströmung von Wasserdampf. Der Grund hierfür ist: die Lage des Vulkans in einem regenlosen Gebiet. Das Ergebnis seines reichen Beobachtungs- materials faßt Brun in diesen Sätzen zusammmen.^) Elle (l'eau) est inutile dans l'explosion, inutile dans la cristallisation, inutile enfin dans la genese general des phenomenes eruptifs, Son role est tellement subordonne, qu'il est quasi nul. . . . Un volcan (Timanfaya) est incapable par lui- meme d'emettre de l'eau; il est anhydre en chacun de ses points, s'il se trouve dans une region climatericjue teile, que les pluies et les eaux errantes y sont nulles. ') Neuere Untersuchungen Brun's in Java, auf den Smeroe haben nach einer freundlichen Mitteilung dieses Ergebnis be- slütigt. 342 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Xi. 22 Kleinere Mitteilungen. „Über den Moschusochs und seine Rassen" macht RudolfKowarzik eine sehr interessante Mitteilung (Zoologischer Anz., Bd. 33 [1908], Heft 17/18). Ovibos moschatus Bl. wurde außer auf dem Fest- lande Nordamerilstere verlaufen dabei rechtswindend, letztere linkswindend. Die genannten zeigen zwei sich kreuzende Streifensjsteme, von denen das äußere der feinen äußeren (primären?) Mem- bran angehört, jedoch ist der Neigungswinkel beider gleich und erreicht meist fast 45" oder selbst mehr. Einige wie Monstera und Fourcroya zeigen kleine Unterschiede in den Neigungswinkeln beider Streifungss)-stemc, auch sind die Winkel hier kleiner. In seltenen Fällen findet man auch Libriform von Dikotylen dementsprechend mor- phologisch ausgeprägt. Das ist der Fall bei Clematis Vitalba und vielleicht auch bei Vinca. Bei manchen Tracheiden der Koniferen, z. B. im Rotholze der Astunterseite von Pseudotsuga Douglasii, nähert sich der Verlauf der Streifen der sekundären Membran wegen seiner großen Flach- heit (die Streifen bilden Winkel bis zu 70" mit der Zellachse) der Neigung der Streifen in der primären Membran, aber wie immer unter Kreuzung beider Systeme. Sind die Streifen in den einzelnen Lamellen der Membran derselben Zelle verschieden geneigt gegen die Zellachse, so macht sich das übrigens leicht bemerkbar, sobald man Schnitte (am besten Querschnitte) einer Untersuchung im polarisierten Licht mit Gipsblättchen Rot I unterzieht. In diesem Falle zeigen nämlich die einzelnen Lamellen voneinander abweichende Farbentöne; gleiche Farben der einzelnen Lamellen zeigen gleiche Neigung der Mizellarreihen an, die sich ja in der Membranstreifung ausdrückt. Die Beobachtung mit dem Polarisationsmikroskop kann also zur Kontrolle der direkten Messungen der Streifen- und Porenschiefe dienen. Die Winkel, welche die Membranstreifung mit der Zellachse bildet, sind bekanntlich bei den Bastzellen sehr verschieden. Mitunter verlaufen sie wie beim Hanf fast parallel zur Längsrichtung, bilden also sehr kleine Winkel (4— 8'M- In an- deren Fällen aber steigt die Neigung der Streifen bis über 45". Das macht sich, wie schon be- merkt, auch an den P"arbenerscheinungen im polarisierten Licht bemerkbar und Wiesner und 344 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 22 Re^mec') haben in dieser Hinsicht das gänzlich verschiedenartige Verhalten der Raphia-Piassave von den brasilianischen Piassavesorten auf Längs- schnitten hervorgehoben. Es würde zu weit führen, hier näher darauf einzugehen. Es soll nur her- vorgehoben werden, daß 1. alle duktilen Fasern große Neigungswinkel der Membranstreifung bzw. der gleichsinnig verlaufenden Poren ihrer mechanischen Zellen zeigen und 2. bei allen untersuchten geschmeidigen F"asern die Neigung der Streifung in den äußeren und inneren Membranschichten die gleiche ist. Letzteres läßt sich direkt beobachten und messen, es macht sich aber dieser Um- stand auch kenntlich an den gleichen Polarisations färben'-^) der primären und sekundären Verdickungsschichten be- sonders auf Querschnitten. In folgender Tabelle sind die Resultate dies- bezüglicher Messungen zusammengestellt. daß der Verlauf der Streifung in allen Lamellen der Membran gleiche Neigung zur Achse besitzt. Diese letztere Bedingung erfordert eine beson- dere Betrachtung. Geht man von der wohlbe- gründeten Annahme aus, daß die Membranlamellen aus schraubig verlaufenden Fibrillen zusammen- gesetzt sind, so kann man sie in ihrem Verhalten gegen äußere Kräfte mit Spiralen aus Metall- drähten vergleichen. Von dem Verhalten solcher Metallspiralen kann man sich leicht durch einen sehr einfachen Versuch überzeugen. Man wickle einen elastischen Metalldraht, beispielsweise Kupferdraht, um einen Bleistift, so daß er eine steile Schraubenlinie bildet. Darüber lege man einen zweiten Draht in flachen Windungen in der Weise, daß auf eine vollständige Windung der steileren Spirale zwei oder mehrere Windungen der flacheren kommen (Fig. i). Beide Spiralen berühren sich natürlich an allen Kreuzungspunkten, da sie ja über denselben zylindrischen Bleistift gewickelt sind. Versucht man jetzt die Spiralen Neigung der Streifen Abstammung in der Bruch- Bemerkungen der Faser primären sekundären dehnung Membran Caryota urens 40-520 37—44» bis 27,6 »;„ lufttrocken Arenga saccharifera 42-62« 36-50« „ 8,8 „ Borassus flabelliformis 40—48» 33-39° „ 16,3 „ Dictyosperma fibrosum 50—61» 40—48» „ 20,9 „ Attalea funifera 48-55" 46 -47» „ 9,9 „ Leopoldinia Piagaba 60—63» 45-51» „ 3,85 „ Raphia vinifera öo — 90» 22—43" „ 3,u „ Leopoldinia Piagaba 60—63» 45-51» bis 26,5 »/o wassergesättigt Raphia vinifera 60—90» 22—43° „ 3,9 „ ,, Es geht daraus hervor, daß nur für Raphia eine wirklich erhebliche Abweichung der Streifung in der primären und sekundären Membran her- vortritt und zwar wie immer größere Steilheit der Mizellarreihen in den inneren Verdickungsschichten. Diese F"aser ist unter den Piassavesorten auch die einzige, welche sich wie der „typische Bast" ver- hält, also nicht duktil ist. Bemerkenswert ist zu- gleich die größere F"estigkeit, welche mit der Steilheit der Mizellarreihen (Streifung) zusammen- fällt, eine Beobachtung, die sich auch anderwärts feststellen läßt. Diese Beobachtungen und eine Reihe weiterer, über die an anderer Stelle ^) ausführlicher berichtet worden ist, weisen mit Bestimmtheit darauf hin, daß die Duktilität gewisser Fasern in Zusammen- hang steht mit dem Neigungswinkel der Mem- branstreifung, der eine erhebliche Größe erreichen muß. Weiter ist es zur Erreichung von Duktilität nach den vorliegenden Beobachtungen notwendig. ') Wiesner, Rohstoffe II. .\ufl., S. 179. ^) Mit Gipsblättchen Rot I. 3) Flora Bd. 99, Heft 3, S. 203 ff. auszudehnen, ohne den Bleistift zu entfernen, so zeigt sich daß dieses unmöglich ist. Eine Ver- längerung der Spirale setzt nämlich ein Enger- werden der Spiralen voraus, woran aber die Festigkeit des Bleistiftholzes hindert. Entfernt man jedoch den Bieistiftkern vor- sichtig ohne Deformation der Spiralen und übt einen Zug auf die übereinander liegenden Win- dungen aus (wobei zwei Punkte oben und unten vereinigt festgehalten werden), so lösen sich die Drähte der inneren Spirale von der äußeren los. Die innere Spirale, welche steilere Windungen besitzt, streckt sich eher gerade als die äußere, wenn wir gleich diesen äußersten Fall in Betracht ziehen. Das ist aber nur möglich, wenn die Spiralen sich von einer sie ursprünglich gemein- sam einschließend berührenden Röhrenwand ent- fernen, natürlich nach innen. Es ist also eine Kraftkomponente senkrecht zur Länge der Röhre vorhanden. Diese wird bei der steileren Spirale größer sein als bei der flacheren. Um das ein- zusehen, braucht man sich, wie gesagt, nur den Grenzfall vorzustellen, bei welchem die steilere innere Spirale zur geraden Linie ausgezogen ist, N. !•. VIII. Nr. 22 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 345 die äußere aber noch nicht. Beide Spiralen ent- fernen sich also an allen denjenigen Punkten von- einander, an denen sie sich vorher berührten. Sie lösen sich voneinander los, wie der X'^ersuch be- stätigt. Wenden wir dies auf unsere Zellmembranen an, so braucht nicht weiter auseinandergesetzt zu werden, daß bei allen Membranen, deren Wände aus zwei Lamellen von verschieden steilen Mizellar- spiralen bestehen, die Gefahr des Löslösens bei starkem Zug besteht, wobei dann sofort Bruch eintritt. Bei gleich steilen, aber entgegengesetzt gewun- denen Spiralen treten nur schwach scherende Kräfte auf, die offenbar erst später oder über- haupt nicht zur Ablösung führen. Diese theoretische Betrachtung entbehrt nicht der Grundlage der Beobachtung. Man kann tat- sächlich an den Bruchstellen von durch Zug zer- rissenen Zellen Erscheinungen wahrnehmen, die hiermit in Einklang stehen. k Fig. I (vgl. Text). a Fig. 2. b Bruchstellen %on Fasern. a Atrenga ; b Fagus. Es ist eine auffallende Erscheinung, daß die Enden der Faserstränge, welche bei gewaltsamem Zerreißen an der Bruchstelle entstehen, bei Be- trachtung mit der Lupe oder mit dem Mikroskop bei schwacher Vergrößerung ein ganz verschieden- artiges Aussehen zeigen, je nachdem die Phaser duktil ist oder nicht. Im ersten Falle erscheint die Fläche der Bruchstelle fast eben oder doch nur schwach höckerig (vgl. Fig. 2 a), im anderen Falle jedoch treten eiiizelne Zellenden weit aus der Bruchfläche hervor, die Stereiden sind teil- weise aus ihrem Verbände herausgerissen unci das Ganze zeigt mitunter eine Oberfläche, die ähnlich einer Bürste, gebildet aus den heri'or tretenden Zellenden, eine in der Tat ganz eigen artige Erscheinung (vgl. Fig. 2 b). Es lösen sich demnach hier die Membranen aneinander grenzen der Stereidenzellen streckenweise los, sobald sie stark gedehnt werden, was eben seine Ursache in der verschiedenen Dehnungsfähigkeit der inneren stärkeren Lamellen der Membran und der sie verbindenden Interzellularsohichten hat, ent- sprechend der steileren und flacheren Spirale un- serer vorigen Betrachtung. Ganz besonders deut- lich tritt dieses Verhalten bei dem Holz von Fagus silvatica hervor. Bei stärkerer Vergrößerung erkennt man weitere Einzelheiten. Da findet man bei Präpa- raten von Larix und Picea an einzelnen Stellen abgelöste Stücke der äußeren Membranlamelle (viilgo Mittellamelle) mit zackigem Rande über der inneren Membran der Zelle liegend. Die Streifung der äußeren Haut ist meist deutlich anders verlaufend als die der inneren. Häufig werden auch schraubig verlaufende Bänder der Innenmembran an der Bruchstelle herausgerissen. Alle diese Beobachtungen beweisen, daß tatsäch- lich eine Trennung der Membranschichten bei starker Dehnung stattfindet, wenn der Streifen- verlauf in den einzelnen Lamellen in erheblichem Maße verschieden ist. Untersucht man die Frage, ob für die Pflanze duktile Stränge dort, wo sie vorkommen, zweck- mäßig verwendet erscheinen, so zeigt sich, daß das in der Tat der Fall ist. Die Blattscheiden der Palmen z. B., die uns die duktilen Piassaven liefern, müssen aus nachgiebig geschmeidigem Material bestehen, um dem allmählich steigenden Druck der in ihrer Mitte neu hervorsprießenden Blätter ohne Zerreißung folgen zu können. Ein Bruch der Blattscheidenfasern würde die äußeren Blätter ihres Haltes berauben. Dr. P. Sonntag (Danzig). Elektronentheorie und chemische Valenz. — Einen Versuch, die chemische Valenzlehre auf atomistisch- elektrischer Basis aufzubauen, macht J. Stark in einer sehr interessanten neueren Arbeit (Jahrb. f. Radioaktiv, und Elektronik, Bd. V, S. 124 — 153), über die hier in Ergänzung der von Zeit zu Zeit in der Naturw. Wochenschr. er- scheinenden Mitteilungen über neuere Arbeiten auf dem Gebiete der allgemeinen Chemie berichtet werden soll. Bekanntlich hat die genauere Untersuchung einer größeren Reihe optischer und elektrischer Erscheinungen zu der Erkenntnis geführt, daß die Elektrizität ebenso wie die Materie atomistisch gegliedert ist. Die kleinste in der Natur vor- kommende negative Elektrizitätsmenge, das nega- tive elektrische Elementarquantum, ist gleich 3,2- IQ-"' elektrostatischen Einheiten; die kleinste materielle ^) Masse, an die dieses Elementar- ') Das Wort ,, materiell" hat hier einen von der üblichen Definition abweichenden Sinn. Untersuchungen' von Kauf- e mann haben gezeigt, daß das Verhältnis — der elektrischen Ladung e zur materiellen Masse m bei Elektronen von sehr großen, der Lichtgeschwindigkeit nahekommenden Geschwindig- keiten nicht einen konstanten Wert hat, sondern sich mit der Geschwindigkeit ändert. Je größer die Geschwindigkeit eines 346 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vlll. Nr. 22 quantum gebunden sein kann, ist etwa 1800 mal kleiner als das kleinste dem Chemiker bekannte Atom , das Wasserstofifatom. Ein negatives Elementarquantum, das mit dieser kleinsten materiellen Masse verbunden ist, wird als Elektron bezeichnet. Es gibt nur negative Elektronen ihnen analoge positive Elektronen, nach denen vielfach gesucht worden ist, haben sich nicht finden lassen. Ein positiv elektrischer Körper ist also ähnlich, wie es in der unitaristischen Theorie der Elektrizität von Franklin angenommen wurde, ein negativ elektrischer Körper, der einen Teil seiner negativen Ladung verloren hat und darum Elektrons ist, um so kleiner ist der Wert des Verhältnisses m Diese merkwürdige Erscheinung läßt sich mit Hilfe des Be- griffes der elektromagnetischen Masse erklären. Wenn wir einen elektrisch geladenen Körper plötzlich an einen Punkt A des nur vom Lichläther erfüllten Raums bringen, so bildet sich im Äther ein Spannungszustand aus, der sich mit der Ge- schwindigkeit des Lichtes im Räume fortpflanzt. Transpor- tieren wir jetzt den Körper von A nach einem benachbarten Punkte B, so verschwindet der Spannungszustand, der in A seinen Mittelpunkt hat und zwar geschieht die Entspannung ebenfalls mit der Geschwindigkeit des Lichtes, und um B bildet sich mit derselben Geschwindigkeit ein neues Spannungs- feld aus. Bezeichnen wir nun das Kraftfeld, das sich um A oder um B erstreckt, als normales Kraftfeld, so erkennen wir, daß dann, wenn der Transport des geladenen Körpers von A nach B mit einer der Lichtgeschwindigkeit nahekommenden Geschwindigkeit vollzogen wird, das normale Feld um A noch nicht ganz verschwunden ist, wenn der Körper in B ankommt und sich das Feld um B als Mittelpunkt zu bilden beginnt, und daß auch die allen Punkten zwischen A und B ent- sprechenden Felder mehr oder weniger vorhanden sind. Ver- gleichen wir also das gesamte Feld zwischen A und B, das sich als Resultante aller Einzelfelder ergibt, mit dem Norraal- feld um den in A oder B ruhenden Körper, so sehen wir, daß dadurch, daß der Körper in Jiewegung gesetzt wird, das normale Feld eine Deformation erleidet. Die Deformation des normalen Feldes kostet natürlich Arbeit. Wenn wir also die Geschwindigkeit eines zunächst mit gleichförmiger Ge- schwindigkeit dahin fliegenden elektrisch geladenen Körpers von der Ladung e und der Masse m erhöhen, so müssen wir erstens die Arbeit zur Erhöhung der kinetischen Energie des Körpers und zweitens diejenige, die die Deformation des elektromagnetischen Feldes erfordert, leisten. Die Gesamt- arbeit, die wir aufwenden müssen, ist also größer, als wenn wir die Bewegung eines Körpers ohne elektrische Ladung vergrößern wollten, oder mit anderen Worten : wir gewinnen den Eindruck, als ob die materielle Masse m des Körpers größer wäre, als sie tatsächlich ist ; durch die elektrische Ladung wird materielle Masse vorgetäuscht, die scheinbare materielle Masse ist wenigstens zum Teil ,, elektro- magnetische Masse". Mit je größerer Geschwindigkeit sich also ein Elektron bewegt, um so größer erscheint m, d. h. e um so kleiner wird der Quotient m Gerade dies ist es aber, was Kaufmann beobachtet hat : Geschwindig- keit e 2,36 2,48 2,59 2,72 2,85-10'' 1,31 1,17 0,97 0,77 0,63-10^ absol. Einheiten. Wie groß die tatsächlich in einem Elektron vorhandene materielle Masse ist, hat sich bis jetzt nicht entscheiden lassen. Es sei aber darauf hingewiesen, daß sich die Hypo- these, die gesamte Masse des Elektrons sei elektromagnetischer Natur, mit der Erfahrung bislang nicht in Widerspruch gesetzt hat. In diesem Falle wäre die gesamte Materie, da die Atome nur aus Elektronen aufgebaut sind, nur eine Erscheinungsform der Elektrizität. weniger negativ als vorher, d. h. positiv erscheint. Die kleinsten positiven Elektrizitätsmengen sind an materielle iVIassen von atomistischen Dimen- sionen gebunden ; wahrscheinlich bestehen sie aus in bestimmter Weise in einem Kreise angeord- neten und in diesem mit großer Geschwindigkeit rotierenden negativen Elektronen. Volumen und auch Masse des positiven Elementarquantums sind demnach sehr viel größer als bei den Elementar- quanten der negativen Elektrizität. Nun stellen die Elektronen, wie die Erschei- nungen der Ionisation der Gase, die Vervielfachung der Spektrallinien im elektromagnetischen Felde (Zeeman-Effekt) usw. beweisen, einen wesentlichen Bestandteil der Atome dar, die nach den Ergeb- nissen der neueren Forschungen nicht mehr, wie es vielleicht ihre Unveränderlichkeit bei chemi- schen Reaktionen scheinen ließ, als inerte Masse- teilchen, sondern im Gegenteil als komplizierte Mechanismen aufzufassen sind. Stark stellt sich ein Atom folgendermaßen vor: Der Atomkörper besteht aus positiven und negativen Elementar- quanten ; an der Oberfläche befinden sich aus- gedehnte positiv geladene Sphären , die sich allerdings nicht gleichmäßig über die gesamte Oberfläche erstrecken; über diesen positiven Sphären oder auch zwischen ihnen befinden sich einzelne negative Elektronen, die „Valenzelek- tronen", die durch elektrostatische Anziehung in gleich näher zu definierender Weise die Verbin- dung mit anderen Atomen vermitteln. Die che- mische Affinität wird also durch elektrische Kräfte bewirkt. Hier könnte man nun zunächst fragen, ob außer der elektrischen Kraft nicht noch andere Kräfte, nämlich die allgemeine Anziehungskraft und der Magnetismus, bei dei; chemischen Bin- dung wirksam sein können. Über den etwaigen Einfluß magnetischer Kräfte auf die chemischen Vorgänge läßt sich zurzeit nichts Bestimmtes sagen, wohl aber läßt sich zeigen, daß die allge- meine Gravitation an Intensität soweit hinter der elektrischen Kraft zurücksteht, daß ihre Wirkung praktisch jedenfalls neben derjenigen der elek- trischen Anziehung nicht in Frage kommt. „Wenn wir", so sagt Stark, „das Gravitationsgesetz auf Atome übertragen dürfen, so können wir die mechanischen Kräfte miteinander vergleichen, welche zwei Wasserstoftatome (m = lO"'" g) bzw. zwei entgegengesetzte Elementarquanta (e = 3.2-io-") ^ufeinanderausüben,wennderAbstand(r^iO 'cm) ihrer Mittelpunkte von der Ordnung des Atom- durchmessers ist. Im ersten F'alle ist diese Kraft gleich P-^.2 = 6,6.iO-» im zweiten Falle gleich lO" lO" 6,6-10- 3,2-- lO" 10--" 1,6- 10"'' Dynen. Nun ist hierbei freilich angenommen, daß im zweiten N. ¥. VIII. Nr. 22 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 347 Falle die zwei Elementarquanta allein im Räume vor- handen seien und sich gegenseitig alle ihre Kraft- linien zusenden, was nicht zutreffend ist, wenn sie zwei verschiedenen Atomen angehören (vgl. weiter unten). Indes selbst wenn sie in diesem Falle nur den tausendsten Teil ihrer Kraftlinien sich gegenseitig zusenden, ist die elektrische Kraft zwischen den zwei genäherten Atomen dank der entgegengesetzten Elementarquanta an ihrer Oberfläche io+'-* mal größer als die Gravitations- kraft zwischen den Massenmittelpunkten der zwei genäherten Atome." Von einem Valenzelektron gehen Kraftlinien aus. Führen sämtliche Kraftlinien eines Elektrons zu den positiven Sphären eines einzigen Atoms, so nennt Stark das Elektron „ungesättigt"; führen sie aber zum Teil zu einem, zum Teil zu einem zweiten oder dritten Atom, so bezeichnet er es als „gesättigt". Ein gesättigtes Elektron dient also als Bindeglied zwischen zwei oder mehreren Atomen. Außer von den gesättigten und unge- sättigten Elektronen spricht Stark auch noch von dem ,, gelockerten" Valenzelektron ; Wenn zwei Atome durch ein gesättigtes Valenzelektron zu- sammengehalten werden, so kann ein auf dem einen Atom vorhandenes zweites Elektron durch die abstoßende Wirkung eines auf dem zweiten Atom vorhandenen Elektrons von seinem natür- lichen Platze fortgedrängt und dadurch seine Ver- bindung mit dem Atom, zu dem es gehört, ge- lockert werden. Über den energetischen Teil seiner Auffassung sagt Stark folgendes: ,,In einer Verbindung von chemischen Atomen ist im statischen Zustand der Verlauf der elek- trischen Kraftlinien zwischen Valenzelektronen und positiven Sphären derartig, daß an jeder ein- zelnen elektrischen Ladung die Resultante aus allen Kraftlinien Null ist. Wird ein Teil des Systems aus dieser Gleichgewichtslage deformiert, so kann dies nur unter einem Aufwand von Arbeit entgegen den elektrischen Kräften ge- schehen, welche als Funktion der Abweichung von der Gleichgewichtslage in Wirksamkeit treten; es wird dadurch elektrische potentielle Energie geschafien. Diese hat ihr Maximum erreicht, wenn die einzelnen Atome der Verbindung so weit voneinander entfernt worden sind, daß die elektrische Kraft zwischen ihnen sehr klein ge- worden ist. Bei der Rückkehr der Atome in die statische Anordnung der Verbindung wird diese potentielle Energie, bezogen auf unendlich großen relativen Abstand, frei, kann in Wärme verwan- delt und in dieser Form gemessen werden. Einer jeden Verbindung zwischen chemischen Atomen ist somit ein bestimmter Energiewert eigentüm- lich, die Bildungswärme der Verbindung, bezogen auf unendlich großen relativen Abstand oder, wie es heißt, bezogen auf die dissoziierten Atome. Für eine Verbindung chemischer Atome ist im stati- schen Zustand die potentielle Energie ein Minimum. Läßt sich dieselbe Anzahl von chemischen Atomen in verschiedenen Konfigurationen in einem Mole- kül anordnen, so erhält man isomere Verbindungen ; in diesem Falle besitzt die relative potentielle Energie der Atome mehrere Minima. Die bei chemischen Reaktionen auftretenden Wärme- tönungen sind gemäß dem Vorstehenden elek- trischen Ursprungs." Ein gesättigtes Elektron kann entweder zwei oder mehrere Atome miteinander verbinden. Der erste Fall, der F'all der einfachen Sättigung, ist für den Chemiker viel wichtiger als der P'all der mehrfachen Sättigung, denn wenn ein Elektron mehrere Atome verbindet, so üben die positiven Sphären dieser Atome eine so große Abstoßung aufeinander aus, daß die entstehenden Verbin- dungen nur wenig beständig sind. Durch einfache Sättigung, bei der die Atome fest zusammen- gezogen werden (Volumkontraktion), entstehen die relativ stabilen Valenzverbindungen, durch mehrfache Sättigung hingegen die beträchtlich labileren Molekularverbindungen. Die Valenzelek- tronen im Außenraum von Molekülen endlich bewirken die mehr oder minder symmetrische Aneinanderlagerung der Moleküle zu größeren Komplexen, die Kristallbildung. Daß auch die bekannten Erscheinungen der sterischen Hinderung ') und die von v. Baeyer in der „Spannungstheorie" -) zusammengefaßten Tat- sachen im Rahmen der Stark'schen Theorie leicht begreiflich sind, erkennt der Kundige sofort. Wir übergehen diese Punkte hier ebenso wie die Be- sprechung der elektrischen Dissoziation in Metallen, bei der die negativen Elektronen frei werden, und die elektrolytische Dissoziation, bei der freie Elek- tronen nicht auftreten, und wenden uns sogleich dem wichtigen Kapitel der Spektren der chemi- schen Verbindungen zu. Die Spektralerscheinungen, d. h. die Emission und Absorption von Lichtwellen, haben ihren Sitz in den elektrisch geladenen Bestandteilen der Atome, in den negativen Elektronen. Eine Emission von Lichtwellen tritt immer dann ein, wenn die Geschwindigkeit eines Elektrons erhöht wird, und zwar gilt hier das Elementargesetz von Planck e = 6,55- 10- |=i,96..o--.{-, in dem e die in Strahlungsenergie verwandelte kinetische Energie des Elektrons, X die Wellen- länge der emittierten Strahlung und c = 3-iO^'' die Lichtgeschwindigkeit ist. Nach Stark werden die Linienspektra der Elemente von den im Innern der Atome neben den positiven Elementarquanten vorhandenen negativen Elektronen emittiert, während die Bandenspektra von den (ebenfalls negativen) Valenzelektronen erzeugt werden. „Während in den Linienspektren die innere Struktur der Atome sich äußert, gibt uns das ■) Vgl. Scholtz, Ahrens' Sammlung chemischer und che- misch-technischer Vorträge, IV 333; 1899. 2) Ber. d. D. Chem. Gesellsch., 18, 2277; 1885. 348 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 22 Bandenspektrum Kunde von der Bindung der Valenzelektrünen an der Atomoberfläche und wird somit im Falle einer Verbindung zu einer Charak- teristik ihrer Konstitution". Da nun die Aussen- dung eines Bandenspektrums dadurch zustande kommt,') daß ein aus seiner Bindung gelöstes Valenzelektron bei seiner Wiederanlagerung sich zunächst mit wachsender Geschwindigkeit seinem Ruhepunkte im Atom- oder Molekularkomplex nähert und dann um diesen hin- und herpendelnd die auf Kosten seiner potentiellen Energie er- worbene kinetische Energie bei der Dämpfung in Form von elektromagnetischen Wellen, d. h. als Bandenspektrum, emittiert, so läßt sich aus der potentiellen Energie eines aus seinem Verbände gelösten Elektrons mit Hilfe des Planck'schen Gesetzes eine untere Grenze für die emittierte Wellenlänge berechnen.-) Das Gesagte mag am Beispiele des Kohlensäuremolekials erläutert werden. Im Kohlensäuremolekül CO., sind die vier Valenzelektronen des Kohlenstoffs durch positive Sphären der beiden Sauerstoffatome und je zwei Valenzelektronen der Sauerstoffatome durch posi- tive Sphären des Kohlenstoffatoms abgesättigt; im Molekül CO., sind also acht gesättigte Valenz- elektronen enthalten. Da nun die molekulare Bildungswärme der Kohlensäure aus den Atomen 161660 g cal. beträgt, so kommen auf jedes ein- zelne Valenzelektron, wenn wir alle acht Valenz- elektronen als gleichartig ansehen 20 207 g cal. = 20 207 •4,2-10' Erg. pro Grammolekül. Ein Grammolekül enthält bei o" I und 760 mm Druck Moleküle, und 1,2- 10- damit berechnet sich die untere Grenze der Wellenlänge A des Bandenspektrums der Kohlen- säure 1,96- IQ-'" 1 = 20 207-4,2. ig'- 1,2- 10- = 1,93- IQ-* cm = 1,93 ,/(. Die kleinste beobachtete Wellenlänge istÄ^2,6/(, eine geradezu überraschende Übereinstimmung. Die Folgerungen, die Stark des weiteren aus seinen Anschauungen zieht, sind ebenfalls sehr interessant, doch muß ihretwegen auf die Lektüre der Originalarbeiten •') verwiesen werden. Mg. ') Die wirklich zur Beobachtung gelangende Wellenlänge kann in Wirklichkeit wohl größer, aber niemals kleiner als die berechnete Wellenlänge sein, da nicht die gesamte potentielle Energie zur Erzeugung der einen Wellenlänge verbraucht werden muß und nach dem Planck'schen Gesetz ein geringerer Verbrauch von potentieller Energie eine größere Wellenlänge bedingt. -) Vgl. den Bericht ,,Über die Entstehung der elektrischen Gasspektra" in X. W., Bd. IV, 1905, S. 44. ') Außer der angeführten Arbeit im Jahrbuch für Radio- aktivität und Elektronik, Bd. 5, S. 124 sehe man besonders noch Physikal. Zeitschrift, Bd. 9, S. 85 (1908). Himmelserscheinungen im Juni 1909. Stellung der Planeten: Merkur ist unsichtbar. Venus wird als .-Vbendstern, zuletzt ^/>> Stunde lang, sichtbar. Auch Jupiter ist zuletzt nur noch eine Stunde lang abends im Löwen zu beobachten. Mars und Saturn sind morgens I bis 2 Stunden lang sichtbar, ersterer im Wassermann , letz- terer im Walfiscli. Verfinsterungen der Jupitertrabanten: Am I. um 10 Uhr 32,0 Min. ab. M.E.Z. Austr. d. I.Trab. „ 3- .. 10 .. 47,2 „ „ „ „ „ 111. „ 7. „ 10 „ 45,8 „ „ „ „ „ II. „ ,, 10. ,, II ,, 39,5 „ „ ,, Eintr. „ III. „ ,, 24. ,, 10 ,, 46,4 ,, ,, „ Austr. ,, I. ,, Eine sichtbare, totale Mondfinsternis findet am Morgen des 4. Juni statt. Sie beginnt um 12 Uhr 44 Min. M.E.Z. und endet um 4 Uhr 15 Min. Die Totalität dauert von 1 Uhr 58 Min. bis 3 Uhr o Min. Eine in Deutschland unsichtbare Sonnenfinsternis er- eignet sich in der Nacht vom 17. zum iS. Juni. Die Finster- nis ist auf einer Linie von Süd-Grönland bis zum mittleren Sibirien total. Bücherbesprechungen. i) Ludwig Darmstaedter's Handbuch zur Ge- schichte der Naturwissenschaften und der Technik. In chronologischer Darstellung. Zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage. Unter Mitwirkung von Prof. Dr. R. du B o i s - R e y m o n d und Oberst z. D. C. Schaefer herausgegeben von Prof. Dr. L. Darmstaedter. Berlin, Verlag von Julius Springer, 1908. — Preis geb. 16 Mk. 2) Dr. Friedrich Dannemann, Aus der Werk- statt großer Forscher. Allgemeinverständ- liche, erläuterte Abschnitte aus den Werken her- vorragender Naturforscher aller Völker und Zeiten. Dritte Auflage des ersten Bandes des „Grundriß einer Geschichte der Naturwissenschaften". Mit 62 Abbildungen im Te.xt, größtenteils in Wieder- gabe nach den Originalwerken und einer Spektral- tafel. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann, 1908. — Preis 6 Mk. i) Das vorliegende Buch von nicht weniger als 1263 eng gedruckten Seiten Umfang, von denen auf die Personen- und Sachregister nicht weniger als fast 200 entfallen, ist ein lexikographisch eingerichtetes Buch in chronologischer Anordnung seines Stoffes. Es gibt unter den Jahreszahlen, begiimend mit dem Jahre 3500 v. Chr. in alphabetischer Ordnung der Gelehrten kurze und zwar nicht weniger als 1 3 000 Notizen über ihre Taten. Referent hat Stichproben gemacht und ist überrascht über die relative Genauig- keit der Angaben, so daß das Buch sicher ein wich- tiges Hilfsmittel geworden ist für das Studium der historischen Seite der Naturwissenschaft. Das Durch- blättern des Buches gewährt großes Vergnügen, denn iüjerall ist es anregend, da die Verfasser es durch- schnittlich verstanden haben, das wirklich Wichtige herauszufinden und hervorzukehren. Die Begriffe Naturwissenschaft und Technik sind möglichst um- fangreich genommen. Es sind in dem Buche ver- treten Astronomie, Geographie, Geologie, Mathematik, Medizin, Physik, Chemie, Botanik, Zoologie, Landwirt- schaft, Architektur, Maschinenkunde, Technologie usw. 2) Das Buch Danneraann's, das innerhalb kurzer N. F. VIII. Nr. 2 2 Naturwi.ssenschaftliche Wochenschrift. 349 Zeit 3 Auflagen erlebt hat, beweist, daß eine histo- rische Vertiefung in naturwissenschaftliche Gegenstände vielfach Bedürfnis ist. Wir hatten schon früher Ge- legenheit, mit Nachdruck auf das Dannemann'sche Werk hinzuweisen und tun dies hiermit von Neuem. Da wir aber nunmehr die Bekanntschaft mit dem Buch voraussetzen, genügt es, hier darauf hinzuweisen, was die dritte Auflage Neues bringt. Verf. hat sie mn sieben Abschnitte vermehrt, und zwar sind das die folgenden : i . Keppler begründet die neuere ( )ptik, 2. Newton entwickelt die Prinzipien der Natur- lehre, 3. das Auftauchen der ersten klaren Vorstellung über die Verbrennung und die Atmung, 4. die photo- metrischen Grundbegrifte , 5. es werden die experi- mentellen Grundlagen für die elektromagnetische Theorie des Lichtes gewonnen , 6. die Entdeckung des Diamagnetismus, 7. das Protoplasma wird als die Grundlage des organischen Lebens erkannt. Oskar Pfungst, Das Pferd des Herrn von Osten ( Der kluge Hans). Ein Beitrag zur ex- perimentellen Tier- und Menschen-Psychologie. Mit einer Einleitung von Prof. Dr. C. S t u m p f sowie I Abbildung und 15 Figuren. 193 Seiten. Leipzig, Verlag von Johann Ambrosius Barth, 1Q07. — Preis brosch. 4,50 Mk. Das ungeheuere .Aufsehen , das der kluge Hans vor fünf Jahren erregte, ist noch jedermann im Ge- dächtnisse, nicht minder die große Enttäuschung, die dem Gutachten des bekannten Berliner Psychologen Stumpf folgte. Um die Leistungen des Wunder- pferdes aufzuklären, hat Oskar Pfungst nicht nur an dem Pferde selbst eingehende LTntersuchungen an- gestellt, sondern auch noch in ähnlicher Weise an Menschen experimentiert. Die interessanten Ergeb- nisse dieser Forschung liegen in einem Buche vor, dem wir die weiteste Verbreitung wünschen. Wir erfahren aus ihm , daß die Leistungen des klugen Hans ,,fast ausschließlich auf einer einseitig entwickelten Wahrnehmungsfähigkeit für kleinste Be- wegungen des Fragestellers" beruhen, ferner „auf anhaltender und starker, aber ebenso einseitig aus- gebildeter sinnhcher Aufmerksamkeit, endlich auf einem keineswegs umfangreichen Gedächtnis , auf Grund dessen das Tier Bewegungswahrnehmungen mit einer kleinen Zahl ein für allemal eingeübter eigener Bewegungen zu assoziieren vermag." Immer- hin ist beachtenswert, daß die Leistungen des Pferdes dem der Durchschnittsmenschen bedeutend überlegen sind. Es weist das auf einen äußerst entwickelten Bau der Netzhaut, vielleicht auch auf eine besondere Ausbildung des Gehirns hin. Die Schlüsse, die man auf sein Gefühlsleben, z. B. seinen Eigensinn , seine Antipathien und Sympathien, gezogen hatte, erwiesen sich als grundlos. „Die allmähliche Bildung der erwähnten Asso- ziationen zwischen den Bewegungswahrnehmungen und den eigenen Bewegungen des Tieres ist mit größter Wahrscheinlichkeit nicht als Folge einer Dressur an- zusehen, sondern als unbeabsichtigter Nebeneffekt einer mißlungenen Erziehung, die, ohne selbst Dressur zu sein , doch auf ein ähnliches Ergebnis hinauslief. Alle höheren psychischen Leistungen, die in dem Verhalten des Pferdes zum Ausdruck kommen , sind solche des Fragestellers. Dessen Verbindung mit dem Tier erfolgt fast ausschließlich durch feinste unwill- kürliche Bewegungen." Die Tierenthusiasten werden mit diesen Ergeb- nissen nicht sehr zufrieden sein. Jedoch ist der Verfasser weit entfernt von einem hyperkritischen Skeptizismus. Wir können ihm durchaus beistimmen, wenn er sich zum Schlüsse folgendermaßen ausspricht : „Bieten unsere LTntersuchungen demnach auch keinerlei Stütze für die phantasiereichen Schilderungen, die z. B. Brehm von der tierischen Intelligenz ent- wirft, so brauchen wir doch nicht zu Cartesius und seinen Tiermaschinen zurückzukehren. Alle Analogieschlüsse — deren prinzipielle Berechtigung nicht bestritten werden kann, ohne die Möglichkeit einer Tierpsychologie, ja der Psychologie überhaupt zu leugnen — weisen vielmehr darauf hin , daß die Tiere Sinneswahrnehmungen besitzen , daß sie ver- mutlich über Vorstellungen verfügen gleich uns, und daß sie durch Erfahrung lernen. Nicht minder, daß sie Gefühlen (der Lust und Unlust) sowie Affekten (z. B. Eifersucht, Furcht u. a. m.) zugänglich sind. Natürlich können wir auch die Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen, daß Spuren begrifflichen Denkens bei den dem Menschen näherstehenden Tieren auftreten. Wir können dies um so weniger, als über das Wesen des begrifflichen Denkens selbst die Akten noch nicht geschlossen sind.') Sicher ist nur , daß bisher nichts davon nachgewiesen werden konnte, ja daß nicht einmal ein gangbarer Weg zum Nachweis gezeigt worden ist. Doch genügt auch schon die Gemeinschaft in den vorher erwähnten ele- mentaren Leistungen des Seelenlebens, ein Band zwischen ihnen und uns zu knüpfen , und legt uns die Pflicht auf, die Tiere nicht als Objekte der Aus- beutung und Mißhandlung, sondern der verständnis- vollen Pflege und Zuneigung zu betrachten." Angersbach. ^) Wir glauben, daß das Problem des begrift'Iichen Den- kens in neuester Zeit ungemein gefördert worden ist; wir werden darauf noch gelegentlich zurückkommen. Schwendener's Vorlesungen über mechani- sche Probleme der Botanik, gehalten an der Universität Berlin. Bearbeitet und herausge- geben von Prof. Dr. Carl Holtermann. Mit dem Bildnis Schwendener's und 90 Textfiguren. Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1 909. — Preis 3,60 Mk. Schwendener hat es bekanntlich mit Vorliebe versucht, botanische Probleme zu behandeln, die der Mathematik und Mechanik zugänglich sind. Beson- ders hervorragend für die Fundamente der botanischen Anatomie war seine Entdeckung des mechanischen Gewebesystems, des Skeletts, der Pflanzen. Ein Ka- pitel über dieses Gewebe , die Eigenschaften seiner Zellen , seine nach Ingenieurprinzipien angeordneten Teile usw. leitet das Heft ein, sodann folgt Schwen- dener's Theorie der Blattstellungen, dann ein Kapitel 3 so Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 22 über das Saftsteigen , über die Spaltöffnungen , über das Winden der Pflanzen, die Rindenspannung, die Ablenkung der Markstrahlen bei exzentrischem Wachstum, die pflanzlichen Flugapparate , die Varia- tionsbewegungen , und endlich über hygroskopische Krümmungen und Torsionen. Schwendener selbst hat nach dem Vorwort den Herausgeber mit der Veröffentlichung der Vorlesungen betraut; er hat die Arbeit durchgelesen und mit Korrekturen'jversehen. Das vorliegende Heft ist nicht eine wörtliche Wiedergabe von Schwendener's Vor- trägen, sondern nur ein Ausdruck für seine Auffassung der behandelten Probleme auf Grundlage seiner Vor- lesungen, seiner Werke und seiner Mitteilungen. Das beigegebene Bildnis Schwendener's gibt das Porträt des jetzt achtzigjährigen , noch sehr rüstigen Gelehrten trefflich wieder. A. Engler, Die natürlichen Pflanzenfami- lien, I.Teil, Abt. 3. Leipzig, 1909. — Preis pro Lieferung von 3 Bogen 3 Mk., in Subskription 1,50 Mk. Mit der Fertigstellung der Abteilung 3 des I. Teiles des großen Werkes liegen nunmehr die Bearbeitungen der sämtlichen Moose vollständig vor. Es ist das ein umfangreicher Band von nicht weniger als 1246 Seiten, der unhandlich sein würde, wenn er nicht in 2 Hälften geteilt worden wäre, dadurch, daß auch von Seite 701 ab besondere Titelblätter und eine Inhaltsübersicht vorgeschaltet worden sind , so daß der Gesamtband in 2 Hälften gebunden werden kann. Die erste Hälfte bringt die Hepaticae (Leber- moose) bearbeitet von N. Seh i ff n er. Die Musci (Laubmoose) wurden in ihrem allgemeinen Teil von Carl Müller (Berolinensis) und W. Ruh 1 and be- arbeitet, die Sphagnacaen (Torfmoose) von C. Warn- storf, die Andreaeaceae von V. F. Brotherus, die Bryales von demselben, und von all diesen Fa- milien bzw. Unterklassen bearbeitete Ruhland die allgemeinen Verhältnisse. Von den Bryales enthält die erste Hälfte des Werkes die Acrocarpi , wäh- rend die zweite Hälfte die Pleurocarpi bringt. Die Fertigstellung des Werkes hat von 1893 bis 190g gedauert, aber wir besitzen nun auch in ihm eine zeitgemäße, zuverlässige und schöne Übersicht über das Gesamtgebiet der Moose. Fr. König , Der Vertrocknungsprozeß der ErdeundDeutsch lands verkehrte Wasser- wirts chaft. Otto Wiegand in Leipzig, igo8. — König's Äußerungen zu dem Gegenstande sind beachtenswert. Soweit es sich um die kulturtech- nische Seite des Gegenstandes handelt, ist sicher alle Veranlassung vorhanden , die Auslassungen des Verf. zu beherzigen, denn es ist zweifellos, daß auf dem Gebiet der Wasserwirtschaft nicht einheitlich genug vorgegangen wird, wie das hier unbedingt erforderlich ist. Die Wissenschaft wird es besonders interessieren, was König über die Austrocknung ganzer Länder- strecken sagt. J.J.Thomson, Die Korpuskulartheorie der Materie, .-autorisierte Übersetzung von G. Siebert. Braunschweig 1 908 , Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn (Die Wissenschaft, Heft 25). VIII und 166 Seiten mit 2g Textabbildungen. — Preis geh. 5 Mk., geb. 5,80 Mk. In dem vorliegenden Werke legt der Verfasser, der den Physikern als einer der geistreichsten For- scher auf dem Gebiete der Elektronik wohl bekannt ist, seine Anschauungen über den Aufbau der Materie in ziemlich populärer Form dar. Das Buch ist also als eine Fortsetzung und Erweiterung der im Jahre igo4 ebenfalls deutsch in der Sammlung „Die Wissenschaft (Heft 3)" erschienenen Vorträge „Elektrizität und Materie" anzusehen. In der neuen Schrift werden zunächst die grund- legenden Tatsachen der Elektronentheorie besprochen. Daran schließt sich ein Kapitel, in dem die Frage nach dem Ursprung der Masse der Elektronen mit dem Ergebnis diskutiert wird, daß die Masse der Elektronen nur scheinbar materiell, in Wahrheit aber elektromagnetischer Natur sei. Eingehend wird die Korpuskulartheorie der Wärme- und Elektrizitätsleitung in Metallen behandelt und gezeigt, daß von den beiden konkurrierenden Theorien die eine, nach der die die Leitung der Wärme und der Elektrizität be- sorgenden Elektronen insofern dauernd im Metall frei sind , als sie mit den Atomen ihrer Umgebung, von denen sie sich durch Dissoziation getrennt haben, in einer Art von Temperaturgleichgewicht stehen, zu einem Widerspruch mit der Erfahrung fuhrt, indem der Wert für die spezifische Wärme der Metalle, wenn sie richtig wäre , viel größer (bei Silber zehnmal so groß) sein müßte, als er tatsächlich ist. Die andere Theorie, welche voraussetzt, daß die Elektronen nicht dauernd, sondern nur während der kurzen Zeit frei sind, die sie zur Zurücklegung des Weges von einem Atom zum Nachbaratom brauchen, vermeidet diese Schwierigkeit, und ihr ist, da sie alle anderen Be- obachtungen ebensogut wie die erste Theorie erklärt, der Vorrang zu geben. Zwei Kapitel über den Auf- bau der chemischen Atome aus positiver Elektrizität und negativen Elektronen und deren Anordnung im Atom beschließen das Buch. Wir werden auf den sehr interessanten Inhalt dieser beiden Kapitel dem- nächst genauer zurückkommen. Die Lektüre der „Korpuskulartheorie der Materie" ist nicht leicht, aber sie bietet dem, der die Mühe der Durcharbeitung nicht scheut, einen großen Genuß. Werner Mecklenburg. Wilhelm Ostwald, Grundriß der allgemei- nen Chemie. Vierte, völlig umgearbeitete Auf- lage. Leipzig igog. Verlag von Wilhelm Engel- mann. X und 661 Seiten mit 67 Textabbildungen. — Preis geh. 20 Mk. , geb. in Leinen 21,20 Mk. und in Halbfranz 22,50 Mk. Ostwald's Grundriß der allgemeinen Chemie ist als eine der bedeutendsten Arbeiten aus der Feder seines Verfassers jedem Chemiker wohl bekannt und dürfte wohl in keiner auch nur dürftig ausgestatteten N. F. \nil. Nr. 22 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 351 chemischen Bibliothek fehlen. Allerdings läßt sich nicht verhehlen , daß besonders in einer Hinsicht Ostwald's wissenschaftlicher Standpunkt nicht die all- gemeine Anerkennung gefunden hatte : Ostwald zeigte der tür die moderne Chemie so wichtigen und auch unentbehrlichen Atonitheorie gegenüber eine große Skepsis, die den meisten als zu weitgehend erschie- nen war. Nicht etwa, als ob Ostwald die Atom- theorie als „falsch" bezeichnet hätte, nein, er wies nur immer wieder darauf hin, daß die Atomtheorie nicht exakt und sicher genug begründet sei, um als theo- retische Grundlage für eine exakte Wissenschaft zu dienen, und forderte daher immer wieder, wohl an der Wahrscheinlichkeit oder gar Möglichkeit einer experimentellen Begründung der Atomtheorie ver- zweifelnd, daß die Chetnie auf energetischer Grund- lage aufgebaut werden müsse. Diesen Standpunkt, der vielleicht nicht so unberechtigt war , wie es manchem geschienen hat, hat nun Ostwald — ein schönes Zeichen für seine wissenschaftliche Objek- tivität — in der soeben erschienenen vierten Auflage seines Grundrisses der allgemeinen Chemie aufgegeben : „Ich habe mich überzeugt, so schreibt er im Vorwort, daß wir seit kurzer Zeit in den Besitz der experi- mentellen Nachweise für die diskrete oder körnige Natur der Stofle gelangt sind, welche die Atomhypo- these seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden vergeblich gesucht hatte. Die Isolierung und Zählung der Gasionen einerseits, welche die langen und ausge- zeichneten Arbeiten von J. J. Thomson mit vollem Erfolge gekrönt haben, und die Übereinstimmung der Brown'schen Bewegungen mit den Forderungen der kinetischen Hypothesen andererseits , welche durch eine Reihe von Forschern, zuletzt am vollständigsten durch J. Perrin erwiesen worden ist, berechtigen jetzt auch den vorsichtigen Wissenschaftler, von einem experimentellen Beweise der atomistischen Beschaffen- heit der raumerfüllenden Stoffe zu sprechen." Nach diesen allgemeinen Bemerkungen möge eine kurze Übersicht über den wesentlichen Inhalt des Grundrisses folgen. Im ersten Buche, das den Untertitel „die Stoffe" führt und die Seiten i — 122 umfaßt, werden die Erhaltungsgesetze (Erhaltung des Gewichts, der Arbeit, der Masse und der Energie), die Formarten, die Gase und der erste Hauptsatz der Energetik , die Flüssig- keiten, das Phasengesetz und der zweite Hauptsatz und die festen Körper besprochen. Den in den letzten Jahren viel umstrittenen flüssigen Kristallen, deren reale Existenz Ostwald im Gegensatz zu man- chen anderen Forschern anerkennt, ist der letzte Abschnitt des ersten Buches gewidmet. Das zweite Buch (S. 122 — 270) behandeh die Stöchiometrie. Auf die Anwendung der Atomtheorie verzichtet C)stwald an dieser Stelle, obwohl sie gerade auf dem Gebiete der Stöchiometrie ihre große Be- deutung für die Chemie erlangt hat. „Für die Stöchiometrie, so sagt er, hat die Atomtheorie wesent- lich die Bedeutung eines bequemen Veranschaulichungs- mittels, da bekanntlich die hierher gehörigen Tat- sachen ohne ihre Hilfe ausreichend und vielleicht sogar tiefer greifend dargestellt werden können als bei der üblichen Voranstellung der atomistischen Auffassung." Die Berechtigung dieses Gesichtspunktes dürfte kaum allgemein anerkannt werden , und wenn Ostwald in dem Abschnitt über die Atomhypothese schreibt, daß gegenwärtig die Grenze ihrer Anpassungs- fähigkeit nahezu erreicht zu sein scheine und die Stimmen sich mehrten, die auf ihre Unzulänglichkeit in manchen Gebieten hinwiesen , so hat der Leser den (vielleicht unberechtigten) Eindruck, daß diese Worte mehr dem früheren als dem jetzigen Stand- punkte Ostwald's entsprechen. Wichtig und wertvoll ist die kritische , von Drucker neu durchgeführte Berechnung der Atomgewichte. Das Gesetz von Gay- Lussac, die verdünnten Lösungen und Bemerkungen über die chemische Konstitution bilden den weiteren Inhalt des zweiten Buches. Das dritte Buch (S. 270 — 420) behandelt die chemische Thermodynamik , zunächst die Thermo- chemie — hier fehlt die Abbildung der kalorimetri- schen Bombe, auf die im Text (S. 284) verwiesen wird — , dann die chemische Kinetik , wo besonders auf die Bedeutung der Lehre von der Katalyse ver- wiesen wird und schließlich die chemischen Gleich- gewichte erster, zweiter, dritter und höherer Ordnung. Mancher dürfte vielleicht in diesem Kapitel die „thermische Analyse" und den Namen Tammann ver- missen. Der im Text (S. 273) angeführte Name von Helm fehlt im Register. Das vierte Buch (S. 420 — 529) beschäftigt sich mit der Elektrochemie , und zwar mit der elektro- lytischen Leitung, den Ionen und den elektrolytischen Gleichgewichten , den Volta'schen Ketten und den Erscheinungen der Elektrolyse und der Polarisation. Von besonderem Interesse ist das in die vierte Auflage des Grundriß neu aufgenommene fünfte Buch mit dem Untertitel „Mikrochemie" (S. 529 bis 572). Die Mikrochemie ist der Teil der Chemie, bei dem die Oberflächenenergie eine maßgebende Rolle spielt , und dieser Fall tritt erst ein , „wenn wenigstens eine Dimension der betrachteten Gebilde mikroskopische Werte hat". Solange die Oberfläche verhältnismäßig klein gegenüber der Masse ist, hat die Oberflächenenergie einen so geringen Wert , daß sie gegenüber den anderen Energieformen vollkommen vernachlässigt werden kann. So reicht, um das Ge- sagte an einem Beispiel zu erläutern , die zur Her- stellung eines Wasserwürfels von einem Zentimeter Seitenlänge erforderliche Oberflächenenergie nur dazu aus, um dieselbe Menge Wasser um wenig mehr als ein Hunderttausendstel Grad zu erwärmen. „Denkt man sich aber die angegebene Wassermenge in immer kleinere Würfel geteilt, so bleibt die Gesamtmenge des Wassers unverändert, die Oberfläche aber nimmt im umgekehrten Verhältnis der Kantenlänge dieser Würfel zu. Wenn die Teilwürfel an die Grenze der mikroskopischen Sichtbarkeit auf io"5 cm Seitenlänge gebracht werden, so entspricht schon der erforderliche Energieaufwand einer Erwärmung des Wassers um 1,1^' bzw. entsprechenden anderen Zustandsänderungen des Wassers. Hier handelt es sich also bereits um ganz ansehnliche Beträge, da sich z. B. der Dampfdruck des Wassers bei einer solchen Temperaturerhöhung Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 22 um 8 % ändert." Zum Studium der durch die Ober- flächenenergie verursachten Erscheinungen eignet sich besonders der von Wolfg. Ostwald eingeführte" Be- griff der spezifischen Oberfläche , d. h. des Quo- tienten aus der Oberfläche eines Körpers und seines Volums. Die Oberflächenenergie selbst wird , wie alle Formen der Energie, als Produkt zweier Faktoren, eines Kapazitätfaktors, nämlich der Größe der Oberfläche, und eines Intensitätsfaktors, der Ober- flächenspannung, bestimmt. Natürlich kann von Oberflächenenergie nur dann die Rede sein , wenn ein mehrphasiges Gebilde vorliegt, das in Frage kommende Gebilde muß „dispers" sein. Sind nur zwei verschiedene Phasen vorhanden , so sind als wichtigste disperse Gebilde Nebel und Staub in einem gasförmigen, Schaum und Emulsion in einem flüssigen und analoge Systeme in einem festen Medium zu nennen. Sind die suspendierten Teilchen kleiner, als einem Durchmesser von 0,0 1 mm entspricht, so zeigen sie dauernd die von dem englischen Botaniker Brown im Jahre 1S27 zuerst beobachteten unregel- mäßigen, geradlinigen, zickzackartig plötzlich die Rich- tung wechselnden Brown'schen iVIolekularbewegungen. Diese Bewegungen rühren von den Stößen der in Wärme- bewegung befindlichen Moleküle des flüssigen oder gasför- migen Mediums gegen die suspendierten Teilchen her und lassen sich, wie Einstein und Smoluchowski gezeigt haben, theoretisch berechnen. Th. Svedberg hat nun die Berechnungen dieser beiden Forscher durch Messungen an ultramikroskopischen Platinteilchen experimentell nachgeprüft und ist dabei zu dem wich- tigen Ergebnis einer annähernden Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis gelangt. Noch genauere Werte als die Arbeiten Svedberg's haben analoge Unter- suchungen Perrin's geliefert, und damit dürfte die den Berechnungen zugrunde liegende Theorie von der körnigen Struktur der Materie als bewiesen anzusehen sein. — Ein Kapitel über die kinetische Theorie der Gase schließt das fünfte Buch ab, von dessen reichem und vielseitigem Inhalt die vorstehenden Zeilen nur eine schwache Vorstellung geben können. Das sechste Buch (S. 572 — 614) ist der Lehre von den Beziehungen zwischen der strahlenden Energie und der Chemie, der Photochemie, der elektrischen Leitung in Gasen und der Radioaktivität gewidmet. Im siebenten Buch endlich (S. 614 — 644) wird eine kurze Übersicht über die Lehre von der chemi- schen Verwandtschaft gegeben. Mit einem Namen- und einem Sachregister schließt das Buch. Eine leichte Lektüre ist Ostwald's Grundriß nicht. Einem Studenten, der nicht eine besondere Vorbildung hat, wird die Durcharbeitung viele Schvi'ierigkeiten bieten, da er sich erst an Ostwald's kurze und knappe Art der Darstellung, die für den Erfahreneren so viele Reize in sich birgt, einarbeiten muß, und bei manchen Stellen wird er vielleicht sogar stecken bleiben. Für Anfänger ist das Buch auch nicht geschrieben. Je weiter aber jemand fortgeschritten ist, einen um so größeren Genuß wird er von Ostwald's Buch haben, denn um so mehr wird er die durch das ganze Werk zerstreute Fülle von originellen Gedanken und von geistreichen Betrachtungen zu schätzen im- stande sein. Werner Mecklenburg. Anregungen und Antworten. Herrn H. Seh. in Hbg, — Nach tlem von ließ im Jahre 1840 entdeckten und experimentell eingehend begründeten Gesetz der konstanten Wärmesummen, das sich uns heute als einlache Folgerung aus dem Gesetz von der Erhaltung der Energie darstellt, läßt sich die Wärmetönung einer Reaktion berechnen, sobald man die Bildungswärme der vor und nach der Reaktion vorhandenen Stoffe kennt. Die Bildungswärme der Elemente wird hierbei gleich Null gesetzt. Andererseits kann man natürlich auch die Bildungswärme eines Stoffes berechnen , sobald die Reaktionswärme und die Bildungs- wärmen der anderen an der Reaktion beteiligten Stoffe be- kannt sind. So läßt sich z. B. die direkt nicht meßbare Bildungswärme x des Kohlenoxyds CO aus der Bildungswärme der Kohlensäure a = 394 kj (l kj [Kilojoule] = lo"' Erg = 239,1 cal.) und der Verbrennungswärme b = 2S4 kj des Kohlenoxyds zu HO kj nach folgendem Schema berechnen: I) c H - 0 = CO -- X 2) c - - 0, = CO, -- a 3) CO - ho CO, + b 2)— 3) c + 0-2 — CO — O = CO.^ + a — CO2 — b C-fO — CO = a — b C+0 = CO-|-a — b 1) C + O = CO -f X X ^ a — b = 394 — 284 = 110 kj. r)ie Wärmetönung des Wassergasprozesses C -j- HjO = CO -f H., läßt sich in folgender Weise ermitteln : i) C + H,jO = CO -j- Hj -j- X 2) C -j- O 3) H, 4- O = CO -j- HO kj = HjO + 245,5 M 2)— 3) C + O — H2 — O = CO -f 1 10 kj — H.>0 — 241;, 5 kj C — Hj = CO — H.,0 — 135,5 kj C + H2O = CO -f H, — 135,5 kj 1) C + HaO = CO -f- Hj, 4- " X = - 135.5 kj, d. h. bei der Überführung von 1 Grammatom Kohlenstoff und einem GrammolekUl Wasser in ein Grammolekül Kohlenoxyd und ein Grammolekül Wasserstoff werden 135,5 kj verbraucht. Für die vollständige Theorie des Wassergasprozesses, auf die demnächst in dieser Zeitschrift im Anschluß an eine Besprechung des gegenwärtigen Standes der Lehre von der chemischen Affinität näher eingegangen werden soll, ist indes von Wichtigkeit, daß erstens die Reaktion C -f H2O = CO -f H2 nicht vollständig verläuft, sondern zu einem Gleichgewichts- zustande führt und daß zweitens der Wert der Gleichgewichts- konstanten von der Temperatur abhängig ist. Mg. Inhalt: Dr. Ernst Zimmermann: Neuere Beobachtungen über vulkanische Gasexhalationen. — Kleinere Mitteilungen: Rudolf Kowarzik: Über den Moschusochs und seine Rassen. — Dr. P. So n n ta g : Die duktilen Pflanzenfasern. J. Stark: Elektronentheorie und chemische Valenz. — Himraelserscheinungen im Juni 1909. — Bücherbesprechungen: Sammel- Referat. — Oskar Pfungst: Das Pferd des Herrn von Osten. — Schwendener: Vorlesungen über me- chanische Probleme der Botanik. — A. Engler: Die natürlichen PHanzenfamilien. — Fr. König: Der Vertrocknungs- prozeß der Erde und Deutschlands verkehrte Wasserwirtschaft. — J. J. T h o m s o n : Die Korpuskulartheorie der Ma- terie. — Wilhelm Ostwald: Grundriß der allgemeinen Chemie. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofi-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Nciir bolgc Vlll. Vkmd, der gau/cii Reihe XXIV. Band. Sonntag, den 6. Juni igog. Nummer 5ä3. Das Invar und seine wichtigste Verwendung in der Geodäsie. [Nachdruck verboten.] 1. Für eine Reihe von Anwendungen in der Geodäsie ist ein Metall willkommen, das einen möglichst kleinen Wärmeausdehnungskoeffizienten hat bei genügender Beständigkeit und Festigkeit, endlich bei nicht hohem Preis. Feine Maßstäbe in der F"orm sog. Normalmaßstäbe und zur un- mittelbaren Verwendung bei Präzisions-Längen- messungen können nicht aus dem stets und un- regelmäßig veränderlichen hygroskopischen Holz bestehen, sondern nur aus Metall ; da es aber schwierig ist, die Temperatur eines solchen Metall- stabs genau zu messen, so sollte bei Stäben für feine Messungen ein gewisser Temperaturfehler einen möglichst geringen Längenfehler zur P"olge haben. Auf der Oberfläche eines Stahlstabs seien zwei feine Striche gezogen, die z. B. bei der Temperatur -|- i8" C die Entfernung von genau I m haben; wird die Temperatur des Stabs um lo" vergrößert, auf + 28" C gebracht, so sind die zwei Striche um mehr als Vio ^^ über i m von- einander entfernt; eine Unsicherheit um nur 1" in der Temperatur des Stabs macht die Ent- fernung der zwei Striche um etwas über Ykmi rn''"^ unsicher. Bei einem Messingstab ist die Wärme- ausdehnung fast das Doppelte von der eines Stahl- stabs unter denselben Umständen ; der Wärme- ausdehnungskoeffizient des gewöhnlichen Messings ist 1^/5 von dem des gewöhnlichen Stahls. Für Platin dagegen ist dieser Koeffizient nur *l^ von dem des Stahls; ein Platinstab von i m Länge wird bei Abnahme seiner Temperatur um i" nicht wie der Stahlstab um l,i Hundertstel eines Millimeters, sondern nur um 0,9 Hundertstel mm kürzer. Das sind kleine Größen und wozu braucht man sie so sehr genau zu kennen ? Nun, diese Meterstäbe u. dgl. dienen eben auch als Maße für sehr lange Strecken, bei denen ihre Fehler mit loooo, icoooo multipliziert werden, und man muß deshalb sowohl die Länge der „Normalmaße" bei einer bestimmten Temperatur, als ihr thermisches Verhallen und die Erhaltung ihrer Länge im Lauf der Zeit aufs genaueste studieren. Man rechnet bei diesen feinen Maßvergleichungen nicht in Millimetern, sondern in Mikrons (", nn,, mm). 2. Platin und die Platin-Iridiumlegierung, aus der die vor einigen Jahren an die einzelnen Staaten der Meterkonvention abgegebenen Ur- maße bestehen, ist nun viel zu teuer, als daß man daran denken könnte, zahlreiche und lange Maße aus diesem Material zu verfertigen. Da wurde eines Tags gefunden, daß ein bedeutender Nickel- zusatz zum Stahl dessen Wärmeausdehnungs- koeffizienten herabdrückt und daß bei einer Legie- Von Prof. Mr. E. Hammer. rung von etwa 36 v. H. (dem Gewicht nach) Nickel mit 64 v. H. Stahl dieser Koeffizient einen sehr ausgesprochenen kleinsten Wert erreicht, bei noch stärkerem Nickelgehalt der Legierung also wieder steigt. Dieser Nickelstahl mit 36 "/„ Nickel ist Invar genannt worden, unveränderliches Metall. Der Wärmeausdehnungskoeffizient des gewöhnlich verwendeten Invar ist ungefähr '/j,, von dem des Stahls: während eine Unsicherheit von i" in der Temperatur eines Stahlstabs seine Länge, die für eine bestimmte Temperatur genau bestimmt sei, um rund Vionono ihres Betrags unsicher macht, ist die entsprechende Zahl für einen Invarstab */:', iHinooü- ^s ist das große Verdienst der beiden Direktoren des internationalen Maß- und Gewichts- bureaus zu Breteuil (bei Scvres, unweit Paris), R. Benoit und Ch. Ed. Guillaume, auf Wunsch der internationalen Erdmessung dieses merkwürdige Metallgeinisch nach allen Richtungen sorgfältig studiert zu haben. In dem französischen Stahl- werk Imphy, aus dem bisher der meiste Nickel- stahl für feine Maßstäbe usf. hervorging, ist es gelungen, Legierungen (mit Chromzusatz usw.) herzustellen, die gegen Temperaturänderungen so gut wie unempfindlich sind, bei denen z. B. in der Nähe von 15" die Änderung der Temperatur eines Stabs um 1 " eine Änderung seiner Länge von nur \''4(iii(MMiii hervorbringt und die also den Namen Invar buchstäblich verdienen — was die Temperatur angeht. Leider ist aber mit dem Vorzug der ge- ringen Wärmeausdehnung ein großer Nachteil verbunden: die Moleküle des Materials sind in gleichsam nur labilem Gleichgewicht, z. B. gegen starke oder langandauernde Erschütterungen nicht unempfindlich, die Länge der Invarstäbe usf. ändert sich „von selbst" im Lauf der Zeit. Zwar ist bei Stäben aus allen Materialien die Länge, wie man in der Metronomie sagt, eine „Funktion der Zeit". Doch sind gerade bei Invarstäben und -drahten solche Änderungen von ziemlich großen Beträgen beobachtet worden ; besonders Er- schütterungen sind von Einfluß. Z. B. hat ein Invardraht von i^^ mm Stärke und 24 m Länge, nachdem er durch eine Zugspannung von 160 kg, der er 3 Tage ausgesetzt wurde, eine dauernde Verlängerung von etwas über 16 mm erfahren hatte, durch lOO, 500, 1000 heftige Schläge gegen den Fußboden wieder eine Verkürzung um 1,34, 4,04, 5,2 1 mm erlitten. Die neuen Drähte haben übrigens höhere Festigkeit und viel größere Beständigkeit als die zuerst hergestellten, so daß solche extreme Zahlen nicht mehr erscheinen; und glücklicherweise führen die absichtlichen, starken und oft wiederholten Erschütterungen das 354 Naturwissenschaftliche Wochenschrift X. F. \'III. Xr. Drahtmaterial in weit größere Konstanz über, die Drähte lassen sich gleichsam, wie das Glas der Thermometerröhren u. dgl., „künstlich altern". Immerhin ist etwas häufigeres feines Xachmessen der Länge der Maßstäbe und Drähte aus Invar not- wendig als bei andern Materialien ; doch wird dieser Xachteil durch den großen Vorzug der äußerst geringen VVärmeausdehnung weit über- wogen. 3. Es ist oben schon mehrfach von Drähten aus Invar die Rede gewesen. Diese Drähte stellen nämlich den wichtigsten Fortschritt im Apparat zur feinen Messung großer gerader Strecken, sog. Grundlinien oder Basen für die Triangulation vor. Eine der wichtigsten Arbeiten bei einer Landesvermessung oder für Zwecke der Erdmessung ist diese sog. Triangulation des ganzen Landesgebiets oder längs einer bestimmten Linie, z. B. eines Meridians der Erdoberfläche: das zu triangulierende Gebiet oder der zu triangulierende Streifen längs jener Linie wird mit einem Xetz oder einer Kette aneinander gereihter Dreiecke überzogen, wobei in der Triangulation erster Ord- nung die Dreiecksseiten Längen von 30, 50, 70 km, gelegentlich auch noch viel mehr erhalten; die längste Dreiecksseite, in der bei der Messung der Dreieckswinkel von jedem Endpunkt nach dem zweiten gezielt worden ist, ist 294 km lang (Ver- einigte Staaten), in Europa kommt eine Seite von 270 km bei der Verbindungstriangulation zwischen Spanien und .Algerien vor. In dem Dreiecksnetz werden alle Winkel mit großen Theodoliten aufs schärfste beobachtet; damit man alle Dreiecks- seiten und überhaupt alle Abmessungen in dem Netz berechnen kann, ist außerdem notwendig, daß in dem Xetz noch wenigstens eine Strecke direkt sehr genau gemessen wird, die sog. Basis oder Grundlinie. Die Grundlinienmessung hat sich bis vor 30 Jahren durchaus starrer Metallstäbe bedient, die früher auf der „Messungsbrücke" mechanisch aneinandergefügt wurden, meist mit Zwischen- fügung eines Meßkeils, während die meisten neuern Basismeßapparate Strichmaße benutzten und in der Regel Einstabapparate waren, wobei die einzelnen Lagen optisch mit Hilfe feiner Schraubenmikroskope aneinanderzureihen waren. Die Basismessung war eine äußerst subtile, höchst kostspielige Arbeit und es ist nicht verwunderlich, daß man sich, in Europa und in neuerer Zeit wenigstens , oft mit ganz kurzen Grundlinien begnügte, 2000 oder 3000 m lang. Schon vor bald 100 Jahren hatte der damalige Prof. S c h w e r d in Speyer, gelegentlich der Messung der einen der bayerischen Gnmdlinien (Speyer - Oggersheim, 15^, km lang) gezeigt, daß man mit einer fast 20 mal kürzern Grundlinie auskommt, indem sie durch ein passend angelegtes und genau ge- messenes trigonometrisches sog. Entwicklungsnetz auf die größere Strecke noch mit durchaus ge- nügender Genauigkeit ,, entwickelt" werden könne. Man ist übrigens dann in den letzten Jahren auch bei Messung mit starren Basisapparaten doch wieder zu direkt gemessenen Längen von 5000, 6coo, 80O3 m zurückgekehrt. Als aber vor 30 Jahren der schwedische Geodät Prof Ja der in zeigte, daß man auch mit nicht starren Metallmaßen, Drähten und Bändern, die viel länger sein können als die starren Stäbe, ge- nügende Genauigkeit in der Grundlinienmessung erreichen könne, wenn nur für konstante Spannung des Drahtes oder Bandes gesorgt wird, eröffneten sich der Grundlinienmessung ganz neue Aussichten in der Triangulation ; zumal als dann vor 10 Jahren endgültig in dem Invar ein Mate- rial für die Drähte und Bänder geboten wurde, dessen geringe Wärmeausdehnung einen Tempe- raturfehler von i" oder 2", der bei Stahldraht die Länge bereits um rund \ooo"o o^^"" '51 0 """ richtig macht, ganz gleichgültig erscheinen ließ. Mit Invardrähten oder Invarbändern und zweck- mäßigen Hilfseinrichtungen ist die früher zeit- raubende und deshalb teure Basismessung zum einfach und rasch zu erledigenden, billigen Ge- schäft geworden, auch wenn die Genauigkeits- anforderungen nicht gering sind, der Fehler z. B. '5 oder selbst ^i„„o,:,o.) der Länge nicht überschreiten soll. Es war damit zu erwarten, daß bald wieder sehr lange Grundlinien und viel mehr Grundlinien als früher gemessen werden würden, daß die Winkelmessung, die seither eigentlich Alleinherrscherin in der Triangulation war, zugunsten der direkten Längenmessung etwas zurücktreten werde. In dieser Richtung bewegt sich auch in der Tat die gegenwärtige Entwicklung der Triangulation. 4. Es ist schon jetzt, wenige Jahrzehnte nach der Erfindung der Draht- und Band-Basismeß- apparate und wenige Jahre nach Einführung des Invar als Material für Draht und Band, eine An- zahl von gemessenen Grundlinien vorhanden, deren Länge wieder 20 km erreicht oder über- schreitet; ja vor 3 Jahren ist in Südafrika eine Basis gemessen worden, die das alles bisher Da- gewesene überbietende gigantische Maß von 34 km hat. In den \'ereinigten Staaten hat man bereits eine ganze Reihe von Grundlinien mit Band- apparaten gemessen; man hat bis vor kurzem Stahlbänder gebraucht , doch mußten diese Messungen mit Rücksicht auf die gleichmäßigere Temperatur bei Nacht gemacht werden. Seit Einführung der Invarbänder dagegen konnte man zur Messung bei Tag übergehen, ohne daß die Genauigkeit geringer geworden wäre, sie ist im Gegenteil noch gesteigert worden. Man ver- wendet in der Union lange Bänder, meist 50 m- Bänder, von geringem Gewicht: die Invarbänder sind nur 6 — 7 mm breit, 0,5 mm stark, so daß sie rund 25 g pro Meter Länge wiegen; die frühern Stahlbänder waren noch etwas schmäler und schwächer, Gewicht nur etwa 20 g pro Meter. Die Bänder sind selbstverständlich unter kon- N. F. VIII. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 355 stanter Zugspannung zu gebrauchen und es muß ihre (ileichung (Länge bei bestimmter Temperatur, Verhalten bei Temperaluränderungen) unter der- selben Zugspannung studiert werden. Als solche konstante Zugspannung dient für die ameri- kanischen 50 m- Bänder 20 kg. Was sich an Schnelligkeit der Messung und zugleich an Ge- nauigkeit erreichen läßt, dafür mögen noch einige Zahlen von den zuletzt gemessenen fünf Grund- linien in verschiedenen Teilen der mittlem Unionsstaaten angeführt werden. Diese Grund- linien sind durchschnittlich etwas über 10 km lang, die kürzeste 7Y21 die längste 14 km, also nach schon heute vorhandenen Anschauungen für Drahtmessungen nicht sehr lang. Die Genauig- keit, mit der sie gemessen sind, ist nach den sog. mittlem Fehlern zu beurteilen ; der mittlere Ge- samtfehler bewegt sich für die fünf Grundlinien zwischen 4 mm und 7 mm. Der sog. relative mittlere Fehler, Fehlerbetrag dividiert durch die Länge, ist durchschnittlich ', sooooo (^;'i 400000 bis '/asooooo)- Mehr läßt sich an Genauigkeit auch mit Stabapparaten nur sehr schwer erreichen und es ist, mit Rücksicht auf die Winkelmessungsgenauig- keit der auf die Grundlinien sich stützenden Drei- ecke auch ganz überflüssig, daß in den Grund- linien die Genauigkeit noch weiter getrieben wird. Dabei ist nun aber die iVIessungsgeschwindigkeit mit den Stabapparaten oft nur einige hundert Meter oder i km im Tag, während hier bei der 50 m-Bandmessung Geschwindigkeiten bis zu 2 km in der Stunde erreicht wurden. In Europa und sonst außerhalb Amerikas ist besonders der Gebrauch des Apparats von Guillaume-Carpentier mit Drähten von I '^:^ mm Durchmesser und nur 24 m Länge unter der konstanten Spannung 10 kg üblich geworden. Eine interessante Drahtmessung ist vor wenigen Jahren von G u i 1 1 a u m e selbst, R o s e n m u n d u. a. durch den Simplontunnel gemacht worden (20 km). In Südafrika sind vor einigen Jahren als Grundlagen der neuen englischen Triangulation der Transvaal Colony und Orange River Colony fünf Grundlinien gemessen worden, die durch- schnittlich schon 22'._, km lang sind; die längste davon, bei Pietersburg, mißt, wie schon erwähnt, 34 km. Hier sind 80 Feet Invardrähte (rund 24,3 m) verwendet worden und auch hier ist die erreichte Messungsgenauigkeit sehr hoch; der reine mittlere Messungsfehler, zu dem allerdings noch andere Fehlerkomponenten hinzutreten, beträgt bei den fünf Strecken zwischen ^ ^^ ,„ und '4000000 der Länge. Die je dreimalige Messung der acht Ab- schnitte der 34 km -Basis (also die einmalige Messung von I02 km) hat 15 Tage beansprucht. Übertroften wird diese 34 km-Grundlinie aus mehr als einem Grund wohl so bald nicht werden ; aber daß bald sehr zahlreiche und sehr lange Grundlinien gemessen sein werden, ist nicht zweifelhaft und diese Invar-Drahtmessung geo- dätischer Grundlinien ist jedenfalls ein bemerkens- wertes Beispiel dafür, wie rasch oft Anschau- ungenüberwissenschaftlich-praktische Dinge, diesehr fest begrü nd et schienen, durch eine unerwartete Erfindung oder Entdeckung über den Haufen geworfen werden. Die Ökonomie der ganzen Triangu- lierungsarbeit geht sicher einer wesentlichen Ver- änderung entgegen, indem die direkt gemessenen Strecken der Winkelmessung gegenüber mehr in den Vordergrund treten werden. Die im Gang befindlichen großen Gradmessungstriangulationen in Nordamerika und Afrika werden noch reichlich Gelegenheit dazu bieten. Auf Anwendungen des Invar in andern Ge- bieten, die z. T. der Geodäsie nahe stehen, kann ich hier nicht mehr eingehen. Als sehr wichtig mag wenigstens noch die Verwendung in feinen Uhren genannt sein, sowohl in Pendeluhren als Material der Pendelstange, als in feinen Feder- uhren (Schiffschronometern und feinen Taschen- uhren) als Material der Unruhe. Gerade in der Chronometrie sind ebenfalls schon die schönsten Erfolge des Invar zu verzeichnen. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Nahrungsmittelchemie. — „Ü ber den Nachweis einiger tierischer Fette in Gemischen mit anderen tieri- schen Fetten nach dem Verfahren von Polenske". Von K.Fischer und K. Alpers. Mitteilung aus dem Chemischen Laboratorium der Auslandsfleischbeschaustelle Bentheim. (Zeitschr. f. Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1909, 17, 181 — 190). Verff. haben das Verfahren von Polenske (.Arbeit, aus dem Kaiserl. Gesundheits- amte 1907, 26, 444; Zeitschr. f Unters, d. Nahrgs.- u. Genußm. 1907, 14, 7581 in eingehendster Weise nachgeprüft. Dem Verfahren liegt die von Polenske gemachte Beobachtung zugrunde, daß die Temperaturdifterenz zwischen dem Schmelz- und Erstarrungspunkte, die ,, Differenzzahl", bei den Fetten verschiedener Tierarten nicht gleich groß ist, aber für das Fett einer Tierart eine ziemlich konstante Größe besitzt. Der Apparat zur Bestimmung des Erstarrungspunktes von Polenske wird von Verff. sehr empfohlen. Das Verfahren wurde nachgeprüft bei i. Talg, 2. Schmalz, 3. bei Gemischen von selbstausge- schmolzenem Schweineschmalz mit selbstausge- schmolzenem Talg, 4. bei Oleomargarin, 5. Butter und Buttertalggemisch. Verff. kommen zu folgen- den Ergebnissen: I. Durch die Arbeit von Polenske ist eine 3S6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 23 exakte Methode zur Bestimmung des Schmelz- und Erstarrungspunktes gegeben, so daß diese beiden Punkte und ihre Beziehungen zueinander berufen erscheinen, in der Fettchemie eine größere Rolle zu spielen als bisher. Das Verfahren läßt sich in der vorgeschriebenen Weise leicht aus- führen, nur in einzelnen Fällen, z. B. bei Oleo- margarin dürfte es sich empfehlen, Kühlwasser von 16" anstatt von 18" zu verwenden. 2. Das Verfahren eignet sich gut zum Nach- weis von gröberen Verfälschungen des Schmalzes mit Talg. Die angegebenen Grenzen scheinen jedoch noch erweitert werden zu müssen. 3. Zum Nachweis fremder tierischer Fette in Butter ist das Verfahren in der beschriebenen Weise und Deutung nicht zu verwenden. Die von Verff. ermittelten Zahlen liegen zum Teil weit außerhalb der angegebenen Grenzen. Über „Ziegenbutterfett" berichtet Dr. M. Siegfeld. Mitteilung aus dem Milchwirtschaft- lichen Institut Hameln. (Milchwirtschaftliches Zentralblalt 1909, 5, 13.) Verf führt zunächst die Analysenresultate an, welche Sprinkmeyer und F'ürstenberg (Zeitschr. f. Unters, der Nahrgs.- und Genußm. 1907, 14, 388) sowie K. Fischer (Zeitschr. (. Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1908, 15, 11) erhalten haben (über diese beiden Arbeiten sowie über eine II. Mitteilung von Sprinkmeyer und Fürstenberg refe- rierten wir in der „Naturw. Wochenschr." 1908, VII, 249 und 611 — 612). Siegfeld kommt zu folgenden Analysenresultaten: Die Reichert- Meißl'sche Zahl hält sich im allgemeinen auf der Höhe, die für Kuhbutterfett mittleren Werten entspricht. Nur in einem Falle fand Verf sie sehr niedrig; das Fett rührte von Ziegen her, die am Ende der Laktation standen. Die Polen ske- sche Zahl ist durchweg hoch, nämlich: 7,10; 5,9; 5,85; 6,70; 6,70; 6,15; 5,80; 4,75; 4,60; 6,10. Wenn die Pol e n sk e - Zahlen auch nicht die enormen Werte erreichen, wie sie K. Fischer mitteilt, so betragen sie docli das Drei- bis Vier- fache von den in Kuhbutter bei gleich hohen Reich er t - Mei ß r sehen Zahlen gefundenen. Auf die anderen interessanten Analysenergebnisse sei hingewiesen. „Zur Kenntnis der Zusammensetzung der Eselinmilc h". Von Dr. Benno Wagner in Bad Salzbrunn (Zeitschr. f. Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1908, 16, 174). Verf hat die Milch einer Eselstute während der Dauer einer Laktation kontrolliert, in den ersten Tagen i — 35 sind die Werte folgende: (Siehe nebenstehende Tabelle.) Die Eiweißstoffe bleiben demnach einigermaßen konstant, ebenso der Milchzucker, dagegen weist der Fettgehalt große Differenzen auf; in späteren Abschnitten der Laktation geht der Fettgehalt noch weiter zurück bis zu einem Durchschnitts- wert von 0,125 "/((• „Neues zur P-ierteig war en frage". Von 6 ' N ^-^ u Nr. V 0. C/3 -^1 II 0 p u 1 0 tn < N /o % "lo 0/'' "Ic 1 I T.ig 1,0279 17,667 8,116 2,655 6,616 0,506 2 5 Tage 1.0355 13,127 2,587 2,308 7,600 0,710 3 13 „ 1,0350 12,697 2,800 2,649 6,800 0,590 4 21 „ 1,0348 11,234 1,610 2,368 6,961 0,573 5 35 M 1,0364 12,099 1,550 2,494 7,390 0,563 Dr. Otto Hübner. (Deutscher Teigwaren- P^abrikant 1909, Nr. 3 u. 4.) Schon in Nr. 39 (1908) der Naturw. Wochenschr. S. 615 teilten wir mit, daß nach den Untersuchungen von L ü h r i g (Zeitschr. f. Unters, d. Nahrgs.- und Ge- nußm. 1905, 10, 153 und Jahresber. d. städt. Untersuchungsamtes Breslau 1906/07) sowie nach H. Matthes und O. Hübner (Chemiker- Zeitung 1908, S. 186) die Bestimmung der alkohollös- lichen Phosphorsäure nach Juckenack uns über den Eigehalt von Teigwaren keine brauchbaren bzw. zuverlässigen Resultate gibt. An derselben Stelle wurde die Arbeit von W. Ludwig (Zeit- schr. f Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1908, 15, 668) erwähnt, aus welcher auch die Unbrauch- barkeit der Juck enack'schen Methode hervor- geht. In seiner ausführlichen Übersicht bespricht Hübner außer der Ludwig' sehen Arbeit die- jenigen von Witte- Merseburg ,,Zur Eierteigwaren- frage" (Zeitschr. f. öffentl. Chemie 1908, 14, 326) und von G. Popp - Frankfurt a. M. (Zeitschr. f. öffentl. Chemie 1908, 14, 453). Keine dieser Arbeiten hält die Möglichkeit für gegeben, daß mit Hilfe der Lecithinphosphorsäure-Methode — wenigstens in der heutigen Form — der Eigehalt von Eierteigwaren einwandfrei bestimmt werden kann. Folgende beachtenswerten Äußerungen Hübner 's führe ich wörtlich an, da sie we i t erer Verbreitung wert sind : „Die Ansichten über den Wert dieser Methode haben sich mehr und mehr geklärt, wie überhaupt die Nahrungsmittelchemiker erfreulicherweise immer mehr und mehr von dem Glauben an „Grenzzahlen" bei in ihrer Zusammen- setzung schwankenden Naturprodukten und deren Verarbeitungen abkommen. Wenn wiederholt die Hoffnung geäußert wird, durch entsprechende Verbesserung der Lecithinphosphorsäure-Methode und Heranziehung anderer Werte, des Ather- extraktes, der Gesamtphosphorsäure usw. zu einem praktisch brauchbaren Verfahren zu kommen, so kann sich die Industrie diesem Wunsche nur durchaus anschließen. Ob aber auf Erfüllung dieses Wunsches zu rechnen ist, wollen wir ab- warten. Nach meiner Ansicht ist die Lecithin- phosphorsäure eine viel zu labile Substanz, ihre Zersetzlichkeit ist viel zu groß — einer der ersten Bearbeiter dieser Materie hat einmal scherzhafter- weise gesagt, sie zersetze sich schon, wenn man sie nur ansehe — , als daß sie die Grundlage für N. F. VIII. Nr. 23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 357 eine exakte Untersiichungsmethode bilden könnte. F.in Teil der Naliriingsmittelchemiker ist leider immer noch nicht zur richtigen Auffassung seiner Stellung durchgedrungen. Zunächst muß der Nahrungsmitteldumiker einmal Chemiker sein und darf nicht vergessen, daß an seine Arbeits- methoden genau dieselben Anforderungen bezüg- lich wissenschaftlicher Exaktheit zu stellen sind, wie an jede andere Methode der technischen Analyse. Wenn einer der Hauptvertreter jener Richtung sich einmal zu der Äußerung verstiegen hat, es ' komme für den praktischen Nahrungs- mittclchemiker gar nicht darauf an, zu wissen, was er zur Wägung brächte, so zeugt das für einen bedauerlichen Mangel an wissenschaftlichem Denken. Zum anderen muß aber der Nahrungs- mittelchemiker mit den Bedürfnissen der Praxis vertraut sein. Nur vom Laboratorium aus lassen sich keine Grundsätze für die Beurteilung von Nahrungs- und üenußmitteln aufstellen. Erfreu- licherweise gewinnt ja diese Ansicht unter den Chemikern immer mehr an Boden und immer mehr Stimmen erheben sich für das Zusammen- arbeiten von Chemikern und Männern der tech- nischen Praxis." „Zur Kenntnis des Pflaumenmuses". Von H. Lührig und O. Bürger. Mitteilung aus dem Chemischen Untersuchungsamt der Stadt Breslau. (Pharmazeutische Zentralhalle 1909, 50, 105 — 107.) Da das Pflaumenmus als Nahrungs- mittel bei der ärmeren Bevölkerung eine nicht un- bedeutende Rolle spielt. Literaturangaben über die ehem. Zusammensetzung außer den Mitteilungen von Woy (Zeitschr. f öffentl. Chem. 1902, S. 270) und P. Köpke (Pharm. Zentralbh. 49 [1908], 376) wohl kaum bekannt sind,i) beschäftigten sich Verff. näher mit der Untersuchung. Es lag ihnen hauptsächlich daran, festzustellen, ob durch Er- mittelung der Zusammensetzung von reinen und gemischten Pflaumenmusen auf chemisch-analy- tischer Grundlage Anhaltspunkte für die Reinheits- beurteilung solcher Erzeugnisse zu gewinnen waren. Zu diesem Zwecke stellten sich Verff. drei typische Muster auf folgende Weise her: Eine größere einheitliche Portion reifer Pflaumen wurde entsteint und für sich allein, ferner mit 20 "ij geschälten Birnen und weiter mit 20",, zer- kleinerten Zuckerrüben in gewogenen Porzellan- bechern, die in ein kochendes Wasserbad einge- hängt waren, unter recht häufigem Umrühren während mehrerer Tage bis zur dicklichen Kon- sistenz eingedampft. Die chemische Untersuchung auf Zusammensetzung geschah nach bekannten Methoden. Die Unterschiede, welche sich in der Zusammensetzung der drei verschiedenen Erzeug- nisse offenbarten, waren nicht sehr groß, Verff. halten sie für wenig geeignet Unterscheidungs- ') J. König gibt in ,, Chemie d. menschlichen Nahrgs.- uiid Genufim." 11, S. 963 (1904. 4. Aufl.) die mittleren Zahlen aus 5 .\nalysen an; leider ist nicht zu ersehen, wer die .\nalyscn ausgeführt hat , auch sind keine Minimal- und Maxiraalzahlcn angegeben, was immer geschehen sollte. U. Ref. merkmale zu begründen. Die Angaben, ein Zu- satz von Zuckerrüben könne am Rohrzucker- gehalt erkannt werden, sind nach Verff. zweifellos falsch, da letzterer durch die Art der Zubereitung des Muses sicher invertiert wird, was auch die Untersuchungsergebnisse der Verff bestätigen. Auffällig erscheint die Verminderung der optischen Drehung nach der Inversion, eine Erscheinung, die Verff fast regelmäßig auch bei anderen Frucht- eindickungen feststellen konnten. Vermutlich treten bei der Salzsäureinversion irgendwelche Spaltungen optisch aktiver Verbindungen ein. Nach dem Vergären mit Bierhefe hinterbleibt in allen Fällen eine optisch inaktive Lösung, so daß Stärkesirup an einer dann noch bestehenden Rechtsdrehung sicher erkannt werden kann. Verff. wollen aus den mitgeteilten Zahlenwerten weitere Schlußfolgerungen nicht ziehen. Ihrer Ansicht nach gibt die mikroskopische Prüfung des mit Wasser erschöpften und darauf mit Alkohol be- handelten, unlöslichen Anteils ein zuverlässigeres Bild. Fremde Bestandteile, insbesondere wenn ungeschälte fremde Früchte verwendet sind, wird man bei sorgfältiger Prüfung besonders an der Hand von Vergleichspräparaten sicher erkennen können. Selbst die eingehendere chemische Untersuchung hat untergeordnete Bedeutung. Was die Beurteilung betrifft, so stehen Verff. auf folgen- dem Standpunkte: „Darüber kann ein Zweifel nicht bestehen, daß man unter Pflaumenmus nur die durch Einkochen von reifen Pflaumen nach Befreiung von den Kernen gewonnenen Massen zu verstehen hat. Zusätze von Zucker sind nicht üblich und solche von Stärkesirup schlechthin als unzulässig zu bezeichnen, weil eine zwingende Notwendigkeit dazu nicht vorliegt. Von anderen Gesichtspunkten sind Zusätze anderer Fruchtarten, z. B. von Birnen, die in der Absicht zugesetzt werden, den Geschmack zu verfeinern, zu beur- teilen." Da fremde Zusätze, auch wenn sie wert- voller sind, wie die normalerweise angewendeten, als solche kenntlich zu machen sind, verlangen Verff., daß Muse, die aus verschiedenen Frucht- arten gewonnen sind, als gemischte Ware in den Handel gebracht werden. „Beitrag zur Kenntnis der Zusammen- setzung von Beeren fruchten, insbeson- dere bezüglich der Alkalität der Aschen." Von K. P^ischer und K. Alpers. Mitteilung aus dem Chemischen Laboratorium der Auslands- fleischbeschaustelle Bentheim. (Zeitschr. f Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1908, 16, 738—741.) Bei der Untersuchung von Himbeeren machten Verff. die Beobachtung, daß die Alkalität der Asche des wasserlöslichen Fruchtanteiles größer war als die Alkalität der Gesamtasche. Verff. führen diese merkwürdige Tatsache auf die in den Kernen der Früchte in größerer Menge enthaltene, organisch gebundene Phosphorsäure zurück, was sie durch ihre Analysen und Berechnungen be- stätigen konnten. Nach den von Verff. erhaltenen Alkalitätszahlen war es wahrscheinlich, daß beim 358 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 23 Auslaugen der Früchte mit Wasser der größere Teil der Basen als Salze organischer und anor- ganischer Säuren in Lösung gingen, und im Rückstand neben den organischen Phosphor- und Schwefelverbindungen nur verhältnismäßig geringe Mengen von Basen verblieben. Beim Veraschen der Früchte entstehen aus den pflanzensauren Salzen Carbonate oder Oxyde, weshalb die Aschen stark alkalisch reagieren. Verfif. überlegten nun so: Falls im unlöslichen Teile der Früchte zu wenig Basen für die Bindung der aus dem orga- nisch gebundenen Phosphor und Schwefel ent- stehenden Phosphor- und Schwefelsäure vorhanden sind, so binden diese Säuren, wenn man mit dem löslichen auch den unlöslichen Fruchtanteil, also die ganzen Früchte, verascht, einen Teil der Oxyde oder Carbonate der Asche des löslichen Anteiles. „Das Unlösliche bereichert also die Asche des löslichen vornehmlich an organischen Säuren, weniger an Basen; es ist deshalb wohl anzunehmen, daß es hierauf zurückzuführen ist, wenn die .'\lkalitat der Gesamtasche häufig nicht größer ist als die .Alkalität der Asche des Löslichen; sie ist im Gegenteil unter Umständen sogar geringer." ,,Eine Reaktion zur Erkennung und Unterscheidung von Kunst honigen und Nat u r hon igen". Von Dr. J. Fiehe in Straß- burg. (Zeitschr. f Unters, d. Nahrgs.- und Ge- nußm. 1908, 16, 75 — TJ) Vortrag gehalten auf der 7. Jahresversammlung der Freien Vereinigung Deutscher Nahrungsmittelchemiker in Bad Nau- heim (29. u. 30. Mai 1908). Verf ging von folgender Überlegung aus: Die Biene sammelt fertig gebildeten Invertzucker der Blüte und in- vertiert etwa vorhandene Saccharose mit Hilfe von Enzymen. Eine völlige Aufklärung der Ar- beiten der Biene ist bisher nicht erfolgt, doch ist es wahrscheinlich, daß die Enzyme die Spaltung der Saccharose bewirken und die Säuren mehr einen konservierenden oder einen anderen Zweck erfüllen. Alle diese Arbeiten nimmt die Biene bei nicht wesentlich erhöhter Temperatur (Körper- temperatur) vor. Dieses alles ist darum wichtig, weil der Kunsthonigfabrikant unter ganz anderen Versuchsbedingungen arbeitet. Er invertiert Rübenzucker mit Hilfe von Säuren bei bedeutend erhöhter Temperatur. Hierbei entstehen leicht Zersetzungsprodukte, besonders sind diese in den weniger guten Marken Invertzucker, wie sie vor- nehmlich zur Kunsthonigfabrikation verwendet werden, vorhanden. Verf nimmt an, daß die Kunsthonige Zersetzuiigsprodukte der Fruktose enthalten, die in keinem Naturhonig enthalten sein können und dürfen, und daß der Nachweis dieser Zersetzungsprodukte auch naturgemäß einen Nachweis der Kunsthonige ermöglichen mußte. Den Nachweis dieser Zersetzungsprodukte führt Verf in folgender Weise aus: Einige Gramm Honig werden im Mörser mit etwas .Äther ver- rieben und der .Äther wird mit einigen Tropfen einer Resorcin-Salzsäure befeuchtet (1,0 g Resorcin auf 100 g rauchende konzentrierte Salzsäure vom spez. Gew. 1,19). Bei Gegenwart von Zersetzungs- produkten tritt eine orangerote Färbung auf, welche rasch in Kirschrot und dann in Braunrot übergeht. Die P'ärbung ist sehr intensiv und nicht zu verkennen. Naturhonige geben nach Verf diese Reaktion nicht, er hält sie für außer- ordentlich empfindlich und glaubt mit ihrer Hilfe auch einen geringen Zusatz von Kunsthonig zu Naturhonig nachweisen zu können. In der Diskussion über den Fiehe 'sehen Vortrag betonte der Vorsitzende, Geh. Regierungs- rat Prof. Dr. J. König-Münster, ,,daß die Reak- tion tatsächlich auf wissenschaftlicher Grundlage beruhe". Dr. Juckenack gibt an, mit der Reaktion gute Erfolge gehabt zu haben ; bei Naturhonig hat Juckenack sie nie eintreten sehen. Der, .wissenschaftlichen Grundlage" der P'i eh e- sche Reaktion entzieht Dr. Drawe- Görlitz mit rauher Hand den Boden. Drawe gibt in der „Zeitschrift für öffentl. Chemie" 1908, 14, 352 einen „Beitrag zur Dr. Fiehe' sehen Reak- tion auf Invertzucker im Honig". Drawe untersuchte selbstgeschleuderten Honig nacii Fiehe, es trat keine Farbenreaktion ein. Von demselben Honig wurden etwa 1 5 g in einem Platintiegel eine Stunde lang auf dem kochenden Wasserbade erhitzt, der Inhalt des Tiegels um- gerührt, erkalten gelassen und wieder nach der Fiehe 'sehen Methode geprüft. Nun trat starke Rotfärbung ein. ,, Hieraus ist ersichtlich, daß die Fi ehe 'sehe Reaktion nicht die Frage beant- wortet: Ist Invertzucker in einem Honige? Son- dern die: Ist ein naturreiner Honig erhitzt worden oder nicht? ... Es ist dabei zu beachten, daß der Honighandel die Erwärmung des Honigs auf die Siedehitze des Wassers gar nicht umgehen kann. Wie sollte er anders verschiedene Honige mischen, um sie dem Geschmack des Käufers anzupassen? Wie sollte er sonst die steinharten, kristallisierten, in großen Emballagen befindlichen Honigblöcke verpfunden ?" Auch E. V. Raum er hält die Fiehe 'sehe Reaktion nicht für beweisend, er bestätigt (Zeit- schr. f Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1908, 16, 517) die Mitteilung von Drawe und sagt, daß naturreine Honige schon nach halbstündigem Erwärmen im Wasserbade die Fie h e'sche Reak- tion sowohl mit 35 "/y-iger als auch mit 25 "/o'is^i' Salzsäure deutlich und bleibend geben. E. v. Rau- mer hat weitere umfangreiche Untersuchungen angestellt, die er mit zahlreichem .Analysenmaterial belegt, auch diese haben seine ersten Resultate und diejenigen Drawes bestätigt (Zeitschr. f Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1909, 17, 115 bis 125. Mitteilung aus der Kgl. Untersuchungs- anstalt f Nahrgs.- und Genußm. in Erlangen. Zur Beurteilung der Fiehe'schen Reaktion. Von E. V. Raumer). Die v. Raum er 'sehe .Arbeit ist besonders auch deshalb als ei nge h en de Arbeit anzuerkennen, weil verschiedene Versuche angestellt wurden, um festzustellen, welcher N. F. VIII. Nr. 2T, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 359 Art die Zersetzungsprodukte derP'ruk- tose sind, welche die Fiehe'sche Reak- tion bedingen. v. Raumer konnte diese Untersuchungen aus Mangel an Zeit und Versuchs- material leider nicht zu Ende führen. (Wenn eine Reaktion, von deren Ausfall Ehre und Gut eines Mitmenschen abhängt, als durchaus einwandfrei und als auf w i s s e n s c h a f 1 1 i c h e r G r u n d 1 a g e beruhend hingestellt wird, so müßte man doch wohl annehmen können, daß die reagierenden Körper sowohl dem Vater als auch dem Gönner der Reaktion bekannt sind. D. Ref) Im Gegen- satz zu Drawe und v. Raum er stellte A. Jägerschmid in seiner Veröffentlichung „Bei- träge zur Kenntnis der Kunst honige" I Mitteilung aus d. Chem. Labor, d. Elsaß-Lothring. Bienenzüchter- Vereins in Straßburg i. Eis. Direktor Dr. Haenle (Zeitschr. f. Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1909, 17, 113 — 115)] fest, daß reine Blüten- wie Tannenhonige nach dem Erhitzen die Resorcin-Salzsäure-Reaktion nicht geben. Nach Jägerschmid's Erfahrungen scheinen sich bei der Inversion des Rüben- bzw. Rohrzuckers in der Kunsthonigfabrikation bedeutende Mengen Caramel zu bilden, welche die Resorcin-Salzsäure Reaktion veranlassen. Verf. führt auch an, daß die Resorcin- Salzsäure schon früher (vgl. v. Lippmann, Die Chemie der Zuckerarten, 1895, 693, Zeile 25) zum Nachweis von Caramel angewandt worden ist. Martin Klassert teilt in seinen „Kritische Betrachtungen über die Fiehe'sche Reaktion" (Mitteilung aus dem Handelslabora- torium Dr. Wilhelm Hoepfner in Hamburg (Zeitschr. f Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1909, 17, 126 — 128)! mit, daß auch er nach Erwärmen von naturreinem Honig die Resorcin-Salzsäure- Reaktion erhalten habe. Fiehe's .Abwehr der Drawe sehen Angriffe (Chem. Zeitg. 1908, 32, 1090) dürfte als nicht gelungen zu betrachten sein. Lührig sagt in seinem „Bericht über die Tätigkeit des Chemischen Untersuchungsamtes der Stadt Breslau" (Pharm. Zentralhalle 190S, 49, 1068): ,, Desgleichen stehen wir den sog. „Speziai- reaktionen" für den Nachweis von Kunsthonig oder Invertzucker, soweit für diese eine ausschlag- gebende Bedeutung in Anspruch genommen wird, noch zurückhaltend gegenüber. Unsere Er- fahrungen mit den Reaktionen von Ley und P' i e h e ermutigen nicht zur unbedingten Gefolg- schaft." A. Behre äußert sich in seinem ,, Bericht über die Nahrungsmittelkontrolle in der Stadt Chemnitz im Jahre 1908" (Pharm. Zentralh. 1909, 50, 175): „Die F~iehe'sche Reaktion können wir nach unseren Beobachtungen nicht als ausschlag- gebend bezeichnen. Nach ihrer chemischen Zu- sammensetzung reine Blütenhonige gaben deutliche Reaktion mit Resorcin-Salzsäure, trotzdem konnten Beanstandungen nicht ausgesprochen werden." „Zur Beurteilung der alkoholfreien Weine". Von J. M. Krasser. Mitteilung aus der Landwirtschaftlich-chemischen Versuchsstation des Landes Vorarlberg in Bregenz i. B. (Zeitschr. f. Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1908, 16, 398 — 400.) Ohne auf die interessanten Analysen - ergebnisse des Verf einzugehen, führe ich hier nur die Ansichten des Verf über Beurteilung der alkoholfreien Weine an. Verf. will, daß sterili- sierte Moste im Handel als das bezeichnet werden, was sie tatsächlich sind, nämlich ,, Traubensaft" oder ,, Traubenmost", und daß die Bezeichnung „Alkoholfreier Wein" ausschließlich nur auf ent- alkoholisierte Traubenweine angewendet werden darf Dies wäre ein Schutz der höherwertigen ,, Weine" gegenüber den sterilisierten Mosten, der jedoch nur dann gerechtfertigt ist, wenn auch die Anforderungen, die an die alkoholfreien Weine zu stellen sind, entsprechend erhöht werden. „Nicht zuletzt wäre es eine Ungerechtigkeit gegenüber dem Weinhandcl, den Verkehr mit Wein strengen gesetzlichen Bestimmungen zu unterwerfen, da- gegen auf dem Gebiete der alkoholfreien Weine der Lebensmittelfälschung Tür und Tor zu öffnen. Das konsumierende Publikum kauft die alkohol- freien Weine, besonders jene mit Herkunftsbe- zeichnung, doch nur in der Meinung, ein reines Naturprodukt zu erhalten, das sich von dem Weine derselben Herkunft lediglich durch seine Alkohol- freiheit imd seinen Gehalt an Kohlensäure unter- scheidet. . . . Die von mir untersuchten Weine waren überhaupt nie vollständig vergoren, wie aus der Etikette geschlossen werden sollte; der niedrige Glyzeringehalt beweist dies; sie haben ferner einen ansehnlichen Zuckerzusatz erhalten und endlich wurden sie gehörig mit Mineralwasser gestreckt, wodurch dem Produkte neben der not- wendigen Kohlensäure eine bedeutende Menge von Mineralstoffen einverleibt wurde." Am Schlüsse seiner Abhandlung stellt Verf folgende Forderung auf: ,,Som i t wären u n t e r,,alko h ol- freien Weinen" ausschließlich jene Er- zeugnisse zu verstehen, welche durch Entgeisten von Naturwein gewonnen wurden und welche im übrigen, mit Ausnahme etwa der Imprägnierung mit Kohlensäure, des Ersatzes des Alkohols durch Wasser und der Anwendung eines Konservierungsmittels (r ), den Anforde- rungen des Weingesetzes genügen. Alle sonstigen Zusätze müßten dem Dekla- rier ungs zwange unterliege n." „Über den Nachweis von S a p o n i n." Von Joh. Rühle. Mitteilung aus dem König- lichen chemischen Laboratorium der Auslands- fleischbeschaustelle zu Stettin. (Zeitschr. f Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1908, 16, 165.) Zum Nachweis eines Zusatzes des schaumbildenden Saponin zu schäumenden Getränken, wie Limo- naden und Bier, hat Verf das Verfahren von Brunner (Zeitschr. f. Unters, d. Nahrgs.- und Genußm. 1902, 5, 1 197 — 1198) wesentlich ver- bessert. Das Verfahren von Brunner beruht im wesentlichen auf dem Ausschütteln des Saponins aus seiner Lösung mittels Phenols und dem Re- 36o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 23 handeln der erhaltenen Phenollösung mit Wasser und Ather-Petroläther; aus der wässerigen Lösung ist dann durch Eindampfen das Saponin zu ge- winnen. Nach diesem Verfahren ist es schwierig, den Rückstand soweit rein darzustellen, daß er einwandfrei die auf die Anwesenheit von Saponin schließen lassenden Farbenreaktionen gibt. Verf. empfiehlt folgendes abgeänderte Verfahren : Brause- limonaden und ähnliche Getränke sind, gegebenen- falls nach dem Neutralisieren mit Magnesium- carbonat, auf 100 ccm zu bringen, mit 20 g Ammoniumsulfat zu versetzen und mit etwa 9 ccm Phenol kräftig wiederholt auszuschütteln. Nach dem Ablassen der wässerigen Schicht ist die Phenollösung mit etwa 50 ccm Wasser, 100 ccm Äther und, wenn nötig, zur Verminderung der Emulsionsbildung mit etwa 4 ccm Alkohol zu schütteln. Nach hinreichender Trennung der Schichten, die in der Regel nach 12 — 24 Stunden eingetreten ist, wonach sich die Emulsionsschicht zumeist auch bis auf ein höchstens i — 2 mm dünnes Häutchen zwischen den beiden Lösungen ver- mindert hat, ist die wässerige Lösung abzulassen und einzudunsten. Der im Exsikkator getrocknete Rückstand ist je nach seinem Zustande unmittel- bar oder erst nach Reinigung mit Aceton auf einen Gehalt an Saponin zu prüfen. Handelt es sich um dextrinhaltige Flüssigkeiten, so sind die Dextrine zunächst in der durch Abdampfen kon- zentrierten Lösung mit Alkohol zu fällen, die Fällung wird mit Alkohol gekocht, mit Wasser versetzt und durch Kochen entgeistet, der Rück- stand mit Wasser auf 100 ccm aufgefüllt und wie oben behandelt. „Benzoesäure als Konservierungs- mittel". Von Dr. v. Vietinghoff-Scheel. (Chemiker- Zeitung 1909, 33, iSi.) Verf. macht auf die Arbeiten der vom Präsidenten Roose- velt im vorigen Jahre ernannten Kommission zur Prüfung der Konservierungsmittel aufmerksam. Die Kommission besteht aus den Professoren Ira R e m s e n - Baltimore , Eli H. Long- Buffalo, Rüssel H. Chitt enden- Yale, Christian E. H e r t e r • New York. Es sind drei selbständige Untersuchungen durchgeführt worden. Die Re- sultate wurden von der Kommission studiert und folgende Sätze danach einstimmig angenommen: 1. Natriumbenzoat in kleinen Dosen (unter 0,5 g für I Tag) ist mit Nahrungsmitteln vermischt nicht schädlich und hat keinen merkbaren Einfluß auf die Gesundheit. 2. Natriumbenzoat in großen Dosen (bis zu 4 g für I Tag) hat in Nahrungsmitteln keinen schlimmen Einfluß auf die Gesundheit und wirkt nicht als Gift (in der allgemein angenommenen Bedeutung des Wortes). In einigen Richtungen bewirkte es geringe Änderungen gewisser physiologischer Vor- gänge, deren genaue Deutung aber noch nicht gelungen ist. 3. Der Zusatz von Natriumbenzoat in kleinen oder großen Dosen hat keinen ungünstigen Einfluß auf den Nährwert und die Ausnutzung von Nahrungsmitteln. Verf. schließt mit folgenden Worten: „Lange Zeit hat man gesucht nach einem chemischen Körper, der für Bakterien, Schimmel- und Hefe- pilze stark giftig, für höhere Tiere indifferent ist, und wie es scheint, hat man ihn in der Benzoe- säure, vielleicht auch in der Ameisensäure gefun- den, während die durch die regierungsseitige Pharmakologie in Deutschland und H. Wiley in Amerika behauptete Schädlichkeit der Borsäure so gering ist, daß der Unbefangene sie ebenfalls als harmlos erachten wird. Es liegt im Interesse der chemischen Industrie wie der Verbraucher billiger Nahrungs- und Genußmittel, sehr scharf darauf hinzuweisen, daß, wenn die Konservierung gewisser Nährmittel verhindert werden soll, die Gründe dafür keineswegs mehr in dem Mangel geeigneter Konservierungsmittel zu suchen sind. (Auf die Entwicklung dieser Angelegenheit darf man gespannt sein. Ref) Dr. Otto Rammstedt-Dresden. Kleinere Mitteilungen. Bekämpfung von Kakao -Wanzen durch Ameisen. — In dieser Zeitschrift, Jahrgang 1905, Nr. 27, S. 428— 429, wird berichtet über die Be- kämpfung des amerikanischen Baum- wollenkäfers durch die rote Ameise. In ähnlicher Weise bekämpft man neuerdings in den Kakaoplantagen Javas die Helopeltis, ein zu den Wanzen (Hemiptera) gehöriges Insekt. Die verschiedensten Methoden, diese gefährlichen Parasiten von den Kakaobäumen fernzuhalten, wie Absuchen der Insekten von den Bäumen oder Verbrennen durch kurzes Erhitzen der Zweige und Früchte mit einer Spirituslampe, haben keine Resultate erzielt. Der Gedanke, die lästigen Wan- zen durch natürliche Feinde erfolgreich zu be- kämpfen, scheint sich in neuester Zeit zu ver- wirklichen. Dr. V. P"aber berichtet hierüber in Nr. I, Jahrg. 1909 des „Tropenpflanzer": Es ge- lang den Herren Eve rar d und Pet, eine in den Kaffeeplantagen Javas vorkommende, etwa 3 bis 4 mm lange schwarze Ameise festzustellen, mit deren Hilfe man Helopeltis erfolgreich zu be- kämpfen hofft. Die Ameisen finden sich häufig auch unter vertrockneten Blättern in den Bananen- gärten der Eingeborenen , wo sie ihre Nester bauen. Zur Bekämpfung von Helopeltis wer- den nun diese in Kisten und Blechgefäßen leicht zu transportierenden Nester in den Kakaobäumen aufgehängt, und zwar wird der größte Erfolg er- zielt, wenn die Nester hoch in den Baumkronen befestigt werden. Der Grund mag wohl darin liegen, so glaubt v. Faber, daß den Ameisen, N. F. VIII. Nr. 2- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. -^öi welche meist bald von den ersten Bewohnern des Baumes angegriffen werden, kein Ausweg offen steht, so daß sie gezwungen sind, ihre Eier his aufs äußerste zu verteidigen ; sind sie dagegen unten am Baume ausgesetzt worden, so können sie nach allen Seiten entweichen und werden dann einzeln von ihren Feinden leicht vernichtet. Die angestellten \'ersuche haben gezeigt, daß überall, wo die Ameisen sich angesiedelt haben, Helo- peltis nicht mehr auftrat. Weitere Versuche hält V. Faber noch für nötig, die lehren sollen, ob die von Everard und Pet erzielten Ergeb- nisse in jedem Falle eintreffen, und ob auf Java auf diese Weise auch die gefährliche Kakaomotte (Gracilaria cramerella Snellen) erfolgreich bekämpft werden kann. Für Kamerun sind die auf Java gemachten Beobachtungen nicht ohne Belang. Dort wird nämlich der Kakaobaum ebenfalls von einer Wanzenart, der sogenannten Rindenwanze (Sahl- bergella singularis Hagl.) heimgesucht. Hoffentlich findet man auch in Kamerun natür- liche Feinde dieses Schädlings, um mit ihnen den Kampf gegen die Rindenwanze erfolgreich aufzu- nehmen. Dr. Rammstedt, Dresden. Hypothesen über die Entstehung der Pflanzensubstanz. — Es dürfte zunächst von Interesse sein, die Hypothesen über den Ursprung der Pflanzensubstanz, welche in der Zeit des letzten großen Aufschwungs der Pflanzenphysiologie auf- gestellt wurden , zu erörtern. Erst nachdem die fundamentalsten Tatsachen der .Assimilation durch Ingenhouß (und Senebier) festgestellt waren, nämlich daß die Blätter der Ernährung dienen, indem sie aus (Luft- oder anderer) Kohlensäure unter Mitwirkung des Sonnenlichtes und des Chlorophyllfarbstoffes unter Sauerstoffentwicklung') organische Substanz bilden, und daß dieser Vor- gang wohl die alleinige Quelle des Pflanzenkohlen- stoffes sei, konnten wissenschaftliche Vorstellungen auftauchen, welche von den unseren nicht sehr verschieden sind und also wahrscheinlich der Wirklichkeit einigermaßen entsprechen. Freilich traten solche Hypothesen nicht gleich hervor, sondern erst nach langem Kampf um die schon von Ingenhouß Ende des i8. Jahrhunderts entwickelten neuen Ideen, bei denen man übrigens nähere Angaben über die Art des .Assimilations- produktes vermißt. Solche und andere korrekte Angaben findet man aber (nach K i m p e 1 i n, Essai sur l'assimilation photochlorophyllienne du Car- bone, Lyon 1908) in Pyrame de Ca nd olle's'-') Physiologie des Plantes vor: ,,La seve nourriciere brüte, ([ui penetre dans les parties feuillues y subit l'influence de la lumiere solaire; et grace k cette force nouvelle, l'acide carbonique en dis- ') Die Sauerstotfentwicklung aus BläUern wurde von Priestley entdeckt, Ingenhouß hat die Bedingungen fest- gestellt. ») 1778-1841. Solution dans l'eau se decompose durant le jour, qu'il provienne du reste de l'eau absorbee par les racines, de l'air atmospherique ou des principes produits par l'oxygene de l'air et l'excedent de carbone de la plante; le carbone s'incorpore a la plante, l'oxygene s'echappe sous forme de gaz. La consetjuence de cette Operation parait etre la formation d'une sorte degommecom- posee d'un atome d'eau et d'un atome de carbone, et facilement transformee, gräce ä des modifications legeres, en amidon, en suire et en substance lig- neuse, toutes combinaisons qui se ramenent a peu de chose pres de la meme formule." Man erkennt sofort die Ähnlichkeit dieser An- schauung mit unserer modernen Lehre von der Kohlensäure- Assimilation, wenn auch der „Gummi" nach unseren heutigen Kenntnissen des Assimila- tionsvorganges ausgeschaltet werden muß; er ist ein Abbauprodukt der Stärke, die nach Sachs als erstes Assimilationsprodukt betrachtet werden muß. Nach den Untersuchungen von Schimper, Arthur Meyer, Böhm ist freilich auch die Stärke nicht das erste Produkt, sondern der Zucker; letzterer geht verschieden leicht, je nach der Pflanzenart in Stärke über; manche Pflanzen bil- den erst bei hoher Zuckerkonzentration Stärke, andere bei geringerer. Die von Ingenhouß erkannte Pflanzenernährung wurde freilich unter der Herrschaft der „Lebens- kraff'-Theorie wieder verkannt. „Treviranus legte auf die Kohlensäurezersetzung in den Blät- tern kein weiteres Gewicht, um so mehr als er den chemischen Zusammenhang alles dessen, was Ingenhouß, Senebier und Saussure geleistet hatten, nicht verstand. Die Mitwirkung des Lichtes zur Ernährung der Pflanzen erklärte er für eine bloß formelle Bedingung und die im Bodenwasser ge- lösten Salze waren ihm Reizmittel für die Wurzel- enden etc." (Sachs, Gesch. d. Bot. p. 5661. „Auch für Meyen war die Kohlenstoffassimilation der Stein des Anstoßes ; wie so vielen vor und nach ihm wurde auch ihm das Verständnis verwirrt durch die simple Tatsache, daß es sich sowohl bei der Ernährung wie bei der Atmung der Pflan- zen um gasförmige Stoffe handelt ; indem er beide Vorgänge als Respirationsprozeß in einen Topf warf, schien ihm die Sauerstoffatmung als die allein wichtige und begreifliche Funktion; wäh- rend ihm die Kohlensäurezersetzung am Licht unnötig, für den Haushalt der Pflanze gleichgültig erschien; statt eine einfache Rechnung anzustellen, ob die anscheinend so geringe Menge der atmo- sphärischen Kohlensäure nicht doch vielleicht aus- reiche, um die Vegetation mit Kohlenstoff zu ver- sehen, erklärt er sie einfach für ungenügend, und weil Pflanzen in sterilem Boden mit kohlensaurem Wasser begossen nicht gedeihen wollten, war es mit der Bedeutung der Kohlensäure vorbei. Auch ihm war die von den Chemikern inzwischen aus- gebildete Humustheorie bequemer; wie Trevi- ranus ließ auch er den gesamten Kohlenstoff der 362 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 23 Pflanzen aus Bodenextrakt sich absetzen, ohne auch nur die hier einschlägigen Tatsachen sich genauer anzusehen ; daß ein Vegetationsboden durch die Pflanzen nicht ärmer, sondern reicher an Humus wird, leugnete Meyen ausdrücklich. Es versteht sich nun von selbst, daß alles, was Treviranus und Meyen über die chemische Seite der Pflanzenernährung etwa sonst im einzelnen richtig zu sagen wußten, doch für eine Gesamt- auffassung der Ernährungsvorgänge völlig wertlos blieb , da die Kardinalpunkte der gesamten Er- nährungstheorie der Pflanzen: die Herkunft des Kohlenstoffes derselben, die Mitwirkung des Lichtes und der Atmosphäre durciiaus verkannt waren. Das Beste, was Ingenhouß, Senebier und Saussure geleistet hatten, war so für die deutschen Pflanzen- physiologen völlig abhanden gekommen." Es ist Liebig's großes Verdienst, die Un- klarheiten über das Nahrungsmaterial der Pflanzen beseitigt zu haben. Neue ausgedehnte experimentelle Untersuchungen über Einzelheiten der Ernährung hat dann Boussingault in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts geliefert. Liebig beseitigte die Humustheorie; es blieb nun nur die Kohlensäure als Kohlenstoffquelle übrig, die, wenn auch prozentisch einen geringen Be- standteil der Atmospliäre ausmachend , doch für die gesamte Vegetation der Erde ausreicht. Daß die Pflanzen durch ihre große Oberflächenentfal- tung die in der geringen Prozentmenge (0,04 %) der Kohlensäure liegende Schwierigkeit überwinden, wurde nun erkannt. Liebig kam zu dem Schluß; „Kohlensäure, Ammoniak und Wasser ent- halten in ihren Elementen die Bedingungen zur Erzeugung aller Tier- und Pflanzenstoffe während ihres Lebens. Kohlensäure, Ammoniak und Wasser sind die letzten Produkte des chemischen Prozesses ihrer Fäulnis und Verwesung." Bous- singault führte bessere Methoden der Llnter- suchung ein; er zwang z. B. die Pflanzen, ohne jede Spur von Humus in einem künstlich berei- teten Boden und Nährstoffgemenge sich zu er- nähren, um so unwiderleglich zu zeigen, daß sie des Humus nicht bedürfen. Auf welchem Wege geht die Ver- wandlung der Kohlensäure in Pflanzen- substanz vor sich, welches sind die Endprodukte? Um diese Fragen dreht sich die stofi'liche Assimilationsforschung seit den Zeiten Liebig's und Boussingault's. Sie sind noch nicht sicher entschieden. Nach Liebig sind Oxalsäure und Ameisensäure das erste Stadium der Kohlensäurereduktion, wo- rauf Glykolsäure, Bernsteinsäure, Apfelsäure, Wein- säure folgen; diese bilden sich in Glykose um. Zum Beweis dieser Hypothese hat man angeführt, daß Crassulaceen , im Dunklen gehalten, diese Säuren im Stamme anhäufen, während Belichtung sie verschwinden macht. Warum sollen sie sich aber gerade im Stamme anhäufen, nicht in den Blättern, den hauptsächlichsten Assimilations- organen selbst? Auch erscheint dieser Weg zu kompliziert, wenn man bedenkt, daß manche Pflanzen nach vollständiger EntStärkung binnen wenigen Minuten Stärke erkennen lassen , wenn man sie belichtet. Die Anhäufung der Säuren bei Lichtabschluß kann natürlich auch einen ganz anderen Grund haben. Nach Crato geht die Kohlensäure zunächst unter Wasseraufnahme in Orthocarbonsäure (C(OH)J, diese unter Sauerstoff- und Wasser- abspaltung in einen Inosit-ähnlichen Körper (Hexa- hydrohexaphenol) über, welcher zu Glykose wird: 6 C(OH), = CeH6(0H)« + 1 2 O + 6 H.,0 I Inosit ist bis jetzt in vielen tierischen Organen, namentlich in den Herzmuskeln und im Lungen- gewebe, ferner auch in verschiedenen Pflanzen, besonders in unreifen Bohnen, aus welchen er durch Ausziehen mit Wasser und Fällen mit Al- kohol erhalten wird, gefunden worden. Sein Vor- kommen weist auf eine andere Bedeutung hin. Etard glaubt, daß das Carotin eine wichtige Rolle bei der Assimilation der Kohlensäure spiele; es ist der am wenigsten bekannte von den drei Chlorophyllfarbstoffen. Es ist ein ungesättigter Kohlenwasserstoff', der noch die Bestandteile des Kohlensäuremoleküls (COOH und OH) in sein Molekül aufnehmen kann unter Aufhebung der doppelten Bindung; unter Sauerstoffabspaltung entsteht wieder eine doppelte Bindung zwischen zwei Kohlenstoffatomen usw. H II H H H H H — C=C— — C— C— COOH — C-C=C— OH OH I) II) usw. III) Diese rein theoretische Vorstellung von der Kohlensäureassimilation ist erst vor 3 Jahren auf- getaucht, sie soll über die nach Etard's Ansicht unhaltbare Formaldehydhypothese hinweghelfen. Danach würde der Chlorophyllfarbstoff" noch eine ganz andere Rolle haben, als man sie ihm gegen- wärtig allgemein zuschreibt ; er wäre auch che- misch bei dem Assimilationsvorgang beteiligt. Nicht das Chlorophyll p 1 a s m a würde als Kataly- sator die Kohlensäureassimilation unter Mitwirkung der vom Farbstoff absorbierten Strahlen die Syn- these bewirken, sondern das Karotin würde selbst zu Kohlehydrat werden. Dann müßte aber die Assi- milation der Kohlensäure, soweit die Karotin- menge reicht, auch durch den Farbstoff allein gelingen, was nicht der Fall ist. Die von der Hypothese angenommene stetige Neubildung von Karotin im Chlorophyllkorn ist nicht nachgewiesen, aber physiologisch nicht unmöglich. Bei der ge- ringen Kenntnis, die wir von dem Karotin haben, und aus dem oben angeführten Grunde scheinen aber die Schwierigkeiten dieser Hypothese eher größer als kleiner wie die der Formaldehydhypo- these zu sein. Auch ist die Giftigkeit des F'orm- N. F. VIII. Nr. 23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 363 aldehyds durchaus kein zwingender Grund, die Formaldehydhypothese abzuweisen. Denn die Giftigkeit hört auf mit einer gewissen Verdünnung des Formaldchyds, und es ist dem Verfasser ge- kingen, auch durcli Zufuhr von freiem Form- aldchyd Stärkebildung in völlig entstärkten Spiro- gyren unter Lichtabschluß hervorzurufen (Bokorny, Pflüg. Arch. 1908). Die jetzt fast allein geltende Baeyer'sche Assimilationshypothese lautet folgendermaßen (Ber. d. d. ehem. Ges. 1870, p. 67): „Wenn Sonnen- licht Chlorophyll trifft , welches mit Kohlensäure umgeben ist, so scheint die Kohlensäure dieselbe Dissoziation wie in höherer Temperatur zu er- leiden, es entweicht Sauerstoff" und Kohlenoxyd bleibt nüt dem Chlorophyll verbunden. Die ein- fachste Reduktion des Kohlenoxyds ist die zum Aldehyd der .Ameisensäure, es braucht nur Wasser- stoff aufzunehmen: CO -f- H., = COH.,, und dieser Aldehyd kann sich unter dem Einfluß des Zell- inhalts ebenso wie durch Alkalien in Zucker ver- wandeln." In der Tat man hätte Mühe, nach der anderen Ansicht (Liebig's Ansicht, d. Verf) durch allmählichen Aufbau so einfach zum Ziele zu ge- langen. I'ast gleichzeitig kam auch Kekule auf den Gedanken, daß die Assimilation in der ange- gebenen Weise verlaufen müsse. Baeyer hat als erstes Glied des Assimilationsprozesses das Kohlen- oxyd bezeichnet; man kann es aber in Pflanzen nicht nachweisen. Den Grund für diese Annahme bildet jedenfalls die chemische Tatsache, daß Kohlensäure bei höherer Temperatur in CO -j- O sich dissoziiert; damit ist ein tatsächlicher chemi- scher Hintergrund für die Hypothese gegeben. Ahnlich verhält es sich mit der Annahme des Wasserstoffes als Glied des KohlensäureAssimila- tionsprozesses; physiologisch ist diese Annahme ebenfalls nicht gestützt, da freier Wasserstoff bis jetzt nur im Stoffwechsel der Bakterien nachge- wiesen wurde. Auch bezüglich des Nachweises von Formaldehyd muß etwas Ähnliches gesagt werden, wiewohl es nicht an Behauptungen fehlt, daß der Formaldehyd in assimilierenden Pflanzen- teilen gefunden sei. Die Versuche von O. Loew und Ref haben stets ein negatives Resultat ergeben. Daß J. Reinke und später A. Mori den Formaldehyd nicht durch Destillation wirklich nachgewiesen haben, haben O. Loew und Ref. ebenfalls vor 30 Jahren gezeigt. Auch Kimpelin dürfte geirrt haben (C. r. 21. I. 1907). Zum Nachweis verwendete er Methylpara- amidometakresol. Dasselbe gibt mit Formaldehyd eine Rotfärbung, mit Äthylaldehyd grüne, Salicyl- aldehyd braune, Zimtaldehyd orangerote, Benz- aldehyd keine, Glukose, Laktose und Lävulose keine Färbung. Eine konzentrierte Lösung von Natriumbisulfit wurde mit einer Lösung von Methylparaamido- kresol versetzt und in einer langen Röhre, die in eine feine Spitze auslief, in das Blatt von Agave americana eingeführt. Die Pflanze blieb dabei einige Zeit dem Lichte ausgesetzt; nachdem die Lösung in das Blatt eingedrungen war, wurde die durchtränkte Partie abgetrennt und in abso- luten Alkohol gelegt; darauf wurde ein Schnitt davon in einem Tropfen Wasser untersucht. In den grünen Parenchymzellen war dann vielfach die Bildung eines roten Niederschlags zu bemer- ken, dessen Farbe identisch schien mit der, welche Formaldehyd mit Methylparaamidokresol gibt. Nach Kimpelin ist die Erklärung folgende: Das Natriumbisulfit fixiert, indem es in das Innere des Blattes eindringt , den Formaldehyd in dem IVIaße, als er durch die Chlorophyllkörner produ- ziert wird. Der absolute Alkohol macht diese Bisulfitverbindung beständig; im Wasser zersetzt sie sich dann, der Formaldehyd wird frei und gibt mit dem vorhandenen Methylparaamidometa- kresol die Färbung. Der französische Forscher fügt noch hinzu, daß das Reagenz unschädlich sei. Gerade letzteres ist aber füglich zu bezweifeln. Denn eine konzentrierte (!) Lösung von Natrium- bisulfit dürfte wohl jede Lebenstäiigkeit und so- mit auch die Assimilation hemmen; ebenso ist Methylparaamidometakresol sicherlich schädlich. Leider gibt Kimpelin nicht an , in welcher Kon- zentration dieser Körper anwesend war. Man kann wohl vermuten, daß die Konzentration min- destens 0,1 bis I "/„ betragen habe, und bei dieser Konzentration sind alle Kresole schädlich. Der Nachweis kann sich also wohl nur auf den im Augenblick des Einfließens schon gebildet gewesenen Formaldehyd erstreckt haben , und diese Quantität ist wohl zum Nachweis zu gering. Hingegen läßt sich nachweisen, daß der Form- aldehyd assimiliert wird unter Auftreten des be- kannten Assimilationsproduktes Stärke. Früher gelang dies dem Ref. unter Anwendung von formaldehydschwefligsaurem Natron, jetzt auch mit freiem Formaldehyd, wobei die Vorsicht eingehalten wurde, der lebenden Pflanze (Spiro- gyra) längere Zeit hindurch den P'ormaldehyd nur spurweise als Dampf zusammen mit Wasserstoff- gas zuzuführen (Pflüg. Arch. Bonn 1908, Bokorny üb. Assim. d. freien Formaldehyds). Ähnlich wie die Baeyer'sche Hypothese, aber etwas komplizierter und unwahrscheinlicher lautet die von Bach. So wie die schweflige Säure bei Sonnenlicht in Schwefelsäure, Wasser und freien Schwefel übergeht, soll auch die Kohlensäure bei Belichtung in Perkarbonsäure, Wasser und freien Kohlenstoff, welcher sich mit dem Wasser sofort zu Formaldehyd vereinigt, verwandelt werden; dieser reagiert wieder mit der Perkarbonsäure unter Bildung von Kohlendioxyd, Wasser, Form- aldehyd und Sauerstoff: ^RXOg = 2HXO, 4- CHoO = 2CO., + 2H.,0 + CH.3+O.2 Die Bildung von Formaldehyd suchte er im Re- agenzglas unter Belichtung nachzuweisen, er erhielt die von T r i 1 1 a t für P'ormaldehyd vorgeschlagene Reaktion (Blaufärbung bei Behandlung mit Dirne- 364 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 23 thylanihn unter Gegenwart von Essigsäure und Bleisuperoxyd). Damit ist freilich kein Beweis für die Entstehung im Chlorophyllkorn erbracht, wiewohl die gelungene (?) Umwandlung im Glas als eine Stütze der Hypothese betrachtet werden muß. Schlimmer steht es wohl mit dem Nach- weis des in der Hypothese ebenfalls geforderten VVasserstoffsuperoxydes; dasselbe wurde bald ge- funden (?) , bald nicht. Nach den früheren Ver- suchen des Referenten gelingt es auch mit emp- findlichen Reagentien nicht, den Körper H.,0.> in der grünen Pflanze nachzuweisen. Bezüglich der Verwandlung des Formaldehyds in Kohlehydrat ist auf das oben Gesagte zu verweisen. Usker und Pristley stellten folgende Hypo- these auf: Kohlendioxyd und Wasser geben unter Mitwirkung des Chlorophylls Wasserstoffsuperoxyd und Formaldehyd ; das Wasserstoft'superoxyd gibt unter der Einwirkung eines Fermentes (Katalase) Sauerstoff ab, der Formaldehyd verwandelt sich unter Mitwirkung des lebenden Protoplasmas in Kohlehydrat. Damit ist ein in neuester Zeit viel- genanntes P'erment, die von O. Loew entdeckte Katalase, in den Assimilationsvorgaiig hereinge- zogen , was bei der allgemeinen Verbreitung der Katalase keine Schwierigkeiten macht. Hingegen ist auch hier wiederum die Frage zu stellen , ob der Formaldehyd faktisch im Chlorophyllorgan vorübergehend auftritt. F r i e d e 1 und dann M a c h i a 1 1 i haben die Assi- milation der Kohlensäure faktisch unter Einwir- kung eines in grünen Blättern enthaltenen Fer- mentes (Diastase, warum dieser längst vergebene Name, Ref.) vor sich gehen lassen; sie behaupteten den Vorgang auch im Reagenzglas gesehen zu haben. Nachprüfungen der Versuche durch Harry, Herzog, Ch. Bernard haben aber ein nega- tives Resultat ergeben. Endlich ist zu erwähnen, daß Pollacci die Kohlensäure unter Einwirkung von Wasserstoff und Eicht in Formaldehyd, Methan, Wasser und Sauerstoff sich spalten läßt: 2 HXO3 + 2 H3 = CH2O + CH, -f H,0 + 2 O., (bei Licht) Der Wasserstoff soll durch intramolekulare Fermentationen entstehen; im status nascens soll er die geschilderte Wirkung äußern (durch Hinzu- kommen von Elektrizität soll der Wasserstoff in den Status nascens versetzt werden). Nun ist aber Wasserstoff in den grünen Pflanzen nicht nachzuweisen; die elektrische „Intervention" hängt wohl auch noch in der Luft. Insbesondere aber tritt unter den Reaktionsprodukten eines auf, das sicher erkannt worden wäre, wenn es da wäre, aber niemals gefunden wurde, nämlich das Methan CH,. Mit solchen Hypothesen ist nicht viel ge- dient. Jedenfalls kommen sie erst in Betracht, wenn andere Hypothesen von größerer Einfach- heit und Wahrscheinlichkeit als unrichtig abgetan sind. Dr. Th. B. Feste Lösungen und Isomorphismus. — Wie Raoult experimentell gefunden und van't Hoff durch seine Theorie der verdünnten Lösungen theoretisch begründet hat, wird der Gefrierpunkt einer Flüssigkeit dadurch , daß in ihr irgendeine Substanz aufgelöst wird, erniedrigt, und zwar ist der Betrag der Gefrierpunktserniedrigung bei dem- selben Lösungsmittel nur von der Zahl der in der Raumeinheit der Lösungen enthaltenen gelösten Moleküle abhängig — die Gefrierpunktsdepression ist , wenigstens solange es sich um verdünnte Lösungen handelt, der Zahl der gelösten Moleküle direkt proportional — vollkommen unabhängig aber von der chemischen Natur des gelösten Stoffes. ') Dies Gesetz gilt jedoch nur so lange, als reines Lösungsmittel ausfriert; nehmen aber die sich ausscheidenden Kristalle des Lösungs- mittel etwas von dem gelösten Stoff mit, so ist die trefrierpunkterniedrigung kleiner als es die Theorie verlangt, ja es kann sogar unter be- stimmten Bedingungen an Stelle der Gefrierpunkts- erniedrigung eine Gefrierpunktserhöhung auftreten. Diese scheinbare Ausnahme von seinem Gesetze hat nun van't Hoff in genialster Weise gerade im Sinne seines Gesetzes durch Einführung des Be- griffes der festen Lösungen zu erklären ver- mocht. Wir wissen, daß der Gefrierpunkt einer Flüssig- keit, d. h. diejenige Temperatur, bei der eine Flüssigkeit (z. B. das Wasser) mit dem aus ihr durch Abkühlung entstehenden festen Stoffe (dem Eise) im Gleichgewicht steht, dadurch charakteri- siert ist, daß der Dampfdruck der Flüssigkeit und derjenige ihres ,, Eises" den gleichen Wert haben. Ferner wissen wir aus van't Hoff's Theorie der verdünnten Lösungen, daß der Dampfdruck einer Flüssigkeit, wenn wir in ihr einen zweiten Stoff auflösen, proportional der Anzahl der gelösten Moleküle erniedrigt wird. In der nebenstehenden 'Temperatai- Zeichnung ist AB der Dampfdruck einer reinen Flüssigkeit. Ist nun CD der Dampfdruck der gefrorenen reinen Flüssigkeit, so ist der Schnitt- 1) Vgl. Naturwiss. Wochenschrift, N. F. Bd. II, S. 15 (1902/03). N. F. Vni. Nr. 23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 3ÖS punkt der beiden Kurven T(, nach dem Gesagten der Gefrierpunkt. Lösen wir jetzt in der reinen Flüssigkeit irgendeinen Körper auf, so wird ihr Dampfdruck erniedrigt; er wird jetzt durch die Kurve .A'R' wiedergegeben ; der Gefrierpunkt der Lösung ist dann der Schnittpunkt Tj von A'B' und CD, und T^-Tj ist die Gefrierpunktserniedri- gung. Anders aber liegen die Verhältnisse, wenn sich beim Gefrieren der Lösung nicht das reine Lösungsmittel , sondern eine homogene Mischung von Lösungsmittel und gelöster Substanz in Form von Mischkristallen ausscheidet. Macht man nämlich mit van't Hoff die Annahme, daß ebenso wie der Dampfdruck einer Flüssigkeit auch der Dampfdruck von Kristallen erniedrigt wird, wenn sie nicht rein sind, sondern in homogener Ver- teilung einen anderen Stoff „gelöst" enthalten, so wird man für den Fall der Ausscheidung einer „festen Lösung" oder von Mischkristallen die Dampfdruckkurve der unreinen Kristalle des Lösungsmittels durch Kurven wie C^ Dj oder C, D., wiedergeben und als Gefrierpunkte die Schnittpunkte von A'B' mit Cj Dj oder C^D.,, also T., oder T.,, und als Gefrierpunktserniedrigung die Größen T|,-T., oder T„-T.. definieren müssen. Mit anderen Worten : Scheiden sich aus einer gefrierenden Lösung nicht reines Lösungsmittel, sondern Mischkristalle von Lösungsmittel und ge- löster Substanz aus, so ist die Gefrierpunktserniedri- gung stets kleiner, als es die ursprüngliche Theorie von van't Hoff erfordert (Tn-T., <^T,,-Ti), ja die Gefrierpunktserniedrigung kann sogar, in- dem die Differenz der Gefrierpunkte wie in dem Falle Tij-Tg einen negativen Wert zunimmt, in eine Gefrierpunktserhöhung übergehen. Van't Hoff hat also seiner Theorie durch zweckmäßige Er- weiterung auch solche Erscheinungen unterordnen können , die zunächst in schroffem Gegensatz zu ihr zu stehen schienen. Nach van't Hoff sind Lösungen allgemein als homogene (feste, flüssige oder gasförmige) Stoffe zu definieren, „deren Zusammensetzung und deren physikalische Eigenschaften sich unter Beibehaltung der Homogenität in kontinuierlicher Weise ändern können". Feste, flüssige und gasförmige Lösungen sind also analoge Erscheinungen. Daher ist zu erwarten , daß bei einem Vergleiche der festen und flüssigen Lösungen — von den gasförmigen Lösungen sehen wir hier ab — hinsichtlich ihrer Eigenschaften und ihrer Entstehungsbedingungen eine weitgehende Parallelität stattfinden wird, und dies ist in der Tat der Fall. Ebenso wie bei den flüssigen Lösungen sind auch bei den festen Lösungen Diffusionsvorgänge und bei ihrer Entstehung auftretende positive und negative Wärmetönungen beobachtet worden ; auch haben sich die allgemeinen Lösungsgesetze bei quantitativen Untersuchungen als gültig er- wiesen. Nimmt man nun mit Waiden (vgl. Naturw. Wochenschrift, N. F. Bd. VII, S. 314—316; 1908) an. sagt G. Bruni in einer vor kurzem erschienenen sehr beachtenswerten Monographie, ^) dessen Dar- legungen unsere kleine Skizze folgt, „daß die festen wie die flüssigen Lösungen durch Betätigung chemischer Verwandtschaftskräfte zustande korrf- men , so stößt man sofort auf den Einwand , daß diese Affinitäten nicht von derselben Art sein können, wie die, welche die Bildung der echten Verbindungen unveränderlicher Zusammensetzung bedingen. Denn wie von jeher bekannt ist, ver- binden sich zwei Stoffe um so leichter und um so fester, je verschiedenartiger sie sind; da- gegen lösen sie sich um so besser, je ähnlicher sie sind. Wir sind somit zu der Annahme ge- führt, daß es zwei Arten von Verwandtschafts- kräften gibt, die wir als heteropolare und als homopolare bezeichnen können. Zwischen den beiden Arten der Affinität und chemischen Bin- dung wird wohl keine schroffe Trennung, sondern eine allmähliche Abstufung vorhanden sein." Ob sich diese verschiedenartigen Affinitätskräfte, deren Existenz Bruni annimmt , in irgendeiner Weise, etwa mit Hilfe elektronentheoretischer Betrach- tungen, wie sie J. J. Thomson („Die Korpuskular- theorie der Materie", Braunschweig 1908) oder Joh. Stark (vgl. Naturw. Wochenschrift, N. V. Bd. VIII, S. 350, 1909) angestellt haben, einer ge- eigneten Systematik werden unterwerfen lassen oder ob ihre Einführung sich überhaupt als nütz- lich und für unsere Naturerkenntnis als förderlich erweisen wird, das wird die Zukunft zeigen. Die Frage nach den Beziehungen zwischen Kristallform, chemischer Konstitution und Bildung von Mischkristallen ist noch weit von ihrer Lösung entfernt. Was zunächst die Beziehungen zwischen der Kristallform und der chemischen Konstitution anlangt, so ist man zu einer befriedigenden Lösung des Problems bisher nicht gekommen. Der Satz von Buys-Ballot, nach dem der Symmetriegrad der Kristalle mit steigender Komplexität des chemischen Moleküls im allgemeinen abnimmt, gibt nur einige grobe Regelmäßigkeiten an. Die Regel von Tschermak, (Tschermak's Mitteilungen, XXII, S. 393 ; 1903), nach der die Stoffe, die sich auf die Verbindungstypen RXg, RX4 und RX,, zurückführen lassen, gewöhnlich im tri-, tetra- resp. hexagonalen System kristallisieren, läßt sich nicht aufrecht erhalten. Einen erfolgreicheren Weg zur Lösung des Problems hat Groth mit seinen Unter- suchungen über die Beziehungen zwischen der graduellen Änderung in der Zusammensetzung und der Konstitution der Moleküle und den pa- rallelgehenden Änderungen in der Kristallform (Morphotropie) eingeschlagen , jedoch sind auch hier nur qualitative Erfahrungsregeln, nicht jedoch quantitative Ergebnisse zu verzeichnen. Daß übcr- 'j Prof. Dr. Giuseppe Bruni (Padua), ,, Feste Lösungen und Isomorphismus", Leipzig 190S (Verlag der .-Kkademisclien Vcrlagsgesellschaft m. b. H. ; Preis geh. 4 M. , geb. 5 M.). Die kleine Schrift stellt besonders auch durch ihre zahlreichen Literaturnachweise eine wertvolle Bereicherung der chemischen Literatur dar; sie wird jedem, der sich für das Problem der festen Lösungen und des Isomorphismus interessiert, wertvolle Dienste leisten. 366 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 23 haupt weitgehende Konstitutionsähnlichkeit ver- schiedener Stufte zu einer entsprechenden F'orm- ähnlichkeit führen kann, halte schon E. Mitscher- lich erkannt, der diese Erscheinung als Isomorphie bezeichnet hatte. Dem Worte Isomorphie legt man heute in der Regel einen etwas weiteren Sinn bei, indem man die Fähigkeit der Bildung von Mischkristallen mit einschließt. Bruni unter- scheidet daher die bloße Analogie in der Kristall- form, den ,,Isogonismus", von der Fähigkeit des Zusammenkristallisierens, die er Synmorphismus" nennt; unter ,, Isomorphismus" versteht er dann das gleichzeitige Vorkommen von Isogonismus und Synmorphismus. Chemisch analoge Stoffe sind meist isogon; Ausnahmen von dieser Regel lassen sich durch den nach den Untersuchungen von Tammann sehr häufigen Polymorphismus, d. h. durch die Er- scheinung, daß ein und derselbe chemische Stoff in verschiedenen Formen kristallisieren kann, be- friedigend erklären. Größere Schwierigkeiten für das Verständnis bietet die nicht selten beobachtete Tatsache, daß viele Stoffe, die chemisch nicht analog sind, so der Albit NaAlSigOg und der Anorthit CaAloSijOg.die JodateKJO., uiiddieFluor- jodate KJOaF'j.-Dibenzyl QH- -CH., • CH„ -CsH,, Stilben QH. CH : CH • Q H, und Tolan CgHg -C C-CfjHg, p-Nitroso- und p-Nitrodimethyl- anilin, Naphtalin und /'i-Naphtol, Salpeter und Aragonit, Natronsalpeter und Calcit, die Doppel- salze KNOg-AgNOg und CaCOg-BaCOg usw. isogon sind. ,,Wer das vorliegende Tatsachen- material unbefangen bewacht, sagt Bruni, wird unbedingt zu dem Schluß geführt werden , daß zwischen der vollkommenen kristallographischen und chemischen Verschiedenheit einerseits und dem vollkommenen Isogonismus andererseits ein kontinuierlicher Übergang durch alle denkbaren Zwischenstufen der mehr oder weniger ausge- prägten morphotropischen Beziehungen existiert." Der Synmorphismus geht dem Isogonismus keineswegs streng parallel. Eine Gesetzmäßigkeit, daß die Neigung zweier Stoffe zur Bildung von Mischkristallen mit dem Grade des Isogonismus wächst, existiert nicht, denn außer der Kristall- form üben hier noch andere Faktoren, so die Plastizität der Kristalle — nach Schenck und de Kock lösen sich die li(|uokristallinischen Flüssig- keiten, die ,, flüssigen Kristalle" (vgl. Naturw. Wochenschrift, N. F. Bd. \ I, S. 11 [1907]) in allen Verhältnissen — und die Temperatur — nach Tammann steigt die Fähigkeit zur Bildung von Mischkristallen mit der Schmelztemperatur — einen maßgebenden Einfluß aus. Die Beziehungen zwischen Synmorphismus und chemischer Konstitution werden durch einige, allerdings keineswegs streng gültige Regeln be- leuchtet. So fand Garelli bei der Untersuchung organischer Verbindungen, daß zyklische Grund- stoffe mit gleichviel Ringen miteinander Misch- kristalle bilden können, und zwar scheint es ohne wesentliche Bedeutung zu sein, ob die Ringe homozyklisch oder heterozyklisch, aromatisch oder hydriert sind; jedoch sind Ringe mit mehr als zwei Stickstoffatomen nicht imstande, mit den karbozyklischen Verbindungen feste Lösungen zu liefern. Die Neigung zur Bildung von Misch- kristallen hört auch auf, wenn man einen Stoff in seinen Homologen, z. B. Benzol in Toluol oder Xylol , löst. Für die offenen Ketten hat Bruni folgenden Satz aufstellen können: „Die gesättigten Verbindungen liefern feste Lösungen mit den ent- sprechenden fumaroiden P'ormen der ungesättigten Derivate mit Äthylenbindungen sowie mit den betreffenden Acetylenderivaten. Die maleinoide Form der Athylenderivate bildet dagegen keine Mischkristalle." Dieser Satz, der ebenso wie die vorstehenden Sätze nur zur Erläuterung der Natur der bisher aufgefundenen Regelmäßigkeiten dienen soll, beansprucht ebenso wenig wie jene eine all- gemeine Gültigkeit : diese Sätze sind nur als Regeln, aber nicht als Gesetze anzusehen. In betreff" der Anwendung der Erscheinungen des Isogonismus, des Synmorphismus und des Isomorphismus auf die systematische Chemie sei ebenso wie hinsichtlich der großen Fülle von Einzelheiten auf Bruni's Buch verwiesen. Mg. Bücherbesprechungen. Wilhelm Wirth , Die experimentelle Ana- lyse der Bewußtseinsphänomene. Mit 27 Abbildungen im Te.xt und auf einer Tafel; IX und 449 Seiten. Braunschweig, Druck und Verlag von Friedrich Vieweg & Sohn, 1908. — Preis brosch. 1 1 Mk. Der Verfasser, Professor der Philosophie und Mit- direktor des berühmten Instituts für experimentelle Psychologie in Leipzig, hat in einem überaus inhalts- reichen , wertvollen Werke die Teilprobleme der ex- perimentellen Psychologie zusammengefaßt und deren gegenwärtigen Stand entwickelt. Nachdem er in einer Einleitung das Problem des Bewußtseins als einer natürlichen individuellen Einheit besprochen hat, faßt er im ersten Teile die allgemeinen Be- obachtungen über das Wesen der Bewußtseinsphäno- mene zusammen ; insbesondere gibt er als Vorberei- tung der Experimente einen allgemeinen Überblick ,,über die allgemeine Form, auf die jede Frage nach dem quantitativen Verlauf der Bevvußtseinsphänomene gebracht werden kann, und über die allgemeinen Ge- sichtspunkte, die zur experimentellen Messung der inhaltlichen Grundlage der Erscheinung und zur in- direkten Beurteilung der Bewußtseinsgrade ihrer Ele- mente beigezogen werden können". Im zweiten und dritten Teile folgen die Beschreibungen derjenigen Versuche , die der Analyse des Bewußtseins dienen. Den Versuchen selbst liegen zwei Methoden zugrunde, erstens die Wundt'sche „Eindrucksmethode" und zweitens die aus den E x n e r ' sehen Reaktions- versuchen hervorgegangene „Reaktionsme- thode". „Das Wesen der psychologischen Erfahrung N. F. VIII. Nr. 23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 367 bringt es mit sich , daß die unmittelbare Be- schreibung des experimentell beeinfluß- ten Innenlebens seitens der Versuchs- person selbst bzw. auch schon seine Kundgebung in der unretlektierten Schilderung äußerer (wahige- nonunener oder gedachter) Gegenstände mit Hilfe ihres ganzen sprachlich beherrschten BegritTsschatzes auch bei der experimentellen Analyse den Ausgangs- punkt bilden muß. Hieraus ergibt sich die sogenannte „ E i n d r u c k s m e t h o d e " nach Wund t." Nun bleibt aber noch „die Möglichkeit unbenutzt, aus den willkürlichen und unwillkürlichen Haltungen und Be- wegungen noch viel direkter zunächst auf diejenigen Bewußtseinsinhalte und die ihnen immanenten Phä- nomene zurückzuschließen, welche diesen Äußerungen so direkt als entscheidende Auslösungsbedingung zu- grunde liegen , wie speziell einer Willkürbewegung, die auf die Wahrnehmung eines Reizmotives hin in verabredeter Weise erfolgt , das Bewußtsein des ent- schlossenen Willkürimpulses zugrunde liegt. Versuche mit solchen eindeutigen Zuordnungen von Willkür- bewegungen zu Reizen hat man seit Exner speziell Reaktionsversuche genannt. Offenbar kann aber die Reaktion auch im umfassenderen Sinne als eine Äußerung irgendwelcher impulsiver Vorgänge, auf ein (experimentell zu beherischendes) Erlebnis hin definiert werden, so daß die „Reaktions- methode" in dem ihr von Wundt beigelegten Sinne das Studium der (psychologisch-) symptomatischen Bedeutung aller Bewe- gungsäußerungen überhaupt umfaßt." Der experimentierende Psychophysiker wird das reichhaltige Werk auf jeden Fall beachten müssen, aber auch der theoretisierende Psychologe wird wert- volle Anregungen aus ihm gewinnen können. Angersbach. H. Meerwarth, Lebensbilder aus der Tier- welt. Erste Folge : Säugetiere. Zweite Folge : Vögel. R. Voigtländer's Verlag, Leipzig 1908. — Preis pro Band 14 Mk. Die sehr vornehm ausgestatteten Bücher bringen Photographien von Tieren in freier Natur, die ganz außerordentlich charakteristisch und schön sind. Mit diesem Werk wird in Deutschland zum ersten Male der Versuch gemacht, ein rein biologisches Tierbuch mit ausnahmslos photographischen und trefflich ge- lungenen Aufnahmen lebender und in der über- wiegenden Mehrzahl freilebender Tiere zu illustrieren. Es ist erstaunlich, was insbesondere durch ein Preis- ausschreiben des Verlegers zur Erlangung geeigneter Photographien Ausgezeichnetes zusammengebracht worden ist. In den vorliegenden Bänden wurden, wie im Titel besagt, die Säugetiere und Vögel be- handelt; ein dritter Band soll sich mit Amphibien, Reptilien und Fischen , ein vierter mit den wirbel- losen Tieren beschäftigen. Der Text bringt auf naturwissenschaftlicher Grundlage in gemeinverständ- licher Darstellung das äußere Leben des Tieres, eben das, was man gemeinhin jetzt im engeren Sinne unter Biologie versteht. In dem Buch über die Säugetiere werden behandelt: Der Fuchs, der Zaunigel, die Haselmaus, das wilde Kaninchen, die Hausmaus, das Opossum, der Biber, die Wald- und Zwergspitzmaus, der Bison und Wisent, die Zwergmaus, die Hausratte und Wanderratte, das Eichhörnchen, der Edelmarder, die Feldmaus, der Iltis, die Waldmaus und Waldwühl- maus, das Schwarzwild, der Edelhirsch. Die einzelnen Kapitel sind von verschiedenen Autoren verfaßt, näm- lich außer von Hermann Meerwarth , der auch das Vorwort und ein Verzeichnis und eine Erläuterung der Bilder bringt, von Hermann Löns, Else Soffel, Hermann Friedrich , Martin Braess , Ernst Schaeff, Hugo Otto, A. Bütow und Fritz Bley. Der Band über die Vögel macht den Lesern noch bekannt mit einem weiteren Autor : Otto Leege. Auch in diesem Buch wurden die Kapitel und zwar in die- sein Falle von Martin Braess, Hermann Löns, Hugo Otto, Else Soffel, auf einzelne Autoren verteilt. Die Kapitel beschäftigen sich mit den folgenden Vögeln : Nachtschwalbe, Edelfasan, Haubensteißfuß, Nachtigall, Rohrsänger, Star, Großer Brachvogel , Bläßhuhn und Rohrhuhn, Triel, Fischadler, Kiebitz, Purpurreiher, Zaungrasmücke und Gartenspötter , Waldschnepfe, Lach-, Silber- und Sturmmöve, Rotrückiger Würger, Weißer Storch, Girlitz, Schwarzdrossel, Kolibri, Kohl- meise, Blaumeise, Gefleckter Fliegenfänger, Singdrossel, Kleiber, Gartenrotschwanz, Bluthänfling, Haussperling, Zwergsteißfuß, Hohltaube, Turteltaube, Stein- oder Goldadler, Austernfischer, Eisvogel, Flamingo, Sumpf- meise, Zaunkönig, Haubenmeise, Braunkehliger Wiesen- schmetzer, Nachtreiher, Eulen, Schleiereule, Wald- ohreule. Jedes Kapitel bringt mehrere Photographien, oft eine ganze Anzahl; über den Goldkolibri z. B. sind 10 Abbildungen vorhanden, so daß man eine weit- gehende Anschauung über das Verhalten dieses Vogels gewinnt ; eine Photographie ist sogar dabei, die den Vogel, im Flug aus einer Blüte Honig saugend, aus- gezeichnet darstellt. Ein gut gelungenes Werk ! Müller-Pouillet's Lehrbuch der Physik und Meteorologie. 10. Aufl., IV. Band, i. Abt. Mag- netismus und Elektrizität, von Prof. W. Kaufmann und Prof. A. Coehn. 622 Seiten mit 531 Abbildungen. Braunschweig, F. Vieweg & Sohn, 1909. — Preis 13 Mk. Da die vorige Auflage dieses Bandes des treft'- lichen Kompendiums vom Jahre 1888 datiert ist, erforderte die Neuauflage eine vollständige Neubear- beitung, in welcher die auf Grund der Hertz'schen Entdeckungen zur Geltung gekommenen , neueren Auffassungen in gebührender Weise zugrunde gelegt sind. Es ist sehr erfreulich, daß für die Redak- tion dieser neuen Elektrizitätslehre ein als geschickter Experimentator ebenso wie als Theoretiker geschätzter Hochschullehrer gewonnen wurde, der die grund- legenden Versuche ausnahmslos in der hier ange- gebenen Form selbst ausgeführt hat und sich für das Gelingen derselben bei genauer Nachahmung der Versuchsanordnung verbürgen kann. Das Buch be- 368 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 23 ginnt mit den Tatsachen des Magnetismus, bei deren Darstellung reichlich von der Sichtbarmachung der Kraftfelder durch Eisenfeilicht Gebrauch gemacht wird. Es folgt dann die Elektrostatik und die Ab- leitung der Grundgesetze des elektrischen Stroms. Das letzte Kapitel (von Seite 478 nn) ist von Prof Coehn verfaßt und gibt eine gründliche Zusammen- stellung der in das Gebiet der Elektrochemie fallen- den Forschungen. Hoffentlich läßt auch der in Vor- bereitung befindliche Schlußteil der Elektrizitätslehre nicht mehr lange auf sich warten, der die 10. Auf- lage des Lieblingslehrbuchs unserer studierenden Jugend abschließen wird. Kbr. Dr. Karl Dost und Dr. Robert Hilgermann, Taschenbuch für die chemische Unter- suchung von Wasser und Abwasser. X -|- 100 Seiten mit 17 Textabbildungen. Jena, 190S. Verlag von Gustav Fischer. — Preis geb. 2 Mk. In dem vorliegenden Taschenbuch werden die Vorschriften zur chemischen Untersuchung von Wasser und Abwasser in leichtverständlicher , rezeptartiger Form gegeben , so daß jeder Chemiker , auch wenn er dem Spezialgebiet der Wasseruntersuchungen fern steht, eine derartige Untersuchung sachgemäß wird ausführen können. Es ist zu erwarten, daß das Büch- lein, das aus der Praxis und für die Praxis geschrie- ben ist, weitere Verbreitung finden wird. — Im Reagentienverzeichnis ist die Herstellung der Schaff- got'schen Lösung, wie es scheint, infolge eines kleinen Unglücksfalls beim Druck , nicht angegeben ; die fehlende Angabe sei daher hier nach Merck's Index ergänzt: „235 g Ammoniumkarbonat werden mit x8o cm^ 25 "/q -igen .'\mmoniaks versetzt, und das Ganze wird zu einem Liter verdünnt." Werner Mecklenburg. Anregungen und Antworten. Herrn W. D. van R. , Arts in Zaamslag. — Eine gute Übersicht über die wesentliche Literatur betr. Urzeugung finden Sie in Lafar, Handbuch der Teclinischen Mykologie I. Bd., 1904 — 1907. Jena, Gustav Fischer. — Ein sehr lesenswerter Aufsatz über die Urzeugung befindet sich in C. Nägeli, mechanisch-physiologische Theorie der Abstam- mungslehre, München 18S4: Über die Grenzen der natur- wissenschaftlichen Erkenntnis. Seit Pasteurs Arbeiten (z.B. Ann. de ehem. et de phys. 1862, Bd. 64; Coraptes rend. de l'Acad. 1857 — 63; Ann. scienlifiques de l'EcoIe normale supe- rieure Paris 1864) dürfte hingliinglich nachgewiesen sein, dai3 keine uns bekannten Organismen durch Urzeugung entstehen ; und jedes Auftreten von Pilzen oder Bakterien in sterilisierten Nährböden wird in allen Fällen auf unvorsichtiges Arbeiten zurückzuführen sein. — Ob die organisierte Substanz einmal aus unorganisierter entstanden ist, wie wir annehmen müssen, — dieses Problem wird durch den von Pasteur erbrachten Nachweis nicht berührt. — Vielleicht interessieren Sie sich für die Literatur über flüssige Kristalle, z. B. O. Lehmann, Flüssige Krislalle, Engelmann, Leipzig (20 Mk.). Ders. , Die scheinbar lebenden Kristalle, Anleitung zur Demonstration ihrer Eigenschaften usw., Schreiber, Eßlingen u. München (2,20 Mk.}. Schenck, Kristallinische Flüssigkeiten und flüssige Kristalle, Leipzig, Engelmann, 1905 (3,60 Mk.). — Schließlich mache ich auf eine .Arbeit aufmerksam, deren Re- sultate allerdings in F'achkreisen wohl allgemeinem Zweifel begegnen : Zur Frage der Stellung der Bakterien , Hefen und Schimmelpilze im System. Die Entstehung von Bakterien, Hefen und Schimmelpilxen aus Algenzellen von Prof. Dr. Dunbar in Hamburg. München, R. Oldenliurg. W. Zu der dankenswerten Notiz von Herrn Dr. O. Ammon auf Seite 272 der Naturw. Wochenschr. über die Stelle des ,,Nc Unkräutersegens": ,,Der heilige im Himmel, als er (am Kreuze) hing" möchte ich zunächst bemerken , daß die Worte ,,am Kreuze" nicht von mir, wie Herr Dr. Ammon annimmt, sondern von Hoops, den ich zitierte, eingeschaltet worden sind. .Aber selbst wenn dieser Satz nicht auf Christus zu deuten ist, so ist doch an einer anderen Stelle des ,, Neunkräuter- segens", die ich bei meiner Wiedergabe desselben nicht an- geführt habe, christlicher Einfluß unverkennbar. Hier heißt es nämlich : ,,Christus halte die Macht über Krankheiten irgendwelcher Art." Dies weist darauf hin, daß der ,,Xeunkräutersegen" in der F'orm, wie er uns vorliegt, nicht ohne weiteres als heid- nisch-germanisch bezeichnet werden kann, Heinrich Marzell. Herrn Dr. G. — Die 5. Auflage meiner Illustrierten Flora wird erst Anfang 1910 erscheinen. Die Herstellung der vielen Abbildungen — es sollen diesmal so gut wie alle .\rten zur Darstellung gelangen und das sind tausend und einige hundert — hat doch mehr Zeit in Anspruch genommen, als ich vorher berechnet hatte. Mit dem Druck soll im Herbst begonnen werden. P. 0,25 B e n e c k e Herrn Dr. M. in Kötschenbroda. — Die von der Crone'sche Nährlösung hat folgende Zusammensetzung; Destilliertes Wasser 1000,0 Salpeter (KNO3) 1,0 Calciumsulfat (CaSOj -|- H2O) 0,1; Magnesiumsulfat (MgSOi -f- HaO) 0,5 Tricalciumphosphat (Ca3(POi)2 -f H.fi) Ferrophosphat (FesIPO^)^ + H2O) o'',25 Eine soeben erschienene .Abhandlung von W. in Heft 4 der ,, Zeitschrift für Botanik" beschäftigt sich ein- gehend mit einer kritischen Untersuchung über den Wert der von der Cron e 'sehen Nährlösung. A'erf. kommt auf Grund vergleichender Untersuchungen u. a. zu dem Resultat, daß die Pfeffer 'sehe Nährlösung der von der Crone'schen für die von ihm untersuchten Pflanzen Pfeffer 'sehe Lösung besteht aus: Destill. Wasser 1000,0 Calciumnitr,at (Ca(N03)., -f H^O) 1,3 Salpeter (KNO3) 0,33 Monokaliumphosphat (KHjPO,) 0,33 Magnesiumsulfat (MgSOi -|- IIjO) 0,33 Kaliumchlorid (KCl) 0,16 Eisenchlorid (Liqu. ferr. sesquichlorat. 3 — 6 Tropfen auf 7 Liter. geeigneter ist. Die FeXl,, Lösung) W. Inhalt: Prof Dr. E. Hammer: Das Invar und seine wichtigste Verwendung in der Geodäsie. — Sammelreferate und Übersichten: Dr. O tto Ram m ste d t : Neues aus der Nahrungsmittelchemie. — Kleinere Mitteilungen: Dr. Ramm- stedt: Bekämpfung von Kakao-Wanzen durch -Ameisen. — Th. Bokorny: Hypothesen über die Entstehung der Pflanzensubstanz. — Mecklenburg: Feste Lösungen und Isomorphismus. — Bücherbesprechungen: Wilhelm Wirth: Die experimentelle Analyse der Bewußtseinsphänomene. — H. Me erwart h: Lebensbilder aus der Tierwelt. — Müller-Pouillet's Lehrbuch der Physik. — Dr. Karl Dost und Dr. Robert Hilgermann: Taschenbuch für die chemische Untersuchung von Wasser und Abwasser. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav F'ischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Kolge VlLl. Haiul ; der ganzen Reihe XXIV. Band. Sonntag, den 13. Juni 1909. Nummer 34. Die Polarregionen im Lichte geologischer und literarischer Forschung. [Nachdruck verboten. J Pflanzen- und tiergeographische Untersuchungen führten mehr als einmal zur Auffindung höchst merkwürdiger Verwandtschaften zwischen den entlegensten Floren und Faunen. So fand man z. B. in der Flora Nordamerikas lebhafte Anklänge an die Flora Ostasiens, während wiederum die südamerikanische Fauna in geheimnisvoller Be- ziehung zur Fauna Südafrikas zu stehen schien. Diese Tatsachen hatten so lange nichts Wunder- bares, als man mit der Wahrscheinlichkeit rechnete, daß gleichzeitig an verschiedenen Orten dieselben Tier- und Pflanzenformen entstehen könnten. So- bald man aber für jede Art, Gattung oder Familie einen eigenen Entwicklungsort annehmen lernte, kam das „Rätselhafte" zum Bewußtsein. Nun suchte man durch kühn konstruierte Landbrücken, die man durch alle Meere in der Phantasie zu legen sich bemühte, die wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Floren und Faunen zu erklären. So entstand erstens die „Lemuria", ein hypothetischer Kontinent im indischen Ozean zwischen Madagas- kar und Ostindien, um die eigenartige Verbreitung der lemuriden Affen, der sog. Makis zu erklären; zweitens die „Atlantis", eine Brücke zwischen Europa und Amerika, um die amerikanischen Anklänge der europäischen Tertiärflora zu be- grüßen, und endlich drittens ein Festland an Stelle des „großen Ozeans", um auf ihm die merkwür- digen Wanderungen der Polynesier wahrscheinlich zu machen. „Kein Meer war schließlich mehr sicher", wie Dr. A. Penck ^) trefifend bemerkt, „alles mußte ehemals Kontinent gewesen sein, zum Austausch der verschiedensten Floren und Faunen." Erst die P'ortschrilte späterer Forschungen ließen uns erkennen, daß, wenn Meere und P'cstländer auch in ihren äußeren P'ormen schwanken, der- artige Veränderungen in jüngster geologischer Vergangenheit zur Unmöglichkeit gehören. End- lich ergab die Geologie durch ihre Kenntnis der untergegangenen P'loren und Faunen das ständig an Umfang zunehmende Beweismaterial, daß seit dem Tertiär Landfaunen und -Floren derartig sich folgen, daß jede kommende die vorhergehende südwärts treibt. Rudimentäre Nachzügler alt- tertiärer Organismen beschränken sich z. B. auf den äußersten Süden der Landmark, auf die Aus- läufer der drei Festlandlappcn , während die jüngsten Elemente im Norden, da wo drei Kon- tinentplatten in gemeinsamer Basis verschmelzen, beheimatet sind. Manche Erwägung darf das Ergebnis stützen, durch welches der Landring um den Nordpol als endlicher Ausgangspunkt der Von A. Graf Fürstenberg zu Fürstenberg. •) Dr. Albrechl l'enck: Die Pole als Entwicl) The arctic home in the Vedas, being also a new key to the interpretation of many Vedic texts and legends, by Bai ') Dr. Albrecht l'enck; Die Pole als Entwicklungszentren. Gangädhar Tilak, Poona and Bombay 1903. 372 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vin. Nr. 24 der Erde) aus beobachten können, wie einzelne Stern- bilder am Himmel scheinbar einen vollen Kreis, ein Rad beschrieben. Dies ist jedoch nur in einer Gegend möglich, wo die längste Nacht von 24 h im Minimum bis zu 6 Monaten im Maximum sich ausdehnt, d. h. in zirkumpolarcn Regionen. In südlicheren Breiten ist solche Erscheinung schon aus dem einfachen Grunde ausgeschlossen, weil jede weniger als 24 h andauernde Nacht, mit Sonnenaufgang, den Kreislauf der Gestirne (so- weit er überhaupt in tieferen Breiten zu verfolgen wäre) scheinbar unterbricht. Bei der Voraus- setzung aber, die Beobachter seien im Zirkum- polargebiet ansässig gewesen, liegt die Bedeutung der zweiten Stelle: „Der große Bär steht hocli am Himmel" ohne weiteres klar zutage. b) Tag und Nacht. In dem etwa im 5. Jahrhundert ante Chr. nat. geschriebenen Gesetzbuch Manu's findet sich (I, 67) die Stelle: Ein (Menschen) Jahr ist ein Tag und eine Nacht der Götter; folgendermaßen sind die zwei geteilt: die Nordwanderung der Sonne ist der Tag, die Südwanderung die Nacht. Im Mahäbhärata (Vanaparvan capt 163, V. 37, 38 ff.) heißt es: Am Meru (Nordpol) gehen Sonne und Mond alltäglich rings von der Linken zur Rechten und so tun's alle Sterne. — Durch seinen Glanz besiegt der Berg (Meru) so sehr das Dunkel der Nacht, daß die Nacht kaum vom Tag zu unterscheiden ist. — Den Bewohnern des Ortes sind Tag und Nacht zusammen gleich einem Jahr. Auch der vor dem Mahäbhärata entstandene Veda geht auf die Teilung des Jahres in Tag und Nacht ein. Die Zeit des Lichtes ist der „Götter- weg", die Zeit der Nacht der „Väterweg". Stirbt ein Mensch während der ,, Nacht", so bedeutet das Unglück für die Familie. Für diesen Fall gibt Ahura Mazda, die Lichtgottheit, im Vendidad des Avesta (wir gehen ausnahmsweise hier im An- schluß auf die persische Literatur über) folgende Verhaltungsmaßregeln : ,,In dem Hause (des Toten) soll eine Grube gemacht werden und dort soll man den leblosen Körper liegen lassen für 2 Nächte oder für 3 Nächte, oder für einen Monat (!) lang, bis die Vögel zu fliegen, die Pflanzen zu sprießen, die Fluten zu fließen und der Wind das Wasser von der Erde aufzutrocknen beginnt. Was geht nun aus den vorstehenden literarischen Belegen für unsere Hypothese hervor? Einmal, daß den Göttern am Berge Meru (d. i. am Nordpol) Tag und Nacht gleich einem Jahr war. Ob man aber unter den Göttern, wie Biedenkapp höchst zu- treffend sagt, die Vorfahren der Menschen (wie man vermutete) oder eigentliche Götter verstehen will, bleibt sich gleich, denn wenn die Götter am Nordpol eines halbjährigen Tages sich erfreuten, dann erst recht auch ihre Schöpfer, die Menschen. Zu zweit aus dem jüngeren Heldengedicht „Mahäbhärata": daß die Inder zur Zeit seiner Entstehung schon nicht mehr am Pol, sondern in seiner weiteren Umgebung ihre Wohnsitze gehabt haben müssen, denn nur so läßt sich der Satz er- klären: Durch seinen Glanz besiegt der Berg so sehr das Dunkel der Nacht, daß die Nacht kaum vom Tage zu unterscheiden ist." Nacht und Tag haben hier naturgemäß die Bedeutung von Zeit- abschnitten, wie wir sie in unseren Breiten kennen und wie sie noch bis zu einem gewissen Breiten- grade im Zirkumpolargebiet zu beobachten sind. Endlich aus dem erst um 600 a. Chr. n. entstandenen Vendidad des Avesta, daß die Men- schen um diese Zeit bereits in südlichen Regionen der arktischen Zone gesiedelt waren, denn hier ist, wie Ahura Mazda sagt; die (lange) Nacht nur 2 — 3 gewöhnliche Nächte bis höchstens einen Monat lang. Selbstverständlich läßt sich aus diesen Angaben die Ausdehnung des Wohngebietes der alten Perser im 7. und 6. Jahrh. a. Chr. n. mit ziemlicher Genauigkeit berechnen, worauf wir aber Raummangels halber leider nicht weiter ein- gehen dürfen. c) Dämmerung. Rigveda VII, 76: Dies waren wahrlich viele Tage, welche zuvor (man zählte) bei dem Sonnenaufgang, um welche du, o Dämmrung, wardst gesehen wie zum Geliebten wandelnd, nicht ihn meidend. Taittitiya Samhitä V.: Es gab eine Zeit, wo all dies weder Tag noch Nacht war, ungeschieden; damals sahen die Götter diese Dämmerungen und legten sie nieder, da gab es Licht. Rigveda I, 123: Ringsum gehen (die Dämme- rungen) jede ihren bestimmten Gang 30 Yojana lang. Es ist eine karge Auslese, die wir den vedi- schen Schriften entnommen haben und sie ist noch dazu bestimmt, eine Erscheinung aufzu- klären, die den naturliebenden Hindu in seiner nördlichen Heimat nicht weniger beschäftigt haben mag, als das Phänomen des arktischen Tages und der arktischen Nacht. Doch der Charakter jener Zeilen ist unverkennbar. Viele Tage, Rigveda I sagt 30 Yojana, zählte amn, wo die Dämmerung ringsum (d. h. auf der Peripherie des Rades [s. Rädergl] ) lief, bis die Götter sie niederlegten und die Sonne aufging. Die P'rage erhebt sich, was jene 30 Yojana zu bedeuten haben. Tilak erklärt sie auf naheliegende Weise als die 30, je 24 h währenden Umläufe der Dämmerung. Wir dürfen uns dieser Auf- fassung des indischen Forschers um so eher an- schließen, als sie nicht nur in vollkommener Logik ein durchaus einwandfreies Ergebnis zeitigt, wie auch evident eine wichtige Unterstützung der von uns entwickelten Hypothese bildet. Wir haben gesehen, daß Ahura Mazda im Avesta von ein- monatliciier Nacht (wir setzen hinzu arktischer Nacht) sprach, wir stoßen im Rigveda auf eine Stelle, die eine 30 tägige Dämmerung kündet. Der Zusammenhang zwischen Polar-Dämmerung, Polar-Nacht und -Tag ist uns ohne weiteres klar; alle drei Faktoren stehen in gerader Proportion. N. F. VIII. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 373 Eine 30 Tage währende Dämmerung bietet sich uns auf einem Breitengrade, der etwa eine 7 mo- natige Sonnenscheinperiode (mit Einbezug bis zu 60 gewölinlichcn Tagen und Nächten) und eine ca. 5 monatige Nacht zu verzeichnen hat. Nun liegt zwischen der Entstehung des Rigveda und der des Vendidad des Avesta eine ungefähre Zeit- spanne von 1 100 Jahren, d. h. der Rigveda ist etwa 1 100 Jahre älter als der Vendidad. Was mögen wir daraus folgern ? Daß die Abwanderung der Arier vom Pol (resp. dessen näheren Breiten) in ca. einem Jahrtausend um soviel Breitengrade erfolgte, wie das Bedingnis der Varietät von 5 monatiger bis i monatiger arktischer Nacht wertet ! ? Wir übergehen weitere Stellen, die uns in bunter Reihe die vedischen Schriften als Belege für die Polarhypothese bieten und wollen nur noch das auch ohne Kommentar für sich sprechende wundervolle ,, Gebet an die Nacht" aus Athar- vaveda XIX hierunter anführen, um dann zum Schluß das persische ,, Avesta" einer kürzeren Durchsicht zu unterziehen. (Atharvaveda XIX, 47:) Was lebt, sucht Rast in ihr, von der kein Ende zu sehen ist, noch wer getrennt sie halte ; laß unverletzt, o weite dunkle Nacht, uns dein Ende schaun, dein Ende schaun, du Holde. Das Avesta, eine jüngere Quelle der Überliefe- rungen aus der Urzeit des IVlenschengeschlechtes. Nochmals soll uns vor Augen treten, daß sich im Avesta eine spätere Epoche der Menschheit widerspiegelt, daß wir in ihm gewissermaßen die Fortsetzung der „Vedas" erblicken müssen. Haben wir in jenen die Beweisstützen unserer Hypothese aus den Beschreibungen cölestischer Erscheinungen gesucht, so werden wir sie in diesem in der Über- lieferung irdischer Verhältnisse, in den Dar- stellungen der hereinbrechenden Eiszeit finden. Kapitel I des Vendidad berichtet: (Gott) Ahura Mazda schuf 16 Länder, aber Ahriman (Angra Mainyu) verherte sie und inachte den Menschen das Land unbewohnbar. Das erste Land hieß Airyana Vaejo; nach Biedenkapp folgendermaßen zu übersetzen: ,, Vaejo, Vejo = sanskritisch bija der Same, Keim. Airyana Vaejo ist also Iranier- oder Arier-Heim = Geburtsland der Arier." Es war ein wohnliches Land. Aber Ahriman wandelte es mit List und gab ihm 10 Monate Winter und 2 Monate Sommer. Ahura Mazda konnte das Geschick nicht abwenden, aber er warnte Yima, den Sohn des Vivanghat und sprach: „Yima, du Edler, Sohn der Vivanghat 1 Auf die Körperwelt werden verderbliche Winter fallen, die werden harten, schlimmen Frost bringen; auf die Körperwelt werden verderb- liche Winter fallen, die werden Schnee bringen, ein Aredvi tief auf den höchsten Bergspitzen. Und alle drei Arten der Tiere werden umkommen, die, welche in der Wildnis leben, und die, welche auf den Bergspitzen leben, und die, welche in den Talschluchten leben, im Schutze der Ställe. Vor diesem Winter wollten (werden) die Felder Gras in Menge für das Vieh tragen. Deshalb mache du einen Vara, so lang wie eine Rennbahn auf jeder Seite des Vierecks und dahinein bringe die Samen von Schafen und Ochsen, von Menschen, Hunden, Vögeln und roten brennenden Feuern." Und Yima schuf einen Vara, und „die Sonne, der Mond und die Sterne gingen darin nur ein- mal im Jahre auf". Der letzte Satz erinnert wiederum lebhaft an die vedischen Überlieferungen. Wir werden jetzt nicht mehr überraschen, wenn wir noch einmal das Vorstehende resümie- rend zu folgendem Ganzen gestalten. Airyana Vaejo hatte Ahura Mazda geschaffen, aber Ahri- man schickte Schnee und Eis (10 Monate des Jahres lang) und vernichtete die Schöpfung. Die Menschen aber wanderten südwärts durch 16 Länder (Biedenkapp verfolgt sie einzeln auf der Karte bis zum Pandschab) und siedelten sich an. Gehen wir nun noch einmal auf Teil i un- serer Arbeit zurück und vergegenwärtigen uns das Endresultat unserer dort gegebenen hypothe- tischen Schlüsse : Alles Leben wanderte (durch die mähliche Vereisung der Polarregionen ge- zwungen) von den Polen nach Süden; so kommen wir analog zu dem Ergebnis: die zuerst im Zirkumpolargebiet beider Pole auftretende Ver- eisung zwang die Menschen ihre Urheimat zu verlassen und nach Süden abzuwandern. Wohl kann das „Arierheim" am Nord- oder Südpol ge- legen haben, doch die Erwägung, daß das Nord- polargebiet auf der Basis dreier anschließender Festlandlappen die Ausbreitung der Menschheit nach Süden begünstigte, während das antarktische Gebiet in keinem faktischen Zusammenhang mit einem Kontinent steht, läßt zugunsten des ersteren entscheiden. Das sächsische Erzgebirge und Granulitgebirge. Nach einem Vortrag, gehalten im geologischen CoUoquium der Universität Berlin. [Nachilruck vcrboteD.! Von Erich Hoehne. Wohl häufig kommt es in der Geologie vor, einer anderen Meinung Platz zu machen, die mit daß irgendein Gebiet sich jahrelang einer im all- der ersteren im krassesten Gegensatze steht, und gemeinen ungeteilten Ansicht betreffs seiner Ent- nicht selten ist es auch der Fall, daß diese stehungsweise erfreut, um dann schließlich doch wiederum verworfen wird, und man doch schließ- 374 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 24 lieh wieder zur ersteren Ansicht zurückkehrt, natürlich mit einigen Modifikationen, je nach dem Stande und Fortschritt, den unterdes die Wissen- schaft genommen hat. Diese Erscheinung tritt auch in sehr interessanter Weise bei der Betrach- tung der Entstehungsweise des sächsischen Erz- gebirges und des davorliegenden Granulitgebirges hervor. Beide Gebirge bilden bekanntlich ihrer Lage nacli große Ellipsen, deren große Achse im variszischen Streichen liegt, d. h. SW-NO streicht. In der Hauptsache stellen sie ein plateauartiges Gebilde dar, das aus stark abradierten Falten alt- paläozoischer Schichten besteht; über diese haben sich dann oftmals übergreifend Ablagerungen von oligocänen Braunkohlengesteinen gelegt. Nach Sachsen zu ist der Abfall ein ganz allmählicher, der sich schließlich mehr und mehr in das sächsi- sche Becken verflacht; anders aber nach Böhmen zu, wo das Erzgebirge mit einem jähen Absturz abbricht, indem seine Fortsetzung infolge einer riesenhaften Verwerfung zur Zeit des Tertiärs in die Tiefe abgesunken ist und ein großes Senkungs- feld bildet, in dem sich die berühmten böhmischen Braunkohlenablagerungen befinden. Den Kern beider Gebige bilden Gneise resp. Granulite, während sich Glimmerschiefer und Phyllite in ellipsenförmigen Ringen um ihn herumlegen. Das Erzgebirge durchsetzt eine große Reihe von Spalten, die zwei verschiedenen Systemen ange- hören. So die bei der variszischen Faltung ent- standenen SW-NO verlaufenden und die NW-SO streichenden, die jünger als das mittlere Rot- liegende sind. Diese Spalten wurden zum Teil von empor- dringenden Eruptivgesteinen wie Porphyr, Porphyrit, Melaphyr und anderen ausgefüllt, zum Teil aber auch durch Ausscheidung aufsteigender Quellen mit hydatogenen Mineralien und Erzen erfüllt. Schneeberg, Annaberg, Freiberg und andere Orte sind ja durch ihren Erzreichtum bekannt, nament- lich aber das westliche Erzgebirge am Ostrand des Eibenstocker Massivs durch seine Kobalt- Silbererzgänge, wo sich die Ausfüllung der Gänge folgendermaßen gestaltete: 1. F'einkörniger Quarz (Hornstein). 2. Kobalt, Nickelerze, gediegen Wismut. 3. Kupferkies, Braunspat, Bleiglanz, Uranpech- erz (UO. -f 2UO,). 4. Silbererze und gediegen Silber. Schon lange ist für die Geologen das Erz- gebirge und Granulitgebirge bezüglich der Ent- stehungsweise der Gneise ein vielumstrittener Punkt gewesen. Die älteren Geologen in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stellten sich diesbezüg- lich auf den plutonistischen Standpunkt und ver- traten die Ansicht, daß die Gesteine dieser Ge- birge vulkanischen Ursprungs seien. Besonders faßte so Naumann die Gneise als eine einheit- liche Formation auf. Etwas später unterschieden Müller, Cotta und Scheerer bereits zwei Arten von Gneis, nämlich den roten und den grauen; aber ihre Meinungen gingen sehr ausein- ander, indem bald nur der eine oder der andere Gneis oder beide der Urgneisformation angehören sollten und plutonische Gebilde seien. Demgegenüber stellte sich in den siebziger Jahren die geologische Landesanstalt von Sachsen auf den neptunistischcn Standpunkt; beide Gneise seien als gleichentwickelte Glieder des Archaicums sedimentären Ursprunges, und so sollte dies nach Credner und Kalkowsky besonders für den roten Gneis zutreffen. Man machte dies nämlich von dem Vorhandensein oder Fehlen sedimen- tärer Einlagerungen abhängig und unterschied auf diese Art Sedimentgneise (Paragneise) von den Eruptivgneisen (Orthogneise), die mehr den Charakter von Graniten zeigen. Der F"ehler lag aber darin, daß man die eingelagerten Sediment- massen in den Gneisen für konkordant und mit ihnen gleichaltrig hielt, und dafür hatte man eben keine andere Erklärung. So standen sich nun diese beiden Auffassungen, die plutonistische und die neptunistische, längere Zeit gegenüber, und erst in neuester Zeit, als Credner^) und Gäbert'''j längere genetische Studien, ersterer im Granulitgebirge, letzterer im Erzgebirge, anstellten, gelangte man zu sehr wichtigen Ergebnissen, und es ist sehr interessant, zu welchen Schlüssen gerade Credner ge- kommen ist, der doch vorher vollständig auf neptunistischem Standpunkte stand. Es lohnt sich daher, auf die beiden letztgenannten Autoren näher einzugehen. Zunächst haben die Unter- suchungen von Gäbert vor allen Dingen an dem Kontakt des Metzdorfer Glimmertrapps und der Grauwackenscholle vonRiesenburg-Osegg ergeben, daß die Auffassung der Sedimente als ,,konkor- dante Einlagerungen" auf einem Irrtume beruhen, veranlaßt dadurch, daß die Plattung der eruptiven Gneise sich den Schichtflächen der sedimentären Gesteine anlegt, die mit den Gneisen in Kontakt gekommen sind, daß also die Richtung der Plattung und der Schichtung zusammenfallt. Gäbert faßt diese Sedimente als gewissermaßen in dem Gneise schwebende Schollen auf, die die Reste eines ehemaligen Schiefergebirges darstellen, in welches von unten her das Gneismagma ein- drang, indem dabei die Schiefer in ihre einzelnen Platten und Blättchen zerlegt wurden, in die das Magma sich als Lagergänge eindrängte, wobei es gleichzeitig eine mit der Schichtung gleichlaufende, ausgezeichnete Parallelstruktur annahm. P'ür den Aufbau dieser beiden Gebirge nimmt man also heute nach den Untersuchungen von Credner und Gäbert Lakkolithen an, wo bei der Eruption das empordringende Magma nicht die Kraft hatte, den gewaltigen Druck des darauf- ') Credner, Die Genesis des sächsischen Granulitgebirges. Centralbl. d. Neu. Jahrb. für Min. usw. 1907. p. 513—525. -) Gäbert, Die Gneise des Erzgebirges und ihre Kontakt- wirkungen. Zeitschr. d. deutsch, geol. Gesellschaft. 1907. p. 30S— 376. N. F. VIII. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 375 liegenden Schiefergebirges zu überwinden und dieses zu durchbrechen, sondern nur in das Liegende der Schichten einzudringen und diese zu durchsetzen, wobei einzelne Sedimentscholien des Kontaktgesteins sich loslösten und die er- wähnten sedimentären Hinlagerungen ergaben. Stimmte die Annahme von Lakkolithen, so mußten diese Einschaltungen nach dem Innern zu ab- nehmen und in dem zentralen Teil gänzlich ver- schwinden, was auch die Untersuchungen der beiden genannten Forscher ergeben haben, denn die Denudation ist heute schon dermaßen fort- geschritten, daß die jetzige Oberfläche schon ein Stück unter der einstigen Injektionszone liegt, wodurch auch der zentrale Kern den Beobach- tungen zugänglich ist. Ferner hat Gab er t fest- gestellt, daß die chemische Beschaffenheit der Mantelzone von der des Kernes nicht abweicht, wodurch die Annahme von Lepsius, das Magma habe in der Mantelzone große Massen des teil- weise durchbrochenen und durchsetzten Schiefer- gebirges absorbiert, hinfällig wird, da sich die Absorptionen nur auf die allernächste Umgebung erstrecken konnten und nur bei den Kalkmassen eine größere Absorption eintreten konnte. Die Kontaktmetamorphose war naturgemäß eine höchst intensive, wodurch ein großartiger Kontakthof erzeugt wurde, dessen innere Zone Glimmerschiefer mit Intrusivlagern und deren äußere Zone Phyllite bilden und zwar so, daß zwischen den einzelnen Kontaktzonen allmähliche Übergänge stattfinden, wobei schließlich die Phyllite nach außen hin langsam in unveränderte Tonschiefer übergehen. Daß innerhalb gewisser Komplexe des inneren Kontakthofes die Schiefer eine Umwandlung zu Gneisglimmerschiefern durchgemacht haben, wo- durch sich der petrographische Habitus höchst mannigfaltig gestaltete, ist wohl auch ein Grund mit, weshalb man jetzt erst hinter die eigentliche Entstehung gekommen ist. Nach außen zu nimmt dann auch die Kristallinität und die Fülle der Kontaktmineralien wie Granat, Andalusit, Glimmer und Feldspäte ab, allmählich in die Phyllitforma- tion übergehend, deren Liegendes nach Gab er t Albit- und Quarzphyliite bilden, die dann schließ- lich immer tonschieferhaltiger werden und in normale paläozoische Tonschiefer übergehen. Ebenso wie im Erzgebirge liegen auch die Verhältnisse in dem von Credner jüngst revi- dierten Granulitgebirge, das ja mit dem Erzgebirge in genetischer Beziehung steht. So ist ja doch auch der Granulit mit dem Gneis dem Stoffe nach zum mindesten verwandt, wenn nicht gar bisweilen identisch, und er unterscheidet sich wesentlich nur durch seine Korngröße und in seinem Habitus, abgesehen von einigen Eigentüm- lichkeiten im Mineralbestande. Auch hier also hatte man früher die Granulite und die sie um- lagernden Schieferzonen als zum Archaicum ge- hörig hingestellt, deren Entstehung dem Regional- metamorphismus zufallen sollte, gestützt darauf, daß die Granulite so verbreitet seien und häufig sehr feine Dünnplattigkeit und Schiefrigkeit zeigen. Die Parallelstruktur ist hier eine ausgezeichnete; sie wird um so deutlicher, je größer die Menge des Glimmers und je geringer der Gehalt an Quarz ist. Sie ist auch hier auf Pressungen und Druckbewegungen in dem noch beweglichen plastischen Magma zurückzuführen, wobei eine Spaltung des Magmas in Pyroxengesteine (Gabbros) und Amphibole eintrat, wobei wie Credner durch die Konzentration von F"lasergabbro am Randgebiet des Granulitlakkolithen nachweist, dem Empordringen der übrigen Magmen dasjenige basischer Gesteine voranging. Ferner beweist Credner, daß das Magma die Gabbros teilweise zerriß und dann an die Flanken des entstehenden Lakkolithen preßte, wo sie in Gestalt von Linsen erstarrten, während die Einlagerungen von Granit- gneis, Biotitgranulit und Granulitgneis im Flaser- gabbro auf Schlieren des sauren Granulitmagmas zurückzuführen sind. Ein weiteres Kriterium für die Entstehung aus einem Lakkolithen findet Credner sodann in der vollständig gleichsinnigen Art im Streichen und Fallen der Granulitflanken und der auf sie folgenden Schiefergesteine der Kontaktzone. Der Lakkolith ist ziemlich steil geböscht, verflacht dann im inneren und äußeren Kontakthof all- mählich, um sich dann im Hangenden des letzte- ren zu verlieren, soweit das Fallen eben noch mit dem Einfluß des aufwölbenden Lakkolithen in Zusammenhang gebracht werden darf. Was nun die jüngeren erzgebirgischen Granit- stöcke von Eibenstock und besonders von Kirch- berg betrifft, so macht Gäbert noch auf die übereinstimmende orographische Erscheinungs- weise ihrer Kontakthöfe mit dem des übrigen Erzgebirges aufmerksam. Gäbert meint, daß infolge der Kontaktmetamorphose die Schiefer- hüllen in beiden Fällen dermaßen von Quarz durchsetzt wurden, daß sie imstande waren, der Denudation größeren Widerstand entgegenzusetzen als der Gneis selbst , der ja doch an leicht ver- witterbaren Feldspäten so reich ist. So wird das Kirchberger Massiv von einem hoch emporragen- den Walle von kontaktmetamorphosierten Anda- lusitglimmerschiefern umgeben, wodurch der Granit selbst gewissermaßen einen Gebirgskessel darstellt. Dasselbe stellt sich bei den beiden Lakkolithen heraus, wo ebenfalls der Gneis in der Tiefe zu- rückbleibt, während die Glimmerschiefer um ihn herum emporragen. Bei dem Granulitlakkolithen hat sich nun gezeigt, daß der Boden des Massivs sich nicht nur aus den mannigfaltigen Variationen von Eruptivgesteinen aufbaut; vielmehr haben von seiner Kontaktfläche aus Vorsprünge des Schiefergebirges zahnartig eingegriffen , weshalb sie infolge der enormen Hitze zu vollständiger Schmelzung gebracht wurden, woraus Kordierlt- und Granatgneise, Kordierit- und Granatfelse her- vorgegangen sind. Was nun das Alter der beiden Gebirge be- 3/6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 24 trifft, so ist darüber folgendes zu erwähnen. Im Granulitgebirge wurde durch den Lakkolithen das Altpaläozoikum einschließlich des Mitteldevons mit seinen Diabasen und Diabastuffen in Gestalt einer Kuppel aufgewölbt, wobei die Kontakt- metamorphose im Südosten des Granulitgebirges in dem Gebiete zwischen der Chemnitz und Striegis die Diabase in Amphibolfelse und Amphibol- schiefcr umwandelte, während die Tonscliiefer durch strukturelle Veränderungen und Umlagerung der Moleküle, was ja bei allen kontaktmetamor- phosierten Gesteinen geschieht, zu Glimmer- schiefern und Fruchtschiefern wurden, welche charakteristische Kontaktmineralien wie Andalu- site, Granate und Turmalin zeigen. Die Alaun- schiefer wurden zu Graphitglimmerschiefern, in- dem der Graphit wahrscheinlich von dem großen in den Alaunschiefern enthaltenen Bitumen her- rührt, das durch die kaustische Kontaktwirkung umgewandelt wurde, und auch der dichte Kalk- stein, der sich zu Marmor gestaltete, bekam neben der kristallinen Struktur ein gebändcrtes Aussehen, das von kleinen Graphitschüppchen herrührt. Diese Vorgänge müssen in jüngstdevonischer Zeit stattgefunden haben, wie die Konglomerate an der Basis des unteren Kulm, der diskordant auf dem Schiefermantel lagert, beweisen, welche schon Stücke von kontaktmetamorphosierten Ge- steinen enthalten, die bisweilen eine beträchtliche Größe erreichen. Auch beweist der Umstand, daß in diesen Kulmkonglomeraten Fragmente von dem Granulit selbst noch fehlen, daß zwar eine Denudation damals schon begonnen hatte, jedoch noch nicht so weit fortgeschritten sein konnte, den Kern des Lakkolithen selbst zu entblößen. Vielmehr erfolgte diese Freilegung des Kernes erst am Ende des Oberkarbon und besonders zur Zeit des Rotliegenden. Und so ergeben sich denn nach einer Aufstellung von Credner für das sächsische Erzgebirge folgende Hauptdaten in der Entwicklungsgeschichte: Im obersten Devon erfolgte die Entstehung des Granulillakkolithen durch eruptive Hebung, welche die Kontaktmetamorphose des Altpaläozoi- kums bewirkte und die Schichten zu einer ge- schlossenen Kuppel aufwölbte. Im untersten Karbon begann die Denu- dation dieser Schieferkuppel, indem gleichzeitig die hierbei zerkleinerten Schiefer zum Aufbau eines Konglomerates benutzt wurden, das, wie jetzt feststeht, dem Kulm angehört. Hierauf folgte durch das ganze Karbon und Perm hindurch eine unaufhörlich weitergreifende Denudation, welche schließlich den Kern freilegte und anfing, auch diesen immer mehr abzutragen, wobei das zerstückelte Material wieder zum Auf- bau eines Konglomerates, nämlich dem der pro- duktiven Steinkohlenformation und des Rotliegen- den, beitrug. Bei dem Gneislakkoliihen des sächsischen Erz- gebirges ist jedoch die Bestimmung des Alters weit schwieriger, und gegenwärtig ist sie noch nicht mit so positiver Sicherheit wie im Granulit- gebirge zu entscheiden, wenn man auch nicht mehr weit davon entfernt ist. Hatte man in der Kontaktzone des Granulitgebirges Reste von Ver- steinerungen gefunden, die sicher dem Silur oder Devon angehören , so war es doch bisher noch nicht gelungen, Fossilien in der Schieferumrah- mung des erzgebirgischen Gneislakkolithen zu entdecken, und zur Entscheidung der Altersfrage mußten hier petrographische Merkmale an den Konglomeraten und Grauwackenhornfelsen mit herangezogen werden. Halte doch schon Lep- sius die auffallende Übereinstimmung dieser Konglomerate mit denen aus dem Kulm des Vogtlandes und anderer Gegenden betont. Aber auch in neuester Zeit lauteten die Bestimmungen, die Gäbert, Weise, Zimmermann und einige andere vornahmen, vollständig gleich und deuten auf Grund des petrographischen Charakters auf Kulm hin. Auch auf dem Wege der chemi- schen Analyse läßt sich ja in den metamorphen Schiefern das ursprüngliche Gestein, aus dem der kristalline Schiefer entstand, nachweisen, denn während der molekularen Umbildung war kein Zustand der Lösung vorhanden, wodurch eine Diffusion oder „Transsudation" hätte stattfinden können zwischen verschiedenen Gesteinsmassen. Vielmehr blieb bei all den Gesteinen der stoff- liche Charakter bestehen.') Demnach müßte die Entstehung des Gneislakkolithen sowie seine auf- wölbende und kontaktmetamorphosierende Tätig- keit zu Ende des Kulm vor sich gegangen sein, indem zuerst die grauen, später die roten Gneise sich bildeten. Demnach wäre also der Granulitlakkolith und mit ihm das Granulitgebirge als metamorphosier- tes Gebirge mit seiner jungdevonischen Ent- stehung das älteste. Als dann dort bereits im untersten Kulm die Denudation begann , trat in dem danebenliegenden heutigen Erzgebirge die Aufwölbung durch den Gneislakkolithen ein, und so sind die erzgebirgischen Gneise relativ nicht viel älter als die in ihrer Kontaktzone aufsetzen- den Granitstöcke, der Eibenstock und der Granit- stock von Kirchberg, deren eruptive Entstehung man in die Zeit zwischen dem Oberkarbon und Rotliegenden legt. Betrachtet man nun hierbei auch die Eruption des Granits aus dem Thüringer Wald, die Scheibe für postkulmisch hält, so hat man eine ganze Kette von Lakkolithen und Stöcken vom Granulit- gebirge her südwärts und dann westlich umbiegend nach dem 1 hüringer Walde zu, wobei auffallender- wcise die Bildungen nicht gleichzeitig stattfanden, sondern wo die eruptive Tätigkeit und das Auf- wölben jedesmal des folgenden Lakkolithen oder Stockes erst stattfindet, wenn die Denudation des vorher entstandenen schon längst angefangen hat. ') .Mierdings kann es auch ausnahmsweise vorl;ommen, daß mal ein Sediment dieselbe chemische Synthese zeigen kann wie ein Eru]5tivgestein ; doch gehören solche Fälle zu den Seltenheiten. N. F. VIII. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. .V7 Daß sich ferner die Entstehung und Aufwöl- bung des Granulitgebirges und sächsischen Erz- gebirges durch die Lakkolithcn bereits vor dem Oberkarboii vollzogen haben muß, beweist aber unter anderem auch die oben schon erwähnte elliptische Gestalt beider Gebirge. Ursprünglich waren sie rund kuppeiförmig emporgewölbt wor- den und bei der variszischen Faltung, die im Oberkarbon stattfand, wurden diese mitgefaltet, so daß aus der kreisrunden Kuppel eine ellipsen- förmige wurde , deren große Achse , wie schon erwähnt, das variszische Streichen (SW — NO) zeigen muß. Die Granitmassive mußten natürlich, da sie ja erst nach der Faltung zum Durchbruch gelangten, ihre runde Gestalt beibehalten. Faßte man früher diese beiden Gebirge als Sättel der archäischen I""ormation auf, so hat diese Auffassung jetzt keine Gültigkeit mehr durch die Erklärung der Entstehung infolge von Lakkolithen , die die paläozoischenSchiefergesteine kuppeiförmig empor- gewölbt haben, und die jetzt durch die bereits sehr weit fortgeschrittene Denudation zugleich mit ihren Kontakthöfen sichtbar sind. Wir hatten gesehen, daß die Schiefer im Erz- gebirge zur Zeit des unteren Karbon metamorpho- siert wurden, und es drängt sich nun noch die I'Vage auf, zu welcher Zeit wohl diese Sediment- gesteine zum Absatz gelangt sind. Die Phyllite gehen nun nach oben hin in kambrische Ton- schiefer über, andererseits besteht aber von den untersten Horizonten der Glimmerschiefer an bis ins Kambrium hinein eine fortlaufende Schichten- reihe, so daß nach Gäbert die Glimmerschiefer und Phyllite nicht mehr als selbständige Forma- tionen des Archaikums aufzufassen sind, sondern als tiefstes Kambrium oder gar als Präkambrium angesehen werden müssen, welche das Liegendste des Gebirges bilden, so weit man es bisher kennt. Demnach bilden die kristallinen Schiefer im Erz- gebirge nicht mehr das sogenannte „Grundgebirge", indem sie nicht eine eigene selbständige Gruppe, die azoische Formation, darstellen, der als charak- teristisches Merkmal die „Ubiquität" zukommen mußte, sondern sie zeigen sich hier wie im Gra- nulitgebirge und an vielen anderen Punkten sozu- sagen als eine lokale Facies jüngerer Sediment- formationen, in diesem P'alle als lokale P'acies des Altkambriums resp. Algonkiums. Und so ist heute schließlich doch wieder die Anschauung der Plutonisten zur Anerkennung ge- langt und speziell Naumanns Ansicht von der ,,Eruptivität und tektonischen Aktivität", allerdings nicht mehr in dem Sinne, daß es sich hier um ,,Erhebungskratere" handelt, sondern um „teller- förmig denudierte Lakkolithgebirge" im Sinne Credner's und Gäbert 's. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus dem physikalischen Unterrichte. — Einige sehr nette akustische Versuche veröffentlicht Martens in den Ber. d. D. Phys. Ges. V. 7. 07, bei denen Schwingungen von Kör- pern dadurch sichtbar gemacht werden , daß an denselben kleine Hohlspiegel angebracht sind, die den Lichtstrahl reflektieren und auf einem Projektionsschirm Lichtpunkte erzeugen. Diese werden zu Bändern ausgezogen, wenn der Körper und damit der Spiegel schwingt. Bänder, die durch einen rotierenden Spiegel in Sinuslinien aufgelöst werden können. Die Methode ist be- kannt bei einer Stimmgabel , wo ein Spiegel am oberen Ende einer Stimmgabelzinke befestigt wird oder bei zwei zueinander senkrechten Stimmgabeln, die zur Erzeugung der Lissajousfiguren dienen. Es ist vorteilhafter, die Spiegel nicht am Ende, sondern etwa in der Mitte der Stimmgabelzinken anzubringen, weil dadurch die Stimmgabel weniger beeinflußt wird. Man kann auch dem Lichtstrahl leicht die doppelte Drehung geben , indem man an den inneren Flächen der beiden Zinken einer Stimmgabel je ein Stahlspiegelchcn anbringt, so, daß der Lichtstrahl vom Spiegel der einen Zinke zu dem der anderen Zinke und von da zum Projektionsschirm reflektiert wird. Die Anordnung hat den Vorteil, daß eine Drehung der ganzen Stimmgabel, die beim Anschlagen der Gabel fast unvermeidlich ist, keine Störung für die Bilder verursacht. Diese Spiegel verwendet Martens bei der Töpler'schen Schalleitung — bekanntlich eine über 100 m lange, ca. 3 cm weite Röhre, die gewöhnlich auf dem Fußboden des Experi- mentiersaals geführt wird. Die beiden Enden dieses Rohres sind mit Gummimembranen I und II ver- schlossen, auf die exzentrisch ein kleiner Hohl- spiegel befestigt ist. Er erzeugt von einem Nernst- körper ein reelles Bild, dessen Bewegung man im Hörsaal beobachten kann. Seitlich an den Fanden der Rohrleitung ist je eine Öffnung A und B an- gebracht. Die Öffnung A trägt einen Gummi- ball. Wird er plötzlich zusammengedrückt, so baucht sich die Membran I bei A aus, der Licht- punkt gehe infolgedessen z. B. nach unten. Die Verdichtungswelle läuft durch das Rohr, verändert aber die Membran II nicht wesentlich, da B offen ist. Dort wird aber die Verdichtungswelle als Verdünnungswelle reflektiert, durchläuft die Länge des Rohres rückwärts und saugt gewissermaßen die Membran I in das Rohr hinein. Der Licht- punkt schlägt nach oben aus. Das Spiel setzt sich fort; man konnte bei I lO solcher Ausschläge beobachten. Schließt man die Öffnung B, so zeigen sich die entsprechenden Erscheinungen, bei denen man 378 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 24 22 Ausschläge beobachten l" O) im Osten bis Ladak im Westen auf 1800 km zu schätzen sein; er besteht aus wenigstens zwei, meist drei bis vier Ketten und ist im Süden durch das Indus- Brahmaputra-Tal, im Norden durch eine wichtige Zone von Seen begrenzt, die im Osten von Nain- Sing, im Westen vom Vortragenden entdeckt wurden. Vortragender hebt die hohe orographi- sche und hydrographische Bedeutung des Trans- Himalaya als der Wasserscheide zwischen dem Ozean und dem abflußlosen Inner-Asien besonders hervor." Bücherbesprechungen, Ferd. Straufs , Naturgeschichts- Skizze n- buch. Wien 1909, Verlag Deuticke. Über den Wert des Skizzenzeichnens im Natur- geschichts-Unterrichte auch nur ein Wort zu verlieren ist wohl überflüssig. Leider hat es bis jetzt an einem umfangreicheren Werk gefehlt, an das sich der Lehrer der höheren Schulen hätte halten können. Diesem Bedürfnis ist durch das vorliegende Skizzenbuch ab- 384 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 24 geholfen. Auf 136 Tafeln finden sich 2000 Skizzen, die das ganze Unterrichtsgebiet der Zoologie behan- deln. Der Lehrer hat somit Stoff und Anregung genug, daß er nicht nur seine Vorträge durch Schema- bilder unterstützen , sondern auch von Jahr zu Jahr eine wohltuende Abwechslung eintreten lassen kann. Auf jeder Tafel ist ein Tiertypus in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt und um ihn herum gruppieren sich die biologischen , physiologischen, anatomischen und sonstigen Besonderheiten. Das Werk ist in 6 Heften erschienen: i. Niedere Tiere, 2. Glieder- tiere, 3. Wirbeltiere, 4. Vögel, 5. Säugetiere und 6. Der Mensch. Aus dem i. Heft heben wir als besonders gelungen folgende Tafeln hervor: Leber- egel, Bandwurm, Fortpflanzung, Baupläne, Seestern, die 3 Tafeln über die Weinbergschnecke und die Teichmuschel. Gerade dieses Heft scheint uns aus dem ganzen Werke als das beste, weil es das schwie- rige Gebiet der niederen Tiere übersichtlich , leicht- faßlich und dabei doch mit wissenschaftlicher Gründ- lichkeit erschöpft. Schon die äußere Ausstattung er- weist sich als praktisch: Die Teilung in Hefte hat den Vorteil, daß man keinen dicken Folianten in die Unterrichtsstunde mitzuschleppen braucht. Jeder Tafel steht gleich der erläuternde Text gegenüber, ein Vorzug, den jedermann zu schätzen weiß, der ein Feind vom mühseligen Zusammensuchen ist. — Das Skizzenbuch ist als ein zeitgemäßes Werk zu be- zeichnen, das in die Hand eines jeden gehört, der Naturgeschichte zu unterrichten hat. O. Wiener, Der Zusammenhang zwischen den Angaben der Reflexionsbeobach- tungen an Metallen und ihren optischen Konstanten. Bd. XXX, Nr. I der Abb. der math. phys. Klasse der kgl. sächs. Ges. d. Wissen- schaften. 60 Seiten mit 18 Figuren. Leipzig, B. G. Teubner, 1908. — Preis 2,60 Mk. Die Arbeit beschäftigt sich mit den Formeln, mittels deren man die optischen Konstanten der INIelalle aus Reflexionsbeobachtungen ableiten kann. Da die von Cauchy , Voigt und Drude hierfür ge- gebenen strengen Formeln ziemlich mühsam anzu- wenden sind, hat Verf besonders einfache Näherungs- formeln gesucht und gefunden, auch werden neue, einfache Ableitungen der strengen Formeln gegeben und die Ergebnisse durch geometrische Darstellimg möglichst anschaulich gemacht. Kbr. Prof. Dr. A. Föppl, Vorlesungen über tech- nische Mechanik in 6 Bänden. 4. Band: Dynamik. 3. Aufl. 422 Seiten mit 71 Figuren. Leipzig, B.G. Teubner, 1909. — Preis geb. 10 Mk. Nach Rekapitulation der im ersten Bande aus- führlich begründeten grundlegenden Sätze wird zu- nächst der Flächensatz in seiner allgemeinsten Form als Satz von den statischen Momenten der Bewegungs- größen abgeleitet, wobei Verf für das „statische Moment der Bewegungsgröße" das kurze Wort „Drall" einführt. Es folgt alsdann die Lehre vom Potential und von den Schwingungen materieller Punkte. In weiteren Abschnitten werden behandelt die Dynamik des Punkthaufens und des starren Körpers , die Schwingungen elastischer Körper, die Relativbewegung und die Hydrodynamik. Die Darstellung ist äußerst klar und für denjenigen , der sich in das Rechnen mit gerichteten Größen eingelebt hat, leicht verständ- lich ; den einzelnen Abschnitten sind Reihen für die Technik besonders wichtiger Aufgaben angefügt, deren Lösung ausführlich behandelt wird. Das Buch kann angehenden Technikern angelegentlichst emijfohlen werden. Kbr. Literatur. Alterns, Dr. C.-irl Gf. : Die Myriopoden der Voga-Expedition. [,\us: „Arkiv f. zoologi".] (84 S. m. 27 Fig. u. 5 Taf.) S". Uppsala '09. Berlin, R. Friedländer & Sohn. — 3 Mk. Handbucti der Physik. 2. -Vufl. Ilerausg. von Prof. Dr. A. Winkelmann. II. Bd. (Schluß.) .'Vkuslik. (X, 714 S. m. 367 Abbildungen.) Le.\. 8". Leipzig '09 , J. A. Barth. — 25 Mk., geb. in Halbmoleskin 27 Mk. Anregungen und Antworten, Herrn G. B. in Nürnberg. — tjber die Erscheinungen der sog. elektrischen Konvektionsströme finden Sie Näheres mit .Angabe aller Literatur in Winkelmann's Ilandbucli der Physik, 2. Aufl. V, I, Seite 426. Eine deutsche Abhandlung über den Gegenstand schrieb u. ,a. Helmholtz (Wiss. Abb. I, S. 791); die neueste Publikation darüber ist eine Abhandlung von Eichenwald im 11. und 13. Bande von Drude's Annalen der Physik (1903 und 1904). Ihre Frage bezüglich der Treibriemen dürfte dahin zu beantworten sein, daß dieselben wohl sattclartig sich einbiegen ; sonst könnte hier nur das Beharrungsvermögen, bzw. die aus demselben sich ergebende Schwungkraft maßgebend sein. Die Kiemen suchen die Stellen größten Durchmessers zur Auflage zu benutzen. Kbr. Herrn F. Kr. in Eppingen. — Chauvenct, Manuel of spherical and practical a'^tronomy (Philadelphia, Preis 30 Mk.\ von neueren deutschen Büchern kämen nur die betreffenden Abschnitte in V'alentiner's Handwörterbuch der Astronomie (Leipzig, J. A. Barth, 1902, 4 Bände, Preis ca. 100 Mk.) in Frage, doch ist das antiquarisch billig erhältliche Buch von Brünnow noch durchaus brauchbar. Notiz über fleischfressende Schnecken. — Bei einer Arbeit im Torfmoor am Nordendc des Henselewo Sees bei Jucha in Masuren, die wegen des hohen Wasser- standes burfuß vorgenommen werden mußte, beobachtete ich, das kleine Schnecken, anscheinend von der Gattung Succinea sich an die Beine setzten und hier die Haut durchrieben, bis Blut herabfloß. Der Juckreiz machte mich fast jedesmal, wenn ich eine Weile im Wasser slill stehen mußte, auf diese Tiere aufmerksam. Da ich die Sache für längst bekannt hielt, habe ich mir nicht genauer angesehen, um welche Art es sich handelt und kein Exemplar mitgenommen. Erst die Bemer- kung eines mir befreundeten Zoologen, daß über fleischfressende Schnecken sehr wenig bekannt sei, veranlaßt mich, jetzt diese Notiz zu veröffentlichen. Dr. E. Meyer. Inhalt: .\. Graf Fürstenberg zu Fürstenberg: Die Polarregionen im Lichte geologischer und literarischer Forschung. — Erich Hoehne: Das sächsische Erzgebirge und Granulitgebirge. — Sainmelreferate und Übersichten: Dr. G. Danneberg: Neues aus dem physikalischen Unterrichte. — Kleinere Mitteilungen: A. Oppel: Kausal morpholo- gische Zellenstudien. — Sven von Hedin: Entdeckungen in Tibet. — Bücherbesprechungen: Ferd. Strauß: Naturgeschichts-Skizzenbuch. — O. Wiener: Der Zusammenhang zwischen den Angaben der Reflexionsbeobachtungen an Metallen und ihren optischen Konstanten. — Prof Dr. .\. Föppl: Vorlesungen über technische Mechanik. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. II. Potonie, Groß-Lichterfclde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge Vlll. Band; der ganzen Reihe XXIV. Band. Sonntag, den 20. Juni 1909. Nummer 25. Temperaturmessungen in tiefen Seen in ihrer Beziehung zur Klimatologie. INachdrnck verboten.] Von Prof. Dr. Halbfaß in Neulialdensleben. Die Menge der Niederschläge und die Hölie der Temperatur der Luft bestimmen das Klima einer Gegend in erster Linie. Die Temperatur der Luft zu messen ist sehr viel bequemer und mit geringeren Kosten verknüpft als die Tem- peratur der festen und flüssigen Teile der Erd- oberfläche zu bestimmen, obwohl es ja nicht den geringsten Zweifel leidet, daß die untersten Luft- schichten erst durch Rückstrahlung der Sonnen- wärme von festen und flüssigen Körpern in erster Linie erwärmt werden. Den bekannten physi- kalischen Eigenschaften der atmosphärischen Luft entsprechend ist ihre Temperatur schnellen Ände- rungen sowohl örtlich wie zeitlich unterworfen, ihre Verwertung für klimatologische Zwecke er- fordert auf alle Fälle ein reiches statistisches Material und langwierige Rechnungen. Der feste Erdboden wie das Wasser nehmen die Sonnen- wärme weit langsamer auf und geben sie lang- samer ab; kleinere, schnell vorübergehende Wärme- schwankungen verklingen daher in diesen Medien bald, stören daher den Ablauf größerer Wärme- schwankungen nicht. Seltener vorgenommene Messungen genügen also, um zeitliche und örtliche Änderungen in der Temperatur festzustellen. Die Wärmeaufnahme und Abgabe des festen Erd- bodens ist bekanntlich von seiner petrographischen Beschafienheit sehr abhängig, sie steht hier nicht zur Diskussion, auch nicht diejenige der Ozeane und der Flüsse, deren Temperaturen als Klima- messer weniger geeignet sind, da dort durch Strömungen, hier durch schnelle Bewegungen immer neues Wasser denselben Beobachtungsort durchfließt. Dagegen erscheinen Binnenseen, namentlich wenn sie eine beträchtliche Ausdehnung und eine bedeutende Tiefe besitzen, recht wohl geeignet, über die Summe der im Laufe eines Jahres oder mehrerer Jahre einer bestimmten Gegend der Erde durch die Sonne zugeführten und wieder in den VVeltenraum abgeführten Wärme und ihre jahreszeitliche Verteihmg exakte Auskunft zu geben, also als höchst wertvolle Klimamesser zu fungieren, sofern nur alle diejenigen Faktoren in Betracht gezogen werden, welche teils mit der Natur des Beckens und seiner näheren Umgebung, teils mit der Wechselwirkung des Seewassers mit der darüber befindlichen Atmosphäre im Zu- sammenhang stehen. Zunächst mag als allgemein bekannt die Tat- sache vorausgesetzt werden, daß sowohl die Tem- peraturen der einzelnen Wasserschichten, nament- lich auch der tiefsten, als auch des gesamten Wasservolumens großer und tiefer Seen nicht nur täglichen Schwankungen ausgesetzt sind, deren Existenz hier nicht in Frage kommt, sondern auch solcher, welche längere Zeiträume, Jahre, Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Friedrich Simon y, mit Forel der Schöpfer einer wissen- schaftlichen Seenkunde, hat bereits vor 50 Jahren diese Tatsache gelegentlich seiner Arbeit über die Seen des Salzkammergutes (Sitzungsb. d. kaiserl. Akad. d. Wissenschaftl., Math.-Naturw. Klasse, Bd. IV, Jahrg. 1S50) erwähnt. Eine Reihe mo- derner Seenforscher hat dieselbe bestätigt ge- funden und daraus Schlüsse gezogen , welche einander mehr oder weniger widersprechen, so daß es Angesichts der wissenschaftlichen Bedeu- tung der Frage, inwieweit Temperaturmessungen in Seen geeignet sind, klimatologische Fragen zu lösen, der Mühe wert erscheint, sie noch einmal aufzurollen und zu versuchen, sie auf Grund un- serer heutigen Kenntnisse auf diesem Gebiet zu beantworten. Der Modus, in welchem sich die Erwärmung eines Seebeckens im allgemeinen vollzieht, ist im großen und ganzen bekannt, freilich hat man erst in den letzten Jahren die Überzeugung gewonnen, daß in bezug auf Einzelheiten sich dieser Vor- gang in verschiedenen Seen ganz verschieden ab- spielt und daß die Behauptung, die einst Richter in seinen ,, Seestudien" aussprach, die Thermik der Seen sei als bereits abgeschlossenes Wissens- gebiet anzusehen, nicht richtig ist. Strahlung ist derjenige physikalische Vorgang, der die Er- wärmung und Abkühlung eines Sees in erster Linie reguliert bez. einleitet; die ausgezeichneten Arbeiten von Exner (in den Sitzungsber. der kaiserl. Akad. der Wissenschaften in Wien, Math.- Naturw. Klasse, Bd. 109, Juli 1900 und Bd. 117, Januar 1908) und von Schmidt (ebenda Bd. 117, Febr. 1908) haben diesen Vorgang experimentell hinreichend aufgeklärt, allerdings wesentlich nur hinsichtlich der Einstrahlung, weniger der ebenso wichtigen Ausstrahlung der Wärme, in welcher Beziehung wir wesentlich noch auf ältere Arbeiten von Grissinger, Richter, Forel u. a. angewiesen sind. Aber Einstrahlung wie Ausstrahlung er- strecken sich doch nur auf die obersten resp. oberen Wasserschichten, die weitere Erwärmung resp. Abkühlung spielt sich je nach Beschaffenheit des Seebeckens und seiner Umgebung, des in ihm enthaltenen Wassers und dessen Haushaltes, ver- schieden ab und wird endlich durch die allge- meine geographische Lage des Sees und die Be- schaffenheit der mit ihm in Verbindung tretenden Atmosphäre beeinflußt. Wir stehen hier einem ganz außerordentlich komplizierten Vorgang gegen- 386 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 25 über, den wir nur nach und nach zu entschleiern vermögen durch zahlreiche und sorgfältig ange- stellte Kinzelbeobachtungen und ihre kritische Zu- sammenfassung. Außer der eingestrahlten Wärme durch die Olierfläihe stehen eint-ni See in der Hauptsache I (jcli f.lgtiidt V\ .11 mi qufIK n zur \'ei lügiing : i.die Kigfiiwäi nie der Knie, Welche sich ulierrill dort be- nuikbar niacl!.fn k.uin, wo da-~ V\ asser nul der Erde m ihn ktf Heruhning intt. also vor allen Dingen am Hodfii, 2 die duich V\ aniicleitung übertragene Wäinu- lier Luft oberhalb des Sees, 3. die latente Wäi me, Welche an der Obi 1 fläche des Sees durch Kondensation von Wasserdampt frei wird, 4 die durch die Zuflüsse mitgebrachte Wärme, 5. die durch die Umsetzung der mechanischen Arbeit des Windes in Wärme, 6. die durch biologische und chemische Prozesse im Seewasser freiwerdende Wärme. Neben der Ausstrahlung in den Weltenraum tritt eine Abkühlung des Seewassers ein i. durch Leitung der obersten Wasserschichten an die kühlere Atmosphäre, 2. durch Zufuhr kälteren Flußwassers, 3. durch Bindung von Wärme an der Oberfläche des Sees gelegentlich der Ver- dunstung und des Schmelzens von Schnee- und Hagelmengen, die in den See gefallen sind. Die Mehrzahl dieser Vorgänge ist nicht dauernd wirk- sam, sondern nur unter besonderen, wechselnden Bedingungen. In Seen von gemäßigtem, noch mehr in solchen von tropischem Typus (s. u.), wird der Taupunkt der Luft oberhalb der Wasser- oberfläche nur selten die Temperatur des Wassers selbst überschreiten, es kann daher auch nur in Ausnahmefällen Wasserdampf aus der Luft durch den See selbst kondensiert werden, anders liegt die Sache bei Seen polaren Charakters ; aber auch manche Seen, die dem gemäßigten Typus ange- hören, wie z. B. der Superior in Nordamerika, nähern sich ihnen in dieser Richtung. Sehr viel häufiger und allgemeiner ist die Wirkung der Verdunstung, die die obersten, wärmsten Schichten des Sees in die Luft entführt und dadurch die Oberfläche beständig abkühlt. Das Problem der Größe der Verdunstung eines Sees ist ein altes und vielumstrittenes. Im zweiten Teil meiner Programmabhandlung: Klimatologische Probleme im Lichte moderner Seenforschung (Neuhaldens- leben 1908) habe ich der neuesten Versuche, Zahlenwerte für die Verdunstungsgröße zu finden, Erwähnung getan. Inzwischen hat man in Nord- amerika das Naturereignis, daß sich durch den Durchbruch des Coloradoflusses in Südkalifornien im Jahre 1906 ein großer See, der Saltonsee, von der doppelten Größe des Genfersees, künst- lich gebildet hatte, benützt, um im großen Maß- stab die Gesetze der Verdunstung über Seen zu studieren, welche in einem außerordentlich trocknen Klima liegen. Da der Zufluß sehr ge- ring ist, ein Ausfluß nicht vorhanden ist, so ist in etwa 10 — 20 Jahren das Austrocknen des Sees vorauszusehen. Die bisher bei diesen mit großen Kosten vorgenommenen Untersuchungen zutage getretenen Resultate hat Professor Bigelow in dem Monthly Weather Review, Juli 1907 und Febr. 1908, veröfl'entlicht. Die vorgenannten Wärme- resp. Kältequellen werden der Hauptmasse des im See vorhandenen Wassers in der Hauptsache durch Strömungen vermittelt, welche teils durch Ein- und Ausflusse, teils durch die Umlagerung ungleichförmig er- wärmter Wasserteilchen infolge ihres ungleichen spezifischen Gewichtes (Konvektionsströmungen), teils durch Schwingungen des ge.samten Wasser- volumens oder aliquoter Teile desselben (Seiches), endlich, last not least — durch den Einfluß des Windes entstehen. Der Wäimeinhalt eines Sees ist also das Re- sultat des Wechselspiels einer Reihe von Natur- kräften einerseits, der Lage und Beschaffenheit des Sees andererseits, wobei die Frage offen bleibt, welcher Teil mehr der gebende, welcher mehr der empfangende ist. Das Seewasser beeinflußt die Luft über der Seeoberfläche, und diese samt der festen Erde, in welche der See eingebettet ist, wiederum das Seewasser. Wollen wir also unser Thema, den Zusammenhang des thermischen Zu- stands tiefer Seen mit dem Klima des Landes, in welchem sie gelegen sind, festzustellen, durch- führen, so müssen wir die aufeinander einwirken- den Größen und Kräfte einzeln betrachten. Beginnen wir mit der allgemeinen geo- graphischen Lage eines Sees. Unter je höherem Breitengrad ein See liegt, desto schräger fallen im ganzen die Sonnenstrahlen auf seine Oberfläche und verlieren an Wirksamkeit, anderer- seits wirken aber die Sonnenstrahlen im Sommer länger und können dadurch unter Umständen mehr Wärme einstrahlen, als unter niedrigeren Breiten, in denen die Sonnenstrahlen zwar unter größerem Winkel einfallen, aber im Sommer weniger lange wirksam sind. Nimmt man noch hinzu, daß die Ausstrahlung während der langen Polarnacht — sit venia verbo — sehr viel größer ist als während des Winters in gemäßigten Breiten, so ist die Annahme von vornherein nicht von der Hand zu weisen, daß der Wärmeaustausch von Seen mit zunehmender Breite zunehme, ein Satz, den bekanntlich Forel auf Grund der simultanen Temperaturmessungen des Jahres 1900 aussprach (Arch. des Sciences Phys. et Nat. 4™'' per. t. 12, Juli 1901 und C. R. de l'Acad. des Sciences P'rangaise 6. Mai 1901), den ich selbst in meiner Arbeit „Die Thermik der Binnenseen und das Klima" (Peterm. Geogr. Mitt. 1905, Heft X) zu widerlegen suchte. Eine zweite Wirkung der geogr. Breite besteht in der Wärmeschichtung eines Sees. Es ist bekannt, daß Forel die Seen vom thermischen Standpunkt aus in tropische, polare und temperierte eingeteilt hat, je nachdem die Tiefentemperatur stets über 4*', oder stets unter 4", oder zwischen beiden Möglichkeiten wechselt. In tropischen Seen herrscht stets stratification directe, d. h. die Temperatur nimmt N. F. VIII. Nr. 25 Naturwissen.schaftliche Wochenschrift. 387 — von kleinen lokalen Abweichungen abgesehen — von oben nach unten stetig ab, in polaren Seen herrscht dagegen stets stratification inverse, die Temperatur ist oben stets niedriger als weiter unten, während in temperierten Seen den einen Teil des Jahres (meist Sommer und Herbst) das Wasser oben wärmer als unten, den anderen Teil des Jahres umgekehrt oben kühler als unten ist. Es versteht sich, daß die Länge beider Zeiträume bei temperierten Seen von dem allgemeinen Witte- rungscharakter des Jahres abhängt, woraus ganz von selbst folgt, daß unter Umständen tempe- rierte Seen den Charakter von tropischen Seen und polare Seen denjenigen von temperierten Seen annehmen können, während der umgekehrte Fall wohl sehr selten, wenn überhaupt, vorkommt. Natürlich können nur polare und temperierte Seen gefrieren, die Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieses Zustandes ist ceteris paribus für erstere selbstredend eine weit größere als für letztere, ebenso seine Dauer. Solange aber eine Eisdecke einen See vom Verkehr mit der atmosphärischen Luft zwar nicht völlig aber doch nahezu herme- tisch abschließt, hört Einstrahlung wie Aus- strahlung in den See und aus dem See so gut wie gänzlich und damit eine klimatische Ver- Vv'ertung des beinahe konstanten Wärmeinhalts von Seen von selbst auf Temperierte, in gesteigertem Maße polare Seen unterscheiden sich aber noch in einem zweiten Punkt von tropischen hinsicht- lich der Verdunstungs- und Kondensationsfähigkeit ihrer Oberfläche. Tritt nämlich stratification inverse ein, sind also die oberen Schichten kühler als die unteren, so ist auch die Lufttemperatur an der Oberfläche niedriger als im umgekehrten Fall und damit sinkt sowohl die Möglichkeit der Abgabe von W'asserdampf an die Luft, wie der Kondensation desselben an der Oberfläche der Seen. Je geringer aber Verdunstung und Kon- densation werden, desto weniger wird einerseits dem tiefer befindlichen, hier also wärmeren Wasser Gelegenheit gegeben, zur Oberfläche vor- zudringen, und desto geringer wird die latente Wärmemenge sein, welche bei der Kondensation von Wasserdampf an der Oberfläche des Sees sonst frei würde. Über die Größe dieser beiden Faktoren besitzen wir bis jetzt nur sehr wenige und unvollkommene Untersuchungen, auf keinen Fall aber darf man sie unterschätzen ; ihre Ver- ringerung wirkt auf den Wärmeinhalt von Seen mit direktem Temperaturcharakter anders, als auf Seen mit inverscm. Daß die Erwärmung von Seen mit der Höhe über dem Meer im allgemeinen abnimmt, leuchtet ohne weiteres ein; verwickelter sind die Be- ziehungen zwischen dem Wärmeinhalt und Ent- fernung vom Ozean. Kontinental gelegene Seen sind ceteris paribus gewiß größeren Temperatur- schwankungen ausgesetzt, als die in der Nähe des Meeres gelegenen, es scheint aber nach den Re- sultaten der Messungen in schottischen Seen, daß der Ozean die Wärmebildung in Binnenseen über- haupt begünstigt, aber wohl nur infolge metereo- logischer Zustände der Atmosphäre, über welche weiter unten die Rede sein wird. Die thermischen Verhältnisse eines Sees wer- den weiter durch seine nächste Umgebung sehr wesentlich beeinflußt. Ein zwischen hohen Bergen ganz oder teilv/eise eingeschlossener See ist natürlich weit weniger den Angriffen des Windes ausgesetzt d. i. desjenigen Agens, von dem die Temperaturverhältnisse seiner tieferen Schichten in erster Linie abhängen, als ein See mit flachen Ufern. Potenziert wird diese Wirkung, wenn in letzterem Fall der See in der Richtung der meist herrschenden Winde orientiert ist. In der warmen Jahreszeit bringt der Wind tiefere Schichten an die Oberfläche , um sie dort der Wärmeein- strahlung auszusetzen und dadurch eine weit energischere Durchwärmung der oberen und mittleren Schichten hervorzurufen, welche sonst der Strahlung nicht in dem Maße teilhaftig ge- worden wären. In der kühleren Jahreszeit liegt die Wirkung des Windes nicht so offensichtlich zutage; daß sie aber vorhanden ist, beweisen die ausgezeichneten Beobachtungen im Loch Ness in Schottland. Auf der anderen Seite werden die Oberflächenschichten von Seen mit steilen Ufern infolge von Rückstrahlung stärker erwärmt als diejenigen von Seen mit flachen Gestaden, nur macht sich diese Wirkung naturgemäß bei kleineren Seen deutlicher bemerkbar als bei größeren, ich darf in dieser Beziehung auf meine Temperaturmessungen in den Maaren der Eifel hinweisen ; einige weitere Beispiele findet man z.B. in Delebecque's ausgezeichnetem Werke „I.es Lacs Frangais", Paris 1898, das auch sonst als Fundgrube für thermische Beobachtungen zu nennen ist. Liegt ein See im Gebirge oder wenigstens in der Nähe höherer Berge, so ist auch die Wirkung des Bergschattens auf die Temperatur nicht von der Hand zu weisen, wenn- gleich es auch bisher an längere Zeit hindurch geführten Beobachtungen zu fehlen scheint. Die Einschränkung solarklimatischer Faktoren durch ein Bergprofil rechnerisch zum erstenmal nach- gewiesen zu haben ist dasVerdienst KarlPeucker's, des Leiters der Geographischen Anstalt Artaria und Co. in Wien und Verfassers namhafter grund- legender kartographischer Werke (vgl. Verh. des 12. deutschen Geographentags zu Jena 1897, S. 225 ff.). Dennoch weisen vereinzelte Messungen in Seen des Salzkammergutes und in den Meeraugen der Tatra darauf hin, daß die Temperatur der Oberfläche eines Sees und dadurch indirekt auch tieferer Schichten geringer ist in Seen, die unter dem Einfluß des Bergschattens stehen, als unter sonst gleichen Umständen in denjenigen, die von der Wirkung des Bergschattens frei bleiben. Wir kommen nun zu denjenigen Einflüssen auf die Temperatur, die mit der Beschaffenheit des Sees selbst im Zusammenhang stehen; sie sind besonders schwerwiegend und ihre Ver- 3S8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 25 nachlässigung bei der Abwägung der Wärme- verhähnisse mehrerer Seen gegeneinander rächt sich bitter. Da ist zunächst die mittlere Tiefe eines Sees zu beachten. Ich sehe hier gänzlich von seichten Becken ab, deren Wärmeinhalt viel zu schnell wechselt, als daß er klimatologisch ver- wertet werden könnte, aber auch die Wärmever- hältnisse tiefer Seen sind von der Konfiguration ihres Beckens wesentlich abhängig. Ein durchweg tiefer See, d. h. ein See mit großer relativer Tiefe, birgt in dem großen Volumen seiner tiefen Schichten ein Wärme- bzw. Kältereservoir, das nur sehr langsam und indirekt von den Ände- rungen in der Temperatur der Luft und anderen atmosphärischen Agentien in Mitleidenschaft ge- zogen wird und durch seine bloße Existenz auch die oberen Schichten des Sees zu langsamerer Annahme und Abgabe der Sonnenstrahlung nötigt, als dies bei Seen mit geringerer absoluter und relativer Tiefe der Fall ist. Auf dieser Tatsache beruht ja auch die bekannte Erscheinung, daß solche Seen unter sonst gleichen atmosphärischen Bedingungen viel später dem Zufrieren erliegen und daß sie, wenn sie überhaupt zufrieren, das ganz plötzlich erst am Ende des Winters zu tun pflegen, nachdem endlich die schwer beweglichen Massen der Tiefenschichten von den oberen Schichten aus genügend abgekühlt sind, wie das erst jüngst Wedderburn an einigen relativ tieferen Seen Schottlands gezeigt hat (Journal of Scottish Met. Soc. 3 ™« ser. Vol. XIV, N. XXV, Edin- burgh 190S). Natürlich bin ich nicht der Ansicht, daß die unteren, kälteren Schichten die höheren erwärmen könnten, wie das die Red. der Met. Zeitschrift 1908, Heft 11 in einer Fußnote zu einer Mitteilung von mir über vertikale Tem- peraturverteilung in Meeresteilen anzunehmen scheint, aber in flachen Seen kann die Wirkung der Sonnenstrahlen bis zum Boden des Sees reichen und ihn von da aus erwärmen, in tieferen Seen ist dies nicht möglich, und insofern verhin- dern die kalten- Tiefenschichten die Durchwärmung des Sees von oben. Die Gestalt des Beckens wirkt aber bei seiner Erwärmung nicht bloß durch die absolute Tiefe, sondern auch durch die Konfiguration besonders der oberen Schichten. Auch hier hat schon einst Simony in seiner oben zitierten Abhandlung das Richtige getroffen. Bei einem Vergleich der größeren Salzkammergutseen untereinander fiel Simony auf, daß die Anteilnahme der obersten Schichten an dem Gesamtvolumen starke Ab- weichungen aufwies. Es ist klar, daß bei Seen von folgenden — absichtlich übertriebenen — Längsschnitten eine Durchwärmung resp. Ab- kühlung bei einem See von der Form I schneller erfolgen wird, als wenn er die Form II oder III besitzt, obgleich die absolute Tiefe die gleiche ist und auch die mittleren Tiefen voneinander nicht erheblich abweichen werden. Man darf aber andererseits den Einfluß der größeren Erwärmung seichter Uferzonen während des Frühlings oder des Sommers nicht über- schätzen, wie dies seitens der Laien in limnologischen Dingen leicht geschieht. In Seen, die überhaupt hier in Betracht kommen, spielen die Randzonen gegenüber der Gesamtmasse des'Sees nur eine unbedeutende Rolle, infolgedessen kann weder in der wärmeren Jahreszeit das wärmere Wasser dieser Zonen wesentlich zur Erwärmung des ganzen Sees, noch in der kühleren Jahreszeit das auf einer niederen Temperatur als die Seemitte gesunkene Wasser die tieferen Schichten des Sees wesentlich abkühlen. Die oben gezeichneten Profile sind natürlich in der vertikalen Dimension gegenüber der horizontalen sehr bedeutend über- höht, um den Unterschied in der Konfiguration der obersten Wasserschichten recht anschaulich zu machen. Zahlreiche Beispiele zu diesen Erfahrungstat- sachen findet der Leser z. B. in Delebecque's oben angeführtem Werk, in Forcl's Leman und in anderen Schriften, die sich mit der Thermik der Seen befassen, u. a. auch in des Verf Arbeit über die „Thermik der Binnenseen" in Petermann's Geogr. Mitt. 1905, Heft X. Die gleichen Ver- hältnisse der Atmosphäre wirken also auf relativ flache und tiefe Seen ganz verschieden ein und daher erscheint es gänzlich unstatthaft, die Wärme- bilanz etwa des flachen Enaresees in Lappland mit der des Genfersees oder des Comersees ver- gleichen zu wollen, wie dies leider geschehen ist. Will man die Wärmeänderungen von Seen, die in verschiedener geographischer Breite liegen, miteinander vergleichen, um daraus klimatologische Schlüsse zu ziehen, so ist es also vor allen Dingen notwendig, nur Beobachtungen in solchen Seen zum Vergleich heranzuziehen, deren Abweichungen N. F. VIII. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 389 in der Konfiguration ihres Bodens wenigstens nicht allzu groß sind. Außer den Tiefenverhältiiisscn eines Sees hat man in zweiter Linie seinen Wasserhaushalt zu berücksichtigen. Selbst in abflußlosen Seen erneuert sich das Wasser beständig durch den Kinfluß einerseits, die Verdunstung andererseits, bei Seen mit einem oder mehreren Abflüssen sorgen außerdem noch diese für eine beständige Ersetzung des Seewassers durch Flußwasser. Über den Effekt dieser Erneuerung herrschen z. T. sehr übertriebene Vorstellungen. Der Wasser- haushalt von Seen zeigt nach dieser Richtung recht große Abweichungen und es mag daher nicht überflüssig erscheinen, einige darauf be- zügliche Zahlen hier anzuführen. Der Abfluß des Starnberger Sees entzieht ihm durch- schnittlich im Jahre 130 Mill. cbm, d. h. etwas über 4 V. H. seines Volumens, die Rhone dem Genfersee im Jahr rund 8 Milliarden cbm, d. i. nicht ganz 9 v. H. des Volumens, beim Lac d'Annecy ist dies Verhältnis dagegen 30 v. H., beim Lac du Bourget 10 v. H., beim Superior in Nordamerika nur etwa 5 v. H., beim Huronsee dagegen ca. 35 v. H. usw. Wie wirkt nun der Abflußvorgang auf den Wärmehaushalt eines Sees, wobei wir Seen mit schwachem Ein- und Aus- fluß, wie etwa den Starnberger See, nicht in Be- tracht ziehen wollen, weil in diesen ohnehin ihre Wirkung nahezu gleich Null sein wird. Im Früh- jahr wird das Oberflächenwasser des Sees in der Regel wärmer sein, als das Wasser der Zuflüsse, namentlich wenn dieselben von beträchtlich höher gelegenen Gegenden herkommen, letzteres sinkt daher bald unter, der Ausfluß entzieht dem See wärmeres Oberflächenwasser und verhindert ihn daher so an seiner Durchwärmung, je stärker er selbst im Verhältnis zum Wasservolumen und der Oberfläche des Sees ist. Dieser Zustand bleibt im wesentlichen im Laufe des Sommers bestehen, da auch in dieser Jahreszeit das Zuflußwasser meist kälter als das Oberflächenwasser sein wird. Mit Eintritt des Herbstes wird allmählich eine Änderung eintreten, das wärmer gewordene ein- fließende Wasser findet schon in geringerer Tiefe eine Zone Seewassers gleicher Temperatur, ver- mischt sich dort mit ihm, trägt aber zur Erwär- mung des Sees im ganzen wenig bei, da wenigstens in tieferen Seen die obersten Wasser- schichten bis auf eine mehr oder minder be- trächtliche Tiefe die gleiche Temperatur besitzen. Der Abfluß alteriert aus dem gleichen Grunde gleichfalls in dieser Jahreszeit den Wärmeinhalt des Sees wenig und man kann daher als Resultat feststellen, daß von größeren Strömen durch- flossene Seen unter sonst gleichen Umständen eine etwas kühlere Temperatur im ganzen be- sitzen, als solche mit schwachem Zu- bez. Abfluß, ein Resultat, das bereits vor 60 Jahren Simony beim Vergleich der Temperaturen des Traunsees mit dem Attersee im Salzkammergut gefunden hatte. Wie ich einem Bericht Professor Supan's über den Genfer Internationalen Geographenkon- greß (P. M. 1908, S. 213) entnehme, hat Brückner den gleichen Satz, daß wenigstens im Sommer die Temperatur der Alpenseen um so höher ist, je kleiner der Abfluß ist, aufs neue aufgestellt. Man kann auf Einzelheiten dieses Vortrags ge- spannt sein, vorderhand möchte ich Brückner's Ansicht nicht mit Supan eine Entdeckung nennen; ein Blick auf Simony's Abhandlung dürfte meine Anschauung bestätigen. Jedenfalls überragt der Einfluß der Morphometrie eines Sees den seines Abflußvorganges in der Mehrzahl der Fälle weit- aus. Da aber Ein- und Ausfluß naturgemäß namentlich bei stärker durchfluteten Seen großen Schwankungen unterliegen, so dürfte es sich jeden- falls empfehlen, letztere bei der Auswahl für Klimamesser möglichst auszuschalten, insoweit dies praktisch überhaupt angängig ist. Nicht wenige Seen, namentlich solche, die in Diluvial- gebieten gelegen sind, also z. B. die baltischen Seen in Rußland, Deutschland und Däne- mark und sehr viele nordamerikanische Seen, werden z. T. durch Grundwasser gespeist, dessen Temperatur meist mit derjenigen in der Tiefe der Seen übereinstimmt, also, im Frühjahr und Winter wärmer, im Sommer und Herbst kühler als das Wasser an der Oberfläche ist; der Ab- flußvorgang wirkt also im wesentlichen in gleicher Weise abkühlend wie bei Seen mit oberflächlichem Zufluß, jedoch weniger energisch, da die Er- wärmung bez. Abkühlung von unten nach oben langsamer erfolgt, als in umgekehrter Richtung. Neben den Tiefen- und Abflußverhält- nissen kommt bei den Eigenschaften des Sees selbst noch die chemische Beschaffenheit seines Wassers als dritter Faktor hinzu. Vor- wiegend trübes, an tierischem und pflanzlichem Leben reiches Wasser wird schneller erwärmt und bleibt auch wärmer als klares, plankton- armes Wasser, nur darf man dabei nicht ver- gessen, daß jene Eigenschaften meist erst die Folge der zuerst genannten Faktoren, namentlich der morphometrischen Gestalt des Sees sind, also schon durch sie zum Ausdruck kommen. Immerhin ist die Auslösung biologischer Prozesse, welche eine Erhöhung der Temperatur des Wassers im Gefolge hat, auch von der chemischen Zusammensetzung des im See enthaltenen Wassers, auch abgesehen von der Konfiguration des See- beckens, abhängig. Namentlich spielt hier der petrographische Charakter des Seebodens eine wichtige Rolle; Bourcat z. B., welcher sich in seinem preisgekrönten Werk über die Hochseen der Schweiz (Les Lacs Alpins suisses, etude chimique et physique, Genf 1906) die Aufgabe gestellt hatte, einen Zusammenhang der chemi- schen Beschaffenheit des Wassers der von ihm untersuchten Seen mit der chemischen und mine- ralogischen Beschaffenheit ihres Einzuggebietes zu finden, hat festgestellt, daß Seen, die im Urgebirge eingebettet sind, sehr viel weniger Trockenrück- stände enthalten als Kalkgebirgsseen, auch abge- 390 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. VIII. Nr. 25 sehen von ihren morphologischen Verhältnissen, und infolge davon klarer sind. Je klarer aber das Wasser eines Sees ist, desto stärker wächst seine Diathermanität gegenüber den Sonnen- strahlen, desto tiefer können letztere also in den See eindringen und ihn erwärmen. Es begegnen sich hier die Wirkungen des Bodens des Sees und seiner Umgebung mit denjenigen seines Wasserhaushaltes. Seen mit starken Zuflüssen besitzen trüberes Wasser als solche mit schwachen und erwärmen sich daher weniger intensiv als letztere, namentlich wenn die Zuflüsse ein großes Gefälle besitzen und viel Geröll und andere feste Bestandteile mit sich führen. Der Einfluß auf die Erwärmung des Sees würde sich noch stärker be- merkbar machen, wenn nicht, wie wir oben ge- sehen haben, das Flußwasser in den meisten Jahres- zeiten kühler wäre als das Oberflächenwasser, dadurch bald in tiefere Regionen sänke und die Oberfläche wieder von ihrem Einfluß befreit würde. Dennoch ist bei Vergleichungen der Wärmehaus- halte mehrerer Seen untereinander gerade auch auf diesen Umstand sorgfältig zu achten, um von vornherein falsche oder doch wenigstens unsicherere Resultate zu vermeiden. Alles in allem folgt wohl aus dem Gesagten, wie außerordentlich verschieden dieselben atmosphärischen Zu- stände auf den Wärmeinhalt eines Sees einwirken. In einer Bemerkung, die ich über die ausgezeichneten theoretischen Berechnungen von Schmidt über die Absorption der Sonnenstrahlung im Wasser (Sitzungsb. der kaiserl. Akad. der Wiss. in Wien, Math.-Naturw. Klasse, Bd. 117, Abt. IIa, Febr. 1908), in der Meter. Zeitschrift 1908, Heft 11, S. 516 machte, faßte ich die ganze Summe der eben ge- machten Erörterungen in den Satz zusammen, daß für den Physiker die Dicke einer Wasser- schicht für das Eindringen der Sonnenstrahlen und seiner Erwärmung allein maßgebend sei, für den Geographen oder Limnologen nicht, da es eben für die weitere Wirkung der Sonnenstrahlen ganz darauf ankommt, welchem See die Wasser- schicht angehört. Die Sonnenstrahlung leitet nur den Prozeß der Erwärmung eines Sees ein, insofern spielt sie allerdings in ihm die führende Rolle; ihre Fortsetzung aber ist von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig, die mit der Gestalt, Lage und Umgebung des Seebeckens und der Beschaffenheit des in ihm ent- haltenen Seewassers zusammenhängen. Mustern wir nun die die Erwärmung eines Sees modifizierenden atmosphärischen Begleit- erscheinungen, so kommen hier wohl in Be- tracht: der Grad der Bewölkung, die Menge der Niederschläge, die Stärke und die Richtung des Windes. Die Bewölkung schwächt zwar die Wirkung der Sonnenstrahlung erheblich ab, aber sie ver- hindert auf der anderen Seite auch die nächtliche Ausstrahlung, und wenn der Wärmeinhalt eines Sees sich als ein Ausgleich zwischen Einnahme und Verbrauch an Wärme darstellt, so ist die Frage, in welchem Verhältnis die Bewölkung den Wärmeinhalt vermehrt bzw. vermindert, all- gemein nicht zu beantworten. Im nahen Zu- sammenhang mit dem Grad der Bewölkung steht natürlich die Menge der Niederschläge. Bei einer länger anhaltenden Regenperiode wird das Wasser, wenigstens der oberen Schichten, gleich- mäßiger durchwärmt als während einer längeren Trockenzeit; ob die Gesamtwärme dabei zu- nimmt, hängt wesentlich von der Jahreszeit ab, in welcher die Niederschläge fallen. Wie meine längere Zeit einst am Arendsee durchgeführten Beobachtungen nachweisen, erhöhen im allge- meinen .Sommerregen den Wärmeinhalt eines Sees, nur darf man sich diese Zunahme nicht zu groß denken. Im großen und ganzen nimmt bei zu- nehmender Bewölkung und bei starken Nieder- schlägen der Feuchtigkeitsgehalt der Luft zu, die Verdunstung an der Wasseroberfläche daher meist ab. Die Verdunstungsgröße aber, welche ja in allen tropischen Seen und zu den meisten Jahres- zeiten auch in den temperierten Seen die Wärme- menge eines Sees verringert, da sie den obersten, wärmsten Schichten entnommen wird, wird von anderen Faktoren noch mehr beeinflußt, nämlich abgesehen von der Lufttemperatur von der Stärke und Richtung des Windes. Dieser atmosphäri- sche Faktor ist es übrigens auch, der auf die Ge- samtwärme eines Sees die allergrößte Wirkung ausübt, aus dem einfachen Grunde, weil sein Ein- fluß sich nicht bloß auf die obersten Wasser- schichten erstreckt, wie Bewölkung und Nieder- schläge, sondern auch auf tiefe Wasserschichten, wahrscheinlich, wie die vortrefflichen Unter- suchungen des schottischen Lake Survey am Loch Ness gezeigt haben, bis auf den Grund selbst tiefer Seen, wie z. B. beim Loch Neß selbst, der eine absolute Tiefe von 238 m erreicht. Den Einfluß des Windes auf die Temperatur von Seen hat nach Forel der bekannte Oceanograph Sir John Mur ray (On the Effects of Winds in the distribution of temperature in the sea- and fresh- waters lochs of the West of Scotland, Scott. Geogr. Magaz., vol. IV, p. 888) ausführlich dargestellt. Die Tätigkeit des Windes in thermischer Be- ziehung erstreckt sicli nach 2 Richtungen. Zu- nächst fördert sie die Verdunstung und kühlt da- durch die obersten Wasserschichten ab, wir haben dieser Wirkung bereits in anderem Zusammen- hang mehrfach Erwähnung getan. Zum anderen aber bringt er tiefer gelegene Wasserschichten an die Oberfläche und trägt, da dieselben meist kühler sind, zur Erwärmung des Sees im ganzen bei, wobei etwas auch auf das Konto der Wärme kommt, welche bei Umsetzung der lebendigen Kraft der Bewegung des Windes frei wird. Dieser Erfolg pflegt sich aber meist nur einzustellen, wenn ein Wind längere Zeit hindurch in der- selben Richtung weht. Daß der Wind nicht selten eine momentan bedeutende Abkühlung des Wassers N. F. VIII. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 391 hervorrufen kann, dafür bieten z. B. die Beobach- tungen der amerikanischen Meteorologen an den großen Seen des St. Lorenzstromes, namentlich am Michigansee, und diejenigen F"orers am Genfersce sehr zutreffende Beispiele. Forel be- obachtete am 24. Juli 1879 am Genfersee in der Breite von Ouchy eine Oberflächenteniperatur von 18,1 bis 19,6*, während gleichzeitig unter Einwirkung eines heftigen Südwestwindes im Hafen von Genf nur 9,1" gemessen wurden; Delebecque bestimmte am 6. August 1895 um 4 Uhr nach- mittags die Oberflächentemperatur bei Genf zu 7,6", während in Vevey 3 Stunden später 18,7", d. h. ii,i" mehr gemessen wurde. Diese ab- kühlende Wirkung der Winde ist aber nur vor- übergehend, mag sie auch wie am Genfersee ein- mal mehr als 4 Tage ununterbrochen gedauert haben. Das Hinabtauchen der plötzlich abge- kühlten Oberflächenschichten unter die wärmeren, tieferen muß notwendig über kurz oder lang einem Wiederauftauchen Platz machen. Die Be- obachtungen am Loch Ness haben aber unzweifel- haft ergeben, daß die Wirkung regelmäßig wieder- kehrender Winde namentlich dort bis in die größten Tiefen eines Sees nachgewiesen werden konnte, wo die vorherrschende VVindrichtung mit der Hauptlängsrichtung des Sees zusammentraf, und daß sogar die Temperatur in einer be- stimmten Tiefe periodischen Schwankungen unter- liegt, deren Dauer außer von der Temperatur des Wassers auch von der Länge und Tiefe des Sees abhängig ist. Wenn dagegen der See keine aus- gesprochene Längsrichtung oder ein verwickeltes Relief, z. B. an einer bestimmten Stelle Einschnü- rungen besitzt, welche das Becken in Teile un- gleicher Größe und Tiefe teilen , so bleibt zwar immer noch die Temperatur in bestimmter Tiefe Schwankungen ausgesetzt, die unter Umständen eine beträchtliche Größe annehmen, aber eine bestimmte Periode scheint, wie das Beispiel des St. Wolfgangsees zeigt , dann entweder gar nicht einzutreten, oder sie ist, analog den dichroten Schwingungen der Seiches, mit denen sie schon Watson, der erste Entdecker dieser Wärme- schwankungen, verglichen liat, nicht leicht zu er- kennen. Bewölkung, Niederschlag und Regen modifizieren in mannigfacher Art den Wärme- inhalt eines Binnensees; er ist also nicht nur von der Sonnenstrahlung, sondern auch von jenen atmosphärischen Begleiterscheinungen abhängig; ein regnerischer Sommer, ein durchgehend be- wölkter Winter wird in einem See ganz andere Wärmemengen als Restsumme der Ein- und Aus- strahlung der Wärme zurücklassen, als ein heiterer Winterhimmel, eine längere Trockenperiode etwa im Herbst. Die Wärmebildung eines Sees legt also Rechenschaft ab nicht bloß von der Tem- peratur, sondern von den gesamten klimatischen Verhältnisse der betreffenden Gegend ; sie spiegelt sie getreulich wieder. Es geht aber aus dem Gesagten hervor, daß die Temperaturen eines Sees in seinen verschiedenen Tiefen eben durch jene Einflüsse der Atmosphäre, auch außer der wechselnden Sonnenstrahlung, namentlich durch die des Windes, beträchtlichen, wenn auch nur vorübergehenden Schwankungen unterliegen, welche, wenn man sie nicht in Betracht zieht, leicht ein falsches Bild von der Gesamtwärme eines Sees liefern; und auf diesen Punkt möchte ich jetzt die Aufmerksamkeit des Lesers lenken. Mißt man in einem größeren See die Tem- peratur an einer bestimmten Stelle, so ist damit noch durchaus nicht die Temperatur des Sees an allenStellen gleicher Tiefe gefunden. An der Ober- fläche eines Sees erwärmen sich die dem Ufer näher gelegenen Partien geringerer Wassertiefe schneller als seine zentralen Teile; aus dem gleichen Grunde kühlen sie sich auch schneller ab, wenngleich die Differenzen wohl nur selten so große Beträge er- reichen, wie die vom Superior in Nordamerika, wo N. G. Conger im Sommer 1894 an der Oberfläche Temperaturunterschiede von mehr als 11" C zwischen Randgebiet und Seemitte fand, und zwar nicht etwa bloß kurze Zeit, sondern den ganzen Juli und August hindurch. Während im Rand- gebiet des Superior die jährliche Temperatur- schwankung rund 15" C betrug, vermindert sich diese Amplitude für die Seemitte auf etwa die Hälfte. So große Differenzen, die hauptsächlich auf die durchweg flache Umgebung des Sees zurückzuführen sind, welche den oft sehr heftig wehenden Winden schonungslos den Zutritt zum See selbst gewährt, erschweren allerdings jede rationelle Berechnung der Wärmeeinnahme und -ausgäbe eines Sees sehr bedeutend, aber auch in denjenigen Fällen, in denen die Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen des Sees in der- selben Tiefe weniger gering sind, muß auf diesen Umstand sorgfältig Rücksicht genommen werden. Man wird ja in erster Linie immer den in der Seemitte gemessenen Temperaturen den Vorrang vor den in der Nähe des Ufers bestimmten zuer- kennen, da ja bei größeren Seen — und nur um diese handelt es sich ja in dem vorliegenden Fall — die Uferpartien an Umfang hinter dem eigent- lichen freien See weit zurückstehen, aber schwierig wird die Rechnung doch in den gar nicht seltenen P"ällen, in denen ein See aus mehreren Becken ungleicher Tiefe besteht, deren Temperaturen naturgemäß den größten Teil des Jahres, in der- selben Tiefe gemessen, voneinander abweichen. Ein klassisches Beispiel bildet hier der Vier- waldstättersee. Die in den Jahren 1899 und 1900 durch die limnologische Kommission der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft in verschiedenen Teilen dieses Sees simultan ausgeführten thermi- schen Lotungen haben ergeben, daß der flachste Teil des Sees, das Luzerner Becken, ganz wesent- lich andere Temperaturen in derselben Tiefe auf- wies, als das beträchtlich tiefere Weggiser Becken, und dieses wiederum andere als das noch tiefere Gensauer- und das F'lüeler Becken. Im kleinen 392 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 25 konnte einst Ule dieselben Beobachtungen im Gr. Plönersee, ich selbst im verstärkten Maße im Dratzigsee in Hinterpommern machen. Meines Erachtens lassen sich die dadurch entstehenden rechnerischen Schwierigkeiten nur so lösen, daß man die gemessenen Temperaturen mit einem räumlich beschränkten Gebiet des ganzen Sees in Beziehung bringt und dadurch erst eine mitt- lere Temperatur in der betreffenden Tiefe gewinnt, ein Verfahren , d5s ich bereits in der oben er- wähnten Abhandlung in Peterm. Mitt. 1905 an- gewandt und bei meiner dem Genfer internatio- nalen Geographentag 190S eingereichten Arbeit wiederholt habe. Natürlich setzt dieses Verfahren voraus, daß wirklich an morphometrisch verschiedenen Teilen des Sees zugleich von mehreren Beobachtern die Temperatur ermittelt wurde. Auch in denjenigen Fällen, in denen durch regelmäßig oder unregel- mäßig wehende Winde periodisch wiederkehrende Schwankungen der Temperatur in derselben Tiefe hervorgerufen werden, erscheint eine simultane Beobachtung an verschiedenen Stellen des Sees aus naheliegenden Gründen durchaus nötig, eine Forderung, welche bei den thermischen Unter- suchungen im Loch Ness durch die Schottische Lake Survey in musterhafter Weise erfüllt wurde. Der umfangreiche von Wedderburn herausgegebene Bericht über diese Untersuchungen „The tempe- rature of the Fresh-Water lochs of Scotland" findet sich in den Transactions of the Royal Society of Edinburgh Vol. 45, Part II, Nr. 16, Edinburgh 1907. Diese Untersuchungen sind meines Er- achtens die ausführlichsten und vollkommensten thermischen Lotungen, die je in einem Binnensee der Erde bis jetzt ausgeführt wurden ; wir haben auf dem Kontinent keine Arbeit, welche dieser an die Seite gesetzt werden könnte, da auch Forel's sich über einen weit größeren Zeitraum er- streckenden Messungen simultan auf verschiedene Teile des Sees sich bezogen. Wir haben bereits oben bemerkt, daß die durch Winde hervorgerufenen Denivellationen thermischer Ebenen periodisch sind, die gleichen Temperaturen daher annähernd innerhalb in derselben Zeit wieder- kehren, es sind daher zur Feststellung des Wärme- inhalts von Seen mehrere Beobachtungstage nötig, da erst so der mittlere Wert der Temperatur in be- stimmter Tiefe an einer bestimmten Stelle ermittelt werden kann. Es müssen also eine Anzahl Be- obachter mehrere Tage hindurch thermische Lotungen veranstalten, was auf den ersten Blick ein recht umständliches und kostspieliges Ver- fahren darzustellen scheint. Glücklicherweise ist die Technik der Wärmemessung in Seen jetzt so weit fortgeschritten, daß man bis zu einem ge- wissen Grade die Arbeit den Menschen abnehmen und dem elektrischen Strom überlassen kann, der selbsttätig die vorhandenen Temperaturen regi- striert bzw. durch Änderung der elektrischen Wider- stände anzeigt. Die schottischen Limnologen haben bei ihren Untersuchungen im Loch Ness von diesem Verfahren bereits weitgehenden Gebrauch gemacht. Übersehen wir auf Grund der mitgeteilten Erwägungen die Möglichkeit, die jeweils in Seen aufgespeicherten Wärmemengen als Klimamesser für verschiedene Gebiete der Erde und in ver- schiedenen Zeiten zu benutzen und sie örtlich wie zeitlich miteinander zu vergleichen, so müssen wir doch auf der anderen Seite zugeben, daß sich eine große Zahl von Seen hierfür nicht eignet. Auszuscheiden sind Seen mit geringer absoluter resp. relativer Tiefe , mit geringem Areal , ferner solche, von denen keine einigermaßen exakte riefenkarten vorhanden sind. Auch dürfen sie sich weder in der vorherrschenden Windrichtung vor- wiegend erstrecken, noch vonsolchenStrömendurch- flossen sein, deren Zufluß- bzw. Abflußmengen einen beträchtlichen Bruchteil des Gesamtvolumens des Sees ausmachen. Will man die Wärmebilanzen von Seen miteinander vergleichen, so muß man ihre geographische Lage, die Beschaffenheit ihrer Umgebung und ihre eigene, nach Morphometrie, Wasserhaushalt und chemischer und biologischer Eigenschaft des Seewassers und die Richtung der vorherrschenden Winde in Betracht ziehen. Ein Unterlassen dieser Vorsichtsmaßregeln führt sehr leicht zu ganz falschen Schlüssen. Weder darf z. B. die Wärmebildung des Loch Katrine mit der des Genfersees ohne weiteres verglichen werden, denn sie sind morphometrisch sehr verschieden, noch die des Bodensees mit der des Ochridasees wegen ihres abweichenden Wasserhaushaltes, noch endlich die des Bolsenasees mit der des Loch Ness, denn ihre Lage zu dem dominierenden Winde verbietet das usw. Will man freilich nur den Wärmezustand eines und desselben Sees eine Reihe von Jahren hin- durch zu derselben Jahreszeit vergleichen, so fallen die zuletzt erwähnten Bedenken im wesentlichen fort und die Aufgabe kommt in der Hauptsache darauf hinaus, durch Vorversuche diejenigen Zeit- momente zu finden, in denen Minimum und Maximum der Wärmeinhalte vorhanden sind. Dagegen ist es nicht ganz leicht, Seen namhaft zu machen, welche den Bedingungen für geeignete Vergleichsobjekte als Klimamesser verschiedener Gegenden völlig Genüge leisten; noch schwieriger ist es, wie ich aus eigenster Erfahrung bestätigen kann, für solche Seen geeignete Beobachter in genügender Zahl zu finden, selbst in dem Falle, wo sie in gut bevölkerter Gegend liegen oder von größeren Städten aus leicht er- reichbar sind. Als besonders geeignete Seen möchte ich aufzählen: Mjösen in Norwegen, Vettern in Schweden, Ladogasee in Rußland, Loch Morar in Schottland, Vierwaldstättersee, Bodensee und Genfersee in der Schweiz, Attersee in Öster- reich, Comersee, Gardasee und Bolsenasee in Italien, Ochridasee in Mazedonien; außerhalb Europas: Njassasee in Afrika, Issikkul und Baikalsee in Asien, Oberersee, Kratersee, Tahoesee, Titicacasee N. F. VIII. Nr. 25 Naturwisseii.schaftliche Wochenschrift 393 in Amerika, Wakatipu und Monapouri in Neu- seeland. Einige der genannten Seen besitzen allerdings eine absolut starke Durchflutung, sie kann aber im Verhältnis zu dem Volumen der betreft'cnden Seen nur gering genannt, also bei ihrer thermischen Verwertung nahezu vernach- lässigt werden. Eine Reihe anderer Seen wäre für den vorliegenden Zweck recht wohl geeignet, leider sind aber ihre Tiefenverhältnisse noch zu wenig bekannt, um sie schon jetzt in die Liste aufzunehmen. Mühsam und auch kostspielig gestaltet sich allerdings die thermische Überwachung von Binnenseen , doch muß uns die Überzeugung trösten, daß es zuverlässigere und übersichtlichere Klimamesser auf der Erde nicht gibt. Es gilt sie zu gebrauchen und der Wissenschaft nutzbar zu machen. Kleinere Mitteilungen. Leiden und Heilung der Tuberkulösen. — Die Tuberkulose wird durch Tuberkelpilze her- vorgerufen. Diese Prämisse vorauszuschicken ist nicht so überflüssig, wie es manchem der Leser vielleicht erscheinen dürfte, da immer wieder, selbst von verdienstvollen Ärzten, die Behauptung erhoben wird, Bazillen seien etwas Sekundäres, die erst nach erfolgter Erkrankung im Körper sich einfinden um dort zu schmarotzen. Bestärkt werden diese Herren in ihrer Meinung durch die häufig sich widersprechenden Angaben der Forscher des anderen, ungleich größeren Lagers, und ihre nur zu häufigen Mißerfolge. Etwas Besseres aber hat noch keiner von den Gegnern der Bazillen- lehre zu schaffen vermocht ; sie lassen die Frage nach dem Kontagium, dem ansteckend wirkenden Stoff", und der Ursache der Erkrankung offen. Schon bei der Untersuchung, wie die Bazillen in den Körper, speziell in die Lunge, gelangen, trennen sich die Meinungen der Forscher. Früher war man allgemein der Überzeugung, daß die Bazillen von der Mundhöhle aus durch den Luft- strom in die Bronchien eingesogen werden, sich hier festsetzen und ihre verheerende Tätigkeit beginnen. Da trat Aufrecht (Die Genese der Lungentuberkulose. Verhandlungen der deutsch, pathol. Gesellsch., Hamburg 1901) mit der Theorie hervor, daß die Bazillen nicht direkt in die Bronchien mit der eingeatmeten Luft gelangen, sondern durch die Tonsillen, das sind Lymph- drüsen an der Grenze der Mundhöhle und der Luftröhre, in die Lymphbahn und von dieser in die Blutbahn übertreten, dann durch das Herz und die Arteria pulmonalis in die Lunge gelangen. Im Herzen und den größeren Blutbahnen finden die Bazillen keine Gelegenheit sich festzusetzen, in den Lungen aber haften sie dort, wo die Blut- bewegung infolge der schwächeren Atmung am kleinsten, das sind die Lungenspitzen. Hier findet sich bei weitem am häufigsten die primäre Lungen- tuberkulose, von diesem Hauptquartier unter- nimmt sie ihre Streifzüge in den ganzen Körper. Aus der Tatsache, daß dort, wo die Atmung am schwächsten ist, am ehesten tuberkulöse Herde entstehen, folgt, daß die beste prophylaktische Maßregel für alle Skrofulösen und solche, die eine schwache Lunge besitzen, eine regelmäßig durch- geführte Lungengymnastik ist, wie sie auch in vielen Lungenheilstätten geübt wird: täglich 3—4 mal in möglichst guter Luft etwa 20 mal hintereinander sehr tief Luft holen. Aufrecht's Theorie erklärt auch den Umstand, daß gerade skrofulöse Menschen der Tuberkulose mehr ausgesetzt sind, weil sich bei solchen Indi- viduen die sämtlichen Drüsen in einem chronischen Schwellungszustand befinden. Sie hat sehr viele Anhänger gefunden. Es braucht wohl nicht besonders hervorge- hoben werden, daß tuberkulöse Herde überall im Körper gefunden werden; besonders häufig in den Lymphdrüsen der Brust- und Bauchhöhle, dann aber auch in der Milz, Leber, Schilddrüse, Prostata, dem Darm und den Nieren. Außer der Infektion per os kann man sich eine tuberkulöse Erkrankung auch durch Ein- dringen der Bazillen in eine Wunde zuziehen. Die Hauterkrankung heißt Lupus. Durch die ge- sunde Haut v^ermögen die Pilze nicht zu dringen, ebensowenig wie die Syphiliserreger oder andere derartige Bazillen. Viel wichtiger aber wie die Infektion durch ein Trauma ist die erbliche Tuberkulose. Wenn auch F"älle bekannt sind, wo I'öten unleugbare Zeichen von Tuberkulose tragen, so neigt man doch heute dazu, die schon im Mutterkörper vollzogene Infektion als etwas Seltenes anzusehen, im Vergleich zu der unendlich viel größeren Zahl der Fälle, wo die Krankheit erst post partum durch den täglichen Umgang, beson- ders das Säugen und Kassen, übertragen wird. In den Fällen einer fötalen Tuberkulose wird meist das Ei als Träger des Infektionskeims an- gesehen. Daß auch die Spermien diese Eigen- schaft besitzen, behaupten die einen, leugnen die anderen, erscheint dem Unbefangenen aber ganz natürlich, da doch so viele andere normale und pathologische Eigenschaften des Vaters auf den Sohn sich vererben. Jedenfalls ist es eine furchtbare Wahrheit, daß in ärmeren Familien bei Tuberkulose des Vaters oder der Mutter fast kein vollständig gesundes Kind erzielt wird. Wie viele Familien des Ar- beiterstandes unter der Krankheit zu leiden haben, kann man daraus ersehen, daß in Berlin 15 F"ür- Sorgeschwestern für Lungenkranke tätig sind, deren jede etwa 800 arme Familien zu versorgen hat. Und gewiß ist dies nur ein kleiner Teil aller der Fürsorge Bedürftigen. Hat man Gelegen- heit das Elend in solchen Familien zu sehen, so 394 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 25 findet man es wohl begreiflich, daß der Vorschlag ein Heiratsverbot für Tuberkulöse zu erlassen schon ernstlich erwogen wurde. Bei dem großen Interesse, das die Tuberkulose bei den Ärzten hervorruft, ist es selbstverständlich, daß viele Arbeit und Mühe darauf verwandt wurde, um sichere Mittel zu finden, die Krank- heit in möglichst frühem Stadium zu diagnosti- zieren. Man untersuchte das Sputum (Speichel) der Kranken und fand in ihm die schon ein- gangs erwähnten Bazillen, und zwar häufig zu einer Zeit, wo die klinischen Symptome keine sichere Diagnose erlaubten. Ebenso findet man bei Kranken im Harn meist Bazillen, selbst wenn die Nieren und die ableitenden Harnwege keine tuberkulösen Veränderungen zeigen. Fällt die Untersuchung negativ aus, so ist doch der Erfolg des Tierexperiments noch abzuwarten. Injiziert man nämlich den Harn einem Meerschweinchen intraperitoneal, so treten typische tuberkulöse Ver- änderungen in den Lymphdrüsen des Bauches auf, falls die Injektionsflüssigkeit Tuberkel enthielt. Außer diesen relativ einfachen Methoden sind auch kompliziertere erfunden; so fand Pavillard, daß die Zahl der Leukocyten, der weißen Blut- körperchen , sich proportional dem Grade der Intoxikation ändere. Da einige Forscher dem widersprechen, so sei hier hervorgehoben, daß die Probe nur gelingt bei genauester Befolgung der vom Autor gegebenen Vorschriften. Die ge- ringste Abänderung kann zu völlig anderen Re- sultaten führen. Dasselbe gilt von allen jetzt zur Besprechung gelangenden Verfahren. Sie alle haben Gegner. Diese Methoden sind alle noch jung und bedürfen mancher Verbesserung. Zweifellos aber sind sie genial ausgedacht, und die vielen Erfolge, die mit ihnen erzielt sind, sprechen dafür, daß sie in geübten Händen ein unschätzbares Hilfsmittel bilden, allerdings eben nur ein Hilfsmittel, denn es dürfte wohl kein Kliniker zu finden sein, der auf eine positiv aus- gefallene Probe hin ohne sonstige Anhaltspunkte die Diagnose Tbc zu stellen wagte. Erst wenn mehrere zusammenfallen, kann man rechnen, daß jeder Zufall ausgeschaltet ist. Ein ähnliches Ge- setz wie Pavillard stellte W i d a 1 auf, nämlich daß in allen ätiologisch verschiedenen Ergüssen die darin enthaltenen festen Bestandteile in ent- sprechend verschiedenen Proportionen auftreten. Dies Gesetz ist von großem Wert für die Beant- wortung der Frage, ob ein wäßriger Erguß in der Brusthöhle tuberkulöser Natur ist, oder viel- leicht von einer Brustfellentzündung stammt. Ebenso wie das zahlenmäßige Verhältnis der roten und weißen Blutkörperchen Veränderungen unter- worfen ist, ändert sich auch ihr chemisches Ver- halten, und zwar soll die Alkaleszeiiz bei gesun- den Individuen größer sein als bei tuberkulösen. Sehr interessant ist das Arloing-Cour- mont'sche Verfahren. Es befinden sich die Tuberkelbazillen gewöhnlich im sog. Agglutina- tionszustand, d. h. sie sind in Haufen von morula- Form zusammengeballt. Bringt man sie aber in geeignete Glyzerinlösung, so erhält man ihre homogene Emulsion, das ist eine Lösung, in der die Bazillen isoliert und gleichmäßig verteilt her- umschwimmen. Mischt man nun Blut oder Serum von dem zu untersuchenden Individuum mit der homogenen Lösung, so erfolgt bei Gesunden keine Veränderung, bei Tuberkulösen tritt im Lauf von 24 Stunden Agglutination ein, die Bazillen ballen sich zusammen und sinken als weißer Satz zu Boden. Dies Verfahren ist jedoch noch der Er- weiterung bedürftig, da wahrscheinlich auch bei einigen nicht tuberkulösen Erkrankungen Ag- glutination eintritt. Bei welchen, bleibt noch zu untersuchen, ebenso ob sich vielleicht Unterschiede konstatieren lassen in der Art und Weise, wie die Reaktion erfolgt. Auch den Laien ist dem Namen nach das Tuberkulin bekannt. Es gibt davon mehrere Ab- arten, die sich jedoch nicht so wesentlicli vonein- ander unterscheiden, als daß sie hier nicht unter einem Namen zusammengefaßt werden könnten. Im wesentlichen ist es auch nur ein diagnostisches Hilfsmittel. Nachdem etwas T (0,001 — 0,002 g des Koch'schen Präparates) subcutan injiziert ist, bemerkt man bei positiven, d. h. infizierten Indi- viduen in 2 Stunden eine Temperatursteigerung und lokale Entzündung. Im übrigen ist das Ver- fahren vollkommen ungefährlich. Gesunde ver- tragen Injektionen bis zu 0,5. Auch als Heil- mittel wird das T verwendet. Der Gedanke, der hierbei Koch leitete, ist folgender: Impft man Tiere mit allmählich sich steigernden Dosen des Giftstoffes, so wird sich im Leibe des Tieres ein Antitoxin bilden, das Tier wird immun. Diese Berechnung täuscht nicht, denn durch Impfungen mit dem Serum durch T immunisierter Tiere sind viele Heilungen bewirkt worden. Allerdings eignet sich nicht jeder Fall von Tuberkulose zur Behandlung mit T. Erstens müssen diese Kranken fieberfrei sein, zweitens ist dies Heilmittel für die große Masse der Kranken kaum zu verwerten, da ein mit Tuberkulin behandelter Kranker unter ständiger Kontrolle des Arztes stehen muß, also am besten in ein Sanatorium geht. Auch eine andere, von französischen Ärzten angegebene Heilmethode eignet sich wenig für das größere Publikum. Danach soll der Patient täglich gegen zwei Pfund rohes F"leisch essen. Viele französische Autoritäten bestätigen die dar- aufhin erfolgte Heilung oder Besserung. Eine prophylaktische Wirkung kommt dieser „Zomo- th erapie" jedenfalls nicht zu. In der neuesten Zeit werden in Frankreich Meerwasserinjektionen vorgeschlagen. Das älteste und bis zur besseren Ausbildung der Tuberkulinbehandlung sicherste , vor allem billigste Heilmittel ist der Aufenthalt in einer Lungenheilstätte. Darum werden jährlich Scharen von skrofulösen und tuberkulösen Menschen an die See und in Waldgegenden verschickt. In Deutschland gibt es augenblicklich über 225 Lungen- N. F. VIII. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 395 heilstätten. Die Ausgaben für die Tuberkulösen wachsen beständig: im Jahre 1900 wurden 7000 Kranke unter 1 1 000 mit einem Kostenauf- wand von 3,7 Millionen geheilt; im Jahre 1907 16000 unter 23500 Patienten mit einem Aufwand von 8,4 Millionen Mk. Insgesamt konnten in den Jahren 1900— 1904 60000 Kranke, die inständige Behandlung genommen waren, als geheilt ihrem Beruf zurückgegeben werden. S. R. Der Mensch der Eiszeit im Alpengebiete. — Der Abschluß der umfangreichen Untersuchun- gen über die eiszeitlichen Ablagerungen der Alpen und ihrer Vorlande, deren Ergebnisse in dem nunmehr vollständig erschienenen preisgekrönten Werke von Penck und Brückner, Die Alpen im Eiszeitalter, uns vorliegen, hat auch zum ersten Male eine Einreihung einer ganzen Reihe der wichtigsten prähistorischen Pfunde, namentlich Frankreichs und der Schweiz, in die Chronologie des Eiszeitalters ermöglicht. Wir stützen uns im folgenden auf die Angaben des genannten Werkes und eigene, auf diesem Ge- biete angestellte Studien. Für das Eiszeitalter kommt nur die paläolithi- sche Werkzeugindustrie in Betracht, die jüngere Steinzeit beginnt erst in der geologischen Gegen- wart, dem Alluvium. An den zahlreichen paläo- lithischen Fundplätzen, welche in der Nähe der Alpen , namentlich auf der West- und Nordseite derselben, bekannt geworden sind, kommen die menschlichen Artefakte zumeist zusammen mit den Resten einer Tierwelt vor, welche drei zoo- geographisch verschiedenen Elementen angehört. Es sind hochalpine mit arktischen und kontinen- talen Formen gemischt. Diese arkto-alpin- kontinentale Fauna wird am besten charak- terisiert durch die drei Arten: Murmeltier, Renntier und Pferd. Daneben kommen als häufige Formen vor von alpinen Arten : Stein- bock, Gemse, Alpenhase ; von arktischen Arten : Vielfraß, Eisfuchs, Moschusochs und von konti- nentalen Formen : Urochs, Wisent und eine Reihe kleiner Steppennagetiere. Dazu gesellen sich sehr häufig die beiden bekanntesten, heute ausgestor- benen Tiere des Diluviums: das Mammut und das wollhaarige Nashorn. Endlich kommt zusammen mit dieser Fauna eine Anzahl größerer Raubtiere vor, von denen der Höhlenbär die wichtigste, zuweilen in ungeheuerer Menge auftretende Er- scheinung ist. Man hat früher geglaubt, daß diese charakte- ristische Fauna nur einmal, und zwar in jung- diluvialer Zeit, existiert habe, während vordem eine ältere Fauna (mit wärmerem Charakter) ge- herrscht habe. Doch steht jetzt sicher fest, daß die arkto- alpin -kontinentale Fauna in den ver- schiedenen, mindestens in der letzten und vor- letzten der Vereisungsepochen, die herrschende war; dagegen trat in den wärmeren Zwischen- eiszeiten (Interglazialperioden), wenigstens während des Höhepunktes derselben, eine Fauna auf, die vornehmlich durch eine andere Elefanten- und Nashornart(ElephasantiquusundRhinozerosMerckii) charakterisiert wird. Aus dem Gesagten ergibt sich nun, daß es an der Hand des Faunencharak- ters schwer hält, die Ablagerungen verschiedener Vereisungsepochen und die in solchen enthaltenen menschlichen Kunsterzeugnisse zu unterscheiden und in Altersstufen einzuordnen. Hier nun kommt uns die geographische Verbreitung der verschie- denaltrigen Moränenablagerungen zu Hilfe. Bekanntlich unterscheidet man eine innere, unmittelbar am F"uße der Alpen gelegene Jung- moränenzone, welcher die charakteristischen Vor- landseen der bayrisch-schwäbischen und schweize- rischen Hochebene angehören, und eine durch weniger markante glaziale Oberflächenformen aus- gezeichnete Altmoränenzone. Im Alpengebiet wird die innere Zone durch die Ablagerungen der jüngsten, von Penck sogenannten Würm- Eiszeit gebildet, während die Gebilde der vor- letzten Eiszeit, der Riß-Vergletscherung Penck's, in ihrer Maximalausdehnung fast überall mit der Umgrenzung der Altmoränenzone zusam- menfallen. Ein Teil der paläolithischen Stationen nun liegt im Bereiche der Jungmoränen, d. h. in dem Gebiete, welches von den Gletschern der letzten oder WürmEiszeit bedeckt gewesen ist, sie müssen also jünger sein, als der Maximalstand dieser Ver- eisung. Es gehören hierher am Genfer See die Fundstelle von Veyrier bei Genf und diejenige der Grotte du See bei Villeneuve, ferner in dem Gebiete zwischen Lyon und den Alpen die Grotten von Balme, Brotel und Bethan as, sowie die Höhlen von Les Hoteaux und Bonne Femme. Im Norden der Alpen begegnen wir hier im Bereiche der Ablagerungen des ehemaligen Rheingletschers den drei paläolithischen Stationen von Schussenried, nördlich vom Bodensee, sowie vom Keßler Loch und Schweizers- bild in der Schaffhauser Gegend; alle drei hart am Rande des ehemaligen Würmgletschers. Schussenried wie Keßler Loch liegen eben noch im Bereiche der würmeiszeitlichen Endmoränen, der Schweizersbildfelsen erhebt sich unmittelbar außerhalb der äußersten Endmoräne der dortigen Gegend über die von dieser ausgehenden Nieder- terrassenschotter; die dortigen P^undschichten ge- hören also damit ebenfalls ins Hangende der letzteiszeitlichen Ablagerungen. Die an diesen genannten paläolithischen Fund- plätzen gesammelten Artefakte werden von den Archäologen dem sogenannten Magdalenien zugerechnet, welches durch charakteristisch ge- formte Steinwerkzeuge bei gleichzeitigem Vor- kommen von Beinartefakten gekennzeichnet ist. Hierher gehören auch die mit Recht bewun- derten eingravierten Tierzeichnungen. Nur an einigen dieser Magdalenienstationen begegnen wir noch den großen diluvialen Dickhäutern. Zahl- reiche Reste des Mammut wurden im Keßler 396 Naturwissenschaftliche Wocheuschrift. N. F. VIII. Nr. 25 Loch gefunden; am Schweizersbild kommt dieser Elefant nur in einer Umrißzeichnung vor. Beide Stationen bargen auch Rhinozerosreste. Andererseits treten in einer Reihe von Magda- lenienstationen bereits Tiere der heutigen Wald- fauna hinzu. Die Magdelenien -Periode umfaßt also die ganze Zeit der langsamen Ver- änderung der Tierwelt und ihrer Umwandlung aus der typischen Diluvialfauna in die heutige Waldfauna; ihr Beginn liegt diesseits des Maxi- mums der letzten Vereisung. Wir dürfen das Magdalenien daher der sogenannten Spät- oder Postglazialzeit, d. h. der Zeit des definitiven Rückzuges der diluvialen Vorland- gletscher der Alpen in das Gebirge, gleich- setzen. Im Gegensatz zu den bisher genannten paläo- lithischen Stationen steht eine Reihe von solchen, welche sich außerhalb des Saumes der alpinen Altmoränen halten und in ihren Steinwerkzeugen primitivere Typen offenbaren, wie sie als Chel- leen und Mousterien bezeichnet worden sind. Gleichzeitig fehlen ihnen die Beinartefakte. Die begleitende Fauna hat in vielen Fällen denselben arkto-alpin-kontinentalen Charakter, mit regelmäßi- gem Auftreten von Mammut und wollhaarigem Nashorn, wie wir ihn eben bei einigen der Mag- dalenienstationen innerhalb des alpinen Moränen- gebietes kennen gelernt haben. Beiderlei Faunen sind also mit Sicherheit nur bei Beigabe mensch- licher Kunsterzeugnisse zu unterscheiden. Letztere aber werden als alt- und jung- paläolithische unterschieden, und ihre Ver- breitung zeigt, daß dieses wohlberechtigt ist. Die Tatsache, daß die mit arkto-alpin-kontinen- taler Fauna vorkommenden Werkzeuge vom Chelleen- und Mousterientypus nur außerhalb des Saumes der älteren (Riß-)Vergletscherung auf- treten, diejenigen des Magdalenientypus aber bis weit in das Jungmoränengebiet vordringen, kann nur so verstanden werden, daß erstere jüngstens gleichalt mit der Riß- oder vorletzten Verglet- scherung der Alpen sind. Die altpaläolithi- sche, mit a rkto - al pin - kontinentaler Fauna auftretende Kultur (Chelleen- Mousterien) kann also zeitlich der vor- letzten Vereisung gleichgesetzt werden. Von hierher gehörigen Fundstellen seien ge- nannt: Germolles, Corcelles, Odenas, Nety, im Gebiete der unteren Saone gelegen, und Villereversure, im französischen Jura. Ein Vorkommnis von Artefakten des Mouste- rien im Umkreise der Alpen verweist Penck in die Riß- Wurm-, d. h. die vorletzte, Interglazialzeit. Es ist die Terrasse von Villefranche an der Saöne, nördlich von Lyon. Die stratigraphischen Verhältnisse lassen diese Terrasse jünger erschei- nen, als die rißeiszeitlichen Sedimente, die gleich- zeitige Lößbedeckung älter als die Niederterrassen der jüngsten (Wurm )Eiszeit. Für das inter- glaziale Alter der Ablagerung spricht sodann ferner die eingeschlossene Fauna. Es wurden in der Terrasse gefunden Reste vom Merck isch en Nash orn (Rhinoceros Merckii) und vom Urele- fanten (Elephas antiquus), welch beide Formen, wie wir schon hervorgehoben haben, charakte- ristisch sind für die Interglazialbildungen, speziell auch diejenigen der Schweiz (Kalktuff von Flur- lingen, Schieferkohlen von Dürnten). Wir können also sagen: Die Mousterien-Kultur im Verein mit der sog. interglazialen Fauna fällt in die letzte (Riß-Würm) Interglazialzeit. Bemerkenswert ist die Mousterien-Kulturstätte der Wildkirchli-Ebenalp höhle am Säntis durch ihre Höhenlage von 1 500 m und mehr. Hierdurch erscheint die Bewohnbarkeit der Höhle während einer Vergletscherungszeit ausgeschlossen, liegt sie doch nach Penck rund 300 m über der würmeiszeitlichen Schneegrenze. Die Artefakte sind daher gleichfalls in die letzte Interglazialzeit zu verweisen , womit auch die Fauna der Höhle übereinstimmt. Berühmt sind die Schichten von Solutre, ebenfalls im Saone-Gebiet, geworden, nach welchen G. de Mortillet eine seiner paläolithischen Epochen benannt hat. Wir treffen hier, wieder vergesell- schaftet mit einer arkto-alpin-kontinentalen Fauna, einschließlich des Mammuts, die Reste einer menschlichen Industrie an, welche sich in ihren Steinwerkzeugen an das Mousterien anschließt, daneben aber bereits Beinartefakte aufweist, welche, wenn auch die vollkommeneren Formen fehlen, doch Beziehungen zum Magdalenien bekunden. Fällt die jüngste reine Mousterien Industrie in die vorletzte Interglazialzeit, diejenige des Magdalenien aber in die „Postglazialzeit", so bleibt für das Solutreen nur die letzte oder Würm- Eiszeit übrig. Hiermit im Einklang steht die arktoalpin-kontinentale Fauna, die im Norden der Alpen im jüngsten Löß auftritt, und die Zu- weisung der prähistorischen Lößfunde von Nieder- österreich und Mähren durch M. Hoernes zum Solutreen. Der Löß fehlt den Gebieten der letzten Vergletscherung und es muß daher seine Ablagerung vor dem definitiven Rückzuge der Wurm- Gletscher vollendet gewesen sein. Zu- gleich ist er aber jünger als die Rißvergletsche- rung, da er deren Moränen und Terrassen bedeckt. Wo im Löß daher die bezeichnete (eiszeitliche) Mischfauna auftritt, sind die betreffenden Funde der letzten (Würm-)Eiszeit zuzurechnen. Nach unseren Ausführungen ergibt sich nun- mehr folgende Parallelisierung der eiszeitlichen Ablagerungen und der prähistorischen Funde. 1. Vorletzte Eiszeit (Riß) = Chelleen-Mousterien. 2. Letzte Interglazialzeit (Riß-Würm) = Mousterien. 3. Letzte Eiszeit (Wurm) = Solutreen. 4. Post- oder Spätglazialzeit ^= Magdalenien. I. und 2. repräsentieren das Altpaläolithikum, 3. und 4. das Jungpaläolithikum. Jedes Schema hat etwas Gezwungenes; so natürlich auch dieses, und es ist nicht zu erwarten , daß die jeweiligen prähistorischen N. F. VIII. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 397 Epochen haarscharf mit den betreffenden Ab- schnitten der Eiszeitchronologie in ihrer Umgren- zung übereinstimmen. Dies um so weniger, als die Begriffe Interglazialzeit, Eiszeit und Spät- glazialzeit keineswegs scharf gegeneinander abge- grenzt werden können. Dr. Emil VVerth. im Minimum s'/^ Die Blutseen der Hochalpen. — Wenn der Tourist heraufgestiegen ist bis zur Bergwiesen- region der Alpen, so begegnet er sehr oft blut- rotgefärbten Tümpeln von etwa 10 bis 20 m Durch- messer. Die Ersten, die von solchen Tümpeln Kunde gebracht haben, sind Ehrenberg und F. Thomas. Letzterer bezeichnete einen Tümpel bei Arosa (Graubünden), der einer Flagellate : Eiigicna sangiiinca, durch ihr massenhaftes Auftreten — eine „Wasserblüte" bildend — eine blutrote Färbung verdankte, als „Blutalgensee" und seitdem werden allgemein diese roten Tümpel im Volksmund als Blutseen bezeichnet. Neuerdings sind in einer Arbeit aus dem zoologischen Institut der Universi- tät Basel die Resultate über die Blutseen der Hoch- alpen in hydrographischer und biologischer Hinsicht niedergeschrieben worden.') Danach bilden die Blutseen, im Geg:ensatz zu früheren Ansichten, in den Hochalpen für die baumlose Weidelandregion eine charakteristische und weitverbreitete Gewässer- gruppe. Es liegen bis jetzt Meldungen vor von Blutseen aus allen Teilen der Alpen und selbst für die Tatra kann das Vorhandensein von Blut- seen wahrscheinlich gemacht werden. Stets handelt es sich allgemein um kleine Tümpel von circa 40 m Durchmesser und höchstens i m Tiefe. Eigentliche Zu- und Abflüsse fehlen den Blutseen; zur Seltenheit ergießt sich eine schwache Sicker- queile in das seichte Becken. Diese eigenartigen Zuflußverhältnisse spiegeln sich deutlich wieder in der chemischen Beschaffenheit und Farbe des Wassers, andererseits auch in der Wassertempe- ratur. Das Wasser ist reich beladen mit orga- nischen Substanzen und das weidende Vieh sorgt dafür, daß ihm stets neue Zersetzungsprodukte zugeführt werden; so tritt der Blutsee in nähere Beziehung zum Dorfteich und der Jauchegrube der Ebene. Der eigenartige Temperaturgang des Wassers, die stark exponierte Lage der Tümpel zusammen mit der stärkeren Insolation und größeren Bodenwärme lassen aber diese alpinen Kleinge- wässer hydrographisch eine Sonderstellung ein- nehmen. Daß Tümpel in 2200 m Höhe im August bis 27 " C sich erwärmen können, um bald wieder und namentlich während der Nacht bis zu 10" und 5 " C zu sinken, dürfte wohl kaum allgemein ge- glaubt werden. Diese Tümpel überhitzen sich im Alpensommer stark und kühlen sich zugleich stark ab, im Alpenfrühling und -herbst zeigen sie dann annähernd die Verhältnisse der Glazial'tümpel. Die ') Internationale Revue der gesamten Hydrobiologie und Hydrographie. Bd. I. igoS. Zeit des Offenseins ist kurz, Monate. Der große elektive Einfluß der klimatischen Faktoren auf die Zusammensetzung der Fauna einer Lokalität ist bekannt; so zeigt es sich nun, daß die Blutseen, wenn auch nicht im strengen Sinne, eine Biocoenose bilden. Mit großer Regel- mäßigkeit treffen wir doch etwa sechs Arten, die den Blutseen faunistisch einen gleichartigen An- strich geben. In allererster Linie gilt dies von Euglena saiiguiiiea und Anuraea valga und curvicor- nis. In gleicher Hinsicht müssen genannt werden Bracliioims urceolaris, Daphnia pidex [obiusä) und Mesostoma lingiia. Unter den Copepoden genießen weite Verbreitung Cyclops alhidtis und diaphanus. Wir lernen so die Blutseen kennen als Gewässer, die ihren stenothermen Warmwasserbewohnern und Kosmopoliten es ermöglichen, weit in das faunis- tische Gebiet der boreosubglazialen Region vor- zudringen. Die hydrographische Sonderstellung der Blut- seen läßt erwarten, daß auch die Tiere der Blut- seen in ihrer Lebensweise von derjenigen der Ebenen-Tiere abweichen. So bietet die Kürze des Sommers in hochgelegenen Blutseen in der Ebene sonst dizyklischen Cladoceren nur noch Zeit zur Entfaltung einer Sexualperiode, die zweite fällt gänzlich aus, nachdem sie sich in tieferen Alpen- lagen zuerst der ersten Periode genähert; Formen, die unter günstigen Bedingungen nicht mehr zur geschlechtlichen Fortpflanzung schreiten, werden unter dem Drucke des Alpenklimas zu monozyk- lischen Formen. Die starken Temperaturschwan- kungen schaffen für die Blutseen eine ganz cha- rakteristische Rotatorienform mit ungleichlangen Hinterdornen: Anuraea valga. Die Asymmetrie der Hinterdornen scheint einer durch starke Tem- peraturschwankungen hervorgerufenen Wachstums- störung ihr Entstehen zu verdanken. Daß Anuraea valga auch anderorts vorkommt, vermag wohl kaum gegen diese Ansicht zu sprechen; denn dafür, daß sich erworbene Eigenschaften mehr und mehr er- härten und zuletzt auch dann erhalten bleiben, wenn die Ursache nicht mehr vorhanden, sind ge- nügend Tatsachen angegeben. Interessant ist, daß diese Anuraea valga in den Blutseen stets partheno- genetisch hervorgeht aus einer früher als besondere Species aufgefaßte Form ohne Hinterdornen: Anuraea curvicornis Ehrenberg. Anuraea valga und curvicornis sind so Saisonformen derselben Art. Untersuchungen von H. Krätschmar') zeigen allerdings das Umgekehrte: A. curvicornis geht parthenogenetisch aus A. valga hervor und bildet die Dauereier. Kr. experimentierte mit Anuraeen aus dem Lunzersee (N.-Ü.), so daß wir vorderhand annehmen müssen, daß die genannten Rotatorien in verschiedenen Lokalitäten auch verschiedene Reihen bilden. Einen Einfluß der starken Insolation lassen zwei Tiere erkennen: Euglena sangninea und Mesostoma lingua. E. s. schützt sich vor dem 'J id. 398 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vni. Nr. 25 starken und namentUch an schädlichen ultravioletten Strahlen reichen Alpenlicht durch Absondern eines roten Lichtschirmes, des Hämatochroms: M. l. ist dunkler pigmentiert als die Tiere der Ebene. Es ist auch hier an einen Einfluß des Alpenlichtes zu denken. So ergibt sich als biologisches Endresultat, daß die eigentümlichen Bedingungen der hochalpinen Blutseen auch auf die Lebensverhältnisse der Organismenwelt nicht ohne Einfluß bleiben. Sie sind die Ursache der Entstehung von Pigmenten als Schutzapparate gegen die Insolation , sie ver- ändern den jährlichen Zyklus von Crustaceen und Rotatorien und schaffen für die Blutseen typische Formen. Dr. C. Klausener (Basel). Wetter-Monatsübersicht. Während des größeren Teiles des verganf^enen Mai herrschte in ganz Deutschland trockenes, ziemlich heiteres, aber sehr kühles Wetter. Besonders bemerkenswert ivar die große Zahl der Nachtfröste, von denen zu Beginn des Mo- Suinrcrc 'Icmi''crarursn cinijser ©rfe im 5ftai 1909. BcrlmerWüllerbunii. nats alle Gegenden betroffen wurden und die sich dann später besonders in der Nähe der Küste sehr häufig wiederholten. In der Nacht zum 8. hatten Lauenburg i. P. 5, Konitz 4, Bromberg und viele andere Orte 3 Grad Kälte. Noch am 15. und 16. Mai kamen in einem großen Teile des Landes und am 21. an einzelnen Stellen Nachtfröste vor, von denen namentlich Frühkartoffeln , Obst und Gemüse außerordentlich großen Schaden erlitten. Die Tagestemperaturen blieben anfangs gleichfalls niedrig, gingen aber allmählich, wenn auch mit Schwankungen , mehr in die Höhe. Erst nach dem 20. trat eine stärkere Erwär- mung ein, am 23. Mai stieg das Thermometer an verschiede- nen Orten im westlichen Binnenlande bis auf 30° C. Bald darauf wurde es jedoch wieder kühler und im Monatsmittel lagen die Temperaturen in Norddeutschland größtenteils i bis 2, in Süddeutschland sogar 2 bis 3 Grad unter ihren normalen Werten. Die Niederschläge waren im größten Teile des Landes gering. Zwar begann der Monat mit zahlreichen Regen- schauern, die in vielen Gegenden von Schnee- und Hagel- fällen begleitet waren. Auch am 9. und in der Nacht zum 10. Mai gingen im östlichen Ostseegebiete nicht unbedeutende Schneemengen, vom 13. bis 18. in Nordwest- und Süddeutsch- land reichliche Gewitterregen nieder. An verschiedenen Orten, besonders Schleswig-Holsteins, z. B. ins Flensburg und Neumünster fiel sogar noch um Mitte des Monats Schnee. Dazwischen aber klärte sich der Himmel meistens sehr rasch wieder auf und namentlich in der Zeit vom 4. bis 12. sowie vom 19. bis 23. Mai war das Wetter bei weitem überwiegend trocken. Zu dem Mangel an Regen kam noch die Wirkung der den Boden austrocknenden, oft sehr heftigen Ost- und Nordostwinde hinzu, so daß durch die andauernde Dürre und Kühle das Wachstum der Saaten außerordentlich beeinträchtigt wurde. Seit dem 24. Mai stellten sich endlich stärkere Regen- fälle ein, die von Gewittern, strichweise auch von kräfti- gen Hagelschauern eingeleitet wurden und dann mehrere Tage lang mit kurzen Unterbrechungen anhielten. Die größten Regenmengen gingen in Süddeutschland, ferner an der west- lichen Ostseeküste und besonders zu beiden Seiten der Oder f- Hiedfer.s's]^rags;]^«]^cn im.SRai 1909. ^ifflererWerffüf Peulschiand . ^-i E- ; 09 Ck> m E ;SzncQC=iCQ SsrLtLhCDS 1. bis 3 Mai uilsiB'JJiilnUB "j-UUU — - 19.bis23.Mai. jAonatssumme im £Aai !.ö8.07.0S.Ö5.0f. BerlmirWeltirlureau. hernieder; z. B. fielen vom 25. zum 26. in Frankfurt a. M. 30, vom 27. zum 28. in Kiel 21, vom 28. zum 29. in Grün- berg 26, in Breslau 38, in Fraustadt 43 mm Regen. Gleich- wohl belicf sich die gesamte Niederschlagshöhe des Monats für den Durchschnitt der berichtenden Stationen auf nicht mehr als 37,2 mm, während die gleichen Stationen im Mittel der früheren Maimonate seit Beginn des vorigen Jahrzehnts 58,2 mm Niederschl.ag geliefert haben. Die allgemeine Anordnung des Luftdruckes wies während des vergangenen Monats häufig von einem Tage zum anderen große Veränderungen auf. In den ersten 10 Tagen wurde der größere Teil von Nordeuropa gewöhnlich von einem barometrischen Maximum eingenommen, das am 5. auf der skandinavischen Halbinsel 7S0 mm Höhe erreichte, einige Tage später aber in eine östliche und eine westliche Hälfte zerfiel. B-ald darauf drang vom atlantischen Ozean mit starken SUdwestwinden ein Minimum über die Nordsee nach Südschweden und von da weiter nordostwärts vor. Andere Minima folgten ihm zunächst auf etwas südlicherer, dann wieder nördlicherer Straße nach, während gleichzeitig neue Hochdruckgebiete vom biskayischen Meer nach Mitteleuropa gelangten, sich jedoch gewöhnlich ziemlich rasch wieder von hier entfernten. Nur gegen Ende des Monats hielt sich ein umfangreiches Hochdruckgebiet etwas länger auf dem west- N. F. VIIT. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 399 und miltelcuroiiäisclien Festland auf, während in der Nähe von Island ein tiefes Minimum verweilte. Dr. K. Leß. Bücherbesprechungen. „Herbarium". Im Verlage von Theodor Oswald Weijjei in Leipzig erscheint seit Jahresfrist in zwang- losen Zwischenräumen eine Zeitschrift , die postfrei und kostenlos abgegeben wird. Sie dient als Organ zur Förderung des Austausches wissenschaftlicher E.xsiccatensainmlungen und wird jedem Pflanzensammler willkommen sein , der seine Bestände an Exsiccaten ergänzen oder verkaufen will. Dr. W. Brendler, Mineralien-Sammlungen- I. Teil. 220 Seiten mit 314 Figuren. Leipzig» W. Engelmann, 1908. — Preis geb. 7 ]\lk. Wohl die verbreitetsten , weil anspruchslosesten und zugleich dem ästhetischen Bedürfnis in hohem Maße entgegenkommenden Naturaliensammlungen sind die von Mineralien. Aber die meisten dieser Sammlungen sind freilich mehr Schmuckstücke als Mittel zum Studium der Natur und oftmals sind den Besitzern wohl nicht einmal die Namen der einzelnen Stücke bekannt. Eine besondere Anleitung zur An- lage und Instandhaltung mineralogischer Sammlungen könnte daher gewiß manchem Sammler oder Samm- lungsbesitzer gute Dienste leisten. Ob Verf. in dem vorliegenden Buche den richtigen Weg hierzu einge- schlagen hat, muß zweifelhaft erscheinen. Der erste Band enthält im wesentlichen einen Abriß der Kri- stallographie, der in trockenster Form ohne jede Bezugnahme auf wirklich vorliegende Naturobjekte, die doch jedem Sammler zur Hand sein würden, den Formenreichtum der verschiedenen Kristallsysteme durchgeht und überall sowohl das Weiß'sche Zeichen, wie auch das Naumann'sche und das Graßmann- Miller'sche angibt. Dieser durchaus unpopuläre Teil des Buches wird, fürchten wir, den Mineralienfreund vom ernsteren Studium eher abschrecken, als für das- selbe gewinnen. Im zweiten Teile des Bandes wer- den die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Mineralien in verständlicher, aber auch zieinlich oberflächlicher Weise dargestellt. Am wertvollsten für Sammler werden die am Anfang und Schluß des Bandes zu findenden Abschnitte über das Sammeln, die Reinigung und Bestimmung, die Etiquettierung, Autstellung und Konservierung der Mineralien sein ; hier sind auch für alle Hilfsmittel geeignete Bezugs- quellen mit Preisangaben hinzugefügt, die vielen in der Diaspora wohnenden Sammlern willkommen sein werden. Kbr. Oberlehrer Dr. F. Walther, Lehr- und Übungsbuch der Geometrie für Unter- und Mittelstufe. 204 Seiten mit vielen Figuren. Berlin, O. Salle, 1907. — Preis mit trigonometrischem und stereo- metrischem Anhang 2,20 ML, ohne denselben 1,50 Mk. Das Buch stellt einen beachtenswerten, neuen Versuch dar, die Schulgeometrie unter Vermeidung der allzu pedantischen, „strengen" Beweisführung und unter möglichster Ausbildung des Anschauungsver- mögens in einfachster Weise zu behandeln. Die Methode des Verf berührt uns durchaus sympathisch imd möchten wir dringend empfehlen, sie im praktischen LTnterricht auch anderwärts zu erproben. Das geometri- sche Pensum wird auf 122 Seiten erledigt, wobei noch ausreichend Übungsaufgaben eingeschaltet sind. Der dann angefügte Anhang behandelt die Elemente der Trigonometrie, sowie die Abbildung und Berechnung einfacher Körper, so daß die Ausgabe mit Anhang im Verein mit einem algebraischen Leitfaden für Real- schulen vollständig ausreicht. Kbr. Prof. Dr. F. W. Hinrichsen, Die Untersuchung von Eisengallustinten. — VI. Band der Sammlung „Die chemische Analyse", heraus- gegeben von Dr. B. M. Margosches in Brunn. Stutt- gart, Ferdinand Enke, 1909. — Preis 4,40 Mk. Die Untersuchung der Tinte ist dank der vom Königl. Materialprüfungsamte in Groß- Lichterfelde vorgenommenen eingehenden Studien erst in den letzten Jahren systematisch ausgebaut worden. Der Verfasser des vorliegenden Buches hat die verschie- denen Methoden mit besonderer Berücksichtigung jener Studien eingehend dargelegt. Nach einer historischen Einleitung verbreitet er sich zunächst über die Chemie und die Herstellung der Eisengallus- tinten. Erst die zweite Hälfte des Buches behandelt das ihm vorangestellte Thema, die Untersuchung dieses schwarzen Saftes. Vom Tintenfabrikanten, vom Händler und von dem mit der Prüfung von Tinten betrauten Chemiker wird die genaue Beschreibung der von maßgebender Stelle empfohlenen Methoden zweifellos dankbar begrüßt. Wenn aber auch weitere Kreise der Materie ziemlich fernstehen, so bringt das Buch doch auch in allgemein wissenschaftlicher Hin- sicht manches Interessante. Insbesondere die Er- kenntnis , daß , wie auf so vielen anderen Gebieten, auch hier der modernen physikalischen Chemie die Lösung zahlreicher schwieriger Probleme vorbe- halten war. Ebenso dürfte für weitere Kreise auch das Kapitel über physikalische Untersuchungs- methoden von besonderem Interesse sein, in welchem u. a. die mikroskopische und photographische Unter- suchung von Schriftzügen und die dadurch ermög- lichte Erkennung von Schriftfälschungen beschrieben wird. Dem Wunsche des Verfassers, einige der ge- schilderten analytischen Bestimmungen möchten bei den chemisch-technischen Übungen von vorgeschritte- nen Studierenden ausgeführt werden, kann sich Ref. nicht anschließen , weil es für einen auf der Hoch- schule genügend vorgebildeten Chemiker an der Hand eines so vortrefflichen Hilfsmittels, wie es das vor- liegende Buch darstellt, leicht genug ist, sich im Bedarfsfalle in dieses Spezialgebiet einzuarbeiten. Lb. 400 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 25 1) Sir William Ramsay, Moderne Chemie. I. Teil Theoretische Chemie. Ins Deutsche über- tragen von Dr. M. Huth. 2. Aufl. 157 Seiten mit 9 Abbildungen. Halle a. S., W. Knapp, 1908. — Preis 2 Mk. 2) Prof. Dr. K. Arndt, Elektrochemie. 234. Bändchen der Sammlung „Aus Natur und Geistes- welt". 79 Seiten mit 38 Abbild. Leipzig, B. G. Teubner, 1909. — Preis geb. 1,25 Mk. 3) Dr. E. Kotte, LehrbuchderChemie. 2. Teil. Systematische anorganische Chemie. 264 Seiten mit 98 Abbildgn. Dresden, Bleyl & Kämmerer, 1909. — Preis geb. 2,80 Mk. i) Wer sich gründlich und durch einen der kompetentesten Lehrer über die heutigen Auffassungen der allgemeinen Chemie belehren lassen will, der greife zu diesem trefflichen Werkchen. Neben histo- rischen Kenntnissen über die Entwicklung der che- mischen Hypothesen übermittelt dasselbe an der Hand von lauter konkreten Beispielen die Begriffe „osmoti- scher Druck", „elektrolytische Dissoziation", „Valenz", „periodisches System", „Allotropie", ,,Tsomerie" „Tau- tomerie", „Energie" usw. in ausgezeichnet klarer Weise. 2) Die kleine Monographie von Arndt ist für weitere Kreise berechnet. Nachdem auf 32 Seiten die Grundlagen der Elektrochemie auseinandergesetzt sind, beschäftigt sich das Folgende mit den mannig- fachsten technischen Anwendungen elektrochemischer Prozesse , die gewiß eines allgemeinen Interesses sicher sind. 3) Das Kotte'sche Lehrbuch ist ein vortrefl'liches Schulbuch , dessen Eigenart darin besteht, daß jene Tatsachen der allgemeinen und physikalischen Chemie, die die unentbehrlichen Grundlagen der Systematik bilden, in einem einführenden Teile vorausgeschickt sind, während der jetzt folgende zweite Teil die Einzelbetrachtung der chemischen Elemente bringt. Dadurch wird im vorliegenden Teile vielfach Gruppen- behandlung möglich. Die Figuren sind teils recht klar gezeichnete Originale, teils den besten neueren Werken entnommen. Der Preis des Buches ist außer- ordentlich niedrig angesetzt, was für ein Schulbuch auch eine recht wesentliche Bedeutung hat. Eine beachtenswerte Billigkeit kann übrigens, namentlich mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten des Satzes, auch den beiden anderen oben angezeigten Büchern nachgerühmt werden. Kbr. P. Gorgen, Machines-outils. Outillage. Veri- ficateurs. Notions pratiques (200 Schemas dans le texte). 232 pages. Paris, Gauthier-Villars, 1909. — Prix 7,50 fr. Das für Artillerieoffiziere bestimmte Buch bietet eine vortreffliche Einführung in die Kenntnis der zur kalten Bearbeitung der Metalle und des Holzes dienenden Maschinen. Die vielen, klaren, schemati- schen Zeichnungen werden Schwierigkeiten, die durch die französischen Bezeichnungen für deutsche Leser entstehen könnten, leichter überwinden helfen. Na- mentlich wird das Studium des Buches Maschinen- technikern zu empfehlen sein , die in Frankreich Studien treiben wollen und für die daher die Kennt- nis der französischen Bezeichnungen der verschiedenen Maschinenelemente von Wichtigkeit ist. Kbr. Literatur. Buscban, Dr. Geo. : Menschenkunde. Ausgewählte Kapitel aus der Naturgeschichte des Menschen. Mit 3 Taf. u. So Textabbildgn. i. — 7. Taus. (VIII, 265 S.) Stuttgart '09, Strecker & Schröder. — 2 Mk., geb. 2,80 Mk. Anregungen und Antworten. Zu dem Aufsatz Brockmeier in Nr. 21, S. 321 sei folgen- des bemerkt: Hydra (fusca) benutzt die Oberflächen- spannung des Wassers in ähnlicher Weise, wie nach den Ausführungen des Verf. u. a. die Wasserschnecken. Sie verankert sich an der freien Oberfläche des Wassers ebenso, wie an den Glaswänden und Pflanzenteilen, und funktioniert auf dieser Basis, wie auf einer festen (eigene Beobachtung). Dr. phil. u. med. Georg Sommer-Bergedorf. Herrn Dr. A. S. in S. — Statistische Methoden werden angewandt bei der Variationsstatistik der Pflanzen, der zahlenmäßigen Feststellung der relativen Häufigkeit der einzelnen möglichen Fälle eines nach Zahl oder Maß bestimm- baren veränderlichen Merkmals bei einer größeren Anzahl von Pflanzenindividuen derselben Art. Bestimmt man z. B. an einer großen Zahl von Bohnen derselben Form oder Varietät die Länge des Samens in Millimetern, so zeigt sich, daß diese Zahl innerhalb fester Grenzen um einen bestimmten Mittel- wert sciiwankt; oberhalb und unterhalb dieses Mittelwertes nimmt die Zahl gesetzmäßig ab. Man kann das in Zahlen gefundene Resultat, das die Veränderlichkeit des gemessenen Merkmales wiedergibt, in einer Variationskurve darstellen (Gal ton-Kurve , Quet ele t 'sehe Kurve, Fibonacci- Kurve). Mit solchen Studien, die für die Erkenntnis der individuellen Variabilität wichtig sind , hat sich besonders F. Ludwig beschäftigt; man vgl. seine Aufsätze im Botanischen Centralblatt: Bd. 64 (1S95J 7 (Übe Variationskurven und -flächen der Pflanzen), 68 (1896) I (Fibonaccikurven), 71 (1897) 257 u. 2S9 (Beiträge zur Phytarithmetik), 75 (1898) 97 (Varia- tionskurven), 81 (1900) Beihefte 89 (Variationspolygone und Wahrscheinlichkeitskurven), 82 (1900) 45. In Bericht. Deutsch. Bot. Gesellsch. XIV. (1896) 204 behandelt Ludwig eine fünfgipfelige Fibonaccikurve für die Doldenstrahlen bei Pri- mula officinalis nach 1227 Zählungen, .^uch de Vries hat solche statistischen Untersuchungen angestellt; vgl. be- sonders seine Mutationstheorie Bd. I (1901) 35 (dort auch die ältere Literatur) und seine Aufsätze in Bericht. Deutsch. Bot. Gesellsch. XII (1894) 197 (Über halbe Galton-Kurven als Zeichen diskontinuierlicher Variation) und XVII (189g) 45 (Über die Periodizität der partiellen Variationen). Wichtige Arbeiten sind ferner: D u n c k e r, Die Methode der Variations- statistik (in Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen, 1899); F. Ludwig, Die Variabilität und das Gauß'sche Zahlengesetz (Zeitschrift für Mathematik und Physik, 1898); Davenport, Statistical methods with special reference to biological variations (New York 1S99). — Die Anwendbar- keit statistischer Methoden auf Floristik behandelt J. Briquet (Les methodes statistiques applicables aux recherches de floristi- que, in Bulletin de l'Herbier Boissier 1 (1893) 133). H. Harms. Inhalt: l'rof. Dr. II albfaß: Temperaturmessungen in tiefen Seen in ihrer Beziehung zur Klimatologie. — Kleinere Mitteilungen: S. Robinski: Leiden und Heilung der Tuberkulösen. — Dr. Emil VVerth: Der Mensch der Eiszeit im Alpengebiete. — Dr. C. Klausener: Die Blutseen der Ilochalpen. — Wetter-Monatsübersicht. — Bücher- besprechungen: „Herbarium". — Dr. W. Brendler: Mineralien-Sammlungen. — ( iberlehrer Dr. F. Walther: Geometrie. — Prof. Dr. F. W. Hinrichsen: Die Untersuchung von I'.isengallustinten. — Sammel-Referat. — P. Gor gen: Machines-outils. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofi-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Kcilse VIII. H;uk1 ; tier ganzen Reihe XXIV, Hand. Sonntag, den 27. Juni 1909. Nummer 26. Zur Geschichte der Sklaverei und des sozialen Parasitismus bei den Ameisen. Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). [Nachdruck verboten.] Mit 5 Abbildungen. In welchem Zusammenhang stehen sozialer Parasitismus und Sklaverei bei den Ameisen? Es dürfte von Interesse sein, hier kurz zusammenzufassen, welche Antwort die h'orschungen eines ganzen Jahrhunderts uns auf diese F"rage gegeben haben. Schon durch die klassischen Beobachtungen des Schweizers Peter Hu ber (1810) ist es be- kannt, daß es bei uns „sklavenhaltende Ameisen" gibt, welche die Puppen fremder Ameisenarten rauben und in ihren Nestern als Gehilfinnen oder „Sklaven" erziehen. Die Sklavenjagden der Amazonenameisen {Polyergns rufcscens) (Fig. 2) und der blutroten Raubameise {Fonnica sniiguinca) big. I. Arbeiterin von Formka saiigiiinta Ltr. (3'/a fach vergröfiert.) (Fig. i) sind von ihm bereits in vortrefflicher Weise geschildert worden. 1852 entdeckte dann Schenk in Nassau die ersten Schmarotzerameisen, die er Mynnus testaceiis und Myrmica atratula nannte. Erstere ist von Mayr 1853 als Strongy- lognathus beschrieben worden, letztere erhielt 1874 von Forel den Gattungsnamen Ancrgates „die Arbeiterlose". Es stellte sich nämlich heraus, daß diese Ameise gar keine eigene Arbeiterform mehr besitzt. Sie hat nur sonderbar puppenähn- liche, flügellose Männchen (Fig. 5) und kleine, ge- flügelte Weibchen, die nach der Begattung und Entflügelung zu sehr dickleibigen Königinnen werden; die Arbeiterkaste wird ersetzt durch die Arbeiterinnen der Rasenameise {Teiramoriitm caespitiwi). Strongylognathus testacais dagegen hat noch eine eigene Arbeiterform (Fig. 3), aber in relativ geringer Individuenzahl; zum Sklaven- raub ist sie nicht mehr fähig, während ihre größeren südlichen Verwandten (Strongyl. Huberi, ReJibinderi etc.) noch Sklavenräuber sind. Als Hilfsameisen dienen bei Strongylognalhtis ver- schiedene Rassen der Rasenameise, v. Hagens berichtete 1867 über die Lebensweise von Strongylognathus testaceus und Anergatcs atraliilus im Rheinland. Forel teilte in seinen „Fourmis de la Suisse" (1874) reichhaltige Beobachtungen Fig. 2. a Ergatoide (arbeiterähnliche) Königin von Polyeigiis rii/esciiis. b Arbeiterin von roly^rgiis rufesctiis'_y,tr. (Amazone). (S'/afach vergrößert.) Fig. 3. Arbeiterin von Sir ongyioguathits testaceus Schenk. (12 fach vergrößert.) r"ig. 4. Weibchen von Wkeeleriella Saiüsch'ü For. (6 fach vergrößert.) mit über die Lebensweise der Amazonenameisen {Polyergns), der blutroten Raubameisen {Fonnica sangninea] , sowie auch über Strongylognathus testaceus und Huberi und Ancrgates atratulus. Man kannte also damals schon „gemischte Kolonien" der Ameisen, in denen Ameisen ver- schiedener Arten zusammenleben. Außer den normalen F"ormen gemischter Kolonien, in denen stets eine bestimmte „Herrenart" mit ihrer 402 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 26 „Hilfsameisenart" sich findet, erwähnte aber be- reits Forel auch anormale Formen; es sind dies jene gemischten Kolonien, in denen eine Ameisen- art, welche gewöhnlich in einfachen (ungemischten) Kolonien anzutreffen ist, mit Arbeiterinnen einer fremden Art vergesellschaftet vorkommt. Im Jahre 1891 gab ich in dem Buche „Die zuzammen- gesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen" eine Übersicht unserer bisherigen Kennt- nisse über das Zusammenleben von Ameisen ver- schiedener Arten. In den zusammengesetzten Nestern leben die fremden Arten nur neben- einander, in den gemischten Kolonien vereinigen sie sich zu eine r Haushaltung. Unter den gemischten Kolonien wurden ,, gesetzmäßige" und „zufällige" Formen unterschieden. Erstere teilten sich wiederum in Raubameisen, die mit Gewalt sich der Arbeiterpuppen ihrer Hilfs- ameisenart bemächtigen, und in Schmarotzer- ameisen, die nicht durch Puppenraub in den Besitz von Hilfsameisen gelangen. Klassische Beispiele der Raubameisen sind die Amazonen, die blutroten Raubameisen und die Gattung Harpagoxcnus {Toiiwgiiathus), deren Lebensweise Adlerz zuerst näher erforschte. Den klassischen Typus der Schmarotzerameisen bildete Anergatcs, bei welcher sogar die eigene Arbeiterkaste ganz fehlt. Einen vermittelnden Übergang zwischen Raubameisen und Schmarotzerameisen schien die Gattung Strongylognatlins darzustellen, deren süd- f'ig- 5- Männchen von Anergatcs atratulus Schenk. (12 fach vergrößert.) liehe Arten noch Sklaven rauben, während die nördlichste Art, Sirongyl. tcstaceiis, ihre gemischten Kolonien durch Allianz gründet, indem eine Königin von Strongylognatlins mit einer Königin der Rasenameise zusammenwohnt (Wasmann 1891). Wie ist dieSitte bestimmterAm eisen, fremde Puppen als Sklaven zu rauben, entstanden, und in welcher Beziehung steht sie zum Schmarotzertum bei anderen Arten? Diese interessante Frage wurde zuerst von Charles Darwin in seiner „Entstehung der Arten" 1859 angeregt. Er glaubte, anfangs hätten als Nahrung geraubte Puppen nur zufällig in einem Raubameisenneste sich entwickelt; diese Vermehrung der Arbeiterzahl der Kolonie habe sich dann als nützlich erwiesen, und so sei durch Naturzüchtung allmählich die Sitte entstanden, regelmäßig Sklaven zu rauben und zu erziehen. Mehrere Jahrzehnte lang blieb dies die einzige positive Hypothese über den Ursprung der Sklaverei. Allerdings stand ihr eine unübersteig- lich scheinende Schwierigkeit auf dem Gebiete der Vererbung entgegen: die Arbeiterinnen, welche Sklaven rauben, pflanzen sich nicht fort, und die Königinnen, welche sich fortpflanzen, schienen am Sklavenraube nicht teilzunehmen. Wie konnte da der Instinkt, Sklaven zu halten, durch Ver- erbung befestigt und weiterentwickelt werden? Daß zwischen der Sklaverei und dem sozialen Parasitismus der Ameisen ein genetischer Zu- sammenhang bestehe, wurde bereits durch V. Hagens 1867 angedeutet und von Forel 1871 ') näher ausgeführt. Aus einfachen Ameisen- kolonien läßt Forel daselbst erst anormale Formen gemischter Kolonien sich entwickeln, und aus diesen dann die normalen gemischten Kolonien von Raubameisen wie Formica sangiiinea. Der Sklavereiinstinkt der letzteren leitet über zu jenem der Amazonenameisen. An diesen schließen sich die gemischten Kolonien der südlichen sklaven- haltenden {Strongylognatliits Hnberi etc.) an. Bei dem nördlichen Strongyl. tcstaceiis beginnt bereits die parasitische Degeneration des Sklavereiinstinktes, welche bei dem arbeiterlosen Anergatcs endlich ihre tiefste Stufe erreicht. Diesen Anschauungen Forel's schloß sich auch Sir John Lubbock in seinen ,, Beobachtungen über Ameisen, Bienen und Wespen" (deutsch 1883, S. 74) an. Auch er sah in den Schmarotzerameisen die tiefste Degene- rationsstufe eines ehemaligen Sklavereiinstinktes. Der Gedanke eines genetischen Zusammen- hanges zwischen sozialem Parasitismus und Sklaverei beim Ameisenvolke ist also nach dieser Seite keineswegs neu. Auch finden wir schon bei Forel die Grundzüge der späteren Anschauungen über die stammesgeschichtliche Entwicklung der Sklaverei, wobei wir selbstverständlich der von Forel aufgestellten Entwicklungsreihe nur teilweise eine reale Bedeutung beilegen dürfen; denn an eine nähere Stammesverwandtschaft zwischen Polyergus und Strongylognatlins kann beispiels- weise gar nicht gedacht werden. 1880 hatte IVIc Cook in Philadelphia seine Beobachtungen über den ,, glänzenden Sklaven- halter" [Polyergus lucidjts) veröffentlicht, und bald folgten andere Entdeckungen über sklavenhaltende und parasitische Ameisen Nordamerikas. Eine gute zusammenfassende Darstellung der „Compound and mixed ncsts of American ants" gab Wheeler im American Naturalist 1901, zugleich mit einer Menge neuer Beobachtungen. Bezüglich der Ent- stehung des Sklavereiinstinktes schloß er sich da- mals noch im wesentlichen an die Anschauungen von Ch. Darwin an und suchte dieselben gegen die von anderen erhobenen Einwendungen zu rechtfertigen. So blieb der Stand der Frage bis 1904. Ob- wohl bereits zahlreiche interessante Beobachtungen über die Sklaverei und den sozialen Parasitismus der Ameisen auf der nördlichen Halbkugel vor- lagen, und obwohl die Idee eines phylogenetischen Zusammenhanges jener beiden Erscheinungsreihen schon längst ausgesprochen worden war, so fehlte ') Fourmis d. 1. Suisse, p. 443. N. F. VIII. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrit't. 403 doch immer noch der eigentliche Schlüssel zum Verständnis dieses Zusammenhangs. Dieser Schlüssel wurde endlich gefunden in der Grün- dungsweise der neuen Kolonien durch die befruchteten Weibchen der parasi- tischen und Sklaven haltenden Ameisen. Durch diesen neuen Gesichtspunkt wurde erstens die alte Schwierigkeit großenteils gehoben, welche von seilen der Vererbungstheorie sich daraus er- gab, daß die Arbeiterinnen der Ameisen ihre Eigenschaften nicht vererben können;') durch ihn wurde ferner auch nahegelegt, daß nicht bloß zwischen der Degeneration des Sklavereiinstinktes und den tiefsten Stufen des sozialen Parasitismus, sondern auch zwischen den Anfangsstufen des sozialen Parasitismus und der Entstehung des Sklavereiinstinktes ein genetischer Zusammenhang bestehen könne. Hierdurch war sowohl der auf- steigende wie der absteigende Ast der Entwick- lungskurve des Sklavereiinstinktes in \'erbindung mit dem sozialen Schmarotzertum gesetzt. Im Oktober 1904 veröffentlichte Wheeler-) seine interessanten Beobachtungen über die Sym- biose von Forniica consociaus mit F. incerta in Connecticut unter dem Titel „A new type of social parasitism among ants". Die Königin von consociaus gründet ihre neue Kolonie mit Hilfe von Arbeiterinnen der letzteren Art, indem sie in ein /«frrAr-Nest sich aufnehmen läßt. Nach dem Aussterben der ursprünglichen Hilfsameisen bleiben nur die consociaus übrig, da die in der gemischten Kolonie vorhandene Königin stets nur dieser Art angehört. So wird denn die ursprünglich ge- mischte consocians-inccrta-V^oXome. später zu einer einfachen consocians-Kolonie. und wächst als solche dann weiter zu einer alten volkreichen Kolonie. Es handelt sich also hier um zeit- weilig gemischte Kolonien, welche da- durch entstehen, daß die Königinnen der einen Ameisenart durch Arbeiterinnen einer anderen Ameisenart sich adoptieren lassen. Wheeler machte auch darauf aufmerksam, daß wahrschein- lich noch manche andere Ameisenarten, nament- lich solche mit auffallend kleinen Königinnen, ihre Kolonien auf diesem Wege gründen. Es war jedenfalls ein merkwürdiges Zusammen- treffen, daß ich in jenem Herbste 1904 meine Beobachtungen über die Koloniegründung von Fonnica truncicola in Luxemburg für das Biolo- gische Centralblatt (1905) ausarbeitete unter dem Titel: „Ursprung und Entwicklung der Sklaverei bei den Ameisen". Wheeler's Publikation lernte ich erst kennen, als die meinige ') Wenigstens normalerweise. Bei den .Arbeiterinnen vieler Ameisenarten ist zwar bereits Parthenogenesis beob- achtet worden, aber doch stets nur als Ausnahmezusland. Eine Kolonie von Formica pralmsis bei Luxemburg, die ihre Königin verloren hatte, brachte noch drei Jahre lang Tausende von Männchen hervor. Daß durch solche parthenogenetisch erzeugte Männchen auch die Möglichkeit einer latenten Ver- erbung von Arbeitereigenschaften gegeben ist, kann nicht in Abrede gestellt werden. ^) Im Bulletin of thc American Museum of Natural History. im Manuskript schon großenteils fertig war. Die Übereinstimmung unserer Beobachtungen sowie der Anschauungen, zu denen wir unabhängig von- einander gelangt waren, ist eine große. Bereits 1900 und 1901 hatte ich Königinnen von F. trun- cicola in gemischten Kolonien mit Arbeiterinnen von F. fusca zusammenlebend gefunden und diese Kolonien als ,, A d o p t i o n s k o 1 o n i e n" bezeichnet, da die truncicola-YMmgxn sich zur Gründung ihrer Kolonie bei fusca adoptieren läßt. Ich verfolgte dann in meinen Beobachtungsnestern die weitere Entwicklung dieser Kolonien, welche nach drei Jaiiren, nach dem Aussterben der ursprünglichen Hilfsameisen (fusca), zu einfachen, ungemischten truncicola'Ko\omen werden. Die truncicola-fusca- Kolonien sind also gleich den consocians-incerta- Kolonien Nordamerikas zeitweilig gemischte Adoptionskolonien. Während man früher diese Kolonien für „anormale" oder ,, zufällige" F'ormen gemischter Kolonien gehalten hatte, stellte sich jetzt heraus, daß die truncicola-fusca- Kolonien gese t z m ä ß ige P'ormen seien, ebenso gesetzmäßig, wie die dauernd gemischten Kolonien der sklavenhaltenden Formica sangiiinea. Was sie von letzteren unterscheidet, ist hauptsächlich der Umstand, daß truncicola nach dem Aussterben der ursprünglichen Hilfsameisen (fusca) keine neuen als Sklaven raubt und erzieht, während saiiguinca dies zu tun pflegt und eben dadurch zur „Sklavenhalterin" wird. Diese Erscheinungen schienen mir nicht ohne Bedeutung zu sein für die Erklärung des Sklaverei- instinktes. Nicht d as Ra u b e n fremder Puppen ist das Eigentümliche dieses Instinktes, sondern das Erziehen derselben zu Hilfsameisen der eigenen Kolonie. Warum erziehen also die sklavenhaltenden Ameisen die Puppen bestimmter fremder Arten ? Die Antwort hierauf schienen meine Versuche an den zeitweilig gemischten Kolonien von /". truncicola zu geben. Obwohl diese Ameise nach dem Aussterben der ursprünglichen Hilfs- ameisen keine Sklaven raubt, so behält sie doch die Neigung bei, gerade die Puppen ihrer ehe- maligen Hilfsameisenart, F. fusca, zu erziehen, wenn man ihr dieselbe in Beobachtungsnestern gibt. Diese Neigung beruht darauf, daß die Kolonien von truncicola regelmäßig mit Hilfe von fusca gegründet werden. Daher dürfen wir auch bei den sklavenhaltenden Ameisen die Neigung zur Erziehung bestimmter fremder Hilfs- ameisen darauf zurückführen, daß die Kolonien der Raubameisen mit Hilfe von Arbeiterinnen eben jener fremden Arten gegründet werden. In den folgenden Jahren') zeigten nun Versuche, daß selbst alte, schon seit vielen Jahren selb- ständige, ungemischte Kolonien von truncicola noch eine ausgesprochene Vorliebe besitzen für die Aufzucht von y?«c«-Puppen. Ebenso verhält sich auch Formica exsecta,-) welche ebenfalls ihre ') Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc., 1908. -) 1908 und Nachtrag. 404 Natu rwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 26 Kolonien regelmäßig mit Hilfe von fusca gründet. F. rii/a und pratensis dagegen, welche ihre neuen Niederlassungen meist durch Zweigkoloniebildung, nicht durch Aufnahme ihrer Königinnen bei fremden Ameisenarten, gründen, zeigten bei meinen Versuchen keine Neigung zur Aufzucht von fnsca- Puppen. Allerdings hatte ich in den letzten Jahren zweimal junge Adoptionskolonien gefunden, in denen eine r/c/rt-Königin durch fusca- Kxht\\.t.- rinnen aufgenommen worden war. Was jedoch bei der Koloniegründung von tnincicola und exsecta die Regel ist, bildet bei riifa und pratensis nur eine Ausnahmeerscheinung, und deshalb be- sitzen die letzteren Arten keine instinktive Nei- gung zur Aufzucht von /;«i:rt-Puppen. Nach den Erfahrungen mit Forniica tnincicola glaubte ich 1905 den Satz aufstellen zu dürfen: Der Grund, weshalb in den Raubkolonien der sklavenhaltenden Ameisen die Puppen bestimmter fremder Hilfsameisen erzogen werden, liegt darin, daß jene Kolonien mit Hilfe eben jener fremden Arten gegründet worden sind. Als allgemeinere Folgerung ergab sich hieraus: Die dauernd gemischten Kolonien der sklavenhaltenden Ameisen sind onto- genetisch und phylogenetisch aus zeit- weilig gemischten Adoptionskolonien hervorgegangen. Den stammesgeschicht- lichen Übergang der letzteren zu den ersteren suchte ich hauptsächlich in einer Änderung der Ernährungsweise der betreffenden Ameisen- art: indem sie fremde Ameisenpuppen als Beute zu jagen begann, wurde ihr die äußere Veranlassung dazu geboten, nach dem Aussterben der ursprüng- lichen Hilfsameisen in den Besitz neuer Puppen eben jener Art zu gelangen, welche sie dann auf- zog, während ihr die übrigen Puppen fremder Arten nur als Nahrung dienten. Während ich diese Anschauungen über den Ursprung der Sklaverei aus den zeitweilig ge- mischten Adoptionskolonien am 15. F'ebr. 1905 im Biologischen Centralblatt veröffentlichte, hatte Wheeler bereits einen Tag früher auf Grund seiner Beobachtungen dieselbe Ansicht ausge- sprochen.^) Die Priorität der Publikation gebührt also auch hierin Wheeler. Die ebenerwähnte Hypothese des stammes- geschichtlichen Ursprungs der Sklaverei aus dem temporären sozialen Parasitismus, die ich auch 1906 noch vertrat,-) bedurfte jedoch, um wirklich zutreffend zu sein, der folgenden veränderten Fassung: Nicht aus einer bereits end- gültig befestigten Form von gesetz- mäßigen, zeitweilig gemischten Adop- tionskolonien dürfen wir den Ursprung des Sklavereiinstinktes in der Gattung Fo rviica herleiten, sondern aus einem noch indifferenten Anfangsstadium des sozialen Parasitismus, bei welchem die Aufnahme der fremden Königin durch Arbeiterinnen einer Hilfsameisenart erst eine fakultative, noch keine obli- gatorische ist. Mit anderen Worten: Der Sklavereiinstinkt von Forniica sangiiinea läßt sich nicht direkt aus einem tnincicola- oder consocians- Stadium herleiten. Die sklavenhaltenden Kolonien stellen vielmehr eine von den temporär gemischten Adoptionskolonien divergierende Entwick- lungsrichtung dar, welche zwar auf einen gemein- samen Ausgangspunkt mit letzteren sich zurück- führen läßt, ohne daß sie jedoch eine unmittel- bare stammesgeschichtliche Beziehung unterein- ander besitzen. Auch hier waren es Wheeler's Forschungen, welche zu dieser Modifikation unserer Ansichten über den Zusammenhang zwischen sozialem Para- sitismus und Sklaverei den Weg bahnten. Schon im Jahre 1905 und noch eingehender im Jahre 1906 hatte sich Wheeler mit Versuchen über die Koloniegründung parasitischer und sklavenhalten- der Ameisen Nordamerikas beschäftigt. Er war dabei zu dem Ergebnisse gekommen, daß die Weibchen einer amerikanischen Rasse unserer blutroten Raubameise, F. rubicunda,^) ihre neuen Kolonien nicht durch Adoption in den Nestern einer Hilfsameisenart, sondern durch gewaltsames Eindringen und Puppenraub gründen. Obwohl Wheeler's damalige Versuche nicht mit normalen befruchteten Weibchen, sondern mit künstlich ent- flügelten unbefruchteten Weibchen angestellt worden waren, so erwies sich doch seine Ansicht über die Koloniegründung von /'". sangiiinea als begründet. Viehmeyer bestätigte dieselbe für unsere europäische blutrote Raubameise im Biolo- gischen Centralblatt 1908; auch meine Versuche, die mit 12 jungen, befruchteten Weibchen 1906 angestellt und im Biologischen Centralblatt 1908 veröffentlicht wurden, zeigten, daß die Königinnen dieser Art in fremden /iisca-Nesiern von den alten Arbeiterinnen nur sehr schwer aufgenommen werden, dafür aber die ausgesprochene Neigung besitzen, die Arbeiterpuppen derselben sich an- zueignen und zu erziehen; diese werden dann die ersten Hilfsameisen der jungen Raubameisenkolonie. Allerdings gibt es Übergänge zwischen dieser gewaltsamen Koloniegründung und der friedlichen Adoption ; in einem Falle gelang mir die Auf- nahme einer solchen sangni/ica-König'm durch alte Arbeiterinnen einer fusca Kolonie. Aber es geht aus jenen Versuchen doch hervor, daß die Königin von sangiiinea bei ihrer Koloniegründung meist auf eine andere, weit gewaltsamere Weise vorgeht als die Königin von tnincicola. Statt, wie diese, friedliche Aufnahme bei den alten Arbeiterinnen einer Hilfsameisenart zu suchen, geht ihr Streben ') Im Bullelia of the American Museum of Nat. Ilistory. ^) In der 3. Aufl. von ,, Biologie und Entwicklungstheorie", 10. Kap. ') Nach den neuesten Mitteilungen Wheeler's (1908) gründen auch zwei andere nordamerikanische Rassen von sanguinea^ nämlich stiöintegrn und asirva^ auf ähnliche Weise wie ruhkioida ihre neuen Kolonien. Versuche hierüber wurden von Wheeler auch mit befruchteten Weibchen angestellt. N. F. VIII. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 40s darnach, mit Gewalt in den Besitz von Arbeiter- puppen derselben sich zu setzen. Die Ansicht, daß die Raubkolonien von F. sanguima ontogene- tisch aus Adoptionskolonien hervorgehen, mußte daher aufgegeben werden. Phylogenetisch da- gegen müssen wir die Entstehung jener Raub- kolonicn immerhin wahrscheinlich von einem An- fangsstadium des sozialen Parasitismus ableiten,') wo die fremde Königin meist noch durch fried- liche Adoption in die Gesellschaft ihrer Hilfs- ameisen gelangte. Hierfür bieten sich uns nament- lich folgende Anhaltspunkte. Bei den zahlreichen Versuchen über Kolonie- gründung bei unseren Fonnica-iKxitn, die ich im Biologischen Centralblatt 1908 veröffentlichte, hatten einige Königinnen von F. ruja — welche be- kanntlich keine sklavenhaltende Ameise ist und auch ihre neuen Niederlassungen gewöhnlich mit Hilfe von .Arbeiterinnen der eigenen Art, nur selten durch Adoption bei /". fusca gründet — eine auffallende Neigung gezeigt, sich der Arbeiter- puppen von fusca zu bemächtigen und dieselben zu erziehen; in anderen Fällen aber ließen sich die r///rt-Weibchen durch alte /kffrt- Arbeiterinnen adoptieren. In dem Verhalten dieser ;-«/rt-Köni- ginnen finden wir daher einen Übergang zwischen der Koloniegründung von tnmcicola, welche sich stets bei alten fusca friedlich auf- nehmen läßt, und von sanguinca, welche meist mit Gewalt der yksYrtPuppen sich bemächtigt und mit den von ihr erzogenen jungen Hilfsameisen ihre neue Kolonie gründet. Betrachten wir das Be- nehmen der Arbeiterinnen von triincicola und rufa, so steht erstere dem sanguinea-'i\?i^\wm ent- schieden nälier als letztere; denn die truncicola- Arbeiterinnen haben, wie oben erwähnt wurde, eine besondere Neigung zur Erziehung von fusca- Puppen, die bei den /-«/'^-Arbeiterinnen fehlt. Be- rücksichtigen wir dagegen das Benehmen der Köni- ginnen, so steht rufa dem sanguinca-'sX.'a.^wivn. näher als truiicicola. Da aber die befruchteten Weibchen die normalen Träger der Vererbung bei den Ameisen sind, dürfen wir wohl für den stammesgeschichtlichen Ursprung des Sklaverei- instinktes von sanguinca annehmen, daß derselbe von einem r/^^r-ähnlichen Stadium ausging. Ich sage: von einem /7//rt- ähnlichen Stadium; denn an eine direkte Abstammung unserer sanguinca von rufa ist ebensowenig zu denken wie an eine direkte Abstammung unserer sanguinca von truncicola. Was ergibt sich hieraus für den stammesge- schichtlichen Zusammenhang zwischen sozialem Parisitismus und Sklaverei bei den Ameisen, spe- ziell bei der Gattung Foniiica .- Den ursprüng- lichen Typus bilden jene Arten (z. B. F. fusca und rufibarbis), deren Königinnen ihre neuen Kolonien allein, ohne Hilfe von Arbeiterinnen ') Für die Raubkolonien von Harfagoxeniis (Tomogtuilhiis) gilt dies vielleicht nicht. Diese sind wahrscheinlich aus zu- sammengesetzten Nestern entstanden (nach VVasmann und Viehmeyer). gründen. Hieran schließen sich jene Arten (z. B. F. rufa und pratensis) , deren Weibchen bereits die Fähigkeit verloren haben, ihre neuen Kolonien _ ohne Hilfe von Arbeiterinnen zu gründen;') meist benutzen sie hierzu noch Arbeiterinnen der eigenen Art, die den Weibchen nach dem Paarungsfluge begegnen ; je seltener aber diese Gelegenheit wird, desto öfter müssen ihre Königinnen bei Arbeite- rinnen fremder Arten Aufnahme suchen. Hier beginnt also bereits die abhängige Kolonie- gründung. Von diesem Punkte aus führen zwei verschiedene Entwicklungsrichtungen, die sich immer weiter voneinander entfernen: einer- seits zum sozialen Parasitismus, andererseits zur Sklavenzucht. Den ersteren Pfad haben jene Arten eingeschlagen, welche (wie F. truncicola, consocians, exsccta usw.) ihre neuen Kolonien regelmäßig durch friedliche Adoption bei fremden Hilfsameisen gründen; den letzteren haben jene Arten verfolgt, welche (wie F. sanguinca) Sklavenräuber geworden sind und deren Königinnen ihre Kolonien meist nicht mehr auf friedlichem Wege, sondern durch gewaltsame Annexion von Arbeiterpuppen grün- den. Diese beiden Entwicklungsrichtungen unterscheiden sich voneinander in psychologischer und in morphologischer Beziehung. Die König- innen der parasitischen Richtung haben einen friedlicheren Charakter und eine geringere Körper- größe; letzteres zeigt sich bei uns namentlich an den Weibchen von F. exsccta, während Wheeler aus Nordamerika bei einer Reihe parasitischer Formica- Arten kleine Weibchen erwähnt. Da- gegen nimmt bei den Königinnen der dulotischen (sklavenhaltenden) Entwicklungsrichtung die Kör- pergröße der Königinnen meist nicht ab, '") und ihre Kraft und Kampflust nehmen zu. Die Raub- lust der Weibchen und Arbeiterinnen, die anfangs nur in gelegentlicher (fakultativer) Sklavenzucht sich äußerte, steigert sich und führt dadurch zu den gesetzmäßigen (obligatorischen) F"ormen der Sklavenhalterei. So können wir uns die Entwicklung sowohl des temporären sozialen Parasitismus wie der Sklavenzucht in der Gattung Formica, von einem gemeinsamen Ausgangspunkte in entgegenge- setzter Richtung immer weiter fortschreitend, hypothetisch vorstellen. Verfolgen wir die Entwicklungsbahn der sklavenraubenden For- mica-h.xX.ex\ weiter bis zur Gattung Polyergus, die auf dem Höhepunkt des Sklavereiinstinktes steht, so sehen wir bereits den Beginn der parasitischen Degeneration. Mit dem glänzenden Kriegertalent dieser Amazonenameisen, das auch in ihren Säbel- kiefern morphologisch sich ausdrückt, geht ihre Unfähigkeit, ohne Hilfe von „Sklaven" zu existie- ') Wie diese Erscheinung im Zusammenhang steht mit dem Haufenbau dieser Arten und dem riesigen Vollsswachs- tum ihrer Nester, habe ich bereits 1905 und 1906 gezeigt. ■^) Variationen Isommen auch hier vor. So hat z. B. die nordamerikanische /'. sangtiinta submtegra kleinere Weibchen als sa>iguiiiea riibkunda, obwohl erstere mehr Sklaven hält als letztere (Wheeler 190S). 4o6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 26 ren , Hand in Hand. Nicht bloß in bezug auf Nestbau und Brutpflege, sondern auch in bezug auf die Nahrungsaufnahme stehen diese „Herren" bereits in absoluter Abhängigkeit von ihren Hilfs- ameisen. Damit hängt es wohl zusammen , daß die Königinnen von Polycrgus keinen Instinkt, Sklavenpuppen zu rauben und zu erziehen, zeigen; sie sind zur Koloniegründung durch friedliche Adoption in den Nestern ihrer Hilfsameisenarten zurückgekehrt. So nähert sich denn der abstei- gende Ast der Entwicklungskurve des Sklaverei- instinktes dem dauernden sozialen Para- sitismus, während der aufsteigende Ast jener Kurve ursprünglich aus einem Anfangsstadium des zeitweiligen sozialen Parasitismus hervorging. Auch Wheeler ist in seiner neuesten Publika- tion von 1908 geneigt, die Entstehung des Skla- vereiinstinktes der amerikanischen Rassen von F. sanguinca aus einem /-«/irähnlichen Stadium an- zunehmen, obwohl er andererseits auf die Schwierig- keiten aufmerksam macht, welche gegen diese Hypothese geltend gemacht werden können. Von Wichtigkeit für das Verständnis des so- zialen Parasitismus bei den Ameisen waren auch die Beobachtungen und Versuche Santschi's in Tunesien über die Koloniegründung von Wheele- riella Santschii (Fig. 4) bei Monomorium Salovio- nis und von Bot/irioiiiyniwx vicridionalis bei Tapinovia nigerrimuvi; erstere wurden von Forel, letztere von Santschi selber 1906 veröffentlicht. Wlieelcriella steht bereits auf einer relativ tiefen Stufe des Parasitismus, indem sie die eigene Arbeiterform verloren hat. Ihre befruchteten Weibchen lassen sich in einer il/wwwö/'/«w- Kolonie adoptieren, und die Arbeiterinnen der letzteren bringen dann ihre eigene Königin um, an deren Stelle die Wheeler iclla-YJom'gxn tritt. Botliriomyr- mex dagegen befindet sich in einem Anfangs- stadium des sozialen Schmarotzertums und besitzt eigene Arbeiterinnen. Ihre befruchteten Weibchen dringen in einen Teil einer 7r(;/>///(>;«rt-Kolonie ein und töten oder vertreiben die angestammte Königin. Der Umstand, daß es meist ein Teil einer weit- verzweigten Tapinonia - Kolonie ist , der durch Bothrioinynnex infiziert wird, brachte Santschi auf den Gedanken , den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen aus der Spaltungshypothese zu erklären, welche v. Hagens schon 1876 für die Entstehung der gemischten Kolonien von Anergates mit Tetraiiwrium aufgestellt hatte. In- dem in einem Teile einer größeren Hilfsameisen- kolonie die fremde Königin aufgenommen ward, wurde den Arbeiterinnen der parasitischen Art Gelegenheit geboten, in den Besitz von Arbeiter- puppen der Hilfsameisenart zu gelangen , die in anderen Zweignestern derselben Kolonie sich be- fanden. Hieraus soll allmählich bei der parasiti- schen Art ein gesetzmäßiger Sklavereiinstinkt ent- standen sein, der dann — nach dem Aussterben der eigenen Arbeiterform — zum extremen sozia- len Parasitismus herabsank. Diese Spaltungs- hypothese, die ich im Biol. Centralbl. 1908 näher erörterte, kann wohl als Hilfshypothese Geltung haben. Ob wir ihr allgemeinere Bedeutung bei- messen dürfen, ist fraglich. Es herrscht auch noch Dunkel darüber, wie bei der Koloniegründung von Forinica truncicola und anderen parasitischen Foniiica - Ar\.e.t\ die Königin der Hilfsameisenart aus dem Neste verschwindet.') Nach meinen Be- obachtungen scheint die Aufnahme der truncicola- Königin gewöhnlich nur in solchen /"«jar-Kolonien zu erfolgen, die ihre eigene Königin bereits vor- her durch den Tod verloren haben, also in weisellosen Kolonien, nicht in einem Teile einer größeren Kolonie, die noch ihre eigene Königin besitzt. Ähnliches gilt nach Wheeler auch für die Koloniegründung von /". consocians bei /". incerta. Jedenfalls aber dürfen wir auch bei der Spaltungs- hypothese den Ursprung der Sklaverei nur aus einem noch indifferenten Anfangsstadium des so- zialen Parasitismus herleiten , nicht aus einer be- reits weiter fortgeschrittenen und fixierten Form desselben. Die 1908 von F. de La n noy veröffentlichten Beobachtungen über die gemischten Kolonien von Lasuts ßiligiiwsiis mit Las. mixtus bieten , wie auch Emery und Forel schon hervorhoben, einige Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Königinnen von /,. fiiliginosus ihre neuen Kolonien mit Hilfe der Arbeiterinnen von L. mixtus gründen. Auch die relative Kleinheit der Weibchen von fuligiiiosus stimmt mit dieser Annahme gut überein. Die Forschungen der letzten Jahre haben uns eine Fülle neuer interessanter Tatsachen auf dem Gebiete des sozialen Parasitismus und der Skla- verei bei den Ameisen gebracht ; sie haben aber zugleich auch gezeigt, daß die stammesgeschicht- lichen Beziehungen zwischen diesen beiden Er- scheinungsformen der gemischten Kolonien viel verwickelter und schwieriger zu lösen sind, als man früher glaubte. Vor allem haben sie gezeigt, daß von einer einheitlichen realen Stam- mesentwicklung der Sklaverei und des Para- sitismus bei den Ameisen keine Rede sein kann: wir müssen vielmehr eine Reihe verschie- dener, voneinander unabhängiger Ent- wicklungsprozesse annehmen, welche bei verschiedenen Gattungen und Arten aus verschiedenen Unter familien zu verschiedenen geologischen Zeiten be- gannen und verschieden weit fortge- schritten sind; und auch diese ein- zelnen Entwicklungsprozesse können wir nur mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Grund der Tatsachen hypothetisch rekonstruieren. Daß eine Sklavenjägerin wie Polyergus , die heute auf dem Höhepunkt des Sklavereiinstinktes steht, durch eine prähistorische Entwicklung ihres Sklavereiinstinktes zu dieser Höhe emporstieg; daß in der Gattung Stvongylognatlius eine ab- ') Siehe den Nachtrag. N. F. VIII. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 407 steigende Entwicklung des Sklavereiinstinktes sich vollzog, indem die nördlichste Art {tcstaci'Hs) schon zum permanenten sozialen Parasitismus übergegangen ist, während die südlichen Arten noch Sklavenräubcr sind; daß eine arbeiterlose .■\meise wie Aiu-rgatis früher eine Arbeiterform besaß und bis zur tiefsten Stufe der parasiti- schen Degeneration ihrer Symbiose erst im Laufe einer langen Entwicklung herabsank — das er- scheint ja alles recht einleuchtend. Aber sobald wir uns fragen, wie wirdiese Entwicklungs- prozesse uns vorzustellen haben, be- ginnen die Schwierigkeiten der Erklärung. Wenn wir die aufsteigende Stammesgeschichte der Sklaverei bei der Gattung Foniiica prüfen, so können wir wohl mit Wahrscheinlichkeit sagen, daß dieselbe von einem noch indifferenten (ni/a- ähnlichen) Anfangsstadium des zeitweiligen sozialen Parasitismus ausgegangen sein dürfte. Wenn wir ferner die weitere Entwicklung dieses Instinktes bei Fonnica verfolgen , so können wir ebenfalls mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Ama- zonen der Gattung Polycrgus den Gipfelpunkt dieser realen Entwicklungsreihe bilden, und daß ein 5«;/o'/^/«<'rt - ähnliches Stadium ehemals der Durchgangspunkt zum heutigen Polycrgus - Sta- dium gewesen sei. Aber hiermit ist die hypo- thetische Geschichte des Sklavereiinstinktes bei den Camponotini zu Ende. Daß Polyergus später einmal ein permanenter sozialer Parasit seiner Hilfsanieisen sein werde wie Strongylognatlnis testaceus unter den Myrmicini es heute ist, können wir nur ver- muten. Bei dem Sklavereiinstinkt der sklaven- raubenden Strongylognathus- tKx\.zn fehlen uns die Anhaltspunkte zur Rekonstruktion der Vorge- schichte desselben gänzlich ; und bei Str. testaceus, der bereits zum Parasiten seiner Hilfsameisen ge- worden ist, wissen wir nicht, ob er vielleicht später durch das gänzliche Aussterben der eigenen Arbeiterkaste auf die tiefste Stufe des sozialen Parasitismus herabsinken wird. Bei den arbeiter- losen Myrmicinengattungen endlich wissen wir nicht, auf welchem Wege sie ihre ehemalige Arbeiterform verloren haben. Einer dieser Wege ist allerdings die Degeneration eines ehemaligen Sklavereiinstinktes, aber es gibt noch andere Wege, die zu demselben extrem parasitischen Endver- hältnis führen können. Einer dieser Wege ist die Degeneration eines ehemaligen Gastverhält- nisses, welche ebenfalls den Verlust der eigenen Arbeiterkaste bei der Gastameise veranlassen kann. Ein anderer Weg ist die direkte Weiterentwick- lung des temporären zum permanenten sozialen Parasitismus; auch hierbei kann die Arbeiterform der parasitischen Art schließlich in Wegfall kom- men. Es ist daher wohl möglich und einiger- maßen wahrscheinlich, daß die Gattung Anergates ehemals ein Entwicklungsstadium durchmachte, welches dem gegenwärtigen Zustande von Stron- gylognatlnis testaceus analog war, und daß sie durch die stufenweise Degeneration eines ehe- maligen Sklavereiinstinktes bis zum tiefsten sozialen Parasitismus herabgesunken ist; aber mehr können wir nicht behaupten, da es auch noch andere Entwicklungswege gab. So lehrt uns denn die Geschichte des sozialen Parasitismus und der Sklaverei einerseits den Wert der stammesgeschichtlichen Hypothesen zum besseren, einheitlicheren Verständnis der tatsäch- lichen Forschungsergebnisse nicht zu unterschätzen; jene Hypothesen haben nicht bloß einen hohen heuristischen Wert, indem sie zu neuen For- schungen anregen, sie haben auch einen Erkennt- niswert für den Zusammenhang der tatsächlichen Erscheinungen. Andererseits aber lehrt uns die genauere Prüfung dieser Hypothesen auch , daß wir sie nicht überschätzen dürfen; sie sind und bleiben eben nur Hypothesen, die durch jedes neue Forschungsergebnis wieder eine andere Ge- stalt annehmen können. Sie werden niemals „historische Tatsache". Nachtrag. Emery hat kürzlich ,,Neue Beobachtungen und Versuche über die Amazonenameise" (Bologna 1909) veröffentlicht. Eine Polycrgus-YJ6n\gm, die in einer kleinen /«AYvr-Kolonie aufgenommen worden war, tötete die //«(.'«-Königin durch einen Biß in den Kopf. Ähnlich verlief ein Versuch, den ich im Mai 1909 mit einer bei fiisca adop- tierten ;'///«-Königin anstellte: letztere biß nach einigen Tagen der ///A'^r-Königin den Kopf ab ! Hiernach ist anzunehmen, daß auch die Iruncicola- Königin ebenso verfährt, wenn in dem fusca-Y^tiXc noch eine Königin der letzteren Art vorhanden ist. Die im Biol. Centralbl. 1909, Nr. 1 1 erschienene Arbeit Emery 's „Über den Ursprung der dulo- tischen, parasitischen und myrmekophilen Ameisen" konnte ich hier nicht mehr berücksichtigen, da meine Arbeit schon vor einem halben Jahre an die Redaktion der Naturw. Wochenschr. einge- sandt worden war. Ich werde Emery's neue Theorie demnächst im Biolog. Centralblatt kritisch besprechen. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Paläozoologie. — Ich werde (umfassende Arbeiten und Theorie) behandelt, in den Sammclreferaten über Paläozoologie unter Später sollen Werke speziellen Inhalts (a) Paläo- Umständen bis auf das Jahr 1900 zurückgreifen. Zoologie, eingeteilt nach den systematischen Grup- Diesmal sind zunächst Werke allgemeinen Inhaltes pen, b) Stratigraphische Paläozoologie, soweit diese 4oS Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 26 nicht ins vorwiegend geologische Gebiet fällt) und c) Technik der Paläozoologie folgen. Paläozoologisch e Arbeiten allge- meineren Inhalts. In der zweiten Auflage seiner Einführung in die Paläontologie (G. Stein mann Leipzig, Wilh. Engelmann 1907) und in „Geologische Grundlagen der Abstam- mungslehre" (Engelmann 1908) entwickelt Steinmann über die Abstammung der Lebewesen ganz merkwürdige Anschauungen, die von allem bisher Vertretenen so stark abweichen , daß es sich lohnt, dieses Thema hier näher zu erörtern. Als Darwin der Entwicklungstheorie zum Siege verholfen hatte, stellten vergleichende Ana- tomen und Zoologen besonders in Deutschland sehr bald hypothetische Stammbäume auf. Die ersten und bekanntesten Versuche dieser Art gingen wohl von Gegen baur und Ernst Haeckel aus. Sie fußten im großen ganzen auf den bis dahin schon gebräuchlichen Systemen der Botanik und Zoologie, soweit diese als „natürliche" gelten konnten, und die Gesichtspunkte, welche in erster Linie als maßgebend erachtet wurden, waren die Gesichtspunkte der vergleichenden Anatomie, in geringerem Grade auch die der Ontogenie. Man verglich also die Reihen der sogenannten homo- logen Organe bei der heute lebenden Tierwelt, d. h. solcher Organe, die einen gleichen Grund- plan zeigten und somit als Zeugen einer fort- schreitenden Entwicklung oder doch Beweise für eine gleiche Abkunft angesehen werden konnten. Und indem man die Gleichheit oder Verschieden- heit des gesamten Bauplans und die größere oder geringere Ähnlichkeit aller seiner Organe in Be- tracht zog, konstruierte man die natürlichen Gruppen näherer oder entfernterer Verwandtschaft zunächst aus den anatomischen Verhältnissen der heutigen Lebewelt unter Zuhilfenahme derjenigen Winke, welche die allerdings vielfach modifizierte Wiederholung der Stammesgeschichte in der On- togenie darbot. Die ausgestorbenen Typen fügte man, so gut es nach den mehr oder minder unvollständigen Schal- und Knochenresten tunlich war, in das System ein; und es ließ sich in vielen Fällen dann auch dartun, daß manche ausgestorbenen Typen, die sogenannten ,, prophetischen Typen" Merkmale aufwiesen, die heute an mehrere — wahrscheinlich von ihnen abstammende Tier- zweige verteilt sind. Solche Typen waren z. B. die Stegocephalen, welche Züge vereinigt zeigen, die heute teils Amphibien teils Reptilien zu- kommen. Wenn nun auch im einzelnen über die Ent- wicklungswege sehr große Meinungsverschiedenheit stets geherrscht hat und wohl immer herrschen wird, so einigte man sich doch ziemlich allge- mein auf das bekannte Entwicklungsschema, das aus den Protisten erst Gasträaden , aus diesen einerseits die Cölenteraten, andererseits die Würmer, aus den Würmern wieder die 4 höheren Tier- stämme gesondert hervorgehen läßt. Was die Vertebraten betrifft, so sind heute fast alle For- scher darüber einig, daß die Ascidien und Acraneer der Wurzel dieses Tierstammes nahestehen, einerlei ob durch Zurückbleiben oder Rückbildung, daß andererseits aus niedern Fischen die Amphibien, aus ihnen die Reptilien, aus diesen die Vögel, und daß die Säugetiere entweder aus Amphibien oder niederen Reptilien mit nur einem oder mit wenigen Wurzelstämmen hervorgegangen seien. Eine interessante Modifikation dieser Anschau- ungen hat der Paläontolog O. Jäke 1 seit längerer Zeit in Vorträgen undimColleg vertreten') und zwar auf Grund seiner paläontologischen Be- funde an alten Wirbeltierformen. Jäkel kehrt die Stammreihe der Wirbeltiere teilweise um : Die ältesten bekannten Landtetrapoden stammen nach ihm nicht von Fischen, sondern von land- bewohnenden, unbekannten Vorfahren, von denen auch die Fische durch eine Art Degeneration sich ■ herleiten, von den Fischen abermals durch Degene- ration die Chordaten. Diese Anschauung beruht auf paläontologischen Untersuchungen an alten Wirbeltieren (Fischen und Stegocephalen) bei denen die Schädelelemente und Extremitäten als besonders primitiv angesehen werden. Jäkel glaubt hieraus zu erkennen, daß die P'losse auf eine geknickte Extremität zurückzu- führen sei, die nur durch Landleben erklärbar werde. Ebenso zeige das einheitliche knorpelige ,,Primordialcranium" der Selachier nicht den primi- tivsten Zustand, und eine ältere Gruppe (Acan- thodes) zeigt diejenigen Schädelelemente in dem knorpeligen Cranium noch als getrennte Ossi- fikationszentren, welche auch am Schädel der Tetrapoden sich sondern. Der hintere Schädel- teil von der Epiphyse an kann dann aus den- selben Urelementen hergeleitet werden, aus denen auch die Wirbel entstanden. Ebenso sind dann die Kiefer, der Zungenbogen, die Kiemenbögen und Rippenbögen, Schulter- und Beckengürtel ur- sprünglich homologe Elemente. Der Unterkiefer der höheren Tetrapoden be- steht aus denselben Elementen wie der der ältesten Formen, das Kiefergelenk hat sich nicht verschoben, und die einzelnen Teile, von denen der sogenannte Meckel'sche Knorpel zwei umfaßt, sind noch embryologisch -in ihrer Abgrenzung zu erkennen. Das Ringskelett aus lauter umgreifenden, in Stücke zerlegten Spangen bestehend, der bei der Hypophyse ehemals durch einen „Schlundring" brechende „Urmund", vielleicht auch die an Spalt- füße erinnernde Anordnung von Schulter und Beckengürtel würden endlich in Verbindung mit der Umkehrungstheorie den Ursprung des Verte- bratenstammbaums in die Nähe des Arthropoden- ') Eine umfassende Veröffentlichung über diese Ideen ist noch nicht erschienen. N. F. VIII. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 409 Stammes rücken. Selien wir von diesem frag- lichen genetischen Zusammenhang mit den .■Arthropoden ab, der bei der anatomischen Ent- gegengesetztheit aller Verhältnisse sehr gewagt erscheint, während die Analogien sich wohl eben- sogut aus der gemeinsamen Wurzel in viel älteren Wurmtypen erklären ließen, so stellt Jäkel's An- schauung eine in allen ihren Teilen gut zusammen- stimmende Theorie dar, die aber auch mit den älteren von zoologischer Seite geäußerten An schauungen über Verwandtschaft großenteils zu- sammenfällt, nur daß sie den gleichen Entwick- lungspfnd teilweise in umgekehrter Richtung von den Vertebraten durchlaufen läßt, so daß nun- mehr z. B. nicht die Lunge von der Fischblase, sondern die Fischblase von der Lunge abgeleitet wird. Eine solche Umkehrung der Entwicklungs- richtung unter Beibehaltung des Entwicklungs- pfades ist ja auch anderweitig mehrfach versucht worden, so besonders bei den Echinodermen, wo die einen in den Holothurien oder in den See- sternen die Wurzel der Gruppe, die anderen in denselben Formen das Endglied der Entwicklung suchten. Einen von allem dagewesenen ab- weichenden Weg will nun aber Steinmann gehen, indem er die Entwicklung quer weggehen läßt über diejenigen Linien, welche man bisher als Spuren der Entwicklungsstraße ansah. Gewiß ist ein solcher Versuch geistvoll und interessant, und im einzelnen mag an Steinmann's Hinweisen manches Beachtenswerte und Wahre sein. — Im großen ganzen treibt er dann seine Folgerungen aber doch so ins Phantastische und Ungeheuerliche und hat so sehr die ganze Wucht der bisher er- mittelten Tatsachen gegen sich, daß man nur er- staunen kann, wie ein Mann von solchem Wissen und so weitem Gesichtskreis sich auf so unsichere Wege verirren konnte. Sleinmann geht von der tatsächlichen Schwierig- keit aus, daß nach den bisherigen systematischen Begriffen große, weitverbreitete Verwandtschafts- kreise in Tier- und Pflanzenwelt relativ plötzlich ausgestorben und andere Verwandtschaftskreise schnell von einem Entstehungszentrum aus sich entwickelt und an ihre Stelle gesetzt hätten. Diesen Vorgang hält er für außerordentlich un- wahrscheinlich. So sei es z. B. höchst unwahr- scheinlich, daß die weitverbreitete und an die verschiedensten Lebenselemente: Land, Wasser und Luft wohl angepaßte Gruppe der mesozoischen Saurier mit Ende der Kreidezeit plötzlich erlosch, und daß eine ganz neue Stammreihe, die der Säugetiere, fast unvermittelt und schon im ältesten Tertiär in ihre charakteristischen Gruppen: Mono tremata, Marsupialia, Insectivora, Chiroptera, Prosi- miae, Creodontia, Ungulata, Cetacea und Edentata geteilt an ihre Stelle trat, während aus dem Mesozoikum nur für die monotremen Beuteltiere , und Insektenfresser Vorfahren bekannt sind. Einen gangbaren Ausweg sieht er darin, in diesem Falle die verschiedenen Säugetierstämme direkt von Reptilstämmen abzuleiten, so z. B. die Glyptodontiden von Schildkröten, die drei Stämme der Meeressäugetiere (Delphinidae, Physeteridae, Mystacoceti) von den Meeresreptilien (Ichthyosauria, Plesiosauria, Thalattosauria), die Chiroptera von den Flattersauriern (?) usw. Kurz, Steinmann nimmt an, daß alle diejenigen Merkmale, die man bisher stets nur als Wirkungen konvergenter Züchtung durch gleiche Lebens- bedingungen erklärte, wirkliche Stammesverwandl- schaft ausdrücken, während umgekehrt diejenigen Merkmale, welche man bisher als Zeichen der gemeinsamen Abkunft großer Kreise ansah, wie die Haare der Säugetiere, ihre Lungenatmung, ihr warmes Blut usw. nichts sind als eine von allen Tierstämmen mit der Zeit, infolge gleicher physiologischer und ökologischer Vorbedingungen erreichte „Organisationsstufe". In einzelnen Fällen mag ja nun bei ausreichen- der Begründung eine solche Auffassung tatsächlich anwendbar und lichtbringend sein; es mag seine Berechtigung haben hier und da eine polyphyle- tische oder doch pliophyletische Entwicklung aus einer Stammgruppe in mehreren nebeneinander- herlaufenden Reihen anzunehmen, wie ja z. B. Diener merkwürdige Parallelreihen und sogar kon- vergierende Reihen bei den Ceratiten der indischen Trias beschrieben hat (Centralbl. f Min. Geol. u. Pal. Jg. 1907), so kann man vielleicht armehmen, daß der Übergang von den Sauriern zu den Vögeln in breiterem Strom oder mehrmalig er- folgte, da hier in der Hauptsache nur ein Fort- schritt in der Kälteanpassung (Erhöhung der Blutwärme und Umwandlung der Schuppe in die Feder) zu erfolgen hatte. Freilich wird man auch hier wohl kaum mit Steinmann annehmen wollen, daß jeder Vogeltypus direkt aus einer besonderen Saurierart hervorging, der Kasuar aus Ceratosaurus, weil er einen Knochenzapfen auf der Nase hat, und die anderen Laufvögel wieder von anderen Dinosauriern. Ein derart polyphyletischer Ursprung der Vogelfeder wäre denn doch ein wenig unbegreiflich. Ebenso ist es wohl denkbar, daß die Säuge- tiere unter Einwirkung gleicher Bedingungen sich in 2 oder 3 gesonderten Zweigen aus einer Gruppe des Amphibien- oder Reptilienstammes ablösten, daß also vielleicht die Monotremen, vielleicht auch die Marsupialier eine andere Wurzel haben als die Placentalier. Immerhin müssen die Ansatzpunkte sehr nahe beieinander liegen, da der gemeinsame Besitz so allverbreiteter Merkmale, wie es das Haarkleid, der doppelte Kondylus, die vorge- schrittene Brutpflege und Wärmeanpassung im Verein mit dem Bau des Gesichtschädels usw. ist, nur als gemeinsames Erbteil, aber nicht als An- passung logisch erklärt werden kann. Vollends absurd wird dieser Gedanke, wenn man auch hier wieder, wie Steinmann, jede Säuger- gattung ; von einer besonderen Reptilgattung ab- leiten möchte: die Zahnwale von Plesiosaurus, die Bartenwale von Thalattosauriern (Mosasauriern), 4IO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 26 die Delphine von Ichthyosauriern, die Chiroptera trotz der gänzlich verschiedenen Spannung ihrer Flughaut anscheinend von Pterosauriern , die Glyptodonten von Schildkröten, die Bovidcn von Ceratopsiden (also von Dinosauriern, während aus anderen Dinosauriern [Stegosaurus] Vögel wurden!) usw. Aber hiermit nicht genug! Steinmann dehnt diese Art der Anknüpfung verwandschaftlicher Beziehungen in bunter Mannigfaltigkeit kreuz und quer über das gesamte Tierreich aus. Die weit- gehendsten Spekulationen werden hier besonders dadurch ermöglicht, daß er mit Vorliebe ausge- storbene Tiere, von denen man nur die Schale kennt, mit rezenten Tieren vergleicht, die diese Schale ganz oder größtenteils verloren haben, so daß ein wirklicher Vergleich unmöglich wird. So leitet er bekanntlich den lebenden Argonauta von Kreideammoniten ab, und neuerdings sucht er wahrscheinlich zu machen, daß ein Teil der Tunikaten, die sessilen Ascidien, von "Mollusken (Rudisten), ein anderer Teil, die Salpen, von Bra- chiopoden abstamme. Bedenklich ist hierbei, daß sein Beweis für den Zusammenhang der Ascidien mit den ausgestorbenen (also in ihrer Organisation fast unbekannten) Rudisten viel über- zeugender wirkt als die Gründe für den Zu- sammenhang von Salpen und Brachiopoden, den man an lebendem Material nachprüfen kann. In dieser Weise ist es für Steinmann meist leicht, „geschlossene" Stammreihen aufzustellen, da er kühn und ohne Rücksicht auf die Organisation der großen Gruppen Verbindungslinien zwischen lebenden und solchen ausgestorbenen Tieren zieht, deren Anatomie großenteils unbekannt ist. Sehr plastisch und fruchtbar sind für ihn die Trilobiten, da er von ihnen vermutungsweise ab- leitet: I. die Isopoden, 2. die Decapoden, 3. die Cirripedia (indem der Trilobit seitlich festwuchs), 4. einen Teil der Spinnen, während ein anderer Teil wieder von Gigantostraken abstammt, 5. die Insekten, 6. endlich noch die — Panzerfische. Für Steinmann sind schließlich nur noch die Rassencharaktere (Habitus und Größe) konstant, die Organisation ist flüssig und kann bei gleichen physiologischen Anforderungen immer wieder in Hunderten und tausenden von Fällen polyphyletisch erreicht werden. Er sucht sich also aus allen Tierklassen Vertreter von ähnlichem äußeren Habitus aus und verbindet sie durch Linien, die quer durch das übliche System nebeneinander herlaufen. Daß auch hierdurch die von ihm ge- rügte UnvoUständigkeit der Entwicklungsreihen nicht verschwindet, daß nun vielmehr fast eben- sogroße Lücken, nur an anderen Stellen klaffen, beachtet er nicht, ebensowenig die Unmöglichkeit, weitverbreitete, komplizierte, zweckmäßige Organi- sationen zu erklären, die nur durch akkumulative Auslese verständlich werden. Fragt man sich, wie ein solcher revolutionie- render Versuch überhaupt möglich ist, so kann man als Grund nur einen bis zur Mystik über- triebenen Lamarekismus (im vitalistischen Sinne) und eine heute leider übliche Überschätzung der paläontologischen Daten gegenüber dem zoologisch- anatomischen Wissen bezeichnen. Wie kann man denn erwarten, heute schon einigermaßen lückenlose paläontologische Stamm- reihen, wie kann man erwarten, für das Aussterben der alten Arten die Ursachen zu kennen? Wir kennen kaum die Ursachen für die Vermehrung oder den Rückgang der lebenden Tiere, Stein- mann aber behauptet, nur der Mensch aliein bringe Tiere zum Aussterben. Sind die exotischen Regenwürmer, die heute von den europäischen Arten verdrängt werden, durch den Menschen zum Aussterben gebracht ? Der Mensch hat frei- lich die europäischen Arten ins Land gebracht — aber derartige Wanderungen konnten doch auch ohne den Menschen erfolgen. Ist die europäische Ratte durch den Menschen verdrängt? Ist es z. B. wahrscheinlich, daß ein flüchtiges Tier wie das Pferd in einem schwach besiedelten Lande wie Amerika durch die Urbewohner ausgerottet wurde ? In kurzer Zeit ist der afrikanische Büffel durch ein kleines Insekt, den Überträger der Rinderpest, fast in ganz Afrika zum Aussterben gebracht. Wäre ein solcher Vorgang in der Vorzeit er- folgt, so würden wir keine Ahnung über seine Ursache haben. Wir wollen doch unser Wissen über ökologische Vorgänge in der Erdgeschichte ja nicht überschätzen ! Die ökologischen Be- ziehungen zwischen den Lebewesen, besonders auch zwischen Pflanze und Tier, sind so kompli- ziert und eng verflochten, daß eine geringe Ver- schiebung in einer Gruppe die unberechenbarsten Folgen nach sich ziehen kann , deren Ursachen wir oft nicht einmal da ergründen können, wo sie vor unseren Augen sich abspielen, viel weniger in der Vorzeit! Ein treffliches Beispiel für die überraschenden Folgen solcher Verschiebungen innerhalb der Tier- welt auf die Flora eines Gebietes und selbst auf sein Klima, ist das Verschwinden der Vegetation in weiten Gebieten der Kalahari, die großenteils darauf zu beruhen scheint, daß der Grassamen nach Ausrottung der Antilopenherden nicht mehr mit deren Kot vermischt zur Aussaat kommt. Die Vernichtung der Plora hat wieder eine Zu- nahme der Trockeniieit im Gefolge, diese eine weitere Verdrängung des organischen Lebens. Auf diese Verhältnisse weist S. Passarge in einem kurzen Aufsatze hin, der, wenn ich nicht irre, vor einigen Jahren im Globus abgedruckt war. Auf ein solches Zusammenwirken unzähliger Beziehungen physiologischer und ökologischer, z. B. klimatischer, Natur usw. führt Johannes Walther (Geschichte der Erde und des Lebens Verlag bei Veit & Comp., Leipzig 1908, 570 S., 353 Abb.) den Verlauf der organischen Entwick- lung zurück. Je nachdem die begünstigenden, beschleunigenden und schädlichen oder hemmen- den Einflüsse sich die Wage halten, was meist lange Zeit hindurch der I<"all sein wird, oder die N. F. VIII. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 411 ersten oder letzten einmal das Übergewicht be- kommen , indem sich die Wirkungen nach einer Seite hin summieren, erfolgt ruhige Entwicklung bzw. Stillstand oder ein plötzliches gewaltiges Aufblühen oder Hinsterben ganzer Gruppen. Eine solche Auffassung entspricht den natür- lichen \''oraussetzungen, also der Wahrscheinlich- keit. Über die wirklichen Ursachen dieser Erscheinungen in der Vorzeit werden wir nur in den allerseltensten Fällen mehr als eine Vermutung aussprechen können. So erklärt Walther z. B. das Aufblühen der Tierstämme im Silur ver- mutungsweise durch die Einwanderung lebens- kräftiger Geschlechter von Westen her in neue Wohngebiete. Auf ein zufälliges Zusammentreffen vieler sich summierender Wirkungen führt Walther auch das große Sterben älterer Stämme (Saurier, Cephalo- poden) zu Ende der Kreidezeit und das plötzliche Aufblühen der Säugetiere im Tertiär zurück. Es sei bei dieser Gelegenheit überhaupt auf die zahlreichen interessanten Gedanken über biologische Probleme hingewiesen, die das Walther- sche Buch bringt, freilich meist nur kurz ausge- sprochene Vermutungen, die jedoch so manches neue Schlaglicht auf die Möglichkeiten der Ent- wicklung und auf deren Abhängigkeit von geolo- gischen Wandlungen werfen, so auf die allmähliche Ausbildung und Besiedelung der Tiefseebecken, auf die Abschnürung von Meeresteilen in Hebungs- gebieten von VVüstenklima und der damit zu- sammenhängenden Anpassung von Wassertieren an die Luft (vgl. auch Wallher; Das Gesetz der Wüstenbildung). Es soll hier nur die Idee kurz besprochen werden, daß die Graptolithen pseudo- planktonisch an Seetang haftend lebten, so weit von ihren Brutstätten fort über die Meere auch noch nach dem Tode verbreitet wurden, mit dem Tang an zeitweise strömungslosen Stellen der Meere zusammengetrieben untersanken, und so jene schwarzen linsenförmigen Lager von Graptolithenschiefer bildeten, die sich scharf von dem liegenden und hangenden Gestein abheben. Bekannt ist ja, daß Walther für die Gehäuse der abgestorbenen Ammoniten eine ähnliche pseudoplanktonische Ausbreitung über das Welt- meer annimmt und dadurch die vertikal eng be- grenzten und doch weltweit verbreiteten Ammo- nitenhorizonte erklären will. Die Lückenhaftigkeit der paläontologischen Urkunden wird von Steinmann (und manchen anderen Forschern) sicherlich unterschätzt. Wenn wir bedenken, daß von Formen wie Archäopteryx, die doch in Millionen von Exemplaren gelebt haben müssen, nur 2 Exemplare gefunden wurden, weil sie zufällig in technisch stark ausgebeuteten Schichten liegen, wenn wir ferner bedenken, daß wir seit cambrischer Zeit im Durchschnitt doch mindestens einen 20 — 40 fachen Wechsel der Arten, wahrscheinlich einen außerordentlich viel häufigeren, annehmen, und daß demgemäß die 20 oder 40 fache Zahl der heutigen Arten fossil vorliegen müßten, daß wir aber meines Wissens noch nicht einmal die Hälfte der heutigen E'ormen fossil kennen ; ') dann werden wir einsehen, daß wir noch keine lückenlosen paläontologischen Stammreihen er- warten dürfen. Im Gegensatz zu Steinmann schließt sich Koken (Ernst Koken: Paläontologie und Des- cendenzlehre, Vortrag gehalten in der allge- meinen Sitzung der naturw. Hauptgruppe der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Hamburg am 26. Sep. 1901, Gustav F'ischer, Jena 1902) in seinen descendenztheoretischen Er- örterungen eng an die in der Biologie üblichen Gedankengänge an und vermeidet es, solche Schlüsse zu ziehen, für welche die Paläontologie nicht kompetent ist. Er spricht darin die Ansicht aus, daß die Überzeugung von der inneren Berechtigung der Abstammungslehre in der Paläontologie stärker gefestigt ist, denn je. Der Selektionslehre, wie sie Darwin geschaffen hat, erkennt er zwar bedeutende Wichtigkeit zu, schränkt aber ihr Wirkungsbereich zugunsten des Lamarekismus bis zu einem gewissen Grade ein, wobei er sich auf ein gleiches Urteil anderer Paläontologen beruft. Unter Lamarekismus versteht Koken freilich nicht jenen mystischen Psychovitalismus, der heute so oft als Lückenbüßer für dunkle physiologische Vorgänge herhalten muß; in der Anmerkung auf S. 18 wendet er sich ausdrücklich gegen diese „ebenso teleologische wie unlogische Auffassung". Koken versteht unter Anpassung im Lamarck- schen Sinne die Anpassungen des Körpers an eine Lebensweise, welche das Tier irgend einer Neigung folgend anscheinend willkürlich gewählt hat. Frei- lich scheint auch Koken zu vergessen, daß eine solche Anpassung des Körpers infolge vermehrten Gebrauchs schon ein „Oekologismus" '-) im Sinne von C. Detto ist, d. h. daß hier schon eine zweck- mäßige Einrichtung des Körpers vorliegt: die Fähig- keit zweckdienlich zu reagieren , und daß diese nicht selbstverständlich ist, sondern wieder nur durch voraufgehende Selektion erklärlich wird. Auch scheint mir, daß Verf Darwin nicht ganz zu seinem Rechte kommen läßt, wenn er den Begriff ,, Kampf ums Dasein" beschränkt auf jenen äußerlichen Konkurrenzkampf wetteifernder Arten oder gar nur der Individuen einer Art um Nahrung und Platz, wenn er ihn nicht ausdehnt auch auf den Vorteil, welchen die bessere Kon- stitution, besseres Klima, kurz alle inneren und äußeren Lebensbedingungen physiologisch ge- ') Nach Bronn, 1849, sind es: Pflanzen Tiere fossil 2050 24300 rezent 72000 looooo Neuere .Angaben habe ich nicht finden können. '■') C. Detto; Die Theorie der direkten .Anpassung usw. Ernst Fischer, Jena 1904. 412 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIfl. Nr. 26 währen. Denn Darwin braucht den BegrifT Selek- tion in allumspannendem Sinne. In direktem Widerspruch zu Steinmann's An- schauung von der polyphyletischen Entwicklung der Säugetiere, speziell der Meersäugetiere aus Reptilien stehen bei Koken die Worte auf S. 15: „Die Konvergenz zwischen einem Ichthyosaurus und einem Delphin bleibt eine ganz äußerliche, weil der Bauplan der Tiere zu weit verschieden ist, dagegen führt die Konvergenz bei näher ver- wandten Linien zu Erscheinungen, die schwieriger zu entwirren sind." Dr. Erich Meyer. Kleinere Mitteilungen, Über ,,Chilodon hexastichus nov. sp., ein auf Süßwasserfischen parasitierendes Infusorium, nebst Bemerkungen über Vakuolenhautbildung und Zellteilung" berichtet Dr. E. Kiernik (Bull, intern, de l'Acad. des Sciences de Cracovie 1909, Nr. I, S. 75—119). In den Räumen zwischen den Kiemenblättern der Süßwasserfische (insbesondere Tinea vulgaris) entdeckte der Verf ein neues Infusorium aus der Familie der Chilodontinen, dem er den Namen Chilodon hexastichus gab. Die neue Spezies zeichnet sich durch folgende morphologische Merkmale aus: Der Körper ist dorsoventral abgeflacht, ,,von der Seite betrachtet einem Laib Brot ähnlich". Die ventrale Seite ist flach und bewimpert, — die dorsale gewölbt cilien- frei. Was die Plasmastruktur anbetrifft, so kann man hier das Ekto- und Endoplasma unterschei- den. Es ist aber bemerkenswert, daß im Ekto- plasma die Schichtung auf Pellicula, Alveolar- und Kortikalplasma fehlt. Der ganze Körper ist von einer strukturlosen Cuticula, die auf einem Streifen hyaliner homogener Substanz liegt, umhüllt. Im Entoplasma liegen der Macro- und Micronucleus, — zwei Sekretionsvakuolen, und der Reuse- apparat. An dem ventralen Teile, der säge- förmig gezackten Cuticula, liegen in tiefen Furchen, zu beiden Seiten des Kerns, bogenförmig in Streifen angeordnet, sechs Cilienreihen und schließen ein mittleres cilienfreies Feld ein. Die Cilien nehmen ihren Anfang im Entoplasma und zwar in den Basalkörperchen. Statt der Trichocysten (im Kortikalplasma) kommt der Reuseapparat vor. Dieses trichter- förmige Gebilde , das den Trichocysten homolog sein soll, besteht bei Chil. hex. aus 18, kreisförmig angeordneten Stäbchen. Die konstanten Se- kretionsvakuolen, die von einer deutlich sicht- baren Membran umschlossen sind, liegen in der Längsachse des Körpers einander gegen- über. Nahrungsvakuolen kommen selten vor, es treffen sich aber hier und da Individuen , die eine Nahrungsvakuole haben. Bütschli^) hat in bezug der Nahrungs- aufnahme die Ciliaten in zwei Kategorien ein- geteilt: l. Einfache Mundstelle, Mundspalt oder unbewimperter Schlund. Nahrungs- aufnahme durch eine Art Schlingprozeß. II. Mund ') Bronn's Klassen und Ordgn. des Tierreichs : Protozoa V. BUtschli. und Schlund bewimpert. Nahrungsaufnahme durch einen Nahrungsstrom (der durch Wimperorgane erzeugt wird), der Wasser und Nahrungskörper durch den Schlund in das Entoplasma treibt. Chil. hex. nimmt, dieser Einteilung nach, eine intermediäre Stellung ein: morphologisch gehört er der I. Kate- gorie, physiologisch der II. an. Das Hauptmerkmal der zweiten Kategorie ist die Inkonstanz der Ernährungsvakuole, die aus dem aufgenommenen Wasser gebildet wird. Das Gesagte entspricht den Verhältnissen bei Chil. hex. nur im ersteren Teil, der ,, andere ist aber etwas zu allgemein gehalten". Die Ernährungs- vakuole des Chil. hex. besitzt eine Membran, die sich im Augenblicke der Nahrungsaufnahme bilden muß, sie muß aber auch nach Verdauung und Ausscheidung der Nahrungskörper verschwinden. Es ist bekannt , daß Plasmamassen sich von ihrer flüssigen Umgebung durch die Plasmahaut abschließen, die als eine feste Membran oder als eine zähflüssige Substanz erscheint. „Aus dem Grunde kann die Membranbildung nicht als ein einfacher physikalischer Vor- gang aufgefaßt werden." In der Deutung dieser Erscheinung sind sämtliche Forscher in diesem einig, daß die Membran nur dann ent- steht, wenn die zusammenstoßenden Flüssigkeiten heterogen sind. Pfeffer^) stellte darüber experimentelle Unter- suchungen an und kam zur Überzeugung, daß die Plasmahaut als verdichtetes Plasma aufzufassen ist und daß dieselbe durch Molekularände- rungen in der Berührungsfläche gebildet wird. Höber meint, daß sie infolge der Ober- flächenspannung entsteht. Rhumbler'-) konstatierte, daß diese Mem- bran eine echte ist und überzeugte sich auf ex- perimentellem Wege von ihrer wirklichen Existenz. Er schrieb dem äußeren Medium die V^erdichtung des Plasmas zu. Eine Antwort, auf welche Weise die Verdich- tung zustande kommt, gab Metcalf''), der sich auf Gibb's'j Untersuchungen stützte. Im Augen- ') Zur Kenntnis der Plasmahaut und der Vakuolen nebst Bemerkungen über den Aggregatzustand des Protoplasmas und über osmotische Vorgänge. Abhandig, der math.-phys. Kl. d. Kgl. Sachs. Ges. d. W. Bd. XVI, 1890. -) Physikalische Lebenserscheinungen der Zelle. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. VII, 1898. '^) L'ber die festen Peptonhäutchen auf einer Wasserfläche und die Ursache ihrer Entstehung. Ztschr. f. phys. Chem. Bd. LH, 1905. *) Über das Gleichgewicht heterogener Substanzen, 1S76. N. F. VIII. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 413 blick des Zusammenstoßens des Plasmas mit einem heterogenen Körper scheiden aus dem ersteren gewisse Substanzen (membranogene S.) aus, die in die Grenzfläche diffundieren und sich dort ver- dichten. Dieser Erklärung kann man nicht im ganzen folgen ! Das I. Prinzip G i b b ' s lautet folgender- maßen : „ein gelöster Stoff, der die Oberflächen- spannung seines Lösungsmittels vermindert, hat das Bestreben, (!) sich an der Oberfläche anzu- sammeln". ,,Das Plasma ist aber aus verschiedenen Körpern zusammengesetzt, die verschiedene Werte der Oberflächenspaimungsverminderung haben; in den Grenzflächen werden sich also nur diese Körper ansammeln, die die größte Fähigkeit dazu haben." „Auf eine nähere Erklärung dieser Erschei- nung läßt sich Kiernik nicht ein! Die Vakuolenmembran besteht so lange, bis die Vakuole ihre Cyclose ausführt. Nach der Ausscheidung des Vakuoleninhaltes bleibt die Membran im Körper, wird immer mehr zusammen- gefaltet, bis sie endlich verschwindet. „Sie besteht nur so lange als die Bedingungen bestehen, die sie hervorgerufen haben." Analoge Erscheinungen kommen zum Vorschein bei der Verwandlung des Ektoplasmas in Entoplasma. Rhumbler betrachtet diesen Prozeß als die Wirkung „einer ektoplasmalösenden Kraft des Ento- plasma s. Kiernik erklärt es anders 1 „Der Membranbildungsprozeß beruht auf einer chemi- schen Umwandlung der sich in der Grenzfläche der beiden Flüssigkeiten ansammelnden Plasma- bestandteile. Diese Umwandlung verläuft so lange, als die Oberflächenkräfte wirken. Dann tritt in der Grenzfläche ein Gleichgewicht ein, das durch den Auflösungs- und Membranbildungsprozeß reguliert wird. Jede Auflösung der Membran stört das Gleichgewicht und verursacht eine neue Konzen- trierung der membranogenen Substanz in der Grenzfläclie. Solange die Bedingungen der Mem- branbildung bestehen, oszillieren die beiden Pro- zesse um ihren Gleichgewichtspunkt, weichen sie, dann gewinnt der Auflösungsprozeß die Oberhand und ihre Membran wird im Ektoplasma gelöst." K. nimmt daher keinen prinzipiellen Unterschied zivischen den zwei viorphologiscli dijferenten Plasviaarten an. „Das Ektoplasma wäre ein von Mikrosomen befreites, durch die Wirkung der Oberflächenspannung verändertes Entoplasma, welches auf der Oberfläche des ganzen Körpers oder der Vakuole eine mehr oder weniger resi- stente Hülle bildet. Es kann auch in granulöses Entoplasma zurückverwandelt werden. Aus dem Grunde kann man auch die Cuticula als eine ver- dichtete Entoplasmaschicht auffassen." Von der Richtigkeit dieser Auffassung überzeugte sich der Verf. auf Stentor viridis und an einer ihm unbekannten Flagellatenspezies. In diesem Sinne sprach sich auch Pfeffer aus. ,,Die Ernährungsvakuole entsteht im Augen- blicke der Nahrungsaufnahme und bleibt im In- fusorium so lange, als die Bedingungen seiner Ent- stehung vorhanden sind." Deshalb begegnet man Individuen mit oder ohne Vakuole. Der Kern des Gh. hex. zeigt auch manche Abweicliungen von der typischen Form. Die Veränderungen sind von der Art und der Lage der Chromatinkörner und der Anwesenheit des Binnenkörpers (= Nebenkörper, Nucieolus, Karyosom), abhängig. Es kommen folgende Ab- weichungen vor: I. Macronucleus dicht mit Chro- matinkörnern gefüllt, auf oberflächliche Chromatin- körner und Binnenkörper undifferenziert. 2. Grobe, durch den ganzen Macronucleus zer- streute Chromatinkörner, zwei Kügelchen als An- lagen des Binnenkörpers. 3. Macronucleus mit Chromatosphäriten und Binnenkörper. — Über das Verhältnis des Chromatins zur achromatischen Substanz äußert sich der Verf, im Gegensatz zu Bütschli (1. c. 1509), für die gleichmäßige Ver- teilung der achromatischen Substanz, in der die Chromatinpartikelchen eingebettet sind. Das Leben des Ch. hex. kaim man in zwei Perioden teilen : die eine des vegetativen Lebens in den Kiemen der Fische, die sich durch unge- schlechtliche F"ortpflanzung auszeichnet; die zweite des lethargischen Lebens im Zustande der En- cystierung. Nach dem Tode des Wirtes verläßt Ch. hex. seinen Aufenthaltsort, schwimmt frei im Wasser herum, konjugiert und encystiert. In der letzteren Phase leben sie so lange, bis sie einen neuen Wirt aufgesucht haben; haben sie diesen gefunden, so beginnt die erste Periode wieder. Neue Tatsachen berichtet ferner K. über den Teilungsprozeß. Vor der Teilung verlieren die hinteren Cilien ihre Bewegungskraft, die am vorderen Ende dagegen sind beständig in Bewegung. Überhaupt bleibt der hintere Teil „wie eine träge Masse mit dem vorderen, be- weglichen verbunden". An der Grenze dieser beiden Teile senkt sich die Pellicula gegen die Mitte des Körpers ein, so daß nur ein schmaler Plasmastrang die beiden Teile verbindet. — Nach der Lostrennung ergänzen beide Teile ihre Pelli- cula. „Der vordere Teil ist vollständig und bil- det ein vollkommenes Tochterindividuum." Da- gegen ist der hintere unvollkommen (es fehlt ihm der Cytopharynx und der Reuseapparat). Die fehlenden Organellen werden später neu ausge- bildet. Die an Chilodonkrankheit leidenden Fische überziehen sich mit einem bläulichen Belag, sie büßen ihre Beweglichkeit ein und sterben unter Erstickungserscheinungen mit weit geöffneten Kiemendeckeln. Zum Parasitismus in der Kiemen- höhle der Fische zwingen den Ch. hex. die Er- nährungsbedingungen. In der Kiemenhöhle der Fische trifft man häufig Algen und Bakterien an. Diese letzteren bilden, nach dem Verf, die Hauptnahrung des Ch. hex. Diese Vermutung wird durch die Intaktheit der äußeren und inneren Organe der Wirte vom Verf als richtig ange- nommen. Infolgedessen ist dieses Infusorium der 414 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 26 richtige Krankheitserreger nicht. Die Krankheit und der Tod wird eher durch Bakterien verur- sacht. Chilodon hexastichus ernährt sich von diesen Bakterien und sind die Krankheit und das Vorkommen der Infusorien nur zeitlich zusammen- fallende Erscheinungen. M. Goldschlag. Monograptus turriculatus aus unterem Ober- silur (Zone 15) von Hohenleuben R. j. L. — Der Eigenart des in den Hohenleubener Kieselschiefer- brüchen (Mittelsilur) gewonnenen Kicselschiefers, der meist zu Beschotterungszwecken verwendet wird und der sehr stark gefaltet und zerklüftet ist, ist es wohl zu danken, daß Graptolithen nur selten oder nur in wenigen Lagen gut erhalten sind und ein solch schönes Exemplar, wie es die Abbildung zeigt, einmal erhalten blieb. Bei die- sem Exemplar ist es nun besonders eigenartig, daß sich an allen Hydrolheken kleine Wimper- härchen finden, die zwar an einzelnen Zellen ab- gebrochen sind, aber auf eine regelmäßige Aus- bildung der Wimperhärchen für jede Zelle schließen lassen. Man kennt schon einzelne Graptolithen, welche diese einzelnen Härchen besitzen, so z. B. beim Monograptus Sedgwicki, aber beim turricu- latus sind sie noch nicht so schön bekannt ge- wesen. Der Prager Paläontolog Ferner bildete zwar ein ähnliches Exemplar ab, bei dem aber von einer solchen Klarheit, wie es dieses Stück aufweist, nicht die Rede sein kann. Von diesem Stück liegt ein Gegendruck in der Gymnasial- sammlung zu Schleiz, ein anderes Stück im Städti- schen Museum zu Gera und das Original , von dem auch die Zeichnunsj in natürlicher Größe hergestellt wurde, in meiner Sammlung. — Wenn man die Graptolithen einweist in die fossilen Hydroidpolypen, so kann man wohl mit Recht behaupten, daß diese kleinen Wimpern dazu dienten, der geöffneten Zelle, denn auf jeder befindet sich ein solches Härchen, frisches, nahrungsreiches Wasser zuzustrudeln. — Aus anderen mit dort gefundenen Graptolithen kann man schließen, daß die Schicht, die von den turriculatus-Resten er- füllt war, der Zone 15 des Mittelsilurs angehört, einer Zone, in der sich die Graptolithen in einer großen Menge von Varianten finden, um dann in den nächstfolgenden Zonen mehr und mehr ab- zusterben, bis sie am Schluß des Silurs vollständig verschwunden sind. Rudolf Hundt-Gera. Bücherbesprechungen. Dr. Alfred Lehmann, Dir. d. psychophysischen La- boratoriums a. d. Univ. Kopenhagen, Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten an bis in die Gegenwart. Zweite umge- arbeitete und erweiterte Auflage. Mit 2 Tafeln und 67 Textabbildungen. Deutsche autorisierte Übersetzung von Dr. med. Petersen I, Nervenarzt in Düsseldorf. Stuttgart, Verlag von Ferdinand Enke, igoS. — Preis 14 Mk. Das umfangreiche Buch dringt weit in seinen Gegenstand hinein. Es ist sicher, daß Aberglauben und Zaubergebräuche, solange wir etwas Genaueres vom Menschen wissen, eine mehr oder minder große Rolle gespielt haben. Lehmann nennt die Hexen- prozesse, die Geheimwissenschaften der gelehrten Magier und den Spiritismus der Jetztzeit wohl die bemerkenswertesten Vertreter in der Entwicklung des Aberglaubens. Er bietet zunächst eine Darstellung der historischen Entwicklung ; er setzt auseinander, daß fast alles, was wir jetzt als Aberglauben bezeich- nen , ursprünglich als religiöse Behauptungen und wissenschaftliche Annahmen entstanden ist. Lehmann geht den Gründen nach, welche abergläubische An- sichten veranlaßt haben. Er schildert, wie Beobach- tungsfehler, Zilterbewegungen, Träume, Nachtwandeln, unbewußte Zustände , Suggestibilität , Hypnose , Nar- kosen und Hysterie die Veranlassung für die Ent- stehung irrtümlicher Ansichten sind und sein können. Am Schlüsse des Vorwortes sagt der Verf.: „Auf die überzeugten Spiritisten wird mein Buch keinen Eindruck machen und beabsichtigt es jedenfalls auch nicht. Wer sich von seinem spiritistischen Glauben befriedigt fühlt, wird von dem Buche nur Ärgernis haben. Dem Zweifler aber, der noch nicht weiß, was er von all den wunderbaren Berichten und an- geblichen Tatsachen zu halten hat, sei es empfohlen. Kann es ihn gegen eine Täuschung scljützen, so ist mein Zweck erreicht." Erhard Eylmann, Dr. phii. et med., Die Einge- borenen der Kolonie Südaustralien. Mit 36 Lichtdrucktafeln, 8 Figuren im Text, einer Ta- belle und einer Übersichtskarte. Berlin, Verlag von Dietrich Reimer (Ernst Vohsen), 1908. — Preis 40 Mk. In dem vorliegenden Werke handelt es sich um eine eingehende, gewissenhafte Monographie der Ein- geborenenbevölkerung der jetzigen Kolonie Süd- australien. Verf. hat bei einer zweimaligen Durch- querung des australischen Kontinentes in der Nordsüd- richtung Volksstärame der Urbewohner kennen ge- lernt, von denen noch kaum etwas bekannt war. Es ist besonders wichtig, daß hier mit den heutigen Anforderungen der Anthropologie Eingeborene studiert werden konnten , die noch ganz unbeeinflußt von unserer Kultur geblieben waren. Das Buch zerfällt in 26 Kapitel, in denen u. a. besprochen werden: die körperliche und geistige Beschaffenheit, die Sprache, die Zeichensprache, die Verunstaltungen des Körpers, das Geschlechtsleben , die gesellschaftlichen Einrichtungen, das Religionswesen, die Totenbestattun- gen, die Jünglingsweihen, der Kindesmord, die Menschenfresserei, das Menschenopfer usw. Es ist sehr schwierig, auf den Inhalt eines Werkes einzugehen, das so viel und so vielerlei bringt, wie das vorliegende und dies überdies in knapper, wissen- schaftlicher Darstellung. Es könnte sich höchstens N. F. VIII. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 415 darum handeln, hier und da etwas herauszugreifen. Wir wollen daher nur sagen, daß das Werk bei der Sachlichkeit und guten Vorbereitung, die der Verf. mitgebracht hatte, viel Anregendes und Förderndes bringt. Der Inhalt wird nicht nur den Ethnologen und "Anthropologen interessieren, sondern jeden, der in wissenschaftlicher Richtung sich gern mit dem Menschengeschlecht beschäftigt. Im Vorwort berichtet Verf. über den äußeren Verlauf seiner Reise in Süd- australien. A. Engler, Das Pflanzenreich. Regnivege- tabilis conspectus. Im Auftrage der Kgl. preuß. Akademie der Wissenschaften herausgegeben. Leipzig, Wilhelm Engelmann. 35. Heft: Stylidiaceae. Mit 200 Einzel- bildern. Von J. Mildbread. — Preis 5 Mk. 36 Heft :Nepenthaceae. Mit 95 Einzelbildern. Von J. M. Macfarlane. — Preis 4,60 Mk. 37. Heft: Additamentum ad Araceas- Potoideas. Von A. Engler. — Araceae- Mousteroidea. Von A. Engler und K. Krause. — Araceae-Calloideae. Von K. Krause. Mit 498 Einzelbildern. 1908. — Preis 8,40 Mk. 38. Heft : Cyperaceae-Caricoideae. Von Georg Kükenthal. Mit 981 Einzelbildern in 128 Figuren. 1908. — Preis 41,20 Mk. Das sehr verdienstliche Werk — eine eingehende Darstellung über die gesamte Pflanzenwelt bis hinab zu den Arten — schreitet rüstig vorwärts. Von den oben im Titel aufgeführten Familien haben die Nepenthaceen auch in weiteren Kreisen erklärlicher- weise ein weiteres Interesse gefunden: handelt es sich doch in ihnen um höchst auffällige Insekten - verdauende Pflanzen, die jedem wenigstens aus Ge- wächshäusern bekannt sind mit ihren schmallangen Blättern, die an ihrer Spitze in einen schönen, großen, gedeckelten Krug ausgehen. Die eigentümliche Biologie dieser merkwürdigen Apparate findet ein- gehende Besprechung, auch die Anatomie, die Ent- wicklungsgeschichte, soweit sich dies nur irgendwie in einem wesentlich systematischen Werk rechtfertigen läßt. Und zwar ist dies bei allen Familien der Fall ; stets finden wir nach dem Vorbilde von Engler's natürlichen Pflanzenfamilien auch das anatomische Verhalten charakterisiert und sonstige Besonderheiten hervorgehoben, wenn auch selbstverständlich u. a. die Blütenverhältnisse, die Bestäubung, Frucht und Samen, und die geographische Verbreitung eingehen- der berücksichtigt werden. Der Nachdruck aber liegt naturgemäß auf den rein systematischen Unter- scheidungsmerkmalen der Abteilungen und der .'\rten, die alle durch ausfiihrliche Diagnosen in lateinischer Sprache charakterisiert sind, während der übrige Text, je nach der Nationalität des Autors bzw. der Beherrschung dieser oder jener lebenden Sprache — in den vorliegenden Fällen deutsch oder englisch — gegeben ist. Symplocarpus foetidus , die aus dem Gebiet des Atlantischen Nordamerika angegeben wird , habe ich selbst übrigens auch nicht selten an sumpfigen Stellen, sowohl offneren wie in Wäldern, von Britisch-Colum- bien beobachtet. Ich habe seinerzeit in der Nummer vom i8. April 1909 S. 241 von daher eine Photo- graphie geboten. Der nicht weniger als 824 Seiten umfassende Band von Kükenthal, dessen ausführliches Register schon mit Seite 768 beginnt, behandelt nach einer allgemeinen Darstellimg der Ciruppe die Gattungen Schoenoxiphium Nees, Cobresia Willd., Uncinia Pers. und die umfangreiche Gattung Carex L. , alle diese Gattungen schön und in guter Auswahl illustriert. Natürlich nimmt der Text, der sich mit den Arten der Gattung Carex beschäftigt, den ganz überwiegen- den Platz in dem Bande ein, nämlich die Seiten 67 bis 767, also genau 700 Sehen. Die Gattung Carex hat auch unter den Botanophilen besondere Lieb- haber, die ebenso wie die Fachbotaniker die vor- liegende monographische Bearbeitung mit Freuden begrüßen werden. Verf. nimmt rund 800 Carex- Arten an ; dazu kommen dann noch viele Variationen und Bastarde. Dr. G. Karsten, Prof. a. d. Univ. Halle, Dr. H. Schenk, Prof. a. d. techn. Hochschule Darmstadt, Vegetationsbilder. Jena 1909, Verlag von Gustav Fischer. — Preis pro Lieferung 2,50 Mk. Dieses schöne Werk ist jetzt bis über 50 Hefte gediehen, jedes Heft mit 6 Tafeln in Quartformat und kurzem erläuternden Text. Es liegen demnach jetzt über 300 Tafeln vor, von denen manche aber mehrere Abbildungen bringen : bereits ein großartiges Material zum Studium von Pflanzengeographie und Floristik. Das letzte vorliegende Heft beschäftigt sich mit Dalmatien ; es bringt Vegetationsbilder aus diesem Lande, die die Meerstrandvegetation, litorale Felspartien usw. veranschaulichen. Verfasser ist L. Adamovic. Die vorletzte Lieferung hat für den Referenten ein besonderes Interesse, da sie u. a. einige Moorbilder bringt und zwar aus dem nörd- lichen Schwarzwald (Verf 0 1 1 o Fe uch t). Die bild- lich zur Anschauung gebrachten Stellen sind dem Referenten aus eigener Anschauung bekannt, und er möchte daher namentlich über das eine Bild und die zugehörige Erläuterung ein Wort sagen. Verf. gibt nämlich an, daß die auf der Tafel dargestellte Vegetationslandschaft, unterschrieben „Hochmoor auf dem Vogelskopf" ein lebendes Hochmoor sei. Hierzu ist das Folgende zu bemerken. Wo sind die Zeiten geblieben, da es in Deutsch- land noch möglich war, sich draußen, z. B. in unse- rem moorreichsten Landteile, in Nordwestdeutschland, eine ordentliche Vorstellung der Moorlandschaft und ihrer Erhabenheit zu bilden, wie das s. Zt. an so sehr vielen Punkten möglich war? Noch 1845') konnte A. Grisebach dort diese Vorstellung gewinnen. „An der hannoverisch -holländischen Grenze — sagt er — habe ich, zwischen Hesepertwist und Rueten- brock das pfadlose Moor von Bourtange überschrei- tend, einen Punkt besucht, wo, wie auf hohem Meere, der ebene Boden am Horizont von einer reinen ') Grisebach, Über die Bildung des Torfs in den Ems- niooren. Göttingen 1846. 4i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 26 Kreislinie umschlossen ward und kein Baum , kein Strauch, keine Hütte , kein Gegenstand von eines Kindes Höhe auf der scheinbar unendlichen Einöde sich abgrenzte. Auch die entlegenen Ansiedelungen, die, in Birkengehölzen verborgen, lange Zeit noch wie blaue Inseln in weiter Ferne erscheinen, sinken zuletzt unter diesen freien Horizont hinab. Dieses Schauspiel, auf festem Boden ohne seinesgleichen überallhin auf abgerundete Heiderasen und über dem Schlamm gesellig schwebende Cyperacecn das Auge einschränkend , zugleich das Gemüt mit der Gewalt des Schrankenlosen ergreifend, versetzt uns in ursprüngliche Naturzustände, wo eine organische, je- doch einförmige Kraft alles überwältigend gewirkt hat." Aber Grisebach versäumt nicht die auch da- mals schon weitgehenden Einflüsse der Kultur auf das Bourtanger Moor hervorzuheben , und jetzt — ich habe das Gelände zuletzt im Herbst 1907 be- sucht — gehört schon einige Phantasie dazu, um sich die ursprünglichen Zustände wieder zu ver- gegenwärtigen. So ist es denn für den Kenner der Verhältnisse kein Wunder, wenn nicht nur die meisten Laien, son- dern sogar Gelehrte, die über Moore schriftsteilem, natürliche Moore zu kennen vermeinen , aber in Wirklichkeit aus Mangel an bei uns hinreichendem, zum Studium geeigneten Gelände nur tote und halbtote Moore gesehen haben. Man lese auch Gedichte, Novellen und Romane, z. B. von Claus Groth, Annette von Droste-Hülsdorf, Theodor Storm usw., kurz von Belletristen , die mit offenbarer Liebe auch Moorstimmungen zum Ausdruck bringen wollten, und man wird sehen, daß immer nur tote , von der Entwässerung bereits weit beeinflußte Moore vorge- schwebt haben. Die Herrlichkeit noch voll jung- fräulicher Moore hat die Schilderung durch einen Dichter — wie es scheint — noch kaum gefunden. Zahlreich sind nun auch die wissenschaftlichen Ver- öftentlichungen , aus denen das angegebene Mißver- ständnis nachgewiesen werden könnte und hierzu ge- hört die Veröffentlichung, von der wir oben ge- sprochen haben. Das von Feucht abgebildete Moor- gelände , das ich , wie gesagt , durch wiederholten Besuch selbst kenne , ist von tiefen und mächtigen künstlichen Gräben durchzogen und tüchtig entwässert. Der genannte Verf. sagt denn auch selbst: „Auf weite Strecken tritt der nackte Moorboden zutage, ein dichter, schmieriger Moderhumus .... einen großen Teil des Sommers ist dieser Boden vollkom- men trocken, das Wasser verschwindet nach warmen Tagen aus den Kolken so vollständig, daß diese rissig werden und überall betreten werden können." Die Tafel 13 zeigt den nackten Moorboden (Torf), auf dem mächtige Bulte von Scirpus caespitosus und Eriophorum vaginatum stehen , wie sie nach dem Zurückgehen der Sphagnumdecke auf absterbenden und toten Hochmoorstrecken so charakteristisch her- vortreten, indem das in der Sphagnumdecke ver- einzelte Gehälm nunmehr von Sphagnum nicht mehr bedrängt und nicht mehr genötigt wird Etagen zu bilden und daher zu dichtrasenförmigen Bullen aus- wächst. So kommt es denn, daß bis jetzt eine derjenigen Vegetationsgeländeformen, die einst eine der wichtigsten in Deutschland war, die Hoch- moorpflanzengemeinschaft in vollständig von der Kultur unberührter Zusammensetzung, bis jetzt in dem schönen Werk von Karsten und Schenk noch nicht zur Darstellung gebracht worden ist. Das wird aber geschehen , und das hübsche Bild von Feucht wird dann dazu ein gutes Gegenstück bilden , um zu ver- anschaulichen , was aus einem lebenden Hochmoor nach seiner Entwässerung wird, wie — mit anderen Worten — ein totes Hochmoor aussieht im Gegen- satz zu einem lebenden. P. Anregungen und Antworten. Herrn Fiauptmann Kr. in Swinemünde. — 1. Walter's ,, Einleitung in die Geologie" ist nicht veraltet, da es eine reiche Sammlung der bis zum Erscheinen bekannten Tatsachen über die Lithogenesis der Gegenwart usw. enthält. Eine ähn- liche neuere Zusammenstellung ist mir nicht bekannt. Man- ches Ergänzende finden Sie in der neueren Auflage von Günther's Handbuch der Geophysik, von Krümmel's Ozeano- graphie, in Klein's Jahrbüchern für Astronomie und Geophysik, in den Geographischen Jahrbüchern, in den neuen Veröffent- lichungen der verschiedenen Tiefsee - Expeditionen; über manche Kapitel hat diese Zeitschrift, namentlich in Aufsätzen von Potonie und Philippi, fortgesetzt auf dem Laufenden er- halten. 2. Eine geologische Karte von Bornholm ist Deecke's Führer (Berlin 1899, Verlag von Bornträger) angehängt. Es ist mir nicht bekannt, ob inzwischen die Blätter der dänischen geologischen Kartenaufnahme erschienen sind. Als topogra- phische Karte werden Sie am besten die Blätter der dänischen Generalstabskarte, Maßstab I : 20000, benutzen. Str. Herrn H. W. in Frauenfeld. — Die besten neueren Zu- sammenstellungen über Zusammensetzung und Entstehung der natürlichen Phosphate und anderer nutzbarer Gesteine bietet in geologisch-chemischer Hinsicht die amerikanische Literatur und zwar Clarke , Data of Geochemistry. Bull. U. S. Geol. Survey Nr. 330. Wir haben in Deutschland auf diesem Ge- biete längst nichts Entsprechendes mehr. Am besten unter- richten in unserer Literatur darüber die chemischen Hand- bücher und Handwörterbücher. Einzelne Abhandlungen finden Sie z. B. in der Zeitschrift für praktische Geologie. Str. Herrn Bergingenieur P. Aug. in Westeregeln. — Die kleinen Schälchen auf den Schieferplatten rühren von Estherien her, die in der Tat im Keuper weit verbreitet sind. Die zwei größeren Muscheln dürften .^nthracosien sein, möglicher- weise aus älteren (karbonischen oder pcrmiscben) Horizonten. Eine .\rlbestimmung ist wegen des schlechten Erhaltungs- zustandes ausgeschlossen. Str. Inhalt: F.. Wasmann; Zur Geschichte der Sklaverei und des sozialen Parasitismus bei den .Ameisen. — Sammelreferate und Übersichten: Dr. Erich Meyer: Neues aus der Paläozoologie. — Kleinere Mitteilungen; Dr. E. Kiernik: Chilodon he.xasticbus nov. sp., ein auf Sul3\vasserfischen parasitierendes Infusorium, nebst Bemerkungen über X'akuolen- hautbildung und Zellteilung. — Rudolf Hundt: Monograptus turriculatus aus unterem Obersilur. — Bücher- besprechungen: Dr. Alfred Lehmann: Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten an bis in die Gegen- wart. — Erhard Eylmann: Die Eingeborenen der Kolonie Südaustralien. — A. Engler: Das Pflanzenreich. — Dr. ('■. Karsten und Dr. H. Schenk: Vegetationsbilder. — Anregungen und Antworten. Verantworüicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofi-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. 8. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue b'olge VUl. H.-iiul ; der g.-inzeii Reihe XXtV. Band. Sonntag, den 4. Juli 1909. Nummer 5ä7. Über ein allgemeines reizphysiologisches Gesetz. [Nachdiuck verboten.] Von Zeit zu Zeit wiederholt sich in jeder Wissenschaft der Fall, daß durch eine Erweiterung oder Vertiefung- unserer Kenntnisse plötzlich eine große Zahl von Tatsachen und Gesetzen, die bis dato ein getrenntes Dasein führten, in ihrer inneren Zusammengehörigkeit erfaßt und als spezielle Aus- flüsse einer generellen Gesetzmäßigkeit begrififen werden. Entsprechend der Häufigkeit dieser Fälle gelangt man in einem bestimmten Wissensgebiete zu einer immer mehr einheitlichen und ökono- mischen Ableitung und Darstellung aller aufgefun- denen Gesetze (Mach). Die biologischen Wissenschaften sind in dieser Hinsicht hinter allen anderen Gebieten der Natur- wissenschaften weit, weit zurück. So peinlich und (]uälend diese Erkenntnis für jeden ist, der bloß daran zu denken wagt, aus einem Meer von Ge- setzmäßigkeiten und einem Ozean von Tatsachen die leitenden Prinzipien herauszufinden, von denen aus man verständnisinnig die weite Welt der Er- scheinungen nach jeder Richtung hin zu durch- streifen vermag, so begreiflich ist dieser Zustand einer potentiell wachsenden Dezentralisation der biologischen Wissenschaften. Denn wie nirgendwo, ist im Bereich der lebendigen Materie die Mannigfaltigkeit der Erscheinungs- formen eine so enorme, der Ablauf aller F"unktionen ein so komplexer. Trotzdem gelingt es, auch in den biologischen Wissenschaften zeitweilig einen Zentralpunkt für das Zusammenfassen vieler zerstreuter Kenntnisse ausfindig zu machen. Und in den folgenden Zeilen soll von einem solchen Falle der einheit- lichen Darstellung und Ableitung einer — wie man sehen wird — großen Zahl von Gesetzmäßig- keiten der tierischen und pflanzlichen Physiologie gesprochen werden, von einem Falle, der jüngsten Datums ist und erst durch das kräftige Anwachsen der pflanzlichen Reizphysiologie ermöglicht wurde. Die Darstellung soll so erfolgen, wie sie ent- standen ist. Dies rechtfertigt hoffentlich den Um- stand, daß der Verfasser mit dem Berichte über seine eigenen Untersuchungen beginnt. Aus Gründen, die ein zu speziell wissenschaft- liches Interesse haben, um hier angeführt zu werden, stellte ich mir die Aufgabe, die Induktion der heliotropischen Krümmung oberirdischer Pflanzen- teile genauer zu untersuchen als dies bisher der Fall gewesen war. Man weiß, daß das Krümmen einseitig beleuchteter Pflanzenstengel gegen die Lichtquelle induzierbar ist. D. h.: zur Her- vorrufung einer heliotropischen Krümmung ist es nicht notwendig, ein Pflanzenorgan so lange mit Von Paul Fröschel (Wien). Ptlanzenphysiologischcs Institut der Universität. Licht zu reizen, bis — nach Ablauf der soge- nannten Reaktionszeit — die Krümmung in Er- scheinung zu treten beginnt, sondern es genügt zur Hervorrufung dieser Krümmung eine wesent- lich kürzere Reiz zeit. So vermochte z. B. die Gasflamme eines Argandbrenners von der In- tensität einer N.K. nach ca. i Stunde in den epikotylen Stengelgliedern der Kresse (Lcpidutni sativiun) eine heliotropische Krümmung hervor- zurufen. Aber es genügt schon, eine ^/.^-stündige Reizung, um die Krümmung sicher zu veranlassen, die freilich erst über i Stunde nach Beginn der Reizung im Dunkeln eintritt. Jene kürzeste Induktionszeit nun , während welcher man not- wendigerweise einen bestimmten Pflanzenkeimling reizen muß, um eben noch eine Krümmung zu induzieren, nennt man Präsentationszeit. Sie betrug für die Intensität i bei Kressekeimlingen 8 Minuten, und diese 8 minütige Reizung reichte hin, eben noch die Spur einer heliotropischen Krümmung zu induzieren, die beiläufig i Stunde nach Aufhören der Reizung im Dunkeln eintrat. Ich hatte mir nun die Aufgabe gestellt, zu ermitteln, wie sich die Präsentationszeit in ihrer Abhängigkeit von der Lichtintensität verhält. Es wurden für verschiedene Intensitäten die Präsen- tationszeiten ermittelt und es ergaben sich folgende Werte ;!) f. eine Intens, v. 0,828 N.K. die Präsentationszeit v. 7 — 8 Min. T T 1 T T 1/ ry )) H II 1» .30*^ n ti n " II * /2 ^ II „ „ „ 1,13.244 ,1 ,1 II .. I. '/2— '/l II Trägt man sich diese Werte in ein Koordinaten- system ein , indem man z. B. die Intensitäten als Abszissen, die Präsentationszeiten als Ordinaten verwendet, so erhält man folgende Kurve: 0 oaze 3311 I3.Z/,J, Fig. I . Nach Fröschel. Nun fiel mir auf, daß diese Kurve der Präsen- tationszeiten eine frappante Ähnlichkeit mit einer ') Alle Versuche wurden mit der gleichen Pflanze, Keim- lingen von Lepidium sativum, durchgeführt. 4i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 27 mathematischen Kurve, der sogenannten gleich- seitigen Hyperbel , aufweist. Wollte man eine innere Beziehung zwischen diesen beiden Kurven nachweisen, so konnte man nicht anders vorgehen, als die mathematische Gleichung dieser gleich- seitigen Hyperbel physiologisch zu interpretieren und nachzusehen , ob diese Interpretation physio- logisch berechtigt und verständlich er- scheint. Die Gleichung der gleichseitigen Hyperbel lautet: x-y ^ const. D. h. für jeden Punkt dieser Kurve gilt das Gesetz, daß das Produkt seiner Koordinaten konstant ist. Unter der Voraus- setzung nun, daß die Kurve der Präsentations- zeiten eine gleichseitige Hyperbel ist, muß man analog sagen: bei Erzielung einer eben noch merklichen Induktion ist in jedem Falle das Pro- dukt aus Lichtintensität und Präsentationszeit konstant. — Ist nun diese Annahme verständlich? Jawohl! Denn das Produkt aus Intensität und Präsentationszeit stellt ja nichts anderes vor, als die während der Reizdauer in das Pflanzenorgan eingestrahlte Lichtmenge. Daß diese in den verschiedensten Fällen zur Erreichung einer eben merklichen Reaktion die gleiche ist, ist nicht nur verständlich, sondern selbstverständlich. Wir kommen also zu dem Schluß, daß, um in einem bestimmten Pflanzenorgan Heliotropismus zu induzieren, die hierzu erforderliche Lichtmenge einen ganz bestimmten, konstanten Wert hat. Sinkt die Intensität auf ^2- Vs> Vi. so muß die Präsen- tationszeit 2, 3, 4 mal so lange dauern. Dieses Gesetz wurde übrigens noch dadurch geprüft, daß in dem bereits gefundenen Produkt — sein Mittel- wert betrug 6,73 — ein Faktor, u. z. die Intensität, beliebig angenommen, und der andere Faktor, die Präsentationszeit, berechnet wurde. Das Experiment verifizierte in der Tat die a priori postulierten Prä- sentationszeiten. Das hier dargelegte Gesetz sei hinfort kurz als Hyperbelgesetz bezeichnet. Wir werden dem- selben sofort auf anderen Gebieten begegnen. Bei Durchsicht der botanischen Literatur nach analogen Untersuchungen ergab sich nämlich, daß — allerdings für andere Reizvorgänge — , die Abhängigkeit der Präsentationszeit von der In- tensität des reizauslösenden Faktors in 2 Fällen schon ermittelt worden war. H. Bach (2) hatte sich zur Aufgabe gestellt, den Zusammenhang zwischen Präsentationszeit und der Größe der die Schwerkraft substituierenden Zentrifugalkraft zu untersuchen, hatte also die ganz analoge Frage für den geotropischen Reizvorgang behandelt. Die von ihm ermittelte Kurve zeigt die nächste Figur. Als Abszissen sind die Zentrifugalkräfte, ausge- drückt in Einheiten der Erd- Akzeleration g, auf- getragen , als Ordinaten die korrespondierenden Präsentationszeiten. Ludwig Linsbauer hinwiederum hat die gleiche Frage bei Untersuchung eines photo- chemischen Reizvorganges behandelt (3). Er wollte bei verschiedenen Lichtintensitäten jene minimale Zeit ermitteln, während welcher man Keimlinge des Buchweizens {Polygoiimn fagof'ynim) beleucli- ten muß, um die Bildung von Anthokyan zu in- duzieren. Es handelt sich also auch bei ihm um mn SS 60 w ■S5- 30 2S ia 15 10 5 0 z I, 6 6 Iß 12 li lö le zo zz ii, ze zay Hg. 2. Nach Bach. eine analoge Frage, nämlich um die Abhängigkeit der Präsentationszeit für Anthokyanbildung von der Lichtintensität. Fig. 3 gibt die von ihm er- mittelte Kurve wieder. Fig. 3. Nach L. Linsbauer. Man sieht auf den ersten Blick, daß alle 3 der hier wiedergegebenen Kurven die gleiche typische Gestalt haben : erst rascher Abfall der Kurve, dann eine ziemlich brüske Krümmung und end- lich ein gegen die Abszissenachse sanft abfallender Ast. Schon aus der Gestaltsähnlichkeit der Kurven kann man auf das allen 3 Untersuchungen zu- grunde liegende nämliche Gesetz schließen, welches sich übrigens auch rein algebraisch ergibt, wenn man die von den einzelnen Autoren angegebenen, zur Kurvenzeichnung verwendeten Zifiern dazu benutzt, die Produkte aus den Reizintensitäten und den zugehörigen Präsentationszeiten zu bilden. Man erhält dann Werte, die innerhalb eines durch physiologische Gründe bedingten Intervalls um einen Mittelwert oszillieren. Konnte man aus den von Bach und Lins- bauer ermittelten Kurven eine Bestätigung des Hyperbelgesetzes herauslesen, — die beiden Au- N. F. VIII. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 419 toren hatten sich mit der Feststelhing der Kurve begnügt und waren auf ihren inneren Sinn weiter nicht eingegangen — , so sollte bald eine direkte Bestätigung erfolgen. A. H. Blaauw hatte in Unkenntnis meiner Untersuchungen im botanischen Institute des Prof. VVent in Utrecht die gleiche Frage aufgegriffen, die ich behandelt hatte. Die Frgebnisse seiner Arbeit sind erst zum Teil pub- liziert, und zwar in einem Referat des Prof. Went (14). Aus diesem ist zu entnehmen, daß Blaauw ebenfalls das Hyperbelgesetz erkannte und zwar auf algebraischem Wege , indem er die Produkte aus Reizintensität und zugehöriger Prä- sentationszeit bildete und befriedigend überein- stimmende Werte erhielt. Die Ergebnisse Blaauw's erweiterten außer- dem die meinigen in einem wichtigen Punkt. Czapek hatte im Jahre 1898 als kürzeste von ihm gefundene Präsentationszeit die Dauer von 7 Min. angegeben. Bei meinen Untersuchungen ergab sich als kürzeste Präsentationszeit, für die die Gültigkeit des Hyperbelgesetzes noch erprobt wurde, die Zeit von 2 Sekunden. Blaauw je- doch vermochte bei Anwendung sehr hoher Intensitäten die Präsentationszeit gar auf Vi 000 Sekunde herabzudrücken I Auf diesen wichtigen Punkt wird später noch zurückzukommen sein. Nun wir diese übereinstimmenden Ergebnisse der pflanzlichen Reizphysiologie besprochen haben, wollen wir uns den Resultaten analoger Unter- suchungen der Tierphysiologie zuwenden. Sie sollen zunächst rein referierend besprochen und dann in ihrem Zusammenhange mit den botani- schen Ergebnissen dargestellt werden. Hier wird es außerdem nötig sein, die Methodik der nun zu besprechenden Untersuchungen jedesmal kurz zu betrachten. Schon im Jahre 1879 hatten Breguet und Richet sich die Aufgabe gestellt zu ermitteln, ob Lichtreize von sehr kurzer Dauer vom mensch- lichen Auge perzipiert werden oder nicht. Mit Hilfe eines eigenen Apparates konnten sie sehr kurze Lichtblitze — Sekunde an — erzielen. Sie regulierten die Lichtintensität, indem sie vor die leuchtende P'lamme Rauchgläser stellten und variierten die Dauer des Lichtblitzes durch mehr oder weniger starkes Anspannen einer Feder. Die Resultate ihrer Experimente waren folgende: (zitiert und übersetzt nach Charpentier, siehe weiter unten). 1. Ein schwaches Licht, das deutlich perzipiert wird, wenn es einige Zeit auf die Netzhaut wirkt, wird unsichtbar, wenn seine Dauer sich vermindert. 2. Um es wieder sichtbar zu machen , genügt es, das Licht entweder intensiver zu machen, oder seine Einwirkungsdauer zu vergrößern. 3. Man kann es auch dadurch wieder sichtbar machen , daß man diesen schwachen und kurz- dauernden Lichtreiz sich rasch wiederholen läßt (mindestens 50 mal in der Sekunde). Aus diesen Ergebnissen (hier kommen nur Satz I und Satz 2 in Betracht) geht hervor, daß für eine bestimmte Intensität der Lichtreize eine ganz gewisse, nicht zu unterschreitende Präsentationszeit besteht. Freilich wurde dieses Ergebnis ohne jede numerische Angabe mitgeteilt. Um aber solche zahlenmäßige Angaben zu gewinnen, nahm A. M. Bloch, ein französischer Physiologe , die F"rage von neuem auf. Er bediente sich folgender Methode (3). Als Lichtquelle diente ein weißes, transparentes Papier, das von rückwärts durch das Licht einer Kerze beleuchtet wurde. In bestimmter Entfernung von dem Papier denke man sich eine schwarze Dose, die an den beiden Enden eines Diameters 2 schmale Spalten enthält. Die Dose rotiert um ihre Achse mit einer Geschwindigkeit, die der Experimentator nach Belieben variieren kann. Vor der Dose befindet sich ein Kupfertubus, der an der Objektivseite nur eine kleine Öffnung von 0,5 mm Durchmesser hat. Am Okularende des Tubus befindet sich das Auge des Beobachters. Man sieht leicht ein, daß nur dann Licht in das Auge gelangen kann, wenn bei der Rotation der Dose die Verbindungslinie der beiden Spalten in die Richtung der Tubusachse gelangt, und daß die Zeit, während welcher Licht in das Auge fällt, bestimmt ist durch die Spaltenbreite und die Rotationsgeschwindigkeit der Dose. War die Spalte z. B. ^/g mm breit, so betrug die Zeit ihres Vorbeiziehens vor der kleinen Tubusöffnung, also die Reizzeit, Vi 11» Sekunde. Nun wurde die Kerze so weit vom transparenten Papier entfernt, bis man kein Licht mehr im Ge- sichtsfeld aufblitzen sah. Jetzt wurde die Intensität des vom transparentenPapierdurchgelassenen Lichtes photometrisch mit der Intensität einer frei brennen- den Kerze verglichen, und man konnte jetzt sagen, daß für diese Intensität die Präsentationszeit un- bedingt länger dauern muß als Vmo Sekunde. Diese Methodik ermöglichte folgende präzise Fragestellung: 1. Wenn man die Reizdauer variiert, wie muß sich dann die Lichtintensität ändern, damit die Gesichtsempfindung nicht die Zeit habe in Er- scheinung zu treten ? 2. Gibt es eine Beziehung zwischen dem Ver- hältnis der Reizdauer und der Lichtintensität? Ohne in die Details der Experimente ein- zugehen, teilt Bloch bloß folgende mit: Die Öffnung des Tubus blieb ein konstantes Quadrat von 2,5 mm Seitenlänge. Die Spalten- breite betrug '2 mm, bzw. i, 1,5, 2,5, 7 und 10 mm, was, in Zeit umgerechnet, Reizzeiten dar- stellt, die zwischen 0,00173 Sek. und 0,0518 Sek. variieren. Läßt man nun den transparenten Papier- schirm auf einem Schlitten der Kerze sich nähern oder entfernen, so sieht man, daß die Licht- intensitäten in genau inverser Propor- tion zur Reizzeit stehen. D. h. bei doppelter Intensität braucht man nur die halbe Zeit zu be- lichten, um an die Grenze des Eben-Ausbleibens der Gesichtsempfindung zu gelangen. 420 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 27 Man sieht, dies ist nichts anderes als das Hyperbelgesetz. Bloch gab diese Resultate mit Reserve wieder. Dieser Umstand veranlaßte 5 Jahre später den Physiologen Charpentier (4), die ganze Frage von neuem zum Gegenstand einer sehr gründlichen und methodisch ungleich reiferen Untersuchung zu machen. Er ging folgender- maßen vor. Fig. 4. Nach Charpentier. Auf eine mattschwarze Scheibe waren 2 weiße Sektoren geklebt, von denen der kleinere doppelt so breit war als der größere (Fig. 4). Diese Scheibe rotierte vor dem Charpen tier 'sehen Photoptometer. Dieses besteht im Prinzip aus einem Tubus, in welchen eine Sammellinse eingesetzt ist. Die SammelHnse entwirft ein reelles Bild der weißen Sektoren auf ein ebenfalls in den Tubus eingesetztes Mattglas, das sich in der Nähe des Okularendes befindet. Das beobachtende Auge sieht also auf dem Mattglas das Bild der beiden weißen Sektoren vorbeirotieren, denn die gesamte Vorrichtung ist so aufgestellt, daß die Scheibe par- allel einem lichtspendenden Fenster orientiert ist und die Sektoren das Licht in das Auge des Be- obachters reflektieren. Zur Variation der Licht- stärke dient eine vor der Linse angebrachte Iris- blende. Man sieht ohne weiteres ein, daß bei der doppelten, 3-fachen usw. Blendenöffnung die Intensität des Sektorenbildes 4, 9 usw. mal so groß ist, da ja 4, 9 usw. mal so viel Licht durch die Blende eingelassen wird. Die relativen Intensitäten der Bilder verhalten sich also wie die Quadrate der Blendenöffnung. Es ist noch zu bemerken, daß man eigentlich nicht die vollen Bilder der Sektoren auf einmal sah, da das Matt- glas mit schwarzem Papier überklebt war, aus dem nur eine radial verlaufende Spalte ausge- schnitten war. Nur dieser begrenzte Teil des Mattglases wurde also durch die Sektoren erhellt und zwar während einer Zeit, die durch die Breite der Sektoren und die Rotationsgeschwindigkeit bestimmt war. Die Breite der beiden Sektoren betrug 5" bzw. lo". Schon bei den Vorversuchen fiel die Tatsache auf, daß die Spalte von den beiden Sektoren ungleichmäßig erleuchtet wurde. Die obere Hälfte war dunkler als die untere. Dies ist ohne weiteres daraus verständlich, daß der vom breiteren Sektor ausgesandte Lichtreiz doppelt so lange dauerte, als der des schmäleren. — Jetzt vi^urde für jeden der beiden Sektoren, d. h. für die obere und untere Spakenhälfte, jene minimale Blendenöffnung gesucht, bei welcher das Bild der Sektoren noch eben bemerkt wurde. Ich will eine der Cha rpentier'schen Versuchsreihen hier wiedergeben. L Bestimmung. Die Scheibe rotiert langsam: Sektor v. lo» (0,008 Seli.)') Blendenöffnung 9 mm, Quadrat:^) 81 „ „ 5" (0,004 .. ) „ 12,5 „ „ 156 II. Bestimmung. Die Scheibe rotiert langsam: Sektor V. 10» (0,008 Sek.) Blendenöffnung 10 mm, Quadrat: 100 „ „ 5° (0,004 „ ) „ 14 „ „ 196 III. Bestimmung. Die Scheibe rotiert langsam : Sektor V. 10° (0,008 Sek.) Blendenöffnung 7 mm, Quadrat: 49 „ „ 5° (0,004 „ ) „ g'/2 „ „ 90 IV. Bestimmung. Die Scheibe rotiert rasch: Sektor V. 10" (0,0064 Sek.) Blendenöffnung 6 mm, Quadrat: 36 „ „ 5» 10,0032 „ ) „ 8'/,, „ „ 72 V. Bestimmung. Die Scheibe rotiert rasch : Sektor V. 10" (0,0064 Sek.) Blendenöffnung 8 mm, Quadrat: 64 .. M 5° (0,0032 „ ) „ II „ „ 121 VL Bestimmung. Die Scheibe rotiert langsam : Sektor V. 10" (0,008 Sek.) Blendenöffnung 8 mm, Quadrat: 64 „ „ 5» (0,004 .. ) „ II „ „ 121 VII. Bestimmung. Die Scheibe rotiert langsam : Sektorv. io''(o,co8Sek.)Blendenöffnung3 '/j mm, Quadrat: 12,25 „ „ 5» (0,004 .. ) „ 5 .. .. 25 Man sieht aus diesen Zahlen, daß zum Bemer- ken des Sektors von 5" die doppelte Lichtinten- sität nötig war, als zum Bemerken des lO-grädigen Sektors. Mit anderen Worten : standen die Reiz- zeiten im Verhältnis 1:2, so verhielten sich die zugehörigen Intensitäten wie 2: i. Der halb so kurze Reiz mußte mit doppelter Intensität wirken, um perzipiert zu werden. Diese Experimente wurden noch insofern variiert, als Sektoren von 2'/.," und 5*^', und solche von 772° und 30" verwendet wurden. In letzterem Falle verhielten sich die Reizzeiten wie i : 4, die entsprechenden Intensitäten wie 4:1. Sektor von 30O (0,024 Sek.) Blendenöffnung 5 mm Quadrat 25 .' " 7,5° (0,006 „ ) ,, 10 mm „ 100. Damit war also die von Bloch aufgefundene Gesetzmäßigkeit verifiziert, und zwar für Licht- reize, deren Dauer zwischen 0,002 und 0,024 Sek. variierten. In einer zweiten Serie von Experimenten ver- wendete Charpentier nicht reflektiertes, son- dern direktes Licht, das von einer konstant brennenden Öllampe ausgesendet wurde. Aus der rotierenden Scheibe wurden nacheinander verschieden große Sektoren ausgeschnitten, die beim Vorbeirotieren vor der Spalte das Licht der Lampe während einer ganz bestimmten, vom Sektorwinkel und der Rotationsgeschwindigkeit abhängigen Zeit ins Auge gelangen ließen. Vor- ausgesetzt, daß bei allen Experimenten die Licht- adaptation der Retina die gleiche war, konnte auch bei dieser Versuchsanstellung das gleiche Gesetz festgestellt werden. Zugleich wurde die ') o,ooS Sek. ist die Dauer des Vorbeipassierens vor der Spalte. ') Relative Lichtintensität! N. F. Vm. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 421 Grenze seiner Gültigkeit ermittelt. Denn wurde die Reizzeit über 0,125 = 's Sek. hinaus ver- längert, so konnte trotzdem die Blende nicht weiter verengert werden, als dies bei ' ^ Sek. der Kall war. Dieser Punkt ist von Wichtigkeit und hat auch seine botanischen Analoga. Das Resume dt r C h a r p e n t i e r ' sehen Unter- suchung ergibt, daß innerhalb der Zeitgrenzen 0,002 Sek. und 0,125 Sek. Reizdauer und Reizinten- sität einander verkehrt proportioniert sind. Mit anderen Worten: daß zur Erzielung der minimalen Gesichtsempfindung eine konstante Licht- menge erforderlich ist. ßf TJ 10 9 8 7 6 5 3 Z 1 5 m 15 20 25 30 35 W 't5 50 55 60 Fig. 5. Nach Grijns und Noyons. Nicht lange nach der Publikation der Resultate Charpentier's wurde die gleiche Frage noch ein- mal experimentell untersucht, und zwar von Grijns und Noyons (8). Sie erzeugten die kurzen Beleuchtungszeiten auf 2 Arten. Einmal, indem sie das Licht einer Hefner-Lampe durch einen rotierenden Spiegel ins Auge fallen ließen, das andere Mal, indem sie das Prinzip des fallen- den Pendels benutzten. (Siehe weiter unten.) Hier finden wir nun zum ersten Male Resultate, die den bisher referierten nicht kongruent sind. Man wird dies sofort aus der Kurve erkennen, die für das Auge des Herrn Grijns ermittelt wurde. Der horizontale Kurvenast fällt nicht konstant gegen die Abszissenachse ab, sondern steigt wieder empor. Auf der Abszissen- achse sind wieder die Reizzeiten in Einheiten von 10 ' Sek. aufgetragen, auf der Ordinatenachse die Lichtintensitäten, ausgedrückt im Energiemaß und zwar in Einheiten von io~'" Erg. Die Kurve der Fig. 5 erreicht, wie man sieht, zwischen 2 und 3 Tausendstel Sekunde ein Optimum, d. h. für diese Reizdauer braucht man zur Erzielung der minimalen Sehempfindung die geringste Lichtmenge. Verkürzt oder verlängert man die Reizdauer, so braucht man, um den- selben Effekt zu erzielen, mehr Licht, als man entsprechend der inversen Proportionalität zwischen Reizdauer und Lichtintensität erwarten sollte. Dieser Widerspruch der Ergebnisse von Grijns und Noyons mit allen bisher referierten und untereinander übereinsimmenden Tatsachen, blieb aber nicht lange bestehen. Denn die gleiche Frage wurde noch zweimal experimentell behan- delt und zwar von J. v. Kries (9) im Jahre 1906, und von O. Weiß und Ernst Laqueur (15) im Jahre 1908. j. v. Kries hatte seine Untersuchungen zu anderem Zwecke unternommen, wobei sich aber doch, obwohl nicht angestrebt, die gleiche Be- ziehung zwischen Reizintensität und Reizdauer er- gab, die schon Charpentier experimentell sicher- gestellt hatte. Auch v. Kries findet zwischen Reizzeiten von 0,0075 Sek. und 0,125 Sek. die bekannte inverse Proportionalität. Es sei eine seiner Tabellen teilweise wiedergegeben. Expositionszeit Lichtintensität Produkte 0,0125 Sek. 59.9 0,799 0,016 50,0 0,780 0,025 34,50 0,862 0,031 24-34 0,753 0,050 15,31 0,765 0,062 13,84 0,855 0,100 9,19 0,919 0,125 6,62 0,825 Man sieht, die Produkte sind konstant. Und wieder in Übereinstimmung mit Charpentier findet auch V. Kries, daß dieses einfache inverse Propor- tionalitätsverhältnis nur bis zu Zeiten von '^^'looo = '/g Sek. besteht, um dann in eine jedenfalls viel verwickeitere funktionale Beziehung überzu- gehen. V. Kries hatte die kurzen Reizzeiten mit Hilfe eines rotierenden Sektors erzielt. Otto Weiß und Ernst Laqueur verwendeten das Prinzip des fallenden Pendels. Ein Pendel, das man von verschiedenen Höhen herabfallen lassen kann, das also mit verschiedener Geschwindigkeit die Ruhelage passiert, trug an seinem unteren Ende einen Spiegel. Sobald dieser den tiefsten Punkt der Pendelbahn passierte, reflektierte er das Licht eines leuchtenden Spaltes direkt in das 422 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 27 Auge der Versuchsperson. Die Intensität des Lichtes wurde variiert, indem der Spalt durch Verwendung von Mattgläsern in seiner Intensität geschwächt wurde. Die Autoren faßten ihre Re- sultate in den Satz zusammen: „Das Produkt aus Lichtmenge und Dauer der Belich- tung bei Minimalerregungen ist kon- stant." Dies wird übrigens auch durch die von Weiß und L a q u e u r ermittelten Kurven illustriert, die wieder die uns schon bekannte typische Form besitzen. Eine dieser Kurven gibt die Figur 6 wieder. Lirhtsär-ken - Fig. 6. Nach Weiß und Laqueur. Resümieren wir nun die Ergebnisse all dieser sinnesphysiologischen Untersuchungen, wobei wir vorderhand ihre intime Relation mit dem botani- schen Material außer acht lassen, so können wir sagen : zur Erzielung einer minimalen Gesichtsempfindung ist eine ganz be- stimmte, konstante und nicht unter- schreitbare Lichtmenge nötig. In welcher Zeit diese Lichtmenge auf die Netzhaut des Auges auffällt, ob die Reizung intensiv und kurz oder schwach und langedauernd ist, solches ist für den Effekt völlig irrelevant. Dieser Satz, der erst später durch sein botani- sches Analogon zu einem allgemeinen erweitert werden wird, findet nun durch eine Reihe anderer tierphj'siologischer Untersuchungen eine indirekte Stütze. Es ergab sich nämlich im Verlaufe sinnes- physiologischer Studien am menschlichen Auge die Aufgabe, festzustellen, ob nicht vielleicht die räumliche Größe des einwirkenden Lichtes von Einfluß auf die Minimalempfindung des Seh- organs sei. Ob nicht eine sehr kleine Fläche intensiver leuchten muß, um eben noch wahrge- nommen zu werden, als eine etwas größere ? Ich will in kurzen Zügen die Ergebnisse der experi- mentellen Behandlung dieser Frage hier wieder- geben. Charpentier (5) verwendete als lichtspen- dende Flächen Quadrate von 0,7 mm bis 12 mm Seitenlänge. Solange nun die Quadratseite mehr als 2 mm betrug, war in allen Fällen zur Hervor- rufung einer Lichtempfindung dieselbe Helligkeit vonnöten. Sank aber die Seitenlänge unter 2 mm, so zeigte sich bei 6 verschiedenen Quadraten, „que l'eclairement necessaire devait etre d'autant plus fort que la surface lumineuse etait moindre, tellement que le produit de Tun par l'autre etait ä tres peu pres constant". D. h. mit anderen Worten, es ist wieder zur Hervorrufung der minimalen Empfindung eine konstante Licht- menge nötig. Das gleiche Gesetz der konstanten Produkte aus Flächengröße und Helligkeit hatte übrigens Riccö (12) schon 1877 mitgeteilt. Es wurde in der Folge bestätigt von Asher (i), der die obere Gültigkeitsgrenze des Gesetzes bei einer Feldgröße von 2 Bogenminuten erreicht fand, und von Schoute (13). Alle diese letzteren Unter- suchungen haben auf botanischem Gebiete bisher kein Analogon gefunden. Gehen wir nun zur vergleichend physio- logischen Betrachtung aller bisher referierten Resultate der botanischen und psychophysischen Forschung über. Wir haben gesehen, daß zur Hervorrufung einer minimalen heliotropischen, einer minimalen geotropischen Reaktion, zur Erzielung eines minimalen photochemischen Effekts bei Pflanzen je eine ganz bestimmte konstante Energie- menge erforderlich ist. Wir haben andererseits erfahren, daß zur Hervorrufung einer minimalen Sehempfindung ebenfalls eine fixe Energiemenge erforderlich ist. Gleiche Energiemengen rufen bei Pflanzen gleiche Reaktionen, beim menschlichen Auge gleiche Empfindungen hervor. Zur Durch- führung einer vergl ei c h ende n Betrachtung ist es nun unbedingt nötig, eine gemeinsame Basis für alle diese Erscheinungen zu gewinnen. Die minimalen Reaktionen an den Pflanzen wurden objektiv konstatiert, die Gesichtsempfindungen aber, die wir durch unser Auge empfangen, sind doch rein subjektiv. Wir müssen daher bei der vergleichenden Betrachtung uns entweder auf den rein psychologischen oder den rein physio- logischen Standpunkt stellen. Die vergleichend psychologische Betrachtung könnte mit allem Rechte durchgeführt werden. P'ür den, der den Deszendenzgedanken konsequent verfolgt, ist die Existenz einer Pflanzenpsyche kein Problem, sondern ein spezieller Ausfluß phylogenetischen Denkens. Nichtsdestoweniger soll hier der physiologische Standpunkt für die vergleichende Betrachtung eingenommen werden. N. F. VIII. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 42.3 Denn was wissen wir von Umfang und Eigenheit der Pflanzenpsyche?') Auf rein physiologischem Standpunkt aber läßt sich die innere Zusammengehörigkeit aller hier aufgezählten Tatsachen ohne weiteres dartun. Nehmen wir an — was ja wiederholt geschehen ist — , daß die primäre Wirkung des Lichtes auf die Netzhaut photochemischer Natur ist, so wird erst von einer bestimmten Größe dieses photo- chemischen Effektes an die Empfindung ihren Ursprung nehmen. Zur Erzielung jenes mini- malen photochemischen Effekts, der eine minimale Gesichtsempfindung auslöst, ist nun ebenso eine fixe Energiemenge nötig, wie bei den Pflanzen zur Erzielung einer minimalen Reaktion die Er- regungshöhe einen ganz bestimmten Wert an- nehmen muß, der selbst wieder durch eine ganz bestimmte Energiemenge ausgelöst wird. Sprechen wir also nur von Erregungen, so können wir sagen: Gleiche Energiemengen rufen gleiche Er- regungen hervor, woraus aber nicht folgt, daß die doppelte Energiemenge auch die doppelte Erregung hervorruft. Vielmehr sprechen auf botanisch-reizphysiologischem als auch auf sinnes- physiologischem Gebiete eine ganze Reihe von Tatsachen dafür, daß die Erregung nur innerhalb bestimmter Grenzen der einstrahlenden Energie- menge proportional wächst, um jenseits dieser Grenze in eine jedenfalls verwickeitere Abhängig- keit von letzterer zu geraten. Der Satz, daß gleiche Energiemengen gleiche Erregungen hervorrufen und daß innerhalb ge- wisser Grenzen die Erregung proportional der eingestrahlten Energiemenge wächst, ist eigentlich so selbstverständlich, daß man sich wundert, daß nicht schon vor allen experimentellen Unter- suchungen die genannte einfache Beziehung klar erkannt war. Ohne weiteres, denkt man, wäre der Erfolg intermittierender Reizung im Verhält- nis zu konstanter Reizung vorherzusagen gewesen. Ist das Talbot'sche Gesetz nicht ohne weiteres verständlich r Läßt man auf das Auge inter- mittierendes Licht fallen, und ist das Verhältnis der Reizdauer zur Reizpause i;i, d. h. wird das Auge einen Zeitteil gereizt, im darauffolgenden gleich großen Zeitteil nicht beleuchtet, so muß man ein doppelt so starkes Licht wirken lassen, um den gleichen Eindruck zu erhalten, den ein konstant wirkendes Licht auslöst. Die Unter- suchungen vonNat ha n so n und Pringsheim(ii) haben die Gültigkeit dieses „Gesetzes" auch für das Pflanzenreich bewiesen. Reizt man einen Keimling von einer Seite durch konstantes Licht, von der diametral gegenüberliegenden Seite durch ein ebenso starkes, aber im Verhältnis i : i inter- mittiertes Licht, so krümmt sich der Keimling dem konstanten Licht zu. Erst wenn das inter- mittierte Licht doppelt so intensiv gemacht wird, bleibt der Keimling zwischen den beiden Licht- quellen völlig gerade, zum Beweise, daß die beiden Reize jetzt tropistisch äquivalent sind. Natürlich! Das konstante Licht wirkt mit der Intensität I während der Zeit t. Das intermittierte Licht wirkt nur während der Zeit --, da ja immer 2 eine Dunkelperiode eingeschoben ist, muß also die Intensität 2 I besitzen, um den gleichen Effekt hervorzurufen. Wieder sind die Produkte aus Reizintensität und Reizdauer konstant : I • t = 2 I ■ . 2 Noch in einem anderen Pralle hätte eigentlich das Resulrat einer experimentellen Untersuchung vom Standpunkt der hier dargelegten Beziehung zwischen Reizintensität und Reizdauer vorausge- sagt werden können. Ich meine das von Fitting ermittelte Sinusgesetz. Fitting (6) untersuchte die Abhängigkeit der geotropischen Erregung von jenem Neigungswinkel gegen die Horizontale, in dem diese Erregung ausgelöst wurde. Ein Pflanzenkeimling wird nämlich geotropisch am intensivsten gereizt, wenn er in die Horizontale gebracht wird. Neigt man ihn nur um 45", so steigt während der gleichen Reizzeit die Erregung nicht so hoch an, wie bei der Reizung in der Horizontalen. Dies konnte Fitting mit dem von ihm konstruierten intermittierenden Klino- staten recht hübsch demonstrieren. Befindet sich der Keimling in der Lage O A (Fig. 7), so erhält er in der Zeiteinheit einen bestimmten geotropischen Impuls. Legt man ihn nun in die Richtung O Aj ') Die Frage nach Eigenheit und Umfang der Pflanzen- seele führt zu dem schwerwiegenden Problem : wie konnte sich Psychisches difl'erenzierenr Wie sich das physische Korrelat der Seele differenziert, darüber lassen sich wenigstens Vorstellungen gewinnen. Aber wie kann sich das Psychische selbst differenzieren f 1-ig. 7- um, so erhält er während der gleichen Zeit den gleich großen Impuls, jedoch von der gerade ent- gegengesetzten Seite her. Der Klinostat kann nun dieses Wechseln der Lagen O A und O A^ beliebig lange besorgen, sobald nur die Reizzeiten in diesen beiden Lagen einander gleich sind, bleibt der Keimling völlig gerade. Kombiniert man aber jetzt die Lagen OA und OB, Lagen, die von der Vertikalen um 90" und um 45" ab- weichen, so beginnt nach gewisser Zeit das Ver- suchsobjekt sich im Sinne der Reizung O A zu krümmen, ein Beweis, daß der Reizimpuls in der Lage OB schwächer ist. Nun ließ Fitting den Klinostaten ungleichmäßig arbeiten. Der Keim- ling sollte in der Lage OB länger verweilen als in der Lage O A, um auf diese Weise das Manko an Reizintensität gegenüber der Lage O A wett- zumachen. War die Dauer der Reizung in der 424 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 27 Lage O A gleich t, so mußte sie in der Lage O B gleich -: 7. sein, damit die beiden Reizungen *' sin 45" ^ einander äquivalent waren und der Keimling ge- rade blieb. Allgemein gesagt: verhielten sich die Ablenkungswinkel der beiden Reizlagen von der Horizontalen wie et : ,)', so mußten die zugehörigen Reizzeiten sich wie sin /:?:sin a verhalten, damit die Reizimpulse einander das Gleichgewicht hielten. Auch dieses Gesetz ist ohne weiteres verständlich. In dem oben erwähnten Spezialfall wirkte in der horizontalen Lage OA die Schwerkraft mit ihrer vollen Akzeleration g. In der Lage O B, d. h. im Ablenkungswinkel von 45", kommt als reizauslösend nur jene Komponente der Akzeleration in Betracht, die auf der Richtung O B senkrecht steht, d. i. die Größe g-sin 45". Ist die Reizzeit in der Horizontalen gleich t, so ist im Ablenkungswinkel t 45" die Reizdauer gleich Und wieder sm 45^ sehen wir, daß die Produkte aus Reizintensität und Reizdauer einander gleich sind: g-t = g-sin 45"- — n- Also auch hier kann wie in allen früheren sm 45" Fällen ein Manko an Reizintensität durch einen Überschuß an Reizdauer paralysiert werden. Damit findet das Sinusgesetz vom Standpunkt des oben ausgesprochenen Satzes seine einfache Erklärung. Es kommt eben wieder nur auf die Menge der reizauslösenden Energie an. Von einem Gesichtspunkte aus sind uns also folgende Gesetzmäßigkeiten ohne weiteres ver- ständlich : 1. Das Hyperbelgesetz, gefunden beim heliotropischen und geotropischen Reizvorgang, bei der Anthokyaninduktion und bei der Hervor- rufung der Gesichtsempfindung beim Menschen. 2. Das Talbot'sche Gesetz, als gültig befunden bei der menschlichen Gesichtsempfindung und beim Heliotropismus der Pflanzen. 3. Das Sinusgesetz, von Fitting beim Studium des geotropischen Reizvorganges fest- gestellt und ohne allen Zweifel auch im Tierreich gültig. Es hat also in den letzten Jahren, ganz un- erwartet, eine bedeutsame Annäherung der pflanz- lichen und tierischen Reizphysiologie stattgefunden, die uns hoffen läßt, daß das Problem der Reizung der lebendigen Substanz, an so spezialisierten Fällen es auch studiert werden mag, doch eine prinzipielle Behandlung erfahren wird. Für eine solche künftige Theorie der Reizung der lebendigen Materie wird es wichtig sein, sich vor Augen zu halten, daß das Hyperbelgesetz und das Talbot'sche Gesetz Analoga in der anorgani- schen Natur haben. Dem ersteren entspricht das Bunsen- Roscoe'sche Gesetz der Chlorsilber- reduktion und auch das letztere kann anorganische Erscheinungen regeln. Leitet man über eine Magnetnadel einen elektrischen Strom , so wird sie bekanntlich aus ihrer Ruhelage abgelenkt. Läßt man den Strom in rascher Intermittenz ein- wirken und ist die Periode z. B. i : i , so muß man die Stromintensität verdoppeln, um den gleichen Ablenkungswinkel zu erzielen. Der Ver- fasser ist übrigens überzeugt und hofft dies noch zu beweisen, daß auch im Bereiche des Anorga- nischen Relationen analog dem Weber-Fech- ner'schen Gesetze existieren. Man denke z. B. an das Massenwirkungsgesetz ! Graphisch dar- gestellt ergibt es ebenso wie das Weber-Fechner- sche Gesetz die Logarithmuskurve. Alle diese Analogien könnten vielleicht später für die physiko- chemische Erklärung des Reizablaufes von Be- deutung sein. Diese Erklärung aber, das ist ge- wiß, wird nur dann eine allseits befriedigende sein, wenn pflanzliche und tierische Reizphysiologie in voller Bewußtheit ihrer Zusammengehörigkeit ihre Forschungstaktik aneinander anpassen, um von verschiedenen Seiten her das gemeinsame Ziel zu erreichen. Wien, Anfang März 1909. Literatur. 1) Asher, L., Zeitschrift f. Biologie Bd. 35, 1897. 2) Bach, H., Jahrb. f. wiss. Bot. Bd. 44, 1907. 31 Bloch, A. M., Compt. rend. d. 1. soc. d. biol. Bd. 37, 1S85. 4) Charpenlier, A., .\rchive d Ophlhalmol. Bd. lo, 1890. 5) Ders., Academie d. sciences, 13. Dezember 1880. 6) Fitting, H., Jahrb. f. wiss. Bot. Bd. 41, 1905. 7) Fröschel, F., Silzber. d. Wiener Akad. d. Wissensch. Bd. 117, 1908. 8) Grijns, G. und A. K. Noy o ns , Arch. f. .^nat. und Phy- siol. 1905. 9) Kries, J. v., Zeitschr. f. Sinnesphysiol. Bd. 41, igo6. 10) Linsbauer, L.. Wiesner-Fcstschrift 190S. 11) Nathanson, A. und Ernst Pringshcim, Jahrb. f. wiss Bot. Bd. 45, 190S. 12) Riccii, Annal. d'Ottamol. Bd. 6, 1877. Cit. n. O. Zoth, in Nagel's Handb. d. Pbysiol. d. Menschen. 13) Seh oute, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. Bd. 19, 1899. 14) Went, F. A. F. C, Referat über die noch nicht erschienene Arbeit von A. H. Blaauw, in Procecdings of the Meet- ings of Saturday, September 26, 1908. Autorisierte Übersetzung aus dem Knglischen von P. Fröschel, Österr. Bot. Zeitschr 1909, Nr. 2. 15) Weiß, O. und Ernst Laqueur, Beiträge zur Physiol. und Pathol. 1908. Kleinere Mitteilungen. Sehschärfe und Farbensinn bei farbigen Rassen. — In dem Bericht über die „Cambridge Anthropological Expedition to Torres Straits" ^) hat Dr. Rivers außer den bei dieser Expedition selbst gewonnenen Resultaten auch die Ergebnisse der Beobachtungen anderer Forscher über Seh- schärfe und Farbensinn von Angehörigen farbiger ') Es sind von diesem Werke bisher vier Bände erschie- nen; Physiologie und Psychologie; Sprachen; Soziologie (2 Bde.) ; Verlag der University Press, Cambridge. N. F. VIII. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 425 Rassen gesammelt und es stellt sicli heraus, daß wilde und halbzivilisierte Völker in bezutj auf die Sehschärfe den normalen Europäern nur unbe- deutend überlegen sind. Es besteht kein Zweifel, daß Refraktionsfehler, die zu Mängeln des Ge- sichts, und besonders zu Kurzsichtigkeit, führen, viel häufiger unter zivilisierten als unter uiizivili- sierten Völkern anzutreffen sind. Aber wenn diese Ursache der Verschiedenheit ausgeschlossen wird, so zeigen die bisher untersuchten farbigen Rassen keineswegs den Grad von Überlegenheit über die Europäer, den man nach den Berichten vieler Reisender erwartet haben sollte. — Cohn und Kotelmann haben in einigen Fällen eine außer- ordentlich große Sehschärfe bei Afrikanern und Asiaten festgestellt, doch rechtfertigt das keinerlei Verallgemeinerung. Namentlich die Untersuchungen auf den Inseln der Torresstraße (Australien) — die genauesten, welche bis nun ausgeführt wurden ■ — ergaben nichts, was die Annahme einer „Superiorität" der farbigen Völker bekräftigen könnte. Reisende haben wiederholt die Aufmerk- samkeit darauf gelenkt, wie rasch in den von ihnen besuchten Ländern die Eingeborenen Gegen- stände oder Tiere zu unterscheiden vermögen; so z. B. Vögel in dem Laubwerk der Bäume, in großer Ferne befindliche Boote usw. Das ist richtig, es ist aber kein Beweis erheblich größerer Sehschärfe der Betreffenden, sondern ihrer langen Übung im Beobachten und der Vertrautheit mit allen Einzelheiten der Umgebung. In eine andere Umgebung versetzt, würde ihre Überlegenheit schwinden. Zu einem gleichen Schluß wie Dr. Rivers kam auch Prof Ranke auf Grund seiner Erfahrungen bei den südamerikanischen Indianern. Dr. Rivers ist der Überzeugung, daß die „Wilden" sehr gute Naturbeobachter sind. Bei den Torresinsulanern fand sich manches, das dies bestätigt. Es wird unter anderem hervorgehoben, daß jedes Detail der Landschaft und des Meeres seinen besonderen Namen hat, und nahezu jede Art, die der Botaniker und der Zoolog unter- scheidet, wird von den Eingeborenen gleichfalls durch eine eigene Benennung unterschieden. Der- selben Eigenart begegnet man bei anderen unzivili- sierten Völkern. Untersuchungen über den Farbensinn wurden häufiger vorgenommen als solche über die Seh- schärfe. Doch ist das vorhandene Material den- noch recht unzuverlässig. Im allgemeinen scheinen die Ergebnisse darauf hinzudeuten , daß Farben- blindheit bei den farbigen Rassen sehr selten ist. Sicher ist, daß in d er Beziehung erhebliche Diffe- renzen zwischen den Völkern bestehen. So war von 150 Papua, die Dr. Rivers mit Holmgren's Wolle und dem Tintometer prüfte, nicht einer farbenblind (weder total noch partiell), unter acht Eingeborenen von der Insel Lifu befanden sich hingegen drei, die farbenblind waren. Obwohl die gewöhnliche Form der Farbenblindheit, die Rotgrünblindheit, bei den Papua auf den Torres- inseln nicht bestand, so wiesen sie doch Mängel des Farbensinnes auf; sie vermögen namentlich blau schwer zu unterscheiden und verwechseln es meist mit schwarz, schmutziggrau und anderen dunklen oder düsteren Farben. — Über die Ur- sachen des abweichenden Verhaltens der Rassen bei der Unterscheidung der Farben kann gegen- wärtig noch nichts Bestimmtes gesagt werden. P'ehlinger. Beiträge zur Lösung der Frage der che- mischen Natur des Wurzelsekretes veröffent- lichen J. Stoklasa undA. Ernest in Prings- heim's Jahrb. f wissen seh. Botanik, 46, 1908, S. 56 — 102. Diese Frage ist eine der inter- essantesten, aber auch schwierigsten in der gesamten pflanzlichen Stoffwechselphysiologie ; schwierig, weil die Sekrete jeweils nur in ganz minimalen Mengen erzeugt werden. Es bestehen darüber drei Vermutungen: es sollten organische Säuren, oder saures phosphorsaures Kali, oder freie Kohlensäure ausgeschieden werden, um die bekannten Korrosionserscheinungen an den Boden- partikelchen hervorzurufen. Organische Säuren sind exakt bisher nicht nachgewiesen worden, würden unter normalen Umständen wohl auch baldigst von den überall, namentlich auch in un- mittelbarer Nähe aller Wurzeln, vorhandenen Bodenbakterien aufgenommen und zu Kohlen- säure verbrannt werden. Saures Kaliumphosphat hat die Wahrscheinlichkeit gegen sich, weil nicht anzunehmen ist, daß die Pflanze die kostbaren Mineralstoffe K und P, die sie sozusagen mühsam erwerben muß, wieder von sich geben sollte; man braucht kein Anhänger einer absoluten vor- bedachten Zweckmäßigkeit zu sein, um das für minder glaubhaft zu halten. Kohlensäure ist das regelmäßige Atmungsprodukt fast jeder lebenden Zelle (entsteht dabei auch bei intramolekularer Atmung oder Gärung), und vermag nachweislich die schwerer löslichen Mineralbestandteile des Bodens kräftig anzugreifen ; ist doch in neuerer Zeit von M itsc h er 1 ic h - Königsberg vorge- schlagen worden, kohlensäurehaltiges Wasser zur Extraktion bei der agrikulturchemischen Boden- analyse zu verwenden. — Die vorliegende Arbeit nun bringt an der Hand subtiler, mit z. T. recht kostspieligen Apparaten ausgeführter Versuche den Nachweis, daß von in dunstgesättigtem Raum gehaltenen Pflanzen-(Getreide-)Wurzeln in normaler Luft nur Kohlendioxyd gebildet wird, während freie Säuren, Ameisen- und z. T. auch Essigsäure in geringen Mengen nachweisbar waren, wenn das durchgeleitete Gasgemisch nur 6 "/j Sauerstoff, neben^'94 % Wasserstoff oder Stickstoff enthielt. Da^die Bodenluft bis zu mäßiger Tiefe noch fast den normalen Sauerstoffgehalt der Atmosphäre aufweist, so ist anzunehmen, daß auch im natür- lichen'iBoden die Wurzeln im wesentlichen Kohlen- dioxyd ausscheiden. Allerdings liegt immer noch die Möglichkeit vor, daß Bakterien, die ja nie ganz fernzuhalten sind, am Gange des Stoftwechsels 426 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 27 beteiligt waren ; solche sind aber im natürlichen Boden an der Oberfläche der Pflanzenvvurzeln erst recht tätig. — Hinsichtlich der ausgeschiedenen CO., -Mengen verraten nun unsere Getreidepflanzen recht interessante Unterschiede: Hafer zeigt, auf gleiches Trockengewicht des Wurzelsystems be- zogen, die höchste, Gerste die geringste Atmungs- energie ; da aber Gerste ein besonders stark ent- wickeltes Wurzelsystem besitzt, so ist doch die Gesamtproduktion an CO.,, pro Pflanze berechnet, größer als bei Hafer, Weizen und Roggen. In gepulvertem Gneis und Basalt gezogen, zeichnete sich Hafer durch das größte, Gerste durch das kleinste Gewicht der erzeugten Pflanzenmasse aus; letztere ist also, trotz ihres starken Wurzelsystems, am wenigsten befähigt, schwerer lösliche Mineral- stoffe anzugreifen und zu assimilieren, so daß eben die stärkere Wurzelbildung als korrelative Anpassung an die geringere Korrosionsfähigkeit aufgefaßt werden darf. Hugo Frischer. Vereinswesen. Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde (E.V.). — Die Arbeit des neuen Geschäftsjahres wurde am Dienstag, den 12. Januar, mit einer Sitzung im F"estsaale des Charlotten- burger Rathauses begonnen. Es sprach an diesem Vortragsabend Herr Ingenieur Pichon von der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie über das Thema: „Der gegenwärtige Stand der drahtlosenTelegraphie und Telephonie". Am Montag, den 18. Januar, hielt im Hör- saal VI der Königl. Landwirtschaftlichen Hoch- schule Herr Prof Dr. Gustav Gaßner von der Universität Montevideo einen durch Lichtbilder reich illustrierten Vortrag über: „Land und Leute von Uruguay". Ein genauer Bericht über den Vortrag wird später in dieser Zeitschrift veröffentlicht werden. An Stelle des behinderten Herrn Prof Dr. Pufahl, der einen Vortrag über ,, Metallegierungen" an- gekündigt hatte, sprach am Montag, den 25. Januar, an dem gleichen Ort Herr Prof. Vater über: „Dampfturbinen und deren Ver- wendung". Da der Herr Vortragende in einem besonderen Artikel dieser Zeitschrift (Bd. VII, N. F., Nr. 12 und 32) den Gegenstand ausführlich behandelt hat, kann von einer Berichterstattung an dieser Stelle Abstand genommen werden. In der Zeit vom 15. Januar bis 19. Februar fand an jedem Freitagabend im Hörsaal IX der Königl. Landwirtschaftlichen Hochschule ein sechs- stündiger Vortragszyklus : „Der heutige Stand der Elektrotechnik" statt unter Leitung des Herrn Dr. A dolf Th omälen von den Siemens- Schuckerlwerken. Die zuletzt genannte Firma hat hierbei durch ilir gütiges Entgegenkommen den Vorstand der Gesellschaft zu ganz besonderem Danke verpflichtet. Am Dienstag, den 9. Februar, hielt in den Räumen der Königl. Landwirtschaftlichen Hoch- schule Herr Prof Dr. K r u s c h einen Vortrag über: „Die wichtigsten Kupferlager- stätten". Der Vortrag wird in dieser Zeitschrift in ausführlicher Gestalt zur Veröffentlichung ge- langen. Über ,,Die ökonomische Bedeutung der Vögel" sprach am Dienstag, den 16. Fe- bruar, im Festsaal des Charlottenburger Rathauses Herr Prof Dr. Eckst ein von der Forstakademie Eberswalde. Um die wirtschaftliche und ästhetische Bedeu- tung der Vögel zu verstehen, so führte der Vor- tragende aus, ist es nötig, die Hauptlebens- momente derselben sich ins Gedächtnis zu rufen. Der Vogel, mag er Stand-, Strich- oder Zugvogel sein, verlangt von seinem Aufenthaltsort Schutz, Nahrung und Fortpflanzungsmöglich- keit. Den Schutz findet er aktiv durch seine Behendigkeit und Flugfertigkeit, passiv durch schützende Ähnlichkeit und Nachäffung ge- schützter Arten. Die Art zu nisten, ist ebenso wie die Nahrung und die Aufnahme derselben sehr mannigfach. Aus den einzelnen Lebensmomenten ergibt sich die Bedeutung des 1 ebe nden Vogels. Dieselbe ist I. eine ideale. Er spielt eine Rolle in der Literatur (Märchen, Sage, Volkslied), ebenso in der bildenden Kunst. Seine Bedeutung als Haus- genosse ist groß. Stubenvögel hält der Groß- städter, ebenso werden sie in der Hütte des Ge- birgsbewohners gefunden. Im naturkundlichen Unterricht ist er bedeutungsvoller wie die Säuger und etwa den Insekten gleichzustellen. Seine Formen sind für den Zeichenunterricht nicht zu unterschätzen. Die Aufklärung der Jugend setzt am besten bei der Betrachtung der Vögel ein. Dem Naturbeobachter ist er eine unerschöpfliche Quelle der Anregung. Seine Bedeutung ist 2. eine Wirtschaft liehe. Er ist Lieferant nutzbarer Stoffe, die vom leben- den Vogel wie vom toten gewonnen werden. Die Tätigkeit der Vögel im Naturhaushalt richtig zu würdigen bedarf es weitgehender Naturkenntnis. Die Lebenstätigkeit als wirtschaftlicher Faktor ist fördernd oder hindernd. Daraus ergibt sich die Auffassung vom Nutzen und Schaden. Zur Beur- teilung müssen die wirtschaftlichen Gegensätze, z. B. zwischen Fischerei und Landwirtschaft, Jagd und Landwirtschaft berücksichtigt werden. Manchen Vogelarten läßt sich tatsächlich eine große Schädlichkeit nachweisen. Sie sind aber nur an gewissen Örtlichkeiten und unter gewissen Bedingungen schädlich. Die heutige Gesetzgebung steht auf dem Standpunkt, den der Vortragende schon 1902 auf dem Berliner Zoologenkongreß vertrat: Schutz allen Vögeln, Kampf gegen die einzelnen lokal schädlichen Individuen. Nach Würdigung der Bestrebungen, Ziele und Bedeutung des Vogel- schutzes kommt der Vortragende zu folgenden Schlußfolgerungen : Groß ist die Bedeutung der N. F. VIII. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 427 Vögel im Naturhaushalt, groß ihre ästhetische Bedeutung, groß kann der Schaden einzelner Individuen sein, gering ist der Nutzen der Vögel. Deshalb verlangt er allgemeinen Schutz für die Vögel in ihrer Gesamtheit, d. h. Schutz allen Arten und Individuen, die nicht schaden, daneben das Recht, sich gegen Schädlinge zu schützen, wie es die heutige Gesetzgebung erfreulicherweise anerkennt und durchführbar macht. Am Montag, den 22. Februar, nachmittags 3 Uhr versammelten sich gegen 90 Mitglieder der Gesellschaft in der großen Ausstellungshalle des Instituts für Gärungsgewerbe in der Seestraße, um zunächst unter Führung des Herrn Prof Dr. L i n d n e r die hier ausgestellten Kartoffel- und Gerstenproben, sowie die verschiedenen Kartoft'ehrocknungsfabrikate in Gestalt von Kar- toft'elschnitzeln, -Scheiben, -flocken und Kartoffel- mehl in Augenschein zu nehmen. Durch Kost- proben von einem vorwiegend aus Kartoffelmehl hergestellten Brot , wie es bereits auf mehreren großen Gütern eingeführt ist, konnte man sich von dessen Schmackhaftigkeit überzeugen. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Kartoffel- trocknung liegt auf der Hand ; die Kartoffel kommt durch sie an Bedeutung den Körner- früchten näher. Die Atmung von Trockenware bei gewöhnlicher Temperatur ist gleich Null, trotzdem noch ca. 13 "/o Wasser vorhanden. 3 — 4 Ztr. Kartoffeln geben i Ztr. Trockenkar- toffeln. Die Kosten der Trocknung betragen pro Ztr. Rohkartoft'eln 25 — 50 Pfg. Die Verwendung der Kartoffel als Dauerware ist eingeführt für alle Sorten Vieh, Rinder, Schafe, Schweine, Pferde, Geflügel. Die Aufstellung von Trockenapparaten macht immer weitere Fortschritte. Von Fabriken dieser Art seien hier nur erwähnt Tätosinwerke Fiddickow bei Schwedt a. O. und die Fabrik in Boguschin bei Lissa. Nachdem noch das in einer benachbarten Halle untergebrachte maschinentechnische Ver- suchslaboratorium besichtigt worden war — es dürfte das bestausgestattete Maschinenlaboratorium Berlins sein und dient der Ausbildung derjenigen Studierenden des Instituts, welche das Diplom als Brauerei- oder Brennereiingenieur erlangen wollen — wurde die permanente Ausstellung der ein- zelnen wissenschaftlichen Abteilungen des Instituts auf den Galerien des Lichthofs des eigentlichen Institutsgebäudes in Augenschein genommen. Unter den Schaustücken der biologischen Ab- teilung boten namentlich die Lindner'schen Pilz- gärten viel Anregung, insbesondere diejenigen Kul- turen, welche als Pilzkalender bezeichnet wurden, da in ihnen die wachsende Kolonie täglich eine neue Ringzone von Sporen anlegt, die der Licht- wirkung des Tages entspricht. Die Farbenpracht und die überaus zarte Struktur der meisten Pilze bei ihrem Wachstum in einer ganz dünnen Gelatineschicht wurde viel bewundert. Die Führung ging dann weiter durch die einzelnen Laboratorien und in die Versuchsfabriken, in die Hefezucht- anstalt, die Stärkefabrik, endlich in die Versuchs- brauerei, deren neues Sudhaus mit seiner Fülle blinkender Kupferteile und seinen sauberen P'liesen wie ein großer Schmuckkasten sich ausnahm. Um 4 Uhr war der Rundgang beendet, und Herr Prof. Dr. Lindner hielt seinen angekündigten Vortrag über: ,,Die wissenschaftlichen Grundlagen der Gärungsgewerbe". Da über die wissenschaftlichen Grundlagen der Gärung schon wiederholt in dem Verein Vorträge gehalten worden sind, gab der Redner seinem Thema mehr die Richtung, an der Hand der Entwicklung des Instituts für Gärungsgewerbe und Stärkefabrikation zu zeigen , welche Fragen von den einzelnen Gewerben an die verschiedenen Wissenscliaftsgebiete gestellt wurden und welche Maßnahmen organisatorischer Art zu ihrer Durch- arbeitung und Beantwortung nötig waren, ferner in welcher Weise der Unterricht an dem Institut geübt wird, der die wissenschaftliche Grundlage für rationelles Arbeiten schaffen soll. Redner kam auch auf die eigenartigen Vorstellungen zusprechen, die man sich z. B. über die Versuchs- und Lehr- anstalt für Brauerei in breiten V^olksschichten hin und wieder zu machen pflege. Da heiße es u. a., es sei Aufgabe der Wissenschaft, den Brauern zu lehren, aus welchen möglichen oder unmöglichen Dingen man z. B. Bier machen könne. Nichts derartiges sei Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung an diesem Institut, vielmehr gelte es, die Rohmaterialien, ihre Gewinnung und Ver- arbeitung so kennen und die natürlichen Kräfte, welche die Rohmaterialien selbst bergen, so be- herrschen zu lernen, daß ein in jeder Beziehung tadelloses Produkt zustande komme und daß alle Verluste, wie sie z.B. früher oft durch Unkenntnis der schädlichen Gärungserreger entstanden seien, ver- mieden werden. Die alkoholische Gärung sei in der Natur eine allgemein verbreitete Erscheinung, und die Zahl der als verschieden erkannten Gärungs- erreger gehe bereits in die Tausende. Dieses zahllose Heer von Arten sei nur ver- ständlich aus dem hohen Alter der Gärung in der Geschichte des organischen Lebens auf der Erde und aus den wechselnden Ernährungs- und Klimabedingungen, die die Gärungserreger auf und in den verschiedensten Pflanzen- und Tierkörpern gefunden hätten. Daß nicht alle Arten gleich- wertig für die verschiedenen technischen Gärungs- verfahren seien, könne man sich schon selbst sagen. Noch sei die Biologie der Gärungsorganis- men in ihren ersten Anfängen, man habe bisher mehr ihre Nützlichkeit bzw. Schädlichkeit in den Gewerben zum Gegenstand der F"orschung ge- macht. Die Rolle der Gärung draußen in der weiten freien Natur sei noch wenig studiert, ja man wisse nicht einmal, wo eigentlich die Bier- hefe ihren Ursprung in der Natur habe; vermut- lich sei sie ein Kind der Tropen, worauf Redner zuerst hingewiesen und was durch neuerliche Forschungen eines Holländers de Kruyff, der in zahlreichen Bodenproben von Java untergärige 42S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 27 Hefen gefunden habe, wahrscheinlich gemacht sei. Es bereite sich die Organisation einer Zentrale für teclinische Biologie in Berlin vor, in der nicht nur die Literatur, sondern auch lebendes Kultur- material in möglichster Vollständigkeit gesammelt werden solle. Redner legte dar, wie im Institut für Gärungsgewebe durch frühzeitige Anlage einer Kulturensammlung und durch zahlreiche Mikro- photogramnie, deren Zahl sich seit 2 Jahrzehnten bereits auf 1800 beläuft, schon der Grund zu einer solchen Zentrale gelegt sei; ebenso durch die reichhaltige F"achbibliothek, die mehrere tausend Bände enthalte. Das Studium der Gäriingserschei- nung habe den Ausgangspunkt abgegeben für die Lehre von der Infektion und Sterilisation bzw. Pasteurisation, für die Lehre von den nützlichen und schädlichen Mikroben ; die Vorgänge beim Mälzungsprozeß haben weiterhin zuerst die .•An- regung zur Lehre von den Enzymen gegeben, die heute einen so außerordentlichen Umfang ange- nommen habe. Das Gerstenkorn und die Hefe- pflanze seien die bevorzugtesten Versuchskaninchen gewesen bei dem Studium der physiologischen Vorgänge im lebenden Organismu.s. Das sei er- klärlich, weil diese Dinge jederzeit und fast an allen Orten leicht erhältlich seien. Pasteur habe die Hefe gewissermaßen als lebendes Reagens in die Chemie eingeführt und ein Emil Fischer habe bei dem Studium der Zuckergruppe von der Existenz reingezüchteter Hefenrassen, die ihm von dem Institut für Gärungsgewerbe zur Verfügung gestellt wurden, weitgehenden Gebrauch gemacht. Nach dem Gesagten werde es verständlich sein, daß die Einführung in die Gärungswissenschaft, wie sie an unseren Unterrichtsanstalten gegeben werde, durchaus nicht einseitiges Fachwissen ver- mittle, sondern daß sie vor allem einen möglichst tiefen Einblick in die Natur einfachster Lebens- formen zu geben habe. Welche Fülle von lehrreichen Betrachtungen gestatte nicht die Arbeit in der Mälzerei — als Stich- worte seien nur erwähnt : der Einfluß der Lüftung und Temperatur, sowie des Eiweißgchaltes auf die At- mung und den Stoffwechsel, die Enzymbildung, das Auftreten von Pilzen und Hefen und Bakterien auf den an Zucker immer reicher werdenden keimenden Körnern, Grenztemperatur für den Keimling beim Darren, Abhängigkeit des Malz- charakters vom Wassergehalt in den einzelnen Phasen des Darrens. Daß die Anatomie der Gerste und der Ge- treidearten eingehend erörtert werden müsse, ver- steht sich von selbst. In der Mälzerei spiele die Wasserfrage eine große Rolle, nicht bloß hinsicht- lich der chemischen, sondern auch der bakteriolo- gischen Beschaffenheit. — Die Verwendung des Wassers zu Kühlzwecken bei den Berieselungs- kondensatoren bedinge oft die Entwicklung zahlreicher Algen, deren Entfernung viel Mühe mache. Faulende Algen seien die schlimmsten Wasserverderber in geschmacklicher Beziehung. Das Arbeiten mit keimfreier Luft bei Würze- kühlern oder an Hefereinzuchtapparaten wurde not- wendig auf Grund der Resultate der biologischen Luftanalyse. Diese sei didaktisch von außerordent- lichem Wert und errege im höchsten Grade das Interesse des Praktikers, da er hierbei Dinge, die er mit bloßem Auge nicht sieht, kennen lernt und zwar, wie schon oben bemerkt, bei der Methode in dünner Gelatineschicht in einer eigen- artigen Schönheit, was Farbe und Struktur an- langt. Die Lagerung und Speicherung des Ge- treides erheische eine Betrachtung der Biologie der GetreideschädHngc, des schwarzen Kornkäfers, der Kornmotte, des Getreideschmalkäfers, des Mehlwurmkäfers u. dgl. m.; bei der Essigfabrikation biete das Essigälchen und die verschiedenen Essigfliegen mit ihrem feinen Spürsinn für alkoholische Flüssigkeiten interessante zoologische Objekte dar. ."Auch der Pferdedung, dessen Staub in Betrieben mit großer Pfcrdehaltung als Infektions- quelle in Betracht komme, biete eine reichliche Flora und P"auna, die bei den verschiedenen Tieren und bei verschiedenem Futter stark wechselt. Das Arbeiten mit Reinzuchtapparaten setze voraus die Grundbegriffe der Infektionslehre. Das saubere Arbeiten unter Vermeidung aller Infektion sei die Voraussetzung für Erzielung einer Reinkultur. Jeder Studierende müsse selbst solche Kulturen herstellen. Der Begriff Reinlichkeit werde biolo- gisch entwickelt und die Infektionsquellen im Be- triebe, wie Holz, Bürsten, Filter, Trubsäcke, Lei- tungswege, Schuhsohlen usw. eingehend be- sprochen. Es wird dargelegt, wie nur die biologische Analyse die Entscheidung geben könne, ob ein Gegenstand biologisch rein sei und zu Hantierungen mit Würze oder Bier Verwendung finden könne. Es ist ferner zu zeigen, welche Bundesgenossen im Kampf gegen schädliche Mikroben die ver- schiedenen Desinfektionsmittel darstellen und wie sie richtig zu gebrauchen. Was für den Seefahrer der Kompaß, das ist dem Gärungsbetrieb die biologische Betriebskontrolle; sie zeigt an, ob ein richtiger Kurs eingeschlagen, ob die Klippen vermieden sind, die die Haltbarkeit des Bieres gefährden. Die Kontrolle ist vorwiegend eine mikroskopische und genügt die Untersuchung kleinster Tröpfchen Flüssigkeit, um über die Vegetation der großen Pässer und Bottiche sich zu orientieren. Als biologische Universalmethode hat sich die vom Vortragenden ausgearbeitete Tröpfchenkultur bewährt, in der die Entwicklung der Mikroben auf kleinstem Raum ungestört vor sich geht, so daß Mutter- und Tochterzellen in mehr oder weniger organischem Zusammenhang bleiben, ähnlich wie in einem Gelatinenährboden, nur daß die Bilder mehr in der Ebene sich aus- breiten und so in den einzelnen Elementen dem Mikroskop besser zugänglich sind. Monatelang werden diese Kulturen geübt und die verschie- densten Vertreter der Schimmelpilze, Hefen und Bakterien darin studiert. So kommt es, daß oft mehrere Tausend Kulturen gleichzeitig vorhanden. N. F. \ail. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 429 Die besten Bilder werden dann im Mikrophoto- grammc fixiert. Wichtig ist vor allem, daß der Studierende mit dieser Methode die Entwicklung von dem einzelnen Aussaatkeim bis zur Frucht- bildung Schritt für Schritt in demselben Präparat verfolgen kann. Allerdings muß jeder einzelne Studierende auch ein Mikroskop zu seiner Ver- fügung haben. Es sind im Institut über 100 Mikroskope für den Unterrichtsbetrieb vorhanden. Die Zahl der in der großen Praxis der Gärungsbetriebe befind- lichen Mikroskope beläuft sich sicher auf mehrere Tausende und kann man sagen, der moderne, wissenschaftlich vorgebildete Gärungspraktiker zeichnet sich durch ein gutes biologisches Wissen aus. Einige Worte noch über die Laboratoriums- gärversuche, die Hunderte von Variationen zu- lassen und Aufschlüsse geben können über: die Reizwirkung und die Giftwirkung der verschie- densten Stoffe, über die Abhängigkeit der Gärung von der Art der Nahrung, von der Luftzufuhr, von der Temperatur usw., über das Verhältnis von Gärwirkung und Hefewachstum. Verschiedene Hefen verhalten sich hier ganz charakteristisch, geben die verschiedensten Bodensätze mit und ohne Kraterbildung, die verschiedensten Kahmhaut- bildungen usw., auch Geruch und Geschmack der vergorenen Flüssigkeit sind sehr verschieden. Die fertige Bier- oder Preßhefe bietet Gelegenheit zu den überraschenden Versuchen bezüglich Selbst- erhitzung, Selbstverdauung (Herstellung eines Hefefleischextraktes). Alles in allem kann man sagen , daß die Beschäftigung mit den Gärungsorganismen die beste Einführung in die Grundfragen der Biologie gewährleistet. Da die Gärungswissenschaft ihren Ausbau aber eigentlich erst den letzten beiden Jahrzehnten verdankt, wäre es unbillig zu ver- langen, daß in dem biologischen Unterricht an unseren höheren Schulen und Hochschulen schon allgemein die dort gesammelten Tatsachen und Erfahrungen verwertet werden. Vortragender hält es aber für zweifellos, daß namentlich in den Wintermonaten durch die Lehre von der Gärung die beste Einführung in die Biologie angebahnt wird. Da die Naturgärungen mit dem Saftsteigen in den Bäumen und mit der Ausscheidung honig- artiger Säfte durch die Nektarien der Blüten oder durch Blatt- oder Schildläuse oder andere tieri- sche Parasiten innig verquickt sind, bietet sich die Gelegenheit, die Gärung als ein wichtiges Glied innerhalb des Naturganzen zu beleuchten. I. A.: Prof. Dr. W. Greif, I. Schriftführer, Berlin SO 16, Köpenickerstrafie 142. Günther. 2. und 3. Band.) Mit einem Bildnis des Verf. , 4 farbigen und 1 2 schwarzen Tafeln. Leipzig, Philipp Reclam jr., 1909. Das Unternehmen, eine Geschichte der Natur- wissenschaften zu schreiben , ist ein gewaltiges ! So gut das ein Einzelner in Kürze auf engem Raum zu machen imstande ist, hat diese Aufgabe in dem vor- liegenden Werkchen eine Lösung gefunden. Es ist ja selbstverständlich , daß jeder Spezialist Mängel finden wird und finden muß. Dann ist auch daran zu erinnern, daß es noch an einer hinreichenden Einsicht des Hauptbewegungszuges fehlt , den die Naturwissenschaft genommen hat und nimmt, und so sehen wir denn, daß vor der Hand alle Geschichten der Naturwissenschaften , die allgemeinen und die speziellen , mehr oder minder darauf hinauslaufen, die Taten einer Anzahl von Gelehrten aneinander zu reihen. Nur hier und da ist ein bestimmter Weg bereits klarer zu erkennen , nämlich dort , wo eine vollzogene Großtat zurückverfolgt werden kann auf die dazu nötigen Vorarbeiten. Solange man mitten in der Kleinarbeit steht, ist auch für den Mitarbeiten- den nicht zu sagen , an welchem Größeren er mit- tätig ist , wohin die Arbeit führen wird. Erst dann, wenn ein gewisser Abschluß in irgendeiner Reihe erreicht ist, sieht man zurückschauend die Bedeutung, die das Einzelne gehabt hat, um das voraus gar nicht geschaute „Ziel" zu erreichen. Vieles gerät dann in eine hervorragende Beleuchtung , was vorher unbe- achtet oder kaum beachtet gewesen ist. Und heute, bei der eifrigen Arbeit, die überall im Gebiete der Naturwissenschaften herrscht , wo aber so vieles strahlenförmig auseinandergeht, gerade hinsichtlich des Prinzipiellen, ist es für die meisten Naturforscher nicht durchsichtig genug, um zu sagen, welcher von diesen Strahlen die anderen zum Erlöschen bringen wird. So finden sich denn in einem Buche wie dem vorliegenden viele Dinge gleichwertig mit anderen behandelt, die doch von einem ferneren Standpunkt aus gesehen sehr verschieden an Wert sind, und manches Hochbedeutsame ist ganz übersehen worden, weil es noch nicht in aller Munde ist. P. Bücherbesprechungen. Siegmund Günther, Geschichte der Natur- wissenschaften. (Bücher der Naturwissen- schaft, herausgegeben von Prof. Dr. Siegmund Prof. Dr. Eduard Westermarck, Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe. 2. Band. Deutsch von Leopold Katscher. Leipzig, Dr. Werner Klinkhardt, 1909. — Preis 14,70 ]\Ik. Das umfangreiche Werk versucht eine Monographie all der Ansichten und Handlungen zu sein, die mit moralischen Gefühlen in Zusammenhang stehen. Es will die hierhin fallenden Tatsachen auch erklären. Verf. stellt die Lehre auf, die er eingehend durch Vorführung von Tatsachen zu belegen bzw. abzuleiten sucht, daß die Moralbegriffe , die die Prädikate der sittlichen Urteile bilden , im letzten Grunde auf sitt- lichen Gefühlen beruhen. Verf. findet, daß z. B. die Vergeltungsgefühle einerseits , sofern es sich um eine sittliche Mißbilligung handelt, dem Zorn und der Rache verwandt sind, daß aber, sofern es sich um eine sittliche Billigung handelt, eine Form der Dank- barkeit vorliegt. Sie unterscheiden sich aber von 430 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 27 außersittlichen Gefühlen durch Uninteressiertheit, augenscheinliche Unparteilichkeit und einen Anstrich von allgemeiner Verbreitung. Wir selbst hätten mehr betont, daß die ganze Moral ein notwendiger Ausfluß des Gemeinschaftslebens des Menschen ist, das bei seiner Komplikation bestimmte ungeschriebene Ge- setze hervorgebracht hat, deren Befolgung sich von selbst ergibt fiir denjenigen, der in der Gemeinschaft leben will und muß , weil sonst eben diese durch gemeinsame Interessen gegebene Gemeinschaft gestört wird. Nach Maßgabe der Wandlungen , welche in der Lebensart der Gemeinschaften sich vollziehen, müssen sich demgemäß auch die Moralbegriffe ändern, die demnach natürlich nicht absolut sind. In dem vorliegenden Bande werden besprochen das Eigen- tumsrecht, die Achtung vor Wahrheit imd Treue, vor der Ehre des Mitmenschen, die Anerkennung seines Selbstbewußtseins, die Höfli-chkeit, die Rücksicht auf das Glück anderer , die Dankbarkeit, die Vaterlands- liebe und das Weltbürgertum, der Ursprung und die Entwicklung des altruistischen Empfindens, der Selbst- mord, das Eigenwohl berücksichtigende Pflichten und Tugenden, der Fleiß, die Rast, die Speisevorschriften, die M.aßigkeit , das Fasten , die Enthaltsamkeit , die Reinlichkeit und Unreinlichkeit, die Askese, die Ehe, freie Liebe und Verwandtes, die Behandlung der Tiere, das Verhaken gegen Verstorbene, die Menschen- fresserei , der Glaube an übernatürliche Wesen , die Pflichten gegen Gottheiten und die Gottheiten als Sittlichkeitsrichter. Stellenweise ist die Übersetzung etwas unbeholfen und infolgedessen der Text zuweilen nicht recht durchsichtig. P. A. Engler, Die Pflanzenwelt Afrikas, ins- besondere seiner tropischen Gebiete. Grundzüge der P f 1 an zen verbre itung in Afrika und die Charakterpflanzen Afri- kas. II. Band. Charakterpflanzen Afrikas (insbe- sondere des tropischen). Die Familien der afrika- nischen Pflanzenwelt und ihre Bedeutung in der- selben. I. Die Pteridophyten, Gymno- spermen und monokotyledonen Angio- spermen. Mit 16 Vollbildern und 316 Te.xt- figuren. Herausgegeben mit Unterstützung des Deutschen Reichskolonialamtes. (Die Vegetation der Erde. Sammlung pflanzengeographischer Mono- graphien. Herausgegeben von A. Engler und O. Drude. IX.) Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann, igoS. — Preis in Subskription 18 Mk., einzeln 27 Mk. Der vorliegende Band eines größeren Werkes über die Pflanzenwelt Afrikas, das auf fünf Bände berechnet ist, beschäftigt sich mit den Pteridophyten, Gymnospermen und Monokotyledonen, die zwar in systematischer Folge, aber innerhalb derselben in all- gemeiner Darstellung behandelt werden , wie das ja auch übrigens nicht anders möglich ist, denn eine eingehende floristische Darstellung des Kontinentes würde sehr viel umfangreicher ausfallen müssen. Viele Abbildungen und Bestimmungstabellen ermög- lichen ein näheres Eindringen in die Flora und ge- statten es vielfach auch, bis zur Spezies vorzudringen. Die Disposition des Gesamtwerkes ist so geplant, daß der erste Band einen allgemeinen Überblick über die Pflanzenwelt Afrikas und ihre Existenzbe- dingungen bieten soll. Der dritte und vierte Band sollen die Fortsetzung des zweiten sein, insofern, als sich diese ebenfalls mit der systematischen Betrach- tung der afrikanischen Flora beschäftigen werden und zwar mit den Dikotyledonen, aber auch mit den niederen Pflanzen. Der fünfte Band soll dann eine spezielle Darstellung der Vegetationsformationen und Florenprovinzen des tropischen Afrika bieten. In dem vorliegenden zweiten Bande wurden die Gräser von Dr. Pilger bearbeitet und auch für die Bearbeitung einiger anderer Familien soll gesucht werden, Mitarbeiter heranzuziehen. Franz Thonner, Die Blütenpflanzen Afrikas. Eine Anleitung zum Bestimmen der Gattungen der afrikanischen Siphono- gamen. Mit 150 Tafeln und i Karte. Berlin, Verlag von R. Friedländer & Sohn, igo8. — Preis 10 Mk. Es ist kaum verständlich , wie dieses Buch von 673 und XVI Großoktavseiten und 150 guten Tafeln mit Pflanzenabbildungen in demselben Format so billig abgegeben werden kann. Es ist für jeden trefflich geeignet, der sich eine Übersicht über die Flora des genannten Kontinentes zu verschaffen sucht, bis zu den Gattungen hin und — besonders soweit die Tafeln Darstellungen bieten — auch bis zu den Arten. Insbesondere können Reisende und Kolonisten in Afrika, die auch nur irgendwie ein Interesse an der Pflanzenwelt nehmen, ein solches Buch kaum entbehren, und für Botaniker, die einen bequemen Weg wünschen, wenigstens bis zur Gattung zu kom- men, wird das Buch sehr nützlich sein und bequem, erspart es einem doch den langwierigen Weg über die große Spezialliteratur. Verf bringt in dem vor- liegenden Bande die sämtlichen Gattungen der Samen- pflanzen , die innerhalb der geographischen Grenzen .\frikas mit Einschluß der Inseln wild wachsen , ver- wildert oder eingeschleppt und bereits eingebürgert oder im großen gebaut vorkommen. Karte der nutzbaren Lagerstätten Deutschlands. Lieferung II. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Geologischen Landesanstalt in Berlin 1908. Die Königliche Geologische Landesanstalt in Berlin hatte im Jahre 1907 die erste Liefferung eines Karten- werkes erscheinen lassen, das, auf der neuen topo- graphischen Übersichtskarte des Deutschen Reiches I : 200000 beruhend, die nutzbaren Lagerstätten Deutschlands zur Darstellung bringen will. Wie damals bereits in einer auch von unserem Blatte gebrachten Mitteilung an die Interessenten näher ausgeführt war, soll das Kartenwerk nicht sowohl einen klaren Über- blick über die geographische Verbreitung und die geognostische Stellung der Lagerstätten gewähren als vielmehr auch einen Einblick in ihre wirtschaftliche Bedeutung und Zusammengehörigkeit geben. N. F. Vni. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 431 Die Lieferung I, welche auf den Blättern Wesel, Münster, Düsseldorf, Arnsberg, Cöln, Siegen, Cochem, Coblenz einen wichtigen .Ausschnitt aus der Rhein- provinz und der Provinz Westfalen enthält, ist, wie die günstigen Urteile in der Presse und die rege Nachfrage nach den Karten beweisen, mit Beifall aufgenommen worden. Praxis und Wissenschaft haben den Nutzen und Wert der Karten erkannt. Mit der jetzt der Öffentlichkeit übergebenen Liefe- rung II werden 5 weitere Blätter vorgelegt und zwar die nach der topographischen Übersichtskarte bezeich- neten Blätter: Bentheim, Osnabrück, Trier, Mainz, Saarbrücken, welche, im Norden bzw. Süden an das Kartentableau von Lieferung I anschließend , weitere industriell wichtige und wissenschaftlich interessante Gebiete der Rheinprovinz und Westfalens sowie der anliegen- den Landesteile von Elsaß - Lothringen , Bayern und der Provinz Hannover umfassen. Die 5 Kartenblätter der Lieferung II sind zusam- men mit einer Farbenerklärung und einem Begleitwort eingeschlossen in einer grauen , mit aufgedrucktem Übersichtsnetz versehenen Umschlagsmappe. Das Begleitwort ist dasselbe, wie für Lieferung I. Der Preis der Mappe beträgt 8 Mark. Einzel- blätter werden einschließlich Begleitwort und Farben- erklärung für 2 Mark abgegeben. Die Karten sind zu beziehen durch die Vertriebs- stelle der Königlichen Geologischen Landesanstalt, Berlin, Invalidenstraße 44, oder durch jede Buch- handlung. Über die Fortsetzung des Kartenwerkes ist folgen- des zu bemerken : Eine weitere dritte Lieferung befindet sich zur Zeit im Druck und wird voraussichtlich noch in die- sem Jahre veröffentlicht werden. Sie umfaßt die an das Kartengebiet der Lieferungen I bzw. II östlich anschließenden Blätter Minden, Hannover, Detmold, Göttingen und enthält bereits wichtige Teile der mitteldeutschen Kalisalzvorkommen. Nach Herausgabe der III. Lieferung wird die bereits fertig bearbeitete Lieferung IV dem Druck übergeben werden können , welche die westliche an Lieferung I anschließenden, das Gebiet bis zur Reichs- grenze enthaltenden Blätter Cleve, Erkelenz, Aachen, Malmedy, sowie die nördlich an Lieferung III an grenzenden Blätter Nienburg und Celle umfaßt. Zu- sammen mit den kürzlich von der Geologischen Landesanstalt von Elsaß - Lothringen veröffentlichten Blättern wird dann bereits ein mächtiges zusammen- hängendes Gebiet wichtiger vaterländischer Lager- stätten fertiggestellt sein. Dr. W. Artus, Grundzüge der Chemie. 2. Aufl., bearbeitet von E. Nicolas. 424 S. mit 62 Abb. Bd. 64 der chemisch-technischen Bibliothek. Wien, A. Hartleben, 1 909. — Preis 6 Mk. Die erste Auflage dieses Buches war 1880 er- schienen, so daß die Neuauflage eine vollständige Umarbeitung erheischte. Doch hat der Bearbeiter am Wesen des Buches insofern nichts geändert, als es möglichst leicht verständlich und unter sehr spar- samer Benutzung chemischer F'ormeln abgefaßt blieb, da es für Gewerbetreibende bestimmt ist. Sofern auf dem Titel auch Lehrer an Gewerbeschulen genannt sind, würde alleidings eine ausgiebigere Berücksich- tigung der Theorie wünschenswert sein. Immerhin wird auch aus diesem Leserkreis der überaus reich- haltige Inhalt und die intensive Berücksichtigung der Technologie dem Buche Freunde erwerben. Kbr. A. Saal , Die Photographie in den Tropen mit den Trockenplatten. Bd. 62 der Enzyklopädie der Photographie. 1 1 2 Seiten. Halle a. S. , W. Knapp, 1908. — Preis 3,60 Mk. Es ist bekannt, daß die Photographie in den Tropen infolge der ungünstigen klimatischen Ver- hältnisse mit mancherlei Schwierigkeiten zu kämpfen hat und daß oftmals Reisende, die daheim die photo- graphische Kunst vollkommen beherrschen, gleichwohl in den Tropen keine zufriedenstellenden Resultate er- zielen. Es ist daher dankenswert, daß der Verf. seine jahrelangen in Batavia gesammelten Erfahrungen durch die vorhegende Schrift allen denen zugänglich macht, die sich vor solchen Mißerfolgen schützen möchten. Kbr. O.Bender, Laboratoriumstechnik (Bibliothek der gesamten Technik, Bd. 108). 149 Seiten mit 90 Abbildungen im Text. Verlag von Dr. Max Jänecke, Hannover, 1909. — Preis geh. 2,60 Mk., geb. 3 Mk. In der vorliegenden Schrift gibt der Verfasser, der etwa als Mechaniker in einem größeren chemi- schen Institut tätig sein dürfte, eine Anzahl von praktischen Hinweisen, deren Kenntnis dem praktischen Naturwissenschaftler oft von großem Nutzen ist. Be- sonders der jüngere Chemiker wird in dem Büchel- chen, dessen Lektüre leider infolge der Ungleich- mäßigkeit und Einseitigkeit der Darstellung und des schlechten, fast sogar fehlerhaften Deutsch wenig an- genehm ist, manchen guten Rat finden, während aller- dings dem Erfahreneren , hauptsächlich demjenigen, der bereits in mehreren verschiedenen Instituten ge- arbeitet hat, die meisten Einzelheiten wohl schon bekannt sein dürften. Der Schmelzpunkt des Anti- mons ist auf S. 142 infolge eines Druckfehlers falsch angegeben; er liegt bei 630" und nicht bei 430". Werner Mecklenburg. G. Sattler, Traction electrique. Construction et projets. Traduit de l'Allemand par P. Girot. 195 pages avec 123 figures et une planche. Paris, Gauthier- Villars, 1908. — Prix 5 fr. Das praktische Buch Sattler's, das unter Beiseite- lassung theoretischer Spekulationen und unter reich- licher Anwendung graphischer Darstellung alles für den Elektrotechniker beim Entwurf eines Bahnprojekts Nötige enthält, wird auch französischen Ingenieuren dienlich sein können. Kbr. 432 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 27 Literatur. Arrhenius, Svante: Theorien der Chemie. Nach Vorlesgn., geh. an der Universität von Kalifornien zu Berkeley. Mit Unterstützg. des Verf. aus dem engl. Mskr. übers, v. Alexis Finkelstein. 2. neubearb. u. bedeutend verm. Aufl. (IX, 233 S.) gr. 8**. Leipzig '09, Akadem. Verlagsgesellschaft. — 7,50 Mk., geb. in Leinw. 8,50 Mk. Bürger, Prof. Dr. Otto: Die Nemertincn. Mit Taf. 24 — 36 (l— 13). (S. 169 — 222 m. 13 Bl. Erklärgn.) Jena '09, G. Fischer. — Subskr.-Pr. 24,50 Mk., Einzelpr. 28 Mk. Carlgren, Osk. : Die Tetraplätien. MitTaf. X— XIll u. 3 Fig. im Text. (Taf. I-IV.) (S. 75—122 m. 4 Bl. Erklärgn.) Jena '09, G. Fischer. — Subskr.-Pr. 9 Mk., Einzelpr. 11 Mk. Dölp, weil. Prof. Dr. H. ; Grundzüge und Aufgaben der Differential- u. Integralrechnung nebst den Resultaten , neu bearb. v. Prof. Dr. Eug. Netto. 12. Aufl. (IV, 216 S. m. Fig.) 8". Gießen '09, A. Töpelmann. — Geb. in Leinw. i,So Mk. Eckstein, Forstakad.-Prof. Dr. Karl : Tierleben des deutschen Waldes. Beiträge zur Kenntnis heim. Tiere. Mit 4 [3 färb.] Taf. u. 40 Textabbildungen. I. — 6. Taus. (VIII, 12S S.) Stuttgart '09, Strecker & Schröder. — I Mk., geb. 1,40 Mk. Forel, ehem. Prof. Irrenanst.-Dir. Dr. Aug.: Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftl. , psycholog. , hygien. und soziolog. Studie f. Gebildete. 8. u. 9. Aufl. (36. — 45. Taus.) (Xll, 62S S. m. 23 Abbildgn. u. Taf.) gr. 8». München '09, E. Reinhardt. — 8 Mk., geb. in Leinw. 9,50 Mk. Hartmann, Priv.-Doz. Dr. Max: Autogamie bei Protisten u. ihre Bedeutung f. das Befruchtungsproblem. [Aus : ,, Archiv für Protistenkunde."] (72 S. m. 27 Abbildungen.) gr. 8°. Jena '09, G. Fischer. — 2,50 Mk. Jäderholm, Dr. Elof: Die Hydroiden des sibirischen Eis- meeres, gesammelt V. der russ. Polar-Expedilion 1900 — 1903. [Aus : ,,Menioires de l'acad. inip. des sciences de St.-Peters- bourg"]. (III, 28 S. m. 3 [l färb.] Taf. u. 3 Bl. Erklärgn.) 33,5X25 cm. St.-Petersbourg 'oS. (Leipzig, Voß' Sort.) — 2,25 Mk. Junge, P. : Schul- und Exkursionsflora von Hamburg- Altona- Harburg u. Umgegend. Mit 89 Textabbildungen in 67 Fig. (XII, 286 S.) 8°. Hamburg '09, L. Gräfe & Stillem. — Geb. in Leinw. 4 Mk. Lamarck, Jean: Zoologische Philosophie. Deutsch von Dr. Heinr. Schmidt. Mit Einleitg. u. e. Anh.: Das phylogenet. System der Tiere nach Haeckel. (Kröner's Volksausgabe.) (XVI, ilS S.) gr. 8". Leipzig '09, A. Kröner. — 1 Mk. Miller, \V. v., u. H. Kiliani: Kurzes Lehrbuch der analyti- schen Chemie. 6. verb. Aufl. , bearb. v. Prof. Dr. H. Ki- liani. Mit 92 Abbildungen u. i (färb.) Spektraltafel. (XI, 643 S.) 8°. München '09, Th. Ackermann. — 10 Mk., geb. in Leinw. 1 1 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn W. in Breslau. — Reliefkarten werden gewöhnlich aufzweierlei Artangefertigt, entweder aus Gips, wenn mehrere gleiche Exemplare hergestellt werden sollen, oder aus Kartonpapier, wenn es sich nur um ein Exemplar handelt. Bei Gipsreliefs wählt man als Unterlage einen ebenen Holzboden und fixiert auf demselben, nachdem eine mit Höhenschichten versehene Karte aufgeklebt worden ist, durch Einschlagen von Stiften ein Gerippe der wichtigsten Höhen- punkte. Man schlägt die Stifte so tief ins Holz, daß ihre obersten Punkte stets die ihnen zukommenden Höhenwertc über N. N. (Normal Null) erhalten. Soll z. B. ein Relief im Maßstabe I : 25000 angefertigt werden, so ermittelt man den tiefsten und den höchsten Punkt des darzustellenden Geländes. Dividiert man die Dift'erenz mit 25000, so erhält man die- jenige Höhe, welche der Stift am höchsten Punkte erhalten muß. Liegt z. B. der tiefste Punkt 240 m und der höchste Punkt 720 m über N. N., so darf die Marke des tiefsten Punktes nicht aus der Karte hervorragen, der höchste Punkt o r^-rr „ ■ 4^0 m mit 720 — 240^480 m Differenz muß m I :2i;ooo 25 000 . 4S0000 mm , 480 oder oder =15,2 mm Höhe über der Karte 25000 25 liegen, d. h. der Stift wird so weit eingeschlagen, bis er nur noch 15,2 mm hervorsteht. Ebenso verfährt man mit allen wichtigen Ilöhenpunktcn der Täler, Rücken, Kuppen, Sättel usw. Sind nun alle wichtigen Punkte mit Stiften besetzt, so stellen die oberen Punkte der Stifte die Bodenfläche des Re- liefs dar. Man hat alsdann nur nötig, mit Modellierwachs oder mit Steinpjppe (einem Gemisch aus Schlemmkreide, Leim und Leinöl) die Zwischenräume fest auszufüllen. Steinpappe wird nach zwei bis drei Tagen steinhart. Nachdem Gips- abgüsse genommen, sind noch die Situation und Schrift aufzu- malen, am besten mit Ölfarbe. Die Schrift pflegt man auch auf kleine Papierstreifen zu drucken und aufzukleben. Bei Reliefkarten aus Kartonpapier ermittelt man vorher die Dicke des Kaitons für eine Schichthöhe. In i ; 25000 beträgt die Schichthöhe von lo m := 0,4 mm. Der Karton muß demnach , einschließlich der aufzuklebenden Karte und des Klebstoffes, 0,4 mm dick sein. Nach Aufkleben mehrerer Exemplare der Karten auf Kartonpapier werden dann mittels Messer und besonders hierzu hergerichteter kleiner Meißel die Schichten von 10 zu 10 m ausgeschnitten und übereinander geklebt. Von einer Ausfüllung der sich bei dieser Darstellung ergebenden Stufen wird gewöhnlich Abstand genommen, weil dadurch die ganze Situation und Schrift verloren ginge, und ferner weil sich dann die absolute Höhe der einzelnen Teile viel schwerer ermitteln läßt, während dies durch Abzählen der unausgefüllt gebliebenen Stufen leicht herbeizuführen ist. Bei vielen Kartenreliefs (besser erhabenen Kartenbildern) ist der Höhenmaßstab ein anderer als der Längenmaßstab ; man macht oft absichtlich die Höhen übertrieben groß, um auf diese Weise auch kleine Erhebungen darstellen zu können. Dadurch wird jedoch beim Beschauer ein falsches Bild von der Erdoberfläche erzeugt, und eine Ermittlung von absoluten Höhen wird schwieriger. Für Unterrichts- und Museums- zwecke sollten daher nur solche erhabenen Kartenbilder an- gefertigt werden , die im richtigen verkleinerten Maßstabe dargestellt sind, also auch die Höhen in natürlicher Verkleine- rung zeigen. C. Boenecke, Rechnungsrat an der Kgl. Geol. Landesanstalt. Herrn Reg.-Baumstr. E. in Seh. — Vorläufig existieren nur drei Bücher, welche die Struktur der Metalle und metalli- schen Legierungen behandeln: Behrens, Das mikroskopische Gefüge der Metalle und Legierungen. 1894. Goerens, Einführung in die Metallographie, Halle, 1906. Ruer, Metallographie. Hamburg und Leipzig, 1907. Das erstere ist ziemlich veraltet. Außerdem findet sich eine reichhaltige Literatur in verschiedenen Zeitschriften, von denen namentlich die Zeitschrift für anorganische Chemie (Voß, Hamburg) und die Metallurgie (Knapp, Halle) zu nennen sind. Jedoch scheint es mir sehr bedenklich, wenn Sie nach Literaturangaben bzw. dort vorhandenen Bildern ,,aus der Struktur von Eisenplättchen" Schlüsse ziehen wollen ,,auf die Eigenschaften des Eisens und etwaige fehlerhafte Herstellung". Das dürften Sie besser einem erfahrenen Fach- manne überlassen, denn dazu sind sehr eingehende Kenntnisse erforderlich. Loebe. Inhalt: Paul Fröschel: Über ein allgemeines reizphysiologisches Gesetz. — Kleinere Mitteilungen: Dr. Rivers: Sehschärfe und Farbensinn bei farbigen Rassen. — J. Stoklasa und A. Em est: Beiträge zur Lösung der Frage der chemischen Natur des Wurzelsckretes. — Vereinswesen. — Bücherbesprechungen: Sieg m und Günther: Ge- schichte der Naturwissenschaften. — Prof. Dr. Eduard Westermarck: Ursprung und Entwicklung der Moralbe- griffe. — A. Engler; Die Pganzenwelt Afrikas. — Franz Thonner: Die Blütenpflanzen Afrikas. — Karte der nutzbaren Lagerstätten Deutschlands. — Dr. W. Artus: Grundzüge der Chemie. — A. Saal; Die Photographie in den Tropen. — C). Bender: Laboratoriumstechnik. — G. Sattler; Traction electrique. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofl-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue holge VUl. Hjiul ; der ganzen Keihe XXIV. Band. Sonntag, den ii. Juli 1909. Nummer 28. Über die experimentelle Erforschung des Zellenlebens. [Nachdruck verboten.] Seitdem Hofmeister sein zusammenfassen- des Werk über die Pflanzenzelle herausgegeben hat') und von Strasburger in den siebziger Jahren die Ära der modernen Zellenforschung botanischerseits eröffnet worden ist, -j hat die Lehre von der Pflanzenzelle in unerwartet schnellem Wachstum sich längst Rang und Stellung einer selbständigen botanischen Disziplin erobert. Den Entdeckungen in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts — es wäre in erster Linie an die Auffindung des Zellkerns, des Primordial- schlauches oder an die ersten Beobachtungen über die Zellenteilung zu denken — stehen nach den genannten Daten nicht nur ebenso zahlreiche und fundamental wichtige neue Errungenschaften gegenüber, sondern es ist seit den siebziger Jahren überdies eine solche Fülle von zuverlässigen Einzel- beobachtungen in rastloser Detailarbeit zutage gefördert worden, daß es schwer hält, sich den Überblick über den neu gewonnenen Reichtum zu wahren. Die Aufgaben, welche sich die botanische Zellenforschung in den letzten Dezennien gestellt hat, waren naturgemäß sehr verschieden : zunächst galt es, das Inventar einer typischen Pflanzenzelle möglichst vollständig aufzunehmen und die ver- schiedenen Teile, die sich in allen Zellen wieder- finden oder wenigstens Zellen bestimmter Art charakterisieren, bis ins einzelne genau zu be- schreiben; es genügte dabei nicht, die ständige Gegenwart des Zellkerns, des Cytoplasmabelags usw., die Form der Chromatophoren oder die Skulptur der verdickten Zellenwände zu be- schreiben, sondern es mußten auch die feineren Strukturverhältnisse der verschiedenen Teile einer Zelle ermittelt werden; die Fragen nach dem feineren Bau des Plasmas, der Chromatophoren, nach der Schichtung der Zellhäute und Stärke- körner wurden wiederholt in Angriff genommen und von verschiedenen Autoren in dem einen oder anderen Sinne beantwortet. Endgültige Klarheit ist für viele dieser Fragen auch heute noch nicht gewonnen. Eine weitere Aufgabe der Zellenforschung war die, für die Zelle als ganzes oder für ihre einzelnen Teile alle Phasen der Entwicklung genau zu er- forschen. Über Entwicklung und Veimehrung der Chromatophoren, über Wachstum und Schwin- ') Hofmeister, W., Die Pflanzenzelle 1867. ) ^'S'' Strasburger, E., Die Onlogenie der Pflanzen- zelle seit 1870. (Progrcssus rei botan. 1907, Bd. I, p. l) und die daselbst zitierte Literatur. Kieler Antrittsvorlesung.) Von Prof. Dr. Ernst Küster. den der Stärkekörner und zumal über die Apposition und Intussuszeption beim Dicken- und Flächenwachstum der Zellhäute liegt schon längst eine außerordentlich umfangreiche wissen- schaftliche Literatur vor. Alle Arbeit und Mühe, welche dem Studium dieser Fragen gewidmet worden sind, treten aber zurück beim Ver- gleich mit dem Aufwand an Kraft und Zeit, welchen die Erforschung des Zellenkerns und zwar seiner verschiedenen Wachstums- und Ver- mehrungsphasen gefordert hat : eben auf diesem Gebiete liegen freilich auch die schönsten Resul- tate der modernen Zellenforschung: die Lehre von der Kernteilung, von der Karyokinese, den Chro- mosomen, die Entdeckung der Kernfusion bei sexueller Zellenvereinigung, der sogenannten doppelten Befruchtung, der Reduktionsteilungen und vieler anderer mehr, sind Errungenschaften weniger Jahrzehnte, die zum sicheren Bestand der Wissenschaft zu rechnen sind. Diese kurzen Hinweise sollen nur in Erinne- rung bringen, welche Fülle von Erkenntnis die ontogenetische, beschreibende Forschungsrichtung gezeitigt hat. Wir haben nunmehr einer weiteren, dritten Art der Zellenforschung zu gedenken, die sich die Ermittlung der physiologischen Eigen- tümlichkeiten einer Zelle und ihrer verschiedenen Teile zum Ziel macht. Die Arbeiten, welche auf diese Fragen eine Antwort geben oder zu geben versuchen, bilden ebenfalls bereits eine umfang- reiche Spezialliteratur, deren Inhalt aber nicht durchweg ohne weiteres zum sicheren Bestand der Wissenschaft gerechnet werden darf, da es sich in ihr vorwiegend um mehr oder minder gut ge- sützte Theorien handelt, zu deren Aufstellung die vergleichende Betrachtung zahlreicher Präparate geführt hat. Auf die Vermutungen, die über die physiologischen Eigentümlichkeiten des Cytoplas- mas oder des Zellkerns auf Grund entwicklungs- geschichtlicher Beobachtungen geäußert worden sind, will ich hier nicht eingehen ; ich möchte mich darauf beschränken, zu zeigen, was das Experiment — denn nur von diesem werden wir uns Aufschlüsse von aller wünschenswerten Zuverlässigkeit versprechen dürfen — für die Er- kenntnis des Zellenlebens geleistet hat und noch zu leisten verspricht. Dabei kann es sich nicht um eine ausführliche Darlegung der gesamten experimentellen Cellularphysiologie handeln, son- dern lediglich darum, die Leistungsfähigkeit der experimentellen Methode an einer bescheidenen Reihe von Beispielen zu erläutern. 434 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 28 I. Mit Brücke') nennt man die Zellen oft „Elementarorganismen". Bei den Bakterien, den Flagellaten, den Protozoen usw. stellt freilich jede Zelle einen Organismus dar; die Frage ist nun die, ob wirklich die Einheiten, aus welchen sich die höheren Tiere und Pflanzen aufbauen und welche in ihren wesentlichen morphologischen Eigentümlichkeiten dem Körper der Protisten gleichen, wirklich auch physiologische Einheiten der vielzelligen Lebewesen darstellen und sich durch Befähigung zu selbständiger Assimilation, selbständigem Wachstum und selbständiger Teilung den Namen der Elementar Organismen ver- dienen, oder ob sie zu allen diesen Leis- tungen nur dann befähigt sind, wenn sie zu mehreren oder vielen vereinigt nebeneinander liegen und aufeinander wirken und zu einer Vereinigung höheren Grades — zu einem Gewebe oder einem Organ — miteinander verbunden sind. Das Experiment gibt uns ein einfaches IVIittel an die Hand, die Frage zu erledigen: wir trennen gewaltsam die Zellen, die normalerweise zu einem Gewebe verbunden nebeneinander lagen, und be- obachten das Verhalten der isolierten Elemente unter dem Mikroskop. Zumal bei niederen Pflanzen, bei vielen Algen und Pilzen, aber auch bei vielen Gewebearten höherer Gewächse ist das Experiment unschwer auszuführen. Der Versuch zeigt, daß die isolierten Zellen vieler Algen und Pilze in dem Medium ihres natür- lichen Vorkommens belassen tatsächlich wie Organismen sich verhalten und selbständig wachsen und sich vermehren. Obschon es nicht zweifelhaft sein kann , daß im intakten vielzelligen Organismus die einzelnen Zellen sich gegenseitig stoff'lich beeinflussen — das Vor- handensein von Tüpfeln in den Cellulosewänden und manche andere Anzeichen weisen unzweifel- haft darauf hin — , sind doch die einzelnen Zellen in ihrer Entwicklung von diesen nachbarlichen Beeinflussungen unabhängig und können ge- gebenenfalls auch ohne diese und auf eigene P^aust ihr Leben führen und alle Wachstumsfunktionen ausüben. Anders steht es mit den Zellen höherer grüner Gewächse: es versteht sich beinahe von selbst, daß z. B. die grünen Zellen des Mesophylls sich nach der Isolierung anders verhalten werden als etwa die Zellen einer farblosen Epidermis: von jenen ließe sich immerhin erwarten, daß sie auch nach der Isolierung autotroph ihren Bedarf an organischen Materialien sich herstellen können, diese aber sind unbedingt auf Zufuhr von organi- scher Nahrung seitens ihrer Zellennachbarn ange- wiesen. Es ist klar, daß für sie die im intakten Organismus sich vollziehende stofi'liche Beeinflus- sung von Zelle zu Zelle von allergrößter Wichtig- keit sein muß. Das Experiment hat uns für solche Fälle bis- her nicht viel Positives gelehrt: isolierte chloro- phyllhahige Mesophyllzellen oder farblose Haar- zellen können, wie Haberlandt gezeigt hat, beim Aufenthalt in geeigneten Lösungen wohl eine Zeitlang leben und sich durch Wachstum vergrößern, auch kann ihre Membran kräftiges Dickenwachstum erfahren; aber dem Leben und Wachstum sind enge Grenzen gezogen und vor allem : Teilung konnte an den isolierten Zellen von Haberlandt niemals beobachtet werden.^) Wenn demnach unter Bedingungen, unter welchen die vielzelligen Organismen als Ganzes sich entwickeln und ihre Zellen vermehren, diese als isolierte Gebilde nicht mehr sich vermehrer. können, werden wir die Zellen eben dieser höheren Pflanzen nicht als Elementarorganismen bezeichnen dürfen, solange wenigstens mit diesem Ausdruck die Vorstellung selbständiger E.Kistenz- fähigkeit verbunden bleiben soll. — Der negative Ausfall der bisher geschilderten Versuche darf von weiteren Forschungen in dieser Richtung nicht abschrecken. Es legt sich von selbst die Frage nahe: welcher Art sind die — diesmal unentbehrlichen — stofflichen Einflüsse, welche die einzelnen Zellen im intakten Verband eines Gewebes lebens-, Wachstums- und teilungsfähig erhalten? Wenn Haberlandt nur bescheidenes Wachstum und niemals Teilung an isolierten Zellen beobachten konnte, so geht daraus nur hervor, daß die in seinem Experiment den Zellen gebotenen Be- dingungen nicht den im Gewebe verwirklichten ent- sprechen. Es steht zu hoffen, daß künftige Untersuch- ungen noch glücklichere Ergebnisse zeitigen werden und es ebenso gelingen wird, die stofflichen, von Zelle zu Zelle wirkenden Einflüsse chemisch zu präzi- sieren, wie es gelungen ist, über die wirksamen Sekrete der Archegonien, der Laub- und Leber- moose und anderer Archegoniaten Aufschluß zu erhalten. — Daß außer den chemischen Korre- lationen zwischen den verschiedenen Gewebs- anteilen einer Pflanze auch physikalische Beein- flussungen im Spiele sein und ihre bedeutungs- reiche Rolle spielen können, soll mit dem Ge- sagten selbstverständlich nicht in Abrede gestellt werden. II. Wir dürfen bei der hier angedeuteten Analyse nicht stehen bleiben. Der lebendige Zellenleib, dessen physiologische Leistungen uns interessieren, stellt bekanntlich nicht eine homogene Masse dar, sondern läßt zum mindesten Cytoplasma und Zell- kern als differente lebendige Teile unterscheiden, zu welchen sich in den Zellen der meisten Ge- wächse vor allem noch Chromatophoren irgend- welcher Art gesellen. Die nächsten Aufgaben, die sich dem Zellularphysiologen stellten, wären nun die, zu analysieren, welche Bedeutung der . ') Haberlandt, G., Kulturversuche mit isolierten ) Brücke, Die Elementarorganismen (Sitzungsber. Akad. Pllanzenzellen (Sitzuugsber. Akad. Wiss. Wien, Math.-Naturw. Wiss. Wien 1861, Bd. XLIV, 2. Abt.). Kl. 1902, Bd. CXI, Abt. I, S. 69). N. F. VIII. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 435 typischen Vereinigung von Cytoplasma und Zellen- kern für die verschiedenen Lebensäußerungen der Zelle zukommt, ob Zellenkern und Cytoplasma auf die Funktionen der Chromatophoren Einfluß haben, ob bestimmte Funktionen der Zelle mit bestimmten Anteilen des lebendigen Zellenleibs derart verbunden erscheinen, daß sie von diesen allein besorgt werden, oder welche Änderungen im Leben und Wirken einer Zelle eintreten, wenn ihr der eine oder andere Teil genommen wird u. dgl. m. Es leuchtet ein, daß die Betrachtung normaler Zellen und ihrer Lebensbetätigung wohl zu wert- vollen Vermutungen gegenüber den angedeuteten Fragen führen, aber niemals zuverlässige Ant- worten auf sie bringen kann. Hier hilft nur das Experiment weiter: erst wenn es gelingt, unbe- schadet des Lebens einer Zelle, den einen Be- standteil von dem anderen zu trennen und kern- lose Cytoplasmamassen, plasmafreie Zellenkerne usw. in ihrer weiteren Entwicklung zu beobachten, werden gut fundierte Schlüsse über die Funktionen der verschiedenen Zellenteile gezogen werden dürfen. Bei der Kleinheit der Pflanzenzellen bedarf es selbstverständlich besonderer Methoden zur kunst- gerechten Zerstückelung lebendiger Zellen. Wohl gelingt es unter Umständen, daß auch ohne be- sondere mechanische Eingriffe bestimmte Teile mancher Zellen absterben und die anderen über- lebenden Teile noch unbeschadet weiter funktio- nieren, oder daß unter den Augen des Mikro- skopikers Zellen zerreißen; an solchen Gelegen- heitsobjekten sind nicht selten wertvolle Beobach- tungen gesammelt worden, von welchen einige später noch erwähnt werden mögen. Zielbe- wußtes Forschen wird aber erst dann möglich, wenn uns sichere Methoden es gestatten, be- stimmte Zellen willkürlich zu zerlegen und ihre Organe voneinander zu trennen. Drei Verfahren stehen uns hier vor allem zur Verfügung: zunächst die Methode der Plasmolyse. Läßt man eine kräftig wasserentziehende Lösung auf lebende Zellen einwirken, so zieht sich ihr Plasmaschlauch bekanntlich zusammen und wenn es sich um Zellen länglicher, prismatischer oder zylindrischer Gestalt handelt, so tritt überaus häufig der Fall ein, daß der Plasmaleib in mehrere Stücke zerfällt. Hat man Zellen mit je einem Zellenkern zur Untersuchung gewählt, so versteht sich von selbst, daß nur eines der Teilstücke einen solchen enthalten kann. Vorausgesetzt, daß man eine ungiftige Lösung als wasserentziehendes Mittel angewandt hat, kann man nun recht lange die kernhaltigen Stücke neben den kernfreien Teilen der Zelle beobachten und beide in ihrem physiologischen Verhalten miteinander vergleichen. Diese Methode ist von Klebs eingeführt worden.') ') Klebs, G., Beiträge zur Physiologie der Pftanzen- ztWe (Unters, a. d. Botan. Inst. Tübingen 18SS, Bd. II, S. 4S9). Vgl. ferner von demselben ,,Über den Einfluß des Kernes in der Zelle" (Biol. Zentralbl. 18S7, Nr. VII, S. 161), Beiträge Ein zweites Verfahren besteht darin, daß man die Masse der Kernsubstanz, während die Zelle in Teilung begriffen ist und die trennende Quer- wand schon sich bildet, zur Verlagerung bringt, so daß beim Fortgang der Querwandbildung eine völlig kernlose Zelle resultiert und eine, welche die für zwei Tochterzellen berechnete Kernmasse umschließt. Gerassimoff") hat gezeigt, daß es durch anästhetische Mittel , sowie durch Ein- wirkung tiefer Temperaturen gelingt, die Kern- masse zu der gewünschten Verlagerung zu bringen. Drittens hat v. Wissel ingh ■') ähnliche Ver- lagerungen und gleiche Effekte durch Zentri- fugieren seines Untersuchungsmaterials erhalten. Gewaltsame Zertrümmerung von Zellen führt schließlich auch zu brauchbaren Resultaten, wenn man es mit Vertretern der großzelligen, plasma- und kernreichen Siphoneen zu tun hat: bei Zer- trümmerung eines Vaucheriafadens z. B. ent- stehen zahlreiche kleine Plasmatröpfchen und der Zufall bringt jedesmal unter ihnen kernlose, kern- arme und kernreiche, chlorophyllfreie und chloro- phyllhaltige zustande. Was für Resultate haben sich mit den ange- führten Methoden gewinnen oder auf irgendeinem anderen Wege ableiten lassen ? Vor allem die Er- kenntnis, daß das Leben, das die mit Kern und Cytoplasma ausgestattete Zelle erkennen läßt, keineswegs unlösbar an die Verbindung dieser beiden Komponenten gefesselt ist: das Experiment zeigt es ohne weiteres, daß auch kernfreie Plasma- ballen tagelang und wochenlang leben und dabei die verschiedensten Funktionen ausüben können: kernlose Plasmaballen verbrauchen die in ihnen enthaltenen Nährstoffe, ihr Plasma bleibt be- wegungsfähig, ihre Chromatophoren bauen Stärke auf,'') ihre Vakuolen färben sich mit Anthocyan ^) usw., in ihrem Cytoplasma kann F"ett auftreten,^) kernlose Zellen können sogar wachsen, ebenso wie die in ihnen enthaltenen Chloroplasten.") Wie unabhängig die Bewegung der Geißeln und Wimpern — zoologischer wie botanischer Objekte — ist, sieht man mit unübertroffener Deutlichkeit in denjenigen Fällen, in welchen irgendein Zu- fall die Geißeln oder Wimpern vom Zellenkörper abgerissen hat und diese sich trotzdem lustig weiterbewegen. Unter diesen Umständen, wenn zur Physiologie der Pflanzenzelle (Ber. d. D. Bot. Ges. 1887, Bd. V, S. 181) u. a. m. '^) Vgl. z. B. Gerassimoff, Über die kernlosen Zellen bei einigen Konjugalen (Bull. Soc. imp. Naturalistes Moscou 1892, p. 109), Ein Verfahren kernlose Zellen zu erhalten (ibid. 1896, S. 477) u. a. m. ') V. Wisselingh, C, Zur Physiologie der Spirogyra- zelle (Beih. z. Botan. Zentralbl. 1908, Bd. XXIV, Abt. 1, S. 133;. ■■) Nach Klebs (a. a. O.) assimilieren kernfreie Plasma- porlionen von Zygnema und Spirogyra , während kernfreie Zellstücke von Funaria hygrometrica keine Stärke aufbauen können. ■'') Katic, D. Lj., Beitrag zur Kenntnis der Bildung des roten Farbstoffes (Anthocyan) in vegetativen Organen der Phanerogamen. Dissertation Halle 1905. ") v. Wisselingh a. a. O. ') v. Wisselingh a. a. O. 436 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 28 so viele Funktionen der Zelle sich als unabhängig vom Zellenkern erweisen, wäre es vorstellbar, daß auch im normalen Entwicklungsverlauf der Or- ganismen irgend einmal kernfreie Zellen entstehen könnten, welchen wenigstens eine ephemere Lebensdauer zugemessen ist. Bei Tieren kommen dergleichen „Zellen" tatsächlich vor: Meves fand bei Spinnern kernlose Spermien;') Analoga aus dem Pflanzenreich sind mir nicht bekannt. Nachdem von den P^mktionen die Rede war, welche kernloses Cytoplasma ausüben kann, wäre zu prüfen, welche weitere Funktionen an die Ver- einigung des Cytoplasmas mit dem Zellkern ge- bunden sind. Wenn von der physiologischen Bedeutung der Zellkerne die Rede ist, wird scharf zu scheiden sein zwischen dem auf experimentellem Wege sicher Ermittelten und dem aus vergleichend- morphologischen und entwicklungsgeschichtlichen Beobachtungen Erschlossenen: dem bescheidenen Schatz an experimentell erwiesenen Tatsachen steht eine Fülle von Theorien und mehr oder minder gut begründeten Vermutungen über die physiologische Bedeutung des Zellkerns für das Leben der Zelle gegenüber. Man hat den Zell- kern in Beziehung zur Gestaltung der Zelle ge- bracht, hat dynamische Einflüsse von ihm auf seine Umgebung ausgehen lassen, hat ihn als Oxydationszentrum angesprochen, als Regulations- organ für die gesamte Ernährung der Zelle, und vor allem als Träger der Vererbung und hat aus seiner Lage, seinen Formveränderungen usw. noch viele andere Schlüsse auf seine physiologische Bedeutung gezogen. Wir wenden uns zur Besprechung der Experi- mente. Zunächst läßt sich durch Isolierung von Zellkernen zeigen, daß sie, des Cytoplasmas be- raubt, nicht existenzfähig sind:") leben und ihre Wirksamkeit entfalten können sie nur in Be- rührung mit Cytoplasma. Vergleicht man gleichartige kernhaltige und kernlose Zellen miteinander, so ergeben sich eine Reihe von Unterschieden : der Stärkeverbrauch ist in kernlosen Zellen geringer als in kernhaltigen.'') Kernlose Zellen wachsen, wenn überhaupt, sehr viel weniger als kernhaltige usw., der auffallendste Unterschied spricht sich aber darin aus, daß kern- haltige Plasmamassen oft schon nach wenigen Stunden eine neue Cellulosehülle bilden, während kernlose Cytoplasmaballen im allgemeinen unbe- häutet bleiben.'') Man hat aus diesen Beziehungen zwischen Kern und Membran weitgehende Schlüsse auf die Wirkungssphäre des ersteren und die Bedeutung seiner Lage im Zellenleibe zu ziehen versucht. Allbe- kannt sind die Veröffentlichungen Haberlandt's, der den Nachweis zu erbringen suchte, daß der Zellkern stets an der Stelle in der Zelle liegt, an welcher das Flächenwachstum der Membran be- sonders ergiebig sich betätigt oder besondere Verdickungen an der Zellhaut gebildet werden sollen. 1) Ich habe vor einigen Jahren darauf auf- merksam gemacht, daß allerdings sehr oft der Zellkern in wachsenden Wurzelhaaren usw. an der wachsenden Spitze liegt, in vielen anderen Fällen aber nicht da, wo man ihn der Theorie nach suchen sollte; daher wird es wohl nicht an- gehen, aus der ersten Kategorie von Fällen all- gemeine Folgerungen über die Bedeutung der Lage des Zellenkerns zu ziehen.-) Analoge Beobachtungen, welchen den an kern- losen Plasmaballen plasmolysierter Pflanzenzellen gesammelten entsprechen, lassen sich auch an tierischen Zellen anstellen. Noch bevor Klebs die geschilderten Unterschiede zwischen kernhaltigen und kernlosen Plasmaportionen der von ihm untersuchten Algenzellen aufdeckte, konstatierten Nußbaumund Gruber, daß Stücke von Protozoen — z. B. von Stentor — nur dann zu einem voll- ständigen Organismus sich regenerieren, wenn sie den Kern enthalten oder wenigstens ein Stück von diesem. •') IIL Die bisher angeführten Tatsachen legen den Schluß nahe, daß zwischen denjenigen Funktionen der Zelle, die das Cytoplasma für sich allein aus- üben kann, und denjenigen, zu deren Ausübung es der Gegenwart und der Mithilfe des Zellkerns bedarf, scharf geschieden werden kann, und F. Schenck nimmt in der Tat für die Zelle eine Art Arbeitsteilung an, „derart, daß dem äußeren Protoplasma vorwiegend P'unktionen zukommen, durch welche die Beziehungen des Lebewesens zur Außenwelt geregelt werden, das sind die Reaktionen auf äußere Einwirkungen, während der Kern durch seine vorwiegend assimilatorische, das Wachstum und die Regeneration bestimmende P'unktion die Lebensfähigkeit des Lebewesens unterhält." ') ') Meves, Fr., Über oligogyrene und agyrene Spermien und über ihre Entstehung nach Beobachtungen an Paludina und Pygaera (.Arch. f. mikrosli. Anat. Bd. LXI, 1903). '■*) Verworn, M., Die physiologische Bedeutung des Zellkerns (Pflüger's Archiv f. d. ges. Physiologie Bd. LI, 1892, S. I). ^) V. Wisselingh a. a. O. *] Klebs a. a. b. ') Haberlandt, G., Beziehungen zwischen Funktion und Lage des Zellkerns bei den Pflanzen, Jena, G. Fischer, 1887. Vgl. auch Korscheit, Beiträge zur Morphologie und Physiologie des Zellkerns (Zool. Jahrb., Abt. f. Anat. 1SS9, Bd. IV) und Biol. Zentralbl. 1889, Bd. VIII, S. Iio. -) Küster, F.., Über die Beziehungen der Lage des Zellkerns zu Zellenwachstum und Membranbildung (Flora 1907, Bd. LXXXXVII, S. 1). Vgl. auch Pfeffer, W., Pflanzen- physiologie (2. Aufl., Bd. I, 1897, S. so). ^) Vgl. besonders Nußbaum, Ober spontane und künst- liche Teilung (Sitzungsber. Niederrhein. Ges. Bonn 18S4), Über die Teilbarkeit der lebendigen Materie ( Arch. f. mikrosk. Anal. 18S6, Bd. XXVI, S. 4S5) nnd Gruber, Über künst- liche Teilung bei Infusorien 1 und II (Biolog. Centralbl. 1884, Bd. IV, S. 717 und 18S5, Bd. V, S. 137), Beiträge zur Kennt- nis der Physiologie und Biologie der Protozoen (Ber. d. Natur- forsch.-Ges., Freiburg 18S6, Bd. I). ■*) Schenck, F., Physiologische Charakteristik der Zelle, Würzburg {A. Stuber) 1899. N. F. Vm. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 437 Ich zweifle, ob sich alle Tatsachen, die auf experimentellem Wege gefunden worden sind, sich mit einer solchen Annahme ohne Zwang ver- einigen lassen. Wir sprachen oben von dem Regenerations- vermögen kernhaltiger Protozoenstücke und dem Unvermögen der kernlosen Anteile zu regenera- tiver Selbstergänzung. Diese Regel hat aber ihre Ausnahmen. Schon Gruber ') stellte fest, daß an kernlosen F"ragmenten unvollendete Peristom- anlagcn sich weiter entwickeln können, Balbiani ") beobachtete, daß ebensolche kernlose Stücke sich einschnüren können, wenn sie von Individuen stammen, die unmittelbar vor der Teilung standen. Schließlich beobachtete Prowazek^) Regenera- tion an kernlosen Stücken von Stentor. Beob- achtungen dieser Art beweisen natürlich nicht, daß der Zellkern bedeutungslos für die Regenera- tion sei, sondern zeigen nach meiner Ansicht nur, daß der Zustand, in welchen das Cytoplasma durch den Zellenkern gebracht wird, und in welchem es zur Regeneration usw. befähigt ist, auch noch fortbestehen kann — wenigstens eine kurze Weile — , wenn der wirksame Bestandteil, der Zellenkern, bereits beseitigt worden ist. Auch botanischerseits liegen Beobachtungen vor, welche mit den an kernlosen Protozoen- fragmenten angestellten verglichen werden können. Die Auffassung, daß dem pflanzlichen Cytoplasma ein für allemal nur bei Gegenwart und unter Einwirkung des Zellenkerns Membranbildung möglich sei, ist nicht mehr aufrecht zu erhalten, nachdem in neuester Zeit namentlich Palla*) gezeigt hat, daß kernlose Plasmaballen aus Mar- chantia-Rhizoiden, aus Urtica-Brennhaaren usw. sich zu umhauten imstande sind. Ich selbst be- obachtete neuerdings Membranbildung an kleinen Plasmaportionen von Spirogyrazellen.'") Alle diese Fälle vermitteln in gewissem Sinne den Übergang zu den oben angeführten Erschei- nungen, die an kernlosen Zellen die gewöhnlichen sind: Allerdings ist kernloses Plasma lebensfähig, aber seine Lebensdauer ist beschränkter als die des kernhaltigen Plasmas. Kernlose Zellen assi- milieren und dissimilieren, aber schwächer als kernhaltige; sie können auch wachsen, wie wir vorhin sclion hörten ; aber sie wachsen ungleich weniger als die mit Zellkern ausgestatteten. Alle Funktionen zeigen sich insofern vom Kern ab- hängig, als sie nach seiner Beseitigung nur noch ') Gruber, 18S6 a. a. O. ^) Balbiani, Nouvelles recherches c.xperimentalcs sur la merotomie des infusoires ciliees (Arch. de Micrographie, 1891/92, T. IV, p. 369). ■'') Prowazek, S., Beitrag zur Kenntnis der Regeneration und Biologie der Protozoen (Arch. f. Protistenkunde, 1904, Bd. III, S, 44). *) Palla, Über Zellhautbildung kernloser Plasmateile (Ber. d. D. Bot. Ges. 1906, Bd. X.XIV, S. 40S). Weitere Literatur bei Küster, E., Aufgaben und Ergebnisse der ent- wicklungsmechanischen Pflanzenänatomie (Progressus rei botan. Bd. II, igoS, p. 5051. ■') Ich werde an anderer Stelle ausführlicher auf diese Beobachtungen zurückkommen. kurze Zeit und auch während dieser nur schwächer als in seiner Gegenwart vom Cytoplasma aus- geübt werden können. Es ist daher mehr wie fraglich, ob wir irgend- eine Funktion des Cytoplasmas als dauernd un- abhängig vom Zellenkern bezeichnen dürfen. In geeigneten Zustand für jede seiner Funktionen scheint das Cytoplasma erst durch den Zellen- kern zu kommen und durch ihn in jenem Zustand zu bleiben. Allerdings kann die „Nachwirkung" des Kernes, durch welche das Cytoplasma auch nach gewaltsamer Trennung vom Zellenkern noch funktionsfähig erhalten wird, bei verschiedenen Zellenarten und unter verschiedenen Umständen und vor allem auf die verschiedenen P'unktionen des Cytoplasmas bezogen sehr ungleich lange währen : die Fähigkeit zur Organbildung und Regeneration verliert die kernlose Zelle im all- gemeinen offenbar sehr bald, die F"ähigkeit zu assimilatorischen Leistungen bleibt anscheinend oft länger bestehen usf. Die Nachwirkung des Zellkerns auf die Querwandbildung sich teilender Zellen studierte neuerdings W i s s e 1 i n g h (a. a. O.) : der Ort der Querwandbildung wird noch vor der Zellteilung vom Zellenkern bestimmt und behält seine Stimmung auch dann noch, wenn der Kern durch Zentrifugieren von jener Stelle verjagt worden ist. Noch ganz im Dunkeln liegt die Frage, welcher Art wohl der Einfluß sein mag, den der Zellkern auf das Cytoplasma ausübt. Wir können zurzeit noch nicht einmal darüber mit Bestimmtheit aus- sagen, ob chemische oder physikalische Wirkungen vom Kern aufs Cytoplasma und von diesem auf den Kern ausgehen mögen. Am nächsten liegt es vielleicht, an chemische Wirkungen zu denken : so wie in komplizierten Organismen bestimmte Organe — wie etwa die Schilddrüse des Menschen, die Nebenniere usw. — durch ihre chemischen Produkte den ganzen Organismus oder bestimmte Teile von ihm funktionstüchtig machen und funktionstüchtig erhalten, ebenso könnten auch zwischen Cytoplasma und Zellenkern und anderen lebendigen Teilen jeder einzelnen Zelle chemische Korrelationen bestehen, derart, daß immer die Produkte des einen Zellenorgans für Leben und Gedeihen und Funktionieren der anderen auf die Dauer unentbehrlich wären.'} Auf alle Fragen dieser Art kann wiederuin nur das Experiment zuverlässige Antwort geben. Vielleicht gelingt es einmal, im Experiment einem kernlosen Plasmaballen den Zellkern oder die von ihm ausgehenden Wirkungen durch bestimmte Kombination der äußeren Bedingungen zu ersetzen: es erscheint keineswegs ausgeschlossen, daß man z. B. kernlose Plasmaportionen, die im allgemeinen ') Über chemische Korrelationen zwischen Geweben oder Organen einer Pflanze vgl. Küster, Aufgaben und Ergebnisse der enlwicklungsmechanischen Pflanzenanatomie (Progressus rei botan., Bd. II, 1908, p. 520) und die daselbst zitierte Literatur. 438 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 28 unbehäutet bleiben, durch Einwirkung bestimmter chemischer Agentien zur Membranbildung bringen kann, so wie es gelungen ist, an den Eiern ver- schiedener Echiniden und anderer Tiere durch bestimmte Kulturbedingungen dieselben Erschei- nungen der Furchung usw. hervorzurufen, die sonst nur nach Einverleibung eines Spermatozoons eintritt. Wenn es einmal gelungen sein wird, kernlose Zellen durch bestimmte äußere Mittel zu Leistungen anzuregen, welche ihnen durch die Beseitigung des Zellenkerns unmöglich gemacht worden waren, wird die Frage nach der Art des Zellkerneinflusses ihrer Beantwortung ein gut Stück näher gebracht sein. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Astronomie. — Eine neue Sonnentheorie ist von Amaftounsky ent- wickelt worden (Astron. Nachr. Bd. 180, S. 137). Nach derselben ist die Sonne im Innern gasförmig und dissoziiert, dagegen bildet die kühlere Photo- sphäre eine flüssige Hülle, in der gelegentlich auch feste Stoffe und chemische Verbindungen auf- treten. Infolge der von dieser Hülle bei ihrer allmählichen Zusammenziehung auf die inneren Gasmassen ausgeübten Pressung entstehen an den Stellen geringsten Widerstandes Gasausbrüche, die von der Seite gesehen als eruptive metallische Protuberanzen, von oben als dunkle Flecken er- scheinen, da an solchen Stellen die hell leuchten- den Photosphärenschichten durch zwar sehr heiße, aber wenig leuchtende Gase verdrängt werden. Die Fackeln sollen an denjenigen Stellen ent- stehen, wo der nach außen strebende Gasstrom die flüssige Hülle nicht zu durchbrechen vermag und daher nur die Photosphäre wulstartig empor- hebt. Die Penumbra der Flecken stellt die Region dar, wo die photosphärischen Wolken herbei- strömen, um die in der Photosphäre entstandene Lücke wieder zu schließen. Infolge der Zentrifugalkraft ist in den Dampf- massen der inneren Sonne eine Sonderung ein- getreten, durch welche die schweren Dämpfe ein stark abgeplattetes, am Äquator bis dicht an die Photosphäre reichendes Sphäroid bilden, während die polaren Gebiete der inneren Sonnenkugel von den leichteren Dämpfen erfüllt werden, die, der Schwungkraft fast gar nicht unterworfen, die Photosphäre zur Kugel aufblähen. In polaren Gebieten vermögen daher die schwereren Gase nicht, durch die dicke Schicht der darüber liegen- den leichteren hindurchzubrechen, es kommen daher hier keine Flecken und Protuberanzen vor. Nahe dem Äquator fehlen diese Gebilde gleich- falls, da hier die Schicht der leichteren Gase so dünn ist, daß keine starken Spannungen auftreten können. Das innere Sphäroid schwerer Gase hat eine schnellere Rotation wie die äußeren, leichten Gase und die Photosphäre. So erklärt sich das Rotationsgesetz der Flecken und Fackeln dadurch, daß die durchbrechenden Gasmassen um so mehr die langsamere Rotation der leichteren Gase an- nehmen, je dickere Schichten derselben durch- brochen werden mußten, d. h. je größer die heliographische Breite ist. Die Periodizität der Flecken führt A. darauf zurück, daß nach längerer Maximumphase die Dichte der Sonnenatmosphäre schließlich durch die aus dem Inneren stammenden, schweren Gase so erhöht wird, daß eine Phase verminderter Tätigkeit folgt. Nachdem dann durch den Strahlungsdruck allmählich mehr und mehr Materie in die Corona und den Weltraum abgeführt ist, sinkt der Atmosphärendruck wieder soweit, daß eine erneute Phase lebhafter Ausbrüche einsetzen kann. Diese Erklärung der Periodizität stimmt gut zusammen mit der von Halm gemachten Be- obachtung, daß die Spektrallinien in der Zeit zwischen einem Minimum und einem Maximum der Fleckenhäufigkeit sich nach Rot verschieben, was nach Jewell auf Druckänderungen zurück- geführt werden kann. Dies sind in kurzen Zügen die Hauptlehren der neuen Sonnentheorie, die in Anlehnung an vielfach schon früher von anderen ausgesprochene Auffassungen die Gesamtheit der Sonnenphäno- mene von einem einheitlichen Gesichtspunkte aus mit viel innerer Wahrscheinlichkeit zu erklären sucht. Weitere spektrographische Untersuchungen über die Sonnenrotation, die W. S. Adams auf dem Mt. Wilson Observatorium im Jahre 1908 angestellt hat, haben in mehrfacher Beziehung zu bemerkenswerten Ergebnissen geführt (Astrophys. Journal, März 1909). Zunächst zeigte sich in den Breiten von o" — 50" eine vortreffliche Überein- stimmung mit den Beobachtungen von 1906/07 und auch mit denjenigen Duner's, so daß eine Veränderlichkeit der Sonnenrotation in diesen Zonen größter Fleckenhäufigkeit nicht anzunehmen ist. Nur in höheren Breiten zeigten sich 1908 etwas größere Geschwindigkeitswerte als im vor- angehenden Jahre. Die Geschwindigkeitsdiffe- renzen in verschiedenen Breiten werden sowohl bei Adams, als auch bei Duner und Halm tadel- los durch die von Faye aus Carrington's Flecken- beobachtungen abgeleitete Formel dargestellt, diese ist demnach bis mindestens lO Grad Pol- abstand ein guter Ausdruck für das Rotations- gesetz der umkehrenden Schicht. Nur in der Nähe der Wirbel (Flecken) ist die Bewegung der umkehrenden Schicht stark gestört, so daß solche Gebiete bei künftigen Untersuchungen über die Sonnenrotation zu vermeiden sind. — Sehr merk- N. F. VIII. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 439 würdig ist nun weiter, daß verschiedene Spektral- linien" recht ungleiche Rotationsgeschwindigkeits- werte ergeben und daß die Abweichungen vom mittleren Betrage in höheren Breiten besonders groß werden. So zeigt die Linie A 4227 am Äquator bereits einen um 0,3" größeren täglichen Drchungswinkel an, in 75" Breite aber sogar einen um 1,5'^ größeren, als er der umkehrenden Schicht im ganzen zukommt. Ebenso sind diese Unter- schiede für H„, sofern diese Linie nahe dem Sonnenrandc beobachtet wird, gleich 0,6" bzw. 3,0". In etwa 35" Abstand vom Sonnenrande zeigt H« allerdings kleinere Abweichungen, die etwa denen von l 4227 entsprechen. Alle diese Verschieden- heiten erscheinen aber sehr wohl verständlich, wenn man für die jene Linien erzeugenden Schichten verschiedene Niveaus in der Sonnen- atmosphäre annimmt. Hoch über der sonstigen umkehrenden Schicht schwebende Gasmassen müssen ja, namentlich am äußersten Rande, bei in Wahrheit gleich großer Winkelgeschwindigkeit; Geschwindigkeiten in der Gesichtslinie ergeben, welche die der tieferen Niveaus übertreffen. Inter- essant ist in dieser Beziehung, daß auch ver- schiedene Flecken des Jupiter nach Beobachtungen von Stanley Williams Rotationswerte ergeben haben, die um 6 Minuten differieren. Auch hier mögen es Niveauverschiedenheiten sein, die wir für diese Abweichungen verantwortlich zu machen haben. Über die Temperatur der Sonne hat Scheiner in den Publ. des astrophys. Obser- vatoriums (Nr. 55) eine neue Abhandlung ver- öffentlicht. S. hat dem Angström'schen Pyrhelio- meter eine verbesserte Form gegeben und damit 1903 auf dem Gipfel des Gorner Grat eine Be- obachtungsreihe ausgeführt, die ihn zu der „Strahlungskonstante" von 1,95 bis 2,02 Gramm- kalorien führte. Dieses ist jedoch wegen der in den höchsten Schichten der Atmosphäre statt- findenden Absorption durch CO., und Wasser- dampf noch nicht die wahre Sonnenkonstante, vielmehr muß noch ein als konstant anzusehender und im Laboratorium durch Untersuchung der Absorption jener Gase zu ermittelnder Betrag hinzugefügt werden. Scheiner fand durch sorg- fältige Experimente hierüber, daß die Strahlungs- konstante wegen des Kohlendioxyds um i "/„, wegen des Wasserdampfes um 7 "/„ und wegen der ultravioletten Absorption um weitere i ".3 "/q zu vergrößern ist, so daß sich als wahrschein- lichster Wert für die Sonnenkonstante in der mittleren Entfernung der Erde 2,22 bis 2,29 g cal mit einem wahrscheinlichen Fehler von 2 "/„ er- gibt. Das heißt: Jedes Quadratzentimeter emp- fängt in jeder Minute seitens der Sonne eine Wärmemenge, die i g Wasser von o" C auf 2,2" bis 2,3" erwärmen könnte. Indem Scheiner nun auch die Konstante des Stefan'schen Strah- lungsgesetzes neu bestimmte, gelangte er zu einer effektiven Sonnentemperatur von 6200". Für die eigentliche Sonnenoberfläche würde daraus unter Berücksichtigung der Absorption der Strahlung in der Sonnenalmosphäre eine Temperatur von etwa 7000" sich ergeben. Dasselbe Problem bildet seit Langley's erfolg- reichem Wirken den Hauptgegenstand des astro- physikalischen Observatoriums der Smithsonian Institution und es ist ein merkwürdiges Zusammen- treffen, daß auch von dieser Seite durch A b b o t und P'owle kürzlich ein umfangreicher Band „Annais" (Vol. II) veröffentlicht wurde , in welchem über die Ergebnisse der im letzten Jahrzehnt zum Teil auf Mt. Wilson und anderen Bergen, sowie auch in Washington ausgeführten Messungen berichtet wird. Nach diesen wäre die Sonnenkonstante gleich 2,1 Kalorien anzunehmen, also etwas kleiner als nach Scheiner's Resultat. Die effektive Sonnentemperatur ergibt sich daraus nach dem Wien'schen Gesetz gleich 6750", dagegen nach dem Stefan'schen Gesetz gleich 5962", also gleich- falls ein wenig niedriger, wie die oben nach Scheiner angegebene Zahl. Die Abweichungen zwischen den diesseits und jenseits des Ozeans er- mittelten Werten sind jedenfalls so gering, daß wir unseren jetzigen Kenntnissen über diese so überaus wichtige Größe, die übrigens nach der Ansicht Abbot's keine vollkommene Konstante ist, sondern zeitlichen Schwankungen bis zu 10 7o unterliegt, großes Vertrauen schenken dürfen. Das aschgraue Licht des unbeleuchteten Teils der Mondsichel, das bekanntlich dem Erdschein seine Entstehung verdankt, zeigt zu- zeiten einen mehr rötlichen Farbenton, worauf Krebs in den Astron. Nachr. (Nr. 4323) auf- merksam macht. K. hat diese Erscheinung z. B. im Frühsommer 1908, Nicolis in Modena am 25. und 26. Januar 1909 beobachtet. Sie dürfte mit den in derselben Zeit auf der Erde beobachteten intensiven Dämmerungen im Zusammenhang stehen. Intensitätssteigerungen des aschgrauen Lichts ohne das Auftreten von Farben, wie sie z. B. im Februar 1901 und im März 1908 be- obachtet wurden, sind nach Krebs vermutlich auf ausgedehnte Schnee- oder Wolkenbedeckung der Erdoberfläche zurückzuführen. Es wäre nicht un- interessant, wenn dem aschgrauen Licht von seilen derjenigen Astronomen, die Flächenphoto- meter besitzen, in Zukunft etwas mehr Aufmerk- samkeit geschenkt werden würde. Die Registrie- rung der Farbenänderungen erfordert dagegen keinerlei instrumentelle Hilfsmittel und wäre ein dankbares Feld für Liebhaberastronomen. Das Spektrum des Kometen More- house ist von verschiedenen Astronomen be- obachtet worden. Frostund Park hurst photo- graphierten dasselbe mit dem Objektivprisma sowie auch mit einem Spalt-Spektrographen. Sie fanden nur ein aus 7 bis 10 hellen Bändern be- stehendes Emissionsspektrum , so daß keinerlei reflektiertes Sonnenlicht in dem Kometen nach- weisbar war. Die hellen Bänder sind zum Teil mit bekannten Elementen nicht zu identifizieren, zum Teil werden sie von Frost und Parkhurst 440 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 28 für Kohlenstoff- und Cyanbanden gehalten. Im Gegensatz dazu haben Deslandres und Ber- nard sowohl im Kopf als auch im Schweif ein schwaches kontinuierliches Spektrum erhalten. Auch halten sie die in den Wellenlängen mit den amerikanischen Messungen gut übereinstimmenden Banden nicht für dem Kohlenstoff zugehörig, son- dern nur für Banden des Cyans und Stickstoffs. Dieser Komet würde dann von den meisten bis- her spektralanalytisch untersuchten Kometen in seiner chemischen Zusammensetzung abweichen. An den drei Banden unbekannter Herkunft (mit den mittleren Wellenlängen Z = 426,7; 401,3 und 391,4 /((() haben die französischen Forscher Ver- dopplungen von wechselnder Deutlichkeit bemerkt, die sie auf den durch Bewegungen hervorgerufenen Dopplereffekt zurückführen, da der Zeemannefifekt wegen der fehlenden Polarisation der Dubletten nicht in Frage kommen kann. Hartmann fand im Spektrum desselben Kometen drei schwache Linienpaare mit den Wellenlängen 387,4, 390,9; 400,1, 402,0; 425,3, 427,6. Diese Doppelliiiien sind offenbar dieselben, die auch Deslandres und Bernard beobachteten. Hartmann schreibt die Linie 387,4 dem Cyan zu, während er die übrigen als unbekannter Herkunft bezeichnet. An den photographischen Aufnahmen dieses Kometen hat M.Wolf die regelmäßigen, wogen- artigen Lichtgebilde im Schweif genauer unter- sucht (Astr. Nachr. Nr. 4297). Die VVogenlänge zeigte sich proportional dem Abstände vom Kern und auch die Amplitude derselben ver- größerte sich in den entfernteren Schweifregionen. Gemessen wurde z. B. in e. Kernabstand v. 7' eine Wellenlänge v. 2,5' ''2' 7' n )' tt )) J*^ tt i) ,t ^J » .1 II ,. 60' „ „ „ 18' I, „ „ I, 95' II ,1 II 32' ,1 ,1 II ,1 140' I, „ ,1 42' Durch die Vergleichung der Aufnahmen im Sterokomparator wurde ferner festgestellt, daß die einzelnen Strahlen des Schweifes dünne Schrauben waren, deren Steigung und Ganghöhe mit dem Kernabstand zunahmen. In der Fort- bewegung der Schweifmaterie traten oft verein- zelte, große Geschwindigkeiten auf. Im ganzen nahm die Geschwindigkeit der Schweifteilchen in der Nähe des Kerns äußerst rasch, in weiterer Entfernung dagegen nur noch langsam zu. Antalgolsterne nennt Hartwig eine Gruppe von Veränderlichen , bei denen das fast während der ganzen Periode schwache Licht nur für kurze Zeit hell aufleuchtet, während bekannt- lich beim Algoltypus umgekehrt eine kurze Ver- dunkelungsphase beobachtet wird. Derartige Antalgolsterne wurden zuerst in gewissen Stern- gruppen aufgefunden, neuerdings aber sind auch einige isolierte Sterne gleichen Charakters bekannt geworden, darunter der Stern RWDraconis, der von Hartwig näher erforscht wurde. Die etwas veränderliche Periode dieses Sterns dauert nur 0,4429 Tage, in welchem Intervall sich eine Auf- hellung von "^ bis I Stunde Dauer wiederholt. Die Helligkeitsschwankung (von 11,6. bis 10,9. Größe) dauert im ganzen 6 Stunden, wie Ichinohe feststellte. Die Radialgeschwindigkeiten von ß, f und t Ursae majoris, sowie die Bewegung und Parallaxe der sieben Hauptsterne des großen Bären sind von H. Ludendorff neu bestimmt worden (Astr. Nachr. Nr. 4313/14). — Für /i Ursae maj. benutzte L. nicht weniger als 71 neue, spektrographische Aufnahmen, durch welche seine frühere Angabe bestätigt wurde, daß dieser Stern ein spektroskopischer Doppelstern ist. Die Um- laufszeit beträgt 27,16 Tage, die Geschwindigkeit des Systems in bezug auf die Sonne beträgt — 16,8 km, sie schwankt bei der sichtbaren Kom- ponente infolge der Bahnbewegung periodisch zwischen den Werten — 6,0 und 21,5 km. Für £ Ursae maj. konnten 33 Spektrogramme verwertet werden, die zwar auch etwas veränderliche Radial- geschwindigkeit erkennen lassen (etwa zwischen — 8 km und — 18 km bei einer Periode von vermutlich etwas mehr als zwei Jahren), ohne daß jedoch hier schon eine sicherere Bahnbestim- mung möglich ist. Die Radialgeschwindigkeit dieses Systems wird etwa bei — 13 km liegen. Für C Ursae maj. praecedens, jenes von Vogel bereits durch periodische Linienverdopplung als spektroskopisch doppelt erkannte Gestirn, konnte Ludendorff 118 neuere Spektrogramme benutzen. Diese ergaben in naher Übereinstimmung mit dem von Vogel angegebenen Werte eine Periode von 20,536 Tagen und eine Radialgeschwindigkeit des Systems von — 12,6 km. Nach Feststellung dieser Tatsachen ermittelte Ludendorff unter Benutzung der bekannten, nahezu gleich gerichteten und gleich großen Eigenbe- wegungen an der Sphäre, daß die 5 Sterne jS, }>, d, e, ^ Ursae majoris im Welträume eine gleiche und parallele Bewegung von 20,7 km Geschwindigkeit pro Sekunde ausführen, die nach dem Punkte « = 303", ö = — 37" gerichtet ist, und eine mittlere Parallaxe von 0,035" haben, was einer Entfernung von etwa 6 Millionen Erd- bahnradien oder 10 Siriusweiten entspricht. Bezüglich der Sterne ci und >■ Ursae majoris ließen sich nun alle bisher beobachteten Bewegun- gen vortrefflich durch die Annahme erklären, daß auch diese beiden Sterne ein System bilden, d. h. sich parallel und gleich schnell bewegen und nahezu dieselbe Parallaxe haben. Ja, was beson- ders interessant ist, Parallaxe und Geschwindig- keit dieses zweiten Systems stimmen sehr nahe mit den entsprechenden Größen des ersten über- ein, nur hat die Bewegung des Systems u, t] eine andere Richtung, sie zielt nach dem Punkte « = 90", d = — 37", die Richtungen der beiden Bewegungen stehen also nahezu aufeinander senk- recht (der eingeschlossene Winkel beträgt lOi"). Zieht man nun noch die Bewegung des Sonnen- N. F. VIII. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 441 Systems in Betracht, das bei den obigen Bestim- mungen als ruhend angenommen war, so ergibt sich, daß der Zielpunkt des Systems «, *; nahezu mit dem Antiapex der Sonnenbewegung zusam- menfällt und daß die Geschwindigkeit nahe mit der Geschwindigkeit der Sonne übereinstimmt. Demnacii ist die absolute Bewegung von «, >/ jedenfalls nur sehr gering und die scheinbare nur durch die Bewegung der Sonne verursacht. Da- gegen hat das erste System (p*, y, ö, t, l.) als ab- soluten Zielpunkt den Punkt « = 256", ö = — i", der nicht allzuweit von einem der beiden Kapteyn- schen wahren Vertices der stellaren Bewegungen entfernt ist. Die Ausdehnung dieses Sternsystems ist übrigens eine enorme (^ würde von ■} aus eine Parallaxe von nur 0,1" haben) und die Hellig- keiten aller sieben Hauptsterne des großen Bären müssen Werte haben, welche die der Sonne um das 32- bis 126 fache übertreffen. Die Nova Persei hat nach Nijland (Astr. Nachr. Nr. 4303) zurzeit immer noch die Größe 10,3 und zeigte im letzten Jahre keine Schwan- kungen , die nicht als Beobachtungsfehler aufge- faßt werden könnten. Über den Zusammenhang zwischen Stern- farben und Stern helligkeiten haben Müller und Kempf in den Astronom. Nachr. (Nr. 4312) eine Studie veröffentlicht. Im ganzen sind bei weitem die meisten Sterne (6324) als gelblichweiß bezeichnet, während je 2043 Sterne in den Beobachtungsjournalen der Potsdamer photometrischen Durchmusterung als weiß bzw. gelb bezeichnet sind. Unter den schwächeren Sternen gibt es verhältnismäßig mehr weiße und gelblichweiße Sterne, als unter den helleren, wo- gegen gelbe und anders gefärbte Sterne in ihrer Anzahl erheblich zurückgehen , wenn man von der 4,5. bis zur 9. Größenklasse fortschreitet. Die Frage nach dem Vorhandensein einer Lichtabsorption im Weltraum ist von Kapteyn im Januarheft (1909) des Astrophys. Journal gründlich erörtert worden. Nach den bisherigen Sternzählungen müßte eine mit der Entfernung vom Sonnensystem abnehmende Dich- tigkeit der Gestirne angenommen werden , denn die Zahl der Sterne geringster Helligkeit ist nicht so groß, wie bei Annahme einer gleichmäßigen Verteilung zu erwarten wäre. Es ist nun wenig wahrscheinlich, daß sich das Sonnensystem gerade in dem dichtesten Teile des Sternsystems befinden sollte, und darum glaubt Kapteyn schon in dem angegebenen Zahlenverhältnis einen Hinweis auf das Vorhandensein von Lichtabsorption im Welt- raum erblicken zu müssen , zumal die enormen IVIengen meteorischer Massen, die wir überall im Weltall annehmen müssen, von vornherein eine gewisse Lichtschwächung erwarten lassen. Nach früheren Untersuchungen Kapteyn's würde die scheinbare Ausdünnung der schwächeren, ent- fernteren P'ixsterne erklärt sein, wenn die Stcrn- helligkeit für je 33 Lichtjahre Entfernung (ent- sprechend einer Parallaxe von 0,1") um 0,016 Größenklassen durch Absorption geschwächt würde. Wenigstens ist damit die Gröl3enordnung der Weltraumabsorption einigermaßen gekenn- zeichnet. Kapteyn suchte nun nach weiteren, durch die Beobachtungen angedeuteten Hinweisen auf die Weltraumabsorption und glaubt einen solchen darin zu finden, daß im allgemeinen die entfern- teren Sterne im blauen Teile des Spektrums be- sonders geschwächt erscheinen. Wenigstens sind bereits von Miss Maury die der Sternklasse XVa angehörigen Sterne in zwei Gruppen getrennt worden, die sich durch ungleiche Absorption im Violett unterscheiden. Die eine Gruppe, als deren Repräsentant Arctur gelten kann, zeigt geringe Absorption im Violett, während die andere, durch « Cassiopejae repräsentierte , im Violett sehr ge- schwächt erscheint. Kapteyn stellte nun die Eigenbewegungen dieser beiden Sterngruppen zu- sammen und fand für die erste Gruppe (25 Sterne) einen Durchschnittswert von 47", für die zweite dagegen (45 Sterne) nur einen solchen von 11". Dieser Unterschied der Eigenbewegungen deutet natürlich auf eine größere Entfernung der zweiten Gruppe. Wenngleich nun auch diese Tatsachen durch die Annahme begreiflich gemacht werden könnten, daß die helleren Sterne dieses Typus im blauen Teile des Spektrums relativ weniger glän- zend sind, glaubt Kapteyn daraus eher auf meteo- rische Absorption schließen zu sollen, denn diese müßte sich zweifellos vorzugsweise auf die blauen Strahlen erstrecken. Die Frage, ob im Weltraum auch Gasabsorp- tion existiert, wie durch Gasverluste der Sonnen- corona und Kometen erwartet werden könnte, wird durch das Forschen nach Absorptionslinien entschieden werden müssen, die an den durch Bewegung im V^isionsradius bedingten Verschie- bungen der eigentlichen Sternlinien nicht teil- haben. Die Bedeutung dahin zielender Unter- suchungen faßt Kapteyn mit den Worten zusammen : „Im gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft müssen wir die Frage der Unter- scheidung einer Entfernung von 3000 Lichtjahren und einer solchen von 6000 Lichtjahren als prak- tisch unlösbar bezeichnen. Wenn aber der Raum gleichmäßig mit Materie erfüllt ist, muß der Unterschied zwischen der Absorption dieser zwei Klassen von Sternen ebenso groß sein wie zwi- schen Sternen im Abstand Null und in einem solchen von 3000 Lichtjahren." Auch könnte z. B. die vielfach höhere Helligkeit im Blau der Sterne vom zweiten Secchi'schen Typus gegenüber denen des ersten Typus auf Raumabsorption der entfernteren Sterne vom ersten Typus zurück- geführt werden. Über das Vorhandensein von Dispersion im Weltraum äußert sichLebedew im März- heft des Astrophysical Journal in durchaus nega- tivem Sinne. Wie wir in unserem Bericiit N. F. VII, S. 438 erwähnten, glauben Nordmann und Tikhoff auf Grund zeitlicher Verschiebungen des 442 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vni. Nr. 28 in verschiedenen Farben beobachteten Eintritts der Minima einiger veränderlicher Sterne auf eine un- gleiche Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Licht- strahlen verschiedener Wellenlängen, also auf eine Dispersion des den Raum erfüllenden Äthers schließen zu dürfen. Dem gegenüber betont Lebedew, daß die Annahme einer Dispersion des Lichtäthers mit der elektromagnetischen Theorie des Lichts unvereinbar ist, also bei der großen Zahl von Bestätigungen dieser Theorie, die gerade in neuerer Zeit gefunden worden sind, an sich als höchst unwahrscheinlich gelten muß. Unter näherem Eingehen auf die erwähnten Beobach- tungen von Nordmann und Tikhoff zeigt Lebedew dann weiter, daß dieselben weder hinreichend übereinstimmend in den Ergebnissen, noch über- haupt sicher genug sind, um so wichtige Schlüsse aus ihnen zu ziehen. Auch gibt er unter Heran- ziehung der durch Druckdifferenzen bedingten Verschiebung der Spektrallinien in Verbindung mit dem Doppler'schen Prinzip Erklärungsmöglich- keiten für die beobachteten, zeitlichen Differenzen der Minima, die durchaus nur bisher bekannte, physikalische Wirkungen (gegenseitige Beein- flussung der Atmosphären beider Gestirne durch Gravitation usw.) benutzten und daher vorläufig entschieden vorzuziehen seien. Zur Entscheidung der Frage, ob die von Courvoisier vermutete jährliche Refraktion der Fixsterne (als F"olge einer Strahlenbrechung im Weltraum) existiert, hat Jost am Straßburger Meridiankreis absolute Deklinationsbestimmungen einiger Sterne ausgeführt. Drei Sterne zeigten in der Tat eine auch dem Betrage nach mit dem von Courvoisier erwarteten Werteübereinstimmende, positive jährliche Refraktion. Da jedoch ein vierter Stern durch ein negatives Resultat ab- weicht, muß die Frage noch immer als unent- schieden gelten. (Die Abh. von Courvoisier findet sich in den Astron. Nachr. Nr. 3990—91, die von Jost in Nr. 4320.) In dem großen Herkules-Sternhaufen hat Barnard eine große Zahl farbiger Sterne aufgefunden, indem er die in Potsdam hergestellte Aufnahme im Stereokomparator mit einer am Yerkesrefraktor unter Anwendung eines Gelb- filters gewonnenen Aufnahme verglich. Der Stereokomparator war hierbei mit einem Blink- Mikroskop ausgerüstet, das es gestattet, in schneller Folge bald das eine, bald das andere der beiden Bilder abzublenden. Außer 16 blauen Sternen, die auf der Potsdamer Platte heller erscheinen, wurden auf diesem Wege im Sternhaufen auch 30 gelbe Sterne aufgefunden, die auf der Yerkes- Platte heller sind. Die zwei von Bailey in dem- selben Sternhaufen entdeckten veränderlichen Sterne gehören zu der blauen Gruppe. Der blaueste von allen Sternen ist optisch ein sehr schwaches Objekt, während er auf der Potsdamer Aufnahme als der allerhellste Stern des ganzen Haufens erscheint. Nebelspektra sind in größerer Zahl von M. Wolf mit dem Waltz Reflektor des Heidel- berger Observatoriums photographiert worden (Astr. Nachr. Nr. 4305 v. 16. Febr. 1909). Der Nebel N. G. C. 6210 (a ^= 16'' 40™, d := -|- 24**) ergab bereits bei kurzer Expositionsdauer zehn Linien, darunter sechs von den sogenannten Hauptnebellinien, nämlich die bei k = 501 (I), 434 (in = H,), 410 (IV = Ha), 397 (V = H.), 387 (VI) und 373 (VII), außerdem Hj und Linien bei 412, 447 und 496. Die zweite Hauptnebel- linie (k = 469) fehlt dagegen im Lichte dieses Objektes. — Der Ringnebel in der Leyer zeigt die sieben Hauptlinien, sowie die Linie bei A = 496 und Hj, auf panchromatischer Platte sogar auch H„. Die größte Helligkeit zeigt im Ringnebel die Linie VII (373). Geradeso verhält es sich bei den Nebeln N. G. C. 6960 und 6992 im Schwan und bei dem Milchstraßennebel N.G.C. 2023. Ein neues 60-zölliges Spiegelteleskop ist jüngst auf dem Sonnenobservatorium auf Mount Wilson (Verein. Staaten) aufgestellt worden. Das- selbe besitzt als Hauptspiegel nach einer von Ritchey im Astrophys. Journal (April 1909) ge- gebenen Beschreibung einen parabolisch ge- schliffenen Hohlspiegel von 152 cm Durchmesser, 7,6 m Brennweite und 865 kg Gewicht. Die Montierung ist derartig ausgeführt, daß dieser Spiegel auf vier verschiedene Arten aus- genutzt werden kann. Die erste Benutzung ent- spricht der Newton'schen Anordnung mit seitlich angebrachten Okularteilen, d. h. hier einer photo- graphischen Einrichtung oder einem Spektro- graphen. Durch Einschaltung weiterer, teils kon- vex hyperbolisch, teils eben geschliffener Spiegel kann das Instrument jedoch auch in ein Casse- grain'sches und in ein Coude-Teleskop verwandelt werden. Die Brennweite wird dabei auf 24,4 m, 30,5 m und beim Coude sogar auf 45,7 m erhöht. Bei der CoudeEinrichtung wird der Strahlenkegel in das Innere der Stundenachse gelenkt, um alsdann einem großen, auf festen Pfeilern in einem unter- irdischen, auf konstanter Temperatur gehaltenen Raum montierten Spektrographen zugeführt zu werden. Der große Spiegel soll bei Fixstern- beobachtungen durch eine Kühlvorrichtung über Tags auf der für die Nacht zu erwartenden Tem- peratur gehalten werden. Das trotz des durch- brochenen Skelettrohres recht große Gewicht (20838 kg) der zu bewegenden Teile des Instru- ments wird zu 95 "/,, durch Quecksilberverdrängung (1,4 cbm) getragen. Auch der Spiegel selbst ist schwimmend gelagert, so daß Verbiegungen bei verschiedenen Stellungen ausgeschlossen sind. Von der Drehkuppel, in der dieses Instrument aufgestellt ist, ist erwähnenswert, daß sie neben einer schnellen, durch Elektromotor bewirkten EinstellungsBewegung auch noch eine gleichfalls elektrisch betriebene langsame Bewegung besitzt, deren Geschwindigkeit in weitem Bereiche (eine Umdrehung in i — 25 Stunden) variabel ist, so daß die Kuppeldrehung der Azimutalkomponente N. F. VIII. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 443 der täglichen Bewegung des beobachteten Objekts jederzeit durch Stellung eines Handrades genau angepaßt werden kann. Zugleich mit der Kuppel und dem l'"ernrohr wird auch die in der Höhe automatisch verstellbare Beobachtungsplattform der taglichen l^ewegung entsprechend nachgefuhrt. Das Innere der Kuppel soll nach beendeter Nacht- beobachtung bis zum folgenden Sonnenuntergang luftdicht abgeschlossen werden. In Verbindung mit entsprechendem, äußerem Schutz vor direkter Sonnenstrahlung hofft man, die Temperatur- schwankungen innerhalb der Kuppel auf wenige Kleinere Mitteilungen. Zur Physiologie der Akklimatisierung (in den Tropen) hat der erst kurz von P o r t o r i k o zurückgekehrte Prof Dr. O. L o e w , vormals Prof der physiologischen und landwirtschaftlichen Che mie in Tokio, einige selbstcrlebte Beobachtungen publiziert (Münch. med. Wochcnschr. 1908 Nr. 36). Der Menschen- und Tierkörper sieht sich bei einer Wanderung nach den Tropen genötigt, plötzlich seine Wärmeregulierung zu modifizieren, da nun der Wärmeverlust nach außen minimal, ja oft gleich O ist. In trockenheißen Kli- m.aten, die O. L. schon 1875 in den Wüsteneien des südöstlichen Kaliforniens kennen gelernt hat, ist die Akklimatisierung noch verhältnismäßig leicht; anfangs allerdings wirkt auch dieses Klima äußerst deprimierend, der Appetit läßt nach, der Durst macht sich in peinlichster Weise fühlbar und auch nur mäßige Anstrengungen haben be- trächtliche Ermüdung zur Folge, aber nach 12 Tagen schon hält man eine Temperatur von 3 Graden unter der Bluttemperatur für angenehm kühl, wenn sie vorher 8 Grade über der Blut- wärme betragen hatte. Die mittlere Temperatur des Colorado-Tales bei Fort Morhave im südlichen Kalifornien beträgt 34,2" im Sommer, die von Shimmedru in der Sahara nach Rolfs 35''; der Schweiß verdampft in jener trocknen Luft so rasch, daß er sich airf der Haut kaum bemerklich macht. Das getrunkene Wasser (2 — 3 Liter im Tag) geht dort fast vollständig durch Transpira- tion wieder ab. Die Körpertemperatur stieg bei 44" C Tageshitze bisweilen auf 37,4", ja bisweilen sogar auf 37,7" C. Dieselbe Hitze wird übrigens bei größerer Seehöhe leichter ertragen als bei niederer. Die Nahrungsaufnahme war bedeutend vermindert, genossenes Fett schwitzte — wenig- stens teilweise — durch die Haut wieder aus. Ganz anders im feucht heißen Klima kleiner tropischer Inselländer! „Die mit Wasser nahezu gesättigte Luft erlaubt kein rasches Ver- dunsten des Schweißes, dieser bleibt am Körper, er trieft von der Stirne, man greift immer wieder nach dem Tuche, um sich abzuwischen. Das schafft eine ärgerliche Stimmung und vermindert Lust und Liebe zur Arbeit. Alltägliche Bäder sind natürlich unerläßlich. Jene feuchte Hitze Grade reduzieren zu können. Man sieht, daß der Konstrukteur eine große Summe von Mühe dar- auf verwendet, dieses neue Instrument in jeder Hinsicht vollkommen auszustatten, da ja die bloße (iröße noch keine Gewähr für erfolgreiches Ar- beiten bietet. Es ist aber auch erreicht worden, daß das scharfe Bildchen eines Fixsterns im Führungsokular mehrere Minuten lang ohne jedes Zittern genau auf dem Spinnfaden verbleibt. So steht denn zu hoffen, daß man bald von schönen Erfolgen dieses kostbaren Rieseninstruments hören wird. schafft Qualen, von denen man sich selbst bei heißen Sommern in der gemäßigten Zone keinen richtigen Begriff machen kann." Die Tageshitze beginnt in Portoriko schon früh am Tage und dauert bis gegen 5 Uhr, sie steigt noch im Ok- tober und November oft auf 33 — 35*' C, eine Temperatur, welche dort weit lästiger empfunden wird als eine von 44" in der trockenen Luft der Wüste. Die zur Akklimatisation nötige Zeit, d. h. die Zeit, nach welcher man weniger schwitzt als anfangs und mäßige Arbeit nicht sofortigen Schweißausbruch zur Folge hat, auch sonstige Störungen im Wohlbefinden ausbleiben, wird nach der gehaltenen Umfrage auf i — 2 Jahre ge- schätzt; O. L. sah akklimatisierte Leute, welche froren , während er schwitzte. Leute mit relativ geringem Fleisch- und Fettansatz akklimatisieren sich leichter als solche von kräftiger Konstitution. Als Mittel gegen die Qualen empfahl ein in Portoriko angesiedelter Deutscher, täglich eine tüchtige Dosis Rum zu trinken ! Der Akklimati- sierte friert schon , wenn die Temperatur nach heftigen Gewittern 5 — 6* unter die Tagestempe- ratur herabgeht; er muß sich nachts mit wollenen Decken schützen, während der Ankömmling ein Stück Leinwand vorzieht; gut akklimatisierte Leute mögen dann oft in nördlichen Ländern nicht mehr wohnen. Der Neuling aus dem Nor- den nimmt häufig in den ersten Monaten an Ge- wicht ab (in 3 Monaten bis 6 kg), konsumiert große Mengen Wasser, leidet an Diarrhöen, ver- liert seine rote Gesichtsfarbe (selten bleibt sie in Portoriko erhalten) und wird so blaß wie die Eingebornen. Seine geistige Energie erschlafft allmählich. O. Loew berichtet, daß er während seiner Wirksamkeit in Japan einmal den Besuch eines holländischen Chemikers erhalten habe, der 5 Jahre auf Java zugebracht hatte. Derselbe klagte, daß das feuchte Tropenklima ihm nahezu den Verstand geraubt hätte, er habe zuletzt nicht mehr richtig addieren können. In Portoriko muß der nordische Ankömmling zunächst auf jede ge- sunde Bewegung verzichten, da jeder Spaziergang und jede turnerische Übung einem gesteigerten Schwitzbad gleichzusetzen wäre. Selbst der ein- geborne Arbeiter (meist Neger) kann alle seine Arbeit nur langsam verrichten. „Der Weg von meinem Institut zum Hotel, 444 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 28 in dem ich wohnte, betrug kaum 15 Minuten, selbst diese kleine Strecke mußte ich aber zu Wagen zurücklegen , wenn ich zum Mittagessen kommen wollte. Herr Direktor Dr. Dafert in Wien, welcher lange Zeit in Brasilien lebte, schrieb mir unter anderem : ,,nach meinen Erfahrungen nimmt die Widerstandsfähigkeit mit der Dauer des Aufenthaltes eher ab als zu, bei denen, die sich schwer an die Tropen akklimatisieren". Im Innern von Brasilien dürfte jedoch das Klima noch weniger feucht und weniger lästig sein, als auf den von großen Meeresflächen umgebenen kleinen Inseln Westindiens. Ein Amerikaner sagte mir, daß ihm die Akklimatisierung auf den west- indischen Inseln so schwer geworden sei, daß er fürchtete eher zugrunde zu gehen, als sich an das Klima gewöhnen zu können. Es sind ihrer nicht wenige , welche nach einigen Monaten wieder umkehren." Da eine gesundheitsdienliche körperliche Be- wegung, wie Spazierengehen oder Turnen vom Klima versagt wird, so behilft man sich mit Schaukelstühlen. Geht man des Abends, wenn die Tageshitze nachgelassen hat, durch die Straßen einer Ortschaft, so sieht man in jedem Zimmer Schaukelstühle um den Tisch im Zentrum des Zimmers gruppiert und die Insassen sich fleißig schaukeln , wodurch wenigstens die Eingeweide etwas gerüttelt werden. Weiße Kleidung ist all- gemein verbreitet. Leute mit dunkler Kleidung sind in der Regel Ankömmlinge." Da die Nahrung eine Quelle der Wärme und chemischen Energie ist und darin bei gleich- bleibendem Kostquantum im feuchtheißen Klima notwendig ein Übermaß entstehen muß oder auch statt dessen physiologische Störungen eintreten, so ist eine Verminderung der Nahrungsaufnahme, also Abänderung der Diät, nötig. Besonders Fett ist zu vermeiden. Beim Fortgenuß der früheren Ration (an Protein . . .) tritt ein überaus starker Haarwuchs am ganzen Körper ein (Abstoßung von Protein?); andererseits stellt sich trotzdem Abmagerung ein. Venenanschwellungen an den Beinen kommen namentlich bei älteren Einge- wanderten oft vor, was bei trockenheißem Klima nicht beobachtet wurde. Kleine Inseln der Tropen- zone sind bezüglich dieser krankhaften Verände- rungen am meisten zu fürchten. Th. B. Eine unmittelbare Messung der Fallgeschwin- digkeit von Regentropfen verschiedener Größe ist von W. Schmidt mit Hilfe rotierender Scheiben ausgeführt worden (Meteorol. Zeitschr., April 1909). Zwei übereinander in gewissem Ab- stände angebrachte, horizontale Scheiben, von denen die obere einen sektorförmigen Ausschnitt besaß, wurden mit bestimmter Geschwindigkeit zugleich in Drehung versetzt. Die durch den Ausschnitt der oberen Scheibe fallenden Tropfen verursachten auf der unteren Scheibe durch Auf- lösung von Eosin, das auf Fließpapier gestreut war, je nach ihren Dimensionen verschieden große Flecken. Die Falldauer zwischen den Scheiben ergab sich aus der Verschiebung des benetzten, unteren Sektors gegen den oberen Ausschnitt. Durch Mittelbildung aus mehr als 3300 Tropfen gewann Schmidt die folgenden Werte, die in der dritten Spalte mit der von ihm aufgestellten For- mel v = verglichen wurden und 0,00787 0,159 . ~^^ Tr durch dieselbe eine gute Darstellung finden. Tropfenradius Fallgeschwindigkeit m/sec mm beobachtet berechnet 1,75 7-4 8,1 1,0 5,8 6,0 0,5 3.9 3.9 0,3 2,7 2,6 0,2 1,8 1,8 Die an größeren Tropfen beobachteten Ge- schwindigkeiten stimmen gut mit älteren Messun- gen von Lenard überein. Für mittlere Tropfen- größen wirkt vor allem der Luftwiderstand, für kleinere mehr die Reibung hemmend ein. Die Schmidt'sche Formel stellt eine Vereinigung dar der für größere Tropfen meist angenommenen (v = 7,05 jV ) mit der von Stokes für kleinste Tröpfchen entwickelten (v=i27r-). Legt man die Schmidt'sche Formel zugrunde , so würden sich für Nebeltröpfchen die folgenden, durch Be- obachtung freilich noch nicht verifizierten Werte ergeben: berechnete Radius Fallgeschwindigkeit mm m/sec 0,15 I-31 0,1 0,78 0,05 0,26 0,03 0,14 0,02 0,05 0,01 0,013 0,005 0,003 Kbr. Himmelserscheinungen im Juli 1909. Stellung der Planeten: Merkur ist unsichtbar und auch Jupiter wird zu Ende des Monals unsichtbar. Venus ist abends für kurze Zeit sichtbar, am 27. nahe bei Regulus. Mars ist morgens zuletzt 5 Stunden lang sichtbar, Saturn von Mitternacht an. Ein Algol-Minimum findet statt am 14. um 11 Uhr 12 Min. abends. Aus dem w^issenschaftlichen Leben. l'ruf. Dr. Georg von Xeuniayer, der Begründer und langjährige Leiter der deutschen Seewarte zu Hamburg, starb am 25. Mai im 86. Lebensjahre zu Neustadt a d. Hardt. N. war in jungen Jahren praktissher Seemann, gründete 1857 das meteorologische I Ibservatorium in Melbourne und machte während seines Aul'enlhalts in Australien mehrfache Reisen ins Innere. Auf Grund der dabei gesammelten Erfahrungen N. F. Vin. Nr. 2S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 445 verliißte er seine berühmt gewordene „Anleitung zu wissen- schaftlichen Beobachtungen auf Reisen", die 190b unter Mit- wirkung mehrerer jüngerer Gelehrter in dritter Auflage er- scheinen konnte. Musterhaftes leistete v. Neumayer auch auf dem Gebiete des Erdmagnetismus, auch förderte er die Polar- forschuDg aufs lebhafteste. Die 1S75 gegründete deutsche Seewartc leitete er bis 1903. Zoologischer Kursus auf Norderney. — Um Gelegenheit zu bieten, Tiere des Meeres im Leben zu be- obachten und frisch zu untersuchen, wird Professor Dr. H. E. Ziegler in der Woche vom 5. — 11. September auf Norderney einen zoologischen Kursus (Vorlesung und Praktikum) ab- halten, an welchem Studenten, Lehrer und Naturfreunde teil- nehmen können. Vorherige Anmeldung ist erforderlich. Das Programm des Kurses versendet auf Wunsch Emil Lüttig in Jena (Zoologisches Institut). Bücherbesprechungen. Aus Natur und Geisteswelt. Sammlung wissen- schaftlich g:emeinverständlicher Darstellungen. B. G. Teubner, Leipzig. — Preis pro Bändchen geb. 1,25 Mk. 24. Bändchen: Prof. Dr. J. Scheiner, Der Bau des Weltalls. Mit 26 Figuren. 3. ver- besserte Auflage. 1909. Das verdienstliche kleine Buch , das kurz und bei[uem eine treffliche Übersicht über einen wichtigen naturwissenschaftlichen Gegenstand bietet , liegt hier- mit in einer neuen Auflage vor. Verf. hat sich damit begnügt, einige Fehler zu verbessern und neue Ergebnisse tunlichst zu berücksichtigen. 175. Bändchen: Arthur W. Unger, K. K. Prof. in Wien , Wie ein Buch entsteht. 2. Auflage. Mit 7 Tafeln und 26 Textabbildgn. 1909. Wer sich für die Technik bei der Herstellung eines Buches bezüglich Papier , Druck , Ausstattung und Illustrationen interessiert, dem ist die vorliegende Darstellung sehr zu empfehlen ; selbst der buch- händlerische Vertrieb wird von dem Verf behandelt. 231. Bändchen: Dr. Walther May, a. o. Prof. in Karlsruhe, Korallen und andere gesteins- bildende Tiere. Mit 45 Abbild. 1909. Es gibt nicht bloß gesteinsbildende Vegetationen, aus denen z.B. die Steinkohle, Torf u. dgl. entstanden ist, sondern es gibt auch gesteinsbildende Tiere; in vielen Fällen helfen beide Organismengruppen organo- gene Gesteine erzeugen. In dem vorliegenden Buch nun handelt es sich ausschließlich um diejenigen Tiere , welche nicht brennbare organogene Gesteine durch die Anhätifung ihrer Reste zustande bringen oder, wie wir im Gegensatz zu den Kaustobiolithen, (denn brennbaren organogenen Gesteinen) sagen würden, um zoogene Akaustobiolithe. Aber das Buch will kein geologisches, sondern nur ein zoologisches sein, denn es schildert die in Frage kommenden Tiere nach ihrem Bau, ihrer Lebensweise und ihrem Vor- kommen. 240. Bändchen: Dr. Bruno Peter, a. o. Prof. a. d. Univ. Leipzig, Die Planeten. Mit 18 Fig. 1909. Besitzen wir in Scheiner's oben genanntem Buch der Sammlung eine ganz allgemeine Astronomie , so haben wir es in dem vorliegenden Heft mit dem- jenigen Teil der speziellen Astronomie zu tun , der uns als Erdbewohner besonders angeht. Verf. hat nicht bloß den gegenwärtigen Stand unserer Kennt- nisse geschildert, sondern er hat möglichst auch den Weg angegeben, der zur Erkenntnis der Beschaffen- heit der Himmelskörper geführt hat. 245. Bändchen: Dr. Karl Schwarze, Herbert Spencer. Mit einem Bildnis Spencer's. 1909. Es ist sehr dankenswert, daß der Verf. sich der Mühe unterzogen hat, einen Abriß der Philosophie Spencer's zu bieten, da eine Kenntnisnahme seiner Ansichten infolge des beträchtlichen Umfanges der Schriften unseres Philosophen sehr viel Zeit kostet. Es ist ja für Spencer ein besonderes Interesse dadurch vorhanden , daß er in seinen Principles of Biologie namentlich der besonderen Neigung der Biologen, sich mit Evulotionistischem zu beschäftigen, Vorschub leistet. 251. Bändchen : Generaloberarzt Prof Dr. Schum- burg , Privatdozent für Hygiene a. d. Universität Straßburg, Die Geschlechtskrankheiten, ihr Wesen, ihre Verbreitung, Bekämp- fung und Verhütung. Für die Gebildeten aller Stände bearbeitet. Mit 4 Figuren und einer mehrfarbigen Tafel, iqoq. Das vorliegende Büchelchen ist zur Belehrung über seinen Gegenstand außerordentlich gut geeignet. Es ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die der Verf. an der technischen Hochschule zu Hannover gehalten hat, und zwar wohl gemerkt vor Nichtmedizinern. Der gute Eefolg, den Verf. hier gehabt hat, hat ihn veranlaßt , seine Vorlesungen in der vorliegenden Form einem weiteren Kreise zugänglich zu machen. 252. Bändchen: Prof Dr. C. Keller, Die Stammesgeschichte unserer Haustiere. Mit 28 Abbildungen. 1909. Die Gewinnung von Haustieren ist zweifellos ein ganz eigenartiger , sehr interessanter Vorgang und geht auf so alte Zeiten zurück, daß es in manchen Fällen gar nicht mehr möglich ist mit Sicherheit die wilden Tiere anzugeben, von denen die betr. Haus- tiere abstammen. Was wir über diesen Gegenstand wissen, bringt Keller in dem vorliegenden Buche vor. 253. Bändchen: Dr. Richard Goldschmidt, Privatdozent a. d. Univ. München, Die Fort- pflanzung der Tiere. Mit 77 Fig. 1909. Das Kapitel aus der Zoologie, welches das vor- liegende Werkchen für sich behandelt, ist ein be- sonders interessantes und v^fird von dem Verf durch die vielen Abbildungen nahegebracht. Auch hier haben wir es mit der Ausarbeitung eines Zyklus von populären Vorlesungen zu tun. Wissenschaft und Bildung. Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens. Herausgegeben von Privatdozent Dr. Paul Herre. Quelle & Meyer in Leipzig. — Preis pro Bändchen geb. 1,25 ]\lk. Nr. 26: Ernst Mangold, Dr. med. et phil., Privatdozent a. d. Universität Greifswald, Unsere Sinnesorgane und ihre Funktionen. 1 909. Auch in diesem Heft handelt es sich um die 446 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 28 Ausarbeitung von Vorlesungen. Verf. versucht in dem Heft, die Physiologie der Sinnesorgane in einer leicht verständlichen Form darzustellen, imd hat sein Ziel und seine Absicht gut erreicht. Nr. 43 : Dr. Friedrich Neesen, Geh. Reg.-Rat und Prof. a. d. militärtechn. Akademie zu Char- lottenburg und a. d. Univ. Berlin, Hörbare, sichtbare, elektrische und Röntgen- strahlen. 1909. Wie die Biologie unter dem Zeichen des Ent- wicklungsgedankens, so steht die Physik unter dem Zeichen der Strahlen, über deren Natur sich Kennt- nis zu verschaffen daher jetzt allgemeines Bedürfnis ist. Das vorliegende Buch behandelt daher einen zeitgemäßen Gegenstand. Entsprechend den Kreisen, • — sagt der Verf. — an welche die Hochschulkurse sich richten, habe ich mich bestrebt, das behandelte möglichst allgemein verständlich darzustellen. Aber er fügt gleich hinzu: der Laie könne immerhin das Gebiet der Strahlen nicht ohne geistige Arbeit durch- wandern. Nr. 65: Dr. Arthur Menzer, Oberstabsarzt und Privatdozent (. innere Medizin a. d. Univ. Halle, Der menscli liehe Organismus und seine Gesunderhaltung. Mit 48 Fig. und einer Tafel in Buntdruck. 1909. Auch in dem vorliegenden Heft haben wir es mit der Wiedergabe von populären Vorträgen zu tun. Verf. will das Verständnis für eine gesundheitsgemäße Lebensweise in weiteren Kreisen anregen. Demgemäß geht er zunächst auf Hau und Funktionen des mensch- lichen Körpers ein , um zu dem Verständnis seines eigentlichen Themas zu führen. Nr. 66: Dr. Curt Hennings, Privatdozent der Zoologie an der techn. Hochschule zu Karlsruhe, Die Säugetiere Deutschlands, ihr Bau, ihre Lebensweise und ihre wirtschaft- liche Bedeutung. Mit 47 Fig. und einer Tafel. 1909. Nachdem der Verf. den Bau und die Tätigkeit des Säugetierkörpers allgemein besprochen hat, geht er in fünf weiteren Kapiteln der Reihe nach ein auf die Fledermäuse, die Kerfjäger (Maulwurf, Spitzmäuse, Igel) , die Nagetiere , die Raubtiere und endlich die Huftiere. Sammlung Göschen. Leipzig, G. J. Göschen'sche Verlagshandlung. — Preis pro Bändchen geb. 80 Pf. Nr. 98 : Prof. Dr. G. F. Lipps in Leipzig, Grundriß der Psycho physik. 2. neu be- arbeitete Auflage, 1909. Verf. hat die Neuauflage revidiert und verbessert; er stellt dem naiven Verhalten des Menschen das kritische gegenüber, das freilich seiner Meinung nach in der Unterscheidung zwischen der subjektiven Wahrnehmung und dem objektiven Wesen der Dinge besteht. Auf jeden Fall aber ist das Heft ausge- zeichnet geeignet zu zeigen, wie die heutige Psycho- physik vorgeht und was sie behandelt. P. Bibliothek der gesamten Technik. Dr. Max Jänecke, Hannover. Band 82. A. Haenig, Die Steinkohle, ihre Ge- winnung und Verwertung. 8". 329 pp., 12g Abb. Hannover 1908, Dr. Max Jänecke. — Preis 4,60 Mk., geb. 5 Mk. Das Buch gibt eine recht brauchbare Übersicht über das Gebiet. In dem einleitenden allgemeinen Teil wird über die Entstehung, die Flora, die Geo- logie usw. der Kohlenlager das Wichtigste mitgeteilt; wenn Verf. als Literaturunterlage B ö 1 s c h e , Im Steinkohlenwald, zitiert, so sei hier dazu bemerkt, daß dieses Buch nur eine Kompilation auf Grund der LTntersuchungen anderer bildet. Recht dankens- wert ist auch in diesem Teil die kurze Zusammen- stellung über die wichtigsten Kohlenbecken Europas, sowie die dann folgenden Tabellen über Zusammen- setzung, Eigenschaften, spezielle Verwendung einer ganzen Reihe von Kohlensorten aus den verschieden- sten Gegenden. Ein paar Worte hätten wohl auch den wichtigsten außereuropäischen Kohlenbecken ge- widmet werden dürfen (Amerika, China besonders). Den Hauptteil des Buches nimmt natürlich die technische Seite des Steinkohlenbergbaues ein. Über die Gliederung des Inhalts dieses Teiles gibt am besten ein Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis Aus- kunft; auf Einzelheiten dieses ebenfalls vortrefflichen Teils kann hier ja schon darum nicht weiter einge- gangen werden, weil er der Naturwissenschaft ferner liegt : I. Schürf- und Bohrarbeiten (hierunter auch : Tiefbohrung) ; II. u. III. Schachtabteufen (im Kohlen- und Deckgebirge) ; IV. Schießarbeit (Bohrmethoden, Sprengstoffe usw.); V. Ausbeutung der Flötze (Vor- richtungs- und Abbauarbeiten; Förderung, Vt'asser- haltung, Wetterführung, Rettungswesen usw.). Ein Schlußteil behandelt die industrielle Verwertung der Kohle (mit Ausschluß der Nebenproduktengewinnung), nämlich Kokerei, Brikettierung; ferner wird über Wertbestimmung der Kohle und die Statistik des Kohlenmarktes einiges geboten. Ein Register und Abbildungsverzeichnis beschließt das Buch. W. Gothan. Prof. Dr. E. Ziegler, Zoologisches Wörter- buch. Erklärung der zoologischen Fach- ausdrücke. Verfaßt von Breßlau, Eichler, Fraas, Lampert, Heinrich Schmidt und Ziegler. 3. Lieferung. (Schluß) P—Z. Mit 158 Abbild. Jena, Gustav Fischer, 1909. — Preis 3 Mk. Mit dieser Lieferung schließt das verdienstliche, handliche Werk von 645 Seiten ab. Es ist typo- graphisch sehr geschickt gemacht, was bekanntlich bei allen Wörterbüchern von besonderem Wert ist, die auch hinsichtlich der gewählten Lettern so be- schaffen sein müssen , daß das Gesuchte schnell zu sehen und zu finden ist. Kurz und bündig finden sich die gangbaren und auch seltener gebrauchten Termini in dem Buche registriert. Bei dem Schwelgen in dem Gestalten neuer Termini, wodurch die letzten Jahrzehnte besonders ausgezeichnet waren , ist der Besitz eines Nachschlagewerkes wie des vorliegenden jedem Naturforscher angenehm. N. F. VIII. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 447 1) Ür. E. Jacob, Der Flug ein auf der Wirkung strahlenden Luftdrucks beruhender Vorgang. 115 Seiten mit 4 Figurentafeln. Kreuznach, 1908. 2) K. Milla, Wie fliegt der Vogel? 28 Seiten mit 12 .\bbild. Leipzig. B. G. Teubner, 1908. — Preis I iMk. 3) Ing. Fr. Rost, Flugapparate. Band 112 der Bibliothek der gesamten Technik. 64 Seiten mit 31 .Abbild. Hannover, Dr. ÄL Jänecke, 1909. — Preis 1,20 Mk. 4) G. Korf, So werden wir fliegen! Mit einem II. Teil; Wenn wir fliegen. 87 Seiten mit 19 Abbild. Oranienburg, Orania- Verlag, 1909. — Preis 1,50 Mk. Die „Aviatik" ist der jüngste Zweig angewandter Wissenschaft und hat bekanntlich gerade im letzten Jahre so erhebliche Erfolge zu verzeichnen gehabt, daß sich mit Recht das allgemeine Interesse diesem Gebiete in sehr verstärktem Maße zugewendet hat. Die obigen Schriften werden darum auch in weiteren Kreisen gewiß Anklang finden und zum Nachdenken über das immer noch nicht endgültig gelöste Flugproblem anregen. Der Verf von Nr. i ist bereits seit 1893 für dieses Problem interessiert und hat zu Lebzeiten Lilienthals eine Anzahl hierauf bezüglicher Aufsätze in der Zeitschrift für Luftschiff- fahrt veröffentlicht. Die vorliegende Schrift gibt die Ansichten des Verf. , wie sie sich unter Benutzung gewisser Experimente (z. B. Wägungen einer schwir- renden Fliege) herausgebildet haben , in geordnetem Zusammenhange. Verf. bekennt sich als Gegner der Theorie vom Luftwiderstande und behauptet, daß in- folge der dynamischen Wechselwirkung zwischen Flügel und Luft Kräfte entstehen, die auch beim Aufschlag des Flügels von unten nach oben gerichtet sind und das Fliegen sonach auch in dieser Phase unterstützen. Näheres muß in der allgemeinverständ- lich gehaltenen Schrift nachgelesen werden. Der Verf. des unter 2) genannten Aufsatzes schreibt dem Gegenwinde die wichtigste Rolle bei dem Schwebeflug zu, so daß die Vögel bei Wind- stille gezwungen sind, zum Abflug einen hochgelege- nen Platz zu erklimmen oder durch andere Mittel jene Eigengeschwindigkeit erlangen müssen, die Auf- trieb und somit Schweben gewährleistet. Auch die Frage des Steuerns wird erörtert und über die Flug- arbeit werden einige Berechnungen angestellt. 3) Das Heft über Flugapparate behandelt nur die, welche „schwerer als Luft" sind, ausführlich und gibt nur zu Vergleichszwecken am Schluß einige Daten über die neueren Lenkballons. Nach Angabe der zum Verständnis der Flugapparate nötigen For- meln und theoretischen Erwägungen werden die ver- schiedenen Typen von Flugmaschinen genauer be- schrieben, nach den Drachenfliegern von Farman, Delagrange und Wright beschreibt Verf. auch nach eigenen .Angaben entworfene Ruderflieger, die im Modell gut funktioniert haben sollen, aber ihre eigent- liche Erprobung wohl noch vor sich haben. 4) Verf sucht durch eine Reihe interessanter und durch .\bbildungen unterstützter Betrachtungen über den Vogelflug den Glauben zu verteidigen , daß es dem Menschen einst gelingen werde, wie ein Vogel mit künstlichen Flügeln, aber ohne Motoren oder Gasballons zu fliegen. Mehr wie ein schöner Glau- ben ist dies allerdings nicht, man müßte denn meinen, daß mit dem Ausspruch ,, Flugkraft ist umgewandelte Schwerkraft" irgendeine Erkenntnis gewonnen ist. Verf. ist ein begeisterter Anhänger von Buttenstedt's „Horizontal-Schwerkraftsspannungstheorie", deren We- sen uns aber aus seinen Ausführungen nicht klar geworden ist. Im zweiten Teile der Schrift ergeht sich der Verf. in Träumen a la Bellamy, die uns zeigen sollen , wie das Menschenleben sich im Zeit- alter des allgemeinen Flugvermögens abspielen wird. Kbr. Literatur. Migula, Forstakad.-Prof. Dr. W. : Deutsche Moose u. Faroe. Mit 50 Abbildgn., nach der Natur gezeichnet vom Verf. I.— 6. Tausend. (VII, 141 S.) Stuttgart '09, Strecker & Schröder. — I Mk., geb. 1,40 Mk. Oppenheimer, Prof. Dr. Carl: Grundriß der organischen Chemie. 0, Aufl. (VIII, 137 S.) kl. 8". Leipzig '09, G. Thieme. — Geb. 2,So Mk. Ostwald, Wilh. ; Große Männer. (IX, 424 S.) gr. 8". Leipzig '09, .\kadem. Verlagsgesellschaft. — 14 Mk., geb. in Leinw. 15 Mk. Süßwasserfauna, die , Deutschlands. liine E.xkursionsfauna, hrsg. V. Prof. Dr. Brauer. 8°. Jena '09, G. Fischer. m. Heft. Nematodes, Mermilhidae u. Gordiidae. Mit 155 Fig. im Te.xt. (V, 92 S.) — 1,80 Mk., geb. 2,20 Mk. Heft I — 14 sind noch nicht erschienen. Urban, Ferd. : Die Calcarea. Mit Taf. 1 — 6. (S. 1 — 40 m. 6 Bl. Erklärungen.) Jena '09, G. Fischer. — Subskr.-Pr. 12,50 Mk., Einzelpr. 15 Mk. Wanderer, Dir.-Assist. Dr. Karl; Die wichtigsten Tierver- steinerungen aus der Kreide des Königr. Sachsen. (XXII, 81 S. m. II Abbildgn., 12 Taf. u. 12 Bl. Erklärgn.) 8». Jena '09, G. Fischer. — Geb. in Leinw. 3 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn Gl. B in Z. — M a r i e n p f 1 an zen. Die Zahl der Pflanzen, die nach der Jungfrau Maria benannt sind, ist eine sehr große. Die deutschen Namen dieser Art findet man in Pritzel und Jessen, Die deut- schen Volksnamen der Pflanzen, 1882— 84. A. von P erger gibt in seinem schönen Werke: ,, Deutsche Pdanzensagen" (Stuttgart 1S64) S. 69 eine kurze Übersicht der bekanntesten Namen dieser Art. Ebenso findet man bei A. de Guber- natis (Mythologie des plantes ou les legendes du regne ve- getal, Paris 1878; 2 Bde.; ein für folkloristische Studien un- entbehrliches, sehr reichhaltiges Werk) Bd. I, S. 215 eine Zusammenstellung der nach „Madone, Marie" benannten Pflanzen. Unter der älteren Literatur ist besonders wichtig: J. Bau hin, De plantis a divis sanctisve nomen habentibus (Basel 1591); bei der Benutzung dieses vorlinneischen Werkes ist natürlich zu beachten, daß die Nomenklatur dieses Autors mit der heute üblichen meist nicht übereinstimmt, so daß eine Übertragung seiner Namen in die moderne Benennungsweise nötig ist. Von sonstigen Werken seien noch erwähnt: Fr. von K ob eil, Über Pflanzensagen und Pflanzensymbolik (München 1S75); C. Rosenkranz, Die Pflanzen im Volks- aherglauben (Kassel 1893); Frank-Leunis, Synopsis der Pflanzenkunde, 3. Aufl. (1883— 1886) ; Warnke, Die Pflanzen in Sitte, Sage und Geschichte (Leipzig 1878); Bowitsch, Mariensagen (Leipzig, Reclam). In neuester Zeit ist Dr. Heinrich Marzell (München) eifrig bemülit, die einheimi- schen Pflanzennamen Mitteleuropas zu sammeln; er ist der Verfasser der betreffenden Abschnitte in Hegi's schöner ,,lllustr. Flora von Mitteleuropa", die jetzt im Erscheinen be- griffen ist. Seine Bestrebungen zur Sammlung dieser Namen und der auf sie bezüglichen Gebräuche und Legenden ver- 448 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. Vm. Nr. 28 dienen die allgemeinste Beachtung und sollten von allen unterstützt werden, die dieser Seite des Volkslebens Verständ- nis entgegenbringen; handelt es sich doch um Dinge, welche nur allzusehr dem Verfall geweiht sind, aber in gleicher Weise für Kulturgeschichte und Sprachforschung von nicht zu unter- schätzender Bedeutung sind. Im folgenden gebe ich einige Beispiele von Pflanzen- namen, die sich auf Maria beziehen. Manche dieser Namen kehren in entsprechender Form in mehreren christlichen Län- dern wieder; es müßte wohl noch weiter geprüft werden, wie weit im einzelnen Fall ihre Verbreitung reicht. In einer An- zahl von Fällen läßt sich nachweisen, daß die Mutter Gottes an die Stelle heidnischer Göttinnen getreten ist, nach denen diese oder jene Pflanze vor Einführung des Christentums ge- nannt wurde. Im graeco-latinischcn Sprachgebiet war es die jungfräuliche Athena (Minerva), deren Erbschaft Maria an- trat (siehe darüber Gubernatis, 1. c. I, 243), bisweilen auch war es Venus. Bei den Germanen (besonders den Skandinaviern) ist Freya die Vorgängerin der heiligen Jung- frau (siehe Nork, Mythologie der Volkssagen). Eine der- artige Ersetzung heidnischer Gottheiten durch biblische Per- sonen kehrt mehrfach wieder; so hebt Nork hervor, daß im Falle IhipiricKtii, einer Staude, an der man einst Baldrs Blut zu sehen glaubte, an Stelle des nordischen Gottes Johan- nes trat (Johanniskraut), indem man sich an das blutende Haupt des Täufers erinnerte. — Das Farnkraut Polypodium vulgare heißt in Norwegen Marie bregne. In Deutsch- land (nach G.) soll der Glaube existieren , es sei aus der Milch der Jungfrau entsprossen. Adiantum (capillas Ve- n/iis) heißt nach Perger Unserer lieben Frauen Haar. — Mariengras [Hierochlot odorata); nach Ascherson- Graebner (Synops. mitteleurop. Fl. II, 28) hauptsächlich bei den slawischen Völkern, seltener in Deutschland, nach der Jungfrau Maria benannt, z. ß. polnisch Panny Maryi trawa; auch im finnischen, norwegischen und schwedischen gibt es entsprechende Bezeichnungen für dieses Gras. Das bekannte Zittergras {Briza media] wird in einigen Gegen- den (siehe Hegi, 1. c. 293) mit Maria in Verbindung ge- br.acht (z. B. Mu ett ergo ttesh aar). Das tropische, im Süden Europas kultivierte Gras Coix lacryma Jobi heißt nach den Tränen Hiobs; die eigentümlichen Fruchtgehäuse wurden mit versteinerten Tränen verglichen und sollen aus den Tränen Hiobs oder anderer biblischer Personen entstanden sein; bis- weilen nennt man das Gras auch Marientränengras (in Brasilien: Lagrimas de Nossa Senhora). — Unter den Gräsern ist noch zu nennen Marien flachs [Stif>a peiiiiata, Liebfrauenhaar); ebenso wird übrigens anderswo das Leinkraut {/Jnaria) bezeichnet. — Die bekannte schöne Orchidee Cypripedium caiceohis (Frauenschuh, Marien- schuh) heißt bei De l'Obel Cakeolus Mariat, im franz. Sabot de la vierge (Ascherson-Graebner, 1. c. III, 614). Muttergotteshändchen (auch Marienhand, Unserer lieben Frauen Hand, nach Perger; Jungfru Marie hand im schwed.) nennt man auch die bandförmig geteilten Knollen mancher Knabenkräuter (z. B. Orchis macidata). Im Volksaberglauben spielen diese Knollen eine Rolle. Sie wer- den in manchen Gegenden unter dem Namen Glü cks h an d - chen (radix palmae Christi) am Johannistage gegraben und aufbewahrt, da sie Glück bringen und Schätze heben sollen (vgl. Frank-Leunis). Nach Rosenkranz (a. a. O. 401) weihten die alten Deutschen die gefleckte Orchis der Göttin Frigga (Freia), und nannten sie wohl Friggagras. In christlicher Zeit nannte man dann (nach demselben Autor) die Art Mariaträne oder ,, unserer li eben Frauen Zähre", denn man erzählte, die auf den Blättern vorkommenden dunkleren Punkte seien durch die heißen Tränen entstanden, die die Mutter Jesu unter dem Kreuze weinte. — Guber- natis (1. c. U, 324") bezieht den Namen „Maria's Hand" auf die Rose von Jericho (Aiiastatica hieroc/ninliea), die nach ihm in Italien (Bologna) den Namen „rose de la madone" führt; sie soll die Geburt erleichtern. Herbe de la Madone heißt nach Gubernatis in Italien eine kleinblättrige, fast wurzellose Sukkulente (Parictarial), die man am Himmelfahrtstage sammelt und bis zum Geburts- tage der Maria (8. September) an der Wand des Schlaf- zimmers aufhängt. Sie bleibt in diesem Zustande meist in Blüte, und dieses Blühen einer abgeschnittenen Pflanze ist im Volksglauben eine durch den Segen der Maria hervorgerufene Erscheinung. Vertrocknet die Pflanze, so bedeutet das Un- glück. — Marienröslein [Lychnis] — Marienmantel oder Frauenmantel (Akhejnilla); die zusammengelegten Blätter wurden in poetischer Übertragung mit dem falten- reichen Mantel der Maria verglichen, wie er sich schützend auf alten Bildwerken über den Betenden ausbreitet (Stras- burger in Naturw. Wochenschr. 190S1 S. 50). — Riibus saxatilis heißt im schwed. (nach Wahlenberg) Jungfrubär, Mariebär. — Die Preißelbeere (l'accinium vitis idaea) wird (nach Perger, 1. c. S. 220) oft zum Schmuck von Heiligenbildern und Kränzen verwendet. Eine Sage erzählt, daß einst ein frommer Klausner die heilige Maria um Obst für die armen Bewohner des Gebirges anflehte. Da nahm Maria den Kranz ab, der ihr Haupt schmückte, löste ihn auf und streute ihn über die Berge, auf denen nun diese Beeren so reichlich wuchsen, daß sich die Hügel zweimal im Jahr, nämlich im August und Oktober röteten. Daher heißt der Strauch auch Liebfrauenstrauch, Marienpalm, und die Beere Muttergolteskirsche. — Marienschlüssel [Prinnila). — Marienhandschuh [Cyclameii, Erdscheibe, nach Perger). — Marienweiß (Schnee-Enzian). — Marien- flachs, Frauenflachs [Litiaria). Im schwed. (nach Wahlenberg) nennt man Polygala vulgaris Jungfru Marie Lin (oder Hör). — Marieken-Bettstroh, Lieb fr auen- b e 1 1 s t r o h ( Galitim verum). Den Namen Unserer lieben Frauen Bettstroh (entsprechende Bezeichnung auch im schwed.: Jungfru Marie sänggräs) erhielt diese Art von dem frommen Glauben der Landleute, daß die Mutter^ Gottes aus dem Kraute sich ihr Lager und für das Christkind das Wiegensäcklein bereitet habe, weshalb dieses Kraut auch wohl zum untadelhaften Krautwische oder Weihbunde gehört, wel- ches am Feste Maria-Krautweihen in katholischen Kirchen geweiht wird (nach Frank-Leunis). — Marienveilchen [Campamiia), auch Ma r i en gl o cke [Campaimla medium). — Marienblümchen {Bellis pereimis); eine hübsche Legende erzählt C. Rosenkranz, Die Pflanzen im Volksaberglauben (1893) S. 387. Marienblatt, Frauenminze (Tanacelum balsamila). Mariendistel, Frauendistel [Silybum Ma- riaiium); nach der Legende fielen Tropfen von Mariens Milch auf diese Pflanze und bewirkten die milchweiß gefleckten Blätter (Frank-Leunis, p. 722). Marien kraut {Arnica montaua). Herbe de Sainte-Marie heißt (nach G.) in Italien Matricaria parthenium L. {Chrysanthemum parlheiiium Beruh., Mutterkraut); dieselbe Art war zu Athen der Athene geweiht. Es gibt eine große Zahl von Marienlegendeu, die sich auf bestimmte Pflanzen beziehen, ohne daß dabei die Pflanze eine Bezeichnung erhielt, die auf die heilige Jungfrau hin- weist. Die Rose als Sinnbild der Reinheit und Unschuld tritt wiederholt im Marienkult auf. Dann ist zu nennen der Wach holder {gencvrier), der Maria und das Christkind auf der Flucht vor den Soldaten des Herodes geschützt haben soll; der Himmelbrand [Vcrbaseum . Königskerze), den Maria in der Hand trägt, wenn sie hilfreich wandelt. Auch an manche Bäume, wie die Eiche, den Lorbeer usw. knüpfen sich Marienlegenden. Wiederholt findet man die Sage von Marienbildern, die in Bäumen, z. B. Tannen, Lärchen, Buchen, eingewachsen gefunden wurden. Genaueres siehe in der genannten Literatur. H. Harms. Inha Its Prof. Dr. Ernst Küster: Über die experimentelle Erforschung des Zellcnlebens. - Sammelreferate und Über- sichten : F. Koerber: Neues aus der Astronomie. — Kleinere Mitteilungen: Prof. Dr. O. Loew: Zur Physiologie der Akklimatisierung. - W. S c h m i d t : Fallgeschwindigkeit von Regentropfen. - Himmelserscheinungen im Juli 1909. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen; Aus Natur und Geistcswclt. — 1 rot. Ur. u. Ziegler: Zoologisches Wörterbuch. — Sammel-Keferat. — Literatur: Liste. - Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H, Potonie, Groß-Lichtcrfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue h'olge VIll. Hand; der g:inzeii Keihe XXIV. Bau*i. Sonntag, den i8. Juli igog. Nummer 2i). Die Südpolarkontinenttheorie nebst Bemerkungen über tiergeographische Verhältnisse auf der Südhemisphäre. [Nachdruck verboteu. Von Prof. H. Kolbe, Berlin-Gr.-Licliterfeldc. In den Ländern rings um den Nordpol gibt es bekanntlich sehr viele gemeinsame Tier- und Pflanzenarten. Schon unter den größeren und größten Mammalien des nördlichen Nordamerika finden sich manche Arten, die in gleichen oder sehr nahestehenden Formen auch in Nord- und teilweise in IVIitteleuropa leben, z. B. Arten der Gattungen A/ct's (Elch), Cerviis (Hirsch), Rangif er (Renntier), Bison (Bison, Wisent), Canis (Wolf, Fuchs), Lynx (Luchs), Ursus (Bär), Tluüasscxrctos (Eisbär), Meles (Dachs), Arctoniys (Murmeltier), Castor (Biber) usw. Die Zahl der gemeinsamen Tierarten aus an- deren Ordnungen und Klassen, besonders aber den Spinnen und Insekten, ist eine sehr viel größere. Zur Erklärung dieser Tatsache wird für eine frühere Zeitperiode, die wahrscheinlich der Glazial- periode voranging, ein Zusammenschluß der Kon- tinente rings um den Nordpol angenommen. Es ist nicht nötig, einen solchen Zusammenschluß für die ganze Breite dieser Kontinente im Atlantischen und Pazifischen Ozean zu beanspruchen. Es reicht aus, eine kontinentale Verbindung in den höchsten Breiten hypothetisch anzunehmen. Eine Ausbrei- tung der Lebewesen auf dem Landwege über das holarktische Gebiet war alsdann möglich. Denn die Klimafrage ist für eine frühe präglaziale Zeit (Tertiärperiode) der arktischen Region ge- löst, seit wir aus den geologisch-paläontologischen Befunden, die wir bereits früheren arktischen Expeditionen verdanken, wissen, daß während einer älteren Epoche der Tertiärperiode Island, Grönland, das arktische Kanada, Spitzbergen, die Bäreninsel usw. von Wäldern mit reichhaltiger und mannigfaltiger Vegetation bedeckt waren. Das Klima dieser Länder und Inseln war also früher milde oder wenigstens ein sehr gemäßigtes. In Grönland reichte der üppige Pflanzenwuchs bis zum 79". Die Waldflora des hohen Nordens be- stand aus Arten der Gattungen Querctis (Eiche), Fagus (Buche), Acer (Ahorn), Populiis (Pappel), Platamis (Platane), Hedera (Efeu), Seqiioia, Taxo- diiun etc. (Nadelholz), sowie vieler anderer Dico- tyledonen und Monocotyledonen. Diese Hora, die vielleicht älter als mitteltertiär war, glich außerordentlich der mitteleuropäischen Waldflora der mittleren Tertiärzeit (Miozänepoche). Aus diesen floristischen Verhältnissen im ark- tischen Gebiete während der Tertiärzeit geht her- vor, daß wir Grund genug zu der Annahme haben, daß ein reiches Tierleben sich über die Polarländer hin von Europa und Asien nach Amerika und umgekehrt verbreiten konnte, wenn dort kontinentale Verbindungen vorhanden waren. Der französische Geologe de Lapparent, der jüngst verstorben ist, war der Ansicht, daß große Landsenkungen im nördlichen Atlantischen Ozean am Ausgange der Tertiärperiode, und zwar am Ende der Pliozän- und während der Pleistozän- zeit stattfanden, infolgedessen Europa und Amerika getrennt wurden. Interkontinentale Verbindungen scheinen zwischen Skandinavien, den Färöer-Inseln, Schottland, Island und Grönland bestanden zu haben. Wahrscheinlich bestanden auch kontinentale Beziehungen zwischen Nordost-Sibirien und Alaska. Es liegt also nicht so fern ab, die Bedingungen für die ehemalige Existenz eines großen zu- sammenhängenden nord polaren Zen- trums, welches für die Ausbreitung von Tieren und Pfl anzen über die Kontinente der Ost- und Westhemisphäre geeignet war, als ge- geben zu betrachten. An den Nordpolarkontinent zweifelt wohl niemand mehr. Auch an den Südspitzen der Kontinente der Südhemisphäre gibt es unter den Gattungen der Tiere viele Hinweise, die einen gewissen Grad von Gemeinschaft und näherer Blutsverwandtschaft wahrscheinlich machen. Manche Gruppen und Gattungen verschiedener Tierordnungen der süd- lichsten Teile Südamerikas (Archiplata), Afrikas nebst Madagaskar und Neuhollands nebst Neusee- land zeigen gemeinschaftliche nahe Verwandt- schaft. Diese Tatsache legt in entsprechendem Sinne die Annahme nahe, daß auch im polaren Gebiete früher kontinentale Verbindungen zwischen den jetzt vorhandenen Kontinenten bestanden haben. Die einfache Annahme eines antarktischen Kontinents (Antarktis), dessen Ausläufer teils mit dem Südende Amerikas und mit Südafrika, teils mit Madagaskar, Australien und Neuseeland zu- sammenhängen mußten, gleichgültig ob mit allen diesen Ländern zu gleicher Zeit oder mit den verschiedenen Kontinenten und Inseln zu ver- schiedenen Zeiten, genügt aber nicht. Denn die gegenwärtigen klimatischen Verhältnisse im ant- arktischen Gebiete sind für das Gedeihen von terrestrischen F"aunen und Floren so ungünstig wie nur möglich und viel ungenügender als im hohen Norden des Nordpolargebietes, wo in Grinnell-Land noch in der Gegend des 81^ Tag- schmetterlinge aus den Gattungen Colins, Argyn/ns, Lycaena und andere Insekten fliegen. Wir mußten demgemäß zu der weiteren Hypothese schreiten, 450 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 29 daß das Klima der Antarktis in geologischer Zeit warm gewesen sein müsse. Dieser Hypothese bedürfen wir aber nicht angesichts der Tatsache, daß auf Grund der neuesten Entdeckungen, die wir der schwedischen Südpolar-Expedition unter O. Nordenskjöld (1901) verdanken, Beweise dafür vorliegen, daß das antarktische Klima (ähn- lich wie am entgegengesetzten Erdpole) während einiger geologischer Zeiträume ein warmes war. Die genannte schwedische Expedition besuchte auf dem Schiffe „Antarctic" die südlich von Feuer- land liegende Süd-Shetlandgruppe, wo jetzt ein Klima von besonderer Strenge herrscht; denn die mittlere Tagestemperatur beträgt — 30" bis — 40" C. Es herrschen dort eisige Stürme von furchtbarer Gewalt. Zwischen dem 64. und 66. Grade wurde eine lange Küstenstrecke festgestellt, welche zu König Oskars-Land gehört. Das Südpolarland reicht also weiter hinauf (bis zum 64. Grade), als bisher angenommen wurde. Hier wurden große Massen interessanter fossiler Pflanzenreste (zum ersten IVIale aus dem Südpolargebiete) aufgefunden, und zwar aus Gattungen, die einen gewissen Wärmegrad fordern. Auch Reste von Meeres- tieren fanden sich dort. An den Küstenländern des Südpolarkontinents, wo jetzt unter ewigem Eise alles vegetabilische Leben erstorben ist, herrschte also früher (es war während der T e r - tiärzeit) ein mindestens gemäßigtes Klima mit reicher Vegetation : Nadelhölzer von der Gattung Araucaria, wie in Südbrasilien und Chile; auch Laubhölzer von südamerikanischem Typus. An- dere abweichende Gattungen fanden sich in Ab- lagerungen aus der Juraperiode, besonders abweichende Gattungen, von australischem Typus, die auf ein warmes Klima hinweisen. Die meisten Pflanzenreste wurden auf dem Vorgebirge der Seymourinsel gefunden.') Auch an anderen Orten der Südpolargegend wurde auf weite Strecken hin, und zwar südlich vom Indischen Ozean in der Gegend des Polar- kreises, Festland festgestellt, nämlich von der Deutschen Südpolar-Expedition unter E. v. Dry- galski auf der ,,Gauß". Außerdem ist noch in anderen Gegenden der Antarktis Festland anzu- nehmen, nämlich im Westen und Osten von Viktorialand, auch im Innern (Shackleton, 1909). Es scheint demnach , daß noch gegenwärtig der antarktische Kontinent existiert. Also auch für die Annahme eines südpolaren Verbreitungsgebietes sind die Bedingungen gegeben. Hypothetisch sind nur die kontinen- talen Verbindungen des Südpolarlandes mit den nächsten Kontinenten. Gegebenen Falles ist natürlich gar nicht mehr die Frage aufzuwerfen, ob die Verbreitungswege über den Südpolarkon- tinent benutzt worden sind oder nicht. Das von einem wahrscheinlich milden oder wenigstens ge- mäßigten Klima begünstigte und in entsprechend guter Vegetation prangende Land der Südpolar- region war für eine Besiedelung mit Tieren vieler Arten sicher sehr geeignet. Zu einem für die Annahme einer kontinentalen Verbindung zwischen dem Südende Südamerikas und Neuseeland-Neuholland wichtigen Schlüsse kommt Ort mann') bei seinen Untersuchungen von unter miozänenMeeresablagerun gen Patagonien s. Es stellte sich dabei heraus, daß die in diesen Ablagerungen enthaltenen Mollusken nahe verwandt sind mit solchen, welche aus chile- nischen, neuseeländischen und australischen Sedi- menten bekannt sind. Er stellte dabei fest, daß diese Mollusken -Arten einer litoralen P'auna angehört haben. Die patagonisch-chilenischen Mollusken jener Tertiärepoche konnten sich daher nur an den Küsten entlang von Chile- Patagonien bis Neuseeland- Au stralien verbreiten. Diese Küste muß dem Südpolarkon- tinent angehört haben. Vielleicht lag diese Küste südlicher als die direkte Linie zwischen den Süd- spitzen der genannten Kontinente. Jedenfalls ist hiermit eine Landbrücke zwischen diesen Kon- tinenten gegeben, die eine Verbreitung und einen Austausch von Landtieren zwischen Südamerika und Australien möglich machte. Daß noch die jetzige Fauna Australiens teilweise sehr nahe und exklusiv verwandt mit derjenigen Chiles und Patagoniens ist, darüber werden unten weitere Mitteilungen folgen. Wie wir uns die warme Klimazone der Polar regionen, welche die Entwicklung eines derartigen Landlebens ermöglichte, erklären können, das habe ich einer Abhandlung im vorigen Jahre darzulegen versucht.'-) Ich nehme eine Ände- rung der Stellung der Rotationsachse der Erde zur Ebene ihrer Bahn an, in der Weise, daß daraus eine Verschiebung der Pole folgte. Vielleicht wurde die Stellung der Rota- tionsachse beeinflußt durch gleiche oder ungleiche Gewichtsverteilung der Erdmassen infolge einer gleichmäßigen oder ungleichmäßigen Verteilung der Kontinentalmassen an der Oberfläche. Unter dieser Annahme würden bei einer zur Erdbahn senkrechten oder von der senkrechten wenig ab- weichenden Stellung der Rotationsachse die Klimate andere sein als bei der gegenwärtigen Stellung der Achse. Das arktische Klima würde ein gleichmäßig temperiertes sein und immer noch in hohen Breiten schon ein gleichmäßig warmes, aber an den Polen selbst wohl kühleres sein. Infolge der angenommenen Verschiebung der Pole würde auch der Äquator eine andere Lage haben als gegenwärtig, und das Küstenland ') Nordenskjöld, O., „Antarctic". Zwei Jalire im Schnee und Eis am Südpol. Nach dem schwedischen Original ins Deutsche übertragen von M.athilde Mann. 2 Bände mit 4 Karten, 300 .Abb. und mehreren Kartenskizzen. Verlag von Dietrich Reimer (E. Vohsen), Berlin 1904. •) Ortmann, Die patagonische Formation. In: Rep. Princeton Univ. E.\pedition to Patagonia. Paläontology, Tertiary Invertebrates. — Vgl. O. Wilckens, Naturwiss. Wochenschr. V. 19, 1903, S. 154 — 155. -) Kolbe, H., Hamburger Magalhaensische S.^mmelreise. Coleopteren. Hamburg, Friederichsen & Co. 1907, S. 22 f. N. F. Vm. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 45' des Süd|)olarkoiUinents in der Gegend der Süd- Shcllandgriippe (um den 61"— 62" s. Br.) mag dann von einem viel weniger hohen (vielleicht von dem 40. bis 50. Grade) Breitengrade durch- zogen worden sein. Da ein w a r m e s K 1 i m a in der südlichen Polar gcgend während einer Epoche der (älteren?) l'ertiärzeit als Tatsache anzunehmen ist, und aucli nach Ort mann während einer älteren Epoche der Tertiärperiode (Untermiozän) eine kontinentale Verbindung zwischen Südamerika und .Australien existiert haben muß, also vielleicht um dieselbe Zeit der warmen Periode, so reichen diese Bedingungen aus, die .Ähnlichkeiten zwischen zahlreichen Gattungen des südlichen Südamerika (Archiplata), Neuseeland, Neuholland, Madagaskar und Südafrika durch unsere Südpolar kon tinenttheorie zu erklären. Angesichts dieser Tatsachen und Wahrschein- lichkeiten es für geeigneter zu halten, die Be- rechtigung der Südpolarkontinent- theorie zu leugnen, wie es Da hl in einem Referat über meine eben erwähnte Abhandlung tut,') und sich mit der von Pfeffer, Michaelsen, V. L instow u. a. verteidigten Reliktentheorie trotz meiner vorgebrachten Gegengründe sich zu begnügen und der Anschauung zu leben, daß nur im Nordpolargebiete ein Zusammenschluß der Kontinente stattgefunden habe, von wo aus die ursprünglich gleichen oder ähnlichen Formen sich über alle Kontinente südwärts ausbreiteten, und daß hierdurch die Ähnlichkeiten zwischen vielen Gattungen der Südkontinente zu erklären sei, das ist demnach, wie sich aus meinen obigen Dar- legungen und dem im folgenden beigebrachten Beweismaterial ergibt, unberechtigt 1 Viele Gattungen, die sich nur auf den Kon- tinenten der Südhemisphäre vorfinden, sind mitein- ander so nahe verwandt, daß ihre nahe Verwandt- schaft nur durch einen ehemaligen faunistischen Zusammenhang im äußersten Süden zu erklären ist. Die Gattungen der Südkontinente stehen ein- ander aber nicht so nahe, wie die Gattungen der zirkumpolaren Fauna der Nordhemisphäre; das ist wahrscheinlich auf die längere Separation der Kontinente der Südhemisphäre zurückzuführen. Ausgezeichnetes Material für tiergeographische Forschungen liefern die Coleopteren, und unter diesen z. B. die coprophagen Lamellicornier. Diese F"amilie umfaßt 2 Abteilungen: I. Die phanerognathen Coprophagen, die noch auf einer tieferen Stufe der Organisation stehen, als die zweite Abteilung, und durch die freiliegenden Mandibeln und den kurzen (vorn nicht erweiterten) Clypeus ausgezeichnet sind; mit den Unterfamilien der Geotrupinen, Tauro- cerastinen, Orphninen, Ochodäinen und Hybo- sorinen; ') Dahl, Referat über die Ergebnisse der Hamburger Magalhaensischen Sammelrcise, 3 Bde., Hamburg, L. Friedc- richsen & Co. 1896-1907. Siehe: Naturwiss. Wochenschr, N. F. VII, Nr. 42, S. 668—670. 2. Die kalyptognathen Coprophagen, die auf höherer Organisationsstufe stehen und durch die unter dem halbkreisförmig erweiterten großen Clypeus versteckt liegenden Mandibeln ausgezeichnet sind; mit den Unterfamilien der Chironinen, Troginen, Aphodiinen, Onthophagincn, Pinotincn, Coprinen , Phanäinen, Eucraniinen, Canthoninen, Sisyphinen, Gymnopleurinen und Scarabäinen. Es ist verständlich, wenn das auf der Nord- hemisphäre zu suchende Ursprungszentrum der coprophagen Scarabäiden noch die endemischen Gattungen der unteren Organisationsstufen auf- weist. Das ist tatsächlich der Fall. Die zahl- reichen Ursprungsformen haben sich im Ursprungszentrum gehalten. Alle endemischen Gattungen der Scarabäiden der Nordhemisphäre (d. h. mehr oder weniger vom 40" an nordwärts) gehören zu den phanero- gnathen Scarabäiden (z. B. Geotrnpcs und Lctlirus) und zu den unteren Stufen der kalyptognathen Scarabäiden. Die progressive Entwick- lung der Formen hat mit der Ausbrei- tung nach Süden stattgefunden. Erst auf den Südkontinenten finden sich die zahlreichen Arten der höher stehenden Gattungen, besonders der kalyptognathen Scarabäiden. Über die Südkontinente sind besonders die zahlreichen Gattungen der P i n o t i n e n und Can- thoninen verbreitet, von denen keine Gattung in Europa, Nordafrika, West-, Zentral- und Nord- asien lebt und die in Ostasien nur in einer ver- sprengten kleinen Art in Japan und in Nord- amerika nördlich von Mexiko nur in wenigen vereinzelten Arten vertreten sind, deren Herkunft aus dem Süden als ausgemacht gelten muß. Die genannten Gruppen sind auf der Südhemisphäre formenreich differenziert. Die Pinotinen treten am reichhaltigsten in Südamerika und Südafrika auf. In Amerika bevölkern 15 Gattungen mit mehr als 300 Arten den südlichen Kontinent; in Zentralamerika mit Mexiko finden sich noch 8 Gattungen mit 37 Arten, in den Vereinigten Staaten Nordamerikas nur noch 2 Gattungen mit 3 Arten von mittel- und südamerikanischer Ver- wandtschaft (aber nur auf der atlantisclien Seite), in Kanada keine Art. In Afrika (südlich von der Sahara) finden sich von Pinotinen 16 Gattungen mit über 60 Arten, die größtenteils auf Südafrika beschränkt sind, wo allein 13 Gattungen ver- treten sind. Die übrigen Gattungen sind in wenigen Arten über das tropische Afrika ver- breitet. Auf Madagaskar findet sich nur i Gattung {Aidonocneinis) mit 14 Arten. Indien mit dem Archipel ist sehr arm an Pinotinen (5 Gattungen mit 6 Arten). In Japan wurde eine Art mit in- discher Verwandtschaft [Llaraxes) gefunden. Nur 2 Arten werden aus Australien angeführt. Meh- rere Gattungen Südamerikas sind afrikanischen Gattungen, namentlich solchen des Kaplandes und benachbarter Länder, sehr nahe verwandt [Pinotus- Farapinotus, Ontlwcharis ■ Saproecius ■ Stiptopodius, 452 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 29 Macrodcres - Xi)iidiinn , Chocridiuvi - Dclopkurus). Das Wichtigste ist, daß in Afrika die amerikanische Verwandtschaft nach Süden zu zunimmt; das weist auf eine südliche Brücke zu Amerika hin. Wäre das Zentrum der Verbreitung in der Nord- polargegend gewesen, dann würden noch manche Gattungen und Arten und besonders Relikte im Norden existieren müssen. Nichts davon findet sich hier. Die Canthoninen liefern gleichfalls Beweise für die nahen Beziehungen der Faunen der Süd- kontinente zueinander. Die neotropische Region wird von 6 Gattungen mit etwa 220 Arten bewohnt, die zum allergrößten Teile Südamerika besiedelt haben; eine kleine Anzahl Arten von mittel- und südamerikanischem Charakter geht bis in die Vereinigten Staaten. Von 6 ameri- kanischen Gattungen kommen allein 4 in Argen- tinien vor. Selbst in Patagonien finden sich noch einige Gr«/Äö«- Arten. — Die australische Region ist gleichfalls ziemlich formenreich. Neu- holland wird von 10 Gattungen mit 32 Arten, Neuguinea von 2 Gattungen mit je i Art, Neu- caledonien von i Gattung mit i Art, Neuseeland von I Gattung mit lo Arten bewohnt. Australien hat I Gattung (Epilissus) mit Südamerika, Mada- gaskar und Südafrika gemein. Von den australi- schen Gattungen sind Aulacopris und Labromn mit Deltochilinn und Cantlwn Amerikas nahe ver- wandt. — Afrika wird von 6 Gattungen bewohnt, die alle in Südafrika vorkommen und hier am artenreichsten sind. Nur eine kleine Anzahl Arten ist über das tropische Afrika verbreitet. Im ganzen sind 30 Arten aus Afrika, südlich von der Sahara bekannt. Madagaskar ist nur die Heimat der Gattung Epilissus, die hier in 24 Arten differenziert ist. — Daß die Gattungen der Can- thoninen sich größtenteils auf den Süden der südlichen Kontinente konzentrieren, ist ein guter Beleg für die Theorie von der früheren geologischen Zusammengehörigkeit der südlichen Verbreitungsregionen zu einem gemein- samen Gebiete. Alle die größeren Inseln des Südens weisen noch Relikte aus der Zeit Verbreitung dieser Coleopterengruppe über hypothetischen Südpolarkontinent auf Die gleiche Kongruenz von Theorie und Beweis finden wir bei den A n o p 1 og n a t hi n e n , einer Gruppe der Scarabäiden, die von Dr. F. Oh aus') so vorzüglich durchgearbeitet ist, daß sie der vor- liegenden Betrachtung als Grundlage dienen kann. Die 8 Gattungen Amerikas, welche zu dieser natürlichen Gruppe gehören, bewohnen die süd- liche Hälfte dieses Kontinents von der Magellans- Straße die Kordilleren entlang bis Mexiko (Cor- dova, Chinantla, Amatan, Jalapa). Auf diesem langgestreckten Verbreitungsgebiete verläßt nur I Art der Gattung Platycoclia in Peru die Kette der den ') Oh aus, F., Revision der .Anoplognathiden. (Stettin. Ent. Zeit. 1904, S. 57 — 175, 254 — 340; 1905, S. 120 — 167. Mit 2 Taf.) der Kordilleren und verbreitet sich ostwärts einen Gebirgszug entlang bis Zentralbrasilien und Goyaz. Die Zahl der auf die 8 amerikanischen Gattungen verteilten Arten beträgt 63. Unter diesen 8 Gattungen Amerikas stehen Aulacopalpus und Trihostcthes, welche Chile bewohnen, in mehreren morphologischen Merkmalen den australischen Anoplognathinen, speziell der Gattung Scliizogiiatlnis am nächsten und zwar äußerst nahe (vgl. Ohaus 1. c. 1904 p. 256). Es ist auch be- achtenswert , daß es gerade die am südlichsten vorkommenden Gattungen, von denen eine Art (Aulacopalpus pilicollis Fairm.) sogar an der Magellansstraße vorkommt, sind, welche den australischen Verwandten am nächsten stehen. Die australischen Anoplognathinen bestehen aus 15 Gattungen mit 71 Arten und sind auf Neuholland und Tasmanien beschränkt, iTiit Ausnahme einer Art [Anoplogiiatlius insulans Ohs.) auf dem südlichen Neuguinea, welche von einer nordaustralischen Art {pnnctiilatus Olliff) wenig verschieden ist. Sie sind eine für Austra- lien äußerst charakteristische formenreiche Gruppe von teilweise ziemlich großen bunt oder metal- lisch gefärbten Arten. Dazu sind sie in Australien fast die einzigen Vertreter der Unterfamilie der Ruteliden. Ich bemerke noch, daß auch die Anoplognathinen Süd-Chiles und der Magellans- straße hier die einzigen Vertreter der Ruteliden sind: eine auffallende Kongruenz, die auf innige Beziehungen zwischen dem südlichen Südamerika und Australien hinweist. Wie verhält sich nun diesen Arguinenten gegenüber, deren Zahl noch vermehrt werden kann, die Ansicht Dahl's? Dahl ist der Meinung, daß „die Relikten- theorie allen vorliegenden Tatsachen vollkommen gerecht werde"; sie habe „den großen Vorteil vor anderen Theorien, daß sie ohne weitgehende, rein hypothetische Annahmen in bezug auf frühere Landverteilungen auskomme." In dieser Er- klärung ist jeder Gedanke zu beanstan- den: I. Die Reliktentheorie wird allen Tatsachen der tiergeographischen Ver- breitung nicht gerecht, wie sich aus meinen obigen Darlegungen von der Verbreitung süd- licher P'aunenglieder ergibt. 2. Die Relikten- theorie bietet daher keinen Vorteil für die Erklärung der tiergeographischen Verbreitung, sondern viele Nachteile, da sie mangelhaft ist und nicht allen Tatsachen gerecht wird. 3. Die Annahme des Südpolar- kontinents ist nicht rein hypothetisch, da sie außer auf tiergeographischen auch auf paläontologischen und klimatologischen Tatsachen aufgebaut ist, während eine Hypothese keine tat- sächliche Unterlagen hat. Ferner bezeichnet Dahl diejenigen Formenkreise von Tieren, die den nach Südensich erstreckenden Kontinenten gemeinsam sind, fälschlich als Relikte. Jene Formenkreise sind doch großenteils so reich N. F. VIII. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 453 an Gattungen und Arten und teilweise auch an Individuen, daß sie zum Cliarakterbildc der Fauna gehören. Relikte entstamnicn früheren Perioden der Hesicdelung des betreffenden Gebiets; sie ragen in die gegenwärtige Lebensgemeinschaft als F'remdlinge hinein und stehen unter ihren das- selbe Gebiet bewohnenden \'erwandten als iso- lierte Formen da. Eine wesentliche Stütze meiner Theorie bietet in dieser Beziehung u. a. die schon oben erwähnte Scarabäidengruppe der Anoplognathinen, welche die südameri- kanisch-australischen Beziehungen in ausgezeich- neter Weise zur Schau trägt. Die australischen Gattungen stehen unter sich und zu den süd- amerikanischen in sehr nahen verwandtschaftlichen Beziehungen. Nordwärts ist die Verbreitung der Gruppe vollkommen abgeschnitten; nur im süd- lichen Neuguinea findet sich eine Art, die zu einer nordaustralischen gehört und vielleicht dorthin ver- schleppt ist. Einige Arten treten in Australien durch ihre Häufigkeit sogar für die Landwirtschaft schädlich auf. Daß die Anoplognathinen in Australien keine Überbleibsel sind, hätte Dahl schon aus meiner Abhandlung S. 28 — 29 (1907) ersehen können. Sie bilden auf der Osthemi- sphäre in Australien eine Welt für sich und stehen den Ruteliden der übrigen Kontinente fremd gegenüber. In Südamerika sind die Anoplognathinen ebenfalls formenreich; sie be- wohnen dort hauptsächlich die Kordilleren, von der Magellansstraße nordwärts; einige Ausläufer gehen bis Zentralamerika. Aus dem Formen- reichtum der Anoplognathinen in Au- stralien und Südamerika geht hervor, daß diese Coleopteren, obgleich sie aus einer früheren Zeitperiode stammen, durchaus nicht als Relikte anzusehen sind, sondern als die von- einander getrennten Reste einer früheren gemein- samen Fauna, die auf dem untergegangenen Süd- polarkontinent formenreich gewesen sein muß. Schließlich meint Dahl, daß die Südpolar- kontinenttheorie von der Annahme ausginge, daß die Landmassen früher auf der Erde ganz anders verteilt waren als heute. Das ist ein Irrtum. Nur eine Verbindung zwischen den Südspitzen der Kontinente und kontinentalen Inseln mit dem Südpolarkontinent wird angenommen, entsprechend dem allerdings näher gerückten Zusammenschlüsse der Kontinente in der Nordpolargegend. Die nahe Verwandtschaft zwischen vielen Gattungen der Südhemisphäre, z. B. der südameri- kanischen Fauna mit solchen der australischen, für eine bloß äußerlich aufgedrückte Ähnlichkeit infolge ähnlicher Lebensbe- dingungen, also für Konvergenzerschei- nungen zu halten (Dahl), ist ebenfalls nicht angängig. Wir haben es hier mit tatsächlicher naher Verwandtschaft zwischen den südameri- kanischen und australischen Gattungen zu tun. Konvergenzbildungen beruhen übrigens nur auf Ähnlichkeiten zwischen Ange- hörigen ganz verschiedener Tierstämme. Zur Erklärung der Tatsache, daß manche Verwandtschaftskreise von Coleopteren durch die Äquatorialzone ganz oder teilweise voneinander getrennt sind, ziehe ich nunmehr aus der von mir angenommenen senkrechten Stellung der Rotationsachse der Erde während längerer Zeiträume der geologischen Erdgeschichte den Schluß, daß die Äquatorialzone längere Zeit hindurch unbewohnbar und vielleicht eine Wüstenzone war. Die Rotationsachse ist nach meiner Annahme wiederholten Schwan- kungen unterworfen gewesen. Die Geologen nehmen für die Schlußepoche (Perm) des paläo- zoischen Zeitalters eine Abkühlung der Klimate an; das bringe ich mit einer starken Neigung der Rotationsachse in Verbindung. In jene Zeit muß die Entstehung des Coleopterentypus gelegt werden, der in der ersten Periode des mesozoischen Zeit- alters schon recht vielgestaltig auftrat. Coleo- pteren werden sich über die damaligen Kontinente, auch über die Äquatorialzone, gleichmäßig ver- breitet haben, bis infolge der wieder eintretenden senkrechten Stellung der Erdachse sich in der Äquatorialgegend eine Wüstenzone ausbildete und den Tropengürtel unbewohnbar machte. Da- durch wurde die Tierwelt der Südhemisphäre von ihrer die Nordhemisphäre bewohnenden Verwandt- schaft weit getrennt. Viele Coleopterengruppen illustrieren durch ihre entsprechende Verbreitung diese Hypothese. Die Glaphyrinen z. B. bewohnen auf der Nordhemisphäre das mediterraneische Ge- biet, China und Nordamerika von Neuyork bis Kalifornien und Mexiko, — auf der Südhemi- sphäre Chile, Peru und Neuholland. Ähnlich verhalten sich manche Tenebrioniden- und Elateridengruppen, auch gewisse Ceramby- cidengruppen usw.,') von denen man annehmen kann, daß sie infolge ihres hohen geologischen Alters nicht mehr so verbreitungsfähig waren und sind, daß sie ihre früheren Sitze wieder einnehmen. Auch veränderte bionomische Verhältnisse werden sie daran hindern. Es wirkt nun etwas absonderlich, daß Dahl, indem er meine vorstehend kurz dargelegte Theorie zu bekämpfen sucht, die Ameisen gegen mich ins Feld führt. ,,Wer einmal in den Tropen Käfer sammelte", schreibt Dahl, „wird die Erfahrung gemacht haben, daß Stellen, an denen man in den gemäßigten Gebieten zahlreiche Laufkäfer findet, in den Tropen stets nur von Ameisen in großen Mengen bewohnt sind. Da die Nahrung der Laufkäfer und der Ameisen in mancherlei Hinsicht die gleiche ist, nötigt uns diese Tatsache zu der Annahme, daß die Laufkäfer in den Tropen durch Ameisen teilweise ersetzt und wahrschein- lich durch das außerordentlich massenhafte Auf- treten der letzteren verdrängt sind. Ich nenne dieses Beispiel, um zu zeigen, daß auch biologische Schranken in der Tiergeographie in Frage kommen ') Kolbe, Hamburger Magalhaenesische Sammelreise, 1907, S. 12 — 19. 454 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 29 können. . . ." Der Einwurf Dahl's ist nicht stichhaltig. Carabiden (Laufkäfer) können in tropi- schen Urwaldgegenden nicht in dem Umfange existieren, wie außerhalb des Urwaldes, weil sie auf dem dicht bewachsenen Boden keinen Raum und keine Bewegungsfreiheit finden; das ist haupt- sächlich die Ursache ihrer geringeren Artenzahl in den Urwäldern der Tropen. In den Steppen Afrikas, unter der Tropensonne, sind Cara- biden sehr zahlreich. Gewiß ist, daß zahlreiche Erdkäfer in den Tropen gegen die Massen der Ameisen (z. B. gegen die berüchtigten Raub- ameisen [EcitoH] Südamerikas) nicht aufkommen können; das ist eine bekannte Tatsache. Den- noch aber gibt es z. B. in Brasilien eine beträcht- liche Anzahl von Carabiden, die aber auf Sträuchern und Bäumen sich aufhalten und auch ihre Existenz fristen, obgleich Sträucher und Bäume ebenfalls von Ameisen vielfach besetzt sind. Aber von Carabiden ist in meiner Abhandlung am wenigstens die Rede. Viele andere Erdkäfer gibt es in den Tropen Amerikas, die außerordent- lich zahlreich sind, besonders die coprophagen Scarabäiden, von denen in einer früheren Abhand- lung von mir 64 Gattungen mit 1067 Arten aus der neotropischen Region angeführt sind. Auch viele andere Scarabäiden, besonders die Ruteliden leben als Larven im Boden, und sie sind in Süd- amerika sehr zahlreich, trotz der großen Massen von Ameisen. Dagegen sind Wasserkäfer nach einer Mit- teilung von Bat es in Amazonien ebenfalls wenig vorhanden. Heymons und andere berichten von kleinen Hymenopteren, die ins Wasser gehen und Wasserinsekten befallen; ich habe nicht ver- nommen, daß auch Ameisen dies tun. Es müssen also wohl andere Ursachen in den Tropen Süd- amerikas obwalten, die zur Erklärung der ver- hältnismäßigen .Armut an Carabiden und Dytis- ciden dienen können. Viele Ameisen sind ferner Pflanzenfresser; namentlich die in Südamerika weit verbreitete Sauba-Ameise ( Occodouia cephalotes) lebt von Vegetabiiien. Auch stehen manche Ameisenarten zu anderen Kleinticren in einem auf gegenseitige Duldsamkeit gegründeten Verhältnis; und gerade bei räuberischen Ameisen (Ecitoii) leben viele kleine Coleopteren aus der Familie derStaphy- liniden (VVasmann). Wer in dem massen- haften Auftreten von Ameisen biologische Schranken gegenüber der übrigen Kleintierwelt erblickt, sollte auch diese biocoenotischen Beziehungen beachten, welche das Gegenteil von Schranken beweisen. Eigentlich heißt es hier weiter nichts als „leeres Stroh dreschen"; denn die Carabiden kommen für unsere Betrachtungen am wenigsten in Betracht; sie sind als ,,G egenbe weis" von Dahl nur herangezogen. Und dieser Gegen- beweis ist nicht geglückt. Die von mir ange- zogenen Tatsachen, welche uns zeigen, daß manche Gattungsgruppen, deren Gattungen einander recht nahe stehen, durch den Tropeiigürtcl voneinander getrennt sind, geben der Wahrscheinlichkeit Raum, daß dieser Trennung eine viel tiefer liegende Ur- sache zugrunde liegt. Ich nehme dafür physi- kalische Verhältnisse in Anspruch. Richtschnur für uns ist die Annahme, daß die jetzt diskontinuierlich verbreiteten Gattungen früher kontinuierlich auch über die Tropen- zone verbreitet waren, aber durch schwer wirkende Ursachen (Hitze, Trockenheit, Wüstenbildung in der Tropenzone) hier vernichtet wurden. Da wir mit der Tatsache der Vernichtung zahlreicher Tierformen in den Tropen zu rechnen haben (weil die jetzige diskontinuierliche Verbreitung den Untergang der Bindeglieder zur Voraussetzung hat), so folgt schon daraus , daß die Südhemi- sphäre von der Nordhemisphäre in faunistischer Beziehung separiert wurde. Die Separations- periode war wahrscheinlich eine sehr lange an- dauernde, da in der Folgezeit neben den aus der früheren allgemeinen Verbreitung überkommenen Gattungen zahlreiche neue Gattungen auf den Kontinenten der Südhemisphäre entstanden. Von diesen Gattungen finden sich keine, auch keine nahe verwandte auf der Nordhemisphäre, auch nicht im fossilen Zustande. Ganze Gruppen und Unterfamilien sind auf die Südhemisphäre be- schränkt. Aber zahlreiche Formen der Südhemi- sphäre wurden durch Austausch von Amerika nach Australien und Neuseeland, Afrika und Madagaskar und umgekehrt verbreitet, wofür wir den ver- größerten Südpolarkontinent als Vermittler be- trachten. Nur durch eine derartige Betrachtung der Tierverbreitung, nämlich durch die Annahme eines südpolaren, ebenso wie eines nordpolaren verbindenden Landkomplexes zwischen den jetzt getrennten Kontinenten, können die biogeogra- phischen Verhältnisse der Kontinente der Jetztzeit, soweit sie nicht auf gelegentliche Verschleppung und andere, die passive Verbreitung bewirkende Mittel zurückzuführen sind , mit Anspruch auf Wahrscheinlichkeit nach meiner Meinung erklärt werden. Aus meinen Darlegungen glaube ich den allein richtigen Schluß ziehen zu müssen, daß die von mir für die Tiergeographie aufgestellte Theorie von dem südpolaren Verbreitungsge- biete nicht nur durchaus annehmbar, sondern auch notwendig sei, wenn wir in der Verbreitung der Lebewesen richtig lesen wollen. Meine Theorie wird von denjenigen Naturforschern für richtig erkannt und angenommen, welche mit der Ver- breitung der von ihnen gepflegten Tiergruppen genauer vertraut sind. Ohne die Annahme eines vorzeitlichen süd- polaren Verbreitungszentrums der Tiere und Pflanzen werden wir die jetzigen biogeographischen Verhältnisse auf der Südhemisphäre nicht genügend verstehen können. N. F. Vm. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 455 Kleinere Mitteilungen. Neues über die chemische Konservierung von Nahrungsmitteln. — Da es immer noch l-'ällc gibt, in denen olme chemische Konservierung schwer auszukommen ist, so dürfte eine Notiz zunächst über die Benzoesäure, dieses in neuerer Zeit sehr in Betracht kommende Kon- servierungsmittel von Interesse sein. Die Benzoesä ure kommt in einigen Harzen vor, so namentlich im Benzoeharz; daraus wird sie durch Sublimieren gewonnen. Oder man stellt sie aus Hippursäure (Benzoylglj'kokoli) her. Der Preis des Kilogramms beträgt 5 — 6 Mk. Welche Anforderungen sind an ein chemisches Konservierungsmittel zu stellen und erfüllt die Benzoesäure dieselben r Nur solche Stoffe dürfen den Nahrungs- und Genußmitteln zum Zwecke der Konservierung zu- gesetzt werden, von welchen durch Erfahrungen am Menschen und durch Tierexperimente nach- gewiesen ist, daß sie in den für die Konservierung nötigen Mengen bei lange fortgesetztem Gebrauch keine schädlichen Wirkungen auf den Körper aus- zuüben imstande sind. Konservierungsmittel, welche nach Art und Menge nicht als harmlos für den menschlichen Körper angesehen werden können, dürfen zu Lebensmitteln nur dann gesetzt werden, wenn sie keine bleibenden schädlichen Veränderungen an den Lebensmitteln selbst her- vorrufen, auf einfache und sichere Weise wieder ausgeschieden werden können und leicht nach- weisbar sind (Internat. Kongreß f Hygiene in Berlin 1907, Referat von M. Gruber, K. B. Leh- mann und Th. Paul). Immer hat eine unzwei- deutige Deklarierung zu erfolgen. Bezüglich der Benzoesäure hat K. B. Lehmann schon 1907 in Berlin (a. a. O.) hervorgehoben, daß sie in Vegetabilien häufig gefunden wird und in Preißelbeeren 600 - 800 mg pro i kg (O. Loew) beträgt. Sie ist neuerdings ein wichtiges Kon- servierungsmittel geworden (namentlich in den Vereinigten Staaten), wird in vielen Fleisch-Kon- servesalzen gefunden ; für Milch sind benzoesaure Salze empfohlen worden. Die antibakterielle Kraft ist (nach Fleck, Kickton) jener der Salicyl- säure überlegen, ihre Schädlichkeit geringer als die der Salicylsäure. Eingehende Untersuchungen in dieser Richtung erschienen freilich noch wünschenswert. Hierüber hat nun Prof. Dr. K. B. Lehmann, Vorstand des hygienischen Instituts zu Würzburg in der Chem. Ztg., 30. Sept. 1908 neue P'orschungen mitgeteilt. Die Bestimmung der Benzoesäure geschieht entweder durch Verflüchtigen der Benzoesäure mit den Wasserdämpfen oder durch Auflösen in Äther und Petroläther. Ihre konservierende Wirkung ist so stark, daß sie schon bei 0,2 "',j Bakterien (Typhus- u. Cholera-) abtötet binnen 10 Stunden, während 0,2"/,) Salicyl- säure das nicht ganz regelmäßig tut. Benzoesäure und Salicylsäure wirken aber bei 0,05 ^o Ver- dünnung noch nicht voll entwicklungshemmend auf die genannten Bakterien in schwach alkalischer Bouillon, bei 0,01 "/„ beginnt die Wirkung. Die alkalische Reaktion der Versuchsflüssigkeit läßt freilich einen Schluß auf noch stärkere Wirkung der Benzoesäure zu, da durch das Alkali die Benzoesäure abgeschwächt wird. Freie Benzoe- säure ist schon bei 0,1 "/,, ausreichend, um die Gärung der Bierhefe eine Woche lang vollkommen hintan zu halten (länger wurde nicht beobachtet), Salicylsäure zu O, I "/o zugesetzt, zeigt am fünften Tage volle Kohlensäureentwicklung. Das benzoe- saure Natron wirkt schwächer als die freie Säure. Gegenwärtig wird die Benzoesäure in der Praxis viel zum Konservieren gebraucht. Der Kampf gegen die Salicylsäure und ihr vielfaches Verbot scheint der Benzoesäure Platz geschaffen zu haben. In Fruchtpräparaten wird sie nicht selten beobachtet ; auch Konservesalze für Fleisch entlialten häufig Benzoesäure und Benzoate. Bezüglich der Schicksale der Benzoesäure im Organismus hebt Lehmann zunächst hervor, daß sogar bei den meisten Säugetieren Benzoe- säure bzw. Hippursäure als normales Glied im Stoffwechsel vorkommt. Auch bei reiner Fleisch- kost entsteht im Hund (angeblich nicht im Men- schen) Benzoesäure, die an Glykokoll gebunden und als Hippursäure ausgeschieden wird. Der Pflanzenfresser scheidet sehr reichliche Mengen von Hippursäure aus, da sein Futter reich an Benzoesäure liefernden Benzolderivaten ist. Ein- geführte Benzoesäure scheidet auch der F' leise lifresser und der Mensch als Hippursäure aus, solange die Benzoesäuremenge nicht zu groß ist; die Synthese findet in der Niere statt, ja es werden extra große Mengen Gykokoll im Stoffwechsel gebildet, um die Hippursäure- bildung gegebenen Pralles zu ermöglichen. Bei großen Benzoesäuredosen ist aber selbst das starke Hippursäurebildungsvermögen des Hammels un- genügend, es tritt ein Teil der Benzoesäure als Glykuronsäureverbindung auf, der Rest bleibt un- gepaart. 12 — 15 g benzoesaures Natron vermag ein gesunder Mensch glatt in Hippursäure zu ver- wandeln; bei größeren Dosen geht ein Teil der Benzoesäure unverwandelt in die Ausscheidung über. Nach Husemann-Hilger kommt der Benzoe- säure eine nicht sehr starke irritierende und an- scheinend auch eine exzitierende Wirkung zu. Ihr Dampf bedingt Husten und Katarrhe der Atmungswerkzeuge. In großen Dosen wirkt sie auf Tiere giftig, während ziemlich hohe Gaben der Säure oder der Benzoate bei Menschen nur unbedeutende oder gar keine Beschwerden er- regen. Übrigens können nur lang andauernde Experimente am Menschen definitive Entscheidung bringen. L. hält es für möglich, daß kleinere Mengen Benzoesäure auch bei dauerndem Genuß ganz un- schädlich gefunden werden, so daß dann kein 456 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 29 hygienisches Bedenken vorliegt, die deklarierte Anwendung der Benzoesäure für besondere F"älle zu gestatten. Besser ist es freilich, wie schon öfters hervorge- hoben wurde, gar kein chemisches Konservierungs- mittel, außer Kochsalz, Zucker, Essig zu gebrauchen. Möge das Zeitalter dieser harmlosen chemischen Konservierung mit den altbewährten wohl- schmeckenden Mitteln wiederkommen und dem Konsumenten seine Verdauungsorgane schützen helfen. Es ist freilich vorläufig noch nicht zu erwarten, daß dies eintritt, da manchmal die Not zur che- mischen Konservierung mit anderen Mitteln als Kochsalz und Essig drängt. Schon der vielfache Gebrauch des Salpeters bei der Fleischkonservierung weist auf die unzu- reichende Schutzkraft des Kochsalzes hin. Jenes im Geschmack etwas unangenehme Salz wird, namentlich im Sommer zur Konservierung des Fleisches vielfach neben dem Kochsalz gebraucht, so sehr auch die Konsumenten dagegen protestieren. Dabei ist der Salpeter nicht einmal ganz unge- fährlich; man hat bei Tieren (Kühen) mitunter schon Vergiftungen mit Chilisalpeter gesehen, als sie ihn in Substanz oder Lösung verschlungen hatten. Dies rührt vorzugsweise von Entzündung der ersten Wege her, welche Salpeter in konz. Form hervorbringt; daneben ist möglicherweise ein Übergang in stark giftiges salpetrigsaures Natrium im Spiele, welches sich, ähnlich wie außerhalb des Körpers im Kontakt mit Muskel- substanz und anderen organischen Stoffen, auch im Organismus und teilweise schon im Darm bilden kann (Husemann, Arzneimittellehre). Immer- hin wird Natriumnitrat in großen Dosen ver- ordnet, bei Ruhr sogar 25 g in 200 g Wasser gelöst pro die. Für Fruchtsaftkonservierung sind na- mentlich Salicylsäure und Ameisensäure vorgeschlagen, beide aber auch bekämpft worden. Die Borsäure sollte wohl für Fleischkonser- vierung wie auch für Fruchtsäfte anderen besseren Mitteln weichen, da sie erst bei i : 100 antisep- tisch, bei I : 200 desinfizierend wirkt. Salicylsäure ist bei I : looo ein Antiseptikum; sie verhindert z. B. die Entwicklung von Fäulnisbakterien im Fleischwasser, ohne sie zu töten; bei Verdünnung aufs Zwei- oder Dreifache tritt sehr bald Fäulnis ein. Ein Desinfektionsmittel ist die Salicylsäure für die in der Luft enthaltenen beim Fleisch- wasserversuch in Betracht kommenden Bakterien in der Konzentration i : 343, d. h. Fleischwasser gerät, wenn es offen an der Luft steht und somit die Fäulnisbakterien der Luft Zutritt haben, nicht in Fäulnis, wenn es i Teil Salicylsäure auf 343 Teile Wasser enthält, und die hineingefallenen Bakterien sind nie mehr imstande, sich zu vermehren, sie haben ihre Teilungsfähigkeit verloren, man kann mit solchen Bakterien keine fäulnisfähige Lösung mehr infizieren. Die Salicylsäure ist nach Eduard Jakobsen (Zeitschr. f Kohlensäure-Industrie 1907) das beste Konservierungsmittel für Fruchtsäfte. Wendet man eine Konservierung mit Salicylsäure oder Ameisensäure nicht an, so gibt es nur ein Mittel und das ist die sofortige Einkochung der Säfte mit Zucker, was bei kleinen Quantitäten wohl möglich, im großen aber wegen der kolossalen Raumbedürfnisse und der damit verknüpften Kosten nicht durchführbar ist. Salicylsäure ist für Fleisch und Wein verboten, auch bei Fruchtsaft- konservierung sind schon gerichtliche Strafen aus- gesprochen worden. Eine Gesundheitsgefährdung durch Salicylsäure im Fruchtsaft ist aber nach Jakobsen bis heute nicht nachgewiesen, die P'ruchtsirupe enthalten nur 0,01— 0,017 "/„ Salicyl- säure. Dabei ist auch zu bedenken, daß die Natur selbst in den Früchten bisweilen kleine Mengen Salicylsäure erzeugt; so wurden in Weintrauben 0,32 mg pro Kilogramm Früchte, in Pflaumen 0,28 mg, Kirschen, 0,40, Johannisbeeren 0,80 mg Salicylsäure pro Kilogramm gefunden. Auch die Ameisensäure, die in den letzten Jahren viel zur Konservierung von P'ruchtsäften und Fleisch angewandt wurde, dürfte wohl von demselben Schicksal wie die Salicylsäure betroffen werden. Denn das Institut für Infektionskrank- heiten in Berlin hat im ministeriellen Auftrag Untersuchungen über die konservierende Wirkung und die giftigen Eigenschaften der Ameisensäure angestellt; es hat sich dabei gezeigt, daß dieselbe sowohl ein ätzendes Gift (das natürlich nur in stärkerer Konzentration, B.) wie auch ein Blut- gift ist. Wer jemals physiologische Versuche mit Ameisensäure an lebenden niederen Organismen angestellt hat, wird von der Giftigkeit dieser Sub- stanz überzeugt sein ; freilich ist damit noch nicht die hohe Giftigkeit bei Tieren und dem Menschen nachgewiesen. Es ist möglich, daß kleine Mengen innerlich genommen nicht schädlich wirken. Leb bin hat durch Tierversuche nachgewiesen, daß Dosen von i — 3,57 "/o Ameisensäure schäd- lich wirken (auf die Nieren); in der Praxis werden aber nur 0,1 — 0,5 "/o angewandt. Versuche an Menschen (4 Männern) haben ergeben, daß trotz 6 Wochen langem Trinken von Limonade, die aus Himbeersaft -(- Leitungswasser -|- i g Ameisen- säure pro Liter hergestellt war, niemals Nieren- affektion eintritt; die täglich genossene Menge Ameisensäure beträgt hier sicher mindestens '/., g. ,,Der tägliche Genuß von 0,5 g Ameisensäure würde folgenden Saftmengen im Leben ent- sprechen: Bei Zugabe von 0,1 570 Ameisensäure zum Muttersaft und 60 % Zucker bei der Sirup- bereitung würden 0,06 % Ameisensäure im fertigen Sirup enthalten sein, wenn beim Einkochen keine Säure verloren geht. Von diesem Sirup enthalten dann 0,8 kg erst 0,48 g" (Jakobsen). In dieser Menge wird aber der Sirup nicht konsumiert; folglich kann ein Zusatz von 0,15% Ameisen- säure, welche Menge zur Konservierung ausreicht, nicht schädlich sein. So folgern die F"ruchtsaft- fabrikanten. Da aber individuelle Verschieden- N. F. VIII. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 457 heiten in der Widerstandskraft gegen Gifte immer beobachtet werden, so dürfte jener Schluß nicht ganz sicher sein. ledenfalls wären die wohlhabenderen Konsu- menten mit Rücksicht auf ihre Gesundheit wohl insgesamt dankbar, wenn die chemischen Konser- vierungsmittel der modernen Zeit insgesamt in Wegfall kommen könnten. Ob freilich nicht mancher Genuß der Menge damit verschlossen würde infolge Verteuerung der betreffenden Nah- rungs- und Genußmittel , ist eine andere F'rage. Th. B. Das fasrige Exokarp der Kokosnufs wird als „Schwimmorgan" gedeutet und die weite Ver- breitung der Kokospalme wenigstens teilweise auf den Transport der Nüsse durch Meeresströ- mungen zurückgeführt. Prof. Neger hat zwar schon diese Deutung bekämpft und auch darauf verwiesen, daß die Nüsse sehr empfindlich gegen Hitze und Feuchtigkeit seien und sehr rasch ihre Keimfähigkeit verlieren, aber trotzdem erhielt sich die Annahme, daß die Faserhülle ein Schwimm- organ sei. Da ist es denn von großem Werte die Beobachtungen eines Mannes zu lesen, der mehrere Jahrzehnte in dem Verbreitungsgebiete der Kokospalme weilte. R. Parkinson be- richtet in seinem Werke : Dreißig Jahre in der Südsee (Stuttgart 1907) Seite 79/ ff. folgendes: „Ich entsinne mich während meiner zahlreichen Reisen von einer Südseeinsel zur anderen auch nicht eines einzigen Falles, in welchem mir eine auf dem Meere treibende Kokosnuß zu Gesicht gekommen wäre, obgleich ich mir denken kann, daß dies nicht zu den Unmöglichkeiten gehört. . . Schiffskapitäne , die lange Jahre diese Gegenden nach allen Richtungen durchstreiften , erinnern sich ebenfalls nicht solcher F'älle. . . Es gibt außer- dem viele hunderte Meilen von flachen Uferstrecken, die völlig ohne Kokospalmen sind und es ist nicht einleuchtend, warum auf dem Meere trei- bende Kokosnüsse seit undenkbarer Zeit gerade diese Strecken vermieden haben, um anderswo in großer Anzahl anzutreiben, obgleich die Strömung alles mögliche andere dort anschwemmt. . . Stellt man Versuche an über die Schwimmfähigkeit reifer Kokosnüsse, so kommt man zu dem Re- sultat, daß nach einigen Tagen die Fascrumhüllung wie ein Schwamm das Seewasser eingesogen hat, so daß die Nuß immer tiefer einsinkt, allmählich alle Schwimmfähigkeit verliert und auf den Boden des Meeres sinkt. Wo Kokosbestände angetroffen werden, so ist das ein Beweis dafür, daß diese Insel früher bewohnt war und aus irgendeinem Grunde von Menschen entblößt wurde. Die Sagen vieler Insulaner weisen direkt darauf hin, daß die Kokosnuß von Menschen eingeführt wurde." Von der großen Wasseraufnahmefähigkeit der Faserhülle konnte ich selbst mich vor Jahren überzeugen, da ich aus ihr Blumenampeln her- stellte, welche das Gießwasser in tüchtigen Por- tionen „verschlangen". Wenn dem fasrigen Exokarp eine Funktion zugeschrieben werden soll, so dürfte es eher als eine Anpassung zum Schutze der Frucht gegen zu starke Erwärmung, vielleicht auch gegen zu starke Transpiration aufzufassen sein. Jedenfalls aber wäre es sehr wünschenswert, wenn künftig Botaniker diese Frage nach der Funktion der FaserliüUe in den l'ropen selbst experimentell studieren würden. K. C. Rothe. Vereinsw^esen. Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde (E.V.). — Am Dienstag, den 9. März, hielt im Festsaale des Charlottenburger Rathauses der Direktor des Kgl. Meteorologischen Instituts, Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Hellmann einen Vortrag über , .Typische Witterungsano- malien in Mitteleuropa". Über,,Darwin alsMensch und Forscher" sprach am Dienstag, den 16. März, im Hörsaal VI der Kgl. Landwirtschaftlichen Hochschule Herr Prof. Dr. L. Plate. Nach einem kurzen Hinweis auf die Tatsache, daß im Geburtsjahre Darwin's, im Jahre 1809, die ,, Philosophie zoologique" des genialen Franzosen Lamarck erschien, in der zuerst der Gedanke scharf formuliert wurde, daß die höheren Lebe- wesen von den niederen abstammen und daß auch der Mensch nur ein Glied in dieser organischen Kette sei, die aber damals wenig Anklang bei den Fachgenossen fand, unternahm es der Vortragende zunächst, ein Lebensbild des großen englischen Forschers zu zeichnen, in dem sich alles vereinte, was ein Menschenleben hoch über den Durch- schnitt erhebt. Er war ebenso groß als Charakter wie als Forscher, als registrierender und Tatsachen sammelnder Beobachter wie als Denker und Theoretiker, welcher die vielen Einzelerscheinungen in wenige einheitliche Gedanken zusammenzu- fassen und ursächlich zu verknüpfen sucht. Ein gütiges Geschick hatte ihm die verschiedensten Geistesgaben in die Wiege gelegt: emsigen Fleiß, vorzügliches Beobachtungsvermögen, treues Ge- dächtnis, einen weiten Blick, der immer auf große und allgemeine Probleme gerichtet war, aber auch die kleinsten Einzelheiten nicht unbeachtet ließ, wenn sie ihm von theoretischem Wert erschienen; dazu das große Glück, während seines ganzen Lebens keine materiellen Sorgen zu kennen. Aus dem äußeren Verlauf seines Lebens ist eigentlich nur ein Ereignis von Bedeutung zu erwähnen, welches zugleich seine geniale Fähigkeit, sich in wissenschaftliche Probleme einzuarbeiten, am klarsten erkennen läßt, die große Weltreise, die er, damals ein junger Geistlicher, von 1831 — 36 auf dem englischen Vermessungsschiff „Beagle" unternahm und die ihn durch alle Zonen und Kontinente der tlrde führte. Kaum jemals hat ein Naturforscher so schlecht vorbereitet eine Forschungsreise angetreten wie Darwin, und selten 458 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 29 hat ein solches Unternehmen die verschiedensten Gebiete der Wissenschaft so sehr befruchtet. Mit auffallender Schnelligkeit gelang es ihm, sich in die verschiedenen Gebiete der Geologie, Geo- graphie, Zoologie, Botanik, Paläontologie und Anthropologie derart einzuarbeiten, daß er nach seiner Rückkehr ein Reisewerk ersten Ranges herauszugeben vermochte, das bereits die Keime seiner wichtigsten späteren Theorien enthielt. Wahrhaft rührend war dabei seine Bescheidenheit und Uneigennützigkeit. Seit 20 Jahren etwa hatte er seine Theorie von der natürlichen Zuchtwahl zur Erklärung der Anpassungen bearbeitet und im Manuskript in seinem Pulte liegen, da plötzlich erhält er im Jahre 1858 von Alfred Rüssel Wallace, der sich damals auf einer Forschungsreise im Malaiischen Archipel aufhielt, ein kleines Manu- skript zugeschickt, welches genau dieselben Ge- danken der natürlichen Zuchtwahl enthält. Statt Wallace zuvorzukommen, beschließt er, seine An- sicht gleichzeitig mit diesem zu veröffentlichen, und dies geschah in der berühmten Sitzung der Linnean Society in London am i. Juli 1858. Als am I. Juli vorigen Jahres dieselbe Gesellschaft das Gedächtnis jener denkwürdigen Sitzung feierte, ließ der hochbetagte Wallace es sich nicht nehmen, Darwin den Vorrang einzuräumen. Als Forscher hat Darwin ein ungeheures Ge- biet der Naturwissenschaften umspannt. Als Geologe studierte er die Zusammensetzung der Andenkette und berichtete über die Entstehung der vulkanischen Inseln; als Geograph beschäftigte er sich mit den Korallenriffen, als systematischer Zoologe schrieb er eine umfassende Monographie der Cirripedien, als Physiologe beschäftigte er sich mit den insektenfressenden Pflanzen, sowie mit den Befruchtungs- und Bewegungsverhältnissen der Pflanzen, als Psychologe veröffentlichte er ein Werk über den Ausdruck der Gemütsbewegung bei Menschen und Tieren, und endlich als Neu- begründer der Entwicklungslehre verdanken wir ihm diejenigen drei Werke, die ihn in erster Linie zum Reformator der Biologie gemacht haben : „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" (1859), „Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation" (1868), und „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl" (1871). Allen Darwinschen Werken ist ein Zug ge- meinsam. Sie alle legen Zeugnis dafür ab, daß auch bei den Lebewesen grol3e Wirkungen und Veränderungen nur im Laufe längerer Zeiten er- reicht werden und daß der gegenwärtige Zustand der Natur gleichsam ein riesiges Additionsexempel darstellt. Darwins Bedeutung für die Entwick- lungslehre ist vierfacher Art : er verhalf der schon von Lamarck begründeten Theorie zum endgültigen Siege; er gab ihr durch umfassende Studien über Variabilität und Vererbung ein festes Fundament; er verschaffte uns einen Einblick, warum die Lebewesen eine Tendenz zur Vervollkommnung haben, und übertrug endlich den Entwicklungs- gedanken auf den Menschen und löste damit die P"rage aller Fragen nach der Stellung des Men- schen in der Natur. Die Entwicklungslehre lag damals gleichsam in der Luft. Lamarck's geist- reiches Werk war nicht ohne Wirkung geblieben, wenn es auch mancherlei Mängel aufwies. Darwin baute nun die ganze Entwicklungslehre auf einem viel breiteren Fundament von Tatsachen auf, in- dem er drei weitere Kapitel der Biologie zu ihrer Stütze heranzog, die Paläontologie, die Embryo- logie und die Tiergeographie. Dadurch wurden so zahlreiche Erscheinungen, denen man bis da- hin ratlos gegenübergestanden hatte, verständlich, und es kann ein solcher innerer Zusammenhang in alle Gebiete der Zoologie und der Botanik, daß wir uns diese Wissenschaften ohne das einende Band der Abstammungslehre gar nicht mehr vor- stellen können. Freilich ist durch den Darwinis- mus der Schleier nur eine kleine Strecke von der geheimnisvollen Werkstätte der Natur gelüftet worden; das Rätsel ist nicht vollständig gelöst. Überhaupt ist der Darwinismus kein Schlummer- kissen zum Ausruhen; er verlangt energisch, daß seine beiden Voraussetzungen, das Vorhandensein erblicher Variationen und der Kampf ums Dasein, näher aufgeklärt werden. Nach dieser Richtung bleibt noch unendlich viel zu tun. — Eine Demonstration der vorweltlichen Saurier fand am Sonntag, den 21. März, im Kgl. Museum für Naturkunde durch den L Assistenten am Geologisch-paläontologischen Institut, Herrn Privat- dozenten Dr. Stremme statt. Infolge allzu großen Andrangs zu dieser Veranstaltung wurde für April eine Wiederholung derselben in Aus- sicht genommen. Näheres darüber wird der April- bericht bringen. Am Montag, den 29. März, sprach im Bürger- saale des Rathauses Herr Dr. E. Hahn über „Primitive Schiffahrt". Der Herr Vortragende machte es sich zur Auf- gabe, in erster Linie diejenigen Stoffe zu betonen, deren Verwendung beim Schiffsbau dem Kultur- menschen ferner liegt, z. B. Fell und Rinde, die aber dem alten Naturmenschen selbstverständlich außerordentlich bequem zur Hand waren. Nament- lich bemühte er sich zu zeigen, daß die einfache Verwendung des Holzes als Stamm stück in der Geschichte der Schiffahrt durchaus nicht die Rolle gespielt hat, die ihm unser all- gemeiner Kulturgedanke, also auch die klassische Dichtung und heutige Dichter zuzuschreiben ge- neigt sind. In diesem Bemühen wurde der Vor- tragende durch eine außerordentlich große Anzahl von Lichtbildern unterstützt, die z. T. das Institut für Meereskunde, z. T. das Museum für Völker- kunde in Hamburg dem Redner mit großer Liebenswürdigkeit zur Verfügung gestellt hatten. Schwimmhölzer finden wir gelegentlich, so bei den Papuas aus rohen Wurzeln und auf Havai schön geschnitzt, aber mehr als Spielzeug oder Sportbelustigung. Im allgemeinen aber spielt der einzelne Stamm und das aus mehreren N. F. Vm. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 459 oder vielen Stämmen zusammengesetzte Floß kaum eine Rolle im Verkehr, und — es ist das sehr interessant — selbst nicht im Kriege. Immerhinwaren aber die alten R h ei n -, Donau - und Weichsel flöße sehr achtbare technische Leistungen und dienten wie heute noch die F'Jöße auf üuna und Wolga auch als Transportfahrzeuge für andere Dinge, wie das Holz, aus dem sie zu- sammengesetzt sind, z. B. auch für IVIenschen- transporte. Die Chinesen haben in Bambus ein Mittelding zwischen Holzstamm und Binsen, das sie zu außerordentlich großen Flößen benutzten, auf denen dann wie auch in Siam wirklich große Dörfer stehen können, und gelegentlich können so diese Ansiedelungen selbst den Ankerplatz wechseln, eine eigentümliche Art der Schiffahrt. Binsen sind ein außerordentlich handliches Schiffsmaterial, aber eines das zumeist nicht weit trägt und weit reicht. Unsere Dorljugend weiß auch, daß die Binsen ihnen beim Baden als Schwimmsattel dienen können. Immerhin haben an einigen Stellen der Erde Binsenflöße und Binsenboote eine gewisse Wichtigkeit für eine frei- lich unbedeutende Schiffahrt. So in den Schilf- wildnissen des oberen Nil und um den erloschenen Ngamisee. Am wichtigsten ist die Stellung des Schilfbootes wohl in Peru, wo die vorn kühn zu einem Schnabel aufgebundenen Binsenbündel als Caballitos = Pferdchen bezeichnet werden. Bei dem großen Holzmangel an der Küste von Peru ermöglichen sie die einzige Seefischerei, und am Ausfluß des Titicacasees wird sogar eine wichtige Brücke von solchen Binsenbündeln getragen. Archäoologisch läßt sich übrigens die reichliche Anwendung von Binsenbooten für das älteste und für das antike Ägypten ebensogut er- weisen wie für die alte Zeit Perus. Aus Darm, der zartesten P'orm der tierischen Haut, und aus Fell lassen sich Schläuche sehr schnell, unter Umständen aber auch in wenigen IVIinuten Schlauchfahrzeuge und Schiffe herstellen, die mitunter denn doch recht hohe Leistungen aufweisen können und die z. B. Jäger sehr schnell bei der Hand haben, um etwa über einen Fluß zu kommen. Es ist interessant, daß aus diesem Stoffe sowohl die plumpsten, runde mit Leder über- zogene Körbe auf dem Euphrat, und die technisch ausgezeichnetsten P'ahrzeuge, die bekannten Ruder- kajaks der Eskimo hergestellt werden , ja die Tschuktschen haben sogar ganz vorzügliche große Segelboote aus Leder mit ledernen Segeln. P^benso wie bei den folgenden Materialien, aus denen Schiffe hergestellt werden, wies der Vor- tragende auch hier darauf hin, daß der Gedanke des F"ahrzeugs auf dem Wasser sich ethno- logisch überhaupt gar nicht trennen läßt vom Gedanken des Gefäßes. Schaff und Schiff ge- hört eben in außerordentlich vielen Sprachen zu- sammen und ethnologisch liegt natürlich der Ge- danke außerordentlich nahe, daß ein Gefäß das Wasser enthalten soll, wenn es leer ist (und nicht zu schwer ist), auf dem Wasser schwimmt. Ebenso wie man nun mit Fell einen Korb überziehen kann, kann man einen Korb mit Harz und ähnlichen Stoffen überziehen. Ein Teil der Korbboote Mesopotamiens ist mit Asphalt gedichtet. Ein Diminutivboot von außerordentlich schönen Formen aus dem Völker- museum von Hamburg, das aus Annam stammt, ist ein schön geflochtener Korb, dem der Harz- überzug fehlt 1 In der älteren Zeit müssen nun naturgemäß die Fahrzeuge aus Fell und Haut eine große Rolle gespielt haben. So hören wir von ihnen aus Gebieten, wo sie jetzt verschwunden sind, so z. B. Spanien, und der Kulturheros der Kelten, Taliesien, schwimmt im ledernen Schiff an, wie der germanische Skeaf im Schiff, dessen Material nicht weiter erwähnt wird, während bei seinem Sohn oder Duplikat Skjold des Schildes wegen an Holz oder an Leder gedacht werden kann. Daß auch in der nordeuropäischen Schiffahrt der älteren Zeit Leder eine größere Rolle ge- spielt hat, ersehen wir noch aus den gallischen Kriegen Cäsars, wo bei den für die Entwicklung der Seeschiffahrt sicher sehr wichtigen Venetern lederne Segel und lederne Ankertaue erwähnt werden. Die letzteren kennt auch noch das ger- manische Altertum. Natürlich überging der Vortragende auch nicht die große Bedeutung des Seh laue hs als eines primitiven Fahrzeugs. Solche Schläuche werden einzeln als P^ähren, auch als Seilfähren noch im heutigen Orient, aber auch noch heute im euro- päischen Albanien verwendet, und ebenso wie die Binsenflöße gibt es im holzarmen Peru auch Schlauchfahrzeuge. Bindet man mehrere Schläuche unter ein Gestell, so erhält man das bekannte Kelek Mesopotamiens, auf dem Moltke den Tigris hinunterfuhr. Aus dem Holzstamm eines Baumes wird nun einmal durch Zusammenfügung mehrerer das Floß, andererseits durch Aushöhlen der einzelnen der Einbaum, in Zeit und Raum ein natürlich außer- ordentlich verbreitetes Gerät außerordentlich vieler Stämme aller Stufen. Der Einbaum ist aber an die Größe des Stammes gebunden, er ist daher an sich nicht größer und breiter herzustellen und droht, auch wenn er groß ist, doch durch Um- schlagen dem Insassen mit Gefahr. Da hat nun der IViensch sich nach zwei Seiten zu helfen ge- wußt. Einmal, indem er zwei Einbäume mit einander verband. Aus dem Doppelkahn ist aber nautisch nichts Bemerkenswertes geworden. Wenn man dagegen statt des einen der Boote nur den Kiel eines Boots nimmt, d. h. das zweite Fahr- zeug auf den Ausleger reduziert wird, so hat man in diesem Auslegerboot ein ausgezeichnetes Fahrzeug, so daß diese Boote den kühnsten Seglern gehören, die wir kennen, den Insulanern Ozeaniens. Auch hier bleibt aber die Größe beschränkt, und die eigentliche Großschiffahrt hat auch diesen Weg nicht eingeschlagen. 460 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vin. Nr. 29 Das letzte, für den Urmenschen vielleicht wichtigste Material zur Herstellung von Schiffen und Gefäßen ist dem Kulturmenschen ganz aus den Augen gekommen, die Rinde. Aus Rinde biegt der Australier in wenig Minuten ein Wassergefäß, das auch als Kahn dienen kann. Rinde hat den Vorteil, daß sie sich sehr leicht nähen und kleben läßt, z. B. mit Harz. Solche Rindenschiffe sind außerordentlich verbreitet; wir werden sie auch bei uns bei den Ausgrabungen finden, wenn wir gelernt haben sie zu suchen. Über die Rinde und das Nähen der einzelnen Stücke aneinander suchte nun der Vor- tragende den Ursprung der Großschiffahrt. Wenn man auf einen Einbaum Rinde aufsetzte, gewann man dadurch ein weit wiederstandsfähigeres und weit geräumigeres Schiff. Auch hier spricht sich wie bei Schaff und Schiff vielleicht selbst bei uns noch ein Zusammenhang in dem Wortanklang von Barke an Borke aus. Natürlich aber konnte man nachher, wenn man das Verfahren erst kannte, auch die Planken eines großen Schiffs aneinander nähen, wie das in einem großen Teil von Indien und Indonesien noch heute vielfach geschieht. Mit dieser Technik hängt es wahrscheinlich zu- sammen, daß auch die ältesten ausgegrabenen Schiffe im europäischen Norden, die der Bronze- zeit angehören, genähte Schiffe sind und daß der moderne Schiffer immer noch ein dichtes Schiff ,, Hecht" nennt, was mit Heften zusammen- hängt, und daß er alles, was am Schiff zusammen- gebunden wird, „genäht" nennt. Zum Schlüsse verwies der Vortragende auf das ausgezeichnete Beispiel eines aus Planken genähten und mit Harzmasse gedichteten Auslegerbootes aus der Südsee im Lichthofe des Berliner Völkermuseums. I. A. : Prof. Dr. W. Greif, I. Schriftführer, Berlin SO 16, Köpenickerstraße 142. Bücherbesprechungen. W. Johannsen, Prof. ord. der Pflanzenphysiologie a. d. Univ. Kopenhagen, Elemente der exak- ten Erblichkeitslehre. Deutsche wesentlich erweiterte Ausgabe in 25 Vorlesungen. Mit 31 Fig. Jena, Gustav Fischer, 1909. — Preis 9 Mk. Wir haben es in dem vorliegenden Buch von 560 Seiten mit einer Monographie der Erblichkeits- lehre zu tun , d. h. wir finden alles Wesentliche zu- sammengestellt, was auf Vererbungserscheinungen be- ruht. Verf. hält sich dabei möglichst frei von Hypothesen , deren wichtigste er aber vorführt und kritisiert. Besonderes Gewicht hat Verf. schon früher auf das Studium „reiner Linien" gelegt, d. h. solcher, deren Individuen wohl miteinander vermengt sein können, jedoch einander nicht durch gegenseitige Befruchtung stören oder, wie man sagen könnte, ver- unreinigen. Es ist klar, daß das Verhalten reiner Linien die erste Grundlage für die Erblichkeits- forschung sein muß. Verf. bringt nun das Prinzip der reinen Linien mit dem Mendelismus in Verbin- dung. Er betont, daß die Variabilitätserscheinungen nur mittels des Erblichkeitsmomentes analysiert wer- den können und dem muß man ohne weiteres zu- stimmen, denn nur auf diesem Wege ist zu ent- scheiden , was auf äußere Einflüsse zurückzuführen ist und was auf innere. Näher auf ein so inhalt- reiches Buch einzugehen , eine Analyse , ein Referat des Gebotenen zu geben, ist kaum möglich ; es läßt sich wohl ein langer Artikel darüber schreiben , der eine ungefähre Idee von dem Vorgebrachten geben könnte, aber wenige Worte, wie sie in einer Bücher- besprechung zur Verfügung stehen, bedeuten nichts ; es sei deshalb nur ganz allgemein zum Ausdruck ge- bracht, daß das vorliegende Buch zu den wichtigsten gehört , die sich mit Gegenständen beschäftigen, welche zur Deszendenztheorie im weitesten Sinne gehören. Edward Bagnall Poulton, D. Sc, M. A., Essays on evolution, 1889 — 1907. Oxford, at the Clarendon Press, 1908. — Preis 12 sh. Der vorliegende Band bringt 10 Abhandlungen aus der Feder des Genannten zur Deszendenztheorie und eine Einleitung, die sich mit der Mutation, dem Mendelismus und der natürlichen Zuchtwahl beschäf- tigt. Die Aufsätze gehören organisch zusammen und sind dementsprechend geordnet , wenn sie auch zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, so daß die chronologische Ordnung nicht derjenigen entspricht, wie die Aufsätze im Buche aufeinander folgen. In Fußnoten werden notwendige Ergänzungen gebracht, die seit dem Erscheinen der betreffenden Abhandlungen erforschte Dinge bringen. In manchen Fällen hat auch Verf. den Te.xt direkt verändert. Prof. Dr. Brauer (Berlin), Die Süßwasserfauna Deutschlands. Eine Exkursionsfauna. Jena, Gustav Fischer. 1909. Von dem genannten Werk , an welchem nicht weniger als 29 Mitarbeiter für die verschiedenen in Betracht kommenden Tierfamilien und Gruppen mit- wirken, so Brauer selbst, Dahl, Heymons, Johansson, Matschie, Reichenow, Welt- ner usw. , liegen zwei Lieferungen vor, nämlich Heft 1 3 und Heft 1 5 , die sich beide mit den W'ürmern beschäftigen, und ferner Heft 56, das die von Georg Ulm er behandelten Trichoptera bringt. Das Werk soll überhaupt in einzelnen handlichen , d. h. in der Tasche bequem tragbaren Heften ausgegeben werden und zwar sind deren 19 vorgesehen , die außer der Reihe nacheinander er- scheinen werden. Es handelt sich um Hefte, welche eine möglichst leichte Bestimmung der einheimischen Tiere gestatten sollen und dies soll wesentlich durch die Beigabe zweckmäßiger und guter Abbil- dungen unterstützt werden. Die vorliegenden Hefte sind nach dieser Richtung gut ausgestattet. Mit der Herausgabe dieser Fauna wird ein langer, alter Wunsch vieler, die sich für die einheimische Organismenwelt interessieren , in der allertreft'lichsten N. F. Vin. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 461 Weise befriedigt. Das Werk wird großen Nutzen stiften und viel Freude machen! Ernst Kieckbusch unter Mitwirkung von Ericfi Kahler, Mit F a n g n e t z und S a m m e 1 s c li a c h- tel. Ein Wegweiser für junge Schmetterlings- sammler. Unter besonderer Berücksichtigung bio- logischer Verhältnisse bearbeitet. Mit 149 nach der Natur aufgenommenen .\bbildungen in Farben- druck auf 10 Tafeln und i Abbildung im Text. Bielefeld, Verlagshandlung der Anstalt Bethel. — Preis 3,60 Mk. Das Büchelchen ist wohl geeignet, hinsichtlich Text und Abbildungen, die sehr gut gelungen sind, eine Kenntnis unserer schönen Schmetterlings- welt zu vermitteln. Es ist nicht ein Buch, das aus- schließlich den beginnenden Sammler befriedigt, son- dern es blickt auch weiter um sich, behandelt seinen Gegenstand von einem weiteren Gesichtspunkt aus, und das ist sehr zu loben. Die Schrift ermöglicht auf Grund des Textes und der Abbildungen ein Be- stimmen von rund 300 unserer häufig vori b > c, so würde für a ^ X >> b Abstoßung , für b > x > c wieder An- ziehung usf. resultieren. Die Gravitationskurve würde also für sehr kleine Abstände als eine Art Wellen- linie verlaufen. In der ersten Gleichgewichtslage X ^ a könnte man den Wirkungsradius der Moleküle erblicken, für a ^ x ^ b würde der elastische Wider- stand gegen Druck, für x <^ b wieder die Anziehung der Atome (Affinität) zur Geltung kommen usf. In überraschend einheitlicher Weise gelingt dem Verf in der Tat auf diesem Wege die Verständlichmachung aller physikalisch- chemischen Eigenschaften. Verf ist sich voll bewußt, daß es sich freilich vorläufig nur um eine Hypothese handelt, deren Bestätigung nament- lich durch auf Grund derselben entwickelte Voraus- sagen noch nicht beobachteter Phänomene abzuwarten bleibt, aber jedenfalls ist seine Arbeit sehr verdienst- lich und zu weiteren Forschungen in dieser Richtung anregend. Kbr. Prof Dr. A. Winkelmann, Handbuch der Physik. 2. Auflage. II. Band: Akustik. 714 S. mit 367 Abbildungen. Leipzig, J. A. Barth, 1909. — Preis 25 Mk., geb. 27 Mk. (Preis aller 6 Bde. zusammen gebunden 234 Mk.) N. F. Vin. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 463 Mit dem Erscheinen dieses prächtigen, zweiten Bandes ist die zweite Aufhige unseres größten und vollständigsten Handbuches der Physik komplett ge- worden, wozu man dem Herausgeber und dem Ver- ieo-er von Herzen Glück wünschen kann. Es ist ge- wiß für den Herausgeber keine leichte Arbeit, ein Werk in kurzer Zeitspanne zum befriedigenden Ab- schluß zu bringen, an dem eine größere Zahl von Fachgelehrten in selbstloser, nur der Sache dienender Arbeit zusammenwirken müssen. Andererseits muß dankbar anerkannt werden, wenn ein Verlag das Risiko eines so umfassenden literarischen Unterneh- mens auf sich nimmt und damit die Arbeit der den Bau der Wissenschaft weiterführenden Forscher ganz wesentlich erleichtert. Der vorliegende, der Akustik gewidmete Band ist in seinem ganzen Umfang von F. Auerbach verfaßt, dem gerade dieser Zweig der Physik vom Beginn seiner physikalischen Studien an besonders nahe ge- legen hat. Die überaus reiche akustische Literatur ist in äußerst geschickter Weise zu einer einheitlichen Darstellung des Gesamlgebietes verwertet worden, die unterstützt wird durch vortreftliche Reproduktionen von Schwingungskurven aller .\rt und durch deutliche Abbildungen der zur Untersuchung der Klänge be- nutzten, sinnreichen Apparate. Erfreulicherweise ist auch die physiologische Akustik mit in den Bereich der Behandlung gezogen und ein 50 Seiten langes Schlußkapitel dem Gehörorgan, sowie der Stimme und Sprache gewidmet. In allen Teilen des Buches findet man Besprechungen hochinteressanter Experi- mentaluntersuchungen über die vielfach noch nicht völlig aufgeklärten Fragen, wie z. B. das Vokalproblem. Alle wichtigeren Veröffentlichungen sind genau nach- gewiesen. Kbr. Dr. Wo; Ostwald, Privatdozent an der Universität Leipzig, Grundriß der Kolloidchemie. Mit einem Porträt von Thomas Graham. Dresden, Theodor Steinkopfif, 1909. — Preis 12 Wk. Die von Thomas Graham begründete , aber zu- nächst nur untergeordnet beachtete Kolloidchemie hat bekanntlich neuerdigs ein weitgehendes Interesse gefunden, besteht doch gegenwärtig eine eigene Zeit- schrift, die sich mit dem Gegenstande beschäftigt. Besonders spielt die Kolloidchemie in die Bionto- logie hinein, so daß eine Beschäftigung mit dem Gegenstande nicht allein den Fachchemiker interessiert. Es ist daher sehr dankenswert , eine systematische Zusammenstellung wie die vorliegende in Form eines Lehrbuches zu besitzen, die einen enthebt, die weit- schichtige Spezialliteratur durchzusehen und unendlich viel Zeit damit zu vergeuden ; im übrigen gibt der Verf. überall die wichtigste Spezialliteratur an, so daß man in die Lage versetzt wird, sich noch näher über bestimmte Punkte zu orientieren. Literatur. Wien, F. Tempsky. — Leipzig '09 , G. Freytag. — Geb. 4,50 Mk. Buekers, Dr. P. G. : Die Abstammungslehie. Eine gemein- verständl. DarstcUg. u. krit. Übersicht der verschiedenen Theorien m. besonderer Berücksicht. der Mutationstheorie. (XI, 354 S. m. Abbildgn. 8°. Leipzig '09, Quelle & Meyer. — 4,40 Mk., geb. in Leinw. 5 Mk. James, Prof. William: P.sychologie. Übers, v. Dr. Marie Dürr, m. .^nmerkgn. v. Prof. Dr. E. Dürr. (V, 478 S. m. Fig.) gr. S°. Leipzig 'og , Quelle & Meyer. — 7 Mk., geb. in Leinw. 8 Mk. Lübsen, H. B. : Ausführliches Lehrbuch der Elementar-Geo- nictrie. Zum Schul- u. Selbstunterricht m. Rücksicht auf die Zwecke des prakt. Lebens in 2 Tln. bearb. 30. Aufl., neubearb. v. Prof. Dr. A. Donadt. S °. Leipzig '09, F. BrandsteUer. — Geb. 4,80 Mk., in i Bd. geh. 4 Jlk., geb. 4,50 Mk. Marchlewski, Prof. Dr. L. ; Die Chemie der Chlorophylle u. ihre Beziehung zur Chemie des Blutfarbstoffs. (X, 1S7 S. m. 6 Abbildgn. u. 7 Taf.) gr. 8". Braunschweig '09, F. Vieweg & Sohn. — 10 Mk., geb. in Leinw. II Mk. Schröter, Prof. Dr. C. : Eine E.skursion nach den Canarischen Inseln. Mit 31 Landschafts- u. Vegetaüonsbildern auf 20 Taf. (66 S.) gr. S'\ Zürich '09, Rascher & Co. — 3 Mk., geb. in Leinw. 4 Mk Westermarck, Prof. Dr. Eduard: Ursprung u. Entwicklung der Moralbegriffe. 2. Bd. Deutsch von Leop. Katscher. (Sachregister von E. Klinkhardt.) (III, 703 S.) Lex. 8». Leipzig '09, Dr. W. Klinkhardt. — 14,70 Mk., geb. 16,20 Mk. Abel, Prof. O.: Bau u. Geschiclite der Erde. Mit 226 Te.st- nguren u. 6 Farbentaf. u. Karten. (VIII, 220 S.) gr. 8". Anregungen und Antworten. Herrn Geh. -Rat K. in M. — Wir sind durchaus nicht damit einverstanden , daß Berühmtheiten und Autoren, deren Namen in „aller Munde" ist, nun auch durchaus als Forscher hervorragend sein müssen. Sehr deutlich — vielleicht etw.as zu scharf für die Empfindung Fernerstehender — drückt das Goethe in seinen Epigrammen so aus: „Mache der Schwärmer sich Schüler wie Sand am Meere — der Sand ist Sand; die Perle sei mein, du, o vernünftiger Freund!" Und ferner: „Schüler macht sich der Schwärmer genug, und rühret die Menge, Wenn der vernünftige Mann einzelne Liebende zählt. Wundertätige Bilder sind meist nur schlechte Gemälde : Werke des Geists und der Kunst sind für den Pöbel nicht da." Dasselbe gilt natürlich auch für Bücher und Zeitschriften. Was für eine tadelnswerte, oberflächliche, schlechte Literatur findet nicht die weiteste Verbreitung ! Es genügt, daß sie den verschwommenen und unreifen Kenntnissen der Allgemeinheit angepaßt sei und möglichst viele Konzessionen an den Trieb nach Wunderbarem, Paradoxem, macht und an die Neigung, alles anthropomorph, besonders animistisch anzusehen. Unter diesen Umständen hat es wohl eine gewisse Berechtigung, eine populäre Literatur von sehr großer Verbreitung zunächst mit Mißtrauen zu betrachten. Dementsprechend ist denn auch die wirklich gute populäre Literatur, die sich bemüht, den Laien heranzubilden zu den Höhen der Wissenschaft, wenig allgemein bekannt und verbreitet. Wer kennt und liest z. B. aus dem Volke die treft'lichen populären Vorträge von Helm- holtz und manchen anderen Gelehrten ersten Ranges, die es für eine schöne Aufgabe angesehen haben, die Allgemeinheit an den exakten Erfolgen der Naturwissenschaften teilnehmen zu lassen ? P- Herrn H. J. in Grimma. — Sie schreiben uns: Am 20. Februar hielt Dr. Braß hier einen Vortrag über das Thema ,, Mensch und Afte". In diesem Vortrag sagte er, daß der menschliche Embryo im Alter von 4 Monaten seine Haare verschlinge, um seinen Darm zu reinigen und für die Aufnahme der Milch fähig zu machen. — Sie möchten wissen , ob das richtig ist. — — Über die Wollhaare des Embryo sagt W. Krause („Die Entwicklung der Haut und ihrer Neben- organe" in: O. Hertwig, Handbuch der vergleichenden und 464 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. Vin. Nr. 29 experimentellen Entwicklungslehre der Wirbeltiere Bd. 2, Teil I, Jena 1906, S. 281 f.): „Die hervorgewachsenen Haare des Fötus werden als Lanugo bezeichnet. Sie sind gar nicht oder wenig pigmentiert, gelblich und folgen, zeitlich genom- men, in ihren Durchbruchsterminen den Verschiedenheiten, welche sich in dieser Beziehung im Auftreten bei den ersten Anlagen des Haares ergeben. Sie bestehen aus Rindensub- stanz und der inneren Lage der inneren Wurzelschcide, sind also marklos; ihre Hohlkolben sind marklos, selten beim Europäer bräunlich pigmentiert und ihr Haarbalg enthält eine schöne Haarpapille. Nach ihrem Hervortreten wachsen sie langsam weiter, am beträchtlichsten am Kopfe, werden auch mehr pigmentiert. Ein Teil stößt sich schon in den letzten Fötalmonaten ab, gelangt in die Amniosflüssigkeit, wird mit dieser verschluckt, erscheint dann im Meconium, dem Darm- inhalt des Fötus und wird mit diesem vom Neugeborenen entleert. Während des 1. und 2. Lebensjahres beim Men- schen, weit rascher bei Säugetieren, fallen die Wollhaare aus und werden durch die eigentlichen Haare (Ersatzhaare, sekun- däre Haare) ersetzt. . . . Beim menschlichen Fötus lassen sich die ersten Anlagen der primären Haare, die als Lanugo foetalis, Flaumhaare, von Waldeyer bezeichnet werden, am Ende des 3. oder Anfang des 4. Schwangerschaftsmonates erkennen. An den distalen Enden der E.xtremitäten erscheinen sie am spätesten, erst am Ende des 6. Monates, so daß um diese Zeit der ganze Körper von Wollhaaren bedeckt wird. . . Die ursprünglichen Haare beginnen im 6. Schwangerschaftsmonat beim Menschen auszufallen, indem sie durch nachwachsende Haare in demselben Haarbalg ersetzt werden. . . Am längsten erhält sich das fötale Flaumhaar an den Schultern". — Aus dieser Darstellung geht hervor, daß der Verfasser dem Auf- treten der Haare im Darm des Embryo keine besondere phy- siologische Bedeutung zuschreibt. — Es ist klar, daß diejeni- gen, welche die Abstammung des Menschen vom Tiere leugnen, dem embryonalen Wollhaar gerne eine Funktion zuschreiben möchten, weil damit einer der Gründe für die entgegengesetzte Ansicht zurückgewiesen wäre. Die von Braß gegebene Er- klärung dürfte aber unter vorurteilsfreien Forschern wenig Beifall finden. Wissen wir doch , daß die Tiere ver- schluckte Haare als Gewölle von sich geben und damit den Verdauungskanal von unnützem Ballast befreien. Wenn man behauptet, daß beim Embryo verschluckte Haare günstig auf den Verdauungskanal einwirken, so muß man dies mindestens erst in irgend einer Weise begründen. — Bis dahin bleibt die Erklärung der Gegner, welche in dem Wollhaar des menschlichen Embryo ein uns von unseren tierischen Vor- fahren überkommenes Erbstück erblicken, als die wahrschein- lichere zu Recht bestehen. — Es gibt übrigens schlagendere Gründe — um nicht zu sagen Beweise — für die tierische Abstammung des Menschen. Vor allem gehört dahin die Tat- sache, daß beim Menschen eine größere Zahl von Schwanz- wirbeln angelegt wird, als schließlich Wirbel vorhanden sind. Für diese überzähligen Wirbelanlagen werden die Gegner der Abstammungslehre kaum eine Funktion erfinden können (vgl. F. Dahl, Die Redeschlacht in Berlin über die Tragweite der Abstammungslehre S. 7 und 14). Dahl. Herrn Prof. P. E. in Oldenburg (Großh.). — Sie fragen, in wie vielen Tagen die Raupe der gewöhnlichen Kleider- motte aus dem Ei komme. — — Über die Lebensweise und die Vertilgung der Kleidermotte, Tinea petUontUa (sarcitella aut.) existiert eine sehr alte, aber klassische, um- fangreichere Arbeit von R. A. F. de Reaumur, Histoire des teignes ou des insectes, qui rongent les laines et les pelleteries in: Histoire de l'Acad. des Sciences Annee 1728, Paris 1753, p. 139 — 158 und 311 — 337 (fast unverändert wiedergegeben in R eaumur, Memoires pour servir ä l'Histoire des Insectes T. 3, Paris 1737, p. 41 — 96). Der Verfasser fand ungefähr 3 Wochen oder einen Monat, nachdem der kleine Falter seine Eier abgelegt hatte, die kleinen Räupchen. Die Eier, deren Ort er sich gemerkt hatte, waren verschwun- den. Nach seiner .\nsicht muß ein gründliches Abbürsten und Ausklopfen der Stoffe besonders im August oder Anfang September vorgenommen werden, da sich die Raupen dann am leichtesten entfernen lassen. — Weitere Literaturangaben über die Kleidermotte finden Sie in einer Arbeit von P. C. Zeller, in Linnaea entomologica Bd. 6, Berlin 1S52, S. 157. Dahl. Herrn F. in Schwirgallen. — Sie schreiben uns : In Schmeil, ,, Lehrbuch der Zoologie" (4. Aufl., S. 237) steht über Salamandra maculosa: ,,Die Haut des sonst vollkom- men harmlosen Tieres sondert einen ätzenden , giftigen Saft ab, der auf Vögel und kleine Säuger tödlich wirkt". In Paust, ,, Tierkunde" (4. Aufl., S. 192) steht dagegen: ,, . . . längs des Rückens (befinden sich) zwei Reihen von Drüsen, welche einen weißen Saft absondern, der aber ebensowenig giftig ist, wie bei der Kröte." — Wer von beiden hat Recht? — — Sie finden Ihre Frage nach dem neuesten Stande der Wissenschaft ausführlich beantwortet in einem Buche von O. Taschenberg, ,,Die giftigen Tiere" (Stuttgart 1909, S. 201 ff.). Ich entnehme den Ausführungen des Verfassers folgendes: ,, Dieser Bewohner unserer deutschen Gebirge ge- hört zu jenen Tieren, denen die neuere Zoologie Schreck- oder Warnfarben zuschreibt. Grellgelbe Flecke auf glänzend- schwarzem Untergrund geben dem Feuersalamander ein so auffälliges Aussehen, daß man sich nicht wundern kann, wenn ein vorurteilsvoller Mensch sich scheut, ihn anzugreifen. Dabei sitzen diese Lurche nach einem Gewitterregen so massenweise auf den Wegen oder bewegen sich so harmlos langsam dahin, daß man ihnen anmerkt, wie wenig sie vor Feinden auf ihrer Hut zu sein brauchen. Sie warnen durch ihre Farben und sind tatsächlich geschützt durch das Gift ihrer Hautdrüsen. Diese finden sich in einer den Rücken seiner ganzen Länge nach durchziehenden Doppelreihe angeordnet und bilden außer- dem in der Ohrgegend jederseits einen Wulst. . . . Sie liefern ein rahmartiges, dickflüssiges Sekret, welches die Tiere nicht willkürlich, sondern infolge starker Muskelreizung auszuspritzen vermögen. . . . Zalesky war es, der zuerst aus dem Sekret der Hautdrüsen eine organische Base isolierte und sie Sa- mandarin nannte. Diesem Namen liegt die persische Bezeich- nung des Tieres zugrunde , erst von anderer Seite wurde es später in Salamandrin umgeändert. Dreißig Jahre später ge- lang es Faust. . . . zwei wirksame Basen.... darzustellen. ... Faust hat die Giftwirkung dieser Stoffe am Frosch und an Säugetieren geprüft und ein Vergiflungsbild gefunden, das dem der Wutkrankheit der Tiere, der Lyssa, ähnlich ist und auch darin an sie erinnert, daß nach den einmal eingetretenen Vergiftungssymptomen niemals Genesung eintritt, also der Tod unausbleiblich ist." Dahl. Herrn Dr. K. in Braunfels. — Die Hauptwerke von Prof. Ascherson sollten doch jedem Botaniker bzw. botanischen Schriftsteller bekannt sein , wie seine berühmte Flora der Provinz Brandenburg von 1S64, die in ihrer 1898/99 erschie- nenen Neuauflage den Titel führt: ,, Flora des Nordostdeut- schen Flachlandes". Ebenso ist seine Synopsis der europäi- schen Flora ein Werk ersten Ranges. E. H. L. Krause hat z. B. u. a. etymologisch botanische Dinge in der Naturwiss. Wochenschr. behandelt. Inhalt: Prof. II. Kollio: Die Südpolarkontinenttheorie über tiergeographische Verhältnisse auf der Südhemisphäre. — Kleinere Mitteilungen: Th. Bokorny: Neues über die chemische Konservierung von Nahrungsmitteln. — K. C. Kot he: Das fasrige Exokarp der Kokosnuß. — Vereinswesen. — Bücherbesprechungen: W. Johannsen: Ele- mente der exakten Erblichkeitslehre. — Edward Bagnall: Essays on evolution. — Prof. Dr. Brauer: Die Süß- wasserfauna Deutschlands. — Ernst Kieckbusch: Mit Fangnetz und Samnielschachtel. — Willy Lange: Garten- gestaltung der Neuzeit. — Prof. Dr. Hans Molisch: Das Warmbad als Mittel zum Treiben der Pflanzen. — R. H. France; Pflanzenpsychologie als Arbeitshypothese der Pflanzenphysiologic. — Dr. Ka r 1 Wan d e r e r ; Die wichtigsten Tierversteinerungen aus der Kreide des Königreiches Sachsen. — Lecointe: Annuaire astronomique. — Prof. Dr. H. Strache: Die Einheit der Materie, des Weltäthers und der Naturkräfte. — Prof. Dr. .\. Winkelmann: Hand- buch der Physik. — Dr. Wo. Ostwald: Grundriß der Kolloidchemie. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge Vlll. Kaiul ; der ganzen Reihe XXIV. Band. Sonntag, den 25. Juli 1909. Nummer 30. Über Naturbilder mit besonderer Berücksichtigung von Pilzaufnahmen. [Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Photographie ergab sich von selbst das Ziel, Naturobjekte möglichst in der Natur selbst, in ihrer unmittelbaren Umgebung aufzunehmen. Solche Bilder wurden von einzelnen Liebhabern wohl immer angefertigt, aber dem größeren Publikum blieben sie unbekannt, weil ihre Repro- duktion allzu hohe Kosten verursachte. Nachdem G. Lindau. Nach diesem Vorbilde entstanden dann mehrere solcher Zusammenstellungen, in Deutschland na- mentlich die Natur Urkunden von Georg E. F. Schulz (herausgegeben von P. Parey, Berlin, Heft I Mk.) und Weicher's Naturbilder (herausgegeben von W. Weicher, Berlin, 12 Hefte zu 80 Pf.). Die Natururkunden bieten in den bisher erschienenen Heften eine große Zahl von Fig. I. Armillaria mellca (Vahl) Quel. jetzt durch die neueren Druckverfahren die Her- stellung ebenso schöner wie wohlfeiler Abzüge geglückt ist, begann man mit der Zusammen- stellung von solchen Naturansichten oder -bildern. Als ein derartiges Werk sind G o w a n ' s Naturbücher zu nennen, eine englische, sehr wohlfeile Veröffentlichung, deren Abbildungen aber klein und nicht in hervorragender Weise reproduziert sind. ausgezeichneten Bildern aus der Tier- und Pflanzen- welt, besonders auch von Pilzen. Die Wiedergabe der außerordentlich schönen Photographien ist von vollendeter Feinheit und bietet wohl das Beste, was bei so billigem Preise überhaupt her- zustellen ist. Während aber die Schulz'sche Veröff'entlichung nur den rein wissenschaftlichen Zweck im Auge hat, wenden sich Weicher's Naturbilder mehr an Fig. 2. Clitocybe fragrans (Sow.) Qucl. F'g' 3- Clitocybe flaccida (Sow.) Gill. o O O 46Ö Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 30 die breite Masse der Naturfreunde und Liebhaber, an alle, welche noch Freude und Genuß an der umgebenden Natur haben, und trotzdem nicht in der Lage sind, so intime Vorgänge aus der or- ganischen Welt, wie sie hier zur Darstellung gelangen, selbst beobachten zu können. Insofern schließen sich die Naturbilder eng an Gowan's Naturbücher an, stehen aber, was die Art der Wiedergabe und die Auswahl des Stoffes betrifft, weit über ihnen. Die einzelnen Bilder wechseln in der Größe je nach dem dargestellten Objekt, zeichnen sich aber alle dadurch aus, daß sie die Objekte scharf und klar wiedergeben. Ich will auf die vielen Bilder, welche die Brut- pflege der Vögel darstellen, nicht eingehen, ebensowenig auf die Darstellungen von höheren Pflanzen, von denen einige meisterhaft in Auswahl und Darstellung zu nennen sind, sondern ich will mich auf eine Auswahl von Pilzdarstellungen be- schränken und daran einige allgemeinere Betrach- tungen knüpfen. Bei Abbildungen von höheren Pilzen (und um diese handelt es sich hier allein) kommen vor- nehmlich zwei Punkte in Betracht, die allein zu einer lebenswahren Darstellung führen können. Das ist in erster Linie die naturgetreue Wieder- gabe des Pilzes selbst mit seinem charakteristischen Wachstum, seinen Entwicklungszuständen und seiner typischen Umgebung, in zweiter Linie die Wiedergabe seiner Färbung. Alle älteren Ab- bildungswerke, mögen sie auch mit der Hand koloriert oder mit lithographischer Vervielfältigung hergestellt sein, steckten sich das alleinige Ziel der naturgetreuen Wiedergabe der Farben. Von den älteren Werken von Trattinick, Krombholz, Fries und vielen anderen an bis herab zu den neuesten von Cooke, Boudier, Rolland, Michaelis usw., nicht zu gedenken der zahlreichen Abbil- dungswerke von eßbaren und giftigen Pilzen, handelt es sich immer wieder um die richtige Wiedergabe der Färbung des Einzelindividuums. Die Umgebung ist entweder ganz vernachlässigt oder höchstens angedeutet, die Entwicklungs- stadien sind nur in den wenigsten Fällen hinzu gezeichnet, obwohl sie bei manchen Gruppen, wie Cortinarius, den Velum - tragenden Agaricinen, Russula usw. unbedingt nötig wären. Den genannten Werken gegenüber stehen dann die neuesten, welche von der Wiedergabe der Färbung absehen und nur durch peinliche Anpassung an die Natur die Spezies zu um- schreiben sich bemühen. Mit der fortschreitenden Reproduktionstechnik haben diese Werke eine Vervollkommnung erlangt, daß auf die Färbung Verzicht geleistet werden kann. Vielleicht bringt uns die Ausbildung der F"arbenphotographie die letzte Vervollkommnung, wo dann alle Anforde- rungen, die an eine vollendete Wiedergabe ge- stellt werden müssen, in Erfüllung gehen. Ich kenne nur ein Pilzwerk, das aber leider nicht veröffentlicht ist und der hohen Kosten der Reproduktion wegen wohl auch stets ein Unikum bleiben wird, nämlich eine farbige Wiedergabe un- serer häufigsten Pilze mit ihrer charakteristischen Umgebung und ihren Entwicklungsstadien , her- gestellt in geradezu idealer künstlerischer Voll- endung von Herrn Bildhauer Adolf Rehn in Dresden. Dieses Werk, das die Zierde eines großen Schaumuseums bilden müßte, befindet sich vorläufig noch in Privatbesitz und dürfte wohl kaum in künstlerischer Beziehung, wie auch in der Naturtreue der Wiedergabe zu übertreffen sein. Die Herstellung solcher Tafelwerke scheitert stets an den hohen Kosten und infolgedessen an dem allzu geringen Absatz. Deshalb müssen Werke, die eine allgemeinere Verbreitung erlangen sollen, die Wohlfeilheit in erster Linie im Auge behalten. Diesem Punkte genügen nun die ein- farbigen Reproduktionen von guten Photographien in genügender Weise. Ich möchte deshalb auf die Weichert'schen Naturbilder hinweisen und einige Beispiele hier wiedergeben und kurz be- sprechen. Fig. I zeigt den bekannten Honigpilz, Ar- millaria mellea, einen ebenso wohlschmecken- den Speisepilz wie gefährlichen Baumfeind. Der Hallimasch ist ein häufiger Bewohner von Laub- und Kiefernwäldern und bildet gewöhnlich seine Hüte am Grunde der Bäume und an alten Stümpfen aus. Seine anfangs honiggelben, später gelbbraunen Hüte sind auf der haarig-zottigen Oberfläche mit gelbbraunen, später schwärzlichen Schuppen besetzt. Der Stiel ist blaßrötlich, wird aber später braun und trägt über der Mitte einen flockig-häutigen, weißlichen Ring. Die Lamellen stehen ziemlich weitläufig, laufen etwas herab und ihre rein weiße Farbe geht im Alter ins Bräun- liche über; meist sind sie dann auch mit bräun- lichen Flöckchen bedeckt. Die weißen Sporen werden in großen Mengen abgeworfen, so daß die Umgebung oder darunter befindliche Hüte dicht mehlig bestäubt aussehen. Der Hallimasch ist ein vorzüglicher Speisepilz, aber er muß sehr jung eingesammelt werden, da er im Alter zähe und wässerig wird und meist im Innern von Maden wimmelt. Dieser Pilz bietet so viele interessante Einzel- heiten, daß man ein ganzes Buch darüber schreiben könnte. Als ein gefährlicher Parasit kann er ganze Bestände von Kiefern vernichten, ohne daß wir imstande wären, etwas dagegen zu tun. P> ver- breitet sich nicht bloß durch die Sporen, sondern die Stränge seines Mycels, die Rhizomorphen ge- nannt werden, verbreiten sich im Boden und greifen die Wurzeln der Bäume von da aus an. Die Rhizomorphen bilden oft viele Meter lange, schwarze, etwas flache, feste Stränge, die sich verzweigen und mit Spitzenwachstum sich ver- längern. Sie infizieren die jungen Wurzeln und wachsen in ihnen zum Stamm herauf. Die feinen Mycelfäden zerstören die Paretichymteile des Holzes und erzeugen eine Weißfäule des Holzes, indem sie allmählich die Zellmembranen auflösen. Bei jungen Kiefern kommt die eigentümliche Er- Fig. 6. Polyporus versicolor L. Fig. 7. Polyporus versicolor L. 470 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 30 scheinung zustande, daß das Bäumchen am Wurzel- hals wie umgedreht aussieht und sich zugleich Harzausfluß an dieser Stelle zeigt. Verursacht wird diese eigentümliche Erscheinung durch die Auflösung der Harzbehälter, wodurch große Harz- beulen in der Rinde entstehen. Näher auf diese von Hartig genauer studierte Erscheinungen kann ich hier nicht eingehen. Besonderer Schaden wird an den Kiefernpflanzungen dann angerichtet, wenn die Schonung auf dem Boden eines früheren Buchenwaldes angelegt wurde. Im Boden finden sich dann stets Rhizomorphen vor, die sofort ihre zerstörende Tätigkeit an den Bäumchen beginnen. An den Rhizomorphen ist besonders be- merkenswert, daß sie im Finstern leuchten. Wenn man die Rinde von einem durch den Hallimasch getöteten Baum abhebt, so findet man unmittel- bar unter ihr die Stränge der Rhizomorphen, die oft ein dichtes Flechtwerk bilden. Fig. 2 zeigt eine Gruppe von Clitocybe fra- grans, eines im Gras und zwischen Moos häufig in Wäldern wachsenden Pilzes. Wie alle Vertreter der Gattung Clitocybe zeichnet er sich durch die eigenartige Form des Hutes aus. Die Oberfläche desselben ist nämlich anfangs schwach gewölbt, wird dann eben und sinkt zuletzt trichterförmig ein ; dabei laufen die Lamellen weit herab und verschmälern sich. Der Hut besitzt wässeriges Fleisch, ist von hellgraubrauner Färbung und in trockenem Zustande weißlich, glänzend. Am leichtesten ist der Pilz durch seinen intensiven Geruch nach Anis kenntlich. Gegessen wird die Art nicht, weil sie bei ihrer Kleinheit, nur 2 — 4 cm breit und ebenso hoch, kaum genügende Ausbeute geben würde. Einen anderen Vertreter aus dieser Verwandt- schaft zeigt Fig. 3, Clitocybe flaccida. Hier ist der Hut typisch trichterförmig, rostgelb oder röt- lich , mit breit umgeschlagenem Rande. Die Exemplare werden meist größer als bei C. fragrans. Nicht immer, aber bisweilen wächst der Pilz in sogenannten Hexenringen. Die Abbildung zeigt einen solchen Hexenring in typischer Weise. Die Pilze bilden einen großen Kreis, dessen Durch- messer häufig mehrere Meter beträgt. Die Er- scheinung ist leicht erklärlich, wenn man bedenkt, daß die Hüte ja aus dem im Boden lebenden Mycel entstehen. Dieses Mycel hat die Eigentüm- lichkeit, streng zentrifugal zu wachsen und nur an den äußersten Enden Hüte zu bilden. Dadurch müssen dann notwendig die Hüte die Peripherie eines Kreises bilden. Während natürlich im ersten Jahre des Mycelwachstums nur ein kleiner dicht gedrängter Trupp von Hüten entsteht, wird im zweiten Jahre ein Kreis mit geringem, in den späteren Jahren mit stets sich vergrößerndem Durchmesser gebildet, bis schließlich der Zu- sammenhang des Mycelringes verloren geht und die Ringe zu unregelmäßigen Gruppen aufgelöst werden. Bei vielen anderen Hutpilzen sind ähn- liche Hexenringe zu beobachten. Der kürzlich verstorbene Mykologe Henning's hat eine Zu- sammenstellung der Arten gegeben (Gartenflora 1904), welche bei uns Hexenringe bilden. Wie schon der Name besagt, haben sich an diese eigenartige Erscheinung früher allerhand aber- gläubische Vorstellungen geknüpft. Zu stattlichen Pilzen führen uns die Fig. 4 u. 5. Es ist Coprinus comatus oder porcellanus, ein Tintenpilz, der zu den größten und schönsten unserer einheimischen Pilze zählt. Der ganze Pilz wird 20 und mehr cm hoch. Der Hut ist anfangs eng mit seiner Schneide dem Stiel ange- drückt, breitet sich dann aber später etwas aus. Seine Farbe ist ein reines, porzellanartiges Weiß, die Oberfläche ist mit dicken, sparrig abstehenden Schuppen bedeckt. Der dicke Stiel ist hohl, am Grunde knollig verdickt, ziemlich derb und be- sitzt dieselbe reinweiße Färbung. Die Lamellen sind zuerst weiß und werden dann von der Schneide her zart rosenrot, dann braun und end- lich bei der Reife schwarz. So bietet sich uns dieser herrliche Pilz dicht vor der Reife dar. Er wächst häufig an Stellen, wo Dung oder Abfall lagert; so findet man ihn besonders häufig an schattigen Chausseen am Rande, wo der Sclimutz des Weges mit Exkrementen vermischt abgelagert wird. Besonders nach Regenwetter schießt er faßt sehentlich aus dem Boden. Nicht zum Wiedererkennen ist aber der Pilz, wenn die voll- ständige Reife eintritt. Dann zerfließt der Hut, wie Fig. 5 zeigt, vom Rande her allmählich und in großen Tropfen, die von den Sporen tinten- schwarz gefärbt sind, fließt die Substanz herab. Zuletzt bleibt von dem ganzen Pilz nur der Stiel stehen, der dann ebenfalls bald vergeht. Man hat die schwarze Sporenflüssigkeit als eine Art Tinte benutzt und Kny hat vor Jahren einmal den Vorschlag gemacht, die Sporenflüssigkeit zum Bedrucken von Kassenscheinen und anderen solchen der Nachahmung leicht ausgesetzten Papieren zu verwenden. Ob dieser Vorschlag jemals zur Anwendung gekommen ist, weiß ich nicht. Die beiden nächsten Bilder (Fig. 6, 7) zeigen uns sehr schöne Gruppen von Polyporus versicolor, eines Porenschwammes, der bei uns überall an Laubholzstümpfen häufig ist. Er heißt nicht um- sonst mit dem Speziesnamen versicolor, denn die Variabilität in seiner Färbung ist ganz außer- ordentlich und junge Exemplare zeigen oft die schönsten bunten Farbenzusammenstellungen. Die Hüte sind halbkreisförmig oder fast kreisförmig, am Grunde meist etwas zusammengezogen, mit lederartigem, zähem, weißem Fleisch ; gewöhnlich stehen sie dicht dachziegelartig übereinander und bilden häufig sehr ausgedehnte Gruppen. Während die Unterseite der Hüte stets weißliche, erst später etwas bräunliche Poren besitzt, zeigt die Oberfläche eine mehr oder minder regelmäßige Zonung; jede Zone zeigt eine andere Färbung oder ist durch einen anders gefärbten Streifen ab- gesetzt. Die Farben sind gewöhnlich weißlich, grau, braun, schwärzlich, blauschwarz in verschie- 472 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 30 denen Abtönungen. Dazu überzieht die ganze Oberfläche eine feine sammetartige oder seiden- glänzende Behaarung. So erscheint der Pilz vor seiner Reife als ein Beispiel feiner Farbenab- stufungen, nach der Reife dagegen wird er unan- sehnlich und im zweiten oder dritten Jahr ist dann die F"arbenpracht verschwunden. Die Be- haarung der Oberfläche ist vergangen und die bunte Färbung hat einer gleichmäßigen, weißlich- bräunlichen oder mißfarbenen Tönung Platz ge- macht. Gewöhnlich sind dann das Innere und tropfen die Sporen in grünen Tropfen ab und es bleibt nur die weiße, grubige Gleba zurück. Die Entwicklung dieses stattlichen, bis 20 cm hoch werdenden Pilzes ist äußerst interessant, aber so verwickelt, daß ich sie hier nicht zur Darstellung bringen kann. Ich möchte nur erwähnen, daß der gesamte Fruchtkörper aus dem sogenannten Ei hervorgeht, wie z. B. Fig. 9 eines zeigt. Nach Zerreißen der äußeren Hülle kommt der Stiel hervor und streckt sich in sehr kurzer Zeit zur vollen Länge. Man kann die Streckung direkt \ 4 ■^^' Fig. 10. Alcuria aurantia (Müll.) Fuck. die Porenschicht schon vollständig durch Maden zerfressen. Einer unserer merkwürdigsten Pilze ist die in Fig. 8 u. 9 dargestellte Gichtmorchel, Ithyphall us impudicus. Man entdeckt diesen Pilz im Walde meist eher mit der Nase, als dem Auge. Zwischen Laub, wo er sehr häufig, aber doch fast immer zerstreut sich findet, hebt er sich wenig ab, dafür aber verbreitet er einen Aasgeruch, den man oft schon aus weiter Ferne wahrnimmt. Der fertige Pilz besteht aus einem wabig lockeren, weißen Stiel, auf dem oben haubenartig die Gleba sitzt, die das grüne Hymenium trägt. Die Gleba besitzt an der Spitze eine Durchbohrung. Bei der Reife messen und findet ziemlich hohe Wachstumswerte. Durch die wabige Struktur des Stieles wird natürlich der Streckungsvorgang besonders er- möglicht. Die Eier werden an Mycelsträngen gebildet, die im Waldboden zwischen Laub wachsen. Sie sind auf den ersten Blick kenntlich und unterscheiden sich sofort von allen Strang- mycelien , die im Waldhumus oder im Laube leben. Die Stränge sind nämlich ganz weiß, drehrund, etwa von Zwirnsfaden- bis Stecknadel- stärke, sparrig verzweigt und sehr zähe. Wenn man sie zerreißt, so sieht man, daß sie im Innern gallertig glasig, etwas bräunlich sind und daß nur die Rinde rein weiß ist. Solche Stränge sind in N. F. VIII. Nr. 30 Naturwissen-schaftliche Wochenschrift. 473 feuchten Buchenwäldern fast stets im Laube nach- zuweisen. Dagegen scheinen die Mycehen nicht alle Jahre Fruchtkörper zu bilden. Ich erinnere mich, daß im Jahre 1890 bei Münster an sehr vielen, mir genau bekannten Stellen im Walde massenhaft h'ruchtkörper vorhanden waren, während im darauffolgenden, fast eben so günstigen Pilz- jahre nicht eine Spur davon zu finden war. Diese Erscheinung ist noch nicht genügend bekannt, verdiente aber, daß sie weiter beobachtet würde. Den Schluß der hier wiedergegebenen Ab- bildungen macht (Fig. 10) ein Discomycct, Aleuria aurantia. Dieser Pilz gehört zu den größten und schönsten unserer einheimischen Scheibenpilze. Die bis 10 cm im Durchmesser haltende P>ucht- scheibe ist schüssel- oder krugförmig, später wohl auch mehr oder weniger flach, verbogen und am Rande eingebogen oder bisweilen eingeschlitzt. Die Innenseite zeigt eine wunderschöne orange- rote P"ärbung, die Außenseite ist etwas blasser rötlich und mehlig weiß bestäubt. Gewöhnlich stehen die Fruchtkörper dicht zusammen und pressen sich gegenseitig. Man findet diesen Pilz nicht sehen auf lehmigem oder sandigem feuchten Waldboden im Mai und Juni. Die leuchtend roten Scheiben fallen schon von weitem ins Auge. Besonders schön eignet sich diese Art für das Experiment des Sporenschießens. Diese Schlauch- pilze haben nämlich die Eigenschaft, daß eine große Anzahl von Schläuchen gleichzeitig ihre Sporen herausschleudert. Ein solches Schleudern tritt ein bei Erschütterungen, plötzlichen Luft- bewegungen u. dgl. Am besten legt man die Pilze in eine Botanisiertrommel oder eine bedeckte Glasschale mit etwas feuchtem Moos aus. Öffnet man plötzlich den Deckel, so erhebt sich von der Scheibe eine weißliche Wolke, die aus fortge- schleuderten Sporen besteht. Man kann den Vor- gang beliebig oft hervorrufen, wenn man längere Zeit verstreichen läßt, ehe man von neuem den Deckel lüftet. Die Färbung der Scheibe wird durch orangerote Öltropfen hervorgerufen , die sich in den Paraphysen befinden. Diese Proben mögen genügen, um auf die Weicher'schen Naturbilder vom Standpunkte des Pilzforschers aus aufmerksam zu machen. Zeigen doch die Abbildungen, daß sich auch ohne Farben- ton eine große Naturtreue in den Abbildungen durch die Photographie erzielen läßt. Kleinere Mitteilungen. Empfehlenswerte neue Kulturpflanzen für unsere Kolonien. — Die Eingebornen Afrikas haben mit bewundernswertem naturwissenschaft- lichem Instinkt die wertvolle Kolanuß als An- regungsmittel erkannt und in der Nähe ihrer Hütten und Niederlassungen angebaut. Die Kola- nuß stammt bekanntlich von einem Baum west- afrikanischer Herkunft aus der Ordnung der „Malvenartigen" und ist als koffeinhaltiges An- regungsmittel seit einiger Zeit auch bei uns be- kannt. Die Pflanzungen in Westafrika beginnen mehr und mehr den Kolabaum in Kultur zu nehmen, da schon 7 jährige Bäume — nach den Ergebnissen einer seit 10 Jahren angelegten Kola- pflanzung im Lagosgebiet — einen Durchschnitts- ertrag von 20 Mk. im Jahre 1906 geliefert haben sollen. Schon Liebig stellte im Jahre 1867 fest, daß die Kolanuß Koffein enthalte; Heckel und Schlagdenhauffen wiesen im Jahre 1883 nach, daß neben dem Koffein auch noch Theobromin vorhanden sei. Dabei ist aber noch heute die Frage nach der Stammpflanze nicht ganz geklärt (Warburg, Beiheft zum Tropenpflanzer 1906) und bedarf auch das chemische Studium noch weiterer Anstrengungen. In diesem Sinne beschreibt Korpsstabsapotheker Dr. L. Bernegau aus Berlin die Pflanze in dem Jahresb. d. V. f. angew. Bot. 1907. Nach ihm eignen sich zur Anpflanzung die als Kolanuß hochwertigen aromareichen zweisamigen Kolasorten , namentlich die Mandingo- und Aschanti-Kolanüsse, die zur Art Cola vera Schu- mann gehören. Auf entsprechende Feuchtigkeit ist bei der Kolaanpflanzung zu achten. Für die Verwertung der wildwachsenden mehr- samigen zur Art Cola acuminata gehörigen Sorten und auch der schleimhaltigen Kolanüsse empfiehlt sich die Aufbereitung zu Rohkolaextrakt am Produktionsort, da diese Cola acuminata-Extrakte am europäischen Markte gute Preise erzielen. Für Anpflanzungszwecke empfehlen sich nur die nicht schleimhaltigen Cola acuminataSorten. Die Ein- geborenen sind anzuhalten, die Kolafrüchte abzu- pflücken, die Früchte aber nicht zu öffnen, son- dern ungeöffnet zur Faktorei oder Pflanzung zu bringen. Für die Aufbereitung der Kolanuß durch Trocknung empfiehlt sich das Trocknen bei niedrigen Temperaturen im Obstdörrapparat, besser in Vakuumtrockenapparaten. Die getrockneten Nüsse sind in hermetisch verschlossenen Dosen, nicht in Säcken, aufzubewahren und zu verschiffen. Für Konservierung frischer Kolanüsse ist die Kon- servierung in Gläsern oder Dosen durch Erhitzen unter Druck im Autoklave geeignet. Die Kolakultur ist für Togo und Kamerun empfehlenswert,') weil der Be- darf an guten Kolanüssen in Afrika enorm steige- rungsfähig und die Nachfrage in Europa von Jahr zu Jahr im Wachsen begriffen ist. Nach Ansicht von Kennern Nordafrikas ist für frische Kolanüsse in konservierter Form in Marokko, Algier, Tripolis, ') In Agege ist 1 Stunde von der Eisenbahnstation Agege der Strecke Lagos-Ibadan eine Kolapflanzung, in welcher schon 1904 2000 Kolabäume standen, neben 40000 Kakao- und 60000 Kaffeebäumchen, dazwischen Bananen und .'\nanas, Süßkartoffeln, Kassavesträucher, Baumwolle. 474 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 30 ferner in der Türkei, in Ägypten, Arabien, be- sonders Mekka und Malta, also da wo Mohamme- daner wohnen, ein Kolamarkt par excellence für Erzielung guter Durchschnittspreise. In Tripolis stellte B. fest, daß für frische Conacry-Kolanüsse der Art Cola vera 6 P"rs. pro Kilo bezahlt wurden. „Diese Kolanüsse waren ein Vorbote des neuen Handelsweges Dakar-Tripolis auf dem Seewege an Stelle des Karawanen weges Timbuktu-Mursuk und zeigen deutlich Frankreichs wirtschaftliche Fort- schritte in seinen afrikanischen Kolonien." Die Temperenzbewegung in Europa bedingt eine stärkere Nachfrage nach der Kolanuß seitens der Industrie für Herstellung alkoholfreien an- regenden Fruchtgetränkes, der Kakao- und Schoko- laden-Industrie, der chemischen Fabriken, Apo- theken und der technischen Industrien. Eine Überproduktion, wie beim Kaffee, ist bei Kola- nüssen voraussichtlich in absehbarer Zeit nicht zu befürchten. Bisher wurde Kolanuß auf dem Karawanenweg (über Timbuktu oder Kano oder den Tsadsee nach Mursuk) befördert. Dabei schimmelten und verdarben viele. Bald aber wird der Karawanen- weg ersetzt sein durch die bequemere Wasser- und Eisenbahnstraße Timbuktu-Dakar. Auch die beschleunigte Ausführung der Eisenbahnbauten in Togo und Kamerun ist eine Notwendigkeit, wenn der deutsche Händler seinen Teil haben soll an der Ausfuhr aus Zentralafrika und dem Sudan (Straußenfedern, Ziegenfelle, Elfenbein, Kautschuk, Erdnüsse, Tabak, Vieh usw.). Über die Akklimatisation der Süß- kartoffeln (Bataten) bei uns und in unseren Kolonien schreibt derselbe Autor, daß die bisher mit Anpflanzungsversuchen von Bataten in Deutsch- land gemachten Erfahrungen ungünstig seien. Es wurden keine oder nur kleine Knollen erzeugt (Posen, Ostpreußen, Pommern). In Berlin aller- dings waren die Resultate etwas günstiger, es wurden über ein Pfund schwere Bataten geerntet; hingegen teilt Graebner in Karlsruhe wiederum mit, daß die Knollen nicht ausreifen und die Kultur schwierig sei. Auf den Azoren wird die Batate (aus Zentral- amerika kommend) heutzutage in vorzüglicher Qualität erzeugt. Sie ist zu Futter- und tech- nischen Zwecken und als Rohstoff für die land- wirtschaftliche Industrie der KartofiTeJ überlegen, während diese als Speisekartoffel die Süßkartoffel übertrifft. In den Kolonien (Westafrika) wäre es nach der Meinung von B. ein Fehler, wenn man aus Süßkartoffeln, die dort gut gedeihen, Spiritus er- zeugen würde, da hierdurch die deutschen Kar- toffelproduzenten, welche sehr große Mengen von Kartoffelsprit in Westafrika einführen, geschädigt würden. Nicht aber würde der deutsche Kar- toffelbau betroffen werden durch Einfuhr dekla- rierter Dörrsüßkartoffeln, da das Kartoffelmehl das Süßkartoffelmehj nicht ersetzen kann, wohl aber das Süßkartoffelmehl in Wettbewerb mit Hafer- mehl aus russischen, amerikanischen und argen- tinischen Hafersorten oder mit ausländischen Maismehlen treten kann. Auch auf die Verwertung der Samen von Parkia africana, aus welchen die Ein- gebornen Togos ,,Dauadauakuchen" herstellen, wie Hauptmann v. Döring berichtet hat (Amtsblatt von Togo 1907), macht Bernegau aufmerksam als ein Fett und Eiweiß enthaltendes Nahrungsmittel. Sonst kommen , als von fett- und eiweiß- liefernden Pflanzen stammend, in unseren Kolonien in Betracht u. a. die Produkte von Erdnuß, Sesam, Ul- und Kokospalme und — bei der hoffentlich schnell fortschreitenden Entwicklung der deutschen Baumwollkultur, deren Nebenprodukt Baumwoll- saatkuchen und Cottonöl sind — Baumwollsaat, deren Ausnutzung wesentlich die Rentabilität der Baumwollkultur im Wettbewerb mit der ameri- kanischen herbeiführen kann. ,,Im Interesse der landwirtschaftlichen Viehhaltung und der billigen Fleisch- und Vieherzeugung dürfte es liegen, wenn die eiweiß- und fetthaltigen Pflanzen und [die daraus zubereiteten Futtermittel und Fette zu er- mäßigten Zollsätzen — besser noch zollfrei — aus deutschen Kolonien eingeführt werden könnten." Die Parkia ist eine Gattung aus der F'amilie der Leguminosen und umfaßt 21 afrikanische Arten, soweit bis jetzt bekannt. Daß eine davon, die P. africana, sich zur Kulturpflanze eignen könnte und daß die Eingebornen aus ihren Samen Brot machen, ist erst seit dem vorigen Jahre (siehe er- wähnte Publikation von Hauptmann v. Döring) bekannt. Th. B. Vereinswesen. Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde (E.V.). — Am 18. Januar sprach Herr Prof Dr. Gustav Gaßner von der Uni- versität Montevideo über „Land und Leute von Uruguay" (vgl. den Januarbericht der Ge- sellschaft). Die Republik Uruguay , so führte der Vor- tragende aus, nimmt trotz ihrer Größe von nur 185000 qkm unter den südamerikanischen Re- publiken eine hervorragende Stellung ein. Es liegt das nicht zum mindestem an der überaus günstigen Lage. Von 3 Seiten von Wasser und Wasserläufen umspült, erfreut sie sich ausgezeich- neter Schiffahrtsbedingungen mit dem Auslande. Im Westen bildet der Uruguayfluß die natürliche Grenze, dem das Land auch seinen Namen: „Re- publica Oriental del Uruguay", d. h. die östlich vom Uruguay gelegene Republik, verdankt. Im Süden und Osten bilden der La PJata und der Atlantic die weiteren Grenzen. Im Norden stößt es an die südlichen Provinzen von Brasilien. Die Hauptstadt des Landes, Montevideo, mit etwas mehr als 300000 Einwohnern liegt an der süd- östlichen Ecke, also am Ausfluß des Rio de la Plata ins Meer. Die Gesamteinwohnerzahl des Landes beträgt etwa eine Million. N. F. VIII. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 475 Infolge der überaus nahen Lage zum Meer und zum La Plata, der in seiner Mündung durch- aus meerartigen Charakter hat, ist das Klima Uruguays gegenüber den weiter im Innern auf denselben Breitegraden liegenden Teilen Süd- amerikas besonders bevorzugt und muß in jeder Hinsicht als ein ausgezeichnetes bezeichnet wer- den. Insbesondere macht sich wie immer beim Seeklima die Minderung der Temperaturextreme, insbesondere der Hitze im Sommer, angenehm bemerkbar. Trotz der geographischen Lage unter dem 30. — 35. Breitegrad pflegt das Thermometer im Sommer nicht über 35" C hinauszugehen, im Winter sinkt die Temperatur selten unter — 3" herab. Das Jahresmittel schwankt zwischen 16" und 17". Die Niederschläge verteilen sich in mehr oder weniger regelmäßiger Weise über das ganze Jahr und schwanken ziemlich bedeutend zwischen 600 und iioo mm pro Jahr. Größere Trockenperio- den kommen vor, jedoch sehr unregelmäßig, mal im Winter, mal im Sommer. Von sonstigen klimatischen Faktoren sind besonders die vor- herrschenden starken Winde zu erwähnen , von denen der als ,,Pampero" bezeichnete Südwind der stärkste ist und stets Kälte mit sich bringt. Der äußere Anblick des Landes selbst ist ein ziemlich einheitlicher. In der Hauptsache haben wir Steppenformation, den sog. „Camp", der sich meist leicht hüglig gewellt dem Auge darbietet. Größere Anhöhen liegen vor allem in der Sierra vor, die sich etwa in der Richtung von Südosten nach Nordwesten quer durch das Land erstreckt. Die größten Anhöhen sind etwa 500 m hoch, jedoch wegen der dornigen Vegetation, von denen sie zuweilen bedeckt sind, oft nur schwer besteig- bar. Geologisch ist das Land bisher nur sehr unvollkommen erforscht. Der größte Teil des Landes besteht aus Urgestein bzw. Verwitterung von Urgestein. Ganitwerke finden sich daher sehr häufig und liefern ein ausgezeichnetes Ma- terial für Häuser- und Straßenbau. Im Norden der Republik haben wir vor allem Sandstein- formation mit eigenartigen tafelartigen Bergen, meist von geringerer Höhe. Die Vegetationsverhältnisse der Republik wur- den eingehender besprochen. Die klimatischen Faktoren, vor allem die regelmäßige Verteilung der Niederschläge über die verschiedenen Jahres- zeiten, bedingen als Hauptvegetationsformation die Steppe oder den „Camp", der naturgemäß einen etwas eintönigen Eindruck macht. Weitaus der größte Teil der Republik ist Camp und dient auch heute noch als Weideland. Nur selten finden sich Bäume im Camp, von denen der Ombü (Phytolacca dioica) der bekannteste ist und als Schattenbaum sehr geschätzt wird. Gegenüber der Campformation als klimatischer und hauptsächlicherVegetationsformation Uruguays lassen sich nun einige andere, durch örtliche Ein- flüsse bedingte „endaphische" Vegetationsforma- tionen unterscheiden: zunächst die Umwandlung des Campes in den Baüado oder Sumpf, die sich mit zunehmender Bodenfeuchtigkeit vollzieht. Diese Bafiados begleiten oft meilenweit die Fluß- läufe und sind meist unpassierbar. Mit zunehmender Trockenheit des Bodens ändert sich naturgemäß ebenfalls die Campvege- tation; insbesondere an den sandigen Küsten treffen wir Dünen- und Wüstenformation an. Eine weitere örtliche Vegetationsformation stellen die als „Monte" von den Einheimischen bezeichneten Wälder dar. Es sind das nicht Wälder im deutschen Sinne, derartige Wälder existieren nicht in Uruguay oder sind künstlich angelegt, sondern es sind meist nur mehr oder weniger schmale Gehölze, die als Galleriegehölze die Flußläufe begleiten und sich nur hier anfinden. Sie grenzen sich gewöhnlich in sehr scharfer Linie vom Camp ab; es erscheint daher unwahr- scheinlich , daß in früheren Zeiten die Republik Uruguay von Wäldern bedeckt gewesen sein sollte, oder diese Wälder müssen eine andere Zu- sammensetzung gehabt haben, oder schließlich, es muß sich im Lauf der Zeiten eine bedeutende Veränderung der klimatischen Faktoren vollzogen haben. Als letzte Vegetationsformation wurde die Vegetation der Höhen oder „Sierras" erwähnt, die sich durch ihren strauchartigen und völlig xero- philen Charakter deutlich von der baumartigen Vegetation an den Flußläufen unterscheidet. Am typischsten ist diese Vegetationsform am äußer- sten Ausläufer der Sierra, am Fan de Azucar und Cerro de los Toros ausgeprägt, wo ihr Haupt- vertreter, die gefürchtete „Espina de la Cruz" (Colletia cruciata) undurchdringliche Gestrüppe bildet. Diese Formation ist daher als Dorn- oder Espinalformation zu unterscheiden. Auf die nähere Zusammensetzung der einzelnen Vegetationsformationen wurde nicht eingegangen; besondere Erwähnung wurde nur noch des Vor- kommens wilder Palmen getan, die sich vor allem in verschiedenen Spezies der Gattung Cocos im Norden und Osten der Republik vorfinden. Sie kommen sowohl in den Montes wie auch in der Vegetation der Sierras vor. Die Fauna des Landes ist keine besonders mannigfaltige. Der in früheren Zeiten auch in Uruguay vorkommende amerikanische Tiger ist längst verschwunden, und der Puma, wenn er überhaupt noch vorkommt, dürfte nur noch in den undurchdringlichen Dorngestrüppen anzutreffen sein, die die Sierras bedecken. Von größerem Wild sind vor allem Rehe zu erwähnen; außerdem sind Füchse, sowie Stinktier und Gürteltier, in den letzten Jahren auch Hasen im Camp fast stets vorhanden. In und an den Wasserläufen haben wir als charakteristisches Wild das Wasserschwein oder Carpincho, das größte Nagetier. Von Vögeln ist der amerikanische Strauß der größte und wird als Insekten vertilger geschont. Im übrigen unter- scheidet sich das jagdbare Wild nicht wesentlich von dem bei uns heimischen: Rebhühner, Be- 47f Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 30 kassinen, Enten, Gänse sind als hauptsächlichste jagdbare Tiere auch hier zu erwähnen. Papa- geien und Kolibris kommen nur vereinzelt vor. Besonders reichhaltig ist die Fischwelt, vor allem an den Küsten, weswegen die Küstenfischerei für Uruguay eine besondere Bedeutung hat. Von Insekten sind besonders die Heuschrecken zu erwähnen, die, wenn auch in Uruguay nicht heimisch, doch durch mehr oder weniger regel- mäßige Einfälle aus dem benachbarten Argentinien sich oft unliebsam bemerkbar machen. Die Ein- fälle finden meist gegen Ende des Winters statt, die Eiablage erfolgt in den Monaten Oktober- November. Aus den in den Boden gelegten Eiern entwickeln sich in 40 Tagen die jungen Tiere, die in den ersten Monaten nicht fliegen können und als Mosquitos und Saltonas (Hüpfer) in dieser Zeit bezeichnet werden. Gegen Ende des Sommers, wenn sie flügge geworden sind, verlassen die im Lande geborenen Nachkommen dasselbe, soweit sie nicht durch Menschenhand vernichtet sind, und ziehen meist in nördlicher Richtung davon. Die Heuschreckenbekämpfung selbst ist in mustergültiger Weise staatlich or- ganisiert und beschränkt sich meist auf die Ver- nichtung der jungen Saltonas. Am meisten wird die Vernichtung durch Feuer angewandt; von Heuschrecken freie oder befreite Ländereien schützt man durch Umstellen mit Blechzäunen vor dem Einfall neuer Mangas oder Schwärme der noch nicht flüggen Saltona. Was die Bevölkerung anbetrifft, zeichnet sich die Republik Uruguay vor den übrigen südameri- kanischen Republiken durch das völlige Fehlen einer Indianerbevölkerung aus. Sie ist fast rein- weiß, einige unbedeutende Reste indianischen und Negerblutes abgerechnet. Das spanische Element überwiegt, ebenso wie auch die Landessprache die spanische ist. Im übrigen ist die Zusammen- setzung natürlich sehr international. Bemerkens- wert ist noch die Schönheit des Menschenschlages, dessen sich Uruguay rühmen kann ; Montevideo gilt als die Stadt der schönsten Frauen. — Die Kleidung in den Städten ist natürlich europäisch, während auf dem Lande auch heute noch die Tracht der alten Gauchos oder Viehhirten die überwiegende ist. Weite sackartige Hosen oder „Bombachas", Poncho und Schlapphut sind charakteristisch für dieselbe. Besondere Landes- gebräuche fehlen entsprechend dem P'ehlen einer Urbevölkerung. Nur der Genuß des Mates oder Paraguaytees ist typisch. Dieser bildet das eigentliche Nationalgetränk und dürfte von hoher hygienischer Bedeutung sein. Er scheint der Campbevölkerung das fast völlig fehlende Gemüse zu ersetzen und so die fast ausschließliche Fleisch- nahrung bekömmlicher zu gestalten. Die Bevölkerung ist in ungleicher Weise über das Land verteilt; etwa die Hälfte der Gesamt- bevölkerung wohnt in den Städten, ein Drittel allein in der Hauptstadt Montevideo. Diese Ver- teilung eiklärt sich zum größten Teil aus dem auch heute noch vorherrschenden Weidebetrieb, der im Gegensatz zum Ackerbau nur sehr wenig Arbeitskräfte erfordert. Das erklärt auch die Rentabilität dieser Viehwirtschaften, die trotz der im Verhältnis zu Deutschland überaus billigen Viehpreise — das Kilogramm Rindfleisch kostet etwa 60 Pf — eine sehr gute ist. Es kommt noch hinzu, daß infolge der überaus günstigen Witterungsverhältnisse ein Einstellen des Viehs in Stallungen überflüssig ist; dasselbe bleibt Tag und Nacht, Sommer und Winter in gleicher Weise auf der Weide. Es wird vor allem Rindviehzucht getrieben, daneben Schafzucht, diese fast aus- schließlich zur Wollproduktion. Die Pferdezucht beschränkt sich meist darauf, den eigenen Bedarf zu decken, während die Rindviehzucht nur zum Verkauf von Schlachtvieh betrieben wird. Milch- wirtschaft im Anschluß an diese ist selten und beschränkt sich meist auf die Umgebung der größeren Städte, wo ein leichter Absatz der Milch und ihrer Produkte möglich ist. In neuerer Zeit beginnt sich mit zunehmender Bevölkerung die Chacrawirtschaft oder der Acker- bau auszudehnen. Gebaut werden hauptsächlich Weizen und Mais, als Futterpflanze vor allem Alfalfa. Die Departemente Montevideo, Canelones und Colonia weisen den meisten Ackerbau auf Von sonstigen landwirtschaftlichen Betrieben ist neben Gemüse- und Obstbau an erster Stelle der Weinbau zu erwähnen, der große Bedeutung für das Land hat. Der Wein gedeiht ausge- zeichnet; der Reblaus wird dadurch vorgebeugt, daß alle Weinpflanzen auf amerikanische Reben als Unterlage veredelt werden. Der im Lande bereitete Wein ist ein sehr gut trinkbarer und bekömmlicher Rotwein. Von landwirtschaftlichen Industrien ist die bei weitem bedeutendste die der Schlachthäuser oder „Saladeros". Das im Lande als eigentliches Landes- produkt erzeugte Fleisch kann in verschiedener Weise verarbeitet werden. Am verbreitetsten ist die Bereitung des Dörrfleisches oder „Tasajo". Die Tiere werden geschlachtet, schnell zerlegt, und die Fleischstücke sofort in Salz eingelegt, dort längere Zeit belassen und dann an der Luft getrocknet. Außerdem wird Konservenfleisch hergestellt, was besonders die Liebig-Kompagnie in Fray-Bentos neben der Fabrikation ihres welt- bekannten F'leischextraktes betreibt. In neuester Zeit ist noch die Herstellung von gefrorenem Fleisch hinzugekommen, das auf großen Spezial- dampfern in gefrorenem Zustand zur Versendung kommt und vor allem nach England geht. — Von landwirtschaftlichen Industrieen wurde weiter die Zuckerfabrik von La Sierra vorgeführt, die Rübenzucker verarbeitet. Die Ausbeutung der natürlichen Bodenschätze nimmt mit jedem Jahr zu. Große Bedeutung haben die vor allem in der Nähe von Montevideo befindlichen Granitbrüche. Von Mineralschätzen finden sich vor allem Gold, daneben andere Metalle, Silber, Kupfer. Nach Kohle werden N. F. VIII. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 477 augenblicklich umfangreiche Bohrungen angestellt; Kohle kommt vor, ob aber die A'\usbeutung lohnt, ist nocli ungewiß. — Ein gutes Eisenbahnnetz ist natürlich für das Land von besonderer Wichtigkeit. Die Bahnen befinden sich in englischen Händen, sind nornial- spurig und gehen von IVIontevideo nach den ver- schiedensten Riclitungen des Landes strahlenförmig aus. Die bisher noch fehlenden Strecken nach dem ferneren Osten der Republik sind augenblick- lich im Bau. Die Städte, die noch keine Eisen- bahnverbindung haben, besitzen dafür regelmäßige Postverbindung, die zwar meist nicht übermäßig bequem, dafür aber schnell und verhältnismäßig nicht teuer ist. Der Warentransport vollzieht sich, soweit Eisenbahntransport nicht mehr möglich ist, auf hohen 2 rädrigen Karren, die von 6 — 10 Joch Ochsen gezogen werden. Für den Personentrans- port ist sodann noch das Pferd als Reittier zu erwähnen. Fußwanderungen sind nicht üblich, da die Entfernungen sehr groß sind, ferner die Temperatur im Sommer zu hoch ist, außerdem das Passieren der zahlreichen Bäche und Flüsse bei dem häufigen F"ehlen von Brücken zu Fuß auf Schwierigkeiten stößt, und da schließlich der billige Preis und der ebenso billige Unterhalt eines Pferdes auch dem Ärmsten den Besitz eines derartigen Beförderungsmittels erlaubt. An den größeren Flüssen bestehen jetzt fast überall an den Stellen, wo die Hauptvvege kreuzen. Brücken oder Fähren, die den Verkehr vermitteln. Bei kleineren Flüssen sind dagegen auch heute noch meist nur P'urten vorhanden, durch die hin- durchgefahren oder geritten werden muß, wobei es nun allerdings passieren kann, daß man nach starken Regengüssen durch Hochwasser gezwungen wird, einige Tage zu warten, bis die VVasser sich verlaufen haben. Das schnelle Steigen und ebenso rasche Ablaufen der Wasser hat seinen natürlichen Grund in dem Fehlen eigentlicher Wälder. Die Aufforstungsfrage hat daher auch von diesem Gesichtspunkt der Wasserregulierung aus eine be- sondere Wichtigkeit für das Land , und die Regierung hat durch Aussetzen von Prämien mit Erfolg versucht, zur Aufforstung anzuspornen. Auch der private Unternehmungsgeist hat das Vorteilhafte der Aufforstungen eingesehen, und augenblicklich ist man an den verschiedensten Stellen dabei, durch umfangreiche Anpflanzungen dem natürlichen Waldmangel abzuhelfen. Als Aufforstungspflanzen haben sich vor allem Euca- lyptus globulus und Pinus maritima bewährt. Von dem am östlichen Ausläufer der Sierra gelegenen Piriapolis und den dort im großen Maße ausge- führten Anpflanzungen wurden eine Reihe Bilder vorgeführt, wobei auch der Gründung des neuen modernen Badeortes „Piriapolis" gedacht wurde. Den Rest der Ausführungen bildete eine Reihe von Städtebildern aus den Provinzialstädten und vor allem aus Montevideo selbst, das wohl bei jedem, der es kennen gelernt hat, einen an- genehmen Eindruck hinterlassen haben dürfte. Montevideo ist eine Stadt, die wie selten eine andere viele Vorzüge in sich vereinigt: die Ein- wohnerzahl von mehr als 300000 sowohl wie ihre Lage und Bedeutung als Seestadt geben nament- lich dem kaufmännischen Leben etwas Welt- städtisches, während andererseits die eigenartige Bauart als Villenstadt , sowie ihre Einwohner selbst dem ganzen Leben etwas Gemütliches und Anheimelndes verleihen. Da Montevideo außer- dem zu den gesuchtesten Badeorten Südamerikas gehört, pflegt auch das großartige Leben eines modernen Badeortes im Sommer nicht zu fehlen. Mit einigen Bildern über den großen Hafenbau von Montevideo, der jetzt seiner Vollendung ent- gegengeht, und einem Hinweis auf die Bedeutung desselben für das Land und seinen Aufschwung schloß der Vortrag. I. A.; Prof. Dr. W. Greif, I. Schriftführer. Berlin SO 16, Köpenickerstrafie 142. Wetter-Monatsübersicht. Während der diesjährige Juni mit ziemlich starker Hitze begann , trat schon am 2. oder 3. in ganz Deutschland be- deutend kühleres, vorwiegend trübes Wetter ein, das bei mäßigen nordwestlichen Winden bis zur Mitte des Monats überall anhielt. Am 2. Juni wurden an vielen Orten des Tem^erauu— 5fiaxima emigsr ©rlc im 9Hni 1909. . 1 ^:^^-iB' BcrIincrWettErbupenu Binnenlandes 30" C überschritten, zu Magdeburg stieg das Thermometer bis auf 33, zu Rheinsberg bis 34° C. Zwischen dem 3. bis 17. blieben aber, wie aus der beistehenden Zeich- nung ersichtlich ist, selbst die MiUagstempcraturen nicht selten unter 15" C, zu München ging die Temperatur am 13. sogar nicht über 10° C hinaus. .\ui der weiten Strecke zwischen Westfalen und dem westlichen Mecklenburg kamen vom 7. bis II. Juni an vielen Stellen Reif und Nachtfröste vor, die den Obstblüten, Kartoffeln, Bohnen, Buchweizen und sonstigen empfindlichen Pflanzen großen Schaden brachten. Erst nach dem 20. Juni nahm die Witterung wiederum einen sommerlichen Charakter an und behielt ihn im Osten, obwohl mit kurzen Unterbrechungen , bis zum Ende des Mo- nats bei, wogegen in Nordwest- und Süddeutschland bald eine neue, länger dauernde Abkühlung erfolgte. Dort blieben 478 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 30 daher auch die Durchschnittstemperaturen des vergangenen Juni um reichlich zwei Grad , östlich der Elbe hingegen um weniger als einen Grad hinter ihren normalen Werten zurück. Überall in Deutschland fehlte es beträchtlich an Sonnenschein; beispielsweise sind in Berlin nicht mehr als 216 Sonnenschein- stunden aufgezeichnet worden, dagegen 255 im Mittel der früheren Junimonate seit 1S92. Desto häufiger waren innerhalb des letzten Monats in den meisten Gegenden die Niederschläge, die allerdings an den verschiedeneu Orten in sehr verschieden großen Mengen vorkamen. Nach einem trockenen Monatsanfange stellten sich am 2. in West- und Mitteldeutschland die ersten Gewitter ein, wobei in Köln 27 mm Regen und Hagel fielen. Nach kurz vorübergehender Aufheiterung des Wetters wurden die Ge- witterregen immer zahlreicher und an vielen Stellen, nament- lich in Süddeutschland und *.)berschlesien, sehr ergiebig; an T2i«^eii im Suni 1909. I c-ro O 0) R .5 5 i i- i ^1 E Aachen. Münster Hannover Berlin. Dresden Breslau cu .1 er 100 mm 80 60 fO zo 20 mm li 1 1 1 1 1 IM Ibis 15. Juni. 1 1 1 1 1 1 i 1 — ■ i 1 1 i - 1 i il lll 11 1 luiUftJUU UM B 1 1 r IG.bisZO. Juni. LUM 1 1 1 ui 1 a-L .. ___ I j mm 1 . 7t hUiB Juni ■ 10 hr - k^ ■1^ 1, Wi zo Um \ 1 1 1 1 1 II H /l/lif(lcrer Werf für Deutschland. /ifloruifssumme 'm Juni 07, OB. 05. m. V BerJintrWcllerburiau. anderen freilich , besonders in der Umgebung der Weichsel' reichten die Niederschläge nach der früheren langen Trocken- zeit zur gründlichen Durchfeuchtung des Bodens noch entfernt nicht aus. Die stärksten Regengüsse fanden zwischen dem II. und 14. Juni statt, wobei im Gebiete der Elbe und weiter nordöstlich bis zur unteren Oder hin, außerordentlich große Wassermengen herniederfielen , am 12. Juni wurden z. B in Torgau 67, in Güstrow 50 mm Regen gemessen. In den Tagen vom 16. bis 20. blieben die Niederschläge fast allein auf die Küste beschränkt und fielen auch dort nur spärlich. Aber schon am 21. kamen im Westen neue Ge- witter zum Ausbruch, die sich bald bis an die Nordostgrenze Deutschlands ausdehnten und sich bis zum Schlüsse des Mo- nats sehr häutig wiederholten. In ihrer Begleitung gingen bald in diesen, bald in jenen Landstrichen heftige Gußregen und auch nicht selten Hagelschauer hernieder, vom 22. zum 23. fielen beispielsweise in Köslin 38, in Dresden 29 mm Regen. Die Niederschlagshohe des ganzen Monats, die in Süddeutschland ungefähr doppelt so groß wie im Norden war, belief sicii für den Durchschnitt aller berichtenden Stationen auf 68,8 mm, während die gleichen Stationen in den früliercn Junimonaten seil Beginn des vorigen Jahrzehnts durclischnitt- lich 65 mm Niedersclilag geliefert haben. In der Verteilung des Luftdruckes vollzogen sich die Änderungen diesmal im allgemeinen nur sehr langsam. Inner- halb der ersten Hälfte des Monats lag ein barometrisches Maximum beständig in der Nähe der britischen Inseln , wäh- rend verschiedene Minima anfangs vom Nordpolarmeer ins Innere Rußlands, später auch zum Teil von Südwesteuropa nach der Ostsee zogen und dort meist etwas länger verweilten. Hierdurch wurden besonders für die deutsche Küste dampf- gesättigte, kühle Nordwestwinde bedingt, wie sie hier um diese Zeit des Jahres unter ähnlichen Luftdruckverhältnissen nicht selten vorzuherrschen pflegen. Bald nach Mitte des Monats wurde das Hochdruckgebiet durch eine bei Irland auftretende, ziemlich tiefe Depression nach Süden verschoben. Aber wenn das atlantische Minimum auch rasch heranzuziehen schien, so blieb es nachher doch längere Zeit, sich mehr und mehr verflachend , auf der süd- lichen Nordsee liegen und entsandte nur verschiedene Teil- depressionen nach dem Festlande hin, die hier der Witterung überall einen gewilterhaften, sehr veränderlichen Charakter gaben. Dr. E. Leß. Bücherbesprechungen. Karl Vorländer, Geschichte der Philosophie. (Philos. Bibliothek Band 105 und 106). Leipzig, Dürr'sche Buchhandlung, 1908. — Preis 8,10 Mk. Das Buch kann als eine der besten Einführungen in die Geschichte der Philosophie bezeichnet werden. Die Darstellung ist gewandt und klar, und hebt in meist sehr treffender Weise die charakteristischen Gesichtspunkte der zur Darstellung gelangten philo- sophischen Systeme hervor. Angenehm berührt das stete Bemühen des Verfassers, die Fühlung mit dem praktischen Leben aufrecht zu erhalten. Sehr geeignet zur Einführung für den .Anfänger ist das Buch auch deshalb , weil Verfasser sich nicht zu ausschließlich auf das theoretische Gebiet versteift, sondern in sehr hübscher Weise die Beziehungen der verschiedenen Systeme zum praktischen Leben und zur Entwicklung der allgemeinen Kultur erörtert, so daß wir nicht nur Welt Weisheit sondern auch Lebens Weisheit aus dem Buche schöpfen können und Einsicht ge- winnen in die Fäden, die sich zwischen Philosophen- stube und dem öffentlichen Leben hinüberspinnen. So erscheint uns das Buch zur Einführung weit- aus geeigneter als einerseits das früher ja sehr be- liebte Buch von Schwegler, dessen vortrefifttche Dar- stellung einzelner Partien der Geschichte wir ja im übrigen nicht bestreiten wollen, und andererseits als die Grundlagen von Zeller und Falkenberg, die (ins- besondere was Zeller anbetrifft) in ihrer gedrängten Darstellung weniger Einführungen als vielmehr Repe- titorien gleichen. Die literarischen Hinweise werden ebenfalls dank- bar aufgenommen werden. Kl. Monographien einheimischer Tiere. Herausge- geben von Prof Dr. H. E. Ziegler, Jena und Prof. Dr. R. Wolter eck, Leipzig. Bd. L Der Frosch. Zugleich eine Einführung in das prak- tische Studium des Wirbeltierkörpers. Von Dr. Friedrich Hempelmann. Leipzig 1908. Verlag von Dr. W. Klinkhardt. 201 S. — Preis 4,80 Mk., geb. 5,70 Mk. Bei der ungeheuren Zunahme der zoologischen Literatur, die in den verschiedenartigsten Zeitschriften zerstreut ist, wird jede Monographie einzelner Tiere oder Tiergruppen mit Freude begrüßt werden. Die N. F.-.VIII. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 479 großen Monographien, wie sie z. B. die zoologisclie Station zu Neapel heransgibt, können wegen ilires Umfanges, ihres streng wissenschaftlichen Charakters und ihres hohen Preises nur eine beschränkte Ver- breitung finden. Nur wenige Bücher berücksichtigen zudem alle Zweige der zoologischen Forschung gleich- mäßig in knappen Darstellungen. Dieser Lücke unserer Literatur wollen die ,, Monographien einhei- mischer Tiere" abhelfen. Das Ziel ist also : Jedem Dozenten, Lehrer, Studierenden, Züchter, Liebhaber usw., der über ein Tier allseitig Bescheid wissen möchte, auf knappem Räume und für wenige Mark alles das an die Hand zu geben, was er braucht, um sich zu orientieren. Bei dem Leserkreise , dem die Sammlung dienen will, müssen die Monographien wissenschaftlich und zugleich allgemeinverständlich sein ; der vorliegende Band hat m. E. diese Aufgabe vollkommen erfüllt. Dr. F. H e m p e 1 m a n n behandelt im ersten Band der Monographien die einheimischen Frösche, die auf einer farbigen Tafel dargestellt sind. Außerdem sind in den Text 90 Figuren eingefügt. Die Hauptkapitel des Buches sind Morphologie, Physiologie , Biologie, Systematik, geographische Verbreitung, Paläontologie und Phylogenie. Es ist also eine allseitige Behand- lung angestrebt worden. Ausführlich ist das Kapitel über Anatomie und Histologie behandelt worden, das wohl aufGau]3p's ,, .Anatomie des Frosches" basiert. Da H e m p e 1 m a n n ' s Buch eine Einführung in das praktische Studium des Wirbeltierkörpers sein will, sind an die einzelnen Abschnitte des anatomischen und histologischen Teils technische Bemerkun- gen angefügt, die auch dem Anfänger in der zoolo- gischen Praxis die Möglichkeit gewähren, den Bau des Frosches durch eigene Anschauung kennen zu lernen. Um alle Leser in den Stand zu setzen, auch Fachwerke zu studieren, werden die termini technici in ihrer Bedeutung und Ableitung kurz erklärt. Dem ersten Hauptabschnitt ist ein Anhang über die hauptsächlichsten Parasiten des Frosches angefügt. Es wäre allerdings zu wünschen gewesen, daß der Verf. ein vollständigeres und etwas ausführlicheres Verzeichnis der Parasiten gegeben hätte, da ein sol- ches von großem praktischen Wert wäre. — Auch die neueren experimentellen Forschungen, z. B. die von Born, Harrison, Braus, R. Hertwig u.a., sind berücksichtigt worden, so daß die Monographie auch in dieser Beziehung keine Lücke zeigt. Besonders dankenswert ist der physiologische Teil. Er enthält nicht nur eine Zusammenstellung der speziellen Physiologie des Frosches, sondern auch — dem Untertitel des Buches entsprechend • — allge- meine physiologische Betrachtungen. Im systematischen Teil erscheinen uns die ausführlichen Diagnosen und die Zusammenstellung der Synonyma von großem Nutzen. Dagegen ist die Bestimmungstabelle, die von Dürigen entnommen ist, nicht besonders praktisch; auch hätte der Verf. noch eine Anweisung zum Bestimmen der Larven geben können. Von diesen kleinen Ausstellungen abgesehen recht- fertigt der erste Band der Monographien den Plan der Herausgeber in bester Weise. Derartige Zusam- menfassungen sind heutzutage wirklich ein Bedürfnis, selbst für den Forscher, der den Wunsch hat, neben seinem Spezialstudium einen Überblick über alle Zweige der Zoologie zu behalten. Dr. P. Brohmer, Jena. Prof Adolf Müller S. J. , Galileo Galilei und das koperniknnische Weltsystem. 184 Seiten mit einem Bildnis Galileis. Freiburg i. B., Herder, 1909. — Preis 3,40 Mk. Eine objektive Beurteilung Galilei's wird man bei einem Mitgliede des Jesuitenordens nicht erwarten. Hätte Verf. sich darauf beschränkt, die Irrtümer seiner Kirche aus den Zeitverhältnissen und dem mitunter vielleicht unvorsichtigen Vorgehen Galilei's erklärlich zu machen und nach Möglichkeit zu entschuldigen, so könnte ihm dies gewiß niemand verargen. Die bis nur zum ersten Prozeß (1616) reichende Schrift ist aber durchaus tendenziös gehalten und sucht den Charakter Galilei's auf alle mögliche Weise zu ver- dächtigen und seine Verdienste zu verkleinern. Wir müssen eine derartige Publikation entschieden ab- lehnen und sind überzeugt , daß der unsterbliche Ruhm eines der größten und bahnbrechendsten Geister, die Je der Menschheit geschenkt wurden, dadurch nicht im mindesten verdunkelt werden kann. Dabei soll jedoch nicht geleugnet werden , daß die Schrift wegen ihrer ausführlichen, wörtlichen Zitate aus Wer- ken und Briefen Galilei's und seiner Zeitgenossen für solche Leser, die die Verkleinerungen aus dem Lager seiner Gegner richtig zu beurteilen vermögen, von Wert sein kann. Kbr. Literatur. Martin, Dr. Carl : Landeskunde v. Chile. Aus dem Nachlaß, l'ür den Druck durchgesehen v. Realgymn. -Oberlehr. Prof. Dr. l'.iul Slange. Mit e. Lebensumriß u. e. Porträt d. Verf., 73 Abbildgn. auf 56 Tafeln u. I (färb.) Karte von Chile. (Publikation des geogi-aph. Instituts der Universität Jena.) (XXVII, 777 S.) Lex. 8°. Hamburg '09, L. Friederichsen iS: Co. — 20 Mk., geb. 22 Mk. Messerschmitt, Prof. Dr. J. B.: Die Erde als Himmelskörper. Kine astronom. Geographie. Mit 5 Taf. u. 140 Textabb. I. — 4. Taus. (XII, 2178.) Stuttgart '09, Strecker & Schröder. — 2 Mk., geb. 2,So Mk. Potoniö, H. : Zur Genesis der Braunkohlenlagcr der südlichen Provinz Sachsen. [Aus : , Jahrb. d. kgl. preuß. gcol. Landes- anstalt."] (S. 539—550 m. 3 Taf.) Lex. 8». Berlin (N. 4, Invalidenstr. 44) 'oS, Vcrtricbsstelle der kgl. geolog. Landes- anstalt. — 50 Pf. Ribot, Th. : Die Psychologie der Aufmerksamkeit. Deutsche Ausgabe nach der 9. Aufl. von Dr. Dietze. (154 S.) 8". Leipzig '08, E. Maerter. — 2,50 Mk., geb. 3,25 Mk. Schleicliert, Rekt. Frz. : Anleitung zu botanischen Beobach- tungen u. pflanzenphysiologischen Experimenten. Ein Hilfs- buch f. den Lehrer beim botan. Unterricht. 7., verm. und verb. Aufl. (XII, 200 S. m. 77 Abbildgn.) gr. 8». Langen- salza '09, H. Beyer & Söhne. — 3 Mk., geb. 4 Mk. Schurig, Walth. : Biologisclie Experimente, nebst e. Anh. : Mikroskopische Technik. Ein Hilfsbuch für den biolog. Unterr., insbes. f. die Hand des Lehrers, Studierenden und Naturfreundes. (X, 180 S. m. Abbildgn.) gr. 8". Leipzig '09, Quelle & Meyer. — 2,40 Mk., geb. 2, So Mk. 4So Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 30 Anregungen und Antw^orten. Herrn Prof. Dr. S. M. in Athen (Gricchenlcind). — Sie fragen: Wie ist es möglich, daß die Delphine so lange Zeit, stundenlang wie es scheint, unter Wasser bleiben können, ohne an die (Oberfläche zu kommen. Haben sie Einrichtungen zur Sauerstoffreservierung oder ist ein anderer Grund vor- handen f Ihre Frage finden Sie beantwortet in dem Buche von M. Weber, ,,Die Säugetiere" (Jena 1904, S. 568 ff.): „Auch der Atmungsapparat bietet zahlreiche Anpassungen an das Wasserleben. Die beiden ungeteilten, sehr elastischen Lungen erstrecken sich weit nach hinten, entsprechend dem schiefen Stande des Diaphragma. . . . Die namentlich bei Mystacociti sehr nachgiebige Verbindung der Rippen an ihrem vertebralen und sternalen Ende gestattet große Ausdehnung der Brusthöhle und damit ergiebige Inspiration. Hierdurch werden die Tiere befähigt, die Atempausen außerordentlich zu verlängern. Sie betragen nach J. Struthers bei Balae- noptera im Mittel 3'/2 Minuten. Im Notfalle können aber die Tiere eine Stunde und länger tauchen. . . . Zweifelsohne hilft beim Tauchen , welches Verminderung der Atemzüge heischt, die einzig dastehende Entwicklung von Wundernetzen, die einfache, bipolare, arterielle oder venoso-arterielle sein können und allerwärts auftreten (G. Breschet, Hist. anat. et phys. d'un Organe d. nat. vasculaire decouv. dans les Cetaces, Paris 1836). Sie gehören offenbar in die Reihe regulatorischer Einrichtungen gegen die .\sphyxie. Beim Tauclien hat die Sistierung der Respiration statt und damit Verlangsamung des Herzschlages, unter dem Einfluß des Nervus vagus, sowie Ver- langsamung der Zirkulation. Der Gewebeatmung gegenüber, die ja nicht aussetzt, werden alsdann die arteriellen Wunder- netze, z. B. die des Zentralnervensystems, von Bedeutung. Das solchergestalt ausgedehnte Kanalsystcm gestattet denn auch eine außerordentliche Zunahme der Blutmenge." Dahl. Herrn Gymnasial-Oberlehrer F. N. in Heiligenstadt. — Sie fragen I. nach der Verbreitung von Ovibos tnoschatus als Fossil. Im Gegensatz zur jetzigen Verbreitung dieses eigentümlichen, zwischen Schaf und Rind stehenden Tieres über die Nordküste von Grönland, EUesmere Land, Grinnel- Land, Parry Islands, Banks Land, Prince Albert Land und den nördlichen Teil des Festlandes von Nordamerika bis fast zum Mackenzie River (vgl. Conwentz, ,,Zur Verbreitung des Moschusochsen [Ovibos nioschatits) und anderer Tiere in Grönland", mit Kartenskizze in: Verh. Ges. f. Erdk. Berlin Bd. 27, 1900, S. 427 — 432), war dasselbe früher auch über den Norden Europas verbreitet. Nach Conwentz gehören fossile Reste aber zu den Seltenheiten. Er nennt das südliche England, Seeland, Sibirien, Alaska und die Vereinigten Staaten von Nordamerika als Fundorte und fügt hinzu, daß im Jahre 1899 in Westpreußen am linken Ufer der Weichsel in Abbau Schönau ein nicht ganz vollständiger Schädel mit einem Stirnzapfen in einer Kiesgrube, etwa 6 m unter der Oberfläche gefunden sei. Das Stück stelle den ersten bekannten Rest im ganzen nordöstlichen Deutschland dar, es sei im 20. Ber. des West- preuß. Provinzialmuseums abgebildet. — C. G r e v e (,,Die Verbreitung von Ovibos moschatus Blainv. einst und jetzt" in: Sitzungsber. d. naturf. Ges. in Jurjeff (Dorpat) Bd. 12, igoi, S. 371 — 374) gibt folgende Fundorte aus Deutschland an: Umgegend von Merseburg, Berlin, Kreuzberg, Möckern, Westpreußen, Schlesien, Bonn (im Rheinlöß), Unkclstein, Mos- bach, Wolfenbüttel und das Donautal in der Nähe der -Mpen. In Frankreich sollen nach ihm Reste bis zum 45. Breitengrade, in Asien nur bis zum 60. gefunden sein. 2. Rudimentäre Organe kommen bei jeder Tierart vor; deshalb ist die Literatur über dieselben fast ebenso umfang- reich wie die neuere zoologische Literatur überhaupt. Ich muß mich also darauf beschränken, einige Andeutungen zu machen, unter welchen Umständen Organe besonders rudi- mentär zu werden pflegen: — Sobald eine Tierart oder eine Tiergruppc sich in ihrer Lebensweise und in ihrem allgemeinen Bau auffallend von ihren Verwandten unterscheidet, darf man erwarten, daß einzelne Organe auf Kosten anderer rudimentär geworden sind. Als Beispiele aus der Reihe der Wirbeltiere nenne ich Ihnen die Waltiere, die Blindschleiche, den Schnepfen- strauß und den Menschen selbst. — Jedes Organ kann rudi- mentär werden, sogar die Geschlechtsorgane (bei den Arbeitern der staatenbildenden Insekten) und das Gehirn (bei Einge- weidewürmern), natürlich auch die Augen (bei Höhlentieren), die Beine (bei Tieren, die im Innern fester Körper usw. leben, vgl. Naturvviss. Wochenschrift N. F. Bd. 5, S. 368) und die Flügel, (bei Parasiten usw. vgl. N. W. N. F. Bd. 6, S. 799 u. Bd. 7i S. 671). Selbst einzelne Zellen der Insektenflügel können rudimentär werden (bei sehr kleinen Formen, vgl. N. W. N. F. Bd. 4, S. 288). — Wie einzelne Organe auf Kosten der rudimentär werdenden immer kräftiger geworden sind, erkennt man sehr gut in der Reihe der Säugetiere, Die- selben büßten bei der Entwicklung vom Kriechtier zum Lauf- tier immer mehr Finger ein , so daß schließlich neben zwei Mittelfingern (Wiederkäuer) oder einem Mittelfinger (Pferd) nur noch schwache Reste der anderen Finger vorhanden sind. Nicht immer liegt der Vorgang so klar auf der Hand. Nicht immer befindet sich nämlich das rudimentär gewordene Organ unmittelbar neben dem Organ, welches auf Kosten desselben an Umfang zugenommen hat. Die Ökonomie des ganzen Körpfrs ist vielmehr maßgebend (vgl. Zool. Anz. Bd. 34, 1909, S. 311). Dahl. Herrn v. H. in H. — Durchwachsene Rosen, wie man die Erscheinung nennt, wenn eine Rosenblüte in einen Laubsproß ausgeht, sind schon sehr lange bekannt. Goethe z. B. verwendet diese Eigentümlichkeit zur Erläuterung dessen, was er Metamorphose der Pflanzen nennt, d. h. zur Unter- stützung der Ansicht, daß die Blütenteile ebenfalls ,, Blätter" sind, weshalb man sie ja denn auch heute als Kelch-, Blumen-, Staub- und Fruchtblätter bezeichnet. Das kann bei dem gegenwärtigen Stande der Biontologie natürlich nur heißen, daß alle die genannten Organe und die Laubblätter phylo- genetisch auf dieselben ursprünglichen Organformen zurück- gehen , sich aus ihnen allmählich differenziert haben. Über die ,, Ursache" der Abnormität ist nichts bekannt. In manchen Fällen ,, vergrünen" die Blüten infolge von tierischen Angriffen, wie solche von Milben. Das hat s. Zt. Peyritsch nachge- wiesen. P. Herrn E. in N. — Die jetzt bei uns so verbreitete Elodea canadensis liebt besonders stark kalkhaltiges Wasser, in wel- chem sie sehr üppig gedeiht, bekanntlich bis fast zur Ver- stopfung des Wassers. In Teichen mit sehr kalkhaltigem Untergrunde, deren Boden mit Ton überschüttet wurde, ging das Wachstum der Elodea ganz wesentlich zurück. Nachträge zu dem .Aufsatz von Prof. Dr. Halbfaß über Tem p e ralurm essunge n in tiefen Seen in ihrer Be- ziehung zur Klimatologie in Nr. 25 der Naturw. Wochenschr. Zu S. 391, Sp. 2: Noch weit größere Abweichungen in der Temperatur gleich tiefer Schichten desselben Sees fand L. Berg im Aralsee, worüber er in seinem in russischer Sprache über diesen See geschriebenen Buch , St. Petersburg 1908, p. 300 ff. berichtet hat. In 15 m Tiefe kommen Ab- weichungen bis zu 13^ vor, noch in 20 m Tiefe solche von 10*^, und selbst in 55 m Tiefe von mehr als 3'' vor. Zu S. 392, Sp. I : In diesem Jahre hat Wedderburn Resultate von Temperaturmessungen im Loch Carry (Invernessshire) in den Proceedings of the Roy. Soc. of Edinburgh, Session 190S/09, Vol. 29, Teil II, N. 8, Edinburgh 1909, erscheinen lassen, welche für diesen — allerdings erheblich kleineren — See ein noch weit intensiveres Beobachtungsmaterial liefern als für den Loch Ness und zwar für eine zusammenhängende Zeit von beinahe 9 Mon.aten. Die früheren Resultate werden in dieser Arbeit durchaus bestätigt. Ilalbfaß. Inhalt: Prof. Dr. G. Lindau: Über Naturbilder mit besonderer Berücksichtigung von Pilzaufnahmen. — Kleinere Mit- teilungen: Th. I'.okorny: Empfelilenswcrte neue Kulturpflanzen für unsere Kolonien. — Vereinswesen. — Wetter- Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. — Monographien ein- heimischer Tiere. — Prof A d o 1 f M ü Her S. J.: Galileo Galilei. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antvirorten. Verantwortlicher Redakteur: Prof Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge Vlll. Hanil ; der £;:»n7eii Reihe XXIV. Kand. Sonntag, den i. August igog. Nummer til. Die physikalische Begründung der Pendulation. [Nachdruck verboten.] Von Dr. H. Simroth. Mit zwei Karten. In dem Buch über die Pendulationstheorie habe ich notgedrungen, d. h. aus erklärlichem i\Iangel an Sachkenntnis, den physikalischen Nach- weis der Achsenschwankung der Erde beiseite gelassen und nur einige Möglichkeiten, welche die Ursache der ersten Verschiebung gewesen sein könnten, mehr angedeutet als erörtert. Es ver- steht sich v'on selbst, daß mir die Schwierigkeiten des Problems, durch welche Kraft die Pendel- bewegungen unterhalten werden möchten, schon aus mancherlei mündlichen Erörterungen nicht fremd waren. Und die Besprechungen des Buchs in den wissenschaftlichen Zeitschriften haben dem- gemäß auch ergeben, daß die Physiker die Schwierigkeit zumeist für unüberwindlich halten. Indes war ich der festen Überzeugung, daß die Ixisung des Problems in früherer oder späterer Zeit von der physikalischen Seite kommen würde. Dieser Moment ist jetzt eingetreten, daher ich wieder zur Feder greife. I. Über die möglichen Ursachen der ersten Achsenverschiebung. In der Diskussion , die in dieser Zeitschrift wegen der Atlantisfrage im weiteren Sinne, zwischen Herrn Dr. Arldt und mir geführt worden ist, hat der erstere von uns beiden meine Auf- fassung, die alte Sage von einem untergegangenen Festland beziehe sich nicht auf einen Vorgang im atlantischen Ozean, sondern auf die Katastrophe, die im Mittelmeer den Zusammenbruch der Tyrrhenis bewirkte, im allgemeinen, soweit sich über derartig fragmentarische Überlieferungen aus dem Altertum überhaupt streiten läßt, anerkannt. Ich könnte mich also, soweit es sich um den wesentlichen, durch die Überschrift bezeichneten Inhalt meines Artikels handelt, zufrieden geben. Doch liegt die Sache anders in bezug auf das, was drum und dran hängt, und das betrifft die Altersbestimmung der geologischen Schichten in Südamerika, den Landzusammenhang zwischen der alten und neuen Welt und derlei Dinge, die mit der Pendulationstheorie zusammenhängen. Ich beabsichtige keineswegs, durch Erörterung immer derselben Tatsachen den Streit in un- fruchtbare Länge zu ziehen. Vielmehr will ich nur an einige der fraglichen Punkte anknüpfen, um den Übergang zu weit wichtigeren Erörte- rungen zu finden. Für die Beurteilung der Herkunft und der gegenseitigen Beziehung der Faunen hat die relative geologische Altersbestimmung der Schichten selbstverständlich die höchste Bedeutung. Die Pendulationstheorie sucht das gesamte Material der Biogeographie einheitlich von Europa, unter dem Schwingungskreis, herzuleiten. Bei uns, unter dem Schwingungskreis entstehen die neuen Formen, weil sie hier mechanisch unter immer neue Breiten und damit unter andere klimatische Bedingungen geführt werden, stärker als an allen anderen Stellen der Erde, in regelrechter Abnahme bis zu den Schwingpolen PJcuador und Sumatra, die immer in gleichmäßiger Tropenlage blieben. Man könnte den ganzen Schwingungskreis in gleicher Weise beanspruchen für den Fortschritt der Schöpfung. Aber da diese ihren Höhepunkt auf dem Lande erreicht im Menschen, so erhält un- sere afrikanisch-europäische Hälfte über die pazi- fische das Übergewicht; Afrika aber entfernt sich bei den Pendelschwingungen nur wenig aus der Tropenlage, während Europa fortwährenden Wechsel von Tropennähe bis in die Polarzone durchmacht. Das stempelt unseren Erdteil zum Hauptschöpfungszentrum schlechthin. Von uns aus geht die Verbreitung in regel- rechten, vorgezeichneten Linien über den ganzen Erdball nach West und Ost, Südwest und Südost und nach Süden direkt. Danach sind meiner Meinung nach die geologischen Perioden zu be- urteilen. Die Geologie verdankt ihren modernen Aufschwung der Befolgung des Grundsatzes, den Lyell aufstellte, und der darauf hinausläuft, alle früheren Geschehnisse nicht nach konstruktiver Phantasie, sondern durch die Beobachtung der jetzt auf der Erde sich vollziehenden und damit der Kritik zugänglichen Vorgänge zu erklären. Die moderne Biogeographie aber kennt außer dem Menschen mit seiner geistigen Beherrschung und dadurch begründeten Ausnahmestellung keine Tier- und keine Pflanzengruppe, die über die ganze Erde verbreitet wäre und somit gewissermaßen als Leitmuschel für die gegenwärtige Periode ge- nommen werden könnte. Überall herrscht der bunteste Wechsel und das stärkste Durcheinander. Die südliche Erdhälfte hat altertümliciiere Formen als die nördliche, Australien noch ältere als Süd- amerika usw. Die Geologie umgekehrt ist ein- fach gezwungen , um überhaupt eine ordnende Übersicht zu ermöglichen, ihre Perioden nach be- stimmten Leitfossilien , die überall durchgehen, festzulegen. Damit verstößt sie — notgedrungen — gegen die sonstigen Normen. Die Pendulations- theorie löst das Dilemma in einfacher Weise auf dadurch, daß sie die Periode nicht als einen Ab- 482 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 31 schnitt betrachtet, der gleichzeitig auf der ganzen Erde herrschte, sondern als eine Welle, die von uns aus auf den vorgezeichneten Linien über den ganzen Erdball hinwegglitt. Eine Übersicht, die man zu irgendeinem früheren Zeitpunkt von der ganzen Erde gewinnen könnte, würde die ver- schiedensten Perioden und Formationen gleich- zeitig umfassen, bei uns die jüngste, in den ab- gelegensten Teilen, auf Neuseeland etwa, die älteste, ganz wie man in der Gegenwart der neu- seeländischen Lebewelt das höchste geologische Durchschnittsalter zuspricht. Eine bestimmtere Rechnung ist aber vorläufig ausgeschlossen durch unsere Unkenntnis der verschiedenen Geschwindig- keit und Expansionskraft, mit der sich die einzelnen Organismen auszubreiten vermögen. Die geolo- gische Periode wird doch immer nur durch ge- wisse Leitfossilien bestimmt, während die ge- samten Einschlüsse einer europäischen und exotischen Stufe, die man mit demselben Namen belegt und fälschlich als synchronisch betrachtet, an den verschiedenen Lokalitäten ein recht ver- schiedenes Bild geben würden. Es ist nun klar, daß diese Rechnung hinfällig wird, sobald der Nachweis gelingt, eine auslän- dische Schicht mit denselben Versteinerungen sei älter als die entsprechende europäische, weil dann die europäischen Lebewesen von den fremden abzuleiten wären und nicht umgekehrt, wie es die Pendulationstheorie verlangt. Dieser Gesichts- punkt kommt aber bei der Atlantisfrage insofern in wesentlichen Betracht, als danach die Land- verbindungen und Wanderungen zwischen Süd- europa und Südamerika zu beurteilen sind. Wie Südamerika noch jetzt seine eigenartige Säuger- welt hat, die namentlich in den Edentaten ihren Ausdruck findet, so gingen ihr bekanntlich ähn- lich auffällige Schöpfungen vorauf, über deren Alter gestritten wird. Arldt will es nicht recht gelten lassen, daß ich den deutschen Geologen folge , welche nach Autopsie die betreffenden Schichten als jünger betrachten, und nicht den Südamerikanern, welche sie bis in die Kreide zurückverlegen. Nun bin ich aber bei der ge- naueren Betrachtung von Ihering's Untersuchungen der in Argentinien und Patagonien abgelagerten Mollusken, über die ich für das Zool. Zentralbl. zu referieren hatte, zu der gleichen Auffassung gekommen. Und sie muß wohl grundsätzlich zu Recht bestehen. Denn da die ganze Einteilung der Geologie auf europäischem Boden gewonnen ist und alles übrige ihr eingefügt wurde, so muß der Maßstab auch immer wieder von Europa ge- holt und in Europa nachgeprüft werden. Im ein- zelnen könnte ich mich wohl auf Ameghino selbst berufen, der inzwischen durch eingehende Unter- suchung für einen Teil auch der neotropischen Edentaten den mitteleuropäischen Lirsprung nach- gewiesen hat, oder auf die bekannten Fellstücke des Grypotherium domesticum, welche die Dis- kussion beinahe zu der Frage zuspitzen : cretaceisch oder recent? Anhaltspunkte für eine genauere Berechnung scheinen nur die patagonischen Riesen- austern in der regelrechten und gewaltigen Ver- dickung ihrer unteren Schale zu ergeben, über die ich bald zu berichten hoffe. Doch das sind mehr Kleinigkeiten in Neben- fragen. Mehr in den Vordergrund schieben möchte ich die Art, wie Arldt die Pendulations- theorie, die er zunächst für bestechend erklärt, abtun zu sollen glaubt, und zwar zu wiederholten Malen. Weil er die Idee gefaßt hat, ein zweiter Mond, dessen Aufsturz in Afrika ich für eine der möglichen Ursachen der Pendulation angab, müßte sich vorher schon in seine Elemente aufgelöst haben nach Art der Saturnringe, meint er die ganze Geschichte beiseite lassen zu können. Als ob die Pendulationstheorie aus der Phantasie vom aufgestürzten zweiten Mond hervorgegangen wäre! Sie gründet sich auf geologische und geophysische Tatsachen, die P. Reibisch auffand und auf die Übereinstimmung seiner Ableitungen mit der Biogeographie, die mir auffiel und die ich auf Grund eines möglichst vielseitigen Materiales aus der Gegenwart und Vergangenheit unseres Welt- körpers zu stützen suchte. Aber selbst in seiner Angabe, ein zweiter Mond müßte sich beim Auf- sturze in einen Ring aufgelöst haben, hätte sich Arldt erst mit der Astronomie auseinanderzusetzen, der ich die Hypothese entlehnt habe (sie stammt von Chamberlin). Da müßte wohl erst eine ge- nauere Rechnung einsetzen über die Größe, Ge- schwindigkeit und anfängliche Entfernung des Trabanten, der nach Chamberlin der nächste an der Erde gewesen wäre. Doch die Astronomie bietet genau so eine zweite Handhabe, die auch mit dem Mond zu- sammenhängt, nämlich die Annahme von G. H. Darwin, die nun schon vor 30 Jahren ausge- sprochen wurde. Nach ihr wurde unser Trabant durch die Zentrifugalkraft von der Erde erst losge- löst, als sie bereits oberflächlich zu erhärten be- gann. Es müßte dann in der Erdkruste eine Art Narbe geblieben sein. Und Pickering hat 1907 versucht , diese Stelle zu berechnen (Journ. of Geology XV. Ich zitiere nach dem Referat im Jahrbuch der Naturkunde VI, 1908, S. 34), indem er von dem spezifischen Gewicht ausgeht. Das der Erde ist 5,6, das der Erdkruste 2,7, das des Mondes 3,4. Daraus folgt, daß der Mond aus oberflächlicheren Erdschichten entstanden sein muß. Und die genauere Berücksichtigung der Größenverhältnisse ergibt, daß sein Volumen dem unserer Ozeane entspricht, bei der Annahme einer mittleren Tiefe von 5800 m. Somit würden die Austiefungen unserer Meere auf Kosten der weg- genommenen Mondmasse zu setzen sein. Das weist natürlich auf den pazifischen Ozean als Ge- burtsort des Mondes hin; und Pickering zeichnet eine entsprechende Karte, so zwar, daß diese pazifische Hemisphäre, ganz im Sinne der Pendu- lationstheorie durch den Schwingungskreis halbiert wird und der Mittelpunkt des Mondes auf diesem liegt. Er wird allerdings auf etwa 1000 See- N. F. VIII. Nr. ^,1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 483 meilen nordöstlich von Neuseeland angesetzt. Be- trachtet man aber irgendeine Karte des Pacifics mit Tiefenangaben, so erkennt man sofort, daß die größere Vertiefung auf die Nordhälfte fällt, die fast durchweg mehr als 5000 m tief ist, während in der Südhälfte der östliche Teil unter 4000 m bleibt. Gerade diametral entgegengesetzt aber liegt das innere Afrika, jener älteste Klotz, von der zu keiner Zeit eine VVasserbedeckung nachgewiesen werden konnte. Das gibt eine Schwerpunktsverlegung gerade auf den Schwin- gungskreis, welche wohl in derselben Weise wirken mußte, als wenn dieses .Afrika durch den Auf- slurz eines zweiten Mondes entstanden wäre, d. h. ein Kippen, eine Verschiebung der Rotationsachse auf dem Schwingungskreis, wobei Ecuador und Sumatra als West- und Ostpol in ihrer äciuatorialen Lage verharrten. Mir scheint also, daß man mit der einen oder anderen Mondtheorie gleich weit kommt; die weitere Rechnung und Entscheidung muß selbstverständlich der Astronomie überlassen bleiben. Schließlich genügt wohl die bloße Betrach- tung der Schwerpunktsverlegung auf unserem Planeten ohne jede weitere Hypothese. Es gibt ja wohl noch Elemente genug, welche auf der- artige Ungleichmäßigkeit hinweisen und vielleicht mit ihr im Zusammenhang stehen, etwa die ellip- tische Gestalt unserer Erdbahn an Stelle eines Kreises oder die Schiefe der Ekliptik. Wichtiger scheint mir's darauf hinzuweisen, daß die Astro- nomie bereits mit einer solchen Verschiebung rechnet. Das tut Franz,') wenn er die Ebenen und Depressionen auf dem Mond, die sog. Meere, welche jetzt eine Art Gürtel auf dessen nördlicher Hemisphäre bilden, einst in äquatorialer Lage entstanden stein läßt. Mir genügt es vollkommen, daß eine solche Achsenverschiebung, wie sie die Pendulationstheorie als Beginn der Schwankungen annimmt, keinesfalls außerhalb der Berechnungen der Astronomen liegt.-) Dabei will ich nur noch hinzufügen, daß ich noch in einem anderen Punkte, den ich früher beiseite gelassen habe, die Aus- führungen von Franz vom Monde auf die Erde übertragen möchte. Ich habe wohl die Erde ') Franz, Die Verteilung der Meere auf der Mondober- fläche. Sitzber. der K. preuß. Akad. der Wissenschaften 1906. ') Arldl meint, eine so vage Hypothese wie die Armver- schiebung von 30 — 40", zurüclcweisen zu müssen, bedenkt aber nicht, daß jede einzelne von den vielen Landverbindungen, die er mit der Geologie in früheren Perioden konstruiert, eine Hypothese, um nicht zu sagen eine Katastrophenannahme für sich verlangt; dazu kommt noch eine ganze Reihe will- kürlich angenommener Verbreitungswege, die er in seinen .Arbeiten konstruiert ohne alle Begründung. Die Pendulations- theorie bringt alle Landbrücken in ihrem Entstehen und Ver- schwinden unter einen einheitlichen kausalen Gesichtspunkt und verzichtet in den Verbreitungswegen auf alle ungegründete Willkür. Und wenn sie für einzelne Erscheinungen, nament- lich auf der abgelegenen südlichen Erdhälfte, noch nicht alle Einzelprobleme aufltlärt, so ist das doch bei ihrer allgemein zugegebenen Leistungsfähigkeit noch kein Grund zu ihrer Zurückweisung, wie sie lediglich deshalb von anderer Seite erfolgt ist. schlechthin schwanken lassen als Ganzes, während nach der Ansicht des Astronomen nur die Kruste sich verschiebt, während der innere Kern, möge er beschaffen sein wie er wolle, seine ursprüng- liche Rotation unverändert beibehält, l'^ür die geologischen und biogeographischen P'olgerungen, die sich allein auf die Kruste beziehen, ist die Sache gleichgültig, nicht aber für das physikalische Verständnis. Wer theoretisch recht gründlich vorgehen wollte, könnte wohl behaupten, daß die erste Er- starrung der Erdkruste überhaupt nur durch einen aufgestürzten F'remdkörper ermöglicht wurde. Ohne diesen hätte die Erdkruste, als homogen angenommen, bei fortschreitender Abkühlung auch dann nicht fest werden können, nachdem die Temperatur unter den Schmelz- oder Erstarrungs- punkt der sie zusammensetzenden Silikate ge- sunken war, sie hätte unterkühlt werden, aber flüssig bleiben müssen, mit um so stärkerer Spannung, je tiefer die Temperatur sank. Hier genügte unter Umständen ein kleiner Meteorit, um eine beträchtliche lokale Erstarrung eintreten zu lassen, und das konnte sich in Afrika südlich vom Äquator ereignen. Doch das sind Doktor- fragen , die weiter zu verfolgen vorläufig wohl keine .Aussicht auf Erfolg bietet. 2. Über die physikalische Ursache der Pendelschwankungen. War ich im vorigen Abschnitt mehr auf die Heranziehung geophysischer und astronomischer Betrachtungen und Hypothesen im allgemeinen angewiesen, so kann ich jetzt, dank der freiwillig geleisteten Hilfe von physikalischer Seite, viel be- stimmter, wie ich hoffe, durchaus überzeugend auftreten. Die Schwierigkeit liegt zunächst in der Vorstellung, daß irgendeine einseitige Be- lastung der Erde diese wohl zum Umkippen bringen konnte, nach kürzerer oder längerer Frist aber eine definitive Achsenlage bewirken mußte, aus der es. kein Wiederaufrichten und weiteres Schwanken gab. Der Kreisel mußte tanzen, indem die frühere Rotationsachse einen Kegel beschrieb. Ich selbst habe bereits derartige sekun- däre Bewegungen in Rechnung gezogen. Wo ist aber die Kraft, welche die alten Rotationspole wieder in die frühere Lage zurückdrängt.' Da weist mich denn Herr Dr. Hausrath vom Karls- ruher Polytechnikum darauf hin, daß es sich um die elektromagnetische Beeinflussung der Erde von der Sonne handelt. Ich will versuchen, die Sache nach meiner Weise klar zu machen, wobei ich die schärferen Betrachtungen und Experimente den Physikern überlasse. DieSonne ist ein großer Magnet, die Erde ein winziger. Der große Magnet stellt den kleinen so ein, daß die Achsen parallel werden. Ist also der kleine Magnet durch irgendwelchen Anstoß aus seiner Lage gebracht, so muß er wieder in diese alte Lage zurückstreben. Die Be- 484 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 31 einflussung des Erdmagnetismus, der irdischen Nun brauclit man nur einer Boussole einen Mag- Elektrizität, der Nordlicliter durch die erhöhte neten oder ein Stück Eisen auf einige Entfernung Tätigkeit der Sonne während der Sonnenflecken- zu nähern, um zu sehen, wie die Nadel in lang- perioden ist längst festgestellt, und ich habe mich samen Schwankungen, die ganz allmählich ab- Fig. I, Isogonen und Isoldinen nach Neumayr. Linien gleicher westlicher, gleicher östlicher Deklination. — . Linien gleicher Inklination. Westpol: Schnittpunkt zwischen Äquator und dein So." w. L. in Ecuador. Ostpol: Schnittpunkt zwischen Äquator und dem 100." ö. L. auf Sumatra. Linien Fig. 2. Isodynamen der Horizontal-Intensität nach Neumayr. in den letzten Jahren weiter mit dem Einfluß, nehmen, sich in die neue Ruhelage einstellt, die den sie auf die Tierwelt und zuletzt auf die Erd- in diesem Falle aus der doppelten Wirkung des beben ausüben, beschäftigt und darüber publiziert. Eisenstücks und des Erdmagnetismus resultiert. N. F. VIII. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 485 Für das Verhältnis zwischen Erde und Sonne liegt die Sache so, daß die Rotation der Erde ein gewaltiges Trägheitsmoment ergibt, die riesige Entfernung zwischen beiden Himmelskörpern je- doch die riciitende Kraft nur relativ selir klein gestaltet. Daraus folgt ein äußerst langsames Aufrichten der magnetischen Erdachse und ein ebenso langsames Hindurchpendeln durch die ur- sprüngliche Lage mit immer abnehmenden Aus- schlägen ganz so, wie es die Pendulationstheorie verlangt. Man kann dabei hinweisen auf die Tatsache, daß bei einer mit Elektrizität geladenen Kugel sich diese Kraft nur an der Oberfläche sammelt, daher bei der Erde nur die Kruste in Betracht kommt. Man kann ebenso betonen, daß es ganz gleichgültig ist, in welcher Weise sich die Erdachse verschoben hat, ob sie einfache Pendelschwankungcn ausführt oder ob sie etwa durch Komplikation mit der Präzessionsbewegung eine Schraubenlinie beschreibt; immer muß die richtende Kraft des großen Sonnenmagneten be- strebt sein, sie parallel zur Sonnenachse zu stellen. Für die volle Übereinstimmung dieser physika- lischen Rechnung mit der Pendulationstheorie fehlt uns noch ein Beweis, nämlich der, daß Ecuador und Sumatra wirklich die Schwingpole sind, die ihre relative Lage zur Sonne unverändert beibehalten. Ist das bloß aus den Argumenten zu folgern, die Reibisch und ich bisher beibrachten? oder läßt sich das auch in die neue physikalische Argumentation einschließen ? Nun, Herrn Dr. Haus- rath danke ich auch diesen Hinweis. Er liegt in der Verteilung des Erdmagnetismus. Der Äquator hat zwei Stellen, wo die Magnetnadel direkt nach Norden weist, sie liegen im Ost- und Westpol- gebiet. Die Null-Isogone oder Agone geht etwas westlich von Sumatra vorbei und andererseits allerdings in etwas größerem Abstände vom West- pol durch Surinam (s. Karte I). Der Westpol selbst zeigt, wenn nicht viel, doch immerhin 5" östl. Abweichung. Beim Ostpol dagegen ist sie fast Null. Die Schnittpunkte der Agone mit dem Äquator sind demnach ein wenig von den Schwingpolen verschoben und einander auf der atlantisch-indischen Hemisphäre genähert. Die Sache ändert sich, wenn man sich nicht auf die Nordweisung der Nadel beschränkt, son- dern zugleich die Horizontalisodynamen berück- sichtigt.') Diese steigen ebenfalls am Ost- und Westpol am stärksten an, und zwar liegen die Maxima hier nicht auf der atlantisch-indischen Hemisphäre, sondern nach der pazifischen zu, westlich 0,36 gerade nördlich von den Galapagos, östlich 0,39 zwischen der malaiischen Halbinsel ') Die wahren Isodynamen, welche die absolute magne- tische Stärke aus Deklination und Inklination darstellen, er- geben ein anderes Bild. Das aber scheint mir hier, wo es sich um die Ausrichtung handelt, nicht in Rechnung zu kommen. — Nebenbei erlaube ich mir die Bemerkung, daß mir ein anderer Physiker von anerkanntem Ruf eine in ver- schiedener Richtung liegende experimentelle Lösung des Problems vorschlug, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann. und Borneo (s. Karte II). Der Ostpol liegt gerade zwischen der Horizontalisodyname 0,39 und dem östlichen Schnittpunkt der Agone mit dem Äquator, der Westpol liegt nur eine Kleinigkeit südlich von dem betreffenden Westpunkt. Daß damit die Pendulationstheorie über die Stufe der Unsicherheit hiiiweggehoben ist, die allen biolo- gischen und geologischen Beweisen bisher an- haftet, scheint mir sicher. Die Erklärung im ein- zelnen mag noch mancher Rechnung bedürfen. Denn die Erde ist kein Magnet, wie ein Stück Eisen, sondern es finden auf ihrer Oberfläche fort- während langsame Änderungen der Deklination und Inklination statt. Wir haben erst kürzlich durch Amundsen erfahren, wie der magnetische Pol schwankt. Die Beeinflussung durch die Sonne ändert sich dazu mit deren wechselnden Zustän- den. Die lokal verschiedene Zusammensetzung der Erdkruste tut dazu das Ihre. Man hat also vermutlich zweierlei Sonneiieinfluß zu unterschei- den, lokale Änderungen und die Hauptwirkung, welche die Erde als ganzen Magneten richtet. Die lokalen Änderungen müssen parallel gehen mit den durch die Pendulation bedingten lokalen Verschiebungen, sie müssen wegfallen da, wo keine Verschiebung statthat , an den Schwingpolen Ecuador und Sumatra. Hier ist daher die Aus- richtung der Magnetnadel am vollkommensten. Wie im übrigen die Gesamtwirkung sich aus ihren Einzelkomponenten summiert, das ist eine Frage, deren Lösung ich der Geophysik überlassen muß. Hier genügt die Erkenntnis, daß Ost- und Westpol in Hinsicht auf den Erdmagnetismus durchaus die Aufgabe erfüllen, die ihnen von der Pendulationstheorie zugewiesen wurde, denn ihre magnetischen Eigenschaften fallen mit der theo- retischen F"orderung in unvergleichlich höherem Maße zusammen, als bei den magnetischen und den Rotationspolen. 3. Über die relative Länge der geolo- gischen Perioden. Ein Kritiker hat gegen die Pendulationstheorie den Einwand erhoben, sie werde trotz ihrer Leistungen hinfällig wegen der verschiedenen Länge der geologischen Perioden, die doch, den Pendel- ausschlägen entsprechend, von gleicher Dauer ge- wesen sein müßten. Ich hatte den Einwand er- wartet, um ihn dann womöglich zurückzuweisen. Denn ich hatte absichtlich das Buch zunächst nicht durch die krasse Behauptung beschweren wollen, wie denn so manche weniger weittragende Folgerung bisher noch unausgesprochen geblieben ist. Mir scheint in der Tat, daß die übliche An- sicht, wonach eine geologische Periode um so sehr viel länger sein soll, je älter sie ist, zu ver- lassen ist zugunsten gleicher Periodenlänge. Mit absolutem Maß gemessen, ist die Frage von geringerer Wichtigkeit, als man zunächst glauben möchte, deshalb, weil wir über die Dauer der irdischen Schöpfung uns noch in tiefer Plnsternis befinden, trotz so manchen Anhaltspunkten, dem 486 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 31 Niagarafall u. a. Man braucht nur die verschie- denen Zeiten zu betrachten, welche die einzelnen Forscher zur Entwicklung der Lebewelt für nötig halten; der eine begnügt sich mit zwei Millionen Jahren, Arrhenius zieht das Tausendfache vor. Die Rechnungen sind also vorläufig noch ohne festen Halt. Sucht man, bei den Organismen bleibend, nach einem Maßstab zur Vergleichung der Perioden, dann findet man wohl kaum wesentliche Diffe- renzen. Die Entwicklung war im Tertiär, bei oberflächlicher Umschau, mindestens ebenso be- deutend, als im Mesozoicum. Man braucht bloß die überreiche Gliederung der Säuger oder der höchsten Pflanzengruppe, der Dicotyledonen, zu nehmen. Ihre Ausarbeitung stellt, wenn auch ihre Wurzeln viel weiter zurückreichen, eine so außer- ordentliche schöpferische Leistung dar, daß das Aufblühen der in ihren Einzelheiten weit plumper gebauten Reptilien im Mesozoicum sicherlich nicht höher veranschlagt werden darf. Nicht anders ist's im Paläozoicum ; denn auch den mancherlei Klassen niederer Tiere, die sich, neben Paläichthyes und Amphibien, damals entwickelten, steht ein nicht geringerer Reichtum in den späteren Perioden gegenüber. Das Präcambrium kommt für die Organismen nicht in Betracht, und ich lasse seine etwaige Gliederung beiseite. Die Lebewelt dürfte also schwerlich einen Anhalt ge- währen, den Perioden eine verschiedene Länge zuzusprechen. Dafür wird ein ganz anderer Maßstab zugrunde gelegt, die Mächtigkeit der Ablagerungen nämlich, d. h. die Summe der Sedimente, die in unserem Europa abgelagert wurden , oder, was auf das- selbe hinausläuft, der Umfang der Verwitterung und Abtragung. Diese allerdings übertrafen in der ältesten Periode die während der jüngsten abgeschlossenen, d. h. des Tertiärs, um ein Viel- faches. Das aber hängt, soviel ich sehe, mit der abnehmenden Amplitude der Pendelausschläge zusammen. Wie es sich von selbst versteht, daß Pendel- ausschläge bei gleicher Zeitdauer regelmäßig an Amplitude einbüßen, so habe ich in der Pendu- lationstheorie (S. 524) bereits damit gerechnet, muß jedoch hier nochmals darauf zurückkommen, da sich inzwischen schärfere Anhaltspunkte ergeben haben. Unter der Annahme, daß bei jeder Achsen- verschiebung das leichtbewegliche Wasser jeder- zeit die P'orm des Rotationsellipsoides beibehält, das Land aber zunächst starr bleibt, muß dieses bei Bewegung nach dem Nord- oder Südpol zu, also bei polarer Schwingungsphase, sich stetig über den Meeresspiegel erheben ; und zwar müßte ein Punkt, der unter dem Äquator an der Meeres- küste liegt, bei der Verlegung nach dem Nordpol auf mehr als 20000 m hohem Gebirge liegen, entsprechend der Differenz zwischen dem kleinen und großen Erdradius. Das gäbe für jeden Grad reichlich 200 m Erhebung. In Wahrheit stellt sich aber die Rechnung anders; denn die Zentri- fugalkraft, auf der der Unterschied der beiden Radien beruht, nimmt nicht gleichmäßig vom Äquator, wo sie am größten, nach dem Pol ab, wo sie Null ist, sondern erhält in der Mitte, unter 45", ein zweites Maximum, das ich bereits für die Bestimmung der jedesmaligen Gebirgsbildung be- nutzte (1. c). Des Zusammenhangs wegen gebe ich die wichtigsten Daten. Die Zentrifugalkraft ist proportional dem Quadrat des Radius des Breitengrades, der durch den Cosinus ausgedrückt wird. Nun ist Cos'- o" = I am Äquator, Cos'- 10" = 0,96984 „ „ Cos- 20" = 0,88304 „ „ Cos" 22<'3o' = 0,85358 „ „ Cos'= 30« = 0,75 Cos'- 40" ^-= 0,58681 Cos'- 45" = o,s Von da in umgekehrter Folge bis 90", am Rota- tionspol. Die Zentrifugalkraft beträgt also, wie zu er- warten, unter 45" die Hälfte von der am .''iquator. Aber die Abnahme von o" — 45" ist nicht gleich- mäßig, denn dann müßte sie unter 22''3o' 0,75 ausmachen. Dieser Wert fällt aber erst unter den 30.". Die Abnahme erfolgt also zwischen 30" und 45" doppelt so rasch, als zwischen o" und 30". Die Verhältnisse wiederholen sich symmetrisch zwischen 45'^ und 90'*, wo wieder zwischen 45" und 60" der gleiche Abfall eintritt als zwischen 60" und 90°. Nun hat P. Reibisch in den Mit- teilungen des Ver. f. Erdkunde zu Dresden 1907, S. 73 — 75 eine Tabelle der Differenzreste zwischen .Äquatorialradius und Geoidradien aufgestellt für Minutendekaden in Metern. Sie ist berechnet unter Zugrundelegung der Tafeln der Dimensionen des Erdsphäroids von A. Steinhauser, in Zeitschr f. wissensch. Geogr., herausgeg. von J. I. Ketteier Bd. V. Wien 1885. Es handelt sich dabei also nicht um neue Prinzipien, sondern bloß um die etwas müh- same Ausrechnung alt anerkannter Formeln und Werte. Lassen wir aus dieser Tabelle die Minuten weg und beschränken uns auf die Grade und zwar so, daß wir, von Grad zu Grad fortschreitend, nur die Differenz berücksichtigen, die er gegen den vorhergehenden zeigt, dann erhalten wir folgende Tabelle: 0^' 0 m I» 5 ., 2^' 19 ,. 3" 32 „ 4" 45 ,. S" 57 - 6" 71 - 7" 84 ., &" 97 ., 9" 110 „ 10" 123 „ 11" 132 „ 12" I30 14° 15" 16" 18» 19" 20" 21" 22« 23O 142 155 166 177 189 200 21 1 224 234 242 241 262 / N. F. VITI. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 487 24" 271 m 58" 332 m 25" 282 „ 59» 332 „ 26" 286,. 60» 328,. 27" 294 .. 61" 318,, 28" 302 „ 62» 3J2 „ 29" 311 „ 63» 306 „ 30" 318 „ 64« 300 „ 31" 3^3 „ 65» 294 „ 32" 328 „ 66» 281 „ 33" 335 ., 67» 272 „ 34" 342 „ 68" 26s „ 35" 349 .. 69« 256,, 36" 349 ., 70» 247 n 37" 354 „ 71« 234 „ 38" 359 .. 72» 224 „ 39" 363 „ 73» 215 -, 40« 367,, 74» 204 „ 41» 366,, 75» 194 „ 42" 368 „ 76 i8i „ 43" 370 „ 7f 171 . 44" 372 „ 78« 159 „ 4S" 374 ,. 79» 149 ., 46« 372 „ 80» 157 „ 470 371 -. 81» 122 „ 48" 371 ., 82« 109 „ 49» 371 „ 83» 97 .. so" 371 M 84» 85 ,, 51" 364 „ 85» 72 „ 52'' 362 „ 86» 58,, 53» 360 „ 87« 46,, 54" 357 „ 88» 33 „ 55» 355 „ 89» 20 „ S6« 346 „ 90« 8„ 57» 341 ,. Was die Zahlen lehren, läßt sich wohl so ver- deutlichen: Die Höhendifferenzen betragen am Äquator und am Pol ein Minimum, um den 45." aber ein Maximum ; die Geoidform, welche das Wasser bei den Pendelbewegungen allezeit ein- nehmen würde, erleidet gewissermaßen um den 45.» eine Abflachung oder Vertiefung. Der Punkt also an der Meeresküste in Kamerun würde bei der Verlegung nach dem Nordpol sich anfangs nur wenig über die Meeresfläche erheben, zu- nächst nur um 5 m pro Grad, allmählich aber mehr und mehr und unter 45" um 374 m, dann würde wieder eine ungefähr entsprechende Ab- nahme eintreten. Das Umgekehrte würde ein- treten bei äquatorialer Schwingungsphase. Der Punkt des Nordpols an der Meeresküste würde, am Schwingungskreis unter 89" verlegt, 8 m unter- tauchen, ein Punkt aber im Meeresniveau bei 46» n. Br., nach 45» verlegt, würde 374 m unter- tauchen. In letzterem Falle, der etwa die Orte Clusone und Cremona betrifft, ist es gleichgültig, ob sie an oder über dem Meeresspiegel liegen, die relativen Verhältnisse bleiben dieselben. Europa aber, das für die Bestimmung der geologischen Perioden maßgebend ist, bewegt sich unter dem 45." auf und ab. Wir befinden uns, von der Eiszeit noch nicht allzuweit entfernt, ver- mutlich noch etwas nördlich von der Mittellage. Versucht man die Rechnung der Abwitterung, welche die Schuttmassen und dadurch die Mächtig- keit der Formationen bedingt, sich einigermaßen übersichtlich klar zu machen, so kommt man etwa zu folgendem Ergebnis. Bei polarer Schwingungsphase, d. h. im Paläozoicum und Tertiär, werden von Süden her die Gebirgszüge unter den 45." gebracht und erheben sich damit ohne weiteres immer gewal- tiger über den Meeresspiegel. Den abnehmenden Pendelausschlägen entsprechend lagen im Paläozo- icum die armorikanisch-variskischen Ketten, also unsere deutschen Mittelgebirge, im Tertiär aber die Alpen anfangs südlicher als 45"; sie gingen unter dieser Breite durch. Dadurch rückten sie jedesmal über die Grenze des ewigen Schnees hinauf. Diese Linie aber ist für die Verwitterung bei weitem die wichtigste und maß- gebende, wobei ich wohl auf die Schilderung der wirksamen Kräfte, in erster Linie des fort- währenden Wechsels zwischen Frieren und Tauen, nicht weiter einzugehen brauche. Man beachte nur die Schuttmassen, die etwa jetzt jährlich in den Alpen zu Tale geführt werden, gegenüber den viel geringeren, die das Erzgebirge oder der Harz verlieren. Der Überschlag gilt ja als Muster, daß von den Alpen nur etwa noch ein Drittel stehen soll; zwei Drittel liegen am P"uß des Gebirges, wo sie die Po-Ebene erfüllen usw. Wenn nun im Paläozoicum der Ausschlag viel beträchtlicher war, dann wurden auch die armorikanisch-varis- kischen Alpen in viel größerer Breite unter der kritischen Linie hindurchgeführt und mußten weit mehr Sedimente ergeben. Anders stellt sich der Vorgang bei äqua- torialer Schwingungsphase, und doch mit dem gleichen Endergebnis. Die Alpen, nach Süden wandernd, würden dadurch allein schon erniedrigt, etwa um 400 m beim Vordringen des Hauptkammes bis zum 45.". Soweit sie noch an die Schneelinie reichen, würden sie weiterhin stark abwiltern. Wenn beide Faktoren genügend zu- sammengewirkt hätten, würde die Schuttbildung bedeutend nachlassen. Wichtiger wäre dann der andere Faktor, der jetzt bereits ebenso wirksam ist, das rasche Absinken der Küsten. Wir kennen's ja aus diesen Breitengraden des Mittel- meergebietes seit der Eiszeit her, den Einbruch des ägeischen Meeres, der Tyrrhenis oder Atlantis usw., um nur Dinge zu nennen, von deren Ge- schehen der Mensch bereits Zeuge war, aller- jüngster Ereignisse zu geschweigen. Es ist doch wohl selbstverständlich, daß die verschwundenen und verschwindenden Küsten, von den Gezeiten zernagt und fortgespült, ein gewaltiges Schutt- material ergeben müssen, das in marine Schicht- gebirge umgesetzt wird. Vergleichende Berech- nungen zwischen diesen Schuttmassen und denen, welche von den Gebirgen herabkommen, kenne ich nicht. Aber die Kalkulation im allgemeinen ist wohl kaum anfechtbar. Die Sedimente, welche 488 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 31 die Küste Hefert, müssen um so größer sein, je schneller sie sinkt. Da kommt für die polaren Phasen neben der Gegenwart das Mesozoicum in Frage, und es erscheint klar, daß ein stärkerer Pendelausschlag breitere Kustenstrecken einem schnelleren Untertauchen und gewaltigerer Ab- witterung und Strandzernagung unterwerfen mußte, als es heutzutage der ¥a\\ ist. Wir kommen also von jeder Betrachtungsweise aus zu dem gleichen Schluß, daß nach der Pendulationstheorie die ab- nehmende Amplitude der Pendelausschläge auch eine gleiche Abnahme der Sedimente zur Folge haben mußte und damit eine abnehmende Mäch- tigkeit der geologischen Perioden, und zwar immer so, daß der stärkste Ausdruck des Gesetzes in Mittel- und Südeuropa zu finden ist. Wenn also der biologische Inhalt der Perioden keineswegs auf eine verschiedene Zeitdauer weist, so klärt die Pendulationstheorie den Widerspruch, der aus der verschiedenen Mächtigkeit der Sedi- mente erwächst und anscheinend auf eine ab- nehmende Länge hindeutet, restlos auf; denn sie zeigt, daß die abnehmende Mächtigkeit die Folge ist von der abnehmenden Amplitude der Pendel- ausschläge, in maximo immer in Europa. Bei dieser Rechnung ist das Aufstauen der großen Gebirgsketten bei polarer Phase unter 45", das vermutlich die Dift'erenz der Schuttmassen nur steigern würde, noch ganz außer Betracht gelassen. Ich kann es wohl zunächst und überhaupt nicht als meine Aufgabe erachten, etwaige Ab- weichungen der Rechnungen, die hier vorgebracht sind, im einzelnen nachzuweisen; das muß der Physik und der Geologie überlassen bleiben. Denn mir ist die Pendulationstheorie, von meinem eigent- lichen Arbeitsfelde aus, in ihrem Werte für die Biologie zuerst klar geworden. Wesentlich aber ist es für die durchdringende Überzeugungskraft, daß sie nach keiner Richtung auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoße. Und das scheint mir nun- mehr bewiesen zu sein. Sobald dieser Gedanke erst zur allgemeinen Anerkennung gelangt ist, wird ihre Fruchtbarkeit nach den verschiedensten Seiten hin bald genug hervortreten. Kleinere Mitteilungen. Biologie des Seesterns Asterias forreri. — In dem gegenwärtigen Streit um die Tierseele sucht eine Reihe von Forschern nicht durch philo- sophische Erörterungen, sondern durch das Sammeln von neuem Beobachtungsmaterial der Lösung der Probleme näherzukommen. Die Ar- beiten dieser — meist amerikanischen — Ge- lehrten finden bei uns nicht sehr viel Beachtung in der Öffentlichkeit, obwohl sie wegen der exakten Beobachtungen über die Tiere unter normalen und unter künstlich veränderten Bedinguneen jeden, der sich mit Biologie beschäftigt, inter- essieren müssen, ganz abgesehen von den allge- meinen Schlußfolgerungen. Als Beispiel einer solchen Arbeit sei eine Studie von Jennings, der sich auf diesem Gebiet hervorragend betätigt hat, im folgenden kurz dargestellt. Als Versuchstier hatte Jennings den Seestern Asterias forreri gewählt. Er ist an der Küste von Süd-Californien, wo die LJntersuchung ange- stellt wurde, häufig und führt an der Unterseite von Steinen ein ziemlich unbewegtes Dasein. Die Atmung des Seesterns wird durch die zartwandigen Kiemenschläuche (K, in Abb. A u. B) vermittelt, welche auf der Rückenseite des Tieres zwischen den Kalkstacheln (s) vorgestreckt werden. Sie vor Insulten zu schützen ist die Uauptfunklion der Pedicellarien (p), die in Ringen um die Kalk- stacheln angeordnet sind. Jedes einzelne Pedi- cellarium stellt eine gestielte Greifzange dar, die sich durch Muskeln öffnen und schließen kann. Gerät nun z. B. eine Krabbe auf den Rücken des Seesterns, so strecken sich die Pedicellarien auf ihren Stielen, so hoch, daß die Stacheln zwischen ihnen verschwinden (Fig. B), sperren ihre Kiefer auf und schnappen bei Berührung zu, so daß der Störenfried in kurzem von allen Seiten gepackt und unbeweglich gemacht ist. Die Pedicellarien reagieren sowohl auf mechanische wie auf viele chemische Reize. Der genaue Verlauf der Reak- tion, wie lange die Greifzangen geöfifnet bleiben, wenn sie nicht durch Berührung zum Zuschnappen veranlaßt werden, wie lange sie ein Objekt fest- halten usw. läßt sich nie voraussagen, denn es herrscht eine Variabilität, bedingt durch den Einfluß äußerer Faktoren und des inneren physio- logischen Zustandes der Organe. — Die Pedi- cellarien sind auch noch an einem kleinen aus- geschnittenen Hautstück reaktionsfähig; doch stehen sie unter dem Einfluß des Nervensystems, denn ein an einer Stelle des Tieres ange- brachter genügend starker Reiz versetzt alle Pedicellarien in Erregung. Die Reizleitung erfolgt wahrscheinlich im Hautnervengeflecht, Durch- schneidung der Radialnerven beeinträchtigt sie nicht. Die Pedicellarien dienen aber nicht nur zum N. F. VIII. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 489 Schutz, sondern auch zum Erwerb der Nahrung, da das von ihnen ergriffene Tier (im Freien meist Schnecken, aber auch Krebse und verhältnismäßig sehr große Fische werden bewältigt, wie die nach einer Photographie angefertigte Abbildung zeigt) in der Regel vom Seestern verzehrt wird. Ist er gerade satt, so halten die Pedicellarien die Beute fest, bis sie tot und zerfallen ist, von selbst lassen sie einen ergriffenen Gegenstand nicht los; hat er aber Hunger, so wird den Pedicellarien das Beute- tier von den Saugfüßchen, die sich suchend von der Unterseite emporstrecken, entrissen und diese führen es dem Munde zu. Es kann diese Freß- reaktion der Saugfüßchen sowohl durch chemische wie durch mechanische Reizung allein ausgelöst werden, doch wird die Beute als kombinierter Reiz wirken. Daß der chemische Reiz der wich- tigere ist, geht aus folgendem Versuch hervor: Ein Seestern hält mehrere auf seinen Rücken ge- ratene Krabben fest und frißt keine; wird eine von ihnen zerschnitten, so daß ihre Körpersäfte ausfließen, so wird diese sofort verzehrt. Während sich unser Seestern ruhig verhält, wenn alle seine Lebensbedürfnisse befriedigt sind, beginnt er sofort herumzuwandern, wenn er in neue Verhältnisse (z. B. in ein anderes Aquarium) versetzt wird. Das ist für ihn von Vorteil, da er die Fähigkeit hat, unter verschiedenen Bedingungen (handle es sich um Wasser- und Bodenbeschaffen- heit, Temperatur und anderes) die zu wählen, die für sein Leben die besten sind ; hat er sie gefun- den, so gelangt er zur Ruhe. Es ist hier der Ort, die allgemeine, aber irr- tümliche Ansicht über die Art des Kriechens der Seesterne zu korrigieren, daß sie sich nämlich mit den in der Bevvegungsrichtung ausgestreckten Saugfüßchen ansaugen, daß sich diese dann ver- kürzen und so den Körper nachziehen ; es wirken vielmehr die Saugfüßchen als Hebel, ebenso wie die Beine der höheren Tiere, sie werden nach vorn gestreckt und langsam nach hinten durch- geschwungen und so wird der Körper nach vorn geschoben. Das läßt sich gut beobachten, wenn man das Tier in lockeren Sand oder auf glatte fette Flächen setzt, wo ein Ansaugen unmöglich ist. Nur bei der Bewegung an steilen oder über- hängenden Wänden spielt das Ansaugen eine wesentliche Rolle. Asterias forreri ist gegen Licht empfindlich, und zwar ist er negativ phototropisch. Aus dem Dunkeln ans Helle gebracht beginnt er aufgeregt herumzuwandern und kommt zur Ruhe, wenn er zufällig eine dunkle Stelle findet. Wenn er von einer Seite belichtet wird, kriecht er nach der entgegengesetzten Seite davon. Wird ein Teil seines Körpers durch einen Schirm beschattet, so bewegt er sich nach dieser Richtung dem Schatten zu; bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Reaktion als identisch mit der früheren, denn die Richtung der Lichtstrahlen an sich hat gar keine Wirkung, sondern das Tier kriecht nach der Seite, an der es sich selbst, durch seinen eigenen Körper, beschattet. Wenn man bei einseitiger Be- lichtung die dem Licht zugewandte Körperseite mit einem Schirm beschattet, bewegt sich der Seestern dem Lichte zu, sobald der Schirmschatten ausgedehnter ist als der vom Tier selbst erzeugte. Freilich läßt sich die Reaktion nicht mit Sicher- heit voraussagen, da viele innere und äußere Fak- toren auf ihren Verlauf Einfluß haben. Findet das Tier in einem einseitig belichteten flachen Gefäß keinen Schatten, so kehren die einzelnen Arme dem Licht ihre Rückenseite zu und schützen so ihre empfindlichere (nur schwach pigmentierte) Unterseite. Die Frage, ob dieser Seestern sehen könne, wurde nicht mit Sicherheit entschieden. Einige Tiere pflegten, wenn sie in einem gleich- mäßig belichteten F'eld in die Nähe einer be- schatteten Stelle gesetzt wurden, direkt auf den Schatten loszugehen, als ob sie ihn sähen, andere zeigten dieses Verhalten nicht. Zahlreich sind die Faktoren, die den typischen Verlauf der Reaktionen ändern oder sogar ganz umkehren können. So kriecht der Seestern typisch in der Richtung des einfallenden Lichtes davon und typisch zieht er sich, wenn man ihn an einer Seite berührt, nach der entgegengesetzten Seite zurück; läßt man ihn aber bei einseitiger Belichtung an der Lichtseite einen Gegenstand berühren, so kriecht er nun auf diesen zu und dem Licht entgegen ; es ist in diesem Fall für ihn vorteilhaft, da der Gegenstand leicht einen Unterschlupf und Schutz vor dem Licht bieten kann. Schon eine momentane einmalige Berüh- rung des ruhenden Tieres genügt, um die Be- wegungsrichtung, die eingeschlagen wird, ent- sprechend vorauszubcstimmen, der Gegenstand wird dann förmlich gesucht. Eine einmal ein- geschlagene Bewegungsrichtung wird, auch wenn man die Bedingungen wechselt, noch kurze Zeit beibehalten; manchmal zeigt ein Tier dauernd eine Vorliebe, sich in einer bestimmten Richtung (natürlich auf seinen Körper, nicht auf den Raum bezogen) zu bewegen. — Während der Seestern es 490 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vin. Nr. 31 gewöhnlich vermeidet, seine Arme aus dem Wasser zu strecken, scheut er dies bei seinen Kundschaftswanderungen, wenn er unter neue Verhältnisse versetzt wurde, so wenig wie starke Belichtung. An diesem Wechsel im Benehmen ist nicht eine Änderung der äußeren, sondern der inneren Bedingungen schuld; das Tier reagiert nicht nur auf einzelne äußere Reize, sondern auf die ganze Situation, auf gegenwärtige und ver- gangene Reize zugleich; die letzteren tun natür- lich ihre Wirkung durch die Veränderungen, die sie im inneren Zustand des Organismus geschaffen haben. Einem genauen Studium (über looo Versuche) wurde die „Umdrehreaktion" (,,righting reaction") unterworfen, die darin besteht, daß ein auf den Rücken gelegter Seestern sich selbst in die nor- male Bauchlage zurückversetzt. Wie er dies macht, ist so variabel, daß man an einer Analyse des Vorgangs verzweifeln könnte; doch lassen sich bestimmte Typen in der Art der Reaktion feststellen, um die sich die abweichenden Fälle gruppieren lassen, und wenn man nun äußere Faktoren möglichst isoliert einwirken läßt, kann man studieren, wie weit sie Einfluß haben, was deshalb von Interesse schien, weil ein harmonisches Zusammenwirken der einzelnen Teile des Seesterns zum Zustandekommen des Resultates (des Sich- umdrehens) nötig ist und wir so ein Mittelglied zwischen den einfachen Reaktionen der niederen Tiere und den „Handlungen" der höheren vor uns haben. Was zunächst die Haupttypen betrifft, so sind es folgende: i. Der auf den Rücken gelegte See- stern dreht zwei benachbarte Arme (a u. b, s. d. Schema) an ihrer Spitze so um ihre Längsachse, daß sie sich die Unterseiten zukehren, ihre Saug- füßchen heften sich an den Boden an, die drei anderen Arme werden vom Boden abgehoben und schwingen frei herüber, so daß das Tier durch einen regelrechten Purzelbaum auf den Bauch zu liegen kommt. Schon hiervon gibt es (wie bei allen folgenden Typen), 5 Variationen, da statt a u. b auch b u. c, c, d usw. benutzt werden können; die Arme sind ja einander nicht gleich- wertig, sondern lassen sich nach ihrer Lage zur Madreporenplatte (m) bestimmt orientieren. 2. Zwei benachbarte Arme drehen sich so um ihre Längs- achse, daß ihre Unterseiten nach derselben Rich- tung sehen, und heften sich mit den Saugfüßchen an; wie man sich an einem Modell leicht über- zeugen kann, ist in diesem Fall das Herumdrehen des Körpers komplizierter, doch wurde es, wenn auch selten, beobachtet. 3. Das Ansaugen erfolgt mit drei benachbarten Armen, z. B. a, b, c, und während d u. e frei herüberschwingen, kriecht b zwischen a u. e durch. 4. Die Befestigung erfolgt mit vier Armen (z. B. a, b, c, d) und während e frei bleibt, wandert a u. d über b u. e weg. Ab- gesehen von der Variabilität, die schon innerhalb dieser Haupttypen möglich ist, kommt es auch oft vor, daß einzelne Arme sich zunächst so an- heften, daß sie einander direkt entgegenarbeiten, oder es beginnt die Reaktion nach dem einen Typus und wird nach einem anderen vollendet. Bei genauerem Zusehen bemerkt man, daß der auf den Rücken gelegte Seestern zunächst mit seinen Armen und mit allen Saugfüßchen unbe- stimmte Bewegungen macht, er streckt sie suchend nach allen Richtungen, dann plötzlich scheint es, als hätte er einen Entschluß gefaßt, alle Füßchen strecken sich nach einer Richtung und das Umdrehen erfolgt in dieser Richtung nach einer der oben geschilderten Methoden. Es fragt sich nun: was ist bestimmend für die Rich- tung, nach der der gemeinsame Impuls gegeben wird, und ferner: was ist, nachdem der Impuls gegeben ist, bestimmend für das Verhalten der einzelnen Teile, das, stets verschieden, doch zu einem bestimmten Ziele führt? Diese letztere Frage soll am Schluß behandelt werden. Von den Faktoren, die auf die Richtung des Im- pulses Einfluß haben, seien folgende erwähnt: Fällt das Licht von einer Seite ein, so pflegt sich der Seestern nach der anderen Seite, d. h. vom Lichte weg, umzudrehen (natürlich bei Ausschluß anderer wirksamer Faktoren); die Arme, die zu- fällig zuerst mit ihrem Rücken den Boden be- rühren, pflegen sich zuerst mit den Saugfüßchen anzuheften und können so für die einzuschlagende Richtungbestimmend werden; erfolgt die Befestigung gleichzeitig auf entgegengesetzten Seiten, so gibt die größere Zahl angesaugter Füßchen den Aus- schlag, oder auch die gegenseitige Stellung der Arme, da das Herumdrehen nach den oben auf- gezählten auf die Armstellung gegründeten Typen mit verschiedener Leichtigkeit von statten geht und die leichtere Methode vorgezogen wird; quetschen eines Armes bewirkt Herumdrehen nach der anderen Seite. Wird ein Seestern, der sich eben umgedreht hat, wieder auf den Rücken gelegt, so pflegt er sich nun auf dieselbe Weise (mit Hilfe der gleichen Arme) umzudrehen wie das erste Mal. Übrigens zeigen die einzelnen Individuen eine Vorliebe für die Benutzung be- stimmter Arme, und im allgemeinen läßt sich sagen, daß die an der Madreporenplatte gelegenen Arme am häufigsten gebraucht werden. — Nach- dem der Impuls gegeben, die Richtung bestimmt ist, kann in der Regel durch keinen der Faktoren mehr eine Änderung bewirkt werden. Die individuellen Verschiedenheiten in der Vorliebe für den Gebrauch bestimmter Arme legten die Frage nahe, ob es beim Seestern zur Ausbildung von Gewohnheiten kommen könne ; N. F. Vin. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 491 in Anbetracht des einfachen Nervensystems, das noch keine Zentralisation zu einem „Hirn" auf- weist, schien dies der Untersuchung wert. Frühere Experimente, auch anderer Forscher, hatten zu negativen Resultaten gefülirt ; z. B. wurde ein Seestern dadurch, daß fünf Nadeln in den \Vinlarstellung nach allgemeinen (je- sichtspunkten finden Sie in dem oben genannten kleinen Buche (F. Dahl, Kurze Anleitung usw.). Ausführlicher ist G. V. Neumayer 's Anleitung zu wissenschaftlichen Beobach- tungen auf Reisen, 3. Aufl., Hannover 1906. In beiden Büchern ist auf weitere Literatur verwiesen. Dahl. Herrn R N. in Cöln. — Ihnen ist die oben genannte ,, Kurze Anleitung zum wissenschaftlichen Sammeln und Konservieren" zu wenig eingehend. Sie möchten deslialb ein ausführlicheres Buch genannt haben. — — Auch Sie kann ich nur auf das oben ebenfalls genannte Buch von Neu- ro ay e r verweisen. Dasselbe ist ausführlicher, dementsprechend natürlich aber auch teurer. — Ich habe mich absichtlich be- müht, in meinem kleinen Buche alles Wichtige möglichst kurz zu geben. — Nach Ihrem Britfe will es mir fast so scheinen, als ob Sie sich bei Ihrer Beurteilung lediglich von der geringen Seitenzahl desselben haben leiten lassen. W^enn Sic einmal den Versuch machen würden, nach dem Buche zu arbeilen, so würde sich vielleicht zeigen, daß in demselben weit mehr steht als Sie glauben. — Ich benutzte auf meinen Reisen das Neumayer ' sehe Buch, empfand aber mitunter den größeren Umfang geradezu als Nachteil. Es fehlen in demselben, da die Bearbeitung der verschiedenen Tiergruppen auf verschiedene Autoren verteilt ist, die allgemeinen Gesichtspunkte und man muß verhältnismäßig viel nachschlagen , wenn man sich über die beste Konservierung einer jeden vorliegenden Tier- form unterrichten will. — Zu leicht verliert man sich in Einzelheiten, wenn man als Sammler zu viel leisien will. Be- sonders auf Reisen kommt es mehr darauf an , schnell zu konservieren als in jedem Einzelfalle die allerbeste Konser- vierungsmethode zu wählen. Das Beste ist auch hier der Feind des Guten. — Zum Fangen der Wirbeltiere habe ich nur auf diejenigen Fallen hingewiesen, mit denen ich selbst gute Erfolge erzielt habe. In den populären Jagd- und Fischereibüchern finden Sie in dieser Richtung weit mehr. Das meiste ist dann aber kritiklos zusammengestellt. — Die Schußwaffe bleibt beim Sammeln von Vögeln immer das beste Fanggerät. Können Sie selbst nicht schießen, so engagieren Sie sich einen guten Schützen, einen sog. Schießjungen. Reichen dazu die Mittel nicht aus, so wenden Sie sich lieber anderen Sammelobjekten zu; denn Schlingen und Netze liefern nur wenige Arten mit Sicherheit. Freilich wird beim Schießen ein Vogel (der zu nahe vor der Flinte war) bisweilen zerschossen. Zur Feststellung der .^rt genügt der Balg aber meist auch dann noch und beim zweiten Stück hat man vielleicht mehr Glück. — Kleinere Reptilien kann man gewöhnlich ohne jeglichen Fangapparat, mit den Händen greifen. Fürchtet man bei einem Tier die Giftzähne, so kann man es mit einer großen Pincette oder mit einer aus einem biegsamen Zweig leicht herstellbaren Schlinge, auch ohne es direkt zu berühren, in Alkohol stecken. Ein Schlag mit einer Rute genügt oft zur vorläufigen Betäubung. Über derartige Kunstgriffe kann man keine allgemeinen Vorschriften geben, weil jede Örtlichkeit ein anderes Vorgehen verlangt. Es ge- hört zum Fange von Tieren überhaupt einige Intelligenz, aber nicht sehr viel. Die Eingeborenen des Bismarck-.Archipels, die auf einer recht ursprünglichen Stufe stehen, wissen sich z. B., wie ich aus eigener Erfalirung weiß, immer zu helfen. — Nächtlich auf Nahrung ausgehende Säugetiere werden dem Korscher, wenn er sich in einer Gegend aufhält, zahlreich von den Eingeborenen gebracht, oft auch lebend. Nur die kleineren .Arten bekommt man von ihnen seltener und des- halb habe ich in meiner Sammelanleitung Mausefallen und Tellereisen, als für eine Ausrüstung wichtig, genannt. Wie diese Fallen aufzustellen sind, wird Ihnen jeder Verkäufer derselben gerne zeigen. Man ersieht dies übrigens leicht auch aus der Konstruktion. Natürlich muß man ein aufgestelltes Tellereisen nach Möglichkeit unsichtbar machen, etwa durch vorsichtiges Aufstreuen von Sand usw. Doch darf durch diese Maßregel die Fangfähigkeit nicht beeinträchtigt werden. .Auch beim Aufstellen von Fallen kann als Regel gelten, daß der gesunde Menschenverstand das Beste tun muß. — Was den Fang wirbelloser Tiere anbetrifl't, so werden bei der mechani- schen Fangmethode die Käfer keineswegs bevorzugt, wie Sie meinen. Eher hätten Sie ein Recht, die Spinnen als die be- vorzugten zu bezeichnen , weil die Methode speziell unter Berücksichtigung der Spinnen ausgebildet ist (vgl. ,,Die Lycosiden oder Wolfspinnen Deutschlands und ihre Stellung im Haushalte der Natur, nach statistischen Untersuchungen" in : Nova Acta ; Abh. Leop.-Carol. Ak. Naturf. Bd. 88, Nr. 3, 190S). Doch trifft auch das nicht zu. Ich werde demnächst in einer .Arbeit zeigen können, daß die mechanische Sammel- methode Tiere aus allen Gruppen in gleichem Maße liefert. Dahl. Herrn Dr. K. in Wien. — Die Adresse des Kgl. Botan. Gartens und Museums zu Berlin, also auch der Botanischen Zentralstelle für die Deutschen Kolonien ist Königin-Luise- Straße 6/8 in Dahlem-Steglitz bei Berlin. Herrn A. in U. — Sie fragen, inwiefern die mit unserer Salvinia verwandte Azolla caroliniana ein Abwehr- mittel gegen die Mückenplage sei. Wo Azolla günstige Lebensbedingungen findet, bedeckt sie gern die ganze Wasser- oberfläche , wie in dem gleichen F\ille unsere Wasserlinsen, die Lemnaceacn. Ist aber die ganze Wasseroberfläche dicht mit einer Wasserpflanze bedeckt , deren Individuen mosaik- '^'"^>S) g-^tiz eng aneinanderschließen , wie das bei .Azolla der Fall ist, so können die Mückenlarven natürlich nicht ausgiebig genug an die Wasseroberfläche gelangen, um Luft zu schöpfen, und sie müssen zugrunde gehen. Freilich wären erst noch in der Praxis die Erfolge abzuwarten , die durch eine Besetzung der Mückengewässer mit .Azolla in der genannten Richtung erzielt werden könnten. Herrn D. in E. — Die blasige Schlacke, die sich in Geröllform an den Küsten der Nordsee findet, z. B. auf Sylt, wurde hier und da, namentlich früiier, in der Tat für Lavaschlacke , z. B. aus den Vulkanen Islands , ge- halten. D. Mcyn äußerte, man habe es in derselben vielleicht mit der Schlacke, die von Dampfschifl'en ausgeworfen würde, zu tun oder mit einer solchen von Hochöfen, deren Schlacke man in das Meer fließen lasse. .Allein er fügt hinzu, daß Dampfschiffschlacke ganz anders aussehe und daß eine In- dustrie, bei der diese eigentümliche, äußerst regelmäßig dicht- blasige Schlacke gebildet werde , nicht ausfindig zu machen sei. Seeheim hat sie noch 1885 als sicher von Island stam- mend angesehen. Felix hat dann 1887 das Material chemisch- pctrographisch untersucht und kommt zu dem Schluß, daß die Schlacke sicher das Erzeugnis irgendeiner Industrie sei. Das wird auch heute allgemein angenommen. Inhalt: Dr. H. Simroth: Die physikalische Begründung der Pendulation. — Kleinere Mitteilungen: Jennings: Biologie des Seesterns Asterias forreri. — Dr. Leonhard Lindinger; Jahresringe bei den Monokotylen der Drachen- baumform. — Himmelserscheinungen im August 190g. — Bücherbesprechungen; Verhandlungen der IX. Jahresver- sammlung des ,, .Allgemeinen Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege". — W ün s e h e - .A b r o m e i t : Die Pflanzen Deutschlands. — Dr. Ludwig Reinhardt: Geschichte des Lebens der P>de. — Mathem. Sammel-Referat. — Lite- ratur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Grofi-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge VIll. Band: der ganzen Ueihe XXIV. IJanii. Sonntag, den 8. August 1909. Nummer 355. Warum besitzen wir kein elektrisches Sinnesorgan? [Nachdruck verboten.! Von S. Baglioni (Korn). „Und wäre ein feines organisches Reagens für die Elektrizität wie für das Licht da, so würde die Elektrizität ebenso offen- barend für die Existenz der körperlichen Welt sein, als das Licht ist," Joh. Müller, Handbuch d, Physiol. Bd. 2. Obige Frage könnte auf den ersten Blick als müßig und unbcgiiindct erscheinen. In Wirk- lichkeit ist dies nicht der Fall, wie leicht nach- zuweisen sein wird. Alle Energiearten, die uns von der Natur direkt bekannt sind, und deren Studium das Forschungsgebiet der Physik und der Chemie ausmacht, werden von uns, die elek- trische Energie ausgenommen , mittels unserer verschiedenen Sinnesorgane perzepiert, und dem- entsprechend besitzen wir ebensoviele elementare Empfindungen. Es genügt daran zu erinnern, daß z. B. die Licht erscheinungen durch unser Auge wahrge- nommen werden, dessen Netzhaut die Lichtwellen in Empfindungen des Weißen und Schwarzen, so- wie der Farben umwandelt. Die Kenntnisquelle der Wärmeenergie schöpfen wir durch bestimmte Sinnesorgane, welche, vor- wiegend in der Dicke unserer Haut, zum Teil aber auch in derjenigen unserer ausgesetzten Schleimhäute (des Mundes, der Nase usw.) ge- legen, uns die Empfindungen der Wärme und der Kälte liefern. Die Gesamtheit jener Erscheinungen, die man in der Reihe der sog. mechanischen oder Bewegungsenergien zu vereinigen pflegt, und welche die Erscheinungen der Schwerkraft, des Druckes, der Volumenenergie (für die Gase, nach der Ostwald'schen Bezeichnung) umfaßt, sind uns andererseits wiederum durch bestimmte Sinnes- organe direkt bekannt, welche auch in größerer Anzahl in der Dicke unserer Haut, sowie auch im Inneren unserer Organe, wie der Muskeln, der Sehnen, der Gelenke usw. gelegen sind. Dieselben stellen die unmittelbare Quelle der Tast- und Druckempfindungen dar, selbst der kompliziertesten, wie jener, die dann auftreten, wenn wir das Ge- wicht eines Schweren nur mittels unserer Hand und unseren Armes beurteilen. Selbst die geringfügigen Druckänderungen der Umgebung, namentlich der Luft, die gewöhn- lich von den eben genannten Organen des Tast- sinnes nicht wahrnehmbar sind, perzepieren wir mittels eines feineren Sinnesorganes, d. h. mittels unseres Ohres, das uns die große F"ülle der Ton- und Geräuscheempfindungen liefert. Schließlich wurden uns auch die mitunter recht verwickelten Erscheinungen der che- mischen Energie zuerst durch zwei gesonderte Sinnesorgane, das Geschmack- und das Riech- organ, bekannt. Die fundamentale Einteilung der chemischen Stoff'e, wie z. B. Säuren und Salze, erinnert schon deutlich an den Ursprung unserer ersten Kenntnisse der chemischen Erscheinungen mittels unseres Geschmacks. All dies trifft nun bezüglich der elektrischen Erscheinungen ganz und gar nicht zu. Bekannt- lich gelangte der Mensch zur Kenntnis der elek- trischen Erscheinungen erst recht spät. Sieht man von den dunklen und vereinzelten, während der griechisch-lateinischen Zeiten über Bernstein und natürliche Magnete vorgenommenen Versuche ab, so muß man bis zu Volta und Galvani kommen, um die ersten Kenntnisse jener elektrischen Energie zu finden, die heute einen so mächtigen Faktor des Fortschrittes der gesamten mensch- lichen Kultur darstellt. Die späte Erkenntnis der elektrischen Er- scheinungen dürfte indessen nicht wundernehmen, wenn man bedenkt, daß wir von ihrem Bestehen keine direkte Notiz mittels eines besonderen Sinnesorganes erhalten, welches zur Aufnahme und Umwandlung derselben in spezifische Empfin- dungen differenziert wäre, wie es für alle übrigen natürlichen Erscheinungen der Fall ist. Denn die Kenntnis, die wir von der elektrischen Energie besitzen, ist eine ausschließlich indirekte. Mit anderen Worten, sie ist uns lediglich wegen ihrer Effekte bekannt. Aus der Beobachtung, daß eine Eisenmasse an einem Elektromagnet hängen bleibt, indem sie sich dadurch der Schwer- kraft entzieht, erschließen wir, daß dem Elektro- magnet eine Kraft innewohnt, welche der Schwer- kraft entgegenzuwirken imstande ist. Aus der Beobachtung, daß aus einer mächtigen Bogen- lampe eine gewaltige Lichtmenge entströmt, schließen wir, daß in der Bogenlampe eine Kraft tätig ist, die sich in Lichtenergie umzuwandeln vermag. Im elektrischen Ofen haben wir schließ- lich den Beweis dafür, daß dieselbe elektrische Energie, die, wie gesagt, sich als mechanische, sowie als Lichtenergie zu offenbaren vermag, auch als Wärme auftreten kann. Bei all diesen Beobachtungen nehmen wir aber die elektrische Kraft niemals unmittelbar wahr und erhalten auch keine elektrische Empfindung, welche mit den Licht- oder Wärme- oder Tastempfindungen vergleichbar wäre. Selbst wenn wir die elektrische Energie in unmittelbaren Verkehr mit den verschiedenen Sinnesorganen unseres Körpers bringen, gelingt es uns nicht, in ihnen spezifische Empfindungen zu erwecken. 49« Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. %2 Denn lassen wir z. B. unter Anwendung eines kleinen Induktionsapparates auf unsere Haut Wechselströme einwirken , so erhalten wir ent- weder Tast- oder gar Schmerzempfindungen je nach der Stromstärke. Ebenso ist auch bekannt, daß die Wirkung eines Kettenstromes auf die Zunge, oder auf die Netzhaut, im ersteren Falle Geschmacksempfindungen, im zweiten Falle da- gegen Lichtempfindungen auslöst. Nie können wir aus der elektrischen Energie eine verschiedene spezifische Empfindung erhalten. All dies steht in vollkommenem Einklang einerseits mit der Tatsache, daß wir eines spezi- fischen elektrischen Sinnesorganes entbehren, und andererseits mit der seit Joh. Müller in der Physio- logie wohlbekannten Tatsache der spezifischen Energien der Sinnesorgane, daß sie nämlich stets auf jede wie auch gearteten Reize in einer und derselben Weise antworten. Die Beweiskraft der obigen Erwägungen, die ich zur Stütze der Annahme ins Feld geführt habe, daß wir eines spezifischen elektrischen Organes entbehren, wird nicht durch die den meisten Elektrotechnikern bekannte Erfahrung vermindert, daß man durch einfache Berührung zweier Finger mit den zwei Polen eines kon- stanten Stromes imstande ist, ohne weiteres die Anode von der Kathode zu unterscheiden. Denn auch in diesem Falle werden uns die dabei verwendeten Urteilselemente einzig und allein von den Tastempfindungen, oder den Empfindungen der vom Strom gereizten sich zusammenziehenden iVIuskeln, oder schließlich von den Schmerzempfin- dungen geliefert, welche schneller und stärker am Orte der Anode entstehen. Dasselbe gilt für die vielfach von den Psych- iatern und Neurologen angenommenen „elek- trischen Sensibilität". Auch hier handelt es sich nämlich, aller Wahrscheinlichkeit nach, um keine elementaren Empfindungen, sondern lediglich um komplizierte oder Mischempfindungen, d. h. um Komplexe von Empfindungen , deren Be- standteile eben von den durch die elektrische inadäquate Reizung erweckten Hautsinnen (Tast-, Schmerz-, Wärme- und Kältesinn) dargestellt werden. Gegen die obigen Beweisführungen, auf Grund deren ich zum Schluß gelangt bin, daß alle in der Natur wirkenden Kräfte, mit Ausnahme der elektrischen, durch die Vermittlung ebensovieler Sinnesorgane von uns wahrgenommen werden, die zu ihrer Aufnahme und zu deren Umwand- lung in entsprechende elementare spezifische Empfindungen dienen, könnte aber der Einwand erhoben werden, daß dies nicht absoluterweise zutrifi't. Heutzutage kennen wir nämlich eine Reihe Energien, die wir, wie die ultravioletten Strah- len oder die Radioaktivität, ebenfalls nicht mittels besonderer Sinnesorgane wahrnehmen. Auch Schallschwingungen oberhalb etwa fünfzigtausend pro Sekunde sind wir nicht imstande als Schall- empfindungen wahrzunehmen. Dies dürfte jedoch nur ein scheinbarer Einwand sein, da er sich auf die relative Mangelhaftig- keit und Beschränkung unserer Sinnesorgane be- zieht. Gewiß gibt es im Spektrum der Sonne oder irgend einer anderen Lichtquelle einige Abschnitte, welche unser Auge nicht imstande ist zu sehen, doch ist es auch sicher, daß dasselbe einen nicht unbeträchtlichen Abschnitt des Spektrums sieht. Dasselbe gilt auch für die Schallempfindungen. Der elektrischen Energie gegenüber sind wir da- gegen nicht etwa partiell, sondern total blind und taub. Wie ist es dann, daß die Natur, die uns doch mit so vielen Sinnesorganen versehen hat, welche uns in die Lage setzen, fast alle in ihr wirkenden Kräfte direkt wahrzunehmen, uns ein besonderes Sinnesorgan für eine so mächtige Energie ver- sagt hat? Ehe wir eine Antwort auf diese Frage ver- suchen, wollen wir einen Augenblick noch er- wägen, was für Vorteile, resp. was für Nachteile uns aus dem Besitz eines solchen Sinnesorganes erwachsen wären. Verschiedene und große Vorteile, meine icli, hätten wir davon gehabt. Zunächst hätten wir mit einem anderen Sinnes- organ natürlich eine weitere reiche Quelle von Empfindungen, den elektrischen gehabt, die ent- weder allein oder mit denjenigen assoziiert, die wir zur Zeit besitzen, den großen Schatz unseres Sinnen- und Seelenlebens nicht unbeträchtlich er- weitert hätten. Von diesen neuen Empfindungen können wir freilich keine Vorstellung haben, denn es hätte sich um eine wirkliche neue Modalität Empfindungen, und nicht um eine neue Qualität der von uns besessenen Empfin- dungsarten (nach der Bezeichnung von Helmholtz) gehandelt. Zudem hätten wir von dem elektrischen Organ noch praktische Vorteile gehabt. Dasselbe hätte uns nämlich z. B. bei unserem gegenseitigen Verkehr gute Dienste leisten können. Denkt man an die Leichtigkeit, mit der man heute künstlich mittels Elementen, Akkumulatoren, Dynamos usw. sehr wirksame elektrische Er- scheinungen erzeugen kann , so erhellt von selbst der große Vorteil, den wir mit dem Besitz eines elektrischen Sinnesorganes gehabt hätten, d. h. eines Organes, welches fähig wäre, die elek- trischen Wellen oder die Elektrone wahrzunehmen, die aus unseren elektrischen Apparaten aus- strahlend in der Luft vorhanden wären, in der- selben Weise, wie das Auge fähig ist, die Licht- wellen der Scheinwerfer unserer Schiffe aufzu- nehmen, oder das Ohr die Töne unter dem Wasser klingender Glocken. Mit anderen Worten hätten wir schon längst die drahtlose Telegraphie (oder ev. Telephonie) verwirklicht, da wir in uns das Organ getragen hätten, welches bei den N. F. Vm. Nr. 32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 499 Marconi'schen Apparaten alsüelcctor oder Antenna funktioniert. Vielleicht wären allerdings diese Vorteile nicht gänzlich von Nachteilen frei gewesen. Zuerst ist hier an die Belästigung zu denken, die wir fortwährend von einem derartigen Organ gehabt hätten, welches wie ein empfindliches Galvanometer oder irgendein anderer feiner Strom- zeiger jedesmal reagiert hätte, wenn in der von uns bewohnten Umgebung elektrische Wellen oder Elektronen tätig gewesen wären, sei es infolge von natürlichen Ereignissen, wie bei den Ent- ladungen eines Gewitters, sei es infolge von menschlichen Apparaten, wie es heute so vielfach wegen der mächtigen elektrischen Motoren oder Beleuchtungsapparate der Fall ist. Noch andere Störungen hätten wir außerdem von den elektrischen Vorgängen gehabt, die ununterbrochen im Inneren unseres Körpers statt- finden. Man weiß ja, daß die Tätigkeit unserer verschiedenen Organe und Gewebe, von den Ner- ven bis zu den Muskeln und zu den Drüsen, stets von elektrischen Erscheinungen begleitet ist. Es leuchtet dann ein, daß unser fragliches Organ fortwährend durch unsere eigenen Gewebe in Er- regung versetzt worden wäre; mit anderen Worten hätten wir kontinuierlich an Störungen gelitten, welche den sogenannten endoptischen Erregungen für das Auge oder den endoakustischen Erregun- gen für das Ohr vollkommen ähnlich gewesen wären. In dieser Hinsicht dürfen wir aber eine Möglichkeit nicht vergessen, die uns schließlich von den genannten Störungen gerettet hätte; die Möglichkeit nämlich, daß unser Organ infolge einer physiologischen Anpassung oder irgend- eines anderen Mechanismus refraktär, d. h. gegen die erwähnten Reize unempfindlich geworden wäre, eben auf dieselbe Weise, wie unser normales Auge die Blutkörperchen der Netzhautgefäße, oder unser Geschmacksorgan den salzigen Geschmack des Blutes oder der dasselbe umspülenden Lymphe nicht empfinden. Wir können somit also meiner Ansicht nach schließen, daß uns aus einem elektrischen Sinnes- organ viele Vorteile gegenüber einiger fraglicher Nachteile erwachsen wären. Gebieterischer erscheint uns folglich das Be- dürfnis, darauf zu antworten, warum die Natur uns ein derartiges Sinnesorgan versagt hat. Indem wir eine Antwort auf diese Frage suchen, scheint es mir angebracht, zunächst fol- gende Vorfrage zu lösen. Man könnte nämlich den Grund dafür, daß wir eines elektrischen Sinnesorganes entbehren, in dem Umstand erblicken, daß die Fähigkeit elek- trische Erscheinungen zu empfinden, d. h. die Fähigkeit auf elektrische Erscheinungen zu reagieren, mit dem Wesen der Lebenserscheinungen überhaupt unvereinbar sei. Diese Möglichkeit wird sofort durch eine zwiefache Tatsachenreihe ausgeschlossen. Vor allem ist in dieser Hinsicht zu er- wähnen, daß die elektrische Energie auf alle reiz- baren Gewebe jedes Lebewesens sehr gut als Reiz wirkt. Ja vor allen übrigen physikalischen Kräften, wie z. B. der mechanischen, der ther- mischen, der chemischen, der osmotischen usw. wird sie von den Physiologen in ihrer Unter- suchungsmethodik vorgezogen, wenn sie die Tätig- keit der Organe künstlich hervorzurufen suchen. Dieser Vorzug wird berechtigt nicht nur durch den Umstand, daß die elektrische Kraft, nament- lich in Form von schwachen Induktionsströmen, praktisch leichter in ihrer Stärke abzustufen ist, sondern auch durch den weiteren Umstand, daß sie keine nennenswerten Schädigungen bei den gereizten Geweben nach sich zieht, was entschie- den gegen den Verdacht spricht, daß sie mit den Lebensvorgängen unvereinbar wäre. Doch gibt es noch eine andere Tatsachenreihe, welche einen derartigen Zweifel ebenfalls ausschließt. Besitzt der Mensch gegenwärtig in seinem Körper kein Organ, welchem die Funktion zu- kommt, elektrische Energie zu erzeugen oder zu empfinden, so gibt es jedoch andere Wirbeltiere, wie die Zitterrochen oder die Zitteraale, welche bekanntlich Organe besitzen, die dazu spezifisch differenziert sind, elektrische Kraft zu erzeugen, in derselben Weise, wie die Muskeln (aus denen sie eigentlich herstammen) der übrigen Wirbel- tiere mechanische Kraft erzeugen. Die elektrische Entladung, die sie reflektorisch wie willkürlich herbeizuführen vermögen, dient ihnen dazu, sowohl sich gegen Feinde zu verteidigen wie sich der Beute (Fischchen) zu bemächtigen. Darüber sind alle Wissenschaftler einig; ich glaube aber überdies, daß, ebenso wie die quergestreiften Muskeln über eine Doppelinnervation verfügen (die aus den motorischen efferenten Nerven- bahnen, und den sensiblen afferenten Nerven- bahnen besteht, welch letztere den Muskelsinn ver- mitteln, wodurch die koordinierten Bewegungen reflektorisch geregelt werden), die elektrischen Organe, die wie gesagt von quergestreiften Muskeln herstammen, gleichfalls mit zwei Reihen Nerven- bahnen versehen sind, von denen die eine effe- rente, durch welche die Zentren die Organe in Tätigkeit versetzen, und die andere aft'erente sind, wodurch die Zentren den Tätigkeitszustand des peripheren Organs, d. h. die elektrische Entladung direkt wahrnehmen. Hierdurch hätten die elektrischen Fische elektrische Empfindungen, mittels deren sie im- stande wären, die jeweilige Stärke der elektrischen Entladungen den äußeren augenblicklichen Er- fordernissen anzupassen, in derselben Weise, wie wir imstande sind, unsere koordinierten Be- wegungen hauptsächlich, wenn nicht ausschließ- lich dank unserem Muskelsinne zu regeln. In dieser hypothetischen Annahme werde ich zwar nicht allein durch die theoretisch allgemeingültige 500 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII Nr. 32 Gesetzmäßigkeit, daß bei den Lebewesen eine mitunter wunderbare Anpassungsfähigkeit den äußeren Bedingungen und keine Vergeudung von Kraft existiert, sondern auch durch den Umstand bestärkt, daß die elektrischen Organe eine solche afferente Innervation ursprünglich, als sie noch Muskeln waren, besaßen. Es wäre nämlich höchst auffallend, daß sie bei ihrer Entwicklung dieselbe verloren haben sollten ; was übrigens experi- mentell leicht festzustellen wäre. In den bisherigen literarischen Angaben über die Innervation dieser Organe fand ich allerdings kein Wort davon. Angenommen, daß die elektrischen Fische eine afferente Innervation ihrer Organe besitzen, dürfen wir jedoch nicht vergessen , daß sie somit keinen wahren elektrischen Sinn hätten. Denn sie hätten Empfindungen derselben Art, wie un- sere Empfindungen des Muskelsinnes, d. h. also Empfindungen eines inneren Sinnes (pro- prio rezeptives Feld, nach der neuerdings von Sherrington vorgeschlagenen Bezeichnung), und nicht Empfindungen der äußeren Um- gebung, wie im Fall des Auges und wie wir oben für ein elektrisches Organ gerade postuliert haben. Wie dem auch sein mag, sicher ist, daß die elektrischen Erscheinungen von vornherein nicht mit den Lebenserscheinungen unvereinbar sind. Wir dürfen also anderswo den Grund dafür suchen, warum wir eines elektrischen Sinnes- organes entbehren. Joh. Müller, von dem die eingangs erwähnten Worte stammen, stellte sich die Frage auf, ob es Tiere gibt, die ein elektrisches Sinnesorgan be- sitzen. Er glaubte folgenderweise diese Frage lösen zu dürfen. „Ein besonderer Sinn (schrieb er) für die Elek- trizität, woran man als möglich bei irgendeinem Tiere gedacht hat, ist a priori nicht statthaft. Denn die Elektrizität wirkt schon . . . auf alle Sinne, deren eigentümliche Empfindungen sie an- regt. Das Wesentliche eines neuen Sinnes liegt nicht in dem Umstand, daß damit Perzeption von äußeren Gegenständen entsteht, die gewöhnlich nicht auf die Sinne wirken, sondern daß die äußeren Ursachen eine eigentümliche Art des Empfindens erregen, welche in den Empfindungen unserer fünf Sinne noch nicht enthalten ist. Eine eigentümliche Art des Empfindens wird von den Kräften des Nervensystems abhängen, und daß eine solche bei einzelnen Tieren vorkomme, läßt sich a priori nicht leugnen, indes sind keine Tat- sachen bekannt, welche die Existenz einer neuen eigentümlichen Sinnesart feststellen; auch ist es ganz unmöglich, über die Natur einer Empfindung etwas an anderen, als an sich selbst zu empfinden." Damit wird aber keine befriedigende Erklärung dafür gegeben, daß wir keinen elektrischen Sinn besitzen. Daß die Elektrizität auf alle Sinne wirkt, ist eben kein Grund dafür, daß wir kein beson- deres elektrisches Sinnesorgan zu besitzen ver- möchten. Auch die mechanische Kraft wirkt ebenfalls auf alle Sinne, und trotzdem besitzen wir spezifische Sinnesorgane für diese Energie. Das Gebiet, auf das wir mit Aussicht auf Er- folg, meiner Meinung nach, unsere Aufmerksam- keit richten dürfen , ist jenes der Bedingungen, welche aller Wahrscheinlichkeit nach das Auf- treten und die Weiterentwicklung der Sinnes- organe im allgemeinen bestimmt haben. Es ist freilich nicht meine Absicht, hier die schwierige Frage nach den Bedingungen zu erörtern, die bei der Phylogenese der verschiedenen Tier- klassen das Auftreten der Sinnesorgane bestimmt haben. Mir genügt es einige Grundtatsachen zu erwähnen, die sich aus der vergleichenden Be- trachtung der Funktionen der von den noch lebenden verschiedenen Repräsentanten der Tier- klassen besessenen mannigfaltigen Sinnesorgane ergeben. Die Sinnesorgane sind peripherische Apparate, mittels deren die äußeren Gegenstände der Um- gebung gefühlt werden können, indem sie da- durch seitens der Organismen jene adäquaten Reak- tionen auslösen, die denselben es gestatten, die beiden biologischen Grundgesetze der Sichselbst- und der Spezieserhaltung zu erfüllen. Die ur- sprünglichste fundamentale Aufgabe der Sinnes- organe ist somit die, die Nahrung und die Ge- schlechtsstoffe erkennen zu lassen, damit sie an- genähert werden können, sowie auch die Feinde oder die schädlichen Stoffe erkennen zu lassen, damit sie vermieden werden. Der Mechanismus, durch welchen die Sinnesorgane ihre funktionelle Aufgabe erfüllen, besteht wesentlich darin, daß sie der Aufnahme der verschiedenen Reize angepaßt sind, welche von den äußeren Gegenständen her- stammen. Die Sinnesorgane haben dann beson- ders die weitere Aufgabe, diese Reize in spezi- fische Erregungen der Nerven umzuwandeln, von denen sie ja die Anfangsorgane (die Pforten) dar- stellen. Diese Reize sind ihrerseits weiter nichts als die energetischen Erscheinungen, die dem Wesen der äußeren Gegenstände, d. h. der Materie, innewohnen, mittels deren in letzter Instanz die Sinnesorgane und dann die Zentren die Gegen- wart derselben Umgebungsgegenstände wahr- nehmen und davon Kenntnis erhalten. Aus der Vergleichung der verschiedenen an den lebenden Tieren erwiesenen Sinnesorganen scheint mir nun die Tatsache hervorzugehen, daß je höher man auf den zoologischen Leiter von den niedrigen zu den hohen Tieren, bis zum Menschen hinaufsteigt, nicht bloß sich die einzelnen Sinnes- organe verfeinern, wesentlich durch Herabsetzung ihrer Reizbarkeitsschwelle, sondern auch neue ent- stehen, so daß Kräfte, die vorher kaum eine Wirkung auf die Organismen halten, wirksam und empfind- bar werden. Des näheren beobachtet man, daß dieser Fortschritt in d e m Sinne geschieht, daß, während zuerst oder, wenn man will, bei den niederen P'ormen nahwirkende Energien wahrgenommen N. F. \an. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 501 werden, in der Folge allmählich Organe entstehen, die fähig sind, fernwirkende Energien wahrzu- nehmen. Beispielsweise besitzen die Hydren oder Aktinien einen vorzüglichen chemischen und mechanischen Sinn, durch welche sie die un- mittelbare Nähe des Futters oder des Feindes sehr gut zu erkennen vermögen, während sie da- gegen eines Lichtsinnes fast gänzlich ent- behren, mittels dessen andererseits die Cephalo- poden oder die Fische zur Annäherung der Beute oder zur Vermeidung des Feindes sich bedienen. Während schließlich den sämtlichen Wassertieren der Gehörsinn abgeht, stellt er eines der wunderbar entwickelten und zur Wahrnehmung fernwirkender Erscheinungen bestimmten Sinnes- organe bei den Landtieren dar. In der Reihe dieser letzten Organe wäre nun der Platz des elektrischen Sinnesorganes gewesen, insofern es uns die Wahrnehmung fernwirkender Erscheinungen ermöglicht hätte. Es sollte also sich entweder bei den marinen Wirbeltieren ent- wickelt haben, für welche das salzige Element als Elektrolytenlösung die elektrische Leitung nicht verhindert hätte, oder bei den Landtieren, für welche die Luft, freilich sehr selten, die elektrische Kraft leiten kann, wie bei Erwähnung des drahtlosen Telegraphen oben gesagt wurde. Das Fehlen des Auftretens eines derartigen Sinnesorganes kann dann mit dem Umstand in Zusammenhang stehen, daß die elektrische Energie die äußeren Gegenstände der Natur nicht so konstant begleitet, daß sie eine beständige und wesentliche Eigenschaft derselben darstelle, auf Grund deren der Organismus imstande wäre, die Gegenwart der Objekte in der Umgebung zu erkennen. Zugunsten dieser Annahme spricht nun die Tat- sache der Seltenheit, mit der die elektrischen Er- scheinungen in der Natur spontan auftreten. Sehen wir von den elektrischen Erscheinungen der Ge- witter ab, denen andererseits keine wesentliche Rolle für die Lebenserscheinungen der Organismen, aller Wahrscheinlichkeit nach, zukommt, so können wir ohne Fehler behaupten, daß in der Natur vielleicht keine elektrischen Erscheinungen tätig sind (wenigstens heutzutage), die nicht vom Menschen künstlich erzeugt werden. Noch mehr zugunsten der geäußerten Annahme spricht jedoch die Feststellung, daß die elek- trischen Erscheinungen bis zu einem gewissen Grad eine zufällige, akzidentale Eigenschaft der Materie darstellen, die ihr Sitz sein kann oder nicht. Eine Eisenmasse, ein leitender Metalldraht, ein Kondensator, ein Element, können mit elek- trischer Kraft geladen, oder aber auch ungeladen bestehen. Die elektrische Eigenschaft ist keine untrennbare, fortbestehende Qualität, wie die Eigenschaften des Lichtes , der Wärme , des Gewichtes und der chemischen Energie, welch letztere nie den materiellen Gegenstand verlassen, und auf Grund deren Perzeption wir unser Urteil über die einzelnen Objekte basieren. Allein es gibt noch einen anderen Gesichts- punkt, den wir hier ebenfalls betrachten müssen. Die elektrische Kraft hat keine so enge Be- ziehung zu den Lebensvorgängen, wie die übrigen auf der Erde wirkenden Energiearten. Denn sie stellt keine wesentliche Lebensbedingung dar, wie etwa die Wärme, das Licht und die chemische Energie. Damit die Lebensvorgänge sich abspielen, ist es ziemlich gleichgültig, ob in der Umgebung elektrische Erscheinungen statt- finden oder nicht, selbstverständlich abgesehen davon, daß sie direkt auf die Organismen als Reize einwirken. Hierdurch ist natürlich die theoretische Möglichkeit nicht zu bestreiten , daß die elektrischen Erscheinungen beim Zustande- kommen einiger Lebensvorgänge (wie der Nerven- leitung, oder der Muskelzuckung) eine wichtige Rolle spielen ; obwohl auch in diesen Fällen heute vielfach die Neigung besteht, denselben keine wesentliche, sondern eine untergeordnete Rolle (als einfache Begleiterscheinung) zuzuschreiben. Die Gründe also, weshalb wir über kein elek- trisches Sinnesorgan verfügen, liegen nicht etwa in dem Umstand, daß diese Energie mit den Lebens- vorgängen unvereinbar ist, sondern, meiner Mei- nung nach, in den zwei folgenden Umständen. 1. Da die elektrischen Erscheinungen keine be- ständige und wesentliche Eigenschaft oder Qualität der Materie, d. h. der äußeren Gegenstände, dar- stellen, so können die Tiere und der Mensch die- selben nicht dazu verwerten, die mittelbare oder unmittelbare Gegenwart der letzteren wahrzu- nehmen und daraus zu deren Kenntnis zu ge- langen, wie hierzu die Erscheinungen des Lichtes, der chemischen Energie und der Schwerkraft da- gegen wohl dienen. 2. Da ferner die elektrische Kraft als kein notwendiger Faktor, oder selbst als keine be- stimmende oder begünstigende Bedingung für die Lebensvorgänge für gewöhnlich erscheint, so emp- finden weder die Tiere noch die Menschen das Bedürfnis, deren Abwesenheit zu vermeiden, bzw. deren .Anwesenheit zu suchen, wie es z. B. bezüglich der thermischen Energie der Fall ist. Diese beiden Umstände können, meiner An- sicht nach, befriedigend die Tatsache erklären, daß während der tierischen Entwicklung sich kein elektrisches Sinnesorgan differenziert hat. Mithin wäre die Antwort auf obige P^age gegeben. Nun würde sich aber von selbst die weitere Frage erheben, ob wegen der von den elektrischen Erscheinungen in der Jetztzeit angenommenen, und vielleicht in der Zukunft noch mehr anzu- nehmenden Bedeutung nicht etwa dementsprechend beim Menschen ein derartiges Sinnesorgan wirk- lich entstehen werde. Offenbar ist dies eine der schwierigsten Fragen, für deren Lösung ich aller- dings keinen sicheren Anhaltspunkt sehe, weshalb ich sie offen lasse. 502 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 32 Ehe ich jedoch vorliegende Betrachtungen ab- schließe, glaube ich, daß es hier am Platze ist, einen weiteren Umstand allgemeinster Bedeutung hervorzuheben. Wir sahen, daß der Mensch auf indirektem Wege, d. h. ohne Hilfe eines besonderen Sinnes- organes zur Entdeckung der elektrischen Er- scheinungen gelangt ist, die er überdies zu seinem Nutzen so mannigfaltig verwendet hat. Müssen wir also am Ende dieser Betrachtungen das Fehlen eines neuen Sinnesorgans (wenigstens vorläufig) bedauern, so dürfen wir jedoch andererseits die tröstende Überzeugung daraus gewinnen, daß der Mensch doch mittels seiner gegenwärtigen Sinnes- organe zur Kenntnis aller in der Natur wirkenden Kräfte früher oder später zu gelangen imstande ist. Kleinere Mitteilungen. Milchfettbestimmung mittels Fahrrades. — Außer der chemischen, d. h. der gewichtsanalyti- schen Bestimmung des Fettgehaltes der Milch gibt es eine große Zahl von Verfahren, welche zwar nicht die unbedingte Genauigkeit der ge- wichtsanalytischen Methode erreichen , die aber wegen der schnellen Ausführbarkeit der Methoden, die außerdem keine besonderen chemischen Kennt- nisse und auch keine große F"ingerfertigkeit des Untersuchenden voraussetzen, sehr verbreitet sind und besonders im Molkereibetrieb weitgehendste Anwendung gefunden haben. Diejenige Schnellmethode , welche die allge- meinste Verbreitung gefunden hat , die in den meisten Nahrungsmitteluntersuchungsämtern ein- geführt ist und die auch in gerichtlichen Fällen anerkannt wird, ist die Acid-Butyrometrie. Diese Methode beruht auf der Löslichkeit der Milcheiweißstoffe in konz. H0SO4 und der Wider- standsfähigkeit des Fettes gegen diese Säure; das spezifisch leichtere Fett wir durch Zenlrifugieren scharf abgetrennt. Über die historische Entwick- lung dieser Methode berichten ausführlich: Chr. Barth el, ,,Die Methoden zur Untersuchung von Milch und Molkereiprodukten", Leipzig 1907; W. Kirchner, „Handbuch der Milchwirtschaft", Berlin 1898; Vieth, „Die neueren Massenfettbe- stimmungsverfahren für Milch", Bremen 1896; J. König, „Die Untersuchung landwirtschaftlich und gewerblich wichtiger Stoffe", Berlin 1906. Eine kurze Darstellung gibt A. W. K a n i ß - Würzen i. S. in einem Prospekte (1901), welcher den von ihm gelieferten Zentrifugen beiliegt. S. M. Babcock gab 1890 in den Veröffent- lichungen der landwirtschaftlichen Versuchsstation des Staates Wisconsin N.-A. in Madison, Heft 24 (Milchzeitung 1890, S. 693, 746), in erweiterter Form in der nämlichen Zeitschrift, April 1892 und Juli 1893, ein Verfahren bekannt, welches kurz folgendes ist: Milch und konzentrierte Schwefel- säure vom spezifischen Gewicht 1,83 werden zu gleichen Teilen (je 17,5 ccm) in einem Probeglas, mit verengter Skala am oberen Ende, vermischt und zentrifugiert; die Fettschicht kann direkt in Prozenten an der Skala abgelesen werden. Zur besseren Abscheidung der Fettschicht gab C. C. James ein Gemisch von Amylalkohol und Salz- säure zu (Exper. Stat. Rec. 1891, in, 132 durch A.W. Kaniß loc. cit.). Der Amylalkohol hat die Eigenschaft , die Abscheidung des Fettes in reinem und klarem, gelöstem Zustande zu er- leichtern. Leffmann und Beam (Analyst XVII, 1892, S. 83, 102, 144) setzten zu 15 ccm Milch 9 ccm Schwefelsäure (spez. Gew. 1,835), 1.5 ccm Amyl- alkohol und 1,5 ccm konz. Salzsäure. Dr. N. Gerber - Zürich veröffentlichte im Jahre 1892 (Milch-Zeitung 1892, S. 891 ; 1893, S. 363 u. 656; 1895, S. 169) ein Verfahren, wel- ches dem Bab CO ck -James ' sehen Verfahren sehr ähnlich ist und von Gerber Acid-Butyro- metrie genannt wurde. Erst im Jahre 1895 erhielt die Methode ihre jetzige Form und wurde zugleich zu einer „Universal-Fettbestim- mungsmethode" sowohl bei Milch als auch bei^ sämtlichen Molkereiprodukten erweitert. Gerber benutzt, um die Eiweißstoffe der Milch zu lösen, auch konzentrierte Schwefelsäure (technisch rein) vom spez. Gew. 1,825, ferner auch Amylalkohol, konzentrierte Salzsäure setzt er nicht zu. Die zur Acid-Butyrometrie erforderlichen Appa- rate sind folgende : 1. Prüfer aus Glas, das Acid-Butyrometer, ein- seitig offen, es hat einen weiten Hauptteil, welcher in eine graduierte Skalenröhre übergeht, diese endet in ihrem oberen Teil in einer konischen Erweiterung. 2. Pipetten zum Abmessen von Milch, Schwefel- säure und Amylalkohol. Statt Pipetten kann man auch verschiedenartig konstruierte,, Säureautomaten" für Schwefelsäure und Amylalkohol benutzen. 3. Gestell aus Holz für die Butyrometer. 4. Zentrifuge zum Schleudern der Proben. Es werden verschiedene Systeme in den Handel ge- bracht; der Antrieb geschieht entweder mit der Hand, mittels einer Turbine oder mittels Elektro- motors; bis zu 32 Proben können zu gleicher Zeit in den größten Zentrifugen ausgeschleudert werden. Die Untersuchung gestaltet sich folgender- maßen: In das Butyrometer läßt man 10 ccm konz. Schwefelsäure (1,825) fließen, schichtet hier- über vorsichtig 1 1 ccm der gut durchgemischten Milch , indem man sie langsam an den Wänden des Butyrometers hinabfließen läßt. Dann fügt man i ccm Amylalkohol hinzu , verschließt mit einem Gummistopfen und schüttelt kräftig durch; wegen der starken Erwärmung wickelt man vor- teilhaft das Butyrometer vorher in ein Tuch ein. Nun legt man die Butyrometer symmetrisch in eine Zentrifuge ein und zentrifugiert 3 — 4 Minuten N. F. VIII. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. S03 mit einer Gesch\vindigl' grün ^ müßte ein Teil der weißen Chromatophoren der Eizelle unter dem Einfluß der männlichen Sexualkerne zu grü nen Chromatophoren werden, und umge- kehrt bei der reziproken Kreuzung. Derartiges wäre denkbar, doch ist nichts Ähnliches bekannt. Ohne weiteres wären die hier geschilderten Erb- lichkeitsverhältnisse verständlich , wenn es sich, entgegen der herrschenden Lehre, herausstellte, daß auch die männlichen Sexualzellen Chromatophoren übertragen. Höchst auffallend an alledem ist jedenfalls die Tatsache, daß das Produkt einer sexuellen Kreu- zung sich, wie Feirefiz in der Parzivalsage, mosaik- artig aus Stückchen zusammensetzt, die jedes für sich die differenten Eigenschaften der beiden Eltern zur Schau tragen. Hugo Fischer. Über Küstenbildung und Küstenzerstörung veröffentlicht Prof Reinke-Kiel eingehende Studien (Wissenschaftl. Meeresuntersuchungen N. F. Bd. 10, Ergänzungsheft Abteilung Kiel), über deren Hauptresultate wir hier in Kürze berichten. Reinke's Studien beziehen sich auf die ostfriesi- schen Inseln. Während Felix Wahnschaffe in seiner ,, Oberflächengestaltung des norddeutschen F"lachlandes" (3. Aufl. Stuttgart 1909) die Bildung der Küstendünen als ein rein geologisches Problem auffaßt, verdienen nach R. auch die Biologie, bzw. Physiologie der Dünen besondere Beachtung. Die Entwicklungsgeschichte der Dünen verläuft nach R. in folgender Weise: Die jüngsten Ent- wicklungsstufen erheben sich aus feuchten Sandplatten, die durch Anwachsen von Sand- bänken über den Meeresspiegel hinaus ent- standen sind, bei höherem Wasserstande aber durch Meerwasser überflutet werden. Dieses Anwachsen erfolgt keineswegs nur durch den Einfluß des Windes, sondern vor allem dann. 522 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 33 wenn die Platte von festen, vom Meere ausge- worfenen Gegenständen bedeckt ist. Der durch Austrocknung der obersten Schicht transportabel gewordene Sand bildet vor diesen festen Körpern eine Anhäufung, an der Luvseite steiler, an der Leeseite flacher. R. bezeichnet diese ersten An- häufungen von Sand als Hindernisdünen. Die- selben sind sehr niedrig und eines weiteren An- wachsens nicht fähig (Miniaturdünen). Häufig werden sie durch kräftige Windstöße wieder ver- nichtet. Außer diesen Miniaturdünen zeigen sich auf der Sandplatte auch wirklich entwicklungs- fähige Dünen, die beim Beginn ihres Entstehens etwa die Größe eines Maulwurfshügels haben (Du nenanfä nge, Dünenembryonen). Die Bildung derselben ist bedingt durch das Vorhan- densein einer in feuchtem, vom Meerwasser durch- tränkten Sande wuchernden Pflanze, des Strand- oder Binsenweizens (Triticum junceum), der eine Überflutung ohne Schaden auszuhalten vermag. In einigen wenigen Fällen wurden Dünenanfänge auch gebildet mit Hilfe von Agrostis alba und Elymus arenarius. Auch um größere Strand- pflanzen, wie Honckenya, können sich solche Miniaturdünen bilden. Die Triticumdüne wächst empor, indem die Spitzen der Blätter immer wieder den auf der Pflanze angehäuften Sand durchbrechen, und nach den Seiten verbreitet sie sich durch die kriechenden Erdstengel oder durch angewehte Samen. Obgleich kleinere Dünen- anfänge dieser Art zuweilen zerstört werden, ge- lingt es den älteren Pflanzen von Triticum mittels des durch den Wind transportierten Flugsandes, ganze Systeme von Dünenanfängen und Dünen- ketten aufzubauen, die in den Kampf gegen Wind, Sand und Überflutungen gestellt sind. R. bezeichnet diese ersten an das Auftreten von Triticum junceum gebundenen Dünen als pri- märe. Sie können bis zu einer Höhe von 2—3 m heranwachsen bei beliebiger Breitenaus- dehnung. Hat sich der Rücken solcher Dünen so weit erhoben, daß er der Überflutung nicht oder nur selten ausgesetzt ist, dann kann sich Psamma arenaria oder baltica ansiedeln. Diese beiden Dünengräser sind infolge ihrer dichten Blätterbüschel weit besser zum Sandfang geeignet, als Triticum ; wegen ihrer dichten Bestockung unterdrücken sie Triticum und beherrschen die jetzt entstandene sekundäre Düne. Unter der fortgesetzten energischen Wechselwirkung zwischen Pflanze und Sand entwickelt sich eine Psamma- düne weit rascher als ihre Vorläuferin und kann bald zu einer Höhe von 10, 20 und mehr Meter heranwachsen. Die älteren sekundären Dünen werden zwar durch Stürme vielfach zerrissen und beschädigt, vermögen sich aber trotzdem dauernd zu behaupten. Im Alter gehen sie in das dritte Entwicklungsstadium, die tertiäre Düne, über. Es siedeln sich dann zwischen den Grashorsten auch eine Reihe dicotyler kraut- und strauch- artiger Pflanzen an, auch einige Moose und Flechten; sie verleihen dieser Altersstufe ein charakteristisches Aussehen. Psamma arenaria erscheint auf diesen Dünen nur in kümmerlichen, meist nicht zur Blüte gelangenden Exemplaren, eine Erscheinung, die vielleicht darauf zurückzu- führen ist, daß das Gras eines fortgesetzten Zu- flugs an frischem Sande zum Gedeihen bedarf. Auch die tertiären Dünen sind dem Kampfe mit dem Sturme ausgesetzt, der in den meisten Fällen einen Abbau der Düne oder sogenannte Wander- dünen hervorrufen kann. Der Entstehung der letzteren wird durch künstliche Befestigung der gefährdeten Stellen vorgebeugt. Als bemerkens- wertes Resultat der Untersuchungen Reinke's ist hervorzuheben, daß der Aufbau der primären und sekundären Dünen niemals durch den Wind allein, sondern immer nur durch die ununterbrochene Wechselbeziehung zwischen Wind, Sand und lebendigen Gräsern erfolgt. Das Problem der vegetationslosen Wanderdünen, z. B. auf den Nehrungen, ist damit allerdings noch nicht völlig gelöst. F. Schleichert. Bücherbesprechungen. Jean Lamarck , Zoologische Philosophie. Deutsch von Dr. Heinrich Schmidt (Jena). Mit Einleitung und einem Anhang: Das phylogenetische System der Tiere nach Haeckel. Alfred Kröner Verlag, Leipzig 1909. — Preis i Mk. Bei der Wichtigkeit, welche diejenigen Werke gewonnen haben, die sich mit deszendenztheoretischen Dingen beschäftigen in der Zeit vor dem Erscheinen von Darwin's Entstehung der Arten, hat eine Neu- herausgube besonders von Lamarck's Philosophie zoologiqiie natürlich das hervorragendste Interesse. Demgemäß hat schon Charles Martins 1S75 einen französischen Neudruck besorgt und in dem Buch von Packard „Lamarck the founder of evolution his life and work" (London 1901) finden sich Über- setzungen seiner schriftlichen Äußerungen über die phylogenetische Entwicklung der Organismen. In der Einleitung gibt Schmidt eine Übersicht über die Ansichten Lamarck's. Auf Seite IX der Ein- leitung des Übersetzers lesen wir, Haeckel sei es ge- wesen, ,,der den halbvergessenen französischen Natur- philosophen auf den Ehrenplatz neben Goethe und Darwin stellte, den er den drei Begründern der Des- zendenztheorie bereitete". Kritisch betrachtet könnte man hieran dreierlei monieren, nämlich erstens, daß Lamarck durchaus nicht halb vergessen war, z. B. von den exakt arbeitenden Floristen damals wie heute gleichmäßige Berücksichtigung gefunden hat, zweitens wäre daran zu erinnern, daß schon Charles Darwin in seiner sehr kurzen , in der Carus'schen deutschen Ausgabe knapp 11 Seiten umfassenden „historischen Skizze der Fortschritte in den Ansichten über den Ursprung der Arten" dem Lamarck fast eine ganze Seite widmet; und er beginnt mit den Worten ; „Lamarck war der Erste , dessen An- sichten über diesen Punkt (nämlich die Deszendenz der Arten) großes Aufsehen erregten. Dieser mit N. F. VIII. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 523 Recht geleierte N'aliirforscher .... usw.". Drittens ist dann noch darauf hinzuweisen, daß Goethe auf keinen Fall mit Lamarck in eine Parallele gestellt werden kann. Denn Äußerungen wie sie zur Sache von Goethe stammen, finden sich bei den damaligen hervorragenden Geistern mehrfach. Charles Darwin, Die Abstammung des Men- schen. Deutsch von Dr. Heinrich Schmidt (Jena). Volksausgabe. Leipzig, Alfred Kröner Verlag. — Preis I Wk. Charles Darwin, Die geschlechtliche Zucht- wahl. Deutsch von Dr. Heinrich Schmidt (Jena). Volksausgabe. Leipzig, Alfred Kröner Verlag. — Preis I Mk. Es ist außerordentlich verdienstlich, die muster- gültigen Originalwerke Darwin's in so sehr billigen Volksausgaben wie den vorliegenden, die dabei gut ausgestattet und gedruckt sind, herauszugeben, und es ist sehr zu wünschen, daß das Volk, welches für die Fragen, welche Darwin behandelt hat, ein Interesse besitzt, nun zu diesen Quellenwerken greift, die jetzt so leicht und billig zu haben sind. Es wäre sehr zu hoffen, daß durch das Unternehmen die ungeheuerlich verwässerte Popularisierung und tendenziös ent- stellte Darstellung darwinistischer Gegenstände wenigstens in Etwas einen Damm erhielte. Dringend empfehlen wir die Einsichtnahme in die Originalwerke und auf die Benutzung von Darstellungen aus zweiter Hand zu verzichten, abgesehen natürlich von solchen, die sich um die neueren Ansichten zum Gegenstande in wissenschaftlicher und kritischer Weise kümmern. Eine Gefahr liegt für den Laien nur in den populären Wiedergaben durch Autoren, die auf dem Gebiete gar nicht selbsttätig mitwirken. David Starr Jordan, President of Leland Stanford Junior University, and Vernon Lyman Kellogg, Professor ofEntomology, and Lecturer in Bionomics in Leland Stanford Junior University, Evolution and Animal Life. An elementary Dis- cussion ofFacts, Processes, Laws and Theories relating to the Life and Evo- lution of Animal s. New York, D. Appleton and Company. — Preis geb. ca. 9 Mk. Das illustrativ trefflich durcli fast 300 Abbildun- gen ausgestattete Buch ist gut geeignet, einen Über- blick über die deszendenztheoretischen Fakta zu geben, die das Tierreich bietet. Der Rat, den die Autoren in ihrem Vorwort geben, ist sehr beherzigenswert : Wir wünschen, daß der Leser von unseren Ansichten nichts annimmt, bevor er ihre Richtigkeit nicht durch eigene L'ntersuchung geprüft hat. Im Prinzip den- selben Gedanken (nur etwas vorsichtiger moditizieit, da es ausgeschlossen ist, alles, was die Wissenschaft bisher erreicht hat, selbst nachzuuntersuchen) haben wir ja in der Naturw. Wochenschr. in vielen Ton- arten immer wieder vorgebracht : nämlich es möchten die Interessenten an irgendeinem prinzipiellen Gegen- stande sich soweit zu vertiefen suchen (und wenn es auch nur durch Benutzung guter Quelle nliteratur ist, wie Lamarck's oder Darwin's Schriften), daß sie zu einiger Kritik den vielen populären Aufmachungen gegenüber gelangen, die ja allermeist nur aus Ge- schäftsrücksichten den Gegenstand möglichst den un- reifen Ideen entgegenkommend behandeln. Vernon L. Kellogg, Professor in Leland Stanford Junior University, DarwinismTo-Day. Adis- cussion of present-day scientific criti- cism of the Darwinian selection theo- ries, together with a brief account of the princi[)al other proposed auxiliary and alternative theories of species- forming. New York, Henry Holt and Company. — Preis 8 Mk. Das Buch bietet eine gute Übersicht des gegen- wärtigen Standes oder besser gesagt der gegenwärtig besonders beliebten Ansichten über und zum Darwi- nismus und der Deszendenztheorie überhaupt, indem es ordentlich auf die Quellen eingeht. H. R. France, Der heutige Stand der Dar- win'schen Fragen. Zweite umgearbeitete Auf- lage. Mit zahlreichen Abbildungen und 4 Porträts. Leipzig, Theod. Thomas, 1907. — Preis 3,60 Mk. Verf. beschäftigt sich in erster Linie mit dem Wert und Unwert der Selektionstheorie, wie ihm dieser erscheint. France steht auf dem Standpunkt, daß innere Ursachen die Haupttriebfedern für die Ausbildung der nützlichen und sonstigen Eigenschaften der Organismen seien, so kehrt er denn die An- sichten Lamarck's ganz besonders hervor, nach wel- chem der Gebrauch, das Bedürfnis die Ursache der Anpassung ist. France drückt sich so aus : „Seine Lehre schreibt dem Denken die Kraft zu, körperliche Wirkungen hervorzubringen". Bündig gibt der Verf. im Schlußwort diesbezüglich seine Ansicht so kund : Der die Anpassung bewirkende Vorgang geschieht nach zweckursächlichem (teleologischem) Prinzip, weshalb der sich anpassende Organismus bzw. seine Einheit (die Zelle) Urteilskraft besitzen muß, die auf Wahrnehmungen hin die Tätigkeit bedürfnisgemäß bestimmt. Mag man über den Neulamarckismus, wie sich die Richtung nennt , denken, wie man will, so ist doch bei dem Umfang, den die Richtung angenom- men hat , eine übersichtliche , gute Darstellung wie die vorliegende dankenswert. Karl Camino Schneider, a. o. Prof. d. Zoologie a. d. Universität Wien, Versuch einerBegründung der Deszendenztheorie. Verlag von Gustav Fischer, Jena 1908. — Preis 3 Mk. Das Buch will eine Ergänzung von des Verfassers Einführung in die Deszendenzlehre sein, indem es hier „auf die modernen Bestrebungen einer psychi- schen Vertiefung des Deszendenzproblems" eingehen will. Verf möchte eine Erweiterung des neuzeit- lichen Positivismus, des relativen Positivismus bieten. Ferner setzt er sich mit dem Neolamarckisten Pauly auseinander usw. Es handelt sich also im ganzen um den Versuch einer Kritik gegenwärtig Schule machender Ansichten und einer selbständigen Weiter- führung. Dr. Rudolf Magnus , Vom Urtier zum Men- schen. Gemeinverständliche Darstel- lung des gegenwärtigen Standes der gesamten Entwicklungslehre. Mit einem 524 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 33 Stammbaum der Tiere. 14 Tafeln und 11 Abbil- ' düngen im Te.xt. Halle a. S., Carl Marhold Ver- lagsbuchhandlung, 190S. — Preis 1,50 Mk. Wieder eine natürliche Schöpfungsgeschichte ! Sie ist ganz im Sinne der Haeckel'schen Schule gehalten. Zunächst geht Verf. die früheren mehr oder minder zur Deszendenztheorie hinneigenden Ansichten durch seit Anaximander, gibt sodann eine Skizze des syste- matischen Aufbaus im Tierreich, schildert dann Dar- win und Darwin's Lehre und endlich das, was nach Darwin folgt. Dr. Heinrich Schmidt (Jena), Das biogeneti- sche Grundgesetz Ernst Haeckel's und seine Gegner. Mit iS Abbildungen. 2. um- gearbeitete Auflage. Neuer Frankfurter Verlag, Frankfurt a. M. 1909. — Preis 1,80 Mk. Haeckel bezeichnet bekanntlich mit dem Namen biogenetisches Grundgesetz die Erkenntnis, daß die Entwicklung des Individuums nichts anderes darstellt als eine Wiederholung der stammesgeschichtlichen Entwicklung seiner Vorfahren, die bedingt ist einer- seits durch Vererbung, andererseits durch .'Anpassung. Schmidt setzt die Bedeutung der „Rekapitulationstheorie" auseinander, zeigt, daß sie zutrifft und erläutert ihre Fruchtbarkeit für die Forschung. In einem Schluß - kapitel setzt er sich mit den Gegnern des „Gesetzes" auseinander. Die 2. Auflage bringt einen Zusatz über „Das biogenetische Grundgesetz in der geistigen Ent- wicklung". Oscar Hartwig, Direktor des Anatomisch • Biologi- schen Instituts der Berliner Universität, Die Ent- wicklung der Biologie im neunzehnten Jahrhundert. Vortrag auf der Versammlung deutscher Naturforscher zu Aachen am 17. Sep- tember 1900. Zweite erweiterte Auflage mit einem Zusatz über den gegenwärtigen Stand des Darwinismus. Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1908. — Preis I Mk. Die 1908 gemachten Zusätze beziehen sich auf einzelne Punkte des Haupttextes und zwar handelt es sich nur um drei solcher Zusätze , von denen der erste sich mit Vorgängern Darwin's beschäftigt. Der zweite Zusatz — der längste — gibt eine kurze Aus- einandersetzung über den gegenwärtigen Stand des Darwinismus, so über die Vererbung der Eigenschaften der Eltern auf die nächste Generation, über das bio- genetische Grundgesetz, oder, wie Meckel das sehr viel früher ausdrückte, die Lehre vom Parailelismus zwischen der individuellen Metamorphose und der Metamorphose des Tierreichs usw. August Weismann, Charles Darwin und sein Lebenswerk. Festrede gehalten zu Freiburg im Breisgau am 12. Februar 1909. Jena, Gustav Fischer, 1909. — Preis 75 Pf. Die Rede des bekannten Phylogenisten wurde zum Gedenken an Darwin's hundertsten Geburtstag gehalten, eine Rede, die der Autor nach seiner Aus- sage im Vorwort besonders gern gehalten hat, indem er u. a. , um dies zu begründen, sagt, daß er sich von jeher sympathisch berührt gefühlt habe von dem Wesen Darwin's , seiner Art des Forschens und des Darstellens seiner Gedanken. In der Tat ist ja dieses Charakteristikum Charles Darwin's heute um so mehr hervorzuheben , als die gegenwärtigen Darsteller der Deszendenztheorie — namentlich die mit der popu- lären Darstellung Beschäftigten — weit entfernt sind von diesem ruhigen, festen Wesen. Der Vor- trag zeichnet sich gegenüber vielen anderen, die aus gleichem Anlaß erschienen sind, sehr vorteilhaft durch seine sachliche Ruhe aus, ohne die Begeisterung ver- kennen zu lassen , die notwendig das Wirken und der Erfolg Darwin's auf dem Gesamtgebiet der Bionto- logie erweckt hat. Darwin, Seine Bedeutung im Ringen um Weltanschauung und Lebens wert. 6 Ab- handlungen von Wilhelm Bölsche, Bruno Wille, Eduard David, Max Apel, Rudolf Penzig, Friedrich Naumann. Buchverlag der „Hilfe" G.m.b.H., Berlin- Schöneberg. 128 S. — Preis I Mk. Auch dieses Heft ist zum hundertjährigen Gedenk- tag der Geburt Darwin's erschienen und von Dr. Max Apel herausgegeben worden. Auch hier in dem Aufsatz von Darwin's Vorgänger wird wieder einer der allerhervorragendsten Vorgänger Darwin's unbe- achtet gelassen, nämlich der Schweizer Botaniker Moritzi, der ein ganzes Buch über den Gegenstand, d. h. die Deszendenztheorie, geschrieben hat und zwar das schon im Jahre 1842; überdies betitelt es sich „Reflections sur l'Espece en Histoire naturelle" (vgl. Naturw. Wochenschr. vom 6. Oktober i88g, p. 222). Ernst Haeckel, Das Menschenproblem und die Herrentiere von Linn6. Frankfurt a. M., Neuer Frankfurter Verlag. — Preis 1,50 Mk. In dem vorliegenden Heft handelt es sich um einen im Volkshause zu Jena gehaltenen N'ortrag, der aber nichts anderes bringt als das, was Haeckel über den Gegenstand schon wiederholt vorgebracht hat, nur, daß hier der Gegenstand kurz behandelt worden ist und neueste Autoren wie u. a. Reinke in die Polemik gezogen werden. Dr. Emil Lobedank, Stabsarzt in Hann. -Münden, Der Stammbaum der Seele. Mit 9 Abbild, im Text. Halle a. S., Carl Marhold Verlagsbuch- handlung, 1907. — Preis 1,50 Mk. Das Buch ist wesentlich der näheren Auseinander- setzung der Tatsache gewidmet, daß mit der höheren Ausgestaltung des Gehirns die Intelligenz innerhalb der Tierreihe wächst und ferner den Erscheinungen der Abhängigkeit von seelischen Werten vom Gehirn. Das, was der Titel ausdrückt, wird nicht eigentlich in dem Buch behandelt, d. h. gewissermaßen eine Phylogenie der seelischen Werte, die parallel der somatischen Phylogenie ginge. Es wird nur betont und zu zeigen versucht , daß die seelischen Werte des Menschen von solchen höherer Tiere abgeleitet werden können und diese wieder von niederen. Die Versuche, z. B. die Entstehung des logischen Denkens durch Selektion zu erklären, scheinen dem Verf. ent- gangen zu sein ; wenigstens findet sich darüber in dem Buch nichts (vgl. Naturwiss. Wochenschrift vom 12. April 1891). Gemeinverständliche Darwinistische Vor- N. F. VIII. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 525 träge und Abhandlungen. Herausgeber Dr. Wilhelm B r e i t e n b a c h , Brackwede i. W. Im Verlag des Herausgebers. — Preis des Heftes i Rlk. Heft 14: Dr. Walther May, a. o. Prof. a. d. techn. Hochschule zu Karlsruhe, Auf Darwin- Spuren. Beiträge zur Biographie Darwin's. Darwin-Spuren bedeutet hier das Nachgehen auf dem Lebensweg nicht allein Charles Darwin's, sondern auch seines Vaters und Großvaters. Verf. hat die Orte besucht, wo Charles Darwin in England gelebt hat, so daß seiner Darstellung ein besonderer Hauch des Vertrauteren anhaftet. Heft 16: A. J. Ogilvy, Die Fibel des Dar- winismus. Aus dem B'nglischen übersetzt von Dr. A. V. Borosini. 1908. Das Heft bietet eine populäre Einführung in die Elemente des Darwinismus, geschickt so geschrieben, daß auch jemand, der kaum naturwissenschaftliche Kenntnisse besitzt, imstande sein dürfte, dem Gedan- kengang zu folgen. Die leicht verständliche erste Einführung in den Gegenstand ist zu empfehlen. Wasmann S. J. , Erich, Der Kampf um das E n t w i c k 1 u n g s p r o b 1 e m in Berlin. Aus • führlicher Bericht über die im Februar 1907 ge- haltenen Vorträge und über den Diskussionsabend. Freiburg im Breisgau, Herder'sche Verlagshandlung, 1907. Unsere Stellung zu dem ganzen Kampf zwischen einer Anzahl Naturwissenschaftler und dem Jesuiten- pater Erich Wasmann haben wir in der Naturwissen- schaftlichen Wochenschrift 1907 Nr. 10 kundgetan. Wasmann betont seinen Standpunkt auf Grund des Materials, das am Diskussionsabend zusammengekom- men ist. Wir könnten hier nur wiederholen, was wir schon damals gesagt haben. Dr. phil. Alois Schmitt, Professor, Das Zeugnis der Versteinerungen gegen den Darwi- nismus oder Die Bedeutung der persi- stenten Lebensformen für Abstammungs- lehre und Apologetik. Mit i 4 Abbildungen. Freiburg im Breisgau, Herder'sche Verlagshandlung, 1908. — Preis 2,40 Mk. Verf., der, wie schon aus dem Titel hervorgeht, im Grunde genommen religiöse Tendenzen hat, die unserer Meinung nach gar nicht der Naturwissenschaft gegenüber ausgespielt werden können, sagt — leider mit Recht — , daß die Veränderungen , die tatsächlich durch die exakte Wissenschaft festgestellt werden können, nicht so bedeutend seien, wie man vielfach die Laien glauben mache. Die Berechtigung dieses Ausspruches haben die übereifrigen, übers Ziel schießenden, man könnte ruhig sagen fanatischen naturwissenschaftlichen Popularisatoren verschuldet. Einen besonderen Nach- druck legt Verf. auf die persistenten Formen, die lange Zeit hindurch sich unverändert erhalten haben, und zwar interessieren ihn diese Formen, weil sie für die Apologetik einen besonderen Wert haben. Die .■\bhandlung schließt mit dem Satz : „Im Anfang aller F;ntwicklung und bei allem Fortschritt ist unbedingtes Erfordernis der durch Urteilskraft sich betätigende Wille, und dieser Wille, der das „vernünftige" Han- deln der vernunftlosen Organismen bestimmt, der so- wohl die Triebe als auch die Mechanismen des Lebens leitet und zu ihrem Ziele führt, steht über den Or- ganismen und heißt persönlicher Gott!" M. C. Piepers, Noch einmal Mimicry, Selek- tion, Darwinismus. Vorm. E. J. Brill, Leiden, 1907. Verf. bekämpft die Mimicry und alles, was mit ihr zusammenhängt ; er nennt sie eine Irrlehre , ja einen überwundenen Standpunkt. Auch die Bedeu- tung der Blumen für die Befruchtung durch Insekten wird bekämpft! Die Tage des Darwinismus, sagt er, kann man ruhig für gezählt halten usw. — Verf ist Dr. jur. utr. Carl von Linn6's Bedeutung als Naturfor- scher und Arzt. Schilderungen herausgegeben von der Kgl. Schwed. Akad. der Wissenschaften anläßlich der 200 jährigen Wiederkehr des Geburts- tages Linne's. Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1909. — Preis 20 Mk. Der vorliegende starke Band bringt eine ganze Anzahl einzelner Arbeiten aus der Feder verschiede- ner Autoren , die Linnd nach den verschiedensten Seiten hin würdigen. Als Arzt und medizinischer Schriftsteller wird er von Otto E. A. Hjelt vorge- führt. Eine Abhandlung aus der Feder Einar Lönnberg's betitelt sich „Carl von Linne und die Lehre von den Wirbeltieren". Chr. Aurivillius bespricht unseren großen Naturforscher als Entomolog. Als botanischer Forscher und Schriftsteller wird Linne gewürdigt von C. A. M. Lindman. Diese Abhand- lung ist die umfangreichste in dem Buche ; sie um- faßt 188 Seiten. Als Geolog wird uns Linne vorge- ■ führt von A. G. Na t hörst und hierzu sind auch einige Abbildungen gegeben und zwei Tafeln. Den Schluß des Bandes bildet eine ebenfalls illustrierte Besprechung Linne's als Mineralogen. Dem Lieb- haber historischer Studien — und hierzu sollte jeder Naturforscher zählen — wird das Buch viel Anregen- des bieten. Dr. Carl Heyer, weil. o. ö. Prof d. Forstwissenschaft a. d. Univers, zu Gießen, Forstmeister usw.. Der Waldbau oder die Forstprodukte nzucht. Fünfte Auflage in neuer Bearbeitung in zwei Bänden herausgegeben von Dr. Richard Heß, Geh. Hofrat, o. ö. Prof der Forstwissenschaft, Direktor des Forstinstituts a. d. Ludwigs-Univers. zu Gießen. Erster Band. Vorbereitender Teil. Mit 331 in den Text gedruckten Holzschnitten. II. Band: Angewandter Teil. Mit 57 Abbildungen. Druck und Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin, 1906 — 1909. Die erste Auflage des vorliegenden Werkes er- schien bereits im Jahre 1 85 4 und das bewährte Werk hat dann unter dem ursprünglichen Verf drei Auf- lagen erlebt, während die vierte und fünfte von Heß bearbeitet wurde. Dieser hat eifrig und sorgfältig das Werk durch Verbesserungen, Nachträge und Änderungen, auch durch Abstriche auf der Höhe ge- 526 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vni. Nr. 33 halten, dabei aber die nötige Pietät gewahrt, d. h. sich bemüht, dem Werk den ursprünglichen Charakter zu belassen, damit es eben Heyer's Waldbau bleibe. Das Buch ist zwar in Forstkreisen sehr bekannt und es bedarf diesbezüglich keiner näheren Auskunft über seine Disposition ; dem Naturforscher jedoch liegt es ferner und so mag denn eine diesbezügliche Angabe folgen. Nach einer kurzen Einleitung wird die Hauptnutzungs- oder Holzzucht besprochen und zwar zunächst die Begründung der Holzbestände und sodann ihre Erziehung, beides in eingehendster und ausführlichster Weise. Der zweite Hauptteil des ersten Bandes beschäftigt sich sodann mit der An- zucht der Waldnebennutzungen. In diesem Hauptteil ist auch von der Nachzucht von Torf die Rede. Es wird dort ganz richtig angegeben, daß der natürliche jährliche Nachwuchs eine Höhe von 25 bis sogar 40 mm haben kann, wenn auch letzteres etwas hoch gegriffen ist. Es wäre vielleicht zweckdienlich ge- wesen, darauf hinzuweisen , daß dieser Nachwuchs noch kein Torf ist , sondern sich auf das jährliche Emporwachsen einer Moosdecke, wie der Sphagnum- decke von Hochmooren bezieht. Referent hat hier einen jährlichen Zuwachs — je nach den Verhält- nissen — von rund etwa 22 — 35 mm beobachtet: soviel können jährlich die dichtrasenförmig zusammen- aufwachsenden Sprosse von Sphagnum an Länge zu- nehmen und dementsprechend die leicht zusammen- drückbare Oberfläche eines Hochmoores erhöhen. Torf ist aber dieses Material noch nicht. Bei der Torfwerdung nimmt es sehr beträchtlich an Volumen ab , so daß ein Nachwuchs von wirklichem Torf außerordentlich langsam vonstatten geht. Man hat sich gelegentlich dadurch täuschen lassen , daß in Gräben der fertige Torf von unten langsam nach- dringt durch die Einpressung der den Graben seit- wärts begrenzenden Schichten und hat gemeint, der Torf sei im Graben neu entstanden. Der zweite Band beschäftigt sich mit den reinen Hauptnutzungsbetrieben, mit den Haupt- und Neben- nutzungsbetrieben und mit der Umwandlung einer Betriebsart in die andere. P. Prof Dr. W. J. van Bebber, Anleitung zur Aufstellung von Wettervorhersagen. 2. Auflage. 38 Seiten mit 16 Abbild. Braun- schweig, F. Vieweg u. Sohn, 1908. — Preis 60 Pfg. Der auf eine 30 jährige Erfahrung zurückblickende Verf , Abteilungsvorstand der deutschen Seewarte und Begründer der Lehre von den Zugstraßen der baro- metrischen Depressionen , ist zweifellos wie niemand anders befähigt, in das Verständnis der Wetterkarten und die Verwertung derselben zu Prognosen einzu- führen. Landwirtschaft und Schule können in gleichem Maße von dieser bündigen, durch zahlreiche, typische Wetterlagen charakterisierende Wetterkarten illustrier- ten Anleitung Nutzen zielien. Kbr. Über die von Martus an Mondkratern angestellten Studien und die von ihm daraus gezogenen kosmo- gonischen Schlußfolgerungen haben wir wiederholt, zuletzt S. 74 des laufenden Jahrgangs, Bericht er- stattet. Die selbständige Veröffentlichung dieser Lfntersuchungen in ergänzter, auf die photographischen Dokumente des Pariser Mondatlas gestützter Fassung macht es jedem dafür sich Interessierenden leicht möglich , sich näher mit dem Gegenstande bekannt zu machen. Kbr. Prof F. Richarz , Anfangsgründe der Max- well'schen Theorie verknüpft mit der Elek- tronentheorie. 245 Seiten mit 6g Figuren. Leipzig, B. G. Teubner, 1909. — Preis geb. 8 Mk. Die Schrift verdankt ihre Entstehung einem Vor- tragszyklus, den Verf. im Jahre 1 906 vor dem Mar- burger Oberlehrerkursus gehalten, sie bietet aber die damals nur skizzenhaft dargebotene Materie in etwas breiterer Ausführung, dabei aber immer noch nur das wesentlichste behandelnd, also als Einführung in die mathematische Darstellung der Maxwell'schen Theorie gedacht , deren Grundvorstellungen ebenso wie das absolute Maßsystem , Difterentialgleichungen und Potentialtheorie vorausgesetzt werden. Von vorn- herein macht Verf auch von der Elektronentheorie Gebrauch , weil erst durch sie verschiedene Begriffe (z. B. neutrale Elektrizität , dielektrische Polarisation und Leitung in ponderablen Medien) bestimmte Be- deutung gewinnen , die ihnen in der ursprünglichen Maxwell'schen Theorie fehlt. Vielfach enthält das Buch Überlegungen und Herleitungen, die vom Verf selbst herstammen und besonders die Verschmelzung der beiden modernen Theorien der Elektrizität för- dern. Das Buch wird sicherlich auch Studierenden eine vortreflliche Einführung in das den Neuling so fremdartig anmutende Gebiet gewähren. Kbr. Prof H. Martus, Entstehungs weise der Monde der Planeten. 52 Seiten mit 6 Figuren- tafeln. Dresden, C. A. Koch, 1909. Literatur. Bauer, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Max; Edelsteinkunde. Eine allgeraeia verständl. Darstellg. der Eigenschaften, des Vor- kommens u. der Verwendg. der Edelsteine, nebst e. .^nlcitg. zur Beslimmg. derselben. Für Mineralogen, Steinschleifer, Juweliere usw. 2., neubearb. Aufl. Mit 21 Taf. in Farben- druck., Lilhogr. u. Autotypie, sowie zahlreichen Abbildgn. im Text. (In ca. 16 Lfgn.) I. Lfg. (S. 1 — 64.) Lex. S". Leipzig '09, Ch. H. Tauchnitz. — 2 Mk. Carnot, S. : Betrachtungen üb. d. bewegende Kraft d. Feuers u. die zur Entwicklung dieser Kraft geeigneten Maschinen (1S24). Übers, u. hrsg. v. W. Üstwald. 2. unvcränd. Ab druck. Mit 5 Fig. im Text. (72 S.) Leipzig '09 , W I'^ngelniann. — 1.20 Mk. Dalla Torre, Prof. Dr. K. W. v., u. Ludw. Graf v. Samt hein : Flora der gefürsteten Grafschaft Tirol, des Landes Vorarlberg u. des Fürstent. Liechtenstein. Nach eigenen u fremden Beobachtgn., Sammign. und den Literaturquellen VI. Bd. Die Farn- und Blütenpflanzen (Pteridophyta et Siphonogama) v. Tirol, Vorarlberg u. Liechtenstein. 2. Tl. Archichlamydeae (.^petalae u. Polypetalae, kronlose u. ge- trcnntblSltrige Blattkeimer). Mit Unterstützg. d. kais. .Aka demie der Wissenschaften in Wien. (9t)4 S.) gr. 8". Innsbruck '09, Wagner. — 33 Ml:. Eisler, Dr. Rud. : Wörterbuch der philosophischen Begriffe Historisch-quellenmäßig bearb. 3., völlig neu bearb. Aufl (In 14 Lfgn.) I. Lfg. (VIII u. S. I— 20S.) gr. 8». Berlin '10, E. S. Mittler & Sohn. (Umschlag '09). — 2,50 Mk. N. F. VIII. Nr. 3- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 527 Issler, E. ; Führer durch die Flora der Zentralvogescn. Eine Einführg. in die Vcgetationsverhältnissc der Hochvogcsen. (65 S. m. 4 Tal'.) gr. S". Leipzig '09, \V. Engelmann. — 1,80 Mk. Johannsen, Prof. W. : Elemente der exakten Erblichkeitslehre, lleutschc wesentlich erweit. Ausg. in 25 Vorlesgn, (VI, 516 S. m. 31 Fig.) gr. 8°. Jena '09, (».Fischer. — 9 Mk., geb. 10 Mk. Kraepelin, I'rof. Ur. Emil: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende u. .Ärzte. 8. vollständig umgearb. Aufl. I. Bd. Allgemeine Psychiatrie. Mit 3S .\bbildgn. u. i Einschalttaf. (.XIV, 076 S.) gr. 8°. Leipzig '09, J. A. Barth. — 18,50 Mk., geb. in Leinw. 20 Mk. Süßwasserfauna, die, Deutschlands. Eine Exkursionsfauna, hrsg. V. Prof. Dr. Brauer. S". Jena, G. F'ischer. Weismann, Aug. ; Charles Darwin u. sein Lebenswerk. Fest- rede. (32 S.) gr. 8°. Jena 09, G. Fischer. — 75 Pf. Anregungen und Antworten. Herrn Prof. R. in N. u. a. — Schon Leonardo da Vinci sagt : ,,\Vo Vernunflgründe und klares Recht fehlen , vertritt Geschrei deren Stelle; bei sicheren Dingen kommt dies da- gegen nicht vor." Wenn man nach der gewiß guten Beobach- tung, die diesen Ausspruch veranlaßt hat, gehen wollte, wäre der Monismus der Haeckel'schen Richtung in der Tat ab- zulehnen, aber freilich auch gewisse Richtungen der Gegner dieser Art von Monismus. Unserem Standpunkt nach ist denn auch eine auf Grund der Erfahrungstatsachen gewonnene all- gemeine, naturwissenschaftliche Ansicht weder hüben noch drüben zu finden: grundlegende Gedanken, die alle Natur- forscher anzunehmen vermöchten , Gedanken, die innerhalb dieses Kreises interindividuell sein könnten. In welcher Richtung eine solche ,, Philosophie" liegt, ergibt sich aus vielerlei .Andeutungen und eingehenderen Darstellungen , die wir seit jeher in der Naturw. Wochenschr. geboten haben. Wir meinen den ,, relativen Positivismus", wenn man denn für diese Richtung ein Etikett haben will. Freilich ist bei un- serer ganzen Vorbereitung eine Einsicht für den zunächst Fernerstehenden nicht ohne weiteres zu gewinnen, sondern sie erfordert Studium und Eindringen in den Gegenstand, während der Uaeckel'schc Monismus und die üblichen heutigen Gegen- richtungen den Eindruck des Leichtverständlichen machen, weil die vorhandenen Gedankengänge dem ,, Verständnis" wesentlich zu Hilfe kommen. Die historische Entwicklung des Denkens, auf der unsere Anschauungen beruhen, ist eben alt, während der relative Positivismus, der zwar ebenfalls eine Folge der Forschung ist und zwar der kritischsten Forschung, doch nicht so unmittelbar an Vorausgehendes, allgemeiner Anerkanntes anknüpft. Der relative Positivismus bemüht sich insbesondere die Grundlagen philosophischer Richtungen zu prüfen; er kommt dabei zu der Einsicht, daß man mit dem- selben Recht Materialist, Mechanist usw. oder auch Idealist, Vitalist usw. sein kann. D. h. die Grundlagen, die zu der einen oder der anderen Richtung führen, sind erkenntnis- theoretisch (logisch) durchaus gleichwertig. Ein hervorragen- derer Begriff aus der Fülle des zu Beobachtenden wird heraus- gehoben und auf ihn alles Vorhandene zurückgeführt, z. B. die körperliche Beschaffenheit, die dann bei ausschließlicher Betonung zum Materialismus führt, oder die Betrachtung der geistigen Werte, die bei gleicher ausschließlicher Behandlung, so daß alles Übrige ebenfalls Vorhandene übersehen wird, zum Idealismus führt. Es ist ja eine ganz allgemeine psycho- logische Erfahrung, daß bei einer ausschließlichen Beschäfti- gung mit einer Seite die anderen gleichwertigen Seiten unge- bühilich verdunkelt, verdeckt und die letzteren unserem Ver- stände sogar zum Verschwinden gebracht werden. Man denke hierbei im Kleinen an Spezialgclehrte, die schließlich ihr Fach für das Wichtigste, wo nicht gar als einzige Wissenschaft an- sehen. Wer sich viel mit Stofflichem beschäftigt, der sieht schließlich weiter nichts mehr. Wer andererseits Psychisches zu betraclitcn gewöhnt ist, deutet nach Möglichkeit alles in dieser Richtung und nutzt auch die fernsten Anklänge aus, um schließlich zu dem Resultat zu kommen: Alles sei psychisch. Die Entscheidung fällt so oder so aus, je nach dem Wege, den der einzelne vorher ^zurückgelegt hat, je nach den Ein- drücken, die er vorher empfangen hat ; sie ist eine Funktion der Zeit, die wirken konnte, um diese oder jene Eindrücke zu vertiefen; d. h. je länger die Zeit der Vorbereitung war, je energischer wird auch der einseitige Standpunkt vertreten. Die Barrieren, die man sich so selbst errichtet, werden immer zahlreicher und höher, bis dann schließlich ein Heraus aus einer Sackgasse fast unmöglich geworden ist. Hierher gehört es auch , wenn Gedanken im Verlaufe der Zeit einen stetig sich steigernden Wahrheitswert erhalten. Selbst Darwin sagte zunächst von der Deszendenztheorie ,,ich bin geneigt zu glau- ben", dann ,,es scheint mir zu sein" und schließlich nannte er diese Theorie „ein Gesetz der Natur". Ursprünglich ging der Mensch zur Erklärung seiner Umgebung vom Menschen aus und die Resultate seines Denkens über die Welt mußten daher notwendig anthropomorph, psychisch, sein. Je mehr er es aber gelernt hatte von sich abzusehen, zu abstrahieren, und die Umgebungsbeslandteile allein, die Physik, reden zu lassen, in derselben Proportion wurden ,,anthropomorphe" Deutungen zurückgedrängt. Aber bei allem steht doch bei allem Menschlichen, also auch der Wissenschaft, der Mensch im Hintergrunde, von dem sich alles übrige erst abhebt, und so gibt es denn gar nichts, was nicht in diesem Sinne anthro- pomorph wäre, was nicht in Beziehung zu ihm stände, ileraclit's Folgerung „Alles fließt" und überhaupt alle solche allgemeinen Urteile über das Wesen der Welt sind aus dem gemachten Wege zu verstehen: Alle solche Urteile haben durchaus gleichen Wert. Nur und allein mit der strikte durchgeführten Methodik der Naturforschung, d. h. nur durch die im weitesten Sinne zu vollziehende Beschreibung des Ge- gebenen — von allem Gegebenen, auch der Beziehungen — lassen sich befriedigende wissenschaftliche Resultate erzielen. Wer auf diesem Standpunkt steht, könnte sich getrost die Mühe ersparen, Ansichten zu widerlegen, die auf anderem Boden erwachsen sind. Ein solches Zeit und Platz raubendes Beginnen würde fruchtlos ausfallen müssen , weil die Wider- legungsgründe, sofern sie in seinen .Augen triftig sein sollen, doch wieder nur naturwissenschaftliche sein können, die ja eben von den Widersachern von vornherein nicht in wissen- schaftlichen Dingen, sondern nur, wo es unumgänglich not- wendig ist um sich im praktischen Leben nicht zu schädigen, anerkannt werden. In der reinen „Wissenschaft" läuft man die Gefahr sich zu schädigen nicht, und hier findet man denn auch im grellsten Widerspruch mit dem alltäglichen Leben stehende Ansichten vertreten. P. Frau E. Br. in Frankfurt a. d. O. — In meinem Auf- satz „Die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik" (Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. 7 Nr. 11) sind Ihnen zwei Punkte unklar geblieben. Sie bitten deshalb um Auf- klärung. — Erstens wollen Sie nähere Angaben haben über die Darstellung organischer Verbindungen aus anorgani- schen Stoffen. — — Man glaubte früher, daß organische Verbindungen sich nur im pflanzlichen und tierischen Körper bilden könnten und daß für ihre Bildung eine besondere ,, Lebenskraft" nötig sei. Diese Annahme hat sich als irrig erwiesen. Schon im Jahre 1S28 stellte Wo hier den Harn- stoff künstlich her und seitdem sind unzählige Pflanzen- und Tierstoffe ebenfalls künstlich aus anorganischen Verbindungen hergestellt worden. Man darf wohl erwarten, daß einmal die Zeit kommen wird, wo alle Verbindungen, welche den Tier- und Pflanzenkörper zusammensetzen, künstlich herstellbar sein werden. Freilich sind wir auch dann noch weit davon ent- fernt, ein lebendes Wesen künstlich herstellen zu können. Wenn die Lebensvorgänge (Assimilation etc.) auch als chemi- sche oder chemischphysikalische bezeichnet werden müssen, so vollziehen sich dieselben im Organismus doch nur, solange der Aufbau und die innere Struktur desselben nicht wesentlich gestört ist. Es sind also nicht nur die Verbindungen, sondern auch die Strukturverhältnisse für die Lebensvorgänge erforder- lich. Der feine Aufbau aber wird sich, wenn wir aus den groben Veränderungen, welche die Züchter bei Haustieren hervorbringen, Rückschlüsse machen dürfen, nur im Laufe großer Zeilräume entwickeln können. Unzulässig ist es, mit Wasmann anzunehmen, daß dieser Auf bau sich plötzlich voll- zogen haben müsse. Wenn wir auf naturwissenschaftlicher Grundlage bleiben wollen, darf eine allmähliche Entwicklung der Struktur und damit der Lebensvorgänge auf keinen Fall von 528 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 33 der H:ind gewiesen werden. Dati die Uranfänge und die vcr- sclücdenen Entwicklungsstufen der Lebensvorgänge jetzt nicht mehr beobachtet werden können, ist ein logisches Postulat der Darwinschen Selektionstheorie (vgl. Zool. Anz. Bd. 34, 1909, S. 311 f.). Zweitens ist Ihnen unklar, wie man die Entwicklung der menschlichen Psyche aus der tierischen als ein natur- wissenschaftliches Problem betrachten kann, wenn man die mechanistische .\uffassung des Psychischen zurückweist. Das beständige Xebeneinandervorkommen der psychischen Vor- gänge und der körperlichen Vorgänge (im Gehirn) ist für den Forscher eine feststehende Tatsache. Nur insofern gehen die Ansichten auseinander, daß man sich diesen psychophysischen Parallelismus verschieden erklärt. Die Mechanisten erklären ihn damit, daß sie den psychischen Vorgang und den kör|)er- lichen \'organg für eini und dasselbe halten. Der Vorgang werde nur in verschiedener Weise von uns wahrgenommen. Ein körperlicher A'organg sei es für uns, wenn er mittelbar, d. h. mittels unserer Sinnesorgane zu unserem Bew'ußtsein gelange, ein psychischer, wenn er sich unmittelbar als Bewußtseinsvorgang darstelle. Ist diese Auffassung richtig, so kann natürlicli eine Einwirkung des Psychischen auf das Körperliche nicht statt- finden. \Venn wir die Empfindung haben, daß unser Wille auf unser Handeln einwirke, so soll das nach Ansicht der Mechanisten eine subjektive Täuschung sein. — In unserem Gehirn entstehe nachweisbar keine Energie, deshalb könne sich auch kein psychischer Willensakt in einen körperlichen Bewegungs- akt umsetzen. — Die Mechanisten, die so argumentieren, über- sehen, daß es nicht nur eine aktive oder energetische, sondern auch eine passive oder anenergetische Einwirkung gil-">t. Eine rollende Billardkugel kann nicht nur durch eine andere, auf sie stoßende (aktiv) aus ihrer Bahn abgelenkt werden, sondern auch durch die Wand des Billards (passiv). Da sich ferner, wie an anderer Stelle gezeigt wurde (Zool. Anz. Bd. 33, 1909, S. S23ff. und Die Umschau Jahrg. 13, 1909, S. 353 IT.), eine Einwirkung des Psychischen aut den Körper auch objektiv bei Tieren nachweisen läßt, sind wir gezwungen, eine passive Ein- wirkung des Psychischen auf den Körper anzunehmen. — Ich stelle mir dies theoretisch in folgender Weise vor: Die Psyche, die wir in unserem P'ühlen und Denken kennen, ist ein im- materielles Etwas, das alle Körper durchdringt. Nur in einem Gehirn wird sie für uns sicher nachweisbar, weil sie fähig ist, Nervenbahnen zu sperren. — Diese Annahme mag etwas gesucht erscheinen. Sie ist aber die einzige, die mit keiner der bisher bekannt gewordenen Erfahrungstatsachen in Wider- spruch steht. — Lassen wir aber die Theorie beiseile und kehren zur Tatsache des psychophysischen Parallelismus zu- rück. Auf jeden Fall steht nacli unseren bisherigen Erfahrun- gen fest, daß allein die Beschaffenheit des Gehirns als die körperliche Grundlage der menschlichen Psyche in Betracht kommen kann und daß es allein auf die Beschaffenheit des Gehirns ankommt, wenn wir in der menschlichen Psyche etwas wesentlich Höheres erkennen. Die Entwicklung des Gehirns aber fällt in den Bereich des naturwissenschaftlich Vorstell- baren, deshalb gehört auch die Entwicklung der Psyche in das Gebiet der Naturwissenschaft. Für die Annahme eines von Anfang an vorhandenen höheren Prinzips im Menschen, wie es Wasmann annimmt, liegt nicht die geringste naturwissen- schaftliche Tatsache vor. Nehmen wir ein solches an, so haben wir den Boden der Naturwissenschaft verlassen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich — von verschiedenen Seiten aufgefordert — auch auf die weiteren Punkte meines Auf- satzes, soweit sie von Wasmann beanstandet worden sind (Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. 7, S. 26" f.), kurz zurückkommen. — Ich hatte mich Wasmann gegenüber in bezug auf die menschliche Embryologie auf die neueren Autoren berufen. Wasmann stützt sicli nun mir gegenüber auf A u t o r i t ä t e n und glaubt dabei mit mir auf dem gleichen Boden zu stehen. Ich möchte den Unterschied betonen. Die Tatsachen, welche neuere Autoren aufgedeckt haben, muß ich als Forscher berücksichtigen. Den Ansichten von Autoritäten darf ich mich nur dann anschließen, wenn diese Autoritäten meine Ansicht auf Grund von Erfahrungstatsachen logisch widerlegt haben. Dadurch eben unterscheidet sich der Forscher vom Theologen. Eine W^iderlcgung meiner Ausführungen finde ich aber in den Schriften der von Wasmann genannten -Autoritäten nicht. — Da Wasmann mit mir in der Grenzbestimmung zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik im allgemeinen einverstan- den zu sein scheint, würde er zeigen müssen, wie er sich die Fortpllanzung des Lichtes ohne die .'Annahme eines Äthers vorzustellen vermag. Ebenso müßte er uns eine der natur- wissenschaftlichen Vorstellung zugängliche Erklärung für das Auf- treten der überzähligen Schwanzwirbelanlagen beim mensch- lichen Embryo geben oder doch Tatsachen anführen, welche mit unserer durchaus verständlichen Erklärung in Wider- spruch stehen. Er tut das aber nicht und ist uns außer- dem die Antwort auf die Frage, wie er selbst sich die Entstehung des Menschen denkt, schuldig geblieben. Irgend- wie muß der Mensch doch entstanden sein und da Was- mann die Schöpfungsgeschichte der Bibel nicht wörtlich auf- faßt, da sie für Menschen mit geringerer Fassungsgabe ge- schrieben ist, muß er uns die Schöpfung des Menschen in die wissenschaftliche Sprache übersetzen. — Was die Ziel- strebigkeit anbetrifft, so gibt Wasmann jetzt zu, daß die- selbe mitunter aussetzt. Damit liefert er selbst den Beweis dafür, daß der Mensch die Zielstrebigkeit in die Natur hinein- legt. Nur da nimmt er sie an, wo sie ihm paßt. — Zahlreiche Tierarten sind ausgestorben, einige noch in historischer Zeit. W'arum hat sich die Zielstrebigkeit bei diesen nicht bewährt? — Gehen wir von der Selektionstheorie aus, so bietet das Aussterben von Tieren nicht die geringste Schwierigkeit und das Gesetz bleibt lückenlos bestehen : — Die Lebensbedingungen schufen das Tier. Ihnen gegenüber ist dasselbe durchaus erhaltungsmäßig gebaut. Andern sich die Lebensbedingungen, so muß das Tier sich anpassen oder, wenn das nicht möglich ist, zugrunde gehen. — Daß die Seleklionstheorie mit keiner Erfahrungstatsache, auch mit der Amikaiselektion nicht in Widerspruch steht, wurde an anderer Stelle gezeigt (vgl. Zool. Anz. Bd. 34, 1909, S. 302 ff.). — Natürlich muß ich jetzt, nach- dem ich auf W^unsch der Leser noch einmal auf das Thema zurückgekommen bin, die Redaktion bitten, daß auch Was- mann das Wort von neuem gestattet werde. Dahl. Herrn Dr. B. M. in Annaberg (Erzgeb.). — Sie fragen 1. welches der wissenschaflliclie Name der unter dem Namen ,,Kotzunge" in den Handel kommenden Plattfische sei und 2. welcher Fisch es sein könne, der Ihnen unter dem Nannen ,,Seehecht" von einer Fischhandlung angeboten wurde, der aber schwerlich mit Ahrluccius imrlucchis identisch sei. Den populären Ausdruck Rotzunge habe ich in den Büchern, die ich nachgeschlagen habe, nicht finden können und ebenso kann ich Ihnen in der zweiten Frage keine .\uskunft erteilen. Es handelt sich im letzteren I-'alle doch nicht um den Horn- hecht, Beloiu} — Vielleicht kann einer der Leser aushelfen. Dahl. Herrn Lehrer R. H. in Triebes R. j. L. — Sie bemerkten Anfang November vorigen Jahres in der Nähe Ihres Ortes an einer zwischen Nadelwald gelegenen Grasstelle, aber nur da, ,, Weibchen" vom Leuchtkäfer und fragen wie sich das so späte Vorkommen derselben erkläre, ob es vielleicht mit der warmen Witterung des vorigen Herbstes zusammenhänge. — — Es kann sich wohl nur um die Larven von Liunpyris noc- tiiiica gehandelt haben, die den Weibchen ja recht ähnlicii sind, aber keine Tarsenglieder und nur eine wohl entwickelte Fußkralle besitzen und die man auch im Winter findet. . — Näheres darüber finden .Sic in der Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. VII, 1908, S. 176. Dahl. Inhalt; Arnold Schnitze: Beobachtungen über die Fauna und Flora der Grashochländer Kameruns. — Kleinere Mit- teilungen: Hermann Matthes: Verzinnte Gebrauchsgegenstände und verzinkte Kochgeschirre. — I'^ Baur: ,,Das Wesen und die Erblichkeitsverhältnisse der ,Varietates albomarginatac hört.' von Pelargonium zonale". — Prof". Reinke: Über Küstenbildung und Küstenzerstörung. — Bücheibesprechungen : Sammel-Keferat. — Carl von Linne's Bedeutung als Naturforscher und Arzt. — Dr. Carl Hey er: Der Waldb.au oder die Forstproduktenzucht. — Prof. Dr. W. J. van Bebber: Anleitung zur Aufstellung von Wettervorhersagen. — Prof. H. Ma r t u s : Enstehungs- weise der Monde der Planeten. — Prof. F. Richarz: .'\nfangsgründe des MaxwcU'schen Theorie. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-W'est b. Berlin. Verlag von Gustav Fisclier in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge VIII. Haiul ; der ganrcn Reihe XXIV. Band. Sonntag, den 22. August 1909. Nummer 34. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Geographie. — Die beiden großen Ereignisse des Jahres 1909 sind auf dem Gebiete der Erforschung der Erdoberfläche die Rückkehr Sven Hedin 's und die Südpolar- ex-pedition Shackleton's. Sven Hedin ist in Stock- holm mit Ehren empfangen worden wie vielleicht — Kolumbus ausgenommen — nie ein anderer Foischungsreisender vor ihm, geradezu wie ein Souverän. Und aus doppeltem Grunde freuen wir uns darüber. Denn wir sehen einmal, welche Bedeutung heute der Geographie beigemessen wird und dann, wie unsere Zeit, der — mit Recht oder Unrecht — Mangel an Idealen vor- geworfen wird, einem IVIanne wie Sven Hedin die größten Huldigungen entgegenbringt, dessen Be- strebungen rein ideale sind. Die rein persön- lichen Eigenschaften Sven Hedin's, seine natür- liche Frische, seine Bescheidenheit, sein Humor sind besondere Lichtseiten dieser ganzen Erschei- nung. Da in diesen Blättern ein Bericht über Sven Hedin's letzte Reise erschienen ist und an- dererseits noch nichts authentisches aus seiner Feder vorliegt, wollen wir sogleich die Südpolar- expedition Shackleton's betrachten. Während nach dem bisherigen Stande der Polarforschuiig zu erwarten war, daß erst der Nordpol, dann der Südpol erreicht würde, hat Shackleton das Gegenteil höchstwahrscheinlich gemacht. Peary erreichte 1906 87 "06' am Nord- pol, Shackleton erreichte am 9. Januar 1909 88" 23' 162" ö. L. am Südpol, kam also dem Südpol um i"i7' (140 km) näher als Peary dem Nordpol. So wurde in den letzten 10 Jahren am Südpol mehr erreicht als in 300 Jahren am Nordpol, denn 80" wurden schon vor 1600 am Nordpol bei Spitzbergen erreicht, am Südpol erst 1902, wo Scott 82"i7';i63" ö. L. erreichte, den Shackleton jetzt um 6"6' (680 km) überholt hat. Und nicht genug mit diesem glänzenden Erfolge, die Landes- natur der nächsten Umgebung des Südpols ist festgestellt, der magnetische Südpol gefunden und der Zusammenhang von Süd-Viktorialand und Wilkesland nahezu erwiesen. Der schneidige Engländer pflanzte nicht nur das ihm von der Königin Alexandra übergebene Banner in der ge- ringen Entfernung von 180 km vom Südpol auf, sondern er zeigte sich als glänzender Expeditions- führer; er löste seine Expedition in drei Gruppen auf, er wagte viel, um viel zu gewinnen. Freilich ist zu bedenken, er konnte sich alle bei den vielen Polarexpeditionen der letzten Jahre gemachten Erfahrungen zunutze machen; er arbeitete mit mandschurischen Ponies und Kraftwagen und be- nutzte die Tiere erst zum Ziehen, dann als Nahrung, was allerdings Dysenterie hervorrief. Die Expedition verließ Lyttelton in Neuseeland am I. Januar 1908, fuhr scharf südlich durch das Roßmeer entlang der Ostküste von Süd-Viktoria- land und bestieg Anfang März den Erebus, den südlichsten tätigen Vulkan. Sein erloschener Krater, dessen Kessel mit F"eldspatkristallen, Bim- stein und Schwefel angefüllt war, wurde 3300 m hoch gefunden, sein tätiger 3890 m, und hatte einen Durchmesser von 800 m und eine Tiefe von 240 m. Die Dämpfe und schwefligen Gase erhoben sich 600 m hoch, ein sehr gutes Mittel, um die Bewegung der oberen Luftschichten zu beobachten. Während des südhemisphärischen Winters wurden Vorratsplätze angelegt , wobei der Kraftwagen sich nicht auf dem Landeise und auf der Eisbarriere, wohl aber auf dem Meereise bewährte. Anfang November brachen Shackleton und drei andere Herren zur Hauptexpedition auf. Bis Ende November hielten die Schlitten eine südliche Richtung inne, dann folgte man einem 60 km breiten, 200 km langen Gletscher nach Südosten, dessen üble Spalten am 6. Dezember die Reisenden wenig mehr als ^j.-, km vorrücken ließen. Ein Plateau wurde erreicht und auf diesem nach Süden weiter gezogen; es war an- fangs 2000 m hoch und stieg nach Süden auf erheblich mehr als 3000 m. Eine Anzahl Berg- ketten zogen von Nordwesten nach Südosten über dieses Plateau. Immer wieder mußte gegen heftige Schneestürme aus Süden — blizzards — angekämpft werden ; so hatte der Sturm, welcher die Expedition unmittelbar vor ihrem Schlußziel fast 3 Tage festhielt, eine Geschwindigkeit von über 100 km in der Stunde bei einer Temperatur von — 40". Man rechnet mit der Möglichkeit, daß die im vorigen Satze erwähnten Bergkelten die Verbindung zwischen Süd-Viktorialand und dem südlich von Kap Hörn gelegenen Graham- land herstellen. Von dem weitesten erreichten Punkt waren keine Berge sichtbar und, soweit man sehen konnte, bestand das Land nach Süden aus einem Eisplateau. So kann Shackleton sagen : „Der Südpol liegt unzweifelhaft auf einem Plateau, das sich 3000 — 4000 m über den Meerespiegel erhebt." Zu der großen Frage der Klima- schwankungen lieferte die Expedition Beiträge in verschiedener Richtung. Gletscherbeobachtungen wiesen auf frühere stärkere Vergletscherung hin, andererseits muß nach Kohlenfunden, die unter 85" in einer Dicke von 0,3 — 2,1 m gemacht sind, auf ein früher erheblich milderes Klima ge- 530 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 34 schlössen werden. Ein meteorologisches Rätsel ist bis jetzt, daß Shackleton an der Eisbarriere und auf dem Hocliplateau etwa gleiche Tem- peraturen gefunden hat trotz eines Höhenunter- schiedes von 3000 m, der sonst eine Temperatur- abnahme von 15 — 20" im Gefolge hat; man wird hierüber und über die immer wieder erwähnten Südstürme, die bei manchen außerordentliches Erstaunen hervorgerufen haben, genauere Berichte abwarten müssen. Prof. David aus Sidney und zwei andere Herren machten gleichzeitig mit Shackleton's großer Expedition eine Nebenexpedi- tion in entgegengesetzter Richtung, die eine halb so weite Strecke zurücklegte, sonst aber auch höchst erfolgreich war. Sie gingen von Hut Point, dem gemeinsamen Hauptquartier, zuerst nach NNW entlang dem Ostrande von Süd-Viktorialand, erstiegen dann das Plateau und erreichten in nord- westlichem Marsch am 16. Januar 1909 ihr Ziel, den magnetischen Südpol unter 72" 25' s. Br. und 154" ö. L. Wir können dieser Nebenexpedition zu doppeltem Erfolge Glück wünschen, sie hat nicht nur den magnetischen Südpol gefunden, sondern auch den Zusammenhang des Eisplateaus von Süd-Viktorialand mit Wilkesland fast zur Ge- wißheit gemacht. Nun, wo der magnetische Süd- pol gefunden, besteht die Möglichkeit, durch längere gleichzeitige Beobachtungen an Nordpol und Südpol den Ursachen des rätselhaften Erd- magnetismus mehr als bisher auf die Spur zu kommen. Wir schließen diesen Bericht über Shackleton's Südpolarexpedition mit einer Be- merkung über die Eisstrukturverhältnisse des Süd- polargebiets. Shackleton und Prof. David stimmen darin überein, daß die Eisberge Schneeberge sind und die Eisbarriere eine Schneebarriere ist, inso- fern als das Eis nicht von Gletschern gebildet ist, sondern von Meereis. Schichten von Schnee haben sich schneller aufeinander gelagert als die Auf- lösung von unten erfolgte. Eine Photographie der Vorderseite der Barriere zeigt deutlich, daß ihr Material eine größere Ähnlichkeit hat mit Eis, das aus zusammengekittetem, schichtenförmigem Schnee besteht, als mit Gletschereis. Es ist weiter zu berichten von drei anderen Polarexpeditionen, die im Gange oder in Vorbe- reitung sind. Am 7. Dezember 1908 hat die zweite französische antarktische Expedition von Dr. Charcot Punta Arenas in Südamerika ver- lassen und die Fahrt nach dem südlichen Eismeer angetreten. Die nächsten Nachrichten sind erst nach Abschluß der Expedition, frühestens im März 19 10, zu erwarten. Dänemark schickt im Sommer 1909 eine Expedition aus zur Bergung der Leichen Dr. Mylius Erichsens und seiner beiden Gefährten und zur Auffindung der am Danmark-Fjord zu- rückgelassenen Sammlungen. Den ursprünglichen Plan Nansen's, von der Beringstraße aus sich im Eise nach dem Nordpol treiben zu lassen, nimmt Kapitän Amundsen auf, der durch die Nord- westpassage berühmt gewordene Polarforscher. Amundsen will mit der umgebauten Fram, Nansen's Schiff auf seiner großen Reise 1893 — 1896, An- fang 1910 nach der Beringstraße fahren und im August von der Barrowspitze , Nordamerikas nördlichstem Festlandpunkt, nach Norden vor- dringen. Amundsen erwartet von der Strömung, die nach den Erfahrungen der Jeannette nach Nordwesten führt, getrieben in 4 — 5 Jahren das unbekannte Becken des Nordpolarmeeres zu durch- fahren. Das Schiff soll Proviant auf 7 Jahre mit- führen. Amundsen sieht seine Hauptaufgabe nicht darin, den Nordpol zu erreichen, sondern will vor allem die Bodenverhältnisse und die Ozeanographie des Polarmeeres wissenschaftlich untersuchen. Amundsen hatte daran gedacht, zum Ziehen der Schlitten Eisbären statt der üb- lichen Eskimohunde zu verwenden; da aber die Abrichtung so lange Zeit in Anspruch nimmt, daß man eine Entwöhnung vom arktischen Klima befürchten muß, rechnet er damit, schließlich doch wieder Hunde zu gebrauchen. Auf den von schwedischer Seite gemachten Vorwurf, Norwegen erhebe Ansprüche auf Spitzbergen, obgleich es wissenschaftlich nichts zur Erforschung getan, son- dern es nur wirtschaftlich ausgebeutet habe, wird eine norwegische Expedition nach Spitzbergen geplant. Gunnar Isachsen, Teilnehmer der Sverdrup'schen Fram-Expedition und der For- schungen des Fürsten von Monaco in Nordwest- spitzbergen 1906/07, soll in den Jahren 1909 und 1910 in erster Linie eine trigonometrische und photogrammetrische Vermessung vom nordwest- lichen Teil der Inseln vornehmen, aber auch gleichzeitig das Innere topographisch und geo- logisch erforschen. Durch Klima und Fanatismus der Bewohner ist noch immer Arabien der umfangreichste zu- sammenhängende Landstrich, welcher der Er- forschung harrt. Jetzt will G. W. Bury mehr im Süden und Prof. A. M u s i 1 aus Wien mehr im Norden arbeiten. Bury und ein Begleiter wollen östlich Aden landen, nach dem mitten in Arabien liegenden Riad und von dort auf der vermuteten Karawanenstraße Mekka-Oman nach Maskat. Gelingt dies nicht, so wollen sie nach dem Persischen Golf, dem Roten Meer oder Hadramaut durchbrechen. Musil ist bereits unter- wegs durch den landeinwärts von Koweit zwischen Mesopotamien, dem Persischen Golf und der Hedschasbahn liegenden , wenig bekannten Teil der nordarabischen Wüste. Zu seinen Aufgaben gehören topographische Aufnahmen, archäologische und ethnographische Studien und das Kopieren von Inschriften. Merzbacher gibt in einem Brief aus Tasch- kent vom 28. Dezember 1908 ^) einen vorläufigen Bericht über seine neue Tian-schan- Expedi- tion. Dieselbe war 1907 und namentlich 1908 sehr erfolgreich, viele Profile wurden aufgenommen, geologische Sammlungen angelegt, Photograpiiien und meteorologische Aufzeichnungen gemacht. ') Februarheft von Peterm. MiU. 1909. N. F. VIII. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 531 Vom östlichen Tian-schan heißt es: „Tektonisch lehrreiche Erscheinungen bieten sich dort in ge- drängter Folge, und für das Studium der Phasen der einstigen Vergletscherung zeigen sich Auf- schlüsse, in denen man wie in einem aufge- schlagenen Buche zu lesen vermag." Ende Ok- tober 1908 trat ein 18 Stunden dauernder Schnee- sturm ein, ein dichter, gleichmäßiger Schnee- mantel verhüllte nun die Gebirge bis zur Tal- sohle herab und gebot Feierabend. Von Frühjahr 1906 bis Oktober 1908 hat Stein den Lob-nor, Nan-schan, das westliche Kansu, die Turfan-Oase, das südliche Vorland des Tian-schan, Chotan und das Gebiet zwischen Kuen-lun und Karakorum bereist. Stein hat dabei nicht nur alte Kulturstätten untersucht, sondern auch Flußläufe und Gebirgszüge aufgenommen und die Veränderungen festgestellt, welche die Erdoberfläche in jenem durch klimatische Ver- änderungen ausgezeichneten Gebiete im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat. Im nordwestlichen Himalaya setzte im Sommer 190S das amerikanische Ehepaar Work- man seine Gletscherforschungen fort, 1909 wollen Longstaff und Neve im Himalaya Gletscher- forschungen und Höhenbesteigungen ausführen und der Herzog der Abruzzen macht von März bis September 1909 eine Himalayaexpedition mit den auf dem Ruwenzori bewährten P'ührern; der Herzog will die Besteigung der höchsten Berg- spitze, des noch nie erklommenen Mount Everest, versuchen. Von den deutschen Kolonien wurde 1908 Neu-Mecklenburg durch Sapper gründlich erforscht und Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg plant eine Expedition in das süd- liche Kamerungebiet. In seinem am 8. Mai 1909 in der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin gehaltenen Vortrage wies Sapper hin auf die außerordentlichen Hebungen und Senkungen, denen Neu-Mecklenburg unterworfen war. Die aus Diorit, Syenit und Granit gebildeten Inseln senkten sich unter 2000 — 3000 m, hierauf setzten sich Kalke, Sandsteine und Mergel ab — Sapper stellte Nummuliten der älteren Tertiärzeit fest — dann fand eine Erhebung und Explosionen effu- siven Charakters statt, die hierbei gebildeten Andesitbergzüge wurden denudiert, worauf eine gewaltige Senkung eintrat: in 1200 m Höhe konnte Sapper Foraminiferenschichten der Jetztzeit fest- stellen, die in einer Tiefe von 2000 — 5000 m ge- bildet sind. Mit der letzten riesigen Hebung war eine so mächtige Faltung verbunden, daß manche Schichten geradezu senkrecht stehen, freilich hat die Erosion viel wieder weggeschafft. Haupt- eruptionzeit war das jüngere Tertiär, doch muß man auch heute noch jederzeit auf vulkanische Erscheinungen gefaßt sein. Fast überall zeigt sich eine tiefe und fruchtbare Humusschicht. Mächtige Korallenkalke kommen bis zu einer Höhe von 1200 m vor, während die Küste Korallen teils gehoben, teils im Meeresspiegel aufweist. Infolge vielen Regens — nur in den Kalkgegenden ist Wasser sehr knapp, auch finden sich richtige, mehrere hundert IVIeter tiefe Dohnen — gibt es neben einigen Savannen sehr viel Wald mit einem durch Rotang unangenehmen Dickicht. Krokodile und Haifische machen unter Umständen das Baden lebensgefährlich. Betreffs der Verkchrslage wies Sapper darauf hin, daß Neu-Mecklenburg einmal in der Mitte der Straße Ostasien - Ostaustralien liegen wird. Kopra, Kautschuk, Perlmutter werden ausgeführt, der Anbau von Baumwolle geht zurück und mit Trepang ist Raubbau getrieben worden. Eine sonst abbauwürdige Braunkohle ist gefunden, aber die örtlichen Verhältnisse: steil in die Erde gehendes Flöz, ein naher Fluß, Ton im Hangen- den und Liegenden, so daß alles rutscht, machen die Ausnutzung höchst fragwürdig. Sapper hält Neu-Mecklenburg für wenig geeignet für Vieh- zucht und sieht die nächste Zukunft dieses deut- schen Besitzes in einer Ackerbaukolonie an der Küste, wobei freilich die Arbeiternot das große Fragezeichen ist, denn geradezu furchtbar ist der Rückgang der Eingebornenzahl im Süden der Insel, wo Sapper Dörfer mit 3, 4 oder 5 Be- wohnern gefunden hat, im Norden ist die Be- völkerungsfrage günstiger. — Nach den schönen Erfolgen der Zentralafrika-Expedition des Herzogs Adolf Friedrich zu Mecklenburg in den Jahren 1907 — 1908 — die Ausstellung der Sammlungen am Zoologischen Garten zeigte in höchst lehr- reicher Weise die vielen sehr verschiedenen Arbeitsgebiete eines solchen Unternehmens — können wir nur wünschen, daß der Herzog die geplante Südkamerun-Expedition ebenso glücklich leiten möge. Wertvolle Mitteilungen machte W o e i k o w ^) über den Aralsee nach den neuesten For- schungen von Berg. Der See stand in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ziemlich hoch, nahm dann bis 1880 ab und ist von i88o bis 1908 um 3 m gestiegen; bewohnte und be- baute Flächenstücke mußten verlassen werden, die Trace der Bahn Orenburg- Taschkent mußte nach Norden verlegt werden. Da der Aral außer im Westen flache Ufer hat und das Wasser in der Nähe der Ufer seicht ist — der ganze See ist nicht tief, nur im Westen findet sich eine bis 60 m hinabgehende tiefe Rinne — so ist mit jedem Steigen und Fallen des Wassers eine be- deutende Änderung der Seefläche verbunden. Die Wassermenge betrug 1908 20 "/o mehr als 1880. Andere Seen im Norden, Nordosten und Osten steigen auch seit 15 — 20 Jahren. Sehr wichtig für die ganze Frage sind die Regenbeobachtungen in Barnaul am oberen Ob seit 1838. Die Menge der Niederschläge nahm ab bis 1868, stieg dann rasch bis 1895 und steht seitdem hoch. Wir haben hier jedenfalls eine großartige Klima- schwankung, ist sie periodisch, so kann die Periode nicht früher als am Ende des 20. Jahrhunderts ') Peterra. Min. 190g Aprilheft. 53^ Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 34 festgestellt werden , d. h. nach Ablauf zweier Perioden von Maximum zu Maximum. Jedenfalls wird die Periode länger sein als die Brückner'sche 35 jährige und wenigstens 6o Jahre lang sein. Noch vor kurzer Zeit glaubte man allgemein an die fortschreitende Austrocknung Zentralasiens. Solche Vorstellungen sind jetzt veraltet. Zu der großen Frage der Klimaschwankungen, die u. a. die Reibisch-Simroth'sche Pendulations- theorie gezeitigt hat — ein Hin- und Herschwanken von Nordpol und Südpol zum Äquator und vom Äquator — hat soeben Eckart „Klimaprobleme der Vergangenheit und Gegenwart" veröffentlicht. Das Buch enthält Hypothesen über die verschie- denen Klimaschwankungen, namentlich interessant über die Tertiärzeit, für die man früher überall gleich warmes Klima annahm, wobei die Eigen- wärme der Erde eine merkwürdige Rolle spielte. Eckart nimmt Schwankungen der Pole an durch eine verschiedene Verteilung der Massen. In der Meteorologie studiert man immer mehr die oberen Luftschichten mittels Registrier- ballons und hoch gelegener Stationen. So baut das Deutsche Reich auf dem Pik von Teneriffa, der klassischen Beobachtungsstelle für Passat und Antipassat, ein Observatorium in einer Höhe von 2400 m und der kaukasische Alpenklub will auf dem Elbrus 4000 m über dem Meere eine Station bauen. Auf der internationalen Konferenz für wissenschaftliche Luftschiffahrt zu Monaco stellte Aßmann die Forderung auf, ebenso wie für die Erdoberfläche täglich VVetterkarten für die Höhen von 1000, 2000 und 3C00 m zu entwerfen, um hierdurch Aufschluß über Luftdruck und Tem- peratur zu gleicher Zeit und in gleicher Höhen- lage über große Gebiete zu erhalten. Bei allen Aufstiegen, bei denen Registrierballons in große Höhen eindrangen, verzeichnen die Instrumente bis zu einer Höhe von 9000 — 13000 m je nach der Wetterlage eine Abnahme der Temperatur. Nach Überschreiten jener Höhe tritt sog. obere Inversion ein — im Gegensatz zu Inversionen in den unteren Luftschichten — die Temperatur bleibt nahezu konstant oder steigt sogar bis zu einem Maximalwert an. Man muß also zwei Schichten der Atmosphäre von wesentlich ver- schiedenem Verhalten annehmen. In der unteren gibt es Wolkenbildung, Wirbel, auf- und ab- steigende Luftbewegungen, also vertikale Kom- ponenten der Bewegung, eine mit der Höhe ab- nehmende Temperatur. Die obere Schicht hat bis zu sehr bedeutenden Höhen nahezu konstante Temperatur, keine Wolken, keine vertikale Be- wegungskomponente und gleichmäßige, fast genau westöstliche Bewegung ; sie ist wirbelfrei, abge- sehen von den gegen die Pole auftretenden zwei großen Wirbeln. Diese beiden meteorologischen Tatsachen der oberen Inversion und der west- östlichen Bewegung der obersten Luftschichten sind bestätigt durch den höchsten bisher aufge- stiegenen Registrierballon und durch die meteoro- logische Expedition des Sommers 1908 nach Deutsch-Ostafrika. Ende 1908 stieg bei Brüssel ein Registrierballon auf und erreichte die noch nie dagewesene Höhe von 29 km. Während der Luftdruck stetig abgenommen hatte und schließ- lich nur noch 10 mm betrug, hatte die Tempe- ratur abgenommen bis — 67,6" bei 13 km. Dann trat die obere Inversion ein, — 62,5" bei 20 km und — 63,4" bei 29 km. Jene soeben erwähnte meteorologische Expedition wurde vom Kg!. Preuß. Äronautischen Observatorium in Lindenberg im Juni 1908 an die Küste und ins Innere von Ostafrika geschickt, um Studien über die meteoro- logischen Verhältnisse in den höheren atmosphä- rischen Schichten zu unternehmen. Bersonfand am Ostufer des Viktoriasees 4 Windsysteme über- einander, stellte durch Registrierballons — ']']" in 17000 m Höhe fest und beobachtete in den größten Höhen, meist wohl erst über 1 5 000 m, einen Wind mit sehr starker westlicher Kom- ponente, mehrfach rein aus West blasend. Bei aller Größe des Unglücks, dem Verlust von 160000 Menschen, der Zerstörung von Kultur- anlagen, Dörfern und Städten kann uns das Erd- beben von Messina nicht in Erstaunen versetzen, sehen wir doch seit lange in Kalabrien ein klassi- sches Land der Erdbeben, und das südwestlichste Kalabrien und die gegenüberliegende Seite der Meerenge waren der Schauplatz jener Katastrophe. So groß die Verluste an Leben und Vermögen sind, so klein sind die Veränderungen, welche die Erdoberfläche erlitten hat. Wenn wir schon das Erdbeben von Messina als tektonisches, nicht als vulkanisches anzusprechen haben, so ist das um so mehr der Fall bei den vogtländischen Beben im Oktober und November 1908. Ditzel gibt im 2. Heft des Jahrgangs 1909 des Geographischen Anzeigers auf Grund des gesammelten Materials eine Darstellung des ganzen Bebens und bringt dasselbe in Zusammenhang mit dem ganzen Bau des deutschen Mittelgebirges. Die Mehrzahl der von den Erschütterungen betroffenen Orte liegt nördlich von der Egermulde und dem Fichtel- gebirge und die Erdbebenpunkte häufen sich im Elstergebirge und seiner nächsten Umgebung. Daraus ist zu folgern, daß die Ursache der Vogt- ländischen Beben höchstwahrscheinlich in Lage- rungsstörungen von Gebirgsteilen des Erzgebirges, besonders in der Nähe des Elstergebirges liegt. Aus der Verbreitung der Beben läßt sich ferner schließen, daß die Bewegung der Schollenteile vorwiegend nach nördlichen Richtungen erfolgt. Aus den Bebenpunkten leitet Ditzel ab eine Hauptbebenachse: AschNeustädtel N 39" O, eine erste Nebenachse: Eger-Ölsnitz N 21" W und eine zweite Nebenachse: Remtengrün-Zwickau N 18" O. Eine ganze Reihe von Bebenlinien laufen diesen drei Achsen parallel. Die Beobachtungen lassen drei Hauptstoßrichtungen erkennen, die wichtigste von Südwest nach Nordost, die beiden anderen erstrecken sich von Südost nach Nordwest, bzw. von SSW nach NNO. Bezeichnend ist, daß mit N. F. VIII. Nr. 34 Natur wissenschaftliche Wochenschrift. 533 .Ausnahme von Asch alle Beobachtuiij^cn darin übereinstimmen, daß die PJrdstöße von Süden nach Norden gingen. Asch gibt dagegen zweimal ausdrücklich den umgekehrten Verlauf an. Ditzel schließt daraus, daß der Ausgangsjurnkt (Kpi- zcntrum) der Erdstöriingen nördlich von Ascli, dagegen südlich von den übrigen Hebcnjiunklen liegt. Weiter ist von Wichtigkeit, daß schon bei den Oktoberbeben aus einzelnen Orten Berichte mit zeitlich widersprechenden Richlungsangaben vorliegen, bezeichnenderweise gerade von dort, wo die Erdstöße am heftigsten waren. Ditzel nimmt an, daß diese Punkte an den Schnitt- punkten der Bebenachsen liegen, wo die Bewegung ihren Sitz hat. Hier war die Erschütterung am stärksten, hier ein Wechsel der Stoßrichtung, hier eine Häufung der Beobachtungspunkte und der Zahl der Stöße, hier liegen die Herde der Er- schütterungen, die Epizentra: Adorf, Graslitz, Brambach. Die Ausgangspunkte scheinen sich bei den Novemberbeben nach Norden verschoben zu haben. Auch die Hauptachse läuft bei den Novemberbeben anders, mehr östlich, also fast rein in der Richtung des Erzgebirges. Von den drei Hauptrichtungen der deutschen Bruchlinien: / oberrheinisch, / niederrheinisch, ^^ hercynisch liegt das Vogtländer Schüttergebiet in dem Ge- birgswinkel, wo die hercynische und niederrheini- sche Bruchlinie sich schneiden. „Die Tatsache nun , daß die Bebenachsen der vogttändischen Erderschütterungen dieselbe Richtung haben wie die gebirgsgestaltenden Linien des deutschen Mittelgebirges, ist ein deutlicher Hinweis auf die tektonische Entstehungsart der letzten Beben so- wie ihren Zusammenhang mit dem Gebirgsbau und der Weiterbildung des Oberflächenbildes der sächsischen Lande. Aller Wahrscheinlichkeit nach sinkt das Urschiefergebiet von Brambach-Graslitz längs erzgebirgig (niederrheinisch) - hercynischer Bruchspalten nach Norden hin tiefer und setzt dadurch die Schollen der thüringisch -sächsischen Triasmulde in stärkere oder schwächere Be- wegung." Auf Grund umfangreichen Beobachtungs- materials gibt Frech eine bemerkenswerte Dar- stellung des Gebirgsbau es der Alpen,') die mehr- fach gegen die Decken- oder Überfaltungstheorie scharf Stellung nimmt. Von der Flyschzone sagt I'Vech, daß nach Beobachtungen von Geyer über Kreideentwicklungen der Nordalpen man ge- zwungen ist, an der alten Auffassung, daß die Nordkalkalpen ebenso wie die F""lysclizone auto- cht h on sind, festzuhalten. An einer anderen Stelle heißt es: „Im Zentrum des Oetztaler Massivs bei St. Martin am Schneeberg konnte ich Trias als eine z. t. eingefaltete Überlagerung des Urgebirges nachweisen. Dagegen hat noch niemand eine triadische Unterlage des schwimmenden Glimmer- ') Peterm. Milt. igoS Oktober-, November- und Dczcm- berhcft. Schiefers gesehen, und die schönsten Ent- würfe des Zeichenstifts vermögen die Kartenaufnahme und die Beobachtung der Natur nicht zu ersetzen." Die An- hänger der Deckentheorie sahen durch ihre Lehre außer anderen l^roblemen auch das alte Frage- zeichen der Bündner Schiefer beantwortet. F"rech macht darauf aufmerksam, daß sowohl Osten wie Westen der Alpen hinsichtlich Stratigraphie wie Kartenaufnahme besser erforscht sind als das in der Mitte gelegene Grenzgebiet und sich daher als Ausgangspunkt der l'^orschung besser eignen als die in stratigraphischer und tektonischer Be- ziehung kontroversen Bündner Schiefer. Eine Schlußbetrachtung enthält die Bemerkung: „Aller- dings wird die tiefgreifende Verschiedenheit des östlichen und westlichen Gebirgsbaues verschleiert, wenn z. B. in einer tektonischen Übersichtsskizze zwar jede sichere und jede hypothe- tische Überschiebung, aber kein ein- ziger der zweifellos vorhandenen Brüche eingezeichnet wird. Man wird doch immer noch die Faltung an Ort und Stelle, die Auto- chthonie als die Regel, die Überschiebung als die Ausnahme anzusehen haben, und zwar um so mehr, nachdem das provengalische Aus- gangsgebiet der ganzen Deckschollen - hypothese sich als normal gelagerte Schichten folge herausgestellt hat." Während die Vertreter der Deckentheorie mit besonderer F'reude von einem einheitlichen Bau des ganzen Alpengebirges sprachen und nur die Südalpen oder südöstHchen Kalkalpen als Dinariden von den Alpen absonderten, unterscheidet Frech Ostalpen und Schweizer Alpen und trennt die Ostalpen durch die Judikarien- und Gail- bruchlinie in nordöstliche und südöstliche Alpen, für ihn ist das Fehlen großer Systeme von Senkungsbrüchen im Westen ein unüberbrück- barer Unterschied zwischen dem Osten und Westen des Gebirges. Frech gibt zu, daß aus den durch verschiedene Vorgeschichte und verschiedenen Bauplan geschiedenen Gebirgsmassen die jüngere (miozäne) Faltung ein einheitliches Gebilde schuf und sogar in manchen Zügen dem inneren Bau einen einheitlichen Stempel aufdrückte, daß die Westalpen und die nordöstlichen Alpen durch das gemeinsame Band der nördlichen oder helvetischen Flyschzone umschlossen werden, aber wenn er auch schließlich noch den einheitlichen Stempel erwähnt, den die Eiszeit dem ganzen Gebirge äußerlich aufgedrückt hat, so treten doch für ihn die Verschiedenheiten der Hauptgebiete auch äußerlich überall zu sehr hervor. Wertvolle Mitteilungen über Schwerkraft- messungen machte Heck er in der Dezember- Fachsitzung der Berliner Gesellschaft für Erdkunde. Ein Bericht darüber ist in der Zeitschrift der Gesellschaft (1909, Nr. 6) erschienen. Nachdem V. Sterneck zuerst Pendel konstruiert hat, die brauchbar waren zur Messung der Schwerkraft, ist jetzt die Schwerkraft an 2000 Stellen der Erd- 534 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 34 Oberfläche bekannt. Nach seinen Beobachtungen am Himalaya und Kaukasus behauptete Pratt, daß unter den Gebirgen in der Erdkruste ein Massendefekt, an den Meeresküsten ein Über- schuß vorhanden sein müsse, was Helmert be- stätigte. So wurde Pratt's Hypothese vom iso- statischen Gleichgewicht aufgestellt. Die nicht nur bei Himalaya und Kaukasus, sondern auch bei ande- ren Gebirgen, z. B. den Alpen und dem Harz, ge- fundenen unterirdischen Massendefekte gelten aber nicht für die einzelnen Kämme, sondern nur für das Gebiet im ganzen, dabei muß man sich die Massendefekte nicht als Hohlräume, sondern als Dichtigkeitsverringerungen vorstellen, daß also die Unterlagen der Ebenen schwerer sind als die Unterlagen der Gebirge. Vom Harz entwarf man geradezu eine Karte mit Linien gleicher Schwere. Einen so großen Aufschwung die Schwere- messungen auf den Kontinenten in den letzten Jahrzehnten genommen haben, so wenig war bis- her auf den Ozeanen auf diesem Gebiete ge- arbeitet. Es ist das Verdienst Hecker 's,') zuerst Schwerkraftmessungen auf dem Meere vorge- nommen zu haben mit Hilfe eigens dazu von ihm konstruierter Apparate. Pratt's obenerwähnte Hypothese vom isostatischen Gleichgewicht be- stätigte sich auf der See : das geringere spezifische Gewicht des Seewassers wurde ausgeglichen durch größere Schweremassen am Boden der See. Während die Schwerkraft im Innern der Kon- tinente normal, an der Küste größer als normal ist, fand sie Hecker bei Beginn der Tiefsee kleiner als normal, über der Tiefsee normal. Von Krasnojarsk am Jenissei, dem nördlichsten Punkt der sibirischen Bahn, wollen nordameri- kanische Unternehmer zur Ausbeutung des Mineralreichtums der Tschuktschenhalbinsel eine Bahn nach der Beringstraße bauen, die einen 6o km langen Tunnel erhalten soll. Die russische Regierung ist bisher auf die Forderung der Unternehmer, welche die Bahn bauen wollen, aber gleichzeitig Bergwerkgerechtsame auf 24 km rechts und links der Bahn verlangen, nicht ein- gegangen. In China plant man den Bau einer chinesischen Zentralbahn, dieselbe soll von Norden nach Süden parallel der Jangtsebahn weiter im Westen laufen. Die panamerikanischen Bestrebungen der Vereinigten Staaten haben den Plan einer panamerikanischen Bahn ent- stehen lassen, die von Fort Churchill an der Hudsonbai oder von New York ausgehend durch den Kontinent von Norden nach Süden bis Buenos Aires geführt werden soll, möglichst alle amerikanischen Staaten berührend. In Australien trägt man sich mit dem Gedanken, eine Bahn entlang dem Überlandtelegraphen zu bauen. Im Verhältnis zu seiner Größe hat in neuester Zeit kein anderer Erdteil so viel Bahnen entstehen sehen wie Afrika. ') Vgl. O. Hecker, Bestimmung der Schwerkraft auf dem Indischen und Großen Ozean und an deren Küsten, sowie erdniagnetische Messungen. Berlin 1908, G. Reimer. Auf Veranlassung von Hans Meyer, dem tat- kräftigen Vorsitzenden der Kommission für die landeskundliche Erforschung der deutschen Kolonien, ging Weule, Direktor des Museums für Völker- kunde in Leipzig, 1906 nach Ostafrika, um in das Völkerchaos im Gebiet des ostafrikanischen Grabens etwas Ordnung zu bringen. Da dort aber gerade ein Aufstand ausgebrochen war, ging Weule nach dem Süden von Deutsch-Ostafrika, nach Lindi, von wo aus er die Bevölkerung im Lukuledital, Makondeplateau und Rovumatal studiert hat. Ende 1908 veröffentlichte Weule die Ergebnisse dieser ethnographischen Forschungs- reise.') Mit allen Mitteln moderner Wissenschaft ausgestattet, darunter Phonograph und Kinemato- graph, hat Weule den Neger, diesen Hauptfaktor der afrikanischen Kolonisation, so gründlich studiert wie wohl noch niemand, er hat nicht nur Sammlungen angelegt, sondern auch die wirt- schaftlichen, gesellschaftlichen, rechtlichen und staatlichen Verhältnisse, Sprache, Religion, Sagen aufgenommen, durch ihn lernen wir die ganze Denkungsweise des Negers kennen, sein Gemüts- leben, die eigenartigen Mannbarkeitsfeste, durch ihn erfahren wir, daß die Landbevölkerung er- heblich höher steht als die Stadtbevölkerung der Küste, der wirkliche Arbeit ein Greuel ist. Der Landbau des Negers ist Hackbau und die Hacke ist sein Universalinstrument , mit dem er den Boden lockert und reinigt, Aussaat und Ernte besorgt. Weule warnt eindringlich davor, im Hack- bau etwas Minderwertiges zu sehen. Unsere breiten mit dem Pfluge bearbeiteten Felder wären in Afrika unmöglich, da man dem Hauptfeind der afrikanischen Pflanzung, dem Unkraut nicht bei- kommen könnte; die mit dem Hackbau verbun- dene Beetkultur bezeichnet eine sehr hohe Wirt- schaftsstufe, nur erklärlich durch sehr lange Dauer der Entwicklung. Einen interessanten Aufsatz über Lehmesser hat Winter'-) veröffentlicht. Schon Alex. v. Humboldt berichtete über das Lehmessen der Ottomaken in der Mission Uruana am Orinoko. „Diese Rothäute", schreibt Winter, „verzehren das ganze Jahr über, namentlich aber während der Regen- zeit, wo der hohe Wasserstand des Flusses ihnen den Fischfang verwehrt, beträchtliche Mengen eines fet- ten, gelbgrauen, mitinfusorienerde versetzten Lehms, der sich in eigenen Bänken am Flußufer findet. Diese Bänke werden im Sommer sorglich aufge- sucht und der Lehm auf seinen Geschmack ge- prüft, bevor man die Bänke in Angriff nimmt. Entspricht er den Anforderungen der Kenner- zunge, so formt man daraus Kugeln von 10 — 15 cm Durchmesser, brennt diese an Ort und Stelle bei schwachem Feuer, bis die Oberfläche eine rötliche Farbe annimmt, und schafft sie endlich nach der Mission, wo sie in den Hütten als Wintervorrat aufgestapelt werden. Beim Essen werden die ') Weule, Negerleben in Ostafrika. Leipzig, Brockhaus 1908. 196 Abbild, darunter 4 bunte Vollbilder und I Karte. -) Deutsche Kundschau für Geographie und Statistik, Dezember 190S. N. F. VIII. Nr. 34 Naturwis^-eiischaftliche Wochenschrift. 535 Kugeln wieder befeuchtet und langsam mit den Zähnen zerschabt. Weniger Umstände machen die indianischen Töpferinnen am Magdalenenflusse mit diesem Leibgericht: nachdem sie ihren Ton tüchtig durchgeknetet haben, führen sie mit dem gekrümmten Zeigefinger ansehnliche Portionen desselben zum Munde, ganz wie bei uns der Schlächter VVurstfüUsel zu kosten pflegt. Über- haupt ist das Lehmessen unter den südameri- kanischen Indianerstämmen ziemlich verbreitet. In Westindien sind ausschließlich die Neger Lehm- esser. Die eßbare Erde, ein gelbroter Lehm von süßlichem Geschmack, führt hier den Namen Kaü und bildet auf Martinique seit lange einen stehenden Artikel des Viktualienmarkts, während sie auf Kuba früher streng verpönt war, weil man ihr die Entstehung der Malariachlorose bei den Sklaven zur Last legte. Übrigens sollen die Neger die Sitte des Lehmessens aus Afrika mitgebracht haben, wo angeblich eine tiefgelbe Tonart unter dem Namen Kowack dem gleichen Zwecke dient. Auf Java führt eine ähnliche gelbe Tonart den Namen Tanah ambo und wird in der Gestalt von Zimtrohr namentlich in Samarang zu Markt ge- bracht. China kennt für den täglichen Gebrauch Schi-nao, eine weiße, meerschaumähnliche, aber ungemein leichte Masse, die aus kieselsaurer Ton- erde besteht und von den Chinesen, die ziemliche Stücke desselben zum Nachtisch kauen, als eine Art Panazee geschätzt wird, deren regelmäßiger Genuß das Leben verlängert. In Persien ist das Lehmessen fast noch verbreiterter als in China und zwar kaut man hier besonders den Ghel- Mahallat, feine, fettige Tonerde von blendend weißer Farbe, die vom armenischen Hochland kommt und auf den Bazaren aller persischen Städte feilgeboten wird. Europa hat leidenschaft- liche Lehmesser in Steiermark und Oberitalien, wo besonders im Gebiet von Treviso ein fester, reichlich mit Infusorienerde gemengter Ton ge- gessen wird." Werner ') hat auf der Hansa- Vulkaninsel beobachtet, daß dort eine mergelartige Erde als Leckerei in kleinen Mengen verzehrt wird. Winter erklärt den von den Lehmessern behaup- teten „Geschmack" als Tastempfindungen. Die Ursache des Lehmessens erklärt Humboldt durch die Bemerkung, das Lehmessen sei namentlich bei den Bewohnern der heißen Zone üblich. Je größer die Hitze, um so mehr ist der Mensch aller Arbeit abgeneigt und um so weniger nahrungsbedürftig. Für den Tropenbevvohner fällt daher der eigentliche Genuß des Essens weg. Wollte er nichtsdestoweniger den Genuß durch fc^inführung wirklicher Nahrungsmittel erzwingen, so würde er sehr leicht die Maschine überheizen und krank werden. Diese Gefahr wird nun beim Lehmessen vollständig vermieden, ohne daß der Genuß wesentlich beeinträchtigt würde, da die ') Pelerm. Mitt. 1909 Aprilhefl: Werner, Im westlichen Finistcrregebirge und an der Nordküstc von Deutsch -Neu- guinea. Erden sowohl das Vergnügen des Kauens und Schlingens wie auch das angenehme Gefühl der Sättigung gewähren und schließlich den Körper wieder verlassen, ohne störenden Einfluß auf die Blutmischung oder die Nerven ausgeübt zu haben. Aus dem Nachlasse Richthofe n 's sind bei Dietrich Reimer in Berlin Vorlesungen über allgemeine Siedlungs- und Verkehrsgeogra- phie von Schlüter herausgegeben worden. Das Buch ist ein glänzender Beweis dafür, daß Richthofen nicht bloß physische Geographie, insonderheit Morphologie, trieb, sondern sich auch eingehend mit der Seite der Geographie beschäftigte, die Ratzel Anthropogeographie genannt hat. Das Buch enthält mehr als der Titel vermuten läßt. Richthofen gibt uns seine Anschauungen über die Beziehungen zwischen Erde und Menschenge- schlecht. Wesentlich ist dabei sein durch die Beobachtung der Erscheinungen gewonnener Standpunkt, daß nicht die Natur allein ent- scheidend ist für die Entwicklung der Menschheit an den verschiedenen Stellen der Erdoberfläche, sondern daß der Mensch selbst seines Glückes Schmied ist, denn die gleichen natürlichen Ge- gebenheiten haben durchaus nicht immer die gleichen Folgen für die menschliche Entwicklung gezeitigt. Vor uns liegt nicht das Buch eines Stubengelehrten, sondern die Arbeit eines Mannes, der einen großen Teil der Erde selber mit eigenen scharfen Augen gesehen hat und dann auf der Höhe seines wissenschaftlichen Schaffens der über- aus interessanten Wechselwirkung zwischen Land und Bewohnern Ausdruck verleiht. Und nicht zuletzt bewundern wir Richthofen auch hier als gründlichen Kenner Chinas; vermöge seiner ge- nauen Bekanntschaft mit dem ganz anders ge- arteten ostasiatischen Kulturkreise erweiterte und berichtigte er die anthropogeographischen Vor- stellungen, die wir Europäer sonst haben. Mag es sich um äußere Rassenmerkmale, um die von keinem anderen Volke erreichte Akklimatisations- fähigkeit, um die außerordentliche religiöse Duld- samkeit, um die Schilderung der chinesischen Landwirtschaft, welche fast nur menschliche Kraft, fast nur menschlichen Dünger verwendet, welche auch beim Ackerbau die einzelne Pflanze mit Wasser und Nahrung planmäßig versorgt, mag es sich um die eigenartigen Mittel des Verkehrs auf dem Lande oder in Südchina auf dem Wasser handeln — es werden Bäche befahren, die in jedem anderen Lande für unschift'bar gelten würden, für sie werden Fahrzeuge mit elastischem, biegsamem Boden gebaut — immer packt uns Richthofen durch seine vollkommene Beherrschung des chinesischen Landes und Volkes. Der erste Teil des Buches enthält auf S. 134 — 142 eine vorzügliche Schilderung der Nomaden, namentlich Zentralasiens , welche letzteren in keinerlei Zwischenstufen gegen die Chinesen vorkommen, da sich beide wie Wasser und Öl meiden. Das Buch, in überaus einfachem, klarem Stil ge- schrieben, empfiehlt sich übrigens als Stoffsamm- 536 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vni. Nr. 34 lung für Schüleraufsätze aus dem anthropogeo- graphischen Gebiete in hervorragendem Maße. Der zu Pfingsten d. J. in Lübeck abgehaltene deutsche Geographentag darf als gelungen angesehen werden wegen starken Besuchs, schöner Vorträge, namentlich für die Schulgeographie wichtiger Beschlüsse und durch die Ausflüge in die Umgegend Lübecks, welche an Glazialerschei- nungen reich ist. Durch den Tod verlor die geographische Welt kurz vor Pfingsten Neumayer, der 18S9 — 1905 Vorsitzender des Zentralausschusses des deutschen Geographentages gewesen ist. Nach vollendetem Studium war er im Alter von 24 Jahren als Matrose nach Australien gegangen und war dort nicht nur Direktor eines Observatoriums geworden, sondern hat sich auch um die Erforschung des australischen Kontinents verdient gemacht. Nach Deutschland zurückgekehrt, richtete er in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Hamburger Seewarte ein, die von ihm in den folgenden Jahrzehnten zu einem wissenschaftlichen Institut ersten Ranges gemacht wurde. 1871 gründete Neumayer mit Bastian zusammen die deutsch -afrikanische Gesellschaft. Rastlos trieb er zur Erforschung des Nord- und namentlich des Südpols, nicht zuletzt veranlaßt durch seine erd- magnetischen Studien, deren Ergebnisse in dem physikalischen Atlas von Berghaus niedergelegt sind. Besondere Erwähnung verdient an dieser Stelle die von ihm herausgegebene Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen. Ein gütiges Geschick hat es ihn erleben lassen, daß sein ceterum censeo, die Erforschung des Südpols, ein Gegenstand des Wettbewerbs unter den ersten Völkern der Erde geworden ist. Prof. Böttcher. Kleinere Mitteilungen. Die Infibulation bei Griechen und Römern. — Beim Durchsehen neuerer Literatur fiel mir in den „Anatomischen Heften", von Merkel und Bonnet herausgegeben, im XIX. Bd. eine Abhand- lung in die Hände, die obigen Titel trägt und Ludwig Stieda in Königsberg i. Pr. zum Autor hat. Auf 66 Seiten mit zahlreichen Abbildungen bietet der Verfasser so viel eigenartig Interessantes, daß es sich verlohnt, einen Auszug seiner Arbeit wiederzugeben. Zunächst stellt L. Stieda die Bedeutung des Wortes ,, Infibulation" sicher. Es zeigt sich, daß die Philologen in dieser Beziehung den Medizinern überlegen sind, denn sie bezeichnen mit ,, Infibu- lation" jeden künstlichen Verschluß der Vorhaut des männlichen Gliedes. Die Mediziner verstanden dagegen unter „Infibulation" nur den Verschluß mittels eines Ringes. Wie der Autor nun sehr scharfsinnig nachweist, gehört unter den genannten Begriff zweierlei Hervorbringen der sogenannten Phimose. Phimose — griechisch (pifioaig — bedeutet einen pathologischen Fehler des Penis, der darin besteht, daß die Vorhaut — das praeputium — nicht über die Eichel — glans penis — zurück- zustreifen geht. Bei Knaben ist die Phimose nichts Seltenes und bei den orientalischen Männern kommt sie so häufig vor, daß die Beschneidung — circumcisio — bei ihnen zu einer Volkssitte geworden ist. Der Grund ist darin gegeben, daß eine Phimose ihrem unglücklichen Träger alle ehe- lichen Freuden vorenthält, mindestens aber deren Genuß zu einem sehr schmerzlichen gestaltet, da eine Schwellung des Gliedes auf großen Wider- stand stößt. Dagegen läßt sich das Präputium beim NichtOrientalen sehr leicht zurückstreifen, was auf natürlichem Wege durch die Schwellung — Erektion — bewirkt wird. Der Verfasser führt nun die zwei Arten der künstlichen Phimose vor Augen. Die erste be- steht darin, daß man durch das Präputium einen silbernen Ring durchzieht. Der Vorgang bei die- ser Operation spielt sich so ab, daß zunächst mit einer Nadel das vorgezogene Präputium des nicht erigierten Penis an zwei gegenüberliegenden Stellen durchbohrt wird. Dann zieht man einen Faden durch, der so lange in den zwei kleinen Öffnungen verbleibt, bis die winzigen Wunden verheilt sind; erst dann wird die „Fibula" — der erwähnte sil- berne Ring eingefügt. Eigentlich heißt Fibula = Heftnadel, Gewandnadel, aber kein Mensch wird es für wahrscheinlich halten, daß die antiken Männer wirklich Heftnadeln am Gliede getragen haben, zumal die Schriftsteller der damaligen Zeit nur immer von Ringen sprechen. Aber auch bildliche Darstellungen diesbezüglicher Art geben Beweise für die Richtigkeit der Ansicht des Autors, daß unter Fibula nur ein Ring zu verstehen ist. Dieser Ring konnte nun nur so durch die Vor- haut gezogen werden, daß er ursprünglich noch ein Draht war, und erst als die Operation beendet war, seine freien Enden vor der Eichel zusammen- geschweißt oder besser gesagt verlötet wurden. Was war aber der Grund für dieses eigenartige und nicht sofort verständliche Verfahren? Darüber geben uns die zeitgenössischen Schriftsteller hin- reichende Auskunft. Es sollte zunächst die Mög- lichkeit des geschlechtlichen Verkehres für unreife Bürschchen ausgeschlossen werden. Das geht be- sonders aus dem Worte „refibulare" und den diesbezüglichen Andeutungen derrömischen Autoren hervor. „Refibulare" hieß, den Ring wieder heraus- nehmen; dadurch wurde die Rückziehung des Präputiums über die Eichel, die Schwellbarkeit des ganzen Gliedes und damit der Coitus ermög- licht. Man tat dies, wenn ein junger Mann, an dem man in früheren Jahren die Infibulation voll- zogen hatte, so alt geworden war, daß man nun N. F. VIII. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 537 keine nachteiligen Folgen des Geschlechtsgenusses für seine Gesundheit zu befürchten hatte. Außer- dem wurden aber auch Sänger „verringelt", was allerdings in einer falschen Ansicht begründet war. Denn daß die Knthaltsamkeit einen so großen Finfluß auf die Stimme haben sollte, daß — wie man damals glaubte — der nicht enthalt- same Sänger dieselbe verliere, erscheint mehr als zweifelhaft. Auch dürfte es durchaus nicht un- wahrscheinlich sein, daß die Infibulierten sich beim nächsten Schmied gegebenenfalls ihr „Tugend- ringlein" durchzwicken ließen und dann — rebus perfectis — wieder einen neuen Ring erhielten. Stieda meint, daß auf letzteren Fall sich ebenfalls das „refibulare" = Wiedereinsetzen beziehen könne. Die ganze, eben beschriebene erste Art der künstlichen Phimose kann man nach dem Vor- gange des Verfassers die unvollständige oder dauernde nennen. Unvollständig war sie deshalb, weil das Harnen möglich war; damit konnte ihre Dauer beliebig festgesetzt werden, eine Lebens- gefahr für das betreffende Individuum bestand natürlich nicht. Stieda bespricht nun die zweite, vollständige oder vorübergehende Phimose. Sie bestand darin, daß die Vorhaut bei schlaffem Gliede nach vorne über die glans penis gezogen wurde, worauf man ein Band um sie schlang, deren Enden verknüpft wurden. So schaffte man einen vollständigen Ver- schluß, durch den die Eichel völlig bedeckt wurde. Aber er war nur von kurzer Dauer, da ein Leeren der Blase unmöglich war. Den richtigen Zweck dieser Infibulationsart erfaßt zu haben ist Stieda's Verdienst. Durch zwingende Vernunftsgründe weist er vor allem die irrige Anschauung zurück, daß diese sogenannte „Ligatura praeputii" mit der Enthaltsamkeit in irgendeinem Zusammenhange stehe. Dies kann schon aus dem Grunde nicht sein, weil aus dem oben angeführten Grunde der Verschluß kein dauernder ist. Aber auch die zeitgenössischen Schriftsteller lassen in ihren Werken häufig durchblicken, daß die „Ligatura praeputii" keine Bedeutung für die Einhaltung der Enthaltsamkeit habe. Besonders deutlich ist der Satz in der Satire Juv. VI. 73. „Solvitur his magno comoedi fibula", d. h. „Es löst sich die Fibula der Schauspieler um viel Geld." Wessen Geld? Stieda antwortet darauf ganz richtig: ,,das der römischen Damen". Und in derselben Satire heißt es in der Übersetzung: Wenn eine Dame sich des Gesanges erfreut, so hält keines Sängers Fibula, der seine Stimme den Prätoren verkauft hat, lange stand. Noch andere Zitate könnte man benützen, aus denen mit hinlänglicher Deutlich- keit hervorgeht, daß die Fibula in dem Falle ein Bändchen war, und daß der durch sie hervorge- brachte Verschluß nur auf Stunden bestehen konnte. Fast humoristisch berührt es einen, wenn man nun liest, daß Stieda die zweite Art der künst- lichen Phimose als eine — Anstandssitte erklärt. Und gleichwohl bleibt nichts übrig, als dieser Ansicht beizupflichten. Die zahlreichen auf uns übcrkommetien Bilder aus jener Zeit zeigen uns, daß Ring- und Faustkämpfer, Athleten, Schau- spieler, Komiker, Tragöden und andere, kurz alle Männer, deren Beruf es mit sich brachte, sich nackt vor den Augen des Publikums zu bewegen, die ,, Ligatura praeputii" benützen. Und da stellt es sich nun heraus, daß der damalige Anstand es für unstatthaft hielt, die glans penis zu zeigen. Ein komischer Anstand fürwahr I Das ganze Glied zu entblößen, gilt für anständig, die Eichel jedoch muß verborgen seip Und so blieb denn natürlich den genannten Berufsklassen nichts an- deres übrig, als sich der Sitte der Zeit zu unter- werfen und falls ihnen nicht die natürliche Phimose zur Verfügung stand, künstlich eine solche herbei- zuführen. Bemerkt sei noch, daß einige dieser Leute sich mit der Ligatura praeputii nicht be- gnügten, sondern ihr Glied noch mittels der Enden des Bändchens am Gurt befestigten. Ja Faustkämpfer mit besonders langem Gliede scho- ben es nach Vornahme der Ligatur einfach hinter den Gürtel. Wir haben also gesehen , daß nur die erste, dauernde Art der Phimose wirklich am Geschlechts- verkehr hindern kann. Es entsteht nun die Frage, ob jemals der Versuch gemacht wurde, diese Tat- sache praktisch zu verwerten. Wirklich hat sich, wie Stieda mitteilt, die Infibulation bis in die neueste Zeit erhalten. In ärztlichen Kreisen ist die Operation bekannt und wird in Fällen angewendet, wo es kein anderes Mittel gibt, ein Individuum an der Masturbation zu hindern. Zweimal sind auch bedeutende Chi- rurgen für die Anwendung der Infibulation mittels Ringes eingetreten. 1827 veröffentlichte der Pro- fessor der Chirurgie in Halle a. S. eine kleine Schrift „von der Übervölkerung". Die Grundge- danken dieser Arbeit sind folgende: Es ist von Vorteil, die Ausübung des Zeugungsaktes bei jenen Personen zu verhindern, die nicht die not- wendigen Mittel besitzen, um die durch denselben ins Leben gesetzten Individuen zu ernähren. In diese Kategorien gehören also I. Bettler und alle anderen außer der Ehe lebenden verarmten Men- schen; 2. alle arbeitsunfähigen, an langwierigen Krankheiten leidenden Menschen, welche bereits Almosen von der Kommune erhalten; 3. sämt- liche männliche Dienstboten, Gesellen und Lehr- linge in den Städten und auf dem Lande; 4. alle unverheirateten Militärpersonen in den unteren Graden; 5. da im freien Staate Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetze stattfinden muß, so kann die vornehme und oft sehr ausgelassene Jugend der Eximierten, insofern sie die Grenzen der Schicklichkeit überschreitet, nicht befreit bleiben, sondern wird sich mit einigen Modifika- tionen dem gleichen Gesetze unterwerfen müssen. Der zweite Chirurg, der für die Infibulation eingetreten ist, war der Franzose Broca (1864). Auch er empfiehlt diese Prozedur zur Einschrän- 538 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 34 kung oder besser zur völligen Ausschaltung der Sexualfunktionen bei gewissen Individuen. Der Rat, den diese beiden bedeutenden Fach- leute geben, muß unwillkürlich zum Nachdenken anregen. Besonders Punkt 2 der Forderungen des erstgenannten scheint wert, erwogen zu wer- den. Sollte nicht vielleicht dadurch eine wirk- same Bekämpfung der venerischen Epidemien möglich sein, die — wie die Statistik lehrt — soviele Unglückliche zu unheilbarem Siechtum verdammt? Sollte es nicht möglich sein, da Ge- walt anzuwenden, wo Worte nichts fruchten, und dadurch so vielen jungen Menschen ihr kostbarstes Gut, die Gesundheit, zu erhalten ? Jedenfalls sind dies Probleme, für deren mittelbare Erweckung durch seine lehrreiche Abhandlung man Stieda danken muß. Dr. R. Kowarzik, Prag. Terrainbewegungen in der Schweiz. — Die Nivellierung eines Gebirges vollzieht sich langsam, aber sicher. Von den vielen Faktoren, die daran beteiligt sind, möge hier einer genannt sein : die Terrainbewegungen. Gewöhnlich hört man nicht viel von Bergstürzen usw., nur wenn einmal ein größerer vorkommt, wie bei Elm i88i, so steht er in allen Zeitungen. Die Bedeutung dieses Faktors wird gewöhnlich unterschätzt. Erst eine Zusammenstellung und noch mehr die geo- logische Aufnahme lehrt, wie stark die Erdober- fläche im Gebirge in stetiger Bewegung ist ; tragen wir alle bekannten Bergstürze in eine Übersichts- karte ein, so erhalten wir ein großartiges Bild der Zerstörung des jetzigen Reliefs. Rechnen wir noch diejenigen Bergstürze hinzu, die im Hoch- gebirge sich ereignen, und von denen wir nur höchst selten eine Nachricht erhalten, so sehen wir nur noch wenig unbedeckte Flächen in unserer Karte. Aus den früheren Jahrhunderten kennen wir nur größere Bergstürze, bei denen Menschenleben zu beklagen waren. Höchst selten trifft man eine Nachricht von kleineren Stürzen ohne verunglückte Menschen. Fast immer, mit wenigen Ausnahmen, sind nur die Schadenlisten aufgezeichnet worden, selten hat ein Beobachter einige Worte über die Art des Vorganges gesagt. Den ersten wissen- schaftlichen Bericht über einen Bergsturz hat uns meines Wissens Vitaliano Donati hinterlassen. 175 1 ging von der Aiguille de la Derochee oder Derotzia ein großer Bergsturz nieder. Die Aiguille de la Derochee liegt im oberen Tal von Sales, westlich von Chamo nix. Dieser Sturz muß einen ungeheuren Staub aufgewirbelt haben, denn die Bewohner des Tales von Servoz, in welches das Tal von Sales mündet, glaubten, es sei ein Vulkan ausgebrochen. Man berichtete nach Turin und der König sandte sofort den be- rühmten Donati nach Servoz, um diesen Vulkan zu beobachten. Donati kam noch früh genug, um die letzten Nachstürze des Bergsturzes und den dichten Staub zu sehen. Er untersuchte die Gegend und führte die Ursache des Bergsturzes auf das Schmelzwasser des in dem Jahre unge- wöhnlich hohen Schnees zurück. In seinem Be- richt an den König steht eine ausführliche Be- schreibung des Sturzes wie der Ursachen. Einer der ältesten Bergstürze, von denen wir Nachricht haben, ist aus dem 4. Jahrhundert. Ein Erdrutsch (?) bedeckte die römische Stadt V e 1 1 e j a, südlich von Piacenza, mit ca. 7 m Schutt. Erst 1747 entdeckte man die Stadt wieder. Genauere geschichtliche Daten haben wir über den Berg- sturz von Tauretunum im Jahre 563. Die beiden Originalberichte sind von Gregor von Tours und von Marius, Bischof von Aven- ticum (Avenche). Leider geben uns diese beiden nicht die genaue Lage des Sturzes an, und so hat sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine reiche Literatur über diesen Bergsturz angesammelt, Doch sind wir noch heute nicht über die Lage genau orientiert. Am wahrscheinlichsten ist der Bergsturz vom Grammont nordwestlich von St. Maurice (Rhonetal) damit in Verbindung zu bringen. Von 563 — 1268 klafft eine große Lücke, über die wir keine Nachrichten besitzen. Vielleicht sind Aufzeichnungen über Bergstürze aus dieser Periode bei den öfteren Bränden der Einsiedler Bibliothek vernichtet worden. Am 10. Mai 1268 war in Altorf eine Rufe,') die beinahe die Kirche während der Predigt vernichtet hätte. Aus dem 14. Jahrhundert kennen wir nur eine Rut- schung am Altenberg bei Bern, wo durch starke Regengüsse 1399 ein großer Komplex mit Reben „in die Tiefe rutschte". Kurz nachher muß auch das Dorf Röthen bei Gold au, welches 1395 noch stand, durch einen Bergsturz vom Roßberg verschüttet worden sein. Aus dem 15. Jahrhundert kennen wir nur zwei Daten. 1435 am 4. März versank ein Teil der Stadt Zug im See mit ca. 60 Menschen. Am 13. Juni i486 wurde das Dorf Zarera oder Asareda (R a s a r e i d a) mit allen Bewohnern, ca. 300 Seelen, sowie sämtlichem Vieh verschüttet. Aus dem 16. Jahrhundert haben wir Nachricht von 20 Berg- stürzen, darunter der bekannte Doppelbergsturz vom Pizzo Magno am 30. September 1512, durch den das Blegnotal gestaut wurde. Erst 15 14 brach der Stausee durch und verwüstete das ganze Tal bis zum Langensee herunter; ca. 600 Menschen verloren ihr Leben. Sehr be- kannt ist auch der Bergsturz von Yvorne- Corbeyri er (Rhonetal) 4.IIL 15S4, wo erst das Dorf Corbeyrier verschüttet wurde, welches dann mit den Schuttmassen auf Y vorne her- unterrutschte. Sehr reich an Rutschungen und Bergstürzen muß das regenreiche Jahr 1579 ge- wesen sein, besonders im Oktober fielen in Grau- bünden starke Regengüsse. Leider sind die Auf- zeichnungen darüber sehr kurz. Aus dem 17. Jahr- ') Rufe, rovina (Rovinazzo) ist bei den älteren Nachricliten ein Ausdruck für Bergsturz und auch für einen Muhrgang. Heute bedeutet Kufe sowohl Muhrgang als auch Wildbach. N. F. VIII. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 539 hundert sind nur von 28 Hergstürzen Nachrichten er- halten gebheben. Der bekannteste ist der Bergsturz von Plurs (Bergell) am 4. September 1618. Wohl über keinen Bergsturz existiert eine so reiche zeit- genössische Literatur wie über diesen. Ca. 2oDruck- schriften, allerdings ganz allgemein gehalten, sind innerhalb 2 Jahren damals veröffentlicht worden. Leider sind wir trotz dieser großen Literatur noch ganz im Unklaren über die Ursachen und die Art des Unglückes. Erst eine genaue geologische Aufnahme kann uns vielleicht genaueres darüber bringen. Die größten Bergstürze aus dem 18. Jahrhundert sind von den Diablerets her- untergekommen. 17 14 wurden die Alpen von Tricot mit 55 Sennhütten, 1749 das Dorf Ave n zerstört, aus dem nur ein Mensch mit dem Leben davonkam. Besonders die Jahre 1760 — 70 waren reich an Bergstürzen. Auch vom Tschingel- boden bei Elm ist 1760 ein kleinerer Bergsturz niedergegangen. Dicht daneben ist dann 1881 der große Bergsturz erfolgt. Die zahlreichsten Nachrichten haben wir natür- lich aus dem 19. Jahrhundert. Der größte und unheilvollste Sturz, derjenige von Goldau, ist bereits in dieser Zeitschrift beschrieben worden.*) Der Bergsturz von Goldau hat die Aufmerksam- keit damals auch auf die Wildbäche und deren Verwüstungen gelenkt. Besonders drei Männer haben immer und immer wieder auf den großen Schaden hingewiesen: Hans Conrad Escher von der Linth, Baptista von Salis und J. B. von Tscharne r. Vor allem war es die Nolla bei Thusis, die ungeheure Verheerungen anrichtete. Nur einige der größten Ausbrüche mit starken Muhrgängen mögen hier angegeben sein: 1585, 1705, 1706, 1707, 1710, 171 1, 1719, 1807, 1858, 1858, 1880. Am 28. April 1909 hat der Bundesrat der Schweiz zur Verbauung der Nolla einen Beitrag von 50 000 Fr. bewilligt. Der Schaden, den die Nolla während der letzten zwei- hundert Jahre angerichtet hat, ist nicht zu schätzen. Doch das Schlimmste ist das Verhalten der Be- wohner im Abrißgebiet der Nolla. Es herrscht dort eine unglaubliche Wasserwirtschaft, die Bauern lassen alles Quellwasser, alles Abwasser einfach in den Boden verlaufen. Ihre Häuser rutschen sozusagen täglich, aber keine Aufklärung hilft. Man läuft mit ofi'enen Augen dem Unter- gang entgegen. Schon die drei obengenannten Männer hatten die Ursachen der meisten Berg- stürze und Rutschungen erkannt: die unhaltbare Wald- und Wasserwirtschaft. Ganze Wälder wurden und werden heute noch abgeholzt, nur um des raschen Geldgewinnes willen. Das Wasser durchweicht den Boden und ein kleiner Anlaß verursacht das Unglück. Seit einigen Jahren ist den Terrainbewegungen mehr Aufmerksamkeit zugewandt worden. In Italien ist von Almagiä eine Statistik der Rutsche bearbeitet worden, in Deutschland hat 1907 Gustav Braun') den Anfang ge- macht, eine genaue Statistik aufzustellen. In der Schweiz ist schon 1897 von der Geolog ischen Kommission ein Aufruf zur Sammlung von Materialen ergangen. Die Einteilung von Braun ist für das Gebirge zu detailliert. Man kann hier nur die größeren Bewegungen notieren, sonst müssen wir jede Schutthalde, jeden Steinschlag verzeichnen. Das geht natürlich nicht, wir kämen nicht ans Ende. Die beste Einteilung ist diejenige von Heim: 1. Schuttrutsch ung, 2. Schuttsturz, 3. Ufereinbruch, 4. Fels rutschung, 5. Felssturz, 6. Zusammengesetzter Bergsturz, 7. Muhrgänge, 8. Besondere Bergstürze, die sich nicht in obige Klassen bringen lassen. Man muß natürlich auch hier noch auswählen, besonders bei den Schuttrutschungen. Gerade diese sind sehr zahlreich. Nach jedem Regenguß sehen wir auf einer Wanderung fast überall kleinere Rutschungen , deren statistische Ver- arbeitung kaum möglich wäre. Wie bei den Muhrgängen müssen wir nur die größeren nehmen, die einige Bedeutung haben durch Verwüstung von Kulturland, Stauung von Bächen mit nach- herigem Ausbruch usf. Hoffentlich werden die Erhebungen in Deutsch- land und in der Schweiz ein reiches Material liefern, welches so der Wissenschaft zugänglich wird, und das nicht nur von Interesse für die Geologie und Geographie ist, sondern der Topo- graphie und den technischen Wissenschaften ebenso wertvoll ist. Emil Gogarten. ') Siehe diese Zeitschrift 190S, Nr. 9, S. 136 ff. ') Naturw. Wochenschrift 1908, Nr. 3. Ludwig Günther, Eergsturzerinaerungstage. Wetter-Monatsübersicht. Während des vergangenen Juli herrschte in ganz Deutsch- land außerordentlich unfreundliches, für die Jahreszeit sehr kühles, regnerisches Wetter vor. Eigentliche Sommertage, an denen 25 ^ C erreicht oder etwas überschritten wurden , gab es nur wenige zwischen dem 4. und 7. und gegen Ende des Monats. Am höchsten, nämlich auf 29" C, stieg die Tempe- ratur am 7. Juli in Mcmel , am 25. in Karlsruhe und Mühl- hausen i. E. und auf nahezu 30° C am 26. in Uppeln. Gleich- falls im östlichen Ostseegebiet und außerdem in Mitteldeutsch- land kühlte sich die Luft in einigen klaren Nächten besonders stark ab ; in der Nacht zum 3. Juli sank das Thermo- meter in Lauenburg i. P. bis auf 2, in Erfurt und Ko- burg auf 4 Grad, in der Nacht zum 21. an den gleichen und nahe gelegenen Orten auf b oder 7" C. Im allgemeinen waren zwar die Lufttemperaturen nicht übermäßig niedrig , aber wegen seiner langen Dauer machte sich doch der Wärmemangel, der durch fast beständig in größerer oder geringerer Stärke wehende kühle, feuchte West- winde und die gleichzeitige starke Bewölkung verursacht wurde, besonders an dem bedeutend verlangsamten Reifea der Früchte und dem dadurch um reichlich vierzehn Tage hinausgeschobenen Beginn der Ernte höchst unliebsam be- merkbar. Die mittleren Monatstemperaturen lagen östlich der 540 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 34 Elbe ungefiihr 2, in Nordwesldeulscliland a'/a bis 3 und in Süddeutschland sogar fast 4 Grad unter iliren normalen Werten. Stunden mit Sonnenschein sind beispielsweise in Berlin nicht Tstn^JcraTur-SRaxima sinia,cr ®^c im 3uli 1909. IUI ^^^s^ I I r I I I I I BerlinerWcMerbureau- ^ mehr als 197 aufgezeichnet worden, dagegen 239 im Durch- schnitt der 17 früheren Julimonate. Die in unserer zweiten Zeichnung dargestellten Nieder- schläge waren während der ersten Hälfte des Monats beson- ders in Sud- und Mitteldeutschland außerordentlich groß. Gleich am Anfang gingen in Bayern, Sachsen, Schlesien Tibisisrö'cl^ra^^ö^an im C/uli 1909 .^ S ' " J er' ^itNererWerffüp Deutschland. Ef=-H" Ej 3 §"3 !=^ " " "3^ £» E.3 m:E3:3=W25 «SnrixiQCQ SirlhitcDS I r 1 I Ti^ ■ lis 17. Juli TT 1 I fö. biszi.juii I N y 22. bis 31. Juli IGSiähi monarssumme .). Durch besondere Muskeln kann die in der Schwimmblase enthaltene Luft zusammengepreßt und da- durch das spezifische Gewicht des Fischkörpers erhöht wer- den. Der Fisch kann sich also, auch ohne .Anwendung der Flossen, im Wasser senken. Läßt die Kontraktion der Mus- keln nach, so dehnt sich die Luft, so lange ihre Spannung den Wasserdruck übertrifft, wieder aus und der Fischkörper nähert sich wieder, ohne Anwendung weiterer Muskeln, der Oberfläche des Wassers. Da der Druck des Wassers sich bei wechseln- der Tiefe leicht um mehrere .Atmosphären ändert und die Spannung der Luft in der Schwimmblase deshalb, sobald der Fisch in größere Tiefen gelangt, nicht mehr ausreicht dem äußeren Druck das Gleichgewicht zu halten , der Fisch also nicht wieder zur Oberfläche emporsteigen könnte, ist noch eine zweite Einrichtung vorhanden, die, freilich langsamer wirkend, ein Heben und Senken des Fischkörpers im Wasser veranlassen kann : Es sind zwei Körper in der Blasenwand vorhanden, durch welche Gase aus dem Blute ausgeschieden bzw. in das Blut aufgenommen werden können. Das erstere geschieht durch den sog. roten Körper, das letztere durch das sog. Oval. Statt des Ovals kann auch eine Verbindung des Inneren der Schwimmblase mit dem Verdauungskanal vorhanden sein , so daß ein Teil des Gases nach außen aus- treten kann. — Fast in allen Fällen wird das Steigen und Sinken außer durch die Schwimmblase durch Flossenbewegung bewirkt. — Damit die äußeren Bewegungsorgane in Tätigkeit treten können, zerfällt die Schwimmblase bei vielen Fischen (z. B. bei den Weißfischen, Leuciscus) in zwei Teile, einen vorderen und einen hinteren. Will der Fisch in die Tiefe gehen, so verkleinert er zunächst die vordere Blase. Die F'olge ist, daß der Kopf sich neigt und nun kann die Schwanzflosse, das Hauptforlbewegungsorgan , ohne weiteres in Tätigkeit treten. Manche Fische mit einfacher Schwimmblase (z. B. der Wels, Sihtrus) besitzen am vorderen Ende derselben einen besonderen Druckapparat , zwei mit dem ersten Wirbel ge- lenkig verbundene Knochenfortsätze. — Damit die Wand der Schwimmblase unter dem hohen Wasserdruck das Gas nicht resorbiere, ist sie mit einem besonderen, oft silberglänzenden Plattenepithel bekleidet. — Bei Fischen, die sich, ihrer Lebens- weise nach , in stark wechselnden Tiefen und damit unter stark wechselndem Druck aufhalten und bewegen müssen, würde eine Schwimmblase dem Bedürfnis unvollkommen oder gar nicht, jedenfalls nur unter einem großen .aufwand von Ausgaben genügen können. Deshalb finden wir bei diesen Fischen oft, daß die Schwimmblase rudimentär wird und schließlich ganz schwindet. Es tritt dann beim Steigen und Sinken die Flossenbewegung allein in Tätigkeit. Zu diesen Fischen ohne Schwimmblase gehören z. B. manche Leucht- fische [Scopelidat), welche nachts an die Oberfläche kommen. — Oft ist die Schwimmblase bei sehr nahe verwandten Arten sehr verschieden entwickelt. So besitzt unter den echten Makrelen unsere gemeine Art {Scombir scombtr) keine Schwimmblase, während nahe verwandte Arten mit einer sol- chen ausgestattet sind (Günther a. a. O. S. 323). — Auch Fische, die ganz an den Boden gebunden sind, wie die Platt- fische {PUtironectidae) besitzen meist keine Schwimmblase. — Als Atmungsorgan tritt die Schwimmblase besonders bei den Dipnoern in Tätigkeit, bei Protopterits in Afrika, Ceratodits in Australien und Ltpidosiren in Südamerika. Diese Fische leben bekanntlich in vollkommen austrocknenden Gewässern. — Den Dipnoern reihen sich in dieser Hinsicht gewisse Ganoiden an, die in schlammigen, sauerstoffarmen Gewässern leben, wie Polypterus in Afrika und Amia in Nordamerika. Da der Ver- 544 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 34 bindungsgang zwischen der Schwimmblase und der Speiseröhre hier sehr kurz und weit ist, darf man sicher annehmen, daß ein Teil des Sauerstoffs der an der Wasseroberfläche aufgeschnappten Luft nicht, wie bei Cobilis, im Darm, sondern in der Schwimm- blase resorbiert wird (vgl. R. W icd crsh ei m , Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere, 2. Aufl., Jena l886, S. 6i6). — Eine Verbindung der Schwimmblase mit dem Gehörorgan ist bei einer großen Zahl von Fischen nachge- wiesen worden. Am überzeugendsten läßt sich die Beziehung der Schwimmblase zum Gehörorgan bei denjenigen Fischen erkennen, deren Schwimmblase in einer festen Knochenkapsel liegt, wie beim Schlammbeißer [Cobitis). Da eine Ausdehnung der eingeschlossenen Lutt hier nicht möglich ist, kann die Blase unmöglich als hydrostatischer Apparat dienen (vgl. J. Nusbaum und S. Sidoriak , „Das anatomische Verhältnis zwischen dem Gehörorgan und der Schwimmblase bei dem Schlammbeißer, Cobitis fossilis" in: Anat. .^nz. Bd. i6, 1S99, S. 209 ff.). Zwar hat man geglaubt nachweisen zu können, daß die Fische nicht hören. Es wurde aber schon an einer anderen Stelle der Naturw. Wochenschr. (N. F. Bd. 6, S. 46) darauf hingewiesen, daß die bisher angestellten Versuche mit negativem Resultat nichts beweisen, weil man bei den Fischen zu hohe geistige Fähigkeiten voraussetzte. Speziell die ana- tomischen Befunde sprechen mit Bestimmtheit dafür, daß die Fische hören können. — Tonapparate kommen bei Fischen nur sehr selten vor. Einen Tonapparat, der an die Schwimm- blase anknüpft, beschrieb K. Möbius (in; Sitzungsber. Akad. Wiss. Berlin, Jahrg. 1889, S. 999—1006 „Balistes acti/eatiis, ein trommelnder Fisch"). Dahl. Herrn ?. — I. Die übersandten niedlichen, käfigartigen Kokons auf den Blättern von Ballota nigra sind nach der Bestimmung von Herrn Prof. Kolbe solche der Rüsselkäfer- gattung Hypera, von der es bei uns ca. 20 Arten gibt. — 2. Doppelfrüchte von Amygdaleen (Drupaceen) sind nichts Seltenes, so bei der Pflaume und der Kirsche, von denen Sie Beispiele dafür einsenden. Die genannte Pflanzengruppe be- sitzt in ihrem Fruchtblatt, von denen normal eines vorhanden ist, 2 Samenanlagen. Gewöhnlich bildet sich aber nur eine der- selben zu einem Samen aus. Gelegentlich kommen in den Blüten mehr als nur ein Fruchtblatt vor, die dann mehr oder minder miteinander verwachsen, sich z. B. zu Doppelkirschen, Doppelpflaumen usw. entwickeln können. Die anderen Rosi- floren haben bekanntlich meist normal mehr als I Fruchtblatt; die Doppel- usw. Früchte weisen daher auf die Verwandt- schaft mit den Rosifloren hin , deren P'rüchte aus Früchtchen bestehen, so auf die Pomeen, die apfelfrüchtige Gruppe. P. Eine neue und einenichtbesondersbeachtete Pflanzenvariation Deutschlands. — In der Anfang nächsten Jahres erscheinenden 5. Auflage der Illustrierten F'lora des Unterzeichneten werden u. a. eine bisher noch un- bekannt gewesene und eine nicht genügend hervorgehobene Varietät aufgeführt werden , über deren Verbreitung ich zum Zweck einer diesbezüglichen Angabe in der genannten Flora gern Näheres gewußt hätte. Ich bitte daher die floristisch inter- essierten Leser der Naturw. Wochenschr. eventuell auf diese beiden Formen achten zu wollen und mir freundlichst Aus- kunft zu geben, und zwar bezuglich der Platanthcra-Form, falls sie gefunden wird , mit Angabe der Beschaffenheit des Standortes (ob im feuchten Walde oder in offenem, sonnigen Gelände und zwar auf feuchten Wiesen oder trockenen u. dgl.) und hinsichtlich der Plantago - Form das Vorkommen über- haupt und Mitteilungen , ob sie trotz eifrigen Suchens nicht beobachtet wurde. I. Es handelt sich um eine sehr schmal- blättrige Form von Plalnnthera bi/oüa, die ich z\i P. b. forma angustifolia aufführen werde. Unsere Fig. I gibt eine An- schauung von der sehr starken habituellen Abweichung dieser Form von der typischen. Links unten in der Fig. I ist zum Vergleiche mit der typischen Form ein Sproßstückchen abge- bildet worden. Diese Form wurde erst einmal von meinem Sohn Robert bei Straußberg in der Provinz Brandenburg ge- funden. 2. Die Plantago-Form verdient ebenfalls einen be- sonderen Namen zu erhalten, damit in Zukunft mehr auf ihre Fig. I. Piatanthera bifolia, links unten forma angustifolia. Fig. 2. Plantago media typica. Verbreitung geachtet werde, die vielleicht Interessantes bietet. Ich werde sie als Plantago media forma dentata hervorheben. Diese Form scheint durchaus nicht selten zu sein; sie ist so- gar wahrscheinlich häufig. Sie zeichnet sich durch sehr auf- fallige, große, locker stehende Zähne an den Blatträndern aus, während die typische Form ganzrandige Laubblätter be- sitzt, die höchstens schwach angedeutet gezähnt sind. Die Form dentata habe ich z. B. bei Hof in Nordbayern und bei Trebbin in der Mark Brandenburg beobachtet. Unsere Fig. 2 gibt die typische Form wieder. P. Herrn A. in W. — Es ist natürlich besser, wenn man den Blumen in einer Vase täglich frisches Wasser gibt. Emp- fehlenswert ist auch, die Stengel täglich ein Stück abzuschnei- den, damit immer wieder neue Schnittflächen mit frischem Wasser in Berührung kommen. Manche Pflanzen halten sich besser bei Zusatz von ein wenig Salz oder Ammoniak zum Wasser. H. Harms. Herrn O. L. in H. — Für das Bestimmen schweizerischer Pflanzen sind zu empfehlen: Gremli, Exkursionsflora für die Schweiz (Aarau, 9. Aufl., 1901; 5 — 6 Mk.), und das neueste Werk über das Gebiet : S c h i n z und Keller, Flora der Schweiz, 3. Aufl. (etwa II Mk.). — Für Tirol: K. Fritsch, Exkursionsflora für Österreich (Wien 1897). — Viel benutzte Werke mit Illustrationen sind folgende : Schroeter, Taschen- flora des Alpenwanderers (Zürich, 1907; II. Aufl.); Hegi und Dunzinger, Alpenflora (München 1905). H. Harms. Herrn Obermedizinalrat S. in S. — Die Zeitschrift ,, Deutsche Welt" ist eine Wochenbeilage zur „Deutschen Zeitung", herausgegeben von Dr. F. Lange in Berlin. Inhalt; Sammelreferate und Übersichten: Prof. Böttcher: Neues auf der Geographie. — Kleinere Mitteilungen: Dr. R. Kowarziki Die Infibulation bei Griechen und Römern. — Emil Gogarten: Terrainbewegungen in der Schweiz. — Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: Sammel-Referat. — Dr. Wilhelm Figdor: Die Erschei- nung der Anisophyllie. — Sir William Ramsay: Vergangenes und Künftiges aus der Chemie. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur; Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Fulgc Vlll. l'.aiul ; der ganzen Reihe XXIV. Band. Sonntag, den 29. August 1909. Nummer 35. Über die Beziehungen zwischen primären und sekundären Geschlechts- merkmalen bei den Schmetterlingen. [Nachdruck verboten.) Von Prol. Johannes Meisenheimer. Während in neuerer Zeit die Meinungen über die Geschlechtsbestimmung der Keimdrüsen sich mehr und mehr der Annahme einer sehr früh- zeitigen Fixierung des Geschlechts in der jungen Keimzelle zuneigen, herrscht über das Abhängig- keitsverhältnis der verschiedenartigen, in ihrer Ge- sanitheit erst den Begrifit' des männlichen oder weiblichen T)-pus ausmachenden Geschlechts- charaktere noch eine große Verschiedenheit der Ansichten. Eigene Versuche, welche sich über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren er- strecken, suchten nun in dieses letztere Problem Klarheit zu bringen, indem sie im speziellen bei den Schmetterlingen die Beziehungen zwischen primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen prüften. Es geschah dies in der Weise, daß auf möglichst jungen Raupenstadien das ursprünglich gegebene Verhältnis von primären und sekun- dären Charakteren vor deren definitiver Gestaltung dadurch modifiziert wurde, daß zugehörige Bestand- teile durch Kxstirpation der Geschlechtsdrüsen und des übrigen Genitalapparates ausgeschaltet, fremd- artige durch Transplantation von Geschlechtsdrüsen des einen Geschlechts in das andere eingefügt wurden. Die Ergebnisse dieser Versuche habe ich in einem vor kurzem erschienenen Buche ') nieder- gelegt, der wesentlichste Inhalt desselben sei hier in gedrängter Darstellung wiedergegeben. I. Die Methode. Als Operationsmaterial kamen ausschließlich Raupen von Faltern mit sehr hoch ausgeprägtem Geschlechtsdimorphismus in Betracht, da an solchen eine etwaige Modifikation der sekundären Ge- schlechtscharaktere mit größerer Sicherheit fest- gestellt und beurteilt werden konnte. Es wurden deshalb in erster Linie unsere spinnerartigen Schmetterlinge auf ihre Tauglichkeit zur Operation untersucht. Für letztere mußte zweierlei ge- fordert werden, einmal die Möglichkeit leichten Erkennens der Geschlechtsdrüsen zur Zeit der Operation und zweitens genügende Widerstands- fähigkeit der Raupen gegenüber dem starken Ein- griff. Unter den zahlreichen daraufhin geprüften Raupen erwiesen sich nach beiden Gesichtspunkten die behaarten Raupen einer Reihe von Spinnern als ganz besonders geeignet und namentlich waren ') Experimentelle Studien zur Soma- und Gesclilechts- Diflfcrenzierung. i. Beitrag. Über den Zusammenhang primärer und sekundärer Gcschlechtsmcrkm;ile bei den Schmetterlingen und den übrigen Gliedertieren. Jena (Gustav Fischer) 1909. es die Raupen des Schwammspinners, Lyiiiantria (Ocneria) dispar L., welche ein geradezu ideales Operationsmaterial abgaben. Die Operationstechnik ist eine durchaus ein- fache. Die Raupen wurden durch Atherdämpfe narkotisiert und sodann auf der Rückenseite des 5. Abdominalsegmentes durch einen kleinen Schereneinschnitt geöffnet. Es treten dann die kleinen paarigen Geschlechtsdrüsen als gelblich gefärbte Gebilde hervor und sind, da sie unmittel- bar unter der Haut über dem Darm liegen, leicht zu entfernen (vgl. Fig. i). Bei einfacher Kastration K^m Fig. I. a Seitenansicht einer Raupe von I.yiiuiiitrta ilispar \ b Querschnitt durch das 5. Abdominalse<;ment einer jungen Raupe von Lymantria dispar. bg liauchganglion, d Darm, g Geschlechtsdrüse, h Herz, I — 111 die drei Thoracalsegmente, I — 10 die zehn Abdominalsegmcnte. wurde dann die Wunde sofort wieder durch ein Kollodiumhäutchen verschlossen, bei Transplan- tation wurden nach vorausgegangener Kastration eines Individuums die Geschlechtsdrüsen eines zweiten Individuums des entgegengesetzten Ge- schlechts herausgenommen, mittels eines kleinen Hohlmeißels auf die Wundstelle der zuerst kastrierten Raupe übertragen und hier unter die Haut ge- schoben, worauf die Wunde ebenfalls verschlossen wurde. Nur zur Kastration ganz junger Raupen war die mit Schere und Pinzette ausgeführte Methode nicht anwendbar, hier ging ich zu einer galvanokaustischen Methode über, indem ich mit einer feinen glühenden Platinspitze die Rückenseite des 5. Abdominalsegmentes versengte. Indessen wirkte dieser Eingriff auf die zarten Räupchen 546 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 35 von kaum 3 mm Länge sehr stark schädigend ein und von etwa 1200 ausgeführten Operationen erzielte ich nur 39 Schmetterlinge. Die Entwicklung der Raupe von Lymantria dispar verläuft in 6 Perioden, die durch 5 Häu- tungen voneinander geschieden sind. Die große Mehrzahl der Operationen wurde nach der zweiten und dritten Häutung vorgenommen, einzelne An- gaben darüber werden im Verlaufe der weiteren Darstellung gegeben werden. 2. Die inneren morphologischen Verhältnisse der Geschlechtsorgane. A. Bei Kastration. Der männliche Geschlechtsapparat von Lymantria dispar (vgl. Fig. 2) besteht aus einem unpaaren Hoden (ho), aus zwei Vasa deferentia (vd), die in mächtig aufgetriebene Samenblasen (vs) einmünden, aus kurzen schlauch- förmigen Nebendrüsen (dr) und einem unpaaren Ductus ejaculatorius (de), der schließlich in den Penis übergeht. Recht kompliziert gebaut ist der Kopulationsapparat (co), insofern der Penis von einem ringartigen Chitinstück getragen wird und zu beiden Seiten von beweglichen, zum Festhalten des Weibchens bei der Begattung dienenden Genitalklappen begleitet erscheint. a «' ' Fig. 2. Männlicher Geschleclitsapparat von Lymantria dispar. Vergr. 5 mal. co Kopulationsorgane, de Ductus ejaculatorius, dr Nebendrüse, ho Hoden, vd \'as deferens, vs Samenblasen. In der Raupe sind alle diese Teile des Ge- schlechtsapparates der Anlage nach bereits vor- handen (vgl. Fig. 3). Die Hoden stellen auf jüngeren Raupenstadien zwei kleine, völlig von- einander getrennte Blättchen (ho) dar, welche deutlich in vier Lappen zerfallen und außen von einer gelblich gefärbten, bindegewebigen Hülle umgeben sind. Nach hinten schließen sich daran die beiden Vasa deferentia als lange dünne Stränge (vd) an, die im weiteren Verlaufe ventral- wärts ziehen und am Hinterrande des 9. Ab- dominalsegmentes mit einem dritten Anlage- komplex in Verbindung treten , mit dem sog. Herold'schen Organ (he), welches teils meso- dermaler, teils ektodermaler Entstehung ist und in seinem vorderen Abschnitt (Fig. 3 b, v) die An- lagen von Samenblasen, Nebendrüsen und oberem Ductus ejaculatorius enthält, mit seinen hinteren Teilen (h) Penis und Genitalklappen liefert. ff Fig. 3. a Dorsalansicht der gesamten Geschlechtsanlage einer Raupe von Lyiii. dispar um die 5. Häutung. d Darm, he Herold'schcs Organ, ho Hoden, vd Vas deferens; b Herold- sches Organ von dem gleichen Raupenstadium, stärlier ver- grölJert. h hintere ektodermale, v vordere mesodermale An- lage, vd Vasa deferentia, s Schnittstelle bei der Operation. a h Fig. 4. Geschlechtsapparat zweier auf dem ersten Raupen- stadium kastrierten Männchen von Lym. dispar. Vergr. 5 mal. CO Kopulationsapparat, de Ductus ejaculatorius, dr Xeben- driisen, vd Vas deferens, vs Samenblasen. Die Ausführung der Kastration bestand nun darin, daß die Vasa deferentia in ihrem oberen Abschnitt (etwa in der Gegend des oberen Stern- chens von Fig. 3 a) durchschnitten und zusaminen mit den ansitzenden Hodenanlagen herausge- N. F. VIII. Nr Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 547 nommen wurden, oder aber (auf den jüngsten Raupenstadien) darin, daß durch die glühende Platinspitze des Galvanokauters der gleiche Kom- plex zerstört wurde. War die Kastration ge- lungen — und dies war bei der erstgenannten Operationsmethode stets der Fall — , so bot der männliciic Geschlcchtsapparat dann das Aussehen der Figur 4 dar, d. h. die Hoden fehlten voll- ständig, die beiden Vasa deferentia (vd) endeten blind, alle übrigen Teile waren dagegen völlig normal ausgebildet. Das Fehlen der Geschlechts- drüsen hatte also keinerlei Hntwicklungshemmungen irgendwelcher Art für die zur Zeit der vorge- nommenen Kastration noch durchaus undifferen- zierten Anlagen des übrigen Geschlechtsapparates zur Folge. der Ventralseite her durch einen queren Einschnitt im Bereiche des 9. Abdominalsegmentes, wobei die Lostrennung einmal an der Basis, mit der das Organ sich dem Ectoderm verbindet, und zweitens am Vas deferens (im Bereiche des unteren Stern- chens von F\g. 3 a) vollzogen wurde. Das Herold- sche Organ enthält nun, wie wir oben sahen, die Anlagen von Nebendrüsen, Samenblasen, Ductus ejaculatorius, Penis und Genitalklappen, es mußten also bei gelungener Operation alle diese Teile fehlen. Und dies war tatsächlich der Fall. Der Geschlechtsapparat solcher Männchen, bei denen gleichzeitig die Exstirpation der Geschlechtsdrüsen und des Herold'schen Organes vorgenommen worden war, war äußerst reduziert (vgl. Fig. 5). Er bestand nur noch aus zwei kurzen Stückchen [•'ig. 5. GesclileclUsapp:irat einiger Männ- chen von Lrw. ilispar , denen zu Beginn des 6. R.aupenstadiums Hoden und Herold- sclies Organ zugleich exslirpiert wurden. Vergr. 5 mal. r chitinoser .Aufhängering des Begattungsa]iparaies , vd Reste der Vasa deferentia. -Od Fig. 7. Umrisse der Ovarialanlagen von Lyin. dispay vom driUcn bis sechsten Raupenstadium. Vcrgr. 40 mal. bg binde- gewebige Hülle, est Eiröhrenstiel, od Ovidukt. Fig. 6. Normaler weiblicher Geschlechtsapparat von Lym. dhpar. Vergr. 5 mal. bc Bursa copulalri.x, drs Drüsenschlauch des Receptaculum scminis, ef Endfaden, er F.iröhre, est Eiröhrenstiel, kdr Kittdrüsen, ob Ostium bursae, od paarige Ovidukte, odc unpaarer Ovidukt, ov < >varien, rs Receptaculum seminis, v Vagina, vt Vestibulum. Nun waren aber noch weitere Abschnitte des Anlagekomplexes der männlichen Geschlechts- organe während der Raupenperiode der Exstir- pation zugänglich, nämlich das Herold'schc Organ. Die Operation erfolgte nach der 5. Häutung von der beiden Vasa deferentia (vd), welche der Operation nicht zugänglich waren, und aus dem chitinösen .'\ufhangering des Kopulations- apparates (r), der aus umgewandelten Teilen der letzten .Abdominalsegmente hervorgeht und so 548 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. YIII. Nr. 35 gleichfalls von der Operation nicht berührt wurde. Alles übrige, auch Penis und Genitalklappen, fehlten vollständig. Der weibliche Geschlechtsapparat (vgl. Fig. 6) enthält zunächst zwei Ovarien (ov), die sich aus je vier Ovarialröhren zusammensetzen. Jede Ovarialröhre beginnt mit dem zur Befestigung im vorderen Körperabschnitt dienenden Knd- faden (ef), es schließt sich daran die noch un- differenziertes Material enthaltende Endkammer an, welche beim ausgebildeten Falter ziemlich aufgebraucht ist, weiter die eigentliche Eiröhre (er) mit jungen Eiern und endlich der Eiröhrenstiel (est) mit den bereits fertig ausgebildeten, kugeligen Eiern. Die vier Eiröhrenstiele vereinigen sich Kig. 8. Innere Zwittcrorganisation eines männlichen Falters von Ia'hi. dhpnr. Vergr. 5 mal. ov Ovarien, cf' = männlicher Gcschlechtsapparat. jederseits zu kurzen, paarigen Ovidukten (od), die dann zur Bildung des unpaaren Oviductus com- munis (odc) zusammenstoßen. Letzterer setzt sich fort in Vestibulum (vt) und Vagina (v) und nimmt dabei die Mündungen der Bursa copulatrix (bc) und eines Receptaculum seminis (rs) auf Die Bursa copulatrix mündet durch eine zweite Öffnung (ob) auf der Ventralseite des achten Abdominalsegmentes aus, die Vagina führt da- gegen erst im letzten Körpersegment nach außen, nachdem sie vorher noch den Ausführgang be- sonderer Kittdrüsen (kdr) empfangen hat. Auch im weiblichen Geschlecht sind alle diese Teile in der Raupe bereits angelegt. Die Ovarien (vgl. Fig. 7) stellen flache, gelblich gefärbte Blätt- chen dar, die schon frühzeitig im Inneren die vier Ovarialröhren zur Ausbildung bringen und außen von einer bindegewebigen Hülle (bg) umgeben sind. Von den Hodenanlagen lassen sie sich leicht durch ihre geringere Größe sowie durch den abweichenden äußeren Umriß unterscheiden. Nach hinten schließen sich an die Ovarien als zwei lange dünne Stränge die Ovidukte an, wäh- rend die Anlagen der übrigen Teile des weib- lichen Geschlechtsapparates über die Ventralseite des ganzen hinteren Abdominalabschnittes zer- streut sind. Bei gelungener Kastration fehlte nun auch hier im weiblichen Geschlecht jegliche Spur der Geschlechtsdrüsen, der Ovidukt endete blind. Im übrigen war der Geschlechtsapparat normal aus- gebildet, und hatte bis auf einige gleich zu besprechende Deformationen keiner- lei Entwicklungshemmungen durch das Fehlen der Ovarien erlitten. Abnorme Bildungserscheinungen traten vereinzelt an den Kittdrüsen und am Recepta- culum seminis auf, sie machten sich ferner besonders bemerkbar am un- paaren Oviductus communis, der eine sehr beträchtliche Verlängerung erfahren konnte. Der äußere weibliche Ge- schlechtsapparat blieb stets völlig un- verändert. B. Bei Transplantation der Geschlechtsdrüsen. Die Zahl der vorgenommenen Hodentransplantationenin Rau- pen weiblichen Geschlechts ist eine nur geringe, da die männlichen Geschlechts- drüsen sich weniger gut für die mit der Operation verbundenen Absichten eignen. Ich führte Hodentransplanta- tionen nur nach der dritten Häutung und nur an einseitig kastrierten weiblichen Raupen aus, sie hatten zum Ergebnis, daß eine junge Hodenanlage bei Ein- schaltung in den Stoffwechsel eines weiblichen Organismus zum vollstän- dig ausgebildeten Organ von normaler Größe und Reife heranwachsen konnte. Im be- sonderen entsprach auch das histologische Ver- halten im Inneren eines solchen transplantierten Hodens gänzlich dem Aussehen normaler Hoden, er war also strotzend von reifenden und reifen Spermatozoen erfüllt. Das daneben gelegene Ovarium sowie die weiblichen Geschlechtsgänge erfuhren durch die Gegenwart der fremden Ge- schlechtsdrüse keinerlei Veränderungen. Sehr zahlreich sind nun dagegen die von mir ausgeführten Ovarialtransplantationen in Raupen männlichen Geschlechts, es sind insgesamt N. F. MII. Xr. 35 Naturwisscnsrhaftliche W'orhcnsrhrift. 549 gegen 300 Operationen, die mir über 100 vvohl- ausgebildete Falter lieferten. Hei einseitiger Kastration und Ovarialtransplantation war der männliche Geschlechtsapparat bis auf den fehlen- den Hoden der einen Seite völlig normal ausge- bildet. Daneben lag aber nun im männlichen Körper noch ein in allen seinen Teilen normal ausge- bildetes und zahlreiche reife Eier enthaltendes Ovarium, bestehend aus vier Ovarialschläuchen (vgl. Fig. 13). Bei doppelseitiger Kastration und Transplantation waren stets beide Hoden entfernt und an ihre Stelle zwei Ovarien getreten. In der Mehrzahl der Fälle fanden sich zwei große, gleich- mäßig stark entwickelte Ovarien vor, von denen jedes für sich als selbständiger Komplex frei zwischen den Fettkörpermassen des Abdomens gelegen war (vgl. Fig. 8). Die beiden getrennt voneinander in den männlichen Körper ein- gepflanzten O varialaiilagen zeig- ten nun starke Neigung , an den freien Enden ihrer abge- schnittenen Ovidukte mitein- ander zu verwachsen, und kamen so dem Verhalten normaler Ovarien (vgl. Fig. 6) noch näher, wie die Figuren 9 a und b deut- lich erkennen lassen. Zugleich zeigen uns die herausgegriffenen Beispiele überaus gleichmäßig und harmonisch ausgebildete Ovarien, die sich nur durch ihre geringere Größe von den normalen Geschlechtsdrüsen des weiblichen Körpers unter- scheiden. Zuweilen kann es vorkommen, daß die Ovarien auf beiden Seiten ungleich stark entwickelt sind, die schwächere Ausbildung des einen derselben ist dann auf ungünstige Lage- rungsverhältnisse im männ- lichen Abdomen zurückzuführen. Es konnte aber die an den Enden der abgeschnittenen Ovidukte bestehende Verwach- sungstendenz noch weiter gehen, sie konnte zur Ver- einigung derselben mit Teilen des männlichen Geschlechtsapparates führen, und zwar zur Ver- einigung mit den freien Enden der Vasa deferentia. Entweder trat nur ein Ovarium mit einem Vas deferens in Verbindung und das zweite lag frei daneben, oder es verbanden sich beide bereits miteinander vereinigte Ovarien mit einem männ- lichen Ausführgang (vgl. Fig. 10), oder endlich es verschmolzen beide Ovarien gleichzeitig mit beiden Vasa deferentia (vgl. Fig. iij. Durch den letzteren Zustand ist ein Zwitterapparat gegeben, in welchem normal ausgebildete männliche Ausführgänge an Stelle der Hoden zwei Ovarien tragen. Und diese \^ereinigung ist keine rein äußerliche; sie beruht vielmehr auf einer innigen Verwachsung beider Komplexe, derart, daß die Epithelien von Vas deferens und Eiröhrenstielen, bzw. der kurzen Ovidukte, unter Vermittlung einer besonderen Verwachsungsstelle direkt ineinander übergehen. Es stehen somit die Lumina männlicher Ausführ- gänge und weiblicher Geschlechtsdrüsen in un- mittelbarster Kommunikation (vgl. Fig. 12). Einen besonders bemerkenswerten Fall dieser Art lieferte mir eine einseitige Ovarialtransplantation. Es trat hier (vgl. Fig. 13) das Ovarium mit demjenigen (vd') der beiden Vasa deferentia in Verbindung, an welchem der Hoden belassen worden war, es hatte ferner die Vereinigung zu einer offenen Kommunikation des transplantierten Ovariums mit diesem Vas deferens geführt, und so haben wir Fig. 9. Innere Vergr. 5 mal. od ZwiUerorganisation männlicher Falter von Lym. dispar. Ovidukte, ov Ovarien, ^ = männlicher Geschlechtsapparat. nun das eigenartige Verhalten vor uns, daß der gleiche Geschlechtsgang gleichzeitig als Samen- leiter und Eileiter hätte dienen können. In Wirk- lichkeit funktionierte er nur als Samenleiter, und Spermatozoen waren bis in den Grund der Ei- röhrenstiele vorgedrungen. Die histologische Ausbildung der transplan- tierten Ovarien entsprach in jeglicher Hiiisicht dem normalen Verhalten. Zur Zeit der Über- tragung war eine histologische Differenzierung noch kaum bemerkbar. Die vier von einer binde- gewebigen Hülle umschlossenen Ovarialschläuche waren zwar bereits vorhanden (vgl. Fig. 7), das Innere derselben war aber von einem noch durch- S50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 35 Fig. 10. Innere Zwitterorganisation eines männlichen Falters von Lym. dispar. Vergr. 5 mal. ov Ovarien, vd Vasa deferentia, ^ = männlicher Geschlechtsapparat. I'ig. II. Innere Zwitterorganisation eines männlichen Falters von Lym. il'^fiai: Vergr. 5 mal. ov Ovarien, vd Vasa deferentia, i/' = männhcher Geschlechtsapparat, aus undifferenzierten Keimmaterial erfüllt. Erst nach der Transplantation setzte dann im männlichen Körper, verbunden mit starken Wachstumserscheinungen, die eigentliche histologische Differenzierung ein, bestehend in einer scharfen Scheidung der Eiröhrenstiele und eigentlichen Ei- röhren, in einer Herausbildung der einzelnen Eifächer mit Eizellen , Nährzellen und Follikelepithel. Das, Resultat dieser im männlichen Körper sich vollziehenden Entwicklungsprozesse sind dann schließlich Ovarialröhren, die sich in keinerlei Hin- sicht in ihrem Aufbau von solchen unter- schieden, die normalerweise im weiblichen Organismus ihre Entwicklung durchge- macht hatten. Zum Vergleiche stelle ich in Fig. 14 eine normale (a) und eine trans- plantierte Eiröhre (b) nebeneinander, in beiden sind Endfaden (ef), Endkammer (ek) sowie die einzelnen Eifächer mit Eizellen (ez), Nährzellen (nz) und F"ollikelepithel in durchaus identischer Ausbildung vor- handen. Der einzige Unterschied zwischen nor- malen und transplantierten Ovarien liegt in der Größenentwicklung. Indessen läßt sich nachweisen, daß diese Differenz eine solche von durchaus untergeordneter Natur ist, insofern die Größe der Ovarien einzig und allein abhängig ist von der Größe des Abdomens, in welchem sie sich be- finden. Dies gilt in gleicher Weise für die normalen Weibchen wie für die Männ- chen mit transplantierten Ovarien. Aus Hungerkulturen gelang es mir, sehr kleine Weibchen von nur 38 mm Spannweite zu erziehen, und diese Zwergformen besaßen Ovarien, die an Größe bei sonst durchaus normalem Bau noch beträchtlich hinter manchen der in männlichen Körpern zur Ausbildung gelangten Ovarien zurück- blieben. In den verschiedenen Dimen- sionen der Ovarien kommt also einzig und allein ein scharf ausgeprägtes Korrelations- verhältnis von Körper- und Ovarialgröße zum Ausdruck, nicht aber liegt ihnen etwa eine Schädigung unter dem Ein- fluß der vorgenommenen Operationen zugrunde. Eine Ablage der Eier kann natürlich aus den transplantierten Ovarien nicht stattfinden. Selbst bei den oben be- sprochenen Verwachsungserscheinungen habe ich einen etwaigen Übertritt von Eiern in das Vas deferens, wie er wohl möglich wäre, nie beobachtet. Dagegen konnte ich wiederholt beginnenden Zer- fall der Eier am hinteren Ende der blind geschlossenen Ovarialschläuche fest- stellen. N. ]'■. VIII. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 551 3. Einwirkung der Operationen auf die äußeren somatischen Geschlechtscharaktere. Wir kommen nunmehr zum Kernpunkt meiner Untersuchungen, zu der P^age, ob durch die modi- fizierten Verhältnisse der Geschlechtsorgane ein Einfluß auf die Ausgestaltung der sekundären Geschlechtscharaktere ausgeübt wird. Ein Ge- schlechtsdimorphismus ist bei Lyiiiantria dispar in recht beträchtlich hohem Maße ausgeprägt. Uas Männchen besitzt stark gekämmte Fühler, graubraun behaarten Thorax und schlankes kegel- förmiges Abdomen. Seine Flügel weisen eine graubraune bis dunkelgelbgraue Grundfärbung auf, die Vorderflügel sind ferner von sechs dunklen Ouerbändern durchzogen. Das Weibchen zeigt fadenförmige, leicht gefiederte Fühler, gelblich weiß behaarten Thorax, dickes und plumpes Abdomen, das an seinem Ende einen mächtigen Ballen dunkel- braun gefärbter Wolle trägt. Die Flügel sind von schmutzig -weißer Grundfarbe , die Vorderflügel mit fünf dunklen Querbändern versehen. Betrachten wir nun zunächst das Verhalten der kastrierten Falter. Schon vor mir hatten Oudemans und Kellogg übereinstimmend dar- getan, daß die Kastration bei Schmet- terlingen keinen Einfluß auf die sekundären Geschlechtscharaktere auszuüben vermag. Für die Beur- teilung meiner eigenen Versuche mußten in erster Linie die Individuen maßgebend sein , welche auf der jüngsten Raupenperiode auf galvano- kaustischem Wege operiert wurden, d. h. zu einer Zeit, wo die Räupchen kaum das Ei verlassen halten und nur etwa 3 mm groß waren. Die Wichtigkeit dieser Versuchsreihe wird dadurch erhöht, daß sie zugleich ein unmittelbares Vergleichsmaterial von normalen Faltern darbietet. Die gal- vanokaustische Methode arbeitet näm- lich nicht absolut sicher, es kann vor- kommen, daß die Geschlechtsdrüsen bei der Operation von der Glühhitze gar nicht oder nur zum Teil zerstört werden. Von den 39 Faltern, welche ich aus dieser Operationsreihe erhielt, waren 18 völlig kastriert, und zwar 5 Männchen und 13 Weibchen. Die übrigen (11 Männchen und 10 Weibchen) besaßen noch größere oder geringere .Abschnitte der Geschlechtsdrüsen in un- versehrtem Zustande. Nun wurden die Raupen dieser 39 Falter alle zusammen in den gleichen Behältern unter genau den gleichen Bedingungen mit dem gleichen Futter aufgezogen, es ist also hier ein ganz unmittelbarer Vergleich zwischen normalen und kastrierten Faltern, die beide ihre Entwicklung unter absolut identischen äußeren Bedingungen durchgemacht haben, möglich. Der Vergleich ergab, daß die Kastraten, welche der Geschlechtsdrüsen vom jüngsten Raupenstadium an entbehrten, sich in keiner Weise von ihren geschlechtlich normal gebliebenen Genossen unter- schieden. Ausbildung der Fühler, Form des Ab- domens, Umriß und Färbung der F'lügel erwiesen sich in jeglicher Hinsicht von dem entsprechenden ursprünglichen Geschlechtstypus. Dasselbe Resultat ergaben alle übrigen Kastrationsreihen sowie die Operationsserien , bei welchen außer den Ge- schlechtsdrüsen auch noch die übrigen Geschlechts- organe zum größten Teile exstirpiert worden waren. Von besonderem Interesse mußten die Psalter sein, welche durch Kastration und nachfolgende Transplantation von Genitaldrüsen des entgegen- gesetzten Geschlechts zu inneren Zwittern umge- l'ig. 12. Längsschnitte durch die Verwachsungsstellcn zwischen transplantierten Ovarien und männlichen Genitalgängen. \'crgr. 48 mal. bg bindegewebige Hülle, est Kiröhrenstiele, vd Vas deferens, vw Verwachsungsstelle. staltet waren. Aber auch hier kam der ursprüng- liche Geschlechtstypus in den äußeren Charak- teren des definitiven Falters unverändert wieder zum Vorschein, die innere Zwitterkonstitution v^ermochte nicht auch den äußeren Habitus in ihrem Sinne umzugestalten. In einem einzigen Funkte erfahren die soeben aufgestellten Sätze eine Einschränkung. Bei einer Anzahl weiblicher Kastraten trat nämlich die Neigung zu einer Verdunkelung der weißlichen Flügelgrundfarbe ins Bräunliche hervor. Bei ge- nauer Beobachtung ließ sich diese abweichende Färbung auch bei normalen nur erreichte sie hier nie den wie bei Kastraten. Es ließe Faltern feststellen, gleich hohen Grad sich also diese Er- 552 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 35 scheinung etwa derart präzisieren, daß die bei normalen Weibchen weniger stark hervortretende Neigung zur Ausbildung eines bräunlichen Anflugs der Flügelfarbe bei den Kastraten in höherem Maße in die Erscheinung tritt. Im übrigen aber sind auch die Individuen mit sehr starker Ver- dunkelung stets typische, unverkennbare Weibchen. Die Einflußlosigkeit der experimentell erzeugten inneren Zwitterkonstitution auf die Differenzierung der sekundären Geschlechtscharaktere vermochte Fig. 13. Innere Zwitterorganisation eines einseitig kastrierten männlichen Falters von Lym. dispar. Verg. 5 mal. ho Hoden, ov Ovarium, vd Vasa deferentia, ^ = männlicher Geschlechts- apparat. ich nun noch in besonders überzeugender Weise durch entsprechende Experimente an einem an- deren Falter zu bekräftigen, und zwar an dem Eckfleck, Orgyia gonostigiiia ¥. Es besitzt dieser Schmetterling einen Geschlechtsdimorphismus in kaum zu überbietendem Maße, seine Raupen überwintern ferner in jugendlichem Zustande und boten so Gelegenheit, falls die Ovarialtransplan- tation im Herbste ausgeführt wurde, die Ein- wirkungsdauer der durch den experimentellen Eingriff geschaffenen Zustände beträchtlich zu ver- längern. Ich vollzog die Transplantation vom II. — 16. September 1907 an 62, um diese Zeit etwa 1 cm großen männlichen Raupen. An den P'olgen der Überwinterung gingen mir alle Raupen bis auf zwei ein, aber diese lieferten mir am 20. und 22. Juni 1908 zwei völlig ausgebildete Falter. Die Männchen von Org. gonostigiiia sind zierliche Falter mit stark gekämmten Fühlern, schmalem Hinterleib und wohl ausgebildeten bräunlichen, mit helleren und dunkleren Flecken gezeichneten Flügeln; die Weibchen stellen da- gegen einen dicken, unförmlichen Sack dar, dem zu beiden Seiten der Brust je zwei ganz kurze aschgraue F'lügelstummel ansitzen. Die beiden eben erwähnten operierten Falter waren nun äußerlich in allen sekundären Merkmalen typische ? \\ ..' big. 14. a Normale Eiröhre aus dem Körper einer weiblichen Lym. dispar; b transplantierte Eiröhre aus einem männlichen Falter. Vergr. 12 mal. et" Endfaden, ek Endkammer, ez Ei- zelle, nz Nährzellen, p Peritonealepithel. Männchen, ohne jegliche Spur der so stark ab- weichenden weiblichen Charaktere. Im Inneren erwiesen sie sich als Zwitter, insofern sie in ihrem Abdomen neben männlichen Geschlechtsgängen voll ausgebildete Ovarien mit zahlreichen Eiern enthielten. Die völlige Wirkungslosigkeit der fremden transplantierten Geschlechtsdrüsen auf die Ausbildung der sekundären Charaktere tritt hier um so auffälliger hervor, als diese männlichen Individuen weibliche Geschlechtsdrüsen von jungen Raupenstadien an nicht weniger als neun Monate in sich trugen. 4. Einwirkung der Operationen auf die psychischen Sexualcharaktere. Schon (_) u d e m a n s hatte festgestellt, daß N. \I Xr. 3: Xaturwissciisc-haftlk-he Wochenschrift. 553 kastrierte Falter in keiner Weise ihre Sexual- instinkte eingebüßt hatten. Die Männchen voll- zogen normalerweise die freilich unfruchtbare Be- gattung, die Weibchen begannen mit dem Ab- setzen der I linterleibswolle, in welche sie unter normalen Verhältnissen ihre Eier einhüllen. Hs mußte nun weiter von besonderem Inter- esse sein zu erfahren, wie sich solche Männchen verhielten, denen außer den Geschlechtsdrüsen auch noch die übrigen Geschlechts- und die Begattungsorgane entfernt worden waren. Ich gebe die Beschreibung eines einzelnen Versuches. Am 24. Juli 1908 wurde ein frisch geschlüpftes, derart operiertes Männchen zu mehreren normalen, noch jungfräulichen Weibchen gesetzt. Der Ver- such begann morgens 9 Uhr 15 Min., bereits um 9 Uhr 30 Min. machte das Männchen nach leb- haftem Umherschwärmen die ersten Koitusver- suche, die dann unablässig unter den charakte- teristischen Bewegungen normaler Männchen bis um I Uhr wiederholt wurden. Natürlich völlig ergebnislos, da dem Versuchstier nicht nur die inneren Organe, sondern sogar der Penis völlig fehlte, und es so nicht einmal zu einer äußeren Vereinigung mit dem Weibchen kommen konnte. Nicht weniger interessant war das Verhalten der männlichen Falter, welche an Stelle der Hoden transplantierte Ovarien in ihrem Leibe beherbergten. Hier gingen bei allen Versuchen die Männchen sofort in Kopula mit den beigesetzten Weibchen und verharrten in normaler Stellung in derselben zwei bis drei Stunden, wie es ganz den normalen Verhältnissen entspricht. Und dies geschah ohne jede Möglichkeit einer Spermaübertragung, waren doch die Hoden durch Ovarien ersetzt. Mithin erweisen sich auch die psychischen Sexualcharaktere völlig unabhängig in ihrer Aus- bildung und Betätigung von den Geschlechts- drüsen oder von Teilen des übrigen Geschlechts- apparates. 5. Ergebnisse. Meine Untersuchungen zeigen zunächst die Möglichkeit der Transplantation von Geschlechts- drüsen aus dem einen in das andere Geschlecht, während alle bisherigen diesbezüglichen, aus- schließlich an Wirbeltieren angestellten Versuche ein negatives Ergebnis hatten. Weiter ergibt sich aus meinen Versuchen ein außerordentlich hoch- gradig entwickeltes Selbstdifferenzierungsverinögen der einzelnen Teile des gesamten Geschlechts- apparates. Trotz völligen Fehlens der zugehörigen Geschlechtsdrüse entwickeln sich die zur Zeit des operativen Eingriffs noch durchaus undifferenzierten Anlagen der Geschlechtsgänge und des Kopula- tionsapparates in durchaus normaler Weise zur vollendeten F"orm und Größe. Selbst die Gegen- wart einer fremden Geschlechtsdrüse des entgegen- gesetzten Geschlechts vermag ihre normale Differenzierung in keiner Weise hemmend zu be- einflussen. Und andererseits vermögen auch die Keimdrüsen selbst sich völlig losgelöst von ihrem zugehörigen Geschlechtsapparat zur vollen Reife zu entfalten. Hinsichtlich des Verhältnisses der sekundären Geschlechtscharaktere zu den primären Ge- schlechtsdrüsen ergab sich, daß eine Beeinflussung der sekundären somatischen und psychischen Ge- schlechtsmerkmale durch die Keimdrüsen im Ver- laufe der individuellen Entwicklung nicht statt- findet. Die sekundären Charaktere gelangen viel- mehr zur Ausbildung in einer F'orm, wie sie zu irgendeinem frühzeitigen Zeitpunkt in der Keim- zelle bestimmt worden sind; weder das Fehlen der homologen, noch die Gegenwart der entgegen- gesetzten Geschlechtsdrüse hatte auf die Ausge- staltung dieser fixierten Entwicklungstendenz irgendwelchen Einfluß. Eine Bestätigung finden diese durch das Ex- periment gewonnenen Ergebnisse nun durch die Beobachtungen an natürlichen Insektenzwittern. Bei den Insekten und besonders bei den Schmetter- lingen macht sich äußere Zwitterbildung häufig dadurch bemerkbar, daß die linke Körperhälfte dem einen, die rechte dem anderen Geschlechte angehört, wobei dann die Trennungslinie zuweilen genau in der Medianebene des Körpers verläuft. Vergleichen wir nun mit solcher äußerlich genau halbierter Zwitterbildung die inneren Organe, so treffen wir zwar Fälle an, bei welchen die inneren . Geschlechtsorgane genau entsprechend den äußeren Verhältnissen in zur Hälfte männliche, zur Hälfte weibliche zerlegt erscheinen, weiter können aber dann bei gleichzeitigem und zumeist auch gleich- wertigem Auftreten der äußeren Geschlechts- charaktere beider Geschlechter an demselben Individuum innerlich zunächst die Geschlechts- drüsen des einen Geschlechts in Wegfall kommen, es können ferner auch noch alle übrigen Teile des Geschlechts- und Begattungsapparates des einen Geschlechts schwinden, so daß dann schließ- lich, während im äußeren Habitus die Charaktere beider Geschlechter erhalten bleiben, innerlich nur noch die Geschlechtsorgane des einen vor- handen sind. Diese letzteren Fälle von Zwitter- bildung, welche nicht nur bei Schmetterlingen, sondern auch bei Bienen, Blattwespen, Spinnen und Krebsen nachgewiesen sind, führen mit zwingender Notwendigkeit zu dem Schlüsse, daß die sekundären Charaktere eines Geschlechtes auf- treten können, ohne daß die entsprechenden Ge- schlechtsdrüsen oder sonstigen homologen inneren Geschlechtsorgane vorhanden sind. Es fehlt mit- hin auch hier jeglicher fördernder oder hemmen- der Einfluß der letzteren auf die Entwicklung der sekundären Merkmale, und damit führt uns die vergleichende Betrachtung der von der Natur her- vorgebrachten Zwitter für die Klasse der Glieder- tiere zu genau dem gleichen Resultate wie unsere Experimente. Und es läßt sich wahrscheinlich machen, daß diese Schlüsse für das gesamte Tier- reich mit Einschluß der Wirbeltiere Geltung haben. 554 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 35 Kleinere Mitteilungen. r i- über i_|das Vorkommen der Weinberg- schnecke^(Helix pomatia L.) in Deutschland. — Im Jahre 1888 hatte E. v. Martens in einem Aufsatze in der Naturw. Wochenschrift : „Ist Helix pomatia in Norddeutschland einheimisch?" ausge- führt, daß dieses heute noch als Fastenspeise so beliebte Weichtier in Süd- und Mitteldeutschland heimisch ist , nach Norddeutschland aber immer mehr an Häufigkeit abnimmt. Es kommt wohl noch in allen preußischen Provinzen vor, ist aber hier nur an einzelnen, bestimmten Orten zu fin- den. Diese Orte sind besonders die Nähe mensch- licher Ansiedelungen, Parkanlagen usw. In den außerdeutschen, nordischen Ländern, den russischen Ostseeprovinzen, Schweden, Norwegen, Dänemark und England ist seine Verbreitung noch sporadi- scher wie im nördlichen Deutschland und hier ist es für viele Fundorte sicher nachgewiesen oder wenigstens sehr wahrscheinlich gemacht, daß die Schnecke eingeführt worden ist. Diese Einführung ist hier an einigen Orten, so z. B. in England vielleicht durch die Römer, an zahlreichen anderen durch die Mönche, an noch anderen in späterer Zeit durch fürstliche P'einschmecker usw. geschehen, v. Martens nimmt nun an, daß auch in Nord- deutschland der Verbreitung der Weinbergschnecke nach Norden zu an vielen Orten durch die Mönche nachgeholfen worden ist. Entscheidend gegen die Einführung durch Mönche, so meint er, könnte es nur sein, wenn die Schnecke in vorgeschichtlichen Fundstätten oder in geologi- schen Ablagerungen nachgewiesen würde. Über das Vorkommen der Weinbergschnecke in vorgeschichtlichen Fundstätten hat sich in Nr. 5 derselben Zeitschrift desselben Jahrganges E.Friedel geäußert und das gänzliche E"ehlen derselben dort betont. Auf das Auftreten der Helix pomatia L. in geolo- gischen Ablagerungen habe ich, von E. v. Martens noch persönlich dazu angeregt, seit Jahren mein Augenmerk gerichtet. Meine Beobachtungen haben nun ebenso wie die Friedel'schen die An- nahme E. v. Marten's durchaus bestätigt. Über das Vorkommen der H. pomatia zur Pliozänzeit wissen wir in Deutschland nichts. In den Cromer Forest beds, sowie den gleichaltrigen belgischen Ablagerungen kommt sie nicht vor. Sie tritt zuerst in den interglazialen Kalktuffen von Cannstatt bei Stuttgart, von Taubach, Gräfen- tonna und Burgtonna bei Weimar sowie von Schwanebeck bei Halberstadt auf. Sie findet sich außerdem im Diluvium der Umgegend von Paris. Sie fehlt indessen dem englischen Diluvium, den Mosbacher Banden sowie sämtlichen übrigen fossil- führenden Diluvialablagerungen des mittleren und nördlichen Deutschlands. Ihr Vorkommen ist auf die hier genannten Fundorte beschränkt, die zu denjenigen Ablagerungen der Interglazialzeiten ge- hören, die überhaupt in ihrer Fauna auf ein war- mes Klima, das fast wärmer als das heutige war, hindeuten. Helix pomatia findet sich hier in Ge- sellschaft mit einigen anderen auffallenden Gästen, die heute teils überhaupt nicht mehr zu unserer Fauna gehören, wie Tachea tonnensis, teils sich ähnlich wie sie selbst verhalten, nämlich im nörd- lichen Deutschland heute die Grenze der Ver- breitung erreichen , wie Cyclostoma elegans. In allen anderen diluvialen fossilführenden Ablage- rungen, deren Fauna irgendwie Spuren von kälte- rem Klima aufweist, fehlt Helix pomatia vollständig. Aus sächsischem Diluvium wird sie von Rob- schütz bei Meißen aus jungdiluvialem Kalktufif, sowie aus Moormergel von Cotta bei Dresden genannt. An letzterem Orte ist ihr Vorkommen sicher nicht diluvial, ja es ist hier überhaupt wahr- scheinlich , daß Helix pomatia sich hier nur in den allerjüngsten alluvialen Schichten findet. Unter den jungdiluvialen Ablagerungen, die man als glaziale bezeichnen muß, wie die Sandlöß- bildungen des Rheintales und die Mammutkiese der Wesergegend, fehlt H. pomatia meiner Kennt- nis nach bisher vollständig. Sie fehlt auch noch den altalluvialen Kalk- tufifen und ähnlichen Conchylien- führenden Bil- dungen des mittleren und des nördlichen Deutsch- lands. Zwar wird sie aus denselben mehrfach angeführt. Indessen hat sich beim Nachprüfen dieser Angaben bisher stets ergeben, daß sie nur in den allerobersten Schichten derselben subfossil und auf ihnen lebend vorkommt. In tieferen Horizonten habe ich sie bisher in zahlreichen kalkigen und torfigen altalluvialen Ablagerungen Thüringens, Hannovers und des nördlichen Harz- vorlandes, die ich untersuchen konnte, nicht ge- funden. Sie ist also tatsächlich im mittleren und nördlichen Deutschland ein Einwanderer späterer Zeit und gehört zur Gefolgschaft des Menschen, zur Quintärfauna von Löns. E. Friedel hatte schon 1888 ausgeführt, daß sie in Gräbern der Stein- und Bronzezeit, der La TenePeriode und in den slawischen Burgwällen nicht auftritt, obwohl besonders letztere viel Schneckenmaterial enthalten. Dagegen findet sich die Schnecke nach v. Martens und Friedel in alten Kirchen- und Klosterstellen des 12. — 13. Jahrhunderts, sowie auf alten Burgplätzen, ein Zeichen dafür, daß sie bei der Einführung des Christentums durch Karl den Großen und seine Nachfolger im nördlichen Deutschland von Mön- chen als Fastenspeise mitgebracht worden sei. Eine urkundliche Bestätigung dieser Einführung durch die Mönche ist mir bis jetzt nicht bekannt geworden. Es gelang mir indessen, im Jahre 1907 durch Funde von Helix pomatia in einer alten Burgruine die Zeit ihrer Einführung etwas enger zu begrenzen. Im Ambergau , westlich vom Harz , zwischen Seesen und Hildesheim, erhebt sich dicht an der Nette südlich von Bockenem der Dalumer Berg. Auf ihm ließ Heinrich I., dessen Geschlecht, die Ludolfinger, in Dalum begütert war und das Grafenamt über den Gau besessen hatte, nach N. \'I1[. Nr. Naturwisseiischattliche Wochenschrift. 555 seiner Ernennung zum deutschen Kaiser eine Pfalz errichten, die indessen nicht Reichseigentum, sondern persönlicher Besitz war. Sein Sohn Otto I. weilte oft und gerne in den Mauern der Kaiserpfalz Dalum. Otto III. schenkte Schloß Dalum lOOi aus Dankbarkeit seinem Lehrer und Kanzler Bischof Bernward von Hildesheim. Von da ab war die kleine Pfalz Dalum in Besitz der Hildesheimer Bischöfe und wurde im Kampfe der Staufen mit den Weifen, in dem der Bischof Bruno von Hildesheim auf selten der ersteren stand, durch Heinrich des Löwen Sohn im Jahre 1190 zerstört und dem Erdboden gleich gemacht. Jahr- hundertelang ging über ihren Schutt der Pflug. Der Fels, auf dem sie gestanden. Oberer Muschel- kalk, wurde seit langem zu Bausteinen gebrochen und in den Steinbrüchen kam unter der Acker- erde der Bauschutt der alten Pfalz zutage. In ihm fand ich menschliche Skelette mit gespaltenen Schädeln , Brandschutt und Resten von Eisen- geräten. Dazwischen kamen auch zahlreiche Schneckenschalen zum Vorschein, Helix hortensis nemoralis, arbustorum und nicht selten Helix pomatia. Diese Schnecke muß also in der alten Kaiserpfalz und nachmaligen bischöflichen Burg schon zahlreich gelebt haben, während sie in den altalluvialen Kalktuffen der Umgegend noch voll- ständig fehlt. Der Schluß, daß die alten Bewohner der Burg, Ritter oder Mönche sie erst eingeführt haben, ist hier wohl durchaus gerechtfertigt. Man wird demnach mit Recht sagen können, daß die Weinbergschnecke in Mittel- und Norddeutschland ihren Einzug zuerst mit der Einfuhrung des Christentums gehalten hat. Es sei im Anschluß hieran noch einiges über bemerkenswerte und neue Fundorte der lebenden Schnecke bekannt gegeben. Für Pommern teilt Leh- mann eine Reihe von Fundorten mit, die von Stettin aus nach Hinterpommern zu führen und in der Regel auf alte mönchische Ansiedelungen hin- deuten. In Hinterpommern selbst fehlt das Tier auf große Erstreckung hin, was hauptsächlich mit der Kalkarmut der hinterpommerschen Dilu- vialbildungen zusammenhängt. Lehmann nennt Helix pomatia von Kolberg. Von Herrn Bezirks- geologen Dr. Finckh wurde ich nun im Sommer 1908 aufmerksam gemacht, daß die Weinberg- schnecke ziemlich häufig in den Stranddünen des kleinen Seebades Gr. iVlöllen bei Köslin auftritt. Diese Dünen sind mit Buschwerk und Graswuchs bestanden und ich konnte mich überzeugen, daß die Tiere dort in Menge und guter Ausbildung vorhanden sind. Etwas kleiner bleiben die Ge- häuse ja durchschnittlich, als in den schwäbischen Schneckengärten, sowie an günstig gelegenen Stellen des südlichen Hannovers. Sie sind indessen ziemlich dickschalig, ein Zeichen, daß es ihnen nicht an Kalk fehlt. Und in der Tat sind die Sande der Stranddünen bei Gr. Mollen nicht kalk- leer, sondern reichlich durchsetzt mit den zer- riebenen Trümmern der Meeresconchylien, die mit dem Sand zusammen an den Strand gespült und vom Wind zu Dünen aufgeweht worden sind. Dieses Vorkommen ist ein schönes Zeichen dafür, wie diese Schnecke jenseits ihrer geschlossenen Verbreitung in der Wahl der geeignetsten Wohn- plätze findig ist. Im übrigen ist auch in der Nähe von Gr. Mollen im Mittelalter eine Nieder- lassung von Mönchen gewesen. Ein weiterer Fundort der Weinbergschnecke in Hinterpommern ist der Schloßpark von Grüssow, dem Dotationsgut des von 1870/71 her berühmten Generals von Werder im Kreise Beigard. Viel- leicht wird sie sich auf den hinterpommerschen Adelssitzen, die vielfach ehedem geistlich waren, sowie an anderen ihr zusagenden Stellen noch häufiger finden. Es ergibt sich also über das Auftreten von Helix pomatia L. im mittleren und nördlichen Deutschland das Folgende: Im Plizoän, also vor der Eiszeit, ist über ihr Auftreten nichts bekannt, da bisher conchylienführende Ablagerungen mit Sicherheit noch nicht nachgewiesen worden sind. Während der ältesten Eiszeit fehlt sie vollständig. Sie tritt zuerst in interglazialen Kalktuffen von Cannstatt, Schwanebeck und Weimar auf. In jüngeren eiszeitlichen und zwischeneiszeitlichen Ablagerungen, die Conchylien führen, ist sie bis- her ebenfalls nicht aufgefunden worden, ebenso- wenig in den nacheiszeitlichen Kalktuffen usw. der älteren Alluvialzeit. Auch in den Gräbern und Kulturstätten der jüngeren Steinzeit, der Bronze-, der La Tene-, Hallstatt- und Slawenzeit ist sie nirgends gefunden worden. Erst in Burg- und Klosterruinen aus der deutschen Kaiserzeit nach Karl dem Großen tritt sie auf, um von da ab sich ganz allgemein über Norddeutschland zu verbreiten und an ihr zusagenden Stätten sich ungemein zu vermehren, so daß sie heute zu den bekanntesten deutschen Schnecken gehört. Es hat sich also durchaus bestätigt, was E. V. Martens im Jahre 1888 über ihre Verbreitung im nördlichen Deutschland ausgeführt hat. Dr. Hans Menzel. H. Molisch, Ober hochgradige Selbst- erwärmung lebender Laubblätter. (Bot. Ztg. 66,1, 1908, S. 211.) — Wie Blüten und keimende Samen, so können auch lebende frische Laub- blätter, entsprechend zusammengehäuft, infolge ihrer Atmung sich stark erwärmen, oft so inten- siv, daß sie infolge der selbsterzeugten Wärme zugrunde gehen. Versuche hierüber lagen bisher nur wenige vor, und die dabei beobachtete Tem- peraturerhöhung war meist sehr unbedeutend. Tatsächlich lassen sich aber in solchen Blätter- massen sehr lebhafte Temperatursteigerungen be- obachten; so, um einige Zahlen zu geben: Car- pinus Betulus nach 9 Stunden S^S^C (bei Außen- temperatur von 22,5"), Robinia Pseudacacia nach 25 Stunden 51" (Außentemperatur 24"), Pirus communis nach 27' 0 Stunden 59"! (Außentempe- 5?6 Naturwissenschaftliche \\'ochensclirift. N. F. YIII. Nr. 35 ratur 15"). Solche Temperaturen können die Blätter natürlicherweise nicht ertragen, sie sterben ab. — Nebenversuche zeigten, daß höhere Wärme- grade in Luft viel weniger schädlich wirken als in Wasser; taucht man ein Blatt zur Hälfte in Wasser von 41', so ist nach 24 Stunden die un- tere Hälfte braun und abgestorben, die obere, bei gleicher Temperatur, noch frisch und lebend. Die Temperatursteigerung läßt sich einem größeren Auditorium auch dadurch vor Augen führen, daß gefärbter Äther in einer in die Blatt- masse eingeführten Röhre zum Sieden gebracht wird. Die lebhafte Erwärmung ist nicht die Wir- kung des Aufkommens von Bakterien oder Schimmelpilzen; zur Zeit des Maximums waren die Blätter noch sehr arm an Mikrobenkeimen. Es folgte aber einige Tage später auf das erste ein zweites, annähernd gleichhohes Maximum, und dieses war durch die Mikrobenvegetation hervor- gerufen. Nicht alle Pflanzen geben derartig hohe Wärme- mengen aus den lebenden Blättern ab. Sehr hohe Erwärmung zeigte sich noch bei Blättern von Tilia sp. (50,8*', = 32,8'^' über die Umgebung), Juglans regia (49,7", = 35,2" -}-), Salix Caprea (47,1", = 35,2** 4") usw. Immergrüne Blätter, von Hedera, Picea, Bergenia, erzielten eine viel ge- ringere Steigerung, was wohl auf den Zusammen- hang zwischen längerer Lebensdauer und geringerer Atmungsintensität zurückzuführen ist. Ganz mini- mal, nur 0,6", war die Temperaturerhöhung in zwei Krautköpfen (Brassica). Da in den Versuchen mit abgeschnittenen Blättern gearbeitet wurde, lag die Vermutung nahe, es könnte der Wu ndreiz die Hauptursache der Erwärmung gewesen sein. Entsprechende Versuche mit langen, samt den Blättern abge- schnittenen Zweigen zeigten jedoch, daß dem Wundreiz nur ein sehr geringer Anteil an der beobachteten Erscheinung zugeschrieben werden darf; die Temperaturerhöhung blieb fast die gleiche. Früchte (Ligustrum vulgare, Pirus communis) und Knollen (Solanum tuberosum) erwärmten sich bei gleicher Versuchsanstellung weit langsamer und auch weniger, nämlich um 5,3" bzw. 0,8" bzw. 1,5" Hugo Fischer. Himmelserscheinungen im September 1909. Stellung der Planeten: Merkur und Jupiter bleiben unsichtbar, k-tzterer steht am l8. in Konjunktion mit der Sonne. Venus ist abends etwa '/2 Stunde lang sichtbar, Mars nud Saturn sind die ganze Nacht hindurch sichtbar, erstorer in den Fischen, letzterer im Walfisch. Opposition des Mars am 24. Herbstäquinoctium am 23. September, 5 Uhr 4^ Min. Nachm. M.IvZ. Algol -Minima finden statt am 18. um 9 Uhr 58 Min. abends und am 21. um 6 Uhr 47 Min. Das Minimum der Mira Ceti fällt auf den 7. September. Aus dem -wissenschaftlichen Leben. In Sachen der L i c h t m c s su ng. — Von zahlreichen Botanikern, Physikern, Meteorologen und Klimatologcn werde ich seit Jahren um Angabe von Normalton, Skalcntönen usw., ferner um Auskünfte über meine Methode der Lichtmessung ersucht. Die Zahl der an mich gerichteten Ansuchen ist schon so groß geworden, daß ich nicht mehr in der Lage bin, den an mich gestellten Anforderungen zu genügen. Ich habe mich deshalb entschlossen, einem verläßlichen Gcscliäftshause die Beistellung der zu lichtklimatischen Unter- suchungen und zu Bestimmungen des Lichtgenusses der Pflan- zen nach meiner Methode erforderlichen Utensilien anzuver- trauen. Die rühmlich bekannte Firma R. Lech n er, k. u. k. Hof- und Universitätsbuchhandlung und photographische Manufaktur, Wien I, Graben 31, hat sich bereit erklärt, Normalton, Skalen- töne, Normalpapier (nach Ed e r ' s Methode haltbar gemachtes Bunsen-Roscoe'sches Normalpapier, kurzweg Bunsen-Eder- Papier genannt) und Gelbglas sowie auch völlig adjustierte Wiesner'sche Insolatoren käuflich abzugeben. Die Eichung des Normaltons und der Skalentöne wird durch mich selbst oder unter meiner Aufsicht erfolgen. Was die Methode anlangt , welche ich für Lichtgenuß- bestimmungen und lichtklimatische Messungen in Anwendung bringe, so wird man ausreichende Daten hierüber in meinem Werke: ,,Der Lichtgenuß der Pflanzen", Leipzig, W. Engel- mann 1907, und in der dort zitierten Literatur finden. Prof. I. Wiesner, Wien I, Universität. Bücherbesprechungen. Sammelreferat über philosophische Schriften. 1) Klassiker der Naturwissenschaften, herausgegeben von Lothar Brieger- Wasser- vogel. V.Band: Lothar Brieger- Wasservogel, „Plato und Aristoteles". Verlag von Theod. Thomas, Leipzig. 184 Seiten. — Preis brosch. 3,50 Mk. 2) Dr. Max Jacobi, „Das Weltgebäude des Kardinals Nikolaus von Cus a". Verlag von Albert Kohler, Berlin 1904. 49 Seiten. — Preis brosch. 1,20 Mk. 3) Dr. Richard Honigs wald, „Über die Lehre Hume's von der Realität der Außen - dinge". CA. Schwetschke & Sohn, Berlin 1904. VIII u. 88 Seiten. 4) Aus Natur und Geisteswelt. 245. Band. K. Schwarze, „Herbert Spencer". Verlag von B. G. Teubner, Leipzig 190g. 131 Seiten. — Preis geb. 1,25 Mk. 5) Dr. A. G. Sinclair, „Der Utilitarismus bei Sidgwick und Spence r". Carl Winter's Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1907. 107 S. — Preis brosch. 2,80 Mk. 6) Wilhelm von Schnehen, „Energetische Weltanschauung". Eine kritische Studie mit besonderer Rücksicht auf W. Ostwald's Natur- philosophie. Verlag von Theod. Thomas, Leipzig. VIII u. 141 Seiten. 7) Ideale und Probleme der Weltanschau- u n g. Naturphilosophische Studienreihe. Zweite Folge. J. Koltan, ,,J. Reinke's dualistische Weltansicht". (Neovitalismus.) Neuer Frank- furter Verlag, Frankfurt a. M. 1908. VIII u. i66 Seiten. — Preis brosch. 2,50 Mk. N. F. VUl Nr. V: Naturwissenschaftliche Wochciisclirift. 557 8) a. Dr. phil. E. Dennert, „Die Weltanschau- ung des modernen Naturforscher s". Ver- lag von Max Kielmann, Stuttgart 1907. 345 Seiten, b. Dr. phil. E. Dennert, „Weltbild und Weltanschauung". Zur Verständigung über das \'erhältnis der freien Xaturforschung zum Glauben. Heft 2 der Schriften des Keplerbundes. G. Schloeßmann's Verlagsbuchhandlung (G. Fick), Hamburg 190S. 83 S. — Preis brosch. 1 Mk. i) Der Herausgeber der „Klassiker der Natur- wissenschaften" empfiehlt sich im fünften Bande der Sammlung durch eine wertvolle Arbeit über die natur- wissenschaftlichen Leistungen der beiden größten Denker des Altertums. In einer Einführung bringt Brieger-W asser vogel auch noch die mindestens ebenso anziehenden, aber bekannteren Anschauungen der vorplatonischen Naturphilosophen. 2) Nicht minder liebevoll orientiert uns Jacobi über das Leben und die naturphilosophischen Lehren des dem Lenze der Renaissance angehörenden Niko- laus von Kues an der Mosel. Der große Kardinal bietet dadurch besonderes Interesse, daß er, angeregt durch die Fülle geographischer, naturwissenschaftlicher und mathematischer Entdeckungen , mit der mittel- alterlichen Lehre zu brechen versucht, ohne sich ihrem Banne völlig entziehen zu können. 3) Vom Standpunkt der kritischen Erkenntnislehre aus gibt Hönigswald eine sorgfältige Erörterung der bedeutungsvollen, aber weniger beachteten H u m e - sehen Realitätslehre, die es mit der Natur unserer Gewißheit von der realen Existenz beharrender Gegen- stände zu tun hat. 4) H u m e ' s Ansehen war im neunzehnten Jahr- hundert sehr zurückgegangen ; die rationalistische Denkweise konnte an der nüchternen, rein beschrei- benden Methode des Philosophen keinen Geschmack finden. Erst in neuerer Zeit findet der große Schotte mehr und mehr Anerkennung. In den Vordergrund des Interesses trat in den letzten Jahrzehnten ein anderer britischer Forscher, Herbert Spencer, der zuerst — und zwar unabhängig von Darwin — die Bedeutung der anorganischen und organischen Entwicklung erkannte und seine Einsichten auch zur Lösung von ethischen und sozialpolitischen Problemen verwandte. In das reichgegliederte System des Philo- sophen führt uns mit Geschick das Werkchen von K. Schwarze ein. 5) Spencer's Soziologie und Ethik sind im Geiste desUtilitarismus entworfen. Diemeisten sehen im Utilitarismus nichts anderes als eine höchst ego- istische Nützlichkeitslehre. In Wirklichkeit bezweckt aber jene Lehre die größtmögliche Lust der G e - samt he it, das Glück aller empfindenden Wesen — also auch der Tiere — mit Einschluß ihrer Nach- kommenschaft, ist also nichts weniger als einseitig- egoistisch. Die Entwicklung ist nach Spencer darauf gerichtet, alle Übel mehr und mehr auszu- schalten, so daß ein entwickeltes, das Leben fördern- des Handeln zu einem Überschusse der Freuden über die Leiden führt. Vollkommenes Leben und Glück- seligkeit können als Ziele des menschlichen Handelns gelten, jenes als mittelbares, dieses als unmittelbares. Sucht Spencer seine Lehre auf empirischer Grundlage aufzubauen, so nimmt Sidgwick, der ebenfalls Utilitarist ist, ein rationalistisches Element in seine Ethik auf Er macht in Anlehnung an Kant die Vernunft zum organisierenden Moment im mora- lischen Bewußtsein und identifiziert das Richtige mit dem Vernünftigen. Das Seinsollen ist bei ihm ein Letztes und Unanalysierbares. Sinclair hat sich der verdienstvollen Arbeit unterzogen, die Lehren der beiden englischen Utili- taristen sorgfältig zu vergleichen und zu beurteilen. Wertvoll ist bei Spencer jedenfalls der Gedanke, daß eine Ethik zuerst untersuchen muß, in welchem Sinne sich der Mensch und die menschliche Gesell- schaft entwickeln. Bedenklich aber ist es , daß Spencer seine Lehre nicht auf objektiver, sondern auf subjektiver Grundlage aufbaut. Er sieht das ethische Verlialten dadurch bestimmt, daß dem nor- malen Leben ein Überschuß an Lust zukomme, daß sich mit der Entwicklung des Lebens die Glückselig- keit mehre, ja daß sie schließlich nach Ausbreitung und Stärke einen Höchstwert erreiche. In S i d g w i c k ' s Auffassung dagegen , die von Sinclair für die tiefere gehalten wird , stört uns der metaphysische Gehalt. Unseres Erachtens ist ein ethisches Verhalten durchaus unabhängig davon , ob die Lustsumme zu- oder abnimmt. Die Beobachtung lehrt, daß die Handlungen der Menschen trotz mancherlei Hemmun- gen mehr und mehr in ein stabiles Verhältnis zu den Vorgängen der Natur und zu den Handlungen der übrigen Menschen treten. Eine empiristische Philo- sophie wird nun ein objektives Maß für die Zunahme der Anpassung gewinnen müssen ; sie wird ferner zu zeigen haben , daß mit einer vermehrten Anpassung der zentralnervösen Systeme der Menschen aneinander und an die außermenschliche Umgebung sich ethische Gefühle der Verpflichtung, des Sollens und dergleichen ausbilden, daß aber diese Gefühle keineswegs mit den- jenigen der Lust oder Unlust verknüpft zu sein brauchen, wenn sie ihnen auch in der Regel zuge- sellt sind. 1) 6) Selten hat sich ein Naturphilosoph mehr der Kritik ausgesetzt als W. Ostwald. Von Haus aus der beschreibenden Methode zugetan, glaubte er jeden- falls in seiner Energetik eine neue physikalische Theorie im strengsten Sinne des Wortes aufgestellt zu haben. Aber seine eigenartige geistvolle Lehre genügte weder allen Ansprüchen der Naturforscher, noch fand sie den Beifall des Philosophen. Ohne es zu ahnen, war er in die Schlingen der Metaphysik geraten. — Schnehen gibt in seiner Studie nicht nur einen klaren Überblick über die Ostwald'schen Lehren, sondern liefert auch eine vielfach berechtigte Kritik. Indes müssen wir entschieden gegen die Auf- fassung vom „unheilvollen" Einflüsse Ernst Mach 's Einspruch erheben; ferner sind wir nicht davon über- zeugt, daß Naturwissenschaft lediglich im Sinne ') Vergleiche Pctzoldt, „Einiges zur Grundlegung der Sittenlehre". Vierteljahrsschrift für wissenschaftl. Philosophie XVII u. XVIII ; ferner Matzat, „Philosophie der Anpassung". G. Fischer in Jena. SS8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 35 des transzendentalen Realismus möglich sei ; die „gesetzmäßig bestimmte Kraft oder Kraftäußerung" können wir nicht als die einzige Realität und den letzten Begriff der Physik ansehen ; schließlich ver- halten wir uns gegenüber immechanischen und über- energetischen Kräften mehr als skeptisch und wagen es nicht, unsere Zuflucht bei einem Unbewußtgeistigen zu suchen. 7) Zu den Naturforschern, die sich einer scharfen Kritik ausgesetzt haben, gehört, wie allgemein be- kannt, auch der Botaniker Reinke. Unbefriedigt von der vorsichtigen Zurückhaltung, zu der ein rein beschreibendes Verhalten nötigt, sucht er die Lücken des naturwissenschaftlichen Weltbildes durch kühne Hypothesen auszufüllen. Mehr phantasievoller Dichter als nüchtern analysierender Philosoph, sieht er iu der Welt ein Kunstwerk, das ohne die Existenz einer kosmischen, nach Zwecken handelnden Intelligenz nicht denkbar ist. Er gehört zu denen , die , wie James es nennt, ein rationalistisches Temperament besitzen, denen der Empirismus zu rauh, fatalistisch, pessimistisch und irreligiös ist. — Koltan, der schon über Häckel eine beachtenswerte Arbeit ge- liefert hat , unterzieht R e i n k e ' s dualistische Welt- anschauung einer lehrreichen Kritik. Wir können die in vornehmem Geiste geführte Besprechung emp- fehlen, wenn uns auch die monistischen Anschauungen K o 1 1 a n ' s selbst noch viel zu rationalistisch sind. 8) Ein Geistesverwandter von Reinke ist Dennert, der seine philosophischen Ansichten in einer Schrift des Keplerbundes, in „Weltbild und Weltanschauung", übersichtlich niedergelegt hat. — Die Naturwissenschaft vermag nach seiner Auffassung nur Tatsachen zu beschreiben. Wenn sie sich in vielen Fällen noch der Hypothesen bedient, so braucht sie doch nicht die Grenzen einer möglichen Er- fahrung zu überschreiten. Der Naturforscher widmet sich seiner Arbeit so, als ob es weder Gott noch Zufall gäbe. Aber bei dem Weltbilde, das er so erhält, bleibt er nicht stehen, vielmehr sucht er dessen Lücken durch metaphysische Konstruktionen auszu- füllen. In seiner „Weltanschauung der modernen Natur- forscher" zeigt Dennert, daß Gelehrte wie Häckel, Wallace, Verworn, Roman es, Ostwald, Driesch, Reinke mehr oder weniger das Bedürf- nis haben, an die Stelle des Weltbildes die Weltanschauung zu setzen, aus dem beschrei- benden Verhalten zum erklärenden überzugehen. Die Einschaltung von metaphysischen Elementen, die das bestehende Wissen lediglich verwertet, keines- wegs beeinflußt, ist nicht mehr das Geschäft der Naturforschung, sondern das der Philosophie. Die so gefundenen Urteile sind nicht mehr Gegenstand des Wissens, sondern des Glaubens. Da das Wissen selbst nicht beeinflußt wird, so stehen Wissen und Glauben nicht im Gegensatze, sondern verhalten sich durchaus neutral zueinander. Ein unbefangener Beurteiler wird nichts einzu- wenden haben, wenn ein Naturforscher sich das Vergnügen macht, aus einem Weltbilde durch Ein- schaltung metaphysischer Annahmen eine Weltan- schauung zu gewinnen. Leider aber ist eine reinliche Scheidung zwischen Glauben und Wissen selten. In der Regel beeinflußt die Weltanschauung das wissen- schaftliche Arbeiten. Häckel und Reinke sind Beispiele dafür, daß fast jedes der Metaphysik ge- machte Zugeständnis auch in der Erforschung der Tatsächlichkeit Spuren hinterläßt und einer rein be- schreibenden Tätigkeit im Wege steht. Unserer Ansicht nach verhalten sich Wissen und Glauben nicht immer indifferent. Dennert stellt offenbar die Philosophie als erklärende Wissen- schaft in Gegensatz zur Naturwissenschaft als einer beschreibenden Wissenschaft. Soll aber eine rein beschreibende Wissenschaft nicht auch das Recht haben, zu Er klär u nge n , z. B. zu Weltanschauun- gen, Stellung zu nehmen? Wer freilich unter „Natur" lediglich den Inbegriff aller physischen Gegenstände und deren Beziehungen versteht, wird auf die Prüfung der mit objektiven Tatsachen nicht unmittelbar ver- knüpften Schöpfungen der Phantasie verzichten dürfen. Wir sind indes der Ansicht, daß der Begriff „Natur" weiter zu fassen ist als der der sogenannten „äußeren Welt", daß er vielmehr auch die subjektiven Tat- sachen und deren Beziehungen zu objektiven Tat- sachen einschließt. Wir verlangen auch von der Philosophie, daß ihre Methoden in Übereinstim- mung stehen mit denjenigen der übrigen Wissen- schaften ; wir verlangen von ihr, daß sie die Forschungs- grundlagen und Forschungswege prüfe , daß sie die in den wissenschaftlichen Beständen versteckten Wider- sprüche aufdecke und neue Perspektiven und Probleme schaffe, daß sie insbesondere auch Weltanschauungen sorgfältigst analysiere. Wir schreiben somit unserer Philosophie das Recht zu, einen jeden Glauben auf seine logische Struktur zu untersuchen, die zugrunde- liegenden Urteile und Gefühle zu beschreiben und zu klassifizieren. Wenn wir uns ferner die wohlbe- gründete , im Range einer physikalischen Theorie stehende Lehre aneignen, daß alle psychischen Vor- gänge, also auch das Urteilen, von nervenphysiologi- schen Prozessen funktional abhängig sind, so ergibt sich noch das wichtige Problem von der biologi- schen Bedeutung der Glaubenssätze. Eine positivisti- sche Philosophie untersucht also auch , ob Urteile irgendwelcher Art dauernden Wert haben oder ob sie die Keime der Selbstvernichtung in sich tragen. Zunächst betonen wir, daß das Glauben eine äußerst wichtige , durchaus notwendige Funktion ist. Wenn ich den Satz aufstelle, daß meine Mitmenschen ähnlich wie ich empfinden und denken, so stelle ich eine Hypothese auf, die sich gegen jede Logik gleich- gültig verhält. Aber die fast volle Übereinstimmung zwischen meinem und meiner Mitmenschen Handeln, ganz besonders aber die Tatsache, daß die Aussagen meiner Mitmenschen mich selbst unzähligemal zu neuen Bestandteilen der Wirklichkeit geführt haben und noch immer hinführen , machen jene Annahme so zuverläßlich, so selbstverständlich, daß ich ihren hypothetischen Charakter gar nicht beachte. Der Glaube an die Richtigkeit der, wie Avenarius es nennt, „empiriokritischen Grundannahme der prinzi- piellen menschlichen Gleichheit" ist, wie ein Mathe- N. F. VTII. Nr. 35 Naturwisscnsrhaftlichc W'ochcnschrilt. 559 matiker sagen würde, von einem Wissen nur unend- lich wenig verschieden. In ähnlicher Weise scheniriginalemj>findungen. I. Fortsetzung der „Mneme". (XV, 392 S.) gr. 8". Leipzig '09, W. Engelmann. — 9 Mk., geb. in Leinw. 10 Mk. Stuhlmani], Dr. Frz. : Beiträge zur Kulturgeschichte von Ost- afrika. Allgemeine Betrachtungen u. Studien üb. die Ein- führung u. wirtschaftl. Bedeutg. der Nutzpflanzen u. Haus- tiere m. besond. Berücksicht. v. Deutsch-Ostafrika. (XXIll, 907 S.) Berlin '09, D. Reimer. — Geb. in Halbfrz. 95 Mk. Süßwasserfauna, die, Deutschlands. Eine Exkursionsfauna, hrsg. v. Prof. Dr. Brauer. 8". Jena, G. Fischer. Uphues, Prof. Dr. Goswin: Geschichte der Philosophie als Erkenntniskritik. Leitfaden f. Vorlesungen. (XIII, 174 S.) gr. 8". Halle '09, M. Niemeyer. — 3 Mk., geb. in Leinw. 3,60 Mk. — — , Erkenntniskritische Psychologie, Leitfaden f. Vorlesgn. (VIII, 140 S.) gr. 8". Halle '09, M. Niemeyer. — 2,80 Mk , geb. in Leinw. 3,40 Mk. Wundt, Wilh. : Grundriß der Psychologie. 9., verb. Aufl. (XVI, 414 S. m. 23 Fig.) 8". Leipzig '09, W. Engelmann. — Geb. in Leinw. 8 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn K. Pr. in E. — Über die pontischen Pfianzen- genossenschaften Ihres Gebietes (Egertal in Böhmen) finden Sie wohl am besten Auskunft in dem großen zusammenfassen- den Werke von O. Drude, Der Hercynische Florenbezirk (Leipzig, W. Engelmann, 1902; Bd. VI der ,, Vegetation der Erde"); auf S. 538 findet sich ein Abschnitt über das Vogt- land, Elstergebirge und das Eger-Bergland. Von Werken allgemeineren Inhalts, in denen pontische Pflanzen behandelt werden, seien noch genannt: O.Drude, Deutschlands Pflan- zengeographie (Stuttgart 1906); A. Schulz, Grundzüge der Entwicklungsgeschichte der Pflanzenwelt Mitteleuropas (Jena 18941, ^gl- ^"ch desselben Verf. .Xbhandlung „Über die Ent- wicklungsgeschichte der gegenwärtigen phanerogamen Flora Mitteleuropas", in Bericht. Deutsch. Bot. Ges. XX (1902) 54. — Die biologischen Verhältnisse pontischer Formationen be- handelt P. Gra ebner. Die Pflanzenwelt Deutschlands (Leipzig, Quelle & Meyer, 1909). — Über die Bedeutung Ihrer Funde würden Sie am besten von Herrn Prof. Dr. D r u d e (Dresden, Bot. Garten) Auskunft erhalten. H. Harms. Herrn Prof. V. in P. — Literatur über Flechten. Das neueste zusammenfassende Werk ist die Abteilung Flechten in Engler-Prantl, Nat. Pflanzenfam. I. l*. (1907), Leipzig, \V. Engelmann, 12 Mk.) die von Fünfstück und Zahlbruck- ner bearbeitet ist. Zum Bestimmen ist empfehlenswert: P. Sydow, Die Flechten Deutschlands (Berlin 1887; 4 Mk. antiq.); B.Stein, Flechten, inCohn, Kryptogamenflora von Schlesien, II. Bd., 2. Hälfte {1879). — H. Olivier, Expose systematique et Description des Lichens de la France (Paris 1S97). — Jatta, Sylloge Lichenum italicorum (1900). — Dalla Torre-Sarnthein, Die Flechten von Tirol (Inns- bruck 1902; eine Aufzählung mit sehr reicher Literatur). — Ilarraand, Lichens de France (im Erscheinen begriffen; 3 Lief.); Harm and, Guide elem. du Lichenologue (1904). Es gibt außerdem noch einzelne .Abhandlungen, die beschränk- tere Gebiete umfassen , zur Einführung in das Studium , das sehr anzuraten ist, eignen sich aber nur umfassendere Werke. H. Harms. Herrn W. L. in Fr. — Der überseeische Transport le- bender Pflanzen geschieht im allgemeinen mit Hilfe Ward- scher Kästen, die gewissermaßen ein kleines Gewächshaus darstellen. Ein solcher Kasten besteht aus einem flachen, metallenen oder hölzernen, gut gestrichenen Bodenstück mit einem metallenen oder hölzernen Gestell zur .Aufnahme von Glaswänden und einer Glasdecke. Das Bodenstück füllt man mit Erde, äteckt in diese die Samen oder Pflanzen, begießt und schließt dann den Kasten vollständig. Man kann natür- lich auch eine Anzahl Töpfe mit jungen Pflanzen in einen solchen Kasten stecken, die dann natürlich mit Bindfäden und geeignetem Zwischenmaterial so fest verpackt werden müssen, daß sie alle Erschütterungen ertragen können. Für Pflanzen, die nicht so leicht austrocknen, die also succulente Stengel oder Blätter besitzen, eignen sich auch Kisten mit Lattenver- schluß oder Wänden , die zum Teil aus Latten gebildet wer- den; völliger Lut'tabschluß ist nämlich schädlich. In solchen Kisten müßten die Pflanzen natürlich auch sehr fest verpackt werden. Man kann auch, um Luftzutritt zu ermöglichen, in einer Kiste Luftlöcher anbringen. Knollen, Zwiebeln und succulente Stengelstücke halten sich oft sehr gut in einer ver- schlossenen gewöhnlichen Kiste, in der man sie zwischen Holzspänen oder Torfmull verpackt. .\m besten würde Ihnen wohl über diese Dinge ein Gärtner Auskunft erteilen, der mit dem überseeischen Transport Bescheid weiß, etwa am Bot. Garten zu Dahlem bei Berlin, oder an einer größeren Gärtnerei. H. Harms. Herrn W. O. in H. — Vielleicht genügt Ihnen H. A. Lorentz, Ergebnisse und Probleme der Elektronentheorie, Berlin, 1906 (Preis 1,50 Mk.) oder auch der noch kürzere und leichter verständliche Vortrag von Mie, Ionen und Elek- tronen (Stuttgart 1903, Preis 1,20 Mk.). Die gegenwärtige Atom- und Molekularhypothese finden Sie sehr gründlich dargestellt in Hinrichsen's Vorlesungen über chemische Atomistik. Leipzig 1908 (Preis geb. 7 Mk.). Dieses letztere Buch behandelt auch die Theorie der Ionen und Elektronen. Kbr. Inhalt: Prof. Johannes Meisen heimer: Über die Beziehungen zwischen primären und sekundären Geschlechtsmerk- malen bei den Schmetterlingen. — Kleinere Mitteilungen: I3r. Hans Menzel: Über das Vorkommen der Weinberg- schnecke (Helix pomatia L.) in Deutschland. — H. Moliscli: Über hochgradige Selbsterwärmung lebender Laub- blätter. — Himmelserscheinungen im September 1909. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechun- gen: Sammel-Referat über philosophische Schriften. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichtcrfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche liuclidr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Kolge Vm. r.;.n.l ; der ganreii Keihc WIV. Banil. Sonntag, den 5. September 190g. Nummer 36. Über den Molekularzustand der kristallisierten Materie. [Nachdruck verboten. 1 Von Dr. R. Marc, Es würde wolil angebracht erscheinen, bevor wir uns mit dem Molekular/.ustand beschäftigen, eine Definition des Begriftes Molekül vorausgehen zu lassen. Zweifellos stellt sich ja das Molekül dem Geist eines Laien, eines Physikers oder eines Chemikers ganz verschieden dar. Tatsächlich werde ich im Laufe dieser Abhandlung ein paar- mal Vermutungen über die Eigenschaften der Moleküle äußern, ohne natürlich irgendwelche Be- hauptungen über ihre Form oder Größe aufzu- stellen. Solche Vermutungen sind zulässig, wenn sie entweder dazu dienen sollen, eine Reihe be- kannter Erscheinungen unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zusammenzufassen und so eine Basis für weitere Forschung zu bilden, oder aber wenn die willkürlich eingeführten Vorstellungen bei einer Beweisführung nur als gedankliches Hilfsmittel dienen sollen, das sich am Ende der Beweiskette wieder heraushebt. Niemals aber dürfen theoretische Begriffe als Erklärung an sich oder gar als gültiger Beweis dienen. Wenn wir aber gewisse theoretische Vorstellungen bei un- seren Überlegungen zu Hilfe nehmen, so können wir nur dann zu brauchbaren Resultaten gelangen, wenn wir keine Voraussetzungen machen, die physikalischen Gesetzen widersprechen oder der chemischen Erfahrung direkt zuwiderlaufen. Prüfen wir von diesem Gesichtspunkt aus die in den meisten Lehrbüchern für Anfänger und Laien gegebene Definition eines Moleküls, als des kleinsten mechanisch nicht mehr teilbaren Masse- teilchens eines Stoffes, so müssen wir dieselbe zum mindesten als unvollständig bezeichnen. Wenn es überhaupt eine Größengrenze der Teil- barkeit geben kann, dann müßten wir annehmen, daß alle Moleküle gleich groß wären, was aber natürlich nicht der P'all ist. So ist ein Eiweiß- molekül sicher einige hundertmal größer als ein Wasserstoffmolekül. Wenn wir überhaupt die Unteilbarkeit als Kriterium des Moleküls gelten lassen wollen, dann müssen wir sagen: „Das Molekül ist der kleinste Teil, der nach einer ganz bestimmten Methode der Teilung erhalten werden kann." Ein gutes Mittel, um Stoffe fein zu verteilen, ist, sie in Lösung zu bringen. Es hängt nun aber ganz vom Lösungsmittel ab, wie fein die Ver- teilung ausfällt: So ist z. B. Essigsäure im Benzol zum größten Teil als Doppelmolekül (CH.jCOOHjj enthalten , im Wasser dagegen als einfaches Molekül CH3COOH. Wir sehen also an diesem einfachen Beispiel, daß die Grenze der Teilbarkeit bei Anwendung verschiedener Methoden eine ver- PrivaUlozent in Jena. schiedene ist, und daß somit die Molekülgröße eines beliebigen Stoffes nichts Definiertes ist, son- dern wechselt je nach dem Zustand, in dem sich der betreffende Stoff gerade befindet. Für unsere Betrachtungen ist es nun aber gänzlich gleichgültig, ob die Moleküle noch weiter teilbar sind, ob sie vielleicht ihrerseits aus Sub- molekülen und diese aus noch feineren Massebe- standteilen bestehen, wir wollen nur feststellen, daß die Materie nicht kontinuierlich, sondern dis- kontinuierlich aus Teilchen unsichtbarer Größen- ordnung aufgebaut ist, und über die Teilchen zu- nächst weiter keinerlei Angaben machen. Die Diskontinuität ist nun aber zweifellos ein direktes Postulat aus der Fähigkeit der Materie, komprimiert werden zu können, denn anderenfalls müßten wir ja bei der Kompression einen Körper an einen Raum bringen, der bereits von einem anderen eingenommen wird, was im Widerspruch mit dem Grundgesetz der Phj'sik stünde. Daß die Teilchen in Bewegung sind, resultiert aus der einfachen Beobachtung, daß komprimierte Stoffe, beispielsweise Gase, nach Aufhebung der wirken- den Kraft ihr früheres Volum wieder einnehmen. Daß schließlich die Bewegung eine P'unktion der Temperatur ist, geht einfach daraus hervor, daß der Druck der Gase mit der Temperatur zunimmt. Wie eben schon hervorgehoben, sind alle die genannten Erscheinungen (Komprimierbarkeit, Volumänderung, Druckänderung mit der Tem- peratur) an Gasen am leichtesten zu beobachten, und es ist daher kein Wunder, wenn auch auf Grund dieser an Gasen gemachten Beobachtungen die kinetische Molekulartheorie entstanden ist, und an den Gasen zuerst geprüft worden ist. Auf Grund einfacher physikalischer Bewegungs- gesetze von Masseteilchen konnten zunächst die schon längst empirisch bekannten Formeln für das Verhalten der Gase bei wechselndem Druck und wechselnder Temperatur abgeleitet werden, sowie das bekannte Gesetz von Avogadro, welches bekanntlich besagt, daß in gleichen Räumen verschiedener Gase gleich viele Moleküle enthalten sind, und auf welches sich die erste Be- stimmung des relativen Teilchengewichts im Dampfzustand, die Dampfdichtebeslimmung, grün- dete. Aber ihr Meisterstück legte die kinetische Gastheorie ab in der van der Waals sehen P'ormel. Sie war ursprünglich dazu bestimmt, die Abweichungen von den Gasgesetzen bei hohen Drucken zu erklären, indem sie annahm, daß hier gegenüber dem leeren Raum der von den Mole- külen eingenommene bereits eine wesentliche 562 Naturwissenschaftliche Wochenschritt. N. K. \nU. Nr. 36 Rolle spielt, und daß zwischen den Molekülen anziehende Kräfte bestehen, die sich bei großer Nähe derselben bemerkbar machen. Aber die Formel löste nicht nur diese Aufgabe in sehr be- friedigender Weise, sie vermochte es auch, in einem einzigen Ausdruck das ganze Grenzgebiet zwischen dem gasförmigen und dem flüssigen Zustande aufzuklären und der Rechnung zugängig zu machen. Mit Hilfe der van der Waals'schen Formel, die aus der kinetischen Gastheorie ab- geleitet ist, sind wir imstande, aus der Kenntnis der Abweichung von den Gasgesetzen die kri- tischen Daten eines Stoffes zu berechnen. Die Formel aber lehrt uns ferner, und das dürfte hier für uns das Wesentlichste sein, daß zwischen dem gasförmigen und dem flüssigen Zustand nicht nur oberhalb der kritischen Temperatur, wo er sich auch praktisch realisieren läßt, sondern auch unterhalb derselben ein kontinuierlicher Übergang bestehen muß. Ist dies aber der Fall, dann können wir unsere molekularkinetische Anschau- ung auch ohne weiteres auf die Flüssigkeiten übertragen, denn wir können uns nicht vorstellen, daß beim kontinuierlichen Übergang die mole- kulare Struktur plötzlich eine Änderung erfahren sollte. Während es uns aber ein Leichtes ist, die relativen Molekulargewichte in Gasform durch die Methode der Dampfdichte zu bestimmen, so ist die Antwort auf die Molekulargröße im flüssigen Zustand schwerer zu geben. Erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gelang esEötvös, das Molekulargewicht in Beziehung zu gewissen meß- baren Eigenschaften der Flüssigkeiten zu bringen, nämlich zu der Oberflächenspannung. Es ergab sich, daß die in Dynen ausgedrückte Oberflächen- spannung einer Flüssigkeit multipliziert mit der %-Fotenz ihres Molekularvolums eine ganz be- stimmte Änderung mit der Temperatur erfährt, die unabhängig ist von der Natur der Stoße. Die Beziehung von Eötvös lautet: /M\^ 46—78" 78—132" 2,43 1,97 3.32 2,77 das einfache Mole- ^K(T-To). In diesem Ausdruck ist / die Oberflächen- spannung, M das Molekulargewicht, d das spez. M Gewicht, also , das Molekularvolum, T die Ver- suchstemperatur, To eine von der kritischen nur wenig verschiedene Temperatur und K eine Kon- stante. Von Ramsay u. Shields ist eine formell nicht sehr verschiedene Beziehung aufgestellt worden und nach derselben sind die Molekulargrößen zahlreicher Flüssigkeiten berechnet worden. Die Bestimmungen haben ergeben, daß die Molekular- größe zahlreicher Flüssigkeiten dieselbe ist wie im Gaszustande, für andere aber das Zwei- bis Drei- fache beträgt. Eine Auswahl der Resultate ist in der Tabelle i zusammengestellt. Die Abnahme der Assoziation mit der Tem- peratur ist aus folgenden Zahlen ersichtlich : 16-46» Äthylalkohol x = 2,74 Essigsäure x ^ 3,62 In dieser Tabelle ist M kulargewicht, x der Assoziationsgrad, x >; M also das tatsächliche Molekulargewicht in dem be- treffenden Zustand. In der Folge waren zahlreiche Forscher be- müht, noch andere Beziehungen zwischen meß- baren Eigenschaften und den Molekulargewichten von F'lüssigkeiten aufzufinden. Wir können hier- auf natürlich nicht eingehen und wollen nur die Resultate der umfangreichen Untersuchungen Walden's aus der allerjüngsten Zeit erwähnen. Auf Grund einer Beziehung zwischen Kohäsion, Molekulargewicht und Schmelzpunkt bestimmt Waiden die Molekulargewichte zahlreicher Stoffe bei ihrem Schmelzpunkt. Er findet zunächst bei einer großen Reihe von Stoffen nach seiner Methode die gleichen Werte wie nach der Methode von Ramsay u. Shields. Er vermag aber seine Methode auch auf schwerer schmelzende Stoße, wie Metalle und anorganische Salze, auszu- dehnen. Für die elementaren Metalle findet er fast durchweg einatomige Moleküle. Danach zeigen also die Metalle bis hinab zu ihrem Schmelzpunkt einatomigen Molckularbau. Da- gegen werden für die Metalloide außerordentlich hohe Werte gefunden, für Phosphor und Selen 6 — 7 für Schwefel 10. Selir interessant sind auch die Ergebnisse an anorganischen Salzen, von denen einige bei ihrem Schmelzpunkt sehr starke, andere nahezu gar keine Assoziation zeigen. Besonders stark assoziiert erscheinen die Halogenverbin- dungen der Alkalien. Eine Auswahl seiner Ergebnisse folgt in nach- stehender Tabelle 2. Aus den angeführten Messungen wie auch aus denen der übrigen Forscher geht als unzweifel- haftes Resultat hervor, daß viele Stoße im flüssigen Zustand aus größeren Molekülen be- stehen als im Dampfzustand. Da nun aber der Übergang aus dem gas- förmigen in den flüssigen Zustand, wie wir oben erwähnten, kontinuierlich ist, so müssen wir in solchen Fällen, wo die Flüssigkeit assoziiert ist, auch im Gaszustand eine teilweise, wenn auch noch so geringe Assoziation annehmen, und an- dererseits werden die Moleküle einer Flüssigkeit nicht etwa alle doppelt oder dreifach sein, son- dern wir müssen annehmen, daß beispielsweise in einer Flüssigkeit mit doppelter Molekulargröße der größte Teil der Moleküle zu Doppelmolekülen assoziiert ist, ein kleiner Teil aber nicht assoziiert und ein anderer kleiner Teil vielleicht noch weiter, z. B. zum dreifachen Wert assoziiert ist. Im all- gemeinen wird sowohl im Gaszustand wie auch im flüssigen Zustand das Verhältnis zwischen assoziierten und nicht assoziierten Molekülen mit zunehmender Kondensation, sei es durch Ab- kühlung sei es durch Druck, zugunsten der ersteren N. F. Vm. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 563 Tabelle i. Temperatur 10 —40" C. Nicht assoziierend Assoziierend Stoff X X M Stoff X X M Schwefelkohlenstoff 1,07 :■. 76 Methylalkohol 3,43 X 32 Stickstoft'peroxyd 1,01 >, 92 Äthylalkohol 2,74 X 46 Phosphorchlorür 1,02 X 137,2 Propylalkohol 2,25 X 60 Phosphoroxychlorid 1,00 X 153,5 Butylalkohol 1,94 X 74 Tetrachlorkohlenstoff 1,01 X 153,6 Amylalkohol 1,97 X 88 IVIerkaptan 1,04 X 62 Allylalkohol 1,88 X 58 Athyläther 0,99 X 74 Glycol 2,92 X 62 Benzol 1,01 X 78 Ameisensäure 3,61 X 46 Chlorbenzol 1,03 X 112,4 Essigsäure 3,62 X 60 Nitrobenzol 0,93 X 123 Propionsäure 1,77 X 74 Pyridin 0,93 X 79 Buttersäure 1,58 X 88 Piperidin 1,08 X 85 Valeriansäure 1,36 X 102 Kapronsäure 1,49 X 116 Tabelle 2. Nicht assoziierend Assoziierenc organisch Elemente Nichtmetalle Stoff X Stoff X Stoff X Chlorbenzol 1,02 Wasser 3,58 Brom Br., 2,03 Anisol 0,98 Ameisensäure 3,4 Phosphor P 6,6 Phenetol 0,93 Essigsäure 3,3 Antimon Sb 3,0 Brombenzol 0,98 Glycol 1,74 Schwefel S 10,3 Anilin 1,07 0,97 Benzol 1,85 Selen Se 6,5 Nitrobenzol Diphenyl Diphenylamin 1,07 0,94 Elemente Metalle Salze anorganiscl" 1 Blei Pb 1,1 Kaliumnitrat 1,8 Kadmium Cd 1,0 Natrium nitrat 2,1 Wismut Bi 1,1 Natriumchlorid 10-8 Zink Zn 1,5 Natriumbromid 8 Kalium K 0,9 Kaliumchlorid 8—6 Natrium Na 1,1 Natriumsulfat 1,7 Silber Ag 2,7 Kaliumkarbonat Cadmiumchlorid Antimonbromid Silbernitrat 1,9 5 1,3 1,42 564 Naturwissenschaftliche \\'ochcnschrift. N. |-. \'ni. Nr. ^6 sich verschieben. TatsächHch kennen wir auch viele Stoffe, die im Gaszustand bereits merklich assoziiert sind, wie die Essigsäure nnd vor allen Dingen das Stickstoffdioxyd NO.,, das bei mitt- leren Temperaturen im Gaszustand zum großen Teil zu (N._,0., ).> assoziiert ist. Für den Übergang aus dem flüssigen in den kristallinischen Zustand haben wir leider keine der van der VVaals'schen Gleichung analoge Formel, und wir wissen daher nicht, wie weit dieser Über- gang kontinuierlich erfolgen kann. Von einigen Forschern, in erster Linie auch Ostwald, ist ein ganz analoger Übergang wie zwischen flüssig und gasförmig vermutet worden; doch ist ein solcher Übergang, der einen kri- tischen Punkt flüssig-fest postulieren würde, nach den experimentellen Befunden Tamman's, Rooze- boom's u. a. sehr unwahrscheinlich. Daher ist uns auch vorläufig jede einiger- maßen bestimmte Vorstellung vom Molekular- zustand der Kristalle verschlossen, und doch müssen wir uns sagen, daß wohl so manches interessante und wichtige Problem über die vielgestaltigen Er- scheinungen des Kristallisationsvorganges seine Lösung finden würde , wenn wir ein wenig näher über den molekularen Bau der Kristalle unter- richtet wären, untersuchen wir zunächst, wieweit überhaupt die molekular-kinetische Vorstellung für den festen Zustand einen Zweck resp. einen Sinn hat. Wir wollen ein Molekül nochmals definieren ; als ein Masseteilchen, das räumlich von einem anderen Masseteilchen getrennt ist, sonst aber seinerseits beliebig komplex sein kann. Zweitens muß für diesen letzleren F'all gelten, daß zwischen den Komplexteilen eine festere Verbindung besteht als zwischen den einzelnen Molekülen. Nach dieser Definition wären beispielsweise in Fig. i die vier Komplexe a, b, c, d als Moleküle anzu- sehen, wenn bei einer Vergrößerung des Gesamt- volumens zunächst nur die Abstände zwischen a h • •• ••• • •• o»* • •• ••• c d • •• ••• • •• ••• • •• ••• Fig. I. diesen vier Komplexen erhöht würden, ohne daß dieselben in sich zerfielen. Denken wir uns nun die Bewegung der Moleküle einer Flüssigkeit einen Augenblick gehemmt und geordnet, so müssen wir das Bild Fig. 2 erhalten, wo jeder Punkt einem Flüssigkeitsniolekül entspricht, und wo die mittl eren Abstände der Moleküle gleich sein müssen, da ja in jedem Flüssigkeitsraum- teilchen gleich viel Moleküle enthalten sind und die Flüssigkeit isotrop ist, d. h. in jeder Richtung die gleichen Eigenschaften hat. Wir lassen nun Kristallisation eintreten, d. h. die Substanz nimmt vollständig andere Eigen- schaften an, die nicht sowohl dadurch gekenn- zeichnet sind, daß sie fest wird, als dadurch, daß sie anisotrop wird, d. h. in verschiedenen Rich- tungen verschiedene Eigenschaften erhält. Hierbei ändert sich zwar im allgemeinen das Volumen, aber doch nur wenig und zwar in beiderlei Sinn. •••••• Fig. 2. Wie können wir uns nun diese Erscheinung erklären? Wir können meines Erachtens im wesentlichen drei Möglichkeiten berücksichtigen: a) Jedes Molekül der Flüssigkeit besitzt bereits vektorielle Eigenschaften. Die isotropen Eigen- schaften kommen nur dadurch zutage, daß die Moleküle ungeordnet sind. Im Augenblicke der Kristallisation nehmen alle Moleküle gleiche Rich- tung ein und daher summieren sich die Eigen- schaften der Moleküle in jeder Richtung, es ent- steht ein Kristall, dessen äußere P'orm bedingt ist durch die in verschiedenen Richtungen ver- schiedenen Kräfte, mit denen er sich gegen das umgebende Medium abgrenzt. b) Die zweite Möglichkeit ist, daß bei der Kristallisation Assoziation eintritt, d. h. daß sich mehrere Moleküle zusammenballen, um ein ein- ziges Kristallmolekül zu bilden. Diese Zusammen- rottung muß in bestimmter, gesetzmäßiger Weise eintreten. Dadurch werden Molekülkomplexe räumlich voneinander getrennt, wir erhalten größere , assoziierte Kristallmoleküle. Als Vor- bedingung wäre nur notwendig, daß die einzelnen Moleküle nicht gleich groß wären, eine Annahme, die auch die kinetische Gastheorie im allgemeinen macht. c) Schließlich können wir noch den P^all an- nehmen, daß die P'lüssigkeitsmolekeln isotrop sind, und daß bei der Kristallisation die Moleküle selbst geändert werden. Wir wollen jetzt sehen, was sich aus dem Schatz der bestehenden Erfahrungen für oder wider diese drei Möglichkeiten anführen läßt. Betrachten wir zunächst den Fall a, wo wir annahmen, daß bereits die einfachen Moleküle eines Stoffes, wie sie in der Flüssigkeit oder noch besser in der Lösung vorliegen, die Eigenschaften des Kristalls, d. h. Verschiedenheit in verschie- denen Richtungen, vorgebildet enthalten, d. h. daß sie in verschiedenen Richtungen verschiedene Kräfte betätigen können. Denken wir uns diese Kräfte z. B. in' zwei senkrecht zueinander stehen- den Richtungen in Form irgendwelcher Schwin- gungen, so ist leicht einzusehen, daß bei gleicher Stellung der Moleküle sich diese Kräfte in ihrer Wirkung nach außen summieren, bei entgegen- gesetzter aufheben müssen. N. F. \1II. Xr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 56S Wenn nun bei sinkender Temperatur in einer Flüssigkeit die Bewegungsenergie der Moleküle immer kleiner wird, so wird es schließlich einer mäßigen Kraft möglich sein, dieselben zu richten. Eine solche richtende Kraft resultiert aber, wie wir eben sahen, wenn mehrere Moleküle von gleicher Richtung zufällig zusammentreffen. Je höher die Temperatur ist, je näher wir also am Schmelzpunkt uns befinden, um so größer muß die Anhäufung gleichgerichteter Moleküle sein um die übrigen richten zu können; eine große Anhäufung gleichgerichteter Moleküle wird aber äußerst unwahrscheinlich und daher käme es, daß in der Nähe des Schmelzpunktes die meisten Flüssigkeiten nicht freiwillig erstarren. Bringen wir aber eine solche Anhäufung bereits in Form eines vorgebildeten Keimes in die Flüssigkeit hinein, so kann die Kristallisation erfolgen. Wir kommen nachher noch auf diese Keimwirkung zurück. Je tiefer wir unter den Schmelzpunkt kommen, um so geringer werden die notwendigen Anhäufungen; schließlich werden 2—3 gleich- gerichtete Moleküle genügen um den Kristalli- sationsprozeß einzuleiten, Anhäufungen , wie sie jederzeit leicht eintreten werden; die Schmelze wird dann auch ohne Hinzufügung eines Keimes freiwillig erstarren. Der einfache Kristallisations- prozeß ließe sich also ganz gut erklären, aber Moleküle mit den geschilderten Eigenschaften könnten immer nur eine Art von Kristallen bilden, in einem einzigen Symmetriesystem kristallisieren. Nun wissen wir aber, daß ein großer Teil der Stoffe aus der gleichen Schmelze sich in verschiedenen Kristallformen abzuscheiden vermag. Ich erwähne nur den monoklinen und den rhombischen Schwefel, den kubischen weißen und den roten monoklinen Phosphor, das rote und das metallische Selen, das graue und das weiße Zinn und viele a. m. Ferner ist zu bemerken, daß wir uns wohl vorstellen können, daß die Lichtabsorption in verschiedenen Richtungen der Moleküle ver- schieden sein kann, dann muß aber der kristalli- sierte Stoff die gleiche Farbenverschiedenheit in verschiedenen Richtungen aufweisen und die Schmelze müßte eine Färbung besitzen, die eine Mischfarbe der verschiedenen Richtungsfarben dar- stellte. Nun besitzen wir zwar viele Stoffe, bei denen eine geringe Abweichung in der Licht- absorption in den verschiedenen Achsenrichturgen nachgewiesen worden ist, doch handelt es sich anscheinend immer nur um geringe graduelle Unterschiede. Die Farbe der Schmelze aber ist zwar vielfach der des Kristalls sehr ähnlich, aber keineswegs immer, wie eben beispielsweise der gelbe flüssige Phosphor und der rote Phosphor. Wir sehen, daß wir mit der Annahme von ge- richteten Molekülen allein nicht auskommen. Prüfen wir die zweite Möglichkeit : Die Mole- küle treten zu größeren Komplexen zusammen. Solche Komplexe werden nun nicht erst beim Schmelzpunkt resp. bei der Konzentration der Sättigung auftreten, sondern wir müssen dann solche Komplexe auch oberhalb des Schmelz- punktes, nur in geringerer Menge, annehmen. Beim Abkühlen nimmt ihre Konzentration stetig zu und wird auch unterhalb des Schmelzpunktes, wenn Kristallisation vermieden wird, weiter zunehmen. Mit anderen Worten, für jede Temperatur einer Schmelze resp. für jede Konzentration einer Lösung wird ein ganz bestimmtes Verhältnis zwischen komplexen und nicht komplexen Mole- külen bestehen, und wenn wir einer solchen Plüssigkeit komplexe Moleküle entziehen, so muß sich dieses Verhältnis durch Neubildung von Komplexen wieder herstellen. Führen wir nun in eine Flüssigkeit, beispiels- weise eine Schmelze unterhalb des Schmelzpunktes, einen Kristall des betreffenden Stoffes ein, den wir als eine Anhäufung gleichgerichteter Kom- plexe betrachten wollen, so wird derselbe auf die komplexen Moleküle richtend wirken und sie der Flüssigkeit entziehen. Um das richtige Verhält- nis komplex : nicht komplex wieder herzustellen, müssen sich also neue Komplexe bilden und so wird allmählich die gesamte Schmelze in kom- plexe Moleküle übergehen und an den Kristall angelagert werden. Tatsächlich können wir nun manche Erschei- nungen kaum anders erklären als durch Komplex- bildung: So wissen wir z.B. aus der organischen Chemie, daß viele Stoffe die Eigenschaft haben, die Ebene des polarisierten Lichtes zu drehen, z. B. die Weinsäure, der Zucker u. a. Diese Eigen- schaft tritt nun vielfach in dem kristallinischen Bau zutage. Die rechts- und linksdrehende Wein- säure bilden spiegelbildlich gleiche Kristalle. Wir wissen nun aber, um bei der Weinsäure zu bleiben, daß dieselbe in Lösung gleichfalls rechts- resp. linksdrehend ist. Wir wissen aber auch, daß die Lösung der Weinsäure in Wasser aus einfachen Molekülen besteht. Hieraus dürfen wir wohl schließen, daß bereits das einfache Molekül der Weinsäure rechts- oder linksdrehend ist, und wenn wir nun dies auf den Kristall beziehen, daß das Molekül auch die übrigen Eigenschaften des Kristalls, Verschiedenheit in verschiedenen Rich- tungen besitzt. Die Konstitutionstheorie der or- ganischen Chemie, die vielleicht zu den am besten durchgearbeiteten aller Theorien gehört, gibt uns auch eine Erklärung in dem asymmetrischen Bau des Moleküls. Ganz analoge Eigenschaften aber wie der Weinsäurekristall , zeigt auch ein anorgani- scher Stoff, der Quarz. Auch hier gibt es Kristalle, die die Ebene des Lichtes rechts und solche, die links drehen, und diese Kristalle unterscheiden sich durch ihre Kristallform in eben derselben Weise wie die Weinsäurekristalle. Bringen wir aber einen solchen Quarz in Lösung (bekanntlicii löst sich Quarz ein wenig in Wasser), oder schmelzen wir den Quarz, so geht seine Fähigkeit die Ebene des Lichtes zu drehen verloren. In der sehr ver- dünnten wässerigen Lösung ist der Quarz zweifel- los monomolekular, wie er in der Schmelze ist, 5 66 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 36 wissen wir nicht, jedenfalls aber sehen wir, daß dem Molekül wie es in der Schmelze vorliegt, oder in der Lösung, die Eigenschaft der Drehung nicht zukommt. Wir können uns auch vom chemischen Standpunkt aus das einfache Molekül des Quarzes nicht „gebaut" vorstellen. Diese Überlegung zwingt also zu der Annahme, daß einmal Stoffe existieren , die bereits im flüssigen Zustand die Eigenschaften der Kristalle im Molekül vorgebildet enthalten , also der An- nahme a entsprechen, andererseits solche existieren, die bei der Kristallisation erst in größere Kom- plexe zusammentreten müssen. Noch eine andere Reihe von Tatsachen bringt uns zu ähnlichen Schlüssen wie den aus dem Verhalten der Weinsäure und des Quarzes ge- zogenen. Wir wissen, daß sehr zahlreiche or- ganische Stoffe vorkommen , die bei gleicher stöchiometrischer Zusammensetzung doch sehr verschiedene Eigenschaften besitzen und die ent- weder gleiche oder verschiedene Molekulargewichte aufweisen. Man nennt solche Stoffe bekanntlich isomer resp. polymer. Wenn wir solche organi- sche Stoffe schmelzen, verdampfen oder in Lösung bringen, so bleiben ihre Eigenschaften in der Schmelze, im Dampfzustand und in der Lösung gleichfalls charakteristisch verschieden. So haben beispielsweise die nachstehenden Stoffe Formaldehyd CH.^O Essigsäure CoH^Oo Milchsäure CgH^O:, Traubenzucker CüHj^O,. gleiche prozentische Zusammensetzung bei ver- schiedenem Molekulargewicht, sie sind polymer. Ihre Eigenschaften bleiben auch im flüssigen wie im Dampf- und gelösten Zustand charakte- ristisch verschieden. Die beiden Stoffe: Methyl- äther CH.,-0-CH3 = C.,H„0 und Äthylalkohol C.iHjOH := C„HgO sind stöchiometrisch gleich und haben gleiches Molekulargewicht, sie sind isomer; auch sie behalten im Dampfzustand und in der Lösung deutlich ihre typischen Eigen- schaften bei. Hierdurch unterscheiden sich die organischen isomeren und polymeren Stoffe prinzipiell von sämt- lichen mit Sicherheit erforschten Fällen der Poly- morphie. So geben die beiden Formen des Schwefels die identische Schmelze und den gleichen Dampf Die Lösungen des Selens bzw. Schwefels in Schwefelkohlenstoff sind identisch, gleichgültig ob man die Lösung aus rotem oder metallischem Selen, resp. aus monoklinem oder rhombischem Schwefel erhalten hat. Wir können daher ganz analog wie für die Erscheinung der Drehung der Polarisationsebene sagen, daß im allgemeinen bei den organischen Stoffen die für die Kristallisation notwendigen Eigenschaften be- reits im einfachen Molekül enthalten und durch den chemischen Bau bedingt sind, bei den meisten anorganischen Stoffen aber erst durch eine Zu- sammenrottung der einfachen Moleküle zu Kom- plexmolekülen erlangt werden. Dem entsprechen ganz die oben angeführten Beobachtungen von Ramsay u. Shields und Waiden, daß die meisten organischen Stoffe im flüssigen Zustand mono- molekular, nur selten zu zwei Molekülen assoziiert sind und zwar dieses bei sehr einfachen, nach dem Typus des Wassers gebauten Stoffen. Dagegen sehen wir, daß die meisten anorganischen Sub- stanzen bereits im flüssigen Zustand, teilweise sogar recht bedeutend, assoziiert sind. So sehen wir, daß viele Gründe dafür sprechen, daß beide Möglichkeiten, die wir bisher betrachtet haben, bestehen können und oft vielleicht an ein und demselben Stoff. Die dritte Möglichkeit, die wir erörterten, war die, daß die Moleküle selbst eine Änderung bei der Änderung des Aggregatzustandes erfahren sollen. Die Möglichkeit ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, doch ließen sich schwerlich weder dafür noch dagegen irgendwelche Beob- achtungen anführen. Auch könnten wir eine solche Annahme nur als Umschreibung, niemals als Erklärung der Tatsache gelten lassen. Im all- gemeinen nehmen wir an, daß die Moleküle in ihrer einfachsten Form physikalisch unveränderlich und nur chemischen Veränderungen zugänglich sind. Freilich ist es gerade in diesem Fall ganz unmöglich, eine Grenze zwischen chemischen und physikalischen Veränderungen zu ziehen. Die Möglichkeit aber werden wir ohne weiteres als begründet zugeben, daß, wenn sich einmal bei der Kristallisation Komplexmoleküle gebildet haben, eine Modifikationsänderung eben- sowohl auf eine intramolekulare Umlagerung, als auch auf weitere Assoziation zurückgeführt werden kann. Wir wollen jetzt die Wege betrachten, die uns möglicherweise einer Lösung der hier auf- gerollten F"ragen näher bringen könnten. Eine direkte experimentelle Ermittlung des Molekularzustandes der Kristalle erscheint zurzeit unmöglich. Wir können uns vorläufig keine einzige Eigenschaft der Kristalle denken, die mit der Größe der an ihrem Aufbau beteiligten Mole- küle in Beziehung zu bringen wäre. Wir können also das Problem schwerlich von vorne packen, sondern sind gezwungen auf Umwegen an das- selbe heranzugehen, Umwege, die gleichfalls oft schwer gangbar sind und uns bisweilen nur unmerklich dem Ziele näher bringen. Aber es ist ein Ziel, das der Mühe wert ist, denn wenn es uns wirklich einmal gelingt, einen Einblick in den molekularen Aufbau der Kristalle zu tun, dann würden vermutlich die eigenartigen Sym- metrieverhältnisse, dann würden auch die fast willkürlich erscheinenden Wachstumsformen nichts Rätselhaftes mehr bieten, und wir würden es lernen die in der Natur vorkommenden oft so wertvollen Kristalle in beliebiger Größe und Vollkommenheit künstlich herzustellen. Die interessanteste, nächstliegende Frage ist wohl die nach der Keimwirkung und nach der freiwilligen Entstehung von Kristallkeimen in N. F. \'III. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 567 einer Müssigkeit, einer Erscheinung^, die wir auch als kristallinische Urzeugung bezeichnen können. Der Tatbesland selbst dürfte allgemein be- kannt sein: Man kann bekanntlich viele Flüssigkeiten außer- ordentlich weit unter ihren Schmelzpunkt abkühlen, ohne daß sie erstarren. Bringt man aber einen bereits gebildeten Kristall in dieselben, so erstarren sie spontan, oder wenigstens sehr rasch, und zwar von der Stelle aus, wo der Keim eingefallen ist. Die Frage, um die es sich handelt, ist nun die: Wie, wo und warum entsteht der erste Keim, wenn ein solcher von außen nicht eingeführt wird ? Diese F"rage ist zuerst von Gernez eingehend behandelt worden. Vogelsang hat direkt Be- obachtungen über das Entstehen von Kristallen unter dem Mikroskop angestellt, Ostwald und sein Schüler Jaffe haben sich mit der Größe der erforderlichen Kristallkeime und mit der Grenze befaßt, unterhalb deren die Kristallisation freiwillig eintritt. Vor allem hatten auch Miers und seine Schüler in jüngster Zeit ihr Augenmerk diesem Punkte zugerichtet und in einem der letzten Hefte der Zeitschrift f. phys. Chemie hat ein russischer Forscher Pawlow die Frage, wie mir scheint , um ein gutes Stück durch eine experimentell ebenso einfache wie klare Arbeit gefördert. Ich kann auf alle Details dieser Arbeiten hier nicht eingehen. Ich will nur ausführen, wie ich mir jetzt nach den bisherigen Forschungen den Vorgang denke. Ostwald u. a. haben gezeigt, daß Stoffe in fein verteiltem Zustand einen größeren Dampf- druck besitzen als in grobkörnigem. Mithin wird auch die Löslichkeit fein verteilter Stoffe größer und ihr Schmelzpunkt niedriger. Pawlow hat in seiner oben erwähnten Arbeit nun gezeigt, daß diese Unterschiede im Schmelzpunkt sehr be- trächtliche sein können , beispielsweise für das hier angeführte reinste Salol bis über i" C be- tragen können, für Verteilungen zwischen i — 4 u und ca. 40 ,«. Man ersieht aus der beistehenden Figur, die der Arbeit Pawlow's entnommen ist, daß die Erniedrigung des Schmelzpunktes bei *IS -- " ^ r-' ^ --' /• IJ-I •" ^ It? /? H 16 IS Sf ^ 74 -?« /B Jß JZ Ji J6 38 UJ iS 4i i6 ü feiner Verteilung zunimmt. Bedenken wir nun, daß die Größe eines Moleküls nach Zehntel (.ij-i mißt, also noch etwa looo mal kleiner ist als die kleinsten von Pawlow angewandten Kristallsplitter, so können wir uns denken, daß eine molekular verteilte Masse bei einer noch wesentlich, also noch 20, 30 oder mehr Grad tieferliegenden Temperatur schmelzen wird. Es ist also erst ein Kristall oberhalb einer ganz bestimmten Größe mit der Schmelze dicht unterhalb des Schmelz- punktes im Gleichgewicht. Je tiefer wir kommen, um so kleiner wird der mit der Schmelze im Gleichgewicht befindliche Kristall sein, und frei- willig wird eine Flüssigkeit nur dann kristalli- sieren, wenn der mit der Schmelze im Gleich- gewicht existierende Kristall molekulare Dimen- sionen annimmt. Dieses deckt sich gut mit den Beobachtungen von Miers, daß für jeden Stoff eine sehr gut präzisierte Temperaturgrenze be- steht, unterhalb deren er freiwillig kristallisiert. Bei meinen eigenen Untersuchungen über dieses Thema, auf die ich hier nur noch kurz eingehen will, habe ich mir folgende Fragen vor- gelegt: Wenn wir nicht imstande sind zunächst über den kristallinischen Zustand, wie er ist, etwas auszusagen, so wird vielleicht der Weg, auf dem ein Stoff aus einem definierten Zustand in den kristallinen übergeht, uns einige Fingerzeige geben können. Definiert ist beispielsweise der Zustand eines Stoffes, der in Wasser gelöst ist, zumal, wenn diese Lösung nicht sehr konzentriert ist. Lassen wir also einen in Wasser gelösten Stoff kristalli- sieren, so ist dieser Übergang gegeben. Im Wasser ist der Stoff zu einem großen Teil in seine Ionen zerfallen; soweit dies nicht der Fall ist, liegen einfache Moleküle vor; assoziierte Moleküle müssen, wenn überhaupt vorhanden, in unmeßbar kleiner Menge vorliegen. Wenn also die Annahme a, die wir gemacht hatten, richtig ist, daß nämlich Kristallisation dadurch zustande käme, daß einfach die in der Lösung befindlichen Moleküle gerichtet würden, dann würde, wenn wir einen Keim in eine solche übersättigte Lösung bringen, der Vorgang durch folgende Einzelvor- gänge gegeben sein: Die nichtdissoziierten, ein- fachen Moleküle um den Kristall herum werden gerichtet und der Lösung entzogen ; dadurch wird das Gleichgewicht zwischen den Ionen und den undissoziierten Molekülen gestört, es müssen Ionen zu undissoziierten Molekülen zusammentreten. Außerdem wird das Konzentrationsgleichgewicht in der Nähe des Keimes gestört und muß sich durch Diffusion wieder herstellen. Wir haben also die drei Vorgänge, Richtung, Zusammentritt von Ionen und Diffusion zeitlich nebeneinander verlaufend. Maßgebend für die Art des Verlaufs wird natürlich derjenige der drei Vorgänge sein, der am langsamsten erfolgt. Das Ausrichten eines in der Nähe des Keimes befindlichen Mole- küles kann zweifellos nicht viel Zeit in .Anspruch nehmen, wird also wohl ein rasch verlaufender Vorgang sein. Von dem Zusammentritt von Ionen weiß man, daß er praktisch mit unend- licher Geschwindigkeit erfolgt. Die Diffusion ist dagegen ein langsam sich vollziehender Vor- gang. Wir können denselben zwar ganz wesent- lich beschleunigen, indem wir rühren, immerhin wird die Geschwindigkeit immer noch endlich bleiben. 568 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vni. Nr. 36 Ist also die Annahme a richtig, so wird die Geschwindigkeit des Kristallisationsvorganges stetig wachsen mit zunehmender Rührgeschwindigkeit und im übrigen, da das Wachsen an der ganzen Keimoberfläche stattfindet, dieser Oberfläche und natürlich dem Grade der Übersättigung propor- tional sein. Meine Untersuchungen haben nun ergeben, daß dies keineswegs der Fall ist. Bei entsprechen- der Versuchsaiiordnuiig können Rührgeschwindig- keiten zwischen 500 und lOOO Umdrehungen in der Minute die Geschwindigkeit der Kristallisation nicht mehr beeinflussen und ferner zeigte es sich, daß die Geschwindigkeit nicht der Übersättigung, sondern dem Quadrate derselben proportional ist. Wie können wir uns nun diese Tatsachen er- klären ? Zum Verständnis muß ich etwas vom Tliema abschweifen. Wenn bei einer chemischen Reaktion nur eine einzige Molekülgattung eine Änderung erfährt, so ist die Geschwindigkeit des Vorganges in jedem Augenblick proportional der aktiven Masse, oder wenn wir annehmen, daß der Vorgang bis zu Ende verläuft, proportional der Konzentration dieses Moleküls. Wenn dagegen zwei Moleküle eine meßbare Änderung erfahren, wenn also z. B. die Reaktion A -j- B — AB stattfindet, so wird die Geschwindigkeit in jedem Augenblick dem Produkt aus den Konzentrationen von A und B proportional sein. Reagieren mehr, beispielsweise drei Moleküle, A -f B + C = ABC, so wird die Geschwindigkeit auch dem Produkt aus den Kon- zentrationen dieser drei Stoffe proportional werden. Wenn nun mehr Moleküle an der Reaktion teil- nehmen, so wird im allgemeinen, wie die Er- fahrung gelehrt hat, die Reaktion in Zwischen- stufen zerfallen, z. B. der Vorgang .\ -f- B -|- C -|- D = ABCD würde verlaufen nach dem Schema A H- B = AB, C + D = CD und AB + CD = ABCD. Jede dieser drei Zwischenreaktionen würde eine verschiedene Geschwindigkeit haben und nur die langsamste von ihnen für den Verlauf der Reak- tion maßgebend sein. Wenn also z. B. der Vor- gang A -|- B der langsamste ist, so wird die Geschwindigkeit nur dem Produkt der Konzen- trationen von A und B proportional sein. Wenn nun schließlich mehrere Moleküle desselben Stoffes, wie dies z. B. bei der Polymerisation der Fall ist, miteinander reagieren, etwa nach den Schemata A -{- A = Aj oder A -f A + A = A3 usw., so wird, wie leicht einzusehen, die Geschwindigkeit in jedem Augenblick dem Quadrat, der dritten, vierten Potenz usw. der Konzentration proportional sein, wenn nicht ganz analog wie bei dem eben auseinandergesetzten P'all die Reaktion in Stufen verläuft. Wenn also z. B. der Vorgang 4 A = A , in den beiden Unterstufen verläuft 2 A =^ A„ und 2 A., = A4, dann wird die Geschwindigkeit nicht der vierten, sondern nur der zweiten Potenz von der Konzentration von A proportional sein. Wir sind also durch Messung der Geschwindigkeit einer Reaktion in ihrer Abhängigkeit von der Konzentration der reagierenden Stoft'e imstande, die Zahl von Molekülen, die mindestens an der Reaktion teilnehmen, zu bestimmen. Meine Resultate werden sich nun wohl folgen- dermaßen am einfachsten deuten lassen : In der Lösung befinden sich neben einfachen Molekülen und Ionen auch in allerdings sehr kleiner Menge Komplexmoleküle, wie sie den Aufbau des Kristalls bedingen. Diese Komplex- moleküle werden von dem Kristall der Lösung entzogen und müssen sich infolgedessen von neuem bilden. Der Zusammentritt der Einzel- moleküle zu Komplexmolekülen ist der mit meß- barer Geschwindigkeit verlaufende Vorgang, die Ausfällung aus der Lösung dagegen ein unendlich rasch verlaufender. Nur der erstere ist daher für die Geschwindigkeit der Reaktion maßgebend. Es führen also meine Messungen zu der wahr- scheinlichen Schlußfolgerung, daß der Vorgang der Kristallisation ein chemischer Vorgang ist und durch die Bildung von Komplexmolekülen bedingt wird. Ich habe eine ganze Reihe von Stoßen unter- sucht und in mehreren Fällen auch Geschwindig- keiten beobachtet, die der dritten Potenz der Konzentration proportional waren. Auch andere Beobachtungen deuten auf die rein chemische Natur des Vorgangs, so die F~ähig- keit, durch Zusätze gewisser Stoffe in geringerer Menge in der Geschwindigkeit stark beeinflußt zu werden. Ich möchte hier noch einmal hervorheben, daß nur unter ganz besonderen Bedingungen, nämlich bei starker Durchrührung, der chemische Vorgang für die Geschwindigkeit maßgebend ist, bei ge- ringer Durchrührung wird dagegen stets der Diffusionsvorgang maßgebend bleiben. Die äußere Form und die Güte der Ausbildung der Kristalle hängt nun vielfach von der Zeit ab, die die Kristalle zum Wachsen gebraucht haben. Hier kommt natürlich im allgemeinen die chemische Geschwindigkeit nicht in Frage, sondern nur die Güte der Durchmischung und die Stärke der Übersättigung. Ich möchte diesen Aufsatz nicht schließen ohne nochmals darauf hinzudeuten, daß derselbe zweifellos viel Hypothetisches enthält. Ich halte es aber für durchaus nützlich, von Zeit zu Zeit ein solch hypothetisches Luftschloß aufzuführen in dem Gebiet, dem man seine Kräfte gewidmet hat. Man erhält dadurch jederzeit Anregung zu weiterer I''orschung; Forschung aber bringt Er- kenntnis und jede Erkenntnis bringt uns der Wahrheit näher, gleichgültig ob sie unseren Er- wartungen entspricht oder dieselben widerlegt. N. F. \III. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 569 Kleinere Mitteilungen. Zur Morphologie der Asparageen und der Pericaulomtheorie. (Vorläufit^e Mitteilung.) — Die Pericaulomtheorie steht sehr in Einklang mit clerMor- phologie der Asparageen. Bei verschiedenen Aspara- o-usarten und Verwandten entstehen an der Blattbasis viele Knospen, die sich nacheinander entwickeln. Bei Ruscus, Androgyne usw. entsteht jedoch an der entsprechenden Stelle nur ein einziger blattförmiger Sproß, der die Blüten trägt. Bei dieser Sachlage, daß die Verwandten , die Asparagusartcn , viele Knospen in der Blattachsel tragen, kommt man zu der N'ermutung, daß die blütentragenden, blatt- förmigen Sprosse von Androgyne und Ruscus aus einer Verwachsung ursprünglich freier Sprosse hervorgegangen sind, wie das Prof. Potonie gene- rell im Anschluß an die Besprechung seiner Perl caulomtheorie so ausdrückt (vgl. dessen Schrift „Ein Blick in die Geschichte der botanischen Morphologie und die Pericaulomtheorie". Jena, 1903, p. 44): „Dann ist aber noch zum Verständ- nis der Mannigfaltigkeit der Stcngelbildung zu beachten, daß nicht nur Zentralen und Pericaulome mit ihren Appendicees (Blättern u. dgl.) zusammen aufwachsen können , sondern auch Stengelorgane untereinander." Luigi Buscalioni. Das Platin. — Die ältesten Nachrichten über das Platin finden sich in dem Bericht, den der spanische Mathematiker Don Antonio de Ulloa über seine im Jahre 1735 gemachte Reise durch Columbien (Südamerika) veröffentlicht hat. In Columbien wurde das Platin , dessen Name sich von dem spanischen Worte ,,plata" = Silber ab- leitet, als Nebenprodukt in den Goldwäschereien gewonnen. Columbien blieb viele Jahrzehnte hin- durch die einzige Fundstätte, bis im Jahre 1819 in den Goldwäschereien von Jekaterinburg im Ural Körner von ,, weißem Golde" , die einige Jahre später als Platin erkannt worden sind, ent- deckt wurden. Die im Laufe des 19. Jahrhunderts festgestellten weiteren Vorkommen des Edelmetalls in Brasilien, Britisch-Columbien, in den Vereinigten Staaten von Nordamerika , auf Borneo , in Neu- Süd-Wales und Neuseeland haben weder prakti- sche noch wissenschaftliche Bedeutung erlangt. Bei weitem die Hauptmenge des Platin, die all- jährlich auf den Markt kommt, etwa 95 ";, der Gesamtproduktion , entstammt den Wäschereien im Ural. Ähnlich wie das Gold kommt das Platin fast ausschließlich gediegen vor; die einzige natürlich vorkommende Platinverbindung ist das nach dem Entdecker Sperry Sperrylit genannte, sehr seltene Arsenid PtAs.,. Das gediegene Rohplatin, wie es gewonnen wird, ist eine eisen- und meist auch etwas goldhaltige Legierung von 70 bis 85 % Platin mit den sogenannten Platinmetallen Ruthe- nium, Rhodium, Palladium, Osmium und Iridium. Als Muttergestein des Platins ist ein olivinreiches, basisches Eruptivgestein, der Peridotit anzusehen, wie sich nicht nur aus der Zusammensetzung der platinführenden Mußsande ergibt, sondern auch von Inostraiitzeff durch die Auffindung der ersten primären Lagerstätte im Bezirke NischneTagilsk im Ural bewiesen worden ist. Ob auch, wie ver- mutet worden ist, andere Eruptivgesteine, wie die Porphyrite und Syenite, Platin primär enthalten, muß dahingestellt bleiben. Im L'ral ') wird das Platin im wesentlichen in drei Gebieten gewonnen, in den dem Fürsten Demidoff gehörigen Platinfeldern von Tagilsk (58" n. Br.), die sich aber bald ihrer Erschöpfung nähern dürften, sowie in den etwa 120 km weiter nördlich liegenden Bezirken von Bissersk und Goro- blagodat, deren Lagerstätten Eigentum teils des Grafen Schuwaloff, teils der Compagnie Industrielle du Platine sind. Die noch etwas nördlicher, etwa unter 60" n. Br. gelegenen P'undorte von Bogos- low sind erst in der Entwicklung begriffen. Die Verarbeitung des Platin muttergesteins lohnt sich in Anbetracht des geringen Gehaltes an dem Edelmetall nicht; daher ist man aus- schließlich auf die Platin in einer anderthalb bis drei Meter mächtigen Schicht führenden Flußsande angewiesen. Die Gewinnung geschieht nach meist noch ziemlich primitiven Waschmethoden, die im Prinzip bekanntlich auf der Trennung der spezifisch schwereren Edelmetalle von dem tauben Begleit- gestein durch Abschlämmen beruhen. Der Ge- halt des Flußsandes an Platinerzen, die im Quell- gebiet der Flüsse meist mit einer dünnen Schicht von Chromeisenstein überzogen sind und darum unansehnlich und schwarz aussehen, während sie, bei weiterem Transport im Flußbette abgerieben, immer mehr die weiße Eigenfarbe erkennen lassen, ist sehr gering. Während man zur Zeit, als Alexander von Humboldt den Ural bereiste, aus einer Tonne Plußsand etwa iSOg Platin gewann, ist der Ertrag jetzt auf i g pro Tonne gesunken. Größere Klumpen des Edelmetalls sind sehr selten; der größte bisher gefundene Klumpen wiegt etwa 10 kg. Während die Abscheidung der Platinerze von den Begleitmineralien (Chromit und Magneteisen) keine Schwierigkeiten bietet, ist die scharfe Trennung der einzelnen Platinmetalle voneinander für die Technik eine äußerst schwierige Aufgabe, deren Lösung erst in neuerer Zeit der Firma W. C. Heraeus in Hanau gelungen ist. „Die gegenwärtig angewendeten Verfahren schließen sich zumeist an die Methoden an, nach denen die Trennung bei der Analyse im kleinen durchgeführt wird. Die Einzelheiten, in denen natürlich mannigfache Variationen möglich sind, sind Geheimnis der Fabriken. Im großen ganzen läßt sich darüber etwa folgendes sagen: Durch Behandlung mit Königswasser gelingt es zunächst, den größeren Teil der Edelmetalle in Lösung zu bringen, während der Rückstand außer ») Siehe auch Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. I, S. 489; 1901/02. S70 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 36 Sand die Legierung Osmiridium enthält. Genau ge- sagt besteht das Erz also nicht aus einer Legierung, sondern aus zweien, dem Rohplatin und dem Osmiridium. Beide enthalten alle sechs Platin- metalie, aber in verschiedenen Mengen, und zwar Rohplatin außer Platin hauptsächlich Palladium, Rhodium und Iridium, doch auch geringe Mengen Osmium und Ruthenium, das Osmiridium, wie der Name sagt, größtenteils Osmium und Iridium, daneben jedoch auch die anderen Metalle. Ver- hältnismäßig leicht gelingt es, Osmium und Ruthe- nium abzutrennen; sie sind dadurch ausgezeichnet, daß sie von Oxydationsmitteln in flüchtige Sauer- stoffverbindungen übergeführt werden , die man durch Destillation entfernen kann. Platin und Iridium liefern mit Salmiak schwerlösliche Ver- bindungen, aus denen man durch Glühen die Metalle erhält: PiCl(,(NHJ. = Pt + 2 NHjCl + 2 GL IrCl6(NHj; = Ir + 2 NH.Cl + 2 CC Fällt man jedoch die Lösung des Rohplatins in Königswasser mit Salmiak, so enthält der Nieder- schlag außer Platin und Iridium auch beträchtliche Mengen Rhodium und Palladium, und es sind komplizierte Methoden nötig, um die reinen Me- talle zu gewinnen. Andererseits gelingt es auch nicht, Platin und Iridium auf diese Weise voll- ständig zu entfernen; die Mutterlauge der Salmiak- fällung enthält demgemäß vorwiegend Palladium und Rhodium, daneben aber auch geringe Mengen Iridium und Platin und erfordert ebenfalls eine komplizierte Aufarbeitung." Das reinste heute im Handel erhältliche Platin enthält nach den in der Physikalisch-technischen Reichsanstalt von Mylius und Foerster ausgeführten Untersuchungen höchstens 0,01 "/(, Verunreinigungen. Die technische Verarbeitung des Platins, das man zuletzt durch Glühen des Platinsalmiaks in Form von Platinschwamm gewinnt, bietet bei dem hohen, zwischen 1700 und 1800" liegenden Schmelzpunkte nicht unbeträchtliche Schwierig- keiten. Ursprünglich goß man die anzufertigenden Gegenstände aus einer leicht schmelzbaren Platin- arsenlegierung und entfernte dann das Arsen durch Abröstung. Später benutzte man die leichte Schweißbarkeit des Metalls, heute wird das Platin im Knallgasgebläse oder im elektrischen Ofen geschmolzen. Für die moderne Technik ist das Platin von der allergrößten Wichtigkeit. Als Geburtsjahr der technischen Verwendung des Platins kann das Jahr 1809 angesehen werden, in dem von der Londoner Firma Johnson Matlhey die erste Platin- retorte zur Konzentration von Schwefelsäure im Gewicht von i3'/2 kg angefertigt worden ist. Dank seiner Widerstandsfähigkeit gegen konzen- trierte Schwefelsäure eignet sich das Platin in der Tat sehr gut zur Überführung der beim Bleikam- merverfahren gewonnenen, verhältnismäßig ver- dünnten in sehr konzentrierte Säure, und daher wurden bis in die neueste Zeit Platingefäße zum Eindampfen der verdünnten Säure benutzt. Noch widerstandsfähiger gegen konzentrierte Schwefel- säure als das Platin ist allerdings das Gold, und darum wurden die Platingefäße in den letzten Jahren innen vergoldet, und als vor kurzem die Platinpreise so in die Höhe schnellten, daß das Platin wesentlich teurer als Gold wurde, durch goldene Gefäße ersetzt. Seiner Beständigkeit an der Luft verdankt das Platin seine Anwendung in der elektrischen Industrie zur Herstellung von Kontakten an Induktionsapparaten, Klingeln usw., seiner Widerstandsfähigkeit gegen chemische Agentien die Benutzung im chemischen Labora- torium als Material für Schalen, Tiegel usw. und seiner noch weit umfassenderen Verwendung zur Herstellung von Elektroden für die Zwecke der wissenschaftlichen und technischen Elektrolyse. Die P^euerbeständigkeit des Platins, seine geringe Empfindlichkeit gegen hohe Erhitzung wird für die Zwecke der elektrischen Heizung, z. B. im Hcraeus'schen Widerstandsofen, mit dem Tempe- raturen weit über looo" erzeugt werden können, und für die Zwecke der Messung hoher Tempe- raturen für die Konstruktion des Le Chatelier'schen Pyrometers') ausgenutzt. Weiter ist für die Praxis der Umstand von sehr großer Bedeutung, daß der Ausdehnungskoeffizient des Platins annähernd gleich dem des Glases ist, so daß ein in der Hitze in Glas eingeschmolzener Platindralit bei der Abkühlung das Glas nicht etwa durch die infolge ungleichmäßiger Ausdehnung entstehenden Spannungen zum Springen bringt; hiervon macht vor allen Dingen die Glühlampenindustrie Ge- brauch, indem sie zur Leitung des Stromes durch die Wand der Glühlampe hindurch in das Innere kurze Platindrähte benutzt.') Auch die Fabriken künstlicher Zähne machen sich das Platin zu- nutze: die durch Brennen bei sehr hohen Tem- peraturen hergestellten Zähne tragen zur späteren Befestigung im Munde zwei kleine Platindrähte, deren Verwendung hier ebenfalls auf die annähernde Gleichheit des Ausdehnungskoeffizienten des Platins und der Zahnmasse zurückzuführen ist. Schließ- lich muß, wenn wir von den weniger wichtigen Anwendungsgebieten , wie der Benutzung zur P"assung von Brillanten usw., absehen, noch die Benutzung als Kontaktsubstanz in der chemischen Technik — so besonders bei der Herstellung der Schwefelsäure nach dem Kontaktverfahren — und zur Herstellung der Gasselbstzünder und die An- wendung bei den Holzbrandapparaten erwähnt werden. „Zuverlässige Daten über den Platinverbrauch der einzelnen Industriezweige lassen sich schon deshalb nicht geben, weil er vielfach den größten Schwankungen unterworfen ist. Das Aufblühen der Elektrotechnik bedingte einen stetig wachsen- ') Vgl. den Aufsatz von A. Becker, Die Messung tiefer und hoher Temperaluren. Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. IV, S- 433—440. besonders S. 434-435. 2) Vgl. auch Naturw. Wochenschrift, N. F. Bd. III, S. HO, I903('4- N. F. VIII. Nr. 36 Naturwi.ssenschaftlichc Wochenschrift. 571 den Konsum ; der Verbrauch in der Bijouterie ist in den letzten Jahren ganz außerordentlich ge- stiegen, ist aber von der Mode abhängig und kann ebenso schnell wieder zurückgehen. Die große Umwälzung in der Schwefclsäureinduslrie machte sich auch für die Platinfirmen sehr be- merkbar; denn für die F'abriken, die vom Blei- kammerprozeß zum Kontaktverfahren übergingen, wurden die großen Konzentrationsapparate über- flüssig — nicht aber damit das Platin, das nun- mehr in anderer Form als Kontaktsubstanz in großen Mengen gebraucht wird. Einer der regel- mäßigsten Großabnehmer ist die Zahnindustrie. Die Platinmenge, die sie verbraucht, ist ganz er- staunlich groß; sie beträgt etwa ein Drittel des Gesamtkonsums, also rund 2000 kg jährlich. . . . Sehr wichtig und bedauerlich ist es, daß diese Platinmenge fast ganz für die Industrie verloren geht; da das gleiche mit dem größten Teil des von der Elektrotechnik gebrauchten Platins der ¥a\\ ist — es wird niemandem einfallen, das an einer alten elektrischen Klingel befindliche Platin- plättchen abzulösen, weil es nur ein paar Pfennige wert ist, und auch die Wiedergewinnung des Platins aus alten Glühlampen ist kaum lohnend — findet nur der dritte Teil des verbrauchten Metalls seinen Weg als Altplatin zurück in die Schmelzen; der Rest muß stets neu geliefert werden." Zum Schluß seien noch im Anschluß an eine ältere Mitteilung in der Naturw. Wochenschrift^) einige Bemerkungen über die Preis- und Produk- tionsstatistik des Platins gemacht. Während die spanische Regierung aus Furcht, die Goldmünzen könnten durch Platin gefälscht werden, das in Columbien gefundene Platin ins Meer zu werfen befohlen hatte, kaufte seit dem Jahre 1825 die russische Regierung das gesamte im Ural gefun- dene Platin — jährlich etwa 1500 kg — auf, um daraus Münzen zu prägen. Im Jahre 1845 wurde indessen die Prägung von Münzen wieder einge- stellt, und nun sank, da kein Großabnehmer für das Platinerz mehr vorhanden war, die Produktion mit großer Geschwindigkeit; i. J. 1855 erreichte sie mit 16 kg den Tiefstand, Inzwischen aber war doch besonders dank den Bemühungen der Londoner Plrma Johnson, Matthey & Co. die i. J. 1809 den ersten Platinapparat für die Schwefel- säurefabrikation hergestellt hatte, die Brauchbar- keit des Platin erkannt worden. So konnte sich die Platinindustrie allmählich erholen; Produktion und Preis gingen wieder in die Höhe. Ohne auf die Einzelheiten hier weiter einzugehen, sei hier nur er- wähnt, daß der Preis für i kg Platin i.J. 1880 etwa 650 Mk. betrug, dann langsam auf etwa 950 Mk. stieg, sich auf dieser Höhe.einige Jahre ( 1 894bis 1 896) hielt, dann i. J. 1898 bis auf 575 Mk. sank, 1890 aber rapide bis zu 2500 Mk. in die Höhe schnellte. Der Hausse folgte die Baisse ebenso schnell: 1892 kostete i kg Platin nur noch 650 Mk. Nun folgte eine Periode langsamer, aber regelmäßiger Preis- steigerung bis zum Jahre 1904, wo das Platin mit etwa 2600 Mk. bezahlt wurde. Die Unruhen in Rußland und die dadurch veranlaßte Platinnot hatten i. J. 1906 und 1907 eine plötzliche Steige- rung des Preises bis zu 5000 Mk. zur I<"olge. Aber auch diesmal folgte wieder ein rascher Preissturz, und seitdem hält sich der Preis auf einer durch- schnittlichen Höhe von 3000 Mk. Wie sich die Zukunft weiter entwickeln wird, läßt sich kaum mit Sicherheit sagen. Die vorstehenden Mitteilungen sind einem im Auftrage der bekannten deutschen Platinfirma W. C. Heraeus in Hanau von Dr. W. Geibel ver- faßten Aufsatze (Zeitschr. f. Elektroch., Bd. XV, S. 212 — 218, 1909) entnommen. Mg. ') Siehe Naturw. Wochenschrilt, N. F. Bd. I, S. 24, 1901/2. Vereinswesen. Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde (E.V.). — Am Montag, den 3. Mai, führte Herr Woldcmar Titzen thaler an der Hand zahlreicher, überaus stimmungsvoller Licht- bilder seine Zuhörer, die den großen Hörsaal VI der Kgl. Landwirtschaftlichen Hochschule bis zum letzten Platz gefüllt hatten, „Auf alter Straße durch Mittel- und Süditalien". In schneller Fahrt wurde Oberitalien durcheilt, und nur in Florenz und dem nahen Fiesole mit seinem fast tausend Jahre alten Benediktinerkloster eine kurze Rast gemacht. Zu längerem Aufent- halte lockte das ewige Rom, in dem auf Schritt und Tritt die stummen Zeugen einer großen Ver- gangenheit uns ahnen lassen, was einst war. Die Schuttdecke, die einst mit ihren 6 m Dicke das Forum mit all den Überresten römischer Herrlich- keit begrub, ist jetzt dank der emsigen Tätigkeit italienischer und deutscher Forscher zum großen Teile entfernt, und das, was sie einst bedeckte, redet in wuchtiger Sprache zu uns, nicht minder die gewaltigen Trümmer der Kaiserpaläste auf dem Palatin und die Riesenmauern des Colosseums, dieses 90000 Zuschauer fassenden Wunderbaues, der fast zwei Jahrtausende allen brutalen An- griffen getrotzt hat. Doch lange können wir in Rom nicht verweilen, ein flüchtiger Rundgang muß für diesmal genügen. Staunend stehen wir vor St. Peter, der lebendigen Verkörperung jener Macht, die Rom zum zweiten Male zum Mittel- punkt der Welt erhob, und lassen den ganzen Zauber dieses Baues auf uns wirken. Entzückt schweift von seiner hochgewölbten Kuppel der Blick über die ewige Stadt bis weit ins Land hinein, über die Campagna, die Sabiner- und Al- banerberge, und bis hin zum tyrrhenischen Meer. Wir wandern im Süden durch die Porta S. Paolo hinaus, vorbei an der Pyramide des Cestius und dem von alten Cypressen umrauschten protestan- tischen Friedhof, wo mancher Deutsche den ewigen Schlaf schläft, nach San Paolo fuori la mura, der Grabkirche des Apostels Paulus, die an Pracht und Herrlichkeit mit St. Peter wetteifert. 572 Naturwissenschaftliche Wochenschrift, N. V. VIII. Nr. 3Ö Noch einen Blick auf das bunte Volksleben vor den Toren Roms und auf die gewaltigen Caracalla- Thermen, und wir befinden uns auf der alten Kaiserstraße mit ihren langen Gräberreihen zu beiden Seiten, in deren prunkvollen Ruhestätten sich heutzutage ärmliche Landbewohner einge- nistet haben. Wir sind in der Campagna. Öde und Starre umfängt uns ringsherum, ein feierliches Schweigen, in dem nur die Vergangenheit zu uns flüstert. Aus dem in der Ferne sichtbaren Höhen- zug der Albanerberge lugen, von üppigem Grün umgeben, stolze Renaissancebauten hervor. Bald stehen wir auf der Terrasse der Villa Aldobrandini bei Frascati, die uns ein Bild trostlosen Verfalles und brutaler Verwahrlosung enthüllt. Wir steigen höher hinauf, und eine mit alten Lavaplatten ge- pflasterte Straße führt uns zu den Trümmern von Tusculum, Ciceros Lieblingssitz. Kin letzter Blick hinüber zur ewigen Stadt. Wir nehmen Abschied von Rom, um unsere Reise nach Neapel fortzu- setzen. Rom und Neapel, welche Gegensätze I War es dort die große Vergangenheit, die sich uns auf Schritt und Tritt aufdrängt, so sind es hier Natur und Volk, die uns gefangen nehmen. Alles Leben spielt sich tagsüber in den Straßen ab; Krämer, Flickschneider und Flickschuster hocken vor den Haustüren, und die wunderlichsten gastronomischen Genüsse werden hier feilgeboten. Dazwischen, aller Fahrordnung spottend, ein Ge- wirr von Fuhrwerken, oft der seltsamsten Art, wie die von Esel, Ochse und Pferd in größter Eintracht gezogenen Dreigespanne. Sorglos, frei wie das liebe Vieh wächst die Masse des Volkes auf. Da die Kunst des Schreibens als ein Zeichen besonderer Gelehrsamkeit gilt, so besorgt einer der vielen öffentlichen Schreiber in den Straßen die nötige Korrespondenz. In malerischer Schön- heit lebt und liebt, hungert und faulenzt, bettelt und stiehlt der echte Vertreter dieses leidenschaft- lichen Naturvolkes, dessen Lumpen und Fetzen der südliche Sonnenglanz vergoldet. Wir verlassen Neapel, um uns nach Pompeji, der aus seiner Asche wieder ausgegrabenen historischen Schatz- kammer Italiens zu begeben. Es ist ein seltsames Gefühl, das uns beschleicht, wenn wir die Straßen dieser verträumten Stadt durchwandern, die fast 2000 Jahre geschlafen hat, und es ist, als käme man aus einer anderen Welt, wenn man sich wieder außerjialb der Stadtmauer auf der Land- straße befindet, umtobt von dem Gekreisch Lava- schmuck und Korallenschnüre feilbietender Weiber und von dem PVcmdenfängergesindel, das die ver- schiedenen Gasthäuser anpreist. Von der Albergo del Sole unternehmen wir einen Ausflug nach dem Unheilbringer Vesuv. Unter Verschmähung der allzu bequemen Cook'schen Reisegelegenheit begeben wir uns hoch zu Roß über zum Teil stark verwitterte, zum Teil noch steinharte Lava- felder, zuletzt in scharfen Serpentinen auf kunst- vollem, aber mühsam gebautem, jetzt vernichtetem Wege bis zum Aschenkegel, von wo man zu Fuß in ziemlich steilem Anstieg, durch lose Asche hindurch, bis zum Kraterrande gelangt. Ein un- heimliches Dröhnen und Donnern begleitet die in bestimmten Zwischenräumen stattfindenden kleineren Eruptionen. Wir blicken hinein in den Abgrund, in dem das geheimnisvolle Feuer brodelt, und freuen uns über die Steine und Lavastücke, die aus dem Schlund in die Höhe geschleudert werden, während Rauch und Schwefelwolken uns zeitweise ganz einhüllen. Ein weiter Rundblick bietet sich vom Kralerrand. Ein Abstecher führt uns hinüber nach Pozzuoli zu dem Krater des sogenannten erloschenen Vulkans, der Solfatara, deren letzter Ausbruch 1198 stattfand. Der Kraterschlund ist durch die eingestürzten Seiten- wände ausgefüllt, aber überall an den Seiten des Kraterbeckens steigen heiße Schwefeldämpfe aus der Erde, die den F"elsen mit einem gelben, blauen und violetten Niederschlag überziehen. Auf jede Erschütterung des Bodens durch Aufstoßen eines Stockes oder Aufstampfen des L'ußes antwortet ein dumpfes unterirdisches Rollen und Dröhnen. Wir wandern nunmehr auf der herrlichen Gesims- straße von Salerno nach Sorrent, die sich in un- endlichen Windungen der vielbuchtigen Küste anschmiegt, bald tief unten nahe dem Ufer, bald hoch oben über dem blinkenden Spiegel des blauen Meeres. Überall sind Häuser und Ort- schaften erbaut oder Zitronen, Orangen, Oliven und Reben angepflanzt; auf den vorspringenden Landzungen stehen trotzig alte Sarazenentürme. Schwalbennestähnlich an die Felsen angeklebt, drängen sich die Häuser des alten Amalfi am Berghang hinauf. Bald werden draußen im Meere ein paar öde kleine Felseneilande sichtbar, Li Galli, die Sireneninseln Homers. Von Sorrent führt uns ein Dampfer hinüber nach dem herrlichen Capri mit den im SO. vorgelagerten, isoliert aus dem Meere aufragenden Klippen der Faraglioni. Dann geht es zurück nach Neapel an Bord des Um- berto L, der uns nach Sizilien hinüberbringen soll. Sizilien, dieser Edelstein, um dessen Besitz sich nacheinander Phönizier, Griechen, Karthager, Römer, Araber, Normannen, die Staufenkaiser, Kastilier, Arragonier und Bourbonen gestritten haben, eine Insel, wie zum Paradies geschaffen, jetzt durch die Kämpfe und Mißwirtschaft ihrer Machthaber verelendet, ist und bleibt ,,der Schlüssel zum Verständnis Italiens". Bei unserer Nachtfahrt leuchtet uns der Flammenschein des Vulkans Stromboli. Wir landen im Hafen von Palermo, einer blühenden Handelsstadt, deren Hauptstraßen großstädtisches Leben durchflutet, während draußen im Fischerhafen oder in den engen Gassen der inneren Stadt unverfälschtes Volksleben uns ent- gegentritt in seiner ganzen, herzerfreuenden Natür- liclikeit. Eine Zeit hoher Blüte sah Sizilien unter der Herrschaft der Normannen, jenes streitbaren Geschlechtes, das zu ein und derselben Zeit Eng- land und Sizilien eroberte. Noch heute reden die Steine manches Baues von jenem Tage, so der ehrwürdige Dom in Palermo. In ihm steht der Porphyrsarkophag Kaiser Friedrichs IL, des N. F. \'III. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 573 mächtigsten Herrschers aus jenem kraftvollen Ge- scblechte der I lohenstaufen, das die Normannen- fürsten nach etwa 150 jähriger Herrschaftszeit ab- lösen sollte. In Palermo merkt man, daß man im Süden ist. In üppiger Fracht stehen hier Bananen und üattelpalme; Lorbeer und Oleander blühen an den Myrlhenhecken, und die Papyrusstauden rascheln im Wind in den Gärten der Villa Giulia und der Villa Tasca, zu der man durch einen großen Limonen- und Orangenhain schreitet, in dem die abgefallenen, überreifen I'rüchte, den Boden bedecken. Mit der Straßenbahn gelangen wir hinaus in die Berge zu dem stolzesten Werke, das vor mehr als 700 Jahren die Normannen- herrscher in Sizilien errichtet haben, dem Dom von Monreale. Von dem mit üppig wuchernden Opuntien bedeckten Berg, den wir erklommen haben, hat man eine herrliche Aussicht über die gesegnete Conca d'oro, die Goldmuschel, das vom Oretofluß durchströmte Fruchtfeld Palermos; da- hinter türmen sich die Berge auf, und vor uns liegt der Bau, der durch seine Pracht alle Kirchen übertreffen sollte. Der berühmte Dom ist das Muster normannisch sizilischen Baustils. Jahr- hundertelang war die Insel im Besitz der Byzan- tiner gewesen, und griechisch war hier Sprache, Kultur und Bauweise. Die mit Mosaiken ge- schmückten Kuppeln nahmen die Normannen auf, verschmolzen sie mit der gleichfalls vorgefundenen sarazenischen Bauart, den S[)itzbogcn und den Arabesken, und erzeugten dadurch mit gleich- zeitiger Anlehnung an den Typus der römischen Basilika jenen aus verschiedenen Elementen zu- sammengesetzten Baustil, der in ganz Sizilien an- gewandt wurde und der in die gotische Bauweise allmählich überging. Von dem befestigten Kloster ist nur der Kreuzgang noch erhalten, der an Schönheit seinesgleichen sucht. Ehe wir nach Palermo zurückgehen, machen wir noch einen Abstecher nach der bekannten Kapuzinergruft, jener Leichenrumpelkammer, deren durch Ein- spritzen von Kalk und Rösten über einem gelinden Kohlenfeuer zu einer Art Dauerware gemachte Mumien in der denkbar pietätlosesten Weise an den Wänden aufgehängt oder halbzerbröckelt in den eierkistenähnlichen Sargläden liegen, die man nach Belieben öffnen kann. Ist Monreale im Norden Siziliens das spreciiendste Denkmal nor- mannischen Kunstlebens, so verkörpert sich in der Tempelwelt Girgentis an der Südküste der Insel das hellenische Schönheitsempfinden Groß- griechenlands. Die heiße Luft Afrikas umspielt uns, wenn wir von dem Dache des Klosters S. Nicola das einstige Gebiet von Agragas über- blicken, einst eine Weltstadt von 800000 Ein- wohnern, jetzt kaum 24 000 Bewohner zählend. Das ganze einstige Stadtgebiet ist heute von Wein- und Ölbaumpflanzungen oder Wüsteneien bedeckt. Die frühere Schönheit ist verschwunden, nur an der steil nach dem Meere abfallenden Felsenmauer steht noch eine Reihe dorischer Tempel, die Jahrtausende überdauert haben, dar- unter der Concordientempel, einer der best er- haltenen aus der Periode, in der die edelste Bau- kunst in Griechenland blühte. Sizilien, einst die Kornkammer Roms, ist jetzt ein armes Land. Diu'ch die Waldverwüstungen sind die Flüsse aus- getrocknet, große Wüsteneien füllen weite Strecken. Die bekannteste Industrie des Landes ist die Schwefclfabrikation, in der um wahre Hungerlöhne unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen gearbeitet wird. Das Schwefelgestein wird in gemauerten Öfen, von denen stets drei im Gang sind, aufgeschichtet und der geschmolzene Schwefel vermittels metallener Röhren durch Öffnungen, die zu ebener Erde angebracht sind, in die Formen geleitet. Ein anderes Gepräge als die Städte an der Küste zeigen die Orte im Innern Siziliens. Reizvoll ist der Ausblick von dem alten Felsennest, dem mehr als 3000 Jahre alten Castrogiovanni, dem einstigen Enna, dem geographischen und in früheren Tagen zeitweise auch politischen Mittel- punkt der Insel. Ringsum bauen sich die Berge und Höhenzüge auf bis zu dem alles überragenden weißschimmernden Haupte des Ätna am fernen Horizont. Auf der anderen Seite des I-^elsens findet man in den weichen Kalkstein eingeschnittene menschliche Behausungen, die seit uralten Zeiten Höhlenbewohnern als Wohnstätte dienen. Zahl- reiche afrikanisch - muselmanische Anklänge haben sich in den Sitten und Gebräuchen der Bevölke- rung erhalten. Noch heute darf keine Frau der besseren Kreise allein die Straße betreten. Nur der Gang zur Messe ist ihnen gestattet, und auch auf diesem Wege trifft man die Frauen, deren Köpfe stets in lange schwarze Tücher gehüllt sind, meist truppweise, oder sie streben unter Aufsicht des Maimes eilenden Schrittes dem Gotteshaus zu. Wer durch einen glücklichen Zufall einmal Ge- legenheit findet, in eins dieser Gesichter zu blicken,, wird es begreifen, daß nach der Eroberung der Stadt durch die Sarazenen die darin erbeuteten Frauen ein gesuchter Artikel auf den Sklaven- märkten in Damaskus und Bagdad waren. Noch schärfer tritt das Düstere der Landestracht bei der Männergewandung hervor, die im wesentlichen aus einem schweren Mantel mit helmartiger Kapuze besteht, deren Seitenklappen das Gesicht bis auf die Augen zu verhüllen gestattet. Wie in alten Zeiten trägt das einfache Volk an Stelle einer Fußbekleidung eine Tuchumwicklung. — Wir setzen unsere Wanderung fort nach Syrakus. Das Syrakus von heute hat uns noch weniger zu sagen als das Girgenti unserer Tage; um so er- greifender aber reden die Steine aus der alten Zeit zu uns. Andächtig weilen wir in dem griechischen Theater, einem der größten des Altertums, in dem einst ein Piaton, Pindar, Äschylos und Aristipp gesessen. Von der Höhe der Sitze überschaut man einen großen Teil des alten Syrakus, von dessen Herrlichkeit jetzt nichts, auch gar nichts mehr übrig ist. Wird in dem Griechentheater die alte ideale Schönheitswelt der Hellenen vor unserem Geiste wieder lebendig, so 574 Natur ischaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 36 ruft das nahe daneben gelegene Amphitheater in uns die Erinnerung wach an die roh-sinnliche Nervenkitzellust der Römer mit ihren Tierhetzen und Gladiatorenkämpfen und den Christenmartern der späteren Kaiserzeit. Zwischen beiden Theatern erstreckte sich der 185 m lange Unterbau des Altars Hierons IL, auf dem alljährlich 450 Ochsen dem Zeus als Dankopfer für die Befreiung des Staates von der Tyrannis des Thrasybulos dar- gebracht wurden. Einzig in seiner Art ist in Syrakus ein anderer Überrest aus dem Altertum, die Latomien, die Kerkersteinbrüche, bis zu 40 ni tiefe Felsenkessel, in denen einst die gefangenen Athener bei kärglicher Nahrung, im glühenden Brand der Sonne die Steine aus den Felsen her- aushauen und bearbeiten mußten, mit denen die Syrakusaner ihre Prachtbauten ausführten. Jetzt sind es Plätze des Friedens und der Ruhe, die mit ihren malerischen Grotten und mit ihrer un- vergleichlichen bluten- und früchtereichen Vege- tation ungeheuren Treibhäusern gleichen. Nach einem kurzen Abstecher nach dem nur 1 5 km vom Ätna entfernt gelegenen mittelalterlichen Randazzo, einem unglaublichen Schmutznest, das in Meyer's Reiseführer sehr zu Unrecht mit dem alt- ehrwürdigen, aber sauberen Rothenburg o. Tauber verglichen wird, kommen wir nach Messina, nach dem Messina, das einst war, mit seiner echt süd- lichen Lebensfreudigkeit, und von dem heute fast nichts mehr übrig ist. Ein herrliches Bild bot sich den Blicken von dem obersten Stockwerk des Hotels Trinacria, das jetzt auch verschwunden ist. Der weite Hafen mit dem Fort S. Salvatore liegt vor uns, im Hintergrund begrenzt von der zackigen, bergigen Küste des calabrischen Fest- landes. Unten am Quai herrscht ein buntbewegtes Leben und Treiben. Da schreit und brüllt alles durcheinander, und mitten in dem Wirrwarr zeigt eine Gauklerbande in ihren armseligen Kostümen und Trikots ihre Künste auf dem Straßenpflaster. Inmitten all dieses Lärmes aber, an einer ge- schützten Seite des Zollhauses, liegt im prallen Sonnenschein eine sorglose Schar; schnarchend, in den wunderbarsten Stellungen durcheinander gewürfelt, halten hier die Betteljungen ihre Mittags- ruhe, und gar mancher hätte sie um ihren gött- lichen Schlaf beneidet. Man kann ihm nicht böse sein, diesem kleinen, zerlumpten Gesindel, das sonst mit lachenden, blitzenden, bettelnden Augen, radschlagend und auf den Händen laufend, den Fremden umschwärmt und mit der Grazie eines Kavaliers für eine geschenkte Zigarette sich zu bedanken versteht. Wie viele von ihnen mögen jetzt unter den Mauern ihrer Vaterstadt erschlagen liegen ! Mit einem Ausflug nach Cefalu mit seinen uralten Cyklopenmauern beschließen wir unsere Wanderungen auf Sizilien, dieser Insel, die eine so eigenartige Rolle in der Geschichte der Mensch- heit gespielt hat, einer schillernden Kokette ver- gleichbar, die sich jedem jugendkräftigen Neu- ankömmling ergab, aber auch jedem das Mark aus den Knochen sog, ihn entnervte und keinem treu blieb. In dem ewigen Wandel der Dinge ist hier nur eines sich stets gleich geblieben, die azurne Flut, die dieses Eiland umspült, und. die weiche, linde Luft, die die Völker des Nordens angelockt hat seit Anfang an und die uns Nord- ländern die Sehnsucht nach dem Süden ins Herz gelegt hat. — Am Dienstag, den 11. Mai, sprach im Fest- saale des Charlottenburger Rathauses der Direktor des Kgl. Pharmazeutischen Instituts, Herr Prof. Dr. Thoms unter Vorführung eines reichen Demonstrationsmaterials über ,,Natürliche und künstliche Riechstoffe". Die Firma Gustav Lohse hatte in freundlicher Weise eine größere Anzahl ihrer Erzeugnisse zur Schau gestellt und ließ Proben derselben an die Zuhörer verteilen. Der Vortrag wird in ausführlicherer Gestalt als besonderer Artikel in dieser Zeitschrift erscheinen. Dem Kgl. Botanischen Garten in Dahlem wurde am Sonntag, den 16. Mai, ein Besuch ab- gestattet. I. A. : Prof. Dr. W. Greif, I. Schriftführer. Berlin SO i6, Köpenickerstraße 142. Aus dem wissenschaftlichen Leben. Mit Simon Newcomb ist am 11. Juli der Nestor der amerikanischen Astronomen gestorben. Newcomb, der ein Alter von 74 Jalnen erreicht hat, war gleich groß als theore- tischer Gelehrter, praktischer Beobachter und geistvoller, im besten Sinne des Wortes populärer Lehrer. Am 12. März 1835 zu Wallace in Neuschottland geboren, fand er 1857 seine erste Anstellung als Rechner für den Nautical Almanac in Washington. Eis zu seinem Tode blieb er in der Bundes- hauptstadt der Vereinigten Staaten, seit 1877 als Leiter des die amerikanischen Ephemeriden herausgebenden Rechen- instituts und später zugleich als Professor der Astronomie der Universität Baltimore. Seine Hauptverdienste liegen auf theoretischem Gebiete und beziehen sicli auf die Bewegungen des Mondes und der Planeten. In weitesten Kreisen bekannt geworden ist Newcomb durch seine meisterhaften populären Werke (Populäre Astronomie, deutsch 1905 in dritter Auflage von H. C. Vogel herausgegeben ; Astronomie für Jedermann, deutsch von K. Graf, 1907), die wir bei ihrem Erscheinen in unseren literarischen Besprechungen gebührend gewürdigt haben. Bücherbesprechungen. Abhandlungen der Fries'schen Schule. Neue Folge. Herausgegeben von Gerhard Hessen- berg, Karl Kaiser und Leonard Nelson. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. Die Abhandlungen der Fries'schen Schule, deren neue Folge von Gerhard Hessenberg, Karl Kaiser und Leonard Nelson herausgegeben wird, machen uns mit einer sehr beachtenswerten Weiterbildung der Kant 'sehen Methode vertraut. Wir greifen aus dem ersten Hefte des ersten und dem dritten Hefte des zweiten Bandes je eine Arbeit von Nelson heraus, um die Anschauungen jener Schule zu skizzieren. („Die kritische Methode und das Ver- hältnis der Psychologie zur Philosophie." — „Ist metaphysikfreie Naturwissenschaft möglich?") Nelson zeigt, daß die Wahrheit der Grundsätze N. !■■. \'III. Nr. ^6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 575 durch die Refle.Kion nicht verbürgt werden kann, daß die obersten Urteile vielmehr, unabhängig von der empirischen und mathematischen Anschauung, aus einer unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft entspringen. Der Nachweis dieses Ursprunges ist keine Aufgabe der Logik (Fehler der sog. Neu- kantianerl), sondern der Psychologie (Verdienst von Fries!). An der Tatsache, daß es allgemein- gültige Urteile gibt, scheitert der Emp i r ism us, für den alle Erkenntnis nur aus sinnlicher Anschauung und Reflexion entspringt. Nelson wendet sich namentlich gegen Mach als den Hauptvertreter der empiristischen Lehre. Tatsächlich muß man den ebenso scharfen wie klaren Auseinandersetzungen Nelson' s beipflichten, falls man den Empirismus für eine philosophische Richtung hält, die alle Erkenntnis lediglich aus sinn- licher Anschauung und Reflexion entspringen und alles Denken in einem Assoziationsmechanismus auf- gehen läßt. Wir stimmen mit Nelson ganz überein, daß keine Logik uns das Recht gibt , aus einer be- stimmten , wenn auch noch so großen Zahl von „gleichen" Erlebnissen auf deren regelmäßige Wieder- kehr zu schließen. Die Bereitschaft zu einem festen Glauben an die Allgemeingültigkeit muß also auf eine souveräne Macht zurückgeführt werden, die mit Logik nichts zu tun hat. Als solche kommt für den Kritizismus die „reine Vernunft" in Betracht, für den Empirismus aber eine feste Form der Tatsächlich keit selbst. Gelingt es dem Empirismus diese feste Form aufzuzeigen, so läßt sich seine Stellung nicht erschüttern. Sieht man als Elemente lediglich Sinnesempfin- dungen und Vorstellungen an , so ist man nicht ein- mal imstande, das Wiedererkennen eines Gegenstandes zu begreifen. Im Wiedererkennen fühlen wir uns genötigt, eine Empfindung oder eine Vorstellung als mit einer „früheren" Empfindung oder Vorstellung identisch aufzufassen. Diese Nötigung nun, zwei durchaus isolierte Erlebnisse als übereinstimmend, ähnlich u. dgl. aufzufassen, kann einer sinnlich wahr- nehmbaren Qualität jener Erlebnisse keineswegs ent- springen. Alle Versuche, eine solche zu entdecken, sind unfruchtbar. Anders wird die Sache, wenn es uns gelingt, eine Verbindung jener Empfindungen oder Vorstellungen mit solchen Faktoren nachzuweisen, die unserem eigenen, eine Kontinuität bildenden Ich angehören. Hier leistet uns nun diejenige wissen- schaftliche Theorie einen hervorragenden Dienst, nach der den psychischen Tatsachen nervenphysiologische Prozesse zugrunde liegen. Die zweien als identisch bezeichneten Empfindungen entsprechenden nervösen Erregungen müssen demnach innerhalb des Trägers zusammenhängen und eine gemeinsame Komponente besitzen. Als eine solche Komponente kann nun recht wohl ein dauerndes Abgestimmtsein der nervösen Elemente angenommen werden, derart, daß bei gleich- artigen Reizen die ausgelösten nervösen Prozesse ein ,, gleichartiges" Gepräge, die abhängigen psychi- schen Tatsachen ein „gleichartiges" charakteristisches Merkmal besitzen. Als solche Merkmale bieten sich psychologisch die Gefühle , Stimmungen , Färbungen oder , wie Richard Avenarius es nennt , die „Charaktere" dar, die mit den Sinnesempfindungen und Vorstellungen innigst verschmolzen sind und bald mehr bald weniger lebhaft sich abheben. Als ein „Charakter" darf nun auch die Bereitschaft angesehen w-erden das Wiedereintreten eines Ereignisses zu er- warten oder an die Gültigkeit eines allgemeinen Satzes zu glauben. Mach hat es leider unterlassen, die psychischen Grundgebilde in Elemente und Charaktere einzuteilen, er spricht lediglich von „Empfindungen". Das ist methodologisch ein Nachteil. Mach ist infolgedessen häufig mißverstanden worden. Trotzdem hat er den Fehler eines lediglich auf sinnliche Anschauung und Reflexion sich stützenden Empirismus im ganzen ge- mieden. Das zeigt sich besonders in seiner Behandlung des Problems des begrift'lichen Denkens, wo Mach durch Beachtung der nervenphysiologischen Grund- lagen das Wesen der begrifflichen Charakterisierung scharf hervorhebt. (Der Begriff". „Prinzipien der Wärmelehre".) Nelson beanstandet Mach 's Okonornieprinzip. Er bemerkt richtig, daß unser Philosoph sein Prinzip nicht bloß als logisches Postulat auffasse, sondern dem Denken selbst einen ökonomischen Charakter beilege. Dies will aber im Grunde nichts anderes besagen , als daß die dem Denken zugrunde liegen- den nervösen Vorgänge die „T e n d e n z" haben, mit allen von außen oder innen kommenden Reizen in ein möglichst stabiles Verhältnis zu treten, auch wenn diese Tendenz in zahlreichen Fällen nicht erfolgreich ist, oder daß sie, um einen Ausdruck B o 1 1 z m a n n 's zu gebrauchen, aus „unwahrscheinlichen" Zuständen zu immer , .wahrscheinlicheren" überzugehen streben. Von den im ersten Hefte der Abhandlungen der Fr ies 'sehen Schule enthaltenen Aufsätzen empfehlen wir noch denjenigen von Apelt „über Begriff und Aufgabe der Naturphilosophie" sowie die interessanten Erörterungen Hesse nberg 's über „das Unendliche in der Mathematik". Zum Schlüsse erwähnen wir, daß sich Ave- narius in seiner „Kritik der reinen Erfahrung" ganz besonders die Aufgabe gestellt hat, die nervenphysio- logischen Grundlagen der Charaktere zu ermitteln, daß Petzoldt diese Aufgabe in seiner „Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung" mit Erfolg fortgesetzt hat, und daß schließlich Heinr. Gom- perz in seiner soeben erscheinenden „Weltanschauungs- lehre" die Lehre von Avenarius wieder aufgenom- men und eigenartig weiterentwickelt hat. Wir ge- denken hierauf noch besonders zurückzukommen. Angersbach. Literatur. Arnold, Prof. Dr. Carl : Kepetitorium der Chemie. Mit be- sond. Berücksicht. der f. die Medizin wicht. Verbindungen sowie des „Arzneibuches f. das Deutsche Reich" u. anderer Pharmakopoen namentlich zum Gebrauche f. Mediziner u. Pharmazeuten bearb. 13. verb. u. ergänzte Aufl. (XI, 710 S.) 8". Hamburg '09, L. Voß. — Geb. in Lcinw. 7 Mk. Beyschlag, Geh. Bergrat Dir. F., Abügs.-Dirig. Bergakad.- Doz. P. Kiuscb, Drs., u. J. H. L, Vogt, Proff. ; Die Lager- 576 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 36 Ställen der nutzbaren Mineralien u. Gesteine, nach Form, Inhalt n. Entstehung dargestellt. (In 3 bänden.) I. Band. I. Hälfte. Erzlagerstätten. Allgemeines. (XII, 238 S. m. 166 Abbildungen.) Lex. 8". Stuttgart '09, F. Enke. — 7 MU. Boltzmann , Ludvv. : Wissenschaftliche Abhandlungen. Im .*\ultrage u. m. Unterstützung der Akademien der Wissen- schaften zu Berlin, tiöttingen, Leipzig, München, Wien hrsg. V. Prof. Dr. Fritz Ilasenöhrl. 11. Bd. (1S75-1881.) (VI, 596S. m. Fig.) gr. 8". Leipzig '09, J. A. Barth. — 17 Mic, geb. in Lcinw. lS,6o Mk. Bryk, Dr. Otto: Entwicklungsgeschichte der reinen und ange- wandten Naturwissenschaft im XIX. Jahrh. 1. Bd.: „Die \aturphiloso])hie u. ihre Überwindg. durch die erfahrungs- gemäße Denkweise (1S80— 1850). (XL, 654 S.) gr. 8». Leipzig '09, J. A. Barth. — 15 Mk., geb. in Leinw. 16 Mk. Crato, Korpsstabsapolh. Abtlgsvorst. Dr. E. : Maßanalyse. Bearb. unter Berücksicht. der Methoden des Arzneibuches. (VIII, 305 S.) gr. 8". Leipzig 'og, J. A. Barth. — 6,80 Mk., geb. in Leinw. 7,80 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn H. in Ed. — Wenn Sie sich für die Frage nach den Vorteilen der Fremdbestäubung gegenüber der Selbstbe- stäubung interessieren, müssen Sie vor allem das vortreHliche Werk von E. Loew, Einleitung in die BlUtenbioIogie (Berlin 1895), studieren; dort finden Sie die Anschauungen D arwin's, seiner Anhänger und Gegner ausführlich wiedergegeben. Im übrigen sei noch auf die Naturw. Wochenschr. (1909) Nr. 2, S. 32 und Nr. 14, S. 224 angegebene blütenbiologische Lite- ratur verwiesen; man beachte besonders die einschlägigen Kapitel bei W. Migula, Biologie der Pflanzen (Leipzig, Quelle & Meyer, 1909I. Von neueren Arbeiten, die sich mit der obengenannten Frage beschäftigen, ist zu nennen : W. Burck, Darwin's Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie (Kecueil des Trav. bot. Neerlandais IV. 1907; Referat in Engler's Bot. Jahrb. XL. (1908) 88, und im Bot. Centralbl. loS, p. 599). Burck will die Überlegenheit der Nachkommen aus Kreuzung über solche aus Selbstbefruchtung nur für die Bastarde gelten lassen. Er hält die übliche Be- wertung von Diklinie, Dichogamie und Herkogamic als Mittel zur Erzielung von Kreuzbefruchtung für irrig, und stellt sich dadurch in Gegensatz zu der ziemlich allgemein angenomme- nen Anschauung von dem Werte der Kreuzung. — Wichtigere Arbeiten sind dann noch: O. Kirchner, Über die Wirkung der Selbstbestäubung bei den Papilionaceen (Naturw. Zeitschr. f. Land- und Forstwirtschaft III. (1905) 1 — 17, 49—63, 97— 112); F. P. Richer, Recherch. experimentell, sur la pollini- sation (siehe Juät, Bot. Jahresber. 33. Bd. 3. Abt. 308) ; A. Pen ZG, L'autogamia nelle plante fanerogame (Bull. Soc. bot. Ilal. 1905, p. 73—87, 590-605; nach Just, a. a. O. 305). — Allgemeinere Fragen der Befruchtung behandelt die sehr lesenswerte Schrift von K. Giesenhagen, Befruchtung und Vererbung im Pflanzenreiche (Leipzig, Quelle & Meyer, 1908; 1,25 Mk.). H. Harms. Herrn K in Marburg. — Eine Karte des norddeutschen Flachlandes, in der die verschiedenen Moortypen (Flachmoor, Zwischenmoor, Hochmoor) in ihrer Verbreitung eingetragen wären, gibt es nicht. Eine solche Karte würde sehr schwierig herzustellen sein, denn es würde erst von einer bestimmten Torfmächtigkeit an ein Gelände als Moor kartiert werden können und dabei kommt in Betracht, daß bei künstlich ent- wässerten Mooren durch das sehr starke Zusammensinken des Torfes ein Gelände, das man vorher als Moor kartiert hätte, unter Umständen nachher nicht mehr als solches angegeben werden würde. Die Kgl. Preuß. Geolog. Landesanstalt z. B. kartiert ein Gelände nur dann als Moor, wenn nach seiner Entwässerung noch eine Torfdecke von mindestens 2 Dezi- meter Mächtigkeit übrig bleibt, weil eine geringere und sogar schon 2 Dezimeter Mächtigkeit bald durch den PIlug voll- ständig zerstört ist. Dann kommt noch in Betracht, daß die meisten unserer Moore durch Entwässerung und Inkultur- nahme teils bereits vernichtet, teils in Vernichtung begriffen sind. Es ist daher außerordentlich dankenswert, daß der Herr Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten auf einen Antrag des Unterzeichnelen hin die Erhaltung eines noch in- takten Moorgeländes in Ostpreußen als Naturdenkmal geneh- migt hat. Das Moor ist noch nicht zur Auswahl gelangt; es soll aber nach einer Bereisung und Beurteilung der noch zur Verfügung stehenden Gelände im Laufe dieses Winters fest- gestellt werden. P. Herrn Dr. E. in Ukamas. — Ist f/ die geographische Breite des Beobachtungsorts, ö die aus astronomischen Kalendern zu entnehmende Deklination der Sonne, so berechnet sich der Stundenwinkel der untergehenden Sonne nach der Formel cos t = — 'g f 'g '^• Hat man so t, den halben Tagbogen, gefunden, so braucht man denselben nur durch Division mit 15 in Zeit zu verwan- deln und erhält durch Addition und Subtraktion zu 12 Uhr die wahre Sonnenzeit des Untergangs und Aufgangs, die dann noch mit Hilfe der Zeitgleichung in mittlere Zeit zu verwan- deln ist. Wollen Sie sich die logarilhm'sche Berechnung von t ersparen, so können Sie t bis auf etwa 1° ^ 4 Minuten genau auch sehr leicht mit Hilfe von Koerber's Transformator für sphärische Koordinaten (Berlin, Dietrich Reimer, Preis 3 Mk.) ablesen. Beim Monde finden Sie auf die gleiche Weise aus cp und (V den halben Tagbogen t, müssen ihn aber nun zur Rekta- szension addieren, bzw. davon subtrahieren, um die Slernzeit des Untergangs und Aufgangs zu erhalten , die dann noch in bekannter Weise (mit Hilfe der in den Kalendern angegebenen ,, Sternzeit im mittleren Mittag") in mittlere Zeit verwandelt werden muß. Formeln, mit Hilfe deren man von den für einen bestimmten Ort berechneten Werten auf einen anderen Ort übergehen könnte, ohne in der obigen Weise eine selb- ständige Berechnung vorzunehmen, gibt es nicht. Kbr. In Ergänzung der Brief kastennotiz vom 31. Januar 1909 (Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. VIll , S. 80) teile ich mit, daß nach dem D R.P. 211 212 (,, Gewinnung eines als VVund- heilmillel dienenden Stoffes aus Myrrhenharz") zur Gewinnung von Burserazin fein gepulvertes Myrrhenharz mit Alkohol extrahiert wird. Der Rückstand, den die alkoholische Lösung beim Eindampfen hinterläßt, wird mit Wasser e.xtrahierl. Das Wasser hinterläßt beim Verdampfen ein braunes, sehr bitter schmeckendes, ähnlich wie gebrannter Zucker riechendes in Wasser, Alkohol und Äther lösliches, bei etwa 78° schmelzen- des Produkt. Dieses Produkt scheidet, in den Blutkreislauf eingeführt, aus dem Blute, sobald es mit Luft in Berührung kommt, eine zusammenhängende, elastische, in Wasser unlös- liche Membran aus , die die Wunden dicht abschließt. Ein noch wirksameres Produkt, das O x y b u r s e ra z in , wird er- halten, wenn das Burserazin mit einer wässrigen Lösung von Wasserstoffsuperoxyd gekocht und die Lösung dann im Vakuum bei 30" bis 40° zur Trockne gedampft wird (vgl. Chem. Zeitg., Jahrg. 1909, Repert. S. 382). Dem Ergebnis der zweifellos schon in .Angriff genomme- nen experimentell-physiologischen Untersuchung des Bursera- zins und des Oxyburserazins muß man mit großem Interesse entgegensehen. Mg- Inhalt; Dr. R. Marc: Über den Molekularzustand der kristallisierten Materie. — Kleinere Mitteilungen: Luigi Busca- lioni: Zur Morphologie der Asparageen und der Pericaulomtheorie. — W. Geibel: Das Platin. - Vereinswesen. — Aus dem wissenschaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Angersbach: Abhandlungen der I'ries'schen Schule. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfeldc-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. NcuJ! I'olge VIU. r.anil; der ganzen keihc X\1V. Band. Sonntag, den 12. September 1909. Nummer 37. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in Der 17. Deutsche Geographentag zu Lübeck. I. Der äußere Verlauf der Tagung. Zu der Zeit, als vor zwei Jahren der 16. Deut- sche Geographentag in Nürnberg zusammentrat, fanden in den geographischen Fachzeitschriften eingehende Erörterungen darüber statt, ob der Wert und die Bedeutung der Geographentage nachgelassen habe, und eine Reihe von Reform- vorschlägen trat zutage, die zum Teil noch den Nürnberger Geographentag beschäftigten, aber erst in der Lübecker Tagung zum Abschluß gelangten. Es darf mit Befriedigung festgestellt werden, daß diese Tagung jedenfalls den Beweis dafür lieferte, daß von einer Erkaltung des Interesses, oder einer Abnahme der Bedeutung des Geographentages, wie dies einige Fachgenossen befürchtet hatten, nichts zu bemerken war. Die Versammlung wies nicht nur eine recht hohe Zahl von Besuchern auf, nämlich 384 gegen 280 in Nürnberg (1907), 362 in Danzig (1905) und 372 in Köln (1903), sondern auch der Besuch der Sitzungen war trotz ihrer langen Dauer bis zum Schluß regelmäßig ein guter. Besonders verdient hervorgehoben zu werden, daß die Universitätslehrer der Geographie Deutschlands und Deutsch-Österreichs fast voll- zählig erschienen waren. In der ersten Sitzung am i. Juni begrüßte Herr Prof. Dr. Lenz als Vorsitzender des Orts- ausschusses und der geographischen Gesellschaft, in deren Namen er eine Festschrift überreichte, sodann der regierende Bürgermeister Dr. Eschen- burg namens der Stadt Lübeck, Herr Senator Kulenkamp im Namen der Unterrichtsverwal- tung und Herr Senator Dr. Neumann als Ver- treter der Lübeckischen Gesellschaft zur Beförde- rung gemeinnütziger Tätigkeit, die ihr Haus in entgegenkommendster Weise dem Geographentag zur Verfügung gestellt hatte, die Versammlung. Letzterer erwähnte dabei, daß schon in der ersten Verfassung dieser vor 1 20 Jahren gegründeten Gesellschaft Vorlesungen über Gegenstände aus der Geographie der neuentdeckten Länder in Aussicht genommen waren. Herr Konsul Dimpker überbrachte als Präses der Handels- kammer den Willkommensgruß der Kaufmann- schaft von Lübeck und Prof. Dr. Reuter ließ der Versammlung eine Kollektivbegrüßung im Namen einer Gruppe von wissenschaftlichen Vereinen Lübecks zu teil werden, bei der er in markigen Worten den engen Zusammenhang zwischen geo- graphischer Wissenschaft und Liebe zur Heimat betonte. Der Vorsitzende des ZcntralAusschusses den einzelnen Disziplinen. des Geographentages, Prof. Dr. Su pan, gedachte zunächst des erst vor wenigen Tagen dahinge- schiedenen langjährigen Vorsitzenden Exzellenz V. Neumayer, sowie der verstorbenen Mit- glieder Dr. Lindemann, Dr. Reiß, Prof. Dr. Löwl und Prof Dr. Credner, gab darauf einen kurzen Umriß der Aufgaben, die den Geo- graphentag auf dieser Tagung zu beschäftigen hätten, und erklärte diese sodann für eröffnet. Von Festgaben wurden den Teilnehmern außer der schon erwähnten Festschrift der geographi- schen Gesellschaft zu Lübeck noch einige andere Darbietungen überreicht, auf deren Inhalt noch zurückzukommen sein wird, sowie ein die alter- tümlichen Bauwerke Lübecks besonders berück- sichtigender Führer durch die Stadt. Am Abend des Eröffnungstages führte ein Dampfer die Teilnehmer auf der Trave strom- abwärts an Hafenanlagen und industriellen Eta- blissements vorüber bis an die Schluluper Wiek, und an diese Fahrt schloß sich ein Spaziergang durch die prächtigen Waldungen bei Israelsdorf bis zur Forsthalle, wo eine gastfreie Aufnahme und Begrüßung seitens des Senates erfolgte. Am folgenden Abend fand ein Festessen im Ratskeller statt. In der Katharinenkirche war eine historisch- geographische Ausstellung von Gegenständen ver- anstaltet worden, die aus dem Katasteramt, dem Staatsarchiv, dem Bauamt, dem Museum , der Stadtbibliothek, der Realschule zum Dom und aus Privatbesitz stammten. Die geschäftlichen Verhandlungen über die inneren Angelegenheiten des Geographentages wurden, obgleich hierbei die Satzungsänderungen eine Hauptrolle spielten, ohne Debatte erledigt. Auch das Ausscheiden der bisherigen, um den Geographentag zum Teil seit Jahrzehnten uner- müdlich tätigen und hochverdienten Mitglieder des ZcntralAusschusses, wie S. Günther, J. Partsch, A. Supan, H. Wagner, und ihr Ersatz durch die Herren E. v. Drygalski, O. Krümmel, K. Langen- beck, H. Meyer, E. Oberhummer und A. Penck, die auf Vorschlag von H. Wagner einstimmig gewählt wurden, vollzog sich in so schnellem Tempo, daß keine Zeit blieb, den ausscheidenden Herren für ihre Tätigkeit im Interesse des Geo- graphentages den Dank der Versammlung auszu- sprechen. Als Ort der nächsten Tagung wurde Innsbruck, als Zeit die Pfingstwoche des Jahres 191 2 auf Vorschlag von Prof. Dr. v. Wieser-Innsbruck ge- wählt. 578 Naturwissenschaftliche U'ochenschrift. N. F. VIII. Nr. 37 2. Forschungsreisen. In der Eröffnungssitzung hielt Prof. Dr. K. Sapper-Tübingen einen Vortrag „Meine Reise im Bismarck- Archipel". Diese Reise wurde ge- meinschaftlich mit dem Ethnologen Dr. Friederici im Auftrage der landeskundlichen Kommission der deutschen Schutzgebiete nach Neu-IVIecklen- burg und Neu-Hannover unternommen, um diese beiden Inseln nebst ihren Nachbarinseln geographisch und ethnographisch zu untersuchen. Der Aufent- halt in Neu-Guinea bot Gelegenheit zu einem Vergleich zwischen dem britischen mit dem deutschen Anteil dieser Insel. Während in Britisch- Neuguinea von einer wirtschaftlichen Betätigung der Eingeborenen nichts zu bemerken war, zeichnete sich die Umgebung von Herbertshöhe durch Kokospalmen-Anpflanzungen aus, die viele Quadratkilometer bedeckten. Auch die einge- borene Schutztruppe macht einen guten Eindruck. Auf Neu-Mecklenburg wurde ein i ^/o tägiger Aufenthalt des Dampfers an der schmälsten Stelle der Insel benutzt, um als Rekognoszierungreise eine Durchquerung auszuführen, bei der sich die Notwendigkeit einer getrennten Arbeit der beiden Reisegenossen ergab. Die bisher vorhandenen Aufnahmen der deutschen Marine auf den beiden Inseln sind zum Teil noch nicht veröffentlicht, die Aufnahmen einzelner Landmesser, die auch einige Durchc]uerungen ausgeführt haben, leiden unter dem Übelstande, daß ihnen kein Aneroidbaro- meter für Höhenmessungen mitgegeben war. Der Expedition ist es nun gelungen, zahlreiche Küsten- aufnahmen, sowie auf Neu-Hannover 3, auf Neu- Mecklenburg 16 Durchquerungen auszuführen. Als ein großes Hindernis erwies sich der Urwald, der jeden freien Ausblick hinderte und höchst selten Aussichten auf die Gebirge im Inneren gestattete. Dazu kam, daß die Regenzeit zwei Monate später aufhörte, als zu erwarten war, und auch zwei Monate früher einsetzte, so daß nur etwa vier Wochen lang schönes Wetter herrschte. Auch in anderer Weise hatte die Expedition unter der Ungunst der Witterung zu leiden, da die Wege häufig in Flußbetten entlang führen, in denen das Vorwärtskommen zur Regenzeit große Schwierig- keiten bietet. Die eingeborenen Träger sind nicht imstande mehr als 25 bis 30 Pfund zu tragen, so daß jeder Träger nur seinen eigenen Proviant für 12 Tage tragen kann, und auf die Mitführung von Zelt und Feldbett verzichtet werden mußte. Eine Einsattelung, die bis auf 80 m Seehöhe hinabgeht, teilt Neu-Mecklenburg in zwei Teile. Der nördliche Teil erhebt sich in dem Kalkplateau von Lelet bis zu 1200 m Höhe, während das Gebirge des südlichen Teiles über 2000 m hoch emporragt. Die Temperatur ist außerordentlich gleichmäßig. Wasser ist meist reichlich vorhanden, mit Ausnahme der Kalkgebiete, wo es schnell in die Tiefe sickert. Dementsprechend findet man als Hauptvegetationsform den üppig entwickelten tropischen Regenwald. Im allgemeinen schließt sich die Pflanzenwelt eng an diejenige von Neu- Guinea an. Die Tierwelt ist nur spärlich ver- treten. Gefährliche Tiere, wie Krokodile und giftige Schlangen, kommen nicht allzuhäufig vor, doch sind giftige Fische vorhanden, deren Genuß einem begleitenden Soldaten den Tod brachte. Die Bevölkerung ist in starkem Rückgang be- griffen und hat z. B. in Neu-Lauenburg von 1900 bis 1907 um 13,6 "/o abgenommen. In Süd-Neu- Mecklenburg sind oft ganze Dörfer nahezu aus- gestorben. Die Zukunft der wirtschaftlichen Ent- wicklung, die im allgemeinen bisher vortreffliche Resultate aufzuweisen hat, hängt im wesentlichen davon ab, ob es gelingen wird, dem rapiden Aus- sterben der eingeborenen Bevölkerung Einhalt zu gebieten. Die Aussichten des Plantagenbaues sind in den Küstengebieten recht gute. Die Braunkohlenlager, deren Vorkommen im Inneren der Insel bekannt war, wurden aufgesucht und auf ihre Abbauwürdigkeit geprüft. Leider war das Resultat ein gänzlich negatives, da die 2 m mäch- tigen Flötze unter 78" Neigung einfielen, und in weichem, fließenden Ton im Bereiche des Grund- wassers eines dicht daneben gelegenen Flusses eingebettet waren. Anerkennend hervorgehoben wurde von dem Vortragenden der ausgezeichnete Zustand der Wege, namentlich in dem Nord- distrikt von Neu-Mecklenburg, wo es dem Be- zirksamtmann von Käwieng, Herrn Boluminski, gelungen ist, eine 180 km lange, auf beiden Seiten mit Zierpflanzen eingerahmte Parkstraße nicht nur zu bauen, sondern auch, durch An- stachelung des Ehrgeizes der Eingeborenen, dauernd in vorzüglichem Zustande zu erhalten. Zahlreiche Lichtbilder unterstützten die Schil- derungen des Vortragenden über die einheimische Bevölkerung, ihre Kleidung und Wohnung, ihre Tänze, bei denen sie sich den Körper mit weißem Kalk bemalen und mit Flaumfedern bekleben, und manche Besonderheiten in der Tracht der Frauen, wie deren helmartige Kopfbedeckungen und das sackartige, aus Palmblättern hergestellte Regendach, zu dessen Anwendung sich die Reisen- den schließlich selbst bequemten, da es sich als das zweckmäßigste Schutzmittel gegen den unauf- hörlichen Regen erwies. Sehr ausgesprochen ist bei der ganzen Bevölkerung ein starker Sinn für Verzierung aller Gebrauchsgegenstände, sowie der Wohnung. Dr. Karutz berichtete über die „Mpangwe- Expedition" des Lübecker Museums für Völker- kunde, die sich seit dem August 1907 unter der Leitung des Herrn Günther Teßmann im spanischen Westafrika südlich von Kamerun befindet. Ausgerüstet wurde dieselbe von der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit in Lübeck unter Beihilfe des Kgl. zoolo- gischen Museums in Berlin ; sie bezweckt die Er- forschung jener aus Vorbantubevölkerung, Bantu und hamitischen Nordvölkern gemischten Gruppe der Mpangweneger, die als Jaunde, Bane, Bule, Ntum und Fang die südlichen Teile der deutschen N. F. \'III. Nr. 37 Katurwissenschaftliche Wochenschrift. 579 Kolonie Kamerun und die angrenzenden Bezirke der spanischen und französischen Besitzungen nördlich des Ogowe bewohnen. Der Hauptwert wurde auf möglichst vollständige Sammlung des materiellen Kulturbesitzes, sowie auf eine mög- lichst eingehende Erforschung des wirtschaftlichen und geistigen Lebens, namentlich der religiösen Anschauungen, der zeremoniellen Feiern und Feste, der sozialen Einrichtungen, der geschicht- lichen Überlieferungen, der Sprache usw. gelegt. Da Herr Teßmann von einem früheren .Aufent- halte in diesem Gebiete viele persönliche Bekannte unter den Negern hatte, vor allem aber die Sprache der Eingeborenen vollständig beherrschte, so gelang es ihm, durch intimes Einleben in den Charakter und die Gebräuche der Bevölkerung, wertvolles Material zu erhalten. Mit besonderer Liebe wurde die Stellung der Symbolik im Leben des Negers erforscht. Die Expedition naht sich ihrem Ende und soll am Schluß dieses Jahres nach Lübeck zurückkehren. Die bisher vorliegen- den Resultate bestehen in zoologischen und botanischen Sammlungen, ca. looo ethnographi- schen Gegenständen, mehreren Hundert Photo- graphien und 60 Phonogrammen. Eine Auswahl aus der völkerkundlichen Sammlung der Expe- dition, die manches ethnographisch Neue enthält, war in der Ausstellung des Geographentages in der Katharinenkirche in übersichtlicher Weise zur Aufstellung gelangt. An seinen Bericht über die Expedition selbst knüpfte der Vortragende noch bemerkenswerte Ausführungen über die Methodik ethnologischer Forschung im allgemeinen. Dr. A.Tafel berichtete unter Vorführung von Lichtbildern über „Einige Ergebnisse einer Studienreise in Tibet", die er während seiner dreijährigen Reise in diesem verschlossenen Lande gewonnen hat. Er gab eine anschauliche Schilde- rung des östlichen Nordtibet, das von dem Hwang- ho durchflössen wird. Dieser Teil Tibets ist eine eng zusammengepreßte Rumpfmasse eines Falten- gebirges, aus dem die Erosion zahlreiche Ketten herauspräpariert hat, die von WNW nach OSO im Sinne des Kwen-lun-Gebirgssystems verlaufen, und Gipfelhöhen von 5000 — 6000 m aufweisen. Die Ketten hören im Osten an einer Bruchzone auf, die v. Richthofen längs des 104. Meridians östlicher Länge gezeichnet hat, und es ist dem Vortragenden gelungen, mehrere zu dieser Zone gehörige Bruchlinien feststellen zu können. Der wenig bekannte, auf tibetanischem Gebiet gelegene Oberlauf des Hwangho-Flusses wurde erforscht, insbesondere die merkwürdige Stelle dicht an der chinesischen Grenze, wo der F"luß, von Westen kommend, einen spitzen Winkel bildet und nach Nordwesten weiterfließt. Dieser Punkt liegt w'eiter östlich, als man bisher angenommen hatte. Dem Reisenden gelang es auch, einen 600 m breiten Wasserfall, und schließlich sogar den Quellsee des Hwang-ho zu entdecken, der in einer Höhe von 4500 m in dem Sumpflaiid von Hochtibet liegt. Prof Dr. Th. Fischer machte auf das greo- graphische Material aufmerksam, das in Deutsch- Südwestafrika während des Krieges von den ver- schiedenen Expeditionen gesammelt worden ist, und übermittelte dem Geographentag den Wunsch des Oberkommandos der Schutztruppe, daß dieses Material von Geograjjhen aufgearbeitet werden möge, solange die betreffenden Expeditionsleiter noch im Lande selbst anwesend seien, und somit Gelegenheit vorhanden wäre, auch mündliche Er- gänzungen und Erläuterungen zu dem toten Material zu erhalten. 3. Geographischer Unterricht. Die Fragen des geographischen Unterrichts sind ein ständiger Beratungsgegenstand aller Geo- graphentage , aber wohl niemals haben die Ver- handlungen über dieses Thema einen so wesent- lichen Bestandteil der Diskussion gebildet, wie auf der Lübecker Tagung. Den Besprechungen ging ein Vortrag des Direktors der Realschule zum Dom in Lübeck, Dr. S. Schwarz voraus „Der mathe- matisch-astronomische Unterricht in den unteren und mittleren Klassen der höheren Schulen". Dieser LInterricht zeigt zwei Grund- mängel, deren Abstellung vor allen Dingen ange- strebt werden müsse. Er steht nicht in lebendi- gem Zusammenhange mit dem , was wir in der Natur wirklich sehen, und er gibt keine Gelegen- heit, durch Wiederholungen die Anschauungen zu befestigen. Vor allem ist eine Vervollständigung der Lehrpläne geboten, um den Kindern der Großstädte, die zwischen Mauern aufwachsen, die wirklichen Himmelserscheinungen zu zeigen, die zunächst nach dem ptolemäischen System zu er- klären seien. Aus diesen erst müssen die Vor- stellungen nach dem kopernikanischen System so entwickelt werden , daß sie innerlich damit ver- bunden sind. Der Unterricht muß auf sämtliche Klassen verteilt und die Resultate desselben durch stete Wiederholung und Erweiterung ein dauernder Besitz der Schüler werden , nicht aber eine Schulweisheit, von der es heißt : Wie gewonnen, so zerronnen. Der Vortragende gibt dann eine Schilderung des Lehrplanes an seiner Schule, auf der in der Tertia die Verknüpfung der Beobachtungen der scheinbaren Bewegungen mit der Erklärung durch die wirklichen Vorgänge erfolgt. Besonderer Wert wird auf die Anfertigung kleiner Drahtmodelle gelegt, durch welche die Schüler sich die scheinbaren Bewegungen der Himmelskörper selbst ableiten. Als Ergänzung zu diesem Vortrag war in der Ausstellung eine kleine Sammlung der Realschule zum Dom ausgestellt, die beachtenswerte Beiträge zur Methodik des Geographieunterrichtes bot. Zeichnungen und Karten, Modelle und Instrumente erläuterten die Einführung in das Kartenverständ- nis und die mathematisch- astronomische Erdkunde sowie die geographischen Aufgaben im propädeu- tischen Mathematikunlerricht in der Quinta. Auch die Unterrichtsausflüge, die besonders gepflegt werden, waren auf Karton veranschaulicht. 5 So Naturwissenschaftliche \\'ochcnschrift. N. F. Vm. Nr. 37 Prof. H. Fischer erstattete den Bericht der ständigen Kommission für den erdkundlichen Schulunterricht. Als erfreulich hob er die Liefe- rung der geologischen Meßtischblätter für Unter- richtszwecke zum halben Preise hervor, sowie die Ausgestaltung des geographischen Unterrichts in den kaufmännischen Fortbildungsschulen und die Aufnahme schulgeographischer Fragen in das Programm der Fachsitzungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. Dagegen ist der Versuch, das Reichskolonialamt zu veranlassen, erdkundlich vorgebildete Oberlehrer zu Studienzwecken in die Kolonien zu schicken, an der zur Zeit ungünstigen Finanzlage des Reiches gescheitert. Die Reformvorschläge liegen in Form einer Denkschrift vor, deren Inhalt die Grundanschauun- gen wiederspiegelt, über die unter den 13 Mit- gliedern der Kommission eine Übereinstimmung erzielt worden ist. Diese Denkschrift, deren In- halt den Gegenstand einer mehrstündigen Dis- kussion ausmachte, zerfällt in folgende vier Ab- schnitte: i) A. Geist beck: ,,Die Bedeutung der Erdkunde und erdkundlicher Bildung für das deut- sche Volk in der Gegenwart". Der Verf kommt zu dem Resultat, daß die Erdkunde sowohl der Geschichte, wie den Naturwissenschaften völlig gleichwertig zur Seite steht. 2) R. Langen - Beck: „Die Lehrziele, die Lehrmethode und die Lehrpläne des erdkundlichen Unterrichts." Gipfelt in der Aufstellung eines Lehrplanes. 3) H. Fischer: ,,Der geographische Fachlehrer." Liefert an der Hand statistischen Materials den Nachweis, daß etwa die Hälfte aller Lehrer in Erdkunde unterrichten, ohne die Lehrbefähigung dafür er- worben zu haben. 4) A. Geistbeck: „Die äußere Einrichtung des erdkundlichen Unterrichtes an den höheren Schulen, die geographischen Sammlungen." Strebt die Schaffung von Unter- richtsmaterial an, das aus einer heimatkundlichen, einer länderkundlichen und einer physikalisch- geographischen Sammlung bestehen soll. 5) L. N e u m a n n : „Die berufliche Vor- und Fortbildung der Geographielehrer." Behandelt namentlich den geographischen Universitätsunterricht. Die Geo- graphie muß mit den Naturwissenschaften zu ge- meinschaftlichem Studiengang verbunden werden, für den ein viersemestriger Lehrplan aufgestellt wird, der als vorbereitender Kursus gedacht ist, nach dessen Absolvierung in weiteren vier Se- mestern die fertige Ausbildung des Geographie- lehrers erfolgen kann. Die Diskussion drehte sich besonders um die Vorschläge von Prof Neumann über die Vorbil- dung der Geographielehrer, sowie um die Frage, wie sich der geographische Unterricht zu dem geologischen stellen solle. Gewichtige Stimmen sprachen sich für die Beibehaltung der Kombi- nation Geographie Geschichte aus, so daß schließ- lich auf Vorschlag von Prof Dr. A. Penck ein Extrakt aus der Denkschrift mit einigen Abände- rungen angenommen wurde. Der Inhalt dieser definitiven Reformvorschläge läßt sich kurz dahin zusammenfassen: Der Geographentag er- neuert auf das dringendste sein früheres Verlangen nach fachlicher Vorbildung der Geographielehrer und Fortführung des Geographieunterrichtes durch sämtliche Klassen. Er gibt eine Definition des geographischen Fachlehrers und der wesentlichen Aufgaben des erdkundlichen Unterrichts. Ohne die Freiheit der Kombination verschiedener Wissen- schaften beim Studium der Geographie beschrän- ken zu wollen, empfiehlt er dieses mit biologischen Naturwissenschaften, Geologie, Physik und Mathe- matik oder Geschichte zu kombinieren. Er emp- fiehlt die Einrichtung geographischer Schulsamm- lungen und die Ausführung geographischer Ex- kursionen. Er bedauert, daß in fast allen deutschen Schulen der Geographieunterricht vielfach nicht durch Fachleute erteilt wird. Als Beispiel der Stoffverteilung für eine neunklassige Schule wird ein Lehrplan beigefügt. 4. Deutsche Landeskunde. Im Eröfifnungsvortrag der Tagung gab Prof Dr. Ohnesorge einen „Überblick über die Lage und Entstehung Lübecks, sowie über die Topographie und den Charakter der Stadtlage". Daß Alt-Lübeck eine Wendenansiedlung war, geht schon aus seiner Lage auf der flachen, nur bis 2 Meter Seehöhe ansteigenden Halbinsel zwischen Trave und Schwartau hervor. Im Gegensatz zu den Deutschen, die mit Vorliebe die diluvialen Höhenrücken zu ihren Ansiedlungen wählten, wie die prähistorischen Funde ergeben, knüpften sich die Siedelungen der Wenden an die P'lußläufe, und oft suchten sie ihren Schutz in Moor und Sumpf Die Ringburg Alt-Lübeck war früher die Hauptstadt eines großen Wendenreiches, das von Kiel bis zur Oder reichte und die Germanen von der Ostsee abschnitt. Erst nach der Zerstörung von Alt-Lübeck gelang es den Deutschen, in dieser Gegend die Ostsee zu erreichen, und Graf Adolf von Holstein erkannte mit Scharfblick die Stelle des heutigen Lübeck als bevorzugtesten Platz für die Anlage einer Burg; war es doch der land- innerste Punkt, bis zu dem Seeschifi"e stromaufwärts gelangen konnten. Die ovalförmige Halbinsel, auf der Lübeck liegt, ist von einem diluvialen Höhen- rücken durchzogen, der nach der Trave steil, nach der Wakenitz sanft abfällt und in drei Teile zer- fällt, den südlichst gelegenen Sandberg, auf dem die älteste Pfarrkirche der Stadt, St. Johann auf dem Sande, lag, den Klingenberg, der am weite- sten nach Westen reichte und durch die Holsten- brücke über die Trave die Verbindung mit Hol- stein knüpfte, an einer Stelle, wo später das Holstentor, das Wahrzeichen Lübecks errichtet wurde. Das Zentrum der Stadt mit Rathaus und Marienkirche liegt auf dem höchsten Teile eines Ausläufers des Klingenberges in 15 Metern See- höhe. Der nördlichste und ausgedehnteste Teil des Diluvialrückens ist der Koberg. Große Schwierigkeiten bei den Fundamentierungsarbeiten in der Traveniederung machen die ausgedehnten N. F. \'III. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. ^8i Moortjebicte, wo stellenweise der Torf eine Mäch- tigkeit von mehr als 13 Metern erreicht. In enger Beziehung zu diesem Vortrag steht eine von dem Katherineum zu Lübeck dem Geo- graphentag gewidmete Schrift von Prof. Dr. P. i'^riedrich: „Dergeologische Aufbau derStadt Lübeck und ihrer Umgebung", in welcher der Verfasser auf 79 Seiten eine duich Profilskizzen, eine Tafel und 3 Karten erläuterte geologische Monographie Lübecks und der Untcrtrave bietet. Auch das Brodtener Ufer, das durch die Ostsee eine Zerstörung erleidet , die an den deutschen Küsten ihres gleichen nicht hat, findet in dieser Schrift eingehende Berücksichtigung. Innerhalb 24 Jahren sind nicht weniger als 47 000 qm hier der See zum Opfer gefallen und in den letzten 90 Jahren betrug der durchschnittliche jährliche Abbruch des Ufers etwa i Meter. Auch die ein- gangs erwähnte Festschrift enthält einen Beitrag zur deutschen Landeskunde von Dr. R. Struck: „Übersicht der geologischen X'erhältnisse Schles- wig-Holsteins", welche auf 169 Seiten und 14 Ta- feln ein dem heutigen Stande unseres Wissens entsprechendes Bild von der Zusammensetzung und der Entstehungsgeschichte des Bodens der Provinz bietet, und sich bemüht, die vor 20 Jahren von Haas gegebene zusammenfassende Darstellung mit den Ergebnissen neuerer Forschungen in Be- ziehung zu bringen. Auch eine von der erdmagnetischen Station in Lübeck veröffentlichte Schrift gehört hierher: „Magnetische Aufnahme des Küstengebietes zwi- schen Elbe und Oder. II. Teil. Schleswig. Aus- geführt in den Jahren 1892 und 1894 und bear- beitet von Dr. W. Seh aper". Es wird auf 87 Seiten und 3 Tafeln zunächst eine Beschreibung des von dem Verfasser konstruierten Universal- Reiseinstruments gegeben, das der Ausstellung einverleibt worden war, und darauf werden die Ergebnisse der magnetischen Vermessung mitge- teilt, die von drei Karten der Isoklinen, Isodyna- men und Isogonen eines großen Teiles von Nordwestdeutschland begleitet sind. In der letzten Sitzung der Tagung wurden drei auf die Landeskunde der nordelbischcn Tief- ebene bezügliche Vorträge gehalten. Dr. K. Olbricht sprach über „Geologisch-morphologi- sche Probleme zur Lüneburger Heide", und gab eine auf eigenen Untersuchungen beruhende aus- führliche Schilderung der auf der präglaziaien Eincbnungsfläche ruhenden .Ablagerungen der ver- schiedenen Eiszeiten und Interglazialzeiten. Di- rektor Dr. P. Lehmann steuerte neue Beiträge zur Kenntnis der „Probleme der Morphologie Rügens" bei, indem er Mitteilungen über 80 un- veröffentlichte Bohrungen machte, bei denen in größeren Tiefen unter der Kreide immer wieder Diluvium angetroft'en wurde, so daß man bezwei- feln kann, ob die Kreide Rügens, mit Ausnahme von Jasmund, überhaupt als anstehendes Gestein anzusprechen ist. Dr. Behrmann gab einen Überblick über seine Untersuchungen „Zur Frage der glazialen Urstromtäler im Westen der Unterweser". Er verneint die Existenz derselben, da sich diluviale Rücken ungestört durch das an- gebliche Urstromtal hindurchziehen. Die Gegend der Ems • Weser - Wasserscheide ist als eine ver- moorte Drumlinlandschaft aufzufassen. Prof. Dr. F. Hahn erstattete den üblichen Bericht der Zentralkommission für die wissenschaftliche Landes- kunde von Deutschland und teilte mit, daß die Herren R. Credner und S. Passarge aus der Kom- mission ausgeschieden , dagegen die Herren M. P'riederichsen , W. Schjerning und A. Supan in dieselbe eingetreten seien. 5. Morphologie der Wüsten. Prof. Dr. S. Passarge teilt die „Ergebnisse zweier Studienreisen nach Algier zur Beobachtung der Verwitterungsverhältnisse in den Hoch- steppen und in der Sahara" mit. Unsere Vor- stellungen über die Wüstenbildung, wie sie in Deutsch- land namentlich unter dem Einfluß von Johannes Walther herrschend geworden sind, haben keine allgemeine Gültigkeit und passen jedenfalls nicht für die algerische Sahara. Die chemische Ver- witterung von innen heraus, wie sie Fraas be- schrieben hat, und die Bildung einer Eisenmangan- schutzrinde, wie sie in der ägyptischen Wüste vorkommt, finden sich in der algerischen Sahara nicht; die Verwitterung erfolgt dort vorwiegend unter dem Einfluß physikalischer Agentien. Pilz- felsen wurden gar nicht beobachtet. Die Wind- ablation, W^alther's Deflation, spielt bei der Ab- tragung keine Rolle, bzw. wird diese Rolle stark überschätzt. Die Vorstellung, daß die Steppen Gebiete der Aufschüttung sind, indem die Steppen- vegetation den Staub festhält, gilt für Algier nicht. Der Wind wirkt in den Steppen so gut wie gar nicht. Im PVühjahr ist auf der Steppe eine kaum Millimeter starke, durch schwache Kalkinkrustation entstandene Trockenrinde vorhanden, die durch jeden P'ußtritt zerstört wird. Nur die kurzen, aber äußerst heftigen W'olkenbrüche wirken als ab- tragende Kräfte, aber die Erosion schneidet nicht in die Tiefe, sondern wirkt flächenhaft. Dieser, von dem Vortragenden als Flächenspülung be- zeichnete Vorgang, ist also verursacht durch die Regendichte und die Kalkrinde auf dem tonigen Steppenboden. Eine wichtige Rolle bei der Ab- tragung spielen die Kalkkrusten, die dadurch ent- stehen, daß bei starker Verdunstung das aus dem Boden emporsteigende Grundwasser durch seine Kalkausscheidungen die oberen lockeren Massen verkittet, und einen Kalkpanzer, oft von mehreren Metern Mächtigkeit bildet, der für die darunter gelegenen Schichten einen wirksamen Schutz gegen Erosion bildet. Nicht nur die horizontale Oberfläche, sondern auch die Außenwand der Steilwände überzieht sich oft mit solchen Kalk- krusten, so daß ganze Berge in dieser Weise ge- panzert sind und fast gar keine Erosionswirkungen aufweisen. Die Kalkkrusten begünstigen die Bildung ebener Rumpfflächen, doch können solche 5S2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 37 auch ohne Kalkkrustcn entstehen, bei einem Wechsel von harten und weichen Schichten, unter dem Einfluß der durch die Zerstörung der härteren Gesteinsbänke entstandenen Gerölldecke. Durch die Ansiedelung von Flechten mit konzentrisch schaligem Wachstum bilden sich in den Sandstein- gebieten glatte, an glaziale P^ormen erinnernde Rundhöckerlandschaften. Prof. Dr. A. Pcnck gibt eine Darstellung der „Morphologie der Wüste". Auch er ist der An- sicht, daß Wallher die Wirkung des Windes weit überschätzt hat. Er selbst bevorzugt eine Methode der morphologischen Untersuchung, die nicht den Prozeß in den Vordergrund rückt, sondern die Form. Das Relief der humiden Länder verstehen wir gut, und wir wissen, daß dieselben Kräfte zu verschiedenen Formen führen können. Auch der glaziale F"ormenschatz ist so gut untersucht, daß wir ihn heute von dem humiden Formenschatz sicher unterscheiden können. Schwieriger liegen die Verhältnisse bei den Wüsten, da wir es bei ihnen nicht mit einer bestimmten Oberflächenform der Erde, sondern mit einer klimatischen Region zu tun haben. Im fernen Westen Nortlamerikas sind die Gebirgsvvüsten weit verbreitet. Ihr Formenschatz wird bedingt durch die Entfaltung des rinnenden Wassers. Die Hohlformen zwischen den einzelnen Ketten sind eingenommen von großen, oft 20 — 30 km langen Schuttkegeln, die gelegentlich auch die Seitenketten fast einhüllen. Die flächenhafte Überflutung der geneigten Ober- fläche durch die Schichtfluten ist die Ursache dafür, daß es zu keiner Zerschneidung der Schutt- kegel kommt. Das rinnende Wasser spielt in diesen Wüsten die maßgebende, der Wind nur eine untergeordnete Rolle. Auch in den Ouer- tälern des Niltales, in denen Walther Wind- wirkungen gefunden haben will, hat der Vor- tragende deutliche Anzeichen für ihre Entstehung durch Flüsse entdeckt, deren ehemalige mäandernde Betten auf den vorgeführten Eichtbildern deutlich zu erkennen waren. Die Windkolke Walther's sind trockengelegte Wasserfälle. Die Wüsten- deflation spielt keine sehr maßgebende Rolle. Nur in Sandsteingebieten geht der Wüstensand direkt aus dem Zerfall des Gesteins hervor, sonst wird der Sand durch den Nil geliefert, wie schon seine graue Farbe erkennen läßt, die sich augen- fällig von dem gelben Wüstensand unterscheidet. Die besten Windschliffe wurden daher auch in der Nähe des Nils beobachtet. Immerhin spielt der Wind in den Flachwüsten eine maßgebendere Rolle, als in den Gebirgswüsten. Wiclitig ist die Frage nach dem Alter der Wüste. Wir haben zahlreiche Anzeichen dafür, daß heutige Wüsten früher ein humides Klima hatten. Im Salt Lake Basin in Utah finden wir deutliche Strandlinien eines früheren, weit ausgedehnten Süßwassersees, des Lake Bonneville. Das Einschneiden dieser Strandlinien in die Moränen der Eiszeit liefert uns Beweise für das Alter dieses Sees. Grund hat nachgewiesen, daß derartige Strandlinien in den algerischen Schotts nicht vorkommen, da kein P'elsricgel den .-Abfluß hindert, wie es in West- amerika der I'all ist. Inselberge sind keine ab- soluten Beweise für ein Wüstenklima, ebensowenig SandschlifFe, die allerdings auf Windwirkung zurückzuführen sind. Doch müssen äolische Wirkungen und Wirkungen eines ariden Klimas streng geschieden werden. In den südlichen Wüsten finden wir eine Permanenz arider Zu- stände, die darauf hindeuten, daß der große Wüstengürtel der Erde seit dem Tertiär per- manent ist. Dagegen ist das nördliche Randgebiet dieses Wüstengürtels Schwankungen unterworfen gewesen. Aus der anschließenden Diskussion sei nur die Bemerkung von Dr. F. Solger angeführt, der darauf hinwies, daß das charakteristische für die Wüste doch der Mangel an Pflanzenwuchs sei; der mangelnde Schutz der Pflanzendecke bewirke dann, daß alle atmosphärischen Agentien, also sowohl Wind wie Regen, stärker auf die Llmfor- mung der Erdoberfläche einwirken könnten, als auf bewachsenem Terrain. Der von Dr. Solger angekündigte Vortrag „Über den Gegensatz zwischen Wüsteiidünen und Stranddünen" wurde leider ohne erkennbaren Grund völlig von der Tagesordnung abgesetzt. 6 Meereskunde. Prof. Dr. 0. Krümm el warfeinen „Blick auf die neueren Theorien der Meeresströmungen". Lange Zeit übte die Zöppritz'sche Theorie, welche die Strömungen nur als eine durch die vor- herrschenden Winde verursachte Driftströmung auffaßt, einen beherrschenden Einfluß aus, bis Fridtjof Nansen nachwies, daß Zöppritz vergessen habe, die ablenkende Kraft der Erdrotation zu berücksichtigen. Diese macht sich nach Nansen für die tieferen Schichten immer stärker geltend, bis schließlich die Ablenkung eine volle Kreis- drehung durchgemacht hat. Wegen der Be- grenzung der Ozeanbecken durch die Kontinente kann sich dieses theoretische System nur partiell entwickeln. Pettersson und Sandström schreiben der Schmelzwirkung des Polareises einen maß- gebenden Einfluß auf die Meeresströmungen zu. Besonders eingehend erörtert der Vortragende die Theorie von Walfried Ekman, der eine alimähliche Ablenkung der Driftströmung mit zunehmender Tiefe annimmt bis zu einer völligen Umkehrung der Bewegungsrichtung. Die Driftstromtiefe, in der dieser Zustand eintritt, ist von Ekman für verschiedene geographische Breiten berechnet worden. Er findet für G = 15" 20" 40" 60" 90" Geogr. Breite D = 109 95 69 60 55 m Driftstromtiefe. Wenngleich der Vortragende der Ekman'schen Theorie den Vorzug zu geben scheint, so macht er doch daraul aufmerksam, daß es zweckmäßig sei, nicht von Stromursachen, sondern nur von Strom- konstituenten zu sprechen. Es lassen sich zwei N. ¥. Wn. Nr. 37 Naturwissciischaftliclie Wochenschrift. 583 Kategorien solcher Konstituenten unterscheiden. Kinnial die aktiven, stromerzeiigeiiden, zu denen die Winde, Drucl■ B groß ist, in die kristallisierte Modifikation B verwandeln, und erwärmen wir die Kristalle von B nach vollzogener Umwandlung wieder, so werden sie sich beim Überschreiten von Aj rück- wärts wieder in A verwandeln. Zwei Modifika- tionen, die sich wie A und B, direkt durch geringe Temperaturverschiebungen ineinander überführen lassen, stehen zueinander im Verhältnis der Enan- tiotropie. Kühlen wir jetzt die Modifikation B weiter ab, so kommen wir zu einem zweiten Umwandlungspuiikt A.,, der einer Umwandlung B — >■ C entspricht. Wenn nun in diesem Falle die Umwandlungsgeschwindigkeit B -y C nur sehr gering ist, so werden die Kristalle von B trotz Überschreitung der Umwandlungstemperatur, also in einem Gebiete, wo sie nicht mehr die be- ständigste Modifikation bilden, unverändert er- halten bleiben. Modifikationen, die sich wie B unterhalb A., außerhalb des Gebietes befinden, in dem sie von allen Modifikationen die größte Be- ständigkeit haben, die aber trotzdem infolge ge- ringerer Umwandlungsgeschwindigkeit, gewisser- maßen aus Trägheit, nicht in die beständigere Modifikation — in unserem Falle die Modifikation C — übergehen, werden als metastabile Modi- fikationen bezeichnet. Kühlen wir nunmehr die metastabil gewordene Modifikation B noch weiter ab, so gelangen wir bei der Temperatur A3 zu einem dritten Umwandlungspunkt, bei dem sich die durch Temperaturerhöhung umkehrbare, also enantiotrope Reaktion B ->■ D vollziehen möge. Unterhalb A., ist D beständiger als B, da sich bei A3 ja die Umwandlung vollzogen hat und nach dem Grundgesetz, das die Beziehungen zwischen den polymorphen Formarten beherrscht, 588 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 3; eine Umwandhing immer nur in der Riclitung vom weniger Beständigen zum Beständigeren, nie- mals aber umgekehrt verlaufen kann. Nun war der Voraussetzung nach B bei der Temperatur A.; metastabil gegenüber C, d. h. ein wenig unter- halb Ao sind sowohl D wie auch C weniger be- ständig als B. Nun hat Ostwald bei früherer Gelegenheit gezeigt, daß bei einem jeden Vor- gange, bei dem mehrere einzelne Stufen in Frage kommen, die Reaktion immer so verläuft, daß sich aus der unbeständigsten Stufe erst die zweit- unbeständigste, dann die drittunbeständigste und zuletzt erst die beständigste Stufe bildet. Da sich nun aus B zunächst D gebildet hat, so muß D unbedingt weniger beständig als C sein, d. h. D muß sich mit einer gewissen großen oder kleinen Geschwindigkeit in C verwandeln. Nehmen wir jetzt an, daß ein enantiotroperUmwandlungspunktD^5:C nicht existiert oder daß wir ihn mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nicht erreichen können, so ist eine direkte Umwandlung C ->■ D ausgeschlossen, eine Umwandlung kann immer nur in der Richtung D ->■ C verlaufen. Modi- fikationen, zwischen denen eine Umwandlung nur in einem Sinne verwirklicht werden kann, stehen im Verhältnis der Monotropie zueinander, oder kürzer ausgedrückt, sie sind monotrop. Die weniger beständige Modifikation eines monotropen Paares kann, da kein Gebiet bekannt ist, inner- halb dessen sie beständiger als die andere ist, aus dieser anderen niemals direkt gewonnen werden; zu ihrer Darstellung muß vielmehr, wie weiter oben gezeigt worden ist, ein Umweg eingeschlagen werden über eine dritte Modifikation, die ihrerseits im metastabilen Gebiete unbeständiger als die weniger beständige der beiden monotropen Form- arten ist. Die liquokristallinen Gebilde sind nun nichts anderes als polymorphe Modifikationen der be- treffenden Stoffe. Ihrem Energieeinhalte nach scheinen sie in der Regel der amorph-flüssigen Modifikation näher als der festen kristallisierten Modifikation zu stehen. Während nämlich die Wärmetönungen, die mit der Umwandlung einer festen kristallisierten in eine zweite ebenfalls feste kristallisierte h'orm verbunden sind, sehr viel kleiner als die Schmelzwärmen zu sein pflegen, die dem Übergange fest - kristallisiert —> amorph -flüssig entsprechen, liegen die Verhältnisse bei den kristallinisch-flüssigen Stoffen umgekehrt: bei diesen ist, wie durch die Arbeiten von Schenck und seinen Schülern und von Hulett nachgewiesen worden ist, die „Verflüssigungswärme", die bei dem Übergange der kristallinisch-festen in die kristallinisch -flüssige Form absorbiert wird, sehr viel größer als die für die Umwandlung der kristallinisch -flüssigen in die amorph-flüssige Modi- fikation erforderliche „Klärungswärme". „ „ Veiriiissigungs- Klärungs- ° wärme wärme p-.\zoxyanisol etwa 30 cal. 0,5 — 1 cal. p-Azoxyphenetol etwa 20 cal. etwa 1,5 cal. p-Azoxyanisolplicnctol Ij — 20 cal. etwa I cal. Die kristallinisch-flüssigen Phasen können zu den anderen Modifikationen der betreffenden Stoffe im Verhältnis der Enantiotropie oder im Verhältnis der Monotropie stehen. Wir haben also wenigstens zwei Arten der liquokristallinen Substanzen, zwischen denen wir einen Unterschied nach dem Grade der Beständigkeit zu machen imstande sind, diejenigen, deren kristallinisch-flüssige Phase mono- trop, also wenig beständig ist, und diejenigen, bei denen sie enantiotrop ist, also einen höheren Be- ständigkeitsgrad besitzt. Es gibt aber eine Er- scheinungsform der liquokristallinen Phasen, die noch weniger beständig als die monotropen Phasen ist, die kryptoliquokristallinische Phase. Durch die Untersuchungen von Vorländer und Gahren ist eine Beobachtung, die gelegentlich schon Lehmann gemacht hatte, zu größerer Wichtigkeit gelangt, die Beobachtung nämlich, daß zwei Stoffe, bei denen, trotzdem sie eine liquokristalline Struktur besitzen, kristallinisch- flüssige Phasen sich nicht haben auffinden lassen, bisweilen liquokristalline Gemische geben. So ist weder die Anissäure noch die Anisalpropion- säure kristallinisch-flüssig. „Stellt man sich aber durch Verreiben abgewogener Mengen der beiden Säuren Mischungen verschiedenen Gehaltes her, so findet man das Säuregemisch innerhalb weiter Grenzen kristallinisch-flüssig." Diese Tatsache, so interessant und wichtig sie auch ist, kann nicht als besonders auffallend angesehen werden, denn es ist eine bekannte Erscheinung, daß auch sonst äußerst wenig beständige Modifikationen durch die Anwesenheit von anderen Stoffen, insbesondere solchen, mit denen sie Mischkristalle zu bilden vermögen, ziemlich beständig werden können, und die Fähigkeit zur Bildung von Mischkristallen ist gerade bei den flüssigen Kristallen ganz be- sonders groß. Bedenken wir nun, daß durch manche Para- Substituenten in vorher normalen Molekülen je nach dem Grade ihrer Wirksamkeit krypto , monotrop- oder schließlich enantiotrop-liquo-kri- slalline Eigenschaften hervorgerufen oder aus dem krypto- zum monotrop- oder zum enantiotrop- liquokristallinen Zustande emporgehoben werden können, so sieht man, daß Vorländer wohl be- rechtigt ist, von einem mehr oder minder großen Einflüsse der einzelnen Substituenten zu sprechen. ,,Niciit jeder Substiluent in Parastelhing", sagt Vor- länder, „führt zu einer kristallinisch-flüssigen Sub- stanz; am günstigsten wirken die ungesättigten Gruppen — N;N— , — N-N— , NO.,—, — CO— , O ^C:C^, — C„H-, usw., weniger günstig die ge- sättigten -CH,, — CHCCHgl,, Cl, Br, J." II. Eine vollkommen befriedigende Theorie der flüssigen Kristalle gibt es gegenwärtig noch nicht. Als die flüssigen Kristalle zum ersten Male das Interesse weiterer Kreise auf sich zogen, wurde die Vermutung ausgesprochen, daß die merk- würdigen Erscheinungen durch Verunreinigungen verursacht wären. Diese Vermutung, die weiter- N. V. \'I1I. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift 589 hin besonders durch Tarn mann zu der sogleich näher zu besprechenden Emulsionstheorie ent- wickelt worden ist, stützte sich in erster Linie auf die Tatsache, daß die betreffenden Substanzen zunächst bei dem Schmelzpunkte zu einer trüben, undurchsichtigen Flüssigkeit zusammenschmolzen, die erst bei einer beträchtlich, oft 50 und mehr Grad höher liegenden Temperatur, der sogenannten Kläriingstemperatur , klar durchsichtig wurden. Nun waren in der Tat bis zur Entdeckung der flüssigen Kristalle nur solche Flüssigkeiten als trübe bekannt, in denen nicht-lösliche, feste oder flüssige Verunreinigungen aufgeschlämmt waren, und es mußte darum als undenkbar erscheinen, daß auch vollständig homogene, reine F^lüssig- keiten ein trübes Aussehen haben konnten. Alle Versuche aber, in sorgfaltig hergestellten Präparaten flüssiger Kiistalle die vermuteten Verunreinigungen nachzuweisen, schlugen fehl. Besonders Schenck verwandte große Sorgfalt auf die Gewinnung reinster Produkte; vor allen Dingen gewann er sie nach verschiedenen Verfahren, um alle etwa durch die Methode der Darstellung bedingten Verunreini- gungen auszuschalten, aber alle Bemühungen waren vergeblich. Schenck fand im Gegenteil, daß die lic]uokristallinen Eigenschaften um so schöner zur Geltung kamen, je reiner die Stoffe waren. Auch physikalische Methoden, die sich schon oft bei der Klärung getrübter Flüssigkeiten bew^ährt haben, so vor allen Dingen das Zentri- fugieren sow-ie die Behandlung mit hochgespannten elektrischen Strömen, die bekanntlich bei dem Durchgange durch trübe Flüssigkeiten die die Trübung bewirkenden suspendierten Teilchen mit sich nehmen, brachten keinen Erfolg; die Flüssig- keiten blieben trübe. Nun lag aber noch eine andere Möglichkeit vor, auf die wohl Schenck zuerst aufmerksam ge- macht hat. Die beiden einander scheinbar ent- gegengesetzten Forderungen, daß die Stoffe zwar vollkommen rein seien, daß aber trotzdem im Schmelzflusse eine Emulsion vorliegen könne, lassen sich vereinigen, wenn man die Annahme macht, daß der reine Stoff beim Schmelzen in zwei miteinander nicht vollkommen mischbare Komponenten zerfällt. Beispiele für ein derartiges Verhalten sind sowohl in der Metallographie wie auch sonst bekannt. So bildet der Dibromtrichlor- phosphor PCl.jBro bei tiefen Temperaturen durch- aus einheitliche Kristalle, die bei 35" zu einer trüben Flüssigkeit schmelzen; diese trübe Flüssig- keit besteht aus einem Gemisch von Brom, in dem Phosphortrichlorid, und von Phosphor- trichlorid, in dem Brom aufgelöst ist. Mit steigen- der Temperatur nimmt sowohl die Löslichkeit von Phosphortrichlorid in Brom wie die von Brom in Phosphortrichlorid zu; schließlich wird also ein Punkt, die „kritische Lösungstemperatur", erreicht, bei der beide Phasen dieselbe Zusammen- setzung haben und dadurch vollkommen mischbar werden: die trübe Flüssigkeit wird klar. Die äußerliche Ähnlichkeit im Verhalten der flüssigen Kristalle und des Dibromtrichlorphosphors ist un- verkennbar, aber gleichwohl läßt sich die Suspen- sionstheorie auch in dieser Form nicht halten. Zunächst gibt uns die Konstitution der zu den verschiedenartigsten Klassen gehörigen Stoffe keinen einzigen Anhalt dafür, was für Vorgänge eigentlich in F"rage kommen könnten. Tief- greifende Spaltungen sind, wie Schenck mit Recht betont, ausgeschlossen; man könnte also nur noch an vollkommen reversible Umwand- lungen in polymere oder isomere Verbin- dungen denken. Derartige Umwandlungen sind aber nach den Untersuchungen von Schenck über die molekulare Oberflächenspannung ') sehr un- wahrscheinlich; auch sind sie nur schwer mit der Phasenregel zu vereinigen. Auf diesen letzten Punkt möge, da er in der Literatur bisher nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden hat, etwas näher eingegangen werden. Die Phasenregel,-) eine Gesetzmäßigkeit all- gemeinster Art, gibt einen einfachen Zusammen- hang zwischen der Zahl F der willkürlich wähl- baren Existenzbedingungen, der sogenannten ,, Frei- heiten" eines beliebigen physikalischen oder che- mischen Systems, der Zahl P der „Phasen", d. h. der durch eine Oberfläche voneinander ge- trennten Bestandteile des Systems, und der Zahl K der Komponenten, d. h. der Mindestzahl der- jenigen chemischen Substanzen, aus denen sämt- liche Phasen aufgebaut werden können. Sie lautet P -|- F = K -t- 2. Die Zahl 2 bedeutet in der Gleichung, daß von Außenkräften nur zwei, gewöhnlich Druck und Temperatur, berücksichtigt werden sollen. Wenden wir dieses Gesetz auf die Emulsionstheorie an, so ergibt sich folgendes: Die Zahl der Phasen ist 3, nämlich erstens die Dampfphase über der trüben Schmelze und zweitens die beiden in der Schmelze selbst enthaltenen Phasen. Die Zahl der Kom- ponenten ist I, denn ich kann ja alle drei Phasen, die Dampfphase und die beiden in der Schmelze enthaltenen Phasen aus den Molekülen der reinen Substanz aufbauen, aus denen sie auch, wenn die Auffassung vom Auftreten polymerer und isomerer Verbindungen richtig wäre, tatsächlich entstanden wären. Setzen wir diese Werte ein, so erhalten wir die Gleichung 3 + F=.i + 2, F = 0. Die Zahl der Freiheiten ist also Null, d. h. wir können keinen der die Existenz des Systems be- dingenden Faktoren willkürlich wählen, das System ist eindeutig bestimmt; es ist nur bei einem einzigen, streng bestimmten Druck, und nur bei einer einzigen ebenso streng bestimmten Temperatur, aber weder innerhalb eines Tem- peratur- noch eines Druckintervalles möglich. Das ') Näheres findet der Leser in dem am Schlüsse dieser Slvizze angegebenen Werlce von Schenck. ^) Über die Phasenrcgel wird eingehend in einem dem- nächst in dieser Zeitschrift erscheinenden Artikel über „die heterogenen Gleichgewichte" berichtet werden. 590 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. \ail. Nr. 37 ist nun offenbar ein Widerspruch mit den Tat- sachen, denn die flüssigen Kristalle existieren nicht nur bei einer bestimmten Temperatur, son- dern vielmehr innerhalb eines großen Temperatur- intervalles (vgl. die Tabelle am Anfange dieses Aufsatzes). Wir können also innerhalb eines größeren Intervalles die Temperatur frei wählen, d. h. wir haben eine Freiheit, F ist gleich i. Wenn F aber tatsächlich den Wert i hat, so muß entweder K = 2 oder P ^ 2 sein. Wäre K = 2, d. h. hätten wir nicht eine, sondern zwei Komponenten, so kämen als Komponenten nur die Moleküle der ursprünglichen Substanz und die isomeren oder polymeren Moleküle in Frage. Diese beiden Molckülarten aber sind im Sinne der Phasenlehre nicht als verschieden anzusehen, weil sie sich, wie die Tatsachen zeigen, während des Versuches selbst restlos ineinander um- wandeln; selbst wenn ich nur eine der beiden Molekülarten hätte, würde sich die andere nach den bekannten Gesetzen des chemischen Gleich- gewichtes aus ihr bilden, d. h. eine Molekülart reicht zum Aufbau aller Phasen aus, K muß also gleich I gesetzt werden. Es bleibt also nur noch die Möglichkeit übrig, daß wir in unseren Vor- aussetzungen die Zahl der Phasen falsch ange- nommen haben, daß nämlich tatsächlich nur zwei Phasen, die Dampfphase und eine flüssige Phase, vorhanden sind, oder mit anderen Worten, daß die flüssige Phase einheitlich, homogen, aber keine durch Isomere oder Polymere gebildete Suspen- sion ist. Gegen die Suspensionstheorie muß ferner geltend gemacht werden, daß sie nicht imstande ist, die Erscheinungen, zu deren Erklärung sie aufgestellt ist, zu erklären. Die Suspensionstheorie macht nur zwei oder drei der an den flüssigen Kristallen beobachteten Phänomene verständlich, nämlich die Trübung der Schmelzen, ihre Fähig- keit, polarisiertes Licht zu depolarisieren, und viel- leicht auch noch, worauf Böse hingewiesen hat, den Dichroismus der isolierten flüssigen Kristalle. Die anderen Erscheinungen aber, unter denen in erster Linie die merkwürdigen optischen Phäno- mene (Achsenbilder usw.) zu nennen sind, erklärt sie nicht. Schließlich kann auch die bereits besprochene Entdeckung der kryptoliquokristaliinen Substanzen, bei denen im Sinne der Phasenregel ja in der Tat zwei Komponenten vorliegen, nicht zugunsten der Emulsionstheorie angeführt werden, da bis jetzt der Nachweis, daß wenigstens in diesen Fällen wirkliche Emulsionen vorliegen, noch nicht er- bracht ist. Der besonders von Tammann vertretenen Emulsionstheorie steht die Theorie gegenüber, nach der die Analogien im Verhalten der festen und der flüssigen Kristalle auf das Wirken der- selben Kräfte zurückzuführen sind. In der Tat: ,,Alle wesentlichen Kennzeichen der festen Kristalle, starke Doppelbrechung, schwarze Kreuze, Achsen- bilder, Pleochroismus, Wachstum (in übersättigten Lösungen), Gestalt und Auslöschungsrichtung (Atzfiguren; Ref) sind bei den flüssigen Kristallen vorhanden." Ferner spricht der Umstand zu- gunsten der Kristalltheorie, daß zwischen den festen und den flüssigen Kristallen Übergänge vorhanden sind; es sind dies die fließenden Kristalle, die, zwar weich, doch noch ihre eigenen, charakteristischen Kristallformen haben, nur daß die Kanten und Spitzen bei ihnen durch die Oberflächenspannung, die den wirklich flüssigen Kristallen Kugelform aufzwingt, etwas abgerundet sind. Gerade die Existenz der Übergangsformen bildet für die Emulsionstheorie eine große Schwierigkeit, denn sie zwingt sie, irgendwo — in der Regel werden die fließenden Kristalle noch zu den echten Kristallen gerechnet — eine Grenze zu ziehen, zu der die objektive Betrachtung der Tatsachen nicht berechtigt. Wie aber ist nun die Trübung der Schmelzen zu erklären? Zur Beantwortung dieser Frage muß zunächst darauf hingewiesen werden, daß nur größere Mengen der flüssigen Kristalle das trübe Aussehen zeigen. Lehmann hat einzelne Tropfen dieser Schmelzen isoliert und gefunden, daß diese isolierten Tropfen vollkommen klar durchsichtig sind. Eine größere Menge von flüssigen Kristallen ist nun offenbar nichts anderes als ein Aggregat von Kristalltropfen. Wären diese Tropfen isotrop, so wäre es ganz gleich- gültig, welche Lage sie zueinander einnehmen, das Aggregat würde immer klar und durchsichtig sein. Nun sind die Tropfen aber tatsächlich aniso- trop, folglich trifft ein Lichtstrahl, der die aus unge- ordnet nebeneinander liegenden Tropfen bestehende Schmelze passiert, auf seinem Wege auf Partien von oft plötzlich wechselnden Brechungsexponenten. Die Folge davon ist unregelmäßige Reflexion und Brechung des Lichtes innerhalb der Schmelze, die sich nach außen als Trübung der ganzen Masse bemerkbar machen muß. Die Trübung läßt sich also mit Hilfe der Kristalltheorie ohne jede Schwierigkeit erklären. Die Richtigkeit dieser Auffassung läßt sich aber auch direkt beweisen. Wenn nämlich die Trübung wirklich nur durch die Unregelmäßigkeit und Unordnung bei der Aneinanderlagerung der einzelnen Kristalltropfen bedingt ist, so muß die Flüssigkeit klar werden, wenn es durch irgendein Mittel gelingt, die Tropfen parallel anzuordnen, denn in diesem Falle würde ein parallel einfallendes Lichtbündel nur einander parallele Partien der einzelnen Kristalle durchsetzen, in denen der Brechungsexponent seinen Wert unverändert beibehält. Das ange- deutete wichtige Experiment ist nun in der Tat Vorländer gelungen: „Durch gelindes Hin- und Heischieben des Deckglases kann man die flüssigen Stäbchen vieler Ester, z. B. des Anisal- aminozimtsäureesters und des Äthoxybenzalamino- zimtsäureesters, parallel stellen . . . trübe Flüssig- keiten in klare verwandeln." In diesem F"alle stehen die optischen Achsen der flüssigen Kristalle senkrecht, so daß man bei der Betrachtung im N. F. \'I1I. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 591 rolarisationsmikroskop keine Doppclbrechung wahrnimmt: die Masse ist „pseudoisotrop". Daß echte Isotropie nicht vorliegt — sie ist natürlich auch nicht zu erwarten • — , beweisen die Achscn- bilder, die bei der Beobachtung im konvergenten Lichte auftreten. Literatur. Die Originalarbciten über die tliissigen Krislalle sind meist in den .\nnalen der Physik-, in der Physikalischen Zeit- schrift, in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesell- schaft, in der Zeilschrift für physikalische Chemie und in der Zeitschrift für Kristallographie veröffentlicht worden; Referate von sämtlichen Arbeiten sind im Chemischen Zeulralblall zu finden. Umfassende Darstellungen haben Lehmann in seinem wundervoll ausgestatteten Werk: ,, Flüssige Kristalle", Leipzig 1904, Schenck in dem Buch: „Kristallinische Flüsigkeiten und flüssige Kristalle", Leipzig 1905. ""d Vorländer in der Monographie: ,, Kristallinisch-flüssige Substanzen", Stuttgart 1908, geliehen. Lehmann berücksichtigt hauptsächlich die allgemeinen theoretischen und kristallographischen, Schenck die physikalisch-chemischen und Vorländer die rein che- misclien Gesichtspunkte. — Diejenigen unserer Leser, die das Erscheinungsgebiet der flüssigen Kristalle aus eigener An- schauung kennen lernen wollen, finden geeignete \'orschriften in einem vor kurzem erschienenen Aufsatze von O. Lehmann : ,, Demonstrationen und Modelle zur Lehre von den flüssigen Kristallen" (Physikal. Zeitschrift Bd. 10, S. 553 bis 560; 1909), auf den hier ausdrücklich hingewiesen sein möge. Mg. Vereinswesen. Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde (E.V.). — • Die Arbeit des Juni war wie seit Jahren Exkursionen und Besichtigungen gewidmet. Am Montag, den 7. Juni, abends 8 Uhr wurde der Treptow-Sternwarte mit ihren neuen, prächtig eingerichteten Räumlichkeiten ein Besuch abge- stattet. An 200 Personen hatten sich zu dem Zweck an Ort und Stelle eingefunden. Nachdem gruppenweise das astronomische Museum und das Riesenfernrohr besichtigt worden waren, ver- sammelten sich die Mitglieder in dem herrlichen, mit allen Hilfsmitteln der Technik ausgestatteten Vortragssaale, wo Herr Direktor Dr. Archen- hold einen durch Lichtbilder reich illustrierten Vortrag hielt über ,, Jupiter und seine Monde". Nach dem Vortrag wurden mit Hilfe des Riesen- fernrohres und einer Anzahl kleinerer Instrumente Beobachtungen von Doppelsternen, Sternhaufen und Nebelflecken vorgenommen. Am Sonntag, den 20. Juni, fand unter Leitung des Herrn Prof. Dr. Eckstein von der Forst- akademie in Eberswalde eine naturwissenschaft- liche Exkursion statt. Zu derselben waren etwa 65 Teilnehmer gegen 9 Uhr früh vom Steltiner Bahnhof in Berlin aufgebrochen. Der Weg, der vom Bahnhof Britz nach dem großen Stadtsee führte, bot Gelegenheit zu mancher- lei naturwissenschaftlichen Vorträgen. Besonderes Interesse erregte die Definition und Unterschei- dung der Nadelhölzer: Fichte (Rottanne), Tanne (Weiß- oder Edeltanne), Kiefer, Lärche, Wey- mouthskiefer. Nachdem im Großen Stadtsee- Restaurant das Frühstück eingenommen, wurde die Wanderung nach dem Ragösetal und der Oberförsterei Chorin fortgesetzt. Überall fanden sich Objekte, die zur Besprechung kamen, so am Stadtsee die Nymphcnhüllen der Libellen, im Walde, der bis zum Abend nicht mehr verlassen wurde, die von den Nonnenraupen herabgeworfenen Nadel- und Blattreste; Vogelstimmen, Blind- schleichen, Käfer und alles, was sonst gefunden wurde, ward erklärt. Endlich kam man an das Plagefenn, das einschließlich des großen Plagesees jetzt als Naturdenkmal reserviert ist. Vorläufig, d. h. solange die bisher erhaltenen Spuren menschlicher Kultur noch nicht ganz verwischt sind, zeigt nur hier und da ein gestürzter Stamm das freie Walten der Natur. Der Führer gab dabei eine ausführliche Erklärung über das VVesen des Naturdenkmals und seine Bedeutung. Vom Wetter begünstigt, ward der Marsch fortgesetzt; Wald- bilder, Ausblick auf den großen Piagesee, Tier- bilder wechselten ab, bis unter ziemlich allge- meiner Müdigkeit die alte Klosterschenke Chorin am späten Nachmittag erreicht wurde, gerade noch bevor ein kurzer, aber kräftiger Gewitter- regen niederging. Nach Besichtigung des Klosters und seines Kirchhofs, wo Herr Lehrer Aurich- Eberswalde — vom Verein für Heimatkunde hatten sich einige Mitglieder angeschlossen — die historische Erklärung übernahm, führte Herr Prof. Eckstein die Ausflügler noch auf den Geschiebe- wall bei Chorinchen, von dem aus eine geradezu großartige Aussicht über die vom Nebel durch- zogenen Tiefen und klaren Höhen ihre Mühe und Ausdauer belohnte. Nachdem hier noch die Er- scheinung der Endmoräne erläutert worden war, begaben sich die Teilnehmer der Exkursion nach Bahnhof Chorinchen, von wo gegen VaQ Uhr die Rückkehr nach Berlin erfolgte. Die Vereinstätigkeit des Sommers schloß am Sonntag, den 27. Juni, mit einem Besuch des Zoologischen Gartens unter Führung seines wissen- schaftlichen Assistenten, Herrn Dr. Heinroth, der bei dieser Gelegenheit die in dem laufenden Jahr bei Säugetieren und Vögeln erzielte Nach- zucht vorführte und mit dieser Demonstration allgemeine Gesichtspunkte über Brutpflege und Jugeiidkleider verknüpfte. Satzungsgemäß finden in den Monaten Juli, August, September Veranstaltungen seitens der Gesellschaft nicht statt. I. A.: Prof. Dr. W. Greif, I. Schriftführer, Berlin SO 16, Köpenickerstraße 142. Bücherbesprechungen. Dr. Max Seber, Moderne Bl u t fo rschun g und Abstammungslehre. Frankfurt a. M. 1909, Neuer Frankfurter Verlag. — Preis i Mk. Die ausgedehnten Versuche, die mittels der durch die moderne Immunitätsforschung gewonnenen biolo- gischen Eiweißdifferenzierungsmethode durchgeführt wurden, und in dem Nachweis der Ähnlichkeit des Eiweißes des Menschen und der Menschenaffen gipfeln, 592 Naturwissenschaftliche W'ochenschrift. N. F. VIII. Nr. 37 werden in diesem Heft gewürdigt. Auch die physio- logischen Blutaustanschexperimente werden besprochen. Behandlung finden außerdem die neuesten Experimente, mittels dieser Methode das Eiweiß menschlicher Rassen zu unterscheiden. Dr. Karl Fritsch, Prof der Botanik, Exkursions- flora für Österreich (mit Ausschluß von Galizien , Bukowina und Dalmatien). Zweite, neu durchgearbeitete Auflage. Wien , Karl Gerolds Sohn, 1909. — Preis 9 Mk. Das handliche Buch ist eine sehr zweckdienliche Exkursionsflora ihres Gebietes. Bei dem großen Umfange des letzteren, selbst wenn Galizien, Buko- wina und Dalmatien ausgeschlossen sind, und der Mannigfaltigkeit des Geländes, sind eine große An- zahl Pteridophyten und Phanerogamen zu behandeln. Es ist dem Verfasser trotzdem gelungen, ein Buch zu liefern, das nicht zu schwerfällig ist, um auf Exkur- sionen mitgenommen werden zu können. Verf. hat das Buch , dessen erste Auflage vor 1 2 Jahren er- schien, sorgfältig revidiert und auf den gegenwärtigen Standpunkt der Floristik gebracht. Bezüglich der Nomenklatur ist der Autor möglichst konservativ ver- fahren, hat sich aber den Nomenklaturregeln von 1905 gefügt und diesen die von ihm benutzten Na- men angepaßt. Dabei sind nun freilich manche Gattungsnamen in sehr ungebräuchliche Namen ver- ändert worden, so Alsine in Minuartia, Erucastrum in Hirschfeidia, Mycrostylis in Achroanthes. i) Dr. Karl Scheid, Prof a. d. Oberrealschule usw. in Freiburg i. B., Leitfaden der Chemie. Oberstufe. Quelle & Meyer in Leipzig, 1909. — Geb. 3,80 Mk. 2) Dr. Jakob Lorscheid, Lehrbuch der anor- ganischen Chemie. iS. Auflage. Herausge- geben von Dr. Fr iedrich Leh mann , Prof am Realgymn. zu Siegen. Mit 154 Abbild, und einer Spektraltafel. Freiburg i. B., Herder'sche Verlags- handlung, 1909. i) Das Buch von Scheid setzt einen einleitenden Kurs voraus, in welchem die stöchioraetrischen Grund- gesetze experimentell festgesetzt sind und es wird auch die Bekanntschaft mit den wichtigsten Eigen- schaften einiger weniger Grundstoffe vorausgesetzt. Das Buch macht einen guten Eindruck ; es ist mit 119 Abbild, versehen. Das Hauptgewicht hat der Verf auf das Allgemeine gelegt ; er legt weniger Wert darauf, daß der Schüler eine Unsumme chemi- scher Substanzen nach Vorkommen und Eigenschaften kennt. 2) Das bekannte Lehrbuch von Lorscheid -iegt hier in einer guten Neuausgabe vor. Der Heraus- geber hat sich bemüht, den Text nach Maßgabe neuerer Erkenntnisse und Bedürfnisse zu verändern. Literatur. Bibliotheca geographica. Jahresbibliographie der gesamten geograph. Literatur. Hrsg. v. d. Gesellscliaft f. Erdkunde zu Berlin. Bcarb. v. Otto Baschin. 14. Bd. Jahrg. 1905. (XVI, 545 S.) gr. 8". Berlin '09, W. H. Kühl. — 8 Mk. Claus, C. : Lehrbuch der Zoologie. Begründet v. C. Neu- bearb. v. Prof. Dr. Karl Gmbben. 2., umgearb. Aufl. (8. neubearh. Aufl. des Lehrbuches v. C. Claus.) I. Hälfte. (S. 1— 4S0 m. 498 Fig.) Lex. 8°. Marburg '09, N. G. Elwert's Verl. — Für vollständig 17 Mk. Depdret, Charles: Die Umbildung der Tierwelt. Eine Ein- fülirg. in die Entwicklungsgeschichte auf paläontologischer Giuudlage. Deutsch v. Rieh. N. Wegner. (VI, 331 S.) 8». SluUgart '09, E. Schweizerbart. — 2,80 Mk., geb. 3,30 Mk. Eucken, Rud. : Die Lebensanschauungen der großen Denker. Eine Entwicklungsgeschichte des Lebensproblems der Mensch- heit von Plato bis zur Gegenwart. 8. durchgesch. Aufl. (VllI, 530 S.) gr. 8". Leipzig '09, Veit & Co. — 10 Mk., geb. in Leinw. 1 1 Mk. Forel, ehem. Prof. Irrenanst.-Dir. Dr. Aug. : Ethische u. recht- liclie Konflikte im Sexualleben in und aul3erhalb der Ehe. I.— 5. Taus. (66 S.) gr. 8". München '09, E. Reinhardt. — f Mk. France, R. H.: Pflanzenpsychologie als Arbeitshypolhese der Pflanzenphysiologie. (loS S. m. 26 Abbildungen.) gr. 8°. Stuttgart '09, Franckh. — 3 Mk., geb. 4 Mk. Gehrcke, Priv.-Doz. Prof. Dr. E. : Die Strahlen der positiven Elektrizität. (XI, 124 S. m. 43 Fig. u. 2 [l färb.] Tafeln.) gr. 8". Leipzig '09, S. Hirzel. — 4,50 Mk., geb. 5,50 Mk. Haun, Dr. Frdr. Johs. : Einige Beweise des Fcrmat'schen Satzes: x" -\- yn ~~J/_ z" ; " > 2. (10 S.) Lex. 8°. Ham- burg '08, H. Seippel. — 2 Mk. HoUeman, Prof. Dr. A. F.: Lehrbuch der Clicmie. Autoris. deutsche Ausg. Lehrb. d. organ. Chemie f. Studierende an Universitäten u. techn. Hochschulen. 7., verb. Aufl. (X, 490 S. m. Abbildgn.) gr. S". Leipzig '09, Veit & Co. — Geb. in Leinw. 10 Mk. Anregungen und Antworten. Zu der in der Naturw. Wochenschr. Nr. 13 wiedergegebe- nen Frage des Herrn Dr. B. M. in Annaberg sei mitgeteilt, daß es sich bei dem unter dem Namen ,, Rotzunge" in den Handel kommenden Plattfische um die Art Platessa cyno- glossa (L.) Cuv. handeln dürfte. Die Angabe darüber befin- det sich im Brockhaus' Kl. Konv. -Lexikon. — Als ,, Seehecht" wird in Martin „Illustrierte Xaturgesch. d. Tiere" Bd. II, A. I, p. 429 der Fisch Merlucius merlucius (L.) Cuv. bezeichnet. G. Feurich. Herrn Seminarlehrer R. in L. — Der Pilz ist Chaeto- mium elatum Kunze. Diagnose: Perithecien, meist hecrdenweise wachsend, elli])lisch, ca. 400 /i hoch , 320 /( dick, mit terminalem Ilaarschopf versehen, der aus sparrig verzweigten gebräunten und inkrustierten Haaren gebildet ist. Schläuche keulig, kurz gestielt, 8 Sporen enthaltend. Sporen breit elliptiscli, mit einem Spitzchen versehen (apiculiert), olivenbraun, lo— 12 /( lang, 9 — 10 /i breit. Der Pilz kommt häufig auf faulenden Pflanzenteilen, besonders gern an Stroh vor. H. Sydow. Zu der Notiz ,, Herrn D. in E." auf pag. 496 der Naturw. Wochenschr. bemerke ich, daß die betrefi'cnde Nordsee- schlacke ein Hüttenprodukt von Clarence , Middlesbro in England ist. Sie riecht beim Zerschlagen stark nach H„S und ist genau von Bächsiröm untersucht und beschrieben. (Vgl. Neues Jahrb. f. Mineralogie 1892, II, S. 74.) W. Salomon. Inhalt: Sammelreferate und Übersichten: O. Baschin: Der 17. Deutsche Geographentag zu Lülicck. — Kleinere Mitteilungen: .Mecklenburg: Allgemeines über die flüssigen Kristalle. — Vereinswesen. — Bücherbesprechungen: Dr. Max Seber: Moderne Blutforschung und Abst;immungslehre. — Dr. Karl Fritsch: Exkursionsflora für Öster- reich. — ll Dr. Karl Scheid: Leitfaden der Chemie. 2) Dr. Jacob Lorscheid: Lehrbuch der anorganischen Chemie. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue l'olge Vlll. ISau.l ; der gaii7cii Kcihc X\1V. Band. Sonntag, den ig. September igog. Nummer 88. Am Tendaguru/) [Nachdruck verboten.] Reisebericht von Dr. Ed Braune und rötliche Lichter blicken jetzt in dem Grün der unermeßlichen Wälder und dem fernen Blau des bergigen Horizontes: die Land- schaft steht im Ilerbstschmuck. Wuchtig und still ruht die Sonnenglut auf dem Lande, das schon seit einem Monat keinen Regen und auch nachts kaum nennenswerten Tau mehr getrunken hat. Und noch zwei weitere IVIonate soll es dieser Labsal gänzlich entbehren. Das dichte, hohe Gras beginnt sich zu verfärben, den Saft zu verlieren und kraftlos zusammenzufallen, und schon flammen drunten im Mbenkurutale allabend- lich größere Grasbrände auf, von den Negern entfacht, um Raum zur Bebauung, um Bewegungs- freiheit zu schafifen. Größer und gewaltiger wer- den sie noch lodern, bis rings der Waldboden von schwarzer Asche bedeckt ist, um in der nächsten Regenzeit ebenso dicht überwuchert und grasbe- wachsen wieder dazustehen. Ja schon jetzt sprießt es unter den Füßen des Herbstes. Wo ein Baum abgeschlagen war und nur eine Wurzel übrig blieb, da sendet der trockene Boden aus der Tiefe neue Kräfte zu üppigem Gedeihen. Es ist die ,, kühle", die angenehme Jahreszeit, die die Wege und Flüsse passierbar werden läßt und mit ihrer trockenen Luft dem Europäer weit weniger lästig fällt, als die Schwüle der Regenzeit. Hier im Süden Deutsch-Ostafrikas teilt sich das Jahr in eine Regen- und eine Trockenzeit, erstere dem Sommer, letztere dem Winter der Südhalbkugel entsprechend. Im Norden dagegen schiebt sich noch eine kleine Regenzeit ein und in der Zeit und Dauer des Auftretens der ver- schiedenen Jahreszeiten bestehen innerhalb der größten deutschen Kolonie lokal sehr beträchtliche Abweichungen. Der Südmonsun bringt jetzt die Luft in Bewegung und macht sich im höher ge- legenen Innern angenehm bemerkbar. Nur nachts wächst er nicht selten zum Sturme an, rüttelt gewaltig an den weiten Segelflächen unserer Zelte und verlangt einen sehr gesunden Schlaf, wenn er nicht zu einem sehr unangenehmen Gaste werden soll. Denn eine schlaflose Nacht im Zelte gehört zu den durchaus entbehrlichen Genüssen des afrikanischen Daseins. Die Morgendämmerung will und will nicht erscheinen; bald nach 5' 4 am Abend ist die Sonne versunken, seit 6 Uhr ist es finstere Nacht und wenn du dich um 5 Uhr in der Frühe erhebst, um zeitig die kühlen Arbeits- stunden auszunützen, blinkt noch kaum ein erster rötlicher Streif am östlichen Horizonte. In der Nacht aber sind alle bösen Geister losgelassen, vom Moskito bis zum Löwen. Das Tierleben der afrikanischen Wildnis — und völlige Wildnis ist es noch gottlob — spielt sich zum weitaus über- w. Hennig (Juni 1909). wiegenden Teile während der Abwesenheit der alles, nur den Menschen nicht lähmenden Sonne ab. Nachts geht das Wild auf Äsung aus und das Raubzeug sucht es zu beschleichen. Leoparden schleichen zahlreich umher, wie die häufigen Spuren beweisen , Tibetkatzen , Hyänen und kleinere Räuber wagen sich unmittelbar bis ans Lager, im 6 Stunden entfernten Matapua aber hält seit 2 Monaten ein Löwenpaar die Bevölkerung in Atem, die nur noch in den heißen Mittagsstunden der notwendigsten Beschäftigung nachzugehen wagt. Einer von beiden gehört zu den zum Glück nicht allzuhäufigen „Menschenfressern", d. h. er scheut sich nicht in menschliche Siedelungen und Behausungen einzubrechen oder selbst am Tage Menschen anzufallen. In der Tat hat er dort jetzt bereits 10 Leute geschlagen, das ist ein Opfer jede Woche 1 Es ist daheim in Deutsch- land wenig bekannt, wie groß die Löwenplage in Ostafrika noch immer ist und der Ankömmling ist erstaunt zu vernehmen, daß diese gefährlichen Räuber bis auf die Marktplätze auch der größeren Hafenplätze vordringen. Doch der Neger hat noch weitere Feinde. Schweine, Antilopen, Hunds- afifen fressen ihm die Ernte seiner Felder weg, und kürzlich wurde unsere Hilfe in einem F"alle erbeten, indem ganze Elefantenherden die müh- selig in Stand gehaltenen Pflanzungen auf ihren nächtlichen Spaziergängen zertraten und ver- wüsteten. Der Mensch ist hier nicht Herr der Schöpfung, denn die Eingeborenen stehen mit ihren geringen Waffen solchen F'einden hilflos gegenüber. Selbst gegen Angriffe eines steinigen Bodens und dornigen Gestrüpps oder gar giftiger Schlangen auf die stets bloßen Schenkel und Füße haben sie sich nicht durch Schuhwerkzeug irgendwelcher Art zu schützen gewußt, ohne jedoch unempfind- lich dafür zu sein. Und wiederum, wenn sie sich eine Wunde zugezogen haben, so ist es der Europäer, den sie um Heilmittel bitten müssen. Dies zur Charakterisierung ihrer Schwerfälligkeit, ihrer Unfähigkeit, der sie umgebenden Verhält- nisse wahrhaft Herr zu werden. Ein zweites wäre der schlechte Bau ihrer niedrigen Hütten aus Mörtel, Bambus und trockenem Gras sowie wenig Holz. Obwohl ihnen vorzügliche Bau- materialien zu Gebote stehen, vor allem der sehr vielseitig verwendbare Bambus und gute Hölzer, aber auch Steine, ist der Eindruck der freilich recht sauber gehaltenen Hütten jämmerlich, die *) Über den Zweck der Tendaguru-Expedition haben wir uns p. 123 des gegenwärtigen Bandes der Naturw. Wochen- schrift geäußert. — Red. 594 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 38 Luft schlecht, das Ganze ein Schlupfwinkel für allerlei Ungeziefer und Parasiten, aber nicht ein Wohn-, Arbeits- oder Schlafraum voller Licht und Luft, wie ihn der Europäer zu verlangen gewohnt ist, sondern eine dumpfige, stets vom schwelen- dem Feuer mit beizendem Rauch erfüllte Höhle. Man braucht bei solchen Ansprüchen nicht zu vergessen, daß der Wilde in der angenehmen Lage ist. die freie Natur als Hauptaufenthaltsort auszunützen. Man kann, wie manche geschickte Handarbeit aller Art dartut, auch nicht behaupten, daß es an Geschicklichkeit mangelt. Der un- kultivierte Mensch findet nur eben sein Glück darin, keine Bedürfnisse zu haben, der kultivierte darin, solche durch Befriedigung der alten neu zu schaflen: es ist der einfache Unterschied von Dasein und Leben 1 Dies j/orausgeschickt, werde ich im folgenden hoffentlich um so weniger mißverstanden werden. Es ist ungeheuerlich, wie schief alle Vorstellungen sind, die man sich daheim von den Schwarzen macht, wie töricht vor allem die Urteile vieler „Afrikaner", denen jene Vorstellungen der breiteren Masse eben zu danken sind. Der Fehler, dem sie fast sämtlich verfallen, ist der der Verallgemeine- rung, ja mehr: der Schematisierung. Ich bin mir dessen wohl bewußt, daß wir ohne Schematisieren nicht denken können, aber es geht doch nicht an zu behaupten, der Europäer trinke nachmittags Bier statt Kaffee, wenn man eine derartige Be- obachtung etwa in München gemacht hat. Nichts weniger als das geschieht aber hier. Da läuft denn schließlich „der Neger" mit allerlei Eigen- schaften meist höchst ungünstiger Art herum und spielt als „schwarze Bestie" im Osten wie im Westen Afrikas den schwarzen Mann. Ich kann nur berichten, was ich hier, im Bezirk Lindi, etwa 5 Tage von der Küste landeinwärts gesehen habe, aber in erster Linie : „der Neger" ist mir noch nicht zu Gesicht gekommen ! Die Mannigfaltig- keit der Charaktere, Anlagen, des Gesichtsaus- drucks ist naturgemäß so groß wie sonst auf Erden unter gleichen Bedingungen. Überraschend aber war hauptsächlich der überaus und fast ohne Einschränkung sympathische Eindruck, den das Völkchen macht. Fleißig im eigenen Ackerbau und in der Arbeit beim Europäer, willig, be- scheiden, freundlich, ja heiter und humorvoll, * anspruchslos, von Natur im höchsten Grade fried- fertig, anstellig in erstaunlichem Maße und im Widerspruch eigentlich selbst zur eigenen Ge- schichte, die diese Völker immer unter irgend- einem fremden Joche hielt — im Auftreten selbst- bewußt, doch wohlanständig und höflich, das ist ein Menschenmaterial, mit dem sichs wohl arbeiten und auskommen läßt. So wenig aber die Indi- viduen sich über einen Kamm scheren lassen, so sind auch größere Verbände, Stämme und Unter- stämme, durchaus mit verschiedenem Maßstabe zu messen. Der Deutsche weiß im allgemeinen, daß in Ostafrika Kisuaheli gesprochen wird. Das trifft insofern zu, als es von der Küste her sich ausbreitend gewissermaßen die Rolle des Esperanto vertritt zwischen den sehr zahlreichen, meist nicht großen Sprachgemeinden, die an der einheimischen Sprache noch durchaus festhalten. Freilich die Rührigkeit der europäischen Kultur fährt wie ein Wirbelsturm dazwischen, der vielleicht in nicht ferner Zeit so manches dem Sprachforscher Inter- essante verweht haben wird. Der angeregtere Handel sowie das Zusammenströmen schwarzer Arbeiter an den Niederlassungen der Europäer müssen notgedrungen dem Suaheli allmählich zum Übergewicht verhelfen und schon jetzt kennt mancher die eigene Stammesspraciie nicht mehr, während die einheimischen Namen gleichzeitig schnell und sicher durch arabische ersetzt und verdrängt werden. Den Wohnsitzen nach sind diese Stämme nicht scharf geschieden, aber ihre Sprache haben sie bisher ziemlich rein festgehalten und nur wenig untereinander ausgetauscht. Unsere Expedition befindet sich in einem vorwiegend von Wamwera, in zweiter Linie von dem schöneren Menschenschlag der Wandonde (mit Unterstämmen wie Wangindo u. a. m.) besiedelten Landstriche. Daneben finden sich Wayaos, Wangoni und Wamahonde teils ansässig, teils wenigstens als Arbeiter. Die beigefügte Übersicht über eine Reihe ziemlich willkürlich herausgegriffener Vokabeln und Konjunktionsformen läßt bei aller UnVollständigkeit immerhin so viel erkennen, daß das Kisuaheli, dessen Heimat weit im Norden, im englischen Lama zu suchen ist, den hiesigen Sprachen recht fern steht, wenn auch die Ähn- lichkeit der Methode einleuchtet. Ferner hebt sich das Kingoni von den vier einander näher verwandten Sprachen Kimakonde, Kimwera, Kiyao und Kindonde deutlich ab. Im einzelnen gestalten sich die Gruppierungen natürlich abweichend, wie aus der Tabelle leicht hervorgehen dürfte. Die Unterschiede auch der näher verwandten Sprachen sind doch immerhin zu groß, um eine Bezeich- nung als Dialekte zu rechtfertigen. Man könnte sie etwa mit der Entfernung zwischen Hoch- deutsch, Plattdeutsch und Englisch vergleichen: (Siehe nebenstehende Tabelle.) Der Reichtum an Vokabeln ist äußerst gering und durch die Regel, höchstens m und n mit anderen Konsonanten zusammenzustellen (w wird als Vokal gesprochen), ist in der Tat die Möglich- keit genommen, viel neue Silben zu bilden. Die Sprache erhält etwas recht Kindliches (was für den Anfänger eine große Erleichterung bedeutet), aber zugleich durch den Vokalreichtum etwas sehr Klangschönes. Zugleich wird eine geradezu stenographische Kürze zumal in der Konjugation dadurch erreicht, daß je ein Buchstabe oder eine Silbe von zwei Buchstaben ein ganzes Wort unserer Sprache ersetzt und diese kurzen Silben stets ohne weiteres zu größeren Satzworten vereinigt werden können. Darin liegt neben aller Unbe- holfenheit doch auch viel Feinheit. Der Hermarsch mit der ca. 160 Mann starken N. F. MII. Nr. 3S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 595 Kisuaheli Kimakonde Kiniwera Kiyao Kindonde Kingoni MUi, Walu (Mensch, -en) M\vanamke (Weib) Kitu, vitu (Ding) Mti, miti (Baum) Kicliwa (Kopf) Mkono, mikono (Hand) Sikio (Ohr) Pua (Nase) Shingo (Hals) Tumbo (Bauch) Gote (Knie) Kilinia (Berg) Mto (Fluß) Njia (Weg) . Ndege (Vogel) Shimo (Graben) Mji (Dorf) Nyumba (Hütte) Kabila (Stamm) Jua (Sonne), mwezi (Mond) Mchanga (Sand) Majani (Gras) Mkuki (Speer) Kazi (Arbeit) Asubui (morgens) Jioni (abends) kufanya (tun) ninafanya (ich tue) nimefanya (ich habe getan) unafanya (du tuest) umefanya (du hast getan) anafanya (er tut) amefanya (er hat getan) kutembea (umhergehen) ninatembea (ich g. u.) nimetembea (ich bin u.) unatembea (du g. u.) anatembea (er g. u.) umetembea (du bist u.) araelembea (er ist u.) nitatembea (ich werde u.) atatembea (er wird u.) sitembei (ich g. nicht u.) sikutembei (ich bin nicht u.) hatembei (er g. nicht u.) hakutembei (er ist nicht u.) nenda (geh) mundu, vandu 1 mundu, wandu niwananikongwe mwanamke chinu, vinu chindu, indu mtela, mitela mkongo, mikongo mutwe mtwe 1 mkono, mikono mkono, mikono likutu likutu dimula rabula ukote lukoi chitumbo lutumbo lilundi lilungo luhenga kitumbi muto luchi ndila mponda chuni chijuni lipondo lihimbo kaya mui ngande nyumba litawa chipinga lidua, mwedi luwa, mwei dimbwe mitaka wai manyai mkuchi lipanga madengo maengo liamba liamba liulo chigulogulo anikola kutenda ninakola ngunatenda nikola ndule avikukola unantenda unikola uteile anatenda alitenda vanitenda ateile kuhcnahena kuoa nihenahena ngunaoa nihyenahyena ngunapitao unahyenahyena unapitaoa anahwenahwena anaoa anihwenahwena ulioa anihwenahwena aoile nahwenahwena chimbiteoa anahwenahwena chaoe ihwenahwena ngaoa ihwendehwende nganaoa ahwenahwena akaoa ah wendeh wende akanaoa hwena mjende mundu, wandu mwanache cliindu, vitu mtela, mitela mtwe mkono, mikono lipilikanilo mbula lukosi lutumbo lilungo litumbi lusulo litala chijuni lisimbo muzi nyumba lukosyo luwa, mwezi msanga manyazi dipanga mazengo kundawi ligulo kupanganya ndilimkupanganya jwampanganya ulikupanganya apanganesye akupanganya apanganesye kwimajima nguimajima nimajimile unajimajima kwimajima njiraajimile njimi tinimajimc tajimejime gangusaga nguninyimajima ngakwimajima nganajimajima nyendeye mundu, wandu akike kirivc, irive mkongo, mikongo mutwc luwoko, niawoko lisikilo mburo mtandala lutumbo lijuwa kitumbi lukomba ndira kijuni livumba pakaja nyumba lukola lichua, mwehi mihanga manyahi mkoha mahengo kundawi kimuho kutenda mikutenda ndehile mikutenda ntehile alikutenda vatehile kutyanga ndendakutyanga nyangite ndendakutyanga nyangite kutyanga nandyangaye mandyangayc nityanga yedeleno dyangetegie vityangajie atyangctejie nyabolaye mundu, wandu mfaze chindu, vindu kimuti, vimuti likanda manja njeve pumuro tanyeni kisu libuka mtava mfulane ndila nyoni ligodi muzi nganda mtangilo lilanga, nyanga ludaka manyai, luchani mkoha, mkondo mahengo lukelo tambama kusavinga nihenga nahenga wahenga waswenga kuswengwa nahenga kuhamba niharaba nifamba nihamba kugendanda ahamba nigenda ulikugenda agenda agendagenda nakugenda (nbilo) nakugenda nakugenda nakugenda hamba 596 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 38 Trägerkarawane fiel (Mitte April) noch in die letzten Wochen der Regenzeit. Da jedoch die Märsche gegen Mittag beendet werden und die Regengüsse in die Stunden zwischen 2 und 4 Uhr nachmittags fielen, bereitete nur die Feuchtigkeit des Bodens, die noch angeschwollenen VVasser- läufe und die große Nässe des Grases gelegent- lich geringere Schwierigkeiten. Zum Glück konnte auf einem beträchtlichen Teile der Reise die ,,barrab3rra" benutzt werden ; das sind die auf Regierungsbefehl verbreiterten und gut gehaltenen, ins Innere führenden Wege, auf denen sich ein etwas lebhafterer Verkehr abspielt. Negerpfade durchkreuzen auch sonst zahlreich das Land und gestatten immer an jedes gewünschte Ziel zu ge- langen. Indes, diese ein bis zwei Fuß breiten Pfade werden von beiden Seiten von dem hohen Grase geradezu überflutet, wirr durcheinander- fallende Bambusstämme, Dorngestrüppe, innerhalb der Mtama-Pflanzungen, auch die langen Blätter dieser Nutzpflanzen greifen auf den Weg hinüber und erschweren das Gehen. Nichts jedoch ist hinderlicher als der üppige Graswuchs. Eine Graslänge von 3 m ist fast die Regel, so hohe Stengel verlangen eine entsprechende Stärke, um sich aufrecht halten zu können und Halm steht dichtgedrängt an Halm. Gehst du in der Sonne hindurch, so umflimmern dich im Vorüberhuschen grüne, gelbe, weiße, braune Lichter in wildem Tanz. Die Gräser fegen dir durchs Gesicht, ritzen wohl auch die Haut, wickeln sich um die Füße und versperren jeden Blick; Weg und Horizont sind eins. Ja nicht einmal bis auf den Boden unter den Füßen reicht das Auge mitunter; der schmale, vom fließenden Wasser und Wild freigehaltene Fußpfad entschwindet nicht selten und selbst die Eingeborenen haben zuweilen Mühe ihn wieder zu finden. Größere Steine, Stufen oder über den Weg liegende Baumstämme machen dann wohl oft unerbetene enge Bekanntschaft mit den Füßen. Dazu sind die Beinkleider bis über die Hüften von Tau- oder Regenwasser durch- näßt und vom ewig heiteren Himmel brennt er- barmungslos die Sonne hernieder. Der Europäer hat wenigstens beide Hände frei, um mit dem Stocke vor sich her die Gasse zu lichten, aber die Träger halten mit den Händen die schwere, auf der Schulter ©der noch lieber auf dem Kopf getragene Last und müssen alle Unbilden schutz- los über sich ergehen lassen. Gleichwohl gehen sie einen scharfen Schritt und lustiger Gesang verrät, daß sie sich die gute Laune nicht ver- derben lassen. Am Ziele angelangt schlagen sie ohne Säumen oder Murren die Zelte auf und dann gibt sich alles für den Rest des Tages den Freu- den des gemütlichen Lagerlebens hin. Das Hauptlager der Expedition liegt unmittel- bar am Tendaguruberge, der sich nicht hoch, aber schroff aus dem umliegenden Gelände erhebt und schöne Blicke weit hinaus in das unberührte Land bietet, vor allem auf das tiefer gelegene, weite Mbenkurutal. Weit im Umkreise finden sich ausgewittert in großen Mengen Knochen- splitter der Dinosaurier, die aus dem Boden zu gewinnen der Zweck der von Herrn Kustos Dr. Janensch geleiteten Expedition ist. Kreide- schichten verschiedenster Art bauen diese höher gelegene Fläche aus, während drunten im Mben- kurutale schon die Gneiße und Granite anstehen. Eine ganz andere Vegetation und entsprechend auch Fauna umfängt den, der ins Tal hinabsteigt, selbst ein Unterschied in der Luft, der Temperatur, der Taumenge u. dgl. wird bereits deutlich empfunden. Doch ein Glück ist es für unsere Zwecke, daß die Vegetation hier oben weniger üppig, das Gras sogar verhältnismäßig niedrig ist. Immerhin ist es natürlich schwer, einen Einblick in die geologische Natur eines so bewachsenen Landes zu gewinnen, solange noch nicht gebrannt werden kann. Und doch zeigt sich schon überall, wieviel des Neuen und Wertvollen in den Kolonien zu finden sein muß, auch wenn man von der un- gewöhnlich glücklichen Entdeckung des Saurier- fundortes durch Herrn Ingenieur Sattler absehen will. Wo fände denn auch schließlich das offene Auge des Naturfreundes tiicht eine Welt von Wundern, zumal in einem — man darf wohl sagen : noch unbekannten Lande ! Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Physik. — Außer einer neuen Quecksilberluftpumpe beschreibt v. Reden in der phys. Zeitschr. vom i. Mai 1909 einSpirale- Vakuummeter, das im Prinzip dem Vakuum- meter von Mac Leod gleicht, aber eine größere Genauigkeit liefert und nur eine geringe Menge Quecksilber (etwa '',„„ von derjenigen des Mac Leod'schen Apparates) benötigt. Das Quecksilber treibt die vom Rezipienten abgesperrte Luft in einer rotierenden Glasspirale unter allmählicher Kompression vor sich her und läuft schließlich in ein geschlossenes Manometer über, so daß nun der Druck des vielfach verdichteten Gasquantums abgelesen werden kann. Mit diesem Vakuummeter wurde ein mit Hilfe der v. Reden'schen Luftpumpe erzielter Druck von Viooooo '""^ gemessen. Der Sättigungsdruck des Wasser- dampfes unter o" ist auf der physikalisch - technischen Reichsanstalt durch Scheel und Heuse neu bestimmt worden (Ann. d. Phys. 1909, Nr. 9). Die Untersuchungen bezogen sich sowohl auf Wasserdampf über Eis, als auch auf solchen über imtcrkühltcm Wasser. Die Sättigungs- drucke p und p' über Wasser bzw. Eis lassen N. F. VIII. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 59/ sich am besten durch folgende Formeh) darstellen, in denen T die absolute Temperatur bedeutet: 2925,82 logp = 23,55 887-5logl .p - , „ 2994,2 log p'=L 11,50406 ^0,4 log T— ^ - Die beobachteten Druckwerte sind (abgekürzt mitgeteilt) folgende : Temp. Über Eis Über Wasser o" 4,579 nim 4.579 ^^ — 5" 3,022 „ 3,171 - — 10" 1,963 „ 2,160 „ — 15» 1,253 ,. •445 ,. —20" 0,784 „ —30» 0,288 „ —40" 0,096 „ — 50" 0,030 „ _6o" 0,007 „ Für den Unterschied p — p' ergab sich in Über- einstimmung mit einer von Thiesen auf Grund der Clapeyron'schen Gleichungen ausgesprochenen Voraussage bei —11,7" ein Maximum im Betrage von o,2ü mm. Einen hübschen, einfachen Versuch zur experi- mentellen Prüfung der Abbe'schen Bilderzeu- gungslehre beschreibt St. Landau in der physik. Zeitschr. vom 15. Mai 1909. Man legt in die Objektivfassung des Mikroskops (also hinter den Linsen) eine aus schwarzem Papier geschnit- tene spaltförmige Blende ein (Spaltbreite etwa 0,7 mm) und betrachtet nun eine Schuppe des Kohlweißlings. Steht der Blendenspalt der Längs- richtung der Schuppe parallel, so sieht man nur die in dieser Richtung verlaufenden, feinen Streifen derselben. Dreht man nun entweder die Schuppe oder das Objektiv um 90", so verschwindet die Längsstreifung der Schuppe und es tritt eine etwas unbestimmtere Querstreifung auf Der Ver- such zeigt auf einfachste Weise, wie das Aussehen mikroskopischer Objekte von den Beugungserschei- nungen an Objektteilen und Blenden beeinflußt werden kann. Selektive Reflexion monochromatischen Lichtes an Ouecksilberdampf wurde von Wood beobachtet (Phys. Zeitschr. vom i. Juli 1909). Da nach der Planck'schen Theorie der Absorption die Resonatoren die den ankommen- den Wellen entnommene Energie seitlich wieder emittieren müssen, hatte sich VVood bereits früher den Nachweis solcher Resonanzstrahlung zur Auf- gabe gestellt. Beim Natriumdampf war derselbe auch gelungen, aber die Emission war diffus. Wood sagte nun voraus, daß bei hinreichend enger Zusammendrängung der molekularen Reso- natoren eine regelmäßige Reflexion eintreten würde. Dies Heß sich aber beim Natriumdampf nicht beobachten, da er bei großer Dichte die durchsichtigen Gefäßwandungen corrodierte, es gelang jedoch die Beobachtung bei der Linie 2536,7 des Quecksilberdampfes, da letzterer in Quarzglasgefäßen unter einem Druck von 20 bis 30 Atmosphären beobachtet werden konnte. Der Quecksilberdampf reflektierte Licht von der an- gegebenen Wellenlänge in derselben Weise, wie es ein Silberbelag auf der Innenseite des Gefäßes tun würde. Wood beleuchtete den Quecksilber- dampf auch mit dem Bogenlicht des Eisens und fand auch hier, daß bei hoher Dichte vor allem die Eisenlinien bei 2535,7, 2536,9 und 2537,2, die beim Durchgang durch Quecksilberdampf voll- ständig absorbiert werden, eine kräftige Reflexion erfuhren. Die Bildung von Ozon durch ultra- violettes Licht ist zuerst 1900 von Lenard beobachtet worden. Später (1905/06) hatten Fr. Fischer und Braehmer in einwandfreier Weise die Bildung von Ozon an der Quarzlampe nach- gewiesen. Gleichwohl glaubten kürzlich Bordier und Nogier diese Tatsache bestreiten zu dürfen und den an der brennenden Quarz-Quecksilber- lampe entstehenden Ozongeruch auf die Einwir- kung freier elektrischer Ladungen auf die Geruchs- nerven zurückführen zu müssen (vgl. Comptes rendus Bd. 147, Nr. 6). Demgegenüber weist iMscher in der physik. Zeitschr. vom i. Juli 1909 überzeugend nach, daß sich die französischen Forscher geirrt haben. Der Ozongeruch kann bei schwacher Ozonbildung noch wahrnehmbar sein, auch wenn kein chemisches Reagens mehr Ozon nachzuweisen imstande ist. Wenn B. und N. auch in Stickstoff und Kohlendioxyd Ozongeruch er- zeugen konnten, so ist der Stickstoff vermutlich nicht ganz frei von Sauerstoffbeimengung gewesen und Kohlendioxyd kann bekanntlich auch im reinen Zustande sehr leicht unter Bildung von Kohlenoxyd ozonisiert werden. Daß der Ozon- geruch bei Durchleiten des betreffenden Gases durch eine geerdete Metallröhre verschwand, be- weist durchaus nicht, daß er von elektrischer Ladung herrührte, denn das Ozon wird in solchen Röhren katalytisch zerstört, mögen sienungeerdet sein oder nicht, wogegen in Glasröhren eine der- artige Einwirkung nicht stattfindet. Die von Fischer und Braehmer durch Violettfärbung von Tetramethylbasenpapier und durch Titration rnit Jodkaliumlösung erwiesene und in ihrer Abhängig- keit von Temperatur, Bestrahlungsdauer und Licht- stärke studierte Bildung von Ozon durch ultra- violettes Licht darf also nach wie vor als eine völlig sichergestellte Tatsache gelten. Das Ende des ultravioletten Spek- trums ist durch Miethe und Lehmann in Ägypten, Berlin und an verschieden hoch gelegenen Punkten der Schweiz fast völlig übereinstimmend bei 291 /(/( gefunden worden. Eine Zunahme der Länge des Sonnenspektrums mit zunehmender Höhe konnte also auf der Seite der kürzesten Wellen nicht festgestellt werden, wie dies Cornu angenommen hatte. Möglicherweise ist die Grenze der ultravioletten Strahlung bereits durch eine in der Sonnenatmosphäre stattfindende Absorption Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 38 bedingt. (Sitzungsber. d. Berl. Akademie, 1909, S. 268 — 277.) Die Praxis der Interferenzfarben- photographie nach dem Lippmann'schen Ver- fahren ist in letzter Zeit durch Dr. H. Lehmann, einen Mitarbeiter der Zeiß'schen Werkstätten, wesentlich verbessert worden, so daß die Her- stellung farbiger Photographien gegenwärtig für jedermann, der die Zeit und Kosten nicht zu scheuen braucht , leicht möglich ist. Die Firma Carl Zeiß-Jena hat eine ganze Anzahl von Spezial- apparaten für die verschiedenen Manipulationen, sowie auch für die Betrachtung der fertigen Bilder in den Handel gebracht , die eine wesentliche Erleichterung und Vervollkommnung der Arbeit ermöglichen. Ausführlicheres hierüber finden Interessenten im 11. Heft des 23. Jahrgangs der photographischen Rundschau. Unter dem Namen Kinemacolor werden seit einiger Zeit in Berlin farbige kinematographi- sche Bilder mit vielem Beifall vorgeführt, die auf der Gurtner'schen Zweifarbenphotographie basieren. Das Verfahren wurde von A. Smith und C h. Urban so ausgearbeitet, daß die gewöhnlichen kinematographischen Apparate auch die farbigen Bilder vorführen können. Die auf dem pancliro- matischen Film in kurzen Intervallen hergestellten Aufnahmen sind abwechselnd hinter einem roten und einem grün-blauen Filter aufgenommen, und auch bei der Projektion werden Filter der gleichen Farben mit Hilfe einer rotierenden Blende ab- wechselnd in den Strahlengang eingeschaltet. Streng genommen müßte bekanntlich noch ein blaues Filter hinzukommen, jedoch macht sich die durch das Fehlen der dritten Farbe bedingte Un- vollkommenheit nur wenig bemerkbar, die Farbe der Lichtquelle spielt dabei wohl auch eine ge- wisse Rolle. Um eine gute Verschmelzung der auf einer folgenden, roten und grünen Projektions- bilder zu erreichen, ist allerdings eine schnellere Bildfolge, also sonst üblich, erforderlich. In einer Sekunde werden nicht weniger als 32 Bilder pro- jiziert, so daß gar kein Flimmern mehr bemerkt wird. Die Einschaltung der Farbenfilter bewirkt natürlich erhebliche Lichtverluste, so daß die Kinemacolor-Projcktion die Anwendung besonders kräftiger Lichtquellen und kleinerer Projektions- schirme erfordert. Für stereoskopische Projektion hat die Firma E.Busch in Rathenow einen Betrach- tungsapparat unter dem Namen „Stereovista" in den Handel gebracht. Derselbe ähnelt in der äußeren Form einem Prismenbinokel. Die Optik besteht für jedes Auge aus zwei reflektierenden Prismen, von denen je eines vom Mitteltriebe aus gedreht werden kann. Dadurch wird ermög- licht, daß jedes Auge nur eines von zwei neben- einander projizierten Stereoskopbildern erblickt. Die Abgrenzung des Gesichtsfeldes kann noch durch eine quadratische Irisblende reguliert wer- den. Sicherlich wird durch diesen Betrachtungs- apparat die stereoskopische Projektion in voll- kommenster Weise erreicht. Leider werden wegen des hohen Preises des Instrumentes (60 Mk.), das doch für jeden Zuschauer in einem Exemplar erfordert wird, nur sehr reich ausgestattete Insti- tute davon Nutzen ziehen können. Für beschei- denere Verhältnisse empfiehlt sich immer noch das Petzoldt'sche Verfahren , auf das wir bereits im I. Bande dieser Zeitschrift (S. 522) kurz hin- wiesen. Petzoldt kopiert zunächst auf Chrom- gelatineplatten und taucht das eine Bild in eine passend ausprobierte grüne Anilinfarbenlösung, das andere in eine rote, bis die Platte gleichmäßig gefärbt erscheint. Beim kalten Auswässern wird alsdann der Farbstoff an den löslich gebliebenen Gelatinestellen ausgewaschen, während er an den unlöslich gewordenen zurückbleibt. Beide Platten werden dann richtig aufeinandergepaßt und mit Randstreifen in unverrückbarer Stellung vereinigt. Bei der Projektion eines derartig hergestellten Bildes in einer gewöhnlichen Projektionslaterne erblicken dann die Zuschauer außerordentlich plastische Bilder, wenn sie eine Gelatinebrille auf- setzen, deren Folien mit denselben F"arbstoffen wie die Platten gefärbt sind. Ref hatte kürzlich Ge- legenheit, sich von der trefflichen Wirkung dieser Bilder zu überzeugen, deren Herstellung keine nennenswerten Schwierigkeiten machen soll. Inter- essenten wird der Erfinder dieses Verfahrens (Charlottenburg, Dernburgstraße 48) gewiß gern jede nähere Auskunft erteilen. Projektionsschirme mit metallischer Oberfläche wurden bereits 1891 von Anderton benutzt, ohne daß jedoch deren Verwendung da- mals eine allgemeinere geworden wäre. In der letzten Zeit ist man von verschiedenen Seiten auf dieses Mittel , den Projektionsbildern (namentlich episkopischen und mikroskopischen) einen größeren Glanz und den Projektionen farbiger Photographien nach Lumiere eine größere Naturwahrheit zu ver- leihen, zurückgekommen. Insbesondere fertigt die Firma Zeiß in Jena Schirme an, die mit Alu- miniumpulver nach dem sog. „trockenen Ver- fahren" bronziert sind und sich gegenüber den sonst üblichen weißen Schirmen durch eine wesent- lich größere (etwa 12 fache) Reflexionsfähigkeit aus- zeichnen. H. L e h m a n n hielt über diesen Gegenstand auf der Kölner Naturforscherversammlung einen Vortrag, in dem er erwähnte, daß derartige Schirme allerdings den Nachteil haben, in seitlicher Rich- tung einen starken Helligkeitsabfall zu zeigen, da das Lambert'sche Gesetz für sie nicht gilt. Aus diesem Grunde sowie auch zur Vermeidung per- spektivischer Verzerrung der Bilder empfiehlt es sich , den Zuschauerraum für Projektionsvorträge nicht amphitheatralisch, sondern eng und lang- gestreckt zu wählen, wie dies z. B. bei Kinemato- graphentheatern auch allgemein üblich ist. Für Hörsäle, in denen die Projektionsbilder auch in schräger Richtung noch hell erscheinen sollen, läßt sich der Zeiß'sche „geriefelte" Aluminium- schirm mit Vorteil verwenden, wenn man es nicht vorzieht, auf einen glatten Schirm zu projizieren N. F. \'I1I. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 599 und diesen hin und her zu drehen, um auch den seitlich sitzenden Zuhörern die in Betracht kom- menden Projektionen, z. B. Polarisationserschei- nungen oder Spektra, deutlich zu zeigen. Die elektrischen und optischen Eigenschaf- ten des metallischen Selens sind von A. H. Pfund neu studiert worden (Phys. Zeitschr. vom 15. Mai 1909). Vor allem wurde eine Empfind- lichkeitskurve der Widerstandsänderung für ver- schiedene Wellenlängen bestimmt. Die Energie, welche bei der Untersuchung jedes Bündel nahezu homogener Strahlen mit sich führte, wurde stets mit Hilfe eines absorbierenden Keils unter Ver- wendung eines Radiomikrometers auf denselben Wert reduziert und dann die Widerstandsabnahme des Selens beobachtet. Es zeigte sich , daß die Empfindlichkeit bei 700 ///( ein sehr ausgeprägtes Maximum besitzt. Bereits bei 620 /(/( einerseits und 780 ///( andererseits beträgt die Empfindlich- keit nur noch ein Viertel von derjenigen bei 700 f.if^i. Zwischen 620 und 430 /(,» ist sie da- gegen ziemlich konstant, während sie von 780 /(/t bis 1000 iiii weiter bis auf Null abnimmt. Auch die optische Reflexionskurve und die Absorptionskurve wurde bestimmt. Erstere ver- läuft ziemlich horizontal, alle Wellenlängen von 450 bis 1000 flu werden nahezu gleich gut (30 bis 25 %) reflektiert, dagegen zeigte eine auf einer Glasplatte durch Kathodenzerstäubung niederge- schlagene, nur 10 /(/( dicke Selenschicht, die dem eben über die Reflexion gesagten entsprechend im reflektierten Lichte bleigrau aussah, im durch- fallenden Lichte eine bräunliche Farbe und die Messung der Absorption ergab zwischen 600 und 800 ((,(( einen starken Abfall , so daß von den kleineren Wellenlängen (unter 600 ,«/() ca. 35 %, von den größeren aber (über 800 fiu) nur 10 bis 5 % absorbiert wurden. Um die Lichtempfindlichkeit des Selens ver- ständlich zu machen, nimmt Pfund an, daß das auftreffende Licht, weim es absorbiert wird (also namentlich bei Wellenlängen unter 800 fift) im Aton\ Resonanz erregt, und daß diese Resonanz zur Austreibung von Elektronen führt, die dann die Leitfähigkeit erhöhen. Danach müßte aller- dings zunächst erwartet werden, daß die Leitfähig- keiten im Blau , wo die Absorption am stärksten ist, auch die höchsten Werte erreichen sollte. Pfund weist nun aber darauf hin , daß Patterson und andere gezeigt haben, daß metallische Schich- ten unterhalb einer gewissen, kritischen Dicke sehr schlecht leiten. Von /. 700 /(/( ab mag nun die Eindringungstiefe der Strahlen wegen der starken Absorption eine so geringe sein, daß die stromführende Selenschicht unter jener kritischen Dicke bleibt, so daß nun anstatt einer Zunahme der Empfindlichkeit jene schnelle Abnahme resul- tiert, die durch das scharf ausgeprägte Empfind- lichkeitsmaximum bei 700 /<(( festgestellt ist. Zur Prüfung dieser Theorie der .Selenempfind- lichkeit versuchte Pfund eine Verschiebung des Empfindlichkeitsmaximums bei stärkerer, absoluter Strahlungsintensität und damit erhöhter Eindrin- gungstiefe nach der Seite der kleineren Wellen- längen hin zu konstatieren, was ihm auch gelang. Ein neues Bolometer wurde von Seddig konstruiert. Bei diesem sind die einzelnen Zweige der Wheatstone'schen Brückenkombination aus Materialien von positiven und negativen Tempe- raturkoeffizienten ihrer Leitfähigkeit (z. B. Eisen und Kohle) gebildet. Zwei in dem Leiterviereck gegenüberliegende Seiten (I und III) haben posi- tiven, die beiden anderen (II und IV) aber nega- tiven Temperaturkoeffizienten. Werden nun sämt- liche Zweige einer Temperaturerhöhung unter- worfen, so wird im Verhältnis w^ : w, der Zähler größer, der Nenner kleiner, dagegen in W2 : Wg umgekehrt der Zähler kleiner, der Nenner größer. Demnach werden diese Verhältnisse, wenn sie vorher gleich waren, einander ungleich und es tritt in der Brücke ein Strom auf Dieses Bolometer kann daher ähnlich wie ein Thermometer gebraucht werden. Da man keinen Zweig auf konstanter Temperatur zu halten braucht, ist das Arbeiten mit dem neuen, auch durch größere Empfindlich- keit ausgezeichneten Instrument sehr bequem. Neue Formen des Telephons sind von H. Th. Simon, D. Field, sowie auch von Cuttriß und Redding angegeben worden. Simon gibt in der physik. Zeitschr. vom i. Mai 1909 eine Beschreibung seiner Konstruktion, die insofern auf einem neuen Prinzip beruht, als nicht wie beim Bell'schen Telephon das Bestreben der magnetischen Kraftlinien sich zu verkürzen aus- genutzt wird, sondern das denselben gleichfalls eignende Bestreben, ihren Querschnitt zu ver- größern. Die Bewegung der Schallmembran wird bei dem neuen Telephon nämlich durch den Druck bewirkt, den die eine Stromspule durch- setzenden Induktionsröhren auf die Spulendrähte ausüben. Die auf ein Hartgummirähmchen aufge- wickelten Drahtwindungen bilden daher hier, zu- sammengehalten durch Schellack und bedeckt mit einem Glimmerplättchen, selbst die Membran. Die Kraftlinien eines Magneten sind mit Hilfe geeig- neter Polschuhe durch die Windungsfläche der Spule geleitet. Der Fortfall der Eisenmembran von verhältnismäßig großer Masse, die zur Llnter- drückung von Eigenschwingungen fest eingespannt werden muß , bedingt eine weit klangreinere Wiedergabe der mit Hilfe eines Mikrophons über- tragenen Schallschwingungen. Von Vorteil ist ferner unter anderem auch , daß die Kräfte bei der neuen Form gleichmäßig über die ganze Membranfläche verteilt sind, während sie beim Bell'schen Apparat nur an bestimmten . Punkten angreifen, sowie daß die Membran so klein ge- macht werden kann, daß ihre Grundschwingung schon höher liegt als die wesentlichen Obertöne unserer Sprache. Die Anwendung der drahtlosen Tele- graphie für verschiedene Zwecke schreitet rüstig vorwärts. So werden seit dem i. Februar ver- suchsweise funkentelegraphische Wetternachrichten 6oo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 38 von Schiffen, die sich auf dem nördlichen Atlan- tischen Ozean befinden, über Crookhaven und Malinhead nach London und Hamburg (Seewartc) gesandt. Beteiligt sind zur Zeit an diesem für den kontinentalen Wetterdienst voraussichtlich sehr wertvollen Unternehmen 14 deutsche und 56 englische Dampfer, deren Kurse sich über das Gebiet von 40'' bis 60" nördl. Breite und von 10" bis 45" westl. Länge erstrecken. Auch ein funkentelegraphisches Welt-Zeitsignal ist für die Zukunft in Aussicht genommen, das naturgemäß die Längenbestimmung für Schiffe, die mit Empfangsapparaten ausgerüstet sind, wesentlich vereinfachen und die Genauigkeit der- selben beträchtlich erhöhen würde. Die Beugungserscheinungen elektro- magnetischer Wellen an isolierenden, zylin- drischen Hindernissen sind in aller Strenge jüngst von Cl. Schaefer theoretisch abgeleitet worden, während bei der Behandlung optischer Beugungs- phänomene stets eine Reihe einschränkender und nur näherungsweise gültiger Annahmen gemacht werden muß, um die Theorie durchführen zu können. Die Ergebnisse der Schaefer'schen Theorie wurden dann durch F. G r o ß m a n n für Wellen- längen von 24, 34 und 58 cm trefflich bestätigt gefunden, indem derselbe den durch einen para- bolischen Zylinderspiegel parallel gemachten, horizontal polarisierten Wellen mit Wasser gefüllte Glasröhren von 0,15 bis 1,21 cm Radius in den Weg stellte. Auch Bartenstein hat die Beugungserschei- nungen stark gedämpfter elektrischer Wellen nach einer ähnlichen Methode, wie sie früher von Lebedew angewendet wurde, studiert {Ann. d. Phys. Bd. 29, H. 2). Die bei der Beugung durch Gitter aus der Beugungskurve berechneten Wellen- längen stimmten verhältnibmäßig gut mit den Werten derselben überein, die nach der Abraham- schen Theorie aus den Dimensionen des Erregers folgten. Auch Oberschwingungen wurden durch die Beobachtung der Beugungsfigur festgestellt. Gewisse Abweichungen der beobachteten Erschei- nungen von den nach der einfachen Theorie zu erwartenden sind der Dämpfung der elektrischen Wellen zuzuschreiben. Über die Röntgenstrahlen sind immer noch Untersuchungen im Gange, welche über deren Natur volle Aufklärung bringen sollen. Hagen hat Polarisation nachweisen können bei den durch Röntgenstrahlen an Kohle erzeugten Sekundärstrahlen, und Herwig gelang der Nach- weis der Polarisation kürzlich auch an primären Röntgenstrahlen, die von einer Kohle-Antikathode ausgingen (Ann. d. Phys. Bd. 29, H. 2). Dagegen glückte es Walter und Pohl nicht, auch Beu- gungserscheinungen bei Röntgenstrahlen festzu- stellen. Sie schließen daraus, daß die Wellen- länge dieser Strahlen, wenn ihre Wellennatur auf Grund anderer Beobachtungen angenommen wird, unter 1,2 . io~9 cm liegen muß. Stark hält es auf Grund der von Barkla untersuchten selektiven Absorption von Röntgen- strahlen für erwiesen, „daß die chemischen Elemente im Spektrum der Röntgenstrahlen Eigenfrequenzen besitzen , in denen die Absorption primärer Röntgenstrahlen die Emission negativer Elektronen (Kathodenstrahlen) und die Emission einer inten- siven, selektiven, sekundären Röntgenstrahlung kleinerer Frequenz zur Folge hat". Stark glaubt übrigens, durch die an Röntgenstrahlen gemachten Beobachtungen seine bereits früher ausgesprochene Hypothese der atomistischen Konstitution der Strahlung (Lichtquantenhypothese) stützen zu können (Phys. Ztschr. v. i. Sept. 09). Wenn die physikalische Forschung sich wirklich von der Ätherwellentheoric wieder zu derartigen, der alten Emissionshj'pothese ähnelnden Anschauungen fort- entwickeln sollte, dann hätte sie allerdings einen richtigen Kreislauf durchgemacht. Wir vermögen jedoch nicht daran zu glauben. Die in der Atmosphäre vorhandene Strahlung von hoher Durchdringungskraft hat Wulf mittels einer modifizierten P'orm seines bifi- laren Elektrometers (s. d. Zeitschr. N. F. VI, S. 779) genauer erforscht. Das Elektrometergefäß wurde zu diesem Zweck auf fast 3 Liter Inhalt vergrößert und als liegende Trommel ausgebildet, deren ebene Grenzflächen durch dünne Zinkblechplatten ver- schlossen wurden. Wulf benutzte das andauernd schöne Herbstwettcr des vorigen Jahres zu einer längeren Beobachtungsserie, aus der mit allen Einzelheiten ein vollständiger Parallelismus sich ergab zwischen dem Luftpotential und der durch die Ladungsverluste des geschlossenen Elektro- meters erkannten, durchdringenden Strahlung der Atmosphäre. Mitte Oktober zeigten sich wie beim sommerlichen Verlauf des Potentialgefälles zwei Maxima zwischen 8 und 9 Uhr abends so- wohl wie morgens, während Ende Oktober und vollends im November die Mittagsdepression fast gänzlich verschwand, wie es dem winterlichen Typus des Ganges der Luftelektrizität entspricht. Beobachtungen im Zimmer zeigten eine wesent- lich höhere Strahlung als im Freien an, jedoch mit viel kleinerer täglicher Schwankung. Offen- bar hatten die Mauern die von außen kommende Strahlung zum Teil absorbiert, dafür aber selbst eine durchdringende Strahlung ausgesandt, auf deren Vorhandensein schon Rutherford hingewiesen hat. In den ausgedehnten Kreidehöhlen bei Valkenburg in Holland beobachtete Wulf eine Abnahme der Elektrizitätszerstreuung von 42 "/„, wie ja auch Elster und Geitel in Steinsalzberg- werken eine solche Abnahme (um 28 "/o) beobachtet haben. Hält man dem gegenüber, daß Gockel und W'ulf im Simplontunnel eine höhere Gesamt- strahlung als im Freien gefunden, so ergibt sich, daß der Einfluß der Gesteinsmassen ein doppelter ist und teils in der Abschirmung einer von außen stammenden Strahlung, teils in der Aus- sendung einer durchdringungsfähigenEigenstrahlung besteht. Die genauere Erforschung der Radio- aktivität von Gesteinen, die mit Wulfs Apparat N. F. \'III. Nr. 3S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 601 sehr leicht auszuführen ist, könnte für die Geologie von großer Bedeutung werden, [•"alls der Tem- peralurgradient mit der durchdringenden Strahlung zugleich steigend bzw. fallend sich erweisen würde, könnte die Temperaturzunahme des Erdinneren zum Teil wenigstens radioaktiven Stoffen zuge- schrieben werden. Die Beobachtungen im Simplontunnel, der bekanntlich eine besonders starke Zunahme der Gesteinstemperatur aufweist, sprechen für den radioaktiven Ursprung der Wärme. In bezug auf Spuren von Radioaktivität ist jüngst eine große Anzahl von Stoffen durch Levin und Ruer untersucht^ worden (Phys. Ztschr. V. I. Sept. 09). Dieselben ließen die zu untersuchenden Präparate, je etwa ein halbes Jahr lang, auf eine vor Licht vollständig geschützte und durch Messingschablonen teilweise auch gegen p'- und y-Strahlen geschirmte Bromsilberplatte einwirken. Bei den meisten Stoffen wurde hier- bei keinerlei Wirkung erzielt, aber Kaliumpräparate verschiedenster Provenienz, sowie Rubidiumsalze ließen eine Aktivität erkennen, die etwa ein Tausendstel derjenigen des Uranoxyds beträgt. Diese Aktivität dürfte kaum einer Verunreinigung durch bekannte, radioaktive Elemente zuzu- schreiben sein. Andere Elemente, denen man auf Grund dieser Versuche eine individuelle Radio- aktivität zuschreiben müßte, wurden nicht gefunden. Kbr. Kleinere Mitteilungen. Einige pflanzenphysiologische Neuheiten. — Die pflanzlichen und tierischen Fermente sind immer noch Gegenstand eifriger Forschung. So hat E. Buchner im Verein mit Fr. K 1 a 1 1 e neuerdings (Biochem. Zeitschr. 1908, Bd. 9, S. 415) festgestellt, daß der Zucker keine Rolle spielt bei der Zymasebildung, und daß auch dem Asparagin eine untergeordnete Rolle zukomme; eine beson- dere Wirkung kommt jedoch dem primären Calciumphosphat zu. Die Gärkraft des Hefepreß- saftes läßt sich aber, wie sich bei den letzten Untersuchungen wieder zeigte, nicht (durch das sogenannte Regenerieren) über das sonst bekannte IVlaß hinaus steigern; man kann nur den verloren gegangenen Zymasegehalt unter Umständen wieder zurückbringen. In dem durch Eindampfen er- haltenen ,,1'reßsaftsirup" beobachteten Verf. stets eine rasche Abnahme der Gärkraft; dagegen ließ sich auch in dem längsten, auf ein halbes Jahr aus- gedehnten Versuche keine Abnahme der tryp- tischen Wirkung feststellen. Die Zymase wird aller Wahrscheinlichkeit nach durch die Endo- tryptase zerstört (verdaut). Über die Natur der Fermente haben O. Loew und Referent in Bd. XXI Nr. 7/8 des Zentralblattes f. Bakteriologie Notizen veröffentlicht. O. Loew hebt unter dem Titel „Zur Lehre von der chemischen Energie der lebenden Zelle" her- vor, daß thermische Energie sehr leicht in che- mische Energie übergeht, ferner daß in labilen Körpern mehr chemische Energie steckt wie in den entsprechenden stabilen Umwandlungspro- dukten. Daß es ferner unter den Proteinstofifen labile Modifikationen gibt, wird von den Physio- logen nicht mehr angezweifelt ; zu ihnen gehören zweifellos auch die das lebende Plasma zusammen- setzenden und die die Fermente bildenden Pro- teide. Die besondere chemische Energie in den- selben ist kinetische Energie und besteht in Atomschwingungen von größerer Amplitude inner- halb der labilen Atomgruppen (Aldehydgruppen, Ketongruppen . . .). Referent führt in seinem Aufsatz (Platinkatalyse und physiologische Kata- lyse, Bakt. Zentralbl. Nr. 7/8) aus, daß der Ver- gleich zwischen Platinkatalyse und Fermentwirkung keine so große Ähnlichkeit ergibt, daß man mit Bredig die feinverteilten Metalle als „anorganische Fermente" bezeichnen dürfte. Da wären eher noch die Säuren und Basen als solche zu nennen; denn sie spalten Eiweiß, wie es vom Trypsin ge- spalten wird, invertieren Rohrzucker usw. Aber auch sie können nicht als anorganische Fermente bezeichnet werden, weil das Wort „Ferment" oder „Enzym" reserviert ist für jene Lebensprodukte von labiler Eiweißnatur mit aktivem und passivem Zustande, wie z. B. Diastase, Zymase, Invertase, Peptase usw. Die physiologische Wirkung des Dicyandiamids, welches in alkalisch reagieren- den Böden aus Cyanamid entstehen kann und somit auch bei der Düngung des Bodens mit Kalkstickstoff in Betracht kommt, hat O. Loew (Chem. Ztg. 1908, Nr. 57) beschrieben. Er fand, daß das Dicyandiamid für viele Bodenbakterien keine günstige Stickstoffquelle ist. Nährlösungen, welche als organische Stoffe Natriumacetat (0,5 "/n) und Mannit (0,1 "/(,) und als Stickstofifquelle nur Dicyandiamid enthielten, wurden nach dem Sterilisieren mit einer geringen Menge Gartenerde geimpft und bei 29" gehalten. Selbst nach acht Tagen war hier nur eine geringe Trübung und eine dünne Bakterienhaut zu beobachten, allerdings etwas mehr als im Kontrollversuche ohne Zusatz von einer Stickstoffverbindung. In den Kontroll- kolben aber, die als Stickstoffquelle Am.monium- sulfat bzw. Dicyandiamidindisulfat erhalten hatten, waren flockige Massen und dicke Häute von Bakterienvegetation sichtbar, die Reaktion war stark alkalisch geworden. Das Dicyandiamid er- wies sich überhaupt als physiologisch ziemlich indifferent; denn es äußert auch keine nennenswerte Giftwirkung bei höheren und niederen Pflanzen, Infusorien usw., während z. B. das verwandte Guanidin giftig wirkt ; auch Dicyandiamidin ist giftiger als jenes; Cyanamid, das als Calcium- cyanamid in der Landwirtschaft zur Verwendung 6o2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. YIII. Nr. 38 kommt, ist weit giftiger (in gewöhnlichen Böden wird jenes Düngemittel lediglich Calcium- und Ammoniumkarbonat liefern, von denen letzteres durch die Pflanzen als Stickstoffquelle gebraucht wird). Der bedeutende Gegensatz zwischen der gif- tigen Wirkung des Cyanamids und der physio- logischen Indifferenz des Dicyandiamids regt die Frage nach der Konstitution dieses Körpers an, der als ein Polymeres des Cyanamids zu be- trachten ist. Nach O. Loew's Ansicht, deren Be- gründung im Original nachzusehen ist, dürfte folgende Formel die wahrscheinlichste sein : ___- NH -— -^^ C = NH HN = C ^^^ NH-"""''^ Imidriögformel nach Baumann. In Heft 7/8 des Bd. XXI des Hakt. Zentralbl. ist nun eine weitere Arbeit über das physiolo- gische Verhalten des Dicyandiamids, speziell über ,,Dicyandiam id -Bakterien" von Dr. Renate Perotti erschienen, welche doch eine größere Verwendbarkeit der genannten Stickstoffquelle nachweist, als O. L. bei seinen Versuchen ge- funden hat. In Nährlösungen, die eine angemessene Menge von Traubenzucker und als einzige Stickstoffsub- stanz das Dicyandiamid enthielten, und zwar in Mengen, die 1 — 2 p. m. nicht überstiegen, trat bei seinen Versuchen eine üppige und charakte- ristische Entwicklung von Mikroorganismen auf, die zu den Bakterien und teils auch zu anderen Pilzgruppen gehörten; manche sind noch nicht beschrieben, andere dagegen sind identisch mit gewöhnlichen Bodenorganismen. Einigen von ihnen gelingt es besonders gut das Dicyandiamid als Stickstoffquelle zu verwenden, anderen weniger. Sogar höhere Pflanzen sollen, nach den an sterilen Böden angestellten Versuchen, imstande sein, jene Stickstoffquelle ohne vorausgehende bakterielle Umwandlung zu verwerten. Demgegenüber ist eine Arbeit von C. Ulpiani (Evoluzione chimica e biochimica della calcio- cianamide nel terrenoagrario, Rend. soc. chim. di Roma 1906) zu erwähnen, welche zu dem Schluß kommt, daß das Calciumcyanamid absolut unan- greifbar für Bakterien ist, und andererseits, daß das Dicyandiamid selbst in konzentrierten Lösungen zur Ernährung der Pflanzen geeignet sei. Dem- gemäß müßte man, da doch die ernährende Wirkung des Kalkstickstoffes eine Tatsache ist, annehmen, daß dasselbe durch chemische Agen- tien im Boden in eine geeignete Verbindung über- geführt werde , etwa durch Kohlensäure in Dicyanamid und kohlensauren Kalk. Nach Drechsel und Meyer spielen sich dabei folgende Reaktionen ab : C:>N ^NCa + CO, = C^ N N< /Ca XOO Calcium cyanami j -\- Kohlensäure II Calciumcyanamid- karbonat 2C N N< /Ca+ioH30 = (CN2H.,),+2CaC03+6H20 COO Calciumcyan- _^ ^' _ Dicyan- , Calcium- , amidkarbonat ' diamid '^ karbonat '^ Über das Verhalten der Mineralstoffe in der Pflanze brachte B. Hansteen vor kurzem einen Beitrag. Es handelt sich dabei um korrelative Gesetzmäßigkeit im pflanz- lichen Stoffwechsel („Nyt Mag. for Natur wid., Bd. 45, H. 11, Kristiania). So wie bei Ausbildung der Pflanzenorgane schon seit lange eine Korre- lation beobachtet wurde, in der VVeise, daß die Entwicklung des einen Organes die eines anderen bedingt und beeinflußt und ein bestimmtes Ver- hältnis zwischen beiden immer eingehalten wird, so ist es auch mit der Aufnahme und Verwendung der Mineralstoffe im Pflanzenkörper. Wenn der eine Bestandteil zu einer bestimmten Zeit (in einer bestimmten Entwicklungsstufe) soviel beträgt, muß der andere soviel betragen, es besteht eine bestimmte Korrelation zwischen Kaligehalt, Phos- phorsäure, Magnesia. Wenn man die Mineral- stoffmengen in ein und demselben Samen oder demselben Organ von der gleichen Entwicklungs- stufe und derselben Pflanzenart oder -Rasse ver- schiedene Male untersucht, findet man stets das gleiche Verhältnis zwischen Kali, Phosphorsäure und Magnesia, gleichgültig unter welchen Be- dingungen die pflanze aufgewachsen, der Same gebildet worden ist; auch das Verhältnis der drei Bestandteile zur Trockensubstanzmenge ist immer dasselbe. So enthalten 20 Tage alte Weizen- pflanzen von 3,0 cm Stengellänge, 34,0 cm Wurzel- länge, in 100 g Trockensubstanz 8,471 g Kali, O15887 g Magnesia, 1,9037 g Phosphorsäure; 20 Tage alte Pflanzen der Erbse von 6,0 cm Stengel- und 11,0 cm Wurzellänge enthalten pro 100 g Trockensubstanz 1,2184 g Kali, 0,2007 S Magnesia, 1,9642 g Phosphorsäure. Man sieht, welchen Einfluß die Art und Gattung der Pflanze auf dieses Mineralstoffverhältnis hat; der Kali- bedarf ist bei Weizen- viel größer als bei Erbsen- pflanzen. Aus guten und an einwandfreiem Mate- rial hergestellten Analysen lassen sich also die nötigen Mengen Mineralstoffdünger für jede Pflanzenart und jede Entwicklungsstufe derselben mit Zuverlässigkeit berechnen. Wenn man annimmt, daß die genannten Mineralstoffe bestimmte und sehr wichtige physio- logische Rollen im Pflanzenkörper zu übernehmen N. F. MIT. Nr. ^jS Naturwissenschaftliche W'ochenschrilt. 603 haben, was ja durchaus wahrscheiiiUch ist, dann kann man sich über die bestimmten Korrelationen nicht wundern. Stellen wir uns z. B. vor, daß die Phosphorsäure zum Aufbau der Zellkern- Eiweißstoffe nötig sei, so wird die Phosphor- säuremenge von der bei jeder Pflanzenart und in jedem Entwicklungsstadium verschiedenen Menge Zellkernsubstanz abhängen; steht das Kali in Be- ziehung zu den Kohlehydraten, so muß der Kali- gehalt mit der in jeder Pflanzenart zu einer be- stimmten Zeit gebildeten Kohlehydratmenge in Korrelation stehen, andererseits werden Phosphor- säure und Kali zueinander in bestimmtem Ver- hältnis sich befinden. ,, Unter normalen gewöhn- lichen Ernährungsbedingungen wird bei jeder Nahrungsaufnahme Wanderung und Lokalisierung der unentbehrlichen Aschensubstanzen jederzeit derart reguliert, daß erstens jede von diesen in jeder Zelle resp. jedem Organ in einer optimalen Menge zugegen ist ; zweitens, daß diese verschie- denen Optima, die den spezifischen Bedürfnissen gemäß auch spezifisch sind für die Art und Varietät, für die einzelnen Organe, für die Ent- wicklungsstufe und endlich, was die einzelnen Elemente anbelangt, doch immer durch die ganze Pflanze in bestimmten gegenseitigen Relationen stehen." ,,Können Phosphate Chlorose er- zeugen?" Darüber berichtet T. Takeuchi in The Bulletin of the College of Agriculture, Tokyo Imperial University Vol. VIII, Nr. 3. Die Be- hauptung, daß Phosphate Chlorose erzeugen können, ist zuerst von Crone aufgestellt worden (Biedermanns Zentralbl. 1906, S. 30); vermutlich ist aber eine unrichtige Zusammensetzung der zu den Versuchen verwendeten Nährlösung schuld an diesem irrigen Resultat. Lösliche Phosphate sind nach O. Loew (Über den Einfluß der Phos- phorsäure auf die Chlorophyllbildung, Bot. Zen- tralbl. 1891) gerade unerläßlich, um Chlorophyll- bildung hervorzubringen. Er experimentierte mit Algen, welche zunächst in 0,2 " „„ Calciumnitrat -|- 0,02 " uQ Ammonsulfat gebracht wurden, unter zeitweiser Einleitung von Kohlensäure. Nach 6 Wochen-Stehen im zerstreuten Tageslicht bei 14 — 16" waren die Zellen gelb geworden, aber trotz der Unvollständigkeit der Nährlösung nur zum kleinen Teil abgestorben. Hierauf wurde 0,02 "/(ii, Ferrosulfat zugesetzt und die Lösung mit den Algen in zwei möglichst gleiche Portionen geteilt und zur einen Hälfte noch 0,08 "d,, Di- natriumphosphat gesetzt. Schon nach 5 Tagen ergab sich ein höchst auffälliger Unterschied : Die Phosphat-Algen hatten eine intensiv grüne Farbe angenommen, die Kontrollalgen aber hatten ihre gelbe Nuance behalten, trotz des Zusatzes eines Eisensalzes. Takeuchi verglich nun die Crone'sche Nährlösung mit einer, in welcher das Calcium- sulfat durch die doppelte Menge Calciumnitrat ersetzt und das Phosphat nur als Monokaliphos- phat gegeben war, nicht als Gemisch mit Diicalium- phosphat. Es zeigte sich, daß das Eisen nicht giftig wirkte, ferner daß die Nährlösung Krone's der Aufnahme von Eisen bei geringem Eisenzusatz Schwierigkeiten bereitete, dann daß Phosphate keine Chlorose erzeugen, endlich daß die Knop- sche Nährlösung alle Bedürfnisse der Wasserkultur- pflanzen befriedige. Über die physiologische Bedeutung des Koffeins und desTheobromins hat Th. Weever's ( Akad. van Wetenschappen Amsterdam) Versuche gemacht; während seines Aufenthaltes in Buitenzorg im Jahre 1902 und 1903 wurden makro- und mikrochemische Beob- achtungen über Coffea, Thea, Theobroma acumi- nata, Cola acuminata angestellt und später publi- ziert, welche z. T. widersprechend gegenüber den früheren Untersuchungen von Clantrian und Suzuki ausfielen. Verf. stellte sich folgende Hauptfragen: i. Stehen Coffein und Theobromin in Zusammenhang mit dem Eiweißstoffwechsel der Pflanzen oder nicht? 2. Entstehen, wenn ersteres der Fall ist, beide Stoffe beim Eiweiß- abbau oder bei der Eiweißsynthese und können sie zu letzterer benutzt werden ? Zunächst wurden die Notizen über das Vorkommen des Coffeins in der Literatur nachgesehen; dieses Alkalaid wurde bis jetzt gefunden bei Coffea, Thea, Paullinia, Hex paraguayensis, Cola acuminata, Neca theifera, Theobroma Cacao, Hex Cassine, Sterculia planifolia. Das Theobromin wurde aufgefunden in Theobroma Cacao, einer Thea-Spezies, und in Cola acuminata. Alle beobachteten Tatsachen weisen daraufhin, daß diese Xanthinbasen, Coffein und Theobromin, ähn- lich wie das Asparagin Material zur künftigen Eiweiß- synthese bilden ; sie entstehen durch Zerfall von Eiweiß und werden unter Zutritt von Kohle- hydraten wieder zu Eiweiß aufgebaut. Überall bilden sich jene Basen in den jungen Blättern und Stengeln der Keimpflanzen, geradeso wie bei dem ,, Dissimilationsprozeß" in den wachsenden Schößlingen (die Wurzeln sind frei davon). Ge- schieht die Keimung im Dunkeln, so wird in diesen Teilen die bereits schwache Eiweißsynthese von der „Dissimilation" überholt und die Xanthin- anhäufung ist stärker als im Lichte. In den Cotyledonen findet bei der Keimung eine Ab- nahme des Xanthinkörpers statt, namentlich im Lichte, weil das Xanthin-Material nunmehr reich- lich verbraucht wird zur Eiweißbildung; das Licht an sich und weiter die entstehenden Kohle- hydrate begünstigen die Eiweißbildung. Auf eine allgemeine Transportfunktion deuten die Versuche über das Theobromin und Coffein nicht hin, beide Basen scheinen kein geeignetes Material zur Stick- stoffwanderung zu sein; auch nicht eine direkte Vorstufe zum Eiweiß scheinen sie zu sein, son- dern zunächst nur Material zur Stickstoffspeiche- rung (Coffeinmolekül mit 28,66 "/o N, Theobromin- molekül mit 31,11 ",, N). „Das Endergebnis ist deshalb, daß das Coffein und Theobromin infolge sekundärer Prozesse bei der Eiweißdissimilation gebildet werden, kürzer oder länger gespeichert bleiben und dann wieder 6o4 Naturwissenschaftliche ^^'ocllenschrift. N. F. VIII. Nr. 38 zur Eiweißsynthese benutzt werden. Aus dem Charakter einer ökonomischen Form der Stick- stoffspeicherung läßt sich die starke Ansammlung in den Samen, als Gegenstück zu dem stickstoff- freien Reservematerial, erklären, wobei vielleicht nebenbei noch an eine Schutzfunktion zu denken wäre." Die Coffeinmenge beträgt bei jüngsten Thea- blättern z. B. 4,41 "/„ vom Trockengewicht, bei ausgewachsenen 0,02 "/„. Beim reifen Kaffeesamen (bei Kaffeebohnen) beträgt der Coffeingehalt ca. 1,72% der Trockensubstanz, in unreifen viel weniger (gerade umgekehrt zum Teesamen). Die Kakaosamen enthalten (in einer Partie aus dem Kulturgarten Buitenzorg) 0,79 bis 0,98 "l„ Theo- bromin und 0,11 bis 0,74"/,, Coffein. Greshoff gibt als Durchschnittswert 1,07",,, Theobroniin und 0,2 "/o Coffein an. Die Bestimmung der Xanthinbasen geschah nach dem Verfahren von Decker. 10 g ge- pulverte Pflanzenteile wurden mit S g IVIagnesium- oxyd gemischt und dann mit 300 ccm Wasser versetzt. Die Masse wird 3 Stunden am Rück- flußkühler erhitzt und heiß filtriert, der Rest noch 3 mal mit 1 50 ccm Wasser eine Stunde gekocht und ebenfalls filtriert. Das gesamte Filtrat wird eingeengt und mit Sand gemischt auf dem Wasser- bad bis zur Trockne eingedampft. Den pulveri- sierten Rückstand kocht man 4 mal mit loo ccm Chloroform aus und filtriert das noch warme Chloroform, destilliert es ab und wiegt den Rück- stand nach dem Trocknen bei 95". Der Rück- stand ist weiß oder schwachgelb, kristallinisch, und enthält z. B. bei den Kakaosamen beide Xanthinbasen. Ein schon von E. Schmidt emp- fohlenes, später auch von Decker befolgtes ein- faches Trennungsverfahren beider Stoffe ist das Lösen des Coffeins in Benzol, weil das Theobromin darin praktisch unlöslich ist (Löslichkeit I : looooo). Die Benzollösung wird filtriert, das Benzol ab- destilliert und der nach dem Trocknen bei 95" gewogene Rückstand als Coffein berechnet, während der in Benzol unlösliche Rest als Theobromin be- rechnet wird. Auch hier wurde für beide immer nach Kjeldahl der Stickstoff bestimmt und daraus die Quantität der reinen Xanthinbase berechnet. Von Interesse ist ferner auch folgende aus dem botanischen Institut zu Christiania stam- mende Arbeit über Mineralstoffe in Pflanzen: B. Hanstee n. Ein Beitrag zur Kenntnis der Korrelationen im pflanzlichen Stoffwechsel (Berlin, P. Parey). Die Mineralstoffe der Samen haben in zweifacher Hinsicht Bedeutung. Sie dienen einerseits dazu, die Bildung des Samens überhaupt zu ermöglichen; andererseits besitzen sie ebenfalls eine Bedeutung als Nährstoffe für die Keim- pflanzen. E. Wolff verdanken wir eine sorgfältige Zu- sammenstellung der zahlreichen von früher her vorhandenen Aschenanalysen der Samen. Wir entnehmen daraus, daß z. B. Sommergerste bei 50 Analysen einen durchschnittlichen Rein- aschengehalt von 2,60 'Yd ergeben hat; in dieser befanden sich 20,15 K,,0, 8,62 MgO, 34,68"/,, P.2O5 auf 100 Teile Asche. Winterweizen ergab bei 98 Analysen 1,97 "/o Reinasche; darin befanden sich 31,16 K.,0, 11,97 MgO, 46,98 P.,0., pro 100 Teile Reinasche. Hafer ergab bei 23 Analysen 3,i4"/o Reinasche; darin 16,38 KgO, 7,06 MgO, 23,02 PjQ") ä"f 100 Teile Reinasche. Die Ackerbohiie enthält im Mittel von 15 Analysen 3,57 "/o Reinasche, darin 42,49 K.^O, 7,08 MgO, 38,74 WOr, auf 100 Teile Reinasche. Die Eichel zeigte 2,18% Reinasche, worin 64,14 K.3O, 5,29 MgO, 14,89 P.JO5 auf 100 Teile enthalten waren. Man sieht, wie bedeutend das Verhältnis zwischen den drei einzelnen aufgezählten Bestandteilen und wie ferner die prozentische Menge derselben (pro 100 Teile Reinasche) bei den verschiedenen Samenarten schwankt. Enorm viel Kali enthält die Bohne. Das Verhältnis zwischen Kali und Magnesia ist bei Sommergerste 20,15:8,62, bei Hafer 16,38:7,06, das Kali also in letzterem Fall relativ weniger; bei der Bohne 42,49:7,08, das Kali also hier weitaus im Über- gewicht, 6 mal soviel als Magnesia. Auch die Schwankungen innerhalb derselben Körnerart sind, was Prozentanteile an der Rein- asche anbelangt, nicht unbedeutend. So wurde beim W i n t e r w e i z e n als Maximum 36,60 K^O, 16,26 MgO, 52,62 P^Og Mittel 31,16 „ 11,97 I' 46,98 „ Minimum 23,18 „ 9,10 „ 39,20 „ gefunden. Bei Gerste Maximum 32,20 K.^O 12,47 ^^gO 42,56 V.fi^ Mittel 20,15 >', 8,62 „ 34,68 " „ Minimum 11,39 « 5i°° " 26,01 „ Dagegen bleibt das Verhältnis zwi- schen KjO, MgO und P.2O5 bei ein und derselben Körnerart ziemlich konstant. Das nennt man Korrelation im minerali- schen Stoffwechsel. Dieselbe läßt sich begreifen, wenn man be- denkt, daß Korrelationen auch in der Aus- bildung der Pflanzcnorgane im ganzen allgemein angetroffen werden und daß dem Mineralstoffe fundamentale Rollen im Leben der Pflanze zu- kommen. Es müssen demnach die in die ver- schiedenen Organe aufgenommenen Mengen der einzelnen Elemente zu jeder Zeit innerhalb ge- wisser niederer und oberer Grenzen liegen, die nicht überschritten werden dürfen, damit nicht ein Herabsetzen der Entwicklungsfähigkeit, eine irreparable Schädigung oder der Tod erfolgen soll. Unter dem Einfluß von Reizen und von chemi- schen Massenwirkungen werden die zahlreichen Stoffwechselprozesse selbstregulatorisch geleitet, d. h. nur bis zur Erreichung bestimmter Gleich- gewichtslagen fortgeführt; dabei sind alle Teile harmonisch zu einem Ganzen vereinigt. Auf dieser selbstregulatorisch gelenkten Lebenstätigkeit fußen N. F. Vm. Nr. 3« Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 605 Pp . Kp Pr ■ Kr 1,0 :o,8 auch .Aufnahme und Verteilung von Aschenbe- standteilen. Darum jene merkwürdige Korrelation in dem Kali-, rhos[)hor-, Magnesiagehalt der Pflanzenteile! Auf solche Korrelationen hat schon Horn- berger in einer umfangreichen Arbeit (Chem. Unters, über Wachstum d. Maispfl., Landw. Jahrb. 1882) hingewiesen. Desgleichen Kellermann in seiner .Arbeit über die wichtigsten Baustoffe der Kartoffelpflanze in den verschiedenen Perioden (Landw. Jahrb. Bd. 6, 1877). S c h u 1 z e und G r e v e untersuchten die Plumula und das Würzelchen beim Weizen (Chcm. pharm. Zentralbl. 1859), der in Wasser gekeimt hatte. Es wurden Keimlinge genommen, deren plumula 18 ,, Linien" und radicula 12 „Linien" lang war. Dabei zeigte sich Mp 1,0 (Mp = Magnesiumgehalt der plumula, Mr = Magnesiumgehalt der radicula, Pp = Phosphor- gehalt der plumula, Kp = Kaliumgehalt der plumula usw.). Also wiederum konstante Ver- hältnisse im Mineralstoffgehalt des jungen Stengel- chens und der jungen Keimwurzel 1 Verwiesen sei hier ferner auf die Arbeiten von Wunder, Mineralbestandteile in Plumula und Radicula der keimenden Turnipssamen (Landw. Vers. -St. 1861, S. 158); Anderson, Chemische Zusammensetzung der Futterrübe, wobei auch zwischen Wurzel und Stengelstrenge Trennung eingehalten und die Altersstufen unterschieden wurden; ferner Hofmann, Aschenanalyse der Kohlpflanze (Landw. Vers.-St. 1871, S. 255); Brettschneider und Metzdorf untersuchten Wurzeln und Blätter von Zuckerrüben (Mittig. d. landw. Zentralvereins Schlesien 1860, S. 112), Wolff die der Runkelrübe (Wolff's Aschen- analysen S. 78 ff.); Schulz untersuchte Wurzeln und Blätter bei der Cichorie (Landw. Vers.-St. 1867, S. 203); Brettschneider und Küllen- berg Stengel und Blätter der Leinpflanze (Wolff, Aschenanalysen I, S. 108); Brettschneider Stengel und Blätter beim Hafer (Wolff I, S.28— 29); Fittbogen analysierte Wurzeln und oberirdische Teile beim Hafer (Landw. Vers.-St. 1864, S. 474 ff.) usw. Direkt vergleichbar mit den Hansteen'schen Arbeiten in bezug auf Auswahl zusammenge- höriger Organe von gleichem Alter und überhaupt Homogenität des Untersuchungsmaterials, ist die Arbeit von Remy, Verlauf der Stoffaufnahme und Düngerbedürfnis des Roggens (Journ. f. Landw., Bd. 44, 1896). Auch hier zeigte sich eine konstante Korrelation der Mineralbestandteile (trotz verschiedenartigster Düngung bis Weg- lassung des Düngers). Hecke untersuchte in ähnlicher Weise den Verlauf der Nährstoffauf- nahme bei der Kartoffelpflaiize unter verschiedenen Düngungsverhältnissen 1 Journ. landw. Jahrb. 1895, S. 285). Die Pflanzen wuchsen auf acht ver- schieden gedüngten Parzellen. Die Witterung und der Lebenslauf der Pflanzen waren normal. Von jeder Parzelle wurde in fünf Perioden eine gleiche Anzahl von möglichst gleich stark ent- wickelten Pflanzen aus der Erde ausgegraben und jedesmal Kali und Phosphorsäure in lOOg Trocken- substanz der ganzen Pflanze (Wurzeln samt Stolonen, alten und jungen Knollen und Kraut) bestimmt. Die gefundenen Mengen, namentlich die Kalimengen, zeigten starke Schwankungen; aber die Proportionen blieben in den einzelnen Perioden annähernd die gleichen. ,,Unzählige Analysen zeigen, daß die Verteilung der Asche über die einzelnen Organe im. Pflanzenkörper ein gesetz- mäßiges Gepräge gewährt. Die Menge der Asche nimmt überall gegen die Blätter und Blütenteile zu, und in den Samen ist sie charakteristisch für be- stimm tePflanzengruppen. Sie schwankt ziemlich regelmäßig bei den Cerealien um 2, bei den Leguminosen um 3 und in ölreichen Samen um 4 "/q der Trocken- substanz. Auch scheint die relative Verteilung der Asche über die einzelnen Organe eine spezi- fische zu sein bei jeder Spezies oder Varietät, und so, daß diese Verteilung beibehalten zu bleiben scheint, selbst dann, wenn die Pflanze ihre Asche bereichert oder verringert hat unter dem Einflüsse von besonderen Lebensbedingungen." Was frühere Forscher (Wolft", Die naturgesetz- lichen Grundlagen des Ackerbaues, Leipzig 1854) schon vermutet haben, hat sich nun durch zahl- reiche Analysen bestätigen lassen: Die Aschen- mengen zeigen zwar große Schwankungen, jedoch bleibt das gegenseitige Verhältnis in den einzelnen Pflanzenteilen, bei ein und derselben Pflanzenart und demselben Organ, ziemlich gleich. Es ent- halten verschiedene Spezies auch eine differente Asche, selbst wenn sie auf demselben Boden nebeneinander wachsen ; bei jeder Spezies ist also der Verlauf der Nährstoffaufnahme resp. die Zu- sammensetzung der Asche eine charakteristische, wie es besonders Arbeiten aus dem Göttinger landwirtschaftlichen Institute für zahlreiche Kultur- pflanzen nachgewiesen haben. Man kann ferner aus dem Ergebnis der Aschenanalyse einen sehr brauchbaren Schluß ziehen auf das Düngerbedürf- nis des Bodens, da ja die Analyse angibt, wieviel und welche Aschenbestandteile und in welchem Verhältnis dieselben dem Boden entzogen werden durch Kultur einer bestimmten Pflanzenart und durch die verschiedenen Lebensalter derselben. Prof. Dr. Th. Bokorny. Wetter-Monatsübersicht. IlaUe der diesjährige August zwar in ganz Deutschland noch einen sehr veränderlichen Witterungscharakter, so brachte er uns doch erheblich mehr Wärme und Sonnenschein als der vorangegangene Monat Juli. Nur in den ersten August- tagen setzte sich das schon so lange anhaltende kühle, reg- 6o6 Natur\vi.s.=;enschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 38 nerische Wetter fort, an verschiedenen Orten wurden, wie aus der beistehenden Zeichnung ersichtlich ist, selbst in den Nachmittagsstunden 15" C wenig oder gar nichtübcrschritten. 1cmj?ierafur-5ßas:ima einiacr ©rTs im ^uftul2cn im t3 jil .ip-iii..^^ Jii-il ^^ %:sj 3:g gj St e " J3^ i ij CO ic: 3: i: cß ^ ic «cSirmQOü SSsriiCüS u5ußfl9D9. 4" ^itflerer Werf Für Deutschland . Monatssumme im Aug. a09.ü8. 07 06.05.0t. mir eo - 1. bis H.August. II 100 — mm so- so— 70 — 60 so l«0 30 20 10 1 11 1 ■ j. 1.. IUI -i-dU IM mm 5. biel^.August. 1 1 ',_. 1 \LLk. J,W . mm _' I ,0 J jJf.bisSI.Awgust. IJ ^0 1 ■ 11 1 1 iHiM Il 1 ■II -> Be lincr Wetterbu reau. Während der ersten vier Tage des Monats gingen in einem großen Teile des Landes lange anhaltende , vielfach von Gewittern begleitete Regengüsse hernieder, vom 2. zum 3. fielen z. B. in Kleve, Münster, Nienburg a. W. und Hannover reichlich 4o mm, in Herford , Celle und Nord- hausen rund 35 mm, in Berlin, München und noch vielen anderen Orten mehr als 20 mm Niederschlag. In einzelnen Gegenden, namentlich bei Nordhausen kamen auch starke Hagelschläge vor, besonders heftig aber wüteten die Un- wetter im Fulda- und Werratal sowie in Südhannover. Nachdem am 5. der Regen überall aufgehört hatte, blieb Norddeutschland acht Tage hindurch von Niederschlägen beinähe ganzlich verschont. Auch in Süddeutschland kamen in dieser für die Ernte außerordentlich günstigen Zeit nur verhältnismäßig wenige, wenn auch, ebenso wie am Erzgebirge und in einzelnen Teilen Schlesiens, stellenweise starke (Gewitter- regen vor. Gegen Mitte des Monats nahmen die Regen- fälle bei stürmischen West- und Nordwestwinden im größten Teile des Landes wieder zu und von da an waren sie hauptsächlich an der Nordseeküsle, im Rliein- und Weser- gebicte öfter sehr ergiebig. Beispielsweise wurden in Fried- richshafen am 18. August 42 und am 27. wiederum 36 mm Regen gemessen. Die Gewitter waren bis zum Ende des Monats besonders im Osten zahlreich und bisweilen, z. B. am 14. in Ostrowo, am 30. in Küstrin von mehr oder weniger heftigen Hagelschauern begleitet. Die gesamte Niederschlagsmenge des August betrug aber für den Durch- schnitt der berichtenden Stationen nicht mehr als 61,8, wäh- rend die gleichen Stationen in den früheren Augustmonaten seit Beginn des vorigen Jahrzehnts durchschnittlich 75,5 mm Niederschlag geliefert haben. Auch die allgemeine Anordnung des Luftdruckes in Europa wies im vergangenen Monat eine große Mannigfaltig- keit auf. Nachdem am Anfang ein mäßig tiefes barometri- sches Minimum mitten durch Deutschland gewandert war, folgte ihm am 4. ein umfangreiches Maximum nach und führte endlich die lange ersehnte trockene Witterung herbei. Durch verschiedene vom Nordpolarmeer in Rußland eindringende Depressionen wurde zwar das Hochdruckgebiet bald wieder mehr nach Westen zurückgeschoben , jedoch vermochte erst ein am 13. August in Nordskandinavien erschienenes, sehr tiefes Minimum, das in Begleitung heftiger Stürme südostwärts weiterzog, auf das Wetter in Deutschland stärkeren Einfluß zu gewinnen. Während der zweiten Hälfte des Monats traten verschie- dene Barometerminima auf dem Atlantischen Ozean , anfangs in der Nähe von Island, später weiter südlich und zuletzt abermals bei Island auf. Zahlreiche Teildepressionen, die sich an ihrer Südseite entwickelten, drangen vorübergehend in das europäische Festland ein. Dazwischen rückten Hoch- druckgebiete ziemlich schnell vom biskayischcn Meer durch Mitteleuropa nach Mittclrußland vor, so daß bei uns ein häufiger Wechsel zwischen regnerischem und heiterem Wetter erfolgen mußte. Dr. E. Leß. Bücherbesprechungen, Dr. Carl Arnold, Prof. in Hannover, Repetito- rium der Chemie. 13. verbesserte und er- gänzte Auflage. Hamburg und Leipzig, Leopold Voß, 1909. Die 12. Auflage erschien 1906 und dies war ge- wiß eine große Auflage; trotzdem ist schon wieder eine neue vorhanden, so daß seit der 10. Auflage alle drei Jahre eine neue erschienen ist. Die erste erschien 1884. Das Buch hat mit Recht weiten Eingang gefunden : es ist sorgfältig bearbeitet, inhalt- reich und geschickt und klar disponiert und ge- schrieben. In der neuen Auflage fanden die Tier- und Pflanzenchemie und neuere technische Darstellungs- methoden besondere Berücksichtigung. Das Register bringt jetzt nicht weniger als 6500 Stichwörter. K. I-'. \1II. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 607 C. Winter, Verlag. — Braunschweig, Einführung in die Deter- der unendlichen und der (V, 550 S.) gr. 80. Leip- ^eb. in Leinw. 16 Mk. Literatur. Aigremont, Dr.: Volkserotik u. Pllanzcnwelt. Eine Darstellg. alter wie moderner crot. u. sexueller Gebrauche, Vergleiche, Benennungen, Sprichwörter, Redewendungen, KUtsel, Volks- lieder, erot. Zaubers u. .\berglaubens, sexueller Heilkunde, die sich auf Pflanzen beziehen. 2. Bd. (111, 121 S.) gr. 8". Halle '09, Hallescher Verlag f. Literatur und Musik, Gebr. Trensinger. — 4 Mk. Eyferth's, B., einfachste Lebensformen. 4. Aufl. v. W. Schoe- nichcn. 2. — lo. Lief. Braunschweig, Goeritz. — Je I Mk. Fritsch, Prof. Dr. Karl: Exkursionsflora für Österreich (mit ,\usschluß V. Galizien, Bukowina und Dalmatien). 2., neu durchgearb. .\ufl. (III, LXXX, 725 S.) kl. 8». Wien '09, C. Gerold's Sohn. — 9 Mk., geb. in Leinw. 10 Mk. Gmelin u. Kraut's anorgan. Chemie. 7. Aufl. v. C. Fried- heim. 83. — 93. Liefg. Heidelberg, Je i,So Mk. Handwörterbuch der Clicmie. 107. Liefg. Viewcg & Sohn. — 2,40 Mk. Jerusalem, Wilh.: Einleitung in die Philosophie. 4., verb. .\ull. (XIV, 277 S.) 8». Wien '09, W. Braumüller. — Geb. in Leinw. 5 Mk. 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(XVI, 794 S. m. 50 Abbildgn.) Lex. 8». Stuttgart '09, F. Enke. — 20 Mk., geb. in Leinw. 21,40 Mk. Pfeiffer, Dr. Hans: Die Zusammensetzung der Bevölkerung d. Großherzogt. Baden nach der Gebürtigkeit auf Grnnd d. Volkszählung v. i. Dezbr. 1900. Mit 5 Karten. (172 S.) Stuttgart '09, J. Engelhorn. — 7 Mk. Richter, Priv.-Doz. Dr. Oswald: Zur Physiologie der Diato- meen. (II. Mitteilung.) Die Biologie der Nitzschia putrida Benecke. Aus dem pflanzenphysiolog. Institute der k. k. deutschen Universität in Prag. Nr. 118 der 2. Folge. [Aus: „Denkschr. d. k. .Akad. d. Wiss."] (116 S. m. 6 Fig., 4 Taf., I Haupt- u. 7 Texttab. u. 4 Bl. Erklärgn,) 31, sX 24,5 cm. Wien '00, A. Holder. — 13,50 Mk. Schneider, Doz. Dr. Herm. : Kultur und Denken der alten Ägypter. Mit S .Abbildgn. u. I Kartenskizze. 2. [Titel-] Ausg. (XXXVl, 565 S.) Leipzig ['07] '09, J. C. Hinrichs' Verl. — 12,50 Mk., geb. in Leinw. 14 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn stud. med. R. S. in Straßburg i. E. — Ihre Frage lautet: ,, Liegen Beobachtungen vor, daß freilebende Eidechsen nach Verlust ihres Schwanzes diesen zuweilen nicht am Ende, sondern seitlich und mehr kranialwärts regenerieren?" Im .■Anschluß an Ihre Frage schicken Sie uns eine Zeichnung, welche einen derartigen auf der Insel Ischia beobachteten Fall darstellt. Sie meinen, die Regeneration habe in diesem Falle ihre Aufgabe nicht erfüllt, da das schräg seitlich vor- ragende Schwanzende die Eidechse entschieden in ihren Be- wegungen behindere, anstatt ihr nützlich zu sein. Nach den eingehenden, auf experimenteller Grundlage beruhenden Untersuchungen G. Tornier's (man vgl. seinen Aufsatz „Überzählige Bildungen und die Bedeutung der Pathologie für die Biontotechnik" in: Verh. d. 5. Internat. Zoologen- kongr. Berlin 1901, Jena 1902, S. 467 — 500) dürfte der Ihnen vorliegende Fall etwas anders zu deuten sein, als Sie anneh- men. Es wird sich, wie in allen andern bisher beobachteten ähnlichen Fällen um eine sog. Doppelbildung handeln. Nach Tornier tritt eine solche ein, wenn der Schwanz einer Eidechse nicht vollkommen abbricht, sondern nur mehr oder weniger weit einbricht. Auf den Wundflächen kommt dann die Regenerationsfähigkeit zur Wirkung und kann ein zweites oder gar ein zweites und drittes Schwänzende liefern. Das Einbrechen erfolgt, wie das Abbrechen, an bestimmten Stellen des Schwanzes, nämlich Fig. I. an einer brüchigen Stelle der Schwanzwirbel (Fig. 1 1 s und Fig. 2sf). Es kann durch denselben Druck (Fig. I/) gleich- zeilig bei / der Schwanz abbrechen und bei cj ein unvoll- ständiger Bruch bewirkt werden. In diesem Falle kann an beiden Stellen gleichzeitig ein Schwanzende (s s und ^j) ent- stehen. Andererseits können zwei regenerierte Schwanzenden durch zwei zeitlich verschiedene äußere Einwirkungen verur- sacht sein. So kann das neu regenerierte Schwanzende durch einen neuen Druck (Fig. 2/) an seiner Wurzel eingebrochen Fig. 2. werden und dann aus der Wundfläche das zweite Schwanz- ende liefern. Die beiden Regenerate [i^s^ und es) entspringen in diesem Falle aus derselben Wurzel, während sie in dem erstgenannten Falle durch einen oder mehrere Wirbel des ursprünglichen Schwanzes voneinander getrennt sind. — Wie in dem Ihnen vorliegenden Falle der Doppelschwanz entstanden ist, läßt sich aus Ihrer Zeichnung nicht ersehen. Sie können dies feststellen, wenn Sie das Objekt mit Röntgenstrahlen durchleuchten. Meist läßt sich dies auch äußerlich schon aus der Verteilung der ursprünglichen (großen) und der neu ent- standenen (kleinen) Hautschuppen erkennen. So zeigt Fig. 3 ein Schwanzstück, an dem, von es an, das Schwanzende regene- riert ist und gleichzeitig, um zwei Halbwirbel von der Brust- stelle entfernt, durch denselben Druck p eine Knickung ein- getreten ist. Die Wundfläche ist in diesem Falle nur vernarbt und hat kein zweites Schwanzende geliefert. .Vuf der Narbe aber erkennt man, wie hinter dem Stück a /i, die bei der Regeneration entstandenen Schuppen. — Die Untersuchungen Tornier's zeigen, daß die Ursache für derartige Doppel- bildungen, die ihre Aufgabe nicht erfüllen, eine rein äußere, zufällige ist. — Herr Prof. Tornier teilt uns übrigens freundlichst mit , daß Doppelbildungen gerade bei der 6oS Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 38 Maucrcidcchse [Lac^rla muralis) keineswegs selten sind des regcnerieiten Bcclicntcils ein. Das Kegcncrat patil sich und daß das zoologische Museum zu Berlin im ganzen etwa dann in seiner Form den anderen Teilen des Körpers äuI3er- 100 derartige Mißbildungen besitze. — Statt einer Doppelbil- lieh an, ohne mit denselben äußerlich in Berührung zu treten, düng entstehen, wie oben schon angedeutet wurde, gelegent- Wie ist das zu erklären? Tornier sagt: ,, Diese Wachstums- lich auch zwei überzählige Schwanzenden. Dieser Kall tritt änderung im Regcnerat kommt offenb.ir durch richtende nach Tornier dann ein, wenn der Schwanz sehr tief ein- se^ SS' sse illlplininirr::; Fig- 3- Fig. 5- bricht, so daß eine dann die beiden (j flächen, die vordere tionsfähigkeit je ein Schwanzenden zusta weit klaffende Wunde entsteht. Es liefern etzt weit voneinander entfernten) Bruch- wie die hintere, vermöge ihrer Regenera- Schwanzende, so daß nun im ganzen drei nde kommen. Zwei von ihnen sind ge- Kräfte (Zellkern- und Zellplasmadrehungen) zustande, die im Regenerat selbst liegen und bei seiner eigenen Ausentwicklung entbunden werden. .. .*' — Diese Antwort mag richtig sein, aber sie befriedigt noch nicht. — Wie kommt es, daß die richtenden Kräfte gerade dann entbunden werden, wenn dieGestalt des ganzen Körpers es verlangt, obgleich der betreffende Teil des Rege- nerates von dem Stammteil des Körpers weit getrennt und mit ihm nur durch lange Reihen von Zellen verbunden ist? Es scheinen hier doch Kräfte zu walten, die wir bisher noch wenig oder gar nicht kennen. — Mit der Annahme einer einfachen ,, Lebenskraft" kommen wir freilich nicht weiter, wenn — was sehr wahrscheinlich ist — verschiedene Kräfte gleichzeitig wirken. Es wird sich um eine weitere Zerlegung der waltenden Kräfte handeln und diese wird nur durch ein weiteres Vordringen auf dem von den F'orschern betretenen Wege möglich sein. Dahl. Fig. 4. Herrn F. in B. — Über die Erreichung des Nordpols werden wir berichten, sobald Näheres bekannt geworden sein wird. wohnlich, wie Fig. 4 zeigt, von einer gemeinsamen Haut um- schlossen. — Es ist sonderbar, daß nicht nur die nach hinten gerichtete Bruchfläche, sondern auch die nach vorn gerichtete ein Schwanzende und nicht, wie man erwarten sollte, den vorderen Teil des Schwanzes regeneriert. Tornier erklärt dies damit, daß an der nach vorn gerichteten Wundfläche die Zellen sich drehen. Warum aber immer die nach hinten ge- richteten Teile der Zellen an eine Wundfläche herantreten, bleibt uns unverständlich. Noch sonderbarer ist es, daß das aus der nach vorn gerichteten liruchfläche hervorwachsende Schwanzende nicht dauernd nach vorn weiter wächst, sondern umbiegt und schließlich immer möglichst eine Richtung nach hinten an- nimmt, auch dann, wenn dieses Schwanzende vollkommen frei entsteht, wie es die Fig. 5 ss^ zeigt. — Man denkt an die Holz- gewächse, deren Spitzentrieb stets nach oben wächst, auch wenn ein Seitentrieb die Stelle des abgebrochenen Spitzen- triebes einnimmt. Allein bei den Pflanzen wirkt dauernd die Schwerkraft in der Längsrichtung des Stammes ein. Eine solche konstant von vorn nach hinten auf den tierischen Körper einwirkende Kraft gibt es nicht. Von einem Tropis- mus kann also nicht die Rede sein. Man könnte an die Vorwärtsbewegung des Tieres als einwirkende Kraft denken. Das Umbiegen tritt aber auch beim Embryo ein. — Noch interessanter wird der Vorgang, wenn es sich um regenerierte Gliedmaßen, etwa um einen Beckenteil mit dem zugehörigen Bein handelt (vgl. G. Tornier in: Sitzungsber. Ges. naturf. Freunde Berlin, Bd. 1906, S. 271). Es tritt dann nicht nur eine Richtungsveränderung, sondern sogar eine Formveränderung Herrn P. J. in St. Gabriel. — Ein Iransneptunischer Planet ist bis jetzt noch nicht aufgefunden, sondern nur ver- mutet worden. Ebensowenig ist bis zur Stunde der Halley- sche Komet wiedergefunden worden. Wir werden, sobald eines dieser Ereignisse eingetreten ist, nicht verfehlen, sofort darüber zu berichten. Bahnelemenle des Kometen Daniel(i907d) nach Kritzinger: Periheldurchgang 1907, Sept. 4,4485, log q = 9,709663, 7t ^ 77"24' ii,"4, O = I43"2'33,"7, i=8''58'6,"i. Bahnelemente des Kometen Morehouse (190SC) nach Kobold: Periheldurch- gang 1908, Dez. 25,8229 M.Z. Berlin, log q = 9,975317, 7r:= 274"47'4i,"5, ^ = i03''9'5o,"6, i = 140" 10' 52, "6. Herrn Dr. J. M. in Brüssel. — Über eine zweck- mäßige Methode der Reinigung alter Metallgegen- stände brachten wir in dieser Zeitschrift N. F. Bd. II, S. 319 einen Bericht. Die Gegenstände werden in loproz. Salzsäure gelegt, in die auch Zinkstreifen eintauchen, so daß reichlich Wasserstoff entwickelt wird. Zink und Säure müssen von Zeit zu Zeit nachgefüllt werden , damit der Prozeß etwa 24 Stunden lang andauert. Alsdann werden die Gegenstände sauber abgebürstet und mit 5 proz. Salzsäure nochmals ebenso behandelt. Nun findet ein 24 stündiges Einlegen in I proz. Sodalösung, dann in Wasser und schließlich in erwärmte Säge- späne statt. Zur Konservierung wird noch ein Wachsüberzug aufgebürstet. Die Methode stammt von Prof. Rhousopulos in Athen und soll sich sehr bewährt haben. Inhalt; Dr. Edw. Hennig: Am Tendajuru. — Sammelreferate und Übersichten: Prof. Dr. F. Koerber: Neues aus der Physik. — Kleinere Mitteilungen: Prof. Dr. Th. F. o k o r n y : Pflanzenphysiologischc Neuheiten. — Wetter- Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: Dr. Karl .Arnold: Repititorium der Chemie. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge Vlll. liaiui ; der ganzen Reihe XXIV. Band. Sonntag, den 26. September 1909. Nummer J8J). [Nachdruck verboten. I. Grundbegriffe der Energetik Einleitung. Kraft und Stoff, wie man früher sagte, Energie und Materie, wie man heute zu sagen pflegt, bilden den Gegenstand der Naturwissenschaft. Mit der Materie beschäftigen sich Chemie und Physik und jeder Durchschnittsgebildete weiß vieles aus diesen Gebieten, was über das Gesetz von der Erhaltung der Materie hinaus geht. Die Wissen- schaft, die von der Energie handelt, heißt Ener- getik. Obgleich aber die Energie zum mindesten ebenso wichtig für alles Geschehen in der Welt ist, wie die Materie, findet sich unter tausenden kaum einer, der von der Energetik mehr gehört hätte, als den Satz von der Erhallung der Energie. Die Energetik gehört zu den allerjüngsten Wissenschaften. Der Name der Wissenschaft stammt von Rankine (1855); der Name ihres Gegenstandes, Energie, von T h. Y o u n g (um 1 800). Energie wird gewöhnlich definiert als die Fähig- keit Arbeit zu leisten. Der verschiedenen Art der Arbeitleistung entsprechen verschiedene Energiearten, wie mechanische, elektrische, che- mische Energie. Außerdem kann die Energie in zwei Formen auftreten : als potentielle Energie, wo die Bedingungen zur Arbeitsleistung gegeben sind, und als aktuelle oder kinetische Energie, wo tatsächliche Arbeit geleistet wird. Diese beiden Energieformen besitzen auf mechanischem Gebiete der geschwungene und der fallende Hammer, auf elektrischem Spannung und Entladung, auf che- mischem die Dynamitpatrone und ihre Explosion. Die Energie. Vun Dr. Bertbold Weiß. Elektrizitäten und Magnetpole, der Atome, der Moleküle, ferner von der gegenseitigen Abstoßung gleichnamiger Elektrizitäten und Magnetpole, end- lich auch (mit gewissen praktischen Einschrän- kungen) von der Elastizität einer Feder oder eines Gummibandes. Energie Energie muß und Kräfte. Die Energie muß von den Kräften unter- schieden werden. Schon Robert Mayer sah ein, daß etwas, was sich in der Wirkung nicht verzehrt, keine Energie sein könne. So ist die Schwere keine Energie, sondern eine Eigenschaft der Körper, die nicht verbraucht wird. Eine auf dem Boden ruhende Masse enthält keine Energie; damit sie Energie enthalte, eine Arbeit leisten könne, ist ihre Erhebung über den Boden und hierzu wieder Energiezufuhr nötig. Fällt die ge- hobene Masse auf den Boden zurück, so gibt sie die Energie wieder ab; an der Eigenschaft der Schwere aber hat sich nichts geändert. Was von der Schwere, der wechselseitigen Anziehung der Massen gilt, das gilt auch von der wechselseitigen Anziehung der ungleichnamigen Die Arten der Energie. Robert Mayer, dem wir das Gesetz von der Erhaltung der Energie zu danken haben, unterschied folgende Energiearten: 1. Fallkraft (Schwere). 2. Bewegung von Atomen und Massen 3. Wärme als kinetische Energie der Moleküle. 4. Magnetismus und Elektrizität. 5. Chemisches Getrenntsein gewisser Materien und chemisches Vorbundensein gewisser an- derer Materien. Hier sind Formen und Arten durcheinander gebracht; denn Fallkraft stellt mechanische Energie in potentieller, Bewegung der Massen mechanische Energie in aktueller Form dar. Ostwald teilt die Energiearten ein in: 1. Mechanische Energie. 2. Wärme. 3. Elektrische und magnetische Energie. 4. Chemische und innere Energie. 5. Strahlende Energie. Außerdem zerfällt bei ihm die mechanische Energie in Bewegungs- oder kinetische und Raum- energie oder potentielle Energie; die Raumenergie in Distanzenergie bei der Linie, Flächenenergie bei der Fläche und Volumenergie im Räume. Ostwald hält alle diese Energiearten für wesens- verschieden. Er schließt sich damit den Ver- tretern der qualitativen Energetik an, die von Mayer ausgeht und der auch Helm und Mach angehören. Dagegen sind für die Anhänger der mechanistischen Energetik: Clausius, Thom- son und Helm hol tz die verschiedenen Energie- arten wesensgleich. Für sie gibt es nur poten- tielle und kinetische Energie der Massen, der Moleküle, der Atome. Wir schließen uns im folgenden der mechanistischen Auffassung an. Die Faktoren der Energie. Die Summe der im Weltall vorhandenen Energie, die, wie wir später sehen werden, un- veränderlich ist, setzt sich aus verschiedenen Summanden zusammen. Als diese Summanden haben wir die Arten und die Formen der Energie kennen gelernt. Zu diesen Summanden kommen nun noch Faktoren der Energie hinzu. 6io Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 39 Bei jeder Energieart läßt sich ein vorhandener Energiebetrag als das Produkt zweier Faktoren auffassen. Nach Rankine (1859) nimmt Popper (1884) diesen Gedanken wieder auf; ebenso von ihm unabhängig Helm (1887). Die beiden Faktoren sind die Intensität oder der Wirkungs- grad der Energie und die Extensität (Quantität, Kapazität) oder die Menge der Energie. Nimmt man den Extensitätsfaktor der Menge (bei der kinetischen Energie der Masse) als feststehend, so ergibt sich als Intensitätsfaktor bei der kinetischen Energie die Geschwindigkeit (genauer das halbe Quadrat der Geschwindigkeit : denn nennen wir die Geschwindigkeit v, die Masse m, so ist der gesamte Energiebetrag der kinetischen Energie m V" , . , , . „ , ; nehmen wir als den einen taktor m, so 2 ' o muß der andere — lauten). Bei der Wärme ist 2 der Intensitätsfaktor die Temperatur, bei der elek- trischen Energie die Spannung. Der gleiche Energiebetrag kann aus größerem Intensitäts- und kleinerem Extensitätsfaktor, wie aus dem um- gekehrten Verhältnisse sich ergeben. So bei einem kleinen Körper mit großer Geschwindig- keit und einem großen Körper mit kleiner; oder bei einer kleinen, heißen Flüssigkeitsmenge und einer größeren, kühlen; oder bei einer kleinen Elektrizitätsmenge von hoh«r Spannung und einer großen Elektrizitätsmenge von geringer. Der Extensitätsfaktor ist von einem Körper nicht auf andere übertragbar (wenn nicht Teile des Körpers mit übertragen werden); wohl aber der Intensitätsfaktor. Wenn Wasser aus einer Röhre mit breitem Querschnitt in eine mit schmalem Querschnitt hinüberfließt, so kann sich in der engen Röhre nur die Intensität, nicht die Exten- sität des fließenden Wassers ändern. Die Extensitätsfaktoren gleicher Energieart summieren sich, die Intensitätsfaktoren gleichen sich aus. Wenn zwei freilaufende Eisenbahn- wagen von verschiedener Geschwindigkeit aufein- ander stoßen, so vereinigen sich ihre Massen, während ihre Geschwindigkeiten sich auf den Durchschnitt ausgleichen. Die Formen der Energie. Eine Energieart kann in zwei Formen er- scheinen ; als Spannkraft und lebendige Kraft nach früherem Sprachgebrauche. Rankine setzte dafür potentielle und aktuelle (mögliche und tat- sächliche) Energie, Thomson potentielle und kine- tische Energie (Energie der Lage und Bewegungs- energie). Spannkraft oder Energie der Lage ist eigentlich keine Energie: es liegt nur die Möglich- keit vor, Energiewirkungen zu erzeugen, sobald Hindernisse aufgehoben sind. Potentielle und kinetische Energie verhalten sich zueinander wie Spannung zu Entladung, wie erzwungene zu Neigungsvorgängen. Potentielle Energie enthält die gehobene Masse, die elektrische Spannung, chemische Zwangstrennung und -Vereinigung, das ausgedehnte Gummiband, die zusammen- gedrückte F'eder; kinetische Energie die fallende Masse, der elektrische Strom, der Übergang von chemischen Zwangs- zu Neigungsgruppierungen, das zurückschnellende Gummiband und die sich ausdehnende F'eder. Die Kräfte zerfallen in annähernde und ent- fernende. Zu den annähernden gehören die wechselseitige Anziehung der Massen , der un- gleichnamigen Elektrizitäten und Magnetpole, der Atome, der Moleküle, sowie die Elastizität des Gummibandes; zu den entfernenden die Elastizität der Feder und die gegenseitige Abstoßung gleich- namiger Elektriziiäten und Magnetpole. Solange die Kräfte allein herrschen, ist Gleichgewicht vor- handen. Jede Störung dieses Gleichgewichts- zustandes, jede Veränderung setzt das Auftreten von Energie voraus, die den Kräften entgegen- gesetzt wirkt, also entfernend bei annähernden Kräften, wie z. B. bei dem elastischen Band, an- nähernd bei den entfernenden Kräften, wie etwa bei der F'eder. So ergibt sich eine doppelte Energie der Lage. Die Dehnung des Bandes, die Entfernung von Massen, von ungleichnamigen Elektrizitäten oder Magnetpolen voneinander, die Trennung einer stabilen chemischen Neigungsverbindung geben potentielle Energie in der Gestalt von Zwangs- entfernung; das Zusammendrücken der Paeder, die Annäherung gleichnamiger Elektrizitäten und Mag- netpole, die Vereinigung chemischer Stoffe zu labilen Zwangsverbindungen in der Gestalt von Zwangsannäherung. Das Maximum der Energie der Lage liegt bei der Dehnung des elastischen Bandes in der größten Entfernung, beim Zusammen- drücken der Feder in der größten Annäherung. Die Wanderungen der Energie. Man unterscheidet Wanderungen und Wand- lungen der Energie. Bei den Wandlungen setzen sich die Energieformen und -arten ineinander um; bei den Wanderungen kommt nur eine Energie- form, die aktuelle Energie, in Frage und die wandernde Energieart bleibt unverändert. Die Energie kann mit einem Körper und von einem Körper zum anderen wandern. Mit jedem bewegten Körper wandert die Energie mit: mit dem rollenden Stein, dem fließenden Wasser, der fliegenden Flintenkugel und dem kreisenden Planeten. Die Energie ver- ändert den Ort gleichzeitig mit der Ortsverände- rung des energiebesitzenden Körpers. In einem Körper wandert die Energie, wenn ich etwa einen Wagen vorne an der Deichsel fasse und ihn an mich heranzuziehen oder von mir wegzudrücken versuche. Hier wandert die Energie in der Deichsel und zwar gleicht im ersten F"alle die Deichsel einer Kette, an deren erstem Gliede ge- zogen wird und bei der jedes einzelne Glied immer das nächstfolgende, das letzte endlich den Wagen zu mir hin in Bewegung setzt; im N. F. Vm. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 6u zweiten Falle einer Reihe von Kugeln, auf deren erste ich einen Druck ausübe. Der Druck über- trägt sich dann immer auf die folgende Kugel, bis durcii die letzte der Wagen von mir weg- bewegt wird. Besonders wichtig ist die Wanderung der Energie von einem zum anderen Körper. Jede Wirkung eines Körpers auf einen anderen ist durch Energiewanderung bedingt, einerlei ob da- bei eine Energieumwandlung dazu kommt, wie wenn durch Wärme chemische Veränderungen hervorgerufen werden , oder ob die Energieart sich nicht verändert, wie wenn eine rollende Kugel eine ruhende in Bewegung setzt. Hier ergibt sich ein wichtiges Gesetz: Energie kann immer nur von Körpern mit größerem Inten- sitätsfaktor zu solchen mit kleinerem wandern. Beim Zusammenstoße zweier Körper kann die Bewegungsenergie immer nur von dem mit größerer zu dem mit geringerer Geschwindigkeit übergehen, die Wärme von dem mit höherer zu dem mit tieferer Temperatur, die elektrische Energie nur von dem mit höherer zu dem mit niedrigerer Spannung. Und dasselbe gilt auch von Wirkungen in die Ferne. Die Wandlungen der Energie. Wandlungen der Energie können hinsichtlich der Formen wie hinsichtlich der Arten auftreten. Die Umwandlungen der einen Energieform in die andere läßt sich am besten bei einem Pendel be- obachten. Je höher das Pendel an der einen Seite in die Höhe gehoben wird, desto größer ist seine potentielle Energie, wenn ich es loslasse. Nun nimmt beständig die potentielle Energie ab, indem sie sich in kinetische umsetzt, bis das Pendel mit der größten Geschwindigkeit durch die Ruhelage geht: die kinetische Energie hat ihr Maximum erreicht, die potentielle ist o geworden. Von da an nimmt die Geschwindigkeit wieder ab bis zum höchsten Punkte auf der anderen Seite. In diesem Augenblick wird die kinetische Energie o und es hat sich ein Maximum potentieller Energie gebildet. Bei der nun folgenden entgegengesetzt gerichteten Schwingung wiederholt sich derselbe Vorgang. Einen ähnlichen Kreisprozeß zeigt die Bahn der Planeten. Die größte Sonnenferne (.Aphel) entspricht dem höchsten seitlichen Pendel- ausschlag; die größte Sonnennähe (Perihel) der Ruhelage des Pendels. Im Aphel erreicht die potentielle Energie, im Perihel die kinetische ihr -Maximum. Beim Pendel setzt sich die potentielle Energie stets gleich wieder in kinetische um. Sie kann aber kürzere oder längere Zeit als Energievorrat erhalten bleiben, wenn eine andere Energie (wie bei der auf dem Springstrahl tanzenden Kugel) oder eine Kraft (wie beim Stapellauf eines Schiffes) entgegen wirken. Sobald der Springstrahl ver- siegt, die haltenden Taue durchschnitten werden, setzt sich die potentielle in kinetische Energie um. Besonders wichtig sind die Fälle, wo poten- tielle Energie der Auslösung bedarf, um sich in kinetische umzusetzen. Die wechselseitige che- mische Affinität der Bestandteile des Gemisches, welches wir Pulver nennen, repräsentiert eine große Menge potentieller Energie. Unter ge- eigneten Bedingungen kann das Pulver unbe- schränkte Zeit unverändert bleiben. Der kleinste Funken aber vermag die Auslösung der poten- tiellen Energie und ihre Umsetzung in kinetische zu bewirken. Zur Erklärung von Vorgängen, bei denen eine ganz geringe auslösende Energiemenge große Wirkungen erzielen kann, mag folgendes Beispiel dienen. Wenn eine gewaltige Felspyramide auf der Spitze steht und durch einen Gewitterregen die Erde an dieser Stelle weggewaschen wurde, dann genügt eine Kindeshand, um den Fels um- zuwerfen. Sekundäre Hemmungen der Umsetzung potentieller in kinetische Energie sind bei den Uhren angebracht. Bei der Gewichtsuhr enthalten die emporgezogenen Gewichte potentielle Energie, die sich allmählich in 24 Stunden, 8 Tagen, einem Jahre, in kinetische Energie umsetzt. Diese Umsetzung dauert solange, bis die Gewichte den tiefsten Stand erreicht haben und damit die auf- gespeicherte potentielle Energie erschöpft ist. Jede Energieart kann sich in jede andere um- wandeln. Wenn aus Steinkohle elektrische Energie gewonnen wird, finden folgende Umwandlungen statt. Der Kohlenstoff der Kohle und der Sauer- stoff der Luft stellen eine energiehaltige chemische Zwangstrennung dar. Die Verbrennung der Kohle ergibt die Vereinigung des Kohlenstoßes mit dem Sauerstoff zur Neigungsverbindung der Kohlen- säure, während die chemische oder Energie der Atome sich gleichzeitig in Wärme, in die physi- kalische oder Energie der Moleküle umsetzt. In der Dampfmaschine wird die Wärme in mecha- nische Energie oder Energie der Massen umge- wandelt und zum Schlüsse findet dann die Um- setzung der mechanischen in die elektrische oder Energie der Ätherteilchen statt. Fast alle irdische Energie entspringt den Um- wandlungen der strahlenden Energie der Sonne. Selbst der Pilz im Keller, den nie ein Sonnen- strahl getroffen hat, verdankt ihr sein Dasein. Die strahlende Energie der Sonne setzt sich als Energie des Äthers um in die mechanische Energie der Massen (die Energie alles strömenden Wassers ist durch Sonnenwärme bedingt), in die chemische Energie der Atome (wie bei der Kohle), in die physikalische Energie der Moleküle (fast alle Wärme auf der Erde entspringt der Strahlung der Sonne). Und da durch die Energie des Sonnenlichtes alles Leben bedingt ist, so ist ebenso alle biologische und soziologische Energie von ihr abhängig. Mit der Umwandlungsfähigkeit der Energie hängt die P'rage zusammen, welche Arten und Formen der Energie dauernd sich nicht um- wandeln, sondern erhalten und daher aufge- 6l2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 39 speichert werden können. Dies erscheint ausge- schlossen bei der Wärme und bei der Elektrizität, die sofortigen Ausgleich mit der Umgebung an- streben. Das gleiche gilt von der aktuellen Form der chemischen und mechanischen Energie: brennende Kohle kann nicht aufbewahrt werden, Massenbewegung kann nicht dauern , da sich überall der Bewegung Widerstände entgegensetzen. So bleibt nur die potentielle Energieform der mechanischen und chemischen Energie übrig; die Energie der Lage, welche ein hochgelegenes Wasserreservoir enthält, kann während der ganzen Entwicklungsgeschichte der Menschheit unver- ändert bleiben. Bei der gespannten Feder, dem ausgedehnten elastischen Bande ist die Dauer der Energieaufspeicherung dadurch beschränkt, daß die gegenwirkende Kraft, die Elastizität, selbst im Laufe der Zeit abnimmt. Für unbeschränkte Zeit aufbewahrt bleiben kann aber ganz besonders die chemische Energie in potentieller Form. Die Energie der Sonnenstrahlung hat sich einst in der grünen Pflanzenzelle bei der Zwangs- spaltung der Kohlensäure in Kohlenstoff und Sauerstoff in chemische Energie der Lage umge- wandelt, als deren Träger die Kohle betrachtet werden kann. Die Energie der Kohle aber bleibt unverändert, solange nicht die Auslösung durch Entzündung eintritt. So ergibt sich, daß aktuelle, wirksame Energie nicht aufbewahrt werden kann; denn die poten- tielle Energie ist zunächst ohne Wirksamkeit, und im Augenblick, da sie durch Umsetzung in die kinetische Form wirksam wird, endet ihre Auf- bewahrungsfähigkeit. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues von der Rassenhygiene. — Rassen- hygiene oder Eugenik ist das Studium der unter sozialer Kontrolle stehenden Einflüsse, welche so- wohl die körperlichen wie die geistigen Eigen- schaften künftiger Generationen verbessern oder verschlechtern können; Vererbungsfragen, wie auch Fragen der Umgebungseinflüsse und der Er- ziehung, fallen in ihren Bereich. So definiert Prof. Karl Pearson den jüngsten Zweig der Wissenschaft vom Menschen, der aber zugleich einer ihrer wichtigsten Zweige ist und der im Interesse des ganzen Volkes bald in unseren Hochschulen Eingang finden sollte, um von ihnen aus die Erkenntnis zu verbreiten, daß „eine be- wußte Rassekultur es mit den Übeln aufnehmen muß, die entstehen, sobald wir die volle reinigende Kraft der natürlichen Auslese aufheben". Das Studium der Rassenhygiene muß abseits bleiben von dem Streit der Parteien und dem Konflikt der Glaubensbekenntnisse; und wir dürfen unsere Aufmerksamkeit nicht unverwandt auf die zur Entartung führenden Faktoren richten , sondern ebensosehr auf die Gesundheit und Kraft, die Fähigkeit und Intelligenz der Rassen. ') Schon gegenwärtig befaßt sich eine ansehn- liche Zahl von Gelehrten mit den Problemen der Rassenhygiene und sie haben sich im „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie" (Herausgeber Dr. A. Ploetz in München) und in „The Eugenics Review" (herausgegeben von der Eugenics Educa- tion Society in London) literarische Sammelstellen geschaffen. Außerdem bringen die „Politisch- anthropologische Revue", die „Zeitschrift für Sozialwissenschaft", die Vierteljahrsschrift „Bio- metrika", sowie die meisten medizinischen und anthropologischen Zeitschriften häufig Beiträge zur Rassenhygiene. Die vorhandene Literatur in Buchform ist gleichfalls bereits reich, so daß es gerechtfertigt ist, dieses Gebiet von Zeit zu Zeit in den Übersichten der „Naturwissenschaftlichen Wochenschrift" zu behandeln. Bei der Betrachtung der Wichtigkeit biolo- gischer Ergebnisse für menschliche Gesellschaften weist J. A. Thomson,^) Professor an der Uni- versität Aberdeen, darauf hin, wie notwendig es ist, zu unterscheiden zwischen Variationen erb- licher Eigenschaften, die der Ausdruck von Ver- änderungen in dem komplizierten Bau des Keim- plasmas sind, und Modifikationen, den Verände- rungen im Körper des Individuums, die durch Gebrauch und Nichtgebrauch von Organen, oder durch Einflüsse der Umwelt herbeigeführt werden. Namentlich der menschliche Organismus variiert nur wenig, aber er ist häufig außerordentlich modifizierbar und gleiche oder ähnliche äußere Verhältnisse in der Lebenszeit aufeinanderfolgender Geschlechter bewirken das Auftreten gleicher oder ähnlicher Modifikationen, so daß eine Vererblich- keit zu bestehen scheint und zu falschen Schlüssen Anlaß geboten wird. So ist z. B. große Kinder- sterblichkeit nicht immer ein Ausdruck schlechter Rasse, sondern vielfach ungünstiger Lebensbe- dingungen, und viel Schwäche, die leicht tödlich wird, ist in Wirklichkeit einfach modifikationeil, etwa die Folge von Nahrungsmangel in einem kritischen Zeitpunkt. Festzustellen, ob körper- liche Mängel variationell oder modifikationell sind, ist nicht immer möglich und deshalb können auch die modernen individual-hygienischen Maß- nahmen vom rassenhygienischen Standpunkt nicht verworfen werden, ebensowenig wie die Be- strebungen, alles das zu beseitigen, was Glieder ') Pearson, ,,Über den Zweck und die Bedeutung der National-Eugenik für den Staat". Leipzig 1908, B. G. Teubner. ') In seinem Bucli ,,Heredity" ; Verlag von John Murray London 1908. N. F. \'III. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 613 der Rasse in der isörperlichen und s^eistigen Knt- vvickking anderen i;egeniiber benachteilifift. Damit ist nicht gesagt, daß es dem Wohl der Mensch- heit zuträglich wäre, das Leben aller recht leicht zu gestalten, den Kampf ums Dasein auszuschalten. Die herrschende wirtschaftliche Tendenz etwa, die darauf gerichtet i^t, die Güterproduktion so ein- zurichten, daß sie mit geringstem Aufwand von Kraft und Fähigkeit vor sich geht, gereicht der Rasse nicht zum Nutzen. — Große Gefahren liegen in der F"ortpflanzung der mit erwiesen ver- erbbaren Gebrechen Behafteten, und Prof. Thom- son findet, daß sie gerade jetzt mehr Aussicht haben, zu überleben und sich zu vermehren als jemals vorher, weil die Hinrichtungen rasch aus- gebaut werden, die bestimmt sind, die Nach- teile zu beheben, welche die Gebrechen im Kampf ums Dasein sonst im Gefolge hatten. Die Frage, wie die relative Zahl der Tüch- tigen zu erhöhen und die der Untüchtigen herabzusetzen sei, ist besonders in Deutschland und Großbritannien schon eifrig erörtert worden, doch die positiven Ergebnisse der Erörterungen sind nicht befriedigend. Von mancher Seite wird gefordert, daß sich die Gesellschaft jedes Ein- griffes zur Regelung der Fortpflanzung enthalte und die natürliche Auslese walten lasse; andere verlangen die rigorose Verhinderung der Zeugung bei den defekten Klassen durch Kastration, Er- fordernis der Beibringung von Tauglichkeitszeug- nissen bei Eheschließungen u. dgl. ; wieder andere meinen, daß mit der Aufklärung über die Pflichten den Nachkommen und der menschlichen Gemein- schaft gegenüber am besten auszukommen sei. Die Durchführbarkeit der extremen Vorschläge ist recht unwahrscheinlich und mit ihnen wäre nicht das stete Wiederauftreten modifikationeil Untüchtiger zu verhüten. Man muß Prof. Thom- son beipflichten: Es ist die Verhinderung oder Einschränkung der Fortpflanzung der zweifellos variationeil Untüchtigen zu erstreben ; „aber wenn eine Gesellscheft bewußt ans Werk geht, eine Auslese unter den Personen vorzunehmen, die sie bilden, so haben wir es mit einem Vorgang zu tun, der ungleich feiner und komplizierter ist als die Auslese des Züchters innerhalb seiner Herde oder die Ausscheidung schlecht angepaßter Glieder einer Rasse durch die Gewalten der Umwelt." Dr. A. Grotjahn') wendet sich gegen den Vorwurf, daß die wachsende Fürsorge für Kranke und körperlich untüchtige Personen ihnen die I'^ortpflanzungsmöglichkeit erhalte und damit zur Verschlechterung der Rasse führe. Er empfiehlt die „Ausscheidung und Festhaltung des defekten Teils der Bevölkerung, wie sie ein ausgedehntes Hospital- und Asylwesen mit sich bringt", als Prophylaxe der Entartung und macht eingehende Vorschläge für ein derartiges System. Die zwangs- mäßige Hospitalisierung wünscht er auf alle an- steckenden Krankheiten erstreckt, die eine Gefahr für F"amilien-, Schul- und Werkstattgenossen bilden, die zwangsmäßige Asylisierung soll „alle Kate- gorien der dauernd körperlich oder geistig Minder- wertigen" betreffen und durch eine eigene Gesetz- gebung geregelt werden. Das Entartungsproblem, und besonders die Zunahme der Geisteskrankheiten, hatte ein Vor- trag von Prof. Dr. E. Kraepelin zum Gegen- stand, der im Vorjahr auf der Versammlung bayerischer Irrenärzte gehalten wurde.') Als Hauptursachen der Zunahme der Geisteskrank- heiten betrachtet Prof. Kraepelin den Alkohol- genuß und die Syphilis, die zu Keimschädigungen führen ; außerdem wird das ganze Wesen unserer städtischen Kultur mit verantwortlich gemacht, das die Menschen der Freiheit beraubt, durch die Ketten tausendfacher Pflichten in das Getriebe des Gemeinschaftslebens unlösbar einfügt und aus dem Verhältnis zur Natur lostrennt. Hier muß ein- gewendet werden, daß unsere Stadtkultur weniger Entartung verursacht als sie an den Tag bringt: Er- erbte Mängel treten bei dem Stadtleben leichter hervor und führen früher zum Zu- sammenbruch als bei ruhigem Leben auf dem Lande. Auf Vergleiche der europäischen mit den farbigen Völkern, wie sie auch der Vortragende an- stellte, darf kein allzu großerWert gelegt werden, denn die Angaben über rassenhygienische Zustände bei den Farbigen fußen in der Regel auf unzureichen- den Grundlagen und, was wir Sicheres darüber wissen, spricht nicht sonderlich zu ihren Gunsten. — Beklagenswert sind in der Tat die Verweich- lichung durch zu weit gehende staatliche Fürsorge, die sog. „Proletarisierung" weiter Volkskreise und sonstige in dem Vortrag erwähnte Erscheinungen, die jedoch nicht als untrennbar mit unserer Kultur verbunden angesehen werden dürfen. Ob in Deutschland die Militäruntauglichkeit — und damit die Entartung — zunimmt, wird in drei Aufsätzen im Archiv für Rassen- und Gesell- schaftsbiologie untersucht, und zwar: Dr. Hugo Meisner (Generalarzt a. D.), „Rekrutierungs- statistik"; Dr. W. Ciaassen, „Die abnehmende Kriegstüchtigkeit im Deutschen Reich in Stadt und Land von 1902 — 1907" (6. Jahrgang, i. Heft); und Dr. M. .'\lsberg, „Militäruntauglichkeit und Großstadteinfluß" (5. Jahrgang, 5.-6. Heft). — Dr. M e i s n e r befaiät sich hauptsächlich mit der preußischen Rekrutierungsstatistik für die Jahre 1S94 — 1903, die ergibt, „daß ein allgemeiner Niedergang der körperlichen Beschaffenheit der wehrpflichtigen Jugend nicht eingetreten ist". Er .warnt jedoch davor, weitgehende Schlüsse aus den vorhandenen Zahlen zu ziehen. — Von 1902 ab werden die vom Lande und die aus den „Städten" (den Orten mit über 2000 Einwohnern) stammenden Wehrpflichtigen unterschieden. Dr. ') Krankenhauswesen und Heilstätlenbewegung im Lichte der sozialen Hygiene. Verlag von F. C. W. Vogel. Leipzig 1908. ') Abgedruckt im Zentralblatt für Nervenheilkunde usw., 1908, 2. üktoberheft. 6i4 Naturwissenschaftliche \\'ochenschrift. N. F. Vm. Nr. 39 Ciaassen zeigt, daß der Anteil der „Taugliclien" bei den auf dem Lande Geborenen und in der Landwirt- schaft Tätigen von 6 i,o"/„ 1902 auf 58,7 7o 1907 sank, bei den auf dem Lande Geborenen und im Gewerbe Tätigen von 60,2 "/o ^uf 57,5 "/q, bei den in der Stadt Geborenen und in der Landwirtschaft Tätigen von 60,1 "/d auf 56,8 "/„, bei den in der Stadt Geborenen und im Gewerbe Tätigen von 54,7",, auf 49,9",,. Die Beobachtungsperiode ist so kurz, daß die Zahlen nicht viel praktischen Wert haben. Es ist auch auf die (zwar nicht ununterbrochene) Zunahme der Wehrpflichtigen und die gleichbleibende Heeresstärke in den sechs Jahren Rücksicht zu nehmen. — Dr. Aisberg nimmt die Zunahme der Untauglichkeit für den Militärdienst als feststehend an und macht dafür die moderne Wirtschaftsweise, namentlich das Leben in den Industriestädten, verantwortlich. Ein Hinweis auf die Verhältnisse im 16. oder 17. Jahrhundert, wie ihn Dr. Aisberg unternimmt, ist ganz belanglos, weil es sich bei derartigen Angaben nahezu ausnahmslos um wilde Schätzungen handelt. Als Veranlassungen der Verschlechterung des für den Militärdienst zur Verfügung stehenden Menschenmaterials sieht der Verfasser an : Die Umwandlung Deutschlands in einen Industriestaat, die daraus sich ergebende gedrängte Wohnweise der Bevölkerung in den Industriestädten, die ein- seitige Tätigkeit der Industriearbeiter, ihr Ver- weilen in Räumen, die mit Staub, Dämpfen u. dgl. erfüllt sind, sowie die Genußsucht und die Aus- schweifungen der Städter. Dagegen wäre viel mehr zu erwidern, als im Rahmen dieses Referats erwidert werden kann. Vor allem glaubt der Referent zu der Annahme berechtigt zu sein, daß die Wohnweise und die ganze Lebenshaltung der Städter im Durchschnitt besser ist als die der Landleute. Außerdem ist nicht einzusehen, daß widrige Verhältnisse in wenigen Jahrzehnten Entartung großer Massen herbeiführen könnten — vorausgesetzt daß man nicht zu der Lehre von der Vererbbarkeit individuell erworbener Eigenschaften Zuflucht nimmt. Selbst wenn zu- gegeben wird, daß durch äußere Verhältnisse, die auf die Ernährungdes Keim plasmas wirken, ein indirekter Einfluß auf die Erbanlagen ausgeübt wird, der zur Folge haben kann, daß bei den aus den Keimen hervorgehenden Individuen gewisse Eigenschaften nicht in der für das Gedeihen der Art erforder- lichen Vollkommenheit ausgebildet sind, selbst dann ist es ganz unwahrscheinlich, daß die wirt- schaftlichen Wandlungen der letzten Jahrzehnte zu einer merkbaren konstitutiven Schädigung un- seres Volkes geführt hätten. Wie bereits bei der Besprechung des Kraepelin'schen Vortrages gesagt wurde, sind die Zustände in den Städten dazu angetan, angeborene Defekte leichter und früh- zeitiger zu offenbaren, und das erklärt auch die tatsächlich in den Städten größere Militäruntaug- lichkeit. Das Vorhandensein von Entartung bei den Kulturvölkern ist nicht zu leugnen. Ihre Ursachen sind jedoch nicht so sehr wirtschaftliche Zustände, als vielmehr gesellschaftliche Einriclitungen, unter anderem die Familienprivilegien, die, wie Prof Chr. V. Ehrenfels zeigt, ^) unvermeidlich zur Be- nachteiligung der tüchtig Veranlagten und zur Bevorzugung der Untüchtigen Anlaß geben. In engem Zusammenhang damit steht die Behinde- rung der freien geschlechtlichen Auslese; denn für die Gattenwahl werden immer weniger persönliche und mehr materielle Vorzüge entscheidend. Un- heilvoll ist im 19. Jahrhundert die Wanderungs- auslese für die europäischen Völker gewesen und den gleichen Erfolg wie sie hatten die großen Kriege. In der Zeitschrift für soziale Medizin'-) sucht Dr. W. Schall mayer die Frage zu beantworten, „Was ist von unseren sozialen Versicherungs- gesetzen für die Erbqualitäten der Bevölkerung zu erwarten?" Einleitend betont er, daß auf Grund der bisher vorhandenen Forschungsergebnisse ,,die Vererbung des durch dürftigere oder reichlichere Lebenshaltung bedingten Ernährungszustandes u. dgl. als sehr zweifelhaft zu betrachten ist". Wenn und soweit das Erbplasma durch unge- nügende Ernährung seines Trägers beeinflußt wird, kann diese ,, Wirkung nur von der Art sein, daß sie unter den nachfolgenden Einwirkungen ge- besserter Lebenshaltung leicht ausgleichbar" ist. Die Sozialversicherung wäre in der Beziehung für das Wohl der Rasse vorteilhaft. Doch liegt auch das Bedenken nahe, ob nicht mit dieser .^rbeiterfürsorge „Hemmungen und Ausschaltungen der natürlichen Auslese einhergehen und eine Verminderung der Rassetüchtigkeit unserer Be- völkerung befürchten lassen". Dank der Kranken- versicherung, sagt Dr. Schallmayer, gelangt die Arbeiterbevölkerung viel mehr als zuvor in ärzt- liche Beobachtung, Beratung und Behandlung, was das Ergebnis hat, daß das Leben einer großen Zahl von Personen, die eine gegen Krankheiten wenig widerstandsfähige Konstitution besitzen, verlängert wird, die sich auch in stärkerem Maße als früher fortpflanzen können. Der Schutz vor äußerster Not während der Krankheit bedingt ferner in den Familien solcher Personen eine Herabsetzung der Kindersterblichkeit, die Ver- sicherung begünstigt also auf doppelte Weise die Fortpflanzung jener, deren sanitäre Erbanlagen unter dem Durchschnitt stehen. Wird voraus- gesetzt, daß Syphilis, gewerbliche Vergiftungen u. dgl. die von den Betroffenen getragenen Keime beeinflussen, und daß aus diesen Keimen lebens- fähige aber degenerierte Nachkommen hervor- gehen, so hat andererseits die mit der Kranken- versicherung einhergehende Prophylaxe der Keim- vergiftungen eugenische Vorteile zur Folge. — Anhaltspunkte dafür, ob Personen, die zu dem an sanitären Erbanlagen minderwertigen Teil der ') ,, Monogame und polygyne Sozialpolitik". Politisch- Anthropol. Revue, 7. Jahrg., S. 536 — 55°- ^) Bd. 3, S. 27-65. N. F. \'in. Nr. ^0 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 615 Unfall versiclierten gehören, häufiger als andere Unfälle erleiden, haben wir nicht, ,,und auch be- züglich der intellektuellen Anlagen sowie der ethischen Bildbarkeit dürften kaum beträchtliche Unterschiede zwischen dem Durchschnittsniveau der von den Unfällen Betroft'enen und dem Durch- schnittsniv'cau der davon Verschonten existieren. Wenn diese Annahme richtig ist, so wird durch die Unfallversicherung die natürliche Auslese nicht nennenswert beeinflußt." — Bezüglich der Alters- versicherung findet Dr. Schallmayer, daß sie die Entwicklung der Eibeigenschaften der Bevölkerung so gut wie gar nicht berührt, da sie nur für Greise in Betracht kommt, während die Invaliden- versicherung die Fortpflanzungsverhältnisse in der- selben Weise wie die Krankenversicherung be- trifft, deren Fortsetzung sie gewöhnlich ist. Aus- drücklich gesagt werden muß, daß für die Ent- scheidung der meisten vom Verfasser in den Be- reich seiner Betrachtungen gezogenen Einzelfragen zurzeit noch kein ausreichendes Tatsachenmaterial beschafft ist. Man darf es z. B. keineswegs als gewiß hinnehmen, daß die sanitären Erbanlagen bei allen , oder der Mehrzahl jener , welche die Leistungen der Kranken- und Invalidenver- sicherung stark in Anspruch nehmen, unterdurch- schnittlich sind; gar häufig wird es sich um modifikatorische Mängel handeln. Von rassenhygienischer Bedeutung ist die Fest- stellung, daß unter den Kindern langlebiger Eltern die Sterblichkeit kleiner ist als unter den Kindern kurzlebiger Eltern; sie wurde zuerst von Beeton und Pearson gemacht (Proceedings of the Royal Society, Bd. 65, S. 290, und Biometrika, Bd. i, S. 50) und gelegentlich einer neuen Untersuchung von Dr. A. Ploetz') bestätigt. Dr. Ploetz zog sowohl bürgerliche wie fürstliche Familien in Be- tracht. Mit großer Deutlichkeit ergab sich, „daß die Sterblichkeit von Kindern in den ersten fünf Lebensjahren regelmäßig abnimmt mit der steigen- den Lebensdauer der Eltern, oder, mit anderen Worten , frühsterbende Eltern bringen einen kleineren Teil ihrer Kinder durch als langlebige Eltern, wobei eine elterliche Lebensdauer von etwa 60 Jahren dem Durchschnitt der Kinder- sterblichkeit entspricht". Sieht man sich nach den Ursachen der höheren Sterblichkeit der Kinder kurzlebiger Eltern um, so könnte man zunächst an die vor- und nachgeburtlichen Ein- wirkungen der Umwelt auf die angeborene Wider- standskraft denken, namentlich an die mangelhafte Pflege von Kindern, deren Eltern frühzeitig starben. Das kann nur mit ein Anlaß sein, denn im Grunde verhalten sich fürstliche F"amilien ebenso wie bürgerliche, und die wichtigste Ursache der verschiedenen Kindersterblichkeit ist unfraglich die Vererbung der verschiedenen Konstitutions- kraft der Eltern auf ihre Kinder: „Die Kinder der früh verstorbenen Eltern sterben häufiger, weil sie die schwache Konstitution ihrer Eltern erben, und in entsprechender Weise sterben die Kinder alt gewordener Eltern seltener, weil sie die starke Konstitution ihrer Eltern geerbt haben." Nicht minder bemerkenswert ist, daß der größeren Kindersterblichkeit auch eine größere Sterblich- keit in späteren Lebensaltern folgt. Ein Gegner der Rassenhygiene ist R. G o 1 d - scheid, der in dem Buch „Entwicklungswert- theorie, Entwicklungsökonomie, Menschenökono- mie" (Leipzig 1908; Dr. W. Klinkhardt) für die möglichste Erhaltung der „gegebenen organischen Erbmasse" eintritt und die nachteiligen Folgen des Aufhörens der Auslese bestreitet, in der Meinung, die angeborenen Eigenschaften der Per- sonen und Rassen seien so vielseitig, um unbe- schränkte Entwicklungsfähigkeit zu gewährleisten — wenn nur für gute Ernährung gesorgt ist. Mit Recht bezeichnet Dr. A. Nordenholz ^) die Gold- scheid'sche ,, Menschenökonomie" als Politik der Dekadenz. — Von selten der meisten sozialisti- schen Theoretiker wird gleichfalls den ererbten Anlagen eine untergeordnete, der Lebenshaltung aber die größte Wichtigkeit für das Emporsteigen oder die Entartung der Rassen oder einzelner Volksschichten zuerkannt. In einer Reihe von Aufsätzen über ,, Eugenik, Lebenshaltung und Auslese" (Zeitschr. f. Sozial Wissenschaft, 1908, Heft 5 — 8) weist ihnen Dr. W. Schallmayer nach, daß in früheren Zeiten der Menschheits- geschichte die äußeren Existenzbedingungen keines- wegs besser , sondern härter waren als in der kapitalistischen Periode, und dennoch fand ein großartiges Aufsteigen statt, das auf das Walten der natürlichen Auslese zurückzuführen ist; er zeigt die Faktoren an, von denen das Rassenwohl abhängt und legt die Forderungen der Rassen- hygiene dar. Fehlinger. ') Lebensdauer der Eltern und Kindersterblichkeit. Archi' f. Kassen- und Ges.-Biol., 6. Jahrg., S. 33 — 44. ') Archiv f. Rassen- und Ges.-Biol., 1909, Heft I. Kleinere Mitteilungen. Secreta oder Verborgene geheime Künste aus dem Jahre 1616. I. Der Wetzlarer Geschichtsverein hat kürzlich ein interessantes Büchlein erworben, das im Jahre 1616 in Oppenheim im Verlage von J. Th. de Bry erschienen ist. Der Verleger selbst schickt dem Werkchen ein Vorwort voraus, in dem er uns mit dem Verfasser, dem nicht unbedeutenden Maler Franz Keßler bekannt macht, der zu seiner Re- creation und zum Zeitvertreib sich in mathemati- schen oder dergleichen „fremden" Künsten be- mühet und geübt, und hier die I'^üchte seiner Studien veröffentlichte. 6i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 39 Wenn wir von einigen unsicheren Berichten aus dem Altertum absehen, so hat man bis jetzt den Engländer Hooke als den Erfinder der Tele- graphie bezeichnet, der im Jahre 1684 der Royal Society seinen Apparat vorführte. Aber bereits viel früher, im Jahre 1616, hatte unser Verfasser die Aufgabe, einen Gedankenaustausch selbst auf größere Entfernungen bei Tag und Nacht, mög- lichst schnell und sicher zu ermöglichen, in ganz origineller Weise gelöst. Aber nicht nur das Recht der Priorität beansprucht Keßler; sein Telegraphenapparat unterscheidet sich auch wesent- lich von dem der späteren Erfinder, der unter dem Namen Semaphor bekannt und teilweise heute noch im Gebrauch ist. Doch haben wir es auch hier mit einer Lichttelegraphie zu tun. Das hauptsächlichste Instrument des Apparates ist der sogenannte „Ortforscher", der eine solch genaue Aufstellung der Instrumente ermöglicht, daß die von einer Station ausgesandten Licht- strahlen in das Auge des anderen Beobachters gelangen müssen. Dieser Ortforscher, dessen Herstellung der Erfinder mit weitschweifiger Aus- führlichkeit angibt, ist eine in 360 Grad einge- teilte Scheibe, in deren Mittelpunkt ein Kompaß angebracht ist, sowie ein über der Scheibe frei beweglicher Diopter; dieser war noch sehr primi- tiv, ein Lineal, an dessen beiden Enden je ein durchlöchertes Brettchen, die „Absehen", senkrecht angebracht sind. Die Lichtzeichen gehen von einer in einer Tonne brennenden h'ackel aus und werden durch eine im Boden angebrachte Falltüre nach außen entlassen. Die Tonne kann auch durch einen Metallhohlspiegel ersetzt werden, wie man sie da- mals „in Venedig, Nürnberg oder Frankfurt a. M. zu einem Preise von 50 — 100 Reichstalern zu kaufen bekam, von denen aber unter 10 kaum einer rein und unsträflicher Proporz war". Der letzte Bestandteil des Instrumentariums ist ein Täfelchen mit dem Zeichenalphabet. Die Buchstaben werden durch eine bestimmte Anzahl von Zeichen, nicht durch eine Kombination von langen und kurzen angegeben. Nach langer Erwägung wählt er folgendes : d 1 i 1 r a e n j 0 b Im f 1 c s g h I 23'4l5!67|8'9'io II 12 13 14 15 wobei die unter den Buchstaben stehende Zahl die Anzahl der Lichtsignale angibt. Das Absenden einer Depesche erfordert nun noch folgende Vorbereitung. Will etwa Hans aus der Stadt ,, Nahport" seinem F"reunde Peter aus dem Dorfe „Eckhausen" zur Nachtzeit ein Telegramm senden, so müssen sie zunächst die Stunde vereinbaren und ihre Apparate in genau derselben Weise aufstellen. Die Punkte werden mit Hilfe des damals gerade erfundenen Fern- rohres, das er „perspectivisch Rohren- Brillen" nennt, festgesetzt. Die Aufstellung der Apparate selbst geschieht in folgender Weise: Hans stellt noch bei Tage seinen Ortforscher auf einer hori- zontalen Pläche so auf, daß die Magnetnadel mit der Linie zusammenfällt, die durch den 180. und 360. Grad geht. Sodann visiert er mit dem Diopter nach dem vereinbarten Punkte in Eckhausen und liest den Winkel ab. Peter muß nun seinen Diopter in ganz gleicher Weise und unter dem gleichen Winkel gegen die Meridian- linie aufstellen. Nachts um 12 Uhr gibt Hans an Peter folgende Depesche ab: „Morgen Aufgangs der Sonne wird der Feind vor dem Tor sein." Die Empfangsstation wird nun zunächst durch ein längeres Lichtzeichen, welches der Beobachter in Eckhausen, das Auge vor dem Absehen, zum Zeichen des Beginnes erwartet, aufmerksam ge- macht. Dann hebt Hans schnell hintereinander neunmal — das Zeichen für m — die Falltüre; dann nach einer kurzen Pause 7 mal — das Zei- chen für o usw. Nach einem Worte folgt eine längere Zwischenpause. Peter in Eckhausen zählt Figur zum I. Teil. Lichttelegraphie. jedesmal die Anzahl der aufblitzenden Lichtzeichen und überträgt diese in Buchstaben und Worte. Angenommen, das Aufziehen der Falltüre be- anspruche 2 Sekunden, zwischen den einzelnen Buchstaben mache man eine Pause von 3 und zwischen den Worten eine solche von 5 Sekunden, so brauchte diese etwas umständlich abgefaßte Depesche mit 11 Worten und 148 Buchstaben zu ihrer Beförderung nach einem mehrere Meilen entfernten Ort nur 1 1 '/., Minuten ; für den Anfang immerhin eine gute Leistung. In Fällen, wo man sich so nah ist, daß man sich gegenseitig genau sehen oder deutlich hören kann, vereinfacht sicli das Verfahren bedeutend; die Lichtsignale werden dann durch Bewegungen der Hände, schwenken von Tüchern, Glockenschläge usw. ersetzt, Methoden, die auch heute noch in N. F. VIII. Nr. 39 Naturvvissen.schaftliche Wochenschrift. 617 ähnlicher Weise (I""ahncn\vinken) angewandt wer- den. Zum Schlüsse rechtfertigt sich der Erfinder denen gegenüber, die der Ansicht sind, solche Geheime Kunst bliebe besser verborgen, und denen, die hinter solchen Künsten sofort Zauberei und blinden Betrug wittern , versichert er nochmals, daß alles auf natürliche Weise vor sich ginge. Er bezeichnet sich ausdrücklich als Erfinder dieser „Redenskunst, die bis auf diese Stund noch ine dagewesen", und übergibt seine Erfindung der Öffentlichkeit in der Hoffnung, daß sie allgemeine Verbreitung finden und überall großen Nutzen stiften möge. Noch besonders weist er auf die Bedeutung hin, die die Telegraphie für den Nach- richtendienst im Kriege und Iner besonders bei Belagerungen habe. Ein Abfangen der Meldungen könne man durch beliebige Aufstellung und Ände- rung des Alphabets vereiteln. Und wie man auf solche Weise eine Botschaft mehrere Meilen weit vermittle, so könne man es mit Leichtigkeit dahin bringen, dies durch eingeschobene Stationen auf viele, ja wohl auf hundert Meilen weit zu tun. Erst viel später, als die Erfindung des Malers Franz Keßler längst in einer staubigen Bibliothek vergraben lag, im Jahre 1792, wurde zum ersten- mal die Telegraphie der späteren Erfinder Hooke und Chape praktisch ins Leben eingeführt. II. \'on den „Secreta", denen der letzte Teil des Werkchens gewidmet ist, ist das interessanteste ein „Wasserharnisch, dadurch jemand etliche Stun- den ohne Schaden Leibes und Lebens unter Wasser sein kann". Der erste Bericht über einen Taucherapparat, eine Taucherkappe , findet sich in den Schriften des Aristoteles. Die erste genaue Beschreibung der Taucherglocke gibt aber erst Baco in seinem 1620 erschienenen ,,Novum Organum". Doch wissen wir aus den „Technica curiosa" des Mathe- matikers und Physikers Kaspar Schott, daß bereits im Jahre 1538 zu Toledo zwei Griechen vor den Augen des Kaisers Karl V. und vieler Zeugen in einem umgekehrten Kessel mit einem brennenden Lichte ins Wasser stiegen und trocken mit brennen- dem Lichte wieder heraufkamen. Unser Autor schreibt sich auch keineswegs die Erfindung des Taucherapparates zu, sondern sieht in seinem ex- practicierten Wasserharnisch nur eine Verbesserung der bis dahin gebrauchten Vorrichtung. Letztere beschreibt er als einen ledernen Sack, von dem eine lederne Röhre bis zur Wasseroberfläche reichte. Diese versorgte den in dem Sack ,, Ein- genähten" mit frischer Luft. Die Herstellung seines Harnisches aus gegerbten Rindshäuten, die für Wasser und Luft undurchlässig gemacht sind, gibt er mit breiter Ausführlichkeit an. Die bei- gefügte Figur macht eine Beschreibung überflüssig. Durch die Gestalt und die Art seiner Benutzung unterscheidet sich dieser Taucherapparat wesent- lich von den später eingeführten. Der fertige Harnisch wird an ein Holzgestell, dessen unterer Reif aus Metall besteht, befestigt und ist durch den Wasserdruck nicht mehr deformierbar. Vor dem Gebrauche muß der Harnisch durch Gewichte so belastet werden, daß er fast unter den Wasser- spiegel taucht. Das Gewicht des Tauchers wird hierbei nur provisorisch angehängt, während das übrige gleichmäßig verteilt an dem unteren Reife befestigt wird. Der Taucher kriecht mit einem weiteren Übergewicht von etwa 10 — 20 Pfund, das an einer langen Schnur befestigt ist, unter den Harnisch und kann, nachdem er ihn an seinen Körper gegürtet hat, auf dem Grunde ,, selbst der tiefsten Gewässer, besonders aber in den stillen — gehen und stehen, ohne Leibsgefahr eine geraume Zeit fast alles verrichten". Wie man ein Wiederemporsteigen des Apparates be- wirken kann, wird nicht angegeben, hierzu wird wohl" das Übergewicht gedient haben, welches man nur abzuwerfen oder ins Wasser zu tauchen brauchte , um das spezifische Gewicht genügend J^, .■^ J-- Übergewicht. Figur zum II. Teil. Wasserharnisch im Gebrauche. (Das Übergewicht ist sichtbar.) Um die Brauchbarkeit seiner neu erfundenen Instrumente darzutun, führt er den Lesern vor, wie man in unruhigen Zeiten einen Schatz auf dem Grunde eines Sees in Sicherheit bringen könne. Dieses werde dadurch ermöglicht, daß der Taucher unter einem vorher mit dem Ort- forscher bestimmten Winkel in dem See fort- schreiten, den Schatz an einem beliebigen Punkte niederlegen und später ebenso wieder finden könne. Diese etwas umständliche Art, einen Punkt unter einer Wasserfläche zu bestimmen, ist seiner Theorie nach richtig, erfahrungsgemäß aber unausführbar, weil man unter Wasser die Orientierung verliert und an dem Ortforscher wohl eine Drehung des Körpers, nicht aber eine seit- liche Verschiebung desselben beobachten kann, die aber immer stattfindet und so groß ist, daß man jedesmal viele Meter an dem Schatze vorbei- gi8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 39 ginge. Wenn man aber die Entfernung des Punktes vom Ufer durch ein mitgeführtes Seil mißt, so sei, wie der Verfasser bemerkt, ein Wiederauffinden desselben bedeutend erleichtert. Um bei diesen Wasserkünsten unverhofftem Unglück vorzubeugen , empfiehlt der Autor das Tragen eines Schwimmgürtels, dessen Erfindung er aber ebenfalls nicht beansprucht, obwohl er erst wenigen bekannt sei. Er gibt zu seiner Her- stellung aus Hundshäuten gleichfalls eine ausführ- liche Anleitung. Damit man den Gürtel, wenn man ihn bereits umgebunden habe, mit dem Munde aufblasen köime, sind an ihm lange Röhr- chen eingesetzt, die „oben durch wohlgefügte Zäpflein geschlossen werden ; Windtürlein" oder Ventosen (Ventile) verhindern ein Entweichen der Luft. Zum Schlüsse lernen wir noch die Kunst des Wassertretens kennen, wie man über stillstehende Gewässer und Seen dahinwandeln könne, sei es um Wildbrett zu schießen oder um andere Kurz- weil zu treiben. Der Körper wird durch mehrere Luftsäcke über Wasser und durch schwere Blei- schuhe in aufrechter Stellung gehalten. An den Füßen werden 2 ,, Flußfedern", zwei in Chanieren bewegliche Bretter, befestigt, welche ähnlich wie die breiten Füße der VVasservögel als Steuer dienen sollen. Wir hören , daß sogar Seine Königliche Majestät von Dänemark mit Hilfe solcher Vor- richtungen in Begleitung einiger Hofdiener eine ganze Meile auf offener See gewandelt sei. Und so stellt uns die Figur, die dieses Kapitel ,, ver- ziert" einen Entenjäger dar, der, die Büchse auf dem Rücken, reich mit Beute beladen, durch die Fluten eines weiten Sees lustig heimwärts wandelt. Dr. Britten, Wetzlar. Über einige interessante physiologisch- chemische Untersuchungen berichtet Prof H. Matthes in den Jahresberichten des Nahrungs- mittel - Untersuchungsamtes der Universität Jena (1907 und 1908). 1. Lunge eines Porzellanarbeiters: In der Asche aus 40 g — 1,8581 g Gesamtasche — wurden 0,7343 g Kieselsäure, 0,8524 g Alu- miniumoxyd und 0,0888 g Calciumoxyd als SiO.,, ALOg und CaO berechnet, gefunden. Die Lunge war in so hohem Maße mit Mineralbestandteilen durchsetzt, daß sie nur mit großer Anstrengung mit Messer und Schere zu zerkleinern war. 2. Lunge einesSteinhauers: Die Unter- suchung führte zu ähnlichen Resultaten wie unter I. angegeben. 640 g Lunge gaben 1 2,2643 g Asche, das sind 1,91 "'(,. In der Asche wurden ermit- telt 46,9 "/„ Kieselsäure (SiO.,), während sich nor- malerweise nur 4 — 17 "/o Kieselsäure in der Lungen- asche vorfinden, weiter wurden ermittelt 17,49 "l^ Phosphorsäure (P-^O.,), 12,22 " „ Aluminiumoxyd (A1,,0,), 377% Eisenoxyd (F.,0,) und 5,74«',, Calciunioxyd (CaO). 3. Über die Zusammensetzung eines Gichtknotens: [H. Matthes und E.Acker- mann, Piiarmazeutische Zentralhalle 1909, Nr. 11.] In einem Gichtknoten ungewöhnlicher Größe fanden die Verff. Cholesterin, welches vordem in Gichtknoten noch nicht nachgewiesen wurde. Der Gichtknoten mit anhaftenden Knochenteilen wog insgesamt 50 g, davon kamen 22 g auf Knochen und anhaftende Gewebeteile, während die weiße Einlagerungsmasse 28 g wog. Die Einlagerungs- masse bestand zu 46,7 "/o aus Feuchtigkeit 41,7 "/q aus aschefreier Trockensubstanz 11,6 % aus Mineralbestandteilen (Asche). Die Asche bestand im wesentlichen aus 92,3 " ,j NagCOg, 4,8 % NaCI, geringen Mengen von Eisen und Phosphaten und Spuren von Calcium , Mag- nesium und Kalium. An organischen Stoffen enthielt die Einlage- rungsmasse in der aschehaltigen Trockensubstanz 76,72 % h a r n s a u r e s Natrium. Das Choleste- rin wurde durch Extraktion mit Äther, darauf folgende Verseifung und abermalige Extraktion mit Äther gewonnen. Das umkristallisierte Pro- dukt wurde durch den Schmelzpunkt 146" C und die Reaktionen von Liebermann und Sal- kowski identifiziert. Die Menge des gefundenen Cholesterins berechnete sich zu 6,87 "/„ der aschehaltigen Trockensubstanz bzw. 12,9 "/o der gesamten Ein- lagerungsmasse. Der Fettgehalt der Einlage- rungsmasse auf aschehaltige Trockensubstanz be- rechnet betrug 0,27 ";„, das sind 0,506 " ^ der gesamten Einlagerungsmasse. Durch mikrochemi- sche Untersuchung mit Hilfe der Jod-Schwefel- säure-Reaktion konnten die Verff. feststellen, daß das Cholesterin unmittelbar bei dem harnsauren Natrium eingelagert war. Von dem Fett wurde die Verseifungszahl zu 191,3 ermittelt. Dr. O. Rammstedt. Amerikanische Arbeiten auf dem Gebiete des Erdmagnetismus. — Die Kenntnis der erd- magnetischen Elemente im nordamerikanischen Kontinent und den ihn umgebenden Meeren ist im letzten Jahrzehnt außerordentlich gefördert worden. Der derzeitige Leiter dieser teils von der „United States Coast and Geodetic Survey" unternommenen, teils im Auftrage des Carnegie- Instituts in Washington ausgeführten Messungen, L. A. Bauer, hat bei verschiedenen Gelegen- heiten über diese Arbeiten Bericht erstattet und wir entnehmen die folgenden Angaben seinen Veröffentlichungen (Science vom 22. Mai 1908, Jahrbuch des Carnegie-Instituts Nr. 6). Auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten wurden die magnetische Deklination, Inklination und Horizontalintensität an etwa 3500 ziemlich gleichmäßig verteilten Stellen beobachtet, so daß durchschnittlich auf looo Quadratmiles eine Station entfällt; in den Küstengebieten liegen die N. F. VIII. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 619 Stationen jedoch vielfach dichter beieinander. Kauer konnte auf Grund dieser Beobachtungen magnetische Karten konstruieren, deren hervor- ragendstes Kennzeichen eine außerordentlich starke Unregelmäßigkeit der magnetischen Kurven auf dem nordamerikanischen Fcstlande ist. Regel- mäßiger Verlauf der magnetischen Kurven stellt in Nordamerika geradezu einen Ausnahmefall dar. Auch die auf dem Ozean durch das Carnegie- Institut veranlaßten Messungen zeigen, daß ziem- lich jede Landmassc Unregelmäßigkeiten in dem sonst auf See ziemlich regelmäßigen Verlaufe der magnetischen Linien bedingen. Die gleiche Un- regelmäßigkeit wie auf den Isogonenkarten ist auch auf den Isoklinenkarten und an den Linien gleicher Intensität zu erkennen. Dementsprechend ist eine Darstellung der magnetischen Elemente durch eine Formel wie die von Gauß nicht mög- lich, so wenig wie sich die Erdoberfläche eines gebirgigen Landes durch einen mathematischen Ausdruck beschreiben läßt. Man wird in Zukunft neben einem allgemeinen Normalfeld des Erd- magnetismus, das dem geodätischen Referenz- Sphaeroid entspricht, noch mehrere sich über- lagernde Kraftfelder zu berücksichtigen haben, ein allgemeines Störungsfeld , eine besondere störende Koiitinentalkraft, eine auf magnetische Massen im Erdinnern oder auf Erdströme zurück- zuführende Regionalstörung und endlich lokale Störungskräfte, die in unmittelbarer Nähe des Beobachtungsortes liegenden magnetischen Ge- steinen oder hier verlaufenden Erdströmen ihren Ursprung verdanken. Auf dem Großen Ozean wurden ausgedehnte Neubestimmungen aller magnetischen Elemente durch das „Department of terrestrial magnetism" des Carnegie Instituts unter Bauer's Direktion aus- geführt. Die Jacht „Galilee" führte hier seit 1904 Kreuzfahrten nach allen möglichen Rich- tungen hin aus, die im ganzen eine Wegstrecke von 50000 miles ausmachen, wobei nach jedes- maliger Zurücklegung von 200—250 miles voll- ständige magnetische Beobachtungen zur Aus- führung kamen. Dabei wurden an verschiedenen Stellen Fehler der bisher gebrauchten magne- tischen Karten im Betrage bis zu 3" festgestellt, so daß diese Forschungen auch für die Schiffahrt einen erheblichen, praktischen Wert besitzen. Besonderes Interesse verdient der in Treadwell Point nahe bei Sitka (Alaska) bereits im Jahre 1900 von Bauer entdeckte, lokale, magnetische Pol. Hier zeigten sich schon in einer engl. Meile Entfernung im Gastenean Channel die Schiffs- kompasse um etwa 8" abgelenkt, so daß bei Un- kenntnis der lokalen Störung leicht eine ver- hängnisvolle Navigierung eintreten könnte. An dem dicht am Ufer des Kanals gelegenen, lokalen Magnetpol selbst genügen Standpunktsverände- rungen von wenigen Zollen in horizontalem oder vertikalem Sinne, um sehr beträchtliche Ände- rungen der magnetischen Elemente beobachten zu lassen. 5 Fuß über der Oberfläche ändert der Kompaß bei einer seitlichen Verschiebung um 2 — 3 Fuß seine Stellung um 180". Kbr. Himmelserscheinungen im Oktober 1909. Stellung der Planeten: Merkur ist gegen Knde des Moiuits morgens ''4 Stunden lang, Venus abends 1 ','4 Stun- den lang sichtbar. Mars ist noch bis gegen Morgen in den Fischen sichtbar. Jupiter wird im Anfang des Monats mor- gens in der Jungfrau sichtbar. Saturn tritt am 13. im Wal- fisch in Opposition zur Sonne und kann daher die ganze Nacht hindurch beobachtet werden. Ein Algol -Minimum kann am II. um 8 Uhr 29 Min. abends beobachtet werden. Bücherbesprechungen. Walter Pollack, „Über die philosophischen Grundlagen derwissenschaftlichenFor- schung als Beitrag zu einer Methoden- politik." Berlin 1907, Ferd. Dümmler's Vedags- buchhandlung. 154 Seiten. — Preis brosch. 2,50 Mk. Die flott geschriebene Arbeit ist ein interessantes Beispiel dafür, daß auch unabhängig von James sich in Deutschland, so in den Kreisen von Eucken und Simmel, pragmatische Anschauungen ent- wickeln.') Der Verfasser teilt die ?*Iethoden\v isse n- schaft in die eigentliche Methoden 1 e h r e und in die Methoden p o 1 i t i k ein. Jene soll die bisher in der Wissenschaft angewandten Forschungsweisen schildern und insbesondere die einzelnen wissenschaft- lichen Arbeiten in Hinblick auf die zugrundeliegenden Methoden analysieren. Die auf die eigentliche Me- thodenlehre sich aufbauende Methodenpolitik be- schäftigt sich mit der Frage, auf welchem Wege ein möglichst vorteilhaftes wissenschaftliches Arbeiten stattfindet. Es kommt weniger darauf an, nach einer transzendenten Wahrheit zu streben als viel- mehr im Geiste der Aufrichtigkeit zu arbei- ten. Diejenige theoretische Auffassung hat besondere Existenzberechtigung, die bisher gekannte Möglich- keiten in sich aufnimmt und neue Ansichten schafft, welche Toleranz übt und jedweder Richtung freie Bahn gewährt. Die Wissenschaft ist wesentlich Pro- duktion von Gesichtspunkten und führt zu einer Kombination von Gesichtspunkten. Jeder Begriff, jedes Ergebnis, jede wissenschaftliche Aussage geht zurück auf eine bestimmte analysierbare Perspektive, unter der wir die Welt oder einen Ausschnitt aus ihr im Augenblicke erfassen. Die letzten Gesichtspunkte sind diejenigen, die sich vorläufig nicht weiter auf- lösen lassen oder welche als äußerstes Axiom einer Gedankenreihe dastehen. Es ist ohne Belang, ob die letzten Gesichtspunkte den Anspruch auf unmittelbare Gewißheit erheben oder ob sie durchaus hypotheti- schen Charakter haben. Als weiteste Basis für ein Arbeiten im methodenpolitischen Sinne empfiehlt sich der Indeterminismus. — Die Geschichte des natur- ') Über „Pragmatismus" siehe Naturw. Wochenschr. N. F. vni, s. 133—137- 620 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 39 wissenschaftlichen Forschens bietet treftliche Illustra- tionen des hypothetischen Perspektivismus. Diih- ring, Mach, Ostvvald, namentlich aber Hertz sind methodenpolitisclie Arbeiter. Hertz hat in lehrreichster Weise gezeigt , wie von drei Gesichts- punkten aus eine theoretische INIechanik zu entwickeln ist. Der erste Weg ist derjenige der älteren klassi- schen Mechanik, der zweite der der Energielehre, der dritte, von Hertz selbst bevorzugte, geht von der Vorstellung aus, „daß alle mechanischen Prozesse so vor sich gehen , als ob alle Verbindungen zwischen den aufeinander wirkenden Teilen feste wären", daß sie sich ferner so vollziehen, als gäbe es neben den sichtbaren Bewegungen und Massen auch noch ver- borgene. Auch die übrigen Wissenschaften sind der Methodenpolitik zugänglich. Der Verf veranschau- licht seine Theorie z. B. am Problem der juristischen Person. Von besonderem Interesse ist die Auffassung, daß auch Nietzsche's Philosophie nichts anderes vorstelle als einen hypothetischen Perspek- t i V i s m u s. So beherzigenswert die Ansichten Pollack's sind, so können wir uns doch einige Bemerkungen nicht versagen. Der Zweck der wissenschaftlichen Forschung be- steht zunächst darin , möglichst viel Einzeltatsachen sinnlich zu erfassen , alsdann darin , neue Tatsachen entweder als numerisch oder als spezifisch identisch mit anderen zu erkennen (Avenarius und H. Gomperz). Beide Aufgaben erfordern einen großen Aufwand an geistiger Arbeit, mag es sich darum handeln, solche Mittel aufzufinden, die unsere Wahr- nehmungs- und Bewegungsorgane in vorteilhafter Weise unterstützen, oder mag es sich darum handeln, die Objekte zu klassifizieren und die in den Be- ziehungen zwischen den Objekten sich abhebenden Ähnlichkeiten scharf ins Bewußtsein zu heben und sorgfältig zu formulieren. Zwei allgemeine Methoden beherrschen nun das wissenschaftliche Forschen, eine heuristische und eine architek- tonische (Schleiermacher), beide freilich aufs innigste verknüpft. Jene sucht nicht nur diejenigen Mittel aufzufinden und zu verwenden , die uns u n - mittelbar mit neuen Erfahrungstatsachen bekannt machen , sondern auch diejenigen , die ein sicheres Schließen gewährleisten. Die zweite Methode liefert uns einen Schematismus, der uns in der Mannigfaltig- keit des Vorgefundenen feste Stützpunkte bietet und neue und weite Ausblicke gewährt. Was nun die spezielleren, in den Einzelproblemen ver- wendbaren Methoden betrifft, so ist häufig ge- nug eine beträchtliche Auswahl möglich. Hier zeigt sich auch recht deutlich der „v o 1 u n t a r i s t i - sehe" Charakter des Forschens. Handelt es sich z. B. darum, die Beziehungen zwischen zwei Tat- sachenkomplexen zu ermitteln, so erhält man durch Variieren der dem einen Komplex angehörenden Umstände und durch entsprechendes Beobachten der am anderen Komplex auftretenden Änderungen eine größere Zahl von Untersuchungsweisen. So ergeben sich ferner verschiedene, höchst wertvolle Me- thoden durch Beachtung der Analogien, die in oft abgelegenen Teilen einer Wissenschaft bestehen und Brücken zwischen ihnen zu schlagen gestatten.^) Aber im allgemeinen wird doch der Stoff dem Forscher die Methode so kräftig aufnötigen, daß dieser zu einem eigentlichen Auswählen nur ausnahms- weise gelangt. Dazu kommt, daß selbst hervorragende Geistesarbeiter nicht darauf vorbereitet sind, mehrere zur Verfügung stehende Arbeitsweisen mit gleichem Erfolge zu beherrschen. So konnte W. Thomson nur dadurch sich der physikalischen Tatsachen be- mächtigen , daß er sicii sogenannte , .mechanische Modelle" in Gedanken konstruierte, Mechanismen, mit denen nicht minder bedeutende Forscher gar nichts anzufangen wissen. Duhem glaubt, daß die Bevorzugung der oft äußerst verwickelten Modelle und die Abneigung gegen reine Abstraktion mit einer eigentümlichen Denkweise zusammenhänge, der umfassenden Denkweise, die eine ungeheure Fülle der ungleichartigsten Tatsachen anschaulich zu beherrschen vermag, im Gegensatze zum tiefen Denken, für das die abstrakte Zurückführung auf Gesetze und die Verdichtung der Gesetze in Theorien eine besondere Ökonomie bedeutet. Damit dürfte das Mach' sehe Prinzip der Ökonomie eine tiefere Bedeutung haben , als Pollack glaubt. Dasselbe steht, wie Mach selbst bemerkt, keineswegs im Widerspruche zu einer Vielseitigkeit der wissenschaftlichen Be- trachtung. Jenes Prinzip besagt nur das, daß der Mensch diejenigen Wege beschreitet , die ihm auf Grund seiner individuellen Vorbereitung am gangbar- sten sind, die von ihm ein Minimum von Aufwand verlangen. Die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen ist eine Funktion zweier Größen , einer persönlichen und einer der Umgebung angehörenden. Da jene nicht nur bei verschiedenen Menschen einen verschiedenen Wert hat, sondern auch bei demselben Menschen sich ändert, so werden die Anpassungs- weisen nicht nur bei verschiedenen Individuen , son- dern auch bei demselben zu verschiedenen Zeiten differieren. Ferner ist zu beachten, daß jede zunächst als ökonomisch gekennzeichnete Methode mit dem Momente ihres Versagens auch ihren ökonomischen Charakter verliert und nach einer neuen Methode hindrängt. Nicht in dem tatsächlichen Verlaufe des Denkens offenbart sich die Ökonomie, sondern vielmehr in der augenblicklichen Tendenz. Es dürfte auf einem Mißverständnis beruhen , wenn Pollack glaubt, Mach habe eine absolute „Be- gründung der Erfahrung durch Heranziehung des Gesichtspunktes der Ökonomie" beabsichtigt. Die Ökonomie manifestiert sich lediglich i n der Erfahrung, sie bildet eine charakteristische Seite derselben. In der Welt der nicht organisierten Körper besagt das Ökonomieprinzip nichts anderes, als daß ein sich selbst überlassenes System — um einen Ausdruck Boltzmann's zu gebrauchen — zunächst in einen „wahrscheinlicheren" Zustand übergeht, um sich einem „wahrscheinlichsten" anzunähern. Speziell für die dem ') cf. T- C\. Maxwell, „Über Faraday's Kraftlinien". Ostwald's Klassiker der exakten Naturwissenschaften. Nr. 69. N. F. VIII. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 621 Denken zugrunde liegenden nervösen Prozesse bedeutet jenes Prinzip, daß sie mit den von außen kommenden Reizen ein stabiles Verhältnis zu wahren suchen, oder daß sich das zentralnervöse System derart einstellt, daß es gegenüber allen Reizen mög- lichst stabil bleibt (Petzoldt). Po Hack verlangt eine Rechtfertigung dafür, daß die Naturwissenschaft die Erfahrung zu ihrer Grund- lage macht. Er glaubt, daß die Zugrundelegung der- selben höchst voraussetzungsvoll sei ; die Naturwissen- schaft setze bereits die Trennung von Subjekt und Objekt voraus und unterscheide zwischen Innenwelt und Außenwelt. Daß der Begrift' der Erfahrung einer besonderen .Analyse bedarf, ist klar. Wir sehen ja, wie mannig- faltig die Anschauungen darüber sind, was erfahrungs- gemäß ist oder nicht ist. Wir verkennen auch nicht die Wichtigkeit einer begrifflichen Trennung von Objekt und Subjekt und die Schwierigkeit einer zweckmäßigen Abgrenzung beider. Aber trotzdem verschlägt es gar nichts, zunächst dasjenige, was sich uns bei vorwiegend rezeptivem Verhalten auf- drängt, als Erfahrung anzusehen und von dem so Vorgefundenen als einem Sicheren, Bekannten aus- zugehen. Selbst der naiv denkende Mensch, mag er nun einen Unterschied zwischen Physischem und Psychischem fühlen oder nicht, dürfte den objektiven Tatsachen mehr Beachtung schenken als den subjek- tiven. Die Geschichte zeigt ferner, daß die Natur- forschung die subjektiven Vorgänge mehr und mehr von der Beachtung ausgeschlossen hat, um sich vor- wiegend den objektiven zu widmen. Höchst un- abhängig von einem scharfen Erfahrungsbegriffe hat sich die Wissenschaft doch kräftig entwickelt; aber dadurch , daß sie bei jedesmaligem Auftauchen von Widersprüchen zu einer Revision dessen genötigt wurde, was ihr als Erfahrenes, Erlebtes gegolten hatte, läuterte sie ihren seitherigen Erfahrungsbegrifif Sie hat dabei auch meistens den Grundsatz befolgt, den Pollack empfiehlt, nämlich weniger nach einer transzendenten Wahrheit zu suchen als vielmehr im Geiste der Aufrichtigkeit zu forschen. Zudem kann, wie Schopenhauer trefflich bemerkt, „keine aus einer objektiven, anschauenden Auffassung der Dinge entsprungene und folgerichtig durchgeführte Ansicht der Welt durchaus falsch sein ; sondern sie ist im schlimmsten Falle nur einseitig". Erst durch einen ungeheueren Läuterungsprozeß geht aus dem vagen Begriffe einer naiven Erfahrung ein exakter Erfahrungs- begriff' hervor, der schließlich einen relativ stabilen, überaus großen, dabei vielgegliederten Wirklichkeits- bestand umschließt. Das Erkennen besteht nach Schleiermacher darin , daß das , was man auf einer niederen Stufe des Bewußtseins hatte, allmählich verklärt, deutlicher, bestimmter und sicherer wird. (Gomperz, „Weltanschauungslehre", I.) Von der „Nullität" alles Gewonnenen auszugehen, würde wertvolle Kraft verschwenden lassen und möglicher- weise zu einer unfruchtbaren Jagd auf Hypothesen führen. Angersbach. E. Korscheit und K. Heider, Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der wirbellosen Tiere. Allgemeiner Teil. 3. Lieferung. Jena (Gustav Fischer) 1909. 166 Seiten und 104 Abbildungen im Text. -— Preis 4,50 Mk. Auf die Ausbildung der Geschlechtszellen , ihre Reifung und ihre Vereinigung in der Befruchtung, wie sie in den früheren Lieferungen geschildert waren, folgt nun in der vorliegenden Lieferung eine Dar- stellung der ersten Entwicklungsvorgänge am befruch- teten Ei, der Furchung. Die Furchung wird defi- niert als die gesetzmäßige Aufeinanderfolge einer Reihe von Zellteilungen, wodurch die Eizelle in eine größere Zahl von Einzelzellen zerlegt wird, welche alle der Eizelle ähnlich bleiben (Furchungszellen , Blasto- meren) und die besondere Eigentümlichkeit zeigen daß sie nicht wieder zur Größe der Mutterzelle heranwachsen, bevor sie zu einer neuen Teilung schreiten. Nach einer weiteren allgemeinen Erörte- rung der Prinzipien, welche den Furchungsvorgängen zugrunde liegen, wird zunächst ein System der Fur- chungstypen aufgestellt. Die bisher gebräuchliche Einteilung unterschied auf Grund der Dotteranordnung im Ei einen adäqualen (bei alecithalen oder isole- cithalen Eiern), einen inäcjualen und discoidalen (bei telolecithalen Eiern) und endlich einen superficiellen Typus (bei centrolecithalen Eiern). Die beiden ersteren Typen sind holoblastisch, insofern bei ihnen das ganze Ei in Blastomeren zerlegt wird, die letzteren mero- blastisch , bei ihnen wird nur ein Teil des Eies ge- furcht. Neuerdings ist nun (besonders von E. B. Wilson) ein weiteres Einteilungsprinzip hervorgehoben worden , beruhend auf den Achsenverhältnissen des Keimes, wie sie sich aus den wechselseitigen Lage- beziehungen der Blastomeren ergeben, und auf Grund dieser Prinzipien ist man zur Aufstellung eines Radiär- typus , eines disymmetrischen , bilateralen und eines Spiraltypus gekommen. Sie sind auch der vorliegen- den Darstellung unter alleiniger Beibehaltung des superficiellen und discoidalen Typus zugrunde gelegt. Der Radiärtypus ist gegeben, wenn um eine vom animalen zum vegetativen Pole ziehende Haupt- achse der Keim während der Furchung völlig radiär gebaut erscheint. Er findet sich bei Poriferen, Cni- dariern und Echinodermen und kann bald mehr dem äqualen, bald mehr dem inäqualen Modus sich nähern. Der d i s y m m e t r i s c h e Typus ist durch das frühzeitige Auftreten der für die ausgebildeten Formen charakteristischen Symmetrieverhältnisse gekennzeich- net, er ist nur bei den Ctenophoren nachgewiesen. Der Bilateraltypus ist ausgezeichnet durch das frühzeitige Hervortreten einer bilateral symmetri- schen Anordnung der Blastomeren , wie sie durch eine Abweichung der Ebenen der Meridionalfurchen von ihrer radiären Lagerung erreicht wird. Es gehört diesem Typus an die Eifurchung des Amphioxus der Ascidien , der Vertebraten mit holoblastischen Eiern, der Nematoden (von Ascaris besonders) und der Rotatorien. Der Spiraltypus läßt sich dadurch charakteri- sieren, daß bei ihm die durch Horizontalfurchen sich 622 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 39 abgHedernden oberen (d. h. dem animalen Pole ge- näherten) Zellencyclen gegen die unteren (dem vege- tativen Pole genäherten) durch eine um die Haupt- achse als Rotationsachse erfolgende Drehung verlagert erscheinen. Die genauere Kenntnis der Gesetzmäßig- keiten dieses Typus ist durch die Untersuchungen der beiden letzten Jahrzehnte ganz außerordentlich gefördert und vertieft worden. Es werden diese Gesetzmäßigkeiten sowie die besonders ausgearbeitete Nomenklatur der einzelnen Furchungselemente aus- führlich besprochen und sodann die einzelnen Tier- gruppen, bei welchen Spiralfurchung auftritt , im be- sonderen behandelt. Es sind dies die Polycladen, die Nemertinen, vor allem aber die polychäten Anneliden und die Mollusken (letztere mit Ausnahme der Ce- phalopoden). Bei dem überaus stark ausgeprägten determinierten Charakter dieser Furchung bei den beiden zuletzt genannten Tiergruppen ist es gelungen, die aus dem ungefurchten VA hervorgehenden Fur- chungszellen oder Komplexe derselben in kontinuier- licher Folge bis auf Organanlagen hin zu verfolgen, wobei am Furchungskeime charakteristische vorüber- gehende Gebilde (Apikairosette, Kreuzbildungen, so- matische Platte) nachweisbar sind. Mancherlei Eigen- arten weist die Furchung der Molluskeneier auf, wie sie sich ausprägen in der Furchung sehr dotterreicher Eier, in dem inversen Furchungstypus links gewunde- ner Schnecken, in dem rhythmischen Auftreten und Verschwinden einer Furchungshöhle während der Furchung. Eine besondere Behandlung erfahren end- lich noch die Vorgänge, welche zur Bildung des Ektomesoderms (larvaler Mesoblast) und Entomeso- derms führen, sie leiten bereits zur Keimblätterbildung über. Die bei centrolecithalen Eiern auftretende super- ficielle Furchung läßt sich von der totalen unter Annahme einer erheblichen Vermehrung der Dottersubstanzen ableiten. Sie ist besonders bei Arthropoden zu finden und besteht in reiner Aus- bildung aus einer fortgesetzten Kernvermehrung bei unterbleibender Zellteilung. Die sehr mannigfachen Formen dieses Furchungstypus lassen sich in zwei Gruppen zerlegen, von denen die eine Eier mit an- fänglich totaler, in späteren Stadien superficieller Furchung umfaßt, die zweite solche mit rein super- ficieller Furchung. In beiden Komplexen sind dann noch je zwei Untergruppen zu unterscheiden, je nach- dem die Blastodermbildung gleichzeitig allseitig erfolgt oder vorzeitig an der Ventralseite des Eies stattfindet. Die discoidale Furchung ist hauptsächlich bei den Wirbeltieren weit verbreitet und kommt unter den Evertebraten nur bei Skorpionen, Cephalopoden und Pyrosomen vor. Die drei letzteren Gruppen werden ausführlich in den Besonderheiten ihrer Fur- chung besprochen, von den Vertebraten dagegen nur einige besonders charakteristische Beispiele (Ganoiden, Teleostier) herausgegriffen. Im ganzen betrachtet bietet die vorliegende Liefe- rung eine modernen Ansprüchen durchaus gerecht werdende Bearbeitung der Furchungsvorgänge von allgemeineren Gesichtspunkten aus. Ein wichtiger Fortschritt ist vor allem in der präziseren Fassung der bisher unter den Typen der äqualen und inäqualen Furchung zusammengefaßten Erscheinungen gegeben, wie überhaupt die neueren Forschungen stark in den Vordergrund gestellt sind. Damit hängt zusammen, daß die bedeutungsvollen Erscheinungen des Bilateral- und Spiraltypus besonders eingehend behandelt wor- den sind , jedoch ohne daß dabei die übrigen Fur- chungstypen vernachlässigt wären. Überall finden wir auf der einen Seite das Typische treffend hervor- gehoben, daneben aber zugleich sorgfältig ausgewählte, durch zahlreiche Abbildungen erläuterte Beispiele, so daß der Leser eine anschauliche Vorstellung von der Gesamtheit der mannigfachen Erscheinungen tierischer Eifurchung zu gewinnen vermag. J. Meisenheimer (Marburg). E. Zschimmer, Die Glasindustrie in Jena, ein Werk von Schott und Abbe. 158 Seiten mit Zeichnungen von E. Knithan. Jena, E. Diederichs, 1909. — Preis 6 Mk. Das weltberühmte Jenaer Glaswerk sieht in diesem Jahre auf ein Vierteljahrhundert glänzendster Entwick- lung zurück, die uns in der vorliegenden Schrift in fesselndster Darstellung geschildert wird. Verf setzt dabei keinerlei Vorkenntnisse voraus, sondern be- schreibt zunächst iin allgemeinen den Entwicklungs- gang der Glasfabrikation, der seit Jahrhunderten zum Abschluß gekommen zu sein schien, als Schott 1879 die Erschmelzung neuer Glassorten sich zur Aufgabe stellte und trotz der Unbrauchbarkeit des zuerst her- gestellten Lithiumglases sich nicht abhalten ließ, systematisch weitere Versuche anzustellen, zu denen ihn Abbe in richtiger Erkenntnis der hohen Bedeu- tung einer wissenschaftlichen Fundamentierung der Glasbereitung ermunterte. Erfolgversprechender als Lithium zeigte sich die Hinzufügung von Phosphor- säure zur Glasschmelze und auch die Borsäure zeigte bald ihren wesentlichen Einfluß auf den Gang der Dispersion, der eine Verbesserung der Achromatisie- rung von Linsen in Aussicht stellte. Als nun schon ein Laboratorium für Versuchsgläser in Jena mit be- scheidenen Mitteln geschaffen war, wurde auch von anderer Seite her das Bedürfnis nach neuen Gläsern, und zwar für thermometrische Zwecke, wachgerufen und es gelang der Fürsprache Prof Försters, der 1884 von Schott, Abbe und Zeiß gegründeten Jenaer Glashütte eine Subvention von selten des preußischen Staates zu verschaffen. Nun konnte die Darstellung der Borosilikatgläser im größeren Maßstabe erfolgen und zu Versuchen verschiedenster Art waren wenig- stens die unbedingt nötigen Mittel vorhanden. Das Buch schildert nun den Jenaer Hüttenbetrieb im ganzen Umfange. Der Siemens'sche Regenerativofen, der Hafen- und Ofenbau werden auseinandergesetzt. Dann folgt auf einen wissenschaftlichen Exkurs über die gegenwärtige Auffassung der Natur des Glases und über die Methoden der Untersuchung desselben in bezug auf Spannungen, Schlieren usw. eine anschau- liche Beschreibung des Gusses großer Scheiben, der Kühlung, des Röhrenziehens und Geräteblasens, wobei natürlich die Jenenser Erfindungen, wie z. B. das N. F. \nU. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 623 Verbundglas, der GasglühlichtZylinder, das Uviolglas, gebührend erwähnt werden. Ein kurze Besprechung der Carl Zeiß-Stifuing beschließt die sehr lesenswerte Schrift. Die altertünielnde Ausstattung will uns weniger gefallen. Die nach Federzeichnungen her- gestellten Illustrationen mögen ja sehr künstlerisch sein, lassen doch aber in bezug auf Deutlichkeit und Befriedigung eines normalen Schönheitssinnes zum Teil recht viel zu wünschen. Der Text ist zwar mit großen, aber trotzdem die Augen des Lesers recht stark angreifenden Lettern gedruckt. Es wäre zu bedauern, wenn die rückschrittlerische Mode derart!- »er Buchausgaben auch in der wissenschaftlichen Literatur weiteren Eingang fände. Kbr. Literatur. Bals, Heinr. : Aus der niederen Tierwelt des Meeres. Mit ig lUustr. (XVI, 134 S.) Regensburg '09, Verlagsanstalt vorm. G. J. Manz. — 1,20 Mk., geb. in Leinw. 1,70 Ml;. Graumann's, Sandor, Führer. Wörterbuch der ungarischen Pflanzennamen m. besond. Berücksicht. der Volksausdrücke unter Angabe der deutschen botan. Namen. (111, 197 S.) 16°. Langensalza '09. (Erfurt, H. Neumann.) — Geb. in Leinw. 2 Mk. Grimsehl, Ob.-Realsch.-Dir. E. : Lehrbuch der Physik zum Gebrauche beim Unterricht, bei akademischen Vorlesungen u. zum Selbststudium. Mit 1091 Fig. im Text, 2 färb. Taf. u. e. Anh., enih. Tabellen physikal. Konstanten u. Zahlen- labellen. (Xll, 1052 S.) gr. 8". Leipzig '09, B. G. Teubner. — Geb. in Leinw. 16 Mk. Heim, Priv.-Doz. Dr. .\rnold: Die Nummulilen- u. Flysch- bildungen der Schweizeralpen. Versuch zu e. Revision der alpinen Eocaen-Stratigraphie. [.Xus: „Abhandlgn. d. Schweiz, paläont. GescUsch."] (XI, 302 S. m. 26 Fig., 8 Lichldr.- Taf. u. 7 Bl. Erklärgn.) 32,5X24 cm. Zürich '08. (Basel, Georg & Co.) — 24 Mk. Höegb, Emil v.: Elementarer Beweis des Fermat'schen Satzes. (8 S.) Lex. 8». Rostock '09, C. Boldt. — 1,50 Mk. Ihle, Paul: Biologien heimischer Schmetterlinge, insbesondere V. Schädlingen in Garten , Feld u. Wald , in farbigen Ab- bildungen nach Naturaufnahmen. Mit Text v. E. Gunder- mann. Für Schule u. Haus. 2. verm. u. verb. Aufl. der „Großschmetterlinge Thüringens" v. Ihle. (In 12 Liefergn.) I. Lfg. (3 färb. Taf. m. je I Bl. Text u. je I Bl. Vorwort u. Inhaltsverzeichnis.) 24,5X34.5 cm. Gotha '09, Ihle & Deussing. (Nur direkt.) — 3 Mk. Rupe, Prof. Dr. Hans: Anleitung zum Exiierimentieren in d. Vorlesung über organische Chemie. Zum Gebrauche an Universitäten, techn. Hochschulen u. höheren Lehranstalten, sowie zum Selbstunterricht f. Studierende. (X, 130 S. m. 30 .Abbildungen.) gr. 8". Braunschweig '09, F.'Vieweg & Sohn. — 4,50 Mk., geb. 5,40 Mk. Spiegel, Prot. Dr. Leop. : Chemische Konstitution u. physio- logische Wirkung. [Aus: ,, Sammlung, ehem. u. chemisch- techn. Vorträge".] (96 S.) Lex. 8°. Stuttgart '09, F. Enke. — 3,60 Mk. Walter, Hans: Phytolaccaceae, m. 286 Einzelbildern in 42 Fig. (154 S.) Leipzig '09, W^ Engelmann. — 7,80 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn P. K. in Halle a. S. — Seitdem das Darwin- sche Buch über die Entstehung der Arten erschien, ist sehr viel über den Artbegriff in der Zoologie geschrieben wor- den. Fast jede Schrift, die auf deszendenztheoretische Fragen eingeht, beschäftigt sich kurz mit dem Artbegrifif. Da aber fast die Mehrzahl der heute erscheinenden zoologischen Ar- beiten deszendenztheoretische Gesichtspunkte enthalten, so ist klar, daß ich hier einen irgendwie vollständigen Literatur- bericht über den Gegenstand unmöglich bringen kann. — Ich nenne Ihnen nur einige Arbeiten, die mir in dieser Frage be- sonders wichtig zu sein scheinen, um Ihnen im Anschluß daran einige allgemeine Gesichtspunkte zu geben: — K. Möbius, „Die Bildung und Bedeutung der Artbegriffe in der Natur- geschichte", in: Schrift, naturw. Ver. Schlesw. -Holstein Bd. I, 1873, S. 159 — 178; L. Döderlein, ,,Über die Beziehungen nahe verwandter Ticrformen zueinander", in: Zeitschrift für Morphol. u. Anthropol. Bd. 4, 1902, S. 393—442; E. B. Poulton, „What is a Spccies", in: Trans, ent. Soc. London 1903 Proc. p. LXXVII — CXVI; ferner die .Aufsätze: ,,Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne", in: Biol. Cen- tralbl. Bd. 20, 1906, S. l — 15 und „Die Darwin'schc Theorie und ihre Beziehung zu anderen Theorien", in: Zool. Anz. Bd. 34, 1909, S. 302 — 313. — Über den Artbegriff wird man sich am besten klar, wenn man von bestimmten Beispielen ausgeht und zwar von Beispielen, die einem recht geläufig sind: — Jeder Mensch kennt den Haussperling, Passer do- mesllcus, und die meisten Menschen wissen, daß bei uns noch eine zweite Sperlingsart, der Feld- oder Baumsperling, Passer montaiius, sehr häufig ist. Der Feldsperling unterscheidet sich vom Hausspcrling besonders dadurch, daß er kleiner ist, daß er in beiden Geschlechtern eine braune Kopfoberseite besitzt, und daß er an den Seiten des Oberhalscs einen schwarzen, rings weißlich umgebenen Fleck besitzt. Beide Arten variieren in ihrer Farbe und Zeichnung, besonders aber der Haus- sperling. In Südeuropa , Nordafrika usw. hat die Oberseite des Kopfes beim Männchen eine rotbraune, statt, wie bei uns, eine graue Farbe. Der spanische und der italienische Haus- sperling sind auch noch etwas verschieden. Da es aber keineswegs an Zwischenstufen zwischen den genannten Feder- kleidern fehlt, halten viele Zoologen die südeuropäischen Haussperlinge nur für Lokalformen, für Unterarten und nennen sie Passer domesiicus hispaniolensis und Passer dotnesticus Ifa- Uae. Diesen Unterarten gegenüber ist der Feldsperling über- all an dem schwarzen F'leck des Überhalses und die rotbraune Kopfoberseite beim Weibchen scharf vom Haussperling zu unterscheiden. Nirgends gibt es Zwischenstadien und deshalb hält man den Feldsperling für eine sog. ,,gute Art". — Die Frage , wie sich zwischen zwei sehr nahe verwandten .Arten dauernd ein scharfer Unterschied erhalten kann, beantwortete man früher anders als jetzt. Früher meinte man , die scharfe Grenze werde stets und allein dadurch aufrecht erhalten, daß Bastarde ohne Ausnahme untruchtbar seien. Man stützte sich bei dieser Behauptung besonders auf die Erfahrungen, die man beim Bastardieren von Plerd und Esel gesammelt hatte. — Heute wissen wir, daß in der Natur Kreuzungen zwischen zwei nahe verwandten Arten in verschiedener Weise verhin- dert werden können, nämlich entweder i. durch lokale Trennung oder 2. durch eine verschiedene Reifezeit der Geschlechts- produkte oder 3. durch eine verschiedene Form der Kopula- tionsorgane oder 4. durch eine gegenseitige Unfruchtbarkeit bzw. beschränkte Fruchtbarkeit der männlichen und weiblichen Geschlechlsprodukte zueinander oder endlich 5. durch eine unwiderstehliche Abneigung der beiden verwandten Formen gegeneinander. Für alle diese Möglichkeiten kennen wir Beispiele. — Die beiden Sperlingsarten schreiten vielfach un- mittelbar nebeneinander und zu derselben Zeit zur Brut, ohne daß Mischpaare, ja, auch nur Versuche einer Mischpaarung beobachtet wären. Das ist nur verständlich , wenn zwischen beiden .Arten eine Abneigung, also die fünfte der oben ge- nannten Schranken besteht. Freilich hat man in der Gefangen- schaft, d. i. unter anomalen Verhältnissen, vereinzelt eine Mischpaarung beobachtet und diese Mischpaarung hat in ein- zelnen Fällen auch Nachkommen ergeben. Ja, es sind auch in der freien Natur einzelne Individuen gefunden worden, die man als Bastarde glaubte auffassen zu müssen. Derartige Individuen sind aber trotz der Häufigkeit der beiden Arten so äußerst selten — soweit ich sehe, sind bisher in der Natur nur 4 Fälle bekanntgeworden (vgl. J. E. H arting, in : Zoologist 3 Ser. vol. 18, 1894, p. III u. 154) — daß der Unterschied zwischen den beiden Arten als ein durchaus konstanter be- zeichnet werden muß. — Was bisher gesagt wurde, bezieht sich auf Tiere, die sich nur geschlechtlich fortpflanzen (wie die Vögel die meisten Insekten, die Spinnen usw. usw.). Bei Tieren, die sich vorwiegend oder ausschließlich ungeschlecht- lich vermehren (w'ie die Schwämme, die Korallen, die Pro- tozoen usw.) , ist scheinbar viel weniger oder gar keine Ge- legenheit für das Entstehen von Zwischenformen gegeben. Um so mehr muß man sich wundern, daß gerade bei diesen 624 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vlir. Nr. 39 die Arten durchweg weniger schart" voneinander gesondert sind. Es geht das so weit, daß Forscher, die sich in erster Linie mit derartigen Tiergruppen beschäftigt haben, den Ein- druclc gewinnen lionnten, es gebe sog. gute Arten in der Natur gar nicht, eine scharfe Abgrenzung der Arten sei also nichts von der Natur Gegebenes, sondern etwas willivürlich vom Menschen Hineingetragenes. Das obige Beispiel , dem sich unzählige an die Seite stellen lassen, beweist zur Genüge, daß diese Auffassung unrichtig ist. Nur in der Abgrenzung der Gruppen, d. i. der Gattungen, der Familien usw. ist der Willkür Raum gegeben, in der Abgrenzung guter Arten nicht. — Die Tatsache, daß Tierarten mit vorwiegend ungeschlecht- licher Fortpflanzung sich weniger scharf voneinander abgrenzen lassen, kann man nur verstehen, wenn man annimmt, daß die Art etwas im Laufe der Zeit Gewordenes ist, und daß bei Tierarten , die nicht örtlich getrennt vorkommen , allein die geschlechtliche Fortpflanzung das Auftreten von Zwischen- formen beseitigt. Auf diese theoretische Seite der Frage ein- zugehen würde hier zu weit führen. Ich verweise deshalb auf die beiden oben zuletzt genannten Aufsätze. Dahl. Kunstwerke des Winters. — Am 25. Dezbr. 1908 stieg ich den östlichen Hang der Haardt hinauf, dessen nie- derer Eiclienwald von zahlreichen Rossein unterbrochen ist. Wo der Weg eine solche Rössel durchsclinitt, zeigten sich am hatte die Form einer Spindel, eins war ein nach oben ge- bogenes Fähnchen , ja aus einem Stengel waren Fähnchen oder Löckchen nach allen Seiten hervorgeschossen, so daß es einer weißen Blume glich, hier hing ein Trichter, da umge- kehrt ein Glöckchen. Sie hatten alle dieselbe feine horizon- tale Streifung, bald weißer, bald glasiger anzuschauen. Die zerschlitzte Korkschicht mit dem Bast hing in streifigen Fetzen um die Eisfiguren, zwischen deren dünnen Blältchen das weiße Holz zu sehen war. Unter und über dem Eis sproßten junge grüne Triebe hervor, unversehrte, grüne Blätter fanden sich an denselben Stauden vor. Die vorhergehenden Tage waren mild , jetzt lag ein feiner Nebel , nur aus der Ferne als solcher erlcennbar, überm Berg; nirgends war Reif oder von Frost erschlafftes Pflanzenleben zu sehen. An keiner Pflanze zeigte sich eine ähnliche Erscheinung wiewohl es nicht an Labkraut und Nesseln fehlte, aber an jedem Schildampfer, soweit ich suchte, war eine schöne, zarte Eisform. Ein Schnitt durch den Stengel zeigte tadellos erhaltene Gefäße, das zarte Cambium zerrissen, der Stengel stellenweise vom Mark aus gesprengt. Da Herr Kilian in Stromberg schon vor mehreren Jahren dieselbe Erscheinung am Labkraut, und auch wieder nur an diesem beobachtet und photographische Aufnahmen gemacht hat, die einen Vergleich mit den diesjährigen Beobachtungen gestatten , so ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen , daß andere Naturfreunde, einmal auf diese Erscheinung aufmerksam Boden weiße, flockige Gebilde, wie Federn, oder waren es gemacht, in ihrer Heimat ähnliches beobachten und zur Klä- Gespinste? Ich sah näher zu und fand, daß es Eis war. An mng der Frage über die Entstehung dieser Eisgebilde bei- jeJem Stengel des Schildampfers (Rumex scutatus L.), nicht tragen. Johanne Danz. Kreuznach, weit vom Boden entfernt, war ein wundervolles Ding. I'',ins Inhalt: Dr. Berthold Weiß: Die Energie. — Sammelreferate und Übersichten : Fehlingcr; Neues von der Rassen- hygiene. — Kleinere Mitteilungen; Dr. Brillen: Secreta oder Verborgene geheime Künste aus dem Jahre 1616. — Prof. H. Matthcs: Über einige interessante physiologisch-chemische Untersuchungen. — L. A. Bauer: Amerikanische Arbeiten auf dem Gebiete des Erdmagnetismus. — Himmelserscheinungen im Oktober 1909. — Bücherbesprechungen: Walter Pollack: Über die philosophischen Grundlagen der wissenschaftlichen Forschung als Beitrag zu einer Me- thodenpolitik. — E. Korscheit und K. Hei der: Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der wirbel- losen Tiere. — E. Zsch immer: Die Glasindustrie in Jena. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue folge Vlll. Ban.l ; der ganzen Keihe XXIV. Band. Sonntag, den 3. Oktober 1909. Nummer 40. Die Erreichung des Nordpols. fNaclulruck verboten.] Von Otto Baschin. Das Ziel, nach dem so viele kühne und er- fahrene Polarreisende jahrzehntelang- sehnsüchtig- gestrebt haben, ist unvermutet erreicht worden. Einem Sohne der Vereinigten Staaten von Amerika, Dr. F. A. Cook, ist es vergönnt gewesen, den Ehrgeiz der Amerikaner, die „Stars and Stripes" auf dem Nordpol der Erde flattern zu wissen, als Erster zu befriedigen. Nicht immer ist ein solcher Ehrgeiz bei den Völkern, die sich an der Erfor- schung des Nordpolargebietes beteiligt haben, vor- handen gewesen. Nach den Entdeckungsfahrten der Spanier und Portugiesen, am Ausgang des 15. Jahrhunderts, war es der sehnliche Wunsch aller seefahrenden Nationen, auf anderen, und zwar, wenn irgend möglich, auch auf kürzeren Wegen nach den Ländern Süd- und Ostasiens zu gelangen, als auf dem Weg um die Südspitze Amerikas, den die Spanier, oder dem um die Südspitze Afrikas, den die Portugiesen mit allen Machtmitteln den anderen Nationen versperrten. Der Weg nördlich um Amerika herum, die nord- westliche Durchfahrt, oder im Norden Sibiriens bis zur Beringstraße, die nordöstliche Durchfahrt, waren lediglich Schiffahrtswege, die gesucht wur- den, um unabhängig von Spaniern und Portu- giesen mit den asiatischen Völkern Handel zu treiben , und an dem ungeheuren Gewinn teilzu- nehmen, den damals dieser Handel mit sich brachte. Erst in unseren Tagen ist die nordöst- liche Durchfahrt von ErikNordenskiöld, die nordwestliche von Roald Amundsen wirklich ausgeführt worden, aber zahlreich sind die Expe- ditionen, die im Laufe der vergangenen Jahr- hunderte danach gesucht haben. Ein nicht ge- ringer Teil unserer Kenntnis der Nordpolarländer stammt von den Beobachtungen, welche diese, wesentlich zu handelspolitischen Zwecken ausge- sandten Expeditionen auf ihren Kreuz- und Quer- fahrten im hohen Norden gemacht haben. .^ber auch der Reichtum an den nordischen Seesäugetieren, Eisbären, Robben und Walen war es, der zahlreiche Schiffer in das Eismeer lockte, wo anscheinend unerschöpfliche Jagdgründe für diese Tiere vorhanden waren , deren Produkte, Speck und Tran, sowie Felle und Fischbein wert- volle Handelsartikel bildeten. Bei diesen Jagden haben manche Schiffe ziemlich hohe Breiten er- reicht, und wenn man den Berichten holländischer Schiffer des 17. Jahrhunderts Glauben schenken darf, ist man schon zu jener Zeit bis in die aller- nächste Nähe des Pols vorgedrungen. Es müßten damals ungewöhnlich günstige Verhältnisse für die Schiffahrt geherrscht haben, denn in den beiden Berichten, die über jene Reisen vorliegen, wird über- einstimmend erwähnt, daß das Meer weithin olTcn und leicht zu befahren gewesen sei. Erst im 19. Jahr- hundert aber hat das Interesse für den Nordpol selbst so zugenommen, daß Expeditionen, in der ausge- sprochenen Absicht den Pol zu erreichen, nach Norden vordrangen; und mehr oder minder vorhanden war diese Absicht wohl bei den meisten Polarfahrten der letzten Jahrzehnte. Der englische Polar- forscher Sir William Edward Parry, der bereits in dem arktischen Archipel Nordamerikas mit Erfolg tätig gewesen war und den auf die Erreichung des iio. Grades westlicher Länge in diesen Ge- bieten ausgesetzten Preis von looooo Mark ge- wonnen hatte, machte auf seiner fünften Polarreise mit Schlittenbooten von Spitzbergen aus einen Vorstoß nach Norden, auf dem er am 23. Juli 1827 bis zur höchsten bis dahin von wissen- schaftlichen Reisenden erreichten Breite von 82 Grad 45 Minuten vordrang. Dort aber wurde die nach Süden setzende Strömung so stark, daß Parry, obwohl er auf den treibenden Eisschollen mit größter Anspannung seiner Kiäfte nach Nor- den strebte, doch Tag für Tag weiter nach Süden versetzt wurde, so daß er den Kampf schließlich aufgeben mußte. Nahezu 50 Jahre blieben dann alle Versuche, dem Nordpol näher zu kommen, erfolglos. Erst 1876 machte sich ein Landsmann Parry 's. Albert Hastings Mark ha m als Mitglied der Nares'schen Polarexpedition die Erfahrungen Parry 's zunutze, indem er zu einer erheblicli früheren Jahreszeit, von Grant-Land ausgehend, eine Schlittenexpedition nach Norden unternahm, auf der er am 12. Mai 1876 die Breite von 83 Grad 20 Minuten erreichte. Auch Leutnant J. B. Lock- wood, ein Mitglied der unter A. W. Greely in der Lady P'ranklin Bay errichteten amerikani- schen Station der „Internationalen Polarforschung 1S82 — 83", kam am 13. Mai 1882 nur bis 83 Grad 24 Minuten, also eine geographische Meile weiter nach Norden. Immer klarer zeigte es sich , daß man, wenn man hohe arktische Breiten erreichen wollte, noch beträchtlich früher im Jahre auf- brechen und die Zeit benutzen müsse, zu welcher die Eisdecke des Polarnieeres noch fest gefroren, und das Eis selbst noch nicht von den Strahlen der Polarsonne aufgeweicht ist. Andererseits aber stand einem zu frühzeitigen Aufbruch die Dunkel- heit der Polarnacht und die große Kälte entgegen. Der Norweger Fridtj o f Nansen, der, wie in so vielen anderen Gebieten der Polarforschung, auch in diesem Punkte bahnbrechend gewirkt hat, 026 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 40 verließ auf seiner großen Polarfahrt mit dem Schiff „Fram" dieses bereits am 14. März mit seinem Begleiter Iljalmar Johansen, und beide er- reichten am 7. April 1895 die Breite von 86 Grad 14 Minuten, gelangten also 313 Kilometer weiter nach Norden als ihr Vorgänger vor 13 Jahren. In der gleichen Gegend drang der Italiener Cagni, ein Teilnehmer der Polarexpedition des Herzogs der Abruzzen , 5 Jahre später vor und kam am 25. April 1900 bis 86 Grad 34 Minuten. Inzwischen hatte der Amerikaner Robert E. Peary, der seine polare Forschungstätigkeit damit begonnen hatte, daß er 1886 auf dem bis dahin nur von wenigen Europäern erstiegenen Inlandeise Grönlands 160 Kilometer weit in das Innere dieser größten Eiswüste der Nordhalbkugel vorgedrungen war, die Gegend des nördlichsten Grönlands und Grant-Lands als Basis für seine weiteren Entdeckungsfahrten genommen. Mit richtigem Blick hatte er erkannt, daß von hier aus die günstigste Gelegenheit gegeben war, weit nach Norden vorzudringen. Peary ging in wohl- überlegter und systematischer Weise zu Werke. Zunächst erforschte er auf zahlreichen Expeditio- nen 1891 — 92, 1893 — 95, 1896, 1897, 1898 — 1902, 1905 — 06 das nördlichste Grönland, sowie Elles- mere- und Grant-Land und trainierte sich dabei mit seiner zähen Energie und einer Ausdauer, die unsere Bewunderung erregen muß, für arktische Reisen. Am 16. Mai 1900 erreichte er die Nord- spitze Grönlands und taufte diesen nördlichsten bisher von Menschen betretenen Punkt des P'est- landes unserer Erde Cap Morris Jesup. Am 21. April 1902 drang er nördlich von Grant-Land über die von Markham erreichte Breite hinaus bis 84 Grad 17 Minuten, und als er am 21. April 1906 87 Grad 6 Minuten nördlicher Breite erreicht hatte, da waren alle bisherigen Vorstöße über- flügelt. Der Erfolg blieb nicht aus. Eine be- geisterte Schar von Anhängern sammelte sich um Peary, und der bereits im Jahre 1886 in New York begründete ,, Peary Arctic Club" setzte alles daran, um Peary in den Stand zu setzen, die ame- rikanische Flagge auf dem Pol aufzupflanzen. Im Sommer 1907 wollte dieser wieder nach seinem .Arbeitsgebiet aufbrechen, aber Schiff und Aus- rüstung wurden nicht rechtzeitig fertig, und so mußte die Abfahrt der Expedition bis zum näch- sten Jahre vertagt werden. Am 17. Juli 1908 verließ der Forsclier auf dem Dampfer „Roose- velt" den Hafen von Sydney auf der Cap Breton- Insel und steuerte nach Norden, die Brust voll kühner Hoffnungen, denn diesmal hoffte er zuver- sichtlich den Pol zu erreichen, und er bezeichnete schon damals das PVühjahr 1909 als den Termin, wo ihm die Krönung seines Lebenswerkes ge- lingen sollte. Was er anstrebte hat er erreicht. Aber nicht als Erster! Bei dem Wettlauf, denn diesen Charakter hatte der Kampf um den Nord- pol schließlich angenommen, war ihm ein anderer zuvorgekommen, und noch dazu einer seiner Mit- arbeiter auf früheren Expeditionen. Dies darf nicht aus dem Auge gelassen werden, wenn man die Schärfe des Tones, die bei dem Streit der Parteien in der Tagespresse angeschlagen worden ist, verstehen will. Dr. Frederick .\lbcrt Cook, geboren am 10. Juni 1865 zu Callicoon im Staate New York, promovierte 1890 als medizinischer Doktor an der Universität von New York, begleitete als Arzt Peary auf seiner zweiten Expedition nach Grön- land und beteiligte sich 1897 — 98 an der belgi- schen Südpolar Expedition unter A. de Gerlache, wobei bekanntlich die erste Überwinterung im Südpolargebiet ausgeführt wurde. In den Jahren 1903 und 1906 unternahm Dr. Cook Forschungs- reisen in Alaska, wo es ihm nach vielen An- strengungen gelang, den Gipfel des 6215 m hohen Mac Kinley-Berges zu erklimmen und den Nach- weis zu liefern, daß dieser der höchste Berg des nordamerikanischen Kontinentes sei. Im Sommer 1907 trat Cook, reichlich mit Proviant ausgerüstet, in Begleitung des amerikanischen Mäcens John Bradley auf dessen Motorschoner ,,Bradley" eine Reise nach Etah, der nördlichsten Eskimo-Ansied- lung in Grönland, an , das im August erreicht wurde. Während das Schiff zurückkehrte, blieb Cook dort, da die Verhältnisse für einen erfolg- reichen Vorstoß nach dem Pol gerade damals außerordentlich günstig lagen. Die Sommerjagd der Eskimos, die in Stärke von etwa 250 Köpfen dort ansässig waren, hatte nämlich so reiche Er- träge geliefert , daß Lebensmittel und Hunde im L^berfluß vorhanden waren. Der Winter verging mit dem Beschaffen von Vorräten und Vorberei- tungen für die Expedition, die möglichst frühzeitig im Jahre angetreten werden mußte. Es wurde daher Ende Januar als Aufbruchstermin angesetzt, aber erst am 19. Februar 1908, dem Tage, an dem die Winternacht ihr Ende erreichte, und die Sonne zum erstenmal über dem Horizont erschien, die Abreise angetreten. Die Karawane bestand außer Cook und einem Mann der Schiffsbesatzung, namens Franke, aus 10 Eskimos und 107 Hunden, die 1 1 Schlitten zogen. Cook dürfte es zweifel- los bekannt gewesen sein, daß Peary bei seinem letzten Vorstoß nach Norden eine, durch die Meeres- strömung bewirkte, nach Osten gerichtete Ver- setzung der Eismassen im Polarmeere gefunden hatte, denn er richtete seinen Kurs nicht direkt nach Norden, sondern zunächst nach Westen. In zwei Tagen durchquerte er den Smith-Sund, der diese äußerste Westspitze Grönlands von dem weiter westlich gelegenen Ellesmere Lande trennt, und drang in das Innere dieses wildreichen Lan- des ein. Rudolf Franke kehrte nach wenigen Tagen bereits nach Etah zurück und reiste im Sommer 1908 mit dem Schiff, das Peary nach Etah brachte, nach Amerika, wo man annahm, daß Cook umgekommen sei, da er nicht, wie ver- abredet, bis Juni in Etah wieder eingetroffen war. Cook hatte unterdessen in Ellesmere-Land unter sehr strenger Kälte zu leiden, denn die Tempe- ratur sank bis auf 64" C unter Null, so daß meh- N. F. VIII. Nr. 40 Naturwisscnschriftlichc W'ochcnsclirift. 627 rere Iluiulc den l'ücl durch Erfrieren fanden. Die Ricluii^keit dieser niedrigen, von Cook gemessenen Teniperatur ist mehrfach angezweifelt worden. Bedenkt man jedoch, daß in dem an der Küste in 78';,," Breite gelegenen Rensselaerhafen Tcm- |)craturen von — 55" gemessen worden sind, und daß in dem arktischen Archipel Nordamerikas der I'-ebriiar der kälteste Monat zu sein pflegt, so liegt kein Grund vor, zu bezweifeln, daß auf den Höhen im Innern des vereisten EUesmerc Landes in dieser Zeit tatsächlich so tiefe Temperaturen vorkommen können. Nachdem die schlimme Zeit überstan- den war, fand man einen außerordentlichen Reich- tum an jagdbarem Wild, und nicht weniger als lOi Moschusochsen, 7 Eisbären und 335 Hasen konnten erlegt und zum Teil in den Proviant- depots verwahrt werden, die nun an dem Ufer des Nansen-Sundes angelegt wurden, der Ellesmere- Eand von Axel Heiberg- Land trennt, das, im Westen des ersteren gelegen, das größte der von Otto Sverdrup im Jahre 1900 erforschten neuen Länder ist. Von hier aus sandte Cook 6 Eskimos mit ihren Hunden zurück, und verließ mit deii übrigen 4, sowie mit 44 Hunden das Land, um in das Polareis vorzudringen. Nachdem auf diesem etwa iio Kilometer zurückgelegt waren, wurden abermals 2 Eskimos zurückgeschickt, und nur die beiden tüchtigsten, Itukisut und Awi- lah, die beide erst zwanzigjährig waren, bildeten fortan die einzigen Begleiter Cooks in der Eis- wüste des äußersten Nordens. Auf zwei von 26 Hunden gezogenen Schlitten wurden Lebens- mittel für 80 Tage mitgenommen, sowie ein zu- sammenlegbares Segeltuchboot von 4 m Länge und I ' ., m Breite, dessen Holzgerüst zugleich Bestandteile des einen Schlittens bildete. Nachdem das letzte Land den Blicken ent- schwunden war, stellte sich dichter Nebel ein, der mehrere Tage anhielt, bis am 30. März der Horizont wieder ziemlich klar wurde und durch den Nebel im Westen neues Land sich zeigte. Man konnte einen südlicheren, gletscherbedeckten Teil unterscheiden, der Berge von 500 — 600 m Höhe trug, und einen nördlicheren, der ebenfalls mit Eis und Schnee bedeckt war, aber nur bis etwa 350 m emporragte. Diese Landentdeckung darf wohl als das wichtigste geographische Re- sultat der Cook'schen Reise bezeichnet werden. Sie gewinnt an Bedeutung, wenn man sie ver- knüpft mit einer Entdeckung Peary's, die dieser im Frühjahr des Jahres 1906 machte, als er die Nordküste von Grant-Land bis zum westlichsten Ende derselben erforschte. Er sah dort mehrmals fern im Nordwesten ein hohes, mit schneebedeckten (jebirgen gekröntes Land, das er Crocker-Land taufte und auf seiner Karte in etwa 83 Grad Breite und 103 Grad westlicher Länge einzeichnete. Der Punkt, von dem aus Cook das neue Land erblickte, lag in 84 Grad 47 Minuten Breite und 86 Grad 36 Minuten westlicher Länge. Dies er- gibt für die beiden von Cook und Peary gesich- teten Länder eine Entfernung von ungefähr 300 Kilometern. P-s ist daher nicht unwahrschein- lich, daß es sich möglicherweise um ein Polar- land von beträchtlicher Größe handelt, und daß beide P'orscher die Küste des gleichen Landes, nur an zwei verschiedenen Stellen, entdeckt haben. Leider hinderten die Rücksichten auf die Not- wendigkeit eines schnellen Vormarsches und auf die verhältnismäßig geringen Vorräte Cook, einen Abstecher zur Erforschung des neuentdeckten Landes zu machen. Von da ab wurde kein Fest- land mehr gesehen, und keine Spuren organischen Lebens mehr bemerkt. Die P'ußspuren der Eis- bären und die Luftlöcher der Robben hörten auf, und eine Untersuchung des Wassers in den Eis- spalten ergab die Abwesenheit von mikroskopi- schen Organismen. Die astronomischen Orts- bestimmungen wurden mit einem Sextanten fran- zösischen P'abrikats, der eine Ablesung auf Minuten gestattete, unter Zuhilfenahme eines Glashorizontes ausgeführt. Am 7. April sah man zum ersten Male die Mitternachtssonne, und von da ab blieb die Sonne beständig über dem Horizont. Am 8. April befand sich die Expedition in 86 Grad 36 Minuten Breite und 94 Grad 2 Minuten west- licher Länge. Jenseits des 86. Grades nahmen die Eisfelder an Ausdehnung zu, und die Spalten wurden geringer an Zahl und weniger störend. Zwischen dem 87. und 88. Grad fuhr man zwei Tage lang über eine Eisart, die sich durch ihre ebene, glatte Oberfläche und die Abwesenheit tiefer Spalten von dem Charakter des bisher an- getroffenen Eises auffallend unterschied. Am 14. April war man in 88 Grad 21 Minuten Breite und 95 Grad 52 Minuten Länge angelangt. Ob- gleich die Temperatur mehr als 40" C unter dem Gefrierpunkte war, befand sich das Packeis hier in lebhafter Bewegung. Die körperliche und geistige Anspannung war auf das höchste ge- stiegen, und die erregte Phantasie täuschte den Reisenden oft ein neues Land in der Ferne vor, das sich dann bei genauerem Zusehen als eine, durch die häufigen Luftspiegelungen verursachte, optische Täuschung erwies. Am 21. April ergab die erste Breitenmessung 89 Grad 5g Minuten und 40 Sekunden. Cook rückte daher noch um 20 Sekunden, d. h. etwa 600 m weiter nach Nor- den vor, und verifizierte seine Position dann durch mehrere Messungen an demselben und am nächsten Tage. Als kein Irrtum bezüglich der erreichten Breite von 90 Grad mehr möglich war, wurde die amerikanische Flagge an einer in das Eis gesteckten Stange befestigt, und ein Reise- bericht in einer versiegelten Röhre deponiert. Die Temperatur am Pol betrug — 39" C, der Baro- meterstand 757,7 mm, Werte, die etwa dem ent- sprechen, was man erwarten konnte. So weit das Auge reichte, erstreckten sich endlose, von der, den Horizont in gleichbleibender Höhe um- kreisenden Sonne in Purpurfarbe gehüllte Schnee- fclder, ohne Land, ohne Leben, ohne eine einzige Stelle, welche die Eiswüste unterbrochen hätte. Zwei Tage verweilten die Reisenden in dieser 628 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 40 grandiosen Einöde, in der sie mit ihren 12 Hun- den (14 halten unterwegs als Nahrung gedient) die einzigen lebenden Wesen waren. Am 23. April wurde die Rückreise begonnen. Da auf ein andauerndes Treiben des Eises nach Osten gerechnet werden mußte, so wurde jetzt ein etwas westlicherer Kurs eingeschlagen. An- fangs wurden bei gutem Wetter und günstigen Eisverhältnissen täglich große Entfernungen zu- rückgelegt. Südlich vom 87. Breitengrad jedoch wurde das Eis sehr unwegsam. Die schnell vor- rückende Jahreszeit brachte mitunter heftige Slürme mit sich, und bei der täglichen Beschränkung des Nahrungsmittel-Vorrates kam den Reisenden immer eindringlicher zum Bewußtsein, daß der Kampf gegen Hunger und PVost sich zu einem Verzweiflungskampf um ihr Leben gestalten könnte. Da die Gefahr des Verhungerns immer näher rückte, so konnten sie nicht auf den Ein- tritt besseren Wetters warten, sondern mußten alle Anstrengungen darauf richten, möglichst schnell nach Süden zu kommen und das feste Land zu erreichen. Als der Himmel sich am 24. Mai für kurze Zeit aufklärte, gelang es eine Ortsbestimmung zu machen, welche die Position 84 Grad Breite und etwa 97 Grad westlicher Länge ergab. Das Eis befand sich in starkem Schmelzen und zeigte viele, mit offenem Wasser angefüllte Waken. Auf den Schlitten befand sich nicht mehr genügend Nahrung, um noch die am Nansensund aufgestapelten Vorräte zu erreichen. Als der 83. Breitengrad überschritten war, befand man sich auf einem schwimmenden Eisfeld, das sich weit nach Süden hin ausdehnte. Da die Temperatur inzwischen auf den Schmelzpunkt des Eises gestiegen war, so begann das Eis sich in immer kleinere Stücke zu zerteilen. Nach 20 tägigem dichten Nebel klärte sich der Himmel endlich auf, und die Erlegung einiger Bären ver- scheuchte die dringendsten Nahrungssorgen. Da das Eis jetzt nach Westen getrieben war, so ver- suchte Cook südwärts nach dem Lancaster-Sund, im Süden der Insel Nord-Devon zu gelangen, weil er hoffte, dort im Juli vielleicht ein schottisches Walfangschiff zu treffen. Da ein Vordringen dort- hin sich jedoch als unmöglich erwies, so strebte er in der Sorge um Nahrung dem Johns-Sunde zu, der die Insel Nord-Devon von dem nördlicher gelegenen EUesmere-Land trennt. Hier angelangt gab er den noch übrig gebliebenen Hunden die Freiheit, und versuchte in dem JohnsSundc, ab- wechselnd mit Schlitten und Faltboot nach Osten fahrend, die Baffinsbai, den letzten, ihn noch von Grönland trennenden Meeresteil zu erreichen. Dies gelang jedoch nicht, da zu Anfang September der Frost jedes weitere Vordringen unmöglich machte. Bei Cap Sparbo, auf einer in den Johns-Sund nach Norden vorspringenden Halbinsel der Insel Nord- Devon, wurde schließlich ein eisfreies Gebiet an- getroffen, auf dem Moschusochsen lebten, weshalb man sich entschloß, dort zu überwintern. In einer unterirdischen Höhle wohnend, waren die Reisenden gezwungen, aus Mangel an Munition nach Art der Naturvölker sich Nahrung zu ver- schaffen. Die einzigen, noch vorhandenen drei Kugelpatronen beschlossen sie für den F'all der höchsten Not aufzubewahren. Mittels Schlingen fingen sie 38 Moschusochsen, die ihnen für den Winter Nahrung und Kleidung sicherten. Mit Pfeil und Bogen, Lanzen und Messern gingen sie den Wölfen und Bären zu Leibe und kleideten sich in deren Felle. Der Boden der Höhlen- wohnung wurde mit Moschusochsen-Fellen aus- gelegt und durch zwei, aus einem halbierten Zinn- teller hergestellte Lampen notdürftig erleuchtet und erwärmt. Das Brennmaterial für diese Lampen lieferte das Fett der Moschusochsen. Der Zugang zu der Höhle bestand aus einem langen, einen halben Meter hohen Gange. Häufig um- kreisten Eisbären diese Behausung, so daß das Verlassen des Obdachs sehr gefahrlich war und nie allein unternommen werden durfte. Die lange Zeit der Winternacht wurde zur Anfertigung neuer Kleidung und zur Präparierung des Fleisches der Moschusochsen verwendet, das für die Weiterreise im Frühjahr als Proviant Verwendung finden sollte. Am iS. Februar 1909, zur Zeit des Sonnenauf- gangs, wurde die winterliche Zufluchtsstätte ver- lassen, und mit fast neuer Ausrüstung der Weg nach Grönland angetreten. Aber das Eis war sehr schwer zu passieren, und die Reisenden mußten, da sie keine Hunde mehr hatten, ihre Schlitten selbst ziehen. So kamen sie nur sehr langsam vorwärts und waren nach sechswöchent- licher Reise wieder ohne Nahrung, worauf sich Cook entschloß, mit einer der drei noch vorhan- denen Patronen einen Bären zu schießen. Am 15. April wurde dann endlich nach langen Ent- behrungen die Küste von Grönland wieder erreicht. Franz Junghuhn.') [Nachdruck verboten.] Von Prof. Max C. P. Schmidt in licrlin. Ein wilder Knabe klettert über Stock und des Pfarrers überredende Lehre können Trotz und Stein, kriecht in die Ruinen des Grafenschlosscs Ungestüm zähmen oder zügeln. Kaum reif an und in die Schächte der Bergwerke, schwärmt in mondbeglänzter Nacht und singt in SOnnendurch- , . ') ^'^. °^'Sen Zeilen sind ein Auszug aus dem soeben in . •• 1 . -wr !J NT 1 1. j \T ^ u" 1- j Leipzig bei Dürr erscheinenden Buche: Franz Junghuhn. Bio- trank tem Wald. Nicht des Vaters bändigender g^hische Beiträge, zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages Befehl, nicht der Mutter sänftlgende Hand, nicht gesammell und bearbeitet von Max C. P. Schmidt. N. !•■. \'III. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 629 Jahren beginnt er Naturwissenschaft zu studieren. Kin dummer Streich treibt ihn zum Selbstmorde, (ierettet bcgiTint er das Studium von neuem. Kin VVortstreit führt jetzt zum Duell. Verwundet und geheilt tritt der angehende Arzt den Dienst als Soldat an und wird als solcher ob jener Selbsthilfe zu zehnjähriger Festungshaft verurteilt. Es glückt dem jugendlichen Häftling aus der Veste zu entfliehen. In PVankreich angeworben geht er als Fremdcnlcgionär nach Algier und ent- kommt botanisierend mit knapper Not den grau sainen Arabern. Mebernd entlassen wandert er nach Paris und dann nach Holland. Hier besteht er das Examen für den Gesundheitsdienst und siedelt als Militärarzt nach Java über. Dort studiert er 13 Jahre die geologische und botani- sche Natur der Insel und reist 20 Monate unter den menschenfressenden Battaern auf Sumatra, alles das mit beständiger Lebensgefahr und un- erhörten Anstrengungen. Endlich versagt die Kraft. In 7 Jahren des Urlaubs lebt er in Hol- land, bereist die Gebirge des ganzen Europas, besucht die Heimatstätten in Deutschland. Der Sohn und Nachfolger jenes Königs, der ihn einst verhaften ließ, zieht ihn als fesselnden Gast an seinen Tisch. Endlich kehrt er mit seinem jungen Weibe nach Java zurück. Dort wird er Direktor der Chinapflanzungen, die er ins Leben gerufen und zum Blühen bringt. Dort wird er Vater eines Söhnchens, als Niederländer naturalisiert, von allen Seilen besucht und geehrt, als der Hum- boldt von Java anerkannt. Fieberhitze und Leberleiden machen dem abenteuer- und arbeits- reichen Leben ein Ende. Erstaunt werden die Leser fragen: Sind die Gelehrten unter die Literaten gegangen, daß uns eine naturwissenschaftliche Zeitschrift einen Roman vorlegt? Aber das Erzählte ist kein Roman, es ist die Lebensskizze des Naturforschers Franz W. Junghuhn. Er ist vor hundert Jahren am 26./X. 1S09 zu Mansfeld als Sohn eines bei den Gruben und Hütten angestellten Bergchirurgus geboren. Lutherschule, Vatermund und Privatunterricht be- reiteten ihn leidlich zum Übertritt an die Uni- versität vor. Ostern 1824 wird er konfirmiert, Ostern 1825 in Halle inskribiert, am I. Juli 1827 immatrikuliert, nachdem er vor der Prüfungs- kommission das Examen bestanden hat. Vielfach unterbrechen Reisen diese Studien. Deren eine führt ihn längere Zeit nach Mansfeld, wo er in den Ruinen des Grafenschlosses jenen Selbstmord- versuch machte (1830), dessen Folgen des Vaters Kunst und Pflege mit Erfolg vorbeugte. Herbst 1829 wird er exmatrikuliert und geht wieder nach Mansfeld. Ostern 1830 — 33 ist er in Berlin immatrikuliert, hat aber nur ein Jahr dort Medizin studiert. Das Duell trieb ihn fort (1831). Er diente als Feldchirurgus bei der Artillerie in Simmern am Hunsrück vom Lenz bis Herbst 183 1. Das Duell wurde aber angezeigt und Junghuhn zu 10 Jahren I'estung verurteilt, obgleich er ver- wundet gewesen, der Gegner unverwundet ge- blieben war. Am i. Januar 1832 tritt er die Haft auf dem Ehrenbreitstein an. Durch F^lucht kürzt er sie auf 20 Monate ab. Erst heuchelt er Phthisis, dann Mania, kommt ins Lazarett zu Koblenz, flüch- tet in mondheller Nacht am 13. September 1833 und kommt glücklich über die Grenze. Nicht als Arzt, sondern als Gemeiner wird er in die Fremdenlegion aufgenommen , betritt Algier am 12. P'ebruar 1834 und dient 5 Monate in Bona, dem alten Hippone. Krank entlassen eilt er nach Paris, wo der alte l^otaniker Persoon seinen Sinn auf Java lenkt. Nachdem er I ' ., Monate auf dem Hunsrück und am Laacher See botanisiert hat, geht er nach Leyden, besteht die Prüfung und wird für Java verpflichtet. Am 13. Oktober 1835 betritt er die neue Heimat. Die Wander- jahre sind vorüber, eine Zeit stetigerer Arbeit beginnt. Sie zerfällt in drei Perioden : Reisen auf Java und Sumatra 1835 — 48, Urlaub und Reisen in Europa 1848 — 55, Verwaltung der Chinaplan- tagen auf Java 1855 — 64. Jene Periode zeitigt die drei großen Werke: „Reise" durch Java, „Batta"-Länder, „Java"; in die Zeit des Urlaubs fällt die Hochzeit (1850) und die Schrift „Rück- reise"; in der letzten Periode hat er seinen Plan, die Cinchona aus Peru nach Java zu verpflanzen, so erfolgreich ausgeführt, daß sich die Anfangs- zahl von 149 Pflanzen, die das Ungeschick der ersten Verwalter noch erheblich verringert hatte, so stark wie schnell erhöhte und zuletzt über eine Million der wertvollen Chininerzeuger auf Java wuchsen. Medizin. Arzt war er nur widerwillig ge- worden; des Vaters Wunsch hat er geachtet und bis zum Tode des Alten (1844) erfüllt. Geologie und vor allem Botanik war sein Lieblingsfach. So kam er mehrfach mit Kollegen und Behörden in Konflikt, bis ihn sein intelligenter Vorgesetzter auf Java mit sich auf Dienst- und Forschungs- reisen nahm (1837) '•'n'^ zuletzt die Regierung der Niederlande ihn ehrenvoll aus dem Militärdienst entließ (1845). So schrieb er nur wenig über Medizin, hielt nicht viel von Apothekermixturen, empfahl Leibesübungen, gesunde Diät, normales Klima als die besten Heilmittel und lieferte doch zuletzt der medizinischen Droguerie eines ihrer wert- vollsten Medikamente, das Chinin. Botanik. Schon als Hallenser Student schrieb er eine lateinische Arbeit über die Pilze des Harzes, Observationes mycologicac, die kein Ge- ringerer als Schlechtendal in seine Linnaea auf- nahm (1830): Auetore Franciseo Jwighuhnio medi- einac studio so! Groß wird ja wohl die Zahl gelehrter Arbeiten nicht sein, die von Studenten- händen verfaßt und auf Forscherurteil gedruckt sind. Wiederholt behandelte er auch die Pilze von Java (1839). Die Pilze überhaupt haben es ihm angetan. Sie sind ihm der „Nachtraum der Blüte des Sommers". Als er auf Java dieselben Spezies findet wie in den heimischen Schächten, da entfährt ihm der sonst beharrlich verschwiegene Name „Mansfeld". Ihnen galten jene Exkursionen 630 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. YIII. Nr. 40 im Hunsrück (1834), ihnen eine besondere Ab- handlung Praeinissa (1841). Ihn fessehen ferner die BalanopJiorcn (1841), die ihm als Chlorophyll - freie Dikotyledonen wie „hieroglyphische Schlüssel zweier Welten" vorkamen. Er entdeckte oder fand von neuem eine stattliche Anzahl von Pflanzen in Java, deren 1 293 als Plautae Jungliuliniaiiac in Leyden in Druck beschrieben wurden (185 1). ti^ine große Reihe kleinerer Arbeiten behandeile in Zeitschriften die Flora Javanischer Berge, die Pflanzen von Sumatra, den Kampferbaum, die Chinakultur, die Indigopflanze. Eine P"ülle von Pflanzen trug seinen Namen als Beiwort, sei es, daß er sie entdeckt hatte, sei es, daß er sie zuerst beschrieb, sei es, daß man ihn dadurch ehren wollte. Zu all diesen Arbeiten lieferte er vortreff- liche Zeichnungen oder farbige Bilder und be- lebte die nüchterne Beschreibung durch Zitate aus Dichtern, durch Vergleiche aus dem Menschen- leben, durch ebenso anschaulichen wie schwung- vollen Stil. Geologie. In den Schächten und Hütten von Mansfeld wurde früh sein Interesse für die Gestaltung und Geschichte der Erdrinde geweckt. Er vertiefte seine Kenntnisse durch reiche Studien und Lektüre. Besonders bewunderte er Alexander von Humboldt. So wendete er auch auf Java den Gebirgen, besonders den Vulkanen seine Auf- merksamkeit zu und schrieb eine Anzahl von Sonderarbeiten über einzelne Berge, Berggruppen, Vulkane, z. B. über Di-Eng, Prahoe, Salak, Malabar u. a. Er bestieg mit Lebensgefahr 46 Krater, darunter manchen mehrere (bis zu 4) Mal. Er konstatierte, daß trotz dieser P^ülle von Vulkanen doch 3 — 4 Fünftel der Insel neptunisch sei. P> verteidigte Humboldt's Ansichten gegen die Widersprüche anderer ( 1844). Er ersetzte die Erhebungstheorie der Ringkrater durch die Auf- schüttungstheorie mit so durchschlagendem Erfolge, daß diese allgemein anerkannt ist, trotz- dem für jene ein Humboldt eingetreten war. Eine große Menge von Versteinerungen, wie andere geologische Sammlungen aus Aden, Java, Sumatra, deponierte er im Reichsmuseum zu Leyden und schrieb selber dazu einen Catalogus (1854), der 1369 Nummern auf 136 Seiten in Großoktav um- faßt. Ahnliches wie für Java leistete er für den südlichen Teil von Sumatra, das Land der Batta. Er ist der Entdecker der Kohlen auf Sumatra und beschrieb eingehend die F"lötze von Java. Humboldt rühmte von ihm, er habe „ein neues unerwartetes Licht über die geognostische Be- schaffenheit von Java verbreitet" (Kosmos! 114). Richthofen aber überzeugte sich durch eigene geologische Reisen von der Genauigkeit und Vollständigkeit jenes ,, unendlichen Reichtums an mühsam errungenen Beobachtungen", die Jung- huhn „bis in die entlegensten Gegenden" von Java angestellt hatte (Bericht 377). Geographie. Daß ein naturwissenschaftlich durchgebildeter und ebenso viel wie weit gereister Mann auch der Erdkunde Dienste geleistet hat, ist selbstverständlich. Er diente ihr im weitesten Sinne des Wortes, samt allen ihren Nebenfächern : Topographie und Archäologie, Anthropologie und Ethnologie, Klimatologie und Meteorologie. Schon auf seiner „Flucht" machte er die treffendsten Bemerkungen über Land und Leute. In Algier beobachtete und beschrieb er Ruinen und Bauten, Sitten und Rassen, Stadtpläne und Landschafts- bilder. In seinen ,, Batta" (1847) gab er eine er- staunlich exakte und anschauliche Darstellung von den Ansiedelungen und Gebräuchen, dem Wesen und der Geschichte, der Sprache und dem Ge- biete der Battaken und behandelte ihre Menschen- fresserei in einem besonderen Heftchen (1841). Eine Menge kleiner Arbeiten über Physiognomie der Insel und Eigenart der Insulaner verarbeitete oder wiederholte er in seinem großen Werke über ,,Java" (1852). Die steinernen Denkmäler der Hindu fesselten ihn so, daß er sie in einer be- sonderen Abhandlung schilderte (1844). Seine ,, Reisen" (1845) sind Muster geodätischer, hypso- metrischer, barometrischer Forschungen und Re- sultate. Solche Beobachtungen dehnte er natür- lich überhaupt auf die Sunda-Inseln, insbesondere auch auf Sumatra aus. In seinen „Lichtseiten" ( 1858) schildert er den Charakter und die Bildungs- fähigkeit der Javanen mit lebhaftem Interesse und warmer Anerkennung. Die Beschreibungen, die er auf seiner „Rückreise" (1852) von Aden, von Ägypten , von der Sahara entwirft , sind von frappierender Anschaulichkeit und oft von künst- lerischer Schönheit. Und alle diese Arbeiten ver- sieht er mit einer Menge von Plänen, Profilen, Bildern. Sein „Java" begleitet eine Sammlung von 12 farbigen Landschaftsbildern sowie eine große Menge eingestreuter Terrainskizzen. Seinen „Reisen" ist ein ganzer Atlas von Profilen, Karten und Zeichnungen beigegeben, die durch begleiten- den Text erläutert werden. Gekrönt hat er alle diese Arbeiten durch seine berühmte Karte von Java (1855), die im Schloß zu Potsdam die Be- wunderung des Königs von Preußen, des Prinzen der Niederlande, des A. v. Humboldt und der an- wesenden Militärs erregte. Sein Lieblingsgebiet war und blieb die Welt der Pflanzen. Er selber sagt, daß er sich „vor- züglich der Botanik und Geologie befleißigte". Er fühlt in der ccole de botaniquc zu Paris die „Sehn- sucht nach der geliebten Wissenschaft befriedigt". Denn vorher in Algier vermißte er zuletzt schmerz- lich die Gelegenheit zum Studium „der er- habensten aller Wissenschaften, der Naturkunde und Botanik insbesondere". So behandelt sein Werk über ,,Java" besonders ausführlich die „Pflanzendecke". Er überträgt Humboldt's Methode der Gewächszonen auf die Insel Java und schilderte mit anschaulichem Geschick die einer jeden dieser Höhenregionen besonders eigentüm- lichen Pflanzentypen. Er kennt alle die wichtigen botanischen P'ragen seiner Gegenwart, z. B. über den Wachsgehalt oder die Eigenwärme der Pflanzen. Beim Lichte von Balanophorenkerzen N. I'. \'III. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochi-nsciirift. 631 hat er selber des Abends geschrieben. — In zweiter Linie fesseln ihn geologische Probleme. Sein ,, Java"- Werk behandelt auch die „innere Bauart" der Insel. Eingehend erörtert er die Form und Entstellung der Vulkane, die Geschichte ihrer .Ausbrüche, die Au fsc h ü 1 1 u ngs t h eoric der Kingkratcr, den Gegensatz der vulkanischen und neptunischen Teile von Java, die 12 Hauptformen der sedimentären Lagerung. Stets hat er den Vergleich mit heimischen Verhältnissen und Ge- staltungen bei der Hand und besuchte wohl be- sonders zu diesem Zwecke in der Zeit des Urlaubs die Alpen, Pj-renäcn und Kjölen, den Apennin, Kaukasus und Altai. — In dritter Linie kommen die geographischen F"orschungen. Sie sind be- sonders für Java und Sumatra fruchtbar gewesen. Sein ,,Java"-\Verk beschreibt zuerst auch die „Gestalt" der Insel. Er läßt sie immer um 100 oder 500 Fuß ins Meer sinken und beschreibt jedesmal den Rest, der über Wasser bleibt, ein äußerst klärendes Verfahren. Eine Unzahl von Höhenmessungen und Entfernungsangaben er- möglichte eine wesentliche Verbesserung der Karte von Raft'les, des Gründers von Singapur. Jiinghuhn's Profile und Skizzen liegen wohl noch heute jeder Javakarte zugrunde. Lebendig wie sein sachliches Interesse ist auch sein sprachliches Geschick. Sein Ausdruck trifft stets den Nagel auf den Kopf; sein Stil ist klar und anschaulich, schön und charakteristisch. Er würzt die Darstellung mit reichen Zitaten aus der Dichtung; Shakespeare, Goethe und vor allem Schiller sind seine Lieblinge. Praxiteles liefert ihm seine Formen, Vernet und Salvator Rosa ihre Farben, Mozart's und Haydn's Orchester die Töne, um das Geschilderte zu versinnlichen und zu ver- innerlichen. Demselben Zwecke dienen frappierende Bilder und Vergleiche; seine Metaphern haben mehrfach eine verblüffende Wirkung, eine merk- würdige Treffsicherheit und beweisen den offenen Blick, die scharfe Beobachtung, die schnelle Kom- binationsgabe eines Meisters der Naturforschung. Der Aufbau einer Schilderung hat oft ein drama- tisches, oft ein romanhaftes Gepräge und zeugt von des Verfassers künstlerischem Sinn. Die ganze Welt ist ihm ein wunderbares Kunstwerk, ein Heiligtum der Gottheit, eine Offenbarung des Höchsten. Das gibt seiner Sprache häufig den Adel der Schönheit, den Schwung des Hymnus, die Andacht des Gebetes. Auch hierin mag ihm der Meister aller Meister Vorbild gewesen sein, sein viel bewunderter, hochverehrter A. v. Hum- boldt. Wie der Stil, so der Mann. Er war eine Per- sönlichkeit aus einem Guß, ein Mann der Kraft und des Mutes, ein Held der Wahrheit und der Klarheit, ein Mensch voller Begeisterung und Warmherzigkeit. Wohl war er schnell bei der Hand mit scharfem Wort, aber auch schnell ent- schlossen zu wirksamer Tat. Wohl haben zwanzig F"estungsmonate dem Jüngling bittere und beißende Urteile abgepreßt ; aber er hat sich beherrschen lernen und ist der ungerechten Übertreibung Herr geworden. Wohl hat des Pfarrers gewaltsame religiöse Einwirkung ihm einen Haß gegen alle Pfaffen und Zeremonien eingeimpft; aber für die „Sonne des Christentums" hat er doch Worte der Anerkennung gefunden, Jesum von Nazareth be- wundert und geliebt, vor seinem Gotte betend das Knie gebeugt. Wohl hat er mit satirischem Spott allerlei Schwächen gegeißelt und sich manchen Feind gemacht; aber langsam wird er bedachtsamer und schweigsamer und lernt Zunge und Feder zähmen. Vv'ohl mag er als Knabe die Bücher gehaßt und das tintenklexende Säkulum verachtet haben ; aber ungeheuer ist die Zahl der Bücher, die er dafür in reiferen Jahren studiert und zitiert, riesig der Fleiß, mit dem er Gedrucktes liest und Erlebtes schreibt. Wohl ist er scheu und liebt die Einsamkeit, die stillen Wälder und Höhen; aber er hat Mitleid mit den Leidenden und spricht demjenigen den Namen „Mensch" ab, den der Menschen Not nicht rührt. In all der wilden Gärung zuletzt doch eine volle Klärung, in all dem Abenteuerlichen und Umgestümen ein sicherer Lebensplan und ein festes Lebensziel. Hart und spröde war der Stoff, an dem der temperamentvolle und heißblütige Mann herum- arbeitete, als er sich selber innerlich zu bilden und zu fördern unternahm. Aber was er daraus gestaltet hat, ist schließlich ein Kunstwerk ge- worden, ein Kunstwerk, dem die Unterschrift ge- bührt: Der Humboldt von Java. Kleinere Mitteilungen. Vergleichende Untersuchungen über das Gehirn der Honigbiene veröffentlicht C. N. Jonescu in der Jenaischen Zeitschrift für Natur- wissenschaft (45. Band, 1909). Wir wollen hier vor allem auf die äußere Beschreibung des Gehirns Bezug nehmen, die bei den drei Formen bisher nur ungenau vorlag. Zwar hatte schon Brandt 1876 schematische Bilder des Gehirns von Königin, Drohne und Arbeiterin gegeben, aber damals war die mikroskopische Technik noch in ihren An- fängen. Jonescu hat die Plattenmodelliermethode angewandt und dadurch sehr gute Bilder der äußeren Gestalt des Gehirns bekommen (siehe Fig. 1—3). Das Gehirn der Biene besteht aus den beiden Oberschlundganglien und den beiden Unterschlund- ganglien, die durch Konnektive sehr eng mitein- ander verbunden sind. Nach Via 11 an es (1886) ist der Kopf der Insekten durch Verschmelzung von 6 Segmenten entstanden; es haben sich dem- nach auch 6 Ganglienpaare an der Bildung des Gehirns beteiligt. Die drei präoralen Segmente C.l- ■^ "/.. c.e. L.o. Aa / / IT^ \ ^"^ -..Am.n. An. L.fr.n. Tr.n. MxJ""- Fig. I. Das Gehirn der Königiu von Apis nicUifica, von vorn gesehen. L.O. t c.l. c.e. \ ■;"% J Fig. 2. Das Gehirn der Drohne, von vorn gesehen. c.i. / c.e. L.o. ^°' // / An.l.R / ^ x; L.fr.n. Tr.Tt.Mx. Md. Fig. 3. Das Geliirn der Arbeitsbiene, von vorn gesehen. Erldärungcn zu Fig. I — 3. Aa Anteunenanschwellung; Ani.n. motorische Antcnnalnerven; AnI,II sensible Antennalnerven; c.e. äußere, c.i. innere Becher der pilzhutförmigen Körper; L.fr.n. Labrofrontalnerv; L.o. Lobus opticus; Md. Mandibularncrv; Mx. Maxillarnerv ; Tr.n. Tritocercbralnerv. (Nach Jonescu.) N. V. \'ni. Nr. 40 Naturwisscnschidtlichc W'ochciis ift. 6}^ bilden das Oberschlundganglion, die drei postoralcn das Untcrschluiidganglion. Die Nervenknolcn des ersten Segments treten zum Protocerebrum zu- sammen, in dem die Zentren für die psycliisclien Betätigungen und die Selizcntren liegen; an den Seiten des'Protocerebrums bilden sich die Schlappen, und am oberen Teil entspringen die OccUarncrven. In seinem Innern finden sich die pilzluitförmigen Körper, die man als den Sitz der Intelligenz be- trachtet. Aus den Nervenknoten des zweiten Seg- ments entstehen die Anteimenanschwellungen, in denen man die Zentren. für Tast-, Geschmack- und Gehörsinn vermutet. Dieser Hirnteil führt den Namen Deutocerebrum. Aus den Nervenknoten des dritten Segments geht das Tritocerebrum her- vor; es bildet bei den Bienen die Wurzeln der Labrofrontalnerven. Auch das Unterschlundganglion ist durch Verschmelzung dreier Ganglienpaare entstanden. Es bildet die Nerven der drei postoralen Segmente : die i\Iandibular-, Maxillar- und Labialnerven. Das Protocerebrum bildet den größten Teil des Gehirns; es geht an den Seiten in die Sehlappen (Lobi optici, L. o.) über und entsendet die Ocellarnerven. An seinem vorderen unteren Teil liegen die Antennenanschwellungen (Aa.); unter ihnen entspringen die Labrainerven, die das Tritocerebrum bilden, das nur wenig ent- wickelt ist. Nachdem wir so die äußerlich sichtbaren Teile des Insektengehirns im allgemeinen kennen ge- lernt haben, können wir daran gehen, die Gehirne von Königin, Drohne und Arbeitsbiene zu ver- gleichen. Sie sind in Fig. i — 3 dargestellt, und zwar alle 50 fach vergrößert. Das Gehirn der Königin ist am kleinsten (Fig. i). Bei der Drohne, die bekanntlich einen größeren Kopf hat als die weiblichen Tiere, sind zwar die Sehlappen entsprechend der Größe der Augen sehr stark entwickelt, aber das eigentliche Gehirn ist nicht größer als das der Arbeiterin. Eine Anzahl von Hirnteilen sind bei den drei P"ormen sehr verschieden, so vor allem die pilz- hutförmigen Körper, die Antennenanschwellungen und die Sehlappen; andere Teile dagegen sind bei den drei Typen gleichmäßig entwickelt. In bezug auf die Sehlappen nimmt die Arbeitsbiene eine Mittelstellung zwischen Drohne und Königin ein, bei welcher die Lobi optici am schwächsten ausgebildet sind. Diese verschiedene Größe entspricht auch der Größe der Augen. Der innere Bau der Sehlappen ist bei den drei Formen im wesentlichen derselbe; wir finden immer eine äußere, mittlere und innere Fibrillärmasse; letztere ist bei der Drohne deutlicher in zwei Linsen ge- sondert als bei Königin und Arbeiterin. — Die drei F'ascrmassen des Lobus opticus dienen wahr- scheinlich zur Verarbeitung der optischen Ein- drücke. Bemerkenswert ist, daß die Fasern der äußeren I'ibrillärmasse sämtlich in die mittlere Fibrillärmasse gehen, wobei sich auf Horizontal- schnitten eine Kreuzung zeigt. Von der mittleren geht der llauptteil der Fasern zur inneren iMbrillär- masse, während ein kleiner Teil der Fasern als das sog. breite Bündel direkt in das Protocerebrum geht. Von der inneren Fibrillärmasse treten zwei große F'aserbündel (das vordere und das hintere Bündel) in die Protocerebralloben. Die hervor- ragende Größe der Augen und damit der Seh- lappen bei der Drohne sind ofifenbar mit dem Hochzeitsflug in Beziehung zu setzen. Die Drohne verfolgt die Königin im Fluge, wozu sie ein gutes Sehvermögen nötig hat. Daß das Sehvermögen der Arbeitsbiene auch von biologischer Bedeutung ist, haben P'orel, vt Büttel-Reepen, Detto u. a. gezeigt; dagegen ist die Lebensweise der Königin viel einfacher, da sie außer dem Hoch- zeitsfluge überhaupt keine Tätigkeit außerhalb des Stockes auszuüben braucht. Es ist daher begreif- lich, daß ihr Auge und ihr Lobus opticus nicht so hoch entwickelt sind wie bei der Arbeiterin. Die Antennenanschwellungen (das Deutocerebrum) sind bei Drohne und Arbeitsbiene etwa von gleicher Größe, bei der Königin aber erheblich kleiner. In der inneren Struktur unter- scheiden sie sich insofern, als sie bei der Drohne nicht so kompliziert gebaut sind wie bei der Arbeiterin; die Zahl der Endbäumchen (Glome- rulen) ist nämlich bei der Drohne bedeutend ge- ringer. Daraus geht hervor, daß die Sinnesfunk- tion der Antennen bei der Drohne weniger hoch entwickelt ist als bei der Arbeitsbiene. Nach O. Schenk (1902) sind die plattenförmigen Sinnes- organe („Sensilla placodea"), „Porenplatten" oder „Membrankanäle" auf den Antennen der Drohnen überaus zahlreich vorhanden; während sie hier für beide Fühler etwa 31000 betragen, findet man bei der Arbeitsbiene nur ca. 4000. Einige Autoren haben diese Sinnesorgane als Gehörorgane aufge- faßt; Jon esc u schließt sich dagegen der Ansicht von Nagel an, daß sie dem Geruchsvermögen dienen. Es ist nämlich nicht einzusehen, warum die Drohne ein besseres Gehör besitzen soll als die Arbeiterin. Wenn man sich aber denkt, daß die genannten Organe speziell für die Perzeption des Geschlechtsgeruchs bestimmt sind, so wird die Tatsache verständlich, daß diese Sinnesorgane bei der Drohne in so reichem Maße entwickelt sind. Außerdem enthält die Antenne der Drohne noch eine Anzahl Grubenkegel (Sensilla coelonica) und einige Forel'sche Flaschen (Sensilla am- pullacea). Jonescu fand, daß in die Antenne der Drohne zwei deutlich getrennte sensible Nerven eintreten, die mit zwei Wurzeln am Antennal- ganglion entspringen. Das Geruchsvermögen der Arbeitsbiene muß wegen ihrer verschiedenartigen Beschäftigung mannigfacher sein als das der Drohne. In der Tat besitzt auch die Arbeitsbiene außer den bei der Drohne vorkommenden Antennenorganen noch solche, welche bei dem männlichen Tier überhaupt nicht vorkommen. Sie ist durch den Besitz einer großen Zahl von Geruchskegeln (Sensilla basi- conica) und Sinneshaaren (Sensilla trichodea) vor 634 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 40 der Drohne bevorzugt. Die Königin verhält sich in bezug auf die Sinnesorgane der Antenne nahe- zu wie die Arbeiterin. In den pilzhutförmigen Körpern treft'en Bahnen aus allen Teilen des Gehirns zusammen, insbeson- dere viele Fasern aus dem Lobus opticus und den Antennalganglien; auch bestehen Verbindungen mit den Ocellarnerven. Es ist also wahrscheinlich, daß hier ein Ort der Verknüpfung der verschie- densten Sinneseindrücke und wahrscheinlich auch der Ort der erworbenen Assoziationen vorliegt. Forel hatte festgestellt, daß bei der Ameise die pilzhutförmigen Körper der männlichen Tiere sehr klein seien und diese Tatsache mit der geringeren Intelligenz der Männchen in Verbindung gesetzt. Bei den Bienen sind aber diese Verhältnisse an- ders. Die pilzhutförmigen Körper der Drohne sind größer als die der Königin und kaum kleiner als bei der Arbeitsbiene. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß das ganze Gehirn der Drohne dem Volumen nach größer ist als das der Ar- beiterin, so daß also die pilzförmigen Körper einen relativ kleineren Teil des Gehirns bilden. Dagegen sind die pilzförmigen Körper der Ar- beitsbiene bedeutend größer als die der Königin, eine Tatsache, die man mit der verschiedenen Intelligenz in Beziehung setzen kann. Dr. P. Brohmer, Jena. Über das Problem der Schichtung und über Schichtbildung am Boden der heutigen Meere. — Unter diesem Titel veröffentlichte ^j unlängst E. Philippi seine sehr interessanten Beobach- tungen über dieses wenig beobachtete Problem. Die wichtigen Ergebnisse, die als Frucht dieser Arbeit vor uns daliegen, scheinen mir der Mühe wert, dieselben hier kurz zu referieren. Die Schichtung war bisher als ein alltägliches Phänomen von nur sehr wenigen Forschern be- handelt. Am eingehendsten studierten dieselbe Joh. Walther-) und Dr. K. Andree.") Ihre Unter- suchungen bezogen sich aber nur auf das Wesen der Schichtung, die Ursachen derselben aber blieben unaufgeklärt. Neben diesen Untersuchungen, die zu den besten gerechnet werden müssen, notiert die Literatur noch manche andere Angaben, die hauptsächlich die Schichtung in marinen Proben berühren. Es sind dies die Beobachtungen von : Schmelck,-') Boeggild,^) Nansen,"^) Torell,") Loh- ') Zeitschr. d. Deutsch. Geol. Gesellsch. 00, 190S, S. 340 bis 377. ') Einleitung in die (Jeologic als historische Wissenschaft Jena 1893, S. 620. ') über stätigc und unterbrochene Meeressedimentation. N. Jahrb. f. Min. Geol. Pal. Beil., Bd. 25. Stuttgart 1908, S. 366. *) Norske Nordhavs Expedition 1S76 — 1878. IX. Chemie. Christiania 1882. '■') The Danish Ingolf-Expedition 1, 3. Kopenhagen 1900. — The Norwegian North Polar Expedition 1893 — 1896. Scientific Results, V, 14. 8) Ibidem IV, 13. '') Zeitschr. f. wissenschaftl. Zoologie 1S70, S. 460. mann,') de Roujoux, -) Thoullet.'') Die Unter- suchungen dieser Forscher führten zur falschen Meinung, daß die Schichtung „als ein Phänomen anzusehen ist, das am Grunde der Meere keine allgemeine Verbreitung besitzt". Diese grund- falsche Ansicht wurde durch die Arbeiten der Deutschen Südpolar-Expedition soweit verändert, daß die Schichtung am Grunde des Meeres als allgemein vorkommend zu betrachten ist. Daß bisher die Schichtung am Meeresboden ungenau bekannt war, daran tragen die größte Schuld die Lotungsapparate. Diese waren so ein- gerichtet, daß sie nur das lockere Sediment auf- nahmen, in das Sediment selbst aber nicht ein- drangen. Die Deutsche Südpolar - Expedition führte eine wesentliche Neuerung ein ; sie benutzte 40 cm bis 2 m lange Röhren , deren LInterende offen, das Oberende durch ein Kugelventil ge- schlossen war. Auch wurden schwerere Sink- gewichte (35 kg) verwendet, die die Röhren in den Meeresboden stark einpreßten. So kon- struierte Apparate brachten an die Oberfläche Grundproben von 80 cm Länge 1 Das beste Material zur Feststellung der Schich- tung stellen die Kalkschlamme dar. Denn die Beimengungen unterscheiden sich voneinander sowohl durch die Farbe, als auch durch das Er- gebnis einer leicht durchführbaren chemischen Analyse. In 49 Proben des Globigerinenschlammes wurde, mit Ausnahme einer einzigen, der größte Kalkgehalt stets an den obersten Teilen festge- stellt. Je näher dem Boden der Grundprobe, desto kleiner der Kalkgehalt. Diese Art der Schich- tung nennt Philippi die normale. Auf- schluß über die ungleichmäßige Verteilung des Kalkgehaltes in den obersten und unteren Teilen möge folgende Tabelle geben. Sie enthält Lotungen in der Nähe des Südpolareises. Länge CaCOs Tiefe der Probe Position Station oben unten m cm /o o/o 3S 1850 17 45.2 "25.' 46017' s. B., 4S''54' ö. L. 42 4560 10 5°. 3 16,4 47''45' s. B., ei^as' ö. L. 44 3690 15 37.4 0 SS^^S' s. B., 83V ö. L. 88 3&30 21 60,7 17,0 4S°39' s. B., 73"2i' ö. L. Es entsteht die Frage, ob diese Unterschiede an Kalkgelialt eine gemeinsame Ursache haben? Ein Erklärungsversuch stammt von K r ü m - ') Untersuchungen über die Tier- und Pllanzenwelt sowie über die Bodcusedimente des Nordatlantischen Ozeans zwischen dem 38. und 50." Grade n. Br. 24 S. mit I Taf. Berlin 1903. S.-A. a. d. Sitzungsber. d. Berliner Akad. d. Wiss. XXVI. ■^) Thoulet: L'Ocean. Paris 1904, S. 99. ") Results de Campagnes Scientif. Monaco. Fase. XXII, igo2, S. 61. — XXIV, 1905, S. 45 u. a. N. K. \'III. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschritt. 635 mel.') Er erlaubte, diese Krscheinung als Folge „einer jugendlichen Bodenbewegung des Meeres auffassen zu können". Diese Bodenbewegung müßte aber nach dem trefflichen Einwände Philippi's weit verbreitet sein und als solche eine Fülle von Transgrcssionen an den Küsten hervor- rufen. Solche sind aber unbekannt. — Der an- dere Erklärungsversuch, die Zufuhr des klastischen Materials den Eisbergen zuzuschreiben, ist als nicht gelungen zu betrachten. Denselben kann man auf wärmere Meere nicht übertragen. Ein Blick auf die Grundprobenkarte belehrt uns, daß „die Grenze zwischen r o t e m T o n-) und (t 1 o b i g e r i n e n s c h 1 a m m nicht immer in gleicher Tiefe verläuft". Loh mann'') fand ihn (den Ton) zwischen dem 45. und 50." n. Er. in einer Tiefe von 5798 m, Peake^) etwas weiter östlich bei 591 1 m. Unter dem Äquator wurde er von der ,,Valdivia" im Atlantik bei 5695 m, unter dem 15." s. Er. bei 5320 m gelotet; ,,Gaup" notiert denselben in einer Tiefe von 5020 m (unter dem 24." s. Er.). Kalkfreie Sedimente traf man im subantarktischen Meere in 2 — 3000 m. Diese U ngle ichmäßigke it, meint Philippi (und auch mit Recht!), hat ihre Ursache in der Beschaffenheit des d. h. in geringeren Meerestiefen, einstellen, als im Südatlantik." So ist es auch! Im Indischen Ozean lotete man den roten Ton in der Tiefe von 4700 m, im Westatlantik in -{- 5000 m, im Miltelatlantik bei 5500 m! Noch eins ! Es wurde von verschiedenen Autoren versucht, die Seltenheit abyssischer Sedi- mente in älteren P'ormationen zu erklären. Die einen schrieben sie dem relativ jungen Alter der Tiefsee zu, die anderen dagegen glaubten an die Permanenz der Ozeane und Kontinente.') Der eine wie der andere Versuch ist ungenügend. Philippi ist der Meinung, daß „es in älteren I'^ormationen viel mehr echte Tiefsee- ablagerungen gibt, als man bisher an- nahm", sie sind aber den heutigen Sedimenten aus dem Grunde unähnlich, da sie unter anderen physikalischen und chemischen Verhältnissen ent- standen. Sie unterscheiden sich von den heutigen durch einen größeren Gehalt an organischer Sub- stanz und Kalk. Anders verhält sich die Schichtung an der antarktischen Eiskante. Hier vermehrt sich der Kalkgehalt nach unten hin. So wurde folgender Prozentgehalt an Kalk festgestellt : Station: 49 (63»3l' s. B., 94''9' ö. L.) 3,1% benthonischer \ i,.^,^,^,;^;,-^,,, 4,6 "(Q pelagischer ) 40 (ü4''4' s. B., 9l"55' ö. L.) 5,5 "/„ CaCOj (oberer Teil) li.SO/o CaCOs (unterer Teil) 79 (Ö3°43' s. B., 82"4' ö. L.) 19,4 "/o CaCOs im oberen Teile 27,9 "/d CaCOj im unteren Teile. Tiefenwassers. Dieses Wasser ist ja das frühere Oberflächenwasser, das später in die Tiefe gesunken ist. Bei seiner sehr langsamen Wande- rung nach Norden steigt seine Temperatur, sein Sauerstoffgehalt verschwindet immer mehr, denn er wird durch die Organismen und Schwcrmetalle verbraucht. Eine Folge dieses Sauerstoffverbrauchs ist die Abnahme der Lösungskraft des Wassers für den kohlensauren Kalk. — Diese Erklärung macht es auch verständlich, warum nördlich vom Äquator in größeren Tiefen kalkreichere Ablage- rungen gefunden werden. Diese Erklärung wird von Schott'') in seinen Karten der Temperatur des Bodenwassers be- stätigt. Die Temperatur beträgt: im Indischen Ozean von o" — 2", in derselben Breite im Atlantik, nördlich vom Walfisch-Rücken, 3 — 4". „Wenn nun die hier vertretene Auffassung richtig ist, so müßte roter Ton sich im Indischen Ozean und im West-Becken des Atlantik sehr viel früher, ') Handbuch der Ozeanographie I, 2. Aufl., S. 207. '') In Grundproben, wo roter Ton vorkam, konstatierte man überall größere Unterschiede zwischen dem Kalkgehalte der obersten und untersten Teile. Die oben gegebene Tabelle bezieht sich auf solche. ') 1 c, S. 19. *) On thc results of a Dep-Sea Sounding Expedition 189g. London 1901, S. 28. •^i Wissenschaftliche Ergebnisse der Deutschen Tiefscc- Expedition. I. Bd. Ozeanographie. Jena 1902. Wie ist dieses zu erklären? Philippi ist der Meinung, daß ,,die Art des Sedimentes stark von der Lage der Eiskante beeinflußt wird. Unter dem Packeise bilden sich kalkfreie Glazialschlamme, außerhalb desselben meist Diatomeen und Glo- bigerinenschlamme". Es scheint, daß Schmelz- wasserströme die Kraft besitzen, ,,die planktoni- schen Organismen des südlichen Eismeeres nach Norden zu tragen und ihren Absatz erst jenseits gestatten." Die Eiskante hat also eine doppelte Bedeutung: i. sie ist die Grenze des betreffenden Sedimentes, und 2. läßt diese Grenze die jeweilige Lage der Eiskante bestimmen. Ist also der untere Teil der Grundprobe des Sedimentes an der Eiskante kalkreicher als der obere, so ist die Kante nach Süden verschoben worden. Diese Aussage konnte man als Wider- spruch zu dem früher Gesagten auffassen ! So ist es aber nicht! Sind die unteren Teile als glazial angenommen worden, so bedeuten die Grund- proben an der Eiskante eine stärkere Ausdehnung des Packeises. Man könnte noch einwenden, daß der Sedi- mentabsatz in unmittelbarer Nähe des Packeises viel rascher vor sich geht, als weiter im Norden. ') Eine kritische Besprechung dieser Auffassung gab Phi- lippi in seinem .\ufsatze ; Betrachtungen über die ozeanischen Inseln. Diese Wochenschr. 1907, S. 385 — 390. 636 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 40 Eine Grundprobe von gleicher L.änge wird hier schon diluviale Schichten anbohren, während sie unmittelbar an der Eiskante ganz in alluvialen stecken bleibt. Es kann also möglich sein, daß die Sedimente an der Eiskante eine geringe Klimaschwankung anzeigen, die die Eiskante zwar verschob, an den Sedimenten aber spurlos verging. Ein Analogon notierte auch G. Andersson.^) Es handelt sich um einen molluskenreichen, ge- schichteten Ton, den die Expedition am Sidncy Herbert Sund an der westantarktischen Roßinsel fand. Die im Ton gefundenen Mollusken (Tliracia meridionalis, Valuta ?) weisen auf ein Klima, das von dem heutigen sich nicht sehr unterscheiden konnte. Eine andere Art Schichtung ist diejenige, deren Kalkgehalt unregelmäßig verteilt ist. Philipp! nennt dieselbe abnorme Schichtung. Sie ist von den Tiefenverhältnissen abhängig. Die Erklärung des Verf. reiht sich denen anderer Ozeanographen an; er nimmt an, daß „ceteris paribus der Kalkgehalt des Sedimentes sinkt, je tiefer der IVIeeresboden liegt". Und richtig I Be- kanntlich besteht der küstenferne Tiefseeschlamm aus kalkigem Foraminifcrcnschlamm, dessen Ele- mente desto mehr angegriflen werden , einen je größeren Weg sie zurückzulegen haben. Sind sie in größerem Prozentsatz als wo anders vor- handen, dann beweist dies eine Ver- flach ung des Meeres. Die Verflachung wurde von verschiedenen Ur- sachen hervorgerufen. So enthielt z. B. die Grund- probe der Station 4 (o^ii' s. Br., iS^iö' w. L.) nur in den untersten 1,8 cm 47,2% Kalk. Dieser Kalkgehalt beweist, daß hier ein plötzlicher Einbruch stattfand. An anderen Stationen : 27 (35"3i' s. Br., 5"4S' ö. L. 5200 m tief), 28 (35"39' s. Br., 8"i5' ö. L. 5210 m), 29 (35*'53' s. Br., 13V ö. L. 4970 m) ist der Kalkgehalt so charakteristisch eingeteilt, daß man mit Entschiedenheit von einem Hin- und Herflackern des Bodens sprechen kann. An der Station 34 (42*'30' s. Br., 33"43' ö. L.) konstatierte der Verf. junge Krustenbewegungen. Die Grundprobe dieser Station bestand aus einem I cm dicken, hellbraungraucn Sediment mit 47,2 ",„ CaCOo, einer helleren, weniger kohärenten Schicht von 64,3 "/(, CaCO.j und einem dunklen, tonreichen Sediment mit 26 "/„ Kalk. In den Ablagerungen, die durch abnorme Schicht gekennzeichnet sind, sind Mineral- körner enthalten, die von Tiefengesteinen oder kristallinen Schiefern (den sog. kontinentalen Ge- steinen) abstammen. Ihre Größe ist verschieden. Sie wurde von Philippi vermittels des Schlämm- apparates von Schoene ermittelt. In der Grundprobe, die an der Station 4 (o^il' s. Br., i8"i6' w. L.) in einer Tiefe von 7230 m gelotet wurde, fand Philippi in der obersten, 13 cm dicken, hellrötlich-braunen Schicht Mineralkörner von 0,2 — 0,6 mm Durclim. 8,5% 0,1 —0,2 „ „ 4,9»/,, 0,05 — 0,1 ,, ,, 0,3 "'11 In den unteren Schichten nahm die Zahl der Körner rasch ab. Das Material, aus dem diese Körner bestehen, sind hauptsächlich Plagioklase,') rhombische Pyroxene, Hornblendearten, Augit, Biotit, Chlorit, Quarz und Glaukonit. Selbstver- ständlich ist der Mineralkörnergehalt der Grund- proben sehr verschieden. Es wurden Grund- proben gelotet, deren obere Schicht 37,3 " u, die mittlere 47,3 " „ enthielt. Tiefseesande wurden schon von anderen ge- funden. So beschreibt dieselben Gümbel im „Gazelle"VVerk, die „Valdivia" lotete sie an ver- schiedenen Stellen. Diese Lotungen, die an ver- schiedenen Orten vorgenommen wurden, beweisen, daß dieses Phänomen kein lokales ist. „Es ist nun die schwierige F'rage zu beant- worten, wo der Ursprung der Mineralkörner von kontinentalem Habitus zu suchen ist, die sich den Sedimenten der küstenfernen Tiefsee beigemengt haben?". An Erklärungsversuchen fehlte es nicht 1 K r ü m m e 1 '■) glaubte, die Verfrachtung der Körner den östlichen (November-)Winden zuschreiben zu können. Diese sollten die Körner vom Kap- lande bis 35." 53' s. Br., 13. "9' ö. L. herbringen. Gegen diese Erklärung spricht i. die Lage der Station, zu der sogar ein reiner Ostwind nicht treffen kann, da sie südlicher liegt, als Kap Agulhas, 2. das Fehlen der Körner an Stationen, die zwischen der Küste und diesen Stationen liegen. John Murray dachte an den Transport der Mineralkörner vermittels der Eisberge. Diese Er- klärung könnte vielleicht zulreftend sein, wenn Philippi kein „aber" entdeckte. Die Stationen liegen zwar im Bereiche der diluvialen Eisberge, doch müßten die Mineralkörner zum größten Teil im unteren und vielleicht auch im diluvialen Teil der Grundproben vorkommen. So ist es aber nicht. „Außerdem zeichnen sich die Sedimente, die von Eisbergen beeinflußt sind, durch die höchst ungleiche Korngröße der klastischen Be- standteile aus." Die betreffenden Mineralkörner sind aber auffallend gleichkörnig, ihr Durchmesser ist nie größer als 0,6—0,7 mm. Außerdem spricht gegen diese Erklärung das Vorkommen der Körner selbst unter dem Äquator (o'^ii' s. Br., iS^iö' w. L). Philippi kam „zur festen Überzeugung, daß der Ursprung der südatlantischen Tief- seesande auf keiner der großen Kon- tin entalmassen, auch nicht auf der ant- arktischen zu suchen ist". „Sie müssen im 1) On tlie Geology Land. Bull. Gcol. Inst. Upsala VII, 1906, S. 58. ') Philippi wurde durch die Anwesenheit der Plagioklase insofern irregeführt, daß er in seinem ersten Berichte die Mineral- körner für jungvulkanisch hielt. Diese Ansicht, die jetzt korri- giert wird, übernahm auch Krümm el. -) Handb. d. Ozeanographie. I. Bd., 2. Aull., S. 20S. N. 1'. \'III. Nr. 40 Naturwissenschnftlichc Wochenschrift. 637 Ozean selbst ihren Ursprung haben !" Sie kommen von den Aufragungen in den mittleren Teilen des südatlantischen Meeres. Es sind submarine, unter dem Meeresspiegel vorkommende Berge, zu denen ein Analogen der 31 m über den Meeres- spiegel hervorragende St. Paul US- Felsen bildet. Solche Berge kommen im Nordallanlik sehr häufig vor. K r ü ni m e P) zählt einige auf. Auch kennen wir solche aus dem südatlantischen Ozean, jedoch nicht so genau, wie die des nördlichen. Beweise für die Richtigkeit der obigen Be- hauptung mögen die Lotungen der „Gauß" liefern I Wenn wir die Ergebnisse der Lotungen dieses Schiffes auf den Stationen 104—109 genau be- trachten, so liegt folgendes klar auf der Hand: SUition: I04 28^48' s. H., Io"l6' ü. L. lOs 29" 7' s. B., S"47' ö. L. 106 2S»28' s. B., 5"29' ö. L. „ 107 28°33' s. B., 4"22' ö. L. 108 28» 2' s. B., 3043' ö. L. 109 27"32' s. B., 3» 7' ö. L. Diese in der Kapmulde liegenden Stationen enthalten Mineralkörncr bis in die Nähe des Wal- fisch Rückens. Ist dieser erreicht, so findet man fast keine Spur von denselben. Was soll das be- deuten? Nichts anderes als dies, daß die Mine- ralkörner vom Wal fi seh - R üc ken abge- spült wurden. Mit dieser Erklärung wird aber eine neue P'ragc aufgeworfen ! Was für ein Alter wollen wir diesen Erhebungen zuschreiben ? Auch diese Frage wird uns der Prozentgehalt erklären. Betrachten wir nochmals die Stationen 29, 107, 108, 4. Aus dem wissenschaftlichen Leben. IV. Ferienkurs für wisse ns c h a ft 1 i cli c Mikro- skopie. II. — 16. Oktober 1909. Die Kurse Imdcn statt in dem unter Leitung des Herrn Prof. Dr. H. Ambronn stehen- den Institut für Mikroskopie der Universität Jena (Neugasse Nr. 24). Die Apparate und Mikroskope werden von der optischen Werkstalte Carl Zciß (Jena) zur Verfügung gestellt. Die Veranstaltungen sind : Prof. Dr. H. Ambronn (Jen.a) : Vortrag über die Abbe'sche Theorie der mikroskopischen Bilderzeugung. Übungen mit dem Diffraktionsapparat nach .•\bbe. Prof. Dr. H. Ambronn: Vortrag über die Methoden zur Prüfung der IJbjcktivsysteme. Übungen mit der Abbe'schcn Teslplatte und dem Abbe'schen Apcrtomcter. Dr. II. Sieden- topf (Jena): Vortrag über Dunkclfcldbeleuchtung. Übungen zur Dunkelfeldbeleuchtung. Dr. A. Köhler (Jena): Vortrag mit Demonstrationen über Mikrophotographie, a) Projektion der Bilder auf die Platte; b) Beleuchtung der Objekte mit durchfallendem und auffallendem Licht (Vertikalilluminator). 4S20 m Mineralkörnergchall; j 2,6"/,, 5220 ,, ' steigt 50S0 „ 35.6 7o 4160 „ 23,9 "/„ 3230 ., fast o",, Dr. A. Köhler: Vortrag über Mikrophotographie im ultra- violetten Licht. Dr. H. Siedentopf: Vortrag über Ultraniikro- skopie. Demonstrationen zu den Vorträgen: a) Mikrophoto- graphie im ultravioletten Licht, b) Beobachtungen mit mono- chromatischem, sichtbarem Licht, c) Beobachtungen mit dem Vertikalilluminator (Metallographic), d) Ultramikroskopie der festen Kolloide, e) Ullramikroskopie der flüssigen Kolloide, f) Ultramikroskopie der Zellen und Fasern. Die Anmeldungen zur Teilnahme an diesem Ferienkurs sind zu richten an Dr. Joh. Ehlers, Jena, Beethovenstraße Nr. 14. Da die Zahl der Teilnehmer an den Übungen und Demonstrationen beschränkt ist, so wird gebeten, die An- meldungen möglichst bald bewirken zu wollen. — Das Honorar für die Vorträge, Demonstrationen und Übungen (18 Stunden) beträgt 20 Mk. , für die Vorträge allein (9 Stunden) 6 Mk. und ist bei Empfang der Teilnehmerkarte zu erlegen. Station: 29 35"s3' s. B., I3"9' ö. L. enthält im ,, 107 (Position von oben) ,, 108 ( „ „ „ ) „ 4 o"i i' s. B., lS"i(V w. L. ,, oberen j 38,3 "/„ mittleren ] Teile 47,3 "/„ unteren I 14,7 "/n oben 35,6 % unten 1,9 % oben 23,9 "/„ unten o, 1 5 "/o 0 Wir sehen, daß der Mincralkörnergehalt in den obersten Schichten am reichsten, in den unteren dagegen sehr arm ist. Die Zahlen sprechen dafür, daß diese Erhebungen in jüngster Zeit entstanden.-} Außerdem sprechen dafür die Seebecken im Miltelatlantik. Philippi's Ausführungen haben nachgewiesen, daß die Schichtung der Sedimente am Boden der Meere allgemein verbreitet ist, ferner daß die Schichtung „moderner Sedi- mente" auf klimatische Veränderungen und Krustenbewegungen zurückzuführen ist. M. Goldschlag. ') Ozeanographie, S. 98. ') Zu derselben Überzeugung gelangte auch Emil Haug in seinem vorzüglichen Lchrbuche „Traite de Geologie" I. Bd. Lcs Phenomcnes geologifjues. Paris 1907 (.\rmand CoUin), S. 532. Bücherbesprechungen. Dr. George Karsten, Professor in Halle, und Dr. Friedrich Oltmanns , Prof. in Freiburg i. Br., Lehrbuch der Pharmakognosie. 2. vollst, umgearbeitete Auflage von G. Karstens Lehrbuch der Pharmakognosie. Mit 512 z. T. farbigen Ab- bildungen. Jena, Gustav Fischer, 1909. — Preis 9 Mk. Oltmanns hat in dem vorliegenden Buch die Thallophyten und die Pteridophyten, ferner die Rhi- zome, Wurzeln und Knollen, die Blüten und die Rolistofte, Karsten die Holzer, Rinden, Blätter, Kräuter, Früchte und Samen fiir die 2. Auflage revidiert. Die Figuren sind sehr schön und e.xakt; farbige Über- sichtsbilder erleichtern namentlich dort, wo es sich um anatomische Details handelt, dem Anfänger wesentlich die Orientierung, da die gleichen Gewebesysteme stets auch in den gleichen Farben auftreten. ■ Die Nutzpflanzen des Handels wurden 638 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 40 etwas mehr berücksichtigt als früher , so daß auch der Nahrungsmittelchemiker aus dem Buche Nutzen ziehen kann. Der Zweck der Verfasser ist , „eine übersichtliche Zusammenstellung der Drogenkunde" zu bieten „bestimmt , den jungen .Apotheker in die mannigfachen Gebiete dieser Wissenschaft einzuführen". Ihren Zweck haben die Verf zweifellos trefflich er- reicht. Cl. Ed. Guillaume, Initiation ä laMecanique. 214 pages avec 50 figures. Paris, Hachette, 1909. — Prix 2 fr. Den Freunden der Kinder widmet der durch seine wichtigen Arbeiten über den Nickelstahl be- kannte Verfasser sein jedes Programm verleugnendes Werkchen. Wenn man den Begriff „Kind" etwa auf die Zeit vom 12. bis 15. Lebensjahre bezieht, so dürfte es in der Tat kaum ein geeigneteres Buch geben , um die unseren Schülern leicht trocken er- scheinenden Anfangsgründe der Mechanik zu einem fesselnden Gegenstande zu machen und namentlich die wichtigsten Grundbegriffe gewissermaßen bei der Unterhaltung zu absolut klarem Verständnis zu bringen. Es wäre sehr angebracht, wenn derartige Bücher bei der französischen Lektüre unserer Realanstalten be- nutzt würden. Die Schüler würden solchen Stoffen sicherlich frisches Interesse entgegenbringen, der ihnen bekannt werdende Vokabelschatz würde den Bedürf- nissen ihres späteren Berufslebens mehr gerecht wer- den, als jener der bisher meist bevorzugten Literatur- gattung, und der Physiklehrcr würde für die ihm gewährte Hilfe dankbar sein*. Auch für Schüler- bibliotheken kann die Anschaffung des Buches wärm- stens empfohlen werden. Kbr. Literatur. Knauer, Dr. Frdr. ; Das Terrarium. .Seine Ilerstellg. , Ein- richtg., Beptlanzg., Besetzg. u. lastandlialtg. Mit 38 Orig.- llluslr. u. 4 Tab. (VIII, 137 S.) Kegcnshurg 'og, Verlags- anstalt vorm. G. J. Manz. — 1,20 Ml;., geb. in Lcinw. 1,70 Mk. Linne's, Carl v., Bedeutung als Naturforscher u. .^rzt. Schil- derungen , hrsg. V. d. königl. schwed. Akad. der Wissen- schaften anläl3lich der 200-jähr. Wiederkehr des Geburts- tages Linne's. (V, 168; 48, 43, 18S, 85 u. 42 m. Fig., 2 Tat. u. 2 Bl. Erklärgn.) Lex. 8". Jena '09, G. Bischer. — 20 Mk., geb. 21,50 Mk. Prabn, Herrn. : Pflanzennamen. Erklärung der latein. u. der deutschen Xamen in Deutschland wildwachs, u. angebauten PHanzen, der Ziersträucher, der bekanntesten Garten- und Zimmerpflanzen u. der ausländ. Kuiturgewächse. 2. (wesent- lich erweiterte) Aufl. (IV, 176 S.) kl. 8". Berlin '09, Schnetter & Dr. Lindemeyer. — Geb. in Leinw. i,(io Mk. Anregungen und Antworten. Herrn Dr. A K. in. Freiburg i. Br. — Um die Ursachen von Farbe und Zeichnung in der Tierwelt festzustellen, ist man von drei ganz verschiedenen Gesichtspunkten ausge- gangen und diesen verschiedenen Gesichtspunkten ent- sprechend muß man die vorliegenden Arbeiten einteilen in physikalische oder physikalisch-physiologische, physiologisch- ontogenctische und ökologisch - phylogenetische. — Die rein physikalischen Arbeiten beschäftigen sich nur mit der Frage, wie eine Farbe physikalisch zustande kommt, ob durch irgend- eine färbende Substanz oder durch Interferenz. Die Ent- stehungsursachen der für die Interferenz erforderlichen Struk- tur und der Pigmente lassen sie unerörtert. — Was die Ar- beiten dieser Art anbetrifft, so verweise ich auf eine eingehende Abhandlung von H. Mandoul, „Recherches sur les colo- rations tegumentaires" (in: Ann. Sei. nat. zool. ser. 8, T. 18, 1903, p. 225 — 468) und auf einige Notizen in der Naturw. Wochenschr. (N. F. Bd. V, S. 48 und 224, Bd. VI, S. 751 und Bd. VII, S. 48). — Handelt es sich um Pigmente, so fragt sich weiter, durch welche physikalischen Einwirkungen die Pigmentbildung befördert wird, ob durch Einwirkung des Lichtes, durch Kinwirkung niederer Temperaturen usw. Auch in dieser Frage finden Sie an den eben genannten Orten Literaturhinweise. Hinzugefügt mögen werden zwei Aufsätze von K. Hasebroek, in: ,, Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen" Bd. II, 1907, S. 1—6 und Bd. 12, 1908, S. 277 — 281. — Durch rein physikalische Untersuchungen an Tieren kann natürlich die Verteilung der Farben, d.i. die Zeichnung, nicht auf ihre Ursachen zurückgeführt werden. — Als Arbeiten der zweiten Richtung nenne ich zwei neuere Aufsätze von G. Tornier ,,Expenmentelles über Erythrose und Albinismus der Kriechtierhaut" (in: Sitzungsber. Ges. naturf. Freunde Berlin, Jahrg. 1907, S. 81- 89) und ,, Ent- stehen und Bedeutung der Farbekleidmuster bei Eidechsen und Schlangen" (in : .Sitzungsber. Akad. Wiss. Berlin, Jahrg. 1904, S. 1203 — 1214). — Die Farben und Zeichnungen der Lurche und Kriechtiere werden in erster Linie durch Pigmente bewirkt. — Die Pigmente werden gebildet durch Pigmentzellen oder Chroma- tophoren. — Da aber die Tätigkeit einer Zelle von der Er- nährung oder Blutzufuhr abhängt, so ist klar, daß die Pig- mentbildung in den Pigmentzellen durch gute Ernährung be- fördert, durch mangelhafte Ernährung dagegen eingeschränkt oder unterdrückt werden muß. Dieser Satz, der sich aus den uns bisher auf biologischem Gebiete vorliegenden Erfahrungs- talsachen als logische Schlußfolgerung ergibt, ist von Tor- nier experimentell erhärtet worden. Von dieser Tatsache ausgehend konnte Tornier bei Reptilien in vielen Fällen die Zeichnung oder das Farbekleidmuster, wie er es nennt, auf die Lebensweise des Tieres, d. i. auf die Bewegungen, die es gewöhnlich ausführt, zurückführen. Eine Biegung des Körpers bewirkt eine Querfaltung und damit verbunden eine Verengung der Gefäße an den gefalteten Stellen. Die Folge ist nach Tornier eine geringere Ernährung der gefalteten Hautstellen und ein Hellerwcrden derselben, d. h. die Ent- stehung einer Ringelung, die um so feiner wird , je energi- scher die Bewegungen sind, die das Tier ausführt. — Durch Erwägungen dieser Art wird von Tornier die Entstehung mancher Zeichnungen dem Verständnis näher geführt. — Andere Pigmentanhäufungen und Zeichnungen aber bleiben vom rein physiologiscl)en Standpunkte aus ganz unverständlich: — Auf den roten Flügeldecken der Marienkäfer entstehen, wie Tornier nachweisen konnte, durch reichliche Blutzufuhr schwarze Zeichnungen. Wie aber die reichliche Ernährung und die Entstehung der normalen sieben schwarzen Flecke der Flügeldecken auf die Lebensweise zurückzuführen ist, ist ganz unverständlich. — Wenn der Hamster, im Gegensatz zu den meisten anderen Nagern, einen schwarzen Bauch besitzt, so ist uns dies ebenfalls von rein physiologischen Gesichts- punkten aus gänzlich unverständlich, ja, sogar widersinnig. Erwarten sollten wir bei ihm, wie bei anderen Nagern einen hellen Bauch, weil der Körper sich, wie bei jenen, mehr nach der Bauchseite hin biegt, und weil bei gestrecktem Körper der Bauch einer ebenso harten Unterlage aufliegt, wie bei jenen. — Ganz unverständlich bleibt auch , warum im hohen Norden die Haut der Landwirbeltiere mit alleiniger Ausnahme des Kolkraben schlecht ernährt sein soll. — Vom ökologi- schen Standpunkte aus ist sofort verständlich, warum Wirbel- tiere , die entweder vom Raube leben oder die den Ver- folgungen der Raubtiere besonders ausgesetzt sind, auf dem Schnee und Eis eine weiße bzw. helle Körperfarbe besitzen müssen, während der Kolkrabe, der von Aas lebt, der sich den Raubvögeln gegenüber verteidigen kann und der den größeren Räubern sich durch seine F'lugfähigkeit entzieht, seine schwarze Farbe behalten hat. .Auch die Entstehung der weißen Körperfarbe im Laufe der Generationen ist ver- ständlich, wenn wir drei Erfahrungstatsachen als solche aner- kennen, l) die Veränderlichkeit, 2) die Vererbung und 3) die N. ]•-. \'III. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 639 Übcrproiluktion bzw. den Kampf ums Dasein. Aus diesen drei Erfahrungstatsachen ergibt sich das allmähliche Heller- werdcn mit logischer Konsequenz; denn diejenigen Individuen, welche am hellsten waren, mochten sie nun Räuber oder den Verfolgungen der Räuber ausgesetzt sein, hatten auf dem Schnee und Kis immer am meisten Aussicht sich im Kampfe ums Dasein zu erhalten und ihre Eigenschaft auf Nachkommen zu übertragen. — Lassen wir das Soleklionsprinzip als not- wendige Konsequenz von Erfahrungstatsachen gelten, so haben wir also jede Eigenart in der Earbe oder in der Zeichnung auf ihre Ursachen zurückgeführt, sobald wir deren Vorteile für die Erhaltung der Art erkannt haben (vgl. Zool. Anz. Bd. 34, S. 313). Alle Arbeiten also, die sich ökologisch mit den Karben der Tiere beschäftigen — und deren Zahl ist bis in die neueste Zeit hinein sehr groß — sind unter obigem Titel zu berücksichtigen. Eine Farbe oder eine Zeichnung kann freilich in verschiedener Weise für die Erhallung der Art von Nutzen sein. Am augenscheinlichsten ist der Vorteil der sog. ,, Schutzfarben", Anpassungsfarben oder Deck- farben. Man möchte einen der letzteren Namen lieber dem gebräuchlicheren Namen ,, Schutzfarben" vorziehen, weil es sich um Farben oder Zeichnungen handelt, die der Farbe der Umgebung so eng angepaßt sind, daß sie nicht nur dem Beutetier seinem Räuber gegenüber Schutz gewähren, sondern da sie es auch dem Raubtiere möglich machen, seine Beute gewisser- maßen gedeckt und unbemerkt zu beschleichen (vgl. Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. IV, 1905, S. 597). — Weniger klar auf der Hand liegt der Vorteil der sog. Trutz färben oder Schreckfarben. Es gehören dahin die lebhaften Farben und die auffallenden Zeichnungen derjenigen Tiere, die entweder durch eine gefährliche Wafte geschützt sind, wie die Bienen , Wes- pen usw. oder die einen schlechten Geruch oder Geschmack besitzen und deshalb ungenießbar sind, wie die Wanzen, Marienkäfer, Papiiio usw. Da die hierher gehörigen Farben und Zeichnungen uns keineswegs immer schrecklich erscheinen, möchte man sie lieber nicht Schreckfarben, sondern Warn- oder allenfalls Trutzfarben nennen. — An dritter Stelle sind dann die sog. Schmuck färben zu nennen, die dadurch der Erhaltung der Art dienen, daß sie die Geschlechter zur Paarung anregen und zusammenführen. — Die Schmuckfarben geraten oft mit dem Schutzbedürfnis des Tieres in Konflikt und werden dann entweder nur zeitweise zur Schau getragen, wie bei Oidipoda^ Catocala, Vanessa usw. oder sie treten nur im männlichen Geschlecht auf, weil das Weibchen bei der Brutpflege des Schutzes mehr bedarf, als das Männchen (Argusfasan, Paradiesvogel, Ornithoptera usw.). — Was die Trutz- und Schmuckfarben anbetrifft, so sind namentlich die ersten Anfänge phylogenetisch schwer verständlich. In dieser Richtung dürften die Untersuchungen Tornier's vielfach Klarheit schaffen. — Sobald Farben und Zeichnungen in merklicher Weise vorhanden sind, können Lust- und Unlust- gefühle an sie anknüpfen und die Eigenart zu immer höherer Entwicklung bringen (vgl. Zool. Anz. Bd. 34, 1909, S. 309). — Die Literatur über Anpassungsfarben , Trutzfarben und Schmuckfarben finden Sie teilweise an den oben schon ge- nannten Orten verzeichnet. Hinzugefügt mag werden eine neuere Arbeit von E. B. Poulton, „Experiments upon the Colour-Relation between Lepidoplerous Larvae and their Surrounding" (in: Trans, ent. Soc. London, Vol. 1903, p. 311 l>is 374)1 die mir gerade vorliegt, und eine Notiz der Naturw. Wochenschr. über den Farbenwechsel (N. F. Bd. V, S. 736). Dahl. Herrn Dr. B. M. in Annaberg (Erzgeb.). — Ihre Frage beantwortet Herr Geheimrat M. Braun in Königsberg freund- lichst in folgender Weise: Zur Notiz im Briefkasten der Na- turw. Wochenschr. N. F. Bd. VIII, S. 528, teile ich mit, daß das, was hier als Rotzunge in den Handel kommt, durchweg SoUa aurantiaca Gthr. ist. Der Ausdruck Seehecht wird hier niemals i'-ii Bcloiit wohl aber für Meiluccitis und Aiiairklchas, gelegentlich auch für Gadus-.\x\.e.n gebraucht, so daß hier we- wenigslens eine bestimmte Spezies damit nicht bezeichnet wird. Dahl. Aus der Sommerfrische heimgekehrt finde ich in Nr. 33 der .Naturw. Wochenschr. die Frage nach dem wissenschaft- lichen Namen der „Rotzunge". Dieser Name ist nicht der populäre, sondern der dänische ins deutsche übersetzte Name des „Pleuronectes microcephalus" Donovan, auf Dänisch ,,Rödtunge". Wissenschaftlicher Namen früher ? Pleuronectes linguatula, Mohr; PI. quadidrens. Faber. Der Fisch lebt bei Island vorzugsweise in dem warmen Wasser an der Süd- und Westküste in Tiefen von 10 — 70 Faden. Das größte gefangene Exemplar 49 cm, gewöhnliche Größe iS bis 43 cm. Von den Isländern trotz seines treulichen Fleisches wenig gefangen, dagegen recht häufig von fremden Fischern im Trawl. A. Müller, Oberlehrer in Aarhus. Herrn Gymnasiallehrer R. M. in Wolfenbüttel. — Sie schreiben uns: ,,Ein Bekannter erzählte mir kürzlich, er habe beobachtet, daß unsere Schwarzdrossel, 7urdns nierula^ die Nester unserer kleinen Sänger beraube, die Eier und auch die Jungen nicht verschone, weshalb er sich genötigt sehe, die Schwarzdrosseln abzuschießen , um sich einige Nachtigallen- paare in seinem Parke zu erhalten." — Sie fragen, ob diese Beobachtung auch von anderer Seite gemacht worden sei. — — In dem neuen Naumann (Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas, Bd. I, Teil 2, Gera-Untermhaus 1905, S. 158) sagt R. Blasius: Nach einigen unanfechtbaren Beobachtun- gen plündern die Amseln unter Umständen auch die Nester kleiner Singvögel und rauben die kleinen nackten Jungen, doch scheint das nur dort der Fall zu sein, wo durch über- reichlichen Vogelschutz eine Überproduktion von Schwarz- drosseln in den Gärten und Parkanlagen der Städte stattge- funden hat .(vgl. Köpert, in: Ornith Monatsschr. 1903). Weinland überraschte eine sonst sehr zahme Amsel in seinem V^ogelzimmer, wie sie einen Kanariennestling aus dem Neste holte und gierig aufiraß. Es sind das lokale Unarten. Derartige Schwarzdrosseln sollte man als ,,aus der Art ge- schlagen" bekämpfen und im Interesse der kleinen Singvögel vernichten- — Der Blasius'sche Vorschlag, in solchen Fällen individuell gegen den Übeltäter vorzugehen, scheint mir sehr beachtenswert und in Parkanlagen keineswegs unaus- führbar zu sein. Leider werden derartige Ausnahmen von der Regel in Zeitungen oft allzusehr aufgebauscht und er- scheinen dann vielen als Regel. Nur statistische Beobach- tungen lassen sie als das erscheinen , was sie sind, und des- halb sollten statistische Beobachtungen bei Beurteilung des Nutzens und Schadens einer Vogelart immer maßgebend sein. Was würde man dazu sagen, wenn man die Bewohner eines Dorfes alle köpfen wollte, weil sich unter ihnen ein Mörder befindet? Dahl. Herrn Mittelschullehrer F. H. in Frankfurt a. M. — Über Autotomie und Regeneration ist in neuerer Zeit sehr viel geschrieben worden. Ich empfehle Ihnen die neueren Jahr- gänge vom ,, .Archiv für Entwicklungsmechanik" und vom ,, Journal of experimental Zoology, Baltimore" durchzusehen. Außerdem verweise ich auf E. Korscheit, ,, Regeneration und Transplantation" (Jena 1907) und auf die Arbeiten G. Tornier's, von denen einige an anderer Stelle der Naturw. Wochenschr. genannt sind. Schließlich sei auf einen kleinen Aufsatz der Natursv. Wochenschr. (N. F. Bd. 4, 1905, S. 321 bis 325) von C. Thesing hingewiesen. Dahl. Herrn J. B. in Neumühlen bei Kiel und Herrn F. H. in Frankfurt a. M. — Die wichtigeren wissenschaftlichen Ar- beiten über die Honigbiene sind genannt in drei Schriften von H. v. Bu t te 1- Ree p en „Sind die Bienen Reflexmaschi- nen, experimentelle Beiträge zur Biologie der Honigbiene" (Leipzig 1900), „Die stammesgcschichtliche Entstehung des Bienenslaatcs" (Leipzig 1903) und „Die Ursachen der Ge- schlechtsbestimmung bei der Honigbiene und die analytisch- statistische Methode", in: Zeitschr. f. wiss. Insektenbiologie Bd. 1, 1905, S. 441 — 45. Dahl. Herrn Oberlehrer Dr. H. in Z. — Sie schreiben uns: In dem an höheren Lehranstalten weit verbreiteten Leitfaden der Zoologie von V o gel - M ü 1 le n h o f f- Rö s e 1 e r finde ich (Heft 2, § 75) die Angabe, daß die Puppe des kleinen Kohl- weißlings, ,,wenn sie an einer weißen Mauer angeheftet ist, nahezu weiß, an einer roten Mauer rötlich und auf schwarzem Grunde nahezu schwarz" ist, was als Beispiel für Anpassung an die Umgebung angeführt wird. — Sie fragen, ob diese 640 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 40 Angabe richtig sei und bitlen um Literaturbclcgc. über Farbenanpassung der Scbmetterlingspuppen bat besonders der Engländer E. B.Po ul ton experimentiert (vgl. Philosoph. Transact. Roy. Soc. Vol. 17SB, 1887, p. 311 — 441 und Transact. cntomol. Soc. London 1892, p. 293 — 487). Aus der tabellarischen Zusammenfassung der Resultate seiner Untersuchungen (Trans, ent. Soc. 1S92, p. 461 — 464) ersieht man, daß die Puppe von rieris rapae auf schwarzem , licht- braunem und liofrotem Papier dunkel wurde. Auf tieforange- farbigem und leuchtendgclbem Papier und auf grünen Blättern wurde sie grün. Auf wcii3em Papier wurde sie iichl oder grün. Zu ähnlichen Resultaten führten übrigens seine Unter- suchungen am großen Kohlweißling, Pieiis biassicat. Dahl. Blättern und Zeitungen ,, Monographien" nennen — und das scheint beinahe so — , so ist Ihre Frage, da sie die Kenntnis aller dieser Aufsätze voraussetzt, unbeantwortbar. Dahl. Herrn Lehrer J. Seh. in Misburg b. Hannover. — Sic wünschen Literaturnachweise über Ameisen, Bienen und Wes- pen, nicht rein systematische, sondern Arbeiten über die Anatomie, die Lebensweise und die Psychologie der Hymenopteren. — — Ein systematisches Werk, das von allen einheimischen Hymenopteren kurze Angaben über die Lebensweise gibt, ist E. Andre, Species des Hymenopteres d'Europe et d'Algerie, Bcaume et Paris lS79ff. Den anato- mischen Bau der Hymenopteren hat neuerdings besonders Ch. Janet untersucht. Er hat die Resultate seiner Unter- suchungen unter dem Titel ,,Eludes sur les fourmis, les guepcs et les abeilles" seil 1894 teils in Zeitschriften z.B. in: Mem. Soc. Acad. Oise T. 15, 1894, p. 591, Ann. Soc. ent. France, T. 63, 1894, p. 109 u. 691 , Mem. Soc. zool. France, T. 7, 1894, p. 45 u. 185, T. II, 1898, p. 393 u. T. 12, 1899, p. 295 usw. teils selbständig (Limoges 1S95 u. 1897, Lille 1897 und Paris 1898 — 1902) veröffentlicht. Über Ameisen gibt K. Escherich, ,,Die Ameise" (Braunschweig 1906) eine gute zusammenfassende Darstellung mit Litcraturangaben. (Man vgl. übrigens die Besprechung in der Naturwissenschaft- lichen Wochenschrift N. F. Bd. VI, S. 333 f.). Über das Psychische in den Ameisen ist von neueren Arbeiten die Schrift E. Wasmann's ,,Die psychischen Fähigkeilen der Ameisen" (2. Aufl. Stuttgart 1909) zu ergänzen. Über Bienen ist unter neueren Arbeiten besonders H. v. Büttel, Die phylogenetische Entstehung des Bienenstaates" (Leipzig 1903) mit angefügtem Literaturverzeichnis zu nennen. Speziell über Hummeln handeln W. Wagner, ,,Psychobiologische Unter- suchungen an Hummeln" (Zoologica Heft 46, Stuttgart 1907) und H. v. B u 1 1 e 1, „Zur Psychobiologie der Hummeln", in : Biol. CentralbL Bd. 27, 1907, S. 579—587 u, 605—613. Über Faltcnwespen nenne ich folgende Arbeiten: K. Möbius, ,,Die Nester der geselligen Wespen", in: Abh. naturw. Ver. Hamburg, Bd. V 3, S. 117— 1 71, A. Schenck, „Die deut- schen Vesparien", in: Nass. naturw. Jahrb. Heft 16, 1S61, S. I — 136 und Ch. Jan et, „Observations sur les guepes", Paris 1903. — Viele kleine Aufsätze über die Lebensweise der Hymenopteren finden Sie übrigens auch in der Naturwiss. Wochenschr. ; so im VI. Bde. (1907): H. v. Jhering, ,,Die Cecropien und ihre Schutzameisen" (S. 347 — 350), H. v. Bultel-Reepen, ,,Psychobiologische und biologische Be- obachtungen an Ameisen, Bienen und Wespen" (S. 465 - 478), A. Forel, ,,Das Zeitgedächtnis der Bienen" (S. 617), E. Manzeck, ,,Ein Hornissennest" (S. 623 — 24', ferner ,, Kunst- bauten der Blattschneidebiene" fS. 751 — 52), ,,Das Eierlegen der Arbeitsbienen" (S. 815 — 16) usw. Dahl. Herrn Mittelschullehrer H. H. in Halle a. S. — Voll- ständige Monographien einzelner Wasserwanzen, d. h. Schrif- ten, in denen sowohl der Bau als die Lebensweise einzelner Arten in wissenschaftlicher Weise ausführlich zur Darstellung gelangt sind , kenne ich nicht. — Sollten Sie alle Aufsätze über Wasserwanzen in populären Zeitschriften, belletristischen Herrn M. R. (Ostpreußen). — Sie fragen, welche „Be- deutung" es habe, daß Sy m p h y tum o ff icinale ein- mal weiß (forma bohemicum Schmidt) und einmal rosa bis violett (forma patens Sibth.) blühe. Pflauzenarten, deren Individuen verschiedenfarbige Blüten tragen , gibt es mehrfach in der freien N.atur, hierher gehören bei uns z. B. außer Syniphytum officinale die Scabiosa columbaria, die röt- lich-lila blüht, oft aber auch (forma ochroleuca L.) golblich- weiß, ferner Verbascum lychnitis, das hellgelb blüht, strecken- weise aber (forma alba Mill.) mit weißen Blüten vorkommt, Viola tricolor, die in der Form vulgaris mehr violett, in der Form arvensis ganz gelblichweiß blüht usw. In dem Manu- skript zur 5. Auflage meiner im nächsten Frühjahre erschei- nenden Illustrierten Flora äußere ich mich über diese Fälle wie folgt bei Symphytum officinale. ,, Stellenweise überwiegt die weißblühende (z. B. in Mittel-Deutschland) , stellenweise die violett blühende Form. Kerner erklärt solche Fälle, in denen verschiedenfarbige Bluten an verschiedenen Individuen derselben Pflanzenart vorkommen, aus dem für diese Arten mit Rücksicht auf den Insektenbesuch vorteilhaften Farben- kontrast. Angenommen es würde auf einer Wiese eine im Sommer weißblühende Art schon in Menge vorhanden sein, so würde das ebenfalls weißblühende Symphytum bohemicum sich nicht hinreichend abheben, während einzelne violette Exemplare (S. patens) das tun, somit reichlicher von Insekten besucht werden und sich so vermehren würden. Umgekehrt müßte es sein, wenn die Wiese in Massen schon irgendeine violett blühende Art trüge : dann würde sich aus dem ange- gebenen Grunde hier S. bohemicum reichlicher vermehren und schließlich allein vorhanden sein müssen." P. Nachtrag zur Notiz betreffs Ovibos moschatus (diese Wochenschrift Nr. 30, p. 480). — Verzeichnisse der Fundorte des Ovib. mosch. lieferten Dawkins, Anunt- schin'), Staudinger ^) und in neuester Zeit R. Kowar- zik^), dessen Verz. auch das genaueste ist. Kowarzik zählt von Deutschland 29 Fundorte auf. Es kommen zu den von Prof. Dahl nach Greve zitierten Fundorten noch hinzu: Frankenhausen, Bielschowitz in Ob. -Schi., Hohe Saale, Dömitz (Meckl.), Moselweiß bei Koblenz, Vallendar (Rhein), Hameln a. d. Weser, Schönau bei Schweiz, Pleikartsförsterhof bei Heidelberg, Höchst a. Main, Königswursthausen bei Berlin, Aschersleben, Thiede, Czernitzer Tunnel (Ob. -Schi.), Orlowitzer Tunnel (Ob. -Schi.), Trolha bei Halle, Schönwarling (West- preußen), Rixdorf, Thüringen (näherer Ort unbekannt), Wild- scheuer a. d. Lahn, Ilohlefels (Achtal), Kirchheim a. d. Eck. Die genannte Arbeit Kowarzik's enthält auch genaue .Aufzählungen der Fundorte anderer Länder. Ein Eingehen aber in dieselben scheint mir entbehrlich, da ein ausführliches Referat über die Arbeit in Kürze in dieser Wochenschrift er- scheinen wird. Neue interessante und weitvolle Tatsachen hoffen wir in der Hauptarbeit Kowarzik's, die laut brieflicher Mitteilung erst 1910 erscheinen wird, zu finden. M. Goldschlag. ') Isophaemyi ovce-bykl ; Dnevnik zoolog. otdelenja ob- scestva i zoolog. -muzeja. 1S90, p. 40-49. -) Praeovibos priscus nov. gen. et spec. , ein A'ertreter einer Ovibos nahestehenden Gattung aus dem Plcistocän Thüringens. Centralbl. f. Min., Geol. u. Pal. 190S, Nr. 16, p. 481 — 502. ^) Der Moschusochs im Diluvium von Europa und Asien. Ver- bandig. d. naturforsch. Vereins in Brunn. Bd. XLVII, p. 1 — 16. Inhalt: Otto Baschin: Die Erreichung des Nordpols. — Prof. Max C. P. Schmidt: branz Junghuhn. — Kleinere Mitteilungen: C. N. Jonescu: Vergleichende Untersuchungen über das Gehirn der Honigbiene. — E. P h i I i p p i : Über das Problem der Schichtung und über Schichtbildung am Boden der heutigen Meere. — Aus dem wissen- schaftlichen Leben. — Bücherbesprechungen: Dr. George Karsten und Dr. Friedrich Oltmanns: Lehr- buch der Pharmakognosie. — Cl. Ed. GuiUaume: Initiation ä la Mecaniquc. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, GroßLichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue l'olge VIII. Band; der gan/en Keihc XXIV. Band. Sonntag, den lo. Oktober igog. Nummer 41. Das deutsche Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik. [Nachdruck verboten. Von Prof. Dr. F. Koerber. In Überaus kurzer Zeit hat sich das „deutsche Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik" in München zu einer alle bisher existie- renden, ähnlichen Sammlungen weit überstrahlenden Stätte der Belehrung entwickelt, die kein Besucher der bayerischen Hauptstadt zu besichtigen verabsäumen sollte, auch wenn die Zeit zu einem genaueren Studium der äußerst umfangreichen Schätze nicht ausreichen mag. Im folgenden wollen wir es versuchen, unseren Lesern wenigstens in den all- gemeinsten Umrissen ein Bild von dem zu geben, was das deutsche Museum bezweckt und dank seiner vorzüglich geleiteten Organisation schon jetzt erreicht hat, 6 Jahre, nachdem der erste Plan eines derartigen Institutes durch Oskar v. Miller vor einem kleinen Kreise maßgebender Persönlich- keiten entwickelt wurde und alsbald begeisterte Zustimmung fand. Wenn sonst vom ersten Plan eines Unternehmens bis zur Ausführung ein weiter, oft an Enttäuschungen reicher Weg zurückzulegen ist, kam hier die Verwirklichung des offenbar einem allerseits anerkannten Bedürfnis entsprechen- den Museums, für das sich alsbald namhafte und zu großen Opfern bereite Gönner fanden, wunder- bar schnell zustande. Bereits am 13. November 1906 konnte das unter dem Protektorat des Prinzen Ludwig von Bayern stehende Museum, allerdings noch in provisorischen Räumen, eröffnet werden und am gleichen Tage wurde auch die Grundsteinlegung für das eigene, auf der Isarinsel nach den Plänen G. von Seidl's zu errichtende Heim durch den deutschen Kaiser und den Prinz- regenten Luitpold vollzogen. Gegenwärtig ist bereits auf allen Gebieten eine solche Vollständigkeit der Sammlungen er- reicht, daß der Grundgedanke des Museums, „die historische Entwicklung der naturwissenschaft- lichen Forschung, der Technik und der Industrie in ihrer Wechselwirkung darzustellen und ihre wichtigsten Stufen durch hervorragende und typische Meisterwerke zu veranschaulichen" als verwirklicht bezeichnet werden muß. Allerdings sind denn auch die bisher zur Verfügung stehen- den Räumlichkeiten (Abteilung I im ehemaligen bayerischen Nationalmuseum, Abt. II in der Isar- kaserne) fast schon überfüllt und die Reichhaltig- keit des Dargebotenen zwingt jeden Besucher zu einer Beschränkung auf die ihn am meisten inter- essierenden Gebiete, wofern er nicht dauernd in München lebt und sich durch oft fortgesetzte Studien tiefer einzuarbeiten vermag. Gehen wir zunäch.st die Säle der Abteilung I in der jedem Besucher in sehr geschickter Weise aufgenötigten Reihenfolge durch, so gelangen wir zuerst in die Abteilung für Geologie, deren wich- tigste Lehren uns durch eine treffliche Auswahl von Demonstrationsobjekten im Überblick vorge- führt werden. Wir heben hieraus die instruktiven Seismographenmodelle hervor. Es schließt sich nun naturgemäß das Bergwesen an. Hier werden uns in den Sälen 2 und 2 a durch große, zum Teil betriebsfähige Modelle die Tiefbohrgeräte, Bergwerksanlagen, Sicherheits- und Rettungs- apparate, Werkzeuge und Bohrmaschinen vor Augen geführt. Von historisch bedeutungsvollen Apparaten finden wir hier die erste, aus dem Jahre 1879 stammende Solenoidbohrmaschine und die aus 1881 stammende, erste elektrische Gruben- lokomotive von Siemens. Die Säle 3 — 6 sind der Gewinnung und Ver- arbeitung des Eisens gewidmet. Neben älteren, die Entwicklung der Hochöfen und die Einführung der Winderhitzer darstellenden Objekten sehen wir ein im Maßstab 1:25 ausgeführtes Krupp- sches Hochofenwerk von 1875. Weiter sind be- merkenswert ein bewegliches Schnittmodell der ersten deutschen Bessemeranlage (1863), ein Modell der ersten deutschen Siemens-Martin-Anlage von 1868, ein anzutreibendes Krupp'sches Schienen- walzwerk (um 1880), eine im Maßstab 1:12 her- gestellte Krupp'sche Schmiedehalle mit betriebs- fähigem Hammer (1861) und eine Schmiedepresse von Breuer, Schuhmacher & Co. Alle diese Originalmodelle sind natürlich hier wie in den übrigen Abteilungen Schenkungen der betreffen- den Firmen, die ja auch eine würdigere Aufbe- wahrung der historisch wertvollen Stücke gar nicht finden könnten. Schreiten wir weiter, so belehrt uns Saal 7 über die Verwertung der Wasserkraft zur Arbeits- leistung. Neben den verschiedenen Wasserrädern sehen wir hier die berühmte Wassersäulenmaschine von Reichenbach, die von 1817 bis 1904 die Berchtesgadener Sole nach Reichenhall beförderte und schon durch diese lange Dienstzeit beweist, daß es sich um ein Meisterwerk ersten Ranges handelt. Weiter können wir die Turbinen an ersten Originalausführungen studieren, so die Fourneyron'sche von 1834 (bis 1865 zu St. Blasien im Betrieb), sowie auch ein Peltonrad von 1892, neben dem das betriebsfähige Modell eines neueren Peltonrades von Breuer die Wirkungsweise durch ein im Gehäuse angebrachtes Glasfenster zu be- obachten gestattet. Den in Saal 8 und 9 untergebrachten Dampf- motoren ist natürlich eine besondere Sorgfalt ge- 642 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vni. Nr. 41 widmet. Von den ältesten Formen Watt'scher Bauart bis zu den Dreifachexpansionsschiffs- maschinen neuester Konstruktion und den Sulzer- schen Ventilmaschinen von 1905 können hier die wichtigsten Typen der Kolbendampfmaschinen verglichen werden, aber auch die Dampfturbinen, denen bekanntlich die Zukunft gehört, sind durch teilweise geöffnete Originalmodelle von Parsons (1884) und Laval (1889) vertreten, an denen der Weg des Dampfes verfolgt werden kann. Auch den Kesselanlagen, die ja gleichfalls in neuerer Zeit eine wichtige Umwandlung erfahren haben, ist ein Teil des Raumes gewidmet. In den nun folgenden Sälen 10 — 12 und den daranstoßenden Gärten sind die Landtransport- der neuesten Zeit, die sich nicht des Dampfes be- dienen, also die Heißluftmaschinen, Gasmotoren, Benzinmotoren usw. Man ersieht an den hier auf- gestellten Objekten, vom ältesten Gasmotor von Lenoir ( 1 86 1 ) bis zum ersten Daimlermotor von 1883 und Dieselmotor (1897), wie die für die Gegenwart so ungemein bedeutungsvolle Entwicklung der Motoren für flüssige Brennstoffe, ohne die weder das Auto- mobil, noch das lenkbare Luftschiff möglich ge- worden wäre, vornehmlich auf deutschen Erfin- dungen beruht. Auch die Windmotoren zeigen uns wesentliche neuere Fortschritte, die nament- lich durch die Regulierung für verschiedene Wind- stärken mit Hilfe verstellbarer Antriebsflächen erzielt wurden. mittel untergebracht, die natürlich im Zeitalter des Verkehrs das besondere Interesse des Publi- kums finden. Hier kann man die Entwicklung des Fahrrades, des Kraftwagens, des Lokomotiven- baus, des Straßen- und Bahnbaues übersichtlich verfolgen. Zugleich sind in Halle 10 bis zur Er- öffnung einer besonderen, der Luftschiffahrt ge- widmeten Abteilung der Lilienthal'sche Flug- apparat von 1896, sowie Teile des bei Echter- dingen verunglückten Zeppelin'schen Luftschiffes untergebracht. Bei den Straßenbahnen finden wir die erste Siemens'sche elektrische Lokomotive, die für die Berliner Gewerbeausstellung von 1S79 ge- baut war, daneben aber auch im Modell die neuesten Schnellbahnwagen, die eine Geschwindig- keit von 210 km erreichten. Besonderes Interesse beanspruchen die in den Sälen 13 und 14 aufgestellten kalorischen Maschinen Wir betreten nun im Saal 15 die mit der Astronomie beginnende physikalische Abteilung des Museums, für welche die reiche Sammlung der Kgl. bayerischen Akademieder Wissenschaften den Grundstock bildete. Die astronomische Samm- lung enthält neben prächtigen, alten Planetarien, Globen und allen Arten von Uhren (darunter neueste Riefler'sche Pendeluhren mit Nickelstahl- pendel) eine reiche Zusammenstellung von Beob- achtungsinstrumenten. Die Wirkung der verschie- denen Fernrohrtypen wird dem Besucher in hüb- scher Weise dadurch veranschaulicht, daß man beim Hineinblicken ins Okular ein künstliches Saturnbildchen wahrnimmt, das die Größe zeigt, in der Saturn selbst bei der dem betreffenden Instrument angemessenen Vergrößerung erscheinen würde. Auch die P^ntwicklung der Photometrie wird im Anschluß an die im Original vorhandenen N. F. VIII. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 643 ersten Photometer von Steinheil (1836) und Schvverd (1850) veranschaulicht. Besonders reich an vortrefflichen Original- Instrunicnlen von Reichenbach, Fraunhofer, Stein- licil usw. ist der geodätische Saal (16), in dem wir an aufgestellten Meßtischen mit Kippregel und Distanzmesser, die auf .eine entfernte Latte eingestellt sind, praktische Übungen vornehmen köimen. Mit ehrfurchtsvoller Scheu betrachtet der Präzisionsmechaniker die in diesem Saal gleich- falls aufgestellte Reichenbach'sche Kreisteilmaschine (1804), die so viele berühmt gewordene Kreis- teilungen in die Welt geschickt hat. Die genauen und bei der bayerischen Landesvermessung be- währten Basisapparate von Bonne, Schwerd und Reichenbach geben auch dem Laien einen Begriff von der Arbeitssumme, die die Ausmessung einer einzigen, für Landestriangulation hinreichend langen Basis in sich schließt. Daß auch die abstrakte Mathematik Aus- stellungsobjekte besitzt, die in das deutsche Museum (Saal 17) gehören, würden wohl nur wenige Besucher angenommen haben. Und doch ist man auch in dieser Wissenschaft mit großem Erfolge bemüht, einerseits der Anschauung schwer vorzustellender Gebilde durch Modelle zu Hilfe zu kommen, und andererseits die rein mechanische und geisttötende Rechenarbeit mehr und mehr auf Maschinen zu übertragen, deren sinnreiche Konstruktion vielfach verblüffend wirkt. Von den ältesten Rechenhilfsmitteln, wie sie in Rom, Japan und China im Gebrauch waren, führt eine stetige Entwicklung zu den Multiplikationsmaschinen von Selling u. a., sowie zu den in den Kreisen der Technik unentbehrlich gewordenen, logarith- mischen Rechenschiebern und zu den gleichfalls für Ingenieure besonders wichtigen Planimetern, die den Inhalt beliebig geformter Flächen durch Umfahren derselben zu bestimmen gestatten. Mit einem großen Kugelrollplanimeter von Amsler kann der Gebrauch dieser Instrumente vom Be- sucher selbst geübt werden. Die Sammlung von Körpermodellen und Kurven aller Art ist sehr reich- haltig, der Laie wird gewiß manche dieser Darstellun- gen anfangs für Dekorationsstücke halten , ohne ihre wissenschaftliche Bedeutung zu ahnen. Auch die bekanntesten Apparate für die Konstruktion der Kegelschnitte sind nicht nur aufgestellt, son- dern der Hand des Publikums zugänglich gemacht, so daß ein jeder nach Herzenslust z. B. Ellipsen mit verschiedenster Exzentrizität entstehen lassen kann. In trefflicher Weise werden auch die Grundlehren der Perspektive erläutert und deren allmählich fortschreitende Erkenntnis durch Photo- graphien berühmter Gemälde von Leonardo, Dürer und Raffael dargetan. Im mathematischen Saal finden wir auch eine prächtige, von Prof Hartmann-Berlin zusammen- gestellte Sammlung kinematischer Modelle, die uns die wichtigsten Arten der bestimmte Be- wegungsformen erzwingenden Getriebe vor Augen führen. Auch die Wagen und Aräometer haben in diesem Saal noch Platz gefunden, nur die be- rühmte Wage, mit welcher Jolly 1879/80 die Dichtigkeit der Erde bestimmte, hat neben der s Fig. 2. Versuch von Rumford über die Arbeil in Wärme. Umwandlung von Ohm's l';iel'oa Robert Lehmann-Nitsche. lieber Mergel. Der untere Löß ist nicbt genauer untersucht worden ; er ist (Vortragender) äußerst kompakt und hart, p f eff er ku c h en b rau n , mit vielen Kalkbänken; nur gelegentlich wird er bei niedrigem Wasserstande am Paranä sichtbar und ist am besten an der Atlantischen Küste , so bei Monte Hermoso und Mar del Plata, zu studieren. Die Altersbestimmung der Lösse ist schwierig und nicht zur Zufriedenheit gelöst. Nach Stein- mann und V. Jhering ist eine bei Tala im mitt- leren Löß eingelagerte Austernbank verhältnis- mäßig modern, sehr wahrscheinlich quartär; der darüber lagernde mittlere Löß ist es also auch und der obere Löß ist jungquartär. Noch varia- bler sind die Ansichten über das Alter des unteren Lösses; Scott hat in seinem Beitrag u. a. die Schwierigkeiten beleuchtet, die sich der Lösung dieser Frage entgegenstellen; namentlich sind die terrestrischen Beziehungen Südamerikas zu anderen Kontinenten in der damaligen Epoche noch gar nicht geklärt; m. E. ist der untere Löß mindestens als pliozän anzusprechen. Rein geologisch sind die Mitteilungen Doering's über die Pampasformation von Cördoba, wo er ein kompliziertes System von Unterschichten aufstellt. Wichtig ist seine Ansicht über die Einwirkung vulkanischer Asche, welche sich in dünnen Schich- ten eingelagert gelegentlich im Löß bei Cördoba vorfindet und gewiß von vulkanischen Zentren der Cordillere herstammt; weiter östlich, nach der atlantischen Küste zu, also peripheriewärts, verschwinden diese Aschenschichten allmählich; im feuchten Klima des Litoral wurden sie aus- gelaugt, aber ihre Salze und mikroskopischen Be- standteile sind in den tieferen Schichten nach- weisbar; möglicherweise erklärt sich so zum Teil das Aussterben der Pampasfaunen. Auf Grund der skizzierten geologischen Ver- hältnisse konnte ich dann an eine Nachprüfung resp. Originaluntersuchung des anthropologischen Materials aus der Pampasformation gehen. Die osteologischen Überreste sowie die Zeugnisse des Kulturbesitzes müssen als die ältesten aus Süd- amerika stammenden angesehen werden, ohne daß eine genaue Datierung immer möglich wäre; wir müssen an die meisten das gleiche Kriterium legen wie an die nordamerikanischen F"unde, welche soeben von Hrdlicka zusammenhängend unter- sucht worden sind. Da das Material noch sehr lückenhaft ist, habe ich von einer vergleichenden Die Frage vom Auftreten des Menschen in Südamerika gehört gewiß vor das Forum dieses Kongresses und ich erlaube mir Ihnen als Frucht zehnjähriger Bemühungen ein Werk vorzulegen, in welchem ich diesem Problem näherzukommen suchte. Da die Grundlage jeglicher Zeitbestim- mung im Boden liegt, so war eine Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse der Pampasformation die erste Bedingung für weiteres Arbeiten. Es gelang zunächst unter Führung von Dr. Santiago Roth die Pampasformation entlang des Parana zu studieren und alle jene Stellen aufzusuchen und nachzuprüfen , wo Roth bei seinen früheren For- schungen die Anwesenheit des Menschen konsta- tiert hatte; Dr. C. Burckhardt hatte hierbei den geologischen Teil übernommen und seine Ein- teilung des Lösses in gelben und braunen ent- spricht der oberen resp. mittleren Pampasformation Roth's. Dessen untere Pampasformation , die Burckhardt und ich gemeinsam nicht sehen konn- ten, wollte B. aus theoretischen Erwägungen über- haupt nicht zur Pampasformation zählen , doch haben spätere Beobachter (Steinmann) Roth's Ansicht bestätigt. Im Detail seiner Untersuchun- gen wurde Burckhardt durch die Herren Früh, Steinmann und v. Jhering unterstützt. Der obere Löß ist dem des Rheintals ähn- lich, goldgelb, mehr oder weniger sandig und kalkhaltig, sehr porös und von kleinen Kanälen in allen Richtungen durchzogen; ohne Schichtung, also äolischen Ursprungs; seine kalkigen Konkre- tionen sind klein und knollenartig. Der Übergang zum mittleren Löß ist manchmal unmerklich, bald scharf markiert; der mittlere Löß ist kom- pakt, dunkler (rehbraun), ebenfalls sandig und kalkhaltig, ziemlich porös und von kleinen schwärz- lichen Kanälen durchzogen, manchmal mit un- regelmäßigen schwärzlichen F"lecken bedeckt; bald äolischen Ursprungs, bald geschichtet; seine kal- kigen Konkretionen sind fein korallenartig ver- zweigt und bilden manchmal größere Massen, ja Bänke, von der gleichen petrographischen Be- schaffenheit wie der Löß; häufig sind Lager grün- ') Nouvelles recherches sur la Formation pampeenne et l'homme fossile de la Republique Argenline. Recueil de contributions scientifiques de MM. C. Burckhardt, A. Doering, J. Früh, H. v. Jhering, H. Le- boucq, R. Lehmann-Nitsche, R. Martin, S. Roth, W. B. Scott, G. Steinmann, et F. Zirkel publiees par Robert Lehmann- Nitsche. Revista del Museo de la Plata, XIV (=2,1), p. 143 bis 4S8, 1907. — In Kommission bei W. Junk, Berlin, Kur- fürslendamm 20I. 658 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 42 Übersicht und Gegenüberstellung mit den alt- brasilianischen menschlichen Resten (der sog. Lagoa Santa-Rasse) Abstand genommen. In dem zitierten Werke habe ich auch als zweiten des nun zu be- liehen Reste stammen vom Carcarafid, Trias, Sa- ladero, von Fontezuelas, Samborombon, vom Arre- cifes, Chocori und La Tigra, sie sind größtenteils bis- her noch nicht beschrieben. Die Schädel zeigen Be- Schädel vom La Tigra. (Eine genaue Rekonstruktion der Kieferpartien , spez. ihres Verhältnisses zum Hirnschädel ist auf Grund der bisherigen Arbeiten nicht möglich.) sprechenden somatischen Teiles den Kulturbesitz usw. der Pampasmenschen behandelt, werde mich aber hier auf den ersten beschränken. Die dem oberen Lösse angehörenden mensch- sonderheiten, wie sie auch der heutige Indianer aufweist, so auffallend flache Gelenkgruben für den Unterkiefercondylus, tief eingekerbte Incisurae mastoideae, die Hirnkapseldimensionen sind durch- N. F. VIII. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 659 Verschiedene Atlasse in natürlicher Größe. Untere Ansicht. Obere Ansicht. ^... H -m^ Gorilla Orang Homo neogaeus Homo neogaeus H. neogaeus, hint. Ansicht H. neogaeus, vord. Ansicht Araukaner Araukaner 66o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 42 schnittlich allgemein menschliche Mittelwerte; einige Schädel sind am Hinterhaupt und gewiß auch in der Stirngegend künstlich deformiert (Fig. i). Die Unterkiefer sind z.T. ausgezeichnet durch einen auffallend breiten und ziemlich senk- recht aufsteigenden Ramus ascendens und große Dicke des Corpus, die Kurve von oben betrachtet variiert vom ausgesprochenen U zur klaffenden V-Form. Die Extremitätenknochen stehen be- züglich ihrer Besonderheiten in der Reihe der inferioren Rassen. Ein Beckenfragment (Trias) zeigt eine ganz auffallend weite Incisura ischiadica major, die man direkt als theromorph bezeichnen kann, trotzdem die Spielweite dieser Ausbuchtung beim Rezenten ganz enorm variiert. iVIit der Homo primigenius-Gruppe (Neanderthal, Kräpina usw.) haben die menschlichen Reste aus dem oberen Lösse nichts zu tun. Das gilt auch von dem einzigen Falle aus dem mittleren Lösse, von Baradero; die recht schlecht erhaltenen Skelettfragmente wurden von Professor Martin in Zürich untersucht. Auch hier finden wir keine Charaktere, die nicht der moderne Amerikaner aufwiese. Während die bisherigen Ergebnisse mit unseren bisherigen Anschauungen im Einklang stehen, treffen wir im unteren Lösse eine Schwierig- keit. Schon vor meinem Eintritt am Museum zu La P]ata(i897) existierte daselbst in den paläon- tologischen Sammlungen aus Monte Hermoso ein Atlas, mit dem nichts rechtes anzufangen war, bis die Neubearbeitung resp. Neuentdeckung ältester Menschenreste in Europa und die Diskussionen über den Pithecanthropus es ermöglichten, nun auch diesen tertiären Knochen zu beurteilen.^) Im Vergleich mit rezenten Südamerikanern und anderen Rassen (letztere konnte ich bisher nur dem Augenscheine nach prüfen) bietet der Atlas von Monte Hermoso Charaktere, welche sich niemals beim Rezenten finden: seine Gesamt- form ist klein und plump; der hintere Bogen ist außerordentlich dick und seine äußere Ober- fläche erhebt sich als rechtwinklicher First genau in der longitudinalen Mittellinie; die Form der oberen Gelenkfacetten ist unregelmäßig eiförmig und eher kurz und breit; ihre longi- tudinale Achse divergiert sehr wenig nach hinten; die unteren Gelenkfacetten sind im Ver- hältnis zum Gesamtwirbel groß. Selten finden sich unter dem rezenten Vergleichsmaterial fol- gende Charaktere, wie sie der Monte Hermoso- ') Maße des Atlas von Monte Hernioso (in Millimetern und Graden): Gesamtwirbel, sag. Durchm. 39, transv. Durchni. — , Abstand zwischen den For. transv. 43,5, vcrt. Durchm. — . Vorderer Bogen, vcrt. Durchm. n, sag. Durchm. 7. Hinterer Bogen, vert. Durclim. 12,5, sag. Durchm. 7. Foramen verleb r., sag. Durchm. 25. vord. transv. Durchm. 14,5, hint. transv. Durchm. 24. Fossa arl. sup., größte Länge 19, kleinste Breite II, Tiefe (Projektion) 4, Tiefenindex 2,11, transv. Neigung 134", Divergenz der Längsachsen 40", größter Abstand der äußeren Ränder + 44, kleinster Abstand der Massae laterales + 46- Fossa art. in f., größte Länge 19,5, größte Breite 16,5, transv. Neigung 132°, größter Abstand der äußeren Ränder + 44. Atlas aufweist : der innere Rand der oberen Ge- lenkfacetten tritt sehr wenig über den inneren Rand der unteren Gelenkfacetten vor; die hintere Wurzel der Apophysis transversa ist bedeutend stärker als die vordere. Die Zahl der abweichenden Charaktere bei einem kleinen Knochen von verhältnismäßig sekundärer Wichtigkeit ist also bedeutend und einige darunter sprechen für geringe Gehirnent- wicklung. Man kann sich die Sache so vorstellen, daß die ursprünglich dicht beieinander stehenden und ziemlich parallel verlaufenden Hinterhauptscondylen und damit die dazu passenden oberen Gelenk- facetten des Atlas (Charaktere, wie sie sich eben beim Atlas von Monte Hermoso finden) bei zu- nehmender Hirnentwicklung erstens weiter aus- einander gedrängt wurden und zweitens nach hinten zu stärker divergieren mußten, da sie ja vorne (entsprechend der blasenartigen Hirnzunahme) gewissermaßen klammerartig zusammengehalten wurden. Unter allen Umständen schließt sich aber der Monte Hermoso - Atlas den rezenten menschlichen Formen an; er ist „humanoid", aber nicht „anthropoid", da er sich von der Formen- reihe der modernen menschenähnlichen Affen, der „Anthropoiden", weit entfernt. Betreffend der Altersbestimmung der unteren Pampasformation haben wir uns schon geäußert; sie ist mindestens pliozän und das Vorkommen der Species sapiens des Genus Homo zu dieser Zeit ist durchaus unwahrscheinlich; überzeugender noch sind die rein anatomischen Charaktere des vorliegenden Wirbels; es handelt sich nicht um rezente Ausprägungsformen. Aber auch die Homo primigenius-Gruppe kommt nicht in Frage, die bisher ja nur in Zentraleuropa und in viel jüngeren Schichten gefunden wurde und es ist außerdem höchst unwahrscheinlich, daß sich eine so primitive Form eines Hominiden unverändert bis Südamerika verbreitet habe. Für H. primi- genius ist der Monte Hermoso-Atlas auch zu klein und paßt seiner Größe nach eher zu Pithecan- thropus erectus. Man wird also wohl eine von H. sapiens und H. primigenius verschiedene Spezies annehmen müssen; ob man den Genusnamen beläßt, ist Auffassungssache, ein einzelner Knochen ermutigt aber nicht gerade dazu, eine so schwie- rige Frage weiter zu behandeln. Die Aufstellung einer neuen Spezies läßt sich eher rechtfertigen, zumal ja H. primigenius nicht die einzige heut ausgestorbene Spezies gewesen zu sein scheint, und unsere bisherigen Ansichten über die Be- siedelung Amerikas zu einer vorsprachlichen Zeit werden so weniger beeinträchtigt. Die Spezies, welcher der ehemalige Besitzer des Atlas von Monte Hermoso angehörte, war gewiß ziemlich primitiv und stand dem Pithecanthropus nahe. Ich schlage also vor, den Namen Homo anti- quus für das tertiäre Wesen zu reservieren, das noch in der Alten Welt gefunden werden muß, und den tertiären Träger des Atlas von Monte Hermoso als Homo neogaeus zu bezeichnen. N. F. VIII. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 661 Nachschrift. Diesen am 10. September 1907 niedergeschriebenen Schlußfolgerungen (s. die zit. Arbeit p. 399) brauche ich nach Verlauf eines Jahres wenig zuzufügen. Ausdriacklich möchte ich mich aber gegen Schlüsse verwahren, wie sie VVilser auf dem vorjährigen F"rankfurter Anthro- pologen-Kongreß gezogen hat (Wilser, Spuren des Vormenschen aus Südamerika. Corresp. -Blatt d. deutsch. Ges. f. Anthr., Ethn. u. Urg. XXXIX, 1908, p. 124—125). Während das im Wider- spruch zur zoologischen Nomenklatur benannte jugendliche Skelett, welches in Moustiers von Hauser aufgedeckt und von Klaatsch geborgen wurde, der H. primigenius - Gruppe angehört (Klaatsch und Hauser, Homo mousteriensis Hauseri, Arch. f Anthr. N. F". VII. 1908), hat sich schneller als man erhofien konnte, der europäische Tertiär- mensch, der Homo anti(]uus, bei Heidelberg gefunden (Schötensack, Der Unterkiefer des Homo Heidelbergensis aus den Sauden von Mauer bei Heidelberg, Leipzig 1908); wie sich dieser von Klaatsch und Schötensack beschriebene Unter- kiefer zum Atlas des Homo neogaeus von klonte Hermoso verhält, muß der Zukunft über- lassen bleiben. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Philosophie. Determinismus oder Indeterminismus? Die Präge, ob das menschliche Denken und Handeln mehr oder weniger frei oder durchweg bestimmt sei, hat seit mehr als 2000 Jahren die Menschheit beschäftigt. Das Problem der Willens- freiheit ist aus der stoischen und epikureischen Philosophie hervorgegangen. Chrysippos, der die stoische Lehre systematisch durchgeführt hat, ver- ficht zuerst mit großem Geschick den Standpunkt des Determinismus, während E p i k u r für die Freiheit des menschlichen Willens ener- gisch eintritt und bereits den Atomen eine Art individueller Selbstbestimmung zuschreibt. Mit besonderem Eifer widmete sich die christliche Kirche jenem Probleme. Nach den erbitterten Kämpfen zwischen August in, dem Begründer der Prädestinationslehre, und den Pela- g i a n e r n suchte sie in eigenartiger Weise zwischen Determinismus und Indeterminismus zu vermitteln und hob die Lehre von einem Willen, der sich für die Annahme oder Zurückweisung der gött- lichen Gnade zu entscheiden vermag, zum Dogma. Waren die großen Reformatoren Luther, Zwingli und Calvin ausgesprochene Anhänger der Lehre von der göttlichen Gnadenwahl, so nahm der Protestantismus später wieder die Lehre von der Willensfreiheit auf. Das Willensproblem hängt aufs innigste mit einer Reihe der bedeutsamsten erkenntnistheore- tischen und psychologischen Fragen zusammen. Kein Wunder, daß sowohl eine rationalistische wie eine empiristische Philosophie bis in die neueste Zeit hinein ihm, als einem zentralen Probleme, die höchste Aufmerksamkeit widmeten. Aber auch die moderne Naturwissenschaft hat an ihm reichlich Interesse; wer immer die Handlungen der Tiere und Menschen analysiert, kann schwerlich der Frage ausweichen, ob die Bewegungen der Organismen Glieder eines streng kausal ablaufenden Geschehens sind, oder ob sie eine von Spontaneität zeugende Komponente ent- halten. Pflegen die Anhänger der mechanisti- schen Lehre einem strengen Determinismus zu huldigen, so suchen sich die Vitalisten meist höchst diplomatisch zwischen Determinismus und Indeterminismus hindurchzuwinden. h'ür einen freiheitlichen Bestandteil des Willens tritt der Mathematiker Pochhammer in einem beachtenswerten, sehr verständlich geschrie- benen Büchlein ein, dessen Inhalt wir hiermit skizzieren. („Zum Problem der Willens- freiheit." Eine Betrachtung aus dem Grenz- gebiet von Naturwissenschaft und Philosophie. Stuttgart, Verlag von Max Kielmann, 1908. 82 Seiten. Preis brosch. 1,20 Mk.) Zu welchem Zweig der Naturwissenschaft man auch einen Vorgang in der unbelebten Natur rechnen mag, jedenfalls darf man ihn als eine Bewegung von Stoffteilchen ansehen, die an sich unverändert bleiben. Als Stoffteilchen gelten dabei nicht nur die körperlichen Elementargebilde, sondern auch die Elektrizitätsteilchen, die Teilchen des Lichtäthers und anderer hypothetischer Medien. Weiterhin kann man das anorganische Geschehen als eine ununterbrochene Kette von Zuständen betrachten, in der ein jeder die notwendige Folge des vorausgehenden ist. Diese Betrachtungen darf man aber auch auf die Welt der Organismen ausdehnen. Ein jeder belebte Körper besteht aus Zellen. Die in diesen vorkommenden Grundstoffe sind von denen der unbelebten Natur nicht verschieden. Eine jede Zelle stellt demnach nichts anderes vor als ein System von chemischen Molekülen, und die in ihr und im Zellkomplex ablaufenden Vorgänge dürfen zu den chemisch-physikalischen gerechnet werden. Zwar hat der Eindruck, den die überall in der Natur hervortretende Zweckmäßigkeit macht, zur Annahme einer besonderen Lebens- kraft geführt; aber da der gesamte Verlauf des Geschehens bereits eindeutig bestimmt ist, bleibt nur die eine Auffassung übrig, daß die Natur auch ohne eine besondere Lebenskraft ihre Zwecke erreicht. ,,Ein Nebeneinander von Kausalität und 662 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 42 Zweckbestimmung ist hierdurch ausgeschlossen. Wenn man versucht, dem Zwecke oder der Zweck- mäßigkeit einen direkten Einfluß auf einen Vor- gang im Organismus einzuräumen, so ist die Wirkung der vorhandenen Kräfte keine völlig be- stimmte mehr, da ja der Zweck ergänzend ein- treten soll. Für uns ist aber eine Naturkraft nicht denkbar, die unter genau denselben Verhältnissen das eine Mal in dieser Art, das andere Mal in einer anderen Art wirkte, in deren Wirkung also etwas Willkürliches vorhanden wäre. Bliebe bei den Bewegungen, die unter der Wirkung der Kräfte eintreten, irgend etwas willkürlich, so ent- stände sofort die F'rage, wer denn die Wahl treffe, d. h. welchem Einfluß es zuzuschreiben sei, daß die Teilchen gerade die tatsächlich eintretende Bewegung und keine andere ausführen. Mit der Voraussetzung einer solchen Möglichkeit würde das rein naturwissenschaftliche Gebiet verlassen und in den Naturvorgang ein Element des Willens eingeführt werden." Auch der Einwand, daß un- sere Betrachtungsweise das Weltgeschehen als ein durchaus zufälliges erscheinen lasse, ist ohne Be- deutung. Da der Begriff des Zufalles lediglich aus der Art entspringt, wie wir ein einzelnes Er- eignis auffassen, so verliert er für die Natur als Ganzes jeden Sinn. Soweit also das objektive Geschehen in Betracht kommt, gelangen wir zum „Fatalismus, d. h. zu der Lehre, daß alles, was ge- schieht, im voraus feststeht." Den körperlichen Vorgängen stehen nun die seelischen Vorgänge als durchaus verschie- den gegenüber. Aber trotzdem nötigen uns die Tatsachen, „daß, wenn wir uns den einen der beiden Vorgänge als gegeben denken, hierdurch der andere vollständig bestimmt ist"; es entspricht also , .jeder Änderung des seelischen Vorgangs auch eine .Änderung des zugeordneten körperlichen Vorgangs, und zugleich gilt das Um- gekehrte".') Da nun das ganze körperliche Ge- schehen im voraus feststeht, so muß dasselbe auch für das mit körperlichen Vorgängen fest verbundene seelische Geschehen der Fall sein. Damit vifird aber ein unbedingter Fatalis- mus ausgesprochen, der jede Willensfreiheit des Menschen aufhebt. Der Verfasser glaubt nun, daß unsere Gesell- schaftsordnung nur auf der Grundlage der Willens- freiheit oder richtiger eines freiheitlichen Bestandteiles in unserem Willen denkbar sei. Somit bleibe nichts anderes übrig als einen solchen anzunehmen. Dieser freiheitliche Bestandteil könne aber nicht von unabänderlichen Kräften ') Die Behauptung, d.iß auch jedem körperlichen, d. h. jedem zentralnervösen Vorgange ein seelischer Vorgang ent- spreche, geht zu weit. Die Tatsachen des Wiedererkennens, der Phantasie und andere Umstände sprechen vielmehr dafür, daß zahlreiche zentralnervöse Vorgänge keine psychischen Be- gleiter haben, daß also die psychischen Tatsachen nur mit besonderen Formen der physiologischenProzesse verknüpft sind. herrühren, vielmehr müssen Kräfte existieren, die kei n e Natu rkräfte sind und die doch eine Wirkung auf die Stoffteilchen un- seresOrganismus ausüben. Pochhammer nennt Kräfte dieser Art supermaterielle Kräfte. Sie sind keineswegs durch den Zu- stand des Organismus bestimmt, sondern sind lediglich Mittel, durch welche „wir uns die Wirkung der freiheitlichen Bestandteile des Willens zur Geltung gebracht denken". Der Verfasser hält es nicht für möglich, über die allgemeine Definition dieser Kräfte hinaus- zugehen. „Die Einwirkung der supermateriellen Kräfte auf die Materie erfolgt, wie wir uns denken müssen, in jenen geheimnisvollen Tiefen, in denen die Wurzeln des organischen Lebens liegen." Die supermateriellen Kräfte, die nur dem Seelenleben angehören können, sollen nicht allein auf die Willenstätigkeit, sondern auch auf das Denken und auf das Gefühlsleben von Einfluß sein. Das Schlußkapitel enthält noch einige F"olgerungen in bezug auf die Ethik. Die Ansicht, daß der „Fatalismus" nicht als Grundlage des ethischen Verhaltens dienen kann, veranlaßt Pochhammer zur Annahme super- materieller Kräfte. Aber ist denn auch die An- sicht von dem eindeutigen Zusammenhange alles Geschehens wirklich das, was man „Fatalismus" nennt? Keineswegs. Nach der üblichen Auf- fassung des Fatalismus vermögen wir unserem Schicksal nicht zu entgehen, einerlei ob wir so oder so handeln. Das heißt aber nichts anderes, als daß unser Schicksal unter allen Umständen unabhängig von unseren Handlungen sei, d. h. daß unser Schicksal durch diese unsere Hand- lungen in keinerlei Weise determiniert, also tat- sächlich nach dieser Richtung hin indeterminiert sei. Der Fatalismus, etwa derjenige des Mohammedaners, hat also mit Determinismus im oben angeführten Sinne gar nichts zu tun, ist vielmehr eine sinnlose Vermeng ung von Willensfreiheit und Willensbestimmt- heit. Ist denn nun wirklich der Determinismus un- vereinbar mit dem Bestehen einer Gesellschafts- ordnung ? Wir beantworten die Frage an der Hand eines prächtigen, ausgezeichneten Werkes des Philo- sophen Heinrich Gomperz. („Das Problem der Willensfreit." Verlegt bei Eugen Diede- richs, Jena 1907. 166 S. Preis geb. 5,50 Mk.) Für den Indeterminismus ist der Wille frei. „Das heißt: jedesmal, wenn wir uns aus freier Wahl zu einer bestimmten Handlung entschließen, hätten wir uns doch, bis zum Augenblicke un- serer Entscheidung, auch für eine andere Hand- lung entschließen können." Wir handeln nicht nur in gleichen Lagen zu verschiedenen Zeiten verschieden, sondern verschiedene Personen han- deln auch in gleicher Lage verschieden. Wir fühlen uns für alle unsere Handlungen verantwort- N. F. VIII. Nr. 42 Naturwissenschaftliche \\'ochcnschrift. 663 lieh und machen auch unsere Mitmenschen für die ihrigen verantwortlich. Dieser so einleuchtenden Auffassung steht der Determinismus schroff gegenüber. Derselbe stützt sich auf das so vorzüglich fundierte Kausalgesetz. Innere und äußere Umstände, nämlich Charakter und Motive bestimmen den Willen notwendig. In jeder gegebenen Lage ist nur eine Willens- entscheidung möglich. Das Bewußtsein bezeugt lediglich, daß wir anders wollen könnten, wenn andere Motive auf uns wirkten; auch ein ent- gegengesetzter Wille würde nicht in seiner Aus- führung gehemmt werden. Nur die Freiheit von äußerem Zwange ist es, was man unter „Freiheit" wirklich verstehen darf Wenn verschiedene Menschen verschieden handeln, so haben sie eben verschiedene Charaktere. Auch der Charakter eines und desselben Menschen ändert sich, und in scheinbar gleichen Lagen sind doch verschie- dene Motive wirksam. Unsere Verantwortung beruht gerade darauf, daß unser Wille uns nicht zufällig anhängt, sondern notwendiger Ausdruck unseres Wesens ist. „Und verantwortlich machen wir die Menschen gerade darum, um dadurch auf ihre Handlungen Einfluß zu nehmen." Strafe und Belohnung setzen die gesetzmäßige Wirksamkeit der Motive voraus. Direkt bewiesen wird die notwendige Bestimmtheit des Wollens „durch die Erfahrungstatsache, daß wir von einem Menschen mit um so größerer Zuversicht eine gewisse Handlungsweise erwarten, je genauer wir seinen Charakter kennen"'; , .durch die Erfahrungstatsache, daß Willenshandlungen ihrer Häufigkeit nach ebenso gesetzmäßig sind wie körperliche Vor- gänge"; durch die Erfahrungstatsache, daß wir „durch Verstärkung von Motiven auf menschliche Handlung Einfluß üben können" ; durch den Um- stand, daß die Willensentscheidungen an physische Prozesse geknüpft sind; ferner durch das Kausal- gesetz selber und endlich durch die Erwägung, daß mit Preisgabe der Willensbestimmtheit eine wissenschaftliche Psychologie aufgehoben würde. Der Determinismus ist denn auch in der wissenschaftlichen Philosophie herrschend ge- worden ; ,,er ist siegreich eingedrungen in die Kriminalistik und speziell in die Kriminalanthro- pologie; und er wird fast ausschließlich bekämpft von theologischen Moralisten". Den Ursprung des Determinismus und Indeter- minismus aus der stoischen und epikurei- schen Philosophie haben wir bereits erwähnt. Beachtenswert ist, daß schon Chrysipp mit Ge- schick alle fatalistischen Folgerungen aus der Annahme der Willensbestimmtheit abgewehrt hat : „Tu ohne Rücksicht auf die Bestimmung, was dir aus anderen Gründen vernünftig scheint : dasjenige, wofür du dich entscheidest, wird auch dasjenige sein, was dir bestimmt ist." Während die Stoiker ihre Wünsche kampflos dem Schicksal anpassen, suchen sich die Epikureer siegreich gegen das Verhängnis zu behaupten. Nach ihnen soll der Mensch selbst Herr sein über sein Leben, er braucht nicht die Eingriffe einer höheren, un- abhängigen Macht zu fürchten. Wir selbst halten das Schicksal in unserer Hand; sind wir Toren, so werden wir leiden, sind wir Weise, so werden wir selig sein. Dieser kräftig betonte Indeter- minismus scheint der epikureischen Physik zu widersprechen. Aber Epikur hatte dem da- durch vorgebeugt, daß er bereits den Atomen das Vermögen zugeschrieben hatte, von der Lotlinie um ein Unmerkliches abzuweichen. Wir überlassen es dem Leser, sich bei Gom- perz selbst über die weitere Geschichte des Problems bis in unsere Zeit hinein zu unterrichten. In meisterhafter Weise zeigt Gomperz, daß gegenüber den Tatsachen der Praxis bald der Determinismus, bald der Indeterminismus ent- schiedene Vorzüge besitzt , daß also weder der eine noch der andere zur Aufhebung der Ver- antwortung führt, daß beide den Tatsachen des Lebens durchaus gerecht werden können, daß also aus diesen selbst heraus eine Entscheidung zwi- schen den Lehren der Willensfreiheit und Willens- bestimmtheit gänzlich ausgeschlossen ist. Um die Berechtigung der einen oder der an- deren Lehre festzustellen, ist zunächst eine Psycho- logie des Wollens erforderlich — nicht etwa des Willens, der als ein bloßes ,, Vermögen" nichts Tatsächliches ist. Zunächst ist das Wollen ein Gefühl beginnender, ungehemmter Tätigkeit, welches zu seinem Gegenstande einen zukünftigen, bloß von der beginnenden Tätigkeit abhängenden Effekt hat. Jeder meiner Willensakte hängt von 2 Faktoren ab: von einer affektiven Erregung, die mich zu irgendeiner Tätigkeit überhaupt drängt, und von einer Effekt Vorstellung, welche die spezielle Richtung dieser Tätigkeit bestimmt. Nach der Ansicht des Indeterminismus be- zeugt das Bewußtsein, daß der Wille mit Freiheit zwischen den Motiven wähle; nach der des Determinismus, daß wir anders hätten han- deln köimen, wenn wir anders gewollt hätten, daß aber der tatsächlich gesetzte Willensakt ein not- wendiger sei. Beide Auffassungen sind gleich un- richtig. „Beide übertragen Verhältnisse der Körperwelt in unzulässiger Weise auf das seelische Gebiet. Dort war es der Mensch, der zwischen äußeren Objekten wählt ; hier ist es der Mensch, der von äußeren Objekten überwältigt wird, der für die Konstruktion des Wollens Modell steht. „Notwendig bestimmt werden" ist so sicher ein Leiden, als „Wählen" ein Handeln ist. Der Wille ist aber vor dem Wollen überhaupt nichts, er kann ebensowenig leiden wie handeln; er kann ebensowenig notwendig bestimmt werden wie er wählen kann." Immerliin hat der Indeterminismus einen Vorzug, indem er mit dem Gefühl der F'reiheit nicht in Widerspruch steht, was vom Determinismus nicht gilt. Determinismus und Indeterminismus können, so widerspruchsvoll sie auch sein mögen, den Tatsachen des praktischen Lebens durchaus gerecht werden. Ob sie freilich auch der natür- 664 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 42 liehe Ausdruck für jene Tatsachen sind, ist fraglich. Aus den Tatsachen der Praxis selbst ist eine Entscheidung zwischen Determinismus und Indeterminismus nicht möglich. Es bleibt daher noch übrig, den Kausalbegriff und sein Ver- hältnis zu den Willenserscheinungen zu unter- suchen. Kann der Begriff ,, notwendige Wirkung" mit Recht von menschlichen Willensakten ausgesagt werden ? — Der Begriff „Kausalität" umfaßt bald die notwendige, bald die gesetzmäßige Verbindung zweier Begriffe. Notwendigkeit und Gesetzmäßig- keit sind dabei etwas durchaus Verschiedenes. Begrifflich schließt weder die Notwendigkeit die Gesetzmäßigkeit, noch auch die Gesetzmäßigkeit die Notwendigkeit in sich ein. Notwendig ist dasjenige, dessen Gegenteil unmöglich ist; gesetz- mäßig ist dasjenige, was sich ausnahmslos wieder- holt. Die dynamische Kausalität ist ein Ver- hältnis zwischen einem a und einem einzelnen b und zwar ein Verhältnis derart, daß b durch a hervorgebracht und bewirkt wird. Die perio- dische Kausalität ist ein Verhältnis zwischen einer Tatsachenfolge ab und zahlreichen anderen Tatsachenfolgen ajbj, a,,b._,, a-jbg, . . .und zwar ein Verhältnis derart, daß alle diese Tatsachenfolgen untereinander gleich oder wenigstens ähnlich sind. Die dynamische Kausalität, die nach Analogie des aktiven und passiven, mit Tätig- keits- und Leidensgefühlen verknüpften mensch- lichen Verhaltens den Gegenständen Gefühle ein- legt, gestattet weder eine wissenschaftliche Ver- wendung des dynamischen Kraftbegriffes, noch eines dynamischen Determinismus. Unter Kau- salität kann nichts anderes verstanden werden als gesetzmäßige Folge. Mit einziger Aus- nahme der wirklich erzwungenen passiven Be- wegungen gibt es überhaupt keine „notwendigen" Wirkungen. Im dynamischen Sinne sind beide, Determinismus und Indeterminismus, abzulehnen: „der Wille ist weder der allgemeinen Notwendig- keit des Geschehens unterworfen noch von ihr ausgenommen, weil es eine solche allgemeine Notwendigkeit gar nicht gibt." Wie steht es nun mit der periodischen Kausalität? Was heißt Gesetzmäßigkeit? Die populäre Naturwissenschaft läßt das Gesetz eine reale, das empirische Geschehen regelnde Wesen- heit sein. Diese metaphysische Auffassung be- darf keiner besonderen Widerlegung. Dann auch wird die Tatsache allgemeiner Gesetzmäßigkeit so ausgedrückt; „Gleiche Ur- sachen, gleiche Wirkungen." Was für einen Sinn aber hat es dann, von Gesetzen zu sprechen ? Gesetze sind gerade um so wertvoller, je weniger ihre Anwendung an die Gleichheit gebunden ist. Näher liegt die Formulierung: „Ein Gesetz ist jeder Satz, der ausspricht, daß auf ähnliche Ur- sachen auch ähnliche Wirkungen folgen." Indes erwarten wir doch noch mehr, nämlich, daß, wenn das Antezedens gegeben ist, das Subsequens ein- deutig bestimmt sei.') „Die Ähnlichkeit der Tat- sachenfolgen ajbj, a.,b„, a^bg, . . . begründet nur dann ein Gesetz im wissenschaftlichen Sinne, wenn sie sich in eine Gleichheit der Abhängig- keits- oder Funktionsbeziehungen zwischen a^ und bj, a„ und b.,, a^ und bg, . . . auflösen läßt." Welche Gewähr haben wir nun, um eine all- gemeine Gesetzmäßigkeit anzunehmen? Die Metap hy siker sehen in der Allgemein- gültigkeit des Kausalgesetzes eine durch sich selbst einleuchtende Wahrheit; in ihren Begründungen setzen sie stillschweigend schon die Allgemein- gültigkeit der zu beweisenden kausalen Beziehung voraus. Die Ideologen,-) die auf empirischem Boden stehen, glauben die Allgemeingültigkeit des Kausal- gesetzes ganz aus der rezeptiven „Erfahrung" ableiten zu müssen, beachten aber nicht, daß eine ncch so große Anzahl festgestellter Gleichmäßig- keiten noch nicht zur Annahme einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit berechtigt. Noch verkehrter ist der Schluß, wonach es über alle Maßen unwahr- scheinlich sei, daß die regelmäßig beobachtete Gesetzmäßigkeit zufällig sei. Die Bedingungen zur Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung fehlen hier vollständig, ihre faktische Anwendung würde zu unsinnigen F'olgerungen führen. Wich- tiger als die Prüfung der empiristischen Schluß- weisen ist ,,die Prüfung der Voraussetzung, die Erfahrung lehre uns, daß alle bisher beobachteten Tatsachen in gesetzmäßigen Verknüpfungen ge- standen hätten". Ist denn überhaupt eine Tat- sache denkbar, „die uns zur Anerkennung voll- ständiger Gesetzlosigkeit auch nur in einem ein- zigen Falle nötigen würde"? Sicherlich nicht. In solchem Falle nehmen wir entweder an, es sei hier ein uns noch nicht bekanntes Gesetz, oder es sei eine uns noch nicht bekannte Ursache im Spiel. Vernachlässigt der ideologische Empirismus unsere eigene Mitwirkung bei der Feststellung gesetzmäßiger Ordnung, so ignorieren dieKriti- zisten den Anteil der Erfahrung. Nach Kant unterwerfen wir unsere Wahrnehmung von Tat- sachen der ,, Kategorie" der Kausalität; die An- wendung des Kausalbegriffes auf die Erscheinungen sei eine Bedingung unserer Erfahrung. Indes, die Behauptung, man könne andere als kausal ver- knüpfte Tatsachen überhaupt nicht denken, setzt die allgemeine Gesetzmäßigkeit schon voraus. Bei Kant bleibt es ganz im Dunkeln, durch welche einzelnen Verfahrungsweisen wir die Erscheinungen in kausale Beziehungen zueinander setzen. Die \t Vergleiche über eindeutige Bestimmtheit J. Petzoldt, „Das Gesetz der Eindeutigkeit", Viertcljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie; und J. Petzoldt, ,,Ein- führung in diePhilosophiederreinen Erfahrung", Bd. I, Kap. 3. -) Ideologie ist nach Gomperz' Weltanschau- ungslehre Bd. I diejenige Denkrichtung, ,,die zwar alle Begrifl'e auf die Erfahrung gründen, diese Erfahrung jedoch lediglich als eine rezeptive, d. h. als eine ausschließlich aus \'orstellungen zusammengesetzte denken will". N. F. VIII. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 665 Neukantianer lassen es die Metlioden der Wissenschaft sein, durch die wir in unserem Denken an die Stelle eines Chaos von Kmpfindungen eine Welt von beharrenden Gegenständen und gesetz- mäßig geordneten Vorgängen setzen. Trotzdem dies richtig ist, unterschätzen sie maßlos den An- teil der Tatsachen selbst an ihrer gesetzlichen Ordnung. Dem Interesse einer möglichsten Ausbreitung einer gesetzmäßigen oder jjeriodisch kausalen Ordnung entsprechen die Erscheinungen, wie sie sich als „Empfindungen" dem Bewußtsein un- mittelbar darbieten, in sehr geringem Maße. Der erste Schritt zur Herstellung gesetzmäßiger Ord- nung besteht in der vorwiegend instinktiv er- folgenden Scheidung unserer Erfahrungen in eine Innenwelt und in eine Außenwelt; der zweite Schritt besteht in der Ausschaltung von Träumen, Halluzinationen, wunderbaren, fabelhaften, mon- strösen Erscheinungen; der dritte in der Bevor- zugung der Ähnlichkeiten, die in gleichem Ver- halten bestehen, vor anderen Ähnlichkeiten und in der Einteilung und Benennung der Objekte; der vierte Schritt besteht im Hinzudenken un- bekannter Ursachen und unbekannter Gesetze. Diese vier Schritte reichen aber nur zur Begrün- dung allgemeiner Gesetzmäßigkeit in populärem Sinne aus. Damit von einer wissenschaft- lichen Gesetzmäßigkeit geredet werden kann, bedarf es noch eines fünften Schrittes, der in der Bevorzugung aller der Ähnlichkeiten besteht, die sich in Gleichheiten funktioneller Beziehungen auflösen lassen. Das Kausalgesetz ist nun soweit ein Postulat der Wissenschaft, als wir den festen Entschluß haben, „alle diese Mittel anzuwenden, um jede gegebene Tatsache als eine gesetzmäßig bedingte aufzufassen und, solange uns die Ermittlung ihrer gesetzlichen Bedingtheit nicht gelungen ist, diesen Umstand nicht als Beweis für die Widerlegung des Kausalgesetzes, sondern als Zeichen für das Vorhandensein einer ungelösten Aufgabe zu be- trachten". Über das Maß jedoch, in dem dieses Postulat zur Durchführung gelangen kann, ent- scheidet die tatsächliche Beschaffenheit des Er- fahrungsinhaltes. Dieser setzt denn auch der Durchführung einen Widerstand von mittlerer Stärke entgegen. Das Wollen ist nun ein Glied des Seelenlebens. Kann aber das allgemeine Kausalprinzip auch auf das Seelenleben des Menschen angewandt werden ? Von einer Gesetzlichkeit in wissen- schaftlichem Sinne kann hier keine Rede sein, höchstens von einer Gesetzmäßigkeit in populärem Sinne. Es fehlen zwischen den psychischen Tatsachen alle mathematisch formulierbaren F"unktionsbeziehungen. Vor allen Dingen geht ihnen die räumliche Ausdehnung, die Grundlage alles Messens, ab. Die auf die Inten- sität gegründete mathematische Psychologie ist teils ein Spiel mit physikalischen Analogien ge- blieben — so bei Herbart — , teils eine psycho- logisch verkleidete Physiologie — so bei F e c h n e r. — Die Forderung einer Gesetzmäßigkeit in po- pulärem Sinne hat freilich zu gewissen Typen seelischen Geschehens geführt. Hierher gehören die außerordentlich wertvollen Entdeckungen von Richard Avenarius. Dagegen ist eine Be- rechenbarkeit selbst bei den einfachsten psychi- schen Vorgängen ausgeschlossen. Die Bemühungen mancher Psychologen, das gesamte geistige Leben auf Ideenassoziation zurückzuführen, sind höchst verkehrt. Von den fünf oben erwähnten Verfahrungs- weisen ist eigentlich nur die dritte auf das Seelen- leben anwendbar. Mit Rücksicht auf unser Thema setzt sie uns in den Stand, als allgemeines Gesetz auszusprechen, daß alle Affekte physiologische Veränderungen, die sog. Ausdrucksbewegungen, bedingen und eine Tendenz der Willensbeein- flussung zeigen. Indes glaubt H. Gomperz, daß das psychische Geschehen wenigstens nach der zeitlichen Ausdehnung einer Messung zugänglich sei. Sofern nun Determinismus und Indeterminis- mus die nahezu vollständige Gesetzmäßigkeit des Seelenlebens voraussetzen, ruhen sie auf durchaus unsicherem Grunde. Wohl aber bietet sich ein Ausweg, sobald man die physiologische Seite der Willenshandlung als determiniert und den seelischen Willensakt als notwen- diges Korrelat dazu auffaßt. Prinzipiell steht dem nichts entgegen, mag auch die An- wendung des Begriffes der Gesetzmäßigkeit auf das organische Geschehen auf mannigfaltige Schwierigkeiten stoßen, und darf man hier noch viel weniger von „gleichen" Ursachen und ,, gleichen" Wirkungen sprechen als beim anorga- nischen Geschehen. Zwei Denkmöglichkeiten sind nun nach Gom- perz zu beachten. Nach der mechanistischen Auffassung ist das Verhalten eines Stoffteilchens unabhängig von der Individualität dieses bestimmten Teilchens und von dem Zeitpunkte, in welchen jenes Ver- halten fällt, vielmehr ausschließlich abhängig von den jedesmal gegebenen äußeren Bedingungen. Die Summe des Verhaltens aller Stoffteile in einem bestimmten Zeitpunkte wäre dann lediglich abhängig von der Summe der Bedingungen jenes Verhaltens, und das Wesen dieser Abhängigkeit bestünde in der Gesamtheit der zwischen Be- dingungen und Verhalten obwaltenden Funktions- beziehungen. Der vielerwähnte La place 'sehe Geist vermöchte somit alle folgenden Weltzustände vorauszusehen. Außerdem wäre es denkbar, daß schon die materiellen Elemente gewisse individuelle und momentane Besonderheiten ihres Verhaltens be- säßen. Nach dieser spontanistischen Auf- fassung wären zwei quantitativ vollkommen gleiche Stoffteile, oder auch derselbe Stoffteil zu verschie- denen Zeiten, durch gleiche Bedingungen zu etwas verschiedenen Reaktionen anregbar. Dann wären auch die funktionellen Beziehungen nicht absolut 666 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 42 gleich, sondern würden von Fall zu Fall um kleine Differenzen voneinander abweichen. Die sog. „gesetzmäßige" Beziehung wäre nur ein Durch- schnittswert aus den tatsächlichen Beziehungen, und diese würden jener nicht genau, sondern nur annäherungsweise entsprechen. Den anorga- nischen Körpern müßte man eine solche Struktur zuschreiben, bei welcher jene individuellen und momentanen Besonderheiten sich gegenseitig kompensieren. Dagegen hätten die organi- schen Körper eine Struktur, bei der sich die individuellen und momentanen Besonderheiten in dem Verhalten der materiellen Elemente niciit aufheben, sondern verstärken. Eine Gleichheit funktioneller Beziehungen wäre im Gebiete des Organischen damit ausgeschlossen. Immerhin würden sich aus den ermittelten Durchschnitts- werten solche Beziehungen gewinnen lassen, die zwar keine exakte Berechnung, aber doch eine annähernde Schätzung individueller Lebensprozesse gestatten. Dieser bereits von Th. Gomperz, dem Vater des Verfassers, ausgesprochene Gedanke geht direkt auf Epikur zurück, der ja seinen Atomen eine gewisse „Freiheit" in der Bewegung zuge- schrieben hatte. H. Gomperz glaubt, daß auch Mach eine ähnliche Auffassung vorgeschwebt habe, der immer wieder betont, die sog. Natur- gesetze würden von uns nur durch eine ,,Schema- tisierung" des Wirklichen gewonnen. Über die Berechtigung der einen oder der anderen Theorie können nicht allgemeine Postulate, sondern nur die fortschreitende Erfahrung entscheiden. „Ins- besondere kann nur die weitere Entwicklung der biologischen Disziplinen zeigen, ob diese Entwick- lung in der Richtung auf eine Mechanisierung des Lebens- und Denkprozesses vor sich gehen, d. h. ob die Wissenschaft sich dem Ziele wenig- stens annähern wird, auch die individuellen Differenzen des Lebens und Denkens aus allge- meinen Gesetzen zu erklären, oder ob sich die biologischen und psychologischen Gesetze viel- mehr als ein Rahmen erweisen werden, der zwar alles vitale und seelische Geschehen umspannt, dem einzelnen körperlichen oder geistigen Lebens- akte des Individuums indes eine eindeutig be- stimmte Richtung nicht anzuweisen vermag. Im ersteren Falle müßten wir dann die mechanistische, im zweiten die spontanistische Auffassung des Weltgeschehens für die der Wahrheit näher- kommende halten ; auf die menschlichen Willens- akte angewandt aber würde der Mechanismus zu einer dem Determinismus, der Spontanismus zu einer dem Indeterminismus ähnlichen Ansicht führen." Die ungeduldigen Philosophaster, die schon jetzt befriedigende ,, Erklärungen" zu be- sitzen glauben, mögen folgende Schlußworte be- herzigen: „Wer die Frage heute endgültig meint beantworten zu können, greift dem tatsächlichen Stande unseres Wissens in vermessener Weise vor." Um irrtümlichen Auffassungen vorzubeugen, betonen wir, daß Gomperz lediglich zwei Denkbarkeiten aufgestellt hat, ohne sich für die eine oder andere zu entscheiden; daß ferner der von ihm gekennzeichnete Indeterminis- mus wesentlich von demjenigen der Theologen und \^italisten verschieden ist. Bei ihm han- delt es sich um eine Freiheit innerhalb so enger Grenzen, daß den Handlungen der lebenden Wesen nie und nimmer der Stempel einer von inneren und äußeren Umständen unabhängigen Willkür, der Stempel der Regellosigkeit, auf- gedrückt wird. Ob positivistisch denkende Philosophen und Naturforscher Neigung haben, sich schon jetzt für die zweite Auffassung zu entscheiden, ist sehr zweifelhaft. Der Physiker der strengen älteren Schule wird die spontanistische Theorie von vorn- herein ablehnen; der der neueren Richtung, namentlich der Freund der mechanischen Gas- theorie, wird es zwar begreiflich finden, daß die an einem System sich abspielenden Vorgänge auch dann den Charakter der Gesetzmäßigkeit tragen können, wenn die zahllosen Bewegungen der das System bildenden Elemente als durchaus unbestimmt vorausgesetzt werden, trotzdem aber keine Neigung haben, einen prinzipiellen Gegen- satz zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos an- zunehmen. Auch seine Theorien verlangen schon von den Elementarteilchen, mögen sie nun Gas- moleküle oder Elektronen heißen, daß ihre Be- wegungen im Einklänge mit den Grundannahmen der Mechanik stehen; anderenfalls würde er auf die mathematische Beherrschung der Erscheinungen verzichten müssen. Die Methode, bereits für die Bestandteile eines Systems die Gültigkeit der physikalischen Grundsätze zu postulieren, hat sich ihm so fruchtbar erwiesen, daß sie ihm auch weiterhin als sicherste Führerin gelten wird; der Gedanke, daß das Geschehene im kleinsten Räume nicht mehr dem Prinzip der Eindeutigkeit ent- spreche, würde ihm ein erfolgreiches wissenschaft- liches Arbeiten zur Qual, ja zur Unmöglich- keit machen. — Anders derjenige, der die Lebenserscheinungen zu analysieren sucht. Er steht einer Menge von Tatsachen gegenüber, die allen physikalischmathematischen Methoden trotzen. Das Bedürfnis, eine, wenn auch nur provisorische „Erklärung" zu finden, ist so mächtig, daß er jeden Weg bereitwilligst einschlägt, der irgendwie einen Ausblick verheißt. Wir sehen, wie der Vitalismus seine Zuflucht zu psychischen Ursachen nimmt, ohne zu bedenken, daß eine Verquickung von Objektivem und Subjektivem den Sachverhalt in unheilvollster Weise trübt; wir sehen ferner, wie er schließlich die das Leben bedingenden Ursachen in eine jenseits der Tat- sächlichkeit stehende metaphysische Welt verlegt. Denen, die den Boden der Erfahrung nicht ver- lassen wollen, dürfte nun der von H. Gomperz gewiesene Weg vielleicht gangbar erscheinen. Aber trotzdem dünkt uns auch dieser recht un- sicher. Offenbar würden, wenn Gomperz' Auf- fassung richtig wäre, die kleinsten Teilchen Be- N. F. VIII. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 667 wegungen haben, die mit dem Energieprinzipe nicht im Einklänge stehen. Falls nun in den organisierten Körpern sich die Bewegungen der Elementarteilchen in einsinniger Weise zu wahrnehmbaren Wirkungen zu summieren vermöchten, müßten sich an den lebenden Wesen solche Vorgänge aufweisen lassen, die im ausge- sprochenen Gegensatze zu den chemisch-physi- kalischen Tatsachen wären. Es müßte ein orga- nisiertes Wesen imstande sein, Energie aus Nichts zu schaffen oder Energie verschwinden zu lassen. Wer möchte aber den Mut haben, eine derartige, durch keine Erfahrungstatsache gestützte Behaup- tung aufrecht zu halteiv? Wer möchte das Prin- zip von der Unmöglichkeit des Perpetuum mobile für ungültig erklären? Wenn wir auch theoretisch der Natur den Charakter der Souveränität zuerkennen, so dürften unsere eigenen Bedürfnisse nicht nur auf Ein- deutigkeit im großen Geschehen dringen, sondern auch auf Eindeutigkeit der elemen- tarsten, jenseits der Grenzen der Wahr- nehmbarkeit liegenden Vorgänge. Wir müssen es einer zukünftigen Wissenschaft überlassen, ob sie den Gedanken an eine prin- zipielle Verschiedenheit zwischen Mikro- und Makrokosmos erträglicher zu machen weiß. Angersbach. Bücherbesprechungen. Deutsche Südpolar-Expedition igoi — 1903. Bd. X Zoologie 2. Band, Heft 4: i. Günther Enderlein, Die biologische Bedeutung d. Antarktis, m. Taf. 39 u. 2 Abbildgn. im Text; 2. Günther Enderlein, Die Insekten des antarktischen Gebietes, mit Taf. 40 — 63 u. 42 Abbildgn. im Text; 3. P.Speiser, Ektoparasiten des Fregattvogels. — H. 5: i. Günther F, nderlein, Die Spinnen der Crozet -Inseln und von Kerguelen, mit 7 Abbildgn. im Text; 2. Embrik Strand, Spinnentiere v. Südafrika u. einigen Inseln ; 3. P. Speiser, Milben (Acarina). In diesen beiden Heften, die den 2. Band der Zoologie beschließen, ist ein außerordentlich reiches und sehr interessantes Material, das die Insekten und Arachnoideen der antarktischen Länder umfaßt, in einer überaus gründlichen Weise verarbeitet. Durch die trefflich ausgeführten Textfiguren und Tafeln, von denen ein nicht geringer Teil farbig ist, wird der Wert des Werkes zweifellos noch bedeutend erhöht. Von allgemeiner Bedeutung ist Enderlein's von 3 instruktiven Karten begleitete Untersuchung über die biologische Bedeutung der Antarktis. Mag man auch den Ausführungen im einzelnen vielfach recht skeptisch gegenüberstehen , da das Tatsachen- material, auf welches Enderlein seine oft recht weit- tragenden Schlüsse begründet , im allgemeinen noch sehr dürftig und zum Teil auch die Voraussetzungen, von denen er ausgeht, noch sehr hypothetisch sind, so wird man ihm doch in dem Hauptergebnisse durchaus beistimmen müssen , daß nämlich die Antarktis als Entstehungsherd eines gro- ßen Teiles der Organismen eine hervor- ragende Rolle gespielt haben mag und daß, wenn die Pendulationstheorie in dem Sinne, wie sie Simroth in geistreicher Weise für die Deutung der Zoogeographie ausgebaut hat, richtig ist, wir nicht nur einen nördlichen sondern auch einen südlichen Kulminationspunkt der Artbildung annehmen müssen : Europa und die Antarktis. Von beiden Punkten aus haben sich dann die neuen Arten über die Erde verbreitet und man kann noch gegenwärtig in ihren allgemeinen Zügen die Linie feststellen, in der die Nord- und Südformen sich begegnen. Enderlein be- zeichnet erstere als die arktokraten , letztere als die notokraten Formen und die von ihnen bewohnten Gebiete als den arktokraten und notokraten Biokosmos. Die wichtigsten Ergebnisse mögen, soweit sie all- gemeineres Interesse haben , möglichst in Anschluß an Enderlein's eigene Worte wiedergegeben werden : Nordenskjöld hat zuerst durch Fossilfunde nachge- wiesen, daß die Antarktis früher ein wärmeres Klima hatte und er schließt bereits auf die Wichtigkeit dieses Gebietes für die Tierverbreitung (1904) (p. 342). Im Miozän hatte es subpolares, im Oligozän gemäßigtes und im Eozän warm gemäßigtes Klima (p. 344). Das Auftreten von Fagus im Maximum der Polferne zeigt, daß die Antarktis kein tropisches oder subtropisches Klima besessen hat (p. 344). Landverbindungen von Neuseeland , von Archiplata und Australien mit der Antarktis und von Madagaskar und Südafrika mit dem Heard-Mariongebiet haben damals die Ausbrei- tung der Tiere ermöglicht (p. 345 — 346). Die Ar- mut Neuseelands an Insektenforraen und das völlige Fehlen der Wärme liebenden Reptilien erklärt sich aus der Nähe des Südpols im Diluvium , zu welcher Zeit die Kälte diese Formen dezimierte oder ver- nichtete (p. 347). Von Neuseeland kamen die strauß- artigen Vögel nach der Antarktis und von hier nach Archiplata, wo sie zu Stereoroithes und Rheiden wur- den (p. 348). Vom Eozän ab, als die Temperatur sank, wurden die auf der Antarktis lebenden Tier- forraen (inkl. Amphibien und Fische) stark verändert und kamen während des Oligozän und des Miozän in die Zwangslage , sich nach Archiplata verdrängen zu lassen. Unter dem gemäßigten Klima eines zir- kumpolaren Landkomplexes zu Beginn des Eozän gelangten die straußenartigen Vögel von Australien nach Madagaskar und später nach Afrika. Während der Kreide, dem Eozän und dem Oligo- zän, als das antarktische Festland ein gemäßigtes bis warmgemäßigtes Klima hatte, konnte hier unter dem Schwingungskreise genau wie im Norden eine inten- sive Umgestaltung der Formen vor sich gehen. Wäh- rend aber im Norden die großen Ländermassen ein Ausweichen nach dem Äquator zu vor dem sich än- dernden Klima ermöglichten, war dies hier wegen der weit beschränkteren Landausdehnung sehr viel weniger möglich und daher der Zwang zur Artumbildung weit 668 Naturwissenschaftliche \\'ochenschrift. N. F. VIII. Nr. 42 stärker. Die Organismen, die hier entstanden, zeigen einen durchaus eigenartigen Charal^ter (Marsupialia, Pinguine, straußartige Vögel, Thynniden [Hymeno- pteren], die vielen ungeflügelten oder kurzgeflügelten anderen Insekten), mit besonderer Neigung die den Ahnen zukommenden Flügel zu reduzieren (p. 353). Dieser notokrate Biokosmos ist auffällig arm an jünge- ren Formen , da die Antarktis seit dem Beginn des Miozän in subpolarer und polarer Lage lag, so daß seit dieser Zeit keine Neuschöpfung moderner Typen und Neuumbildung vor sich gehen konnte. Diesem Umstände verdanken wir also die Erhaltung so vieler uralter oder wenigstens relativ wenig veränderter Organismen (p. 360 u. a.). Eine Mischung des noto- kraten Biokosmos mit dem vom Norden her sich ausbreitenden arktokraten Biokosraos kann nur auf dem Schwingungskreise (hauptsächlich in Afrika) durch die Veränderlichkeit des Klimas infolge der Polbe- wegung auf diesem Kreise und durch Gebirgsrücken (Anden) stattfinden, während auf dem Kulminations- kreis infolge der Konstanz des Klimas eine scharfe Trennung bestehen bleibt (p. 360). Diese ist daher nicht durch die Annahme früherer trennender Meeres- arme zu erklären. Ebenso versagt Wallace's Theorie der Verbreitung der Organismen durch Wind , Eis, Vögel, Treibholz usw. zur Erklärung der Beziehungen zwischen der Fauna Archiplatas, Australiens, Neu- seelands, der Antarktis, des Heard-Mariongebietes usw. (P- 359)- Nur die Pendulationstheorie zugleich mit der Annahme eines Schöpfungszentrums in dem Schwingungskreisgebiete der Antarktis gestattet eine ungezwungene Erklärung. Was die speziellen Ergebnisse der Insekten- und Arachnoideenuntersuchung betrifft, so unterscheidet Enderlein die antarktische Region von dem subantarkti- schen Ausbreitungsgebiete. Erstere umfaßt i . die antark- tische Subregion (Antarktis und vorgelagerte Inseln), die in erster Linie durch ihre eigenartigen Robben und Vögel charakterisiert wird; 2. die Heard-Marion- subregion, für die der Kerguelenkohl (Pringlea anti- scorbutica) Charakterpflanze ist, die sonst nirgends vorkommt und 3. dieNeu-Amsterdam St. Paul-Subregion mit einer endemischen Pinguinart (Eudyptes chryso- lophus). Das subantarktische Ausbreitungsgebiet zer- fällt in die Inseln der Archiplataregion (Feuerland, Falkland-Inseln , Südgeorgien) und die Inseln der NeuseelandSubregion (Auckland,Campbell-, Macquarie- Inseln). Aus dem antarktischen Gebiet sind bisher bekannt geworden: 74 Arten von der Heard-Marion-Subregion, nur 18 Arten von Neu- Amsterdam und St. Paul und 1 3 Arten von der antarktischen Subregion. Von diesen letzteren erbeutete die Expedition indessen kein einziges Exemplar, da in ihren Bereich nur der Gaußberg fiel und dieser vollständig insektenfrei war. Übrigens gehören von den 1 3 Insekten dieses Ge- bietes 4 parasitischen, auf Robben und Vögeln leben- den Corrodentia, 8 den Collembolen und nur eine Fliegenart (Belgica antarctica) höheren Insekten an. In den beiden anderen Gebieten gewinnen dagegen die Fliegen und Käfer eine beträchtliche Artenzahl und es treten auch einige Lepidojiteren und Hymeno- pteren auf Unter den Käfern treten besonders die Rüsselkäfer durch ihren Artenreichtum hervor. Die Insektenfauna der Antarktis zeigt zunächst zu der an eigenartigen endemischen Gattungen außer- ordentlich reichen Südspitze der Archiplata-Region eine sehr wichtige Beziehung, indem die einzige Fliegenart (Belgica antarctica) sehr nahe mit Jacob- sieila magellanica verwandt ist; ebenso kommt die Collembolengattung Cryptopygus in der Antarktis, in Feuerland und im Heard-Marion- Gebiet vor. Aber auch zu Südafrika lassen sich Beziehungen nach- weisen, indem eine Ameise (Camponotus werthi) auf den Kerguelen und Crozet-Inseln gefunden wurde, die mit Camponotus niveosetosus vom Kap am nächsten verwandt ist. Endlich findet Enderlein in der Cara- biden-Gattung Antagonaspis von Neu-Amsterdam, die mit Tropidopterus von Neuseeland (und Chile) ver- wandt ist, Beziehungen der Antarktis zur neuseelän- dischen Region. ';"■' Die Expedition brachte von Insekten 20 neue Arten und 6 neue Gattungen heim ; von Arachnoideen wurden 34 neue Arten und 2 neue Gattungen be- schrieben, doch gehörten diese ausnahmslos dem nicht mehr antarktischen Gebiete , vor allem Kapstadt an. Sehr bemerkenswert sind noch die nachstehenden 3 Fälle einer bipolaren Verbreitung von i Fliegen- familie, I Robbenlausgattung und i Ixodidenart. Ein- mal ist die Familie der Phycodromiden auf die nord- europäische und antarktische Küste beschränkt (p. 394); in Europa sind 5 Gattungen gefunden, auf Kerguelen und Crozet-Inseln 2 Genera. Die Fliegen treiben sich in der Brandung an den am Strande ausgeworfenen Tangmassen umher. Bei Listriomax litorea von den Crozet-Inseln sind die Flügel wohl ausgebildet, bei Apetenus litoralis von den Kerguelen dagegen stark reduziert. In ähnlicher Weise verteilen sich die Robbenläuse, von denen Enderlein eine interessante kleine Monographie liefert, in der er unter anderem auch auf die respiratorische Bedeutung der Schuppen des Rumpfes hinweist , auf die arktischen und ant- arktischen Küsten: Echinophthirius ist arktisch, Lepidophthirius antarktisch und von der 3. Gattung Antarktophthirius sind 3 Arten antarktisch , 1 Art arktisch. Ganz eigenartig ist endlich die Verbreitung von Ceratixodes putus, einer auf Pinguinen, Lummen und Sturmvögeln , namentlich auch auf Kormoranen parasitierenden Ixodide, die in der Beringstraße, bei Grönland, an den Hebriden und andererseits auf den Kerguelen, südlich Neuseeland, im Feuerlande usw. gefunden ist. Die Araneiden-Ausbeute bestand vorwiegend aus Arten vom Kap (63 Arten von 84); auf St. Paul und Neu-Amsterdam wurden nur noch 5 Araneiden ge- funden, auf den Crozet-Inseln und Kerguelen nur noch I , sowie i Opilionide. Auffällig ist , daß 2 Araneiden von Neu-Amsterdam und St. Paiü sonst nur noch aus Neuseeland bekannt sind. Dem 5. Hefte ist ein Vorwort zum 2. Bande von Vanhöffen beigegeben, dem nur noch entnommen sein mag , daß dieser Band über 400 Arten behan- delt, von denen nahezu 200 neu sind und fast 150 dem südlichen Eismeergebiete angehören. Lohmann. N. F. VUI. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 669 Deutsche Südpolar-Expedition 1901— 1903. Bd. XI Zoologie 3. Band, Heft i. Jh. Morten'sen, Die Echinoiden. Berlin 1909. Die mit 19 Tafeln ausgestattete Arbeit gibt eine sehr gründliche und nach vielen Richtungen hin interessante Beschreibung der 17 von der Expedition heimgebrachten Arten; 12 dieser Arten entstammten dem antarktischen und subantarktischen Gebiete, da- von waren 7 neu, also mehr als die Hälfte. Systematisch ist die antarktische Rhynchocidaris triplopora nov. gen., nov. spec. interessant, die sich durch die 3 fachen Poren der Ambulacralplatten und die Gestalt der großen , globiferen Pedicellarien aus- zeichnet. Nach der Besprechung der Cidariden wird von Mortensen in einem besonderen Kapitel die Klassifikation dieser Familie unter scharfer Kritik von Agassiz' und Clark's Arbeiten (p. 45 — 55) be- sprochen. Sehr reich ist die Arbeit an biologisch wertvollen Beobachtungen. So wurde bei der neuen Form Rhynchocidaris triplopora ein sehr merkwürdiger Pa- rasit gefunden , der ausschließlich in den Radiolen vorzukommen scheint, in der Schale, den sekundären Stacheln und den inneren Organen dagegen nie ge- funden wurde und wahrscheinlich ein Pilz ist, der das Skelett der Radiolen durchwucheit. Dadurch erhalten diese selbst ein aberrantes Aussehen, indem ihr Wachstum gestört wird ; außerdem zeigen aber auch die Pedicellarien und die Körperpigmentierung der von dem Pilz befallenen Individuen Abweichungen von gesunden Tieren. Ganz merkwürdig ist auch, daß bei den weiblichen Tieren infolge dieser Infek- tion die Genitalöffnungen nicht auf den Genitalplatten zum Durchbruch kommen, sondern unter Ausbildung besonderer zum Munde ziehender Gänge die Genital- öffnungen am Mundrande durchbrechen. Der merk- würdige Parasit wird von Mortensen Echinophyces mirabilis genannt. Bei Eucidaris tribuloides (Lamk) fanden sich in gallenartigen Anschwellungen der Radiolen Exemplare der parasitischen Schnecke Stylifer und auf fast allen Exemplaren von Abatus cordatus (Verill) saßen zwi- schen den Stacheln, vor allem in der Mundgegend, zahlreiche Individuen einer kleinen commensalistischen Muschel (Lepton parasiticum). Die langen Stacheln von Notocidaris gaußensis Mort. waren oft dicht be- deckt mit einer kleinen Muschel (Adacnaria nitens Pelseneer). Eine der auffälligsten Eigentümlichkeiten der ant- arktischen Echinoideen ist die große Zahl der brut- pflegenden Arten , während sonst nur von dem in der Tiefsee des nördlichen Atlantischen Ozeans leben- den Hypsiechinus coronatus Brutpflege bekannt ist. Mortensen beschreibt von Rhynchocidaris triplopora, Notocidaris gaußensis und Aporocidaris antarctica die am eingesunkenen Peristomfelde durch die benach- barten Stacheln gebildeten Bruträume und die in denselben gefundenen Embryonen und Jugendstadien. Im ganzen ist bei 10 antarktischen Fxhinoideen Brut- pflege nachgewiesen, und für 6 andere Arten ist ihr Vorkommen sehr wahrscheinlich. Es würden also mehr als '/g aller antarktischen Arten der freischwim- menden Larven entbehren und ihre Brut am mütter- lichen Körper aufziehen. Für eine der Arten ohne Brutpflege (Sterechinus neumayeri) ließ sich nachweisen, daß die Fortpfian- zungsperiode sich über das ganze Jahr erstreckt, da stets junge Tiere, die noch Embryonalstacheln trugen, beobachtet wurden. Bei der einförmigen Wasser- temperatur dürfte das auch bei manchen anderen Arten der Fall sein. Die zoogeographischen Ergebnisse bespricht Mor- tensen in einem eigenen Kapitel (p. 92 — 106), aus dessen reichem Inhalte hier nur das Wichtigste hervor- gehoben sein mag. Aus dem ganzen antarktischen und subantarkti- schen Gebiete , zu dem Mortensen im Anschluß an Döderlein auch noch Neu-Amsterdam, St. Paul und die Südspitze Amerikas bis 50* s. Br. rechnet, sind 45 Echinoideen- Arten bekannt. Das Zentrum der ganzen Region ist nach dem Verfasser „ganz un- zweifelhaft" in dem südamerikanischen Küstengebiete zu suchen (p. 95), da hier nicht nur die reichste Echinidenfauna lebt, sondern auch alle antarktisch- subantarktischen Formen mit dieser Fauna eine enge Verwandtschaft zeigen. Die Ausbreitung der Arten von diesem Zentrum aus auf die Antarktis setzt, da ein Teil der Arten keine pelagischen Larven besitzt, voraus, daß eine flache Bank früher beide Küsten miteinander verbunden hat, während gegenwärtig der Verbindungsrücken mehr als 2000 m unter dem Meeresspiegel Hegt. Für einen Teil dieser Arten wäre freilich der Transport an treibenden Algen ( IMacrocystis) denkbar, da man im Atlantischen Ozean, wie Mortensen berichtet, kleine Exemplare von Pro- tocentrosus angulosus auf diese Art schwimmend angetroffen hat. Aber bei Abatus erscheint dieses Transportmittel ausgeschlossen, da seine Füßchen nicht zum Halten eingerichtet sind. Da gerade diese Gattung nun auch auf den Kerguelen in einer mit südamerikanischen Arten auf das Nächste verwandten Art vorkommt, so schließt Mortensen, daß auch der unterseeische Rücken zwischen Südgeorgien-Sandwich- Bouvet - Kerguelen früher erheblich flacher gewesen ist und die Wanderung dieser Art gestattet hat. Zwischen den Echinidenfaunen Südafrikas und Neu- seelands und den Faunen des subantarktischen Ge- bietes besteht gar keine Verwandtschaft. Die Echiniden der antarktischen Küste sind von denen der Kerguelen durchweg verschieden, was ofienbar mit der Brutpflege der meisten Arten zu- sammenhängt, durch die sie verhindert werden, große Meerestiefen, in denen sie nicht zu leben vermögen, zu überschreiten. Aus der Tiefsee (unterhalb 200 m) der Antarktis sind 30 Arten bekannt; ihre Echiniden- fauna hat offenbar einen eigentümlichen Charakter, so daß sie als besondere Region von der Küste zu trennen sein wird; aber unsere Kenntnisse sind zur Zeit noch zu dürftig, um irgend etwas Bestimmtes aussagen zu können. Mortensen weist unter anderem darauf hin, daß die antarktische Tiefsee jedenfalls durch einen von Südamerika ausgehenden Rücken und vielleicht noch durch einen zweiten Rücken in 670 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 42 verschiedene Becken getrennt ist und wir hier also keine ausgesprochene Circumpolarität erwarten dürfen. Schließlich führt Mortensen aus, daß die antark- tisch - subantarktische Echiniden - Fauna keine Ähn- lichkeit mit der arktisch-borealen besitzt und keine einzige bipolare Echinide bekannt ist, ebensowenig wie überhaupt eine andere bipolare Echinodermenart. Wo Fälle von Bipolarität vorzuliegen schienen , hat sich bisher stets gezeigt, daß es sich entweder um ungenaue Untersuchungen oder aber um weitverbreitete Tiefseearten handelt. Lohmann. Direktor E. Grimsehl, Lehrbuch der Physik. Zum Gebrauche beim Unterricht, bei akademischen Vorlesungen und zum Selbststudium. 1052 Seiten mit 1091 Figuren, 2 farbigen Tafeln und einem Tabellen- Anhang. Leipzig, B. G. Teubner, 1909. — Preis geb. 16 Mk. Das Buch stellt einen recht eingehenden Lehr- gang der Physik dar, der in diesem Umfang wohl keinenfalls mit einer Schülergeneration absolviert wer- den kann. Verf. , zur Zeit Direktor der Oberreal- schule auf der Uhlenhorst in Hamburg, hat in seiner Praxis vielmehr seit Jahren eine selektive Methode befolgt und das Hauptgewicht darauf gelegt, daß die Schüler einzelne Gebiete der Physik gründlich kennen lernen. Indem er nun in jedem Jahre wieder ein anderes Gebiet bevorzugte, wurde schließlich die ge- samte Physik mit der im vorliegenden Buche durch- geführten Gründlichkeit behandelt. Durch die Ver- öffentlichung seiner vielfach originellen Methoden, bei denen meist neuartige Apparate Verwendung finden , hat Verf einerseits strebsamen Schülern die Möglichkeit geboten, die im Unterricht gerade nicht eingehend behandelten Gebiete selbständig zu studie- ren, andererseits seinen Fachgenossen reiche Anregung zur zweckmäßigsten Ausgestaltung ihrer Experimente gegeben. Verf hat sich in der physikalischen Päda- gogik längst einen sehr geachteten Namen erworben, enthält doch jeder neuere Jahrgang der Poske'schen Zeitschrift mehrere wertvolle Beiträge Grimsehl's. Vielen wird daher die Eingliederung der zahlreichen Verbesserungen des ihm zu dankenden Demonstrations- materials in ein zusammenhängendes Lehrbuch hoch- willkommen sein. Bei der Gründlichkeit, mit der im übrigen alle Gesetze experimentell abgeleitet und geprüft werden , fällt die überaus kurze Behandlung des Snellius'schen Brechungsgesetzes auf. Hier hätte auf einen der einfachen Apparate zur Prüfung seiner Richtigkeit hingewiesen werden sollen. Die Ausstat- tung des Buches ist recht gut und die zahlreichen Abbildungen sind meist durchaus klar und verständ- lich, nur Figur 36 ist verkehrt gestellt. Auffallend ist, daß weder Looser's Differentialthermoskop , noch eine Reihe anderer, sehr zweckmäßiger und weit verbreiteter Demonstrationsmethoden (z. B. die Ver- wendung des Zinksulfidschirms zum Nachweis der Wärmestrahlen) erwähnt sind. Kbr. radiant heat. 332 Seiten. Leipzig, B. G. Teubner, 190g. — Preis 8 Mk. In diesem Buche veröffentlicht der berühmte holländische Physiker die im Frühjahr 1906 an der Columbia- Universität gehaltenen Vorlesungen, die er noch durch eine große Zahl von Zusätzen und weiter gehenden Entwicklungen vervollständigt hat. Den rein theoretischen Vorlesungen werden natürlich nur mathematisch völlig geschulte Leser zu folgen ver- mögen, aber die schwierige Materie ist hier mit größter Durchsichtigkeit und Eleganz behandelt , so daß das Studium des Buches großen Genuß zu bieten vermag, wenn auch, wie Verf. im Vorwort hervorhebt, manche bedeutsame, in das Gebiet der Elektronen- lehre fallende Forschungen neuesten Datums, wie die Magnetooptik von Voigt und Einsteins Relativitäts- prinzip, nicht eingehend behandelt werden konnten. Kbr. Literatur. Grassmann, Herrn.: Projektive Geometrie der Ebene, unter Benutzung der Punktrechnung dargestellt. I. Bd.: Binäres. (XII, 360 S. m. 126 Fig.) Lex. S". Leipzig '09, B. G. Teubner. — 12 Mk., geb. 13 Mk. JoUes, Gewerbcmuscums-Doz. Kurs.-Leit. Sacliverst. Dr. Adf. : Die Nalirungs- u. Genußmittel , ihre Herstellung u. Verfäl- schung. In gemeinfaßl. Darstellg. Mit e. Pilzmerkblatt. (VIll, 209 S.) 8». Wien '09, F. Deuticke. — 3 Mk. Oettingen, Arth. v. : Ein Brief. Die Eigenschaften des Was- sers in ihrer Bedeutung f. das Verständnis der Natur, gr. 8°. Riga '09, Jonck & Poliewsky. — 80 Pf. Pagenstecber, Dr. Arnold: Die geographische Verbreitung der Schmetterlinge. (IX, 451 S. m. 2 Karten.) gr. 8". Jena '09, G. Fischer. — II Mk. Reitter, Edm.: Coleoptera. Mit loi Figuren im Text. (IV, 235 S.) Jena '09, G. Fischer. — 5 Mk., geb. 5,50 Mk. Rotbmayr, Jul.; Eßbare u. giftige Pilze der Schweiz. Für das Volk hrsg. Mit 43 Pilzgruppen, nach der Natur gemalt V. Kunstmaler Geo. Troxler. Mit deutschen, französ. und latein. Bezeichngn. nebst deren Synonymen. (80 S. u. 40 färb. Taf. m. Text auf der Rückseile.) 8". Luzern '09, E. Haag. — 3 Mk. Serret, 1. A.: Lehrbuch der Differential- u. Integralrechnung. Nach Axel Harnack's Cbersetzg. 3. Aufl. Neu bearb. v. Geo. Scheffers. 3. (Schluß-)Bd. Differentialgleichungen u. Variationsrechng. (XII, 658 S. m. 63 Fig.) gr. 8». Leip- zig '09, B. G. Teubner. — 12 Mk., geb. in Leinw. 13 Mk. Schering, Ernst: Gesammelte mathematische Werke. Hrsg. V. Rob. Haußner u. Karl Schering. 2. (Schluß-)Bd. VIII, 472 S.) Lex. 8°. Berlin '09, Mayer & Müller. — Kart. 25 Mk. Volkmann, Paul : Fähigkeiten der Naturwissenschaften und Monismus der Gegenwart. Vortrag, m. e. Nachwort ver- sehen. (38 S.) 8". Leipzig '09, B. G. Teubner. — i Mk. Weismann, Aug. : Die Selektionstheorie. Eine Untersuchg. (70 S. m. 3 Fig. u. I färb. Taf.) gr. 8». Jena '09, G. Fischer. — 2 Mk. H. A. Lorentz , The Theory of Elektrons and its applications to the phenomena of light and Anregungen und Antworten. Herrn Dr. R. H. in Breslau. — Sie schicken uns eine Hummel, die Sie am 4. September an Ihrem Fenster fingen und die Sic, besonders in der Rückenbehaarung, mit zahl- reichen schnelllaufenden Milben bedeckt fanden. Sie möchten an der Hand von Literaturangaben Näheres über diesen „Parasitismus" erfahren. Die Hummel ist Bom- bus terrestris und zwar ein Weibchen, welches sich ein Winterquartier suchte, um dann im nächsten Frühjahr einen neuen Staat zu begründen. — Die Milbe kann man zu deutsch Hummelmilbe nennen. Sie wurde zuerst von Ch. de Geer N. F. VIII. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 671 (Memoires pour servir ä l'Histoire des Insectes T. 7 , Stock- holm 1778, p. 114) als Acanis fncorum beschrieben und (PI. 6, I'ig. 15) abgebildet. Die' vorliegenden Stücke stehen auf einer Entwicklungsstufe, die man als Nymphensladium be- zeichnet. .'\m nächsten verwandt ist die Hummelmilbe mit der auf Käfern vorkommenden Käfermilbe , welche zuerst Linne a.\% Acanis coleoftiatcnim hi^schnchtn hat. Die Nymphe der Ilunimelmilbe unterscheidet sich von der Nymphe der Käfermilbe dadurch, daß ein auf ihrem hinteren Körperteil bermdliclicr fester Rückenschild dreieckig und nur mit feinen Härchen besetzt ist, während dieser Schild bei der Käfermilbe fast halbkreisförmig und außer den feineren Haaren vor dem Hinterrande 2 größere Borstenhaare trägt. Latreille be- gründete für Aciii IIS coleofitratorum die Gattung Parasiliis und nannte diese Gattung später Gamasiis. Eine genaue Beschrei- bung der beiden Arten haben A. B er lese (in: ,,Redia" Vol. 3, 1905 [1906] p. 155 u. 161) und A. C. Oudemans (in: Tijdschr. voor Entomol. Bd. 48, 1906, p. 287, PI. 9, Fig. I und Bd. 51, 1908, p. 28, PI. I, Kig. 10) gegeben. Berlese nennt die Hummelmilbe Gnmasiis fmonim , Oudemans Farasitiis bomboriim. Heißen muß sie Parasitus fucorum. Die erste Angabe über ihre Lebensweise finden wir bei J. Goedart (Johannes Gocdartius, de Insectis , Londini 1685, p. 244), einem Korscher, der, obgleich er durch seine vor- züglichen Untersuchungen über die Verwandlung der Insekten sehr wesentlich dazu beigetr.agen hat , eine neue Forschungs- richtung anzubahnen, doch noch ganz in der mittelalterlichen teleologischen .Anschauung steckte. Er sagt: In der Frühe gehen die Hummeln nur langsam an die Arbeit, und wenn jene kleinen Tierchen, die sich morgens an sie heranschleichen und auf sie kriechen, sie nicht antrieben, würden sie noch langsamer zur Arbeit kommen. — Goedart meint also, daß die Milben den Zweck haben, die Hummeln aus ihrer Träg- heit und Schlaftrunkenheit aufzurütteln. Sie sind nach seiner Ansicht für die Hummeln da, wie denn nach der mittel- alterlichen Teleologie alle Tiere nur für den Menschen da sind. — Da manche Autoren der Gegenwart die mittelalter- liche Teleologie nicht von der Darwin 'sehen Betrach- tungsweise unterscheiden können, benutze ich die Gelegenheit an dem vorliegenden Beispiel den Gegensatz klarzumachen. Nach der Darwin' sehen Lehre ist kein Tier für ein anderes oder für den Menschen da. Was nicht oder weniger erhal- tungsmäßig war, mußte, wie uns das Aussterben zahlloser fossilen Tierarten beweist, im Kampfe ums Dasein zugrunde gehen. Was sich in diesem Wettkampfe erhalten konnte, er- scheint uns als sehr zweckmäßig, während es doch nur in hohem Grade erhaltungsmäßig ist. — Die besten Beobach- tungen über die Lebensweise der Hummelmilben hat bis jetzt de Reaumur, jener hervorragende französische Forscher der ersten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts, in seinen Memoires pour servoir ä l'Histoire des Insectes (T. 6, Paris 1742, p. 23 f.) veröffentlicht. Reaumur hat bereits die mittelalterliche Teleologie abgestreift. Er fand, daß die Mil- ben zu Hunderten, ja oft zu Tausenden auf den Honigbehältern in Hummelnestern vorkommen und nimmt an, daß sie auf die Hummeln kriechen um den Honig, mit dem die Haare der- selben oft beschmiert sind, abzulecken. Fliegt eine Hummel hinaus, um Honig und Blütenstaub zu sammeln, so werden die Milben, die sich gerade auf ihrem Körper befinden, mit umher getragen. Ch. de Geer glaubt diese .'\ngabe Reau- mur's widerlegen zu können, indem er darauf hinweist, daß auch Mistkäfer, die doch nicht mit Honig beschmiert sind, von Milben besetzt seien. Er meint, daß es sich doch um echte Parasiten handle trotz der Festigkeit der Chitinhaut. — Der Einwand de Geer 's ist nicht stichhaltig. Die Milben, die auf Käfern vorkommen, gehören eben anderen Arten an und diese Arten leben nicht von Honig, sondern von Kot usw. ^- Wir haben der Reaum u r 'sehen Erklärung nur wenig hinzuzufügen: — Da die im Spätsommer sich entwickelnden weiblichen Hummeln nach der Überwinterung ein neues Nest bauen, und zwar oft weit von dem Neste, in welchem sie aufgewachsen sind , entfernt , würde für die Milben, die auf den Honig in Hummelnestern angewiesen sind, die Gefahr, kein neues Hummelnest zu erreichen, groß sein, wenn sie sich nicht im Spätsommer von den Hummeln mittragen ließen. Natürlich beruht das Besteigen der Hummeln nicht etwa auf „Intelligenz", — wie sollen denn die Milben wissen, daß die Hummeln ein neues Nest begründen werden? — auch beruht es nicht auf einem ,, komplizierten Reflex", da die frisch aus- geschlüpften weiblichen Hummeln noch nicht mit Honig be- schmiert sind; es kann vielmehr nur auf einem arterhal- tenden Gefühl beruhen, auf einer ,, Liebhaberei", deren wichtige Folgen dem Tiere selbst unbekannt sind, auf einem ,,lnstinkt", wenn wir uns dieses landläufigen Ausdruckes in neuer Auffassung bedienen dürfen. — Mit dieser Annahme steht auch die Erfahrung in Einklang, daß man auf den Hummeln stets nur Nymphen, nie entwickelte Milben findet. — Auf Käfern findet man die Nymphen der Käfermilben. — Während sich die Käferlarve im Mist oder Aas entwickelt, machen auch die Käfermilben am gleichen Orte den Rest ihrer Entwicklung durch und legen dann Eier ab. Wenn der Käfer aus der Puppe kommt, ist die Nahrung an dem Orte auch für die Milben aufgezehrt oder eingetrocknet. Die Milbennymphen, die sich inzwischen aus den abgelegten Eiern entwickelt haben, sind also darauf angewiesen, neue Nahrung aufzusuchen und sie tun dies, indem sie sich von dem eben ausgeschlüpften Käfer als Reitpferd an einen Ort mit irischem Futter tragen lassen. — Wie weit die genannten Fälle den Namen Parasitismus verdienen , ersehen Sie aus einer Brief- kastennotiz der Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. V, S. 735. Dahl. Herrn Prof. Dr. W. in Stettin. — Sie fanden unter toten Drohnen einige mit hellen Augen und möchten Auskunft über diese Erscheinung haben. — — Es handelt sich um Albinos oder Kakerlaken, um Tiere, bei denen das dunkle Pigment nicht oder nicht hinreichend zur Ausbildung gelangt ist. — Die älteste wissenschaftliche Mitteilung über Albinis- mus bei Bienen und zwar ebenfalls bei Drohnen dürfte ein kleiner Aufsatz von C. T. v. Siebold, „Über Kakcrlak- bildung der Bienen" (in: Bienen-Zeitung, Organ des Vereins der deutschen Bienenwirte, Bd. 22, Nördlingen und Eichstädt 1866, S. 73 f.) sein. — Der Aufsatz wurde besonders veran- laßt durch zwei kleine Mitteilungen (ebenda S. 56). In der ersten, Helene Lieb unterzeichneten Mitteilung, heißt es: „Im Sommer 1865 hatte ich einen Dzierzonstock, dessen Drohnen die ganze Drohnenzeit hindurch wenigstens zum zehnten Teil schöne rote Köpfe hatten Sie schienen blind zu sein; denn keine von den abgeflogenen kam jemals mehr ins Flugloch zurück. .Auch wurden sie von den Arbeits- bienen hie und da schon vor der Drohnenschlacht verfolgt. Viele von ihnen hatten fehlerhafte Flügel , während andere gut fliegen konnten". — Die zweite Mitteilung lautet: ,,Der Bienenzüchter H. in Molka (Böhmen) erhielt neulich einen Bienenschwarm, bei dem sich auch viele Drohnen befanden. Viele davon sind zwar normal gefärbt und gebaut, haben aber weiße Augen. Sie sind übrigens ganz munter und leb- haft, wie die übrigen Drohnen ; allein sie verloren sich nach und nach im Stocke; denn sie waren blind und konnten beim Ausfluge den Rückweg zum Stocke nicht mehr finden, kamen d;iher .auf ihrer Irrfahrt um. Man fing einige dieser Drohnen ein und ließ sie im Zimmer fliegen. Ihr Flug war sehr leb- haft, allein sie stießen öfter so stark an die Wand , daß sie betäubt zu Boden fielen und sich erst nach einigen Minuten zum Fluge aufrafften. Das absichtlich geöffnete Fenster konn- ten sie nicht finden." — Auf ähnliche Fälle ist in einigen der neueren Bienenzuchtbücher hingewiesen worden , am ausführ- lichsten in einem Buche, dessen erster, anatomisch-physiolo- gisch-biologischer Teil wohl als die wissenschaftlichste Schrift dieser Art bezeichnet werden kann: F. R. Cheshire, Bees and Bee-keeping, Vol. I Scientific, London 1886, p. 116 ff. Nach dieser Schrift fehlen die Augen bisweilen auch gänzlich. Man weiß also nicht, wie weit in den anderen beobachteten Fällen die normalen Augenelemente, der Kristallkegel usw. vorhanden waren. An den eingeschickten trockenen Tieren läßt sich das kaum feststellen. — Im allgemeinen scheint der Albinismus bei Insekten weit seltener zu sein als bei Wirbel- tieren, und das mag wohl damit zusammenhängen, daß Albi- nos bei den Insekten weit hilfloser sind als bei den Wirbel- tieren. Aus den obigen Mitteilungen scheint wenigstens her- vorzugehen, daß sie so gut wie blind sind. Es ist leicht verständlich, eine wie wichtige Rolle das Pigment gerade bei dem zusammengesetzten Insektenauge spielt. Das Bild, welches das Insekt sieht, setzt sich mosaikartig zusammen aus Punkten, 6/2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 42 die den einzelnen Facetten entsprechen. Da die Oberfläche des ganzen Auges mehr oder weniger gewölbt ist, wird das Bild um so weniger detailliert ausfallen je weiter sich der gesehene Gegenstand vom .Auge entfernt, bleibt aber scharf (vgl. Naturw. Wochcnschr. N. F. Bd. 4, S. 415). Das mosaik- artige Bild kann natürlich nur dann entstehen, wenn nur die in der Richtung der Achse der einzelnen Facetten eindringen- den Strahlen bis auf die Nervenendigungen gelangen. Die schräg einfallenden Strahlen müssen also durch dunkles Pig- ment absorbiert werden. Fehlt das Pigment, so werden auch schräg einfallende Strahlen bis auf die Nervenendigungen ge- langen und es wird überhaupt kein Bild mehr entstehen. Das Verhalten der albinotischen Drohnen ist also sehr wohl verständlich. Sie werden nicht nur geblendet, wie v. Siebold meint, sondern sie können überhaupt kein Bild sehen. — Das Fehlen des Pigmentes ist nach G. Tornier (vgl. Sitzungsber. Ges. naturf. Freunde Berlin, Jahrg. 1907, S. 81 ff.) auf eine mangelhafte Ernährung der Haulorgane zurückzuführen. — Die Beobachtungen an albinotischen Drohnen zeigen übrigens, wie wichtig die Wahrnehmung eines richtigen Bildes lür die Arthropoden ist, was immer noch von einigen Autoren be- stritten wird (vgl. Zool. Anz. Bd. 12, 1S89, S. 243 ff. und Bd. 33, 1908 — og, S. 120 ff. und 823 flf.). Dahl. Herrn Mittelschullehrer E. B. in Erfurt. — Der lebhaft sich bewegende, aber nicht schwimmende Egel, den Sie IVIitte Juli in einem hochgelegenen fauligen Sumpfe bei Stolberg am Harz an absterbenden Pflanzenstengeln fanden und nach L. Johansson, Hirudinea (in : A. Brauer, Die Süßwasserfauna Deutschlands Heft 13, Jena 1909) nicht mit Sicherheit be- stimmen konnten, dürfte, wie uns auch Herr Prof. Dr. Coli in bestätigte, ein sehr jugendliches Exemplar von Protoclfpsis tesselata sein. Dahl. Herrn Dr. C. in Leipzig. — Ihre Frage: Warum fliegen die Schwalben vor dem Regen tief? beantwortet Nau- mann (Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas Band IV, Gera-Untermhaus, S. 197) in folgender Weise: ,,Wenn Regen- wetter eintreten will, dessen Verkündiger sie dadurch zu sein pflegen, sieht man sie sehr niedrig fliegend teils bei den Vieh- herden, wo sie auch den Menschen in möglichster Annäherung umflattern, teils am Wasser, bei Teichen, Seen und Flüssen, teils auch, wenn es schon stürmt und regnet, hinter Mauern, Gebäuden und Gebüschen , wo sie etwas Schutz gegen das Wetter haben, hin und herfliegen, dicht an Wänden oder Bäumen hinslreichen und die hier sich ausruhenden oder ver- kriechenden Insekten aufscheuchen, um sie im Fluge wegschnap- pen zu können. Auch in Getreidefeldern und Wiesen streichen sie deshalb dicht über Halmen und .\hren hin, um Insekten aufzustöbern, und folgen auf den Wiesen gern den Heu- machern , weil diese bei dem Stören im Heu viele Insekten aufscheuchen, welche die Schwalben dann behende hinweg- schnappen." — In wie hohem Maße der Flug der Insekten von der Witterung abhängig ist, davon überzeugt man sich leicht an Tagen mit böigem Wetter. Viele Insekten fliegen dann nur, solange die Sonne scheint. Sobald die Sonne durch eine Wolke verliüllt wird, sitzen sie träge an Pflanzen. Dahl. Herrn W. Z. in Fr. — Hinsichtlich der Frage der , .Geschlechtsumkehr" bei diözischenPflanzen wird man zwei Reihen von Fällen zu unterscheiden haben. In die erste Kategorie gehören jene recht zahlreichen Vorkommnisse, wo ein männliches Individuum gelegen tli ch auch einmal weib- liche Blüten trägt oder umgekehrt. Bei den Weiden [Salix], bei denen wie bekannt normalerweise die Geschlechter auf verschiedene Individuen verteilt sind, hat man sehr oft einen Geschlechtswechsel in dem .Sinne beobachtet, daß auf dem- selben Individuum männliche, weibliche und androgyne Kätz- chen auftreten (vgl. Penzig, Teratologie II. 318, dort die ältere sehr umfangreiche Literatur über diese Fälle). Auch hermaphrodite Blüten sind wiederholt bei Salix-ktien gefun- den worden. Bei anderen diözischen Pflanzen (z. B. Taxtis, Cannabis, Iliiiiiuius, Acer usw.) hat man ebenfalls des öfteren bemerkt, daß monözische Individuen vorkommen. — Eine zweite Reihe von Fällen umfaßt diejenigen, wo man eine plötzliche oder allmähliclie vollständige Umänderung des Ge- schlechts, einen Geschlechterumschlag, bei einem bestimmten Individuum beobachtet haben will. Solche Fälle sind selten. C. Mez (Bot. Jahresb. XI. I. 483) beobachtete bei Freiburg i. B. einen Strauch von Salix purpurea )>( viminalis , der ira Jahre 1882 vorwiegend weibliche, im Jahre 18S3 beinahe nur männliche Blüten hatte. Ob in einem solchen Falle eine wirkliche dauernde Änderung des Geschlechtscharakters statt- findet, läßt sich nur durch langjährige Beobachtungen fest- stellen. Es liegt immer die Möglichkeit vor, daß es sich um ein raonözisches E.\emplar handelt, daß einmal mehr männ- liche, das andere Mal mehr weibliche Blüten hervorbringt. Graf von Schwerin erwähnt in seinem sehr lesenswerten Aufsatze über ,, Geschlechtsveränderung bei diözischen Ge- hölzen" (Gartenflora 55. 1906, 283) einen .seltsamen Fall bei einer Weide (Salix blainia Andr. = S. babylonica ^ fr"' gilis), der den Eindruck macht, als ob es sich hier wirklich um eine allmähliche Umwandlung des Geschlechts handelt. J. Roemer in Kronstadt beobachtete zwei E.xemplare oben genannter Art, die jahrelang nur männliche Blüten trugen, dann aber auch vereinzelte weibliche Blüten hervorbrachten. Die Zahl der weiblichen Blüten nahm von Jahr zu Jahr zu, so daß, wenn die Umwandlung wie bisher vorschreitet, vor- aussichtlich in kurzer Zeit die Bäume rein weiblicli sein wer- den. In die Reihe der wohl noch nicht mit absoluter Sicher- heit festgestellten Fälle einer dauernden Umänderung des Geschlechts gehören auch die von Lombard-Dumas ge- schilderten Vorkommnisse bei Aitcuba Japonica, der bekannten viel kultivierten Cornacee (Bull. Soc. bot. France LI. (1904) 210; Bot. Jahresb. 32. 2, 824). Er beobachtete, daß zwei männ- liche Sträucher dieser Art von einer gewissen Epoche an nur rein weibliche Blüten trugen, also das Geschlecht gewechselt hatten. Von zwei Stecltlingen, die von diesen männlichen Sträuchern (vor dem Geschlechtswechsel abgetrennt) stammten, behielt der eine die Fähigkeit, männliche Blüten hervorzu- bringen, bei, während der zweite weiblich wurde. Der männ- lich gebliebene Steckling jedoch fing im nächsten Jahre an, in gemischten Blütenständen sowohl rein männliche, wie rein weibliche und zwittrige Blüten zu tragen. — Zur Phy lo- gen ie der Weiden ist noch folgendes nachzutragen: W. W. Mott (in Univers, of Californ. Public. Bot. II. (1905) 181 — 226) kommt auf Grund von Beobachtungen an Salix lasian- dra und eines Bastards zwischen dieser Art und S. babylonica zu dem Schlüsse, daß die Urformen der Vorfahren der Gattung Salix hermaphrodite Blüten mit vierteiligem Perianlh , zwei Staubblättern und einem zweigliedrigen Pistill besaßen; er hat an genannten Arten zwitterige Blüten beobachtet (nach Bot. Jahresb. 33. 3, 1S3). H. Harms. Herrn Dr. E. in Pirna. — Meine Arbeit über Klassifikation und Terminologie der rezenten brennbaren Biolithe und ihre Lagerstätten ist die erste Auflage der Arbeit, die unter dem Titel erschienen ist ,,Die rezenten Kaustobiolithe und ihre Lagerstätten". Von dieser 2. Auflage ist bis jetzt der erste Band erschienen: ,,Die Sapropelite". Der 2. Band geht in kürzester Frist in die Druckerei. Die Bücher sind heraus- gegeben von der Kgl. Preuß. Geolog. Landesanstalt in Berlin und von deren Vertriebsstelle zu beziehen. Eine ganz knappe Obersicht über den Gegenstand habe ich u. a. unter dem Titel ,,Eine Klassifikation der Kaustobiolithe" in den Sitzungs- berichten der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften 190S gegeben. Diese Arbeit dürfte 50 Pf. kosten, während der Band über die Sapropelite 8 Mk. kostet. P. Inhsits Robert L e h m an n - Ni t s c h e : Homo sapiens und Homo neogaeus aus der argentinisclien Pampasformation. — Sammelreferate und Übersichten: Angersbach: Neues aus der Philosophie. — Bücherbesprechungen: Deutsche Südpolar-E.vpedition 1901 — 1903. — E. Grimsehl: Lehrbuch der Physik. — H. A. Lorentz: The Theory of Elek- trons. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichtcrfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischet in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge Vlil. Band ; der ganzen Reihe XXIV. Band. Sonntag, den 24. Oktober 1909. Nummer 4>i. [Nachdruck verboten. | Die Energie. Von Dr. Berthold Weiß. II. Erhaltung und Entwertung der Energie. A. Die Erhaltung der Energie. Die Erhaltung der mechanischen Energie. Die Unveränderlichkeit von Materie und Energie, besonders die der Materie betonten schon die alten Naturphilosophen, wie Empedokles, Anaxagoras, Demokrit und Lukrez. Lavoisier hat dann 1789 durch Experimente die Erhaltung der Materie festgestellt. Und zwar wurde der Nach- weis dadurch geführt, daß ein gegebenes Quantum Materie vor und nach der Verbrennung das gleiche Gewicht zeigte. Das heißt aber nichts anderes, als daß die Energie der Lage die gleiche blieb. So wurde die Erhaltung der Materie mit Hilfe energetischer Beobachtungen bewiesen. Für das Gesetz der Erhaltung der Energie war der erste und wichtigste Schritt der Satz von der Erhaltung der mechanischen Energie. Unter den verschiedenen Energiearten kam man zuerst bei der mechanischen zur Einsicht, daß die Energie unverändert bleibe bei ihren Wanderungen so- wohl, wie bei ihren Wandlungen von einer Form in die andere. Auf diesem Gebiete haben sich zuerst Galilei, später Newton, Huyghens, Leibnitz und die Bernouillis besonders hervorgetan. Der Satz von der Erhaltung der mechanischen Energie zerfällt in drei Teile: 1. Alle potentielle Energie, die von einem Körper zu einem anderen wandert, bleibt unver- ändert (wenn ich die Spannung einer Feder dazu benutze, eine andere Feder zu spannen, so erhalte ich bei der zweiten Feder dieselbe Spannung wie bei der ersten). 2. Alle kinetische Energie, die von einem Körper zu einem anderen wandert, bleibt unver- ändert (eine rollende Billardkugel teilt einer an- deren, die sie voll trifit, dieselbe Geschwindigkeit mit). 3. Bei jeder Umwandlung kinetischer Energie in potentielle oder potentieller in kinetische bleibt die Gesamtenergie unverändert. Für diesen Satz von der Erhaltung der lebendigen Kraft, wie m.an ihn genannt hat, bilden das Pendel und die Planetenbewegung die besten Beispiele. In dem Augenblick, bevor ich ein gehobenes Pendel los- lasse, ist alle seine Energie in potentieller P'orm vorhanden, die kinetische Energie ist gleich null. Wenn ich das Pendel loslasse, setzt sich ein immer wachsender Teil der potentiellen in kine- tische Energie um. Der Energiegehalt des Pen- dels drückt sich jetzt in der Summe von poten- tieller und kinetischer Energie aus, wobei die potentielle Energie beständig abnimmt und, wenn das Pendel den tiefsten Stand erreicht hat, zu null wird. Die gesamte Energie des Pendels ist nun in kinetische umgesetzt. Bei der weiteren Be- wegung wandelt sich immer mehr kinetische in potentielle um. In der Summe der beiden Energie- formen wird die kinetische immer kleiner und schließlich zu null, sobald das Pendel den höchsten Stand auf der entgegengesetzten Seite einnimmt. Jetzt ist der gesamte Energievorrat des Pendels wieder in potentielle Energie zurückverwandelt, deren Größe der am Anfange gleich ist. Dieselbe Energiegröße enthielt das Pendel als kinetische Energie im Augenblicke des tiefsten Standes und in jedem anderen Zeitpunkte als Summe von potentieller und kinetischer Energie. Ahnlich verhält es sich bei der Planeten- bewegung. Auch hier bleibt, wie man sich früher ausdrückte, die Summe der vorhandenen leben- digen und Spannkräfte, wie man jetzt sagt, die mechanische Energie konstant. In dem Punkte größter Entfernung von der Sonne ist alle Energie in potentieller, in dem Punkte geringster Ent- fernung alle Energie in kinetischer P'orm vorhan- den; auf den dazwischen liegenden Punkten setzt sie sich aus beiden Energieformen zusammen. In dem Maße, als auf dem Wege um die Sonne die Entfernung geringer wird, wird die Schnelligkeit größer und in dem Maße, als sie wächst, nimmt die Schnelligkeit wieder ab. Sehen wir von der Planetenbewegung ab, für die ein widerstehendes Medium noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen ist und beschränken wir uns auf das Pendel. Während wir seine Schwingungen betrachten, werden sie kleiner und kleiner und schließlich bleibt das Pendel stehen. Was ist aus seiner Energie geworden r Das Umwandlungsprinzip. Nicht bloß beim Pendel sehen wir Energie scheinbar verloren gehen. Dasselbe gilt auch, wenn eine rollende Kugel, ein mit ungeheurem Getöse herabstürzender P'els auf einmal ruhig liegen bleiben. Die Erklärung lautet: die verloren gegangene mechanische P^nergie hat sich in an- dere Energiearten umgewandelt, von denen die wichtigste die Wärme durch Reibung ist. Wir sind hier bei der zweiten Stufe angelangt auf dem Wege zum Gesetze von der Erhaltung der Energie. Die erste wurde durch den Satz von der Erhaltung der mechanischen Energie gebildet. Dieser Satz war zwar theoretisch, aber nicht praktisch richtig. 674 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. \ail. Nr. 43 Er gilt nur von einem idealen Pendel, das ohne Reibung aufgehängt, in einem völlig luftleeren Raum schwingend gedacht wird. Sollte die Energie nicht verloren gegangen sein, so mußte sie sich umgewandelt haben. Die dritte Stufe wird später der Nachweis bilden, daß bei der Umwandlung der Energiebetrag unverändert bleibt. Für das Prinzip der Umwandlung oder der Transformation, auf das besonders der ältere Carnot (1784) hingewiesen hat, war der Gedanke von der Einheit der Naturkräfte von größter Be- deutung. Schon Diderot (1754) meinte, es würde klar werden, wenn die Naturwissenschaft weiter fortgeschritten sein werde, daß Schwere, Elastizität, Anziehung, Elektrizität und Magnetismus nichts wären als „des faces differentes de la meme affec- tion". Denselben Gedanken hat dann Mohr wieder ausgesprochen (1837). Heute wird die Lehre von der Einheit der Naturkräfte besonders von den Anhängern einer mechanistischen Welterklärung vertreten. Während das Gesetz von der Erhaltung bei der Materie viel früher als bei der Energie anerkannt wurde, ver- hält es sich mit dem Einheitsprinzip umgekehrt. Die Einheit des Stoffes nahmen zwar schon die alten Philosophen an und im 18. Jahrhundert hat sich Euler neuerdings für sie eingesetzt. Aber noch immer ist dieses Prinzip nicht zum natur- wissenschaftlichen Axiom geworden, obgleich ge- rade in der letzten Zeit durch die Elektronen- theorie wieder ein Anstoß in dieser Richtung gegeben wurde. Das Prinzip der Äquivalenz. Wir kommen nun zur dritten Stufe, zur Er- kenntnis, daß die Größe der umgewandelten Energie die gleiche bleibt. Diese Äquivalenz hat schon Rumford (gest. 18 14) behauptet. Robert Mayer (1842) versuchte das Prinzip der Äquivalenz der verschiedenen Energiearten zu beweisen und ging dabei von philosophischen Gedanken aus: von den beiden Sätzen, daß die Wirkung der Ursache gleich sein müsse, und daß nichts aus nichts und nichts zu nichts werde. Mayer hat zuerst das mechanische Äquivalent der Wärme zu berechnen versucht. Nach Joules (1843) ge- naueren Berechnungen ist dieselbe Energie nötig, um I kg Wasser von o'^' auf l" C zu erwärmen, wie um 424 kg i m hoch zu heben. Die beiden Energiegrößen können ineinander umgewandelt werden : durch den Fall von 424 kg aus der Höhe von I m kann i kg Wasser von o" auf i" er- wärmt werden und umgekehrt durch Abkühlung eines Kilogramms Wassers von 1" auf o" 424 kg um I m gehoben werden. Wir wollen gleich hier bemerken, daß später auch für die Elektri- zität und für das Licht die mechanischen Äqui- valente berechnet wurden. 1843 hat ferner der Däne Colding die Kon- stanz der Energie behauptet, wie Helm bemerkt, von religiösen Voraussetzungen ausgehend, wäh- rend Mayer vom philosophischen Gesichtspunkt aus, Joule experimentell zu dem gleichen Ergeb- nisse kamen. Helmholtz (1847) endlich gibt den mathematischen Beweis. Er führt Joule an, weiß aber merkwürdigerweise nichts von Mayer. Helm- holtz stützt sich bei seinem Beweise darauf, daß ein perpetuum mobile unmöglich sei, was schon Huyghens und Leibnitz bekannt war. Würde bei der Umwandlung der Betrag der Energie sich nicht stets gleich bleiben, so könnte man Energie aus nichts gewinnen, und ein perpetuum mobile wäre möglich, dem keine Energie von außen zugeführt werden mußte. Seitdem ist der Satz von der Erhaltung der Energie oder der erste Hauptsatz der Energetik als naturwissenschaftliches Grund- gesetz von höchster Bedeutung allgemein aner- kannt. B. Die Entwertung der Energie. Zerstreuung. Wie wir wissen, ist kein perpetuum mobile ohne Energiezufuhr möglich. Damit wurde der erste Hauptsatz von Helmholtz bewiesen. Nun zeigt sich aber eine neue befremdliche Tatsache : es ist auch kein perpetuum mobile mit Energie- zufuhr möglich. Ich hebe ein freihängendes Pendel und lasse es dann wieder los. Meine Muskelenergie hat sich in potentielle Energie des Pendels umgesetzt, und nun finden während der Schwingungen, wie wir bereits wissen, beständige Umwandlungen der potentiellen in kinetische Energie und umgekehrt statt. Oder ich leite das Wasser eines hoch ge- legenen Teiches, der keinen Zufluß hat, auf eine tiefer gelegene Mühle und will nun die Arbeit des Mühlrades dazu benutzen, um das abströmende Wasser in den Teich zurück zu pumpen. In beiden Fällen hätten wir ein perpetuum mobile der zweiten Art, wenn die Pendelausschläge die gleichen blieben, wie wenn die Pumpe immer wieder die gleiche Menge Wassers, die auf das Mühlrad fließt, in die Höhe des Teiches heben würde. Aber es dauert nicht all zu lange und der Teich liegt trocken, das Pendel hängt unbe- wegt. So ist auch ein perpetuum mobile der zweiten Art unmöglich. Während gemäß dem ersten Hauptsatze die Gesamtenergie unverändert bleibt, nimmt die mechanische Energie bestän- dig ab. Bei jeder Pendelschwingung, wie bei der Fort- bewegung des Wassers und bei jeder Drehung des Mühlrades setzt sich ein Teil der mechanischen Energie in Reibungswärme um, bis zuletzt dieser Umwandlungsprozeß alle mechanische Energie aufgezehrt hat und Pendel und Mühlrad stille stehen. Die Tatsache, daß alle mechanische Energie sich allmählich erschöpft, wird nach dem Vor- gange von Thomson (1852) als Zerstreuung von Energie aufgefaßt und bildet die Grundlage des zweiten Hauptsatzes der Energetik: „Bei allen Umwandlungen der Energie findet Energiezer- streuung statt." N. F. VIII. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 3/5 Umkehrbare und nicht umkelirbare Prozesse. Daß der Teich schließlich trocken liegt, das Pendel die Ruhelage einnimmt, führt uns zu dem Gegensatze der umkehrbaren und nicht umkehr- baren Prozesse. Umkehrbare oder konservative Prozesse sind jene, bei denen der Anfangs- und Endzustand gleich sind. Als ein solcher wurde lange die Bewegung der Planeten um die Sonne angesehen. Die I^ntfernungen der Planeten von der Sonne und ihre Geschwindigkeiten ändern sich wohl wälirend eines einmaligen Umlaufs; aber jeder folgende sollte jedem früheren Umlauf gleichen. Nicht umkehrbare oder finitive Prozesse sind jene, bei denen der Endzustand sich wesent- lich vom Anfangszustand unterscheidet. Zu ihnen gehören die angeführten Prozesse, bei deren An- fang der Teich gefüllt war, das Pendel mit der größten Energie sich bewegte, und an deren Ende der Teich trocken lag, das Pendel still stand. Solche nicht umkehrbare Prozesse sind alle, bei denen Zerstreuung eintritt; und Zerstreuung tritt bei allen Prozessen ein, die mit Reibung oder Wärmeleitung verbunden sind. Obgleich z. R. noch Clausius, der den Entropiebegrift' einführte, auf den wir später zu sprechen kommen werden, vollkommen umkehrbare Zustandsänderungen in der Natur für möglich hielt, ist man heute dar- über einig, daß alle natürlichen Prozesse nicht umkehrbar, finitiv sind und daß auch die Be- wegung der Planeten keine Ausnahme bilde. Und nur auf fiktive, zum Zwecke theoretischer Unter- suchungen angenommene Prozesse werden heute noch die Ausdrücke umkehrbar oder konservativ angewendet. Entwertung. Die Zerstreuung der Energie bringt zugleich Entwertung der Energie mit sich, Herabsetzung ihrer Wirksamkeit, und zwar in mehrfacher Hin- sicht. Zunächst ist zerstreute Energie an und für sich weniger wirksam, als vereinheitlichte. Man denke etwa, zwei Brüder hätten jeder looooo Mk. geerbt und vererbten sie nun weiter. Der eine setzt einen Universalerben ein. Der andere be- stimmt, daß sein Vermögen an alle Bürger seines Landes, lo Millionen Menschen, verteilt werden sollte, wobei jeder einen Pfennig erhielte. Ferner werden bei der Zerstreuung wertvollere Energie- arten in weniger wertvolle umgesetzt, insbeson- dere mechanische Energie in VVärme. Das ist, mit Weiterführung eines Gleichnisses, das schon Leibnitz gebrauchte, wie wenn in einem Lande mit schlechter Finanzwirtschaft ein Goldstück gegen Scheidemünze umgewechselt wird. Der entgegengesetzte Weg, für die gleiche Menge Scheidemünze ein Goldstück zu bekommen, ist verschlossen. Wie Goldstück und Scheidemünze verhält sich insbesondere molare oder mechanische Energie der Massen und molekulare Energie oder Wärme. Molar, sichtbar ist die Bewegung des Planeten und des Pendels; molekulare, unsichtbare Be- wegungen ergeben die Wärme, in die sich durch Reibung die molare Bewegung beständig umsetzt. Nach Helmholtz geht die Tendenz der Natur überall dahin, geordnete in ungeordnete, sichtbare in unsichtbare Bewegung umzusetzen. Worin besteht nun der höhere Wert der molaren gegenüber der molekularen Energie? Was bestimmt überhaupt den Wert einer Ener- gieart? Der Wert einer Energieart liegt in ihrer Wirksamkeit, und diese ist durch ihre Umwandel- barkeit bedingt. So ergibt sich eine Wertstufen- leiter der Energieen. Die tiefste Stufe nimmt die Wärme ein ; ihre Umwandlungsfähigkeit ist die geringste. Die höchste Stufe gebührt der mecha- nischen Energie (besonders in potentieller F'orm, die bei der Umwandlung in die kinetische Form keinen Verlust erleidet, was bei jeder Umwandlung der kinetischen Energie eintritt). Ihr folgt die elektrische, dann die chemische Energie und, wie bereits erwähnt, zuletzt die Wärme. Endlich fördert die Zerstreuung der Energie den Ausgleich der Intensitätsfaktoren. Und da, wie wir sehen werden , auf der Differenz der Intensitätsfaktoren oder der Energieniveaus alle Wirksamkeit der Energie beruht, so wird durch ihren Ausgleich die Energie in ganz besonderem Maße entwertet. Die Hauptbedingung des Geschehens. Alles Geschehen ist, wie schon Clausius be- merkte, durch Energievorgänge bedingt und zwar durch Umformungen der P^nergie (t'bergang der einen Energieform in die andere) oder durch Um- wandlungen der Energie (L'bergang einer Energie- art in eine andere) oder endlich durch Wande- rungen der Energie. Für den Welthaushalt sind die Wanderungen am wichtigsten. Ich erinnere nur daran, daß die Wanderung der strahlenden Energie der Sonne es ist, durch die alles Leben, ja im wesentlichen alle Bewegung auf der Erde bedingt wird. Nun haben wir bereits gehört, daß verschiedenes Energieniveau nötig ist, wenn eine Wanderung eintreten soll, sei es zwischen den Punkten eines und desselben Körpers, sei es zwischen zwei Körpern; gleiches Energieniveau schließt Wanderungen aus. Sind zwei nicht im gleichen Niveau liegende Seen durch einen Bach miteinander verbunden, so kann der Bach eine Mühle treiben. Steigt aber das Niveau des un- teren oder sinkt das Niveau des oberen Sees auf das des anderen, so ist keine Arbeitsleistung mehr möglich. Die Sonne stellt ein ungeheures und ungeheuer hoch gelegenes Energiereservoir dar, das alle irdischen Mühlen speist. Dieser Vorgang ist aber nur so lange möglich, bis das Energie- niveau der sich abkühlenden Sonne das der Erde erreicht hat. Ohne Niveaudifferenz, ohne Inten- sitätsgefälle, ohne Gegensatz von oben und unten sind die Wanderungen unmöglich, deren die P'nergie zu ihrer Wirksamkeit bedarf Je größer bei einem Körper der Intensitätsfaktor absolut 676 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 43 genommen sich darstellt, desto wahrscheinlicher ist es, daß er auch relativ größer ist gegenüber anderen Körpern, mit denen sich Beziehungen er- geben, daß also ein Intensitätsgefälle eintritt. Durch Zerstreuung aber wird der Intensitätsfaktor absolut genommen kleiner. Entsprechend dem absoluten und relativen Energiegehalt eines Körpers oder Systems müssen wir auch absolute und relative Niveaudifferenzen annehmen. Der Energiegehalt eines Körpers ent- spricht der Energie, die aufgewendet werden mußte, um den Körper aus dem Gleichgewichts- oder Ruhezustand über das Niveau seiner Um- gebung hinaus auf sein Energieniveau zu erheben. Wenn nun ein Felsblock bei einer vulkanischen Eruption nicht weit vom Erdmittelpunkte seine Erhebung beginnt und sie auf dem Gipfel eines Berges abschließt, so ist praktisch sein Energie- gehalt, sein Energieniveau nicht durch die Ent- fernung vom Erdmittelpunkte, sondern nur durch die von dem Niveau des Tales zu messen, in das er einst hinunterrollen wird. Ebenso kann für einen warmen Körper nicht der absolute Null- punkt, sondern nur die Temperatur seiner Um- gebung, für einen elektrisch geladenen Körper nicht der Nullpunkt elektrischer Energie, sondern nur die elektrische Spannung der Erde in Frage kommen. Oder allgemein gesprochen: vom prak- tischen Standpunkte handelt es sich immer nur um relative, nicht um absolute Intensitätsdifferenzen. Die Richtung des Geschehens. Die Hauptbedingung des Geschehens ist der Gegensatz von oben und unten. Und von oben nach unten geht immer die Richtung des Ge- schehens. Dies hat bereits 1824 Sadi Carnot er- kannt. Von selbst fließt Wasser nur von oben nach unten, geht die Feder nur von einem Zu- stande stärkerer in einen geringerer Spannung über, finden chemische Vorgänge nur in der Rich- tung von höheren zu niedrigerem Energiegehalte, in der Richtung von Zwangs- zu Neigungs- gruppierungen statt. Geschwindigkeit kann über- haupt nur von einem Körper mit größerer auf einen solchen mit geringerer Geschwindigkeit übergehen, Elektrizität nur von Stellen stärkerer zu Stellen geringerer Spannung, Wärme nur von Punkten höherer zu solchen niedrigerer Temperatur. Wie auf der Erde alle Steine gegen den Mittel- punkt der Erde zu von oben nach unten, von der Peripherie gegen den Mittelpunkt zu fallen, so bewegen sich die Planeten und Kometen, sobald ihre Eigenbewegung ein Ende findet, von oben nach unten, von der Peripherie gegen die Sonne als Mittelpunkt zu. Dieser Weg von oben nach unten ist zugleich der Weg der Verminderung der Intensitätsdifferenzen, der Weg des Ausgleichs. Die Richtung der Bewegung stimmt hier überall mit der Richtung der in P^age kommenden Kräfte (Schwerkraft, Elastizität, Affinität) zusammen. •Neigungs- und Zwangsvorgänge. Zunächst bewegt sich alles Wasser von oben nach unten in der selbstverständlichen Richtung aller jener Vorgänge, die von selbst verlaufen und nicht unter äußerem Zwange stehen, also aller Neigungsvorgänge. Wie aber, wenn das Wasser im Springstrahl emporsteigt? Dieser Weg von unten nach oben muß ihm aufgezwungen werden; er stellt eine Erhöhung der Intensitätsdifferenz zwischen Wasser und Erde dar und steht im Gegensatz zu der in Frage kommenden Kraft, der Schwerkraft. In letzter Linie aber wird dieser Zwangsvorgang selbst wieder durch einen Neigungs- vorgang bedingt, dessen Richtung von oben nach unten geht, sei es, daß der Springquell von einem Reservoir aus getrieben wird, das dann höher liegen muß, als die höchste Erhebung des springen- den Strahles, sei es, daß sein Aufsteigen durch eine Dampfmaschine bewirkt wird. Im letzteren Falle stammt die nötige Energie aus dem Neigungsvorgange, der von der erzwungenen Trennung von Kohlenstoff und Sauerstoff zu ihrer Vereinigung führt. So gilt nicht nur unmittelbar für Neigungsvorgänge, sondern mittelbar auch für Zwangsvorgänge, daß alles Geschehen sich in der Richtung von oben nach unten vollzieht. Der Weltprozeß als Ausgleich. Überall, wo Energiezerstreuung eintritt, findet auch ein Ausgleich von Intensitätsdifferenzen statt. Außerdem gleichen sich, wie wir bereits wissen, überall, wo zwei Körper oder Systeme in Wechsel- wirkung treten, die Intensitätsfaktoren ihrer Ener- giegehalte aus; die Extensitätsfaktoren hingegen addieren sich. Immer und überall gleichen sich also vorhan- dene Intensitätsdifferenzen aus. Wo durch Zwangs- vorgänge neue Differenzen geschaffen werden, können sie, infolge der Zerstreuung der Energie, nie die Größe jener Differenzen erreichen, aus denen die Zwangsvorgänge selbst die erforderliche Energie geschöpft haben. Der Springstrahl kann nie zur Höhe des Wasserreservoirs emporsteigen; das Pendel, das ich auf der einen Seite emporhebe und dann loslasse, kann, wenn der Unterschied auch unendlich klein ist, nie ganz zu derselben Höhe auf der anderen Seite gelangen. Es ist die- selbe Tatsache, durch die das perpetuum mobile der zweiten Art und die umkehrbaren Prozesse unmöglich sind. Der Ausgleich der Intensitäts- differenzen besagt, daß die Stellen mit maximaler und minimaler Intensität beständig abnehmen, während die Stellen zunehmen, deren Intensität sich einem Durchschnitt nähert. In einem System, wo alle Intensitätsdifferenzen ausgeglichen sind, kann von wirksamer Energie nicht mehr die Rede sein. Thomson hat diesen Satz zuerst auf die Welt als Ganzes angewendet. Er wies darauf hin, daß schließlich, nachdem alle anderen Energiearten im Entwertungsprozesse der Energie sich in Wärme umgewandelt hätten, auch die Temperatur aller Körper dieselbe werden müsse. So müßte sich ein endgültiger Gleich- N. F. VIII. Nr. 43 Naturwissenschaftliche W'ociienschrift. 677 crewichtszustand ergeben; man hat diesen Zustand den Warmetod des Weltalls genannt. Der .Anwendung des Satzes vom Ausgleiche der Intensitätsdifferenzen auf das Weltall setzt sich jedoch eine doppelte Schwierigkeit entgegen. Ein- mal verliert jener Satz jeden Sinn, wenn der Energievorrat des Weltalls als unendlich ange- nommen werden müßte; ferner ist über die Schnelligkeit des .-Xusgleichsprozesses nichts Be- stimmtes auszusagen. Er kaim sich mit unend- licher Langsamkeit vollziehen. Wir besnügen uns mit diesen theoretischen Erwägungen und wenden uns der praktischen Seite des Problems zu. Und da ergibt sich mit Notwendigkeit, daß, zwar nicht vom Weltall, wohl aber von der engeren Welt des IVIenschen, wie sie aus der Sonne, der Erde und den anderen Planeten besteht, ausgesagt werden kann, daß es in ihr in endlicher Zeit zu einem Energieausgleiche kommen muß. Die Intensitätsdifferenzen, wie sie sich in der Entfernung der Erde und der anderen Planeten von der Sonne darstellen, werden sich durch Vereinigung dieser Weltkörper mit der Sonne ebenso ausgleichen, wie schon vorher die Differenz der Strahlung zwischen Sonne und Erde durch die Abkühlung der Sonne sich ausgeglichen haben wird. So findet erst alles Leben auf der Erde, dann die Sonderexistenz der Erde selbst ein Ende. Energie und Bewegung. Am Ende des Weltprozesses hätte alle Energie oder alle F"ähigkeit, Arbeit zu leisten, sich erhalten nach dem ersten Hauptsatze, wäre aber unfähig geworden, Arbeit zu leisten nach dem zweiten. Mit einer Fähigkeit, Arbeit zu leisten, die zur Arbeitsleistung unfähig geworden ist, läßt sich kein klares Bild verbinden, und Mach und andere haben es sinnlos gefunden, arbeitsunfähige Energie noch Energie zu nennen. Der Fehler liegt in der gebräuchlichen Defini- tion. Wenn wir von der mechanistischen Welt- anschauung ausgehen, die alles Geschehen in letzter Linie auf die Bewegung von Atomen (und Elektronen) zurückführt, dann können wir Energie definieren als potentielle oder aktuelle Bewegung, die Arbeit zu leisten imstande ist. Und dann kann nach dem ersten Hauptsatz alle Bewegung (in potentieller oder aktueller Form) erhalten bleiben und zugleich nach dem zweiten Haupt- satze die Energie, jene Bewegung, die imstande ist, Arbeit zu leisten, sich beständig vermindern. Überall, wo von Energie im allgemeinen ge- sprochen wird, wäre Bewegung dafür zu setzen. Verschiedene Kräfte stehen im Gegensatze zu den verschiedenen Bewegungsarten und zwar hat es die Mechanik mit der Bewegung der Massen, die Physik des Äthers mit der der Elektronen, die Chemie mit der der Atome, die Physik der Materie mit der der Moleküle zu tun. Alle Be- wegung kann in potentieller oder aktueller Form auftreten , betätigt sich in Wanderungen und Wandlungen und zerfällt in einen I^xtensitäts- und einen Intensitätsfaktor, die sich auf die Masse und Geschwindigkeit des Bewegten beziehen. Mechanische Energie wird durch Reibungswärme entwertet, hieße dann: ein Teil der Bewegung der Massen setzt sich in Bewegung der Mole- küle um. Mechanik und Wärmelehre. Wir sind bisher im Anschlüsse an Helmholtz und Thomson bei der Betrachtung der beiden Hauptsätze der Energetik von der Mechanik aus- gegangen. Clausius hat (1850) von der Wärme- lehre ausgehend die Hauptsätze in ungefähr folgen- der Form aufgestellt: 1. Die Energie im Weltall (oder sonst in einem geschlossenen System) ist konstant. 2. Die Entropie des Weltalls (oder sonst eines geschlossenen Systems) strebt einem Maxi- mum zu. Unter geschlossenen Systemen sind solche zu verstehen, bei denen Energie weder nach außen abgegeben noch von außen empfangen wird. Die Entropie strebt einem Maximum zu, bedeutet dasselbe, wie die Wirksamkeit der Energie nähert sich einem Minimum. Von manchen wird Entropie dem Extensitätsfaktor bei der Wärme gleich gesetzt; andere Forscher erklären dies für falsch. Nähere Auseinandersetzungen über den Begriff der Entropie gehören nicht hierher, son- dern in die Wärmelehre; die mechanistische Ener- getik will von diesem Begriffe nichts wissen. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in Neues aus der Pharmazie. — I"". Zernik- Steglitz: Die wichtigsten neuen Arznei- mittel des Jahres 1908. Ber. d. d. pharm. Ges. 1909, 19, 89 — 117. Verf. wendet sich zu- nächst gegen falsch deklarierte Arzneimittel (man vergleiche hierzu auch die Referate ,, Neues aus der Pharmazie" in der Naturw. Wochenschr., N. F. VII, Nr. 27 und N. F. VIII, Nr. 7), er ver- weist auf den bekannten Vortrag von Prof. Thoms den einzelnen Disziplinen. im Oktober 190S in der Sitzung vom 8. Oktober 1908 der Deutschen Pharmazeutischen Gesell- schaft (Ber. d. d. pharm. Ges. 1908, 18, 309—393) und hebt ganz besonders hervor, „daß die führen- den pharmazeutischen und medizinischen Kreise und unsere so hochangesehene ernsthafte chemi- sche Industrie Schulter an Schulter stehen im Kampfe gegen einen Unfug, der sie alle gemein- sam schädigt. . . . Die wissenschaftliche Pharmazie 6/8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 43 wird sich niemals das Recht nehmen lassen, Kritik da zu üben, wo die ordnungsgemäße Versorgung des Publikums mit Arzneien gefährdet erscheint und wo dem Arzneischatz und den Apotheken chemische Präparate aufgezwungen werden sollen, für deren richtige Zusammensetzung der Apo- theker dem Arzte und dem Publikum gegenüber keine Garantie übernehmen kann." Der Überblick, welchen Dr. Zernik gibt, zeigt, daß auch im Jahre 1908 der Unfug der falsch deklarierten Arzneimittel florierte. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, den äußerst interessanten und lehrreichen Vortrag vollständig zu besprechen, Zernik berichtet über ca. 60 Präparate, ich muß mich damit begnügen, einige drastische Beispiele anzuführen. Über Eglatol, das „entgiftete Chloralhydrat", erfahren wir, daß es als eine Kombination aus ca. 70 "'u Chloralhydrat- Antipyrin, angeblich in Form der unter dem Namen Hyp- nal bekannten molekularen Verbindung, 10% Koffein und etwa 25 '\, ,,Karbaminsäurementhyl- ester" vom Fabrikanten beschrieben worden ist, daneben soll es aus technischen Gründen noch Alkohol enthalten. Der Fabrikant sagt in seinen Prospekten: „Wenn auch im Eglatol kein che- misch einheitlicher Körper vorliegt, so bildet es doch eine einheitliche Flüssig- keit, während sämtliche Ausgangsmaterialien in Kristallform auftreten. Eine feste chemische Konstitution, wenn auch vielleicht in loser Dopp el Verbindung, läßt sich aus der Beständig- keit des neuen Körpers schließen. Trotz langen Liegens findet ein Auskristallisieren oder eine sonstige Änderung des Eglatol nicht statt." Diesen Sätzen glaubt Zernik wohl nichts hinzu- fügen zu brauchen. Sie sprechen für sich selbst. Der „Karbaminsäurementhylester" ist nach Prof. Frerichs ein Gemisch aus Urethan und Menthol. Pharmakologen von Ruf, wie Harnack und H e u b n e r , wenden sich in den schärfsten Ausdrücken gegen die im Eglatol vorliegende willkürliche Kombination pharmakologisch hetero- gener Substanzen. . . . Plejapyrin sollte ein Kondensationsprodukt aus Antipyrin und Benzamid C,.H,,CONH., + C,,H,.,ON., vom Schmelzpunkt 75" darstellen; es liegt aber, wie in einem süddeutschen Fachblatt — leider anonym — zuerst festgestellt wurde und wie es Zernik auf Grund seiner gleichzeitigen Untersuchungen bestätigen konnte, im Plejapyrin nur ein Gemisch aus etwa mole- kularen Mengen Benzamid und Antipyrin vor, das keinen konstanten Schmelzpunkt hat und aus dem sich das Benzamid mittels kalten Benzols leicht herauslösen läßt.')... Meligrin ist ein in absolut willkürlichen Mengen zusammengesetztes ') Zernik berichtet später (Apotli.-Ztg. 1909, Nr. 55I, daß das erste Plejapyrin vom Fabriltanten aus dem Handel gezogen und durch ein neues Produkt, das Plejapyrin-para, ersetzt sei , welches im Gegensatz zu dem ursprünglichen Plejapyrin eine chemisch wohlcharakterisierte Verbindung aus gleichen Molekülen p-Toluolsulfamid und I Phenyl 2 — 2 Di- methylpyrazolun darstellt. Gemisch aus etwa 86 Teilen Antipyrin und 14 Teilen des als „Exalgin" seinerzeit angewandten Methylacetanilids QHgN^ , eines Präpa- rates, das an sich schon dem freien Verkehr ent- zogen ist. Meligrin und Plejapyrin dürfen also als Gemische ebensowenig freihändig abgegeben werden, wie das gleichfalls als Migräninersatz empfohlene Sulfopyrin, das, als sulfanilsaures Antipyrin deklariert, in Wirklichkeit ebenfalls nur ein ganz willkürliches Gemisch aus ca. 86 "/^ Antypyrin und 14 "/o Sulfanilsäure darstellt. . . . „Von den Darstellern solcher Präparate wird als Argument für das Vorliegen einer neuen Verbin- dung immer wieder die Tatsache angeführt, daß, trotz Vorhandenseins von nicht unerheblichen Mengen einer für sich allein wenig oder gar nicht löslichen Substanz neben dem Antipyrin, die Wasserlöslichkeit der neuen „Verbindung" eine beträchtlich erhöhte, wenn nicht völlige sei. Dem- gegenüber sei hier darauf hingewiesen, daß das gar nichts Auffallendes ist. In einer wässerigen Antipyrinlösung sind sonst schwer oder gar nicht wasserlösliche Stoffe ganz oder teilweise löslich — dasselbe gilt bekanntlich auch für andere feste Substanzen, z. B. Chloralhydrat (hier sei an die bekannten Arbeiten von E. Schaer, Manch, Kreutz erinnert. Ref) oder Natriumsalicylat (hier sei auf die kürzlich in der Zeitschr. f. öffent- liche Chemie 1909, 15, 224 erschienene Arbeit von. Dr. W. Lenz, Eine neue mikrochemische Unter- scheidung der Roggen- und Weizenslärke, aufmerk- sam gemacht. Ref); und ebenso wie verdünnter Weingeist z. B. gewisse Substanzen besser löst wie Wasser, tut das eben eine Antipyrinlösung auch — ohne daß eine neue Verbindung vorzuliegen braucht." . . . Eulatin, in Dosen von 0,1 — 0,5 g 3 — 4 stündlich gegen Keuchhusten empfohlen, sollte „nach den Angaben des Fabrikanten als amidobrombenzoesaures Antipyrin anzusehen" sein. Weitere chemische Einzelheiten, wie An- gabe des Schmelzpunktes oder Präzisierung, um welche der sechs bekannten Amidobrombenzoe- säuren es sich handele, fehlten. Die Untersuchung ergab, daß auch hier eins der beliebten falsch deklarierten Präparate vorliege; Amidobrombenzoe- säure war im Eulatin überhaupt nicht enthalten, vielmehr entpuppte sich das Mittel als ein Ge- misch aus Antipyrin, p-Brombenzoesäure und o-Amidobenzoesäure, und zwar ein Gemisch von etwa 2 Teilen Antipyrin und p-Brombenzoe- säure in molekularen Mengen einerseits und I Teil Anti[5yrin und o-Amidobenzoesäure, gleich- falls in molekularen Mengen, andererseits. „Zur Kenntnis gly kosidhal tiger Ex- trakte". Von L. Rosenthaler und R.Meyer. Mitteilung aus dem pharmazeutischen Institut der Universität Straßburg i. E. (Arch. d. Pharm. 1909, Bd. 247, S. 28 — 49.) Durch die üblichen Metho- den der Extraktdarstellung können Glykoside durch Säuren und Enzyme eine Zersetzung er- N. F. \'III. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 679 leiden. Die Wirkung der Säuren und der Enzyme suchen Verff. hintanzuhalten , einerseits durch Neutralisation mit Calciumkarbonat, andererseits durch Behandeln der noch nicht extrahierten Droge mit siedendem Alkohol. Die Untersuchungen er- streckten sich auf folgende Extrakte: Extr. Gen- tianae, Centaurii, Frangulae, Sagradae und Rhei. Aus jeder Droge wurden drei Extrakte nach .folgenden Verfahren hergestellt: Extrakt I wurde nach der Vorschrift eines Arzneibuches herge- stellt und zwar das Enzianextrakt I nach dem D. A. B. IV., das Tausendguldenkrautextrakt I nach dem Ergänzungsbuch zum D. A. B. IV., das Frangulaextrakt I ebenfalls nach dem Ergänzungs- buch des D. A. B. IV., das Sagradaextrakt I nach Vorschrift des englischen Arzneibuches (50,0 g grob gepulverte Sagradarinde wurden mit de- stilliertem Wasser befeuchtet und nach einigen Stunden in einen Perkolator gepackt. Mit Wasser wird dann bis zur Erschöpfung der Droge per- koliert und die Auszüge in üblicher Weise einge- dampft.). Das Rhabarberextrakt I wurde nach Vorschrift des D. A. B. IV. hergestellt. Ebenso wie Extrakt I wurden die Extrakte II und III dargestellt, jedoch mit folgenden Abänderungen: „Für Extrakt III wurde die Droge in kleinen An- teilen in einen auf einem Dampfbad befindlichen Kolben eingetragen, der Calciumkarbonat und so- viel siedenden Weingeist von 95 "!„ enthielt, daß die Droge stets davon bedeckt blieb. Der Wein- geist muß während der ganzen Operation im Sieden bleiben. Wenn die Droge völlig einge- tragen ist, wird am Rückflußkühler noch 20 Mi- nuten lang erhitzt. Durch dieses Verfahren wer- den nach Bourquelot die Enzyme sicher ab- getötet. Das weitere Verfahren war verschieden, je nachdem die Mazerationsflüssigkeit Weingeist enthielt oder nicht. Im ersteren Falle, z. B. bei Extr. Rhei, konnte man die Mazeration unmittel- bar ansetzen unter Berücksichtigung der Alkohol- menge, die noch im Kolben vorhanden war. Im zweiten Falle muß der Alkohol erst abdestilliert werden." Extrakt II wurde wie Extrakt I dar- gestellt, doch unter Zusatz von Calciumkarbonat, nur bei Extr. Gentianae und Extr. Rhei (IIa) wurde es ohne Calciumkarbonat wie III behan- delt. Die direkte quantitative Bestimmung der Glykoside ist mit Schwierigkeiten verknüpft. Man gibt häufig indirekten Methoden den Vorzug, in- dem man nicht das Glykosid selbst, sondern eines seiner Spaltungsprodukte bestimmt. Ist die Zu- sammensetzung des Glykosides bekannt, so kann man seine Menge daraus berechnen, ist sie un- bekannt, so lassen sich die Resultate zu ver- gleichenden Untersuchungen trotzdem ver- wenden. Zu den indirekten Methoden gehört auch Bourquelot's biochemisches Verfahren (.Arch. d. Pharm., Bd. 245 (1907), S. 164 u. 172), wenn man es so ausführt, daß man unter Berück- sichtigung des durch Invertin abgespaltenen Zuckers, den durch Emulsin abgespaltenen Glykosidzucker bestimmt. Die jeweiligen speziellen Untersuchungsmethoden sind bei den einzelnen Extrakten genau angegeben. Die Verff. kommen zu folgendem Ergebnis: i. Glykoside können während der nach den üblichen Methoden er- folgenden Extraktdarstellung zersetzt werden. 2. Die Vorbehandlung mit Weingeist erwies sich nur bei Extr. Centaurii als schädlich; als wertlos bei Extr. F"rangulae; als nützlich bei Extr. Gen- tianae, Sagradae und in besonders hohem Maße bei Extr. Rhei. Das Calciumkarbonat hat einen nennenswerten glykosidschützendcn Einfluß in keinem der untersuchten Fälle ausgeübt. Ge- schadet hat es in keinem Falle. Da es außerdem ein sehr billiger Stoff ist, so ist gegen seine Be- nutzung zur Bereitung glykosidhaltiger Extrakte nichts einzuwenden. 3. P'ür die Darstellung von Extr. Gentianae, Sagradae und Rhei ist die Vor- behandlung der Drogen mit siedendem Weingeist zu empfehlen. „Über katalysierende Emulsinbe- stand teile". Von L. Rosenthaler. (Aus dem Pharmazeutischen Institut der Universität Straßburg i. E.) Biochem. Zeitschr. 1909, 19, 186. (Vgl. hierzu die Referate „Neues aus der Phar- mazie" in Naturw. Wochenschr. N. F. VII. Band, Nr. 27 und N. F. VIII. Band, Nr. 7.) Verf. hat die Natur der Substanz erforscht, welche die Addition der Blausäure an Aldehyde und Ketone beschleunigt. Diese Substanz ist nicht mit dem die optische Aktivität hervorrufenden Bestandteil identisch, wie Verf schon in einer früheren Ab- handlung (Biochem. Zeitschr. 14, 238; 17, 257) mitteilte; er schloß dies daraus, daß auch solche Additionen beschleunigt werden, die nicht zu optisch aktiven Nitrilen führen. Verf hat zu- nächst festgestellt, daß im Emulsin ein die asym- metrische Synthese beeinflussendes ffi'i'-Emulsin und ein hydrolisierendes J/«-Emulsin vorhanden sind. Den Beweis hierfür erbrachte Verf durch Erhitzen der wässerigen Emulsinlösung, wodurch die die asymmetrische Synthese verursachende Substanz ihre Wirkung völlig einbüßt (Erhitzen I Stunde lang auf 80"), während die katalytische Wirkung auch bei längerem Erhitzen auf freiem Feuer nicht verschwindet. Die katalysierende Substanz konnte demnach nicht ausschließlich enzymatisch sein. Die chemische Beschaffenheit des nicht enzymatischen Katalysators ermittelte Rosenthaler indem er eine wässerige Emulsin- lösung einer systematischen Analyse unterwarf (die interessanten Einzelheiten sind im Original genau aufgeführt). .Als er ein im Verlaufe der- selben erhaltenes Filtrat auf Kohlenhydrate prüfte, beobachtete Verf., daß mit Fehling'scher Lösung ein flockiger, nur wenig Kupferoxydul enthalten- der Niederschlag entstand, der auch mit Natron- lauge allein und mit Ammoniak erhalten werden konnte, er bestand aus Magnesiumhydroxyd. In Essigsäure gelöst, beschleunigt er in geringem Maße die Benzaldehyd-Blausäure-Reaktion. Ver- suche, die Rosenthaler mit je 0,05 g Magne- siumacetat und -karbonat ausführte, zeigten die- 68o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 43 selbe Wirkung in starkem Maße. Magnesiumsulfat beschleunigt nicht. Ferner beschleunigen stark die Acetate des Calciums und Kaliums, Kalium- hydroxyd beschleunigt ebenfalls bei nicht zu starker Konzentration. Verf sagt, daß alle Körper die Addition der Blausäure beschleunigen, welche eine Vermehrung der CN-Ionen-Konzentration herbeiführen, ohne die Konzentration der zur Reaktion unbedingt nötigen H-Ionen allzusehr herabzudrücken. Dazu sind Verbindungen der Alkalien und Erdalkalien mit schwachen Säuren und kaustische Alkalien in geringer Konzentration geeignet. Während der Reaktion werden dann die infolge der Addition verschwundenen CN- lonen durch die noch vorhandene nichtdissoziierte Blausäure nachgeliefert. Aus all dem folgert Rosenthaler: Die durch Emulsin erfolgende Beschleunigung der Blausäure-Addition erfolgt zum überwiegenden Teil durch Verbindungen des Magnesiums, Calciums und Kaliums, die als „C y a n - 1 o n e n b i 1 d n e r" zu wirken imstande sind. — In welcher Weise Magnesium, Calcium und Kalium im Emulsin gebunden sind, hat Verf. noch nicht experimentell nachgewiesen. Sie müssen jedenfalls, sagt Rosenthaler, an Substanzen von schwach saurem Charakter gebunden sein, wofür die Fähigkeit der vorhandenen Verbin- dungen zur Bildung von Cyan Ionen spricht. Es ist denkbar, daß diese schwach sauren Substanzen mit den die optische Aktivität hervorrufenden identisch sind. Ein direkter Zusammenhang der anorganischen Cyanionenbildner mit der durch Emulsin hervorgerufenen asymmetrischen Syn- these besteht indes nicht. Der Zusatz von Mag- nesiumacetat bewirkt keine optische Aktivität des Nitrils. „Über eine neue charakteristische A drenalinreaktion". Von Sigmund Fränkel und Rudolf All er s, München. (Aus dem Labo- ratorium der L. Spiegler-Stiftung, Wien.) Biochem. Zeitschr. 1909, 18, 40. Das Adrenalin reagiert als o-Dioxybenzolderivat mit Eisenchlorid unter vor- übergehender Grünfärbung, ferner reduziert es ammoniakalische Silberlösung und reagiert mit chromsauren Salzen. Die Eisenchloridreaktion ist eine zu allgemeine Reaktion der Orthodioxy- benzolderivate, noch weniger charakteristisch er- scheinen die beiden anderen Reaktionen. Die Reaktion von G. Comessati (Münch. med. Wochenschr. 1908, Nr. 37) beruht auf der Ein- wirkung von I — 2 7(10 'ger Sublimatlösung bei Zimmertemperatur auf die zu prüfende Flüssigkeit. Bei Anwesenheit von Adrenalin tritt nach 1 bis 3 Minuten eine diffuse Rotfärbung auf. Nach Comessati beruht diese I-'ärbung auf der Bildung von Oxyadrenalin, sie gestattet, Adrenalin in einer Verdünnung von 0,0025 : 1000 noch nach- zuweisen. Demgegenüber hat K. Boas (Centralbl. f. Physiol. 1909, Nr. 26) beobachtet, daß selbst bei größeren Konzentrationen, als den von Comessati genannten die Reaktion nicht zu- stande kam. Hingegen trat sie ein, weim man die Probe zum Sieden erhitzte. Fränkel und Allers haben eine neue, sehr feine und charak- teristische Reaktion gefunden, welche darauf be- ruht, daß Jodsäure resp. Kaliumbijodat und ver- dünnte Phosphorsäure beim Anwärmen mit Adre- nalinlösungen in der Weise sich umsetzt, daß eine prachtvolle rosenrote Färbung, bei Verwendung äußerst verdünnter Lösungen eine eosinrote Fär- bung eintritt. Keine der von den Verff. unter- suchten Substanzen, welche mit dem Adrenalin verwechselt werden könnten, gibt diese Reaktion. Verff. konnten die Reaktion noch mit einer n/5000- Adrenalinlösung, welche also 0,00365 "(, ig ist resp. 1:300000 enthält, erzielen. Sie steht in ihrer Feinheit der sehr empfindlichen, aber rasch vergänglichen Eisenchloridgrünung nicht nach, ist aber ausschließlich für Adrenalin charakteristisch. In geringerer Verdünnung, etwa i : 20000, tritt die Reaktion bei mehrstündigem Stehen schon bei Zimmertemperatur auf Die rote Farbe der Reaktion schlägt bei Versetzen der Probe mit Ammoniak in Rotbraun um. Da die Umsetzungen zwischen Bijodat und Adrenalin in bestimmten stöchiometrischenVerhältnissen abzulaufen scheinen, so beschäftigen sich Verff". augenblicklich noch mit Versuchen, die versprechen, diese Reaktion für die quantitative Bestimmung von Adrenalin- lösungen benutzen zu können. Es handelt sich wahrscheinlich um die Bildung einer Jodo- oder Jodosoverbindung des Adrenalins, welcher die charakteristische Färbung zukommt. Verff. stellen die Reaktion folgendermaßen an: Die zu prüfende Lösung wird mit dem gleichen Volumen einer n lOOO-Kaliumbijodatlösung und einigen Tropfen verdünnter Phosphorsäure versetzt und bis zum beginnenden Sieden erwärmt. Man betrachte die Reaktion im auffallenden Lichte gegen einen weißen Hintergrund. Eiweißhaltige Lösungen müssen natürlich vorher enteivveißt, farbige ent- färbt werden. ,,Eine Methode zur quantitativen Be- stimmung der Phosphorsäure im Harne und in Alkaliphosphatlösunge n". Von Paul v. Liebermann. (Aus dem hygienischen Institut der Universität Budapest.) Biochem. Zeitschr. 1909, 18, 44 — 57. Verf hat eine Methode ausgearbeitet, in der das Prinzip der Volhard- sehen Halogenbestimmung auf die Phosphorsäure angewendet wird. Es wird also der Phosphor- säurerest mit einer bekannten, überschüssigen Menge von Silber gefällt und im Filtrate das nicht gefällte Silber mit Alkalithiocyanat zurück- titriert. Um dies im Harn ausführen zu können, müssen die Phosphate von den anderen silber- fällenden Harnbestandteilen getrennt werden, was durch Fällen mit Magnesiamischung geschieht. Die Ausführung ist folgende: 20,0 ccm filtrierter Harn werden in einem 200 ccm fassenden Becher- glase mit etwa '% ihres Volumens einer ca. IG "/„igen (NHJjCOj-Lösung und hierauf mit überschüssiger IVIagnesiamischung versetzt (7 bis 8 ccm genügen in jedem Falle). Nach Zusatz N. F. VIII. Ni-. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 68 1 von "3 des Volumens an Ammoniak läßt man 12 Stunden stehen. Sodann wird filtriert und mit ammoniakhaltigem Wasser (2\o "/o NH.,), dem auf 200 com etwa 5 com Ammoniumkarbonat- lösung (Konzentration ist nicht angegeben) zuge- setzt waren, ausgewaschen. Es ist nicht nötig, den Niederschlag quantitativ aufs Filter zu bringen, da die später folgende Lösung des Niederschlages in demselben Becherglase geschieht. Natürlich müssen mit jeder einzelnen Portion des Wasch- wassers die Wände des Becherglases abgespült sein. Der Niederschlag wird auf dem Filter in 50 com einer 2,5- bis 2,6- normalen, chloridfreien Salpetersäure (lege artis) gelöst. Die Lösung wird in demselben Becherglase aufgefangen, in dem man gerällt hatte. Zu dieser Lösung fügt man genau 5 ccm einer '/j n-AgNO.;. Man über- zeugt sich bei dieser Gelegenheit, ob der Nieder- schlag gut ausgewaschen war. Eine geringe Opaleszenz gehört jedoch auch bei sorgfältigstem Auswaschen zur Regel. Die Lösung wird mit NHg bis zur amphoteren Reaktion neutralisiert. Man setzt den größten Teil des Ammoniaks (ca. 20 ccm) auf einmal zu und fährt dann in kleinen Portionen fort, bis etwas vom gelben Niederschlag nach dem Umrühren eben bestehen bleibt, was bei noch stark saurer Reaktion der Fall ist. Nun muß man die Reaktion durch Tüpfeln auf empfindliches Lackmuspapier kon- trollieren. Bei sehr geringem Phosphatgehalt der Lösung traten keine deutlichen Wolken des gelben Niederschlags auf, hier ist Vorsicht geboten. In diesem Falle muß man mit dem Tüpfeln beginnen, bevor noch irgend etwas vom Niederschlag zu sehen ist. Hat man den amphoteren Punkt er- reicht, so überträgt man das Ganze (das Volumen des Niederschlags braucht nicht berücksichtigt zu werden) in ein 200 ccm fassendes Meßkölbchen. 100,0 ccm des klaren Filtrats werden mit Salpetersäure angesäuert, mit 2 ccm Ferriammo- niumsulfatlösung (kalt gesättigt, mit HNO., ange- säuert) versetzt und mit '/, „ n-KSCN bis zur eben deutlichen Rosafärbung titriert. Zur Bestimmung der Phosphorsäure in reinen Alkaliphosphat- Lösungen kann natürlich die P'ällung mit Mag- nesiamischung unterbleiben; man versetzt die ab- gemessene Menge Phosphatlösung mit 12^/., ccm einer reinen Salpetersäure vom spez. Gew. 1,310 (zehnfach normal) und verdünnt mit Wasser auf ca. 50,0 ccm. Jetzt wird die Silberlösung zuge- fügt und wie oben angegeben verfahren. „Die Schwefelbestimmung im Urin". Von Emil Abderhalden und Casimir Funk. (Aus dem physiologischen Institute der tierärzt- lichen Hochschule, Berlin.) Zeitschr. f. physiolog. Chemie 58, 331. Verff. gebrauchten eine Methode, welche möglichst wenig Zeit erfordert und ganz exakte Werte liefert, zu diesem Zwecke übertrugen sie die von Hans Frings heim (Ber. d. d. ehem. Ges. XLI, S. 4267 [1908') zur quantitativen Halogenbestimmung mit Hilfe von Natriumsuper- oxyd ausgearbeitete Methode in etwas abge- änderter Form auf die Schwefelbestimmung im Harn: „Es werden 10 ccm Harn mit wenig Soda und 0,4 g reinem Milchzucker in einem Nickel- tiegel auf dem Wasserbade zur Trockne verdampft. Der Rückstand wird mit 6,4 g Natriumsuperoxyd gut gemischt. Nachdem der Tiegel in einer Porzellan- schale in kaltes Wasser eingetaucht worden ist — das Wasser soll den Tiegel bis zu drei Viertel seiner Höhe bedecken — , wird sein Inhalt mit einem durch das im Deckel des Tiegels befindliche Loch ein- geführten glühenden Eisennagel entzündet. Nach dem Erkalten wird der Tiegel umgestürzt, die Porzellanschale rasch mit einem Uhrglas bedeckt, und nunmehr der Inhalt der Schale und des Tiegels quantitativ in ein Becherglas übergeführt. Die weitere Verarbeitung ist die gewöhnliche. Die Flüssigkeit wird mit Salzsäure angesäuert und die Schwefelsäure mit Baryumchlorid gefällt." „Über Petroselinsäure, eine neue isomere Ölsäure". Von Arno Köhler, Dissertation Jena 1909. (Vgl. auch Vongerichten und Köhler, Ber. d. d. ehem. Ges. 42 [1909], 1638.) In dem Referate „Neues aus der Phar- mazie" in der Naturw. Wochenschr. N. F. VIII, Nr. 7, S. 107 besprachen wir eine Arbeit von H. Thoms, welcher im französischen Petersilienöl einen neuen Phenoläiher entdeckte. Das Peter- silienöl hat zwei weitere interessante Bearbeitungen erfahren. Das vom ätherischen Ol befreite fette Ol des Petersiliensamens unterzog auf Veran- lassung von E. Vongerichten-Jena A. Köhler einer Untersuchung. Das fette Öl war durch Chlorophyll stark grün gefärbt und besaß einen bitteren, kratzenden Geschmack. Es löste sich leicht in Alkohol-Äther, Äther, Chloroform und Schwefelkohlenstoff. Das spezifische Gewicht des Öls betrug bei 15" = 0,9720 Der Brechungsindex bei 40" = 1,4624 Die Verseifungszahl = 190,9 Die Jodzahl ' = 80,07. Zur Gewinnung des festen F"ettes wurde das Öl in Äther-Alkohol gelöst und durch Abkühlung zur Kristallisation gebracht und mehrmals um- kristallisiert. Das Fett wurde zuletzt in präch- tigen weißen Kristallen erhalten, welche den ein- heitlichen Schmelzpunkt 32" zeigten. Der Er- starrungspunkt war 16,5". Der Brechungsindex betrug bei 40" = 1,4619. Das Fett wurde verseift, die mit Äther gesättigte Seifen- lösung zur Abscheidung der Fettsäuren mit Schwefelsäure behandelt. Verf. erhielt eine Fett- säure von einheitlichem Charakter, welche bei 34'^ schmolz und bei 27" erstarrte. Die Säure war optisch inaktiv. Das spez. Gew. bei 40° war 0,8681, Brechungsindex bei 40" = 1,4533. Die analytische Zusammensetzung der Säure und die Analysenwerte ihrer Salze ließen auf ein Isomeres der Ölsäure schließen. Ebenso deutete das nach der Gefrierpunktsmethode ermittelte Molekular- gewicht auf eine Säure von der Formel CjsHgjO.j hin. Verf. gab der neuen Ölsäure den Namen 682 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 43 Petroselinsäure. Aus dem Dibromid erhielt er die zugehörige Acetylensäure durch Elimination des Broms. Die erhaltene Säure kristallisierte aus Alkohol in kleinen weißen Nadeln vom Schmelz- punkt 54", nach den Analysenwerten ein Isomeres der Stearolsäure. Die Konstitution der Petroselin- säure und der dazu gehörigen Stearolsäure er- brachte der Verf. nach Baruch (Ber. d.d. ehem. Ges. 27, 175): Die aus der neuen Ölsäure dar- gestellte Stearolsäure CH3.(CH.,),„ — C C — (CR,),.COOH wurde mit konz. H2SO4 in die Ketostearinsäure übergeführt. CH3 • (CH.,)j 0 — C — (CH.,)5 • COOK II O Durch Einwirkung von salzsaurem Hydroxylamin auf diese Ketosäure erhielt Köhler ein Gemisch der stereoisomeren Oxime. CH,.(CH.,),„ — C — (CH.,)5 .COOH CH, OH-N .(CH.,),,-C- (CH2)5-COOH N — OH Konz. H.,SOj bewirkte die Beckm ann 'sehe Um- lagerung in die Aminosäuren. CH3 • (CHo), „ ■ NH . CO • CH.,(CH.J, • COOH CH3 ■ (CH,,), (, • CO . NH . CH.^ • (CH., ), • COOH Diese wurden durch Erhitzen mit konz. Salzsäure gespalten. Von den Spaltprodukteri erhielt Verf. : CH.,(CH.,)i„NH.. Undecylamin COOHICH.J^COÖH Pimelinsäure CH3(CH,_,)j,C00H Laurinsäure. Hierdurch hat Köhler den Beweis erbracht, daß die Doppelbindung in der aufgefundenen Säure die 12, 13 Stellung einnimmt. CH3 . (CH, ), , . CH = CH . (CH.,), . COOH. Ferner stellte der Verf. fest, daß der feste Be- standteil des fetten Öles des Petersiliensamens der Triglycerinester der Petroselinsäure ist. Die Jod- zahl dieses P""ettes war 84,3, die Verseifungszahl nach Köttstorfer wurde zu 191,2 ermittelt. Der flüssige Teil des fetten Petersilienöles er- gab folgende Konstanten : Brechungsindex bei 40" - 1,4662 Verseifungszahl ^ 188,9 Jodzahl (von Hübl) = 82,6. Auf Grund seiner Untersuchungen bezeichnet Köhler den flüssigen Anteil des Petersilienöles als ein Gemisch der Glyceride der Petroselinsäure und einer der Rapinsäure ähnlichen Struktur- isomeren. H. Matt h es und W. Hei ntz- Jena: „Über die unverseifbaren Bestandteile des Petersilien Öls. Mittig. aus d. Inst. f. Pharm, und Nahrungsmittelchemie der Universität Jena. Ber. d. d. Pharm. Ges. 1909, S. 325. Das Unver- seifbare, ein gelbliches mit Kristallen durchsetztes Öl von aromatischem Geruch, wurde in Alkohol gelöst. Durch wiederholtes Ausfrierenlassen wurde eine fast weiße kristallinische Masse erhalten. In Lösung blieb ein flüssiger Anteil. Der kristalli- nische Anteil wurde mit wenig absolutem Alkohol erwärmt. Hierbei blieb ein Teil ungelöst, der nach mehrmaligem Umkristallisieren aus Äther bei 69" schmolz. Die Elementaranalyse ergab der Formel C.,„H|o entsprechende Werte, womit auch das Molekulargewicht übereinstimmte. Jod wurde nicht aufgenommen. Es lag also ein der Paraffinreihe angehöriger Kohlenwasserstoff von der Formel Co^H^.^ vor, dem Matthes und H e i n t z den Namen Petrosilan gaben. Kohlen- wasserstoffe der Formel CgiiH,,, finden sich in den unverseifbaren Anteilen der Fette häufiger, so isolierten Matthes und Sander aus Lorbeerfett das Lauran (Arch. d. Pharm., Bd. 246, 1908, S. 173. Vgl. auch das Referat „Neues aus der Pharmazie" in der Naturw. Wochenschr. N. F. VII, 1908, Nr. 27), Etard aus Bryonia dioica das Bryonan (Compt. rend. 1 14, 365) und P'riedrich Sciiwalb (Dissertat. Tübingen 1884) fand im Bienenwachs zwei Kohlenwasserstoffe von der gleichen Zusammensetzung, die sich durch ihren Schmelzpunkt unterschieden. Den in Alkohol löslichen festen Teil des Unverseifbaren des Peter- silienöls lösten Veiff. in Chloroform, beim Er- kalten schied sich ein weißer Körper aus, der seinen pliysikalischen Eigenschaften nach dem Melissylalkoiiol entsprach. Der in kaltem Chloro- form lösliche Teil ist ein Gemisch verschiedener Körper, er gibt die Sal kowski - Hesse 'sehe Phytosterinreaktion, kristallisiert aber in dem sitosterinähnlichen Blättchen. Aus der alkoholi- schen Lösung des Unverseifbaren konnte ein Aus- scheidungsprodukt durch Ausfrierenlassen nicht erhalten werden. Jodzahl nach v. Hübl nach 24 Stunden = 111,75, Brechungsindex bei 40" = 1,5154. Das Unverseifbare war nur aus dem festen Fette des fetten Petersilienöls gewonnen. Aus dem fetten Petersilienöl überhaupt erhielten Verff. ca. i4"/(, unverseifbare Bestandteile, ein- gehendere Untersuchungen werden fortgesetzt. Das von E. Rupp und R. Loose dargestellte Methylrot, welches als a 1 k a 1 i h o c h e m p f i n d - licher Indikator empfohlen wurde (vgl. das Referat „Neues aus der Pharmazie", Naturw. Wochenschr. N. F. VIII [1909], Nr. 7, S. 108 und Ber. d. d. ehem. Ges. 41, 3905), hat sich dem Referenten als ausgezeichneter Indikator bewährt. Das Präparat war dargestellt von E. Merck und wurde von G e h e & Co. in Dresden geliefert. Dr. Otto Rammstedt, Dresden. N. F. VIII. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 683 Kleinere Mitteilungen. Radiumgewinnung. —Das Ausgangsmaterial für die Darstellung des Radiumbromids war be- kanntlich bis vor kurzem ausschließlich die Pech- blende von Joachimstal in Böhmen. Der außer- ordentlich hohe Preis des merkwürdigsten aller Stoffe (I gRadiumbromid wird jetzt mit 340000 Mk. bezahlt) hat jedoch nunmehr auch an anderen Orten Versuche zur Ausbeutung radiumhaltiger Mineralien hervorgerufen. So hat sich kürzlich in Stockholm eine Gesellschaft gebildet, welche Radium aus Kolm, einem im Alaunschiefer von Västergötland vorkommenden Material, darstellen will. Durch Sj ögren, Hei sing und Anders- so n wurde das Vorhandensein von Radium im Kolm nachgewiesen und Helsing hat die Metho- den zur Darstellung von Uran und Radium aus ihm ausgearbeitet. Eine Tonne Kolm soll 4 mg Radiumbromid ergeben, so daß eine der erwor- benen Fundstellen, deren Ertrag auf 100 000 t Kolm angegeben wird, immerhin schon 4000 g Radiumbromid liefern könnte. Kbr. lieh der Elbe nahezu mit ihren normalen Werten überein, während sie in Nordwest- und Süddeutschland i bis i '/■, Grad zu niedrig waren. Ebenfalls nahm die Dauer der Sonnen- strahlung von Osten nach Westen hin ziemlich regelmäßig ab, war aber fast überall zu gering; z. B. hatte Berlin im ganzen 133 Stunden mit Sonnenschein zu verzeichnen, 13 Stunden weniger als im Mittel der früheren Septembermonate. Größer als bei den Temperaturen waren die Unterschiede, die zwischen der östlichen und westlichen Hälfte des Reiches in der Menge und Häuüglseit der Niederschläge bestanden. Während im Osten bis zum 12. September verhältnismäßig wenig Regen fiel, war im Westen der ganze Monat mit kurzen Unterbrechungen äußerst regnerisch. In den ersten Tagen fanden namentlich im Nordseegebiete bei heftigen westlichen Winden starke Regenfälle statt, die in Hamburg häufig von Wetter-Monatsübersicht. Der vergangene September hatte in Nordwest- und Sud- deutschland einen recht trüben Witterungscharaktcr, während im Osten etwas freundlicheres , wenn auch veränderliches Wetter herrschte. Die mittleren Temperaturen wiesen von einem Tage zum anderen nirgends sehr bedeutende Schwan- kungen auf, am höchsten waren sie im allgemeinen um den 5lGüllcrs JUmj?eralur«n einiger cVk im^sj^Icmbcrl! Bsriinw Wc^tc^bu^ccu. 20. und bald nach dem 20., am niedrigsten ganz am Anfang und Ende des Monats. Dagegen waren die Temperaturgegen- sätze zwischen Tag und Nacht, besonders in Ostdeutschland, oft sehr groß. An vielen Tagen wurden 25" C erreicht oder etwas überschritten ; am 9. stieg das Thermometer in Tre- messen in der Provinz Posen bis auf 30, am 11. in Bam- berg auf 28 und nocli am 26. September in Graudenz auf 27" C. .\uf diese sommerlich warmen Mittage aber folgten kalte Nächte, in denen sich die Luft an manchen Orten bis auf wenige Grade über Null abkühlte. Die Durchschnittstemperaturen des Monats stimmten öst- *VhiS.zrß^Sia^'^zn im jös^rcnitarlSOB. co:^3:ic(ns:S slsee und dann weiter westwärts vorzudringen , wo- bei die Winde in Deutschland, die am Anfang des Monats meist aus Westen, später aus Osten geweht hatten, ihre Rich- tung häutig wechselten und die Witterung überall einen sehr veränderlichen Charakter annahm. Dr. E. Leß. Bücherbesprechungen. Dr. J. P. Lotsy, Vorlesungen über Deszen- denztheorien mit besonderer Berück- sichtigung der botanischen Seite der Frage, gehalten an der Reichs-Universität zu Leiden. 2. Teil mit 13 Tafeln und loi Textfig. Gustav Fischer in Jena, 190S. — Preis 12 Mk. Wie schon im ersten Bande ist es vorwiegend Tatsachenmaterial zur Deszendenzfrage, und zwar vifesentlich der Botanik entnommen, das der Verfasser bringt und eine Besprechung all derjenigen prinzi- piellen Ansichten, die mit der Deszendenztheorie zu tun haben. Man sieht an dem Buch so recht — der erste und zweite Teil umfassen zusammen 799 Seiten — wie umfangreich der Gegenstand ist. Denn es fehlt noch mancherlei in dem Buch, was ebenfalls zum Prinzipiellen gehört, so u. a. die Frage nach der engeren Beziehung der Organisationsmerkmale zu den Anpassungsmerkmalen. In einem so umfang- reichen Werk wie dem vorliegenden sucht man nach einer Äußerung über diese Beziehung, wenn man weiß, daß bestimmte diesbezügliche Ansichten ge- äußert wurden. Nach dem Referenten sind nämlich die Organisationsmerkmale (die , .morphologischen Merkmale") bei den Vorfahren ebenfalls im wesent- lichen Anpassungsmerkmale gewesen. Lotsy analysiert Darwin's Anschauungen eingehend, und zwar ist diese Analyse eine wirklich kritische, wissenschaftliche. Diesen Zusatz würde Referent als eigentlich selbstverständlich hier nicht machen, wenn es nicht — namentlich durch eine bekannte deutsche Schule — Mode geworden wäre, oberflächlich und kritiklos auf dem Gesamtgebiet der Deszendenzlehre vorzugehen, wenn nicht die kritische, eingehende, wissenschaftliche Arbeit fast allem, was diese Schule liefert, verloren gegangen bzw. ungeübt geblieben wäre. Lotsy's Arbeit zeichnet sich daher vorteilhaft und angenehm aus. Nachdem eingehend die Darwin'sche Theorie im Lichte der neueren Forschungen dargestellt worden ist, geht Verf. auf eine Besprechung der von Wallace und späteren Forschern aufgestellten Deszendenz- theorien ein. Eingehend wird insbesondere auch die Anschauung Nägeli's zum Gegenstande besprochen, ebenso de Vries' „Mutationstheorie" und Kerner's Ansicht von der Artbildung durch Bastardierung. Auch der neuerdings wieder emporkommende La- marckismus findet natürlich Berücksichtigung. Ein besonderes Interesse gewinnt das Werk durch die Hervorkehrung der botanischen Seite der Frage, die gegenüber der zoologischen Seite, was den Um- fang der Literatur anbetrifft, noch immer zurücktrat. Das im folgenden besprochene Werk bietet nun eine eingehende Darstellung der pflanzlichen Stammes- geschichte. J. P. Lotsy, Vorträge über botanische Stammesgeschichte. Gehalten an der Reichs- Universität zu Leiden. Ein Lehrbuch der Pflanzen- systematik. 2. Band: Cormophyta Zoidogamia. Mit 553 Abbildungen. Jena, Gustav Fischer, 1909. — Preis 24 Mk. Lotsy gehört zu den Botanikern, die es versuchen, die Resultate ihrer Wissenschaft im gesamten Um- fange im Auge zu behalten, und so ist er wohl zu dem Versuch berufen, das Material zu einer Pflanzen- phylogenie zusammenzustellen. Seine Arbeitskraft ist erstaunlich. Der gegenwärtige Band umfaßt in Groß- oktav einschließlich des Registers nicht weniger als 902 Seiten. Der erste Band, der erst 1907 erschien, war 828 Seiten stark. Naturgemäß mußte sich Verf. in einem Werk, das sich ausdrücklich mit Phylogenie beschäftigt, eingehend mit den Resultaten der Paläo- botanik abfinden. Er hat das jedenfalls besser ge- macht, als manche andere Botaniker, denen ebenfalls bei dem Mangel eigener Forschung der volle Über- blick fehlt und die daher auf die Literatur allein angewiesen sind, deren volle kritische Beurteilung naturgemäß nur dem Spezialisten möglich ist. Im Einzelnen läßt sich ein so umfangreiches Werk wie das vorliegende nicht besprechen : dazu enthält es zuviel Material und es würden daher eine Anzahl großer Aufsätze notwendig sein, um einen Begriff von dem Inhalt zu geben oder gar um Kritik zu üben. Nimmermehr läßt sich das in einem bloßen Referat tun. Referent greift daher nur eine Kleinig- keit heraus. Die Darstellung Lotsy's , der sich , wie gesagt, redlich und erfreulich bemüht, den paläobota- nischen Forschungen gerecht zu werden, veranlaßt den Referenten zu einem paläobo t an isch en S t o ßse u f zer. Es gehört ein gewisser Mut dazu, ohne beruflich dazu verpflichtet zu sein, sich mit der paläobotani- schen Quellenliteratur wissenschaftlich zu beschäftigen ; denn Paläobotanik treiben gegenwärtig noch immer eine große Anzahl ungenügend geschulter Gelehrten, d. h. solche, denen die notwendige botanische ele- mentare Grundlage fehlt, und die auch nicht hin- reichend mit demjenigen Teil der Geologie vertraut sind (insbesondere mit dem Gebiet über die Genesis der Gesteine), der speziell für paläobotanische Unter- suchungen wichtig ist. Man kann ganz wohl sagen, daß mehr wie •' , der jährlich erscheinenden rund 200 Abhandlungen aus dem Gebiete der Paläobotanik besser ungedruckt geblieben wären. Bei einer solchen Literatur ist es begreiflich, wenn die Botaniker, die ihre Berufstätigkeit in der Erforschung der heutigen Pflanzenwelt finden , mißtrauisch geworden sind und schließlich auch die wirklichen, fördernden Resultate N. F. VIII. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 68 s nur gelegentlich nebenbei mitberücksichligt haben, und daß andererseits — da ein kritisches Urteil über das Wertvolle nur dem palüobotanischen Fachmann möglich ist — dort, wo eine Berücksichtigung erstrebt wird, nur gar zu oft das Unkritische, Wertlose, Be- rücksichtigung oder ganz Widerspruchvolles Aufnahme findet. Nun sollte man meinen, daß wenigstens der Paläobotaniker wertlose Literatur einfach ad acta legen könnte. Das ist aber schwer getan. Der Botaniker kann ganz gut von vornherein eine Auswahl in seiner Literatur treffen nach Zeitschriften und .Tutoren. Das kann der Paläobotaniker nicht. Er muß auf seinem Gebiet all und jedes zu verfolgen suchen: eine un- glaubliche Anzahl von Zeitschriften und die ober- flächlichsten Arbeiten zur Kenntnis nehmen, weil sie bei dem gegenwärtigen Zustande vielfach wirksam werden. Ich denke dabei an geologische und bota- nische Lehrbücher und Abhandlungen, die oft genug ganz wertlose Angaben verwerten. In der Paläozoo- logie ist eine volle Grundlage bereits geschaffen, auf der sich ordentlich weiterarbeiten läßt; die Paläo- botanik hingegen ist erst im Begriff, diese Grundlage zu gestalten. Aber vielfach will man zu schnell vor- wärts und rundet populär ab, wo die wissenschaftlichen Taten nicht ausreichen. In einem sonst guten Werk, das sich mit der Geologie Böhmens beschäftigt, wer- den z. B. Abbildungen fossiler Pflanzen gebracht, die gar nicht aus Böhmen stammen , und zwar nur des- halb, weil irgendein Autor das Vorkommen dieser Pflanzenreste aus Böhmen angibt und irgendein an- derer außerhalb Böhmens die benutzten Abbildungen mit dein Namen der betreffenden Pflanzen bezeichnet hat. Man male sich aus, was das für Konfusionen gibt ! Wäre die Paläobotanik besser mit der Botanik der rezenten Pflanzen verschmolzen, so würde die Methodik der letzteren auf die erstere fördernd wir- ken, und deshalb begrüßt es der Referent mit großer Freude, daß in dem vorliegenden AVerke Lotsy's ein besonders energischer Anfang seitens eines Botanikers gemacht wird, die Paläobotanik in einem botanischen Werk eingehend zu berücksichtigen, wozu er freilich bei seinem Thema verpflichtet war; wenn auch zu- nächst naturgemäß die richtige Verschmelzung noch fehlt, wird sie doch angebahnt. Eine harmoni- sche Eingliederung der Paläobotanik in die Gesamt- botanik ist in der Tat recht schwierig, denn die wenigen botanisch geschulten Paläobotaniker (z. B. Krasser, Nathorst, Raciborski, Graf zu Solms-Laubach, Wieland, Zeiller) gehen fast unter in der Fülle von Dilettanten, die sich um das Gebiet kümmern. Was kommt nicht alles sogar in der neuesten paläobota- nischen Literatur vor! Da verwechselt einer den Equisetales-Leitbündelverlauf, d. h. die parallel ver- laufenden Längsleitbündel mit Sporenstreifen eines Hutpilzes. Es ist richtig, die Schwierigkeiten der Deutungen sind nicht zu verkennen ; aber weil es schwierig ist, deshalb sollte man erst recht auf der Hut sein, und vor allem zunächst einmal das Kap it el von den Erhaltungszuständen beherrschen. Da die Paläobotaniker nur selten offizielle Stellungen einnehmen , es demnach nicht genügend Fachleute gibt, die sich dem Gegenstande ausschließlich widmen können, so fehlt etwas die gegenseitige Aufsicht, und die Folge ist, daß Fernerstehende dann leicht unbe- gründete Ansichten aufnehmen und verbreiten. Man sehe nur die Lehrbücher der Geologie durch und neuerdings die Behandlung der paläobotanischen Fakta und vermeintlichen Fakta durch Steinmann ! Im übrigen dauert es auf dem Gebiet der Paläobotanik unverhältnismäßig lange, ehe gute Fortschritte durch Aufnahme in die Lehrbücher der Geologie und Bo- tanik aktiv werden: Das Alte, längst Überwundene schleppt sich unglaublich lange fort. Bei den Arbeiten zur Systematik ist den Paläo- botanikern noch nicht in Fleisch und Blut überge- gangen, daß nur die monographische Bear- beitung zu einem annehmbaren Ziele führt. Ein- zelnes, Herausgegriffenes zu bearbeiten, geht freilich sehr viel schneller, fördert aber in den meisten Fällen nicht. Die ganze Bahn des Arbeitens, in der sich die Paläobotanik bewegt hat, verleitet auch sonst kritisch veranlagte Forscher hier das gebotene Maß von Theoretischem zu überschreiten, wobei ich aber gleich betonen möchte, wie mißlich es für den Fortschritt der Wissenschaft wirkt, wenn durch schlechte Logik theoretische Äußerungen mit falschen oder schlechten Beobachtungen verwechselt werden. Was ist z. B. nicht alles in letzter Zeit über die so- genannten Pteridospermen gesagt worden mit dem Anspruch, daß es sich um wohlbegründete Resultate handele, in der Annahme, daß nunmehr die Zwischen- formen zvvischen Filices und Cycadaceen gefunden seien? Hörich hat darüber ausführlicher in Band 1908 S. 8 II ff. der Naturw. Wochenschr. berichtet. Wie sind doch die Paläobotaniker übers Ziel ge- schossen mit ihrer Behauptung, daß alle die früher für Farn angesehenen paläozoischen Wedelreste, die bisher noch ohne Sori gefunden wurden, zu den Pteridospermen gehörten, und haben dadurch die Botaniker verwirrt, anstatt ihnen ehrlich zu sagen, daß wir an vielen farnähnlichen Wedelresten bisher noch keine oder keine sicheren, zweifellosen Fort- pflanzungsorgane gefunden haben, ihre Stellung daher vorläufig noch unsicher ist. Ein angeblicher Same, der an Neuropteris ansitzend gefunden wurde, kann ebenso ein gallenähnliches Objekt sein, da irgend- eine Sicherheit für die Samennatur desselben sich aus seinen Merkmalen ganz und gar nicht ergibt. Das Gros der Paläobotaniker vermeint, in den Pteri- dospermen die oben angedeuteten Zwischenformen zu haben, obwohl doch eine Samenpflanze eben eine Samenpflanze ist und kein Farn. Weder normale Verhältnisse noch Abnormitäten geben einen Wink, wie man sich den intimeren Übergang von den auf dem Erdboden prothallienbildenden Pflanzen zu den- jenigen, bei denen die Prothallien auf der Mutter- pflanze verbleiben, vorzustehen hat. Das einzige, was wir sagen und beobachten können, ist, daß die prothallienbildende Spore bei der auf die Farn fol- genden Gruppe nicht abfällt, und die Folge ist ohne weiteres eine „Samen"bildung. Der Sprung ist also auch jetzt nicht groß, und es wäre daher die Ein- schaltung einer neuen Pflanzengruppe zwischen Farn 686 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 43 einerseits und Cycadales andererseits unnötig, wenn wir nicht dadurch , daß es viele fossilen Reste gibt, von denen wir nicht wissen, ob sie zu den Farnen oder zu den C}'cadales gehören, genötigt wären, ein pro- visorisches Fach zu machen , wo wir vorsichtshalber solche Reste unterbringen. Diese provisorische Gruppe hatte ich s. Z. Cycadofilices genannt. Kurz und gut: es ist vielleicht gar kein Platz vorhanden für eine ordentliche Zwischengruppe („Pteridospermeae"). Denn sobald eine sonst im Habitus farnähnliche Pflanze, wie das ja auch die Cycadales sind, Samen trägt, dann ist es eben eine Cycadale. Es sind auch, wie gesagt , gar keine hinreichenden Tatsachen da, um bis jetzt eine Zwischengruppe zwischen Filicales und Cycadales zu rechtfertigen. Ein nomenklatorischer Gebrauch, der im Interesse eines leichteren Verständnisses und zumal um Irrtümer auszuschalten, eingeführt wurde, d. h. die Hinzufügung der Autoren am Schlüsse der systematischen Namen, hat insbesondere über die Paläobotanik ein schweres Leiden gebracht. Der kleinliche Ehrgeiz von Ge- lehrten, die zu fördernden Taten so gut wie unfähig sind, macht sie zu ,,l\Iihi-Jägern". Es wird ohne Kritik alles benannt und viel zu viel benannt: ein ungeheurer Ballast von wertlosen „wissen- schaftlichen" Namen ist entstanden, aus der eine radikale Rettimg immer dringender wird. Namen wie Pteridospermae, Pteridospermaphyta und nun erst Calamospermeae und Lepidospermeae sind nur ver- wirrend. Die letztgenannten Namen sind nur ge- schaffen worden, um auch ja die Priorität zu haben, falls die Brongniart'sche alte Annahme wieder auf- leben sollte, daß auch die Calamariaceen und Lepido- phyten oder gewisse dei selben Samenpflanzen seien, obwohl hier an allen Fortpflanzungsorganen , die wir als sicher zu ihnen gehörig erkannt haben, die Pteri- dophytennatur klipp und klar in die Erscheinung tritt. Unser System der Pflanzen ist nun einmal auf die Fortpflanzungsorgane gegründet; wenn wir daher - — das sei immer wieder betont — eine Samenpflanze finden, die sonst farnähnlich ist, so haben wir es mit einer Cycadale zu tun, und die Cycadales mag man nach Maßgabe ihrer größeren oder geringeren Ver- wandtschaft mit den Farnen weiter unterabteilen. Leider wird nicht immer klar genug auseinander- gehalten, was provisorische und was relativ definitive oder auf Grund der gegenwärtigen Wissenschaft ganz definitive systematische Bezeichnungen sind. So hätte es nach dem oben über die Cycadofilices Gesagten keinen Sinn, sie in ihrem Vorkommen und in syste- matischer Hinsicht mit sicher festgestellten Farnen und Cycadales zu vergleichen. Gibt es samentragende , aber sonst farnähnliche Pflanzen im Paläozoikum , so wäre das Resultat nur, daß es damals schon mehr Cycadales gegeben hat, als wir dachten, daß demnach manches, was wir aus Mangel an Fortpflanzungsorganen wegen der Eigen- artigkeit des Laubes als Farn angesehen haben, zu den Cycadales gehört ; aber viele Paläobotaniker ver- allgemeinern nun leider tadelnswert, indem sie ohne weiteres behaupten , die Farne hätten den Cycadales gegenüber, oder, wie sie jetzt meist sagen, den Pteri- dospermen gegenüber eine ganz untergeordnete Rolle gespielt. Deshalb sei hier nachdrücklich betont und daran erinnert, daß wir aus der Steinkohlen- formation eine LT n menge Wedelreste mit Sori, Sporangien und auch noch Sporen kennen, die so zweifellos wie nur etwas echte Farne sind. Sollte sich die Zweckmäßigkeit ergeben, die erstentstandenen Samenpflanzen lieber von den Cyca- dales ganz abzutrennen, so wäre — wenn man prak- tisch sein will, d. h. bereits gut Benanntes nicht noch einmal anders benennen will — ■ für diese Gruppe Cycadofilices anzuwenden, ebenso, wenn man mehr geneigt sein sollte, diese Gruppe als erste Familie oder Untergruppe der Cycadales zu bringen. Lotsy hat denn auch den Namen Cycadofilices angewendet, wenn auch die Tatsachen , die er wesentlich nach den englischen Autoren bringt , noch eingehender kritischer Berichtigung bedürfen. Das kritiklose , populäre Behaupten ist in der Paläobotanik auch dort noch stark im Schwange, wo mit dem Anspruch wissenschaftlicher Betätigung auf- getreten wird; das exakte, ruhige Forschen muß erst allgemein eingeführt und zur Gewohnheit werden. Die Selbstverständlichkeit, daß zur wissenschaftlichen Förderung einer Disziplin zunächst die Erwerbung der elementaren und gesicherten Kenntnisse notwen- dig ist, muß für alle eine Selbstverständlichkeit wer- den. Es ist für den Fernerstehenden schier unglaub- lich , mit welchen Tatsächelchen, um ein Nägeli'sches Wort zu gebrauchen , der Berufspaläobotaniker sich abzufinden hat, die in der Literatur eine breite Dar- stellung finden. Bei einer solchen Sachlage ist es — wie vorn schon einmal gesagt — wohl begreiflich, wenn sonst exakte Botaniker , wo sie einmal der Paläobotanik eine Berücksichtigung zuteil werden lassen, oft ganz LTnzuverlässiges oder weniger Zuverlässiges aufnehmen und das wirklich Gewonnene nicht bemerken. Lotsy geht entschieden zu leicht über die für eine phylo- genetische Betrachtung sehr wichtige Tatsache hinweg, daß bis jetzt irgendwelche sicheren Moosreste im Paläozoikum noch nicht gefunden worden sind, obwohl wir gerade aus dem Paläozoikum eine Unzahl ana- tomisch trefflich erhaltener Reste kennen, sowie in- kohlt erhaltene Reste, sogenannte Abdrücke usw., unter denen Farnreste außerordentlich häufig sind und einem auf Schritt und Tritt entgegentreten. Ich teilte das einmal brieflich einem tüchtigen und angesehenen Botaniker mit, der die Farne von den Moosen glaubte unbedingt ableiten zu müssen. Die Antwort war äußerst charakteristisch : Die angegebenen Tatsachen seien ganz gleichgültig , es sei doch so , wie er an- nehme. Es fehlte ihm die Einsicht in das Tatsachen- material und somit die Möglichkeit ihrer hinreichen- den Beweitung. Es sind überhaupt die guten paläo- botanischen Tatsachen noch bei weitem nicht hin- reichend phylogenetisch ausgenutzt. Daß sich Falsches, auch Altes lange fortschleppt, dafür bieten u. a. die verkehrten Rekonstruktionen von Calamariaceen, Sigillariaceen und Lepidodendraceen Beispiele, und neuerdings ist eine Rekonstruktion eines Farns (Sphenopteris Hoeninghausi), die ein sonst hervor- N. F. \an. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 687 ragender Paläobotaniker (Scott) in ungenügender Kenntnis des Gesamtaufbaues der Pflanze versucht hat, immer wieder reproduziert worden, obwohl sich Längst eine den von dieser Pflanze bekannten Resten angepaßte Rekonstruktion geboten hatte, wonach aber die Pflanze kein baumfarnähnliches, sondern ein kletterndes Gewächs gewesen sein muß. Leider hat Lotsy S. 713, Fig. 504 die verfehlte Scott'sche Re- konstruktion der Pflanze ebenfalls wiedergebracht, obwohl er wenige Seiten vorher (S. 708, Fig. 499) nach einer Figur des Referenten die Abbildung eines fossilen Wedelrestes der Sphenopteris vom Typus Hoeninghausi bringt, die zeigt, daß auch die Wedel an der Rekonstruktion falsch wiedergegeben sind. Genügend erhaltene Reste zeigen, daß die Wedel von S. Hoen. stets einmal gegabeU waren, also nicht wie Scott in der Rekonstruktion angibt, nur gefiedert waren. Die in Rede stehende Pflanze ist in der Steinkohlenformation Deutschlands häufig und denn auch von hier bekannt gemacht worden. Diese Pflanze hat daher als Grundlage zu dienen, wenn man sich klarmachen will, was Sphenopteris Hoeninghausi eigentlich ist, und da ist denn auch darauf hinzuweisen, daß es Sphenopteris Hoeninghausi-E.xem- plare gibt mit Fiedern letzter Ordnung, deren buckelige Beschaftenheit auf das Vorhandensein von Sori hin- weist. Die typische Sphenopteris Hoeninghausi dürfte daher keinesfalls eine Samenpflanze sein. Wenn nun Lotsy zunächst für die Gebundenheit der Tatsachen über die jetzt für die geschlechtlichen Fortpflanzungsorgane der Cycadofilices angesehenen Organe plädiert, und Hörich's Referat, das ich selbst beeinflußt habe, überkritisch nennt, so freut es mich doch, daß er schließlich doch hinzufügt (S. 722), „daß absolute Sicherheit über keine einzige Cycado- filicinee besteht". Hier bricht der botanisch exakte Forscher ganz durch. In der Tat. Wer das gesamte Material über die am vollständigsten bekannte Cycadofilicinee übersieht, dem müssen kritische Bedenken kommen und bei der Wichtigkeit der Sache den Wunsch rege machen, gerade diesen Fall in seinem ganzen Umfange recht exakt kennen zu lernen. Es betrifft dies eben die Gattung Lyginodendron, wie die Engländer in Nicht- berücksichtigung der nomenklatorischen Gesetze sagen, genauer Lyginopteris. Ich benutze diese Gelegenheit dazu , auch meinerseits hier einen phylogenetischen Wink zu wiederholen , den ich schon in meiner Schrift „Ein Blick in die Geschichte der botanischen Morphologie und die Pericaulom-Theorie" (Jena 1903) gegeben habe , daß nämlich von Kletterfarnen , wie Lyginopteris, zunächst durch Zusammenaufwachsen von Stengeln die MeduUosen mit ihren Plattenringen usw. des Rotliegenden abstammen möchten und von diesen wieder unsere heutigen Cycadaceen. Denken wir uns mehrere Achsen von Kletterfarn des Lygi- nopteris • Baues zusammen aufwachsend miteinander verwachsen, so haben wir in der Tat die anatomische Skulptur einer Medullosa. Die anatomische Beziehung dieser zu den Cycadaceen ist leicht zu erkennen, so- wohl Blütenachsen von Cycadaceen haben, wie gesagt, durchaus meduUose Merkmale und die Keimlinge unserer Cycadaceen besitzen „Plattenringe", die für MeduUosen charakteristisch sind. P. Literatur. Bardeleben, Prof. Ur. Karl v. : Statik und Mechanik des menschlichen Korpers (der Körper in Ruhe u. Bewegung). Der Anatomie des Menschen V. Teil. Mit 26 Abbildungen im Text. (IV, loi S.) Leipzig '09, B. G. Teubner. — I Wk., geb. in Leinw. 1,25 Mk. Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig im 15. Jahrh. Zur Feier des 500 jähr. Jubiläums der Universität gewidmet von der Universitäts-Bibliothek. (93 S. m. I Taf.) Lex. 8". Leipzig 'og, O. Harrassowitz. — 4 Mk. Bernoulli, Priv.-Doz. Dr. Eduard; Hector Berlioz als Ästhe- tiker der Klangfarben. Antritts- Vorlesung. (28 S.) S". Zürich '09, Hug & Co. — 80 Pf. Busse, f Prof. Dr. Ludw. : Die Weltanschauungen der grol3en Philosophen der Neuzeit. 4. Auil., hrsg. v. Prof. Dr. R. Falckenberg. (Vlll, 156 S.) Leipzig '09, B. G. Teubner. — I Mk., geb. in Leinw. 1,25 Mk. Landolt, H. : Über die Erhaltung der Masse bei chemischen Umsetzungen, gr. 8". Halle '09, W. Knapp. — I,8o Mk. Paulsen, Prof. Frdr. : Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung. 2. Aufl. II.— 16. Taus. Mit einem Geleitwort von \V. Münch. (IV, 192 S. m. Bildnis.) Leipzig '09, B. G. Teubner. — i Mk., geb. in Leinw. 1,2!; Mk. Schuitze, Prof. Dr. Leonh.: Zoologische u. anthropologische Ergebnisse e. Forschungsreise im westlichen und zentralen Südafrika, ausgeführt in den Jahren 1903 — 1905 m. Unter- stützg. der kgl. preuß. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 111. Bd. : Anatomische Untersuchgn. am Menschen u. höheren Tieren. I. Lfg. Mit 24 Taf. (372 S.) Jena '09, G. Fischer. — 40 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn W. D. in Berlin. — Die Feststellung der Erreichung des Nordpols ist deshalb sehr leicht, weil an diesem Punkte der Himmelspol im Zenit liegt und der .\quator mit dem Horizont zusammenfällt. Demnach muß die Sonne, abgesehen von ihrer sehr langsamen Deklinationsänderung, täglich in gleichbleibender Höhe den Himmel umlaufen. Sobald man also zu drei etwa um einige Stunden auscinanderliegenden Zeiten die Sonnenhöhe nur im Betrage der Deklinations- änderung zu- bzw. abnehmend mißt, befindet man sich am Pol; natürlich ist jedoch die Genauigkeit der Polbestim- mung von der Größe des Meßinstruments abhängig und wird daher bei Cook oder Peary der Fehler leicht l' = ca. 2 km betragen haben. Absolut fest liegt der Pol übrigens überhaupt nicht, sondern er verschiebt sich periodisch um Strecken v : I. Fig. S. Karlsbader F.rbsenstein. Verkl. 2 Fig. 9. Karlsbader F.rbsenstein. Vcrgr. 1 : 16. N. F. VIII. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 693 Eines bleibt uns noch kurz zu erörtern, ehe wir zur Klassifikation der Kalksteine selbst über- gehen. Die Herkunft des kohlensauren Natrons und kohlensauren Ammoniaks zur anorganogenen Bildung der Kalke auf dem Wege der doppelten Umsetzung? Einerseits wissen wir, daß viele Flüsse erhebliche Mengen von kohlensaurem Natron und Kali dem Meere zuführen und so zur Bildung von Kalkniederschlägen im Meere bei- tragen können. Andererseits ist die Tatsache zu Hindernisse in den Weg gelegt sind, oder endlich in Binnenmeeren tropischer und subtropischer Klimate, überall dort, wo die Verwesung infolge der Wärme schnell von statten geht, können auch in großem Maßstabe Umsetzungen dieser Karbonate des Ammoniaks und des Natrons mit den Kalk- salzen des Meerwassers stattfinden und so sich anorganogene Kalksedimente bilden. Nach dem bisher Ausgeführten erhält man nun folgende Klassifikation der Kalksteine. Flg. 10. "^ Rogenstein aus dem Huntsandstein. Vcrgr. I : 16. Fig. 12. Nuniuliteiikalk. Vergr. 1 : 16. Fig. 13. Muschelkalk mit ausgelaugten Sclialen und Stein- kernen. Jena. Verkl. 2:1. Fig. II. Terebratulakalk. Jena. Verkl. 8:5. beachten, daß in tropischen Meeren die Leichen der zu Millionen in jedem Augenblick absterben- den Tiere und Pflanzen in ihrem Eiweiß kohlen- saures Natron enthalten und bei der Verwesung große Mengen von kohlensaurem Ammoniak liefern. In Meeresbuchten mit geringer Wasser- zirkulation oder in absterbenden Riffen riff bauen- der Tiere und Pflanzen (Korallen, Bryozoen, Algen), wo der Zirkulation des Wassers ebenfalls große Anorganogene Kalksteine a) aus Calciumbikarbonat gebildet (Süß- wasserkalke). «) In der Kälte: Kalktuff, Kalksinter (Kalkspat). ß) Bei erhöhter Temperatur: Sprudel- stein, Aragonitsinter, Erbsenstein (Ara- gonit). b) durch doppelte Umsetzung (marine Kalke) c() In salzarmen Lösungen gebildet (Brack- wasser): lithographische Schiefer von Solnhofen und ähnliches (Kalkspat). 694 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 44 ß) In salzreicher Lösung gebildet (Meeres- buchten, Binnenmeere): Rogensteine, Oolithe und ähnliches (Vater's Modi- fikation mitMagnesiagehalt ?, Aragonit ?). 2. Organogene Kalksteine et) tierischen Ursprungs (zoogene): Hierher gehören sehr viele Kalksteine, wie z. B. die Korallenkalke aller Formationen ; der Foraminiferenkalk des Karbons, des Tertiärs, der Jetztzeit; der Terebratula- kalk des Muschelkalks; die weiße Schreib- kreide; der Litorinellenkalk des Tertiärs und noch viele, viele andere (teils Ara- gonit, teils Kalkspat). ß) pflanzlichen Ursprungs (phytogene): Hier- her sind die nicht allzureichlich verbrei- teten Algenkalke zu rechnen (Kalkspat!). Von diesen verschiedenen Kalksteinen nehmen die organogenen den weitaus breiteren Raum ein und sie sind zum allergrößten Teile zoogener Natur. Neben ihnen spielen noch die durch doppelte Umsetzung entstandenen marinen Kalke eine größere Rolle; die übrigen Vorkommnisse hingegen sind mehr lokaler Natur und von unter- geordneter Bedeutung. Alle Kalksteine, welche nicht von Anfang an als Kalkspat entstanden sind, erfahren nach kurzer Zeit entweder eine spontane Umlagerung in dieses Mineral oder aber unter dem Einflüsse von Lösungsmitteln eine Umkristallisation. Die von Anbeginn als Kalkspat gebildeten oder die schnell aus der Vater'schen Modifikation in Kalkspat um- gelagerten Massen sind fein- und gleichmäßig- körnig mit gut erhaltenen Versteinerungen (litho- graph. Schiefer). Die Gesteine, deren Kalk Ara- gonit war, und welche bei Lösungsvorgängen umkristallisiert sind, werden ungleichmäßig körnig, zeigen vielfach Auslaugungserscheinungen (Stein- kerne der F"ossilien) und enthalten meist schlecht erhaltene Versteinerungen. So kommt es, daß man keinen fossilen Kalkstein findet, der aus Vater's Modifikation oder auch aus Aragonit be- stände. Wohl aber kennt man fossile Gesteine (Oolithe, Rogensteine), welche jene konzentrisch- schaligen und radial - faserigen Kügelchen ent- halten , oder die gleichen Sinterbildungen zeigen, wie sie im Karlsbader Sprudel oder im roten Meere, oder an der Küste von Florida als Ara- gonit heute noch gebildet werden. Aber sie be- stehen alle aus Kalkspat. Wir dürfen und müssen daher annehmen, daß auch sie einstens entweder als Vater's Modifikation oder als Aragonit entstan- den sind und nachträglich in Kalkspat — man weiß noch nicht recht warum — teils unter Er- haltung, teils unter Zerstörung ihrer feineren Struktur umgewandelt wurden. Vielleicht wird bei der Umwandlung des Aragonits bei Gegen- wart von Lösungsmitteln die Struktur zerstört, bei Umlagerung der Vater'schen Modifikation erhalten. Aber auch ein Gehalt von kohlensaurer Bittererde kann von Bedeutung sein, denn sie macht ja die Vater'sche Modifikation beständiger. Es seien am Schlüsse dieser Betrachtungen noch einige Zeilen einer anderen, bisher gar nicht erwähnten Art von Kalkstein — dem Marmor gewidmet. Er stellt ein sog. metamorphisches Gestein dar, das unter dem Einfluß von Druck und Wärme bei gebirgsbildenden oder vulkani- schen Prozessen aus jeder Art von Kalkstein ent- stehen kann. Organische Bestandteile oder Organismenreste (Fossilien) sind im Marmor völlig zerstört, das Korn ist sehr gleichmäßig, mehr oder minder grob geworden, es haben sich bei Gegen- wart von Ton oder Kieselsäure wieder Silikate gebildet. Die Entstehung des ursprünglichen Kalksedimentes ist unmittelbar nicht mehr nach- zuweisen. Wie man sieht, hat die neuere Forschung viel Klarheit gebracht über das Problem der Ent- stehung der Kalksteine, aber ich habe geglaubt auch das nicht verschweigen zu dürfen, was man heute darüber noch nicht weiß. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Meteorologie. — Die großen Erfolge, die in der letzten Zeit von lenkbaren Luftschiffen und Fkigmaschinen erreicht worden sind, haben naturgemäß das Interesse der allge- meinen Öffentlichkeit erregt. Noch vor wenigen Jahrzehnten hielt man es für völlig ausge- schlossen , daß es dem Menschen jemals ge- lingen würde, das Luftmeer nach Belieben zu durchkreuzen. Allerdings nur widerwillig beugt sich die Natur ihrem Bezwinger, und immer wieder versuchen es die Naturgewalten, sei es Sturm, Hagel oder Blitz, das Menschenwerk zu zerstören, und niemals wird es gelingen, die völlig ent- fesselten zu überwinden. Wie seit vielen Jahren bereits die Meteorologie im Dienst der Seefahrt tätig ist und durch rechtzeitige Sturmwarnungen zahlreiche Unglücksfälle verhindert hat, so wird sie, im besonderen die Aerologie, für die Luft- schiffahrt in noch höherem Maße notwendig sein. Es ist interessant, daß in der letzten Zeit gewisser- maßen eine Änderung in den Beziehungen zwischen Meteorologie und Luftschiffahrt eingetreten ist. Wie Geheimrat Aßmann in den ,, Beiträgen zur Physik der freien Atmosphäre" ausführt, ist aus der Luftschiffahrt im Dienste der Aerologie in der neuesten Zeit die Aerologie im Dienste der Luft- schiffahrt geworden. Ursprünglich war der Luft- ballon nur Mittel zum Zwecke der Forschung. Er führte die Meteorologen in die höheren Schichten der Atmosphäre und ermöglichte es N. F. Vm. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 695 Männern wie Gay Lussac, Biot, Tissandier, James Glaisher, Berson und Süring, welche beide ge- meinsam die gewaltige Höhe von 10 800 m er- reichten , wichtige Entdeckungen zu machen. Durch die Anwendung der nur mit Registrier- apparaten versehenen Ballons-sondes von Hermite und Besangen, die später von Teisserenc de Bort, Hergesell und Aßmann bedeutend verbessert wurden, wurde es ermöglicht, Höhen bis zu 30 km zu erreichen und auch über dem Meere die höheren Luftschichten zu erforschen. Die Drachen- versuche von Rotch bewiesen, daß auch Instru- mente, die „schwerer als die Luft" sind, der Physik der freien Atmosphäre nutzbar gemacht werden können. An mehreren Orten wurden schließlich dauernde aerologische Observatorien begründet, an denen systematisch durch Fahrten mit bemannten Ballons, unbemannten Registrier- ballons und durch Drachenaufstiege die Erfor- schung der höheren Atmosphärenschichten aus- geübt wurde. So entstanden das Observatoire de la meteorologie dynamique zu Trappes, das Kgl. Preuß. Aeronautische Observatorium zu Lindenberg, die Observatorien zu Pawlowsk, Kutschino, Man- chester, auf dem Mount Weather, auf Samoa, die Drachenstation am Bodensee, sowie die der Deutschen Seewarte bei Hamburg und schließlich die neu geschaft'ene aerologische Station auf Teneriffa. Ebenfalls auf dem Meere wurden dauernde schwimmende Stationen geschaffen, welche wie die „Princesse Alice" des Fürsten Albert v. Monaco, wichtige Beiträge zur Kenntnis der höheren Atmosphärenschichten über dem Ozean lieferten. Auch durch Expeditionen, auf denen meteorologische Beobachtungen der höheren Atmosphärenschichten angestellt wurden, wie z. B. von Prof. Berson in Zentralafrika, wurde unsere Kenntnis der höheren Schichten der Atmosphäre erweitert. Interessante Zusammenstellungen der Jahres- mittel von Luftdruck, Temperatur, absoluter Feuchtigkeit und Windgeschwindigkeit für ver- schiedene Niveaus gibt Prof. Schubert ') in seiner Arbeit „Der Zustand und die Strömungen der Atmosphäre" auf Grund Berliner Luftfahrten und Potsdamer Wolkenbeobachtungen. Die Ergeb- nisse seien in nebenstehender Tabelle dargestellt : Die niedrigste bisher beobachtete Temperatur fand Rotch bei einem von St. Louis aus ver- anstalteten Aufstiege in 14800 m Höhe, sie betrug — 85,6'\ Allgemein kann man in der Atmo- sphäre mehrere oft auftretende Schichten wahr- nehmen. Berson'-') unterscheidet vier derartige Schichten: I. Eine „untere Störungsschicht" bis 1000 m, in welcher sich die störende, zur Inversion, d. h. Temperaturumkehr führende Wirkung des Erd- bodens deutlich bemerkbar macht; 2. die Hauptzone der Kondensation von 1200 bis 4000 m; 3. die eigentliche Störungsschicht, meist durch Zusammenwirken der vorigen Schicht mit einem darüber fließenden, trockenen und wärmeren Luft- strom entstanden, mit geringem Temperaturgefälle und häufiger Temperaturumkehr. Sie kommt in allen Höhen zwischen 1 500 und 4000 m vor und erscheint mit der zweiten Schicht häufig in mehr- maliger Wiederholung übereinander. 4. Diesen Schichten folgt eine Zone vertikaler Luftbewegung von 4000 m aufwärts mit schneller Temperaturabnahme. Über diesen Schichten fand Teisserenc de Bort'^) und auch Aßmann '^) eine fünfte Zone, in der das Gefälle rasch abnimmt, die Temperatur sogar zu steigen beginnt. Teisse- renc de Bort ermittelte aus 141 Aufstiegen folgende Temperaturen : loooom — 50,1", iiooom — 54,0", 12000 m — 55,2", 13000 m — 54,4" und 14000 m — 54, i". Nach de Quervain'') und Hergesell*) unterbricht diese warme Schicht nicht Höhe m Luftdruck Tempe- ratur Absolute Feuchtigkeit Windge- schwindigkeit m. p. s. 20 760 8,6 6,92 5,2 500 717 6,8 5,65 6,6 1000 674 4,7 4,61 8,0 1500 634 2.5 3,74 9,2 2000 596 0,0 3.03 •o,3 2500 560 —2,4 2,44 11,4 3000 525 — 5,1 1,97 12,5 4000 462 -10,7 1,26 14,5 5000 405 — 16,8 0,79 16,4 6000 355 -23-2 0,46 18,4 7000 308 — 30,0 0,24 20,2 Sooo 266 -37,0 0,10 22,1 9000 230 —44,2 0,02 24,0 lOOOO 198 -51,6 0 25.8 nur den stetigen Verlauf von Temperatur und Feuchtigkeit, sondern zeigt auch eine völlig an- dere Luftströmung von mäßiger Geschwindigkeit. Nach den Forschungen von Bord der Yacht des P'ürsten von Monaco aus auf dem Atlantischen Ozean sind über demselben drei Schichten nach- gewiesen worden. Es ist eine untere mit adiaba- tischen Temperaturgradienten und großem Feuch- tigkeitsgehalt, eine mittlere, trockene, in welcher die Temperaturabnahme o wird, oder in eine Zunahme übergeht, und eine dritte wiederum mit starken Temperaturgradienten, welche sehr trocken ist und sich durch ihre Feuchtigkeitsverhältnisse als absteigender Luftstrom kennzeichnet. Über dem Polarmeer wurde eine sehr langsame Tem- ') Beiträge zur Physik der freien Atmosphäre, Bd. i, H. 4. ') Wissenschaftliciie Luftfahrten 3, S. 66. ') Annu. Soc. Met. de France 50, S. 4g — 52. ^) Berlin Sitzungsber. 1902, S. 495 — 504. ') Beiträge zur Physik der freien Atmosphäre, Bd. I, H. i. *) Ebenda, H. 3. 696 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 44 peraturabnahme mit der Höhe festgestellt. Die Milteltemperaturen der über dem Polarmeere lagernden Liiftmassen sind verhältnismäßig hoch, woraus ersichtlich ist, wie mächtig die dauernd scheinende Polarsonne auf die Temperatur der durchstrahlten Atmosphäre wirkt. Über die Ergebnisse der aerologischen Beob- achtungen der Danmark-Expedition unter Leitung von Mylius Erichsen, der bei derselben seinen Tod fand, sowie der afrikanischen Expedition von Berson und Elias kann vorläufig noch nicht be- richtet werden, da dieselben noch nicht veröffent- licht sind, jedoch dürften sie ebenfalls interessante Beiträge über den Zustand des Luftmeeres in den Polargegenden sowie der Tropen liefern. Zwar ist durch alle diese Forschungen viel erreicht und unsere Kenntnis der Vorgänge in den hohen Atmosphärenschichten bedeutend er- weitert worden, jedoch sind noch viele Fragen zu lösen. Um völlig in die Geheimnisse unserer Atmosphäre eindringen zu können, müßte man, wie Geheimrat Aßmann in dem eingangs er- wähnten Artikel ausführt, in der Lage sein, synoptische Wetterkarten, wie sie täglich von der Erdoberfläche entworfen werden, für verschiedene Niveaus, looo, 2000, 3000 m und höher zu zeichnen. Zu diesem Zwecke müßte natürlich die geringe Anzahl aerologischer Stationen bedeutend vermehrt werden. Derartige synoptische Wetterkarten wären nicht allein für die tägliche Witterungs- prognose von der größten Bedeutung, sie wären auch von großer Nützlichkeit für die Benachrich- tigung der Luftschiffer von herannahenden Böen und Gewittern, und es dürfte schließlich erreicht werden, in der Luft befindliche Fahrzeuge mit Hilfe der drahtlosen Telegraphie vor drohenden Gefahren zu warnen. Dr. G. Wussow. Fortschritte in der praktischen Meteoro- logie. — Die praktische Meteorologie umfaßt eigentlich zwei Wissenszweige, von denen der eine der Erforschung und Vorausbestimmung der Witterung im engeren Sinne sich widmet, der andere direkt in die Witterungsverhältnisse be- stimmend einzugreifen sucht. Letzterer, dem schwerlich Wissenschaftlichkeit zukommt, umfaßt die Experimente, die durch künstliche Mittel in dem Verlauf einer Witterungserscheinung be- stimmte Änderungen zu bewirken suchen. Dahin gehört das Hagelschießen. Man hat neuerdings das Aussichtslose dieser Bestrebungen den Hagel zu verhüten, fast allgemein eingesehen, besonders nachdem die offiziellen Versuche in Osterreich und Italien keine positiven Resultate ergeben haben. Hierlier gehören außerdem die Versuche, durch künstliche Eingriffe Regen hervorzurufen, was noch in letzter Zeit in von Dürren heimge- suchten Gegenden Neuseelands und Amerikas ver- sucht wurde. Einen sichtbaren Erfolg beobachtete man dabei jedoch nie. Nach den offenbaren Mißerfolgen ist dieser Zweig der praktischen Meteorologie stark im Rückgang begriffen, von einem Fortschritt kann hier nicht gesprochen werden. Dagegen hat der andere Zweig, die Wetter- prognostik, einen merklichen Aufschwung ge- nommen, wenn er auch zum größten Teil ein äußerer und organisatorischer ist. Seit der Er- lichtung zahlreicher Wetterdienststellen im Reiche hat die praktische Meteorologie allgemeinere An- erkennung gefunden. Dies muß man zugeben, ohne doch den Optimismus einer Anzahl Meteoro- logen zu teilen. Bei der wachsenden Beachtung des Wetterdienstes durch die Öffentlichkeit ist aber auch die Kritik eine allgemeinere geworden. Dazu kommt, daß durch die Organisation des Wetterdienstes als öffentliche staatliche Einrich- tung die Anforderungen, die man an sie stellt, gegen früher sehr erhöht sind. Man hat nun wiederholt die Frage aufgeworfen, ob die Prog- nostik dem gerecht wird. Die Antwort ist ver- schieden ausgefallen. Richtig ist, daß die ausübende Witterungs- kunde als Wissenschaftsmethode nur langsam fort- schreitet. Ihre Leistungsfähigkeit ist in den letzten 30 Jahren nur wenig größer geworden. Die Methode ist noch die synoptische, ohne daß diese selbst erheblich vervollkommnet worden ist. Die alten empirischen Sätze über die Zugstraßen der barometrischen Minima oder allgemein die in der Luftdruckverteilung stattfindenden Veränderungen, haben keine wertvolle Bereicherung erfahren. Die Praxis ist an einer durch den Stand der Wissen- schaft bedingten Leistungsgrenze angelangt. Erst in allerneuester Zeit scheint sich in der praktischen Meteorologie eine Umwälzung vorzu- bereiten. Sie ist einmal eine Folge der aufblühen- den Erforschung der Meteorologie der freien Atmosphäre, und in zweiter Linie einer Ände- rung der prognostischen Methode. Man hat in diesem Sommer zum ersten Male einigen Wetter- dienststellen die Resultate der aerologischen Stationen für die Prognose zur Verfügung gestellt, also die tägliclien Beobachtungen aus der freien Atmosphäre, die durch Registierdrachen, Fessel- ballons und Pilote gewonnen werden. Von dem Urteil der Wetterdienststellen wird es abhängen, ob sie künftig dauernd derartige Beobachtungen erhalten. Der damit betretene Weg ist schwer- lich der richtige. Man kann nicht erwarten, daß der Prognostiker sich im Laufe weniger Monate in die überaus schwierige Materie der Interpretie- rung der Wetterkarte auf der Grundlage der Verhältnisse in der freien Atmosphäre einarbeitet. Ein abgeschlossenes Urteil ist geradezu unmöglich. Zuerst müssen hier dauernde Erfahrung und größere, vorbereitende Arbeiten die Wege ebnen. Es muß erst untersucht werden, welche Be- ziehungen zwischen den verschiedenen Wetter- lagen und den Zuständen in den unteren und oberen Luftschichten bestehen. Daß sich hier bestimmte Gesetze und Typen herausschälen lassen, erscheint schon jetzt als sicher. Dann erst N. F. Vm. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 697 wird die praktische Meteorologie sich dieser Resultate mit Erfolg bedienen. Ein weiterer Fortschritt der praktischen Meteorologie ist in ihrer Theorie zu beobachten. Die Methode der Wettervoraussage beruhte seit- her in der Veränderung des Wetterkartenbildes und ging von einer gewissen Konstanz desselben aus. Hier tritt insofern ein Umschwung ein, als man dem Studium der Änderungstendenz, die in jeder Wetterlage ruht, größere Aufmerksamkeit schenkt. Diese Änderungtendenz enthüllt sich durch die Interpolation zwischen zwei aufeinander- folgenden Wetterlagen, und sie führt besonders bei ihrer Anwendung auf die Luftdruckverteilung zu wertvollen Resultaten. Wenn man die Differenzen der Barometerstände der Stationen des Beobach- tungsnetzes zweier aufeinanderfolgender Wetter- karten bildet und unter Berücksichtigung des Vorzeichens die Orte gleicher Änderung mitein- ander verbindet, so erhält man ähnliche Linien- systeme, wie sie die Isobaren bilden. Diese Linien gleicher Druckänderung umschließen Ge- biete, über denen der Luftdruck sinkt, und solche, über denen er steigt. Diese Gebiete gleichsinniger Barometertendenz führen wie die barometrischen Maxima und Minima bestimmte Verlagerungen aus und bewegen sich wie diese im allgemeinen von Westen nach Osten. Sie sind für die Wetter- prognose von großer Bedeutung, da sie sich mit großer Konstanz bewegen und erheblich früher als die isobarischen Gebilde, von denen sie be- gleitet werden, zu erkennen sind. Die dauernde Verfolgung dieser Erscheinung führt zu der Auf- fassung einer atmosphärischen Wellenbewegung, wobei die Amplitude und Bewegungsrichtung der Wellen fortgesetzten aber meist allmählichen Änderungen unterworfen sind. Sie bilden den eigentlichen umgestaltenden und verändernden Faktor, indem sie die durch die allgemeine Zirkulation der Atmosphäre bedingte Luftdruck- verteilung in bestimmter Weise modifizieren. Welches die letzten Ursachen dieser Barometer- wellen, die ja aus komplizierten Vorgängen der Schwerewirkung resultieren, sind, entzieht sich noch der Kenntnis, doch scheinen die I^uftdruck- wellen in Beziehung zu stehen mit Temperatur- wellen die sich zwischen den unteren Störungs- schichten der Atmosphäre und der oberen Inver- sion, also in dem Niveau zwischen 5000 m und 12000 m bewegen. Einen weiteren Aufschwung nimmt die prak- tische Meteorologie im Anschluß an das auf- blühende Luftschiffahrtswesen. Die Erfahrung hat sehr deutlich gezeigt, daß jedes Luftfahrzeug (Frei- ballon, Lenkballon und Flugmaschine) im höchsten Grade von der Witterung abhängig ist. Man hat auf diesem Standpunkt nicht von Anfang an, wenigstens was die Motorluftschiffe anbetrifft, ge- standen, und übersehen, daß die häufigen großen Windstärken und die Veränderlichkeit der Witte- rung in unseren Breiten ein großes Hindernis für die Aeronautik bilden, zumal die Eigengeschwin- digkeit der Lenkballons noch relativ gering ist. Ein Luftschiffahrtsverkehr ist schon aus diesen Gründen zunächst nicht möglich. Man versprach sich hier eine Unterstützung von selten der aus- übenden Witterungskunde. Die aerologischen Be- obachtungen sind für die Luftschiffahrt von großem Wert, da für diese die Kenntnis der Windgeschwindigkeit in den unteren Schichten der freien Atmosphäre notwendig ist. Dem Wetterdienst kommt hier die Aufgabe zu, alle die Hilfsmittel, die die wissenschaftliche Forschung bietet, für die aeronautischen Zwecke zu sammeln und zu verarbeiten. Eine Einrichtung, die diesen besonderen Forderungen gerecht wird, hat der Physikalische Verein zu Frankfurt a. M. anläßlich der internationalen Luftschiffartausstellung im Sommer 1909 zum erstenmal geschaffen. Das Resultat ergibt sich schon jetzt als ein recht günstiges, so daß sich hier in Zukunft dem Wetterdienst ein ganz neues Arbeitsfeld eröffnen wird. Die Ausstellung lieferte zahlreiche Beweise dafür, daß die Luftschiffahrt eines in großem Maßstabe eingerichteten Wetterdienstes unbedingt bedarf, und man beobachtet, wie Aeronautik und Witterungskunde zu beiderseitigem Vorteil in engen Konnex zueinander treten. W. Peppler. Bücherbesprechungen. O. Abel, Prof. der Paläontologie a. d. Univ. Wien, Bau und Geschichte der Erde. 220 S. Mit 226 Textfig. und 6 Farbentafeln und Karten. Wien-Leipzig, Tempsky-Freytag, 1 909. — Preis 4,50 Mk. = 5 Kr. 40 h. Das Buch verdankt sein Entstehen der von der k. k. zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wien „im Januar und Februar 1908 einberufenen Enquete, die den Vorschlag einstimmig angenommen, die Lehre vom Baue und der Geschichte der Erde als Schluß- stein des naturwissenschaftlichen Unterrichts in die oberste Klasse zu verlegen". Prof. Abel unternahm es, ein solches Lehrbuch zu schreiben und wir können schon im Vorhinein sagen, daß er die sich gestellte Aufgabe glänzend löste. Das Buch, das für Österreicher geschrieben ist und infolgedessen auch im größten Teile österreichi- sche Verhältnisse berücksichtigt, zerfällt in drei Ab- schnitte: I. Dynamische Geologie, IL Historische Geologie und III. Der geologische Aufbau Öster- reichs. Im I. Abschnitte gibt der Verfasser eine klare Darstellung der Erscheinungen , die in dieses Gebiet fallen, indem er, wie er es auch im Vorwort be- tont, „aufprägen, die noch im Mittelpunkte der wissenschaftlichen Diskussion stehen", nicht 698 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 44 eingeht ! Im II. Abschnitt wird die Geschichte der Erde, von der präozeanischen Epoche angefangen bis auf das erste Auftreten des Menschen in der Eiszeit, geschildert und mit einer kurzen Übersicht der Geschichte der Tier- und Pflanzenwelt geschlossen. Der III. Abschnitt enthält eine kurze, aber gute Charakteristik des geologischen Aufbaues Österreichs. Daß in einem solchen Buche Unge- nauigkeiten vorkommen und manches zu kurz kommt, braucht keiner Rechtfertigung ! So z. B. führt der Verf. den Kara-Bugas (S. 56) als klassi- sche Bildungsstätte des Salzes an. Wir wissen aber schon seit acht Jahren, daß dem so nicht ist!') — Die Angabe, daß Kambrium nur an einem Orte in Österreich hervortritt, ist un- richtig. Dr. Tietze gelang es nachzuweisen , daß Kambrium auch in Galizien (bei Gorzyce) zum Vor- schein kommt, -j Ganz Neues bietet Abel in den Illustrationen ! Er verwarf gründlich, um mit E. Koken zu sprechen, ,,die Rezepte für die Ausschlachtung anderer Handbücher". Der größte Teil der Zeichnungen ist original. Dazu trugen die reichen Wiener Samm- lungen sowie das Talent des Verf. beil Manche aber konnten meiner Ansicht nach durch bessere Reproduktionen ersetzt werden, manche wären, wenn sie schematisch gezeichnet wären, viel instruk- tiver. Zu den ersten zähle ich die Rundhöcker- landschaft (Fig. 31), die viel schöner und besser bei Wahnschaffe ist.-') Zu den zweiten gehört Fig. 34 (Kalben d. Gletscher). Vgl. die Zeichnungen bei: Credner Fig. 72, Hang, E. (Traite de Geologie Bd, I. Paris 1908) Fig. 176 und Kayser F'ig. 304. — In Fig. 14Q sind die Größenverhältnisse etwas unrichtig. Fig. III stammt nicht von Walther, sondern von E. Koken.*) Das Buch ist durch 2 farbige Tafeln : A b e 1 ' s Landschaftsbild aus der oberen Jurazeit und Potonie's Steinkohlenmoor aus der Mitte der Steinkohlenzeit (leider fehlt eine Erklärung derselben!) sowie 3 geo- logische Übersichtskarten geschmückt Druck, Papier, Einband sind schön ! Trotz der kleinen Mängel, die sich ja leicht in der 2. Auflage beseitigen lassen, wird das Buch seinen dauernden Wert behalten. Dem Verf. gebührt für diese wertvolle Gabe unser bester Dank. Möge es sein Ziel schnell und ganz erreichen. M. Goldschlag. 'j Vgl. Spindler-Lebedinzcff, .arbeiten der Kara- bugas-Expediiion. I. Zur Hydrologie von J. Spindler. II. Zur Chemie von Lebedinzeff. 250 S. 12 Karten, 19 Diagr., 5 Abb. Petersburg 1902 (russisch). W a 1 1 h c r Stahlberg, Der Karabugas als Bildungsstätte eines marinen Salzlagers. Natur- wiss. Wochenschr. N. F. IV. (1905) S. 689 — 6g8. '') E. Tietze, Über die Fortsetzung des polnischen Paläozoikums in Galizien. Verh. d. k. k. geolog. Reichsanst. 1883, — Ders., Die Gegend nördlich von Rzeszöw. Ibidem. S. 31. — Jahresbericht des Direktors Hofrat Prof. Fr. Ritter V. Hauer. Ibid. S. 4. (Eine kurze Andeutung.) — Siemi- radzki, Jos. v. , Geologia ziem polskich. Lemberg 1903, Bd. I. (polnisch!) ') Ursachen der Oberflächengestaltung des norddeutschen Flachlandes S. 70. (Eine Reproduktion bei Kayser.) *) Moderne Zitate. Centralbl. f. Min., Geol. und Pal. Stuttgart 1909, Nr. 12, S. 353. Dr. Herbert Freundlich, Kapillarchemie. Eine Darstellung der Chemie der Kolloide und ver- wandter Gebiete. Leipzig 1909, Akademische Ver- lagsgesellschaft m.b.H. VIII und 591 Seiten mit 75 Abbildungen und vielen Tabellen. ■ — Preis geh. 16,30 Mk., geb. 17,50 Mk. Die Kolloidchemie, über deren Kernpunkte die Leser der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift be- reits hinreichend informiert sind, hat in neuerer Zeit nicht nur für die reine, sondern auch für die ange- wandte Chemie die größte Bedeutung gewonnen. Ihren Ausdruck findet diese Tatsache nicht allein in der bereis jetzt so umfangreichen Originalliteratur, daß ihre Zusammenfassung in einer besonderen Zeit- schrift als notwendig empfunden worden ist, sondern auch in der in letzter Zeit erfolgten Veröffentlichung dreier großer Lehrbücher der Kolloidchemie, der „Allgemeinen Chemie der Kolloide" von A. Müller (1907), des „Grundrisses der Kolloidchemie" von Wo. Ostwald (1909)') und endlich der „Kapillar- chemie" von Herbert Freundlich (1909). Die um- fassendste Darstellung ist diejenige von Freundlich, denn während die beiden anderen Lehrbücher sich im wesentlichen auf die Kolloidchemie selbst be- schränken , behandelt das Freundlich'sche Werk das weitere Gebiet der Kapillarcheniie, als dessen Auf- gabe „die Darstellung der Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen an Grenzflächen einerseits, den stofflichen Eigenschaften und den chemischen Vor- gängen andererseits" definiert wird. Die Kapillar- chemie ist also im wesentlichen identisch mit dem von Wilhelm Ostwald vielleicht richtiger als „Mikro- chemie" bezeichneten Erscheinungsgebiet, über das in dieser Zeitschrift bereits kurz gesprochen worden ist.^) Eine vollständige Übersicht über den reichen In- halt des Freundlich'schen Buches an dieser Stelle zu geben, ist leider nicht möglich ; wir müssen uns daher mit einigen wenigen Bemerkungen begnügen. Nach einer kurzen Einleitung werden zunächst Verhalten und Eigenschaften von Trennungsflächen im allgemeinen und zwar zuerst die Trennungsfläche flüssig-gasförmig, dann die Trennungsflächen fest-gas- förmig, flüssig-flüssig und schließlich die Trennungs- fläche fest - flüssig diskutiert. Im speziellen werden in diesen Abschnitten, die bis zur Seite 183 reichen, die Begriffe der Oberflächenenergie und der Ober- flächenspannung in ihrem Zusammenhange mit ande- ren physikalischen und chemischen Faktoren , insbe- sondere mit den wichtigen Adsorptionserscheinungen entwickelt. Nun folgt ein Kapitel über die kapillar- elektrischen Erscheinungen. Geschlossen wird der ') Vgl. Naturwiss. Wochenschr. N. F. Bd. VIII, S. 463; 1909. ^) Vgl. die Besprechung von W. Ostwald's „Grundriß der allgemeinen Chemie" ; Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. VIII, S- 350-352; 1909. N. F. VIII. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 699 erste Hauptteil mit einigen Bemerkungen über die Eigenschaften der Grenzflachenschichten. Nachdem so die Grundlagen für das Verständnis der kolloidalen Systeme gelegt sind, werden diese selbst unter dem Namen „disperse Systeme", d. h. Systeme, innerhalb deren Grenzflächen von großer Ausdehnung auftreten, eingehend besprochen (S. 291 bis 528), wobei natürlich die Darstellung der dis- persen Systeme mit den Grenzflächen flüssig-flüssig und flüssig-fest, also die der eigentlichen kolloidalen Lö- sungen, den weitaus größten Raum (S. 307 bis 473) einnimmt. Die letzte Unterabteilung des zweiten Hauptteils bilden die Systeme mit festem Dispersions- mittel, zu denen vor allen Dingen die Gele gehören. Im Schlußkapitel des Buches wird auf die Be- deutung der Kapillarchemie für technische und phy- siologische Fragen, so besonders für die Prozesse des Färbens und Gerbens , für das Verständnis der Vor- gänge in der photographischen Platte und für bio- chemische Probleme hingewiesen. Populär im üblichen Sinne des Wortes ist das Lehrbuch von Freundlich nicht, aber die Darstellung ist doch so einfach, daß ihr ein jeder, der für die exakte Naturwissenschaft der Gegenwart ein Verständ- nis besitzt, ohne allzu große Mühe wird folgen können. In erster Linie wendet sich der Verfasser allerdings an die Fachleute — und für diese ist das Lehrbuch nach der Erfahrung des Referenten ganz unentbehr- lich — , aber doch nicht nur an den Kreis der Kolloidchemiker, sondern auch an alle die, für die die Kofloidchemie die Rolle einer wichtigen Hilfs- wissenschaft spielt, und deren Zahl ist heute bereits sehr groß. Alle Leser aber, die das Buch zu ein- gehendem Studium oder als Berater bei eigenen Ar- beiten benutzen werden, werden in ihm eine der wertvollsten, wenn nicht die wertvollste Bereicherung der wissenschaftlichen Kolloidliteratur schätzen lernen. Werner Mecklenburg. 1) Wilhelm Ostwald, Große Männer. Leipzig 1909, Akademische Verlagsgesellschaft ni. b. H. X -(- 424 Seiten. — Preis geh. 14 Mk., geb. 15 Mk. 2) Wilhelm Ostwald, Wider das Schulelend. Leipzig 1909, Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H. 48 Seiten. — Preis geh. i Mk. Ostwald hat sich um die Geschichte der Natur- wissenschaft die größten Verdienste erworben. Die von ihm begründeten „Klassiker der e.xakten Wissen- schaften" (Verlag von Wilhelm Engelmann in Leipzig), eine Sammlung, in der die grundlegenden Arbeiten auf dem Gebiete der Chemie, der Physik, der Astro- nomie, der Kristallographie, der Mathematik, der Physiologie usw. als Neudrucke oder in Form von Übersetzungen, meistens erläutert durch eine wenige, aber wertvolle Anmerkungen , einem jeden leicht zugänglich gemacht werden, bilden schon jetzt mit ihren mehr als zweihundert Einzelbändchen ein wert- volles Quellenwerk von immer wachsender Bedeutung. Seine „Elektrochemie, ihre Geschichte und ihre Lehre" ist allgemein bekannt, und auf die prinzipielle Wichtig- keit seiner unter dem Titel „Der Werdegang einer Wissenschaft" erschienenen sieben Vorträge aus der Geschichte der Chemie, die auch die wohlverdiente weite Verbreitung bereits gefunden zu haben scheinen, sind die Leser der Naturw. Wochenschr. (N. F. Bd. VII, S. 543, 190S) schon hingewiesen worden. In seinem neuen Werke „Große Männer", dem in absehbarer Zeit ein zweiter Band unter dem glei- chen Titel folgen soll , schlägt Ostwald neue Pfade ein. Während er in seinen früheren historischen Arbeiten den Hauptvvert auf die Bedeutung der Ge- schichte einer Wissenschaft zur richtigen Beurteilung der erlangten Resultate gelegt hat, beschäftigt er sich in dem vorliegenden Buche mit der Individualität der großen Männer , denen wir die Fortschritte der Naturerkenntnis zu verdanken haben. Nach einer allgemeinen Einleitung werden die Biographien von sechs großen Naturforschern , von Humphry Davy, Julius Robert Mayer, Michael Faraday, Justus Liebig, Charles Gerhardt und Hermann Helm- holtz gebracht, und daran schließen sich dann Be- trachtungen allgemeiner Natur, denen der Referent eine recht beträchtUche Wichtigkeit beimessen zu sollen glaubt. Zunächst weist Ostwald darauf hin, daß die großen Leistungen meist im Jugendalter vollbracht werden, eine Tatsache , die , auch von anderer Seite bereits bemerkt, mit der bei großen Männern außerordentlich häufigen Frühreife in engstem Zusammenhange steht. Ferner folgt den großen Leistungen fast in allen Fällen infolge der rein intellektuellen Überanstrengung, vor allen Dingen aber wohl auch infolge der mit der Entdeckung verbundenen heftigen Gemütserregung ein Zusammenbruch des Organismus, der sich je nach den Umständen in Krankheit oder doch in voller Unfähig- keit zu weiteren Leistungen kundtut. Dieser Zusam- menbruch kann so vollständig sein , daß , wie z. B. bei Julius Robert Mayer, während des ganzen weite- ren Lebens nichts Besonderes mehr produziert wird: „Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben"; meist aber tritt wenigstens insoweit eine Erholung ein, daß noch beachtenswerte Arbeiten , die allerdings hinter der ersten Entdeckung weit zurückstehen, zu- stande gebracht werden. Bei Helmholtz, der eine Ausnahme von dieser Regel zu bilden scheint, lagen die Verhältnisse insofern ungewöhnlich günstig, als ihm seine größte Leistung, die Entdeckung des Satzes von der Erhaltung der Energie, nur als eine Zusam- menfassung des in der wissenschaftlichen Literatur bereits Vorhandenen, aber nicht als etwas fundamental Neues erschien, so daß ihm die größte Gefahr, die psychische Erregung, erspart blieb. Analysiert man die Psyche der großen Männer, so gelangt man zu einer Einteilung in zwei Typen, in die „Romantiker" und die ,, Klassiker". Die Ro- mantiker, für die als Beispiel Liebig genannt werden möge, sind Männer von großer mentaler Reaktions- geschwindigkeit; sie fassen leicht und schnell auf und finden schnell die richtigen Kombinationen. Ihr Ideenreichtum ist groß , sie wirken daher auf ihre Schüler sehr anregend, und dies um so mehr, als sie gerade dank ihrer Lebendigkeit und Regsamkeit nicht JOO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 44 nur als Forscher, sondern auch als Menschen eine große Anziehungskraft ausviben. Ihr Gegenteil — Ubergangsformen exislieren bei den Männern ersten Ranges kaum — sind die Klassiker. Von viel ge- ringerer geistiger Beweglichkeit müssen sie sich zu ihren Resultaten langsam und schwer durchringen, aber darum gehen die Ergebnisse ihrer Forschungen auch tiefer; mit Scheinlösungen der Probleme be- gnügen sie sich nicht. Wieder und wieder bessern sie an ihrem Werk aus, und nur schwer können sie sich dazu entschließen , die Frucht ihrer Arbeit der Öffentlichkeit preiszugeben. Einen Schtilerkreis mit engem persönlichen Konnex verstehen sie nicht zu bilden, und darum ist ihr direkter Einfluß als Lehrer nur gering. Das sind einige der Gedanken, die Ostwald in seinem schönen Werke darlegt. Ich hoffe, unsere Leser werden, durch die wenigen Stichproben begierig gemacht, selbst sich an die — übrigens sehr leichte und keinerlei Schwierigkeiten bietende — Lektüre des Buches machen. Ich bin überzeugt, daß sie die darauf verwendeten Stunden nicht bereuen werden. Ostwald begnügt sich nicht mit den allgemeinen theo- retischen Ergebnissen seiner „psychographischen" Stu- dien, sondern sucht auch aus ihnen praktisch wertvolle Schlüsse zu ziehen. Der Raum verbietet mir, an dieser Stelle näher auf die interessanten Einzelheiten einzugehen. Nur soviel sei gesagt, daß Ostwald seine Aufmerksamkeit auch auf die Schule und ihre Vervollkommnung richtet. Sein Grundgedanke ist der, daß die Menschheit zwar nicht imstande ist, große Männer gewissermaßen ex- perimentell hervorzurufen , wohl aber , daß sie die jungen Knospen zu voller Entfaltung bringen kann. ,,Das Auftreten ausgezeichneter Männer, welche die menschlichen Angelegenheiten , insbesondere die Wissenschaft, um erhebliche Stücke vorwärts bringen, soll man nicht mehr als ein unkontrollierbares Ge- schick des Zufalls oder höherer Mächte entgegen- nehmen, sondern die Gesamtheit soll ihrerseits das Erforderliche tun lernen, um solche höchste Werte, die in einer jeden Gemeinschaft möglich sind , zur Entwicklung zu bringen. Es zeigt sich, daß zwar die psychophysischen Vorbedingungen , daß aus einem Knaben ein großer Mann wird, sich nicht willkürlich hervorrufen lassen, daß aber sehr viel mehr potentiell große Männer geboren werden , als tatsächlich zur Entwicklung gelangen." Auch der Satz, daß die großen Männer nicht wegen , sondern trotz des modernen Schulunterrichts groß geworden sind, ist nicht so un- berechtigt, wie es im ersten Augenblicke erscheinen möchte, und darum ist die Schulreform eine Kultur- aufgabe von größter Dringlichkeit. Wie Ostwald sich diese Reform im wesentlichen denkt , finden unsere Leser in der kleinen Schrift „Wider das Schulelend", die sie zwar zu manchem Widerspruche reizen wird, in der sie aber auch viele Anregung und — viele Wahrheit finden werden. Clausthal i. H. Werner Mecklenburg. Literatur. Fortschritte, die, der Pliysik im Jahre 1908. Dargestellt v. der deutschen physikal. Gesellschaft. 64. Jahrg. gr. S". Braunschweig '09, F. Vieweg & Sohn. 2. Abtlg. Klektrizität u. Magnetismus, Optik des gesamten Spektrums, Wärme. Red. v. Karl Scheel. (XLlll, 67S S.) - 34 Mk. Ktilhack, Geh. Bergr. Prof. Dr. K. : Die erdgeschichlliche Entwicklung u. die geologischen Verhältnisse der Gegend V. Magdeburg. [Aus: ,, Magdeburg. Zeitung, Montagsblatt".] (122 S. m. 20 Fig. u. 2 Taf.) gr. 8". Magdeburg '09, Faber'sche Buchdr. — 2,50 Mk. Klein, Distr.Arzt Dr. Rob. : Klimatographie von Steiermark. (V, igt S. m. I färb. Karle.) Wien '09, Gerold & Co. — II Mk. Lotsy , I. F.; Vorträge über botanische Stammcsgcschichte. Geh. an der Reichsuniversität zu Leiden. Ein Lehrbuch d. Fflanzensystcmatik. 2. Bd. : Cormophyta zoidogamia. (902 S. m. 553 Abbildgn.) Lex. S". Jena '09, G.Fischer. — 24 Mk. Rikli, Dr. M. : Die Arve in der Schweiz. Ein Beitrag zur Waldgcschichte und Waldwirtschaft der Schweizer Alpen. Mit 1 Arvenkarte der Schweiz, I Waldkarte von Daves, 19 Spezialkarten in Lithogr., 9 Taf. in Lichtdr. u. 51 Test- bildern. [Aus: „Neue Denkschr. d. Schweiz, naturforsch. Gesellsch."] 2 Tle. (XL, 455 S.) Lex. S". Zürich '09, p.asel, Georg & Co. — 24 Mk. Vogt, Priv.-Doz. Dr. Wolfg. : Synthetische Theorie der Clifford- schen Parallelen u. der linearen Linienörter des elliptischen Raumes. (Vlll, 58 S. m. Fig.) gr. S». Leipzig '09, B. G. Teubner. — 2,40 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn Dr. K. in Berlin C. — Frage I : Über die Höhe des Vogelfluges bzw. über die Höhe des Vorkommens der Vögel im Gebirge finden Sie Angaben in einer Briefkasten- noliz der Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. V, 1906, S. 384; ferner in einem Aufsatz von H. Kleiner, „Eine Methode zur ErmiUlung der Höhe des Vogelfluges", ebenda Bd. VI, 1907, S. 26—27 und in einem Aufsatz von W. Spill, ,, Fernrohrbeobachtungen über den Wanderflug der Vögel", ebenda S. 293-96. Frage 2: Über das Verhalten der wilden Tiere in der Gefangenschaft können Sie vieles in Brehm's Tierleben finden, vorausgesetzt, daß Sie zuverlässige Angaben von un- zuverlässigen unterscheiden können. Da im ,,Brehm" gewöhn- lich der Name des Autors einer Mitteilung genannt wird, muß der Leser wissen, wieweit dieser Autor zuverlässig ist. — Wenn Sie den Ausdruck ,, wilde Tiere" im weiteren Sinne aufgefaßt wissen wollen, also im Gegensatz zu den Haustieren, so liefert Ihnen auch J. F. Naumann's ,, Naturgeschichte der Vögel Deutschlands" (2. Aufl., Leipzig 1822—44) bzw. die neue .Ausgabe dieses Werkes „Naturgeschichte der Vögel MiUeleuropas" (Gera- Untermhaus 1S97 — 1905) und B. Dü- rigen, ,, Deutschlands Amphibien und Reptilien" (Magde- burg 1S97) zahlreiche Angaben. Dahl. Herrn O. R. in Ziessau, Altmark. — Sie fragen ob es ein Mittel gebe Aale zu ködern. Man sage von einem Fischer Ihrer Gegend, der viele Aale fange, daß er ein solches MiUel wisse, welches er, abgesehen von dem gewöhnlichen .\ngel- besteck, verwende. — — In den mir zugänglichen Büchern ist nirgend von einem derarügen Ködern der .'\ale die Rede, aucli in Brehm's Tierleben nicht, welches sonst nicht sehr kiitisch ist. Läßt es doch auf die Autorität des ,, glaub- würdigen" Lübecker Schenkwirtes Stahr hin die Aale nächt- lich in die Erbsenfelder gehen (Brehm's Tierleben 3. Aufl., Bd. 8, Leipzig und Wien 1892, S. 399, vgl. auch Naturwiss. Wochenschr. N. F. Bd. VI, S. 47). — Natürlich kommt es sehr auf den Köder an. den man als Angelbesteck wählt. — Sehr geschätzt sollen z. B. Neunaugen, die man in Stücke zer- schneidet, als Köder für Raubfische sein, und an den Meeres- küsten Sandaale Amniodytis lanceolatus (vgl. B. Benecke, E. Dallmer und M. vi d. Borne, ,, Handbuch der Fisch- N. F. VIII. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 701 zueilt und Fischerei", Hcrlin 18S0, S. 503 unii 102J. \iel- Icicht rührt der l-",rf— /=;»;■■ •r'"' ■€"' a/o .«^s^ / /^ "M ,!^» r^9 j ■■ 35 000 Kig. N. F. VIII. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 741 Platten in der gleichen Ebene und genau senk- rechte Orientierung der Objektivachsen zur Stand- linie, wurden bei den Aufnahmen besonders be- rücksichtigt. Von den Platten durch Kontakt- druck verfertigte Diapositive wurden unter dem Stereokomparator mit vierfacher Vergrößerung ausgemessen. Der Vergleich des auf diese Weise erhaltenen Krokis mit einem von Herrn Seliger verfertigten, auf trigonometrischen Messungen be- ruhenden Meßtischblatte ergab, „daß die beiden auf so ganz verschiedenen Wegen erhaltenen Pläne sowohl hinsichtlich des Grundrisses als auch der Bodenformen sich in fast absoluter Überein- stimmung befinden". Der Beweis für die Leistungsfähigkeit des Ver- fahrens war damit erbracht. Wird es auch das Meßtischverfahren nicht verdrängen, so ist es doch bei Forschungsreisen, für Vermessung unzugäng- licher Stellen, wie Felswände, Schluchten und Gletscher, für topographische Städtepläne sowie für Vermessung von Küstenlandschaften vom Schiffe aus unersetzlich. Besonders in Verbindung mit den modernen Errungenschaften der Luft- schiffahrt eröffnen sich hier weite Ausblicke. Nach dieser Erprobung des Verfahrens nimmt es nicht wunder, daß die Praxis sich desselben immer mehr bemächtigte; heute schon ist es nicht mehr angängig, die mit demselben ausge- führten Arbeiten aufzuzählen. Nur weniges sei erwähnt. Das militär-geographische Institut in Wien unter v. Hübl's Leitung wendet nur noch das stereoskopische Verfahren an und hat die alte Laussedat 'sehe Photogrammetrie ganz verlassen.') Der breiteren Öffentlichkeit wurde ein Beispiel seiner Erfolge in der Abteilung Photo- grammetrie der Internationalen Photographischen Ausstellung zu Dresden 1909 gegeben in Gestalt einer genauen Karte der Ortler-Stilfserjoch Gruppe. Dieser Gebirgsstock wurde von sieben verschie- denen Standpunkten aus mit Standlinien von 200 — 580 m photographiert, was acht Tage in Anspruch nahm. Die Ausmessung erfolgte mit dem Autostereographen in zehn Arbeitstagen im Zimmer. Die Karte ist sehr exakt; die Höhen- linien haben einen Abstand von lOO m. — In- struktive Untersuchungen über die Schußweite bei Schießversuchen gegen die See stellten V. Hübl und Neuffer-) an. T r u c k ■') machte bedeutungsvolle Studien über die Ausnutzung der Wasserkräfte in den Alpen; Rottock,') Laas") und Kohlschütter") maßen die Meereswellen; Moris führte die Methode in Italien ein; die ') Mitteilungen des k. u. k. Militärgeogr. Instituts Wien 2'J, 1903, S. I, 23, 1904, S. I. '-) Mitteilungen aus dem Gebiete des Seewesens 3?, 1907, S. 1173. ') Zeitschrift für Vermessungswesen 35, 190b, S. 313. "") .^nnalen der Hydrographie und marit. Meteurologie 31, 1903, S. 329. ") Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure 49, 1905, S. iSSg. ") Annalen der Hydrographie und marit. Meteorologie 34, 1906, S. 220. Russen haben mehrere Stereokomparatoren beim Baue der Amurbahn im Gebrauch; v. Hahnke erzielte in Deutsch-Südwestafrika mit seinen Ver- messungstruppen die schönsten Erfolge und der greise Laussedat selbst wurde noch kurz vor seinem Tode ein begeisterter Anhänger der Jenaer Methoden. Die erste Küstenaufnahme vom Schiffe aus erfolgte am 13./VIII. 1904 von Bord S. M. S. Hyäne bei Cuxhaven und neuerdings ist das Vermessungsschiff Planet mit zwei Phototheo- doliten und einem Stereokomparator ausgerüstet. An der Hand der folgenden Abbildung (Fig. 3) sei ein Beispiel gegeben für die Bedeutung der neuen Methode für militärische Zwecke. Oben befindet sich der Abdruck einer der beiden mittels eines Phototheodoliten an Bord der Hyäne am 22./VIII. 1904 mit einer Standlinie von 41,5 m gemachten Aufnahmen einer Gefechtsstellung feindlicher Schiffe. Im übrigen Teile der Figur ist die Lage der einzelnen Fahrzeuge genau nach Richtung und Entfernung eingezeichnet. Einer weiteren Erklärung bedarf es nicht. Ist auch die Messung mittels des Stereokomparators für ge- nauere Aufnahmen von Geländeformationen, Be- festigungswerken usw. unentbehrlich, so dürften doch praktisch die schon jetzt im HeerC gebräuch- lichen Relieffernrohre mit einem Objektivabstand von 51 cm für den gewöhnlichen Geschützkampf wegen der sofortigen Ablesbarkeit der Entfernung von größerer Wichtigkeit sein. In der Meteorologie ist die stereophoto- grammetrische Messung der Wolkenhöhen von Bedeutung, da hierbei die einfachen Entfernungs- messer versagen. Auch für das Studium der Blitze und des Nordlichtes dürfen wir interessante Aufschlüsse erwarten. Daß die Geologie ein großes Anwendungs- gebiet der neuen Methoden sein wird, liegt auf Hand. Ich erinnere nur an die Ausmessung schwer zugänglicher Gebirgsformationen und die Feststellung der Bewegung der Gletscher. Kunst- und kulturgeschichtliche so- wie archäologische Gegenstände erfordern oft genaue Ausmessung am Fundorte. Genauer als jede plastische Rekonstruktion halten mehrere stereophotogrammetrische Aufnahmen z. B. den augenblicklichen Zustand eines aufgedeckten Grabes fest. Die Anthropologie vermag das Verfahren zu anthropometrischen Schädelmessungen erfolg- reich zu verwerten. Auch Gesichtszüge, Körper- haltung usw. werden auf das genaueste fixiert. Es führt das zu einer naturgetreuen Plastik. Eine oder mehrere Aufnahmen bilden einen voll- kommenen Ersatz für eine Totenmaske oder einen Abguß nach dem Lebenden, über dessen Schmerz- haftigkeit sich schon Goethe so bitter beklagte. In den betreffenden Platten wird der Künstler immer ein ganz naturgetreues Modell der dar- zustellenden Persönlichkeit haben, nach dem er in künstlerischer Freiheit arbeiten kann. Wenn man 742 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 47 z. B. das Profil Schi 11 er 's auf den zahlreichen Bildern und Biisten vergleicht, so ist der Wunsch einer einzigen solchen Platte von ihm leicht ver- ständlich. Ich würde bei diesem Punkte nicht so lange verweilen, wenn nicht heute schon ein praktischer Versuch vorläge, eine stereoskopische Aufnahme direkt ins Plastische zu übertragen. Es handelt sich um ein Bild Haeckel's, das 1907 von Pulfrich mit einer Präzisionskamera auf- genommen wurde und für die Ausmessung rnittels des Stereometers berechnet war.^) P'ür die Über- tragung ins Plastische hat man in diesem Jahre einen Apparat konstruiert, mit welchem zunächst ') Archiv für Optik I, 1907, S. 42. der Kopf Haeckel's auf halb automatischem Wege von der photographischen Platte in Ton übertragen wird. Ich könnte noch eine ganze Anzahl von Ge- bieten aufzählen, in welchen eine Verwertung der neuen Methoden von Vorteil ist. Ich erinnere nur noch an die Vergleichung von Maßstäben, an die Aufdeckung von Banknotenfälschungen, an das Studium der Spektren mittels des von Hart- mann konstruierten Spektro Komparators. Es möge indes das Wenige genügen zu einem kurzen Überblicke über den heutigen Stand der neueren Stereoskopie, die jetzt dem theoretischen Vor- stadium entwachsen, mitten im Leben, mitten in der Praxis eine große Rolle spielt. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in den einzelnen Disziplinen. Neues aus der Sinnesphysiologie.') — I. Über den Sehpurpur. Die F"unkiion des Sehpurpurs und die Bedeutung seiner Ausbleichung im Lichte ist noch immer ungeklärt. Eine neue umfassende* Darstellung aller hier in Betracht kommenden Momente liegt von Garten vor (Archiv f Ophthalmologie 63, 1906, S. Ii2 und Graefe-S aem isch 's Handbuch der Ophthal- mologie, 128. Lieferung, 1908, S. 146). Von den zahlreichen neuen Tatsachen und Nachprüfungen alter seien nur die allgemein interessanteren an- geführt. Die alte Lehre Küh n e's, daß sich der Sehpurpur bei der Bleichung in einen beständige- ren F'arbstoff, das Sehgelb, verwandele, wurde durch die Untersuchungen von Köttgen und Abelsdorff (1895) umgestoßen, und aus den neueren Lehrbüchern der Physiologie begann dieser letztere F'arbstoff bereits zu verschwinden. Garten zeigte indes, daß die Schlüsse, welche diese beiden Autoren aus ihren Versuchen ziehen, nicht ein- wandfrei sind , und bew eist an der Hand zahl- reicher Beobachtungen, daß die alte Kü h ne 'sehe Lehre völlig zu recht besteht. Das Sehgelb ist besonders deutlich in solchen Netzhäuten, die einer schnellen Bleichung unterzogen wurden, da es die Tendenz hat, sich schnell wieder zu Sehpurpur zu regenerieren. Sein Nachweis ist infolgedessen schwer, doch auch an lebenden Netz- häuten (Bley, Frosch, Kaninchen) jetzt erbracht. Spektroskopisch wird das Sehgelb charakterisiert durch eine starke Zunahme des beim Sehpurpur sehr schwachen Absorptionsstreifens im Violett und entsprechende Abnahme der Streifen im Grün und Gelbgrün. Bei einer Bleichung bis zu dem verhältnismäßig lichtbeständigen Sehgelb ist die Regeneration des Sehpurpurs eine viel schnellere als bei völliger Ausbleichung. Die Langsamkeit der Rötung des Sehpurpurs in der isolierten Re- tina und in der Lösung im Vergleich mit der ') Vgl. Nalurw. Wochenscbr. VIII, 1909, S. 200. noch mit dem Pigmentepithel verbundenen führt zu der Vermutung, daß den Pigmentepithelzellen nach Art der Drüsenzellen eine sekretorische Fähigkeit zukomme. Interessant sind die Untersuchungen, welche Trendelenburg (Zeitschr. f. Psych, u. Physiol. d. Sinnesorgane 37, 1904, S. 1) über die Beziehun- gen der Bleichungswerte des Kaninchensehpurpurs zu dem Sehen des dunkeladaptierten Auges ange- stellt hat. Er fand, daß die Geschwindigkeit der Bleichung des Sehpurpurs bzw. die hierzu erfor- derliche Energiemenge in verschiedenen Spektral- bezirken analog den Reizwerten der betreffenden Strahlen auf das Dunkelauge (sog. Dämmerungs- werte) ist. In beiden Fällen besteht ein Maximum im Grün (bei 530 u/n), ein schneller Abfall nach der langwelligen und ein langsamerer nach der kurzwelligen Seite zu. Die erhaltenen Kurven sind fast identisch. Diese Tatsache kann als eine Stütze der von M. Schultze (1866) auf Grund vergleichend- anatomischer, von J. V. Kries (1894) auf Grund physiologischer Untersuchungen aufgestellten Du- plizitätstheorie gelten. Diese Forscher schreiben bekanntlich den Stäbchen der Netzhaut eine ganz andere Funktion zu wie den Zapfen, nämlich die, bei dunkeladaptiertem Auge Schwarzweißempfin- dungen zu vermitteln, wobei das Maximum der Helligkeit nach dem langwelligen Ende des Spek- trums zu verschoben ist. v. Kries spricht die Vermutung aus, daß die verschiedenen Adaptations- zustände auf dem wechselnden Purpurgehalte der Stäbchen beruhen, da der Farbstoff ja nur in den Stäbchenaußengliedern nachzuweisen ist. Ein Gegner der Duplizitätstheorie, Heß, ver- sucht mit einer neuen, recht geschickten Ver- suchsanordnung seinen Standpunkt zu stützen (Arch. f. Augenheilkunde 57, 1907, S. 298). Er experimentierte mit Tieren, die vorzugsweise Zapfen und nur verhältnismäßig sehr wenige Stäbchen und eine verschwindende Menge Seh- N. F. VIII. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 743 I purpur besitzen. Es sind das die Tagvögel. Auf geistreiche Weise stellte er bei diesen die Größe der Dunkeladaptation fest. Er ließ sie nämlich bei herabgesetzter farbloser oder farbiger Hellig- keit Weizenkörner aufpicken und bestimmte die Grenze, bei der es ihnen unmöglich wurde, die Körner auf verschieden farbigem Untergrunde zu finden. Mittels dieser ,, Pickmethode" ergab sich, daß die Tiere trotz der Stäbchen- und Purpur- armut eine weitgehende Dunkeladaptation besitzen und keineswegs nachtblind sind. — Bei Prüfung mit farbigen Lichtern fand Heß eine hochgradige Verkürzung des kurzwelligen Spektrums besonders bei der Taube; er erklärt das durch die Ölkugeln, die bei diesen Tieren an der Grenze zwischen Innen- und Außengiied der Zapfen liegen. Er schließt daraus, daß auch bei den Tagvögeln der Ort der Reizübertragung in den Zapfenaußen- gliedern zu suchen ist. Die Heß 'sehen Versuche wurden von Katz und Revesz (Zeitschr. f. Psychologie 50, 1908, S. 93) bestätigt und erweitert. 2. Netzhautströme. Seit Holmgren (1866) weiß man, daß am lebenden Auge ein elektrischer Dauer- oder Bestandstrom nachzu- weisen ist, der im Wirbeltierauge bei Ableitung vom hinteren Sklerapol und der Cornea in der Richtung von hinten nach vorn durch das Auge strömt und durch Lichteinfall eine Schwankung erleidet. Zahlreiche Untersucher kamen später zu vielfach differierenden Resultaten. In jüngster Zeit fand Piper (Du Bois-Reymond's Archiv, Physiol. Abteil. 1905) eine auffällige Verschieden- heit der photoelektrischen Stromschwankung bei Tag- und Nachtvögeln. Die letzteren zeigten langsameren Anstieg der positiven Phase, eine ausgeprägte negative Phase bei der Verdunke- lung und eine außerordentlich große Empfindlich- keitssteigerung bei Dunkeladaptation. Das Maxi- mum des Reizwertes lag bei 535 (/,« gegen 6oo/<,(( bei den Tagvögeln. Danach scheinen also wenig- stens die Nachtvögel eine erheblich größere Dunkeladaptation zu besitzen als Heß bei den Tagvögeln fand. Versuche mit der Pickmethode wurden bei ihnen noch nicht gemacht. Die neuesten eingehenden Untersuchungen über die Netzhautströme, die mit allen Errungen- schaften moderner Methodik an den Augen der verschiedensten Tiere ausgeführt wurden, stammen von v. Br üc ke und G a rt en (Pflueger's Arch. f. d. gesamte Physiologie 115, 1907, S. 290). Sie fanden fast allgemein bei sehr frischen Präparaten eine flüchtige negative Vorschwankung, an die sich erst die kräftige positive Schwankung an- schloß. Während länger anhaltender Belichtung ging der Strom allmählich zurück, um dann aber- mals langsam anzusteigen oder sich während der ganzen Dauer der Belichtung auf mäßiger Höhe zu erhalten. Nach der Verdunkelung trat eine neue Zunahme des Stromes ein , der dann erst mit verschiedener Geschwindigkeit zu seinem Ruhe- werte zurückkehrte. Als charakteristischen Unter- schied zwischen hell- und dunkeladaptiertem Amphibienauge fanden die Autoren, daß bei letz- terem der abermalige Anstieg während der Be- lichtung besonders ausgeprägt war. Je stärker ein Tier helladaptiert war, desto kleiner wurde dieser Anstieg. Fanden sich im ganzen auch manche individuelle Abweichungen, so war doch im Prinzip der Schwankungsverlauf in der ganzen Wirbeltierreihe der gleiche. In dieser Feststellung liegt ein Hauptwert der Arbeit. Über die Zeit des Beginnes der elektrischen Erscheinungen bei Belichtung am embryonalen Auge liegt eine interessante Arbeit von Kreidl und Ishihara vor (Arch. internation. de physio- logie 5, 1907). Sie fanden, daß dieselbe bei ver- schiedenen Tieren sehr verschieden ist. Bei Meer- schweinchen ist schon beim achtwöchigen Embryo eine Schwankung nachzuweisen, beim Kaninchen am 3. — 4. Tage, bei der Katze am 4. — 5. und bei der Ratte am 13. — 14. Tage nach der Geburt. Pls stimmt das gut überein mit der Zeit der Ent- wicklung der Stäbchen- und Zapfenschicht (s. u.). Trotz dem großen Aufwände an wissenschaft- licher Forschungsarbeit sind wir heute von einer Deutung der hier besprochenen Erscheinungen noch ebensoweit entfernt wie zu den Zeiten Holmgren' s. Allgemein angenommen ist nur, daß der Sitz der Ströme in der Netzhaut selbst zu suchen ist. Dafür spricht auch die bemerkens- werte, allerdings jüngst von Piper (Arch. f Ana- tomie u. Physiol., Physiolog. Abteilung 1904, S. 453) bestrittene Beobachtung, daß bei den Cephalo- poden , deren Släbchenschicht bekanntlich dem Bulbusinnern zugekehrt ist , der Dauerstrom in umgekehrter Richtung fließt. Zur Erklärung der Schwankungen nimmt Waller (Die Kennzeichen des Lebens vom Standpunkte elektrischer Unter- suchung, deutsch von du Bois R eymond, 1905). zwei verschiedene Reaktionen an, die sich analog der Assimilation und Dissimilation widerstreiten und je nach ihrer Kombination zu einer Steige- rung oder Schwächung des Bestandstromes führen. Von Einthoven und Jolly (Ouarterly Journal of Experimental Physiology i, 1908) werden drei verschiedene Substanzen angenommen. Die erste reagiert am schnellsten und erzeugt bei Belichtung einen negativen, bei Verdunklung einen positiven Strom; die zweite, langsamere wirkt genau um- gekehrt; die dritte entspricht der zweiten, hat aber eine noch viel langsamere Reaktion und tritt manchmal völlig zurück. Garten (Graefe- Saemisch's Handbuch der gesamten Augen- heilkunde 129. Lieferung, Leipzig 1908, S. 240) vergleicht das Epithel des Auges mit dem der Hautdrüsen, die beide Einstülpungen des Ektoderms sind und beide im Ruhezustande einen einsteigen- den Strom liefern. Auch bei dem Drüsenstrome wurde unter gewissen Umständen eine doppel- sinnige und bei sehr schwacher Reizung eine ein- sinnige positive Schwankung beobachtet. Ver- mutlich sind die elektrischeti Ströme im Sehepithel also auch der Ausdruck einer sekretorischen Funk- 744 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 47 tion, die in diesem Falle die Aufgabe hat, licht- empfindliche Stoffe abzusondern. Wir erinnern uns dabei des oben über das Pigmentepithel und den Sehpurpur Gesagten. Zum Schlüsse sei noch ein Versuch Ishihara's (Pflueger's Arch. f. d. gesamte Physiol. 115, 1906, S. 564) erwähnt, die Schwankungen der Netzhautströme psychischen Vorgängen, nämlich den Veränderungsempfindun- gen der neueren Psychologie, analog zu setzen. 3. Entwicklung der Fovea centralis. Auch für den Psychologen und Sinnesphysiologen interessant sind die histologischen Untersuchungen von Seefelder (Vortrag in der Medizin. Gesell- schaft in Leipzig am 23. Februar 1909, referiert in Fortschritte der Medizin 1909, Nr. 13) über die Entwicklung der menschlichen Netzhautgrube. Er fand auf Grund eines großen, nach den neuesten Methoden bearbeiteten Materiales, daß in ganz frühen Entwicklungsstufen an Stelle der Grube nach Art der Area centralis mancher Tiere eine V^erdickung der Netzhaut vorhanden ist, die be- sonders durch eine größere Mächtigkeit der Ganglienzellenschicht bedingt ist, und daß es zur Ausbildung einer wirklichen Fovea erst gegen das Ende des sechsten bzw. zu Anfang des siebenten Fötalmonats kommt. Während zu diesem Zeit- punkt indes in der Peripherie schon Zapfen und Stäbchen vorhanden sind, fehlen die Zapfen in der Fovea noch vollständig. Die ersten rudimentären Zapfen werden hier erst bei einem achtmonatlichen Fötus beobachtet und auch beim neugeborenen Kinde sind dieselben noch immer ganz plump und kurz und lassen eben erst die ersten Anzeichen eines Außengliedes erkennen. Erst beim löWochen alten Kinde findet man in der F"ovea lange, feine Zapfen ; dieselben stehen indes mit einer Länge von 37 ,(( und einer Dicke des Innengliedes von 3,5 |(( noch weit gegen die Fovea der Erwachsenen (Länge 65 ((, Dicke 2,5 /<) zurück. Aus diesen Untersuchungen können wir ent- nehmen, daß das Sehen des Neugeborenen noch äußerst mangelhaft ist und erst in den ersten Wochen des Lebens die Grundlagen für seine spätere Sehschärfe zur Ausbildung gelangen. Über eingehende anthropologische Studien über die Fovea centralis von Fritsch (1908) an 400 menschlichen Augen fast aller Rassen werde ich an ariderer Stelle berichten. 4. Über die Nachbilder kurzdauern- der Reize. Weitere Klarheit über das Verhalten der Nachbilder kurzdauernder Reize brachte in diesem Jahre eine von einer ganz neuen Methodik ausgehende Arbeit. Dittler und Eisenmeier (Pflueger's Arch. f. d. ges. Physiologie 126, 1909, S. 610) fanden, wenn sie einen schmalen Spalt mit einer bestimmten Geschwindigkeit an ihrem Auge vorbeiführten , daß außer den von Heß angegebenen sechs Nachbildphasen noch zwei weitere existieren, die sich direkt an das erste Bild anschließen. Den Beweis hierfür er- brachten die beiden Autoren mit einer neuen, von Hering (Pflueger's Arch. f. d. ges. Phy- siol. 126, 1909, S. 604) angegebenen Methode „Zur Beobachtung und Zeitbestimmung des ersten positiven Nachbildes kleiner bewegter Objekte". Wenn man nämlich zwei feine Spalte in einem mäßigen zeitlichen Abstände dem fixierenden Blicke darbietet, so gibt es einen Punkt, wo man drei fast ganz gleiche Bilder sieht, den nämlich, an dem sich das erste positive Nachbild des ersten Spaltes mit dem primären Bilde des zweiten deckt. Die auf diesem Wege gewonnenen Zeit- bestimmungen ergaben, daß vom Beginne der Belichtung bis zum deutlichen Vorhandensein des ersten positiven Nachbildes (c; s. u.) durchschnitt- lich 0,040 Sek. verstreicht, während das bis dahin allein bekannte Pu r kinj e ' sehe Bild (e) 0,15 bis 0,3 Sek. zu seiner Entwicklung braucht. Wir können also nunmehr bei der Belichtung mit kurzdauernden Reizen folgende Phasen auf- stellen, wobei ich die Namen ihrer Entdecker in Klammern hinzufüge: a) das primäre Bild. Dasselbe stimmt im all- gemeinen mit dem Bilde bei dauernder Einwirkung überein; b) eine kurze Dunkelstrecke (Dittler-Eisen- m e i e r) ; c) ein helles kurzes Bild in der Färbung des primären Bildes (Dittler-Eisenmeier); d) ein zweites Dunkelintervall (Purkinje); e) ein helles Bild , das in schwach komple- mentärer F"arbe erscheint und mehrere Male auf- leuchtet (Purkinje). Dieses Nachbild ist am bekanntesten unter dem Namen Purki nj e'sches Bild. Andere Bezeichnungen sind „sekundäres Bild" (v. Kries), „recurrent vision" (Young- Davis) und „ghost" (Bidwell). Bei homogenem rotem Lichte bleibt dasselbe aus; f) ein abermaliges Dunkelintervall (Purkinje); g) ein letztes helles Bild in der Färbung des primären (Heß), auch „tertiäres Bild" (v. Kries, Sn eilen) genannt. Es dauert einige Sekunden lang an; h) ein längerer dunkler Streifen (Heß). Es ist anzunehmen, daß die Phase c auch schon von anderen Forschern bemerkt wurde. Eine Unregelmäßigkeit seiner ersten Phase fiel vor allem Heß auf und führte ihn in einer seiner letzten Arbeiten (Pflueger's Arch. f. d. g. Physio- logie 101, 1904, S. 226) zur Trennung zweier Phasen I a und I b. Das Verdienst, die Phase c als stets und allgemein vorhanden nachgewiesen zu haben, gebührt indes Dittler und Eisen- m e i e r. Bedenkt man die Schwierigkeit dieser flüch- tigen Erscheinungen und ihr verschiedenes Ver- halten je nach der Versuchsbedingung, so ist leicht verständlich, daß die Phasen c, e und g häufig miteinander verwechselt wurden. Die zahlreichen Arbeiten von Heß, v. Kries, Charpentier, Mac Dougall und anderen verlangen ein kritisches Nachstudium, und fast verfrüht erscheint mir die Kontroverse, die sich zwischen den Anhängern und Gegnern der N. F. VIII. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 745 Duplizitätstheorie im Anschlüsse daran entsponnen hat. Auf die theoretischen Deutungsversuche dieser verwickelten Erscheinungen will ich deshalb hier auch nicht eingehen. 5. Farbenpathologisches. Mit dem Farbensinne beschäftigt sich nach wie vor der größte Teil der Arbeiten auf dem Gebiete der Sinnesphysiologie. Theoretisches und Tatsäch- liches findet sich in buntem Strauße in den ver- schiedensten Zeitschriften zerstreut. Bei den krassen Gegensätzen mancher der aufgestellten Theorien und der großen Menge der Möglich- keiten, die immer wieder zu neuen Erklärungs- versuchen führt, müssen wir für jede neue Tat- sache dankbar sein. Hier will ich nur zwei Reihen von Beobachtungen aus dem Gebiete der Pathologie des Farbensinnes erwähnen, die Farben- schwäche und die erworbenen Farbensinnstörungen. Als Farbenschwäche kann man mit Holm- g r e n alle Anomalien des Farbensinnes bezeichnen, die zwischen der F"arbenblindheit und dem nor- malen Farbenempfiiiden liegen. Eingehende Unter- suchungen über diese Zustände liegen neuerdings von Guttmann vor (Bericht über d. I. Kongreß f. exper. Psychologie, Leipzig 1904, S. 14 und Zeitschr. f. Sinnesphysiologie 42, 1907 und 43, 1908). Derselbe beschäftigte sich vor allem mit der Farbensinnstörung, die im Anschlüsse an die Hei m h ol t z'sche Theorie als anomale Trichro- masie bezeichnet wird. Einfach charakterisiert wird diese durch das Verhalten der betreffenden Personen zur Ray leigh -Gleichung; stellt ein Normaler diese Gleichung genau ein, so daß das Gemisch der homogenen roten und grünen Strahlen gleich erscheint dem homogenen gelben Lichte, so hat dies für den anomalen Trichro- maten keine Gültigkeit. Er braucht gemäß der Art seiner Farbenschwäche zu dem Gemische mehr Rot (Rotschwacher, Protanomaler) oder mehr Grün (Grünschwacher, Deuteranomaler). Guttmann stellte nun für diese Gruppe ver- schiedene, teils schon von Donders entdeckte Eigenschaften zusammen, die hier in Kürze er- wähnt seien. Die anomalen Trichromalen haben für gewisse Farben eine geringere, für andere eine größere Unterschiedsempfindlichkeit; sie sind abhängiger von der Intensität des Lichtes und von Helligkeitsdifferenzen und brauchen zum Erkennen der Farben einen größeren Gesichts- winkel und längere Zeit ; sie ermüden für Farben relativ schnell und haben einen gesteigerten Simultankontrast. Bei Beleuchtung der theoretischen Folgerungen aus diesen Untersuchungen kommt Guttmann zu dem Schlüsse, daß weder die Dreikomponenten- theorie Helmholtz' noch die Vierfarbentheorie He ring 's zur Erklärung ausreiche. Er glaubt mit einer rein peripheren Lokalisation der Störung nicht auskommen zu können, sondern sagt: „Die F'arbenschwäche der anomalen Trichromasie be- ruht auf zweifacher Ursache, auf einer anomalen Lichtreaktion der Netzhaut und auf einer Hem- mung in den nervösen Leitungsbahnen". Daß ausgedehnte Farbensinnstörungen bei manchen Augenerkrankungen die Regel sind, wußte man lange; aber erst vor kurzem hat man angefangen, dieselben eingehend mit Hilfe spek- troskopischer Methoden zu untersuchen. Köllner wies in mehreren kleinen und einer zusammen- fassenden Arbeit (Zeitschr. f Augenheilkunde 19, 1908, Ergänzungsheft S. i) darauf hin, daß es sich in der Mehrzahl der Fälle um Blau- oder Violettblindheit handelt. Die betreffenden Per- sonen sehen das Spektrum im Violett stark ver- kürzt; oft hört die Farbenempfindung schon im Indigo auf Außerdem haben sie im Gelb bis Gelbgrün eine neutrale Stelle, d. h. sie sehen die betreffenden Strahlen farblos. Für die Ray- leigh - Gleichung brauchen sie mehr Rot. 6. Die scheinbare Form des Himmels- gewölbes. Sehr vernünftige Worte über die scheinbare Form des Himmelsgewölbes und die Vergrößerung der Gestirne am Horizont findet man bei Haenel (Zeitschr. f. Psychologie 51, 1909, S. 162). Nach ihm steht es durchaus nicht fest und ich kann das nur bestätigen, daß alle Menschen den wolkenlosen Himmel als Flachgewölbe sehen. Genaue Analyse der Erscheinungen führt ihn zu einer Teilung des Himmels in zwei Teile, ein Horizontband , das in die Entfernung der eben noch sichtbaren Gegenstände verlegt wird, und den ganzen übrigen Himmel, für den wir schlecht- hin keine Entfernungsschätzung haben. ,,Was das Auge mir direkt, ohne Beziehungen auf An- nahmen oder Voraussetzungen oder Überlegungen gibt, ist nur das, daß mein Blick in eine grenzen- lose Tiefe oder Höhe dringt ; weiter oder näher, flacher oder krummer, tief oder eben darin er- kennen zu wollen, ist ein völlig aussichtsloses Unterfangen." Sehr passend finde ich den Ver- gleich des Himmels im Zenit mit meinem Ge- sichtsfelde bei geschlossenem Auge — denn beiden fehlt die Form — und den der Himmelskörper mit den bei Druck auf die geschlossenen Lider auftretenden Phosphenen — denn beide geben mir keinerlei Anhaltspunkt für die Entfernungs- schätzung, sondern nur eine Größe. Ganz anders, wenn wir die Gestirne im Horizontbande sehen; dann lokalisieren wir sie in die Entfernung der eben noch sichtbaren Dinge ; sie erscheinen uns näher als am Zenit und deshalb größer. Ob das vielumstrittene Problem damit gelöst ist, wage ich nicht zu entscheiden; mir scheint, daß auch noch der eine oder andere Faktor, so die Luftperspek- tive, eine wenn auch nur untergeordnete Rolle dabei spielt. 7. Über die Lokalisation von Tönen. Während die Lokalisation eines Tones in der Medianebene, also die Angabe, ob derselbe von oben, unten, vorn oder hinten komme, auf Schwierigkeiten stößt, ist die große Exaktheit der Lokalisation nach rechts oder links schon immer aufgefallen. Man erklärte dieselbe durch einen 746 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 47 Intensitätsunterschied der Töne in beiden Ohren; wir vermöchten anzugeben, auf welchem Ohr der Ton stärker gehört werde und lokalisierten nach dieser Seite hin. Lord Rayleigh (Philosoph. Magazine 13, 1907, S. 214) wies nach, daß die Verhältnisse nicht so einfach liegen. Für die tiefen Töne konnte die Intensitätstheorie nicht gelten, da nach der Berechnung in diesen die Differenz der Ton- stärken in beiden Ohren eine ganz minimale ist. Dabei ist aber die Seitenlokalisation ebenso genau. Eine andere P>klärung findet Rayleigh nun in der Phasendifferenz, mit welcher der Ton die beiden Ohren erreicht. Die Bedeutung derselben für tiefe Töne konnte er einwandfrei nachweisen, während für hohe Töne die alte Intensitätstheorie zu recht besteht. Die fein durchdachten Experimente Ray- leigh's beruhen auf folgendem: Die Töne zweier Stimmgabeln wurden den Ohren eines von allen sonstigen Geräuschen isolierten Beobachters ge- sondert zugeleitet. Die Gabeln waren dabei so abgestimmt, daß ihr Zusammenklingen zu sehr langsamen, binauralen Schwebungen führte. Es zeigte sich nun, daß entsprechend dem Wechsel der Schwebungen ein Wechsel der Lokalisation auftritt, indem der Ton einmal rechts, das andere Mal links gehört wurde. — Eine andere Versuchs- anordnung: Ein kleiner Stabmagnet, der um seinen Nullpunkt rotiert, erregt in zwei Spulen Induktionsströme, die gesondert zwei Telephone in Schwingung versetzen. Bei Parallelstellung der Spulen bestand Phasengleichheit; der Ton wurde nicht seitwärts lokalisiert. Bei Senkrechtstellung der Spulen zueinander ergab sich eine Phasen- differenz von '/^ Periode ; der Ton wurde als von rechts oder von links kommend empfunden. Durch Wechsel beider Ströme konnte die Lokali- sation umgekehrt werden. Bis g' waren Phasenunterschiede von deut- lichen Seiteneffekten begleitet; bis c' dürften sie wohl allein für die Lokalisation bestimmend sein. Lord Rayleigh nimmt an, daß in beiden Hörnerven die Erregungsvorgänge auch als Schwingungen mit bestimmter Phase zum Gehirn fortgeleitet werden, wo erst die Verschmelzung stattfinde. Die Versuche Rayleigh 's wurden von vielen Seiten bestätigt. Eine wesentlich andere Deutung fanden sie durch Myers und Wilson (Pro- ceedings of the Royal Society, 18. I. 08). Sie stellten durch eine Anzahl Versuche neuerdings fest, daß der Ton sich durch den Kopf von einem Orte zum anderen fortpflanzt. Es findet eine Einwirkung der Töne beider Seiten aufeinander statt ; je nach der Wellenlänge wird der eine oder der andere Ton durch die Addition der Ampli- tuden beider Wellen verstärkt; in dem einen oder anderen Ohre findet eine Intensitätssteigerung des Tones statt und damit ist die Lokalisation nach dieser Seite hin gegeben. Wir sehen also, daß auf Umwegen die Intensitätstheorie wieder er- reicht ist und die Phasendifferenz bei Berück- sichtigung der Kopfleitung auf eine Stärkendiffe- renz der Töne zurückgeführt werden kann. 8. Konsonanz und Dissonanz. Bekannt- lich rührt die erste wissenschaftliche Theorie der Konsonanz von Helmholtz her. Nach ihm sind konsonante Töne miteinander insofern ver- wandt, als sie gemeinsame Obertöne besitzen. Ganz gleiche Obertöne finden wir bei der Oktave, weniger bei der Quinte, Quarte, Terz. Die Dissonanz ist dagegen eine intermittierende Ton- empfindung, da nämlich kaum merkbare Schwe- bungen dabei auftreten. Nach Stumpf gibt es aber sowohl Disso- nanzen ohne Schwebungen als auch Intermittenzen ohne Dissonanz. Auch kommen Schwebungen bei konsonaiiten Tönen vor. Die Obertöne können deshalb keine so große Bedeutung haben, da die Klangfarbe auf den Konsonanzgrad eines bestimmten Intervalles ohne Einfluß ist. Die Ur- sache von Konsonanz und Dissonanz liege in den Empfindungseigentümlichkeiten der Grundiöne selbst, die mehr oder weniger miteinander „ver- schmelzen". Die neueste Konsonanztheorie rührt von F. Krüger her (Arch. f. d. gesamte Psychologie 1, 1903, S. 205 und 2, 1903, S. 1 sowie Psycholo- gische Studien 1, 1906, S. 305 und 2, 1906, S. 205). Auch er sieht als Grund der Dissonanz- empfindung den Eindruck der Unreinheit an. Dieser sei bedingt erstens durch Schwebungen, die indes viel weniger von den Obertönen als von den Differenztönen ausgehen. Außerdem finde bei jeder Dissonanz eine Verschmelzung zweier benachbarten Töne zu einem Zwischentone (ver- stimmte Prime) statt und dieser werde immer als unsauber und verworren empfunden. Die Dis- kussion über diese Theorie ist noch sehr lebhaft (Stumpf, Lipps); inwieweit eine Einigung er- zielt wird, bleibt abzuwarten. C. Kleinere Mitteilungen. Die Cholera als Vergiftung durch salpetrige Säure. — Durch die Tagespresse gehen Mit- teilungen von E m m e r i ch - München, anknüpfend an neuere Studien in russischen Cholerabaracken, wonach sowohl die Cholera indica wie auch Cholera nostras im Grunde auf die Giftwirkung der salpetrigen Säure hinauskommen sollen. Die Kommabazillen reduzieren die in Nahrungs- mitteln (Würsten, Schinken, Gemüsen) und im Trinkwasser enthaltenen Nitrate zu Nitriten, aus denen durch gleichzeitig gebildete organische (Gärungs-, insbesondere Milch-) Säure jene stark N. F. VIII. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 747 giftig wirkende Säure frei gemacht wird, die nach O. Loew noch in Verdünnung von i : looooo lebende Zellen tötet. Dieselbe konnte im Blut, im Erbrochenen und in den ,, Reiswasserstühlen", zumal im Anfangsstadium, nachgewiesen werden. Es sei also für die Therapie der Cholera wichtig, nitrathaltige Nahrungsmittel tunlichst zu vermeiden; man dürfe hoffen , dadurch die Sterblichkeit wenigstens zu vermindern. — Zur Kritik dieser Mitteilungen sei bemerkt, daß die Tatsache der Nitrilbildung durch Cholerabazillen längst bekannt ist, es beruht darauf die Reaktion auf ,, Cholerarot", die eine Indolreaktion ist: Indol -|- Nitrit -|- Schwefelsäure gibt Rotfärbung; wenn, wie in Cholerakulturen, Nitrit neben Indol schon vor- handen ist, so genügt Schwefelsäurezusatz allein. Die Reaktion ist seit lange in Gebrauch, um den Kommabazillus von morphologisch ihm gleichen- den Arten zu unterscheiden. Die Nitritbildung aus Nitrat ist der erste Schritt zur „Denitrifika- tion" (vgl. Naturw. Wochenschrift 1907, S. 485), die mit der Reduktion der Nitrite zu freiem Stick- stofl' endet (es sind zahlreiche Bakterienarten be- kannt, die entweder nur Nitrat zu Nitrit — wie eben der Kommabazillus — , oder nur Nitrit zu freiem Stickstoff usw., oder aber Nitrat bis zu letzterem reduzieren). Ob die Nitritbildung allein die Krankheitserscheinungen bzw. den Exitus ver- ursacht, oder doch daneben noch ein organisches Gift, ein Toxin, wirksam ist, scheint z. Zt. nicht beweiskräftig entschieden; es könnten sehr wohl beide Ursachen zugleich bzw. zusammen wirken. Immerhin ist es wohl denkbar, daß die Einschrän- kung der Nitritbildung, soweit sie sich praktisch durchführen läßt, die Schwere des Einzelfalles und damit die Zahl der Todesfälle überhaupt vermin- dern könnte. Bezüglich der Notiz über die Giftwirkung „noch in Verdünnung von i : lOOOOO" sei anschließend bemerkt, daß Angaben solcher Art recht ungenau sind, schon darum, weil die relative Giftwirkung mit der Dissoziation, also mit der Verdünnung steigt. Die Giftwirkung ist quantitativ (enzyma- tische Wirkungen ausgeschlossen), es ist also weit exakter anzugeben, wieviel Gramm bzw. Milli- gramm ausreichen, um i kg Lebendgewicht zu töten. Der hier betonte Gesichtspunkt ist keines- wegs neu, findet aber leider noch immer nicht überall Berücksichtigung. Hugo Fischer. Zur Simroth'schen Pendulationshypothese. — In einem Aufsatze über die physikalische Be- gründung der Pendulalion bin ich in dieser Zeit- schrift (Bd. VIII, 1909, S. 481-488) von Simroth mehrfach angegriffen worden, und sehe mich da- her genötigt, diese Angriffe kurz zurückzuweisen Auf eine Reihe sachlicher Irrtümer Simroth's näher einzugehen, kann ich mir dagegen hier sparen, da ich dies an anderer Stelle (Beiträge zur Geophysik 1909, S. 202 — 263, Archiv für Naturgeschichte 75, 1909, I, S. 189—3021 eingehend getan habe. Die Atlantisfrage ist für mich nicht an den Plato- schen Mythus geknüpft, sondern mit Scharff u. a. verstehe ich darunter die Frage nach der einstigen Existenz alter Kontinentalgebiete innerhalb des Atlantischen Ozeans. Simroth hat nun noch nicht bewiesen, daß solche Landverbindungen unmög- lich sind. Freilich soll jede derselben nach ihm eine besondere „Katastrophenannahme für sich" verlangen, doch ist dies keineswegs der Fall. Der Grund des südatlantischen Ozeans braucht sich höchstens um 5000 m gesenkt zu haben, wenn hier im Eozän noch Land bestanden haben sollte. Nach einer mäßigen Schätzung sind seitdem schon 2 Millionen Jahre verflossen, nach Penck würde man zu einer fünf- bis zehnfachen Zeit kommen. Dann beträgt die mittlere Senkung pro Jahr 2,5 mm, während die wirklich beobachteten Niveauver- schiebungen mehrere cm betragen. Dazu kommen noch ruckweise Verschiebungen bei Erdbeben, bei denen man solche bis 20 m Sprunghöhe direkt beobachtet hat, während nach Hobbs am Meeres- grunde solche vom zehnfachen Betrage eingetreten sein sollen. Auch ist bei dem Absinken einer Scholle von kontinentaler Größe keine größere Massenverschiebung nötig als bei der Pendula- tion. Müßte doch bei dieser nach den physikali- schen Gesetzen die gesamte Erdkruste dauernd in Niveauverschiebungen begriffen sein. So müßte sich bei einer äquatorialen Pendulation von 20" die Scholle, die erst unter 55" nördl. B. lag, um etwa 7300 m erheben, um die dem 35. Grade entsprechende Lage einzunehmen. Wenn zwei Landgebiete durch eine Landbrücke in Verbindung treten, so muß notwendigerweise eine Mischung ihrer Floren und Faunen vor sich gehen, das beweist unter anderem auch der paläon- tologische Befund. Es kann also keine Rede davon sein, daß die von mir vermuteten Verbrei- tungswege ,, willkürlich angenommen" seien, sie folgen vielmehr aus den von den Geologen an- genommenen Landverbindungen, ebenso wie die durch v. Ihering, Kobelt, Lydekker, Ortmann, Scharff u. a. angenommenen Wanderwege. Eine wichtige Rolle bei deren Feststellung spielt das Alter der südamerikanischen Fossilien- lager. Hier wird Simroth den südamerikanischen Geologen doch wohl nicht die Autopsie abstreiten wollen. Ich stimme nun zwar den extremen An- sichten Ameghinos nicht bei, der übrigens keines- wegs die Edentaten von Mitteleuropa herleitet, wie aus seinen Originalabhandlungen hervorgeht. Aber die „Notostylops"schichten können wir doch kaum für jünger als alttertiär ansehen, da sie Dinosaurierreste enthalten. Simroth geht hier in seinen .Ansichten weit über das hinaus, was die deutschen Geologen annehmen. Daraus erklärt sich auch die völlig unbegründete Antithese in bezug auf das Grypotherium, indem hier Simroth die älteste und die jüngste der südamerikanischen Faunen zusammenwirft. Daß ein der Erde sich nähernder Mond sich schon vor dem Zusammenstoße aufgelöst haben 748 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 47 müßte, ist nicht eine Idee von mir, sondern das ist von G. H. Darwin und von Roche mathe- matisch bewiesen worden. Diese Rechnung wurde bisher noch nicht widerlegt, also durften wir uns auf sie stützen. Nun noch einige kurze Bemerkungen zu ein paar anderen Punkten. Die Franz'sche Annahme über die Verteilung der Mondmeere spricht nur für eine einmalige Verschiebung der Achse und diese halten wir auch nicht für unmöglich. Die Unterkühlung eines flüssigen Körpers läßt sich nicht unbeschränkt fortsetzen, außerdem muß er durch einen einstürzenden , wenn auch noch so kleinen Fremdkörper in seiner ganzen Aus- dehnung erstarren. In seinen Erörterungen über den Magnetis- mus bringt Simroth endlich eine Dauerkraft, ohne die ein Pendeln überhaupt ausgeschlossen ist. Aber auch durch sie könnte nur die Erde im ganzen, nicht aber die Achse innerhalb der. Erde / i-v.,^ I 1 1 1 1 — ^7^y=cos^jc 0,8 0.6 OA 0,Z 0 O.Z OA 0,6 0,8 7 •^ I I \ V/ "^ \ -4. ^^ \- £. \ ^ / fc ^ — * \ : SO" 60" y=cosjt 90" 120" 150" 180" zugleich Kurve der Schwungkraft. "- zugleich Kurve der Vcrtikalkomponente der Schwungkraft ins Schwanken geraten. Die Pole würden am Himmel, nicht auf der Erde wandern, ähnlich wie bei der Präzession, deren Wesen Simroth auch falsch aufgefaßt hat. Bedenklich ist weiter, daß nur ein Teil der magnetischen Linien zur Theorie stimmt, und noch dazu sehr mäßig, da die Agonen den Äquator durchaus nicht halbieren (220" auf der pazifischen gegen 140" auf der atlantisch-in- dischen Seite). Außerdem verliefen die Isogonen im Laufe der vergangenen Zeiten oft ganz anders, wie das ein Blick auf die magnetischen Karten in Brockhaus' physikalischem .A.tlas zeigt. Irrtümlich ist auch die Annahme, daß die Zentrifugalkraft bei 45*' ein Maximum zeigt. Die Schwungkraft ist dem Cosinus der Breite propor- tional und erst bei 60" halb so groß als am Äquator. Die vertikale Komponente ist allerdings proportial dem Cosinus-Quadrate. Aber auch dieser Wert ist stetig, hat bei 45" einen Wende- punkt, aber kein Maximum, sondern nur eine maximale Änderung, wie die beifolgende Figur zeigt. Leitfossilien brauchen durchaus nicht universell sondern nur weit verbreitet zu sein, sind sie doch zunächst nur für europäische Verhältnisse aufge- stellt worden. Sonst könnten wir ja auch nicht über das Alter vieler außereuropäischen Schichten lange im unklaren geblieben sein. Die Landlebe- welt ist jetzt wie früher auch sehr verschieden; unter den Meerestieren, denen alle Leitfossilien entstammen, herrscht auch jetzt größere Einheit- lichkeit, und bei ihnen gibt es noch jetzt zahl- reiche Kosmopoliten, wofür zahlreiche Beispiele aus fast allen wichtigeren Klassen angeführt wer- den könnten, was uns aber hier zu weit führen würde. Die große Mächtigkeit der paläozoischen Schichten sucht Simroth durch das größere Aus- maß der Pendulation in damaliger Zeit zu er- klären. Dann müßten aber allgemein die Schichten einer Formation an dem Schwingungs- kreise am mächtigsten sein, an den Schwingpolen aber ganz fehlen. Dies ist beides nicht der Fall. Was endlich das Entwicklungstempo der Organismen anlangt, so vergleicht Simroth die Landreptilien des Mesozoikums mit den tertiären Säugetieren. Der Geolog gliedert aber seine Horizonte nach Meerestieren und danach ergeben sich für den Jura einige 30 Horizonte, während die ganze Zeit des Pliozän und Quartär einen einzigen darstellt, d. h. seit dem Pliozän haben sich die Arten so gut wie gar nicht verändert, während es im Jura mehr als 30 mal geschehen ist, daß die Änderungen zu neuen Arten führten. Das ganze Tertiär enthält etwa 1 5 Etagen. Sollte da der Jura und erst recht das ganze Mesozoikum nicht länger gewesen sein, als Tertiär und Quartär zusammen? Weit entfernt davon, „nach keiner Richtung auf unüberwindliche Schwierigkeiten" zu stoßen, gerät die Pendulationshypothese überall mit den Tatsachen in Konflikt, wie wir a. a. O. gezeigt haben und wie auch aus den obigen kurzen An- deutungen hervorgeht. Dr. Th. Arldt. Wetter-Monatsübersicht. Ebenso wie in den letzten beiden Jahren , so zeichnete sich auch der diesjährige Oktober im größten Teile Deutsch- lands durch freundliches und dabei sehr mildes Wetter aus. Die mittleren Temperaturen stiegen anfangs überall bis zum :;. an und hielten sich dann im Norden bis zum 21. fast auf der gleichen Höhe, während sie in Süd- und Mitteldeutschland schon früher langsam her.abgingen. Zwischen dem 2. und 5., dann wieder um Mitte des Monats wurden in den Mittags- stunden noch an vielen (Jrten 2o" C erreicht oder etwas über- schritten ; am 18. Oktober stieg das Thermometer zu Alten- burg bis auf 24, zu Magdeburg bis 23° C. Auch die auf die heiteren Tage folgenden Nächte blieben im allgemeinen ziemlich mild , da sich dann der Erdboden oft mit Nebel- gewölk überdeckte, das gewöhnlich erst am nächsten Vor- mittag durch die Sonnenstrahlen wieder beseitigt wurde. Wenn allerdings die schützende Nebeldecke fehlte, kühlte sich die Luft meist bis auf wenige Grade über den Gefrierpunkt ab. Nachtfröste traten in der ersten Hälfte des Monats nur ganz ver- einzelt auf, dagegen weit verbreitet am 2&. und 27. Oktober. Am strengsten waren sie ia Posen und Hinterpommern , wo CS am 27. Bromberg und Glinau bei Neutomischel auf 6, Tremessen und Lauenburg auf 5" C Kälte brachten. N. F. VIII. Nr. 4; Naturwissenschat'tliche Wochenschrift. 749 Die Durchschnittstemperalurcn des Oktober lagen in Nordwest- und Süddeutschland größtenteils I '., bis 2, östlich der Klbe sogar 2 bis 3 Grad über ihren normalen Werten. 5RinTcr« Tcniperafurcn einiger ©rft im ©Rlopcr 1903. Berlmcr Weffsrtureau Ebenso nahm die Dauer der Sonnenstrahlung in der Richtung von Südwesten nach Nordosten zu ; in Berlin hat die Sonne diesmal im ganzen an 123 Stunden geschienen, während hier im ungewöhnlich klaren vorjährigen Oktober 160, aber im Durchschnitt der früheren Oktobermonale seit 1S92 nur lOI Stunden mit Sonnenschein verzeichnet worden sind. Der schon im vorangegangenen Monat bestehende Gegen- satz zwischen den Niederschlagsverhältnissen der östlichen und westlichen Hälfte des Reiches verschärfte sich im Laufe des Oktober immer mehr. Zwar bis zum 10. fanden überall zahl- reiche Regenfälle statt, die namentlich im Pinnenlande recht ergiebig waren. Vom 4. zum ;. fielen in Kleve, außerdem an verschiedenen Stellen der Provinz Hessen -Nassau 20 mm oder etwas darüber, vom 5. zum 6. in der Stadt Posen 25 mm Regen ; dort sowie in Süddeutschland entluilen sich auch verschiedentlich Gewitter. Aber seit dem 11. ""Oktober waren die Niederschläge im Osten , bis etwa zur Elbe hin, Xlieiir0t(i^na0^i^zn im ©MoBer 1909. ^J =!:. f/liKlerer Wer-r für Deufschland . ^onafssumme tm OKI. 08,0706.05.04. -ö ^ 53t 0 ^ r — ™ [Tjl I I «.bis 13. OKtobei — \— Wbis17 OKtober. t8.bis2<»0Krobe m 2&.bi5 3l.0Ktober itAmtr Wefter^urexu . sehr selten und gering. Dagegen setzten nach drei trockenen Tagen an der Nordseeküste, im Rhein- und Wesergebiet am 14. neue Regenfälle ein, die sich langsam ostwärts weiter ver- breiteten und besonders im Nordseegebiete stärker wurden, während daselbst die südwestlichen Winde am 15. Oktober zu Stürmen anwuchsen. Seit dem 18. Oktober nahmen die Niederschläge wieder in ganz Deutschland an Zahl und Stärke ab. Etwas größere Beträge erreichten sie bis zum 24. nur in Schleswig-Holstein sowie an der ganzen Nordseeküste, auf verschiedenen Strecken im Rheingebiet und im südlichen Thüringen. Darauf gingen bei stürmischen Südwestwinden abermals im Nordsee-, Rhein- und Wesergebiete sehr heftige Regen- und Hagelschauer nieder, die sich in den nächsten Tagen öfter wiederholten. .\uf den friesischen Inseln waren sie mehrmals von Gewittern begleitet, die Niederschlagshöhe betrug am 25. in Helgoland 28 mm. Bis zum Ende des Monats kamen dann noch täg- lich mehr oder weniger ergiebige Regenfälle vor, die sich aber fast ausschließlich auf West- und Süddeulschland be- schränkten. Dort waren daher auch die Monatssummen der Niederschläge drei- bis viermal so groß wie östlich der Elbe. Kur den Durchschnitt aller Stationen ergab sich die Regen- menge des diesjährigen Oktober zu 47,7 mm, während die gleichen Stationen im Mittel der 18 vorangegangenen Oktober- monate 62 mm Niederschlag geliefert haben. Während des ganzen Monats wurde Nordeuropa von sehr zahlreichen und tiefen Barometerdepressionen durchzogen, die größtenteils südlich von Island auftraten und anfänglich ihr Gebiet weit nach Südosten hin auszudehnen vermochten. Nach- dem aber mehrere Hochdruckgebiete von Südwest- durch Mitteleuropa nach Rußland gelangt waren , hatte ein dort schon seit längerer Zeit verweilendes barometrisches Maximum durch Vereinigung mit ihnen so sehr an Umfang und Höhe zugenommen, daß es sich gegen alle neuen Depressionen an seiner Stelle behaupten konnte. Die atlantischen Minima schlugen daher immer mehr nach Norden gerichtete Bahnen ein , auf denen sie den britischen Inseln und den westeuro- päischen Küstenländern meistens sehr heftige Regengüsse brachten, die aber nach Osten hin an Stärke rasch abnahmen, ."^uch in West- und Süddeutschland wehten beim Vorüber- gange der Depressionen oft dampfgesättigte südwestliche, in Ostdeutschland aber im allgemeinen trockene südöstliche Winde. Dr. E. Leß. Bücherbesprechungen. Schaffen und Schauen. Ein Führer ins Leben. Bd. I. Von deutscher Art und Arbeit. XXIII u. 478 Seiten. Bd. II. Des Menschen Sein und Werden. XXXII u. 395 Seiten. Leipzig, B. G. Teubner, 1 909. — Preis pro Band geb. 5 Mlc. Das durch das Zusammenwirlten zahlreicher Fach- männer unter der Redalition von Dr. A. Giesecke- Teubner entstandene Werk kann als vorzüglich ge- lungen bezeichnet werden. Es gibt wohl kaum ein Buch, das geeigneter wäre, jungen Leuten beim Ein- tritt ins Leben in die Hand gegeben zu werden. In prägnantester Form bietet es Belehrung über alle Verhältnisse des menschlichen Lebens und orientiert in maßvoller, sachlicher und von sittlichem Ernst ge- tragener Darstellung auch über die volkswirtschaftlichen, politischen, religiösen und ethischen Fragen. Der erste Band bringt zunächst eine geographische und historische Schilderung des deutschen Landes und Volkes. Danach findet die deutsche Volkswirtschaft in neun Kapiteln eine treffliche Darstellung. Wir heben hieraus die Kapitel über Landwirtschaft, Berg- bau und Technik hervor. In weiteren neun Kapiteln 750 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 47 werden dann der Staat und die staatsbürgerlichen Organisationen und Bestrebungen behandelt. Den Schluß des ersten Bandes bildet eine Einführung in die wichtigsten Berufe, der eine Erörterung unseres Schulwesens und allgemeinere Betrachtungen über das Berufsleben voraufgehen. Der zweite Band beginnt mit einem kurzen geo- logischen Überblick, dem sich eine objektiv gehaltene Darstellung der Entwicklungslehre anschließt. Alsdann wird der Mensch zuerst in körperlicher Hinsicht und dann in bezug auf sein Seelenleben einer genaueren Betrachtung unterworfen. Die Verfasser dieser Ab- schnitte, Prof F. A. Schmidt (Bonn) und Prof Vor- länder, haben es trefflich verstanden , diese Gebiete leicht faßlich und kurz zu behandeln und bei um- strittenen Fragen einen vornehm zurückhaltenden, aber doch nicht etwa scheu ausweichenden Standpunkt einzunehmen. Nach einem Rückblick über die geistige Entwicklung der Menschheit folgt dann der zweite Hauptteil „Die Wissenschaft". Hier sind die mathe- matischen Wissenschaften durch Prof Witting, die Naturwissenschaften durch Dr. Teichmann und die Geisteswissenschaften durch Prof Zielinski historisch umrissen. Der dritte Teil behandelt dann die Philo Sophie, Kunst und Religion und im letzten Hauptteil zieht Pfarrer Fuchs aus allem die Summe, indem er die Grundlinien der zum wahren Glück verhelfenden Lebensführung auseinandersetzt. Jeder Hauplteil des Werkes ist durch die Angabe der wichtigsten Literatur ergänzt. Beide Bände sind am Anfang und Schluß durch eine Auswahl kerniger Aussprüche unserer großen Dichter und Denker umrahmt und die ein- zelnen Teile sind durch 8 allegorische, gut reprodu- zierte Federzeichnungen von A. Kolb gegeneinander äußerlich abgegrenzt. So ist das Ganze in der Tat eine Fundgrube reichster und mannigfachster Beleh- rung , ein Werk , wie es gerade in unserer allzustark gärenden Zeit der Jugend so recht nottut. Kbr. Herbarium Dendrologicum. Lief XXVI, XXVII und IX. Nachtrag. — Zu beziehen durch den Herausgeber Dr. C. Baenitz in Breslau IX, Marien- straße 6, II. Lief. XXVI, die dritte Keimpflanzenlieferung dieser Sammlung, enthält 38 Nummern, von welchen einige noch n i e in Herbarien zur Ausgabe gelangten, resp. in der Literatur dieser Abbildungen vorgeführt wurden. — Melia Azedarach L. , durch Samen vom Herausgeber 1902 auf der Insel Lussin gesammelt, erwies sich nach sechsjähriger Samenruhe noch 190Q in Breslau als keimfähig; die sehr zierlichen Keimpflänzchen dieser südeuropäischen Art gehören mit zu den schönsten der ganzen Sammlung. — Auf die Keimpflanzen der Salix ^) silesiaca W. , 5. piir- purea L. und des Sarothamnus scoparius Koch — letzterer mit Wurzelknöllchen, welche etwa 3 — 4 Mo- nate nach der Keimung aufgezehrt werden, — sei noch besonders hingewiesen. — Larix occidcntalis Null, dürfte für Europa neu sein. — Auch die einzige hypogäisch keimende kdtx-kxi (A. saccha- rinum L.) ist in dieser Lieferung enthalten. In der XXVII. Lief nehmen 3 Quercus-Arten, typisch für Ungarn, Sibiraea laevigata Max. v. croa- tica Degen (mit J; und 5 Blütenj vom einzigen europäischen Standorte in Kroatien , die zahlreichen ^V e i d e n formen , besonders die der Salix silesiaca W. des Riesengebirges und die schönen, seltenen A b i e s - Arten (aus dem Königl. Forstgarten in Tha- randt) erhöhtes Interesse in Anspruch. V. Pöschl, Die Härte der festen Körper und ihre ph\'sikalisch- chemische Be- deutung. Dresden, Steinkopff, 1909. — Preis 2,50 Mk. Nach einer längeren kritischen Besprechung der bisher geübten Härtebestimmungsverfahren beschreibt Verf den von ihm konstruierten Meßapparat und einige damit ausgeführte Härtemessungen. Seine Methode besteht darin, daß auf einem kleinen Wagen der zu prüfende Kristall unter einer wenig belasteten Diamantspitze hindurchgeführt, und der erzeugte Riß nach Breite und Tiefe mikroskopisch gemessen wird. — Zwischen Hätte, Dichte und Kristallform bestehen gewisse , wenn auch nicht immer ohne weiteres er- kennbare Beziehungen. Bei größerer Dichte und regulärer bzw. der regulären näherstehender Kristall- form pflegt die Härte größer zu sein, was auf eine dichtere Lagerung der Massenteilchen schließen läßt; letzteres trifft auch zu auf Verbindungen nach ein- fachem (I ; i) im Vergleich zu solchen mit kompli- zierterem Atomverhältnis. Durch geringe Härte zeichnet sich das hexagonale System aus; das scheint auf entferntere Lagerung der Teilchen zu deuten, wie ja auch hexagonal kristallisierende Substanzen in der festen Phase leichter sind als in der flüssigen : Eis schwimmt auf Wasser, festes Wismut auf geschmolze- nem. Die Art, wie Verf. an der Hand zweier Sche- mata das betonte Verhalten des hexagonalen gegen- über dem regulären System zu erklären sucht, scheint etwas hypothetisch. F. ') Nur von Salix rrpcns L. findet .sich im Lubbock eine Abbildung. Literatur. Hering, Dr. E. : Die Deutungen des psychophysischen Gesetzes. (4S S.) gr. 8°. Tübingen '09, G. Sclinürlen. — 1,50 Mk. Rutten, Dr. L. M. R. : Die diluvi.ilen Säugetiere der Nieder- lande. (VI, 116 S. m. 2 Taf., 2 Karten u. 2 Bl. Erklärgn.) 31X23,5 cm. Berlin '09, R. Friedländer & Sohn. — 5 Mk. Moliscb, Hans: Über ein einfaches Verfahren, Pflanzen zu treiben (Warmbadmethode). II. Tl. [.\us: ,,Sitzungsber. d. k. Akad. d. Wiss."] (55 S. ra. 2 Taf.) gr. S". Wien '09, A. Holder. — 2,30 Mk. Partheil, Prof. Dr. A. : Kurzgefaßtes Lehrbuch der Chemie f. Mediziner u. Pharmazeuten. Organischer Teil. I. Abtlg. : Die Chemie der Feltkörper. (VII, 372 S. m. Abbildgn.) 8". Bonn '09, C. Georgi. — 8 Mk., geb. 9 Mk. Vallentin, Dr. W. : In Brasilien. Mit 49 Illustr. (auf Voll- bildern) nach photograph. Orig. -Aufnahmen. (VIII, 255 S.) gr. 8». Berlin '09, H. Paetel. — 4 Mk., geb. 5 Mk. " Weisbach, .<\lbin: Tabellen zur Bestimmung der Mineralien mittels äußerer Kennzeichen. 8. Aufl. Eearb. v. Bcrgakad.- Prof. Oberbergr. Dr. Frdr. Kolbeck. (VIII, 121 S.) gr. S». Leipzig '09, A. Felix. — 3,80 Mk., geb. 4,40 Mk. N. F. VIII. Nr. 47 Naturvvissenschaftliche Wochenschrift. 751 Wolff, Dr. Wilh.: Im malaiischen Urwald und Zinngebirge. Mit 16 Abbilden, (auf II Taf.) nach Aufnahmen des Verf. (XI, 240 S.) gr. 8». Berlin '09, A. Schall. — 5 Mk., geb. 6 Mk. Anregungen und Antw^orten. 1 lerrn T. in Lübeck. — Bezüglich einer Einwirkung des Psychischen auf Körperliches wissen wir Nichts oder, besser gesagt, es gibt keine hinreichenden Erfahrungs- tatsachen , die auf eine solclie Wirkung hinweisen. Freilich ist dabei zuzugeben, daß — je nach der kritischen Veranlagung des Einzelnen — das , was für den Einen eine Tatsache ist, für den Anderen in das Gebiet der bloßen Vorstellung gehört. Rein kritisch -naturwissenschaftlich betrachtet, läßt sich auf Grund des Beobachteten nur sagen, daß von körperlichen Veränderungen geistige Werte abhängen können, daß mit ge- wissen körperlichen Veränderungen die geistigen Werte parallel gehen, in der Art etwa einer mathematischen Funktion. Wenn ich in einem Dreieck einen Winkel vergrößere und im übrigen Alles beim Alten belasse, so vergrößert sich auch die Länge der gegenüberliegenden Seite und umgekehrt, d. Ii. die Ver- längerung der Seite ist eine mathematische (logische) Funktion der Vergrößerung des gegenüberliegenden Win- kels und umgekehrt. Hier ist von einer Wirkung des Einen auf das Andere nicht die Rede. Habe ich jedoch auf der einen Seite eine Kochsalzlösung und andererseits eine Höllen- steinlösung, so entsteht beim Zusammengießen beider Lösungen als Folge des körperlichen Aufeinanderwirkens der gelösten Stoffe Chlorsilber, oder stoße ich eine auf dem Tisch frei- liegende Billardkugel an, so ist die Wirkung auf die Kugel die, daß sie sich bewegt. In diesen Fällen haben wir es mit physikalischen Funktionen zu tun, und das ist es, was gemeint wird, wenn man davon spricht , daß die Psyche auf den Körper wirke. Wie gesagt, eine solche Wirkung ist nicht festzustellen. Solange es für die ,, Erklärung" der Erschei- nungen möglich ist, mit denjenigen Mitteln auszukommen, die jeweilig als Resultate exakter naturwissenschaftlicher For- schungen anerkannt sind, ist es nicht geboten, andere Ge- danken zu verwenden. In unserem Falle hieße die Annahme von physikalischen Wirkungen der geistigen Werte auf den Körper das Gesetz von der Erhaltung der Energie umstoßen; denn an welche Stelle sollen die geistigen Werte innerhalb der Energieformen eingeschaltet werden? Zu welcher von diesen Formen sollen die geistigen Werte gerechnet werden ? Hierüber liegen auch nicht einmal von ferne Beobachtungen vor. Sollte das Gesetz von der Erhaltung der Energie be- gründet umgestoßen oder verändert werden können, erst dann würde die Sachlage in der Beurteilung unseres Falles eine andere werden; ebenso wenn eine neue Energieform gefunden würde, der sich die .Äußerungen, die wir als psychische be- zeichnen, einordnen ließen. Danach lassen sich also keine Analogieschlüsse aus der angeblichen Tatsache des Einwirkens der Psyche auf den Körper ziehen. Nun finden Sie freilich in unserer Rubrik ,, .Anregungen und -Antworten" S. 528 noch die alte Meinung vorgetragen, es lasse sich „eine Einwirkung des Psychischen auf den Kör- per objektiv nachweisen". Das steht nun in vollem Wider- spruch zu dem eben Gesagten, wonach gerade eine solche Einwirkung in naturwissenschaftlicher Weise, d. h. mit der strikte durchgeführten naturwissenschaftlichen Methodik, nicht beobachtet werden kann. Das ist so gründlich und trefflich von unseren besten Philosophen nachgewiesen worden, daß exakte Naturforscher eigentlich darüber nicht mehr streiten sollten. Auch ein Teil der Naturforscher ist sich darüber nicht mehr im Zweifel. Es sei nur einer zitiert. So sagt der englische Physiker John Tyndall, indem er darauf hinweist, daß wir nur soweit wir das Gehirn, also das Organ unserer seelischen Werte, untersuchen, die Mechanik derselben zu erforschen vermögen: ,,An diesem Punkte aber hören die Methoden der mechanischen Naturwissenschaft auf; und wenn man von mir verlangt, aus der materiellen Wechselwirkung der Gehirnmolekeln auch nur die einfachsten F>scheinungen des Fühlcns und Denkens abzuleiten, so gestehe ich mein Unvermögen ein. Beide sind ebenso sicher mit der Gehirn- substanz verknüpft, wie das Licht mit dem Aufgehen der Sonne. Aber während im letzteren Falle der ununterbrochene mechanische Zusammenhang zwischen der Sonne und unseren Sinnesorganen nachweisbar ist, fehlt in dem ersteren Falle die logische Kontinuität. Zwischen der Molckularmechanik und dem Bewußtsein klafft eine Lücke, die keine physikalische Beweisführung zu überbrücken vermag." Das ist auch unsere Meinung. Wenn wir dennoch in der Naturw. Wochenschr. auch andere Ansicliten ruhig aussprechen • lassen, so geschieht dies, um der Tendenz unseres Blattes ge- recht zu werden: ein Bild von dem jetzigen Durchschnitts- denken der Naturforscher zu bieten. Im übrigen seien hier nochmals zum Teil die Sätze wiederholt, die wir schon mehr- fach an dieser selben Stelle gebracht haben: Es darf nicht geschlossen werden, daß die Redaktion alle die Meinungen akzeptiert, die in der ,, Naturw. Wochenschr." zum Ausdruck kommen. Der ständige Leser unseres Blattes hat das auch längst annehmen müssen , da sich nicht selten gegenteilige Meinungen veröffentlicht finden. Die Redaktion hält es bei der Selbständigkeit des Leserkreises nicht für ihre Aufgabe, einer Richtung allein das Wort zu lassen. Es ist nur ausschlaggebend, daß das Vorgebrachte nach Möglich- keit der reinen Methode der Naturforschung folge, d. h. in der Richtung der reinen Beschreibung vorgehe. Es ist wichtig, seinem Gegenstande rein betrachtend (,, objektiv") gegenüber zu stehen. Aber der Mensch kann nicht aus seiner Haut: sind seine Gemütsregungen nach einer bestimmten Seite be- sonders stark entwickelt oder sind seine Kenntnisse stark ein- seitig, so können Resultate trotz des besten Willens doch schließlich von den bloßen Wünschen des Einzelnen mehr oder minder beeinflußt sein. Man wolle also durchaus nicht nach dem Satz ,,qui tacet consentire videtur" annehmen, daß die Redaktion der Naturw. Wochenschr. unbedingt mit allem einverstanden sei, was die Autoren als ihre Meinung in der Naturw. Wochenschr. äußern. P. Herrn Dr. M. in Hamburg, Herrn Apotheker M. in Hagen bei Bonn und Herrn Dr. R. in Münster i. W. — Schon im Jahre 1899, dann wieder im vorigen Jahre und in diesem Jahre gingen mir Klagen zu über eine Milbe, die in Woh- nungen und Stallungen massenhaft auftreten und besonders auch Kleidungsstücke aufsuchen und durch ihr Kribbeln em- pfindliche Menschen in einer unglaublichen Weise belästigen sollte. — Die Milbe erwies sich in allen Fällen als dieselbe, als die Nymphenform einer Laelaptide. — Jedesmal bat ich, mir, wenn möglich, größere, d. h. entwickelte Individuen schicken zu wollen, damit ich der Frage näher treten könne. Was ich bekam, war aber stets nur die Jugendform. Die Milbe scheint identisch zu sein mit einer in Italien vorkom- menden und von Berlese in zwei Nymphenformen als Lae~ laps doiiuslkus und I.aelaps casalis beschriebenen Art (A. Berlese, „Acari, Myriopoda et Scorpiones hucusque in Italia repetta, Ordo Mesostigmala", Patavii 1882 — 92, p. 135 et Tab. 51). Die kurze Rückenbehaarung haben die mir vorliegenden Stücke mit der letzteren gemein, die Form des Afterschildes mit der ersteren (vgl. Fig. i u. 2). Ein kleiner Fig. I. Nymphe der Kribbelmilbe Laclaps inarginahis, Körper etwa '/2 "i™ '^ng, nach Berlese. 75^ Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 47 Unterschied zwischen den mir vorliegenden Stücken und beiden Berl e se' sehen Figuren besteht darin, daß das hintere Haar auf dem Aftcrschildchen nicht auffallend größer ist als die beiden seillichen Haare desselben. Trotz dieses kleinen Unterschiedes aber glaube ich die mir vorliegenden Stücke mit der Berl ese 'sehen Art identifizieren zu sollen und da Fig. 2. Bauchseite der Nymphe von Laclaps marginatiis, nach B erlese, aber etwas geändert. B erlese die ihm vorliegenden Stücke für die Deutonymphe und Tritonymphe des C. L. Koch' sehen Gmnasus viarg'matits hält, würde Laelaps marginatus der zulässige Name der Art sein. Die beiden Entwicklungsstadien sollen nach Berl ese zusammen mit den erwachsenen Tieren in Häusern vorkommen und zwar besonders in Mehl, welches länger aufbewahrt wurde. — C. L. Koch (G. W. F. Panzer, Deutschlands Insekten, fortgesetzt von Herrich -Seh äffer, Heft 170, Fig. 22 u. 23) sagt, daß die Art ,,in Häusern, an Orten, wo Speisen aufbewahrt werden, in feuchten Winkeln der Küchen u. dgl. ziemlich häufig" vorkomme. — Andere Arten der Gattung LaelapSy wie L. stabnlaris^ Z. citbicularis, L. foenalis^ L. iigilis^ L. echidninus und L. pteroptoldes sollen nach Ber- 1 e s e (1. c. p. 99) vorübergehend auf Ratten und Mäusen vorkommen, um sich von diesen forttragen zu lassen (vgl. Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. 8, S. 670 f.). Auch auf dem Menschen wurde eine dieser Arten (Z. stabularis) bereits be- obachtet (vgl. G. Neumann, ,,Pseudo-parasitisme du Lae- laps stabularis sur une femme" in : Comptes rend. hebd. Seances Memoires Societe Biologie, Ser. 9, T. 5, Paris 1893, p. 161). Das ist alles, was ich über die vorliegende Milbe in der Literatur habe auffinden können. — Die drei zu meiner Kenntnis gelangten Fälle beweisen, daß das Vorkommen auf dem Menschen keineswegs selten ist und daß in dieser Be- ziehung nicht Laelaps siabulaiis , sondern Z. niarghiatiis die häufigste und lästigste Art sein dürfte, vorausgesetzt, daß Berlese die Nymphen richtig auf die entwickelte Form zu- rückführt. — Wie dem Ubclstande zu begegnen sei , darüber lassen sich, ohne eine vorangegangene gründliche Untersuchung der Lebensweise, kaum brauchbare Vorschriften geben. Nur einige allgemeingültige biologische Erfahrungssätze kann man jetzt schon aussprechen, da sie vielleicht zur Beruhigung der Gemüter beitragen: l) Die Art ist schon sehr lange über große Teile von Deutschland, vielleicht über ganz Deutschland verbreitet und kommt wahrscheinlich in sehr vielen Häusern vor, ohne daß sie lästig geworden wäre. Nur in denjenigen Häusern, in welchen sich die für sie günstigsten Lebensbe- dingungen finden, vermehrt sie sich derart, daß sie lästig wird. 2) Die Milben haben sehr gute Verbreitungsmittel, so daß man sich, zumal da sie sehr klein sind, vor einer Ein- schleppung in keiner Weise völlig schützen kann. Selbst Ratten und Mäuse können die Einschleppung besorgen. 3) Es ist also völlig unberechtigt, wenn man jemanden, in dessen Hause die Milbe zahlreich auftritt, ganz vom Verkehr aus- schließt, seine landwirtschaftlichen Produkte zurückweist und ihn geradezu zugrunde richtet, wie mir dies in einem Falle mit- geteilt wird. Die Nachbarn haben wahrscheinlich die Milbe schon längst in ihrem Hause. Sie vermehrt sich in diesen Häusern nicht in gleichem Maße, weil die Lebensbedingungen in denselben für die Milbe weniger günstig sind. Wodurch die Lebensbedingungen für die Milbe günstig werden, wissen wir freilich noch nicht hinreichend. Nach obigen Angaben scheint peinlichste Reinlichkeit vor allen Dingen geboten. Namentlich darf man .Abfälle usw. auch in Staubform nicht herumliegen lassen , wenn sich dies nur irgendwie vermeiden läßt. — Es scheint mir sehr erwünscht, daß das Kaiserliche Gesundheitsamt die Frage einmal in die Hand nehme. Vor allem würde es sich darum handeln , die Nahrung und die Entwicklung der Milbe eingehend festzustellen. Aus Unter- suchungen in dieser Richtung würden sich vielleicht ohne weiteres Vorbeugungs-, bzw. gründliche Beseitigungsmaßregeln, ergeben. Dahl. Herrn M. S. in D. — Zur Einführung in das Studium der Moose seien folgende Werke empfohlen : Abteiig. Moose in Engler-Prantl, Nat. Pflanzenfam. 1. 3 (2 Bde. mit vielen Fig., die neueste Zusammenstellung alles wissenswerten über die Gruppe; Leipzig, W. Engelmann, 1909). — G.Roth, Die europäischen Laubmoose, 2 Bde., Leipzig 1903 — 1905, mit 114 Tafeln lantiq. etwa 40 Mk.). — Limpricht, Die Laub- moose Deutschlands, Österreichs u. d. Schweiz (aus Raben- horst, Kryptogamenflora; klassisches Werk); 3 Bde., 1890 — 1904 (68 Mk). — C. Müller, Deutschlands Moose, Anleitung zur Kenntnis der Laubmoose, Halle 1853 (antiq. 3 Mk.; für Anfänger recht empfehlenswert, freilich etwas veraltet). — Loeske, Moosflora des Harzes (Leipzig 1903; 7 Mk."). — Lützow, Die Laubmoose Norddeutschlands (Gera 1895, mit 16 Tafeln; 3—5 Mk.). — Migula, Die Moose in Thome, Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bd. V. Gera 1904, mit 68 Tafeln; 19 Mk. — P. Sydow, Die Moose Deutschlands, Berlin 18S1 (2 — 3 Mk.). — Warnstorf, Die Leber- und Torfmoose der Mark Brandenburg, Berlin 1903. (17 Mk. antiq.); derselbe. Die Laubmoose der Mark Branden- burg, Berlin 1906 (42 Mk. antiq.). H. Harms. Herrn AA/. S. in Sp. — Sie fragen an, ob Hertwig Recht hat, wenn er in seinem Lehrbuch der Zoologie schreibt: ,,Linne wurde durch den Einfluß eines Arztes .... vor dem Schicksal, das Schusterhandwerk zu erlernen, bewahrt." Die Eltern Linne's, besonders seine Mutter, hatten den sehnlichen Wunsch, daß der Sohn, wie sein Vater, Pfarrer werden sollte. Während seiner Schuljahre benutzte er jede Gelegenheit, um mit Eifer naturwissenschaftliche Bücher zu studieren. Ohne Zweifel dürfte er hierbei nicht gerade wenig die übrigen Fächer vernachlässigt haben, und da zu jener Zeit die Theo- logie und die klassischen Sprachen dominierten, so schienen seine Kenntnisse und seine Begabung nicht zu größeren Hoff- nungen zu berechtigen. Hierin liegt der Grund für die vielen Legenden, die einige seiner Biographen überliefert haben (es sei ihm z. B. der Rat gegeben worden, sich einem praktischen Berufe zu widmen ; eine Zeitlang habe er sogar als Schuh- macher gearbeitet und es in diesem Handwerk zu großer Ge- schicklichkeit gebracht). Tatsache ist nur, daß einer seiner Lehrer, der Arzt Dr. Roth man, den Vater Linne's darüber aufklärte, daß der Sohn nicht Pfarrer werden könne, vielmehr sich dem Studium der Medizin widmen solle. Derselbe Mann gab dem jungen L. während der letzten Schuljahre Privatunterricht und hat auch später auf ihn wesentlichen Einfluß ausgeübt. L.'s Eltern haben sicli erst allmählich in den Gedanken gefunden, daß der Sohn dem Berufe des Vaters nicht folgte. Genaueres siehe bei R. E. Fries in Engler's Bot. J.ahrb. XLl. 1907 und besonders in der großen Linne- Biogr. von Th. Fries. H. Harms. Inhalt: Dr. Richard Cords: Über die Erfolge der neueren stereoskopischen Verfahren. — Sammelreferate und Über- sichten: Neues aus der Sinnesphysiologie. — Kleinere Mitteilungen: Emmerich: Die Cholera als Vergiftung durch salpetrige Säure. — Dr. Th. Arldt: Zur Simroth'schcu Pendulationshypothese. — Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: Schallen und Schauen. — Herbarium Dcndrologicum. — V. Föschl: Die Härte der festen Körper und ihre physikalisch-chemische Bedeutung. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue holge VIII. Band; der ganzen Reihe XXIV. Band. Sonntag, den 28. November 1909. Nummer 48. Die Erreichung des Nordpols. II. [Nachdruck verboten.] Otto Baschin. Im Gegensatz zu Cooks Reise, deren Aus- führung im wesentlichen durch die günstigen \'or- bedingungen für ein erfolgreiches Vordringen im Sommer 190S ermöglicht wurde, ohne daß lange, Iilanmäßige \'orbereitungen vorangingen, ist der Vorstoß Peary's das letzte Glied in einer Kette S}-stematisch durchgeführter Expeditionen. Die Schmiedung dieses letzten Gliedes wurde am 29. Januar 1899 begonnen, als die Subskribenten des „Peary Arctic Club" in New York zum ersten Male zusammentraten, mit der Absicht, die Erforschung des Polargebietes in dem Sinne Peary's zu fördern. Das vorbereitende Komitee sandte in den folgenden Jahren verschiedene Expeditionen mit den Schiffen „Diana", „Windward" und „Erik" nach Nordgrönland aus, um Peary in den Stand zu setzen, seine Polarreisen auszuführen. Die for- melle Gründung des Klubs erfolgte jedoch erst am ig. April 1904.') Der Zweck dieser Körper- schaft war nach dem Wortlaut der Satzungen „die Bildung und Unterhaltung regelmäßig wieder- holter Expeditionen zu fördern und zu unterstützen, die unter der Leitung von Commander Robert E. Peary dessen Erforschung des Polargebietes fortsetzen und die von ihm gemachten geographi- schen Beobachtungen vervollständigen sollen". Als letzter Zweck wird genannt „die Beschaffung von Geldmitteln für Commander Peary's Bestrebungen, den nördlichsten Punkt der westlichen Halbkugel zu erreichen". Das Präsidium des Klubs übernahm Herr Morris K. Jesup, der die Pläne desselben durch freigebige Bereitstellung von Mitteln auf das nachdrücklichste förderte und insbesondere weit- gehende Garantien übernahm, so daß schon im Juli 1904 der Beschluß gefaßt werden konnte, ein eigenes Polarschiff zu bauen. Die Form des ge- planten Schiffes unterschied sich nicht in wesent- lichen Punkten von der des Polarschiffes „Fram", das sich auf Nansen's dreijähriger Fahrt durch das Nordpolarmeer 1893 bis 1896 und später auf der vierjährigen Entdeckungsreise Sverdrup's durch den arktischen Archipel Nordamerikas 1898 bis 1902 so ausgezeichnet bewährt hatte. Einige Modifikationen erwiesen sich jedoch in Hinblick auf die etwas andere Aufgabe des Peary'schen Schiffes als geboten. Bei der ,,Fram" war das Hauptaugenmerk darauf gerichtet, dem Rumpf des Schiffes eine Gestalt zu geben, die es ihm ermög- lichte, sich bei Eispressungen leicht und bequem ') Nicht, wie auf Seite 626 irrtümlich angegeben, im Jahre 1886, ein Fehler, der sich auch im Geographen-Kalender, Jahrgang 1908, findet. ZU heben, und dieser Forderung wurden alle anderen Rücksichten geopfert, auch die Seetüchtigkeit und die Fähigkeit, sich einen Weg durch das Eis zu bahnen. Für ihren Hauptzweck jedoch, nämlich in das Eis einzudringen und sich mit diesem treiben zu lassen, ohne durch die Eispressungen zertrüm- mert zu weiden, hat sich die ,,Fram" als vorzüg- lich geeignet erwiesen. Das von Peary gewählte Modell dagegen sollte sich nicht nur bei den Pressungen heben, sondern auch kurz genug sein, um leicht zu manövrieren, und fähig, sich mit Kraft und Ausdauer durch schweres Eis Bahn zu brechen. Bezüglich der Triebkraft ging Peary da- her vollständig von der für arktische Schiffe gel- tenden Tradition ab, volle Segelausrüstung und schwache Hilfsmaschinen zu wählen. Die Haupt- aufgabe seines Schiffes sollte sein, sich den Weg durch dichtes Treibeis mit Gewalt zu erzwingen und die schweren Schollen, deren Zertrümmerung sich als unmöglich erwies, zu umfahren. Dies war der Plan, nach dem das Schiff gebaut wurde, welches am 23. März 1905 vom Stapel lief und von Frau Peary „Roosevelt" getauft wurde. Der Brutto- raumgehalt beträgt 614 Registertonnen. Die zur Unterbringung der Teilnehmer gebauten Decks- häuser sowie Verschanzung, Spieren, Segel, Take- lage, Boote und sonstige Ausrüstung auf Deck wurden so leicht als möglich hergestellt, während das Schiff unter dem Hauptdeck außergewöhnlich stark gebaut ist. Es enthält eine dreifache Kessel- anlage, Compoundmaschinen von tausend Pferde- kräften, eine ungewöhnlich schwere Welle aus Schmiedestahl von zwölf Zoll Durchmesser und eine kräftige Schraube von elf Fuß Durchmesser. Die Takelung ist die eines Dreimastschooners mit vierzehn Segeln. Schon auf ihrer ersten Reise nach Norden im Jahre 1905 war es der „Roosevelt" gelungen, ohne sonderliche Schwierigkeit den nördlichsten, in jener Gegend zu Schiff erreichten Punkt noch um zwei Meilen zu übertreffen, und auch im Jahre 1908 be- zog Peary nach guter Reise am 5. September seinen alten Winterhafen bei Cap Sheridan, der Nordostecke des Grantlandes, von wo im Februar 1909 der Weg längs der Nordküste desselben nach Westen angetreten und die Nordspitze der Küste bei Cap Columbia in etwa 83 Grad nördlicher Breite erreicht wurde. Von hier aus erfolgte am i. März der Aufbruch nach Norden über das Eis des Polar- meeres. Die Expedition bestand außer Peary aus 5 Weißen, 17 Eskimos, einem Neger, 133 Hunden und 19 Schlitten. Bemerkenswert ist die Klage Peary's, daß er so oft auf offenes Wasser stieß, 754 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 48 das dem Vordringen der Reisenden äußerst hinder- lich war. So mußte z. B. am 4. März an einem großen See von offenem Wasser gelagert werden, und erst am 11. März war es möglich, die Reise fortzusetzen. Am 5. März mittags erschien die Sonne zum ersten Male seit dem i. Oktober für wenige Minuten über dem Horizont. In der Nähe des 84. Breitengrades wurde eine Lotung aus- geführt und eine Tiefe von IIO Faden ermittelt. Am 14. März betrug die Lufttemperatur — 50" C, und eine Lotung, die eine Tiefe von 825 Faden ergab, bewies, daß der Rand des untermeeri- schen Kontinentalsockels jetzt erreicht war. Mehr- mals gerieten die Expeditionsteilnehmer bei ihrem weiteren V^ordringen dadurch in große Lebensge- fahr, daß sich dicht neben der Schneehütte, in der sie übernachteten, breite Spalten im Eis ge- bildet hatten, und das offene Wasser bis auf wenige Fuß an ihre Schlafstätte heran drang. Soweit es sich feststellen ließ, war das Eis in einer Bewegung nach Osten begriffen. Am 18. März wurde der 85., am 23. der 86. und am 27. der 87. Breiten- grad passiert. Eine Abteilung der Fxpedition nach der anderen war unterwegs umgekehrt, und schließlich befand sich nur Kapitän Bartlett noch als einziger Weißer bei Peary. Aber auch dieser wurde in 87 Grad 48 Minuten zurückge- schickt und Peary behielt nur vier Eskimos und einen Neger bei sich, mit denen er am 2. April den 88. und am 4. April den 89. Breitengrad bei einer Lufttemperatur von — 40 " C überschritt. Später trat ein plötzlicher Umschwung in der Witterung ein, der einen Temperaturanstieg bis auf — 26 " C im Gefolge hatte, was die Reibung der Schlittenkufen auf dem Schnee beträchtlich verminderte, so daß es zuletzt in schneller Fahrt mit galoppierenden Hunden vorwärts ging, und der Pol am 6. April erreicht werden konnte. Peary verblieb 30 Stunden am Pol und be- nutzte diese Zeit zu .Ausflügen nach verschiedenen Richtungen, zum .Anstellen von Beobachtungen und Absuchen des Horizontes nach etwaigem Land, jedoch mit negativem Erfolg. Die Lufttemperatur schwankte während dieser Zeit zwischen — 36 und — 24 " C. Fünf englische Meilen vom Pol ent- fernt nahm Peary eine Lotung vor, bei welcher er jedoch in 1500 Faden Tiefe keinen Grund fand, so daß die Lage des Pols außerhalb des Kon- tinentalsockels als sicher betrachtet werden darf Am 7. April wurde die Rückreise angetreten, und am 23. April war Cap Columbia, wenige Tage später die „Roosevelt" wieder erreicht. Diese lichtete ihre Anker am 18. Juli und traf am 5- .September in Indian Harbour ein, von wo der Telegraph die Kunde von dem Erfolge Peary 's weiter trug, genau fünf Tage später, nachdem das erste Telegramm Cooks die Welt alarmiert hatte. In den Tageszeitungen löste die Nachricht von der „Entdeckung" des Nordpols, wie die Erreichung desselben unberechtigterweise genannt wurde, eine große Anzahl von Meinungsäußerungen aus, die bekanntlich in dem Zweifel gipfelten, ob die beiden Forscher den Pol wirklich erreicht hätten. Na- mentlich Cook hatte einen schweren Stand, zumal Peary sofort Partei gegen ihn ergriff und behaup- tete, er wäre nicht weiter als zwei Tagereisen über die Küste von Grantland vorgedrungen. Selbst- verständlich ist es nicht möglich, eine Tatsache anzuführen, die den unwiderleglichen Beweis liefert, daß Cook den Pol erreicht hat, aber auch keine, die das Gegenteil bezeugt. Gegenüber den zahlreich geäußerten Zweifeln an der Ehrlichkeit Dr. Cook's ist es daher für uns Deutsche besonders erfreulich, daß unser hervor- ragendster Polarforscher, Professor Erich von Drygalski in München, von .Anfang an in ent- schiedener Weise für Cook Stellung genommen hat.') Er betont, daß die sehr zu bedauernden Angriffe Peary's auf Cook auch nicht einen sach- lichen Grund böten. Es liege nicht der geringste Grund vor, Cook Mißtrauen entgegenzubringen, nur weil er vorher weniger bekannt war, als sein jetziger Rivale. Cook sei ein durchaus ernst zu nehmender, wissenschaftlich tüchtiger und ver- trauenswürdiger Mann, dem es gänzlich fern liege, mehr zu berichten, als er getan, und der sich von anderen, sehr bekannten Forschern der Neuzeit, sicher nicht zu seinem Nachteil, darin unterscheide, daß er sein Unternehmen in der Stille vorbereitet und durchgeführt habe. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daß andere Geographen einen weniger zuversicht- lichen Standpunkt einnehmen. Dies gilt besonders von dem Direktor des Museums für Meereskunde in Berlin, Professor Penck, dessen Ansicht aus dem Grunde vielfach vorbildlich geworden ist, daß sie vor einer stark besuchten Versammlnng auf der Si. Tagung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Salzburg vorgetragen wurde. Penck's Ausführungen seien daher hier, unter möglichster Anlehnung an den Wortlaut seiner Publikation,-) kurz resümiert: Die Geographie hat zu der viel erörterten Frage : „Ist der Nordpol entdeckt?" dieselbe Stellung einzunehmen, die man allgemein gegenüber neuen wissenschaftlichen Entdeckungen einzuhalten ge- wöhnt ist. Wenn wir von einer neuen Entdeckung hören, die ein Mann von Ruf gemacht hat, so nehmen wir die Nachricht mit gutem Glauben auf Aber nicht jede Nachricht findet Glauben, und mancher Zweifel an deren Richtigkeit findet nachher Bestätigung. Solch eine rein persönliche Stellungnahme ist noch keine wissenschaftliche Überzeugung. Eine solche können wir uns erst bilden, wenn die Originalberichte des Entdeckers vorliegen, die uns Einblick in seine Beobachtungen gewähren, die uns seinen Gedankengang offen- baren. In der oben gestellten Frage sind wir aber bisher ganz und gar auf unseren guten Glauben angewiesen. Peary ist wissenschaftHch anerkannt. ') Süddeutsche Monatsliefte, 1909, Seile 4S9 — 491. ') Allgemeine Zeitung, München, 1909, Nr. 42. N. F. VIII. Nr. 48 Naturwissenschaftliche Wochenschrift 755 Hr war Präsident des achten Internationalen Geo- grapbenk-ongresses in Washington und ist ein Mann, zu dem man volles Vertrauen haben kann. Cook hat auf seine Schiftsgenossen während der Rückfahrt von Grönland einen sehr günstigen Kin- druck gemacht. Sverdrup und Amundsen sind von seiner Glaubwürdigkeit überzeugt. Aber Cooks frühere Berichte über seine Bestei- gung des Mount McKinley in Nordamerika haben Zweifel criegt, und solche sind wiederholt von kompetenten Beurteilern in sehr entschiedener Weise geäußert worden. Auch sein Buch über die Polarnacht macht wegen der sensationellen Schreibweise einen unwissenschaftlichen Eindruck, so daß es \-ol!auf verständlich ist, wenn Zweifel an der Richtigkeit des Cookschen Erfolges aus- gesprochen worden sind. Es ist aber aus der Geschichte der Geographie bekannt, daß mehr als einmal Berichte von Reisenden angezweifelt worden sind, die sich nachher als durchaus zu- verläßlich erwiesen. Andererseits hat sich neuer- lich die Zahl der auf Fälschungen beruhenden Reisewerke bedenklich gemehrt, und derartige Fälle mahnen entschieden zur Vorsicht. Man muß daher von den beiden Reisenden verlangen, daß sie uns die nötigen Aufklärungen über ihre Fahrten in einem wissenschaftlichen Bericht erstatten, wenn sie uns von deren Wirklichkeit und Erfolg über- zeugen wollen. Wir brauchen Einzelangdben über die von ihnen zurückgelegten Wegstrecken nach Zeit und Richtung und über die W'itterungsver- hältnisse, die sie angetroffen; wir benötigen die Mitteilung der astronomischen Beobachtungen, aus denen die Positionen gerechnet worden sind, und völlige Kenntnis der benutzten Instrumente. Kurz, wir verlangen vollen Einblick in das Material, auf Grund dessen beide Reisende annehmen, den Pol erreicht zu haben, und es wird nichts schaden, wenn sie uns von den entscheidenden Beobach- tungen Faksimilereproduktionen ihrer Tagebücher mitteilen. Eine strenge Beweisführung, wie sie durch Wiederholung von Beobachtungen oder Ex- perimenten in der Wissenschaft gang und gäbe ist, erscheint ausgeschlossen, weil beide Reisende nichts getan haben, was die zweifellose Feststellung, daß sie am Pole gewesen sind, ermöglichen könnte. Die Schilderung des Pols, die Cook gegeben hat, ist durchaus ungenügend: er spricht von weiten Eisflächen und großer Ode; aber er spricht mehr zu unserem Empfinden, als zu unserem \^erstande und vermeidet ebenso das Eingehen auf konkrete Einzelheiten, wie es jemand tun würde, der den Pol nur auf Grund der Literatur und nicht auf Grund eigener Anschauung schildern sollte. Hier heißt es in die Tiefe gehen. Der Entdecker des Pols, der kontrollierbare Daten liefern will, muß die Meerestiefe am Pol loten, denn diese wechselt nicht so jäh, wie die Höhen des Landes, und es kann erwartet werden, daß ein anderer Beobachter am Ort des Pols sie ebenso finden wird, wie er. Die Expeditionen von Cook und Peary tragen einen mehr sportlichen als wissenschaftlichen Cha- rakter, und es ist vielleicht nicht unnötig, zu be- tonen, daß selbst sportliche Exkursionen, wenn sie den Beweis für die Erreichung des Zieles wirklich streng führen, und den Faktor der mehr oder minder großen Glaubwürdigkeit der einzelnen Reisenden bei Beurteilung von deren L,eistungen gänzlich ausschließen wollen, wissenschaftliche Be- obachtungen am Ort des Pols ausführen müssen. Die Kontroverse Cook-Peary führt zu der Notwen- digkeit, die Polarforschung gegenüber den bloßen Polarreisen wieder zu betonen, und der schwere wissenschaftliche Apparat, den manche Polarex- peditionen, z. B. die deutsche Südpolarexpedition, mitgenommen, erweist sich selbst dann, wenn man nur die Erreichung des Pols als Endziel hinstellt, als ein unerläßliches Rüstzeug. Jedenfalls bleibt, wenn wir auch heute glauben wollen, daß der Pol erreicht worden sei, die wissenschaftliche Ent- schleierung des Pols noch zu leisten. Die gegen- wärtige Situation führt uns klar vor Augen, daß wir an Stelle der bisherigen Polarreisen wieder die Polarforschung treten lassen müssen. Diese Ausführungen zeigen deutlich, daß Penck offenbar nicht so fest von der Ehrlichkeit Cooks überzeugt ist, wie v. Drygalski, und es läßt sich nicht verkennen, daß sein maßgebender Einfluß in diesem Sinne auf verschiedene wissenschaftliche und Laien- Kreise Deutschlands bestimmend gewirkt hat. Daß die Royal Geographica! Society in London, die älteste und angesehenste von allen geographi- schen Gesellschaften, nur Peary, nicht aber Cook beglückwünscht hat, ist gleichfalls vielfach als eine Stellungnahme gegen Cook gedeutet worden. In Dänemark dagegen ibt man von der Richtig- keit der Cook'schen Berichte fest überzeugt, was auch in erhebender Weise bei den Feierlichkeiten, die bei seiner Ankunft in Kopenhagen veranstaltet wurden, zum Ausdruck kam. Dies ist um so be- achtenswerter, als keine andere Stadt der Welt so viele hervorragende Kenner und Erforscher Grönlands in seinen Mauern vereinigt, als gerade Kopenhagen. Auch der in Grönland weilende Eskimoforscher Knud Ras müssen, der zur Zeil als der beste Kenner der Eskimosprache gilt, hat seine gewichtige Stimme zugunsten Cooks in die Wagschale geworfen. Hoffentlich wird diese unerquickliche Episode einer glänzenden Epoche in der Entdeckungsge- schichte bald der Vergangenheit angehören, wenn die von der Universität Kopenhagen und der National Geographie Society in Washington über- nommene Prüfung des Beweismaterials von Cook beziehungsweise Peary zu Ende geführt ist. Vielfach ist nun, bevor Nachrichten von Peary's Expedition vorlagen, behauptet worden, daß die von Cook erzielten Geschwindigkeiten bei den einzelnen Etappen seines Vordringens zu groß seien , als daß man ihnen Glauben beimessen könnte. Ja, manche Polarreisende haben sogar ein so schnelles Vordringen mittels Schlitten auf dem arktischen Eise für ausgeschlossen erklärt. 756 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 48 Es ist daher interessant die Geschwindigkeiten, welche die beiden Reisenden bei ihrem Vorstoß nach dem Pol erzielt haben, miteinander zu ver- gleichen. Da in der Nähe des Pols der Breitengrad einer Längenerstreckung von 1 1 1 680 m entspricht, so ergibt sich die folgende Zusammenstellung: Cook: Am 30. März 1908 in 84 "47' „ 21. April igoS in 90"o' Peary: „ 18. März 1909 in 85V „ 6. April 1909 in 90 "o' Die durchschnittliche Geschwindigkeit von Peary ist also merklich größer gewesen, als die von Cook. Zieht man nun ausschließlich die letzte Strecke bis zum Pol in Betracht, so ergeben sich die folgenden Zahlenwerte ; Cook: Am 14. April 1908 in 88"2i' „ 21. „ 1908 in 90V 'eary: 2. 6. 1909 in 88 "o' 1909 in 90^0' Man sieht also, daß Peary zuletzt in außer- ordentlich beschleunigtem Tempo vorgedrungen ist, und daß die von ihm erreichten Geschwindig- keiten diejenigen von Cook um mehr als das Doppelte übertroffen haben. Auf jeden Fall muß die Beschaffenheit des Eises im Frühling dieses Jahres ungewöhnlich gut gewesen sein, da es sonst wohl selbst einem in arktischen Schlittenreisen so erfahrenen Polarforscher, wie Peary es ist, nicht möglich gewesen wäre, solche, unseres Wissens einzig dastehende Gewaltmärsche auszuführen. Es zeigt sich aber auch auf das deutlichste, wie recht Peary hatte, als er immer wieder von neuem die Nordküste des Grantlandes, bzw. Nordgrönlands, zum Ausgangspunkt seiner Expeditionen wählte. Hier liegen die am weitesten nach Norden vor- geschobenen bekannten Landmassen der Erde, deren Erreichung heutzutage keine sonderlichen Schwierigkeiten mehr macht. Hier finden wir aber auch günstigere Strömungsverhältnisse als etwa auf der atlantischen Seite der Arktis, wo die nach Süden setzende Strömung jedes Vordringen nach Norden außerordentlich erschwert. Daß auch in der Nähe des Pols das Eis gegen Ausgang des Winters nicht fest hegt, sondern manchen Ortsveränderungen unterworfen ist, das geht sowohl aus den Berichten von Cook als auch aus denen von Peary hervor. Beide fanden, daß schon vor dem Ende der Winternacht häufig aus- gedehnte Strecken offenen Wassers das Vordringen erschwerten, und sogar jenseits des 87. Breiten- grades wurde am 28. März schon offenes Wasser angetroffen. Bezüglich des von Cook entdeckten und ,,Bradleyland" getauften Landes ') liegen jetzt etwas ausführlichere Nachrichten vor. Danach zog sich die Küste des im Westen gesichteten Landes etwa Zahl der Tage 19 Kilometer 583 558 Kilometer pro Tag 26,5 29.3 parallel der Marschroute entlang. Was von der Küste zu sehen war, erstreckte sich annähernd längs des 102. Meridians von 83 Grad 20 Minuten bis 84 Grad 51 Minuten nördlicher Breite. Das Land hatte eine unregelmäßige, gebirgige Küste. Zahl der Tage Kilometer 184 223 Kilometer pro Tag 26,3 55,7 Es war vielleicht 500- 600 m hoch und in seinen oberen Regionen dem Hochland der Axel Heiberg- insel ähnlich. Diese genaueren Nachrichten ver- kürzen die vorher auf etwa 300 km geschätzte Entfernung zwischen Bradleyland und Crockerland so beträchtlich, daß die schon früher'-) ausge- sprochene Vermutung, es handle sich um ein und dasselbe Land, wohl als bestätigt angesehen werden kann. Es scheint sogar nicht ausgeschlossen, daß der südliche Teil von Bradleyland mit Crockerland identisch ist. Ob es sich bei diesen neuentdeckten Ländern nur um die nördlichsten Ausläufer des arktisch- amerikanischen Archipels, oder vielleicht um einen nach Südosten vorgeschobenen Teil eines bisher unbekannten großen Polarlandes handelt, das zu entscheiden muß der zukünftigen Polarforschung vorbehalten bleiben. Der zwischen dem Grönland- see und der Beringstraße belegene, noch völlig unbekannte Teil des Nordpolargebietes bietet jedenfalls Raum genug für ein Land von der vier- fachen Größe des Deutschen Reiches. Ist somit auch durch die Erreichung des Nord- pols ein Hauptanreiz für die Betätigung kühnen Wagemutes ausgeschaltet worden, so wird davon doch zunächst nur diejenige Richtung der Polar- ') Vgl. Seite 627 dieses Bandes. '') Auf Seite 627 dieses Bandes. N. F. VIII. Nr. 4S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 757 forschung betroften, die in dem Erreichen mög- lichst hoher Breiten ihr Ziel sieht, und zu deren Betätigung hervorragende sportliche Leistungen unbedingt erforderlich sind. Die wissenschaftliche Erforschung des Nord- polargebietes dagegen hat durch die kühnen Vor- stöße der beiden Pioniere reiche Anregungen er- fahren, und namentlich die Entdeckung der neuen Landgebiete wird dazu beitragen, die Überzeugung von der Notwendigkeit wissenschaftlicher P"or- schungsexpeditionen nach dem hohen Norden in immer weitere Kreise zu tragen. Sammelreferate und Übersichten über die Fortschritte in Neues aus der Geologie. I. Zur Kenntnis der deutschen Kali- salzlager. Die Kalisalzlagerstätten der Zech- steinformation enthalten neben den für den Berg- bau und die Technik wichtigen oder sonst in größeren Mengen als selbständige Mineralien auf- tretenden Salzen — dies sind bekanntlich Kali- und Magnesiasalze, Borazit, Steinsalz und Anhydrit — noch eine Reihe von Bestandteilen, die in ge- ringen Mengen vorkommen und, weil nur z. T. technisch verwertbar, wenig Beachtung gefunden haben. Von solchen seltenen Stoffen kommen in Be- tracht Verbindungen von Brom, Rubidium, Cäsium, Ammonium, Lithium, Thallium, sowie eine Anzahl von Gasen, die entweder in den Poren der Salze eingeschlossen sind (Knistersalz, weil es beim Auflösen unter lebhaftem Geräusch zerspringt) oder auf Klüften auftreten und nicht selten unter starkem Druck stehen. Mit Sicherheit sind nach- gewiesen Wasserstoff, Kohlensäure, Schwefelwasser- stoff, Stickstoff, ferner Gasgemische von Sauerstoff (Luft), Kohlenwasserstoffen und Kohlensäure. Der auf Anregung von Rinne, van't Hoff und Precht 1906 begründete „Verband für die wissen- schaftliche Erforschung der deutschen Kalisalz- lagerstätten" hat es sich u. a. zur Aufgabe ge- macht, die analytische Untersuchung der Kalisalz- lagerstätten zu fördern, und besonders sollte auch auf jene in untergeordneten Mengen auftretenden Bestandteile, die wissenschaftlich ein hohes Inter- esse besitzen, geachtet werden. Die Ergebnisse einiger auf Veranlassung dieses Verbandes unternommener Untersuchungen liegen bereits vor. „Über die Entstehung von Wasser- stoffgas in Kalisalzlagern" berichtet A. Johnsen in der Zeitschrift „Kali" 1909, Heft 6. .Ausströmungen von Wasserstoffgas sind schon mehrfach in Salzbergwerken beobachtet worden. In Douglashall brannte von April bis Juni 1875 in 250 m Teufe eine 1,5 m hohe, rauschende Flamme, wobei sich ein stechender Geruch von Salzsäuredämpfen bemerkbar machte. In Neustaß- furt wurde am 30. Dez. 1878 auf der 300 m-Sole eine fast gleichgroße Flamme angefahren, die all- mählich kleiner werdend etwa 2 Monate lang brannte. Precht stellte durch eine Untersuchung der Gase fest, daß sie aus 93 Volumprozenten Wasserstoff, 0,8 "j, Methylwasserstoff und 5,8% den einzelnen Disziplinen. Stickstoff bestanden. 1904 fand beim Schacht- abteufen in Eime, Prov. Hannover, durch solche Gasausströmungen eine Explosion statt, welche mehreren Arbeitern das Leben kostete. Precht wies schon vor einiger Zeit darauf hin, daß das den Carnallit rot färbende Eisenoxyd ur- sprünglich als Eisenchlorür vorhanden und mit dem Carnallit chemisch verbunden war; beide bildeten das Doppelsalz Eisenchlorür- Chlorkalium (Dou- glasit 2 K Cl • Fe Cl., • 2 H.^ O). Durch Oxydation des Eisenchlorürs durch das Kristallwasser des Carnallits entstand Eisenoxyd, und Wasserstoff wurde frei. Für die Richtigkeit dieser Erklärung Precht's spricht eine weitere von Johnsen ausgeführte Untersuchung über ,,R egelmäßige Ver- wachsung vonCarnallit und Eisenglanz" (Zentralbl. f. Min., Geol. u. Pal. 1909, H. 6). Wie die mikroskopische Prüfung ergab, sind die Eisen- glanzkriställchen dem Carnallit stets orientiert eingewachsen. Eine solche regelmäßige Ver- wachsung würde nicht vorkommen, wenn der Eisenglanz bereits in der Mutterlauge des Car- nallits vorhanden gewesen und von diesem bei der Kristallisation umschlossen worden wäre. Der Eisenglanz kann sich daher nur sekundär in den Carnallitkristallen gebildet haben. Ursprünglich lag, wie Precht annahm, demnach ein EisenMagnesiumCarnallit vor, bzw. ein kleiner Teil des Chlormagnesiums war durch Eisenchlorür vertreten. Der chemische Vorgang der Zersetzung des Carnallitkristallwassers und der Oxydation des Eisenchlorürs wird von Johnsen folgendermaßen formuliert; I. 6(Fe Cl., • K Cl ■ 6 H..0) = 4 Fe CL, + Fe.Og + " 6KC1 + 33H.,0 + 3H2. Eisenchlorid ist nun auch schon beobachtet worden; z. B. ist der Carnallit von Beienrode (Braun- schweig) durch Eisenchlorid weingelb gefärbt. Die weitere Oxydation verlief, wie anzunehmen ist, jedenfalls unter Mitwirkung des Magnesium- hydroxyds, das nach Precht und Ruff im Carnallit in beträchtlichen Mengen fein verteilt ist: II. 4 Fe CI3 + 6 Mg (0H)„ = 2 Fe., O, + 6 Mg Cl., -|-6H.,0. Das bei beiden Prozessen freigewordene Chlor- kalium und Chlormagnesium und das entstandene 758 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 48 Wasser setzten sich dann um zu Carnallit, wobei etwas Wasser ungebunden blieb: III. öKCl + eMgCla + sgHoO = 6(Mg Cl„ • K Cl ■ 6 R, O) + 3 R,0. In den untersuchten Proben von Staßfurt betrug die Menge des Eisenglanzes 0,55 Gewichtsprozente des Carnallits, entsprechend einer Mischung von 98 Molekülen Magnesiumcarnallit und 2 Molekülen Eisencarnallit. I kg Carnallit erzeugt demnach etwa 70 ccm Wasser und gegen 100 1 Wasserstoffgas. Umkristallisationen des Carnallits, die im Ge- folge tektonischer Störungen oder aus anderen Ursachen eintraten, haben naturgemäß die ur- sprüngliche Regelmäßigkeit der Eisenglanzeinlage- rungen zerstört. Derartige Vorgänge gaben ferner dem freigewordenen Wasserstoff Gelegenheit zum Entweichen und zur Ansammlung in Hohlräumen und Klüften des Salzlagers. „Ü berdas Vorkommen von Ammoniak und Nitrat in den K a 1 i s al zlage rst ät t e n" haben W. Biltz und E. Marcus Untersuchungen angestellt (Zeitschr. f. anorg. Chemie 1909 und Kah 1909,14.6). Das Vorkommen von Ammonium- verbindungen in den Kalisalzen hat zuerst W. Diehl nachgewiesen, der 1875 in einem natür- lichen Carnallit 0,01 "/oi '" einem künstlichen Carnallit 0,015";',) Ammoniumchlorid fand. Natürliche Carnallite von Leopoldshall ent- halten 0,03 — 0,27"/,,, künstliche bis zu 0,870 NH4CI. Nach einer Mitteilung U. Erdmann's reichert sich der Ammoniakgehalt bei der Ver- arbeitung des Carnallits auf Rubidium in den ent- stehenden Doppelsalzen an. Die Bedeutung des Auftretens von Ammoniak und Nitrat, auf die bisher noch nicht geachtet worden war, in den Kalisalzlagern liegt darin, daß sie das Vorhandensein organischen Lebens anzeigen. Für die Untersuchung wurden systematisch zwei Profile durch die Kalilager von Staßfurt und Vienenburg durchanalysiert. Das Profil im Bcr- lepsch-Schacht zu Staßfurt ist im wesentlichen ungestört; die klassische Schichtfolge ist hier vom Liegenden zum Hangenden: älteres Steinsalz, Polyhalit, Kieserit, Carnallit, Steinsalzlinse, Hart- salz, Carnallit, Salzton, jüngeres Steinsalz. In der stark gestörten Vieneiiburger Lagerstätte treten dagegen 3 Carnaliitlagen mit Hutbildungen von Kainit und Sylvinit auf Für das Staßfurter Salzlager ergab sich, daß der Ammoniakgehalt sehr dem Wechsel unter- worfen ist, aber wesentlich dem Carnallit- gehalt folgt. Während das ältere Steinsalz frei ist, enthalten die ihm eingelagerten Carnallit- schnüre (Jahresringe) Ammoniak. An den Kali- gehalt selbst ist das Ammoniak jedoch nicht ge- bunden. Auch der Salzton enthielt neben Carnallit Ammoniak, während die übrigen Salzregionen nur Spuren von Ammoniak enthielten. Dieses ge- setzmäßige Zusammenvorkommen von Carnallit und Ammoniak gestattet die Annahme, daß es als Ammoniumcarnallit vorhanden ist. Die Untersuchung des Vienenburger Salz- profils bestätigte durchaus die in Staßfurt ge- wonnenen Erfahrungen; auch hier war in gesetz- mäßiger Weise eine Abhängigkeit des Ammoniaks vom Carnallit zu beobachten. Bei der Prüfung auf Nitrat stellte sich das bemerkenswerte Ergebnis heraus, daß die Salze nitratfrei sind, daß dagegen die mittleren Lagen des Salztons in Vienenburg und in Staßfurt qualitativ und quantitativ nachweis- bare Mengen von Nitrat enthielten. Das Vorkommen des Ammoniaks und Nitrats in den Kalisalzlagerstätten bietet nun einige Hin- weise auf die Bildung dieser Salzlager. Unter der Annahme, daß das gesamte ältere Steinsalz ammoniakfrei ist, läßt sich annähernd berechnen, daß auf 10 g Salz des gesamten Salz- lagers im Mittel ein Ammoniakgehalt von 0,0i6 mg kommt. Wenn man auf Grund dieser Berech- nung durch Auflösen des gesamten Salzlagers ein künstliches Meerwasser von der gleichen Konzen- tration des heutigen Meerwassers — mit einem mittleren Salzgehalt von 35 g auf I 1 — her- stellen könnte, so würde dieses künstliche Meer- wasser im Liter 0,056 mg Ammoniak enthalten. Das heutige Meerwasser enthält etwa 0,2 mg Ammoniak, also fast viermal mehr. Zu diesem „toten" Ammoniakgehalt des Meerwassers kommt noch der Stickstoffgehalt der lebenden Organismen hinzu, der den Salzlagern ebenfalls fehlt. Aus diesen geringen Mengen folgt mit Not- wendigkeit der Schluß, daß organisches Leben bei der Entstehung der Salz- lager fast vollständig fehlte; es bestätigt sich von neuem die von Erdmann und Wal- ther vertretene Anschauung, daß die Kalisalzlager nicht durch unmi tt elbar e Verdu nstu ng von Meerwasser entstanden sind. Eine Stütze der Ansicht, daß der Stickstoff im Salzlager in der Tat organischen Ursprungs ist, ist das Vorkommen von Nitrat und Ammoniak im mittleren Salzton, gerade in den Lagen, in denen überhaupt bisher einige wenige organische Reste gefunden worden sind. II. .Die Bildung der Oolithe und Rogensteine. Die in allen Formationen vom Kambrium bis zur Gegenwart z. T. weit ver- breiteten Oolithe bestehen aus einzelnen mohn bis erbsengroßen Kügelchen von kohlensaurem Kalk, und zwar, wie G. Linck 1903 nachwies, bei der (Bildung!' in der Modifikation des Aragonits, der sich regelmäßig in die beständigere F"orm des Kalkspats umwandelt. Nach ihrem Aufbau zerfallen die Oolithkörner in drei Gruppen: bei manchen Oolithen bestehen die Kügelchen aus radialstrahlig angeordneten Kalkfasern mit oder ohne konzentrisch schaligem Bau; bei anderen — und zwar treten diese Oolithe am häufigsten auf — , nur aus konzentrischen Schalen ohne radiales Gefüge; oder schließlich ist N. F. Vlll. Nr. 48 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 759 weder Schalenbau noch radiale Anordnung vor- handen (Pseudooliihe). Die im unteren Buntsand- stein Norddeutschlands auftretenden Rogensteine sind Oolithe mit mehr oder minder reichlichem, tonigen oder mergeligen Bindemittel. Sie scheinen von allen Oolithen zuerst die Aufmerksamkeit der Sammler auf sich gelenkt zu haben. Man hielt sie ursprünglich für versteinerten Fischrogen, da- her der Name Rogenstein oder Oolith. Seit den Tagen L. v. Buch 's sind die Oolithe und Rogensteine häufig eingehend untersucht und beschrieben worden wie wenig andere Sediment- gesteine. Über ihre Bildung wurden zahlreiche Hj-pothesen aufgestellt, ohne jedoch — wenigstens bis vor kurzem — eine befriedigende Erklärung geben zu können. Nach einer Zusammenstellung von Linck hat man sie gehalten 1. für klastische Gesteine, z. B. abgerollte Muschelschalen u. dgl ; 2. für organogene Gesteine, die von Tieren oder Pflanzen gebildet worden sein sollten; 3. fürchemisch-physikalisc he Gesteine: Überrindungen von Gesteinsstückchen, In- sekteneiern, Gasblasen, oder für Erzeugnisse von Quellen am Grunde des Meeres, ähn- lich dem Karlsbader Erbsenstein; 4. für m et amorphe Gebilde, indem sich die Körner in einem schon vorhandenen Ge- steine oder in Hohlräumen gebildet hätten. Die .Ansicht von der Entstehung der Oolithe durch die Lebenstätigkeit von Pflanzen wird gegenwärtig besonders von Rothpletz und Kalkowski vertreten. Manche Geologen denken auch an eine mittelbare Mitwirkung von Bak- terien, welche, wie es scheint, das Unglück haben, mit Vorliebe zur Erklärung von unbe- kannten Vorgängen herangezogen zu werden, die man durchaus erklären will. Die Mehrzahl der Geologen dürfte sich jedoch im Gegensatz zu Rothpletz und Kalkowski für eine anorgani- sche Bildungs weise der Oolithe entscheiden. Von großer Bedeutung für diese Ansicht sind die Untersuchungen Linck 's, der experimentell den Nachweis führte, daß sich Oolithe in der Tat auf anorganischem Wege bilden (Die Bildung der Oolitiie und Rogensteine. N. Jahrb. f Min., B. B. XVI, 1903, S. 495 — 513). Linck zeigte, daß aus dem im Meerwasser enthaltenen schwefelsauren Kalk durch die Einwirkung von Natrium- oder Ammoniumkarbonat kohlensaurer Kalk ent- steht, und zwar immer in derF"orm des Aragonits, der bei reichlichem Vorhandensein dieser Karbonate Sphärolithe bildet. Am günstigsten sind die Bedingungen für diese Bil- dung in der Gegenwart in den wärmeren Meeren, da dort bei dem reichen organischen Leben besonders viel Natrium- und Ammonium- karbonat entsteht. Die fossilen Oolithe bestehen immer aus Kalkspat, der gegenüber dem Aragonit die beständigere Form des kohlensauren Kalkes darstellt. In einer in der Zeitschrift der deutschen geol. Ges., 60. Bd. 1908, I. Heft erschienenen Arbeit „Über Oolith undStromatolith im nord- deutschen Buntsandstein" teilt E. Kal- kowski eine Reihe von Beobachtungen und z.T. neuen und bemerkenswerten P"eststellungen mit, auf Grund deren er den organischen Ur- sprung der Rogensteine glaubt nachweisen zu können. Die als Oolithe bezeichneten Gesteine be- stehen aus zahlreichen kugeligen Bestandteilen, aus einzelnen Oolithkörnern, die ,,Ooide" zu nennen sind. Sie bauen sich auf aus konzen- trischen Lagen, die häufig einen aus feinen Ton- teilchen, Kalkspatkriställchen oder Tonschiefer- bröckchen bestehenden Kern umschließen. Die einzelnen Lagen, denen Ton und Sandkörnchen eingeschaltet sind, bestehen aus radial angeord- neten Kalkspatfäserchen. Gröbere radiale Strahlen in der Form von Spindeln, die ihre Spitzen gegen den Mittelpunkt und die Peripherie wenden, oder kalkige Kegel, deren Spitzen gegen den Mittel- punkt konvergieren und die reich an Ton und Sand sind, veranlassen die Spindel- und Kegel- struktur. Abweichungen von der regelmäßigen Kugelgestalt kommen vor; es sind walzen- oder stäbchenförmige Ooide, die in der Regel einen fremden Kern haben. Die Oberseite ist bei ihnen stets dicker. Hemiooide sind halbierte Ooide, die weiter gewachsen sind und deren Bruchfläche von neuen Lagen umgeben wurde. Eine derartige Zerteilung eines Ooids in zwei ungefähr gleichgroße Hälften führt Kalkowski auf innere Spannungen der ver- meintlichen organischen Bildner der Ooide zurück. Wenn mehrere kleine Ooide verwachsen und jedes für sich weiter wächst, entstehen die Ooid- viellinge; die Polyooide werden dagegen von einer gemeinsamen neuen Hülle umgeben. Zu- weilen wird eine größere oder kleinere Menge meist winziger Ooide („Ooidbrut") von einer dünnen geschlossenen Hülle eingeschlossen; solche Gebilde werden Ooidbeutel genannt. Die Rogensteine bestehen nun nicht ausschließ- lich aus Ooiden ; sie werden vielmehr durch ein mehr oder minder reichliches Bin d emittel von Ton, Sand, Mergel oder Kalkspat verkittet. Wenn sich die Ooide nicht unmittelbar berühren, ent- steht Dipulsionsstruktur; bei der Im- pressionsstruktur erscheinen Sandkörner, Kalkspatrhomboeder oder andere Ooide einge- preßt, ohne daß aber eine Deformation der Kugel- form festzustellen wäre. Die größte beobachtete Mächtigkeit einer Rogensteinbank betrug 5,20 m. In engster Verbindung mit den Rogensteinen, dagegen niemals für sich allein, kommen Kalk- massen vor, die sich durch eine feine mehr oder weniger ebene Lagenstruktur auszeichnen , die Kalkowski Stromatolithe nennt ; die einzelnen dünnen Lagen sind die Strom atoide. Ihr Auf- bau gleicht durchaus dem der konzentrischen Lagen der Ooide ; sie bestehen also auch aus 760 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 48 feinen Fasern von Kalkspat, die zuweilen Neigung zu radialer Anordnung erkennen lassen. Während bei den Ooiden das Wachstum gleichmäßig vom Mittelpunkt aus nach allen Richtungen erfolgt, wächst der Stromatolith einseitig nach oben. Flächenhafte Ausbuchtungen des Stromato- lithes nach unten werden als „Wurzeln" ange- sprochen. Beachtenswert ist das Verhältnis zwischen Stromatolith und Rogenstein. Der Stromatolith kommt immer nur auf einer Unterlage von Oolith vor, auf dem der Stromatolith dünnere oder stärkere Schichten bildet, die dem Rogenstein eingeschaltet sind. Die Mächtigkeit ist meist gering, kann aber 1,20 m erreichen. Neben diesen mehr flächenhaft ausgedehnten Krusten und ihrer unregelmäßigen, buckeligen und höckerigen Oberfläche treten andere Stroma- tolithe mehr in Form von Knollen und freien Stöcken auf, deren Gestalt eine gewisse Ähnlich- keit mit Blumenkohlköpfen besitzt. Solche Stöcke ragen zuweilen wie ein Riff in den geschichteten feinkörnigen Oolith hinein. Die Entstehung der durch ihren verwickelten Aufbau ausgezeichneten Ooide ebenso wie die der Stromatolithe kann nach Kalkowski's Meinung durch rein anorganische Vorgänge nicht erklärt werden; vielmehr „sprechen Oolithe und Stromatolithe im norddeutschen Buntsandstein sich selbst organischen Ursprung zu". Da nun aber ihr Aufbau niemals irgendwelche Ähnlichkeit mit dem der Gerüste irgendeiner Klasse des Tierreichs aufweist — es könnte an Spongien oder Korallen gedacht werden, mit denen ja bei den Stromato- lithen eine gewisse Ähnlichkeit der Gestalt vor- handen ist — , so „können sie nur durch die Lebenstätigkeit pflanzlicher Organismen ent- standen sein". Am ehesten könnten Kolonien von Bakterien in Betracht kommen, die in Nährgelatine gezüchtet Kugelform annehmen. Im Widerspruch zu dieser Annahme gesteht aber Kalkowski selbst : „Nirgends ist etwas zu beobachten, was man der organischen Struktur des Kalkspates in anderen zoogenen oder phy- togenen Kalksteinen gleichsetzen könnte", und daß er „nicht anzugeben vermag, wie beschaffen die pflanzlichen Bildner des Stromatoides gewesen sind, ebensowenig, wie ich die Bildner der Ooide im Pflanzensystem unterzubringen weiß." Diese von Kalkowski zur Erklärung der Oolithe und Stromatolithe des Buntsandsteins aufgestellte und nicht gerade sehr einleuchtend begründete Hypothese hat dann auch sofort mehrfachen Widerspruch erfahren. Bereits 1902 hat M. Reis ähnhche Kalkgebilde aus dem Unterrotliegenden der Rhein- pfalz beschrieben, wo in vier Horizonten der Kuseler Schichten Kalksteinlagerungen von knolli- ger, brotlaibartiger P'orm mit konvexer Oberfläche auftreten. Auch diese Kalkknollen bestehen aus sehr feinen Lagen wechselnd feinkörnigen, helleren und dunkleren Kalzits, mit leichten An- sätzen zu radialer Anordnung, zuweilen mit ganz entschieden radialer Faserstruktur. Die Überein- stimmung mit dem Stromatolith wird dadurch vollkommen, daß bei einigen Vorkommen eben- falls Oolith, der Estherienschälchen umhüllt, im Hangenden und Liegenden auftritt. Solche Kalk- gebilde sind ferner aus rätischen Schichten in England und aus dem Tertiär des Mainzer Beckens mit Sicherheit bekannt, wo sie auch fast immer in Verbindung mit Oolithen auftreten. Reis gelangte zu dem Ergebnis, daß vor allem Skelette oder Gerüste individualisierter „stock"- bildender Organismen, wie Korallen, Stromato- poriden, Kalzispongien, Kalkalgen usw. nicht vor- liegen könnten, sondern daß „die Knollen eher mit Pisolithen und Sinterabsätzen im allgemeinsten Sinne in eine Kategorie zu stellen sind". Ein Beweis für diese Ent- stehungsweise ist die Tatsache, daß als Stellver- treter der permischen Stromatolithe gebänderte Sinterkalke und Kieselsäureausscheidungen vor- kommen. In demselben Sinne äußert sich G. Linck in einer kritischen Besprechung der Kalkowski'schen Arbeit („Über die Bildung der Oolithe und Rogen- steine"; Jenaische Zeitschr. f. Naturw. 1909, S. 267 bis 278). Es ist nach Linck durchaus unzulässig, aus Eigentümlichkeiten der Struktur der Rogensteine auf eine organische Entstehungsweise zu schließen, wie es z. B. auch früher irrtümlich beim Eozoon und bei den Chondren der Meteoriten geschehen ist. Außerdem sind rezente Oolithe und Stroma- tolithe bekannt, die Karlsbader Erbsen- u nd S pr u delsteine, die sicher anorga- nische Bildungen sind. An dem reichen Material dieser Gebilde in der Sammlung des Jenaer Mineralog. Institutes, die Goethe in Karlsbad gesammelt hat, lassen sich alle Erscheinungen nachweisen, wie sie Kalkowski beschreibt und von denen er annimmt, daß sie weder im Labora- torium noch sonst an anorganischen Bildungen beobachtet würden : Aufbau, Gestalt und Größe der Ooide, Spindelstruktur, Kegelstruktur, Ooid- beutel, Halbooide, Polyooide usw. kommen in durchaus gleicher Weise am Karlsbader Erbsen- stein vor und wurden von Linck z. T. sogar an künstlichen Sphärolithen beobachtet. Die Stromatolithe entsprechen den Karlsbader Sinter- bildungen mit genau denselben eigentümlichen Oberflächen- und Strukturformen. So kommt Linck zu dem Schluß, daß „die Oolithe ursprünglich aus einer vom Kalkspat ab- weichenden Modifikation des kohlensauren Kalkes (Aragonit) bestehen, bei dessen Bildung orga- nische Wesen nicht direkt beteiligt sind". Diese Deutung der Rogensteine und Stroma- tolithe als Sinterbildungen steht im besten Ein- klang mit neueren Anschauungen über die Ent- stehungsweise des unteren Buntsandsteins in Norddeutschland. Trotz manchen Widerspruchs N. F. VIII. Nr. 48 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 761 schließen sich immer mehr Geologen der Ansicht an, daß der untere Buntsandstein keine marine, sondern eine festländische oder limnische Bildung darstellt und in Norddeutschland im wesentlichen in flachen Seen entstanden ist, deren Salzgehalt nur Muschelkrebschen (Estherien) günstige Lebensbedingungen bot. Die Estherien- schälchen wurden zu Milliarden in dem Ton- schlamm eingebettet; ihre Verbreitung deckt sich in der Hauptsache mit der der Rogensteine. Diese flachen Wasseransammlungen trockneten nun häufig ein, und dabei wurde der im Wasser gelöste Kalk auf chemisch-physikalischem Wege als Oolith und Stromatolith ausgeschieden. III. Die Entstehu ng des Dolomit s. Der Mineraloge versteht unter Dolomit das Doppel- salz CaMgtCOs),, mit 54,2 "^ CaCOj und 45,8 "/(, MgCO.5. Die Gesteine, welche der Geologe Dolomit nennt, besitzen selten genau diese Zu- sammensetzung ; vielmehr sind die meisten Dolo- mite nur mehr oder weniger magnesiareiche, dolomitische Kalke. Immer sind die Dolomite kristallinischer und daher grobkörniger als die gewöhnlichen Kalk- steine; häufig bilden sie schichtungslose und massige Sedimente von erheblicher Mächtigkeit. Dolomitische Gesteine finden sich hauptsächlich 1. in Verbindung mit Salzlagern, Gipsen und Anhydriten (die Plattendolomite, Rauchwacken und Zellendolomite des Zech- steins, mittleren Muschelkalks und Keupers; 2. als Pseudomorphosen vonKorallen- riffen, die ursprünglich aus magnesia- armen Kalksteinen bestanden. Hierhin gehört der im oberen Jura Süddeutsch- lands auftretende Frankendolomit und die mächtigen Dolomite der alpinen Trias (Schiern- dolomit, Hauptdolomit u. a.), die infolge ihres massigen Auftretens und ihrer Widerstands- fähigkeit gegen die Kräfte der Verwitterung die formenreichsten und wildesten Gebiete des Hoch- gebirges bilden. Seitdem Dolomieu 1791 zuerst feststellte, daß viele der damals für reine Kalke gehaltenen Gesteine sich von diesen durch geringere Löslich- keit in schwachen Säuren, durch ihr höheres spez. Gewicht, größere Härte und einen beträchtlichen Gehalt an kohlensaurer Magnesia unterscheiden, war die Frage nach der Entstehung des nach seinem Entdecker benannten Dolomits eins der schwierigsten Probleme der Geologie und Petro- graphie, dessen Lösung bis jetzt nicht gelingen wollte. Leopold V. Buch, der die wunderbaren Dolomitberge des südöstlichen Tirol studiert hatte, glaubte, daß die am Schiern und an anderen Orten unter dem Dolomit lagernden Augitpor- phyre bei ihrem Ausbruch ungeheure Massen von Magnesiadämpfen mit emporgetsracht hätten, durch welche der Kalk in Dolomit verwandelt worden wäre. Später versuchte man andere Erklärungen. Von der Beobachtung ausgehend, daß Dolomit in Wasser dreimal schwerer löslich ist als kohlen- saurer Kalk, nehmen manclie Geologen an, daß in ursprünglich schwach dolomitischen Kalksteinen durch beständige Auslaugung des Kalkes der Magnesiagehalt allmählich sich immer mehr anreichere, bis zuletzt ein Normaldolomit daraus entstünde. Diese „Auslaugungstheorie" hat noch heute viele Anhänger. Eine andere Ansicht führt die Entstehung des Dolomits auf die Einwirkung von Magnesiasalzen zurück, die entweder im Meerwasser gelöst sind oder durch Quellen zugeführt würden. Zahlreiche experimentelle Untersuchungen, teils mit, teils ohne erhöhten Druck und erhöhte Temperatur führten ebenfalls zu keinem Ergebnis, da in der Regel die Bedingungen, unter denen die Versuche Dolomit ergaben, in der Natur nicht verwirk- licht waren. Sehr wichtig waren neuerdings zwei an jungen Korallenkalken der Südsee ausgeführte Unter- suchungen. 1903 wies Skeat nach, daß zahl- reiche junge Rift'kalke in höherem oder geringerem Grade dolomitisiert worden sind, und zwar ent- hielten viele bis 40 "/o kohlensaurer Magnesia, eine Probe sogar 43 "/(,. Skeat vermutete auf Grund dieser Studien, daß die Dolomitbildung dicht unter dem Meeresspiegel erfolgen müsse. Auch die auf dem Atoll Funafuti aus- geführte Tiefbohrung ergab, daß die Dolomitbildung noch heute vor sich geht, wenn auch über die Ursachen, die dazu führen, ebenso- wenig Licht verbreitet wurde wie durch die Untersuchung von Skeat. Das Verdienst, die Frage nach der Entstehung des Dolomits experimentell gelöst zu haben, ge- bührt G. Linck, über dessen erfolgreiche Arbeiten über die Oolithe bereits berichtet wurde (Linck, Über die Entstehung der Dolomite, Zeitschr. d. deutsch, geol. Ges. 61. Bd. 1909, Monatsber. Nr. 5). Die Untersuchungen über die anorganische Entstehung von Kalk und Oolith waren für Linck die Veranlassung, sich auch mit der Dolomitfrage zu beschäftigen. Linck war ja zu dem Ergebnis gekommen, daß aus den im Meerwasser gelösten Kalksalzen (besonders Ca SO,) durch die Ein- wirkung von kohlensaurem Ammonium oder Natron kohlensaurer Kalk in der Form von Ara- gonit auf anorganischem Wege entsteht. Ob es sich nun zunächst um Aragonit handelt oder ob vielleicht noch eine andere Modifikation des Kalkes in Frage kommt, muß noch näher unter- sucht werden. Neuere Forschungen von Vater u. Bütschli haben nämlich festgestellt, daß es außer der stabilen Modifikation des kohlensauren Kalks, dem Kalkspat mit dem spez. Gew. 2,72, und der metastabilen Form, dem Aragonit mit dem spez. Gew. 2,95 noch zwei andere gibt, von denen die eine, Vater's III. Modifikation, ein spez. Gew. von 2,6 hat und kristallisiert auftritt, die 762 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 48 andere amorphe oder gallertige Form eine isotrope Phase darstellt, sehr unbeständig ist und etwa ein spez. Gew. von 2,2 — 2,4 besitzt. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß die Oolithe ursprünglich aus Vater's III. Modifikation bestehen. Linck wurde nun zu der Vermutung geführt, daß die Entstehung des Dolomits vielleicht unter ähnlichen Bedingungen vor sich gehe und auf äiinlichen Ursachen beruhe wie die anorganische Bildung des Kalkes. Um die Richtigkeit dieser Vermutung zu erproben, wurden folgende Ver- suche ausgeführt: Es wurden i Mol MgCl., und I Mol MgS04 in 50 ccm Wasser gelöst und mit einer Lösung vermischt, die i^., Mol Am- moniumkarbonat in 150 ccm Wasser enthielt; hierbei trat keine Reaktion ein. Beim Zusatz einer Lösung von CaCl.j wurde Kohlensäure frei, und es entstand ein dicker gallertiger Niederschlag, der beim Erwärmen auf 30" rasch kristallinisch wurde. Die mikroskopische und chemische Prüfung ergab, daß dieser Niederschlag aus runden oder ovalen Sphärolithen mit dem spez. Gew. 2,6 — 2,7 bestand und fast genau die Zusammen- setzung des Dolomits hatte. Die Versuche wurden beeinflußt durch Ver- änderungen des Kalk- und Amnioniumkarbonat- gehaltes, deren Vermehrung einen geringeren Magnesiumgehalt des entstehenden Niederschlages zur Folge hatte; umgekehrt bedingte eine Ver- mehrung der Magnesiasalze eine Vermehrung des Magnesiumgehaltes des Niederschlags. Ein Zusatz von Kochsalz verminderte ebenfalls den Magnesiumkarbonatgehalt auf i2"/u; beim Zusatz von Kochsalz und Natriumkarbonat er- höhte er sich wieder auf 49 '^/i,. Der Niederschlag ist nun noch kein Dolo- mit, sondern ein Mischsalz von Kalzium- und Magnesiumkarbonat, und zwar seinem spez. Gew. entsprechend in der Vater'schen III. Modifikation; dieses Mischsalz scheint wesentlich beständiger zu sein als das entsprechende reine Kalksalz, das sich außerordentlich leicht in Kalkspat umwandelt. Als die V'ersuche in der Weise ausgeführt wurden, daß die Lösungen der Magnesiumsalze und des Ammoniumkarbonats nach dem Zusatz des Kalksalzes in zugeschmolzenen Röhren gelinde auf 40 — 50" erwärmt wurden, entstand ein Nieder- schlag von stark doppelbrechenden, optisch nega- tiven Sphärolithen. Dieser Niederschlag war in verdünnter Essigsäure unlöslich und bestand aus 44,8 »/„ MgCOa und 49:5 % CaCOg. Auch Rhom- boeder wurden erhalten. Linck bezeichnet diese Niederschläge als Dolomit. Die Reaktion ging einmal schon bei 15" vor sich, doch wurde leider der Niederschlag nicht gleich untersucht. Linck glaubt daher sagen zu dürfen, daß das Problem der Dolomitbildung im Grunde gelöst sei. ,,Alle hier angewendeten Bedingungen sind in der Natur verwirklicht, und darum ist es wohl berechtigt zu sagen, auf solche Weise sei der Dolomit in der Natur entstanden. . . . Immer und überall ist er das Produkt eines chemischen Gleich- gewichts zwischen der Lösung und dem Boden- körper." Franz Meinecke, Halle a. S. Kleinere Mitteilungen. Über die Züchtung von arzneifesten Stämmen von Trypanosomen, jenen Protozoen, die als Krankheitserreger bei Wirbeltieren bekaimt sind, so auch als die Erreger der Schlafkrankheit des Menschen, macht W. Dönitz in einem Vortrag über Charles Darwin (Sitzungsbericht der Gesell- schaft Naturforschender P'reunde zu Berlin, 1909) die folgende Mitteilung: Wenn man eine Maus mit Trypanosomen in- fiziert und danach mit einem Arsenpräparat, dem Atoxyl, behandelt, so gehen die Parasiten zu- grunde und das Leben der Maus ist zunächst ge- rettet. Nach einiger Zeit aber zeigen sich wieder Trypanosomen in ihrem Blute. Infiziert man nun mit diesem Blute eine zweite Maus, so erkrankt auch diese an Trypanosomen, die ihrerseits wieder durch Atoxyl eine Zeit lang unschädlich gemacht werden können. In kurzer Zeit aber zeigen sich die Trypanosomen wieder bei der zweiten Maus, und so fort. Sehr bald aber gelingt die vorläufige Heilung der Mäuse nicht mehr, das Atoxyl ver- sagt seine Wirksamkeit, die Trypanosomen sind atoxylfest geworden, wie P. Ehrlich, der Ent- decker dieser merkwürdigen Erscheinung, es aus- drückt. Was ist hier geschehen ? Der Vorgang ge- stattet folgende Erklärung. Unter den Trypano- somen gab es von vornherein einzelne Individuen, welche widerstandsfähiger gegen das Atoxyl waren als die übrigen. Diese blieben am Leben, als die anderen sämtlich oder doch in ihrer Mehr- zahl durch das Arzneimittel vernichtet wurden. Als sich dann diese Trypanosomen von dem schweren Eingriff erholt hatten und wieder ver- mehrten, hatte das Verhältnis der widerstands- fähigen zu den schwachen bedeutend zugenommen. Durch Wiederholung des Experimentes wurde eine zweite und dritte Auslese geschaffen und schließlich ein Stamm gezüchtet, der nur noch atoxylfeste Trypanosomen enthält. Denselben Stamm kann man dann der Reihe nach gegen andere Arzeneien festigen, z. B. Antimon oder gewisse Anilinfarben, und so besitzt P. Ehrlich Stämme, die gegen eine ganze Anzahl Chemi- kalien fest sind. Wenn ich hinzufüge, daß sich diese Eigenschaft schon 2 Jahre lang erblich er- halten hat, durch weit über 100 Generationen, so wird das nach dem Gesetze der Erblichkeit ganz selbstverständlich erscheinen. Es würde sich nun noch fragen, ob sich diese Arzneifestigkeit erhöhen läßt, doch dürfte die Frage noch nicht zur Entscheidung reif sein. N. F. VIII. Nr. 48 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 763 Das Wesen der hier erwähnten Erscheinungen besteht nun darin, daß zum chemischen Aufbau des Trypanosomenkörpers eine Substanz 'gehört, welche einerseits unentbehrlich ist für dasj Leben dieser Tiere, welche aber andererseits die' Fähig- keit besitzt, sich mit gewissen Stoffen zu verbin- den, welche unter anderen die als Gifte wirkenden Moleküle des Arsens usw. enthalten. Wenn aber unter den Trypanosomen Individuen vorkommen, bei welchen diese chemische Verwandtschaft eine geringere ist, oder bei welchen das Gift auf irgend- eine Weise abgelenkt wird, vielleicht durch eine mit noch größeren Aviditäten ausgestattete Sub- stanz, so ist die Möglichkeit zur Züchtung eines arzneifesten Stammes gegeben. Erfahrungen, wie die hier vorgetragenen, werfen Licht aufmanche bisher recht dunklen Erscheinungen, die doch große praktische Bedeutung haben. Bei der Beschäftigung mit krankmachenden Mikro- organismen stößt man häufig auf Stämme, welche sehr verschiedene Virulenz besitzen. So gibt es Stämme von Typhusbazillen, von denen V5. Vio ™S ^'" Kaninchen tötet; und andere Stämme, von denen das zehnfache dazu nötig ist. Daraus erklärt sich die verschiedene Gefährlich- keit der einzelnen Epidemien sowohl wie der einzelnen Erkrankungen. Im einen Falle sterben vielleicht 5 von 100 Erkrankten, im anderen Falle 15 — 20. Es kommt darauf an, mit welchem Stamm die Ansteckung erfolgt ist, denn die dem Stamme zukommende Virulenz ist erblich ' und setzt sich durch die Reihe der Ansteckungen hin- durch fort. Das zu wissen kann wichtig für die ärztliche Behandlung sein. Besitzt man z. B. ein spezifisches Heilmittel, wie etwa das Heilserum gegen die Diphtherie, so wird man bei einer bös- artigen Diphtherie mit der Durchschnittsdosis des Serums keine Heilung erzielen; man braucht ein Vielfaches dieser Menge. Diese Hinweise werden zeigen, wie wir Dar- win'sche Anschauungen heranziehen müssen, um uns Erscheinungen zu erklären, die uns in der ärztlichen Praxis täglich vor die Augen treten, und denen wir früher ziemlich verständnislos gegenüberstanden. Die Variabilität der krankmachenden Organismen und die dadurch bedingte Variabil ität der Krank- heiten selber ist den Darwinschen Unter- suchungsmethoden zugänglich und sollte ernstlich in Angriff genommen werden,'', doch sollte man sich nicht auf die eine Eigenschaft, die Virulenz, beschränken. Einige weitere Bemerkungen zur Pendu- lationstheorie. — Herr Dr. Nölke hat die Aus- führungen, die ich zur physikalischen Begründung der Pendulationstheorie brachte, in verschiedenen wesentllichen Punkten beanstandet (s. Nr. 41 dieser Zeitschr., ebenso deutsche geogr. Blätter XXXII, S. 72—80). Auch Herr Dr. Hausrath, dem ich den ersten Hinweis auf die Beziehung der Nulli- sogone zu den Schvvingpolgebieten verdanke und dessen Anschauungen über die physikalische Be- gründung der Theorie durch die Wirkung des magnetischen Feldes der Sonne auf die magne- tische Achse der Erde ich nach einer kurzen Mitteilung desselben zu begründen versuchte, teilt mir'mit, daß meine Darstellung in wesentlichen Punkten nicht in Übereinstimmung steht mit den bei rotierenden Körpern auftretenden Komplika- tionen. Er bittet mich gleichzeitig, daraufhinzu- weisen, daß eine Darstellung der nach seiner Hypothese möglichen Wanderungen der Rotations- achse und ein Vergleich derselben mit den von der Pendulationstheorie geforderten an anderer Stelle erscheinen soll. Ich selbst habe zur Genüge betont, daß "eine ' astronomisch - physikalische Lösung oder Bearbeitung des Problems meine, des Biologen, Kräfte übersteigt. Was ich vorge- bracht habe, sind Hypothesen von seilen hervor- ragender Astronomen, über deren Wert mir kein selbständiges Urteil zusteht, und Herr Nölke wendet sich auch zum Teil gegen sie, indem er den angezogenen Chamberlin schlechtweg von der astronomischen Liste streicht. Mir sind von technischer und physikalischer Seite die verschie- densten, zum Teil einander widersprechenden An- regungen zugegangen, und eine davon, welche darauf hinausläuft, daß man bei Betrachtung eines Weltkörpers im Raum jede Bewegung desselben für sich, ohne Rücksicht auf die anderen zu analy- sieren habe, war für mich die Veranlassung, die einfache Lösung der Pendelbewegung durch die erwähnte Beziehung der Nullisogone zu den Schwingpolen zu versuchen. Hinweisen möchte ich hier noch auf das Experiment, das Herr Prof. Weiler mit dem Bohnenberger Gyroskop an- gestellt und in der Zeitschrift „Aus der Heimat" (XXII, 1909, S. 98) veröffentlicht hat. Durch ein- seitige Belastung des inneren Ringes dieses karda- nischen Gehänges glaubt er die Pendelbewegung demonstrieren zu können, während mir von an- derer Seite geschrieben wird, daß Versuche mit diesem Gehänge aussichtslos wären. Als Nicht- fachmann muß ich die Entscheidung? darüber den Physikern überlassen. Wenn Herr Dr. Nölke meint, die Ursache einer Pendelbewegung, falls diese vorhanden, könne nur in irgendwelcher Un- gleichheit im Innern der Erde selbst liegen, so kommt er damit auf die Ausführungen des F'rei- herrn Löffelholz von Colberg zurück, dessen „Drehung der Erdkruste in geologischen Zeit- räumen" (1886 und 1895) von mir bereits, wenn auch nur flüchtig, als nächst verwandt -mit der Pendulationstheorie angeführt wurde. Wie sich auch einst die Begründung stellen möge, die Lagebeziehung zwischen dem Erdmag- netismus und der durch die Pendulationstheorie gegebenen Gliederung des Globus bleibt jedenfalls neben den biologischen Tatsachen als physikali- sches Moment bestehen. Und zu diesem positiven Faktor glaube ich einige neue hinzufügen zu können. Der eine betrifft die Eiszeit. Herrn 764 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 48 Nölke's Versuch, die Erklärung in einem Hindurch- gehen der Erde durch bestimmt geartete Himmels- räume und dadurch erwirkte Abkühlung rechne- risch zu begründen, wird der Biolog prinzipiell widerstehen müssen. Denn es scheint klar, daß jede Abkühlung der gesamten Erdoberfläche eine große Menge stenothermer Organismen vernichten müßte. Die stenothermen Bewohner der kalten und gemäßigten Zone könnten sich zwar gegen den Äquator hin zurückziehen, die der heißen Zone aber müßten aussterben, und das wäre eine enorme Zahl. Die Sache würde also auf eine Katastrophentheorie hinauslaufen, die glücklich durch die Tatsachen widerlegt ist. Herr Nölke bringt auch nichts dagegen vor, daß die Pendula- tionstheorie, falls sie richtig sein sollte, die Eis- zeiten mit erklären würde. Heute handelt sich mirs aber nicht nur um das Diluvium als Ganzes, sondern um seine Gliederung und den Wechsel zwischen vordringenden Eis- und wärmeren Inter- glazialzeiten. Und zwar sind diese mit einer an- deren Erscheinung, frühere Perioden betreffend, in Zusammenhang zu bringen. Die Eiszeiten verlegt die Pendulationstheorie in das Maximum der polaren Schwingungsphasen, die unser Europa am weitesten nach Norden brachten, worauf dann der Umschlag erfolgte und uns wieder in wärmere Lagen führte. Wir haben also, entsprechend der polaren Phase im Paläo- zoikum und Tertiär, die permsche Glazialzeit und das Diluvium, während das Mesozoikum sich in äquatorialer Phase befand. Ferner sagt die Rech- nung, daß die Gebirgsbildung mit der Erhebung des Landes über den Meeresspiegel, d. h. mit polarer Phase zusammenfällt, daher wir im Meso- zoikum tektonische Ruhe hatten, zwischen den beiden Epochen kräftiger Gebirgsbildung; immer auf unser Europa bezogen. Zu den großen Pendelschwingungen, die Reibisch herausfand, habe ich aber noch eine schwächere Polschwankung angenommen, die mit der kreisförmigen Bewegung des Nord- und Südpols zusammenhängt. Sie schien mir ebenso aus den nachgewiesenen Pol- bewegungen wie aus manchen paläontologischen Tatsachen zu folgen und geeignet zu sein, die feinere Einteilung der Formationen zu erklären. Denn es fehlt nicht an Stimmen unter den Geologen, welche den Übergang aus der einen Formation in die andere mit abwechselnder Tem- peratursteigerung und -abnähme in Verbindung bringen. Die Vorstellung, die sich mir daraus für die Polbewegung zu ergeben schien , war das Bild einer Schraube, die sich den 10." ö. L., d. h. den Schwingungskreis entlang zieht. Bei äqua- torialer Phase würde demnach der Nordpol (und ebenso jeder andere Punkt desselben Quadranten) zunächst eine Zeitlang nach Süden sich bewegen, um dann in der Schraubenlinie wieder nach Nor- den zurückzukehren, aber weniger weit als beim vorigen Umgang. Der nächste Umgang würde ihn dann weiter nach Süden führen als das vorige Mal, worauf er wieder nordwärts ginge, und zwar wieder weniger weit als das vorige Mal, usf. Es versteht sich von selbst, daß der betreffende Punkt, wenn er am Meeresspiegel läge, damit abwechselnd unter denselben hinuntertauchen und sich darüber erheben müßte, ganz in derselben Weise, wie bei der polaren und äquatorialen Phase, nur ent- sprechend schwächer. Mit dieser Anschauung scheinen nun verschie- dene Tatsachen aufs schärfste übereinzustimmen, die bisher noch nicht vorgebracht wurden. Da ist zunächst die Arbeit von H. Stille: ,,Das Alter der deutschen Mittelgebirge (Zentralbl. (. Mineral., Geol. und Paläontol. 1909, S. 270 — 286. Referat von Arldt in dieser Zeitschr. S. 365). Danach wird die landläufige Ansicht von deren Entstehung korrigiert. Wenn man bisher im jüngeren Paläozo- ikum, Oberkarbon und Perm, das variskische Ge- birge sich auftürmen ließ, das dann im Mesozoikum bei tektonischer Ruhe lediglich der Abtragung verfallen sollte, bis im Tertiär die Mittelgebirge durch ausgedehnte Brüche, Emporpressen und Absinken von Schollen usw. ihre jetzige Ausbil- dung erhielten, so zeigt Stille jetzt teils durch eigene Beobachtungen, teils durch Hinweis auf fremde, daß die Gebirgsbildung auch während des Mesozoikums keineswegs gänzlich ruhte. Im französischen Zentralplateau, im Wasgenwald, im Teutoburger Wald, im Rheinischen Schiefergebirge, im holländisch - westfälischen Grenzgebirge , im Erzgebirge, im Harz, im Osning, überall lassen sich Faltungen und Hebungen nachweisen, die in die Sekundärzeit fallen, und zwar zu verschie- denen Malen, im Oberjura und Wealden, im Unter- senon, dann im Eozän und weiterhin im Tertiär. Was aber für unsere Erörterung das wichtigste ist, diese Hebungen sollen abwechseln mit Peri- oden von Senkungen, Abtragungen und Trans- gressionen; und alle diese mesozoischen Erschei- nungen sollen von geringerem sekundären Aus- schlag sein gegenüber den großen Gebirgerheb- ungen vor- und nachher. Das ist aber genau das- selbe, was die Theorie a priori verlangt, ab- wechselnd geringere Bewegung nach Norden mit Erhebung und Aufstauchung, und Bewegung nach Süden mit Senkung, Untertauchen und Trans- gression. Letztere Erscheinungen aber würden, der äquatorialen Schwingungsphase im Mesozo- ikum entsprechend, in summa überwiegen, was die bisherige Anschauung allein beachtete. P"ür die Einzelheiten verweise ich den Leser auf das Schema, das in dieser Zeitschrift abgedruckt ist (s. o.) und das ich namentlich deshalb nicht wiederholen möchte, weil die Vermutung nahe liegt, daß der neue, von H. Stille vorgebrachte Gesichtspunkt die ganze Gliederung noch nicht erschöpft haben wird. Schärfer wohl fügen sich die Anschauungen, die wir jetzt von dem Wechsel der diluvialen Glazial- und Interglazialzeiten gewonnen haben. Was wir für die Alpen in erster Linie Penck's LIntersuchungen verdanken, besagt doch im all- gemeinen, daß die erste Vereisung am weitesten N. F. \TII. Nr. 48 Naturwissenschaftliche V\'ochenschrift. 765 und tiefsten in die Täler vordrang, daß dann in der ersten Interglazialzeit das Eis abschmolz, daß eine neue Vergletscherung einsetzte, die aber das Eis weit weniger weit von den Gipfeln herunter- führte, dann wieder eine Interglazialzeit mit Ab- schmelzen und endlich die letzte Vereisung, deren untere Grenze abermals gegen die vorige zurück- blieb und ihre Spuren in den oberen Teilen der Täler und Hänge erkennen läßt. Was etwa nach deren Rückgange noch folgt, sind jene Bewegungen im Vordringen und Zurückweichen der Gletscher, auf die man keine Eiszeiten mehr zu gründen pflegt. Die Auffassung, die man vom nord- deutschen Diluvium durch umfassende Studien gewonnen hat, schmiegt sich denen von den alpinen Verhältnissen inzwischen immer mehr an. In Rußland steigert sich der Abstand zwischen dem ersten und zweiten Eisrand teilweise auf 700 — 1000 km, so daß das vergletscherte Land bei der ersten Vereisung dem Eiszentrum, wie der Geologe sagt, um denselben Betrag näher ge- legen haben muß als bei der zweiten. Ich habe wohl nicht nötig weiter auszuführen, wie genau sich diese Daten der Pendulations- theorie mit der angenommenen Schraubenbe- wegung einfügen. Sie werden hoffentlich mit der Zeit zu einigermaßen exakten Zeitberechnungen führen. Erfreulich aber ist es mir wenigstens, daß ganz verschiedene Reihen geologischer Studien, die eine die Umbildung der Mittelgebirge im Mesozoikum, die andere die abwechselnden Glazial- und Interglazialzeiten im Diluvium betreffend, sich ohne Zwang auf dieselbe hypothetische Ursache zurückführen lassen, die zunächst aus der Schöp- fung und Verbreitung der Lebewesen erschlossen wurde. Die Tatsachen fügen sich zu immer festerem Bau, mag ihre mechanische Begründung einst ausfallen wie sie wolle. H. Simroth. Himmelserscheinungen im Dezember 1909. Stellung der Planeten: Merkur ist unsichtbar, Venus glänzt etwa 3 Stunden lang als Abendstern. Mars nähert sich zu Ende des Monats dem Saturn bis auf wenige Grade und ist wie dieser abends etwa S Stunden lang im Walfisch zu beobachten. Jupiter steht in der Jungfrau und geht erst nach Mitternacht auf. Eine in Europa unsichtbare, partielle Sonner finsternis findet am .^bend des 12. statt und kann südlich von Austra- lien beobachtet werden. Algol-Minima sind zu beobachten am 13. um 10 Uhr 27 Min. abends und am 16. um 7 Uhr 16 Min. abends. Bücherbesprechungen. i) Dr. Hans Frey, Seminarlehrer in Küßnacht-Zürich, Mineralogie und Geologie für schwei- zerische Mittelschulen. Dritte, verbesserte Auflage. Mit 263 Abbildungen. Verlag von F. Tetnpsky in Wien und G. Freytag in Leipzig. 1909. — Preis 2,75 Mk. 2) Dr. Emanuel Kayser, Prof. a. d. Univ. Marburg in Hessen , Lehrbuch der allgemeinen Geologie. Dritte Auflage. Mit 598 Textfiguren. Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart. 1909. — Preis 22 Mk. 3) August Sieberg, Technischer Sekretär der Kaiserl. Hauptstation für Erdbebenforschung in Straßburg i. E. , Der Erdball, seine Entwicklung und seine Kräfte. Gemeinverständlich darge- stellt. 5 7 Bildertafeln in Schwarz- und Mehrfarben- druck. I Karte und 410 Seiten Text mit 254 Abbildungen. Verlag von J. F. Schreiber, Eßlingen und München. 1908. • — Preis geb. 18 Mk. i) Das kleine Buch von Frey nimmt in erster Linie und wo es nur angängig ist seine Beispiele aus der Schweiz, entsprechend seinem Ziel, den schweize- rischen Mittelschulen zu dienen. Die Formationen bzw. Bildungen, die in der Schweiz nur untergeordnet oder gar nicht vertreten sind, sind daher nur kurz weggekommen. Es hat diese Anpassung an den Wohnort der Schüler viel für sich, wenn sich das ausführen läßt, wie in der Schweiz für die Geologie und Mineralogie, für welche Disziplinen dieses Land wahrlich genug bietet. In der neuen Auflage hat Verf. das Nötige gemäß den Fortschritten seit 1901, dem Erscheinungsjahre der ersten Auflage, verändert. So hat er u. a. die Tektonik der Alpen im Sinne der Überschiebungstheorie abgeändert und ein neues Kapitel über die Geologie der Kontinente aufgenommen. 2) Von dem Kayser 'sehen Lehrbuch der Geo- logie und zwar von seinem ersten Teil, der Allge- meinen Geologie, liegt nunmehr eine dritte Auflage vor. Dieses vorzügliche und inhaltreiche Nachschlage- und Lehrbuch folgt wieder nach Möglichkeit den seit der letzten Auflage (1905) gemachten Fort- schritten in der Geologie. Der Umfang des Buches hat sich um nicht weniger als 100 Seiten vermehrt. Nach Mitteilung im Vorwort haben in der neuen Auflage eine weitgehende Umarbeitung die beiden Abschnitte über Erdbeben und Gebirgsbildung er- fahren; aber auch manches andere, wie besonders die klimatischen Verhältnisse der geologischen Vor- zeit, Überschiebungen, Pseudomorphosen, Bergstürze, Wirbelerosion des Wassers, Talterrassen, Glazialerosion, antarktisches Binneneis, marine Sedimentation, Spalten- eruptionen , sind eingehender als früher behandelt worden. Die Abbildungen sind um nicht weniger als 115 vermehrt worden ; sie sind durchweg instruk- tiv und gut ausgewählt. Das zuverlässige Buch bildet sich immer mehr zu einem unentbehrlichen Hand- buch der Geologie aus, das bei dem überreichen Material, das die Jünger der Disziplin produzieren, für viele Bedürfnisse eine gute kritische Auswahl bietet, die man nicht vermissen möchte. 3) Das vorliegende Buch von Sieberg kann im wesentlichen als eine allgemeine Geologie bezeichnet werden, in der alles, was mit dem Vulkanismus zu- sammenhängt, besonders liebevoll behandelt ist, ohne daß aber das andere in einem Buch, das gemeinver- ständlich und nicht gar zu umfangreich sein will, des- halb gar zu kurz käme. Besonders schön und instruk- tiv sind die Abbildungen. Verf. disponiert wie folgt. Er bespricht zunächst die Beziehungen der Erde zum Weltall , dann die Entstehung des Weltalls und der Erde, die allgemeinen mathematischen und physikali- ^66 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 48 sehen Verhähnisse des Erdballs , die 4 Zonen des Erdballs, nämlich die Atmosphäre, die Erdkruste, die Wasserhülle und das Erdinnere, ferner die geologische Entwicklung des Erdballs, die üebirgsbildung, die Vulkane und die Erdbeben. Schuhat H. Scherer, Pädagogischer Jahres- bericht von 1908. 61. Jahrgang. 632 und 202 Seiten. Leipzig, F. Brandstetter , 1900. — Preis I 2 Mk. Wie in den früheren Jahrgängen wird jedem Fache eine allgemeine Besprechung zuteil, in welcher die Richtung gekennzeichnet wird, in der sich die pädagogischen Bestrebungen der Gegenwart bewegen. Alsdann werden die wichtigsten literarischen Erschei- nungen einzeln ausführlicher gewürdigt. Die Literatur der in 10 Unterfächer geteilten Naturkunde umfaßt 84 Seiten und ist von den Schulräten Rothe und Rosenberg besprochen. Merkwürdigerweise ist bei der periodischen Literatur die Poske'sche Zeit- schrift für den physikalischen und chemischen Unter- richt nicht erwähnt , obgleich sie an erster Stelle zu nennen wäre. Die Mathematik ist von Dr. Made be- handelt und hat ebenfalls volle 90 Seiten in Anspruch genommen, ein Zeichen für die außerordentliche, viel- leicht übermäßige Produktion von neuen Unterrichts- werken auf diesem Gebiete, das doch eigentlich schon eine gewisse Stabilität erreicht haben sollte. Immer- hin ist diese rege Tätigkeit der Pädagogen mehr wert , als wenn sie in den alten Methoden erstarrt wären und sich auf dem Gipfel der Vollkommenheit angelangt wähnten. Auf die übrigen Fächer hier einzugehen müssen wir uns versagen. Viel Anregung wird dem Leser auch der zweite Teil des Bandes bieten, in welchem die Entwicklungsgeschichte der Schule, wie sie sich im Berichtsjahre in Deutschland, Osterreich und der Schweiz gestaltet hat , eine zu- sammenfassende Darstellung findet. Hier werden z. B. die Fragen der Koedukation, der neueren, all- gemeinen Reformbestrebungen, der Organisation und Verwaltung der Schule usw. eingehend erörtert. Kbr. Anregungen und Antworten. Warum besitzen wir kein elektrisches Sinnes- organ? — Auf die unter dieser Überschrift in Nr. 32 des 24. Bandes dieser Wochenschrift vom 8. August laufenden Jahres (S. 497 — 502) erschienene Abhandlung von S. Bag- lioni seien einem Leser nachstehende Bemerkungen vergönnt. Die Erörterung über die Möglichkeil eines außerhalb der bis- herigen Erfahrung denkbaren menschlichen Sinnes zur Wahr- nehmung der Elektrizität f.ällt in das Gebiet der Naturphilo- sophie. Diese Erörterung bleibe deshalb außer Betracht. Es seien nur einige tatsächliche Annahmen des Verfassers im folgenden berührt. Zunächst erscheint es geschichtlich unzutreffend, daß die ersten Kenntnisse der elektrischen Energie erst bei Volta und Galvani zu finden seien. Sogar eine Verwendung der Elektrizität zu Heilzwecken fand „während der griechisch- lateinischen Zeiten" statt. Die rrijixr; (^Torpedo Narce Risse) empfiehlt Dioskorides (II, 17) gegen Kopf leiden und Mastdarmvorfall, um nur ein Beispiel anzulühren. Die elektrischen Organe, die bei vielen Rochen und Aalen, nur in der Anlage oder wenig entwickelt, bei einigen wenigen .\rten dieser Gattungen und der Welse aber völlig ausgebildet angetroffen werden , kommen ebensowenig als Sinnesorgane, wie etwa die Leuchlwerkzeuge einiger Insekten, in Betracht. Die ,, Seltenheit, mit der die elektrischen Erscheinungen in der Natur spontan auftreten", ist nicht so ausgesprochen, wie der Verfasser annimmt. .■\uch können wir keineswegs; ,,ohne Fehler behaupten, daß [außer den Gewittern] in der Natur vielleicht keine elektrischen Erscheinungen tätig sind (wenig- stens heutzutage), die nicht vom Menschen künstlich erzeugt werden." Die St. Elmsfeuer, das Polarlicht, der Erdmagnetis- mus sind doch nicht künstlich erzeugt. Was diese Erschei- nungen auf die Tierseele für einen Eindruck machen, können wir uns von vornherein (a priori) ebensowenig vorstellen, wie etwa die Empfindung der Hundeseele, die bei schwachem Seh- und nicht besonders entwickeltem Hörvermögen imstande ist, den Geruch eines menschlichen Fußes trotz der Fußbe- kleidung nach Stunden an der Fußspur auf einem von einem Dutzend anderer Menschen begangenen Wege wahrzunehmen. Wir wissen, daß es nur die Fußspur, nicht der Geruch des ganzen Menschen ist, welche den Hund leitet. Denn durch einen Wasserlauf vermag der Hund der Fährte ebensowenig zu folgen , wie er etwa den Weg eines Radfahrers ermitteln kann. Aus dieser W'ahrnehmung läßt sich aber noch nicht auf die Empfindung im Hundehirn ein Schluß ziehen. Willkürlich ist weiter die Annahme: ,,die elektrische Eigenschaft ist keine untrennbare , fortbestehende Qualität, wie die Eigenschaften des Lichtes, der Wärme, des Gewichtes und der chemischen Energie, w'elch letztere nie den materiellen Gegenstand verlassen." Die Erde und der Magnetstein haben fortbestehende elektrische Eigenschaften, das Licht des glühen- den Eisens schwindet bei dessen .Abkühlung, die chemische Energie ist von der Wärme des Stoffes abhängig usw. Unbewiesen ist ferner die Behauptung, daß ,, weder die l"iere noch die Menschen das Bedürfnis" empfänden, die Ab- wesenheit der Elektrizität ,,zu vermeiden, bzw. deren Anwesen- heit zu suchen." Der natürliche Mensch bedarf allerdings der elektrischen Energie anscheinend kaum ; wer möchte aber dasselbe von allen anderen Lebewesen behaupten } Die neue Elektronentheorie sucht die chemischen Vorgänge auf Elektrizität zurückzuführen und sieht in den Elektronen die Uratome. Das Licht selbst ist nach dieser mehr und mehr Ausbreitung findenden Lehre eine elektrische Wellenerschei- nung, und hiernach das Auge ein elektrisches Sinnesorgan. Nur von dieser Anschauung aus kann eine naturphilo- sophische Betrachtung, so weit diese überhaupt berechtigt ist, die Frage aufwerfen , weshalb wir für andere elektrische Wellen, als die des Lichtes, kein besonderes Sinnesorgan be- sitzen? — Es fragt sich freilich, ob die Antwort mehr als akademische Bedeutung und größeren Wert haben wird , als etwa eine Erörterung der Frage Plato's, weshalb unsere Leiber hinten ganz anders und nicht einfach symmetrisch zur Vorderseite, wie beispielsweise die linke Hand zur rechten, gestaltet seien. — Lohnender erscheint die umgekehrte Frage, welchen Einfluß die im Tierkorper auftretenden elektrischen Vorgänge verschiedenster Spannung ausüben, die äußerlich beim Reiben der trockenen Haut oder des Haares, innerlich in Muskeln und Nerven als Ruhe- und Aktionsstrom usw. be- obachtet werden. — Ebenso verspricht es mehr Erfolg, als über ein nicht vorhandenes Organ nachzusinnen, der noch un- bekannten Enegungsweise vorhandener Organe des Tierkörpers nachzuforschen, z. B. der möglicherweise durch Geruchswellen beeinflußten Nase. Dr. C. Heibig, Radebeul. Herrn Oberlehrer M. in Coblenz. — Eiszeitrelikte nennt man Tier- und Pflanzenarten, die, einem kälteren Klima an- gepaßt, zur Eiszeit in Mitteleuropa weit verbreitet waren, nach der Eiszeit aber sich nur an einzelnen Orten der Ebene und namentlich in den höheren Gebirgen Mitteleuropas erhalten konnten und gleichzeitig nach dem hohen Norden zurück- gedrängt wurden. — Manche von ihnen blieben später in ihrer nunmehr getrennten Heimat unverändert bzw. entwickel- ten sich unter den ähnlichen Lebensbedingungen in gleicher Richtung weiter, so daß die Individuen des hohen Nordens und Mitteleuropas auch heute noch derselben Art, allenfalls verschiedenen Varietäten derselben Art angehören. Dahin gehört der Schneehase, Ltpiis tiiiiidus, und das Schneehuhn, N. F. Vm. Nr. 48 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 767 Lagiif>us üigofus. .\ndcre .Arten entwickellpn sich seit der Eiszeil infolge der geringen .Abweichungen in den Lebens- bedingungen an den verschiedenen Orten ihres Vorkommens in etwas verscliiedener Richtung weiter, so daß sie nicht mehr derselben Art, wohl aber sehr nahe verwandten .Arten ange- hören. Unter den Wolfspinnen kommt Arclosa alpigeua so- wohl im hohen Norden als in den .Alpen vor. Lycosa sal- titaria kommt in den Alpen und im Riesengebirge vor, wird aber im Norden durch die nahe verwandle Lyc'osa hypivhor/a vertreten. Acantholycosa peileslris kommt nur in den Alpen vor und wird schon im Riesengebirge und in den öst- lichen Gebirgen durch eine andere, nahe verwandte .Art, Acantholycosd sudttica , im Norden durch Acaiitholycosa norvegica und vielleicht noch durch andere verwandte Arten vertreten. In der Ebene Mitteleuropas kommt von diesen Wolfspinnen nur Lvcl^sh hypciborea vor. Sie wurde auf einem Hochmoor Ostpreußens (dem Augsturaalmoor) gefunden und zwar stets in einer Kümmerform \L. h. pusi'da), die im Nor- den nur gelegentlich gefunden wird (vgl. ,,Die Lycosiden oder Wolfspinnen Deutschlands und ihre Stellung im Haushalte der Natur", in: Nova Acta, Abh. Leop.-Carol. Akad. Naturf., Bd. 88, Halle 1908, S. 245 f.). Ob eine Form als Eiszeit- relikt zu betrachten sei oder nicht, das läßt sich meist nur mit einer größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit fest- stellen ; denn nur in den allerseltensten Fällen liegen fossile Reste vor, die jeden Zweifel über die allgemeinere Verbreitung in früherer Zeit ausschließen. Sehr wahrscheinlich hat man ein Relikt vor sich , wenn eine Form wie oben angegeben, einerseits in den höheren Gebirgen Mitteleuropas und anderer- seits im hohen Norden vorkommt. Immerhin sind auch in diesem Falle zwei andere Möglichkeiten, die das getrennte Vorkommen erklären können, nicht völlig von der Hand zu weisen. Die Art könnte auch im Laufe der langen Zeiträume einmal durch Verschleppung usw. von dem einen Orte ihres Vorkommens zum anderen gelangt sein, oder sie könnte sich an den beiden Orten unter den ähnlichen Lebensbedingungen aus einer gemeinsamen Urform der Ebene entwickelt haben. Das erstere ist bei den oben genannten Spinnenarten nicht völlig ausgeschlossen, da junge Spinnen auf fliegenden Fäden oft sehr weit durch den Wind fortgeführt werden. Das letz- tere könnte beim Schneehasen in Frage kommen, da er dem Hasen der Ebene in Mitteleuropa [Lfpiis etiropacus) sehr nahe steht. — Je verbreiteter eine .Art entweder in der Ebene oder auf Bergen geringerer Höhe auch in Mitteleuropa vorkommt, um so gewagter wird die Hypothese, daß es sich um ein Eiszeitrelikt handelt. So hat man die Kreuzotter, Pelias licriis und die Bergeidechse, Lacerta vivipara, obgleich sie über ganz Mitteleuropa verbreitet sind , für Eiszeitrelikte gehalten, weil sie vivipar sind und weil lebend gebärende Tiere die Sonnenstrahlen für die Entwicklung ihrer Eier mehr ausnützen und deshalb weiter nach Norden vordringen können als Reptilien, welche ihre Eier nicht im Körper mit sich tragen, bis das junge Tier sich entwickelt hat, sondern die- selben ablegen. Gegen diese Auffassung ist hervorzuheben, daß beide .Arten nach Süden bis Südrüßland , Südfrankreich usw. verbreitet sind , wo von Eiszeitrelikten nicht die Rede sein kann und daß ihr lokales Vorkommen in Mitteleuropa lediglich mit der Bodenbeschaffenheit zusammenhängt. .Auch die Wolfspinnen sind, da sie ihren Eiersack mit sich tragen, imstande, jeden Sonnenstrahl für die Entwicklung ihrer Eier auszunutzen (a. a. O. S. 219). Auch sie sind deshalb mehr als andere Spinnen fähig, ein rauhes Klima zu ertragen. Trotzdem darf man keineswegs alle unsere Wolfspinnen als Eiszeilrelikte auffassen. Gibt es doch auch in den Tropen Wolfspinnen. — Gewisse Fische, wie die Aalraupe, Lolii Iota, die Bachforelle, Sahno fario usw. hat man für Eiszeitrelikte gehalten, weil sie im Winter laichen. .Auch diese Begründung ist keineswegs überzeugend. Die Eiablage im Winter kann sehr wohl auch mit arlerhaltenden Vorteilen verbunden sein. Sind doch im ersten Frühling bei uns die Feinde der jungen Fischchen spärlicher und ist doch die Konkurrenz um die Nahrung zu dieser Jahreszeit in unseren Gewässern geringer. Auch manche Spinnenarten (Micryphantiden usw.) werden im Winter an geschützten Orten , im Moos usw. reif, ohne daß man sie deshalb ohne weiteres als Eiszeitrelikte auffassen dürfte. .Ahnliche Kleinformen kommen auch an den Hängen höherer Gebirge in den Tropen in bedeutender Höhe vor. wo von Eiszeitrelikten gar nicht die Rede sein kann, wo es sich lediglich um eine .Anpassung an die kühleren, höheren Regionen handelt, um ein Entgehen der großen Konkurrenz in den wärmeren, tieferen Lagen. — In Gegenden, die nach- gewiesenermaßen eine Eiszeil durchmachten , darf man aller- dings mit großer Wahrscheinlichkeit scliließen, daß Formen, die jetzt die höchste Stufe der Berghänge bewohnen, wie z. B. Planaria alpina, zur Eiszeit eine weitere Verbreitung besaßen (vgl. W. Voigt, Die Einwanderung der Planariaden in unsere Gebirgsbäche, in: Verh. nat. Ver. Rheinl.-Wcstf. Bd. 53, 1896, S. 103 — 148). — Vielfach macht man aus einzelnen Funden weit- gehende Schlüsse. So ist Tarentiila iiujuilina in die Liste der Eiszeilrelikle aufgenommen worden, weil sie innerhalb der Grenzen Belgiens nur auf dem höchsten Ardenncngipfel ge- funden wurde. In der oben schon genannten Lycosidenarbeit (a. a. O. S. 341) konnte gezeigt werden, daß Tarentitia iuqui- liini eine östliche, also eine Binncnlandsform ist, die im äußer- sten Westen Europas nicht mehr vorkommt, im Osten aber, z. B. um Berlin überall in Wäldern häufig ist, wo der Boden einen gewissen Kalkgchalt besitzt. Man sollte die Lebensweise, die Verbreitung und die Bedürfnisse der Tiere gründlich studieren, bevor man weilgehende Schlüsse auf die Ursachen ihrer Verbreitung macht. — Die Literatur über tierische Eiszeitrelikte ist eine sehr umfangreiche, namentlich wenn man alle .Arbeiten einbezieht, die, wie die oben wiederholt ge- nannte, nur gelegentlich auf Formen eingehen, welche die höheren Gebirge Mitteleuropas mit dem hohen Norden ge- mein haben. Derartige Formen gibt es nämlich in fast allen Tiergruppen. — Ich nenne hier nur diejenigen Arbeiten, welche ganz speziell über Eiszeitrelikte handeln: W. Voigt, Über Tiere, die sich vermutlich aus der Eiszeit her in unseren Bächen erhalten haben, in: Verh. nat. Ver. Rheinl.-Westf. Bd. 52, 1895, S. 235 — 244, F. Zschokke, Die Tierwelt der Schweiz in ihren Beziehungen zur Eiszeit, Basel iqoi, 71 S., W^ Voigt, Überreste der Eiszeitfauna in millelrhcinischen Gebirgsbächen, in: Verh. d. XIV. Deutsch. Geographentages zu Cöln, 1903, S. 2l6 — 224, L.Fredericq, La faune et la flore glaciaires du plateau de la Baraque- Michel, in: Bull. .Ac. Roy. Belgique , Cl. Sciences, 1904, p. 1263 — 1326, Hesse, Eiszeitrelikte in unserer Tierwelt, in: Jahreshelle Ver. vaterl. Naturk. Württemberg, Jahrg. 62, Stutt- gart 1906, S. Cllf, .A. Thienemann, Planaria alpina auf Rügen und die Eiszeit, in: X. Jahresber. geogr. Ges. Greifs- wald, 1906, und P. Speiser, Nordische Elemente in der preußischen Tierwelt, in : Schrift. Physik.-ökonom. Ges. Königs- berg i. Pr., L. Jahrg., 1909, S. 61— 73. — In diesen Schriften finden Sie weitere Literatur verzeichnet, namentlich in dem Aufsatz von Fredericq. Dahl. In botanischer Beziehung sei das Folgende hinzugefügt. Unter den Pflanzen der Eiszeit, der Glazial-Flora, sind namentlich diejenigen bemerkenswert, die boreal-(arktisch) alpine Pflanzen sind. Diese sind beim Übergang der Eiszeit in die Jetztzeit zum Teil bei uns verschwunden; aber an ge- wissen Örtlichkeiten , die den neuen Einwanderern keine zu- sagenden Lebensbedingungen boten, w^ie in erster Linie die naßfeuchten Hochmoore, welche sehr nahrungsschwache und auch durch ihre Bodenbeschaffenheit relativ kalte Gelände sind, ist diese Vegetation noch heute vorhanden. Wegen der eigentümlichen Tracht, die wesentlich von der unserer übrigen Vegetation abweicht, erscheinen uns diese namentlich in un- seren Hochmooren anzutreffenden Arten des Nordens und auch der hohen Gebirge wie Fremdlinge, und man könnte das gemeinsame Auftreten dieser .Arten als eine Kolonie an- sehen, während doch gerade diese Pflanzen von den jetzt bei uns lebenden diejenigen sind, die zu denjenigen gehören, die Norddeutschland am längsten bewohnen. Die boreal-alpinen Arten zeichnen sich durch auffallend niedrigen Wuchs aus. Sie müssen in kurzer Zeit zur Frucht- reife gelangen, wenn sie überhaupt Nachkommen erzeugen sollen, da während der längsten Zeit im J.ahre die Kälte und die Bedeckung des Erdbodens mit Schnee und Eis, die höhere Pflanzen niederbrechen, das Pflanzenwachstum hemmen würde. Sie erzeugen daher nur eine kurze Sproßunlerlage und schrei- ten dann sofort zur Bildung der Blüten. Es kommt hinzu, daß in bceislen Regionen der Boden verhältnismäßig viel wär- mer ist als die Luft, welchen Umstand sich die Pflanzen durch Anschmiegen an den Boden möglichst zunutze machen. Die 768 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 48 Auffassung unserer sonst boreal-alpinen Arten als Überbleibsel aus der Eiszeit, als „R el ik te", ist nicht so zu verstehen, daß sie sich etwa heute noch an genau denselben Stellen fänden wie zur Eiszeit. Jedenfalls kamen sie damals in Norddeutsch- land vor und jetzt haben sie — soweit es sich um nördlichste Arten handelt — auf den zentral-europäischen Mooren viel- fach die Südgrenze ihres Vorkommens ; es ist einzusehen, daß sie auch später soweit nach Süden vordiingen konnten, wie ihnen Klima, Boden und überhaupt die Bedingungen ein Leben gewährten. — Beispiele boreal-alpiner Arten bei uns sind i^B bedeutet boreal, nicht in den Alpen vorkommend): Andromeda calyculata B. — Betula humilis u. nana. — Care.\ chordorhiza, helconastes, irrigua u. pauciflora. — Cornus suecica B. — Empetrum. — Eriophorum alpinum. — Gentiana verna. — Juncus filiformis. — Ledum B. — Linnaea. — Malaxis. — Microstylis. — Polygonum viviparum. — Primula farinosa. — Rubus Chamaemorus B. — Sali.\ Lapponum u. myrtilloides. — Saxifraga Ilirculus. — Scheuchzeria. — Scir- pus caespitosus. — Stellaria crassifolia u. Frieseana B. — Sweertia. — Toficldia usw. Neben den boreal-alpinen Arten lebten noch viele andere auch noch jetzt bei uns zum Teil häufigere Pflanzen. Unter diesen sind besonders solche zu erwähnen, die früh blühen, also Frühlingspflanzen sind und nur kurze Zeit zur Entwick- lung ihrer Früchte brauchen; Eigenschaften, durch die sich Pflanzen auszeichnen müssen, die in Gegenden mit kurzen Sommern wohnen. Auch in anderen Verhältnissen zeigen sie oft Übereinstimmung mit den echten boreal-alpinen Gewäcliscn, von denen sie sich übrigens nicht immer scharf abgrenzen lassen, so daß von den hierher gerechneten Arten wohl einige ebensogut bei den boreal - alpinen untergebracht werden können. Als Beispiele seien nur genannt: Andromeda poli- folia, Anemone-Arten, Arctostaphylos, Arnica , Betula alba, Caltha, Campanula rotundifolia, Cardamine pratensis, Chryso- splenium, Comarum, Corydalis-Arten, Cyslopteris fragilis, Dro- sera, Epilobium angustifolium u. palustre, Equisetum arvense, Eriophorum vaginatum u. a. , Euphrasia officinalis, Festuca ovina u. rubra, Galium silvestre, Gnaphalium dioicum u. sil- vaticum, Hieracium pilosella, Hippuris, Lathyrus vernus, Listera cordata , Luzula campestris u. pilosa , Menyanthes, Molinia, Nuphar luteum, Parnassia, Pinguicula, Pirola, Pirus aucuparia, Plantago major u. maritima, Poa pratensis, Poly- gonum bistorta, Potentilla anserina u. procumbens , Primula acaulis u. elatior, Ranunculus acer, aquatilis u. reptans, Rubus saxatilis, Rumex Acetosa, Sagina nodosa, Saxifraga granulata, Senecio paluster, Taraxacum, Trientalis, Trollius, Vaccinium myrtillus, oxycoccos , uliginosum u. V. vitis idaea , Veronica officinalis u. serpyllifolia, Viola palustris. P. Herrn Dr. R. K. in M. O. — Die Flora der italienischen Kolonie Erytliraea (Eritrea) wurde in erster Linie von dem berühmten Afrikaforscher G. Schwein furth erforscht, der eine große Sammlung aus jenem Gebiete zusammenge- bracht hat; die Ergebnisse hat er niedergelegt in der Arbeit: Sammlung arabisch • ätliiopischcr Pflanzen; Ergebnisse von Reisen in den Jahren 1S81, 88, 89, 91 u. 92 (in Bulletin de l'Herbier Boissier, Vol. 11, Appendix 11. 1894, IV. 1896, Vll. 1899). Man vgl. ferner seinen Vortrag in Verh. d. Gescllsch. für Erdkunde Berlin (1894). R. Pirotta in Rom hat auf Grund des reichen Materials im römischen botanischen Institut eine Flora des Gebietes begonnen unter dem Titel: Flora della Colonia Eritrea; der erste Teil erschien 1903 (in An- nuario del R. Istituto botanico Roma VIII, p. 1 — 128 mit 12 Taf. ; fasc. 2, p. 129—264, 1904; fasc. 3, p. 265—464, 1907), — Als Reisewerk ist zu nennen: Max SchoeUer, Mitteilungen über meine Reise in der Colonia Eritrea (Berlin 1895); ital. Übersetzung : un mio viaggio nell' Eritrea (Genova 1896). Ferner sind noch folgende Abhandlungen zu nennen, die sich auf das Gebiet beziehen: Pen zig, Una gita al monte Sabber (Referat in Just, Bot. Jahresber. XIX. 2. S., 16SI; Terrae ciano, Escursioni botaniche nelle serre e nelle isole della colonia Eritrea (Bollctt. della Societä geogr. ital. 1S92); E. Chiovenda, Diagnosi di Graminacee nuove della Colo- nia Eritrea (Ann. di Bot. IL (1905) 365). H. Harms. Herrn Q. in Gr. L. — Unterscheidung von Bern- stein und Kopal. — Als Kopal befinden sich im Handel sehr verschiedene, sowohl rezente als auch fossile Harze, harte und weiche Kopalsorten usw. Unter dem Namen Bern- stein versteht man verschiedene, hauptsächlich an der preußi- schen Ostseeküste vorkommende fossile Harze. Bernstein ist stets schwefelhaltig, Kopal enthält meist keinen Schwefel. Im Bernstein finden sich regelmäßig mikroskopische blasenförmige Gaseinschlüssc, die im Kopal fehlen. Beides kann zur Unter- sclieidung von Bernstein und Kopal benützt werden. Der sehr geschätzte Sansibar - Kopal schmilzt ungepulvert noch nicht bei 300", feingepulvert beginnt er bei 140" zu schmelzen. Bernstein schmilzt bei 250 — 300°. Sansibar-Kopal ist schwer, aber vollständig löslich in 96 proz. Alkohol, ebenso in Phenol, unvollständig in Azeton, Benzol, Eisessig, Chloroform, Petrol- äther, Toluol, Schwefelkohlenstoff, Äthyläther, Amylalkohol; Terpentinöl löst nur Spuren davon auf. Bernstein ist unlös- lich in Azeton, fast unlöslich in Alkohol, .Äther, Methylalkohol, Amylalkohol, Benzol, Pelroläther, Eisessig, Chlorof^orm, teil- weise löslich in Terpentinöl und in SchwefelkohlenstofI"; ge- schmolzener Bernstein löst sich im allgemeinen leichter auf. Beim Verdunsten des Lösungsmitlels bleibt das Gelöste als Belag zuiück. Man kann also den Kopal durch seine Lös- lichkeit in Alkohol von Bernstein unterscheiden. H. Thoms. Herrn E. in Blaubeuren. — Sie fragen, wie im Wasser aufgelöste Substanzen, z.B. Kalk, die Reflexion und Absorption der Lichtstrahlen beeinflussen und in welchem Verhältnis Reflexion und Absorption dabei zu der Natur des gelösten Stoffes stehen. Die Reflexion der Lichtstrahlen im Wasser wird so ganz unverhältnismäßig mehr von derBeschaffen- heit der Oberfläche des Wassers beeinflußt, als von der Summe der im Wasser gelösten Substanzen, daß meines Wissens ex- perimentelle oder mathematische Untersuchungen über den letzten Fall noch nicht gemacht worden sind. Ich setze natür- lich dabei voraus, daß Sie das Wasser in wirklichen Seen dabei im .Vuge haben und nicht etwa in kleinen künstlich im Laboratorium angefertigten Behältern. Bei der Absorption des Lichtes hat man zu unterscheiden zwischen der selektiven, farbenerzeugenden, und allgemeinen, welche sich durch' die mehr oder minder vorhandene Durchsichtigkeit des Seewassers manifestiert. Auf die Farbe des Sees hat das Vorhandensein gelöster Substanzen sehr großen Einfluß; Seen mit großem Kalkgelialt haben überwiegend eine grüne Farbe, während größere Mengen von gelösten organischen Bestandteilen die Farbe über Gtün nach Gelb führen. Blau aussehende Seen besitzen meist Wasser, in dem nur sehr geringe Mengen von Substanzen aufgelöst sind. Die Durchsichtigkeit eines Sees, die durch die Sichttiefe weißer Scheiben von bestimmten Di- mensionen gemessen wird, wird durch die Menge der im Wasser aufgelösten Substanzen meines Erachtens im allgemei- nen nur sekundär bedingt, viemehr spielt hier die Menge der im Seewasser vorkommenden organischen Substanzen , vor allem des Phytoplanktons, die entscheidende Rolle. Genaue einwandfreie Untersuchungen fehlen bisher über diesen Gegen- stand, so daß auch andere .Anschauungen vielleicht ihre Be- rechtigung besitzen. Als Einführung in diese Materie empfehle ich Ihnen das Studium der .Arbeit des Freiherrn von und zu Aufseß „Die Farbe der Seen, Münchener Inauguraldissertation 1903" und in bezug auf mathematische Entwicklungen die Arbeiten von v. Cholnoky und Bela Harkänyi in den Resul- taten der wissenschaftlichen Erforschung des Balatonsces, Bd. 1, Teil V, Sekt. 11 u. 111, Wien 1906. W. Halbfaß. Inhalt: Otto Baschin: Die Erreichung des Nordpols. 11. — Sammelreferate und Übersichten: Franz Meinecke; Neues aus der Geologie. — Kleinere Mitteilungen: VV. Dönitz: Züchtung von arzneifesten Stämmen von Trypano- somen. — H. Simroth; Einige weitere Bemerkungen zur Pendulationstheorie. — Himmelserscheinungen im Dezember 1909. — Bucherbesprechungen: Sammel-Referat. — Schulrat H. Scher er; Pädagogischer Jahresbericht von 1908. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippcrt & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue tolge Vlll. liaiul ; der ganzen Kcihe XXIV. Band. Sonntag, den 5. Dezember 1909. Nummer 49. Die experimentellen Grundlagen der Atomtheorie. I. Teil. [Nachdruck verboten. Von Werner Mecklenburg. Einleitung. Zwei Erkenntnissen vornehmlich verdankt die Chemie die Entwicklung zu ihrer heutigen Be- deutung, erstens dem von Robert Boyle im Jahre i66i ausgesprochenen Grundsatze, daß als Bau- steine der materiellen Welt die materiellen Stoffe angesehen werden müßten, die experimentell, durch chemische Analyse, tatsächlich in ihr auf- gefunden werden könnten, und zweitens der von John Dalton im Jahre 1805 vollzogenen Über- tragung der auf philosophischem Boden ge- wachsenen Atomtheorie auf die wissenschaftliche Chemie. Zwischen diesen beiden Erkenntnissen, deren Wichtigkeit für das chemische Lehrgebäude der Gegenwart näher zu erläutern an dieser Stelle überflüssig sein dürfte, bestand ein wesentlicher und prinzipieller Unterschied: Die Richtigkeit des Boyle'scheii Satzes konnte durch experimentelle Untersuchungen direkt bewiesen werden, während die Gründe, die für die Richtigkeit der Atom- theorie in ihrer Anwendung auf die exakte Wissenschaft sprachen, mehr indirekter Natur waren, indem sie sich im wesentlichen auf die Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit der neuen Auf- fassung stützten. In neuerer Zeit hat sich indessen dieser Unterschied, der besonders von Wilhelm Ostwald klar erkannt und nachdrücklich hervor- gehoben worden ist, mehr und mehr verwischt, so daß selbst Ostwald jetzt die Atomtheorie für experimentell wohl begründet hält.') Die Fortschritte, die diesem wesentlichen Umschwünge zugrunde liegen, sind auf sehr verschiedenen Ge- bieten der Physik und der Chemie erzielt worden. Durch den Tyndall'schen Lichtkegel, dessen An- wendung schließlich zur Erfindung des Ultra- mikroskops geführt hat, konnte die Existenz dis- kreter Teilchen von bisher unbekannter Kleinheit mit Sicherheit nachgewiesen werden, ja es war sogar möglich, in scheinbar vollkommen homo- genen Lösungen Einzelteilchen aufzufinden, die ihrer Größe nach den eigentlichen Molekülen, deren Dimensionen zu ermitteln die kinetische Gastheorie Mittel und Wege gezeigt hat, außer- ordentlich nahe stehen. Die eingehende Unter- suchung kolloidaler Lösungen und Emulsionen führte zu der Erkenntnis, daß die groben und die feinen Suspensionen im Prinzip von gleicher Art wie die echten Lösungen sind. Die Brown'sche Bewegung, wie sie kleine heterogene Partikeln in einem sonst homogenen Medium zeigen, ist ') Vgl. Naturw. Wochenschrift, X. F. Bd. Vlll, S. 350 bis 352, 1909. wesensgleich mit der von der kinetischen An- schauung geforderten Wärmebewegung der Mole- küle; beide Bewegungen werden durch dieselben Gesetze beherrscht, und darum konnten die Schlüsse, die aus den für die echten Lösungen geltenden Gesetzen gezogen waren, durch quan- titative Untersuchungen an inhomogenen Gebilden als richtig erkannt werden, ein sicherer Beweis dafür, daß auch die scheinbar homogenen Gebilde tatsächlich inhomogen sind, d. h. daß die Theorie der Moleküle und Atome zu recht besteht. Schließ- lich zeigte das Studium der Kathodenstrahlen und die eingehende Erforschung der Vorgänge, die sich bei dem Durchgange der Elektrizität durch Gase abspielen, daß die bereits früher von Helm- holtz auf Grund elektrochemischer Tatsachen aus- gesprochene Hypothese von der atomistischen Gliederung auch der Elektrizität der Wirklichkeit entspricht. Die Atome der Elektrizität, die Elek- tronen, wurden isoliert und durch geniale Metho- den gezählt und gewogen, und die so erhaltenen Resultate erwiesen sich als identisch mit den Er- gebnissen, die die kinetische Gastheorie und die Kolloidchemie übereinstimmend geliefert hatten. Dieser glänzende Erfolg ist nicht mühelos erreicht worden. Eine ungeheure Menge von Arbeit mußte geleistet, eine ungeheure Menge von Scharf- sinn mußte aufgewandt werden, aber die F'ülle von Mühe und Anstrengung hat sich gelohnt: Die experimentelle Grundlegung der Atomistik wird in der Geschichte der exakten Wissenschaft als eine der glänzendsten Leistungen unserer an hervorragenden Entdeckungen wahrlich nicht armen Zeit verzeichnet werden. I. Die Existenz diskreter Teilchen in schein- bar homogenen Lösungen. I. AI Igem e in es. — Die kolloidalen Lösungen, deren wichtigste Eigenschaften den Lesern der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift bereits be- kannt sind,M stehen ihrem Verhalten nach be- kanntlich zwischen den echten, den kristalloidalen Lösungen und den Emulsionen und Suspensionen, d. h. homogenen Flüssigkeiten, in denen nicht lösliche flüssige oder feste Stoffe aufgeschlämmt sind. Prinzipielle Unterschiede bestehen zwischen ') Vgl.: „Die anorganischen Kolloide", Naturw. Wochen- schrift, N. F. Bd. IV, S. 81, 1905. — ,, Kolloidale Lösungen", ebenda, N. F. Bd. VII, S. 417, 1908. — ,,Zur Erkenntnis der Kolloide", ebenda, N. F. Bd. V, S. 10, 1906. — ,, Über Kolloid- studien mit der Filtrationsmethode", ebenda, N. F. Bd. VI, S. 763, 1907. — Auch an guter Buchliteratur über die in rascher Entwicklung begriffene Kolloidchemic ist kein Mangel. 770 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 49 den kristalloidalen und den kolloidalen Lösungen und den Suspensionen und Emulsionen nicht; die einzelnen Systeme sind vielmehr durch Übergänge kontinuierlich miteinander verbunden. Aller- dings sieht man die kristalloidalen Lösungen im Gegensatz zu den drei anderen Systemen in der Regel als homogene Gebilde an, aber diese Auf- fassung entspricht den Tatsachen nicht. „Wir nennen ein System homogen, sagt Roozeboom, wenn es in allen seinen mechanisch isolierbaren Teilen die gleiche chemische Zusammensetzung und dieselben physikalischen und chemischen Eigenschaften hat. Diese Homogenität besteht also in bezug auf die Zusammensetzung bei guter Durchmischung in einem Gase oder einer Flüssig- keit nur wegen der Kleinheit der Moleküle und der Grobheit unserer Beobachtungsmittel." 2. Mechanischer Beweis für die In- homogenität echter Lösungen. — Nun sind wir ja heute noch nicht imstande, die ein- zelnen Moleküle des gelösten Stoffes in einer Kristalloidlösung direkt sichtbar zu machen, wohl aber haben sich Methoden finden lassen, durch die die Inhomogenität scheinbar homogener Systeme mit Sicherheit nachgewiesen werden kann. So haben van Calcar und Lobry de Bruyn auf rein mechanischem Wege, nämlich allein durch Zentrifugieren, in zweifellosen Kristalloidlösungen, z. B. wäßrigen Lösungen von Jodkalium, Rhodan- kalium, Natriumsulfat usw. an der Peripherie des rotierenden Gefäßes nicht nur eine Anreicherung des Salzes, sondern bisweilen sogar seine Ab- scheidung in fester Form erzielt, ein Ergebnis, das mit der üblichen Anschauung von der Homo- genität der Salzlösungen unvereinbar ist. 3. Das Tyndallphänomen. — Zu einem analogen Resultat führten optische Untersuchungen. Einem jeden ist die Erscheinung wohl bekannt, daß die Tausende von Staubteilchen, die in der Zimmerluft enthalten sind und von denen wir ge- wöhnlich nichts wahrnehmen, sichtbar werden, wenn einzelne helle Sonnenstrahlen in's Zimmer fallen. Der Weg des Sonnenlichtes wird jedoch nicht nur durch die einzelnen Sonnenstäubchen, wie der Volksmund die leuchtenden Staubteilchen nennt, sondern auch noch durch ein diffuses Licht zwischen den einzelnen Staubteilchen gekenn- zeichnet. Dieses diffuse Licht rührt ebenfalls von unzähligen Staubteilchen her, aber solchen, die zu klein sind, als daß wir sie einzeln erkennen können. Nun ist das Sonnenstäubchenphänomen keineswegs eine isolierte Tatsache, sondern vielmehr von all- gemeiner Bedeutung. Immer dann, wenn ein sehr intensiver Lichtstrahl durch ein beliebiges festes, flüssiges oder gasförmiges Medium geht, in dem kleine andersartige Teilchen, d. h. Teilchen von anderem Brechungs- oder Reflexionsvermögen, vorhanden sind, so macht er die größeren der unter gewöhnlichen Bedingungen unsichtbaren Teilchen sichtbar, während die kleineren Teilchen ihre Existenz durch das Auftreten eines diffusen Licht- streifens zu erkennen geben. Das von den größeren oder kleineren Teilchen reflektierte Licht ist wie alles reflektierte Licht polarisiert, und zwar erreicht die Polarisation in der Richtung senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung des Licht- strahls, also in der Richtung, in der wir die Teilchen, wie das Sonnenstäubchenphänomen zeigt, am besten sehen, ein Maximum. Nach dem englischen Physiker John Tyndall, der das Phäno- men zuerst zu wissenschaftlichen Untersuchungen angewendet hat, wird es gewöhnlich als ,, Tyndallphänomen" bezeichnet. Das Tyndall- phänomen^) stellt nun vielleicht die empfindlichste Methode zur Entdeckung von Inhomogenitäten in homogen erscheinenden Medien dar und hat da- her besonders durch die Weiterentwicklung zum Ultramikroskop, einem Instrument, in dem der dift'use Lichtstreif mit Hilfe eines Mikroskops auf seine Auflösbarkeit in einzelne leuchtende Teilchen untersucht und deren Verhalten genau studiert wird, eine außerordentlich große Wichtigkeit für das Studium der kolloidalen Lösungen erlangt.-) 4. Das Verhalten reiner Kristalloid- lösungen beimTyndallversuch. — Aller- dings zeigte sich, als diese Methode zum ersten Male auf die Lösungen angewendet werden sollte, daß die in allen, auch den sorgfältigst durch Destillation oder durch Filtration gereinigten Flüssigkeiten vorhandenen Staubteilchen bereits genügten, um bei seitlicher Betrachtung den Weg eines durch die Flüssigkeit gehenden Lichtstrahls deutlich erkennen zu lassen, und darum wurde die Methode von manchen Seiten als überempfind- lich verworfen. Dieser Standpunkt ist indessen als zu schroff nicht berechtigt. Wie W. Spring gezeigt hat und in neuester Zeit auch von C o e h n bestätigt worden ist, lassen sich optisch vollkommen leere Flüssigkeiten in der Tat herstellen, und zwar dadurch, daß man in der in einem geschlossenen Gefäß befindlichen Flüssigkeit einen schleimigen Niederschlag von Ferrihydroxyd, Aluminium- hydroxyd oder dergleichen erzeugt; dieser Nieder- schlag reißt sämtliche Staubteilchen mit sich nieder, so daß die Flüssigkeit, sobald der Nieder- schlag sich abgesetzt hat, „optisch leer" zurück- bleibt. Optisch leer können außer reinen Flüssig- keiten auch verdünnte und konzentrierte Lösungen einer Reihe von Alkali- und Erdalkalisalzen, ferner nach Lobry de Bruyn und Wolff auch von Harnstoff, Acetamid, Methyl- und Äthylalkohol erhalten werden. Dagegen zeigen nach Lobry de Bruyn und Wolff die kristalloidalen Lösungen von Rohrzucker, Raffinose und Phosphormolybdän- säure, zum Teil allerdings erst bei höheren Kon- zentrationen, das Tyndallphänomen. Metallsalz- lösungen, in denen Produkte hydrolytischer Spal- ') Man vgl. den AbscliniU über ,,Die optischen Eigen- schaften der Nebel*' in Freundlich's ,,Capillarchemie", wo auch die von Lord Rayleigh gegebene Theorie des Tyndall- phänomens ihrem wesentlichen Inhalte nach besprochen wird. '■') Vgl.: ,,Das Ultramikroskop, seine Einrichtung und seine Anwendung", Naturw. Wochenschrift , N. F. Bd. V, S. 465, 1906. N. F. Vm. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 771 tung enthalten sind, sind aus leicht begreiflichen Gründen trübe, werden aber klar, sobald durch einen Überschuß von Säure die Hydrolyse zurück- gedrängt wird. Im übrigen hängt das Auftreten des Tyndallphänomens nicht allein von der ge lösten Substanz, sondern auch vom Lösungsmittel ab; so gibt Tannin mit Wasser trübe, mit Eisessig klare Lösungen ; in jenen hat es ein sehr hohes, in diesen ein normales Molekulargewicht. 5. Die Kontinuität der Übergänge von den echten zu den kolloidalen Lösungen und zu den Suspensionen. — Die vorstehenden Angaben beweisen zur Ge- nüge, daß Kristalloidlösungen, die wir durchaus als homogene Systeme zu betrachten gewohnt sind, nicht nur nicht nach abstrakt-theoretischen Gesichtspunkten , sondern auch aus direkten experimentellen Gründen als inhomogene Ge- bilde angesehen werden müssen. Die kolloidalen Lösungen unterscheiden sich von den echten Lösungen im allgemeinen nur durch den Grad der Inhomogenität; werden Stoffe von sehr hohem Molekulargewicht gelöst, oder richtiger gesagt, besteht zwischen der Molekulargröße des Lösungs- mittels und des gelösten Stoffes ein sehr großer Unterschied, so entsprechen die Lösungen, obwohl sie wie etwa die Rohrzuckerlösungen sich nach Siedepunktserhöhung und Gefrierpunkts- erniedrigung als echte Lösungen darstellen, hin- sichtlich ihrer Homogenität doch nicht mehr den strengen Anforderungen des Tyndall'schen Ver- suchs. An die Lösungen dieser Art schließen sich im Sinne wachsender Trübung die kolloidalen Lösungen direkt und kontinuierlich an, ja die kolloidalen Lösungen greifen sogar weit in das Gebiet der echten Lösungen hinüber. Zsigmondi hat kolloidale Gold- und Eiweißlösungen herge- stellt, die bei hinreichender Verdünnung optisch leer erschienen, in denen sich aber das Vorhanden- sein der außerordentlich fein verteilten Materie durch Zusatz von (optisch leeren) P'ällungsmitteln im Falle des Goldes oder durch bloßes Aufkochen der Lösung im P"alle des Eiweiß leicht erweisen ließ: die kolloidal gelösten Teilchen setzen sich unter den veränderten Umständen zu größeren Komplexen zusammen, „die dann häufig das Ge- sichtsfeld dicht erfüllten". Von Wilhelm Biltz wurden optisch oder nahezu optisch leere kolloi- dale Lösungen anderer Stoffe, z. B. von Chrom- hydroxyd, Wolframblau, Berliner Blau usw. ge- wonnen. Kolloidale Antimonsulfidlösungen konnten je nach der Verdünnung, bei der gearbeitet wurde, in allen Graden der Zerteilung, von optisch voll- kommen leeren bis zu solchen Lösungen erhalten werden, in denen die einzelnen Sulfidteilchen sicht- bar waren. Versuche, deren Ergebnisse mit den von Linder und Picton am Arsensulfid ') er- langten und von W. Biltz bestätigten Resultaten bestens harmonieren. Als besonders interessant sei zum Schluß noch ein Versuch von W. Biltz ') Vgl. Naturw, Wochenschrift, N. F. Bd. IV, S. S8, 1905. mit Cerohydroxyd erwähnt : Glyzerinhaltige Lösungen von Ceroammoimitrat bleiben bei Hin- zufügung von Ammoniak klar, trüben sich aber beim Verdünnen mit Wasser nach einiger Zeit unter Abscheidung von Cerohydroxyd. Verfolgt man den Vorgang ultramikroskopisch, so findet man, daß derTyndallkegel anfangs äußerst schwach und kaum sichtbar ist, daß er mit der Zeit deut- licher und deutlicher wird und daß schließlich sogar die einzelnen Hydroxydteilchen sichtbar werden. „Die Abscheidung des Ceroxydhydrates erfolgt stets durchaus kontinuierlich." 6. Nachweis des kontinuierlichen Überganges von kolloidalen zu echten Lösungen durch Untersuchungen über die Absorption des Lichtes. — Die durch die angeführten Versuche mit Sicherheit nachgewiesene Kontinuität der Übergänge von den echten Lösungen *) zu den mit den gröberen Suspensionen und Emulsionen ebenalls kontinuier- lich verbundenen kolloidalen Lösungen ist für die Lehre von der diskreten Anordnung der Materie von großer Bedeutung, denn sie zwingt uns zu dem Schlüsse, daß diskrete Teilchen auch in den Fällen vorhanden sind, in denen wir ihre individuelle Existenz weder auf mechanischem noch auf optischem Wege mehr nachweisen können. Die Richtigkeit dieses wichtigen Schlusses ist in neuester Zeit auch noch auf einem ganz anderen Wege experimentell bewiesen worden. The Svedberg hat die Absorption des Lichtes in kolloidalen Lösungen in ihrer Ab- hängigkeit von der Teilchengröße durch das Experiment bestimmt. Indem er sich auf die be- sonders von Wilhelm Biltz hervorgehobene Tat- sache stützte, daß die Teilchen einer kolloidalen Lösung um so kleiner sind, bei je größerer Ver- dünnung die Lösung hergestellt worden ist, hat er eine Reihe von kolloidalen Goldlösungen mit abnehmender Teilchengröße bereitet und die Stärke der durch sie verursachten Absorption be- stimmt. Das Ergebnis war folgendes: Die auf eine Schichtdicke von einem Centimeter reduzierte Stärke der Absorption nimmt mit abnehmender Teilchengröße anfangs rasch zu, erreicht dann ein Maximum und sinkt nach dessen Überschreitung ziemlich langsam. Wird hingegen durch Division der Absorptionsintensität durch die Zahl der in der Raumeinheit vorhandenen Teilchen die von jedem einzelnen Teilchen bewirkte Absorption, die „spezifische Absorption" festgestellt, so findet man die wichtige Tatsache, daß diese spezifische Absorption mit wachsender Kleinheit der Teilchen anfangs langsam, dann schneller, aber durchaus kontinuierlich sinkt; gleichzeitig wird die ur- sprünglich rote Farbe der L.ösungen immer aus- gesprochener gelblichrot und nähert sich damit mehr und mehr der gelben Farbe der kristalloi- ') Vermutlich werden sich auch diejenigen Kristalloid- lösungen, bei denen bis jetzt keine Inhomogenität festgestellt werden konnte, durch Kombination der mechanischen und der optischen Untersuchungsmethode als inhomogen erweisen. 772 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. \nni. Nr. 49 dalen Goldlösungen. Das Kleinerwerden der Teilchen wurde ultramikroskopisch verfolgt: An- fangs waren diskrete Teilchen sichtbar, diese wurden allmählich kleiner, verschwanden dann als Individuen, indem sie als Zeichen ihrer Existenz einen Tyndall'schen Lichtstreifen erzeugten, und schließlich verschwand auch dieser, die Lösungen wurden optisch leer. Diese sowie analoge Beob- achtungen am kolloidalen Eisenhydroxyd und am kolloidalen Schvvefelarsen sind ein Beweis für die vollkommen kontinuierliche Änderung einer charakteristischen Eigenschaft der Lösungen beim Übergange aus dem kolloi- dalen zum kristalloidalen Zustande. 7. Zsigmondi'sNachweisderExistenz diskreter Teilchen in optisch leeren kolloidalen Lösungen und die Bestim- mung ihrer Größe. — Das Bild, das wir uns nach den angegebenen Tatsachen von den Be- ziehungen zwischen den echten und den kolloidalen Lösungen machen müssen, wird durch wichtige Untersuchungen von Zsigmondi harmonisch abge- rundet. Zsigmondi ist es nämlich gelungen, die Existenz von diskreten Teilchen noch direkt in Lösungen nachzuweisen, in denen selbst die fast über- empfindliche Tyndall'sche Methode keine Inhomo- genität mehr zu entdecken vermocht hat : Die in optisch leeren kolloidalen Goldlösungen enthaltenen Eiiizelteilchen lassen sich mästen, wenn man sie mit einer Gold- oder Silberreduktionslösung behandelt. Diese Reduktionslösungen sind für sich allein eine kurze Zeit lang beständig, scheiden aber sofort elementares Gold oder Silber aus, sowie sie mit einer bereits fertigen kolloidalen Goldlösung in Be- rührung kommen, und zwar setzt sich, das ist das Wesentliche, das ausgeschiedene Gold oder Silber an jenen sonst in keiner Weise individuell nach- weisbaren Teilchen fest, macht sie größer und dadurch schließlich mikroskopisch sichtbar. Ja Zsigmondi hat die vorher überhaupt unsichtbaren Teilchen sogar zählen können und damit die Möglichkeit bekommen, ihre linearen Dimensionen festzustellen, indem er die analytisch bestimmbare absolute Menge des in einem Kubikzentimeter der Lösung enthaltenen Goldes durch die Zahl der Teilchen dividierte und aus dem so erhaltenen absoluten Gewicht eines Einzelteilchens unter der — willkürlichen — Voraussetzung, daß die Gold- teilchcn Kugelgestalt haben und daß ihr spezi- fiscliesGewichtgleichdemdesgewöhnlichenGoldes, also gleich 20 ist, den Radius der Kugel berechnete. Die Zahlen, die er so erhielt, sind außerordentlich klein; die Größe der Radien ergab sich nämlich zu nur 0,8 bis 1,7 ftu.^} Da nun die Lösungen mit so winzigen Einzeltcilchen nach den bereits besprochenen Untersuchungen von Svedberg den kristalloidalen Lösungen sehr nahe stehen, so ist zu vermuten, daß die angegebenen Maße nicht mehr weit von denen entfernt sind, die wir den Molekülen zuschreiben müssen. Daß dies tatsäch- lich der Fall ist, wird uns der nächste Abschnitt zeigen. II. Die Grö§e der Moleküle nach der kine- tischen Theorie der Gase. 8. Die absolute GrößederAtome und Moleküle nach Schätzungen. — Daß die Moleküle und Atome im Vergleich zu den Größen- ordnungen, mit denen wir zu rechnen gewohnt sind, außerordentlich kleine Gebilde darstellen, wird leicht begreiflich, wenn man sich daran er- innert, daß nach Bunsen der dreimillionste Teil von einem Milligramm Kochsalz durch die Spek- tralanalyse, nach Berthelot ein einhunderttausend- billionstel Gramm Moschus durch den Geruch, nach Goppelsroeder noch ein einhundertmillionstel Milligramm Methylenblau in einem Kubikzenti- meter Wasser durch die blaue Farbe und nach W. Spring') noch 0,000000000000001 g Fluores- zein in derselben Flüssigkeitsmenge durch die grüne Fluoreszenz nachgewiesen werden kann. Derartige Betrachtungen können uns natürlich keine genauere Auskunft über die absolute Größe der Moleküle geben; mit ihrer Hilfe gelangen wir höchstens zu Maximalwerten, indem wir nämlich die Annahme machen, daß zum Eintritt der Er- kennungsreaktion mindestens ein Molekül des be- treftenden Stoffes notwendig ist. Die wirklichen Werte werden beträchtlich kleiner sein. 9. Die kinetische Gastheorie und ihre Anwendung zur Berechnung des Gas- druckes. — Zuverlässigere Zahlen lassen sich durch Überlegungen ableiten, die auf der kine- tischen Gastheorie beruhen. Die kinetische Gas- theorie -) geht bekanntlich von der Annahme aus, daß ein Gas aus einzelnen, vollkommen elasti- schen, der Einfachheit wegen kugelförmig ge- dachten Molekülen bestehe, die sich, oft aneinander- prallend, mit großer Geschwindigkeit auf Zickzack- wegen im Räume umher bewegen. Treffen die Mole- küle auf ihrem Wege ein Hindernis, also z. B. auf die Wand des das Gas einschließenden Gefäßes, so üben sie, darauf stoßend, einen Druck aus. Dieser Druck läßt sich leicht berechnen. Denken wir uns das Gas in ein würfelförmiges Gefäß von der Kantenlänge a eingeschlossen, so können wir, da jede der sechs Würfelflächen denselben Druck wie die anderen erleidet, für die mathematische Deduk- tion die Annahme machen, daß die Stöße, denen je zwei einander gegenüberstehende Würfelflächen ausgesetzt sind, von dem dritten Teil der ge- samten Gasmolcküle verursacht werden, d. h. daß je ein Drittel von der Gesamtzahl der Moleküle zwischen je zwei Gefäßwänden hin- und her- ') Ein Mikron = i // = 0,001 mm; ein Millimiliron I /ift = 0,001 /( = 0,000001 mm = 1-10-7 cm. '1 Vgl. Natur. Wochcnsclirift, N. F. Bd. V, S. 76, 1906. ■-) Eine ausgezeichnete Darstellung der kinetischen Gas- theorie verdanken wir O. E. Meyer (Die kinetische Theorie der Gase; II. Auflage, Breslau 1899), auf die hier ausdrück- lich verwiesen sei. Die Originalliteratur zur kinetischen Gas- theorie ist vollständig in diesem Werke angegeben. N. F. VIII. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 773 pendelt.') Der Druck p', den eine einzelne Wand erleidet, kann dem Produkt aus der Zahl Z der Stöße, die in der Zeiteinheit gegen die Wand geführt werden, und der Wirksamkeit P jedes ein- zelnen Stoßes gleichgesetzt werden: p' = Z.P. Die Zahl Z ist nach dem Gesagten gleich dem Produkt aus dem dritten Teil der Gesamtzahl )' der Moleküle und der Zahl z der Stöße, die jedes einzelne Molekül in der Zeiteinheit auf die Wand ausübt. Diese Zahl z ist natürlich um so größer, je öfter das Molekül in der Zeiteinheit den Weg von einer Wand zur gegenüberliegenden Wand und wieder zurück zurücklegen katm; sie ist also gleich dem Quotienten aus der Molekül- geschwindigkeit u und der doppelten Entfernung 2 a der beiden Würfelflächen voneinander: Z =^ — )' • z = r . 3 3 2a Die Wirksamkeit P des einzelnen Stoßes, der Druck, den ein einzelnes Molekül bei einem einzelnen Stoße auf die Wand ausübt, hängt nur von der Masse m des Moleküls und von seiner Geschwin- digkeit ab; nach den Grundgesetzen der Mechanik ist sie gleich dem doppelten Produkt beider Größen : P ^ 2 u m. Der Druck p', den eine Wand des würfelförmigen Gefäßes erleidet , ist also durch die wichtige Gleichung bestimmt : I u I )' m u- p^^Z-P=- V — •2um= . 3 2a 3 a 10. Die Ableitung des Boyle- Mariotte- schen Gesetzes und des Satzes von Avogadro. — In dieser Gleichung ist das Avogadro'sche Theorem, daß gleiche Volumina zweier Gase bei gleichem Druck und gleicher Temperatur gleich viele Moleküle einschließen, und das Boyle'sche Druck-Volum-Gesetz der Gase enthalten. Befinden sich in zwei gleichen Würfeln zwei verschiedene Gase unter demselben Drucke p, so gelten die beiden Gleichungen : P' = 3 1 " 1 Jii a und p' ^= 3 a wenn die für die beiden Gase verschiedenen Größen durch die Indizes ^ und ,, gekennzeichnet sind. Folglich ergibt sich, da der Druck p' in beiden Fällen derselbe ist: »'] • m, • u, - = I'., . m.^ • u.j -'. ') Wir können das Gesagte auch anders ausdrücken: Denken wir uns in einem gegebenen Augenblicke die Be- wegung jedes einreinen Moleküls in drei rechtwinklig zuein- ander stehende, den Kanten des Würfels parallel laufende Bewegungen zerlegt, so ist, da in dem Würfel keine Richtung bevorzugt ist und da die Zahl der in dem Würfel vorhandenen Moleküle als sehr groß angenommen ist, die Summe sämt- licher derselben Richtung entsprechender Bewegungskom- ponenten die gleiche, d. h. von den gesamten Bewegungen kommt je ein Drittel auf je zwei einander gegenüberliegende Wände. ,,Nun lehrt die Erfahrung, so faßt Nernst die wesentlichen Punkte der Ableitung übersichtlich zusammen, daß beim Vermischen zweier Gase von gleichem Druck und gleicher Temperatur weder Druck- noch Temperaturänderungen statt- finden; es wird also die Summe der lebendigen Kräfte beider Molekülgattungen bei der Ver- mischung nicht geändert. Nun könnte man noch die an sich schon höchst unwahrscheinliche An- nahme machen, daß bei der Vermischung die eine Molekülgattung ebensoviel an lebendiger Kraft zunimmt, wieviel die andere verliert; aber auch diese Annahme wird durch die Erfahrung widerlegt, daß in einem Gemische jedes Gas (z. B. auf eine halbdurchlässige Wand) so drückt, als ob es allein vorhanden wäre, was natürlich nicht möglich wäre, wenn durch Zusatz eines anderen Gases die lebendige Kraft seiner Moleküle geän- dert worden wäre. Es muß also auch nach der Vermischung die mittlere lebendige Kraft beider Molekülgattungen -m,u,- resp. -m^u^"^ betragen. Da nun ferner die beiden Gase sich im Wärmegleichgewicht befinden, so müssen die mittleren lebendigen Kräfte beider Molekülgattungen einander gleich sein, weil nur in diesem Falle nach den Stoßgesetzen elastischer Kugeln kein Austausch an lebendiger Kraft stattfindet, d. h. es muß sein: Durch Kombination dieser Gleichung mit der weiter oben stehenden erhalten wir das Resultat die beiden Würfel enthalten gleich viele Moleküle. Die Ableitung des Boyle'schen Gesetzes ^) er- gibt sich, wenn wir aus dem auf die ganze Würfel- fläche ausgeübten Druck den Druck berechnen, den die Flächeneinheit erleidet. Auf die ganze Würfelfläche a' wirkt der Druck I »'•m-u'' P ^3-^-7' folglich erhalten wir den Einheitsdruck p, indem wir den Wert für p' durch a''' dividieren: I v-m-u^ , „ I „ p = - 7. — oder p-a' = - v -m-u . ^3 3'' 3 Nun ist a* nichts anderes, als das Volumen v des Würfels, und wir gelangen, da für dasselbe Gas bei konstanter Temperatur die Werte v, m und u Konstant sind, zu der Boyle'schen Gleichung: p . V := — v m u'- ^ Konst. ^ 3 II. Die Berechnung der molekularen Geschwindigkeit der Gase. — Die Gleichung ') Als erster hat Daniel Bernoulli im Jahre 173S das Boyle'sche Gesetz aus kinetischen Vorstellungen über die Natur der Gase abgeleitet. 774 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 49 pv = — )'m u - 3 kann dazu dienen, die molekulare Geschwindig- keit u zu berechnen, denn wir kennen die Werte für p und v, ferner das Produkt i'-m, welches gleich der Gesamtmasse M des Gases ist, also alle Werte der Gleichung mit Ausnahme von u: -fll?'- Die molekularen Geschwindigkeiten der Gase, die, da das Produkt pv von der Temperatur abhängt, von dieser ebenfalls abhängig sind, sind recht be- trächtlich. Bei den gewöhnlichen Gasen liegen sie bei o" zwischen 300 und 500 m in der Sekunde, bei den sehr leichten Gasen sehr viel höher, so für Helium bei annähernd 1200 und für Wasserstoff so- gar gegen 1700m. Wie sich aus der obigen Gleichung leicht ableiten läßt, verhalten sich die Molekular- geschwindigkeiten zweier Gase umgekehrt wie die Quadratwurzeln aus ihren Dichten, wir können also aus der Geschwindigkeit des „Luftmoleküls", die bei o'^' 485 m'sec beträgt, die Geschwindig- keit für jedes andere Gas leicht berechnen, wenn wir seine auf die Luft bezogene Dichte kennen. 12. Die „mittlere freie Weglänge" der Gasmoleküle und ihre Bestimmung. — Gegenüber der großen Geschwindigkeit, mit der die Gasmoleküle sich bewegen, muß die Langsam- keit auffallen, mit der sie ineinander diffundieren. Die geringe Diffusionsgeschwindigkeit hat, wie Clausius dargetan hat, ihren Grund darin, daß die einzelnen Moleküle auf ihrem Wege aneinander- prallen, dadurch fortwährend aus ihrer Bahn ge- worfen werden und darum in einer bestimmten Richtung nur außerordentlich langsam vorwärts kommen. Die Länge des Weges, den ein Molekül zwischen zwei Zusammenstößen mit anderen Molekülen frei zurücklegt, die sogenannte ,, mittlere freie Weglänge", ist für unsere Betrachtungen, da sie mit der absoluten Größe der Moleküle in engem Zusammenhange steht, von großer Wich- tigkeit. Sie soll daher im folgenden etwas ein- gehender behandelt werden. Eine Methode zur Bestimmung der mittleren freien Weglänge beruht auf der Theorie der inneren Reibung der Gase. In der obersten Schicht eines ruhenden Gases möge eine strömende Bewegung derart einsetzen, daß die Strömungsgeschwindigkeit gleich der Entfernung der obersten von der untersten Schicht des Gases ist. Durch Reibung wird die oberste Schicht die zweitoberste Schicht, diese die dritte, diese die vierte Schicht usw. mit sich fortziehen, so daß sich nach Einstellung eines Gleichgewichtszustandes sämtliche Schichten mit Ausnahme der untersten, die durch Adhäsion an ihrer Unterlage festgehalten werden möge, in strömender Bewegung befinden. Die Strömungs- geschwindigkeit wird in den verschiedenen Schichten verschieden, am größten in den obersten, kleiner in den mittleren und am kleinsten in den untersten Schichten sein, und zwar werden wir, da die Geschwindigkeit der obersten Schicht nach der Voraussetzung gleich der Entfernung zwischen der obersten und der untersten Schicht sein soll, die Geschwindigkeit aller anderen Schichten gleich ihrer Höhe über der untersten Schicht setzen können. Bei dieser Verteilung der Strömung wird die Reibung, die zwischen den F'lächeneinheiten zweier unmittelbar übereinander- liegender Schichten besteht, als Einheit der Reibung angesehen und als „Koeffizient der inneren Rei- bung" »j bezeichnet. Dieser Koeffizient kann experi- mentell dadurch bestimmt werden, daß man das Volumen V des Gases bestimmt, das in der Zeit- einheit durch eine Kapillare von der Länge L und dem Radius R fließt. Ist nämlich der Druck am Anfang der Kapillare p, und an ihrem Ende p.2, so gilt nach Poiseuille die Gleichung ^(p, — p,)R* V: TL die, da alle Größen außer »; direkt bestimmt werden können, zur Ermittlung des Koeffizienten der inneren Reibung benutzt werden kann. Die theoretische Berechnung des Reibungs- koeffizienten läßt sich mit Hilfe folgender Über- legung durchführen: Die Reibung zwischen zwei Schichten wird dadurch hervorgerufen, daß ein Teil der Moleküle der tieferliegenden Schicht in die höherliegende Schicht und umgekehrt die gleiche Anzahl von Molekülen aus der höher- liegenden in die tieferliegende Schicht übergeht. Da nun die Moleküle der tieferliegenden Schicht eine geringere, die der höherliegenden Schicht eine größere Strömungsgeschwindigkeit haben , so müssen die von unten kommenden Moleküle die Geschwindigkeit der oberen Schicht verringern und die von oben in die untere Schicht eintretenden Moleküle deren Geschwindigkeit erhöhen. Be- trachten wir jetzt eine Pläche von der Höhe und damit auch von der Geschwindigkeit x. Durch einen Quadratzentimeter dieser Fläche werden in der Zeiteinheit um so mehr Moleküle hindurch- treten, je größer die Zahl v der in der Raum- einheit enthaltenen Moleküle und je größer ihre Molekulargeschwindigkeit u ist. Denken wir uns ebenso, wie es bei der Berechnung des Gasdruckes geschehen ist, die Bewegung jedes einzelnen Mole- küles in drei aufeinander senkrecht stehende Komponenten zerlegt, so wird die gesamte Wir- kung aller in der Raumeinheit vorhandenen Mole- küle dieselbe sein, als wenn zwei Drittel von ihnen sich der betrachteten Schicht parallel, ein halbes Drittel, also ein Sechstel senkrecht zu ihr von unten nach oben zu und das letzte Sechstel senk- recht zu ihr von oben nach unten bewegte. Durch den Quadratzentimeter werden somit in der Sekunde ^" Moleküle in der Richtung von unten nach oben und ebenso viele Moleküle in der entgegenge- setzten Richtung hindurchtreten. Wie tief die N. F. \nil. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 775 Schicht, aus der die in beiden Richtungen hin- durchtretenden IMoKküie durchschnitthch stammen, oder wie hoch sie über der Fläche x liegt, hängt allein davon ab, einen wie weiten Weg die Mole- küle ohne Zusammenstoß, der sie ja aus ihrer Bahn werfen würde, frei zurücklegen können, d. h. die Fntfernung dieser beiden Schichten von der Grenzfläche x ist gleich der mittleren freien Weg- länge L. Jedes einzelne Molekül besitzt dank der strömenden Bewegung eine Bewegungsgröße, die gleich dem Produkt aus seiner Masse m und seiner Strömungsgeschwindigkeit ist. Die Strö- mungsgeschwindigkeit der Moleküle, die aus der in der Höhe x — L liegenden Schicht stammen, ist gleich X — L, die der von oben nach unten durch die Grenzfläche wandernden Moleküle gleich X -|- L. Die oberhalb der Grenzfläche liegenden Schichten verlieren also durch die Wanderung der Moleküle nach unten die Bewegungsgröße ' I T N r-u-m (X -(- L) und gewinnen gleichzeitig aus den zu ihnen von unten her gelangenden Molekülen die Bewegungs- größe )'-u-m (x — L). Der Verlust ist größer als der Gewinn. Der wirk- liche Verlust ergibt sich zu ^ )■ u m ( X -t- L) — ^ )■ u m (x — L) = - f u m L. 6 '6 3 Die unteren Schichten hingegen gewinnen bei dem Austausch der Moleküle; ihr Gewinn ist gleich dem Verlust, den die über der Trennungs- fläche liegenden Schichten erleiden. Die gewonnene resp. verlorene Bewegungs- größe ist gleich der Reibung, und zwar in dem hier diskutierten Falle gleich der Einheit der Reibung oder gleich dem Reibungskoeffizienten 'tj : I = - vm u L. In dieser Gleichung ist »,, das Produkt rm, das gleich ist der Masse von einem Kubikzentimeter des Gases, und die Molekulargeschwindigkeit u bekannt, wir können also mit ihrer Hilfe den Wert der mittleren freien Weglänge L berechnen. In ähnlicher Weise wie die Berechnung des Reibungskoeffizienten lassen sich zwei andere Größen , der Diffusionskoeffizient, von dem die Geschwindigkeit abhängt, mit der zwei verschiedene Gase sich mischen, und der Koeffizient der Wärmeleitung berechnen, ja es hat sich sogar gezeigt, daß die drei Koeffizienten nach der kine- tischen Gastheorie in einem einfachen Zusammen- hange stehen müssen, der es gestattet, aus dem Koeffizienten der inneren Reibung den Diffusions- und den Wärmeleitungskoeffizienten direkt abzu- leiten. Die Übereinstimmung zwischen den so berechneten und den experimentell gefundenen Werten ist für den Koeffizienten der Wärme- leitung recht gut und befriedigend für den Diffu- sionskoeffizienten. Diese Übereinstimmung muß als ein sehr beachtenswerter Erfolg der kinetischen Gastheorie angesehen werden und gibt ihren Deduk- tionen, obwohl sie durchgängig auf sehr verein- fachenden Annahmen beruhen, eine bemerkens- werte Sicherheit. Wir kehren zur Besprechung der mittleren freien Weglänge zurück. Die Wege, die die Gas- moleküle ohne Zusammenstoß mit anderen Mole- külen zurücklegen können, sind recht gering, und demgemäß ist die Zahl der Zusammenstöße sehr groß, die ein einzelnes Molekül in der Zeiteinheit durchmacht. In der dieser Arbeit beigegebenen Tabelle zur kinetischen Gastheorie sind die mittleren freien Weglängen für einige wichtigere Gase an- gegeben; sie bewegen sich im allgemeinen zwischen 2 und lo Millionstel Centimetern. 13. Die Berechnung der Summe der Querschnitte sämtlicher in einem Ku- bikcen timet er eines Gases enthaltenen Moleküle. — Mit der räumlichen Ausdehnung der Moleküle, mit ihrem Volumen, steht die mittlere freie Weglänge und die Zahl der Zu- sammenstöße begreiflicherweise im engsten Zu- sammenhange, denn die Zusammenstöße zwischen großen Molekülen sind viel häufiger und ihre freien Wege viel kleiner als bei kleinen Molekülen, wenn man zum Vergleich in beiden Fällen die gleiche Anzahl von Molekülen im gleichen Räume in Betracht zieht. Mathematisch läßt sich die Beziehung zwischen dem Radius der (kugelförmig gedachten) Moleküle und der freien Weglänge leicht formulieren. Wir machen zunächst, um die Rechnung mög- lichst einfach zu gestalten , die Annahme, daß sämtliche Moleküle eines Gases sich mit Ausnahme eines einzigen Moleküls im Zustande der Ruhe befinden. Dieses eine Molekül wird auf seinem Wege sehr oft mit den anderen Molekülen zu- sammenstoßen. Das Raumgebiet aber, durch das es in der Zeit zwischen zwei Zusammenstößen eilt, muß von allen anderen Molekülen frei sein, weil das eine Molekül ja sonst auf seinem Wege mit den anderen Molekülen zusammentreffen würde. Da die Bewegung eines Moleküls zwischen zwei Zusammenstößen als geradlinig vorausgesetzt werden darf, so ist das von anderen Molekülen freie Raumgebiet gleich einem Zylinder, dessen Höhe gleich der Entfernung zwischen den beiden Molekülen, mit denen unser Molekül zusammen- gestoßen ist, also gleich der mittleren freien Weg- länge, ist. Die Grundfläche des Zylinders ergibt sich aus der Überlegung, daß die Entfernung zwischen der Achse des Zylinders und dem Mittel- punkte irgendeines anderen Moleküls nicht kleiner als 2r sein darf, wenn wir mit r den Radius eines Moleküls bezeichnen; denn auf der Achse des Zylinders bewegt sich das eine von uns besonders ins Auge gefaßte Molekül und würde darum gegen jedes Molekül stoßen, dessen Mittelpunkt weniger als 2r, dessen Oberfläche also weniger als r von der Achse entfernt ist. Der Querschnitt des 776 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 49 Zylinders beträgt somit, da sein Radius 2r ist, 4r-,T und sein Volumen v berechnet sich demgemäß, wenn wir die mittlere freie Weglänge mit L' be- zeichnen, aus der Gleichung: V = 4r-7r L'. Die hier in Betracht gezogene mittlere freie Weg- länge 4r';r ist größer als die wirkliche freie Weglänge, denn tatsächlich bewegen sich ja alle Moleküle; die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes ist da- her tatsächlich größer und darum die wirkliche freie Weglänge L kleiner als L', und zwar hat Maxwell durch eine mathematische Untersuchung der Frage gezeigt, daß f2 4r%y2 ist. Wir wollen bei dieser Gleichung einen Augen- blick verweilen, v ist der Raum, der einem ein- zelnen Moleküle zur Verfügung steht. Ist nun die Zahl der Moleküle in einem Kubikcentimeter gleich V, so ist v-v der Raum, der allen Mole- külen zusammen zur Verfügung steht v-v ^ I. Substituieren wir mit Hilfe dieser Gleichung v in der obenstehenden Gleichung, so erhalten wir: I . „ I L = oder vr-TT = 4r-=7r- v'^2 4^'f2^ v\"tc ist die Summe der Querschnitte sämtlicher in einem Kubikcentimeter enthaltenen Moleküle. Ihre numerische Berechnung liefert, da L sehr klein ist, sehr große Werte; sie bewegen sich, wie aus der bereits erwähnten Tabelle hervorgeht, meist zwischen 20 und 70 Tausend Quadratcenti- metern, ein anfänglich überraschendes, bei näherem Zusehen aber leicht verständliches Ergebnis. 14. Die Berechnung des Radius der Gasmoleküle. — An unserem Werte für die freie Weglänge L müssen wir jetzt noch eine zwar nur kleine, aber außerordentlich wichtige Verbesserung anbringen: Das Molekül, das wir oben betrachtet haben, kann, da die Moleküle räumlich ausgedehnt sind, überhaupt nicht die ganze Entfernung zwischen den beiden Molekülen, mit denen es nacheinander zusammengestoßen ist, d. h. die Entfernung zwischen ihren Mittelpunkten zurücklegen. Da es nämlich nicht mit ihren Mittelpunkten, sondern mit ihrer Oberfläche zu- sammenstößt, so hat es freie Bahn nur zwischen ihren Oberflächen. Wir müssen also an die Stelle der Mittelpunktsentfernung die Oberflächenent- fernung setzen. Nun ist aber die Oberflächen- entfernung, selbst wenn die beiden gestoßenen Moleküle in der Ruhelage beharren, nicht ein- deutig definiert; vielmehr hängt sie davon ab, an welchem Punkte der Oberfläche das erste, und an welchem das zweite Molekül getroffen ist. Ihren geringsten Wert erreicht die Oberflächen- entfernung offenbar dann, wenn die beiden ge- troffenen Oberflächenpunkte einander gerade gegen- über auf der Verbindungslinie der Mittelpunkte liegen. In diesem Falle ist die wirklich in Be- tracht kommende Entfernung L — 2r. Die größt- mögliche Entfernung, die in Frage kommen kann, liegt dann vor, wenn das sich bewegende Molekül die beiden anderen Moleküle gerade eben streift; sie ist unter diesen Umständen gleich der Ent- fernung L der Mittelpunkte voneinander. Von der Entfernung L müssen wir also, um die wahre freie Weglänge zu bekommen, einen Wert ab- ziehen, der je nach dem besonderen Falle zwischen o und 2r schwanken kann. Bei der außerordent- lich großen Anzahl der Moleküle läßt sich aus den für die einzelnen P'älle gültigen Korrektionen ein der Wahrheit entsprechender Mittelwert mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung finden; er hat nach van der Waals den Wert: 2V2 Führen wir diese Verbesserung in unsere Gleichung für L ein, so erhalten wir, wenn wir diesen ver- besserten Wert für die mittlere freie Weglänge [L]*) nennen: 16 , V 2 ^ ^ . 4r^Ty: 4r'=7r yr Diese Gleichung ist für unsere Betrachtungen von fundamentaler Bedeutung, denn wir können sie mit Hilfe der van der Waals'schen Gasgleichung so umformen, daß sie außer dem Radius r der Moleküle nur noch experimentell bestimmbare Größen enthält, also zur Berechnung von r dienen kann. 15. Die van derWaals'sche Gleichung. — Bekanntlich genügt die einfache, durch Kom- bination des Boyle'schen Druck-Volum-Gesetzes mit dem Gay-Lussac'schen Volum-Temperatur- Gesetze abgeleitete Gasgleichung PV = RT (P = Druck, V = Volumen, T = absolute Tem- peratur, R = allgemeine Gaskonstante) nur inner- halb enger Druckgrenzen den Beobachtungen. Bei höheren und ebenso bei sehr geringen Drucken treten Abweichungen auf, deren Unterordnung unter die Gasgleichung ihre Erweiterung erforder- lich machte. Diese Erweiterung ist etwa gleich- zeitig von Hirn und van der Waals vollzogen und besonders von van der Waals eingehend theore- tisch und experimentell begründet worden. Die Grundgedanken, die die genannten Forscher ge- leitet haben, sind folgende. Bei verdünnten Gasen, d. h. bei solchen, die unter verhältnismäßig ge- ringen Drucken stehen, ist die zweifellos vorhan- ') L und [L] sind natürlich nicht identisch; in der Lite- ratur werden sie leider nicht immer scharf genug auseinander gehalten, worauf hier besonders aufmerksam gemacht wer- den soll. N. F. VIII. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. m dene .•\nziehiing zwischen den Molekülen in An- betracht ihrer großen Entfernung voneinander nur so schwach, daß sie praktisch kaum zur Geltung kommt. Dies wird anders, wenn die Gase unter hohem Druck stehen, da dann die gegenseitige Entfernung der einzelnen Gasmoleküle sehr viel kleiner ist, so daß die zwischen ihnen wirkende Anziehung einen merklichen Wert annimmt. Dank dieser Anziehung werden die Moleküle einander noch mehr genähert, als durch die alleinige Wir- kung des Druckes geschehen ^würde. Die An- ziehung erhöht also scheinbar die Wirkung des Druckes, sie muß zu dem Druck P hinzugefügt werden. Das Gesetz, nach dem die Attraktion vor sich geht, kennen wir nicht, wir können aber die vorläufige Annahme machen, daß die Größe der Anziehung in der Volumeinheit sowohl der Anzahl derangezogenen wie auch der Anzahl der anziehenden Moleküle, also, da alle Moleküle gleichzeitig anziehen^und angezogen werden, dem Quadrat der Anzahl der Moleküle proportional ist. Da die Anzahl der Moleküle in der Volumeinheit ihrerseits umgekehrt proportional dem Gesamt- volumen V des Gases ist, so folgt, wenn a der Proportionalitätsfaktor ist: Innere Anziehung^ a ■ (Anzahl der Moleküle) - = ^^ . An Stelle des Druckes P haben wir also den Wert einzuführen. Ein anderer Grund, warum die einfache Gas- gleichung bei hohen Drucken nicht genügt, liegt darin, daß den Molekülen für ihre Bewegungen nicht der gesamte Raum, den das Gas erfüllt, zur Verfügung steht. Erstens nehmen sie nämlich, da sie räumlich ausgedehnte Gebilde sind, selbst einen Teil des Gesamtraumes ein, und zweitens behindern sie sich gegenseitig durch ihre Be- wegungen. Von dem Gesamtvolum des Gases müssen wir also eine gewisse Größe — sie wird mit dem Buchstaben b bezeichnet — abziehen, so daß an Stelle des Volums V des Gases das kleinere Volumen V — b tritt. In der so erweiterten Gestalt hat die all- gemeine Gasgleichung dann die Form i6 fn (P+v^Hv RT. Diese sogenannte van der Waals'sche Gleichung hat eine sehr große Bedeutung, da sie nicht nur die Beobachtungen an Gasen ausgezeichnet wieder- zugeben vermag, sondern sich ebenso wie auf die Gase auch auf die ebenfalls amorphen Flüssigkeiten anwenden läßt. i6. Die Bedeutung der Größe b der vanderWaals'schen Gleichung. — Kehren wir jetzt zu unserer verbesserten Gleichung für die mittlere freie Weglänge zurück [L] = - so fällt uns sofort eine Analogie zwischen ihr und der van der Waals'schen Gleichung auf: In der van der Waals'schen Gleichung wird von dem Volumen V, das alle Moleküle zusammen einnehmen, eine Größe b abgezogen, die dem Eigenvolum der Moleküle und ihrem Bewegungszustande Rechnung trägt. In unserer Gleichung für |L1 wird von dem Volum V, das einem einzelnen Moleküle zur Verfügung steht, eine Größe — x'^n abgezogen, die aus dem Eigenvolumen der Moleküle unter Berücksichtigung ihres Bewegungszustandes abgeleitet worden ist. Die beiden Verbesserungen sind also ihrem Wesen nach identisch und unterscheiden sich nur dadurch, daß die eine Verbesserung die Summe aller Moleküle, die andere nur ein einzelnes Molekül betrifft. Multiplizieren wir daher, um auch die zweite Verbesserung auf die Summe aller Mole- küle beziehen zu können, Zähler und Nenner der rechten Seite der Gleichung für [L] mit der An- zahl )' der Moleküle, die in einem Kubikcentimeter enthalten sind, so stellt sie sich uns in folgender Form dar: v-\ — — x'^n-v W= r-^--' ä,X^7tV\2 In dieser Gleichung ist, wie wir wissen, das Produkt aus der Anzahl v der Moleküle in einem Kubikcentimeter und dem Raum, der auf jedes einzelne Molekül kommt, gleich dem Gesamt- volumen des Gases (in unserem Falle also gleich i). Folglich ist der Subtrahend des Zählers nach dem Gesagten identisch mit der Größe b der van der Waals'schen Gleichung: '-^r%v = b.') 3 Kombinieren wir diese Gleichung mit der früher erhaltenen Beziehung L ^= p^- oder v ä,x"nv ]2 so erhalten wir : 4r%Ly2" ' ') Aus der Gleichung b = — x'tiv 3 folgt, daU die Konstante b der van der Waals'schen Gleichung gleich dem vierfachen Eigenvolumen der gesamten Moleküle ist. Denn da jedes einzelne Molekül das Volumen v = lr';r 3 hat, so haben j'Moleküle das Gesamtvolumen V = - r^Tf. Also ist b :^= r'nv 3 4.irl-rr = 3 :4 V. 778 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. VIII. Nr. 49 i6-r% 4r b oder r : bLV2 . 3.4.rVL.y2 iLii 4 In dieser Gleichung sind außer r alle Werte be- kannt , da die mittlere freie Weglänge L in der früher angegebenen Weise aus dem spezifischen Gewicht des Gases, dem Koeffizienten der inneren Reibung und der Molekulargeschwindigkeit be- rechnet und die Konstante b der van der Waals- schen Gleichung aus den Abweichungen der Gase von der einfachen Boyle-Gay-Lussac'schen Gas- gleichung direkt experimentell bestimmt werden kann; sie kann also zur Berechnung von r benutzt werden. Bevor wir indessen in eine Besprechung der so erhaltenen Zahlenwerte eintreten, wollen wir noch kurz zwei andere Methoden besprechen, die uns ebenfalls über die Größe der Moleküle Aus- kunft zu geben vermögen. 17. DasVerfahren vonLoschmidt zur Bestimmung des Radius der Moleküle. — Loschmidt, dem wir die erste dieser Methoden verdanken, ging von der Formel für die freie mittlere Weglänge L L-= '-—- aus, die er, nachdem er Zähler und Nenner der rechten Seite der Gleichung mit r multipliziert hatte, in der Form r = •?• — r''iT)'-LV2 3 schrieb. Hierin ist r^yr das Eigenvolumen eines 3 ^ Moleküls, also —r'^nv die Summe der Eigenvolu- 3 ^ mina aller Moleküle. Nun machte Loschmidt die (zweifellos sehr ungenaue) Annahme, daß in einem verflüssigten Gase die einzelnen Moleküle einander so nahe sind, daß sie den ganzen Raum ausfüllen. Wir erhalten also den Wert r-'/rr, wenn wir 3 einen Kubikzentimeter des Gases verflüssigen und das Volumen der Flüssigkeit bestimmen. Be- zeichnen wir das Verhältnis der Volumina im flüssigen und im festen Zustande, den sogenannten Vfl „Verdichtungskoeffizienten", mit , so ist r^S-^^-LVa — in unserem F"alle ist Vg gleich einem Kubik- zentimeter — , oder da die Volumina vn und v^ sich umgekehrt wie die zugehörigen auf Wasser von 4" bezogenen spezifischen Gewichte Sh und Sg verhalten, Sfi ' In dieser Gleichung ist r durch lauter bekannte Größen ausgedrückt. Der Verdichtungskoeffizient kann aber auch, wie besonders die Arbeiten von Clausius gelehrt haben, auf ganz anderem Wege, nämlich aus den Brechungsexponenten und den damit in engstem Zusammenhange stehenden Dielektrizitätskonstan- ten bestimmt werden. 18. Die Berechnung des Radius der Moleküle aus dem Brechungsvermögen und aus der Dielektrizitätskonstanten. — Das spezifische Brechungsvermögen R eines Stoffes, eine nur von seiner chemischen Natur, aber weder von der Temperatur noch von dem Aggregatzustande abhängige, für den be- treffenden Stoff also charakteristische Größe, wird , wie gleichzeitig L. Lorenz in Kopenhagen aus der gewöhnlichen und H. A. Lorentz in Leyden aus der elektromagnetischen Lichttheorie ent- wickelt haben, durch den Ausdruck I I R = Konst. n=+2 d wiedergegeben, in dem n der unter beliebigen Versuchsbedingungen bestimmte Brechungsexpo- nent und d das unter denselben Versuchsbedin- gungen bestimmte spezifische Gewicht darstellen. Setzen wir in dieser Gleichung, was durch har- monische Wahl der Maßeinheiten stets erreicht werden kann, die Konstante R gleich der Einheit und transformieren, so erhalten wir die Gleichung n-— I ^ ^ n^ -|- 2 Jetzt können wir die folgende Überlegung an- stellen : Das spezifische Gewicht ist kein absoluter, sondern nur ein relativer Wert; es gibt uns nur an, wievielmal so schwer unser Stoff ist als ein be- liebiger als Einheit dienender Vergleichsstoff, der denselben Raum einnimmt. Gewöhnlich wird als Vergleichsstofi" Wasser von 4" genommen, nichts aber hindert uns, in besonderen Fällen, sobald es uns zweckmäßig erscheint, einen anderen Ver- gleichsstoff zu wählen, wie ja denn auch tatsäch- lich bei Gasuntersuchungen oft Luft oder Wasser- stoff von o" und 760 mm Druck benutzt wird. In unserem Falle wollen wir als Vergleichsstofi" das verflüssigte Gas wählen , also dessen spezifi- sches Gewicht gegenüber d gleich i setzen, und ferner die Annahme machen, daß sich d und da- mit natürlich auch der zugehörige Brechungs- exponent n auf o" und 760 mm Druck als Ver- suchsbedingungen beziehen möge. Bezeichnen wir schließlich, wie es weiter oben geschehen ist, das spezifische Gewicht des Gases bei o" und 760 mm und des verflüssigten Gases bezogen auf Was.ser von 4" als Einheit mit Sg und sn, so folgt, da das Verhältnis der spezifischen Gewichte des luftförmigen und des verflüssigten Gases unab- hängig von der zufällig gewählten Vergleichs- substanz sein muß, die Gleichung oder d = Sfl Daraus folgt weiter N. F. VIII. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 779 Se , n - — I Sfl n--4-2 und wenn wir den so erhaltenen Wert des Ver- hältnisses Sg : Sfl in die Loschmidt'sche Gleichung einsetzen ,.J.L,. n" — I , n--f- 2 Wir können also r auch aus der freien mittleren Weglänge und dem Brechungsexponenten n des Gases berechnen. Führen wir in die letzte Gleichung an Stelle des Brechungsexponenten n die Dielektrizitäts- konstante D ein, die nach Maxwell mit jenem bekanntlich durch die wichtige Beziehung n = } IT oder n'' = D verbunden ist, so erhalten wir die letzte Gleichung in der gewöhnlich benutzten Form D— I D + 19. Die molekularen Dimensionen nach der kinetischen Gastheorie. — Zur Bestimmung der Größe der Moleküle können uns also — das ist das Ergebnis unserer langwierigen Erörterungen — drei Methoden dienen, die durch die drei Gleichungen b , I r = 3. .Ll'2 II r --= 3.^^ -Lyr Sfl III r =. 3-^^-Ly2 oderr = 3-^-Ly2- dargestellt werden. In allen dreien kommt die mittlere freie Weglänge L vor, die ihrerseits nach drei verschiedenen Methoden, iiämlich aus dem Koeffizienten der inneren Reibung, der Diffusion und der Wärmeleitung abgeleitet werden kann, also, da die drei Methoden gut übereinstimmende Werte liefern, als recht sicher bekannt angesehen werden darf Die anderen Faktoren, so die Kon- stante b der van der Waals'schen Gleichung, die spezifischen Gewichte des luftförmigen und des verflüssigten Gases und schließlich die Brechungs- exponenten resp. die Dielektrizitätskonstante, können direkt experimentell mit hinreichender Genauigkeit ermittelt werden. Hingegen dürfen wir den Ableitungen der Formeln nicht eine allzu große Beweiskraft zuschreiben, denn es mußten in allen Fällen sehr vereinfachende Annahmen eingeführt werden, deren Berechtigung zweifelhaft erscheint, über deren Zuverlässigkeit wir aber ein Urteil gewinnen könnten, wenn wir mit möglich- ster Sorgfalt eine Vergleichung der experimentell bestimmbaren Größen vornehmen würden, die ja durch die einfachen Beziehungen l b = ^ — "' — ' 4 Sfl miteinander verbunden sind. In Wirklichkeit sind nun diese theoretisch abgeleiteten Beziehungen nur annähernd erfüllt. Daher ist auch nicht zu erwarten, daß die drei Methoden vollständig gleiche Werte für die absolute Größe der Mole- küle liefern werden , aber die erhaltenen Zahlen werden doch hinsichtlich der Größenordnung über- einstimmen. Dieser Schluß wird durch die Tat- sachen bewahrheitet. Die Einzelwerte für zwanzig verschiedene Gase und Dämpfe sind in der diesem Aufsatze bei- gegebenen, neuberechneten „Tabelle zur kine- tischen Gastheorie" zusammengestellt. Die An- gaben für die molekulare Geschwindigkeit, die mittlere freie Weglänge und den Brechungs- exponenten , die ebenso wie die Werte für die Größe b der van der Waals'schen Gleichung den Physikalisch - chemischen Tabellen von Landolt, Börnstein und Meyerhoffer entnommen sind, beziehen sich auf die Temperatur von o" C und den Druck einer Atmosphäre. Das spezifische Gewicht der Gase im gasförmigen Zustande ist nach der Beziehung X M , 1,429 -M = — , also X = -^-^ 10-3 1,429.10-3 32' 32 berechnet worden, in der x das gesuchte spezifi- sche Gewicht, M das Molekulargewicht des Gases, 1,429- io~3 das Gewicht von einem Kubikcenti- meter Sauerstoff bei o" und 760 mm Druck und 32 das Molekulargewicht des Sauerstoffs darstellt. Für das spezifische Gewicht der Gase im flüssigen Zustande ist im Sinne der Loschmidt'schen Ab- leitung das der größten Verdichtung entsprechende, bei sehr hohen Drucken beobachtete, höchste spezifische Gewicht, das in den Tabellen aufzu- finden war, im Falle der Kohlensäure sogar das der festen Verbindung gewählt worden. Werfen wir jetzt einen Blick auf die Kolumnen VIII, IX und X, so erkennen wir, daß die nach den verschiedenen Methoden erhaltenen Werte nicht unbeträchtlich voneinander differieren. Die größten Werte für die Radien haben sich nach der Loschmidt'schen Methode ergeben, ein Resultat, das Niemanden überraschen wird. Die aus den Brechungsexponenten berechneten Zahlen sind wahrscheinlich etwas zu klein. Der Wirklichkeit am nächsten werden vermutlich die mit Hilfe des van der Waals'schen Faktors b abgeleiteten Werte kommen. Mit Sicherheit aber läßt sich eine Aus- wahl nicht treffen, da alle drei Berechnungsmetho- den auf unsicheren Voraussetzungen beruhen und wir kein rechtes Urteil über den Grad der Un- sicherheit haben. Hingegen ist die Tatsache wich- tig, daß die drei verschiedenen Gleichungen, in denen ganz verschiedenartige Komponenten auf- treten, Werte von der gleichen Größenordnung liefern, denn sie bildet für die Annahme, daß wir wenigstens hinsichtlich der Größenordnung über die molekularen Dimensionen richtig orientiert sind, eine sehr bemerkenswerte Stütze. X In der XI. Kolumne der Tabelle sind, da keiner der drei Methoden eine überwiegende Zuverlässig- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 49 er SU in n' n' C/5 CA o er. c o CT n, r. o o CT n > > 3 Zt. > o w f^ X- O « a rt •< p 1 B n n o" -1 o p B 0 o_ n 0 D O n c n ■ü O b O *-< c b i" W n o o D O 2- o' »-< CL P O p o 3 &j: p: P 3 ET* CL p o o. n o Q > p a: O n ö P n n n 6 o m « C cn O - K n Iw K • 3 'cn w o o M 0^ (^ > w .*« w to •^ o\ OJ 4^ OJ N to w Cn w -^ w OJ ?2 ^0 c^ Ln ON o vO vo H o 0^ ij\ w W oo 00 ■^ 00 cn o 4^ cx C-. OJ N ^ 00 00 i-n o 4^ w 00 OS VO to OJ w n O o 0 o O o Oi o O o O o o o o O VO o CO ^ D- ST O o o o o o o O o O o o o o o o o o o o o 3 c ?5 ^ '^ -p'E = a. p Oq" rt O -^ (_n vO CN a\ to 4>> o 05 C\ o 4^ w 4> VO *v) OJ 4^ to to ^1 o vO t./! 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Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 781 keit beigemessen werden kann , für die Radien die Mittelwerte aus den drei Einzelwerten berechnet worden. Diese haben dann weiter zur Berechnung der Zahl der in einem Grammolekül vorhandenen Einzelmoleküle, der sogenannten Losch midt- schen Zahl, gedient. Zu diesem Zwecke wurde für jedes Gas aus dem Radius r der Querschnitt r'-.r eines Moleküls berechnet; durch Multiplikation mit der Zahl n der in einem Kubikcentimeter des Gases enthaltenen Einzelmoleküle wurde die Summe r'-'iT-n der Querschnitte sämtlicher in einem Kubikcentimeter enthaltenen Moleküle er- mittelt; diese Summe Q aber läßt sich, wie wir wissen, mit Hilfe der Beziehung Q = 4L 12 leicht finden; ihre Zahlenwerte sind für die hier in Betracht gezogenen Gase in der XII. Reihe der Tabelle zusammengestellt. Wir erhalten also aus der Gleichung: Q nr% ^ Q, also n ^ r-/r die Zahl der bei o" und 760 mm Druck in einem Kubikzentimeter enthaltenen Moleküle. Da nun ein Grammolekül eines beliebigen Gases bei der angegebenen Temperatur und dem angegebenen Druck den Raum von 22420 Kubikcentimetern einnimmt, brauchen wir n nur noch mit dieser Zahl zu multiplizieren, um die Loschmidt'sche Zahl zu erhalten : 22 420 Q 22 420 n ^N: r'7t Diese Zahl müßte eine Konstante sein, denn die Zahl der in einem Grammolekül enthaltenen Einzelmoleküle ist für alle Stoffe dieselbe. Diese Bedingung ist, wie die Zahlen der XIII. Kolumne zeigen, wenigstens hinsichtlich der Größenordnung erfüllt, wenn auch zwischen den Einzelwerten selbst beträchtliche Differenzen bestehen, Diffe- renzen, die allerdings nicht wundernehmen können, wenn man berücksichtigt, daß die Fehler in der Bestimmung der Radien bei der Berechnung der Zahl N in zweiter Potenz zur Geltung kommen. Es erscheint daher nicht ungereimt , wenn man aus den Einzelwerten für N das Mittel zieht. Tut man dies, so erhält man für die Loschmidt'sche Zahl den wichtigen Wert: N = 6,95 ■ lo'-'' oder abgerundet N=7-io^^. Erwähnt sei zum Schluß dieses Abschnittes noch, daß wir durch Division des absoluten Ge- wichtes eines Kubikcentimeters eines Gases durch die Zahl n der darin enthaltenen Moleküle das absolute Gewicht und durch Division des abso- luten Gewichts durch das mit Hilfe von r leicht zu berechnende Volumen das spezifische Gewicht eines Moleküls erfahren können. 20. Zsigmondi's kleinste Goldteilchen und die absolute Größe der Moleküle. — Vergleichen wir nunmehr die Zahlen, die die kinetische Gastheorie für die Größe der Moleküle fordert, mit den Zahlen, durch die die Größe der Teilchen in den zwischen den kolloidalen und den echten Lösungen stehenden Lösungen wieder- gegeben wird, also den theoretisch verlangten Radius von etwa 0,2 uf.i und den experimentell bestimmten Radius von 0,8 uft des kleinsten materiellen Teilchens, von dem wir bis jetzt wissen, so kommen wir zu dem Schluß, daß diskrete Teilchen von einer Größenordnung, wie wir sie nach der kinetischen Gastheorie den Molekülen zuschreiben müssen, auf experimentellem Wege als tatsächlich existierend nachgewiesen worden sind. (Ein II. und III. Teil dieser Arbeit folgt binnen kurzem.) Kleinere Mitteilungen. Über Asepsis und Bügeln bringt K. Svehla im Archiv für Hygiene beherzigenswerte Mit- teilungen. Die Temperatur eines Bügeleisens beträgt etwa 200 — 400", ausreichend, um bei naher Berührung alle Keime zu töten. Dünne Stoffe werden schon durch einmaliges Über- streichen, stärkere durch Bügeln auf beiden Seiten völlig keimfrei. Dicke Stoffe werden auch dann nicht genügend von der Hitze durchdrungen, um sie sicher zu desinfizieren; äußerlich anhaftende Keime werden natürlich ebenfalls zugrunde gehen, und um solche wird es sich in der Regel handeln. Die Möglichkeit einer Sterilisation durch das Platt- eisen ist schon länger, aber bisher nicht weit genug bekannt; es verlohnt sich, darauf hinzu- weisen, weil das Verfahren unbeschadet seiner Sicherheit so leicht auszuführen ist, ohne beson- dere Geräte zu erfordern. Hugo Fischer. Bücherbesprechungen. K. Kraepelin, Naturstudien. Billige Volksaus- gabe. Mit Zeichnungen von Schwindrazhein. 2. Aufl. iio Seiten. Leipzig, B. G. Teubner, 1909. — Preis geb. i Mk. Kraepelin's Naturstudien „im Hause", „im Garten", und „in Wald und Feld" sind als vorzüglich anregende, dem Verständnis der Jugend trefflich angepaßte Schriften so bekannt, daß hier eine weitere Empfeh- lung überflüssig wäre. Der Hamburger Jugend- schriftenausschuß hat nun aus diesen guten Büchern das Beste ausgewählt und im vorliegenden, billigen, aber gleichwohl gut ausgestatteten Bändchen ver- einigt. Für den Weihnachtstisch wird diese Auswahl vielen Eltern sehr willkommen sein. Kbr. H. Minkowski, Raum und Zeit. 14 Seiten mit dem Bildnis des Verfassers, sowie einem Vorwort -82 Naturwissenschaftliche W^ochenschrift N. F. Vra. Nr. 49 von A. Gutzmer. Leipzig, B. G. Teubner, 1909. — Preis 80 Pf. Kurz vor seinem frühen Tode hat der verdiente Mathematiker auf der Köhier Naturforscherversamm- lung diesen Vortrag gehalten, in dem ein kühner Entwurf einer neuen Mechanik versucht wird, in der die Zeit neben den drei Raumkoordinaten als viertes Bestimmungsstück einer vierdimensionalen Mannig- faltigkeit auftritt. Dadurch wird die Lorentz'sche Hypothese von der Verkürzung bewegter Körper ver- ständlich und auch das Kinstein'sche Relativitätspostulat läuft schließlich darauf hinaus, daß die in Raum und Zeit vierdimensionale Welt durch die Erscheinungen gegeben ist, daß aber die Projektion in Raum und in Zeit noch mit einer gewissen Freiheit vorgenommen werden kann (Weltpostulat 3,1^ km = )^ Sek.). Klarem Verständnis werden die ziemlich aphoristischen Äußerungen Minkowski's sicher nur bei wenigen be- gegnen, aber sie bergen vielleicht den Keim der Er- kenntnis einer prästabilierten Harmonie zwischen der reinen Mathematik und der Phvsik. Kbr. Dr. W. Lorey, Die mathematischen Wissen- schaften und die Frauen. 20 Seiten. Leip- zig, B. G. 'l'eubner, 1909. — Preis 60 Pf. Der Vortrag enthält einige Betrachtungen über die Mathematik im neuen Lehrplan der Mädchen- schulen, sowie enzyklopädische Nachrichten über be- rühmte Mathematikerinnen. Kbr. Dr. H. Greinacher, Die neueren Strahlen. 130 Seiten mit 66 Abb. Stuttgart, F. Enke, 1909. — Preis 4 Mk. Das aktuelle Thema wird in dieser Schrift recht gründlich und erschöpfend behandelt. Den ersten Teil bilden die Elektronenstrahlen (negative Strahlen), unter denen die Kathodenstrahlen und /')'- Strahlen die wichtigsten sind. Danach werden im zweiten Teil die positiven Strahlen (a-Strahlen, Kanalstrahlen und Anodenstrahlen) und schließlich die elektrisch neutralen Strahlen (Röntgen- und y-Strahlen) erörtert. Eine Schilderung der Röntgentechnik bildet den Ab- schluß. Kbr. i) Dr. Max Dittrich, a. o. Prof. a. d. Univ. Heidel- berg, Chemisches Praktikum für Studie- rende der Naturwissenschaften. Quan- titative Analyse. Carl Winter's Universitäts- buchhandlung. Heidelberg 1908. — Preis 4 Mk. 2) Dr. Franz Hemmelmayr, Hilfsbuch für den Unterricht in den praktischen chemi- schen Übungen an höheren Lehranstal- ten, insbesondere Oberrealschulen. Mit 30 Abbildungen. Verlag von Alfred Holder, K. u. K. Hof- und Universitätsbuchhändler, Wien, 1908. — Preis 2 Mk. 3) Dr. Franz Wilh. Henle, früher Privatdozent an d. Univ. Straßburg, Anleitung für das orga- nisch-präparative Praktikum. Mit einer Vorrede von Dr. J. Thiele, Prof. a. d. Univ. Straßburg. Mit zahlreichen Skizzen. Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H., Leipzig 1909. — Preis 5,20 Mk. 4) Prof. Dr. Georg John, Leipzig, Schulchemie Große Ausgabe. Mit 180 Abbildungen im Text und einer Farbentafel. Verlag von Erwin Nägele. Leipzig 1909. — Preis 2,40 Mk. 5) Dr. Franz Küspert, Kgl. Reallehrer für Chemie und Naturbeschreibung an der Kreisoberrealschule Nürnberg, Lehrgang der Chemie und Mine- ralogie für höhere Schulen. C. Koch's Verlagsbuchhandlung. Nürnberg 1908. — Preis 4 Mk. 6) Dr. Wilhelm Levin, Prof. a. d. Oberrealschule zu Braunschweig, Methodischer Leitfaden für den Anfangsunterricht in der Che- mie unter Berücksichtigung der Mine- ralogie. Mit 112 Abbildungen. 5. verbesserte Auflage. Verlag von Otto Salle. Berlin 1907. — Preis 2 Mk. 7) Dr. Fr. RüdorfT's Grundriß der Chemie für den LInterricht an höheren Lehr- anstalten. Ausgabe A, Bearbeitung von R. Lüpke. 15. verb. Aufl. von Dr. H. Böttger, Prof. am Dorotheenstädtischen Realgymnasium zu Berlin. Mit 293 Abbildungen und einer Spektral- tafel. Berlin, Verlag von H. W. Müller, 1909. — Preis geb. 5,80 Mk. 8) Dr. August Schlickum, Oberlehrer an der Ober- realschule in Cöln, Lehrbuch der Chemie und Mineralogie sowie der Elemente der Geologie. Für die oberen Klassen der Oberrealschulen und Realgymnasien. Mit 26g in den Text gedruckten Figuren und einer mehr- farbigen Tafel der Spektren verschiedener Elemente und Himmelskörper. E. D. Baedeker, Verlags- buchhandlung. Essen 1907. — Preis 3 Mk. An Schullehrbüchern der Chemie mangelt es wahrlich nicht. i) Das Buch Nr. i freilich ist für Studierende der Naturwissenschaften bestimmt und sehr zu emp- fehlen. Es soll den Studierenden in die Gewichts- und Maßanalyse einführen. Verf. bespricht zunächst die ständig wiederkehrenden Manipulationen der Ge- wichtsanalyse. Besonders wichtig ist die Gestaltung des Te.xtes in dem Sinne, daß der Studierende da- nach selbständig arbeiten kann. Besondere Rücksicht hat der Autor auf die Bedürfnisse des Mineralogen und Geologen genommen. Der Abschnitt über die Maßanalyse bringt wie der vorausgehende ebenfalls nur die wichtigeren Methoden, immerhin genug, um weitgehenden .Anforderungen zu genügen. 2) Hemmelmayr vv-ill den Lehrer unterstützen bei seinen praktischen chemischen Übungen in den Laboratorien von österreichischen Mittelschulen. Das Buch erfüllt seinen Zweck. 3) Auch das Buch Henle's will wie das unter i) genannte dem Studenten nützlich sein. Das Heft ist sehr gehaltreich und wird seiner Aufgabe gerecht werden, denn der Autor hat es mit großer Geschick- lichkeit verstanden, das immerhin schwierige Gebiet N. F. VIII. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschritt. 783 in Praktikumform zu verarbeiten. Diircli kurze Lite- raturliinweise wird auf die Originalliteratur hingewiesen. 4) Das Buch von John bemüht sich, die Chemie so vorzutragen, daß Vorkenntnisse in der Physik nicht vorausgesetzt werden. Es mußten daher natürlich die in Betracht kommenden physikalischen Begriffe erörtert werden. 5) Küspert bemüht sich in dem vorliegenden Schulbuch, seine Beispiele und Anwendungen nach Möglichkeit den Alltagserscheinungen anzupassen, also solchen , die dem Gesichtskreise der Schüler nahe- liegen oder an einfache übersichtliche Versuche an- knüpfen. 6) L e V i n ' s Methodischer Leitfaden ist ein gutes Buch, geeignet zur ersten Einführung in die Chemie. 7) Rüdorff's Grundriß — ein treffliclies Lehr- buch der Chemie — befindet sich weiter in gediege- nen Händen. Der leider zu früh verstorbene Lüpke hatte das Buch auf der gebührenden, von der Zeit verlangten Höhe erhalten und es auch insofern ge- hoben, als er es zweckdienlich erweitert hatte. Die Grundsätze, die ihn geleitet haben, sind dem jetzigen Bearbeiter, Prof. Böttger, einem Kollegen Lüpke's, genau bekannt ; er war also in der Tat der Berufenste zur Fortführung des Werkes. Bei der Selbständigkeit des jetzigen Bearbeiters und seiner wissenschafdichen Höhe, auch veranlaßt durch die Fortschritte in der Chemie , hat naturgemäß das Buch in seiner Hand wiederum wichtige Veränderungen zu seinem Vorteil erfahren , wenn auch die Anordnung des Stoffes im wesentlichen unverändert geblieben ist. Wie Böttger im Vorwort mitteilt, mußte Lüpke s. Zt. auf die Neu- bearbeitung des organischen Teiles wegen seiner Er- krankung verzichten; diese Neubearbeitung ist nun- mehr erfolgt. Das Buch umfaßt jetzt einschließlich des Registers 591 Seiten, von denen 76 auf die organische Chemie fallen ; es handelt sich also wesent- lich um eine anorganische Chemie. 8) Schlickum findet die vorhandenen chemi- schen Schulbücher nicht hinreichend den maßgeben- den Lehrplänen angepaßt ; sie böten entweder zu viel oder zu wenig. Er hat sich nun bemüht, hier eine vollständige Anpassung zu erzielen. it. Bd. 2. AbtIg. Haiyum, Strimtium, Calcium, Magnesium, Beryllium, .Aluminium, bearb. v. Priv.-Doz. Dr. Fritz Ephraim. — Die krislallographischen Angaben v. Assist. Dr. H. Steinmetz. (XXXVI, 726 S.) - 28 Mk., geb. in Halbfrz. 31 Mk. Literatur. Autenrieth, Prof. Dr. Wilh. : Die Auffindung der Gifte und starl< wirkender ArzneistofTe. Zum Gebrauche in ehem. Laboratorien. 4., vollst, neu bearb. Aufl. (XI, 2S6 S. m. 20 Abbildgn.) gr. 8°. Tübingen '09, J. C. B. Mohr. — 7,60 Mk., geb. 8,60 Mk. Corning, Prof. Prosekt. Dr. H. K.; Lehrbuch der topographi- schen .-Anatomie f. Studierende u. .Arzte. 2., vollständig um- gearb. .Aufl. Mit 653 .Abbildungen, davon 424 in Farben. (XVI, 772 S.) Le.x. 8". Wiesbaden '09, J. F. Bergmann. — Geb. in Leinw. 16,60 Mk. Gadamer, Prof. Dr. J.: Lehrbuch der chcmisclien To.\ikoIo- gie u. Anleitung zur .Ausmittelung der Gifte, f. Chemiker, Apotheker u. Mediziner bearb. unter Milwirkg. v. Drs. Priv.- Doz. Prof. W. Herz u. Assist. G. Otto Gaebel. (Mit 31 Abbildgn. im Text, 1 Taf. der Blutspektra u. 10 Tab.) (XII, 725 S.) Lex. 8". Göttingen '09, Vandenhoeck & Rupprecht. — 18,60 Mk., geb. in Leinw. 20 Mk. Gmelin und Kraut's Handbuch der anorganischen Chemie. Hrsg. V. Prof. C. Friedheim. 7. gänzlich umgearb. Aufl. II. Bd. 2. AbtIg. gr. 8". Heidelberg '09, C. Winter, Verl. Anregungen und Antworten. Herrn Prof. Dr. H. K. in Münster i. W. — Sie über- senden uns eine Milbe und teilen uns mit, daß dieselbe dort in Münster in großer Zahl in Polstermöbeln auftrete und ihren Sitz in dem Pferdehaar der Polsterungen zu haben scheine. Sie ist nach Ihrer Angabe im frischen Zustande durchscheinend weiß; nur im Innern seien bei vielen Individuen dunklere Organe bemerkbar. — — Die Milbe ist Glycyphagus do- mesticus (Fig. i). Man kann sie zu deutsch die H aus- raube yM-t" i'io-/r,f nennen. A. D. Michael (,, British Ty- Fig. I. Die Hausmilbe, Ghuyfihagus ilomestkus, Körper etwa '/j mm lang, nach Michael. roglyphidae" Vol. I, London 1901 , p. 244) sagt über ihre Lebensweise folgendes: Diese Art ist in Häusern und Ge- bäuden wohl die gemeinste Art. Sie kommt vor auf fast allen Arten von trockenen pflanzlichen und tierischen Stoffen, soweit sie nicht zu fest sind. Zahlreich tritt sie auf an Heu und Futterstoffen in Ställen. In großen Mengen wurde sie beobachtet an vielen vegetabilischen Apothekerwaren, an trockenen Insekten und trockenen Früchten. Es sind Fälle vorgekommen , daß sie in Häusern an Binsenmöbeln usw. in solchen Mengen sich fanden, daß die Eigentümer die Wände abkehrten, räucherten und zahlreiche vermeintliche chemische Mittel anwandten, ohne die Tiere los zu werden. Oude- mans fand sie in .Assen, Haag und Utrecht an Möbeln. Er sagt, daß sie alle Gegenstände im ganzen Hause buchstäblich bedeckten und daß sie sich von dem tierischen Fett nährten, welches dem nicht hinreichend gereinigten Pferdehaar, mit dem die Möbel gepolstert waren, anhafte. Er fand sie auch an Kork und Tabak. — Auch im Freien kommt sie vor, aber weniger zahlreich. — Nach dieser Darstellung Michael's scheinen sichere Vertilgungsmittel bisher nicht bekannt zu sein. Da sie in Deutschland besonders in diesem Jahre durch ihr massenhaftes Auftreten auffällt, so ist wohl anzu- nehmen, daß die feuchte Witterung daran schuld ist und daß sie beim Eintreten trockeneren Wetters wieder verschwinden, d. h. auf das gewöhnliche Maß ihrer Häufigkeit zurückkehren werde. — Vielleicht wird man durch stärkeres Einheizen und Austrocknen der Wohnräume zu einem schnelleren Verschwinden beitragen können. Kälte scheint ihr weniger zu schaden, da sie sogar im Franz-Joseph-Archipel gefunden wurde. — Nachdem das Vorhergehende schon niedergeschrie- 784 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 49 ben war, macht man mich freundlichst auf eine Schrift auf- merksam, die weder in der ,,Bibliographia universalis" noch in den britischen „Records" genannt ist und die mir deshalb ent- gangen war. Es ist; Fr. Ludwig, ,,Die Milbenplage der Wohnungen, ihre Entstehung und Bekämpfung" (Leipzig 1904). — Der Verfasser dieser Schrift hält peinlichste Reinlichkeit für die erste Hauptbedingung, wenn man sich von der Milben- plage freihalten will. Oft stelle sich die Milbe ein, wenn bei längerer Abwesenheit der Bewohner eines Hauses sich viel Staub ansammle. In allen Fällen , in denen es an Reinlich- keit nicht gefehlt habe, sei das Polstermaterial der Möbel schuld gewesen. Sowohl die neuerdings in Aufnahme ge- kommenen Pflanzenhaare , die man aus Kokosnußhüllen her- stelle und unter dem Namen Crin d'Afrique in den Handel bringe, als Pferdehaare seien, wenn sie vor ihrer Verwendung nicht gründlich gereinigt wurden, Herde der Milbenplage ge- wesen. — Die Milbe sei äußerst widerstandsfähig gegen fast alle Desinfektionsmittel, namentlich in einem Zystenstadium. Die gewöhnlichen städtischen Desinfektionsapparale, in denen Fomialin usw. zur Anwendung gelange, hätten sich als völlig unwirksam erwiesen. Ja, sogar die l'/a stündige Einwirkung einer Hitze von lio" und der 36 stündige Aufenthalt im Al- kohol habe die Hypopuszysten nicht getötet. Nur Schwefel- kohlenstoff, .xanthogensaures Kali und einige verwandte Stoffe fand der Verfasser wirksam. Er empfiehlt schließlich einen von Prof. Dr. Buchenau erfundenen, von der Firma A. Dolder in Bremen, Düsternstraße 92, beziehbaren Desinfek- tionskasten. Dahl. Herrn Dr. R. C. in Cöln-Bayental. — Sie schrieben uns vor längerer Zeit, daß Sie in einem Parke Washingtons zwei merkwürdige Lebewesen beobachtet hätten, welche Sie in den Museen dort drüben nicht hätten auffinden können. — Das erste war ein Insekt, welches mit einem langen Stachel ein Fig. I. Schematische Darstellung einer bohrenden Schlupfwespe. feines tieles Loch in die Rinde eines Baumstammes bohrte. Ihre Skizze von dem Tiere ist in Fig. I wiedergegeben. Es handelt sich hier um eine Schlupfwespe und zwar um eine Art der Gattung Thalessa [Th. liinahv oder atra). Die Larve dieser Schlupfwespe schmarotzt an der Larve einer Holzwespe, Tremex cohiinba (vgl. C. V. Riley, ,,The habits of Thalessa and Tremex" in: U. St. Department of Agricul- ture Divis, of Entomology Period. Bull. Insect Life Vol. I, Washington 18S8, Nr. 6, p. I68 IT.). Der Bohrer der Wespe wird durch eine sägende Bewegung in ziemlich festes Holz eingesenkt. Dabei wölben sich die beiden scheidenartigen Seilenstücke immer mehr nach oben vor, wie dies Ihre Skizze und die Fig. 2 zeigt. Der Bohrer selbst besteht aus drei eng aneinander liegenden Stücken, zwischen denen das Ei hinab- gleitet. Die Wespe legt die Eier in Baumstämme, welche bereits von Holzwespenlarven bewohnt sind und sucht mit ihrem Bohrer die Gänge jener Larven zu erreichen. Die aus dem Ei ausschlüpfende junge Larve ist nicht fähig sich weiter einzubohren. Sie sucht in dem Gange die Holzwespenlarve auf oder wartet, wenn die Wespe mit ihrem Bohrer einen Gang nicht erreichte, ab, bis eine bohrende Holzwespenlarve auf sie stößt, um sich in beiden Fällen äußerlich von dem Körper derselben zu nähren. — Eine ähnliche Wespe mit einem etwas kürzeren Legebohrer, Kliys:ü f^isuasoria, kommt auch bei uns vor. Ihre Larve parasitiert an 5/>c.r-Larven. Noch einige andere Schlupfwespenarten mit z. T. sehr langem Legebohrcr (Ephialtfs etc.) gibt es bei uns, die eine sehr ähnliche Lebensweise führen, nur daß ihre Larven an Larven anderer Insekten (Bockkäfer usw.) parasitieren. Der Bohrer der genannten Schlupfwespen steckt bisweilen so fest im Holz, daß man ihn gar nicht herausziehen kann. Es ist klar. Fig. 2. Thalessa lunator, bohrend.'T'nach Riley. daß diese Schlupfwespen mit ihrem Legebohrer auch den Menschen sehr empfindlich stechen können, wie Ihnen dort gesagt wurde, ja, es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Gift- stachel der Bienen und Wespen aus einem Legebohrer sich entwickelt hat. (Man vgl. die Ausführungen von H. J. Kolbe, ,, Einführung in die Kenntnis der Insekten", Berlin 1893, S. 318 ff. und dessen Literaturhinweise ebenda S. 336 f.). Frage 2. Dann fanden Sie an den Bäumen, auch in den Straßen Washingtons, wiederholt ein etwa 3 cm langes, leeres Chitinskelett von käferartiger Gestalt. Die Beine hafteten an der Rinde und in der Mittellinie des Rückens befand sich ein glatter, schnittartiger Spalt. — — Allem Anschein nach handelt es sich hier um die Chitinhülle der Puppe einer in Nordamerika häufigen Singcicade Ckada sepleiuhxim , aus welcher das fertige Insekt durch den Spalt hervorgekrochen war. Vielleicht erinnern Sie sich auch noch des Schnarrens der Cicaden auf den Bäumen. Ich gebe in Fig. 3 das Bild Fig. 3. Larve einer Singcikade. einer verwandten Cicadenart, aus meiner ,, Sammelanleitung" (Jena 1908) entnommen. Die amerikanische Cicade ist da- durch interessant, daß man bei ihrer Larve nach dem perio- disch zahlreicheren Auftreten der Cicade eine Entwicklungs- dauer von 17 Jahren, in den südlichen Staaten Nordamerikas von 13 Jahren hat feststellen können. Weiteres über diese Cicade finden Sie in einer Monographie von C. L. Marlatt, ,,The periodical Cicada" (in : U. S. Department of Agriculture Div. of Entomologv, Bull. N. S Nr. 14, Washington 1898I. Dahl. Inhalt: Werner Mecklenburg: Die experimentellen Grundlagen der Atomtheorie. I. Teil. — Kleinere Mitteilungen: K. Svehla: Asepsis und Bügeln. — Bücherbesprechungen: K. Kraepelin: Naturstudien. — H. Minkow^ski: Raum und Zeit. — Dr. W. Lorey: Die mathematischen Wissenschaften und die Frauen. — Dr. H. Greinacher: Die neueren Strahlen. — Sammel - Referat über chemische Schulbücher. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Kolge Vlll. Band; der ganzen Keihe XXIV Band. Sonntag, den 12. Dezember 1909. Nummer 50. [Nachdruck verboten.] Die glazialen Züge im Antlitz der Alpen. Von Prof. Dr. Ed. Brückner in Wien. In der Geschichte der Morphologie haben die Alpen eine wichtige Rolle gespielt. Als das am leichtesten erreichbare Hochgebirge Europas boten sie von jeher ein bevorzugtes Forschungsgebiet allen jenen, die sich mit der Gebirgsbildung be- schäftigten. Daher ist die Entwicklung der Lehre von der Entstehung und Abtragung der Gebirge zum guten Teil an die Alpen geknüpft. Schiebende, hebende, faltende Vorgänge türmten im Bereiche der Alpen Gesteinsmassen empor und schufen so einen mächtigen Block, aus dem durch die Skulpturarbeit der von außen wirkenden Kräfte die heutige alpine Landschaft gemodelt wurde. Diese Skulpturarbeit hat man gerade auf Grund der Untersuchungen in den Alpen bis vor kurzem ausschließlich den Flüssen zugeschrieben. Zu- sammen mit der flächenhaften Abtragung des durch die Verwitterung entstandenen Schuttes, welche durch Abspülung und Absturz zustande kommt, sollten sie die heutige alpine Landschaft geschaffen haben. Zwar hat in den 60 er Jahren des vorigen Jahrhunderts schon Ramsay geltend gemacht , daß die alpinen Täler keineswegs so ausschließlich ein Werk der Flußerosion seien, wie man das annimmt, sondern vielmehr zu einem wesentlichen Teile der Gletschererosion ihr Dasein verdanken. Allein die Anschauung von Ram- say, der auch Tyndall beigetreten war, drang in keiner Weise durch. Die Alpen galten weiter als Prototyp eines durch Wasserwirkung model- lierten Gebirges. Die Vergletscherung, die sie in der Eiszeit durchgemacht hatten, sollte ziemlich spurlos an den Formen des Gebirges vorüber- gegangen sein. Untersuchungen, die durch Albrecht Penck und den Verfasser in den letzten 20 Jahren ausgeführt wurden, haben nun aber eine ganze Reihe von Tatsachen festgestellt, die die Richtigkeit von Ramsay 's Anschauungen erhärten und sie er- weitern.') Die Ausdehnung der morphologischen Forschung auf Gebirge, die niemals Gletscher ge- tragen haben, hat gezeigt, daß hier doch wesent- lich andere Formen vorhanden sind, als wir sie aus den Alpen kennen. Schon die äußersten, stets unvergletschert gebliebenen Teile der Ost- alpen in der Gegend der mittleren und unteren Mur, sowie der unteren Drau weichen vollkommen von dem ab, was wir sonst in den Alpen zu finden gewohnt sind, desgleichen die P'ormen des Napf im schweizerischen Mittellande, der trotz ') A. Penck unJ K d. Br ü c k n e r , Die Alpen im Eiszeit- alter. Leipzig 1909. 3 Bände. stattlicher Höhe (1400 m) in der letzten Eiszeit keine Gletscher getragen hat. Als dann die amerikanischen Forscher uns die Formen des Felsengebirges und der Appalachen, die in der Eiszeit nur kleine lokale Gletscher beherbergt haben, kennen lehrten, da trat noch prägnanter der morphologische Gegensatz zwischen den einst vergletscherten und den nie vergletscherten Ge- birgen zutage. Die Täler in den Gebirgen, die keine Gletscher getragen haben, zeigen, sobald es sich nicht um ganz jugendliche, d. h. in der geologischen Gegen- wart entstandene Gebirge handelt — und alle die obengenannten Gebirge sind nicht mehr jung — ein wohlausgeglichenes Gefälle. Die Seitentäler münden gleichsohlig in die Haupttäler, Wasser- fälle fehlen ganz oder sind auf die allerhöchsten Quellgebiete beschränkt. Auch die Gehänge sind ausgeglichen; eine Schuttschicht, die in einer langsamen, kriechenden Bewegung abwärts be- griffen ist, bedeckt sie. Der Wechsel von harten und weichen Gesteinen tritt in der Form der Gehänge nur schwach in Erscheinung. Überall herrscht Gleichgewicht zwischen Schuttlieferung und Schuttabfuhr. Fast nirgends tritt nackter Fels zutage. Die Gebirge haben Mittelgebirgs- formen bis in die Gipfelregion empor. Es ist eine reife Gebirgslandschaft, die vor uns liegt. Ganz anders die Täler der Alpen, soweit sie von Gletschern erfüllt gewesen sind. Da ist keine Rede von einem wohlausgeglichenen Gefälle der Sohle. Statt eines vom Ursprung zur Mündung des Tales ins Vorland abnehmenden Gefälles zeigt sich ein großartiger Stufenbau. Daß die Flüsse in ihrem Längsprofil einen solchen aufweisen, ist längst bekannt; aber fast ganz übersehen ist eigentlich worden, daß der Stufenbau nicht auf die Flüsse beschränkt ist, sondern daß die ganze Talsohle in ihrer vollen Breite an demselben teil- nimmt. Nicht nur das Bett der Flüsse, sondern die ganze Talsohle zeigt einen Wechsel von ganz flach geneigten und steil abfallenden Strecken. Gehen wir z. B. im obersten Stubaital (Nordtirol) aufwärts, so sehen wir von der Mutterberger Alp aus (vgl. Abb. i), wie die Talsohle, die vorher nur einen geringen .Anstieg aufwies, sich plötzlich steil einporhebt und zwar in ihrer ganzen Breite von etwa 0,5 km. Steigen wir auf gewundenem Pfade diese fast 600 m hohe Stufe empor, so gelangen wir oberhalb derselben wieder in ein wenig ge- neigtes Talstück, in dem die Dresdener Hütte des Deutschen und Österreichischen Alpenvereines liegt. Zeigen so die Täler in ihrem Verlauf einen 786 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 50 Ed. Brückner phot. Abb. I. Talstufe im obersten Stubai ; im Vordergrund die Muttcrbcrger Alm. Abb. 2. StufenmUndung des Nandazlales ins Rhonetal. Ed. Brücliner phot. Im Vordergrund Sitten (Sion). Stufenbau, so treten an- dererseits auch Stufen besonders an der Mün- dung von Seitentälern auf. Ins Rhonetal, das wir als Beispiel nehmen wollen, münden bei Sion von Sü- den her eine Reihe von Seitentälern, so das Nan- daztal, die vereinigten Eringer Täler, weiter öst- lich das Eifischtal und das Turtmanntal; sie alle haben an ihrem Ausgang mächtige Stufen von einer Höhe, die oft mehrere hundert Meier erreicht. So muß man, um in das Nandaztal zu gelangen, in zahlreichen Windungen steil emporsteigen, bis man rund 300 m über der Sohle des Rhonetales erst die Sohle des Seitentales erreicht (vgl. Abb. 2). Die Seitentäler hängen gleich- sam über dem Haupttal. Das Haupttal ist stärker eingetieft als die Seiten- täler, es ist zu tief für dieselben oder, wie P e n c k dies genannt hat , es ist übertieft. Das gilt nicht nur von den großen Haupttälern der Alpen, sondern auch von den Seitentälern gegenüber ihren Seitentälern zweiter Ordnung. Es läßt sich für die einst verglet- scherten Täler der Alpen ganz allgemein der Satz aufstellen, daß alle Täler gegenüber ihren Seiten- tälern übertieft sind, d. h. daß die letzteren in Stufen münden und nicht gleichsohlig wie in den nicht verglet- scherten Gebirgen. Der Stufenbau der Talsohle ist dabei viel schärfer aus- gesprochen, als derStufen- bau des heutigen Fluß- laufes. Die Flüsse suchen heute den Stufenbau zu vernichten, indem sie in die Stufen einschneiden. Ganz gelungen ist ihnen das freilich noch nicht. Alle Stufen zeigen noch Wasserfalle oder doch N. F. \'ni. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 787 wenigstens Stromschnellen. So sind in die Stufen, in denen die oben erwähnten Seitentäler in das Rhonetal münden , gewaltige wasserfallreiche Klammen eingeschnitten. Des großen Gefälles der Seitenflüsse kurz vor ihrer Mündung in die Rhone wegen sind hier zahlreiche elektrische Kraftanlagen errichtet. Entsprechende Verhält- nisse zeigt jedes große .Alpental, so das Rheintal, das Salzachtal usf. Manche der Klammen, in denen die Seitenbäche münden, sind ihrer Wild- heit wegen berühmt, so die Taminaschlucht bei Ragaz am Rhein, die Lichtenstein- und die Kitzlochklamm unweit der Salzach u. a. m. Mit dem Stufenbau der Alpentäler verknüpft sich eine andere Eigen- tümlichkeit: das Auf- treten von Riegeln. Fast jede Stufe wird von einem Riegel gekrönt, der als ein Wall von einem Talgehänge zum anderen zieht und so gleichsam den oberen Teil des Tales von der Stufe absperrt. Diese Riegel bestehen aus Fels, in den der Fluß meist eine Schlucht eingeschnitten hat. Abb. 3 zeigt uns den Riegel, der sich ober- halb der in Abb. i darge- stellten Stufe im obersten Stubaital findet. Dieser Riegel ist, wie über- haupt die Riegel in den .Alpentälern, durchaus ge- rundet und über und über geschliffen. Er zeigt die Rundbuckelformen , wie sie für die Gletscherwir- kung so charakteristisch sind. Mit den weichen, runden F"ormen des Rie- gels kontrastieren scharf die vertikalen Wände der Schlucht, die der Bach nach dem Schwinden des Eises in den Riegel ein- geschnitten hat. Talabwärts schließt sich sofort der ebenfalls Spuren der Gletschervvirkung tragende .Abfall der Stufe an. Wie überaus groß die Zahl der Stufen und Riegel in den Alpentälern ist, zeigt in prägnanter Weise das obere Aaretal (vgl. Karte .Abb. 4). Vom Unteraargletscher ausgehend, aus dessen Gletscher- tor die junge Aare entspringt, passieren wir zu- erst den rund 2'., km langen, flachen Talboden, in dem die Gletscherwasser mächtige Sand- und Geröllmassen abgelagert haben, das Verschwem- mungsprodukt der Moränen des Unteraargletschers. Talabwärts hebt sich in einem mächtigen Riegel der Felsboden wieder 30 — 40 m empor, von der Aare in einer schmalen Schlucht durchschnitten. Es schließt sich das weite, etwa ^|^ km lange, mit Sand und Kies erfüllte Becken in unmittelbarer Nachbarschaft des Grimselhospizes an. Talab- wärts folgt wieder ein Riegel, der sich hier mit einer ausgesprochenen Slufenbildung paart, dann wieder ein schutterfülltes Becken, hierauf ein Riegel mit Stufenbildung usf Im ganzen lassen sich zwischen dem Unteraaregletscher und Mei- ringen mindestens 9 große Felsriegel unterscheiden, die meist mit Stufen vergesellschaftet sind. Auch die Seitentäler weisen Riegel auf Ist auch der Riegelbau im obersten Aaretal besonders schön entwickelt, so weisen doch alle Abb. 3. Riegel unterhalb Ed. Brückner phot. des Beckens bei der Dresdener UüUc im obersten Stubai. Alpentäler mehr oder minder ähnliche Verhält- nisse auf Heute sind die Riegel durch die Flüsse zerschnitten und die Becken oberhalb der Riegel zum guten Teil durch die .Anschwemmungen der Flüsse verschüttet. Denken wir uns aber diese nach Schluß der Vergletscherung entstan- denen Schluchten geschlossen und die Akkumula- tionen entfernt und in dieser Weise den Zustand hergestellt, wie er gleich nach Schwinden des Eises bestand, so verwandeln sich alle Becken oberhalb der Riegel in Seen, die stufenförmig übereinander liegen. Ganze Ketten von Seen haben unsere Alpen am Schlüsse der Eiszeit erfüllt, in ähnlicher Weise 788 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 50 wie solche noch heute in Norwegen auf- treten. In manchen Becken sind noch heute an alten Uferlinien die Hochstände der Seen zu er- kennen, wie sie vor dem Einschneiden der Schlucht bestanden, so im Becken von Andermatt unweit des Sankt Gotthardpasses; talabwärts wird es durch einen Riegel begrenzt, in den die Reuß die SchöUenenschlucht eingeschnitten hat. Meist haben freilich die Seen nur kurze Zeit existiert, so daß sie keine Spuren hinterlassen haben. Rasch sägte sich ihr Abfluß ein, während sie von oben- Abb. 4. Karte des Haslitales (obersten Aaretales) im Berner Oberland. I: 180000. Ver- kleinerung nach der schweizerischen Dufourkarte, Die wichtigsten Felsriegel der Haupttäler sind durch schwarze dicke Striche markiert. her zugeschüttet wurden. So entstanden die weiten Akkumulationsebenen, die besonders in den großen Tälern auftreten. Erhalten haben sich Seen nur dort, wo die Wirkung des fließenden Wassers sehr gering gewesen ist, so in kleinen Seitentälern, wie z. B. der Gelmersee im Aare- gebiet (vgl. Karte Abb. 4), dann auf Pässen, vor allem aber nicht selten im untersten Teil der großen Alpentäler. Hier treffen wir die großen Randseen der Alpen, in der Schweiz den Genfer- see, den Brienzer- und Thunersee, den Vierwald- stätter- und Zugersee , den Zürichsee und den Bodensee, in Oberbayern die verschiedenen ober- bayrischen Seen und in Österreich die Seen des Salzkammergutes, endlich die oberitalienischen Seen. Alle diese Seen sind noch nicht zuge- schüttet, weil die zahlreichen Becken, die weiter oben bestanden, die Geschiebe der Flüsse ab- fingen. Heute droht freilich auch ihnen die Zu- schüttung, wie die weiten Akkumulationsebenen zeigen, die sich gleich oberhalb der Seen aus- breiten. Die Seen sind sichtlich früher noch größer gewesen und heute in ihren obersten Partien schon^verschüttet. Talabwärts werden sie von Riegeln gestaut, die meist in ihrem Kern aus anstehendem Gestein be- stehen, auf das sich Moränenmassen legen. Der Abfluß hat sich zum Teil schon in den Riegel eingeschnitten und so den Seespiegel gesenkt, am Genfersee z. B. um 30 m, am Zürichsee um 10 m. Ein völliges Ab- lassen der Seen durch Einschneiden des Ab- flusses ist aber ausge- schlossen, weil das Gefälle der Flüsse talabwärts zu klein ist, als daß sie ihr Bett erheblich eintiefen könnten. Die Randseen der Alpen werden nicht durch Ablassen, sondern durch Zuschütten vernich- tet werden. Anders die Hochgebirgsseen. Bei ihrer Vernichtung spielt auch die Erosion ihres Abflusses eine große Rolle. Fragen wir nach der Entstehung des Stufen- und Riegelbaues und der mit diesem in Beziehung stehenden Becken der Alpentäler, so können wir gewiß das fließende Wasser dafür nicht verant- wortlich machen, sehen wir doch, wie dieses heute überall an der Arbeit ist, in die Riegel und Stufen einzuschneiden und die Becken zuzuschütten, also gerade jene charakteristischen Züge zu ver- nichten. Einzig und allein die alten Gletscher können zur Erklärung herangezogen werden. Dafür spricht zunächst die Tatsache, daß wir Stufen- und Riegelbau ausschließlich in solchen Gebirgen antreffen, die einst vergletschert gewesen sind. N. F. Vin. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 789 Dann aber finden wir auch an heutigen Gletschern nicht selten deutliche Riegel- undStiifenbildung. Es ist zwar von Gegnern der Anschauung einer intensiven Gletscherwir- kung ausgesprochen wor- den, man könne nirgends am Ende heutiger Glet- scher, die doch so stark zurückgegangen sind, Spu- ren von Becken wahrneh- men, die durch den Rück- gang bloßgelegt worden wären. Doch ist das nicht richtig. Im Gegen- teil, außerordentlich viele Gletscher endigen heute in weiten Becken, die durch Felsriegel talab- wärts gesperrt sind, so, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, der Rhone- gletscher, der Ober- und der Unteraargletscher in der Schweiz, der Kap- runergletscher und der Wilde - Freigergletscher in den Ostalpen. Den prachtvollen Gneisriegel gleich unterhalb des Endes des letzt genannten Gletschers stellt Abb. 5 dar, die ich der Lie- benswürdigkeit des Herrn Prof P. L. Mercanton in Lausanne verdanke. Bei all diesen Gletschern findet sich der Fels- riegel in einem gewissen Abstände vom Gletscher- ende und das Gebiet zwi- schen Gletscherende und Felsriegel wird von Akku- mulationeneingenommen. Doch ist z. B. der Rhone- gletscher noch bei seinem letzten Hochstand in der Mitte des vorigen Jahr- hunderts dem Felsriegel sehr nahe gewesen, des- gleichen der Wilde-Frei- gergletscher (s. Abb. 5). Entsprechend den Glet- scherschwankungen än- dert sich dort, woGletscher in Becken endigen , der .Abstand des Gletscher- endes vom Felsriegel fort- während. Andere Glet- scher, so der Gornerglet- P. L. Mercanton phot. Abb. 5. Gneisriegcl, über und über geschliffen, und Endmoräne (rechts) am Ende des Wilden-Freigergletschers im Stubai. S. Finslerwalder phot. .\bb. 6. Blick auf das oberste Haslital vom .\bstieg vom Nägelisgrütli zum Grimselhospiz. Im Hintergrund das Finsteraarhorn (4275 m). Im Mittelgrund in der Bildmitte der mit Moränen bedeckte Unteraargletscher, dann die Sandr-Ebene (weiß), dann ein Felsriegel, von der .Aare in einer Schlucht passiert, hierauf das verschüttete Becken unweit des Grimsel- hospizes: links vom letzteren der Grimselsee. Die Zurundung der Gehänge tritt deutlich hervor, ebenso rechts die Schliffgrenze, oberhalb deren schroffe Formen einsetzen. 790 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 50 scher und der Aletschgletscher, die beiden größten Gletscher der Alpen, endigen unmittelbar am Felsriegel. Der Gletscherabfluß hat in diesen Riegel eine Schlucht gegraben, in die sich das Eis gelegentlich in einer schmalen Zunge hinein- erstreckt. Diese Gletscher machen im wesent- lichen die Gletscherschwankungen in der Art mit, daß sie anschwellen und abschwellen, ohne die Lage ihres Gletscherendes merklich verschieben zu können. In all diesen Fällen ist die Entstehung des Riegels und des oberhalb desselben gelegenen Beckens klar. Der Gletscher ruht mit breiter Sohle auf dem Untergrunde auf. Fortwährend schiebt sich das Eis, das an seiner Sohle mit Felstrümmern gespickt ist, über den Untergrund fort. Daher wird der letztere abgenutzt. Wo der Gletscher endigt, da hört auch diese Abnutzung des Untergrundes auf. Wurde an der Sohle des Gletschers das Tal in seiner ganzen Breite durch den Gletscher vertieft, so beschränkt sich unter- halb des Gletscherendes die Vertiefung auf das Bett des Gletscherbaches, der eine schmale Schlucht einschneidet. So ist es nur natürlich, daß das Bett des Gletschers allmählich Becken- form annimmt, die talabwärts, dort wo das Gletscherende liegt, durch einen Felsriegel ge- sperrt wird, welcher seinerseits oft vom Bach durchschnitten ist. In der Tat gelingt es viele Riegel in den Alpentälern dadurch zu erklären, daß hier während geraumer Zeit ein Gletscherende gelegen hat. Wenn heute trotzdem hier Moränen oft fehlen, so kann sich das darauf zurückführen, daß sie bei einem späteren Vorgehen des Gletschers ver- nichtet wurden. Andere Riegel hängen sichtlich mit dem Auftreten widerstandsfähiger Gesteine zusammen. So ist eine überall in den Alperi auf- tretende Erscheinung, daß Gletscher beim Über- gang von Urgebirgsgestein (Granit, Gneis) auf Kalkstein Veranlassung zur Riegelbildung finden. Urgebirgsgesteine werden durch den Gletscher weit stärker abgenutzt als Kalkstein, so daß bei gleicher Dauer der Gletscherwirkung schließlich der Kalkstein in Form eines Riegels heraus- präpariert wird. So findet sich der gewaltige Kalksteinriegel, der oberhalb Meiringen das Aare- tal vollkommen absperrt und in den die Aare die wunderbar schöne Äareschlucht eingeschnitten hat, gerade an der Grenze des Urgebirges, ebenso der kaum weniger gewaltige Kalksteinriegel bei St. Maurice im Rhonetal. Wieder andere Riegel knüpfen sich an Stellen, wo die Geschwindigkeit der Gletscherbewegung erheblich abnahm. So möchte ich die Bildung der Riegel an der Mün- dung von hängenden Seitentälern ins Haupttal er- klären. Der Gletscher des Haupttales staute den Seitengletscher in dessen Unterlauf und der Seiten- gletscher schob sich dabei auf den Hauptgletscher empor. Zum Verständnis der Riegelbildung muß man sich dessen bewußt bleiben, daß die Höhe der Riegel im Vergleich zur Mächtigkeit des Eises der alten Vergletscherung immer nur sehr gering ist. Über den in Abb. 6 dargestellten Riegel an der Grimsel erhob sich das Eis noch 7 — 8 mal so hoch, wie die im Bild deutlich erkennbare Schliffgrenze lehrt. Die Riegel erscheinen daher nur als unbedeutende Untiefen im Gletscherbett. Auf glazialgebildete Riegel führen sich auch die gelegentlich in einst vergletscherten Tälern auftretenden Inselberge zurück. Endigt nämlich ein Gletscher eine Zeitlang an einem Riegel, so kommt es oft vor, daß ihm das Schmelzwasser nicht in einem, sondern in zwei Gletscherbächen entquillt, die beide in den Riegel Schluchten ein- schneiden, wie heute noch am Aletschgletscher zu beobachten ist. Oder es verlegt sich auch der Abfluß von Zeit zu Zeit. Wird nachträglich der an zwei Stellen von Flußerosion zerschnittene Riegel vom Gletscher überschritten und zuge- rundet, dann werden zugleich jene Schluchten er- weitert und der Inselberg ist fertig. Inselberge lassen sich daher keineswegs als Beweise gegen eine Gletschererosion verwenden, wie das so oft geschehen ist. Es handelt sich bei ihnen stets um Felsriegel glazialer Entstehung, die durch Fluß- erosion modifiziert sind. Auch die Stufenbildung und die Übertiefung läßt sich unschwer auf Gletschertätigkeit zurück- führen. Je größer ein Gletscher, desto rascher seine Bewegung, desto größer der Druck, den er auf seine Unterlage ausübt, desto stärker dem- entsprechend seine abtragende Wirkung, kurz die Gletschererosion. So kam es, daß in der Eiszeit die in den großen Tälern liegenden mächtigen Hauptgletscher in derselben Zeit ihr Bett weit tiefer einschnitten als ihre kleinen Seitengletscher. Je kleiner diese waren, desto mehr blieb ihr Tal in der Eintiefung hinter dem Haupttal zurück; infolgedessen entwickelte sich am Ausgang des Seitentals eine Stufe, die um so größer wurde, je kleiner das Seitental war. Trefflich läßt sich das z. B. an den Seitentälern des Rhonetals erkennen. Bei der Vereinigung von Flüssen liegen die Ver- hältnisse nicht anders. Auch hier befindet sich die Sohle des kleinen Seitenflusses hoch über der Sohle des Hauptflusses, so daß auch hier die Sohlen stufenförmig sich vereinigen , während die Wasseroberfläche des Seitenflusses im gleichen Niveau in die Oberfläche des Hauptflusses verläuft. Eine solche Übereinstimmung im Oberflächen- niveau bei gleichzeitiger Stufenform der Sohle hat auch bei den quartären Gletschern bestanden. Ebenso erklärt sich unschwer durch Gletscher- erosion, daß dort, wo sich zwei gleich große Täler vereinigen, das aus der Vereinigung hervor- gehende Tal weit stärker eingetieft ist als die beiden Stammtäler, die in Stufen zum ersteren abfallen. Der vereinigte Gletscher besaß eben größere Mächtigkeit und größere Geschwindigkeit als jede der Komponenten; er schnitt daher sein Bett rascher in die Tiefe als die beiden Stamm- gletscher. Die Stufen, die in dieser Weise ent- N. F. VIII. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 791 standen, sind nicht so steil, wie die Stufen, in denen die Seitentäler in die Haupttäler münden. Es erfolgte bei der V^ereinigung zweier gleich großer Täler das Anwachsen der Erosionskraft des Gletschers talabwärts nicht so plötzlich wie beim Übergang aus dem Seitental ins Haupttal. Es entspricht diesem Gesetz von der stärkeren Erosion vereinigter Gletscher, daß dort, wo ein Gletscher durch Abspalten eines Astes über eine Wasserscheide hinweg an Masse verliert, eine tal- aufwärts schauende Stufe entsteht. Penck, der solche Stufen an den oberitalienischen Seen ver- folgt hat, nennt sie Diffluenzstufen. Die Erkenntnis, daß die Täler der Alpen, in denen ganz kleine Gletscher lagen, nur un- wesentlich vertieft worden sind und daher ihr ur- sprüngliches Niveau fast unverändert behalten haben, ist von großer Wichtigkeit. Sie wird uns später helfen, die Landoberfläche zu rekonstruieren, wie sie vor der Eiszeit bestand. Schon jetzt gibt sie uns die Mittel an die Hand, um den Minimalbetrag der Glazialerosion zu schätzen. Das heutige Rhonetal z. B. ist seinen kleinen Seitentälern gegenüber um 500 — 600 m übertieft. Um soviel ist das Haupttal mindestens in der Eiszeit vertieft worden. Da die heutige Sohle des Tales hoch aufgeschüttet ist, muß der Ge- samtbetrag der Glazialerosion tatsächlich noch weit größer gewesen sein. Gehen wir von der Sohle des Genfersees aus, in der uns jedenfalls die nur unwesentlich durch Ablagerung von See- schlamm erhöhte Sohle des Bettes des Rhone- gletschers bei seinem Austritt aus den Alpen vor- liegt, so ergibt sich eine glaziale Eintiefung um 800 m. Fürwahr ein gewaltiger Betrag! Der Rhonegletscher ist der größte aller alpinen Glet- scher gewesen. Die kleineren Gletscher, wie der Aaregletscher, der Rheingletscher, der Inn- gletscher usf, haben ihr Bett um etwas geringere, aber immer noch sehr bedeutende Beträge ein- getieft, die 400 und 500 m zum Teil erheblich überschreiten. An den Enden der vom Gletscher übertieften Täler liegen, wie wir oben ausgeführt haben, zum Teil heute noch große Seen. Man hat gegen die Anschauung, daß die Alpenseen durch Glazial- erosion entstanden seien, eingewendet, es sei un- denkbar, daß das Eis solche tiefe Becken in festen Fels einschleifen könne. Demgegenüber sei dar- auf hingewiesen, daß die Becken gerade der großen Seen im Vergleich zu deren Größe nur sehr flach sind. Es verhält sich die größte Tiefe zur Länge beim Zürichsee wie i : 280, beim Genfersee wie i : 226, beim Vierwaldstättersee I : 168, beim Thunersee i ; 88, beim Zugersee i :66. Besonders die Gegenböschung am unteren Seeende ist so klein, daß das Eis gar wohl dieselbe auf- wärts fließen konnte. Befähigt wurde es dazu dadurch, daß das Gefälle seiner Oberfläche, wie die Ufermoränen lehren, größer war als das Gegengefälle des Seebeckens. Das ist aber alles. was notwendig ist, um ein F"ließen des Eises zu unterhalten. Um zu zeigen, daß zur Entstehung einer so gewaltigen LTbertiefung keineswegs eine unermeß- lich große Gletschererosion angenommen werden muß, daß vielmehr ein ganz geringer Betrag ge- nügt, möchte ich eine kleine Rechnung für das Rhonetal oberhalb des Genfersees anstellen. Suchen wir die Menge Eis zu schätzen, die hier während der letzten Eiszeit im Laufe eines Jahres aus den Alpen in das Vorland gelangte. Diese Schätzung können wir freilich nur unter der An- nahme durchführen, daß die abfließende Wasser- menge in der Eiszeit nicht größer und nicht kleiner gewesen ist, als heute. Heute beträgt die mittlere Niederschlagshöhe hier 1,5 m. Davon fließen 1,2 m durch die Rhone ab. Da das Ein- zugsgebiet der Rhone oberhalb des Genfersees rund 5200 qkm umfaßt, so ergibt das 6,3 ckm abfließendes Wasser. Wenn in der Eiszeit die gleiche Menge Wasser als Eis zum Abfluß kam, so macht das 7 ckm Eis aus. Der Querschnitt des Rhonegletschers beim Austritt ins Alpenvor- land wurde von mir mit 12 qkm gemessen. Da bei stationärem Zustand des Gletschers jene 7 ckm innerhalb eines Jahres durch diesen Querschnitt hindurchgegangen sein müssen, so ergibt sich eine mittlere Geschwindigkeit des Eises von 600 m im Jahr. Die Bodengeschwindigkeit wird etwas kleiner, die Oberflächengeschwindigkeit erheblich größer, etwa rund i km, gewesen sein. Die Mächtigkeit des Eises über der Talsohle betrug 1200 — 1300 m. Daraus berechnet sich, daß auf den Quadratmeter der Gletschersohle ein Druck von II — 12 Millionen kg ausgeübt wurde. Es wurde also eine Eissäule, die einen Druck von II — 12 Millionen kg auf den Quadratmeter aus- übte, mit einer Geschwindigkeit von etwas unter 600 m im Jahr über die Gletschersohle hinweg- gezogen. Daß bei einer solchen Bewegung eine Abnützung des Untergrundes erfolgen konnte und mußte, wird man nicht wunderbar finden, beson- ders wenn man bedenkt, daß wir an der Sohle des Gletschers, in diesen eingefroren, die Grund- moräne treffen. Nehmen wir auch nur eine Ab- tragung der Gletschersohle um i mm im Jahr an, so wurde jener von uns festgestellte Gesamt- betrag der Gletschererosion am Ausgang des Rhonelals von 800 m in 800000 Jahren ausge- führt, bei einer zehnmal größeren Erosion — i cm im Jahr — in 80000 Jahren. Nach allem, was wir wissen, können wir, freilich in recht un- sicherer Weise, die Zeitdauer, während derer in der Quartärzeit die großen Alpentäler mit Eis erfüllt waren, auf rund eine halbe Million Jahre schätzen. Sollte diese Zahl sich bewahrheiten, so würde eine Erosion von noch nicht 2 mm im Jahr genügen, um den ganzen Betrag der Über- tiefung zu erklären. Über den Vorgang der Erosion am Boden des Gletscherbettes durch das Eis liegen verschiedene Beobachtungen vor. Es vollzieht sich unter dem 792 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 50 Gletscher eine starke Verwitterung des Gesteins- materiales. Blümcke und Finster walder haben gezeigt, wie durch Druckänderungen unter dem Fis feine Partikel vom Fels abgesprengt werden, sofern die Druckänderungen ein Eis treffen, dessen Temperatur nicht allzuweit vom Gefrierpunkt ent- fernt ist. Da nun nach den Ergebnissen der Tem- peraturmessungen in Gletschern, wie auch nach der Theorie in jeder Tiefe im Gletscher diejenige Temperatur herrscht, die dem Gefrierpunkt des Eises bei dem daselbst bestehenden Druck ent- spricht, so muß als Folge der Druckschwankungen im Gletscher ein fortwährender Wechsel von Ge- frieren und Auftauen stattfinden. Auf diese Weise werden von der Sohle des Gletscherbettes sowie von den im Eis eingefrorenen Steinen feine Par- tikelchen abgelöst, welche dann später die Trübung der Gietscherbäche veranlassen. Vor allem aber findet unter dem Gletscher auch ein Ausbrechen von Gesteinsbrocken, ja ganzen Blöcken aus der Sohle statt. Mehrfach gelang es in der gegenwärtigen Rückzugsperiode der Gletscher auf dem verlassenen Gletscherboden Blöcke zu finden, die genau in eine Lücke im geschliffenen Felsboden weiter oben passen. Das gilt besonders von Gebieten, wo der Boden von kristallinischen Gesteinen aufgebaut wird. Be- günstigt wird dieser Vorgang durch eine Er- scheinung, die ich besonders im oberen Aaretal erkennen konnte. An der Sohle des Gletschers stellt sich bei homogenem kristallinischen Gestein eine Klüftung parallel zur Oberfläche des Glet- schers ein. Sie lockert geradezu Platten aus dem Gesteinsverband, die dann vom Gletscher leicht fortbewegt werden können. Diese Plattung liegt im oberen Aaretal am Riegel gleich oberhalb des Grimselhospizes im Bereiche der Talsohle hori- zontal, an den Gehängen diesen parallel steil auf- gerichtet. Die Platten streichen der Talrichtung folgend von Westen nach Osten. Zwischen dem Grimselhospiz und der Handegg dagegen, wo das obere Aaretal von Süden nach Norden verläuft, also senkrecht zu der vorher innegehabten Richtung, streicht auch die Plattung von Norden nach Süden. Es ist also diese Plattung an der Sohle einst vergletscherter Täler unabhängig von der Schichtung der kristallinischen Schiefer. Aber nicht nur auf seine Sohle übt der Glet- scher gewaltige Wirkungen aus, indem er sie ein- tieft, sondern auch auf die Form der Gehänge der Täler. In jener Höhe, wo die Oberfläche des alten Eisstromes lag, markiert sich scharf die sog. Schliffgrenze. Unterhalb derselben herrschen durchaus die rundlichen Formen, wie die Glet- schererosion sie modelt; oberhalb zeigeh sich schroffe Spitzen und Grate, das Werk der hier herrschenden starken mechanischen Verwitterung, wie sie in der freien Atmosphäre im Hochgebirge erfolgt (vgl. Abb. 6). Dadurch daß der Gletscher dem Gehänge entlang glitt, nutzte er dasselbe ab, soweit er reichte, und rundete es zu. Es fand in dieser Weise aber auch ein Untergraben des Gehänges statt. Solange der Gletscher das Tal erfüllte, stützte er das untergrabene Gehänge. Als später der Gletscher wich, da konnte das übersteile Gehänge sich nicht mehr halten, Klüfte rissen auf und schließlich stürzten die übersteilen Partien ins Tal herab. So gingen als Folge der Untergrabung durch die quanären Gletscher in den ganzen Alpen unzählige Bergstürze nieder. Diese untergrabende Wirkung des Eises kann man gelegentlich auch an rezenten Gletschern beobachten, so am Rhonegletscher. Hier ist eine Wand, die noch in den Fünfziger Jahren vom Rhonegletscher gestützt wurde, in Bewegung ge- kommen: Ein über derselben befindliches trigono- metrisches Signal hat sich gesenkt. Analog liegen die Verhältnisse am Vernagtgletscher im Ötztal. Deutlich sind hier am Gehänge im Winkel zwischen Vernagttal und Rofental etwas oberhalb der vom Gletscher während seines Maximalstandes eingenommenen Höhe die Klüfte zu sehen, an denen der Fels des Gehänges stafiel- förmig absinkt. Auch die Gipfel- und Kammregion der Alpen ist in der Eiszeit gemodelt worden. Insbesondere hängt die Entstehung der Kare, die wie Nischen in die Gipfel und Kämme der Alpen von einer bestimmten Höhe aufwärts eingegraben sind, mit der Vergletscherung zusammen. In manchen Kämmen liegt Kar neben Kar; ein steil im Halb- kreis gestelltes Gehänge umgibt einen horizontalen oder doch wenig geneigten Talboden, der gegen den Talausgang hin nicht selten durch einen Fels- riegel abgeschlossen wird und hier und da einen einsamen Bergsee beherbergt. Kare fehlen aus- nahmslos allen Gebirgen, die nie Gletscher ge- tragen haben. Dadurch wird ihr Zusammenhang mit der alten Vergletscherung dargetan. Sie finden sich dort, wo die Wurzeln der Alpen- gletscher lagen, die Bewegung des Eises also vom Gehänge abwärts gegen das Tal hin erfolgte. Besonders treten sie an Kämmen von mäßiger Steilheit auf Es sind das stets solche, die vor der Eiszeit runde Mittelgebirgsformen besessen haben. Das ist der Grund, warum Kare gerade in den hochragenden Teilen der Schweizer Alpen etwas zurücktreten. Der Mechanismus in der Entstehung der Kare ist noch nicht in allen Punkten geklärt. Es scheint, daß die Bildung eines Kares stets in einem kleinen Rinnsal in der Höhe des Mittelgebirgskammes seinen Anfang nimmt. Hier sammelte sich Schnee, es stellte sich die bekannte langsam fließende Bewegung des Schnees, der sich allmählich in Firn und Eis ver- wandelte, ein und modelte aus dem Rinnsal ein Kar. Eine wesentliche Umgestaltung haben auch durch die Vergletscherung die Pässe erfahren, soweit sie von fließendem Eis überschritten wurden. Sie wurden niedergeschlififen und aus Sattelpässen wurden in dieser Weise übertiefte breite Pässe, die nach den beiden Tälern hin von Stufen be- grenzt werden. N. F. VIII. Nr. i;o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. ■93 Eine große morpholo- gisclie Wirkung üblen die Gletscher auch am Fuße der Alpen aus , wo sie sich fächerförmig auf das Alpenvorland hinaus- legten. Hier am Ausgang der Alpentäler war die Lxletschererosion bedeu- tend. Von hier aus nahm sie nach allen Richtungen gegen den Rand des Gletschers hin ab. Das Resultat war die Ent- stehung einer Böschung, die von der Stelle des alten Gletscherrandes gegen den Ausgang des Alpentales, also dem Ge- birge entgegen geneigt ist. Auf dieser Böschung entwickelte sich nach Schwinden des Eises ein zentripetales Flußsystem. Auch Gebiete, die ur- sprünglich durchaus eine NeigungvomGebirge fort- besaßen, wurden in diese zentripetale Entwässerung im Laufe der Quartär- zeit einbezogen. So stellt der Ausgang eines jeden großen, einst von einem großen Gletscher erfüllten Alpentales ein Becken dar, wenn das- selbe auch heute oft nicht mehr von einem See eingenommen ist (Karte Abb. 7). Ich habe im obigen versucht, die glazialen Züge der Alpen in kur- zen Strichen zu zeichnen. Auf Wasser wirkung lassen sie sich nicht zurück- führen , weil wir diese überall nur an der Arbeit sehen, jene Züge in der Landschaft zu vernichten. Bedeutungsvoll zeigt sich uns schon jetzt die Ar- beit der Gletscher. Aber zur vollen Würdigung ihres gewaltigen Betrages kommen wir erst, wenn wir den Versuch machen, die Landschaft in den Alpen zu rekonstruieren, wie sie vor dem Eiszeit- alter war. Dieser Ver- such ist in der Tat ge- Abb. 7. Stumme Karte des Gebietes des Inn- , des Salzach- und des Traungletschers. I : I 500000. Nach einem auf Grund der Vogel'schen Karte des Deutschen Reiches verkleinert hergestellten Diapositiv des geographischen Instituts der Universität Wien. Die übertieften großen Täler treten durch die breiten weißen Bänder, die die Talsohle darstellen, gut hervor, ebenso die beckenförmigen Erweiterungen an ihrem Ausgang ins Alpenvorland und zwar von West nach Ost die kleinen Becken von Tegcrnsee und Schliersee, dann die großen von Rosenheim, des Chiemsee und von Salzburg, endlich die kleinen der Salzkammergutseen. Deutlich ist das Ansteigen des Geländes nördlich dieser Becken zu erkennen und die in dasselbe eingetieften fingerförmig vom Stammbecken sich nordwärts erstreckenden Zweigbecken, Im Nordwesten die aus Gletscherbach- schof.ern aufgebaute schiefe Ebene von München, im Norden in der Mitte die von Gletscberbach- schottern der letzten Eiszeit eingenommene Ebene zu beiden Seiten des Inn. .-\bb. 8. Das Lauterbrunnental. Die Terrassen von Wengcn (links) und von Murren (rechts) sind Reste des präglazialen Talbodens ; darin eingesenkt das trogförmige heutige Tal, dessen Übertiefung durch Wasserfälle angezeigt wird. Im Vordergrund Lauterbrunnen mit dem Staubbach, im Hinlergrund links der Gipfel der Jungfrau (4165 m). (Aus Penck und Brückner, Die Alpen im Eiszeitalter.) 794 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 50 lungen und das Resultat merkwürdig genug. Wir haben gesehen, daß die Täler der Alpen in der Quartärzeit um so weniger eingetieft wurden, je kleiner die Gletscher waren, die in ihnen lagen. Kleine Seitentäler, die über gewal- tigen Stufen in die großen vom Eis über- tieften Haupttäler münden , lassen uns einen Schluß auf die Höhenlage des alten Talsystems ziehen : Sein Niveau muß etwa gleichhoch gelegen haben wie die Sohle der kleinen durch Gletscher fast gar nicht vertieften Seitentäler. In der ent- sprechenden Höhe begegnen uns auch im Haupt- tal gelegentlich große, gegen das Tal flach ge- neigte Terrassengehänge als sog. Talleisten oder Gesimse. Es sind Überreste alter Talniveaus, die wir vor uns haben. Sie zeigen sich unabhängig vom Gesteinscharakter und sind dadurch scharf .^bb. 9. Das obere Aaretal oberhalb Guttannen, talabwärts gesel von den sog. Denudationsterrassen zu unterschei- den, die sich ausschließlich auf Härtewechsel im Gestein zurückführen. Besonders großartig sind sie im Lauterbrunnental entwickelt (vgl. Abb. 8); aber auch das Aaretal weist solche auf und wundervoll treten sie uns im Rhonetal entgegen. Die weite Terrasse am Fuße des Eggischhornzuges von der Gegend des Hotel Jungfrau an bis zur Riederfurke gehört hierher, weiter talabwärts der große Briegerberg, dann bei Siders die Terrasse von Montana, bei Sitten (Sion) die von Ayer, im unteren Rhonetal die von Villars-sur-Ollon und von Leysin bei Bex usf Ebenso im Reußgebiet. Hier fällt der Zuger Berg im Nordosten des Zugersees genau in das Niveau des alten Tales. In diese alten Taloberflächen sind überall die heutigen Täler eingetieft. Selbst ins Herz des Gebirges können wir die alte Taloberfläche ver- folgen; nur machen sich ihre Reste hier heute nicht als weit ausgedehnte, mehr oder minder horizontale Terrassen geltend, sondern als flachere Gehängeböschungen, die über dem steilwandigen durch den Gletscher eingetieften Taltrog liegen (Abb. 9). Die Verfolgung dieser alten Talreste hat ge- zeigt, daß sie einem reifen Talsystem angehören. Überall nahm das Gefälle stetig vom Ursprung der Täler gegen deren Austritt ins Alpenvorland ab; in den kleineren Tälern war es größer, in den großen klein. Dabei war der Querschnitt der Täler an seiner Sohle nicht eben, sondern wie die Neigung der Terrassenoberflächen gegen die Talmitte hin zeigt, entsprechend der Kurve eines flach durchhängenden Seils. Nirgends zeigen diese alten Talsysteme Spuren von Stufen und Riegeln, wie sie heute so massenhaft in den Alpen auftreten. Zur Evidenz wird es uns, daß die Alpen einstmals ein reifes Gebirge waren, ge- modelt ausschließlich von fließendem Wasser, so wie wir es am Eingang unserer Ausführungen von den nicht vergletscher- ten Gebirgen schilderten. Daß diese alte Land- oberfläche, die uns in den Tälern des Gebirges in Resten erhalten ist, wirk- lich unmittelbar vor Ein- tritt der ersten Verglet- scherung, nicht früher und nicht später, bestand, dafür fanden sich sichere Beweise. Die alten Täler mündeten in das Alpen- vorland aus, das Rhone- tal in 900 m, das Aare- tal in iioo m, das Reuß- und das Linthtal in 850—900 m Höhe. Hier schließen sich an die Terrassen der alten Talböden weite Ebenheiten, die sich gegen den schweizerischen Jura zu senken. Eine Verfolgung dieser Formen ergab, daß fast das ganze schweize- rische Alpenvorland eingeebnet war. Als flache rundliche Anhöhen ragten über diese allgemeine Einebnungsfläche der Mont Gibloux, der Napf und die Toggenburgerberge hinaus; sie schlössen sich direkt an die Ketten der Alpen an, die die großen Alpentäler voneinander trennten. Am Fuße des Jura dehnten sich weite ebene Flächen. In diese Landschaft, die sich in ihrem Nordteil nach dem Rhein bei Waldshut, in ihrem Südteil durch die Rhone nach dem Mittelmeer zu entwässerte, sind heute Täler und Seen eingetieft. Aber große Stücke der Eben- Mettler phot. len, ein typisches Trogtal. N. F. VIII. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 795 heiten haben sich noch erhaUen, so im Belpberg bei Bern und südlich des Aaretals, im Mont Jorat bei Lausanne, in der Terrasse von Thollon am Genfersee. Besonders schön ist die Erhaltung in der Nordwestschweiz, so in den Hochflächen bei Huttwil. Nördlich von Huttwil bis zum Rhein hin, da liegen nun auf diesen Ebenheiten mäch- tige Kiese, die nachweislich in der ersten Eiszeit von den Schmelzwässern der Gletscher abgesetzt worden sind. Das Material dieser Kiese ist genau gleich alt wie die Moränen der ersten Verglet- scherung. Es müssen daher die Ebenheiten, auf denen jene Kiese liegen, unmittelbar vor der ersten Eiszeit die Landoberfläche gebildet haben. Sie stellen uns also Teile der präglazialen Land- oberfläche dar. Damit ist aber auch in scharfer Weise das Alter des von uns geschilderten alten Talsystems im Gebirge bestimmt. Auch in diesem liegt uns die präglaziale Landoberfläche vor. Damit haben wir einen wichtigen Anhalts- punkt zur Schätzung des Betrages der Abtragung in der ganzen Quartärzeit gewonnen: Die ganze Eintiefung der Täler und Seen unter jenes Niveau gehört der Quartärzeit, dem großen Eiszeitalter an. Erst diese Erkenntnis gibt uns den vollen Maßstab für die Abtragung, die in der Quartärzeit stattgefunden hat. Für das schweizerische Mittel- land konnte diese Abtragung ziffermäßig bestimmt werden. Aus dem Mittelland, dessen Areal 12000 qkm beträgt, sind 3000 ckm Gestein ent- fernt worden. Soviel beträgt der Rauminhalt der Täler und Seen unterhalb der präglazialen Land- oberfläche. Denken wir uns nun diese 3000 ckm gleichmäßig über das ganze Gebiet ausgebreitet, so ergibt das eine Schicht von 250 m Mächtig- keit. Um soviel ist also im Mittel das schweize- rische Mittelland in der Quartärzeit erniedrigt worden. Zweifellos ist dje Abtragung in den Alpen noch bedeutender gewesen. Dort sind die Täler zum Teil 600 und 700 m tief in die präglaziale Landoberfläche eingesenkt. Um wieviel die Gipfel und Kämme abgetragen worden sind, ent- zieht sich der Schätzung. Die Schuttmassen, die aus den Alpen herausgeschafft wurden, wur- den nur zum kleinsten Teil am Gletscher- rande zum Aufbau mächtiger Moränenwälle ver- wendet; weit größer sind die Massen, welche in Form von Schottern und Sanden von den Glet- scherbächen weithin in die Ebenen verfrachtet und von den großen Senkungsfeldern der Nach- barschaft aufgenommen wurden : die oberrheinische Tiefebene, die ungarische Tiefebene und die Po- Ebene wurden von ihnen angefüllt. Der feinste Schlamm aber gelangte bis hinaus ins Meer. Doch eilen wir zum Schluß! Einförmig war das Bild, das die Alpen un- mittelbar vor der Eiszeit boten: keine Seen, keine Wasserfälle, wahrscheinlich auch nur wenig nackter Fels, breite Täler; auf den Gehängen, die wenig steil anstiegen, Schuttdecken, die den Fels verhüllten; die Gipfel zum guten Teil charakter- lose Mittelgebirgsform aufweisend. An jeder Stelle die gleichförmige Böschung, wie sie der reifen Gebirgslandschaft zukommt. Da trat die erste Vergletscherung ein. Sie begann die aus- geglichenen Formen zu vernichten, indem sie Stufen und Becken einnagte, die Gehänge unter- schliff". Dann schwand das Eis, die Gletscher wurden kleiner, als sie heute sind, und es begann wieder die Arbeit des fließenden Wassers: Becken wurden ausgefüllt, Riegel und Stufen zerschnitten, die übersteilgewordenen Gehänge abgeböscht. Wohl noch ehe das Werk ganz vollendet war, trat die zweite Vergletscherung ein, die die Ar- beit der ersten wieder aufnahm. Auch sie schwand und es stellte sich hierauf die zweite Interglazial- zeit ein und mit ihr wieder Wasserwirkung. Noch * zweimal, im ganzen also viermal, lösten einander Gletscherwirkung und Wasserwirkung ab, bis dann die Gletscher der letzten Eiszeit schwanden und uns die Alpen in ihrer heutigen Pracht mit ihren Seen und Wasserfällen, ihren mannigfaltigen Spitzen und Kämmen, ihren Graten und Karen hinterließen. Noch sind die glazialen Züge im Antlitz der Alpen wunderbar schön ausgeprägt. Aber schon nagt die' Zerstörung an ihnen. Die Tage der Seen sind gezählt: an den Flußmündungen wer- den sie durch Deltabildungen verschüttet; ihr Abfluß schneidet ein und hat sie zum Teil schon tiefer gelegt; ihr Boden wird durch Absatz von Schlamm, wenn auch langsam, erhöht. Sehr viele Seen sind schon ganz geschwunden und an ihrer Stelle dehnen sich weite Schuttflächen. Die Ge- hänge der trogförmigen Täler werden, soweit sie übersteil sind, durch Bergstürze abgeböscht. Aut den weniger steilen Gehängen bildet sich Schutt, der allmählich deckenförmig die Gehänge über- kleidet. Die Kare füllen sich mit Schuttmassen. So zeigen die Alpen doch schon die Züge eines beginnenden Alterns, wenn sie auch vom Zustand einer reifen Landschaft noch weit entfernt sind. Nach wievielen zehntausenden von Jahren wird der Zustand der Reife vollständig erreicht sein? Wird nicht vielleicht noch vorher eine neue Ver- gletscherung eintreten, die unserem Gebirge aber- mals glaziale Züge aufprägt und so seinen Formen- schatz wieder verjüngt? Kleinere Mitteilungen. Vom Neo- Lamarekismus. — Unter Neo- Lamarckismus versteht man z. Zt. zwei recht ver- schiedene Richtungen, die ich hier kurz als die „zahme" und die „wilde" bezeichnen möchte. Die zahme Richtung ist die naturwissenschaftliche; sie meint, daß äußere Einflüsse der Lebensbedingun- gen nicht nur umgestaltend auf Tier- und Pflanzen- Individuen wirken, sondern daß daraus erbliche 796 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 50 Umgestahungen der Art werden können. So- lange man dabei den Ton auf das „können" legt, wird man der Auffassung zustimmen dürfen, denn neue erbliche Eigenschaften können in ver- schiedenster Richtung auftreten, warum also nicht auch gelegentlich in der hier angedeuteten?^) Anders die wilden NeoLamarckianer. Sie leben und sterben des Glaubens — denn ein Glaube ist es — , den Organismen wohne die Fähigkeit inne, das „Bedürfnis" nach einer Ab- änderung ihrer selbst, nach einer neuen Eigen- schaft, zu empfinden, und sie verfügten über Mittel und Wege • — selbstredend auch über die Kenntnis dieser — dem Bedürfnis abzu- helfen. Was damit gesagt ist, möchte ich an einem Beispiel erläutern : an dem vor Tierfraß schützenden Gift der Giftpflanzen. Sämtliche Individuen einer jeden Art — nur einige, das geht nicht, denn dann gäbe es ja eine Auslese, und die ist verpönt — hätten gleichzeitig die Beobachtung (I) gemacht, daß sie mehr, als der Erhaltung der Art förderlich sei, von allerhand ♦ Getier gefressen würden. Da hielten sie es denn, um dieser „Störung ihres vitalen Gleichgewichts" zu begegnen, für das Beste, ihren Stoffwechsel, den sie selbstredend ganz genau kannten (1), so abzuändern, daß ein Stoff herauskäme, der fressen- den Tieren ungesund sei. Das setzt einen Grad von Intelligenz, von Kenntnissen und Fähigkeiten voraus, an den alle Physiologen der Weh auch nicht entfernt heranreichen. Überhaupt sind wir Menschen von allem was Leben hat die Aller- dummsten. Wer hat jemals gewußt, wie er es machen muß, daß sein Leib, einem oft und tief empfundenen Bedürfnis entsprechend, ein zweites Augenpaar auf des Körpers Rückseite, oder ein zweites Paar Hände, oder gar Flügel produziere? Nicht einmal eine „Wanderniere" zur Seßhaftig- keit zu bewegen ist der damit behaftete imstande, obwohl die ,, Störung des vitalen Gleichgewichts" doch oft sehr schmerzlich empfunden wird. Tiere oder Pflanzen dagegen bringen dergleichen spielend fertig 1 — Das kommt aber davon, wenn man die Natur durch die Brille eines philosophischen Sy- stems ansieht, das auf dem Trugschluß aufgebaut ist: weil alles, was wir wahrnehmen, uns nur durch Bewußtseinsakte bekannt wird, müsse auch allem, was ist, ein Bewußtseinsakt zugrunde liegen; als ob irgendein Ding, Tier, Pflanze oder Stein, anders sein würde wie es ist, wenn es nie- mals Gelegenheit gehabt hätte, in einem Menschen Bewußtseinsinhalte hervorzubringen, zur Zeit des Kambriums etwa, wo es — nach naturwissen- schaftlichen Begriffen — mit dem Bewußtsein wohl noch recht schwach bestellt war. Hugo Fischer. ') Eine weitgehende Erblichkeit dieser Art dürfen wir allerdings nicht erwarten: sie würde im Widerspruch stehen mit der bekannten Anpassungsfähigkeit der Organismen. — Erbliche Abänderungen werden stets nur in wenigen Exem- plaren entstehen; wir können also die Mitwirkung einer Aus- lese schwerlich in Abrede stellen. Wie ist Diplodocus richtig aufzustellen? — Unter den Tieren der Vorwelt ist in der letzten Zeit eine Gruppe geradezu populär geworden: die der Saurier. Sie hat namentlich im Mesozo- ikum eine Fülle von absonderlichen und riesen- haften Geschöpfen geliefert, deren Skelettfunde häufig den Anlaß zu sensationellen Zeitungs- berichten gegeben haben. Namentlich die pracht- vollen Funde der Nordamerikaner, deren Nabobs die Riesenmittel zu ihrer Ausbeutung hergaben, sind außerordentlich bekannt geworden, und zwar hat nicht zum wenigsten die Art der Aufstellung gerade von den Riesen unter ihnen das allgemeine Interesse erweckt. Wir sehen Diplodocus, Bron- tosaurus, Atlantosaurus und ähnliche Dinosaurier auf säugetierartig aufgerichteten Extremitäten hoch vom Boden erhoben stehen (vgl. Plg. i), einen riesenhaften Hals wagerecht nach vorne richten und einen noch längeren Schwanz auf dem Boden nachschleppen — in der Mitte ein Säugetier, hinten eine Eidechse und vorne eine Spezialität (da alle heutigen langhalsigen Tiere ihren Hals nach aufwärts gebogen tragen), ein Tier also von ungewöhnlicher Kombination. Auf den Amerikaner O. C. Marsh sind diese Rekonstruktionen zurückzuführen. Marsh hatte als Professor an der Yale - Universität in New Haven (Connecticut) wiederholt große Expeditionen in die Felsengebirge unternehmen können, wo er reiche Fundstellen fossiler Wirbeltiere ausbeutete. Beschrieben hat er diese Funde in einer großen Zahl von wissenschaftlichen Abhandlungen, von denen die Dinosaurier sein Werk „Principal Cha- racters of American Jurassic Dinosaurs" und andere Arbeiten behandeln. Hierin hat er die grund- legende Klassifikation dieser ausgestorbenen Reptiliengruppe gegeben, die er in Theropoden (Säugetierfüßler), Sauropoden (Eidechsenfüßler) und PredentataJ einteilte, von denen die beiden ersteren bis heute bestehen geblieben sind, während die letz- teren jetzt mit Copes Namen als Orthopoda (Gerad- füßler) bezeichnet werden. Zu den Sauropoden gehören die oben erwähnten langhalsigen Riesen unter den Reptilien, deren Rekonstruktion in selt- samem Kontrast zu dem gewählten Gruppen- namen nicht die eidechsenähnliche Aufstellung der Extremitäten, sondern im Gegenteile eine säugetierartige zeigt. Auch anderen Dinosauriern ist die Rekonstruktion in der Säugetierhaltung zuteil geworden. Am bekanntesten ist der den Orthopoden zugerechnete Triceratops geworden, dessen seltsamer Schädel einen vogelschnabel- artig nach unten gebogenen Oberkiefer, drei nach vorne gerichtete lange Hornzapfen und einen den Nacken bedeckenden Knochenkragen zeigt. In der Aufstellung hat man dem Tiere die Hal- tung eines Rhinozeros gegeben, wozu der lange Eidechsenschwanz durchaus nicht passen will. Die Rekonstruktoren dieser Reptilien sind sich jedoch darüber klar gewesen, daß diese Dino- saurier echte Reptilien waren und trotz ihrer säugetierähnlichen Haltung keineswegs einen N. F. Vm. Nr. so Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 797 Übergang zu den Säugetieren darstellen. Zu ver- wundern ist aber nicht , daß die verblüffenden Übereinstimmungen in der Haltung der rekon- struierten Dinosaurier mit der von Säugetieren gelegentlich zu irrtümlichenstammesgeschiclitlichen Ableitungen dieser von jenen geführt haben. Auch anderen ausgestorbenen Reptilien haben einzelne Rekonstruktoren Säugetierstellung ge- geben. So hat Broom') die kurzschwänzigen Theromorphen, von denen manche ein hochent- wickeltes, säugetierartiges Gebiß aufweisen, wie artig und besteht aus dem Schulterblatt und dem durch Naht fest mit ihm vereinigten Fraecoraco- Coracoid, das von dem charakteristischen Nerven- loche durchbohrt ist. Die Gelenkfläche für den Oberarm ist die sattelartige Einkerbung zwischen Schulterblatt und Rabenschnabelbcin, die durch- aus reptilienähnlich ist. Der Oberarmknochen gleicht fast völlig dem eines Varan. Die Elle hat keinen Ellbogen; Ulna und Radius kreuzen sich nicht, sondern liegen hintereinander. Das Becken steht zwischen dem der Eidechsen und Fig. I. Rekonstruktion des Diplodocus nach Marsh. Säugetiere aufgestellt. Aus dem gewaltig plumpen, krokodilartigen Pareiasaurus Seeleys ist ein schlankeres, hochbeiniges Geschöpf geworden. Hier aber sind von Broom auch phylogenetische Beziehungen festzustellen versucht worden. Die permischen und triasischen Theromorphen sollen die Vorfahren der Säuger gewesen sein. Broom meint sogar den allmählichen Übergang von jenen in diese feststellen zu können. Broom's Auf- stellung von Pareiasaurus scheint weniger begrün- det zu sein als die Seeley's. Wenn auch die Ulna ein Olecranon hat, so sind doch sonst die Extremitäten durchaus reptilienartig. Diplodocus und seine Verwandten sind sicher unrichtig aufgestellt. Mehrfach , so von Osborn Fig. 2. Rekonstruktion des Diplodocus nach Tornier und Hay, ist dagegen Einspruch erhoben worden. Zweifelsfrei ist es erst jüngst von Tornier-) an dem Berliner Gipsabgüsse des Diplodocus nach- gewiesen worden, der im Lichthofe des dortigen Museums für Naturkunde aufgestellt ist. Ich folge im nachstehenden der Tornier'schen Beweisführung. Als ein echtes Reptil hat Diplodocus mehr als 7 Halswirbel. Sein Schultergürtel ist chamäleon- ') In Rogers, Geology of the Cape Colony, S. 228-244. 'j Tornier, Wie war der Diplodocus carnegii wirklich ge- baut? Sitzungsber. Ges. naturf. Freunde, 1909, S. 193 — 209. der Krokodile. Es hat wie erstere noch ein in das Schambein eingeschlossenes Foramen obtura- torium, während dies bei den Krokodilen und den Säugetieren mit dem Foramen puboischiadicum vereinigt ist. Dagegen ist die Hüftgelenkpfanne wie bei den Krokodilen von einem Loche durch- bohrt. Das Darmbein hat einen so gering ent- wickelten Hals, daß seine Hüftgelenkpfanne noch ganz in der Höhe der Kreuzbeinwirbelkörper liegt. Dadurch liegen seine Hintergliedmaßen ungemein hoch dem Rumpfe an. Der Oberschenkel hat keinen Schenkelhals. Das Wadenbein ist stark 798 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 50 entwickelt. Die Vorder- und Hinterfußkrallen tragen Reptiliencharakter. Ebenso ist der lange Schwanz durchaus ein Reptilienschwanz. Aus dieser Übereinstimmung aller Knochen des Diplodocus mit denen anderer Reptilien folgt theoretisch mit Notwendigkeit, daß er auch wie ein solches aufzustellen war. Aber Tornier be- weist es auch noch eingehend an den einzelnen Gelenken und der aus ihrer Form sich ergeben- den Bewegungsmöglichkeit der Skeletteile. Dieser geistvollste Teil" der Tornier'schen Abhandlung ist klar und sicher durchgeführt und gibt nicht nur die überzeugende Kritik der bisherigen Auf- stellung, sondern auch eine als ganzes wohl nicht zu widerlegende Neurekonstruktion des Tieres, die in der Fig. 2 reproduziert ist. Da der Schultergürtel der eines Reptils ist, so muß er auch wie bei einem solchen mit dem Coracoid nach unten (nicht säugetierartig nach vorne) gelegen haben. Dann ist das Schulterblatt nicht schräg zu stellen, sondern fast senkrecht nach oben und zwar ist ihre, weil knorpelig, fossil fehlende obere Epiphyse in der Höhe der Wirbel- körper anzubringen. Rippen, denen ein so mächtiges Schulterblatt nach Säugetierart auf- liegen könnte, hat Diplodocus nicht. Seine drei ersten Brustrippen sind reptilienartig kurz und zu- gespitzt. Sie treten zum Brustbein in keinerlei Beziehung. Bei dieser fast senkrechten Stellung des Schulterblattes ist die Gelenkfläche für den Oberarm so gestellt, daß der Oberarm in einer Horizontalebene von vorne nach hinten rollen kann, und sie kann keine andere Stellung haben, da sie ganz reptilienartig ist. Bei der bisherigen Stellung der Vorderextremität würde aber der Oberarm nicht von vorne nach hinten und zurück schwingen können, sondern er würde sich von außen nach innen und zurück bewegen. Die Vorderbeine würden also unter dem Bauche zu- sammenschlagen und dann in eine Grätschstellung übergehen, was für das Tier natürlich keine Fort- bewegung bedeuten könnte. Denn der proximale Abschnitt des Oberarms von Diplodocus ist platt zweiseitig und sehr breit. Das Gelenk ist ein langgestreckter Walzenabschnitt, der zugleich Konvexkrümmung nach außen aufweist und dessen Längskante parallel zur Querschniitebene des Knochens verläuft. Der Oberarm muß mit diesem Gelenke in der sattelförmigen Einkerbung zwischen Schuherblatt und Coracoid sich so bewegen, daß er in einer Horizontalebene, nicht in einer Vertikal- ebene rollt. Bei der bisherigen Aufstellung benutzten die Unterarmknochen den äußeren und den inneren Condylus des Oberarmes als ihre Gelenkhöcker. Diese Condylen dienen aber nicht der Gelenkung, sondern dem Muskelansatze. Das wirkliche Ell- bogengelenk des Oberarmes liegt weit vor diesen Condylen. Wenn man auf ihm die Unterarm- knochen anbringt, dann bilden diese mit dem Oberarm einen spitzen Winkel, nicht aber einen stumpfen wie bei den Säugetieren. Der Oberschenkel ist bei dem Marsh'schen Diplodocus so eingesetzt, wie wenn er einen langen Schenkelhals mit rundem Kugelgelenk hätte: senkrecht nach unten zeigend. Dabei ge- lenken die Unterschenkelknochen an den Knie- sehnencondylen des Oberschenkels, während sie dessen hinten gelegene wirkliche Gelenkflächen gar nicht berühren. Setzt man sie aber auf die richtigen Gelenkscheiben, dann bilden auch hier Ober- und Unterschenkel den spit-zen Winkel der Reptilien, und jetzt liegt der Oberschenkel hori- zontal, wie es sein langgestreckter Hüftgelenkkopf verlangt. Bisher war Diplodocus insofern ein Monstrum, als er vorne als Zehengänger, hinten als Sohlen- gänger aufgestellt war. Man mußte ihn mit seinen angeblichen Elefanienextremitäten so aufstellen, weil sonst die Vorderextremität unnatürlich niedrig erschienen wäre. Seine Zehen sind die eines Scharrtieres, sowohl die vorderen als die hinteren. Daß sie sich derart verschieden in bezug auf ihre Stellung verhalten haben sollten, ist daher aus- geschlossen. Der Diplodocusschwanz liegt zur Zeit nur mit seiner hinteren Hälfte fest auf dem Boden. Der vordere Teil steigt in einer Steilkrümmung zum Kreuzbein auf Dadurch klaffen die Gelenke weit auseinander, was bei einem Eidechsenschwanze mit seinen Straff'gelenken geradezu ausgeschlossen ist. Die unteren Dornfortsätze zwischen den Schwanzwirbeln hätten an den hochgehobenen Stellen gar keine Bedeutung. Wenn aber der Körper eidechsenartig niedriggestellt wird, dann liegen sie dem Boden auf und unterstützen die starken Muskeln der Schwanzunterseite , deren verknöcherte Sehnenansätze sie sind, bei ihrer Aufgabe, den Schwanz fest auf den Boden zu pressen. Denn daß dieser lange Schwanz nicht einfach nachschleppt, sondern eine große Bedeu- tung zur Verankerung des Tieres hatte, geht aus seiner äußerst charakteristischen Form ohne wei- teres hervor. Der lange Hals ist bei der Marsh'schen Auf- stellung horizontal gestreckt, als wenn dies seine dauernde Haltung wäre. Nichts ist aber für ein Tier schwerer, als ein so langes Instrument längere Zeit horizontal zu tragen, wie wir ja sofort be- merken , wenn wir unseren Arm einige Minuten ausgestreckt geradeaus zu halten versuchen. Diplodocus hat aber seinen, wie die Kugelgelenke der einzelnen Wirbel zeigen, außerordentlich be- weglichen Hals dauernd /-förmig getragen. An jeder Halswirbelunterseite sind bei ihm, wie bei den langhalsigen Vögeln, zwei lange, gegen den Schultergürtel gerichtete Knochenzapfen vorhanden, die die verknöcherten Endsehnen der Muskeln der Halsunterseite sind. Diese Muskeln bewirkten das Halssenken, und die Knochenzapfen sind des- halb so besonders groß, weil der kleine Kopf ver- möge seiner Leichtigkeit bei diesem Senken nicht mitwirken konnte und die schweren Wirbel beim Herabziehen aus der aufrechten Haltung keinen N. F. VIII. Nr. 50 Naturwi.ssenschaftliche Wochenschrift. 799 geringen Widerstand leisteten. Wenn der lange Hals nach vorne gesenkt wurde, dann wurde auf den Leib ein starker Zug ausgeübt, gegen den dieser sich durch einen gleich starken vom Schwänze her im Gleichgewichte halten mußte. Zug und Gegenzug trafen über dem Kreuzbein in den drei mächtigen zusammengewachsenen Kreuzbeindornen aufeinander. Daß aber der Hals nicht dauernd horizontal getragen werden konnte, zeigt auch die Haltung des Kopfes. Dieser bildet mit dem I.Halswirbel dauernd ungefähr einen rechten Winkel. Damit das Tier normalerweise vorwärts sehen konnte, mußte seine Kopflängsachse dem Standplatz des Tieres parallel laufen , also horizontal gerichtet sein. Bei wagcrecht gestrecktem Halse muß aber der Schädel rechtwinklig zum i. Halswirbel, also nach abwärts gerichtet sein. Nur bei aufwärts gerichtetem, vorderem Halsende kann aber die Schädelachse in der Horizontalen liegen. So ist also der Diplodocus ein Tier gewesen, dasnach Eidechsenart in der Regel mit seinem Bauche dem Boden auflag, sich nach Eidechsenart fortbe- wegte und den Kopf nach allen Seiten leicht wenden konnte. Namentlich nach abwärts wurde der Kopf häufig bewegt. Bei dieser Bewegung diente der Schwanz der Verankerung auf dem Boden. Die Zähne des Diplodocus sind lange, dünne, lückenhaft stehende Stifte, die nicht zum Kauen, sondern zum Seihen dienten. Der lange Hals wird unter diesen Umständen erklärlich bei der Annahme einer grundelnden und fischenden Le- bensweise am Wasser, die ihm von Tornier zu- geschrieben wird. Privatdoz. Dr. H. Stremme. Bücherbesprechungen. Meyer's Großes Konversations -Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6., gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. 20. Band. Veda bis ZZ. Leipzig und Wien. Bi- bliographisches Institut. — Preis geb. 10 Mk. Der letzte Band des vorliegenden schönen und zweckdienlichen Werkes ist längst erschienen und hat damit das treffliche Nachschlagebuch des allgemeinen Wissens, wie es sich mit Recht nennt, zum Abschluß gebracht. Dies gleichzeitig zur Nachricht als Ant- wort auf diesbezügliche Anfragen aus dem Leserkreise. In keiner Weise steht der letzte Band den früheren nach, sowohl bezüglich des Inhalts als auch bezüglich der vielen Abbildungen. Geographische Karten (V'er- einigte Staaten, Zentralasien u. a.), Stadtpläne (V^enedig, Wien, Zürich, Wilhelmshaven usw.) in Buntdruck und desgleichen Bilder zur Pflanzen- und Tierkunde, zur Meteorologie (Wolkenformen) verschönern nicht nur den Band , sondern machen ihn ebenso brauchbar und inhaltreich , wie die früheren Bände , kurz , wir könnten nur das Lob wiederholen, das wir schon bei Besprechung der früheren Bände wiederholt aus- zudrücken Gelegenheit gehabt haben. Dr. B. Donath, Physikalisches Spielbuch für die Jugend. Zugleich eine leichtfaßliche An- leitung zu selbständigem Experimentieren und fröh- lichem Nachdenken. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. 510 Seiten mit i66 Abbildgn. Braun- schweig, F. Vieweg & Sohn, 1907. — Preis geb. 6 Mk. Bereits die erste Auflage des Buches wurde von uns im zweiten Bande dieser Zeitschrift freudig be- grüßt. Das Buch liegt nun in zweiter, vermehrter und verbesserter Auflage vor und kann als eines der vortrefflichsten, anregendsten Unterhaltungsbücher für die Jugend bestens empfohlen werden , zumal es der Verf. verstanden, ohne je in trockenen, lehrhaften Ton zu verfallen, die Frage nach dem W^arum, soweit an- gängig, zu beantworten und seinen Leser unbemerkt die wichtigsten physikalischen Grundgesetze an der Hand der Experimente entdecken zu lassen. Die neue Auflage ist reichlich vermehrt und die von der Kritik und Fachgenossen gegebenen Ratschläge sind tunlichst berücksichtigt worden. Experimente, die mehr für ältere Leser geeignet sind, sind durch Sternchen als solche bezeichnet. Trotz der erheb- lichen Umfangssteigerung ist der Preis des Buches nicht erhöht worden, was seiner immer weiteren Ver- breitung sicherlich zugute kommen w-ird. Kbr. Literatur. Binz, Prof. Dr. Arth. ; Chemisches Praktikum für Anfänger. Mit Berücksicht. der Technologie. (154 S. m. Abbildgn.) gr. 8". Berlin '09, G. Reimer. — 4 Mk., geb. 4,80 Mk. Reishauer, Herrn., Die Alpen. Mit 26 Bildern und Kig. im Te.xt u. 2 [i färb.] Alpenkarten. (IV, 140 S.) Leipzig '09, B. G. Teubner. — i Mk., geb. in Leinw. 1,25 Mk. Anregungen und Antworten. Herrn E. A. Holdenstedt. — Neuere Arbeiten über Entdeckung von Sporen bei wichtigeren pathogenen Kokken oder Stäbchen, bei welchen Sporenbildung bisher nicht beschrieben war, sind mir nicht bekannt geworden. Speziell bei Kokken ist die Sporcnbildung äußerst schwierig festzu- stellen, erstens, weil hier die Zellen besonders klein sind, und zweitens, weil hier nicht, wie bei den Stäbchen, die Spore nur einen Teil der Zelle erfüllt, sondern die ganze Zelle restlos zur Spore wird. Gerade bei pathogenen Kokken, speziell Streptokokken (vgl. die Notiz in Alf. Fischer's Vor- lesungen über Bakterien, 2. Aufl., S. 42) ist die Bil- dung von ,, Dauerzellen" teils schon früher beobachtet, teils sehr wahrscheinlich, nur noch nicht nachgewiesen. Bei einer der größten und interessantesten Kugelbakterien, dem Azotobacter Chroococcum Beij., hat neuerdings S. Krzemieniewski (Extrait du Bullet, de l'Acad. des Sciences d. Cracovie, 1908, die Sporenbildung, wie die .Vuskeimung, unter Abwerfen einer Sporenmembran, genau beschrieben und z. T. abgebildet. Über die Beziehungen der Chromatinkörner zur Sporenbildung ist eine allgemein anerkannte, einheitliche An- schauung noch nicht möglich und wohl auch, infolge Ver- schiedenartigkeit der tatsächlichen Verhälmisse, nicht zu er- warten. Wo Sporen gebildet werden, bleibt wohl stets ein Teil der Chromatinkörner (die man in neuerer Zeit wohl mit Recht als Reser ve - Nu clein auffaßt, dessen größere An- häufung aber oft die beginnende Degeneration der Zelle anzuzeigen scheint) von dem Sporenkörper ausgeschlossen. Die Körnchen verleihen den sie führenden Zellen keine er- höhte Resistenz gegen höhere Hitzegrade, wohl aber, wie es 8oo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vin. Nr. 50 scheint, gegen Austrocknung (die Beliauf)tung, daß Itörnclien- führende Zellen dadurch virulenter würden , ist entschieden widerlegt). Sehr interessante Beobachtungen über ein nicht sporenbildendes Stäbchen, dessen metachromatische Körnchen sehr viel mit echten Sporen gemein haben, enthält die Arbeit: Entwicklungszyklen bei Bakterien, von F. Fuhr- mann (Beihefte zum Botan. Centralbl., Bd. 23, I. Abt. 1907), welche ich auf Seite 55 — 56, Jahrg. 1909, 4. Heft der Naturw. Wochenschr. ausführlieh besprochen habe. — Ein Fall von pathologischer Anhäufung der nietachromatischen Körnchen tindet sich beschrieben und abgebildet in meinem Vortrag: Über Stickstoffbakterien, 02. Jg., 1905, der Verhandl. d. Naturhist. Vereins der preuß. Kheinlande usw. ; ein Ab- druck steht dem Herrn Anfragenden auf Wunsch zur Ver- fügung. Über die Deutung der Körnchen als Reservekörper vgl. F. G. Kohl, Die Hefepilze, Leipzig 1908, S. 40. Hugo Fischer. Herrn F. in R. — Wie stellt man Salpetersäure aus der Luft her? — Schon 1780 fanden Cavendish und Priestley, daß beim Durchschlagen elektrischer Funken durch ein abgeschlossenes Quantum Luft sich kleine Mengen von Stickstoftsauerstoffverbindungen bildeten. Hundert Jahre später zeigte dann Crookes, daß weit erheblichere Mengen dieser Verbindungen im Hochspannungsflammenbogen entstehen. Jedoch war die auf die Energieeinheit gewonnene Menge von Stickstoffsauerstoffverbindungen, wie von zahlreichen Forschern nachgewiesen wurde, um so geringer, je größer die auf ein- mal zur Anwendung gebrachte Menge von elektrischer Energie war. Dieser für die Darstellung von Stickstoifsauerstoffver- bindungen, aus denen die Salpetersäure gewonnen werden kann, ungünstige Umstand war darauf zurückzuführen , daß mit zunehmenden Energiemengen der Flammenbogen größer und die denselben umgebenden Gasmengen auf immer höhere Temperaturen erhitzt wurden. Wie durch die Untersuchungen von N ernst nachgewiesen ist, liegen die Bildungs- und Zersetzungstemperaturen bei den Stickstoffsauerstoffverbindungen einander sehr nahe. Das hat zur Folge, daß zwar in dem einen Moment Stickstoffsauerstoff- verbindungtn gebildet, aber auch im nächsten Moment wieder in ihre Bestandteile zerlegt werden. Sämtliche technische Verfahren, die die Herstellung von Slicksloffsauerstoffverbindungen und aus ihnen die Gewinnung von Salpetersäure bezwecken, mußten es sich zur Aufgabe machen, Apparate zu konstruieren, in denen mit Hilfe von elektrischer Energie zwar die hohe Bildungstemperatur der Stickstoffsauerstoffverbindungen erreicht wurde, die aber auch gleichzeitig gestatteten , die gebildeten Stickstoffsauerstoffver- bindungen schnell aus der warmen Zone zu entfernen und so ihre Wiederzersetzung zu verhüten. Die Erde ist von einer Lufthülle umgeben, über deren Höhe sehr abweichende .Angaben gemacht worden sind. Nach den Untersuchungen von Ritter, Flögel und Schiaparelli kann man die Höhe der Erdatmosphäre auf 3 — 400 km veran- schlagen. Aus der Größe der Erdoberfläche und dem Luft- druck berechnet sich das Gewicht dieser Lufthülle auf ca. 5,2 Trillionen kg, wovon 4 Trillionen kg aus Stickstoff und 1,2 Trillionen kg aus Sauerstoff bestehen. Nach Birkeland genügt die über jedem Quadratkilometer lastende Stickstoff- menge in ungefährem Betrage von 8 Millionen Tonnen , um den gesamten Bedarf an Salpetersäure und gebundenem Stick- stoff für 25 Jahre zu decken. Von den technischen Verfahren, die die Gewinnung von Salpetersäure bezwecken, kommen vor allem zwei Verfahren in Be- tracht, das Ey d e-Bi r k eland'sche und das Schönherr- sche Verfahren. Zur Durchführung des Eyde-Birkeland- Verfahrens wurde zunächst die Versuchsstation Ankerlökken bei Christiania errichtet. Benutzt wurden Öfen, die aus eisernen Kästen bestanden und die bis auf einen schmalen Raum mit feuer- festem Material ausgekleidet waren. Mit Hilfe von großen Elektromagneten wurde die VVechselstromflamme, die man in dem Ofen erzeugte, scheibenförmig ausgebreitet. Durch den Ofen selbst leitete man einen Luftstrom, und erreichte damit, daß die gebildeten Sticksloffsauerstoffverbindungen durch den Luftstrom schnell aus dem schädlichen Wärmebereich entfernt wurden. Später wurde die größere Anlage in Notodden er- baut, die zurzeit 30 Öfen besitzt. Jeder dieser Öfen ver- braucht für den Flammenbogen 160 Amp. bei 3300 Volt, für die Magnetwicklungen 60 Amp. bei 50 Volt. Das ergibt eine Energiemenge von 531 Kilowatt. Im Jahre 1905 gelanges Schönherr, ein Verfahren auf- zulinden und in Gemeinschaft mit dem Ingenieur Heßb erger technisch auszuarbeiten, das mit Hilfe des elektrischen Licht- bogens die gestellte Aufgabe in anderer Weise löste , als es von Birkeland und Eyde geschehen war. Statt den elektri- schen Lichtbogen durch Einwirkung starker Magnete zu einer sonnenförmigen Scheibe in die Breite zu blasen, erzeugte Schönherr im Innern eines eisernen Rohres von relativ ge- ringem Durchmesser einen Lichtbogen ; durch das Eisenrohr wurde gleichzeitig Luft geleitet und so mit dem Lichtbogen in Berührung gebracht. Die Entwicklung des Lichtbogens vollzieht sich nun beim Einblasen der Luft in höchst eigen- artiger Weise. Beim Einschalten des Stromes entsteht der Lichtbogen im ersten Augenblick nur im unteren Teile des metallenen Rohres und zwar zwischen diesem selbst und einer Elektrode , die sich isoliert im unteren Ende des Rohres wenige Millimeter von der Rohrwand entfernt befindet. Der in tangentialer Bewegung eingeführte Luftstrom hebt nun den Lichtbogen empor, so daß er den zentralen Teil der Luft- masse in der Achse des Rohres ausfüllt und nun erst in wei- terer Entfernung von der unteren Elektrode mit der Rohrwand oder einer anderen besonderen Gegenelektrode entsteht. Auf dem einen oder anderen Wege enthält man Stick- o.xyde, die man weiter durch geeignete Vorrichtungen abkühlt und in Kondensationseinrichtungen eintreten läßt. In den Kondensatoren rieselt Wasser bzw. ein geignetes Absorptions- mittel herab und tritt mit den gebildeten Slickoxyden in chemische Wirkung, wobei Salpetersäure bzw. salpetrige Säure in Lösung gehen. Die Kondensation der Stickstoff- sauerstoffverbindungen macht gewisse Schwierigkeiten, beson- ders, da im Verhältnis zur angewandten Luft nur kleine Mengen von Stickstoffsauerstotfverbindungen (Sticko.xyden) er- halten werden. Dieser letztere Umstand bedingt es, daß es bisher nicht gelungen ist, konzentrierte Salpetersäure nach den beschriebenen Verfahren darzustellen. Man ist gezwungen, die aus den Kondensatoren erhaltene verdünnte Salpetersäure mit Kalkmilch oder anderen geeigneten Substanzen in Berüh- rung zu bringen, damit sich Nitrate bzw. Nitrite bilden können. Ein so gewonnenes Calciumnitrat wird von der Notoddener Fabrik in den Handel gebracht. Ein drittes Verfahren, das Bender'sche Verfahren, sieht von der Verwendung der Elektiizität ab und verbrennt Kohle oder kohlenstoffhaltige Gase unter Zuleitung von Luft mit einem Überschuß von Sauerstoff, wobei ebenfalls nennenswerte Mengen von Stickstoffsauerstoft'verbindungen gebildet werden. Das Bender'sche Verfahren benutzt die schon seit Jahren be- kannte Tatsache, daß bei Verbrennung von Luft im Knallgas- gebläse Stickoxyde gebildet werden. Über die Wirtscliafllichkeit der Verfahren läßt sich augen- blicklich kaum etwas sagen. In Anbetracht der Tatsache, daß die Salpeterlager in Chile, wenn auch nicht in kurzer, so doch in absehbarer Zeit erschöpft sein werden, besitzen aber die Verfahren, die Salpetersäure aus Luft zu gewinnen bezwecken, hohe Bedeutung. Zurzeit ist natürlich ihre Wirt- schaftlichkeit gänzlich von dem Marktpreise des Chilisalpeters abhängig. A. Stavenhagen. Berichtigung. — In dem Referate ,, Neues aus der Sinnesphysiologie" in Nr. 47 d. J. ist auf Seite 746, Spalte 2 in Zeile 3 v. o. ,,Ohre" statt ,,Orte" zu lesen. Cords. Inhalt: Prof. Dr. Ed. Brückner: Die glazialen Züge im Antlitz der Alpen. — Kleinere Mitteilungen; Hugo Fischer: Vom Neo-Laraarckismus. — Dr. H. Stremme: Wie ist Diplodocus richtig aufzustellen? — Bücberbesprechungen : Meyer's Großes Konversationslexion. — Dr. B. Donath: Physikalisches Spielbuch. — Literatur: Liste. — An- regungen und Antworten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichlerfelde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue tolge VUl. Band; der ganzen Keihc XXIV Band. Sonntag, den 19. Dezember 1909. Nummer 51< Der Meteorkrater von Canyon Diablo LNachda,ck verböte.., ^16 EntStChUng Seit seiner Entdeckung hat der wenige Kilometer südlich von Canyon Diablo, einer kleinen Station der Santa FeEisenbahn in Arizona, gelegene, bisher unter dem Namen Coon mountain oder VVaschbärhügel bekannte „Meteorkrater", der wegen seiner Entstehung neuerdings diesen Namen er- Fig. 1. Skizze des nördlichen Arizona (nach Gilbert). hielt, immer wieder die Aufmerksamkeit ameri- kanischer Forscher auf sich gelenkt. Er wird gebildet von einem Ringwall, der eine kraterför- mige, in das völlig ebene Koloradoplateau einge- senkte Vertiefung umschließt. So zeigt der Coon mountain die größte Ähnlichkeit mit dem Krater eines Vulkanes, obwohl er fern von den Spuren jeglicher vulkanischen Tätigkeit gelegen ist. Die Merkwürdigkeit dieses Berges wird durch das Auftreten zahlreicher Eisenmassen meteorischen Ursprunges in seiner unmittelbaren Nachbarschaft noch vergrößert, deren Verbindung mit dem Krater ohne Frage zunächst außerordentlich rätselhaft ist. Ist dieses Zusammentreffen zufällig, und wie ist dann der Krater entstanden, wenn er nicht vulkanischen Ursprungs ist; oder stehen beide Erscheinungen miteinander in ursäch- lichem Zusammenhang? Der Geologe Grove Karl Gilbert vermutete zuerst,'-) daß der Krater durch den Aufsturz eines gewaltigen Meteoriten entstanden sei, der dabei zertrümmert wurde und dessen Trümmer in Arizona') und seine Bedeutung für der Mondkrater. die Meteoreisenmassen darstellen. Einen ein- wandsfreien Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht konnte Gilbert jedoch damals nicht führen. Seitdem haben nun umfassende Aufschlußarbeiten neues Material geliefert, das für die Beurteilung der Entstehung des Kraters von allergrößter Bedeutung ist. Da nämlich im Innern des Kraters beträchtliche Mengen gediegenen Eisens und anderer Metalle ver- mutet wurden, ließ die Standard Iron Company in Philadelphia, um dies festzustellen und das Eisen wenn möglich auszubeuten, durch zwei Ingenieure Barringer und Tilghman am Boden des Kraters 23 bis 360 m tiefe Bohrlöcher und 6 Schächte niederbringen. Beide Männer haben über diese Arbeiten Bericht erstattet. ') Kurz danach nahm dann George P. Merrill vom U. S. National Mu- seum eine erneute Untersuchung des Kraters und seiner Umgebung vor, wodurch die Ergebnisse Barringer's und Tilghman's durchaus bestätigt wurden. Durch alle diese Arbeiten dürfte nun der Nachweis geliefert worden sein, daß, wie Gilbert vermutete, für die Entstehung dieses Kraters nur der Aufsturz eines riesigen Meteoriten eine unge- zwungene Erklärung gibt, die allen Verhältnissen gerecht wird. Unter Berücksichtigung der Dar- legungen Gilbert's, Tilghman's und Barringer's hat Merrill eine zusammenfassende Darstellung dieser auf der ganzen Erde einzig dastehenden Natur- erscheinung, des „Meteorkraters", gegeben.") Un- sere Ausführungen folgen im wesentlichen Merrill, daneben auch den bereits erwähnten Schriften Gilbert's, Tilghman's und Barringer's. Nähert man sich dem Meteorkrater von der kleinen Station Canyon Diablo aus, so wandert man über eine weite, fast ebene, mit braunem Sand und Lehm bedeckte Hochfläche, die infolge der geringen jährlichen Niederschläge (etwa 20 cm) VVüstencharakter trägt. Tiefe Schluchten, von denen beispielsweise der Cocanini Canyon 200 m tief ist, durchfurchen den Boden mit meist steil und schroff abfallenden Wänden; diese Rinnen führen rasch die Regenwässer fort und steigern dadurch die Trockenheit noch mehr. ') D. M. Barringer, Coon Mountain and its Crater. ') In Nr. 5 der Naturw. Wochenschr. ist bereits eine B. Ch. Tilghman, Coon BuUe, Arizona, kurze Mitteilung über den Meteorkrater gegeben worden. Die Proc. Acad. Nat. Science of Philadelphia, Dezember Einzigartigkeit dieser Naturerscheinung und ihre Bedeutung 1905. S. 861— 914. für die Erklärung der Mondkrater dürfte indes eine eingehen- 2) George P. Merrill, The Meteor Crater ol Canyon dere Schilderung als erwünscht erscheinen lassen. Diablo, Arizona; its history, origin and associated Metcoric '1 G. K. Gilbert, The origin of hypotheses. Washington Irons. Smithonian Miscellaneous CoUections, Vol. 40, S. 461 1S95. bis 498. January 1908. 802 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. s I Kümmerlicher Pflanzenwuchs von vereinzelt Schichten eines grauen Kalksteins, des Aubrey- stehenden Büscheln des Büfifelgrases, ehemals kalksteins von oberkarbonischem Alter. Hauptnahrungsmittel der Büffel, bedeckt den von Darunter liegt ein hellgrauer bis schwach bräun- den heißen Strahlen der Sonne ausgedörrten Boden, licher kieseliger Sandstein, der wieder von einem Außerordentlich einfach ist der geologisch e gelbrotem Sandstein unterlagcrt wird. Nach Boh- Bau des Untergrundes dieser Hochfläche, rungen, die an einem etwa 50 km entfernten Er wird gebildet von völlig horizontal lagernden Orte ausgeführt wurden, schätzen die amerikani- N. F. VIII. Nr. 51 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 803 sehen Landesgeologen die Mächtigkeit des Aubrey- kalksteins bei Canyon Diablo auf etwa lOO m, die des grauen Aubreysandsteins zu 130 — 160 m, und die des gelbroten Aubreysandsteins auf über 300 m. Dem .Aubreykalk der Hochfläche sind vereinzelte niedrige Tafelberge, Mesas, von rotem Sandstein aufgesetzt, Zeugen einst weit verbreiteter Schichten, die der Zerstörung durch die nie ruhenden Kräfte der Verwitterung anheimgefallen sind. Diese ruinenartigen Reste der häufig kasten- oder sargförmig gestalteten Mesas sind es, welche allein diese öde Halbwüste beleben. Die grelle Sonne läßt sie in bunten Farben je nach der Färbung der verschiedenen Schichten erglänzen; und diese Farben steigern sich zu wunderbarer Pracht, wenn abends die Sonne sinkt. Dann l'ig. 3. Großer Block an der Westseite des Kraterrandes (nach Merrill) leuchten die roten Mesas auf, wie mit Purpur Übergossen und heben sich in der klaren durch- sichtigen Wüstenluft mit scharf umrissenen Formen prächtig ab von der weiten grauen Ebene und vom Firmament. Dann verdient diese Landschaft den Namen „Painted Desert", den frühere Er- forscher ihr gegeben haben. Aus einiger Entfernung gesehen erhebt sich der Meteorkrater als niedriger, sanft geböschter Hügel über die Ebene. Sein Umriß unterscheidet ihn deutlich von den meist steil abfallenden Mesas. Mit geringer Neigung steigt der Ringwall etwa 50 m hoch von der Ebene her an. Die Form des Kraters ist fast kreisförmig: der größere 0-WDurchmesser mißt fast 1300 m, der kleinere nordsüdliche über 1200 m. Ohne große Mühe erreicht man überall den Gipfel. Sehr leicht kann man das innere Gefüge des Kraterwalles studieren; er besteht aus einem Haufwerk von unregelmäßig und wirr durcheinander liegenden großen und kleinen, eckigen Gesteinsblöcken, vorwiegend von Kalkstein, da der Sandstein bei der in dem trockenen heißen Klima außerordentlich wirksamen Insolation sehr leicht zerfällt. Es finden sich Blöcke von drei, vier Metern Höhe und Hunder- ten, ja Tausenden von Zentnern Schwere bis herab zum feinsten Gesteinspulver. Dieses wirre, unordentliche Durcheinander erinnert lebhaft an Moränenablagerungen. Mehrfach kommt auch, bis mehrere Meter mächtig, feinstes weißes, kreide- artiges Gesteinspulver (silica) vor, das durch Zer- schmetterung des Sandsteins entstanden ist. Ganz im Gegensatz zum äußeren, sanft ge- neigten Abfall stürzen die Kraterwände nach innen auf allen Seiten steil 200 m tief ab, vielfach völlig un- zugängliche Abhänge bil- dend, die nicht selten so verwittert und zerbröckelt sind, daß sie nur unter Le- bensgefahr erklommen wer- den können. Ein einziger unvorsichtiger Schritt läßt große Schuttmassen in die Tiefe stürzen, die den Wage- halsigen mit sich reißen. Schutterfüllte Runsen zie- hen sich überall an den Ge- hängen abwärts, deren Fuß von gewalligen Schutthal- den umsäum; wird. Die inneren Krater- wände bestehen haupt- sächlich aus den Schichten des Aubreykalksteins, der mehrfach noch die dünne Decke des roten Sandsteins der Mesas trägt. An ver- schiedenen Stellen kommt unter dem Kalkstein der graue Aubreysandstein her- vor, der aber fast immer ziemlich zertrümmert ist. Alle Schichten sind mehr oder weniger steil auf- gerichtet und fallen unter allen möglichen Winkeln bis zu 90" nach außen und sind hier und da sogar überkippt. Die heftigsten Störungen sind besonders an der Ostseite des Kraters zu bemerken, wo die Schichten überstürzt sind. Den Aufbau der Krater- wände und die Aufrichtung der Schichten zeigen die beiden Profile auf nächster Seite. Der fast ebene Kraterboden liegt etwa 200 m unter dem Gipfel des Ringwaljes und 150 m unter dem Niveau der Ebene. Über die Zusammensetzung und Beschaffenheit seines Unter- grundes haben erst die zahlreichen Bohrungen und Schächte Barringer's und Tilghman's Klarheit gebracht. Diese Aufschlußarbeiten haben ergeben, daß die Tiefe des Kraterbodens früher etwas 8o4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vm. Nr. 51 größer war, aber durch jüngere Ablagerungen und durch den von allen Seiten herabtallenden Schutt, der 9 — 10 m mächtig ist, vermindert wurde. Unter dem Schutt lagerten Süßvvasser- absätze, die beweisen, daß einstens der Krater- boden von einem Süßwassersee bedeckt war, in dem Süßwassermolkisken und Diatomeen lebten. In Zeiten großer Trockenheit verdampfte das Wasser und am Grunde schieden sich kohlensaurer Kalk und Gips aus. Die Mächtigkeit dieser völlig horizontal ge- lagerten Süßwasserbildungen beträgt etwa 20 m. Unter den Süßwasserschichten durchteufte der Bohrer bis ungefähr 170 — 240 m Tiefe feinen zertrümmerten Sand, sowie Gesteins- mehl (silica, Kieselmehl), das häufig Nickeleisen enthielt, darunter anfangs noch zertrümmerten, brecciösen, dann aber allmählich fester werdenden, grauen Sandstein; das normale, unveränderte Ge- unter dem Kraterboden in seiner gesamten unge- fähr 160 m betragenden Mächtigkeit zertrümmert und zermalmt ist. Im ersten Stadium der Zer- trümmerung behält das Gestein noch ein körniges Gefüge, ist aber lockerer und leicht mit den Fingern zu zerdrücken. Bei der mikroskopischen Untersuchung beobachtet man, daß ein Teil der Quarzkörner keinerlei Spuren irgendwelcher Ein- wirkung zeigt; die meisten aber sind zertrümmert, obwohl sie noch ihre gewöhnlichen Polarisations- farben haben. Danach verschwindet die körnige Beschaffenheit des Sandsteins; er wird zu einem kreideweißen, fast staubartigen Pulver, welches Barringer und Tilghman als „silica", Merrill als ,,rockflour", Gesteinsmehl bezeichnen. Dieses Gesteinsmehl — man könnte auch sagen „Kiesel- mehl" — erzeugt beim Zerreiben zwischen den Fingern ein scharfes kritzendes Gefühl und besteht ScliuH Fig. 5. Durchschnitt durch den Krater von Norden nach Süden (nacli Tilghman). Scbu.U' Schutt NicVel Fig. 6. Durchschnitt durch den Krater von Westen nach Osten (nach Tilghman). stein wurde überall, wenn auch in verschiedener Tiefe, die zwischen 200 und 350 m schwankt, erreicht. Mehrfach stießen die Bohrer auf festes Material, das sie wegen seiner großen Härte nicht durchbohren konnten und das von Barringer und Tilghman als Meteoreisen gedeutet wurde. Die erhofften Schätze gediegenen Eisens, Nickels und Platins wurden indessen nicht aufgefunden. Von ganz besonderem Interesse und großer Bedeutung für die Beurteilung des Ursprungs des Meteorkraters ist die Beschaffenheit des grauen Sandsteins, wie ihn die Bohrproben zutage förder- ten. Im normalen, unveränderten Zustande ist dieser Sandstein von hellgrauer bis fast weißer Farbe und deutlich zuckerkörnig; er besteht aus wohlgerundeten, farblosen Quarzkörnern, sowie vereinzelt auftretenden Bruchstückchen von F'eld- spat. Die Bohrungen ergaben, daß der Sandstein aus scharfkantigen Quarzsplittern von mikroskopi- scher Kleinheit. Nur ein heftiger Stoß von furcht- barer Gewalt konnte den Sandstein zu einem sol- chen Pulver zermalmen. Andere Varietäten be- sitzen mehr plattige Struktur und zeigen matte Polarisationsfarben und undulöse Auslöschung als Ausdruck der molekularen Spannung. Kleine, farblose Zwischenräume zwischen den Splittern lassen bei starker Vergrößerung eine faserig- schuppige Struktur erkennen, bei gekreuzten Nikols erweisen sie sich als isotrop; sie bestehen aus Opal. Durch zahlreiche Modifikationen geht schließ- lich das Gestein in den letzten Grad der Meta- morphose über, in dem es zu blasigen, bimsstein- artigen Glasschlacken geschmolzen ist und in seinem Aussehen typischen Obsidianbimssteinen zum Verwechseln ähnlich sieht. Unter dem Mi- kroskop erkennt man ein farbloses, blasiges Glas, N. F. Vin. Nr. 51 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 805 welches durch staubartige Einlagerungen getrübt erscheint. Nach Merrill gleicht es aber niclit dem Glase, welches durch künstliches Schmelzen von Quarz erhalten wird, dagegen wohl dem Glase der Blitzröhren , welche durch Blitzschläge in Quarzsand erzeugt werden. Häufig war das Gesteinsmehl nickelführend, wie oben bereits angedeutet wurde. In einem Bohrloch waren die Sandsleinkörner bei einer Tiefe von 173 m häufig durch Eisenoxyd braun- rot gefärbt, und gelegentlich kamen metallische Körnchen vor, die sich als Phosphoreisen erwiesen, deren meteorischer Ursprung außer Frage steht, .^uch Nickeleisen und Chromilkörner wurden zu- tage gefördert. Aus größeren Tiefen als 230 m konnte kein Eisen oder Nickel mehr nachgewiesen werden. Diese bis in Tiefen von etwas über 200 m unter dem Kraterboden auftreten- den Stoffe kosmischen Ur- sprungs lenken unsere Auf- merksamkeit auf die am Krater und in seiner un- mittelbaren Nachbarschaft so zahlreich gefundenen Meteoreisen. Das erste wurde im Jahre 1886 von einem Schafhirten an den Abhängen des Kraters be- obachtet, der es anfangs für Silber hielt, von seinen Ge- fährten aber bald über seinen Irrtum aufgeklärt wurde. Durch Zufall erhielt der Mineraloge Dr. Foote Kennt- nis von dem Vorkommen dieser Eisen. Foote besuchte den Meteorkrater und fand 137 Bruchslücke von Eisen auf, von denen das schwerste 91 kg wog. 1891 berichtete er über seine Untersuchungen und stellte den meteorischen Ursprung der Eisen fest, nachweisen, daß die Meteoreisen kleine schwarze und weiße oktaedrische Diamanten, ferner Kohlenstoff als Karbid, Schwefel, Phosphor, Nickel, Kobalt und Silizium enthielten. Besonders bemer- kenswert ist das Vorkommen der Diamanten, die hier zum ersten Male in Eisen kosmischen Ur- sprungs beobachtet wurden. Gilbert stellte 1896 fest, daß im Krater selbst keine Eisen vorkommen, daß sie dagegen regellos über eine P'läche von mehreren Quadratkilometern um den Krater herum zerstreut sind. Sehr groß ist die Menge der Eisen, welche seitdem am Meteorkrater gefunden worden sind; Tilghman und Barringer allein fanden 1904 — 1906 über 2000 Stück, in allen Größen bis 90 kg schwer. Im Gegensatz zu Gilbert machten beide die Be- obachtung, daß auch im Krater meteorisches Material vorkommt und daß die Hauptmasse der Meteoreisen über eine Fläche von halbmondför- miger Gestalt verbreitet ist, welche den Krater konzentrisch umgibt. Es mögen im ganzen wohl weit über 3000 Meteoreisen gefunden worden sein, mit einem Gesamtgewicht von über 18000 kg. Das größte darunter wog 460 kg. Die Eisen besitzen rundliche Vertiefungen und Erhabenheiten; sie zeigen keine frischen Bruch- flächen, aber auch keinerlei Merkmale der Schmel- zung oder die bekannten charakteristischen näpf- chenartigen Eindrücke, welche an der Oberfläche von Meteoriten beim Fluge zu entstehen pflegen. Der kosmische Ursprung der Eisen ist unbe- zweifelbar, da sie wesentlich aus den Stoffen und X'^erbindungen bestehen , welche für Meteoriten Fig. 7. Zu einer bimssteinarligen Masse geschmolzener Sandstein aus einem Bohrloche im Innern des Kraters (nach Merrill). Zugleich konnte er bezeichnend sind. Wir führen hier nach Merrill an: Nickeleisen : Kamazit. Plessit. Taenit. Phosphoreisen : Schreibersit. Rhabdit. Eisenkarbid: Cohenit. Graphitisches Eisen (?) Schwefeleisen : Troilit. Chloreisen: Lawrenzit. Kohlenstoffailizium : Moissanit. 8o6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 51 Kohlenstoff: Diamanten, farblos, gelb und schwarz. Cliftonit. Amorph. Graphit. Silizium. Platin. Kupfer. Olivin. Chromit. Fayalit (?) Daubreelit. Zusammen mit den Meteoreisen treten über die Ebene zertreut Bruchstücke und ganze kon- zentrisch schalenförmig gebaute Kugeln auf, die hauptsächlich aus braunem Eisenoxyd bestehen und häufig durch Nickelhydroxyd grün- lich gefärbt sind. Bezeichnend ist die schalen- förmige Struktur dieser „Eisen schalen" (iron- Fig. 8. Kugelschalenförmig abgesonderte Eisenmassc von Nordseite des Kraterrandes (nach Merrill). der shales); an der Oberfläche zeigen sie vielfach Sprünge und Risse. Ihre Zusammensetzung geht aus einer Analyse von Farrington hervor, welcher berechnete: Limonit 52,99 Magnetit 42,39 Schreibersit 0,64 Graphit 0,15 Lawrenzit 0,14 Aragonit 0,80 Andradit 2,45 Quarz 0,21 99.77 Andere „Schalenkugeln" (shale balls) er- wiesen sich als zusammengesetzt aus chlorid- und sulfidreichen Eisenmassen, die unter einer schützen- den Decke von Erdreich vor stärkerer Oxydation bewahrt worden waren. Für die Entstehung des Meteorkraters und das Auftreten der Meteoreisen sind besonders zwei Erklärungen gegeben worden ; die eine Hypothese führt den Ursprung des Kraters auf die Explosion einer vulkanischen Dampf wölke, also auf eine von innen nach außen wirkende Kraft zurück; nach der anderen Erklärung verdankt er seine Entstehung dem Aufsturz eines Meteoriten von ganz unge- wöhnlichen Dimensionen. Der erste Gelehrte, welcher den Meteorkrater besuchte, Dr. Foote, erkannte zwar den meteo- rischen Ursprung der dort gefundenen Eisen, gab jedoch für die Entstehung des Kraters keine Er- klärung. Später erregte der Meteorkrater das lebhafte Interesse Gilbert 's, der sich früher mit den sog. Mondkratern und den Ringbergen des Mondes beschäftigt hatte. Von einfachen Versuchen aus- gehend, die gleiche Formen, wie sie die Mond- krater zeigen, hervorrufen , gab er für diese Ge- bilde des Mondes eine außerordentlich einfache Erklärung. Regentropfen oder Steine, welche auf weichen Schlamm auffallen, Mehlkugeln, die aus gewisser Höhe in Mehl fallen, oder Geschosse, die gegen Stahlplatten aufschlagen, lassen Miniatur- krater entstehen. In ähnlicher Weise müssen auch durch das Aufstürzen von Meteoriten auf dem Monde kraterförmige Vertiefungen gebildet wer- den — eben die Mondkrater und Ringberge. Die gleiche Ursache nahm Gilbert für die Entstehung des Meteorkraters an, ein Erklärungsversuch, der ungezwungen sowohl den Krater als auch das Vorkommen der Meteoreisen erklärt. Auf Gilberts Veranlassung besuchte W. D. John- sen den Meteorkrater ; Johnsen erkannte die Aufrich- tung der Kalksteinschichtcn des Kraterwalles und führte diese anfänglich auf die Aufwölbung durch einen Lakkolithen zurück. Da er aber keinerlei Spuren einer Kontaktmetamorphose, noch die ver- muteten vulkanischen Gesteine selbst fand, ver- suchte er eine andere Erklärung, nämlich, daß ,, irgendwie, wahrscheinlich durch vulkanische Hitze, in einer Tiefe von einigen Hunderten oder Tausenden Fuß, eine Dampfwolke entstand, deren Explosion an der Erdoberfläche den Krater hervor- brachte". Die Ergebnisse der etwas flüchtigen Unter- suchung Johnsons befriedigten Gilbert nicht; er ruhte nicht eher, als bis er selbst den Krater untersuchen konnte. Um seinen Ursprung fest- zustellen, ging Gilbert von folgenden Überlegungen aus: Bei der Annahme der Entstehung des Kraters durch eine Explosion mußte der Inhalt des auf- geschütteten Walles gleich dem Volumen des aus der Vertiefung herausgeschleuderten Materiales sein. Wenn aber ein Meteorit die Ursache war, so mußte der Krater durch die Masse des Meteors teilweise wieder zugefüllt sein; das Volumen der Vertiefung wäre dann kleiner als das des Ring- N. F. Vm. Nr. 51 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 807 Walles gewesen. Es war ferner nach den gefun- denen Meteoreisen anzunehmen, daß dieser auf- gestürzte Meteorit im wesentlichen aus Eisen be- standen hatte; ein beträchtlicher Teil dieses Eisens mußte dann auch im Krater liegen und die Magnetnadel beeinflussen. Aber keine einzige dieser Methoden vermochte das Vorhandensein von beträchtlicheren me- teorischen Eisenmassen innerhalb des Kraterwalles nachzuweisen, oder sie hätten, was unwahrschein- lich war anzunehmen, meilentief liegen müssen. Nach diesem Mißerfolg fühlte sich Gilbert nicht berechtigt, noch weiter an dem meteorischen Ur- sprung des Kraters festzuhalten; es blieb ihm nur übrig, wenn sich auch sein inneres Gefühl dagegen sträuben mochte, die Explosionshypothese anzu- nehmen. Von der allergrößten Bedeutung für die Lösung des Problems wurden die Aufschlußarbeiten der Standard Iron Company zu Philadelphia. Es zeugt von dem praktischen Sinn der Amerikaner, daß zwei Männer, deren Wissen und Können sich bei diesen Untersuchungen in trefflicher Weise ergänzte, die Aufschlußarbeiten unternahmen. Barringer ist ein erfolgreicher Bergingenieur und Tilghman gilt als Autorität auf dem Gebiete des Geschoßwesens. Wie wir bereits ausgeführt haben, wurde der eigentliche Zweck der Bohrungen, im Kraterboden gediegen Eisen, Nickel und Platin zu finden, nicht erreicht; die dabei erhaltenen Ergebnisse sind jedoch von der allerhöchsten wissenschaftlichen Bedeutung. Barringer und Tilghman haben dann auch in einem der Akademie der Wissenschaften in Philadelphia überreichten Bericht ausführliche Mitteilungen über ihre Untersuchungen gegeben und die Frage nach dem Ursprung des Meteor- kraters erörtert.') Barringer behandelt in erster Linie die geologischen und petrographischen Ver- hältnisse, Tilghman die Gestaltung des Kraters, wobei er besonders die Übereinstimmung mit den durch aufschlagende Geschosse hervorgebrachten Gebilden berücksichtigt. Barringer's F'olgerungen sind kurz die, 1. daß ein großes Meteor, das ganz oder teil- weise aus Eisen bestand, an jener Stelle auf die Erde stürzte ; 2. daß der Krater gleichzeitig mit dem Auf- sturz entstand und zwar durch ihn selbst. Tilghman gelangte zu folgenden Ergebnissen: 1. Der Krater stimmt in jeder Beziehung, ab- gesehen von den Größenverhältnissen, mit den Hohlformen überein, die durch den Aufschlag von Geschossen von beträchtlicher Größe und Geschwindigkeit erzeugt werden. 2. Sowohl im Krater als bis in eine Tiefe von 360 m unter seinem Boden fehlt jeglicher Beweis irgendwelcher vulkanischen Tätigkeit. 3. Alle Anzeichen, die für den Aufsturz eines ') Vgl. die eiDleitend erwähnten .'\rbeiten von Barringer und Tilghman. großen Projektils anzunehmen sind, sind vorhanden. 4. Das meteorische Material in der Umgebung des Kraters fiel zu der gleichen Zeit nieder, als der Krater entstand. 5. Im Krater und an seinem Wall befindet sich der zertrümmerte Sandslein, dessen eigenartige Beschaffenheit nur durch einen gewaltsamen Stoß oder Schlag, für den der Aufsturz eines Meteors die einzig plausible Erklärung bietet, erzeugt werden konnte. Barringer und Tilghman kommen somit beide zu dem Ergebnis, daß die Entstehung des Meteor- kraters einzig und allein durch den Aufsturz eines Meteoriten von gewaltiger, bisher beispielloser Größe erklärt werden kann. Die Explosions- hypothese konnte durch keine Beobachtung ge- stützt werden, vielmehr sprechen alle Erscheinungen dagegen. Gilberts ursprüngliche Annahme dieses meteorischen Ursprungs erhält somit erneute Be- stätigung. Besonderes Interesse bietet der Versuch Tilgh- man's, die Größe und Fluggeschwindigkeit des Meteoriten und den Winkel, unter welchem er die Oberfläche traf, zu bestimmen. Um eine kraterförmige Vertiefung von den Größenverhält- nissen des Meteorkraters hervorzubringen, würde nach Tilghman's Berechnung eine kugelförmige Masse von Meteoreisen genügen, die 160 m Durchmesser hätte und mit einer Ge- schwindigkeit von 9 km in der Sekunde aufschlüge. Da der Krater von Osten nach Westen etwas in die Länge gezogen ist und der Wall an der Ostseite die stärksten Störungen aufweist, so folgert Tilghman hieraus, daß die Flugbahn des Meteors eine west-östliche war; der Winkel, unter dem es den Boden traf, muß ein sehr steiler gewesen sein; er wird zu etwa 70" angenommen. Ein Umstand scheint nun der Erklärung durch den Aufsturz eines Meteors noch gewisse Schwierigkeiten zu bereiten, den Barringer und Tilghman sehr wohl gekannt haben. Ohne Zweifel besteht ein nicht wegzuleugnendes Miß- verhältnis zwischen der theoretisch geforderten Größe des Meteoriten und der Masse der in Wirklichkeit gefundenen Meteoreisen. Selbst wenn man die Eisenschalen und Schalenkugeln mit in Betracht zieht, deren Menge weit größer als die der Meteoreisen ist, so verschwindet diese Schwierigkeit nicht. Barringer und Tilghman nehmen nun an, daß die Hauptmasse des Meteors nicht aus Nickeleisen, sondern aus Verbindungen mit Schwefel, Phosphor, Kohlenstoff und haupt- sächlich aus diesen Stoffen selbst bestand, und in dieser Grundmasse waren die Nickeleisen regellos zerstreut, nach dem Bilde Merrill's etwa wie Rosinen im Kuchenteig. Als dieses Geschoß mit kosmischer Geschwindigkeit als riesige Feuer- kugel auf die Erdoberfläche aufflog, drang es ein Stück in den Boden ein und zerschmetterte durch die ungeheure Gewalt des Falles den Sandstein 8o8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 51 zu Pulver, welches z. T. durch die dabei erzeugte Hitze, die mindestens 2000° erreicht haben dürfte, zu den bimssteinartigen Schlacken geschmolzen wurde. Diese Hitze verbrannte die schon beim Fluge durch die irdische Atmosphäre entzündeten Schwefel-, Phosphor- und Kohlenstoffverbindungen fast vollständig. Dieser Vorgang verursachte die Explosion des ganzen Meteors, wobei der Kalk- stein des Kraterwalles aufgerichtet und die Bruch- stücke der zertrümmerten Gesteine und des Meteors herausgeschleudert wurden. Durch diese Verbrennung wurde das Eisen z. T. zu Limonit und Magnetit oxydiert und bildete die Schalen- kugeln und Eisenschalen. So würde auch die Schwierigkeit eine einfache, plausible Erklärung finden. Im Anschluß an die Schilderung des Meteor- kraters sei ähnlicher Erscheinungen der Mond- oberfläche gedacht, der sog. „Mond krater" und Ringberge, über deren Entstehung auch bis heute noch die Meinungen geteilt sind. Zu den bezeichnendsten und häufigsten For- men der Oberflächengestaltung des Mondes ge- hören rundliche Erhöhungen von kreisförmiger Gestalt, also Ringwälle, die eine kraterförmige Vertiefung umschließen. In ihrem Innern erhebt sich häufig, aber nicht als Regel, noch ein Berg. Diese Gebilde sind die Mondkrater und Ring- berge. Sie bedecken in großer Zahl in allen Größen die Oberfläche des Mondes; während die größten mit für das Relief des Mondes bestim- mend sind, sind die kleinsten so winzig, daß sie mit den schärfsten l'^ernrohren eben noch zu er- kennen sind, und wahrscheinlich gibt es noch zahllose kleinere, die wahrzunehmen die UnvoU- kommenheit unserer astronomischen Instrumente nicht gestattet. Die Zahl der sichtbaren Mond- krater ist außerordentlich groß; auf der der Erde zugewendeten Seite des Mondes sind etwa 33000 gezählt worden. Nachdem bereits Gruithuisen, Althans, Meyden- bauer u. a. für die Mondkrater und Ringberge eine Entstehung durch den Aufsturz kosmischer Körper angenommen hatten , trat besonders Gil- bert für einen solchen meteorischen Ursprung ein,') den er, wie bereits ausgeführt wurde, später auch für den Meteorkrater anzunehmen versuchte. In der Tat ist die Übereinstimmung der Gestalt des Meteorkraters von Canyon Diablo mit der eines Mondkraters eine so vollkommene, daß durch den Nachweis der meteorischen Entstehung des Meteorkraters auch für die Mondkrater der Ur- sprung durch Aufsturz von Meteoriten außer- ordentlich an Wahrscheinlichkeit gewinnt. In diesem Zusammenhang möchten wir nochmals nachdrücklich darauf hinweisen, daß man experi- mentell sämtliche Typen von Mondkratern schon oftmals durch Aufsturz kleiner Körper in weiche Massen hergestellt hat. ') G. K. Gilbert, The Moon's Face; a study of the ori- gin of its features. Washington 1893. Ferner die oben angeführte Schrift, Im Gegensatz zu den eben genannten For- schern nehmen die meisten Astronomen und Geo- logen — wir erwähnen nur Herschel, Nasmyth, Carpenter, Klein, Sueß, Branca, Stübel — für die Entstehung der Mondkrater vulkanische Vor- gänge an, wobei teils die großen Vulkane auf Hawai, teils die Calderaberge und die Vulkane vom Sommatypus wie der Vesuv zum Vergleich herangezogen werden. Indessen bestehen zwischen den Mondkratern und den irdischen Vulkanbergen in Gestalt und Größe so grundsätzliche Verschiedenheiten, daß wir kurz darauf eingehen müssen. Der Krater eines Vulkans entsteht um einen Vulkanschlot herum, um eine Röhre, aus der aus dem Innern der Erde Aschen, Bomben und Lapilli ausgeworfen werden. Dieses lose Auswurfsmaterial wird um den Eruptionspunkt herum aufgeschüttet und bildet im Laufe der Zeit einen Kraterwall, der aus schichtenweise abgelagerten Massen be- steht. Ein solcher Vulkankegel hat mit der Unterlage, auf welcher er aufsitzt, direkt gar nichts zu tun, er ist ihr nur aufgesetzt. Das Innere des Kraters liegt daher auch immer wesentlich höher als die Umgebung des Vulkans. Nicht aufgesetzte Krater, sondern in ihre Umgebung eingesenkt sind die sog. Maare, welche in der Eifel und in der schwäbischen Alb bei Urach ihre klassische Ent- wicklung erreichen. Die Maare sind ,, Explosions- krater", vulkanische Schlote, die durch die Gewalt explodierender vulkanischer Gase und Dämpfe ausgesprengt wurden , ohne daß die Eruptionen längere Zeit hindurch andauerten. Die lunaren Ringberge werden meist mit dem Vesuv und dem ihn umgebenden Ringwall der Somma verglichen. Die Somma ist ja bekanntlich der alte Kegel des Vesuv, der im Jahre 79n. Chr. durch die Vesuveruption, mit der dieser Vulkan seine vulkanische Tätigkeit wieder aufnahm, in die Luft gesprengt wurde, und in dieser ausgesprengten Hohlform baute sich dann der heutige Kegel des Vesuv auf. Wir haben hier also einen zentralen Kegelberg, der von einem äußeren Ringwall um- geben ist. Ganz verschieden von diesen Formen ist die Gestalt der Mondkrater. Sie zeigen eine teller- förmige Gestalt; der Kraterboden liegt wie beim Meteorkrater im Gegensatz zu den irdischen Vul- kanen stets erheblich — oft 3000 — 40C0 m — tiefer als die benachbarte Mondoberfläche. Die Ringwälle der Mondkrater erwecken den Ein- druck, als ob sie in nach außen ausklingenden Wellen um die Vertiefung herum aufgeworfen wurden. Der charakteristische Unterschied zwi- schen der Gestalt eines Vulkanberges und eines Mondkraters geht aus den beiden nebenstehenden Profilen hervor. Sehr wesentlich sind ferner die Größen- verhältnisse. Nach Credner besitzt der Vesuv- krater 620 m , der Krater des Ätna 700 m , des Popocatepetl 1700 m, der Krater des größten irdischen Vulkans, des Kilauea auf Hawai, etwa N. F. VIII. Nr. 51 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 809 4700 m Durchmesser. Diese Vulkan„riesen" un- serer Erde nehmen sich wie Zwerge aus im Ver- gleich zu den mächtigen Dimensionen einer großen Zahl von Mondkratern und Ringbergen, deren Fig. 9. Durchschnitt durch einen Vulkan (Schichtvalkan), dessen aus Asche und Laven aufgebauter Kegel dem an- stehenden Gestein aufgesetzt ist. Hg. 10. Durchschnitt durch einen Mondkrater, der eine in die Mondoberfläche eingesenkte Vertiefung bildet. größte an Flächeninhalt Böhmen oder Siebenbürgen gleichkommen — bei et- wa 250 km Durchmesser. 22 Mondkrater besitzen einen Durchmesser von über 120 km! Welche ungeheuren vulkanischen Kräfte müßten wirken, um solche Riesenkrater zu erzeugen, besonders wenn man in Betracht zieht, daß die Masse des Mondes nur ' jy der Masse der Erde ausmacht. Ferner hat auch noch nie ein Astronom eine vulkanische Dampfwolke oder eine vulkanische Eruption auf dem Monde be- obachtet, es könnten sich infolgedessen heute keine Mondkrater vulkanischen Ursprungs mehr bilden; sie alle gehörten der geologischen Vergangenheit an. Aus diesen Gründen muß der Geologe die Annahme eines vulkanischen Ursprungs der Mondkrater entschieden ablehnen; für ihn ist die Aufsturztheorie die wahrscheinlichste Erklärung Wenn der Mond keine vulkanischen Kräfte mehr besitzt, wenn er im Innern völlig kalt und starr wäre, so muß doch die Möglichkeit zugegeben werden, daß noch heute beständig Meteoriten aus dem Weltenraume auf ihn herniederstürzen können und natürlich auch herniederstürzen. Welche Wirkungen sie dabei ausüben und welche Oberflächenformen entstehen, zeigt der Meteor- krater und zeigen die künstlich nachgemachten „Mondkrater". Aus einer Reihe von Erscheinungen kann man mit völliger Sicherheit den Schlul3 ziehen, daß der Begleiter unserer Erde seit Äonen keine Hüllen mehr besitzt, die man mit der irdischen Atmosphäre und Hydrosphäre vergleichen könnte. Auf dem Monde sind alle Schatten Kernschatten ; wenn der Mond eine Atmosphäre hätte, so wür- den wie auf der Erde noch Halbschatten ent- stehen. Dämmerungserscheinungen, die durch Zerstreuung und Reflexion des Sonnenlichtes an den kleinsten Teilchen der irdischen Atmosphäre hervorgerufen werden, sind dem Monde daher fremd, so daß die beschatteten Teile einer Mond- landschaft pechschwarz ohne eine Spur von Be- leuchtung durch zerstreutes Licht erscheinen. Ebenso „verneint die Spektralanalyse des vom Mond reflektierten Lichtes durchaus das Dasein einer wahrnehmbaren Mondatmosphäre". (Huggins und Miller 1864). Bei Sternbedeckungen würden beim Vorhandensein einer lunaren Atmosphäre die Sterne eine Verminderung ihrer Helligkeit er- fahren , unmittelbar bevor sie hinter dem Mond- rande verschwinden. Auch eine Brechung des Sternenlichtes am Mondrande ist bei diesen Be- deckungen noch niemals festgestellt worden; so sprechen also zahlreiche Umstände in gleicher Weise gegen das Vorhandensein einer irgendwie wahrnehmbaren Mondatmo- sphäre. Wenn es überhaupt eine solche gibt, so kann sie höchstens 2000 mal so dünn als die irdische Luft sein ; bei einem derartigen Grad der Ver- dünnung kann man kaum noch von einer Atmo- sphäre reden, denn diese wäre immer noch dünner als der luftverdünnte Raum, den man mit ge- wöhnlichen Luftpumpen herstellen kann, mit denen man nur bis zu "1000 '^^^ gewöhnlichen Luft- dichte kommen kann; diese Junare Atmosphäre wäre somit dünner als das, was unsere Physiker schon beinahe als luftleeren Raum bezeichnen. Vom physikalischen Standpunkte aus würde eine so dünne Mondatmosphäre praktisch kaum in Betracht kommen. Neben der Luft fehlt dem Monde sodann auch das Wasser, denn die sog. „Maria" sind nicht mit den irdischen Meeren zu vergleichen, sondern dunklere Stellen der Mondoberfläche. Wenn Wolken oder Nebel vorhanden wären, so würden sie sich als wandernde helle Flecke über der Oberfläche des Mondes verraten ; aber noch nie- mals hat man hierauf hindeutende Beobachtungen gemacht. Daher fehlen auf dem Monde Winde, Regen, Schnee, Reif, kurz alles das, was wir als Atmosphärilien bezeichnen; als Folge davon auch die Kräfte der Verwitterung und Abtragung, welche für die Umgestaltung der Erdoberfläche von so einschneidender Wichtigkeit sind. Als einziger lunarer Verwitterungsvorgang würde die Insolation zu nennen sein. Unter diesen Verhält- nissen ist naturgemäß auch eine Sedimenibildung auf dem Monde ausgeschlossen ; die ihn aufbauen- den Gesteine sind im wesentlichen noch in der Form vorhanden, in der sie entstanden sind, in der sie in grauer Vorzeit aus dem Schmelzfluß erstarrten: es sind primäre Gesteine. So zeigt das Antlitz des Mondes nicht die Runzeln des Alters wie unsere Erde, es zeigt noch die gleichen jugendlichen Züge wie vor Millionen von Jahren. Das Vorhandensein einer Atmosphäre und Hydrosphäre bietet für einen Weltkörper einen außerordentlich wirksamen Schutz gegen das Ein- dringen von Meteoriten. Diese dringen mit kos- mischer Geschwindigkeit in die Atmosphäre ein und erhitzen sich infolge der bei ihrem Fluge erzeugten Reibung so stark, daß sie zur Entzün- dung und Verbrennung gebracht werden. Da 8io Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 51 dem Monde dieser Schutz fehlt, so konnten seit undenkhchen Zeiten bis auf den heutigen Tag zahllose den Weltenraum durchirrende Meteoriten ungehindert auf ihn herniederprasseln, so daß seine Oberfläche jetzt übersät ist mit den Schuß- narben, welche Abertausende solcher kosmischen Geschosse hinterlassen haben. Bei dem Fehlen jeglicher Verwitterung erklärt es sich leicht, daß die durch diese eingedrungenen Fremdkörper auf dem Monde geschaffenen Formen nicht zerstört wurden. Anders verhält es sich mit der Erde. Warum finden sich auf der Erdoberfläche nicht auch in größerer Zahl solche mit den Mondkratern ver- gleichbare Gebilde, da wir ja wissen, daß verhält- nismäßig häufig Meteoriten auf die Erde her- niederstürzen ? Hierauf ist zu erwidern, daß die Erde eben eine Atmosphäre und Hydrosphäre Kleinere Mitteilungen. Was ist Equus equiferus Pallas? — In seiner Zoographia Rosso-Asiatica usw. (St. Peters- burg 1831) beschreibt Pallas Seite 260 einen Equus equiferus. Dieser Name scheint aber völlig in Vergessenheit geraten zu sein. Ich finde ihn weder bei Wagner- Schreber, noch bei Giebel, noch in Trouessart's Säugetierkatalog, noch sonst irgendwo erwähnt. Bevor ich nun in eine Diskussion eintrete, was unter diesem Namen für ein Equide zu verstehen sei, möchte ich hier Pallas' Originalbeschreibung soweit wiedergeben , wie es für diesen Zweck nötig ist. Auf Seite 260 steht unter Equus: „ß. Equiferi in dersertis totius Tatariae magnae et Mongoliae, a Borysthene usque ad Altaicum jugum, perque totam mediam Asiam, Nomadibus tantum frequentem parvis gregibus (raro ad quin- quaginta) vagantur. Plerique sunt colore gryseo- fusco vel pallido, juba, loro dorsi, caudaque fuscis, rostro albido , circa os nigricante. Sed inmiscen- tur variorum colorum equae a domesticis gregibus per feros admissarios abactae, vel allicitae. Sta- tura sunt minore domesticis, capite majore, pedi- bus procerioribus, auriculis paulo majoribus apice summo falcatin subreflexis. Frons iis supra ocu- los convexior, cum vortice inter oculos; ungulae contractae, subcylindraceae. Juba ab intervallo oculorum ad scapulas, minus prolixa, suberecta. Vellus hyeme hirtum, laxius in dorso subundu- latum. — Cauda parum prolixa etc." Diese Beschreibung ist bei genauer Betrachtung ziemlich klar. Die kurzen Ohren, sie sind nur wenig länger als bei Hauspferden, wobei noch zu erwähnen ist, daß Pallas wahrscheinlich sehr kurz- ohrige orientalische (Kosaken-) Pferde zum Ver- gleich heranzog, zeigen sofort, daß kein Wildesel gemeint sein kann. Es bleiben also von asiati- schen wilden Einhufern nur noch der Kjang ') ') Ich schreibe Kjang statt der gewöhnlichen Schreib- weise Kiang, weil nach einer gütigen Auskunft Herrn Dr. Tafel's der zweite Buchstabe nicht als Vokal gesprochen wird. besitzt, die ihr den Schutz gewähren, der dem Monde fehlt; eindringende Meteore werden, wie die Erfahrung lehrt, in der Mehrzahl entweder verbrennen oder explodieren. Nur ausnahms- weise dürfte es, wie das Beispiel des Meteor- kraters lehrt, einmal einem solchen himmlischen Geschoß gelingen, unversehrt bis auf die Erde selbst zu gelangen. Und auch dann werden die bei dem Aufsturz entstandenen Oberflächenformen in den meisten Gebieten der Erde leicht den zer- störenden Kräften der Verwitterung anheimfallen, wenn nicht zufällig günstige klimatische Verhält- nisse vorliegen ; denn der Meteorkrater von Canyon Diablo in Arizona verdankt seinen ausgezeichneten Erhaltungszustand lediglich dem trockenen Wüsten - klima des Koloradoplateaus. Franz Meinecke, Halle a. S. und das Przewalski-Pferd übrig. Aber nur bei letzterem findet sich eine gewölbte Stirn, deren Wölbung über den Augen liegt. Beim Kjang hat zwar der Hengst auch, aber nur der, wie augenblicklich im Berliner zoologischen Garten schön zu sehen ist, ein konvexes Profil, aber bei ihm liegt die Wölbung unter den Augen. Es ist nicht die Stirn, sondern die Nase gewölbt. Trotzdem können wir nicht ohne weiteres Pallas' Beschreibung auf eine der beiden bis jetzt beschriebenen Formen des Wildpferdes , Equus przewalskii Poljakoff und E. hagenbecki Mtsch., beziehen, da keine von beiden eine dunkle Schnauze hat. Aber es gibt noch eine dritte Form mit schwarzer Schnauze. Ewart, der Gelegenheit hatte, die drei Formen in zahlreichen Exemplaren nach dem Leben zu studieren, beschreibt ^) sie und ihre geographische Verbreitung wie folgt: „All three varieties are of a yellow-dun colour, the south-eastern (Zagan-Nor) form being especially characterised by a dark muzzle, dark points, and a dark mane and tail; in the western (Urungu) variety the muzzle is nearly white, the limbs are light down to the fetlocks, and the mane and tail are of a reddish- brown tint, the southern (Altai) form being nearly intermediate in its colouration. The markings consist of a narrow dorsal band (often only evi- dent along the croup and Upper part of the tail in winter), faint indication of Shoulder stripes, and indistinct bars in the region of the knees and hocks. In all three varieties the mane is short and upright in the autumn, but long enough in spring to arch to one side of the neck." Die beiden letzten Formen haben bereits Na- men; im Urungugebiet lebt E. hagenbecki Mtsch. (vgl. d. Zeitschr. Jahrg. 1903, N. F. Bd. II, Nr. 49, S. 581), im Altaigebiet E. przewalskii Poljakoff. Nur die dritte Form hat meines Wissens bisher -) Ewart, J. C, The multiple origin of horses and ponies. in ; Transactions of the Highland and agricultural Society of Scotland. 5. Series. Vol. XVI, 1904, S. 230 ff. N. F. VIII. Nr. 51 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 811 noch keinen Namen erhalten. Sie ist die einzige, die eine schwarze Schnauze hat; sie dürfte es sein, die Pallas bei seiner Beschreibung vorgelegen hat. Ihr gebührt somit der Name Equus equi- ferus Pallas. Und die letzten Worte Ewart's er- klären auch zur Genüge Pallas' Bezeichnung „suberecta" für die Mähne. Somit bin ich in der ebenso seltenen wie angenehmen Lage einen alten Namen wieder zu Ehren bringen zu können ohne deswegen einen neuen einziehen zu müssen. Sollte aber wirklich noch ein Zweifel bestehen können über die Richtigkeit dieser Auffassung, so wird er durch die einheimischen Namen zerstreut. Pallas gibt 1. c. S. 236 an, daß das Tier von den Kirgiso-Tartaren „Tarpan , Kir - tagha" von den Kalmücken „Taki" genannt werde. Und Przewalski schreibt: ') „Dieses Tier, von den Kirgisen Kertag, von den Mongolen Taki genannt." Nun bezieht sich aber Pallas 1. c. S. 255 auf Gmelin's Reisebericht und auf seinen eigenen. Pallas hatte auf seinen Reisen von wilden Pferden gehört, die in der Nähe der Samara leben, in der Steppe, aus welcher die Flüsse Bussuluzk, Karalik, Irgis und Tschagam entspringen. Zunächst lernte er sie nur aus Berichten von Kosaken und aus Fellen kennen, -) erst später bekam er sie selbst lebend zu Gesicht. Daß dies aber nicht die in der Zoo- graphia aus der Großen Tartarei und Mongolei beschriebenen und Equus equiferus genannten Tiere sind , geht schon aus einem Vergleich der Farbe heror. Denn von der Farbe dieses Tieres schreibt er: ,,Die P"arbe war Isabel ohne Rücken- streif, aber mit schwärzlicher Mähne und um das Maul hatte es eine Eselsfarbe." Um Equus equi- ferus typicus kann es sich also nicht gehandelt haben , denn dies hatte einen Rückenstreif und ums Maul eine schwärzliche, keine helle Esels- farbe. Trotzdem ist es eine dazu gehörige P"orm des Wildpferdes gewesen , wie sowohl aus der eingehenden Beschreibung wie der Abbildung hervorgeht. Pallas selber erwähnt in seiner Be- schreibung die vorspringende Stirn („Die Stirn war sehr gewölbt"). Auch auf andere weniger wichtige Merkmale weist er hin. Das Bild selbst ist ausgezeichnet, es stellt ein typisches Wildpferd- fohlen dar, wie wir es seit den Importen von Hagenbeck zur Genüge kennen. Wir sehen am Kopf die gewölbte Stirn, die starke Behaarung der Ganaschen , wie sie die Wildpferde zeigen, und die kürzere Behaarung der Schweifwurzel. Es ist also ein echtes Wildpferd gewesen , das Pallas vorgefunden hat, eine P'orm des Przewalski- pferdes, daran stört auch das Fehlen des Rücken- streifens nicht (vgl. oben Ewart). Und wenn Pallas selbst meinte, er habe es nur mit einem verwilderten Pferde zu tun, so ist das nicht wun- derbar. Der Gedanke, daß es wirklich echte Wildpferde geben sollte, lag ihm offenbar noch zu fern, war damals noch zu neu. Daß er später, als er mehr Wildpferde kennen gelernt hatte, seine Ansicht revidierte, geht aus der Zoographia hervor. Ebensowenig ist es wunderbar, daß die späteren Autoren, welche die Beschreibung in der Zoographia übersehen hatten , ebenfalls Pallas folgten und auch nur von verwilderten Pferden sprachen. Heutzutage jedoch, wo wir unzweifel- haft echte Wildpferde in jedem Entwicklungs- stadium kennen, können wir dank der vorzüglichen Beschreibung und Abbildung feststellen, daß Pallas in Europa noch ein echtes Wildpferd gesehen hat. Leider ist es vollständig ausgestorben, ohne daß irgend eine Sammlung Reste davon besitzt. Wir dürfen höchstens hoffen, daß sich gelegent- lich einmal in der Erde seine Knochen vorfinden. Schwieriger ist es über die Pferde ins Klare zu kommen, die Gmelin ^) am linken Ufer des Don im Gvt. Woronesch gesehen hat. Mit seiner Abbildung ist nichts anzufangen , da er seiner eigenen Meinung zufolge einen Bastard abbildet. Aber selbst das scheint mir nicht einmal sicher. Denn namentlich der Kopf macht einen viel zu feinen, edelen Eindruck. Immerhin gibt einiges aus Gmelin's Beschreibung der Wildpferde zu denken Anlaß. So schreibt er unter anderem: „Ihre Mähne ist sehr kurz und kraus. Ihr Schweif mehr oder weniger haarigt, doch immer etwas kürzer als bei den zahmen Pferden. — Sein Schweif (sc. des Bastards, d. Verf.) war schon weit mehr haarigt, doch noch nicht ganz." Ob wir aus dem ersten Satze auf eine kurze, stehende Mähne wie beim Wildpferd schließen dürfen? Die beiden anderen scheinen ja auf eine kurzbehaarte Schwanzwurzel zu deuten, wie beim Przewalski-Pferd. Hat also Gmelin wirklich am Don noch Wildpferde gesehen, so ist es wohl eine andere Art gewesen als die bisher behandelte, denn die Farbe wird „mausfarben" genannt. Auf jeden Fall ist es bedeutungsvoll, festzu- stellen, daß dort, wo die Botaniker das Persistiren der russischen „prähistorischen Steppe" als „ein Relikt" der ehemaligen allgemeinen Steppenbildung Europas -) festgestellt haben, sich auch das Wild- pferd, das echte Steppentier, am längsten auf europäischem Boden gehalten hat. Heutzutage lebt jedenfalls nur eine Art des wilden Pferdes, Equus equiferus Pallas, das in drei leicht kenntlichen Formen auftritt : 1. Maul dunkel umrandet. Verbreitung : Zagannor. typicus Pallas. 2. Maul hell umrandet. Equus equiferus ') Reisen in Tibet und am oberen Lauf des gelben Flusses in den Jahren 1879 — 80, übersetzt von Stein-Nordheira, Jena 1S84. ') Pallas, P. S., Reisen durch verschiedene Provinzen des russischen Reiches in einem ausführlichen Auszuge. 1776. I. Teil, S. 149 ff. und III. Teil, S. 345 ff. ') Gmelin, Georg Samuel, Reise durch Rußland usw. in den Jahren 1768—69. I. Teil, S. 44 ff. '-) Vgl. H. L. Krause , Die feldartigen Halbkulturforma- tionen im Elsaß. In: Botanische Zeitschrift 1909, Heft VIK bis l.\, S. 141 If. 8l2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. VIII. Nr. 51 a) Füße hell. Verbreitung; Urungu. — Equus equiferus hagenbecki Mtsch. b) Alle Füße wenigstens vorn schwarz. Verbreitung: Altai s. Kobdo. — Equus equiferus przewalskii Poljakofl'. Dr. M. Hilzheimer (Stuttgart). Zersetzung amorpher Kohle durch Mikro- organismen. — Von Bakterien ist man so ziem- lich gewöhnt, daß sie sozusagen alles fressen. Darum klingt die, wie es scheint, gut beglaubigte Nachricht nicht unwahrscheinlich, daß selbst ele- mentarer Kohlenstoff und sonst recht schwer ver- dauliche Kohlenstoffverbindungen von Bakterien verarbeitet werden können. M. C. Potter be- richtet über Bakterien als Agentien bei der Oxydation amorpher Kohle im 21. Bd. der II. Abtlg. des Centralbl. f. Bakteriol. S. 647 bis 665. Durch wiederholtes Überimpfen auf befeuchtete Holzkohle wurde ein Micrococcus isoliert, der übrigens wohl nicht der einzige zu jener Tätigkeit geeignete Spaltpilz ist; dieser wurde in Reinkultur zu jenen Versuchen benutzt. Stark ausgeglühte Holzkohle, ebenso auch Lampenruß, befeuchtet, beimpft und einem von Kohlensäure befreiten Luftstrom ausgesetzt, gab meßbare Mengen von Kohlensäure ab, was bei steril erhaltenen Kontrollproben nicht der P"all war. Dementsprechend konnte mittels einer empfind- lichen Thermosäule eine Temperatursteigerung, als Folge der Atmung, nur in den beimpften Proben nachgewiesen werden. — Die Frage, was aus der zur Bodendüngung (z. B. für Blumen- töpfe) oft benützten Holzkohle, Ruß usw. eigent- lich wird, ebenso aus den in großer Menge aus den Schornsteinen entweichenden Rußpartikelchen, scheint demnach gelöst zu sein. Entsprechende Versuche mit gepulverter Steinkohle und Torf (von letzterem ist die Entdeckung keineswegs neu) gaben ähnliche Resultate. Nun ist es zwar keine Frage, daß Torf und Steinkohle, ohne Mitwirkung von Mikroorganismen, sich selbst oxydieren können, dieser Vorgang dürfte aber durch Bak- terien oder dgl. doch eine sehr wesentliche B e - schleunigung erfahren! Torf wird bekannt- lich vielfach als Blumendünger (für Palmen z. B.) verwendet; mit Erdboden vermischt, erfährt er eine rasche Zersetzung, wenigstens teilweise, da es unter den Humuskörpern leichter und schwerer oxydierbare gibt. Leitet man (ich habe den Ver- such wiederholt ausgeführt) täglich Luft durch normal feuchten, in ein Glasgefäß eingeschlossenen Erdboden, der mit etwas Torf vermischt ist, und fängt die ausgeschiedene Kohlensäure im Kali- apparat auf, so erhält man in wenigen Wochen eine Kohlensäuremenge, die rund der Hälfte oder mehr als der Hälfte des dargebotenen Kohlen- stoffes entspricht. Hugo Fischer. Wetter-Monatsübersicht. Während des vergangenen November war das Wetter in Deutschland weit überwiegend trübe und außerordentlich reich an Niederschlägen. Die anTänglich ziemlich hohen Temperaturen gingen in den meisten Gegenden schon seit dem 2. oder 3. November langsam zurück , überschritten in- dessen bis fast zur Mitte des Monats in den Mittagsstunden noch vielfach 10" C. Von Anfang au kamen aber auch zahl- reiche Nachtfröste vor, wobei es Flensburg bereits am 2. No- vember auf 5" C Kälte brachte. In der zweiten Hälfte des Monats nahm die Witterung überall einen recht winterlichen Charakter an. Bei oft sehr heftigen, zwischen Südwest und Nordwest hin und herschwan- kenden Winden herrschte in den Nächten fast immer und 5Riirrcrc TcinpcraTuren einiger ©rlc iniH«t>ettiBcr 190S. 1.Novemb«r li 2S. 30 8e.4;nerWentrburfou großenteils auch an den Tagen Frost, der mehrmals, nachdem sich der Himmel vorübergehend aufgeklärt hatte, an Strenge beträchtlich zunahm. In der Nacht zum 20. sank das Ther- mometer zu Erfurt bis auf — 16, in der Nacht zum 23. zu Dahme in der Mark bis — 15, am 26. zu Marggrabowa auf — 17, am 28. wiederum zu Marggrabowa und zu Ortels- burg auf — 20" C. Zwar wurde es in den letzten Tagen des November wieder bedeutend milder, seine mittleren Mo- natstemperaturen lagen jedoch durchschnittlich um ungefähr einen Grad unter den normalen Werten. Ebenso war die Dauer der Sonnenstrahlung überall zu gering; beispielsweise halte Berlin im ganzen Monat nicht mehr als 37 Sonnen- scheinslunden, dagegen 58 im Mittel der früheren 17 November- monate. Die Niederschläge waren zwar in Norddeutschland wäh- rend des ganzen November sehr häufig, bis zum io. aber traten sie allein im östlichen Ostseegebiete, wo es seit Monaten an durchdringenden Regen gefehlt hatte, in größeren Mengen auf; vom 4. zum 5. betrug die Regenhöhe zu Neufahr- wasser 32 mm. Erst seit dem 11. dehnten sich die oft von Graupel- oder Hagelschauern begleiteten Regenfälle auch auf Süddeutschland aus; bereits am 12. November gingen sie dort, ebenso wie in Mittel- und Ostdeutschland, mehr und mehr in Schneefälle über, die sogleich in solcher Heftigkeit auftraten, wie sie um diese Zeit des Jahres selten vorzukom- men pflegen. In der Nacht zum 13. November wuchsen die Winde im nordwestlichen Deutschland zu ungewöhnlich schweren Stürmen an, die sich im Laufe des Tages mit starken Regen-, Schnee-, Hagel- und Graupelfällen weit nach Osten fortpflanzten ; an vielen Orten , besonders in der Mark, entluden sich auch kurze Gewitter. Um Mitte des Monats stellte sich überall ruhiges und im größeren Teile Norddeutschlands zunächst trockenes Wetter N. F. VIII. Nr. 51 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 813 ein, das an der Nordseeküste einige Tage anhielt. Im Süden aber traten neue, sehr ergiebige Kegenialle auf, die sich all- mählich weiter nordostwärts ausdehnten und bald darauf aber- mals in starke Schneefalle übergingen. Am 16. und 17. No- vember wurde der größte Teil von Mittel- und Ostdeutsch- land von außerordentlich großen Schneemergen über- schüttet , die viele Verkehrsstörungen herbeiführten, äußerst zahlreiche Telegraphen- und Telephonlcitungen zerstörten und auch sonst erheblichen Schaden anrichteten. Am 17. früh betrug beispielsweise die Niederschlagshöhe in Dresden 28, in Plauen und in Grünberg 30, in Ostrowo 37, in Erfurt 41 und in Kottbus sogar 47 mm. In vielen Gegenden von Thüringen, Sachsen, in der südlichen Mark, der Lausitz und besonders in der Provinz Posen, sammelte sich der Schnee zu 3 oder 4 Dezimeter, an einzelnen Orten bis zu einem halben Meter Höhe an. ^S ' -J • Mittlerer Wei-f für o) :§ i . t ■; ^ ~ -£'i:"0 mc Deufschland E ■= 5 ft* ra a> ^ tf> o r^ T3 J5 III.bisl'f.Nov. I I llllä^ ^onafssummei-Novbi «08. 07 06.05. 04. E.LtrWiüirbu'ic.. Seit dem 21. November nahmen die Niederschläge an der ganzen Küste wieder erheblich zu , wogegen sie in Süd- deutschland geringer wurden. Während im Nordwesten haupt- sächlich Regen fiel, wechselten in den übrigen Gegenden Regen- und Schneefälle noch häufig miteinander ab. Die Monatssumme der Niederschläge belief sich für den Durch- schnitt aller berichtenden Stationen auf 68,5 mm, während die gleichen Stationen in den früheren Novembermonaten seit 1891 durchschnittlich nur 44,3 mm Niederschlag geliefert haben. Am Ende des Monats war die Schneedetke im größe- ren Teile des Landes wieder verschwunden, nur im östlichen Ostseegebiete lag der Schnee noch 2 bis 3 Dezimeter hoch. Die Memel und der Pregel hatten bereits eine feste Eisdecke, während auf der Weichsel und Oder nebst ihren Nebenflüssen (Srundeistreiben herrschte. Die allgemeine Anordnung des Luftdruckes in Europa war außerordentlich wechselvoll. In den ersten Tagen des Monats lagen in Rußland und in der Nähe der britischen Inseln zwei hohe barometrische Maxima, während sich in Nordwest- und Suddeutschland ausgedehnte Deprssionen be- fanden. Mehrmals traten die Maxima miteinander in Verbin- dung, wurden jedoch immer bald durch Teilminima wieder getrennt. Seit dem g. November folgten die vom europäischen Nordmeer oder dem Atlantischen Ozean südostwärts vor- dringenden Barometerminima immer rascher aufeinander und schlugen allmählich etwas südlichere Straßen ein, wobei sie an Tiefe jedesmal bedeutend zunahmen. Ein besonders tiefes Minimum eilte vom 12. zum 13. über die Nordsee nach der südlichen Ostsee hin, von wo es etwas langsamer nach Nord- westrußland weiterzog. Während sich dann über Nordeuropa wieder ein Hochdruckgebiet ausbreitete, drang die nur mäßig tiefe, aber sehr umfangreiche südliche Depression langsam gegen Mitteleuropa vor, wo daher um Mitte des Monats sehr scharfe östliche Winde einsetzten. Nach dem 20. zog abermals ein barometrisches Maximum von West- nach Mitteleuropa hin , wurde aber nach wenigen Tagen durch neue tiefe Minima, die in der Nähe von Island auttraten, mehr und mehr nach Süden zurückgedrängt, so daß zuletzt in Deutschland wieder milde Südwestwinde zur Herr- schaft gelangten. Dr. E. Leß. Bücherbesprechungen. Dr. G. Hegi, Privatdozent an der Universität Mün- chen, Illustrierte Flora von M it t eleuro pa. Mit besonderer Berücksichtigung von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zum Gebrauche in den Schulen und zum Selbstunterricht. II. Band. J. F. Lehmann's Verlag, München. — Preis i 7 Mk. Von dem schönen Werk liegt nunmehr der 2. Band fertig vor, mit dem die Monocotyledonen abgeschlossen werden. Obwohl in der Ausgabe der Lieferungen eine mehrmonatliche Pause eingetreten war, ist in dem Fortschritt des Werkes doch im ganzen kaum eine größere Verzögerung eingetreten , da die letzte Lieferung an Te.xt ungefähr so viel enthält wie drei andere. Es hat sich herausgestellt, daß der Raum für den Text zu knapp bemessen war, und die Ver- größerung des textlichen Urafangs des Werkes hat die Verlagsbuchhandlung zu einer Preiserhöhung ge- nötigt {1,50 Mk. pro Lief, statt bisher i Mk.) , die, glaube ich, jeder Abnehmer des Werkes gern in den Kauf nehmen wird. Im übrigen hat das Werk durch- aus das gehalten, was die früheren Lieferungen ver- sprachen. Auch hier sind wieder im Text — außer den zahlreichen Pflanzenabbildungen — Vegetations- bilder eingeschaltet, biologische Angaben, solche über die allgemeine Verbreitung , über die Volks- namen usw. gemacht. Hervorgehoben seien die her- vorragenden Orchideentafeln , unter denen sich zwei mit vergrößerten Darstellungen einzelner Orchideen- blüten befinden. Möge dem Werk auch weiterhin der verdiente Erfolg beschieden sein. W. Gothan. Dr. ing. Percy A. Wagner, Die diamant füh- renden Gesteine Südafrikas, ihr Abbau und ihre Aufbereitung. Mit 29 Textabbil- dungen und 2 Tafeln. Berlin, Gebr. Bornträger, 1909. 207 Seiten. Das Werk bietet eine sehr erfreuliche, durch eigene kritische Beobachtung gestützte Zusammen- stellung des z. Zt. über das Vorkommen und die Gewinnung des Diamanten in Afrika Bel Stunde lang sichtbar, Venus ist gleich- falls als Abendslern 3 bis 2 Stunden lang zu beobachten, sie erreicht am S. ihren größten Glanz. Mars und Saturn stehen am Jahresanfang nahe beieinander im Walfisch, Mars entfernt sicli jedoch mehr und mehr nach Osten hin, so daß er am Monatsende abends noch 7 Stunden lang gesehen werden kann, während die Sichtbarkeitsdauer des Saturn auf 5 Stunden herabsinkt. Jupiter steht in der Jungfrau und geht in den späteren .\bendstunden auf. Algol-Minima lassen sich beobachten am 5. um 8 Uhr 58 Min. .abends und am 8. um 5 Uhr 47 Min. abends. Bücherbesprechungen. Annuaire pour l'an igio, public par le Bureau des Longitudes. Avec des notices scientifiques. 656 -|- 203 pages. Paris, Gauthier- Villars. — Prix 1,50 -fr. Das Annuaire für 191 o enthält neben dem astro- nomischen Kalendarium und ständigeiri Tabellen- material hauptsächlich detaillierte tabellarische Zu- sammenstellungen aus der Physik und Chemie. Das diesmal vollständig gegebene Verzeichnis der Elemente der Planetoidenbahnen zählt deren 659 auf. Die Ephemeriden der veränderlichen Sterne sind leider in etwas abgeänderter Form gegeben , so daß die Zeiten der Ma.xima und Minima der kurzperiodischen Veränderlichen jetzt nicht unmittelbar abgelesen wer- den können. Die wissenschaftlichen Beigaben ent- halten einen Bericht über die letzte Sitzung des Himmelskarten-Komitees und vor allem eine ausführ- liche Abhandlung über die Gezeiten der Erdrinde und die Erdelastizität aus der Feder von Lallemand. Besonders wertvoll für ständige Käufer des Annuaire ist ein Register aller seit 1804 in demselben erschie- nenen wissenschaftlichen Beigaben. Kbr. Ingenieure und Studierende, herausgegeben von E. Jahnke.) Leipzig 1909, B. G. Teubner. — Preis geh. 2,60 Mk., geb. 3 Mk. Im vorliegenden Büchlein liegt ein neuer Versuch vor, der Vektoranalysis, entsprechend ihrer immer mehr gewürdigten Bedeutung für eine klare und übersichtliche mathematische Darstellung komplizierter physikalischer Vorgänge , neue Jünger zuzuführen. Da als Leser in erster Linie Physiker und Ingenieure gedacht sind, so ist naturgemäß die von Hamilton- Heaviside ausgebildete Richtung der Vektorenrech- nung zugrunde gelegt. Der Inhalt ist bei dem ge- ringen Umfang sehr reichhaltig, die Anordnung des Stoffes durchaus eigenartig und ansprechend und die Beweisführung mehrfach neu. Für eine erste Ein- führung in das Gebiet ist aber die Darstellung stellen- weise etwas knapp. G. Literatur. Birnbaum, Hofr. Prof. Dr. K. : Leitfaden der chemischen Analyse. 8., vetb. u. verm. Aufl. Bearb. v. Prof. Dr. E. DieckhofT. (XII, 198 S.) 8». Leipzig '09, J. A. Barth. — 4 Mk., geb. in Leinw. 4,80 Mk. Doflein, Prof. Dr. F. : Lehrbuch der Protozoenkunde. Eine Darstellg. der Naturgeschichte der Protozoen m. besond. Berücksicht. der parasit. u. pathogenen Formen. 2. .'\ufi. der ,, Protozoen als Parasiten und Krankheitserreger". (X, 914 S. m. 825 Abbildgn.) Lex. 8". Jena '09, G. Fischer. — 24 Mk., geb. 26,50 Mk. Plankton, nordisches. Hrsg. v. Profif. Drs. K. Brandt u. C. Apstein, unter Mitwirkg. v. Drs. Prof. Borgert, van Breemen, Brinkmann u. a. 12. Lfg. (VI. Bd. 178 S. m. Abbildgn.) Le.x. S". Kiel '09, Lipsius & Tischer. — 14 Mk. Pöscbl, Dr. Vikt. : Die Härte der festen Körper u. ihre phy- sikalisch-chemische Bedeutung. (85 S. m. 4 Fig. u. I Taf.) 8». Dresden '09, Th. Steinkopff. — 2,50 Mk. Anregungen und Antworten, Herrn A. G. in Neustrelitz und Herrn H. M. in Neu- skalmierschütz. — Sie interessieren sich für die Kiemenfüßer oder Brancbiopoden und bitten um Literaturangaben. Über die Verbreitung der Kiemenfüßer in Deutschland gibt Ihnen das soeben erschienene kleine Buch von L. Keil hack, „Phyllopoda", Jena 1909 (A.Brauer, Die Süßwasserfauna Deutsch- lands, Heft 10) in kurzen Worten Auskunft. Die Verbreitung der Arten ist, wie Sie aus dem Buche erkennen werden, mehr durch die Lebensbedingungen, durch die Art der Gewässer als durch Verbreitungsschranken bedingt. Die Unterscheidung der Arten wird Ihnen an der Hand der in dem genannten Buche gegebenen Bestimmungstabellen und Textbilder leicht möglich sein. — Über die Lebensweise usw. finden Sie viel- leicht alles, was Sie wünschen, in einem kleinen .Aufsatz von M. Braun, „Absonderliche Bewohner des süßen Wassers" (in: Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. 7, 190S, S. 503—506). Ausführlicher ist eine Arbeit von N. v. Zograf, „Phyllo- podenstudien" (in: Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 86, I907i S. 447-522). Außerdem sei erwähnt A. Breckner, „Vor- läufige Mitteilungen über experimentelle Untersuchungen an Artemia salina" in: Verh. Mitt. Siebenbürg. Ver. Naturw. Bd. 58, 1908, S. 100—152. Dahl. Dr. W. V. Ignatowsky, Die Vektoranalysis und ihre Anwendung in der theoretischen Physik. Teil I. (Mathematisch-Physikalische Schriften für Herrn Lehrer P. in Bernburg a. S. — Eine zusammen- fassende Arbeit über die Analdrüsen dürfte es kaum geben, da man alle Drüsen, die in der Nähe des Afters (Anus) vor- kommen, mögen sie nun homolog sein oder nicht, als Analdrüsen zu bezeichnen pflegt. Mit dem Enddarm haben diese Drüsen nach Ansicht der vergleichenden Morphologen nichts weiter zu tun, als daß ihre Mündung der Mündung des Rektums oft äußerst nahe liegt. Genetisch faßt man sie als umgewandelte 832 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. Vni. Nr. 52 Hautdrüsen auf. Sie kommen in vielen Tiergruppen vor. Am bekanntesten sind sie als sog. Stinkdrüsen bei den Säuge- tieren und Käfern, weil sie hier als wirksame Verteidigungs- waffe, auch dem Menschen gegenüber, auftreten. Eine ähnliche Bedeutung hat der Tintenbeutel der Tintenfische oder Cepha- lopoden (vgl. Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. 4, S. 303), der nach C. Gegenbaur (,, Vergleichende Anatomie der Wirbel- tiere" Bd. 2, Leipzig 1901, S. 16) ebenfalls zu den Analdrüsen zu rechnen ist. — Ursprünglich werden die Analdrüsen der meisten Tiere wohl Duftorgane gewesen sein und wie andere Uuftorgane werden sie die Aufgabe gehabt haben, Individuen der gleichen Art von Individuen anderer Arten zu unterschei- den (vgl. M. Weber, Die Säugetiere, Jena 1904, S. 27 und 516). Duftorgane kommen nämlich fast nur bei Tieren vor, die mehr auf den Geruchssinn als auf den Gesichtssinn an- gewiesen sind , bei den Nacht- und Dämmerungstieren. Den Vögeln fehlen sie. Bei ihnen treten Karben und Zeichnungen an die Stelle der Gerüche. — Zu der Funktion der Duftorgane als Erkennungsorgane kommt in vielen Fällen noch eine zweite Funktion hinzu: Wie die Schmuckfarben und Schmuckzechnungen der Vögel zur Paarung anreizen, so wird bei den Säugetieren, welche Duftorgane besitzen, der Duft ein Reiz zur Paarung sein. Mit der Funktion als Reizorgan war die Veranlassung gegeben, daß sich die Duftorganc unter der Wirkung der geschlechtlichen Zuchtwahl immer mehr vervollkommneten. Das Rassegefühl knüpfte an sie an. Düfte, die den Individuen derselben Art angenehm erschienen, wur- den von Individuen anderer, oft nahe verwandter .\rten sehr unangenehm empfunden. So bildete sich in den verschiedenen Düften eine Kreuzungsschranke aus (vgl. Zool. Anz. Bd. 34, 1909, S. 304 und Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. 8, S. 623). — Da aber der spezifische Geruch der Art den Individuen anderer Arten sehr unangenehm ist, so konnte er diesen gegen- über sogar als Waffe verwendet werden. — Wenn wir von unserem eigenen Urteil über den Geruch der Tiere ausgehen, so können wir in der Natur alle möglichen Übergänge zwi- schen einem angenehmen Duft (beim Marder) über einen nicht gerade angenehmen Geruch i^beim Hunde) und einen recht unangenehmen Geruch (beim litis) bis zum unaussteh- lichen Gestank fbeim Stinktier) beobachten. Dieselben Ab- stufungen kehren auch bei den Käfern wieder. Hier steht der Bombardierkäfer (Brac/iiims) an der Spitze (vgh H. J. Kolbe, ,, Einführung in die Kenntnis der Insekten", Berlin 1893, S. 610). — Eins unserer bekanntesten Haustiere, der Hund, zeigt uns übrigens, daß die Analdrüsen eine noch weitere Funktion besitzen können. Wenn die Hunde sich bei ieder Begegnung beriechen, so handelt es sich in diesem Falle sicher nicht darum, daß der eine den anderen als Tier derselben Art, als Hund erkennt. Es handelt sich sicher auch nicht allein um die Zusammenführung der Geschlechter. Die Hunde finden vielmehr offenbar ein Wohlgefallen daran, das Analdrüsensekret auch von Tieren des gleichen Geschlechts riechen zu können und wir dürfen wohl annehmen, daß dieses W^ohlgefallen ursprünglich für die Erhaltung der Art irgendeine Bedeutung halte. Vielleicht kam den Analdrüsen der wild- lebenden Hundearten, d. i. der Wolfarten, die weitere Funk- tion zu, die Individuen zu Rudeln, d. i. zu gemeinschaftlicher Jagd, zusammenzuführen. Dahl. Herrn W. U. in Bernburg a. S. — Über die Süßwasser- krabbe Südeuropas, welche früher Tdphitsa fhii'iatilis hieß, nach Einführung der absoluten Priorität in der Benennung der Tiere aber Potamon fluvialilis heißen muß, ist mir eine Monographie nicht bekannt. In folgenden Schriften ist auf Literatur hingewiesen: A. Milne Edwards, ,, Memoire sur la famille des Ocypodiens" (in: Ann. Sei. nat., Zool. (3) T. 20, J853, p. 211) und ,, Revision du genre Telphuse" (in: Nouv. Archives Museum T. 5, 1869, p. 164), \. Walter, ,, Trans- kaspische Binnencrustaceen" (in: Zool. Jahrbücher Syst. Bd. 4, 1S89, S. 1119) und .A. Urtmann, „Carcinologische Studien" (ebenda Bd. 10, 1897, S. 301). Dann ist zu nennen F. Mer- canti, ,,Sur le developpement post-embryonnaire de la Tel- phusa fluviatilis" in: Arch. Ital. Biol. T. 8, 1887, p. 58 — 65 und S. Piovanelli, ,,Two new Bdelloida commensal in the branchial cavities of Telphusa fluviatilis" in: Journ. Quekett micr. Club (2) Vol. 8, 1904, p. 521 — 22. — Ein populärer Aufsatz v(m O. Tofohr, ,, Allerlei Interessantes aus dem Leben der Süßwasserkrabbe" erschien in ,, Natur und Haus" Bd. 12, 1904, S. 358 — 60. Dahl. Herrn Dr. M. in Hamburg usw. — Zu der Literatur über Milben (vgl. p. 751) ist die besonders wichtige Schrift hinzuzufügen: F. Ludwig, Die Milbenplage der Wohnungen usw. Teubner, Leipzig 1904. Bd. I, Heft I der naturwissen- schaftlich-pädagogischen Abhandlungen herausgegeben von O. Schmeil imd W. Schmidt. Konen in Münster i. W. Herrn Prof. K. in Münster. — Der Crin d'Afrique wird nicht aus Kokosnußhüllen hergestellt, wie auf S. 784 der Naturw. Wochenschr. angegeben, sondern aus den zerschlisse- nen Blättern der Zwergpalme. Aus Oran und Alger werden große Mengen dieses Polstermateriales exportiert. P. Hesse in Venedig. Herrn W. S. in Sp. — Da Sie sich für das Leben Linne's interessieren, so möchte ich im Anschluß an die kürzlich gegebene Notiz noch aufmerksam machen auf das im Verlage von Gustav Fischer erschienene Werk: Carl von Linne's Bedeutung als Naturforscher und Arzt (20 Mk.). Es ist dies eine Übersetzung eines ursprünglich in schwedischer Sprache verfaßten Werkes, das im Jahre 1907 aus Anlaß des 200jährigen Geburtstages L.'s die Schwedische Akademie der Wissenschaften herausgegeben hat. Das Werk hat für alle diejenigen, die sich für Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin interessieren, ganz hervorragende Bedeutung. Es führt uns in lebendiger Darstellung in die Zeit Linne's ein, wo noch manche Disziplin erst im Werden war, die inzwischen zu einem blühenden Wissenschaftszweige herangereift ist. Linne's umfassender Geist beherrschte eine erstaunliche Vielheit wissenschaftlicher Fragen, und ihm sind vielfache Anregungen zu danken, denen erst eine spätere Zeit gerecht werden konnte. Es gewährt einen eigenen Reiz, das Auf- tauchen mancher Probleme in der damaligen Zeit zu beobach- ten, und deu ungewöhnlichen Scharfblick dos großen Natur- forschers zu bewundern, der in so vielen Dingen das richtige traf oder wenigstens ahnte. So hat er z. B. die Ansicht von der organischen Natur der Ansteckungsstoffe ausgesprochen. — O. Hjelt schildert in dem Werke L. als Arzt und medizinischen Schriftsteller; dieser Teil ist auch gesondert verkäuflich (6 Mk.). Lind man verdankt man eine ausführliche Würdigung der botanischen Verdienste L.'s, E. Lönnberg hat ihn als Zoo- logen geschildert; auch diese Abschnitte sind gesondert zu haben (6 bzw. l,So Mk.), ebenso wie die Abschnitte von Nathorst, Sjögren und Aurivillius, die seine Tätig- keit auf den Gebieten der Geologie, Mineralogie und Ento- mologie vorführen. Da L. in erster Linie Botaniker war, so dürfte der botanische Abschnitt des Werkes das meiste Inter- esse erwecken. Doch beachte man daneben nur auch die anderen Teile; ja in mancher Hinsicht sind diese vielleicht noch wichtiger, denn sie schildern uns L.'s Tätigkeit auf Ge- bieten, wo man ihn gewöhnlich nicht zu finden erwartet. So hat L. beispielsweise mit besonderer Vorliebe Fragen der Diätetik und Hygiene behandelt, worüber man bei Hjelt genaueres nachlese. — Über die schwedische Ausgabe des Werkes habe ich in Engler's Bot. Jahrb. XLI. (1908) Lit. S. 10 etwas ausführlicher berichtet. H. Harms. Inhalt: Dr. Friedrich W. Adler: Die Einheit des physikalischen Weltbildes. — Dr. Hermann Ross: Pflanzen und Ameisen im tropischen Mexiko. — Kleinere Mitteilungen: Carl H. Gail: Austernzucht in norwegischen Pollern. — Himmelserscheinungen im Januar 1910. — Büclierbesprechungen: Annuaire pour l'an 1910. — Dr. W. v. Igna- towsky: Die Vektoranalysis. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antwo'ten. Verantwortlicher Redakteur: Prof. Dr. H. Potonie, Groß-Lichterfclde-West b. Berlin. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck von Lippcrt & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.